Heft - Institut für Theorie ith
Heft - Institut für Theorie ith
Heft - Institut für Theorie ith
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
• S. 25–30<br />
Zwei Beiträge dieses <strong>Heft</strong>es gehen – aus<br />
philosophischer und kunstkritischer<br />
Perspektive – der von uns aufgeworfenen<br />
Frage nach der Zwei als Figur<br />
unmittelbar nach. Richard Heinrich<br />
verortet sie im Spannungsfeld zwischen<br />
der Tradition des metaphysischen Denkens<br />
und der radikalen Di≠erenzphilosophie<br />
von Gilles Deleuze. Ersteres<br />
vertritt Aristoteles, der in der Einleitung<br />
seiner Physik mit dem Gegensatz<br />
(es geht um die Veränderung zwischen<br />
gegensätzlichen Zuständen wie «weiss»<br />
und «nicht-weiss») ein Prinzip einführt,<br />
das eine genuine Zweiheit zu verkörpern<br />
scheint. Trotzdem wird diese<br />
Zweiheit dort in einer doppelten Richtung<br />
auf Einheit hin reduziert: auf der<br />
einen Seite, weil Aristoteles mit der<br />
«Materie» (ὕλη) eine wesenhafte «Substanz»<br />
(οὐσία) annimmt, die unwandelbar<br />
der Veränderung zwischen den<br />
Polen des Gegensatzes zugrunde liegt.<br />
Zum anderen wird der Gegensatz selbst<br />
als Einheit bestimmt, und zwar als physikalischer<br />
Grundbegri≠ der «Form»<br />
(μορφή). Eben dieser gedankliche Schritt<br />
– die Reduktion auf eine begrif fliche<br />
Einheit – bildet den Angri≠s punkt der<br />
deleuzeschen Kritik, die auf die Emanzipation<br />
uneingeschränkter Vielheit im<br />
Denken abhebt: Vielheit wahrhaft zu<br />
denken, heisst «begri≠slos» zu denken.<br />
Doch zeigt Heinrich, dass es bei Deleuze<br />
neben der Parteinahme <strong>für</strong> das<br />
Wuchern der Di≠erenzen und die Stellung<br />
gegen die Eindimensionalität klassisch-philosophischer<br />
Begri≠e auch<br />
Überlegungen zu einem Dritten gibt: In<br />
Di≠érence et répétition zitiert Deleuze<br />
Immanuel Kants Problem der Unterscheidung<br />
zwischen «inkongruenten<br />
Gegenstücken» (wie sie in einer spiegelsymmetrischen<br />
Beziehung vorliegt). 6<br />
Dem Paar der Hände des Menschen<br />
kommt in der Anschauung eine evidente<br />
Zusammengehörigkeit zu. Wir haben<br />
den spontanen Eindruck einer wechselseitigen<br />
Entsprechung (das Paar bildet<br />
eine symmetrische Figur), aber doch<br />
produziert die Symmetrie eine in geometrischen<br />
Begri≠en irreduzible Unterscheidung.<br />
Hier verortet Deleuze eine<br />
begri≠slose Di≠erenz, die nicht schon<br />
«multiplicité» ist, sondern sich gleichsam<br />
an der Grenze zu ihr zeigt: Die<br />
Zweiheit der beiden Hände ist nicht<br />
rückführbar auf die Eins des Begri≠s,<br />
zugleich aber handelt es sich bei ihr<br />
auch nicht um eine erste Stufe der Vielheit,<br />
kommt ihr doch zugleich eine<br />
spezifisch anschauliche Einheit zu, die<br />
man als figürliche ansprechen kann.<br />
• S. 31–39<br />
Vor einem ganz anderen, nämlich bildästhetischen<br />
Hintergrund kommt es in<br />
der Malerei Caravaggios zu einer ähnlichen<br />
Bewegung der Übertretung der<br />
Einheit; dies auf doppelter Ebene,<br />
einerseits auf derjenigen der Bildkomposition<br />
als Einheitsstruktur, andererseits<br />
auf derjenigen des primären<br />
Gegenstandes der Malerei, der menschlichen<br />
Gestalt. Wolfram Pichler weist<br />
auf die aufspaltende Kraft hin, die Symmetrie-<br />
und Paarbildung bei Caravaggio<br />
entwickeln, als brächte sie der Maler<br />
durch einen Schnitt hervor, der eine<br />
Verbindung scha≠t, indem er trennt<br />
und entzweit. So tre≠en wir auf Gemälde<br />
(wie die Ruhe auf der Flucht nach<br />
Ägypten oder den Ungläubigen Thomas),<br />
deren symmetrische Anlage,<br />
anders als man dies gewohnt ist, weniger<br />
Zusammenhalt und kompositorische<br />
Abrundung stiftet, als dem Bild<br />
die Struktur eines «latenten Diptychons»<br />
zu verleihen. Genau diese Zwiespältigkeit<br />
sieht Caravaggio auch in den<br />
Symmetrien der menschlichen Figur:<br />
wenn etwa die Zusammengehörigkeit<br />
der Körperglieder fraglich wird oder<br />
wir einem Gesicht begegnen, dessen<br />
eine Hälfte schon tot und dessen andere<br />
noch lebendig zu sein scheint (wie bei<br />
Jud<strong>ith</strong> und Holofernes). Die Zweiheiten,<br />
die Caravaggios Malerei hervortreibt,<br />
bilden indes keine Figuren im<br />
Sinne einer anschaulichen Paarigkeit:<br />
Sie sind auf den Punkt der «Zwiefalt»<br />
gebracht, die – wie Pichler unterstreicht<br />
– nur dann vorliegt, wenn eine Zwei<br />
durch ein «unzählbares Drittes» konstituiert<br />
wird: einen «Zwischenraum»,<br />
der – wie das Scharnier eines Diptychons,<br />
das weder zum linken noch zum<br />
rechten Flügel gehört – auf Abstand hält,<br />
was es verbindet.<br />
• S. 52–63<br />
Von genau dieser «Zwiefalt» sind auch<br />
Dieter Roths Beidhandzeichnungen<br />
gekennzeichnet, die wir hier in einer<br />
bisher unverö≠entlichten Auswahl präsentieren.<br />
Ähnlich wie Caravaggio<br />
arbeitet Roth an der Aufspaltung der<br />
menschlichen Figur und setzt ein weiteres<br />
Mal bei ihrer Symmetrie an. Die<br />
besondere Radikalität seines Verfahrens<br />
besteht nun darin, den eigenen<br />
Körper gleichsam zum Medium dieser<br />
Zerteilung werden zu lassen und den<br />
Zeichenakt selbst zu ihrem Schauplatz.<br />
Indem er mit beiden Händen zu Werke<br />
geht, führt er eine (körperliche) Differenz<br />
in die Zeichnung ein, welche diese<br />
Kunst normalerweise zu überspielen<br />
trachtet: jene zwischen den unterschiedlichen<br />
Fertigkeiten der linken<br />
und rechten Hand, zwischen «linkisch»<br />
und «richtig». Im gleichen Zuge aber<br />
geschieht dies nur, wie Ralph Ubl erläutert,<br />
um die Hierarchie zwischen den<br />
Körperhälften und den «kultu rellen<br />
Werten», die sie implizieren, um kehrbar<br />
werden zu lassen: Die Beidhandzeichnungen<br />
sind zugleich mechanisch wie<br />
virtuos und werden von Körpern bevölkert,<br />
deren auch obere und untere Seiten<br />
(Haupt und Hintern) verwechselbar<br />
werden. Die Zwei, so wäre zu schliessen,<br />
ist auch Figur der Reversibilität<br />
und Vermischung und kann (im Sinne<br />
der Topologie) als «nicht-orientiertes<br />
Gefüge» entfaltet werden.<br />
1 — Dario Gamboni hat solche Bilder unter dem Stichwort der «Ambiguität»<br />
in einer <strong>für</strong> das Thema grundlegenden Studie untersucht: Potential Images.<br />
Ambiguity and Indeterminacy in Modern Art, London 2002.<br />
2 — Vgl. Ludwig Wittgenstein, «Philosophische Untersuchungen», in: ders.,<br />
Werkausgabe, 8 Bde., Frankfurt a. M. 1989, Bd. 1, S. 518ff.<br />
3 — Für einen Überblick über die bildtheoretische Diskussion, die sich an<br />
Wittgensteins Überlegungen zum «Sehen-als» anschloss, aber in diesem<br />
<strong>Heft</strong> nicht zum Thema gemacht wird, vgl. Patrick Maynard, «Seeing Double»,<br />
in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 52/2, 1994, S. 155–167.<br />
4 — Vgl. Mladen Dolar, «Touching Ground», in: «31». Das Magazin des <strong>Institut</strong>s<br />
<strong>für</strong> <strong>Theorie</strong>, 12/13, 2008, S. 59–70.<br />
5 — Alenka Zupančič, The Shortest Shadow. Nietzsche’s Philosophy of the Two,<br />
Cambridge (Mass.) / London 2003, S. 13.<br />
6 — Vgl. genauer zu Kants Problem der «inkongruenten Gegenstücke» in<br />
diesem <strong>Heft</strong>: Markus Klammer / Stefan Neuner, «Die Figur der Zwei. Exposé /<br />
The Figure of Two. Exposé», S. 17f.<br />
8