Wirtschaftswoche Ausgabe vom 2014-03-10 (Vorschau)
11 10.3.2014|Deutschland €5,00 1 1 4 1 98065 805008 Schummeln bei der Steuer Was gerade noch geht Unser teuerster Freund Warum Deutschland nicht von Russland loskommt Schweiz CHF 8,20 | Österreich €5,30 | Benelux€5,30 | Griechenland€6,00 | GroßbritannienGBP 5,40 | Italien€6,00 | Polen PLN27,50 | Portugal€6,10 | Slowakei €6,10 | Spanien€6,00 | TschechischeRep.CZK 200,- | Ungarn FT 2000,- © Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
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11<br />
<strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong>|Deutschland €5,00<br />
1 1<br />
4 1 98065 805008<br />
Schummeln bei der Steuer Was gerade noch geht<br />
Unser teuerster Freund<br />
Warum Deutschland nicht von Russland loskommt<br />
Schweiz CHF 8,20 | Österreich €5,30 | Benelux€5,30 | Griechenland€6,00 | GroßbritannienGBP 5,40 | Italien€6,00 | Polen PLN27,50 | Portugal€6,<strong>10</strong> | Slowakei €6,<strong>10</strong> | Spanien€6,00 | TschechischeRep.CZK 200,- | Ungarn FT 2000,-<br />
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Einblick<br />
Russland will sich die Krim schnappen. Das spaltet<br />
Europa: Wir machen mit Putin gute Geschäfte.<br />
Andere müssen sich fürchten. Von Roland Tichy<br />
Bedingt abwehrbereit<br />
FOTO: HEIKE ROST FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
Russlands Präsident Wladimir Putin<br />
nutzt das Chaos in der Ukraine<br />
und will wohl die Krim annektieren.<br />
Vielleicht reißt er<br />
auch noch das Donezbecken an sich;<br />
dann wäre die Grenze zwischen Ost und<br />
West wieder da, wo sie jahrhundertelang<br />
verlief: Östlich davon herrschte Russland,<br />
westlich liegen die fernsten Provinzen des<br />
Habsburgerreichs. Die Krim ist weit weg,<br />
für die meisten Deutschen gehört sie ohnehin<br />
zu Russland. Selbst Bundesaußenminister<br />
Frank-Walter Steinmeier erkennt<br />
Russlands Interessen dort an. Die Wirtschaft<br />
wünscht sich, dass der Konflikt<br />
nicht heiß eskaliert, sondern tiefgekühlt<br />
wird – zu wichtig ist Russland als Handelspartner,<br />
Gaslieferant und Investitionsstandort.<br />
Pragmatismus wird siegen.<br />
Nach schrillen Protestnoten und einem<br />
verpatzten G8-Gipfel wird man wieder an<br />
dem Tisch sitzen, an dem gute Geschäfte<br />
gemacht werden. „Der Russe kommt“, in<br />
Deutschland hat das als Motiv der Politik<br />
ausgedient; in den letzten Jahren des Kalten<br />
Krieges höhnten Kabarettisten: „Der<br />
Russ’ kommt, ob er aber über Oberammergau<br />
oder aber über Unterammergau<br />
kommt, das weiß man nicht!“<br />
Andere Länder haben da ein längeres<br />
historisches Gedächtnis und einen anderen<br />
Blick auf die Geschichte. Polens Premier<br />
Donald Tusk steinmeiert nicht windelweich<br />
herum, sondern spricht von der<br />
Not, militärisch aufzurüsten und bei der<br />
Energieversorgung von Russland autark zu<br />
werden. Tschechien kramt wieder alte Pläne<br />
für ein Atomkraftwerk hervor, das sich<br />
nicht rechnet – es sei denn, man kalkuliert<br />
die politischen Kosten der Abhängigkeit<br />
<strong>vom</strong> russischen Gas mit ein. In den baltischen<br />
Staaten ist die Reaktion ähnlich aufgeregt.<br />
Auch dort gibt es wie auf der Krim<br />
eine starke russische Bevölkerungsgruppe,<br />
die schnell als Argument herhalten kann,<br />
warum Russland sie mal wieder befreien<br />
muss, wie schon 1940. Der Zweite Weltkrieg<br />
endete für sie nicht mit dem 8. Mai<br />
1945, dem Tag der deutschen Kapitulation<br />
– sondern erst mit dem Zerfall der Sowjetunion,<br />
unter deren Knute sie mit dem Siegeszug<br />
der Roten Armee geraten waren.<br />
Jetzt fürchten sie wieder das Russland<br />
vor und das wankelmütige Deutschland<br />
hinter sich.<br />
EIN STALIN IM DESIGNERANZUG?<br />
Ist Putin ein „lupenreiner Demokrat“, wie<br />
einst Gerhard Schröder für ihn geworben<br />
hat, oder doch ein brutaler Stalin im modernen<br />
Designeranzug? Jedenfalls ist Russland<br />
weder ein Rechtsstaat noch eine Demokratie.<br />
Und damit ist der deutsche<br />
Versuch gescheitert, Russland durch politische<br />
und wirtschaftliche Verflechtungen<br />
einzubinden. Denn Putin scheren Regeln<br />
des Völkerrechts einen Dreck. Deshalb ist<br />
auch das Gerede von Wirtschaftssanktionen<br />
kindisch: Putin wird einen wirtschaftlichen<br />
Rückschlag durch ein Kappen der<br />
Handelsbeziehungen leichter wegstecken<br />
als eine nur auf ständig wachsenden Sozialausgaben<br />
aufgebaute Konsum-Demokratie<br />
wie Deutschland. Putin hält deutsche<br />
Direktinvestitionen und profitable<br />
Absatzmärkte deutscher Unternehmen in<br />
Geiselhaft. Ein Wirtschaftskrieg würde<br />
Deutschland viel kälter erwischen als das<br />
leidgewohnte und gedemütigte Russland,<br />
das früherer Größe nachtrauert (siehe Seite<br />
18). Autokraten kalkulieren anders als<br />
Demokratien – Wohlstandsverluste wiegen<br />
leichter bei Diktatoren, dafür sind ihre<br />
Großmachtgelüste entschieden ausgeprägter.<br />
Wenn Politiker die Paralympics<br />
boykottieren, wird das Putin wenig beeindrucken<br />
– was für eine lächerliche Idee.<br />
Europa zeigt sich uneinig und nur bedingt<br />
abwehrbereit. Deutschland hat seine<br />
Verteidigungsanteile am Bundesetat seit<br />
dem Kalten Krieg halbiert. Verteidigungsministerin<br />
Ursula von der Leyen wollte<br />
kurz mal global Flagge zeigen – aber nur<br />
mit 200 Mann ihrer geschrumpften Kinderkrippen-Armee.<br />
In der echten Krise ist sie<br />
schnell abgetaucht. Die Schutzmacht USA<br />
ist endgültig Richtung Pazifik abgezogen.<br />
Putin kalkuliert kühl – und gewinnt. Und<br />
das Raubtier bekommt beim Fressen Appetit,<br />
fürchtet Polens Premier Tusk. Der eisige<br />
Wind der Machtpolitik weht durch<br />
Europa.<br />
n<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 3<br />
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Überblick<br />
Menschen der Wirtschaft<br />
6 Seitenblick Risiko-Reisen für Manager<br />
8 Drohnen: Chaos im deutschen Luftraum<br />
9 Mobilfunk: Preiskampf vor der Fusion |<br />
Sozialkassen: Rente mit 70<br />
<strong>10</strong> Interview: Finanzstaatssekretär Michael<br />
Meister über den Rettungsfonds und den<br />
Stresstest für Banken<br />
12 WhatsApp: Clou für deutsche Kunden |<br />
Getgoods: Geld abgeflossen | Rennstrecke<br />
Bilster Berg: Miese Premiere<br />
14 Chefsessel | Startup Goodz<br />
16 Chefbüro Oliver Kastalio, Chef des Brillenherstellers<br />
Rodenstock<br />
Titel Unser teuerster Freund<br />
Die USA wollen Russlands Präsidenten<br />
Wladimir Putin wegen dessen Griff<br />
nach der Krim mit Sanktionen in die<br />
Schranken weisen. Den Schaden<br />
hätte die deutsche Wirtschaft – die will<br />
eine Isolation ihres Wachstumsmarkts<br />
unbedingt verhindern. Seite 18<br />
Politik&Weltwirtschaft<br />
18 Russland Wladimir Putin provoziert mit<br />
seinem Poker um die Krim Sanktionen des<br />
Westen – die würden auch die deutsche<br />
Wirtschaft treffen | Wo deutsche Unternehmen<br />
in Russland aktiv sind<br />
30 Streitgespräch EP-Präsident Martin Schulz<br />
debattiert mit dem Politologen Eberhard<br />
Sandschneider über den richtigen Umgang<br />
mit Russland<br />
34 Föderalismus Bund und Länder rüsten zum<br />
neuen Streit um die Steuermilliarden<br />
40 Interview: Günther Oettinger Der EU-<br />
Kommissar über die europäische Gasversorgung<br />
und die Energiewende<br />
43 Berlin intern<br />
Unternehmen&Märkte<br />
44 Aktivistische Aktionäre Mit welchen Methoden<br />
Investoren wie Carl Icahn und der<br />
Elliott-Fonds Unternehmen aufmischen<br />
50 Oetker Seine Verwicklung in ein Bierkartell<br />
könnte Finanzchef Albert Christmann im<br />
Rennen um den Chefposten schaden<br />
52 Luxus Chinas Reiche schwenken um auf<br />
dezentere Marken. Ein Besuch beim<br />
italienischen Herrenausstatter Caruso<br />
56 Pirelli Der Einstieg von Asiaten würde den<br />
weltweiten Reifenmarkt aufmischen<br />
59 Deutsche Bahn Gewinne aus dem Netz<br />
sollen über einen Fonds in die Gleise zurückfließen<br />
– ein Vabanquespiel für den Bund<br />
60 Banken Kreditinstitute verschieben Milliarden<br />
an unregulierte Fonds – ein Risiko<br />
62 Flugzeugbau Japanische Unternehmen<br />
versuchen ein Comeback<br />
Technik&Wissen<br />
64 Spezial Cebit Ein Test deckt erhebliche Sicherheitslücken<br />
bei Smart-Home-Systemen<br />
auf | Die Gewinner des Big-Data-Booms |<br />
Splunk-Chef Godfrey Sullivan über das<br />
Geschäft mit der Datenanalyse<br />
76 Rohstoffe Brennende Kohleflöze sollen<br />
künftig Gas für die Stromerzeugung liefern<br />
78 Gesundheit Ein Amerikaner will mit Pulver<br />
die Welt ernähren<br />
Steuertricks<br />
Wir checken zehn Fälle,<br />
von Arbeitszimmer bis<br />
Pendlerpauschale: Was ist<br />
legales Steuersparen, wo<br />
beginnt die Hinterziehung<br />
– und welche Konsequenzen<br />
drohen Ertappten?<br />
Seite 86<br />
Angriff aus dem Nichts<br />
Aggressive Investoren wie der Amerikaner<br />
Carl Icahn mischen weltweit Unternehmen<br />
auf . Jetzt nehmen sie auch Deutschland<br />
stärker ins Visier. Seite 44<br />
TITELILLUSTRATION: DMITRI BROIDO<br />
4 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Nr. 11, <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong><br />
FOTOS: CONTOUR BY GETTY IMAGES, GERHARD RICHTER, BETTY, 1991, OLBRICHT COLLECTION, FRIEDRICH ROSENSTIEL, KÖLN; ILLUSTRATIONEN: FRANCESCO BONGIONRNI, NICHOLAS BLECHMAN<br />
Total digital<br />
Das Internet erobert unser Leben: <strong>vom</strong> Haus über die Unternehmen<br />
bis hin zu den Unis. Wie wir künftig bequemer wohnen,<br />
effektiver arbeiten und effizienter lernen. Seite 64, 80<br />
n IT-Messe Cebit Die großen Fragen rund<br />
um Big Data, IT-Sicherheit und Vernetzung<br />
diskutieren führende IT-Unternehmen<br />
und kleine Startups aus aller Welt in Hannover.<br />
Welche Trends und Hypes die Branche<br />
bewegen, lesen Sie ab Montag auf<br />
wiwo.de/cebit<br />
Attraktive Alternative<br />
Unikate bedeutender Künstler wie „Betty“<br />
von Gerhard Richter sind Millionen Euro<br />
wert – ihre Editionen kosten oft nur einen<br />
Bruchteil – und haben selbst Potenzial<br />
für Wertsteigerungen. Seite <strong>10</strong>6<br />
facebook.com/<br />
wirtschaftswoche<br />
twitter.com/<br />
wiwo<br />
plus.google.com/<br />
+wirtschaftswoche<br />
Management&Erfolg<br />
80 Online-Bildung Unterricht per Mausklick<br />
verändert Studium und Weiterbildung<br />
84 Berater Wie die Digitalisierung die Beraterbranche<br />
umkrempelt<br />
Geld&Börse<br />
86 Steuern Was ist noch ein cleverer Spartrick,<br />
wann beginnt die Hinterziehung?<br />
91 Mittelstandsanleihen Wie Finanzierungsberater<br />
und Banken abkassieren<br />
94 DAB Bank Das Institut stand dem insolventen<br />
Finanzdienstleister Accessio nahe und<br />
bekommt deshalb jetzt eine Menge Ärger<br />
96 Steuern und Recht Firmenwagen für<br />
Angehörige | Anhebung des Rentenalters<br />
und private Vorsorge | Fristverlängerung<br />
für Madoff-Geschädigte<br />
98 Geldwoche Kommentar: Bilanzkosmetik |<br />
Trend der Woche: Chinesischer Yuan | Dax-<br />
Aktien: Allianz | Hitliste: Unternehmensanleihen<br />
| Aktien: Rio Tinto, CF Industries | Anleihe:<br />
Teva | Zertifikat: Infineon | Investmentfonds:<br />
Warum Michel Degosciu von<br />
LPX börsennotierte Private-Equity-Unternehmen<br />
kauft | Chartsignal: Uranproduzent<br />
Cameco | Relative Stärke: SMA Solar<br />
Perspektiven&Debatte<br />
<strong>10</strong>6 Art Report Als Editionen sind Werke der<br />
besten Künstler der Welt noch erschwinglich<br />
1<strong>10</strong> Kost-Bar<br />
Rubriken<br />
3 Einblick, 112 Leserforum,<br />
113 Firmenindex | Impressum, 114 Ausblick<br />
n Lesen Sie Ihre WirtschaftsWoche<br />
weltweit auf iPad oder iPhone:<br />
Diese Woche mit einer Fotogalerie<br />
über Wladimir Putins<br />
Nähe zu Deutschland<br />
und einem Video über<br />
den Handel mit Werken<br />
von Gerhard Richter.<br />
wiwo.de/apps<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 5<br />
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Seitenblick<br />
GESUNDHEIT<br />
Reisen mit Risiko<br />
Wo drohen bei Geschäftstrips oder der Entsendung als<br />
Expat am ehesten Krankheiten? Risiken lauern vor<br />
allem in Afrika; aber auch in Russland und Teilen Asiens<br />
mangelt es oft an guter medizinischer Versorgung.<br />
Kanada<br />
88Prozent der deutschen Unternehmen<br />
schicken regelmäßig Geschäftsreisende auch in medizinisch<br />
hoch riskante Gebiete. Weltweit tun dies sogar<br />
95 Prozent der Firmen. Das zeigt eine Umfrage unter<br />
global agierenden Unternehmen durch International<br />
SOS, einen Anbieter von Prävention und Krisenmanagement<br />
in Gesundheitsfragen mit Hauptsitzen in<br />
London und Singapur. Mit rund <strong>10</strong>000 Mitarbeitern<br />
betreut er in 76 Ländern mehr als <strong>10</strong>000 Firmenkunden.<br />
USA<br />
Mexiko<br />
Kolumbien<br />
D M G<br />
Kuba<br />
Nicaragua Haiti<br />
Venezuela<br />
Guyana<br />
Suriname<br />
Medizinischer Risikofaktor*<br />
Ecuador<br />
M<br />
G<br />
66Prozent der befragten deutschen Unternehmen<br />
entsenden Mitarbeiter sogar für längere<br />
Aufenthalte in gesundheitlich hoch riskante Regionen,<br />
weltweit handeln 70 Prozent der Firmen so. Nimmt<br />
man Sicherheits- und politische Risiken hinzu, schätzen<br />
die weltweit befragten Firmen Mexiko, Nigeria,<br />
Afghanistan und Indien als riskanteste Länder ein;<br />
deutsche Unternehmen betrachten Russland, Mexiko,<br />
Iran und Brasilien als die gefährlichsten Gegenden.<br />
Niedriges Risiko<br />
Internationaler Standard medizinischer Versorgung.<br />
Geringes Risiko von Infektionskrankheiten. Auch bei<br />
ernsten Krankheiten ist angemessene Behandlung<br />
im Land möglich.<br />
Mittleres Risiko<br />
Teilweise internationaler Standard medizinischer<br />
Versorgung, oft niedriger. Bei ernsten Problemen<br />
in ländlichen Regionen Verlegung notwendig.<br />
Mögliche Infektionsrisiken durch verunreinigtes<br />
Wasser.<br />
Peru<br />
D<br />
Brasilien<br />
Bolivien<br />
Paraguay<br />
Uruguay<br />
Mittlere und hohe Risiken<br />
32Prozent der Unternehmen führen medizinische<br />
Voruntersuchungen oder Risikoanalysen<br />
durch, bevor sie einen Mitarbeiter ins Ausland<br />
entsenden. Die Zahl erscheint niedrig angesichts<br />
steigender Entsendungen und Reisen in risikoreiche<br />
Regionen – und angesichts der Erkenntnis, dass sich<br />
mehr als ein Drittel der medizinisch notwendigen<br />
Evakuierungen bei Auslandsreisen und -aufenthalten<br />
auf bestehende gesundheitliche Probleme wie Herz-<br />
Kreislauf-Erkrankungen zurückführen lassen.<br />
stephanie.heise@wiwo.de<br />
Gute medizinische Versorgung nur in Metropolen,<br />
schon mittelschwere Krankheiten oder Verletzungen<br />
können eine Evakuierung nötig machen.<br />
Hohe Risiken<br />
Niedriger medizinischer Standard, begrenzter<br />
Zugang zu Medikamenten. Schon mittelschwere<br />
Krankheiten oder Verletzungen machen eine<br />
Evakuierung in der Regel nötig.<br />
Extreme Risiken<br />
Gesundheitsversorgung und Medikamente auch<br />
in Notfällen kaum vorhanden. Infektionskrankheiten<br />
wie Malaria, Dengue oder Cholera sind<br />
verbreitet.<br />
Chile<br />
Argentinien<br />
M<br />
G<br />
6 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Grönland<br />
Island<br />
Marokko<br />
Sahara<br />
(Marokko)<br />
Algerien<br />
Ukraine<br />
4<br />
Bosnien<br />
5<br />
Albanien<br />
6 7<br />
Syrien<br />
Mazedonien<br />
Libyen Ägypten 8 Irak<br />
M<br />
Infektionserkrankungen<br />
Saudi-<br />
Arabien<br />
Usbekistan<br />
Turkmenistan<br />
K<br />
T<br />
C<br />
M<br />
G<br />
HIV<br />
3<br />
Iran<br />
Kasachstan<br />
K<br />
T<br />
C<br />
Russland<br />
Afghanistan<br />
T<br />
Kenia<br />
D<br />
Kirgisistan<br />
Tadschikistan<br />
Pakistan<br />
Indien<br />
G<br />
D<br />
M<br />
M<br />
HIV<br />
Nepal<br />
Mongolei<br />
Bangladesch<br />
M<br />
H<br />
H<br />
China<br />
Laos<br />
Thailand<br />
Vietnam<br />
Kambodscha<br />
Malaysia<br />
Indonesien<br />
Nordkorea<br />
Südkorea<br />
M<br />
Australien<br />
Japan<br />
Philippinen<br />
Myanmar<br />
D M<br />
Länderkürzel:<br />
1 = Äquatorialguinea<br />
2 = Republik Kongo<br />
3 = Weißrussland<br />
4 = Moldawien<br />
5 = Georgien<br />
6 = Armenien<br />
7 = Aserbaidschan<br />
8 = Libanon<br />
H<br />
Papua-<br />
Neuguinea<br />
Neuseeland<br />
Durch Tiere übertragene<br />
Erkrankungen<br />
D<br />
M<br />
G<br />
Denguefieber<br />
Malaria<br />
Gelbfieber<br />
H<br />
Hirnhautentzündung<br />
Fälle von Tollwut<br />
Mauretanien<br />
Mali Niger<br />
Senegal<br />
Tschad Sudan Jemen<br />
Guinea Guinea Benin<br />
Bissau<br />
Zentralafrik.<br />
Rep.<br />
Süd-<br />
Sudan Äthiopien Somalia<br />
Sierra<br />
Leone<br />
Togo 1<br />
Uganda<br />
Dem.<br />
Liberia Burkina<br />
2<br />
Republik Ruanda<br />
Faso<br />
Kongo<br />
Burundi<br />
M<br />
Tansania<br />
Madagaskar<br />
T Nigeria<br />
G D<br />
Sambia<br />
Malawi<br />
Simbabwe<br />
Namibia Botsuana<br />
K<br />
Mosambik<br />
Südafrika Swasiland<br />
Lesotho<br />
Angola<br />
D<br />
K<br />
HIV<br />
T<br />
C<br />
Kinderlähmung<br />
Sehr hohes<br />
Aids-Risiko<br />
Tuberkulose<br />
Cholera<br />
Erkrankungen des<br />
Verdauungstraktes<br />
Schlechte<br />
Infrastruktur<br />
Schlechte medizinische<br />
Infrastruktur<br />
Mangelnde<br />
Wasserqualität<br />
Mangelnde<br />
Nahrungsmittelhygiene<br />
Erkrankungen durch<br />
Umweltbelastungen<br />
Abgase, Smog<br />
Mögliche radioaktive<br />
Kontamination von<br />
Nahrungsmitteln<br />
Todesfälle und schwere<br />
Verletzungen<br />
* manche Risiken beschränken sich auf einzelne Landesteile; Quelle: International SOS<br />
Schlechte Straßen,<br />
unsichere Autos<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 7<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
Zugedrohnt<br />
Bundesverkehrsminister<br />
Dobrindt<br />
DROHNEN<br />
Chaos im Luftraum<br />
Zivile Drohnen werden immer beliebter.<br />
Die Deutsche Flugsicherung fühlt sich<br />
inzwischen überfordert.<br />
Die Minidrohne flog direkt auf Angela Merkel zu,<br />
als sie im vergangenen September auf einer CDU-<br />
Wahlveranstaltung in Dresden auftrat. Mit der Aktion<br />
wollte die Piratenpartei gegen staatliche Überwachung<br />
protestieren – und kassierte dafür nun<br />
einen Bußgeldbescheid des Bundesaufsichtsamtes<br />
für Flugsicherung. 528,50 Euro muss der Besitzer<br />
zahlen, weil er die Drohne in der „Kontrollzone“<br />
des Dresdner Flughafens gestartet hatte, ohne dass<br />
er den Tower um Freigabe gebeten hatte. Die Zone<br />
erstreckt sich über einen Großteil Dresdens.<br />
Der Verstoß ist kein Einzelfall. Die Drohnen werden<br />
immer populärer, der Handel bietet sie schon<br />
für 199 Euro an, gesteuert werden sie meist per<br />
Smartphone. Für die Deutsche Flugsicherung ein<br />
Riesenproblem: „Wir fürchten, dass die meisten<br />
Käufer solcher Geräte nicht einmal wissen, dass sie<br />
diese in vielen Städten ohne Zustimmung des Flughafentowers<br />
nicht starten dürfen“, sagt eine Sprecherin<br />
der Deutschen Flugsicherung. Trotzdem<br />
erhalten allein die Berliner Fluglotsen an manchen<br />
Tagen bis zu 50 Bitten um Starterlaubnis für Drohnen<br />
. „Das ist kaum zu bewältigen, denn die Hauptaufgabe<br />
ist es, Start- und Lande-Freigaben für Verkehrsflugzeuge<br />
zu erteilen“, so die Flugsicherung.<br />
Selbst wenn die Geräte nur in Hüfthöhe über den<br />
Boden schweben, gilt das oft schon als ein unerlaubtes<br />
Eindringen in die streng regulierten Anflugzonen<br />
der Flughäfen. In Berlin und Hamburg decken<br />
diese Zonen fast das gesamte Stadtgebiet ab.<br />
In Hannover, Frankfurt, Leipzig, Köln, Dresden,<br />
Düsseldorf und Dortmund trifft es große Teile der<br />
Stadt. Auch in der Nähe von Militärflughäfen wie in<br />
Kaiserslautern sind Teile des Stadtgebiets für das<br />
moderne Spielzeug tabu. Bis zu 50 000 Euro kann<br />
das unerlaubte Eindringen in solche kontrollierte<br />
Lufträume kosten.<br />
Inzwischen sprechen Insidern zufolge Vertreter<br />
der Flugsicherung und Spezialisten von Bundesverkehrsminister<br />
Alexander Dobrindt über eine<br />
mögliche Sonderregelung für die zivilen Minidrohnen.<br />
Auch eine Aufklärungskampagne für die<br />
Bürger wird diskutiert. Denn selbst die Polizei weiß<br />
oft nicht, wo die Minidrohen verboten sind. Zudem<br />
müssen zurzeit auch die Eigentümer des Grundstücks,<br />
von dem aus die Drohne startet, ihr Okay<br />
geben. Bei öffentlichen Straßen und Plätzen sind<br />
das die Kommunen.<br />
Für die Drohnen, mit denen Amazon und Deutsche<br />
Post Pakete ausliefern wollen, würde eine solche<br />
ministerielle Sonderzulassung allerdings nicht<br />
reichen, da diese Flugobjekte nicht auf Sicht fliegen<br />
sollen, sondern vollautomatisch. Hier ist Experten<br />
zufolge ein komplett neues Regelwerk nötig.<br />
thomas.stoelzel@wiwo.de<br />
Geschäft mit<br />
Zukunft<br />
Entwicklung des weltweiten<br />
Drohnen-Marktes<br />
(in Milliarden Dollar)<br />
12<br />
<strong>10</strong><br />
8<br />
6<br />
4<br />
2<br />
2013<br />
ab <strong>2014</strong> Prognose;<br />
Quelle:BusinessInsider<br />
Verteidigung<br />
Zivil<br />
2018 2023<br />
8 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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MOBILFUNK<br />
Preiskampf vor der Fusion<br />
Im Mai will die EU-Kommission<br />
entscheiden, ob die O2-Mutter<br />
Telefónica den Netzbetreiber<br />
E-Plus übernehmen darf. Zuvor<br />
mischen beide noch mal den<br />
deutschen Mobilfunk auf. Am<br />
Montag will Tony Hanway,<br />
Chef von Service und Vertrieb<br />
bei Telefónica Deutschland,<br />
deutschen Geschäftskunden<br />
erstmals einen Regeltarif mit<br />
unternehmensweit gültigen Paketen<br />
für Telefonate, SMS und<br />
Daten anbieten. Üblich war in<br />
der Branche bisher, Geschäftskundenverträge<br />
je Mitarbeiter<br />
zu buchen. Künftig können Unternehmen<br />
die Pakete auf beliebig<br />
viele Beschäftigte aufteilen<br />
und so flexibler abrechnen.<br />
Noch radikaler sind zwei<br />
neue Privatkunden-Tarife im<br />
E-Plus-Netz, die seit Anfang<br />
März gelten und faktisch das<br />
Ende hoher Roamingkosten in<br />
Europa bedeuten. Bei der monatlich<br />
drei Euro teuren Option<br />
sind Anrufe von Vertragskunden<br />
aus EU-Ländern und vielen<br />
anderen europäischen Staaten<br />
nach Deutschland bereits abgegolten.<br />
Anrufe im Ausland<br />
kosten nur neun Cent pro<br />
Minute.<br />
Zweifelhafte Offensive<br />
angekündigt Telefónica-<br />
Manager Hanway<br />
Der Discounter Alditalk, der<br />
für seine Prepaid-Angebote<br />
ebenfalls das E-Plus-Netz nutzt,<br />
streicht Roaminggebühren für<br />
Telefonate in der EU und der<br />
Schweiz sogar ganz.<br />
Die EU fürchtet jedoch, dass<br />
dieser erbitterte Kampf um die<br />
Kunden nach einer Übernahme<br />
vorbei sein könnte. Ende Februar<br />
hatte EU-Kommissar Joaquín<br />
Almunia Bedenken angemeldet,<br />
der geplante Deal könnte genau<br />
diesen Wettbewerb im deutschen<br />
Mobilfunkmarkt gefährden.<br />
Die Tarif-Offensiven dürften<br />
der EU-Kommission die<br />
Zustimmung zur Übernahme<br />
nicht eben erleichtern.<br />
thomas.kuhn@<br />
wiwo.de<br />
Aufgeschnappt<br />
Schräge Idee Die thüringische<br />
Gemeinde Rhönblick will für<br />
Touristen so attraktiv werden<br />
wie Pisa und plant deshalb den<br />
Bau eines Aussichtsturms, der<br />
sich um 23,5 Grad zur Seite<br />
neigt. Es wäre das schrägste Ge-<br />
bäude der Welt. Beim schiefen<br />
Turm von Pisa sind es nur vier<br />
Grad. 14 Millionen Euro soll das<br />
Projekt kosten, aber noch ist die<br />
Finanzierung nicht gesichert.<br />
Zudem sammlen Kritiker schon<br />
Unterschriften für ein Bürgerbegehren<br />
gegen das Projekt.<br />
Schiefe Verteilung In New York<br />
sollen bis zu <strong>10</strong>0 000 mehr Single-Frauen<br />
leben als ledige Männer.<br />
Das US-Startup The Dating<br />
Ring will daher spezielle Flüge<br />
nach San Francisco organisieren,<br />
wo es wegen der Personalpolitik<br />
der IT-Firmen im Silicon<br />
Valley einen Männerüberschuss<br />
gibt. Derzeit sammelt das Startup<br />
per Crowdfunding Geld ein.<br />
SOZIALKASSEN<br />
Rente mit 70<br />
gefordert<br />
Einen Umbau der Sozialversicherungen<br />
fordert die Vereinigung<br />
der Bayerischen Wirtschaft<br />
(vbw). Dazu zählen die<br />
Erhöhung des Eintrittsalters auf<br />
eine „Rente mit 70“, der Ausbau<br />
kapitalgedeckter betrieblicher<br />
und privater Altersvorsorge sowie<br />
eine strikte Begrenzung der<br />
Beiträge. So steht es im „Ordnungspolitischen<br />
Bericht <strong>2014</strong>“<br />
der vbw, den sie am Montag<br />
vorstellt. „Das Renteneinstiegsalter<br />
muss an die Alterung der<br />
Gesellschaft angepasst werden“,<br />
verlangt Präsident Alfred<br />
Gaffal. „Eine Rente mit 63 für<br />
langjährig Versicherte ist falsch.<br />
Die Lasten müssten künftige<br />
Generationen tragen.“<br />
Für die Krankenversicherung<br />
empfiehlt die vbw eine Gesundheitsprämie,<br />
wie sie einst die<br />
CDU vorgeschlagen hatte, und<br />
die Wiedereinführung einer<br />
Praxisgebühr, die aber zielgenauer<br />
als früher gestaltet werden<br />
soll. Zudem sollte der Wettbewerb<br />
zwischen den Krankenkassen<br />
durch eine generelle<br />
Senkung des Beitragssatzes und<br />
Zusatzprämien für einzelne<br />
Kassen gestärkt werden. Auch<br />
in der Pflege brauche es mehr<br />
private Vorsorge.<br />
henning.krumrey@wiwo.de | Berlin<br />
Weniger Besucher, höhere Preise<br />
Top5der Filme in Deutschland 2013<br />
FOTOS: ARCHIV KLAR, PR (2)<br />
150<br />
Kinobesucher<br />
in Deutschland<br />
(in Millionen)<br />
1<strong>10</strong>0<br />
<strong>10</strong>00<br />
140<br />
900<br />
130<br />
800<br />
120<br />
2008 09 <strong>10</strong> 11 12 13<br />
*Durchschnitt; ** auf Besucherbasis; Quelle: FFA<br />
Kinoumsatz<br />
in Deutschland<br />
(in Millionen Euro)<br />
700<br />
2008 09 <strong>10</strong> 11 12 13<br />
2008<br />
2013<br />
Eintrittspreis*<br />
Marktanteil<br />
von 3-D-Filmen**<br />
2013<br />
6,14€<br />
7,89€<br />
24,4%<br />
Fack Ju Göhte<br />
DerHobbit –SmaugsEinöde<br />
Django Unchained<br />
Ich –Einfach<br />
unverbesserlich 2<br />
DieTribute vonPanem –<br />
Catching Fire<br />
5,6Mio. Besucher<br />
3,7Mio.<br />
3,5Mio.<br />
4,6Mio.<br />
4,5Mio.<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 9<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
FLOSKELCHECK<br />
Wir<br />
Nachdem Missstände<br />
aller Art lange unter<br />
dem Protestruf<br />
„Eigentlich müsste<br />
man dagegen etwas<br />
unternehmen!“ von<br />
jedermann geduldet<br />
worden waren, wurde<br />
man eines Tages endlich<br />
konkreter und<br />
erklärte: „Wir nehmen<br />
das jetzt nicht mehr<br />
hin!“ Das Ertragen des<br />
Unerträglichen setzte<br />
sich indes unverdrossen<br />
fort, weil noch immer<br />
niemand wusste, wer<br />
dieser jetzt handlungsentschlossene<br />
„Wir“<br />
wohl wäre. Und wer<br />
fragt, wann der „Wir“<br />
sich wohl zur Tat anschickt,<br />
erhält zur<br />
Antwort:„Man weiß es<br />
nicht.“<br />
DER FLOSKELCHECKER<br />
Carlos A. Gebauer, 49,<br />
arbeitet als Rechtsanwalt in<br />
Düsseldorf, wurde auch als<br />
Fernsehanwalt von RTL und<br />
SAT.1 bekannt.<br />
INTERVIEW Michael Meister<br />
»Die EU-Kommission hat<br />
einen Interessenkonflikt«<br />
Der Parlamentarische Staatssekretär im<br />
Bundesfinanzministerium schlägt vor, den<br />
deutschen Bankenrettungsfonds länger zu öffnen.<br />
Herr Meister, Europa will seine<br />
Banken unter eine zentrale<br />
Aufsicht stellen. Was passiert<br />
mit dem deutschen Bankenrettungsfonds<br />
Soffin, der noch bis<br />
Ende <strong>2014</strong> geöffnet ist?<br />
Der Soffin ist noch für die staatlichen<br />
Kapitalhilfen an die<br />
Commerzbank, Ex-Hypo-Real-<br />
Estate oder Aareal Bank sowie<br />
für die beiden deutschen Abwicklungsanstalten<br />
zuständig.<br />
Gegebenenfalls könnte der<br />
Soffin aber noch länger geöffnet<br />
bleiben. Dies sollten wir von<br />
der Umsetzung des europäischen<br />
Abwicklungsmechanismus<br />
einschließlich seiner Bailin-Regeln<br />
abhängig machen.<br />
Der wird derzeit noch verhandelt.<br />
Auch um Banken zu helfen,<br />
die beim großen Stresstest<br />
der Europäischen Zentralbank<br />
durchfallen?<br />
Ich habe derzeit keine Sorgen<br />
um eine konkrete deutsche<br />
Bank. Aber mit einer Verlängerung<br />
des Soffin könnten wir<br />
SCHÄUBLES RECHTE HAND<br />
Meister, 52, Mathematiker<br />
und CDU-Abgeordneter, ist<br />
seit 2013 Parlamentarischer<br />
Staatssekretär bei Bundesfinanzminister<br />
Wolfgang Schäuble<br />
und dort auch für den<br />
staatlichen Bankenrettungsfonds<br />
Soffin zuständig.<br />
eine möglicherweise auftauchende<br />
Lücke schließen. Das ist<br />
aber abhängig davon, inwieweit<br />
der europäische Abwicklungsmechanismus<br />
umgesetzt werden<br />
kann. Hier verhandeln wir<br />
ja derzeit noch in Brüssel.<br />
Wann liegt ein Ergebnis vor?<br />
Bis zur Europawahl im Mai soll<br />
klar sein, wann der EU-Abwicklungsfonds<br />
startet. Im zweiten<br />
Halbjahr werden wir die europäischen<br />
Vorgaben in deutsches<br />
Recht umsetzen. Wir werden<br />
dann entscheiden, ob wir<br />
dem Deutschen Bundestag eine<br />
Verlängerung des Soffin vorschlagen.<br />
Der Kurs der Commerzbank-<br />
Aktie hat sich deutlich erholt.<br />
Zeit für den Ausstieg des<br />
Staates?<br />
Wir wollen als Bundesregierung<br />
nicht länger als nötig Eigentümer<br />
der Commerzbank sein.<br />
Bei einem Ausstieg müssen wir<br />
aber darauf achten, die Interessen<br />
der Steuerzahler im Auge<br />
zu behalten. Einen konkreten<br />
Zeitpunkt kann ich nicht<br />
nennen.<br />
Was, wenn ein ausländischer<br />
Investor den Staatsanteil<br />
übernehmen will?<br />
Ich habe grundsätzlich keine<br />
Vorbehalte gegen internationale<br />
Investoren.<br />
EU-Parlament, -Rat und -Kommission<br />
diskutieren über die<br />
Bankenunion. Wann rechnen<br />
Sie mit einer Einigung?<br />
Das kann sehr schnell gehen,<br />
wenn alle Beteiligten sich etwas<br />
bewegen. Ich rechne damit<br />
noch vor den europäischen<br />
Wahlen im Mai.<br />
Was macht Sie da so sicher?<br />
Weil sich die Parlamentarier<br />
ihrer Verantwortung bewusst<br />
sind. Für grenzüberschreitende<br />
Banken brauchen wir einen<br />
entscheidungsfähigen europäischen<br />
Mechanismus.<br />
Der Präsident des Europäischen<br />
Parlaments, Martin<br />
Schulz, fordert, den Bankenabwicklungsfonds<br />
schneller<br />
aufzufüllen als in den derzeit<br />
vorgesehenen zehn Jahren. Das<br />
bedeutet höhere Beiträge für<br />
die Banken. Könnte die Realwirtschaft<br />
darunter leiden?<br />
Wir stehen Vorschlägen, den<br />
Abwicklungsfonds schneller<br />
aufzufüllen, grundsätzlich offen<br />
gegenüber. Es ist dabei aber<br />
wichtig, die richtige Balance zu<br />
finden. Einerseits soll der Fonds<br />
schnell aufgebaut werden, andererseits<br />
müssen die Banken<br />
auch weiterhin in der Lage sein,<br />
Kredite an die Unternehmen zu<br />
vergeben. Daher hat der Rat<br />
zehn Jahre vorgesehen.<br />
Wer soll das Sagen über den<br />
Bankenabwicklungsfonds<br />
haben, die EU-Kommission?<br />
Die EU-Kommission hat einen<br />
Interessenkonflikt mit ihrer<br />
Beihilfeaufsicht für alle 28 EU-<br />
Staaten. Vor allem aber wollen<br />
wir das Abwicklungsboard so<br />
stark wie möglich machen. Dort<br />
sitzt die Expertise. Das geht am<br />
besten, wenn nicht eine politische<br />
Institution wie die Kommission<br />
alleine interveniert.<br />
mark.fehr@wiwo.de | Frankfurt,<br />
christian ramthun | Berlin<br />
ILLUSTRATION: TORSTEN WOLBER; FOTO: GETTY IMAGES/PHOTOTHEK<br />
<strong>10</strong> Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
WHATSAPP<br />
Chatten ohne<br />
Guthaben<br />
Als „Weltpremiere“ feiern der<br />
Düsseldorfer Mobilfunkbetreiber<br />
E-Plus und der derzeit<br />
erfolgreichste Kommunikationsdienst<br />
WhatsApp ihre Kooperation,<br />
die sie Ende Februar<br />
besiegelt haben. Die von 30 Millionen<br />
Deutschen genutzte App<br />
soll erstmals als Mobilfunkanbieter<br />
mit eigenen Tarifen<br />
auftreten. Genaueres verrieten<br />
E-Plus-Chef Thorsten Dirks<br />
und WhatsApp-Gründer Jan<br />
Koum nicht.<br />
Jetzt erfuhr die Wirtschafts-<br />
Woche aus Unternehmenskreisen<br />
erste Details: Ein spezieller<br />
Tarif soll WhatsApp Privilegien<br />
einräumen, die kein anderer<br />
App-Anbieter bekommt. Geplant<br />
ist demnach die Einführung<br />
einer Prepaid-Karte mit<br />
einer WhatsApp-Option quasi<br />
zum Nulltarif. Denn alle Texte,<br />
Bilder und Videos, die über die<br />
App verschickt werden, werden<br />
nicht auf das gekaufte Datenvolumen<br />
angerechnet.<br />
Besonderer Clou: WhatsApp<br />
läuft so auch dann uneingeschränkt<br />
weiter, wenn das Guthaben<br />
aufgebraucht ist. Die<br />
Preise will WhatsApp kurz vor<br />
dem Marktstart Anfang April<br />
verkünden.<br />
juergen.berke@wiwo.de, henryk hielscher<br />
BILSTER BERG<br />
Miese<br />
Premiere<br />
Mit einem Konsortium um den<br />
Finanzinvestor HIG Capital<br />
will Marcus Graf von<br />
Oeynhausen-Sierstorpff<br />
den Nürburgring kaufen. Dabei<br />
hat er schon Probleme mit einer<br />
kleineren Rennstrecke, dem<br />
Interesse am Nürburgring<br />
Graf von Oeynhausen-Sierstorpff<br />
11.<strong>03</strong>. Konjunktur Das Statistische Bundesamt teilt am<br />
Dienstag mit, wie sich die Exporte im Januar entwickelt<br />
haben. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag<br />
(DIHK) erwartete im Dezember für<br />
<strong>2014</strong> ein Exportvolumen von 1,45 Billionen Euro,<br />
vier Prozent mehr als 2013. Am Donnerstag präsentiert<br />
das Institut für Weltwirtschaft in Kiel seine Frühjahrsprognose<br />
für die deutsche Konjunktur.<br />
12.<strong>03</strong>. Bundeshaushalt Das Bundeskabinett beschließt<br />
am Mittwoch die Eckwerte für den Haushaltsentwurf<br />
2015. Finanzminister Wolfgang Schäuble will<br />
einen Etat ohne neue Schulden vorlegen. Um das<br />
Ziel zu erreichen, plant er, den Zuschuss des Bundes<br />
an die Krankenkassen zu kürzen.<br />
Auslieferung Das Verwaltungsgericht in Rom entscheidet<br />
über die Auslieferung des deutschen<br />
Finanzjongleurs Florian Homm an die USA. Er war<br />
im März 2013 in Italien gefasst worden.<br />
13.<strong>03</strong>. Bundesbank In Frankfurt erläutert Bundesbank-<br />
Präsident Jens Weidmann am Donnerstag die Bilanz.<br />
Im vergangenen Jahr hat die Bank einen<br />
Überschuss von 2,2 Milliarden Euro erwirtschaftet.<br />
China In Peking endet nach mehr als einer Woche<br />
die Jahrestagung des Nationalen Volkskongresses.<br />
Regierungschef Li Keqiang hatte zu Beginn vor den<br />
3000 Delegierten angekündigt, dass er in diesem<br />
Jahr die Rüstungsausgaben um zwölf Prozent auf<br />
808 Milliarden Yuan (95 Milliarden Euro) aufstockt.<br />
16.<strong>03</strong>. Bayern Die Bürger des Freistaates<br />
wählen am Sonntag<br />
Stadt-, Kreis- und Landräte.<br />
Bei der letzten Kommunalwahl<br />
2008 erreichte die CSU 40 Prozent, die SPD<br />
kam auf 22,6 Prozent, die freien Wählergruppen<br />
auf 19, die Grünen auf 8,2 und die FDP auf 3,8<br />
Prozent.<br />
2013 eröffneten Bilster Berg im<br />
Teutoburger Wald. Die Manager<br />
des Grafen betonen zwar gerne,<br />
wie gut die Strecke schon in der<br />
Premierensaison ausgelastet<br />
war, wirtschaftlich aber war das<br />
Jahr ein Flop. Das zeigt der Finanzbericht<br />
an die Gesellschaf-<br />
TOP-TERMINE VOM <strong>10</strong>.<strong>03</strong>. BIS 16.<strong>03</strong>.<br />
ter, der der WirtschaftsWoche<br />
vorliegt. Für 2013 weist er einen<br />
Verlust von 2,8 Millionen Euro<br />
aus – bei nur 3,4 Millionen Euro<br />
Umsatz. Für <strong>2014</strong> ist ein weiterer<br />
Verlust von 1,4 Millionen Euro<br />
kalkuliert. Angepeilt war für<br />
beide Jahre ein Gewinn. Die Geschäftsführer<br />
Oeynhausen<br />
und Hans-<br />
Jürgen von Glasenapp<br />
reagierten nicht auf<br />
eine Anfrage. Die<br />
Rennstrecke haben<br />
170 Anleger finanziert.<br />
florian.zerfass@wiwo.de<br />
GETGOODS<br />
Geld<br />
abgeflossen<br />
Die Pleite des Online-Händlers<br />
Getgoods entwickelt sich zum<br />
Kriminalfall. So habe die Analyse<br />
interner Zahlungsströme<br />
durch die Insolvenzverwaltung<br />
Fragen zur Buchführung<br />
Insolvenzverwalter Brockdorff<br />
„Hinweise auf Unregelmäßigkeiten“<br />
ergeben, sagt Christian<br />
Graf Brockdorff, Insolvenzverwalter<br />
der Getgoods-Dachgesellschaft.<br />
Das E-Commerce-<br />
Unternehmen hatte Mitte<br />
November Insolvenz angemeldet<br />
und ein Schlaglicht auf<br />
die Solidität sogenannter Mittelstandsanleihen<br />
geworfen<br />
(siehe auch Seite 91).<br />
Rund 13 Millionen Euro sollen<br />
die Getgoods-Manager<br />
noch im Oktober 2013 bei Anlegern<br />
eingeworben haben. „Kurz<br />
vor dem Insolvenzantrag ist<br />
ein Großteil des Betrags von<br />
den Konten abgeflossen“, sagt<br />
Brockdorff. Generell werfe die<br />
Buchführung des Unternehmens<br />
Fragen auf. „So ist bei einzelnen<br />
Rechnungsposten offen,<br />
welche Gegenleistungen es<br />
gab“, so Brockdorff.<br />
Die Erkenntnisse des Verwalters<br />
dürften auch die Staatsanwaltschaft<br />
in Frankfurt an der<br />
Oder interessieren. Die Behörde<br />
hatte wenige Tage nach dem<br />
Insolvenzantrag Ermittlungen<br />
eingeleitet wegen des Verdachts<br />
auf Unterschlagung und wegen<br />
eines möglichen Verstoßes gegen<br />
das Aktienrecht.<br />
henryk.hielscher@wiwo.de<br />
FOTOS: MAURITIUS IMAGES, PR, PICTURE-ALLIANCE/DPA<br />
12 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
CHEFSESSEL<br />
STARTUP<br />
APPLE<br />
Luca Maestri, 50, löst im<br />
September Peter Oppenheimer,<br />
51, als Finanzchef<br />
von Apple ab. Oppenheimer,<br />
seit 2004 auf dem<br />
Posten, will mehr Zeit mit<br />
seiner Familie verbringen.<br />
Der gebürtige Italiener<br />
Maestri kam erst im vergangenen<br />
Jahr zu Apple<br />
und ist derzeit Vice President<br />
im Finanzressort.<br />
Zuvor hat er für General<br />
Motors, Nokia Siemens<br />
Networks und Xerox gearbeitet.<br />
AXEL SPRINGER<br />
Wolfgang Reitzle, 65, bis<br />
April noch Vorstandschef<br />
von Linde, soll Mitte April in<br />
den Aufsichtsrat von Springer<br />
einziehen. Außerdem<br />
rücken in das Kontrollgremium<br />
Springers Noch-Finanzchef<br />
Lothar Lanz, 65, der<br />
argentinische Unternehmer<br />
Martin Varsavsky, 53, und aller<br />
Voraussicht nach Rudolf<br />
Knepper, 68, bis Ende 2011<br />
KREUZFAHRTEN<br />
21,7Millionen<br />
Vorstand und von Januar bis<br />
April 2013 schon einmal Mitglied<br />
des Aufsichtsrats. Ausscheiden<br />
werden Gerhard<br />
Cromme, 71, Klaus Krone, 72,<br />
und Michael Otto, 70.<br />
KPMG<br />
John Veihmeyer, 57, tritt Mitte<br />
März als Chef der weltweit drittgrößten<br />
Prüfungs- und Beratungsfirma<br />
KPMG an. Der Absolvent<br />
der Universität Notre<br />
Dame und bisherige Leiter des<br />
KPMG-Amerika-Geschäfts<br />
springt für den Australier<br />
Michael Andrew, 57, ein, der<br />
wegen einer schweren Krankheit<br />
in Ruhestand geht. Veihmeyer<br />
ist seit 36 Jahren ein<br />
strammer KPMG-Soldat. Zuletzt<br />
hatte er sich als Aufräumer beim<br />
US-Insiderskandal rund um illegale<br />
Geschäfte mit Aktien der<br />
KPMG-Mandanten Herbalife<br />
und Skechers verdient gemacht.<br />
DEUTSCHE BANK<br />
Andrew Procter, Leiter der<br />
Abteilung Compliance, Regulierung<br />
und Regierungsbeziehungen,<br />
wechselt zur Anwaltskanzlei<br />
Herbert Smith Freehills<br />
und verstärkt dort als Partner<br />
die Beratung für Banken. Der<br />
Australier kam 2005 von der britischen<br />
Finanzaufsicht FSA zur<br />
Deutschen Bank, war zuletzt<br />
aber umstritten. Die deutsche<br />
Aufsicht BaFin hatte moniert,<br />
dass er trotz der Affäre um<br />
den Zinssatz Libor seinen Job<br />
behalten hatte.<br />
Urlauber weltweit buchen <strong>2014</strong> eine Kreuzfahrt, darunter 6,5 Millionen<br />
Europäer, so der Branchenverband CLIA. 2012 zählte er<br />
20,3 Millionen Passagiere, davon 1,54 Millionen aus Deutschland.<br />
Die Reedereien stellen <strong>2014</strong> und 2015 für acht Milliarden<br />
Dollar 24 weitere Kreuzfahrtschiffe in Dienst. Bisher gibt es 393.<br />
GOODZ<br />
Von Sony zum Startup<br />
Fakten zum Start<br />
Team derzeit 5 Mitarbeiter<br />
Angebot von 55 Marken gibt es<br />
derzeit etwa <strong>10</strong>00 Produkte<br />
Nachfrage rund <strong>10</strong>0 Bestellungen<br />
pro Woche von den 30 000<br />
registrierten Benutzern<br />
Nach 20 Jahren bei Sony wollte Jeffry van Ede (Mitte) neu starten<br />
und kündigte 2011 seinen Job als Deutschland-Chef. Der<br />
48-Jährige fragte sich: Wie kann ich mit einem Unternehmen Geld<br />
verdienen und gleichzeitig der Umwelt und der Gesellschaft helfen?<br />
Die Antwort lautet: Goodz. Seit drei Monaten ist das Startup<br />
online. In dem Portal können Kunden Produkte kaufen, die gut<br />
aussehen, qualitativ hochwertig sind und nachhaltig produziert<br />
wurden. Die drei Gründer Thomas Preiss, van Ede und Florian<br />
Lanzer (von links) wollen Nachhaltigkeit „aus der Ökoecke herausholen“<br />
und die etablierten Marken herausfordern. „Es ist ja<br />
ganz nett, wenn Adidas einen nachhaltigen Schuh produziert“,<br />
sagt van Ede, „aber wir wollen kleinere Unternehmen unterstützen,<br />
die Nachhaltigkeit in ihre DNA aufgenommen haben.“<br />
Das Sortiment ist vielseitig: Neben Schals made in Germany<br />
und Biotees bietet Goodz Armbanduhren aus wiederverwertetem<br />
Holz und handgefertigte Fahrräder aus einer Sozialwerkstatt an.<br />
Neuerdings sogar eine Prepaid-Karte für Elektroautos. Mit ihr<br />
können die Fahrer an allen Ladestationen in Deutschland bezahlen.<br />
Zur weiteren Finanzierung<br />
sammelt van Ede<br />
jetzt Geld auf der Crowdfunding-Plattform<br />
Seedmatch.<br />
Vergangene<br />
Woche erreichte er den<br />
Mindestwert von 50 000<br />
Euro, bis Mitte April peilt<br />
er 200 000 Euro an.<br />
maximilian nowroth | mdw@wiwo.de<br />
FOTOS: PR (3)<br />
14 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Menschen der Wirtschaft | Chefbüro<br />
Oliver Kastalio<br />
Chef des Brillenherstellers Rodenstock<br />
360 Grad<br />
In unserer iPad-<br />
<strong>Ausgabe</strong> finden<br />
Sie an dieser<br />
Stelle ein interaktives<br />
360°-Bild<br />
Die Brille liegt auf dem Schreibtisch.<br />
„Die brauche ich nur zum<br />
Lesen“, sagt Oliver Kastalio, 49.<br />
Und das auch erst seit Kurzem.<br />
„Bevor ich zu Rodenstock kam,<br />
hatte ich keine Brille.“ Im November<br />
20<strong>10</strong> heuerte er beim<br />
Münchner Hersteller von<br />
Brillenfassungen und Brillengläsern<br />
an und übernahm den<br />
Vorsitz der Geschäftsführung.<br />
Vorher hatte der diplomierte<br />
Elektroingenieur und Betriebswirt<br />
beim Konsumgüterkonzern<br />
Procter & Gamble gearbeitet.<br />
19 Jahre lang. Sein Büro in<br />
der Rodenstock-Zentrale hat<br />
Kastalio selbst gestaltet<br />
– mit dem, was er<br />
vorfand. Nur der<br />
Schreibtisch ist neu.<br />
Das Gemälde an der<br />
Wand hatte einer<br />
seiner Vorgänger<br />
angeschafft. Ein Werk<br />
des US-Künstlers David<br />
John Flynn aus der Serie<br />
„A Painter’s Missal“. „Es gefällt<br />
mir“, sagt Kastalio. Mehr begeistert<br />
ihn der Feigenbaum, der im<br />
Büro steht. „Ein alter Stamm,<br />
aus dem immer neue Blätter<br />
sprießen.“ So sieht Kastalio<br />
auch Rodenstock:ein traditionsreiches<br />
Unternehmen, das<br />
stets neue Ideen und<br />
Produkte entwickelt.<br />
Sein Büro betrachtet<br />
er als „Raum der Begegnung“.<br />
Ein Konferenztisch<br />
mit sechs<br />
Stühlen und ein<br />
Couchtisch mit Sesseln<br />
stehen dafür<br />
bereit. „Zu mir darf jeder kommen“,<br />
sagt der Chef. „Ich gehe<br />
aber auch oft durch das Unternehmen<br />
zu den Mitarbeitern.“<br />
Mit seiner Frau und den beiden<br />
Töchtern wohnt er 15 Kilometer<br />
südlich von München. Die Zeit<br />
mit der Familie ist ihm wichtig.<br />
Und der Sport. Kastalio rudert.<br />
„Ich verbringe allerdings mehr<br />
Zeit an der Rudermaschine als<br />
auf dem Wasser.“ Mit Freunden<br />
leistet er sich zudem einen<br />
Personal Trainer. Ein schweißtreibender<br />
Zeitvertreib. „Aber“,<br />
sagt Kastalio, „es fühlt sich gut<br />
an, wenn es vorbei ist.“<br />
hermann.olbermann@wiwo.de<br />
FOTO: DIETER MAYR FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
16 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Das Trauma sitzt tief<br />
RUSSLAND | Mit seinem Griff nach der Krim demonstriert Wladimir Putin, dass er keine<br />
weitere Erosion des russischen Einflussbereiches in Osteuropa hinnehmen will. Der<br />
Westen will den Autokraten nun mit Sanktionen stoppen – und wagt einen Konflikt mit<br />
der Wirtschaft. Die will eine Isolation ihres Wachstumsmarkts verhindern.<br />
Niemals nimmt Wladimir Putin<br />
eine Niederlage hin. Doch der<br />
12. März 1999 war für den russischen<br />
Präsidenten ein solch<br />
schwarzer Tag – einer, der sich<br />
als Trauma in sein Gedächtnis eingebrannt<br />
hat. Damals war Putin Chef des Geheimdienstes<br />
FSB, der in einer steinernen Trutzburg<br />
im Herzen von Moskau sitzt. An dem<br />
kalten Frühlingstag kam die Meldung, dass<br />
die Nato um Polen, Tschechien und Ungarn<br />
erweitert wird – obwohl der Westen<br />
den Russen versprochen hatte, dies nicht<br />
zu tun. Amerikaner, für den KGB-Oberst<br />
immer Feind geblieben, standen in Putins<br />
Verständnis schon an der russischen Grenze.<br />
Diese Demütigung hat er nie verdaut –<br />
nun schlägt er zurück.<br />
Mit der Invasion seiner Truppen auf der<br />
Halbinsel Krim schafft Putin Fakten: Der<br />
Kreml steckt seinen gefühlten Einflussbereich<br />
in Osteuropa militärisch und politisch<br />
ab. Putin will seine Macht im postsowjetischen<br />
Raum konservieren, indem<br />
er Nachbarn wie die Ukraine in der <strong>vom</strong><br />
Kreml dirigierten Eurasischen Wirtschaftsunion<br />
zusammenschnürt und ihre Annäherung<br />
an die EU verhindert. Die neue<br />
„Nachbarschaftspolitik“ des Potentaten<br />
wurzelt im Trauma der militärischen Einkreisung<br />
von 1999, das der „geopolitischen<br />
Katastrophe“ folgte, wie der Ex-Spion den<br />
Kollaps der Sowjetunion nennt. Der Westen<br />
hat diese Befindlichkeit nie verstanden<br />
– und Putin sträflich unterschätzt (siehe<br />
Streitgespräch auf Seite 30).<br />
Panik vor Putin macht sich nun im Westen<br />
breit. Den schwelenden Krim-Krieg hält<br />
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier<br />
(SPD) für „die größte Krise seit dem<br />
»Manch ein reicher<br />
Russe macht sich<br />
Sorgen um seine<br />
Konten in London«<br />
Günther Oettinger, EU-Energiekommissar<br />
Mauerfall“. Über Putin soll Bundeskanzlerin<br />
Angela Merkel (CDU) im Gespräch mit US-<br />
Präsident Barack Obama gesagt haben, er lebe<br />
„in seiner eigenen Welt“. Die ehemalige<br />
US-Außenministerin Hillary Clinton ließ<br />
sich gar zum Vergleich von Putin mit Hitler<br />
hinreißen. Nie war der Zorn auf den russischen<br />
Zampano so ausgeprägt wie heute.<br />
Europa fragt sich: Bleibt es auf der Krim bei<br />
der Machtdemonstration, oder annektiert<br />
Russland die Halbinsel, die Sowjetchef Nikita<br />
Chruschtschow 1954 aus einer Wodkalaunicht<br />
zustande, könnten Reisebeschränkungen<br />
und Konto-Einfrierungen (in enger<br />
Abstimmung mit den USA) für bestimmte<br />
Personen verhängt werden. Treibt Russland<br />
die Krise weiter auf die Spitze, werde<br />
es zu „weitreichenden Veränderungen unserer<br />
Beziehung zu Russland kommen“,<br />
kündigte Merkel an. Und fügte hinzu: „Wir<br />
wünschen uns das nicht.“<br />
Auch Washington fror eiligst russische<br />
Konten ein, Tschechen und Polen rufen<br />
wieder nach einer US-Raketenabwehr. Der<br />
alte Ost-West-Konflikt nimmt wieder kräftig<br />
Fahrt auf – und dies ist nicht nur ein politisches<br />
Fiasko, sondern auch ein ökonomisches.<br />
Denn die Krise kann auch die Wirtschaft<br />
mit voller Wucht treffen. Die Duma,<br />
das russische Parlament, berät über ein Gesetz,<br />
das die Enteignung ausländischer Unternehmen<br />
regelt. Der Ost-Ausschuss der<br />
Deutschen Wirtschaft warnt vor einer „dauerhaft<br />
abschreckenden Wirkung“, die das<br />
Gesetz auf Investoren hätte. Der Traum <strong>vom</strong><br />
„Wandel durch Handel“ auf den sich die<br />
Wirtschaft gern bezog, ist geplatzt – und eine<br />
deutsch-russische Modernisierungspartnerschaft<br />
„massiv ins Stocken geraten“, sagt<br />
der CDU-Bundestagsabgeordnete Philipp<br />
Mißfelder: „Dennoch müssen wir mit Russland<br />
kooperieren, denn es ist unser Nachbar<br />
und Europa kulturell eng verbunden.“<br />
Ist das so mit der Verbundenheit? In diesen<br />
Tagen ist hinter den Kulissen von Politik<br />
und Wirtschaft ein Kulturkampf um die<br />
Frage entbrannt: Müssen wir Europäer unsere<br />
Werte in Russland durchsetzen – und<br />
können wir das überhaupt? Oder sollten<br />
wir pragmatisch Geschäfte mit dem Rohstoffgiganten<br />
machen – wie mit dem demokratiefernen<br />
China auch? Die Positi-<br />
ne heraus an die ukrainische Sowjetrepublik<br />
verschenkt hat? Was wäre, wenn Putin die<br />
behauptete Bedrohung einer russischen<br />
Minderheit wie auf der Krim auch in der Ostukraine<br />
als Vorwand für einen Einmarsch<br />
nähme? Wenn er die Ukraine zur Teilung<br />
zwingt, womit Russland der industrialisierte<br />
Osten zufällt und die EU den strukturschwachen<br />
Westen teuer päppeln muss.<br />
Europa hat bereits die ersten Sanktionen<br />
gegen Putin beschlossen. In einem ersten<br />
Schritt werden die Verhandlungen über Visa-Erleichterungen<br />
ausgesetzt. Bundeskanzlerin<br />
Angela Merkel nannte das „eine<br />
erste aktive Maßnahme“, der weitere folgen<br />
könnten. Kommt etwa die Kontaktgruppe »<br />
FOTO: REUTERS/ALEXANDER DEMIANCHUK<br />
18 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Partner im Guten<br />
und Bösen<br />
Bundeskanzlerin Merkel,<br />
Präsident Putin<br />
Der Rubel rollt<br />
Deutscher Warenverkehr mit Russland<br />
(in Milliarden Euro)<br />
Exporte<br />
Importe<br />
26,4 31,8 34,540,9 38,142,8 36,140,4<br />
20<strong>10</strong> 2011 2012 2013<br />
Quelle:Ost-Ausschussder Deutschen Wirtschaft<br />
Tausche Auto gegen Öl und Gas<br />
Wichtigste Güterimdeutsch-russischen Handel (WarenwertinMilliarden Euro,<br />
Veränderung zum Vorjahr)<br />
Exporte nach Russland<br />
Kraftwagen und Zubehör<br />
Maschinenbau<br />
Chemische Erzeugnisse<br />
Datenverarbeitung, elektronische<br />
und optische Geräte<br />
Elektrische Ausrüstungen<br />
Quelle:Statistisches Bundesamt<br />
8,8 (+21,7%)<br />
8,4 (+8,3%)<br />
3,2<br />
2,8<br />
2,6<br />
(+13,1%)<br />
(+11,0%)<br />
(+6,9%)<br />
Importe aus Russland<br />
Erdöl und Erdgas<br />
Metalle<br />
Kokereierzeugnisse und<br />
Mineralölerzeugnisse<br />
Kohle<br />
Chemische Erzeugnisse<br />
31,8 (+4,3%)<br />
3,6 (–15,7%)<br />
3,5 (+46,2%)<br />
1,0 (+1,1%)<br />
0,8 (±0%)<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 19<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
»<br />
Öl auf Reisen Vom Verladebahnhof östlich<br />
von Moskau geht es ab nach Deutschland,<br />
dessen größter Öllieferant Russland ist<br />
on der Wirtschaft ist letztere und steht<br />
unabhängig <strong>vom</strong> Ausgang der Krim-Krise:<br />
Russland ist als Öl- und Gaslieferant, Absatzmarkt<br />
und Standort für Investitionen<br />
zu bedeutend, als dass man es sich mit Putin<br />
verscherzen kann.<br />
Eckhard Cordes, der Vorsitzende des<br />
Ost-Ausschusses der deutschen Wirtschaft,<br />
warnt eindringlich vor weiteren Sanktionen:<br />
„Unsere Volkswirtschaften sind so<br />
voneinander abhängig, dass wir uns mit<br />
solch unsinnigen Strafmaßnahmen gegenseitig<br />
enorm schaden würden.“ Die<br />
Schockfrostung der Beziehungen zu Russland<br />
will auch Volker Treier verhindern, Vize-Chef<br />
des Deutschen Industrie- und<br />
Handelskammertags. „Enormen Flurschaden“<br />
habe die Krise schon angerichtet:<br />
„Kapitalabfluss und Rubel-Verfall bremsen<br />
die Konjunktur in Russland.“<br />
Russland zählt trotz virulenter Bürokratie<br />
und Korruption zu den wichtigsten<br />
Wachstumsmärkten deutscher Unternehmen,<br />
bald nach China und weit vor Brasilien.<br />
Rund 7000 Unternehmen sind in<br />
Russland registriert, viele betreiben eigene<br />
Fabriken in dem Land mit seinen 143 Millionen<br />
Einwohnern (siehe Seite 28). Fast 40<br />
Prozent des deutschen Gasaufkommens<br />
stammen aus russischen Fördergebieten,<br />
das Land ist momentan größter Öllieferant<br />
der Bundesrepublik.<br />
NAHEZU STAGNATION<br />
All das ist plötzlich in Gefahr. Zwar liefen<br />
die Geschäfte schon im vergangenen Jahr<br />
nicht blendend: Das russische Wachstum<br />
des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 1,4<br />
Prozent bedeutet für ein Land, das einen<br />
hohen Investitionsbedarf aufweist, nahezu<br />
Stagnation. Sobald nun Investoren aus<br />
Kassenschlager Großhändler Metro macht<br />
in Russland und der Ukraine einen Umsatz<br />
von 5,3 Milliarden Euro<br />
Furcht vor einem Wirtschaftskrieg ihr Kapital<br />
„on hold“ setzen, könnte dies Russland<br />
in die Rezession treiben.<br />
Das gilt im Fall von Sanktionen auch für<br />
die Konjunktur in ganz Europa. Zumal die<br />
Ukraine ein wichtiger Transitkorridor für<br />
Gas in den Westen ist, den der Kreml dann<br />
trockenlegen könnte. „Angesichts der wirtschaftlichen<br />
Verflechtungen zwischen der<br />
EU und Russland besteht die Gefahr, dass<br />
die zarte Erholung der europäischen Wirtschaft<br />
beeinträchtigt wird“, warnt EU-Energiekommissar<br />
Günther Oettinger (siehe Interview<br />
Seite 40). Der CDU-Politiker hält<br />
aber eine „Eskalation von Sanktionen“ für<br />
möglich.<br />
Aktuell freilich setzt die drastische Abwertung<br />
des Rubel vielen Unternehmen<br />
Energie aus dem Osten<br />
Deutsche Öl-und Gasimporte<br />
aus Russland<br />
1,6<br />
40<br />
Gas (in Mio.Terajoule)<br />
1,4<br />
35<br />
Öl (in Mio.Tonnen)<br />
1,2<br />
30<br />
2000 2004 2008 2012<br />
Quelle: Bundesamt für Wirtschaftund Ausfuhrkontrolle<br />
Im Gleichklang<br />
Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner in<br />
Russland und Deutschland (kaufkraftbereinigt,<br />
in Dollar)*<br />
2005 2007 2009<br />
*ab<strong>2014</strong>Prognose; Quelle:IWF<br />
45 000<br />
40 000<br />
Deutschland 35 000<br />
30 000<br />
25 000<br />
20 000<br />
15 000<br />
Russland<br />
<strong>10</strong> 000<br />
5000<br />
2011 2013 2015<br />
Stark am Markt<br />
Deutsche Direktinvestitionen in<br />
Russland (kumuliert, in Milliarden Euro)<br />
<strong>10</strong><br />
2005 2006 2007 2008 2009 20<strong>10</strong><br />
Quelle:AHK Russland, Rosstat<br />
8<br />
6<br />
4<br />
2<br />
0<br />
2011<br />
FOTOS: BLOOMBERG NEWS/ANDREY RUDAKOV, METRO, IMAGO/ITAR TASS<br />
20 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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SIEMENS<br />
Loks für Putin<br />
Dank der guten Drähte in den<br />
Kreml ist der Technologieriese in<br />
Russland bestens im Geschäft.<br />
Bahn frei! In einer Fabrik am Ural baut<br />
Siemens mit dem russischen Partner Sinara<br />
Lokomotiven für die Staatsbahn RZD<br />
zu. Binnen Jahresfrist hat die Währung<br />
zum Euro rund ein Drittel an Wert verloren.<br />
„Wir haben hier alle Angst um die Gewinne“,<br />
sagt der Russland-Chef eines deutschen<br />
Maschinenbauers in Moskau. Investoren<br />
mit Montagebetrieb in Russland<br />
müssen in Deutschland ihre Teile auf Euro-<br />
Basis einkaufen. Ihre Endprodukte verkaufen<br />
sie ab Werk gegen Rubel. Wer vor Ort<br />
produziert, leidet doppelt unter dem Währungsverfall:<br />
Der Einkauf wird teurer – und<br />
<strong>vom</strong> Umsatz bleibt in Euro weniger übrig.<br />
Österreichs Bauriese Strabag, der in<br />
Russland 1800 Mitarbeiter beschäftigt,<br />
steht wegen der Teuerung der aus Europa<br />
zugelieferten Teile unter Druck. Am kostspieligen<br />
Import leidet auch Autobauer<br />
BMW, der in Kaliningrad kleinere Modelle<br />
endmontieren lässt. Vorstandschef Norbert<br />
Reithofer mag noch nicht einschätzen,<br />
wie sich die Spannungen auf das Geschäft<br />
auswirken werden. Er warnt allerdings:<br />
„Auch die Finanzkrise 2008 fing ja mal ganz<br />
klein an.“ Sanktionen des Westens würden<br />
für die Branche jedenfalls schwere Konsequenzen<br />
haben.<br />
Bilanzielle Folgen hat die Krim-Krise für<br />
den Handelskonzern Metro, der sich eines<br />
starken Russland-Geschäfts rühmt. Im vergangenen<br />
Jahr setzten die Kaufleute dort<br />
5,3 Milliarden Euro über die Großmarktsparte<br />
und die Elektroniktochter Media<br />
Markt um. In der Ukraine betreibt Metro 33<br />
Märkte, darunter zwei auf der Krim. Jüngst<br />
hatten die Düsseldorfer signalisiert, bis zu<br />
25 Prozent ihrer russischen Großhandelstochter<br />
in London an die Börse zu bringen.<br />
Erlöse von bis zu einer Milliarde Euro sollten<br />
in das Wachstum des Konzerns fließen.<br />
Daraus wird nun eher nichts. Nach der<br />
jüngsten Eskalation müssen die Börsenpläne<br />
wohl verschoben werden, die Bewertung<br />
könnte nach unten korrigiert werden.<br />
Entsprechend besorgt reagierten Anleger<br />
(siehe Seite 22). Der Aktienkurs der Metro-<br />
Gruppe brach nach der Krim-Besetzung<br />
ein. Ähnlich lief es bei Adidas. Russland ist<br />
für den deutschen Sportausrüster einer der<br />
wichtigsten Märkte der Welt. Noch laufen<br />
die Geschäfte, doch „wenn der Konflikt andauert,<br />
wird das die Verbraucher nervöser<br />
machen“, so Adidas-Chef Herbert Hainer.<br />
GEWINN DURCH SOTSCHI<br />
Abschreckend wirken die Turbulenzen der<br />
vergangenen Tage auch für Lebensmittelhändler,<br />
die mit der Expansion gen Osten<br />
geliebäugelt hatten. „Die dürften Russland<br />
vorerst von ihrer Expansionsliste streichen“,<br />
sagt Boris Planer, Osteuropaexperte<br />
<strong>vom</strong> Informationsdienst Planet Retail in<br />
Frankfurt. Das Problem: Neue Filialen<br />
rechnen sich erst nach sieben bis zehn Jahren,<br />
Immobilieninvestments sind auf Jahrzehnte<br />
ausgelegt. „Putin hat das Vertrauen<br />
in die langfristige Stabilität beschädigt“,<br />
sagt Planer. Nun würden Händler verstärkt<br />
auf China oder Südamerika ausweichen.<br />
Entspannter ist man bei der EADS Airbus<br />
Group. Zwar bezieht der Flugzeugbauer<br />
60 Prozent seines Titans von VSMPO-<br />
Avisma in Russland, was sich kurzfristig<br />
nicht ersetzen ließe. „Aber Airbus könn-<br />
»<br />
Es war ein trüber Februartag, und draußen<br />
tobte die Finanzkrise, da ließ der<br />
Österreicher Peter Löscher seinen Siemens-Vorstand<br />
nach Moskau jetten –<br />
und zur regulären Sitzung antreten. Die<br />
Herren aus München trafen auch Wladimir<br />
Putin, der damals, im Jahr 2009,<br />
gerade Premierminister war. Der heutige<br />
Kremlchef liebt solch eine Symbolik:<br />
Siemens steht zum russischen Markt,<br />
während andere Investoren ihr Geld in<br />
Sicherheit bringen. Immerhin schlitterte<br />
die russische Wirtschaft in jenem trüben<br />
Jahr in eine schwere Rezession.<br />
NEUE LIEFERUNGEN<br />
Die Belohnung ließ nicht lange auf sich<br />
warten: Siemens bekam Zugang zu einem<br />
Gemeinschaftsunternehmen mit<br />
dem russischen Lokomotivenhersteller<br />
Sinara; in dessen Fabrik am Ural bauen<br />
die Partner Loks im Wert von 2,5 Milliarden<br />
Euro. Abnehmer ist die russische<br />
Staatsbahn RZD, der mit Wladimir Jakunin<br />
ein Duz-Freund Putins vorsteht.<br />
Siemens ist überdies bei der Modernisierung<br />
von Stromleitungen im Geschäft,<br />
die Münchner bauen Transformatoren<br />
in einem Werk im Süden des<br />
Landes. Dieses Jahr stehen neue Lieferungen<br />
für den ICE ins Haus, der in<br />
Russland „Sapsan“ heißt und dem Konzern<br />
dank der Vollausstattung auch<br />
mehr Geld einbringt als die Züge, die<br />
die Deutsche Bahn erhält.<br />
Trotz der Russland-Erfolge hat Peter<br />
Löscher seinen Hut nehmen müssen,<br />
und der gut vernetzte und geschickte<br />
Russland-Chef Dietrich Möller geht bald<br />
in den Ruhestand. Ob Russland ein Erfolg<br />
für den neuen CEO Joe Kaeser wird,<br />
hängt vermutlich von seinem Verhältnis<br />
zu Putin ab. Mit dem muss klarkommen,<br />
wer in Russland die Sahnehäppchen<br />
abbekommen will. Löscher<br />
profitiert davon auch nach seinem<br />
Rausschmiss: Der Oligarch Viktor Wekselberg<br />
hat ihn für seine Schweizer Holding<br />
Renova Management angeheuert.<br />
florian.willershausen@wiwo.de<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 21<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
BÖRSE<br />
Milde eingelullt<br />
Die Intervention auf der Krim hat die Märkte nur kurz geschockt.<br />
Doch für eine allgemeine Entwarnung ist es zu früh.<br />
Es dauerte ein paar Tage, bis die Masse<br />
der Marktteilnehmer an den Börsen<br />
begriff, was sich da am Nordufer des<br />
Schwarzen Meeres zusammengebraut<br />
hatte: Am Freitag vorvergangener Woche<br />
gab der deutsche Leitindex Dax plötzlich<br />
merklich nach, scheinbar ohne Grund. Bis<br />
dahin hatten die Börsen die Krise in der<br />
Ukraine wochenlang geflissentlich ignoriert.<br />
Denn die dortige Wirtschaft ist klein;<br />
es gibt wenig Direktinvestitionen. Doch<br />
Montag vergangener Woche folgte, quasi<br />
mit Ansage, der Crash: Der Dax verlor 3,4<br />
Prozent – der stärkste Tagesverlust seit<br />
dem Höhepunkt der Euro-Krise im Sommer<br />
2012. Auch die Börsen in New York<br />
und London gaben nach. Doch die Verluste<br />
dort hielten sich mit jeweils gut einem<br />
Prozent in Grenzen; inzwischen hat der<br />
US-Aktienindex S&P 500 mit seinem<br />
Anstieg auf über 1850 Punkte sogar ein<br />
neues Kaufsignal gegeben.<br />
Der nächste Winter kommt bestimmt<br />
Wie sich Anleger gegen steigende Energiepreise wappnen<br />
Investment (Name/Art)<br />
Erdgas long /Faktorzertifikat<br />
Brent Oil long /Faktorzertifikat<br />
Statoil /Aktie<br />
Total /Aktie<br />
ISIN<br />
* in Euro; Stand: 6 März <strong>2014</strong>; Quelle: Bloomberg<br />
DE000CZ34JM3<br />
DE000GT1G6L8<br />
NO00<strong>10</strong>096985<br />
FR0000120271<br />
Kurs*<br />
0,80<br />
19,58<br />
19,81<br />
47,05<br />
Stoppkurs<br />
0,64<br />
16,25<br />
16,00<br />
35,00<br />
Chance/Risiko<br />
9/8<br />
9/8<br />
8/7<br />
7/6<br />
DRITTWICHTIGSTER PARTNER<br />
Dass deutsche Aktien stärker unter Druck<br />
gerieten als andere, ist kein Zufall: Die<br />
deutsche Wirtschaft ist – neben der Österreichs,<br />
Finnlands und der Niederlande<br />
– von allen EU-Ländern am stärksten mit<br />
der russischen verflochten. Während die<br />
USA 2013 nur Waren und Dienstleistungen<br />
im Wert von rund 38 Milliarden Dollar<br />
mit Russland handelte, summierte sich<br />
das Handelsvolumen mit der EU auf 280<br />
Milliarden Dollar. Russland ist nach China<br />
und den USA damit der drittwichtigste<br />
Handelspartner der EU.<br />
Die derzeit konkreteste Gefahr für Aktien,<br />
besonders die deutschen, sind die<br />
von den USA geforderten Wirtschaftssanktionen.<br />
Die träfen die deutsche Börse<br />
hart – nicht ohne Grund laufen Verbände<br />
und Konzernführer dagegen Sturm.<br />
Für viele deutsche Exportunternehmen<br />
ist Russland ein wichtiger Abnehmer. Vor<br />
allem Chemie- und Maschinenbauunternehmen<br />
haben viele russische Kunden.<br />
Sanktionen und die zu erwartende russische<br />
Retourkutsche träfen nicht diejenigen,<br />
die sie am lautesten fordern (USA), sondern<br />
vor allem deutsche Firmen und dort die<br />
energieintensiven Branchen wie Stahl und<br />
Chemie.<br />
Aktien wie BASF und Thyssen zeigten<br />
sich folgerichtig zu Beginn der Woche deutlich<br />
anfälliger für die Ukraine-Krise als der<br />
Dax-Durchschnitt; aber auch Titel von Unternehmen<br />
mit starkem Russland-Umsatz,<br />
wie Stada und Adidas, kamen unter Druck.<br />
Am stärksten drückte die Krim-Krise freilich<br />
in Moskau die Kurse; der dortige Index<br />
RTS gab zwischenzeitlich um 15 Prozent<br />
nach, Gazprom verlor Montag vergangener<br />
Woche ein Sechstel seines Wertes. Die<br />
Börse zeigt klar, wen sie für den Hauptleidtragenden<br />
einer Eskalation der Krise hält:<br />
Russland selbst. Die Industrie des Landes<br />
ist entsprechend beunruhigt.<br />
Die größte Sorge im Westen ist, neben<br />
dem Einfrieren westlicher Firmenvermögen,<br />
dass die Russen den Gashahn zudrehen<br />
könnten; immerhin knapp 40 Prozent des<br />
in Deutschland verfeuerten Erdgases stammen<br />
aus russischen Quellen, Spitzenwert in<br />
Westeuropa. Aus Russland stammen 11<br />
Prozent des globalen Ölangebotes und 19<br />
Prozent des Erdgases.<br />
Steigende Energiepreise wären also für<br />
den Fall einer wirtschaftlichen und politischen<br />
Isolierung Russlands hochwahrscheinlich.<br />
„Die Krim hat das Thema Versorgungssicherheit<br />
schockartig wieder<br />
auf die Agenda gesetzt; der warme Winter<br />
hatte westeuropäische Unternehmer und<br />
Energiepolitiker zuvor ein bisschen eingelullt“,<br />
urteilt Seth Kleinman, Energieanalyst<br />
bei der Citibank in London.<br />
NOCH IST NICHTS PASSIERT<br />
Charttechnisch ist bisher nichts Dramatisches<br />
passiert. Das Kursbild im Dax<br />
zeigt nur einen Knacks, noch keinen<br />
Trendbruch in der seit 2009 anhaltenden<br />
Hausse. Sollte sich die Krise in den<br />
nächsten Wochen aber verschärfen, wird<br />
es zu einer Probe kommen: Bei 9200<br />
Punkten verläuft eine wichtige Basislinie,<br />
die der Dax möglichst nicht unterschreiten<br />
sollte. Wenn doch, hätte er nach klassischen<br />
Chart-Regeln eine Abwärtswende<br />
vollzogen, die dann eine mehrmonatige<br />
Baisse in Richtung 8000 Punkte einleiten<br />
könnte.<br />
Anleger sollten jetzt Risiko aus ihren<br />
Portfolios nehmen, meint Luca Paolini,<br />
Chefstratege der Genfer Bank Pictet,<br />
sprich: bei Aktien Gewinne mitnehmen.<br />
„Zumal auch von den Schwellenländern<br />
außerhalb Russlands <strong>2014</strong> keine Impulse<br />
kommen dürften und das Wachstum<br />
der Weltwirtschaft sich insgesamt abschwächt.“<br />
Die aktuelle Rally geht zudem<br />
bereits in ihr sechstes Jahr, „historisch<br />
sind so lange Rallys sehr selten“, sagt<br />
Paolini, „die Ukraine hat lediglich den in<br />
letzter Zeit in Vergessenheit geratenen<br />
Risikofaktor eines exogenen Schocks in<br />
Erinnerung gerufen.“<br />
Dazu komme, dass die Stimmung der<br />
meisten Anleger schon wieder nahe an<br />
einer gefährlichen Euphorie sei, sagt Paolini.<br />
Es muss nicht gleich im Crash enden,<br />
aber wahrscheinlich sind, neben einer<br />
allgemeinen Pause in der Aktienhausse,<br />
steigende Energiepreise. „Der Markt war<br />
bis Ende Februar extrem überkauft, die<br />
Investoren allgemein zu sorglos“, sagt<br />
auch Dieter Helmle, Vorstand des Frankfurter<br />
Vermögensverwalters Capitell. „Mit<br />
der Ukraine ist einfach ein Risikofaktor<br />
mehr hinzugekommen, langfristig aber<br />
fehlen die echten Alternativen, um ganz<br />
aus Aktien rauszugehen.“ Mit den Investments<br />
in der Tabelle sichern Anleger sich<br />
gegen steigende Energiepreise ab;<br />
allerdings sollten sie nur als kleine Beimischung<br />
im Depot fungieren.<br />
stefan.hajek@wiwo.de, anton riedl<br />
22 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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FOTO: IMAGO/ITAR TASS<br />
Scharfe Augen Russlands Zoll kontrolliert<br />
an den Grenzen zur Ukraine neuerdings jede<br />
Fuhre. Was Spediteure Schikane nennen<br />
»<br />
te Ersatz in Kasachstan finden“, meint<br />
ein Insider. Aus den Kooperationen zum<br />
Bau von Waffen wurde nichts, der Markt für<br />
neue Flugzeuge fällt kaum ins Gewicht.<br />
PRUNK UND PROTZ<br />
Keine vier Wochen ist es her, da schien<br />
noch die Sonne über Putins Russland. Der<br />
Autokrat hatte nach Sotschi ans Schwarze<br />
Meer geladen. Mit Prunk und Protz wollte<br />
er der Welt beweisen, wie seine moderne<br />
Heimat Olympische Winterspiele an einem<br />
unmöglichen Ort möglich ausrichten<br />
kann – in einem Badeort mit subtropischen<br />
Temperaturen, über dem ein Skigebiet mit<br />
bestens präparierten Hängen thront. Nie<br />
zuvor hatte sich ein Staat die Spiele so viel<br />
kosten lassen wie Russland (wobei ein Teil<br />
der investierten 50 Milliarden Dollar in den<br />
Taschen von Putin-Bekannten gelandet<br />
sein soll). Auch deutsche Unternehmer<br />
hatten mit dem Bau von Tunnel, Klimaanlagen<br />
und Messtechnik zusammen einige<br />
Hundert Millionen Euro Umsatz gemacht.<br />
Spott und Häme indes gossen internationale<br />
Medien über die Spiele der Russen, auf<br />
die Putin so stolz war. Es ging mehr um fehlende<br />
Trennwände in Toiletten als um das<br />
Sportfest, dessen prachtvolle Inszenierung<br />
den Landsleuten gefiel. Westliche Politiker<br />
blieben den Spielen wegen der Anti-Homo-<br />
Gesetze und Menschenrechtsverletzungen<br />
fern. Spätestens da dürfte Putin jeden Zweifel<br />
verloren haben: Aus seinem Verhältnis<br />
zum Westen wird nie ein gutes werden – zumal<br />
er deren Werte nie verstanden hat.<br />
Umso wichtiger ist für Putin die Unterstützung<br />
im Inland. Proteste der Russen<br />
gegen seinen Kurs kann er nicht gebrauchen<br />
– und notfalls werden sie mit Geld zugekleistert.<br />
Togliatti, im Februar 20<strong>10</strong>. Im längsten<br />
Autowerk der Welt stehen die Bänder still –<br />
der Markt will die rückständigen Kleinwagen<br />
nicht haben, die sie hier in Südrussland<br />
am Ufer der Wolga fertigen. Dennoch<br />
schlurfen Arbeiter zwischen Schneebergen<br />
täglich ins Werk, denn dank Finanzspritzen<br />
aus Moskau kann Hersteller Awtowas Massenentlassungen<br />
vermeiden. Da der Hof<br />
mit Autos überfüllt ist, müssen die Arbeiter<br />
ihre Fabrik putzen. Manche dürfen bezahlt<br />
zu Hause bleiben. Und trotzdem kommt es<br />
zu Protesten gegen die Regierung. Den<br />
Leuten erscheint es komisch, dass sie seit<br />
Wochen keine Autos mehr bauen.<br />
In jenen Tagen erreichten den damaligen<br />
Premierminister Putin ständig Hiobsbotschaften.<br />
Nicht nur in Togliatti demonstrieren<br />
Arbeiter, auch in Kaliningrad im<br />
Westen und in Archangelsk ganz hoch im<br />
Norden gehen die Menschen auf die Straße.<br />
Putin hat Glück, dass die Wirtschaft<br />
nach einem BIP-Minus von 7,8 Prozent im<br />
Vorjahr wieder auf Trab kam und auch in<br />
Togliatti bald wieder die Bänder rollten.<br />
Putin ist seitdem so etwas wie ein laufendes<br />
Konjunkturpaket: Steuereinnahmen<br />
aus dem Öl- und Gasexport steckt er in Infrastruktur<br />
und Staatsunternehmen. Er<br />
kreiert neue Jobs, und die Werktätigen<br />
wählen Putin – das Heer an Beamten, Soldaten<br />
und Rentnern erst recht. Heute trägt<br />
der Staat mehr als 50 Prozent der russischen<br />
Wirtschaftskraft und wird damit der<br />
alten Sowjetunion immer ähnlicher.<br />
WILLFÄHRIGER DIENER<br />
Jewgeni Gontmacher ist einer jener Ökonomen,<br />
die Russland modernisieren wollten.<br />
Er zählte zum Beraterkreis des Ex-Präsidenten<br />
Dmitri Medwedew, heute wie damals<br />
ein willfähriger Diener Putins. Der liberale<br />
Gontmacher glaubt immer noch,<br />
Medwedew hätte das Land mit seiner Privatisierung,<br />
dem Kampf gegen Rechtsnihilismus<br />
und Korruption oder der Förderung<br />
von Innovationen reformieren können,<br />
wenn ihm nur nicht die Wirtschaftskrise in<br />
die Quere gekommen wäre: „Putin übernahm<br />
selbst das Steuer und stoppte unsere<br />
Experimente mit der Liberalisierung.“<br />
Das letzte Zucken der Liberalisierung<br />
zeigte sich kurz vor Weihnachten 2011 auf<br />
dem Bolotnaja-Platz gegenüber des Kreml.<br />
Damals trieben Wahlfälschungen Russlands<br />
urbane Mittelschicht auf die Straße,<br />
um gegen die Selbstgefälligkeit und Arroganz<br />
der korrupten Putin-Elite zu demonstrieren.<br />
Die Proteste schliefen ein. Seither<br />
herrscht in der russischen Mittelschicht<br />
gepflegte Lethargie: Die Russen in den<br />
Städten verdienen gutes Geld, denen in<br />
»<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 23<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
E.ON<br />
Weites und<br />
hungriges Land<br />
Der deutsche Versorger ist vor<br />
allem mit Gaskraftwerken in Russland<br />
aktiv – und verdient kräftig.<br />
Für den deutschen Energiekonzern<br />
E.On ist Russland einer der wichtigsten<br />
Wachstumsmärkte jenseits der EU-<br />
Grenzen. Der Strombedarf in Russland<br />
ist gewaltig, es ist ein „energiehungriges<br />
Land“, sagt ein E.On-Manager. In<br />
einigen Regionen wie Kaluga, südwestlich<br />
von Moskau, wo VW und Continental<br />
Werke unterhalten (siehe Seite 28),<br />
droht Energieknappheit. E.On erwarb<br />
2007 ein russisches Gaskraftwerkskonglomerat<br />
für vier Milliarden Euro. Seitdem<br />
hat E.On die Kraftwerke modernisiert<br />
und erwartet aus der Tochter E.On<br />
Russia einen Jahresgewinn von einer<br />
Milliarde Euro. Das Erdgas kann aus<br />
eigenen Feldern im nordsibirischen<br />
Juschno Russkoje bezogen werden.<br />
Daran halten E.On und Wintershall, eine<br />
BASF-Tochter, je 25 Prozent, Gazprom<br />
die restlichen 50 Prozent.<br />
NORD STREAM IM FOKUS<br />
Eine wichtige Rolle spielt für E.On die<br />
Ostseepipeline Nord Stream, die von<br />
Gazprom beherrscht wird. Das Unternehmen<br />
hat seinen Sitz im schweizerischen<br />
Zug. Gazprom hält 51 Prozent an<br />
der Ostseepipeline, die <strong>vom</strong> russischen<br />
Wyborg durch die Ostsee an Polen vorbei<br />
nach Lubmin bei Greifswald führt.<br />
Von dort aus wird das Erdgas in die<br />
deutschen Industriezentren weitergeleitet.<br />
E.On und Wintershall halten je 15,5<br />
Prozent an Nord Stream, den Rest halten<br />
niederländische und französische<br />
Versorger. Den Aktionärsausschuss von<br />
Nord Stream führt der frühere Bundeskanzler<br />
Gerhard Schröder (SPD) an, der<br />
bisher stets für Putin Partei ergriffen<br />
hat. E.On-Manager hoffen, dass der<br />
Konflikt zwischen EU, USA und Russland<br />
entschärft wird. Dass der Hahn der<br />
Ostseepipeline zugedreht wird, halten<br />
E.On-Manager für unwahrscheinlich, da<br />
Gazprom auf den Absatz seines Erdgases<br />
in Westeuropa angewiesen sei.<br />
andreas.wildhagen@wiwo.de<br />
Strom nach Plan E.On kaufte für vier Milliarden<br />
Euro einen russischen Versorger. Der<br />
wirft heute eine Milliarde Profit pro Jahr ab<br />
»<br />
der Provinz erhöht Putin regelmäßig ihre<br />
kargen Löhne. Zum Dank darf Putin walten,<br />
wie er will.<br />
Lange geht das nicht mehr gut. Putins<br />
Wirtschaftsmodell pfeift wie eine uralte<br />
Dampfmaschine aus allen Löchern. Obwohl<br />
der Ölpreis bei mehr als <strong>10</strong>0 Dollar<br />
pro Barrel liegt, wird es Russland auf einen<br />
Zeitraum von zehn Jahren nicht über ein<br />
Wachstum von zwei Prozent schaffen,<br />
rechnet Alexei Wedew vor, Ökonom am<br />
Moskauer Gaidar-Institut für Wirtschaftspolitik.<br />
Es fehlt allenthalben an Wertschöpfung:<br />
Russland exportiert den Großteil des<br />
Rohöls ins Ausland, um es dann als Benzin<br />
aus Weißrussland oder Kasachstan zurückzukaufen.<br />
Wer in Russland Geld hat, schafft<br />
es auf ausländische Konten, statt damit im<br />
Inland Fabriken zu bauen. Die Hälfte der<br />
russischen Studenten träumt von einer Beschäftigung<br />
beim Staat statt von Selbstständigkeit<br />
– kein Wunder, denn die Bürokratie<br />
macht jede Unternehmensgründung<br />
zum Spießrutenlauf.<br />
AUF SAND GEBAUT<br />
So hängt ein ganzes Land am Rocksaum<br />
von Wladimir Putin, der die Milliarden verteilt.<br />
Doch was passiert, wenn eine Rezession<br />
kommt und das Durchfüttern maroder<br />
Staatsbetriebe die Regierung so überfordert,<br />
dass Massenentlassungen unausweichlich<br />
sind? Wenn sich die Arbeiter mit<br />
der urbanen Mittelschicht zusammenraufen<br />
und gegen das auf Sand gebaute Wirtschaftsmodell<br />
protestieren? Dann könnte<br />
es für Putin so ungemütlich werden wie für<br />
den ukrainischen Kleptokraten Viktor Janukowitsch<br />
in Kiew.<br />
Davor hat Putin Angst, weshalb er seine<br />
Kritiker mithilfe seiner vorauseilend gehorsamen<br />
Justiz gerne in Straflager sperrt. Und<br />
im staatlich kontrollierten Fernsehen das<br />
Ruhelied von der Stabilität singen lässt.<br />
Vorläufig funktioniert Putins Russland<br />
noch. Deutsche Unternehmen haben sich<br />
mit Putins Staatskapitalismus arrangiert.<br />
Der frühere Siemens-Chef Peter Löscher<br />
war gern und häufig bei Putin zu Gast, was<br />
ihm wohl half, den Zuschlag für lukrative<br />
Staatsaufträge zu ergattern (siehe Seite 21).<br />
Wer Putins Gunst hat und sich zur Politik<br />
nicht äußert, kann gefahrlos seinen Geschäften<br />
nachgehen. „Im Moment beobachten<br />
die Behörden genau, ob sich ein Investor<br />
jetzt zum Standort bekennt oder ob<br />
er wie die Idioten im Westen nach Sanktionen<br />
ruft“, sagt ein Investor.<br />
Niemand hätte sich solch eine Eskalation<br />
träumen lassen. Vor zwei Wochen standen<br />
die Zeichen zwischen Berlin und Moskau<br />
auf Neustart. Die Phase der schwarzgelben<br />
Regierung war keine gute für das bilaterale<br />
Verhältnis. Übel stieß Investoren<br />
immer wieder auf, dass Bundestagsabge-<br />
»Politiker sollten<br />
Unstimmigkeiten<br />
nicht vor der Kamera<br />
besprechen«<br />
Gerd Lenga, Knauf Gruppe<br />
ordnete und FDP-Bundesaußenminister<br />
Guido Westerwelle die Russen mit „Zeigefinger-Diplomatie“<br />
vor den Kopf gestoßen<br />
hatten. „Die sollen Unstimmigkeiten ansprechen,<br />
aber nicht vor laufenden Kameras“,<br />
so Gerd Lenga, der in Frank-Walter<br />
Steinmeier auf einen feinfühligeren Außenminister<br />
hofft.<br />
Lenga ist kein Hinterbänkler. Der Jurist<br />
ist seit 25 Jahren in Moskau tätig und führte<br />
lange das Russland-Geschäft von Knauf,<br />
wo er heute Berater ist. Der fränkische<br />
Gipshersteller ist mit mehr als 20 Niederlassungen<br />
im GUS-Raum einer der größten<br />
deutschen Investoren in Russland. Lenga<br />
kennt die Sollbruchstellen des russischen<br />
Wirtschaftssystems, er benennt sie auch.<br />
Aber der politische Ton gefällt ihm nicht.<br />
„Es ist mir unverständlich, wie die deutsche<br />
Politik in der Ukraine klar Partei für<br />
die Opposition ergreifen konnte“, zürnt<br />
Lenga. „Die ökonomischen Folgen muss<br />
die Wirtschaft jetzt ausbaden.“ Nun hofft<br />
Lenga, dass weiter reichende Sanktio-<br />
»<br />
FOTO: E.ON<br />
24 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
VOLKSWAGEN<br />
Kohle und Knute<br />
Dem Autobauer bröckelt in Russland<br />
die Nachfrage weg. Noch geht<br />
es ihm besser als der Konkurrenz.<br />
Martin Winterkorn hat einige Klimmzüge<br />
machen müssen – aber theoretisch<br />
ist das Ziel erreicht: Volkswagen könnte<br />
in Russland 300 000 Autos lokal fertigen<br />
lassen. Den Großteil stellen die<br />
Wolfsburger in ihrem eigenen Werk her,<br />
das 170 Kilometer südwestlich von<br />
Moskau in Kaluga liegt. Vor gut einem<br />
Jahr startete zudem die Lohnfertigung<br />
in Nischni Nowgorod östlich von Moskau,<br />
wo der einstige Wolga-Hersteller<br />
GAZ dem deutschen Autoriesen als<br />
Lohnfertiger zu Diensten steht.<br />
Somit erfüllt Volkswagen alle Forderungen<br />
der russischen Regierung: Die<br />
zwingt Autobauer per Dekret dazu, im<br />
Inland Kapazitäten aufzubauen und einen<br />
Großteil der Zuliefererteile aus russischen<br />
Werken zu beziehen. Andernfalls<br />
könnten die Behörden Zollvorteile<br />
auf jene teuren Teile streichen, die weiterhin<br />
importiert werden. Der Kreml will<br />
damit ausländische Hersteller zur Wertschöpfung<br />
vor Ort zwingen und nimmt<br />
sich so China zum Vorbild, das mit dieser<br />
Politik schon in den Achtzigerjahren<br />
begonnen hat.<br />
SORGE UM DIE KRIM<br />
Die Sache hat nur einen Haken: Die<br />
Nachfrage in Russland bricht gerade<br />
weg – nicht im Traum kann Volkswagen<br />
die opulenten Kapazitäten auslasten.<br />
2013 gingen die Verkäufe der Marke<br />
VW um etwa fünf Prozent auf 156 000<br />
Fahrzeuge zurück. Wobei die Konkurrenz<br />
stärker im Minus war. Hinzu<br />
kommt jetzt die Sorge um die Entwicklungen<br />
auf der Krim. VW-Chef Martin<br />
Winterkorn sagte der WirtschaftsWoche:<br />
„Als großer Handelspartner blicken<br />
wir mit Sorge in die Ukraine und<br />
nach Russland.“ Er verwies dabei nicht<br />
nur auf das VW-Werk Kaluga, sondern<br />
auch auf die Nutzfahrzeugtochter MAN,<br />
die in St. Petersburg derzeit ein eigenes<br />
Werk hochfährt. Der Lkw-Markt ist von<br />
der Rezession betroffen, da die Baukonjunktur<br />
schwächelt.<br />
florian.willershausen@wiwo.de, franz rother<br />
Neue Autostadt VW öffnete 2007 in Kaluga<br />
ein Werk, um als erster deutscher Hersteller<br />
Autos in Russland für Russland zu bauen<br />
»<br />
nen in den Schubladen der Brüsseler<br />
EU-Beamten bleiben.<br />
Rechtlich möglich wäre vieles, sagt Dirk<br />
Hagemann, Rechtsanwalt für Außenhandel<br />
im hessischen Büdingen. „Die EU kann<br />
gegen Einzelpersonen oder Staaten Sanktionen<br />
beschließen, was einen gemeinsamen<br />
Beschluss des Europäischen Rats voraussetzt.“<br />
In der Geschichte sei der außenpolitische<br />
Erfolg von Sanktionen allerdings<br />
unterschiedlich, so Hagemann. „Nur sehr<br />
zielgerichtete Sanktionen versprechen Erfolg,<br />
andere können zumindest eine symbolische<br />
Wirkung entfalten.“<br />
Natürlich könnte der Westen Russland<br />
auch aus dem illustren G8-Kreis der Industrieländer<br />
ausschließen – aber das wäre ein<br />
rein symbolischer Akt, was schon in Sotschi<br />
nicht geholfen hat, als die EU-Spitzen<br />
der Eröffnung fernblieben. Ein Embargo<br />
gegen russisches Gas wäre aus vertraglichen<br />
Gründen schwierig. „Deutschland<br />
könnte dank seiner Speicher für 60 bis 90<br />
Tage auf russische Gaslieferungen verzichten“,<br />
sagt Energieexperte Frank Umbach<br />
<strong>vom</strong> European Centre for Energy and Resource<br />
Security in London. Aber die Mindestmenge,<br />
die Gazprom jedem Kunden<br />
abverlangt, müssten E.On und Co. später<br />
einlösen. Hinzu käme, dass viele Länder<br />
im Baltikum, in Mittel- und Osteuropa<br />
über keine Gasspeicher verfügen<br />
und bei einer Energiekrise womöglich<br />
ohne Gas dastünden.<br />
Brüssel liebäugelt daher eher<br />
mit dem Einfrieren russischer<br />
Vermögen. „Manch reicher Russe<br />
wird sich Sorge um sein Vermögen<br />
in London, Wien oder Luxemburg<br />
machen“, sagt EU-Energiekommissar<br />
Günther Oettin-<br />
Fotos<br />
In unserer iPad-<br />
<strong>Ausgabe</strong> finden<br />
Sie an dieser<br />
Stelle Bilder<br />
von Putin in<br />
Deutschland<br />
ger. Allerdings mauern die Briten, die ihr<br />
Finanzzentrum London nicht beschädigen<br />
wollen. Auch ein kleiner Mitgliedstaat wie<br />
Zypern wäre von einem solchen Schritt<br />
nicht begeistert.<br />
Entscheidend wird ohnehin sein, ob sich<br />
die Lage in der Ukraine stabilisiert – weil<br />
genau dies nicht im Interesse Putins ist:<br />
„Der Kreml will einer Annäherung an die<br />
EU und insbesondere an die Nato einen<br />
Riegel vorschieben“, sagt Stefan Meister,<br />
Russland-Experte des European Council<br />
on Foreign Relations. Wenn es der ukrainischen<br />
Bevölkerung schon gelinge, den gewählten<br />
Präsidenten zu verjagen, dann solle<br />
dies wenigstens nicht ökonomisch zum<br />
Erfolg führen. So erklärt sich Meister auch<br />
die Propaganda des Putin-Regimes, das<br />
auf allen Kanälen die Bilder von Rechtsextremen<br />
verbreiten lässt, die allenfalls eine<br />
kleine Minderheit darstellen. „Der Sturz einer<br />
Regierung in Kiew ist ein Präzedenzfall,<br />
der sich auch auf andere postsowjetische<br />
Staaten auswirken könnte“, so der Politikwissenschaftler.<br />
Putin diskreditiere die<br />
Maidan-Bewegung, damit sich dies in<br />
Moskau nicht wiederholt.<br />
UNBERECHENBARE LAGE<br />
Die Menschen in der Ukraine versuchen unterdessen,<br />
sich mit der schwierigen Lage zu<br />
arrangieren. Julian Ries, der als Rechtsanwalt<br />
für die französische Kanzlei Gide Loyrette<br />
Nouel in Kiew tätig ist, erlebt ein<br />
„Wechselbad der Gefühle“: „Einen Abend<br />
habe ich überlegt, wie ich meine Familie<br />
schnell aus dem Land bekomme – und am<br />
nächsten Morgen sah die Lage wieder entspannt<br />
aus.“ Das Problem sei die Unberechenbarkeit<br />
der Situation. Die Stimmung ist<br />
dennoch gut unter ausländischen Investoren.<br />
„Viele hoffen, dass sich die Ukraine jetzt<br />
in eine westlich demokratische Richtung bewegt.<br />
Dieser Kurs verspricht Rechtssicherheit<br />
und kann dazu beitragen, dass das Potenzial<br />
des Marktes endlich gehoben wird.“<br />
Letztlich ist es die Wahl der Ukrainer, ob<br />
sie den EU-Kurs wählen wollen oder den<br />
Status quo – und Wähler sitzen jenseits<br />
der Kiewer Euphorie auch im prorussischen<br />
Osten. Eines aber ist klar:<br />
Wladimir Putin wird hierbei mitreden<br />
wollen. Sein Trauma der<br />
Nato-Erweiterung sitzt tief. n<br />
florian.willershausen@wiwo.de | Berlin,<br />
henryk hielscher, rüdiger kiani-kreß,<br />
franz rother, harald schumacher,<br />
silke wettach | Brüssel<br />
Lesen Sie weiter auf Seite 28 und 30 »<br />
FOTO: IMAGO/ITAR TASS<br />
26 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Nabereschnye Tschelny<br />
Daimler<br />
Produktion von Actros, Axor, Atego<br />
und Unimog. In Nischni Nowgorod<br />
wirdder Sprinter gebaut<br />
St.Petersburg<br />
BSH Bosch und Siemens Hausgeräte<br />
500 Mitarbeiter fertigen jährlich<br />
500000 Kühl- und Tiefkühlschränke,<br />
Waschmaschinen<br />
MAN<br />
Jahresproduktion von Lastkraftwagen: 6500,<br />
Marktführer in Russland, Marktanteil: 22 Prozent<br />
Moskau<br />
Allianz<br />
Verfolgt eine expansive Russlandstrategie.<br />
Der Versicherer ist mit 89 Büros und sieben<br />
Tochtergesellschaften vertreten,<br />
18 Millionen Kunden<br />
Henkel<br />
Beauty Care, Klebstoffproduktion in Tosno,<br />
Waschmittel in Engels und Perm, 2500<br />
Mitarbeiter, Umsatz: 1Milliarde Euro<br />
Airbus<br />
Forschungskooperation bei der Titan-<br />
Veredelung mit Russian Technologies<br />
(Rostec) für den Flugzeugbau<br />
Schenker Logistikzentrum<br />
Beschäftigte in ganz Russland: 900,<br />
versorgt VW-Werk in Kaluga<br />
Noginsk<br />
Metro<br />
Der Handelskonzern beliefertvon seinem<br />
Logistikzentrum 70 Cash&Carry-Märkte<br />
und 50 Media-Märkte, 5,3 Milliarden<br />
Euro Umsatz<br />
Bayer<br />
Kunststoffteile-Fertigung, Gesamtumsatz<br />
Russland: 750 Mio.Euro, 1570 Mitarbeiter<br />
Jaiwa<br />
E.On Gaskraftwerk<br />
(<strong>10</strong>00 Megawatt)<br />
Juschno Russkoje<br />
Gasfeld<br />
Beteiligung:<br />
25%Wintershall<br />
25%E.On<br />
50%Gazprom<br />
Kaluga<br />
Volkswagen<br />
Pkw-Jahresproduktion: 140000 Fahrzeuge,<br />
Investitionssumme: 500 Millionen Euro<br />
Continental<br />
Jährliche Reifenproduktion: 4Millionen,<br />
Investitionsvolumen: 240 Millionen Euro<br />
Smolensk<br />
E.On Gaskraftwerk<br />
(630 Megawatt)<br />
Krasnodar<br />
Claas<br />
Jahresproduktion von Mähdreschern: <strong>10</strong>00 Stück,<br />
bis 2015 ist eine zweite Fertigungslinie geplant<br />
Schatura<br />
E.On Gaskraftwerk<br />
(1500 Megawatt)<br />
Raos<br />
Ehrmann<br />
Die Allgäuer Molkerei produziertPuddings,<br />
Desserts, Joghurts. Umsatz: <strong>10</strong>0 Millionen Euro<br />
Hochland<br />
Der Käsehersteller betreibt ein Schmelzkäsewerk<br />
und beschäftigt in Russland 700 Mitarbeiter<br />
Samara<br />
Bosch<br />
Produktion von Automobilteilen,<br />
Elektronik, Lichtmaschinen,<br />
Dieselsystemen, 500 Arbeitsplätze,<br />
Investitionsvolumen: 40 Millionen<br />
Euro<br />
28 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Surgut<br />
E.On Russia Gaskraftwerk (5300 Megawatt).<br />
Der Energiekonzern betreibt drei weitere<br />
Kraftwerke in Russland (plus ein Kraftwerk<br />
im Bau), Gesamtleistung aller Kraftwerke:<br />
<strong>10</strong>000 Megawatt, 5300 Beschäftigte<br />
Nischnekamsk<br />
BASF<br />
einer von vier Standorten, 844 Mitarbeiter,<br />
Gastochter Wintershall: Ölförderung in<br />
Wolgograd, Erdgasförderung in Juschno<br />
Russkoje (Nordsibirien)<br />
Im profitablen Reich Putins<br />
Hauptstandorte von deutschen Unternehmen in Russland<br />
Irkutsk<br />
Krasnojarsk<br />
E.On Braunkohlekraftwerk<br />
(1600 Megawatt, ab 2015)<br />
Jekaterinburg<br />
Siemens<br />
Jährlicher Umsatz in Russland: 2,2<br />
Milliarden Euro, 3<strong>10</strong>0 Mitarbeiter im<br />
ganzen Land, Medizintechnik,<br />
Kraftwerkstechnik, Bahntechnik,<br />
Lokomotivbau, Geschäftsbeziehungen<br />
seit 160 Jahren<br />
Deutsche Messe<br />
Mit Messeveranstalter Lesprom-<br />
Ural Professional Kooperation bei<br />
Organisation von Ausstellungen<br />
für die Holzbearbeitung. Die Stadt<br />
ist Zentrum der russischen<br />
Möbelindustrie<br />
Knauf<br />
Der unterfränkische Gipshersteller ist<br />
größter Investor der Baustoffbranche in<br />
Russland. Mehr als 5000 Beschäftigte,<br />
22 Produktionsstätten<br />
Quelle: Unternehmen, eigene Recherche<br />
FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/DPA, DDP IMAGES/JENS SCHLÜTER, ITAR-TASS/IGOR AKIMOV, E.ON<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 29<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
»Wir haben Machtpolitik verlernt«<br />
STREITGESPRÄCH | Martin Schulz und Eberhard Sandschneider debattieren über die Fehler der EU in<br />
der Ukraine, den richtigen Umgang mit Russland – und die Zukunft der europäischen Außenpolitik.<br />
DER PRAKTIKER<br />
Schulz, 58, ist seit Januar 2012 Präsident des Europäischen Parlaments<br />
(EP) und derzeit Spitzenkandidat der Sozialdemokratischen<br />
Partei Europas bei der Europawahl im Mai. Der SPD-Politiker gehört<br />
dem Europäischen Parlament seit 1994 an. Ab 2004 leitete er die<br />
sozialdemokratische Fraktion im EP.<br />
DER MAHNER<br />
Sandschneider, 58, ist seit 20<strong>03</strong> Direktor des Forschungsinstituts<br />
der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Der Politikwissenschaftler<br />
lehrte an der Universität in Mainz und hat einen<br />
Lehrstuhl an der Freien Universität Berlin. Von 1999 bis 2001 war<br />
er Geschäftsführender Direktor des Otto-Suhr-Instituts.<br />
Herr Sandschneider, Herr Schulz, warum<br />
hat die EU in der Ukraine-Krise versagt?<br />
Sandschneider: Schimpfen wir nicht<br />
gleich zu Beginn auf Europa! So erfolglos<br />
war die EU nicht: In Kiew konnten drei Außenminister<br />
im Namen der EU die Gewalt<br />
auf den Straßen stoppen. Es konnte niemand<br />
wissen, dass Präsident Viktor Janukowitsch<br />
am Tag darauf dennoch stürzt.<br />
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier<br />
spricht von der „schärfsten Krise<br />
seit dem Mauerfall“. Was kann die EU tun,<br />
um einen Krieg zu verhindern?<br />
Schulz: Sie kann dafür sorgen, dass nicht<br />
geschossen wird. Sie muss die Gesprächskanäle<br />
zwischen Ukrainern, Russen und<br />
Europa offen halten. Menschen, die miteinander<br />
reden, schießen nicht aufeinander.<br />
Wenn sie aber einmal mit dem Schießen<br />
angefangen haben, werden weitere Schüsse<br />
folgen. Das nennt sich dann irgendwann<br />
Krieg.<br />
Kann man mit Putin reden – oder sollte<br />
man den russischen Präsidenten mit<br />
Sanktionen in die Knie zwingen?<br />
Schulz: Natürlich sagt unser Bauchgefühl:<br />
Mein Gott, da gehen Truppen aufeinander<br />
los, da können wir doch nicht <strong>vom</strong> Dialog<br />
reden! Aber das ist nüchtern betrachtet unsere<br />
einzige Chance, die Lage zu entschärfen.<br />
Wladimir Putin ist äußerst machtbewusst,<br />
der lässt sich mit Sanktionen nicht<br />
an den Verhandlungstisch zwingen. Aber<br />
er ist auch Pragmatiker: Wir müssen ausloten,<br />
ob er zu einer dauerhaften Lösung bereit<br />
ist – und wenn ja, zu welchem Preis.<br />
Wird die Krim der Preis sein, den die<br />
Ukraine für den EU-Kurs bezahlen muss?<br />
Sandschneider: Das wissen wir noch<br />
nicht. Mein Eindruck ist, dass Putin Machtpolitik<br />
des 19. Jahrhunderts betreibt, indem<br />
er auf der Krim erst einmal Fakten<br />
schafft. Doch Sanktionen sind immer ein<br />
Ausdruck von Hilflosigkeit. In Syrien haben<br />
sie nichts bewirkt, und gegen Russland wä-<br />
FOTO: WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
30 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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e das auch so. Die Zeiten sind vorbei, dass<br />
wir als Westen immer im Cockpit sitzen<br />
und den Rest der Welt mit Sanktionen dazu<br />
bringen zu tun, was wir für richtig halten.<br />
Was hat die EU in Kiew falsch gemacht?<br />
Schulz: Die Ukraine war faktisch pleite, als<br />
die Regierung unter Janukowitsch das EU-<br />
Assoziierungsabkommen unterschreiben<br />
sollte. Auf dem Gipfel in Vilnius haben wir<br />
ein bisschen Geld geboten, vor allem aber<br />
an den IWF verwiesen. Dabei hat das Land<br />
15 bis 25 Milliarden Euro sofort gebraucht,<br />
um durch die Krise zu kommen. Wer hätte<br />
dieses Geld kurzfristig aufbringen sollen?<br />
Also kann sich die EU ihre eigene<br />
Nachbarschaftspolitik nicht leisten?<br />
Schulz: Wenn wir Außen- und Sicherheitspolitik<br />
effizient betreiben wollen, müssen<br />
wir uns darüber im Klaren sein, dass das<br />
Geld kostet. Andere Regionen dieser Welt<br />
machen das so, Russland zum Beispiel. Die<br />
EU ist im Moment so sehr mit sich und ihren<br />
inneren Krisen beschäftigt, dass sie das<br />
nicht hinbekommt.<br />
Ist es ein Fehler, dass die EU ihren<br />
Werteraum bis an die russische Grenze<br />
ausdehnen will?<br />
Schulz: Es ist kein Fehler, wenn wir die<br />
Prinzipien unserer wertorientierten Gemeinschaft<br />
auf andere übertragen. Die individuellen<br />
Werte, die Rechte und Freiheiten<br />
der Menschen, die Stärke des Rechts<br />
anstelle des Rechts des Stärkeren – das ist<br />
ein Angebot, kein europäischer Werte-Imperialismus.<br />
Es obliegt dem Selbstbestimmungsrecht<br />
von Ländern wie der Ukraine,<br />
zu entscheiden, ob sie solch ein Angebot<br />
annehmen und die Werte übernehmen.<br />
Sandschneider: Das klingt nett. Aber die<br />
EU bietet das nicht an. Sie verwendet es als<br />
Junktim, um ihre politischen Ziele zu erreichen.<br />
Man denke nur an die Wirtschaftsund<br />
Handelspolitik gegenüber afrikanischen<br />
Staaten, die ständig mit Good-Governance-Klauseln<br />
belegt wird. Diese Politik<br />
ist in Anbetracht der Tatsache, dass China<br />
auf solche politischen Vorgaben verzichtet,<br />
längst gescheitert. Wir wissen als<br />
Europäer gut Bescheid über unsere Werte<br />
»Sanktionen<br />
sind immer<br />
ein Ausdruck<br />
von Hilflosigkeit«<br />
Eberhard Sandschneider<br />
und unsere eigenen Moralvorstellungen.<br />
Aber wir wissen zu wenig über die Zielländer,<br />
in denen sie wirken sollen. In Kiew sahen<br />
wir Demonstrationen für Europa, im<br />
Osten des Landes suchen die Menschen<br />
Schutz bei Russland. Insofern liegen die<br />
Dinge auch in der Ukraine nicht ganz so<br />
einfach, wie wir es im Westen gerne hätten.<br />
Schulz: Ich bin nicht Ihrer Meinung. Das<br />
Problem in der EU ist, dass wir unser Wertesystem<br />
mal als Junktim anbieten und mal<br />
nicht. Wir leisten uns Doppelstandards.<br />
Unter dem Druck des EU-Freihandelsabkommens<br />
hat in Kolumbien der Generalstaatsanwalt<br />
24 korrupte Abgeordnete hinter<br />
Gitter gebracht. Aber bei anderen Ländern<br />
wie China nehmen wir es dann mit<br />
unseren eigenen Werten nicht so genau<br />
und stellen die wirtschaftlichen Interessen<br />
in den Vordergrund. Das darf nicht sein.<br />
Die EU leistet sich einen diplomatischen<br />
Dienst. Warum funktioniert er nicht?<br />
Sandschneider: Weil die gesamte Außenund<br />
Sicherheitspolitik der EU nicht funktioniert.<br />
Das Einzige, was Lady Ashton als<br />
EU-Außenbeauftragter gelungen ist, ist der<br />
Aufbau eines gewaltigen Apparats, der Außenpolitik<br />
simuliert. Vor Ort kann kein Diplomat<br />
eine Außenpolitik umsetzen, wenn<br />
sie in Brüssel nicht formuliert wird. Vielleicht<br />
braucht Europa auch keine gemeinsame<br />
Außen- und Sicherheitspolitik. Wir<br />
sind als Handelsnation ein großer Spieler<br />
in der Welt. Militärisch sind wir dort kaum<br />
unterwegs – aber müssen wir das? Spannend<br />
ist, was in anderen Teilen der Welt<br />
passiert. China wartet nicht, bis Europa mit<br />
einer Stimme spricht, die schaffen Fakten.<br />
Schauen Sie sich Afrika an: Da spielt China<br />
ganz ohne europäische Werte eine große<br />
Rolle, Europa ist selbst als Rohstoffpartner<br />
völlig außen vor.<br />
Wieso kann Europa keine Geopolitik?<br />
Schulz: Gemeinsame Außenpolitik kann<br />
ein Staat machen, aber die EU ist keiner.<br />
Wir müssen die Außen- und Sicherheitspolitik<br />
der EU regionalisieren. Und zwar so,<br />
dass alle etwas davon haben. Im Schwarzmeer-Raum<br />
etwa brauchen Bulgarien und<br />
Rumänien ökonomische Hilfe. In deren<br />
Nachbarschaft liegen die Ukraine und<br />
Russland, aber auch die Türkei. Wenn wir<br />
geostrategisch denken, müssen wir regionale<br />
Kooperation etwa im Bereich der<br />
Energiepolitik für den Schwarzmeer-Raum<br />
so organisieren, dass alle Anrainer profitieren.<br />
Im nördlichen Afrika gibt es rohstoffreiche<br />
Staaten wie Libyen oder Tunesien,<br />
die eine moderne Infrastruktur brauchen –<br />
und die könnten die Südländer der EU<br />
»Die EU kann<br />
dafür sorgen,<br />
dass nicht<br />
geschossen wird«<br />
Martin Schulz<br />
bauen, wenn wir rund um das Mittelmeer<br />
eine Handelszone schaffen. Davon profitieren<br />
Italien, Spanien oder Frankreich.<br />
Werfen Sie gerade die Nachbarschaftspolitik<br />
der EU um?<br />
Schulz: Wir sollten die Nachbarschaftspolitik<br />
ausbauen und die Interessen unserer<br />
Mitgliedstaaten stärker berücksichtigen.<br />
Am Handel im Mittelmeerraum hat Griechenland<br />
naturgemäß ein größeres Interesse<br />
als Finnland. Dies müssen wir anbinden<br />
an unsere internationale Handelspolitik.<br />
Denn dort geht es am Ende darum, ob<br />
wir ökonomischen Herausforderungen in<br />
anderen Regionen der Welt gewachsen<br />
sind oder nicht. Wenn Länder einen Wettbewerbsvorteil<br />
haben, weil sie die Werte<br />
Europas nicht teilen und unsere teuren Sozial-<br />
oder Umweltstandards schlichtweg<br />
ignorieren, dann geraten wir auf Dauer mit<br />
unserem Demokratiemodell unter Druck.<br />
Würden einzelne Länder in den Regionen<br />
jeweils die Führungsrolle übernehmen?<br />
Schulz: Entweder müsste die EU koordinieren<br />
– oder einzelne Staaten tun dies im<br />
Auftrag der EU. Im Ostseerat zum Beispiel<br />
stellt sich die praktische Frage, wie die Anrainer<br />
allesamt Zugang zum europäischen<br />
Markt bekommen können, ohne dass alle<br />
Beteiligten die Gesetze der EU sofort übernehmen.<br />
Wenn wir das lösen, könnte auch<br />
Russland von der regionalen Kooperation<br />
profitieren und müsste seine geostrategische<br />
Rolle nicht ständig ausspielen.<br />
Sandschneider: Wenn ich Sie recht verstehe,<br />
sind Sie nicht für ein Europa der unterschiedlichen<br />
Geschwindigkeiten, sondern<br />
für ein Europa der unterschiedlichen Kompetenzen.<br />
Das leuchtet mir ein. Wenn ich<br />
Ihre Aussagen zu Europa richtig lese, dann<br />
halten Sie die gleichmachenden Tendenzen<br />
in der EU, von Nordfinnland bis Südsizilien<br />
alles einheitlich zu gestalten, für das<br />
größte Gift in der Union. Für wie realistisch<br />
halten Sie denn diese Vorstellung einer regionalisierten<br />
Außenpolitik?<br />
Schulz: Mir schwebt ein Europa der unterschiedlichen<br />
Fähigkeiten vor. Wenn wir<br />
»<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 31<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
uns Einheit in Vielfalt vornehmen, dann<br />
muss es zu einem Gleichgewicht zwischen<br />
Einheit und Vielfalt kommen. Die Vielfalt<br />
beinhaltet die Stärke Europas, zu einer Einheit<br />
zusammenzuwachsen. Mit dem Ziel,<br />
dass dieser europäische Rahmen ein Mehr<br />
an Frieden, Sicherheit und Wohlstand für<br />
alle bringt. Das kriegt man nicht durch<br />
Zentralisieren hin.<br />
Sandschneider: Der Westen hat in den vergangenen<br />
20 Jahren gelernt, dass wir einen<br />
Diktator aus dem Amt bomben können,<br />
aber uns fehlen die Fähigkeiten, Länder<br />
ökonomisch zu stabilisieren. Und stets<br />
haben wir schnell die Grenze der Belastbarkeit<br />
erreicht – unser Freund Wladimir<br />
Putin weiß das genau. Wir können ihm den<br />
G8-Gipfel wegnehmen, und wir können<br />
über Sanktionen reden, aber mehr können<br />
wir nicht. Das lädt andere Akteure ein,<br />
traditionelle Machtpolitik zu machen. Wir<br />
selber haben sie allerdings verlernt.<br />
Ist die Bundesregierung in der Lage,<br />
einen neuen Anlauf in der europäischen<br />
Sicherheits- und Verteidigungspolitik<br />
durchzusetzen?<br />
Schulz: Mit Frank-Walter Steinmeier ist eine<br />
Reeuropäisierung der deutschen Außenpolitik<br />
bereits im Gange. Ich habe keinen<br />
Zweifel, dass die gesamte Bundesregierung<br />
eine stärkere Rolle Deutschlands<br />
bei dieser Europäisierung will. Steinmeier<br />
hat sehr schnell öffentlich gemacht, dass<br />
deutsche und europäische Interessen zwei<br />
Seiten einer Medaille sind. Ein starkes Europa<br />
ist gut für die Bundesrepublik, eine<br />
starke Bundesrepublik ist gut für Europa.<br />
Deutschland hat 2008 die Mittelmeerunion<br />
blockiert, einen Versuch Frankreichs<br />
zur Regionalisierung der europäischen<br />
Außenpolitik. Warum sollte Berlin das<br />
Konzept diesmal unterstützen?<br />
Schulz: Über mein Modell muss man erst<br />
einmal diskutieren, es hat noch keinen regierungsamtlichen<br />
Charakter. Vielleicht<br />
muss man es auch weiter denken. Aber in<br />
diesem Land, auf diesem Kontinent wagt ja<br />
niemand zu denken...<br />
Sandschneider: Na?<br />
Schulz: Doch vielleicht zu denken, aber<br />
nicht laut zu reden...<br />
Sandschneider: Bezogen auf die politische<br />
Kaste haben Sie recht...<br />
Schulz: Wir müssen Europa <strong>vom</strong> Kopf auf<br />
die Füße stellen. Die faszinierende Idee<br />
der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit<br />
kann da eine zentrale Rolle spielen.<br />
Denn das ist eine der großen Errungenschaften<br />
der Menschheit. Wenn sich in<br />
den Köpfen der Menschen der Eindruck<br />
festsetzt, dass es einen Brüsseler Zentralismus<br />
gibt, der uns fremdbestimmt, dann<br />
muss man alle Mittel ergreifen, um dieses<br />
Bild zu korrigieren.<br />
Sind die Vorzüge Europas für die Europäer<br />
zur Selbstverständlichkeit verkommen?<br />
Sandschneider: Wir sind beide ungefähr<br />
gleich alt, beide aufgewachsen in Grenzgebieten.<br />
Sie an der Grenze zu Holland, ich<br />
an der zu Frankreich. Für unsere Generation<br />
ist die Idee Europas, die Sie beschreiben,<br />
noch greifbar. Wir haben Schlagbäume<br />
gesehen, wir haben Grenzkontrollen<br />
beim Baguette-Kaufen erlebt, wir haben<br />
Geld umgetauscht. Das ist alles weg. Ist für<br />
»Irgendwann<br />
ist<br />
die Krise<br />
Normalzustand«<br />
Eberhard Sandschneider<br />
»Wir müssen<br />
Europa<br />
<strong>vom</strong> Kopf<br />
auf die Füße<br />
stellen«<br />
Martin Schulz<br />
die Generation unserer Kinder die Idee von<br />
Europa noch zündend?<br />
Schulz: Eindeutig nein. Nehmen wir die<br />
Friedensdividende, die unser Leben noch<br />
geprägt hat. Für die junge Generation spielt<br />
dies keine Rolle mehr. Sie sehen die Werte<br />
als für immer gesichert an, als wenn sie wie<br />
Strom aus der Steckdose kämen. Es redet ja<br />
niemand mit den jungen Leuten über diese<br />
Werte. Wir reduzieren die EU immer<br />
auf eine Nutzwerte-Union, statt auf eine<br />
Werte-Union.<br />
Müsste die Wirtschaft sich in diese<br />
Debatte stärker einmischen und den Wert<br />
der EU herausstellen?<br />
Sandschneider: In der öffentlichen Debatte<br />
ist die Einmischung der Wirtschaft nur<br />
ungern gesehen. Ich staune Bauklötze, wie<br />
sich große, global tätige Unternehmen den<br />
Luxus leisten, die Zielregionen ihrer Investitionen<br />
nicht zu kennen. Sie wundern sich<br />
manchmal, wenn sie dort scheitern und<br />
dabei richtig viel Geld verlieren.<br />
Bundespräsident Joachim Gauck und<br />
Außenminister Steinmeier verlangen, dass<br />
Deutschland mehr Verantwortung in der<br />
Welt übernimmt. Sollte auch die Wirtschaft<br />
ihre Interessen stärker betonen?<br />
Sandschneider: Was für eine seltsame Diskussion!<br />
Es geht hier gar nicht darum,<br />
mehr Verantwortung zu übernehmen. Und<br />
Deutschland hatte auch nie eine Kultur der<br />
Zurückhaltung in der Außenpolitik. Wir<br />
haben uns immer eingemischt und waren<br />
damit oft sehr erfolgreich. Man denke nur<br />
an das Engagement deutscher politischer<br />
Stiftungen in Südeuropa, in Mittel- und<br />
Osteuropa, mittlerweile auch im arabischen<br />
Raum und sogar Lateinamerika. Beispiele<br />
dieser Art gibt es zur Genüge. Aber<br />
wir müssen Verantwortung übernehmen,<br />
wo es unsere eigenen Interessen betrifft,<br />
die deutschen wie die europäischen. Europa<br />
ist im globalen Konzert viel besser unterwegs,<br />
als wir glauben.<br />
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Ist die Krise Europas überwunden?<br />
Sandschneider: Jeder Text, den ich heute<br />
zu Europa lese, konstatiert die Krise der<br />
Europäischen Union. Jetzt befinden wir<br />
uns also seit fünf Jahren in einer Krise. Irgendwann<br />
ist die Krise Normalzustand.<br />
Dann kann man es auch lassen. An mancher<br />
Stelle, auch was die Außenwirkung<br />
angeht, reden wir uns stärker in die Krise,<br />
als wir es tatsächlich sind.<br />
Schulz: Wenn Menschen sich von einem<br />
Projekt abwenden, dann ist das Projekt verloren.<br />
Das ist für alle Diktatoren eine<br />
schlechte Nachricht, denn früher oder später<br />
wenden sich die Menschen auch von<br />
der Diktatur ab. Aber es ist auch ein Alarmsignal<br />
für Demokratien, wenn die Menschen<br />
das Gefühl haben, die Demokratie<br />
dient nicht mehr ihren Interessen. Dann<br />
wenden sie sich auch von der Demokratie<br />
ab. Das erleben wir auch in einigen Ländern<br />
in Europa. Darum muss ich sagen:<br />
Europa steckt in einer tiefen Krise, die auch<br />
eine Vertrauenskrise ist. Sie hat auch dazu<br />
geführt, dass wir kein Geld in die Ukraine<br />
geben können. Sie absorbiert unsere Kraft<br />
so stark, dass wir nach außen nur bedingt<br />
handlungsfähig sind.<br />
Wie wird dies im schlimmsten Fall enden?<br />
Schulz: Ich warne davor zu glauben, die<br />
Krise sei zu Ende, nur weil wir ein paar bessere<br />
Wirtschaftsdaten haben. Wir brauchen<br />
eine Bankenunion, die diesen Namen<br />
verdient. Wir brauchen die Regulierung<br />
der Finanzmärkte, um das Vertrauen der<br />
Menschen wieder zurückzubekommen.<br />
Sandschneider: Wir haben das Problem,<br />
dass wir in den vergangenen Jahren auf der<br />
Ebene der Partizipation gut unterwegs waren,<br />
die Effizienz dabei aber auf der Strecke<br />
geblieben ist. Und die Menschen wollen effiziente<br />
Lösungen. Wenn heute manch ein<br />
Autokrat etwa in China noch im Amt ist,<br />
dann auch, weil die Menschen dort das Gefühl<br />
haben, dass der Staat Probleme effizient<br />
löst. Wenn Menschen genau dieses<br />
Gefühl nicht mehr haben, wenden sie sich<br />
ab – von Autokratien wie von Demokratien.<br />
In der Ostukraine wollen manche zurück<br />
zur Sowjetunion, weil es damals den Menschen<br />
besser ging. So simpel ist das manchmal.<br />
Ich erinnere mich an den Satz einer<br />
jüngeren Ägypterin, die mir sagte: Mir ist es<br />
egal, wer mich regiert, Diktator, Militär oder<br />
Präsident. Hauptsache, der schafft Jobs.<br />
Das fand ich einen bemerkenswerten Satz.<br />
Müssen wir die Wirtschaft in der Debatte<br />
über Europa wieder stärker in den<br />
Mittelpunkt rücken? Weg von der Moral,<br />
wie Sie das immer fordern?<br />
Sandschneider: Für mich gilt ein Satz: Moral<br />
ist immer analysefern. Wenn Sie nicht<br />
wissen, worüber Sie reden, dann verfallen<br />
Sie in moralinsaure Aussagen. Das ist kein<br />
deutsches oder europäisches Problem,<br />
aber es ist ausgesprochen gefährlich. Die<br />
Menschen sind nicht doof. In jedem Land<br />
der Welt sehen sie, ob es ihnen gut oder<br />
weniger gut geht. Dieser Hang, Erfahrung<br />
und Kompetenz durch Moral zu ersetzen,<br />
ist etwas, was uns ganz gewaltig im Weg<br />
steht. Wie immer diese Krise ausgeht, ganz<br />
am Ende wartet ein Schock, mit dem wir<br />
überhaupt nicht rechnen. Es wird der<br />
Schock sein, wenn wir morgens wach werden<br />
und andere Teile der Welt sich einen<br />
Dreck drum scheren, was wir Europäer<br />
denken, weil sie sich machtpolitisch ganz<br />
anders aufgestellt haben. Dazu gehören<br />
unsere chinesischen Freunde, dazu gehören<br />
aber auch Indien und Brasilien, wo solche<br />
Debatten ohne jeden Bezug zur europäischen<br />
Befindlichkeit geführt werden.<br />
Wir tun immer so, als seien wir noch der<br />
Nabel der Welt. Aber in Indien sehen diese<br />
Debatten ganz anders aus.<br />
Sehen Sie das auch so?<br />
Schulz: Europa stellt heute 7,8 Prozent der<br />
Erdbevölkerung mit 30 Prozent Anteil am<br />
Weltbruttosozialprodukt. 2040 werden wir<br />
bei etwa vier Prozent Bevölkerungsanteil<br />
stehen und zehn Prozent zur globalen<br />
Wirtschaftsleistung beitragen. Europa wird<br />
entweder diese zehn Prozent geeint vertreten,<br />
oder die einzelnen Länder der europäischen<br />
Union sind Spielball der Machtinteressen<br />
anderer Weltregionen. Wenn<br />
einzelne Staaten der EU nach China fahren<br />
und bilaterale strategische Abkommen abschließen,<br />
dann ist das ein Eigentor.<br />
Sandschneider: Wer ist in Ihrem Konzept<br />
der unterschiedlichen Kompetenzen eigentlich<br />
für China zuständig? An eine gemeinsame<br />
europäische Außenpolitik glaube ich<br />
erst, wenn die Bundeskanzlerin in ein Flugzeug<br />
steigt und französische, britische und<br />
spanische Geschäftsleute dabeihat.<br />
Schulz: Nein, das ist gar nicht ihre Aufgabe.<br />
Sie muss die Interessen der Bundesrepublik<br />
Deutschland schützen. Es ist Aufgabe<br />
der europäischen Organe, die Interessen<br />
der EU zu schützen, das kann kein einzelnes<br />
Land stellvertretend für andere machen.<br />
Wenn der EU-Handelskommissar in<br />
Peking sagen kann, alle EU-Mitglieder stehen<br />
geschlossen hinter mir, dann werden<br />
uns die Chinesen ernst nehmen.<br />
Sandschneider: Das dauert aber noch ein<br />
Weilchen.<br />
n<br />
florian.willershausen@wiwo.de, silke wettach | Brüssel<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 33<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Der Milliarden-Poker<br />
FÖDERALISMUS | Die Ministerpräsidenten rüsten sich für die Neuordnung der Bund-Länder-Finanzen.<br />
Sie wollen von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble mehr als nur den Soli.<br />
Vertrauliche Unterlagen offenbaren das Ausmaß der Umverteilung und Begehrlichkeiten.<br />
Früher seien die Länderfürsten wie<br />
Freischärler dahergekommen, spontan,<br />
ungeordnet und letztlich nicht<br />
sehr erfolgreich. Heute seien sie dagegen<br />
stark aufgestellt, über Länder- und Parteiengrenzen<br />
hinweg organisiert. Die Kurzanalyse<br />
des Beamten in der Berliner<br />
Wilhelmstraße bedeutet vor allem eines:<br />
Auf seinen Dienstherren, Bundesfinanzminister<br />
Wolfgang Schäuble, kommen<br />
teure Zeiten zu.<br />
Keine zwei Kilometer entfernt, versammeln<br />
sich am Donnerstag dieser Woche die<br />
Länderfürsten auf Einladung des<br />
baden-württembergischen Ministerpräsidenten<br />
Winfried Kretschmann. In der<br />
wuchtigen Landesvertretung am Tiergarten<br />
reden die Ministerpräsidenten auch über<br />
eine Senkung der Rundfunkgebühren, über<br />
den Stand der Energiewende, den Ausbau<br />
Föderale Umverteilung<br />
Eisenbahn-Bundesamt. Das wichtigste Anliegen<br />
aber, das alle Länderchefs seit Monaten<br />
bewegt, setzte der Gastgeber – Stand vorige<br />
Woche – gar nicht auf die Tagesordnung:<br />
die Neuordnung der Finanzströme<br />
im föderalen System der Bundesrepublik<br />
Deutschland. Das Thema behandeln die<br />
MPs wie eine geheime Kommandosache –<br />
beim trauten Kamingespräch.<br />
Gut 320 Milliarden Euro fließen den Ländern<br />
jedes Jahr zu, gespeist aus eigenen<br />
Steuereinnahmen, gegenseitigen Verrechnungen<br />
sowie diversen Sozialtransfers und<br />
Investitionen des Bundes. Dies geht aus einer<br />
300 Seiten starken Bestandsaufnahme<br />
der Finanzministerkonferenz hervor, die<br />
„nur für den Dienstgebrauch“ klassifiziert<br />
ist und von den Ländern unter Verschluss<br />
gehalten wird. Die Bestandsaufnahme besteht<br />
aus einem enormen Datenwust und<br />
ist zumindest auf den ersten Blick alles andere<br />
als transparent. Und zwar aus Kalkül.<br />
der Breitbandnetze, den Hochwasserschutz<br />
Was die undBundesländer die zähe Verfahrensdauer untereinander beim verteilen und <strong>vom</strong><br />
Bund bekommen (2012, in Euro je Einwohner)<br />
Denn Transparenz ist im föderalen Geflecht<br />
keinesfalls erwünscht. Niemand<br />
möchte sich beim Bund-Länder-Poker in<br />
die Karten schauen lassen. Bayerns Finanzminister<br />
Markus Söder (CSU) zum<br />
Beispiel gefällt sich in der Rolle des stöhnenden<br />
Zahlmeisters an arme, faule Länder<br />
– eine Pose, zu der nicht recht passen<br />
mag, dass sich der Freistaat umgekehrt einen<br />
ordentlichen Batzen an Bundesinvestitionen<br />
und EEG-Geldern über den Gartenzaun<br />
werfen lässt.<br />
Die WirtschaftsWoche hat die föderalen<br />
Umverteilungsströme zusammengefasst<br />
und grafisch in drei Gruppen eingeteilt:<br />
n Zum Steuerkraftausgleich (Blau) zählt<br />
der direkte Länderfinanzausgleich, der<br />
die unterschiedlich hohen Steuereinnahmen<br />
der Länder teilweise nivellieren soll.<br />
Hinzu kommen der Umsatzsteuerausgleich<br />
zwischen den Ländern und spezielle<br />
Bundesergänzungszuweisungen für Ost-<br />
Föderale Umverteilung<br />
Was die Bundesländer untereinander verteilen und <strong>vom</strong><br />
Bund bekommen (2012, in Euro je Einwohner)<br />
667<br />
461<br />
Zuflüsse<br />
Baden-Württemberg<br />
Hessen<br />
Bayern<br />
Nordrhein-Westfalen<br />
49<br />
Hamburg<br />
54<br />
Rheinland-Pfalz<br />
240<br />
Niedersachsen<br />
Schleswig-Holstein<br />
Saarland<br />
Abflüsse<br />
–313<br />
–312<br />
–231<br />
–41<br />
Steuerkraftausgleich1<br />
Sozialer Nachteilsausgleich2<br />
Wirtschaftskraft stärkende Zahlungsströme3<br />
34 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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deutschland und die schwächelnden Westländer<br />
Bremen, Saarland und Schleswig-<br />
Holstein. Insgesamt geht es hier um 19 Milliarden<br />
Euro.<br />
n Der soziale Nachteilsausgleich (Grün)<br />
umfasst rund elf Milliarden Euro an Bundesmitteln.<br />
Dazu gehören unter anderem<br />
Bafög, Wohngeld, Kosten der Unterkunft,<br />
Eingliederungshilfen, Sonderzahlungen<br />
für kleine Länder und wegen struktureller<br />
Arbeitslosigkeit.<br />
n Die Wirtschaftskraft stärkenden Zahlungsströme<br />
(Orange) beinhalten weitere<br />
elf Milliarden Euro Bundesmittel für Forschung,<br />
Infrastruktur, Rüstung, öffentlichen<br />
Personen-Nahverkehr (ÖPNV) oder<br />
Hochschulen. Außerdem wurden 2012 sieben<br />
Milliarden Euro aus der Umlage des<br />
Erneuerbaren-Energien-Gesetzes über<br />
Ländergrenzen hinweg verschoben.<br />
Das Ergebnis zeigt Gewinner und Verlierer.<br />
Eine kleine Gruppe von vier Ländern<br />
zahlt im föderalen System drauf. Am meisten<br />
verschlechtern sich Baden-Württemberg<br />
und Hessen. Der Osten plus Bremen<br />
sahnen dagegen kräftig ab; ohne Umverteilung<br />
befänden sich hier Sozialleistungen,<br />
öffentliche Einrichtungen und Infrastruktur<br />
wohl eher auf Schwellenlandniveau.<br />
Im Westen bricht das Saarland dank<br />
föderaler Stütze nicht unter der Last des<br />
Strukturwandels in der Montanindustrie<br />
zusammen, und die strukturschwachen<br />
Schleswig-Holsteiner verdienen (neben<br />
anderen) kräftig am ökonomischen<br />
Wahnsinn der deutschen Energiewende.<br />
Der Föderalismus wirbelt das Finanzranking<br />
der Länder regelrecht durcheinander.<br />
Der Süden, der bei den Steuereinnahmen<br />
noch ganz vorn liegt, rutscht<br />
nach den diversen Umverteilungen ab<br />
und hat am Ende bei der Finanzausstattung<br />
gegenüber dem Osten das Nachsehen.<br />
Und bei den Stadtstaaten überholen<br />
Berlin und Bremen dank hoch dosierter<br />
Finanzspritzen von mehr als 2000 Euro<br />
pro Einwohner die reiche Hafenmetropole<br />
Hamburg.<br />
Das wurmt vor allem Bayern und Hessen.<br />
Beide Länder haben wegen des Länderfinanzausgleichs<br />
(wieder einmal) Klage<br />
beim Bundesverfassungsgericht eingereicht.<br />
Die beiden Geberländer stört unter<br />
anderem die Einwohnerwertung. Stadtstaaten<br />
erhalten eine sogenannte Einwohnerveredelung;<br />
ein Berliner oder ein Hamburger<br />
sind bei der Berechnung des Finanzausgleichs<br />
35 Prozent mehr wert als<br />
ein Bayer oder ein Hesse. Damit sollen die<br />
1883<br />
1999<br />
Metropolen für Mehrausgaben bei Infrastruktur<br />
und Kultur entschädigt werden,<br />
die auch von Pendlern aus dem Umland in<br />
Anspruch genommen werden.<br />
Solch einen Status fände das Saarland<br />
auch prima. Das kleinste Flächenland mit<br />
seinen 995 000 Einwohnern, das zur Kategorie<br />
der Kostgänger gehört, sieht sich völlig<br />
verkannt. „Wir haben viele Einpendler“,<br />
sagt Finanzminister Stephan Toscani. Aus<br />
der Westpfalz kämen 25 000 Arbeitspendler,<br />
18 000 aus Frankreich. Ihre Einkommensteuer<br />
würden die Pendler aber in<br />
Rheinland-Pfalz und Frankreich zahlen.<br />
Die Saarländer dagegen, die im benachbarten<br />
Luxemburg arbeiten, müssten dort<br />
ihre Einkommensteuer zahlen wegen des<br />
bestehenden deutsch-luxemburgischen<br />
Steuerabkommens. „Ungerecht“ findet<br />
das Toscani. „Künftig sollte sich die regionale<br />
Wirtschaftskraft stärker auf die originären<br />
Einnahmen auswirken. Dann bekäme<br />
das Saarland, das eine Wertschöpfung<br />
pro Einwohner von fast <strong>10</strong>0 Prozent des<br />
Länderdurchschnitts erwirtschaftet, auch<br />
mehr Steuereinnahmen.“ »<br />
2041<br />
2138<br />
1629<br />
1643<br />
1680<br />
Sachsen<br />
Brandenburg<br />
Thüringen<br />
Sachsen-Anhalt<br />
Mecklenburg-Vorpommern<br />
Berlin<br />
Bremen<br />
1 Länder-Finanzausgleich, Umsatzsteuer-Ausgleich, Allgemeine Bundesergänzungs-Zuweisungen (BEZ); 2 Sonder-BEZ wg. Arbeitslosigkeit und Kosten politischer Führung, Konsolidierungshilfen,<br />
Art. <strong>10</strong>4a GG Leistungen des Bundes (Kosten der Unterkunft, Wohngeld, Bafög, Grundsicherung im Alter, Unterhaltsvorschuss u.a.); 3 Gemeinschaftsaufgaben (regionale Wirtschaftsförderung,<br />
Agrar- und Küstenschutz, Bildungs-planung), Forschungsförderung, Rüstungsausgaben, EEG-Zahlungsströme, Investitionsförderung, ÖPNV-Ausgleich; Quelle: Finanzministerkonferenz<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 35<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
»<br />
Bei der Einkommensteuer gilt das<br />
Wohnsitzprinzip, bei Einkünften aus Dividenden<br />
und Zinsen indes das Betriebstättenprinzip.<br />
Eine innere Logik steckt nicht<br />
dahinter, eher chaotische Zufälligkeiten in<br />
der Entwicklung des Steuersystems. Dabei<br />
würde eine Aufteilung etwa der Kapitalertragsteuer<br />
– und der Körperschaftsteuer –<br />
nach dem Wohnortprinzip „zu einer<br />
gleichmäßigeren Steuerverteilung der Länder<br />
führen und so den Finanzausgleich entlasten“,<br />
heißt es in einer Analyse des Bundesfinanzministeriums.<br />
Aber: Länder mit<br />
vielen großen Unternehmen wie Baden-<br />
Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Bayern,<br />
Hamburg und Hessen sind dagegen.<br />
Alles hängt bei den Bund-Länder-<br />
Finanzbeziehungen mit allem zusammen.<br />
Pfründe gibt niemand freiwillig aus der<br />
Hand. Jeder beäugt argwöhnisch jeden Änderungsvorschlag.<br />
Korrekturen oder neue<br />
Konzeptionen sind in solch einem System<br />
nahezu unmöglich. Gefordert sind Geduld,<br />
Fingerspitzengefühl und Diskretion.<br />
Dass die Länderfürsten trotz aller Zerstrittenheit<br />
überhaupt miteinander verhandeln,<br />
hat einen simplen Grund: Sie haben<br />
einen gemeinsamen Gegner: den<br />
Bund. Seit anderthalb Jahren suchen die<br />
Länderchefs nach einer gemeinsamen Verhandlungsposition,<br />
um Schäuble kräftig in<br />
die Kasse zu greifen.<br />
KAMINGESPRÄCH IM SCHLOSS<br />
Im Oktober 2012 auf Schloss Ettersburg bei<br />
Weimar entwarfen die MPs einen regelrechten<br />
Schlachtplan. Er reicht bis zum 31.<br />
Dezember 2019. Dann treten alle wichtigen<br />
Gesetze außer Kraft, die die Finanzbeziehungen<br />
zwischen dem Bund und den Ländern<br />
regeln. Dazu zählen die Aufteilung der<br />
Umsatzsteuer (Aufkommen 2013: 197 Milliarden<br />
Euro), der Länderfinanzausgleich<br />
(8,5 Milliarden Euro), die Bundesergänzungszuweisungen<br />
(3,2 Milliarden Euro)<br />
und der Solidaritätszuschlag (14 Milliarden<br />
Euro). Zur Debatte steht aber auch eine<br />
Neuverteilung der Lohn- und Einkommensteuer<br />
(200 Milliarden Euro), der Körperschaftsteuer<br />
(20 Milliarden Euro) und der<br />
Kapitalertragsteuer (26 Milliarden Euro).<br />
Als Gesprächsgrundlage forderten die<br />
Ministerpräsidenten von ihren Finanzministern<br />
jene Bestandsaufnahme an, die<br />
nun als Verschlusssache bei den Kamingesprächen<br />
auftaucht. Darauf aufbauend<br />
stellten die Finanzminister im November<br />
2013 ein ebenso vertrauliches „Meinungsbild<br />
der Länder“ zusammen, das die gemeinsamen<br />
und dissonanten Positionen<br />
Aufbau Bayern Der Raumfahrtstandort Oberpfaffenhofen ist Teil der Freistaat-Strategie<br />
F = 3 317<br />
4 X<br />
. 2000<br />
Nach dieser Formel berechnet sich der<br />
Finanzausgleich, wenn die Finanzmesszahl<br />
eines Landes unter 80 Prozent seiner Ausgleichsmesszahl<br />
liegt. Alles klar?<br />
beschreibt. An beiden Berichten knabbern<br />
die MPs jetzt herum.<br />
Am einfachsten ist der Punkt „Gemeinsame<br />
Position aller Länder zu vertikalen<br />
Aspekten der Neuordnung“. Bei der Umsatzsteuer<br />
wollen sie den Anteil des Bundes<br />
von derzeit 53,4 Prozent zu ihren Gunsten<br />
herunterdrücken. Außerdem fordern sie<br />
<strong>vom</strong> Bund, die ursprünglich degressiven<br />
Entflechtungsmittel für den sozialen Wohnungsbau,<br />
für Hochschulen und die Gemeindeinfrastruktur<br />
über 2019 hinaus nicht<br />
nur zu erhalten, sondern um fast eine Milliarde<br />
auf 3,5 Milliarden Euro jährlich aufzustocken.<br />
Und den Solidaritätszuschlag, der<br />
Stadtstaaten sahnen ab<br />
Was die Bundesländer an Steuern erst einnehmen (<br />
3591<br />
3645<br />
Rheinland-<br />
Pfalz<br />
3<strong>10</strong>2<br />
3769<br />
Saarland<br />
3818<br />
3777<br />
Niedersachsen<br />
Nordrhein-<br />
Westfalen<br />
3560<br />
3800<br />
allein dem Bund zusteht, wollen sie ganz für<br />
sich vereinnahmen (siehe Seite 38).<br />
Beim Verteilen ihrer Beute aber hört die<br />
Gemeinsamkeit auf. Über Kreuz sind sie<br />
sich schon beim grundlegenden föderalen<br />
Verständnis. Die steuerschwachen Länder<br />
betonen das kooperative, die starken dagegen<br />
das kompetitive Element. Die einen<br />
wollen viel Umverteilung, die anderen<br />
mehr Wettbewerb.<br />
Weltweit gibt es rund 25 Bundesstaaten.<br />
Von den meisten unterscheidet sich die<br />
Bundesrepublik Deutschland dadurch,<br />
dass hier nicht nur vertikal, sondern auch<br />
horizontal viel Geld umverteilt wird. Was<br />
theoretisch den Zusammenhalt zwischen<br />
den föderalen Elementen stärken soll, entpuppt<br />
sich in der Praxis jedoch als ständiges<br />
Ärgernis.<br />
Bei den Kamingesprächen bilden die<br />
Ministerpräsidenten denn auch Gruppen<br />
und Grüppchen. Die meisten MPs gehören<br />
zu „FF 12“. Das Kürzel steht für Forum Finanzausgleich,<br />
Mitglieder sind die fünf<br />
4137<br />
3825<br />
Hessen<br />
) und am Ende an Finanzausstattung<br />
3445<br />
3906<br />
Schleswig-<br />
Holstein<br />
4264<br />
3951<br />
Baden-<br />
Württemberg<br />
*Steuereinnahmen plus Steuerausgleich, sozialem Nachteilsausgleich und die Wirtschaftskraftstärkenden Zahlungsströmen<br />
4220<br />
3989<br />
Bayern<br />
FOTOS: DLR, PICTURE-ALLIANCE/DPA<br />
36 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Altlasten im Saarland Der Niedergang der Montanindustrie trieb Sozialkosten und Schulden<br />
F = 5<br />
X<br />
. +<br />
26 X 35<br />
. 52<br />
Formel zum Finanzausgleich, wenn die<br />
Finanzmesszahl eines Landes zwischen<br />
80 und unter 93 Prozent seiner Ausgleichsmesszahl<br />
liegt.<br />
neuen Bundesländer, die drei Stadtstaaten,<br />
Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein<br />
und das Saarland. FF 12 ist<br />
eindeutig auf Umverteilung programmiert.<br />
Ihre Gegner heißen Bayern und Hessen.<br />
Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen<br />
mäandern hin und her.<br />
Bayern und Hessen streben beispielsweise<br />
mehr Leistungsanreize beim horizontalen<br />
Finanzausgleich an. Solide wirtschaftende<br />
Länder sollen belohnt, das Ausgleichsniveau<br />
reduziert werden. Das aber<br />
lehnen die FF 12 strikt ab.<br />
Hand in Hand schreiten die Länderfürsten<br />
dagegen voran, wenn es um die weitere<br />
zur Verfügung haben* (<br />
2541<br />
4170<br />
Sachsen<br />
2496<br />
4176<br />
Thüringen<br />
Quelle:Finanzministerkonferenz<br />
( ) 2121<br />
), in Euro<br />
2688<br />
4331<br />
Brandenburg<br />
2544<br />
4427<br />
Sachsen-<br />
Anhalt<br />
26000<br />
Übernahme von Sozialausgaben durch<br />
den Bund geht. Bei der Eingliederungshilfe<br />
von Behinderten zum Beispiel verabredete<br />
die große Koalition, die Gemeinden um<br />
fünf Milliarden Euro jährlich zu entlasten.<br />
Bis das entsprechende Bundesteilhabegesetz<br />
in Kraft tritt, soll zumindest eine Milliarde<br />
Euro pro Jahr fließen. Doch Bundesfinanzminister<br />
Schäuble hält an seinem<br />
wichtigsten Ziel, den ersten ausgeglichenen<br />
Bundeshaushalt seit 1969, fest. Auch<br />
deswegen versuchen seine Beamten, die<br />
verabredete Mittelaufstockung so lange<br />
wie möglich zu verzögern. Erst „ab 2018<br />
werden Länder/Kommunen durch ein<br />
Bundesteilhabegesetz jährlich um fünf<br />
Milliarden Euro bei den Eingliederungshilfen<br />
für Menschen mit Behinderung entlastet“,<br />
steht in einem internen Vermerk. Das<br />
aber wäre nach der laufenden Legislatur-<br />
2450<br />
4449<br />
Mecklenburg-<br />
Vorpommern<br />
5328<br />
5377<br />
Hamburg<br />
3489<br />
5530<br />
Berlin<br />
3774<br />
5912<br />
Bremen<br />
periode – und damit ein Verstoß gegen den<br />
Koalitionsvertrag.<br />
Offenbar bereitet sich Schäuble ebenfalls<br />
mit Maximalpositionen auf die anstehenden<br />
Gespräche zur Reform der Bund-<br />
Länder-Finanzbeziehungen vor. Zu seinem<br />
Forderungskatalog zählt die Einrichtung<br />
einer Bundessteuerverwaltung. Dadurch<br />
„könnten, auch im Hinblick auf ein<br />
sich veränderndes europäisches Umfeld,<br />
Effizienzgewinne generiert werden“. Damit<br />
geht Schäuble ebenfalls über den Koalitionsvertrag<br />
hinaus. Der sieht lediglich eine<br />
stärkere Rolle des Bundeszentralamtes für<br />
Steuern bei der Steuerfahndung vor. Eine<br />
einheitliche Bundessteuerverwaltung anstelle<br />
der zersplitterten regionalen Finanzdirektionen<br />
würde dagegen stark in die<br />
Länderkompetenzen eingreifen, worauf<br />
noch jeder Ministerpräsident allergisch<br />
reagiert.<br />
Für lebhafte Debatten ist gesorgt, wenn<br />
sich die Bund-Länder-Finanzkommission<br />
in den nächsten Monaten konstituiert. Einen<br />
Vorgeschmack über Taktik und Strategie<br />
von Bund und Ländern bekommen die<br />
Vertreter bereits heute: bei der anstehenden<br />
Verhandlungsrunde über die Subventionen<br />
im ÖPNV. Der Bund zahlt jedes Jahr<br />
rund sieben Milliarden Euro an die Länder,<br />
die damit vor allem S-Bahnen und Regionalexpresszüge<br />
bestellen. Die Verteilung<br />
legt das Regionalisierungsgesetz fest. Am<br />
meisten erhält Nordrhein-Westfalen mit<br />
knapp 16 Prozent, Bremen bekommt weniger<br />
als ein Prozent.<br />
KEINE DEBATTE ENTFACHEN<br />
Das Gesetz läuft 2015 aus und muss noch<br />
in diesem Frühjahr neu beschlossen werden.<br />
Ein Gutachten, das die Länder in<br />
Auftrag gegeben haben, soll bis April<br />
dieses Jahres klären, wie viel Geld für<br />
den Nahverkehr tatsächlich nötig ist.<br />
Bewusst ermitteln die Experten aber nur<br />
den Gesamtbedarf für alle 16 Länder<br />
zusammen – auf eine regionale Aufschlüsselung<br />
wurde verzichtet, um keine<br />
Debatte zu entfachen.<br />
Der Bund dagegen versucht, genau so<br />
einen Streit auszulösen. So stach er in der<br />
vergangenen Woche detaillierte Informationen<br />
über die Verwendung der Regionalisierungsmittel<br />
an die Medien durch –<br />
getarnt als Antwort auf eine Anfrage der<br />
Fraktion Die Linke. Normalerweise sind<br />
solche Antworten nichtssagend. Doch dieses<br />
Mal war die Bundesregierung auskunftsfreudig:<br />
Sachsen, Sachsen-Anhalt,<br />
Thüringen und Niedersachsen investier-»<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 37<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
SOLIDARZUSCHLAG<br />
Den Batzen<br />
sichern<br />
Die Länder wollen die Abgabe in<br />
ihre Kassen leiten. Doch über die<br />
Verteilung der Beute gibt es Streit.<br />
Windige Geschäfte Für einige Länder ist die EEG-Umlage wie ein Nebenfinanzausgleich<br />
»<br />
ten 2012 einen Großteil der Gelder, die<br />
laut Gesetz „insbesondere“ in den Schienenpersonennahverkehr<br />
zu stecken sind,<br />
auch in Tunnelprojekte oder den Busverkehr.<br />
Eine öffentliche Debatte über Zweckentfremdung<br />
der Gelder, so die Hoffnung<br />
des Bundes, hätte die Position der Länder<br />
schwächen können.<br />
Zu der kam es zwar noch nicht. Aber der<br />
Keim für künftige Diskussionen ist gelegt.<br />
Die Länder beobachten mit Argusaugen,<br />
wie die Gelder verkehrspolitisch eingesetzt<br />
werden – auch bei den Ausbauprojekten.<br />
Das Bundesverkehrsministerium erarbeitet<br />
gerade den neuen Bundesverkehrswegeplan<br />
(BVWP), der ab 2015 definiert, wohin<br />
die Milliarden für den Neubau der<br />
Schienenwege und Fernstraßen fließen.<br />
(<br />
13<br />
7<br />
.X 11<br />
) 25<br />
F = X . +<br />
Ausgleichsformel, wenn die Finanzkraftmesszahl<br />
eines Landes mindestens<br />
93 Prozent seiner Ausgleichsmesszahl<br />
beträgt.<br />
GUTE KARTEN<br />
Bayern hat gute Karten, erneut ein wenig<br />
mehr zu profitieren als andere Länder. Der<br />
Freistaat hat allein 400 Projekte für die Aufnahme<br />
in den BVWP angemeldet – so viele<br />
wie kein anderes Land. Der Bund wäre bei<br />
heutigem Ausbautempo zwar 160 Jahre damit<br />
beschäftigt, die Schienen- und Straßenvorhaben<br />
im Wert von 17 Milliarden<br />
Euro abzuarbeiten. Doch Politstratege<br />
Horst Seehofer platzierte seinen Vertrauten<br />
Alexander Dobrindt an die Schlüsselposition<br />
für die Verteilung von Bundesmitteln.<br />
Da mag das eine oder andere Projekt<br />
zusätzlich für Dobrindts Heimat abfallen.<br />
Die Bayern haben sich bei Verkehrs- und<br />
anderen Zukunftsprojekten immer schon<br />
klug verhalten. Legendär ist die Industriepolitik<br />
von Franz Josef Strauß, der für Technologiefirmen<br />
den roten Teppich ausrollte<br />
und zusah, dass zukunftsträchtige Institutionen<br />
wie das Deutsche Raumfahrtzentrum<br />
in den Freistaat kamen. In dieser Tradition<br />
agiert seither jeder Ministerpräsident<br />
des Freistaates.<br />
Pro Jahr investiert der Bund beispielsweise<br />
rund ein bis zwei Milliarden Euro in<br />
den Neu- und Ausbau von Fernstraßen.<br />
Wegen Fehlplanungen und Verzögerungen<br />
bei Bauprojekten kann es passieren, dass<br />
am Jahresende nicht sämtliche Gelder verbuddelt<br />
werden können. Das Geld darf<br />
aber nicht in das Folgejahr übertragen werden,<br />
sondern muss an den Bund zurücküberwiesen<br />
werden, der es anderen Bundesländern<br />
zur Verfügung stellt – vorausgesetzt,<br />
sie haben ein baufähiges Projekt.<br />
So musste Nordrhein-Westfalen im vorigen<br />
Jahr 40 Millionen Euro an Bundesgeldern<br />
zurückgeben, weil es im Land an baureifen<br />
Projekten fehlte. Ähnlich erging es<br />
Berlin. Anders die Länder Hessen und<br />
Rheinland-Pfalz, die jeweils mehr als 40<br />
Millionen Euro zusätzlich verbauen konnten.<br />
Die Niedersachsen durften sich über<br />
80 Millionen Euro <strong>vom</strong> Bund finanzierte<br />
Mehrausgaben freuen. An der Spitze liegt<br />
seit Jahren Bayern, das zig Bauprojekte in<br />
den Schubladen der Amtsstuben liegen<br />
hat. 2013 stand ein Positivsaldo von 140<br />
Millionen Euro. Man kann es eine Art Nebenfinanzausgleich<br />
nennen.<br />
n<br />
christian.ramthun@wiwo.de | Berlin,<br />
henning krumrey, christian schlesiger<br />
Eigentlich läuft der 5,5-prozentige Aufschlag<br />
auf die Einkommen-, Körperschaft-<br />
und Kapitalertragsteuer Ende<br />
2019 aus. Doch auf die dann 17 bis 18<br />
Milliarden Euro will niemand verzichten.<br />
In der Führung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion<br />
kursiert der Vorschlag, den<br />
Solidarzuschlag in den Einkommensteuertarif<br />
einzupflegen. Der Bund, der<br />
bislang <strong>10</strong>0 Prozent des Aufkommens<br />
erhält, würde danach wie die Länder<br />
42,5 Prozent bekommen, für die Kommunen<br />
blieben 15 Prozent übrig (WirtschaftsWoche<br />
<strong>10</strong>/<strong>2014</strong>).<br />
Der Vorschlag bringt Nordrhein-Westfalens<br />
Finanzminister Norbert Walter-<br />
Borjans (SPD) auf die Zinne. „Es sieht<br />
aus, als wenn der Bund den Ländern<br />
generös entgegenkommt. Dabei will er<br />
sich zuerst einmal dauerhaft einen Batzen<br />
für den Bundeshaushalt sichern“,<br />
sagt der NRW-Finanzminister.<br />
NRW und andere Empfängerländer<br />
möchten das Aufkommen komplett zur<br />
Tilgung ihrer Altschulden verwenden.<br />
Das aber finden die Ostländer nicht gut,<br />
die bisher zumindest teilweise <strong>vom</strong> Soli<br />
profitierten. Ihre Schulden sind nicht so<br />
hoch wie die der Westländer und deswegen<br />
würden sie den Soli lieber für allgemeine<br />
Infrastrukturprojekte nutzen.<br />
FÜR OST, WEST UND BAYERN<br />
Hessens Finanzminister Thomas Schäfer<br />
(CDU) würde einen Teil des Soli sogar<br />
Berlin zukommen lassen, damit –<br />
so die eigennützige Kalkulation – die<br />
Hauptstadt dann nicht mehr so viel<br />
beim Länderfinanzausgleich abgreift.<br />
Natürlich hat auch der bayrische Finanzminister<br />
Markus Söder (CSU) ein<br />
Modell parat: Die Hälfte des Solis soll<br />
dazu dienen, den Abbau der kalten Progression<br />
zu finanzieren. Die andere<br />
Hälfte soll in einen Fonds zur Unterstützung<br />
strukturschwacher Gebiete fließen,<br />
in Ost wie West – und in Bayern.<br />
christian.ramthun@wiwo.de | Berlin<br />
FOTO: LAIF/ZENIT/PAUL LANGROCK<br />
38 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
»Das klingt harmlos«<br />
INTERVIEW | Günther Oettinger Der EU-Energiekommissar zur Sicherheit<br />
der Gasversorgung und zum Streit über die Energiewende.<br />
Herr Oettinger, Russlands Präsident Wladimir<br />
Putin greift zu Drohgebärden. Wie<br />
soll Europa damit umgehen?<br />
Wir müssen einheitlich auftreten. Das<br />
Ganze ist ein Pokerspiel: Wladimir Putin<br />
fordert die Europäische Union heraus.<br />
Seine Staatsbetriebe, Rosneft, Gazprom<br />
und andere, einige Oligarchen in seiner<br />
Nähe und die Notenbank mit seiner früheren<br />
Chefberaterin als Präsidentin – alle<br />
sind von ihm abhängig. Auf der anderen<br />
Seite sitzen 28 Mitgliedstaaten mit ihren<br />
Regierungen, die EU-Kommission, die<br />
Industrie, die Bankenwirtschaft und<br />
der amerikanische Partner. Wir sind heterogener...<br />
...und von russischer Energie abhängig.<br />
Wir haben in den vergangenen Jahren an<br />
Handlungsfähigkeit gewonnen und unsere<br />
Gaslieferanten diversifiziert. 2012 war Norwegen<br />
der wichtigste Lieferant. In vielen<br />
Bereichen wurden grenzüberschreitende<br />
Leitungen ausgebaut. Die direkte Verbindung<br />
zu Gasfeldern in Aserbaidschan<br />
kommt 2019. Wir planen neue schiffsfähige<br />
Flüssiggas-Terminals, um gegebenenfalls<br />
Gas aus Nigeria, Libyen und Katar oder<br />
Schiefergas aus den USA zu beziehen. Für<br />
den Sommer planen wir in Malta eine Konferenz,<br />
um die besten Transportwege für<br />
Gas aus dem östlichen Mittelmeer auszuloten.<br />
Aber so, wie unser Straßennetz über<br />
Jahrzehnte entstand, braucht es nun Zeit,<br />
DER AUFPASSER<br />
Oettinger, 60, ist seit Februar 20<strong>10</strong> als Mitglied<br />
der EU-Kommission zuständig für<br />
Energiepolitik. Von 2005 bis zu seinem<br />
Wechsel nach Brüssel war der CDU-Politiker<br />
Ministerpräsident in Baden-Württemberg.<br />
um das Strom- und Gasnetz hochzuziehen.<br />
In etwa fünf Jahren sollten wir unser<br />
vorläufiges Ziel erreichen.<br />
Genau darum steht Europa dumm da,<br />
wenn Putin morgen die Energie abdreht.<br />
Ich gehe nicht davon aus, dass die Russen<br />
ein Interesse daran haben. Warum sollten<br />
sie etwa Nord Stream stilllegen? Gazprom<br />
ist an täglichen Verkaufserlösen interessiert,<br />
damit sich die Investition lohnt und<br />
Umsatz erzielt wird. Selbst wenn sich das<br />
Worst-Case-Szenario <strong>vom</strong> Januar 2009 wiederholen<br />
würde, also kein Gas mehr durch<br />
die Ukraine fließt, dann beträfe dies 14 Prozent<br />
unseres europäischen Gasverbrauchs.<br />
Wir haben einen milden Winter gehabt.<br />
Die Speicher sind heute voller als vor einem<br />
Jahr. Seit zweieinhalb Jahren gilt die<br />
Gasversorgungsverordnung, Mitgliedstaaten<br />
müssen also dafür sorgen, dass ausreichend<br />
Vorräte vorhanden sind, um<br />
Haushalte im Fall einer Unterbrechung der<br />
Gasleitungen auch im Winter mindestens<br />
30 Tage versorgen zu können. Wir stehen<br />
besser da als vor fünf Jahren.<br />
Die EU-Kommission hat ein Wettbewerbsverfahren<br />
gegen Gazprom eröffnet. Ist das<br />
ihre schärfste Waffe gegen Russland?<br />
Wir werden das Wettbewerbsrecht nicht<br />
missbrauchen, aber das Verfahren dient sicherlich<br />
der Autorität der Europäischen<br />
Union. Es wurde eröffnet, weil es Klagen<br />
gab. Jetzt sind die Experten dran. Die haben<br />
keine politischen Vorgaben.<br />
Wann rechnen Sie mit einem Ergebnis?<br />
Bis zum Sommer. Das ist ein Verfahren, das<br />
Priorität hat.<br />
Russland hat nie die Energiecharta<br />
unterzeichnet. Bleibt es jetzt dabei?<br />
Ich baue darauf, dass es im nächsten Jahr<br />
wieder zu einer Normalisierung der Beziehungen<br />
kommen wird. Wir sind gegenseitig<br />
abhängig. Eine weitere Vertiefung<br />
unserer Energiepartnerschaft wäre eine<br />
echte Win-win-Situation. Da wäre die Mitgliedschaft<br />
in der Energiecharta nützlich.<br />
Ist Putin die gegenseitige Abhängigkeit<br />
bewusst?<br />
Ich glaube schon. Die faktische Insolvenz<br />
Russlands ist nicht so lange her, das war<br />
Ende der Neunzigerjahre. Wenn man sich<br />
ansieht, welcher Investitionsbedarf in<br />
Russland besteht, dann hat Putin ein Interesse,<br />
dass europäische Investoren nach<br />
Russland kommen. Es wäre in seinem<br />
Sinn, dass deutsche Autos nicht nur in Ingolstadt<br />
und Sindelfingen gebaut werden,<br />
sondern auch neue Standorte in Russland<br />
entstehen.<br />
Die Ukraine-Krise überlagert den Konflikt<br />
zwischen Berlin und Brüssel zum Erneuerbaren-Energien-Gesetz<br />
(EEG). Da wirft<br />
Energieminister Sigmar Gabriel der EU-<br />
Kommission vor, sie schädige mit ihrem<br />
Verfahren die deutsche Wirtschaft.<br />
Die EU-Kommission will die deutsche<br />
Wirtschaft sicherlich nicht schädigen. Aber<br />
da wir Beschwerden aus Deutschland erhielten,<br />
muss die EU-Kommission prüfen,<br />
ob das EEG mit europäischem Wettbewerbsrecht<br />
vereinbar ist.<br />
Galt Gabriels Aufschrei dem heimischen<br />
Publikum?<br />
Auf der Arbeitsebene läuft der Kontakt mit<br />
Berlin sehr sachlich, übrigens auch, wenn<br />
Minister Gabriel mit mir oder Herrn Almunia<br />
zu Vier-Augen-Gesprächen zusammentrifft.<br />
Allerdings stellen wir generell fest, dass<br />
die EU-Kommission gegenüber keiner Regierung<br />
auch nur annähernd den Ton anschlägt,<br />
den manche Regierung gegenüber<br />
uns wählt.<br />
Wieso wurde in Berlin der Konflikt<br />
des EEG mit dem europäischen Recht so<br />
lange ignoriert?<br />
FOTO: LAIF/REPORTERS/ERIC HERCHAFT<br />
40 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Ich habe in den vergangenen Jahren immer<br />
wieder darauf hingewiesen, dass das EEG,<br />
so wie es sich entwickelt hat, aufgebläht<br />
und ständig steigend, möglicherweise<br />
nicht mit europäischem Wettbewerbsrecht<br />
vereinbar ist. Ich habe mich dazu öffentlich<br />
geäußert, aber auch in kleinerem Kreis,<br />
in Parlamentsausschüssen, in Landtagsfraktionen,<br />
gegenüber Landesregierungen.<br />
Es gab dann ein paar zarte Vorstöße, etwa<br />
<strong>vom</strong> damaligen Umweltminister Peter<br />
Altmaier Anfang letzten Jahres. Letztendlich<br />
haben sich Koalitionspartner,<br />
Bundesländer und unterschiedliche Interessensgruppen<br />
aber gegenseitig blockiert<br />
»Einen Neustart<br />
braucht man nur,<br />
wenn die Karre<br />
abgewürgt ist«<br />
– mit dem Ergebnis der Handlungsunfähigkeit.<br />
Ist mittlerweile die Botschaft in Berlin<br />
angekommen, dass sich das EEG grundlegend<br />
ändern muss?<br />
Es gibt in Berlin einige Leute, die wüssten,<br />
was man tun müsste. Gabriel hat ja recht<br />
markant von einem notwendigen Neustart<br />
gesprochen. Neustart klingt harmlos, aber<br />
eigentlich braucht man den nur, wenn die<br />
Karre abgewürgt oder an die Wand gefahren<br />
wurde. Das ist sein Kommentar zur<br />
Energiewende.<br />
Wie könnte der Kompromiss aussehen,<br />
den Sie mit Berlin aushandeln wollen?<br />
Wir haben uns in weiten Bereichen schon<br />
angenähert. Nun geht es darum, ein ausgewogenes<br />
Gesamtpaket zu schnüren. Andere<br />
Länder verfolgen übrigens sehr genau,<br />
inwieweit die Kommission den Deutschen<br />
entgegenkommt. Der Kompromiss darf<br />
den Wettbewerb zwischen europäischen<br />
Staaten nicht verzerren.<br />
Was wird Teil des Kompromisses sein?<br />
Es gibt drei Variablen: Es geht um die Industriesektoren,<br />
die teilweise von der EEG-<br />
Umlage befreit werden, es geht um Strommengen<br />
und um die Zahl der Betriebe.<br />
Ausnahmen für einige energieintensive<br />
Sektoren wie beispielsweise Stahl, Aluminium,<br />
Papier und Zement sind unstrittig.<br />
Offen ist die Frage, wie stark die energieintensiven<br />
Unternehmen befreit werden. Be-<br />
zahlen sie 0,5 Prozent, 5 Prozent oder 20<br />
Prozent der Umlage? 20 Prozent klingt immer<br />
noch sehr industriefreundlich, aber<br />
wenn man weiß, dass die EEG-Umlage einen<br />
hohen Anteil an den Stromkosten hat,<br />
dann sind 20 Prozent zu viel für ein Unternehmen<br />
mit hohem Stromverbrauch.<br />
Wenn die EU-Kommission beschließt,<br />
dass die alten Ausnahmen illegal waren,<br />
kommen auf deutsche Unternehmen<br />
gewaltige Zahlungen zu. Was droht da?<br />
Wir prüfen erst ab dem Jahr 2012, sodass es<br />
nur um zwei Jahre geht. Dass die Befreiungen<br />
für diese beiden Jahre komplett zurückbezahlt<br />
werden, ist ein Worst-Case-<br />
Szenario. Aber wie gesagt, die Verhandlungen<br />
laufen noch.<br />
Also ist alles auf gutem Wege?<br />
Die Diskussion in Berlin scheint mir immer<br />
noch ein wenig unklar. Zu Jahresbeginn hat<br />
Gabriel eine erste Liste vorgelegt, nach der<br />
der Schienenverkehr, also S-Bahn,<br />
U-Bahn, Deutsche Bahn, keine Ermäßigungen<br />
mehr bekäme. Damit hätte man<br />
bis zu einer halben Milliarde Euro sparen<br />
können. Nun höre ich, dass der Schienenverkehr<br />
doch befreit ist. Ein klarer Ansatz<br />
ist das nicht. Und der Schwarze Peter wird<br />
im Zweifel nach Brüssel geschoben. Korrekt<br />
finde ich das nicht.<br />
Können Sie nachvollziehen, dass der Wirtschaftsminister<br />
so viele Unternehmen wie<br />
möglich begünstigen will? Der Strom ist ja<br />
heute in Deutschland schon sehr teuer.<br />
Die Deutschen haben in der EU einen der<br />
höchsten Anteile von Steuern und Abgaben<br />
am Strom, der staatliche Anteile am<br />
Preis beträgt über 50 Prozent. Es gäbe auch<br />
in Berlin genügend Möglichkeiten, an<br />
Stellschrauben zu drehen. Aber dann bitte<br />
für alle, diskriminierungsfrei.<br />
Haben Sie das in Berlin schon angeregt?<br />
Jedes Mal, wenn ich darauf hinweise, bekomme<br />
ich mäßig freundliche Anrufe aus<br />
Berlin. Der deutsche Haushalt ist auf Kante<br />
genäht, man leistet sich die Frühverrentung<br />
und will keine Steuern erhöhen. In<br />
Berlin hat man schon immer in Richtung<br />
Energie geschaut, wenn sich ein Loch im<br />
Haushalt auftat. Wie finanziert man die<br />
Rente? Mit Ökosteuer, Stromsteuer. Die<br />
EEG-Umlage dient ja nicht nur dem Ausbau<br />
von Solar- und Windenergie, es kommen<br />
ja immer noch 19 Prozent Umsatzsteuer<br />
drauf. Wer Strom verbraucht, zahlt<br />
auch immer noch in die Bundeskasse und<br />
nicht nur für den Windparkinvestor. Der<br />
Erfindungsreichtum der Haushälter war<br />
immer schon riesengroß.<br />
n<br />
silke.wettach@wiwo.de | Brüssel<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 41<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
BERLIN INTERN | Die Mittelstandsbeauftragte soll das<br />
Wohl kleiner Betriebe wahren. Der Schönheitsfehler:<br />
Mit Familienunternehmern hatte die Sozialdemokratin<br />
bisher wenig zu tun. Von Henning Krumrey<br />
Mittelstands-Azubine<br />
FOTOS: WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, PICTURE-ALLIANCE/DPA<br />
Geht es nach der Länge des Titels,<br />
ist Iris Gleicke die mächtigste<br />
Frau der Regierung. Was ist<br />
schon das kurze „Bundeskanzlerin“<br />
Angela Merkels gegen die üppige<br />
Amtsbezeichnung „Parlamentarische<br />
Staatssekretärin beim Bundesminister für<br />
Wirtschaft und Energie und Beauftragte der<br />
Bundesregierung für die neuen Bundesländer,<br />
für Mittelstand und Tourismus“?<br />
Gleickes Berufung zur Schutzpatronin<br />
der Kleinbetriebe Ende Januar zauberte<br />
Ein Herz für Randgruppen Gewerkschafterin<br />
Gleicke startet zur Kennenlern-Tour<br />
den Mittelstandsfunktionären in der Hauptstadt<br />
Fragezeichen auf die Stirn: Gleicke?<br />
Nie gehört! Die Präsidenten und Geschäftsführer<br />
mussten im Bundestagshandbuch<br />
blättern, wen ihnen der SPD-Proporz da angespült<br />
hatte. Carsten Linnemann, Vorsitzender<br />
der CDU/CSU-Mittelstandsvereinigung<br />
(MIT), wusste als Parlamentskollege<br />
wenigstens: eine Ostdeutsche.<br />
Jetzt läuft das Beschnuppern. Demnächst<br />
besucht sie den MIT-Vorstand. Für<br />
den Parlamentarischen Abend der Familienunternehmer<br />
an diesem Donnerstag hat<br />
sie zugesagt. Vor sieben Wochen griff<br />
Gleicke beim Bundesverband Mittelständische<br />
Wirtschaft (BVMW) – für die erfreuten<br />
Gastgeber überraschend – gleich zum Mikrofon.<br />
Zuhörer der schönen Botschaften<br />
noch vor ihrer offiziellen Ernennung waren<br />
freilich nur wenige Unternehmer, dafür an<br />
die <strong>10</strong>0 Kollegen aus dem Parlament.<br />
Keine Freunde hat sich Gleicke dagegen<br />
beim „Mittelstandsverbund ZGV“ gemacht.<br />
Der vertritt immerhin 230 000 kleinere Unternehmen,<br />
die in Genossenschaften oder<br />
Einkaufsverbünden kooperieren. Zu den<br />
bekannteren der 320 Gruppen gehören<br />
Edeka und Rewe, Expert und Intersport,<br />
hagebau und DATEV. Artig hatte ZGV-<br />
Hauptgeschäftsführer Ludwig Veltmann<br />
der „sehr geehrten Frau Staatssekretärin“<br />
zur Berufung gratuliert. Auch die Vorgänger<br />
– zuletzt der rührige FDP-Mann Ernst<br />
Burgbacher – seien „stets unser erster<br />
politischer Ansprechpartner“ gewesen,<br />
weshalb Veltmann bat, ob „Ihr sicherlich<br />
strapazierter Terminkalender dennoch in<br />
nächster Zeit einen Termin für ein persönliches<br />
Gespräch ermöglichen würde“.<br />
Schon drei Wochen später ging Gleickes<br />
Antwort ein. „Ich möchte einen sehr engen<br />
und persönlichen Kontakt zu der mittelständischen<br />
Wirtschaft und ihren Verbänden<br />
aufbauen“, begann das Schreiben verheißungsvoll.<br />
Doch statt eines Vorschlages<br />
folgte eine Absage: „Leider“ sei in nächster<br />
Zeit ein Treffen „aus terminlichen Gründen<br />
nicht möglich“. Gleickes Büro verweist auf<br />
Nachfrage darauf, dass die Chefin in Vertretung<br />
des Ministers zum Parlamentarischen<br />
Abend des ZGV im Juni komme. Und<br />
bei dringenden Sorgen genüge ein Anruf.<br />
Wer genauer hinschaut, stellt fest: Ihren<br />
Regierungsposten verdankt die 49-jährige<br />
Thüringerin dem ersten Teil ihres umfangreichen<br />
Titels. Ostbeauftragte war sie<br />
schon im zweiten Kabinett von Gerhard<br />
Schröder (SPD), damals allerdings angesiedelt<br />
im Verkehrsressort. Gleich in ihrer<br />
zweiten Legislaturperiode als Bundestagsabgeordnete<br />
(1994 – 1998) saß sie in der<br />
Enquetekommission zu den Folgen der<br />
SED-Diktatur, die letzten Jahre führte sie<br />
die Ostabgeordneten in der SPD-Fraktion.<br />
Ihr auch den Mittelstand zu übertragen<br />
zeigt, welche Bedeutung die Bundesregierung<br />
und auch Vizekanzler Sigmar Gabriel<br />
den kleineren Unternehmen in Wahrheit<br />
beimessen. Denn bisher hat sich Gleicke<br />
mehr an anderen Fronten engagiert. Mitglied<br />
ist die Hochbau-Ingenieurin bei der<br />
Gewerkschaft IG Bauen-Agrar-Umwelt, im<br />
Präsidium des Arbeiter-Samariter-Bundes<br />
und bei der Arbeiterwohlfahrt (Awo). Aber<br />
Mittelstand? I wo!<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 43<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Angriff der Fondskrieger<br />
AKTIVISTISCHE AKTIONÄRE | Aggressive Investoren wie Carl Icahn und der Elliott-Fonds<br />
aus den USA oder Cevian aus Schweden mischen weltweit Unternehmen mit<br />
Forderungen nach Chefwechseln oder Aufspaltung auf. Auch Deutschland nehmen<br />
sie jetzt stärker ins Visier. Nutzen oder schaden sie den Unternehmen?<br />
44 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Mit den korinthischen Säulen<br />
und der hohen Kuppel bietet<br />
die New Yorker Gotham<br />
Hall ein standesgemäßes<br />
Ambiente für den Auftritt<br />
eines treuen Förderers der Republikaner.<br />
Der Milliardär Paul Singer ist das seit vielen<br />
Jahren, was ihn nicht davon abhält, eine<br />
ausgeprägte Neigung zu eigenen Ansichten<br />
zu pflegen. So lobt er die Familie<br />
pflichtschuldig als „Fundament der Gesellschaft“,<br />
ergänzt aber unmittelbar, dass es<br />
„die Gesellschaft stärker macht, wenn auch<br />
Schwule und Lesben heiraten können“.<br />
Singers Lust an Provokation und Einmischung<br />
hat den 69-Jährigen zum Schrecken<br />
börsennotierter Unternehmen gemacht.<br />
Und zu einer Legende, von der<br />
selbst ihre Opfer mit Respekt reden. Sein<br />
Hedgefonds Elliott sucht weltweit nach<br />
Unterbewertungen und Gesetzeslücken,<br />
seine Agenda verfolgt Singer ebenso rücksichtslos<br />
wie rational.<br />
Mal fällt er bei Konzernen ein und piesackt<br />
das Management mit besserwisserischen<br />
Ideen, mal kauft er Anleihen von<br />
Pleitestaaten wie Argentinien oder Kongo<br />
und verklagt die auf vollständige Rückzahlung.<br />
In Deutschland klinkt er sich gerne in<br />
Übernahmen ein, um höhere Preise durchzuboxen.<br />
Fast immer heißt der Gewinner<br />
der Kämpfe Singer. Seit der Gründung 1977<br />
hat sein Fonds im Durchschnitt eine jährliche<br />
Rendite von 14 Prozent erzielt.<br />
Carl Icahn<br />
Icahn Enterprises<br />
Der Altmeister der Attacke macht seit<br />
50 Jahren die Wall Street unsicher.<br />
Er mischte bei Texaco, Time Warner und<br />
Motorola mit, zuletzt legte er sich mit<br />
Dell, Netflix, Apple und Ebay an.<br />
Der Krieg hat sich ausgezahlt: Icahns<br />
Privatvermögen wird auf 20 Milliarden<br />
Dollar geschätzt.<br />
ä<br />
MASSIVER DRUCK<br />
Mit einem verwalteten Vermögen von 23<br />
Milliarden Dollar ist Elliott einer der größten<br />
„aktivistischen Aktionäre“. Diese kaufen<br />
sich mit Minderheitsanteilen bei Unternehmen<br />
ein und setzen das Management<br />
gehörig unter Druck. Ihr Ziel: Große strategische<br />
Änderungen sollen den Wert des<br />
Unternehmens in kurzer Zeit deutlich steigern.<br />
Wenn es gut läuft, können sich die<br />
Hedgefonds schon nach Monaten mit sattem<br />
Gewinn verabschieden.<br />
Das Geschäft boomt. Aktivisten haben<br />
weltweit so viel Geld eingesammelt wie nie<br />
(siehe Grafik Seite 46). Mit den frisch ergatterten<br />
Milliarden werden in den USA ansässige<br />
Fonds auch deutsche Unternehmen<br />
stärker ins Visier nehmen, bei de-<br />
»<br />
FOTO: CONTOUR BY GETTY IMAGES<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 45<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
»<br />
nen sie verborgenes Potenzial wittern.<br />
Das erwarten Banker und Anwälte, die von<br />
deutschen Unternehmen Mandate für den<br />
Umgang mit den unwillkommenen Eindringlingen<br />
gewinnen wollen.<br />
Deren Forderungen scheren sich wenig<br />
um gepflegte Tabus. So verlangen sie häufig,<br />
Unternehmensteile abzuspalten, Barmittel<br />
als Sonderdividende auszuschütten,<br />
dem Management weniger zu bezahlen<br />
oder es gleich ganz abzusetzen. Kurzfristig<br />
gehen die Aktienkurse bei ihrem Auftauchen<br />
nach oben. Ob der Angriff der Fondskrieger<br />
dem Unternehmen auch auf längere<br />
Sicht nützt, ist eine andere Frage.<br />
Deutlich populärer als die Einmischung<br />
in Fragen der Unternehmensführung ist in<br />
Deutschland seit Jahren eine zweite Art des<br />
Aktivismus. Das hiesige Übernahmerecht<br />
mit seinem ausgeprägten Minderheitenschutz<br />
ist eine Art Einladung, erst mal ordentlich<br />
Krawall zu machen und dann abzukassieren.<br />
Einzelne Fonds haben sich<br />
darauf spezialisiert, so lange und so viel Ärger<br />
zu machen, bis der Käufer einknickt<br />
und einen höheren als den ursprünglich<br />
gebotenen Preis zahlt.<br />
ANWÄLTE DER AKTIONÄRE<br />
Stets treten Aktivisten als Anwälte der angeblich<br />
vernachlässigten Eigentümer auf.<br />
Vorstände, so ihre Argumentation, entschieden<br />
vor allem so, wie es für sie selbst<br />
am besten sei. Das sei aber nicht immer<br />
auch das Beste für das Unternehmen und<br />
seine Aktionäre. Die eigentlich für die Kontrolle<br />
Verantwortlichen ließen die Manager<br />
jedoch gewähren, egal, wie mittelmäßig<br />
die ihren Job auch erledigten. „Gerade in<br />
Europa fordern Aktionäre und Aufsichtsrat<br />
das Management zu wenig heraus“, klagt<br />
ein hochrangiger Manager eines Fonds.<br />
Da ziehen er und seine Kollegen ganz<br />
andere Saiten auf. Ihre Einmischung folgt<br />
einem vielfach erprobten Eskalationsszenario.<br />
Erst wollen sie mit dem Management<br />
nur reden, Ideen vortragen, die Strategie<br />
verstehen. Oft ist dann Schluss – von<br />
etwa der Hälfte der Interventionen erfährt<br />
die Öffentlichkeit nichts. Wenn die Fonds<br />
mit der Reaktion des Vorstands aber nicht<br />
zufrieden sind, ziehen sie die Daumenschrauben<br />
an. Sie verfassen offene Briefe<br />
an das Management, suchen weitere Aktionäre<br />
als Unterstützer, veranlassen Sonderprüfungen,<br />
klagen gegen das Unternehmen<br />
oder suchen die offene Konfrontation<br />
auf der Hauptversammlung.<br />
Der von ihnen angezettelte Radau zahlt<br />
sich aus wie selten zuvor. So verzeichnete<br />
der „Aktivisten-Index“ des Fachdienstes<br />
Hedge Fund Research 2013 im Vergleich<br />
mit allen anderen Indizes die beste Wertentwicklung.<br />
Über die vergangenen zwei<br />
Jahre erzielten Aktivisten durchschnittlich<br />
Renditen von 40 Prozent – fast doppelt so<br />
viel wie gewöhnliche Hedgefonds. Die besten<br />
Fonds schafften allein 2013 Renditen<br />
von 50 Prozent und mehr auf das von ihnen<br />
eingesetzte Geld.<br />
Das macht sie zu attraktiven Anziehungspunkten<br />
für Kapital, das angesichts<br />
der weltweiten Niedrigzinsen verzweifelt<br />
nach etwas mehr Rendite sucht. Fast <strong>10</strong>0<br />
Milliarden Dollar haben Aktivisten 2013<br />
bei Investoren eingesammelt, mehr als je<br />
zuvor. Damit steigt für sie aber auch der<br />
Druck, rentable Anlagen zu finden.<br />
Bisher ist Europa kein bevorzugter Tummelplatz<br />
aggressiver Anteilseigner. Die<br />
Geld für Geier<br />
Mittelzuflüsseinaktivistische Fonds<br />
(in Milliarden Dollar)<br />
<strong>10</strong>0<br />
80<br />
60<br />
40<br />
20<br />
0 2006 07 08 09 <strong>10</strong> 11 12 13<br />
Quelle:UBS, Hedge Fund Research<br />
Zahl der Angriffe hat sich von 20<strong>10</strong> bis 2013<br />
von 31 auf 74 gesteigert. Mit 25 Attacken im<br />
Jahr ist Großbritannien der mit Abstand<br />
beliebteste Kampfplatz. In Deutschland<br />
gab es dagegen gerade mal drei Kampagnen.<br />
Die geringe Zahl börsennotierter<br />
Unternehmen, die Sprachbarriere, die in<br />
Details unbekannten Gesetze und die häufige<br />
Beteiligung von Familien oder anderen<br />
Großaktionären wirken wie ein unsichtbarer<br />
Schutzwall – der zunehmend bröckelt.<br />
Die Fonds wachsen und bauen Expertise<br />
auf, um auch im Ausland zuzuschlagen.<br />
„Auf der Suche nach Chancen geraten<br />
Europa und besonders Deutschland zunehmend<br />
ins Blickfeld“, sagt Dirk Albersmeier,<br />
Leiter des Geschäfts mit Fusionen<br />
und Übernahmen bei JP Morgan in Frankfurt.<br />
„Egal, wie groß ein Unternehmen ist,<br />
keiner sollte sich zu sicher fühlen, sondern<br />
ständig prüfen, wo man angreifbar ist.“<br />
In den USA sind Aktivisten längst Teil des<br />
Alltags, geschätzt jedes fünfte börsenno-<br />
tierte Unternehmen hatte mit ihnen zu tun.<br />
Ihr Image ist alles andere als blütenweiß,<br />
ihre Rolle als Aufspürer von Verkrustungen<br />
und Fehlbewertungen aber akzeptiert.<br />
Selbst Mary Jo White, die bissige Chefin der<br />
US-Börsenaufsicht SEC, schlägt milde Töne<br />
an: „Das schlechte Bild dieser Investoren<br />
hat seine Wurzeln in den Achtzigerjahren,<br />
aber das ist nicht die gegenwärtige<br />
Sicht und nicht die einzige Sichtweise.“<br />
COMEBACK DES ALTSTARS<br />
Während der Finanzkrise 2008 waren die<br />
Fonds mitsamt ihren Frontmännern abgetaucht.<br />
Nun schwimmen sie wieder ganz<br />
oben, allen voran der 78-jährige Carl<br />
Icahn. Der Altstar der Szene kaufte sich mit<br />
seinem nach ihm benannten Unternehmen<br />
unter anderem bei Apple ein und verlangte<br />
<strong>vom</strong> Management stärkere Aktienrückkäufe.<br />
Seit einigen Wochen fordert<br />
Icahn von Ebay die Abspaltung des hochprofitablen<br />
Bezahldienstes PayPal. Mit seinen<br />
Attacken schaffte er es jüngst auf die<br />
Titelseite des US-Magazins „Time“.<br />
Für ähnlichen Aufruhr sorgte Daniel<br />
Loeb mit seinem Fonds Third Point. Er zog<br />
sich sogar den Zorn von Hollywoodstar<br />
George Clooney zu, weil er vehement eine<br />
teilweise Abspaltung der Unterhaltungssparte<br />
inklusive Filmstudios beim japanischen<br />
Elektronikriesen Sony forderte.<br />
Auch die wenigen Aktivisten aus Europa<br />
werden aktiver. Der <strong>vom</strong> öffentlichkeitsscheuen<br />
Briten Chris Hohn geführte „The<br />
Children’s Investment Fund“ (TCI) erlebte<br />
2013 ein Rekordjahr mit Milliardengewinn<br />
und einer Rendite von 47 Prozent. 2005<br />
hatte TCI in Deutschland das bisher drastischste<br />
Exempel aktivistischer Macht statuiert,<br />
als er die bereits ausverhandelte<br />
Übernahme der London Stock Exchange<br />
durch die Deutsche Börse erfolgreich torpedierte.<br />
Die Mehrheit der Aktionäre verweigerte<br />
Börsenchef Werner Seifert die Gefolgschaft,<br />
er musste ebenso gehen wie der<br />
Aufsichtsratsvorsitzende Rolf Breuer.<br />
Seit 2012 ist der schwedische Investor<br />
Cevian am Baukonzern Bilfinger beteiligt.<br />
Gerade erst hat er seine Beteiligung am kriselnden<br />
Stahlkonzern ThyssenKrupp auf 15<br />
Prozent aufgestockt. Geschäftsführer Jens<br />
Tischendorf geht auf Distanz zu forschen<br />
Krawallbrüdern. „Wir sind nicht an schnellen<br />
Gewinnen, sondern an langfristiger<br />
Wertsteigerung interessiert“, sagt er. Und:<br />
„Wir betrachten uns selbst als Miteigentümer<br />
von Unternehmen, die signifikantes<br />
Wertsteigerungspotenzial besitzen“. Um<br />
das glaubhaft zu machen, übernehmen Ce-<br />
46 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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FOTOS: GETTY IMAGES/BLOOMBERG NEWS, BLOOMBERG NEWS/SIMON DAWSON<br />
vian-Manager auch Posten im Aufsichtsrat.<br />
Dort tun sie ihre Forderungen mit allem gebotenen<br />
Nachdruck kund.<br />
Aktionäre trauen den Investoren schon<br />
aufgrund vergangener Erfolge zu, dass sie<br />
Unternehmen voranbringen. Allein ihr<br />
Einstieg sorgt dafür, dass die Kurse nach<br />
oben gehen. Binnen 20 Tagen nach Bekanntwerden<br />
des Engagements entwickelten<br />
sich die Aktien durchschnittlich um<br />
sieben Prozent besser als der Markt. Viele<br />
akademische Studien haben den kurzfristigen<br />
Nutzen der Aktivisten nachgewiesen.<br />
Dagegen sorgt ihr Auftauchen im Vorstandszimmer<br />
für Schluckbeschwerden.<br />
Top-Manager wollen selbst gestalten und<br />
sich keine Agenda aufzwingen lassen. Den<br />
Angreifern unterstellen sie deshalb reflexartig,<br />
sie seien nur auf kurzfristigen Reibach<br />
aus. Das langfristige Schicksal des<br />
Unternehmens und seiner Angestellten sei<br />
ihnen egal. Einem kurzen Hoch würde ein<br />
umso kräftigerer Absturz folgen.<br />
Ist das so? Der Aktienkurs der Deutschen<br />
Börse hat sich seit der Konfrontation mit<br />
TCI 2005 mehr als verdoppelt. Der Preis,<br />
den Ex-Chef Seifert für die Londoner Börse<br />
zahlen wollte, war zu hoch. Allerdings hätte<br />
der Kauf eine Antwort auf immer noch<br />
ungelöste Fragen wie die Internationalisierung<br />
gegeben. Ein weiterer Versuch mit der<br />
New York Stock Exchange ist gescheitert.<br />
Mitunter profitieren die Fonds schlicht<br />
von falschen Wertannahmen der anderen<br />
Eigentümer. Eindrücklich gelang das TCI<br />
bei der Royal Mail. Unmittelbar nach der<br />
Privatisierung der britischen Post war der<br />
Fonds deren größter Anteilseigner. Innerhalb<br />
von drei Monaten verdoppelte sich<br />
Daniel Loeb<br />
Third Point<br />
ä<br />
Paul Singer<br />
Elliott<br />
Singer hat bei den Übernahmen von<br />
Wella, Kabel Deutschland und Celesio<br />
mit gepokert, gegen Porsche klagt er<br />
wegen der versuchten VW-Übernahme.<br />
International hat er sich beim Ölkonzern<br />
Hess und bei Compuware engagiert.<br />
Mit an Bord bei Elliott ist Singers Sohn<br />
Gordon.<br />
ä<br />
der Aktienkurs nahezu – was der britischen<br />
Regierung den Vorwurf einbrachte, Staatsvermögen<br />
verschleudert zu haben.<br />
Die langfristigen Folgen des Aktivismus<br />
haben kürzlich die drei US-Professoren Lucian<br />
Bebchuk, Alon Brav und Wei Jiang untersucht.<br />
Dafür werteten sie Daten von<br />
2000 Unternehmen aus, bei denen sich<br />
Fonds zwischen 1994 und 2007 engagiert<br />
hatten. Fünf Jahre nach der Attacke war deren<br />
operative Leistungsfähigkeit, gemessen<br />
an der Gesamtkapitalrendite, höher als<br />
in den Jahren vor dem Einstieg. Der Aktienkurs<br />
entwickelte sich ebenfalls dauerhaft<br />
besser als vor dem Einstieg. „Wir sollten<br />
uns von den Vorurteilen verabschieden“,<br />
urteilen die Autoren. Denn die Fonds suchen<br />
sich selten Perlen als Ziele, sondern<br />
verwenden den größten Teil ihrer Ressourcen<br />
darauf, Unternehmen zu finden, deren<br />
Wert sich noch steigern lässt.<br />
So gut deutsche Unternehmen wirtschaftlich<br />
alles in allem auch dastehen, bieten sie<br />
dennoch viele Angriffspunkte. „Indikatoren<br />
für eine Gefährdung sind im Vergleich mit<br />
Wettbewerbern niedrigere Bewertungen, eine<br />
unklare oder nicht stringente Langfriststrategie,<br />
wenig Synergien zwischen einzelnen<br />
Geschäftsbereichen in Konglomeraten<br />
oder überproportional viel Bargeld in der<br />
Bilanz ohne absehbare Investitionsmöglichkeiten“,<br />
sagt Alexander Gehrt, Leiter des Fusionsgeschäfts<br />
bei der UBS in Frankfurt.<br />
TRÜGERISCHE SICHERHEIT<br />
Kurz gesagt: Kaum ein Unternehmen kann<br />
sich sicher fühlen. So haben sich schon etliche<br />
Investoren und Analysten darüber Gedanken<br />
gemacht, ob die Lkw-Sparte zwingend<br />
zu Daimler gehören muss. Welche Synergien<br />
die unterschiedlichen Sparten bei<br />
BASF und Bayer bringen. Ob Metro den Verkauf<br />
einiger Beteiligungen nicht entschlossener<br />
vorantreiben könnte. Wie lange Adidas<br />
oder Lanxess noch schlechter abschneiden<br />
wollen als ihre internationalen Wettbewerber?<br />
Was Siemens eigentlich mit den<br />
Milliarden von Cash anstellen will? Und ob<br />
Gerhard Cromme dort wirklich noch der<br />
richtige Aufsichtsratsvorsitzende ist?<br />
Auch ein Großaktionär bremst die Fonds<br />
nicht aus. So engagiert sich Cevian bei<br />
ThyssenKrupp, obwohl mit der Krupp-Stiftung<br />
ein Schwergewicht an Bord ist. Und<br />
TCI beteiligte sich 2012 am Flugzeugausrüster<br />
Safran, obwohl da sogar der französische<br />
Staat eine Sperrminorität hält.<br />
Letztlich hilft nur gute Vorbereitung auf<br />
den Ernstfall. „Wenn Hedgefonds auftauchen,<br />
muss das Management sachlich reagieren<br />
und zeigen, dass es sich nicht treiben<br />
lässt, sondern weiter die Kontrolle<br />
Bei Geschäften gehe es um Geld,<br />
nicht um Moral. Die Devise hat Loeb zum<br />
Milliardär gemacht.<br />
Bei Yahoo musste 2012 der Chef gehen,<br />
weil Loeb dessen fehlenden Uniabschluss<br />
öffentlich machte.<br />
Aktuell investiert ist er bei Dow Chemical,<br />
Sony, FedEx und dem Auktionshaus<br />
Sotheby’s. »<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 47<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
»<br />
hat“, rät Maximilian Schiessl, Partner bei<br />
der Kanzlei Hengeler Mueller in Düsseldorf.<br />
Dafür sollte es das Unternehmen<br />
schon vorher auf potenzielle Angriffspunkte<br />
überprüfen. „Im Idealfall können die Aktivisten<br />
keinen Vorschlag mehr machen,<br />
den die übrigen Aktionäre nicht schon<br />
kennen“, sagt Schiessl. Wenn sie nur Bekanntes<br />
präsentieren, nimmt das den Angreifern<br />
den Wind aus den Segeln.<br />
Schiessl zählt zu den erfahrensten deutschen<br />
Beratern bei großen Firmenkäufen.<br />
Er hat die Fonds damit auf dem Feld kennen<br />
gelernt, auf dem ihr Wirken für den<br />
meisten Ärger sorgt. „Deutschland ist zur<br />
weltweit größten Spielwiese für Hedgefonds<br />
verkommen“, schimpft ein kürzlich<br />
betroffener Konzernchef. Ein Banker<br />
spricht von „legaler Erpressung“. Überalterte<br />
Regeln würden in das Gegenteil dessen<br />
verkehrt, was sie bezwecken sollten.<br />
Dabei geht es um den Schutz von Minderheitsaktionären<br />
bei Übernahmen. Sie<br />
seien „ein weltweiter Leuchtturm der Fairness“,<br />
sagt ein Hedgefondsmanager. Jedenfalls<br />
eröffnen sie an mehreren Ecken die<br />
Chance, den Preis für den Käufer hochzutreiben.<br />
„Bei Übernahmen können Hedgefonds<br />
innerhalb kurzer Zeit große Pakete<br />
aufbauen, weil die übrigen Aktionäre verkaufsbereit<br />
sind“, sagt Anwalt Schiessl.<br />
So können die Fonds etwa versuchen zu<br />
verhindern, dass ein Käufer für den ursprünglich<br />
gebotenen Preis auf einen<br />
Schlag 75 Prozent der Aktien an dem Unternehmen<br />
bekommt. Nur dann kann er<br />
einen Beherrschungsvertrag schließen, der<br />
ihm den vollen Zugriff auf seinen Neuerwerb<br />
sichert. Ähnliche Optionen bietet der<br />
Überall dabei<br />
Christopher Hohn<br />
The Children’s Investment Fund (TCI)<br />
2005 torpedierte Hohn die Übernahme<br />
der London Stock Exchange durch die<br />
Deutsche Börse.<br />
Aktuellere Engagements sind die<br />
Royal Mail, Airbus, Japan Tobacco und<br />
der französische Maschinenbauer Safran.<br />
Mit Spenden von bisher gut einer Milliarde<br />
Pfund gilt Hohn als wohltätigster Brite.<br />
ä<br />
Bei welchen europäischen Unternehmen sich Aktivisten 2013 engagiert haben<br />
Unternehmen/Land<br />
Accor/Frankreich<br />
Celesio/Deutschland<br />
Danske Bank/Dänemark<br />
EADS (Airbus)/Frankreich<br />
Eni/Italien<br />
Kabel Deutschland/Deutschland<br />
Nokia/Finnland<br />
Royal Mail/Großbritannien<br />
Telecom Italia/Italien<br />
ThyssenKrupp/Deutschland<br />
UBS/Schweiz<br />
Auswahl, Quelle: JP Morgan<br />
Investor<br />
Colony Capital<br />
Elliott<br />
Cevian<br />
TCI<br />
Knight Vinke<br />
Elliott<br />
Third Point<br />
TCI<br />
Findim<br />
Cevian<br />
Knight Vinke<br />
Forderung<br />
Neues Management<br />
Höherer Übernahmepreis<br />
Wertsteigerung<br />
Verkauf Dassault (Business Jets)<br />
Abspaltung Saipem (Ölservices)<br />
Höherer Übernahmepreis<br />
Mehr Aktienrückkäufe<br />
Besseres Management nach<br />
Privatisierung<br />
Veränderungen in Aufsichtsrat und<br />
Management<br />
Wertsteigerung<br />
Investmentbank abspalten<br />
Ergebnis<br />
erfolgreich<br />
erfolgreich<br />
läuft noch<br />
läuft noch<br />
erfolglos<br />
läuft noch<br />
läuft noch<br />
Teilausstieg<br />
läuft noch<br />
läuft noch<br />
läuft noch<br />
sogenannte Squeeze-out. Der ermöglicht<br />
es nur Eignern mit mehr als 90 Prozent der<br />
Anteile, die übrigen Aktionäre gegen Zahlung<br />
einer Abfindung herauszudrängen.<br />
Letztlich bietet auch die Höhe der Ausgleichszahlungen<br />
einen willkommenen<br />
Angriffspunkt für Klagen und Frageorgien<br />
auf der Hauptversammlung.<br />
Inzwischen ziehen Übernahmen in<br />
Deutschland oft Scharen von Hedgefonds<br />
an, die auf ein paar schnell verdiente Euro<br />
schielen. Für Unternehmen sind Zukäufe<br />
dadurch zum schwer planbaren Risiko geworden.<br />
So denken sie intensiver als früher<br />
darüber nach, ob sie direkt eine Mindestannahmequote<br />
von 75 Prozent haben wollen<br />
oder ob es fürs Erste auch 50 Prozent<br />
tun. Und sie kalkulieren ihre erste Offerte<br />
durchaus niedriger, weil sie damit rechnen,<br />
dass am Ende noch mal ein Nachschlag für<br />
Aktivisten fällig wird.<br />
Für die Fonds geht es darum, sich so lästig<br />
wie möglich zu machen. Keiner beherrscht<br />
das Spiel so wie Elliott. Vor mehr<br />
als zehn Jahren tauchten Singers Leute<br />
erstmals bei der Übernahme des Kosmetikkonzerns<br />
Wella durch den US-Riesen Procter<br />
& Gamble auf und traktierten das Unternehmen<br />
so lange, bis sie für ihre Anteile<br />
zehn Euro mehr kassieren konnten als<br />
beim ersten Angebot.<br />
Seitdem hat sich Elliott bei so unterschiedlichen<br />
Zielen wie dem Zeitarbeitsvermittler<br />
DIS, dem Maschinenbauer Demag<br />
Cranes und dem Energiedienstleister<br />
Techem eingeklinkt. Aktuell triezen Singers<br />
Männer Vodafone bei der Übernahme von<br />
Kabel Deutschland. Zwar hatte Elliott dem<br />
Käufer geholfen, die angestrebte 75-Prozent-Mehrheit<br />
zu bekommen, indem der<br />
Fonds einen Teil seiner Aktien an Vodafone<br />
abtrat. Für den Rest verlangt der Fonds<br />
jetzt aber eine höhere Abfindung.<br />
POKERN BIS ZUM SCHLUSS<br />
Den spektakulärsten Ritt legte Elliott bei<br />
der Übernahme des Pharmahändlers Celesio<br />
durch den US-Gesundheitskonzern<br />
McKesson hin. Dessen Offerte von 23 Euro<br />
bedeutete einen Aufschlag von fast 40 Prozent<br />
auf den aktuellen Kurs. Für Elliott war<br />
das zu wenig. Der Fonds hielt die Synergien<br />
für unterbewertet und setzte mehr<br />
aufs Spiel als bei allen anderen Aktionen in<br />
Deutschland zuvor. Für eine Celesio-Beteiligung<br />
von gut 25 Prozent investierte der<br />
Fonds knapp eine Milliarde Euro. Es folgte<br />
ein Pokerspiel, das fast gescheitert wäre,<br />
weil McKesson im ersten Anlauf die angestrebte<br />
Mehrheit der Stimmrechte verfehlte.<br />
Schließlich half nur ein Trick: Haniel<br />
kaufte Elliott seine Beteiligung ab, um sie<br />
an McKesson weiterzuverkaufen.<br />
Letztlich ging es doch. Wie meistens.<br />
„Hedgefonds sind eigentlich Verbündete<br />
des Bieters, weil ein Scheitern der Transaktion<br />
für sie meist eine Katastrophe wäre“,<br />
sagt Anwalt Schiessl. Doch tun sie alles dafür,<br />
eine Preiserhöhung zu bekommen.<br />
Schiessl: „Am Ende kann es darauf ankommen,<br />
wer die besseren Nerven hat.“ n<br />
cornelius.welp@wiwo.de | Frankfurt,<br />
martin seiwert | New York<br />
FOTO: DDP IMAGES/EYEVINE<br />
48 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Im Gesamtkontext<br />
nicht glaubhaft<br />
OETKER | Seine harte Linie im Bierkartellfall könnte Finanzchef<br />
Albert Christmann im Kampf um die Konzernspitze schaden.<br />
Das Bierkartell: Zwischen 2005 und<br />
2007 treffen sich die Top-Manager<br />
der großen deutschen Brauereien<br />
unregelmäßig zu vertraulichen Gesprächen.<br />
Offiziell geht es um Pfand für Fassbier<br />
oder neue Bierflaschen. Tatsächlich hecken<br />
die Pils-Patrone aber Preiserhöhungen aus.<br />
Mal mauscheln die Bosse von Krombacher,<br />
Veltins, Warsteiner, AB InBev<br />
(Beck’s), Carlsberg, Bitburger und der Oetker-Tochter<br />
Radeberger (Jever) getrennt<br />
unter vier Augen, mal in großer Runde, mal<br />
in Nobelherbergen wie dem Hamburger<br />
Fünf-Sterne-Designhotel Side, mal in bodenständigen<br />
Locations wie dem Gaffel-<br />
Brauhaus am Kölner Alter Markt.<br />
„Die Teilnehmer“, heißt es dazu in den<br />
Ermittlungsprotokollen des Bundeskartellamtes,<br />
die der WirtschaftsWoche in Auszügen<br />
vorliegen, „waren sich einig, dass eine<br />
Preiserhöhung vorgenommen werden<br />
sollte, wenn Krombacher als Marktführer<br />
mitginge.“ Wie sich später zeigte, waren die<br />
Betroffenen dabei erfolgreich und konnten<br />
den Preis für einen Kasten Bier mit 20 Flaschen<br />
um einen Euro erhöhen.<br />
Streitlustiger Kronprinz Oetker-Manager<br />
Christmann riskiert hohe Kartellbuße<br />
BELASTENDE AUSSAGEN<br />
Dass sich derlei Ungesetzliches in<br />
Deutschlands Braubranche abspielte, fand<br />
schon Eingang in die Schlagzeilen. Weitgehend<br />
im Verborgenen aber blieb, wer an<br />
zentraler Stelle involviert war: kein Geringerer<br />
als Albert Christmann, seinerzeit<br />
Chef der Brauereigruppe Radeberger, der<br />
größten deutschen Brauereigruppe und<br />
Tochter des Oetker-Konzerns.<br />
Der 51-Jährige ist nicht irgendwer in<br />
dem elf Milliarden Umsatz schweren Konglomerat<br />
aus Werften (Hamburg Süd),<br />
Biermarken (Radeberger, Jever), Sektkellereien<br />
(Henkell) sowie Lebensmittelfabriken<br />
(Dr. Oetker). Nicht nur, dass Christmann<br />
zum Jahresbeginn <strong>vom</strong> Radeberger-<br />
Gruppensitz Frankfurt als Finanzchef in<br />
die Konzernzentrale nach Bielefeld beordert<br />
wurde. Er ist auch derjenige, den August<br />
Oetker (69), Ex-Konzern-Chef, Vorsitzender<br />
des Beirats und wichtiger Wortführer<br />
in der Eigentümerfamilie, gern an der<br />
Spitze des Unternehmens sehen würde.<br />
Dem Ansinnen des Alten könnten nun<br />
Aussagen, die das Kartellamt gegen Christmann<br />
gesammelt hat, einen Strich durch<br />
die Rechnung machen. Denn die Ermittlungsprotokolle<br />
kratzen gehörig am bisherigen<br />
Saubermann-Image des Kandidaten.<br />
So hatte der heutige Oetker-Finanzchef<br />
den Beamten gegenüber als damaliger Radeberger-Lenker<br />
zwar bestritten, eine Kartellabsprache<br />
angestrebt zu haben. Doch<br />
glauben die Ermittler das Christmann<br />
schlichtweg nicht. Ihre Vorbehalte stützen<br />
die Beamten auf Geständnisse und Aussagen<br />
des damaligen Bitburger-Chefs Peter<br />
Rikowski, der heute in Diensten von Tchibo<br />
steht, sowie dessen Kollegen von Veltins,<br />
Volker Kuhl.<br />
Beide Brauereimanager hatten den Ermittlern<br />
zufolge eingeräumt, sie hätten zusammen<br />
mit Christmann entschieden,<br />
beim Boss des Marktführers Krombacher,<br />
Bernhard Schadeberg, vorstellig zu werden,<br />
um die Möglichkeit einer Preisabsprache<br />
auszuloten. Krombacher liegt zwar<br />
hinter Oettinger auf Rang zwei der meistverkauften<br />
Biere in Deutschland, gilt aber<br />
als Marktführer bei gehobenen Marken.<br />
Entsprechend heißt es dazu in der Niederschrift<br />
der Kartellwächter: „Dass die Betroffenen<br />
Peter Rikowski (Bitburger) und Dr.<br />
Albert Christmann (Radeberger) sich bereit<br />
erklärten, auf den Betroffenen Bernhard<br />
Schadeberg (Krombacher) zuzugehen, um<br />
zu klären, ob auch Krombacher zu einer<br />
Preiserhöhung bereit sei, haben die Betroffenen<br />
Rikowski und Volker Kuhl (Veltins)<br />
übereinstimmend angegeben.“ Zu Christmann<br />
hielten die Ermittler wörtlich fest,<br />
dieser habe „zwar bestritten, dass er sich<br />
entsprechend erklärt hat“. Doch nehmen<br />
die Kartellwächter Christmann die Behauptung<br />
nicht ab. „Seine Aussage“, heißt es in<br />
den Amtsunterlagen, „ist vor dem Gesamtkontext<br />
seiner Aussage nicht glaubhaft.“<br />
SKEPTISCHE ERMITTLER<br />
Den Grund für ihr Urteil sehen die Beamten<br />
in Widersprüchen, in die sich der Ex-<br />
Radeberger-Chef offenbar verstrickte. So<br />
gab Christmann laut Niederschrift am 31.<br />
Oktober 2012 zunächst an, er habe keinen<br />
regelmäßigen Kontakt zu Krombacher-<br />
Chef Schadeberg gehabt. Je mehr Aussagen<br />
anderer Brauer die Beamten Christmann<br />
vorhielten, desto mehr schränkte er<br />
die Behauptung aber laut Protokoll ein.<br />
Daraus ziehen die Ermittler zwei Schlüsse.<br />
Erstens: „Aus den Kalendereinträgen<br />
und der Aussage des Betroffenen Bernhard<br />
Schadeberg (Krombacher) sowie den von<br />
Bitburger eingereichten Unterlagen zum<br />
AK Fassbepfandung ergibt sich, dass<br />
Christmann Schadeberg seit 2005 bereits<br />
bei mehreren Gelegenheiten getroffen<br />
bzw. telefonisch kontaktiert hat.“<br />
Und zweitens glauben die Beamten<br />
nicht, dass Christmann über seine Gesprä-<br />
1,8<br />
2,0<br />
2,3<br />
Erdinger Radeberger Paulaner<br />
FOTOS: TEUTOPRESS, ULLSTEIN/SCHÖNING<br />
50 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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che mit Krombacher die Wahrheit sagt.<br />
„Soweit der Betroffene Dr. Albert Christmann<br />
ausgesagt hat, dass es lediglich um<br />
die allgemeine Marktentwicklung und Kostensteigerung<br />
gegangen sei, die für die<br />
nächsten zwei, drei Jahre vorhersehbar waren“,<br />
heißt es in den Amtsunterlagen, „handelt<br />
es sich um eine offensichtliche Schutzbehauptung.“<br />
Christmann und Oetker wollen<br />
sich dazu nicht äußern.<br />
AUF KONFRONTATION<br />
Für die meisten Brauereien ist das Kartell<br />
Geschichte. Anfang 2008 hatten sie es geschafft:<br />
Alle Hersteller großer gehobener<br />
Marken erhöhten die Preise ab Rampe um<br />
rund sechs Euro je Hektoliter. Allerdings<br />
währte die Freude nur dreieinhalb Jahre.<br />
Im Herbst 2011 ließ der Deutschland-Ableger<br />
von AB InBev, der weltgrößten Bauerei<br />
mit Sitz in Belgien, von seiner hiesigen<br />
Zentrale in Bremen aus die Veranstaltung<br />
hochgehen. AB InBev (unter anderem<br />
Beck’s, Franziskaner, Hasseröder) stellte<br />
sich den Kartellbehörden als Kronzeuge,<br />
um ohne Geldbuße davonzukommen.<br />
Der bisherige Radeberger-Chef Christmann<br />
dagegen entschied sich für den anderen<br />
Weg: die Konfrontation mit dem Kartellamt.<br />
Die meisten anderen Brauereien<br />
kooperierten mit den Ermittlern und kamen<br />
deshalb vergleichsweise glimpflich<br />
davon. Nach zahllosen Verhören von Frühsommer<br />
2012 an ergingen Mitte Januar<br />
<strong>2014</strong> Bußgeldbescheide im Gesamtwert<br />
Von Weiß- bis Billigbier<br />
Ausstoß der größten deutschen Biermarken<br />
2013 (in Millionen Hektoliter)<br />
von <strong>10</strong>6 Millionen Euro, die sich ungleichmäßig<br />
auf Krombacher, Warsteiner, Veltins,<br />
Bitburger und die regionale Privatbrauerei<br />
Ernst Barre aus Lübbecke in Westfalen<br />
verteilten. Auch sieben Manager bezahlten,<br />
wurden die unschöne Episode in<br />
ihrem Berufsleben dafür aber quitt.<br />
Nicht so Ex-Radeberger-Chef Christmann,<br />
der nun, wie die Unterlagen des<br />
Kartellamts zeigen, mit einer schweren Hypothek<br />
in das Rennen um den Chefposten<br />
bei Oetker geht. Zusammen mit der dänischen<br />
Brauerei Carlsberg, vier regionalen<br />
Brauereien in Nordrhein-Westfalen sowie<br />
dem Brauerverband NRW wagt Christmann<br />
den Showdown mit den Kartellwächtern<br />
– und riskiert einen tiefdunklen<br />
Fleck auf seiner weißen Weste. Denn nach<br />
Brancheninformationen muss Radeberger<br />
mit einem Bußgeld von mehr als <strong>10</strong>0 Millionen<br />
Euro rechnen. Radeberger möchte<br />
sich zu Marktgerüchten nicht äußern.<br />
Die Geldbuße, die Christmann angekreidet<br />
würde, träfe den Anfangfünfziger im<br />
falschen Moment. Denn der zielstrebige<br />
Aufsteiger ist nicht der einzige Kandidat für<br />
den Thron bei Oetker. Über der Kür, wer<br />
dem amtierenden Konzernchef Richard<br />
Oetker nachfolgen soll, tobt ein schwerer<br />
Konflikt in der Familie. Der 63-Jährige<br />
muss altersbedingt Ende 2016 ausscheiden.<br />
Sein Halbbruder Alfred Oetker, 46,<br />
Wortführer der jungen Oetker-Garde,<br />
4,0<br />
drängt vehement an die Konzernspitze.<br />
Doch seine älteren Halbgeschwister sind<br />
dagegen und favorisieren Christmann.<br />
Die Karriere des promovierten Wirtschaftsingenieurs<br />
wurde bei Oetker Jahre<br />
lang vorbereitet. Gebürtig in Gau-Algesheim<br />
bei Wiesbaden als Sohn eines Winzers verbrachte<br />
Christmann sein gesamtes Berufsleben<br />
bei dem Bielefelder Traditionsunternehmen,<br />
zunächst in der Abteilung Finanzen<br />
und Controlling in der Zentrale, dann an<br />
der Spitze der Sekt- und Schnapstochter<br />
Henkell und schließlich als Chef der Brausparte,<br />
der Radeberger-Gruppe in Frankfurt.<br />
Dort soll Christmann dem Vernehmen nach<br />
die Gruppe durch erfolgreiches Kosten- und<br />
Markenmanagement solide durch den<br />
schrumpfenden Biermarkt gesteuert haben.<br />
Ein langjähriger Kenner der Bierbranche<br />
und des Oetker-Konzerns ist überzeugt:<br />
„Ein familienfremder Oetker-Chef wäre<br />
schon ein gewaltiger Schritt für die Bielefelder.<br />
Wenn so einer auch noch <strong>vom</strong> Kartellamt<br />
überführt würde, das kann ich mir<br />
beim besten Willen nicht vorstellen.“ n<br />
5,5<br />
mario.brueck@wiwo.de<br />
5,8<br />
Quelle:Inside<br />
2,4<br />
2,5<br />
2,7<br />
2,8<br />
Hasseröder Beck’s Veltins Warsteiner Bitburger Krombacher Oettinger<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 51<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Eintrittskarte China<br />
Fosun-Top-Manager<br />
Zhong (links) wurde<br />
erst Kunde bei Caruso-<br />
Eigentümer Angeloni,<br />
dann Partner<br />
Zhongs Lieblingsschneider<br />
LUXUS | Der Goldrausch in China ist vorbei: Die Reichen wenden sich ab von allgegenwärtigen Marken.<br />
Es schlägt die Stunde kleiner, exklusiver Anbieter. Ein Besuch beim Edel-Herrenausstatter Caruso.<br />
Die Boutique von Amy Luo liegt in<br />
der Xinle Lu, einer der schönsten<br />
Straßen Shanghais im Gebiet der<br />
ehemaligen Französischen Konzession.<br />
Ein Dach aus Platanen schützt hier vor<br />
Sonne und Regen. Die 38-Jährige verkauft<br />
gebrauchte Luxushandtaschen: Gucci, Versace,<br />
Louis Vuitton. Als Luo 2004 ihren Laden<br />
eröffnete, boomte das Geschäft mit<br />
Luxusgütern. Ihr Shop sei der erste in China<br />
gewesen, erzählt sie. Heute hat sie sechs<br />
Filialen und 40 Mitarbeiter, Nachahmer gebe<br />
es Dutzende. „Es lohnt sich noch immer“,<br />
sagt Luo, „aber die Leute sind preisund<br />
markenbewusster geworden.“<br />
Beim Start traf Luo eine Marktlücke: Zu<br />
Geld gekommene Chinesen gierten nach<br />
Marken, um ihren neuen Reichtum zur<br />
Schau zu stellen. Viele wollten bewusst<br />
Original-Marken, aber nicht den Neupreis<br />
dafür bezahlen. In ihrem bisher besten Jahr<br />
20<strong>10</strong> setzte Luo damit eine Million Yuan um<br />
(rund 120 000 Euro) – wohlgemerkt pro<br />
Monat. Seitdem aber fällt der Umsatz stetig<br />
um <strong>10</strong> bis 20 Prozent im Jahr.<br />
5000 Yuan, knapp 600 Euro, kostet die<br />
klassische Louis-Vuitton-Tasche in braunem<br />
Leder und mit gut sichtbaren Logo.<br />
Lange war sie ein Verkaufsschlager. „Aber<br />
das Modell geht immer schlechter“, sagt<br />
Luo. Besser liefen Taschen der Marke<br />
Hermès, deren Logo kaum erkennbar ist.<br />
Luos Geschäft verdeutlicht, was zurzeit<br />
auf Chinas Luxusmarkt passiert: Die Reichen<br />
wollen sich absetzen von den „Tuhao“,<br />
den Neureichen ohne Geschmack.<br />
Vor allem Kunden in den Metropolen an<br />
der Ostküste distanzieren sich von den in<br />
ihren Augen rückständigeren Käufern aus<br />
den kleineren Städten im Inland. Das geht<br />
am besten mit dezenterem Luxus.<br />
Im Reich der Mitte geht ein goldenes<br />
Zeitalter zu Ende, das Chinesen zu den<br />
wichtigsten Abnehmern der Glamourbranche<br />
gemacht hat. Doch nach fünf Jahren<br />
Kaufrausch ändert sich das Konsumverhalten<br />
schlagartig. Es macht sich ein<br />
kritisches Wertbewusstsein breit. Die Kunden<br />
sind anspruchsvoller und wählerischer<br />
geworden. Sie sind der Logo-Manie<br />
überdrüssig und haben überzogene Preise<br />
FOTOS: ERIC LELEU, PR<br />
52 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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satt. „Die Chinesen sind besser informiert<br />
und halten nun nach subtilerem Design<br />
Ausschau, das sie als Kenner ausweist“,<br />
sagt Erwan Rambourg, Konsumexperte der<br />
britischen Großbank HSBC in Hongkong.<br />
12 955 Kilometer westlich von Shanghai.<br />
Das Provinznest Soragna bei Parma ist ein<br />
Hort italienischer Ursprünglichkeit. Im<br />
Barockschloss im Ort wohnt ein Fürst<br />
namens Diofebo Meli Lupi. Aus den<br />
Kellern, in denen Tausende Culatello-<br />
Schinken unter der Decke baumeln<br />
und für Gourmetrestaurants in aller<br />
Welt bis zu 54 Monate heranreifen,<br />
steigt ein süßlicher Geruch von<br />
Schimmel und Most in die Nase.<br />
Umberto Angeloni sitzt bei<br />
Sternekoch Marco Dallabona<br />
und löffelt ein pochiertes Ei<br />
auf Kürbiscreme und Trüffeln.<br />
Der 61-jährige Eigentümer<br />
des Herrenausstatters Caruso<br />
spricht über die Sorgfalt, die er<br />
auf die Fertigung von Anzügen<br />
verwendet. Weil die gleiche<br />
Sorgfalt auch den teuersten<br />
Schinken der Welt hervorbringt,<br />
ziert die Web-Seite von Caruso eine<br />
rosarote Scheibe Culatello neben<br />
der weißen Schneiderpuppe. „Unsere<br />
Flagge“, sagt Angeloni.<br />
Caruso ist Teil eines west-östlichen<br />
Luxusmode-Experiments. Die Geschichte<br />
beginnt 2011 mit einer<br />
E-Mail. Wo er in Mailand einen Maßanzug<br />
von Caruso kaufen könne, fragt<br />
Patrick Zhong, Chef des Global Investment<br />
der chinesischen Holding Fosun,<br />
bei der Info-Adresse des Herstellers an. Angeloni<br />
lädt ihn ein. Vor sich hat er einen Vertreter<br />
seiner Zielgruppe: Mittvierziger, kultiviert,<br />
weltoffen, sensibel, vermögend. Zhong<br />
trägt bereits Edelzwirn aus Italien. Doch die<br />
Luxusmarken, die China mit Läden überzogen<br />
haben, erfüllen seine Ansprüche nicht.<br />
Ihn zieht die Authentizität von Caruso an.<br />
Aus dem neuen Kunden wird zwei Jahre<br />
später ein Partner.<br />
„Fosun hat die Einzigartigkeit<br />
und das Potenzial von Caruso erkannt“,<br />
sagt Angeloni mit seiner<br />
vornehmen Flüsterstimme. Der<br />
Partner habe begriffen, dass<br />
die Zeit der Markendiktatur in<br />
China passé sei. Das italienisch-chinesische<br />
Duo<br />
scheint wie füreinander geschaffen.<br />
Im Oktober 2013 stieg Fosun<br />
im Zuge einer Kapitalerhöhung<br />
mit 35 Prozent bei<br />
den Italienern ein. Caruso ist<br />
jetzt Teil der 35 Milliarden<br />
Dollar schweren Investitionsholding<br />
mit Pharma- und<br />
Stahlherstellern, Immobilien<br />
und Medien bis zum Versicherungsgeschäft.<br />
Es war Fosuns<br />
erste Investition in Italien und<br />
die einzige in Europas Modebranche.<br />
Angeloni wiederum wählte die<br />
Chinesen aus, um mit seinem Männerlabel<br />
ins Ausland zu expandieren.<br />
Caruso ist ein kleines Licht im Konzern:<br />
Nur ein Zehntel seiner bisher niedrigsten<br />
Investitionssumme – konkrete Zahlen<br />
nennt Fosun nicht – gab die größte private<br />
Beteiligungsholding Chinas für ihren Anteil<br />
aus. Aber damit kauften sich die Kosmopoliten<br />
aus Shanghai eine Eintrittskarte<br />
in die Luxusindustrie.<br />
HANDWERK UND HIGH TECH<br />
Auch Angeloni hat sich viel vorgenommen.<br />
Der elegante Römer will aus Caruso mit<br />
bisher 58 Millionen Euro Umsatz und 600<br />
Mitarbeitern ein führendes Männerlabel<br />
machen. Das Geld von Fosun steckt er in<br />
die Vergrößerung der Fabrik, die Ausweitung<br />
der Maßarbeit und die Eröffnung<br />
eigener Caruso-Läden. Mailand und New<br />
York machen <strong>2014</strong> den Anfang, Peking und<br />
Shanghai sollen folgen.<br />
In Soragna entstehen 120 000 Sakkos<br />
und 50000 Hosen im Jahr. Ein Anzug kostet<br />
zwischen 2500 und 3000 Euro. Traditionell<br />
stark ist das 1958 von dem neapolitanischen<br />
Schneider Raffaele Caruso gegründete<br />
Unternehmen auch in der Fertigung<br />
für fremde Marken. In der Schneiderei<br />
sieht man Etiketten von Dior, Louis Vuitton,<br />
Givenchy, Ralph Lauren und Cerruti.<br />
In der Halle – halb Fabrik, halb Atelier –<br />
geht ein Männersakko durch 40 Frauenhände.<br />
Nähmaschine, Bügeleisen, Nadel<br />
und Faden – im permanenten Wechsel geben<br />
sie dem Jackett Form. Wie eine Skulptur<br />
erhält der Stoff langsam Gestalt. Im<br />
Weg mit langen Ärmeln<br />
Für die chinesischen Kollektionen<br />
der italienischen Marke Caruso<br />
wurden 50 Fosun-Manager<br />
vermessen »<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Bremse für Blingbling<br />
DieNachfrage nach Luxusprodukten<br />
wächst weiter, doch schätzen die<br />
Chinesen immer mehr subtilere Marken<br />
China<br />
Amerika<br />
Japan<br />
Europa<br />
Restliches Asien<br />
Rest der Welt<br />
3%<br />
1%<br />
7%<br />
6%<br />
11 %<br />
31 %<br />
1995 21 % 2013<br />
77 31 %<br />
217 29 %<br />
Mrd. €<br />
Mrd. €*<br />
22 %<br />
27 %<br />
11 %<br />
*Schätzung; Quelle: Bain, Statista<br />
»<br />
Lieber ohne Logos Louis-Vuitton-Taschen<br />
verkaufen sich in China heute schlechter<br />
Aufwendig genäht<br />
120 000 Sakkos und<br />
50 000 Hosen produziert<br />
Caruso pro Jahr im<br />
italienischen Örtchen<br />
Soragna<br />
Verborgenen aufwendig eingenähte<br />
Rosshaareinlagen sorgen für perfekten Sitz.<br />
Der Kragen und die Unterkante des Ärmelfutters<br />
werden per Hand geschlossen, jedes<br />
Knopfloch kostet eine Viertelstunde Arbeit.<br />
Den Tascheneingriff näht eine High-Tech-<br />
Maschine des deutschen Herstellers Dürkopp<br />
Adler in Sekundenschnelle.<br />
„Die Mischung aus Handwerk, Technologie<br />
und Kreativität ist Carusos Spezialität“,<br />
sagt Chef-Modezeichner Roberto Cibin,<br />
einer der vielen Neuzugänge. Angeloni<br />
holte ihn vor zwei Jahren von Zegna. In seinem<br />
Entwicklungsteam beschäftigt er nun<br />
30 Leute. Sie sollen das Lifestyle-Label<br />
ganz nach oben bringen.<br />
Für dieses Ziel hat Cibins Kollege<br />
Gianluca Petronio neulich die neue<br />
Luxuszielgruppe vermessen: In<br />
Shanghai nahm er Maß bei 50 Fosun-Managern<br />
– Brustumfang, Armlänge,<br />
Schritthöhe. Für Petronio,<br />
Schneider in vierter Generation,<br />
eine interessante Erfahrung. Die<br />
Unterschiede seien erheblich, sagt<br />
er: „Anatomisch und kulturell.“<br />
Petronio, tadellos gekleidet, kahler<br />
Kopf, breiter Krawattenknoten, bemüht<br />
sich um die Verwestlichung des Outfits<br />
der chinesischen Geschäftselite. Also:<br />
Weg mit langen Jackenärmeln, die den<br />
Handrücken samt erstem Fingerglied verschlucken.<br />
Schluss mit Hosenbeinen, die in<br />
weichen Falten auf dem Spann liegen. „Da<br />
sieht der Mann aus wie ein Affe“, rügt der<br />
Schneider. Die Chinesen seien jedoch sehr<br />
aufgeschlossen für Stil-Lektionen, stellt<br />
Petronio zufrieden fest.<br />
Mit dabei in Shanghai war sein ambitionierter<br />
Chef Angeloni. Der hatte zuvor den<br />
Großteil seiner Karriere bei Brioni verbracht.<br />
Er heiratete in das Familienunternehmen<br />
ein und machte den Anzugmacher<br />
in den Neunzigerjahren weltberühmt.<br />
Er gewann Nelson Mandela, Kofi Annan<br />
und Gerhard Schröder als Kunden und<br />
kleidete den Anzughelden James Bond ein.<br />
2007 verließ Angeloni Brioni im Krach<br />
mit dem Erben-Clan. Im Januar 2009, auf<br />
dem Höhepunkt der Finanzkrise, stieg er<br />
bei Caruso ein. In mehreren Schritten kaufte<br />
er den Söhnen des Firmengründers ihre<br />
Anteile ab und richtete das Unternehmen<br />
neu aus. Fosun soll ihm nun die Tür zum<br />
größten globalen Luxusmarkt öffnen.<br />
„Es gibt eine klare Bewegung weg von<br />
Logo-Marken hin zu High-End- und „Absolute<br />
Luxury“-Marken“, sagt Claudia<br />
D’Arpizio, Luxusanalystin und Partnerin<br />
der Beratung Bain in Mailand. Bain rät Unternehmen,<br />
ihre Markenstrategie an den<br />
chinesischen Markt anzupassen. Die Zeiten,<br />
in denen neureiche Chinesen unreflektiert<br />
nach westlichen Luxusprodukten<br />
gierten, sind weitgehend vorbei.<br />
Bain schätzt den globalen Luxusmarkt<br />
2013 auf 217 Milliarden Euro. Chinas Anteil<br />
schnellte in den drei Jahren von 20<strong>10</strong> bis<br />
2012 von <strong>10</strong> auf 25 Prozent hoch. Doch völlig<br />
unerwartet lösten die USA im vergangenen<br />
Jahr China mit einem<br />
Wachstum von vier Prozent gegenüber<br />
2,5 Prozent plus als Treiber ab.<br />
Das liegt zum Teil auch an der Antikorruptionskampagne,<br />
die der seit<br />
November 2012 amtierende Präsident<br />
Xi Jinping ins Leben gerufen<br />
hat. Ausladende Staatsbankette<br />
wurden gestrichen und der Dekadenz<br />
der Kampf angesagt. Laut<br />
Regierungsangaben wurden<br />
mehr als 182 000 Beamte wegen<br />
Korruption gefeuert. Vor<br />
allem ging die Regierung<br />
gegen die Praxis von Unternehmen<br />
vor, sich mit teuren<br />
Geschenken Politiker gewogen<br />
zu machen.<br />
Viele Chinesen sind auch deswegen<br />
zögerlicher, den neuen Reichtum zur<br />
Schau zu stellen. „Low Profile ist in“, sagt<br />
Boutique-Besitzerin Luo. Ein weiterer<br />
Grund für den Rückgang: Immer mehr<br />
FOTOS: REUTERS/CARLOS BARRIA<br />
54 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Chinesen shoppen lieber gleich im Ausland<br />
und umgehen so die hohen Steuern<br />
für Luxusprodukte von bis zu 40 Prozent.<br />
Europas Markenhersteller sind aufgeschreckt.<br />
Viele haben in der Goldgräberstimmung<br />
Riesensummen in China investiert.<br />
Die größte Gefahr gehe nun von „der<br />
Allgegenwart“ der Boutiquen von China-<br />
Pionieren wie Louis Vuitton und Gucci aus,<br />
warnt HSBC-Luxusanalyst Rambourg. Das<br />
Vordringen der Label in drittklassige Einkaufsmalls<br />
von Kleinstädten konterkariert<br />
längst den Exklusivitätsanspruch.<br />
Beispiel Zegna: Der Herrenausstatter<br />
wagte sich 1991 nach China, als das Luxussegment<br />
dort noch nicht existierte. Heute<br />
bringt der Herrenausstatter seine Ware bereits<br />
in 37 Städten an den Mann.<br />
Hinzu kommt die Inflationierung der<br />
Marken durch Zweit- und Drittlinien. „Dieselben<br />
Fehler wurden schon einmal gemacht:<br />
in Japan“, doziert Caruso-Chef Angeloni,<br />
der früher als Professor für Mikroökonomie<br />
in Chicago lehrte. In Japan fiel<br />
der Luxuskonsum 2013 auf das Niveau von<br />
vor 25 Jahren zurück.<br />
Zunehmend riskant ist auch die Anbiederung<br />
der großen Modemacher an die<br />
neureichen Kunden. Mit der Anpassung an<br />
östliche Ästhetik- und Konsummodelle<br />
entfernten sich die Label von ihren Wurzeln.<br />
„Der europäische Luxus verliert seine<br />
Identität“, mahnt Bain-Beraterin d’Arpizio.<br />
SCHNELLE AUFSTIEGSCHANCEN<br />
Bei HSBC sieht man die Platzhirsche als<br />
potenzielle Verlierer des Umschwungs in<br />
China. „Anspruchsvollere Kunden stellen<br />
eine große Herausforderung für die etablierten<br />
Label dar und bieten kleinen, weniger<br />
bekannten Marken schnelle Aufstiegschancen“,<br />
sagt Rambourg. Es klingt wie eine<br />
Verheißung: Die Letzten könnten die<br />
Ersten sein. Mögliche Gewinner in der Ära<br />
des neuen Luxus seien trendige Unternehmen<br />
wie Prada, Lederhersteller wie Tod’s,<br />
die mit erlesener Handwerksqualität<br />
punkten, oder diskret auftretende<br />
Häuser wie Hermès, meint<br />
der Asienkenner.<br />
Am Umgang mit China scheiden<br />
sich bei den Herstellern die<br />
Geister: Den Mailänder Prada-<br />
Konzern, der 40 Prozent seines<br />
Umsatzes in Asien macht, zog es<br />
2011 in Hongkong an die Börse.<br />
Bilder<br />
In unserer iPad-<br />
<strong>Ausgabe</strong> zeigen<br />
wir weitere<br />
Modekreationen<br />
von Caruso<br />
Kaschmirhersteller Brunello Cucinelli aus<br />
Umbrien dagegen bot die Aktien seines<br />
Wachstumsunternehmens bewusst in<br />
Mailand an: „Ich bin stolz darauf, weniger<br />
als fünf Prozent meines Geschäfts in China<br />
zu machen.“<br />
Brioni, 2011 in die Hände des französischen<br />
Luxuskonzerns Kering gefallen,<br />
setzt zunehmend auf Celebrity- und Laufsteg-Auftritte,<br />
um in China zu punkten. In<br />
der Fertigung, wo Caruso kräftig investiert,<br />
streicht Brioni dagegen Hunderte Stellen.<br />
Bei Hermès in Paris hält man die Fixierung<br />
aufs Marketing für den falschen Weg.<br />
Axel Dumas, Eigentümer des Familienunternehmens<br />
in sechster Generation, legt<br />
wie Angeloni großen Wert auf die Authentizität<br />
seiner Produkte. Den vermeintlichen<br />
Geschmack der neuen<br />
Luxuskunden zu bedienen führe<br />
ins Aus. Wichtig seien starke<br />
Wurzeln, so Dumas: „Wenn<br />
Franzosen und Italiener aufhören,<br />
Hermès zu tragen, kaufen<br />
uns auch Chinesen und Russen<br />
nicht mehr.“<br />
n<br />
ulrike sauer | Rom,<br />
philipp.mattheis@wiwo.de | Shanghai<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Hand am Ventil<br />
REIFENMARKT | Der Einstieg eines asiatischen Players bei Pirelli<br />
könnte die Top 5 der Branche gehörig durcheinanderwirbeln.<br />
Scharfe Kurven, regennasse Fahrbahn<br />
– bei solchen Straßenverhältnissen<br />
nimmt jeder Autofahrer eigentlich<br />
den Fuß <strong>vom</strong> Gas. Zu groß ist die Gefahr,<br />
dass das Fahrzeug ins Schleudern gerät.<br />
Die drei Golf-GTI-Fahrer auf dem Contidrom<br />
im Süden der Lüneburger Heide interessiert<br />
das nicht. Mit heulenden Motoren<br />
und quietschenden Reifen brettern sie<br />
über die Piste, bis es ein paar Minuten später<br />
einen von ihnen tatsächlich erwischt.<br />
Der Wagen bricht aus, dreht sich um die eigene<br />
Achse, Erdklumpen und Gras fliegen<br />
durch die Luft, erst auf dem Seitenstreifen<br />
kommt das Auto zum Stehen.<br />
Eigentlich könnte der hannoversche Autozulieferer<br />
Continental, der hier auf seinem<br />
Konzernparcours Reifen testet, zufrieden<br />
sein mit dem Ausgang der Schleuderfahrt.<br />
Denn der gestrandete Golf war mit<br />
Billigreifen aus asiatischer Produktion unterwegs.<br />
Die können bei Kurvenverhalten,<br />
Bremsweg und Fahrkomfort noch nicht<br />
mithalten mit den deutlich teureren Hochleistungs-Pneus<br />
made in Germany.<br />
CHANCEN FÜR NEWCOMER<br />
Die Niedersachsen tun gut daran, sich nicht<br />
auf ihren Vorsprung zu verlassen. Denn die<br />
Hersteller aus Taiwan, Korea, China, Indien<br />
und Indonesien holen dank der starken<br />
Stellung in ihren Heimatmärkten schnell<br />
auf. „Bei Premiumfahrzeugen dominieren<br />
die etablierten Reifenhersteller aus Europa,<br />
den USA und Japan noch das Geschäft, aber<br />
bei Kleinwagen und Mittelklassefahrzeugen<br />
gewinnen die preisaggressiven Mitbewerber<br />
aus den aufstrebenden Ländern Asiens<br />
schnell Marktanteile hinzu“, warnt Matthias<br />
Bentenrieder, Autoexperte und Partner der<br />
Unternehmensberatung Oliver Wyman.<br />
Schon in wenigen Jahren, davon sind Branchenbeobachter<br />
überzeugt, werden sich die<br />
Machtverhältnisse deutlich zugunsten der<br />
Newcomer verschieben.<br />
Zur Schlüsselfigur bei der Aufholjagd<br />
könnte Pirelli-Chef Marco Tronchetti Provera<br />
werden. Der 66-Jährige steht seit 1992 an<br />
der Spitze des italienischen Reifenherstellers<br />
und ist zugleich Chairman der Camfin-<br />
Holding, des mit gut 26 Prozent größten Anteilseigners.<br />
Eher beiläufig hat Tronchetti<br />
Provera während einer Investoren-Tournee<br />
vor ein paar Wochen durchsickern lassen,<br />
dass die Holding in zwei Jahren Kasse machen<br />
will.<br />
Für einen der aufstrebenden Reifenhersteller<br />
wäre es ein genialer Schachzug, sich<br />
mithilfe einer der stärksten Marken in die<br />
Oberliga einzukaufen. „Man kann getrost<br />
davon ausgehen, dass sich bei Pirelli im Moment<br />
die Wirtschaftsprüfer die Klinke in die<br />
Hand geben, um das Unternehmen bis in<br />
den letzten Winkel zu durchleuchten“, vermutet<br />
ein Brancheninsider. Legt einer der<br />
Asiaten bei Pirelli die Hand ans Ventil,<br />
brächte das die Hackordnung der Branche<br />
kräftig durcheinander.<br />
Schlüsselfigur<br />
Pirelli-Chef<br />
Tronchetti Provera<br />
FOTO: KLAUS WEDDIG FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
56 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Knapp zwei Milliarden Reifen im Gesamtwert<br />
von rund 146 Milliarden Euro wurden<br />
2012 produziert, <strong>vom</strong> kleinen Smart-<br />
Schlappen bis zu meterhohen und tonnenschweren<br />
Giganten für Erztieflader. Fast<br />
zwei Drittel davon sind für Pkws und Lieferwagen<br />
bestimmt, der Rest wird auf die Felgen<br />
von Lkws, Bau- und Landmaschinen<br />
aufgezogen oder an Flugzeugfahrwerke<br />
montiert.<br />
Noch ist die Stellung der etablierten<br />
Marktführer unangefochten: Über 40 Prozent<br />
des Weltmarktes teilen sich die drei<br />
größten Hersteller Bridgestone aus Japan,<br />
Michelin aus Frankreich und Goodyear aus<br />
den USA. Inklusive Continental und Pirelli<br />
auf den beiden nächsten Plätzen beherrschen<br />
die fünf größten<br />
Player über die Hälfte<br />
des Marktes (siehe Grafik<br />
Seite 58).<br />
„Aber der globale Reifenmarkt<br />
ist regional<br />
stark differenziert, weil<br />
die Anforderungen sich<br />
unterscheiden, etwa<br />
aufgrund unterschiedlicher<br />
Fahrzeugtypen<br />
oder klimatischer Bedingungen“,<br />
sagt Thomas Dauner, Leiter der<br />
Autosparte und Seniorpartner der Boston<br />
Consulting Group (BCG). Darum sind die<br />
Stärken der Anbieter unterschiedlich verteilt.<br />
Marktführer Bridgestone etwa verfügt<br />
über schlagkräftige Marken, sei aber ein „typisch<br />
japanischer Konzern mit allen Stärken<br />
und Schwächen eines japanischen Unternehmens“,<br />
sagt ein Insider. Was er meint:<br />
Mit seiner eher konservativen Unternehmenskultur<br />
und den strengen Hierarchien<br />
sei Bridgestone im Vergleich zu seinen Mitbewerbern<br />
eher schwerfällig und langsam.<br />
KOSTENKILLER CONTINENTAL<br />
Als wesentlich agiler gilt der französische<br />
Hersteller Michelin – „technologisch und<br />
beim Marketing eindeutig der führende europäische<br />
Reifenhersteller“, sagt ein Branchenkenner.<br />
Der amerikanische Goodyear-<br />
Konzern vermittelt dagegen aus seiner Sicht<br />
ein vergleichsweise „trauriges Bild“, vor allem<br />
in Europa sei das Unternehmen „ins<br />
Straucheln geraten“.<br />
Continental und Pirelli nehmen unter<br />
den Top 5 eine Sonderstellung ein. „Wir haben<br />
schon vor einigen Jahren entschieden,<br />
uns auf das Premiumsegment zu konzentrieren,<br />
weil dort die Renditen am höchsten<br />
sind“, sagt Tronchetti Provera. Dank der<br />
auch wegen des Engagements in der Formel<br />
In zwei Jahren<br />
will die Pirelli-<br />
Holding Kasse<br />
machen<br />
1 besonders starken Marke erreichen die<br />
Italiener eine Umsatzrendite vor Zinsen und<br />
Steuern von gut 13 Prozent. Branchendurchschnitt<br />
sind vier Prozent. Auf ähnliche<br />
Größenordnungen kommt der deutsche<br />
Konkurrent Continental, der in den vergangenen<br />
beiden Jahren einer der Top-Performer<br />
im deutschen Aktien-Index Dax war.<br />
„Unter dem Druck der hohen Schuldenlast<br />
nach der VDO-Übernahme 2007 hat<br />
Conti die Kostenführerschaft in der Branche<br />
erreicht“, lobt ein Bank-Analyst. Hinzu<br />
kommt: Die Hannoveraner sind der einzige<br />
internationale Reifenlieferant, bei dem die<br />
schwarzen Schlappen nur eine von mehreren<br />
Säulen des Geschäfts sind. 70 Prozent<br />
des Umsatzes entfallen auf elektronische<br />
Komponenten. Das entlastet<br />
das Unternehmen<br />
von Schwankungen im<br />
Reifensektor, Verwaltungskosten<br />
können auf<br />
mehrere Sparten umgelegt<br />
werden. „Aus dem<br />
Elektronik-Know-how<br />
ergeben sich zudem Synergiepotenziale,<br />
etwa<br />
wenn es um die Radnaben-Antriebe<br />
oder andere<br />
Komponenten für Elektroautos geht“,<br />
sagt Autoexperte Bentenrieder.<br />
Der technische Vorsprung von Conti, Pirelli<br />
oder Michelin lässt sich einfach erklären:<br />
„Die starke Stellung der Europäer ist in<br />
erster Linie eine Folge der strengen gesetzlichen<br />
Vorschriften für die Reifenhersteller<br />
innerhalb der Union“, sagt BCG-Autoexperte<br />
Dauner. Ob Vorgaben zur Geräuschentwicklung<br />
oder zur Verringerung des<br />
Rollwiderstands, ob die Pflicht zu Winterreifen<br />
oder zum Einbau von Druckverlustwarnern,<br />
wie sie in der EU ab November<br />
<strong>2014</strong> Pflicht werden: „Hier werden die<br />
Trends gesetzt, hier wird der Wettbewerb<br />
gewonnen“, sagt Berater Bentenrieder.<br />
Auf internationalem Parkett und im Volumenmarkt<br />
wächst der Druck aus Fernost.<br />
Bisher weitgehend unbekannte Hersteller<br />
wie Hangzhou aus China, Giti aus Indonesien<br />
oder MRF aus Indien drängen erfolgreich<br />
ins Geschäft. Neun der 20 weltweit<br />
führenden Reifenhersteller stammen aus<br />
der Volksrepublik China, aus Taiwan, Indien,<br />
Indonesien oder Korea. Schon zur<br />
Spitzengruppe aufgeschlossen hat ein<br />
Wettbewerber aus Südkorea. „Hankook gilt<br />
als Blaupause für einen erfolgreichen Aufstieg<br />
und die Etablierung einer starken<br />
Marke“, sagt Berater Bentenrieder über den<br />
Konzern aus Seoul.<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 57<br />
»<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Auf Verfolgungskurs<br />
Die zehn größten Reifenhersteller der<br />
Welt 2012<br />
Umsatz im Reifengeschäft<br />
(in Milliarden Euro)*<br />
Bridgestone<br />
Pkw- und Europageschäft vorn<br />
Weltweite Umsätze mit Reifen nach<br />
Fahrzeugen (in Prozent, gerundet)<br />
Lkws<br />
Michelin<br />
Goodyear<br />
Continental<br />
Umsätzemit Pkw-Reifen nach Regionen<br />
(in Prozent)**<br />
Südamerika<br />
China<br />
Pirelli<br />
Sumitomo<br />
Hankook<br />
Yokohama<br />
Cheng Shin<br />
Coopertires<br />
*inKlammern Veränderung gegenüber 2011 in Prozent;<br />
Quelle: Neue Reifenzeitung, eigene Recherchen<br />
Sonstige*<br />
30<br />
Rest<br />
6<br />
12<br />
Nordamerika<br />
17<br />
<strong>10</strong><br />
Gesamtmarkt<br />
Milliarden<br />
Euro<br />
Pkw-Markt<br />
Milliarden<br />
Euro<br />
26<br />
*Baumaschinen, landwirtschaftliche Fahrzeuge,<br />
Flugzeuge; ** einschließlich Lieferwagen; Zahlen<br />
für 2012; Quelle: Deutsche Bank, Oliver Wyman,<br />
eigene Recherchen<br />
25,0 (+9,2)<br />
21,0 (+3,5)<br />
16,3 (–0,6)<br />
9,7 (+<strong>10</strong>,2)<br />
6,0 (+7,1)<br />
5,8 (+9,4)<br />
4,8 (+14,3)<br />
4,3 (–2,3)<br />
3,4 (+17,2)<br />
3,3 (+6,5)<br />
146<br />
85,6<br />
60<br />
39<br />
Pkws<br />
Europa<br />
»<br />
Technologisch können die Koreaner<br />
problemlos mithalten – Hankook gehört zu<br />
den Erstausrüstern für die neue S-Klasse<br />
von Mercedes und die BMW-5er-Baureihe,<br />
was nicht nur den Umsatz, sondern auch<br />
das Renommee und die Marke stärkt.<br />
Geholfen hat dabei auch das Engagement<br />
der Koreaner im europäischen Motorsport:<br />
Hankook ist seit vier Jahren exklusiver Reifenlieferant<br />
der Deutschen Tourenwagen-<br />
Masters, in der sich Mercedes mit Audi und<br />
BMW misst. Das Engagement hat dazu beigetragen,<br />
dass Hankook inzwischen in<br />
Deutschland auf einen Marktanteil von<br />
über zehn Prozent im Premiumsegment<br />
kommt. In der Riege der Top Ten ist Hankook<br />
mit einem Weltmarktanteil von 5,7<br />
Prozent schon auf Platz sieben vorgerückt.<br />
Kumho Tyres, der zweite koreanische<br />
Anbieter mit Ambitionen für den Aufstieg<br />
in die internationale Reifen-Oberliga, hat es<br />
schon bis auf Position 13 geschafft, bisher<br />
allerdings vor allem mit preisgünstigen Reifen<br />
für kleine und<br />
mittlere Fahrzeuge.<br />
Den Asiaten hilft,<br />
dass sie von der Absatzkrise<br />
der europäischen<br />
Autoindustrie<br />
kaum betroffen<br />
sind: „Vor allem<br />
die Hersteller aus<br />
China und Korea<br />
entwickeln sich<br />
überdurchschnittlich<br />
dynamisch, weil sie mit einem schnell<br />
wachsenden Heimatmarkt über eine starke<br />
Basis verfügen“, sagt Autoexperte Bentenrieder.<br />
Die etablierten Marktführer tun sich<br />
in den aufstrebenden Autonationen Asiens<br />
dagegen schwer. Während sie etwa in den<br />
USA auf einen Marktanteil von 60 Prozent<br />
kommen, erreichen sie in China nicht mal<br />
30 Prozent. In den kommenden Jahren dürften<br />
sich die Gewichte weiter verschieben.<br />
Auf jährlich vier Prozent schätzen Experten<br />
das weltweite Wachstum im Reifenmarkt.<br />
Doch während die Märkte in Europa,<br />
Nordamerika und Japan stagnieren, legen<br />
die Umsätze in den Schwellenländern<br />
Osteuropas und Südamerikas sowie in China<br />
und Indien jedes Jahr um gut sieben<br />
Prozent zu. „Rund 70 Prozent des globalen<br />
Wachstums der Reifenindustrie dürften in<br />
den kommenden drei Jahren aus den aufstrebenden<br />
Märkten kommen“, schätzt Pirelli-Chef<br />
Tronchetti Provera.<br />
Einer der Gründe: „Das Durchschnittsalter<br />
der Fahrzeuge in Asien liegt deutlich unter<br />
dem in Europa und den USA, der große<br />
Hankook gilt als<br />
Blaupause für<br />
den erfolgreichen<br />
Aufstieg<br />
Schub für das Ersatzgeschäft kommt also<br />
noch, wenn diese Autos demnächst neue<br />
Reifen brauchen“, sagt Philipp Grosse Kleimann,<br />
Autospezialist und Senior-Partner<br />
bei Roland Berger.<br />
LANGER WEG ZUR STARKEN MARKE<br />
Was den meisten Newcomern aus Asien<br />
aber noch fehlt, ist eine starke Marke. Die<br />
gilt unter Branchenexperten als erfolgsentscheidend.<br />
„Normalerweise entfallen<br />
bei Autozulieferern über zwei Drittel aller<br />
Umsätze auf das Erstausrüstergeschäft“,<br />
sagt Berater Grosse Kleimann, „dieses Geschäft<br />
wird direkt mit den Fahrzeugherstellern<br />
abgewickelt.“ Bei den Pneu-Produzenten<br />
ist das Verhältnis jedoch genau<br />
umgekehrt:Mehr als zwei Drittel ihrer Verkäufe<br />
entfallen auf das sogenannte Aftermarket-Geschäft<br />
und gehen direkt an den<br />
Endverbraucher.<br />
Hier werden zwar deutlich höhere Margen<br />
erzielt, gleichzeitig muss der Kunde<br />
aber erst gewonnen<br />
werden – über Marke<br />
und Qualität<br />
oder, wenn es daran<br />
hapert, über den<br />
Preis. „Das wird immer<br />
schwieriger,<br />
denn der Reifenhandel<br />
ist ein Geschäft<br />
mit vielen<br />
Absatzkanälen“,<br />
sagt Grosse Kleimann.<br />
Die Empfehlung des Händlers spielt<br />
da nur teilweise eine Rolle, mindestens<br />
ebenso wichtig sind Bekanntheit und<br />
Image der Marke, vor allem bei teureren<br />
Reifen etwa für sportliche Geländewagen,<br />
Cabrios oder Oberklassefahrzeuge. In diesem<br />
Punkt haben die No-Names aus China,<br />
Indien oder Indonesien bisher wenig vorzuweisen.<br />
Die neuen Player aus Asien versuchen<br />
darum zunächst, im Geschäft mit dem<br />
Endkunden Fuß zu fassen – vor allem über<br />
niedrige Preise. „Danach werden sie ins<br />
Erstausrüstergeschäft einsteigen“, sagt Berger-Berater<br />
Grosse Kleimann, „durch den<br />
Aufbau von Technologiekompetenz und<br />
einer für den Endkunden relevanten Marke.“<br />
So wie Hankook das gelungen ist.<br />
Mit einem Einstieg bei Pirelli ließe sich<br />
der lange Weg zur starken Marke verkürzen.<br />
Vor Kurzem gab es Gerüchte, für die<br />
Anteile der Pirelli-Holding Camfin sei bereits<br />
ein Käufer gefunden. Das Gerücht<br />
wurde dementiert. Vorerst.<br />
n<br />
hans-juergen.klesse@wiwo.de<br />
58 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
FOTO: PLAINPICTURE/CULTURE<br />
Gefährlicher Topf<br />
DEUTSCHE BAHN | Vorstandschef Rüdiger Grube will die Investitionen<br />
des Unternehmens ins Schienennetz über einen staatlichen Fonds<br />
finanzieren – ein Vabanquespiel für den Steuerzahler.<br />
Als oberster Lobbyist seines Unternehmens<br />
schwimmt Bahn-Chef Rüdiger<br />
Grube derzeit auf der Erfolgswelle:<br />
eine stärkere Kontrolle des Schienenriesen<br />
durch die Netzagentur – <strong>vom</strong><br />
Bundesrat abgelehnt; die Trennung von<br />
Netz und Fahrbetrieb – <strong>vom</strong> EU-Parlament<br />
gestoppt; Zahlung der Ökostromumlage –<br />
die Bundesregierung will das verhindern.<br />
Den guten Lauf will der 62-Jährige gleich<br />
für den nächsten Coup nutzen: die Einrichtung<br />
eines milliardenschweren Fonds außerhalb<br />
des Bahn-Konzerns, der künftig einen<br />
Großteil der Instandhaltung von Gleisen<br />
und Bahnhöfen finanziert.<br />
In vertraulichen Unterlagen für den Aufsichtsrat,<br />
in die die WirtschaftsWoche Einblick<br />
nehmen konnte, wirbt Grube bereits<br />
ausgiebig für diese neue Form der „Infrastrukturfinanzierung“.<br />
Seine Idee: Künftig<br />
fließen die Gewinne des Schienennetzes<br />
und der Bahnhöfe in einen externen Topf,<br />
aus dem die Bahn dann Mittel für Investitionen<br />
ins Schienennetz abruft.<br />
DROHENDE LAST FÜR DEN BUND<br />
Der Vorschlag scheint auf den ersten Blick<br />
schlüssig, weil dadurch ein Mechanismus<br />
entsteht, der Gewinne der Bahn automatisch<br />
in deren Infrastruktur fließen lässt.<br />
Beim näheren Hinsehen ist jedoch offen,<br />
ob dadurch letztlich nicht der Steuerzahler<br />
noch stärker als bisher zur Kasse gebeten<br />
wird, um den Schienenverkehr hierzulande<br />
zu finanzieren. Nachdem Neubaustrecken<br />
ohnehin schon voll aus dem Bundeshaushalt<br />
bezahlt werden, drohen durch<br />
Grubes Fonds den Steuerzahlern nun weitere<br />
Belastungen beim Erhalt der Infrastruktur.<br />
Zurzeit teilen sich Bund und Bahn die<br />
Kosten der Instandhaltung des Schienennetzes<br />
zu gesetzlich vorgeschriebenen Teilen.<br />
So steht es in der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung<br />
(LuFV), die beide<br />
Seiten vor fünf Jahren abschlossen.<br />
Dem Pakt zufolge überweist der Bund jedes<br />
Jahr 2,5 Milliarden Euro für Ersatzinvestitionen<br />
an die Bahn, die dafür dem<br />
Steuerzahler garantiert, mit dem Geld das<br />
Netz in einem vereinbarten guten Zustand<br />
Heißes Eisen<br />
Bund droht<br />
Mehrbelastung<br />
Verantwortung ausgelagert<br />
WieBahn-ChefRüdiger Grubedie<br />
Finanzierungder Infrastrukturaus der<br />
Konzernbilanzbekommen will<br />
Eineinhalb Milliarden weniger<br />
Wiedie Deutsche Bahn dasbilanzierte<br />
gebundeneKapital reduzieren könnte,<br />
wennsie dieeigenen Aufwendungen für<br />
dieInstandhaltung desSchienennetzes<br />
aufeinen externen Fondsübertragen<br />
würde (inMilliarden Euro)<br />
23,8<br />
23,4<br />
23,0<br />
22,6<br />
22,2<br />
21,8<br />
Konzern<br />
Deutsche<br />
Bahn<br />
überweisen<br />
Gewinn<br />
Sparten:<br />
Schienennetz,<br />
Bahnhöfe<br />
<strong>2014</strong><br />
Quelle:DeutscheBahn<br />
finanziert<br />
Investitionen<br />
bilanziertes<br />
gebundenes<br />
Kapitalwie<br />
bisher<br />
Bund<br />
überweist Gewinn<br />
desSchienennetzes<br />
undder Bahnhöfe<br />
sowieDividende<br />
desFahrbetriebs<br />
zahlt<br />
Überweisungen<br />
der Bahn<br />
Infrastrukturfonds<br />
Entlastung des<br />
Anlagevermögens:<br />
1,5Milliarden Euro<br />
beiFinanzierungübereinen Fonds<br />
15 16 17 18<br />
zu halten. Gleichzeitig verpflichtet sich die<br />
Bahn, mindestens 1,5 Milliarden Euro pro<br />
Jahr aus der Konzernkasse beizusteuern –<br />
zwei Drittel davon als Beitrag zur Instandhaltung,<br />
ein Drittel als Ersatzinvestitionen<br />
wie neue Gleise, Weichen und Stellwerke.<br />
So schön diese Vereinbarung für die Gewinn-und-Verlust-Rechnung<br />
der Bahn ist:<br />
Weil das Unternehmen die 2,5 Milliarden<br />
Euro <strong>vom</strong> Bund nicht als Steigerung seines<br />
Anlagevermögens bilanziert, spart es sich<br />
entsprechende Abschreibungen, was wiederum<br />
den buchhalterischen Gewinn erhöht.<br />
Gleichwohl muss die Bahn aber immer<br />
noch die 500 Millionen Euro Eigenmittel<br />
für Ersatzinvestitionen aufwenden, die<br />
den Wert des Schienennetzes erhöhen –<br />
und damit auch die jährlichen Abschreibungen,<br />
die am Gewinn nagen.<br />
Um das zu verhindern, will Bahn-Chef<br />
Grube den Gewinn der Schienen- und<br />
Bahnhofssparte, der 2012 rund 360 Millionen<br />
Euro betrug, mithilfe seines Fonds in<br />
Zuschüsse verwandeln, die die Bahn dann<br />
jederzeit abrufen können soll. Zusammen<br />
mit Dividendenzahlungen aus dem Personen-<br />
und Güterverkehrsgeschäft soll der<br />
Fonds mit mindestens 400 Millionen Euro<br />
pro Jahr dotiert werden. Insgesamt würden<br />
auf diesem Wege die „investiven Eigenmittel“<br />
der Bahn auf rund <strong>10</strong>0 Millionen Euro<br />
im Jahr „reduziert“.<br />
Der Vorteil für den Staatsriesen: Er müsste<br />
diese Zuschüsse – wie die 2,5 Milliarden<br />
Euro Bundesmittel aus der LuFV – nicht als<br />
Wertsteigerung beim Schienennetz verbuchen.<br />
Das helfe, „das gebundene Kapital<br />
der Infrastruktur stabil zu halten beziehungsweise<br />
zu entlasten“, schreibt Grube<br />
in der Vorlage für den Aufsichtsrat. Dadurch<br />
stünden durch den Fonds 2018 rund<br />
1,5 Milliarden Euro weniger an gebundenem<br />
Kapital in der Bahn-Bilanz – mit entsprechend<br />
weniger Abschreibungen, die<br />
den Konzerngewinn schmälern.<br />
Für Grubes Manager hätte der Fonds<br />
auch praktische Vorteile. Sie könnten die<br />
Sanierung von Brücken, Weichen und Stellwerken<br />
besser planen und müssten das<br />
Geld <strong>vom</strong> Staat nicht bis Jahresende verbrauchen,<br />
damit es ihnen erhalten bleibt.<br />
Für den Steuerzahler wäre der Fonds jedoch<br />
„ein Vabanquespiel“, sagt ein hochrangiger<br />
Berliner Beamter. Denn was,<br />
wenn die Bahn etwa wegen Hochwassers<br />
nicht den erhofften Gewinn mache und<br />
den Fonds nicht füllen könne? „Damit“, so<br />
seine Prognose, „würde das wirtschaftliche<br />
Risiko voll auf den Bund abgewälzt.“ n<br />
christian.schlesiger@wiwo.de | Berlin<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 59<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Riskanter Schlussverkauf<br />
BANKEN | Schnell weg mit dem Schrott: Deutsche Banken werden Altlasten zurzeit deutlich besser los<br />
als erwartet. Die Folge: Finanzierungen in Milliardenhöhe wandern zu unregulierten Fonds.<br />
Mit 46 Stockwerken und mehr als<br />
200 Metern ragt der Heron Tower<br />
mächtig in den Himmel über London.<br />
Der imposante City-Bau ist auch ein<br />
Mahnmal für hochfliegende Pläne deutscher<br />
Immobilienbanken. 2007 hatte ihn<br />
die zur Commerzbank gehörende Eurohypo<br />
über einen Kredit von 250 Millionen<br />
Euro mitfinanziert.<br />
Sieben Jahre später sind die Wachstumsträume<br />
der Eurohypo geplatzt, neues Geschäft<br />
macht sie schon lange nicht mehr.<br />
Was übrig ist, wird abgewickelt. Das einstige<br />
Renommierprojekt Heron Tower ist<br />
schon weg. Im Sommer 2013 verkaufte die<br />
Commerzbank den Kredit zusammen mit<br />
anderen britischen Immobilienfinanzierungen<br />
auf einen Schlag: Die besseren gingen<br />
an die US-Bank Wells Fargo, die<br />
schlechteren an Finanzinvestor Lone Star.<br />
Das war der Auftakt zum beschleunigten<br />
bilanziellen Großkehraus. Die Altlasten in<br />
den Abbauabteilungen der Banken<br />
schrumpfen seitdem wie Eisberge im August.<br />
Was vor einem Jahr noch als Schrott<br />
und Giftmüll galt, flutscht problemlos weg<br />
– und das zu Preisen, mit denen die Institute<br />
selbst in optimistischen Szenarien kaum<br />
zu rechnen wagten. Doch der Ausverkauf<br />
hat auch eine Schattenseite: Werte in Milliardenhöhe<br />
wandern vor allem zu schwach<br />
regulierten und kontrollierten Fonds.<br />
UNTER BEOBACHTUNG<br />
Die Aufseher sehen dem Treiben mit gemischten<br />
Gefühlen zu. „Der Verkauf von<br />
Vermögenswerten an alternative Investoren<br />
ist nicht per se schlecht“, sagt der für Finanzstabilität<br />
zuständige Bundesbank-Vorstand<br />
Andreas Dombret. Allerdings könnten<br />
so außerhalb des Bankensystems systemische<br />
Risiken entstehen. „Für Deutschland<br />
lässt sich ein Aufbau solcher Risiken<br />
nicht feststellen, die Situation sollte aber<br />
weiter beobachtet werden“, sagt Dombret.<br />
Die Brosamen <strong>vom</strong> Bankentisch sind ein<br />
willkommenes Fressen für Fonds auf Renditesuche.<br />
„Einige Hedgefonds und Private-Equity-Gesellschaften<br />
haben Mittel eingeworben,<br />
die zum Teil spezifisch in notleidende<br />
Kredite in Europa angelegt werden<br />
sollen. Das Angebot der Verkäufer trifft auf<br />
große Nachfrage“, sagt Björn Storim, Bankenexperte<br />
bei Credit Suisse in Frankfurt.<br />
Die Käufe lohnen sich schon deshalb, weil<br />
Banken den Fonds oft die Hälfte und mehr<br />
des Kaufpreises leihen. Mit dem sogenannten<br />
Hebeleffekt durch die Fremdfinanzie-<br />
Alles muss raus<br />
Altlastendeutscher Banken<br />
(in Milliarden Euro)<br />
160<br />
Commerzbank Deutsche Bank<br />
Erste Abwicklungsanstalt (WestLB)<br />
FMS Wertmanagement (Hypo Real Estate)<br />
117 97<br />
151 143 136 124 116<br />
85 73 66 53<br />
94 87 82<br />
137 129<br />
76<br />
III IV I II III IV<br />
2012<br />
2013<br />
Quelle: Unternehmensangaben<br />
rung steigern die Fonds die Rendite auf das<br />
von ihnen eingesetzte Kapital.<br />
Die Papiere lassen sie liegen oder verkaufen<br />
sie häppchenweise weiter. Sie sind<br />
damit zwar aus den Bankbilanzen verschwunden.<br />
Doch über die Kaufkredite an<br />
die Fonds sind die Banken weiter im Risiko.<br />
Gerät ein Fonds in Schwierigkeiten – etwa<br />
weil Papiere deutlich an Wert verlieren –,<br />
drohen dem finanzierenden Institut Abschreibungen<br />
auf seinen Kredit. Das<br />
schreckt die Banken jedoch kaum. Ihre Finanzierungsbedingungen<br />
sind wieder<br />
ähnlich lax wie vor der Krise 2007.<br />
Damals waren die Preise vieler Vermögenswerte<br />
in der allgemeinen Panik ins Bodenlose<br />
gestürzt. Ganz so übel waren die<br />
Papiere oft aber doch nicht. Vor allem Verbriefungen<br />
von US-Krediten haben sich erholt.<br />
Einige, die in der Krise Wertabschläge<br />
von rund 60 Prozent erlebten, notieren<br />
heute wieder bei mehr als 90 Prozent. Die<br />
Schuldner waren nicht ganz so zahlungsschwach<br />
wie gedacht.<br />
Auch Finanzierungen für Gewerbeimmobilien<br />
haben sich erholt. „Investoren schätzen<br />
selbst riskantere Anlagen in Europa optimistischer<br />
ein als weniger riskante in den<br />
Schwellenländern“, sagt Christian Ossig, der<br />
bei der Royal Bank of Scotland in Frankfurt<br />
das Geschäft mit Finanzinstituten leitet. Zunächst<br />
konnten sich deutsche Banken den<br />
Verkauf – und die dann notwendigen Abschreibungen<br />
– dennoch kaum leisten und<br />
warteten ab. Das hat sich ausgezahlt. „Die<br />
Preise dürften bei vielen Vermögensklassen<br />
nur noch begrenzt steigen, sind aber so<br />
hoch, dass die Banken jetzt ohne große Verluste<br />
verkaufen können“, sagt Ossig.<br />
GIFTMÜLL IST GEFRAGT<br />
Der Druck ist groß, Altlasten rasch wertschonend<br />
zu verklappen. Die Banken müssen<br />
ihre Bilanzen verkleinern, um strengere<br />
Anforderungen an ihre Ausstattung mit<br />
Eigenkapital zu erfüllen. Auch wollen sie<br />
entspannter in den Stresstest gehen, mit<br />
dem die Europäische Zentralbank Ende<br />
des Jahres ihre Widerstandskraft prüft. Und<br />
nicht zuletzt fürchten sie, dass Eintrübungen<br />
der Konjunktur erneut zu deutlichen<br />
Wertverlusten ihrer Papiere führen.<br />
Allein 2013 reduzierte die Deutsche Bank<br />
die Vermögenswerte in ihrer Bad Bank von<br />
97 auf 53 Milliarden Euro. Zwar machte sie<br />
dabei drei Milliarden Euro Verlust, das gilt<br />
aber als verkraftbar. Die Commerzbank verkleinerte<br />
ihre Resterampe ebenfalls deutlich<br />
schneller als geplant von mehr als 150<br />
auf 116 Milliarden Euro. Auch Landesbanken<br />
wie die BayernLB und die Landesbank<br />
Baden-Württemberg spurteten kräftig mit.<br />
Die Gunst der Stunde nutzen auch die<br />
staatlichen Abbauhalden. In der FMS Wertmanagement<br />
lagern die Überreste des Immobilienfinanzierers<br />
Hypo Real Estate, die<br />
EAA in Düsseldorf verwaltet die Altlasten<br />
der WestLB. Beide sollen die übernommenen<br />
Papiere wertschonend und ohne Zeitdruck<br />
verschwinden lassen. Vieles geht<br />
jetzt weg. Denn die Preise haben oft schon<br />
den Wert erreicht, bei dem die internen<br />
Analysten auf Verkauf schalten. Auf eine<br />
weiterer Erholung wollen sie nicht pokern.<br />
So ist die EAA ihren Planungen zwei Jahre<br />
voraus. Besonders flott wurde sie 2013<br />
FOTO: LAIF/GALLERY STOCK/RICK HENDRY<br />
60 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Immobilienfinanzierungen los. Sie reduzierten<br />
sich um fünf Milliarden Euro – das<br />
sind fast 30 Prozent. Selbst ihr „Phoenix-<br />
Portfolio“, in dem vor allem auf US-Immobilienkrediten<br />
basierende Wertpapiere lagern,<br />
hat sich schon um 40 Prozent auf<br />
knapp 14 Milliarden Euro reduziert. Dabei<br />
galt es unter Bankern als eine der giftigsten<br />
aller toxischen Wertpapierhalden. Die Verluste<br />
liegen bisher bei 1,4 Milliarden Euro<br />
statt der kalkulierten fünf Milliarden.<br />
Im internationalen Vergleich hinkt<br />
Deutschland hinterher. Viele Resterampen<br />
im Ausland sind bereits komplett aufgelöst.<br />
So hat die US-Notenbank Fed die sogenannten<br />
„Maiden Lane“-Portfolios, in denen<br />
die riskanteren Vermögenswerte des<br />
Renner auf der Resterampe<br />
Von der Commerzbank<br />
finanzierter Heron Tower<br />
in London<br />
Die Brosamen <strong>vom</strong> Bankentisch sind<br />
ein willkommenes Fressen<br />
gestrauchelten Versicherers AIG lagen,<br />
schon im Sommer 2012 mit Milliardengewinn<br />
verkauft. Im April 2013 hatte Belgien<br />
die „Royal Park“ genannte Bad Bank der<br />
gescheiterten Fortis-Bank an die Schweizer<br />
Credit Suisse und den Finanzinvestor Lone<br />
Star abgestoßen. Bis Anfang Februar verkaufte<br />
der niederländische Staat sämtliche<br />
Wertpapiere aus der Bad Bank der ING –<br />
mit mehr als einer Milliarde Euro Gewinn.<br />
Statt großer Befreiungsschläge wird in<br />
Deutschland mehr im Detail gewerkelt.<br />
Die meisten Kreditpakete haben eine Größe<br />
von um die 200 Millionen Euro, sie gehen<br />
in Auktionen meistbietend weg. Einige<br />
richtig große Brocken dürften noch dazukommen.<br />
So verhandelt die Commerzbank<br />
aussichtsreich mit Finanzinvestoren<br />
über den Verkauf aller spanischen Immobilienkredite<br />
im Wert von mehr als vier<br />
Milliarden Euro. Wie es in Finanzkreisen<br />
heißt, sollen danach die Immobilienportfolios<br />
weiterer Länder folgen.<br />
SCHIFFE IN SEENOT<br />
Der Ausverkauf gestaltet sich dadurch geschmeidig,<br />
dass die Käufer genau wissen,<br />
was sie bekommen. „Die Banken kennen<br />
ihre Portfolios seit Jahren und können<br />
schnell volle Transparenz bieten“, sagt<br />
Reinhard Eyring, Senior Partner der Kanzlei<br />
Ashurst in Deutschland. Aufwendige<br />
Prüfungen entfallen. Um Käufern die Übernahme<br />
schmackhaft zu machen, sind die<br />
Institute bereit, Risiken wie einen überraschend<br />
starken Wertverlust mitzutragen.<br />
Das gilt etwa für Schiffskredite. Bisher<br />
schwappten alle Erholungswellen an ihnen<br />
vorbei, größere Verkäufe gab es kaum. Die<br />
Commerzbank konnte im Dezember immerhin<br />
14 Chemikalientanker an den Finanzinvestor<br />
Oaktree veräußern. Auch die<br />
HSH Nordbank kommt bisher nur auf zwei<br />
Transaktionen. Zwar gibt es leichte Erholungstendenzen.<br />
Doch wenn sich Investoren<br />
engagieren, tun sie das am liebsten bei<br />
neuen Kähnen. Die Not bleibt groß.<br />
„Viele Kredite sind notleidend, die Preise<br />
sind immer noch niedrig“, sagt Jacob Lyons,<br />
Geschäftsführer von CR Investment<br />
Management in London. Das Unternehmen<br />
hat in Deutschland etwa die Verwertung<br />
der Immobilien der insolventen Kaufhauskette<br />
Hertie übernommen und Schiffe<br />
als neues Betätigungsfeld entdeckt. Das<br />
Angebot reicht von der Hilfe bei der Investorensuche<br />
bis zur Übernahme und finanziellen<br />
Restrukturierung einzelner Schiffe,<br />
die später weiterverkauft werden sollen.<br />
„Solange die Schiffe bei ihren ursprünglichen<br />
Eigentümern verbleiben, haben die<br />
Banken oft kaum Einfluss auf das Schicksal<br />
ihrer Finanzierungen“, sagt Lyons.<br />
Wie viel Mühe die Schnäppchen von der<br />
Resterampe den Käufern bereiten können,<br />
zeigt der Londoner Heron Tower. Dessen<br />
Erbauer hatten die Nachfrage überschätzt,<br />
rund 40 Prozent der Büroflächen waren<br />
Ende 2013 noch unvermietet. Wegen einer<br />
entsprechenden Klausel wurde der Kredit<br />
fällig, es folgten zähe Verhandlungen, die<br />
Banken prüften sogar einen Notverkauf.<br />
Letztlich sprang das US-Unternehmen<br />
Starwood mit einer 350-Millionen-Euro-<br />
Finanzierung ein. Starwood ist, wie könnte<br />
es anders sein, ein Private-Equity-Fonds. n<br />
cornelius.welp@wiwo.de | Frankfurt<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 61<br />
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Aufsteigende Winde<br />
LUFTFAHRT | Knapp 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg versucht Japans Flugzeugindustrie ein<br />
Comeback. Wie gut sind die Chancen der neuen Jets gegen die etablierte Konkurrenz?<br />
Fliegender Sportwagen<br />
Der Hondajet macht dank der<br />
oberhalb der Flügel montierten<br />
Motoren weniger Lärm<br />
Freunden der bald beginnenden japanischen<br />
Kirschblüte empfehlen Insider<br />
für das Hanami genannte Picknick<br />
zu diesem Anlass unter anderem den<br />
Joyama-Park in der mitteljapanischen Industriestadt<br />
Nagoya. „Das ist für Kenner“,<br />
lobt Kaneyuki Ono, Chef der Japanischen<br />
Fremdenverkehrszentrale in Frankfurt.<br />
Teruaki Kawai wird davon in diesem<br />
Jahr wenig mitbekommen. Denn der Manager<br />
dürfte den größten Teil seiner Zeit<br />
statt unter den zartrosa Blättern der<br />
Kirschbäume in einer grell erleuchteten<br />
Halle verbringen. Dort, im Komaki South<br />
genannten Gelände im Norden Nagoyas,<br />
leitet Kawai für den Schwerindustriekonzern<br />
Mitsubishi den Bau eines neuen Flugzeugs,<br />
des für 70 bis 90 Passagiere ausgelegten<br />
Mitsubishi Regional Jets (MRJ).<br />
„Den Rumpf haben wir bereits montiert,<br />
und bald kommen die Flügel“, freut sich<br />
der Manager. „Und in spätestens einem<br />
Jahr wollen wir fliegen.“<br />
Ähnliche Freude spürt Michimasa Fujino,<br />
der den Bau des Hondajet genannten<br />
Privatjets des Autokonzerns Honda leitet.<br />
Ende 2013 erhielt er wichtige Zulassungen.<br />
„Das zeigt unseren stetigen Fortschritt“,<br />
sagt der Honda-Manager mit Stolz<br />
über den Flieger, bei dem die Triebwerke<br />
ungewöhnlich montiert sind, nämlich auf<br />
der Ober- statt der Unterseite der Flügel.<br />
„Nun erwarten wir die endgültige Betriebserlaubnis<br />
Anfang 2015 und die ersten<br />
Auslieferungen an den Kunden kurz<br />
darauf.“<br />
Gefeiert werden diese Termine in ganz<br />
Japan. Denn die beiden Jets sollen knapp<br />
70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs<br />
erstmals wieder einen japanischen Herstellernamen<br />
in die Luft bringen und eine<br />
Wiedergeburt der japanischen Flugzeugbranche<br />
einleiten. Beim MRJ ist auch deutsche<br />
Technik an Bord: Die Türen baut Airbus<br />
in München, und für die neuen sparsamen<br />
Triebwerke des US-Herstellers Pratt &<br />
Whitney liefert die Münchner MTU mit der<br />
anspruchsvollen Niederdruckturbine einen<br />
zentralen Bestandteil.<br />
ANSCHUB AUS DEN USA<br />
Die Euphorie in Japan ist groß. „Als Kind<br />
dachte ich, Japan wird nie wieder ein Flugzeug<br />
bauen. Nun sind wir stolz, dass endlich<br />
auch wir wieder in dieses Gebiet vorstoßen<br />
können“, sagt MRJ-Chef Kawai. Die<br />
Rückkehr in die Flugwelt feiert sogar<br />
ein eigener Film. Der berühmte<br />
Zeichentrick-Regisseur Hayao<br />
Miyazaki erinnert in seinem<br />
jüngsten Kinoerfolg „Der Wind<br />
steigt auf“ an Nippons glorreiche<br />
Flugbranche und den Ingenieur<br />
Jiro Horikoshi als genialen Konstrukteur<br />
des Jagdflugzeugs Zero<br />
aus den Vierzigerjahren.<br />
Videos<br />
Sehen Sie hier<br />
in unserer<br />
App-<strong>Ausgabe</strong> die<br />
neuen japanischen<br />
Jets in Aktion<br />
Der emotionale Streifen ist hoffentlich<br />
kein Omen für den Neustart. Horikoshis<br />
Zero war mit seiner damals revolutionären<br />
Technik nicht nur Höhepunkt japanischer<br />
Ingenieurkunst über den Wolken, sondern<br />
auch ein Grund für deren Aus. Denn die<br />
Flugzeuge waren das Rückgrat der japanischen<br />
Angriffsarmee, ob beim Überfall auf<br />
die US-Marinebasis Pearl Harbour oder<br />
beim Feldzug in Ostasien. Daher stoppten<br />
die USA nach Kriegsende Japans Flugzeugbranche<br />
inklusive des zivilen Zweigs, damit<br />
der nicht zur Grundlage einer neuen Aufrüstung<br />
werden konnte.<br />
Der Neustart ging bereits zweimal daneben.<br />
Von 1962 bis 1974 fertigte ein staatlich<br />
gefördertes Konsortium um Industriekonzerne<br />
wie Fuji und Mitsubishi von dem für<br />
60 Passagiere ausgelegten Propellerflieger<br />
YS-11 gerade mal 182 Exemplare. Der Miniflieger<br />
MU-2 von Mitsubishi verkaufte zwar<br />
gut 700 Exemplare, davon viele ans eigene<br />
Militär. Doch am Ende sorgten technische<br />
Probleme wie ein undichter Rumpf,<br />
wackelige Tragflächen und unzuverlässige<br />
Klimaanlagen für ein<br />
vorzeitiges Ende. „So fertigte Japan<br />
zwar High-Tech-Produkte wie<br />
Computer und Autos, aber als<br />
einziges führendes Industrieland<br />
keine Verkehrsflugzeuge“, sagt der<br />
US-Luftfahrtexperte<br />
Aboulafia.<br />
Richard<br />
FOTO: PR<br />
62 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Die Chance auf einen Neuanfang bot<br />
sich, als der US-Hersteller Boeing in den<br />
Neunzigerjahren Partner für ein neues<br />
Langstreckenflugzeug suchte. Der weltgrößte<br />
Flugzeugbauer scheute die Kosten<br />
von zunächst gut zehn Milliarden Dollar.<br />
Die drei Schwerindustriekonzerne Mitsubishi,<br />
Fuji und Kawasaki sowie rund 30<br />
weitere Zulieferer übernahmen zusammen<br />
rund ein Drittel des Risikos und bauten<br />
den Flügel, einen Teil des Rumpfs sowie<br />
des Fahrwerks des heute Boeing 787 genannten<br />
Leichtbaufliegers. Tokio förderte<br />
das Projekt mit mehreren Milliarden Dollar.<br />
Damit, so die Erwartung, lernen die<br />
drei Konzerne den modernen Flugzeugbau<br />
und schaffen die Keimzelle für eigene Jets.<br />
Als erster Konzern fasste Mitsubishi 20<strong>03</strong><br />
den Mut für ein eigenes Flugzeug und gewann<br />
andere Giganten wie den Autoriesen<br />
Toyota und Fuji Heavy als Partner. Zu guter<br />
Letzt schoss Tokio mindestens ein Viertel<br />
der Entwicklungskosten von geschätzten<br />
zwei Milliarden Dollar zu.<br />
„Das Konsortium hat gute Ingenieure“,<br />
lobt Aboulafia die Technik. Der laut Listenpreis<br />
42 Millionen Dollar teure Japan-Jet soll<br />
deutlich leiser und sparsamer sein als andere<br />
Passagierflieger. Dabei verzichtete das<br />
Konsortium auf Neuerungen wie leichte,<br />
aber weniger erprobte Verbundwerkstoffe,<br />
die sich auf der Kurzstrecke weniger rentieren<br />
und die brandanfälligen, leichten Lithium-Ionen-Batterien,<br />
die der Boeing 787 zu<br />
schaffen machen. Stattdessen nutzt der MRJ<br />
neue leichte Aluminiumlegierungen und<br />
konventionelle Hochleistungsakkus. Zudem<br />
versprechen die Hersteller den Kunden<br />
mehr Kabinenkomfort durch breitere Sitze<br />
und mehr Stauraum.<br />
Ähnlich ging Hondajet-Chef Fujino vor.<br />
Sein Jet setzt auf niedrigen Verbrauch<br />
Flugzeugtyp/<br />
Land<br />
Passagiere<br />
Kabine (Höhe/Breite)<br />
Reichweite<br />
Erstflug<br />
Länge<br />
Preis<br />
Quelle: Unternehmensangaben<br />
durch neue Materialien und einen Design-<br />
Gag. Die Motoren sitzen unkonventionell<br />
an einer Halterung auf der Oberseite der<br />
Tragflächen. So strahlt die Maschine besonders<br />
beim Start weniger Lärm nach unten.<br />
Und die Passagiere müssen weniger<br />
Stufen in die Kabine steigen, weil die Maschine<br />
ohne die hängenden Turbinen weniger<br />
Bodenfreiheit braucht.<br />
„Von der Technologie und Konstruktion<br />
her sind japanische Flugzeugbauer top“, urteilt<br />
der Hamburger Luftfahrtexperte Heinrich<br />
Großbongardt. „Doch ob das reicht, ist<br />
fraglich.“<br />
Der neue Jetset<br />
Dieneue Generation von Mittelstreckenflugzeugen im Vergleich<br />
MRJ Bombardier C-Series Embraer E-Jet E2 Suchoi Superjet<br />
78–92<br />
2,01/2,76 m<br />
3400 km<br />
2015<br />
36 m<br />
42 Mio.$<br />
<strong>10</strong>8–160<br />
2,11/3,28 m<br />
5500 km<br />
2013<br />
35–38 m<br />
62–71 Mio.$<br />
165 Bestellungen<br />
hat Jetneuling Mitsubishi<br />
im Orderbuch – statt der<br />
erhofften 5000<br />
Zum einen übernahmen sich die Neulinge<br />
beim Sprung <strong>vom</strong> Zulieferer zum Systemhersteller<br />
und kommen nun wie Mitsubishi<br />
mindestens vier Jahre verspätet auf<br />
den Markt. „Wir hatten wenig Erfahrung“,<br />
gesteht MRJ-Präsident Kawai. Das Unternehmen<br />
bestellte etwa Komponenten verspätet<br />
und verlor in der Konstruktion die<br />
Übersicht. Noch schwieriger war die Zulassung.<br />
„Weder die Regierung noch wir<br />
wussten, wie sich die Sicherheit eines Flugzeugs<br />
nachweisen lässt“, sagt Kawai.<br />
Honda fliegt fast zehn Jahre hinter Plan,<br />
weil der Konzern den 20<strong>03</strong> vorgestellten<br />
Prototyp noch mal überarbeiten musste.<br />
Ein Grund war das ungewöhnliche Design<br />
80–144<br />
2,00/2,75 m<br />
5200 km<br />
2017<br />
32–41,5 m<br />
40–50 Mio.$<br />
68–1<strong>03</strong><br />
2,12/3,40 m<br />
4600 km<br />
2008<br />
30 m<br />
35 Mio.$<br />
sowie das Triebwerk. Der Motor bekam<br />
nach technischen Problemen später als erhofft<br />
die Zulassung.<br />
Zudem schätzten die Jet-Novizen den<br />
Markt falsch ein. Beim Start der Programme<br />
um die Jahrtausendwende suchten die<br />
Fluglinien sparsame Regionaljets, um viele<br />
kleinere Orte an ihre Drehkreuze anzubinden.<br />
Damals wollte Mitsubishi innerhalb<br />
von 20 Jahren bis zu 5000 Jets verkaufen.<br />
Doch die Nachfrage sank rapide, als der Kerosinpreis<br />
von rund 50 Dollar pro Tonne im<br />
Jahr 2000 auf das 30-Fache explodierte und<br />
immer weniger Nebenstrecken Geld abwarfen.<br />
Dazu kauften die verbliebenen<br />
Kunden lieber bei etablierten Konkurrenten<br />
wie Bombardier als beim Neuling Mitsubishi.<br />
So schmolz die Bestellliste auf bescheidene<br />
165 Jets. „Zu wenig, um die Kosten<br />
für Konstruktion und Bau zu verdienen“,<br />
sagt Experte Großbongardt.<br />
Noch schlimmer war der Einbruch bei<br />
den Privatjets. „Um 2006 war die Nachfrage<br />
so groß, dass sich ein <strong>vom</strong> Hersteller zugesagter<br />
Liefertermin mit einem gewaltigen<br />
Aufpreis verkaufen ließ“, erinnert sich<br />
Großbongardt. Heute haben selbst etablierte<br />
Hersteller wie Cessna Probleme, dass<br />
ihre Kunden bestellte und mit Millionen<br />
angezahlte Jets auch wirklich abnehmen.<br />
Honda und Mitsubishi hoffen nun auf<br />
Aufträge aus Europa und Schwellenländern<br />
wie China. Hondas Fluggeschäft wolle<br />
schon 2019 schwarze Zahlen schreiben,<br />
sagt dessen Chef Fujino. Man habe für den<br />
„fliegenden Sportwagen“ genug Aufträge<br />
für die kommenden zwei bis drei Jahre und<br />
wolle von 2016 an gar 1<strong>10</strong> Flieger pro Jahr<br />
bauen. Die Hoffnung: Aus den bislang privaten<br />
Geschäftsflugzeugen könnten in einigen<br />
Jahren Lufttaxen für der Linienfliegerei<br />
überdrüssige Reiche werden. „Wir sind<br />
wegen der japanischen Produktionsqualität<br />
gefragt“, sagt Fujino.<br />
Mitsubishi erhofft sich den Stimmungsumschwung,<br />
wenn die Maschine das erste<br />
Mal abhebt und die Fluglinien sehen, dass<br />
sie zuverlässig funktioniert. Auch wenn der<br />
Konzern das noch nicht bestätigen will: Intern<br />
wächst die Zuversicht, dass der MRJ<br />
bereits im Herbst erstmals fliegt, ein halbes<br />
Jahr früher als geplant.<br />
Und sollten die aktuellen Modelle kein<br />
großer Erfolg werden, sei das trotz der hohen<br />
Kosten nicht das Ende, sagt Kawai.<br />
Dann komme eben das nächste japanische<br />
Flugzeug: „Das wird wieder ein kleinerer<br />
Jet sein, nur noch besser.“<br />
n<br />
ruediger.kiani-kress@wiwo.de, martin.fritz@wiwo.de | Tokio<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 63<br />
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Spezial | Cebit<br />
Von Spähern<br />
und Spannern<br />
SMART HOME | Türschloss, Lampe, High-Tech-WC – immer mehr Alltagsgeräte bekommen<br />
Internet-Zugang. Eine Exklusivstudie für die WirtschaftsWoche aber zeigt, das<br />
vernetzte Haus hat teils massive Sicherheitslücken. Sie werden zum Einfallstor für Hacker.<br />
Die Revolution der Wirtschaft hat einen<br />
Namen: Digital Transformation. Wir diskutieren<br />
den Wandel hier im Cebit-Spezial,<br />
etwa am Beispiel Big Data (siehe Seite 70<br />
und 74) sowie mit Texten zum Online-Studium<br />
(siehe Seite 80) oder zur Digitalisierung<br />
der Beraterbranche (siehe Seite 84).<br />
Haben auch Sie dank digitaler Technologien<br />
Kunden gewonnen, Ihr Geschäftsmodell<br />
modifiziert oder Kosten gesenkt? Bewerben<br />
Sie sich beim Digital Transformation Award<br />
der WirtschaftsWoche: www.dt-award.de<br />
Thomas Hatley lag noch im Bett, als<br />
eines Morgens im vergangenen<br />
Sommer das Telefon klingelte.<br />
„Darf ich das Licht in Ihrem<br />
Schlafzimmer einschalten?“, fragte<br />
die Frau am anderen Ende der Leitung<br />
den verblüfftem Hausbesitzer aus dem US-<br />
Westküstenstaat Oregon.<br />
Sie heiße Kashmir Hill, erklärte die Dame,<br />
rufe aus dem gut 800 Kilometern entfernten<br />
San Francisco an und könne die Lampen in<br />
Hatleys Haus via Internet steuern. „Und, verflucht,<br />
sie konnte es“, sagt Hatley, der sich<br />
fast in einem Horrorstreifen wähnte.<br />
Eigentlich wollte Hatley das Licht übers<br />
Netz schalten, um Einbrecher abzuschrecken.<br />
Daher koppelte der Technik-Fan seine<br />
Lampen mit der Smart-Home-Box des US-<br />
Herstellers Insteon, mit der sich neben der<br />
Beleuchtung auch Haushaltsgeräte steuern<br />
lassen. Dass das Gerät eine gravierende Sicherheitslücke<br />
hatte, machte ihm erst der<br />
Anruf von Hill klar, die hauptberuflich nicht<br />
als Poltergeist, sondern als Reporterin beim<br />
US-Magazin „Forbes“ arbeitet.<br />
„Insteon hatte die Benutzer- und Passwortabfrage<br />
nicht aktiviert“, sagt Hill. Inzwischen<br />
habe der Hersteller die Funktion<br />
nachgerüstet, so die Computerspezialistin.<br />
Doch bis zum vergangenen Sommer fand<br />
sich die entsprechende Empfehlung nur in<br />
der Gebrauchsanweisung, moniert Hill:<br />
„Und Hand aufs Herz, wer liest die schon?“<br />
Besser wäre es. Denn Smart Homes sind<br />
das nächste große Angriffsziel von Hackern<br />
und anderen digitalen Dunkelmännern.<br />
Vorbei die Zeiten, in denen nur PCs und<br />
Server sich zum weltumspannenden Web<br />
verbanden. Das Internet verlässt die klassischen<br />
Rechnerwelten und durchdringt unseren<br />
Alltag auf nie gekannte Weise. Die<br />
nächste Generation der Vernetzung wird<br />
Realität:das Internet der Dinge.<br />
Der Trend ist eines der Top-Themen auf<br />
der Computermesse Cebit, die diesen Montag<br />
wieder in Hannover die Tore öffnet.<br />
Per App Lampen zu steuern ist nur eine<br />
von immer mehr Optionen. Schon öffnen<br />
sich Rollladen, sobald die Sonne aufgeht;die<br />
Uhrzeit liefert das Web. Thermometer lernen,<br />
wann die Bewohner zu Hause sind –<br />
und regeln die Heizung. Bewegungsmelder<br />
warnen übers Handy, wenn sich daheim<br />
Ungewöhnliches tut. Fenster und Türen<br />
schicken SMS, wenn jemand sie öffnet.<br />
Während das klassische Computergeschäft<br />
bestenfalls stagniert, verspricht sich<br />
die IT-Welt von der Vernetzung des trauten<br />
Heims munter sprudelnde Erlöse: Knapp<br />
15,2 Milliarden Dollar, erwarten die US-<br />
Marktforscher von Zpryme Research, werden<br />
2015 weltweit mit Smart-Home-Technik<br />
umgesetzt. 2012 war es ein Drittel. Und<br />
auch, dass der Internet-Riese Google im Januar<br />
für 3,2 Milliarden Dollar den Smart-<br />
Home-Spezialisten Nest Labs übernahm,<br />
zeigt, welches Potenzial die Branche im Geschäft<br />
mit smarten Haushalten sieht.<br />
Und das wohl zu Recht: Laut einer gerade<br />
veröffentlichten Studie des Marktforschers<br />
Fittkau & Maaß Consulting sind 78 Prozent<br />
der Deutschen an Smart-Home-Technik interessiert,<br />
allem voran zum Steuern von Heizungen,<br />
Fenstern und Beleuchtung.<br />
SCHNELLIGKEIT VOR SICHERHEIT<br />
Dem großen Interesse auf Käuferseite steht<br />
allerdings bei vielen Anbietern ein offenbar<br />
geringes Bewusstsein für die Risiken der Vernetzung<br />
gegenüber: Beispiele wie das von<br />
Insteon zeigten, so moniert Maik Morgenstern,<br />
„dass es manchem Hersteller zunächst<br />
wichtiger ist, Smart-Home-Technik<br />
schnell auf den Markt zu bringen, erst später<br />
denkt er an Sicherheit“. Der 31-jährige Diplom-Ingenieur<br />
ist technischer Leiter beim<br />
Magdeburger IT-Sicherheitsberater AV-Test.<br />
Das Unternehmen überprüft für Softwarehersteller<br />
deren Schutzprogramme, Virenfilter<br />
und Firewalls auf Sicherheitslücken.<br />
Basierend auf diesem Know-how, hat AV-<br />
Test exklusiv für die WirtschaftsWoche sieben<br />
aktuell in Deutschland verfügbare<br />
Smart-Home-Systeme auf Schwachstellen<br />
gegen Zugriffe von Fremden, Hackerattacken<br />
oder den Einbruch von Online-<br />
Spionen getestet (siehe Tabelle Seite 68).<br />
Mit sehr durchwachsenen Ergebnissen:<br />
Während die Magdeburger drei der jeweils<br />
90 bis 300 Euro teuren Einsteigerpakete eine<br />
ILLUSTRATION: NICHOLAS BLECHMAN<br />
64 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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„gute“ bis „sehr hohe“ Sicherheit gegen Hackerangriffe<br />
attestieren, bieten die vier übrigen<br />
Systeme nur „niedrigen“ oder gar nur<br />
„sehr niedrigen“ Schutz gegen Attacken.<br />
Sehr hohen Schutz bieten sowohl Elements,<br />
das Überwachungssystem der Ex-Siemens-Tochter<br />
Gigaset, als auch das Smart-<br />
Home-Paket des Energieversorgers RWE.<br />
Das ermöglicht unter anderem, Licht, Heizung<br />
und Bewegungsmelder per App und<br />
über ein Online-Portal zu steuern. Mit „Gut“<br />
schneidet das Qivicon-System ab, das die<br />
Deutsche Telekom mit Partnern vertreibt.<br />
15 Milliarden Dollar<br />
werden 2015 mit Smart-<br />
Home-Technik umgesetzt<br />
„Manipulationen durch Externe sind nach<br />
dem aktuellen Stand der Technik ausgeschlossen,<br />
der Durchgriff auf die Geräte im<br />
Haus nicht möglich“, urteilen die AV-Tester.<br />
Und sie verweisen auf die Herkunft der<br />
Technik: „Es ist augenfällig, dass alle weitgehend<br />
sicheren Systeme in Deutschland konzipiert<br />
wurden“, sagt Morgenstern. Offensichtlich<br />
spiegele sich das deutsche Verständnis<br />
<strong>vom</strong> Schutz der Privatsphäre auch<br />
in der Sicherheitsphilosophie wider.<br />
Gigaset, RWE und Qivicon betonen denn<br />
auch, spezialisierte Dienstleister – eine<br />
200 Milliarden vernetzte<br />
Geräte sind 2020<br />
Teil des Internets der Dinge »<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 65<br />
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Spezial | Cebit<br />
»<br />
Art guter Hacker – vor dem Marktstart wochenlang<br />
auf ihre Produkte angesetzt zu haben.<br />
„Auch Technik von Partnern haben wir<br />
erst nach ähnlichen Prüfungen freigegeben“,<br />
sagt RWE-Manager Harald Fletcher. Um die<br />
Systeme gegen Zugriffe durch ausländische<br />
Spitzel zu sichern, laufen die Web-Dienste<br />
von Qivicon und Gigaset auf deutschen Servern<br />
der Telekom-Tochter T-Systems.<br />
Solch ein Gefahrenbewusstsein fehlt den<br />
übrigen Systemen nach Ansicht der Tester.<br />
Dort passten die europäischen Anbieter in<br />
Fernost entwickelte Hard- und Software allenfalls<br />
an den hiesigen Markt an, hätten<br />
aber kaum Einfluss auf die Sicherheit.<br />
GEFÄHRLICHER IRRTUM<br />
„Teils nutzten Hersteller nicht einmal etablierte<br />
Standards zur Verschlüsselung der<br />
Verbindung“, wundert sich Morgenstern.<br />
Zum Teil müssen sich Benutzer, wenn sie auf<br />
die Module zugreifen, nicht einmal authentifizieren<br />
– ähnlich wie bei Thomas Hatleys<br />
Insteon-System. Und selbst wenn das bei der<br />
Fernsteuerung übers Internet vorgesehen<br />
ist, wie beim Xavax-Max-System von Hama,<br />
werde das Passwort unverschlüsselt gesendet,<br />
kritisiert der IT-Experte. „Da kann jeder<br />
leidlich versierte Hacker mitlesen.“<br />
Schlechte Noten gibt es sogar für die Systeme<br />
im Test, die gar keinen Fernzugriff via<br />
Internet zulassen, sondern die der Hausbesitzer<br />
nur aus seinem WLAN-Netz steuern<br />
kann. Denn dass das Hacker draußen hält,<br />
ist ein gefährlicher Irrtum. Sobald es Angreifern<br />
nämlich gelingt, Sabotage- oder<br />
Schnüffelprogramme ins private Netz einzuschleusen,<br />
surfen Fremde auch hinter<br />
der Firewall unbemerkt mit. Dazu kann es<br />
genügen, mit schlecht gesicherten PCs<br />
Web-Seiten aufzurufen, auf der Schadsoftware<br />
lauert.<br />
Außerdem sind auch in Deutschland<br />
noch millionenfach WLAN-Router installiert,<br />
die nicht oder nur über Standardpasswörter<br />
gesichert sind. Im einen wie im anderen<br />
Fall steht die vermeintlich private Smart-<br />
Home-Technik dann auch Spitzeln offen.<br />
Wenn dann – wie bei den Systemen iComfort<br />
von REV Ritter und tapHome von Euroi-<br />
Style – Verschlüsselung gar nicht erst vorgesehen<br />
ist oder zumindest Passwörter unverschlüsselt<br />
übertragen werden, haben Hacker<br />
leichtes Spiel. Sie können protokollieren,<br />
wann der Hausbesitzer Strom, Licht<br />
oder Heizung schaltet, und wissen so, wann<br />
Versierte Hacker<br />
nutzen vernetzte<br />
Fernsehgeräte<br />
heimlich als<br />
Spionagekameras<br />
er das Haus verlässt. Und sobald niemand<br />
mehr zu Hause ist, kann der Angreifer auch<br />
noch die vernetzte Alarmanlage stromlos<br />
schalten, um die Wohnung leerzuräumen.<br />
SPANNER IM KINDERZIMMER<br />
Um solche Mängel zu beheben, musste Insteon<br />
einen großen Teil seiner Smart-Home-<br />
Anlagen zurückrufen und umrüsten. Nachgerüstet<br />
hat auch der Hersteller des in den<br />
USA vertriebenen Plastikhasen Karotz. Der<br />
elektronische Spielgeselle ermöglicht Eltern<br />
per Web-Cam den Blick ins Kinderzimmer –<br />
aber auch Hackern. Das demonstrierten IT-<br />
Experten im vergangenen Sommer auf der<br />
Sicherheitskonferenz Black Hat in Las Vegas.<br />
Die IT-Spezialistin Jennifer Savage leitete Videos<br />
und Tonaufnahmen aus dem per<br />
Smartphone-App steuerbaren Hasen auf einen<br />
fremden Rechner um. „Was eigentlich<br />
Eltern einen beruhigenden Blick auf den<br />
Nachwuchs ermöglichen soll, wird so unversehens<br />
zum Guckloch für Spione oder Spanner“,<br />
warnte sie.<br />
Ähnlich bedrohlich ist das Szenario, das<br />
Daniel Crowley, Softwarespezialist beim Beratungsunternehmen<br />
Trustwave Spider<br />
Labs in Las Vegas, demonstrierte: Er schaltete<br />
sich in die Kommunikation zwischen<br />
Smartphone und einem unzulänglich gesicherten<br />
elektronischen Türschloss. Damit<br />
konnte er nicht nur die Türe aus der Ferne<br />
entsperren, sondern sogar den Zugangscode<br />
ändern. „Falls jemand so in Ihr Haus eindringt,<br />
und keine Spuren hinterlässt, wie<br />
wollen Sie das bei Polizei oder Versicherung<br />
nachweisen?“, fragte Crowley.<br />
Eher skurril als wirklich gefährlich – im<br />
Zweifel aber schmerzhaft und teuer – sind<br />
Attacken auf die immerhin rund 5000 Dollar<br />
teure High-Tech-Toilette Satis des japanischen<br />
Herstellers Lixil. Auch die nämlich ist<br />
inzwischen als Bestandteil des Internets der<br />
Dinge per Handy bedienbar. Den Deckel zu<br />
öffnen oder zu schließen zählt noch zu den<br />
unverdächtigen Fernsteuerfunktionen.<br />
Doch wer will, so demonstrierten die Black-<br />
Hat-Hacker, kann auch die Kontrolle über<br />
Bidetbrause oder Gesäßfön übernehmen.<br />
Und wenn digitale Angreifer das WC im Urlaub<br />
auf Dauerspülen schalten, geht die Attacke<br />
sogar richtig ins Geld.<br />
Die Suche nach potenziell angriffsgefährdeten<br />
IT-Systemen unter den Abermilliarden<br />
vernetzten Rechnern im Internet ist einfacher,<br />
als es für den Laien scheinen mag.<br />
Spezielle Dienste, etwa die Suchmaschine<br />
Shodan, fungieren wie eine Art Google der<br />
Online-Schwachstellen. Sie verzeichnen die<br />
online erreichbaren Computersysteme,<br />
»<br />
ILLUSTRATION: NICHOLAS BLECHMAN<br />
66 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Spezial | Cebit<br />
»<br />
Server und die dort genutzten<br />
Softwareprotokolle.<br />
Wahrscheinlich habe auch<br />
„Forbes“-Reporterin Hill vor<br />
ihrem Anruf bei Hausbesitzer<br />
Hatley per Shodan nach offenen<br />
Smart-Home-Systemen<br />
gesucht, sagt Experte Morgenstern – und<br />
gibt zumindest für die Produkte im WirtschaftsWoche-Test<br />
Entwarnung. „Ein vergleichbarer<br />
Angriff auf diese Systeme sollte<br />
nicht möglich sein.“<br />
Die Schaltzeiten<br />
von Licht<br />
und Heizung<br />
verraten, wann die<br />
Wohnung leer ist<br />
VERSKLAVTER KÜHLSCHRANK<br />
Doch die Hacker finden immer neue Sicherheitslücken,<br />
und zugleich wächst die Flut<br />
der ans Internet angeschlossenen Alltagstechnik<br />
explosionsartig: Laut dem US-<br />
Marktforscher IDC werden bis 2020 mehr als<br />
200 Milliarden elektronische Geräte aller Art<br />
im Internet der Dinge miteinander verbunden<br />
sein – <strong>vom</strong> Auto-Navigationssystem bis<br />
zur WLAN-Zahnbürste.<br />
Noch schlimmer, die Geräte sind mehr als<br />
nur potenzielle Angriffsziele. Das haben Forscher<br />
des auf E-Mail-Schutz spezialisierten<br />
US-Unternehmens Proofpoint im Januar<br />
nachgewiesen. Sie entdeckten ein sogenanntes<br />
Botnetz aus mehr als <strong>10</strong>0 000 zu<br />
ferngesteuerten E-Mail-Robotern versklavten<br />
Maschinen mit Web-Anschluss.<br />
Das hatten Hacker geknüpft, um darüber<br />
Spam-Nachrichten zu versenden. „Unter<br />
den geknackten Systemen war – neben<br />
WLAN-Routern, Multimedia-Centern und<br />
Web-fähigen Fernsehern – erstmals auch ein<br />
Kühlschrank mit Online-Zugang“, sagt<br />
Proofpoint-Manager Jürgen Venhorst. Für<br />
ihn ist klar, dass „die Zahl solcher Thingbots<br />
in Zukunft rasant wachsen wird“.<br />
Umso mehr, als die neue Gerätevielfalt im<br />
Internet der Dinge – anders etwa als PCs und<br />
Server in Unternehmen – nicht ständig von<br />
IT-Abteilungen auf Sicherheitsmängel überwacht<br />
und aktualisiert wird. So bleibt Fans<br />
vernetzter Haushalte vorerst kaum eine Alternative,<br />
als den Schutz des smarten Heims<br />
selbst in die Hand zu nehmen. „Regelmäßige<br />
Updates für alle Geräte, ob WLAN-Router<br />
oder Funksteckdose, sind genauso Pflicht,<br />
wie die Basisstation durch ein starkes Passwort<br />
zu schützen“, empfiehlt Morgenstern<br />
von AV-Test.<br />
Und Black-Hat-Experte Crowley rät inmitten<br />
des digitalisierten Haushalts zu analogen<br />
Hausmitteln: „Wer wirksam verhindern will,<br />
dass Späher oder Spanner durch die Web-<br />
Kamera des vernetzten Fernsehers ins<br />
Wohnzimmer schauen, sollte den Stecker<br />
aus der Steckdose ziehen – oder einfach ein<br />
PostIt auf die Kameralinse kleben.“ n<br />
thomas.kuhn@wiwo.de<br />
Vorsicht, falsche Freunde<br />
Der Check von AV-Test belegt: Längst nicht alle Smart-Home-Fernsteuerungen sind nur dem Hausbesitzer zu Diensten<br />
Produkt<br />
Hersteller<br />
Eigenschaften<br />
Funktion<br />
Bedienung<br />
Schutzkonzept<br />
Verschlüsselung aktiv<br />
Authentifizierung aktiv<br />
Manipulation durch<br />
Externe<br />
Absicherung der<br />
Fernsteuerung<br />
Urteil<br />
Systemsicherheit<br />
Anmerkung<br />
Preis (Starter-Set)<br />
Quelle: AV-Test<br />
Gigaset Elements<br />
Gigaset<br />
Überwacht Türen,<br />
Fenster und Wohnräume<br />
auf verdächtige<br />
Bewegungen<br />
Per Smartphone<br />
und Browser aus<br />
WLAN oder Web<br />
Ja<br />
Ja<br />
Im Test nicht<br />
möglich<br />
Wirksames<br />
Schutzkonzept<br />
Sehr hoch –<br />
sehr starke Absicherung<br />
Das Manko im Test<br />
noch unverschlüsselter<br />
Firmware-<br />
Updates wurde behoben.<br />
Sie erfolgen<br />
nun verschlüsselt<br />
200 Euro<br />
RWE Smart Home<br />
RWE Smart Home<br />
Steuer-, Schaltund<br />
Kontrollsystem<br />
für Strom, Heizung,<br />
Sicherheit<br />
Per Smartphone<br />
und Browser aus<br />
WLAN oder Web<br />
Ja<br />
Ja<br />
Im Test nicht<br />
möglich<br />
Wirksames<br />
Schutzkonzept<br />
Sehr hoch – sehr<br />
starke Absicherung<br />
Konfiguration nur<br />
mit Internet-Verbindung<br />
über passwortgesichertes<br />
Nutzerkonto<br />
250 Euro<br />
Qivicon<br />
Deutsche Telekom<br />
Steuer-, Schaltund<br />
Kontrollsystem<br />
für Strom, Heizung,<br />
Sicherheit<br />
Per Smartphone<br />
und Browser aus<br />
WLAN oder Web<br />
Ja<br />
Ja<br />
Im Test nicht<br />
möglich<br />
Wirksames<br />
Schutzkonzept<br />
Hoch – starke<br />
Absicherung<br />
Stärke der Verschlüsselung<br />
nicht<br />
optimal, Zahl der<br />
offenen Internet-<br />
Ports unnötig hoch<br />
300 Euro<br />
iComfort<br />
REV Ritter<br />
Steuert Elektrogeräte<br />
über Schaltsteckdosen<br />
Lokal über Smartphone<br />
im WLAN,<br />
kein Fernzugriff<br />
Nein<br />
Nein<br />
Im Test nicht<br />
möglich<br />
Keine, da kein<br />
Fernzugriff aktiv<br />
Niedrig – gegen<br />
Angriffe aus dem<br />
lokalen Netz kaum<br />
geschützt<br />
Sofern Hacker<br />
Schadsoftware auf<br />
PCs/Smartphones<br />
im lokalen Netz<br />
installieren, ist<br />
Fernzugriff möglich<br />
90 Euro<br />
tapHome<br />
EuroiStyle<br />
Steuert bzw. dimmt<br />
Schaltsteckdosen<br />
und Lampen<br />
Lokal über Browser<br />
oder Smartphone,<br />
kein Fernzugriff<br />
Nein<br />
Ja<br />
Im Test nicht<br />
möglich<br />
Keine, da kein<br />
Fernzugriff aktiv<br />
Niedrig – gegen<br />
Angriffe aus dem<br />
lokalen Netz kaum<br />
geschützt<br />
Sofern Hacker<br />
Schadsoftware auf<br />
PCs/Smartphones<br />
im lokalen Netz<br />
installieren, ist<br />
Fernzugriff möglich<br />
170 Euro<br />
iConnect<br />
eSaver<br />
Steuert Elektrogeräte<br />
über Schaltsteckdosen<br />
Per Smartphone im<br />
WLAN und aus dem<br />
Internet<br />
Ja<br />
Nur bei Web-Zugriff<br />
System im Test<br />
anfällig<br />
Ließ sich im Test<br />
aushebeln<br />
Sehr niedrig – für<br />
Angriffe aus dem<br />
lokalen Netz oder<br />
Internet anfällig<br />
Optionale Web-<br />
Fernsteuerung<br />
nach Passwort-<br />
Vergabe. Firmware-<br />
Update unverschlüsselt<br />
200 Euro<br />
Xavax Max!<br />
Hama<br />
Steuerungs- und<br />
Schaltsystem für<br />
Licht, Heizung, Strom<br />
Lokal über PC sowie<br />
über Browser oder<br />
App aus dem Internet<br />
Nur teilweise<br />
Nur bei Web-Zugriff<br />
System im Test<br />
anfällig<br />
Schwächen bei<br />
Zugriff via Internet<br />
Sehr niedrig –kein<br />
Schutz gegen interne,<br />
mangelnde Sicherheit<br />
bei äußeren Angriffen<br />
Sofern Hacker Schadsoftware<br />
im lokalen<br />
Netz installieren, ist<br />
Fernzugriff möglich.<br />
Extern Mängel bei der<br />
Verschlüsselung<br />
200 Euro<br />
ILLUSTRATION: NICHOLAS BLECHMAN<br />
68 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Spezial | Cebit<br />
Röntgengerät für die IT<br />
BIG DATA | Die neue blitzschnelle Analyse gigantischer Datenmengen eröffnet IT-Unternehmen<br />
riesige Chancen. Neben Granden wie IBM, Oracle oder SAP gibt es dies- und jenseits des Atlantiks<br />
auch einige kleine, aber feine Profiteure des Datenbooms.<br />
Dass er in der Lage ist, die Extra-Meile<br />
zu gehen, beweist Godfrey Sullivan<br />
mit seinem ungewöhnlichen<br />
Hobby: Seit zwei Jahrzehnten frönt der<br />
60-Jährige der Sportart „Ride and Tie“, einer<br />
selbst in seiner Heimat USA eher seltenen<br />
Freizeitbetätigung: Bei ihr wechseln<br />
sich zwei Menschen in einem Langstreckenrennen<br />
beim Ausdauer-Reiten mit einem<br />
Pferd ab – und das im Gelände. Der<br />
nicht reitende Partner joggt dabei nebenoder<br />
hinterher. „Nach 30 oder 40 Meilen<br />
weiß man, wie sehr man von seinem Team<br />
abhängig ist“, sagt Sullivan.<br />
EXPLODIERENDE DATENMENGEN<br />
Gut möglich, dass ihm diese Erfahrung<br />
auch im Job hilft. Dabei benötigt er nämlich<br />
ebenfalls ausreichend Durchhaltever-<br />
mögen. Sullivan ist Vorstandschef von<br />
Splunk, einem erst zehn Jahre alten Anbieter<br />
von Software zur schnellen Analyse riesiger<br />
Datenmengen. Das Unternehmen<br />
aus San Francisco hat sich spezialisiert auf<br />
die Durchforstung aller Arten von Maschinendaten,<br />
egal, ob von Großrechnern,<br />
Smartphones, Tablets, PCs oder Web-Servern.<br />
Damit können Unternehmen zum<br />
Beispiel schneller und genauer Probleme<br />
diagnostizieren – <strong>vom</strong> Netzausfall beim<br />
Mobilfunk bis zum schiefgelaufenen Bestellvorgang<br />
im Online-Handel. „Splunk ist<br />
sozusagen ein Röntgengerät für die IT-Systeme<br />
von Unternehmen“, sagt Sullivan im<br />
Interview mit der WirtschaftsWoche (siehe<br />
Seite 74).<br />
Dieses Big Data genannte Geschäft ist<br />
aktuell einer der wichtigsten Treiber der IT-<br />
Branche. Grund sind die allerorten explodierenden<br />
Datenmengen – sei es aufgrund<br />
der rasenden Verbreitung von Mobilgeräten<br />
wie Smartphones und Tablets, sei es<br />
wegen der immer stärkeren Verlagerung<br />
von Diensten ins Internet, Neudeutsch<br />
Cloud Computing.<br />
Befeuert wird der Big-Data-Boom zudem<br />
durch einige wichtige technologische<br />
Fortschritte in den vergangenen Jahren. So<br />
sorgt eine neuartige Technologie namens<br />
In Memory dafür, dass die schnelle Analyse<br />
von gigantischen Datenmengen gegenüber<br />
früher um den Faktor <strong>10</strong>00 und mehr<br />
beschleunigt wird.<br />
Dies ist möglich, weil die Rechner alle<br />
Daten komplett im Hauptspeicher bearbeiten,<br />
statt für jede Rechenoperation den<br />
langsameren Umweg über die Festplatte<br />
ILLUSTRATION:THOMAS FUCHS<br />
70 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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nehmen zu müssen. Die Folge: Analysen<br />
selbst größter Datenbanken mit einer Größe<br />
von einem Terabyte – das sind eine Billion<br />
Byte – oder mehr benötigen nur wenige<br />
Sekunden statt einiger Stunden. Dadurch<br />
können Unternehmen Big-Data-Anfragen<br />
fast in Echtzeit durchführen.<br />
SCHWERPUNKT AUF DER CEBIT<br />
Auf diesem Wachstumsmarkt machen<br />
sich bereits Konzerne wie IBM, Oracle,<br />
Hewlett-Packard oder SAP breit. Jenseits<br />
dieser Granden der IT-Welt gibt es aber<br />
auch einige kleinere Profiteure des Datenbooms.<br />
Dazu zählen hierzulande eher<br />
unter dem Radar fliegende Hidden Champions<br />
wie Splunk oder Teradata aus den<br />
USA, aber auch deutsche Anbieter wie die<br />
Software AG aus Darmstadt oder Exasol<br />
aus Nürnberg.<br />
Sie alle buhlen um Kunden in einem<br />
Markt, der nach einer Prognose des amerikanischen<br />
IT-Marktforschers IDC in diesem<br />
Jahr erstmals die Schwelle von 15 Milliarden<br />
Dollar überschreiten soll. Mindestens<br />
bis 2017 wächst das Geschäft jährlich<br />
weiter mit Steigerungsraten oberhalb von<br />
25 Prozent und wird sich bis dahin auf<br />
32 Milliarden Dollar mehr als verdoppeln,<br />
so die Erwartung von IDC (siehe Grafik<br />
unten).<br />
Auch die in dieser Woche stattfindende<br />
weltgrößte IT-Messe Cebit in Hannover hat<br />
auf diesen Boom reagiert. So bildet Datability<br />
neben IT-Sicherheit und Cloud Computing<br />
erstmals eines der Schwerpunktthemen<br />
auf der Messe. Datability ist ein Kunstwort<br />
aus Big Data und der Möglichkeit, solche<br />
Auswertungen im Unternehmen auch<br />
zu nutzen („ability“). „Die Analyse großer<br />
Datenmengen bietet ein enormes Potenzial<br />
– für Unternehmen, aber auch für die<br />
Gesellschaft und uns alle“, sagt Dieter<br />
Kempf, Chef des ITK-Branchenverbandes<br />
Bitkom, der die Cebit ausrichtet.<br />
Das gilt trotz aller Datenschutzbedenken:<br />
Zwar sind viele Unternehmen seit<br />
dem Skandal über die Internet-Schnüffelattacken<br />
des US-Geheimdienstes National<br />
Security Agency (NSA) hellhörig geworden.<br />
Die Big-Data-Anbieter werden daher<br />
nicht müde zu betonen, ihre Software sei<br />
sicher vor unbefugtem Zugriff. Sie begründen<br />
das zum Beispiel damit, dass Unternehmen<br />
die Systeme auch komplett ohne<br />
jedwede Internet-Anbindung installieren<br />
können. Glaubt man den Beteuerungen<br />
der Datenanalyseanbieter, ist ihnen bisher<br />
jedenfalls kaum Geschäft durch die Lappen<br />
gegangen.<br />
Das dürfte vor allem daran liegen, dass<br />
der Bedarf an digitaler Durchleuchtung der<br />
Datenmassen bei den Unternehmen<br />
enorm ist. Zu Splunks Kunden rund um<br />
den Globus zählen unter anderem die Telekommunikationsriesen<br />
Telefónica/O2<br />
und Vodafone sowie der Versandhändler<br />
Otto. Im Geschäftsjahr 2013 (es endete<br />
zum 31. Januar <strong>2014</strong>) steigerte Splunk den<br />
Umsatz denn auch um 52 Prozent auf 302<br />
Millionen Dollar. Gleichzeitig schrieb das<br />
Unternehmen vor allem wegen deutlich<br />
hochgefahrener Vertriebs- und Marketingaufwendungen<br />
(215 Millionen Dollar) ein<br />
Minus von knapp 80 Millionen Dollar.<br />
Ein anderer noch weithin unbekannter<br />
Senkrechtstarter ist das ebenfalls im Silicon<br />
Valley beheimatete Unternehmen<br />
Rocketfuel, das im März 2008 von ehemaligen<br />
Mitarbeitern von Yahoo und der US-<br />
Weltraumagentur Nasa gegründet wurde.<br />
Mittlerweile beschäftigt es knapp 600 Mitarbeiter<br />
weltweit und setzte 2013 rund 200<br />
Millionen Dollar um. Auch in Hamburg<br />
ist es mit einer Niederlassung vertreten.<br />
Rocketfuel nutzt künstliche Intelligenz und<br />
Datenanalyse, um über das Surfverhalten<br />
von Internet-Nutzern deren Interessen<br />
und Kaufabsichten vorauszusagen und mit<br />
diesen Erkenntnissen Internet-Werbung<br />
gezielter zu platzieren.<br />
Das wird zwar schon seit Jahren gemacht.<br />
Neu ist aber, dass Rocketfuel<br />
Dutzende von Informationen mithilfe<br />
von selbstlernender Software so kombiniert,<br />
dass nicht nur die Wahrscheinlichkeit<br />
relativ genau ermittelt werden kann,<br />
ob ein Online-Nutzer den Kauf eines Autos<br />
erwägt oder aber eine Reise buchen will.<br />
Rocketfuel kann sogar die Marke oder<br />
Big Data, Big Business<br />
WeltweiteUmsätze im Geschäft mit<br />
Hard-und Software zur Datenanalyse<br />
undjährlicheWachstumsrate<br />
35<br />
30<br />
25<br />
20<br />
15<br />
<strong>10</strong><br />
5<br />
0<br />
Wachstum<br />
(inProzent)<br />
9,8<br />
12,6<br />
16,1<br />
20,4<br />
25,7<br />
32,4<br />
Umsätze<br />
(inMilliardenDollar)<br />
2012 13 14* 15* 16* 17*<br />
*Prognose; Quelle:IDC<br />
das genauere Reiseziel einengen und ob<br />
die Werbung lieber auf Tablet oder Smartphone<br />
präsentiert werden sollte. Oder<br />
das Programm kann Prognosen über den<br />
besten Wochentag oder gar die Tageszeit<br />
liefern, um diesen Nutzer mit Werbung<br />
anzusprechen. In Deutschland nutzen<br />
das Angebot unter anderem Lufthansa,<br />
BMW und Sixt.<br />
Für diese Kunden analysiert Rocketfuel<br />
kontinuierlich die Web-Seiten. Neu ist hier,<br />
dass das komplette Online-Angebot tief<br />
durchleuchtet wird. „Unsere Kunden achten<br />
stärker darauf, wie attraktiv einzelne<br />
Inhalte auf einer Web-Seite sind“, sagt Rocketfuel-Deutschland-Chef<br />
Oliver Hülse.<br />
Absehbar ist deshalb, dass Big Data auch<br />
Inhalte im Internet verändern und stärker<br />
auf die Interessen der Werbekunden abstimmen<br />
wird.<br />
Auch der Konsumgüterriese Procter &<br />
Gamble (P&G) will mithilfe von Big Data<br />
näher an seine Kunden herankommen<br />
und deren Interessen präziser erforschen.<br />
Der US-Konzern, der 2013 rund 84 Milliarden<br />
Dollar umsetzte, betreibt für seine<br />
rund fünf Milliarden Kunden weltweit<br />
rund 1500 Web-Seiten. Die werben für<br />
P&Gs mehr als 50 großen Marken wie<br />
Gillette, Braun, Duracell, Wella oder<br />
Pampers und bieten dort unter anderem<br />
auch Tipps zum Gebrauch der Produkte.<br />
Ziel von P&G-Chef Alan Lafley ist nicht<br />
nur, über die zielgenauere Ansprache<br />
seiner Kunden den Absatz zu steigern. Er<br />
will zugleich Ideen für neue Produkte sammeln<br />
und dafür, wie sich bestehende verbessern<br />
lassen. Und das soll schnell gehen.<br />
Als Generalauftragnehmer hat Lafley dafür<br />
den Softwareanbieter Teradata mit Sitz im<br />
US-Bundesstaat Ohio verpflichtet. Der<br />
Dienstleister führt die Klick- und Abrufdaten<br />
aller globalen P&G-Web-Seiten zusammen,<br />
analysiert sie und leitet die dabei<br />
gewonnenen Informationen an die<br />
P&G-Mitarbeiter weiter.<br />
ZENTRALE DATENSAMMELSTELLE<br />
Teradata, das 2007 von dem Geldautomaten-<br />
und Kassensystemanbieter NCR ausgegründet<br />
wurde, wertet schon seit Jahrzehnten<br />
große Datenmengen aus, lange<br />
bevor der Begriff Big Data in Mode kam.<br />
Teradata ist ein etablierter Anbieter von sogenannten<br />
Data-Warehouses, in denen<br />
Konzerne ihre beim Geschäftsbetrieb anfallenden<br />
Informationen bündeln – von Artikeln<br />
auf dem Kassenbon bis hin zu Angaben<br />
über Zulieferer und die Entwicklung<br />
von Rohstoffpreisen. Sozusagen eine<br />
»<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 71<br />
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Spezial | Cebit<br />
Neue Technologien ermöglichen<br />
Datenanalysen fast in Echtzeit<br />
»<br />
zentrale Datensammelstelle im Unternehmen.<br />
„Das Internet rückt noch dichter<br />
an die Verbraucher heran, gleichzeitig wollen<br />
noch mehr Unternehmensbereiche<br />
Datenanalyse nutzen“, sagt Teradata-Chef<br />
Michael Koehler.<br />
Für ihn ist der wachsende Markt Chance<br />
und Herausforderung zugleich. Denn<br />
Teradata macht sein Geld bisher hauptsächlich<br />
mit der Installation teurer Hardware<br />
und Datenbank-Software. Das ist bis<br />
heute sehr lukrativ: 2013 setzte Teradata<br />
2,7 Milliarden Dollar um und erzielte dabei<br />
einen Nettogewinn von rund 380 Millionen<br />
Dollar. An der Börse ist das Unternehmen<br />
aktuell rund 7,4 Milliarden Dollar wert.<br />
BIG DATA IN DER CLOUD<br />
Allerdings wollen Kunden diese Dienstleistungen<br />
jetzt vermehrt mieten, ganz ähnlich<br />
wie bei klassischer Unternehmenssoftware.<br />
Teradata muss sein Angebot daher<br />
nach und nach in die Cloud verschieben<br />
und günstiger offerieren. Ein Pilotkunde ist<br />
Netflix, der US-Marktführer für Online-Videodienste,<br />
der sich die Teradata-Dienste<br />
über die Wolke liefern lässt. Netflix analysiert<br />
damit, wie und wo besonders gefragte<br />
Spielfilme oder Fernsehserien gespeichert<br />
werden sollten, damit diese optimal zu den<br />
Kunden übertragen werden.<br />
Karl-Heinz Streibich möchte Big Data<br />
auf eine weitere Entwicklungsstufe heben.<br />
Der Chef des Unternehmenssoftware-Anbieters<br />
Software AG aus Darmstadt, der das<br />
Gros seines Jahresumsatzes von einer Milliarde<br />
Euro in den USA erzielt, sieht in der<br />
rasant wachsenden Zahl der Daten und deren<br />
rascher Auswertung eine neue Qualität<br />
bei sogenannten entscheidungsunterstützenden<br />
Systemen.<br />
Die sollen Unternehmen zum Beispiel<br />
vorbeugend warnen, wenn sich Probleme<br />
in der Lieferkette abzeichnen, die Nachfrage<br />
nicht befriedigt werden kann oder Beschwerden<br />
über Produkte eine mögliche<br />
Rückholaktion andeuten. Der Fokus liegt<br />
dabei darin, neben mehr Umsatz die Kundenbindung<br />
zu stärken. „Es geht nicht nur<br />
darum, die Daten auszuwerten, sondern<br />
auch darum, auf die gewonnenen Informationen<br />
richtig und schnell zu reagieren“,<br />
sagt Streibich. „Dieser Zyklus in der Softwareentwicklung<br />
beginnt gerade erst.“<br />
Helfen soll den Software-AG-Kunden<br />
dabei das Tool Terracotta. Die Hessen hatten<br />
den gleichnamigen amerikanischen<br />
Spezialisten 2011 übernommen, und zwar<br />
„ursprünglich im Wesentlichen dafür, um<br />
unsere eigenen Produkte für Big Data anzupassen<br />
und zu erweitern“, sagt Streibich<br />
„Wir haben aber schnell festgestellt, dass<br />
die Datenanalyse als eigenständiges Geschäft<br />
immer wichtiger wird.“ Offenbar zu<br />
Recht: Einer der namhaften Kunden ist die<br />
Ebay-Tochter PayPal, die mittels Terracotta<br />
Kreditkartenbetrug in Echtzeit, also während<br />
des Zahlungsvorgangs, aufdeckt.<br />
Konkrete Finanzzahlen für Terracotta<br />
nennt die Software AG zwar nicht. Aber<br />
laut Geschäftsbericht 2013 hat sich der<br />
Umsatz der amerikanischen Tochter, auf<br />
das Gesamtjahr gerechnet, nahezu verdoppelt.<br />
Damit ist Terracotta ein wichtiger<br />
Hoffnungsträger für die Software AG,<br />
der zuletzt im Stammgeschäft mit traditionellen<br />
Datenbanken Umsatz weggebrochen<br />
ist.<br />
NISCHENPLAYER AUS FRANKEN<br />
Auf diesem Gebiet ist man 240 Kilometer<br />
weiter südöstlich bei Exasol in Nürnberg<br />
schon weiter: Das 2000 gegründete Unternehmen<br />
hat eine speziell für Big-Data-<br />
Analysen optimierte Datenbank namens<br />
Exasolution konzipiert. Dadurch profitieren<br />
die Nürnberger voll <strong>vom</strong> Datenanalyseboom:<br />
„Exasol ist derzeit der erfolgreichste<br />
Spezialist für analytische Datenbanken<br />
im deutschsprachigen Raum“, so<br />
das Fazit einer Studie des in Würzburg ansässigen<br />
Marktforschers BARC.<br />
Und die amerikanischen IT-Marktbeobachter<br />
von Gartner platzieren Exasol als<br />
einzigen deutschen Anbieter in ihrem<br />
„magischen Quadrat“ über analytische Datenbanken,<br />
eine Messlatte zur Bewertung<br />
von IT-Unternehmen. Laut Gartner hat<br />
Exasol in jenem Markt die Position eines<br />
Nischenplayers inne. Wohl wahr: Das Unternehmen<br />
setzte 2013 mit 55 Mitarbeitern<br />
rund fünf Millionen Euro um.<br />
Geht es nach den Franken, soll sich<br />
das bald ändern. Ende Januar hat Exasol<br />
bekannt gegeben, mit einem <strong>vom</strong> Bundeswirtschaftsministerium<br />
geförderten Programm<br />
ins kalifornische Silicon Valley expandieren<br />
zu wollen. „Mit Vertretungen<br />
auf drei Kontinenten haben wir uns innerhalb<br />
kürzester Zeit zu einem ernst zu nehmenden<br />
Anbieter analytischer Datenbanken<br />
entwickelt“, sagt Exasol-Chef Aaron<br />
Auld. „Die USA haben enormes Marktpotenzial.<br />
Somit ist das Programm für uns<br />
eine große Chance, um uns im US-Markt<br />
zu positionieren.“<br />
n<br />
michael.kroker@wiwo.de,<br />
matthias hohensee | Silicon Valley<br />
ILLUSTRATION:THOMAS FUCHS<br />
72 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Spezial | Cebit<br />
»Wir machen spröde Daten sexy«<br />
INTERVIEW | Godfrey Sullivan Der Vorstandschef des US-Softwareanbieters Splunk sieht Big Data als<br />
riesiges Zukunftsgeschäft und befürchtet keine Einbußen durch den NSA-Skandal.<br />
Mister Sullivan, Splunk operiert in einem<br />
der aktuell heißesten IT-Märkte Big Data,<br />
also der blitzschnellen Analyse gigantischer<br />
Datenmengen. Ist das nicht nur ein<br />
Modewort? Datenanalyse gab’s auch<br />
schon vor 15 Jahren...<br />
Irgendwann in den vergangenen fünf Jahren<br />
sind alle möglichen Geräte intelligent geworden<br />
und vernetzten sich drahtlos miteinander.<br />
Der wirklich neue und bedeutsame<br />
Teil von Big Data ist dieses Segment maschinengenerierter<br />
Daten.<br />
Warum sind gerade die so relevant?<br />
Weil man jene Daten analysieren und großen<br />
Nutzen daraus ziehen kann. In der Vor-<br />
Mobil- und Vor-Digital-Ära wäre man in ein<br />
Geschäft gegangen, läuft die Gänge entlang,<br />
schaut sich Produkte an und kauft schließlich<br />
einen Gürtel. Das Einzige, was dabei erfasst<br />
wurde, war der Kauf. In der Internet-<br />
Welt durchläuft man den gleichen Einkauf –<br />
das aber stößt eine Kanonade maschinengenerierter<br />
Daten an: Welche Produkte haben<br />
Sie angeschaut, bevor Sie den Gürtel gewählt<br />
haben, wie haben Sie sich angemeldet, war<br />
es eine sichere Transaktion und mehr. Im<br />
Digitalzeitalter werden <strong>10</strong>00-mal so viele<br />
Daten generiert wie in der Analog-Ära.<br />
Wie sinnvoll ist es, all diese Daten auszuwerten?<br />
DER DATENAUSWERTER<br />
Sullivan, 60, steht seit 2008<br />
an der Spitze des auf die<br />
Analyse von gigantischen<br />
Datenmengen spezialisierten<br />
Softwareanbieters Splunk.<br />
Mit dem IPO im April 2012<br />
schaffte Sullivan einen der<br />
erfolgreichsten Tech-Börsengänge:<br />
Der Aktienkurs hat<br />
sich seitdem mehr als verfünffacht.<br />
Zuvor arbeitete<br />
er unter anderem bei dem<br />
2007 von Oracle gekauften<br />
Softwarehaus Hyperion.<br />
Sehr. Sie sind für Unternehmen ein wichtiger<br />
Informationslieferant über Vorlieben<br />
und Wünsche ihrer Kunden. Und auch<br />
der Endkunde profitiert, weil er besseren<br />
Service und besseren Zugang zu Informationen<br />
und Gütern erhält.<br />
Und wie genau funktioniert das?<br />
Die Lingua Franca in der Kommunikation<br />
zwischen Maschinen sind die sogenannten<br />
Log-Dateien, in denen jedes IT-Gerät seine<br />
Protokolldaten abspeichert. Die<br />
sind in der Regel riesengroß, unübersichtlich<br />
und sehen total unterschiedlich<br />
aus – je nachdem, ob<br />
es sich um einen Server, um einen<br />
Browser oder ein Mobilgerät handelt.<br />
Splunk durchforstet nun diese<br />
Masse von maschinengenerierten Daten,<br />
bereitet sie auf, entnimmt die jeweils<br />
wichtigen Informationen und speichert<br />
diese ab.<br />
Und was kann ein Unternehmen mit<br />
diesen Auswertungen anstellen?<br />
Nehmen wir an, ein Bestellprozess im Internet<br />
ist schiefgegangen. Splunk erlaubt<br />
es, mit einfachsten Suchabfragen aus vielen<br />
Millionen Datensätzen genau jene fünf herauszupicken,<br />
die dem E-Commerce-Anbieter<br />
Informationen über das Problem liefern<br />
können. Das kann man bei beliebigen<br />
Problemen und Datenmengen machen –<br />
und beinahe in Echtzeit.<br />
Wer braucht so was?<br />
Online-Händler wie Macy’s oder das Reiseportal<br />
Expedia setzen Splunk ein, um ihre<br />
komplexe Web-Infrastruktur zu überwachen.<br />
Das verhindert den Abbruch von Bestellvorgängen<br />
sowie Ausfälle der Systeme.<br />
In Stoßzeiten kann ein Systemausfall locker<br />
eine Million Dollar Schaden pro Stunde und<br />
mehr verursachen. Handynetzbetreiber<br />
können die Performance<br />
ihrer Netze jetzt bis runter zur einzelnen<br />
Basisstation überwachen.<br />
Früher hat der Kunde nur gemerkt,<br />
dass das Gespräch abbricht. Mit<br />
Splunk kann der Netzbetreiber<br />
einzelne Telefonate und die Weitergabe von<br />
Funkstation zu Funkstation grafisch auf einer<br />
Karte darstellen – und dadurch<br />
Schwachstellen im Netz genau identifizieren.<br />
Und das funktioniert, indem man die<br />
ohnehin anfallenden Log-Daten nutzt.<br />
Bei einem Umsatz von rund 300 Millionen<br />
Dollar ist Splunk an der Börse aktuell<br />
rund 9,5 Milliarden Dollar wert. Warum<br />
halten Anleger Splunk für so cool?<br />
Weil Splunk es geschafft hat, schnöde Log-<br />
Dateien sexy zu machen. Die Daten waren<br />
immer schon da, aber vor uns war es sehr<br />
schwierig, diese zu analysieren. Kunden sagen<br />
mir oft: Splunk ist das Röntgengerät für<br />
unsere IT-Systeme. Wir legen gewissermaßen<br />
eines der letzten Geheimnisse der IT<br />
frei und sind so etwas wie der Babelfisch,<br />
der die Kommunikation zwischen verschiedenen<br />
Maschinen übersetzt.<br />
Was antworten Sie Unternehmen, die zögern,<br />
Splunk als amerikanischen Anbieter<br />
einzusetzen, weil sie in Ihren Produkten<br />
Hintertüren zu den US-Geheimdiensten<br />
und damit Datenschnüffelei fürchten?<br />
Ganz einfach: Unternehmen lizenzieren<br />
unsere Software und setzen sie typischerweise<br />
auf ihren eigenen Rechnern ein – das<br />
kann sogar hinter der eigenen Firewall und<br />
ohne externe Internet-Verbindungen geschehen.<br />
Dann kann die NSA auf die Daten<br />
überhaupt nicht zugreifen. Wir wachsen<br />
ungebremst weiter und sehen keinen direkten<br />
Einfluss auf unser Geschäft. n<br />
michael.kroker@wiwo.de<br />
FOTO: GETTY IMAGES/BLOOMBERG; ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS<br />
74 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Technik&Wissen<br />
Spiel mit dem Feuer<br />
ROHSTOFFE | Umweltkatastrophe oder Lösung aller Energieprobleme? Australische und<br />
britische Unternehmen wollen im großen Stil unterirdische Kohleflöze anzünden, um Gas<br />
für die Stromerzeugung zu gewinnen.<br />
Es ist wie in der Hölle: Mehr als <strong>10</strong>0<br />
Meter unter der Erde brennt es. Die<br />
Hitze von rund <strong>10</strong>00 Grad lässt das<br />
Gestein glühen und Kohle verdampfen.<br />
Der Teufel könnte sich hier wohlfühlen.<br />
Doch das Inferno ist menschengemacht.<br />
Ingenieure haben den Kohleflöz in Usbekistan<br />
nahe der Hauptstadt Taschkent bereits<br />
1961 angezündet. Sie erzeugen ein<br />
brennbares Gasgemisch, mit dem ein<br />
Kraftwerk Strom produziert.<br />
Aber nicht nur in der Ex-Sowjetunion,<br />
sondern auch in China und den USA laufen<br />
Projekte, schwer zugängliche Kohlevorkommen<br />
zu nutzen. Bald könnte es zudem<br />
in Großbritannien so weit sein. Dort hat die<br />
Regierung Unternehmen an mehr als 20<br />
Orten an der Küste erlaubt, das Verfahren<br />
zu testen.<br />
„Auch in Norddeutschland lagert in<br />
mehr als 1500 Meter Tiefe genug Kohle, um<br />
die heimische Stromproduktion aus Atomoder<br />
Kohlekraftwerken über Jahrzehnte zu<br />
ersetzen“, sagt Rafig Azzam. Der Geologieprofessor<br />
von der RWTH Aachen beschäftigt<br />
sich seit Jahren mit der unterirdischen<br />
Kohlevergasung und deren Umweltauswirkungen.<br />
Weltweit steckt tief in der Erde so viel<br />
Kohle, dass die Menschheit damit ihren<br />
Energiehunger die nächsten <strong>10</strong>00 Jahre<br />
stillen könnte. Aber an 80 Prozent dieser<br />
Vorkommen – bis zu vier Billionen verwertbare<br />
Tonnen – kommen die Bergleute mit<br />
herkömmlichen Verfahren nicht heran.<br />
Genau diesen Schatz wollen die Kohlepioniere<br />
jetzt heben.<br />
niker bisher nicht förderbare Öl- und Gasvorkommen<br />
erschließen?<br />
„Derzeit lässt sich noch nicht abschließend<br />
einschätzen, wie umweltfreundlich<br />
das Verfahren ist“, sagt der Aachener Geologe<br />
Azzam. Verheißungsvoll genug sei es.<br />
Deshalb solle auch Deutschland mehr in<br />
die Erprobung der Technik investieren, rät<br />
der Forscher. Denn sie könne eine klimafreundliche<br />
Brücke in eine Zukunft mit erneuerbaren<br />
Energien sein.<br />
Ofen unterTage<br />
Der größte Teil der weltweiten Kohlevorkommen ist mit herkömmlichen Mitteln<br />
nicht zugänglich. Deshalb wollen Unternehmen sie unterirdisch verbrennen<br />
Pumpe<br />
Luft oder<br />
Sauerstoff,<br />
vermischt<br />
mit<br />
Wasserdampf<br />
Kraftstoff Strom Kunststoffherstellung<br />
Schadstoffe<br />
wie Benzol,<br />
Schwefelwasserstoff,<br />
Toluol<br />
Und mit tendenziell steigenden Preisen<br />
für Kohle und Gas wird die Methode immer<br />
attraktiver. Noch aber herrscht kein<br />
Mangel an Kohle. Laut US-Energieministerium<br />
reichen die weltweit förderbaren Vorkommen<br />
an Stein- und Braunkohle 120<br />
Jahre. Allerdings: Um den Rohstoff zu bergen,<br />
müssen Minenarbeiter immer tiefer<br />
graben oder ganze Bergspitzen abtragen.<br />
Das treibt die Kosten. In den USA haben<br />
sich die Kohlepreise seit 2004 verdoppelt.<br />
Wasserstoff,<br />
Methan,<br />
Kohlenmonoxid,<br />
Kohlendioxid<br />
KONKURRENZFÄHIGE TECHNIK<br />
Und sie wollen noch mehr: nämlich<br />
Schluss machen mit dem schmutzigen<br />
Image der Kohle. Kein Tagebau soll mehr<br />
die Landschaft verschandeln, keine giftigen<br />
Feinstäube aus Kohlekraftwerken die<br />
Anwohner krank machen. Auch frei von<br />
klimaschädlichen Treibhausgasen soll das<br />
Verfahren sein.<br />
Aber sind diese Versprechen realistisch?<br />
Lauern doch Gefahren für die Umwelt,<br />
ähnlich wie beim Fracking, bei dem Tech-<br />
Kohleflöz<br />
Quelle: eigene Recherche<br />
mehr als<br />
<strong>10</strong>00 Grad Celsius<br />
Länge: ein Kilometer<br />
Höhe:<br />
zwei bis<br />
fünf Meter<br />
ILLUSTRATION: JAVIER ZARRACINA<br />
76 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Das Verfahren, um den schwarzen<br />
Schatz zu bergen, ist nicht neu. Vor allem<br />
britische und sowjetische Ingenieure entwickelten<br />
die Technologie Anfang des 20.<br />
Jahrhunderts.<br />
Zwar gibt es verschiedene Wege, unterirdisch<br />
Kohle zu verbrennen. Aber sie alle<br />
basieren auf demselben Prinzip (siehe<br />
Grafik): Auf der einen Seite pumpen die<br />
Techniker Luft oder Sauerstoff, vermischt<br />
mit Wasserdampf, in die Flöze; nur so kann<br />
die Kohle brennen. Über eine zweite Bohrung<br />
saugen sie den Gasmix aus Methan,<br />
Wasserstoff, Kohlendioxid und -monoxid<br />
an die Oberfläche. Er ähnelt in seiner Zusammensetzung<br />
dem Stadtgas, mit dem<br />
die Haushalte in deutschen Kommunen<br />
lange heizten und kochten.<br />
Das Gas können Kraftwerke künftig zur<br />
Stromerzeugung nutzen, Raffinerien es in<br />
Diesel oder Benzin umwandeln, Chemiefabriken<br />
daraus Kunststoffe herstellen. Das<br />
klimaschädliche CO 2 , das bei der Kohlevergasung<br />
unter Tage entsteht, wollen die Betreiber<br />
in den Kohleflöz zurückpressen.<br />
Damit wäre das Verfahren klimafreundlicher<br />
als Kraftwerke, die Kohle oberirdisch<br />
verbrennen und bei denen das CO 2 in die<br />
Atmosphäre entwischt.<br />
Erste Hinweise, ob sich das Verfahren<br />
rechnet, gibt es auch schon: Wissenschaftler<br />
des Deutschen Geoforschungszentrums<br />
Potsdam (GFZ) kamen in einer detaillierten<br />
Untersuchung eines Kohlevorkommens<br />
in Bulgarien auf Kosten von<br />
rund sieben Cent pro Kilowattstunde<br />
Strom. Damit wäre der Gasmix konkurrenzfähig<br />
zu Erdgas.<br />
ZAHLREICHE RISIKEN<br />
Mehrere Pilotprojekte haben zudem bewiesen,<br />
dass das Verfahren funktioniert. In den<br />
Achtzigerjahren förderte ein deutsch-belgisches<br />
Projekt erfolgreich Synthesegas. In<br />
Australien investierten die zwei Unternehmen<br />
Linc Energy und Cougar Energy mehr<br />
als 550 Millionen Dollar in Pilotanlagen, die<br />
seit 1999 in Betrieb waren. Sogar Autos fuhren<br />
mit dem dort produzierten Sprit.<br />
Dann allerdings beendeten sie Ende<br />
2013 die Förderung. Der Hintergrund: Aus<br />
einem defekten Bohrloch waren geringe<br />
Mengen krebserregender Stoffe, darunter<br />
Benzol, in das Grundwasser ausgetreten.<br />
Die Behörden stoppten die Produktion.<br />
Damit droht dem Verfahren eine ähnliche<br />
Diskussion über mögliche Risiken wie<br />
beim Fracking, bei dem Techniker Wasser<br />
und Chemikalien in den Boden pressen.<br />
Denn neben den nützlichen Gasen entste-<br />
hen bei der Kohleverbrennung immer<br />
auch giftige Stoffe, von Benzol bis hin zu<br />
Schwefelwasserstoff. Damit sie nicht durch<br />
die Gesteinsschichten herauf in das<br />
Grundwasser steigen, müssen die Betreiber<br />
Druck und Temperatur im Flöz genau<br />
kontrollieren und dafür sorgen, dass die<br />
Bohrlöcher dicht bleiben.<br />
Ob das Verfahren wirklich so klimafreundlich<br />
ist wie behauptet, hat der Geowissenschaftler<br />
Thomas Kempka <strong>vom</strong> GFZ<br />
in Potsdam zusammen mit anderen Forschern<br />
untersucht. Dafür hat er im Labor<br />
eine Kohlevergasung nachgestellt. Das Resultat:<br />
In den Flözen lassen sich rund 20<br />
Prozent des entstehenden CO 2 speichern –<br />
den Rest müssten die Ingenieure an anderer<br />
Stelle in die Erde pressen. Großtechnisch<br />
erprobt ist das Verfahren aber nicht.<br />
CHINA UND USA ALS ZIEL<br />
Am Ende bleibt zudem die Frage, wie gut<br />
sich das Kohlefeuer kontrollieren lässt. In<br />
Indien und China sind ganze Landstriche<br />
von lodernden Kohlevorkommen unterhöhlt,<br />
die niemand löschen kann. Sie zerstören<br />
Dörfer, und es gelangen Unmengen<br />
CO 2 in die Atmosphäre. Auch in Deutschland<br />
brennen noch einige Kohlehalden.<br />
Doch diese Höllenfeuer lodern nur wenige<br />
Meter tief im Boden. „Verbindungen<br />
zur Oberfläche versorgen sie mit Sauerstoff,<br />
der den Brand am Laufen hält“, erklärt<br />
Kempka. Doch je tiefer ein Flöz ist, desto<br />
weniger solcher Verbindungen gibt es.<br />
Werde deshalb bei der Kohlevergasung in<br />
mehreren Hundert Meter Tiefe die Sauerstoffzufuhr<br />
im Bohrloch gekappt, erlische<br />
der Kohlebrand, versichert der Geologe.<br />
Allerdings müssen Fachleute über Erkundungen<br />
vorher sicherstellen, dass keine<br />
Risse aus der Tiefe an die Oberfläche reichen,<br />
durch die Gase oder Wasser dringen<br />
können.<br />
Schrecken lassen sich die Kohlepioniere<br />
durch diese Risiken nicht. Das australische<br />
Unternehmen Linc Energy will in der Inneren<br />
Mongolei und Alaska schon im nächsten<br />
Jahr erste Flöze in Brand setzen. Unter<br />
anderem hat auch der russische Oligarch<br />
Roman Abramovitsch, Besitzer des englischen<br />
Fußballclubs FC Chelsea, in ein<br />
Kohleprojekt von Linc Energy in Sibirien<br />
investiert. Der Vorteil der Einöde: Halten<br />
die Pioniere ihr Versprechen einer sauberen<br />
und günstigen Energieversorgung<br />
nicht, wird es kaum jemand erfahren. Sind<br />
sie dagegen erfolgreich, könnten bald auch<br />
in Europa Flöze brennen.<br />
n<br />
benjamin.reuter@wiwo.de<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 77<br />
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Technik&Wissen<br />
Mini-Mahl<br />
GESUNDHEIT | Ein amerikanischer Ingenieur will das Essen<br />
abschaffen. Stattdessen soll ein Pulver die Welt ernähren.<br />
Blätter zu essen sei etwas für Ziegen<br />
oder Elefanten – nicht aber für Menschen,<br />
fand Rob Rhinehart schon als<br />
Kind. Salat zu putzen, Spinat zu kochen<br />
und Essen generell zubereiten zu müssen<br />
störte ihn. Erst recht während seines Studiums,<br />
denn es stahl ihm wertvolle Zeit. Und<br />
als der heute 25-jährige Elektroingenieur<br />
und Softwareentwickler aus Atlanta im<br />
US-Bundesstaat Georgia ins kalifornische<br />
Silicon Valley zog, stellte er fest, dass dort<br />
sein bis dahin favorisiertes, da zeitsparendes<br />
Fast Food, enorm teuer war.<br />
Da verging Rhinehart endgültig der Appetit<br />
auf klassisches Essen, das er kochen<br />
und kauen muss – und das auch noch dreckiges<br />
Geschirr und Töpfe hinterlässt. Der<br />
Mann schritt zur Tat, las sich in die Ernährungsliteratur<br />
ein und mixte sich ein Pulver,<br />
das alle für den Körper wichtigen Nährstoffe<br />
enthielt. Er verquirlte es mit Wasser<br />
zu einer bräunlich-gelben Plörre und lebte<br />
30 Tage lang ausschließlich davon.<br />
Rhinehart war begeistert, so wie<br />
Menschen, die einige Wochen fasten: „Ich<br />
hatte mehr Energie. Ich schlief besser. Ich<br />
konnte mich besser konzentrieren.“ Sogar<br />
fröhlicher und optimistischer sei er gewesen,<br />
sagte er Journalisten, die ihn interviewten.<br />
Weil er in einem Blog täglich<br />
über seine Erfahrungen berichtete, wurde<br />
er blitzschnell berühmt. Und weil seine<br />
Fan-Gemeinde das Pulver, das er<br />
Soylent nannte, ebenfalls haben<br />
wollte, gründete er in San Francisco<br />
die Firma Rosa Labs. Die<br />
sammelte vergangenes Jahr per<br />
Crowdfunding erstaunliche<br />
zwei Millionen US-Dollar ein<br />
– in Form von Vorbestellungen<br />
des Pulvers.<br />
Rhinehart plant, ab Ende<br />
März die ersten je 3,<strong>10</strong> Dollar<br />
teuren Soylent-Tütchen in<br />
Salat ist für Ziegen Eine<br />
begeisterte Fan-Gemeinde wartet<br />
auf Rhineharts Pulver-Pakete<br />
den USA zu verschicken. Der Inhalt jeder<br />
Tüte soll eine Mahlzeit ersetzen.<br />
Warum sich so viele für eine geschmacksfreie<br />
bis eklig bitter schmeckende Astronauten-Nahrung<br />
begeistern, lässt sich nur mutmaßen.<br />
Denn neu ist Rhineharts Idee keineswegs.<br />
Seit Jahren gibt es künstliche Nahrung<br />
für kranke und alte Menschen.<br />
NIE MEHR SCHOKOLADE?<br />
„Von ihr leben manche Leute schon viele<br />
Jahre“, sagt die Ernährungsphysiologin Hannelore<br />
Daniel von der Technischen Universität<br />
München. Das Pulver, das Rhinehart<br />
aus Hafermehl, Reisprotein, Tapiokastärke,<br />
Rapsöl, Vitaminen und Mineralstoffen anrührt,<br />
scheint so ausgewogen zu sein, dass<br />
Menschen damit überleben können. Doch<br />
warum sollte ein Gesunder sich das antun?<br />
Warum sollte er auf den Genuss von<br />
Fleisch und Gemüse,<br />
von Schokolade und<br />
Gummibären verzichten?<br />
Rhinehart preist<br />
nicht nur den Zeitgewinn.<br />
Er sieht in<br />
seinem Pulver einen<br />
Gewinn für die<br />
Menschheit – etwa als<br />
Beitrag gegen Fettleibigkeit.<br />
Tatsächlich<br />
dürfte es<br />
schwer-<br />
fallen, sich an Soylent derartig zu überfressen,<br />
wie das mit fettigen Chips möglich ist.<br />
Ganz unbescheiden meint Rhinehart,<br />
sein Pulver könne sogar die Welternährung<br />
sichern. Schließlich werfen wir ein Drittel<br />
bis die Hälfte aller Lebensmittel weg: Ihr<br />
Haltbarkeitsdatum ist abgelaufen, sie werden<br />
falsch gelagert, oder niemand will sie<br />
mehr essen. Diese Probleme würde Soylent<br />
lösen: „Es verdirbt nicht und muss<br />
nicht gekühlt werden“, so der Erfinder.<br />
Zudem sei, findet der Ingenieur, das Pulver<br />
aus der Fabrik viel sicherer als natürlich<br />
erzeugte Lebensmittel. Denn die könnten<br />
mit Krankheitserregern verseucht sein.<br />
Ganz ohne natürliche Rohstoffe wie Reis<br />
oder Hafer kommt aber auch er nicht aus.<br />
ALTMODISCHE IDEE<br />
Ein makaberer Marketinggag ist der Name.<br />
Das Produkt ist benannt nach dem apokalyptischen<br />
Siebzigerjahre-Film „Soylent<br />
Green – Jahr 2022... die überleben wollen“.<br />
Da entdeckt Hauptdarsteller Charlton Heston<br />
als Polizist Schreckliches: Die grünen<br />
Soylent-Kekse, welche die Behörden im<br />
überbevölkerten New York verteilen, bestehen<br />
aus Menschenfleisch. Denn die Nahrungsreserven<br />
der Erde sind durch Umweltverschmutzung<br />
zerstört. Rhinehart sieht seine<br />
Erfindung offensichtlich als ein Mittel,<br />
das zu verhindern.<br />
Überleben könnten Menschen mit dem<br />
Pulver wohl. Doch ob es gesund ist, bezweifelt<br />
Helmut Heseker stark. Der Paderborner<br />
Ernährungswissenschaftler und<br />
Präsident der Deutschen Gesellschaft für<br />
Ernährung findet Rhineharts Idee, Nahrung<br />
auf ihre Bestandteile zu reduzieren,<br />
extrem altmodisch: „Das könnte eine Idee<br />
aus den Siebzigerjahren sein, als Futurologen<br />
solche Szenarien entwickelten.“ Die<br />
moderne Forschung habe längst erkannt:<br />
Milch, Gemüse oder Obst mit ihrer Struktur<br />
und ihren Abertausenden von Substanzen<br />
sind viel mehr als ihre Einzelteile.<br />
Und eins scheint der Amerikaner auch<br />
zu übersehen: „Der Körper baut Muskeln<br />
und Knochen sehr schnell ab, wenn wir sie<br />
nicht nutzen“, sagt Heseker. Das gilt auch<br />
für Magen, Darm und Kauapparat.<br />
Rhinehart will mit seinem Pulver die<br />
Welt retten. Doch wer weiß: Vielleicht quälen<br />
ihn und seine Kunden bald Bauchschmerzen<br />
und wackelige Zähne. n<br />
susanne.kutter@wiwo.de<br />
Rhinehart hat bereits zwei Millionen Dollar eingesammelt<br />
FOTO: GETTY IMAGES/AFP/JOSH EDELSON<br />
78 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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ONLINE-BILDUNG | Vor dem Bildschirm statt im Hörsaal: Wie der Unterricht per Mausklick<br />
Studium und Weiterbildung verändert. Und wie Sie davon profitieren können.<br />
Spätestens bis Freitagabend<br />
wollte er mit der Lektion fertig<br />
sein. Doch Mirko Friedrich<br />
hinkt hinterher. Stress im Büro<br />
und die Planung des Mallorca-<br />
Urlaubs haben seinen Zeitplan durchkreuzt.<br />
Deshalb sitzt der Wirtschaftsinformatiker<br />
am Samstagabend mit dem Laptop<br />
auf der Couch und guckt sich Lernvideos<br />
über Cloud Computing an – es ist die<br />
vierte von sechs Lektionen seines Kurses.<br />
Vier Stunden pro Woche investiert der<br />
41-Jährige in sein Online-Studium, mal<br />
lernt er spontan zwischendurch, wenn ein<br />
Meeting ausfällt, mal direkt nach Feierabend<br />
im Büro oder zu Hause, wenn<br />
das TV-Programm mau ist. Und einmal<br />
in der Woche absolviert er einen<br />
Test, der seinen Lernfortschritt abfragt.<br />
Friedrich arbeitet als Projektmanager<br />
für firmeninterne soziale Netzwerke beim<br />
Softwarekonzern SAP. In dieser Position<br />
gehört Programmieren zwar nicht mehr zu<br />
seinen täglichen Aufgaben, dazulernen<br />
möchte er trotzdem. „Ich hatte keine Lust<br />
und Zeit, drei Tage am Stück in einem<br />
Schulungsraum zu sitzen“, sagt Friedrich.<br />
Also entschied er sich für einen MOOC.<br />
Die Abkürzung steht für Massive Open<br />
Online Course und bezeichnet eine im<br />
Netz abrufbare Video-Vorlesung ohne<br />
Hörsaal, Kommilitonen und Tafel. Fragen<br />
werden im Diskussionsforum beantwortet,<br />
Prüfungen und Hausarbeiten bewertet<br />
der Computer. Produziert hat den Cloud-<br />
Computing-Kurs Friedrichs Arbeitgeber<br />
SAP, der inzwischen alle Weiterbildungsangebote<br />
in digitaler Form anbietet, auch<br />
Interessenten außerhalb des Unterneh-<br />
370 000<br />
Teilnehmer hatte der<br />
bisher größte Kurs<br />
der Plattform Udacity<br />
mens – etwa zur Einführung seiner Speichertechnologie<br />
Hana. Allein 40 000 Menschen<br />
belegten den Kurs, darunter 80 Prozent<br />
externe Entwickler. „Die Form der<br />
MOOCs entspricht der Arbeitsweise von<br />
Entwicklern“, sagt Bernd Welz, Leiter der<br />
Bildungsplattform OpenSAP.<br />
Mit seiner digitalen Lernplattform gehört<br />
der Walldorfer Technologiekonzern<br />
hierzulande zwar noch zu den digitalen<br />
Vorreitern in Sachen Mitarbeiterweiterbildung,<br />
und auch deutsche Universitäten experimentieren<br />
noch kaum mit Online-Kursen.<br />
„In Deutschland ist die digitale Revolution<br />
noch eine schlafende Revolution“,<br />
bestätigt Jörg Dräger, Geschäftsführer<br />
des Centrums für Hochschulentwicklung.<br />
Doch der Blick in die USA zeigt, wohin<br />
auch hierzulande die Bildungsreise in absehbarer<br />
Zeit führen wird: Allein die US-<br />
Online-Plattform Coursera, sie sammelte<br />
2013 bei Investoren 85 Millionen Dollar<br />
ein, hat nach eigenen Angaben mittlerweile<br />
6,5 Millionen Nutzer aus mehr als <strong>10</strong>0<br />
Ländern. Sie können aus mehr als 600 Kursen<br />
wählen, darunter Lektionen zur Analyse<br />
von Algorithmen, kreatives Schreiben<br />
oder eine Einführung in die Philosophie.<br />
„Coursera ist keine Ersatz-Uni“, sagt<br />
Plattform-Gründer Andrew Ng, „sondern<br />
eine Chance, sich neben dem Beruf weiterzubilden.“<br />
IPAD STATT KREIDE UND TAFEL<br />
Doch klar ist: Nachdem Amazon den stationären<br />
Handel und Apple die Musikindustrie<br />
umgekrempelt und inzwischen Unternehmen<br />
aller Branchen begonnen haben,<br />
mit Hochdruck über neue digitale Geschäftsmodelle<br />
nachzudenken, werden<br />
Angebote wie die von SAP oder Coursera<br />
mittelfristig die Vermittlung von Wissen an<br />
Universitäten und Unternehmen verändern.<br />
Mit weißer Kreide auf grünem Grund<br />
zu lehren, das war einmal. Künftig wird vermehrt<br />
auf dem iPad gewischt oder mit der<br />
Maus geklickt. Und Bildung für alle möglich,<br />
die Zugang zum Internet haben – weitgehend<br />
unabhängig von Einkommen, Ort,<br />
Stundenplänen und Zulassungsprüfungen.<br />
Schon stellen renommierte Unis wie<br />
Harvard, Stanford oder das MIT ihre Kurse<br />
kostenlos und für jedermann zugänglich<br />
online. Laut Marktforschungsinstitut CB<br />
Insights pumpten 2012 Investoren allein in<br />
den USA 1,1 Milliarden Dollar in Bildungs-<br />
Startups. Von einer „goldenen Ära“<br />
schwärmt gar Bill Gates. Die Stiftung des<br />
Microsoft-Gründers spendete 1,5 Millionen<br />
Dollar an die amerikanische Lehrplattform<br />
Khan Academy, deren Gründer Salman<br />
Khan sich die Demokratisierung der<br />
Bildung auf die Fahnen geschrieben hat.<br />
„Ein Kind aus den Slums von Kalkutta“, sagt<br />
der Ex-Hedgefondsmanager, „hat so zumindest<br />
theoretisch ebenso Zugang zu unseren<br />
Videos wie ein Kind aus einem Vorort<br />
von Palo Alto“ (siehe Interview Seite 83).<br />
FOTO: KLAUS WEDDIG FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
80 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Vorlesung am<br />
Küchentisch<br />
Projektmanager<br />
Mirko Friedrich<br />
lernt, wo und<br />
wann er möchte<br />
Oder Köln-Kalk. Denn auch in Deutschland<br />
gibt es inzwischen Anhänger dieser<br />
barrierefreien Bildung – zum Beispiel Stephan<br />
Hartmann, Professor für Wissenschaftstheorie<br />
an der Münchner Ludwig-<br />
Maximilians-Universität. Im vergangenen<br />
Semester stand Hartmann jeden Montag<br />
im Hörsaal M 118 und hielt eine Vorlesung<br />
mit dem Titel „Theoretische Philosophie:<br />
Einführung in die Wissenschaftstheorie“ –<br />
vor etwa 150 Studenten aus München. Jeden<br />
Mittwoch hielt er außerdem eine Vorlesung<br />
über mathematische Philosophie<br />
mit dem Titel „Introduction to Mathematical<br />
Philosophy“ – vor einer Fernsehkamera<br />
in einem TV-Studio vor den Toren der<br />
Stadt. Diesen Vortrag ließ Hartmann mit<br />
Grafiken und kurzen Quizfragen ergänzen,<br />
stellte ihn am darauffolgenden Montag als<br />
erste deutsche Hochschule auf die Plattform<br />
Coursera – wo ihn etwa 50 000 Menschen<br />
aus aller Welt abriefen.<br />
Hartmanns virtuelle Mathematik-Vorlesung,<br />
aufgenommen in dessen Freizeit, ist<br />
einer von vier Online-Kursen, die die LMU<br />
bisher produzierte. Kosten: 50 000 Euro pro<br />
Kurs. 200000 Nutzer sahen sich die acht- bis<br />
zwölfminütigen Videos an – ein gutes Ergebnis<br />
für eine Hochschule mit etwas mehr<br />
als 50 000 eingeschriebenen Studenten.<br />
„Der Image-Effekt ist sicherlich positiv“, sagt<br />
Professor Hartmann, „wir wollen Bildung<br />
und Wissenschaft international verbreiten.“<br />
Andrew Ng ist vor sechs Jahren mit einem<br />
ähnlichen Anspruch angetreten. Damals<br />
begann der heute 37-jährige Professor für<br />
Künstliche Intelligenz an der Stanford-Universität,<br />
im Rahmen eines Uni-Projektes<br />
seine Vorlesungen über künstliche Intel-»<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 81<br />
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Management&Erfolg<br />
MOOC-RATGEBER<br />
Schlau<br />
durchs Netz<br />
WO GIBT ES WELCHE KURSE?<br />
Die drei bekanntesten Plattformen –<br />
Coursera, Udacity und edX – stammen<br />
aus den USA. Insgesamt bieten sie 760<br />
Kurse an, von der Beatles-Song-Analyse<br />
bis zur Katastrophenvorsorge. Die<br />
Mehrzahl der MOOCs transportieren allerdings<br />
naturwissenschaftliche Inhalte.<br />
Die meisten Kurse werden auf Englisch<br />
gehalten, eine Auswahl an deutschen<br />
Kursen bietet das Startup Iversity. In<br />
der Regel sind MOOCs kostenlos – wer<br />
allerdings auf ein Kurszeugnis Wert legt<br />
oder Zusatzleistungen wie einen persönlichen<br />
Assistenten bucht, muss bezahlen.<br />
Für ein Zertifikat werden zwischen<br />
35 und 130 Euro fällig, für die<br />
individuelle Rundumbetreuung verlangt<br />
beispielsweise Udacity bis zu 150 Euro<br />
pro Monat.<br />
WIE VIEL ZEIT KOSTET ES?<br />
Wollen Sie sich das Video eher unverbindlich<br />
anschauen oder auch die Abschlussprüfung<br />
absolvieren? Möchten<br />
Sie den Kurs mit einer guten Note abschließen,<br />
oder reicht die bloße Teilnahme<br />
aus? Je nach Anspruch und<br />
Kurs sollten Sie zwischen drei und<br />
sechs Stunden pro Woche einplanen.<br />
WELCHER KURS IST SINNVOLL?<br />
Grundsätzlich bieten MOOCs die Chance,<br />
sich in verschiedenen Fächern auszuprobieren.<br />
Trotzdem sind manche<br />
Kurse sinnvoller als andere. Suchen Sie<br />
sich ein Thema aus, das etwas mit Ihrer<br />
Arbeit oder einem Hobby zu tun hat. So<br />
können Sie Ihr neues Wissen gleich umsetzen.<br />
Genauso wichtig wie der Inhalt<br />
ist die Qualität des Kurses. Die technische<br />
Umsetzung sagt nicht unbedingt<br />
etwas über die Wertigkeit des Inhalts<br />
aus. Meist erkennt man aber schon anhand<br />
des Einführungsvideos, ob Ihnen<br />
der Dozent und seine Art zu lehren<br />
zusagt. Und entscheiden Sie anhand<br />
der Kursbeschreibungen, ob Vorkenntnisse<br />
nötig sind. Als Anfänger im<br />
Kurs für Fortgeschrittene ist Frust programmiert.<br />
»<br />
ligenz abzufilmen und kostenlos ins Internet<br />
zu stellen. Wer einen Internet-Zugang<br />
hatte, konnte sich diese Vorlesungen<br />
der US-Eliteuniversität ansehen – ein Privileg,<br />
das bis dahin nur wenigen klugen Köpfen<br />
gegen viel Geld vorbehalten war. „Plötzlich<br />
sprachen mich wildfremde Menschen<br />
auf der Straße an“, sagt Ng. „Das war das<br />
erste Signal, dass da etwas passiert.“<br />
Vier Jahre später gründete Ng mit seiner<br />
Kollegin Daphne Koller die Plattform<br />
Coursera und stellte weitere Vorlesungen<br />
ins Netz. <strong>10</strong>0 000 Menschen schauten sich<br />
allein den ersten Coursera-Kurs an – auch<br />
der deutschstämmige Stanford-Professor<br />
Sebastian Thrun. Er gründete kurz darauf<br />
mit Partnern die Plattform Udacity – schon<br />
seine erste Vorlesung über künstliche Intelligenz<br />
verfolgten mehr als 160 000 Menschen<br />
vor dem Bildschirm, darunter auch<br />
Thruns eigene Studenten. Das Ergebnis:<br />
Unter den 600 Top-Absolventen des Onlinekurses<br />
war keiner aus Stanford – am erfolgreichsten<br />
schnitten Teilnehmer aus<br />
Schwellenländern ab, die noch nie einen<br />
Hörsaal besucht hatten.<br />
Wer sich die Udacity-Kurse nicht nur<br />
kostenlos und unverbindlich ansehen<br />
möchte, kann dort mittlerweile einen persönlichen<br />
Betreuer buchen und ein Zertifikat<br />
bekommen – für umgerechnet rund<br />
150 Euro im Monat. Für rund 35 Euro gibt<br />
es auch bei Coursera ein Teilnahmezertifikat.<br />
Um Schummeleien zu verhindern, soll<br />
eine Software den Nutzer identifizieren:<br />
Schreibt er mit zwei oder zehn Fingern?<br />
Mit welchem Druck bearbeitet er die Tastatur?<br />
Und in welchem Tempo?<br />
Tipps<br />
Wie Sie Online-<br />
Kurse durchhalten,<br />
verrät<br />
Motivationscoach<br />
Martin Krengel<br />
»Wir wollen<br />
Wissenschaft und<br />
Bildung international<br />
verbreiten«<br />
Prof. Stephan Hartmann, LMU München<br />
HOHE ABBRECHERQUOTE<br />
Weil im Schnitt nur maximal jeder zehnte<br />
Teilnehmer einen Online-Kurs bis zum Ende<br />
verfolgt, setzt Ng außerdem auf die Lizenzierung<br />
von Inhalten – renommierte<br />
Unis verkaufen ihre Vorlesungen an kleine<br />
und unbekannte Unis. So könnten auch<br />
Hochschulen in der Provinz ihren Studenten<br />
Kurse aus Stanford oder Yale bieten.<br />
Davon träumt auch Hannes Klöpper – in<br />
der brandenburgischen Provinz. Vor drei<br />
Jahren gründete er zusammen mit<br />
einem Partner die MOOC-Plattform<br />
Iversity. Mittlerweile bietet<br />
das Unternehmen aus dem beschaulichen<br />
Örtchen Bernau bei<br />
Berlin 30 Kurse an und hat insgesamt<br />
350 000 Nutzer. Den erfolgreichsten<br />
Iversity-Kurs produzierte<br />
die Fachhochschule Potsdam:<br />
Mehr als 90 000 Teilnehmer belegten<br />
einen Kurs über neue Erzählformen<br />
(„The Future of Storytelling“).<br />
„Für die FH Potsdam war das ein toller<br />
Reputationsgewinn“, sagt Klöpper. „Fachhochschulen<br />
haben es normalerweise<br />
schwer, auf sich aufmerksam zu machen.“<br />
Mittlerweile erwirtschaftet der 30-Jährige<br />
mit 21 Mitarbeitern erste Umsätze. Wie Ng<br />
verlangt auch Iversity Gebühren für Abschlussprüfung<br />
und Zeugnisse – 129 Euro<br />
Ob Scheine wie diese auch wirklich im<br />
klassischen Uni-Betrieb anerkannt werden,<br />
sollten Online-Studenten vorab mit<br />
ihrer Hochschule klären. Die Amerikaner<br />
sind da weiter: Udacity bietet seinen Studenten<br />
seit Januar sogar einen Masterabschluss<br />
in Informatik als MOOC-Studium<br />
an – für 6600 Dollar.<br />
Für Berufstätige wie Mirko Friedrich sind<br />
solche Zeugnisse aber gar nicht so wichtig.<br />
„Die Teilnahme an dem MOOC zeigt meinem<br />
Arbeitgeber auch ohne Zertifikat, dass<br />
ich mich selbstständig weiterbilde und aufgeschlossen<br />
bin“, sagt der 41-Jährige, der<br />
den Kurs auch in seinen Lebenslauf aufnehmen<br />
will.<br />
Auch seine Abschlussklausur hat Friedrich<br />
inzwischen geschrieben – und mit 93<br />
Prozent der erreichbaren Punkte<br />
bestanden. Er gehört damit zu<br />
den besten zehn Prozent unter<br />
den Kursteilnehmern. Der Wirtschaftsinformatiker<br />
will künftig<br />
zwei bis drei MOOCs pro Jahr belegen.<br />
„Mich auf diese unkomplizierte<br />
Art weiterzuentwickeln“,<br />
sagt er, „ist einfach reizvoll.“ n<br />
lin.freitag@wiwo.de, patrick schultz<br />
FOTOS: CORBIS/ROBYN TWOMEY, PICTURE-ALLIANCE/DPA, PR<br />
82 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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INTERVIEW Salman Khan<br />
»Wie Kapitän Kirk«<br />
Warum ein Ex-Hedgefondsmanager Videos für die Zukunft<br />
der Bildung hält.<br />
Herr Khan, Sie wollen kostenlose Bildung<br />
für jeden und überall. Wie soll das gehen?<br />
Das Internet bietet uns zwei Chancen:<br />
Zum einen können wir Informationen<br />
weit verbreiten. Ein Kind aus den Slums<br />
von Kalkutta hat so zumindest theoretisch<br />
ebenso Zugang zu unseren Videos<br />
wie ein Kind aus einem Vorort von Palo<br />
Alto. Zweitens können wir Bildung personifizieren:<br />
Der Computer weiß, was der<br />
Schüler schon gelernt hat und was nicht.<br />
So kann er ihn mit den richtigen Videos<br />
und Übungen versorgen, und jeder Schüler<br />
bekommt seinen eigenen Lehrplan.<br />
Wer nutzt Ihre Videos und Übungen?<br />
Wir verteilen unsere Materialien an<br />
Zehntausende Schulen. Aber auch Studenten<br />
nutzen die Videos. Wenn etwa<br />
am nächsten Tag eine Klausur<br />
über Thermodynamik ansteht und<br />
sie auf einmal merken: Mist, jetzt habe<br />
ich das ganze Semester etwas<br />
über, sagen wir mal, Enthalpie, gehört,<br />
aber was ist das eigentlich?<br />
Dann gucken sie sich Videos an, in<br />
denen Enthalpie erklärt wird. Wieder<br />
andere wollen vielleicht einen<br />
ganzen Thermodynamik-Kurs belegen,<br />
es fehlt ihnen aber an grundlegendem<br />
Wissen. Ihnen hilft ein<br />
Lern-Algorithmus, der einschätzt,<br />
wo sie beginnen sollen. Insgesamt<br />
haben wir jeden Monat zehn Millionen<br />
Nutzer, 60 Prozent von ihnen<br />
kommen aus den USA.<br />
Und bald soll es die Khan Academy<br />
auf der ganzen Welt geben?<br />
Wir befinden uns auf dem Weg dahin.<br />
Mittlerweile gibt es Videos auf<br />
Spanisch, Portugiesisch, Französisch,<br />
Dänisch und sogar Kisuaheli.<br />
Vor Kurzem sind wir auch in<br />
Deutschland gestartet.<br />
Warum braucht Deutschland Sie?<br />
Weil wir das Schulsystem revolutionieren<br />
müssen – auch in Deutschland. Das heutige<br />
Bildungssystem kommt aus dem Preußen<br />
des 18. Jahrhunderts. Schüler wurden<br />
durch einen festgelegten Prozess ausgefiltert.<br />
Sie machen einen Test, und nur wer besteht,<br />
darf sein Potenzial ausschöpfen: Manche<br />
studieren Jura oder Medizin, andere<br />
dürfen nicht studieren und werden Handwerker.<br />
Ich glaube aber, dass die meisten<br />
Leute mehr Potenzial haben, als wir denken.<br />
Wie hoch war die Analphabetenquote in Irland<br />
vor 400 Jahren?<br />
Sagen Sie es uns.<br />
Im Jahr 1600 konnten in Irland 20 Prozent<br />
der Männer und <strong>10</strong> Prozent der Frauen lesen.<br />
Hätten Sie damals einen Iren gefragt,<br />
welcher Prozentsatz der Bevölkerung überhaupt<br />
intellektuell in der Lage sei, lesen zu<br />
lernen, hätte er gesagt: Vielleicht 30 Prozent?<br />
Heute wissen wir, dass 99 Prozent der Bevölkerung<br />
lesen lernen können.<br />
DER VIDEO-PROFESSOR<br />
Khan, 37, betreibt seit 2008<br />
die nach ihm benannte Online-Bildungsplattform<br />
Khan Academy. Zehn Millionen<br />
Bildungshungrigen bietet der Ex-Investmentbanker<br />
dort pro Monat Nachhilfe per Video.<br />
Was sagt uns das?<br />
Wir haben immer noch die gleichen<br />
Scheuklappen auf. Wie viele Menschen<br />
können auf dem Gebiet der Quantenphysik<br />
forschen? Heute denken wir, vielleicht<br />
ein Prozent der Bevölkerung. Aber<br />
möglicherweise ist die richtige Antwort<br />
20 Prozent. Oder 30 oder sogar <strong>10</strong>0 Prozent!<br />
Und dieses verschwendete Potenzial<br />
wollen Sie mit Ihren Videos heben?<br />
Je länger ich an der Khan Academy arbeite,<br />
desto mehr weiß ich: Schüler schalten<br />
ab, weil sie frustriert sind. Ihnen fehlen<br />
ein paar Grundlagen, zum Beispiel haben<br />
sie die negativen Zahlen verpasst,<br />
und jetzt verstehen sie Algebra nicht.<br />
Wenn man ihnen erlaubt, diese Grundlagen<br />
nachzuholen, können mittelmäßige<br />
oder unterdurchschnittliche Schüler<br />
zu den Besten ihrer Klasse gehören. Fast<br />
90 Prozent der Schüler lassen sich für<br />
ein Thema begeistern. Im Jahr 1800 wäre<br />
das ein Problem gewesen, weil es in den<br />
Fabriken für diese Leute keine Jobs<br />
gab. Aber jetzt haben wir das entgegengesetzte<br />
Problem.<br />
Wir brauchen mehr Kreative?<br />
Im Optimalfall nähern wir uns der<br />
Welt der Science-Fiction-Serie<br />
„Star Trek“: Da arbeitet auch niemand<br />
im traditionellen Sinne. Keiner<br />
sagt: Ich muss mal den Boden<br />
wischen. Um all das kümmert sich<br />
die Technik. In dieser Welt ist jeder<br />
Mensch ein Forscher, Künstler<br />
oder Wissenschaftler, sie sind alle<br />
Mitglieder der kreativen Klasse.<br />
Sie selbst wechselten auch erst<br />
in Ihrer zweiten Karriere zur kreativen<br />
Klasse.<br />
Ich habe jahrelang als Analyst bei<br />
einem Hedgefonds gearbeitet.<br />
Dort habe ich viel Geld verdient,<br />
aber nicht meine Erfüllung gefunden.<br />
Irgendwann fragte mich meine<br />
kleine Cousine Nadja, ob ich ihr<br />
Nachhilfe in Mathematik geben<br />
könne. Da sie in New Orleans<br />
wohnte und ich in Boston, unterrichtete<br />
ich sie via Telefon und Yahoo<br />
Doodle. Das sprach sich rum,<br />
ich bekam immer mehr Nachhilfeschüler.<br />
Aus Zeitgründen filmte ich die Lektionen<br />
ab und lud sie bei YouTube hoch.<br />
Jetzt verdiene ich zwar weniger, aber ich<br />
bin zufrieden.<br />
n<br />
patrick schultz, lin.freitag@wiwo.de<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 83<br />
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Digitale Architekten<br />
BERATER | Neue Geschäftsmodelle, mehr Transparenz, mehr Wettbewerb: wie die Digitalisierung<br />
die Beraterbranche verändert.<br />
Ende der Achtzigerjahre heuerte er<br />
bei der einstigen US-Beratungssparte<br />
von Arthur Andersen als Consultant<br />
an und half Kunden dabei, mit IT Organisation<br />
und Prozesse effizienter zu gestalten.<br />
Um die Jahrtausendwende baute er in<br />
Indien, auf den Philippinen, in Brasilien<br />
und in China die IT-Servicecenter auf,<br />
die Accenture schließlich zum führenden<br />
IT-, Beratungs- und Outsourcing-Dienstleister<br />
mit 280 000 Mitarbeitern wachsen<br />
ließ. Mittlerweile ist Frank Riemensperger<br />
Deutschland-Chef von<br />
Accenture und sieht die dritte<br />
Digitalisierungswelle auf<br />
die Wirtschaft zurollen.<br />
Diesmal erfasst sie alle<br />
Lebensbereiche. Accentures<br />
Rolle: Gemeinsam<br />
mit seinen Kunden will<br />
der 51-Jährige neue<br />
digitale Geschäftsmodelle<br />
aufbauen<br />
– etwa als Co-Investor<br />
der Omnetric<br />
Group,<br />
eines Joint Venture<br />
mit Siemens.<br />
Mit derzeit<br />
<strong>10</strong>0 Mitarbeitern<br />
soll das Startup Energieversorgern<br />
in Europa und den<br />
USA beim Aufbau und Betrieb intelligenter<br />
Stromnetze helfen. Siemens liefert die<br />
Technik, Accenture die Expertise bei Beratung,<br />
Systemintegration, Installation und<br />
Management von Softwarelösungen.<br />
KOMPLEXE DATENWELTEN<br />
Die Idee hinter der Kooperation: Um trotz<br />
des steigenden Anteils dezentral erzeugter<br />
Energie Versorgungssicherheit garantieren<br />
zu können, muss die Energiewirtschaft<br />
hohe Summen in intelligente Steuerungssysteme<br />
stecken. Viele Energieversorger<br />
scheuen allerdings noch vor den hohen<br />
Investitionen und dem komplexen Datenmanagement<br />
zurück – eine Chance für Accenture,<br />
das Geschäft zu übernehmen.<br />
„Rund die Hälfte unseres weltweiten<br />
Umsatzes machen wir bereits heute<br />
außerhalb des klassischen<br />
Projektgeschäfts“, sagt Riemensperger.<br />
„Unternehmen<br />
dabei zu unterstützen,<br />
intelligente<br />
Produkte<br />
im intelligenten Netz zu betreiben,<br />
wird der nächste große Trend<br />
im Beratergeschäft sein.“<br />
Ob Handel, Automobilbranche oder<br />
Energiesektor: Weil sich neue Technologien<br />
wie Smartphones, virtuelle Datenspeicher<br />
oder Software, die Kundendaten<br />
in Echtzeit analysiert, massenhaft verbreiten,<br />
müssen Unternehmen aus so<br />
gut wie allen Branchen ihre Geschäftsmodelle<br />
radikal überdenken. Diese Entwicklung<br />
aufseite der Kunden hat deutliche<br />
Folgen auch für die Beraterbranche:<br />
Zum einen wird die Verbreitung digitaler<br />
Technologien klassische<br />
Strategieberatung immer unwichtiger<br />
machen. „Exklusives<br />
Wissen – einst Hauptressource der<br />
Berater – wird immer mehr zum breit<br />
verfügbaren Allgemeingut“, sagt Frank<br />
Höselbarth von der Frankfurter Agentur<br />
People + Brand Agency, einem Partner des<br />
WirtschaftsWoche-Wettbewerbs Best of<br />
Consulting, dessen Ausschreibung gerade<br />
begonnen hat (siehe Bedingungen im<br />
nebenstehenden Kasten).<br />
WERTLOSE STRATEGIEN<br />
Statt klassischer Projektgeschäfte,<br />
in denen Berater<br />
etwa aus der Organisation<br />
bestehender<br />
Logistikketten oder den<br />
Abläufen in Produktionshallen<br />
von<br />
Automobilherstellern<br />
oder<br />
Pharmakonzernen<br />
die<br />
letzten Prozente<br />
Effizienzreserven<br />
herauszuquetschen<br />
versuchen und<br />
über den Abbau<br />
von Personal sinnieren,<br />
ist nun die Entwicklung<br />
völlig neuer Geschäftsmodelle<br />
gefragt, die die Chancen einer<br />
zunehmenden Digitalisierung der Wertschöpfungskette<br />
nutzen. Statt Heerscharen<br />
smarter PowerPoint-Auflegern<br />
sind nun in der digitalen Welt<br />
erfahrene Praktiker, Geschäftsmodell-Architekten<br />
und Technologieexperten<br />
gefragt.<br />
Und das in völlig neuen Organisationsformen:<br />
Statt ganze Teams von Beratern<br />
fest an sich zu binden, kaufen Consultinghäuser<br />
Expertise freiberuflicher Fachleute<br />
künftig immer öfter auf Zeit ein – auch weil<br />
Kunden zusehends weniger bereit sind,<br />
die hohen Personalkosten der Berater auf<br />
sich abwälzen zu lassen.<br />
84 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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ILLUSTRATION: DMITRI BROIDO; FOTO: PR<br />
„Strategische Beratung, die die Möglichkeiten<br />
der digitalen Technologien ausblendet,<br />
ist heute so gut wie wertlos. Unternehmen<br />
brauchen Berater, die sie in das<br />
neue digitale Zeitalter begleiten“, sagt Eva<br />
Manger-Wiemann, Partnerin der Schweizer<br />
Meta-Consultingfirma Cardea. „Ich<br />
bezweifle aber, ob jedes Beratungshaus<br />
dafür die richtigen Leute an Bord hat.“<br />
Gesucht sind Berater, die die enormen<br />
Datenmengen ihrer Kunden analysieren<br />
und daraus tragfähige Geschäftsmodelle<br />
entwickeln können. Oder Designexperten,<br />
die erkennen, wie die Digitalisierung<br />
Wünsche und Bedürfnisse der Konsumenten<br />
verändert.<br />
»Unsere<br />
Geschäftsmodelle<br />
sollen die unserer<br />
Kunden schlagen«<br />
BCG-Manager Schumacher<br />
NEUE DIGITALABTEILUNGEN<br />
Marktführer McKinsey etwa baut aus diesem<br />
Grund gerade eine eigene Abteilung<br />
für Big Data und Business Analytics auf.<br />
Die Mitarbeiter dieses neuen Bereichs sollen<br />
Daten aus öffentlich zugänglichen<br />
Quellen systematisch im Interesse der<br />
Kunden auswerten. Konkurrent Boston<br />
Consulting Group, Nummer zwei in der<br />
Branche, gründete mit BCG Digital Ventures<br />
gar eine 300 Mitarbeiter starke digitale<br />
Speerspitze, mit der das Unternehmen<br />
den Schritt weg von der reinen Ratgeberrolle<br />
hin zum praxiserfahrenen Architekten<br />
von digitalen Geschäftsmodellen wagen<br />
will. Das Ziel: weltweit strategische Allianzen<br />
mit internationalen Konzernen zu<br />
knüpfen und für diese Unternehmen Startups<br />
mit digitalen Geschäftsmodellen aufzubauen.<br />
„Wir entwickeln Geschäftsmodelle, mit<br />
denen wir die unserer Kunden schlagen<br />
können“, sagt Jeff Schumacher, Leiter<br />
des Boston-Consulting-Ablegers BCG<br />
Ventures.<br />
ERFOLGSABHÄNGIGE HONORARE<br />
Das hat Folgen auch für die Berater selbst:<br />
Statt der üblichen Tagessätze sollen Honorare<br />
über Lizenzgebühren und Umsatzbeteiligungen<br />
fließen.<br />
Nicht auszuschließen, dass der Gehaltsscheck<br />
für den einen oder anderen Berater<br />
künftig niedriger ausfallen wird als gewohnt.<br />
Denn Konkurrenz kommt künftig<br />
nicht mehr nur von klassischen Beratungshäusern,<br />
sondern von Konzernen<br />
wie Amazon, Facebook oder Google – also<br />
Unternehmen, deren Geschäftsmodell generisch<br />
mit dem Internet verbunden ist.<br />
Und die nicht nur über Millionen Datensätze<br />
verfügen, sondern auch in der Lage<br />
sind, diese intelligent und gewinnbringend<br />
zu analysieren.<br />
Hinzu kommt:Die digitale Technik wird<br />
die Beraterarbeit effizienter machen. So<br />
bietet das Schweizer Beratungshaus Humatica<br />
EDV- und webbasierte Analysetools<br />
an, mit denen Unternehmen selbst<br />
einen Großteil der Analysearbeit erledigen<br />
können, die früher ganze Beratertruppen<br />
beschäftigt hat. Und statt die Zahl der festangestellten<br />
Berater in die Höhe zu<br />
schrauben, kaufen sie immer häufiger freiberuflich<br />
tätige, externe Spezialisten auf<br />
Zeit ein. Die für ihr jeweiliges Projekt passenden<br />
Experten finden sich dank der<br />
neuen digitalen Welt immer häufiger über<br />
Beraterplattformen wie die Suchmaschine<br />
Consultingsearcher. „Kleinere Beratungsspezialisten<br />
hatten früher im Wettbewerb<br />
mit den großen Beratungshäusern kaum<br />
eine Chance, weil sie einfach zu unbekannt<br />
und potenzielle Auftraggeber zu unsicher<br />
waren, ob ihre Qualität auch wirklich<br />
stimmt“, sagt Cardea-Chefin Eva Manger-Wiemann.<br />
„Dank unserer strengen Bewertungskriterien<br />
haben jetzt aber auch<br />
weniger bekannte Qualitätsadressen eine<br />
Chance am Markt.“<br />
n<br />
julia leendertse | erfolg@wiwo.de<br />
BEST OF CONSULTING<br />
Der Berater-TÜV<br />
Die WirtschaftsWoche sucht<br />
wieder Deutschlands beste<br />
Unternehmensberatungen.<br />
In einem dreistufigen<br />
Wettbewerb<br />
macht sich die<br />
WirtschaftsWoche<br />
ab sofort wieder<br />
auf die Suche nach<br />
Deutschlands<br />
besten Unternehmensberatungen:<br />
Bewertet werden bei Best of Consulting,<br />
der in diesem Jahr zum fünften<br />
Mal ausgeschrieben wird, sowohl der<br />
Ruf als auch die Leistung der Berater<br />
jeweils aus Kundensicht. Dafür befragt<br />
die WirtschaftsWoche derzeit 1500<br />
deutsche Unternehmen nach ihrer<br />
Meinung zu 40 großen und mittleren<br />
Beratungshäusern.<br />
NEUE KATEGORIEN<br />
Erstmals werden die Auftraggeber auch<br />
nach den wichtigsten Beratungsthemen<br />
<strong>2014</strong> gefragt – und welchen Unternehmensberatungen<br />
sie in diesem Feld die<br />
größte Expertise zutrauen. Außerdem<br />
neu im Programm von Best of Consulting:<br />
ein Leistungsvergleich zwischen<br />
Inhouse-Consultants und externen Beratern.<br />
Das dritte Element des Wettbewerbs<br />
besteht aus der zweistufigen Bewertung<br />
von Kundenprojekten durch einen hochkarätigen<br />
Fachbeirat sowie eine prominent<br />
besetzte Jury unter Vorsitz von<br />
WirtschaftsWoche-Chefredakteur Roland<br />
Tichy. Bewerbungen sind möglich<br />
in den Disziplinen Wettbewerbsstrategie,<br />
Marketing und Vertrieb, Supply-<br />
Chain-Management, Finanz- und Risikomanagement,<br />
IT-Management, Personalmanagement<br />
und Restrukturierung.<br />
BEWERBUNGEN BIS 2. JUNI<br />
Anmeldeschluss für diesen Teil des<br />
Wettbewerbs ist der 2. Juni <strong>2014</strong>. Die<br />
Preisverleihung findet voraussichtlich<br />
Ende Oktober in Düsseldorf statt.<br />
Details zu Ausschreibung und Teilnahmebedingungen<br />
finden Sie unter<br />
wiwo.de/best-of-consulting<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 85<br />
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Geld&Börse<br />
»Versuchen kann<br />
man’s ja mal«<br />
STEUERN | Hand aufs Herz: Haben Sie schon mal bei der Steuer, sagen wir mal:<br />
Spielräume stark zu Ihren Gunsten ausgelegt? Wir zeigen anhand von zehn<br />
verbreiteten Tricks, wie schnell unbescholtene Bürger zu Hinterziehern werden –<br />
und welche Konsequenzen drohen.<br />
Die Deutschen haben eine klare<br />
Haltung: Steuerhinterziehung<br />
ist unmoralisch – zumindest<br />
dann, wenn die Täter reich<br />
sind. Satte 99 Prozent der Bundesbürger<br />
finden es laut Forsa-Umfrage<br />
„nicht in Ordnung“, wenn Wohlhabende<br />
oder Prominente den Staat betrügen.<br />
Bei uns und unseren Nachbarn sind wir<br />
jedoch weniger streng – immerhin zehn<br />
Prozent der Befragten äußerten Verständnis<br />
dafür, wenn Normalbürger bei der<br />
Steuer tricksen. Und sogar 13 Prozent<br />
stimmten folgender Aussage zu: „Wenn ich<br />
mit der Steuererklärung ein bisschen<br />
schummle oder jemanden ohne Rechnung<br />
beschäftige, hole ich mir doch nur zurück,<br />
was der Staat mir wegnimmt.“ Die Dunkelziffer<br />
derer, die so denken, es aber lieber<br />
nicht sagen, dürfte hoch sein.<br />
Experten fürchten, dass sich angesichts<br />
der jüngsten Selbstanzeigewelle immer<br />
mehr Schummler im Recht fühlen. Vor allem<br />
Delikte von Reichen seien „Gift für die<br />
Steuermoral“, sagt Dominik Ernste, Wirtschaftsethiker<br />
beim Institut der deutschen<br />
Wirtschaft in Köln.<br />
Bei vielen lautet offenbar das Motto:<br />
Wenn Leute wie Uli Hoeneß oder Alice<br />
Schwarzer riesige Summen in der Schweiz<br />
haben, darf ich kleines Licht wohl doch ein<br />
bisschen tricksen. Jemand, der einem dabei<br />
moralische Rückendeckung gibt, findet<br />
sich. So konstatierte jüngst das Anlegerblatt<br />
„Smart Investor“ feinsinnig, Hinterziehung<br />
sei keineswegs Diebstahl. „Stehlen<br />
kann man nur etwas, was sich im Besitz eines<br />
anderen befindet. Beim Akt der Steuerhinterziehung<br />
ist es aber so, dass im eigenen<br />
Besitz befindliches Vermögen nicht an<br />
das Finanzamt abgeführt wurde.“ Und so<br />
wird in den nächsten Wochen wieder mancher<br />
in Versuchung geraten, wenn er seine<br />
Steuererklärung für 2013 macht. Doch Vorsicht:Auch<br />
vermeintlich kleine Schummeleien<br />
können harte Folgen haben.<br />
Denn während sie sich früher oft mit einer<br />
Nachzahlung zufriedengaben, wenn<br />
sie Schummlern auf die Schliche kamen,<br />
kennen die Behörden heute keine Gnade<br />
mehr. „Es gibt seit einigen Jahren die klare<br />
Noch nicht final<br />
geklärt ist, ob<br />
eine Arbeitsecke<br />
im Wohnzimmer<br />
absetzbar ist<br />
Tendenz, auch bei kleineren Vergehen<br />
Steuerstrafverfahren einzuleiten“, sagt Michael<br />
Weber-Blank, Strafverteidiger und<br />
Partner der Kanzlei Brandi Rechtsanwälte<br />
in Hannover. Und wenn es dazu kommt,<br />
haben Betroffene ein Problem. Denn: „Im<br />
Steuerstrafrecht gibt es keine Bagatellgrenze“,<br />
erklärt Rainer Biesgen, Steueranwalt in<br />
der Kanzlei Wessing & Partner. Selbst kleine<br />
Hinterziehungssummen können deshalb<br />
zu hohen Bußgeldern führen (siehe<br />
Kasten Seite 89). Anhand von zehn verbreiteten<br />
Tricks zeigen wir, wann die Grenze<br />
zur Steuerhinterziehung überschritten ist –<br />
und welche Konsequenzen drohen:<br />
1. ARBEITSZIMMER<br />
A Im Wohnzimmer der Außendienstmitarbeiterin<br />
Daniela E. steht ein Schreibtisch,<br />
an dem sie bisweilen arbeitet. Sie stuft den<br />
Raum als häusliches Arbeitszimmer ein<br />
und macht gemäß von dem Anteil des<br />
Wohnzimmers an der Gesamtfläche ihrer<br />
Wohnung 25 Prozent der Jahresmiete von<br />
6000 Euro als Werbungskosten geltend.<br />
Wer keinen Schreibtisch beim Arbeitgeber<br />
hat, darf fürs Home-Office bis zu 1250<br />
Euro pro Jahr steuermindernd geltend machen.<br />
„Das gilt allerdings nur, wenn das<br />
Zimmer fast ausschließlich beruflich genutzt<br />
wird“, sagt der Düsseldorfer Steuerberater<br />
Krischan Treyde. Da dies bei Daniela<br />
E. nicht der Fall ist, ist sie in den Augen der<br />
Behörden eine Steuerhinterzieherin.<br />
Da dürfte ihr auch ein Urteil des Finanzgerichts<br />
Köln nicht helfen: Die rheinischen<br />
Richter meinen, dass Steuerpflichtige auch<br />
eine „Arbeitsecke“ im Wohnzimmer absetzen<br />
dürfen (<strong>10</strong> K 4126/09). Final muss darüber<br />
noch der Bundesfinanzhof in München<br />
entscheiden, das oberste deutsche<br />
Steuergericht.<br />
Aber: „Wer den gesamten Raum absetzt,<br />
obwohl er nur einen Teil beruflich nutzt,<br />
kann den Vorwurf der Hinterziehung wohl<br />
nicht durch Verweis auf dieses Urteil entkräften“,<br />
sagt Steuerberater Treyde. Zudem<br />
könnte E. die Beamten wohl kaum davon<br />
überzeugen, dass ihr größter Raum, in dem<br />
sie nun ein Eckchen zum Arbeiten nutzt,<br />
erst neuerdings das Wohnzimmer ist, im<br />
letzten Jahr aber, auf das sich die Steuererklärung<br />
bezieht, noch ein reinrassiges Arbeitszimmer<br />
gewesen sein soll. »<br />
ILLUSTRATION: FRANCESCO BONGIONRNI<br />
86 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Von Arbeitszimmer bis Verpflegung<br />
Werbungskostenart<br />
Arbeitszimmer<br />
Weg zur Arbeit<br />
Übrige Werbungskosten 1<br />
Arbeitsmittel<br />
Doppelte Haushaltsführung<br />
Beiträge Berufsverbände<br />
Geschäftsreisekosten<br />
Verpflegungsmehraufwand<br />
Fälle (in<br />
Millionen)<br />
0,55<br />
13,<strong>03</strong><br />
12,08<br />
9,24<br />
0,41<br />
3,58<br />
0,91<br />
2,<strong>10</strong><br />
Durchschnittliche<br />
Summe (Euro)<br />
<strong>10</strong>15<br />
16<strong>03</strong><br />
448<br />
256<br />
4721<br />
230<br />
1735<br />
816<br />
Anteil der Kostenarten an den angesetzten<br />
Werbungskosten<br />
59,3<br />
%<br />
Weg zur Arbeit<br />
15,3 Übrige<br />
6,7<br />
5,4<br />
1,6<br />
2,3<br />
4,5<br />
4,9<br />
Arbeitsmittel<br />
Doppelte<br />
Haushaltsführung<br />
Arbeitszimmer<br />
Beiträge<br />
Berufsverbände<br />
Geschäftsreisekosten<br />
Verpflegungsmehraufwand<br />
1) zum Beispiel Kosten für Telefonate und Schreibwaren; Daten auf Basis der 2008 eingereichten und endgültig<br />
abgeschlossenen Erklärungen; Quelle: Destatis<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 87<br />
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Geld&Börse<br />
2. Pendlerpauschale<br />
A Arbeitnehmer Andreas B. fährt jeden<br />
Morgen 17 Kilometer zur Arbeit. Bei der<br />
Berechnung der Pendlerpauschale rundet<br />
er auf 20 Kilometer auf und kann dadurch<br />
rund 220 Euro mehr absetzen.<br />
„Steuerpflichtige sind zu korrekten Angaben<br />
verpflichtet, deshalb ist das ein klarer<br />
Fall von Hinterziehung“, sagt Weber-<br />
Blank. Das würden viele Steuerzahlende<br />
aber nicht so empfinden, während sie im<br />
nächsten Atemzug über prominente Steuerhinterzieher<br />
schimpfen.<br />
Das Entdeckungsrisiko ist bei Kilometer-<br />
Tricksereien hoch. Finanzbeamte kennen<br />
die Region und können Angaben bequem<br />
per Internet-Routenplaner überprüfen.<br />
„Steuerzahler sind dann in der Hand des<br />
Beamten“, warnt Weber-Blank. „Wenn sie<br />
Glück haben, kürzt er nur die Pauschale –<br />
wenn sie Pech haben, leitet er gleichzeitig<br />
ein Strafverfahren ein.“ Der Anreiz ist besonders<br />
hoch, wenn der Pendler bereits<br />
mehrere Jahre geschummelt hat.<br />
War es sein erstes Mal, kann er glimpflich<br />
davonkommen: Wer direkt auffliegt,<br />
wird nur der „versuchten“ Hinterziehung<br />
bezichtigt – und das gibt oft einen Strafrabatt<br />
von rund 50 Prozent (siehe Seite 89).<br />
Als abgeschlossen gilt die Tat, sobald der<br />
Steuerbescheid zugestellt wird, der auf falschen<br />
Angaben beruht.<br />
3. Bewirtungskosten<br />
A Unternehmerin Britta C. hat anlässlich<br />
ihres Geburtstags zahlreiche Freunde und<br />
auch einige Geschäftspartner in die Firmenräume<br />
eingeladen. Die Rechnung <strong>vom</strong><br />
Catering-Service über 2<strong>10</strong>0 Euro setzt sie<br />
in der Steuererklärung zu 70 Prozent –<br />
dem gesetzlichen Maximum – als geschäftlich<br />
veranlasste Bewirtungskosten ab.<br />
Die Linie der Finanzbehörden ist eindeutig:<br />
„Bei privaten Anlässen wie einem<br />
Geburtstag erkennen sie Bewirtungskosten<br />
nicht an – selbst, wenn Geschäftspartner<br />
anwesend waren“, erklärt Steuerberater<br />
Treyde. Die Finanzgerichte sähen das leider<br />
genauso.<br />
Aber droht auch ein Strafverfahren? Ja.<br />
„Wer die Kosten in Höhe des gesetzlichen<br />
Maximums absetzt, obwohl nur einige Geschäftspartner<br />
unter den Gästen waren,<br />
muss mit dem Vorwurf der Steuerhinterziehung<br />
rechnen“, warnt Treyde. Rechtfertigen<br />
lässt sich dagegen der Versuch, 70<br />
Wer den Maler schwarzarbeiten lässt,<br />
leistet Beihilfe zur Hinterziehung<br />
Prozent der auf die anwesenden Geschäftspartner<br />
entfallenden Kosten abzusetzen.<br />
Nach bisheriger Ansicht der Finanzgerichte<br />
ist zwar auch ein solcher anteiliger<br />
Abzug unzulässig. Da dies unter Experten<br />
aber umstritten ist, würde wohl<br />
kaum ein Richter einen Hinterziehungsversuch<br />
attestieren.<br />
Allerdings bliebe trotzdem ein Risiko.<br />
„Ich erlebe immer öfter, dass Betriebsprüfer<br />
auch bei vertretbaren Rechtsauffassungen,<br />
die nicht denen der Finanzverwaltung<br />
entsprechen, Vorsatz unterstellen“, sagt<br />
Strafverteidiger Weber-Blank. Deshalb ist<br />
Vorsicht geboten. „Betroffene sollten unbedingt<br />
in einem Anhang zur Steuererklärung<br />
kurz den Sachverhalt erläutern“, rät<br />
Treyde. Dann seien strafrechtliche Vorwürfe<br />
später ausgeschlossen.<br />
4. Verlust bei Vermietung<br />
A Manager Claus D. hat das Dachgeschoss<br />
für 30 000 Euro renoviert und vermietet<br />
es an seine Tochter, die auswärts<br />
studiert, aber an den Wochenenden heimkommt<br />
und die Wohnung nutzt. Die Kosten<br />
zieht D. in der Steuererklärung von den geringen<br />
Mieteinnahmen ab. Dadurch entsteht<br />
ein Vermietungsverlust von 28 000<br />
Euro, den er mit seinem Gehalt verrechnet.<br />
„Wegen der hohen Missbrauchsanfälligkeit<br />
schauen Finanzbeamte bei Vermietungen<br />
an Angehörige sehr genau hin“, sagt<br />
Marcus Hornig von der WTS Steuerberatungsgesellschaft.<br />
So komme es vor, dass<br />
Beamte persönlich erscheinen, um die<br />
Wohnung in Augenschein zu nehmen.<br />
„Entscheidend ist dann“, so Hornig, „ob es<br />
sich um einen abgetrennten Bereich mit eigenem<br />
Zugang, Bad und zumindest einer<br />
Kochecke handelt, der auch an einen Familienfremden<br />
vermietet werden könnte.“<br />
Ist das nicht der Fall, unterstellen die Beamten<br />
ein „fingiertes Mietverhältnis“ – und<br />
leiten ein Strafverfahren ein.<br />
Auch sonst muss alles laufen wie unter<br />
„fremden Dritten“. So ist Papa verpflichtet,<br />
einen Mietvertrag mit seiner Tochter abzuschließen<br />
und ihr mindestens 66 Prozent<br />
der „ortsüblichen Vergleichsmiete“ abzuknöpfen.<br />
Wie oft sie tatsächlich vor Ort ist,<br />
ist dagegen egal. Besonders oft fliegen fingierte<br />
Mietverhältnisse auf, wenn der<br />
Nachwuchs irgendwann weg ist und die Eltern<br />
keinen Nachmieter suchen. „Dann<br />
liegt die Vermutung nahe, dass sie von Anfang<br />
an keine dauerhafte Vermietung geplant<br />
haben, sondern nur die Renovierungskosten<br />
von der Steuer absetzen wollten“,<br />
sagt Hornig. Beamte würden sich das<br />
Thema gerne auf Wiedervorlage legen und<br />
einige Jahre später nachhaken.<br />
5. Putzhilfe<br />
A Der Rentner Ewald F. beschäftigt seit<br />
fünf Jahren für zehn Euro pro Stunde eine<br />
Putzhilfe. Sie kommt montags und donnerstags<br />
für jeweils fünf Stunden und kassiert<br />
somit <strong>10</strong>0 Euro pro Woche – schwarz.<br />
Die „Finanzkontrolle Schwarzarbeit“<br />
macht zwar keine Razzien in Privathäusern.<br />
Trotzdem geraten immer wieder Pri-<br />
ILLUSTRATION: FRANCESCO BONGIONRNI<br />
88 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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vatleute ins Visier – etwa, weil Nachbarn<br />
das Finanzamt informiert haben. „Wir bekommen<br />
hierzu viele anonyme Anzeigen“,<br />
berichtet ein Steuerfahnder.<br />
Und dann hätte Ewald F. ein Problem.<br />
Denn de facto ist er Arbeitgeber – und wäre<br />
damit verpflichtet, Lohnsteuer einzubehalten.<br />
Macht er das nicht, wird er selbst zum<br />
Hinterzieher. Immerhin: Die Behörden<br />
werten die Beschäftigung von Schwarzarbeitern<br />
im Minijob-Umfang gemäß einer<br />
Sondervorschrift nicht als Hinterziehung,<br />
sondern als „leichtfertige Steuerverkürzung“<br />
– und damit als Ordnungswidrigkeit.<br />
„Betroffene müssen dann zwar auch eine<br />
Geldbuße zahlen, gelten aber nicht als<br />
vorbestraft“, erklärt Biesgen von Wessing &<br />
Partner. Wie hoch die Buße ausfällt, hängt<br />
von der „verkürzten“ Summe ab. „Oft ist etwa<br />
die Hälfte des Betrages fällig, den die<br />
Behörden bei Hinterziehung verhängt hätten“,<br />
sagt Weber-Blank von Brandi. Somit<br />
müssten Täter pro 250 Euro, die sie verkürzt<br />
haben, mit einem Tagessatz Bußgeld<br />
rechnen. Da bei Minijobs nur zwei Prozent<br />
Lohnsteuerpauschale fällig sind, hat F. pro<br />
Woche zwei Euro „verkürzt“ – über fünf<br />
Jahre macht das rund 500 Euro. Theoretisch<br />
wären also zwei Tagessätze fällig,<br />
doch die Behörden haben Ermessensspielraum<br />
und können strenger sein.<br />
„Bei leichtfertiger Verkürzung gibt es inzwischen<br />
die Tendenz, höhere Geldbußen<br />
zu verhängen“, sagt Weber-Blank. Die Behörden<br />
würden sich immer öfter darauf<br />
berufen, dass mit der Buße finanzielle Vorteile<br />
abgeschöpft werden sollen.<br />
6. Ohne Rechnung<br />
A Hausbesitzerin Gunda M. hat für 8000<br />
Euro streichen lassen und zahlt dem Malermeister<br />
40 Prozent – 3600 Euro – der<br />
Summe bar und ohne Rechnung.<br />
M. wird dadurch zwar nicht zur Steuerbetrügerin,<br />
macht sich aber der Beihilfe<br />
schuldig. „Die Geldstrafe fällt in solchen<br />
Fällen in der Regel etwas niedriger aus als<br />
bei eigener Hinterziehung“, sagt Experte<br />
Biesgen. Wie hoch der Abschlag ist, sei aber<br />
von Fall zu Fall sehr unterschiedlich. „Da<br />
lässt sich seriös keine Größenordnung definieren.“<br />
Klar ist: Die Strafe orientiert sich<br />
auch bei M. an der Summe, die der Malermeister<br />
hinterzieht. Läge dessen persönlicher<br />
Steuersatz bei 40 Prozent, hätte er 1440<br />
Euro Einkommensteuer hinterzogen, hinzu<br />
käme die 19-prozentige Mehrwertsteuer<br />
(auf 3600 Euro, also 684 Euro).<br />
»<br />
STRAFRECHT<br />
Dreiste zahlen<br />
drauf<br />
Welche Strafen ertappten<br />
Steuerhinterziehern drohen.<br />
Wie gefährlich Schummler leben, hängt<br />
von der Summe ab, die sie dem Staat im<br />
unverjährten Zeitraum (in der Regel fünf<br />
Jahre) vorenthalten haben – und von ihrem<br />
Wohnort. „Bei der Höhe der Bußgelder<br />
gibt es keine einheitliche Praxis“, sagt<br />
Rainer Biesgen, Strafrechtsexperte bei<br />
Wessing & Partner. Die regionalen Unterschiede<br />
sind hoch (Tabelle): Wer den Fiskus<br />
um <strong>10</strong>00 Euro betrügt, muss in München<br />
mit bis zu 90 Tagessätzen rechnen<br />
– in Hannover dagegen nur mit 6.<br />
BERECHNUNG DES TAGESSATZES<br />
Ein Tagessatz entspricht dem täglichen<br />
Nettoeinkommen. Zur Berechnung ziehen<br />
die Behörden <strong>vom</strong> Bruttoeinkommen<br />
Steuern, Sozialabgaben, Werbungskosten<br />
und weitere Posten wie Unterhaltszahlungen<br />
ab. Allerdings ist nicht alles abzugsfähig,<br />
was steuerlich absetzbar ist. „Für die<br />
Berechnung des Tagessatzes gelten eigene<br />
Vorschriften“, sagt Biesgen.<br />
FRECHHEIT KOSTET EXTRA<br />
Doch nicht nur die Region, sondern auch<br />
die Dreistigkeit ist entscheidend. Das<br />
musste ein Rheinland-Pfälzer erfahren,<br />
der mehrere Spendenquittungen fälschte,<br />
Strenge Hanseaten, gnädige Badener<br />
indem er jeweils eine Null dranhängte.<br />
Obwohl der Mann wenig spektakuläre<br />
360 Euro erschummelte, war eine Geldbuße<br />
von 8400 Euro fällig. Dies zeigt: Die<br />
Strafmaßtabellen geben lediglich eine<br />
grobe Orientierung. „Je nach Konstellation<br />
können die Beamten sehr deutlich davon<br />
abweichen“, sagt Biesgen.<br />
EINSTELLUNG DES VERFAHRENS<br />
Bei überschaubaren Summen können Beamte<br />
das Verfahren wegen „Geringfügigkeit“<br />
einstellen. Eine feste Grenze gibt es<br />
nicht, in einigen Oberfinanzdirektionen ist<br />
dies bis 500 Euro Hinterziehungssumme<br />
möglich. Allerdings sind die Beamten<br />
nicht zur Einstellung verpflichtet und machen<br />
dies auch nur selten.<br />
Wesentlich häufiger ist eine Einstellung<br />
gegen Geldauflage, das heißt eine Zahlung<br />
an eine gemeinnützige Organisation.<br />
Dies kommt sogar bei fünfstelligen Hinterziehungssummen<br />
vor und ist oft etwas<br />
teurer als eine reguläre Strafe. Biesgen:<br />
„Die Beamten begründen das gern damit,<br />
dass Steuerpflichtige durch die Einstellung<br />
nicht als vorbestraft gelten.“<br />
EINIGUNG ODER PROZESS?<br />
Einigen sich die Parteien nicht auf eine<br />
Geldauflage, beantragen die Behörden in<br />
aller Regel einen Strafbefehl. Der Amtsrichter<br />
setzt dann die Strafe fest. Beschuldigte<br />
können natürlich Einspruch<br />
einlegen. Statt einen Strafbefehl zu beantragen,<br />
können die Behörden Anklage erheben,<br />
dann kommt es zu einem klassischen<br />
Strafprozess mit Beweisaufnahme.<br />
Die Tagessätze, die Finanzbeamte als Bußgeld verhängen, variieren von Region<br />
zu Region erheblich (Anzahl der bei Hinterziehung verhängten Tagessätze)*<br />
Bezirk der Oberfinanzdirektion<br />
Berlin<br />
Chemnitz<br />
Düsseldorf<br />
Erfurt<br />
Frankfurt<br />
Hamburg<br />
Hannover<br />
Karlsruhe<br />
München<br />
Münster<br />
Nürnberg<br />
<strong>10</strong>00<br />
8 bis 12<br />
<strong>10</strong><br />
5 bis 20<br />
5 bis 20<br />
6 bis 8<br />
16 bis 20<br />
6<br />
5 bis <strong>10</strong><br />
5 bis 90<br />
5 bis 20<br />
5 bis 20<br />
2500<br />
20 bis 30<br />
<strong>10</strong> bis 30<br />
20<br />
20<br />
15 bis 20<br />
40 bis 50<br />
17<br />
<strong>10</strong><br />
5 bis 90<br />
20<br />
20<br />
hinterzogene Summe in Euro<br />
5000<br />
40 bis 60<br />
30<br />
40<br />
40<br />
30 bis 40<br />
80 bis <strong>10</strong>0<br />
34<br />
30<br />
5 bis 90<br />
40<br />
40<br />
<strong>10</strong> 000<br />
120<br />
* ein Tagessatz entspricht dem durchschnittlichen täglichen Nettoeinkommen; Quelle: Zeitschrift Praxis Steuerstrafrecht<br />
60<br />
80<br />
80<br />
80<br />
140<br />
80<br />
60<br />
5 bis 90<br />
80<br />
60<br />
25 000<br />
300<br />
180<br />
200<br />
140<br />
200<br />
250<br />
200<br />
120<br />
180<br />
140<br />
130<br />
50 000<br />
360<br />
360<br />
360<br />
240<br />
360<br />
360<br />
330<br />
180<br />
360<br />
240<br />
200<br />
<strong>10</strong>0 000<br />
360<br />
360<br />
360<br />
340<br />
360<br />
360<br />
360<br />
360<br />
360<br />
340<br />
360<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 89<br />
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Geld&Börse<br />
7. Nebeneinkünfte<br />
A Anwalt Holger I. hält häufig Vorträge<br />
oder leitet Seminare zum Thema Gesellschaftsrecht.<br />
Die meisten Nebeneinkünfte<br />
gibt er in der Steuererklärung an, ein Honorar<br />
in Höhe von 1200 Euro aber nicht.<br />
Wer sich auf die eigene Vergesslichkeit<br />
beruft, hat schlechte Karten. „Finanzbeamte<br />
unterstellen in solchen Fällen in der<br />
Regel mindestens den sogenannten bedingten<br />
Vorsatz“, sagt Ulrike Grube, Expertin<br />
für Steuerstrafrecht bei der Kanzlei Rödl<br />
& Partner in Nürnberg.<br />
„Bedingter“ Vorsatz heißt: Der Steuerpflichtige<br />
hat zwar nicht unbedingt absichtlich<br />
betrogen, aber bei der Auflistung seiner<br />
Einnahmen nicht die gebotene Sorgfalt walten<br />
lassen und so „billigend in Kauf genommen“,<br />
dass der Fiskus weniger bekommt, als<br />
ihm zusteht. Das reicht für ein Steuerstrafverfahren<br />
– mit ein bisschen Glück gibt’s<br />
aber einen Nachlass beim Bußgeld.<br />
8. Reinigungskosten<br />
A Die Bankerin Ida J. hat wieder viel für<br />
die Reinigung ihrer Kostüme ausgegeben.<br />
Obwohl das Finanzamt ihr den Steuervorteil<br />
über Jahre immer wieder gestrichen<br />
hat, versucht sie es dieses Jahr erneut und<br />
reicht Belege über insgesamt 140 Euro ein.<br />
Das Motto „Versuchen kann man’s ja mal“<br />
ist brandgefährlich. Denn auch hier können<br />
Beamte „bedingten Vorsatz“ unterstellen<br />
und Strafverfahren wegen versuchter Hinterziehung<br />
einleiten. Angesichts der Vorgeschichte<br />
liegt schließlich die Vermutung nahe,<br />
dass J. darauf gesetzt hat, dass die Beamten<br />
dieses Mal nicht genau hinschauen.<br />
9. Kapitalerträge<br />
A Das Ehepaar K. hat Ersparnisse von<br />
24 000 Euro zu gleichen Teilen auf seine<br />
drei Kinder übertragen, um deren Steuerfreibeträge<br />
zu nutzen. Dadurch hat die Familie<br />
über vier Jahre Kapitalerträge in Höhe<br />
von 2250 Euro steuerfrei eingestrichen.<br />
Doch jetzt holen sich die Eltern das Geld<br />
von den Kinder-Konten zurück, um ein neues<br />
Auto zu kaufen.<br />
Die Rechtslage ist klar: Wer seinen Kindern<br />
Geld überträgt, darf es sich nicht ohne<br />
Weiteres zurückholen. Denn bei Rückholaktionen<br />
kann das Finanzamt den Eltern vorwerfen,<br />
dass es ihnen bei der Übertragung<br />
ausschließlich darum ging, die 25-prozentige<br />
Abgeltungsteuer zu vermeiden.<br />
Es bestehe die große Gefahr, „dass die<br />
Beamten nicht nur eine Nachzahlung fordern,<br />
sondern auch Vorsatz und damit<br />
Steuerhinterziehung unterstellen“, warnt<br />
Jochen Busch, Steuerexperte bei Baker Tilly<br />
Roelfs in München. Gerade Spitzenver-<br />
Wer seinen Kindern Geld überträgt,<br />
darf es sich nicht einfach zurückholen<br />
diener, bei denen Beamte gerne – wie bei<br />
Firmen – zu einer Steuerprüfung erscheinen,<br />
fliegen schnell auf. Busch: „Die Prüfer<br />
lassen sich dann gerne Kontoauszüge zeigen<br />
– und schauen bei hohen Zahlungseingängen<br />
genauer hin.“<br />
Die Behauptung, nichts <strong>vom</strong> Rückholverbot<br />
geahnt zu haben, fruchtet in solchen<br />
Fällen nicht. „Wer Geld auf seine Kinder<br />
überträgt, um Freibeträge zu nutzen,<br />
kann sich nicht darauf berufen, von steuerlichen<br />
Dingen keine Ahnung zu haben“,<br />
sagt Busch. Zulässig sind Rückholaktionen<br />
allerdings, wenn es einen Schenkungsvertrag<br />
gibt, der in bestimmten, klar definierten<br />
Ausnahmefällen eine Rückabwicklung<br />
vorsieht – etwa wenn ein Kind drogensüchtig<br />
wird oder einer Sekte beitritt.<br />
<strong>10</strong>. Minijobberin<br />
A Kurt L., Inhaber einer Vermögensverwaltung,<br />
hat seine Frau als Minijobberin für<br />
Büroarbeiten eingestellt und setzt den Monatslohn<br />
von 450 Euro als Betriebsausgaben<br />
an – obwohl seine Frau im vergangenen<br />
Jahr kaum noch da war, weil sie mit<br />
dem neugeborenen Sohn ausgelastet war.<br />
Arbeitsverhältnisse mit Angehörigen zu<br />
untersuchen ist Standard bei jeder Betriebsprüfung<br />
– schließlich ist die Missbrauchsanfälligkeit<br />
genauso hoch wie bei<br />
der Vermietung an Verwandte (siehe Fall<br />
4). Und auch hier ist die Frage: Hält das<br />
Modell dem „Fremdvergleich“ stand?<br />
Nein – schließlich hätte L. einer familienfremden<br />
Minijobberin, die allenfalls<br />
sporadisch auftaucht, längst gekündigt<br />
und somit auch nichts absetzen können.<br />
Und wenn der Arbeitsvertrag nicht eingehalten<br />
wird, Unternehmer aber trotzdem<br />
Betriebsausgaben geltend machen, ist das<br />
Hinterziehung.<br />
Das Entdeckungsrisiko ist höher, als<br />
mancher glaubt. So könnten Betriebsprüfer<br />
Mitarbeiter fragen, was Frau L. eigentlich<br />
mache. „Lautet die Antwort: ‚Die hab’<br />
ich schon ewig nicht mehr gesehen‘, reicht<br />
das für ein Strafverfahren“, sagt Weber-<br />
Blank. Solche Fälle gebe es immer wieder.<br />
Sicher: Ein gerichtsfester Beweis ist das<br />
nicht. Aber die Erfahrung zeigt, dass Unternehmer<br />
in solchen Fällen dazu neigen, diskret<br />
eine Geldbuße zu akzeptieren, statt sich<br />
auf einen langwierigen Prozess einzulassen.<br />
Denn wenn Steuertrickser etwas noch mehr<br />
fürchten als das Finanzamt, dann ist es die<br />
interessierte Öffentlichkeit.<br />
n<br />
daniel schönwitz | geld@wiwo.de<br />
ILLUSTRATION: FRANCESCO BONGIONRNI<br />
90 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Zu viele Flaschen Underberg-Anleihe läuft<br />
noch gut; Siag Schaaf (hier Tripoden-Sockel<br />
für Offshore-Windräder, unten links) ist ausgefallen;<br />
Zamek saniert sich; Modelabel<br />
Strenesse konnte Anleger nicht auszahlen<br />
FOTOS: DDP IMAGES (2) HARTMANN/HIBBELER, WAZ FOTOPOOL/LEPKE, GETTY IMAGES/BILAN<br />
In den Wind geschossen<br />
Tripoden-Sockel für Offshore-Windräder<br />
bei Siag<br />
Märchenhafte<br />
Schulden<br />
MITTELSTANDSANLEIHEN | Finanzierungsberater und Banken<br />
kassieren bei klammen Unternehmen ab. Wie das Geschäft läuft,<br />
warum Anleger mit noch mehr Pleiten rechnen müssen.<br />
Es war einmal ein kleines Mädchen, dem<br />
war Vater und Mutter gestorben, und es<br />
war so arm, dass es gar nichts mehr hatte<br />
als die Kleider auf dem Leib und ein<br />
Stückchen Brot in der Hand, das ihm ein<br />
mitleidiges Herz geschenkt hatte.<br />
Der rheinland-pfälzische Windanlagenbauer<br />
Siag Schaaf stand buchstäblich<br />
im letzten Hemd da. Operativ<br />
machte der Mittelständler 17 Millionen<br />
Euro Verlust, da flatterte der rettende Brief<br />
aus München ins Haus. Absender: die Berater<br />
von Blättchen & Partner. Deren mittlerweile<br />
gefeuerter Ex-Vorstand Peter Thilo<br />
Hasler hatte vor drei Jahren im elektronischen<br />
Bundesanzeiger nach Unternehmen<br />
gestöbert, zu deren Zahlen eine Anleihe<br />
passen könnte. In Briefen, erzählte Hasler<br />
mal, mache er den Unternehmen konkrete<br />
Vorschläge, etwa zum möglichen Anleihevolumen.<br />
Die Blättchen-Vorstände Konrad<br />
Bösl und Hasler, so schien es, konnten dem<br />
damaligen Siag-Chef Rüdiger Schaaf frisches<br />
Geld besorgen. Also fuhren sie für<br />
eine Präsentation zu Siag. „Die Herren<br />
haben gesagt, die Geschichte hinter Siag<br />
lasse sich am Markt sehr gut verkaufen“,<br />
sagt Schaaf.<br />
Siag könne 50 Millionen Euro aufnehmen,<br />
hieß es damals. Es wurden dann aber<br />
nur 13, und für Anleger gab es ein Desaster:<br />
Acht Monate nachdem sie Siag die Millionen<br />
überwiesen hatten, war das Unternehmen<br />
zahlungsunfähig. Bösl gibt an, „die<br />
Bond-Story von Siag für attraktiv gehalten“<br />
zu haben, betont heute noch, dass „die Gesellschaft<br />
hervorragend am Markt positioniert“<br />
gewesen sei. Ein Grund für die nicht<br />
so viel spätere Schieflage sei gewesen, dass<br />
das Unternehmen „generell schlecht<br />
finanziert“ gewesen sei – auch weil der<br />
Bond nicht 50 Millionen eingespielt habe.<br />
Mittelständler wie Siag haben seit 20<strong>10</strong><br />
rund fünf Milliarden Euro über Anleihen<br />
eingesammelt. Viele hätten das nie tun<br />
dürfen: Rund zehn Prozent der Anleihegelder<br />
sind schon wieder perdu, viele Unternehmen<br />
können Anleihezinsen von bis zu<br />
11,5 Prozent nicht erwirtschaften. Allein:<br />
Auf die Idee, Bonds zu lebensbedrohlich<br />
hohen Zinsen zu platzieren, sind die wenigsten<br />
Mittelständler von allein gekommen.<br />
Hinter den Kulissen haben Finanzierungsberater<br />
wie Blättchen mitgemischt.<br />
Der Berater empfiehlt dem Kunden eine<br />
Anleihe, sucht eine Kanzlei, die den Prospekt<br />
schreibt, und eine Bank, die Investoren<br />
kennt, die die Anleihe kaufen könnten.<br />
Börsen verlangen von Unternehmen in der<br />
Regel, dass sie die Emission von einem derartigen<br />
Experten begleiten lassen. Als „Listing<br />
Partner“ (Frankfurt), „Bondm-Coach“<br />
(Stuttgart) oder „Kapitalmarktpartner“<br />
(Düsseldorf) sollen sie die Unternehmen<br />
prüfen. Viel zu bringen scheint das nicht,<br />
dafür gibt es zu viele Pleite-Emittenten.<br />
Ende Februar erst hat Tütensuppenproduzent<br />
Zamek samt 45 Millionen Euro Anleihevolumen<br />
den Gang zum Amtsgericht<br />
angetreten – wegen drohender Zahlungsunfähigkeit<br />
wollen sich die Düsseldorfer<br />
im Insolvenzverfahren unter eigener Verwaltung<br />
sanieren. Zwölf Unternehmen mit<br />
Minibond trudeln (siehe Tabelle Seite 92).<br />
Da begegnete ihm ein armer Mann, der<br />
sprach: „Ach, gib mir etwas zu essen, ich<br />
bin so hungrig.“ Es reichte ihm das ganze<br />
Stückchen Brot und sagte: „Gott segne dir’s.“<br />
Dem Finanzierungsberater FMS aus München<br />
verdanken Anleger gleich fünf Pleitebuden:<br />
Windreich, Solarwatt, Solen, Centrosolar<br />
und SIC Processing. „Wir hatten<br />
viele Kunden aus dem Bereich der erneuerbaren<br />
Energien – dass diese Branche derart<br />
in Schwierigkeiten gerät, war für uns<br />
nicht vorhersehbar“, verteidigt FMS-Vorstand<br />
Jörg Schilling-Schön.<br />
Je höher ein Mittelständler sich verschuldet,<br />
desto lukrativer wird die Anleiheemission<br />
für Berater und Dienstleister –<br />
ihre Gebühren hängen teilweise davon<br />
»<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 91<br />
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Geld&Börse<br />
»<br />
ab, wie viel Geld ein Unternehmen einnimmt.<br />
Ergo: Der Berater könnte ein Interesse<br />
daran haben, dass sich seine Kunden<br />
möglichst hoch verschulden – schlecht für<br />
Anleger, denn je höher die Schulden, umso<br />
unwahrscheinlicher wird es, dass ein marodes<br />
Unternehmen Zinsen erwirtschaften<br />
und Schulden tilgen kann.<br />
Da kam ein Kind, das jammerte und<br />
sprach: „Es friert mich so an meinem Kopfe,<br />
schenk mir etwas, womit ich ihn bedecken<br />
kann.“ Da tat es seine Mütze ab und gab<br />
sie ihm.<br />
Im Fall der Reederei Rickmers betrifft dieser<br />
für Anleger unglückliche Mechanismus<br />
das Essener Beratungshaus Conpair: Im<br />
Emissionsprospekt der Rickmers Holding<br />
als Anleiheemittentin ist nachzulesen, dass<br />
sich sowohl die Höhe der Beratungsgebühr<br />
für Conpair als auch die Höhe der Bankprovision<br />
nach dem Gesamtbetrag der<br />
platzierten Anleihen richtet. Ähnliche Formulierungen<br />
finden sich auch in den Prospekten<br />
von Bastei Lübbe, Valensina und<br />
Underberg. Conpair habe „ein wirtschaftliches<br />
Interesse“ an der erfolgreichen Umsetzung<br />
des Angebots, heißt es beispielsweise<br />
im Rickmers-Prospekt. Es geht dabei<br />
um Millionen: Fünf Prozent, also zehn Millionen<br />
Euro, sollte die 200 Millionen Euro<br />
schwere Rickmers-Anleihe an Gebühren<br />
für Banken, Berater und Dienstleister einspielen.<br />
Es wurde vorerst nicht ganz so viel:<br />
Anleger haben im ersten Schwung bloß<br />
175 Millionen Euro gezeichnet, das Rickmers-Papier<br />
wurde später allerdings aufgestockt.<br />
Bis dass der Tod euch scheidet<br />
Und als es noch eine Weile gegangen war,<br />
kam wieder ein Kind und hatte kein Leibchen<br />
an und fror: Da gab es ihm seins; und<br />
noch weiter, da bat eins um ein Röcklein,<br />
das gab es auch von sich hin.<br />
Ökonomieprofessor Olaf Schlotmann von<br />
der Brunswick European Law School<br />
schätzt, dass Dienstleister im Markt für<br />
Minibonds seit 20<strong>10</strong> rund 220 Millionen<br />
Euro Honorar generiert haben. Kostet eine<br />
Anleihe fünf Prozent, kann die Bank geschätzt<br />
1,5 bis 2 Prozentpunkte kassieren.<br />
Geschickte Berater können bis zur Hälfte<br />
der Kosten abzweigen. Meist aber greift die<br />
Bank den Löwenanteil ab. Den Rest des<br />
Geldes sacken Kommunikations- und<br />
Ratingagentur, Börse, Wirtschaftsprüfer,<br />
Mittelständler mit massiven Anleiheproblemen und wer sie beraten hat<br />
Unternehmen<br />
BKN Biostrom<br />
Centrosolar<br />
FFK Environment<br />
Getgoods<br />
HKW Personalkonzepte<br />
S.A.G. Solarstrom I & II<br />
Siag Schaaf<br />
SIC Processing<br />
Solarwatt<br />
Solen (Ex Payom Solar)<br />
Windreich I & II<br />
Zamek<br />
1 entwarf Konzept zur Besicherung und Strukturierung der Anleihe; Quelle: Börsen, Unternehmensangaben,<br />
eigene Recherche<br />
Branche<br />
Biogas<br />
Solar<br />
Abfallverwerter<br />
Online-Handel<br />
Zeitarbeit<br />
Anlagenbau<br />
Windkraft<br />
Solar<br />
Solar<br />
Solar<br />
Windanlagen<br />
Nahrungsmittel<br />
Berater<br />
Blättchen & Partner 1<br />
FMS AG<br />
GBC AG, BIW<br />
GBC AG<br />
Dicama<br />
Baader, Youmex<br />
Blättchen & Partner<br />
FMS AG<br />
FMS AG<br />
FMS AG<br />
FMS AG<br />
Conpair<br />
aktueller Status<br />
Insolvenzverfahren läuft<br />
Umtausch von Schulden in Aktien geplant<br />
Insolvenzverfahren läuft<br />
Insolvenzverfahren läuft<br />
Insolvenzverfahren läuft<br />
Insolvenzverfahren läuft<br />
auf Anlegerkosten saniert, Quote: 0,34 %<br />
Insolvenzverfahren läuft<br />
auf Anlegerkosten saniert, Quote: 16 %<br />
Insolvenzverfahren läuft<br />
Insolvenzverfahren läuft<br />
Sanierung in eigener Verwaltung läuft<br />
Vor Unglück bewahrt? Traditionsreeder<br />
(hier: Museumsschiff) stockte Anleihe auf<br />
Zahlstelle, Anwalt und – ein paar Tausend<br />
Euro – selbst die Finanzaufsicht BaFin ein.<br />
Marktführer bei den Banken ist Close<br />
Brothers aus Frankfurt, denen die Berater<br />
von Conpair Geschäft zuführen. Bis Ende<br />
2013 hatten die Essener gar ein Büro im<br />
Frankfurter Bankgebäude. Zu den Conpair-<br />
Kunden mit Anleihe zählen neben der Reederei<br />
Rickmers und der Brauerei Stauder<br />
weitere prominente Namen: Zuletzt hat<br />
Conpair-Chef Michael Nelles dem angeschlagenen<br />
Modeproduzenten Strenesse<br />
höchstselbst auf der Gläubigerversammlung<br />
zur Seite gestanden, als es darum ging,<br />
die Anleihe um drei Jahre zu verlängern.<br />
Strenesse hatte sich schlicht nicht in der<br />
Lage gesehen, seine Anleiheschulden Mitte<br />
März zurückzuzahlen. Und auch der<br />
klamme Tütensuppenhersteller Zamek ist<br />
Conpair-Kunde. All diese Anleihen hat<br />
Close Brothers an die Börse begleitet.<br />
Auch die <strong>vom</strong> Unternehmer Wilfried<br />
Mocken gelenkten Safthersteller Valensina<br />
und Kräuterschnapsbrenner Underberg<br />
lassen sich von Conpair beraten und haben<br />
ihre Anleihen von Close Brothers<br />
Seydler platzieren lassen. „Wir sind eines<br />
Tages von Conpair auf deren Beratungsdienstleistung<br />
angesprochen worden“, sagt<br />
Mocken heute. Erst durch das Beratungshaus<br />
Conpair sei er schließlich an Close<br />
Brothers gekommen. Heute ist Mocken<br />
aber enger mit dem Berater verbandelt: Er<br />
sitzt im Aufsichtsrat von Conpair und hält<br />
eine kleine Beteiligung an der Essener Aktiengesellschaft.<br />
FOTO: LOOK-FOTO<br />
92 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Da kam noch eins und bat um ein Hemdlein<br />
und das fromme Mädchen dachte: Es<br />
ist dunkle Nacht, da sieht dich niemand, du<br />
kannst wohl dein Hemd weggeben, und zog<br />
das Hemd ab und gab es auch noch hin.<br />
Angesichts der lukrativen Gebührenmaschinerie<br />
drängt sich der Verdacht auf, dass<br />
sich immer jemand findet, der nicht so genau<br />
hinschaut, welchem Unternehmen er<br />
da eigentlich zu frischem Kapital verhilft.<br />
Insider berichten immer wieder, dass sie<br />
Unternehmen abgelehnt hätten – und ein<br />
anderer diese dann doch an die Börse begleitet<br />
habe.<br />
Prüfen, ob sich ein Mittelständler eine<br />
Anleihe leisten kann, muss niemand: Laut<br />
Börse Stuttgart muss ein Bondm-Coach<br />
zwar „die Kapitalmarkteignung und -fähigkeit<br />
des Unternehmens“ beurteilen und<br />
sich auch ein Bild <strong>vom</strong> Geschäftsmodell<br />
des Unternehmens machen, aber: „Mit<br />
welchen Methoden dies beurteilt wird, ist<br />
ausschließlich Entscheidung der Coaches.“<br />
Conpair-Chef Nelles beteuert, man prüfe<br />
auch, ob das Unternehmen Zinsen zahlen<br />
und Schulden bedienen kann: „Wir gehen<br />
mit dem Kunden nur in eine Transaktion,<br />
wenn wir geprüft haben, ob der Kunde<br />
seinen Kapitaldienst auch leisten kann“,<br />
sagt Nelles. Conpair habe Kunden bereits<br />
gebremst und die Höhe der gewünschten<br />
Anleiheschulden im Vorfeld reduziert. Er<br />
schaue freiwillig auf die Zahlen, so Nelles,<br />
da bei einer Pleite die eigene Reputation<br />
auf dem Spiel stünde.<br />
Und auch Close Brothers beteuert: „Natürlich<br />
treffen auch wir vorab Einschätzungen<br />
über die Bonität des Emittenten.“ Vorgeschrieben<br />
aber ist eine solche Prüfung<br />
nicht. „Die Bonität von mittelständischen<br />
Unternehmen muss vor der Emission einer<br />
Mittelstandsanleihe niemand prüfen“, sagt<br />
Uto Baader, Chef der Baader Bank. Sein<br />
Haus hat kaum Emissionen aus dem Mittelstand<br />
begleitet. „Oft braucht man nicht<br />
mal einen Taschenrechner, um zu sehen,<br />
dass ein Unternehmen schon seine Zinsen<br />
nicht bedienen könnte“, sagt der Banker<br />
aus München.<br />
Andere Berater und die Börsen weisen<br />
die Verantwortung für die Qualität der Börsenkandidaten<br />
von sich. FMS, der Berater<br />
mit den fünf Pleitefällen, kontrolliert zum<br />
Beispiel, ob das Unternehmen in der Lage<br />
wäre, die von der Börse auferlegten Pflichten<br />
zu erfüllen, also etwa Finanzberichte<br />
pünktlich zu veröffentlichen: „Wir beraten<br />
Unternehmen beim Aufbau von Strukturen,<br />
damit sie in der Lage sind, die erforderlichen<br />
Transparenzstandards einhalten<br />
zu können“, sagt Schilling-Schön. Ansonsten<br />
seien doch auch noch die Wirtschaftsprüfer<br />
da. „Wir müssen uns hinsichtlich<br />
der historischen Zahlenwerke auf den<br />
Wirtschaftsprüfer verlassen“, sagt Schilling-Schön.<br />
Doch ein Wirtschaftsprüfer testiert nur<br />
Zahlen der Vergangenheit. Er prüft, ob das<br />
Unternehmen die richtigen Zahlen in seine<br />
Bilanz übertragen hat, ob eine Fünf also tatsächlich<br />
eine Fünf ist. Er schaut sich keinen<br />
Businessplan an und bewertet kein Geschäftsmodell<br />
– und auch nicht, ob das Unternehmen<br />
eine Anleihe bedienen könnte.<br />
Michael Massauer, geschäftsführender<br />
Gesellschafter beim Berater Fion, verweist<br />
auf die Ratingagenturen. Verlass ist auf deren<br />
Rating aber längst nicht immer. Creditreform<br />
etwa setzte erst drei Wochen vor der<br />
Insolvenz des Personalvermittlers HKW<br />
Personalkonzepte dessen Rating aus –<br />
nachdem HKW angekündigt hatte, Zinsen<br />
später zu zahlen. Das letzte Rating vor der<br />
Pleite lag bei „BBB- unter Beobachtung“,<br />
eine voll befriedigende Bonität.<br />
Die Börsen fühlen sich ebenso nicht zuständig,<br />
sie verweisen wiederum auf die involvierten<br />
Banken und Berater. Börsen<br />
böten schließlich nur eine Plattform an.<br />
Das alles hindert die Börsen aber nicht daran,<br />
kräftig an den Mittelstandsanleihen zu<br />
verdienen. Sie sind in deren Vertrieb eingestiegen,<br />
lassen Privatanleger die Papiere<br />
über ihre Plattform zeichnen und bekommen<br />
dafür Geld <strong>vom</strong> Unternehmen. Über<br />
das Zeichnungstool der Deutschen Börse<br />
etwa wurden in der Vergangenheit <strong>10</strong> bis<br />
15 Prozent des Anleiheemissionsvolumens<br />
gezeichnet.<br />
Und wie es so stand und gar nichts mehr<br />
hatte, fielen auf einmal die Sterne <strong>vom</strong><br />
Himmel, und waren lauter blanke Taler.<br />
Bei einer Pleite können Anleger, selbst<br />
wenn im Wertpapierprospekt falsche Zahlen<br />
standen, weder den Berater noch die<br />
Bank und schon gar nicht die Börse haftbar<br />
machen. „Nur wer unterschreibt, haftet für<br />
die Richtigkeit der Angaben im Prospekt“,<br />
sagt Schilling-Schön, „und das ist bei Mittelstandsanleihen<br />
meist allein ein Organ<br />
des Unternehmens.“<br />
Bei den Unternehmen aber ist, wenn<br />
Banken und Lieferanten zugegriffen haben,<br />
meist nichts mehr zu holen. Die Taler<br />
bekommen andere, für Anleger gibt es kein<br />
märchenhaftes Happy End.<br />
n<br />
annina.reimann@wiwo.de | Frankfurt<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 93<br />
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Geld&Börse<br />
Wasserspiele an der<br />
Côte d’Azur<br />
DAB BANK | Zwischen der heute zu UniCredit gehörenden Online-<br />
Bank und dem Netzwerk des insolventen Finanzdienstleisters<br />
Accessio gab es enge Verbindungen. Das bringt jetzt Probleme.<br />
Das Programm konnte sich sehen lassen:<br />
Helikopter-Transfer nach Monaco,<br />
Abstecher in die Millionärsdisco<br />
Jimmy’z, Yachtausflug nach Saint-Tropez mit<br />
Poolparty im angesagten Nikki Beach. Eine<br />
Mischung, perfekt für die Côte d’Azur, wo exorbitant<br />
hohe Preise Reichen und Möchtegernreichen<br />
bestätigen, dass sie es zu etwas<br />
gebracht haben: Im Nikki Beach kostet die<br />
Flasche Dom Pérignon 580 Euro. Die Methusalem-Flasche<br />
à sechs Liter schlägt mit<br />
13000 Euro zu Buche. Ein perfektes Luxus-<br />
Incentive-Wochenende sei der Monaco-Trip<br />
2006 gewesen, wirbt die Eventagentur.<br />
Eingeladen hatte die Münchner DAB<br />
Bank. Sie wollte wichtige Geschäftskunden<br />
umgarnen. Der frühere DAB-Vorstand Jens<br />
Hagemann war laut Agentur von der<br />
„Kreativität“ der Veranstaltung angetan.<br />
Heute, nach Bekanntwerden von Exzessen<br />
wie den Budapest-Lustreisen bei der<br />
Ergo, würde die DAB die Luxustrips wohl<br />
gerne unter der Decke halten. Dabei sind<br />
nicht einmal die Kosten, sondern die Teilnehmer<br />
der Reise brisant. Mit dabei waren<br />
neben dem damaligen DAB-Bereichsleiter<br />
Robert Weiher auch André Driver und<br />
Carsten Bengsch. Die beiden fungierten als<br />
Vorstände des mittlerweile insolventen Finanzdienstleisters<br />
Accessio, früher: Wertpapierhandelshaus<br />
Driver & Bengsch.<br />
Auch 2007, bei einer DAB-Luxus-Reise<br />
nach Thailand, flog Driver mit.<br />
NETZ DER GELDSAUGER<br />
Damit könnten die Fotos möglicherweise<br />
auch Richter interessieren. Zeigen sie doch<br />
– genau wie weitere Recherchen der WirtschaftsWoche<br />
–, dass sich DAB Bank und<br />
Accessio offenbar näherstanden, als es der<br />
DAB heute lieb ist. Denn mehrere Hundert<br />
Anleger, die auf ihren von der DAB Bank<br />
geführten Depots mit von Accessio empfohlenen<br />
Wertpapieren Millionen Euro<br />
verloren haben, fordern von der DAB Schadensersatz.<br />
Grund: Accessio habe systematisch<br />
falsch beraten, die DAB davon gewusst.<br />
Ex-Accessio-Vorstand Driver weist<br />
den Vorwurf systematischer Fehlberatung<br />
zurück. Die DAB hat und hatte laut einer<br />
Stellungnahme „keine Kenntnis von der<br />
von Anlegeranwälten behaupteten systematischen<br />
Falschberatung der Anleger<br />
durch die Accessio“. Sie spielt auch ihre<br />
Verbindung zu Accessio herunter. Vor Gericht<br />
sagte Ex-DAB-Bereichsleiter Weiher,<br />
Accessio sei einer von <strong>10</strong>00 Firmenkunden<br />
gewesen. Mit dem Zusatz „allerdings ein<br />
bedeutender“ kam er der Realität näher.<br />
Accessio hatte Kunden mit hohen Tagesgeldzinsen<br />
gelockt, ihnen dann aber riskante<br />
Anleihen und Genussscheine kleiner<br />
Die DAB Bank<br />
überwacht »die<br />
Einhaltung der gesetzlichen<br />
Regeln«<br />
Accessio-Wertpapierprospekt von 2007<br />
Unternehmen angedreht. Viele Unternehmen<br />
waren miteinander und mit Accessio<br />
verbunden, etwa über Beteiligungen. Zudem<br />
existieren enge persönliche Verflechtungen.<br />
Vor fünf Jahren warnten wir, die<br />
Schieflage eines Unternehmens könne dieses<br />
„Netz der Geldsauger“ zum Zusammenbruch<br />
bringen (WirtschaftsWoche<br />
5/2009). Tatsächlich rutschten in der Folge<br />
viele der Unternehmen in die Pleite, etwa<br />
Cargofresh, Pongs & Zahn oder Konservenfabrik<br />
Zachow. Insgesamt hatten rund<br />
40 000 Kunden knapp eine halbe Milliarde<br />
Euro über Accessio angelegt. Einige verloren<br />
ein Vermögen. „Für mich geht es um<br />
die Existenz“, sagt ein Betroffener aus Süddeutschland,<br />
der <strong>10</strong>0 000 Euro verloren hat.<br />
Zahlreiche Anleger konnten vor Gericht<br />
Beratungsfehler beweisen und bekamen<br />
Schadensersatzansprüche gegen Accessio<br />
zugesprochen. Nur ist heute bei der seit 20<strong>10</strong><br />
insolventen Accessio nichts mehr zu holen.<br />
Nun wollen Anleger die DAB heranziehen.<br />
Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte eine<br />
solche Haftung der DAB 2013 für möglich erklärt<br />
(XI ZR 431/11). Anleger müssten aber<br />
beweisen, dass die DAB von einer eventuellen<br />
systematischen Falschberatung bei Accessio<br />
wusste. In diesem Fall hätte die DAB<br />
die Accessio-Kunden warnen müssen. Da<br />
sie dies nicht tat, wäre sie zu Schadensersatz<br />
verpflichtet. Bislang konnte kein Anleger das<br />
aber vor Gericht rechtskräftig beweisen.<br />
WAS WUSSTE DIE DAB BANK?<br />
Das Oberlandesgericht (OLG) München<br />
signalisierte im Januar jedoch, dass eine<br />
Haftung der DAB von Mitte 2007 an in Betracht<br />
komme. Zu diesem Zeitpunkt waren<br />
im Accessio-Aufsichtsrat vorläufige Ergebnisse<br />
einer Sonderprüfung der Finanzaufsicht<br />
BaFin besprochen worden. Die sprachen<br />
laut OLG dafür, dass Accessio Anleger<br />
systematisch falsch beraten habe. Driver<br />
kann diese „isolierte Auffassung“ nicht<br />
nachvollziehen. Sollte das OLG dabei bleiben,<br />
käme es nun darauf an, ob und wann<br />
die DAB von diesen Ergebnissen erfahren<br />
hat. Dass sie etwas ahnte, liegt nahe: Im Accessio-Aufsichtsrat<br />
saß von 2002 bis März<br />
2008 der frühere DAB-Prokurist Weiher.<br />
Praktisch für die DAB: Weiher verließ sie<br />
im Juli 2007, vor der offiziellen Bekanntgabe<br />
der Prüfergebnisse im Herbst. Ein Ex-<br />
Accessio-Prokurist aber sagte vor Gericht,<br />
der Aufsichtsrat habe die Ergebnisse früher<br />
gekannt. Weiher äußert sich dazu nicht.<br />
Hätte die Bank ab Sommer 2007 Bescheid<br />
gewusst – was sie verneint –, hätte<br />
sie Accessio-Kunden warnen müssen. Erste<br />
Urteile des OLG werden in Kürze erwartet.<br />
Der DAB droht im schlimmsten Fall<br />
Schadensersatz in zweistelliger Millionenhöhe.<br />
Sicher ist: Die DAB war früher ein<br />
wichtiger Partner für Accessio. Accessio-<br />
Konten und -Depots wurden von ihr eingerichtet,<br />
sie führte auch die Wertpapierorders<br />
aus. In einem DAB-Vermögensverwalter-Wettbewerb<br />
belegte Accessio oft<br />
erste Plätze – und warb eifrig damit.<br />
Nach früheren Angaben Accessios überwachte<br />
die DAB für Accessio mindestens<br />
zwei Jahre „die Einhaltung der gesetzlichen<br />
Regelungen“ nach diversen Vorschriften.<br />
2005 übernahm die DAB für Accessio die<br />
interne Revision – die Prüfung und Kontrolle<br />
der Geschäftsabläufe. Und es gab einen<br />
Vertriebsvertrag, wonach Accessio für<br />
die DAB Produkte verkaufen sollte.<br />
FOTO: WIREIMAGE/JON FURNISS<br />
94 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Die DAB sieht sich nur als Dienstleister<br />
für Accessio, der Beratung weder beeinflusste<br />
noch kontrollierte. Selbst der frühere<br />
Accessio-Aufsichtsrat und Ex-DAB-Manager<br />
Weiher will kaum etwas über das Accessio-Geschäft<br />
und die angebotenen<br />
Wertpapiere gewusst haben. „Namen wurden<br />
schon mal genannt, die waren mir<br />
aber nicht bekannt.“ Ein früherer Accessio-<br />
Prokurist sagte dagegen, Weiher sei „der<br />
Ansprechpartner für den ,kurzen Dienstweg‘“<br />
zwischen Accessio und der DAB gewesen.<br />
Beide hätten ständig in Kontakt gestanden.<br />
Weiher wies das vor Gericht zurück:<br />
Kontakt zu wichtigen Kunden habe er<br />
„weniger im Tagesgeschäft“ gehabt, „sondern<br />
wenn es um strategische Fragen ging“.<br />
Er sei auch „nur vier Mal im Jahr circa zwei<br />
Stunden“ bei Accessio gewesen.<br />
Hinweise darauf, dass die Bande zwischen<br />
DAB und dem Accessio-Geflecht<br />
doch enger gewesen sein könnten, gibt es<br />
auf persönlicher Ebene. So war ein früherer<br />
Vize-Aufsichtsratschef der DAB später<br />
Aufsichtsratschef bei der Beteiligungsgesellschaft<br />
Loginet3 (früher: Ponaxis).<br />
Accessio hatte Kunden direkt oder über<br />
Fonds Loginet3-Anleihen und Papiere<br />
von drei Loginet3-Beteiligungen verkauft.<br />
Loginet3 und die Beteiligungen sind pleite.<br />
Eine auffällige Ansammlung von Personen<br />
mit Bezug zur DAB und zum Accessio-<br />
Netz war der Münchner Lions Club Metropolitan.<br />
Der elitäre Zirkel hat derzeit nur 28<br />
Mitglieder. Auf einer Liste von 2008 stehen<br />
auffällig viele Herren, die für Firmen aus<br />
dem Accessio-Netz tätig waren. Neben<br />
dem früheren DAB-Manager und Accessio-Aufsichtsrat<br />
Weiher zählten zum Club:<br />
n ein Ex-DAB-Vorstand, der mit einem Ex-<br />
DAB-Aufsichtsratschef im Aufsichtsrat der<br />
heutigen MS Industrie AG (früher GCI)<br />
saß. MS Industrie beriet Accessio beim<br />
Börsengang und war an Accessio beteiligt;<br />
n der Vorstand der Beteiligungsgesellschaft<br />
Magnum, deren Genussscheine Accessio<br />
vertrieb. 20<strong>03</strong> und 2004 sollen diese über<br />
die Hälfte zum Accessio-Umsatz beigesteuert<br />
haben. Drei weitere Clubmitglieder waren<br />
oder sind Magnum-Aufsichtsräte;<br />
n ein früherer Vorstand und ein früherer<br />
Aufsichtsrat der Haemato (früher: Windsor).<br />
Die Beteiligungsgesellschaft gehörte<br />
zeitweise zu MS Industrie. Accessio kaufte<br />
Haemato-Aktien und Genussscheine für<br />
Kunden. Magnum und Haemato gründeten<br />
2008 die CR Capital Real Estate deren<br />
Aktien Accessio ebenfalls vertickte.<br />
Doch informelle Gespräche, ob im Pool<br />
in Saint-Tropez oder im Lions Club, brachten<br />
DAB-Manager Weiher offenbar kaum<br />
Erkenntnisse zu Accessio. Er will erst mit<br />
dem Prüfbericht 2007 von Problemen erfahren<br />
haben. Dieser sei „einer der Gründe“<br />
gewesen, den Accessio-Aufsichtsratsposten<br />
aufzugeben. Die Verbindung zu Accessio<br />
wäre ihm bei seinem Job-Neustart<br />
fast erhalten geblieben: Im Herbst 2007 beteiligte<br />
sich Accessio an der V-Bank, die Ex-<br />
DAB-Manager Hagemann und Weiher mitgegründet<br />
hatten. Accessio wollte fortan<br />
Kundengelder nicht mehr an die DAB, sondern<br />
an die V-Bank vermitteln.<br />
Daraus wurde nichts. Weiher schied<br />
2008 nach zwei Monaten überraschend<br />
aus dem V-Bank-Vorstand aus. Heute ist er<br />
deren Vertriebschef. Dass die Bank kein<br />
Geschäft mit dem Netz der Geldsauger<br />
machte, erweist sich heute als Glücksfall. n<br />
niklas.hoyer@wiwo.de<br />
Pack die Badehose ein!<br />
Im edlen Nikki Beach Club<br />
(Bild Mitte) in Saint-Tropez<br />
feierte DAB-Manager<br />
Weiher (Bild oben, ganz<br />
links) im August 2006 mit<br />
den Accessio-Vorständen<br />
Bengsch und Driver (Bild<br />
oben, 2. und 3. von links)<br />
Die DAB lädt ein Geschäftskunden der Münchner Direktbank<br />
flogen im Helikopter nach Monaco, besuchten Top-Restaurants<br />
sowie die Millionärsdisco Jimmy’z und fuhren mit Yachten nach<br />
Saint-Tropez. Laut Eventagentur waren das „die Eckpfeiler<br />
eines perfekten Luxus-Incentive-Wochenendes“<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 95<br />
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Geld&Börse | Steuern und Recht<br />
SCHLIESSANLAGE<br />
Mieter muss<br />
später zahlen<br />
ANGEHÖRIGEN-ARBEITSVERTRAG<br />
Kein Luxus für die Ehefrau<br />
Ein teurer Dienstwagen kombiniert mit einem Minilohn passt dem Fiskus nicht.<br />
Um die Ehefrau günstig mit einem Zweitwagen<br />
zu versorgen, können Selbstständige und Freiberufler<br />
sie zur Mitarbeiterin machen. „Dabei<br />
müssen sie aber beachten, dass Arbeitsverträge<br />
unter Angehörigen so gestaltet sein müssen, dass<br />
sie auch einem Dritten angeboten werden könnten,<br />
der sie auch annehmen würde“, sagt Christoph<br />
Ackermann, Steuerberater und Partner bei<br />
Ernst & Young. Die Richter am Bundesfinanzhof<br />
bezweifelten das bei der Kombination aus niedrigem<br />
Lohn und Luxusschlitten, mit der ein Handelsvertreter<br />
seine bei ihm angestellte Ehefrau<br />
entlohnte (X B 181/13). Sie bekam für 17 Stunden<br />
wöchentliche Arbeitszeit einen rund 40 000 Euro<br />
teuren VW Tiguan als Dienstwagen und 150 Euro<br />
monatlich. Dafür arbeitete sie in der Buchhaltung<br />
und reinigte das Büro. Da der geldwerte<br />
Vorteil für die Nutzung des Autos zu ihrem<br />
Lohn zählt, verdiente sie brutto 587 Euro, bekam<br />
aber nur 2,20 Euro Stundenlohn ausgezahlt.<br />
„Das Urteil bestärkt die Finanzämter darin, Angehörigen-Verträge<br />
noch akribischer zu prüfen“,<br />
sagt Ackermann. Er rät, diese genau zu dokumentieren.<br />
Wenn ein Auto etwa für berufliche<br />
Zwecke wie Botendienste benötigt werde, sei es<br />
ein notwendiges Arbeitsmittel und nicht nur ein<br />
Vergütungsbestandteil. Dadurch sei es steuerlich<br />
einfacher durchzusetzen. Wird das Vergütungskonstrukt<br />
wie bei dem Handelsvertreter nicht<br />
anerkannt, muss er alle Kosten des Fahrzeugs<br />
selbst tragen. Sie sind dann eine Privatentnahme<br />
und keine absetzbare Betriebsausgabe mehr.<br />
Nach nur drei Monaten benötigte<br />
der Mieter eine Wohnung<br />
im Raum Heidelberg nicht<br />
mehr. Dem Vermieter konnte er<br />
aber nur einen der zwei ihm<br />
überlassenen Wohnungsschlüssel<br />
zurückgeben. Darüber<br />
informierte der Vermieter<br />
die Hausverwaltung, die<br />
aus Sicherheitsgründen die<br />
Schließanlage austauschen lassen<br />
wollte. Das passierte aber<br />
nicht, denn der Vermieter zahlte<br />
den von ihm verlangten Kostenvorschluss<br />
in Höhe von 1468<br />
Euro nicht. Denn auch der Mieter<br />
überwies ihm das verlangte<br />
Geld nicht und begründete das<br />
damit, dass die Anlage ja noch<br />
nicht ausgetauscht worden sei.<br />
Die Richter am Bundesgerichtshof<br />
sahen das genauso. Ein ersatzfähiger<br />
Schaden liege erst<br />
nach dem Austausch vor (VIII<br />
ZR 205/13).<br />
Der Vermieter muss also in<br />
Vorleistung treten und sich das<br />
Geld anschließend bei seinem<br />
Ex-Mieter zurückholen.<br />
Den Schaden des Mieters<br />
zahlt mitunter die private Haftpflicht,<br />
wenn er einen Schlüsselverlust<br />
mitversichert hat und<br />
in einem Mehrfamilienhaus<br />
wohnt. Der Schutz umfasst allerdings<br />
nicht die Folgeschäden,<br />
wenn der verlorene Schlüssel<br />
einem Dieb in die Hände fällt.<br />
RECHT EINFACH | Tätowierung<br />
Tätowierungen sind in. Gefallen<br />
Herzen oder Drachen später nicht<br />
mehr, werden Richter schnell zu<br />
Stil-Gutachtern.<br />
§<br />
Löwenkopf. Ein Mann aus<br />
Nordhessen ließ sich einen<br />
Löwenschädel mit Einfassung<br />
(„Tribals“) auf den<br />
Unterschenkel tätowieren. Wenig<br />
später gefiel ihm das Werk nicht<br />
mehr: Der Löwenkopf sei nicht<br />
markant und männlich genug; die<br />
Tribals seien misslungen. Der<br />
Hesse verlangte 200 Euro <strong>vom</strong><br />
Tattoo-Meister zurück. Ohne Erfolg.<br />
Die Richter wiesen ihn darauf hin,<br />
dass das Werk nach einer Schablone<br />
gemalt worden sei. Der Mann<br />
habe der Abbildung zugestimmt.<br />
Die Tribals, so die informierten Juristen,<br />
würden „freestyle“ aufgetragen<br />
und bewegten sich im Bereich<br />
der „schöpferischen Freiheit“<br />
(Landgericht Kassel, 1 S 34/09).<br />
Teenager. Eine 17-jährige Münchnerin<br />
ließ sich für 50 Euro innen am<br />
Handgelenk ein kleines Kreuz stechen.<br />
Sie bereute es und verlangte<br />
ihr Geld zurück sowie 800 Euro<br />
für die Laserentfernung. Das Gericht<br />
winkte ab: Da sie 200 Euro<br />
monatlich als Aushilfe verdiene,<br />
sei der Vertrag trotz der damaligen<br />
Minderjährigkeit wirksam.<br />
Wer neben der Schule arbeite,<br />
habe die Urteilsfähigkeit, in eine<br />
Tätowierung einzuwilligen (Amtsgericht<br />
München, 213 C 917/11).<br />
Autorität. Ein Beamter in einer<br />
Justizvollzugsanstalt trug auf beiden<br />
Unterarmen große Tätowierungen.<br />
Der Dienstherr verdonnerte<br />
ihn deswegen dazu, ständig<br />
langärmelige Hemden zu tragen.<br />
Die Anordnung des Vorgesetzten<br />
hielt vor Gericht stand. Das offene<br />
Tragen der Schlangen-, Herz- und<br />
Pfeil-Tattoos könnte zu einem<br />
„Distanzverlust“ zu den Insassen<br />
und somit einer „Schwächung der<br />
Autorität“ führen (Oberverwaltungsgericht<br />
Koblenz, 2 A<br />
<strong>10</strong>254/05).<br />
FOTOS: F1ONLINE, PICTURE ALLIANCE/DPA/BECKER, PR<br />
96 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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PROSPEKTFEHLER<br />
Emittent haftet für falsche Kostenquote<br />
Eine Anlegerin beteiligte sich<br />
2005 mit <strong>10</strong> 000 Euro an einem<br />
geschlossenen Fonds, der<br />
in US-Lebensversicherungen<br />
investierte. 20<strong>10</strong> erhielt sie<br />
ein Schreiben der Fondsgeschäftsführung:<br />
Die Gründungskosten<br />
des Fonds hätten<br />
18 Prozent der Anlegergelder<br />
von etwa 5,4 Millionen Euro<br />
aufgezehrt. Daraufhin verklagte<br />
die Anlegerin den Emittenten<br />
des Fonds, weil der Prospekt<br />
fehlerhaft sei. Im Prospekt sei<br />
nur von 6,2 Prozent Kosten plus<br />
einem Aufschlag von fünf Prozent<br />
die Rede. Insgesamt also<br />
11,2 Prozent. Demnach hätten<br />
die Anleger davon ausgehen<br />
müssen, dass die restlichen Anlegergelder<br />
in US-Lebensversicherungen<br />
investiert würden,<br />
so die Anlegerin. An keiner Stelle<br />
im Prospekt sei erwähnt worden,<br />
dass die Kostenquote von<br />
11,2 Prozent nur dann gelte,<br />
wenn der Fonds 25 Millionen<br />
Euro eingesammelt habe. Ebenso<br />
fehle ein Hinweis, dass sich<br />
die Kosten vervielfachten, falls<br />
die Anleger deutlich weniger als<br />
25 Millionen Euro investierten.<br />
Der Emittent stritt den Prospektfehler<br />
ab und schob die<br />
Schuld auf den Vertrieb und deren<br />
Berater, die die Anleger<br />
falsch informiert hätten. Das<br />
Oberlandesgericht Karlsruhe<br />
DIREKTVERSICHERUNGEN<br />
Petition gegen Kassenabzug<br />
SCHNELLGERICHT<br />
FRISTEN BEI FÖRDERUNG BEACHTEN<br />
§<br />
Die staatliche Riester-Förderung wird nur überwiesen,<br />
wenn die Deutsche Rentenversicherung<br />
Bund die Einkommenshöhe rechtzeitig an die Zulagenstelle<br />
schickt. Eine Beamtin, die dieser Weitergabe<br />
ihrer Besoldung zu spät zustimmte, verlor ihre<br />
Förderung für mehrere Jahre (Finanzgericht Berlin-<br />
Brandenburg, <strong>10</strong> K 14<strong>03</strong>1/12).<br />
Die Auszahlung einer Direktversicherung<br />
ist für den Versicherten<br />
oft enttäuschend. Gesetzlich<br />
Krankenversicherten<br />
bleibt nach Abzug von Kassenbeiträgen<br />
weniger Geld als erwartet.<br />
Bei einer Auszahlung<br />
von 28 500 Euro kassiert die<br />
Kasse etwa 9000 Euro Krankenund<br />
Pflegeversicherungsbeiträge.<br />
Verärgerte Bürger haben<br />
beim Bundestag eine Petition<br />
eingereicht. Sie verlangen, dass<br />
er die Abzüge auf Kapitalauszahlungen<br />
von Direktversicherungen,<br />
die am 1. Januar 2004<br />
auch für Altverträge eingeführt<br />
wurde, wieder abschafft. Der<br />
Petition, haben sich allerdings<br />
in der Mitzeichnerfrist nur rund<br />
7000 Unterstützer in vier Wochen<br />
angeschlossen. Um einen<br />
schnellen Zugang zu einer öffentlichen<br />
Beratung des Petitionsausschusses<br />
zu bekommen,<br />
hätten es 50 000 Mitzeichner<br />
sein müssen. Sollte der Ausschuss<br />
das Thema als dringlich<br />
einstufen, könnte er es trotzdem<br />
aufgreifen.<br />
dagegen sah den Emittenten in<br />
der Haftung (17 U 242/12). Wäre<br />
die Anlegerin durch den Prospekt<br />
richtig informiert worden,<br />
hätte sie nach eigenem Bekunden<br />
nicht investiert. Dieser Zusammenhang<br />
sei entscheidend.<br />
Dass der Berater die Anlegerin<br />
falsch informiert hätte, sei auf<br />
den fehlerhaften Prospekt<br />
zurückzuführen. Der Emittent<br />
müsse der Anlegerin daher<br />
Schadensersatz für ihr Investment<br />
zahlen und einen Teil ihrer<br />
Anwalts- und Gerichtskosten<br />
übernehmen. Das Urteil ist<br />
nicht rechtskräftig, da der Emittent<br />
beim Bundesgerichtshof<br />
Revision einlegen kann.<br />
MADOFF-GESCHÄDIGTE<br />
Mehr Zeit für<br />
Ansprüche<br />
Der Madoff Victim Fund hat die<br />
Frist, in der Anleger Ansprüche<br />
an die US-Entschädigungseinrichtung<br />
schicken können, um<br />
zwei Monate auf den 30. April<br />
<strong>2014</strong> verlängert. Für Anleger,<br />
die bereits ihre Dokumente<br />
eingereicht haben, ist das eine<br />
schlechte Nachricht, da mehr<br />
Ansprüche die Entschädigung<br />
Einzelner reduzieren werden.<br />
Formulare finden Anleger unter<br />
madoffvictimfund.com<br />
DOPPELTER HAUSHALT BEI DEN ELTERN<br />
§<br />
Ein 52-jähriger, alleinstehender Ingenieur nutzte<br />
als Hauptwohnsitz sein früheres Kinderzimmer im<br />
Reihenhaus der Eltern. An seinem Arbeitsort hatte er<br />
noch eine kleine Schlafstätte. Er durfte nach der bis<br />
2013 gültigen Gesetzeslage die Kosten für die doppelte<br />
Haushaltsführung von der Steuer absetzen,<br />
obwohl er bei den Eltern wohnte und sich nicht an<br />
den Haushaltskosten beteiligte (Bundesfinanzhof,<br />
VI R <strong>10</strong>/13).<br />
WAS DRAUFSTEHT, MUSS DRIN SEIN<br />
§<br />
Ein deutscher Teehändler warb für den Früchtetee<br />
„Himbeer-Vanille-Abenteuer“. Auf dessen Verpackung<br />
waren Himbeeren und Vanilleblüten zu sehen.<br />
Tatsächlich enthält der Tee weder Himbeeren und<br />
Vanille noch deren Aromastoffe. Der Bundesgerichtshof<br />
verwies den Fall an den Europäischen Gerichtshof<br />
(I ZR 45/13). Der BGH hält es für unzureichend, nur<br />
die Ersatzstoffe in der Zutatenliste aufzuführen, wenn<br />
den Käufern ein anderer Inhalt suggeriert werde.<br />
RENTENALTER<br />
KATHARINA LAWRENCE<br />
ist Alters-<br />
vorsorge-<br />
Expertin der<br />
Verbraucherzentrale<br />
Hessen.<br />
n Das Rentenalter steigt bis<br />
2029 schrittweise auf 67<br />
Jahre. Verlängern sich auch<br />
private Vorsorgeverträge?<br />
Nein, sie enden wie vereinbart.<br />
Die private Vorsorge sollte zwischen<br />
dem 63. und 67. Lebensjahr<br />
flexibel verfügbar<br />
sein. Dadurch können etwa<br />
Zeiten der Berufsunfähigkeit<br />
überbrückt werden. Viele<br />
Berufsunfähigkeits-Policen<br />
enden im Alter von 60 oder 65.<br />
n Eine Lebensversicherung<br />
muss heute bis zum 62.<br />
Lebensjahr laufen, damit es<br />
Steuervorteile gibt. Steigt<br />
das Mindestalter auch?<br />
Nein, ein nach Dezember<br />
2011 geschlossener Vertrag<br />
muss zwölf Jahre bestanden<br />
haben und der Versicherte bei<br />
Auszahlung mindestens 62<br />
Jahre alt sein, dann wird nur<br />
die Hälfte der Differenz zwischen<br />
Auszahlung und gezahlten<br />
Beiträgen mit dem persönlichen<br />
Steuersatz belastet. Für<br />
Verträge, die vor 2005 geschlossen<br />
wurden, gibt es teilweise<br />
noch die Steuerfreiheit.<br />
n Sparer können Riester-<br />
Fondsverträge an das Rentenalter<br />
anpassen. Sinnvoll?<br />
Eventuell. Die Anbieter garantieren<br />
die Rückzahlung aller<br />
eingezahlten Beträge. Sie können<br />
bei einer Vertragsverlängerung<br />
mehr Aktien in das Depot<br />
nehmen und die Rendite<br />
verbessern. Abschlusskosten<br />
muss der Anleger dafür üblicherweise<br />
nicht erneut zahlen,<br />
wenn er sie schon am<br />
Anfang, etwa über fünf Jahre<br />
verteilt, gezahlt hat. Zahlt er<br />
für jeden Fondskauf den <strong>Ausgabe</strong>aufschlag,<br />
wird der auch<br />
für die Verlängerung fällig.<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 Redaktion: heike.schwerdtfeger@wiwo.de, martin gerth<br />
97<br />
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Geld&Börse | Geldwoche<br />
KOMMENTAR | Die Dax-Chefs<br />
drehen mal wieder ordentlich an<br />
den Zahlen. Das wird für Anleger<br />
teuer. Von Christof Schürmann<br />
Total verpatzt<br />
Eingekesselt Chinas<br />
Notenbank vor großen<br />
Herausforderungen<br />
Politische Krisen wie jene<br />
in der Ukraine haben<br />
für Unternehmen<br />
derzeit ihr Gutes:<br />
Während der laufenden Bilanzsaison<br />
schaut nicht jeder so genau<br />
hin. Beispiel Bayer: Der<br />
Umsatz legte 2013 nur um ein<br />
mickriges Prozent zu, der Konzernjahresüberschuss,<br />
immerhin,<br />
um satte 32,7 Prozent.<br />
Knapp 3,2 Milliarden Euro nach<br />
2,4 Milliarden im Vorjahr verdienten<br />
die Leverkusener.<br />
Macht einen Gewinn je Aktie<br />
von 3,86 Euro nach 2,91 Euro<br />
2012. Alles in Butter also, wäre<br />
da nicht ein Haken: Bayer rechnet<br />
seinen Aktionären etwas<br />
anderes vor: 5,61 Euro je Aktie,<br />
so heißt es, habe man verdient.<br />
Daran gemessen müsste der<br />
Konzernjahresüberschuss bei<br />
4,64 Milliarden Euro gelegen haben<br />
– eine Zahl, die sich in der<br />
Gewinn-und-Verlust-Rechnung<br />
nirgendwo findet. Vorsorge für<br />
Rechtsfälle, höhere Kosten für<br />
aktienbasierte Vergütung und<br />
Restrukturierung und so weiter<br />
rechnete die Bayer-Führung mal<br />
flugs aus ihren Aufwendungen<br />
heraus, um ein um 45 Prozent<br />
höheres Ergebnis je Aktie zusammenzubasteln.<br />
Bereinigtes<br />
Ergebnis heißt das dann im Verschleierungskauderwelsch.<br />
Irgendeine<br />
echte, nicht mit dem<br />
Bayer-Geschäft in Zusammenhang<br />
stehende ungewöhnliche<br />
Belastung, wie etwa ein Meteoriteneinschlag<br />
in Leverkusen, ist<br />
dabei nicht erkennbar.<br />
Erkennbar einfach ist aber der<br />
Effekt: Statt mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis<br />
(KGV) von 26<br />
geht die Aktie mit einem KGV<br />
von nur knapp 18 in das laufende<br />
Geschäftsjahr. Natürlich<br />
rechnen die Analysten darauf eine<br />
hübsche Gewinnsteigerung<br />
und schon handelt das Papier<br />
<strong>2014</strong> nur noch mit einem KGV<br />
von 16. Schon teuer genug, gemessen<br />
am grob taxierten wahren<br />
Ergebnis, handelt Bayer<br />
aber mit einem KGV von 23.<br />
Wie lustig und bunt man es<br />
mit den Zahlen treiben kann,<br />
zeigt auch RWE. Um mehr oder<br />
weniger unverhohlen um Staatshilfe<br />
zu betteln, stellte am Dienstag<br />
der Essener Energieriese<br />
seinen Nettoverlust von 2,8 Milliarden<br />
Euro in den Vordergrund.<br />
Über Jahre, noch zuletzt im November<br />
2013, hob man auf das<br />
sogenannte nachhaltige Nettoergebnis<br />
ab. Das liegt natürlich<br />
Milliarden im Plus. Nachhaltig<br />
aber ist bei der über Jahrzehnte<br />
wie eine Behörde geführten<br />
RWE nur die verpatzte Geschäftspolitik.<br />
BILLIG IST ANDERS<br />
Die Analysten der Banken reichen<br />
absichtlich, teils wider besseren<br />
Wissens, geschönte Zahlen<br />
herum. Von einem noch<br />
günstigen Dax ist da die Rede,<br />
ohne zu schauen, was unterm<br />
Strich wirklich herauskommt.<br />
Bei Licht betrachtet, haben die<br />
Dax-Konzerne in Summe 2013<br />
nicht viel gerissen. 2012 kamen<br />
bei allen zusammen 63 Milliarden<br />
Euro Gewinn heraus, 2013<br />
dürfte es am Ende kaum mehr<br />
gewesen sein. Und es gibt kaum<br />
Hinweise, dass <strong>2014</strong> dramatisch<br />
besser wird. Damit handelt<br />
der Index mit einem schon ziemlich<br />
teuren KGV von über 15.<br />
Bereinigen darf man dieses<br />
KGV. Und zwar um unterlassene<br />
Abschreibungen auf erworbene<br />
Töchter (Goodwill). Nach dieser<br />
Bereinigung steigt das KGV auf<br />
24. Das will jetzt noch niemand<br />
wissen. Kommt aber, und dann<br />
wird es teuer – für Aktionäre.<br />
TREND DER WOCHE<br />
In der Zwickmühle<br />
Wenn es Peking nicht gelingt, die Luft aus der Kreditblase<br />
schrittweise abzulassen, dann knallt es weltweit.<br />
Hinter der jüngsten Schwäche<br />
des chinesischen Yuan steht die<br />
sich abzeichnende Korrektur<br />
der Handelsungleichgewichte<br />
in der Weltwirtschaft. So haben<br />
sich die Stückkosten in China in<br />
den vergangenen sechs Jahren<br />
um etwa 80 Prozent erhöht. Mit<br />
den Lohnsteigerungen und der<br />
festen Heimatwährung hat sich<br />
China in verschiedenen Branchen<br />
preislich aus dem Markt<br />
geschossen. Hinzu kommt der<br />
Druck über die massive Abwertung<br />
des Yen, der gegenüber<br />
dem Dollar seit Mitte 2012 um<br />
25 Prozent abwertete. Die<br />
People’s Bank of China (PBOC)<br />
will die Bandbreite, innerhalb<br />
derer der Yuan gegenüber dem<br />
Dollar fluktuieren darf, verbreitern,<br />
um den Yuan etwas abzuschwächen.<br />
Doch dabei ist Fingerspitzengefühl<br />
gefragt. Denn<br />
dabei darf es zu keiner massiven<br />
Auflösung des Yuan-Carry-<br />
Trades kommen. Hierbei nehmen<br />
Spekulanten zinsgünstige<br />
Dollar- oder Yen-Kredite auf<br />
und setzen sie in höher rentierende<br />
Anlagen in Yuan um.<br />
Kommt es zu einer massiven<br />
Auflösung dieses Carry-Trades,<br />
könnte die Krise von den<br />
Schwellenländern mit schwacher<br />
Leistungsbilanz, den sogenannten<br />
„Fragile Five“ (Brasilien,<br />
Indien, Indonesien,<br />
Russland, Türkei) auf Länder<br />
mit großen Kreditblasen überspringen.<br />
Immobilien- und<br />
Bankenkrisen drohten, die<br />
„New Fragile Five“ wären geboren.<br />
Das wären neben China<br />
Hongkong, Singapur, Australien<br />
und Kanada.<br />
Trends der Woche<br />
Entwicklung der wichtigsten Finanzmarkt-Indikatoren<br />
Stand: 6.3.<strong>2014</strong> / 18.02 Uhr aktuell seit einer Woche 1 seit einem Jahr 1<br />
Dax 30 9542,87 –0,5 +20,5<br />
MDax 16876,09 +0,3 +26,7<br />
Euro Stoxx 50 3144,53 +0,3 +17,3<br />
S&P 500 1881,09 +1,4 +22,0<br />
Euro in Dollar 1,3745 +0,7 +5,4<br />
Bund-Rendite (<strong>10</strong> Jahre) 1 1,66 +0,09 2 +0,20 2<br />
US-Rendite (<strong>10</strong> Jahre) 1 2,74 +0,09 2 +0,81 2<br />
Rohöl (Brent) 3 <strong>10</strong>7,92 –0,8 –3,2<br />
Gold 4 1345,25 +1,0 –14,5<br />
Kupfer 5 7054,50 –0,6 –8,4<br />
1<br />
in Prozent; 2 in Prozentpunkten; 3 in Dollar pro Barrel; 4 in Dollar pro Feinunze,<br />
umgerechnet 971,79 Euro; 5 in Dollar pro Tonne; Quelle: vwd group<br />
FOTOS: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, CORBIS/IMAGINECHINA, LAIF/IMAGINECHINA<br />
98 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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DAX-AKTIEN<br />
Dax vor Diekmann<br />
Marktposition, Kapitalkraft und Dividende sind gut,<br />
doch beim Gewinn hat die Allianz Nachholbedarf.<br />
HITLISTE<br />
Um fast 30 Milliarden Euro ist<br />
der Börsenwert der Allianz<br />
gestiegen, seit Michael Diekmann<br />
am 29. April 20<strong>03</strong> das<br />
Ruder in der Königinstraße in<br />
München übernommen hat.<br />
Allerdings, der Dax ist (ohne<br />
Dividenden gerechnet) in der<br />
gleichen Zeit mit 137 Prozent<br />
deutlich stärker gestiegen als<br />
die Allianz-Aktie (1<strong>03</strong> Prozent).<br />
In der Tat hat der Versicherungskonzern<br />
trotz sechs<br />
Milliarden Euro Nettogewinn<br />
(2013, plus 15 Prozent) offene<br />
Flanken: In der Vermögensverwaltung,<br />
vor allem beim Anleihenspezialisten<br />
Pimco, kam<br />
es zu deutlichen Kapitalabflüssen.<br />
Pimco leidet, ebenso wie<br />
das Kerngeschäft Lebensversicherungen,<br />
unter dem extrem<br />
niedrigen Zinsniveau. Auch<br />
wenn das Geschäft mit Schaden-<br />
und Unfallversicherungen<br />
dank niedrigerer Kosten besser<br />
ausfallen sollte, ist für <strong>2014</strong> insgesamt<br />
kein wesentlicher Gewinnanstieg<br />
in Sicht. Den Rückstand<br />
zum Dax aufholen dürfte<br />
Diekmann bis zum Allianz-Jubiläumsjahr<br />
2015 kaum noch.<br />
Chaos bei Chaori<br />
Anleihe fällt aus, eine<br />
weitere China-Pleite<br />
UNTERNEHMENSANLEIHEN<br />
Ausfall in Fernost<br />
Chinas Unternehmen stehen mit mindestens<br />
150 Prozent der Wirtschaftsleistung in der Kreide.<br />
Dax<br />
Kurs Kursent- Gewinn KGV Börsen- Dividen-<br />
(€) wicklung pro Aktie (€) wert den-<br />
1 Woche 1 Jahr 2013 <strong>2014</strong> <strong>2014</strong><br />
(Mio. €) rendite<br />
(%) 1<br />
Dax 9542,87 –0,5 +20,5<br />
Aktie<br />
Stand: 6.3.<strong>2014</strong> / 18.02 Uhr<br />
Adidas 80,31 –3,4 +12,1 4,51 4,69 17 16802 1,68<br />
Allianz 126,65 –1,1 +16,2 12,65 13,50 9 57746 3,55<br />
BASF NA 81,15 –1,0 +<strong>10</strong>,4 5,88 5,93 14 74535 3,20<br />
Bayer NA 99,59 –0,3 +27,3 5,66 6,20 16 82356 1,91<br />
Beiersdorf 71,59 –3,3 +5,7 2,38 2,59 28 18041 0,98<br />
BMW St 83,08 –0,9 +16,0 7,77 8,14 <strong>10</strong> 534<strong>10</strong> 3,01<br />
Commerzbank 13,14 +0,7 +22,5 0,50 0,72 18 14960 -<br />
Continental 183,00 +5,8 +94,9 <strong>10</strong>,02 12,44 15 36601 1,23<br />
Daimler 69,13 +3,1 +48,6 4,56 5,86 12 73930 3,18<br />
Deutsche Bank 34,84 –0,5 +2,5 4,08 3,72 9 35516 2,15<br />
Deutsche Börse 57,91 –1,1 +17,7 3,79 3,89 15 11177 3,97<br />
Deutsche Post 26,91 +0,5 +50,8 1,45 1,66 16 32529 2,60<br />
Deutsche Telekom 11,76 –4,5 +42,0 0,69 0,69 17 52346 5,95<br />
E.ON 13,61 –1,7 +4,3 1,29 0,99 14 27224 8,09<br />
Fresenius Med.C. St 48,90 +0,6 –6,5 3,75 3,76 13 15<strong>03</strong>9 1,53<br />
Fresenius SE&Co <strong>10</strong>9,90 –0,8 +14,8 5,79 6,51 17 24802 0,86<br />
Heidelberg Cement St 63,62 +7,0 +18,3 3,56 4,04 16 11929 0,74<br />
Henkel Vz 77,50 –4,0 +<strong>10</strong>,2 4,<strong>03</strong> 4,31 18 32001 1,23<br />
Infineon 8,57 +5,6 +30,8 0,26 0,40 21 9258 1,40<br />
K+S NA 25,19 +3,5 –29,0 2,92 1,24 20 4820 5,56<br />
Lanxess 53,43 –1,4 –20,1 3,31 2,86 19 4446 1,87<br />
Linde 148,70 –0,4 +5,8 8,48 8,78 17 27606 1,82<br />
Lufthansa 18,30 –3,5 +18,2 1,25 1,52 12 8415 -<br />
Merck 119,50 –4,8 +9,6 8,83 9,21 13 7722 1,42<br />
Münchener Rückv. 156,00 –1,0 +8,7 16,94 17,06 9 27977 4,49<br />
RWE St 28,60 –1,2 +0,5 3,91 2,44 12 17395 6,99<br />
SAP 57,29 –1,4 –9,7 3,37 3,47 17 7<strong>03</strong>81 1,92<br />
Siemens 95,41 –0,6 +20,1 4,80 6,73 14 84056 3,14<br />
ThyssenKrupp 19,83 +0,5 +16,4 -0,55 0,42 47 <strong>10</strong>200 -<br />
Volkswagen Vz. 186,25 –1,1 +<strong>10</strong>,6 21,42 22,25 8 85396 1,91<br />
1<br />
berechnet mit der zuletzt gezahlten Dividende<br />
Es ist paradox. Als China im<br />
November 2008 als Reaktion<br />
auf die Finanzkrise ein umgerechnet<br />
650 Milliarden Dollar<br />
schweres Konjunkturprogramm<br />
auflegte, wurde es als<br />
Retter der Weltwirtschaft gefeiert.<br />
Doch jetzt kommt die<br />
Rechnung auf den Tisch.<br />
Denn zugleich entfachte China<br />
damit einen der größten<br />
Kreditexzesse aller Zeiten. In<br />
der ersten Phase, gleich nach<br />
der Finanzkrise, waren es vor<br />
allem die außerbilanziellen<br />
Vehikel der Lokalregierungen,<br />
die unendlich viel Kredit<br />
schöpfen konnten, indem sie<br />
etwa Land verpachteten. In<br />
der zweiten Phase wurden sogenannte<br />
Wealth-Management-Produkte<br />
von privaten<br />
Anbietern im Schattenbankensystem<br />
zum großen Renner,<br />
weil sie vordergründig eine ordentliche<br />
Rendite zwischen<br />
fünf und zehn Prozent versprechen.<br />
Anleger investieren langfristig,<br />
die Schattenbanken investieren<br />
das Geld am kurzen<br />
Ende der Zinskurve – riskant!<br />
Finanzprodukte im Volumen<br />
von 1800 Milliarden Dollar sollen<br />
so unters Volk gebracht worden<br />
sein. Pleiten bei diesen Anbietern<br />
können jederzeit zu<br />
einer Neubewertung am Markt<br />
für Unternehmensanleihen<br />
führen. Nach offiziellen Zahlen<br />
soll dieser ein Volumen von<br />
12 000 Milliarden Dollar oder<br />
rund 150 Prozent der Wirtschaftsleistung<br />
haben. International<br />
ist China hier Spitzenreiter,<br />
noch vor Hongkong und<br />
Singapur.<br />
Verschuldung der Unternehmen in Prozent der jährlichen<br />
Wirtschaftsleistung<br />
Land<br />
China<br />
Hongkong<br />
Singapur<br />
Malaysia<br />
Großbritannien<br />
Japan<br />
Australien<br />
151<br />
141<br />
133<br />
116<br />
115<br />
113<br />
113<br />
Land<br />
Taiwan<br />
Thailand<br />
Quelle: Nationale Zentralbanken, GaoHua SecuritiesResearch,Goldman Sachs,ZeroHedge<br />
USA<br />
Südkorea<br />
Indien<br />
Philippinen<br />
Indonesien<br />
<strong>10</strong>9<br />
83<br />
75<br />
56<br />
49<br />
36<br />
22<br />
WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 99<br />
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Geld&Börse | Geldwoche<br />
AKTIE Rio Tinto<br />
Sauberes Erz für das<br />
Minen-Comeback<br />
Vierfacher Ertrag<br />
Mehr Einsatz<br />
von Stickstoffen<br />
absehbar<br />
Hoffnung <strong>vom</strong> Hochofen Stahlaufschwung<br />
stützt Erzpreise<br />
Teure Zukäufe im Geschäft<br />
mit Aluminium und Kohle<br />
bescherten dem australischbritischen<br />
Rohstoffkonzern<br />
Rio Tinto vor gut einem Jahr<br />
14 Milliarden Dollar Abschreibungen.<br />
2013 kamen noch<br />
einmal 3,4 Milliarden Dollar<br />
wegen fehlgeschlagener Kupferprojekte<br />
in der Mongolei<br />
dazu. Nun aber, mit der Mitte<br />
März vorliegenden 2013er-<br />
Bilanz, dürfte die Krise für Rio<br />
Tinto abgehakt sein. Mit mehr<br />
als 50 Milliarden Dollar Jahresumsatz<br />
und 3,6 Milliarden<br />
Dollar Reingewinn (2012:<br />
3,0 Milliarden Dollar Verlust)<br />
hat das Bergbauunternehmen<br />
die Wende geschafft.<br />
Rio fördert – neben Kupfer,<br />
Bauxit (für Aluminium) und<br />
Diamanten – vor allem Eisenerz.<br />
Hier holt der Minenkonzern<br />
mehr als 80 Prozent seiner<br />
Gewinne. Im vergangenen<br />
Jahr lag der Erzpreis<br />
durchschnittlich bei 135 Dollar<br />
pro Tonne, deutlich unter<br />
den 2011er-Spitzen von fast<br />
200 Dollar. Größter Kunde ist<br />
China. Und hier steigt der Bedarf<br />
– unabhängig von der<br />
konjunkturellen Entwicklung.<br />
Der Grund: Eisenerz von Rio<br />
(etwa aus Australien) ist besonders<br />
hochwertig und hilft<br />
damit den chinesischen<br />
Stahlkochern, strengere Luftschutzvorschriften<br />
zu erfüllen.<br />
Wenn die Konjunktur in<br />
China nicht völlig zusammenbricht,<br />
könnte der Eisenerzpreis<br />
<strong>2014</strong> seinen mehrjährigen<br />
Rückgang beenden. Bei steigender<br />
Erzförderung (2013: plus<br />
fünf Prozent) ist mit höheren<br />
Einnahmen zu rechnen.<br />
Zum Hebel für den Nettogewinn<br />
werden die Kostensenkungen,<br />
die Chef Sam Walsh<br />
vergangenes Jahr eingeleitet<br />
hat. Von 71 000 Stellen wurden<br />
4000 gestrichen. Mehrere Minenbeteiligungen<br />
(Kohle, Kupfer,<br />
Aluminium), die nicht zum<br />
Kerngeschäft gehörten, wurden<br />
verkauft. Der Aufwand für das<br />
operative Geschäft wurde 2013<br />
um 2,3 Milliarden Dollar gedrückt,<br />
für Erkundung und<br />
neue Projekte um eine Milliarde.<br />
<strong>2014</strong> sollten die Kostensenkungen<br />
mindestens drei Milliarden<br />
Dollar erreichen.<br />
Seit vergangenem Sommer<br />
zieht das Geschäft von Rio Tinto<br />
an. <strong>2014</strong> dürfte mindestens ein<br />
Gewinnanstieg auf vier Milliarden<br />
Dollar möglich sein. Die<br />
Dividende (für 2013: 192 Dollarcent<br />
pro Aktie) dürfte ebenfalls<br />
weiter zulegen. Dass Rio Tinto<br />
gleichzeitig die Schulden von 18<br />
Milliarden Dollar in Richtung<br />
15 Milliarden drücken dürfte,<br />
macht die Aktie umso solider.<br />
Rio Tinto<br />
ISIN:GB0007188757<br />
80<br />
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
Kurs/Stoppkurs(in Dollar): 56,50/48,00<br />
KGV 2013/<strong>2014</strong>: <strong>10</strong>,3/9,5<br />
Dividendenrendite(in Prozent):3,4<br />
Chance<br />
Risiko<br />
2009 <strong>10</strong> 11 12 13 14<br />
Niedrig<br />
Quelle:Thomson Reuters<br />
50-Tage-Linie<br />
200-Tage-Linie<br />
Hoch<br />
AKTIE CF Industries<br />
Alter und neuer Favorit<br />
im Düngemittelsektor<br />
Knapp die Hälfte der weltweiten<br />
Nahrungsmittelproduktion<br />
wird gesichert mit dem<br />
Einsatz von Mineraldüngern.<br />
Mineraldünger steigern die<br />
Produktivität eines Feldes im<br />
Schnitt um etwa das Vierfache.<br />
Seit Jahresanfang legten<br />
die Preise für Getreide, Ölsaaten<br />
und Fleisch spürbar zu.<br />
Höhere Absatzpreise verbessern<br />
die Einkommen der<br />
Landwirte und schaffen Anreize,<br />
mehr Düngemittel einzusetzen.<br />
Davon profitieren<br />
Düngemittelhersteller wie CF<br />
Industries aus Deerfield im<br />
US-Bundesstaat Illinois.<br />
Als Glücksgriff erwies sich<br />
der 4,7 Milliarden Dollar<br />
schwere Kauf des Konkurrenten<br />
Terra Nitrogen im April<br />
20<strong>10</strong>. Die Übernahme machte<br />
CF Industries zum weltweit<br />
zweitgrößten Produzenten<br />
von Stickstoffdünger. Auch<br />
dessen Preis ist wegen der Kapazitätsausweitungen<br />
der Industrie<br />
bis Mitte 2013 gefallen.<br />
Allerdings haben die<br />
Produzenten rasch die Produktion<br />
gedrosselt. Ende 2013<br />
und Anfang <strong>2014</strong> sind die<br />
Preise wieder spürbar gestiegen.<br />
Zudem können Landwirte<br />
auf den Einsatz von Stickstoff<br />
im Vergleich zu Kali und<br />
Phosphor nicht längere Zeit<br />
verzichten, ohne direkte Ertragseinbußen<br />
zu erleiden. Das<br />
an der Börse mit gut 14 Milliarden<br />
Dollar bewertete Unternehmen<br />
wird zudem begünstigt<br />
von den tiefen Gaspreisen in<br />
der Heimat. Die Produktion von<br />
Kunstdünger ist sehr energieintensiv.<br />
Abzulesen ist der relative<br />
Vorteil von CF Industries auch<br />
an der Kursentwicklung. Die<br />
Aktie erklomm unlängst ein Rekordhoch.<br />
Seit der letzten Empfehlung<br />
liegen Anleger mit der<br />
Düngemittelaktie 36 Prozent<br />
vorne (WirtschaftsWoche<br />
27/2012). Die Aktie bleibt Favorit<br />
im Düngemittelsektor.<br />
CF Industries<br />
ISIN: US125269<strong>10</strong>01<br />
300<br />
250<br />
200<br />
150<br />
<strong>10</strong>0<br />
50<br />
0<br />
2008 09 <strong>10</strong> 11 12 13<br />
Kurs/Stoppkurs(Dollar): 255,87/2<strong>10</strong>,60<br />
KGV (2013/<strong>2014</strong>): <strong>10</strong>,3/13,2<br />
Dividendenrendite(in Prozent):1,6<br />
Chance<br />
Risiko<br />
Niedrig<br />
Hoch<br />
Quelle:FactSet<br />
50-Tage-Linie<br />
200-Tage-Linie<br />
FOTOS: OKAPIA/BIOS/THIRIET, BLOOMBERG/REYNOLDS, PR (2)<br />
<strong>10</strong>0 Redaktion: Geldwoche+Zertifikate: Frank Doll, Anton Riedl<br />
Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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ZERTIFIKATE Infineon<br />
Automobiler Turbo mit<br />
Benzin und Strom<br />
Runde Sache Zehn Prozent<br />
Wachstum mit Halbleitern<br />
Das amerikanische Marktforschungsunternehmen<br />
IHS<br />
rechnet damit, dass der weltweite<br />
Halbleitermarkt in diesem<br />
Jahr um sieben Prozent<br />
zulegt. Noch etwas stärker, mit<br />
womöglich zehn Prozent,<br />
könnte Dax-Wert Infineon in<br />
diesem Jahr wachsen und damit<br />
erstmals nach dem Finanzkrisen-Debakel<br />
(2009:<br />
2,2 Milliarden Euro Umsatz)<br />
wieder mehr als vier Milliarden<br />
Euro Umsatz erreichen.<br />
Infineon profitiert davon,<br />
dass die Nachfrage aus den<br />
wichtigsten Kundenbranchen<br />
dynamisch zunimmt:vor allem<br />
aus der Autoindustrie, mit<br />
Chips für den Aufschwung<br />
der Infineon seinen halben<br />
Umsatz macht. Der wachsende<br />
Anteil von Sicherheits- und<br />
Komfortfunktionen im Auto<br />
(Kameras, Fahrassistenzsysteme,<br />
Steuergeräte) beflügelt die<br />
Nachfrage nach Halbleitern genauso<br />
wie die steigende Zahl<br />
von Elektromobilen.<br />
Besonders stark, um 20 Prozent<br />
im Jahresvergleich, legt Infineon<br />
derzeit in Asien zu. Die<br />
Region wird in diesem Geschäftsjahr<br />
wahrscheinlich fast<br />
die Hälfte zum Gesamtumsatz<br />
beitragen. Am großen Unternehmensstandort<br />
in Malakka in<br />
Malaysia wurde soeben ein<br />
neues Entwicklungszentrum eröffnet.<br />
Mit zwei Milliarden Euro<br />
Cash in der Kasse ist Infineon<br />
gut gerüstet für den Aufschwung<br />
der Chipbranche.<br />
Infineon gehört derzeit zu<br />
den stärksten Titeln im Dax. Mit<br />
Faktorzertifikaten lässt sich der<br />
Aufwärtstrend (bei kleinem<br />
Einsatz) verstärken. In Seitwärtstrends<br />
bringen Discounts<br />
gute Renditen.<br />
Anlagezertifikat und Hebelpapier auf die Infineon-Aktie<br />
(aktuell 8,47 Euro)<br />
Kurs (Euro)<br />
Stoppkurs (Euro)<br />
Funktion<br />
Kauf-Verkaufs-<br />
Spanne<br />
Emittentin<br />
(Ausfallprämie)<br />
ISIN<br />
Chance/Risiko<br />
Quelle: Thomson Reuters<br />
Discount für Anleger<br />
7,46<br />
6,34<br />
Ermöglicht den Infineon-Kauf mit 11,9<br />
Prozent Rabatt, dafür ist der Maximalgewinn<br />
bei 8,00 Euro (Cap) gedeckelt;<br />
das wären 7,3 Prozent Gewinn in neun<br />
Monaten (Fälligkeit 19. Dezember<br />
<strong>2014</strong>); defensive Strategie, bei der es<br />
genügt, wenn die Infineon-Aktie ihr<br />
aktuelles Niveau hält; Aktienkurse unter<br />
8,00 Euro schmälern den Gewinn,<br />
Verluste entstehen, wenn Aktie unter<br />
7,46 Euro sinkt<br />
0,1<br />
BNP Paribas (0,8 Prozent = geringes<br />
Ausfallrisiko)<br />
DE000BP2YXV3<br />
6/5<br />
Faktor für Spekulanten<br />
27,13<br />
20,35<br />
Verstärkt die täglichen Kursschwankungen<br />
der Aktie mit<br />
fünffachem Hebel: Steigt Infineon<br />
an einem Tag um 2 Prozent,<br />
gewinnt das Zertifikat etwa<br />
<strong>10</strong> Prozent; keine feste<br />
Laufzeit, kein Knockout, Verluste<br />
in Seitwärtsphasen möglich;<br />
offensive Strategie für<br />
dynamischen Aufwärtstrend<br />
der Aktie<br />
1,2<br />
Commerzbank (1,1 Prozent =<br />
mittleres Ausfallrisiko)<br />
DE000CZ6SNX0<br />
<strong>10</strong>/9<br />
ANLEIHE Teva<br />
Pille gegen<br />
den Euro<br />
Top bei Tabletten Generika und<br />
eigene Medikamente im Angebot<br />
Weltweit ist die Pharmabranche<br />
in Bewegung. In den USA<br />
steht Actavis vor dem Kauf<br />
des Konkurrenten Forest<br />
Laboratories. Großspekulant<br />
Georges Soros hat in den<br />
vergangenen Monaten für<br />
370 Millionen Dollar Aktien<br />
der israelischen Teva Pharmaceutical<br />
gekauft (ISIN:<br />
US8816242098).<br />
Teva ist für Aktionäre interessant,<br />
weil das israelische<br />
Unternehmen zum einen<br />
Weltmarktführer bei Generika<br />
(Nachahmer-Medikamente,<br />
50 Prozent des Teva-Umsatzes)<br />
ist und zum anderen<br />
auch eigene Medikamente<br />
entwickelt (gegen Nervenkrankheiten,<br />
Krebs; rund<br />
40 Prozent Umsatzanteil) und<br />
dazu frei verkäufliche Präparate<br />
im Angebot hat. Für Anleihekäufer,<br />
die lieber in Dollar<br />
als in Euro investieren, ist<br />
Teva ein stabiler Schuldner,<br />
der für mittlere Laufzeiten (etwa<br />
bis 2020) gut drei Prozent<br />
Jahresrendite bietet.<br />
Teva ist ein Wachstumsunternehmen.<br />
1901 in Jerusalem<br />
als Vertrieb für importierte<br />
Medikamente gegründet,<br />
kam in den folgenden Jahrzehnten<br />
die eigene Forschung<br />
dazu. Ab den 1980er-Jahren<br />
folgte die internationale Expansion.<br />
In den vergangenen<br />
20 Jahren kletterte der Jahresumsatz<br />
von 500 Millionen<br />
Dollar auf 20 Milliarden.<br />
Heute hat das Unternehmen<br />
45 000 Mitarbeiter in 60 Ländern.<br />
In Deutschland ist Teva<br />
mit der Marke Ratiopharm<br />
vertreten.<br />
Allerdings, auch wenn Teva<br />
in den vergangenen 20 Jahren<br />
immer Gewinne machte, gibt<br />
es auf der Ertragsseite Schwankungen.<br />
2013 führten höhere<br />
Entwicklungskosten und Patentstreitigkeiten<br />
zu einem<br />
Rückgang des Nettogewinns um<br />
ein Drittel auf 1,3 Milliarden<br />
Dollar. Demnächst wird das<br />
wichtigste Eigenmedikament<br />
von Teva, Capoxone gegen multiple<br />
Sklerose, seinen Patentschutz<br />
verlieren. Teva kann seinen<br />
Blockbuster zwar für andere<br />