Wirtschaftswoche Ausgabe vom 2014-03-10 (Vorschau)

12.03.2014 Aufrufe

11 10.3.2014|Deutschland €5,00 1 1 4 1 98065 805008 Schummeln bei der Steuer Was gerade noch geht Unser teuerster Freund Warum Deutschland nicht von Russland loskommt Schweiz CHF 8,20 | Österreich €5,30 | Benelux€5,30 | Griechenland€6,00 | GroßbritannienGBP 5,40 | Italien€6,00 | Polen PLN27,50 | Portugal€6,10 | Slowakei €6,10 | Spanien€6,00 | TschechischeRep.CZK 200,- | Ungarn FT 2000,- © Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.

11<br />

<strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong>|Deutschland €5,00<br />

1 1<br />

4 1 98065 805008<br />

Schummeln bei der Steuer Was gerade noch geht<br />

Unser teuerster Freund<br />

Warum Deutschland nicht von Russland loskommt<br />

Schweiz CHF 8,20 | Österreich €5,30 | Benelux€5,30 | Griechenland€6,00 | GroßbritannienGBP 5,40 | Italien€6,00 | Polen PLN27,50 | Portugal€6,<strong>10</strong> | Slowakei €6,<strong>10</strong> | Spanien€6,00 | TschechischeRep.CZK 200,- | Ungarn FT 2000,-<br />

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Einblick<br />

Russland will sich die Krim schnappen. Das spaltet<br />

Europa: Wir machen mit Putin gute Geschäfte.<br />

Andere müssen sich fürchten. Von Roland Tichy<br />

Bedingt abwehrbereit<br />

FOTO: HEIKE ROST FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

Russlands Präsident Wladimir Putin<br />

nutzt das Chaos in der Ukraine<br />

und will wohl die Krim annektieren.<br />

Vielleicht reißt er<br />

auch noch das Donezbecken an sich;<br />

dann wäre die Grenze zwischen Ost und<br />

West wieder da, wo sie jahrhundertelang<br />

verlief: Östlich davon herrschte Russland,<br />

westlich liegen die fernsten Provinzen des<br />

Habsburgerreichs. Die Krim ist weit weg,<br />

für die meisten Deutschen gehört sie ohnehin<br />

zu Russland. Selbst Bundesaußenminister<br />

Frank-Walter Steinmeier erkennt<br />

Russlands Interessen dort an. Die Wirtschaft<br />

wünscht sich, dass der Konflikt<br />

nicht heiß eskaliert, sondern tiefgekühlt<br />

wird – zu wichtig ist Russland als Handelspartner,<br />

Gaslieferant und Investitionsstandort.<br />

Pragmatismus wird siegen.<br />

Nach schrillen Protestnoten und einem<br />

verpatzten G8-Gipfel wird man wieder an<br />

dem Tisch sitzen, an dem gute Geschäfte<br />

gemacht werden. „Der Russe kommt“, in<br />

Deutschland hat das als Motiv der Politik<br />

ausgedient; in den letzten Jahren des Kalten<br />

Krieges höhnten Kabarettisten: „Der<br />

Russ’ kommt, ob er aber über Oberammergau<br />

oder aber über Unterammergau<br />

kommt, das weiß man nicht!“<br />

Andere Länder haben da ein längeres<br />

historisches Gedächtnis und einen anderen<br />

Blick auf die Geschichte. Polens Premier<br />

Donald Tusk steinmeiert nicht windelweich<br />

herum, sondern spricht von der<br />

Not, militärisch aufzurüsten und bei der<br />

Energieversorgung von Russland autark zu<br />

werden. Tschechien kramt wieder alte Pläne<br />

für ein Atomkraftwerk hervor, das sich<br />

nicht rechnet – es sei denn, man kalkuliert<br />

die politischen Kosten der Abhängigkeit<br />

<strong>vom</strong> russischen Gas mit ein. In den baltischen<br />

Staaten ist die Reaktion ähnlich aufgeregt.<br />

Auch dort gibt es wie auf der Krim<br />

eine starke russische Bevölkerungsgruppe,<br />

die schnell als Argument herhalten kann,<br />

warum Russland sie mal wieder befreien<br />

muss, wie schon 1940. Der Zweite Weltkrieg<br />

endete für sie nicht mit dem 8. Mai<br />

1945, dem Tag der deutschen Kapitulation<br />

– sondern erst mit dem Zerfall der Sowjetunion,<br />

unter deren Knute sie mit dem Siegeszug<br />

der Roten Armee geraten waren.<br />

Jetzt fürchten sie wieder das Russland<br />

vor und das wankelmütige Deutschland<br />

hinter sich.<br />

EIN STALIN IM DESIGNERANZUG?<br />

Ist Putin ein „lupenreiner Demokrat“, wie<br />

einst Gerhard Schröder für ihn geworben<br />

hat, oder doch ein brutaler Stalin im modernen<br />

Designeranzug? Jedenfalls ist Russland<br />

weder ein Rechtsstaat noch eine Demokratie.<br />

Und damit ist der deutsche<br />

Versuch gescheitert, Russland durch politische<br />

und wirtschaftliche Verflechtungen<br />

einzubinden. Denn Putin scheren Regeln<br />

des Völkerrechts einen Dreck. Deshalb ist<br />

auch das Gerede von Wirtschaftssanktionen<br />

kindisch: Putin wird einen wirtschaftlichen<br />

Rückschlag durch ein Kappen der<br />

Handelsbeziehungen leichter wegstecken<br />

als eine nur auf ständig wachsenden Sozialausgaben<br />

aufgebaute Konsum-Demokratie<br />

wie Deutschland. Putin hält deutsche<br />

Direktinvestitionen und profitable<br />

Absatzmärkte deutscher Unternehmen in<br />

Geiselhaft. Ein Wirtschaftskrieg würde<br />

Deutschland viel kälter erwischen als das<br />

leidgewohnte und gedemütigte Russland,<br />

das früherer Größe nachtrauert (siehe Seite<br />

18). Autokraten kalkulieren anders als<br />

Demokratien – Wohlstandsverluste wiegen<br />

leichter bei Diktatoren, dafür sind ihre<br />

Großmachtgelüste entschieden ausgeprägter.<br />

Wenn Politiker die Paralympics<br />

boykottieren, wird das Putin wenig beeindrucken<br />

– was für eine lächerliche Idee.<br />

Europa zeigt sich uneinig und nur bedingt<br />

abwehrbereit. Deutschland hat seine<br />

Verteidigungsanteile am Bundesetat seit<br />

dem Kalten Krieg halbiert. Verteidigungsministerin<br />

Ursula von der Leyen wollte<br />

kurz mal global Flagge zeigen – aber nur<br />

mit 200 Mann ihrer geschrumpften Kinderkrippen-Armee.<br />

In der echten Krise ist sie<br />

schnell abgetaucht. Die Schutzmacht USA<br />

ist endgültig Richtung Pazifik abgezogen.<br />

Putin kalkuliert kühl – und gewinnt. Und<br />

das Raubtier bekommt beim Fressen Appetit,<br />

fürchtet Polens Premier Tusk. Der eisige<br />

Wind der Machtpolitik weht durch<br />

Europa.<br />

n<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 3<br />

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Überblick<br />

Menschen der Wirtschaft<br />

6 Seitenblick Risiko-Reisen für Manager<br />

8 Drohnen: Chaos im deutschen Luftraum<br />

9 Mobilfunk: Preiskampf vor der Fusion |<br />

Sozialkassen: Rente mit 70<br />

<strong>10</strong> Interview: Finanzstaatssekretär Michael<br />

Meister über den Rettungsfonds und den<br />

Stresstest für Banken<br />

12 WhatsApp: Clou für deutsche Kunden |<br />

Getgoods: Geld abgeflossen | Rennstrecke<br />

Bilster Berg: Miese Premiere<br />

14 Chefsessel | Startup Goodz<br />

16 Chefbüro Oliver Kastalio, Chef des Brillenherstellers<br />

Rodenstock<br />

Titel Unser teuerster Freund<br />

Die USA wollen Russlands Präsidenten<br />

Wladimir Putin wegen dessen Griff<br />

nach der Krim mit Sanktionen in die<br />

Schranken weisen. Den Schaden<br />

hätte die deutsche Wirtschaft – die will<br />

eine Isolation ihres Wachstumsmarkts<br />

unbedingt verhindern. Seite 18<br />

Politik&Weltwirtschaft<br />

18 Russland Wladimir Putin provoziert mit<br />

seinem Poker um die Krim Sanktionen des<br />

Westen – die würden auch die deutsche<br />

Wirtschaft treffen | Wo deutsche Unternehmen<br />

in Russland aktiv sind<br />

30 Streitgespräch EP-Präsident Martin Schulz<br />

debattiert mit dem Politologen Eberhard<br />

Sandschneider über den richtigen Umgang<br />

mit Russland<br />

34 Föderalismus Bund und Länder rüsten zum<br />

neuen Streit um die Steuermilliarden<br />

40 Interview: Günther Oettinger Der EU-<br />

Kommissar über die europäische Gasversorgung<br />

und die Energiewende<br />

43 Berlin intern<br />

Unternehmen&Märkte<br />

44 Aktivistische Aktionäre Mit welchen Methoden<br />

Investoren wie Carl Icahn und der<br />

Elliott-Fonds Unternehmen aufmischen<br />

50 Oetker Seine Verwicklung in ein Bierkartell<br />

könnte Finanzchef Albert Christmann im<br />

Rennen um den Chefposten schaden<br />

52 Luxus Chinas Reiche schwenken um auf<br />

dezentere Marken. Ein Besuch beim<br />

italienischen Herrenausstatter Caruso<br />

56 Pirelli Der Einstieg von Asiaten würde den<br />

weltweiten Reifenmarkt aufmischen<br />

59 Deutsche Bahn Gewinne aus dem Netz<br />

sollen über einen Fonds in die Gleise zurückfließen<br />

– ein Vabanquespiel für den Bund<br />

60 Banken Kreditinstitute verschieben Milliarden<br />

an unregulierte Fonds – ein Risiko<br />

62 Flugzeugbau Japanische Unternehmen<br />

versuchen ein Comeback<br />

Technik&Wissen<br />

64 Spezial Cebit Ein Test deckt erhebliche Sicherheitslücken<br />

bei Smart-Home-Systemen<br />

auf | Die Gewinner des Big-Data-Booms |<br />

Splunk-Chef Godfrey Sullivan über das<br />

Geschäft mit der Datenanalyse<br />

76 Rohstoffe Brennende Kohleflöze sollen<br />

künftig Gas für die Stromerzeugung liefern<br />

78 Gesundheit Ein Amerikaner will mit Pulver<br />

die Welt ernähren<br />

Steuertricks<br />

Wir checken zehn Fälle,<br />

von Arbeitszimmer bis<br />

Pendlerpauschale: Was ist<br />

legales Steuersparen, wo<br />

beginnt die Hinterziehung<br />

– und welche Konsequenzen<br />

drohen Ertappten?<br />

Seite 86<br />

Angriff aus dem Nichts<br />

Aggressive Investoren wie der Amerikaner<br />

Carl Icahn mischen weltweit Unternehmen<br />

auf . Jetzt nehmen sie auch Deutschland<br />

stärker ins Visier. Seite 44<br />

TITELILLUSTRATION: DMITRI BROIDO<br />

4 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Nr. 11, <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong><br />

FOTOS: CONTOUR BY GETTY IMAGES, GERHARD RICHTER, BETTY, 1991, OLBRICHT COLLECTION, FRIEDRICH ROSENSTIEL, KÖLN; ILLUSTRATIONEN: FRANCESCO BONGIONRNI, NICHOLAS BLECHMAN<br />

Total digital<br />

Das Internet erobert unser Leben: <strong>vom</strong> Haus über die Unternehmen<br />

bis hin zu den Unis. Wie wir künftig bequemer wohnen,<br />

effektiver arbeiten und effizienter lernen. Seite 64, 80<br />

n IT-Messe Cebit Die großen Fragen rund<br />

um Big Data, IT-Sicherheit und Vernetzung<br />

diskutieren führende IT-Unternehmen<br />

und kleine Startups aus aller Welt in Hannover.<br />

Welche Trends und Hypes die Branche<br />

bewegen, lesen Sie ab Montag auf<br />

wiwo.de/cebit<br />

Attraktive Alternative<br />

Unikate bedeutender Künstler wie „Betty“<br />

von Gerhard Richter sind Millionen Euro<br />

wert – ihre Editionen kosten oft nur einen<br />

Bruchteil – und haben selbst Potenzial<br />

für Wertsteigerungen. Seite <strong>10</strong>6<br />

facebook.com/<br />

wirtschaftswoche<br />

twitter.com/<br />

wiwo<br />

plus.google.com/<br />

+wirtschaftswoche<br />

Management&Erfolg<br />

80 Online-Bildung Unterricht per Mausklick<br />

verändert Studium und Weiterbildung<br />

84 Berater Wie die Digitalisierung die Beraterbranche<br />

umkrempelt<br />

Geld&Börse<br />

86 Steuern Was ist noch ein cleverer Spartrick,<br />

wann beginnt die Hinterziehung?<br />

91 Mittelstandsanleihen Wie Finanzierungsberater<br />

und Banken abkassieren<br />

94 DAB Bank Das Institut stand dem insolventen<br />

Finanzdienstleister Accessio nahe und<br />

bekommt deshalb jetzt eine Menge Ärger<br />

96 Steuern und Recht Firmenwagen für<br />

Angehörige | Anhebung des Rentenalters<br />

und private Vorsorge | Fristverlängerung<br />

für Madoff-Geschädigte<br />

98 Geldwoche Kommentar: Bilanzkosmetik |<br />

Trend der Woche: Chinesischer Yuan | Dax-<br />

Aktien: Allianz | Hitliste: Unternehmensanleihen<br />

| Aktien: Rio Tinto, CF Industries | Anleihe:<br />

Teva | Zertifikat: Infineon | Investmentfonds:<br />

Warum Michel Degosciu von<br />

LPX börsennotierte Private-Equity-Unternehmen<br />

kauft | Chartsignal: Uranproduzent<br />

Cameco | Relative Stärke: SMA Solar<br />

Perspektiven&Debatte<br />

<strong>10</strong>6 Art Report Als Editionen sind Werke der<br />

besten Künstler der Welt noch erschwinglich<br />

1<strong>10</strong> Kost-Bar<br />

Rubriken<br />

3 Einblick, 112 Leserforum,<br />

113 Firmenindex | Impressum, 114 Ausblick<br />

n Lesen Sie Ihre WirtschaftsWoche<br />

weltweit auf iPad oder iPhone:<br />

Diese Woche mit einer Fotogalerie<br />

über Wladimir Putins<br />

Nähe zu Deutschland<br />

und einem Video über<br />

den Handel mit Werken<br />

von Gerhard Richter.<br />

wiwo.de/apps<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 5<br />

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Seitenblick<br />

GESUNDHEIT<br />

Reisen mit Risiko<br />

Wo drohen bei Geschäftstrips oder der Entsendung als<br />

Expat am ehesten Krankheiten? Risiken lauern vor<br />

allem in Afrika; aber auch in Russland und Teilen Asiens<br />

mangelt es oft an guter medizinischer Versorgung.<br />

Kanada<br />

88Prozent der deutschen Unternehmen<br />

schicken regelmäßig Geschäftsreisende auch in medizinisch<br />

hoch riskante Gebiete. Weltweit tun dies sogar<br />

95 Prozent der Firmen. Das zeigt eine Umfrage unter<br />

global agierenden Unternehmen durch International<br />

SOS, einen Anbieter von Prävention und Krisenmanagement<br />

in Gesundheitsfragen mit Hauptsitzen in<br />

London und Singapur. Mit rund <strong>10</strong>000 Mitarbeitern<br />

betreut er in 76 Ländern mehr als <strong>10</strong>000 Firmenkunden.<br />

USA<br />

Mexiko<br />

Kolumbien<br />

D M G<br />

Kuba<br />

Nicaragua Haiti<br />

Venezuela<br />

Guyana<br />

Suriname<br />

Medizinischer Risikofaktor*<br />

Ecuador<br />

M<br />

G<br />

66Prozent der befragten deutschen Unternehmen<br />

entsenden Mitarbeiter sogar für längere<br />

Aufenthalte in gesundheitlich hoch riskante Regionen,<br />

weltweit handeln 70 Prozent der Firmen so. Nimmt<br />

man Sicherheits- und politische Risiken hinzu, schätzen<br />

die weltweit befragten Firmen Mexiko, Nigeria,<br />

Afghanistan und Indien als riskanteste Länder ein;<br />

deutsche Unternehmen betrachten Russland, Mexiko,<br />

Iran und Brasilien als die gefährlichsten Gegenden.<br />

Niedriges Risiko<br />

Internationaler Standard medizinischer Versorgung.<br />

Geringes Risiko von Infektionskrankheiten. Auch bei<br />

ernsten Krankheiten ist angemessene Behandlung<br />

im Land möglich.<br />

Mittleres Risiko<br />

Teilweise internationaler Standard medizinischer<br />

Versorgung, oft niedriger. Bei ernsten Problemen<br />

in ländlichen Regionen Verlegung notwendig.<br />

Mögliche Infektionsrisiken durch verunreinigtes<br />

Wasser.<br />

Peru<br />

D<br />

Brasilien<br />

Bolivien<br />

Paraguay<br />

Uruguay<br />

Mittlere und hohe Risiken<br />

32Prozent der Unternehmen führen medizinische<br />

Voruntersuchungen oder Risikoanalysen<br />

durch, bevor sie einen Mitarbeiter ins Ausland<br />

entsenden. Die Zahl erscheint niedrig angesichts<br />

steigender Entsendungen und Reisen in risikoreiche<br />

Regionen – und angesichts der Erkenntnis, dass sich<br />

mehr als ein Drittel der medizinisch notwendigen<br />

Evakuierungen bei Auslandsreisen und -aufenthalten<br />

auf bestehende gesundheitliche Probleme wie Herz-<br />

Kreislauf-Erkrankungen zurückführen lassen.<br />

stephanie.heise@wiwo.de<br />

Gute medizinische Versorgung nur in Metropolen,<br />

schon mittelschwere Krankheiten oder Verletzungen<br />

können eine Evakuierung nötig machen.<br />

Hohe Risiken<br />

Niedriger medizinischer Standard, begrenzter<br />

Zugang zu Medikamenten. Schon mittelschwere<br />

Krankheiten oder Verletzungen machen eine<br />

Evakuierung in der Regel nötig.<br />

Extreme Risiken<br />

Gesundheitsversorgung und Medikamente auch<br />

in Notfällen kaum vorhanden. Infektionskrankheiten<br />

wie Malaria, Dengue oder Cholera sind<br />

verbreitet.<br />

Chile<br />

Argentinien<br />

M<br />

G<br />

6 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Grönland<br />

Island<br />

Marokko<br />

Sahara<br />

(Marokko)<br />

Algerien<br />

Ukraine<br />

4<br />

Bosnien<br />

5<br />

Albanien<br />

6 7<br />

Syrien<br />

Mazedonien<br />

Libyen Ägypten 8 Irak<br />

M<br />

Infektionserkrankungen<br />

Saudi-<br />

Arabien<br />

Usbekistan<br />

Turkmenistan<br />

K<br />

T<br />

C<br />

M<br />

G<br />

HIV<br />

3<br />

Iran<br />

Kasachstan<br />

K<br />

T<br />

C<br />

Russland<br />

Afghanistan<br />

T<br />

Kenia<br />

D<br />

Kirgisistan<br />

Tadschikistan<br />

Pakistan<br />

Indien<br />

G<br />

D<br />

M<br />

M<br />

HIV<br />

Nepal<br />

Mongolei<br />

Bangladesch<br />

M<br />

H<br />

H<br />

China<br />

Laos<br />

Thailand<br />

Vietnam<br />

Kambodscha<br />

Malaysia<br />

Indonesien<br />

Nordkorea<br />

Südkorea<br />

M<br />

Australien<br />

Japan<br />

Philippinen<br />

Myanmar<br />

D M<br />

Länderkürzel:<br />

1 = Äquatorialguinea<br />

2 = Republik Kongo<br />

3 = Weißrussland<br />

4 = Moldawien<br />

5 = Georgien<br />

6 = Armenien<br />

7 = Aserbaidschan<br />

8 = Libanon<br />

H<br />

Papua-<br />

Neuguinea<br />

Neuseeland<br />

Durch Tiere übertragene<br />

Erkrankungen<br />

D<br />

M<br />

G<br />

Denguefieber<br />

Malaria<br />

Gelbfieber<br />

H<br />

Hirnhautentzündung<br />

Fälle von Tollwut<br />

Mauretanien<br />

Mali Niger<br />

Senegal<br />

Tschad Sudan Jemen<br />

Guinea Guinea Benin<br />

Bissau<br />

Zentralafrik.<br />

Rep.<br />

Süd-<br />

Sudan Äthiopien Somalia<br />

Sierra<br />

Leone<br />

Togo 1<br />

Uganda<br />

Dem.<br />

Liberia Burkina<br />

2<br />

Republik Ruanda<br />

Faso<br />

Kongo<br />

Burundi<br />

M<br />

Tansania<br />

Madagaskar<br />

T Nigeria<br />

G D<br />

Sambia<br />

Malawi<br />

Simbabwe<br />

Namibia Botsuana<br />

K<br />

Mosambik<br />

Südafrika Swasiland<br />

Lesotho<br />

Angola<br />

D<br />

K<br />

HIV<br />

T<br />

C<br />

Kinderlähmung<br />

Sehr hohes<br />

Aids-Risiko<br />

Tuberkulose<br />

Cholera<br />

Erkrankungen des<br />

Verdauungstraktes<br />

Schlechte<br />

Infrastruktur<br />

Schlechte medizinische<br />

Infrastruktur<br />

Mangelnde<br />

Wasserqualität<br />

Mangelnde<br />

Nahrungsmittelhygiene<br />

Erkrankungen durch<br />

Umweltbelastungen<br />

Abgase, Smog<br />

Mögliche radioaktive<br />

Kontamination von<br />

Nahrungsmitteln<br />

Todesfälle und schwere<br />

Verletzungen<br />

* manche Risiken beschränken sich auf einzelne Landesteile; Quelle: International SOS<br />

Schlechte Straßen,<br />

unsichere Autos<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 7<br />

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Menschen der Wirtschaft<br />

Zugedrohnt<br />

Bundesverkehrsminister<br />

Dobrindt<br />

DROHNEN<br />

Chaos im Luftraum<br />

Zivile Drohnen werden immer beliebter.<br />

Die Deutsche Flugsicherung fühlt sich<br />

inzwischen überfordert.<br />

Die Minidrohne flog direkt auf Angela Merkel zu,<br />

als sie im vergangenen September auf einer CDU-<br />

Wahlveranstaltung in Dresden auftrat. Mit der Aktion<br />

wollte die Piratenpartei gegen staatliche Überwachung<br />

protestieren – und kassierte dafür nun<br />

einen Bußgeldbescheid des Bundesaufsichtsamtes<br />

für Flugsicherung. 528,50 Euro muss der Besitzer<br />

zahlen, weil er die Drohne in der „Kontrollzone“<br />

des Dresdner Flughafens gestartet hatte, ohne dass<br />

er den Tower um Freigabe gebeten hatte. Die Zone<br />

erstreckt sich über einen Großteil Dresdens.<br />

Der Verstoß ist kein Einzelfall. Die Drohnen werden<br />

immer populärer, der Handel bietet sie schon<br />

für 199 Euro an, gesteuert werden sie meist per<br />

Smartphone. Für die Deutsche Flugsicherung ein<br />

Riesenproblem: „Wir fürchten, dass die meisten<br />

Käufer solcher Geräte nicht einmal wissen, dass sie<br />

diese in vielen Städten ohne Zustimmung des Flughafentowers<br />

nicht starten dürfen“, sagt eine Sprecherin<br />

der Deutschen Flugsicherung. Trotzdem<br />

erhalten allein die Berliner Fluglotsen an manchen<br />

Tagen bis zu 50 Bitten um Starterlaubnis für Drohnen<br />

. „Das ist kaum zu bewältigen, denn die Hauptaufgabe<br />

ist es, Start- und Lande-Freigaben für Verkehrsflugzeuge<br />

zu erteilen“, so die Flugsicherung.<br />

Selbst wenn die Geräte nur in Hüfthöhe über den<br />

Boden schweben, gilt das oft schon als ein unerlaubtes<br />

Eindringen in die streng regulierten Anflugzonen<br />

der Flughäfen. In Berlin und Hamburg decken<br />

diese Zonen fast das gesamte Stadtgebiet ab.<br />

In Hannover, Frankfurt, Leipzig, Köln, Dresden,<br />

Düsseldorf und Dortmund trifft es große Teile der<br />

Stadt. Auch in der Nähe von Militärflughäfen wie in<br />

Kaiserslautern sind Teile des Stadtgebiets für das<br />

moderne Spielzeug tabu. Bis zu 50 000 Euro kann<br />

das unerlaubte Eindringen in solche kontrollierte<br />

Lufträume kosten.<br />

Inzwischen sprechen Insidern zufolge Vertreter<br />

der Flugsicherung und Spezialisten von Bundesverkehrsminister<br />

Alexander Dobrindt über eine<br />

mögliche Sonderregelung für die zivilen Minidrohnen.<br />

Auch eine Aufklärungskampagne für die<br />

Bürger wird diskutiert. Denn selbst die Polizei weiß<br />

oft nicht, wo die Minidrohen verboten sind. Zudem<br />

müssen zurzeit auch die Eigentümer des Grundstücks,<br />

von dem aus die Drohne startet, ihr Okay<br />

geben. Bei öffentlichen Straßen und Plätzen sind<br />

das die Kommunen.<br />

Für die Drohnen, mit denen Amazon und Deutsche<br />

Post Pakete ausliefern wollen, würde eine solche<br />

ministerielle Sonderzulassung allerdings nicht<br />

reichen, da diese Flugobjekte nicht auf Sicht fliegen<br />

sollen, sondern vollautomatisch. Hier ist Experten<br />

zufolge ein komplett neues Regelwerk nötig.<br />

thomas.stoelzel@wiwo.de<br />

Geschäft mit<br />

Zukunft<br />

Entwicklung des weltweiten<br />

Drohnen-Marktes<br />

(in Milliarden Dollar)<br />

12<br />

<strong>10</strong><br />

8<br />

6<br />

4<br />

2<br />

2013<br />

ab <strong>2014</strong> Prognose;<br />

Quelle:BusinessInsider<br />

Verteidigung<br />

Zivil<br />

2018 2023<br />

8 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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MOBILFUNK<br />

Preiskampf vor der Fusion<br />

Im Mai will die EU-Kommission<br />

entscheiden, ob die O2-Mutter<br />

Telefónica den Netzbetreiber<br />

E-Plus übernehmen darf. Zuvor<br />

mischen beide noch mal den<br />

deutschen Mobilfunk auf. Am<br />

Montag will Tony Hanway,<br />

Chef von Service und Vertrieb<br />

bei Telefónica Deutschland,<br />

deutschen Geschäftskunden<br />

erstmals einen Regeltarif mit<br />

unternehmensweit gültigen Paketen<br />

für Telefonate, SMS und<br />

Daten anbieten. Üblich war in<br />

der Branche bisher, Geschäftskundenverträge<br />

je Mitarbeiter<br />

zu buchen. Künftig können Unternehmen<br />

die Pakete auf beliebig<br />

viele Beschäftigte aufteilen<br />

und so flexibler abrechnen.<br />

Noch radikaler sind zwei<br />

neue Privatkunden-Tarife im<br />

E-Plus-Netz, die seit Anfang<br />

März gelten und faktisch das<br />

Ende hoher Roamingkosten in<br />

Europa bedeuten. Bei der monatlich<br />

drei Euro teuren Option<br />

sind Anrufe von Vertragskunden<br />

aus EU-Ländern und vielen<br />

anderen europäischen Staaten<br />

nach Deutschland bereits abgegolten.<br />

Anrufe im Ausland<br />

kosten nur neun Cent pro<br />

Minute.<br />

Zweifelhafte Offensive<br />

angekündigt Telefónica-<br />

Manager Hanway<br />

Der Discounter Alditalk, der<br />

für seine Prepaid-Angebote<br />

ebenfalls das E-Plus-Netz nutzt,<br />

streicht Roaminggebühren für<br />

Telefonate in der EU und der<br />

Schweiz sogar ganz.<br />

Die EU fürchtet jedoch, dass<br />

dieser erbitterte Kampf um die<br />

Kunden nach einer Übernahme<br />

vorbei sein könnte. Ende Februar<br />

hatte EU-Kommissar Joaquín<br />

Almunia Bedenken angemeldet,<br />

der geplante Deal könnte genau<br />

diesen Wettbewerb im deutschen<br />

Mobilfunkmarkt gefährden.<br />

Die Tarif-Offensiven dürften<br />

der EU-Kommission die<br />

Zustimmung zur Übernahme<br />

nicht eben erleichtern.<br />

thomas.kuhn@<br />

wiwo.de<br />

Aufgeschnappt<br />

Schräge Idee Die thüringische<br />

Gemeinde Rhönblick will für<br />

Touristen so attraktiv werden<br />

wie Pisa und plant deshalb den<br />

Bau eines Aussichtsturms, der<br />

sich um 23,5 Grad zur Seite<br />

neigt. Es wäre das schrägste Ge-<br />

bäude der Welt. Beim schiefen<br />

Turm von Pisa sind es nur vier<br />

Grad. 14 Millionen Euro soll das<br />

Projekt kosten, aber noch ist die<br />

Finanzierung nicht gesichert.<br />

Zudem sammlen Kritiker schon<br />

Unterschriften für ein Bürgerbegehren<br />

gegen das Projekt.<br />

Schiefe Verteilung In New York<br />

sollen bis zu <strong>10</strong>0 000 mehr Single-Frauen<br />

leben als ledige Männer.<br />

Das US-Startup The Dating<br />

Ring will daher spezielle Flüge<br />

nach San Francisco organisieren,<br />

wo es wegen der Personalpolitik<br />

der IT-Firmen im Silicon<br />

Valley einen Männerüberschuss<br />

gibt. Derzeit sammelt das Startup<br />

per Crowdfunding Geld ein.<br />

SOZIALKASSEN<br />

Rente mit 70<br />

gefordert<br />

Einen Umbau der Sozialversicherungen<br />

fordert die Vereinigung<br />

der Bayerischen Wirtschaft<br />

(vbw). Dazu zählen die<br />

Erhöhung des Eintrittsalters auf<br />

eine „Rente mit 70“, der Ausbau<br />

kapitalgedeckter betrieblicher<br />

und privater Altersvorsorge sowie<br />

eine strikte Begrenzung der<br />

Beiträge. So steht es im „Ordnungspolitischen<br />

Bericht <strong>2014</strong>“<br />

der vbw, den sie am Montag<br />

vorstellt. „Das Renteneinstiegsalter<br />

muss an die Alterung der<br />

Gesellschaft angepasst werden“,<br />

verlangt Präsident Alfred<br />

Gaffal. „Eine Rente mit 63 für<br />

langjährig Versicherte ist falsch.<br />

Die Lasten müssten künftige<br />

Generationen tragen.“<br />

Für die Krankenversicherung<br />

empfiehlt die vbw eine Gesundheitsprämie,<br />

wie sie einst die<br />

CDU vorgeschlagen hatte, und<br />

die Wiedereinführung einer<br />

Praxisgebühr, die aber zielgenauer<br />

als früher gestaltet werden<br />

soll. Zudem sollte der Wettbewerb<br />

zwischen den Krankenkassen<br />

durch eine generelle<br />

Senkung des Beitragssatzes und<br />

Zusatzprämien für einzelne<br />

Kassen gestärkt werden. Auch<br />

in der Pflege brauche es mehr<br />

private Vorsorge.<br />

henning.krumrey@wiwo.de | Berlin<br />

Weniger Besucher, höhere Preise<br />

Top5der Filme in Deutschland 2013<br />

FOTOS: ARCHIV KLAR, PR (2)<br />

150<br />

Kinobesucher<br />

in Deutschland<br />

(in Millionen)<br />

1<strong>10</strong>0<br />

<strong>10</strong>00<br />

140<br />

900<br />

130<br />

800<br />

120<br />

2008 09 <strong>10</strong> 11 12 13<br />

*Durchschnitt; ** auf Besucherbasis; Quelle: FFA<br />

Kinoumsatz<br />

in Deutschland<br />

(in Millionen Euro)<br />

700<br />

2008 09 <strong>10</strong> 11 12 13<br />

2008<br />

2013<br />

Eintrittspreis*<br />

Marktanteil<br />

von 3-D-Filmen**<br />

2013<br />

6,14€<br />

7,89€<br />

24,4%<br />

Fack Ju Göhte<br />

DerHobbit –SmaugsEinöde<br />

Django Unchained<br />

Ich –Einfach<br />

unverbesserlich 2<br />

DieTribute vonPanem –<br />

Catching Fire<br />

5,6Mio. Besucher<br />

3,7Mio.<br />

3,5Mio.<br />

4,6Mio.<br />

4,5Mio.<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 9<br />

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Menschen der Wirtschaft<br />

FLOSKELCHECK<br />

Wir<br />

Nachdem Missstände<br />

aller Art lange unter<br />

dem Protestruf<br />

„Eigentlich müsste<br />

man dagegen etwas<br />

unternehmen!“ von<br />

jedermann geduldet<br />

worden waren, wurde<br />

man eines Tages endlich<br />

konkreter und<br />

erklärte: „Wir nehmen<br />

das jetzt nicht mehr<br />

hin!“ Das Ertragen des<br />

Unerträglichen setzte<br />

sich indes unverdrossen<br />

fort, weil noch immer<br />

niemand wusste, wer<br />

dieser jetzt handlungsentschlossene<br />

„Wir“<br />

wohl wäre. Und wer<br />

fragt, wann der „Wir“<br />

sich wohl zur Tat anschickt,<br />

erhält zur<br />

Antwort:„Man weiß es<br />

nicht.“<br />

DER FLOSKELCHECKER<br />

Carlos A. Gebauer, 49,<br />

arbeitet als Rechtsanwalt in<br />

Düsseldorf, wurde auch als<br />

Fernsehanwalt von RTL und<br />

SAT.1 bekannt.<br />

INTERVIEW Michael Meister<br />

»Die EU-Kommission hat<br />

einen Interessenkonflikt«<br />

Der Parlamentarische Staatssekretär im<br />

Bundesfinanzministerium schlägt vor, den<br />

deutschen Bankenrettungsfonds länger zu öffnen.<br />

Herr Meister, Europa will seine<br />

Banken unter eine zentrale<br />

Aufsicht stellen. Was passiert<br />

mit dem deutschen Bankenrettungsfonds<br />

Soffin, der noch bis<br />

Ende <strong>2014</strong> geöffnet ist?<br />

Der Soffin ist noch für die staatlichen<br />

Kapitalhilfen an die<br />

Commerzbank, Ex-Hypo-Real-<br />

Estate oder Aareal Bank sowie<br />

für die beiden deutschen Abwicklungsanstalten<br />

zuständig.<br />

Gegebenenfalls könnte der<br />

Soffin aber noch länger geöffnet<br />

bleiben. Dies sollten wir von<br />

der Umsetzung des europäischen<br />

Abwicklungsmechanismus<br />

einschließlich seiner Bailin-Regeln<br />

abhängig machen.<br />

Der wird derzeit noch verhandelt.<br />

Auch um Banken zu helfen,<br />

die beim großen Stresstest<br />

der Europäischen Zentralbank<br />

durchfallen?<br />

Ich habe derzeit keine Sorgen<br />

um eine konkrete deutsche<br />

Bank. Aber mit einer Verlängerung<br />

des Soffin könnten wir<br />

SCHÄUBLES RECHTE HAND<br />

Meister, 52, Mathematiker<br />

und CDU-Abgeordneter, ist<br />

seit 2013 Parlamentarischer<br />

Staatssekretär bei Bundesfinanzminister<br />

Wolfgang Schäuble<br />

und dort auch für den<br />

staatlichen Bankenrettungsfonds<br />

Soffin zuständig.<br />

eine möglicherweise auftauchende<br />

Lücke schließen. Das ist<br />

aber abhängig davon, inwieweit<br />

der europäische Abwicklungsmechanismus<br />

umgesetzt werden<br />

kann. Hier verhandeln wir<br />

ja derzeit noch in Brüssel.<br />

Wann liegt ein Ergebnis vor?<br />

Bis zur Europawahl im Mai soll<br />

klar sein, wann der EU-Abwicklungsfonds<br />

startet. Im zweiten<br />

Halbjahr werden wir die europäischen<br />

Vorgaben in deutsches<br />

Recht umsetzen. Wir werden<br />

dann entscheiden, ob wir<br />

dem Deutschen Bundestag eine<br />

Verlängerung des Soffin vorschlagen.<br />

Der Kurs der Commerzbank-<br />

Aktie hat sich deutlich erholt.<br />

Zeit für den Ausstieg des<br />

Staates?<br />

Wir wollen als Bundesregierung<br />

nicht länger als nötig Eigentümer<br />

der Commerzbank sein.<br />

Bei einem Ausstieg müssen wir<br />

aber darauf achten, die Interessen<br />

der Steuerzahler im Auge<br />

zu behalten. Einen konkreten<br />

Zeitpunkt kann ich nicht<br />

nennen.<br />

Was, wenn ein ausländischer<br />

Investor den Staatsanteil<br />

übernehmen will?<br />

Ich habe grundsätzlich keine<br />

Vorbehalte gegen internationale<br />

Investoren.<br />

EU-Parlament, -Rat und -Kommission<br />

diskutieren über die<br />

Bankenunion. Wann rechnen<br />

Sie mit einer Einigung?<br />

Das kann sehr schnell gehen,<br />

wenn alle Beteiligten sich etwas<br />

bewegen. Ich rechne damit<br />

noch vor den europäischen<br />

Wahlen im Mai.<br />

Was macht Sie da so sicher?<br />

Weil sich die Parlamentarier<br />

ihrer Verantwortung bewusst<br />

sind. Für grenzüberschreitende<br />

Banken brauchen wir einen<br />

entscheidungsfähigen europäischen<br />

Mechanismus.<br />

Der Präsident des Europäischen<br />

Parlaments, Martin<br />

Schulz, fordert, den Bankenabwicklungsfonds<br />

schneller<br />

aufzufüllen als in den derzeit<br />

vorgesehenen zehn Jahren. Das<br />

bedeutet höhere Beiträge für<br />

die Banken. Könnte die Realwirtschaft<br />

darunter leiden?<br />

Wir stehen Vorschlägen, den<br />

Abwicklungsfonds schneller<br />

aufzufüllen, grundsätzlich offen<br />

gegenüber. Es ist dabei aber<br />

wichtig, die richtige Balance zu<br />

finden. Einerseits soll der Fonds<br />

schnell aufgebaut werden, andererseits<br />

müssen die Banken<br />

auch weiterhin in der Lage sein,<br />

Kredite an die Unternehmen zu<br />

vergeben. Daher hat der Rat<br />

zehn Jahre vorgesehen.<br />

Wer soll das Sagen über den<br />

Bankenabwicklungsfonds<br />

haben, die EU-Kommission?<br />

Die EU-Kommission hat einen<br />

Interessenkonflikt mit ihrer<br />

Beihilfeaufsicht für alle 28 EU-<br />

Staaten. Vor allem aber wollen<br />

wir das Abwicklungsboard so<br />

stark wie möglich machen. Dort<br />

sitzt die Expertise. Das geht am<br />

besten, wenn nicht eine politische<br />

Institution wie die Kommission<br />

alleine interveniert.<br />

mark.fehr@wiwo.de | Frankfurt,<br />

christian ramthun | Berlin<br />

ILLUSTRATION: TORSTEN WOLBER; FOTO: GETTY IMAGES/PHOTOTHEK<br />

<strong>10</strong> Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Menschen der Wirtschaft<br />

WHATSAPP<br />

Chatten ohne<br />

Guthaben<br />

Als „Weltpremiere“ feiern der<br />

Düsseldorfer Mobilfunkbetreiber<br />

E-Plus und der derzeit<br />

erfolgreichste Kommunikationsdienst<br />

WhatsApp ihre Kooperation,<br />

die sie Ende Februar<br />

besiegelt haben. Die von 30 Millionen<br />

Deutschen genutzte App<br />

soll erstmals als Mobilfunkanbieter<br />

mit eigenen Tarifen<br />

auftreten. Genaueres verrieten<br />

E-Plus-Chef Thorsten Dirks<br />

und WhatsApp-Gründer Jan<br />

Koum nicht.<br />

Jetzt erfuhr die Wirtschafts-<br />

Woche aus Unternehmenskreisen<br />

erste Details: Ein spezieller<br />

Tarif soll WhatsApp Privilegien<br />

einräumen, die kein anderer<br />

App-Anbieter bekommt. Geplant<br />

ist demnach die Einführung<br />

einer Prepaid-Karte mit<br />

einer WhatsApp-Option quasi<br />

zum Nulltarif. Denn alle Texte,<br />

Bilder und Videos, die über die<br />

App verschickt werden, werden<br />

nicht auf das gekaufte Datenvolumen<br />

angerechnet.<br />

Besonderer Clou: WhatsApp<br />

läuft so auch dann uneingeschränkt<br />

weiter, wenn das Guthaben<br />

aufgebraucht ist. Die<br />

Preise will WhatsApp kurz vor<br />

dem Marktstart Anfang April<br />

verkünden.<br />

juergen.berke@wiwo.de, henryk hielscher<br />

BILSTER BERG<br />

Miese<br />

Premiere<br />

Mit einem Konsortium um den<br />

Finanzinvestor HIG Capital<br />

will Marcus Graf von<br />

Oeynhausen-Sierstorpff<br />

den Nürburgring kaufen. Dabei<br />

hat er schon Probleme mit einer<br />

kleineren Rennstrecke, dem<br />

Interesse am Nürburgring<br />

Graf von Oeynhausen-Sierstorpff<br />

11.<strong>03</strong>. Konjunktur Das Statistische Bundesamt teilt am<br />

Dienstag mit, wie sich die Exporte im Januar entwickelt<br />

haben. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag<br />

(DIHK) erwartete im Dezember für<br />

<strong>2014</strong> ein Exportvolumen von 1,45 Billionen Euro,<br />

vier Prozent mehr als 2013. Am Donnerstag präsentiert<br />

das Institut für Weltwirtschaft in Kiel seine Frühjahrsprognose<br />

für die deutsche Konjunktur.<br />

12.<strong>03</strong>. Bundeshaushalt Das Bundeskabinett beschließt<br />

am Mittwoch die Eckwerte für den Haushaltsentwurf<br />

2015. Finanzminister Wolfgang Schäuble will<br />

einen Etat ohne neue Schulden vorlegen. Um das<br />

Ziel zu erreichen, plant er, den Zuschuss des Bundes<br />

an die Krankenkassen zu kürzen.<br />

Auslieferung Das Verwaltungsgericht in Rom entscheidet<br />

über die Auslieferung des deutschen<br />

Finanzjongleurs Florian Homm an die USA. Er war<br />

im März 2013 in Italien gefasst worden.<br />

13.<strong>03</strong>. Bundesbank In Frankfurt erläutert Bundesbank-<br />

Präsident Jens Weidmann am Donnerstag die Bilanz.<br />

Im vergangenen Jahr hat die Bank einen<br />

Überschuss von 2,2 Milliarden Euro erwirtschaftet.<br />

China In Peking endet nach mehr als einer Woche<br />

die Jahrestagung des Nationalen Volkskongresses.<br />

Regierungschef Li Keqiang hatte zu Beginn vor den<br />

3000 Delegierten angekündigt, dass er in diesem<br />

Jahr die Rüstungsausgaben um zwölf Prozent auf<br />

808 Milliarden Yuan (95 Milliarden Euro) aufstockt.<br />

16.<strong>03</strong>. Bayern Die Bürger des Freistaates<br />

wählen am Sonntag<br />

Stadt-, Kreis- und Landräte.<br />

Bei der letzten Kommunalwahl<br />

2008 erreichte die CSU 40 Prozent, die SPD<br />

kam auf 22,6 Prozent, die freien Wählergruppen<br />

auf 19, die Grünen auf 8,2 und die FDP auf 3,8<br />

Prozent.<br />

2013 eröffneten Bilster Berg im<br />

Teutoburger Wald. Die Manager<br />

des Grafen betonen zwar gerne,<br />

wie gut die Strecke schon in der<br />

Premierensaison ausgelastet<br />

war, wirtschaftlich aber war das<br />

Jahr ein Flop. Das zeigt der Finanzbericht<br />

an die Gesellschaf-<br />

TOP-TERMINE VOM <strong>10</strong>.<strong>03</strong>. BIS 16.<strong>03</strong>.<br />

ter, der der WirtschaftsWoche<br />

vorliegt. Für 2013 weist er einen<br />

Verlust von 2,8 Millionen Euro<br />

aus – bei nur 3,4 Millionen Euro<br />

Umsatz. Für <strong>2014</strong> ist ein weiterer<br />

Verlust von 1,4 Millionen Euro<br />

kalkuliert. Angepeilt war für<br />

beide Jahre ein Gewinn. Die Geschäftsführer<br />

Oeynhausen<br />

und Hans-<br />

Jürgen von Glasenapp<br />

reagierten nicht auf<br />

eine Anfrage. Die<br />

Rennstrecke haben<br />

170 Anleger finanziert.<br />

florian.zerfass@wiwo.de<br />

GETGOODS<br />

Geld<br />

abgeflossen<br />

Die Pleite des Online-Händlers<br />

Getgoods entwickelt sich zum<br />

Kriminalfall. So habe die Analyse<br />

interner Zahlungsströme<br />

durch die Insolvenzverwaltung<br />

Fragen zur Buchführung<br />

Insolvenzverwalter Brockdorff<br />

„Hinweise auf Unregelmäßigkeiten“<br />

ergeben, sagt Christian<br />

Graf Brockdorff, Insolvenzverwalter<br />

der Getgoods-Dachgesellschaft.<br />

Das E-Commerce-<br />

Unternehmen hatte Mitte<br />

November Insolvenz angemeldet<br />

und ein Schlaglicht auf<br />

die Solidität sogenannter Mittelstandsanleihen<br />

geworfen<br />

(siehe auch Seite 91).<br />

Rund 13 Millionen Euro sollen<br />

die Getgoods-Manager<br />

noch im Oktober 2013 bei Anlegern<br />

eingeworben haben. „Kurz<br />

vor dem Insolvenzantrag ist<br />

ein Großteil des Betrags von<br />

den Konten abgeflossen“, sagt<br />

Brockdorff. Generell werfe die<br />

Buchführung des Unternehmens<br />

Fragen auf. „So ist bei einzelnen<br />

Rechnungsposten offen,<br />

welche Gegenleistungen es<br />

gab“, so Brockdorff.<br />

Die Erkenntnisse des Verwalters<br />

dürften auch die Staatsanwaltschaft<br />

in Frankfurt an der<br />

Oder interessieren. Die Behörde<br />

hatte wenige Tage nach dem<br />

Insolvenzantrag Ermittlungen<br />

eingeleitet wegen des Verdachts<br />

auf Unterschlagung und wegen<br />

eines möglichen Verstoßes gegen<br />

das Aktienrecht.<br />

henryk.hielscher@wiwo.de<br />

FOTOS: MAURITIUS IMAGES, PR, PICTURE-ALLIANCE/DPA<br />

12 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Menschen der Wirtschaft<br />

CHEFSESSEL<br />

STARTUP<br />

APPLE<br />

Luca Maestri, 50, löst im<br />

September Peter Oppenheimer,<br />

51, als Finanzchef<br />

von Apple ab. Oppenheimer,<br />

seit 2004 auf dem<br />

Posten, will mehr Zeit mit<br />

seiner Familie verbringen.<br />

Der gebürtige Italiener<br />

Maestri kam erst im vergangenen<br />

Jahr zu Apple<br />

und ist derzeit Vice President<br />

im Finanzressort.<br />

Zuvor hat er für General<br />

Motors, Nokia Siemens<br />

Networks und Xerox gearbeitet.<br />

AXEL SPRINGER<br />

Wolfgang Reitzle, 65, bis<br />

April noch Vorstandschef<br />

von Linde, soll Mitte April in<br />

den Aufsichtsrat von Springer<br />

einziehen. Außerdem<br />

rücken in das Kontrollgremium<br />

Springers Noch-Finanzchef<br />

Lothar Lanz, 65, der<br />

argentinische Unternehmer<br />

Martin Varsavsky, 53, und aller<br />

Voraussicht nach Rudolf<br />

Knepper, 68, bis Ende 2011<br />

KREUZFAHRTEN<br />

21,7Millionen<br />

Vorstand und von Januar bis<br />

April 2013 schon einmal Mitglied<br />

des Aufsichtsrats. Ausscheiden<br />

werden Gerhard<br />

Cromme, 71, Klaus Krone, 72,<br />

und Michael Otto, 70.<br />

KPMG<br />

John Veihmeyer, 57, tritt Mitte<br />

März als Chef der weltweit drittgrößten<br />

Prüfungs- und Beratungsfirma<br />

KPMG an. Der Absolvent<br />

der Universität Notre<br />

Dame und bisherige Leiter des<br />

KPMG-Amerika-Geschäfts<br />

springt für den Australier<br />

Michael Andrew, 57, ein, der<br />

wegen einer schweren Krankheit<br />

in Ruhestand geht. Veihmeyer<br />

ist seit 36 Jahren ein<br />

strammer KPMG-Soldat. Zuletzt<br />

hatte er sich als Aufräumer beim<br />

US-Insiderskandal rund um illegale<br />

Geschäfte mit Aktien der<br />

KPMG-Mandanten Herbalife<br />

und Skechers verdient gemacht.<br />

DEUTSCHE BANK<br />

Andrew Procter, Leiter der<br />

Abteilung Compliance, Regulierung<br />

und Regierungsbeziehungen,<br />

wechselt zur Anwaltskanzlei<br />

Herbert Smith Freehills<br />

und verstärkt dort als Partner<br />

die Beratung für Banken. Der<br />

Australier kam 2005 von der britischen<br />

Finanzaufsicht FSA zur<br />

Deutschen Bank, war zuletzt<br />

aber umstritten. Die deutsche<br />

Aufsicht BaFin hatte moniert,<br />

dass er trotz der Affäre um<br />

den Zinssatz Libor seinen Job<br />

behalten hatte.<br />

Urlauber weltweit buchen <strong>2014</strong> eine Kreuzfahrt, darunter 6,5 Millionen<br />

Europäer, so der Branchenverband CLIA. 2012 zählte er<br />

20,3 Millionen Passagiere, davon 1,54 Millionen aus Deutschland.<br />

Die Reedereien stellen <strong>2014</strong> und 2015 für acht Milliarden<br />

Dollar 24 weitere Kreuzfahrtschiffe in Dienst. Bisher gibt es 393.<br />

GOODZ<br />

Von Sony zum Startup<br />

Fakten zum Start<br />

Team derzeit 5 Mitarbeiter<br />

Angebot von 55 Marken gibt es<br />

derzeit etwa <strong>10</strong>00 Produkte<br />

Nachfrage rund <strong>10</strong>0 Bestellungen<br />

pro Woche von den 30 000<br />

registrierten Benutzern<br />

Nach 20 Jahren bei Sony wollte Jeffry van Ede (Mitte) neu starten<br />

und kündigte 2011 seinen Job als Deutschland-Chef. Der<br />

48-Jährige fragte sich: Wie kann ich mit einem Unternehmen Geld<br />

verdienen und gleichzeitig der Umwelt und der Gesellschaft helfen?<br />

Die Antwort lautet: Goodz. Seit drei Monaten ist das Startup<br />

online. In dem Portal können Kunden Produkte kaufen, die gut<br />

aussehen, qualitativ hochwertig sind und nachhaltig produziert<br />

wurden. Die drei Gründer Thomas Preiss, van Ede und Florian<br />

Lanzer (von links) wollen Nachhaltigkeit „aus der Ökoecke herausholen“<br />

und die etablierten Marken herausfordern. „Es ist ja<br />

ganz nett, wenn Adidas einen nachhaltigen Schuh produziert“,<br />

sagt van Ede, „aber wir wollen kleinere Unternehmen unterstützen,<br />

die Nachhaltigkeit in ihre DNA aufgenommen haben.“<br />

Das Sortiment ist vielseitig: Neben Schals made in Germany<br />

und Biotees bietet Goodz Armbanduhren aus wiederverwertetem<br />

Holz und handgefertigte Fahrräder aus einer Sozialwerkstatt an.<br />

Neuerdings sogar eine Prepaid-Karte für Elektroautos. Mit ihr<br />

können die Fahrer an allen Ladestationen in Deutschland bezahlen.<br />

Zur weiteren Finanzierung<br />

sammelt van Ede<br />

jetzt Geld auf der Crowdfunding-Plattform<br />

Seedmatch.<br />

Vergangene<br />

Woche erreichte er den<br />

Mindestwert von 50 000<br />

Euro, bis Mitte April peilt<br />

er 200 000 Euro an.<br />

maximilian nowroth | mdw@wiwo.de<br />

FOTOS: PR (3)<br />

14 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Menschen der Wirtschaft | Chefbüro<br />

Oliver Kastalio<br />

Chef des Brillenherstellers Rodenstock<br />

360 Grad<br />

In unserer iPad-<br />

<strong>Ausgabe</strong> finden<br />

Sie an dieser<br />

Stelle ein interaktives<br />

360°-Bild<br />

Die Brille liegt auf dem Schreibtisch.<br />

„Die brauche ich nur zum<br />

Lesen“, sagt Oliver Kastalio, 49.<br />

Und das auch erst seit Kurzem.<br />

„Bevor ich zu Rodenstock kam,<br />

hatte ich keine Brille.“ Im November<br />

20<strong>10</strong> heuerte er beim<br />

Münchner Hersteller von<br />

Brillenfassungen und Brillengläsern<br />

an und übernahm den<br />

Vorsitz der Geschäftsführung.<br />

Vorher hatte der diplomierte<br />

Elektroingenieur und Betriebswirt<br />

beim Konsumgüterkonzern<br />

Procter & Gamble gearbeitet.<br />

19 Jahre lang. Sein Büro in<br />

der Rodenstock-Zentrale hat<br />

Kastalio selbst gestaltet<br />

– mit dem, was er<br />

vorfand. Nur der<br />

Schreibtisch ist neu.<br />

Das Gemälde an der<br />

Wand hatte einer<br />

seiner Vorgänger<br />

angeschafft. Ein Werk<br />

des US-Künstlers David<br />

John Flynn aus der Serie<br />

„A Painter’s Missal“. „Es gefällt<br />

mir“, sagt Kastalio. Mehr begeistert<br />

ihn der Feigenbaum, der im<br />

Büro steht. „Ein alter Stamm,<br />

aus dem immer neue Blätter<br />

sprießen.“ So sieht Kastalio<br />

auch Rodenstock:ein traditionsreiches<br />

Unternehmen, das<br />

stets neue Ideen und<br />

Produkte entwickelt.<br />

Sein Büro betrachtet<br />

er als „Raum der Begegnung“.<br />

Ein Konferenztisch<br />

mit sechs<br />

Stühlen und ein<br />

Couchtisch mit Sesseln<br />

stehen dafür<br />

bereit. „Zu mir darf jeder kommen“,<br />

sagt der Chef. „Ich gehe<br />

aber auch oft durch das Unternehmen<br />

zu den Mitarbeitern.“<br />

Mit seiner Frau und den beiden<br />

Töchtern wohnt er 15 Kilometer<br />

südlich von München. Die Zeit<br />

mit der Familie ist ihm wichtig.<br />

Und der Sport. Kastalio rudert.<br />

„Ich verbringe allerdings mehr<br />

Zeit an der Rudermaschine als<br />

auf dem Wasser.“ Mit Freunden<br />

leistet er sich zudem einen<br />

Personal Trainer. Ein schweißtreibender<br />

Zeitvertreib. „Aber“,<br />

sagt Kastalio, „es fühlt sich gut<br />

an, wenn es vorbei ist.“<br />

hermann.olbermann@wiwo.de<br />

FOTO: DIETER MAYR FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

16 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

Das Trauma sitzt tief<br />

RUSSLAND | Mit seinem Griff nach der Krim demonstriert Wladimir Putin, dass er keine<br />

weitere Erosion des russischen Einflussbereiches in Osteuropa hinnehmen will. Der<br />

Westen will den Autokraten nun mit Sanktionen stoppen – und wagt einen Konflikt mit<br />

der Wirtschaft. Die will eine Isolation ihres Wachstumsmarkts verhindern.<br />

Niemals nimmt Wladimir Putin<br />

eine Niederlage hin. Doch der<br />

12. März 1999 war für den russischen<br />

Präsidenten ein solch<br />

schwarzer Tag – einer, der sich<br />

als Trauma in sein Gedächtnis eingebrannt<br />

hat. Damals war Putin Chef des Geheimdienstes<br />

FSB, der in einer steinernen Trutzburg<br />

im Herzen von Moskau sitzt. An dem<br />

kalten Frühlingstag kam die Meldung, dass<br />

die Nato um Polen, Tschechien und Ungarn<br />

erweitert wird – obwohl der Westen<br />

den Russen versprochen hatte, dies nicht<br />

zu tun. Amerikaner, für den KGB-Oberst<br />

immer Feind geblieben, standen in Putins<br />

Verständnis schon an der russischen Grenze.<br />

Diese Demütigung hat er nie verdaut –<br />

nun schlägt er zurück.<br />

Mit der Invasion seiner Truppen auf der<br />

Halbinsel Krim schafft Putin Fakten: Der<br />

Kreml steckt seinen gefühlten Einflussbereich<br />

in Osteuropa militärisch und politisch<br />

ab. Putin will seine Macht im postsowjetischen<br />

Raum konservieren, indem<br />

er Nachbarn wie die Ukraine in der <strong>vom</strong><br />

Kreml dirigierten Eurasischen Wirtschaftsunion<br />

zusammenschnürt und ihre Annäherung<br />

an die EU verhindert. Die neue<br />

„Nachbarschaftspolitik“ des Potentaten<br />

wurzelt im Trauma der militärischen Einkreisung<br />

von 1999, das der „geopolitischen<br />

Katastrophe“ folgte, wie der Ex-Spion den<br />

Kollaps der Sowjetunion nennt. Der Westen<br />

hat diese Befindlichkeit nie verstanden<br />

– und Putin sträflich unterschätzt (siehe<br />

Streitgespräch auf Seite 30).<br />

Panik vor Putin macht sich nun im Westen<br />

breit. Den schwelenden Krim-Krieg hält<br />

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier<br />

(SPD) für „die größte Krise seit dem<br />

»Manch ein reicher<br />

Russe macht sich<br />

Sorgen um seine<br />

Konten in London«<br />

Günther Oettinger, EU-Energiekommissar<br />

Mauerfall“. Über Putin soll Bundeskanzlerin<br />

Angela Merkel (CDU) im Gespräch mit US-<br />

Präsident Barack Obama gesagt haben, er lebe<br />

„in seiner eigenen Welt“. Die ehemalige<br />

US-Außenministerin Hillary Clinton ließ<br />

sich gar zum Vergleich von Putin mit Hitler<br />

hinreißen. Nie war der Zorn auf den russischen<br />

Zampano so ausgeprägt wie heute.<br />

Europa fragt sich: Bleibt es auf der Krim bei<br />

der Machtdemonstration, oder annektiert<br />

Russland die Halbinsel, die Sowjetchef Nikita<br />

Chruschtschow 1954 aus einer Wodkalaunicht<br />

zustande, könnten Reisebeschränkungen<br />

und Konto-Einfrierungen (in enger<br />

Abstimmung mit den USA) für bestimmte<br />

Personen verhängt werden. Treibt Russland<br />

die Krise weiter auf die Spitze, werde<br />

es zu „weitreichenden Veränderungen unserer<br />

Beziehung zu Russland kommen“,<br />

kündigte Merkel an. Und fügte hinzu: „Wir<br />

wünschen uns das nicht.“<br />

Auch Washington fror eiligst russische<br />

Konten ein, Tschechen und Polen rufen<br />

wieder nach einer US-Raketenabwehr. Der<br />

alte Ost-West-Konflikt nimmt wieder kräftig<br />

Fahrt auf – und dies ist nicht nur ein politisches<br />

Fiasko, sondern auch ein ökonomisches.<br />

Denn die Krise kann auch die Wirtschaft<br />

mit voller Wucht treffen. Die Duma,<br />

das russische Parlament, berät über ein Gesetz,<br />

das die Enteignung ausländischer Unternehmen<br />

regelt. Der Ost-Ausschuss der<br />

Deutschen Wirtschaft warnt vor einer „dauerhaft<br />

abschreckenden Wirkung“, die das<br />

Gesetz auf Investoren hätte. Der Traum <strong>vom</strong><br />

„Wandel durch Handel“ auf den sich die<br />

Wirtschaft gern bezog, ist geplatzt – und eine<br />

deutsch-russische Modernisierungspartnerschaft<br />

„massiv ins Stocken geraten“, sagt<br />

der CDU-Bundestagsabgeordnete Philipp<br />

Mißfelder: „Dennoch müssen wir mit Russland<br />

kooperieren, denn es ist unser Nachbar<br />

und Europa kulturell eng verbunden.“<br />

Ist das so mit der Verbundenheit? In diesen<br />

Tagen ist hinter den Kulissen von Politik<br />

und Wirtschaft ein Kulturkampf um die<br />

Frage entbrannt: Müssen wir Europäer unsere<br />

Werte in Russland durchsetzen – und<br />

können wir das überhaupt? Oder sollten<br />

wir pragmatisch Geschäfte mit dem Rohstoffgiganten<br />

machen – wie mit dem demokratiefernen<br />

China auch? Die Positi-<br />

ne heraus an die ukrainische Sowjetrepublik<br />

verschenkt hat? Was wäre, wenn Putin die<br />

behauptete Bedrohung einer russischen<br />

Minderheit wie auf der Krim auch in der Ostukraine<br />

als Vorwand für einen Einmarsch<br />

nähme? Wenn er die Ukraine zur Teilung<br />

zwingt, womit Russland der industrialisierte<br />

Osten zufällt und die EU den strukturschwachen<br />

Westen teuer päppeln muss.<br />

Europa hat bereits die ersten Sanktionen<br />

gegen Putin beschlossen. In einem ersten<br />

Schritt werden die Verhandlungen über Visa-Erleichterungen<br />

ausgesetzt. Bundeskanzlerin<br />

Angela Merkel nannte das „eine<br />

erste aktive Maßnahme“, der weitere folgen<br />

könnten. Kommt etwa die Kontaktgruppe »<br />

FOTO: REUTERS/ALEXANDER DEMIANCHUK<br />

18 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Partner im Guten<br />

und Bösen<br />

Bundeskanzlerin Merkel,<br />

Präsident Putin<br />

Der Rubel rollt<br />

Deutscher Warenverkehr mit Russland<br />

(in Milliarden Euro)<br />

Exporte<br />

Importe<br />

26,4 31,8 34,540,9 38,142,8 36,140,4<br />

20<strong>10</strong> 2011 2012 2013<br />

Quelle:Ost-Ausschussder Deutschen Wirtschaft<br />

Tausche Auto gegen Öl und Gas<br />

Wichtigste Güterimdeutsch-russischen Handel (WarenwertinMilliarden Euro,<br />

Veränderung zum Vorjahr)<br />

Exporte nach Russland<br />

Kraftwagen und Zubehör<br />

Maschinenbau<br />

Chemische Erzeugnisse<br />

Datenverarbeitung, elektronische<br />

und optische Geräte<br />

Elektrische Ausrüstungen<br />

Quelle:Statistisches Bundesamt<br />

8,8 (+21,7%)<br />

8,4 (+8,3%)<br />

3,2<br />

2,8<br />

2,6<br />

(+13,1%)<br />

(+11,0%)<br />

(+6,9%)<br />

Importe aus Russland<br />

Erdöl und Erdgas<br />

Metalle<br />

Kokereierzeugnisse und<br />

Mineralölerzeugnisse<br />

Kohle<br />

Chemische Erzeugnisse<br />

31,8 (+4,3%)<br />

3,6 (–15,7%)<br />

3,5 (+46,2%)<br />

1,0 (+1,1%)<br />

0,8 (±0%)<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 19<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

»<br />

Öl auf Reisen Vom Verladebahnhof östlich<br />

von Moskau geht es ab nach Deutschland,<br />

dessen größter Öllieferant Russland ist<br />

on der Wirtschaft ist letztere und steht<br />

unabhängig <strong>vom</strong> Ausgang der Krim-Krise:<br />

Russland ist als Öl- und Gaslieferant, Absatzmarkt<br />

und Standort für Investitionen<br />

zu bedeutend, als dass man es sich mit Putin<br />

verscherzen kann.<br />

Eckhard Cordes, der Vorsitzende des<br />

Ost-Ausschusses der deutschen Wirtschaft,<br />

warnt eindringlich vor weiteren Sanktionen:<br />

„Unsere Volkswirtschaften sind so<br />

voneinander abhängig, dass wir uns mit<br />

solch unsinnigen Strafmaßnahmen gegenseitig<br />

enorm schaden würden.“ Die<br />

Schockfrostung der Beziehungen zu Russland<br />

will auch Volker Treier verhindern, Vize-Chef<br />

des Deutschen Industrie- und<br />

Handelskammertags. „Enormen Flurschaden“<br />

habe die Krise schon angerichtet:<br />

„Kapitalabfluss und Rubel-Verfall bremsen<br />

die Konjunktur in Russland.“<br />

Russland zählt trotz virulenter Bürokratie<br />

und Korruption zu den wichtigsten<br />

Wachstumsmärkten deutscher Unternehmen,<br />

bald nach China und weit vor Brasilien.<br />

Rund 7000 Unternehmen sind in<br />

Russland registriert, viele betreiben eigene<br />

Fabriken in dem Land mit seinen 143 Millionen<br />

Einwohnern (siehe Seite 28). Fast 40<br />

Prozent des deutschen Gasaufkommens<br />

stammen aus russischen Fördergebieten,<br />

das Land ist momentan größter Öllieferant<br />

der Bundesrepublik.<br />

NAHEZU STAGNATION<br />

All das ist plötzlich in Gefahr. Zwar liefen<br />

die Geschäfte schon im vergangenen Jahr<br />

nicht blendend: Das russische Wachstum<br />

des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 1,4<br />

Prozent bedeutet für ein Land, das einen<br />

hohen Investitionsbedarf aufweist, nahezu<br />

Stagnation. Sobald nun Investoren aus<br />

Kassenschlager Großhändler Metro macht<br />

in Russland und der Ukraine einen Umsatz<br />

von 5,3 Milliarden Euro<br />

Furcht vor einem Wirtschaftskrieg ihr Kapital<br />

„on hold“ setzen, könnte dies Russland<br />

in die Rezession treiben.<br />

Das gilt im Fall von Sanktionen auch für<br />

die Konjunktur in ganz Europa. Zumal die<br />

Ukraine ein wichtiger Transitkorridor für<br />

Gas in den Westen ist, den der Kreml dann<br />

trockenlegen könnte. „Angesichts der wirtschaftlichen<br />

Verflechtungen zwischen der<br />

EU und Russland besteht die Gefahr, dass<br />

die zarte Erholung der europäischen Wirtschaft<br />

beeinträchtigt wird“, warnt EU-Energiekommissar<br />

Günther Oettinger (siehe Interview<br />

Seite 40). Der CDU-Politiker hält<br />

aber eine „Eskalation von Sanktionen“ für<br />

möglich.<br />

Aktuell freilich setzt die drastische Abwertung<br />

des Rubel vielen Unternehmen<br />

Energie aus dem Osten<br />

Deutsche Öl-und Gasimporte<br />

aus Russland<br />

1,6<br />

40<br />

Gas (in Mio.Terajoule)<br />

1,4<br />

35<br />

Öl (in Mio.Tonnen)<br />

1,2<br />

30<br />

2000 2004 2008 2012<br />

Quelle: Bundesamt für Wirtschaftund Ausfuhrkontrolle<br />

Im Gleichklang<br />

Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner in<br />

Russland und Deutschland (kaufkraftbereinigt,<br />

in Dollar)*<br />

2005 2007 2009<br />

*ab<strong>2014</strong>Prognose; Quelle:IWF<br />

45 000<br />

40 000<br />

Deutschland 35 000<br />

30 000<br />

25 000<br />

20 000<br />

15 000<br />

Russland<br />

<strong>10</strong> 000<br />

5000<br />

2011 2013 2015<br />

Stark am Markt<br />

Deutsche Direktinvestitionen in<br />

Russland (kumuliert, in Milliarden Euro)<br />

<strong>10</strong><br />

2005 2006 2007 2008 2009 20<strong>10</strong><br />

Quelle:AHK Russland, Rosstat<br />

8<br />

6<br />

4<br />

2<br />

0<br />

2011<br />

FOTOS: BLOOMBERG NEWS/ANDREY RUDAKOV, METRO, IMAGO/ITAR TASS<br />

20 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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SIEMENS<br />

Loks für Putin<br />

Dank der guten Drähte in den<br />

Kreml ist der Technologieriese in<br />

Russland bestens im Geschäft.<br />

Bahn frei! In einer Fabrik am Ural baut<br />

Siemens mit dem russischen Partner Sinara<br />

Lokomotiven für die Staatsbahn RZD<br />

zu. Binnen Jahresfrist hat die Währung<br />

zum Euro rund ein Drittel an Wert verloren.<br />

„Wir haben hier alle Angst um die Gewinne“,<br />

sagt der Russland-Chef eines deutschen<br />

Maschinenbauers in Moskau. Investoren<br />

mit Montagebetrieb in Russland<br />

müssen in Deutschland ihre Teile auf Euro-<br />

Basis einkaufen. Ihre Endprodukte verkaufen<br />

sie ab Werk gegen Rubel. Wer vor Ort<br />

produziert, leidet doppelt unter dem Währungsverfall:<br />

Der Einkauf wird teurer – und<br />

<strong>vom</strong> Umsatz bleibt in Euro weniger übrig.<br />

Österreichs Bauriese Strabag, der in<br />

Russland 1800 Mitarbeiter beschäftigt,<br />

steht wegen der Teuerung der aus Europa<br />

zugelieferten Teile unter Druck. Am kostspieligen<br />

Import leidet auch Autobauer<br />

BMW, der in Kaliningrad kleinere Modelle<br />

endmontieren lässt. Vorstandschef Norbert<br />

Reithofer mag noch nicht einschätzen,<br />

wie sich die Spannungen auf das Geschäft<br />

auswirken werden. Er warnt allerdings:<br />

„Auch die Finanzkrise 2008 fing ja mal ganz<br />

klein an.“ Sanktionen des Westens würden<br />

für die Branche jedenfalls schwere Konsequenzen<br />

haben.<br />

Bilanzielle Folgen hat die Krim-Krise für<br />

den Handelskonzern Metro, der sich eines<br />

starken Russland-Geschäfts rühmt. Im vergangenen<br />

Jahr setzten die Kaufleute dort<br />

5,3 Milliarden Euro über die Großmarktsparte<br />

und die Elektroniktochter Media<br />

Markt um. In der Ukraine betreibt Metro 33<br />

Märkte, darunter zwei auf der Krim. Jüngst<br />

hatten die Düsseldorfer signalisiert, bis zu<br />

25 Prozent ihrer russischen Großhandelstochter<br />

in London an die Börse zu bringen.<br />

Erlöse von bis zu einer Milliarde Euro sollten<br />

in das Wachstum des Konzerns fließen.<br />

Daraus wird nun eher nichts. Nach der<br />

jüngsten Eskalation müssen die Börsenpläne<br />

wohl verschoben werden, die Bewertung<br />

könnte nach unten korrigiert werden.<br />

Entsprechend besorgt reagierten Anleger<br />

(siehe Seite 22). Der Aktienkurs der Metro-<br />

Gruppe brach nach der Krim-Besetzung<br />

ein. Ähnlich lief es bei Adidas. Russland ist<br />

für den deutschen Sportausrüster einer der<br />

wichtigsten Märkte der Welt. Noch laufen<br />

die Geschäfte, doch „wenn der Konflikt andauert,<br />

wird das die Verbraucher nervöser<br />

machen“, so Adidas-Chef Herbert Hainer.<br />

GEWINN DURCH SOTSCHI<br />

Abschreckend wirken die Turbulenzen der<br />

vergangenen Tage auch für Lebensmittelhändler,<br />

die mit der Expansion gen Osten<br />

geliebäugelt hatten. „Die dürften Russland<br />

vorerst von ihrer Expansionsliste streichen“,<br />

sagt Boris Planer, Osteuropaexperte<br />

<strong>vom</strong> Informationsdienst Planet Retail in<br />

Frankfurt. Das Problem: Neue Filialen<br />

rechnen sich erst nach sieben bis zehn Jahren,<br />

Immobilieninvestments sind auf Jahrzehnte<br />

ausgelegt. „Putin hat das Vertrauen<br />

in die langfristige Stabilität beschädigt“,<br />

sagt Planer. Nun würden Händler verstärkt<br />

auf China oder Südamerika ausweichen.<br />

Entspannter ist man bei der EADS Airbus<br />

Group. Zwar bezieht der Flugzeugbauer<br />

60 Prozent seines Titans von VSMPO-<br />

Avisma in Russland, was sich kurzfristig<br />

nicht ersetzen ließe. „Aber Airbus könn-<br />

»<br />

Es war ein trüber Februartag, und draußen<br />

tobte die Finanzkrise, da ließ der<br />

Österreicher Peter Löscher seinen Siemens-Vorstand<br />

nach Moskau jetten –<br />

und zur regulären Sitzung antreten. Die<br />

Herren aus München trafen auch Wladimir<br />

Putin, der damals, im Jahr 2009,<br />

gerade Premierminister war. Der heutige<br />

Kremlchef liebt solch eine Symbolik:<br />

Siemens steht zum russischen Markt,<br />

während andere Investoren ihr Geld in<br />

Sicherheit bringen. Immerhin schlitterte<br />

die russische Wirtschaft in jenem trüben<br />

Jahr in eine schwere Rezession.<br />

NEUE LIEFERUNGEN<br />

Die Belohnung ließ nicht lange auf sich<br />

warten: Siemens bekam Zugang zu einem<br />

Gemeinschaftsunternehmen mit<br />

dem russischen Lokomotivenhersteller<br />

Sinara; in dessen Fabrik am Ural bauen<br />

die Partner Loks im Wert von 2,5 Milliarden<br />

Euro. Abnehmer ist die russische<br />

Staatsbahn RZD, der mit Wladimir Jakunin<br />

ein Duz-Freund Putins vorsteht.<br />

Siemens ist überdies bei der Modernisierung<br />

von Stromleitungen im Geschäft,<br />

die Münchner bauen Transformatoren<br />

in einem Werk im Süden des<br />

Landes. Dieses Jahr stehen neue Lieferungen<br />

für den ICE ins Haus, der in<br />

Russland „Sapsan“ heißt und dem Konzern<br />

dank der Vollausstattung auch<br />

mehr Geld einbringt als die Züge, die<br />

die Deutsche Bahn erhält.<br />

Trotz der Russland-Erfolge hat Peter<br />

Löscher seinen Hut nehmen müssen,<br />

und der gut vernetzte und geschickte<br />

Russland-Chef Dietrich Möller geht bald<br />

in den Ruhestand. Ob Russland ein Erfolg<br />

für den neuen CEO Joe Kaeser wird,<br />

hängt vermutlich von seinem Verhältnis<br />

zu Putin ab. Mit dem muss klarkommen,<br />

wer in Russland die Sahnehäppchen<br />

abbekommen will. Löscher<br />

profitiert davon auch nach seinem<br />

Rausschmiss: Der Oligarch Viktor Wekselberg<br />

hat ihn für seine Schweizer Holding<br />

Renova Management angeheuert.<br />

florian.willershausen@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 21<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

BÖRSE<br />

Milde eingelullt<br />

Die Intervention auf der Krim hat die Märkte nur kurz geschockt.<br />

Doch für eine allgemeine Entwarnung ist es zu früh.<br />

Es dauerte ein paar Tage, bis die Masse<br />

der Marktteilnehmer an den Börsen<br />

begriff, was sich da am Nordufer des<br />

Schwarzen Meeres zusammengebraut<br />

hatte: Am Freitag vorvergangener Woche<br />

gab der deutsche Leitindex Dax plötzlich<br />

merklich nach, scheinbar ohne Grund. Bis<br />

dahin hatten die Börsen die Krise in der<br />

Ukraine wochenlang geflissentlich ignoriert.<br />

Denn die dortige Wirtschaft ist klein;<br />

es gibt wenig Direktinvestitionen. Doch<br />

Montag vergangener Woche folgte, quasi<br />

mit Ansage, der Crash: Der Dax verlor 3,4<br />

Prozent – der stärkste Tagesverlust seit<br />

dem Höhepunkt der Euro-Krise im Sommer<br />

2012. Auch die Börsen in New York<br />

und London gaben nach. Doch die Verluste<br />

dort hielten sich mit jeweils gut einem<br />

Prozent in Grenzen; inzwischen hat der<br />

US-Aktienindex S&P 500 mit seinem<br />

Anstieg auf über 1850 Punkte sogar ein<br />

neues Kaufsignal gegeben.<br />

Der nächste Winter kommt bestimmt<br />

Wie sich Anleger gegen steigende Energiepreise wappnen<br />

Investment (Name/Art)<br />

Erdgas long /Faktorzertifikat<br />

Brent Oil long /Faktorzertifikat<br />

Statoil /Aktie<br />

Total /Aktie<br />

ISIN<br />

* in Euro; Stand: 6 März <strong>2014</strong>; Quelle: Bloomberg<br />

DE000CZ34JM3<br />

DE000GT1G6L8<br />

NO00<strong>10</strong>096985<br />

FR0000120271<br />

Kurs*<br />

0,80<br />

19,58<br />

19,81<br />

47,05<br />

Stoppkurs<br />

0,64<br />

16,25<br />

16,00<br />

35,00<br />

Chance/Risiko<br />

9/8<br />

9/8<br />

8/7<br />

7/6<br />

DRITTWICHTIGSTER PARTNER<br />

Dass deutsche Aktien stärker unter Druck<br />

gerieten als andere, ist kein Zufall: Die<br />

deutsche Wirtschaft ist – neben der Österreichs,<br />

Finnlands und der Niederlande<br />

– von allen EU-Ländern am stärksten mit<br />

der russischen verflochten. Während die<br />

USA 2013 nur Waren und Dienstleistungen<br />

im Wert von rund 38 Milliarden Dollar<br />

mit Russland handelte, summierte sich<br />

das Handelsvolumen mit der EU auf 280<br />

Milliarden Dollar. Russland ist nach China<br />

und den USA damit der drittwichtigste<br />

Handelspartner der EU.<br />

Die derzeit konkreteste Gefahr für Aktien,<br />

besonders die deutschen, sind die<br />

von den USA geforderten Wirtschaftssanktionen.<br />

Die träfen die deutsche Börse<br />

hart – nicht ohne Grund laufen Verbände<br />

und Konzernführer dagegen Sturm.<br />

Für viele deutsche Exportunternehmen<br />

ist Russland ein wichtiger Abnehmer. Vor<br />

allem Chemie- und Maschinenbauunternehmen<br />

haben viele russische Kunden.<br />

Sanktionen und die zu erwartende russische<br />

Retourkutsche träfen nicht diejenigen,<br />

die sie am lautesten fordern (USA), sondern<br />

vor allem deutsche Firmen und dort die<br />

energieintensiven Branchen wie Stahl und<br />

Chemie.<br />

Aktien wie BASF und Thyssen zeigten<br />

sich folgerichtig zu Beginn der Woche deutlich<br />

anfälliger für die Ukraine-Krise als der<br />

Dax-Durchschnitt; aber auch Titel von Unternehmen<br />

mit starkem Russland-Umsatz,<br />

wie Stada und Adidas, kamen unter Druck.<br />

Am stärksten drückte die Krim-Krise freilich<br />

in Moskau die Kurse; der dortige Index<br />

RTS gab zwischenzeitlich um 15 Prozent<br />

nach, Gazprom verlor Montag vergangener<br />

Woche ein Sechstel seines Wertes. Die<br />

Börse zeigt klar, wen sie für den Hauptleidtragenden<br />

einer Eskalation der Krise hält:<br />

Russland selbst. Die Industrie des Landes<br />

ist entsprechend beunruhigt.<br />

Die größte Sorge im Westen ist, neben<br />

dem Einfrieren westlicher Firmenvermögen,<br />

dass die Russen den Gashahn zudrehen<br />

könnten; immerhin knapp 40 Prozent des<br />

in Deutschland verfeuerten Erdgases stammen<br />

aus russischen Quellen, Spitzenwert in<br />

Westeuropa. Aus Russland stammen 11<br />

Prozent des globalen Ölangebotes und 19<br />

Prozent des Erdgases.<br />

Steigende Energiepreise wären also für<br />

den Fall einer wirtschaftlichen und politischen<br />

Isolierung Russlands hochwahrscheinlich.<br />

„Die Krim hat das Thema Versorgungssicherheit<br />

schockartig wieder<br />

auf die Agenda gesetzt; der warme Winter<br />

hatte westeuropäische Unternehmer und<br />

Energiepolitiker zuvor ein bisschen eingelullt“,<br />

urteilt Seth Kleinman, Energieanalyst<br />

bei der Citibank in London.<br />

NOCH IST NICHTS PASSIERT<br />

Charttechnisch ist bisher nichts Dramatisches<br />

passiert. Das Kursbild im Dax<br />

zeigt nur einen Knacks, noch keinen<br />

Trendbruch in der seit 2009 anhaltenden<br />

Hausse. Sollte sich die Krise in den<br />

nächsten Wochen aber verschärfen, wird<br />

es zu einer Probe kommen: Bei 9200<br />

Punkten verläuft eine wichtige Basislinie,<br />

die der Dax möglichst nicht unterschreiten<br />

sollte. Wenn doch, hätte er nach klassischen<br />

Chart-Regeln eine Abwärtswende<br />

vollzogen, die dann eine mehrmonatige<br />

Baisse in Richtung 8000 Punkte einleiten<br />

könnte.<br />

Anleger sollten jetzt Risiko aus ihren<br />

Portfolios nehmen, meint Luca Paolini,<br />

Chefstratege der Genfer Bank Pictet,<br />

sprich: bei Aktien Gewinne mitnehmen.<br />

„Zumal auch von den Schwellenländern<br />

außerhalb Russlands <strong>2014</strong> keine Impulse<br />

kommen dürften und das Wachstum<br />

der Weltwirtschaft sich insgesamt abschwächt.“<br />

Die aktuelle Rally geht zudem<br />

bereits in ihr sechstes Jahr, „historisch<br />

sind so lange Rallys sehr selten“, sagt<br />

Paolini, „die Ukraine hat lediglich den in<br />

letzter Zeit in Vergessenheit geratenen<br />

Risikofaktor eines exogenen Schocks in<br />

Erinnerung gerufen.“<br />

Dazu komme, dass die Stimmung der<br />

meisten Anleger schon wieder nahe an<br />

einer gefährlichen Euphorie sei, sagt Paolini.<br />

Es muss nicht gleich im Crash enden,<br />

aber wahrscheinlich sind, neben einer<br />

allgemeinen Pause in der Aktienhausse,<br />

steigende Energiepreise. „Der Markt war<br />

bis Ende Februar extrem überkauft, die<br />

Investoren allgemein zu sorglos“, sagt<br />

auch Dieter Helmle, Vorstand des Frankfurter<br />

Vermögensverwalters Capitell. „Mit<br />

der Ukraine ist einfach ein Risikofaktor<br />

mehr hinzugekommen, langfristig aber<br />

fehlen die echten Alternativen, um ganz<br />

aus Aktien rauszugehen.“ Mit den Investments<br />

in der Tabelle sichern Anleger sich<br />

gegen steigende Energiepreise ab;<br />

allerdings sollten sie nur als kleine Beimischung<br />

im Depot fungieren.<br />

stefan.hajek@wiwo.de, anton riedl<br />

22 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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FOTO: IMAGO/ITAR TASS<br />

Scharfe Augen Russlands Zoll kontrolliert<br />

an den Grenzen zur Ukraine neuerdings jede<br />

Fuhre. Was Spediteure Schikane nennen<br />

»<br />

te Ersatz in Kasachstan finden“, meint<br />

ein Insider. Aus den Kooperationen zum<br />

Bau von Waffen wurde nichts, der Markt für<br />

neue Flugzeuge fällt kaum ins Gewicht.<br />

PRUNK UND PROTZ<br />

Keine vier Wochen ist es her, da schien<br />

noch die Sonne über Putins Russland. Der<br />

Autokrat hatte nach Sotschi ans Schwarze<br />

Meer geladen. Mit Prunk und Protz wollte<br />

er der Welt beweisen, wie seine moderne<br />

Heimat Olympische Winterspiele an einem<br />

unmöglichen Ort möglich ausrichten<br />

kann – in einem Badeort mit subtropischen<br />

Temperaturen, über dem ein Skigebiet mit<br />

bestens präparierten Hängen thront. Nie<br />

zuvor hatte sich ein Staat die Spiele so viel<br />

kosten lassen wie Russland (wobei ein Teil<br />

der investierten 50 Milliarden Dollar in den<br />

Taschen von Putin-Bekannten gelandet<br />

sein soll). Auch deutsche Unternehmer<br />

hatten mit dem Bau von Tunnel, Klimaanlagen<br />

und Messtechnik zusammen einige<br />

Hundert Millionen Euro Umsatz gemacht.<br />

Spott und Häme indes gossen internationale<br />

Medien über die Spiele der Russen, auf<br />

die Putin so stolz war. Es ging mehr um fehlende<br />

Trennwände in Toiletten als um das<br />

Sportfest, dessen prachtvolle Inszenierung<br />

den Landsleuten gefiel. Westliche Politiker<br />

blieben den Spielen wegen der Anti-Homo-<br />

Gesetze und Menschenrechtsverletzungen<br />

fern. Spätestens da dürfte Putin jeden Zweifel<br />

verloren haben: Aus seinem Verhältnis<br />

zum Westen wird nie ein gutes werden – zumal<br />

er deren Werte nie verstanden hat.<br />

Umso wichtiger ist für Putin die Unterstützung<br />

im Inland. Proteste der Russen<br />

gegen seinen Kurs kann er nicht gebrauchen<br />

– und notfalls werden sie mit Geld zugekleistert.<br />

Togliatti, im Februar 20<strong>10</strong>. Im längsten<br />

Autowerk der Welt stehen die Bänder still –<br />

der Markt will die rückständigen Kleinwagen<br />

nicht haben, die sie hier in Südrussland<br />

am Ufer der Wolga fertigen. Dennoch<br />

schlurfen Arbeiter zwischen Schneebergen<br />

täglich ins Werk, denn dank Finanzspritzen<br />

aus Moskau kann Hersteller Awtowas Massenentlassungen<br />

vermeiden. Da der Hof<br />

mit Autos überfüllt ist, müssen die Arbeiter<br />

ihre Fabrik putzen. Manche dürfen bezahlt<br />

zu Hause bleiben. Und trotzdem kommt es<br />

zu Protesten gegen die Regierung. Den<br />

Leuten erscheint es komisch, dass sie seit<br />

Wochen keine Autos mehr bauen.<br />

In jenen Tagen erreichten den damaligen<br />

Premierminister Putin ständig Hiobsbotschaften.<br />

Nicht nur in Togliatti demonstrieren<br />

Arbeiter, auch in Kaliningrad im<br />

Westen und in Archangelsk ganz hoch im<br />

Norden gehen die Menschen auf die Straße.<br />

Putin hat Glück, dass die Wirtschaft<br />

nach einem BIP-Minus von 7,8 Prozent im<br />

Vorjahr wieder auf Trab kam und auch in<br />

Togliatti bald wieder die Bänder rollten.<br />

Putin ist seitdem so etwas wie ein laufendes<br />

Konjunkturpaket: Steuereinnahmen<br />

aus dem Öl- und Gasexport steckt er in Infrastruktur<br />

und Staatsunternehmen. Er<br />

kreiert neue Jobs, und die Werktätigen<br />

wählen Putin – das Heer an Beamten, Soldaten<br />

und Rentnern erst recht. Heute trägt<br />

der Staat mehr als 50 Prozent der russischen<br />

Wirtschaftskraft und wird damit der<br />

alten Sowjetunion immer ähnlicher.<br />

WILLFÄHRIGER DIENER<br />

Jewgeni Gontmacher ist einer jener Ökonomen,<br />

die Russland modernisieren wollten.<br />

Er zählte zum Beraterkreis des Ex-Präsidenten<br />

Dmitri Medwedew, heute wie damals<br />

ein willfähriger Diener Putins. Der liberale<br />

Gontmacher glaubt immer noch,<br />

Medwedew hätte das Land mit seiner Privatisierung,<br />

dem Kampf gegen Rechtsnihilismus<br />

und Korruption oder der Förderung<br />

von Innovationen reformieren können,<br />

wenn ihm nur nicht die Wirtschaftskrise in<br />

die Quere gekommen wäre: „Putin übernahm<br />

selbst das Steuer und stoppte unsere<br />

Experimente mit der Liberalisierung.“<br />

Das letzte Zucken der Liberalisierung<br />

zeigte sich kurz vor Weihnachten 2011 auf<br />

dem Bolotnaja-Platz gegenüber des Kreml.<br />

Damals trieben Wahlfälschungen Russlands<br />

urbane Mittelschicht auf die Straße,<br />

um gegen die Selbstgefälligkeit und Arroganz<br />

der korrupten Putin-Elite zu demonstrieren.<br />

Die Proteste schliefen ein. Seither<br />

herrscht in der russischen Mittelschicht<br />

gepflegte Lethargie: Die Russen in den<br />

Städten verdienen gutes Geld, denen in<br />

»<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 23<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

E.ON<br />

Weites und<br />

hungriges Land<br />

Der deutsche Versorger ist vor<br />

allem mit Gaskraftwerken in Russland<br />

aktiv – und verdient kräftig.<br />

Für den deutschen Energiekonzern<br />

E.On ist Russland einer der wichtigsten<br />

Wachstumsmärkte jenseits der EU-<br />

Grenzen. Der Strombedarf in Russland<br />

ist gewaltig, es ist ein „energiehungriges<br />

Land“, sagt ein E.On-Manager. In<br />

einigen Regionen wie Kaluga, südwestlich<br />

von Moskau, wo VW und Continental<br />

Werke unterhalten (siehe Seite 28),<br />

droht Energieknappheit. E.On erwarb<br />

2007 ein russisches Gaskraftwerkskonglomerat<br />

für vier Milliarden Euro. Seitdem<br />

hat E.On die Kraftwerke modernisiert<br />

und erwartet aus der Tochter E.On<br />

Russia einen Jahresgewinn von einer<br />

Milliarde Euro. Das Erdgas kann aus<br />

eigenen Feldern im nordsibirischen<br />

Juschno Russkoje bezogen werden.<br />

Daran halten E.On und Wintershall, eine<br />

BASF-Tochter, je 25 Prozent, Gazprom<br />

die restlichen 50 Prozent.<br />

NORD STREAM IM FOKUS<br />

Eine wichtige Rolle spielt für E.On die<br />

Ostseepipeline Nord Stream, die von<br />

Gazprom beherrscht wird. Das Unternehmen<br />

hat seinen Sitz im schweizerischen<br />

Zug. Gazprom hält 51 Prozent an<br />

der Ostseepipeline, die <strong>vom</strong> russischen<br />

Wyborg durch die Ostsee an Polen vorbei<br />

nach Lubmin bei Greifswald führt.<br />

Von dort aus wird das Erdgas in die<br />

deutschen Industriezentren weitergeleitet.<br />

E.On und Wintershall halten je 15,5<br />

Prozent an Nord Stream, den Rest halten<br />

niederländische und französische<br />

Versorger. Den Aktionärsausschuss von<br />

Nord Stream führt der frühere Bundeskanzler<br />

Gerhard Schröder (SPD) an, der<br />

bisher stets für Putin Partei ergriffen<br />

hat. E.On-Manager hoffen, dass der<br />

Konflikt zwischen EU, USA und Russland<br />

entschärft wird. Dass der Hahn der<br />

Ostseepipeline zugedreht wird, halten<br />

E.On-Manager für unwahrscheinlich, da<br />

Gazprom auf den Absatz seines Erdgases<br />

in Westeuropa angewiesen sei.<br />

andreas.wildhagen@wiwo.de<br />

Strom nach Plan E.On kaufte für vier Milliarden<br />

Euro einen russischen Versorger. Der<br />

wirft heute eine Milliarde Profit pro Jahr ab<br />

»<br />

der Provinz erhöht Putin regelmäßig ihre<br />

kargen Löhne. Zum Dank darf Putin walten,<br />

wie er will.<br />

Lange geht das nicht mehr gut. Putins<br />

Wirtschaftsmodell pfeift wie eine uralte<br />

Dampfmaschine aus allen Löchern. Obwohl<br />

der Ölpreis bei mehr als <strong>10</strong>0 Dollar<br />

pro Barrel liegt, wird es Russland auf einen<br />

Zeitraum von zehn Jahren nicht über ein<br />

Wachstum von zwei Prozent schaffen,<br />

rechnet Alexei Wedew vor, Ökonom am<br />

Moskauer Gaidar-Institut für Wirtschaftspolitik.<br />

Es fehlt allenthalben an Wertschöpfung:<br />

Russland exportiert den Großteil des<br />

Rohöls ins Ausland, um es dann als Benzin<br />

aus Weißrussland oder Kasachstan zurückzukaufen.<br />

Wer in Russland Geld hat, schafft<br />

es auf ausländische Konten, statt damit im<br />

Inland Fabriken zu bauen. Die Hälfte der<br />

russischen Studenten träumt von einer Beschäftigung<br />

beim Staat statt von Selbstständigkeit<br />

– kein Wunder, denn die Bürokratie<br />

macht jede Unternehmensgründung<br />

zum Spießrutenlauf.<br />

AUF SAND GEBAUT<br />

So hängt ein ganzes Land am Rocksaum<br />

von Wladimir Putin, der die Milliarden verteilt.<br />

Doch was passiert, wenn eine Rezession<br />

kommt und das Durchfüttern maroder<br />

Staatsbetriebe die Regierung so überfordert,<br />

dass Massenentlassungen unausweichlich<br />

sind? Wenn sich die Arbeiter mit<br />

der urbanen Mittelschicht zusammenraufen<br />

und gegen das auf Sand gebaute Wirtschaftsmodell<br />

protestieren? Dann könnte<br />

es für Putin so ungemütlich werden wie für<br />

den ukrainischen Kleptokraten Viktor Janukowitsch<br />

in Kiew.<br />

Davor hat Putin Angst, weshalb er seine<br />

Kritiker mithilfe seiner vorauseilend gehorsamen<br />

Justiz gerne in Straflager sperrt. Und<br />

im staatlich kontrollierten Fernsehen das<br />

Ruhelied von der Stabilität singen lässt.<br />

Vorläufig funktioniert Putins Russland<br />

noch. Deutsche Unternehmen haben sich<br />

mit Putins Staatskapitalismus arrangiert.<br />

Der frühere Siemens-Chef Peter Löscher<br />

war gern und häufig bei Putin zu Gast, was<br />

ihm wohl half, den Zuschlag für lukrative<br />

Staatsaufträge zu ergattern (siehe Seite 21).<br />

Wer Putins Gunst hat und sich zur Politik<br />

nicht äußert, kann gefahrlos seinen Geschäften<br />

nachgehen. „Im Moment beobachten<br />

die Behörden genau, ob sich ein Investor<br />

jetzt zum Standort bekennt oder ob<br />

er wie die Idioten im Westen nach Sanktionen<br />

ruft“, sagt ein Investor.<br />

Niemand hätte sich solch eine Eskalation<br />

träumen lassen. Vor zwei Wochen standen<br />

die Zeichen zwischen Berlin und Moskau<br />

auf Neustart. Die Phase der schwarzgelben<br />

Regierung war keine gute für das bilaterale<br />

Verhältnis. Übel stieß Investoren<br />

immer wieder auf, dass Bundestagsabge-<br />

»Politiker sollten<br />

Unstimmigkeiten<br />

nicht vor der Kamera<br />

besprechen«<br />

Gerd Lenga, Knauf Gruppe<br />

ordnete und FDP-Bundesaußenminister<br />

Guido Westerwelle die Russen mit „Zeigefinger-Diplomatie“<br />

vor den Kopf gestoßen<br />

hatten. „Die sollen Unstimmigkeiten ansprechen,<br />

aber nicht vor laufenden Kameras“,<br />

so Gerd Lenga, der in Frank-Walter<br />

Steinmeier auf einen feinfühligeren Außenminister<br />

hofft.<br />

Lenga ist kein Hinterbänkler. Der Jurist<br />

ist seit 25 Jahren in Moskau tätig und führte<br />

lange das Russland-Geschäft von Knauf,<br />

wo er heute Berater ist. Der fränkische<br />

Gipshersteller ist mit mehr als 20 Niederlassungen<br />

im GUS-Raum einer der größten<br />

deutschen Investoren in Russland. Lenga<br />

kennt die Sollbruchstellen des russischen<br />

Wirtschaftssystems, er benennt sie auch.<br />

Aber der politische Ton gefällt ihm nicht.<br />

„Es ist mir unverständlich, wie die deutsche<br />

Politik in der Ukraine klar Partei für<br />

die Opposition ergreifen konnte“, zürnt<br />

Lenga. „Die ökonomischen Folgen muss<br />

die Wirtschaft jetzt ausbaden.“ Nun hofft<br />

Lenga, dass weiter reichende Sanktio-<br />

»<br />

FOTO: E.ON<br />

24 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

VOLKSWAGEN<br />

Kohle und Knute<br />

Dem Autobauer bröckelt in Russland<br />

die Nachfrage weg. Noch geht<br />

es ihm besser als der Konkurrenz.<br />

Martin Winterkorn hat einige Klimmzüge<br />

machen müssen – aber theoretisch<br />

ist das Ziel erreicht: Volkswagen könnte<br />

in Russland 300 000 Autos lokal fertigen<br />

lassen. Den Großteil stellen die<br />

Wolfsburger in ihrem eigenen Werk her,<br />

das 170 Kilometer südwestlich von<br />

Moskau in Kaluga liegt. Vor gut einem<br />

Jahr startete zudem die Lohnfertigung<br />

in Nischni Nowgorod östlich von Moskau,<br />

wo der einstige Wolga-Hersteller<br />

GAZ dem deutschen Autoriesen als<br />

Lohnfertiger zu Diensten steht.<br />

Somit erfüllt Volkswagen alle Forderungen<br />

der russischen Regierung: Die<br />

zwingt Autobauer per Dekret dazu, im<br />

Inland Kapazitäten aufzubauen und einen<br />

Großteil der Zuliefererteile aus russischen<br />

Werken zu beziehen. Andernfalls<br />

könnten die Behörden Zollvorteile<br />

auf jene teuren Teile streichen, die weiterhin<br />

importiert werden. Der Kreml will<br />

damit ausländische Hersteller zur Wertschöpfung<br />

vor Ort zwingen und nimmt<br />

sich so China zum Vorbild, das mit dieser<br />

Politik schon in den Achtzigerjahren<br />

begonnen hat.<br />

SORGE UM DIE KRIM<br />

Die Sache hat nur einen Haken: Die<br />

Nachfrage in Russland bricht gerade<br />

weg – nicht im Traum kann Volkswagen<br />

die opulenten Kapazitäten auslasten.<br />

2013 gingen die Verkäufe der Marke<br />

VW um etwa fünf Prozent auf 156 000<br />

Fahrzeuge zurück. Wobei die Konkurrenz<br />

stärker im Minus war. Hinzu<br />

kommt jetzt die Sorge um die Entwicklungen<br />

auf der Krim. VW-Chef Martin<br />

Winterkorn sagte der WirtschaftsWoche:<br />

„Als großer Handelspartner blicken<br />

wir mit Sorge in die Ukraine und<br />

nach Russland.“ Er verwies dabei nicht<br />

nur auf das VW-Werk Kaluga, sondern<br />

auch auf die Nutzfahrzeugtochter MAN,<br />

die in St. Petersburg derzeit ein eigenes<br />

Werk hochfährt. Der Lkw-Markt ist von<br />

der Rezession betroffen, da die Baukonjunktur<br />

schwächelt.<br />

florian.willershausen@wiwo.de, franz rother<br />

Neue Autostadt VW öffnete 2007 in Kaluga<br />

ein Werk, um als erster deutscher Hersteller<br />

Autos in Russland für Russland zu bauen<br />

»<br />

nen in den Schubladen der Brüsseler<br />

EU-Beamten bleiben.<br />

Rechtlich möglich wäre vieles, sagt Dirk<br />

Hagemann, Rechtsanwalt für Außenhandel<br />

im hessischen Büdingen. „Die EU kann<br />

gegen Einzelpersonen oder Staaten Sanktionen<br />

beschließen, was einen gemeinsamen<br />

Beschluss des Europäischen Rats voraussetzt.“<br />

In der Geschichte sei der außenpolitische<br />

Erfolg von Sanktionen allerdings<br />

unterschiedlich, so Hagemann. „Nur sehr<br />

zielgerichtete Sanktionen versprechen Erfolg,<br />

andere können zumindest eine symbolische<br />

Wirkung entfalten.“<br />

Natürlich könnte der Westen Russland<br />

auch aus dem illustren G8-Kreis der Industrieländer<br />

ausschließen – aber das wäre ein<br />

rein symbolischer Akt, was schon in Sotschi<br />

nicht geholfen hat, als die EU-Spitzen<br />

der Eröffnung fernblieben. Ein Embargo<br />

gegen russisches Gas wäre aus vertraglichen<br />

Gründen schwierig. „Deutschland<br />

könnte dank seiner Speicher für 60 bis 90<br />

Tage auf russische Gaslieferungen verzichten“,<br />

sagt Energieexperte Frank Umbach<br />

<strong>vom</strong> European Centre for Energy and Resource<br />

Security in London. Aber die Mindestmenge,<br />

die Gazprom jedem Kunden<br />

abverlangt, müssten E.On und Co. später<br />

einlösen. Hinzu käme, dass viele Länder<br />

im Baltikum, in Mittel- und Osteuropa<br />

über keine Gasspeicher verfügen<br />

und bei einer Energiekrise womöglich<br />

ohne Gas dastünden.<br />

Brüssel liebäugelt daher eher<br />

mit dem Einfrieren russischer<br />

Vermögen. „Manch reicher Russe<br />

wird sich Sorge um sein Vermögen<br />

in London, Wien oder Luxemburg<br />

machen“, sagt EU-Energiekommissar<br />

Günther Oettin-<br />

Fotos<br />

In unserer iPad-<br />

<strong>Ausgabe</strong> finden<br />

Sie an dieser<br />

Stelle Bilder<br />

von Putin in<br />

Deutschland<br />

ger. Allerdings mauern die Briten, die ihr<br />

Finanzzentrum London nicht beschädigen<br />

wollen. Auch ein kleiner Mitgliedstaat wie<br />

Zypern wäre von einem solchen Schritt<br />

nicht begeistert.<br />

Entscheidend wird ohnehin sein, ob sich<br />

die Lage in der Ukraine stabilisiert – weil<br />

genau dies nicht im Interesse Putins ist:<br />

„Der Kreml will einer Annäherung an die<br />

EU und insbesondere an die Nato einen<br />

Riegel vorschieben“, sagt Stefan Meister,<br />

Russland-Experte des European Council<br />

on Foreign Relations. Wenn es der ukrainischen<br />

Bevölkerung schon gelinge, den gewählten<br />

Präsidenten zu verjagen, dann solle<br />

dies wenigstens nicht ökonomisch zum<br />

Erfolg führen. So erklärt sich Meister auch<br />

die Propaganda des Putin-Regimes, das<br />

auf allen Kanälen die Bilder von Rechtsextremen<br />

verbreiten lässt, die allenfalls eine<br />

kleine Minderheit darstellen. „Der Sturz einer<br />

Regierung in Kiew ist ein Präzedenzfall,<br />

der sich auch auf andere postsowjetische<br />

Staaten auswirken könnte“, so der Politikwissenschaftler.<br />

Putin diskreditiere die<br />

Maidan-Bewegung, damit sich dies in<br />

Moskau nicht wiederholt.<br />

UNBERECHENBARE LAGE<br />

Die Menschen in der Ukraine versuchen unterdessen,<br />

sich mit der schwierigen Lage zu<br />

arrangieren. Julian Ries, der als Rechtsanwalt<br />

für die französische Kanzlei Gide Loyrette<br />

Nouel in Kiew tätig ist, erlebt ein<br />

„Wechselbad der Gefühle“: „Einen Abend<br />

habe ich überlegt, wie ich meine Familie<br />

schnell aus dem Land bekomme – und am<br />

nächsten Morgen sah die Lage wieder entspannt<br />

aus.“ Das Problem sei die Unberechenbarkeit<br />

der Situation. Die Stimmung ist<br />

dennoch gut unter ausländischen Investoren.<br />

„Viele hoffen, dass sich die Ukraine jetzt<br />

in eine westlich demokratische Richtung bewegt.<br />

Dieser Kurs verspricht Rechtssicherheit<br />

und kann dazu beitragen, dass das Potenzial<br />

des Marktes endlich gehoben wird.“<br />

Letztlich ist es die Wahl der Ukrainer, ob<br />

sie den EU-Kurs wählen wollen oder den<br />

Status quo – und Wähler sitzen jenseits<br />

der Kiewer Euphorie auch im prorussischen<br />

Osten. Eines aber ist klar:<br />

Wladimir Putin wird hierbei mitreden<br />

wollen. Sein Trauma der<br />

Nato-Erweiterung sitzt tief. n<br />

florian.willershausen@wiwo.de | Berlin,<br />

henryk hielscher, rüdiger kiani-kreß,<br />

franz rother, harald schumacher,<br />

silke wettach | Brüssel<br />

Lesen Sie weiter auf Seite 28 und 30 »<br />

FOTO: IMAGO/ITAR TASS<br />

26 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

Nabereschnye Tschelny<br />

Daimler<br />

Produktion von Actros, Axor, Atego<br />

und Unimog. In Nischni Nowgorod<br />

wirdder Sprinter gebaut<br />

St.Petersburg<br />

BSH Bosch und Siemens Hausgeräte<br />

500 Mitarbeiter fertigen jährlich<br />

500000 Kühl- und Tiefkühlschränke,<br />

Waschmaschinen<br />

MAN<br />

Jahresproduktion von Lastkraftwagen: 6500,<br />

Marktführer in Russland, Marktanteil: 22 Prozent<br />

Moskau<br />

Allianz<br />

Verfolgt eine expansive Russlandstrategie.<br />

Der Versicherer ist mit 89 Büros und sieben<br />

Tochtergesellschaften vertreten,<br />

18 Millionen Kunden<br />

Henkel<br />

Beauty Care, Klebstoffproduktion in Tosno,<br />

Waschmittel in Engels und Perm, 2500<br />

Mitarbeiter, Umsatz: 1Milliarde Euro<br />

Airbus<br />

Forschungskooperation bei der Titan-<br />

Veredelung mit Russian Technologies<br />

(Rostec) für den Flugzeugbau<br />

Schenker Logistikzentrum<br />

Beschäftigte in ganz Russland: 900,<br />

versorgt VW-Werk in Kaluga<br />

Noginsk<br />

Metro<br />

Der Handelskonzern beliefertvon seinem<br />

Logistikzentrum 70 Cash&Carry-Märkte<br />

und 50 Media-Märkte, 5,3 Milliarden<br />

Euro Umsatz<br />

Bayer<br />

Kunststoffteile-Fertigung, Gesamtumsatz<br />

Russland: 750 Mio.Euro, 1570 Mitarbeiter<br />

Jaiwa<br />

E.On Gaskraftwerk<br />

(<strong>10</strong>00 Megawatt)<br />

Juschno Russkoje<br />

Gasfeld<br />

Beteiligung:<br />

25%Wintershall<br />

25%E.On<br />

50%Gazprom<br />

Kaluga<br />

Volkswagen<br />

Pkw-Jahresproduktion: 140000 Fahrzeuge,<br />

Investitionssumme: 500 Millionen Euro<br />

Continental<br />

Jährliche Reifenproduktion: 4Millionen,<br />

Investitionsvolumen: 240 Millionen Euro<br />

Smolensk<br />

E.On Gaskraftwerk<br />

(630 Megawatt)<br />

Krasnodar<br />

Claas<br />

Jahresproduktion von Mähdreschern: <strong>10</strong>00 Stück,<br />

bis 2015 ist eine zweite Fertigungslinie geplant<br />

Schatura<br />

E.On Gaskraftwerk<br />

(1500 Megawatt)<br />

Raos<br />

Ehrmann<br />

Die Allgäuer Molkerei produziertPuddings,<br />

Desserts, Joghurts. Umsatz: <strong>10</strong>0 Millionen Euro<br />

Hochland<br />

Der Käsehersteller betreibt ein Schmelzkäsewerk<br />

und beschäftigt in Russland 700 Mitarbeiter<br />

Samara<br />

Bosch<br />

Produktion von Automobilteilen,<br />

Elektronik, Lichtmaschinen,<br />

Dieselsystemen, 500 Arbeitsplätze,<br />

Investitionsvolumen: 40 Millionen<br />

Euro<br />

28 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Surgut<br />

E.On Russia Gaskraftwerk (5300 Megawatt).<br />

Der Energiekonzern betreibt drei weitere<br />

Kraftwerke in Russland (plus ein Kraftwerk<br />

im Bau), Gesamtleistung aller Kraftwerke:<br />

<strong>10</strong>000 Megawatt, 5300 Beschäftigte<br />

Nischnekamsk<br />

BASF<br />

einer von vier Standorten, 844 Mitarbeiter,<br />

Gastochter Wintershall: Ölförderung in<br />

Wolgograd, Erdgasförderung in Juschno<br />

Russkoje (Nordsibirien)<br />

Im profitablen Reich Putins<br />

Hauptstandorte von deutschen Unternehmen in Russland<br />

Irkutsk<br />

Krasnojarsk<br />

E.On Braunkohlekraftwerk<br />

(1600 Megawatt, ab 2015)<br />

Jekaterinburg<br />

Siemens<br />

Jährlicher Umsatz in Russland: 2,2<br />

Milliarden Euro, 3<strong>10</strong>0 Mitarbeiter im<br />

ganzen Land, Medizintechnik,<br />

Kraftwerkstechnik, Bahntechnik,<br />

Lokomotivbau, Geschäftsbeziehungen<br />

seit 160 Jahren<br />

Deutsche Messe<br />

Mit Messeveranstalter Lesprom-<br />

Ural Professional Kooperation bei<br />

Organisation von Ausstellungen<br />

für die Holzbearbeitung. Die Stadt<br />

ist Zentrum der russischen<br />

Möbelindustrie<br />

Knauf<br />

Der unterfränkische Gipshersteller ist<br />

größter Investor der Baustoffbranche in<br />

Russland. Mehr als 5000 Beschäftigte,<br />

22 Produktionsstätten<br />

Quelle: Unternehmen, eigene Recherche<br />

FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/DPA, DDP IMAGES/JENS SCHLÜTER, ITAR-TASS/IGOR AKIMOV, E.ON<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 29<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

»Wir haben Machtpolitik verlernt«<br />

STREITGESPRÄCH | Martin Schulz und Eberhard Sandschneider debattieren über die Fehler der EU in<br />

der Ukraine, den richtigen Umgang mit Russland – und die Zukunft der europäischen Außenpolitik.<br />

DER PRAKTIKER<br />

Schulz, 58, ist seit Januar 2012 Präsident des Europäischen Parlaments<br />

(EP) und derzeit Spitzenkandidat der Sozialdemokratischen<br />

Partei Europas bei der Europawahl im Mai. Der SPD-Politiker gehört<br />

dem Europäischen Parlament seit 1994 an. Ab 2004 leitete er die<br />

sozialdemokratische Fraktion im EP.<br />

DER MAHNER<br />

Sandschneider, 58, ist seit 20<strong>03</strong> Direktor des Forschungsinstituts<br />

der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Der Politikwissenschaftler<br />

lehrte an der Universität in Mainz und hat einen<br />

Lehrstuhl an der Freien Universität Berlin. Von 1999 bis 2001 war<br />

er Geschäftsführender Direktor des Otto-Suhr-Instituts.<br />

Herr Sandschneider, Herr Schulz, warum<br />

hat die EU in der Ukraine-Krise versagt?<br />

Sandschneider: Schimpfen wir nicht<br />

gleich zu Beginn auf Europa! So erfolglos<br />

war die EU nicht: In Kiew konnten drei Außenminister<br />

im Namen der EU die Gewalt<br />

auf den Straßen stoppen. Es konnte niemand<br />

wissen, dass Präsident Viktor Janukowitsch<br />

am Tag darauf dennoch stürzt.<br />

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier<br />

spricht von der „schärfsten Krise<br />

seit dem Mauerfall“. Was kann die EU tun,<br />

um einen Krieg zu verhindern?<br />

Schulz: Sie kann dafür sorgen, dass nicht<br />

geschossen wird. Sie muss die Gesprächskanäle<br />

zwischen Ukrainern, Russen und<br />

Europa offen halten. Menschen, die miteinander<br />

reden, schießen nicht aufeinander.<br />

Wenn sie aber einmal mit dem Schießen<br />

angefangen haben, werden weitere Schüsse<br />

folgen. Das nennt sich dann irgendwann<br />

Krieg.<br />

Kann man mit Putin reden – oder sollte<br />

man den russischen Präsidenten mit<br />

Sanktionen in die Knie zwingen?<br />

Schulz: Natürlich sagt unser Bauchgefühl:<br />

Mein Gott, da gehen Truppen aufeinander<br />

los, da können wir doch nicht <strong>vom</strong> Dialog<br />

reden! Aber das ist nüchtern betrachtet unsere<br />

einzige Chance, die Lage zu entschärfen.<br />

Wladimir Putin ist äußerst machtbewusst,<br />

der lässt sich mit Sanktionen nicht<br />

an den Verhandlungstisch zwingen. Aber<br />

er ist auch Pragmatiker: Wir müssen ausloten,<br />

ob er zu einer dauerhaften Lösung bereit<br />

ist – und wenn ja, zu welchem Preis.<br />

Wird die Krim der Preis sein, den die<br />

Ukraine für den EU-Kurs bezahlen muss?<br />

Sandschneider: Das wissen wir noch<br />

nicht. Mein Eindruck ist, dass Putin Machtpolitik<br />

des 19. Jahrhunderts betreibt, indem<br />

er auf der Krim erst einmal Fakten<br />

schafft. Doch Sanktionen sind immer ein<br />

Ausdruck von Hilflosigkeit. In Syrien haben<br />

sie nichts bewirkt, und gegen Russland wä-<br />

FOTO: WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

30 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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e das auch so. Die Zeiten sind vorbei, dass<br />

wir als Westen immer im Cockpit sitzen<br />

und den Rest der Welt mit Sanktionen dazu<br />

bringen zu tun, was wir für richtig halten.<br />

Was hat die EU in Kiew falsch gemacht?<br />

Schulz: Die Ukraine war faktisch pleite, als<br />

die Regierung unter Janukowitsch das EU-<br />

Assoziierungsabkommen unterschreiben<br />

sollte. Auf dem Gipfel in Vilnius haben wir<br />

ein bisschen Geld geboten, vor allem aber<br />

an den IWF verwiesen. Dabei hat das Land<br />

15 bis 25 Milliarden Euro sofort gebraucht,<br />

um durch die Krise zu kommen. Wer hätte<br />

dieses Geld kurzfristig aufbringen sollen?<br />

Also kann sich die EU ihre eigene<br />

Nachbarschaftspolitik nicht leisten?<br />

Schulz: Wenn wir Außen- und Sicherheitspolitik<br />

effizient betreiben wollen, müssen<br />

wir uns darüber im Klaren sein, dass das<br />

Geld kostet. Andere Regionen dieser Welt<br />

machen das so, Russland zum Beispiel. Die<br />

EU ist im Moment so sehr mit sich und ihren<br />

inneren Krisen beschäftigt, dass sie das<br />

nicht hinbekommt.<br />

Ist es ein Fehler, dass die EU ihren<br />

Werteraum bis an die russische Grenze<br />

ausdehnen will?<br />

Schulz: Es ist kein Fehler, wenn wir die<br />

Prinzipien unserer wertorientierten Gemeinschaft<br />

auf andere übertragen. Die individuellen<br />

Werte, die Rechte und Freiheiten<br />

der Menschen, die Stärke des Rechts<br />

anstelle des Rechts des Stärkeren – das ist<br />

ein Angebot, kein europäischer Werte-Imperialismus.<br />

Es obliegt dem Selbstbestimmungsrecht<br />

von Ländern wie der Ukraine,<br />

zu entscheiden, ob sie solch ein Angebot<br />

annehmen und die Werte übernehmen.<br />

Sandschneider: Das klingt nett. Aber die<br />

EU bietet das nicht an. Sie verwendet es als<br />

Junktim, um ihre politischen Ziele zu erreichen.<br />

Man denke nur an die Wirtschaftsund<br />

Handelspolitik gegenüber afrikanischen<br />

Staaten, die ständig mit Good-Governance-Klauseln<br />

belegt wird. Diese Politik<br />

ist in Anbetracht der Tatsache, dass China<br />

auf solche politischen Vorgaben verzichtet,<br />

längst gescheitert. Wir wissen als<br />

Europäer gut Bescheid über unsere Werte<br />

»Sanktionen<br />

sind immer<br />

ein Ausdruck<br />

von Hilflosigkeit«<br />

Eberhard Sandschneider<br />

und unsere eigenen Moralvorstellungen.<br />

Aber wir wissen zu wenig über die Zielländer,<br />

in denen sie wirken sollen. In Kiew sahen<br />

wir Demonstrationen für Europa, im<br />

Osten des Landes suchen die Menschen<br />

Schutz bei Russland. Insofern liegen die<br />

Dinge auch in der Ukraine nicht ganz so<br />

einfach, wie wir es im Westen gerne hätten.<br />

Schulz: Ich bin nicht Ihrer Meinung. Das<br />

Problem in der EU ist, dass wir unser Wertesystem<br />

mal als Junktim anbieten und mal<br />

nicht. Wir leisten uns Doppelstandards.<br />

Unter dem Druck des EU-Freihandelsabkommens<br />

hat in Kolumbien der Generalstaatsanwalt<br />

24 korrupte Abgeordnete hinter<br />

Gitter gebracht. Aber bei anderen Ländern<br />

wie China nehmen wir es dann mit<br />

unseren eigenen Werten nicht so genau<br />

und stellen die wirtschaftlichen Interessen<br />

in den Vordergrund. Das darf nicht sein.<br />

Die EU leistet sich einen diplomatischen<br />

Dienst. Warum funktioniert er nicht?<br />

Sandschneider: Weil die gesamte Außenund<br />

Sicherheitspolitik der EU nicht funktioniert.<br />

Das Einzige, was Lady Ashton als<br />

EU-Außenbeauftragter gelungen ist, ist der<br />

Aufbau eines gewaltigen Apparats, der Außenpolitik<br />

simuliert. Vor Ort kann kein Diplomat<br />

eine Außenpolitik umsetzen, wenn<br />

sie in Brüssel nicht formuliert wird. Vielleicht<br />

braucht Europa auch keine gemeinsame<br />

Außen- und Sicherheitspolitik. Wir<br />

sind als Handelsnation ein großer Spieler<br />

in der Welt. Militärisch sind wir dort kaum<br />

unterwegs – aber müssen wir das? Spannend<br />

ist, was in anderen Teilen der Welt<br />

passiert. China wartet nicht, bis Europa mit<br />

einer Stimme spricht, die schaffen Fakten.<br />

Schauen Sie sich Afrika an: Da spielt China<br />

ganz ohne europäische Werte eine große<br />

Rolle, Europa ist selbst als Rohstoffpartner<br />

völlig außen vor.<br />

Wieso kann Europa keine Geopolitik?<br />

Schulz: Gemeinsame Außenpolitik kann<br />

ein Staat machen, aber die EU ist keiner.<br />

Wir müssen die Außen- und Sicherheitspolitik<br />

der EU regionalisieren. Und zwar so,<br />

dass alle etwas davon haben. Im Schwarzmeer-Raum<br />

etwa brauchen Bulgarien und<br />

Rumänien ökonomische Hilfe. In deren<br />

Nachbarschaft liegen die Ukraine und<br />

Russland, aber auch die Türkei. Wenn wir<br />

geostrategisch denken, müssen wir regionale<br />

Kooperation etwa im Bereich der<br />

Energiepolitik für den Schwarzmeer-Raum<br />

so organisieren, dass alle Anrainer profitieren.<br />

Im nördlichen Afrika gibt es rohstoffreiche<br />

Staaten wie Libyen oder Tunesien,<br />

die eine moderne Infrastruktur brauchen –<br />

und die könnten die Südländer der EU<br />

»Die EU kann<br />

dafür sorgen,<br />

dass nicht<br />

geschossen wird«<br />

Martin Schulz<br />

bauen, wenn wir rund um das Mittelmeer<br />

eine Handelszone schaffen. Davon profitieren<br />

Italien, Spanien oder Frankreich.<br />

Werfen Sie gerade die Nachbarschaftspolitik<br />

der EU um?<br />

Schulz: Wir sollten die Nachbarschaftspolitik<br />

ausbauen und die Interessen unserer<br />

Mitgliedstaaten stärker berücksichtigen.<br />

Am Handel im Mittelmeerraum hat Griechenland<br />

naturgemäß ein größeres Interesse<br />

als Finnland. Dies müssen wir anbinden<br />

an unsere internationale Handelspolitik.<br />

Denn dort geht es am Ende darum, ob<br />

wir ökonomischen Herausforderungen in<br />

anderen Regionen der Welt gewachsen<br />

sind oder nicht. Wenn Länder einen Wettbewerbsvorteil<br />

haben, weil sie die Werte<br />

Europas nicht teilen und unsere teuren Sozial-<br />

oder Umweltstandards schlichtweg<br />

ignorieren, dann geraten wir auf Dauer mit<br />

unserem Demokratiemodell unter Druck.<br />

Würden einzelne Länder in den Regionen<br />

jeweils die Führungsrolle übernehmen?<br />

Schulz: Entweder müsste die EU koordinieren<br />

– oder einzelne Staaten tun dies im<br />

Auftrag der EU. Im Ostseerat zum Beispiel<br />

stellt sich die praktische Frage, wie die Anrainer<br />

allesamt Zugang zum europäischen<br />

Markt bekommen können, ohne dass alle<br />

Beteiligten die Gesetze der EU sofort übernehmen.<br />

Wenn wir das lösen, könnte auch<br />

Russland von der regionalen Kooperation<br />

profitieren und müsste seine geostrategische<br />

Rolle nicht ständig ausspielen.<br />

Sandschneider: Wenn ich Sie recht verstehe,<br />

sind Sie nicht für ein Europa der unterschiedlichen<br />

Geschwindigkeiten, sondern<br />

für ein Europa der unterschiedlichen Kompetenzen.<br />

Das leuchtet mir ein. Wenn ich<br />

Ihre Aussagen zu Europa richtig lese, dann<br />

halten Sie die gleichmachenden Tendenzen<br />

in der EU, von Nordfinnland bis Südsizilien<br />

alles einheitlich zu gestalten, für das<br />

größte Gift in der Union. Für wie realistisch<br />

halten Sie denn diese Vorstellung einer regionalisierten<br />

Außenpolitik?<br />

Schulz: Mir schwebt ein Europa der unterschiedlichen<br />

Fähigkeiten vor. Wenn wir<br />

»<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 31<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

uns Einheit in Vielfalt vornehmen, dann<br />

muss es zu einem Gleichgewicht zwischen<br />

Einheit und Vielfalt kommen. Die Vielfalt<br />

beinhaltet die Stärke Europas, zu einer Einheit<br />

zusammenzuwachsen. Mit dem Ziel,<br />

dass dieser europäische Rahmen ein Mehr<br />

an Frieden, Sicherheit und Wohlstand für<br />

alle bringt. Das kriegt man nicht durch<br />

Zentralisieren hin.<br />

Sandschneider: Der Westen hat in den vergangenen<br />

20 Jahren gelernt, dass wir einen<br />

Diktator aus dem Amt bomben können,<br />

aber uns fehlen die Fähigkeiten, Länder<br />

ökonomisch zu stabilisieren. Und stets<br />

haben wir schnell die Grenze der Belastbarkeit<br />

erreicht – unser Freund Wladimir<br />

Putin weiß das genau. Wir können ihm den<br />

G8-Gipfel wegnehmen, und wir können<br />

über Sanktionen reden, aber mehr können<br />

wir nicht. Das lädt andere Akteure ein,<br />

traditionelle Machtpolitik zu machen. Wir<br />

selber haben sie allerdings verlernt.<br />

Ist die Bundesregierung in der Lage,<br />

einen neuen Anlauf in der europäischen<br />

Sicherheits- und Verteidigungspolitik<br />

durchzusetzen?<br />

Schulz: Mit Frank-Walter Steinmeier ist eine<br />

Reeuropäisierung der deutschen Außenpolitik<br />

bereits im Gange. Ich habe keinen<br />

Zweifel, dass die gesamte Bundesregierung<br />

eine stärkere Rolle Deutschlands<br />

bei dieser Europäisierung will. Steinmeier<br />

hat sehr schnell öffentlich gemacht, dass<br />

deutsche und europäische Interessen zwei<br />

Seiten einer Medaille sind. Ein starkes Europa<br />

ist gut für die Bundesrepublik, eine<br />

starke Bundesrepublik ist gut für Europa.<br />

Deutschland hat 2008 die Mittelmeerunion<br />

blockiert, einen Versuch Frankreichs<br />

zur Regionalisierung der europäischen<br />

Außenpolitik. Warum sollte Berlin das<br />

Konzept diesmal unterstützen?<br />

Schulz: Über mein Modell muss man erst<br />

einmal diskutieren, es hat noch keinen regierungsamtlichen<br />

Charakter. Vielleicht<br />

muss man es auch weiter denken. Aber in<br />

diesem Land, auf diesem Kontinent wagt ja<br />

niemand zu denken...<br />

Sandschneider: Na?<br />

Schulz: Doch vielleicht zu denken, aber<br />

nicht laut zu reden...<br />

Sandschneider: Bezogen auf die politische<br />

Kaste haben Sie recht...<br />

Schulz: Wir müssen Europa <strong>vom</strong> Kopf auf<br />

die Füße stellen. Die faszinierende Idee<br />

der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit<br />

kann da eine zentrale Rolle spielen.<br />

Denn das ist eine der großen Errungenschaften<br />

der Menschheit. Wenn sich in<br />

den Köpfen der Menschen der Eindruck<br />

festsetzt, dass es einen Brüsseler Zentralismus<br />

gibt, der uns fremdbestimmt, dann<br />

muss man alle Mittel ergreifen, um dieses<br />

Bild zu korrigieren.<br />

Sind die Vorzüge Europas für die Europäer<br />

zur Selbstverständlichkeit verkommen?<br />

Sandschneider: Wir sind beide ungefähr<br />

gleich alt, beide aufgewachsen in Grenzgebieten.<br />

Sie an der Grenze zu Holland, ich<br />

an der zu Frankreich. Für unsere Generation<br />

ist die Idee Europas, die Sie beschreiben,<br />

noch greifbar. Wir haben Schlagbäume<br />

gesehen, wir haben Grenzkontrollen<br />

beim Baguette-Kaufen erlebt, wir haben<br />

Geld umgetauscht. Das ist alles weg. Ist für<br />

»Irgendwann<br />

ist<br />

die Krise<br />

Normalzustand«<br />

Eberhard Sandschneider<br />

»Wir müssen<br />

Europa<br />

<strong>vom</strong> Kopf<br />

auf die Füße<br />

stellen«<br />

Martin Schulz<br />

die Generation unserer Kinder die Idee von<br />

Europa noch zündend?<br />

Schulz: Eindeutig nein. Nehmen wir die<br />

Friedensdividende, die unser Leben noch<br />

geprägt hat. Für die junge Generation spielt<br />

dies keine Rolle mehr. Sie sehen die Werte<br />

als für immer gesichert an, als wenn sie wie<br />

Strom aus der Steckdose kämen. Es redet ja<br />

niemand mit den jungen Leuten über diese<br />

Werte. Wir reduzieren die EU immer<br />

auf eine Nutzwerte-Union, statt auf eine<br />

Werte-Union.<br />

Müsste die Wirtschaft sich in diese<br />

Debatte stärker einmischen und den Wert<br />

der EU herausstellen?<br />

Sandschneider: In der öffentlichen Debatte<br />

ist die Einmischung der Wirtschaft nur<br />

ungern gesehen. Ich staune Bauklötze, wie<br />

sich große, global tätige Unternehmen den<br />

Luxus leisten, die Zielregionen ihrer Investitionen<br />

nicht zu kennen. Sie wundern sich<br />

manchmal, wenn sie dort scheitern und<br />

dabei richtig viel Geld verlieren.<br />

Bundespräsident Joachim Gauck und<br />

Außenminister Steinmeier verlangen, dass<br />

Deutschland mehr Verantwortung in der<br />

Welt übernimmt. Sollte auch die Wirtschaft<br />

ihre Interessen stärker betonen?<br />

Sandschneider: Was für eine seltsame Diskussion!<br />

Es geht hier gar nicht darum,<br />

mehr Verantwortung zu übernehmen. Und<br />

Deutschland hatte auch nie eine Kultur der<br />

Zurückhaltung in der Außenpolitik. Wir<br />

haben uns immer eingemischt und waren<br />

damit oft sehr erfolgreich. Man denke nur<br />

an das Engagement deutscher politischer<br />

Stiftungen in Südeuropa, in Mittel- und<br />

Osteuropa, mittlerweile auch im arabischen<br />

Raum und sogar Lateinamerika. Beispiele<br />

dieser Art gibt es zur Genüge. Aber<br />

wir müssen Verantwortung übernehmen,<br />

wo es unsere eigenen Interessen betrifft,<br />

die deutschen wie die europäischen. Europa<br />

ist im globalen Konzert viel besser unterwegs,<br />

als wir glauben.<br />

FOTOS: WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

32 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Ist die Krise Europas überwunden?<br />

Sandschneider: Jeder Text, den ich heute<br />

zu Europa lese, konstatiert die Krise der<br />

Europäischen Union. Jetzt befinden wir<br />

uns also seit fünf Jahren in einer Krise. Irgendwann<br />

ist die Krise Normalzustand.<br />

Dann kann man es auch lassen. An mancher<br />

Stelle, auch was die Außenwirkung<br />

angeht, reden wir uns stärker in die Krise,<br />

als wir es tatsächlich sind.<br />

Schulz: Wenn Menschen sich von einem<br />

Projekt abwenden, dann ist das Projekt verloren.<br />

Das ist für alle Diktatoren eine<br />

schlechte Nachricht, denn früher oder später<br />

wenden sich die Menschen auch von<br />

der Diktatur ab. Aber es ist auch ein Alarmsignal<br />

für Demokratien, wenn die Menschen<br />

das Gefühl haben, die Demokratie<br />

dient nicht mehr ihren Interessen. Dann<br />

wenden sie sich auch von der Demokratie<br />

ab. Das erleben wir auch in einigen Ländern<br />

in Europa. Darum muss ich sagen:<br />

Europa steckt in einer tiefen Krise, die auch<br />

eine Vertrauenskrise ist. Sie hat auch dazu<br />

geführt, dass wir kein Geld in die Ukraine<br />

geben können. Sie absorbiert unsere Kraft<br />

so stark, dass wir nach außen nur bedingt<br />

handlungsfähig sind.<br />

Wie wird dies im schlimmsten Fall enden?<br />

Schulz: Ich warne davor zu glauben, die<br />

Krise sei zu Ende, nur weil wir ein paar bessere<br />

Wirtschaftsdaten haben. Wir brauchen<br />

eine Bankenunion, die diesen Namen<br />

verdient. Wir brauchen die Regulierung<br />

der Finanzmärkte, um das Vertrauen der<br />

Menschen wieder zurückzubekommen.<br />

Sandschneider: Wir haben das Problem,<br />

dass wir in den vergangenen Jahren auf der<br />

Ebene der Partizipation gut unterwegs waren,<br />

die Effizienz dabei aber auf der Strecke<br />

geblieben ist. Und die Menschen wollen effiziente<br />

Lösungen. Wenn heute manch ein<br />

Autokrat etwa in China noch im Amt ist,<br />

dann auch, weil die Menschen dort das Gefühl<br />

haben, dass der Staat Probleme effizient<br />

löst. Wenn Menschen genau dieses<br />

Gefühl nicht mehr haben, wenden sie sich<br />

ab – von Autokratien wie von Demokratien.<br />

In der Ostukraine wollen manche zurück<br />

zur Sowjetunion, weil es damals den Menschen<br />

besser ging. So simpel ist das manchmal.<br />

Ich erinnere mich an den Satz einer<br />

jüngeren Ägypterin, die mir sagte: Mir ist es<br />

egal, wer mich regiert, Diktator, Militär oder<br />

Präsident. Hauptsache, der schafft Jobs.<br />

Das fand ich einen bemerkenswerten Satz.<br />

Müssen wir die Wirtschaft in der Debatte<br />

über Europa wieder stärker in den<br />

Mittelpunkt rücken? Weg von der Moral,<br />

wie Sie das immer fordern?<br />

Sandschneider: Für mich gilt ein Satz: Moral<br />

ist immer analysefern. Wenn Sie nicht<br />

wissen, worüber Sie reden, dann verfallen<br />

Sie in moralinsaure Aussagen. Das ist kein<br />

deutsches oder europäisches Problem,<br />

aber es ist ausgesprochen gefährlich. Die<br />

Menschen sind nicht doof. In jedem Land<br />

der Welt sehen sie, ob es ihnen gut oder<br />

weniger gut geht. Dieser Hang, Erfahrung<br />

und Kompetenz durch Moral zu ersetzen,<br />

ist etwas, was uns ganz gewaltig im Weg<br />

steht. Wie immer diese Krise ausgeht, ganz<br />

am Ende wartet ein Schock, mit dem wir<br />

überhaupt nicht rechnen. Es wird der<br />

Schock sein, wenn wir morgens wach werden<br />

und andere Teile der Welt sich einen<br />

Dreck drum scheren, was wir Europäer<br />

denken, weil sie sich machtpolitisch ganz<br />

anders aufgestellt haben. Dazu gehören<br />

unsere chinesischen Freunde, dazu gehören<br />

aber auch Indien und Brasilien, wo solche<br />

Debatten ohne jeden Bezug zur europäischen<br />

Befindlichkeit geführt werden.<br />

Wir tun immer so, als seien wir noch der<br />

Nabel der Welt. Aber in Indien sehen diese<br />

Debatten ganz anders aus.<br />

Sehen Sie das auch so?<br />

Schulz: Europa stellt heute 7,8 Prozent der<br />

Erdbevölkerung mit 30 Prozent Anteil am<br />

Weltbruttosozialprodukt. 2040 werden wir<br />

bei etwa vier Prozent Bevölkerungsanteil<br />

stehen und zehn Prozent zur globalen<br />

Wirtschaftsleistung beitragen. Europa wird<br />

entweder diese zehn Prozent geeint vertreten,<br />

oder die einzelnen Länder der europäischen<br />

Union sind Spielball der Machtinteressen<br />

anderer Weltregionen. Wenn<br />

einzelne Staaten der EU nach China fahren<br />

und bilaterale strategische Abkommen abschließen,<br />

dann ist das ein Eigentor.<br />

Sandschneider: Wer ist in Ihrem Konzept<br />

der unterschiedlichen Kompetenzen eigentlich<br />

für China zuständig? An eine gemeinsame<br />

europäische Außenpolitik glaube ich<br />

erst, wenn die Bundeskanzlerin in ein Flugzeug<br />

steigt und französische, britische und<br />

spanische Geschäftsleute dabeihat.<br />

Schulz: Nein, das ist gar nicht ihre Aufgabe.<br />

Sie muss die Interessen der Bundesrepublik<br />

Deutschland schützen. Es ist Aufgabe<br />

der europäischen Organe, die Interessen<br />

der EU zu schützen, das kann kein einzelnes<br />

Land stellvertretend für andere machen.<br />

Wenn der EU-Handelskommissar in<br />

Peking sagen kann, alle EU-Mitglieder stehen<br />

geschlossen hinter mir, dann werden<br />

uns die Chinesen ernst nehmen.<br />

Sandschneider: Das dauert aber noch ein<br />

Weilchen.<br />

n<br />

florian.willershausen@wiwo.de, silke wettach | Brüssel<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 33<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

Der Milliarden-Poker<br />

FÖDERALISMUS | Die Ministerpräsidenten rüsten sich für die Neuordnung der Bund-Länder-Finanzen.<br />

Sie wollen von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble mehr als nur den Soli.<br />

Vertrauliche Unterlagen offenbaren das Ausmaß der Umverteilung und Begehrlichkeiten.<br />

Früher seien die Länderfürsten wie<br />

Freischärler dahergekommen, spontan,<br />

ungeordnet und letztlich nicht<br />

sehr erfolgreich. Heute seien sie dagegen<br />

stark aufgestellt, über Länder- und Parteiengrenzen<br />

hinweg organisiert. Die Kurzanalyse<br />

des Beamten in der Berliner<br />

Wilhelmstraße bedeutet vor allem eines:<br />

Auf seinen Dienstherren, Bundesfinanzminister<br />

Wolfgang Schäuble, kommen<br />

teure Zeiten zu.<br />

Keine zwei Kilometer entfernt, versammeln<br />

sich am Donnerstag dieser Woche die<br />

Länderfürsten auf Einladung des<br />

baden-württembergischen Ministerpräsidenten<br />

Winfried Kretschmann. In der<br />

wuchtigen Landesvertretung am Tiergarten<br />

reden die Ministerpräsidenten auch über<br />

eine Senkung der Rundfunkgebühren, über<br />

den Stand der Energiewende, den Ausbau<br />

Föderale Umverteilung<br />

Eisenbahn-Bundesamt. Das wichtigste Anliegen<br />

aber, das alle Länderchefs seit Monaten<br />

bewegt, setzte der Gastgeber – Stand vorige<br />

Woche – gar nicht auf die Tagesordnung:<br />

die Neuordnung der Finanzströme<br />

im föderalen System der Bundesrepublik<br />

Deutschland. Das Thema behandeln die<br />

MPs wie eine geheime Kommandosache –<br />

beim trauten Kamingespräch.<br />

Gut 320 Milliarden Euro fließen den Ländern<br />

jedes Jahr zu, gespeist aus eigenen<br />

Steuereinnahmen, gegenseitigen Verrechnungen<br />

sowie diversen Sozialtransfers und<br />

Investitionen des Bundes. Dies geht aus einer<br />

300 Seiten starken Bestandsaufnahme<br />

der Finanzministerkonferenz hervor, die<br />

„nur für den Dienstgebrauch“ klassifiziert<br />

ist und von den Ländern unter Verschluss<br />

gehalten wird. Die Bestandsaufnahme besteht<br />

aus einem enormen Datenwust und<br />

ist zumindest auf den ersten Blick alles andere<br />

als transparent. Und zwar aus Kalkül.<br />

der Breitbandnetze, den Hochwasserschutz<br />

Was die undBundesländer die zähe Verfahrensdauer untereinander beim verteilen und <strong>vom</strong><br />

Bund bekommen (2012, in Euro je Einwohner)<br />

Denn Transparenz ist im föderalen Geflecht<br />

keinesfalls erwünscht. Niemand<br />

möchte sich beim Bund-Länder-Poker in<br />

die Karten schauen lassen. Bayerns Finanzminister<br />

Markus Söder (CSU) zum<br />

Beispiel gefällt sich in der Rolle des stöhnenden<br />

Zahlmeisters an arme, faule Länder<br />

– eine Pose, zu der nicht recht passen<br />

mag, dass sich der Freistaat umgekehrt einen<br />

ordentlichen Batzen an Bundesinvestitionen<br />

und EEG-Geldern über den Gartenzaun<br />

werfen lässt.<br />

Die WirtschaftsWoche hat die föderalen<br />

Umverteilungsströme zusammengefasst<br />

und grafisch in drei Gruppen eingeteilt:<br />

n Zum Steuerkraftausgleich (Blau) zählt<br />

der direkte Länderfinanzausgleich, der<br />

die unterschiedlich hohen Steuereinnahmen<br />

der Länder teilweise nivellieren soll.<br />

Hinzu kommen der Umsatzsteuerausgleich<br />

zwischen den Ländern und spezielle<br />

Bundesergänzungszuweisungen für Ost-<br />

Föderale Umverteilung<br />

Was die Bundesländer untereinander verteilen und <strong>vom</strong><br />

Bund bekommen (2012, in Euro je Einwohner)<br />

667<br />

461<br />

Zuflüsse<br />

Baden-Württemberg<br />

Hessen<br />

Bayern<br />

Nordrhein-Westfalen<br />

49<br />

Hamburg<br />

54<br />

Rheinland-Pfalz<br />

240<br />

Niedersachsen<br />

Schleswig-Holstein<br />

Saarland<br />

Abflüsse<br />

–313<br />

–312<br />

–231<br />

–41<br />

Steuerkraftausgleich1<br />

Sozialer Nachteilsausgleich2<br />

Wirtschaftskraft stärkende Zahlungsströme3<br />

34 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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deutschland und die schwächelnden Westländer<br />

Bremen, Saarland und Schleswig-<br />

Holstein. Insgesamt geht es hier um 19 Milliarden<br />

Euro.<br />

n Der soziale Nachteilsausgleich (Grün)<br />

umfasst rund elf Milliarden Euro an Bundesmitteln.<br />

Dazu gehören unter anderem<br />

Bafög, Wohngeld, Kosten der Unterkunft,<br />

Eingliederungshilfen, Sonderzahlungen<br />

für kleine Länder und wegen struktureller<br />

Arbeitslosigkeit.<br />

n Die Wirtschaftskraft stärkenden Zahlungsströme<br />

(Orange) beinhalten weitere<br />

elf Milliarden Euro Bundesmittel für Forschung,<br />

Infrastruktur, Rüstung, öffentlichen<br />

Personen-Nahverkehr (ÖPNV) oder<br />

Hochschulen. Außerdem wurden 2012 sieben<br />

Milliarden Euro aus der Umlage des<br />

Erneuerbaren-Energien-Gesetzes über<br />

Ländergrenzen hinweg verschoben.<br />

Das Ergebnis zeigt Gewinner und Verlierer.<br />

Eine kleine Gruppe von vier Ländern<br />

zahlt im föderalen System drauf. Am meisten<br />

verschlechtern sich Baden-Württemberg<br />

und Hessen. Der Osten plus Bremen<br />

sahnen dagegen kräftig ab; ohne Umverteilung<br />

befänden sich hier Sozialleistungen,<br />

öffentliche Einrichtungen und Infrastruktur<br />

wohl eher auf Schwellenlandniveau.<br />

Im Westen bricht das Saarland dank<br />

föderaler Stütze nicht unter der Last des<br />

Strukturwandels in der Montanindustrie<br />

zusammen, und die strukturschwachen<br />

Schleswig-Holsteiner verdienen (neben<br />

anderen) kräftig am ökonomischen<br />

Wahnsinn der deutschen Energiewende.<br />

Der Föderalismus wirbelt das Finanzranking<br />

der Länder regelrecht durcheinander.<br />

Der Süden, der bei den Steuereinnahmen<br />

noch ganz vorn liegt, rutscht<br />

nach den diversen Umverteilungen ab<br />

und hat am Ende bei der Finanzausstattung<br />

gegenüber dem Osten das Nachsehen.<br />

Und bei den Stadtstaaten überholen<br />

Berlin und Bremen dank hoch dosierter<br />

Finanzspritzen von mehr als 2000 Euro<br />

pro Einwohner die reiche Hafenmetropole<br />

Hamburg.<br />

Das wurmt vor allem Bayern und Hessen.<br />

Beide Länder haben wegen des Länderfinanzausgleichs<br />

(wieder einmal) Klage<br />

beim Bundesverfassungsgericht eingereicht.<br />

Die beiden Geberländer stört unter<br />

anderem die Einwohnerwertung. Stadtstaaten<br />

erhalten eine sogenannte Einwohnerveredelung;<br />

ein Berliner oder ein Hamburger<br />

sind bei der Berechnung des Finanzausgleichs<br />

35 Prozent mehr wert als<br />

ein Bayer oder ein Hesse. Damit sollen die<br />

1883<br />

1999<br />

Metropolen für Mehrausgaben bei Infrastruktur<br />

und Kultur entschädigt werden,<br />

die auch von Pendlern aus dem Umland in<br />

Anspruch genommen werden.<br />

Solch einen Status fände das Saarland<br />

auch prima. Das kleinste Flächenland mit<br />

seinen 995 000 Einwohnern, das zur Kategorie<br />

der Kostgänger gehört, sieht sich völlig<br />

verkannt. „Wir haben viele Einpendler“,<br />

sagt Finanzminister Stephan Toscani. Aus<br />

der Westpfalz kämen 25 000 Arbeitspendler,<br />

18 000 aus Frankreich. Ihre Einkommensteuer<br />

würden die Pendler aber in<br />

Rheinland-Pfalz und Frankreich zahlen.<br />

Die Saarländer dagegen, die im benachbarten<br />

Luxemburg arbeiten, müssten dort<br />

ihre Einkommensteuer zahlen wegen des<br />

bestehenden deutsch-luxemburgischen<br />

Steuerabkommens. „Ungerecht“ findet<br />

das Toscani. „Künftig sollte sich die regionale<br />

Wirtschaftskraft stärker auf die originären<br />

Einnahmen auswirken. Dann bekäme<br />

das Saarland, das eine Wertschöpfung<br />

pro Einwohner von fast <strong>10</strong>0 Prozent des<br />

Länderdurchschnitts erwirtschaftet, auch<br />

mehr Steuereinnahmen.“ »<br />

2041<br />

2138<br />

1629<br />

1643<br />

1680<br />

Sachsen<br />

Brandenburg<br />

Thüringen<br />

Sachsen-Anhalt<br />

Mecklenburg-Vorpommern<br />

Berlin<br />

Bremen<br />

1 Länder-Finanzausgleich, Umsatzsteuer-Ausgleich, Allgemeine Bundesergänzungs-Zuweisungen (BEZ); 2 Sonder-BEZ wg. Arbeitslosigkeit und Kosten politischer Führung, Konsolidierungshilfen,<br />

Art. <strong>10</strong>4a GG Leistungen des Bundes (Kosten der Unterkunft, Wohngeld, Bafög, Grundsicherung im Alter, Unterhaltsvorschuss u.a.); 3 Gemeinschaftsaufgaben (regionale Wirtschaftsförderung,<br />

Agrar- und Küstenschutz, Bildungs-planung), Forschungsförderung, Rüstungsausgaben, EEG-Zahlungsströme, Investitionsförderung, ÖPNV-Ausgleich; Quelle: Finanzministerkonferenz<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 35<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

»<br />

Bei der Einkommensteuer gilt das<br />

Wohnsitzprinzip, bei Einkünften aus Dividenden<br />

und Zinsen indes das Betriebstättenprinzip.<br />

Eine innere Logik steckt nicht<br />

dahinter, eher chaotische Zufälligkeiten in<br />

der Entwicklung des Steuersystems. Dabei<br />

würde eine Aufteilung etwa der Kapitalertragsteuer<br />

– und der Körperschaftsteuer –<br />

nach dem Wohnortprinzip „zu einer<br />

gleichmäßigeren Steuerverteilung der Länder<br />

führen und so den Finanzausgleich entlasten“,<br />

heißt es in einer Analyse des Bundesfinanzministeriums.<br />

Aber: Länder mit<br />

vielen großen Unternehmen wie Baden-<br />

Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Bayern,<br />

Hamburg und Hessen sind dagegen.<br />

Alles hängt bei den Bund-Länder-<br />

Finanzbeziehungen mit allem zusammen.<br />

Pfründe gibt niemand freiwillig aus der<br />

Hand. Jeder beäugt argwöhnisch jeden Änderungsvorschlag.<br />

Korrekturen oder neue<br />

Konzeptionen sind in solch einem System<br />

nahezu unmöglich. Gefordert sind Geduld,<br />

Fingerspitzengefühl und Diskretion.<br />

Dass die Länderfürsten trotz aller Zerstrittenheit<br />

überhaupt miteinander verhandeln,<br />

hat einen simplen Grund: Sie haben<br />

einen gemeinsamen Gegner: den<br />

Bund. Seit anderthalb Jahren suchen die<br />

Länderchefs nach einer gemeinsamen Verhandlungsposition,<br />

um Schäuble kräftig in<br />

die Kasse zu greifen.<br />

KAMINGESPRÄCH IM SCHLOSS<br />

Im Oktober 2012 auf Schloss Ettersburg bei<br />

Weimar entwarfen die MPs einen regelrechten<br />

Schlachtplan. Er reicht bis zum 31.<br />

Dezember 2019. Dann treten alle wichtigen<br />

Gesetze außer Kraft, die die Finanzbeziehungen<br />

zwischen dem Bund und den Ländern<br />

regeln. Dazu zählen die Aufteilung der<br />

Umsatzsteuer (Aufkommen 2013: 197 Milliarden<br />

Euro), der Länderfinanzausgleich<br />

(8,5 Milliarden Euro), die Bundesergänzungszuweisungen<br />

(3,2 Milliarden Euro)<br />

und der Solidaritätszuschlag (14 Milliarden<br />

Euro). Zur Debatte steht aber auch eine<br />

Neuverteilung der Lohn- und Einkommensteuer<br />

(200 Milliarden Euro), der Körperschaftsteuer<br />

(20 Milliarden Euro) und der<br />

Kapitalertragsteuer (26 Milliarden Euro).<br />

Als Gesprächsgrundlage forderten die<br />

Ministerpräsidenten von ihren Finanzministern<br />

jene Bestandsaufnahme an, die<br />

nun als Verschlusssache bei den Kamingesprächen<br />

auftaucht. Darauf aufbauend<br />

stellten die Finanzminister im November<br />

2013 ein ebenso vertrauliches „Meinungsbild<br />

der Länder“ zusammen, das die gemeinsamen<br />

und dissonanten Positionen<br />

Aufbau Bayern Der Raumfahrtstandort Oberpfaffenhofen ist Teil der Freistaat-Strategie<br />

F = 3 317<br />

4 X<br />

. 2000<br />

Nach dieser Formel berechnet sich der<br />

Finanzausgleich, wenn die Finanzmesszahl<br />

eines Landes unter 80 Prozent seiner Ausgleichsmesszahl<br />

liegt. Alles klar?<br />

beschreibt. An beiden Berichten knabbern<br />

die MPs jetzt herum.<br />

Am einfachsten ist der Punkt „Gemeinsame<br />

Position aller Länder zu vertikalen<br />

Aspekten der Neuordnung“. Bei der Umsatzsteuer<br />

wollen sie den Anteil des Bundes<br />

von derzeit 53,4 Prozent zu ihren Gunsten<br />

herunterdrücken. Außerdem fordern sie<br />

<strong>vom</strong> Bund, die ursprünglich degressiven<br />

Entflechtungsmittel für den sozialen Wohnungsbau,<br />

für Hochschulen und die Gemeindeinfrastruktur<br />

über 2019 hinaus nicht<br />

nur zu erhalten, sondern um fast eine Milliarde<br />

auf 3,5 Milliarden Euro jährlich aufzustocken.<br />

Und den Solidaritätszuschlag, der<br />

Stadtstaaten sahnen ab<br />

Was die Bundesländer an Steuern erst einnehmen (<br />

3591<br />

3645<br />

Rheinland-<br />

Pfalz<br />

3<strong>10</strong>2<br />

3769<br />

Saarland<br />

3818<br />

3777<br />

Niedersachsen<br />

Nordrhein-<br />

Westfalen<br />

3560<br />

3800<br />

allein dem Bund zusteht, wollen sie ganz für<br />

sich vereinnahmen (siehe Seite 38).<br />

Beim Verteilen ihrer Beute aber hört die<br />

Gemeinsamkeit auf. Über Kreuz sind sie<br />

sich schon beim grundlegenden föderalen<br />

Verständnis. Die steuerschwachen Länder<br />

betonen das kooperative, die starken dagegen<br />

das kompetitive Element. Die einen<br />

wollen viel Umverteilung, die anderen<br />

mehr Wettbewerb.<br />

Weltweit gibt es rund 25 Bundesstaaten.<br />

Von den meisten unterscheidet sich die<br />

Bundesrepublik Deutschland dadurch,<br />

dass hier nicht nur vertikal, sondern auch<br />

horizontal viel Geld umverteilt wird. Was<br />

theoretisch den Zusammenhalt zwischen<br />

den föderalen Elementen stärken soll, entpuppt<br />

sich in der Praxis jedoch als ständiges<br />

Ärgernis.<br />

Bei den Kamingesprächen bilden die<br />

Ministerpräsidenten denn auch Gruppen<br />

und Grüppchen. Die meisten MPs gehören<br />

zu „FF 12“. Das Kürzel steht für Forum Finanzausgleich,<br />

Mitglieder sind die fünf<br />

4137<br />

3825<br />

Hessen<br />

) und am Ende an Finanzausstattung<br />

3445<br />

3906<br />

Schleswig-<br />

Holstein<br />

4264<br />

3951<br />

Baden-<br />

Württemberg<br />

*Steuereinnahmen plus Steuerausgleich, sozialem Nachteilsausgleich und die Wirtschaftskraftstärkenden Zahlungsströmen<br />

4220<br />

3989<br />

Bayern<br />

FOTOS: DLR, PICTURE-ALLIANCE/DPA<br />

36 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Altlasten im Saarland Der Niedergang der Montanindustrie trieb Sozialkosten und Schulden<br />

F = 5<br />

X<br />

. +<br />

26 X 35<br />

. 52<br />

Formel zum Finanzausgleich, wenn die<br />

Finanzmesszahl eines Landes zwischen<br />

80 und unter 93 Prozent seiner Ausgleichsmesszahl<br />

liegt.<br />

neuen Bundesländer, die drei Stadtstaaten,<br />

Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein<br />

und das Saarland. FF 12 ist<br />

eindeutig auf Umverteilung programmiert.<br />

Ihre Gegner heißen Bayern und Hessen.<br />

Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen<br />

mäandern hin und her.<br />

Bayern und Hessen streben beispielsweise<br />

mehr Leistungsanreize beim horizontalen<br />

Finanzausgleich an. Solide wirtschaftende<br />

Länder sollen belohnt, das Ausgleichsniveau<br />

reduziert werden. Das aber<br />

lehnen die FF 12 strikt ab.<br />

Hand in Hand schreiten die Länderfürsten<br />

dagegen voran, wenn es um die weitere<br />

zur Verfügung haben* (<br />

2541<br />

4170<br />

Sachsen<br />

2496<br />

4176<br />

Thüringen<br />

Quelle:Finanzministerkonferenz<br />

( ) 2121<br />

), in Euro<br />

2688<br />

4331<br />

Brandenburg<br />

2544<br />

4427<br />

Sachsen-<br />

Anhalt<br />

26000<br />

Übernahme von Sozialausgaben durch<br />

den Bund geht. Bei der Eingliederungshilfe<br />

von Behinderten zum Beispiel verabredete<br />

die große Koalition, die Gemeinden um<br />

fünf Milliarden Euro jährlich zu entlasten.<br />

Bis das entsprechende Bundesteilhabegesetz<br />

in Kraft tritt, soll zumindest eine Milliarde<br />

Euro pro Jahr fließen. Doch Bundesfinanzminister<br />

Schäuble hält an seinem<br />

wichtigsten Ziel, den ersten ausgeglichenen<br />

Bundeshaushalt seit 1969, fest. Auch<br />

deswegen versuchen seine Beamten, die<br />

verabredete Mittelaufstockung so lange<br />

wie möglich zu verzögern. Erst „ab 2018<br />

werden Länder/Kommunen durch ein<br />

Bundesteilhabegesetz jährlich um fünf<br />

Milliarden Euro bei den Eingliederungshilfen<br />

für Menschen mit Behinderung entlastet“,<br />

steht in einem internen Vermerk. Das<br />

aber wäre nach der laufenden Legislatur-<br />

2450<br />

4449<br />

Mecklenburg-<br />

Vorpommern<br />

5328<br />

5377<br />

Hamburg<br />

3489<br />

5530<br />

Berlin<br />

3774<br />

5912<br />

Bremen<br />

periode – und damit ein Verstoß gegen den<br />

Koalitionsvertrag.<br />

Offenbar bereitet sich Schäuble ebenfalls<br />

mit Maximalpositionen auf die anstehenden<br />

Gespräche zur Reform der Bund-<br />

Länder-Finanzbeziehungen vor. Zu seinem<br />

Forderungskatalog zählt die Einrichtung<br />

einer Bundessteuerverwaltung. Dadurch<br />

„könnten, auch im Hinblick auf ein<br />

sich veränderndes europäisches Umfeld,<br />

Effizienzgewinne generiert werden“. Damit<br />

geht Schäuble ebenfalls über den Koalitionsvertrag<br />

hinaus. Der sieht lediglich eine<br />

stärkere Rolle des Bundeszentralamtes für<br />

Steuern bei der Steuerfahndung vor. Eine<br />

einheitliche Bundessteuerverwaltung anstelle<br />

der zersplitterten regionalen Finanzdirektionen<br />

würde dagegen stark in die<br />

Länderkompetenzen eingreifen, worauf<br />

noch jeder Ministerpräsident allergisch<br />

reagiert.<br />

Für lebhafte Debatten ist gesorgt, wenn<br />

sich die Bund-Länder-Finanzkommission<br />

in den nächsten Monaten konstituiert. Einen<br />

Vorgeschmack über Taktik und Strategie<br />

von Bund und Ländern bekommen die<br />

Vertreter bereits heute: bei der anstehenden<br />

Verhandlungsrunde über die Subventionen<br />

im ÖPNV. Der Bund zahlt jedes Jahr<br />

rund sieben Milliarden Euro an die Länder,<br />

die damit vor allem S-Bahnen und Regionalexpresszüge<br />

bestellen. Die Verteilung<br />

legt das Regionalisierungsgesetz fest. Am<br />

meisten erhält Nordrhein-Westfalen mit<br />

knapp 16 Prozent, Bremen bekommt weniger<br />

als ein Prozent.<br />

KEINE DEBATTE ENTFACHEN<br />

Das Gesetz läuft 2015 aus und muss noch<br />

in diesem Frühjahr neu beschlossen werden.<br />

Ein Gutachten, das die Länder in<br />

Auftrag gegeben haben, soll bis April<br />

dieses Jahres klären, wie viel Geld für<br />

den Nahverkehr tatsächlich nötig ist.<br />

Bewusst ermitteln die Experten aber nur<br />

den Gesamtbedarf für alle 16 Länder<br />

zusammen – auf eine regionale Aufschlüsselung<br />

wurde verzichtet, um keine<br />

Debatte zu entfachen.<br />

Der Bund dagegen versucht, genau so<br />

einen Streit auszulösen. So stach er in der<br />

vergangenen Woche detaillierte Informationen<br />

über die Verwendung der Regionalisierungsmittel<br />

an die Medien durch –<br />

getarnt als Antwort auf eine Anfrage der<br />

Fraktion Die Linke. Normalerweise sind<br />

solche Antworten nichtssagend. Doch dieses<br />

Mal war die Bundesregierung auskunftsfreudig:<br />

Sachsen, Sachsen-Anhalt,<br />

Thüringen und Niedersachsen investier-»<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 37<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

SOLIDARZUSCHLAG<br />

Den Batzen<br />

sichern<br />

Die Länder wollen die Abgabe in<br />

ihre Kassen leiten. Doch über die<br />

Verteilung der Beute gibt es Streit.<br />

Windige Geschäfte Für einige Länder ist die EEG-Umlage wie ein Nebenfinanzausgleich<br />

»<br />

ten 2012 einen Großteil der Gelder, die<br />

laut Gesetz „insbesondere“ in den Schienenpersonennahverkehr<br />

zu stecken sind,<br />

auch in Tunnelprojekte oder den Busverkehr.<br />

Eine öffentliche Debatte über Zweckentfremdung<br />

der Gelder, so die Hoffnung<br />

des Bundes, hätte die Position der Länder<br />

schwächen können.<br />

Zu der kam es zwar noch nicht. Aber der<br />

Keim für künftige Diskussionen ist gelegt.<br />

Die Länder beobachten mit Argusaugen,<br />

wie die Gelder verkehrspolitisch eingesetzt<br />

werden – auch bei den Ausbauprojekten.<br />

Das Bundesverkehrsministerium erarbeitet<br />

gerade den neuen Bundesverkehrswegeplan<br />

(BVWP), der ab 2015 definiert, wohin<br />

die Milliarden für den Neubau der<br />

Schienenwege und Fernstraßen fließen.<br />

(<br />

13<br />

7<br />

.X 11<br />

) 25<br />

F = X . +<br />

Ausgleichsformel, wenn die Finanzkraftmesszahl<br />

eines Landes mindestens<br />

93 Prozent seiner Ausgleichsmesszahl<br />

beträgt.<br />

GUTE KARTEN<br />

Bayern hat gute Karten, erneut ein wenig<br />

mehr zu profitieren als andere Länder. Der<br />

Freistaat hat allein 400 Projekte für die Aufnahme<br />

in den BVWP angemeldet – so viele<br />

wie kein anderes Land. Der Bund wäre bei<br />

heutigem Ausbautempo zwar 160 Jahre damit<br />

beschäftigt, die Schienen- und Straßenvorhaben<br />

im Wert von 17 Milliarden<br />

Euro abzuarbeiten. Doch Politstratege<br />

Horst Seehofer platzierte seinen Vertrauten<br />

Alexander Dobrindt an die Schlüsselposition<br />

für die Verteilung von Bundesmitteln.<br />

Da mag das eine oder andere Projekt<br />

zusätzlich für Dobrindts Heimat abfallen.<br />

Die Bayern haben sich bei Verkehrs- und<br />

anderen Zukunftsprojekten immer schon<br />

klug verhalten. Legendär ist die Industriepolitik<br />

von Franz Josef Strauß, der für Technologiefirmen<br />

den roten Teppich ausrollte<br />

und zusah, dass zukunftsträchtige Institutionen<br />

wie das Deutsche Raumfahrtzentrum<br />

in den Freistaat kamen. In dieser Tradition<br />

agiert seither jeder Ministerpräsident<br />

des Freistaates.<br />

Pro Jahr investiert der Bund beispielsweise<br />

rund ein bis zwei Milliarden Euro in<br />

den Neu- und Ausbau von Fernstraßen.<br />

Wegen Fehlplanungen und Verzögerungen<br />

bei Bauprojekten kann es passieren, dass<br />

am Jahresende nicht sämtliche Gelder verbuddelt<br />

werden können. Das Geld darf<br />

aber nicht in das Folgejahr übertragen werden,<br />

sondern muss an den Bund zurücküberwiesen<br />

werden, der es anderen Bundesländern<br />

zur Verfügung stellt – vorausgesetzt,<br />

sie haben ein baufähiges Projekt.<br />

So musste Nordrhein-Westfalen im vorigen<br />

Jahr 40 Millionen Euro an Bundesgeldern<br />

zurückgeben, weil es im Land an baureifen<br />

Projekten fehlte. Ähnlich erging es<br />

Berlin. Anders die Länder Hessen und<br />

Rheinland-Pfalz, die jeweils mehr als 40<br />

Millionen Euro zusätzlich verbauen konnten.<br />

Die Niedersachsen durften sich über<br />

80 Millionen Euro <strong>vom</strong> Bund finanzierte<br />

Mehrausgaben freuen. An der Spitze liegt<br />

seit Jahren Bayern, das zig Bauprojekte in<br />

den Schubladen der Amtsstuben liegen<br />

hat. 2013 stand ein Positivsaldo von 140<br />

Millionen Euro. Man kann es eine Art Nebenfinanzausgleich<br />

nennen.<br />

n<br />

christian.ramthun@wiwo.de | Berlin,<br />

henning krumrey, christian schlesiger<br />

Eigentlich läuft der 5,5-prozentige Aufschlag<br />

auf die Einkommen-, Körperschaft-<br />

und Kapitalertragsteuer Ende<br />

2019 aus. Doch auf die dann 17 bis 18<br />

Milliarden Euro will niemand verzichten.<br />

In der Führung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion<br />

kursiert der Vorschlag, den<br />

Solidarzuschlag in den Einkommensteuertarif<br />

einzupflegen. Der Bund, der<br />

bislang <strong>10</strong>0 Prozent des Aufkommens<br />

erhält, würde danach wie die Länder<br />

42,5 Prozent bekommen, für die Kommunen<br />

blieben 15 Prozent übrig (WirtschaftsWoche<br />

<strong>10</strong>/<strong>2014</strong>).<br />

Der Vorschlag bringt Nordrhein-Westfalens<br />

Finanzminister Norbert Walter-<br />

Borjans (SPD) auf die Zinne. „Es sieht<br />

aus, als wenn der Bund den Ländern<br />

generös entgegenkommt. Dabei will er<br />

sich zuerst einmal dauerhaft einen Batzen<br />

für den Bundeshaushalt sichern“,<br />

sagt der NRW-Finanzminister.<br />

NRW und andere Empfängerländer<br />

möchten das Aufkommen komplett zur<br />

Tilgung ihrer Altschulden verwenden.<br />

Das aber finden die Ostländer nicht gut,<br />

die bisher zumindest teilweise <strong>vom</strong> Soli<br />

profitierten. Ihre Schulden sind nicht so<br />

hoch wie die der Westländer und deswegen<br />

würden sie den Soli lieber für allgemeine<br />

Infrastrukturprojekte nutzen.<br />

FÜR OST, WEST UND BAYERN<br />

Hessens Finanzminister Thomas Schäfer<br />

(CDU) würde einen Teil des Soli sogar<br />

Berlin zukommen lassen, damit –<br />

so die eigennützige Kalkulation – die<br />

Hauptstadt dann nicht mehr so viel<br />

beim Länderfinanzausgleich abgreift.<br />

Natürlich hat auch der bayrische Finanzminister<br />

Markus Söder (CSU) ein<br />

Modell parat: Die Hälfte des Solis soll<br />

dazu dienen, den Abbau der kalten Progression<br />

zu finanzieren. Die andere<br />

Hälfte soll in einen Fonds zur Unterstützung<br />

strukturschwacher Gebiete fließen,<br />

in Ost wie West – und in Bayern.<br />

christian.ramthun@wiwo.de | Berlin<br />

FOTO: LAIF/ZENIT/PAUL LANGROCK<br />

38 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

»Das klingt harmlos«<br />

INTERVIEW | Günther Oettinger Der EU-Energiekommissar zur Sicherheit<br />

der Gasversorgung und zum Streit über die Energiewende.<br />

Herr Oettinger, Russlands Präsident Wladimir<br />

Putin greift zu Drohgebärden. Wie<br />

soll Europa damit umgehen?<br />

Wir müssen einheitlich auftreten. Das<br />

Ganze ist ein Pokerspiel: Wladimir Putin<br />

fordert die Europäische Union heraus.<br />

Seine Staatsbetriebe, Rosneft, Gazprom<br />

und andere, einige Oligarchen in seiner<br />

Nähe und die Notenbank mit seiner früheren<br />

Chefberaterin als Präsidentin – alle<br />

sind von ihm abhängig. Auf der anderen<br />

Seite sitzen 28 Mitgliedstaaten mit ihren<br />

Regierungen, die EU-Kommission, die<br />

Industrie, die Bankenwirtschaft und<br />

der amerikanische Partner. Wir sind heterogener...<br />

...und von russischer Energie abhängig.<br />

Wir haben in den vergangenen Jahren an<br />

Handlungsfähigkeit gewonnen und unsere<br />

Gaslieferanten diversifiziert. 2012 war Norwegen<br />

der wichtigste Lieferant. In vielen<br />

Bereichen wurden grenzüberschreitende<br />

Leitungen ausgebaut. Die direkte Verbindung<br />

zu Gasfeldern in Aserbaidschan<br />

kommt 2019. Wir planen neue schiffsfähige<br />

Flüssiggas-Terminals, um gegebenenfalls<br />

Gas aus Nigeria, Libyen und Katar oder<br />

Schiefergas aus den USA zu beziehen. Für<br />

den Sommer planen wir in Malta eine Konferenz,<br />

um die besten Transportwege für<br />

Gas aus dem östlichen Mittelmeer auszuloten.<br />

Aber so, wie unser Straßennetz über<br />

Jahrzehnte entstand, braucht es nun Zeit,<br />

DER AUFPASSER<br />

Oettinger, 60, ist seit Februar 20<strong>10</strong> als Mitglied<br />

der EU-Kommission zuständig für<br />

Energiepolitik. Von 2005 bis zu seinem<br />

Wechsel nach Brüssel war der CDU-Politiker<br />

Ministerpräsident in Baden-Württemberg.<br />

um das Strom- und Gasnetz hochzuziehen.<br />

In etwa fünf Jahren sollten wir unser<br />

vorläufiges Ziel erreichen.<br />

Genau darum steht Europa dumm da,<br />

wenn Putin morgen die Energie abdreht.<br />

Ich gehe nicht davon aus, dass die Russen<br />

ein Interesse daran haben. Warum sollten<br />

sie etwa Nord Stream stilllegen? Gazprom<br />

ist an täglichen Verkaufserlösen interessiert,<br />

damit sich die Investition lohnt und<br />

Umsatz erzielt wird. Selbst wenn sich das<br />

Worst-Case-Szenario <strong>vom</strong> Januar 2009 wiederholen<br />

würde, also kein Gas mehr durch<br />

die Ukraine fließt, dann beträfe dies 14 Prozent<br />

unseres europäischen Gasverbrauchs.<br />

Wir haben einen milden Winter gehabt.<br />

Die Speicher sind heute voller als vor einem<br />

Jahr. Seit zweieinhalb Jahren gilt die<br />

Gasversorgungsverordnung, Mitgliedstaaten<br />

müssen also dafür sorgen, dass ausreichend<br />

Vorräte vorhanden sind, um<br />

Haushalte im Fall einer Unterbrechung der<br />

Gasleitungen auch im Winter mindestens<br />

30 Tage versorgen zu können. Wir stehen<br />

besser da als vor fünf Jahren.<br />

Die EU-Kommission hat ein Wettbewerbsverfahren<br />

gegen Gazprom eröffnet. Ist das<br />

ihre schärfste Waffe gegen Russland?<br />

Wir werden das Wettbewerbsrecht nicht<br />

missbrauchen, aber das Verfahren dient sicherlich<br />

der Autorität der Europäischen<br />

Union. Es wurde eröffnet, weil es Klagen<br />

gab. Jetzt sind die Experten dran. Die haben<br />

keine politischen Vorgaben.<br />

Wann rechnen Sie mit einem Ergebnis?<br />

Bis zum Sommer. Das ist ein Verfahren, das<br />

Priorität hat.<br />

Russland hat nie die Energiecharta<br />

unterzeichnet. Bleibt es jetzt dabei?<br />

Ich baue darauf, dass es im nächsten Jahr<br />

wieder zu einer Normalisierung der Beziehungen<br />

kommen wird. Wir sind gegenseitig<br />

abhängig. Eine weitere Vertiefung<br />

unserer Energiepartnerschaft wäre eine<br />

echte Win-win-Situation. Da wäre die Mitgliedschaft<br />

in der Energiecharta nützlich.<br />

Ist Putin die gegenseitige Abhängigkeit<br />

bewusst?<br />

Ich glaube schon. Die faktische Insolvenz<br />

Russlands ist nicht so lange her, das war<br />

Ende der Neunzigerjahre. Wenn man sich<br />

ansieht, welcher Investitionsbedarf in<br />

Russland besteht, dann hat Putin ein Interesse,<br />

dass europäische Investoren nach<br />

Russland kommen. Es wäre in seinem<br />

Sinn, dass deutsche Autos nicht nur in Ingolstadt<br />

und Sindelfingen gebaut werden,<br />

sondern auch neue Standorte in Russland<br />

entstehen.<br />

Die Ukraine-Krise überlagert den Konflikt<br />

zwischen Berlin und Brüssel zum Erneuerbaren-Energien-Gesetz<br />

(EEG). Da wirft<br />

Energieminister Sigmar Gabriel der EU-<br />

Kommission vor, sie schädige mit ihrem<br />

Verfahren die deutsche Wirtschaft.<br />

Die EU-Kommission will die deutsche<br />

Wirtschaft sicherlich nicht schädigen. Aber<br />

da wir Beschwerden aus Deutschland erhielten,<br />

muss die EU-Kommission prüfen,<br />

ob das EEG mit europäischem Wettbewerbsrecht<br />

vereinbar ist.<br />

Galt Gabriels Aufschrei dem heimischen<br />

Publikum?<br />

Auf der Arbeitsebene läuft der Kontakt mit<br />

Berlin sehr sachlich, übrigens auch, wenn<br />

Minister Gabriel mit mir oder Herrn Almunia<br />

zu Vier-Augen-Gesprächen zusammentrifft.<br />

Allerdings stellen wir generell fest, dass<br />

die EU-Kommission gegenüber keiner Regierung<br />

auch nur annähernd den Ton anschlägt,<br />

den manche Regierung gegenüber<br />

uns wählt.<br />

Wieso wurde in Berlin der Konflikt<br />

des EEG mit dem europäischen Recht so<br />

lange ignoriert?<br />

FOTO: LAIF/REPORTERS/ERIC HERCHAFT<br />

40 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Ich habe in den vergangenen Jahren immer<br />

wieder darauf hingewiesen, dass das EEG,<br />

so wie es sich entwickelt hat, aufgebläht<br />

und ständig steigend, möglicherweise<br />

nicht mit europäischem Wettbewerbsrecht<br />

vereinbar ist. Ich habe mich dazu öffentlich<br />

geäußert, aber auch in kleinerem Kreis,<br />

in Parlamentsausschüssen, in Landtagsfraktionen,<br />

gegenüber Landesregierungen.<br />

Es gab dann ein paar zarte Vorstöße, etwa<br />

<strong>vom</strong> damaligen Umweltminister Peter<br />

Altmaier Anfang letzten Jahres. Letztendlich<br />

haben sich Koalitionspartner,<br />

Bundesländer und unterschiedliche Interessensgruppen<br />

aber gegenseitig blockiert<br />

»Einen Neustart<br />

braucht man nur,<br />

wenn die Karre<br />

abgewürgt ist«<br />

– mit dem Ergebnis der Handlungsunfähigkeit.<br />

Ist mittlerweile die Botschaft in Berlin<br />

angekommen, dass sich das EEG grundlegend<br />

ändern muss?<br />

Es gibt in Berlin einige Leute, die wüssten,<br />

was man tun müsste. Gabriel hat ja recht<br />

markant von einem notwendigen Neustart<br />

gesprochen. Neustart klingt harmlos, aber<br />

eigentlich braucht man den nur, wenn die<br />

Karre abgewürgt oder an die Wand gefahren<br />

wurde. Das ist sein Kommentar zur<br />

Energiewende.<br />

Wie könnte der Kompromiss aussehen,<br />

den Sie mit Berlin aushandeln wollen?<br />

Wir haben uns in weiten Bereichen schon<br />

angenähert. Nun geht es darum, ein ausgewogenes<br />

Gesamtpaket zu schnüren. Andere<br />

Länder verfolgen übrigens sehr genau,<br />

inwieweit die Kommission den Deutschen<br />

entgegenkommt. Der Kompromiss darf<br />

den Wettbewerb zwischen europäischen<br />

Staaten nicht verzerren.<br />

Was wird Teil des Kompromisses sein?<br />

Es gibt drei Variablen: Es geht um die Industriesektoren,<br />

die teilweise von der EEG-<br />

Umlage befreit werden, es geht um Strommengen<br />

und um die Zahl der Betriebe.<br />

Ausnahmen für einige energieintensive<br />

Sektoren wie beispielsweise Stahl, Aluminium,<br />

Papier und Zement sind unstrittig.<br />

Offen ist die Frage, wie stark die energieintensiven<br />

Unternehmen befreit werden. Be-<br />

zahlen sie 0,5 Prozent, 5 Prozent oder 20<br />

Prozent der Umlage? 20 Prozent klingt immer<br />

noch sehr industriefreundlich, aber<br />

wenn man weiß, dass die EEG-Umlage einen<br />

hohen Anteil an den Stromkosten hat,<br />

dann sind 20 Prozent zu viel für ein Unternehmen<br />

mit hohem Stromverbrauch.<br />

Wenn die EU-Kommission beschließt,<br />

dass die alten Ausnahmen illegal waren,<br />

kommen auf deutsche Unternehmen<br />

gewaltige Zahlungen zu. Was droht da?<br />

Wir prüfen erst ab dem Jahr 2012, sodass es<br />

nur um zwei Jahre geht. Dass die Befreiungen<br />

für diese beiden Jahre komplett zurückbezahlt<br />

werden, ist ein Worst-Case-<br />

Szenario. Aber wie gesagt, die Verhandlungen<br />

laufen noch.<br />

Also ist alles auf gutem Wege?<br />

Die Diskussion in Berlin scheint mir immer<br />

noch ein wenig unklar. Zu Jahresbeginn hat<br />

Gabriel eine erste Liste vorgelegt, nach der<br />

der Schienenverkehr, also S-Bahn,<br />

U-Bahn, Deutsche Bahn, keine Ermäßigungen<br />

mehr bekäme. Damit hätte man<br />

bis zu einer halben Milliarde Euro sparen<br />

können. Nun höre ich, dass der Schienenverkehr<br />

doch befreit ist. Ein klarer Ansatz<br />

ist das nicht. Und der Schwarze Peter wird<br />

im Zweifel nach Brüssel geschoben. Korrekt<br />

finde ich das nicht.<br />

Können Sie nachvollziehen, dass der Wirtschaftsminister<br />

so viele Unternehmen wie<br />

möglich begünstigen will? Der Strom ist ja<br />

heute in Deutschland schon sehr teuer.<br />

Die Deutschen haben in der EU einen der<br />

höchsten Anteile von Steuern und Abgaben<br />

am Strom, der staatliche Anteile am<br />

Preis beträgt über 50 Prozent. Es gäbe auch<br />

in Berlin genügend Möglichkeiten, an<br />

Stellschrauben zu drehen. Aber dann bitte<br />

für alle, diskriminierungsfrei.<br />

Haben Sie das in Berlin schon angeregt?<br />

Jedes Mal, wenn ich darauf hinweise, bekomme<br />

ich mäßig freundliche Anrufe aus<br />

Berlin. Der deutsche Haushalt ist auf Kante<br />

genäht, man leistet sich die Frühverrentung<br />

und will keine Steuern erhöhen. In<br />

Berlin hat man schon immer in Richtung<br />

Energie geschaut, wenn sich ein Loch im<br />

Haushalt auftat. Wie finanziert man die<br />

Rente? Mit Ökosteuer, Stromsteuer. Die<br />

EEG-Umlage dient ja nicht nur dem Ausbau<br />

von Solar- und Windenergie, es kommen<br />

ja immer noch 19 Prozent Umsatzsteuer<br />

drauf. Wer Strom verbraucht, zahlt<br />

auch immer noch in die Bundeskasse und<br />

nicht nur für den Windparkinvestor. Der<br />

Erfindungsreichtum der Haushälter war<br />

immer schon riesengroß.<br />

n<br />

silke.wettach@wiwo.de | Brüssel<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 41<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

BERLIN INTERN | Die Mittelstandsbeauftragte soll das<br />

Wohl kleiner Betriebe wahren. Der Schönheitsfehler:<br />

Mit Familienunternehmern hatte die Sozialdemokratin<br />

bisher wenig zu tun. Von Henning Krumrey<br />

Mittelstands-Azubine<br />

FOTOS: WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, PICTURE-ALLIANCE/DPA<br />

Geht es nach der Länge des Titels,<br />

ist Iris Gleicke die mächtigste<br />

Frau der Regierung. Was ist<br />

schon das kurze „Bundeskanzlerin“<br />

Angela Merkels gegen die üppige<br />

Amtsbezeichnung „Parlamentarische<br />

Staatssekretärin beim Bundesminister für<br />

Wirtschaft und Energie und Beauftragte der<br />

Bundesregierung für die neuen Bundesländer,<br />

für Mittelstand und Tourismus“?<br />

Gleickes Berufung zur Schutzpatronin<br />

der Kleinbetriebe Ende Januar zauberte<br />

Ein Herz für Randgruppen Gewerkschafterin<br />

Gleicke startet zur Kennenlern-Tour<br />

den Mittelstandsfunktionären in der Hauptstadt<br />

Fragezeichen auf die Stirn: Gleicke?<br />

Nie gehört! Die Präsidenten und Geschäftsführer<br />

mussten im Bundestagshandbuch<br />

blättern, wen ihnen der SPD-Proporz da angespült<br />

hatte. Carsten Linnemann, Vorsitzender<br />

der CDU/CSU-Mittelstandsvereinigung<br />

(MIT), wusste als Parlamentskollege<br />

wenigstens: eine Ostdeutsche.<br />

Jetzt läuft das Beschnuppern. Demnächst<br />

besucht sie den MIT-Vorstand. Für<br />

den Parlamentarischen Abend der Familienunternehmer<br />

an diesem Donnerstag hat<br />

sie zugesagt. Vor sieben Wochen griff<br />

Gleicke beim Bundesverband Mittelständische<br />

Wirtschaft (BVMW) – für die erfreuten<br />

Gastgeber überraschend – gleich zum Mikrofon.<br />

Zuhörer der schönen Botschaften<br />

noch vor ihrer offiziellen Ernennung waren<br />

freilich nur wenige Unternehmer, dafür an<br />

die <strong>10</strong>0 Kollegen aus dem Parlament.<br />

Keine Freunde hat sich Gleicke dagegen<br />

beim „Mittelstandsverbund ZGV“ gemacht.<br />

Der vertritt immerhin 230 000 kleinere Unternehmen,<br />

die in Genossenschaften oder<br />

Einkaufsverbünden kooperieren. Zu den<br />

bekannteren der 320 Gruppen gehören<br />

Edeka und Rewe, Expert und Intersport,<br />

hagebau und DATEV. Artig hatte ZGV-<br />

Hauptgeschäftsführer Ludwig Veltmann<br />

der „sehr geehrten Frau Staatssekretärin“<br />

zur Berufung gratuliert. Auch die Vorgänger<br />

– zuletzt der rührige FDP-Mann Ernst<br />

Burgbacher – seien „stets unser erster<br />

politischer Ansprechpartner“ gewesen,<br />

weshalb Veltmann bat, ob „Ihr sicherlich<br />

strapazierter Terminkalender dennoch in<br />

nächster Zeit einen Termin für ein persönliches<br />

Gespräch ermöglichen würde“.<br />

Schon drei Wochen später ging Gleickes<br />

Antwort ein. „Ich möchte einen sehr engen<br />

und persönlichen Kontakt zu der mittelständischen<br />

Wirtschaft und ihren Verbänden<br />

aufbauen“, begann das Schreiben verheißungsvoll.<br />

Doch statt eines Vorschlages<br />

folgte eine Absage: „Leider“ sei in nächster<br />

Zeit ein Treffen „aus terminlichen Gründen<br />

nicht möglich“. Gleickes Büro verweist auf<br />

Nachfrage darauf, dass die Chefin in Vertretung<br />

des Ministers zum Parlamentarischen<br />

Abend des ZGV im Juni komme. Und<br />

bei dringenden Sorgen genüge ein Anruf.<br />

Wer genauer hinschaut, stellt fest: Ihren<br />

Regierungsposten verdankt die 49-jährige<br />

Thüringerin dem ersten Teil ihres umfangreichen<br />

Titels. Ostbeauftragte war sie<br />

schon im zweiten Kabinett von Gerhard<br />

Schröder (SPD), damals allerdings angesiedelt<br />

im Verkehrsressort. Gleich in ihrer<br />

zweiten Legislaturperiode als Bundestagsabgeordnete<br />

(1994 – 1998) saß sie in der<br />

Enquetekommission zu den Folgen der<br />

SED-Diktatur, die letzten Jahre führte sie<br />

die Ostabgeordneten in der SPD-Fraktion.<br />

Ihr auch den Mittelstand zu übertragen<br />

zeigt, welche Bedeutung die Bundesregierung<br />

und auch Vizekanzler Sigmar Gabriel<br />

den kleineren Unternehmen in Wahrheit<br />

beimessen. Denn bisher hat sich Gleicke<br />

mehr an anderen Fronten engagiert. Mitglied<br />

ist die Hochbau-Ingenieurin bei der<br />

Gewerkschaft IG Bauen-Agrar-Umwelt, im<br />

Präsidium des Arbeiter-Samariter-Bundes<br />

und bei der Arbeiterwohlfahrt (Awo). Aber<br />

Mittelstand? I wo!<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 43<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Angriff der Fondskrieger<br />

AKTIVISTISCHE AKTIONÄRE | Aggressive Investoren wie Carl Icahn und der Elliott-Fonds<br />

aus den USA oder Cevian aus Schweden mischen weltweit Unternehmen mit<br />

Forderungen nach Chefwechseln oder Aufspaltung auf. Auch Deutschland nehmen<br />

sie jetzt stärker ins Visier. Nutzen oder schaden sie den Unternehmen?<br />

44 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Mit den korinthischen Säulen<br />

und der hohen Kuppel bietet<br />

die New Yorker Gotham<br />

Hall ein standesgemäßes<br />

Ambiente für den Auftritt<br />

eines treuen Förderers der Republikaner.<br />

Der Milliardär Paul Singer ist das seit vielen<br />

Jahren, was ihn nicht davon abhält, eine<br />

ausgeprägte Neigung zu eigenen Ansichten<br />

zu pflegen. So lobt er die Familie<br />

pflichtschuldig als „Fundament der Gesellschaft“,<br />

ergänzt aber unmittelbar, dass es<br />

„die Gesellschaft stärker macht, wenn auch<br />

Schwule und Lesben heiraten können“.<br />

Singers Lust an Provokation und Einmischung<br />

hat den 69-Jährigen zum Schrecken<br />

börsennotierter Unternehmen gemacht.<br />

Und zu einer Legende, von der<br />

selbst ihre Opfer mit Respekt reden. Sein<br />

Hedgefonds Elliott sucht weltweit nach<br />

Unterbewertungen und Gesetzeslücken,<br />

seine Agenda verfolgt Singer ebenso rücksichtslos<br />

wie rational.<br />

Mal fällt er bei Konzernen ein und piesackt<br />

das Management mit besserwisserischen<br />

Ideen, mal kauft er Anleihen von<br />

Pleitestaaten wie Argentinien oder Kongo<br />

und verklagt die auf vollständige Rückzahlung.<br />

In Deutschland klinkt er sich gerne in<br />

Übernahmen ein, um höhere Preise durchzuboxen.<br />

Fast immer heißt der Gewinner<br />

der Kämpfe Singer. Seit der Gründung 1977<br />

hat sein Fonds im Durchschnitt eine jährliche<br />

Rendite von 14 Prozent erzielt.<br />

Carl Icahn<br />

Icahn Enterprises<br />

Der Altmeister der Attacke macht seit<br />

50 Jahren die Wall Street unsicher.<br />

Er mischte bei Texaco, Time Warner und<br />

Motorola mit, zuletzt legte er sich mit<br />

Dell, Netflix, Apple und Ebay an.<br />

Der Krieg hat sich ausgezahlt: Icahns<br />

Privatvermögen wird auf 20 Milliarden<br />

Dollar geschätzt.<br />

ä<br />

MASSIVER DRUCK<br />

Mit einem verwalteten Vermögen von 23<br />

Milliarden Dollar ist Elliott einer der größten<br />

„aktivistischen Aktionäre“. Diese kaufen<br />

sich mit Minderheitsanteilen bei Unternehmen<br />

ein und setzen das Management<br />

gehörig unter Druck. Ihr Ziel: Große strategische<br />

Änderungen sollen den Wert des<br />

Unternehmens in kurzer Zeit deutlich steigern.<br />

Wenn es gut läuft, können sich die<br />

Hedgefonds schon nach Monaten mit sattem<br />

Gewinn verabschieden.<br />

Das Geschäft boomt. Aktivisten haben<br />

weltweit so viel Geld eingesammelt wie nie<br />

(siehe Grafik Seite 46). Mit den frisch ergatterten<br />

Milliarden werden in den USA ansässige<br />

Fonds auch deutsche Unternehmen<br />

stärker ins Visier nehmen, bei de-<br />

»<br />

FOTO: CONTOUR BY GETTY IMAGES<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 45<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

»<br />

nen sie verborgenes Potenzial wittern.<br />

Das erwarten Banker und Anwälte, die von<br />

deutschen Unternehmen Mandate für den<br />

Umgang mit den unwillkommenen Eindringlingen<br />

gewinnen wollen.<br />

Deren Forderungen scheren sich wenig<br />

um gepflegte Tabus. So verlangen sie häufig,<br />

Unternehmensteile abzuspalten, Barmittel<br />

als Sonderdividende auszuschütten,<br />

dem Management weniger zu bezahlen<br />

oder es gleich ganz abzusetzen. Kurzfristig<br />

gehen die Aktienkurse bei ihrem Auftauchen<br />

nach oben. Ob der Angriff der Fondskrieger<br />

dem Unternehmen auch auf längere<br />

Sicht nützt, ist eine andere Frage.<br />

Deutlich populärer als die Einmischung<br />

in Fragen der Unternehmensführung ist in<br />

Deutschland seit Jahren eine zweite Art des<br />

Aktivismus. Das hiesige Übernahmerecht<br />

mit seinem ausgeprägten Minderheitenschutz<br />

ist eine Art Einladung, erst mal ordentlich<br />

Krawall zu machen und dann abzukassieren.<br />

Einzelne Fonds haben sich<br />

darauf spezialisiert, so lange und so viel Ärger<br />

zu machen, bis der Käufer einknickt<br />

und einen höheren als den ursprünglich<br />

gebotenen Preis zahlt.<br />

ANWÄLTE DER AKTIONÄRE<br />

Stets treten Aktivisten als Anwälte der angeblich<br />

vernachlässigten Eigentümer auf.<br />

Vorstände, so ihre Argumentation, entschieden<br />

vor allem so, wie es für sie selbst<br />

am besten sei. Das sei aber nicht immer<br />

auch das Beste für das Unternehmen und<br />

seine Aktionäre. Die eigentlich für die Kontrolle<br />

Verantwortlichen ließen die Manager<br />

jedoch gewähren, egal, wie mittelmäßig<br />

die ihren Job auch erledigten. „Gerade in<br />

Europa fordern Aktionäre und Aufsichtsrat<br />

das Management zu wenig heraus“, klagt<br />

ein hochrangiger Manager eines Fonds.<br />

Da ziehen er und seine Kollegen ganz<br />

andere Saiten auf. Ihre Einmischung folgt<br />

einem vielfach erprobten Eskalationsszenario.<br />

Erst wollen sie mit dem Management<br />

nur reden, Ideen vortragen, die Strategie<br />

verstehen. Oft ist dann Schluss – von<br />

etwa der Hälfte der Interventionen erfährt<br />

die Öffentlichkeit nichts. Wenn die Fonds<br />

mit der Reaktion des Vorstands aber nicht<br />

zufrieden sind, ziehen sie die Daumenschrauben<br />

an. Sie verfassen offene Briefe<br />

an das Management, suchen weitere Aktionäre<br />

als Unterstützer, veranlassen Sonderprüfungen,<br />

klagen gegen das Unternehmen<br />

oder suchen die offene Konfrontation<br />

auf der Hauptversammlung.<br />

Der von ihnen angezettelte Radau zahlt<br />

sich aus wie selten zuvor. So verzeichnete<br />

der „Aktivisten-Index“ des Fachdienstes<br />

Hedge Fund Research 2013 im Vergleich<br />

mit allen anderen Indizes die beste Wertentwicklung.<br />

Über die vergangenen zwei<br />

Jahre erzielten Aktivisten durchschnittlich<br />

Renditen von 40 Prozent – fast doppelt so<br />

viel wie gewöhnliche Hedgefonds. Die besten<br />

Fonds schafften allein 2013 Renditen<br />

von 50 Prozent und mehr auf das von ihnen<br />

eingesetzte Geld.<br />

Das macht sie zu attraktiven Anziehungspunkten<br />

für Kapital, das angesichts<br />

der weltweiten Niedrigzinsen verzweifelt<br />

nach etwas mehr Rendite sucht. Fast <strong>10</strong>0<br />

Milliarden Dollar haben Aktivisten 2013<br />

bei Investoren eingesammelt, mehr als je<br />

zuvor. Damit steigt für sie aber auch der<br />

Druck, rentable Anlagen zu finden.<br />

Bisher ist Europa kein bevorzugter Tummelplatz<br />

aggressiver Anteilseigner. Die<br />

Geld für Geier<br />

Mittelzuflüsseinaktivistische Fonds<br />

(in Milliarden Dollar)<br />

<strong>10</strong>0<br />

80<br />

60<br />

40<br />

20<br />

0 2006 07 08 09 <strong>10</strong> 11 12 13<br />

Quelle:UBS, Hedge Fund Research<br />

Zahl der Angriffe hat sich von 20<strong>10</strong> bis 2013<br />

von 31 auf 74 gesteigert. Mit 25 Attacken im<br />

Jahr ist Großbritannien der mit Abstand<br />

beliebteste Kampfplatz. In Deutschland<br />

gab es dagegen gerade mal drei Kampagnen.<br />

Die geringe Zahl börsennotierter<br />

Unternehmen, die Sprachbarriere, die in<br />

Details unbekannten Gesetze und die häufige<br />

Beteiligung von Familien oder anderen<br />

Großaktionären wirken wie ein unsichtbarer<br />

Schutzwall – der zunehmend bröckelt.<br />

Die Fonds wachsen und bauen Expertise<br />

auf, um auch im Ausland zuzuschlagen.<br />

„Auf der Suche nach Chancen geraten<br />

Europa und besonders Deutschland zunehmend<br />

ins Blickfeld“, sagt Dirk Albersmeier,<br />

Leiter des Geschäfts mit Fusionen<br />

und Übernahmen bei JP Morgan in Frankfurt.<br />

„Egal, wie groß ein Unternehmen ist,<br />

keiner sollte sich zu sicher fühlen, sondern<br />

ständig prüfen, wo man angreifbar ist.“<br />

In den USA sind Aktivisten längst Teil des<br />

Alltags, geschätzt jedes fünfte börsenno-<br />

tierte Unternehmen hatte mit ihnen zu tun.<br />

Ihr Image ist alles andere als blütenweiß,<br />

ihre Rolle als Aufspürer von Verkrustungen<br />

und Fehlbewertungen aber akzeptiert.<br />

Selbst Mary Jo White, die bissige Chefin der<br />

US-Börsenaufsicht SEC, schlägt milde Töne<br />

an: „Das schlechte Bild dieser Investoren<br />

hat seine Wurzeln in den Achtzigerjahren,<br />

aber das ist nicht die gegenwärtige<br />

Sicht und nicht die einzige Sichtweise.“<br />

COMEBACK DES ALTSTARS<br />

Während der Finanzkrise 2008 waren die<br />

Fonds mitsamt ihren Frontmännern abgetaucht.<br />

Nun schwimmen sie wieder ganz<br />

oben, allen voran der 78-jährige Carl<br />

Icahn. Der Altstar der Szene kaufte sich mit<br />

seinem nach ihm benannten Unternehmen<br />

unter anderem bei Apple ein und verlangte<br />

<strong>vom</strong> Management stärkere Aktienrückkäufe.<br />

Seit einigen Wochen fordert<br />

Icahn von Ebay die Abspaltung des hochprofitablen<br />

Bezahldienstes PayPal. Mit seinen<br />

Attacken schaffte er es jüngst auf die<br />

Titelseite des US-Magazins „Time“.<br />

Für ähnlichen Aufruhr sorgte Daniel<br />

Loeb mit seinem Fonds Third Point. Er zog<br />

sich sogar den Zorn von Hollywoodstar<br />

George Clooney zu, weil er vehement eine<br />

teilweise Abspaltung der Unterhaltungssparte<br />

inklusive Filmstudios beim japanischen<br />

Elektronikriesen Sony forderte.<br />

Auch die wenigen Aktivisten aus Europa<br />

werden aktiver. Der <strong>vom</strong> öffentlichkeitsscheuen<br />

Briten Chris Hohn geführte „The<br />

Children’s Investment Fund“ (TCI) erlebte<br />

2013 ein Rekordjahr mit Milliardengewinn<br />

und einer Rendite von 47 Prozent. 2005<br />

hatte TCI in Deutschland das bisher drastischste<br />

Exempel aktivistischer Macht statuiert,<br />

als er die bereits ausverhandelte<br />

Übernahme der London Stock Exchange<br />

durch die Deutsche Börse erfolgreich torpedierte.<br />

Die Mehrheit der Aktionäre verweigerte<br />

Börsenchef Werner Seifert die Gefolgschaft,<br />

er musste ebenso gehen wie der<br />

Aufsichtsratsvorsitzende Rolf Breuer.<br />

Seit 2012 ist der schwedische Investor<br />

Cevian am Baukonzern Bilfinger beteiligt.<br />

Gerade erst hat er seine Beteiligung am kriselnden<br />

Stahlkonzern ThyssenKrupp auf 15<br />

Prozent aufgestockt. Geschäftsführer Jens<br />

Tischendorf geht auf Distanz zu forschen<br />

Krawallbrüdern. „Wir sind nicht an schnellen<br />

Gewinnen, sondern an langfristiger<br />

Wertsteigerung interessiert“, sagt er. Und:<br />

„Wir betrachten uns selbst als Miteigentümer<br />

von Unternehmen, die signifikantes<br />

Wertsteigerungspotenzial besitzen“. Um<br />

das glaubhaft zu machen, übernehmen Ce-<br />

46 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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FOTOS: GETTY IMAGES/BLOOMBERG NEWS, BLOOMBERG NEWS/SIMON DAWSON<br />

vian-Manager auch Posten im Aufsichtsrat.<br />

Dort tun sie ihre Forderungen mit allem gebotenen<br />

Nachdruck kund.<br />

Aktionäre trauen den Investoren schon<br />

aufgrund vergangener Erfolge zu, dass sie<br />

Unternehmen voranbringen. Allein ihr<br />

Einstieg sorgt dafür, dass die Kurse nach<br />

oben gehen. Binnen 20 Tagen nach Bekanntwerden<br />

des Engagements entwickelten<br />

sich die Aktien durchschnittlich um<br />

sieben Prozent besser als der Markt. Viele<br />

akademische Studien haben den kurzfristigen<br />

Nutzen der Aktivisten nachgewiesen.<br />

Dagegen sorgt ihr Auftauchen im Vorstandszimmer<br />

für Schluckbeschwerden.<br />

Top-Manager wollen selbst gestalten und<br />

sich keine Agenda aufzwingen lassen. Den<br />

Angreifern unterstellen sie deshalb reflexartig,<br />

sie seien nur auf kurzfristigen Reibach<br />

aus. Das langfristige Schicksal des<br />

Unternehmens und seiner Angestellten sei<br />

ihnen egal. Einem kurzen Hoch würde ein<br />

umso kräftigerer Absturz folgen.<br />

Ist das so? Der Aktienkurs der Deutschen<br />

Börse hat sich seit der Konfrontation mit<br />

TCI 2005 mehr als verdoppelt. Der Preis,<br />

den Ex-Chef Seifert für die Londoner Börse<br />

zahlen wollte, war zu hoch. Allerdings hätte<br />

der Kauf eine Antwort auf immer noch<br />

ungelöste Fragen wie die Internationalisierung<br />

gegeben. Ein weiterer Versuch mit der<br />

New York Stock Exchange ist gescheitert.<br />

Mitunter profitieren die Fonds schlicht<br />

von falschen Wertannahmen der anderen<br />

Eigentümer. Eindrücklich gelang das TCI<br />

bei der Royal Mail. Unmittelbar nach der<br />

Privatisierung der britischen Post war der<br />

Fonds deren größter Anteilseigner. Innerhalb<br />

von drei Monaten verdoppelte sich<br />

Daniel Loeb<br />

Third Point<br />

ä<br />

Paul Singer<br />

Elliott<br />

Singer hat bei den Übernahmen von<br />

Wella, Kabel Deutschland und Celesio<br />

mit gepokert, gegen Porsche klagt er<br />

wegen der versuchten VW-Übernahme.<br />

International hat er sich beim Ölkonzern<br />

Hess und bei Compuware engagiert.<br />

Mit an Bord bei Elliott ist Singers Sohn<br />

Gordon.<br />

ä<br />

der Aktienkurs nahezu – was der britischen<br />

Regierung den Vorwurf einbrachte, Staatsvermögen<br />

verschleudert zu haben.<br />

Die langfristigen Folgen des Aktivismus<br />

haben kürzlich die drei US-Professoren Lucian<br />

Bebchuk, Alon Brav und Wei Jiang untersucht.<br />

Dafür werteten sie Daten von<br />

2000 Unternehmen aus, bei denen sich<br />

Fonds zwischen 1994 und 2007 engagiert<br />

hatten. Fünf Jahre nach der Attacke war deren<br />

operative Leistungsfähigkeit, gemessen<br />

an der Gesamtkapitalrendite, höher als<br />

in den Jahren vor dem Einstieg. Der Aktienkurs<br />

entwickelte sich ebenfalls dauerhaft<br />

besser als vor dem Einstieg. „Wir sollten<br />

uns von den Vorurteilen verabschieden“,<br />

urteilen die Autoren. Denn die Fonds suchen<br />

sich selten Perlen als Ziele, sondern<br />

verwenden den größten Teil ihrer Ressourcen<br />

darauf, Unternehmen zu finden, deren<br />

Wert sich noch steigern lässt.<br />

So gut deutsche Unternehmen wirtschaftlich<br />

alles in allem auch dastehen, bieten sie<br />

dennoch viele Angriffspunkte. „Indikatoren<br />

für eine Gefährdung sind im Vergleich mit<br />

Wettbewerbern niedrigere Bewertungen, eine<br />

unklare oder nicht stringente Langfriststrategie,<br />

wenig Synergien zwischen einzelnen<br />

Geschäftsbereichen in Konglomeraten<br />

oder überproportional viel Bargeld in der<br />

Bilanz ohne absehbare Investitionsmöglichkeiten“,<br />

sagt Alexander Gehrt, Leiter des Fusionsgeschäfts<br />

bei der UBS in Frankfurt.<br />

TRÜGERISCHE SICHERHEIT<br />

Kurz gesagt: Kaum ein Unternehmen kann<br />

sich sicher fühlen. So haben sich schon etliche<br />

Investoren und Analysten darüber Gedanken<br />

gemacht, ob die Lkw-Sparte zwingend<br />

zu Daimler gehören muss. Welche Synergien<br />

die unterschiedlichen Sparten bei<br />

BASF und Bayer bringen. Ob Metro den Verkauf<br />

einiger Beteiligungen nicht entschlossener<br />

vorantreiben könnte. Wie lange Adidas<br />

oder Lanxess noch schlechter abschneiden<br />

wollen als ihre internationalen Wettbewerber?<br />

Was Siemens eigentlich mit den<br />

Milliarden von Cash anstellen will? Und ob<br />

Gerhard Cromme dort wirklich noch der<br />

richtige Aufsichtsratsvorsitzende ist?<br />

Auch ein Großaktionär bremst die Fonds<br />

nicht aus. So engagiert sich Cevian bei<br />

ThyssenKrupp, obwohl mit der Krupp-Stiftung<br />

ein Schwergewicht an Bord ist. Und<br />

TCI beteiligte sich 2012 am Flugzeugausrüster<br />

Safran, obwohl da sogar der französische<br />

Staat eine Sperrminorität hält.<br />

Letztlich hilft nur gute Vorbereitung auf<br />

den Ernstfall. „Wenn Hedgefonds auftauchen,<br />

muss das Management sachlich reagieren<br />

und zeigen, dass es sich nicht treiben<br />

lässt, sondern weiter die Kontrolle<br />

Bei Geschäften gehe es um Geld,<br />

nicht um Moral. Die Devise hat Loeb zum<br />

Milliardär gemacht.<br />

Bei Yahoo musste 2012 der Chef gehen,<br />

weil Loeb dessen fehlenden Uniabschluss<br />

öffentlich machte.<br />

Aktuell investiert ist er bei Dow Chemical,<br />

Sony, FedEx und dem Auktionshaus<br />

Sotheby’s. »<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 47<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

»<br />

hat“, rät Maximilian Schiessl, Partner bei<br />

der Kanzlei Hengeler Mueller in Düsseldorf.<br />

Dafür sollte es das Unternehmen<br />

schon vorher auf potenzielle Angriffspunkte<br />

überprüfen. „Im Idealfall können die Aktivisten<br />

keinen Vorschlag mehr machen,<br />

den die übrigen Aktionäre nicht schon<br />

kennen“, sagt Schiessl. Wenn sie nur Bekanntes<br />

präsentieren, nimmt das den Angreifern<br />

den Wind aus den Segeln.<br />

Schiessl zählt zu den erfahrensten deutschen<br />

Beratern bei großen Firmenkäufen.<br />

Er hat die Fonds damit auf dem Feld kennen<br />

gelernt, auf dem ihr Wirken für den<br />

meisten Ärger sorgt. „Deutschland ist zur<br />

weltweit größten Spielwiese für Hedgefonds<br />

verkommen“, schimpft ein kürzlich<br />

betroffener Konzernchef. Ein Banker<br />

spricht von „legaler Erpressung“. Überalterte<br />

Regeln würden in das Gegenteil dessen<br />

verkehrt, was sie bezwecken sollten.<br />

Dabei geht es um den Schutz von Minderheitsaktionären<br />

bei Übernahmen. Sie<br />

seien „ein weltweiter Leuchtturm der Fairness“,<br />

sagt ein Hedgefondsmanager. Jedenfalls<br />

eröffnen sie an mehreren Ecken die<br />

Chance, den Preis für den Käufer hochzutreiben.<br />

„Bei Übernahmen können Hedgefonds<br />

innerhalb kurzer Zeit große Pakete<br />

aufbauen, weil die übrigen Aktionäre verkaufsbereit<br />

sind“, sagt Anwalt Schiessl.<br />

So können die Fonds etwa versuchen zu<br />

verhindern, dass ein Käufer für den ursprünglich<br />

gebotenen Preis auf einen<br />

Schlag 75 Prozent der Aktien an dem Unternehmen<br />

bekommt. Nur dann kann er<br />

einen Beherrschungsvertrag schließen, der<br />

ihm den vollen Zugriff auf seinen Neuerwerb<br />

sichert. Ähnliche Optionen bietet der<br />

Überall dabei<br />

Christopher Hohn<br />

The Children’s Investment Fund (TCI)<br />

2005 torpedierte Hohn die Übernahme<br />

der London Stock Exchange durch die<br />

Deutsche Börse.<br />

Aktuellere Engagements sind die<br />

Royal Mail, Airbus, Japan Tobacco und<br />

der französische Maschinenbauer Safran.<br />

Mit Spenden von bisher gut einer Milliarde<br />

Pfund gilt Hohn als wohltätigster Brite.<br />

ä<br />

Bei welchen europäischen Unternehmen sich Aktivisten 2013 engagiert haben<br />

Unternehmen/Land<br />

Accor/Frankreich<br />

Celesio/Deutschland<br />

Danske Bank/Dänemark<br />

EADS (Airbus)/Frankreich<br />

Eni/Italien<br />

Kabel Deutschland/Deutschland<br />

Nokia/Finnland<br />

Royal Mail/Großbritannien<br />

Telecom Italia/Italien<br />

ThyssenKrupp/Deutschland<br />

UBS/Schweiz<br />

Auswahl, Quelle: JP Morgan<br />

Investor<br />

Colony Capital<br />

Elliott<br />

Cevian<br />

TCI<br />

Knight Vinke<br />

Elliott<br />

Third Point<br />

TCI<br />

Findim<br />

Cevian<br />

Knight Vinke<br />

Forderung<br />

Neues Management<br />

Höherer Übernahmepreis<br />

Wertsteigerung<br />

Verkauf Dassault (Business Jets)<br />

Abspaltung Saipem (Ölservices)<br />

Höherer Übernahmepreis<br />

Mehr Aktienrückkäufe<br />

Besseres Management nach<br />

Privatisierung<br />

Veränderungen in Aufsichtsrat und<br />

Management<br />

Wertsteigerung<br />

Investmentbank abspalten<br />

Ergebnis<br />

erfolgreich<br />

erfolgreich<br />

läuft noch<br />

läuft noch<br />

erfolglos<br />

läuft noch<br />

läuft noch<br />

Teilausstieg<br />

läuft noch<br />

läuft noch<br />

läuft noch<br />

sogenannte Squeeze-out. Der ermöglicht<br />

es nur Eignern mit mehr als 90 Prozent der<br />

Anteile, die übrigen Aktionäre gegen Zahlung<br />

einer Abfindung herauszudrängen.<br />

Letztlich bietet auch die Höhe der Ausgleichszahlungen<br />

einen willkommenen<br />

Angriffspunkt für Klagen und Frageorgien<br />

auf der Hauptversammlung.<br />

Inzwischen ziehen Übernahmen in<br />

Deutschland oft Scharen von Hedgefonds<br />

an, die auf ein paar schnell verdiente Euro<br />

schielen. Für Unternehmen sind Zukäufe<br />

dadurch zum schwer planbaren Risiko geworden.<br />

So denken sie intensiver als früher<br />

darüber nach, ob sie direkt eine Mindestannahmequote<br />

von 75 Prozent haben wollen<br />

oder ob es fürs Erste auch 50 Prozent<br />

tun. Und sie kalkulieren ihre erste Offerte<br />

durchaus niedriger, weil sie damit rechnen,<br />

dass am Ende noch mal ein Nachschlag für<br />

Aktivisten fällig wird.<br />

Für die Fonds geht es darum, sich so lästig<br />

wie möglich zu machen. Keiner beherrscht<br />

das Spiel so wie Elliott. Vor mehr<br />

als zehn Jahren tauchten Singers Leute<br />

erstmals bei der Übernahme des Kosmetikkonzerns<br />

Wella durch den US-Riesen Procter<br />

& Gamble auf und traktierten das Unternehmen<br />

so lange, bis sie für ihre Anteile<br />

zehn Euro mehr kassieren konnten als<br />

beim ersten Angebot.<br />

Seitdem hat sich Elliott bei so unterschiedlichen<br />

Zielen wie dem Zeitarbeitsvermittler<br />

DIS, dem Maschinenbauer Demag<br />

Cranes und dem Energiedienstleister<br />

Techem eingeklinkt. Aktuell triezen Singers<br />

Männer Vodafone bei der Übernahme von<br />

Kabel Deutschland. Zwar hatte Elliott dem<br />

Käufer geholfen, die angestrebte 75-Prozent-Mehrheit<br />

zu bekommen, indem der<br />

Fonds einen Teil seiner Aktien an Vodafone<br />

abtrat. Für den Rest verlangt der Fonds<br />

jetzt aber eine höhere Abfindung.<br />

POKERN BIS ZUM SCHLUSS<br />

Den spektakulärsten Ritt legte Elliott bei<br />

der Übernahme des Pharmahändlers Celesio<br />

durch den US-Gesundheitskonzern<br />

McKesson hin. Dessen Offerte von 23 Euro<br />

bedeutete einen Aufschlag von fast 40 Prozent<br />

auf den aktuellen Kurs. Für Elliott war<br />

das zu wenig. Der Fonds hielt die Synergien<br />

für unterbewertet und setzte mehr<br />

aufs Spiel als bei allen anderen Aktionen in<br />

Deutschland zuvor. Für eine Celesio-Beteiligung<br />

von gut 25 Prozent investierte der<br />

Fonds knapp eine Milliarde Euro. Es folgte<br />

ein Pokerspiel, das fast gescheitert wäre,<br />

weil McKesson im ersten Anlauf die angestrebte<br />

Mehrheit der Stimmrechte verfehlte.<br />

Schließlich half nur ein Trick: Haniel<br />

kaufte Elliott seine Beteiligung ab, um sie<br />

an McKesson weiterzuverkaufen.<br />

Letztlich ging es doch. Wie meistens.<br />

„Hedgefonds sind eigentlich Verbündete<br />

des Bieters, weil ein Scheitern der Transaktion<br />

für sie meist eine Katastrophe wäre“,<br />

sagt Anwalt Schiessl. Doch tun sie alles dafür,<br />

eine Preiserhöhung zu bekommen.<br />

Schiessl: „Am Ende kann es darauf ankommen,<br />

wer die besseren Nerven hat.“ n<br />

cornelius.welp@wiwo.de | Frankfurt,<br />

martin seiwert | New York<br />

FOTO: DDP IMAGES/EYEVINE<br />

48 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Im Gesamtkontext<br />

nicht glaubhaft<br />

OETKER | Seine harte Linie im Bierkartellfall könnte Finanzchef<br />

Albert Christmann im Kampf um die Konzernspitze schaden.<br />

Das Bierkartell: Zwischen 2005 und<br />

2007 treffen sich die Top-Manager<br />

der großen deutschen Brauereien<br />

unregelmäßig zu vertraulichen Gesprächen.<br />

Offiziell geht es um Pfand für Fassbier<br />

oder neue Bierflaschen. Tatsächlich hecken<br />

die Pils-Patrone aber Preiserhöhungen aus.<br />

Mal mauscheln die Bosse von Krombacher,<br />

Veltins, Warsteiner, AB InBev<br />

(Beck’s), Carlsberg, Bitburger und der Oetker-Tochter<br />

Radeberger (Jever) getrennt<br />

unter vier Augen, mal in großer Runde, mal<br />

in Nobelherbergen wie dem Hamburger<br />

Fünf-Sterne-Designhotel Side, mal in bodenständigen<br />

Locations wie dem Gaffel-<br />

Brauhaus am Kölner Alter Markt.<br />

„Die Teilnehmer“, heißt es dazu in den<br />

Ermittlungsprotokollen des Bundeskartellamtes,<br />

die der WirtschaftsWoche in Auszügen<br />

vorliegen, „waren sich einig, dass eine<br />

Preiserhöhung vorgenommen werden<br />

sollte, wenn Krombacher als Marktführer<br />

mitginge.“ Wie sich später zeigte, waren die<br />

Betroffenen dabei erfolgreich und konnten<br />

den Preis für einen Kasten Bier mit 20 Flaschen<br />

um einen Euro erhöhen.<br />

Streitlustiger Kronprinz Oetker-Manager<br />

Christmann riskiert hohe Kartellbuße<br />

BELASTENDE AUSSAGEN<br />

Dass sich derlei Ungesetzliches in<br />

Deutschlands Braubranche abspielte, fand<br />

schon Eingang in die Schlagzeilen. Weitgehend<br />

im Verborgenen aber blieb, wer an<br />

zentraler Stelle involviert war: kein Geringerer<br />

als Albert Christmann, seinerzeit<br />

Chef der Brauereigruppe Radeberger, der<br />

größten deutschen Brauereigruppe und<br />

Tochter des Oetker-Konzerns.<br />

Der 51-Jährige ist nicht irgendwer in<br />

dem elf Milliarden Umsatz schweren Konglomerat<br />

aus Werften (Hamburg Süd),<br />

Biermarken (Radeberger, Jever), Sektkellereien<br />

(Henkell) sowie Lebensmittelfabriken<br />

(Dr. Oetker). Nicht nur, dass Christmann<br />

zum Jahresbeginn <strong>vom</strong> Radeberger-<br />

Gruppensitz Frankfurt als Finanzchef in<br />

die Konzernzentrale nach Bielefeld beordert<br />

wurde. Er ist auch derjenige, den August<br />

Oetker (69), Ex-Konzern-Chef, Vorsitzender<br />

des Beirats und wichtiger Wortführer<br />

in der Eigentümerfamilie, gern an der<br />

Spitze des Unternehmens sehen würde.<br />

Dem Ansinnen des Alten könnten nun<br />

Aussagen, die das Kartellamt gegen Christmann<br />

gesammelt hat, einen Strich durch<br />

die Rechnung machen. Denn die Ermittlungsprotokolle<br />

kratzen gehörig am bisherigen<br />

Saubermann-Image des Kandidaten.<br />

So hatte der heutige Oetker-Finanzchef<br />

den Beamten gegenüber als damaliger Radeberger-Lenker<br />

zwar bestritten, eine Kartellabsprache<br />

angestrebt zu haben. Doch<br />

glauben die Ermittler das Christmann<br />

schlichtweg nicht. Ihre Vorbehalte stützen<br />

die Beamten auf Geständnisse und Aussagen<br />

des damaligen Bitburger-Chefs Peter<br />

Rikowski, der heute in Diensten von Tchibo<br />

steht, sowie dessen Kollegen von Veltins,<br />

Volker Kuhl.<br />

Beide Brauereimanager hatten den Ermittlern<br />

zufolge eingeräumt, sie hätten zusammen<br />

mit Christmann entschieden,<br />

beim Boss des Marktführers Krombacher,<br />

Bernhard Schadeberg, vorstellig zu werden,<br />

um die Möglichkeit einer Preisabsprache<br />

auszuloten. Krombacher liegt zwar<br />

hinter Oettinger auf Rang zwei der meistverkauften<br />

Biere in Deutschland, gilt aber<br />

als Marktführer bei gehobenen Marken.<br />

Entsprechend heißt es dazu in der Niederschrift<br />

der Kartellwächter: „Dass die Betroffenen<br />

Peter Rikowski (Bitburger) und Dr.<br />

Albert Christmann (Radeberger) sich bereit<br />

erklärten, auf den Betroffenen Bernhard<br />

Schadeberg (Krombacher) zuzugehen, um<br />

zu klären, ob auch Krombacher zu einer<br />

Preiserhöhung bereit sei, haben die Betroffenen<br />

Rikowski und Volker Kuhl (Veltins)<br />

übereinstimmend angegeben.“ Zu Christmann<br />

hielten die Ermittler wörtlich fest,<br />

dieser habe „zwar bestritten, dass er sich<br />

entsprechend erklärt hat“. Doch nehmen<br />

die Kartellwächter Christmann die Behauptung<br />

nicht ab. „Seine Aussage“, heißt es in<br />

den Amtsunterlagen, „ist vor dem Gesamtkontext<br />

seiner Aussage nicht glaubhaft.“<br />

SKEPTISCHE ERMITTLER<br />

Den Grund für ihr Urteil sehen die Beamten<br />

in Widersprüchen, in die sich der Ex-<br />

Radeberger-Chef offenbar verstrickte. So<br />

gab Christmann laut Niederschrift am 31.<br />

Oktober 2012 zunächst an, er habe keinen<br />

regelmäßigen Kontakt zu Krombacher-<br />

Chef Schadeberg gehabt. Je mehr Aussagen<br />

anderer Brauer die Beamten Christmann<br />

vorhielten, desto mehr schränkte er<br />

die Behauptung aber laut Protokoll ein.<br />

Daraus ziehen die Ermittler zwei Schlüsse.<br />

Erstens: „Aus den Kalendereinträgen<br />

und der Aussage des Betroffenen Bernhard<br />

Schadeberg (Krombacher) sowie den von<br />

Bitburger eingereichten Unterlagen zum<br />

AK Fassbepfandung ergibt sich, dass<br />

Christmann Schadeberg seit 2005 bereits<br />

bei mehreren Gelegenheiten getroffen<br />

bzw. telefonisch kontaktiert hat.“<br />

Und zweitens glauben die Beamten<br />

nicht, dass Christmann über seine Gesprä-<br />

1,8<br />

2,0<br />

2,3<br />

Erdinger Radeberger Paulaner<br />

FOTOS: TEUTOPRESS, ULLSTEIN/SCHÖNING<br />

50 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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che mit Krombacher die Wahrheit sagt.<br />

„Soweit der Betroffene Dr. Albert Christmann<br />

ausgesagt hat, dass es lediglich um<br />

die allgemeine Marktentwicklung und Kostensteigerung<br />

gegangen sei, die für die<br />

nächsten zwei, drei Jahre vorhersehbar waren“,<br />

heißt es in den Amtsunterlagen, „handelt<br />

es sich um eine offensichtliche Schutzbehauptung.“<br />

Christmann und Oetker wollen<br />

sich dazu nicht äußern.<br />

AUF KONFRONTATION<br />

Für die meisten Brauereien ist das Kartell<br />

Geschichte. Anfang 2008 hatten sie es geschafft:<br />

Alle Hersteller großer gehobener<br />

Marken erhöhten die Preise ab Rampe um<br />

rund sechs Euro je Hektoliter. Allerdings<br />

währte die Freude nur dreieinhalb Jahre.<br />

Im Herbst 2011 ließ der Deutschland-Ableger<br />

von AB InBev, der weltgrößten Bauerei<br />

mit Sitz in Belgien, von seiner hiesigen<br />

Zentrale in Bremen aus die Veranstaltung<br />

hochgehen. AB InBev (unter anderem<br />

Beck’s, Franziskaner, Hasseröder) stellte<br />

sich den Kartellbehörden als Kronzeuge,<br />

um ohne Geldbuße davonzukommen.<br />

Der bisherige Radeberger-Chef Christmann<br />

dagegen entschied sich für den anderen<br />

Weg: die Konfrontation mit dem Kartellamt.<br />

Die meisten anderen Brauereien<br />

kooperierten mit den Ermittlern und kamen<br />

deshalb vergleichsweise glimpflich<br />

davon. Nach zahllosen Verhören von Frühsommer<br />

2012 an ergingen Mitte Januar<br />

<strong>2014</strong> Bußgeldbescheide im Gesamtwert<br />

Von Weiß- bis Billigbier<br />

Ausstoß der größten deutschen Biermarken<br />

2013 (in Millionen Hektoliter)<br />

von <strong>10</strong>6 Millionen Euro, die sich ungleichmäßig<br />

auf Krombacher, Warsteiner, Veltins,<br />

Bitburger und die regionale Privatbrauerei<br />

Ernst Barre aus Lübbecke in Westfalen<br />

verteilten. Auch sieben Manager bezahlten,<br />

wurden die unschöne Episode in<br />

ihrem Berufsleben dafür aber quitt.<br />

Nicht so Ex-Radeberger-Chef Christmann,<br />

der nun, wie die Unterlagen des<br />

Kartellamts zeigen, mit einer schweren Hypothek<br />

in das Rennen um den Chefposten<br />

bei Oetker geht. Zusammen mit der dänischen<br />

Brauerei Carlsberg, vier regionalen<br />

Brauereien in Nordrhein-Westfalen sowie<br />

dem Brauerverband NRW wagt Christmann<br />

den Showdown mit den Kartellwächtern<br />

– und riskiert einen tiefdunklen<br />

Fleck auf seiner weißen Weste. Denn nach<br />

Brancheninformationen muss Radeberger<br />

mit einem Bußgeld von mehr als <strong>10</strong>0 Millionen<br />

Euro rechnen. Radeberger möchte<br />

sich zu Marktgerüchten nicht äußern.<br />

Die Geldbuße, die Christmann angekreidet<br />

würde, träfe den Anfangfünfziger im<br />

falschen Moment. Denn der zielstrebige<br />

Aufsteiger ist nicht der einzige Kandidat für<br />

den Thron bei Oetker. Über der Kür, wer<br />

dem amtierenden Konzernchef Richard<br />

Oetker nachfolgen soll, tobt ein schwerer<br />

Konflikt in der Familie. Der 63-Jährige<br />

muss altersbedingt Ende 2016 ausscheiden.<br />

Sein Halbbruder Alfred Oetker, 46,<br />

Wortführer der jungen Oetker-Garde,<br />

4,0<br />

drängt vehement an die Konzernspitze.<br />

Doch seine älteren Halbgeschwister sind<br />

dagegen und favorisieren Christmann.<br />

Die Karriere des promovierten Wirtschaftsingenieurs<br />

wurde bei Oetker Jahre<br />

lang vorbereitet. Gebürtig in Gau-Algesheim<br />

bei Wiesbaden als Sohn eines Winzers verbrachte<br />

Christmann sein gesamtes Berufsleben<br />

bei dem Bielefelder Traditionsunternehmen,<br />

zunächst in der Abteilung Finanzen<br />

und Controlling in der Zentrale, dann an<br />

der Spitze der Sekt- und Schnapstochter<br />

Henkell und schließlich als Chef der Brausparte,<br />

der Radeberger-Gruppe in Frankfurt.<br />

Dort soll Christmann dem Vernehmen nach<br />

die Gruppe durch erfolgreiches Kosten- und<br />

Markenmanagement solide durch den<br />

schrumpfenden Biermarkt gesteuert haben.<br />

Ein langjähriger Kenner der Bierbranche<br />

und des Oetker-Konzerns ist überzeugt:<br />

„Ein familienfremder Oetker-Chef wäre<br />

schon ein gewaltiger Schritt für die Bielefelder.<br />

Wenn so einer auch noch <strong>vom</strong> Kartellamt<br />

überführt würde, das kann ich mir<br />

beim besten Willen nicht vorstellen.“ n<br />

5,5<br />

mario.brueck@wiwo.de<br />

5,8<br />

Quelle:Inside<br />

2,4<br />

2,5<br />

2,7<br />

2,8<br />

Hasseröder Beck’s Veltins Warsteiner Bitburger Krombacher Oettinger<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 51<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Eintrittskarte China<br />

Fosun-Top-Manager<br />

Zhong (links) wurde<br />

erst Kunde bei Caruso-<br />

Eigentümer Angeloni,<br />

dann Partner<br />

Zhongs Lieblingsschneider<br />

LUXUS | Der Goldrausch in China ist vorbei: Die Reichen wenden sich ab von allgegenwärtigen Marken.<br />

Es schlägt die Stunde kleiner, exklusiver Anbieter. Ein Besuch beim Edel-Herrenausstatter Caruso.<br />

Die Boutique von Amy Luo liegt in<br />

der Xinle Lu, einer der schönsten<br />

Straßen Shanghais im Gebiet der<br />

ehemaligen Französischen Konzession.<br />

Ein Dach aus Platanen schützt hier vor<br />

Sonne und Regen. Die 38-Jährige verkauft<br />

gebrauchte Luxushandtaschen: Gucci, Versace,<br />

Louis Vuitton. Als Luo 2004 ihren Laden<br />

eröffnete, boomte das Geschäft mit<br />

Luxusgütern. Ihr Shop sei der erste in China<br />

gewesen, erzählt sie. Heute hat sie sechs<br />

Filialen und 40 Mitarbeiter, Nachahmer gebe<br />

es Dutzende. „Es lohnt sich noch immer“,<br />

sagt Luo, „aber die Leute sind preisund<br />

markenbewusster geworden.“<br />

Beim Start traf Luo eine Marktlücke: Zu<br />

Geld gekommene Chinesen gierten nach<br />

Marken, um ihren neuen Reichtum zur<br />

Schau zu stellen. Viele wollten bewusst<br />

Original-Marken, aber nicht den Neupreis<br />

dafür bezahlen. In ihrem bisher besten Jahr<br />

20<strong>10</strong> setzte Luo damit eine Million Yuan um<br />

(rund 120 000 Euro) – wohlgemerkt pro<br />

Monat. Seitdem aber fällt der Umsatz stetig<br />

um <strong>10</strong> bis 20 Prozent im Jahr.<br />

5000 Yuan, knapp 600 Euro, kostet die<br />

klassische Louis-Vuitton-Tasche in braunem<br />

Leder und mit gut sichtbaren Logo.<br />

Lange war sie ein Verkaufsschlager. „Aber<br />

das Modell geht immer schlechter“, sagt<br />

Luo. Besser liefen Taschen der Marke<br />

Hermès, deren Logo kaum erkennbar ist.<br />

Luos Geschäft verdeutlicht, was zurzeit<br />

auf Chinas Luxusmarkt passiert: Die Reichen<br />

wollen sich absetzen von den „Tuhao“,<br />

den Neureichen ohne Geschmack.<br />

Vor allem Kunden in den Metropolen an<br />

der Ostküste distanzieren sich von den in<br />

ihren Augen rückständigeren Käufern aus<br />

den kleineren Städten im Inland. Das geht<br />

am besten mit dezenterem Luxus.<br />

Im Reich der Mitte geht ein goldenes<br />

Zeitalter zu Ende, das Chinesen zu den<br />

wichtigsten Abnehmern der Glamourbranche<br />

gemacht hat. Doch nach fünf Jahren<br />

Kaufrausch ändert sich das Konsumverhalten<br />

schlagartig. Es macht sich ein<br />

kritisches Wertbewusstsein breit. Die Kunden<br />

sind anspruchsvoller und wählerischer<br />

geworden. Sie sind der Logo-Manie<br />

überdrüssig und haben überzogene Preise<br />

FOTOS: ERIC LELEU, PR<br />

52 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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satt. „Die Chinesen sind besser informiert<br />

und halten nun nach subtilerem Design<br />

Ausschau, das sie als Kenner ausweist“,<br />

sagt Erwan Rambourg, Konsumexperte der<br />

britischen Großbank HSBC in Hongkong.<br />

12 955 Kilometer westlich von Shanghai.<br />

Das Provinznest Soragna bei Parma ist ein<br />

Hort italienischer Ursprünglichkeit. Im<br />

Barockschloss im Ort wohnt ein Fürst<br />

namens Diofebo Meli Lupi. Aus den<br />

Kellern, in denen Tausende Culatello-<br />

Schinken unter der Decke baumeln<br />

und für Gourmetrestaurants in aller<br />

Welt bis zu 54 Monate heranreifen,<br />

steigt ein süßlicher Geruch von<br />

Schimmel und Most in die Nase.<br />

Umberto Angeloni sitzt bei<br />

Sternekoch Marco Dallabona<br />

und löffelt ein pochiertes Ei<br />

auf Kürbiscreme und Trüffeln.<br />

Der 61-jährige Eigentümer<br />

des Herrenausstatters Caruso<br />

spricht über die Sorgfalt, die er<br />

auf die Fertigung von Anzügen<br />

verwendet. Weil die gleiche<br />

Sorgfalt auch den teuersten<br />

Schinken der Welt hervorbringt,<br />

ziert die Web-Seite von Caruso eine<br />

rosarote Scheibe Culatello neben<br />

der weißen Schneiderpuppe. „Unsere<br />

Flagge“, sagt Angeloni.<br />

Caruso ist Teil eines west-östlichen<br />

Luxusmode-Experiments. Die Geschichte<br />

beginnt 2011 mit einer<br />

E-Mail. Wo er in Mailand einen Maßanzug<br />

von Caruso kaufen könne, fragt<br />

Patrick Zhong, Chef des Global Investment<br />

der chinesischen Holding Fosun,<br />

bei der Info-Adresse des Herstellers an. Angeloni<br />

lädt ihn ein. Vor sich hat er einen Vertreter<br />

seiner Zielgruppe: Mittvierziger, kultiviert,<br />

weltoffen, sensibel, vermögend. Zhong<br />

trägt bereits Edelzwirn aus Italien. Doch die<br />

Luxusmarken, die China mit Läden überzogen<br />

haben, erfüllen seine Ansprüche nicht.<br />

Ihn zieht die Authentizität von Caruso an.<br />

Aus dem neuen Kunden wird zwei Jahre<br />

später ein Partner.<br />

„Fosun hat die Einzigartigkeit<br />

und das Potenzial von Caruso erkannt“,<br />

sagt Angeloni mit seiner<br />

vornehmen Flüsterstimme. Der<br />

Partner habe begriffen, dass<br />

die Zeit der Markendiktatur in<br />

China passé sei. Das italienisch-chinesische<br />

Duo<br />

scheint wie füreinander geschaffen.<br />

Im Oktober 2013 stieg Fosun<br />

im Zuge einer Kapitalerhöhung<br />

mit 35 Prozent bei<br />

den Italienern ein. Caruso ist<br />

jetzt Teil der 35 Milliarden<br />

Dollar schweren Investitionsholding<br />

mit Pharma- und<br />

Stahlherstellern, Immobilien<br />

und Medien bis zum Versicherungsgeschäft.<br />

Es war Fosuns<br />

erste Investition in Italien und<br />

die einzige in Europas Modebranche.<br />

Angeloni wiederum wählte die<br />

Chinesen aus, um mit seinem Männerlabel<br />

ins Ausland zu expandieren.<br />

Caruso ist ein kleines Licht im Konzern:<br />

Nur ein Zehntel seiner bisher niedrigsten<br />

Investitionssumme – konkrete Zahlen<br />

nennt Fosun nicht – gab die größte private<br />

Beteiligungsholding Chinas für ihren Anteil<br />

aus. Aber damit kauften sich die Kosmopoliten<br />

aus Shanghai eine Eintrittskarte<br />

in die Luxusindustrie.<br />

HANDWERK UND HIGH TECH<br />

Auch Angeloni hat sich viel vorgenommen.<br />

Der elegante Römer will aus Caruso mit<br />

bisher 58 Millionen Euro Umsatz und 600<br />

Mitarbeitern ein führendes Männerlabel<br />

machen. Das Geld von Fosun steckt er in<br />

die Vergrößerung der Fabrik, die Ausweitung<br />

der Maßarbeit und die Eröffnung<br />

eigener Caruso-Läden. Mailand und New<br />

York machen <strong>2014</strong> den Anfang, Peking und<br />

Shanghai sollen folgen.<br />

In Soragna entstehen 120 000 Sakkos<br />

und 50000 Hosen im Jahr. Ein Anzug kostet<br />

zwischen 2500 und 3000 Euro. Traditionell<br />

stark ist das 1958 von dem neapolitanischen<br />

Schneider Raffaele Caruso gegründete<br />

Unternehmen auch in der Fertigung<br />

für fremde Marken. In der Schneiderei<br />

sieht man Etiketten von Dior, Louis Vuitton,<br />

Givenchy, Ralph Lauren und Cerruti.<br />

In der Halle – halb Fabrik, halb Atelier –<br />

geht ein Männersakko durch 40 Frauenhände.<br />

Nähmaschine, Bügeleisen, Nadel<br />

und Faden – im permanenten Wechsel geben<br />

sie dem Jackett Form. Wie eine Skulptur<br />

erhält der Stoff langsam Gestalt. Im<br />

Weg mit langen Ärmeln<br />

Für die chinesischen Kollektionen<br />

der italienischen Marke Caruso<br />

wurden 50 Fosun-Manager<br />

vermessen »<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Bremse für Blingbling<br />

DieNachfrage nach Luxusprodukten<br />

wächst weiter, doch schätzen die<br />

Chinesen immer mehr subtilere Marken<br />

China<br />

Amerika<br />

Japan<br />

Europa<br />

Restliches Asien<br />

Rest der Welt<br />

3%<br />

1%<br />

7%<br />

6%<br />

11 %<br />

31 %<br />

1995 21 % 2013<br />

77 31 %<br />

217 29 %<br />

Mrd. €<br />

Mrd. €*<br />

22 %<br />

27 %<br />

11 %<br />

*Schätzung; Quelle: Bain, Statista<br />

»<br />

Lieber ohne Logos Louis-Vuitton-Taschen<br />

verkaufen sich in China heute schlechter<br />

Aufwendig genäht<br />

120 000 Sakkos und<br />

50 000 Hosen produziert<br />

Caruso pro Jahr im<br />

italienischen Örtchen<br />

Soragna<br />

Verborgenen aufwendig eingenähte<br />

Rosshaareinlagen sorgen für perfekten Sitz.<br />

Der Kragen und die Unterkante des Ärmelfutters<br />

werden per Hand geschlossen, jedes<br />

Knopfloch kostet eine Viertelstunde Arbeit.<br />

Den Tascheneingriff näht eine High-Tech-<br />

Maschine des deutschen Herstellers Dürkopp<br />

Adler in Sekundenschnelle.<br />

„Die Mischung aus Handwerk, Technologie<br />

und Kreativität ist Carusos Spezialität“,<br />

sagt Chef-Modezeichner Roberto Cibin,<br />

einer der vielen Neuzugänge. Angeloni<br />

holte ihn vor zwei Jahren von Zegna. In seinem<br />

Entwicklungsteam beschäftigt er nun<br />

30 Leute. Sie sollen das Lifestyle-Label<br />

ganz nach oben bringen.<br />

Für dieses Ziel hat Cibins Kollege<br />

Gianluca Petronio neulich die neue<br />

Luxuszielgruppe vermessen: In<br />

Shanghai nahm er Maß bei 50 Fosun-Managern<br />

– Brustumfang, Armlänge,<br />

Schritthöhe. Für Petronio,<br />

Schneider in vierter Generation,<br />

eine interessante Erfahrung. Die<br />

Unterschiede seien erheblich, sagt<br />

er: „Anatomisch und kulturell.“<br />

Petronio, tadellos gekleidet, kahler<br />

Kopf, breiter Krawattenknoten, bemüht<br />

sich um die Verwestlichung des Outfits<br />

der chinesischen Geschäftselite. Also:<br />

Weg mit langen Jackenärmeln, die den<br />

Handrücken samt erstem Fingerglied verschlucken.<br />

Schluss mit Hosenbeinen, die in<br />

weichen Falten auf dem Spann liegen. „Da<br />

sieht der Mann aus wie ein Affe“, rügt der<br />

Schneider. Die Chinesen seien jedoch sehr<br />

aufgeschlossen für Stil-Lektionen, stellt<br />

Petronio zufrieden fest.<br />

Mit dabei in Shanghai war sein ambitionierter<br />

Chef Angeloni. Der hatte zuvor den<br />

Großteil seiner Karriere bei Brioni verbracht.<br />

Er heiratete in das Familienunternehmen<br />

ein und machte den Anzugmacher<br />

in den Neunzigerjahren weltberühmt.<br />

Er gewann Nelson Mandela, Kofi Annan<br />

und Gerhard Schröder als Kunden und<br />

kleidete den Anzughelden James Bond ein.<br />

2007 verließ Angeloni Brioni im Krach<br />

mit dem Erben-Clan. Im Januar 2009, auf<br />

dem Höhepunkt der Finanzkrise, stieg er<br />

bei Caruso ein. In mehreren Schritten kaufte<br />

er den Söhnen des Firmengründers ihre<br />

Anteile ab und richtete das Unternehmen<br />

neu aus. Fosun soll ihm nun die Tür zum<br />

größten globalen Luxusmarkt öffnen.<br />

„Es gibt eine klare Bewegung weg von<br />

Logo-Marken hin zu High-End- und „Absolute<br />

Luxury“-Marken“, sagt Claudia<br />

D’Arpizio, Luxusanalystin und Partnerin<br />

der Beratung Bain in Mailand. Bain rät Unternehmen,<br />

ihre Markenstrategie an den<br />

chinesischen Markt anzupassen. Die Zeiten,<br />

in denen neureiche Chinesen unreflektiert<br />

nach westlichen Luxusprodukten<br />

gierten, sind weitgehend vorbei.<br />

Bain schätzt den globalen Luxusmarkt<br />

2013 auf 217 Milliarden Euro. Chinas Anteil<br />

schnellte in den drei Jahren von 20<strong>10</strong> bis<br />

2012 von <strong>10</strong> auf 25 Prozent hoch. Doch völlig<br />

unerwartet lösten die USA im vergangenen<br />

Jahr China mit einem<br />

Wachstum von vier Prozent gegenüber<br />

2,5 Prozent plus als Treiber ab.<br />

Das liegt zum Teil auch an der Antikorruptionskampagne,<br />

die der seit<br />

November 2012 amtierende Präsident<br />

Xi Jinping ins Leben gerufen<br />

hat. Ausladende Staatsbankette<br />

wurden gestrichen und der Dekadenz<br />

der Kampf angesagt. Laut<br />

Regierungsangaben wurden<br />

mehr als 182 000 Beamte wegen<br />

Korruption gefeuert. Vor<br />

allem ging die Regierung<br />

gegen die Praxis von Unternehmen<br />

vor, sich mit teuren<br />

Geschenken Politiker gewogen<br />

zu machen.<br />

Viele Chinesen sind auch deswegen<br />

zögerlicher, den neuen Reichtum zur<br />

Schau zu stellen. „Low Profile ist in“, sagt<br />

Boutique-Besitzerin Luo. Ein weiterer<br />

Grund für den Rückgang: Immer mehr<br />

FOTOS: REUTERS/CARLOS BARRIA<br />

54 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Chinesen shoppen lieber gleich im Ausland<br />

und umgehen so die hohen Steuern<br />

für Luxusprodukte von bis zu 40 Prozent.<br />

Europas Markenhersteller sind aufgeschreckt.<br />

Viele haben in der Goldgräberstimmung<br />

Riesensummen in China investiert.<br />

Die größte Gefahr gehe nun von „der<br />

Allgegenwart“ der Boutiquen von China-<br />

Pionieren wie Louis Vuitton und Gucci aus,<br />

warnt HSBC-Luxusanalyst Rambourg. Das<br />

Vordringen der Label in drittklassige Einkaufsmalls<br />

von Kleinstädten konterkariert<br />

längst den Exklusivitätsanspruch.<br />

Beispiel Zegna: Der Herrenausstatter<br />

wagte sich 1991 nach China, als das Luxussegment<br />

dort noch nicht existierte. Heute<br />

bringt der Herrenausstatter seine Ware bereits<br />

in 37 Städten an den Mann.<br />

Hinzu kommt die Inflationierung der<br />

Marken durch Zweit- und Drittlinien. „Dieselben<br />

Fehler wurden schon einmal gemacht:<br />

in Japan“, doziert Caruso-Chef Angeloni,<br />

der früher als Professor für Mikroökonomie<br />

in Chicago lehrte. In Japan fiel<br />

der Luxuskonsum 2013 auf das Niveau von<br />

vor 25 Jahren zurück.<br />

Zunehmend riskant ist auch die Anbiederung<br />

der großen Modemacher an die<br />

neureichen Kunden. Mit der Anpassung an<br />

östliche Ästhetik- und Konsummodelle<br />

entfernten sich die Label von ihren Wurzeln.<br />

„Der europäische Luxus verliert seine<br />

Identität“, mahnt Bain-Beraterin d’Arpizio.<br />

SCHNELLE AUFSTIEGSCHANCEN<br />

Bei HSBC sieht man die Platzhirsche als<br />

potenzielle Verlierer des Umschwungs in<br />

China. „Anspruchsvollere Kunden stellen<br />

eine große Herausforderung für die etablierten<br />

Label dar und bieten kleinen, weniger<br />

bekannten Marken schnelle Aufstiegschancen“,<br />

sagt Rambourg. Es klingt wie eine<br />

Verheißung: Die Letzten könnten die<br />

Ersten sein. Mögliche Gewinner in der Ära<br />

des neuen Luxus seien trendige Unternehmen<br />

wie Prada, Lederhersteller wie Tod’s,<br />

die mit erlesener Handwerksqualität<br />

punkten, oder diskret auftretende<br />

Häuser wie Hermès, meint<br />

der Asienkenner.<br />

Am Umgang mit China scheiden<br />

sich bei den Herstellern die<br />

Geister: Den Mailänder Prada-<br />

Konzern, der 40 Prozent seines<br />

Umsatzes in Asien macht, zog es<br />

2011 in Hongkong an die Börse.<br />

Bilder<br />

In unserer iPad-<br />

<strong>Ausgabe</strong> zeigen<br />

wir weitere<br />

Modekreationen<br />

von Caruso<br />

Kaschmirhersteller Brunello Cucinelli aus<br />

Umbrien dagegen bot die Aktien seines<br />

Wachstumsunternehmens bewusst in<br />

Mailand an: „Ich bin stolz darauf, weniger<br />

als fünf Prozent meines Geschäfts in China<br />

zu machen.“<br />

Brioni, 2011 in die Hände des französischen<br />

Luxuskonzerns Kering gefallen,<br />

setzt zunehmend auf Celebrity- und Laufsteg-Auftritte,<br />

um in China zu punkten. In<br />

der Fertigung, wo Caruso kräftig investiert,<br />

streicht Brioni dagegen Hunderte Stellen.<br />

Bei Hermès in Paris hält man die Fixierung<br />

aufs Marketing für den falschen Weg.<br />

Axel Dumas, Eigentümer des Familienunternehmens<br />

in sechster Generation, legt<br />

wie Angeloni großen Wert auf die Authentizität<br />

seiner Produkte. Den vermeintlichen<br />

Geschmack der neuen<br />

Luxuskunden zu bedienen führe<br />

ins Aus. Wichtig seien starke<br />

Wurzeln, so Dumas: „Wenn<br />

Franzosen und Italiener aufhören,<br />

Hermès zu tragen, kaufen<br />

uns auch Chinesen und Russen<br />

nicht mehr.“<br />

n<br />

ulrike sauer | Rom,<br />

philipp.mattheis@wiwo.de | Shanghai<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Hand am Ventil<br />

REIFENMARKT | Der Einstieg eines asiatischen Players bei Pirelli<br />

könnte die Top 5 der Branche gehörig durcheinanderwirbeln.<br />

Scharfe Kurven, regennasse Fahrbahn<br />

– bei solchen Straßenverhältnissen<br />

nimmt jeder Autofahrer eigentlich<br />

den Fuß <strong>vom</strong> Gas. Zu groß ist die Gefahr,<br />

dass das Fahrzeug ins Schleudern gerät.<br />

Die drei Golf-GTI-Fahrer auf dem Contidrom<br />

im Süden der Lüneburger Heide interessiert<br />

das nicht. Mit heulenden Motoren<br />

und quietschenden Reifen brettern sie<br />

über die Piste, bis es ein paar Minuten später<br />

einen von ihnen tatsächlich erwischt.<br />

Der Wagen bricht aus, dreht sich um die eigene<br />

Achse, Erdklumpen und Gras fliegen<br />

durch die Luft, erst auf dem Seitenstreifen<br />

kommt das Auto zum Stehen.<br />

Eigentlich könnte der hannoversche Autozulieferer<br />

Continental, der hier auf seinem<br />

Konzernparcours Reifen testet, zufrieden<br />

sein mit dem Ausgang der Schleuderfahrt.<br />

Denn der gestrandete Golf war mit<br />

Billigreifen aus asiatischer Produktion unterwegs.<br />

Die können bei Kurvenverhalten,<br />

Bremsweg und Fahrkomfort noch nicht<br />

mithalten mit den deutlich teureren Hochleistungs-Pneus<br />

made in Germany.<br />

CHANCEN FÜR NEWCOMER<br />

Die Niedersachsen tun gut daran, sich nicht<br />

auf ihren Vorsprung zu verlassen. Denn die<br />

Hersteller aus Taiwan, Korea, China, Indien<br />

und Indonesien holen dank der starken<br />

Stellung in ihren Heimatmärkten schnell<br />

auf. „Bei Premiumfahrzeugen dominieren<br />

die etablierten Reifenhersteller aus Europa,<br />

den USA und Japan noch das Geschäft, aber<br />

bei Kleinwagen und Mittelklassefahrzeugen<br />

gewinnen die preisaggressiven Mitbewerber<br />

aus den aufstrebenden Ländern Asiens<br />

schnell Marktanteile hinzu“, warnt Matthias<br />

Bentenrieder, Autoexperte und Partner der<br />

Unternehmensberatung Oliver Wyman.<br />

Schon in wenigen Jahren, davon sind Branchenbeobachter<br />

überzeugt, werden sich die<br />

Machtverhältnisse deutlich zugunsten der<br />

Newcomer verschieben.<br />

Zur Schlüsselfigur bei der Aufholjagd<br />

könnte Pirelli-Chef Marco Tronchetti Provera<br />

werden. Der 66-Jährige steht seit 1992 an<br />

der Spitze des italienischen Reifenherstellers<br />

und ist zugleich Chairman der Camfin-<br />

Holding, des mit gut 26 Prozent größten Anteilseigners.<br />

Eher beiläufig hat Tronchetti<br />

Provera während einer Investoren-Tournee<br />

vor ein paar Wochen durchsickern lassen,<br />

dass die Holding in zwei Jahren Kasse machen<br />

will.<br />

Für einen der aufstrebenden Reifenhersteller<br />

wäre es ein genialer Schachzug, sich<br />

mithilfe einer der stärksten Marken in die<br />

Oberliga einzukaufen. „Man kann getrost<br />

davon ausgehen, dass sich bei Pirelli im Moment<br />

die Wirtschaftsprüfer die Klinke in die<br />

Hand geben, um das Unternehmen bis in<br />

den letzten Winkel zu durchleuchten“, vermutet<br />

ein Brancheninsider. Legt einer der<br />

Asiaten bei Pirelli die Hand ans Ventil,<br />

brächte das die Hackordnung der Branche<br />

kräftig durcheinander.<br />

Schlüsselfigur<br />

Pirelli-Chef<br />

Tronchetti Provera<br />

FOTO: KLAUS WEDDIG FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

56 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Knapp zwei Milliarden Reifen im Gesamtwert<br />

von rund 146 Milliarden Euro wurden<br />

2012 produziert, <strong>vom</strong> kleinen Smart-<br />

Schlappen bis zu meterhohen und tonnenschweren<br />

Giganten für Erztieflader. Fast<br />

zwei Drittel davon sind für Pkws und Lieferwagen<br />

bestimmt, der Rest wird auf die Felgen<br />

von Lkws, Bau- und Landmaschinen<br />

aufgezogen oder an Flugzeugfahrwerke<br />

montiert.<br />

Noch ist die Stellung der etablierten<br />

Marktführer unangefochten: Über 40 Prozent<br />

des Weltmarktes teilen sich die drei<br />

größten Hersteller Bridgestone aus Japan,<br />

Michelin aus Frankreich und Goodyear aus<br />

den USA. Inklusive Continental und Pirelli<br />

auf den beiden nächsten Plätzen beherrschen<br />

die fünf größten<br />

Player über die Hälfte<br />

des Marktes (siehe Grafik<br />

Seite 58).<br />

„Aber der globale Reifenmarkt<br />

ist regional<br />

stark differenziert, weil<br />

die Anforderungen sich<br />

unterscheiden, etwa<br />

aufgrund unterschiedlicher<br />

Fahrzeugtypen<br />

oder klimatischer Bedingungen“,<br />

sagt Thomas Dauner, Leiter der<br />

Autosparte und Seniorpartner der Boston<br />

Consulting Group (BCG). Darum sind die<br />

Stärken der Anbieter unterschiedlich verteilt.<br />

Marktführer Bridgestone etwa verfügt<br />

über schlagkräftige Marken, sei aber ein „typisch<br />

japanischer Konzern mit allen Stärken<br />

und Schwächen eines japanischen Unternehmens“,<br />

sagt ein Insider. Was er meint:<br />

Mit seiner eher konservativen Unternehmenskultur<br />

und den strengen Hierarchien<br />

sei Bridgestone im Vergleich zu seinen Mitbewerbern<br />

eher schwerfällig und langsam.<br />

KOSTENKILLER CONTINENTAL<br />

Als wesentlich agiler gilt der französische<br />

Hersteller Michelin – „technologisch und<br />

beim Marketing eindeutig der führende europäische<br />

Reifenhersteller“, sagt ein Branchenkenner.<br />

Der amerikanische Goodyear-<br />

Konzern vermittelt dagegen aus seiner Sicht<br />

ein vergleichsweise „trauriges Bild“, vor allem<br />

in Europa sei das Unternehmen „ins<br />

Straucheln geraten“.<br />

Continental und Pirelli nehmen unter<br />

den Top 5 eine Sonderstellung ein. „Wir haben<br />

schon vor einigen Jahren entschieden,<br />

uns auf das Premiumsegment zu konzentrieren,<br />

weil dort die Renditen am höchsten<br />

sind“, sagt Tronchetti Provera. Dank der<br />

auch wegen des Engagements in der Formel<br />

In zwei Jahren<br />

will die Pirelli-<br />

Holding Kasse<br />

machen<br />

1 besonders starken Marke erreichen die<br />

Italiener eine Umsatzrendite vor Zinsen und<br />

Steuern von gut 13 Prozent. Branchendurchschnitt<br />

sind vier Prozent. Auf ähnliche<br />

Größenordnungen kommt der deutsche<br />

Konkurrent Continental, der in den vergangenen<br />

beiden Jahren einer der Top-Performer<br />

im deutschen Aktien-Index Dax war.<br />

„Unter dem Druck der hohen Schuldenlast<br />

nach der VDO-Übernahme 2007 hat<br />

Conti die Kostenführerschaft in der Branche<br />

erreicht“, lobt ein Bank-Analyst. Hinzu<br />

kommt: Die Hannoveraner sind der einzige<br />

internationale Reifenlieferant, bei dem die<br />

schwarzen Schlappen nur eine von mehreren<br />

Säulen des Geschäfts sind. 70 Prozent<br />

des Umsatzes entfallen auf elektronische<br />

Komponenten. Das entlastet<br />

das Unternehmen<br />

von Schwankungen im<br />

Reifensektor, Verwaltungskosten<br />

können auf<br />

mehrere Sparten umgelegt<br />

werden. „Aus dem<br />

Elektronik-Know-how<br />

ergeben sich zudem Synergiepotenziale,<br />

etwa<br />

wenn es um die Radnaben-Antriebe<br />

oder andere<br />

Komponenten für Elektroautos geht“,<br />

sagt Autoexperte Bentenrieder.<br />

Der technische Vorsprung von Conti, Pirelli<br />

oder Michelin lässt sich einfach erklären:<br />

„Die starke Stellung der Europäer ist in<br />

erster Linie eine Folge der strengen gesetzlichen<br />

Vorschriften für die Reifenhersteller<br />

innerhalb der Union“, sagt BCG-Autoexperte<br />

Dauner. Ob Vorgaben zur Geräuschentwicklung<br />

oder zur Verringerung des<br />

Rollwiderstands, ob die Pflicht zu Winterreifen<br />

oder zum Einbau von Druckverlustwarnern,<br />

wie sie in der EU ab November<br />

<strong>2014</strong> Pflicht werden: „Hier werden die<br />

Trends gesetzt, hier wird der Wettbewerb<br />

gewonnen“, sagt Berater Bentenrieder.<br />

Auf internationalem Parkett und im Volumenmarkt<br />

wächst der Druck aus Fernost.<br />

Bisher weitgehend unbekannte Hersteller<br />

wie Hangzhou aus China, Giti aus Indonesien<br />

oder MRF aus Indien drängen erfolgreich<br />

ins Geschäft. Neun der 20 weltweit<br />

führenden Reifenhersteller stammen aus<br />

der Volksrepublik China, aus Taiwan, Indien,<br />

Indonesien oder Korea. Schon zur<br />

Spitzengruppe aufgeschlossen hat ein<br />

Wettbewerber aus Südkorea. „Hankook gilt<br />

als Blaupause für einen erfolgreichen Aufstieg<br />

und die Etablierung einer starken<br />

Marke“, sagt Berater Bentenrieder über den<br />

Konzern aus Seoul.<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 57<br />

»<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Auf Verfolgungskurs<br />

Die zehn größten Reifenhersteller der<br />

Welt 2012<br />

Umsatz im Reifengeschäft<br />

(in Milliarden Euro)*<br />

Bridgestone<br />

Pkw- und Europageschäft vorn<br />

Weltweite Umsätze mit Reifen nach<br />

Fahrzeugen (in Prozent, gerundet)<br />

Lkws<br />

Michelin<br />

Goodyear<br />

Continental<br />

Umsätzemit Pkw-Reifen nach Regionen<br />

(in Prozent)**<br />

Südamerika<br />

China<br />

Pirelli<br />

Sumitomo<br />

Hankook<br />

Yokohama<br />

Cheng Shin<br />

Coopertires<br />

*inKlammern Veränderung gegenüber 2011 in Prozent;<br />

Quelle: Neue Reifenzeitung, eigene Recherchen<br />

Sonstige*<br />

30<br />

Rest<br />

6<br />

12<br />

Nordamerika<br />

17<br />

<strong>10</strong><br />

Gesamtmarkt<br />

Milliarden<br />

Euro<br />

Pkw-Markt<br />

Milliarden<br />

Euro<br />

26<br />

*Baumaschinen, landwirtschaftliche Fahrzeuge,<br />

Flugzeuge; ** einschließlich Lieferwagen; Zahlen<br />

für 2012; Quelle: Deutsche Bank, Oliver Wyman,<br />

eigene Recherchen<br />

25,0 (+9,2)<br />

21,0 (+3,5)<br />

16,3 (–0,6)<br />

9,7 (+<strong>10</strong>,2)<br />

6,0 (+7,1)<br />

5,8 (+9,4)<br />

4,8 (+14,3)<br />

4,3 (–2,3)<br />

3,4 (+17,2)<br />

3,3 (+6,5)<br />

146<br />

85,6<br />

60<br />

39<br />

Pkws<br />

Europa<br />

»<br />

Technologisch können die Koreaner<br />

problemlos mithalten – Hankook gehört zu<br />

den Erstausrüstern für die neue S-Klasse<br />

von Mercedes und die BMW-5er-Baureihe,<br />

was nicht nur den Umsatz, sondern auch<br />

das Renommee und die Marke stärkt.<br />

Geholfen hat dabei auch das Engagement<br />

der Koreaner im europäischen Motorsport:<br />

Hankook ist seit vier Jahren exklusiver Reifenlieferant<br />

der Deutschen Tourenwagen-<br />

Masters, in der sich Mercedes mit Audi und<br />

BMW misst. Das Engagement hat dazu beigetragen,<br />

dass Hankook inzwischen in<br />

Deutschland auf einen Marktanteil von<br />

über zehn Prozent im Premiumsegment<br />

kommt. In der Riege der Top Ten ist Hankook<br />

mit einem Weltmarktanteil von 5,7<br />

Prozent schon auf Platz sieben vorgerückt.<br />

Kumho Tyres, der zweite koreanische<br />

Anbieter mit Ambitionen für den Aufstieg<br />

in die internationale Reifen-Oberliga, hat es<br />

schon bis auf Position 13 geschafft, bisher<br />

allerdings vor allem mit preisgünstigen Reifen<br />

für kleine und<br />

mittlere Fahrzeuge.<br />

Den Asiaten hilft,<br />

dass sie von der Absatzkrise<br />

der europäischen<br />

Autoindustrie<br />

kaum betroffen<br />

sind: „Vor allem<br />

die Hersteller aus<br />

China und Korea<br />

entwickeln sich<br />

überdurchschnittlich<br />

dynamisch, weil sie mit einem schnell<br />

wachsenden Heimatmarkt über eine starke<br />

Basis verfügen“, sagt Autoexperte Bentenrieder.<br />

Die etablierten Marktführer tun sich<br />

in den aufstrebenden Autonationen Asiens<br />

dagegen schwer. Während sie etwa in den<br />

USA auf einen Marktanteil von 60 Prozent<br />

kommen, erreichen sie in China nicht mal<br />

30 Prozent. In den kommenden Jahren dürften<br />

sich die Gewichte weiter verschieben.<br />

Auf jährlich vier Prozent schätzen Experten<br />

das weltweite Wachstum im Reifenmarkt.<br />

Doch während die Märkte in Europa,<br />

Nordamerika und Japan stagnieren, legen<br />

die Umsätze in den Schwellenländern<br />

Osteuropas und Südamerikas sowie in China<br />

und Indien jedes Jahr um gut sieben<br />

Prozent zu. „Rund 70 Prozent des globalen<br />

Wachstums der Reifenindustrie dürften in<br />

den kommenden drei Jahren aus den aufstrebenden<br />

Märkten kommen“, schätzt Pirelli-Chef<br />

Tronchetti Provera.<br />

Einer der Gründe: „Das Durchschnittsalter<br />

der Fahrzeuge in Asien liegt deutlich unter<br />

dem in Europa und den USA, der große<br />

Hankook gilt als<br />

Blaupause für<br />

den erfolgreichen<br />

Aufstieg<br />

Schub für das Ersatzgeschäft kommt also<br />

noch, wenn diese Autos demnächst neue<br />

Reifen brauchen“, sagt Philipp Grosse Kleimann,<br />

Autospezialist und Senior-Partner<br />

bei Roland Berger.<br />

LANGER WEG ZUR STARKEN MARKE<br />

Was den meisten Newcomern aus Asien<br />

aber noch fehlt, ist eine starke Marke. Die<br />

gilt unter Branchenexperten als erfolgsentscheidend.<br />

„Normalerweise entfallen<br />

bei Autozulieferern über zwei Drittel aller<br />

Umsätze auf das Erstausrüstergeschäft“,<br />

sagt Berater Grosse Kleimann, „dieses Geschäft<br />

wird direkt mit den Fahrzeugherstellern<br />

abgewickelt.“ Bei den Pneu-Produzenten<br />

ist das Verhältnis jedoch genau<br />

umgekehrt:Mehr als zwei Drittel ihrer Verkäufe<br />

entfallen auf das sogenannte Aftermarket-Geschäft<br />

und gehen direkt an den<br />

Endverbraucher.<br />

Hier werden zwar deutlich höhere Margen<br />

erzielt, gleichzeitig muss der Kunde<br />

aber erst gewonnen<br />

werden – über Marke<br />

und Qualität<br />

oder, wenn es daran<br />

hapert, über den<br />

Preis. „Das wird immer<br />

schwieriger,<br />

denn der Reifenhandel<br />

ist ein Geschäft<br />

mit vielen<br />

Absatzkanälen“,<br />

sagt Grosse Kleimann.<br />

Die Empfehlung des Händlers spielt<br />

da nur teilweise eine Rolle, mindestens<br />

ebenso wichtig sind Bekanntheit und<br />

Image der Marke, vor allem bei teureren<br />

Reifen etwa für sportliche Geländewagen,<br />

Cabrios oder Oberklassefahrzeuge. In diesem<br />

Punkt haben die No-Names aus China,<br />

Indien oder Indonesien bisher wenig vorzuweisen.<br />

Die neuen Player aus Asien versuchen<br />

darum zunächst, im Geschäft mit dem<br />

Endkunden Fuß zu fassen – vor allem über<br />

niedrige Preise. „Danach werden sie ins<br />

Erstausrüstergeschäft einsteigen“, sagt Berger-Berater<br />

Grosse Kleimann, „durch den<br />

Aufbau von Technologiekompetenz und<br />

einer für den Endkunden relevanten Marke.“<br />

So wie Hankook das gelungen ist.<br />

Mit einem Einstieg bei Pirelli ließe sich<br />

der lange Weg zur starken Marke verkürzen.<br />

Vor Kurzem gab es Gerüchte, für die<br />

Anteile der Pirelli-Holding Camfin sei bereits<br />

ein Käufer gefunden. Das Gerücht<br />

wurde dementiert. Vorerst.<br />

n<br />

hans-juergen.klesse@wiwo.de<br />

58 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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FOTO: PLAINPICTURE/CULTURE<br />

Gefährlicher Topf<br />

DEUTSCHE BAHN | Vorstandschef Rüdiger Grube will die Investitionen<br />

des Unternehmens ins Schienennetz über einen staatlichen Fonds<br />

finanzieren – ein Vabanquespiel für den Steuerzahler.<br />

Als oberster Lobbyist seines Unternehmens<br />

schwimmt Bahn-Chef Rüdiger<br />

Grube derzeit auf der Erfolgswelle:<br />

eine stärkere Kontrolle des Schienenriesen<br />

durch die Netzagentur – <strong>vom</strong><br />

Bundesrat abgelehnt; die Trennung von<br />

Netz und Fahrbetrieb – <strong>vom</strong> EU-Parlament<br />

gestoppt; Zahlung der Ökostromumlage –<br />

die Bundesregierung will das verhindern.<br />

Den guten Lauf will der 62-Jährige gleich<br />

für den nächsten Coup nutzen: die Einrichtung<br />

eines milliardenschweren Fonds außerhalb<br />

des Bahn-Konzerns, der künftig einen<br />

Großteil der Instandhaltung von Gleisen<br />

und Bahnhöfen finanziert.<br />

In vertraulichen Unterlagen für den Aufsichtsrat,<br />

in die die WirtschaftsWoche Einblick<br />

nehmen konnte, wirbt Grube bereits<br />

ausgiebig für diese neue Form der „Infrastrukturfinanzierung“.<br />

Seine Idee: Künftig<br />

fließen die Gewinne des Schienennetzes<br />

und der Bahnhöfe in einen externen Topf,<br />

aus dem die Bahn dann Mittel für Investitionen<br />

ins Schienennetz abruft.<br />

DROHENDE LAST FÜR DEN BUND<br />

Der Vorschlag scheint auf den ersten Blick<br />

schlüssig, weil dadurch ein Mechanismus<br />

entsteht, der Gewinne der Bahn automatisch<br />

in deren Infrastruktur fließen lässt.<br />

Beim näheren Hinsehen ist jedoch offen,<br />

ob dadurch letztlich nicht der Steuerzahler<br />

noch stärker als bisher zur Kasse gebeten<br />

wird, um den Schienenverkehr hierzulande<br />

zu finanzieren. Nachdem Neubaustrecken<br />

ohnehin schon voll aus dem Bundeshaushalt<br />

bezahlt werden, drohen durch<br />

Grubes Fonds den Steuerzahlern nun weitere<br />

Belastungen beim Erhalt der Infrastruktur.<br />

Zurzeit teilen sich Bund und Bahn die<br />

Kosten der Instandhaltung des Schienennetzes<br />

zu gesetzlich vorgeschriebenen Teilen.<br />

So steht es in der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung<br />

(LuFV), die beide<br />

Seiten vor fünf Jahren abschlossen.<br />

Dem Pakt zufolge überweist der Bund jedes<br />

Jahr 2,5 Milliarden Euro für Ersatzinvestitionen<br />

an die Bahn, die dafür dem<br />

Steuerzahler garantiert, mit dem Geld das<br />

Netz in einem vereinbarten guten Zustand<br />

Heißes Eisen<br />

Bund droht<br />

Mehrbelastung<br />

Verantwortung ausgelagert<br />

WieBahn-ChefRüdiger Grubedie<br />

Finanzierungder Infrastrukturaus der<br />

Konzernbilanzbekommen will<br />

Eineinhalb Milliarden weniger<br />

Wiedie Deutsche Bahn dasbilanzierte<br />

gebundeneKapital reduzieren könnte,<br />

wennsie dieeigenen Aufwendungen für<br />

dieInstandhaltung desSchienennetzes<br />

aufeinen externen Fondsübertragen<br />

würde (inMilliarden Euro)<br />

23,8<br />

23,4<br />

23,0<br />

22,6<br />

22,2<br />

21,8<br />

Konzern<br />

Deutsche<br />

Bahn<br />

überweisen<br />

Gewinn<br />

Sparten:<br />

Schienennetz,<br />

Bahnhöfe<br />

<strong>2014</strong><br />

Quelle:DeutscheBahn<br />

finanziert<br />

Investitionen<br />

bilanziertes<br />

gebundenes<br />

Kapitalwie<br />

bisher<br />

Bund<br />

überweist Gewinn<br />

desSchienennetzes<br />

undder Bahnhöfe<br />

sowieDividende<br />

desFahrbetriebs<br />

zahlt<br />

Überweisungen<br />

der Bahn<br />

Infrastrukturfonds<br />

Entlastung des<br />

Anlagevermögens:<br />

1,5Milliarden Euro<br />

beiFinanzierungübereinen Fonds<br />

15 16 17 18<br />

zu halten. Gleichzeitig verpflichtet sich die<br />

Bahn, mindestens 1,5 Milliarden Euro pro<br />

Jahr aus der Konzernkasse beizusteuern –<br />

zwei Drittel davon als Beitrag zur Instandhaltung,<br />

ein Drittel als Ersatzinvestitionen<br />

wie neue Gleise, Weichen und Stellwerke.<br />

So schön diese Vereinbarung für die Gewinn-und-Verlust-Rechnung<br />

der Bahn ist:<br />

Weil das Unternehmen die 2,5 Milliarden<br />

Euro <strong>vom</strong> Bund nicht als Steigerung seines<br />

Anlagevermögens bilanziert, spart es sich<br />

entsprechende Abschreibungen, was wiederum<br />

den buchhalterischen Gewinn erhöht.<br />

Gleichwohl muss die Bahn aber immer<br />

noch die 500 Millionen Euro Eigenmittel<br />

für Ersatzinvestitionen aufwenden, die<br />

den Wert des Schienennetzes erhöhen –<br />

und damit auch die jährlichen Abschreibungen,<br />

die am Gewinn nagen.<br />

Um das zu verhindern, will Bahn-Chef<br />

Grube den Gewinn der Schienen- und<br />

Bahnhofssparte, der 2012 rund 360 Millionen<br />

Euro betrug, mithilfe seines Fonds in<br />

Zuschüsse verwandeln, die die Bahn dann<br />

jederzeit abrufen können soll. Zusammen<br />

mit Dividendenzahlungen aus dem Personen-<br />

und Güterverkehrsgeschäft soll der<br />

Fonds mit mindestens 400 Millionen Euro<br />

pro Jahr dotiert werden. Insgesamt würden<br />

auf diesem Wege die „investiven Eigenmittel“<br />

der Bahn auf rund <strong>10</strong>0 Millionen Euro<br />

im Jahr „reduziert“.<br />

Der Vorteil für den Staatsriesen: Er müsste<br />

diese Zuschüsse – wie die 2,5 Milliarden<br />

Euro Bundesmittel aus der LuFV – nicht als<br />

Wertsteigerung beim Schienennetz verbuchen.<br />

Das helfe, „das gebundene Kapital<br />

der Infrastruktur stabil zu halten beziehungsweise<br />

zu entlasten“, schreibt Grube<br />

in der Vorlage für den Aufsichtsrat. Dadurch<br />

stünden durch den Fonds 2018 rund<br />

1,5 Milliarden Euro weniger an gebundenem<br />

Kapital in der Bahn-Bilanz – mit entsprechend<br />

weniger Abschreibungen, die<br />

den Konzerngewinn schmälern.<br />

Für Grubes Manager hätte der Fonds<br />

auch praktische Vorteile. Sie könnten die<br />

Sanierung von Brücken, Weichen und Stellwerken<br />

besser planen und müssten das<br />

Geld <strong>vom</strong> Staat nicht bis Jahresende verbrauchen,<br />

damit es ihnen erhalten bleibt.<br />

Für den Steuerzahler wäre der Fonds jedoch<br />

„ein Vabanquespiel“, sagt ein hochrangiger<br />

Berliner Beamter. Denn was,<br />

wenn die Bahn etwa wegen Hochwassers<br />

nicht den erhofften Gewinn mache und<br />

den Fonds nicht füllen könne? „Damit“, so<br />

seine Prognose, „würde das wirtschaftliche<br />

Risiko voll auf den Bund abgewälzt.“ n<br />

christian.schlesiger@wiwo.de | Berlin<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 59<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Riskanter Schlussverkauf<br />

BANKEN | Schnell weg mit dem Schrott: Deutsche Banken werden Altlasten zurzeit deutlich besser los<br />

als erwartet. Die Folge: Finanzierungen in Milliardenhöhe wandern zu unregulierten Fonds.<br />

Mit 46 Stockwerken und mehr als<br />

200 Metern ragt der Heron Tower<br />

mächtig in den Himmel über London.<br />

Der imposante City-Bau ist auch ein<br />

Mahnmal für hochfliegende Pläne deutscher<br />

Immobilienbanken. 2007 hatte ihn<br />

die zur Commerzbank gehörende Eurohypo<br />

über einen Kredit von 250 Millionen<br />

Euro mitfinanziert.<br />

Sieben Jahre später sind die Wachstumsträume<br />

der Eurohypo geplatzt, neues Geschäft<br />

macht sie schon lange nicht mehr.<br />

Was übrig ist, wird abgewickelt. Das einstige<br />

Renommierprojekt Heron Tower ist<br />

schon weg. Im Sommer 2013 verkaufte die<br />

Commerzbank den Kredit zusammen mit<br />

anderen britischen Immobilienfinanzierungen<br />

auf einen Schlag: Die besseren gingen<br />

an die US-Bank Wells Fargo, die<br />

schlechteren an Finanzinvestor Lone Star.<br />

Das war der Auftakt zum beschleunigten<br />

bilanziellen Großkehraus. Die Altlasten in<br />

den Abbauabteilungen der Banken<br />

schrumpfen seitdem wie Eisberge im August.<br />

Was vor einem Jahr noch als Schrott<br />

und Giftmüll galt, flutscht problemlos weg<br />

– und das zu Preisen, mit denen die Institute<br />

selbst in optimistischen Szenarien kaum<br />

zu rechnen wagten. Doch der Ausverkauf<br />

hat auch eine Schattenseite: Werte in Milliardenhöhe<br />

wandern vor allem zu schwach<br />

regulierten und kontrollierten Fonds.<br />

UNTER BEOBACHTUNG<br />

Die Aufseher sehen dem Treiben mit gemischten<br />

Gefühlen zu. „Der Verkauf von<br />

Vermögenswerten an alternative Investoren<br />

ist nicht per se schlecht“, sagt der für Finanzstabilität<br />

zuständige Bundesbank-Vorstand<br />

Andreas Dombret. Allerdings könnten<br />

so außerhalb des Bankensystems systemische<br />

Risiken entstehen. „Für Deutschland<br />

lässt sich ein Aufbau solcher Risiken<br />

nicht feststellen, die Situation sollte aber<br />

weiter beobachtet werden“, sagt Dombret.<br />

Die Brosamen <strong>vom</strong> Bankentisch sind ein<br />

willkommenes Fressen für Fonds auf Renditesuche.<br />

„Einige Hedgefonds und Private-Equity-Gesellschaften<br />

haben Mittel eingeworben,<br />

die zum Teil spezifisch in notleidende<br />

Kredite in Europa angelegt werden<br />

sollen. Das Angebot der Verkäufer trifft auf<br />

große Nachfrage“, sagt Björn Storim, Bankenexperte<br />

bei Credit Suisse in Frankfurt.<br />

Die Käufe lohnen sich schon deshalb, weil<br />

Banken den Fonds oft die Hälfte und mehr<br />

des Kaufpreises leihen. Mit dem sogenannten<br />

Hebeleffekt durch die Fremdfinanzie-<br />

Alles muss raus<br />

Altlastendeutscher Banken<br />

(in Milliarden Euro)<br />

160<br />

Commerzbank Deutsche Bank<br />

Erste Abwicklungsanstalt (WestLB)<br />

FMS Wertmanagement (Hypo Real Estate)<br />

117 97<br />

151 143 136 124 116<br />

85 73 66 53<br />

94 87 82<br />

137 129<br />

76<br />

III IV I II III IV<br />

2012<br />

2013<br />

Quelle: Unternehmensangaben<br />

rung steigern die Fonds die Rendite auf das<br />

von ihnen eingesetzte Kapital.<br />

Die Papiere lassen sie liegen oder verkaufen<br />

sie häppchenweise weiter. Sie sind<br />

damit zwar aus den Bankbilanzen verschwunden.<br />

Doch über die Kaufkredite an<br />

die Fonds sind die Banken weiter im Risiko.<br />

Gerät ein Fonds in Schwierigkeiten – etwa<br />

weil Papiere deutlich an Wert verlieren –,<br />

drohen dem finanzierenden Institut Abschreibungen<br />

auf seinen Kredit. Das<br />

schreckt die Banken jedoch kaum. Ihre Finanzierungsbedingungen<br />

sind wieder<br />

ähnlich lax wie vor der Krise 2007.<br />

Damals waren die Preise vieler Vermögenswerte<br />

in der allgemeinen Panik ins Bodenlose<br />

gestürzt. Ganz so übel waren die<br />

Papiere oft aber doch nicht. Vor allem Verbriefungen<br />

von US-Krediten haben sich erholt.<br />

Einige, die in der Krise Wertabschläge<br />

von rund 60 Prozent erlebten, notieren<br />

heute wieder bei mehr als 90 Prozent. Die<br />

Schuldner waren nicht ganz so zahlungsschwach<br />

wie gedacht.<br />

Auch Finanzierungen für Gewerbeimmobilien<br />

haben sich erholt. „Investoren schätzen<br />

selbst riskantere Anlagen in Europa optimistischer<br />

ein als weniger riskante in den<br />

Schwellenländern“, sagt Christian Ossig, der<br />

bei der Royal Bank of Scotland in Frankfurt<br />

das Geschäft mit Finanzinstituten leitet. Zunächst<br />

konnten sich deutsche Banken den<br />

Verkauf – und die dann notwendigen Abschreibungen<br />

– dennoch kaum leisten und<br />

warteten ab. Das hat sich ausgezahlt. „Die<br />

Preise dürften bei vielen Vermögensklassen<br />

nur noch begrenzt steigen, sind aber so<br />

hoch, dass die Banken jetzt ohne große Verluste<br />

verkaufen können“, sagt Ossig.<br />

GIFTMÜLL IST GEFRAGT<br />

Der Druck ist groß, Altlasten rasch wertschonend<br />

zu verklappen. Die Banken müssen<br />

ihre Bilanzen verkleinern, um strengere<br />

Anforderungen an ihre Ausstattung mit<br />

Eigenkapital zu erfüllen. Auch wollen sie<br />

entspannter in den Stresstest gehen, mit<br />

dem die Europäische Zentralbank Ende<br />

des Jahres ihre Widerstandskraft prüft. Und<br />

nicht zuletzt fürchten sie, dass Eintrübungen<br />

der Konjunktur erneut zu deutlichen<br />

Wertverlusten ihrer Papiere führen.<br />

Allein 2013 reduzierte die Deutsche Bank<br />

die Vermögenswerte in ihrer Bad Bank von<br />

97 auf 53 Milliarden Euro. Zwar machte sie<br />

dabei drei Milliarden Euro Verlust, das gilt<br />

aber als verkraftbar. Die Commerzbank verkleinerte<br />

ihre Resterampe ebenfalls deutlich<br />

schneller als geplant von mehr als 150<br />

auf 116 Milliarden Euro. Auch Landesbanken<br />

wie die BayernLB und die Landesbank<br />

Baden-Württemberg spurteten kräftig mit.<br />

Die Gunst der Stunde nutzen auch die<br />

staatlichen Abbauhalden. In der FMS Wertmanagement<br />

lagern die Überreste des Immobilienfinanzierers<br />

Hypo Real Estate, die<br />

EAA in Düsseldorf verwaltet die Altlasten<br />

der WestLB. Beide sollen die übernommenen<br />

Papiere wertschonend und ohne Zeitdruck<br />

verschwinden lassen. Vieles geht<br />

jetzt weg. Denn die Preise haben oft schon<br />

den Wert erreicht, bei dem die internen<br />

Analysten auf Verkauf schalten. Auf eine<br />

weiterer Erholung wollen sie nicht pokern.<br />

So ist die EAA ihren Planungen zwei Jahre<br />

voraus. Besonders flott wurde sie 2013<br />

FOTO: LAIF/GALLERY STOCK/RICK HENDRY<br />

60 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Immobilienfinanzierungen los. Sie reduzierten<br />

sich um fünf Milliarden Euro – das<br />

sind fast 30 Prozent. Selbst ihr „Phoenix-<br />

Portfolio“, in dem vor allem auf US-Immobilienkrediten<br />

basierende Wertpapiere lagern,<br />

hat sich schon um 40 Prozent auf<br />

knapp 14 Milliarden Euro reduziert. Dabei<br />

galt es unter Bankern als eine der giftigsten<br />

aller toxischen Wertpapierhalden. Die Verluste<br />

liegen bisher bei 1,4 Milliarden Euro<br />

statt der kalkulierten fünf Milliarden.<br />

Im internationalen Vergleich hinkt<br />

Deutschland hinterher. Viele Resterampen<br />

im Ausland sind bereits komplett aufgelöst.<br />

So hat die US-Notenbank Fed die sogenannten<br />

„Maiden Lane“-Portfolios, in denen<br />

die riskanteren Vermögenswerte des<br />

Renner auf der Resterampe<br />

Von der Commerzbank<br />

finanzierter Heron Tower<br />

in London<br />

Die Brosamen <strong>vom</strong> Bankentisch sind<br />

ein willkommenes Fressen<br />

gestrauchelten Versicherers AIG lagen,<br />

schon im Sommer 2012 mit Milliardengewinn<br />

verkauft. Im April 2013 hatte Belgien<br />

die „Royal Park“ genannte Bad Bank der<br />

gescheiterten Fortis-Bank an die Schweizer<br />

Credit Suisse und den Finanzinvestor Lone<br />

Star abgestoßen. Bis Anfang Februar verkaufte<br />

der niederländische Staat sämtliche<br />

Wertpapiere aus der Bad Bank der ING –<br />

mit mehr als einer Milliarde Euro Gewinn.<br />

Statt großer Befreiungsschläge wird in<br />

Deutschland mehr im Detail gewerkelt.<br />

Die meisten Kreditpakete haben eine Größe<br />

von um die 200 Millionen Euro, sie gehen<br />

in Auktionen meistbietend weg. Einige<br />

richtig große Brocken dürften noch dazukommen.<br />

So verhandelt die Commerzbank<br />

aussichtsreich mit Finanzinvestoren<br />

über den Verkauf aller spanischen Immobilienkredite<br />

im Wert von mehr als vier<br />

Milliarden Euro. Wie es in Finanzkreisen<br />

heißt, sollen danach die Immobilienportfolios<br />

weiterer Länder folgen.<br />

SCHIFFE IN SEENOT<br />

Der Ausverkauf gestaltet sich dadurch geschmeidig,<br />

dass die Käufer genau wissen,<br />

was sie bekommen. „Die Banken kennen<br />

ihre Portfolios seit Jahren und können<br />

schnell volle Transparenz bieten“, sagt<br />

Reinhard Eyring, Senior Partner der Kanzlei<br />

Ashurst in Deutschland. Aufwendige<br />

Prüfungen entfallen. Um Käufern die Übernahme<br />

schmackhaft zu machen, sind die<br />

Institute bereit, Risiken wie einen überraschend<br />

starken Wertverlust mitzutragen.<br />

Das gilt etwa für Schiffskredite. Bisher<br />

schwappten alle Erholungswellen an ihnen<br />

vorbei, größere Verkäufe gab es kaum. Die<br />

Commerzbank konnte im Dezember immerhin<br />

14 Chemikalientanker an den Finanzinvestor<br />

Oaktree veräußern. Auch die<br />

HSH Nordbank kommt bisher nur auf zwei<br />

Transaktionen. Zwar gibt es leichte Erholungstendenzen.<br />

Doch wenn sich Investoren<br />

engagieren, tun sie das am liebsten bei<br />

neuen Kähnen. Die Not bleibt groß.<br />

„Viele Kredite sind notleidend, die Preise<br />

sind immer noch niedrig“, sagt Jacob Lyons,<br />

Geschäftsführer von CR Investment<br />

Management in London. Das Unternehmen<br />

hat in Deutschland etwa die Verwertung<br />

der Immobilien der insolventen Kaufhauskette<br />

Hertie übernommen und Schiffe<br />

als neues Betätigungsfeld entdeckt. Das<br />

Angebot reicht von der Hilfe bei der Investorensuche<br />

bis zur Übernahme und finanziellen<br />

Restrukturierung einzelner Schiffe,<br />

die später weiterverkauft werden sollen.<br />

„Solange die Schiffe bei ihren ursprünglichen<br />

Eigentümern verbleiben, haben die<br />

Banken oft kaum Einfluss auf das Schicksal<br />

ihrer Finanzierungen“, sagt Lyons.<br />

Wie viel Mühe die Schnäppchen von der<br />

Resterampe den Käufern bereiten können,<br />

zeigt der Londoner Heron Tower. Dessen<br />

Erbauer hatten die Nachfrage überschätzt,<br />

rund 40 Prozent der Büroflächen waren<br />

Ende 2013 noch unvermietet. Wegen einer<br />

entsprechenden Klausel wurde der Kredit<br />

fällig, es folgten zähe Verhandlungen, die<br />

Banken prüften sogar einen Notverkauf.<br />

Letztlich sprang das US-Unternehmen<br />

Starwood mit einer 350-Millionen-Euro-<br />

Finanzierung ein. Starwood ist, wie könnte<br />

es anders sein, ein Private-Equity-Fonds. n<br />

cornelius.welp@wiwo.de | Frankfurt<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 61<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Aufsteigende Winde<br />

LUFTFAHRT | Knapp 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg versucht Japans Flugzeugindustrie ein<br />

Comeback. Wie gut sind die Chancen der neuen Jets gegen die etablierte Konkurrenz?<br />

Fliegender Sportwagen<br />

Der Hondajet macht dank der<br />

oberhalb der Flügel montierten<br />

Motoren weniger Lärm<br />

Freunden der bald beginnenden japanischen<br />

Kirschblüte empfehlen Insider<br />

für das Hanami genannte Picknick<br />

zu diesem Anlass unter anderem den<br />

Joyama-Park in der mitteljapanischen Industriestadt<br />

Nagoya. „Das ist für Kenner“,<br />

lobt Kaneyuki Ono, Chef der Japanischen<br />

Fremdenverkehrszentrale in Frankfurt.<br />

Teruaki Kawai wird davon in diesem<br />

Jahr wenig mitbekommen. Denn der Manager<br />

dürfte den größten Teil seiner Zeit<br />

statt unter den zartrosa Blättern der<br />

Kirschbäume in einer grell erleuchteten<br />

Halle verbringen. Dort, im Komaki South<br />

genannten Gelände im Norden Nagoyas,<br />

leitet Kawai für den Schwerindustriekonzern<br />

Mitsubishi den Bau eines neuen Flugzeugs,<br />

des für 70 bis 90 Passagiere ausgelegten<br />

Mitsubishi Regional Jets (MRJ).<br />

„Den Rumpf haben wir bereits montiert,<br />

und bald kommen die Flügel“, freut sich<br />

der Manager. „Und in spätestens einem<br />

Jahr wollen wir fliegen.“<br />

Ähnliche Freude spürt Michimasa Fujino,<br />

der den Bau des Hondajet genannten<br />

Privatjets des Autokonzerns Honda leitet.<br />

Ende 2013 erhielt er wichtige Zulassungen.<br />

„Das zeigt unseren stetigen Fortschritt“,<br />

sagt der Honda-Manager mit Stolz<br />

über den Flieger, bei dem die Triebwerke<br />

ungewöhnlich montiert sind, nämlich auf<br />

der Ober- statt der Unterseite der Flügel.<br />

„Nun erwarten wir die endgültige Betriebserlaubnis<br />

Anfang 2015 und die ersten<br />

Auslieferungen an den Kunden kurz<br />

darauf.“<br />

Gefeiert werden diese Termine in ganz<br />

Japan. Denn die beiden Jets sollen knapp<br />

70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs<br />

erstmals wieder einen japanischen Herstellernamen<br />

in die Luft bringen und eine<br />

Wiedergeburt der japanischen Flugzeugbranche<br />

einleiten. Beim MRJ ist auch deutsche<br />

Technik an Bord: Die Türen baut Airbus<br />

in München, und für die neuen sparsamen<br />

Triebwerke des US-Herstellers Pratt &<br />

Whitney liefert die Münchner MTU mit der<br />

anspruchsvollen Niederdruckturbine einen<br />

zentralen Bestandteil.<br />

ANSCHUB AUS DEN USA<br />

Die Euphorie in Japan ist groß. „Als Kind<br />

dachte ich, Japan wird nie wieder ein Flugzeug<br />

bauen. Nun sind wir stolz, dass endlich<br />

auch wir wieder in dieses Gebiet vorstoßen<br />

können“, sagt MRJ-Chef Kawai. Die<br />

Rückkehr in die Flugwelt feiert sogar<br />

ein eigener Film. Der berühmte<br />

Zeichentrick-Regisseur Hayao<br />

Miyazaki erinnert in seinem<br />

jüngsten Kinoerfolg „Der Wind<br />

steigt auf“ an Nippons glorreiche<br />

Flugbranche und den Ingenieur<br />

Jiro Horikoshi als genialen Konstrukteur<br />

des Jagdflugzeugs Zero<br />

aus den Vierzigerjahren.<br />

Videos<br />

Sehen Sie hier<br />

in unserer<br />

App-<strong>Ausgabe</strong> die<br />

neuen japanischen<br />

Jets in Aktion<br />

Der emotionale Streifen ist hoffentlich<br />

kein Omen für den Neustart. Horikoshis<br />

Zero war mit seiner damals revolutionären<br />

Technik nicht nur Höhepunkt japanischer<br />

Ingenieurkunst über den Wolken, sondern<br />

auch ein Grund für deren Aus. Denn die<br />

Flugzeuge waren das Rückgrat der japanischen<br />

Angriffsarmee, ob beim Überfall auf<br />

die US-Marinebasis Pearl Harbour oder<br />

beim Feldzug in Ostasien. Daher stoppten<br />

die USA nach Kriegsende Japans Flugzeugbranche<br />

inklusive des zivilen Zweigs, damit<br />

der nicht zur Grundlage einer neuen Aufrüstung<br />

werden konnte.<br />

Der Neustart ging bereits zweimal daneben.<br />

Von 1962 bis 1974 fertigte ein staatlich<br />

gefördertes Konsortium um Industriekonzerne<br />

wie Fuji und Mitsubishi von dem für<br />

60 Passagiere ausgelegten Propellerflieger<br />

YS-11 gerade mal 182 Exemplare. Der Miniflieger<br />

MU-2 von Mitsubishi verkaufte zwar<br />

gut 700 Exemplare, davon viele ans eigene<br />

Militär. Doch am Ende sorgten technische<br />

Probleme wie ein undichter Rumpf,<br />

wackelige Tragflächen und unzuverlässige<br />

Klimaanlagen für ein<br />

vorzeitiges Ende. „So fertigte Japan<br />

zwar High-Tech-Produkte wie<br />

Computer und Autos, aber als<br />

einziges führendes Industrieland<br />

keine Verkehrsflugzeuge“, sagt der<br />

US-Luftfahrtexperte<br />

Aboulafia.<br />

Richard<br />

FOTO: PR<br />

62 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Die Chance auf einen Neuanfang bot<br />

sich, als der US-Hersteller Boeing in den<br />

Neunzigerjahren Partner für ein neues<br />

Langstreckenflugzeug suchte. Der weltgrößte<br />

Flugzeugbauer scheute die Kosten<br />

von zunächst gut zehn Milliarden Dollar.<br />

Die drei Schwerindustriekonzerne Mitsubishi,<br />

Fuji und Kawasaki sowie rund 30<br />

weitere Zulieferer übernahmen zusammen<br />

rund ein Drittel des Risikos und bauten<br />

den Flügel, einen Teil des Rumpfs sowie<br />

des Fahrwerks des heute Boeing 787 genannten<br />

Leichtbaufliegers. Tokio förderte<br />

das Projekt mit mehreren Milliarden Dollar.<br />

Damit, so die Erwartung, lernen die<br />

drei Konzerne den modernen Flugzeugbau<br />

und schaffen die Keimzelle für eigene Jets.<br />

Als erster Konzern fasste Mitsubishi 20<strong>03</strong><br />

den Mut für ein eigenes Flugzeug und gewann<br />

andere Giganten wie den Autoriesen<br />

Toyota und Fuji Heavy als Partner. Zu guter<br />

Letzt schoss Tokio mindestens ein Viertel<br />

der Entwicklungskosten von geschätzten<br />

zwei Milliarden Dollar zu.<br />

„Das Konsortium hat gute Ingenieure“,<br />

lobt Aboulafia die Technik. Der laut Listenpreis<br />

42 Millionen Dollar teure Japan-Jet soll<br />

deutlich leiser und sparsamer sein als andere<br />

Passagierflieger. Dabei verzichtete das<br />

Konsortium auf Neuerungen wie leichte,<br />

aber weniger erprobte Verbundwerkstoffe,<br />

die sich auf der Kurzstrecke weniger rentieren<br />

und die brandanfälligen, leichten Lithium-Ionen-Batterien,<br />

die der Boeing 787 zu<br />

schaffen machen. Stattdessen nutzt der MRJ<br />

neue leichte Aluminiumlegierungen und<br />

konventionelle Hochleistungsakkus. Zudem<br />

versprechen die Hersteller den Kunden<br />

mehr Kabinenkomfort durch breitere Sitze<br />

und mehr Stauraum.<br />

Ähnlich ging Hondajet-Chef Fujino vor.<br />

Sein Jet setzt auf niedrigen Verbrauch<br />

Flugzeugtyp/<br />

Land<br />

Passagiere<br />

Kabine (Höhe/Breite)<br />

Reichweite<br />

Erstflug<br />

Länge<br />

Preis<br />

Quelle: Unternehmensangaben<br />

durch neue Materialien und einen Design-<br />

Gag. Die Motoren sitzen unkonventionell<br />

an einer Halterung auf der Oberseite der<br />

Tragflächen. So strahlt die Maschine besonders<br />

beim Start weniger Lärm nach unten.<br />

Und die Passagiere müssen weniger<br />

Stufen in die Kabine steigen, weil die Maschine<br />

ohne die hängenden Turbinen weniger<br />

Bodenfreiheit braucht.<br />

„Von der Technologie und Konstruktion<br />

her sind japanische Flugzeugbauer top“, urteilt<br />

der Hamburger Luftfahrtexperte Heinrich<br />

Großbongardt. „Doch ob das reicht, ist<br />

fraglich.“<br />

Der neue Jetset<br />

Dieneue Generation von Mittelstreckenflugzeugen im Vergleich<br />

MRJ Bombardier C-Series Embraer E-Jet E2 Suchoi Superjet<br />

78–92<br />

2,01/2,76 m<br />

3400 km<br />

2015<br />

36 m<br />

42 Mio.$<br />

<strong>10</strong>8–160<br />

2,11/3,28 m<br />

5500 km<br />

2013<br />

35–38 m<br />

62–71 Mio.$<br />

165 Bestellungen<br />

hat Jetneuling Mitsubishi<br />

im Orderbuch – statt der<br />

erhofften 5000<br />

Zum einen übernahmen sich die Neulinge<br />

beim Sprung <strong>vom</strong> Zulieferer zum Systemhersteller<br />

und kommen nun wie Mitsubishi<br />

mindestens vier Jahre verspätet auf<br />

den Markt. „Wir hatten wenig Erfahrung“,<br />

gesteht MRJ-Präsident Kawai. Das Unternehmen<br />

bestellte etwa Komponenten verspätet<br />

und verlor in der Konstruktion die<br />

Übersicht. Noch schwieriger war die Zulassung.<br />

„Weder die Regierung noch wir<br />

wussten, wie sich die Sicherheit eines Flugzeugs<br />

nachweisen lässt“, sagt Kawai.<br />

Honda fliegt fast zehn Jahre hinter Plan,<br />

weil der Konzern den 20<strong>03</strong> vorgestellten<br />

Prototyp noch mal überarbeiten musste.<br />

Ein Grund war das ungewöhnliche Design<br />

80–144<br />

2,00/2,75 m<br />

5200 km<br />

2017<br />

32–41,5 m<br />

40–50 Mio.$<br />

68–1<strong>03</strong><br />

2,12/3,40 m<br />

4600 km<br />

2008<br />

30 m<br />

35 Mio.$<br />

sowie das Triebwerk. Der Motor bekam<br />

nach technischen Problemen später als erhofft<br />

die Zulassung.<br />

Zudem schätzten die Jet-Novizen den<br />

Markt falsch ein. Beim Start der Programme<br />

um die Jahrtausendwende suchten die<br />

Fluglinien sparsame Regionaljets, um viele<br />

kleinere Orte an ihre Drehkreuze anzubinden.<br />

Damals wollte Mitsubishi innerhalb<br />

von 20 Jahren bis zu 5000 Jets verkaufen.<br />

Doch die Nachfrage sank rapide, als der Kerosinpreis<br />

von rund 50 Dollar pro Tonne im<br />

Jahr 2000 auf das 30-Fache explodierte und<br />

immer weniger Nebenstrecken Geld abwarfen.<br />

Dazu kauften die verbliebenen<br />

Kunden lieber bei etablierten Konkurrenten<br />

wie Bombardier als beim Neuling Mitsubishi.<br />

So schmolz die Bestellliste auf bescheidene<br />

165 Jets. „Zu wenig, um die Kosten<br />

für Konstruktion und Bau zu verdienen“,<br />

sagt Experte Großbongardt.<br />

Noch schlimmer war der Einbruch bei<br />

den Privatjets. „Um 2006 war die Nachfrage<br />

so groß, dass sich ein <strong>vom</strong> Hersteller zugesagter<br />

Liefertermin mit einem gewaltigen<br />

Aufpreis verkaufen ließ“, erinnert sich<br />

Großbongardt. Heute haben selbst etablierte<br />

Hersteller wie Cessna Probleme, dass<br />

ihre Kunden bestellte und mit Millionen<br />

angezahlte Jets auch wirklich abnehmen.<br />

Honda und Mitsubishi hoffen nun auf<br />

Aufträge aus Europa und Schwellenländern<br />

wie China. Hondas Fluggeschäft wolle<br />

schon 2019 schwarze Zahlen schreiben,<br />

sagt dessen Chef Fujino. Man habe für den<br />

„fliegenden Sportwagen“ genug Aufträge<br />

für die kommenden zwei bis drei Jahre und<br />

wolle von 2016 an gar 1<strong>10</strong> Flieger pro Jahr<br />

bauen. Die Hoffnung: Aus den bislang privaten<br />

Geschäftsflugzeugen könnten in einigen<br />

Jahren Lufttaxen für der Linienfliegerei<br />

überdrüssige Reiche werden. „Wir sind<br />

wegen der japanischen Produktionsqualität<br />

gefragt“, sagt Fujino.<br />

Mitsubishi erhofft sich den Stimmungsumschwung,<br />

wenn die Maschine das erste<br />

Mal abhebt und die Fluglinien sehen, dass<br />

sie zuverlässig funktioniert. Auch wenn der<br />

Konzern das noch nicht bestätigen will: Intern<br />

wächst die Zuversicht, dass der MRJ<br />

bereits im Herbst erstmals fliegt, ein halbes<br />

Jahr früher als geplant.<br />

Und sollten die aktuellen Modelle kein<br />

großer Erfolg werden, sei das trotz der hohen<br />

Kosten nicht das Ende, sagt Kawai.<br />

Dann komme eben das nächste japanische<br />

Flugzeug: „Das wird wieder ein kleinerer<br />

Jet sein, nur noch besser.“<br />

n<br />

ruediger.kiani-kress@wiwo.de, martin.fritz@wiwo.de | Tokio<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 63<br />

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Spezial | Cebit<br />

Von Spähern<br />

und Spannern<br />

SMART HOME | Türschloss, Lampe, High-Tech-WC – immer mehr Alltagsgeräte bekommen<br />

Internet-Zugang. Eine Exklusivstudie für die WirtschaftsWoche aber zeigt, das<br />

vernetzte Haus hat teils massive Sicherheitslücken. Sie werden zum Einfallstor für Hacker.<br />

Die Revolution der Wirtschaft hat einen<br />

Namen: Digital Transformation. Wir diskutieren<br />

den Wandel hier im Cebit-Spezial,<br />

etwa am Beispiel Big Data (siehe Seite 70<br />

und 74) sowie mit Texten zum Online-Studium<br />

(siehe Seite 80) oder zur Digitalisierung<br />

der Beraterbranche (siehe Seite 84).<br />

Haben auch Sie dank digitaler Technologien<br />

Kunden gewonnen, Ihr Geschäftsmodell<br />

modifiziert oder Kosten gesenkt? Bewerben<br />

Sie sich beim Digital Transformation Award<br />

der WirtschaftsWoche: www.dt-award.de<br />

Thomas Hatley lag noch im Bett, als<br />

eines Morgens im vergangenen<br />

Sommer das Telefon klingelte.<br />

„Darf ich das Licht in Ihrem<br />

Schlafzimmer einschalten?“, fragte<br />

die Frau am anderen Ende der Leitung<br />

den verblüfftem Hausbesitzer aus dem US-<br />

Westküstenstaat Oregon.<br />

Sie heiße Kashmir Hill, erklärte die Dame,<br />

rufe aus dem gut 800 Kilometern entfernten<br />

San Francisco an und könne die Lampen in<br />

Hatleys Haus via Internet steuern. „Und, verflucht,<br />

sie konnte es“, sagt Hatley, der sich<br />

fast in einem Horrorstreifen wähnte.<br />

Eigentlich wollte Hatley das Licht übers<br />

Netz schalten, um Einbrecher abzuschrecken.<br />

Daher koppelte der Technik-Fan seine<br />

Lampen mit der Smart-Home-Box des US-<br />

Herstellers Insteon, mit der sich neben der<br />

Beleuchtung auch Haushaltsgeräte steuern<br />

lassen. Dass das Gerät eine gravierende Sicherheitslücke<br />

hatte, machte ihm erst der<br />

Anruf von Hill klar, die hauptberuflich nicht<br />

als Poltergeist, sondern als Reporterin beim<br />

US-Magazin „Forbes“ arbeitet.<br />

„Insteon hatte die Benutzer- und Passwortabfrage<br />

nicht aktiviert“, sagt Hill. Inzwischen<br />

habe der Hersteller die Funktion<br />

nachgerüstet, so die Computerspezialistin.<br />

Doch bis zum vergangenen Sommer fand<br />

sich die entsprechende Empfehlung nur in<br />

der Gebrauchsanweisung, moniert Hill:<br />

„Und Hand aufs Herz, wer liest die schon?“<br />

Besser wäre es. Denn Smart Homes sind<br />

das nächste große Angriffsziel von Hackern<br />

und anderen digitalen Dunkelmännern.<br />

Vorbei die Zeiten, in denen nur PCs und<br />

Server sich zum weltumspannenden Web<br />

verbanden. Das Internet verlässt die klassischen<br />

Rechnerwelten und durchdringt unseren<br />

Alltag auf nie gekannte Weise. Die<br />

nächste Generation der Vernetzung wird<br />

Realität:das Internet der Dinge.<br />

Der Trend ist eines der Top-Themen auf<br />

der Computermesse Cebit, die diesen Montag<br />

wieder in Hannover die Tore öffnet.<br />

Per App Lampen zu steuern ist nur eine<br />

von immer mehr Optionen. Schon öffnen<br />

sich Rollladen, sobald die Sonne aufgeht;die<br />

Uhrzeit liefert das Web. Thermometer lernen,<br />

wann die Bewohner zu Hause sind –<br />

und regeln die Heizung. Bewegungsmelder<br />

warnen übers Handy, wenn sich daheim<br />

Ungewöhnliches tut. Fenster und Türen<br />

schicken SMS, wenn jemand sie öffnet.<br />

Während das klassische Computergeschäft<br />

bestenfalls stagniert, verspricht sich<br />

die IT-Welt von der Vernetzung des trauten<br />

Heims munter sprudelnde Erlöse: Knapp<br />

15,2 Milliarden Dollar, erwarten die US-<br />

Marktforscher von Zpryme Research, werden<br />

2015 weltweit mit Smart-Home-Technik<br />

umgesetzt. 2012 war es ein Drittel. Und<br />

auch, dass der Internet-Riese Google im Januar<br />

für 3,2 Milliarden Dollar den Smart-<br />

Home-Spezialisten Nest Labs übernahm,<br />

zeigt, welches Potenzial die Branche im Geschäft<br />

mit smarten Haushalten sieht.<br />

Und das wohl zu Recht: Laut einer gerade<br />

veröffentlichten Studie des Marktforschers<br />

Fittkau & Maaß Consulting sind 78 Prozent<br />

der Deutschen an Smart-Home-Technik interessiert,<br />

allem voran zum Steuern von Heizungen,<br />

Fenstern und Beleuchtung.<br />

SCHNELLIGKEIT VOR SICHERHEIT<br />

Dem großen Interesse auf Käuferseite steht<br />

allerdings bei vielen Anbietern ein offenbar<br />

geringes Bewusstsein für die Risiken der Vernetzung<br />

gegenüber: Beispiele wie das von<br />

Insteon zeigten, so moniert Maik Morgenstern,<br />

„dass es manchem Hersteller zunächst<br />

wichtiger ist, Smart-Home-Technik<br />

schnell auf den Markt zu bringen, erst später<br />

denkt er an Sicherheit“. Der 31-jährige Diplom-Ingenieur<br />

ist technischer Leiter beim<br />

Magdeburger IT-Sicherheitsberater AV-Test.<br />

Das Unternehmen überprüft für Softwarehersteller<br />

deren Schutzprogramme, Virenfilter<br />

und Firewalls auf Sicherheitslücken.<br />

Basierend auf diesem Know-how, hat AV-<br />

Test exklusiv für die WirtschaftsWoche sieben<br />

aktuell in Deutschland verfügbare<br />

Smart-Home-Systeme auf Schwachstellen<br />

gegen Zugriffe von Fremden, Hackerattacken<br />

oder den Einbruch von Online-<br />

Spionen getestet (siehe Tabelle Seite 68).<br />

Mit sehr durchwachsenen Ergebnissen:<br />

Während die Magdeburger drei der jeweils<br />

90 bis 300 Euro teuren Einsteigerpakete eine<br />

ILLUSTRATION: NICHOLAS BLECHMAN<br />

64 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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„gute“ bis „sehr hohe“ Sicherheit gegen Hackerangriffe<br />

attestieren, bieten die vier übrigen<br />

Systeme nur „niedrigen“ oder gar nur<br />

„sehr niedrigen“ Schutz gegen Attacken.<br />

Sehr hohen Schutz bieten sowohl Elements,<br />

das Überwachungssystem der Ex-Siemens-Tochter<br />

Gigaset, als auch das Smart-<br />

Home-Paket des Energieversorgers RWE.<br />

Das ermöglicht unter anderem, Licht, Heizung<br />

und Bewegungsmelder per App und<br />

über ein Online-Portal zu steuern. Mit „Gut“<br />

schneidet das Qivicon-System ab, das die<br />

Deutsche Telekom mit Partnern vertreibt.<br />

15 Milliarden Dollar<br />

werden 2015 mit Smart-<br />

Home-Technik umgesetzt<br />

„Manipulationen durch Externe sind nach<br />

dem aktuellen Stand der Technik ausgeschlossen,<br />

der Durchgriff auf die Geräte im<br />

Haus nicht möglich“, urteilen die AV-Tester.<br />

Und sie verweisen auf die Herkunft der<br />

Technik: „Es ist augenfällig, dass alle weitgehend<br />

sicheren Systeme in Deutschland konzipiert<br />

wurden“, sagt Morgenstern. Offensichtlich<br />

spiegele sich das deutsche Verständnis<br />

<strong>vom</strong> Schutz der Privatsphäre auch<br />

in der Sicherheitsphilosophie wider.<br />

Gigaset, RWE und Qivicon betonen denn<br />

auch, spezialisierte Dienstleister – eine<br />

200 Milliarden vernetzte<br />

Geräte sind 2020<br />

Teil des Internets der Dinge »<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 65<br />

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Spezial | Cebit<br />

»<br />

Art guter Hacker – vor dem Marktstart wochenlang<br />

auf ihre Produkte angesetzt zu haben.<br />

„Auch Technik von Partnern haben wir<br />

erst nach ähnlichen Prüfungen freigegeben“,<br />

sagt RWE-Manager Harald Fletcher. Um die<br />

Systeme gegen Zugriffe durch ausländische<br />

Spitzel zu sichern, laufen die Web-Dienste<br />

von Qivicon und Gigaset auf deutschen Servern<br />

der Telekom-Tochter T-Systems.<br />

Solch ein Gefahrenbewusstsein fehlt den<br />

übrigen Systemen nach Ansicht der Tester.<br />

Dort passten die europäischen Anbieter in<br />

Fernost entwickelte Hard- und Software allenfalls<br />

an den hiesigen Markt an, hätten<br />

aber kaum Einfluss auf die Sicherheit.<br />

GEFÄHRLICHER IRRTUM<br />

„Teils nutzten Hersteller nicht einmal etablierte<br />

Standards zur Verschlüsselung der<br />

Verbindung“, wundert sich Morgenstern.<br />

Zum Teil müssen sich Benutzer, wenn sie auf<br />

die Module zugreifen, nicht einmal authentifizieren<br />

– ähnlich wie bei Thomas Hatleys<br />

Insteon-System. Und selbst wenn das bei der<br />

Fernsteuerung übers Internet vorgesehen<br />

ist, wie beim Xavax-Max-System von Hama,<br />

werde das Passwort unverschlüsselt gesendet,<br />

kritisiert der IT-Experte. „Da kann jeder<br />

leidlich versierte Hacker mitlesen.“<br />

Schlechte Noten gibt es sogar für die Systeme<br />

im Test, die gar keinen Fernzugriff via<br />

Internet zulassen, sondern die der Hausbesitzer<br />

nur aus seinem WLAN-Netz steuern<br />

kann. Denn dass das Hacker draußen hält,<br />

ist ein gefährlicher Irrtum. Sobald es Angreifern<br />

nämlich gelingt, Sabotage- oder<br />

Schnüffelprogramme ins private Netz einzuschleusen,<br />

surfen Fremde auch hinter<br />

der Firewall unbemerkt mit. Dazu kann es<br />

genügen, mit schlecht gesicherten PCs<br />

Web-Seiten aufzurufen, auf der Schadsoftware<br />

lauert.<br />

Außerdem sind auch in Deutschland<br />

noch millionenfach WLAN-Router installiert,<br />

die nicht oder nur über Standardpasswörter<br />

gesichert sind. Im einen wie im anderen<br />

Fall steht die vermeintlich private Smart-<br />

Home-Technik dann auch Spitzeln offen.<br />

Wenn dann – wie bei den Systemen iComfort<br />

von REV Ritter und tapHome von Euroi-<br />

Style – Verschlüsselung gar nicht erst vorgesehen<br />

ist oder zumindest Passwörter unverschlüsselt<br />

übertragen werden, haben Hacker<br />

leichtes Spiel. Sie können protokollieren,<br />

wann der Hausbesitzer Strom, Licht<br />

oder Heizung schaltet, und wissen so, wann<br />

Versierte Hacker<br />

nutzen vernetzte<br />

Fernsehgeräte<br />

heimlich als<br />

Spionagekameras<br />

er das Haus verlässt. Und sobald niemand<br />

mehr zu Hause ist, kann der Angreifer auch<br />

noch die vernetzte Alarmanlage stromlos<br />

schalten, um die Wohnung leerzuräumen.<br />

SPANNER IM KINDERZIMMER<br />

Um solche Mängel zu beheben, musste Insteon<br />

einen großen Teil seiner Smart-Home-<br />

Anlagen zurückrufen und umrüsten. Nachgerüstet<br />

hat auch der Hersteller des in den<br />

USA vertriebenen Plastikhasen Karotz. Der<br />

elektronische Spielgeselle ermöglicht Eltern<br />

per Web-Cam den Blick ins Kinderzimmer –<br />

aber auch Hackern. Das demonstrierten IT-<br />

Experten im vergangenen Sommer auf der<br />

Sicherheitskonferenz Black Hat in Las Vegas.<br />

Die IT-Spezialistin Jennifer Savage leitete Videos<br />

und Tonaufnahmen aus dem per<br />

Smartphone-App steuerbaren Hasen auf einen<br />

fremden Rechner um. „Was eigentlich<br />

Eltern einen beruhigenden Blick auf den<br />

Nachwuchs ermöglichen soll, wird so unversehens<br />

zum Guckloch für Spione oder Spanner“,<br />

warnte sie.<br />

Ähnlich bedrohlich ist das Szenario, das<br />

Daniel Crowley, Softwarespezialist beim Beratungsunternehmen<br />

Trustwave Spider<br />

Labs in Las Vegas, demonstrierte: Er schaltete<br />

sich in die Kommunikation zwischen<br />

Smartphone und einem unzulänglich gesicherten<br />

elektronischen Türschloss. Damit<br />

konnte er nicht nur die Türe aus der Ferne<br />

entsperren, sondern sogar den Zugangscode<br />

ändern. „Falls jemand so in Ihr Haus eindringt,<br />

und keine Spuren hinterlässt, wie<br />

wollen Sie das bei Polizei oder Versicherung<br />

nachweisen?“, fragte Crowley.<br />

Eher skurril als wirklich gefährlich – im<br />

Zweifel aber schmerzhaft und teuer – sind<br />

Attacken auf die immerhin rund 5000 Dollar<br />

teure High-Tech-Toilette Satis des japanischen<br />

Herstellers Lixil. Auch die nämlich ist<br />

inzwischen als Bestandteil des Internets der<br />

Dinge per Handy bedienbar. Den Deckel zu<br />

öffnen oder zu schließen zählt noch zu den<br />

unverdächtigen Fernsteuerfunktionen.<br />

Doch wer will, so demonstrierten die Black-<br />

Hat-Hacker, kann auch die Kontrolle über<br />

Bidetbrause oder Gesäßfön übernehmen.<br />

Und wenn digitale Angreifer das WC im Urlaub<br />

auf Dauerspülen schalten, geht die Attacke<br />

sogar richtig ins Geld.<br />

Die Suche nach potenziell angriffsgefährdeten<br />

IT-Systemen unter den Abermilliarden<br />

vernetzten Rechnern im Internet ist einfacher,<br />

als es für den Laien scheinen mag.<br />

Spezielle Dienste, etwa die Suchmaschine<br />

Shodan, fungieren wie eine Art Google der<br />

Online-Schwachstellen. Sie verzeichnen die<br />

online erreichbaren Computersysteme,<br />

»<br />

ILLUSTRATION: NICHOLAS BLECHMAN<br />

66 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Spezial | Cebit<br />

»<br />

Server und die dort genutzten<br />

Softwareprotokolle.<br />

Wahrscheinlich habe auch<br />

„Forbes“-Reporterin Hill vor<br />

ihrem Anruf bei Hausbesitzer<br />

Hatley per Shodan nach offenen<br />

Smart-Home-Systemen<br />

gesucht, sagt Experte Morgenstern – und<br />

gibt zumindest für die Produkte im WirtschaftsWoche-Test<br />

Entwarnung. „Ein vergleichbarer<br />

Angriff auf diese Systeme sollte<br />

nicht möglich sein.“<br />

Die Schaltzeiten<br />

von Licht<br />

und Heizung<br />

verraten, wann die<br />

Wohnung leer ist<br />

VERSKLAVTER KÜHLSCHRANK<br />

Doch die Hacker finden immer neue Sicherheitslücken,<br />

und zugleich wächst die Flut<br />

der ans Internet angeschlossenen Alltagstechnik<br />

explosionsartig: Laut dem US-<br />

Marktforscher IDC werden bis 2020 mehr als<br />

200 Milliarden elektronische Geräte aller Art<br />

im Internet der Dinge miteinander verbunden<br />

sein – <strong>vom</strong> Auto-Navigationssystem bis<br />

zur WLAN-Zahnbürste.<br />

Noch schlimmer, die Geräte sind mehr als<br />

nur potenzielle Angriffsziele. Das haben Forscher<br />

des auf E-Mail-Schutz spezialisierten<br />

US-Unternehmens Proofpoint im Januar<br />

nachgewiesen. Sie entdeckten ein sogenanntes<br />

Botnetz aus mehr als <strong>10</strong>0 000 zu<br />

ferngesteuerten E-Mail-Robotern versklavten<br />

Maschinen mit Web-Anschluss.<br />

Das hatten Hacker geknüpft, um darüber<br />

Spam-Nachrichten zu versenden. „Unter<br />

den geknackten Systemen war – neben<br />

WLAN-Routern, Multimedia-Centern und<br />

Web-fähigen Fernsehern – erstmals auch ein<br />

Kühlschrank mit Online-Zugang“, sagt<br />

Proofpoint-Manager Jürgen Venhorst. Für<br />

ihn ist klar, dass „die Zahl solcher Thingbots<br />

in Zukunft rasant wachsen wird“.<br />

Umso mehr, als die neue Gerätevielfalt im<br />

Internet der Dinge – anders etwa als PCs und<br />

Server in Unternehmen – nicht ständig von<br />

IT-Abteilungen auf Sicherheitsmängel überwacht<br />

und aktualisiert wird. So bleibt Fans<br />

vernetzter Haushalte vorerst kaum eine Alternative,<br />

als den Schutz des smarten Heims<br />

selbst in die Hand zu nehmen. „Regelmäßige<br />

Updates für alle Geräte, ob WLAN-Router<br />

oder Funksteckdose, sind genauso Pflicht,<br />

wie die Basisstation durch ein starkes Passwort<br />

zu schützen“, empfiehlt Morgenstern<br />

von AV-Test.<br />

Und Black-Hat-Experte Crowley rät inmitten<br />

des digitalisierten Haushalts zu analogen<br />

Hausmitteln: „Wer wirksam verhindern will,<br />

dass Späher oder Spanner durch die Web-<br />

Kamera des vernetzten Fernsehers ins<br />

Wohnzimmer schauen, sollte den Stecker<br />

aus der Steckdose ziehen – oder einfach ein<br />

PostIt auf die Kameralinse kleben.“ n<br />

thomas.kuhn@wiwo.de<br />

Vorsicht, falsche Freunde<br />

Der Check von AV-Test belegt: Längst nicht alle Smart-Home-Fernsteuerungen sind nur dem Hausbesitzer zu Diensten<br />

Produkt<br />

Hersteller<br />

Eigenschaften<br />

Funktion<br />

Bedienung<br />

Schutzkonzept<br />

Verschlüsselung aktiv<br />

Authentifizierung aktiv<br />

Manipulation durch<br />

Externe<br />

Absicherung der<br />

Fernsteuerung<br />

Urteil<br />

Systemsicherheit<br />

Anmerkung<br />

Preis (Starter-Set)<br />

Quelle: AV-Test<br />

Gigaset Elements<br />

Gigaset<br />

Überwacht Türen,<br />

Fenster und Wohnräume<br />

auf verdächtige<br />

Bewegungen<br />

Per Smartphone<br />

und Browser aus<br />

WLAN oder Web<br />

Ja<br />

Ja<br />

Im Test nicht<br />

möglich<br />

Wirksames<br />

Schutzkonzept<br />

Sehr hoch –<br />

sehr starke Absicherung<br />

Das Manko im Test<br />

noch unverschlüsselter<br />

Firmware-<br />

Updates wurde behoben.<br />

Sie erfolgen<br />

nun verschlüsselt<br />

200 Euro<br />

RWE Smart Home<br />

RWE Smart Home<br />

Steuer-, Schaltund<br />

Kontrollsystem<br />

für Strom, Heizung,<br />

Sicherheit<br />

Per Smartphone<br />

und Browser aus<br />

WLAN oder Web<br />

Ja<br />

Ja<br />

Im Test nicht<br />

möglich<br />

Wirksames<br />

Schutzkonzept<br />

Sehr hoch – sehr<br />

starke Absicherung<br />

Konfiguration nur<br />

mit Internet-Verbindung<br />

über passwortgesichertes<br />

Nutzerkonto<br />

250 Euro<br />

Qivicon<br />

Deutsche Telekom<br />

Steuer-, Schaltund<br />

Kontrollsystem<br />

für Strom, Heizung,<br />

Sicherheit<br />

Per Smartphone<br />

und Browser aus<br />

WLAN oder Web<br />

Ja<br />

Ja<br />

Im Test nicht<br />

möglich<br />

Wirksames<br />

Schutzkonzept<br />

Hoch – starke<br />

Absicherung<br />

Stärke der Verschlüsselung<br />

nicht<br />

optimal, Zahl der<br />

offenen Internet-<br />

Ports unnötig hoch<br />

300 Euro<br />

iComfort<br />

REV Ritter<br />

Steuert Elektrogeräte<br />

über Schaltsteckdosen<br />

Lokal über Smartphone<br />

im WLAN,<br />

kein Fernzugriff<br />

Nein<br />

Nein<br />

Im Test nicht<br />

möglich<br />

Keine, da kein<br />

Fernzugriff aktiv<br />

Niedrig – gegen<br />

Angriffe aus dem<br />

lokalen Netz kaum<br />

geschützt<br />

Sofern Hacker<br />

Schadsoftware auf<br />

PCs/Smartphones<br />

im lokalen Netz<br />

installieren, ist<br />

Fernzugriff möglich<br />

90 Euro<br />

tapHome<br />

EuroiStyle<br />

Steuert bzw. dimmt<br />

Schaltsteckdosen<br />

und Lampen<br />

Lokal über Browser<br />

oder Smartphone,<br />

kein Fernzugriff<br />

Nein<br />

Ja<br />

Im Test nicht<br />

möglich<br />

Keine, da kein<br />

Fernzugriff aktiv<br />

Niedrig – gegen<br />

Angriffe aus dem<br />

lokalen Netz kaum<br />

geschützt<br />

Sofern Hacker<br />

Schadsoftware auf<br />

PCs/Smartphones<br />

im lokalen Netz<br />

installieren, ist<br />

Fernzugriff möglich<br />

170 Euro<br />

iConnect<br />

eSaver<br />

Steuert Elektrogeräte<br />

über Schaltsteckdosen<br />

Per Smartphone im<br />

WLAN und aus dem<br />

Internet<br />

Ja<br />

Nur bei Web-Zugriff<br />

System im Test<br />

anfällig<br />

Ließ sich im Test<br />

aushebeln<br />

Sehr niedrig – für<br />

Angriffe aus dem<br />

lokalen Netz oder<br />

Internet anfällig<br />

Optionale Web-<br />

Fernsteuerung<br />

nach Passwort-<br />

Vergabe. Firmware-<br />

Update unverschlüsselt<br />

200 Euro<br />

Xavax Max!<br />

Hama<br />

Steuerungs- und<br />

Schaltsystem für<br />

Licht, Heizung, Strom<br />

Lokal über PC sowie<br />

über Browser oder<br />

App aus dem Internet<br />

Nur teilweise<br />

Nur bei Web-Zugriff<br />

System im Test<br />

anfällig<br />

Schwächen bei<br />

Zugriff via Internet<br />

Sehr niedrig –kein<br />

Schutz gegen interne,<br />

mangelnde Sicherheit<br />

bei äußeren Angriffen<br />

Sofern Hacker Schadsoftware<br />

im lokalen<br />

Netz installieren, ist<br />

Fernzugriff möglich.<br />

Extern Mängel bei der<br />

Verschlüsselung<br />

200 Euro<br />

ILLUSTRATION: NICHOLAS BLECHMAN<br />

68 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Spezial | Cebit<br />

Röntgengerät für die IT<br />

BIG DATA | Die neue blitzschnelle Analyse gigantischer Datenmengen eröffnet IT-Unternehmen<br />

riesige Chancen. Neben Granden wie IBM, Oracle oder SAP gibt es dies- und jenseits des Atlantiks<br />

auch einige kleine, aber feine Profiteure des Datenbooms.<br />

Dass er in der Lage ist, die Extra-Meile<br />

zu gehen, beweist Godfrey Sullivan<br />

mit seinem ungewöhnlichen<br />

Hobby: Seit zwei Jahrzehnten frönt der<br />

60-Jährige der Sportart „Ride and Tie“, einer<br />

selbst in seiner Heimat USA eher seltenen<br />

Freizeitbetätigung: Bei ihr wechseln<br />

sich zwei Menschen in einem Langstreckenrennen<br />

beim Ausdauer-Reiten mit einem<br />

Pferd ab – und das im Gelände. Der<br />

nicht reitende Partner joggt dabei nebenoder<br />

hinterher. „Nach 30 oder 40 Meilen<br />

weiß man, wie sehr man von seinem Team<br />

abhängig ist“, sagt Sullivan.<br />

EXPLODIERENDE DATENMENGEN<br />

Gut möglich, dass ihm diese Erfahrung<br />

auch im Job hilft. Dabei benötigt er nämlich<br />

ebenfalls ausreichend Durchhaltever-<br />

mögen. Sullivan ist Vorstandschef von<br />

Splunk, einem erst zehn Jahre alten Anbieter<br />

von Software zur schnellen Analyse riesiger<br />

Datenmengen. Das Unternehmen<br />

aus San Francisco hat sich spezialisiert auf<br />

die Durchforstung aller Arten von Maschinendaten,<br />

egal, ob von Großrechnern,<br />

Smartphones, Tablets, PCs oder Web-Servern.<br />

Damit können Unternehmen zum<br />

Beispiel schneller und genauer Probleme<br />

diagnostizieren – <strong>vom</strong> Netzausfall beim<br />

Mobilfunk bis zum schiefgelaufenen Bestellvorgang<br />

im Online-Handel. „Splunk ist<br />

sozusagen ein Röntgengerät für die IT-Systeme<br />

von Unternehmen“, sagt Sullivan im<br />

Interview mit der WirtschaftsWoche (siehe<br />

Seite 74).<br />

Dieses Big Data genannte Geschäft ist<br />

aktuell einer der wichtigsten Treiber der IT-<br />

Branche. Grund sind die allerorten explodierenden<br />

Datenmengen – sei es aufgrund<br />

der rasenden Verbreitung von Mobilgeräten<br />

wie Smartphones und Tablets, sei es<br />

wegen der immer stärkeren Verlagerung<br />

von Diensten ins Internet, Neudeutsch<br />

Cloud Computing.<br />

Befeuert wird der Big-Data-Boom zudem<br />

durch einige wichtige technologische<br />

Fortschritte in den vergangenen Jahren. So<br />

sorgt eine neuartige Technologie namens<br />

In Memory dafür, dass die schnelle Analyse<br />

von gigantischen Datenmengen gegenüber<br />

früher um den Faktor <strong>10</strong>00 und mehr<br />

beschleunigt wird.<br />

Dies ist möglich, weil die Rechner alle<br />

Daten komplett im Hauptspeicher bearbeiten,<br />

statt für jede Rechenoperation den<br />

langsameren Umweg über die Festplatte<br />

ILLUSTRATION:THOMAS FUCHS<br />

70 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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nehmen zu müssen. Die Folge: Analysen<br />

selbst größter Datenbanken mit einer Größe<br />

von einem Terabyte – das sind eine Billion<br />

Byte – oder mehr benötigen nur wenige<br />

Sekunden statt einiger Stunden. Dadurch<br />

können Unternehmen Big-Data-Anfragen<br />

fast in Echtzeit durchführen.<br />

SCHWERPUNKT AUF DER CEBIT<br />

Auf diesem Wachstumsmarkt machen<br />

sich bereits Konzerne wie IBM, Oracle,<br />

Hewlett-Packard oder SAP breit. Jenseits<br />

dieser Granden der IT-Welt gibt es aber<br />

auch einige kleinere Profiteure des Datenbooms.<br />

Dazu zählen hierzulande eher<br />

unter dem Radar fliegende Hidden Champions<br />

wie Splunk oder Teradata aus den<br />

USA, aber auch deutsche Anbieter wie die<br />

Software AG aus Darmstadt oder Exasol<br />

aus Nürnberg.<br />

Sie alle buhlen um Kunden in einem<br />

Markt, der nach einer Prognose des amerikanischen<br />

IT-Marktforschers IDC in diesem<br />

Jahr erstmals die Schwelle von 15 Milliarden<br />

Dollar überschreiten soll. Mindestens<br />

bis 2017 wächst das Geschäft jährlich<br />

weiter mit Steigerungsraten oberhalb von<br />

25 Prozent und wird sich bis dahin auf<br />

32 Milliarden Dollar mehr als verdoppeln,<br />

so die Erwartung von IDC (siehe Grafik<br />

unten).<br />

Auch die in dieser Woche stattfindende<br />

weltgrößte IT-Messe Cebit in Hannover hat<br />

auf diesen Boom reagiert. So bildet Datability<br />

neben IT-Sicherheit und Cloud Computing<br />

erstmals eines der Schwerpunktthemen<br />

auf der Messe. Datability ist ein Kunstwort<br />

aus Big Data und der Möglichkeit, solche<br />

Auswertungen im Unternehmen auch<br />

zu nutzen („ability“). „Die Analyse großer<br />

Datenmengen bietet ein enormes Potenzial<br />

– für Unternehmen, aber auch für die<br />

Gesellschaft und uns alle“, sagt Dieter<br />

Kempf, Chef des ITK-Branchenverbandes<br />

Bitkom, der die Cebit ausrichtet.<br />

Das gilt trotz aller Datenschutzbedenken:<br />

Zwar sind viele Unternehmen seit<br />

dem Skandal über die Internet-Schnüffelattacken<br />

des US-Geheimdienstes National<br />

Security Agency (NSA) hellhörig geworden.<br />

Die Big-Data-Anbieter werden daher<br />

nicht müde zu betonen, ihre Software sei<br />

sicher vor unbefugtem Zugriff. Sie begründen<br />

das zum Beispiel damit, dass Unternehmen<br />

die Systeme auch komplett ohne<br />

jedwede Internet-Anbindung installieren<br />

können. Glaubt man den Beteuerungen<br />

der Datenanalyseanbieter, ist ihnen bisher<br />

jedenfalls kaum Geschäft durch die Lappen<br />

gegangen.<br />

Das dürfte vor allem daran liegen, dass<br />

der Bedarf an digitaler Durchleuchtung der<br />

Datenmassen bei den Unternehmen<br />

enorm ist. Zu Splunks Kunden rund um<br />

den Globus zählen unter anderem die Telekommunikationsriesen<br />

Telefónica/O2<br />

und Vodafone sowie der Versandhändler<br />

Otto. Im Geschäftsjahr 2013 (es endete<br />

zum 31. Januar <strong>2014</strong>) steigerte Splunk den<br />

Umsatz denn auch um 52 Prozent auf 302<br />

Millionen Dollar. Gleichzeitig schrieb das<br />

Unternehmen vor allem wegen deutlich<br />

hochgefahrener Vertriebs- und Marketingaufwendungen<br />

(215 Millionen Dollar) ein<br />

Minus von knapp 80 Millionen Dollar.<br />

Ein anderer noch weithin unbekannter<br />

Senkrechtstarter ist das ebenfalls im Silicon<br />

Valley beheimatete Unternehmen<br />

Rocketfuel, das im März 2008 von ehemaligen<br />

Mitarbeitern von Yahoo und der US-<br />

Weltraumagentur Nasa gegründet wurde.<br />

Mittlerweile beschäftigt es knapp 600 Mitarbeiter<br />

weltweit und setzte 2013 rund 200<br />

Millionen Dollar um. Auch in Hamburg<br />

ist es mit einer Niederlassung vertreten.<br />

Rocketfuel nutzt künstliche Intelligenz und<br />

Datenanalyse, um über das Surfverhalten<br />

von Internet-Nutzern deren Interessen<br />

und Kaufabsichten vorauszusagen und mit<br />

diesen Erkenntnissen Internet-Werbung<br />

gezielter zu platzieren.<br />

Das wird zwar schon seit Jahren gemacht.<br />

Neu ist aber, dass Rocketfuel<br />

Dutzende von Informationen mithilfe<br />

von selbstlernender Software so kombiniert,<br />

dass nicht nur die Wahrscheinlichkeit<br />

relativ genau ermittelt werden kann,<br />

ob ein Online-Nutzer den Kauf eines Autos<br />

erwägt oder aber eine Reise buchen will.<br />

Rocketfuel kann sogar die Marke oder<br />

Big Data, Big Business<br />

WeltweiteUmsätze im Geschäft mit<br />

Hard-und Software zur Datenanalyse<br />

undjährlicheWachstumsrate<br />

35<br />

30<br />

25<br />

20<br />

15<br />

<strong>10</strong><br />

5<br />

0<br />

Wachstum<br />

(inProzent)<br />

9,8<br />

12,6<br />

16,1<br />

20,4<br />

25,7<br />

32,4<br />

Umsätze<br />

(inMilliardenDollar)<br />

2012 13 14* 15* 16* 17*<br />

*Prognose; Quelle:IDC<br />

das genauere Reiseziel einengen und ob<br />

die Werbung lieber auf Tablet oder Smartphone<br />

präsentiert werden sollte. Oder<br />

das Programm kann Prognosen über den<br />

besten Wochentag oder gar die Tageszeit<br />

liefern, um diesen Nutzer mit Werbung<br />

anzusprechen. In Deutschland nutzen<br />

das Angebot unter anderem Lufthansa,<br />

BMW und Sixt.<br />

Für diese Kunden analysiert Rocketfuel<br />

kontinuierlich die Web-Seiten. Neu ist hier,<br />

dass das komplette Online-Angebot tief<br />

durchleuchtet wird. „Unsere Kunden achten<br />

stärker darauf, wie attraktiv einzelne<br />

Inhalte auf einer Web-Seite sind“, sagt Rocketfuel-Deutschland-Chef<br />

Oliver Hülse.<br />

Absehbar ist deshalb, dass Big Data auch<br />

Inhalte im Internet verändern und stärker<br />

auf die Interessen der Werbekunden abstimmen<br />

wird.<br />

Auch der Konsumgüterriese Procter &<br />

Gamble (P&G) will mithilfe von Big Data<br />

näher an seine Kunden herankommen<br />

und deren Interessen präziser erforschen.<br />

Der US-Konzern, der 2013 rund 84 Milliarden<br />

Dollar umsetzte, betreibt für seine<br />

rund fünf Milliarden Kunden weltweit<br />

rund 1500 Web-Seiten. Die werben für<br />

P&Gs mehr als 50 großen Marken wie<br />

Gillette, Braun, Duracell, Wella oder<br />

Pampers und bieten dort unter anderem<br />

auch Tipps zum Gebrauch der Produkte.<br />

Ziel von P&G-Chef Alan Lafley ist nicht<br />

nur, über die zielgenauere Ansprache<br />

seiner Kunden den Absatz zu steigern. Er<br />

will zugleich Ideen für neue Produkte sammeln<br />

und dafür, wie sich bestehende verbessern<br />

lassen. Und das soll schnell gehen.<br />

Als Generalauftragnehmer hat Lafley dafür<br />

den Softwareanbieter Teradata mit Sitz im<br />

US-Bundesstaat Ohio verpflichtet. Der<br />

Dienstleister führt die Klick- und Abrufdaten<br />

aller globalen P&G-Web-Seiten zusammen,<br />

analysiert sie und leitet die dabei<br />

gewonnenen Informationen an die<br />

P&G-Mitarbeiter weiter.<br />

ZENTRALE DATENSAMMELSTELLE<br />

Teradata, das 2007 von dem Geldautomaten-<br />

und Kassensystemanbieter NCR ausgegründet<br />

wurde, wertet schon seit Jahrzehnten<br />

große Datenmengen aus, lange<br />

bevor der Begriff Big Data in Mode kam.<br />

Teradata ist ein etablierter Anbieter von sogenannten<br />

Data-Warehouses, in denen<br />

Konzerne ihre beim Geschäftsbetrieb anfallenden<br />

Informationen bündeln – von Artikeln<br />

auf dem Kassenbon bis hin zu Angaben<br />

über Zulieferer und die Entwicklung<br />

von Rohstoffpreisen. Sozusagen eine<br />

»<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 71<br />

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Spezial | Cebit<br />

Neue Technologien ermöglichen<br />

Datenanalysen fast in Echtzeit<br />

»<br />

zentrale Datensammelstelle im Unternehmen.<br />

„Das Internet rückt noch dichter<br />

an die Verbraucher heran, gleichzeitig wollen<br />

noch mehr Unternehmensbereiche<br />

Datenanalyse nutzen“, sagt Teradata-Chef<br />

Michael Koehler.<br />

Für ihn ist der wachsende Markt Chance<br />

und Herausforderung zugleich. Denn<br />

Teradata macht sein Geld bisher hauptsächlich<br />

mit der Installation teurer Hardware<br />

und Datenbank-Software. Das ist bis<br />

heute sehr lukrativ: 2013 setzte Teradata<br />

2,7 Milliarden Dollar um und erzielte dabei<br />

einen Nettogewinn von rund 380 Millionen<br />

Dollar. An der Börse ist das Unternehmen<br />

aktuell rund 7,4 Milliarden Dollar wert.<br />

BIG DATA IN DER CLOUD<br />

Allerdings wollen Kunden diese Dienstleistungen<br />

jetzt vermehrt mieten, ganz ähnlich<br />

wie bei klassischer Unternehmenssoftware.<br />

Teradata muss sein Angebot daher<br />

nach und nach in die Cloud verschieben<br />

und günstiger offerieren. Ein Pilotkunde ist<br />

Netflix, der US-Marktführer für Online-Videodienste,<br />

der sich die Teradata-Dienste<br />

über die Wolke liefern lässt. Netflix analysiert<br />

damit, wie und wo besonders gefragte<br />

Spielfilme oder Fernsehserien gespeichert<br />

werden sollten, damit diese optimal zu den<br />

Kunden übertragen werden.<br />

Karl-Heinz Streibich möchte Big Data<br />

auf eine weitere Entwicklungsstufe heben.<br />

Der Chef des Unternehmenssoftware-Anbieters<br />

Software AG aus Darmstadt, der das<br />

Gros seines Jahresumsatzes von einer Milliarde<br />

Euro in den USA erzielt, sieht in der<br />

rasant wachsenden Zahl der Daten und deren<br />

rascher Auswertung eine neue Qualität<br />

bei sogenannten entscheidungsunterstützenden<br />

Systemen.<br />

Die sollen Unternehmen zum Beispiel<br />

vorbeugend warnen, wenn sich Probleme<br />

in der Lieferkette abzeichnen, die Nachfrage<br />

nicht befriedigt werden kann oder Beschwerden<br />

über Produkte eine mögliche<br />

Rückholaktion andeuten. Der Fokus liegt<br />

dabei darin, neben mehr Umsatz die Kundenbindung<br />

zu stärken. „Es geht nicht nur<br />

darum, die Daten auszuwerten, sondern<br />

auch darum, auf die gewonnenen Informationen<br />

richtig und schnell zu reagieren“,<br />

sagt Streibich. „Dieser Zyklus in der Softwareentwicklung<br />

beginnt gerade erst.“<br />

Helfen soll den Software-AG-Kunden<br />

dabei das Tool Terracotta. Die Hessen hatten<br />

den gleichnamigen amerikanischen<br />

Spezialisten 2011 übernommen, und zwar<br />

„ursprünglich im Wesentlichen dafür, um<br />

unsere eigenen Produkte für Big Data anzupassen<br />

und zu erweitern“, sagt Streibich<br />

„Wir haben aber schnell festgestellt, dass<br />

die Datenanalyse als eigenständiges Geschäft<br />

immer wichtiger wird.“ Offenbar zu<br />

Recht: Einer der namhaften Kunden ist die<br />

Ebay-Tochter PayPal, die mittels Terracotta<br />

Kreditkartenbetrug in Echtzeit, also während<br />

des Zahlungsvorgangs, aufdeckt.<br />

Konkrete Finanzzahlen für Terracotta<br />

nennt die Software AG zwar nicht. Aber<br />

laut Geschäftsbericht 2013 hat sich der<br />

Umsatz der amerikanischen Tochter, auf<br />

das Gesamtjahr gerechnet, nahezu verdoppelt.<br />

Damit ist Terracotta ein wichtiger<br />

Hoffnungsträger für die Software AG,<br />

der zuletzt im Stammgeschäft mit traditionellen<br />

Datenbanken Umsatz weggebrochen<br />

ist.<br />

NISCHENPLAYER AUS FRANKEN<br />

Auf diesem Gebiet ist man 240 Kilometer<br />

weiter südöstlich bei Exasol in Nürnberg<br />

schon weiter: Das 2000 gegründete Unternehmen<br />

hat eine speziell für Big-Data-<br />

Analysen optimierte Datenbank namens<br />

Exasolution konzipiert. Dadurch profitieren<br />

die Nürnberger voll <strong>vom</strong> Datenanalyseboom:<br />

„Exasol ist derzeit der erfolgreichste<br />

Spezialist für analytische Datenbanken<br />

im deutschsprachigen Raum“, so<br />

das Fazit einer Studie des in Würzburg ansässigen<br />

Marktforschers BARC.<br />

Und die amerikanischen IT-Marktbeobachter<br />

von Gartner platzieren Exasol als<br />

einzigen deutschen Anbieter in ihrem<br />

„magischen Quadrat“ über analytische Datenbanken,<br />

eine Messlatte zur Bewertung<br />

von IT-Unternehmen. Laut Gartner hat<br />

Exasol in jenem Markt die Position eines<br />

Nischenplayers inne. Wohl wahr: Das Unternehmen<br />

setzte 2013 mit 55 Mitarbeitern<br />

rund fünf Millionen Euro um.<br />

Geht es nach den Franken, soll sich<br />

das bald ändern. Ende Januar hat Exasol<br />

bekannt gegeben, mit einem <strong>vom</strong> Bundeswirtschaftsministerium<br />

geförderten Programm<br />

ins kalifornische Silicon Valley expandieren<br />

zu wollen. „Mit Vertretungen<br />

auf drei Kontinenten haben wir uns innerhalb<br />

kürzester Zeit zu einem ernst zu nehmenden<br />

Anbieter analytischer Datenbanken<br />

entwickelt“, sagt Exasol-Chef Aaron<br />

Auld. „Die USA haben enormes Marktpotenzial.<br />

Somit ist das Programm für uns<br />

eine große Chance, um uns im US-Markt<br />

zu positionieren.“<br />

n<br />

michael.kroker@wiwo.de,<br />

matthias hohensee | Silicon Valley<br />

ILLUSTRATION:THOMAS FUCHS<br />

72 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Spezial | Cebit<br />

»Wir machen spröde Daten sexy«<br />

INTERVIEW | Godfrey Sullivan Der Vorstandschef des US-Softwareanbieters Splunk sieht Big Data als<br />

riesiges Zukunftsgeschäft und befürchtet keine Einbußen durch den NSA-Skandal.<br />

Mister Sullivan, Splunk operiert in einem<br />

der aktuell heißesten IT-Märkte Big Data,<br />

also der blitzschnellen Analyse gigantischer<br />

Datenmengen. Ist das nicht nur ein<br />

Modewort? Datenanalyse gab’s auch<br />

schon vor 15 Jahren...<br />

Irgendwann in den vergangenen fünf Jahren<br />

sind alle möglichen Geräte intelligent geworden<br />

und vernetzten sich drahtlos miteinander.<br />

Der wirklich neue und bedeutsame<br />

Teil von Big Data ist dieses Segment maschinengenerierter<br />

Daten.<br />

Warum sind gerade die so relevant?<br />

Weil man jene Daten analysieren und großen<br />

Nutzen daraus ziehen kann. In der Vor-<br />

Mobil- und Vor-Digital-Ära wäre man in ein<br />

Geschäft gegangen, läuft die Gänge entlang,<br />

schaut sich Produkte an und kauft schließlich<br />

einen Gürtel. Das Einzige, was dabei erfasst<br />

wurde, war der Kauf. In der Internet-<br />

Welt durchläuft man den gleichen Einkauf –<br />

das aber stößt eine Kanonade maschinengenerierter<br />

Daten an: Welche Produkte haben<br />

Sie angeschaut, bevor Sie den Gürtel gewählt<br />

haben, wie haben Sie sich angemeldet, war<br />

es eine sichere Transaktion und mehr. Im<br />

Digitalzeitalter werden <strong>10</strong>00-mal so viele<br />

Daten generiert wie in der Analog-Ära.<br />

Wie sinnvoll ist es, all diese Daten auszuwerten?<br />

DER DATENAUSWERTER<br />

Sullivan, 60, steht seit 2008<br />

an der Spitze des auf die<br />

Analyse von gigantischen<br />

Datenmengen spezialisierten<br />

Softwareanbieters Splunk.<br />

Mit dem IPO im April 2012<br />

schaffte Sullivan einen der<br />

erfolgreichsten Tech-Börsengänge:<br />

Der Aktienkurs hat<br />

sich seitdem mehr als verfünffacht.<br />

Zuvor arbeitete<br />

er unter anderem bei dem<br />

2007 von Oracle gekauften<br />

Softwarehaus Hyperion.<br />

Sehr. Sie sind für Unternehmen ein wichtiger<br />

Informationslieferant über Vorlieben<br />

und Wünsche ihrer Kunden. Und auch<br />

der Endkunde profitiert, weil er besseren<br />

Service und besseren Zugang zu Informationen<br />

und Gütern erhält.<br />

Und wie genau funktioniert das?<br />

Die Lingua Franca in der Kommunikation<br />

zwischen Maschinen sind die sogenannten<br />

Log-Dateien, in denen jedes IT-Gerät seine<br />

Protokolldaten abspeichert. Die<br />

sind in der Regel riesengroß, unübersichtlich<br />

und sehen total unterschiedlich<br />

aus – je nachdem, ob<br />

es sich um einen Server, um einen<br />

Browser oder ein Mobilgerät handelt.<br />

Splunk durchforstet nun diese<br />

Masse von maschinengenerierten Daten,<br />

bereitet sie auf, entnimmt die jeweils<br />

wichtigen Informationen und speichert<br />

diese ab.<br />

Und was kann ein Unternehmen mit<br />

diesen Auswertungen anstellen?<br />

Nehmen wir an, ein Bestellprozess im Internet<br />

ist schiefgegangen. Splunk erlaubt<br />

es, mit einfachsten Suchabfragen aus vielen<br />

Millionen Datensätzen genau jene fünf herauszupicken,<br />

die dem E-Commerce-Anbieter<br />

Informationen über das Problem liefern<br />

können. Das kann man bei beliebigen<br />

Problemen und Datenmengen machen –<br />

und beinahe in Echtzeit.<br />

Wer braucht so was?<br />

Online-Händler wie Macy’s oder das Reiseportal<br />

Expedia setzen Splunk ein, um ihre<br />

komplexe Web-Infrastruktur zu überwachen.<br />

Das verhindert den Abbruch von Bestellvorgängen<br />

sowie Ausfälle der Systeme.<br />

In Stoßzeiten kann ein Systemausfall locker<br />

eine Million Dollar Schaden pro Stunde und<br />

mehr verursachen. Handynetzbetreiber<br />

können die Performance<br />

ihrer Netze jetzt bis runter zur einzelnen<br />

Basisstation überwachen.<br />

Früher hat der Kunde nur gemerkt,<br />

dass das Gespräch abbricht. Mit<br />

Splunk kann der Netzbetreiber<br />

einzelne Telefonate und die Weitergabe von<br />

Funkstation zu Funkstation grafisch auf einer<br />

Karte darstellen – und dadurch<br />

Schwachstellen im Netz genau identifizieren.<br />

Und das funktioniert, indem man die<br />

ohnehin anfallenden Log-Daten nutzt.<br />

Bei einem Umsatz von rund 300 Millionen<br />

Dollar ist Splunk an der Börse aktuell<br />

rund 9,5 Milliarden Dollar wert. Warum<br />

halten Anleger Splunk für so cool?<br />

Weil Splunk es geschafft hat, schnöde Log-<br />

Dateien sexy zu machen. Die Daten waren<br />

immer schon da, aber vor uns war es sehr<br />

schwierig, diese zu analysieren. Kunden sagen<br />

mir oft: Splunk ist das Röntgengerät für<br />

unsere IT-Systeme. Wir legen gewissermaßen<br />

eines der letzten Geheimnisse der IT<br />

frei und sind so etwas wie der Babelfisch,<br />

der die Kommunikation zwischen verschiedenen<br />

Maschinen übersetzt.<br />

Was antworten Sie Unternehmen, die zögern,<br />

Splunk als amerikanischen Anbieter<br />

einzusetzen, weil sie in Ihren Produkten<br />

Hintertüren zu den US-Geheimdiensten<br />

und damit Datenschnüffelei fürchten?<br />

Ganz einfach: Unternehmen lizenzieren<br />

unsere Software und setzen sie typischerweise<br />

auf ihren eigenen Rechnern ein – das<br />

kann sogar hinter der eigenen Firewall und<br />

ohne externe Internet-Verbindungen geschehen.<br />

Dann kann die NSA auf die Daten<br />

überhaupt nicht zugreifen. Wir wachsen<br />

ungebremst weiter und sehen keinen direkten<br />

Einfluss auf unser Geschäft. n<br />

michael.kroker@wiwo.de<br />

FOTO: GETTY IMAGES/BLOOMBERG; ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS<br />

74 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Technik&Wissen<br />

Spiel mit dem Feuer<br />

ROHSTOFFE | Umweltkatastrophe oder Lösung aller Energieprobleme? Australische und<br />

britische Unternehmen wollen im großen Stil unterirdische Kohleflöze anzünden, um Gas<br />

für die Stromerzeugung zu gewinnen.<br />

Es ist wie in der Hölle: Mehr als <strong>10</strong>0<br />

Meter unter der Erde brennt es. Die<br />

Hitze von rund <strong>10</strong>00 Grad lässt das<br />

Gestein glühen und Kohle verdampfen.<br />

Der Teufel könnte sich hier wohlfühlen.<br />

Doch das Inferno ist menschengemacht.<br />

Ingenieure haben den Kohleflöz in Usbekistan<br />

nahe der Hauptstadt Taschkent bereits<br />

1961 angezündet. Sie erzeugen ein<br />

brennbares Gasgemisch, mit dem ein<br />

Kraftwerk Strom produziert.<br />

Aber nicht nur in der Ex-Sowjetunion,<br />

sondern auch in China und den USA laufen<br />

Projekte, schwer zugängliche Kohlevorkommen<br />

zu nutzen. Bald könnte es zudem<br />

in Großbritannien so weit sein. Dort hat die<br />

Regierung Unternehmen an mehr als 20<br />

Orten an der Küste erlaubt, das Verfahren<br />

zu testen.<br />

„Auch in Norddeutschland lagert in<br />

mehr als 1500 Meter Tiefe genug Kohle, um<br />

die heimische Stromproduktion aus Atomoder<br />

Kohlekraftwerken über Jahrzehnte zu<br />

ersetzen“, sagt Rafig Azzam. Der Geologieprofessor<br />

von der RWTH Aachen beschäftigt<br />

sich seit Jahren mit der unterirdischen<br />

Kohlevergasung und deren Umweltauswirkungen.<br />

Weltweit steckt tief in der Erde so viel<br />

Kohle, dass die Menschheit damit ihren<br />

Energiehunger die nächsten <strong>10</strong>00 Jahre<br />

stillen könnte. Aber an 80 Prozent dieser<br />

Vorkommen – bis zu vier Billionen verwertbare<br />

Tonnen – kommen die Bergleute mit<br />

herkömmlichen Verfahren nicht heran.<br />

Genau diesen Schatz wollen die Kohlepioniere<br />

jetzt heben.<br />

niker bisher nicht förderbare Öl- und Gasvorkommen<br />

erschließen?<br />

„Derzeit lässt sich noch nicht abschließend<br />

einschätzen, wie umweltfreundlich<br />

das Verfahren ist“, sagt der Aachener Geologe<br />

Azzam. Verheißungsvoll genug sei es.<br />

Deshalb solle auch Deutschland mehr in<br />

die Erprobung der Technik investieren, rät<br />

der Forscher. Denn sie könne eine klimafreundliche<br />

Brücke in eine Zukunft mit erneuerbaren<br />

Energien sein.<br />

Ofen unterTage<br />

Der größte Teil der weltweiten Kohlevorkommen ist mit herkömmlichen Mitteln<br />

nicht zugänglich. Deshalb wollen Unternehmen sie unterirdisch verbrennen<br />

Pumpe<br />

Luft oder<br />

Sauerstoff,<br />

vermischt<br />

mit<br />

Wasserdampf<br />

Kraftstoff Strom Kunststoffherstellung<br />

Schadstoffe<br />

wie Benzol,<br />

Schwefelwasserstoff,<br />

Toluol<br />

Und mit tendenziell steigenden Preisen<br />

für Kohle und Gas wird die Methode immer<br />

attraktiver. Noch aber herrscht kein<br />

Mangel an Kohle. Laut US-Energieministerium<br />

reichen die weltweit förderbaren Vorkommen<br />

an Stein- und Braunkohle 120<br />

Jahre. Allerdings: Um den Rohstoff zu bergen,<br />

müssen Minenarbeiter immer tiefer<br />

graben oder ganze Bergspitzen abtragen.<br />

Das treibt die Kosten. In den USA haben<br />

sich die Kohlepreise seit 2004 verdoppelt.<br />

Wasserstoff,<br />

Methan,<br />

Kohlenmonoxid,<br />

Kohlendioxid<br />

KONKURRENZFÄHIGE TECHNIK<br />

Und sie wollen noch mehr: nämlich<br />

Schluss machen mit dem schmutzigen<br />

Image der Kohle. Kein Tagebau soll mehr<br />

die Landschaft verschandeln, keine giftigen<br />

Feinstäube aus Kohlekraftwerken die<br />

Anwohner krank machen. Auch frei von<br />

klimaschädlichen Treibhausgasen soll das<br />

Verfahren sein.<br />

Aber sind diese Versprechen realistisch?<br />

Lauern doch Gefahren für die Umwelt,<br />

ähnlich wie beim Fracking, bei dem Tech-<br />

Kohleflöz<br />

Quelle: eigene Recherche<br />

mehr als<br />

<strong>10</strong>00 Grad Celsius<br />

Länge: ein Kilometer<br />

Höhe:<br />

zwei bis<br />

fünf Meter<br />

ILLUSTRATION: JAVIER ZARRACINA<br />

76 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Das Verfahren, um den schwarzen<br />

Schatz zu bergen, ist nicht neu. Vor allem<br />

britische und sowjetische Ingenieure entwickelten<br />

die Technologie Anfang des 20.<br />

Jahrhunderts.<br />

Zwar gibt es verschiedene Wege, unterirdisch<br />

Kohle zu verbrennen. Aber sie alle<br />

basieren auf demselben Prinzip (siehe<br />

Grafik): Auf der einen Seite pumpen die<br />

Techniker Luft oder Sauerstoff, vermischt<br />

mit Wasserdampf, in die Flöze; nur so kann<br />

die Kohle brennen. Über eine zweite Bohrung<br />

saugen sie den Gasmix aus Methan,<br />

Wasserstoff, Kohlendioxid und -monoxid<br />

an die Oberfläche. Er ähnelt in seiner Zusammensetzung<br />

dem Stadtgas, mit dem<br />

die Haushalte in deutschen Kommunen<br />

lange heizten und kochten.<br />

Das Gas können Kraftwerke künftig zur<br />

Stromerzeugung nutzen, Raffinerien es in<br />

Diesel oder Benzin umwandeln, Chemiefabriken<br />

daraus Kunststoffe herstellen. Das<br />

klimaschädliche CO 2 , das bei der Kohlevergasung<br />

unter Tage entsteht, wollen die Betreiber<br />

in den Kohleflöz zurückpressen.<br />

Damit wäre das Verfahren klimafreundlicher<br />

als Kraftwerke, die Kohle oberirdisch<br />

verbrennen und bei denen das CO 2 in die<br />

Atmosphäre entwischt.<br />

Erste Hinweise, ob sich das Verfahren<br />

rechnet, gibt es auch schon: Wissenschaftler<br />

des Deutschen Geoforschungszentrums<br />

Potsdam (GFZ) kamen in einer detaillierten<br />

Untersuchung eines Kohlevorkommens<br />

in Bulgarien auf Kosten von<br />

rund sieben Cent pro Kilowattstunde<br />

Strom. Damit wäre der Gasmix konkurrenzfähig<br />

zu Erdgas.<br />

ZAHLREICHE RISIKEN<br />

Mehrere Pilotprojekte haben zudem bewiesen,<br />

dass das Verfahren funktioniert. In den<br />

Achtzigerjahren förderte ein deutsch-belgisches<br />

Projekt erfolgreich Synthesegas. In<br />

Australien investierten die zwei Unternehmen<br />

Linc Energy und Cougar Energy mehr<br />

als 550 Millionen Dollar in Pilotanlagen, die<br />

seit 1999 in Betrieb waren. Sogar Autos fuhren<br />

mit dem dort produzierten Sprit.<br />

Dann allerdings beendeten sie Ende<br />

2013 die Förderung. Der Hintergrund: Aus<br />

einem defekten Bohrloch waren geringe<br />

Mengen krebserregender Stoffe, darunter<br />

Benzol, in das Grundwasser ausgetreten.<br />

Die Behörden stoppten die Produktion.<br />

Damit droht dem Verfahren eine ähnliche<br />

Diskussion über mögliche Risiken wie<br />

beim Fracking, bei dem Techniker Wasser<br />

und Chemikalien in den Boden pressen.<br />

Denn neben den nützlichen Gasen entste-<br />

hen bei der Kohleverbrennung immer<br />

auch giftige Stoffe, von Benzol bis hin zu<br />

Schwefelwasserstoff. Damit sie nicht durch<br />

die Gesteinsschichten herauf in das<br />

Grundwasser steigen, müssen die Betreiber<br />

Druck und Temperatur im Flöz genau<br />

kontrollieren und dafür sorgen, dass die<br />

Bohrlöcher dicht bleiben.<br />

Ob das Verfahren wirklich so klimafreundlich<br />

ist wie behauptet, hat der Geowissenschaftler<br />

Thomas Kempka <strong>vom</strong> GFZ<br />

in Potsdam zusammen mit anderen Forschern<br />

untersucht. Dafür hat er im Labor<br />

eine Kohlevergasung nachgestellt. Das Resultat:<br />

In den Flözen lassen sich rund 20<br />

Prozent des entstehenden CO 2 speichern –<br />

den Rest müssten die Ingenieure an anderer<br />

Stelle in die Erde pressen. Großtechnisch<br />

erprobt ist das Verfahren aber nicht.<br />

CHINA UND USA ALS ZIEL<br />

Am Ende bleibt zudem die Frage, wie gut<br />

sich das Kohlefeuer kontrollieren lässt. In<br />

Indien und China sind ganze Landstriche<br />

von lodernden Kohlevorkommen unterhöhlt,<br />

die niemand löschen kann. Sie zerstören<br />

Dörfer, und es gelangen Unmengen<br />

CO 2 in die Atmosphäre. Auch in Deutschland<br />

brennen noch einige Kohlehalden.<br />

Doch diese Höllenfeuer lodern nur wenige<br />

Meter tief im Boden. „Verbindungen<br />

zur Oberfläche versorgen sie mit Sauerstoff,<br />

der den Brand am Laufen hält“, erklärt<br />

Kempka. Doch je tiefer ein Flöz ist, desto<br />

weniger solcher Verbindungen gibt es.<br />

Werde deshalb bei der Kohlevergasung in<br />

mehreren Hundert Meter Tiefe die Sauerstoffzufuhr<br />

im Bohrloch gekappt, erlische<br />

der Kohlebrand, versichert der Geologe.<br />

Allerdings müssen Fachleute über Erkundungen<br />

vorher sicherstellen, dass keine<br />

Risse aus der Tiefe an die Oberfläche reichen,<br />

durch die Gase oder Wasser dringen<br />

können.<br />

Schrecken lassen sich die Kohlepioniere<br />

durch diese Risiken nicht. Das australische<br />

Unternehmen Linc Energy will in der Inneren<br />

Mongolei und Alaska schon im nächsten<br />

Jahr erste Flöze in Brand setzen. Unter<br />

anderem hat auch der russische Oligarch<br />

Roman Abramovitsch, Besitzer des englischen<br />

Fußballclubs FC Chelsea, in ein<br />

Kohleprojekt von Linc Energy in Sibirien<br />

investiert. Der Vorteil der Einöde: Halten<br />

die Pioniere ihr Versprechen einer sauberen<br />

und günstigen Energieversorgung<br />

nicht, wird es kaum jemand erfahren. Sind<br />

sie dagegen erfolgreich, könnten bald auch<br />

in Europa Flöze brennen.<br />

n<br />

benjamin.reuter@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 77<br />

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Technik&Wissen<br />

Mini-Mahl<br />

GESUNDHEIT | Ein amerikanischer Ingenieur will das Essen<br />

abschaffen. Stattdessen soll ein Pulver die Welt ernähren.<br />

Blätter zu essen sei etwas für Ziegen<br />

oder Elefanten – nicht aber für Menschen,<br />

fand Rob Rhinehart schon als<br />

Kind. Salat zu putzen, Spinat zu kochen<br />

und Essen generell zubereiten zu müssen<br />

störte ihn. Erst recht während seines Studiums,<br />

denn es stahl ihm wertvolle Zeit. Und<br />

als der heute 25-jährige Elektroingenieur<br />

und Softwareentwickler aus Atlanta im<br />

US-Bundesstaat Georgia ins kalifornische<br />

Silicon Valley zog, stellte er fest, dass dort<br />

sein bis dahin favorisiertes, da zeitsparendes<br />

Fast Food, enorm teuer war.<br />

Da verging Rhinehart endgültig der Appetit<br />

auf klassisches Essen, das er kochen<br />

und kauen muss – und das auch noch dreckiges<br />

Geschirr und Töpfe hinterlässt. Der<br />

Mann schritt zur Tat, las sich in die Ernährungsliteratur<br />

ein und mixte sich ein Pulver,<br />

das alle für den Körper wichtigen Nährstoffe<br />

enthielt. Er verquirlte es mit Wasser<br />

zu einer bräunlich-gelben Plörre und lebte<br />

30 Tage lang ausschließlich davon.<br />

Rhinehart war begeistert, so wie<br />

Menschen, die einige Wochen fasten: „Ich<br />

hatte mehr Energie. Ich schlief besser. Ich<br />

konnte mich besser konzentrieren.“ Sogar<br />

fröhlicher und optimistischer sei er gewesen,<br />

sagte er Journalisten, die ihn interviewten.<br />

Weil er in einem Blog täglich<br />

über seine Erfahrungen berichtete, wurde<br />

er blitzschnell berühmt. Und weil seine<br />

Fan-Gemeinde das Pulver, das er<br />

Soylent nannte, ebenfalls haben<br />

wollte, gründete er in San Francisco<br />

die Firma Rosa Labs. Die<br />

sammelte vergangenes Jahr per<br />

Crowdfunding erstaunliche<br />

zwei Millionen US-Dollar ein<br />

– in Form von Vorbestellungen<br />

des Pulvers.<br />

Rhinehart plant, ab Ende<br />

März die ersten je 3,<strong>10</strong> Dollar<br />

teuren Soylent-Tütchen in<br />

Salat ist für Ziegen Eine<br />

begeisterte Fan-Gemeinde wartet<br />

auf Rhineharts Pulver-Pakete<br />

den USA zu verschicken. Der Inhalt jeder<br />

Tüte soll eine Mahlzeit ersetzen.<br />

Warum sich so viele für eine geschmacksfreie<br />

bis eklig bitter schmeckende Astronauten-Nahrung<br />

begeistern, lässt sich nur mutmaßen.<br />

Denn neu ist Rhineharts Idee keineswegs.<br />

Seit Jahren gibt es künstliche Nahrung<br />

für kranke und alte Menschen.<br />

NIE MEHR SCHOKOLADE?<br />

„Von ihr leben manche Leute schon viele<br />

Jahre“, sagt die Ernährungsphysiologin Hannelore<br />

Daniel von der Technischen Universität<br />

München. Das Pulver, das Rhinehart<br />

aus Hafermehl, Reisprotein, Tapiokastärke,<br />

Rapsöl, Vitaminen und Mineralstoffen anrührt,<br />

scheint so ausgewogen zu sein, dass<br />

Menschen damit überleben können. Doch<br />

warum sollte ein Gesunder sich das antun?<br />

Warum sollte er auf den Genuss von<br />

Fleisch und Gemüse,<br />

von Schokolade und<br />

Gummibären verzichten?<br />

Rhinehart preist<br />

nicht nur den Zeitgewinn.<br />

Er sieht in<br />

seinem Pulver einen<br />

Gewinn für die<br />

Menschheit – etwa als<br />

Beitrag gegen Fettleibigkeit.<br />

Tatsächlich<br />

dürfte es<br />

schwer-<br />

fallen, sich an Soylent derartig zu überfressen,<br />

wie das mit fettigen Chips möglich ist.<br />

Ganz unbescheiden meint Rhinehart,<br />

sein Pulver könne sogar die Welternährung<br />

sichern. Schließlich werfen wir ein Drittel<br />

bis die Hälfte aller Lebensmittel weg: Ihr<br />

Haltbarkeitsdatum ist abgelaufen, sie werden<br />

falsch gelagert, oder niemand will sie<br />

mehr essen. Diese Probleme würde Soylent<br />

lösen: „Es verdirbt nicht und muss<br />

nicht gekühlt werden“, so der Erfinder.<br />

Zudem sei, findet der Ingenieur, das Pulver<br />

aus der Fabrik viel sicherer als natürlich<br />

erzeugte Lebensmittel. Denn die könnten<br />

mit Krankheitserregern verseucht sein.<br />

Ganz ohne natürliche Rohstoffe wie Reis<br />

oder Hafer kommt aber auch er nicht aus.<br />

ALTMODISCHE IDEE<br />

Ein makaberer Marketinggag ist der Name.<br />

Das Produkt ist benannt nach dem apokalyptischen<br />

Siebzigerjahre-Film „Soylent<br />

Green – Jahr 2022... die überleben wollen“.<br />

Da entdeckt Hauptdarsteller Charlton Heston<br />

als Polizist Schreckliches: Die grünen<br />

Soylent-Kekse, welche die Behörden im<br />

überbevölkerten New York verteilen, bestehen<br />

aus Menschenfleisch. Denn die Nahrungsreserven<br />

der Erde sind durch Umweltverschmutzung<br />

zerstört. Rhinehart sieht seine<br />

Erfindung offensichtlich als ein Mittel,<br />

das zu verhindern.<br />

Überleben könnten Menschen mit dem<br />

Pulver wohl. Doch ob es gesund ist, bezweifelt<br />

Helmut Heseker stark. Der Paderborner<br />

Ernährungswissenschaftler und<br />

Präsident der Deutschen Gesellschaft für<br />

Ernährung findet Rhineharts Idee, Nahrung<br />

auf ihre Bestandteile zu reduzieren,<br />

extrem altmodisch: „Das könnte eine Idee<br />

aus den Siebzigerjahren sein, als Futurologen<br />

solche Szenarien entwickelten.“ Die<br />

moderne Forschung habe längst erkannt:<br />

Milch, Gemüse oder Obst mit ihrer Struktur<br />

und ihren Abertausenden von Substanzen<br />

sind viel mehr als ihre Einzelteile.<br />

Und eins scheint der Amerikaner auch<br />

zu übersehen: „Der Körper baut Muskeln<br />

und Knochen sehr schnell ab, wenn wir sie<br />

nicht nutzen“, sagt Heseker. Das gilt auch<br />

für Magen, Darm und Kauapparat.<br />

Rhinehart will mit seinem Pulver die<br />

Welt retten. Doch wer weiß: Vielleicht quälen<br />

ihn und seine Kunden bald Bauchschmerzen<br />

und wackelige Zähne. n<br />

susanne.kutter@wiwo.de<br />

Rhinehart hat bereits zwei Millionen Dollar eingesammelt<br />

FOTO: GETTY IMAGES/AFP/JOSH EDELSON<br />

78 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Management&Erfolg<br />

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ONLINE-BILDUNG | Vor dem Bildschirm statt im Hörsaal: Wie der Unterricht per Mausklick<br />

Studium und Weiterbildung verändert. Und wie Sie davon profitieren können.<br />

Spätestens bis Freitagabend<br />

wollte er mit der Lektion fertig<br />

sein. Doch Mirko Friedrich<br />

hinkt hinterher. Stress im Büro<br />

und die Planung des Mallorca-<br />

Urlaubs haben seinen Zeitplan durchkreuzt.<br />

Deshalb sitzt der Wirtschaftsinformatiker<br />

am Samstagabend mit dem Laptop<br />

auf der Couch und guckt sich Lernvideos<br />

über Cloud Computing an – es ist die<br />

vierte von sechs Lektionen seines Kurses.<br />

Vier Stunden pro Woche investiert der<br />

41-Jährige in sein Online-Studium, mal<br />

lernt er spontan zwischendurch, wenn ein<br />

Meeting ausfällt, mal direkt nach Feierabend<br />

im Büro oder zu Hause, wenn<br />

das TV-Programm mau ist. Und einmal<br />

in der Woche absolviert er einen<br />

Test, der seinen Lernfortschritt abfragt.<br />

Friedrich arbeitet als Projektmanager<br />

für firmeninterne soziale Netzwerke beim<br />

Softwarekonzern SAP. In dieser Position<br />

gehört Programmieren zwar nicht mehr zu<br />

seinen täglichen Aufgaben, dazulernen<br />

möchte er trotzdem. „Ich hatte keine Lust<br />

und Zeit, drei Tage am Stück in einem<br />

Schulungsraum zu sitzen“, sagt Friedrich.<br />

Also entschied er sich für einen MOOC.<br />

Die Abkürzung steht für Massive Open<br />

Online Course und bezeichnet eine im<br />

Netz abrufbare Video-Vorlesung ohne<br />

Hörsaal, Kommilitonen und Tafel. Fragen<br />

werden im Diskussionsforum beantwortet,<br />

Prüfungen und Hausarbeiten bewertet<br />

der Computer. Produziert hat den Cloud-<br />

Computing-Kurs Friedrichs Arbeitgeber<br />

SAP, der inzwischen alle Weiterbildungsangebote<br />

in digitaler Form anbietet, auch<br />

Interessenten außerhalb des Unterneh-<br />

370 000<br />

Teilnehmer hatte der<br />

bisher größte Kurs<br />

der Plattform Udacity<br />

mens – etwa zur Einführung seiner Speichertechnologie<br />

Hana. Allein 40 000 Menschen<br />

belegten den Kurs, darunter 80 Prozent<br />

externe Entwickler. „Die Form der<br />

MOOCs entspricht der Arbeitsweise von<br />

Entwicklern“, sagt Bernd Welz, Leiter der<br />

Bildungsplattform OpenSAP.<br />

Mit seiner digitalen Lernplattform gehört<br />

der Walldorfer Technologiekonzern<br />

hierzulande zwar noch zu den digitalen<br />

Vorreitern in Sachen Mitarbeiterweiterbildung,<br />

und auch deutsche Universitäten experimentieren<br />

noch kaum mit Online-Kursen.<br />

„In Deutschland ist die digitale Revolution<br />

noch eine schlafende Revolution“,<br />

bestätigt Jörg Dräger, Geschäftsführer<br />

des Centrums für Hochschulentwicklung.<br />

Doch der Blick in die USA zeigt, wohin<br />

auch hierzulande die Bildungsreise in absehbarer<br />

Zeit führen wird: Allein die US-<br />

Online-Plattform Coursera, sie sammelte<br />

2013 bei Investoren 85 Millionen Dollar<br />

ein, hat nach eigenen Angaben mittlerweile<br />

6,5 Millionen Nutzer aus mehr als <strong>10</strong>0<br />

Ländern. Sie können aus mehr als 600 Kursen<br />

wählen, darunter Lektionen zur Analyse<br />

von Algorithmen, kreatives Schreiben<br />

oder eine Einführung in die Philosophie.<br />

„Coursera ist keine Ersatz-Uni“, sagt<br />

Plattform-Gründer Andrew Ng, „sondern<br />

eine Chance, sich neben dem Beruf weiterzubilden.“<br />

IPAD STATT KREIDE UND TAFEL<br />

Doch klar ist: Nachdem Amazon den stationären<br />

Handel und Apple die Musikindustrie<br />

umgekrempelt und inzwischen Unternehmen<br />

aller Branchen begonnen haben,<br />

mit Hochdruck über neue digitale Geschäftsmodelle<br />

nachzudenken, werden<br />

Angebote wie die von SAP oder Coursera<br />

mittelfristig die Vermittlung von Wissen an<br />

Universitäten und Unternehmen verändern.<br />

Mit weißer Kreide auf grünem Grund<br />

zu lehren, das war einmal. Künftig wird vermehrt<br />

auf dem iPad gewischt oder mit der<br />

Maus geklickt. Und Bildung für alle möglich,<br />

die Zugang zum Internet haben – weitgehend<br />

unabhängig von Einkommen, Ort,<br />

Stundenplänen und Zulassungsprüfungen.<br />

Schon stellen renommierte Unis wie<br />

Harvard, Stanford oder das MIT ihre Kurse<br />

kostenlos und für jedermann zugänglich<br />

online. Laut Marktforschungsinstitut CB<br />

Insights pumpten 2012 Investoren allein in<br />

den USA 1,1 Milliarden Dollar in Bildungs-<br />

Startups. Von einer „goldenen Ära“<br />

schwärmt gar Bill Gates. Die Stiftung des<br />

Microsoft-Gründers spendete 1,5 Millionen<br />

Dollar an die amerikanische Lehrplattform<br />

Khan Academy, deren Gründer Salman<br />

Khan sich die Demokratisierung der<br />

Bildung auf die Fahnen geschrieben hat.<br />

„Ein Kind aus den Slums von Kalkutta“, sagt<br />

der Ex-Hedgefondsmanager, „hat so zumindest<br />

theoretisch ebenso Zugang zu unseren<br />

Videos wie ein Kind aus einem Vorort<br />

von Palo Alto“ (siehe Interview Seite 83).<br />

FOTO: KLAUS WEDDIG FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

80 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Vorlesung am<br />

Küchentisch<br />

Projektmanager<br />

Mirko Friedrich<br />

lernt, wo und<br />

wann er möchte<br />

Oder Köln-Kalk. Denn auch in Deutschland<br />

gibt es inzwischen Anhänger dieser<br />

barrierefreien Bildung – zum Beispiel Stephan<br />

Hartmann, Professor für Wissenschaftstheorie<br />

an der Münchner Ludwig-<br />

Maximilians-Universität. Im vergangenen<br />

Semester stand Hartmann jeden Montag<br />

im Hörsaal M 118 und hielt eine Vorlesung<br />

mit dem Titel „Theoretische Philosophie:<br />

Einführung in die Wissenschaftstheorie“ –<br />

vor etwa 150 Studenten aus München. Jeden<br />

Mittwoch hielt er außerdem eine Vorlesung<br />

über mathematische Philosophie<br />

mit dem Titel „Introduction to Mathematical<br />

Philosophy“ – vor einer Fernsehkamera<br />

in einem TV-Studio vor den Toren der<br />

Stadt. Diesen Vortrag ließ Hartmann mit<br />

Grafiken und kurzen Quizfragen ergänzen,<br />

stellte ihn am darauffolgenden Montag als<br />

erste deutsche Hochschule auf die Plattform<br />

Coursera – wo ihn etwa 50 000 Menschen<br />

aus aller Welt abriefen.<br />

Hartmanns virtuelle Mathematik-Vorlesung,<br />

aufgenommen in dessen Freizeit, ist<br />

einer von vier Online-Kursen, die die LMU<br />

bisher produzierte. Kosten: 50 000 Euro pro<br />

Kurs. 200000 Nutzer sahen sich die acht- bis<br />

zwölfminütigen Videos an – ein gutes Ergebnis<br />

für eine Hochschule mit etwas mehr<br />

als 50 000 eingeschriebenen Studenten.<br />

„Der Image-Effekt ist sicherlich positiv“, sagt<br />

Professor Hartmann, „wir wollen Bildung<br />

und Wissenschaft international verbreiten.“<br />

Andrew Ng ist vor sechs Jahren mit einem<br />

ähnlichen Anspruch angetreten. Damals<br />

begann der heute 37-jährige Professor für<br />

Künstliche Intelligenz an der Stanford-Universität,<br />

im Rahmen eines Uni-Projektes<br />

seine Vorlesungen über künstliche Intel-»<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 81<br />

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Management&Erfolg<br />

MOOC-RATGEBER<br />

Schlau<br />

durchs Netz<br />

WO GIBT ES WELCHE KURSE?<br />

Die drei bekanntesten Plattformen –<br />

Coursera, Udacity und edX – stammen<br />

aus den USA. Insgesamt bieten sie 760<br />

Kurse an, von der Beatles-Song-Analyse<br />

bis zur Katastrophenvorsorge. Die<br />

Mehrzahl der MOOCs transportieren allerdings<br />

naturwissenschaftliche Inhalte.<br />

Die meisten Kurse werden auf Englisch<br />

gehalten, eine Auswahl an deutschen<br />

Kursen bietet das Startup Iversity. In<br />

der Regel sind MOOCs kostenlos – wer<br />

allerdings auf ein Kurszeugnis Wert legt<br />

oder Zusatzleistungen wie einen persönlichen<br />

Assistenten bucht, muss bezahlen.<br />

Für ein Zertifikat werden zwischen<br />

35 und 130 Euro fällig, für die<br />

individuelle Rundumbetreuung verlangt<br />

beispielsweise Udacity bis zu 150 Euro<br />

pro Monat.<br />

WIE VIEL ZEIT KOSTET ES?<br />

Wollen Sie sich das Video eher unverbindlich<br />

anschauen oder auch die Abschlussprüfung<br />

absolvieren? Möchten<br />

Sie den Kurs mit einer guten Note abschließen,<br />

oder reicht die bloße Teilnahme<br />

aus? Je nach Anspruch und<br />

Kurs sollten Sie zwischen drei und<br />

sechs Stunden pro Woche einplanen.<br />

WELCHER KURS IST SINNVOLL?<br />

Grundsätzlich bieten MOOCs die Chance,<br />

sich in verschiedenen Fächern auszuprobieren.<br />

Trotzdem sind manche<br />

Kurse sinnvoller als andere. Suchen Sie<br />

sich ein Thema aus, das etwas mit Ihrer<br />

Arbeit oder einem Hobby zu tun hat. So<br />

können Sie Ihr neues Wissen gleich umsetzen.<br />

Genauso wichtig wie der Inhalt<br />

ist die Qualität des Kurses. Die technische<br />

Umsetzung sagt nicht unbedingt<br />

etwas über die Wertigkeit des Inhalts<br />

aus. Meist erkennt man aber schon anhand<br />

des Einführungsvideos, ob Ihnen<br />

der Dozent und seine Art zu lehren<br />

zusagt. Und entscheiden Sie anhand<br />

der Kursbeschreibungen, ob Vorkenntnisse<br />

nötig sind. Als Anfänger im<br />

Kurs für Fortgeschrittene ist Frust programmiert.<br />

»<br />

ligenz abzufilmen und kostenlos ins Internet<br />

zu stellen. Wer einen Internet-Zugang<br />

hatte, konnte sich diese Vorlesungen<br />

der US-Eliteuniversität ansehen – ein Privileg,<br />

das bis dahin nur wenigen klugen Köpfen<br />

gegen viel Geld vorbehalten war. „Plötzlich<br />

sprachen mich wildfremde Menschen<br />

auf der Straße an“, sagt Ng. „Das war das<br />

erste Signal, dass da etwas passiert.“<br />

Vier Jahre später gründete Ng mit seiner<br />

Kollegin Daphne Koller die Plattform<br />

Coursera und stellte weitere Vorlesungen<br />

ins Netz. <strong>10</strong>0 000 Menschen schauten sich<br />

allein den ersten Coursera-Kurs an – auch<br />

der deutschstämmige Stanford-Professor<br />

Sebastian Thrun. Er gründete kurz darauf<br />

mit Partnern die Plattform Udacity – schon<br />

seine erste Vorlesung über künstliche Intelligenz<br />

verfolgten mehr als 160 000 Menschen<br />

vor dem Bildschirm, darunter auch<br />

Thruns eigene Studenten. Das Ergebnis:<br />

Unter den 600 Top-Absolventen des Onlinekurses<br />

war keiner aus Stanford – am erfolgreichsten<br />

schnitten Teilnehmer aus<br />

Schwellenländern ab, die noch nie einen<br />

Hörsaal besucht hatten.<br />

Wer sich die Udacity-Kurse nicht nur<br />

kostenlos und unverbindlich ansehen<br />

möchte, kann dort mittlerweile einen persönlichen<br />

Betreuer buchen und ein Zertifikat<br />

bekommen – für umgerechnet rund<br />

150 Euro im Monat. Für rund 35 Euro gibt<br />

es auch bei Coursera ein Teilnahmezertifikat.<br />

Um Schummeleien zu verhindern, soll<br />

eine Software den Nutzer identifizieren:<br />

Schreibt er mit zwei oder zehn Fingern?<br />

Mit welchem Druck bearbeitet er die Tastatur?<br />

Und in welchem Tempo?<br />

Tipps<br />

Wie Sie Online-<br />

Kurse durchhalten,<br />

verrät<br />

Motivationscoach<br />

Martin Krengel<br />

»Wir wollen<br />

Wissenschaft und<br />

Bildung international<br />

verbreiten«<br />

Prof. Stephan Hartmann, LMU München<br />

HOHE ABBRECHERQUOTE<br />

Weil im Schnitt nur maximal jeder zehnte<br />

Teilnehmer einen Online-Kurs bis zum Ende<br />

verfolgt, setzt Ng außerdem auf die Lizenzierung<br />

von Inhalten – renommierte<br />

Unis verkaufen ihre Vorlesungen an kleine<br />

und unbekannte Unis. So könnten auch<br />

Hochschulen in der Provinz ihren Studenten<br />

Kurse aus Stanford oder Yale bieten.<br />

Davon träumt auch Hannes Klöpper – in<br />

der brandenburgischen Provinz. Vor drei<br />

Jahren gründete er zusammen mit<br />

einem Partner die MOOC-Plattform<br />

Iversity. Mittlerweile bietet<br />

das Unternehmen aus dem beschaulichen<br />

Örtchen Bernau bei<br />

Berlin 30 Kurse an und hat insgesamt<br />

350 000 Nutzer. Den erfolgreichsten<br />

Iversity-Kurs produzierte<br />

die Fachhochschule Potsdam:<br />

Mehr als 90 000 Teilnehmer belegten<br />

einen Kurs über neue Erzählformen<br />

(„The Future of Storytelling“).<br />

„Für die FH Potsdam war das ein toller<br />

Reputationsgewinn“, sagt Klöpper. „Fachhochschulen<br />

haben es normalerweise<br />

schwer, auf sich aufmerksam zu machen.“<br />

Mittlerweile erwirtschaftet der 30-Jährige<br />

mit 21 Mitarbeitern erste Umsätze. Wie Ng<br />

verlangt auch Iversity Gebühren für Abschlussprüfung<br />

und Zeugnisse – 129 Euro<br />

Ob Scheine wie diese auch wirklich im<br />

klassischen Uni-Betrieb anerkannt werden,<br />

sollten Online-Studenten vorab mit<br />

ihrer Hochschule klären. Die Amerikaner<br />

sind da weiter: Udacity bietet seinen Studenten<br />

seit Januar sogar einen Masterabschluss<br />

in Informatik als MOOC-Studium<br />

an – für 6600 Dollar.<br />

Für Berufstätige wie Mirko Friedrich sind<br />

solche Zeugnisse aber gar nicht so wichtig.<br />

„Die Teilnahme an dem MOOC zeigt meinem<br />

Arbeitgeber auch ohne Zertifikat, dass<br />

ich mich selbstständig weiterbilde und aufgeschlossen<br />

bin“, sagt der 41-Jährige, der<br />

den Kurs auch in seinen Lebenslauf aufnehmen<br />

will.<br />

Auch seine Abschlussklausur hat Friedrich<br />

inzwischen geschrieben – und mit 93<br />

Prozent der erreichbaren Punkte<br />

bestanden. Er gehört damit zu<br />

den besten zehn Prozent unter<br />

den Kursteilnehmern. Der Wirtschaftsinformatiker<br />

will künftig<br />

zwei bis drei MOOCs pro Jahr belegen.<br />

„Mich auf diese unkomplizierte<br />

Art weiterzuentwickeln“,<br />

sagt er, „ist einfach reizvoll.“ n<br />

lin.freitag@wiwo.de, patrick schultz<br />

FOTOS: CORBIS/ROBYN TWOMEY, PICTURE-ALLIANCE/DPA, PR<br />

82 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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INTERVIEW Salman Khan<br />

»Wie Kapitän Kirk«<br />

Warum ein Ex-Hedgefondsmanager Videos für die Zukunft<br />

der Bildung hält.<br />

Herr Khan, Sie wollen kostenlose Bildung<br />

für jeden und überall. Wie soll das gehen?<br />

Das Internet bietet uns zwei Chancen:<br />

Zum einen können wir Informationen<br />

weit verbreiten. Ein Kind aus den Slums<br />

von Kalkutta hat so zumindest theoretisch<br />

ebenso Zugang zu unseren Videos<br />

wie ein Kind aus einem Vorort von Palo<br />

Alto. Zweitens können wir Bildung personifizieren:<br />

Der Computer weiß, was der<br />

Schüler schon gelernt hat und was nicht.<br />

So kann er ihn mit den richtigen Videos<br />

und Übungen versorgen, und jeder Schüler<br />

bekommt seinen eigenen Lehrplan.<br />

Wer nutzt Ihre Videos und Übungen?<br />

Wir verteilen unsere Materialien an<br />

Zehntausende Schulen. Aber auch Studenten<br />

nutzen die Videos. Wenn etwa<br />

am nächsten Tag eine Klausur<br />

über Thermodynamik ansteht und<br />

sie auf einmal merken: Mist, jetzt habe<br />

ich das ganze Semester etwas<br />

über, sagen wir mal, Enthalpie, gehört,<br />

aber was ist das eigentlich?<br />

Dann gucken sie sich Videos an, in<br />

denen Enthalpie erklärt wird. Wieder<br />

andere wollen vielleicht einen<br />

ganzen Thermodynamik-Kurs belegen,<br />

es fehlt ihnen aber an grundlegendem<br />

Wissen. Ihnen hilft ein<br />

Lern-Algorithmus, der einschätzt,<br />

wo sie beginnen sollen. Insgesamt<br />

haben wir jeden Monat zehn Millionen<br />

Nutzer, 60 Prozent von ihnen<br />

kommen aus den USA.<br />

Und bald soll es die Khan Academy<br />

auf der ganzen Welt geben?<br />

Wir befinden uns auf dem Weg dahin.<br />

Mittlerweile gibt es Videos auf<br />

Spanisch, Portugiesisch, Französisch,<br />

Dänisch und sogar Kisuaheli.<br />

Vor Kurzem sind wir auch in<br />

Deutschland gestartet.<br />

Warum braucht Deutschland Sie?<br />

Weil wir das Schulsystem revolutionieren<br />

müssen – auch in Deutschland. Das heutige<br />

Bildungssystem kommt aus dem Preußen<br />

des 18. Jahrhunderts. Schüler wurden<br />

durch einen festgelegten Prozess ausgefiltert.<br />

Sie machen einen Test, und nur wer besteht,<br />

darf sein Potenzial ausschöpfen: Manche<br />

studieren Jura oder Medizin, andere<br />

dürfen nicht studieren und werden Handwerker.<br />

Ich glaube aber, dass die meisten<br />

Leute mehr Potenzial haben, als wir denken.<br />

Wie hoch war die Analphabetenquote in Irland<br />

vor 400 Jahren?<br />

Sagen Sie es uns.<br />

Im Jahr 1600 konnten in Irland 20 Prozent<br />

der Männer und <strong>10</strong> Prozent der Frauen lesen.<br />

Hätten Sie damals einen Iren gefragt,<br />

welcher Prozentsatz der Bevölkerung überhaupt<br />

intellektuell in der Lage sei, lesen zu<br />

lernen, hätte er gesagt: Vielleicht 30 Prozent?<br />

Heute wissen wir, dass 99 Prozent der Bevölkerung<br />

lesen lernen können.<br />

DER VIDEO-PROFESSOR<br />

Khan, 37, betreibt seit 2008<br />

die nach ihm benannte Online-Bildungsplattform<br />

Khan Academy. Zehn Millionen<br />

Bildungshungrigen bietet der Ex-Investmentbanker<br />

dort pro Monat Nachhilfe per Video.<br />

Was sagt uns das?<br />

Wir haben immer noch die gleichen<br />

Scheuklappen auf. Wie viele Menschen<br />

können auf dem Gebiet der Quantenphysik<br />

forschen? Heute denken wir, vielleicht<br />

ein Prozent der Bevölkerung. Aber<br />

möglicherweise ist die richtige Antwort<br />

20 Prozent. Oder 30 oder sogar <strong>10</strong>0 Prozent!<br />

Und dieses verschwendete Potenzial<br />

wollen Sie mit Ihren Videos heben?<br />

Je länger ich an der Khan Academy arbeite,<br />

desto mehr weiß ich: Schüler schalten<br />

ab, weil sie frustriert sind. Ihnen fehlen<br />

ein paar Grundlagen, zum Beispiel haben<br />

sie die negativen Zahlen verpasst,<br />

und jetzt verstehen sie Algebra nicht.<br />

Wenn man ihnen erlaubt, diese Grundlagen<br />

nachzuholen, können mittelmäßige<br />

oder unterdurchschnittliche Schüler<br />

zu den Besten ihrer Klasse gehören. Fast<br />

90 Prozent der Schüler lassen sich für<br />

ein Thema begeistern. Im Jahr 1800 wäre<br />

das ein Problem gewesen, weil es in den<br />

Fabriken für diese Leute keine Jobs<br />

gab. Aber jetzt haben wir das entgegengesetzte<br />

Problem.<br />

Wir brauchen mehr Kreative?<br />

Im Optimalfall nähern wir uns der<br />

Welt der Science-Fiction-Serie<br />

„Star Trek“: Da arbeitet auch niemand<br />

im traditionellen Sinne. Keiner<br />

sagt: Ich muss mal den Boden<br />

wischen. Um all das kümmert sich<br />

die Technik. In dieser Welt ist jeder<br />

Mensch ein Forscher, Künstler<br />

oder Wissenschaftler, sie sind alle<br />

Mitglieder der kreativen Klasse.<br />

Sie selbst wechselten auch erst<br />

in Ihrer zweiten Karriere zur kreativen<br />

Klasse.<br />

Ich habe jahrelang als Analyst bei<br />

einem Hedgefonds gearbeitet.<br />

Dort habe ich viel Geld verdient,<br />

aber nicht meine Erfüllung gefunden.<br />

Irgendwann fragte mich meine<br />

kleine Cousine Nadja, ob ich ihr<br />

Nachhilfe in Mathematik geben<br />

könne. Da sie in New Orleans<br />

wohnte und ich in Boston, unterrichtete<br />

ich sie via Telefon und Yahoo<br />

Doodle. Das sprach sich rum,<br />

ich bekam immer mehr Nachhilfeschüler.<br />

Aus Zeitgründen filmte ich die Lektionen<br />

ab und lud sie bei YouTube hoch.<br />

Jetzt verdiene ich zwar weniger, aber ich<br />

bin zufrieden.<br />

n<br />

patrick schultz, lin.freitag@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 83<br />

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Management&Erfolg<br />

Digitale Architekten<br />

BERATER | Neue Geschäftsmodelle, mehr Transparenz, mehr Wettbewerb: wie die Digitalisierung<br />

die Beraterbranche verändert.<br />

Ende der Achtzigerjahre heuerte er<br />

bei der einstigen US-Beratungssparte<br />

von Arthur Andersen als Consultant<br />

an und half Kunden dabei, mit IT Organisation<br />

und Prozesse effizienter zu gestalten.<br />

Um die Jahrtausendwende baute er in<br />

Indien, auf den Philippinen, in Brasilien<br />

und in China die IT-Servicecenter auf,<br />

die Accenture schließlich zum führenden<br />

IT-, Beratungs- und Outsourcing-Dienstleister<br />

mit 280 000 Mitarbeitern wachsen<br />

ließ. Mittlerweile ist Frank Riemensperger<br />

Deutschland-Chef von<br />

Accenture und sieht die dritte<br />

Digitalisierungswelle auf<br />

die Wirtschaft zurollen.<br />

Diesmal erfasst sie alle<br />

Lebensbereiche. Accentures<br />

Rolle: Gemeinsam<br />

mit seinen Kunden will<br />

der 51-Jährige neue<br />

digitale Geschäftsmodelle<br />

aufbauen<br />

– etwa als Co-Investor<br />

der Omnetric<br />

Group,<br />

eines Joint Venture<br />

mit Siemens.<br />

Mit derzeit<br />

<strong>10</strong>0 Mitarbeitern<br />

soll das Startup Energieversorgern<br />

in Europa und den<br />

USA beim Aufbau und Betrieb intelligenter<br />

Stromnetze helfen. Siemens liefert die<br />

Technik, Accenture die Expertise bei Beratung,<br />

Systemintegration, Installation und<br />

Management von Softwarelösungen.<br />

KOMPLEXE DATENWELTEN<br />

Die Idee hinter der Kooperation: Um trotz<br />

des steigenden Anteils dezentral erzeugter<br />

Energie Versorgungssicherheit garantieren<br />

zu können, muss die Energiewirtschaft<br />

hohe Summen in intelligente Steuerungssysteme<br />

stecken. Viele Energieversorger<br />

scheuen allerdings noch vor den hohen<br />

Investitionen und dem komplexen Datenmanagement<br />

zurück – eine Chance für Accenture,<br />

das Geschäft zu übernehmen.<br />

„Rund die Hälfte unseres weltweiten<br />

Umsatzes machen wir bereits heute<br />

außerhalb des klassischen<br />

Projektgeschäfts“, sagt Riemensperger.<br />

„Unternehmen<br />

dabei zu unterstützen,<br />

intelligente<br />

Produkte<br />

im intelligenten Netz zu betreiben,<br />

wird der nächste große Trend<br />

im Beratergeschäft sein.“<br />

Ob Handel, Automobilbranche oder<br />

Energiesektor: Weil sich neue Technologien<br />

wie Smartphones, virtuelle Datenspeicher<br />

oder Software, die Kundendaten<br />

in Echtzeit analysiert, massenhaft verbreiten,<br />

müssen Unternehmen aus so<br />

gut wie allen Branchen ihre Geschäftsmodelle<br />

radikal überdenken. Diese Entwicklung<br />

aufseite der Kunden hat deutliche<br />

Folgen auch für die Beraterbranche:<br />

Zum einen wird die Verbreitung digitaler<br />

Technologien klassische<br />

Strategieberatung immer unwichtiger<br />

machen. „Exklusives<br />

Wissen – einst Hauptressource der<br />

Berater – wird immer mehr zum breit<br />

verfügbaren Allgemeingut“, sagt Frank<br />

Höselbarth von der Frankfurter Agentur<br />

People + Brand Agency, einem Partner des<br />

WirtschaftsWoche-Wettbewerbs Best of<br />

Consulting, dessen Ausschreibung gerade<br />

begonnen hat (siehe Bedingungen im<br />

nebenstehenden Kasten).<br />

WERTLOSE STRATEGIEN<br />

Statt klassischer Projektgeschäfte,<br />

in denen Berater<br />

etwa aus der Organisation<br />

bestehender<br />

Logistikketten oder den<br />

Abläufen in Produktionshallen<br />

von<br />

Automobilherstellern<br />

oder<br />

Pharmakonzernen<br />

die<br />

letzten Prozente<br />

Effizienzreserven<br />

herauszuquetschen<br />

versuchen und<br />

über den Abbau<br />

von Personal sinnieren,<br />

ist nun die Entwicklung<br />

völlig neuer Geschäftsmodelle<br />

gefragt, die die Chancen einer<br />

zunehmenden Digitalisierung der Wertschöpfungskette<br />

nutzen. Statt Heerscharen<br />

smarter PowerPoint-Auflegern<br />

sind nun in der digitalen Welt<br />

erfahrene Praktiker, Geschäftsmodell-Architekten<br />

und Technologieexperten<br />

gefragt.<br />

Und das in völlig neuen Organisationsformen:<br />

Statt ganze Teams von Beratern<br />

fest an sich zu binden, kaufen Consultinghäuser<br />

Expertise freiberuflicher Fachleute<br />

künftig immer öfter auf Zeit ein – auch weil<br />

Kunden zusehends weniger bereit sind,<br />

die hohen Personalkosten der Berater auf<br />

sich abwälzen zu lassen.<br />

84 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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ILLUSTRATION: DMITRI BROIDO; FOTO: PR<br />

„Strategische Beratung, die die Möglichkeiten<br />

der digitalen Technologien ausblendet,<br />

ist heute so gut wie wertlos. Unternehmen<br />

brauchen Berater, die sie in das<br />

neue digitale Zeitalter begleiten“, sagt Eva<br />

Manger-Wiemann, Partnerin der Schweizer<br />

Meta-Consultingfirma Cardea. „Ich<br />

bezweifle aber, ob jedes Beratungshaus<br />

dafür die richtigen Leute an Bord hat.“<br />

Gesucht sind Berater, die die enormen<br />

Datenmengen ihrer Kunden analysieren<br />

und daraus tragfähige Geschäftsmodelle<br />

entwickeln können. Oder Designexperten,<br />

die erkennen, wie die Digitalisierung<br />

Wünsche und Bedürfnisse der Konsumenten<br />

verändert.<br />

»Unsere<br />

Geschäftsmodelle<br />

sollen die unserer<br />

Kunden schlagen«<br />

BCG-Manager Schumacher<br />

NEUE DIGITALABTEILUNGEN<br />

Marktführer McKinsey etwa baut aus diesem<br />

Grund gerade eine eigene Abteilung<br />

für Big Data und Business Analytics auf.<br />

Die Mitarbeiter dieses neuen Bereichs sollen<br />

Daten aus öffentlich zugänglichen<br />

Quellen systematisch im Interesse der<br />

Kunden auswerten. Konkurrent Boston<br />

Consulting Group, Nummer zwei in der<br />

Branche, gründete mit BCG Digital Ventures<br />

gar eine 300 Mitarbeiter starke digitale<br />

Speerspitze, mit der das Unternehmen<br />

den Schritt weg von der reinen Ratgeberrolle<br />

hin zum praxiserfahrenen Architekten<br />

von digitalen Geschäftsmodellen wagen<br />

will. Das Ziel: weltweit strategische Allianzen<br />

mit internationalen Konzernen zu<br />

knüpfen und für diese Unternehmen Startups<br />

mit digitalen Geschäftsmodellen aufzubauen.<br />

„Wir entwickeln Geschäftsmodelle, mit<br />

denen wir die unserer Kunden schlagen<br />

können“, sagt Jeff Schumacher, Leiter<br />

des Boston-Consulting-Ablegers BCG<br />

Ventures.<br />

ERFOLGSABHÄNGIGE HONORARE<br />

Das hat Folgen auch für die Berater selbst:<br />

Statt der üblichen Tagessätze sollen Honorare<br />

über Lizenzgebühren und Umsatzbeteiligungen<br />

fließen.<br />

Nicht auszuschließen, dass der Gehaltsscheck<br />

für den einen oder anderen Berater<br />

künftig niedriger ausfallen wird als gewohnt.<br />

Denn Konkurrenz kommt künftig<br />

nicht mehr nur von klassischen Beratungshäusern,<br />

sondern von Konzernen<br />

wie Amazon, Facebook oder Google – also<br />

Unternehmen, deren Geschäftsmodell generisch<br />

mit dem Internet verbunden ist.<br />

Und die nicht nur über Millionen Datensätze<br />

verfügen, sondern auch in der Lage<br />

sind, diese intelligent und gewinnbringend<br />

zu analysieren.<br />

Hinzu kommt:Die digitale Technik wird<br />

die Beraterarbeit effizienter machen. So<br />

bietet das Schweizer Beratungshaus Humatica<br />

EDV- und webbasierte Analysetools<br />

an, mit denen Unternehmen selbst<br />

einen Großteil der Analysearbeit erledigen<br />

können, die früher ganze Beratertruppen<br />

beschäftigt hat. Und statt die Zahl der festangestellten<br />

Berater in die Höhe zu<br />

schrauben, kaufen sie immer häufiger freiberuflich<br />

tätige, externe Spezialisten auf<br />

Zeit ein. Die für ihr jeweiliges Projekt passenden<br />

Experten finden sich dank der<br />

neuen digitalen Welt immer häufiger über<br />

Beraterplattformen wie die Suchmaschine<br />

Consultingsearcher. „Kleinere Beratungsspezialisten<br />

hatten früher im Wettbewerb<br />

mit den großen Beratungshäusern kaum<br />

eine Chance, weil sie einfach zu unbekannt<br />

und potenzielle Auftraggeber zu unsicher<br />

waren, ob ihre Qualität auch wirklich<br />

stimmt“, sagt Cardea-Chefin Eva Manger-Wiemann.<br />

„Dank unserer strengen Bewertungskriterien<br />

haben jetzt aber auch<br />

weniger bekannte Qualitätsadressen eine<br />

Chance am Markt.“<br />

n<br />

julia leendertse | erfolg@wiwo.de<br />

BEST OF CONSULTING<br />

Der Berater-TÜV<br />

Die WirtschaftsWoche sucht<br />

wieder Deutschlands beste<br />

Unternehmensberatungen.<br />

In einem dreistufigen<br />

Wettbewerb<br />

macht sich die<br />

WirtschaftsWoche<br />

ab sofort wieder<br />

auf die Suche nach<br />

Deutschlands<br />

besten Unternehmensberatungen:<br />

Bewertet werden bei Best of Consulting,<br />

der in diesem Jahr zum fünften<br />

Mal ausgeschrieben wird, sowohl der<br />

Ruf als auch die Leistung der Berater<br />

jeweils aus Kundensicht. Dafür befragt<br />

die WirtschaftsWoche derzeit 1500<br />

deutsche Unternehmen nach ihrer<br />

Meinung zu 40 großen und mittleren<br />

Beratungshäusern.<br />

NEUE KATEGORIEN<br />

Erstmals werden die Auftraggeber auch<br />

nach den wichtigsten Beratungsthemen<br />

<strong>2014</strong> gefragt – und welchen Unternehmensberatungen<br />

sie in diesem Feld die<br />

größte Expertise zutrauen. Außerdem<br />

neu im Programm von Best of Consulting:<br />

ein Leistungsvergleich zwischen<br />

Inhouse-Consultants und externen Beratern.<br />

Das dritte Element des Wettbewerbs<br />

besteht aus der zweistufigen Bewertung<br />

von Kundenprojekten durch einen hochkarätigen<br />

Fachbeirat sowie eine prominent<br />

besetzte Jury unter Vorsitz von<br />

WirtschaftsWoche-Chefredakteur Roland<br />

Tichy. Bewerbungen sind möglich<br />

in den Disziplinen Wettbewerbsstrategie,<br />

Marketing und Vertrieb, Supply-<br />

Chain-Management, Finanz- und Risikomanagement,<br />

IT-Management, Personalmanagement<br />

und Restrukturierung.<br />

BEWERBUNGEN BIS 2. JUNI<br />

Anmeldeschluss für diesen Teil des<br />

Wettbewerbs ist der 2. Juni <strong>2014</strong>. Die<br />

Preisverleihung findet voraussichtlich<br />

Ende Oktober in Düsseldorf statt.<br />

Details zu Ausschreibung und Teilnahmebedingungen<br />

finden Sie unter<br />

wiwo.de/best-of-consulting<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 85<br />

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Geld&Börse<br />

»Versuchen kann<br />

man’s ja mal«<br />

STEUERN | Hand aufs Herz: Haben Sie schon mal bei der Steuer, sagen wir mal:<br />

Spielräume stark zu Ihren Gunsten ausgelegt? Wir zeigen anhand von zehn<br />

verbreiteten Tricks, wie schnell unbescholtene Bürger zu Hinterziehern werden –<br />

und welche Konsequenzen drohen.<br />

Die Deutschen haben eine klare<br />

Haltung: Steuerhinterziehung<br />

ist unmoralisch – zumindest<br />

dann, wenn die Täter reich<br />

sind. Satte 99 Prozent der Bundesbürger<br />

finden es laut Forsa-Umfrage<br />

„nicht in Ordnung“, wenn Wohlhabende<br />

oder Prominente den Staat betrügen.<br />

Bei uns und unseren Nachbarn sind wir<br />

jedoch weniger streng – immerhin zehn<br />

Prozent der Befragten äußerten Verständnis<br />

dafür, wenn Normalbürger bei der<br />

Steuer tricksen. Und sogar 13 Prozent<br />

stimmten folgender Aussage zu: „Wenn ich<br />

mit der Steuererklärung ein bisschen<br />

schummle oder jemanden ohne Rechnung<br />

beschäftige, hole ich mir doch nur zurück,<br />

was der Staat mir wegnimmt.“ Die Dunkelziffer<br />

derer, die so denken, es aber lieber<br />

nicht sagen, dürfte hoch sein.<br />

Experten fürchten, dass sich angesichts<br />

der jüngsten Selbstanzeigewelle immer<br />

mehr Schummler im Recht fühlen. Vor allem<br />

Delikte von Reichen seien „Gift für die<br />

Steuermoral“, sagt Dominik Ernste, Wirtschaftsethiker<br />

beim Institut der deutschen<br />

Wirtschaft in Köln.<br />

Bei vielen lautet offenbar das Motto:<br />

Wenn Leute wie Uli Hoeneß oder Alice<br />

Schwarzer riesige Summen in der Schweiz<br />

haben, darf ich kleines Licht wohl doch ein<br />

bisschen tricksen. Jemand, der einem dabei<br />

moralische Rückendeckung gibt, findet<br />

sich. So konstatierte jüngst das Anlegerblatt<br />

„Smart Investor“ feinsinnig, Hinterziehung<br />

sei keineswegs Diebstahl. „Stehlen<br />

kann man nur etwas, was sich im Besitz eines<br />

anderen befindet. Beim Akt der Steuerhinterziehung<br />

ist es aber so, dass im eigenen<br />

Besitz befindliches Vermögen nicht an<br />

das Finanzamt abgeführt wurde.“ Und so<br />

wird in den nächsten Wochen wieder mancher<br />

in Versuchung geraten, wenn er seine<br />

Steuererklärung für 2013 macht. Doch Vorsicht:Auch<br />

vermeintlich kleine Schummeleien<br />

können harte Folgen haben.<br />

Denn während sie sich früher oft mit einer<br />

Nachzahlung zufriedengaben, wenn<br />

sie Schummlern auf die Schliche kamen,<br />

kennen die Behörden heute keine Gnade<br />

mehr. „Es gibt seit einigen Jahren die klare<br />

Noch nicht final<br />

geklärt ist, ob<br />

eine Arbeitsecke<br />

im Wohnzimmer<br />

absetzbar ist<br />

Tendenz, auch bei kleineren Vergehen<br />

Steuerstrafverfahren einzuleiten“, sagt Michael<br />

Weber-Blank, Strafverteidiger und<br />

Partner der Kanzlei Brandi Rechtsanwälte<br />

in Hannover. Und wenn es dazu kommt,<br />

haben Betroffene ein Problem. Denn: „Im<br />

Steuerstrafrecht gibt es keine Bagatellgrenze“,<br />

erklärt Rainer Biesgen, Steueranwalt in<br />

der Kanzlei Wessing & Partner. Selbst kleine<br />

Hinterziehungssummen können deshalb<br />

zu hohen Bußgeldern führen (siehe<br />

Kasten Seite 89). Anhand von zehn verbreiteten<br />

Tricks zeigen wir, wann die Grenze<br />

zur Steuerhinterziehung überschritten ist –<br />

und welche Konsequenzen drohen:<br />

1. ARBEITSZIMMER<br />

A Im Wohnzimmer der Außendienstmitarbeiterin<br />

Daniela E. steht ein Schreibtisch,<br />

an dem sie bisweilen arbeitet. Sie stuft den<br />

Raum als häusliches Arbeitszimmer ein<br />

und macht gemäß von dem Anteil des<br />

Wohnzimmers an der Gesamtfläche ihrer<br />

Wohnung 25 Prozent der Jahresmiete von<br />

6000 Euro als Werbungskosten geltend.<br />

Wer keinen Schreibtisch beim Arbeitgeber<br />

hat, darf fürs Home-Office bis zu 1250<br />

Euro pro Jahr steuermindernd geltend machen.<br />

„Das gilt allerdings nur, wenn das<br />

Zimmer fast ausschließlich beruflich genutzt<br />

wird“, sagt der Düsseldorfer Steuerberater<br />

Krischan Treyde. Da dies bei Daniela<br />

E. nicht der Fall ist, ist sie in den Augen der<br />

Behörden eine Steuerhinterzieherin.<br />

Da dürfte ihr auch ein Urteil des Finanzgerichts<br />

Köln nicht helfen: Die rheinischen<br />

Richter meinen, dass Steuerpflichtige auch<br />

eine „Arbeitsecke“ im Wohnzimmer absetzen<br />

dürfen (<strong>10</strong> K 4126/09). Final muss darüber<br />

noch der Bundesfinanzhof in München<br />

entscheiden, das oberste deutsche<br />

Steuergericht.<br />

Aber: „Wer den gesamten Raum absetzt,<br />

obwohl er nur einen Teil beruflich nutzt,<br />

kann den Vorwurf der Hinterziehung wohl<br />

nicht durch Verweis auf dieses Urteil entkräften“,<br />

sagt Steuerberater Treyde. Zudem<br />

könnte E. die Beamten wohl kaum davon<br />

überzeugen, dass ihr größter Raum, in dem<br />

sie nun ein Eckchen zum Arbeiten nutzt,<br />

erst neuerdings das Wohnzimmer ist, im<br />

letzten Jahr aber, auf das sich die Steuererklärung<br />

bezieht, noch ein reinrassiges Arbeitszimmer<br />

gewesen sein soll. »<br />

ILLUSTRATION: FRANCESCO BONGIONRNI<br />

86 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Von Arbeitszimmer bis Verpflegung<br />

Werbungskostenart<br />

Arbeitszimmer<br />

Weg zur Arbeit<br />

Übrige Werbungskosten 1<br />

Arbeitsmittel<br />

Doppelte Haushaltsführung<br />

Beiträge Berufsverbände<br />

Geschäftsreisekosten<br />

Verpflegungsmehraufwand<br />

Fälle (in<br />

Millionen)<br />

0,55<br />

13,<strong>03</strong><br />

12,08<br />

9,24<br />

0,41<br />

3,58<br />

0,91<br />

2,<strong>10</strong><br />

Durchschnittliche<br />

Summe (Euro)<br />

<strong>10</strong>15<br />

16<strong>03</strong><br />

448<br />

256<br />

4721<br />

230<br />

1735<br />

816<br />

Anteil der Kostenarten an den angesetzten<br />

Werbungskosten<br />

59,3<br />

%<br />

Weg zur Arbeit<br />

15,3 Übrige<br />

6,7<br />

5,4<br />

1,6<br />

2,3<br />

4,5<br />

4,9<br />

Arbeitsmittel<br />

Doppelte<br />

Haushaltsführung<br />

Arbeitszimmer<br />

Beiträge<br />

Berufsverbände<br />

Geschäftsreisekosten<br />

Verpflegungsmehraufwand<br />

1) zum Beispiel Kosten für Telefonate und Schreibwaren; Daten auf Basis der 2008 eingereichten und endgültig<br />

abgeschlossenen Erklärungen; Quelle: Destatis<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 87<br />

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Geld&Börse<br />

2. Pendlerpauschale<br />

A Arbeitnehmer Andreas B. fährt jeden<br />

Morgen 17 Kilometer zur Arbeit. Bei der<br />

Berechnung der Pendlerpauschale rundet<br />

er auf 20 Kilometer auf und kann dadurch<br />

rund 220 Euro mehr absetzen.<br />

„Steuerpflichtige sind zu korrekten Angaben<br />

verpflichtet, deshalb ist das ein klarer<br />

Fall von Hinterziehung“, sagt Weber-<br />

Blank. Das würden viele Steuerzahlende<br />

aber nicht so empfinden, während sie im<br />

nächsten Atemzug über prominente Steuerhinterzieher<br />

schimpfen.<br />

Das Entdeckungsrisiko ist bei Kilometer-<br />

Tricksereien hoch. Finanzbeamte kennen<br />

die Region und können Angaben bequem<br />

per Internet-Routenplaner überprüfen.<br />

„Steuerzahler sind dann in der Hand des<br />

Beamten“, warnt Weber-Blank. „Wenn sie<br />

Glück haben, kürzt er nur die Pauschale –<br />

wenn sie Pech haben, leitet er gleichzeitig<br />

ein Strafverfahren ein.“ Der Anreiz ist besonders<br />

hoch, wenn der Pendler bereits<br />

mehrere Jahre geschummelt hat.<br />

War es sein erstes Mal, kann er glimpflich<br />

davonkommen: Wer direkt auffliegt,<br />

wird nur der „versuchten“ Hinterziehung<br />

bezichtigt – und das gibt oft einen Strafrabatt<br />

von rund 50 Prozent (siehe Seite 89).<br />

Als abgeschlossen gilt die Tat, sobald der<br />

Steuerbescheid zugestellt wird, der auf falschen<br />

Angaben beruht.<br />

3. Bewirtungskosten<br />

A Unternehmerin Britta C. hat anlässlich<br />

ihres Geburtstags zahlreiche Freunde und<br />

auch einige Geschäftspartner in die Firmenräume<br />

eingeladen. Die Rechnung <strong>vom</strong><br />

Catering-Service über 2<strong>10</strong>0 Euro setzt sie<br />

in der Steuererklärung zu 70 Prozent –<br />

dem gesetzlichen Maximum – als geschäftlich<br />

veranlasste Bewirtungskosten ab.<br />

Die Linie der Finanzbehörden ist eindeutig:<br />

„Bei privaten Anlässen wie einem<br />

Geburtstag erkennen sie Bewirtungskosten<br />

nicht an – selbst, wenn Geschäftspartner<br />

anwesend waren“, erklärt Steuerberater<br />

Treyde. Die Finanzgerichte sähen das leider<br />

genauso.<br />

Aber droht auch ein Strafverfahren? Ja.<br />

„Wer die Kosten in Höhe des gesetzlichen<br />

Maximums absetzt, obwohl nur einige Geschäftspartner<br />

unter den Gästen waren,<br />

muss mit dem Vorwurf der Steuerhinterziehung<br />

rechnen“, warnt Treyde. Rechtfertigen<br />

lässt sich dagegen der Versuch, 70<br />

Wer den Maler schwarzarbeiten lässt,<br />

leistet Beihilfe zur Hinterziehung<br />

Prozent der auf die anwesenden Geschäftspartner<br />

entfallenden Kosten abzusetzen.<br />

Nach bisheriger Ansicht der Finanzgerichte<br />

ist zwar auch ein solcher anteiliger<br />

Abzug unzulässig. Da dies unter Experten<br />

aber umstritten ist, würde wohl<br />

kaum ein Richter einen Hinterziehungsversuch<br />

attestieren.<br />

Allerdings bliebe trotzdem ein Risiko.<br />

„Ich erlebe immer öfter, dass Betriebsprüfer<br />

auch bei vertretbaren Rechtsauffassungen,<br />

die nicht denen der Finanzverwaltung<br />

entsprechen, Vorsatz unterstellen“, sagt<br />

Strafverteidiger Weber-Blank. Deshalb ist<br />

Vorsicht geboten. „Betroffene sollten unbedingt<br />

in einem Anhang zur Steuererklärung<br />

kurz den Sachverhalt erläutern“, rät<br />

Treyde. Dann seien strafrechtliche Vorwürfe<br />

später ausgeschlossen.<br />

4. Verlust bei Vermietung<br />

A Manager Claus D. hat das Dachgeschoss<br />

für 30 000 Euro renoviert und vermietet<br />

es an seine Tochter, die auswärts<br />

studiert, aber an den Wochenenden heimkommt<br />

und die Wohnung nutzt. Die Kosten<br />

zieht D. in der Steuererklärung von den geringen<br />

Mieteinnahmen ab. Dadurch entsteht<br />

ein Vermietungsverlust von 28 000<br />

Euro, den er mit seinem Gehalt verrechnet.<br />

„Wegen der hohen Missbrauchsanfälligkeit<br />

schauen Finanzbeamte bei Vermietungen<br />

an Angehörige sehr genau hin“, sagt<br />

Marcus Hornig von der WTS Steuerberatungsgesellschaft.<br />

So komme es vor, dass<br />

Beamte persönlich erscheinen, um die<br />

Wohnung in Augenschein zu nehmen.<br />

„Entscheidend ist dann“, so Hornig, „ob es<br />

sich um einen abgetrennten Bereich mit eigenem<br />

Zugang, Bad und zumindest einer<br />

Kochecke handelt, der auch an einen Familienfremden<br />

vermietet werden könnte.“<br />

Ist das nicht der Fall, unterstellen die Beamten<br />

ein „fingiertes Mietverhältnis“ – und<br />

leiten ein Strafverfahren ein.<br />

Auch sonst muss alles laufen wie unter<br />

„fremden Dritten“. So ist Papa verpflichtet,<br />

einen Mietvertrag mit seiner Tochter abzuschließen<br />

und ihr mindestens 66 Prozent<br />

der „ortsüblichen Vergleichsmiete“ abzuknöpfen.<br />

Wie oft sie tatsächlich vor Ort ist,<br />

ist dagegen egal. Besonders oft fliegen fingierte<br />

Mietverhältnisse auf, wenn der<br />

Nachwuchs irgendwann weg ist und die Eltern<br />

keinen Nachmieter suchen. „Dann<br />

liegt die Vermutung nahe, dass sie von Anfang<br />

an keine dauerhafte Vermietung geplant<br />

haben, sondern nur die Renovierungskosten<br />

von der Steuer absetzen wollten“,<br />

sagt Hornig. Beamte würden sich das<br />

Thema gerne auf Wiedervorlage legen und<br />

einige Jahre später nachhaken.<br />

5. Putzhilfe<br />

A Der Rentner Ewald F. beschäftigt seit<br />

fünf Jahren für zehn Euro pro Stunde eine<br />

Putzhilfe. Sie kommt montags und donnerstags<br />

für jeweils fünf Stunden und kassiert<br />

somit <strong>10</strong>0 Euro pro Woche – schwarz.<br />

Die „Finanzkontrolle Schwarzarbeit“<br />

macht zwar keine Razzien in Privathäusern.<br />

Trotzdem geraten immer wieder Pri-<br />

ILLUSTRATION: FRANCESCO BONGIONRNI<br />

88 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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vatleute ins Visier – etwa, weil Nachbarn<br />

das Finanzamt informiert haben. „Wir bekommen<br />

hierzu viele anonyme Anzeigen“,<br />

berichtet ein Steuerfahnder.<br />

Und dann hätte Ewald F. ein Problem.<br />

Denn de facto ist er Arbeitgeber – und wäre<br />

damit verpflichtet, Lohnsteuer einzubehalten.<br />

Macht er das nicht, wird er selbst zum<br />

Hinterzieher. Immerhin: Die Behörden<br />

werten die Beschäftigung von Schwarzarbeitern<br />

im Minijob-Umfang gemäß einer<br />

Sondervorschrift nicht als Hinterziehung,<br />

sondern als „leichtfertige Steuerverkürzung“<br />

– und damit als Ordnungswidrigkeit.<br />

„Betroffene müssen dann zwar auch eine<br />

Geldbuße zahlen, gelten aber nicht als<br />

vorbestraft“, erklärt Biesgen von Wessing &<br />

Partner. Wie hoch die Buße ausfällt, hängt<br />

von der „verkürzten“ Summe ab. „Oft ist etwa<br />

die Hälfte des Betrages fällig, den die<br />

Behörden bei Hinterziehung verhängt hätten“,<br />

sagt Weber-Blank von Brandi. Somit<br />

müssten Täter pro 250 Euro, die sie verkürzt<br />

haben, mit einem Tagessatz Bußgeld<br />

rechnen. Da bei Minijobs nur zwei Prozent<br />

Lohnsteuerpauschale fällig sind, hat F. pro<br />

Woche zwei Euro „verkürzt“ – über fünf<br />

Jahre macht das rund 500 Euro. Theoretisch<br />

wären also zwei Tagessätze fällig,<br />

doch die Behörden haben Ermessensspielraum<br />

und können strenger sein.<br />

„Bei leichtfertiger Verkürzung gibt es inzwischen<br />

die Tendenz, höhere Geldbußen<br />

zu verhängen“, sagt Weber-Blank. Die Behörden<br />

würden sich immer öfter darauf<br />

berufen, dass mit der Buße finanzielle Vorteile<br />

abgeschöpft werden sollen.<br />

6. Ohne Rechnung<br />

A Hausbesitzerin Gunda M. hat für 8000<br />

Euro streichen lassen und zahlt dem Malermeister<br />

40 Prozent – 3600 Euro – der<br />

Summe bar und ohne Rechnung.<br />

M. wird dadurch zwar nicht zur Steuerbetrügerin,<br />

macht sich aber der Beihilfe<br />

schuldig. „Die Geldstrafe fällt in solchen<br />

Fällen in der Regel etwas niedriger aus als<br />

bei eigener Hinterziehung“, sagt Experte<br />

Biesgen. Wie hoch der Abschlag ist, sei aber<br />

von Fall zu Fall sehr unterschiedlich. „Da<br />

lässt sich seriös keine Größenordnung definieren.“<br />

Klar ist: Die Strafe orientiert sich<br />

auch bei M. an der Summe, die der Malermeister<br />

hinterzieht. Läge dessen persönlicher<br />

Steuersatz bei 40 Prozent, hätte er 1440<br />

Euro Einkommensteuer hinterzogen, hinzu<br />

käme die 19-prozentige Mehrwertsteuer<br />

(auf 3600 Euro, also 684 Euro).<br />

»<br />

STRAFRECHT<br />

Dreiste zahlen<br />

drauf<br />

Welche Strafen ertappten<br />

Steuerhinterziehern drohen.<br />

Wie gefährlich Schummler leben, hängt<br />

von der Summe ab, die sie dem Staat im<br />

unverjährten Zeitraum (in der Regel fünf<br />

Jahre) vorenthalten haben – und von ihrem<br />

Wohnort. „Bei der Höhe der Bußgelder<br />

gibt es keine einheitliche Praxis“, sagt<br />

Rainer Biesgen, Strafrechtsexperte bei<br />

Wessing & Partner. Die regionalen Unterschiede<br />

sind hoch (Tabelle): Wer den Fiskus<br />

um <strong>10</strong>00 Euro betrügt, muss in München<br />

mit bis zu 90 Tagessätzen rechnen<br />

– in Hannover dagegen nur mit 6.<br />

BERECHNUNG DES TAGESSATZES<br />

Ein Tagessatz entspricht dem täglichen<br />

Nettoeinkommen. Zur Berechnung ziehen<br />

die Behörden <strong>vom</strong> Bruttoeinkommen<br />

Steuern, Sozialabgaben, Werbungskosten<br />

und weitere Posten wie Unterhaltszahlungen<br />

ab. Allerdings ist nicht alles abzugsfähig,<br />

was steuerlich absetzbar ist. „Für die<br />

Berechnung des Tagessatzes gelten eigene<br />

Vorschriften“, sagt Biesgen.<br />

FRECHHEIT KOSTET EXTRA<br />

Doch nicht nur die Region, sondern auch<br />

die Dreistigkeit ist entscheidend. Das<br />

musste ein Rheinland-Pfälzer erfahren,<br />

der mehrere Spendenquittungen fälschte,<br />

Strenge Hanseaten, gnädige Badener<br />

indem er jeweils eine Null dranhängte.<br />

Obwohl der Mann wenig spektakuläre<br />

360 Euro erschummelte, war eine Geldbuße<br />

von 8400 Euro fällig. Dies zeigt: Die<br />

Strafmaßtabellen geben lediglich eine<br />

grobe Orientierung. „Je nach Konstellation<br />

können die Beamten sehr deutlich davon<br />

abweichen“, sagt Biesgen.<br />

EINSTELLUNG DES VERFAHRENS<br />

Bei überschaubaren Summen können Beamte<br />

das Verfahren wegen „Geringfügigkeit“<br />

einstellen. Eine feste Grenze gibt es<br />

nicht, in einigen Oberfinanzdirektionen ist<br />

dies bis 500 Euro Hinterziehungssumme<br />

möglich. Allerdings sind die Beamten<br />

nicht zur Einstellung verpflichtet und machen<br />

dies auch nur selten.<br />

Wesentlich häufiger ist eine Einstellung<br />

gegen Geldauflage, das heißt eine Zahlung<br />

an eine gemeinnützige Organisation.<br />

Dies kommt sogar bei fünfstelligen Hinterziehungssummen<br />

vor und ist oft etwas<br />

teurer als eine reguläre Strafe. Biesgen:<br />

„Die Beamten begründen das gern damit,<br />

dass Steuerpflichtige durch die Einstellung<br />

nicht als vorbestraft gelten.“<br />

EINIGUNG ODER PROZESS?<br />

Einigen sich die Parteien nicht auf eine<br />

Geldauflage, beantragen die Behörden in<br />

aller Regel einen Strafbefehl. Der Amtsrichter<br />

setzt dann die Strafe fest. Beschuldigte<br />

können natürlich Einspruch<br />

einlegen. Statt einen Strafbefehl zu beantragen,<br />

können die Behörden Anklage erheben,<br />

dann kommt es zu einem klassischen<br />

Strafprozess mit Beweisaufnahme.<br />

Die Tagessätze, die Finanzbeamte als Bußgeld verhängen, variieren von Region<br />

zu Region erheblich (Anzahl der bei Hinterziehung verhängten Tagessätze)*<br />

Bezirk der Oberfinanzdirektion<br />

Berlin<br />

Chemnitz<br />

Düsseldorf<br />

Erfurt<br />

Frankfurt<br />

Hamburg<br />

Hannover<br />

Karlsruhe<br />

München<br />

Münster<br />

Nürnberg<br />

<strong>10</strong>00<br />

8 bis 12<br />

<strong>10</strong><br />

5 bis 20<br />

5 bis 20<br />

6 bis 8<br />

16 bis 20<br />

6<br />

5 bis <strong>10</strong><br />

5 bis 90<br />

5 bis 20<br />

5 bis 20<br />

2500<br />

20 bis 30<br />

<strong>10</strong> bis 30<br />

20<br />

20<br />

15 bis 20<br />

40 bis 50<br />

17<br />

<strong>10</strong><br />

5 bis 90<br />

20<br />

20<br />

hinterzogene Summe in Euro<br />

5000<br />

40 bis 60<br />

30<br />

40<br />

40<br />

30 bis 40<br />

80 bis <strong>10</strong>0<br />

34<br />

30<br />

5 bis 90<br />

40<br />

40<br />

<strong>10</strong> 000<br />

120<br />

* ein Tagessatz entspricht dem durchschnittlichen täglichen Nettoeinkommen; Quelle: Zeitschrift Praxis Steuerstrafrecht<br />

60<br />

80<br />

80<br />

80<br />

140<br />

80<br />

60<br />

5 bis 90<br />

80<br />

60<br />

25 000<br />

300<br />

180<br />

200<br />

140<br />

200<br />

250<br />

200<br />

120<br />

180<br />

140<br />

130<br />

50 000<br />

360<br />

360<br />

360<br />

240<br />

360<br />

360<br />

330<br />

180<br />

360<br />

240<br />

200<br />

<strong>10</strong>0 000<br />

360<br />

360<br />

360<br />

340<br />

360<br />

360<br />

360<br />

360<br />

360<br />

340<br />

360<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 89<br />

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Geld&Börse<br />

7. Nebeneinkünfte<br />

A Anwalt Holger I. hält häufig Vorträge<br />

oder leitet Seminare zum Thema Gesellschaftsrecht.<br />

Die meisten Nebeneinkünfte<br />

gibt er in der Steuererklärung an, ein Honorar<br />

in Höhe von 1200 Euro aber nicht.<br />

Wer sich auf die eigene Vergesslichkeit<br />

beruft, hat schlechte Karten. „Finanzbeamte<br />

unterstellen in solchen Fällen in der<br />

Regel mindestens den sogenannten bedingten<br />

Vorsatz“, sagt Ulrike Grube, Expertin<br />

für Steuerstrafrecht bei der Kanzlei Rödl<br />

& Partner in Nürnberg.<br />

„Bedingter“ Vorsatz heißt: Der Steuerpflichtige<br />

hat zwar nicht unbedingt absichtlich<br />

betrogen, aber bei der Auflistung seiner<br />

Einnahmen nicht die gebotene Sorgfalt walten<br />

lassen und so „billigend in Kauf genommen“,<br />

dass der Fiskus weniger bekommt, als<br />

ihm zusteht. Das reicht für ein Steuerstrafverfahren<br />

– mit ein bisschen Glück gibt’s<br />

aber einen Nachlass beim Bußgeld.<br />

8. Reinigungskosten<br />

A Die Bankerin Ida J. hat wieder viel für<br />

die Reinigung ihrer Kostüme ausgegeben.<br />

Obwohl das Finanzamt ihr den Steuervorteil<br />

über Jahre immer wieder gestrichen<br />

hat, versucht sie es dieses Jahr erneut und<br />

reicht Belege über insgesamt 140 Euro ein.<br />

Das Motto „Versuchen kann man’s ja mal“<br />

ist brandgefährlich. Denn auch hier können<br />

Beamte „bedingten Vorsatz“ unterstellen<br />

und Strafverfahren wegen versuchter Hinterziehung<br />

einleiten. Angesichts der Vorgeschichte<br />

liegt schließlich die Vermutung nahe,<br />

dass J. darauf gesetzt hat, dass die Beamten<br />

dieses Mal nicht genau hinschauen.<br />

9. Kapitalerträge<br />

A Das Ehepaar K. hat Ersparnisse von<br />

24 000 Euro zu gleichen Teilen auf seine<br />

drei Kinder übertragen, um deren Steuerfreibeträge<br />

zu nutzen. Dadurch hat die Familie<br />

über vier Jahre Kapitalerträge in Höhe<br />

von 2250 Euro steuerfrei eingestrichen.<br />

Doch jetzt holen sich die Eltern das Geld<br />

von den Kinder-Konten zurück, um ein neues<br />

Auto zu kaufen.<br />

Die Rechtslage ist klar: Wer seinen Kindern<br />

Geld überträgt, darf es sich nicht ohne<br />

Weiteres zurückholen. Denn bei Rückholaktionen<br />

kann das Finanzamt den Eltern vorwerfen,<br />

dass es ihnen bei der Übertragung<br />

ausschließlich darum ging, die 25-prozentige<br />

Abgeltungsteuer zu vermeiden.<br />

Es bestehe die große Gefahr, „dass die<br />

Beamten nicht nur eine Nachzahlung fordern,<br />

sondern auch Vorsatz und damit<br />

Steuerhinterziehung unterstellen“, warnt<br />

Jochen Busch, Steuerexperte bei Baker Tilly<br />

Roelfs in München. Gerade Spitzenver-<br />

Wer seinen Kindern Geld überträgt,<br />

darf es sich nicht einfach zurückholen<br />

diener, bei denen Beamte gerne – wie bei<br />

Firmen – zu einer Steuerprüfung erscheinen,<br />

fliegen schnell auf. Busch: „Die Prüfer<br />

lassen sich dann gerne Kontoauszüge zeigen<br />

– und schauen bei hohen Zahlungseingängen<br />

genauer hin.“<br />

Die Behauptung, nichts <strong>vom</strong> Rückholverbot<br />

geahnt zu haben, fruchtet in solchen<br />

Fällen nicht. „Wer Geld auf seine Kinder<br />

überträgt, um Freibeträge zu nutzen,<br />

kann sich nicht darauf berufen, von steuerlichen<br />

Dingen keine Ahnung zu haben“,<br />

sagt Busch. Zulässig sind Rückholaktionen<br />

allerdings, wenn es einen Schenkungsvertrag<br />

gibt, der in bestimmten, klar definierten<br />

Ausnahmefällen eine Rückabwicklung<br />

vorsieht – etwa wenn ein Kind drogensüchtig<br />

wird oder einer Sekte beitritt.<br />

<strong>10</strong>. Minijobberin<br />

A Kurt L., Inhaber einer Vermögensverwaltung,<br />

hat seine Frau als Minijobberin für<br />

Büroarbeiten eingestellt und setzt den Monatslohn<br />

von 450 Euro als Betriebsausgaben<br />

an – obwohl seine Frau im vergangenen<br />

Jahr kaum noch da war, weil sie mit<br />

dem neugeborenen Sohn ausgelastet war.<br />

Arbeitsverhältnisse mit Angehörigen zu<br />

untersuchen ist Standard bei jeder Betriebsprüfung<br />

– schließlich ist die Missbrauchsanfälligkeit<br />

genauso hoch wie bei<br />

der Vermietung an Verwandte (siehe Fall<br />

4). Und auch hier ist die Frage: Hält das<br />

Modell dem „Fremdvergleich“ stand?<br />

Nein – schließlich hätte L. einer familienfremden<br />

Minijobberin, die allenfalls<br />

sporadisch auftaucht, längst gekündigt<br />

und somit auch nichts absetzen können.<br />

Und wenn der Arbeitsvertrag nicht eingehalten<br />

wird, Unternehmer aber trotzdem<br />

Betriebsausgaben geltend machen, ist das<br />

Hinterziehung.<br />

Das Entdeckungsrisiko ist höher, als<br />

mancher glaubt. So könnten Betriebsprüfer<br />

Mitarbeiter fragen, was Frau L. eigentlich<br />

mache. „Lautet die Antwort: ‚Die hab’<br />

ich schon ewig nicht mehr gesehen‘, reicht<br />

das für ein Strafverfahren“, sagt Weber-<br />

Blank. Solche Fälle gebe es immer wieder.<br />

Sicher: Ein gerichtsfester Beweis ist das<br />

nicht. Aber die Erfahrung zeigt, dass Unternehmer<br />

in solchen Fällen dazu neigen, diskret<br />

eine Geldbuße zu akzeptieren, statt sich<br />

auf einen langwierigen Prozess einzulassen.<br />

Denn wenn Steuertrickser etwas noch mehr<br />

fürchten als das Finanzamt, dann ist es die<br />

interessierte Öffentlichkeit.<br />

n<br />

daniel schönwitz | geld@wiwo.de<br />

ILLUSTRATION: FRANCESCO BONGIONRNI<br />

90 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Zu viele Flaschen Underberg-Anleihe läuft<br />

noch gut; Siag Schaaf (hier Tripoden-Sockel<br />

für Offshore-Windräder, unten links) ist ausgefallen;<br />

Zamek saniert sich; Modelabel<br />

Strenesse konnte Anleger nicht auszahlen<br />

FOTOS: DDP IMAGES (2) HARTMANN/HIBBELER, WAZ FOTOPOOL/LEPKE, GETTY IMAGES/BILAN<br />

In den Wind geschossen<br />

Tripoden-Sockel für Offshore-Windräder<br />

bei Siag<br />

Märchenhafte<br />

Schulden<br />

MITTELSTANDSANLEIHEN | Finanzierungsberater und Banken<br />

kassieren bei klammen Unternehmen ab. Wie das Geschäft läuft,<br />

warum Anleger mit noch mehr Pleiten rechnen müssen.<br />

Es war einmal ein kleines Mädchen, dem<br />

war Vater und Mutter gestorben, und es<br />

war so arm, dass es gar nichts mehr hatte<br />

als die Kleider auf dem Leib und ein<br />

Stückchen Brot in der Hand, das ihm ein<br />

mitleidiges Herz geschenkt hatte.<br />

Der rheinland-pfälzische Windanlagenbauer<br />

Siag Schaaf stand buchstäblich<br />

im letzten Hemd da. Operativ<br />

machte der Mittelständler 17 Millionen<br />

Euro Verlust, da flatterte der rettende Brief<br />

aus München ins Haus. Absender: die Berater<br />

von Blättchen & Partner. Deren mittlerweile<br />

gefeuerter Ex-Vorstand Peter Thilo<br />

Hasler hatte vor drei Jahren im elektronischen<br />

Bundesanzeiger nach Unternehmen<br />

gestöbert, zu deren Zahlen eine Anleihe<br />

passen könnte. In Briefen, erzählte Hasler<br />

mal, mache er den Unternehmen konkrete<br />

Vorschläge, etwa zum möglichen Anleihevolumen.<br />

Die Blättchen-Vorstände Konrad<br />

Bösl und Hasler, so schien es, konnten dem<br />

damaligen Siag-Chef Rüdiger Schaaf frisches<br />

Geld besorgen. Also fuhren sie für<br />

eine Präsentation zu Siag. „Die Herren<br />

haben gesagt, die Geschichte hinter Siag<br />

lasse sich am Markt sehr gut verkaufen“,<br />

sagt Schaaf.<br />

Siag könne 50 Millionen Euro aufnehmen,<br />

hieß es damals. Es wurden dann aber<br />

nur 13, und für Anleger gab es ein Desaster:<br />

Acht Monate nachdem sie Siag die Millionen<br />

überwiesen hatten, war das Unternehmen<br />

zahlungsunfähig. Bösl gibt an, „die<br />

Bond-Story von Siag für attraktiv gehalten“<br />

zu haben, betont heute noch, dass „die Gesellschaft<br />

hervorragend am Markt positioniert“<br />

gewesen sei. Ein Grund für die nicht<br />

so viel spätere Schieflage sei gewesen, dass<br />

das Unternehmen „generell schlecht<br />

finanziert“ gewesen sei – auch weil der<br />

Bond nicht 50 Millionen eingespielt habe.<br />

Mittelständler wie Siag haben seit 20<strong>10</strong><br />

rund fünf Milliarden Euro über Anleihen<br />

eingesammelt. Viele hätten das nie tun<br />

dürfen: Rund zehn Prozent der Anleihegelder<br />

sind schon wieder perdu, viele Unternehmen<br />

können Anleihezinsen von bis zu<br />

11,5 Prozent nicht erwirtschaften. Allein:<br />

Auf die Idee, Bonds zu lebensbedrohlich<br />

hohen Zinsen zu platzieren, sind die wenigsten<br />

Mittelständler von allein gekommen.<br />

Hinter den Kulissen haben Finanzierungsberater<br />

wie Blättchen mitgemischt.<br />

Der Berater empfiehlt dem Kunden eine<br />

Anleihe, sucht eine Kanzlei, die den Prospekt<br />

schreibt, und eine Bank, die Investoren<br />

kennt, die die Anleihe kaufen könnten.<br />

Börsen verlangen von Unternehmen in der<br />

Regel, dass sie die Emission von einem derartigen<br />

Experten begleiten lassen. Als „Listing<br />

Partner“ (Frankfurt), „Bondm-Coach“<br />

(Stuttgart) oder „Kapitalmarktpartner“<br />

(Düsseldorf) sollen sie die Unternehmen<br />

prüfen. Viel zu bringen scheint das nicht,<br />

dafür gibt es zu viele Pleite-Emittenten.<br />

Ende Februar erst hat Tütensuppenproduzent<br />

Zamek samt 45 Millionen Euro Anleihevolumen<br />

den Gang zum Amtsgericht<br />

angetreten – wegen drohender Zahlungsunfähigkeit<br />

wollen sich die Düsseldorfer<br />

im Insolvenzverfahren unter eigener Verwaltung<br />

sanieren. Zwölf Unternehmen mit<br />

Minibond trudeln (siehe Tabelle Seite 92).<br />

Da begegnete ihm ein armer Mann, der<br />

sprach: „Ach, gib mir etwas zu essen, ich<br />

bin so hungrig.“ Es reichte ihm das ganze<br />

Stückchen Brot und sagte: „Gott segne dir’s.“<br />

Dem Finanzierungsberater FMS aus München<br />

verdanken Anleger gleich fünf Pleitebuden:<br />

Windreich, Solarwatt, Solen, Centrosolar<br />

und SIC Processing. „Wir hatten<br />

viele Kunden aus dem Bereich der erneuerbaren<br />

Energien – dass diese Branche derart<br />

in Schwierigkeiten gerät, war für uns<br />

nicht vorhersehbar“, verteidigt FMS-Vorstand<br />

Jörg Schilling-Schön.<br />

Je höher ein Mittelständler sich verschuldet,<br />

desto lukrativer wird die Anleiheemission<br />

für Berater und Dienstleister –<br />

ihre Gebühren hängen teilweise davon<br />

»<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 91<br />

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Geld&Börse<br />

»<br />

ab, wie viel Geld ein Unternehmen einnimmt.<br />

Ergo: Der Berater könnte ein Interesse<br />

daran haben, dass sich seine Kunden<br />

möglichst hoch verschulden – schlecht für<br />

Anleger, denn je höher die Schulden, umso<br />

unwahrscheinlicher wird es, dass ein marodes<br />

Unternehmen Zinsen erwirtschaften<br />

und Schulden tilgen kann.<br />

Da kam ein Kind, das jammerte und<br />

sprach: „Es friert mich so an meinem Kopfe,<br />

schenk mir etwas, womit ich ihn bedecken<br />

kann.“ Da tat es seine Mütze ab und gab<br />

sie ihm.<br />

Im Fall der Reederei Rickmers betrifft dieser<br />

für Anleger unglückliche Mechanismus<br />

das Essener Beratungshaus Conpair: Im<br />

Emissionsprospekt der Rickmers Holding<br />

als Anleiheemittentin ist nachzulesen, dass<br />

sich sowohl die Höhe der Beratungsgebühr<br />

für Conpair als auch die Höhe der Bankprovision<br />

nach dem Gesamtbetrag der<br />

platzierten Anleihen richtet. Ähnliche Formulierungen<br />

finden sich auch in den Prospekten<br />

von Bastei Lübbe, Valensina und<br />

Underberg. Conpair habe „ein wirtschaftliches<br />

Interesse“ an der erfolgreichen Umsetzung<br />

des Angebots, heißt es beispielsweise<br />

im Rickmers-Prospekt. Es geht dabei<br />

um Millionen: Fünf Prozent, also zehn Millionen<br />

Euro, sollte die 200 Millionen Euro<br />

schwere Rickmers-Anleihe an Gebühren<br />

für Banken, Berater und Dienstleister einspielen.<br />

Es wurde vorerst nicht ganz so viel:<br />

Anleger haben im ersten Schwung bloß<br />

175 Millionen Euro gezeichnet, das Rickmers-Papier<br />

wurde später allerdings aufgestockt.<br />

Bis dass der Tod euch scheidet<br />

Und als es noch eine Weile gegangen war,<br />

kam wieder ein Kind und hatte kein Leibchen<br />

an und fror: Da gab es ihm seins; und<br />

noch weiter, da bat eins um ein Röcklein,<br />

das gab es auch von sich hin.<br />

Ökonomieprofessor Olaf Schlotmann von<br />

der Brunswick European Law School<br />

schätzt, dass Dienstleister im Markt für<br />

Minibonds seit 20<strong>10</strong> rund 220 Millionen<br />

Euro Honorar generiert haben. Kostet eine<br />

Anleihe fünf Prozent, kann die Bank geschätzt<br />

1,5 bis 2 Prozentpunkte kassieren.<br />

Geschickte Berater können bis zur Hälfte<br />

der Kosten abzweigen. Meist aber greift die<br />

Bank den Löwenanteil ab. Den Rest des<br />

Geldes sacken Kommunikations- und<br />

Ratingagentur, Börse, Wirtschaftsprüfer,<br />

Mittelständler mit massiven Anleiheproblemen und wer sie beraten hat<br />

Unternehmen<br />

BKN Biostrom<br />

Centrosolar<br />

FFK Environment<br />

Getgoods<br />

HKW Personalkonzepte<br />

S.A.G. Solarstrom I & II<br />

Siag Schaaf<br />

SIC Processing<br />

Solarwatt<br />

Solen (Ex Payom Solar)<br />

Windreich I & II<br />

Zamek<br />

1 entwarf Konzept zur Besicherung und Strukturierung der Anleihe; Quelle: Börsen, Unternehmensangaben,<br />

eigene Recherche<br />

Branche<br />

Biogas<br />

Solar<br />

Abfallverwerter<br />

Online-Handel<br />

Zeitarbeit<br />

Anlagenbau<br />

Windkraft<br />

Solar<br />

Solar<br />

Solar<br />

Windanlagen<br />

Nahrungsmittel<br />

Berater<br />

Blättchen & Partner 1<br />

FMS AG<br />

GBC AG, BIW<br />

GBC AG<br />

Dicama<br />

Baader, Youmex<br />

Blättchen & Partner<br />

FMS AG<br />

FMS AG<br />

FMS AG<br />

FMS AG<br />

Conpair<br />

aktueller Status<br />

Insolvenzverfahren läuft<br />

Umtausch von Schulden in Aktien geplant<br />

Insolvenzverfahren läuft<br />

Insolvenzverfahren läuft<br />

Insolvenzverfahren läuft<br />

Insolvenzverfahren läuft<br />

auf Anlegerkosten saniert, Quote: 0,34 %<br />

Insolvenzverfahren läuft<br />

auf Anlegerkosten saniert, Quote: 16 %<br />

Insolvenzverfahren läuft<br />

Insolvenzverfahren läuft<br />

Sanierung in eigener Verwaltung läuft<br />

Vor Unglück bewahrt? Traditionsreeder<br />

(hier: Museumsschiff) stockte Anleihe auf<br />

Zahlstelle, Anwalt und – ein paar Tausend<br />

Euro – selbst die Finanzaufsicht BaFin ein.<br />

Marktführer bei den Banken ist Close<br />

Brothers aus Frankfurt, denen die Berater<br />

von Conpair Geschäft zuführen. Bis Ende<br />

2013 hatten die Essener gar ein Büro im<br />

Frankfurter Bankgebäude. Zu den Conpair-<br />

Kunden mit Anleihe zählen neben der Reederei<br />

Rickmers und der Brauerei Stauder<br />

weitere prominente Namen: Zuletzt hat<br />

Conpair-Chef Michael Nelles dem angeschlagenen<br />

Modeproduzenten Strenesse<br />

höchstselbst auf der Gläubigerversammlung<br />

zur Seite gestanden, als es darum ging,<br />

die Anleihe um drei Jahre zu verlängern.<br />

Strenesse hatte sich schlicht nicht in der<br />

Lage gesehen, seine Anleiheschulden Mitte<br />

März zurückzuzahlen. Und auch der<br />

klamme Tütensuppenhersteller Zamek ist<br />

Conpair-Kunde. All diese Anleihen hat<br />

Close Brothers an die Börse begleitet.<br />

Auch die <strong>vom</strong> Unternehmer Wilfried<br />

Mocken gelenkten Safthersteller Valensina<br />

und Kräuterschnapsbrenner Underberg<br />

lassen sich von Conpair beraten und haben<br />

ihre Anleihen von Close Brothers<br />

Seydler platzieren lassen. „Wir sind eines<br />

Tages von Conpair auf deren Beratungsdienstleistung<br />

angesprochen worden“, sagt<br />

Mocken heute. Erst durch das Beratungshaus<br />

Conpair sei er schließlich an Close<br />

Brothers gekommen. Heute ist Mocken<br />

aber enger mit dem Berater verbandelt: Er<br />

sitzt im Aufsichtsrat von Conpair und hält<br />

eine kleine Beteiligung an der Essener Aktiengesellschaft.<br />

FOTO: LOOK-FOTO<br />

92 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Da kam noch eins und bat um ein Hemdlein<br />

und das fromme Mädchen dachte: Es<br />

ist dunkle Nacht, da sieht dich niemand, du<br />

kannst wohl dein Hemd weggeben, und zog<br />

das Hemd ab und gab es auch noch hin.<br />

Angesichts der lukrativen Gebührenmaschinerie<br />

drängt sich der Verdacht auf, dass<br />

sich immer jemand findet, der nicht so genau<br />

hinschaut, welchem Unternehmen er<br />

da eigentlich zu frischem Kapital verhilft.<br />

Insider berichten immer wieder, dass sie<br />

Unternehmen abgelehnt hätten – und ein<br />

anderer diese dann doch an die Börse begleitet<br />

habe.<br />

Prüfen, ob sich ein Mittelständler eine<br />

Anleihe leisten kann, muss niemand: Laut<br />

Börse Stuttgart muss ein Bondm-Coach<br />

zwar „die Kapitalmarkteignung und -fähigkeit<br />

des Unternehmens“ beurteilen und<br />

sich auch ein Bild <strong>vom</strong> Geschäftsmodell<br />

des Unternehmens machen, aber: „Mit<br />

welchen Methoden dies beurteilt wird, ist<br />

ausschließlich Entscheidung der Coaches.“<br />

Conpair-Chef Nelles beteuert, man prüfe<br />

auch, ob das Unternehmen Zinsen zahlen<br />

und Schulden bedienen kann: „Wir gehen<br />

mit dem Kunden nur in eine Transaktion,<br />

wenn wir geprüft haben, ob der Kunde<br />

seinen Kapitaldienst auch leisten kann“,<br />

sagt Nelles. Conpair habe Kunden bereits<br />

gebremst und die Höhe der gewünschten<br />

Anleiheschulden im Vorfeld reduziert. Er<br />

schaue freiwillig auf die Zahlen, so Nelles,<br />

da bei einer Pleite die eigene Reputation<br />

auf dem Spiel stünde.<br />

Und auch Close Brothers beteuert: „Natürlich<br />

treffen auch wir vorab Einschätzungen<br />

über die Bonität des Emittenten.“ Vorgeschrieben<br />

aber ist eine solche Prüfung<br />

nicht. „Die Bonität von mittelständischen<br />

Unternehmen muss vor der Emission einer<br />

Mittelstandsanleihe niemand prüfen“, sagt<br />

Uto Baader, Chef der Baader Bank. Sein<br />

Haus hat kaum Emissionen aus dem Mittelstand<br />

begleitet. „Oft braucht man nicht<br />

mal einen Taschenrechner, um zu sehen,<br />

dass ein Unternehmen schon seine Zinsen<br />

nicht bedienen könnte“, sagt der Banker<br />

aus München.<br />

Andere Berater und die Börsen weisen<br />

die Verantwortung für die Qualität der Börsenkandidaten<br />

von sich. FMS, der Berater<br />

mit den fünf Pleitefällen, kontrolliert zum<br />

Beispiel, ob das Unternehmen in der Lage<br />

wäre, die von der Börse auferlegten Pflichten<br />

zu erfüllen, also etwa Finanzberichte<br />

pünktlich zu veröffentlichen: „Wir beraten<br />

Unternehmen beim Aufbau von Strukturen,<br />

damit sie in der Lage sind, die erforderlichen<br />

Transparenzstandards einhalten<br />

zu können“, sagt Schilling-Schön. Ansonsten<br />

seien doch auch noch die Wirtschaftsprüfer<br />

da. „Wir müssen uns hinsichtlich<br />

der historischen Zahlenwerke auf den<br />

Wirtschaftsprüfer verlassen“, sagt Schilling-Schön.<br />

Doch ein Wirtschaftsprüfer testiert nur<br />

Zahlen der Vergangenheit. Er prüft, ob das<br />

Unternehmen die richtigen Zahlen in seine<br />

Bilanz übertragen hat, ob eine Fünf also tatsächlich<br />

eine Fünf ist. Er schaut sich keinen<br />

Businessplan an und bewertet kein Geschäftsmodell<br />

– und auch nicht, ob das Unternehmen<br />

eine Anleihe bedienen könnte.<br />

Michael Massauer, geschäftsführender<br />

Gesellschafter beim Berater Fion, verweist<br />

auf die Ratingagenturen. Verlass ist auf deren<br />

Rating aber längst nicht immer. Creditreform<br />

etwa setzte erst drei Wochen vor der<br />

Insolvenz des Personalvermittlers HKW<br />

Personalkonzepte dessen Rating aus –<br />

nachdem HKW angekündigt hatte, Zinsen<br />

später zu zahlen. Das letzte Rating vor der<br />

Pleite lag bei „BBB- unter Beobachtung“,<br />

eine voll befriedigende Bonität.<br />

Die Börsen fühlen sich ebenso nicht zuständig,<br />

sie verweisen wiederum auf die involvierten<br />

Banken und Berater. Börsen<br />

böten schließlich nur eine Plattform an.<br />

Das alles hindert die Börsen aber nicht daran,<br />

kräftig an den Mittelstandsanleihen zu<br />

verdienen. Sie sind in deren Vertrieb eingestiegen,<br />

lassen Privatanleger die Papiere<br />

über ihre Plattform zeichnen und bekommen<br />

dafür Geld <strong>vom</strong> Unternehmen. Über<br />

das Zeichnungstool der Deutschen Börse<br />

etwa wurden in der Vergangenheit <strong>10</strong> bis<br />

15 Prozent des Anleiheemissionsvolumens<br />

gezeichnet.<br />

Und wie es so stand und gar nichts mehr<br />

hatte, fielen auf einmal die Sterne <strong>vom</strong><br />

Himmel, und waren lauter blanke Taler.<br />

Bei einer Pleite können Anleger, selbst<br />

wenn im Wertpapierprospekt falsche Zahlen<br />

standen, weder den Berater noch die<br />

Bank und schon gar nicht die Börse haftbar<br />

machen. „Nur wer unterschreibt, haftet für<br />

die Richtigkeit der Angaben im Prospekt“,<br />

sagt Schilling-Schön, „und das ist bei Mittelstandsanleihen<br />

meist allein ein Organ<br />

des Unternehmens.“<br />

Bei den Unternehmen aber ist, wenn<br />

Banken und Lieferanten zugegriffen haben,<br />

meist nichts mehr zu holen. Die Taler<br />

bekommen andere, für Anleger gibt es kein<br />

märchenhaftes Happy End.<br />

n<br />

annina.reimann@wiwo.de | Frankfurt<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 93<br />

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Geld&Börse<br />

Wasserspiele an der<br />

Côte d’Azur<br />

DAB BANK | Zwischen der heute zu UniCredit gehörenden Online-<br />

Bank und dem Netzwerk des insolventen Finanzdienstleisters<br />

Accessio gab es enge Verbindungen. Das bringt jetzt Probleme.<br />

Das Programm konnte sich sehen lassen:<br />

Helikopter-Transfer nach Monaco,<br />

Abstecher in die Millionärsdisco<br />

Jimmy’z, Yachtausflug nach Saint-Tropez mit<br />

Poolparty im angesagten Nikki Beach. Eine<br />

Mischung, perfekt für die Côte d’Azur, wo exorbitant<br />

hohe Preise Reichen und Möchtegernreichen<br />

bestätigen, dass sie es zu etwas<br />

gebracht haben: Im Nikki Beach kostet die<br />

Flasche Dom Pérignon 580 Euro. Die Methusalem-Flasche<br />

à sechs Liter schlägt mit<br />

13000 Euro zu Buche. Ein perfektes Luxus-<br />

Incentive-Wochenende sei der Monaco-Trip<br />

2006 gewesen, wirbt die Eventagentur.<br />

Eingeladen hatte die Münchner DAB<br />

Bank. Sie wollte wichtige Geschäftskunden<br />

umgarnen. Der frühere DAB-Vorstand Jens<br />

Hagemann war laut Agentur von der<br />

„Kreativität“ der Veranstaltung angetan.<br />

Heute, nach Bekanntwerden von Exzessen<br />

wie den Budapest-Lustreisen bei der<br />

Ergo, würde die DAB die Luxustrips wohl<br />

gerne unter der Decke halten. Dabei sind<br />

nicht einmal die Kosten, sondern die Teilnehmer<br />

der Reise brisant. Mit dabei waren<br />

neben dem damaligen DAB-Bereichsleiter<br />

Robert Weiher auch André Driver und<br />

Carsten Bengsch. Die beiden fungierten als<br />

Vorstände des mittlerweile insolventen Finanzdienstleisters<br />

Accessio, früher: Wertpapierhandelshaus<br />

Driver & Bengsch.<br />

Auch 2007, bei einer DAB-Luxus-Reise<br />

nach Thailand, flog Driver mit.<br />

NETZ DER GELDSAUGER<br />

Damit könnten die Fotos möglicherweise<br />

auch Richter interessieren. Zeigen sie doch<br />

– genau wie weitere Recherchen der WirtschaftsWoche<br />

–, dass sich DAB Bank und<br />

Accessio offenbar näherstanden, als es der<br />

DAB heute lieb ist. Denn mehrere Hundert<br />

Anleger, die auf ihren von der DAB Bank<br />

geführten Depots mit von Accessio empfohlenen<br />

Wertpapieren Millionen Euro<br />

verloren haben, fordern von der DAB Schadensersatz.<br />

Grund: Accessio habe systematisch<br />

falsch beraten, die DAB davon gewusst.<br />

Ex-Accessio-Vorstand Driver weist<br />

den Vorwurf systematischer Fehlberatung<br />

zurück. Die DAB hat und hatte laut einer<br />

Stellungnahme „keine Kenntnis von der<br />

von Anlegeranwälten behaupteten systematischen<br />

Falschberatung der Anleger<br />

durch die Accessio“. Sie spielt auch ihre<br />

Verbindung zu Accessio herunter. Vor Gericht<br />

sagte Ex-DAB-Bereichsleiter Weiher,<br />

Accessio sei einer von <strong>10</strong>00 Firmenkunden<br />

gewesen. Mit dem Zusatz „allerdings ein<br />

bedeutender“ kam er der Realität näher.<br />

Accessio hatte Kunden mit hohen Tagesgeldzinsen<br />

gelockt, ihnen dann aber riskante<br />

Anleihen und Genussscheine kleiner<br />

Die DAB Bank<br />

überwacht »die<br />

Einhaltung der gesetzlichen<br />

Regeln«<br />

Accessio-Wertpapierprospekt von 2007<br />

Unternehmen angedreht. Viele Unternehmen<br />

waren miteinander und mit Accessio<br />

verbunden, etwa über Beteiligungen. Zudem<br />

existieren enge persönliche Verflechtungen.<br />

Vor fünf Jahren warnten wir, die<br />

Schieflage eines Unternehmens könne dieses<br />

„Netz der Geldsauger“ zum Zusammenbruch<br />

bringen (WirtschaftsWoche<br />

5/2009). Tatsächlich rutschten in der Folge<br />

viele der Unternehmen in die Pleite, etwa<br />

Cargofresh, Pongs & Zahn oder Konservenfabrik<br />

Zachow. Insgesamt hatten rund<br />

40 000 Kunden knapp eine halbe Milliarde<br />

Euro über Accessio angelegt. Einige verloren<br />

ein Vermögen. „Für mich geht es um<br />

die Existenz“, sagt ein Betroffener aus Süddeutschland,<br />

der <strong>10</strong>0 000 Euro verloren hat.<br />

Zahlreiche Anleger konnten vor Gericht<br />

Beratungsfehler beweisen und bekamen<br />

Schadensersatzansprüche gegen Accessio<br />

zugesprochen. Nur ist heute bei der seit 20<strong>10</strong><br />

insolventen Accessio nichts mehr zu holen.<br />

Nun wollen Anleger die DAB heranziehen.<br />

Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte eine<br />

solche Haftung der DAB 2013 für möglich erklärt<br />

(XI ZR 431/11). Anleger müssten aber<br />

beweisen, dass die DAB von einer eventuellen<br />

systematischen Falschberatung bei Accessio<br />

wusste. In diesem Fall hätte die DAB<br />

die Accessio-Kunden warnen müssen. Da<br />

sie dies nicht tat, wäre sie zu Schadensersatz<br />

verpflichtet. Bislang konnte kein Anleger das<br />

aber vor Gericht rechtskräftig beweisen.<br />

WAS WUSSTE DIE DAB BANK?<br />

Das Oberlandesgericht (OLG) München<br />

signalisierte im Januar jedoch, dass eine<br />

Haftung der DAB von Mitte 2007 an in Betracht<br />

komme. Zu diesem Zeitpunkt waren<br />

im Accessio-Aufsichtsrat vorläufige Ergebnisse<br />

einer Sonderprüfung der Finanzaufsicht<br />

BaFin besprochen worden. Die sprachen<br />

laut OLG dafür, dass Accessio Anleger<br />

systematisch falsch beraten habe. Driver<br />

kann diese „isolierte Auffassung“ nicht<br />

nachvollziehen. Sollte das OLG dabei bleiben,<br />

käme es nun darauf an, ob und wann<br />

die DAB von diesen Ergebnissen erfahren<br />

hat. Dass sie etwas ahnte, liegt nahe: Im Accessio-Aufsichtsrat<br />

saß von 2002 bis März<br />

2008 der frühere DAB-Prokurist Weiher.<br />

Praktisch für die DAB: Weiher verließ sie<br />

im Juli 2007, vor der offiziellen Bekanntgabe<br />

der Prüfergebnisse im Herbst. Ein Ex-<br />

Accessio-Prokurist aber sagte vor Gericht,<br />

der Aufsichtsrat habe die Ergebnisse früher<br />

gekannt. Weiher äußert sich dazu nicht.<br />

Hätte die Bank ab Sommer 2007 Bescheid<br />

gewusst – was sie verneint –, hätte<br />

sie Accessio-Kunden warnen müssen. Erste<br />

Urteile des OLG werden in Kürze erwartet.<br />

Der DAB droht im schlimmsten Fall<br />

Schadensersatz in zweistelliger Millionenhöhe.<br />

Sicher ist: Die DAB war früher ein<br />

wichtiger Partner für Accessio. Accessio-<br />

Konten und -Depots wurden von ihr eingerichtet,<br />

sie führte auch die Wertpapierorders<br />

aus. In einem DAB-Vermögensverwalter-Wettbewerb<br />

belegte Accessio oft<br />

erste Plätze – und warb eifrig damit.<br />

Nach früheren Angaben Accessios überwachte<br />

die DAB für Accessio mindestens<br />

zwei Jahre „die Einhaltung der gesetzlichen<br />

Regelungen“ nach diversen Vorschriften.<br />

2005 übernahm die DAB für Accessio die<br />

interne Revision – die Prüfung und Kontrolle<br />

der Geschäftsabläufe. Und es gab einen<br />

Vertriebsvertrag, wonach Accessio für<br />

die DAB Produkte verkaufen sollte.<br />

FOTO: WIREIMAGE/JON FURNISS<br />

94 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Die DAB sieht sich nur als Dienstleister<br />

für Accessio, der Beratung weder beeinflusste<br />

noch kontrollierte. Selbst der frühere<br />

Accessio-Aufsichtsrat und Ex-DAB-Manager<br />

Weiher will kaum etwas über das Accessio-Geschäft<br />

und die angebotenen<br />

Wertpapiere gewusst haben. „Namen wurden<br />

schon mal genannt, die waren mir<br />

aber nicht bekannt.“ Ein früherer Accessio-<br />

Prokurist sagte dagegen, Weiher sei „der<br />

Ansprechpartner für den ,kurzen Dienstweg‘“<br />

zwischen Accessio und der DAB gewesen.<br />

Beide hätten ständig in Kontakt gestanden.<br />

Weiher wies das vor Gericht zurück:<br />

Kontakt zu wichtigen Kunden habe er<br />

„weniger im Tagesgeschäft“ gehabt, „sondern<br />

wenn es um strategische Fragen ging“.<br />

Er sei auch „nur vier Mal im Jahr circa zwei<br />

Stunden“ bei Accessio gewesen.<br />

Hinweise darauf, dass die Bande zwischen<br />

DAB und dem Accessio-Geflecht<br />

doch enger gewesen sein könnten, gibt es<br />

auf persönlicher Ebene. So war ein früherer<br />

Vize-Aufsichtsratschef der DAB später<br />

Aufsichtsratschef bei der Beteiligungsgesellschaft<br />

Loginet3 (früher: Ponaxis).<br />

Accessio hatte Kunden direkt oder über<br />

Fonds Loginet3-Anleihen und Papiere<br />

von drei Loginet3-Beteiligungen verkauft.<br />

Loginet3 und die Beteiligungen sind pleite.<br />

Eine auffällige Ansammlung von Personen<br />

mit Bezug zur DAB und zum Accessio-<br />

Netz war der Münchner Lions Club Metropolitan.<br />

Der elitäre Zirkel hat derzeit nur 28<br />

Mitglieder. Auf einer Liste von 2008 stehen<br />

auffällig viele Herren, die für Firmen aus<br />

dem Accessio-Netz tätig waren. Neben<br />

dem früheren DAB-Manager und Accessio-Aufsichtsrat<br />

Weiher zählten zum Club:<br />

n ein Ex-DAB-Vorstand, der mit einem Ex-<br />

DAB-Aufsichtsratschef im Aufsichtsrat der<br />

heutigen MS Industrie AG (früher GCI)<br />

saß. MS Industrie beriet Accessio beim<br />

Börsengang und war an Accessio beteiligt;<br />

n der Vorstand der Beteiligungsgesellschaft<br />

Magnum, deren Genussscheine Accessio<br />

vertrieb. 20<strong>03</strong> und 2004 sollen diese über<br />

die Hälfte zum Accessio-Umsatz beigesteuert<br />

haben. Drei weitere Clubmitglieder waren<br />

oder sind Magnum-Aufsichtsräte;<br />

n ein früherer Vorstand und ein früherer<br />

Aufsichtsrat der Haemato (früher: Windsor).<br />

Die Beteiligungsgesellschaft gehörte<br />

zeitweise zu MS Industrie. Accessio kaufte<br />

Haemato-Aktien und Genussscheine für<br />

Kunden. Magnum und Haemato gründeten<br />

2008 die CR Capital Real Estate deren<br />

Aktien Accessio ebenfalls vertickte.<br />

Doch informelle Gespräche, ob im Pool<br />

in Saint-Tropez oder im Lions Club, brachten<br />

DAB-Manager Weiher offenbar kaum<br />

Erkenntnisse zu Accessio. Er will erst mit<br />

dem Prüfbericht 2007 von Problemen erfahren<br />

haben. Dieser sei „einer der Gründe“<br />

gewesen, den Accessio-Aufsichtsratsposten<br />

aufzugeben. Die Verbindung zu Accessio<br />

wäre ihm bei seinem Job-Neustart<br />

fast erhalten geblieben: Im Herbst 2007 beteiligte<br />

sich Accessio an der V-Bank, die Ex-<br />

DAB-Manager Hagemann und Weiher mitgegründet<br />

hatten. Accessio wollte fortan<br />

Kundengelder nicht mehr an die DAB, sondern<br />

an die V-Bank vermitteln.<br />

Daraus wurde nichts. Weiher schied<br />

2008 nach zwei Monaten überraschend<br />

aus dem V-Bank-Vorstand aus. Heute ist er<br />

deren Vertriebschef. Dass die Bank kein<br />

Geschäft mit dem Netz der Geldsauger<br />

machte, erweist sich heute als Glücksfall. n<br />

niklas.hoyer@wiwo.de<br />

Pack die Badehose ein!<br />

Im edlen Nikki Beach Club<br />

(Bild Mitte) in Saint-Tropez<br />

feierte DAB-Manager<br />

Weiher (Bild oben, ganz<br />

links) im August 2006 mit<br />

den Accessio-Vorständen<br />

Bengsch und Driver (Bild<br />

oben, 2. und 3. von links)<br />

Die DAB lädt ein Geschäftskunden der Münchner Direktbank<br />

flogen im Helikopter nach Monaco, besuchten Top-Restaurants<br />

sowie die Millionärsdisco Jimmy’z und fuhren mit Yachten nach<br />

Saint-Tropez. Laut Eventagentur waren das „die Eckpfeiler<br />

eines perfekten Luxus-Incentive-Wochenendes“<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 95<br />

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Geld&Börse | Steuern und Recht<br />

SCHLIESSANLAGE<br />

Mieter muss<br />

später zahlen<br />

ANGEHÖRIGEN-ARBEITSVERTRAG<br />

Kein Luxus für die Ehefrau<br />

Ein teurer Dienstwagen kombiniert mit einem Minilohn passt dem Fiskus nicht.<br />

Um die Ehefrau günstig mit einem Zweitwagen<br />

zu versorgen, können Selbstständige und Freiberufler<br />

sie zur Mitarbeiterin machen. „Dabei<br />

müssen sie aber beachten, dass Arbeitsverträge<br />

unter Angehörigen so gestaltet sein müssen, dass<br />

sie auch einem Dritten angeboten werden könnten,<br />

der sie auch annehmen würde“, sagt Christoph<br />

Ackermann, Steuerberater und Partner bei<br />

Ernst & Young. Die Richter am Bundesfinanzhof<br />

bezweifelten das bei der Kombination aus niedrigem<br />

Lohn und Luxusschlitten, mit der ein Handelsvertreter<br />

seine bei ihm angestellte Ehefrau<br />

entlohnte (X B 181/13). Sie bekam für 17 Stunden<br />

wöchentliche Arbeitszeit einen rund 40 000 Euro<br />

teuren VW Tiguan als Dienstwagen und 150 Euro<br />

monatlich. Dafür arbeitete sie in der Buchhaltung<br />

und reinigte das Büro. Da der geldwerte<br />

Vorteil für die Nutzung des Autos zu ihrem<br />

Lohn zählt, verdiente sie brutto 587 Euro, bekam<br />

aber nur 2,20 Euro Stundenlohn ausgezahlt.<br />

„Das Urteil bestärkt die Finanzämter darin, Angehörigen-Verträge<br />

noch akribischer zu prüfen“,<br />

sagt Ackermann. Er rät, diese genau zu dokumentieren.<br />

Wenn ein Auto etwa für berufliche<br />

Zwecke wie Botendienste benötigt werde, sei es<br />

ein notwendiges Arbeitsmittel und nicht nur ein<br />

Vergütungsbestandteil. Dadurch sei es steuerlich<br />

einfacher durchzusetzen. Wird das Vergütungskonstrukt<br />

wie bei dem Handelsvertreter nicht<br />

anerkannt, muss er alle Kosten des Fahrzeugs<br />

selbst tragen. Sie sind dann eine Privatentnahme<br />

und keine absetzbare Betriebsausgabe mehr.<br />

Nach nur drei Monaten benötigte<br />

der Mieter eine Wohnung<br />

im Raum Heidelberg nicht<br />

mehr. Dem Vermieter konnte er<br />

aber nur einen der zwei ihm<br />

überlassenen Wohnungsschlüssel<br />

zurückgeben. Darüber<br />

informierte der Vermieter<br />

die Hausverwaltung, die<br />

aus Sicherheitsgründen die<br />

Schließanlage austauschen lassen<br />

wollte. Das passierte aber<br />

nicht, denn der Vermieter zahlte<br />

den von ihm verlangten Kostenvorschluss<br />

in Höhe von 1468<br />

Euro nicht. Denn auch der Mieter<br />

überwies ihm das verlangte<br />

Geld nicht und begründete das<br />

damit, dass die Anlage ja noch<br />

nicht ausgetauscht worden sei.<br />

Die Richter am Bundesgerichtshof<br />

sahen das genauso. Ein ersatzfähiger<br />

Schaden liege erst<br />

nach dem Austausch vor (VIII<br />

ZR 205/13).<br />

Der Vermieter muss also in<br />

Vorleistung treten und sich das<br />

Geld anschließend bei seinem<br />

Ex-Mieter zurückholen.<br />

Den Schaden des Mieters<br />

zahlt mitunter die private Haftpflicht,<br />

wenn er einen Schlüsselverlust<br />

mitversichert hat und<br />

in einem Mehrfamilienhaus<br />

wohnt. Der Schutz umfasst allerdings<br />

nicht die Folgeschäden,<br />

wenn der verlorene Schlüssel<br />

einem Dieb in die Hände fällt.<br />

RECHT EINFACH | Tätowierung<br />

Tätowierungen sind in. Gefallen<br />

Herzen oder Drachen später nicht<br />

mehr, werden Richter schnell zu<br />

Stil-Gutachtern.<br />

§<br />

Löwenkopf. Ein Mann aus<br />

Nordhessen ließ sich einen<br />

Löwenschädel mit Einfassung<br />

(„Tribals“) auf den<br />

Unterschenkel tätowieren. Wenig<br />

später gefiel ihm das Werk nicht<br />

mehr: Der Löwenkopf sei nicht<br />

markant und männlich genug; die<br />

Tribals seien misslungen. Der<br />

Hesse verlangte 200 Euro <strong>vom</strong><br />

Tattoo-Meister zurück. Ohne Erfolg.<br />

Die Richter wiesen ihn darauf hin,<br />

dass das Werk nach einer Schablone<br />

gemalt worden sei. Der Mann<br />

habe der Abbildung zugestimmt.<br />

Die Tribals, so die informierten Juristen,<br />

würden „freestyle“ aufgetragen<br />

und bewegten sich im Bereich<br />

der „schöpferischen Freiheit“<br />

(Landgericht Kassel, 1 S 34/09).<br />

Teenager. Eine 17-jährige Münchnerin<br />

ließ sich für 50 Euro innen am<br />

Handgelenk ein kleines Kreuz stechen.<br />

Sie bereute es und verlangte<br />

ihr Geld zurück sowie 800 Euro<br />

für die Laserentfernung. Das Gericht<br />

winkte ab: Da sie 200 Euro<br />

monatlich als Aushilfe verdiene,<br />

sei der Vertrag trotz der damaligen<br />

Minderjährigkeit wirksam.<br />

Wer neben der Schule arbeite,<br />

habe die Urteilsfähigkeit, in eine<br />

Tätowierung einzuwilligen (Amtsgericht<br />

München, 213 C 917/11).<br />

Autorität. Ein Beamter in einer<br />

Justizvollzugsanstalt trug auf beiden<br />

Unterarmen große Tätowierungen.<br />

Der Dienstherr verdonnerte<br />

ihn deswegen dazu, ständig<br />

langärmelige Hemden zu tragen.<br />

Die Anordnung des Vorgesetzten<br />

hielt vor Gericht stand. Das offene<br />

Tragen der Schlangen-, Herz- und<br />

Pfeil-Tattoos könnte zu einem<br />

„Distanzverlust“ zu den Insassen<br />

und somit einer „Schwächung der<br />

Autorität“ führen (Oberverwaltungsgericht<br />

Koblenz, 2 A<br />

<strong>10</strong>254/05).<br />

FOTOS: F1ONLINE, PICTURE ALLIANCE/DPA/BECKER, PR<br />

96 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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PROSPEKTFEHLER<br />

Emittent haftet für falsche Kostenquote<br />

Eine Anlegerin beteiligte sich<br />

2005 mit <strong>10</strong> 000 Euro an einem<br />

geschlossenen Fonds, der<br />

in US-Lebensversicherungen<br />

investierte. 20<strong>10</strong> erhielt sie<br />

ein Schreiben der Fondsgeschäftsführung:<br />

Die Gründungskosten<br />

des Fonds hätten<br />

18 Prozent der Anlegergelder<br />

von etwa 5,4 Millionen Euro<br />

aufgezehrt. Daraufhin verklagte<br />

die Anlegerin den Emittenten<br />

des Fonds, weil der Prospekt<br />

fehlerhaft sei. Im Prospekt sei<br />

nur von 6,2 Prozent Kosten plus<br />

einem Aufschlag von fünf Prozent<br />

die Rede. Insgesamt also<br />

11,2 Prozent. Demnach hätten<br />

die Anleger davon ausgehen<br />

müssen, dass die restlichen Anlegergelder<br />

in US-Lebensversicherungen<br />

investiert würden,<br />

so die Anlegerin. An keiner Stelle<br />

im Prospekt sei erwähnt worden,<br />

dass die Kostenquote von<br />

11,2 Prozent nur dann gelte,<br />

wenn der Fonds 25 Millionen<br />

Euro eingesammelt habe. Ebenso<br />

fehle ein Hinweis, dass sich<br />

die Kosten vervielfachten, falls<br />

die Anleger deutlich weniger als<br />

25 Millionen Euro investierten.<br />

Der Emittent stritt den Prospektfehler<br />

ab und schob die<br />

Schuld auf den Vertrieb und deren<br />

Berater, die die Anleger<br />

falsch informiert hätten. Das<br />

Oberlandesgericht Karlsruhe<br />

DIREKTVERSICHERUNGEN<br />

Petition gegen Kassenabzug<br />

SCHNELLGERICHT<br />

FRISTEN BEI FÖRDERUNG BEACHTEN<br />

§<br />

Die staatliche Riester-Förderung wird nur überwiesen,<br />

wenn die Deutsche Rentenversicherung<br />

Bund die Einkommenshöhe rechtzeitig an die Zulagenstelle<br />

schickt. Eine Beamtin, die dieser Weitergabe<br />

ihrer Besoldung zu spät zustimmte, verlor ihre<br />

Förderung für mehrere Jahre (Finanzgericht Berlin-<br />

Brandenburg, <strong>10</strong> K 14<strong>03</strong>1/12).<br />

Die Auszahlung einer Direktversicherung<br />

ist für den Versicherten<br />

oft enttäuschend. Gesetzlich<br />

Krankenversicherten<br />

bleibt nach Abzug von Kassenbeiträgen<br />

weniger Geld als erwartet.<br />

Bei einer Auszahlung<br />

von 28 500 Euro kassiert die<br />

Kasse etwa 9000 Euro Krankenund<br />

Pflegeversicherungsbeiträge.<br />

Verärgerte Bürger haben<br />

beim Bundestag eine Petition<br />

eingereicht. Sie verlangen, dass<br />

er die Abzüge auf Kapitalauszahlungen<br />

von Direktversicherungen,<br />

die am 1. Januar 2004<br />

auch für Altverträge eingeführt<br />

wurde, wieder abschafft. Der<br />

Petition, haben sich allerdings<br />

in der Mitzeichnerfrist nur rund<br />

7000 Unterstützer in vier Wochen<br />

angeschlossen. Um einen<br />

schnellen Zugang zu einer öffentlichen<br />

Beratung des Petitionsausschusses<br />

zu bekommen,<br />

hätten es 50 000 Mitzeichner<br />

sein müssen. Sollte der Ausschuss<br />

das Thema als dringlich<br />

einstufen, könnte er es trotzdem<br />

aufgreifen.<br />

dagegen sah den Emittenten in<br />

der Haftung (17 U 242/12). Wäre<br />

die Anlegerin durch den Prospekt<br />

richtig informiert worden,<br />

hätte sie nach eigenem Bekunden<br />

nicht investiert. Dieser Zusammenhang<br />

sei entscheidend.<br />

Dass der Berater die Anlegerin<br />

falsch informiert hätte, sei auf<br />

den fehlerhaften Prospekt<br />

zurückzuführen. Der Emittent<br />

müsse der Anlegerin daher<br />

Schadensersatz für ihr Investment<br />

zahlen und einen Teil ihrer<br />

Anwalts- und Gerichtskosten<br />

übernehmen. Das Urteil ist<br />

nicht rechtskräftig, da der Emittent<br />

beim Bundesgerichtshof<br />

Revision einlegen kann.<br />

MADOFF-GESCHÄDIGTE<br />

Mehr Zeit für<br />

Ansprüche<br />

Der Madoff Victim Fund hat die<br />

Frist, in der Anleger Ansprüche<br />

an die US-Entschädigungseinrichtung<br />

schicken können, um<br />

zwei Monate auf den 30. April<br />

<strong>2014</strong> verlängert. Für Anleger,<br />

die bereits ihre Dokumente<br />

eingereicht haben, ist das eine<br />

schlechte Nachricht, da mehr<br />

Ansprüche die Entschädigung<br />

Einzelner reduzieren werden.<br />

Formulare finden Anleger unter<br />

madoffvictimfund.com<br />

DOPPELTER HAUSHALT BEI DEN ELTERN<br />

§<br />

Ein 52-jähriger, alleinstehender Ingenieur nutzte<br />

als Hauptwohnsitz sein früheres Kinderzimmer im<br />

Reihenhaus der Eltern. An seinem Arbeitsort hatte er<br />

noch eine kleine Schlafstätte. Er durfte nach der bis<br />

2013 gültigen Gesetzeslage die Kosten für die doppelte<br />

Haushaltsführung von der Steuer absetzen,<br />

obwohl er bei den Eltern wohnte und sich nicht an<br />

den Haushaltskosten beteiligte (Bundesfinanzhof,<br />

VI R <strong>10</strong>/13).<br />

WAS DRAUFSTEHT, MUSS DRIN SEIN<br />

§<br />

Ein deutscher Teehändler warb für den Früchtetee<br />

„Himbeer-Vanille-Abenteuer“. Auf dessen Verpackung<br />

waren Himbeeren und Vanilleblüten zu sehen.<br />

Tatsächlich enthält der Tee weder Himbeeren und<br />

Vanille noch deren Aromastoffe. Der Bundesgerichtshof<br />

verwies den Fall an den Europäischen Gerichtshof<br />

(I ZR 45/13). Der BGH hält es für unzureichend, nur<br />

die Ersatzstoffe in der Zutatenliste aufzuführen, wenn<br />

den Käufern ein anderer Inhalt suggeriert werde.<br />

RENTENALTER<br />

KATHARINA LAWRENCE<br />

ist Alters-<br />

vorsorge-<br />

Expertin der<br />

Verbraucherzentrale<br />

Hessen.<br />

n Das Rentenalter steigt bis<br />

2029 schrittweise auf 67<br />

Jahre. Verlängern sich auch<br />

private Vorsorgeverträge?<br />

Nein, sie enden wie vereinbart.<br />

Die private Vorsorge sollte zwischen<br />

dem 63. und 67. Lebensjahr<br />

flexibel verfügbar<br />

sein. Dadurch können etwa<br />

Zeiten der Berufsunfähigkeit<br />

überbrückt werden. Viele<br />

Berufsunfähigkeits-Policen<br />

enden im Alter von 60 oder 65.<br />

n Eine Lebensversicherung<br />

muss heute bis zum 62.<br />

Lebensjahr laufen, damit es<br />

Steuervorteile gibt. Steigt<br />

das Mindestalter auch?<br />

Nein, ein nach Dezember<br />

2011 geschlossener Vertrag<br />

muss zwölf Jahre bestanden<br />

haben und der Versicherte bei<br />

Auszahlung mindestens 62<br />

Jahre alt sein, dann wird nur<br />

die Hälfte der Differenz zwischen<br />

Auszahlung und gezahlten<br />

Beiträgen mit dem persönlichen<br />

Steuersatz belastet. Für<br />

Verträge, die vor 2005 geschlossen<br />

wurden, gibt es teilweise<br />

noch die Steuerfreiheit.<br />

n Sparer können Riester-<br />

Fondsverträge an das Rentenalter<br />

anpassen. Sinnvoll?<br />

Eventuell. Die Anbieter garantieren<br />

die Rückzahlung aller<br />

eingezahlten Beträge. Sie können<br />

bei einer Vertragsverlängerung<br />

mehr Aktien in das Depot<br />

nehmen und die Rendite<br />

verbessern. Abschlusskosten<br />

muss der Anleger dafür üblicherweise<br />

nicht erneut zahlen,<br />

wenn er sie schon am<br />

Anfang, etwa über fünf Jahre<br />

verteilt, gezahlt hat. Zahlt er<br />

für jeden Fondskauf den <strong>Ausgabe</strong>aufschlag,<br />

wird der auch<br />

für die Verlängerung fällig.<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 Redaktion: heike.schwerdtfeger@wiwo.de, martin gerth<br />

97<br />

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Geld&Börse | Geldwoche<br />

KOMMENTAR | Die Dax-Chefs<br />

drehen mal wieder ordentlich an<br />

den Zahlen. Das wird für Anleger<br />

teuer. Von Christof Schürmann<br />

Total verpatzt<br />

Eingekesselt Chinas<br />

Notenbank vor großen<br />

Herausforderungen<br />

Politische Krisen wie jene<br />

in der Ukraine haben<br />

für Unternehmen<br />

derzeit ihr Gutes:<br />

Während der laufenden Bilanzsaison<br />

schaut nicht jeder so genau<br />

hin. Beispiel Bayer: Der<br />

Umsatz legte 2013 nur um ein<br />

mickriges Prozent zu, der Konzernjahresüberschuss,<br />

immerhin,<br />

um satte 32,7 Prozent.<br />

Knapp 3,2 Milliarden Euro nach<br />

2,4 Milliarden im Vorjahr verdienten<br />

die Leverkusener.<br />

Macht einen Gewinn je Aktie<br />

von 3,86 Euro nach 2,91 Euro<br />

2012. Alles in Butter also, wäre<br />

da nicht ein Haken: Bayer rechnet<br />

seinen Aktionären etwas<br />

anderes vor: 5,61 Euro je Aktie,<br />

so heißt es, habe man verdient.<br />

Daran gemessen müsste der<br />

Konzernjahresüberschuss bei<br />

4,64 Milliarden Euro gelegen haben<br />

– eine Zahl, die sich in der<br />

Gewinn-und-Verlust-Rechnung<br />

nirgendwo findet. Vorsorge für<br />

Rechtsfälle, höhere Kosten für<br />

aktienbasierte Vergütung und<br />

Restrukturierung und so weiter<br />

rechnete die Bayer-Führung mal<br />

flugs aus ihren Aufwendungen<br />

heraus, um ein um 45 Prozent<br />

höheres Ergebnis je Aktie zusammenzubasteln.<br />

Bereinigtes<br />

Ergebnis heißt das dann im Verschleierungskauderwelsch.<br />

Irgendeine<br />

echte, nicht mit dem<br />

Bayer-Geschäft in Zusammenhang<br />

stehende ungewöhnliche<br />

Belastung, wie etwa ein Meteoriteneinschlag<br />

in Leverkusen, ist<br />

dabei nicht erkennbar.<br />

Erkennbar einfach ist aber der<br />

Effekt: Statt mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis<br />

(KGV) von 26<br />

geht die Aktie mit einem KGV<br />

von nur knapp 18 in das laufende<br />

Geschäftsjahr. Natürlich<br />

rechnen die Analysten darauf eine<br />

hübsche Gewinnsteigerung<br />

und schon handelt das Papier<br />

<strong>2014</strong> nur noch mit einem KGV<br />

von 16. Schon teuer genug, gemessen<br />

am grob taxierten wahren<br />

Ergebnis, handelt Bayer<br />

aber mit einem KGV von 23.<br />

Wie lustig und bunt man es<br />

mit den Zahlen treiben kann,<br />

zeigt auch RWE. Um mehr oder<br />

weniger unverhohlen um Staatshilfe<br />

zu betteln, stellte am Dienstag<br />

der Essener Energieriese<br />

seinen Nettoverlust von 2,8 Milliarden<br />

Euro in den Vordergrund.<br />

Über Jahre, noch zuletzt im November<br />

2013, hob man auf das<br />

sogenannte nachhaltige Nettoergebnis<br />

ab. Das liegt natürlich<br />

Milliarden im Plus. Nachhaltig<br />

aber ist bei der über Jahrzehnte<br />

wie eine Behörde geführten<br />

RWE nur die verpatzte Geschäftspolitik.<br />

BILLIG IST ANDERS<br />

Die Analysten der Banken reichen<br />

absichtlich, teils wider besseren<br />

Wissens, geschönte Zahlen<br />

herum. Von einem noch<br />

günstigen Dax ist da die Rede,<br />

ohne zu schauen, was unterm<br />

Strich wirklich herauskommt.<br />

Bei Licht betrachtet, haben die<br />

Dax-Konzerne in Summe 2013<br />

nicht viel gerissen. 2012 kamen<br />

bei allen zusammen 63 Milliarden<br />

Euro Gewinn heraus, 2013<br />

dürfte es am Ende kaum mehr<br />

gewesen sein. Und es gibt kaum<br />

Hinweise, dass <strong>2014</strong> dramatisch<br />

besser wird. Damit handelt<br />

der Index mit einem schon ziemlich<br />

teuren KGV von über 15.<br />

Bereinigen darf man dieses<br />

KGV. Und zwar um unterlassene<br />

Abschreibungen auf erworbene<br />

Töchter (Goodwill). Nach dieser<br />

Bereinigung steigt das KGV auf<br />

24. Das will jetzt noch niemand<br />

wissen. Kommt aber, und dann<br />

wird es teuer – für Aktionäre.<br />

TREND DER WOCHE<br />

In der Zwickmühle<br />

Wenn es Peking nicht gelingt, die Luft aus der Kreditblase<br />

schrittweise abzulassen, dann knallt es weltweit.<br />

Hinter der jüngsten Schwäche<br />

des chinesischen Yuan steht die<br />

sich abzeichnende Korrektur<br />

der Handelsungleichgewichte<br />

in der Weltwirtschaft. So haben<br />

sich die Stückkosten in China in<br />

den vergangenen sechs Jahren<br />

um etwa 80 Prozent erhöht. Mit<br />

den Lohnsteigerungen und der<br />

festen Heimatwährung hat sich<br />

China in verschiedenen Branchen<br />

preislich aus dem Markt<br />

geschossen. Hinzu kommt der<br />

Druck über die massive Abwertung<br />

des Yen, der gegenüber<br />

dem Dollar seit Mitte 2012 um<br />

25 Prozent abwertete. Die<br />

People’s Bank of China (PBOC)<br />

will die Bandbreite, innerhalb<br />

derer der Yuan gegenüber dem<br />

Dollar fluktuieren darf, verbreitern,<br />

um den Yuan etwas abzuschwächen.<br />

Doch dabei ist Fingerspitzengefühl<br />

gefragt. Denn<br />

dabei darf es zu keiner massiven<br />

Auflösung des Yuan-Carry-<br />

Trades kommen. Hierbei nehmen<br />

Spekulanten zinsgünstige<br />

Dollar- oder Yen-Kredite auf<br />

und setzen sie in höher rentierende<br />

Anlagen in Yuan um.<br />

Kommt es zu einer massiven<br />

Auflösung dieses Carry-Trades,<br />

könnte die Krise von den<br />

Schwellenländern mit schwacher<br />

Leistungsbilanz, den sogenannten<br />

„Fragile Five“ (Brasilien,<br />

Indien, Indonesien,<br />

Russland, Türkei) auf Länder<br />

mit großen Kreditblasen überspringen.<br />

Immobilien- und<br />

Bankenkrisen drohten, die<br />

„New Fragile Five“ wären geboren.<br />

Das wären neben China<br />

Hongkong, Singapur, Australien<br />

und Kanada.<br />

Trends der Woche<br />

Entwicklung der wichtigsten Finanzmarkt-Indikatoren<br />

Stand: 6.3.<strong>2014</strong> / 18.02 Uhr aktuell seit einer Woche 1 seit einem Jahr 1<br />

Dax 30 9542,87 –0,5 +20,5<br />

MDax 16876,09 +0,3 +26,7<br />

Euro Stoxx 50 3144,53 +0,3 +17,3<br />

S&P 500 1881,09 +1,4 +22,0<br />

Euro in Dollar 1,3745 +0,7 +5,4<br />

Bund-Rendite (<strong>10</strong> Jahre) 1 1,66 +0,09 2 +0,20 2<br />

US-Rendite (<strong>10</strong> Jahre) 1 2,74 +0,09 2 +0,81 2<br />

Rohöl (Brent) 3 <strong>10</strong>7,92 –0,8 –3,2<br />

Gold 4 1345,25 +1,0 –14,5<br />

Kupfer 5 7054,50 –0,6 –8,4<br />

1<br />

in Prozent; 2 in Prozentpunkten; 3 in Dollar pro Barrel; 4 in Dollar pro Feinunze,<br />

umgerechnet 971,79 Euro; 5 in Dollar pro Tonne; Quelle: vwd group<br />

FOTOS: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, CORBIS/IMAGINECHINA, LAIF/IMAGINECHINA<br />

98 Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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DAX-AKTIEN<br />

Dax vor Diekmann<br />

Marktposition, Kapitalkraft und Dividende sind gut,<br />

doch beim Gewinn hat die Allianz Nachholbedarf.<br />

HITLISTE<br />

Um fast 30 Milliarden Euro ist<br />

der Börsenwert der Allianz<br />

gestiegen, seit Michael Diekmann<br />

am 29. April 20<strong>03</strong> das<br />

Ruder in der Königinstraße in<br />

München übernommen hat.<br />

Allerdings, der Dax ist (ohne<br />

Dividenden gerechnet) in der<br />

gleichen Zeit mit 137 Prozent<br />

deutlich stärker gestiegen als<br />

die Allianz-Aktie (1<strong>03</strong> Prozent).<br />

In der Tat hat der Versicherungskonzern<br />

trotz sechs<br />

Milliarden Euro Nettogewinn<br />

(2013, plus 15 Prozent) offene<br />

Flanken: In der Vermögensverwaltung,<br />

vor allem beim Anleihenspezialisten<br />

Pimco, kam<br />

es zu deutlichen Kapitalabflüssen.<br />

Pimco leidet, ebenso wie<br />

das Kerngeschäft Lebensversicherungen,<br />

unter dem extrem<br />

niedrigen Zinsniveau. Auch<br />

wenn das Geschäft mit Schaden-<br />

und Unfallversicherungen<br />

dank niedrigerer Kosten besser<br />

ausfallen sollte, ist für <strong>2014</strong> insgesamt<br />

kein wesentlicher Gewinnanstieg<br />

in Sicht. Den Rückstand<br />

zum Dax aufholen dürfte<br />

Diekmann bis zum Allianz-Jubiläumsjahr<br />

2015 kaum noch.<br />

Chaos bei Chaori<br />

Anleihe fällt aus, eine<br />

weitere China-Pleite<br />

UNTERNEHMENSANLEIHEN<br />

Ausfall in Fernost<br />

Chinas Unternehmen stehen mit mindestens<br />

150 Prozent der Wirtschaftsleistung in der Kreide.<br />

Dax<br />

Kurs Kursent- Gewinn KGV Börsen- Dividen-<br />

(€) wicklung pro Aktie (€) wert den-<br />

1 Woche 1 Jahr 2013 <strong>2014</strong> <strong>2014</strong><br />

(Mio. €) rendite<br />

(%) 1<br />

Dax 9542,87 –0,5 +20,5<br />

Aktie<br />

Stand: 6.3.<strong>2014</strong> / 18.02 Uhr<br />

Adidas 80,31 –3,4 +12,1 4,51 4,69 17 16802 1,68<br />

Allianz 126,65 –1,1 +16,2 12,65 13,50 9 57746 3,55<br />

BASF NA 81,15 –1,0 +<strong>10</strong>,4 5,88 5,93 14 74535 3,20<br />

Bayer NA 99,59 –0,3 +27,3 5,66 6,20 16 82356 1,91<br />

Beiersdorf 71,59 –3,3 +5,7 2,38 2,59 28 18041 0,98<br />

BMW St 83,08 –0,9 +16,0 7,77 8,14 <strong>10</strong> 534<strong>10</strong> 3,01<br />

Commerzbank 13,14 +0,7 +22,5 0,50 0,72 18 14960 -<br />

Continental 183,00 +5,8 +94,9 <strong>10</strong>,02 12,44 15 36601 1,23<br />

Daimler 69,13 +3,1 +48,6 4,56 5,86 12 73930 3,18<br />

Deutsche Bank 34,84 –0,5 +2,5 4,08 3,72 9 35516 2,15<br />

Deutsche Börse 57,91 –1,1 +17,7 3,79 3,89 15 11177 3,97<br />

Deutsche Post 26,91 +0,5 +50,8 1,45 1,66 16 32529 2,60<br />

Deutsche Telekom 11,76 –4,5 +42,0 0,69 0,69 17 52346 5,95<br />

E.ON 13,61 –1,7 +4,3 1,29 0,99 14 27224 8,09<br />

Fresenius Med.C. St 48,90 +0,6 –6,5 3,75 3,76 13 15<strong>03</strong>9 1,53<br />

Fresenius SE&Co <strong>10</strong>9,90 –0,8 +14,8 5,79 6,51 17 24802 0,86<br />

Heidelberg Cement St 63,62 +7,0 +18,3 3,56 4,04 16 11929 0,74<br />

Henkel Vz 77,50 –4,0 +<strong>10</strong>,2 4,<strong>03</strong> 4,31 18 32001 1,23<br />

Infineon 8,57 +5,6 +30,8 0,26 0,40 21 9258 1,40<br />

K+S NA 25,19 +3,5 –29,0 2,92 1,24 20 4820 5,56<br />

Lanxess 53,43 –1,4 –20,1 3,31 2,86 19 4446 1,87<br />

Linde 148,70 –0,4 +5,8 8,48 8,78 17 27606 1,82<br />

Lufthansa 18,30 –3,5 +18,2 1,25 1,52 12 8415 -<br />

Merck 119,50 –4,8 +9,6 8,83 9,21 13 7722 1,42<br />

Münchener Rückv. 156,00 –1,0 +8,7 16,94 17,06 9 27977 4,49<br />

RWE St 28,60 –1,2 +0,5 3,91 2,44 12 17395 6,99<br />

SAP 57,29 –1,4 –9,7 3,37 3,47 17 7<strong>03</strong>81 1,92<br />

Siemens 95,41 –0,6 +20,1 4,80 6,73 14 84056 3,14<br />

ThyssenKrupp 19,83 +0,5 +16,4 -0,55 0,42 47 <strong>10</strong>200 -<br />

Volkswagen Vz. 186,25 –1,1 +<strong>10</strong>,6 21,42 22,25 8 85396 1,91<br />

1<br />

berechnet mit der zuletzt gezahlten Dividende<br />

Es ist paradox. Als China im<br />

November 2008 als Reaktion<br />

auf die Finanzkrise ein umgerechnet<br />

650 Milliarden Dollar<br />

schweres Konjunkturprogramm<br />

auflegte, wurde es als<br />

Retter der Weltwirtschaft gefeiert.<br />

Doch jetzt kommt die<br />

Rechnung auf den Tisch.<br />

Denn zugleich entfachte China<br />

damit einen der größten<br />

Kreditexzesse aller Zeiten. In<br />

der ersten Phase, gleich nach<br />

der Finanzkrise, waren es vor<br />

allem die außerbilanziellen<br />

Vehikel der Lokalregierungen,<br />

die unendlich viel Kredit<br />

schöpfen konnten, indem sie<br />

etwa Land verpachteten. In<br />

der zweiten Phase wurden sogenannte<br />

Wealth-Management-Produkte<br />

von privaten<br />

Anbietern im Schattenbankensystem<br />

zum großen Renner,<br />

weil sie vordergründig eine ordentliche<br />

Rendite zwischen<br />

fünf und zehn Prozent versprechen.<br />

Anleger investieren langfristig,<br />

die Schattenbanken investieren<br />

das Geld am kurzen<br />

Ende der Zinskurve – riskant!<br />

Finanzprodukte im Volumen<br />

von 1800 Milliarden Dollar sollen<br />

so unters Volk gebracht worden<br />

sein. Pleiten bei diesen Anbietern<br />

können jederzeit zu<br />

einer Neubewertung am Markt<br />

für Unternehmensanleihen<br />

führen. Nach offiziellen Zahlen<br />

soll dieser ein Volumen von<br />

12 000 Milliarden Dollar oder<br />

rund 150 Prozent der Wirtschaftsleistung<br />

haben. International<br />

ist China hier Spitzenreiter,<br />

noch vor Hongkong und<br />

Singapur.<br />

Verschuldung der Unternehmen in Prozent der jährlichen<br />

Wirtschaftsleistung<br />

Land<br />

China<br />

Hongkong<br />

Singapur<br />

Malaysia<br />

Großbritannien<br />

Japan<br />

Australien<br />

151<br />

141<br />

133<br />

116<br />

115<br />

113<br />

113<br />

Land<br />

Taiwan<br />

Thailand<br />

Quelle: Nationale Zentralbanken, GaoHua SecuritiesResearch,Goldman Sachs,ZeroHedge<br />

USA<br />

Südkorea<br />

Indien<br />

Philippinen<br />

Indonesien<br />

<strong>10</strong>9<br />

83<br />

75<br />

56<br />

49<br />

36<br />

22<br />

WirtschaftsWoche <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> Nr. 11 99<br />

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Geld&Börse | Geldwoche<br />

AKTIE Rio Tinto<br />

Sauberes Erz für das<br />

Minen-Comeback<br />

Vierfacher Ertrag<br />

Mehr Einsatz<br />

von Stickstoffen<br />

absehbar<br />

Hoffnung <strong>vom</strong> Hochofen Stahlaufschwung<br />

stützt Erzpreise<br />

Teure Zukäufe im Geschäft<br />

mit Aluminium und Kohle<br />

bescherten dem australischbritischen<br />

Rohstoffkonzern<br />

Rio Tinto vor gut einem Jahr<br />

14 Milliarden Dollar Abschreibungen.<br />

2013 kamen noch<br />

einmal 3,4 Milliarden Dollar<br />

wegen fehlgeschlagener Kupferprojekte<br />

in der Mongolei<br />

dazu. Nun aber, mit der Mitte<br />

März vorliegenden 2013er-<br />

Bilanz, dürfte die Krise für Rio<br />

Tinto abgehakt sein. Mit mehr<br />

als 50 Milliarden Dollar Jahresumsatz<br />

und 3,6 Milliarden<br />

Dollar Reingewinn (2012:<br />

3,0 Milliarden Dollar Verlust)<br />

hat das Bergbauunternehmen<br />

die Wende geschafft.<br />

Rio fördert – neben Kupfer,<br />

Bauxit (für Aluminium) und<br />

Diamanten – vor allem Eisenerz.<br />

Hier holt der Minenkonzern<br />

mehr als 80 Prozent seiner<br />

Gewinne. Im vergangenen<br />

Jahr lag der Erzpreis<br />

durchschnittlich bei 135 Dollar<br />

pro Tonne, deutlich unter<br />

den 2011er-Spitzen von fast<br />

200 Dollar. Größter Kunde ist<br />

China. Und hier steigt der Bedarf<br />

– unabhängig von der<br />

konjunkturellen Entwicklung.<br />

Der Grund: Eisenerz von Rio<br />

(etwa aus Australien) ist besonders<br />

hochwertig und hilft<br />

damit den chinesischen<br />

Stahlkochern, strengere Luftschutzvorschriften<br />

zu erfüllen.<br />

Wenn die Konjunktur in<br />

China nicht völlig zusammenbricht,<br />

könnte der Eisenerzpreis<br />

<strong>2014</strong> seinen mehrjährigen<br />

Rückgang beenden. Bei steigender<br />

Erzförderung (2013: plus<br />

fünf Prozent) ist mit höheren<br />

Einnahmen zu rechnen.<br />

Zum Hebel für den Nettogewinn<br />

werden die Kostensenkungen,<br />

die Chef Sam Walsh<br />

vergangenes Jahr eingeleitet<br />

hat. Von 71 000 Stellen wurden<br />

4000 gestrichen. Mehrere Minenbeteiligungen<br />

(Kohle, Kupfer,<br />

Aluminium), die nicht zum<br />

Kerngeschäft gehörten, wurden<br />

verkauft. Der Aufwand für das<br />

operative Geschäft wurde 2013<br />

um 2,3 Milliarden Dollar gedrückt,<br />

für Erkundung und<br />

neue Projekte um eine Milliarde.<br />

<strong>2014</strong> sollten die Kostensenkungen<br />

mindestens drei Milliarden<br />

Dollar erreichen.<br />

Seit vergangenem Sommer<br />

zieht das Geschäft von Rio Tinto<br />

an. <strong>2014</strong> dürfte mindestens ein<br />

Gewinnanstieg auf vier Milliarden<br />

Dollar möglich sein. Die<br />

Dividende (für 2013: 192 Dollarcent<br />

pro Aktie) dürfte ebenfalls<br />

weiter zulegen. Dass Rio Tinto<br />

gleichzeitig die Schulden von 18<br />

Milliarden Dollar in Richtung<br />

15 Milliarden drücken dürfte,<br />

macht die Aktie umso solider.<br />

Rio Tinto<br />

ISIN:GB0007188757<br />

80<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

Kurs/Stoppkurs(in Dollar): 56,50/48,00<br />

KGV 2013/<strong>2014</strong>: <strong>10</strong>,3/9,5<br />

Dividendenrendite(in Prozent):3,4<br />

Chance<br />

Risiko<br />

2009 <strong>10</strong> 11 12 13 14<br />

Niedrig<br />

Quelle:Thomson Reuters<br />

50-Tage-Linie<br />

200-Tage-Linie<br />

Hoch<br />

AKTIE CF Industries<br />

Alter und neuer Favorit<br />

im Düngemittelsektor<br />

Knapp die Hälfte der weltweiten<br />

Nahrungsmittelproduktion<br />

wird gesichert mit dem<br />

Einsatz von Mineraldüngern.<br />

Mineraldünger steigern die<br />

Produktivität eines Feldes im<br />

Schnitt um etwa das Vierfache.<br />

Seit Jahresanfang legten<br />

die Preise für Getreide, Ölsaaten<br />

und Fleisch spürbar zu.<br />

Höhere Absatzpreise verbessern<br />

die Einkommen der<br />

Landwirte und schaffen Anreize,<br />

mehr Düngemittel einzusetzen.<br />

Davon profitieren<br />

Düngemittelhersteller wie CF<br />

Industries aus Deerfield im<br />

US-Bundesstaat Illinois.<br />

Als Glücksgriff erwies sich<br />

der 4,7 Milliarden Dollar<br />

schwere Kauf des Konkurrenten<br />

Terra Nitrogen im April<br />

20<strong>10</strong>. Die Übernahme machte<br />

CF Industries zum weltweit<br />

zweitgrößten Produzenten<br />

von Stickstoffdünger. Auch<br />

dessen Preis ist wegen der Kapazitätsausweitungen<br />

der Industrie<br />

bis Mitte 2013 gefallen.<br />

Allerdings haben die<br />

Produzenten rasch die Produktion<br />

gedrosselt. Ende 2013<br />

und Anfang <strong>2014</strong> sind die<br />

Preise wieder spürbar gestiegen.<br />

Zudem können Landwirte<br />

auf den Einsatz von Stickstoff<br />

im Vergleich zu Kali und<br />

Phosphor nicht längere Zeit<br />

verzichten, ohne direkte Ertragseinbußen<br />

zu erleiden. Das<br />

an der Börse mit gut 14 Milliarden<br />

Dollar bewertete Unternehmen<br />

wird zudem begünstigt<br />

von den tiefen Gaspreisen in<br />

der Heimat. Die Produktion von<br />

Kunstdünger ist sehr energieintensiv.<br />

Abzulesen ist der relative<br />

Vorteil von CF Industries auch<br />

an der Kursentwicklung. Die<br />

Aktie erklomm unlängst ein Rekordhoch.<br />

Seit der letzten Empfehlung<br />

liegen Anleger mit der<br />

Düngemittelaktie 36 Prozent<br />

vorne (WirtschaftsWoche<br />

27/2012). Die Aktie bleibt Favorit<br />

im Düngemittelsektor.<br />

CF Industries<br />

ISIN: US125269<strong>10</strong>01<br />

300<br />

250<br />

200<br />

150<br />

<strong>10</strong>0<br />

50<br />

0<br />

2008 09 <strong>10</strong> 11 12 13<br />

Kurs/Stoppkurs(Dollar): 255,87/2<strong>10</strong>,60<br />

KGV (2013/<strong>2014</strong>): <strong>10</strong>,3/13,2<br />

Dividendenrendite(in Prozent):1,6<br />

Chance<br />

Risiko<br />

Niedrig<br />

Hoch<br />

Quelle:FactSet<br />

50-Tage-Linie<br />

200-Tage-Linie<br />

FOTOS: OKAPIA/BIOS/THIRIET, BLOOMBERG/REYNOLDS, PR (2)<br />

<strong>10</strong>0 Redaktion: Geldwoche+Zertifikate: Frank Doll, Anton Riedl<br />

Nr. 11 <strong>10</strong>.3.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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ZERTIFIKATE Infineon<br />

Automobiler Turbo mit<br />

Benzin und Strom<br />

Runde Sache Zehn Prozent<br />

Wachstum mit Halbleitern<br />

Das amerikanische Marktforschungsunternehmen<br />

IHS<br />

rechnet damit, dass der weltweite<br />

Halbleitermarkt in diesem<br />

Jahr um sieben Prozent<br />

zulegt. Noch etwas stärker, mit<br />

womöglich zehn Prozent,<br />

könnte Dax-Wert Infineon in<br />

diesem Jahr wachsen und damit<br />

erstmals nach dem Finanzkrisen-Debakel<br />

(2009:<br />

2,2 Milliarden Euro Umsatz)<br />

wieder mehr als vier Milliarden<br />

Euro Umsatz erreichen.<br />

Infineon profitiert davon,<br />

dass die Nachfrage aus den<br />

wichtigsten Kundenbranchen<br />

dynamisch zunimmt:vor allem<br />

aus der Autoindustrie, mit<br />

Chips für den Aufschwung<br />

der Infineon seinen halben<br />

Umsatz macht. Der wachsende<br />

Anteil von Sicherheits- und<br />

Komfortfunktionen im Auto<br />

(Kameras, Fahrassistenzsysteme,<br />

Steuergeräte) beflügelt die<br />

Nachfrage nach Halbleitern genauso<br />

wie die steigende Zahl<br />

von Elektromobilen.<br />

Besonders stark, um 20 Prozent<br />

im Jahresvergleich, legt Infineon<br />

derzeit in Asien zu. Die<br />

Region wird in diesem Geschäftsjahr<br />

wahrscheinlich fast<br />

die Hälfte zum Gesamtumsatz<br />

beitragen. Am großen Unternehmensstandort<br />

in Malakka in<br />

Malaysia wurde soeben ein<br />

neues Entwicklungszentrum eröffnet.<br />

Mit zwei Milliarden Euro<br />

Cash in der Kasse ist Infineon<br />

gut gerüstet für den Aufschwung<br />

der Chipbranche.<br />

Infineon gehört derzeit zu<br />

den stärksten Titeln im Dax. Mit<br />

Faktorzertifikaten lässt sich der<br />

Aufwärtstrend (bei kleinem<br />

Einsatz) verstärken. In Seitwärtstrends<br />

bringen Discounts<br />

gute Renditen.<br />

Anlagezertifikat und Hebelpapier auf die Infineon-Aktie<br />

(aktuell 8,47 Euro)<br />

Kurs (Euro)<br />

Stoppkurs (Euro)<br />

Funktion<br />

Kauf-Verkaufs-<br />

Spanne<br />

Emittentin<br />

(Ausfallprämie)<br />

ISIN<br />

Chance/Risiko<br />

Quelle: Thomson Reuters<br />

Discount für Anleger<br />

7,46<br />

6,34<br />

Ermöglicht den Infineon-Kauf mit 11,9<br />

Prozent Rabatt, dafür ist der Maximalgewinn<br />

bei 8,00 Euro (Cap) gedeckelt;<br />

das wären 7,3 Prozent Gewinn in neun<br />

Monaten (Fälligkeit 19. Dezember<br />

<strong>2014</strong>); defensive Strategie, bei der es<br />

genügt, wenn die Infineon-Aktie ihr<br />

aktuelles Niveau hält; Aktienkurse unter<br />

8,00 Euro schmälern den Gewinn,<br />

Verluste entstehen, wenn Aktie unter<br />

7,46 Euro sinkt<br />

0,1<br />

BNP Paribas (0,8 Prozent = geringes<br />

Ausfallrisiko)<br />

DE000BP2YXV3<br />

6/5<br />

Faktor für Spekulanten<br />

27,13<br />

20,35<br />

Verstärkt die täglichen Kursschwankungen<br />

der Aktie mit<br />

fünffachem Hebel: Steigt Infineon<br />

an einem Tag um 2 Prozent,<br />

gewinnt das Zertifikat etwa<br />

<strong>10</strong> Prozent; keine feste<br />

Laufzeit, kein Knockout, Verluste<br />

in Seitwärtsphasen möglich;<br />

offensive Strategie für<br />

dynamischen Aufwärtstrend<br />

der Aktie<br />

1,2<br />

Commerzbank (1,1 Prozent =<br />

mittleres Ausfallrisiko)<br />

DE000CZ6SNX0<br />

<strong>10</strong>/9<br />

ANLEIHE Teva<br />

Pille gegen<br />

den Euro<br />

Top bei Tabletten Generika und<br />

eigene Medikamente im Angebot<br />

Weltweit ist die Pharmabranche<br />

in Bewegung. In den USA<br />

steht Actavis vor dem Kauf<br />

des Konkurrenten Forest<br />

Laboratories. Großspekulant<br />

Georges Soros hat in den<br />

vergangenen Monaten für<br />

370 Millionen Dollar Aktien<br />

der israelischen Teva Pharmaceutical<br />

gekauft (ISIN:<br />

US8816242098).<br />

Teva ist für Aktionäre interessant,<br />

weil das israelische<br />

Unternehmen zum einen<br />

Weltmarktführer bei Generika<br />

(Nachahmer-Medikamente,<br />

50 Prozent des Teva-Umsatzes)<br />

ist und zum anderen<br />

auch eigene Medikamente<br />

entwickelt (gegen Nervenkrankheiten,<br />

Krebs; rund<br />

40 Prozent Umsatzanteil) und<br />

dazu frei verkäufliche Präparate<br />

im Angebot hat. Für Anleihekäufer,<br />

die lieber in Dollar<br />

als in Euro investieren, ist<br />

Teva ein stabiler Schuldner,<br />

der für mittlere Laufzeiten (etwa<br />

bis 2020) gut drei Prozent<br />

Jahresrendite bietet.<br />

Teva ist ein Wachstumsunternehmen.<br />

1901 in Jerusalem<br />

als Vertrieb für importierte<br />

Medikamente gegründet,<br />

kam in den folgenden Jahrzehnten<br />

die eigene Forschung<br />

dazu. Ab den 1980er-Jahren<br />

folgte die internationale Expansion.<br />

In den vergangenen<br />

20 Jahren kletterte der Jahresumsatz<br />

von 500 Millionen<br />

Dollar auf 20 Milliarden.<br />

Heute hat das Unternehmen<br />

45 000 Mitarbeiter in 60 Ländern.<br />

In Deutschland ist Teva<br />

mit der Marke Ratiopharm<br />

vertreten.<br />

Allerdings, auch wenn Teva<br />

in den vergangenen 20 Jahren<br />

immer Gewinne machte, gibt<br />

es auf der Ertragsseite Schwankungen.<br />

2013 führten höhere<br />

Entwicklungskosten und Patentstreitigkeiten<br />

zu einem<br />

Rückgang des Nettogewinns um<br />

ein Drittel auf 1,3 Milliarden<br />

Dollar. Demnächst wird das<br />

wichtigste Eigenmedikament<br />

von Teva, Capoxone gegen multiple<br />

Sklerose, seinen Patentschutz<br />

verlieren. Teva kann seinen<br />

Blockbuster zwar für andere<br />