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Strafprozessordnung (StPO) - Kölner Anwaltverein

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Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 1<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

<strong>Strafprozessordnung</strong> (<strong>StPO</strong>)<br />

§§ 36, 335 <strong>StPO</strong><br />

Zustellung ohne richterliche Anordnung; verspätete Ausübung<br />

der Rechtsmittelwahl<br />

SenE v. 21.11.2006 - 83 Ss 52/06 -<br />

Der gemäß § 346 Abs. 2 <strong>StPO</strong> statthafte und auch ansonsten in formeller Hinsicht unbedenkliche<br />

Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts führt zur Aufhebung des angefochtenen<br />

Beschlusses.<br />

Die Entscheidung ist in mehrfacher Hinsicht rechtsfehlerhaft.<br />

Soweit auf die (vermeintlich) verspätete Bestimmung des Rechtsmittels zur Revision abgestellt<br />

wird, hätte ein entsprechender Mangel nicht zur Verwerfung der Revision als unzulässig<br />

führen können. Vielmehr wäre das Rechtsmittel in diesem Fall als Berufung zu<br />

behandeln gewesen (vgl. nur Meyer-Goßner, <strong>StPO</strong>, 49. Aufl., § 335 Rdnr. 4 m. w.<br />

Nachw.).<br />

Soweit darauf abgestellt wird, die Revisionsanträge und deren Begründung seien nicht<br />

innerhalb der Monatsfrist des § 345 Abs. 1 <strong>StPO</strong> angebracht worden, trifft dies nicht zu.<br />

Denn bei Eingang der Revisionsbegründungsschrift am 09.05.2006 hatte die Frist noch<br />

nicht begonnen, weil bis zu diesem Zeitpunkt eine wirksame Zustellung des angefochtenen<br />

Urteils noch nicht erfolgt war. Sowohl die Urteilszustellung an die Angeklagte am<br />

25.02.2006 als auch diejenige an den Verteidiger am 04.04.2006 waren nämlich ohne die<br />

gemäß § 36 Abs. 1 <strong>StPO</strong> erforderliche richterliche Anordnung erfolgt. Dieser Mangel führt<br />

zur Unwirksamkeit der Zustellung (vgl. Mayer-Goßner a.a.O. § 36 Rdnr. 7 m. w. Nachw.).<br />

§ 111a <strong>StPO</strong><br />

Beschwerde während des Revisionsverfahrens<br />

SenE v. 20.10.2006 - 91 Ws 166/06 - 35 -<br />

Das Jugendschöffengericht hat den Angeklagten der fahrlässigen Tötung schuldig gesprochen,<br />

ihn verwarnt und ihm aufgegeben, binnen fünf Monaten nach Rechtskraft des<br />

Urteils 100 Stunden unentgeltliche Arbeit nach Weisung des Jugendamtes zu leisten und<br />

eine Geldbuße von 500 Euro in monatlichen Raten von 100 Euro an eine gemeinnützige<br />

Einrichtung zu zahlen.<br />

Auf die Berufung der Staatsanwaltschaft hat das Landgericht das amtsgerichtliche Urteil<br />

dahin „ergänzt“, dass es dem Angeklagten die Fahrerlaubnis entzogen, seinen Führerschein<br />

eingezogen und eine Sperrfrist für die Neuerteilung von 12 Monaten festgesetzt<br />

hat. Zugleich hat das Landgericht dem Angeklagten gemäß § 111 a <strong>StPO</strong> die Fahrerlaubnis<br />

vorläufig entzogen.<br />

Der Angeklagte hat gegen das Berufungsurteil Revision und gegen den Beschluss nach §<br />

111 a <strong>StPO</strong> „sofortige Beschwerde“ eingelegt. Über die Revision hat der Senat noch nicht<br />

entschieden; insoweit ist noch keine Aktenvorlage nach § 347 Abs. 2 <strong>StPO</strong> erfolgt.


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 2<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

Die Beschwerde ist zulässig (§ 304 <strong>StPO</strong>; vgl. Senatsentscheidung VRS 93, 348; KG ZfS<br />

2006, 528), in der Sache jedoch nicht begründet.<br />

Der Angeklagte hat das Urteil der Strafkammer mit der Revision angefochten. Während<br />

des Revisionsverfahrens ist die Prüfung der Voraussetzungen des § 69 StGB und damit<br />

die im Rahmen des § 111 a <strong>StPO</strong> zu beurteilende Frage der Eignung dem Beschwerdegericht<br />

entzogen, nachdem die letzte tatrichterliche Prüfung der Geeignetheit durch das<br />

Berufungsgericht erfolgt ist. Nach dem Erlass des Berufungsurteils findet eine weitere<br />

Prüfung des Sachverhalts in tatsächlicher Hinsicht nicht mehr statt. Die Frage, ob dringende<br />

Gründe im Sinne von § 111 a <strong>StPO</strong> vorliegen, hängt in diesem Verfahrensstadium<br />

nur noch davon ab, ob die Entscheidung über die Entziehung der Fahrerlaubnis nach §<br />

69 StGB unter revisionsrechtlichen Gesichtspunkten Bestand hat. Mit der Beschwerde<br />

gegen die Anordnung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111 a <strong>StPO</strong><br />

kann aber keine Vorabentscheidung über die gegen das Berufungsurteil eingelegte Revision<br />

erreicht werden. Vielmehr ist die ausschließlich nach revisionsrechtlichen Kriterien<br />

anzustellende Prüfung der richtigen Rechtsanwendung im Rahmen des § 69 StGB dem<br />

Revisionsgericht vorbehalten (so insgesamt SenE a.a.O und VRS 105, 343, jeweils mit<br />

weiteren Nachweisen; KG a.a.O.).<br />

Die weitere Aufrechterhaltung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis der Angeklagten<br />

verstößt ferner nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.<br />

§ 126 <strong>StPO</strong><br />

Haftentscheidung des Revisionsgerichts<br />

SenE v. 10.11.2006 - 83 Ss 70/06 -<br />

Der Senat hat durch Urteil vom 07.11.2006 das Berufungsurteil der 1. kleinen Strafkammer<br />

des Landgerichts Köln vom 27.06.2006 im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben und<br />

die Sache in diesem Umfang zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz<br />

zurückverwiesen.<br />

Mit an den Senat gerichtetem Schriftsatz vom 08.11.2006 hat die Verteidigerin des Angeklagten<br />

die Aufhebung des Haftbefehls beantragt, da der Haftgrund der Fluchtgefahr<br />

nicht mehr vorliege und die Fortdauer der Untersuchungshaft unverhältnismäßig sei.<br />

Der Antrag kann schon deshalb keinen Erfolg haben, weil das Revisionsgericht nach der<br />

Entscheidung über die Revision für eine Aufhebung des Haftbefehls (§ 126 Abs. 3 <strong>StPO</strong>)<br />

nicht mehr zuständig ist. Eine derartige Entscheidung müsste - unbeschadet der Frage,<br />

ob das Revisionsgericht einen Haftbefehl schon vor Erlass der Revisionsentscheidung<br />

aufheben könnte - jedenfalls spätestens zugleich mit der Urteilsaufhebung erfolgen. Nach<br />

Erlass einer die angefochtene Entscheidung aufhebenden Revisionsentscheidung ist für<br />

sämtliche Entscheidungen hinsichtlich der Untersuchungshaft nur noch das Gericht zuständig,<br />

an das die Sache zurückverwiesen worden ist (so insgesamt BGH NJW 1996,<br />

2665; vgl. auch BGH NStZ 1997, 145 = StV 1998, 143; Boujong in KK-<strong>StPO</strong>, 5. Auflage,<br />

§ 126 Rn. 11).


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 3<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

§ 335 <strong>StPO</strong><br />

verspätete Wahl der Revision<br />

SenE v. 05.12.2006 - 82 Ss 148/06 -<br />

I.<br />

Das Amtsgericht Bonn hat den Angeklagten durch Urteil vom 10. Juli 2006 wegen Beihilfe<br />

zu einer verbotenen Erwerbstätigkeit eines Asylbewerbers zu einer Geldstrafe von 40<br />

Tagessätzen zu je 13,00 € verurteilt. Hiergegen hat der Angeklagte mit einem am selben<br />

Tag bei Gericht eingegangenen Schriftsatz des Verteidigers ein unbenanntes Rechtsmittel<br />

eingelegt. Danach ist das Urteil dem Angeklagten persönlich am 21. August 2006 zugestellt<br />

worden und seinem Verteidiger am selben Tag mit einfacher Post zugegangen.<br />

Mit Schriftsatz vom 21. September 2006, eingegangen bei Gericht am 22. September<br />

2006, hat der Verteidiger das Rechtsmittel zur Revision bestimmt und diese zugleich begründet.<br />

Nachdem ihm das Amtsgericht mit Schreiben vom 25. September 2006 mitgeteilt<br />

hatte, dass die Wahl des Rechtsmittels nicht rechtzeitig erfolgt sei, hat der Verteidiger am<br />

6. Oktober 2006 die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der<br />

Frist zur Bestimmung des Rechtsmittels beantragt.<br />

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, dem Angeklagten gegen die Versäumung<br />

der Frist zur Bestimmung des Rechtsmittels Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu<br />

gewähren sowie die Revision gemäß § 349 Abs. 2 <strong>StPO</strong> als unbegründet zu verwerfen.<br />

II.<br />

In entsprechender Anwendung des § 348 Abs. 1 <strong>StPO</strong> ist die Sache dem Landgericht<br />

Bonn als Berufungsgericht vorzulegen. Die Wahl der Revision als Rechtsmittel mit dem<br />

am 22. September 2006 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz vom 21. September 2006<br />

ist verspätet erfolgt. Die Monatsfrist zur Bestimmung des Rechtsmittels gemäß § 345<br />

Abs. 1 <strong>StPO</strong> war bereits mit Ablauf des 21. September 2006 verstrichen.<br />

1. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist insoweit nicht möglich. Es entspricht<br />

ganz herrschender Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum, der auch der Senat folgt<br />

(vgl. etwa SenE v. 12. September 2003 - Ss 368/03 -), dass wegen der nach Ablauf der<br />

Frist des § 345 Abs. 1 <strong>StPO</strong> eingegangenen Wahl des Rechtsmittels als Revision die<br />

Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht zulässig ist (vgl. BayObLG<br />

MDR 83, 1046; OLG Hamm, NStZ 1991, 601; Senat NStZ 1994, 557 sowie als obiter dictum<br />

auch schon Senat NStZ 1994, 200; Meyer-Goßner, <strong>StPO</strong>, 49. Aufl., 2005, § 335 Rn.<br />

8; Kuckein in Karlsruher Kommentar, <strong>StPO</strong>, 5. Aufl., 2003, § 335 Rn. 6). Dabei ist es für<br />

das Ergebnis unerheblich, ob die Begründung darauf gestützt wird, dass es sich um die<br />

Versäumung einer Ausschlussfrist handele (so OLG Hamm NStZ 1991, 601), ob man in<br />

der zeitlichen Begrenzung des Wahlrechts keine gesetzliche Frist sehen will (so Senat<br />

NStZ 1994, 557) oder ob man die endgültige Ausübung des Wahlrechts gar nicht als eigenständige<br />

Prozesshandlung betrachtet (so BayObLG MDR 1983, 1046). Jedenfalls ist<br />

nach Ablauf der Monatsfrist des § 345 Abs. 1 <strong>StPO</strong> die Möglichkeit der Wahl der Revision<br />

endgültig untergegangen (Meyer-Goßner a.a.O. § 335 Rn. 8).<br />

2. Mangels rechtzeitiger Bestimmung des Rechtsmittels zur Revision ist es als Berufung<br />

durchzuführen (vgl. Meyer-Goßner, a. a. O., Rdnr. 4 m. w. N.). Hierzu ist die Sache an<br />

das zuständige Landgericht Bonn abzugeben.


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 4<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

§ 260 <strong>StPO</strong><br />

Urteilsformel: Widerspruch zwischen Protokoll u. schriftlichem<br />

Urteil<br />

kein Teilfreispruch bei Annahme einer Bewertungseinheit<br />

SenE v. 07.11.2005 - 83 Ss 70/06 -<br />

Der Schuldspruch des angefochtenen Urteils ist lediglich in der Weise zu berichtigen,<br />

dass der Teilfreispruch entfällt.<br />

Insoweit heißt es im Berufungsurteil:<br />

„Soweit der Angeklagte in dem angefochtenen Urteil wegen der Verkäufe am<br />

07.07.2005 wegen zweier Taten des unerlaubten Handels mit Betäubungsmitteln<br />

verurteilt worden war, war er hinsichtlich einer Tat freizusprechen, da zu seinen<br />

Gunsten davon auszugehen war, dass die Verkäufe aus dem gleichen Vorrat<br />

stammten, somit rechtlich nur eine Tat vorlag.“<br />

Beim Wegfall tatmehrheitlich angeklagter Delikte durch die Annahme von Bewertungseinheiten<br />

ist der Angeklagte indessen nicht freizusprechen, wenn sich (wie hier) die weggefallenen<br />

materiell-rechtlich selbständig angeklagten Taten als Bestandteil der Strafen<br />

erweisen, deretwegen Verurteilung erfolgt ist. Denn in einem solchen Fall wird der gesamte<br />

Verfahrensgegenstand durch die Verurteilung erschöpfend erledigt (BGH, NStZ<br />

1994, 547; BGHR <strong>StPO</strong> § 260 Abs. 1 Teilfreispruch 14 (Gründe) - Aufgabe BGH NStZ<br />

1997, 90 -; BGH NStZ 2004, 109).<br />

Soweit auch der Senat im Anschluss an BGH NStZ 1997, 90 die Auffassung vertreten<br />

hat, es sei ein Teilfreispruch veranlasst, wenn tatmehrheitlich angeklagte Taten wegen<br />

Bewertungseinheit zusammengefasst werden (SenE v. 05.08. 2003 – Ss 293/03), hält<br />

auch er daran nicht mehr fest.<br />

…<br />

Zur Rechtsfolgenseite hält das Berufungsurteil der Überprüfung nicht stand.<br />

1.<br />

Zu diesem Ergebnis führt schon die Divergenz zwischen der verkündeten Urteilsformel,<br />

wie sie sich aus der Sitzungsniederschrift ergibt (1 Jahr), und derjenigen in der Urteilsurkunde<br />

(1 Jahr 4 Monate). Der authentische Wortlaut der Urteilsformel ergibt sich allein<br />

aus der nach § 274 <strong>StPO</strong> maßgebenden Sitzungsniederschrift (BGH NStZ-RR 2002, 100;<br />

BGHSt 34, 11, 12; BGHR <strong>StPO</strong> § 274 Beweiskraft 10; Meyer-Goßner, <strong>StPO</strong>, 49. Auflage,<br />

§ 268 Rn. 18).<br />

Die vor der Urteilsverkündung niedergeschriebene Urteilsformel (§ 268 Abs. 2 Satz 1<br />

<strong>StPO</strong>; Blatt 281 der Akten), die eine Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 4 Monaten ausweist,<br />

nimmt an der Beweiskraft nach § 274 <strong>StPO</strong> nicht teil, weil sie nicht in das Sitzungsprotokoll<br />

integriert worden ist; sie ist weder darin eingefügt noch zur Anlage des Protokolls<br />

gemacht worden.<br />

Eine Auslegung des Protokolls ist nur dann zulässig, wenn dessen Sinn zweifelhaft ist.<br />

Das ist hier nicht der Fall. Das Protokoll ist eindeutig, es leidet – für sich betrachtet – nicht<br />

an offensichtlichen Mängeln, ist weder unklar, erkennbar lückenhaft oder widersprüchlich<br />

(vgl. BGH StV 2006, 287 = NStZ-RR 2006, 112).<br />

Es ist auch nicht etwa so, dass nach dem Schuldspruch eine Gesamtfreiheitsstrafe von 1<br />

Jahr völlig sinnwidrig wäre. Der Tenor enthält einen Teilfreispruch, so dass eine Herabsetzung<br />

der Strafe nicht von vornherein als undenkbar erscheint. Dass das Landgericht


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 5<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

jede der Taten als besonders schweren Fall im Sinne des § 29 Abs. 3 Nr. 1 BtMG (Gewerbsmäßigkeit)<br />

gewertet hat (Mindeststrafe jeweils 1 Jahr), ergibt sich erst aus den Urteilsgründen.<br />

Wegen der Eindeutigkeit des Protokolls waren dem Senat Ermittlungen zum Strafausspruch<br />

im Freibeweisverfahren verwehrt. Selbst übereinstimmende Erklärungen der Urkundspersonen,<br />

verkündet worden sei eine Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr 4 Monaten,<br />

könnten den Inhalt des Protokolls zum Nachteil des Angeklagten nicht in Frage stellen<br />

(BGH a.a.O. mit Nachweisen ).<br />

§§ 261, 244 Abs. 3 <strong>StPO</strong><br />

Inbegriff der Hauptverhandlung; eigene Sachkunde<br />

SenE v. 06.11.2006 - 81 Ss-OWi 81/06 -<br />

Die getroffenen tatsächlichen Feststellungen tragen den Schuldspruch. Sie beruhen ihrerseits<br />

auf einer rechtsfehlerfrei gewonnenen und gewürdigten Beweisgrundlage.<br />

Das gilt insbesondere im Bezug auf die Geschwindigkeit des von dem Betroffenen<br />

geführten Fahrzeugs im Zeitpunkt der Messung. Die Erwägungen, auf denen die<br />

Überzeugung der Tatrichterin von der Richtigkeit des Messergebnisses beruhen, begegnen<br />

keinen rechtlichen Bedenken. Sie weisen aus, dass nicht ohne weiteres von der<br />

Zuverlässigkeit der Messung wegen der Benutzung eines standardisierten<br />

Messverfahrens ausgegangen worden ist, sondern insoweit eine kritische Auseinandersetzung<br />

mit möglichen Fehlerquellen stattgefunden hat.<br />

Dabei ist zutreffend davon ausgegangen worden, dass es sich bei der Verwendung des<br />

Geräts Riegl FG 21-P um ein solches standardisiertes Verfahren handelt (OLG Koblenz<br />

DAR 2006, 101 [102]; zum Vorgängermodell Riegl LR 90-235/P: BayObLG DAR 1999,<br />

563; OLG Hamm NStZ-RR 1999, 374 = VRS 97, 449 [450]; OLG Hamm DAR 2001, 322<br />

= VRS 101, 43 [44] = NZV 2001, 438; OLG Hamm DAR 2004, 462), bei dem die Bedingungen<br />

seiner Anwendbarkeit und sein Ablauf so festgelegt sind, dass unter gleichen<br />

Voraussetzungen gleiche Ergebnisse zu erwarten sind (vgl. nur BGHSt 43, 227 [284] =<br />

NJW 1998, 321 = VRS 94, 341; OLG Dresden [DAR 2005, 637 = VRS 109, 196 [197];<br />

OLG Saarbrücken NZV 1996, 207 = VRS 91, 63; SenE v. 13.09.2004 - 8 Ss-OWi 16/04 -<br />

). Das Amtsgericht hat aber nicht allein darauf abgestellt und sich ausschließlich auf die<br />

"Vermutung der Richtigkeit und Genauigkeit" gestützt, sondern ist der Frage nachgegangen,<br />

ob wegen Abweichungen von der Bedienungsanleitung durchgreifende Zweifel an<br />

der Verlässlichkeit der Messung veranlasst sind.<br />

In diesem Zusammenhang hat es nicht - wie die Rechtsbeschwerde und ihr folgend die<br />

Generalstaatsanwaltschaft meinen - unter Verstoß gegen die §§ 261 <strong>StPO</strong>, 71, 77 a Abs.<br />

1 u. 4 OWiG ein in anderer Sache eingeholtes Sachverständigengutachten verwertet, das<br />

nicht Gegenstand der Hauptverhandlung gewesen ist. Es hat sich vielmehr auf eigene<br />

Sachkunde gestützt und dazu mitgeteilt, auf welchem Wege diese erworben worden ist.<br />

Es "sieht sich aufgrund der aus einem zur Frage der Abweichung von den Vorgaben der<br />

Bedienungsanleitung bezüglich des Tests der Visiereinrichtung bei dem hier verwendeten<br />

Messgerät eingeholten Sachverständigengutachten gewonnenen Erkenntnisse in der<br />

Lage, die Frage der Relevanz der Abweichung zu beurteilen" (S. 4 UA).


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 6<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

Woher die Sachkunde des erkennenden Richters stammt, ist rechtlich ohne Bedeutung<br />

(Gollwitzer, in Löwe-Rosenberg, <strong>StPO</strong>, 25. Aufl., § 244 Rdnr. 300; SenE v. 16.08.1988 -<br />

Ss 154/88 -). Dass das Amtsgericht hier bei der Beweiswürdigung Fachwissen herangezogen<br />

und für den vorliegenden Fall verwertet hat, das es auf Grund von Gutachten erworben<br />

hat, die in anderen gerichtlichen Verfahren erstattet worden sind, begegnet daher<br />

keinen rechtlichen Bedenken (vgl. Meyer-Goßner, <strong>StPO</strong>, 49. Aufl., § 244 Rdnr. 73; Alsberg/Nüse/Meyer,<br />

Der Beweisantrag im Strafprozeß, 5. Aufl., S. 698).<br />

Die Urteilsgründe lassen nicht erkennen, dass sich das Amtsgericht eine Sachkunde angemaßt<br />

hat, über die es tatsächlich nicht verfügte. Entsprechende Fehler in der Beurteilung<br />

der technischen Zusammenhänge, namentlich in Bezug auf die Entfernung des Ziels<br />

und die Notwendigkeit eines "Abkippens" bei dem Test der Visiereinrichtung, weist auch<br />

die Rechtsbeschwerdebegründung nicht nach. Es ist daher aus Rechtsgründen nicht zu<br />

beanstanden, wenn sich das Amtsgericht auf der Grundlage des in der Hauptverhandlung<br />

- durch Zeugenaussagen und Urkunden - gewonnenen Beweisergebnisses unter Heranziehung<br />

seiner eigenen Sachkunde davon überzeugt hat, dass die Geschwindigkeit des<br />

Betroffenen richtig gemessen worden ist und durch einen Abzug von 3 km/h alle möglichen<br />

Messtoleranzen ausreichend berücksichtigt sind.<br />

Es war mithin nicht verpflichtet, dem Antrag der Verteidigung folgend ein Sachverständigengutachten<br />

einzuholen (vgl. dazu auch BayObLG DAR 1999, 563: Der Test der Visiereinrichtung<br />

bei der Laserpistole Riegl LR 90-235/P in einer Entfernung von nur 91 m<br />

stellt keinen Grund zur Einholung eines Sachverständigengutachtens über die Funktionsfähigkeit<br />

des Geräts und die Richtigkeit der Messung dar, wenngleich der Gerätehersteller<br />

eine Entfernung von 100 m bis 250 m als erforderlich für die Testmessung angibt).<br />

Die Verfahrensrüge des Betroffen ist deshalb unbegründet.<br />

§ 270 <strong>StPO</strong><br />

Notwendige Verweisung an das höhere Gericht<br />

SenE v. 24.10.2006- 82 Ss 79/06 -<br />

Das angefochtene Urteil der Strafrichterin unterliegt der Aufhebung (§ 353 <strong>StPO</strong>) und der<br />

Zurückverweisung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Schwurgericht bei<br />

dem Landgericht Köln. Die Strafrichterin bei diesem Gericht hat sich nämlich zu Unrecht<br />

für zuständig erachtet.<br />

Soweit ein Urteil in zulässiger Weise angefochten ist (hier: jedenfalls mit der Sachrüge),<br />

sind in der Revisionsinstanz die Prozessvoraussetzungen und damit auch die sachliche<br />

Zuständigkeit des Gerichts von Amts wegen zu beachten (vgl. BGHSt 7, 26, 28; 38, 172,<br />

176; SenE v. 01.12.1995 - Ss 482/95 - = NStZ-RR 1996, 178 = StV 1996, 298).; daneben<br />

hat § 338 Nr. 4 <strong>StPO</strong> keine selbständige Bedeutung mehr (vgl. Meyer-Goßner, <strong>StPO</strong>,<br />

46. Auflage, § 338 Rn. 32). Bei der Revision der Nebenklage bedarf es darüber hinaus<br />

grundsätzlich der Mitteilung, dass das Urteil mit dem Ziel einer Änderung des Schuldspruchs<br />

hinsichtlich einer zum Anschluss der Nebenklage berechtigenden und nicht völlig<br />

fern liegenden Gesetzesverletzung angefochten wird (vgl. BGH, NStZ-RR 2001, 266;<br />

NStZ 1999, 259; OLG Hamm, VRS 104, 147 ff.). Diese Voraussetzungen erfüllt die Revision<br />

der Nebenklägerin, mit der ausdrücklich die Aufhebung des Urteils und Verweisung<br />

zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht - Schwurgericht - Köln beantragt<br />

wird und der begehrte Schuldspruch, namentlich die Verurteilung der Angeklagten


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 7<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

wegen dem nach § 395 Abs. 1 Nr. 2 <strong>StPO</strong> zum Anschluss berechtigenden versuchten<br />

Totschlagdelikts schon wegen der ausführlichen Auseinandersetzung mit der Frage des<br />

Tötungsvorsatzes in den Urteilsgründen nicht als völlig fern liegend angesehen werden<br />

kann.<br />

Zur Verweisung an das Schwurgericht nach §§ 74 Abs. 2 GVG, 270 <strong>StPO</strong> genügt bereits<br />

der hinreichende Verdacht eines Tötungsverbrechens. Liegt ein solcher vor, so steht es<br />

allein dem höheren Gericht zu, darüber zu entscheiden, ob die Angeklagte eines (versuchten)<br />

Tötungsverbrechens schuldig ist oder nicht (vgl. BGH GA 62, 149; MDR 72, 18).<br />

Aus den zweifelsfreien Feststellungen des Amtsgerichts ergibt sich bei zutreffender sachlichrechtlicher<br />

Würdigung der zumindest hinreichende Verdacht, dass die Angeklagte<br />

eine tödliche Stichverletzung für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen, gegebenenfalls<br />

sogar beabsichtigt hat. Soweit das Amtsgericht einerseits einen auch nur<br />

bedingten Tötungsvorsatz aufgrund des äußeren Verletzungsbildes, nämlich der (nur) an<br />

den Gliedmaßen der Geschädigten festgestellten Schnittverletzungen ausgeschlossen<br />

hat, hat es dabei unberücksichtigt gelassen, dass die Geschädigte sich nach den zweifelsfreien<br />

Feststellungen im Urteil gegen die Messerattacken zur Wehr gesetzt hat. Gerade<br />

die festgestellten Verletzungen im linken Ellenbogenbereich wie an der rechten Hand<br />

können dann aber auch Indiz für einen abgewehrten, mit Tötungsvorsatz geführten Messerstich<br />

sein, der ungebremst in Körperregionen - wie Herz, Lunge, Halsschlagader pp. -<br />

eindringen sollte, wo er zweifelsohne zu lebensgefährlichen Stichverletzungen geführt<br />

hätte. Spricht somit das äußere Verletzungsbild nicht zwangsläufig gegen einen Tötungsvorsatz,<br />

begründen sie im Kontext mit den Aussagen der Geschädigten und des Zeugen<br />

Kohm eine entsprechende Verdachtslage. So hat die Geschädigte nach den Urteilsfeststellungen<br />

bekundet, die Angeklagte habe bei Ausführung der Messerattacke geäußert,<br />

sie bringe sie um. Der Zeuge Kohm hat entsprechend bekundet, sein Eindruck sei gewesen,<br />

die Angeklagte hätte die Geschädigte erstochen, wenn nicht der Zeuge Perk dazwischen<br />

gegangen wäre. Daneben lässt auch der Abbruch der weiteren Tatausführung<br />

nicht zwangsläufig nur den Schluss zu, die Angeklagte habe zu keiner Zeit mit Tötungsvorsatz<br />

gehandelt. Insoweit weist die Revision zu Recht darauf hin, dass die Angeklagte<br />

einzig durch das Einschreiten des Zeugen Perk, der die Angeklagte nach den Urteilsfeststellungen<br />

von der Geschädigten weggezogen und ihr 2 Ohrfeigen gegeben hat, von der<br />

weiteren Tatausführung abgehalten wurde und die Angeklagte demzufolge unfreiwillig<br />

vom versuchten Totschlag zurückgetreten sein könnte.<br />

Es sind somit zureichende Umstände gegeben, die den Tatbestand des versuchten Totschlags<br />

auszufüllen vermögen. Darüber zu entscheiden fiel aber nicht in die Zuständigkeit<br />

des Strafgerichts. Ist für die Aburteilung der Tat, deren die Angeklagte verdächtig ist, bei<br />

richtiger sachlichrechtlicher Würdigung nach dem Gesetz ein Gericht höherer Ordnung<br />

zuständig, dann hat alleine dieses Gericht über die Bejahung und Verneinung des Tatbestandes<br />

zu entscheiden. Nur ihm steht die Sachentscheidungsbefugnis nach der positiven<br />

und negativen Seite zu und nur es ist in einem solchen Fall der gesetzliche Richter (vgl.<br />

BGH GA 62, 149).<br />

Das Urteil ist daher aufzuheben und die Sache nach Maßgabe von § 270 Abs. 2 <strong>StPO</strong> zu<br />

neuer Verhandlung und Entscheidung für das nach § 74 Abs. 2 GVG zuständige Schwurgericht<br />

beim Landgericht Köln zu verweisen.“<br />

Dem stimmt der Senat zu (vgl. zu allem auch: OLG Oldenburg GA 1992, 471; NStZ-RR<br />

1996, 240).


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 8<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

Die Sache ist daher gemäß §§ 353, 355 <strong>StPO</strong> i.V.m. § 74 Abs. 2 GVG unter Beachtung<br />

der Erfordernisse nach §§ 270 Abs. 2, 200 Abs. 1 Satz 1 <strong>StPO</strong> an eine Strafkammer als<br />

Schwurgericht bei dem Landgericht Köln zu verweisen (vgl. OLG Oldenburg a.a.O.;<br />

Meyer-Goßner, <strong>StPO</strong>, 49. Auflage, § 270 Rn. 15).<br />

§ 275 <strong>StPO</strong><br />

fehlende Unterschrift<br />

SenE v. 02.10.2006 - 81 Ss-OWi 77/06 -<br />

Auf die erhobene Sachrüge unterliegt das Urteil mit der Folge der Zurückverweisung der<br />

Sache an das Amtsgericht der Aufhebung, weil es von der Tatrichterin nicht unterschrieben<br />

worden ist.<br />

Dem Rechtsbeschwerdegericht ist eine Nachprüfung des Urteils auf materiell-rechtliche<br />

Fehler nur möglich, wenn es in vollständiger Form (§ 275 <strong>StPO</strong>) zu den Akten gebracht<br />

worden ist. Vollständig ist das Urteil erst dann, wenn es von dem/den erkennenden Richter/n<br />

unterschrieben worden ist, da erst durch die Unterschrift des Richters bezeugt wird,<br />

dass dies die Urteilsgründe in ihrer endgültigen Fassung sind (st. Senatsrechtsprechung;<br />

vgl. nur Senatsentscheidungen vom 03.06.2005 – 8 Ss 8/05-70 – und vom 20.09.2005 –<br />

82 Ss-OWi 29/05 – 272 B – jeweils m.w.N.).<br />

Vorliegend fehlt die Unterschrift der erkennenden Richterin, so dass keine (überprüfungsfähigen)<br />

Urteilsgründe vorliegen. Der Fall, dass das Urteil keine Unterschrift trägt, ist dem<br />

Fall gleichzustellen, dass die Urteilsgründe völlig fehlen (vgl. BGHSt 46, 204, 206; Senat<br />

a.a.O.). Dieser Mangel ist aufgrund der Sachrüge zu beachten (vgl. BGH a.a.O.; Senat<br />

a.a.O.).<br />

Die Unterzeichnung des Urteils durch den erkennenden Richter wird nicht dadurch ersetzt,<br />

dass dieser die Zustellung des Urteils verfügt und diese Verfügung unterzeichnet<br />

hat. Aus der gesetzlichen Forderung, dass das Urteil zu unterschreiben ist (§ 275 Abs. 2<br />

<strong>StPO</strong>) folgt, dass die Unterschrift des erkennenden Richters als letzter Akt der Urteilsfällung<br />

nicht durch eine solche auf einer von ihm unterzeichneten gesonderten Verfügung<br />

ersetzt werden kann (vgl. Senat a.a.O.).<br />

Der Mangel der fehlenden Unterschrift kann auch nicht dadurch geheilt werden, dass die<br />

Unterschrift nachgeholt wird. Die 5-Wochen-Frist des § 275 Abs. 1 <strong>StPO</strong> ist für das am<br />

17.02.2006 verkündete Urteil abgelaufen.<br />

§ 329 <strong>StPO</strong><br />

Erkrankung des Verteidigers<br />

SenE v. 29.09.2006 - 81 Ss 117/06 -<br />

Die Revision ist zulässig; sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden.<br />

Insbesondere kann dem Schriftsatz vom 25.11.2005 eine den Anforderungen des § 344<br />

Abs. 2 S. 2 <strong>StPO</strong> genügende Verfahrensrüge entnommen werden. Insoweit ist nämlich<br />

das Vorbringen zur Begründung des zugleich gestellten Antrags auf Wiedereinsetzung in


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 9<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

den vorigen Stand mit heranzuziehen (vgl. OLG Hamm VRS 104, 145 [146] = NStZ-RR<br />

2003, 86 = NZV 2003, 248 [249] m. w. Nachw.; SenE v. 07.06.2006 - 81 Ss 71/06 -; SenE<br />

v. 21.07.2006 - 81 Ss 91/06 -). Darin wird geltend gemacht, das Landgericht habe wegen<br />

der mitgeteilten Verhinderung des Verteidigers das Ausbleiben des Angeklagten in der<br />

Berufungshauptverhandlung nicht als unentschuldigt ansehen dürfen. Das aber reicht zur<br />

Erhebung der Verfahrensrüge einer Verletzung des § 329 Abs. 1 <strong>StPO</strong>, wenn sich - wie<br />

im vorliegenden Fall - aus dem Verwerfungsurteil ergibt, dass dem Gericht Entschuldigungsgründe<br />

zur Kenntnis gebracht worden waren (vgl. OLG Hamm NJW 1963, 65; OLG<br />

Hamm VRS 104, 145 [146] = NStZ-RR 2003, 86 = NZV 2003, 248 [249] u. VRS 106, 294<br />

[295]; KG NStZ-RR 2002, 218; SenE v. 09.02.1988 - Ss 40/88 = OLGSt § 329 <strong>StPO</strong> Nr.<br />

11 = StV 1989, 53 = VRS 75, 113; SenE v. 12.12.2000 - Ss 446/00 - = VRS 100, 45 [49]<br />

= NJW 2001, 1223 [1224 f.]; SenE v. 03.04.2001 - Ss 92/01 -).<br />

Die Revision hat auch in der Sache (vorläufigen) Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen<br />

Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.<br />

Das angefochtene Urteil verkennt den Begriff der genügenden Entschuldigung i. S. d. §<br />

329 Abs. 1 <strong>StPO</strong>, indem es darauf abstellt, die Erkrankung des Verteidigers habe den<br />

Angeklagten nicht von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Berufungshauptverhandlung<br />

entbunden.<br />

Zwar entschuldigt die Verhinderung des gewählten Verteidigers am Terminstag gemäß §<br />

228 Abs. 2 <strong>StPO</strong> das Ausbleiben des Betroffenen in der Regel nicht (SenE v. 28.11.2002<br />

- Ss 487/02 B). Andererseits ist die Vorschrift des § 137 Abs. 1 S. 1 <strong>StPO</strong>, dass ein Angeklagter<br />

sich in jeder Lage des Verfahrens des Beistands eines gewählten Verteidigers<br />

bedienen kann, Ausdruck des Rechts auf ein faires Verfahren (BayObLG DAR 2001, 83).<br />

Dieses umfasst auch das Recht, sich von einem gewählten Anwalt seines Vertrauens verteidigen<br />

zu lassen. Dabei ist das Interesse des Angeklagten an seiner Verteidigung und<br />

das Interesse an einer möglichst reibungslosen Durchführung des Verfahrens gegeneinander<br />

abzuwägen, wobei das Verteidigungsinteresse im Zweifel Vorrang hat (BayObLG<br />

NStZ 2002, 97 = NStZ-RR 2002, 83; BayObLG NStZ 2002, 97 = NStZ-RR 2002, 83; SenE<br />

v. 18.02.2003 – Ss 541/02 B; vgl. auch SenE v. 16.05.2006 – Ss 82 Ss 38/06). Das<br />

gilt umso mehr, wenn § 411 Abs. 2 <strong>StPO</strong> eingreift. In diesen Fällen ist es gemäß § 411<br />

Abs. 2 <strong>StPO</strong> einem Angeklagten gestattet, sich durch einen mit einer schriftlichen Vollmacht<br />

versehenen Verteidiger in der Hauptverhandlung vertreten zu lassen. Dies gilt<br />

auch für die Berufungshauptverhandlung (vgl. OLG Düsseldorf StV 1985, 52; SenE v.<br />

09.09.2005 - 81 Ss 35/05 -; SenE v. 07.06.2006 - 81 Ss 67/06 -; Meyer-Goßner, <strong>StPO</strong>,<br />

49. Aufl., § 411 Rn.4).<br />

Im vorliegenden Fall hatte der Verteidiger des Angeklagten am Morgen des Hauptverhandlungstages<br />

dem Gericht mitteilen lassen, dass er krankheitsbedingt nicht erscheinen<br />

könne, und deshalb die Verlegung der Hauptverhandlung beantragt. Diesem Antrag hätte<br />

das Landgericht entsprechen müssen. Unabhängig von der Frage, ob ein Fall notwendiger<br />

Verteidigung vorliegt oder nicht, war nämlich dem Recht des Angeklagten, sich in<br />

einem Strafverfahren durch einen Verteidiger seiner Wahl vertreten zu lassen, Rechnung<br />

zur tragen. In dem vorliegenden Verfahren, das mit einem Strafbefehl begonnen hatte,<br />

konnte der Angeklagte der Hauptverhandlung fern bleiben, wenn für ihn ein bevollmächtigter<br />

Verteidiger erschien (§ 411 Abs. 2 S. 1 <strong>StPO</strong>). Jedenfalls dann, wenn der rechtzeitig<br />

beauftragte Verteidiger kurzfristig erkrankt, so dass es dem Angeklagten unmöglich ist,<br />

für eine anderweitige Verteidigung Sorge zu tragen, würde es gegen den Grundsatz der<br />

Fairness des Verfahrens verstoßen, wenn dem Verlegungsantrag nicht entsprochen würde.<br />

Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass gemäß dem Beschluss des Senats vom heu-


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 10<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

tigen Tage (1 Ws 25 u. 27/06) ein Fall notwendiger Verteidigung gegeben ist, so dass<br />

ohne den Verteidiger des Angeklagten eine Hauptverhandlung gar nicht durchgeführt<br />

werden durfte und eine Vertagung auch unabhängig von seinem Antrag schon Amts wegen<br />

hätte erfolgen müssen.<br />

Wenn die Hauptverhandlung aber unabhängig vom Erscheinen des Angeklagten vertagt<br />

werden muss, wird durch das Nichterscheinen des Angeklagten nicht die Möglichkeit der<br />

Verwerfung der Berufung eröffnet. Der Zweck des § 329 Abs. 1 <strong>StPO</strong> besteht darin, zu<br />

verhindern, dass der Angeklagte durch sein Nichterscheinen die Entscheidung über die<br />

Berufung verhindert (Meyer-Goßner a.a.O. § 329 Rdnr. 2). Kann aber ohnehin aus anderen<br />

Gründen – hier wegen der krankheitsbedingten Verhinderung des Verteidigers – die<br />

Hauptverhandlung nicht durchgeführt werden, wird eine Verwerfung der Berufung gemäß<br />

§ 329 Abs. 1 <strong>StPO</strong> durch den Normzweck nicht mehr gedeckt.<br />

§§ 261, 337 <strong>StPO</strong><br />

Beweiswürdigung bei Freispruch<br />

SenE v. 14.11.2006 - 81 Ss 108/06 -<br />

Rechtsfehlerfrei ist das Landgericht davon ausgegangen, das die innere Tatseite des §<br />

183 StGB nicht erfüllt ist, wenn der Täter nur mit der Möglichkeit rechnet, er werde bei<br />

seiner Handlung von einer anderen Person wahrgenommen. Erforderlich ist insoweit direkter<br />

Vorsatz (OLG Düsseldorf NJW 1977, 262; NStZ 1998, 412; Tröndle/Fischer a.a.O.,<br />

§ 183 Rn. 7).<br />

Die Erwägungen, mit denen das Landgericht zu dem Ergebnis gelangt ist, es habe nicht<br />

festgestellt werden können, dass der Angeklagte direkten Vorsatz in Bezug auf die<br />

Wahrnehmung seines Handelns durch eine andere Person hatte, halten indes rechtlicher<br />

Überprüfung nicht stand.<br />

Insoweit ist freilich von dem Grundsatz auszugehen, dass es das Revisionsgericht hinzunehmen<br />

hat, wenn der Tatrichter den Angeklagten freispricht, weil er Zweifel an dessen<br />

Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Denn die Beweiswürdigung ist allein ihm vorbehalten.<br />

Das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen (§ 261 <strong>StPO</strong>),<br />

ist ausschließlich seine Sache; die von ihm dabei gewonnenen Ergebnisse sind grundsätzlich<br />

vom Revisionsgericht hinzunehmen (BGHSt 10, 208 ff. = NJW 1957, 1039; BGH<br />

StV 1991, 548; BGHR § 261 <strong>StPO</strong> Überzeugungsbildung 33; st. Senatsrechtsprechung,<br />

vgl. nur SenE v. 06.11.2001 – Ss 397/01). Die revisionsrechtliche Überprüfung beschränkt<br />

sich darauf, ob dem Tatrichter bei der Beurteilung der Beweislage Rechtsfehler<br />

unterlaufen sind.<br />

Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich,<br />

unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gegen gesicherte Erfahrungssätze<br />

verstößt (BGH NStZ-RR 2000, 171; BGH NJW 2000, 370; ständige Senatsrechtsprechung,<br />

vgl. SenE a.a.O.). Dem Urteil muss insbesondere zu entnehmen sein,<br />

dass der den Entscheidungsgegenstand bildende Sachverhalt erschöpfend gewürdigt ist<br />

(SenE a.a.O.). Will das Tatgericht den Angeklagten trotz fortbestehenden erheblichen<br />

Tatverdachts freisprechen, muss es in seine Beweiswürdigung und deren Darlegung alle<br />

für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände und Erwägungen einbeziehen<br />

(BGH NStZ 1999, 423; SenE a.a.O.; vgl. zu allem auch Meyer-Goßner a.a.O., § 337 Rn.<br />

26 – 30 mit zahlreichen Nachweisen).


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 11<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

Danach sind die Erwägungen der Strafkammer zur subjektiven Tatseite unvollständig und<br />

daher rechtsfehlerhaft.<br />

§ 344 II <strong>StPO</strong>, 185, 189 GVG<br />

Rüge der versäumten Vereidigung des Dolmetschers<br />

SenE v. 12.12.2006 - 83 Ss 81-81/06 -<br />

1.<br />

Die Verfahrensrügen, mit denen beanstandet wird, die in der Hauptverhandlung vor dem<br />

Amtsgericht anwesende Dolmetscherin sei nicht vereidigt worden bzw. habe sich nicht<br />

auf einen allgemein geleisteten Eid berufen, sind nicht in einer den Anforderungen des §<br />

344 Abs. 2 S. 2 <strong>StPO</strong> genügenden Form ausgeführt worden.<br />

a)<br />

Soweit sich die Revision der Angeklagten A. auf den absoluten Revisionsgrund des § 338<br />

Nr. 5 <strong>StPO</strong> stützt, kann dem Rügevorbringen schon nicht entnommen werden, dass die<br />

Hauptverhandlung in Abwesenheit einer Person stattgefunden hat, deren Anwesenheit<br />

das Gesetz vorschreibt.<br />

Die Anwesenheit eines Dolmetschers schreibt das Gesetz in § 185 Abs. 1 GVG nur für<br />

den Fall vor, dass ein Verfahrensbeteiligter der deutschen Sprache nicht mächtig ist. Ein<br />

absoluter Revisionsgrund ist durch Abwesenheit des Dolmetschers nur dann begründet,<br />

wenn eine (vollständige) Unkenntnis der deutschen Sprache vorliegt. Ist der Angeklagte<br />

hingegen teilweise der deutschen Sprache mächtig, so hat der Tatrichter nach pflichtgemäßem<br />

Ermessen darüber zu entscheiden, in welchem Umfang er einen Dolmetscher bei<br />

der Verhandlung zuziehen will (BGHSt, 3, 285; Schoreit in Karlsruher Kommentar, <strong>StPO</strong>,<br />

5. Aufl., § 259 Rn. 3). In diesem Fall gehört der Dolmetscher nicht zu den Personen, deren<br />

Anwesenheit für die gesamte Verhandlung vorgeschrieben ist (BGH NStZ 84, 328;<br />

NStZ 02, 275, 276; Kuckein in Karlsruher Kommentar, <strong>StPO</strong>, 5. Aufl., § 338 Rn. 80).<br />

Dass die Angeklagte A. in diesem Sinne der deutschen Sprache nicht mächtig ist, wird<br />

mit der Revisionsbegründung nicht vorgetragen. Die fehlende Vereidigung der Dolmetscherin<br />

steht ihrer Abwesenheit nicht gleich (Hanack in Löwe-Rosenberg, <strong>StPO</strong>, 25. Aufl.,<br />

§ 338 Rn. 100). Darin kann allenfalls ein relativer Revisionsgrund liegen.<br />

b)<br />

Aber auch für den relativen Revisionsgrund nach § 337 <strong>StPO</strong> in Verbindung mit einer<br />

etwaigen Verletzung des § 189 GVG genügt das Vorbringen der Revisionen nicht den<br />

Vorgaben des § 344 Abs. 2 S. 2 <strong>StPO</strong>, weil es nicht erkennen lässt, dass das Urteil auf<br />

diesem Mangel beruhen könnte. Es ist nämlich nicht dargetan, dass die Dolmetscherin<br />

eine für die Entscheidungsfindung möglicherweise bedeutsame Tätigkeit entfaltet hat und<br />

diese Tätigkeit rechtlich geboten war.<br />

Der Vereidigung eines Dolmetschers bedarf es nicht, wenn er überhaupt nicht als solcher<br />

tätig geworden ist oder wenn es seiner Tätigkeit nicht bedurfte. Daher muss die auf § 189<br />

GVG gestützte Rüge den Vortrag enthalten, dass der Dolmetscher tatsächlich tätig geworden<br />

ist (BGH StV 93, 396), dass er also etwa die Angaben des Angeklagten ganz<br />

oder teilweise in die deutsche Sprache übertragen hat (vgl. BGH bei Kusch NStZ 94, 26;


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 12<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

SenE vom 10.05.2000 – Ss 195/00). Bei partiellen Deutschkenntnissen des Angeklagten<br />

ist zudem die Angabe erforderlich, dass der Dolmetscher bei den relevanten Abschnitten<br />

von Aussagen für deren richtiges Verständnis auch tätig werden musste; andernfalls kann<br />

das Revisionsgericht nicht beurteilen, ob der Angeklagte außer Stande gewesen ist, ohne<br />

Dolmetscher der Verhandlung zu folgen und sein Mitwirkungsrecht wahrzunehmen (vgl.<br />

BGHR § 185 GVG Zuziehung 2; BGH NStZ 96, 608; Diemer in Karlsruher Kommentar, §<br />

189 GVG Rn. 3).<br />

Diesen Anforderungen entsprechen die vorliegenden Revisionsbegründungen nicht.<br />

In der Revisionsbegründung der Angeklagten A. heißt es lediglich, dass die geladene<br />

Dolmetscherin an der Hauptverhandlung teilgenommen hat. Damit ist nicht ausgeführt,<br />

dass sie eine entscheidungsrelevante Dolmetschertätigkeit entfaltet hat.<br />

Aus der Revisionsbegründung der Angeklagten B. wäre die Formulierung, dass die Dolmetscherin<br />

„tätig“ geworden ist, für sich betrachtet noch nicht ausreichend. Allerdings<br />

heißt es dort weiter, dass die Dolmetscherin „die Hauptverhandlung von der deutschen<br />

Sprache in die kroatische und umgekehrt übersetzt“ habe; insoweit ist das Vorbringen<br />

ausreichend. Es lässt jedoch im Unklaren, ob die Übersetzertätigkeit überhaupt erforderlich<br />

war.<br />

Das bloße Vorbringen, die Angeklagte B. sei der deutschen Sprache „nicht ausreichend<br />

mächtig“, genügt dem nicht. Im Fall beschränkter Sprachkenntnisse eines Angeklagten<br />

gehört es mit zur ordnungsgemäßen Erhebung der Rüge, dass dargetan wird, wie weit<br />

die sprachlichen Fähigkeiten des Angeklagten reichten; denn andernfalls kann das Revisionsgericht<br />

nicht beurteilen, ob der Angeklagte außer Stande gewesen ist, ohne Dolmetscher<br />

der Verhandlung zu folgen und sein Mitwirkungsrecht wahrzunehmen (vgl. SenE<br />

vom 19.10.1999 – Ss 463/99 – SenE vom 27.04.2001 – Ss 140/01 -; vgl. auch BGH DAR<br />

01, 2006 T). Angaben dazu, in welcher Hinsicht die Deutschkenntnisse der Angeklagten<br />

B. nicht ausreichten, lassen sich auch ihrer Revisionsbegründung nicht entnehmen, so<br />

dass das Revisionsgericht auf der Grundlage des § 344 Abs. 2 S. 2 <strong>StPO</strong> die Verfahrensrüge<br />

nicht daraufhin überprüfen kann, ob sie durchgreift.


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 13<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

Strafgesetzbuch<br />

§ 21 StGB<br />

Exhibitionismus<br />

SenE v. 14.11.2006 - 81 Ss 108/06 -<br />

Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass ggf. auch die Frage der<br />

Schuldfähigkeit des Angeklagten zu erörtern sein wird (vgl. OLG Zweibrücken StV 1986,<br />

436; SenE v. 01.10.2002 – Ss 341/02; Lenckner/Perron/Eisele in Schönke/Schröder,<br />

StGB, 27. Auflage, § 183 Rn. 6; Tröndle/Fischer a.a.O., § 21 Rn. 8). Ob es sich bei Exhibitionismus<br />

um eine bloße Charakterschwäche oder um andere, tiefgreifendere Mängel<br />

der Persönlichkeit mit Krankheitswert handelt, kann in aller Regel nur im Rahmen einer<br />

Einzeluntersuchung entschieden werden (OLG Zweibrücken a.a.O.; SenE a.a.O.).<br />

§ 21 StGB<br />

Notwendige Prüfung bei Drogenabhängigkeit<br />

SenE v. 24.10.2006 - 83 Ss 76/06 -<br />

Bezogen auf den Strafausspruch hat das Rechtsmittel hingegen (zumindest) vorläufigen<br />

Erfolg. Die Urteilsgründe sind materiell-rechtlich unvollständig, weil sie die Voraussetzungen<br />

einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit nach § 21 StGB nicht hinreichend<br />

erörtern. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass die Entscheidung in dieser<br />

Hinsicht auf rechtsfehlerhaften Erwägungen beruht.<br />

Das Amtsgericht hat lediglich ausgeführt: „Trotz der Rauschgiftabhängigkeit des Angeklagten<br />

war eine Milderung der Strafe entsprechend §§ 21, 49 StGB nicht angezeigt.<br />

Denn der Angeklagte hat bei seinen Festnahmen keine Ausfallerscheinungen gezeigt“.<br />

Dies genügt nicht angesichts der sonstigen Feststellungen, dass der Angeklagte seit Jahren<br />

(spätestens im Zusammenhang mit seiner Verurteilung von 1993) drogenabhängig<br />

ist, dass er auch nach seiner letzten Haftentlassung (am 5. August 2005) nicht von seiner<br />

Rauschgiftsucht los kam und dass er in der letzten Zeit und vor seiner nunmehrigen<br />

Festnahme (am 6. April 2006) täglich bis zu 1 g Heroin konsumiert habe.<br />

Wenn auch vorliegend kein Anhaltspunkt für eine Schuldunfähigkeit nach § 20 StGB ersichtlich<br />

ist, so hätte es doch näherer Erörterung zum Vorliegen der Voraussetzungen<br />

des § 21 StGB bedurft. Zwar begründet Drogenabhängigkeit für sich alleine noch nicht<br />

die Annahme einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit im Sinne dieser Bestimmung.<br />

Wohl aber kann langjähriger Konsum zu einer Persönlichkeitsveränderung im Sinne einer<br />

schweren anderen Abartigkeit geführt oder der Täter unter starken Entzugserscheinungen<br />

zu leiden haben und durch sie zu einer Straftat getrieben werden. Zu einer erheblichen<br />

Verminderung der Steuerungsfähigkeit kann schließlich auch die Angst des Drogenabhängigen<br />

vor Entzugserscheinungen führen, die er schon als äußerst unangenehm<br />

erlebt hat und als nahe bevorstehend einschätzt (vgl. dazu BGH NStZ 1999, 448; BGH<br />

NStZ 2001, 83; BGH NStZ 2001, 85; weitere Nachweise in SenE vom 21.10.2003 - Ss<br />

346/03 -). Deswegen ist das Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 StGB bei Drogenabhängigen<br />

stets zu prüfen, selbst wenn keine Anhaltspunkte für eine Tatbegehung unter


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 14<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

akuter Betäubungsmittelbeeinflussung bestehen (vgl. BGH StV 1988, 198; Senat a. a. O.<br />

und neuestens wieder SenE v. 12.10.2006 - 82 Ss 115/06 -).<br />

Dem ist vorliegend mit den Worten, dass der Angeklagte bei seinen Festnahmen keine<br />

Ausfallerscheinungen gezeigt habe, nicht Genüge getan. Die Anwendbarkeit des § 21<br />

StGB bei Heroinabhängigen setzt nämlich nicht in jedem Fall akute körperliche Entzugserscheinungen<br />

des Täters zur Tatzeit voraus (BGHR StGB § 21 BtMG Auswirkungen<br />

2; BGH NStZ 2001, 83 [84]). Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Angst des Heroinabhängigen<br />

vor Entzugserscheinungen, die er schon als äußerst unangenehm erlebt hat<br />

und als nahe bevorstehend einschätzt, seine Steuerungsfähigkeit erheblich beeinträchtigen<br />

kann (BGH NStZ 2001, 83 [84]). Weil bei langjährig Rauschgiftabhängigen die Anwendung<br />

des § 21 StGB auch dann in Betracht kommt, wenn schwerste Persönlichkeitsveränderungen<br />

vorliegen, muss der Tatrichter zudem bei Fehlen objektiver Beweisanzeichen<br />

für das Ausmaß der Drogenabhängigkeit das Vorliegen der medizinischpsychiatrischen<br />

Anknüpfungspunkte notfalls mit Hilfe eines Sachverständigen selbstständig<br />

und eigenverantwortlich prüfen (BGH a. a. O.).<br />

Da der Tatrichter die nach den sonstigen Feststellungen zum Umfang der Betäubungsmittelabhängigkeit<br />

des Angeklagten gebotene genauere Untersuchung zum Vorliegen der<br />

Voraussetzungen des § 21 StGB nicht vorgenommen hat und da das Vorliegen verminderter<br />

Schuldfähigkeit sowohl für den Besitz von Betäubungsmitteln am 5. Dezember<br />

2005 als auch für das Handeltreiben mit Betäubungsmitteln am 6. April 2006 in Betracht<br />

kommt, unterliegt das angefochtene Urteil im Ausspruch über die Einzelstrafen und im<br />

Ausspruch über die Gesamtstrafe, mithin im Strafausspruch insgesamt, der Aufhebung.<br />

§ 46 StGB<br />

Urteilsgründe zur Person des Angeklagten<br />

SenE v. 10.10.2006 - 83 Ss 63/06 -<br />

Die Rechtsfolgenentscheidung des Landgerichts hält indes rechtlicher Überprüfung aufgrund<br />

der Sachrüge nicht stand.<br />

Zum Vorleben der Angeklagten heißt es im Berufungsurteil:<br />

„Der Angeklagte betätigt sich als Schrott- und Metallhändler. Er hat angegeben, ein monatliches<br />

Nettoeinkommen von 1.200 Euro zu beziehen. Unterhaltsverpflichtungen hat er<br />

nicht.<br />

Strafrechtlich ist der Angeklagte wie folgt in Erscheinung getreten: …“<br />

Danach sind die Urteilsgründe hinsichtlich der Rechtsfolgenseite materiell-rechtlich unvollständig,<br />

weil sich ihnen zu den persönlichen Verhältnissen der Angeklagten nichts<br />

Zureichendes entnehmen lässt.<br />

Aussagekräftige Feststellungen zum Lebensweg sowie zu den familiären und wirtschaftlichen<br />

Verhältnissen sind indessen Voraussetzung der für den Rechtsfolgenausspruch<br />

unerlässlichen Würdigung der Persönlichkeit eines Angeklagten (vgl. BGHR <strong>StPO</strong> § 267<br />

Abs. 3 Satz 1 Strafzumessung 10; SenE v. 25.07.2006 – 82 Ss 62/06; v. 01.09.2006 – 81<br />

Ss 113/06). Sie sind in dem Umfang zu treffen, in dem sie von bestimmendem Einfluss<br />

auf die Rechtsfolgenseite sind (BGHR <strong>StPO</strong> § 267 Abs. 3 Satz 1 Strafzumessung 8, 15,<br />

20). Dabei kann bei der Darstellung der persönlichen Verhältnisse ein relativ kurz zusammengefasster<br />

Lebenslauf genügen (vgl. BGH NStZ-RR 2004, 66 – bei Becker;


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 15<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

Meyer-Goßner a.a.O., § 267 Rn. 4). Es bedeutet grundsätzlich einen Sachmangel, wenn<br />

der Tatrichter bei der Strafzumessung die persönlichen Verhältnisse des Täters überhaupt<br />

nicht oder nur unzureichend darstellt (BGH NStZ 1993, 30; BGH NStZ 1995, 200 ;<br />

Senat a.a.O.).<br />

Diesen Anforderungen an die Darstellung des Lebenswegs genügen die Feststellungen<br />

der Strafkammer nicht. Sie enthalten allenfalls eine kurze Beschreibung der gegenwärtigen<br />

Lebenssituation des Angeklagten.<br />

Dass der Angeklagte nähere Angaben zu seinem Werdegang verweigert hat, lässt sich<br />

dem angefochtenen Urteil nicht entnehmen.<br />

§ 46 StGB<br />

Regelbeispiel eines besonders schweren Falls<br />

SenE v. 07.11.2006 - 83 Ss 70/06 -<br />

Zur Strafrahmenwahl hat die Strafkammer ausgeführt:<br />

„Bei der Strafzumessung war bei allen drei Taten vom Strafrahmen des § 29 Abs.<br />

3 Satz 2 Nr. 1 BtmG auszugehen, da der Angeklagte in allen Fällen gewerbsmäßig<br />

handelte, nämlich um sich eine nicht unbedeutende Einkommensquelle<br />

auf unbestimmte Dauer zu verschaffen. Dementsprechend war bei jeder<br />

Tat von einem Strafrahmen auszugehen, der Freiheitsstrafe von 1 bis 15 Jahren<br />

umfasst. Alleine der Umstand, dass sich die Taten des Angeklagten auf weiche<br />

Drogen bezogen und er bei den Taten 2. und 3. nur geringe Mengen verkauft<br />

hat, reichen nicht aus, anstelle des erhöhten Strafrahmens wegen Gewerbsmäßigkeit:<br />

vom Regelstrafrahmen des § 29 Abs. 1 auszugehen; denn der Angeklagte<br />

verfügte wie die Tat vom 06.07.2005 zeigt, durchaus über größere Mengen. Zudem<br />

hatte er sich trotz der polizeilichen Festnahmen am 06.07. und 07.07. nicht<br />

von der weiteren Tat am 12.07.2005 abhalten lassen.“<br />

Diese Erwägungen sind materiell-rechtlich unvollständig.<br />

Auch wenn die Merkmale eines Regelbeispiels für die Annahme eines besonders schweren<br />

Falles erfüllt sind, so begründet dies lediglich eine Indizwirkung dafür, dass die Anwendung<br />

des erhöhten Strafrahmens veranlasst ist.<br />

Diese Wirkung kann durch Umstände, die den Unrechts- und Schuldgehalt des Regelbeispiels<br />

kompensieren, ausgeräumt werden (BGH NStZ 2004, 265; ständige Senatsrechtsprechung,<br />

vgl. nur SenE v. 21.04.2006 – 83 Ss 19/06 mit weiteren Nachweisen; Tröndle/Fischer,<br />

StGB, 53. Auflage, § 46 Rn. 90, 91 m.w.N.). Es ist daher auch in den Regelbeispielfällen<br />

zur Bestimmung des maßgeblichen Strafrahmens stets eine Gesamtwürdigung<br />

aller für die Strafzumessung wesentlichen Umstände vorzunehmen (BGH StV 1982,<br />

225; Senat a.a.O.; vgl. Weber, BtMG, 2. Auflage, Vor §§ 29 ff. Rn. 539, 543; Tröndle/Fischer<br />

a.a.O.).<br />

Diese Würdigung hat die Strafkammer nicht hinreichend vollständig vorgenommen. Es<br />

drängte sich auf, in diesem Zusammenhang die Bedeutung des Geständnisses des Angeklagten<br />

zu erörtern sowie die Tatsache zu werten, dass der Angeklagte Drogenkonsument<br />

ist und die Betäubungsmittel nicht in Verkehr gelangt sind.


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 16<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

§§ 46, 47 StGB<br />

Urteilsgründe zur Person des Angeklagten<br />

SenE v. 10.11.2006 - 82 Ss 134/06 -<br />

Die Urteilsgründe sind schon materiell-rechtlich unvollständig, weil sich ihnen zu den persönlichen<br />

Verhältnissen des Angeklagten nichts Zureichendes entnehmen lässt. Zum<br />

Vorleben des Angeklagten heißt es im Berufungsurteil:<br />

„Der 26-jährige Angeklagte ist ledig. Er arbeitet seit Mai 2006 als Bauhelfer,<br />

wobei er 800,00 Euro netto monatlich verdient. Darüber hinaus arbeitet er an<br />

Samstagen in einem Call-Center, wofür er etwa 80,00 Euro netto monatlich<br />

erhält.<br />

Er ist ledig und hat keine unterhaltspflichtigen Kinder. In der Hauptverhandlung<br />

hat er angegeben, seine Lebensgefährtin sei von ihm im 5. Monat schwanger.<br />

Strafrechtlich ist der Angeklagte wie folgt in Erscheinung getreten: ...“<br />

Aussagekräftige Feststellungen zum Lebensweg sowie zu den familiären und wirtschaftlichen<br />

Verhältnissen sind indessen Voraussetzung der für den Rechtsfolgenausspruch<br />

unerlässlichen Würdigung der Persönlichkeit eines Angeklagten (vgl. BGHR <strong>StPO</strong> § 267<br />

Abs. 3 Satz 1 Strafzumessung 10; SenE v. 25.07.2006 – 82 Ss 62/06; v. 01.09.2006 – 81<br />

Ss 113/06). Sie sind in dem Umfang zu treffen, in dem sie von bestimmendem Einfluss<br />

auf die Rechtsfolgenseite sind (BGHR <strong>StPO</strong> § 267 Abs. 3 Satz 1 Strafzumessung 8, 15,<br />

20). Dabei kann bei der Darstellung der persönlichen Verhältnisse ein relativ kurz zusammengefasster<br />

Lebenslauf genügen (vgl. BGH NStZ-RR 2004, 66 – bei Becker;<br />

Meyer-Goßner, <strong>StPO</strong>, 49. Aufl., § 267 Rn. 4). Es bedeutet grundsätzlich einen Sachmangel,<br />

wenn der Tatrichter bei der Strafzumessung die persönlichen Verhältnisse des Täters<br />

überhaupt nicht oder nur unzureichend darstellt (BGH NStZ 1993, 30; BGH NStZ 1995,<br />

200 ; Senat a.a.O.).<br />

Diesen Anforderungen an die Darstellung des Lebenswegs genügen die Feststellungen<br />

der Strafkammer nicht. Sie enthalten allenfalls eine kurze Beschreibung der gegenwärtigen<br />

Lebenssituation des Angeklagten. Es ist auch nicht erkennbar, dass der Angeklagte<br />

nähere Angaben zu seinem Werdegang verweigert hat.<br />

2. Darüber hinaus wird in dem angefochtenen Urteil auch nicht ausreichend begründet,<br />

dass gemäß § 47 StGB die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe geboten ist. Es genügt<br />

für eine Verurteilung des Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe unter sechs Monaten<br />

nicht, auf das Erfordernis einer Gesamtwürdigung aller die Tat und den Täter kennzeichnenden<br />

Umstände (BGH NStZ 1996, 429; Tröndle/Fischer, StGB, 53. Aufl., § 47 Rn. 6)<br />

lediglich hinzuweisen und darzutun, das Gericht sei sich bei seiner Entscheidung dieses<br />

Erfordernisses bewusst gewesen, wie es das Berufungsgericht vorliegend getan hat. Das<br />

Tatgericht hat vielmehr alle für die Subsumtion unter die Voraussetzungen des § 47 StGB<br />

relevanten Umstände im Einzelnen zu nennen (vgl. BGH a.a.O.; SenE v. 10.10.2006 - 83<br />

Ss 63/06 -). Daran fehlt es hier, denn die Kammer hat bei ihrer Entscheidung insoweit<br />

lediglich die Vorstrafen und die Rückfallgeschwindigkeit herangezogen. Aus dem Urteil<br />

selbst ergeben sich aber – trotz der insoweit gegebenen Unvollständigkeit der Gründe –<br />

bereits weitere Umstände, die mit in die Abwägung einzubeziehen gewesen wären und<br />

möglicherweise eine andere Entscheidung gerechtfertigt hätten. Dies gilt insbesondere<br />

für die im Rahmen der Bewährungsentscheidung angesprochenen Gesichtspunkte, dass


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 17<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

der Angeklagte sich seit der Tat vom 11.11.2005 straffrei geführt hat sowie den Umstand,<br />

dass er nunmehr berufstätig ist, in einer festen Beziehung mit einer Frau zusammenlebt<br />

und demnächst Vater wird.<br />

§§ 46, 47 StGB<br />

Urteilsgründe zur Person des Angeklagten<br />

SenE v. 30.11.2006 - 83 Ss 96/06 -<br />

Das Amtsgericht hat den Angeklagten wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis<br />

zu einer Freiheitsstrafe von 3 Monaten verurteilt und eine Sperrfrist für die Erteilung einer<br />

neuen Fahrerlaubnis von 3 Monaten angeordnet.<br />

Hiergegen hat der Angeklagte Berufung eingelegt, die er auf die Überprüfung des<br />

Rechtsfolgenausspruchs beschränkt hat. Das Landgericht hat diese Rechtsmittelbeschränkung<br />

für wirksam gehalten und die Berufung mit der Maßgabe verworfen, dass die<br />

Maßregel entfällt.<br />

Die Revision des Angeklagten rügt Verletzung materiellen Rechts.<br />

Die Revision hat (vorläufigen) Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils<br />

und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz.<br />

Zutreffend hat die Strafkammer die Beschränkung der Berufung für wirksam gehalten und<br />

demgemäß in eigener Verantwortung nur über die Rechtsfolgenseite entschieden. Die<br />

Feststellungen des Amtsgerichts zum Schuldspruch lassen den Unrechts- und Schuldgehalt<br />

der Tat hinreichend erkennen (vgl. Meyer-Goßner, <strong>StPO</strong>, 49. Auflage, § 318 Rn. 16).<br />

Die Rechtsfolgenentscheidung des Landgerichts hält indes rechtlicher Überprüfung aufgrund<br />

der Sachrüge nicht stand.<br />

Zum Vorleben des Angeklagten heißt es im Berufungsurteil:<br />

„Der 58 Jahre alte Angeklagte ist geschieden und hat keinerlei Unterhaltsverpflichtungen.<br />

Er ist Geschäftsführer eines Weinhandels, der von einer Aktiengesellschaft luxemburgischen<br />

Rechts betrieben wird, an der u.a. er und seine Mutter beteiligt sind. Sein Gehalt<br />

gibt er mit monatlich 1.200 € netto an.<br />

Strafrechtlich ist der Angeklagte wie folgt in Erscheinung getreten:<br />

…<br />

6. Am 13.12.2004 verurteilte ihn das Amtsgericht Trier wegen vorsätzlicher Trunkenheit<br />

im Verkehr in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer Freiheitsstrafe<br />

von 3 Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. … In den<br />

Gründen dieses Urteils heißt es u.a. wie folgt: … Dem Angeklagten konnte eine Bewährungschance<br />

gegeben werden. … Er hat in der Hauptverhandlung glaubhaft gemacht,<br />

dass er sein Alkoholproblem kennt und dieses angehen möchte.<br />

Zunächst durch die Inanspruchnahme von Suchtberatungsgesprächen will er von seiner<br />

Sucht loskommen. ...“<br />

Danach sind die Gründe des angefochtenen Urteils hinsichtlich der Rechtsfolgenseite<br />

materiell-rechtlich unvollständig, weil sich ihnen zu den persönlichen Verhältnissen des<br />

Angeklagten nichts Zureichendes entnehmen lässt.


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 18<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

Aussagekräftige Feststellungen zum Lebensweg sowie zu den familiären und wirtschaftlichen<br />

Verhältnissen sind indessen Voraussetzung der für den gesamten Rechtsfolgenausspruch<br />

unerlässlichen Würdigung der Persönlichkeit eines Angeklagten (vgl.<br />

BGHR <strong>StPO</strong> § 267 Abs. 3 Satz 1 Strafzumessung 10). Sie sind in dem Umfang zu treffen,<br />

in dem sie von bestimmendem Einfluss auf die Rechtsfolgenseite sind (BGHR <strong>StPO</strong> §<br />

267 Abs. 3 Satz 1 Strafzumessung 8, 15, 20). Dabei kann bei der Darstellung der persönlichen<br />

Verhältnisse ein relativ kurz zusammengefasster Lebenslauf genügen (vgl. BGH<br />

NStZ-RR 2004, 66 – bei Becker; Meyer-Goßner a.a.O., § 267 Rn. 4). Es bedeutet indessen<br />

grundsätzlich einen Sachmangel, wenn der Tatrichter bei der Rechtsfolgenentscheidung<br />

die persönlichen Verhältnisse des Täters überhaupt nicht oder nur unzureichend<br />

darstellt (BGH NStZ 1993, 30; BGH NStZ 1995, 200 ; so insgesamt: SenE v. 10.10.2006<br />

– 83 Ss 63/06; v. 10.11.2006 – 82 Ss 134/06). Das gilt insbesondere dann, wenn eine<br />

kurze Freiheitsstrafe im Sinne des § 47 StGB verhängt wird und/oder die Strafaussetzungsfrage<br />

zu erörtern ist.<br />

Diesen Anforderungen an die Darstellung des Lebenswegs genügen die Feststellungen<br />

der Strafkammer nicht. Sie enthalten allenfalls eine kurze Beschreibung der gegenwärtigen<br />

Lebenssituation des Angeklagten, wobei sich ihnen zu dem im Urteil des Amtsgerichts<br />

Trier vom 13.12.2004 (s.o.) angesprochenen „Alkoholproblem“ noch nicht einmal<br />

entnehmen lässt, ob der Angeklagte in dem Bemühen, „von seiner Sucht loszukommen“,<br />

erfolgreich war. Dass der Angeklagte nähere Angaben zu seinen persönlichen Verhältnissen<br />

verweigert hat, geht aus dem angefochtenen Urteil ebenfalls nicht hervor.<br />

Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:<br />

Was die Prüfung der Voraussetzungen des § 47 StGB (kurze Freiheitsstrafe nur in Ausnahmefällen)<br />

anbelangt, so genügt es nicht, dazu lediglich Rechtsprechungsgrundsätze<br />

wiederzugeben. Erforderlich ist vielmehr eine fallbezogene Erörterung, d.h. eine Anwendung<br />

dieser Grundsätze auf den konkreten Fall (Senat a.a.O.).<br />

§§ 46, 57 StGB<br />

Strafzumessungsgründe<br />

SenE v. 24.11.2006 - 83 Ss 80/06 -<br />

Daneben sind auch die Strafzumessungserwägungen des angefochtenen Urteils in einem<br />

solchen Maße unvollständig, dass sie keine tragfähige Grundlage für die Rechtsfolgenentscheidung<br />

einschließlich der Bewährungsfrage darstellen.<br />

Der Tatrichter hat in den Urteilsgründen die Umstände anzuführen, die für die<br />

Strafzumessung bestimmend gewesen sind (§ 267 Abs. 3 <strong>StPO</strong>; vgl. auch § 46 StGB).<br />

Dabei muss er die Abwägung der einzelnen Umstände nach Bedeutung und Gewicht erkennbar<br />

machen (§ 46 Abs. 2 Satz 1 StGB). Die Strafzumessung muss aufgrund einer<br />

Gesamtwürdigung von Tatgeschehen und Täterpersönlichkeit erfolgen.<br />

Dem werden die Strafzumessungserwägungen des Landgerichts nicht gerecht.<br />

Sie erschöpfen sich in dem schlichten Hinweis auf die „vielfachen einschlägigen Vorverurteilungen“<br />

des Angeklagten. Die gebotene Abwägung der maßgeblichen, für und gegen<br />

den Angeklagten sprechenden Gesichtspunkte findet nicht statt. Die in § 46 Abs. 2 StGB


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 19<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

angeführten Strafzumessungskriterien werden – mit einer Ausnahme – schlicht übergangen.<br />

Daher bleibt offen, ob und gegebenenfalls wie das Landgericht bewertet hat, dass<br />

der Angeklagte geständig war, dass er langjährig drogenabhängig war und dass deshalb<br />

im Hinblick auf die Verurteilung wegen Erwerbs von Betäubungsmitteln eine zwingende<br />

Tatgeneigtheit vorgelegen haben dürfte; weiterhin, dass es sich um so genannte weiche<br />

Drogen gehandelt hat, dass die Drogen offensichtlich sichergestellt worden sind, dass der<br />

Angeklagte mit dem Bewährungswiderruf wegen der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe<br />

wegen fahrlässiger Trunkenheit im Straßenverkehr aus dem Urteil des Amtsgerichts<br />

Waldbröl vom 08.03.2005 - 4 Ds 919/04 - zu rechnen hat und andererseits, dass er während<br />

dieser laufenden Bewährungen eine einschlägige Straftat begangen hat.<br />

Auch was die Prüfung der Voraussetzungen des § 47 StGB (kurze Freiheitsstrafe nur in<br />

Ausnahmefällen) anbelangt, so genügt es nicht, dazu lediglich den Gesetzestext wiederzugeben.<br />

Damit die Anwendung des § 47 StGB auf Rechtsfehler geprüft werden kann,<br />

bedarf es einer eingehenden und nachprüfbaren Begründung (BGH StV 1982, 366; StV<br />

1994, 370; OLG Schleswig StV 1982, 367; StV 1993, 29, 30; Senat NJW 1981, 411; SenE<br />

v. 03.01.2003 - Ss 536/02 -; vgl. a. Dahs/Dahs, Die Revision im Strafrecht, 5. Aufl.,<br />

Rdnr. 394). Erforderlich ist daher eine fallbezogene Erörterung, d.h. eine Anwendung der<br />

zu § 47 StGB von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze auf den konkreten Fall.<br />

Hieran fehlt es.<br />

§ 47 StGB<br />

"Verletzung des Gastrechts"<br />

SenE v. 21.11.2006 - 83 Ss 52/06 -<br />

(Vorläufigen) Erfolg hat die Revision (…) hinsichtlich des Rechtsfolgenausspruchs, d.h.<br />

der Verhängung einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung<br />

ausgesetzt wurde. Insoweit heißt es in dem angefochtenen Urteil zur Begründung<br />

der kurzen Freiheitsstrafe:<br />

„Die Verhängung einer Freiheitsstrafe war zur Verteidigung der Rechtsordnung<br />

und auch zur Einwirkung auf die Angeklagte nach Ansicht des Gerichts<br />

zwingend geboten. Der Angeklagten muss eindeutig klargemacht werden,<br />

dass sie ihr Gastrecht in Deutschland nicht durch das Begehen von Straftaten<br />

verletzen darf.“<br />

Obwohl das Amtsgericht die Bestimmung des § 47 StGB nicht ausdrücklich erwähnt hat,<br />

ergibt sich aus der Bezugnahme auf das Erfordernis der Verteidigung der Rechtsordnung,<br />

dass das Gericht diese Bestimmung nicht übersehen hat, wie die Revision meint.<br />

Die Voraussetzungen des § 47 StGB sind jedoch nicht hinreichend festgestellt. Nach der<br />

gesetzgeberischen Grundentscheidung des § 47 StGB soll die Verhängung kurzfristiger<br />

Freiheitsstrafen weitestgehend zurückgedrängt werden und nur noch ausnahmsweise<br />

unter ganz besonderen Umständen in Betracht kommen (vgl. BGHSt 24, 40, 42 f.; OLG<br />

Hamm VRS 97, 410 [411]). Die Verhängung einer Freiheitsstrafe unter 6 Monaten hat<br />

danach regelmäßig nur dann Bestand, wenn sie sich aufgrund einer Gesamtwürdigung<br />

aller die Tat und den Täter kennzeichnenden Umstände als unverzichtbar erweist (BGHR<br />

StGB § 47 Abs. 1 Umstände 7 = NStZ 1996, 429; BGH StV 1994, 370; OLG Hamm VRS<br />

97, 410 [411] m. w. Nachw.). Damit die Anwendung des § 47 StGB auf Rechtsfehler geprüft<br />

werden kann, bedarf es einer eingehenden und nachprüfbaren Begründung (BGH


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 20<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

StV 1982, 366; StV 1994, 370; OLG Schleswig StV 1982, 367; StV 1993, 29, 30; Senat<br />

NJW 1981, 411; SenE v. 03.01.2003 - Ss 536/02 -; SenE v. 29.08.2003 - Ss 336-337/03 -<br />

; SenE v. 16.04.2004 - Ss 130/04 -; vgl. a. Dahs/Dahs, Die Revision im Strafrecht, 5.<br />

Aufl., Rdnr. 394). Hieran fehlt es in dem angefochtenen Urteil. Das Amtsgericht stellt zur<br />

Begründung seiner Entscheidung für die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe allein<br />

auf den Gesichtspunkt der "Verletzung des Gastrechts" ab. Das vermag aber weder zu<br />

begründen, warum die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf die<br />

Angeklagte erforderlich war, noch dass dies zur Verteidigung der Rechtsordnung unerlässlich<br />

war (vgl. zu letzterem OLG Hamm, Beschluss vom 11.11.2004 – 4 Ss 476/04 -,<br />

insoweit in NStZ-RR 2005, 212 nicht abgedruckt).<br />

Abgesehen davon ist zu besorgen, dass das Amtsgericht mit dieser Begründung in der<br />

Sache zum Nachteil der Angeklagten in unzulässiger Weise berücksichtigt hat, dass sie<br />

Ausländerin ist. Die Ausländereigenschaft als solche darf aber nicht strafschärfend berücksichtigt<br />

werden. Die Staatsangehörigkeit des Täters ist grundsätzlich für die Bewertung<br />

seiner Schuld, die Grundlage für die Strafzumessung ist (§ 46 Abs. 1 S. 1 StGB),<br />

ohne Bedeutung. Insbesondere wird auch das Maß der Pflichtwidrigkeit (§ 46 Abs. 2 Satz<br />

2 StGB) durch sie nicht beeinflusst. Eine gesteigerte Pflicht, sich im Gastland straffrei zu<br />

führen, trifft den Ausländer nicht (so BGH NStZ-RR 1993, 337 f. = StV 1993, 358 f., vgl.<br />

a. KG NStZ-RR 2000, 68 [KIR]; SenE v. 28.10.2003 - Ss 464/03 - m.w.Nachw.; SenE v.<br />

04.01.2005 - 8 Ss 474/04 -).<br />

§§ 46, 53 StGB<br />

Nachtatverhalten; Gesamtstrafenbildung<br />

SenE v. 27.10.2006 - 81 Ss 138/06 -<br />

Die Verhängung einer Gesamtfreiheitsstrafe von 8 Monaten bei drei Einzelstrafen von je<br />

drei Monaten Freiheitsstrafe erscheint unverhältnismäßig hoch. Die Einsatzstrafe von drei<br />

Monaten Freiheitsstrafe wird damit fast verdreifacht. Im Hinblick hierauf ist zu besorgen,<br />

dass sich das Landgericht – wie schon zuvor das Amtsgericht – in zu starkem Maße von<br />

der Summe der Einzelstrafen hat leiten lassen (vgl. hierzu BGH StV 00, 254; BGH StV<br />

03, 555 = NStZ-RR 03, 9, 10; SenE vom 4.11.2003 – Ss 454/03 -) und lediglich einen<br />

„Abzug“ von einem Monat vorgenommen hat. Die ungewöhnlich große Spanne zwischen<br />

Einsatz- und Gesamtstrafe ist auch nicht schon deswegen gerechtfertigt, weil insgesamt<br />

die Strafen aus drei Taten zusammenzuführen sind.<br />

Ein weiterer sachlich-rechtlicher Erörterungsmangel bei der Gesamtstrafenbildung liegt<br />

darin, dass das Landgericht die in anderem Zusammenhang, nämlich bei den Feststellungen<br />

zur Person und bei der Frage der Strafaussetzung zur Bewährung, erörterte günstige<br />

Veränderung der Umstände in der Lebensführung des Angeklagten in der Zeit zwischen<br />

amts- und landgerichtlichem Urteil (Aufnahme in das Clemens-Josef-Haus Vellerhof<br />

in Blankenheim/Ahr, einer Einrichtung für Alkoholkranke, und seither gute Führung<br />

dort mit dem Ziel, künftig suchtmittelfrei zu leben) nicht innerhalb der Erwägungen zur<br />

Gesamtstrafe mit berücksichtigt hat. Einzubeziehen in die Begründung der Gesamtstrafe<br />

sind aber auch etwaige günstige Veränderungen in der Lebensführung des Angeklagten<br />

in der der Tatbegehung nachfolgenden Zeit (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 2 Nachtatverhalten<br />

21; SenE vom 28.11.2003 – Ss 465/03 -).


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 21<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

Die erneut vorzunehmende Gesamtstrafenbildung wird nach § 354 Abs. 1 b <strong>StPO</strong> dem<br />

Beschlussverfahren nach §§ 460, 462 <strong>StPO</strong> übertragen (vgl. hierzu Meyer-Goßner, <strong>StPO</strong>,<br />

49 Aufl., § 354 Rn. 31). Die Entscheidung über die Gesamtstrafe wird also nunmehr von<br />

dem nach § 462 a Abs. 3 S. 1 <strong>StPO</strong> zuständigen Amtsgericht zu treffen sein, das auch<br />

über die Kosten der Revision zu befinden haben wird. Der Hinweis auf dieses Gericht in<br />

dem Tenor des vorliegenden Beschlusses dient der Klarstellung (vgl. SenE vom<br />

8.10.2004 – 8 Ss 415/04 -); die Zuständigkeitsfrage beantwortet sich aus § 354 Abs. 1 b<br />

S. 1 <strong>StPO</strong> selbst.<br />

§ 56 StGB<br />

Erstmaliger Freiheitsentzug während der Untersuchungshaft<br />

SenE v. 07.11.2006 - 83 Ss 70/06 -<br />

Hat der Angeklagte zwischen Begehung und Aburteilung der Tat durch Haft erstmals einen<br />

längeren Freiheitsentzug erlitten, so muss das Tatgericht bei seiner Prognoseentscheidung<br />

(§ 56 Abs. 1 StGB) auch darauf eingehen, welche Wirkungen diese Haft auf<br />

den Angeklagten hatte (vgl. OLG Dresden StV 2001, 626; BayObLG DAR 1982, 248;<br />

OLG Dresden StV 2002, 658 = StraFo 2003, 21; ständige Senatsrechtsprechung, vgl.<br />

Senat v. 05.10.1993 = NStZ 1994, 205; SenE v. 03.05.2005 – 8 Ss 64/05; Tröndle/Fischer,<br />

StGB, 53. Auflage, § 56 Rn. 6 b m.w.N.). Der erste (längere) Freiheitsentzug<br />

wird in der Regel am spürbarsten empfunden und kann durchaus eine spezialpräventive<br />

Wirkung – z.B. in Form der Nachreifung und Stabilisierung (vgl. BGH NStZ-RR 2005, 38)<br />

- entfaltet haben, die eine günstige Prognose im Sinne des § 56 Abs. 1 StGB rechtfertigt.<br />

Das kann auch in den Fällen gelten, in denen dem erstmaligen Freiheitsentzug ein Bewährungsbruch<br />

vorausgegangen ist (vgl. BGH a.a.O.).<br />

§ 56 StGB<br />

Getilgte Vorstrafen<br />

SenE v. 30.11.2006 - 83 Ss 88/06 -<br />

Getilgte oder tilgungsreife Vorstrafen können bei der Prognose künftigen Wohlverhaltens<br />

... keine Berücksichtigung mehr finden. Dies folgt aus dem Verwertungsverbot des § 51<br />

Abs. 1 BZRG, welches nicht nur die Tatsache der Vorverurteilung als solche, sondern<br />

auch die Berücksichtigung der Warnfunktion einer früheren getilgten Verurteilung z.N.<br />

des Angeklagten untersagt (BGH StV 90, 348). Die Vorschrift verbietet auch nicht nur, bei<br />

der Bemessung der Strafe nach Art und Höhe auf die frühere Verurteilung zurückzugreifen,<br />

sie gilt auch für die Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung, da es<br />

sich auch hierbei um eine Art der Strafzumessung handelt (Leipziger Kommentar, 11.<br />

Aufl., § 56 Rn. 20). An der Unverwertbarkeit ändert auch nichts, dass der Angeklagte die<br />

Verurteilung selbst angegeben hat (BGHSt 27, 108 ff. (110); BGHR § 51 Nr. 5).<br />

Es ist nicht auszuschließen, dass dieser Rechtsfehler den Rechtsfolgenausspruch hinsichtlich<br />

der Versagung der Strafaussetzung zur Bewährung beeinflusst hat. Denn aus<br />

dem Umstand, dass der Angeklagte zweifacher Bewährungsversager ist, hat die Kammer<br />

- insoweit rechtsbedenkenfrei - den Schluss gezogen, dass der Angeklagte sich durch die<br />

bloße Androhung einer Freiheitsstrafe oder die Verhängung einer Geldstrafe nicht beein-


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 22<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

drucken lässt. Demgegenüber hat sie dem Umstand, dass sich hieran durch den Widerruf<br />

der Bewährung aus dem Urteil des Amtsgerichts Bielefeld vom 24.01.2003 und die nunmehr<br />

seit Februar 2005 andauernde Inhaftierung des Angeklagten etwas geändert haben<br />

könnte, nicht (ausreichend) Rechnung getragen. Denn bei der vorzunehmenden Würdigung,<br />

ob die Strafhaft auf den Angeklagten eine positive Wirkung im Sinne eines „Warneffekts“<br />

erzielt hat (Tröndle/Fischer, a.a.O., § 56 Rn. 6a), hat die Kammer rechtsfehlerhaft<br />

nur auf die insoweit unverwertbare Jugendstrafe abgestellt.“<br />

§ 241 StGB<br />

Bestimmung des Erklärungsinhalts<br />

SenE v. 10.10.2006 - 82 Ss 100/06 -<br />

Dagegen führt die Revision auf die Sachrüge zur Aufhebung des angefochtenen Urteils<br />

und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz, soweit es den Schuldspruch wegen<br />

Bedrohung (§ 241 Abs. 1 StGB), die hierfür festgesetzte Einzelgeldstrafe sowie den<br />

Gesamtgeldstrafenausspruch betrifft.<br />

Der Schuldspruch hält insoweit materiell-rechtlicher Überprüfung nicht stand.<br />

Das Landgericht hat dazu festgestellt:<br />

„Am übernächsten Tag, dem 8. Februar 2005 rief der Angeklagte die Zeugin M. an<br />

und machte erneut verbal seinem Ärger der Zeugin gegenüber Luft. Im Rahmen<br />

dieses Streitgesprächs erklärte der Angeklagte gegenüber der Zeugin: “Du<br />

machst mich verrückt, aber bevor Du das machst, schicke ich Dich auf den Friedhof.“<br />

Die Zeugin nahm diese Äußerung des Angeklagten – wie von diesem beabsichtigt<br />

– ernst.“<br />

Zur Einlassung des Angeklagten insoweit heißt es im angefochtenen Urteil:<br />

„Der Angeklagte bestreitet …, anlässlich eines Telefonats einige Tage später diese<br />

(erg. die Zeugin M.) mit dem Tode bedroht zu haben.“<br />

Zur rechtlichen Wertung hat die Strafkammer ausgeführt:<br />

„Der Angeklagte hat sich demnach durch die tat vom 8. Februar 2005 wegen Bedrohung<br />

nach § 241 StGB strafbar gemacht.“<br />

Danach tragen die Urteilsgründe den Schuldspruch wegen Bedrohung nicht.<br />

Der Tatbestand des § 241 Abs. 1 StGB setzt das In-Aussicht-Stellen eines bestimmten<br />

tatsächlichen Verhaltens voraus, das als Verbrechen zu beurteilen wäre (BGHSt 17, 307,<br />

308; SenE vom 26.09.2000 – Ss 391/00 = StV 2001,158). Die wesentliche Merkmale des<br />

Verbrechens müssen aus der Äußerung - bzw. der Bedrohungshandlung - eventuell in<br />

Verbindung mit den Begleitumständen ersichtlich sein und die Drohung muss objektiv den<br />

Eindruck der Ernstlichkeit erwecken (Eser in Schönke/Schröder, StGB, 27. Auflage, § 241<br />

Rn. 4, 5 mit weiteren Nachweisen).<br />

Ob einer Erklärung diese Bedeutung beizumessen ist, hat der Tatrichter durch Auslegung<br />

zu ermitteln (Senat a. a. O.). Die Auslegung von Äußerungen und Erklärungen ist eine<br />

Tatsachenwürdigung, die nur dem Tatrichter zusteht (SenE v. 20.10.1987 – Ss 486-<br />

487/87 = NJW 1988, 1802;). Dem Revisionsgericht ist eine eigene Würdigung ebenso


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 23<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

versagt wie bei der Beweiswürdigung, auch wenn der Inhalt der betreffenden Äußerung<br />

im Urteil wörtlich festgestellt ist (SenE a.a.O.). Die Prüfung des Revisionsgerichts hat sich<br />

darauf zu beschränken, ob die Auslegung auf Rechtsirrtum beruht, ob sie lückenhaft ist<br />

oder gegen Sprach- und Denkgesetze, Erfahrungssätze und allgemeine Auslegungsregeln<br />

verstößt (SenE a.a.O.; SenE v. 28.01.1992 – Ss 567-569/1991 mit weiteren Nachweisen<br />

= NJW 1993, 1486; Meyer-Goßner, <strong>StPO</strong>, 49. Auflage, § 337 Rn. 32).<br />

Hier lässt sich den Urteilsgründen keine Auslegung der Äußerung des Angeklagten „…,<br />

schicke ich Dich auf den Friedhof“ entnehmen, die zur Annahme des Tatbestandes der<br />

Bedrohung führen könnte. Der Bedeutungsinhalt dieser Äußerung liegt auch nicht etwa<br />

auf der Hand. So sind von der Bedrohung im oben genannten Sinne Verwünschungen,<br />

Beschimpfungen und prahlerische Redensarten zu unterscheiden (vgl. die Beispiele bei<br />

Eser a.a.O., § 241 Rn. 4). Eine Abgrenzung dazu hat das Landgericht nicht vorgenommen.<br />

Hinzu kommt, dass bei einer Ankündigung für eine fernere Zukunft der (objektive)<br />

Eindruck hinreichender Ernstlichkeit fehlen kann (Eser a.a.O., § 241 Rn. 5).<br />

Auch die Einlassung des Angeklagten machte eine tatgerichtliche Auslegung seiner Äußerung<br />

nicht entbehrlich. Abgesehen davon, dass diese schon nicht erkennen lässt, ob<br />

der Angeklagte damit überhaupt einräumen wollte, die inkriminierten Worte gesagt zu<br />

haben, lässt sie jedenfalls offen, welchen Bedeutungsinhalt der Angeklagte ihnen beimessen<br />

wollte.<br />

§ 263 StGB<br />

Vermögensschaden<br />

SenE v. 17.10.2006 - 81 Ss 123/06 -<br />

Dem Angeklagten wird in der - ohne Änderung zur Hauptverhandlung zugelassenen -<br />

Anklage zur Last gelegt, sich des Betruges und der Urkundenfälschung schuldig gemacht<br />

zu haben, indem er beim Verkauf eines gebrauchten Pkw an den Zeugen S. wahrheitswidrig<br />

erklärte, das Fahrzeug sei frei von Hagelschäden, und den schriftlichen Kaufvertrag<br />

nachträglich abänderte. Das Amtsgericht hat ihn durch Urteil vom 10. Mai 2006 wegen<br />

Betruges zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 20 € verurteilt und dazu folgende<br />

Feststellungen getroffen:<br />

"Der Angeklagte verkaufte dem Zeugen S. am 29.06.2002 als Angestellter der zwischenzeitlich<br />

in Insolvenz gegangenen Firma Autohaus P. GmbH in B. einen gebrauchten PKW<br />

Marke Honda Civic zum Preise von 14.500,-- €. Hierbei sicherte er dem Zeugen zu, dass<br />

der PKW keinen (reparierten) Hagelschaden aufweise. Entsprechend wurden in dem Bestellformular<br />

weder Schäden, noch sonstige Bemerkungen notiert. In Wirklichkeit handelte<br />

es sich jedoch um das Fahrzeug einer ganzen Serie, die vor der Auslieferung an die<br />

Erstkunden in den USA einen Hagelschaden erlitten hatte, der vom Hersteller repariert<br />

worden war. Als der Wagen durch den Angeklagten am 10.07.02 an den Zeugen S.<br />

übergeben wurde, nachdem noch eine Beschädigung am Kotflügel nachlackiert worden<br />

war, und dieser erneut den Angeklagten auf einen etwaigen Hagelschaden ansprach,<br />

verneinte dieser wiederum. In den, dem Zeugen anlässlich dieser Übergabe überreichten<br />

Mäppchen mit den Fahrzeugunterlagen befand sich eine "geänderte" Kopie des Bestellformulars<br />

vom 29.96.02 mit folgendem Zusatz: reparierter Hagelschaden, keine Lackgarantie,<br />

Werksgarantie bis 12/03. Dieses Formular entdeckte der Zeuge erst, als er im


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 24<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

März 2003 von dem Insolvenzverwalter eine Reparaturrechnung über Lackierungsarbeiten<br />

erhielt."<br />

Zur rechtlichen Würdigung hat das Amtsgericht ausgeführt:<br />

"Auf Grund des Ergebnisses der Hauptverhandlung war der Angeklagte wegen Betruges<br />

zu verurteilen, § 263 I StGB. Unter Abstreiten des Vorschadens hat er den Zeugen zum<br />

Verkaufsabschluß gebracht, den der Zeuge in Kenntnis des Vorschadens jedenfalls nicht<br />

zu dem gezahlten Kaufpreis getätigt hätte. Die Einlassung des Angeklagten, der Zeuge<br />

habe nachträglich auf der Änderung der Bestellung, mit der seine Garantieansprüche<br />

bezüglich der Nachlackierung ausgeschlossen wurden, bestanden, ist geradezu aberwitzig.<br />

Im übrigen hat das Gericht keinen Zweifel an den übereinstimmenden Bekundungen<br />

der Zeugen, dass der Angeklagte gerade auch bei der Übergabe des Fahrzeugs einen<br />

Vorschaden in Form von Hagelschaden ausdrücklich verneint hat. Zwar ist der Zeuge<br />

S. Geschädigter und die Zeugin Stellmach die Lebensgefährtin des Zeugen S.. Beide<br />

haben jedoch, ohne die Angelegenheit aufzubauschen, den Sachverhalt geschildert. Der<br />

Zeuge S. wurde auch erst aufmerksam, als er nachträglich zu Unrecht eine Lackierrechnung<br />

erhielt; ihm kam es ersichtlich nicht auf Schadensersatzansprüche an. Im übrigen<br />

spricht auch die Bekundung des Zeugen Koch für die Richtigkeit der übrigen Zeugenbekundungen.<br />

Nur so lässt sich der Auftrag des Angeklagten erklären, besonders auf das<br />

geänderte Bestellformular hinzuweisen. Wenn der Zusatz auf Drängen des Zeugen S.s<br />

nachträglich erfolgt worden wäre, hätte eines besonderen Hinweises nicht bedurft."<br />

Mit der - zunächst als Berufung eingelegten - Sprungrevision des Angeklagten wird die<br />

Verletzung materiellen Rechts gerügt.<br />

II.<br />

1.<br />

Die (Sprung-)Revision ist gemäß § 335 Abs. 1 <strong>StPO</strong> statthaft und begegnet auch ansonsten<br />

keinen Bedenken hinsichtlich ihrer Zulässigkeit. Der Angeklagte konnte nach Berufungseinlegung<br />

innerhalb der Revisionsbegründungsfrist zur Revision übergehen (vgl.<br />

BGHSt 5, 338; BGHSt 33,183 [188] = NStZ 19 85, 563; BGH NJW 2004, 789; Meyer-<br />

Großner, <strong>StPO</strong>, 49. Aufl., § 335 Rdnr. 10 m. w. Nachw.).<br />

2.<br />

In der Sache führt das Rechtsmittel gemäß §§ 353, 354 Abs. 2 <strong>StPO</strong> zur Aufhebung des<br />

angefochtenen Urteils und zur Zurückverwiesung der Sache an eine andere Abteilung<br />

des Amtsgerichts.<br />

a)<br />

Der Schuldspruch wegen Betruges findet in den Urteilsgründen keine ausreichende<br />

Grundlage. Sie belegen nicht, dass der Angeklagte den Tatbestand des § 263 StGB vollständig<br />

erfüllt hat. Es fehlt nämlich an tatrichterlichen Feststellungen, aus denen sich ergibt,<br />

dass dem Zeugen S. durch den - mittels einer Täuschung des Angeklagten - erschlichenen<br />

Abschluss des Kaufvertrages ein Vermögensschaden entstanden ist.<br />

§ 263 StGB schützt nicht die Entschließungsfreiheit (Dispositionsfreiheit). Zur Tatbestandsverwirklichung<br />

ist vielmehr die Herbeiführung eines Vermögensschadens bei dem<br />

Getäuschten erforderlich, der nicht schon darin liegt, dass die von ihm eingegangene Verpflichtung<br />

ohne den durch Täuschung bewirkten Irrtum nicht entstanden wäre (vgl. BGH


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 25<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

NJW 2006, 1679 [1681] m. w. Nachw. ; SenE v. 07.02.2006 - 81 Ss 63/05 -). Eine Vermögensschädigung<br />

liegt also nicht schon dann vor, wenn jemand infolge eines durch<br />

Täuschung hervorgerufenen Irrtums eine Vermögensverfügung getroffen hat, die er bei<br />

Kenntnis der tatsächlichen Umstände nicht getroffen hätte (BGHSt 3, 99; BGHSt 16, 222;<br />

BGHSt 16, 321; Tröndle/Fischer, StGB, 53. Aufl., § 263 Rdnr. 72 u. 85) . Auch bei einer<br />

solchermaßen erschlichenen Disposition durch Abschluss eines Austauschschuldverhältnisses<br />

liegt eine Vermögensminderung des Getäuschten nicht vor, wenn sich Leistung<br />

und Gegenleistung im Sinne einer Kompensation entsprechen (BGHSt 31, 115 [117];<br />

Senat a.a.O.; Tröndle/Fischer a.a.O. § 263 Rdnr. 77). Ein Schaden fehlt, wenn die täuschungsbedingte<br />

Vermögensminderung durch den wirtschaftlichen Wert des unmittelbar<br />

Erlangten ausgeglichen wird (BGHSt 3, 102; BGHSt 16, 220; Tröndle/Fischer a.a.O. §<br />

263 Rdnr. 74 u. 85). Bezogen auf den vorliegenden Fall setzt die Feststellung eines Vermögensschadens<br />

demnach voraus, dass das gekaufte Fahrzeug keinen wertmäßigen<br />

Ausgleich für die Kaufpreiszahlung des Zeugen S. darstellte, weil es wegen des verheimlichten<br />

Hagelschadens einen geringeren Verkehrswert als die gezahlten 14.500 € hatte.<br />

Die Feststellungen des Amtsgerichts belegen indessen nicht, dass sich Leistung und Gegenleistung<br />

im Sinne einer Kompensation nicht entsprochen haben.<br />

§ 316 StGB<br />

Feststellungen zum Schuldumfang<br />

SenE v. 27.10.2006 - 82 Ss 123/06 -<br />

Das angefochtene Urteil kann keinen Bestand haben, weil das Landgericht zu Unrecht<br />

von einer wirksamen Beschränkung der Berufung ausgegangen ist und deshalb keine<br />

eigenen Schuldfeststellungen getroffen hat; die Gründe des Berufungsurteils sind deshalb<br />

materiell-rechtlich unvollständig (vgl. SenE VRS 73, 385 ff.; SenE VRS 98, 140 [142]).<br />

1a)<br />

Das Revisionsgericht prüft von Amts wegen, ob das Berufungsgericht zu Recht und im<br />

richtigen Umfang von einer Berufungsbeschränkung ausgegangen ist (BGHSt 27, 70 [72]<br />

= NJW 1977, 442 = VRS 52, 265 [266]; BayObLG NStZ 1999, 514 m. w. Nachw.;<br />

BayObLG NStZ 2000, 210; VRS 73,3 856 = VM 1988, 62; SenE NStZ 1989, 90 = MDR<br />

1989, 284; SenE VRS 96, 35; SenE NStZ-RR 2000, 49; KK-Ruß, <strong>StPO</strong>, 5. Aufl., § 318 Rn<br />

11); denn es handelt sich um die Frage der Rechtskraft der angefochtenen Entscheidung<br />

und damit einer von Amts wegen zu prüfenden Prozessvoraussetzung (SenE v.<br />

10.10.2003 - Ss 420/03 -; KK-Ruß a. a. O. § 318 Rn. 11 m. w. Nachw.; Meyer-Goßner,<br />

<strong>StPO</strong>, 49. Aufl., § 318 Rn 33 u. § 352 Rn 3).<br />

Eine Beschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch kommt nur bei ausreichenden Feststellungen<br />

zur Tat in Betracht. Sind die Feststellungen dagegen derart knapp, unvollständig,<br />

unklar oder widerspruchsvoll, dass sie den Unrechts- und Schuldgehalt der Tat nicht<br />

einmal in groben Zügen erkennen lassen und damit keine hinreichende Grundlage für die<br />

Überprüfung der Rechtsfolgenentscheidung bilden, ist die Berufungsbeschränkung unwirksam<br />

(BGH NStZ 1994, 130; BayObLG VRS 93, 108; BayObLG NStZ 2000, 210 [211]<br />

und NStZ-RR 2002, 89 [90]; OLG Frankfurt NStZ-RR 1998, 341 [342]; OLG Düsseldorf


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 26<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

NStZ-RR 2000, 307 = VRS 99, 206 [207] und VRS 100, 187 [188]; OLG Hamm DAR<br />

2002, 227 [228] = VRS 102, 206 = NZV 2002, 383; SenE v. 22.01.1999 - Ss 616/98 - =<br />

NStZ-RR 2000, 49; SenE v. 20.08.1999 - Ss 374/99 - = VRS 98, 140 [142 f.]; SenE v.<br />

28.09.1999 - Ss 390/99 - = VRS 98, 122 [123]; SenE v. 25.01.2002 - Ss 16/02 B - = VRS<br />

102, 212 [214]).<br />

Im Falle der Verurteilung wegen einer (folgenlosen) Trunkenheitsfahrt ist der Tatrichter<br />

regelmäßig verpflichtet, neben der Höhe der Blutalkoholkonzentration und der Schuldform<br />

weitere Umstände festzustellen, die geeignet sind, den Schuldumfang näher zu bestimmen<br />

und einzugrenzen (BayObLG VRS 93, 108 = NZV 1997, 244 = NStZ 1997, 359 =<br />

MDR 1997, 486; OLG Karlsruhe VRS 79, 199 [200]; SenE 04.11.1997 - Ss 547/97 -; SenE<br />

v. 20.08.1999 - Ss 374/99 - = VRS 98, 140 [143]; SenE v. 19.12.2000 - Ss 488/00 - =<br />

StV 2001, 355; SenE v. 09.10.2001 - Ss 385/ 01-). Dazu zählen insbesondere die Umstände<br />

der Alkoholaufnahme (Trinken in Fahrbereitschaft) sowie der Anlass und die Gegebenheiten<br />

der Fahrt (BayObLG VRS 97, 359 [360] = NZV 1999, 483; SenE v.<br />

19.12.2000 - Ss 488/00 - = StV 2001, 355; SenE v. 30.05.2000 - Ss 237/00 -).<br />

Für das Ausmaß der abstrakten Gefahr und den Schuldumfang kommt es weniger auf die<br />

Höhe der Blutalkoholkonzentration (den Grad der Fahruntüchtigkeit) als auf die Fahrweise,<br />

die Art (Verkehrsverhältnisse) und Länge der zurückgelegten Strecke an (BayObLG<br />

NZV 1997, 244; OLG Karlsruhe VRS 81, 19 [20] und VRS 79, 199 [200]; Hentschel,<br />

Trunkenheit - Fahrerlaubnisentziehung - Fahrverbot, 10. Aufl., Rn 474; Tröndle/Fischer,<br />

StGB, 53. Aufl., § 316 Rn 54; SenE v. 28.12.2000 - Ss 529/00 - = VRS 100, 68 [70]).<br />

Wichtige Kriterien sind mithin Dauer und Länge der bereits zurückgelegten und noch beabsichtigten<br />

Fahrstrecke, Verkehrsbedeutung der befahrenen Straßen sowie der private<br />

oder beruflich bedingte Anlass der Fahrt. Bedeutsam kann ferner sein, ob der Angeklagte<br />

aus eigenem Antrieb handelte oder von Dritten verleitet wurde, ob ihm bewusste oder<br />

unbewusste Fahrlässigkeit anzulasten ist und ob er sich in ausgeglichener Gemütsverfassung<br />

oder einer Ausnahmesituation befand (BayObLG VRS 93, 108; SenE v.<br />

04.11.1997 - Ss 547/97 -; SenE v. 19.12.2000 - Ss 488/00 - = StV 2001, 355). Auch polizeilich<br />

festgestellte Auffälligkeiten des Angeklagten am Kontrollort oder bei der Blutentnahme<br />

können von Bedeutung sein (BayObLG DAR 2004, 282).<br />

Feststellungen hierzu oder wenigstens zu einigen nach Lage des Einzelfalles besonders<br />

bedeutsamen Umständen sind im Allgemeinen zur näheren Bestimmung des Schuldgehalts<br />

der Tat als Grundlage für eine sachgerechte Rechtsfolgenbemessung erforderlich.<br />

Wenn außer der Angabe von Tatzeit, Tatort und Blutalkoholwert keine weiteren, für den<br />

Schuldumfang wesentlichen Feststellungen möglich sind, weil der Angeklagte schweigt<br />

und Beweismittel dafür entweder nicht zur Verfügung stehen oder nur mit unverhältnismäßigem<br />

Aufwand zu beschaffen wären, so ist dies im Urteil hinreichend klarzustellen. In<br />

einem solchen Fall ist für die Strafzumessung ein entsprechend geringer Schuldumfang<br />

ohne wesentliche Besonderheiten zugrunde zu legen (SenE v. 04.11.1997 - Ss 547/97 -;<br />

SenE v. 19.12.2000 - Ss 488/00 - = StV 2001, 355).<br />

b)<br />

Nach diesen Grundsätzen war die Berufungsbeschränkung unwirksam, da den amtsgerichtlichen<br />

Feststellungen Umstände, die geeignet sind, den Schuldumfang näher zu bestimmen<br />

und einzugrenzen, nicht entnommen werden können. Wenn aber ergänzende<br />

Feststellungen zur Schuldfrage erforderlich sind, ist die Berufungsbeschränkung unwirksam<br />

mit der Folge, dass das Berufungsgericht insgesamt eigene Feststellungen zur<br />

Schuldfrage treffen muss (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. Senatsentscheidungen<br />

vom 30.08.1996 - Ss 414/96 - und vom 30.07.1999 - Ss 339/99 -). Das ist hier nicht geschehen,<br />

auch nicht mit Blick auf die ergänzenden Ausführungen der Kammer zu der in


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 27<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

der Berufungshauptverhandlung erfolgten Einlassung des Angeklagten zum Anlass der<br />

Trunkenheitsfahrt. Die Kammer hat insoweit offen gelassen, ob sie entsprechende Tatsachen<br />

für erwiesen erachtet, und lediglich die Einlassung des Angeklagten in indirekter<br />

Rede wiedergegeben.<br />

2.<br />

Der neue Tatrichter wird im Falle einer erneuten Verurteilung des Angeklagten zu einer<br />

Freiheitsstrafe unter sechs Monaten zu berücksichtigen haben, dass es für die Rechtfertigung<br />

einer kurzen Freiheitsstrafe nicht genügt, auf das Erfordernis einer Gesamtwürdigung<br />

aller die Tat und den Täter kennzeichnenden Umstände (BGH NStZ 1996, 429;<br />

Tröndle/Fischer, StGB, 53. Aufl., § 47 Rn. 6) lediglich hinzuweisen und darzutun, das Gericht<br />

sei sich bei seiner Entscheidung dieses Erfordernisses bewusst gewesen, wie es das<br />

Berufungsgericht vorliegend getan hat. Das Tatgericht hat vielmehr alle für die Subsumtion<br />

unter die Voraussetzungen des § 47 StGB relevanten Umstände im Einzelnen zu nennen<br />

(vgl. BGH a.a.O.; SenE v. 10.10.2006 - 83 Ss 63/06 -).


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 28<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

Betäubungsmittelgesetz (BtMG)<br />

§§ 29, 30 BtMG<br />

Beihilfe oder Mittäterschaft des Drogenkuriers<br />

SenE v. 07.11.2006 - 82 Ss 125-125/06 -<br />

Das Jugendschöffengericht hat die Angeklagten der gemeinschaftlichen unerlaubten Einfuhr<br />

von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit gemeinschaftlichem<br />

unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge schuldig gesprochen.<br />

Es hat den Angeklagten M. zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren 10 Monaten,<br />

die Angeklagte H. zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und vier Monaten verurteilt.<br />

Das Landgericht hat die Berufungen der Angeklagten verworfen.<br />

Die Revisionen der Angeklagten rügen die Verletzung materiellen Rechts.<br />

Die Rechtsmittel führen zu der aus der Beschlussformel ersichtlichen Änderung des<br />

Schuldspruchs. Die weitergehenden Revisionen sind unbegründet.<br />

Die Feststellungen des Berufungsgerichts tragen den Schuldspruch nicht.<br />

Die Jugendkammer hat dazu folgende Feststellungen getroffen:<br />

„Die beiden Angeklagten, der Ehemann der Angeklagten H. sowie der weitere Mitbewohner<br />

konsumierten regelmäßig gemeinsam Cannabis. Um diesen Konsum decken<br />

zu können, war die Angeklagte H. bereits bei mehreren Gelegenheiten in die Niederlande<br />

gefahren, um dort von einem ihr bekannten Dealer jeweils etwa 100 Gramm<br />

Haschisch zum Eigenkonsum zu erwerben. Nach ihren eigenen Angaben in der<br />

Hauptverhandlung reichte ein solcher Vorrat für etwa sechs Wochen.<br />

Am 13. Oktober 2005 begab sich die Angeklagte H. einmal mehr in die niederländische<br />

Ortschaft Heerlen. Nach ihrer insoweit nicht zu widerlegenden Einlassung reiste<br />

sie allein in ihrem Pkw. Sie traf dort den ihr bekannten Dealer, der sie bat, eine Lieferung<br />

Rauschgift nach Deutschland zu verbringen. Als Entlohnung sollte sie die von<br />

ihr zum Eigenkonsum zu erwerbende Menge Haschisch von etwa 100 Gramm zum<br />

Preis von lediglich 50,-- € erhalten. Bei Übergabe der Haschischlieferung, die sich in Düren<br />

am Busbahnhof vollziehen sollte, sollte sie von der dort wartenden Person weitere<br />

300,-- € als Kurierlohn erhalten. Die Angeklagte H. willigte in dieses Geschäft ein.<br />

Am folgenden Tag, dem 14. Oktober 2005 begab sich die Angeklagte H. in dem auf<br />

sie zugelassenen Pkw zusammen mit dem Mitangeklagten M. auf Grund eines gemeinsamen<br />

Tatentschlusses erneut nach Heerlen. Beide suchten dort den Parkplatz eines<br />

Einkaufszentrums auf. Wie zwischen dem Lieferanten und der Angeklagten H.<br />

am Vortrag verabredet, übernahmen beide dort eine Tasche, in der sich insgesamt<br />

5015,47 Gramm Haschisch befanden. Beide nahmen zumindest billigend in Kauf, dass<br />

sich in der Tasche Haschisch in etwa dieser Größenordnung befand. Außerdem nahmen<br />

beide zum Eigengebrauch eine weitere Platte Haschisch mit einem Nettogewicht<br />

von 122,11 Gramm entgegen. In ihrem Besitz befanden sich weiterhin 22,19 Gramm<br />

Marihuana. Sämtliche Cannabis-Zubereitungen wiesen insgesamt 209,35 Gramm<br />

Tetrahydrocannabinol auf. Vereinbarungsgemäß entrichteten sie für die zum Eigenkonsum<br />

bestimmte Haschischplatte nur 50,-- €.


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 29<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

Vom Parkplatz des Einkaufszentrums - aus traten beide Angeklagte im Pkw der Angeklagten<br />

H. die Rückfahrt nach Deutschland an. Über eine entsprechende Erlaubnis<br />

nach dem Betäubungsmittelgesetz verfügten beide nicht. Der Angeklagte M., der lediglich<br />

im Besitz einer tschechischen Fahrerlaubnis ist, steuerte das Fahrzeug.<br />

Am Grenzübergang Vetschau/Autobahn wurden zwei Beamte der Bundespolizei, die<br />

Zeugen PK Mo. und POMin Ku., auf das Fahrzeug der Angeklagten aufmerksam. An<br />

der ersten Autobahnabfahrt, der Anschlussstelle AachenLaurensberg, geleiteten sie<br />

das Fahrzeug von der Autobahn und führten eine Kontrolle durch. Beide Angeklagten<br />

machten auf die Zeugen Mo. und Ku. einen nervösen Eindruck. Zunächst fiel den<br />

Beamten die tschechische Fahrerlaubnis des Angeklagten M. auf, woraufhin beide zu<br />

ermitteln versuchten, ob diese Fahrerlaubnis auch das Führen von Kraftfahrzeugen in<br />

Deutschland gestattete. Da beide Angeklagte zum Ablauf ihres Aufenthalts in Heerlen<br />

unterschiedliche Angaben machten, begannen die Beamten die Angeklagten zu<br />

durchsuchen. Die Zeugin Ku. fand in der Handtasche der Angeklagten H. die zum<br />

Eigenkonsum bestimmte Haschischplatte. Bei einer Nachschau im Fahrzeug wurde<br />

die Zeugin Ku. auf eine dort liegende Tasche aufmerksam. Auf ihre Nachfrage, wem<br />

diese Tasche gehöre, erklärten beide Angeklagte, ihnen beiden gehöre die Tasche.<br />

In dieser Tasche befand sich die weitaus größere Rauschgiftmenge von etwa 5 Kilogramm<br />

sowie das Marihuana. …“<br />

Danach hält die rechtliche Bewertung des Transports der 5.015,47 Gramm Haschisch<br />

durch die Angeklagten als täterschaftliches Handeltreiben rechtlicher Nachprüfung<br />

nicht stand. Bei der auch im Falle des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln nach<br />

allgemeinen Regeln im Wege einer wertenden Gesamtbetrachtung vorzunehmenden<br />

Abgrenzung zwischen Täterschaft und Beihilfe (BGH NStZ 2006, 454; vgl. SenE v.<br />

16.07.2004 – Ss 313/04), kommt den Angeklagten nach den getroffenen Feststellungen<br />

lediglich eine untergeordnete Bedeutung zu. Sie waren weder in den Erwerb<br />

noch in den späteren Absatz des Haschischs eingebunden, hatten dieses abgepackt<br />

in Empfang genommen und sollten es nach nur kurzer Zeit des Besitzes während der<br />

Fahrt von Heerlen nach Düren einer dort bereits wartenden Person übergeben (vgl.<br />

zu diesen lediglich eine Beihilfe zum Handeltreiben begründenden Kriterien: BGHR<br />

BtMG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Handeltreiben 56, Gründe = StV 2002, 489; BGH NStZ 2006,<br />

454; BGH, Beschluss v. 09.05.2006 – 3 StR 105/06; SenE a.a.O.; vgl. auch Winkler<br />

NStZ 2005, 315; 2006, 328).<br />

Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen der Strafkammer erfüllen in Bezug auf<br />

die Kuriertätigkeit der Angeklagten demnach lediglich den Tatbestand der – tateinheitlich<br />

begangenen – Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln<br />

in nicht geringer Menge.<br />

Der Transport der Betäubungsmittel über die Grenze ins Inland erfüllt den Tatbestand<br />

gemeinschaftlich begangener unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer<br />

Menge, wobei sich im Tenor die Kennzeichnung der Tat als gemeinschaftlich<br />

erübrigt (vgl. Meyer-Goßner, <strong>StPO</strong>, 49. Auflage, § 260 Rn. 25 m.N.).<br />

Der Senat schließt aus, dass hinsichtlich der Kuriertätigkeit der Angeklagten noch<br />

Feststellungen getroffen werden können, die auch insoweit die Annahme täterschaftlichen<br />

Verhaltens der Angeklagten tragen. Der Senat ändert den Schuldspruch daher<br />

dahin, dass die Angeklagten der unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht<br />

geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 30<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

nicht geringer Menge schuldig sind. § 265 <strong>StPO</strong> steht der Schulspruchänderung<br />

durch den Senat nicht entgegen, da auszuschließen ist, dass sich die Angeklagten<br />

gegen den rechtlich so gefassten Schuldspruch anders als geschehen hätten verteidigen<br />

können (vgl. BGH NStZ 2006, 454; BGH, Beschluss v. 09.05.2006 – 3 StR<br />

105/06).<br />

Die Schuldspruchänderung lässt den Strafausspruch unberührt. Der Senat hat das<br />

festgestellte Verhalten lediglich anders rechtlich gewürdigt, wobei der nach § 52 Abs.<br />

2 StGB für die Strafbemessung maßgebliche Strafrahmen des § 30 Abs. 1 Nr. 4<br />

BtMG gleich geblieben ist.<br />

§ 29 BtMG<br />

Begriff des Handeltreibens<br />

SenE v. 21.11.2006 - 83 Ss 91/06 -<br />

Das Landgericht hat die Berufung des Angeklagten verworfen. Es hat zu Fall 1. folgendes<br />

festgestellt: „Am 26.05.2004 gegen 19.25 Uhr verkaufte der Angeklagte dem insoweit<br />

rechtskräftig verurteilten heroinabhängigen A. X. gegen Zahlung von 15 Euro einen Bubble<br />

mit einem Heroingemisch von 0,19 g, das bei der anschließenden Festnahme des X.<br />

von der Polizei sichergestellt werden konnte." Zu Fall 2. verhalten sich die Feststellungen<br />

des Landgerichts dahin, dass der drogenabhängige B. Y. dem Angeklagten erklärte, dass<br />

er von ihm für 10,-- € Heroin haben wolle; der Angeklagte habe diesen zum Zülpicher<br />

Platz weitergeschickt, wo der Austausch Geld gegen Heroin stattfinden sollte. Bei einer<br />

anschließenden Polizeikontrolle sei es dem Angeklagten gelungen, einen oder mehrere<br />

im Mund transportierte Bubbles herunterzuschlucken; ferner habe er zwei Bubbles Heroin<br />

mit insgesamt 0,74 g Heroingemisch mit sich geführt.<br />

Die gegen dieses Urteil gerichtete Revision des Angeklagten rügt die Verletzung materiellen<br />

Rechts.<br />

II.<br />

Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge (vorläufigen) Erfolg. Es führt zur Aufhebung des<br />

Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.<br />

Der Schuldspruch wegen unerlaubten Handelns mit Betäubungsmitteln (in zwei Fällen)<br />

hat keinen Bestand, weil er in den getroffenen Feststellungen keine tragfähige Grundlage<br />

findet.<br />

„Handeltreiben“ erfordert das eigennützige Bemühen, den Umsatz mit Betäubungsmitteln<br />

zu ermöglichen oder zu fördern (vgl. BGHSt 25, 290, 291; 29, 239, 240; 30, 359, 361;<br />

BGH NStZ 00, 207, 208; ständige Rechtsprechung auch des Senats, vgl. etwa SenE vom<br />

7.2.2006 - 83 Ss 4/06 -; vgl. weiterhin mit zusätzlichen Rechtsprechungsnachweisen Weber,<br />

BtMG, 2. Aufl., § 29 Rdn. 142).<br />

Eigennützig ist eine solche Tätigkeit nur, wenn das Handeln des Täters vom Streben<br />

nach Gewinn geleitet wird oder er sich irgendeinen anderen persönlichen Vorteil verspricht,<br />

durch den er materiell oder immateriell besser gestellt wird. Ein Vorteil immaterieller<br />

Art kommt bei der gebotenen zurückhaltenden Auslegung nur in Betracht, wenn er<br />

einen objektiv messbaren Inhalt hat und den Empfänger in irgendeiner Weise tatsächlich


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 31<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

besser stellt (vgl. BGHR BtMG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Handeltreiben 34; BGH StV 202, 254;<br />

SenE vom 26.08.2005 - 83 Ss 44/05 -). Zur Eigennützigkeit des Handelns muss das Urteil<br />

konkrete Feststellungen enthalten (Weber a.a.O. § 29 Rdn. 244). Sie ergibt sich beim<br />

Drogenabsatz nämlich nicht von selbst; denn die Mitwirkung am Drogenabsatz kann ausschließlich<br />

von fremdnützigen Beweggründen getragen sein oder aus unterschiedlichen<br />

Gründen zum Selbstkostenpreis erfolgen (vgl. BGH StV 89, 201; KG StV 98, 591). Selbst<br />

bei wiederholten Drogengeschäften kann der Rückgriff auf einen Erfahrungssatz, dass<br />

solche Geschäfte nicht uneigennützig gemacht zu werden pflegen, konkrete Feststellungen<br />

nicht ersetzen (SenE vom 07.02.2006 - 83 Ss 4/06 -).<br />

Vorliegend lassen die Feststellungen des Landgerichts nichts zu einem eigennützigen<br />

Handeln des Angeklagten erkennen. Es ergibt sich dies zu Fall 1. auch nicht aus dem<br />

Wort „verkaufte“ oder aus dem angegebenen Preis, solange nicht festgestellt ist, dass<br />

dieser Preis eine Gewinnspanne mit beinhaltet. Zu Fall 2. wird auch nur der von dem<br />

Käufer Y. gebotene Preis genannt, ohne dass dem die Menge und der Wert des dafür<br />

abzugebenden Heroins gegenübergestellt werden.<br />

§ 29 BtMG<br />

Bewertungseinheit; Feststellungen zum Wirkstoffgehalt<br />

SenE v. 07.11.2006 - 83 Ss 70/06 -<br />

In Bezug auf die Fälle 1 und 2 bedurfte es der Erörterung einer Bewertungseinheit nicht.<br />

Es ist nicht geboten, festgestellte Veräußerungsakte schon deshalb zu einer Bewertungseinheit<br />

zusammenzufassen, weil die nicht näher konkretisierte Möglichkeit besteht,<br />

dass sie ganz oder teilweise aus einem Vorrat stammen könnten (BGH NJW 1995, 2300;<br />

BGH NStZ 1997, 137 u. 344; BGH NStZ 1999, 192; BGH StV 1999, 431; SenE v.<br />

11.07.2000 – Ss 288/00; Weber, BtMG, 2. Auflage, Vor §§ 29 ff. Rn. 478).<br />

Vorliegend bestehen keine konkreten Anhaltspunkte für die Annahme, dass die Betäubungsmittel<br />

der Fälle 1 und 2 aus demselben Vorrat stammen. Diese ergeben sich auch<br />

nicht daraus, dass der Angeklagte nach der am 06.07.2005 erfolgten Sicherstellung der<br />

95,5 g Marihuana (Fall 1) am nächsten Tag (Fall 2) schon wieder in der Lage war, 0,83 g<br />

und 1, 8 g Marihuana zu verkaufen. Denn diese geringen Mengen kann er sich – wie im<br />

Fall 3 - auch unmittelbar vor dem Verkauf beschafft haben.<br />

Hinsichtlich der Fälle 2 und 3 tragen die Feststellungen (noch) die Annahme eines Handeltreibens.<br />

Es wird zwar nicht festgestellt, dass der Angeklagte in Gewinnerzielungsabsicht gehandelt<br />

hat (vgl. zu diesem Erfordernis: BGHR BtMG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Handeltreiben 34;<br />

BGH StV 1989, 201; 2002, 254; SenE vom 07.02.2006 – 83 Ss 4/06; Weber, BtMG, 2.<br />

Auflage, § 29 Rn. 166). Eine solche Absicht kann aber dem Zusammenhang der Urteilsgründe<br />

entnommen werden. Wenn der Angeklagte 95,5 g<br />

Marihuana „gewinnbringend in Köln verkaufen wollte“ (Fall 1), spricht nichts dafür, dass er<br />

bei den späteren Verkäufen diese Absicht aufgegeben hatte, zumal er nach dem Verlust<br />

dieser Menge – als Bezieher von Sozialleistungen und Drogenkonsument – Geld brauchte.<br />

Ob er bei diesen Geschäften tatsächlich einen Gewinn erzielen konnte, ist für die Tatbestandsverwirklichung<br />

und – im Hinblick auf die geringen Verkaufspreise von 5 Euro bzw.<br />

10 Euro – auch für den Schuldumfang unerheblich.


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 32<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

Unschädlich ist schließlich auch, dass das Landgericht in den Fällen 2 und 3 keine Feststellungen<br />

zum Wirkstoffgehalt der Betäubungsmittel getroffen hat. Davon kann nämlich<br />

abgesehen werden, wenn auszuschließen ist, dass der Wirkstoffgehalt das Strafmaß beeinflusst<br />

hätte (so insgesamt Senatsentscheidung StV 1999, 440; Weber, BtMG, 2. Aufl.<br />

vor §§ 29 ff. Rn 743).<br />

Das ist bei geringen Mengen einer weichen Droge wie Marihuana der Fall.


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 33<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG)<br />

§ 67 OWiG<br />

Rücknahme des Einspruchs<br />

SenE v. 15.12.2006 - 83 Ss-OWi 93/06 -<br />

Die nach § 79 Abs. 1 Nr. 1 OWiG statthafte und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde<br />

hat in der Sache Erfolg.<br />

Die Generalstaatsanwaltschaft hat hierzu in ihrer Vorlageverfügung ausgeführt:<br />

„Der Betroffene macht geltend, das angefochtene Urteil habe wegen einer zuvor erklärten<br />

Rücknahme seines Einspruchs nicht ergehen dürfen. Damit wird das Vorliegen eines Verfahrenshindernisses<br />

in Form der Rechtskraft gerügt.<br />

Das Tatgericht hat den Einspruch des Betroffenen durch Urteil gemäß § 74 Abs. 2 OWiG<br />

zu Unrecht verworfen, weil ein Verfahrenshindernis bestand. Die Nichtbeachtung eines<br />

Verfahrenshindernisses begründet einen Verfahrensfehler, der regelmäßig zur Aufhebung<br />

des Urteils von Amts wegen zwingt. Dies gilt erst recht, wenn – wie vorliegend – eine dahingehende<br />

Verfahrensrüge erhoben worden ist.<br />

Das Verfahrenshindernis hat sich daraus ergeben, dass der Betroffene seinen Einspruch<br />

gegen den Bußgeldbescheid durch den am 29.09.2006 bei Gericht eingegangenen<br />

Schriftsatz seines Verteidigers rechtswirksam gegenüber dem insoweit zuständigen Gericht<br />

zurückgenommen hat (vgl. Göhler, OWiG, 14. Auflage, § 67 Rdnr. 38; BayObLG,<br />

NStZ-RR 2001, 306; OLG Hamm, DAR 2001, 229; SenE vom 07.05.2002 - Ss 184/02 B -;<br />

SenE vom 15.11.2002 - Ss 486/02 B -; SenE vom 31.03.2004 - Ss 128/04 B -). Der<br />

Wirksamkeit der Rücknahme steht nicht entgegen, dass der zuständige Abteilungsrichter<br />

bei Verkündung des Urteils keine Kenntnis von der zuvor bei Gericht eingegangenen<br />

Rücknahmeerklärung hatte. Dass das Schreiben dem zuständigen Richter nicht vorgelegt<br />

worden ist, bleibt unbeachtlich. Der Umstand, dass die Behörde einen Fernkopieanschluss<br />

bereitstellt, beinhaltet die Erklärung, dass ein Fax mit seiner Übermittlung als von<br />

der Behörde entgegengenommen angesehen wird (vgl. SenE vom 01.02.2000 -<br />

Ss 621/99 B -; OLG Düsseldorf, VRS 79, 120 zum Einwurf eines Schriftstückes in den<br />

Briefkasten des Gerichts), ohne dass es auf die tatsächliche Kenntnisnahme durch den<br />

Richter ankommt. Mit der rechtzeitigen Rücknahme des Einspruchs ist der Bußgeldbescheid<br />

am 29.09.2006 rechtskräftig geworden. Die Rechtskraft des Bußgeldbescheides<br />

bildet ein Verfahrenshindernis, durch das sich das gerichtliche Verfahren von selbst erledigt<br />

hat (vgl. BGHSt 27, 271, 273; OLG Düsseldorf, VRS 79, 120; OLG Koblenz,<br />

NZV 1993, 282; OLG Hamm, DAR 2001, 229; OLG Köln, NZV 2004, 52). Für den Erlass<br />

des angefochtenen Urteils war danach kein Raum mehr. Dieses ist daher aufzuheben<br />

und zur Klarstellung die Rechtskraft des Bußgeldbescheides ab Einspruchsrücknahme<br />

festzustellen (vgl. OLG Hamm, VRS 73, 112 f. für den Fall der Rücknahme eines Einspruchs<br />

gegen einen Strafbefehl; SenE vom 01.02.2000 - Ss 621/99 B - 279 B -).<br />

Gemäß § 467 Abs. 1 <strong>StPO</strong> analog sind die seit der Rechtskraft des Bußgeldbescheides<br />

durch das weitere Verfahren entstandenen Kosten und notwendigen Auslagen des Betroffenen<br />

der Staatskasse aufzuerlegen, weil der Betroffene so zu behandeln ist, als wäre<br />

er freigesprochen oder das Verfahren gegen ihn eingestellt worden. Da das Rechtsmittel<br />

des Betroffenen in vollem Umfang Erfolg hat, hat die Staatskasse die Kosten und not-


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 34<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

wendigen Auslagen des Betroffenen im Rechtsbeschwerdeverfahren zu tragen (vgl. SenE<br />

vom 01.02.2000 - Ss 621/99 B -; SenE vom 15.11.2002 - Ss 486/02 B -; BayObLG, NStZ-<br />

RR 2001, 306).“<br />

§§ 71, 79 OWiG<br />

Mehrere Verkehrsverstöße im Verlauf einer Fahrt<br />

SenE v. 22.09.2006 - 82 Ss-OWi 65/06 -<br />

Aus dem Klammerzusatz zur Urteilsformel ergibt sich mit hinreichender Deutlichkeit, dass<br />

das Amtsgericht den Betroffenen der Sache nach nicht "zu einer Geldbuße von 255,- Euro",<br />

sondern zu 6 Geldbußen verurteilt hat, die lediglich durch (fehlerhafte) Addition und<br />

nicht durch eine unzulässige Gesamtstrafenbildung zusammengefasst werden sollten.<br />

Die Urteilsgründe geben keinen Hinweis darauf, dass das Amtsgericht die eindeutige Bestimmung<br />

des § 20 OWiG verkannt hat. Maßgeblich sind die Einzelgeldbußen auch dann,<br />

wenn der Tatrichter wegen der selbständigen Taten im verfahrensrechtlichen Sinne Einzelgeldbußen<br />

verhängt, diese jedoch zusätzlich zu einer - unzulässigen - Gesamtgeldbuße<br />

addiert hat (OLG Karlsruhe VRS 108, 63 = NZV 2005, 329; SenE v. 01.04.1994 - Ss<br />

15/94 B - = NZV 1994, 292).<br />

Ob verschiedene Handlungen einer prozessualen Tat zuzuordnen sind, hat das Rechtsbeschwerdegericht<br />

in eigener Zuständigkeit ohne Bindung an die Beurteilung des Tatgerichts<br />

zu entscheiden (BayObLG VRS 86, 304 [305]; VRS 88, 58 [59]; OLG Düsseldorf<br />

VRS 100, 311 = DAR 2001, 319 = VM 2001, 51 [52] = NZV 2001, 372; SenE v.<br />

01.04.1994 - Ss 15/94 B - = NZV 1994, 292; SenE v. 10.03.2000 - Ss 72/00 Z -; SenE v.<br />

24.08.2001 - Ss 300/01 Z -; SenE v. 15.08.2002 - Ss 314/02 Z -). Maßgeblich ist insoweit,<br />

ob die einzelnen Handlungen nicht nur äußerlich aufgrund zeitlichen und räumlichen Zusammenhangs<br />

ineinander übergehen, sondern auch innerlich derart unmittelbar miteinander<br />

verknüpft sind, dass der Unrechts- und Schuldgehalt der einen Handlung nicht ohne<br />

die Umstände, die zu der anderen Handlung geführt haben, richtig gewürdigt werden<br />

kann und daher die getrennte Würdigung und Ahndung als unnatürliche Aufspaltung eines<br />

einheitlichen Lebensvorgangs empfunden würde (BGH NJW 2000, 227; BGHSt 35,<br />

80 = NStZ 1989, 37 = NJW 1988, 837 = JZ 1988, 260 m. Anm. Roxin = StV 1988, 52;<br />

SenE v. 24.08.2001 – Ss 300/01 Z -; SenE v. 10.03.2000 – Ss 72/00-; SenE v.<br />

16.08.1988 - Ss 469/88 = ZfS 1989, 35 = DAR 1988, 428 = NStZ 1988, 568; SenE v.<br />

09.06.1989 - Ss 256/89 (B) = NZV 1989, 401). So rechtfertigen z.B. mehrere fahrlässig<br />

begangene Verkehrsverstöße, die bei ein und derselben Fahrt in einer veränderten Verkehrssituation<br />

begangen wurden und unschwer voneinander abzugrenzen sind, die Annahme<br />

mehrerer Taten (BayObLG DAR 2002, 78 = VRS 101, 446; OLG Düsseldorf NZV<br />

2001, 273 f. = VRS 100, 311 ff.; SenE v. 15.08.2002 - Ss 314/02 Z -). Mit dem Ende eines<br />

bestimmten Verkehrsvorgangs, der durch einen anderen abgelöst wird, ist in der Regel<br />

das die Tat bildende „geschichtliche Ereignis“ abgeschlossen (OLG Düsseldorf VRS 75,<br />

360; OLG München DAR 2005, 647 [648] = NZV 2005, 544 = VRS 109, 188 [190]; Senat<br />

VM 1990, 5; SenE v. 17.08.2004 - Ss 259/04 - = NZV 2004, 536 = DAR 2004, 720). Dabei<br />

stellt ein nicht verkehrsbedingtes Anhalten eine hinreichende, aber nicht zugleich notwendige<br />

Bedingung dar, um von mehreren Taten auszugehen (BayObLG DAR 2002, 78<br />

= VRS 101, 446 [447] = zfs 2002, 99 [100] = NStZ 2002, 155 Rz. 6).<br />

Bei mehreren Geschwindigkeitsüberschreitungen, auch wenn sie im Verlauf einer Fahrt<br />

auftreten, handelt es sich regelmäßig um materiell und prozessual selbständige Taten


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 35<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

(SenE v. 13.03.2001 - Ss 56/01 Z -; SenE v. 29.07.1997 - Ss 187/97 (Z) -; SenE v.<br />

12.01.1999 - Ss 589/98 (B) -; SenE v. 24.08.2001 - Ss 300/01 Z -; OLG Hamm NStZ-RR<br />

2002, 340). Der vorliegende Fall gibt keinen Anlass, von dieser Regel abzuweichen. Die<br />

mitgeteilten Zeitabstände zwischen den Überschreitungen der zulässigen Höchstgeschwindigkeit<br />

trennen diese so voneinander, dass sie Zäsuren darstellen, die es nicht<br />

erlauben, sie als ein einheitliches Geschehen gelten zu lassen.<br />

§ 74 OWiG<br />

Urteilsgründe; genügende Entschuldigung<br />

SenE v. 17.10.2006 - 81 Ss-OWi 76/06 -<br />

Die Begründung des Verwerfungsurteils hält indessen rechtlicher Überprüfung nicht<br />

stand. Das Urteil weist einen Darlegungsmangel auf, weil es den Inhalt des Attestes nicht<br />

mitteilt.<br />

Das Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG muss grundsätzlich sämtliche Tatsachen,<br />

die als Entschuldigungsgründe vorgetragen worden sind, sowie die Erwägungen des Gerichts<br />

enthalten, die es veranlasst haben, das Ausbleiben des Betroffenen dennoch als<br />

nicht genügend entschuldigt anzusehen. Das Rechtsbeschwerdegericht ist an die<br />

tatsächlichen Feststellungen des Verwerfungsurteils zur Frage der Entschuldigung<br />

gebunden und kann diese Feststellungen nicht im Wege des Freibeweises nachprüfen<br />

oder ergänzen (Senat VRS 75,113 m.w.N.). Daher muss der Tatrichter eventuelle<br />

Entschuldigungsgründe, die ihm bekannt oder erkennbar sind, im Urteil mitteilen und<br />

erörtern. Das Verwerfungsurteil ist so zu begründen, dass das Rechtsbeschwerdegericht<br />

in die<br />

Lage versetzt wird, die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung zu überprüfen (ständige Senatsrechtsprechung,<br />

vgl. nur SenE VRS 102, 106; 102, 382; vgl. auch Senge in KK-<br />

OWiG, 3. Auflage, § 74 Rn. 40 mit weiteren Nachweisen).<br />

Diesen Anforderungen entspricht das angefochtene Urteil nicht.<br />

Die fehlende Mitteilung der Entschuldigungsgründe und einer näheren Auseinandersetzung<br />

mit ihnen ist nur dann ausnahmsweise unschädlich, wenn die vorgebrachten<br />

Gründe von vornherein offensichtlich ungeeignet sind, das Fernbleiben zu entschuldigen<br />

(SenE a.a.O.; Senge a.a.O.). So liegt der Fall hier aber nicht. Die Tatsache<br />

eines Gehgipses, der nach den Daten eines ärztlichen Attestes entweder gerade erst<br />

entfernt worden ist oder erst unmittelbar vor seiner Entfernung steht, ist nicht von vornherein<br />

ungeeignet, die Annahme zu rechtfertigen, dem Betroffene sei ein Erscheinen zur<br />

Hauptverhandlung nicht zumutbar. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Betroffene – wie<br />

hier aus Österreich - eine weite Anreise hat und er auch nach der Entfernung des Gehgipses<br />

noch nicht vollständig wiederhergestellt ist, wie hier nach der Einschätzung des<br />

behandelnden Arztes, der den Betroffenen noch bis Ende Mai 2006 für arbeitsunfähig<br />

hielt.<br />

Für den Fall, dass der Betroffene auch zu einem Hauptverhandlungstermin Entschuldigungsgründe<br />

geltend macht, wird auf folgendes hingewiesen:<br />

Es kommt nicht darauf an, ob der Betroffene sich genügend entschuldigt hat, sondern ob<br />

er entschuldigt ist (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. nur SenE VRS 83, 444). Ein Betroffener<br />

ist nicht zur Glaubhaftmachung oder gar zum Nachweis der vorgebrachten Ent-


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 36<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

schuldigungsgründe verpflichtet (SenE VRS 71, 371; 75, 113; 83, 444). Liegen Anhaltspunkte<br />

für eine genügende Entschuldigung vor, so darf der Einspruch nur verworfen werden,<br />

wenn das Amtsgericht sich die Überzeugung verschafft hat, dass genügende Entschuldigungsgründe<br />

nicht gegeben sind (SenE VRS 83, 444). Zweifeln an der Richtigkeit<br />

eines vorgelegten Attestes ist ggf. im Freibeweisverfahren nachzugehen.<br />

§ 78 OWiG<br />

Verwertung einer Videoaufzeichnung<br />

SenE v. 24.08.2006 - 81 Ss-OWi 89/06 -<br />

I.<br />

Durch Urteil des Amtsgerichts Brühl vom 24. August 2006 – 52 OWi 71/06 – ist gegen<br />

den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit<br />

eine Geldbuße von 500,00 € und ein Fahrverbot von einem Monat verhängt worden.<br />

Nach den Feststellungen fuhr der Betroffene am 29. Juli 2005 um 11.34 Uhr mit seinem<br />

Pkw Audi die Bundesautobahn 555 von Köln in Fahrtrichtung Bonn und überschritt in Höhe<br />

des Kilometers 8,5 die gemäß Zeichen 274 auf 100 km/h beschränkte zulässige<br />

Höchstgeschwindigkeit über eine Strecke von 2,4 km um 94 km/h.<br />

Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der die Verletzung des<br />

Verfahrensrechts und des sachlichen Rechts gerügt wird.<br />

II.<br />

Die zulässige Rechtsbeschwerde hat (vorläufigen) Erfolg.<br />

1.<br />

Sie dringt mit der Verfahrensrüge zu § 261 <strong>StPO</strong> (i. V. m. § 46 OWiG) durch. Das Amtsgericht<br />

hat die Verurteilung auf die Videosequenz gestützt, obwohl diese nicht zum Gegenstand<br />

der Hauptverhandlung gemacht worden ist.<br />

Nach den Urteilsgründen ist die dem Betroffenen vorgeworfene Geschwindigkeitsüberschreitung<br />

„durch die Videosequenz, das vorliegende Messprotokoll und den Eichschein<br />

sowie die Einlassung des Betroffenen, soweit ihr gefolgt werden kann“ bewiesen. Ein Geständnis<br />

zur Höhe der gefahrenen Geschwindigkeit (das auch bei fahrlässiger Geschwindigkeitsüberschreitung<br />

durchaus denkbar wäre, vgl. BGHSt 39, 291; SenE vom<br />

10.03.2005 – 8 Ss-OWi 47/05 -) hat der Betroffene nicht abgelegt. Auch die an dem<br />

Nachfahren beteiligten Polizeibeamten sind nicht etwa als Zeugen vernommen worden.<br />

Messprotokoll und Eichschein haben gewöhnlich einen anderweitigen Inhalt, nämlich zu<br />

den Messungsvoraussetzungen. Die Feststellungen zur Geschwindigkeitsüberschreitung<br />

stützen sich somit allein auf die Videosequenz. Das ist rechtsfehlerhaft.<br />

a)<br />

Die zu § 261 <strong>StPO</strong> erhobene Verfahrensrüge ist zulässig ausgeführt und genügt -<br />

entgegen der Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft – den Voraussetzungen des §<br />

344 Abs. 2 Satz 2 <strong>StPO</strong> i. V. m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG.


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 37<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

Die Rechtsbeschwerdebegründung trägt dezidiert vor, dass von einem Vorspielen der<br />

Videosequenz in der Hauptverhandlung abgesehen worden ist, weil hierauf allseits ausdrücklich<br />

verzichtet wurde, und dass deswegen das Amtsgericht seine Überzeugung nicht<br />

aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung geschöpft habe. Die Bezugnahme auf das<br />

Hauptverhandlungsprotokoll (mit dem Zusatz „Beweis“) ist nur noch zusätzlich erfolgt.<br />

Soweit die Generalstaatsanwaltschaft Vorbringen dazu vermisst, dass auszuschließen<br />

sei, dass der Inhalt der Videosequenz anders in die Hauptverhandlung eingeführt worden<br />

sei, greift dies vorliegend nicht durch. Eine anderweitige Einführung der Videosequenz in<br />

die Hauptverhandlung mit dem Ergebnis, dass hierdurch die Geschwindigkeitsüberschreitung<br />

um 94 km/h bewiesen ist, ist nicht vorstellbar. Eine lediglich einfache Augenscheinseinnahme<br />

würde nur die bloße Existenz der Kassette, nicht aber deren Inhalt wiedergeben,<br />

der nicht nur die Fahrereigenschaft, sondern auch die Einblendung der gefahrenen<br />

Geschwindigkeit erwarten lässt. Auch über<br />

§ 78 Abs. 1 <strong>StPO</strong>, nämlich über die Bekanntgabe des wesentlichen Inhalts durch das<br />

Gericht, kann die Videosequenz nicht zulässig in die Hauptverhandlung eingeführt worden<br />

sein, weil sich diese Vorschrift nur auf Schriftstücke bezieht (worauf auch schon die<br />

Rechtsbeschwerdebegründung hingewiesen hat).<br />

b)<br />

Die Verfahrensrüge ist auch begründet.<br />

Der Tatrichter darf bei seiner Überzeugungsbildung nur das verwerten, was an Erkenntnissen<br />

durch die Verhandlung und in der Verhandlung gewonnen hat (BGHSt 19, 193,<br />

195; Schoreit in Karlsruher Kommentar zum OWiG, 2. Aufl., § 261 Rdn. 7).<br />

So können auch Videoaufnahmen im Wege des Augenscheinsbeweises vom Tatrichter<br />

verwertet werden (Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 28. Aufl., § 24 StVG Rdn. 76).<br />

Dieser Augenscheinsbeweis ist ausweislich der durch das Hauptverhandlungsprotokoll<br />

bestätigten Verfahrensrüge hier nicht erfolgt. Da auch der Betroffene nicht etwa die Geschwindigkeitsüberschreitung<br />

und ihre Höhe gestanden hat (er hat sich nur dahingehend<br />

eingelassen, dass er die Beschilderung zur Geschwindigkeitsbeschränkung anders verstanden<br />

habe), kommt es für die Entscheidungsfindung in dem angefochtenen Urteil ausschließlich<br />

auf die Videosequenz an, die nicht zulässig in die Hauptverhandlung eingeführt<br />

worden ist.<br />

Entgegen der Generalstaatsanwaltschaft beruht das angefochtene Urteil auch auf dem<br />

Verstoß gegen § 261 <strong>StPO</strong>. Es kann nicht dabei sein Bewenden haben, dass der Betroffene<br />

ausweislich der Urteilsgründe gestanden hat, Fahrer des auf dieser Videosequenz<br />

aufgezeichneten Pkw gewesen zu sein. Vielmehr gibt die Videosequenz bei der Überwachung<br />

durch Nachfahren mittels einer Police-Pilot-Anlage Typ Provida 2000 (ein standardisiertes<br />

Verfahren) neben anderen Daten gerade auch die gefahrene und gemessene<br />

Geschwindigkeit wieder. Hierfür ist, solange nicht die beteiligten Polizeibeamten als Zeugen<br />

vernommen werden oder ein Geständnis abgelegt wird, die Videosequenz das einzige<br />

Beweismittel.


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 38<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

Straßenverkehrsgesetz (StVG)<br />

§ 21 StVG<br />

Feststellungen zum Schuldumfang<br />

SenE v. 24.11.2006 - 83 Ss 80/06 -<br />

Z Die Überprüfung des Urteils aufgrund der erhobenen Sachrüge lässt indes Rechtsfehler<br />

zu Lasten des Angeklagten erkennen, die zur Aufhebung des Urteils führen.<br />

1.)<br />

So lassen bereits die Feststellungen des Tatgerichts zum Schuldspruch wegen vorsätzlicher<br />

Trunkenheit im Straßenverkehr in Tateinheit mit Fahren ohne Fahrerlaubnis den<br />

Schuldumfang der Tat nicht hinreichend erkennen. Vielmehr ist der Tatrichter gehalten,<br />

über die Individualisierung (Rechtskraftfrage) und die für den äußeren und inneren Tatbestand<br />

notwendigen Feststellungen hinaus Feststellungen zu Umständen zu treffen, die<br />

geeignet sind, den Schuldumfang näher zu bestimmen und einzugrenzen. Wichtige Kriterien<br />

sind dabei Dauer und Länge der bereits zurückgelegten und noch beabsichtigten<br />

Fahrstrecke, Verkehrsbedeutung der befahrenen Straßen sowie der Anlass der Fahrt<br />

(SenE v. 21.10.2003 – Ss 434/03 und v. 02.12.2003 – Ss 497/03; v. 23.09.2005 - 81 Ss<br />

52/05; insoweit gelten die von der Rechtsprechung zu § 316 StGB, § 318 <strong>StPO</strong> entwickelten<br />

Grundsätze für die Verurteilung wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis entsprechend,<br />

vgl. zu diesen: OLG Karlsruhe VRS 79, 199; BayObLG VRS 93, 108; Senatsentscheidung<br />

VRS 98, 140 und vom 04.11.1997 – Ss 547/97). Das Fehlen solcher Feststellungen zum<br />

Schuldumfang ist nur dann nicht rechtsfehlerhaft, wenn sie nicht möglich sind, weil der<br />

Angeklagte zu den Tatumständen schweigt und Beweismittel dafür entweder nicht zur<br />

Verfügung stehen oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand zu beschaffen wären (Senatsentscheidung<br />

vom 04.11.1997 - Ss 547/97 zu § 316 StGB, § 318 <strong>StPO</strong>).<br />

Die Feststellungen des Landgerichts zum Schuldspruch wegen vorsätzlicher Trunkenheit<br />

im Straßenverkehr sowie wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis entsprechen<br />

diesen Anforderungen nicht. Es ist auch nicht ersichtlich, dass Feststellungen zum<br />

Schuldumfang dieser Tat nicht hätten getroffen werden können, zumal der Angeklagte<br />

geständig ist.


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 39<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

Straßenverkehrsordnung (StVO)<br />

§§ 3, 41 Abs. 2 Nr. 7 StVO<br />

Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren mit Tachovergleich<br />

SenE v. 17.11.2006 - 82 Ss-OWi 95/06 -<br />

Die amtsgerichtlichen Feststellungen tragen nicht die Verurteilung des Betroffenen wegen<br />

einer fahrlässigen Geschwindigkeitsüberschreitung. Sie berücksichtigen die von der<br />

obergerichtlichen Rechtsprechung zur Feststellung einer Geschwindigkeitsüberschreitung<br />

durch Nachfahren zur Nachtzeit außerhalb geschlossener Ortschaften entwickelten<br />

Grundsätze nicht in zureichendem Maße.<br />

Das Nachverfahren mit Tachometervergleich kann nicht mit standardisierten Messverfahren<br />

verglichen werden, bei denen Fehlerquellen nur zu erörtern sind, wenn der Einzelfall<br />

dazu Veranlassung gibt. Vielmehr bedarf es näherer Feststellungen im tatrichterlichen<br />

Urteil, um die Zuverlässigkeit der Beobachtungen des Abstandsverhaltens beurteilen zu<br />

können. Insbesondere muss dem Urteil zu entnehmen sein, wie lang die Messstrecke und<br />

wie groß der Abstand war, sowie ferner, ob der verwendete Tachometer binnen Jahresfrist<br />

justiert war und welcher Sicherheitsabschlag vorgenommen wurde (vgl. SenE NZV<br />

1994, 77 = VRS 86, 199; NZV 1994, 290 = DAR 1994, 248). Bei einer durch Nachfahren<br />

zur Nachtzeit gemessenen Geschwindigkeitsüberschreitung sind über die allgemeinen<br />

Grundsätze zur Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren hinaus grundsätzlich zusätzliche<br />

Feststellungen dazu zu treffen, wie die Beleuchtungsverhältnisse waren und ob<br />

bei den zur Nachtzeit regelmäßig schlechteren Sichtverhältnissen der Abstand zu dem<br />

vorausfahrenden Fahrzeug durch Scheinwerferlicht des nachfahrenden Fahrzeugs oder<br />

durch andere Lichtquellen aufgehellt und damit ausreichend sicher erfasst und geschätzt<br />

werden konnte. Auch sind zusätzliche Ausführungen dazu erforderlich, ob für die Schätzung<br />

eines gleich bleibenden Abstands zum vorausfahrenden Fahrzeugs ausreichende<br />

und trotz der Dunkelheit zu erkennende Orientierungspunkte vorhanden waren. Denn die<br />

Zuverlässigkeit der Geschwindigkeitsmessung durch Tachometervergleich hängt entscheidend<br />

von der Zuverlässigkeit ab, mit der das Abstandsverhalten über längere Zeit<br />

mit bloßem Auge, ohne technische Hilfsmittel beobachtet worden ist (SenE a.a.O.). Entsprechende<br />

Angaben sind allerdings entbehrlich, wenn die Messungen auf Autobahnen<br />

oder autobahnähnlich ausgebauten Bundesstraßen vorgenommen werden, die regelmäßig<br />

mit reflektierenden Leitpfosten im Abstand von ca. 50m ausgestattet sind, die eine<br />

genaue Abschätzung der Länge der Gesamtstrecke und des Abstandes ermöglichen. In<br />

diesen Fällen kann auch ohne besondere Darlegung im Urteil davon ausgegangen werden,<br />

dass die Einhaltung eines gleich bleibenden Abstandes anhand der Leitpfostenabstände<br />

überwacht worden ist (vgl. SenE v. 13.08.1999 – Ss 363/99 B; vgl. zu allem –<br />

auch zur erforderlichen Messstreckenlänge: Janiszewski/Jagow/Burmann, Straßenverkehrsrecht,<br />

19. Auflage, StVO § 3 Rn. 89 ff. mit weiteren Nachweisen).<br />

Hier lassen sich dem angefochtenen Urteil keine Angaben dazu entnehmen, wie groß der<br />

Abstand zwischen den Fahrzeugen war, als der Zeuge nicht mehr parallel zu dem Pkw<br />

des Betroffenen, sondern dahinter fuhr, und wie sich die Messstrecke insoweit aufteilt<br />

(Strecke des Parallelfahrens - Strecke des Hinterherfahrens). Auch fehlen Angaben zu<br />

den Beleuchtungsverhältnissen.<br />

Für die neue Hauptverhandlung wird auf Folgendes hingewiesen:<br />

Sollten schon die Angaben des Zeugen zur Messtrecke ungenau bleiben, wird die Zuver-


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 40<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

lässigkeit seiner Angaben insgesamt besonders kritischer Erörterung bedürfen.<br />

Je kürzer die Messstrecke ist, um so genauere Angaben sind im Urteil über den Abstand<br />

erforderlich.<br />

§ 37 StVO<br />

Feststellung eines qualifizierten Rotlichtverstoßes; Schätzung<br />

SenE v. 06.11.2006 - 83 Ss-OWi 81/06 -<br />

Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen einer fahrlässigen Ordnungswidrigkeit gemäß<br />

§§ 37 Abs. 2, 49 StVO (Rotlichtverstoß) zu einer Geldbuße von 125 € verurteilt und<br />

ihm - verbunden mit der Anordnung nach § 25 Abs. 2 a StVG - für die Dauer von einem<br />

Monat verboten, Kraftfahrzeuge aller Art zu führen. Nach seinen Feststellungen befuhr<br />

der Betroffene am 04.02.2005 gegen 23.30 Uhr mit einem Pkw in Köln die Siegburger<br />

Straße stadteinwärts und bog nach rechts in die Straße Auf dem Sandberg ab; dabei beachtete<br />

er nicht das Rotlicht der Lichtzeichenanlage, wobei die Rotphase bereits länger<br />

als eine Sekunde dauerte, "als er die Ampel passierte". Die Feststellungen zur Missachtung<br />

des Rotlichts und zur Dauer der Rotlichtphase beruhen auf den Aussagen der Zeugen<br />

PK A. und POM'in B., die in den Urteilsgründen wie folgt wiedergegeben werden:<br />

"Der Zeuge A. hat ausgesagt, dass im Rahmen einer gezielten Überwachung das Fahrzeug<br />

(sc. der Beamten) auf dem Bürgersteig Auf dem Sandberg an der Ecke Siegburger<br />

Straße, und zwar an der Ecke der fraglichen Ampel, gestanden habe und zwar dicht an<br />

einer Toreinfahrt bzw. einem die Toreinfahrt begrenzenden Mauerpfeiler. Das Fahrzeug<br />

habe mit der Schnauze ein Stück über dem Pfeiler hinausgeragt, so dass man von der<br />

Sitzposition aus sowohl die Ampel auf der gegenüberliegenden Straßenseite, nämlich<br />

deren Lichtschein, als auch die Haltelinie bzw. die Fahrbahn auf der Siegburger Straße<br />

sowohl geradeaus als Rechtsabbieger habe beobachten können. Nachdem die Ampel<br />

bereits 1 Sekunde mindestens auf Rotlicht umgesprungen sei, sei das Fahrzeug des Betroffenen<br />

noch auf der Rechtsabbiegerspur fahrend über die Haltelinie gefahren und nach<br />

rechts abgebogen.<br />

Diese Angaben sind von der Zeugin B., die Beifahrer im Polizeifahrzeug war, bestätigt<br />

worden …<br />

Nach den Bekundungen der Zeugen A. und B., war bereits 1 Sekunde vergangen, als das<br />

Fahrzeug des Betroffenen erst auftauchte. Aus diesem Grund gehen die Zeitberechnungen<br />

im Beweisantrag ins Leere.<br />

…<br />

Die Feststellung eines Rotlichtverstoßes nach mehr als 1 Sekunde Beginn Rotlicht hält<br />

das Gericht auch für eine Feststellung, die die Polizeibeamten aus ihrer Erfahrung heraus<br />

mit den üblichen Mitteln treffen kann."<br />

Mit der Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird die Verletzung materiellen Rechts gerügt.<br />

Die gemäß § 79 Abs. 1 Nr. 2 OWiG statthafte Rechtsbeschwerde begegnet hinsichtlich<br />

ihrer Zulässigkeitsvoraussetzungen keinen Bedenken. Sie hat auch in der Sache (vorläufigen)<br />

Erfolg, indem sie gemäß §§ 353 <strong>StPO</strong>, 79 Abs. 3 S. 1 OWiG zur Aufhebung des


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 41<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht (§ 79<br />

Abs. 6 OWiG) führt.<br />

Die Feststellung des Amtsgericht, dass die Rotphase der Wechsellichtzeichenanlage<br />

beim Passieren der Haltelinie bzw. der Ampel bereits länger als eine Sekunde andauerte,<br />

findet in den Urteilsgründen keine tragfähige Grundlage. Die Ausführungen des Amtsgerichts<br />

zur Würdigung des Beweisergebnisses sind insoweit unvollständig und lassen besorgen,<br />

dass seine Überzeugung nicht frei von rechtsfehlerhaften Erwägungen gebildet<br />

worden ist.<br />

Damit die Feststellungen eines von einem Zeugen beobachteten qualifizierten Rotlichtverstoßes<br />

eine tragfähige Grundlage für die Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht<br />

bilden, ist es erforderlich, dass der Tatrichter in den Urteilsgründen die von dem<br />

Zeugen angewandte Messmethode darstellt und sie hinsichtlich ihrer Beweiskraft bewertet<br />

(BayObLG DAR 2002, 520 = NZV 2002, 518 = NStZ-RR 2002, 345 [346] = VRS 103,<br />

449 [450]). Soll durch Zeugenbeweis - ohne technische Hilfsmittel - ein qualifizierter Rotlichtverstoß<br />

bewiesen werden, so ist eine kritische Würdigung des Beweiswertes der<br />

Aussagen geboten. Um die Zuverlässigkeit der Zeitermittlung des Zeugen überprüfen zu<br />

können, sind in den Urteilsgründen Angaben dazu erforderlich, auf welchen Grundlagen<br />

sie beruht (OLG Düsseldorf VRS 96, 386). Damit korrespondieren Grundsätze zur Einschätzung<br />

der Beweiskraft entsprechender Bekundungen, da die Schätzung eines Zeitablaufs<br />

im allgemeinen mit einer hohen Unsicherheit belastet ist (OLG Düsseldorf NZV<br />

1995, 197; OLG Jena VRS 107, 200 [202]; KG NZV 1995, 240; BayObLG NZV 1995,<br />

497; SenE v. 07.09.2004 - 8 Ss-OWi 12/04 - = NJW 2004, 3439 = DAR 2005, 50 = NZV<br />

2004, 651 = VRS 107, 384).<br />

Für die Feststellung eines qualifizierten Rotlichtverstoßes genügt die bloße gefühlsmäßige<br />

Schätzung eines den Rotlichtverstoß zufällig beobachtenden Polizeibeamten allein<br />

nicht (BayObLG a.a.O.; OLG Düsseldorf a.a.O.; OLG Jena NZV 1999, 304). Ebenso verhält<br />

es sich bei einer von einem zufälligen Beobachter durch Zählen oder auf sonstige<br />

Weise vorgenommenen Schätzung der Rotlichtzeit (vgl. BayObLG a.a.O.; OLG Celle<br />

NZV 1994, 40; OLG Düsseldorf DAR 1995, 167; VRS 92, 360, 361; OLG Hamm NZV 92,<br />

281; KG NZV 1995, 240). Etwas anderes kann jedoch für eine auf Zählung beruhende<br />

Schätzung von Polizeibeamten gelten, der eine gezielte Rotlichtüberwachung zugrunde<br />

liegt (vgl. OLG Düsseldorf VRS 93, 462 = DAR 1997, 283, DAR 1997, 322 und NZV 2000,<br />

134 [135] = DAR 2000, 127 [128] = VRS 98, 225 [226 f.]; OLG Hamm VRS 91, 394 [395<br />

f.], DAR 1996, 415, 416 = VM 1997, 20 = VRS 92, 281 und DAR 1997, 77 = NZV 1997,<br />

130; Löhle/Beck DAR 2000, 1 [7]; st. Senatsrechtsprechung: SenE v. 14.02.1997 - Ss<br />

34/97 B -; SenE v. 03.06.1997 - Ss 177/97 B -, SenE v. 08.05.1998 - Ss 155/98 B -; SenE<br />

v. 02.01.2001 - Ss 537/00 B - = VRS 100, 140 [141]; SenE v. 20.03.2001 - Ss 58/01 B -;<br />

SenE v. 27.11.2001 - Ss 478/01 B -).<br />

Aber auch in diesem Fall gilt, dass zur Feststellung von Zeitintervallen im Sekundenbereich<br />

freie Schätzungen aufgrund gefühlsmäßiger Erfassung generell ungeeignet sind, da<br />

erfahrungsgemäß hierbei ein erhebliches Fehlerrisiko besteht (BayObLG DAR 2002, 520<br />

= NZV 2002, 518 = NStZ-RR 2002, 345 [346] = VRS 103, 449; OLG Düsseldorf DAR<br />

2003, 85 [86]; OLG Rostock VRS 109, 27 [31]; vgl. a. SenE v. 07.09.2004 - 8 Ss-OWi<br />

12/04 - = NJW 2004, 3439 = DAR 2005, 50 = NZV 2004, 651 = VRS 107, 384; SenE v.<br />

30.12.2005 - 82 Ss-OWi 54/05 -).<br />

Das angefochtene Urteil gibt keinen Aufschluss darüber, worauf die Zeitangaben der vernommenen<br />

Polizeibeamten beruhen. Es ist lediglich davon die Rede, dass sie "aus ihrer


Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 42<br />

Oktober 2006 - Dezember 2006<br />

Erfahrung heraus mit den üblichen Mitteln" zur Feststellung der Zeitdauer in der Lage<br />

seien. Was dabei unter den "üblichen Mitteln" verstanden wird, bleibt offen. Dass die Beamten<br />

die Dauer der Rotphase gemessen (vgl. OLG Düsseldorf DAR 2000, 579 = VRS<br />

99, 294) oder durch Mitzählen („21, 22, 23“ – vgl. hierzu OLG Brandenburg DAR 1999,<br />

512; OLG Düsseldorf VRS 93, 462; NZV 2000, 134 = VRS 98, 225; Sen v. 8.05.1998 -Ss<br />

155/98 B -; SenE v. 12.12.2003 - Ss 527/03 B - = VRS 106, 214 [215] = zfs 2004, 432;<br />

SenE v. 21.06.2005 - 8 Ss-OWi 160/05 -) ermittelt haben, wird nicht mitgeteilt. Möglich ist<br />

daher auch, dass sie auf einer bloßen Schätzung beruht.<br />

Der Mangel führt zur Aufhebung des Urteils insgesamt, obwohl die Feststellungen zwar<br />

keinen qualifizierten, wohl aber einen einfachen Verstoß gegen § 37 Abs. 2 Nr. 1 S. 7<br />

StVO belegen. Denn die Frage der Rotlichtdauer betrifft den Schuldumfang und die hierzu<br />

getroffenen Feststellungen sind untrennbar mit den Schuldfeststellungen verknüpft<br />

(SenE v. 08.02.2000 - Ss 51/00 B - = VRS 98, 389 [392]; SenE VRS 92, 228; SenE v.<br />

04.12.1998 - Ss 571/98 B -; SenE v. 02.01.2001 - Ss 537/00 B - = VRS 100, 140 [142];<br />

SenE v. 22.05.2003 - Ss 198/03 B -; SenE v. 09.09.2003 - Ss 250/03 B -; SenE v.<br />

07.09.2004 - 8 Ss-OWi 12/04 - = NJW 2004, 3439 = DAR 2005, 50 [51] = NZV 2004, 651<br />

= VRS 107, 384; OLG Düsseldorf VRS 95, 439 = NZV 1999, 94).

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