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# 1 2010 - Kaltstart Hamburg

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Denkt nicht an die Rente, ihr theatralen Nomadensäue!<br />

von Alexandra Müller<br />

Ich verdiene nichts an diesem Artikel. Ich werde<br />

sogar freiwillig zwei Wochen lang unbezahlt in<br />

einer Journalisten-Kommune leben, ohne Warmwasser.<br />

Trotzdem freue ich mich darauf. Ähnlich<br />

geht es den meisten ebenfalls unbezahlten OrganisatorInnen,<br />

Mitwirkenden und teilnehmenden<br />

Gruppen beim <strong>Kaltstart</strong>-Festival. Ja, sind wir<br />

denn völlig bescheuert?<br />

Vielleicht sind die kreativ Arbeitenden, diese selbst<br />

gewählten prekarisierten KulturproduzentInnen,<br />

deshalb so gut ausbeutbare Subjekte, weil sie ihre<br />

Lebens- und Arbeitsverhältnisse wegen des Glaubens<br />

an die eigenen Freiheiten, wegen der Selbstverwirklichungsphantasien<br />

scheinbar unendlich ertragen.<br />

(Isabell Lorey beim Theatertreffen 2006)<br />

Um den Bogen weiter zu spannen: Wieso begeben sich junge<br />

Theaterbegeisterte freiwillig in die so genannte „freie Szene“,<br />

die in Deutschland aus etwa 20.000 Menschen besteht, die<br />

größtenteils kaum von dem leben können, was sie mit ihrer<br />

Kunst verdienen? Woher kommen diese Leute? Die Gruppe<br />

„Realitäten Revue“ („Shadow“, Di, 13.07.) etwa ist aus einem<br />

studentischen Projekt entstanden -- das hat sie mit vielen<br />

Gruppen der <strong>Kaltstart</strong>-Abteilungen gemeinsam. In den letzten<br />

anderthalb Jahren haben sie in Zusammenarbeit mit verschiedenen<br />

Tanz- und Theatergruppen drei Inszenierungen<br />

auf die Bühne gebracht. Ihre Produktion „Shadow“ war auf<br />

einigen europäischen Festivals zu sehen. Finanziert werden<br />

die Projekte aus eigenen Mitteln, aber auch aus Kulturfonds.<br />

Damit gehören „Realitäten Revue“ zu einer der wenigen<br />

freien Gruppen, die öffentliche Gelder bekommt. Das Geld<br />

zum Leben verdienen die beiden Hauptakteure allerdings mit<br />

Programmieren und Grafik-Design. In der Fringe-Abteilung<br />

von <strong>Kaltstart</strong> können sich die meisten glücklich schätzen: Sie<br />

studieren noch.<br />

Wir leben prekär, wie die meisten KünstlerInnen.<br />

Durch das Studium sind wir zugegebenermaßen noch<br />

in einer Art Schutzzone. Es gibt uns die Freiheiten<br />

zum auszuprobieren, nicht zuletzt weil wir eine kostenfreie<br />

Probenmöglichkeit haben (die wir allerdings<br />

mit Kommilitonen teilen und doch oft in unseren<br />

Wohnzimmern proben mussten).<br />

(Ponydressing, Mi, 14.07.)<br />

Die meisten freien Theaterschaffenden verbindet die Suche<br />

nach neuen Strukturen, national wie international, eine hohe<br />

Flexibilität und der ständig drohende Rutsch ins soziale und/<br />

oder finanzielle Nirwana.<br />

Und doch drängen immer mehr junge Leute in die freie Szene.<br />

Die Konkurrenz wächst, aber das ohnehin knappe Publikum<br />

(10-15% der Bevölkerung) nimmt nicht zu, die staatlichen<br />

Zuschüsse sogar eher ab. Die Grundprobleme: Einkommen,<br />

Alter, Krankheit, soziale Absicherung, Ausbildung, Berufseinstieg<br />

und Familiengründung. Die Künstlersozialkasse (KSK)<br />

reicht schon längst nicht mehr zur sozialen Grundsicherung<br />

aus, auch weil zum Überleben nötige Jobs wie Produktionsassistenzen<br />

nicht als künstlerische Tätigkeit anerkannt werden.<br />

Ich persönlich verbringe in Projektphasen (etwa<br />

zweimal jährlich je etwa 8-12 Wochen) meine Zeit<br />

fast ausschließlich mit Telefonaten, Proben, Presse-<br />

und Öffentlichkeitsarbeit, Organisation und<br />

Koordination des Teams. In dieser Zeit kann ich<br />

kaum nebenher arbeiten. Ein Privatleben im Sinne<br />

einer Trennung von Arbeits- und Berufsleben gibt es<br />

nicht. Nach meiner Einschätzung ist das im Kulturbereich<br />

sowieso kaum möglich, da viele Kulturakteure<br />

außerhalb der Projekte Zeit miteinander und in der<br />

Planung neuer Projekte verbringen. Man nimmt die<br />

Arbeit immer mit nach Hause und lebt von einem<br />

Projekt ins nächste, von heute bis übernächstes<br />

Jahr. (Franziska Pohlmann, Haute Culture e.V.,<br />

Mo, 12.07.)<br />

Vergangenes Jahr hat der Fond der Darstellenden Künste<br />

die Lebens- und Arbeitsbedingungen der freien Theater- und<br />

Tanzschaffenden in Deutschland untersucht. Der „Report<br />

Darstellende Künste“ ist die erste Untersuchung dieser Art<br />

seit 1973. In einer Onlinebefragung wurden 4000 freischaffende<br />

Künstler aus Tanz und Theater befragt. Die Zahlen, die<br />

der „Report Darstellende Künste“ enthält, sind zum Heulen.<br />

40 Prozent der freien Theatermenschen verdienen weniger<br />

als der Durchschnitt der Bundesbürger: Während diese pro<br />

Jahr 17.463 Euro netto verdienen, liegt das Einkommen in der<br />

freien Theaterszene bei ungefähr 9000 Euro -- und das, obwohl<br />

etwa zwei Drittel einen Hochschulabschluss haben. 32<br />

Prozent sind dauerhaft auf Sozialleistungen angewiesen, 68<br />

Prozent haben keine Kinder. Nahezu zwei Drittel realisieren<br />

über zehn verschiedene Projekte im Jahr.<br />

Das „Ensemble la vie -- Das Leben e.V.“, das bei <strong>Kaltstart</strong><br />

„Der Zementgarten“ (Mo, 12.07.) zeigt, produziert rund sechs<br />

Stücke pro Jahr, was aber verhindert, dass sie mit ihren<br />

Arbeiten touren. Auch mit der Förderung sieht es nicht so gut<br />

aus. René Rothe: „Wir haben bis dato noch keine Förderungen<br />

bekommen, weder vom Bund noch vom Freistaat Sachsen<br />

oder der Stadt Dresden. Den „Zementgarten“ konnten wir nur<br />

realisieren, weil das Staatsschauspiel Dresden eine Probebühne<br />

bereitgestellt hat, die Hochschule für Bildende Kunst<br />

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