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Kirchenblatt 15•16| 2010

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RETO STAMPFLI<br />

Pilgern – bewegtes<br />

Thema<br />

Das Pilgern hat eine lange Tradition. Der Brauch des<br />

christlichen Wallfahrens geht zurück bis in die Zeit der<br />

frühen Christengemeinden. Damals begannen fromme<br />

Menschen erstmals Orte aufzusuchen, die mit Jesu<br />

Wirken, seinem Tod und mit dem Leben und Sterben<br />

der Apostel, seiner Jünger, in Verbindung standen.<br />

Im Folgenden bietet eine bunte Palette an Reise -<br />

berichten aus verschiedenen Epochen einen Einblick<br />

in das Wesen der Pilgerschaft – ein persönliches Vor -<br />

wärtskommen, bei dem das Ziel nur eine nebengeordnete<br />

Rolle spielt.<br />

Das Pilgern ist nicht mit einer herkömmlichen<br />

Ferienreise gleichzusetzen, obwohl<br />

gewisse Elemente rudimentär übereinstimmen<br />

mögen. Nicht die Destination ist<br />

das eigentliche Ziel beim Pilgern, sondern<br />

der Weg dorthin, welcher oft zu Fuss bewältigt<br />

wird, da es sich beim Gehen um<br />

die «humanste» Fortbewegungsart handelt.<br />

Ja, Pilgern ist ein sowohl körperlich<br />

als auch geistig beanspruchendes Erlebnis.<br />

Man kann es nicht mit dem Wandern<br />

gleichsetzen, denn Wandern bedeutet<br />

vor allem ruhiges Vorankommen; Pilgern<br />

ist hingegen eine Art bewegtes Innehalten.<br />

Es ist ein zutiefst innerlicher Vorgang,<br />

obwohl äusserliche Körperkräfte<br />

beansprucht werden. Der pilgernde<br />

Mensch begegnet nebst anderen Pilgern<br />

vor allem sich selbst. War früher in erster<br />

Reto Stampfli<br />

geboren am 22. Juli 1969, wuchs in Etziken SO<br />

auf. Er besuchte die Kantonsschule in Solothurn<br />

und studierte Philosophie, Germanistik und<br />

Theologie in Bern, St. Andrews und Fribourg.<br />

2001 dissertierte er über den französischen<br />

Philosophen Maurice Merleau-Ponty.<br />

Er arbeitet als Kantonsschullehrer und Autor.<br />

Zudem ist er Chefredaktor unseres <strong>Kirchenblatt</strong>s.<br />

4<br />

KIRCHENBLATT 15•16 <strong>2010</strong><br />

Linie Jerusalem und das Heilige Land, wo<br />

Jesus gekreuzigt wurde und nach christlichem<br />

Glauben auferstanden ist, der beliebteste<br />

Pilgerort der Christen, so strahlt<br />

in der heutigen Zeit Santiago de Compos -<br />

tela die grösste Anziehungskraft aus. Immer<br />

wieder haben Pilgernde ihre Erfahrungen<br />

aufs Papier gebracht und dadurch<br />

das Interesse bei ihrer Leserschaft geweckt.<br />

Literarische Perlen<br />

Der wohl berühmteste Pilgerbericht der<br />

Weltliteratur sind die «Canterbury Tales»<br />

von Geoffrey Chaucer aus dem 14. Jahrhundert.<br />

In der englischsprachigen Literatur<br />

sind Chaucers Beschreibungen einer<br />

illustren Pilgergruppe ein zentrales Sittenund<br />

Sprachdokument. Der beschriebene<br />

Weg ins südostenglische Canterbury, wo<br />

der heilige Thomas Becket, bekannter als<br />

Thomas von Canterbury, verehrt wurde,<br />

war eine beliebte Pilgerreise für Menschen<br />

aus allen Gesellschaftsschichten<br />

und ein lukratives Geschäft für die Gastund<br />

Pilgerhäuser entlang der Einfallswege<br />

nach Canterbury. Die Worte eines<br />

Wirtes verraten, dass diese Art von Pilgern<br />

im 14. Jahrhundert alles andere als<br />

ein stiller Bittgang war: «Herrschaften, ihr<br />

seid mir willkommen, denn, meiner Treu,<br />

das ganze Jahr sah ich noch keine Gesellschaft<br />

so munter wie diese! Wüsst ich nur<br />

wie, ich würd euch gerne unterhalten.<br />

Doch denk ich gerad an einen Zeitvertreib,<br />

der sehr viel Spass und wenig Kos -<br />

ten macht. Ihr geht nach Canterbury –<br />

möge Gott den Schritt euch lenken und<br />

euch Sankt Thomas Gnade schenken!<br />

Auf dem Weg wollt ihr euch sicher mit<br />

Scherzen und Gespräch die Zeit verkürzen,<br />

denn es ist wirklich kein Vergnügen,<br />

stumm wie ein Fisch dahinzureiten.»<br />

Dass es normalerweise weniger luxuriös<br />

und ruhiger zu und her ging, können wir<br />

den Worten des Jesuitengründers Ignatius<br />

von Loyola entnehmen. Er erzählt<br />

von einer abenteuerlichen Pilgerreise<br />

nach Jerusalem: «Als sie bei einer nahe<br />

gelegenen Stadt ankamen, fanden sie<br />

diese verschlossen vor. Da sie nicht hineingelangen<br />

konnten, verbrachten alle<br />

drei jene Nacht in einer regennassen Kirche,<br />

die dort lag. Auch am Morgen wollte<br />

man ihnen die Stadt nicht öffnen, und<br />

deshalb konnten sie kein Almosen fin-

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