Strafprozessordnung (StPO) - Kölner Anwaltverein
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Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 1<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
<strong>Strafprozessordnung</strong> (<strong>StPO</strong>)<br />
§§ 36, 335 <strong>StPO</strong><br />
Zustellung ohne richterliche Anordnung; verspätete Ausübung<br />
der Rechtsmittelwahl<br />
SenE v. 21.11.2006 - 83 Ss 52/06 -<br />
Der gemäß § 346 Abs. 2 <strong>StPO</strong> statthafte und auch ansonsten in formeller Hinsicht unbedenkliche<br />
Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts führt zur Aufhebung des angefochtenen<br />
Beschlusses.<br />
Die Entscheidung ist in mehrfacher Hinsicht rechtsfehlerhaft.<br />
Soweit auf die (vermeintlich) verspätete Bestimmung des Rechtsmittels zur Revision abgestellt<br />
wird, hätte ein entsprechender Mangel nicht zur Verwerfung der Revision als unzulässig<br />
führen können. Vielmehr wäre das Rechtsmittel in diesem Fall als Berufung zu<br />
behandeln gewesen (vgl. nur Meyer-Goßner, <strong>StPO</strong>, 49. Aufl., § 335 Rdnr. 4 m. w.<br />
Nachw.).<br />
Soweit darauf abgestellt wird, die Revisionsanträge und deren Begründung seien nicht<br />
innerhalb der Monatsfrist des § 345 Abs. 1 <strong>StPO</strong> angebracht worden, trifft dies nicht zu.<br />
Denn bei Eingang der Revisionsbegründungsschrift am 09.05.2006 hatte die Frist noch<br />
nicht begonnen, weil bis zu diesem Zeitpunkt eine wirksame Zustellung des angefochtenen<br />
Urteils noch nicht erfolgt war. Sowohl die Urteilszustellung an die Angeklagte am<br />
25.02.2006 als auch diejenige an den Verteidiger am 04.04.2006 waren nämlich ohne die<br />
gemäß § 36 Abs. 1 <strong>StPO</strong> erforderliche richterliche Anordnung erfolgt. Dieser Mangel führt<br />
zur Unwirksamkeit der Zustellung (vgl. Mayer-Goßner a.a.O. § 36 Rdnr. 7 m. w. Nachw.).<br />
§ 111a <strong>StPO</strong><br />
Beschwerde während des Revisionsverfahrens<br />
SenE v. 20.10.2006 - 91 Ws 166/06 - 35 -<br />
Das Jugendschöffengericht hat den Angeklagten der fahrlässigen Tötung schuldig gesprochen,<br />
ihn verwarnt und ihm aufgegeben, binnen fünf Monaten nach Rechtskraft des<br />
Urteils 100 Stunden unentgeltliche Arbeit nach Weisung des Jugendamtes zu leisten und<br />
eine Geldbuße von 500 Euro in monatlichen Raten von 100 Euro an eine gemeinnützige<br />
Einrichtung zu zahlen.<br />
Auf die Berufung der Staatsanwaltschaft hat das Landgericht das amtsgerichtliche Urteil<br />
dahin „ergänzt“, dass es dem Angeklagten die Fahrerlaubnis entzogen, seinen Führerschein<br />
eingezogen und eine Sperrfrist für die Neuerteilung von 12 Monaten festgesetzt<br />
hat. Zugleich hat das Landgericht dem Angeklagten gemäß § 111 a <strong>StPO</strong> die Fahrerlaubnis<br />
vorläufig entzogen.<br />
Der Angeklagte hat gegen das Berufungsurteil Revision und gegen den Beschluss nach §<br />
111 a <strong>StPO</strong> „sofortige Beschwerde“ eingelegt. Über die Revision hat der Senat noch nicht<br />
entschieden; insoweit ist noch keine Aktenvorlage nach § 347 Abs. 2 <strong>StPO</strong> erfolgt.
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 2<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
Die Beschwerde ist zulässig (§ 304 <strong>StPO</strong>; vgl. Senatsentscheidung VRS 93, 348; KG ZfS<br />
2006, 528), in der Sache jedoch nicht begründet.<br />
Der Angeklagte hat das Urteil der Strafkammer mit der Revision angefochten. Während<br />
des Revisionsverfahrens ist die Prüfung der Voraussetzungen des § 69 StGB und damit<br />
die im Rahmen des § 111 a <strong>StPO</strong> zu beurteilende Frage der Eignung dem Beschwerdegericht<br />
entzogen, nachdem die letzte tatrichterliche Prüfung der Geeignetheit durch das<br />
Berufungsgericht erfolgt ist. Nach dem Erlass des Berufungsurteils findet eine weitere<br />
Prüfung des Sachverhalts in tatsächlicher Hinsicht nicht mehr statt. Die Frage, ob dringende<br />
Gründe im Sinne von § 111 a <strong>StPO</strong> vorliegen, hängt in diesem Verfahrensstadium<br />
nur noch davon ab, ob die Entscheidung über die Entziehung der Fahrerlaubnis nach §<br />
69 StGB unter revisionsrechtlichen Gesichtspunkten Bestand hat. Mit der Beschwerde<br />
gegen die Anordnung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111 a <strong>StPO</strong><br />
kann aber keine Vorabentscheidung über die gegen das Berufungsurteil eingelegte Revision<br />
erreicht werden. Vielmehr ist die ausschließlich nach revisionsrechtlichen Kriterien<br />
anzustellende Prüfung der richtigen Rechtsanwendung im Rahmen des § 69 StGB dem<br />
Revisionsgericht vorbehalten (so insgesamt SenE a.a.O und VRS 105, 343, jeweils mit<br />
weiteren Nachweisen; KG a.a.O.).<br />
Die weitere Aufrechterhaltung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis der Angeklagten<br />
verstößt ferner nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.<br />
§ 126 <strong>StPO</strong><br />
Haftentscheidung des Revisionsgerichts<br />
SenE v. 10.11.2006 - 83 Ss 70/06 -<br />
Der Senat hat durch Urteil vom 07.11.2006 das Berufungsurteil der 1. kleinen Strafkammer<br />
des Landgerichts Köln vom 27.06.2006 im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben und<br />
die Sache in diesem Umfang zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz<br />
zurückverwiesen.<br />
Mit an den Senat gerichtetem Schriftsatz vom 08.11.2006 hat die Verteidigerin des Angeklagten<br />
die Aufhebung des Haftbefehls beantragt, da der Haftgrund der Fluchtgefahr<br />
nicht mehr vorliege und die Fortdauer der Untersuchungshaft unverhältnismäßig sei.<br />
Der Antrag kann schon deshalb keinen Erfolg haben, weil das Revisionsgericht nach der<br />
Entscheidung über die Revision für eine Aufhebung des Haftbefehls (§ 126 Abs. 3 <strong>StPO</strong>)<br />
nicht mehr zuständig ist. Eine derartige Entscheidung müsste - unbeschadet der Frage,<br />
ob das Revisionsgericht einen Haftbefehl schon vor Erlass der Revisionsentscheidung<br />
aufheben könnte - jedenfalls spätestens zugleich mit der Urteilsaufhebung erfolgen. Nach<br />
Erlass einer die angefochtene Entscheidung aufhebenden Revisionsentscheidung ist für<br />
sämtliche Entscheidungen hinsichtlich der Untersuchungshaft nur noch das Gericht zuständig,<br />
an das die Sache zurückverwiesen worden ist (so insgesamt BGH NJW 1996,<br />
2665; vgl. auch BGH NStZ 1997, 145 = StV 1998, 143; Boujong in KK-<strong>StPO</strong>, 5. Auflage,<br />
§ 126 Rn. 11).
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 3<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
§ 335 <strong>StPO</strong><br />
verspätete Wahl der Revision<br />
SenE v. 05.12.2006 - 82 Ss 148/06 -<br />
I.<br />
Das Amtsgericht Bonn hat den Angeklagten durch Urteil vom 10. Juli 2006 wegen Beihilfe<br />
zu einer verbotenen Erwerbstätigkeit eines Asylbewerbers zu einer Geldstrafe von 40<br />
Tagessätzen zu je 13,00 € verurteilt. Hiergegen hat der Angeklagte mit einem am selben<br />
Tag bei Gericht eingegangenen Schriftsatz des Verteidigers ein unbenanntes Rechtsmittel<br />
eingelegt. Danach ist das Urteil dem Angeklagten persönlich am 21. August 2006 zugestellt<br />
worden und seinem Verteidiger am selben Tag mit einfacher Post zugegangen.<br />
Mit Schriftsatz vom 21. September 2006, eingegangen bei Gericht am 22. September<br />
2006, hat der Verteidiger das Rechtsmittel zur Revision bestimmt und diese zugleich begründet.<br />
Nachdem ihm das Amtsgericht mit Schreiben vom 25. September 2006 mitgeteilt<br />
hatte, dass die Wahl des Rechtsmittels nicht rechtzeitig erfolgt sei, hat der Verteidiger am<br />
6. Oktober 2006 die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der<br />
Frist zur Bestimmung des Rechtsmittels beantragt.<br />
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, dem Angeklagten gegen die Versäumung<br />
der Frist zur Bestimmung des Rechtsmittels Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu<br />
gewähren sowie die Revision gemäß § 349 Abs. 2 <strong>StPO</strong> als unbegründet zu verwerfen.<br />
II.<br />
In entsprechender Anwendung des § 348 Abs. 1 <strong>StPO</strong> ist die Sache dem Landgericht<br />
Bonn als Berufungsgericht vorzulegen. Die Wahl der Revision als Rechtsmittel mit dem<br />
am 22. September 2006 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz vom 21. September 2006<br />
ist verspätet erfolgt. Die Monatsfrist zur Bestimmung des Rechtsmittels gemäß § 345<br />
Abs. 1 <strong>StPO</strong> war bereits mit Ablauf des 21. September 2006 verstrichen.<br />
1. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist insoweit nicht möglich. Es entspricht<br />
ganz herrschender Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum, der auch der Senat folgt<br />
(vgl. etwa SenE v. 12. September 2003 - Ss 368/03 -), dass wegen der nach Ablauf der<br />
Frist des § 345 Abs. 1 <strong>StPO</strong> eingegangenen Wahl des Rechtsmittels als Revision die<br />
Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht zulässig ist (vgl. BayObLG<br />
MDR 83, 1046; OLG Hamm, NStZ 1991, 601; Senat NStZ 1994, 557 sowie als obiter dictum<br />
auch schon Senat NStZ 1994, 200; Meyer-Goßner, <strong>StPO</strong>, 49. Aufl., 2005, § 335 Rn.<br />
8; Kuckein in Karlsruher Kommentar, <strong>StPO</strong>, 5. Aufl., 2003, § 335 Rn. 6). Dabei ist es für<br />
das Ergebnis unerheblich, ob die Begründung darauf gestützt wird, dass es sich um die<br />
Versäumung einer Ausschlussfrist handele (so OLG Hamm NStZ 1991, 601), ob man in<br />
der zeitlichen Begrenzung des Wahlrechts keine gesetzliche Frist sehen will (so Senat<br />
NStZ 1994, 557) oder ob man die endgültige Ausübung des Wahlrechts gar nicht als eigenständige<br />
Prozesshandlung betrachtet (so BayObLG MDR 1983, 1046). Jedenfalls ist<br />
nach Ablauf der Monatsfrist des § 345 Abs. 1 <strong>StPO</strong> die Möglichkeit der Wahl der Revision<br />
endgültig untergegangen (Meyer-Goßner a.a.O. § 335 Rn. 8).<br />
2. Mangels rechtzeitiger Bestimmung des Rechtsmittels zur Revision ist es als Berufung<br />
durchzuführen (vgl. Meyer-Goßner, a. a. O., Rdnr. 4 m. w. N.). Hierzu ist die Sache an<br />
das zuständige Landgericht Bonn abzugeben.
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 4<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
§ 260 <strong>StPO</strong><br />
Urteilsformel: Widerspruch zwischen Protokoll u. schriftlichem<br />
Urteil<br />
kein Teilfreispruch bei Annahme einer Bewertungseinheit<br />
SenE v. 07.11.2005 - 83 Ss 70/06 -<br />
Der Schuldspruch des angefochtenen Urteils ist lediglich in der Weise zu berichtigen,<br />
dass der Teilfreispruch entfällt.<br />
Insoweit heißt es im Berufungsurteil:<br />
„Soweit der Angeklagte in dem angefochtenen Urteil wegen der Verkäufe am<br />
07.07.2005 wegen zweier Taten des unerlaubten Handels mit Betäubungsmitteln<br />
verurteilt worden war, war er hinsichtlich einer Tat freizusprechen, da zu seinen<br />
Gunsten davon auszugehen war, dass die Verkäufe aus dem gleichen Vorrat<br />
stammten, somit rechtlich nur eine Tat vorlag.“<br />
Beim Wegfall tatmehrheitlich angeklagter Delikte durch die Annahme von Bewertungseinheiten<br />
ist der Angeklagte indessen nicht freizusprechen, wenn sich (wie hier) die weggefallenen<br />
materiell-rechtlich selbständig angeklagten Taten als Bestandteil der Strafen<br />
erweisen, deretwegen Verurteilung erfolgt ist. Denn in einem solchen Fall wird der gesamte<br />
Verfahrensgegenstand durch die Verurteilung erschöpfend erledigt (BGH, NStZ<br />
1994, 547; BGHR <strong>StPO</strong> § 260 Abs. 1 Teilfreispruch 14 (Gründe) - Aufgabe BGH NStZ<br />
1997, 90 -; BGH NStZ 2004, 109).<br />
Soweit auch der Senat im Anschluss an BGH NStZ 1997, 90 die Auffassung vertreten<br />
hat, es sei ein Teilfreispruch veranlasst, wenn tatmehrheitlich angeklagte Taten wegen<br />
Bewertungseinheit zusammengefasst werden (SenE v. 05.08. 2003 – Ss 293/03), hält<br />
auch er daran nicht mehr fest.<br />
…<br />
Zur Rechtsfolgenseite hält das Berufungsurteil der Überprüfung nicht stand.<br />
1.<br />
Zu diesem Ergebnis führt schon die Divergenz zwischen der verkündeten Urteilsformel,<br />
wie sie sich aus der Sitzungsniederschrift ergibt (1 Jahr), und derjenigen in der Urteilsurkunde<br />
(1 Jahr 4 Monate). Der authentische Wortlaut der Urteilsformel ergibt sich allein<br />
aus der nach § 274 <strong>StPO</strong> maßgebenden Sitzungsniederschrift (BGH NStZ-RR 2002, 100;<br />
BGHSt 34, 11, 12; BGHR <strong>StPO</strong> § 274 Beweiskraft 10; Meyer-Goßner, <strong>StPO</strong>, 49. Auflage,<br />
§ 268 Rn. 18).<br />
Die vor der Urteilsverkündung niedergeschriebene Urteilsformel (§ 268 Abs. 2 Satz 1<br />
<strong>StPO</strong>; Blatt 281 der Akten), die eine Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 4 Monaten ausweist,<br />
nimmt an der Beweiskraft nach § 274 <strong>StPO</strong> nicht teil, weil sie nicht in das Sitzungsprotokoll<br />
integriert worden ist; sie ist weder darin eingefügt noch zur Anlage des Protokolls<br />
gemacht worden.<br />
Eine Auslegung des Protokolls ist nur dann zulässig, wenn dessen Sinn zweifelhaft ist.<br />
Das ist hier nicht der Fall. Das Protokoll ist eindeutig, es leidet – für sich betrachtet – nicht<br />
an offensichtlichen Mängeln, ist weder unklar, erkennbar lückenhaft oder widersprüchlich<br />
(vgl. BGH StV 2006, 287 = NStZ-RR 2006, 112).<br />
Es ist auch nicht etwa so, dass nach dem Schuldspruch eine Gesamtfreiheitsstrafe von 1<br />
Jahr völlig sinnwidrig wäre. Der Tenor enthält einen Teilfreispruch, so dass eine Herabsetzung<br />
der Strafe nicht von vornherein als undenkbar erscheint. Dass das Landgericht
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 5<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
jede der Taten als besonders schweren Fall im Sinne des § 29 Abs. 3 Nr. 1 BtMG (Gewerbsmäßigkeit)<br />
gewertet hat (Mindeststrafe jeweils 1 Jahr), ergibt sich erst aus den Urteilsgründen.<br />
Wegen der Eindeutigkeit des Protokolls waren dem Senat Ermittlungen zum Strafausspruch<br />
im Freibeweisverfahren verwehrt. Selbst übereinstimmende Erklärungen der Urkundspersonen,<br />
verkündet worden sei eine Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr 4 Monaten,<br />
könnten den Inhalt des Protokolls zum Nachteil des Angeklagten nicht in Frage stellen<br />
(BGH a.a.O. mit Nachweisen ).<br />
§§ 261, 244 Abs. 3 <strong>StPO</strong><br />
Inbegriff der Hauptverhandlung; eigene Sachkunde<br />
SenE v. 06.11.2006 - 81 Ss-OWi 81/06 -<br />
Die getroffenen tatsächlichen Feststellungen tragen den Schuldspruch. Sie beruhen ihrerseits<br />
auf einer rechtsfehlerfrei gewonnenen und gewürdigten Beweisgrundlage.<br />
Das gilt insbesondere im Bezug auf die Geschwindigkeit des von dem Betroffenen<br />
geführten Fahrzeugs im Zeitpunkt der Messung. Die Erwägungen, auf denen die<br />
Überzeugung der Tatrichterin von der Richtigkeit des Messergebnisses beruhen, begegnen<br />
keinen rechtlichen Bedenken. Sie weisen aus, dass nicht ohne weiteres von der<br />
Zuverlässigkeit der Messung wegen der Benutzung eines standardisierten<br />
Messverfahrens ausgegangen worden ist, sondern insoweit eine kritische Auseinandersetzung<br />
mit möglichen Fehlerquellen stattgefunden hat.<br />
Dabei ist zutreffend davon ausgegangen worden, dass es sich bei der Verwendung des<br />
Geräts Riegl FG 21-P um ein solches standardisiertes Verfahren handelt (OLG Koblenz<br />
DAR 2006, 101 [102]; zum Vorgängermodell Riegl LR 90-235/P: BayObLG DAR 1999,<br />
563; OLG Hamm NStZ-RR 1999, 374 = VRS 97, 449 [450]; OLG Hamm DAR 2001, 322<br />
= VRS 101, 43 [44] = NZV 2001, 438; OLG Hamm DAR 2004, 462), bei dem die Bedingungen<br />
seiner Anwendbarkeit und sein Ablauf so festgelegt sind, dass unter gleichen<br />
Voraussetzungen gleiche Ergebnisse zu erwarten sind (vgl. nur BGHSt 43, 227 [284] =<br />
NJW 1998, 321 = VRS 94, 341; OLG Dresden [DAR 2005, 637 = VRS 109, 196 [197];<br />
OLG Saarbrücken NZV 1996, 207 = VRS 91, 63; SenE v. 13.09.2004 - 8 Ss-OWi 16/04 -<br />
). Das Amtsgericht hat aber nicht allein darauf abgestellt und sich ausschließlich auf die<br />
"Vermutung der Richtigkeit und Genauigkeit" gestützt, sondern ist der Frage nachgegangen,<br />
ob wegen Abweichungen von der Bedienungsanleitung durchgreifende Zweifel an<br />
der Verlässlichkeit der Messung veranlasst sind.<br />
In diesem Zusammenhang hat es nicht - wie die Rechtsbeschwerde und ihr folgend die<br />
Generalstaatsanwaltschaft meinen - unter Verstoß gegen die §§ 261 <strong>StPO</strong>, 71, 77 a Abs.<br />
1 u. 4 OWiG ein in anderer Sache eingeholtes Sachverständigengutachten verwertet, das<br />
nicht Gegenstand der Hauptverhandlung gewesen ist. Es hat sich vielmehr auf eigene<br />
Sachkunde gestützt und dazu mitgeteilt, auf welchem Wege diese erworben worden ist.<br />
Es "sieht sich aufgrund der aus einem zur Frage der Abweichung von den Vorgaben der<br />
Bedienungsanleitung bezüglich des Tests der Visiereinrichtung bei dem hier verwendeten<br />
Messgerät eingeholten Sachverständigengutachten gewonnenen Erkenntnisse in der<br />
Lage, die Frage der Relevanz der Abweichung zu beurteilen" (S. 4 UA).
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 6<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
Woher die Sachkunde des erkennenden Richters stammt, ist rechtlich ohne Bedeutung<br />
(Gollwitzer, in Löwe-Rosenberg, <strong>StPO</strong>, 25. Aufl., § 244 Rdnr. 300; SenE v. 16.08.1988 -<br />
Ss 154/88 -). Dass das Amtsgericht hier bei der Beweiswürdigung Fachwissen herangezogen<br />
und für den vorliegenden Fall verwertet hat, das es auf Grund von Gutachten erworben<br />
hat, die in anderen gerichtlichen Verfahren erstattet worden sind, begegnet daher<br />
keinen rechtlichen Bedenken (vgl. Meyer-Goßner, <strong>StPO</strong>, 49. Aufl., § 244 Rdnr. 73; Alsberg/Nüse/Meyer,<br />
Der Beweisantrag im Strafprozeß, 5. Aufl., S. 698).<br />
Die Urteilsgründe lassen nicht erkennen, dass sich das Amtsgericht eine Sachkunde angemaßt<br />
hat, über die es tatsächlich nicht verfügte. Entsprechende Fehler in der Beurteilung<br />
der technischen Zusammenhänge, namentlich in Bezug auf die Entfernung des Ziels<br />
und die Notwendigkeit eines "Abkippens" bei dem Test der Visiereinrichtung, weist auch<br />
die Rechtsbeschwerdebegründung nicht nach. Es ist daher aus Rechtsgründen nicht zu<br />
beanstanden, wenn sich das Amtsgericht auf der Grundlage des in der Hauptverhandlung<br />
- durch Zeugenaussagen und Urkunden - gewonnenen Beweisergebnisses unter Heranziehung<br />
seiner eigenen Sachkunde davon überzeugt hat, dass die Geschwindigkeit des<br />
Betroffenen richtig gemessen worden ist und durch einen Abzug von 3 km/h alle möglichen<br />
Messtoleranzen ausreichend berücksichtigt sind.<br />
Es war mithin nicht verpflichtet, dem Antrag der Verteidigung folgend ein Sachverständigengutachten<br />
einzuholen (vgl. dazu auch BayObLG DAR 1999, 563: Der Test der Visiereinrichtung<br />
bei der Laserpistole Riegl LR 90-235/P in einer Entfernung von nur 91 m<br />
stellt keinen Grund zur Einholung eines Sachverständigengutachtens über die Funktionsfähigkeit<br />
des Geräts und die Richtigkeit der Messung dar, wenngleich der Gerätehersteller<br />
eine Entfernung von 100 m bis 250 m als erforderlich für die Testmessung angibt).<br />
Die Verfahrensrüge des Betroffen ist deshalb unbegründet.<br />
§ 270 <strong>StPO</strong><br />
Notwendige Verweisung an das höhere Gericht<br />
SenE v. 24.10.2006- 82 Ss 79/06 -<br />
Das angefochtene Urteil der Strafrichterin unterliegt der Aufhebung (§ 353 <strong>StPO</strong>) und der<br />
Zurückverweisung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Schwurgericht bei<br />
dem Landgericht Köln. Die Strafrichterin bei diesem Gericht hat sich nämlich zu Unrecht<br />
für zuständig erachtet.<br />
Soweit ein Urteil in zulässiger Weise angefochten ist (hier: jedenfalls mit der Sachrüge),<br />
sind in der Revisionsinstanz die Prozessvoraussetzungen und damit auch die sachliche<br />
Zuständigkeit des Gerichts von Amts wegen zu beachten (vgl. BGHSt 7, 26, 28; 38, 172,<br />
176; SenE v. 01.12.1995 - Ss 482/95 - = NStZ-RR 1996, 178 = StV 1996, 298).; daneben<br />
hat § 338 Nr. 4 <strong>StPO</strong> keine selbständige Bedeutung mehr (vgl. Meyer-Goßner, <strong>StPO</strong>,<br />
46. Auflage, § 338 Rn. 32). Bei der Revision der Nebenklage bedarf es darüber hinaus<br />
grundsätzlich der Mitteilung, dass das Urteil mit dem Ziel einer Änderung des Schuldspruchs<br />
hinsichtlich einer zum Anschluss der Nebenklage berechtigenden und nicht völlig<br />
fern liegenden Gesetzesverletzung angefochten wird (vgl. BGH, NStZ-RR 2001, 266;<br />
NStZ 1999, 259; OLG Hamm, VRS 104, 147 ff.). Diese Voraussetzungen erfüllt die Revision<br />
der Nebenklägerin, mit der ausdrücklich die Aufhebung des Urteils und Verweisung<br />
zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht - Schwurgericht - Köln beantragt<br />
wird und der begehrte Schuldspruch, namentlich die Verurteilung der Angeklagten
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 7<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
wegen dem nach § 395 Abs. 1 Nr. 2 <strong>StPO</strong> zum Anschluss berechtigenden versuchten<br />
Totschlagdelikts schon wegen der ausführlichen Auseinandersetzung mit der Frage des<br />
Tötungsvorsatzes in den Urteilsgründen nicht als völlig fern liegend angesehen werden<br />
kann.<br />
Zur Verweisung an das Schwurgericht nach §§ 74 Abs. 2 GVG, 270 <strong>StPO</strong> genügt bereits<br />
der hinreichende Verdacht eines Tötungsverbrechens. Liegt ein solcher vor, so steht es<br />
allein dem höheren Gericht zu, darüber zu entscheiden, ob die Angeklagte eines (versuchten)<br />
Tötungsverbrechens schuldig ist oder nicht (vgl. BGH GA 62, 149; MDR 72, 18).<br />
Aus den zweifelsfreien Feststellungen des Amtsgerichts ergibt sich bei zutreffender sachlichrechtlicher<br />
Würdigung der zumindest hinreichende Verdacht, dass die Angeklagte<br />
eine tödliche Stichverletzung für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen, gegebenenfalls<br />
sogar beabsichtigt hat. Soweit das Amtsgericht einerseits einen auch nur<br />
bedingten Tötungsvorsatz aufgrund des äußeren Verletzungsbildes, nämlich der (nur) an<br />
den Gliedmaßen der Geschädigten festgestellten Schnittverletzungen ausgeschlossen<br />
hat, hat es dabei unberücksichtigt gelassen, dass die Geschädigte sich nach den zweifelsfreien<br />
Feststellungen im Urteil gegen die Messerattacken zur Wehr gesetzt hat. Gerade<br />
die festgestellten Verletzungen im linken Ellenbogenbereich wie an der rechten Hand<br />
können dann aber auch Indiz für einen abgewehrten, mit Tötungsvorsatz geführten Messerstich<br />
sein, der ungebremst in Körperregionen - wie Herz, Lunge, Halsschlagader pp. -<br />
eindringen sollte, wo er zweifelsohne zu lebensgefährlichen Stichverletzungen geführt<br />
hätte. Spricht somit das äußere Verletzungsbild nicht zwangsläufig gegen einen Tötungsvorsatz,<br />
begründen sie im Kontext mit den Aussagen der Geschädigten und des Zeugen<br />
Kohm eine entsprechende Verdachtslage. So hat die Geschädigte nach den Urteilsfeststellungen<br />
bekundet, die Angeklagte habe bei Ausführung der Messerattacke geäußert,<br />
sie bringe sie um. Der Zeuge Kohm hat entsprechend bekundet, sein Eindruck sei gewesen,<br />
die Angeklagte hätte die Geschädigte erstochen, wenn nicht der Zeuge Perk dazwischen<br />
gegangen wäre. Daneben lässt auch der Abbruch der weiteren Tatausführung<br />
nicht zwangsläufig nur den Schluss zu, die Angeklagte habe zu keiner Zeit mit Tötungsvorsatz<br />
gehandelt. Insoweit weist die Revision zu Recht darauf hin, dass die Angeklagte<br />
einzig durch das Einschreiten des Zeugen Perk, der die Angeklagte nach den Urteilsfeststellungen<br />
von der Geschädigten weggezogen und ihr 2 Ohrfeigen gegeben hat, von der<br />
weiteren Tatausführung abgehalten wurde und die Angeklagte demzufolge unfreiwillig<br />
vom versuchten Totschlag zurückgetreten sein könnte.<br />
Es sind somit zureichende Umstände gegeben, die den Tatbestand des versuchten Totschlags<br />
auszufüllen vermögen. Darüber zu entscheiden fiel aber nicht in die Zuständigkeit<br />
des Strafgerichts. Ist für die Aburteilung der Tat, deren die Angeklagte verdächtig ist, bei<br />
richtiger sachlichrechtlicher Würdigung nach dem Gesetz ein Gericht höherer Ordnung<br />
zuständig, dann hat alleine dieses Gericht über die Bejahung und Verneinung des Tatbestandes<br />
zu entscheiden. Nur ihm steht die Sachentscheidungsbefugnis nach der positiven<br />
und negativen Seite zu und nur es ist in einem solchen Fall der gesetzliche Richter (vgl.<br />
BGH GA 62, 149).<br />
Das Urteil ist daher aufzuheben und die Sache nach Maßgabe von § 270 Abs. 2 <strong>StPO</strong> zu<br />
neuer Verhandlung und Entscheidung für das nach § 74 Abs. 2 GVG zuständige Schwurgericht<br />
beim Landgericht Köln zu verweisen.“<br />
Dem stimmt der Senat zu (vgl. zu allem auch: OLG Oldenburg GA 1992, 471; NStZ-RR<br />
1996, 240).
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 8<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
Die Sache ist daher gemäß §§ 353, 355 <strong>StPO</strong> i.V.m. § 74 Abs. 2 GVG unter Beachtung<br />
der Erfordernisse nach §§ 270 Abs. 2, 200 Abs. 1 Satz 1 <strong>StPO</strong> an eine Strafkammer als<br />
Schwurgericht bei dem Landgericht Köln zu verweisen (vgl. OLG Oldenburg a.a.O.;<br />
Meyer-Goßner, <strong>StPO</strong>, 49. Auflage, § 270 Rn. 15).<br />
§ 275 <strong>StPO</strong><br />
fehlende Unterschrift<br />
SenE v. 02.10.2006 - 81 Ss-OWi 77/06 -<br />
Auf die erhobene Sachrüge unterliegt das Urteil mit der Folge der Zurückverweisung der<br />
Sache an das Amtsgericht der Aufhebung, weil es von der Tatrichterin nicht unterschrieben<br />
worden ist.<br />
Dem Rechtsbeschwerdegericht ist eine Nachprüfung des Urteils auf materiell-rechtliche<br />
Fehler nur möglich, wenn es in vollständiger Form (§ 275 <strong>StPO</strong>) zu den Akten gebracht<br />
worden ist. Vollständig ist das Urteil erst dann, wenn es von dem/den erkennenden Richter/n<br />
unterschrieben worden ist, da erst durch die Unterschrift des Richters bezeugt wird,<br />
dass dies die Urteilsgründe in ihrer endgültigen Fassung sind (st. Senatsrechtsprechung;<br />
vgl. nur Senatsentscheidungen vom 03.06.2005 – 8 Ss 8/05-70 – und vom 20.09.2005 –<br />
82 Ss-OWi 29/05 – 272 B – jeweils m.w.N.).<br />
Vorliegend fehlt die Unterschrift der erkennenden Richterin, so dass keine (überprüfungsfähigen)<br />
Urteilsgründe vorliegen. Der Fall, dass das Urteil keine Unterschrift trägt, ist dem<br />
Fall gleichzustellen, dass die Urteilsgründe völlig fehlen (vgl. BGHSt 46, 204, 206; Senat<br />
a.a.O.). Dieser Mangel ist aufgrund der Sachrüge zu beachten (vgl. BGH a.a.O.; Senat<br />
a.a.O.).<br />
Die Unterzeichnung des Urteils durch den erkennenden Richter wird nicht dadurch ersetzt,<br />
dass dieser die Zustellung des Urteils verfügt und diese Verfügung unterzeichnet<br />
hat. Aus der gesetzlichen Forderung, dass das Urteil zu unterschreiben ist (§ 275 Abs. 2<br />
<strong>StPO</strong>) folgt, dass die Unterschrift des erkennenden Richters als letzter Akt der Urteilsfällung<br />
nicht durch eine solche auf einer von ihm unterzeichneten gesonderten Verfügung<br />
ersetzt werden kann (vgl. Senat a.a.O.).<br />
Der Mangel der fehlenden Unterschrift kann auch nicht dadurch geheilt werden, dass die<br />
Unterschrift nachgeholt wird. Die 5-Wochen-Frist des § 275 Abs. 1 <strong>StPO</strong> ist für das am<br />
17.02.2006 verkündete Urteil abgelaufen.<br />
§ 329 <strong>StPO</strong><br />
Erkrankung des Verteidigers<br />
SenE v. 29.09.2006 - 81 Ss 117/06 -<br />
Die Revision ist zulässig; sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden.<br />
Insbesondere kann dem Schriftsatz vom 25.11.2005 eine den Anforderungen des § 344<br />
Abs. 2 S. 2 <strong>StPO</strong> genügende Verfahrensrüge entnommen werden. Insoweit ist nämlich<br />
das Vorbringen zur Begründung des zugleich gestellten Antrags auf Wiedereinsetzung in
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 9<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
den vorigen Stand mit heranzuziehen (vgl. OLG Hamm VRS 104, 145 [146] = NStZ-RR<br />
2003, 86 = NZV 2003, 248 [249] m. w. Nachw.; SenE v. 07.06.2006 - 81 Ss 71/06 -; SenE<br />
v. 21.07.2006 - 81 Ss 91/06 -). Darin wird geltend gemacht, das Landgericht habe wegen<br />
der mitgeteilten Verhinderung des Verteidigers das Ausbleiben des Angeklagten in der<br />
Berufungshauptverhandlung nicht als unentschuldigt ansehen dürfen. Das aber reicht zur<br />
Erhebung der Verfahrensrüge einer Verletzung des § 329 Abs. 1 <strong>StPO</strong>, wenn sich - wie<br />
im vorliegenden Fall - aus dem Verwerfungsurteil ergibt, dass dem Gericht Entschuldigungsgründe<br />
zur Kenntnis gebracht worden waren (vgl. OLG Hamm NJW 1963, 65; OLG<br />
Hamm VRS 104, 145 [146] = NStZ-RR 2003, 86 = NZV 2003, 248 [249] u. VRS 106, 294<br />
[295]; KG NStZ-RR 2002, 218; SenE v. 09.02.1988 - Ss 40/88 = OLGSt § 329 <strong>StPO</strong> Nr.<br />
11 = StV 1989, 53 = VRS 75, 113; SenE v. 12.12.2000 - Ss 446/00 - = VRS 100, 45 [49]<br />
= NJW 2001, 1223 [1224 f.]; SenE v. 03.04.2001 - Ss 92/01 -).<br />
Die Revision hat auch in der Sache (vorläufigen) Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen<br />
Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.<br />
Das angefochtene Urteil verkennt den Begriff der genügenden Entschuldigung i. S. d. §<br />
329 Abs. 1 <strong>StPO</strong>, indem es darauf abstellt, die Erkrankung des Verteidigers habe den<br />
Angeklagten nicht von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Berufungshauptverhandlung<br />
entbunden.<br />
Zwar entschuldigt die Verhinderung des gewählten Verteidigers am Terminstag gemäß §<br />
228 Abs. 2 <strong>StPO</strong> das Ausbleiben des Betroffenen in der Regel nicht (SenE v. 28.11.2002<br />
- Ss 487/02 B). Andererseits ist die Vorschrift des § 137 Abs. 1 S. 1 <strong>StPO</strong>, dass ein Angeklagter<br />
sich in jeder Lage des Verfahrens des Beistands eines gewählten Verteidigers<br />
bedienen kann, Ausdruck des Rechts auf ein faires Verfahren (BayObLG DAR 2001, 83).<br />
Dieses umfasst auch das Recht, sich von einem gewählten Anwalt seines Vertrauens verteidigen<br />
zu lassen. Dabei ist das Interesse des Angeklagten an seiner Verteidigung und<br />
das Interesse an einer möglichst reibungslosen Durchführung des Verfahrens gegeneinander<br />
abzuwägen, wobei das Verteidigungsinteresse im Zweifel Vorrang hat (BayObLG<br />
NStZ 2002, 97 = NStZ-RR 2002, 83; BayObLG NStZ 2002, 97 = NStZ-RR 2002, 83; SenE<br />
v. 18.02.2003 – Ss 541/02 B; vgl. auch SenE v. 16.05.2006 – Ss 82 Ss 38/06). Das<br />
gilt umso mehr, wenn § 411 Abs. 2 <strong>StPO</strong> eingreift. In diesen Fällen ist es gemäß § 411<br />
Abs. 2 <strong>StPO</strong> einem Angeklagten gestattet, sich durch einen mit einer schriftlichen Vollmacht<br />
versehenen Verteidiger in der Hauptverhandlung vertreten zu lassen. Dies gilt<br />
auch für die Berufungshauptverhandlung (vgl. OLG Düsseldorf StV 1985, 52; SenE v.<br />
09.09.2005 - 81 Ss 35/05 -; SenE v. 07.06.2006 - 81 Ss 67/06 -; Meyer-Goßner, <strong>StPO</strong>,<br />
49. Aufl., § 411 Rn.4).<br />
Im vorliegenden Fall hatte der Verteidiger des Angeklagten am Morgen des Hauptverhandlungstages<br />
dem Gericht mitteilen lassen, dass er krankheitsbedingt nicht erscheinen<br />
könne, und deshalb die Verlegung der Hauptverhandlung beantragt. Diesem Antrag hätte<br />
das Landgericht entsprechen müssen. Unabhängig von der Frage, ob ein Fall notwendiger<br />
Verteidigung vorliegt oder nicht, war nämlich dem Recht des Angeklagten, sich in<br />
einem Strafverfahren durch einen Verteidiger seiner Wahl vertreten zu lassen, Rechnung<br />
zur tragen. In dem vorliegenden Verfahren, das mit einem Strafbefehl begonnen hatte,<br />
konnte der Angeklagte der Hauptverhandlung fern bleiben, wenn für ihn ein bevollmächtigter<br />
Verteidiger erschien (§ 411 Abs. 2 S. 1 <strong>StPO</strong>). Jedenfalls dann, wenn der rechtzeitig<br />
beauftragte Verteidiger kurzfristig erkrankt, so dass es dem Angeklagten unmöglich ist,<br />
für eine anderweitige Verteidigung Sorge zu tragen, würde es gegen den Grundsatz der<br />
Fairness des Verfahrens verstoßen, wenn dem Verlegungsantrag nicht entsprochen würde.<br />
Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass gemäß dem Beschluss des Senats vom heu-
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 10<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
tigen Tage (1 Ws 25 u. 27/06) ein Fall notwendiger Verteidigung gegeben ist, so dass<br />
ohne den Verteidiger des Angeklagten eine Hauptverhandlung gar nicht durchgeführt<br />
werden durfte und eine Vertagung auch unabhängig von seinem Antrag schon Amts wegen<br />
hätte erfolgen müssen.<br />
Wenn die Hauptverhandlung aber unabhängig vom Erscheinen des Angeklagten vertagt<br />
werden muss, wird durch das Nichterscheinen des Angeklagten nicht die Möglichkeit der<br />
Verwerfung der Berufung eröffnet. Der Zweck des § 329 Abs. 1 <strong>StPO</strong> besteht darin, zu<br />
verhindern, dass der Angeklagte durch sein Nichterscheinen die Entscheidung über die<br />
Berufung verhindert (Meyer-Goßner a.a.O. § 329 Rdnr. 2). Kann aber ohnehin aus anderen<br />
Gründen – hier wegen der krankheitsbedingten Verhinderung des Verteidigers – die<br />
Hauptverhandlung nicht durchgeführt werden, wird eine Verwerfung der Berufung gemäß<br />
§ 329 Abs. 1 <strong>StPO</strong> durch den Normzweck nicht mehr gedeckt.<br />
§§ 261, 337 <strong>StPO</strong><br />
Beweiswürdigung bei Freispruch<br />
SenE v. 14.11.2006 - 81 Ss 108/06 -<br />
Rechtsfehlerfrei ist das Landgericht davon ausgegangen, das die innere Tatseite des §<br />
183 StGB nicht erfüllt ist, wenn der Täter nur mit der Möglichkeit rechnet, er werde bei<br />
seiner Handlung von einer anderen Person wahrgenommen. Erforderlich ist insoweit direkter<br />
Vorsatz (OLG Düsseldorf NJW 1977, 262; NStZ 1998, 412; Tröndle/Fischer a.a.O.,<br />
§ 183 Rn. 7).<br />
Die Erwägungen, mit denen das Landgericht zu dem Ergebnis gelangt ist, es habe nicht<br />
festgestellt werden können, dass der Angeklagte direkten Vorsatz in Bezug auf die<br />
Wahrnehmung seines Handelns durch eine andere Person hatte, halten indes rechtlicher<br />
Überprüfung nicht stand.<br />
Insoweit ist freilich von dem Grundsatz auszugehen, dass es das Revisionsgericht hinzunehmen<br />
hat, wenn der Tatrichter den Angeklagten freispricht, weil er Zweifel an dessen<br />
Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Denn die Beweiswürdigung ist allein ihm vorbehalten.<br />
Das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen (§ 261 <strong>StPO</strong>),<br />
ist ausschließlich seine Sache; die von ihm dabei gewonnenen Ergebnisse sind grundsätzlich<br />
vom Revisionsgericht hinzunehmen (BGHSt 10, 208 ff. = NJW 1957, 1039; BGH<br />
StV 1991, 548; BGHR § 261 <strong>StPO</strong> Überzeugungsbildung 33; st. Senatsrechtsprechung,<br />
vgl. nur SenE v. 06.11.2001 – Ss 397/01). Die revisionsrechtliche Überprüfung beschränkt<br />
sich darauf, ob dem Tatrichter bei der Beurteilung der Beweislage Rechtsfehler<br />
unterlaufen sind.<br />
Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich,<br />
unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gegen gesicherte Erfahrungssätze<br />
verstößt (BGH NStZ-RR 2000, 171; BGH NJW 2000, 370; ständige Senatsrechtsprechung,<br />
vgl. SenE a.a.O.). Dem Urteil muss insbesondere zu entnehmen sein,<br />
dass der den Entscheidungsgegenstand bildende Sachverhalt erschöpfend gewürdigt ist<br />
(SenE a.a.O.). Will das Tatgericht den Angeklagten trotz fortbestehenden erheblichen<br />
Tatverdachts freisprechen, muss es in seine Beweiswürdigung und deren Darlegung alle<br />
für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände und Erwägungen einbeziehen<br />
(BGH NStZ 1999, 423; SenE a.a.O.; vgl. zu allem auch Meyer-Goßner a.a.O., § 337 Rn.<br />
26 – 30 mit zahlreichen Nachweisen).
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 11<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
Danach sind die Erwägungen der Strafkammer zur subjektiven Tatseite unvollständig und<br />
daher rechtsfehlerhaft.<br />
§ 344 II <strong>StPO</strong>, 185, 189 GVG<br />
Rüge der versäumten Vereidigung des Dolmetschers<br />
SenE v. 12.12.2006 - 83 Ss 81-81/06 -<br />
1.<br />
Die Verfahrensrügen, mit denen beanstandet wird, die in der Hauptverhandlung vor dem<br />
Amtsgericht anwesende Dolmetscherin sei nicht vereidigt worden bzw. habe sich nicht<br />
auf einen allgemein geleisteten Eid berufen, sind nicht in einer den Anforderungen des §<br />
344 Abs. 2 S. 2 <strong>StPO</strong> genügenden Form ausgeführt worden.<br />
a)<br />
Soweit sich die Revision der Angeklagten A. auf den absoluten Revisionsgrund des § 338<br />
Nr. 5 <strong>StPO</strong> stützt, kann dem Rügevorbringen schon nicht entnommen werden, dass die<br />
Hauptverhandlung in Abwesenheit einer Person stattgefunden hat, deren Anwesenheit<br />
das Gesetz vorschreibt.<br />
Die Anwesenheit eines Dolmetschers schreibt das Gesetz in § 185 Abs. 1 GVG nur für<br />
den Fall vor, dass ein Verfahrensbeteiligter der deutschen Sprache nicht mächtig ist. Ein<br />
absoluter Revisionsgrund ist durch Abwesenheit des Dolmetschers nur dann begründet,<br />
wenn eine (vollständige) Unkenntnis der deutschen Sprache vorliegt. Ist der Angeklagte<br />
hingegen teilweise der deutschen Sprache mächtig, so hat der Tatrichter nach pflichtgemäßem<br />
Ermessen darüber zu entscheiden, in welchem Umfang er einen Dolmetscher bei<br />
der Verhandlung zuziehen will (BGHSt, 3, 285; Schoreit in Karlsruher Kommentar, <strong>StPO</strong>,<br />
5. Aufl., § 259 Rn. 3). In diesem Fall gehört der Dolmetscher nicht zu den Personen, deren<br />
Anwesenheit für die gesamte Verhandlung vorgeschrieben ist (BGH NStZ 84, 328;<br />
NStZ 02, 275, 276; Kuckein in Karlsruher Kommentar, <strong>StPO</strong>, 5. Aufl., § 338 Rn. 80).<br />
Dass die Angeklagte A. in diesem Sinne der deutschen Sprache nicht mächtig ist, wird<br />
mit der Revisionsbegründung nicht vorgetragen. Die fehlende Vereidigung der Dolmetscherin<br />
steht ihrer Abwesenheit nicht gleich (Hanack in Löwe-Rosenberg, <strong>StPO</strong>, 25. Aufl.,<br />
§ 338 Rn. 100). Darin kann allenfalls ein relativer Revisionsgrund liegen.<br />
b)<br />
Aber auch für den relativen Revisionsgrund nach § 337 <strong>StPO</strong> in Verbindung mit einer<br />
etwaigen Verletzung des § 189 GVG genügt das Vorbringen der Revisionen nicht den<br />
Vorgaben des § 344 Abs. 2 S. 2 <strong>StPO</strong>, weil es nicht erkennen lässt, dass das Urteil auf<br />
diesem Mangel beruhen könnte. Es ist nämlich nicht dargetan, dass die Dolmetscherin<br />
eine für die Entscheidungsfindung möglicherweise bedeutsame Tätigkeit entfaltet hat und<br />
diese Tätigkeit rechtlich geboten war.<br />
Der Vereidigung eines Dolmetschers bedarf es nicht, wenn er überhaupt nicht als solcher<br />
tätig geworden ist oder wenn es seiner Tätigkeit nicht bedurfte. Daher muss die auf § 189<br />
GVG gestützte Rüge den Vortrag enthalten, dass der Dolmetscher tatsächlich tätig geworden<br />
ist (BGH StV 93, 396), dass er also etwa die Angaben des Angeklagten ganz<br />
oder teilweise in die deutsche Sprache übertragen hat (vgl. BGH bei Kusch NStZ 94, 26;
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 12<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
SenE vom 10.05.2000 – Ss 195/00). Bei partiellen Deutschkenntnissen des Angeklagten<br />
ist zudem die Angabe erforderlich, dass der Dolmetscher bei den relevanten Abschnitten<br />
von Aussagen für deren richtiges Verständnis auch tätig werden musste; andernfalls kann<br />
das Revisionsgericht nicht beurteilen, ob der Angeklagte außer Stande gewesen ist, ohne<br />
Dolmetscher der Verhandlung zu folgen und sein Mitwirkungsrecht wahrzunehmen (vgl.<br />
BGHR § 185 GVG Zuziehung 2; BGH NStZ 96, 608; Diemer in Karlsruher Kommentar, §<br />
189 GVG Rn. 3).<br />
Diesen Anforderungen entsprechen die vorliegenden Revisionsbegründungen nicht.<br />
In der Revisionsbegründung der Angeklagten A. heißt es lediglich, dass die geladene<br />
Dolmetscherin an der Hauptverhandlung teilgenommen hat. Damit ist nicht ausgeführt,<br />
dass sie eine entscheidungsrelevante Dolmetschertätigkeit entfaltet hat.<br />
Aus der Revisionsbegründung der Angeklagten B. wäre die Formulierung, dass die Dolmetscherin<br />
„tätig“ geworden ist, für sich betrachtet noch nicht ausreichend. Allerdings<br />
heißt es dort weiter, dass die Dolmetscherin „die Hauptverhandlung von der deutschen<br />
Sprache in die kroatische und umgekehrt übersetzt“ habe; insoweit ist das Vorbringen<br />
ausreichend. Es lässt jedoch im Unklaren, ob die Übersetzertätigkeit überhaupt erforderlich<br />
war.<br />
Das bloße Vorbringen, die Angeklagte B. sei der deutschen Sprache „nicht ausreichend<br />
mächtig“, genügt dem nicht. Im Fall beschränkter Sprachkenntnisse eines Angeklagten<br />
gehört es mit zur ordnungsgemäßen Erhebung der Rüge, dass dargetan wird, wie weit<br />
die sprachlichen Fähigkeiten des Angeklagten reichten; denn andernfalls kann das Revisionsgericht<br />
nicht beurteilen, ob der Angeklagte außer Stande gewesen ist, ohne Dolmetscher<br />
der Verhandlung zu folgen und sein Mitwirkungsrecht wahrzunehmen (vgl. SenE<br />
vom 19.10.1999 – Ss 463/99 – SenE vom 27.04.2001 – Ss 140/01 -; vgl. auch BGH DAR<br />
01, 2006 T). Angaben dazu, in welcher Hinsicht die Deutschkenntnisse der Angeklagten<br />
B. nicht ausreichten, lassen sich auch ihrer Revisionsbegründung nicht entnehmen, so<br />
dass das Revisionsgericht auf der Grundlage des § 344 Abs. 2 S. 2 <strong>StPO</strong> die Verfahrensrüge<br />
nicht daraufhin überprüfen kann, ob sie durchgreift.
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 13<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
Strafgesetzbuch<br />
§ 21 StGB<br />
Exhibitionismus<br />
SenE v. 14.11.2006 - 81 Ss 108/06 -<br />
Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass ggf. auch die Frage der<br />
Schuldfähigkeit des Angeklagten zu erörtern sein wird (vgl. OLG Zweibrücken StV 1986,<br />
436; SenE v. 01.10.2002 – Ss 341/02; Lenckner/Perron/Eisele in Schönke/Schröder,<br />
StGB, 27. Auflage, § 183 Rn. 6; Tröndle/Fischer a.a.O., § 21 Rn. 8). Ob es sich bei Exhibitionismus<br />
um eine bloße Charakterschwäche oder um andere, tiefgreifendere Mängel<br />
der Persönlichkeit mit Krankheitswert handelt, kann in aller Regel nur im Rahmen einer<br />
Einzeluntersuchung entschieden werden (OLG Zweibrücken a.a.O.; SenE a.a.O.).<br />
§ 21 StGB<br />
Notwendige Prüfung bei Drogenabhängigkeit<br />
SenE v. 24.10.2006 - 83 Ss 76/06 -<br />
Bezogen auf den Strafausspruch hat das Rechtsmittel hingegen (zumindest) vorläufigen<br />
Erfolg. Die Urteilsgründe sind materiell-rechtlich unvollständig, weil sie die Voraussetzungen<br />
einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit nach § 21 StGB nicht hinreichend<br />
erörtern. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass die Entscheidung in dieser<br />
Hinsicht auf rechtsfehlerhaften Erwägungen beruht.<br />
Das Amtsgericht hat lediglich ausgeführt: „Trotz der Rauschgiftabhängigkeit des Angeklagten<br />
war eine Milderung der Strafe entsprechend §§ 21, 49 StGB nicht angezeigt.<br />
Denn der Angeklagte hat bei seinen Festnahmen keine Ausfallerscheinungen gezeigt“.<br />
Dies genügt nicht angesichts der sonstigen Feststellungen, dass der Angeklagte seit Jahren<br />
(spätestens im Zusammenhang mit seiner Verurteilung von 1993) drogenabhängig<br />
ist, dass er auch nach seiner letzten Haftentlassung (am 5. August 2005) nicht von seiner<br />
Rauschgiftsucht los kam und dass er in der letzten Zeit und vor seiner nunmehrigen<br />
Festnahme (am 6. April 2006) täglich bis zu 1 g Heroin konsumiert habe.<br />
Wenn auch vorliegend kein Anhaltspunkt für eine Schuldunfähigkeit nach § 20 StGB ersichtlich<br />
ist, so hätte es doch näherer Erörterung zum Vorliegen der Voraussetzungen<br />
des § 21 StGB bedurft. Zwar begründet Drogenabhängigkeit für sich alleine noch nicht<br />
die Annahme einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit im Sinne dieser Bestimmung.<br />
Wohl aber kann langjähriger Konsum zu einer Persönlichkeitsveränderung im Sinne einer<br />
schweren anderen Abartigkeit geführt oder der Täter unter starken Entzugserscheinungen<br />
zu leiden haben und durch sie zu einer Straftat getrieben werden. Zu einer erheblichen<br />
Verminderung der Steuerungsfähigkeit kann schließlich auch die Angst des Drogenabhängigen<br />
vor Entzugserscheinungen führen, die er schon als äußerst unangenehm<br />
erlebt hat und als nahe bevorstehend einschätzt (vgl. dazu BGH NStZ 1999, 448; BGH<br />
NStZ 2001, 83; BGH NStZ 2001, 85; weitere Nachweise in SenE vom 21.10.2003 - Ss<br />
346/03 -). Deswegen ist das Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 StGB bei Drogenabhängigen<br />
stets zu prüfen, selbst wenn keine Anhaltspunkte für eine Tatbegehung unter
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 14<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
akuter Betäubungsmittelbeeinflussung bestehen (vgl. BGH StV 1988, 198; Senat a. a. O.<br />
und neuestens wieder SenE v. 12.10.2006 - 82 Ss 115/06 -).<br />
Dem ist vorliegend mit den Worten, dass der Angeklagte bei seinen Festnahmen keine<br />
Ausfallerscheinungen gezeigt habe, nicht Genüge getan. Die Anwendbarkeit des § 21<br />
StGB bei Heroinabhängigen setzt nämlich nicht in jedem Fall akute körperliche Entzugserscheinungen<br />
des Täters zur Tatzeit voraus (BGHR StGB § 21 BtMG Auswirkungen<br />
2; BGH NStZ 2001, 83 [84]). Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Angst des Heroinabhängigen<br />
vor Entzugserscheinungen, die er schon als äußerst unangenehm erlebt hat<br />
und als nahe bevorstehend einschätzt, seine Steuerungsfähigkeit erheblich beeinträchtigen<br />
kann (BGH NStZ 2001, 83 [84]). Weil bei langjährig Rauschgiftabhängigen die Anwendung<br />
des § 21 StGB auch dann in Betracht kommt, wenn schwerste Persönlichkeitsveränderungen<br />
vorliegen, muss der Tatrichter zudem bei Fehlen objektiver Beweisanzeichen<br />
für das Ausmaß der Drogenabhängigkeit das Vorliegen der medizinischpsychiatrischen<br />
Anknüpfungspunkte notfalls mit Hilfe eines Sachverständigen selbstständig<br />
und eigenverantwortlich prüfen (BGH a. a. O.).<br />
Da der Tatrichter die nach den sonstigen Feststellungen zum Umfang der Betäubungsmittelabhängigkeit<br />
des Angeklagten gebotene genauere Untersuchung zum Vorliegen der<br />
Voraussetzungen des § 21 StGB nicht vorgenommen hat und da das Vorliegen verminderter<br />
Schuldfähigkeit sowohl für den Besitz von Betäubungsmitteln am 5. Dezember<br />
2005 als auch für das Handeltreiben mit Betäubungsmitteln am 6. April 2006 in Betracht<br />
kommt, unterliegt das angefochtene Urteil im Ausspruch über die Einzelstrafen und im<br />
Ausspruch über die Gesamtstrafe, mithin im Strafausspruch insgesamt, der Aufhebung.<br />
§ 46 StGB<br />
Urteilsgründe zur Person des Angeklagten<br />
SenE v. 10.10.2006 - 83 Ss 63/06 -<br />
Die Rechtsfolgenentscheidung des Landgerichts hält indes rechtlicher Überprüfung aufgrund<br />
der Sachrüge nicht stand.<br />
Zum Vorleben der Angeklagten heißt es im Berufungsurteil:<br />
„Der Angeklagte betätigt sich als Schrott- und Metallhändler. Er hat angegeben, ein monatliches<br />
Nettoeinkommen von 1.200 Euro zu beziehen. Unterhaltsverpflichtungen hat er<br />
nicht.<br />
Strafrechtlich ist der Angeklagte wie folgt in Erscheinung getreten: …“<br />
Danach sind die Urteilsgründe hinsichtlich der Rechtsfolgenseite materiell-rechtlich unvollständig,<br />
weil sich ihnen zu den persönlichen Verhältnissen der Angeklagten nichts<br />
Zureichendes entnehmen lässt.<br />
Aussagekräftige Feststellungen zum Lebensweg sowie zu den familiären und wirtschaftlichen<br />
Verhältnissen sind indessen Voraussetzung der für den Rechtsfolgenausspruch<br />
unerlässlichen Würdigung der Persönlichkeit eines Angeklagten (vgl. BGHR <strong>StPO</strong> § 267<br />
Abs. 3 Satz 1 Strafzumessung 10; SenE v. 25.07.2006 – 82 Ss 62/06; v. 01.09.2006 – 81<br />
Ss 113/06). Sie sind in dem Umfang zu treffen, in dem sie von bestimmendem Einfluss<br />
auf die Rechtsfolgenseite sind (BGHR <strong>StPO</strong> § 267 Abs. 3 Satz 1 Strafzumessung 8, 15,<br />
20). Dabei kann bei der Darstellung der persönlichen Verhältnisse ein relativ kurz zusammengefasster<br />
Lebenslauf genügen (vgl. BGH NStZ-RR 2004, 66 – bei Becker;
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 15<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
Meyer-Goßner a.a.O., § 267 Rn. 4). Es bedeutet grundsätzlich einen Sachmangel, wenn<br />
der Tatrichter bei der Strafzumessung die persönlichen Verhältnisse des Täters überhaupt<br />
nicht oder nur unzureichend darstellt (BGH NStZ 1993, 30; BGH NStZ 1995, 200 ;<br />
Senat a.a.O.).<br />
Diesen Anforderungen an die Darstellung des Lebenswegs genügen die Feststellungen<br />
der Strafkammer nicht. Sie enthalten allenfalls eine kurze Beschreibung der gegenwärtigen<br />
Lebenssituation des Angeklagten.<br />
Dass der Angeklagte nähere Angaben zu seinem Werdegang verweigert hat, lässt sich<br />
dem angefochtenen Urteil nicht entnehmen.<br />
§ 46 StGB<br />
Regelbeispiel eines besonders schweren Falls<br />
SenE v. 07.11.2006 - 83 Ss 70/06 -<br />
Zur Strafrahmenwahl hat die Strafkammer ausgeführt:<br />
„Bei der Strafzumessung war bei allen drei Taten vom Strafrahmen des § 29 Abs.<br />
3 Satz 2 Nr. 1 BtmG auszugehen, da der Angeklagte in allen Fällen gewerbsmäßig<br />
handelte, nämlich um sich eine nicht unbedeutende Einkommensquelle<br />
auf unbestimmte Dauer zu verschaffen. Dementsprechend war bei jeder<br />
Tat von einem Strafrahmen auszugehen, der Freiheitsstrafe von 1 bis 15 Jahren<br />
umfasst. Alleine der Umstand, dass sich die Taten des Angeklagten auf weiche<br />
Drogen bezogen und er bei den Taten 2. und 3. nur geringe Mengen verkauft<br />
hat, reichen nicht aus, anstelle des erhöhten Strafrahmens wegen Gewerbsmäßigkeit:<br />
vom Regelstrafrahmen des § 29 Abs. 1 auszugehen; denn der Angeklagte<br />
verfügte wie die Tat vom 06.07.2005 zeigt, durchaus über größere Mengen. Zudem<br />
hatte er sich trotz der polizeilichen Festnahmen am 06.07. und 07.07. nicht<br />
von der weiteren Tat am 12.07.2005 abhalten lassen.“<br />
Diese Erwägungen sind materiell-rechtlich unvollständig.<br />
Auch wenn die Merkmale eines Regelbeispiels für die Annahme eines besonders schweren<br />
Falles erfüllt sind, so begründet dies lediglich eine Indizwirkung dafür, dass die Anwendung<br />
des erhöhten Strafrahmens veranlasst ist.<br />
Diese Wirkung kann durch Umstände, die den Unrechts- und Schuldgehalt des Regelbeispiels<br />
kompensieren, ausgeräumt werden (BGH NStZ 2004, 265; ständige Senatsrechtsprechung,<br />
vgl. nur SenE v. 21.04.2006 – 83 Ss 19/06 mit weiteren Nachweisen; Tröndle/Fischer,<br />
StGB, 53. Auflage, § 46 Rn. 90, 91 m.w.N.). Es ist daher auch in den Regelbeispielfällen<br />
zur Bestimmung des maßgeblichen Strafrahmens stets eine Gesamtwürdigung<br />
aller für die Strafzumessung wesentlichen Umstände vorzunehmen (BGH StV 1982,<br />
225; Senat a.a.O.; vgl. Weber, BtMG, 2. Auflage, Vor §§ 29 ff. Rn. 539, 543; Tröndle/Fischer<br />
a.a.O.).<br />
Diese Würdigung hat die Strafkammer nicht hinreichend vollständig vorgenommen. Es<br />
drängte sich auf, in diesem Zusammenhang die Bedeutung des Geständnisses des Angeklagten<br />
zu erörtern sowie die Tatsache zu werten, dass der Angeklagte Drogenkonsument<br />
ist und die Betäubungsmittel nicht in Verkehr gelangt sind.
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 16<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
§§ 46, 47 StGB<br />
Urteilsgründe zur Person des Angeklagten<br />
SenE v. 10.11.2006 - 82 Ss 134/06 -<br />
Die Urteilsgründe sind schon materiell-rechtlich unvollständig, weil sich ihnen zu den persönlichen<br />
Verhältnissen des Angeklagten nichts Zureichendes entnehmen lässt. Zum<br />
Vorleben des Angeklagten heißt es im Berufungsurteil:<br />
„Der 26-jährige Angeklagte ist ledig. Er arbeitet seit Mai 2006 als Bauhelfer,<br />
wobei er 800,00 Euro netto monatlich verdient. Darüber hinaus arbeitet er an<br />
Samstagen in einem Call-Center, wofür er etwa 80,00 Euro netto monatlich<br />
erhält.<br />
Er ist ledig und hat keine unterhaltspflichtigen Kinder. In der Hauptverhandlung<br />
hat er angegeben, seine Lebensgefährtin sei von ihm im 5. Monat schwanger.<br />
Strafrechtlich ist der Angeklagte wie folgt in Erscheinung getreten: ...“<br />
Aussagekräftige Feststellungen zum Lebensweg sowie zu den familiären und wirtschaftlichen<br />
Verhältnissen sind indessen Voraussetzung der für den Rechtsfolgenausspruch<br />
unerlässlichen Würdigung der Persönlichkeit eines Angeklagten (vgl. BGHR <strong>StPO</strong> § 267<br />
Abs. 3 Satz 1 Strafzumessung 10; SenE v. 25.07.2006 – 82 Ss 62/06; v. 01.09.2006 – 81<br />
Ss 113/06). Sie sind in dem Umfang zu treffen, in dem sie von bestimmendem Einfluss<br />
auf die Rechtsfolgenseite sind (BGHR <strong>StPO</strong> § 267 Abs. 3 Satz 1 Strafzumessung 8, 15,<br />
20). Dabei kann bei der Darstellung der persönlichen Verhältnisse ein relativ kurz zusammengefasster<br />
Lebenslauf genügen (vgl. BGH NStZ-RR 2004, 66 – bei Becker;<br />
Meyer-Goßner, <strong>StPO</strong>, 49. Aufl., § 267 Rn. 4). Es bedeutet grundsätzlich einen Sachmangel,<br />
wenn der Tatrichter bei der Strafzumessung die persönlichen Verhältnisse des Täters<br />
überhaupt nicht oder nur unzureichend darstellt (BGH NStZ 1993, 30; BGH NStZ 1995,<br />
200 ; Senat a.a.O.).<br />
Diesen Anforderungen an die Darstellung des Lebenswegs genügen die Feststellungen<br />
der Strafkammer nicht. Sie enthalten allenfalls eine kurze Beschreibung der gegenwärtigen<br />
Lebenssituation des Angeklagten. Es ist auch nicht erkennbar, dass der Angeklagte<br />
nähere Angaben zu seinem Werdegang verweigert hat.<br />
2. Darüber hinaus wird in dem angefochtenen Urteil auch nicht ausreichend begründet,<br />
dass gemäß § 47 StGB die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe geboten ist. Es genügt<br />
für eine Verurteilung des Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe unter sechs Monaten<br />
nicht, auf das Erfordernis einer Gesamtwürdigung aller die Tat und den Täter kennzeichnenden<br />
Umstände (BGH NStZ 1996, 429; Tröndle/Fischer, StGB, 53. Aufl., § 47 Rn. 6)<br />
lediglich hinzuweisen und darzutun, das Gericht sei sich bei seiner Entscheidung dieses<br />
Erfordernisses bewusst gewesen, wie es das Berufungsgericht vorliegend getan hat. Das<br />
Tatgericht hat vielmehr alle für die Subsumtion unter die Voraussetzungen des § 47 StGB<br />
relevanten Umstände im Einzelnen zu nennen (vgl. BGH a.a.O.; SenE v. 10.10.2006 - 83<br />
Ss 63/06 -). Daran fehlt es hier, denn die Kammer hat bei ihrer Entscheidung insoweit<br />
lediglich die Vorstrafen und die Rückfallgeschwindigkeit herangezogen. Aus dem Urteil<br />
selbst ergeben sich aber – trotz der insoweit gegebenen Unvollständigkeit der Gründe –<br />
bereits weitere Umstände, die mit in die Abwägung einzubeziehen gewesen wären und<br />
möglicherweise eine andere Entscheidung gerechtfertigt hätten. Dies gilt insbesondere<br />
für die im Rahmen der Bewährungsentscheidung angesprochenen Gesichtspunkte, dass
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 17<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
der Angeklagte sich seit der Tat vom 11.11.2005 straffrei geführt hat sowie den Umstand,<br />
dass er nunmehr berufstätig ist, in einer festen Beziehung mit einer Frau zusammenlebt<br />
und demnächst Vater wird.<br />
§§ 46, 47 StGB<br />
Urteilsgründe zur Person des Angeklagten<br />
SenE v. 30.11.2006 - 83 Ss 96/06 -<br />
Das Amtsgericht hat den Angeklagten wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis<br />
zu einer Freiheitsstrafe von 3 Monaten verurteilt und eine Sperrfrist für die Erteilung einer<br />
neuen Fahrerlaubnis von 3 Monaten angeordnet.<br />
Hiergegen hat der Angeklagte Berufung eingelegt, die er auf die Überprüfung des<br />
Rechtsfolgenausspruchs beschränkt hat. Das Landgericht hat diese Rechtsmittelbeschränkung<br />
für wirksam gehalten und die Berufung mit der Maßgabe verworfen, dass die<br />
Maßregel entfällt.<br />
Die Revision des Angeklagten rügt Verletzung materiellen Rechts.<br />
Die Revision hat (vorläufigen) Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils<br />
und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz.<br />
Zutreffend hat die Strafkammer die Beschränkung der Berufung für wirksam gehalten und<br />
demgemäß in eigener Verantwortung nur über die Rechtsfolgenseite entschieden. Die<br />
Feststellungen des Amtsgerichts zum Schuldspruch lassen den Unrechts- und Schuldgehalt<br />
der Tat hinreichend erkennen (vgl. Meyer-Goßner, <strong>StPO</strong>, 49. Auflage, § 318 Rn. 16).<br />
Die Rechtsfolgenentscheidung des Landgerichts hält indes rechtlicher Überprüfung aufgrund<br />
der Sachrüge nicht stand.<br />
Zum Vorleben des Angeklagten heißt es im Berufungsurteil:<br />
„Der 58 Jahre alte Angeklagte ist geschieden und hat keinerlei Unterhaltsverpflichtungen.<br />
Er ist Geschäftsführer eines Weinhandels, der von einer Aktiengesellschaft luxemburgischen<br />
Rechts betrieben wird, an der u.a. er und seine Mutter beteiligt sind. Sein Gehalt<br />
gibt er mit monatlich 1.200 € netto an.<br />
Strafrechtlich ist der Angeklagte wie folgt in Erscheinung getreten:<br />
…<br />
6. Am 13.12.2004 verurteilte ihn das Amtsgericht Trier wegen vorsätzlicher Trunkenheit<br />
im Verkehr in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer Freiheitsstrafe<br />
von 3 Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. … In den<br />
Gründen dieses Urteils heißt es u.a. wie folgt: … Dem Angeklagten konnte eine Bewährungschance<br />
gegeben werden. … Er hat in der Hauptverhandlung glaubhaft gemacht,<br />
dass er sein Alkoholproblem kennt und dieses angehen möchte.<br />
Zunächst durch die Inanspruchnahme von Suchtberatungsgesprächen will er von seiner<br />
Sucht loskommen. ...“<br />
Danach sind die Gründe des angefochtenen Urteils hinsichtlich der Rechtsfolgenseite<br />
materiell-rechtlich unvollständig, weil sich ihnen zu den persönlichen Verhältnissen des<br />
Angeklagten nichts Zureichendes entnehmen lässt.
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 18<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
Aussagekräftige Feststellungen zum Lebensweg sowie zu den familiären und wirtschaftlichen<br />
Verhältnissen sind indessen Voraussetzung der für den gesamten Rechtsfolgenausspruch<br />
unerlässlichen Würdigung der Persönlichkeit eines Angeklagten (vgl.<br />
BGHR <strong>StPO</strong> § 267 Abs. 3 Satz 1 Strafzumessung 10). Sie sind in dem Umfang zu treffen,<br />
in dem sie von bestimmendem Einfluss auf die Rechtsfolgenseite sind (BGHR <strong>StPO</strong> §<br />
267 Abs. 3 Satz 1 Strafzumessung 8, 15, 20). Dabei kann bei der Darstellung der persönlichen<br />
Verhältnisse ein relativ kurz zusammengefasster Lebenslauf genügen (vgl. BGH<br />
NStZ-RR 2004, 66 – bei Becker; Meyer-Goßner a.a.O., § 267 Rn. 4). Es bedeutet indessen<br />
grundsätzlich einen Sachmangel, wenn der Tatrichter bei der Rechtsfolgenentscheidung<br />
die persönlichen Verhältnisse des Täters überhaupt nicht oder nur unzureichend<br />
darstellt (BGH NStZ 1993, 30; BGH NStZ 1995, 200 ; so insgesamt: SenE v. 10.10.2006<br />
– 83 Ss 63/06; v. 10.11.2006 – 82 Ss 134/06). Das gilt insbesondere dann, wenn eine<br />
kurze Freiheitsstrafe im Sinne des § 47 StGB verhängt wird und/oder die Strafaussetzungsfrage<br />
zu erörtern ist.<br />
Diesen Anforderungen an die Darstellung des Lebenswegs genügen die Feststellungen<br />
der Strafkammer nicht. Sie enthalten allenfalls eine kurze Beschreibung der gegenwärtigen<br />
Lebenssituation des Angeklagten, wobei sich ihnen zu dem im Urteil des Amtsgerichts<br />
Trier vom 13.12.2004 (s.o.) angesprochenen „Alkoholproblem“ noch nicht einmal<br />
entnehmen lässt, ob der Angeklagte in dem Bemühen, „von seiner Sucht loszukommen“,<br />
erfolgreich war. Dass der Angeklagte nähere Angaben zu seinen persönlichen Verhältnissen<br />
verweigert hat, geht aus dem angefochtenen Urteil ebenfalls nicht hervor.<br />
Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:<br />
Was die Prüfung der Voraussetzungen des § 47 StGB (kurze Freiheitsstrafe nur in Ausnahmefällen)<br />
anbelangt, so genügt es nicht, dazu lediglich Rechtsprechungsgrundsätze<br />
wiederzugeben. Erforderlich ist vielmehr eine fallbezogene Erörterung, d.h. eine Anwendung<br />
dieser Grundsätze auf den konkreten Fall (Senat a.a.O.).<br />
§§ 46, 57 StGB<br />
Strafzumessungsgründe<br />
SenE v. 24.11.2006 - 83 Ss 80/06 -<br />
Daneben sind auch die Strafzumessungserwägungen des angefochtenen Urteils in einem<br />
solchen Maße unvollständig, dass sie keine tragfähige Grundlage für die Rechtsfolgenentscheidung<br />
einschließlich der Bewährungsfrage darstellen.<br />
Der Tatrichter hat in den Urteilsgründen die Umstände anzuführen, die für die<br />
Strafzumessung bestimmend gewesen sind (§ 267 Abs. 3 <strong>StPO</strong>; vgl. auch § 46 StGB).<br />
Dabei muss er die Abwägung der einzelnen Umstände nach Bedeutung und Gewicht erkennbar<br />
machen (§ 46 Abs. 2 Satz 1 StGB). Die Strafzumessung muss aufgrund einer<br />
Gesamtwürdigung von Tatgeschehen und Täterpersönlichkeit erfolgen.<br />
Dem werden die Strafzumessungserwägungen des Landgerichts nicht gerecht.<br />
Sie erschöpfen sich in dem schlichten Hinweis auf die „vielfachen einschlägigen Vorverurteilungen“<br />
des Angeklagten. Die gebotene Abwägung der maßgeblichen, für und gegen<br />
den Angeklagten sprechenden Gesichtspunkte findet nicht statt. Die in § 46 Abs. 2 StGB
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 19<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
angeführten Strafzumessungskriterien werden – mit einer Ausnahme – schlicht übergangen.<br />
Daher bleibt offen, ob und gegebenenfalls wie das Landgericht bewertet hat, dass<br />
der Angeklagte geständig war, dass er langjährig drogenabhängig war und dass deshalb<br />
im Hinblick auf die Verurteilung wegen Erwerbs von Betäubungsmitteln eine zwingende<br />
Tatgeneigtheit vorgelegen haben dürfte; weiterhin, dass es sich um so genannte weiche<br />
Drogen gehandelt hat, dass die Drogen offensichtlich sichergestellt worden sind, dass der<br />
Angeklagte mit dem Bewährungswiderruf wegen der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe<br />
wegen fahrlässiger Trunkenheit im Straßenverkehr aus dem Urteil des Amtsgerichts<br />
Waldbröl vom 08.03.2005 - 4 Ds 919/04 - zu rechnen hat und andererseits, dass er während<br />
dieser laufenden Bewährungen eine einschlägige Straftat begangen hat.<br />
Auch was die Prüfung der Voraussetzungen des § 47 StGB (kurze Freiheitsstrafe nur in<br />
Ausnahmefällen) anbelangt, so genügt es nicht, dazu lediglich den Gesetzestext wiederzugeben.<br />
Damit die Anwendung des § 47 StGB auf Rechtsfehler geprüft werden kann,<br />
bedarf es einer eingehenden und nachprüfbaren Begründung (BGH StV 1982, 366; StV<br />
1994, 370; OLG Schleswig StV 1982, 367; StV 1993, 29, 30; Senat NJW 1981, 411; SenE<br />
v. 03.01.2003 - Ss 536/02 -; vgl. a. Dahs/Dahs, Die Revision im Strafrecht, 5. Aufl.,<br />
Rdnr. 394). Erforderlich ist daher eine fallbezogene Erörterung, d.h. eine Anwendung der<br />
zu § 47 StGB von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze auf den konkreten Fall.<br />
Hieran fehlt es.<br />
§ 47 StGB<br />
"Verletzung des Gastrechts"<br />
SenE v. 21.11.2006 - 83 Ss 52/06 -<br />
(Vorläufigen) Erfolg hat die Revision (…) hinsichtlich des Rechtsfolgenausspruchs, d.h.<br />
der Verhängung einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung<br />
ausgesetzt wurde. Insoweit heißt es in dem angefochtenen Urteil zur Begründung<br />
der kurzen Freiheitsstrafe:<br />
„Die Verhängung einer Freiheitsstrafe war zur Verteidigung der Rechtsordnung<br />
und auch zur Einwirkung auf die Angeklagte nach Ansicht des Gerichts<br />
zwingend geboten. Der Angeklagten muss eindeutig klargemacht werden,<br />
dass sie ihr Gastrecht in Deutschland nicht durch das Begehen von Straftaten<br />
verletzen darf.“<br />
Obwohl das Amtsgericht die Bestimmung des § 47 StGB nicht ausdrücklich erwähnt hat,<br />
ergibt sich aus der Bezugnahme auf das Erfordernis der Verteidigung der Rechtsordnung,<br />
dass das Gericht diese Bestimmung nicht übersehen hat, wie die Revision meint.<br />
Die Voraussetzungen des § 47 StGB sind jedoch nicht hinreichend festgestellt. Nach der<br />
gesetzgeberischen Grundentscheidung des § 47 StGB soll die Verhängung kurzfristiger<br />
Freiheitsstrafen weitestgehend zurückgedrängt werden und nur noch ausnahmsweise<br />
unter ganz besonderen Umständen in Betracht kommen (vgl. BGHSt 24, 40, 42 f.; OLG<br />
Hamm VRS 97, 410 [411]). Die Verhängung einer Freiheitsstrafe unter 6 Monaten hat<br />
danach regelmäßig nur dann Bestand, wenn sie sich aufgrund einer Gesamtwürdigung<br />
aller die Tat und den Täter kennzeichnenden Umstände als unverzichtbar erweist (BGHR<br />
StGB § 47 Abs. 1 Umstände 7 = NStZ 1996, 429; BGH StV 1994, 370; OLG Hamm VRS<br />
97, 410 [411] m. w. Nachw.). Damit die Anwendung des § 47 StGB auf Rechtsfehler geprüft<br />
werden kann, bedarf es einer eingehenden und nachprüfbaren Begründung (BGH
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 20<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
StV 1982, 366; StV 1994, 370; OLG Schleswig StV 1982, 367; StV 1993, 29, 30; Senat<br />
NJW 1981, 411; SenE v. 03.01.2003 - Ss 536/02 -; SenE v. 29.08.2003 - Ss 336-337/03 -<br />
; SenE v. 16.04.2004 - Ss 130/04 -; vgl. a. Dahs/Dahs, Die Revision im Strafrecht, 5.<br />
Aufl., Rdnr. 394). Hieran fehlt es in dem angefochtenen Urteil. Das Amtsgericht stellt zur<br />
Begründung seiner Entscheidung für die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe allein<br />
auf den Gesichtspunkt der "Verletzung des Gastrechts" ab. Das vermag aber weder zu<br />
begründen, warum die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf die<br />
Angeklagte erforderlich war, noch dass dies zur Verteidigung der Rechtsordnung unerlässlich<br />
war (vgl. zu letzterem OLG Hamm, Beschluss vom 11.11.2004 – 4 Ss 476/04 -,<br />
insoweit in NStZ-RR 2005, 212 nicht abgedruckt).<br />
Abgesehen davon ist zu besorgen, dass das Amtsgericht mit dieser Begründung in der<br />
Sache zum Nachteil der Angeklagten in unzulässiger Weise berücksichtigt hat, dass sie<br />
Ausländerin ist. Die Ausländereigenschaft als solche darf aber nicht strafschärfend berücksichtigt<br />
werden. Die Staatsangehörigkeit des Täters ist grundsätzlich für die Bewertung<br />
seiner Schuld, die Grundlage für die Strafzumessung ist (§ 46 Abs. 1 S. 1 StGB),<br />
ohne Bedeutung. Insbesondere wird auch das Maß der Pflichtwidrigkeit (§ 46 Abs. 2 Satz<br />
2 StGB) durch sie nicht beeinflusst. Eine gesteigerte Pflicht, sich im Gastland straffrei zu<br />
führen, trifft den Ausländer nicht (so BGH NStZ-RR 1993, 337 f. = StV 1993, 358 f., vgl.<br />
a. KG NStZ-RR 2000, 68 [KIR]; SenE v. 28.10.2003 - Ss 464/03 - m.w.Nachw.; SenE v.<br />
04.01.2005 - 8 Ss 474/04 -).<br />
§§ 46, 53 StGB<br />
Nachtatverhalten; Gesamtstrafenbildung<br />
SenE v. 27.10.2006 - 81 Ss 138/06 -<br />
Die Verhängung einer Gesamtfreiheitsstrafe von 8 Monaten bei drei Einzelstrafen von je<br />
drei Monaten Freiheitsstrafe erscheint unverhältnismäßig hoch. Die Einsatzstrafe von drei<br />
Monaten Freiheitsstrafe wird damit fast verdreifacht. Im Hinblick hierauf ist zu besorgen,<br />
dass sich das Landgericht – wie schon zuvor das Amtsgericht – in zu starkem Maße von<br />
der Summe der Einzelstrafen hat leiten lassen (vgl. hierzu BGH StV 00, 254; BGH StV<br />
03, 555 = NStZ-RR 03, 9, 10; SenE vom 4.11.2003 – Ss 454/03 -) und lediglich einen<br />
„Abzug“ von einem Monat vorgenommen hat. Die ungewöhnlich große Spanne zwischen<br />
Einsatz- und Gesamtstrafe ist auch nicht schon deswegen gerechtfertigt, weil insgesamt<br />
die Strafen aus drei Taten zusammenzuführen sind.<br />
Ein weiterer sachlich-rechtlicher Erörterungsmangel bei der Gesamtstrafenbildung liegt<br />
darin, dass das Landgericht die in anderem Zusammenhang, nämlich bei den Feststellungen<br />
zur Person und bei der Frage der Strafaussetzung zur Bewährung, erörterte günstige<br />
Veränderung der Umstände in der Lebensführung des Angeklagten in der Zeit zwischen<br />
amts- und landgerichtlichem Urteil (Aufnahme in das Clemens-Josef-Haus Vellerhof<br />
in Blankenheim/Ahr, einer Einrichtung für Alkoholkranke, und seither gute Führung<br />
dort mit dem Ziel, künftig suchtmittelfrei zu leben) nicht innerhalb der Erwägungen zur<br />
Gesamtstrafe mit berücksichtigt hat. Einzubeziehen in die Begründung der Gesamtstrafe<br />
sind aber auch etwaige günstige Veränderungen in der Lebensführung des Angeklagten<br />
in der der Tatbegehung nachfolgenden Zeit (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 2 Nachtatverhalten<br />
21; SenE vom 28.11.2003 – Ss 465/03 -).
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 21<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
Die erneut vorzunehmende Gesamtstrafenbildung wird nach § 354 Abs. 1 b <strong>StPO</strong> dem<br />
Beschlussverfahren nach §§ 460, 462 <strong>StPO</strong> übertragen (vgl. hierzu Meyer-Goßner, <strong>StPO</strong>,<br />
49 Aufl., § 354 Rn. 31). Die Entscheidung über die Gesamtstrafe wird also nunmehr von<br />
dem nach § 462 a Abs. 3 S. 1 <strong>StPO</strong> zuständigen Amtsgericht zu treffen sein, das auch<br />
über die Kosten der Revision zu befinden haben wird. Der Hinweis auf dieses Gericht in<br />
dem Tenor des vorliegenden Beschlusses dient der Klarstellung (vgl. SenE vom<br />
8.10.2004 – 8 Ss 415/04 -); die Zuständigkeitsfrage beantwortet sich aus § 354 Abs. 1 b<br />
S. 1 <strong>StPO</strong> selbst.<br />
§ 56 StGB<br />
Erstmaliger Freiheitsentzug während der Untersuchungshaft<br />
SenE v. 07.11.2006 - 83 Ss 70/06 -<br />
Hat der Angeklagte zwischen Begehung und Aburteilung der Tat durch Haft erstmals einen<br />
längeren Freiheitsentzug erlitten, so muss das Tatgericht bei seiner Prognoseentscheidung<br />
(§ 56 Abs. 1 StGB) auch darauf eingehen, welche Wirkungen diese Haft auf<br />
den Angeklagten hatte (vgl. OLG Dresden StV 2001, 626; BayObLG DAR 1982, 248;<br />
OLG Dresden StV 2002, 658 = StraFo 2003, 21; ständige Senatsrechtsprechung, vgl.<br />
Senat v. 05.10.1993 = NStZ 1994, 205; SenE v. 03.05.2005 – 8 Ss 64/05; Tröndle/Fischer,<br />
StGB, 53. Auflage, § 56 Rn. 6 b m.w.N.). Der erste (längere) Freiheitsentzug<br />
wird in der Regel am spürbarsten empfunden und kann durchaus eine spezialpräventive<br />
Wirkung – z.B. in Form der Nachreifung und Stabilisierung (vgl. BGH NStZ-RR 2005, 38)<br />
- entfaltet haben, die eine günstige Prognose im Sinne des § 56 Abs. 1 StGB rechtfertigt.<br />
Das kann auch in den Fällen gelten, in denen dem erstmaligen Freiheitsentzug ein Bewährungsbruch<br />
vorausgegangen ist (vgl. BGH a.a.O.).<br />
§ 56 StGB<br />
Getilgte Vorstrafen<br />
SenE v. 30.11.2006 - 83 Ss 88/06 -<br />
Getilgte oder tilgungsreife Vorstrafen können bei der Prognose künftigen Wohlverhaltens<br />
... keine Berücksichtigung mehr finden. Dies folgt aus dem Verwertungsverbot des § 51<br />
Abs. 1 BZRG, welches nicht nur die Tatsache der Vorverurteilung als solche, sondern<br />
auch die Berücksichtigung der Warnfunktion einer früheren getilgten Verurteilung z.N.<br />
des Angeklagten untersagt (BGH StV 90, 348). Die Vorschrift verbietet auch nicht nur, bei<br />
der Bemessung der Strafe nach Art und Höhe auf die frühere Verurteilung zurückzugreifen,<br />
sie gilt auch für die Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung, da es<br />
sich auch hierbei um eine Art der Strafzumessung handelt (Leipziger Kommentar, 11.<br />
Aufl., § 56 Rn. 20). An der Unverwertbarkeit ändert auch nichts, dass der Angeklagte die<br />
Verurteilung selbst angegeben hat (BGHSt 27, 108 ff. (110); BGHR § 51 Nr. 5).<br />
Es ist nicht auszuschließen, dass dieser Rechtsfehler den Rechtsfolgenausspruch hinsichtlich<br />
der Versagung der Strafaussetzung zur Bewährung beeinflusst hat. Denn aus<br />
dem Umstand, dass der Angeklagte zweifacher Bewährungsversager ist, hat die Kammer<br />
- insoweit rechtsbedenkenfrei - den Schluss gezogen, dass der Angeklagte sich durch die<br />
bloße Androhung einer Freiheitsstrafe oder die Verhängung einer Geldstrafe nicht beein-
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 22<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
drucken lässt. Demgegenüber hat sie dem Umstand, dass sich hieran durch den Widerruf<br />
der Bewährung aus dem Urteil des Amtsgerichts Bielefeld vom 24.01.2003 und die nunmehr<br />
seit Februar 2005 andauernde Inhaftierung des Angeklagten etwas geändert haben<br />
könnte, nicht (ausreichend) Rechnung getragen. Denn bei der vorzunehmenden Würdigung,<br />
ob die Strafhaft auf den Angeklagten eine positive Wirkung im Sinne eines „Warneffekts“<br />
erzielt hat (Tröndle/Fischer, a.a.O., § 56 Rn. 6a), hat die Kammer rechtsfehlerhaft<br />
nur auf die insoweit unverwertbare Jugendstrafe abgestellt.“<br />
§ 241 StGB<br />
Bestimmung des Erklärungsinhalts<br />
SenE v. 10.10.2006 - 82 Ss 100/06 -<br />
Dagegen führt die Revision auf die Sachrüge zur Aufhebung des angefochtenen Urteils<br />
und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz, soweit es den Schuldspruch wegen<br />
Bedrohung (§ 241 Abs. 1 StGB), die hierfür festgesetzte Einzelgeldstrafe sowie den<br />
Gesamtgeldstrafenausspruch betrifft.<br />
Der Schuldspruch hält insoweit materiell-rechtlicher Überprüfung nicht stand.<br />
Das Landgericht hat dazu festgestellt:<br />
„Am übernächsten Tag, dem 8. Februar 2005 rief der Angeklagte die Zeugin M. an<br />
und machte erneut verbal seinem Ärger der Zeugin gegenüber Luft. Im Rahmen<br />
dieses Streitgesprächs erklärte der Angeklagte gegenüber der Zeugin: “Du<br />
machst mich verrückt, aber bevor Du das machst, schicke ich Dich auf den Friedhof.“<br />
Die Zeugin nahm diese Äußerung des Angeklagten – wie von diesem beabsichtigt<br />
– ernst.“<br />
Zur Einlassung des Angeklagten insoweit heißt es im angefochtenen Urteil:<br />
„Der Angeklagte bestreitet …, anlässlich eines Telefonats einige Tage später diese<br />
(erg. die Zeugin M.) mit dem Tode bedroht zu haben.“<br />
Zur rechtlichen Wertung hat die Strafkammer ausgeführt:<br />
„Der Angeklagte hat sich demnach durch die tat vom 8. Februar 2005 wegen Bedrohung<br />
nach § 241 StGB strafbar gemacht.“<br />
Danach tragen die Urteilsgründe den Schuldspruch wegen Bedrohung nicht.<br />
Der Tatbestand des § 241 Abs. 1 StGB setzt das In-Aussicht-Stellen eines bestimmten<br />
tatsächlichen Verhaltens voraus, das als Verbrechen zu beurteilen wäre (BGHSt 17, 307,<br />
308; SenE vom 26.09.2000 – Ss 391/00 = StV 2001,158). Die wesentliche Merkmale des<br />
Verbrechens müssen aus der Äußerung - bzw. der Bedrohungshandlung - eventuell in<br />
Verbindung mit den Begleitumständen ersichtlich sein und die Drohung muss objektiv den<br />
Eindruck der Ernstlichkeit erwecken (Eser in Schönke/Schröder, StGB, 27. Auflage, § 241<br />
Rn. 4, 5 mit weiteren Nachweisen).<br />
Ob einer Erklärung diese Bedeutung beizumessen ist, hat der Tatrichter durch Auslegung<br />
zu ermitteln (Senat a. a. O.). Die Auslegung von Äußerungen und Erklärungen ist eine<br />
Tatsachenwürdigung, die nur dem Tatrichter zusteht (SenE v. 20.10.1987 – Ss 486-<br />
487/87 = NJW 1988, 1802;). Dem Revisionsgericht ist eine eigene Würdigung ebenso
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 23<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
versagt wie bei der Beweiswürdigung, auch wenn der Inhalt der betreffenden Äußerung<br />
im Urteil wörtlich festgestellt ist (SenE a.a.O.). Die Prüfung des Revisionsgerichts hat sich<br />
darauf zu beschränken, ob die Auslegung auf Rechtsirrtum beruht, ob sie lückenhaft ist<br />
oder gegen Sprach- und Denkgesetze, Erfahrungssätze und allgemeine Auslegungsregeln<br />
verstößt (SenE a.a.O.; SenE v. 28.01.1992 – Ss 567-569/1991 mit weiteren Nachweisen<br />
= NJW 1993, 1486; Meyer-Goßner, <strong>StPO</strong>, 49. Auflage, § 337 Rn. 32).<br />
Hier lässt sich den Urteilsgründen keine Auslegung der Äußerung des Angeklagten „…,<br />
schicke ich Dich auf den Friedhof“ entnehmen, die zur Annahme des Tatbestandes der<br />
Bedrohung führen könnte. Der Bedeutungsinhalt dieser Äußerung liegt auch nicht etwa<br />
auf der Hand. So sind von der Bedrohung im oben genannten Sinne Verwünschungen,<br />
Beschimpfungen und prahlerische Redensarten zu unterscheiden (vgl. die Beispiele bei<br />
Eser a.a.O., § 241 Rn. 4). Eine Abgrenzung dazu hat das Landgericht nicht vorgenommen.<br />
Hinzu kommt, dass bei einer Ankündigung für eine fernere Zukunft der (objektive)<br />
Eindruck hinreichender Ernstlichkeit fehlen kann (Eser a.a.O., § 241 Rn. 5).<br />
Auch die Einlassung des Angeklagten machte eine tatgerichtliche Auslegung seiner Äußerung<br />
nicht entbehrlich. Abgesehen davon, dass diese schon nicht erkennen lässt, ob<br />
der Angeklagte damit überhaupt einräumen wollte, die inkriminierten Worte gesagt zu<br />
haben, lässt sie jedenfalls offen, welchen Bedeutungsinhalt der Angeklagte ihnen beimessen<br />
wollte.<br />
§ 263 StGB<br />
Vermögensschaden<br />
SenE v. 17.10.2006 - 81 Ss 123/06 -<br />
Dem Angeklagten wird in der - ohne Änderung zur Hauptverhandlung zugelassenen -<br />
Anklage zur Last gelegt, sich des Betruges und der Urkundenfälschung schuldig gemacht<br />
zu haben, indem er beim Verkauf eines gebrauchten Pkw an den Zeugen S. wahrheitswidrig<br />
erklärte, das Fahrzeug sei frei von Hagelschäden, und den schriftlichen Kaufvertrag<br />
nachträglich abänderte. Das Amtsgericht hat ihn durch Urteil vom 10. Mai 2006 wegen<br />
Betruges zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 20 € verurteilt und dazu folgende<br />
Feststellungen getroffen:<br />
"Der Angeklagte verkaufte dem Zeugen S. am 29.06.2002 als Angestellter der zwischenzeitlich<br />
in Insolvenz gegangenen Firma Autohaus P. GmbH in B. einen gebrauchten PKW<br />
Marke Honda Civic zum Preise von 14.500,-- €. Hierbei sicherte er dem Zeugen zu, dass<br />
der PKW keinen (reparierten) Hagelschaden aufweise. Entsprechend wurden in dem Bestellformular<br />
weder Schäden, noch sonstige Bemerkungen notiert. In Wirklichkeit handelte<br />
es sich jedoch um das Fahrzeug einer ganzen Serie, die vor der Auslieferung an die<br />
Erstkunden in den USA einen Hagelschaden erlitten hatte, der vom Hersteller repariert<br />
worden war. Als der Wagen durch den Angeklagten am 10.07.02 an den Zeugen S.<br />
übergeben wurde, nachdem noch eine Beschädigung am Kotflügel nachlackiert worden<br />
war, und dieser erneut den Angeklagten auf einen etwaigen Hagelschaden ansprach,<br />
verneinte dieser wiederum. In den, dem Zeugen anlässlich dieser Übergabe überreichten<br />
Mäppchen mit den Fahrzeugunterlagen befand sich eine "geänderte" Kopie des Bestellformulars<br />
vom 29.96.02 mit folgendem Zusatz: reparierter Hagelschaden, keine Lackgarantie,<br />
Werksgarantie bis 12/03. Dieses Formular entdeckte der Zeuge erst, als er im
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 24<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
März 2003 von dem Insolvenzverwalter eine Reparaturrechnung über Lackierungsarbeiten<br />
erhielt."<br />
Zur rechtlichen Würdigung hat das Amtsgericht ausgeführt:<br />
"Auf Grund des Ergebnisses der Hauptverhandlung war der Angeklagte wegen Betruges<br />
zu verurteilen, § 263 I StGB. Unter Abstreiten des Vorschadens hat er den Zeugen zum<br />
Verkaufsabschluß gebracht, den der Zeuge in Kenntnis des Vorschadens jedenfalls nicht<br />
zu dem gezahlten Kaufpreis getätigt hätte. Die Einlassung des Angeklagten, der Zeuge<br />
habe nachträglich auf der Änderung der Bestellung, mit der seine Garantieansprüche<br />
bezüglich der Nachlackierung ausgeschlossen wurden, bestanden, ist geradezu aberwitzig.<br />
Im übrigen hat das Gericht keinen Zweifel an den übereinstimmenden Bekundungen<br />
der Zeugen, dass der Angeklagte gerade auch bei der Übergabe des Fahrzeugs einen<br />
Vorschaden in Form von Hagelschaden ausdrücklich verneint hat. Zwar ist der Zeuge<br />
S. Geschädigter und die Zeugin Stellmach die Lebensgefährtin des Zeugen S.. Beide<br />
haben jedoch, ohne die Angelegenheit aufzubauschen, den Sachverhalt geschildert. Der<br />
Zeuge S. wurde auch erst aufmerksam, als er nachträglich zu Unrecht eine Lackierrechnung<br />
erhielt; ihm kam es ersichtlich nicht auf Schadensersatzansprüche an. Im übrigen<br />
spricht auch die Bekundung des Zeugen Koch für die Richtigkeit der übrigen Zeugenbekundungen.<br />
Nur so lässt sich der Auftrag des Angeklagten erklären, besonders auf das<br />
geänderte Bestellformular hinzuweisen. Wenn der Zusatz auf Drängen des Zeugen S.s<br />
nachträglich erfolgt worden wäre, hätte eines besonderen Hinweises nicht bedurft."<br />
Mit der - zunächst als Berufung eingelegten - Sprungrevision des Angeklagten wird die<br />
Verletzung materiellen Rechts gerügt.<br />
II.<br />
1.<br />
Die (Sprung-)Revision ist gemäß § 335 Abs. 1 <strong>StPO</strong> statthaft und begegnet auch ansonsten<br />
keinen Bedenken hinsichtlich ihrer Zulässigkeit. Der Angeklagte konnte nach Berufungseinlegung<br />
innerhalb der Revisionsbegründungsfrist zur Revision übergehen (vgl.<br />
BGHSt 5, 338; BGHSt 33,183 [188] = NStZ 19 85, 563; BGH NJW 2004, 789; Meyer-<br />
Großner, <strong>StPO</strong>, 49. Aufl., § 335 Rdnr. 10 m. w. Nachw.).<br />
2.<br />
In der Sache führt das Rechtsmittel gemäß §§ 353, 354 Abs. 2 <strong>StPO</strong> zur Aufhebung des<br />
angefochtenen Urteils und zur Zurückverwiesung der Sache an eine andere Abteilung<br />
des Amtsgerichts.<br />
a)<br />
Der Schuldspruch wegen Betruges findet in den Urteilsgründen keine ausreichende<br />
Grundlage. Sie belegen nicht, dass der Angeklagte den Tatbestand des § 263 StGB vollständig<br />
erfüllt hat. Es fehlt nämlich an tatrichterlichen Feststellungen, aus denen sich ergibt,<br />
dass dem Zeugen S. durch den - mittels einer Täuschung des Angeklagten - erschlichenen<br />
Abschluss des Kaufvertrages ein Vermögensschaden entstanden ist.<br />
§ 263 StGB schützt nicht die Entschließungsfreiheit (Dispositionsfreiheit). Zur Tatbestandsverwirklichung<br />
ist vielmehr die Herbeiführung eines Vermögensschadens bei dem<br />
Getäuschten erforderlich, der nicht schon darin liegt, dass die von ihm eingegangene Verpflichtung<br />
ohne den durch Täuschung bewirkten Irrtum nicht entstanden wäre (vgl. BGH
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 25<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
NJW 2006, 1679 [1681] m. w. Nachw. ; SenE v. 07.02.2006 - 81 Ss 63/05 -). Eine Vermögensschädigung<br />
liegt also nicht schon dann vor, wenn jemand infolge eines durch<br />
Täuschung hervorgerufenen Irrtums eine Vermögensverfügung getroffen hat, die er bei<br />
Kenntnis der tatsächlichen Umstände nicht getroffen hätte (BGHSt 3, 99; BGHSt 16, 222;<br />
BGHSt 16, 321; Tröndle/Fischer, StGB, 53. Aufl., § 263 Rdnr. 72 u. 85) . Auch bei einer<br />
solchermaßen erschlichenen Disposition durch Abschluss eines Austauschschuldverhältnisses<br />
liegt eine Vermögensminderung des Getäuschten nicht vor, wenn sich Leistung<br />
und Gegenleistung im Sinne einer Kompensation entsprechen (BGHSt 31, 115 [117];<br />
Senat a.a.O.; Tröndle/Fischer a.a.O. § 263 Rdnr. 77). Ein Schaden fehlt, wenn die täuschungsbedingte<br />
Vermögensminderung durch den wirtschaftlichen Wert des unmittelbar<br />
Erlangten ausgeglichen wird (BGHSt 3, 102; BGHSt 16, 220; Tröndle/Fischer a.a.O. §<br />
263 Rdnr. 74 u. 85). Bezogen auf den vorliegenden Fall setzt die Feststellung eines Vermögensschadens<br />
demnach voraus, dass das gekaufte Fahrzeug keinen wertmäßigen<br />
Ausgleich für die Kaufpreiszahlung des Zeugen S. darstellte, weil es wegen des verheimlichten<br />
Hagelschadens einen geringeren Verkehrswert als die gezahlten 14.500 € hatte.<br />
Die Feststellungen des Amtsgerichts belegen indessen nicht, dass sich Leistung und Gegenleistung<br />
im Sinne einer Kompensation nicht entsprochen haben.<br />
§ 316 StGB<br />
Feststellungen zum Schuldumfang<br />
SenE v. 27.10.2006 - 82 Ss 123/06 -<br />
Das angefochtene Urteil kann keinen Bestand haben, weil das Landgericht zu Unrecht<br />
von einer wirksamen Beschränkung der Berufung ausgegangen ist und deshalb keine<br />
eigenen Schuldfeststellungen getroffen hat; die Gründe des Berufungsurteils sind deshalb<br />
materiell-rechtlich unvollständig (vgl. SenE VRS 73, 385 ff.; SenE VRS 98, 140 [142]).<br />
1a)<br />
Das Revisionsgericht prüft von Amts wegen, ob das Berufungsgericht zu Recht und im<br />
richtigen Umfang von einer Berufungsbeschränkung ausgegangen ist (BGHSt 27, 70 [72]<br />
= NJW 1977, 442 = VRS 52, 265 [266]; BayObLG NStZ 1999, 514 m. w. Nachw.;<br />
BayObLG NStZ 2000, 210; VRS 73,3 856 = VM 1988, 62; SenE NStZ 1989, 90 = MDR<br />
1989, 284; SenE VRS 96, 35; SenE NStZ-RR 2000, 49; KK-Ruß, <strong>StPO</strong>, 5. Aufl., § 318 Rn<br />
11); denn es handelt sich um die Frage der Rechtskraft der angefochtenen Entscheidung<br />
und damit einer von Amts wegen zu prüfenden Prozessvoraussetzung (SenE v.<br />
10.10.2003 - Ss 420/03 -; KK-Ruß a. a. O. § 318 Rn. 11 m. w. Nachw.; Meyer-Goßner,<br />
<strong>StPO</strong>, 49. Aufl., § 318 Rn 33 u. § 352 Rn 3).<br />
Eine Beschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch kommt nur bei ausreichenden Feststellungen<br />
zur Tat in Betracht. Sind die Feststellungen dagegen derart knapp, unvollständig,<br />
unklar oder widerspruchsvoll, dass sie den Unrechts- und Schuldgehalt der Tat nicht<br />
einmal in groben Zügen erkennen lassen und damit keine hinreichende Grundlage für die<br />
Überprüfung der Rechtsfolgenentscheidung bilden, ist die Berufungsbeschränkung unwirksam<br />
(BGH NStZ 1994, 130; BayObLG VRS 93, 108; BayObLG NStZ 2000, 210 [211]<br />
und NStZ-RR 2002, 89 [90]; OLG Frankfurt NStZ-RR 1998, 341 [342]; OLG Düsseldorf
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 26<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
NStZ-RR 2000, 307 = VRS 99, 206 [207] und VRS 100, 187 [188]; OLG Hamm DAR<br />
2002, 227 [228] = VRS 102, 206 = NZV 2002, 383; SenE v. 22.01.1999 - Ss 616/98 - =<br />
NStZ-RR 2000, 49; SenE v. 20.08.1999 - Ss 374/99 - = VRS 98, 140 [142 f.]; SenE v.<br />
28.09.1999 - Ss 390/99 - = VRS 98, 122 [123]; SenE v. 25.01.2002 - Ss 16/02 B - = VRS<br />
102, 212 [214]).<br />
Im Falle der Verurteilung wegen einer (folgenlosen) Trunkenheitsfahrt ist der Tatrichter<br />
regelmäßig verpflichtet, neben der Höhe der Blutalkoholkonzentration und der Schuldform<br />
weitere Umstände festzustellen, die geeignet sind, den Schuldumfang näher zu bestimmen<br />
und einzugrenzen (BayObLG VRS 93, 108 = NZV 1997, 244 = NStZ 1997, 359 =<br />
MDR 1997, 486; OLG Karlsruhe VRS 79, 199 [200]; SenE 04.11.1997 - Ss 547/97 -; SenE<br />
v. 20.08.1999 - Ss 374/99 - = VRS 98, 140 [143]; SenE v. 19.12.2000 - Ss 488/00 - =<br />
StV 2001, 355; SenE v. 09.10.2001 - Ss 385/ 01-). Dazu zählen insbesondere die Umstände<br />
der Alkoholaufnahme (Trinken in Fahrbereitschaft) sowie der Anlass und die Gegebenheiten<br />
der Fahrt (BayObLG VRS 97, 359 [360] = NZV 1999, 483; SenE v.<br />
19.12.2000 - Ss 488/00 - = StV 2001, 355; SenE v. 30.05.2000 - Ss 237/00 -).<br />
Für das Ausmaß der abstrakten Gefahr und den Schuldumfang kommt es weniger auf die<br />
Höhe der Blutalkoholkonzentration (den Grad der Fahruntüchtigkeit) als auf die Fahrweise,<br />
die Art (Verkehrsverhältnisse) und Länge der zurückgelegten Strecke an (BayObLG<br />
NZV 1997, 244; OLG Karlsruhe VRS 81, 19 [20] und VRS 79, 199 [200]; Hentschel,<br />
Trunkenheit - Fahrerlaubnisentziehung - Fahrverbot, 10. Aufl., Rn 474; Tröndle/Fischer,<br />
StGB, 53. Aufl., § 316 Rn 54; SenE v. 28.12.2000 - Ss 529/00 - = VRS 100, 68 [70]).<br />
Wichtige Kriterien sind mithin Dauer und Länge der bereits zurückgelegten und noch beabsichtigten<br />
Fahrstrecke, Verkehrsbedeutung der befahrenen Straßen sowie der private<br />
oder beruflich bedingte Anlass der Fahrt. Bedeutsam kann ferner sein, ob der Angeklagte<br />
aus eigenem Antrieb handelte oder von Dritten verleitet wurde, ob ihm bewusste oder<br />
unbewusste Fahrlässigkeit anzulasten ist und ob er sich in ausgeglichener Gemütsverfassung<br />
oder einer Ausnahmesituation befand (BayObLG VRS 93, 108; SenE v.<br />
04.11.1997 - Ss 547/97 -; SenE v. 19.12.2000 - Ss 488/00 - = StV 2001, 355). Auch polizeilich<br />
festgestellte Auffälligkeiten des Angeklagten am Kontrollort oder bei der Blutentnahme<br />
können von Bedeutung sein (BayObLG DAR 2004, 282).<br />
Feststellungen hierzu oder wenigstens zu einigen nach Lage des Einzelfalles besonders<br />
bedeutsamen Umständen sind im Allgemeinen zur näheren Bestimmung des Schuldgehalts<br />
der Tat als Grundlage für eine sachgerechte Rechtsfolgenbemessung erforderlich.<br />
Wenn außer der Angabe von Tatzeit, Tatort und Blutalkoholwert keine weiteren, für den<br />
Schuldumfang wesentlichen Feststellungen möglich sind, weil der Angeklagte schweigt<br />
und Beweismittel dafür entweder nicht zur Verfügung stehen oder nur mit unverhältnismäßigem<br />
Aufwand zu beschaffen wären, so ist dies im Urteil hinreichend klarzustellen. In<br />
einem solchen Fall ist für die Strafzumessung ein entsprechend geringer Schuldumfang<br />
ohne wesentliche Besonderheiten zugrunde zu legen (SenE v. 04.11.1997 - Ss 547/97 -;<br />
SenE v. 19.12.2000 - Ss 488/00 - = StV 2001, 355).<br />
b)<br />
Nach diesen Grundsätzen war die Berufungsbeschränkung unwirksam, da den amtsgerichtlichen<br />
Feststellungen Umstände, die geeignet sind, den Schuldumfang näher zu bestimmen<br />
und einzugrenzen, nicht entnommen werden können. Wenn aber ergänzende<br />
Feststellungen zur Schuldfrage erforderlich sind, ist die Berufungsbeschränkung unwirksam<br />
mit der Folge, dass das Berufungsgericht insgesamt eigene Feststellungen zur<br />
Schuldfrage treffen muss (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. Senatsentscheidungen<br />
vom 30.08.1996 - Ss 414/96 - und vom 30.07.1999 - Ss 339/99 -). Das ist hier nicht geschehen,<br />
auch nicht mit Blick auf die ergänzenden Ausführungen der Kammer zu der in
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 27<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
der Berufungshauptverhandlung erfolgten Einlassung des Angeklagten zum Anlass der<br />
Trunkenheitsfahrt. Die Kammer hat insoweit offen gelassen, ob sie entsprechende Tatsachen<br />
für erwiesen erachtet, und lediglich die Einlassung des Angeklagten in indirekter<br />
Rede wiedergegeben.<br />
2.<br />
Der neue Tatrichter wird im Falle einer erneuten Verurteilung des Angeklagten zu einer<br />
Freiheitsstrafe unter sechs Monaten zu berücksichtigen haben, dass es für die Rechtfertigung<br />
einer kurzen Freiheitsstrafe nicht genügt, auf das Erfordernis einer Gesamtwürdigung<br />
aller die Tat und den Täter kennzeichnenden Umstände (BGH NStZ 1996, 429;<br />
Tröndle/Fischer, StGB, 53. Aufl., § 47 Rn. 6) lediglich hinzuweisen und darzutun, das Gericht<br />
sei sich bei seiner Entscheidung dieses Erfordernisses bewusst gewesen, wie es das<br />
Berufungsgericht vorliegend getan hat. Das Tatgericht hat vielmehr alle für die Subsumtion<br />
unter die Voraussetzungen des § 47 StGB relevanten Umstände im Einzelnen zu nennen<br />
(vgl. BGH a.a.O.; SenE v. 10.10.2006 - 83 Ss 63/06 -).
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 28<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
Betäubungsmittelgesetz (BtMG)<br />
§§ 29, 30 BtMG<br />
Beihilfe oder Mittäterschaft des Drogenkuriers<br />
SenE v. 07.11.2006 - 82 Ss 125-125/06 -<br />
Das Jugendschöffengericht hat die Angeklagten der gemeinschaftlichen unerlaubten Einfuhr<br />
von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit gemeinschaftlichem<br />
unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge schuldig gesprochen.<br />
Es hat den Angeklagten M. zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren 10 Monaten,<br />
die Angeklagte H. zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und vier Monaten verurteilt.<br />
Das Landgericht hat die Berufungen der Angeklagten verworfen.<br />
Die Revisionen der Angeklagten rügen die Verletzung materiellen Rechts.<br />
Die Rechtsmittel führen zu der aus der Beschlussformel ersichtlichen Änderung des<br />
Schuldspruchs. Die weitergehenden Revisionen sind unbegründet.<br />
Die Feststellungen des Berufungsgerichts tragen den Schuldspruch nicht.<br />
Die Jugendkammer hat dazu folgende Feststellungen getroffen:<br />
„Die beiden Angeklagten, der Ehemann der Angeklagten H. sowie der weitere Mitbewohner<br />
konsumierten regelmäßig gemeinsam Cannabis. Um diesen Konsum decken<br />
zu können, war die Angeklagte H. bereits bei mehreren Gelegenheiten in die Niederlande<br />
gefahren, um dort von einem ihr bekannten Dealer jeweils etwa 100 Gramm<br />
Haschisch zum Eigenkonsum zu erwerben. Nach ihren eigenen Angaben in der<br />
Hauptverhandlung reichte ein solcher Vorrat für etwa sechs Wochen.<br />
Am 13. Oktober 2005 begab sich die Angeklagte H. einmal mehr in die niederländische<br />
Ortschaft Heerlen. Nach ihrer insoweit nicht zu widerlegenden Einlassung reiste<br />
sie allein in ihrem Pkw. Sie traf dort den ihr bekannten Dealer, der sie bat, eine Lieferung<br />
Rauschgift nach Deutschland zu verbringen. Als Entlohnung sollte sie die von<br />
ihr zum Eigenkonsum zu erwerbende Menge Haschisch von etwa 100 Gramm zum<br />
Preis von lediglich 50,-- € erhalten. Bei Übergabe der Haschischlieferung, die sich in Düren<br />
am Busbahnhof vollziehen sollte, sollte sie von der dort wartenden Person weitere<br />
300,-- € als Kurierlohn erhalten. Die Angeklagte H. willigte in dieses Geschäft ein.<br />
Am folgenden Tag, dem 14. Oktober 2005 begab sich die Angeklagte H. in dem auf<br />
sie zugelassenen Pkw zusammen mit dem Mitangeklagten M. auf Grund eines gemeinsamen<br />
Tatentschlusses erneut nach Heerlen. Beide suchten dort den Parkplatz eines<br />
Einkaufszentrums auf. Wie zwischen dem Lieferanten und der Angeklagten H.<br />
am Vortrag verabredet, übernahmen beide dort eine Tasche, in der sich insgesamt<br />
5015,47 Gramm Haschisch befanden. Beide nahmen zumindest billigend in Kauf, dass<br />
sich in der Tasche Haschisch in etwa dieser Größenordnung befand. Außerdem nahmen<br />
beide zum Eigengebrauch eine weitere Platte Haschisch mit einem Nettogewicht<br />
von 122,11 Gramm entgegen. In ihrem Besitz befanden sich weiterhin 22,19 Gramm<br />
Marihuana. Sämtliche Cannabis-Zubereitungen wiesen insgesamt 209,35 Gramm<br />
Tetrahydrocannabinol auf. Vereinbarungsgemäß entrichteten sie für die zum Eigenkonsum<br />
bestimmte Haschischplatte nur 50,-- €.
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 29<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
Vom Parkplatz des Einkaufszentrums - aus traten beide Angeklagte im Pkw der Angeklagten<br />
H. die Rückfahrt nach Deutschland an. Über eine entsprechende Erlaubnis<br />
nach dem Betäubungsmittelgesetz verfügten beide nicht. Der Angeklagte M., der lediglich<br />
im Besitz einer tschechischen Fahrerlaubnis ist, steuerte das Fahrzeug.<br />
Am Grenzübergang Vetschau/Autobahn wurden zwei Beamte der Bundespolizei, die<br />
Zeugen PK Mo. und POMin Ku., auf das Fahrzeug der Angeklagten aufmerksam. An<br />
der ersten Autobahnabfahrt, der Anschlussstelle AachenLaurensberg, geleiteten sie<br />
das Fahrzeug von der Autobahn und führten eine Kontrolle durch. Beide Angeklagten<br />
machten auf die Zeugen Mo. und Ku. einen nervösen Eindruck. Zunächst fiel den<br />
Beamten die tschechische Fahrerlaubnis des Angeklagten M. auf, woraufhin beide zu<br />
ermitteln versuchten, ob diese Fahrerlaubnis auch das Führen von Kraftfahrzeugen in<br />
Deutschland gestattete. Da beide Angeklagte zum Ablauf ihres Aufenthalts in Heerlen<br />
unterschiedliche Angaben machten, begannen die Beamten die Angeklagten zu<br />
durchsuchen. Die Zeugin Ku. fand in der Handtasche der Angeklagten H. die zum<br />
Eigenkonsum bestimmte Haschischplatte. Bei einer Nachschau im Fahrzeug wurde<br />
die Zeugin Ku. auf eine dort liegende Tasche aufmerksam. Auf ihre Nachfrage, wem<br />
diese Tasche gehöre, erklärten beide Angeklagte, ihnen beiden gehöre die Tasche.<br />
In dieser Tasche befand sich die weitaus größere Rauschgiftmenge von etwa 5 Kilogramm<br />
sowie das Marihuana. …“<br />
Danach hält die rechtliche Bewertung des Transports der 5.015,47 Gramm Haschisch<br />
durch die Angeklagten als täterschaftliches Handeltreiben rechtlicher Nachprüfung<br />
nicht stand. Bei der auch im Falle des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln nach<br />
allgemeinen Regeln im Wege einer wertenden Gesamtbetrachtung vorzunehmenden<br />
Abgrenzung zwischen Täterschaft und Beihilfe (BGH NStZ 2006, 454; vgl. SenE v.<br />
16.07.2004 – Ss 313/04), kommt den Angeklagten nach den getroffenen Feststellungen<br />
lediglich eine untergeordnete Bedeutung zu. Sie waren weder in den Erwerb<br />
noch in den späteren Absatz des Haschischs eingebunden, hatten dieses abgepackt<br />
in Empfang genommen und sollten es nach nur kurzer Zeit des Besitzes während der<br />
Fahrt von Heerlen nach Düren einer dort bereits wartenden Person übergeben (vgl.<br />
zu diesen lediglich eine Beihilfe zum Handeltreiben begründenden Kriterien: BGHR<br />
BtMG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Handeltreiben 56, Gründe = StV 2002, 489; BGH NStZ 2006,<br />
454; BGH, Beschluss v. 09.05.2006 – 3 StR 105/06; SenE a.a.O.; vgl. auch Winkler<br />
NStZ 2005, 315; 2006, 328).<br />
Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen der Strafkammer erfüllen in Bezug auf<br />
die Kuriertätigkeit der Angeklagten demnach lediglich den Tatbestand der – tateinheitlich<br />
begangenen – Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln<br />
in nicht geringer Menge.<br />
Der Transport der Betäubungsmittel über die Grenze ins Inland erfüllt den Tatbestand<br />
gemeinschaftlich begangener unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer<br />
Menge, wobei sich im Tenor die Kennzeichnung der Tat als gemeinschaftlich<br />
erübrigt (vgl. Meyer-Goßner, <strong>StPO</strong>, 49. Auflage, § 260 Rn. 25 m.N.).<br />
Der Senat schließt aus, dass hinsichtlich der Kuriertätigkeit der Angeklagten noch<br />
Feststellungen getroffen werden können, die auch insoweit die Annahme täterschaftlichen<br />
Verhaltens der Angeklagten tragen. Der Senat ändert den Schuldspruch daher<br />
dahin, dass die Angeklagten der unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht<br />
geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 30<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
nicht geringer Menge schuldig sind. § 265 <strong>StPO</strong> steht der Schulspruchänderung<br />
durch den Senat nicht entgegen, da auszuschließen ist, dass sich die Angeklagten<br />
gegen den rechtlich so gefassten Schuldspruch anders als geschehen hätten verteidigen<br />
können (vgl. BGH NStZ 2006, 454; BGH, Beschluss v. 09.05.2006 – 3 StR<br />
105/06).<br />
Die Schuldspruchänderung lässt den Strafausspruch unberührt. Der Senat hat das<br />
festgestellte Verhalten lediglich anders rechtlich gewürdigt, wobei der nach § 52 Abs.<br />
2 StGB für die Strafbemessung maßgebliche Strafrahmen des § 30 Abs. 1 Nr. 4<br />
BtMG gleich geblieben ist.<br />
§ 29 BtMG<br />
Begriff des Handeltreibens<br />
SenE v. 21.11.2006 - 83 Ss 91/06 -<br />
Das Landgericht hat die Berufung des Angeklagten verworfen. Es hat zu Fall 1. folgendes<br />
festgestellt: „Am 26.05.2004 gegen 19.25 Uhr verkaufte der Angeklagte dem insoweit<br />
rechtskräftig verurteilten heroinabhängigen A. X. gegen Zahlung von 15 Euro einen Bubble<br />
mit einem Heroingemisch von 0,19 g, das bei der anschließenden Festnahme des X.<br />
von der Polizei sichergestellt werden konnte." Zu Fall 2. verhalten sich die Feststellungen<br />
des Landgerichts dahin, dass der drogenabhängige B. Y. dem Angeklagten erklärte, dass<br />
er von ihm für 10,-- € Heroin haben wolle; der Angeklagte habe diesen zum Zülpicher<br />
Platz weitergeschickt, wo der Austausch Geld gegen Heroin stattfinden sollte. Bei einer<br />
anschließenden Polizeikontrolle sei es dem Angeklagten gelungen, einen oder mehrere<br />
im Mund transportierte Bubbles herunterzuschlucken; ferner habe er zwei Bubbles Heroin<br />
mit insgesamt 0,74 g Heroingemisch mit sich geführt.<br />
Die gegen dieses Urteil gerichtete Revision des Angeklagten rügt die Verletzung materiellen<br />
Rechts.<br />
II.<br />
Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge (vorläufigen) Erfolg. Es führt zur Aufhebung des<br />
Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.<br />
Der Schuldspruch wegen unerlaubten Handelns mit Betäubungsmitteln (in zwei Fällen)<br />
hat keinen Bestand, weil er in den getroffenen Feststellungen keine tragfähige Grundlage<br />
findet.<br />
„Handeltreiben“ erfordert das eigennützige Bemühen, den Umsatz mit Betäubungsmitteln<br />
zu ermöglichen oder zu fördern (vgl. BGHSt 25, 290, 291; 29, 239, 240; 30, 359, 361;<br />
BGH NStZ 00, 207, 208; ständige Rechtsprechung auch des Senats, vgl. etwa SenE vom<br />
7.2.2006 - 83 Ss 4/06 -; vgl. weiterhin mit zusätzlichen Rechtsprechungsnachweisen Weber,<br />
BtMG, 2. Aufl., § 29 Rdn. 142).<br />
Eigennützig ist eine solche Tätigkeit nur, wenn das Handeln des Täters vom Streben<br />
nach Gewinn geleitet wird oder er sich irgendeinen anderen persönlichen Vorteil verspricht,<br />
durch den er materiell oder immateriell besser gestellt wird. Ein Vorteil immaterieller<br />
Art kommt bei der gebotenen zurückhaltenden Auslegung nur in Betracht, wenn er<br />
einen objektiv messbaren Inhalt hat und den Empfänger in irgendeiner Weise tatsächlich
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 31<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
besser stellt (vgl. BGHR BtMG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Handeltreiben 34; BGH StV 202, 254;<br />
SenE vom 26.08.2005 - 83 Ss 44/05 -). Zur Eigennützigkeit des Handelns muss das Urteil<br />
konkrete Feststellungen enthalten (Weber a.a.O. § 29 Rdn. 244). Sie ergibt sich beim<br />
Drogenabsatz nämlich nicht von selbst; denn die Mitwirkung am Drogenabsatz kann ausschließlich<br />
von fremdnützigen Beweggründen getragen sein oder aus unterschiedlichen<br />
Gründen zum Selbstkostenpreis erfolgen (vgl. BGH StV 89, 201; KG StV 98, 591). Selbst<br />
bei wiederholten Drogengeschäften kann der Rückgriff auf einen Erfahrungssatz, dass<br />
solche Geschäfte nicht uneigennützig gemacht zu werden pflegen, konkrete Feststellungen<br />
nicht ersetzen (SenE vom 07.02.2006 - 83 Ss 4/06 -).<br />
Vorliegend lassen die Feststellungen des Landgerichts nichts zu einem eigennützigen<br />
Handeln des Angeklagten erkennen. Es ergibt sich dies zu Fall 1. auch nicht aus dem<br />
Wort „verkaufte“ oder aus dem angegebenen Preis, solange nicht festgestellt ist, dass<br />
dieser Preis eine Gewinnspanne mit beinhaltet. Zu Fall 2. wird auch nur der von dem<br />
Käufer Y. gebotene Preis genannt, ohne dass dem die Menge und der Wert des dafür<br />
abzugebenden Heroins gegenübergestellt werden.<br />
§ 29 BtMG<br />
Bewertungseinheit; Feststellungen zum Wirkstoffgehalt<br />
SenE v. 07.11.2006 - 83 Ss 70/06 -<br />
In Bezug auf die Fälle 1 und 2 bedurfte es der Erörterung einer Bewertungseinheit nicht.<br />
Es ist nicht geboten, festgestellte Veräußerungsakte schon deshalb zu einer Bewertungseinheit<br />
zusammenzufassen, weil die nicht näher konkretisierte Möglichkeit besteht,<br />
dass sie ganz oder teilweise aus einem Vorrat stammen könnten (BGH NJW 1995, 2300;<br />
BGH NStZ 1997, 137 u. 344; BGH NStZ 1999, 192; BGH StV 1999, 431; SenE v.<br />
11.07.2000 – Ss 288/00; Weber, BtMG, 2. Auflage, Vor §§ 29 ff. Rn. 478).<br />
Vorliegend bestehen keine konkreten Anhaltspunkte für die Annahme, dass die Betäubungsmittel<br />
der Fälle 1 und 2 aus demselben Vorrat stammen. Diese ergeben sich auch<br />
nicht daraus, dass der Angeklagte nach der am 06.07.2005 erfolgten Sicherstellung der<br />
95,5 g Marihuana (Fall 1) am nächsten Tag (Fall 2) schon wieder in der Lage war, 0,83 g<br />
und 1, 8 g Marihuana zu verkaufen. Denn diese geringen Mengen kann er sich – wie im<br />
Fall 3 - auch unmittelbar vor dem Verkauf beschafft haben.<br />
Hinsichtlich der Fälle 2 und 3 tragen die Feststellungen (noch) die Annahme eines Handeltreibens.<br />
Es wird zwar nicht festgestellt, dass der Angeklagte in Gewinnerzielungsabsicht gehandelt<br />
hat (vgl. zu diesem Erfordernis: BGHR BtMG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Handeltreiben 34;<br />
BGH StV 1989, 201; 2002, 254; SenE vom 07.02.2006 – 83 Ss 4/06; Weber, BtMG, 2.<br />
Auflage, § 29 Rn. 166). Eine solche Absicht kann aber dem Zusammenhang der Urteilsgründe<br />
entnommen werden. Wenn der Angeklagte 95,5 g<br />
Marihuana „gewinnbringend in Köln verkaufen wollte“ (Fall 1), spricht nichts dafür, dass er<br />
bei den späteren Verkäufen diese Absicht aufgegeben hatte, zumal er nach dem Verlust<br />
dieser Menge – als Bezieher von Sozialleistungen und Drogenkonsument – Geld brauchte.<br />
Ob er bei diesen Geschäften tatsächlich einen Gewinn erzielen konnte, ist für die Tatbestandsverwirklichung<br />
und – im Hinblick auf die geringen Verkaufspreise von 5 Euro bzw.<br />
10 Euro – auch für den Schuldumfang unerheblich.
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 32<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
Unschädlich ist schließlich auch, dass das Landgericht in den Fällen 2 und 3 keine Feststellungen<br />
zum Wirkstoffgehalt der Betäubungsmittel getroffen hat. Davon kann nämlich<br />
abgesehen werden, wenn auszuschließen ist, dass der Wirkstoffgehalt das Strafmaß beeinflusst<br />
hätte (so insgesamt Senatsentscheidung StV 1999, 440; Weber, BtMG, 2. Aufl.<br />
vor §§ 29 ff. Rn 743).<br />
Das ist bei geringen Mengen einer weichen Droge wie Marihuana der Fall.
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 33<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG)<br />
§ 67 OWiG<br />
Rücknahme des Einspruchs<br />
SenE v. 15.12.2006 - 83 Ss-OWi 93/06 -<br />
Die nach § 79 Abs. 1 Nr. 1 OWiG statthafte und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde<br />
hat in der Sache Erfolg.<br />
Die Generalstaatsanwaltschaft hat hierzu in ihrer Vorlageverfügung ausgeführt:<br />
„Der Betroffene macht geltend, das angefochtene Urteil habe wegen einer zuvor erklärten<br />
Rücknahme seines Einspruchs nicht ergehen dürfen. Damit wird das Vorliegen eines Verfahrenshindernisses<br />
in Form der Rechtskraft gerügt.<br />
Das Tatgericht hat den Einspruch des Betroffenen durch Urteil gemäß § 74 Abs. 2 OWiG<br />
zu Unrecht verworfen, weil ein Verfahrenshindernis bestand. Die Nichtbeachtung eines<br />
Verfahrenshindernisses begründet einen Verfahrensfehler, der regelmäßig zur Aufhebung<br />
des Urteils von Amts wegen zwingt. Dies gilt erst recht, wenn – wie vorliegend – eine dahingehende<br />
Verfahrensrüge erhoben worden ist.<br />
Das Verfahrenshindernis hat sich daraus ergeben, dass der Betroffene seinen Einspruch<br />
gegen den Bußgeldbescheid durch den am 29.09.2006 bei Gericht eingegangenen<br />
Schriftsatz seines Verteidigers rechtswirksam gegenüber dem insoweit zuständigen Gericht<br />
zurückgenommen hat (vgl. Göhler, OWiG, 14. Auflage, § 67 Rdnr. 38; BayObLG,<br />
NStZ-RR 2001, 306; OLG Hamm, DAR 2001, 229; SenE vom 07.05.2002 - Ss 184/02 B -;<br />
SenE vom 15.11.2002 - Ss 486/02 B -; SenE vom 31.03.2004 - Ss 128/04 B -). Der<br />
Wirksamkeit der Rücknahme steht nicht entgegen, dass der zuständige Abteilungsrichter<br />
bei Verkündung des Urteils keine Kenntnis von der zuvor bei Gericht eingegangenen<br />
Rücknahmeerklärung hatte. Dass das Schreiben dem zuständigen Richter nicht vorgelegt<br />
worden ist, bleibt unbeachtlich. Der Umstand, dass die Behörde einen Fernkopieanschluss<br />
bereitstellt, beinhaltet die Erklärung, dass ein Fax mit seiner Übermittlung als von<br />
der Behörde entgegengenommen angesehen wird (vgl. SenE vom 01.02.2000 -<br />
Ss 621/99 B -; OLG Düsseldorf, VRS 79, 120 zum Einwurf eines Schriftstückes in den<br />
Briefkasten des Gerichts), ohne dass es auf die tatsächliche Kenntnisnahme durch den<br />
Richter ankommt. Mit der rechtzeitigen Rücknahme des Einspruchs ist der Bußgeldbescheid<br />
am 29.09.2006 rechtskräftig geworden. Die Rechtskraft des Bußgeldbescheides<br />
bildet ein Verfahrenshindernis, durch das sich das gerichtliche Verfahren von selbst erledigt<br />
hat (vgl. BGHSt 27, 271, 273; OLG Düsseldorf, VRS 79, 120; OLG Koblenz,<br />
NZV 1993, 282; OLG Hamm, DAR 2001, 229; OLG Köln, NZV 2004, 52). Für den Erlass<br />
des angefochtenen Urteils war danach kein Raum mehr. Dieses ist daher aufzuheben<br />
und zur Klarstellung die Rechtskraft des Bußgeldbescheides ab Einspruchsrücknahme<br />
festzustellen (vgl. OLG Hamm, VRS 73, 112 f. für den Fall der Rücknahme eines Einspruchs<br />
gegen einen Strafbefehl; SenE vom 01.02.2000 - Ss 621/99 B - 279 B -).<br />
Gemäß § 467 Abs. 1 <strong>StPO</strong> analog sind die seit der Rechtskraft des Bußgeldbescheides<br />
durch das weitere Verfahren entstandenen Kosten und notwendigen Auslagen des Betroffenen<br />
der Staatskasse aufzuerlegen, weil der Betroffene so zu behandeln ist, als wäre<br />
er freigesprochen oder das Verfahren gegen ihn eingestellt worden. Da das Rechtsmittel<br />
des Betroffenen in vollem Umfang Erfolg hat, hat die Staatskasse die Kosten und not-
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 34<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
wendigen Auslagen des Betroffenen im Rechtsbeschwerdeverfahren zu tragen (vgl. SenE<br />
vom 01.02.2000 - Ss 621/99 B -; SenE vom 15.11.2002 - Ss 486/02 B -; BayObLG, NStZ-<br />
RR 2001, 306).“<br />
§§ 71, 79 OWiG<br />
Mehrere Verkehrsverstöße im Verlauf einer Fahrt<br />
SenE v. 22.09.2006 - 82 Ss-OWi 65/06 -<br />
Aus dem Klammerzusatz zur Urteilsformel ergibt sich mit hinreichender Deutlichkeit, dass<br />
das Amtsgericht den Betroffenen der Sache nach nicht "zu einer Geldbuße von 255,- Euro",<br />
sondern zu 6 Geldbußen verurteilt hat, die lediglich durch (fehlerhafte) Addition und<br />
nicht durch eine unzulässige Gesamtstrafenbildung zusammengefasst werden sollten.<br />
Die Urteilsgründe geben keinen Hinweis darauf, dass das Amtsgericht die eindeutige Bestimmung<br />
des § 20 OWiG verkannt hat. Maßgeblich sind die Einzelgeldbußen auch dann,<br />
wenn der Tatrichter wegen der selbständigen Taten im verfahrensrechtlichen Sinne Einzelgeldbußen<br />
verhängt, diese jedoch zusätzlich zu einer - unzulässigen - Gesamtgeldbuße<br />
addiert hat (OLG Karlsruhe VRS 108, 63 = NZV 2005, 329; SenE v. 01.04.1994 - Ss<br />
15/94 B - = NZV 1994, 292).<br />
Ob verschiedene Handlungen einer prozessualen Tat zuzuordnen sind, hat das Rechtsbeschwerdegericht<br />
in eigener Zuständigkeit ohne Bindung an die Beurteilung des Tatgerichts<br />
zu entscheiden (BayObLG VRS 86, 304 [305]; VRS 88, 58 [59]; OLG Düsseldorf<br />
VRS 100, 311 = DAR 2001, 319 = VM 2001, 51 [52] = NZV 2001, 372; SenE v.<br />
01.04.1994 - Ss 15/94 B - = NZV 1994, 292; SenE v. 10.03.2000 - Ss 72/00 Z -; SenE v.<br />
24.08.2001 - Ss 300/01 Z -; SenE v. 15.08.2002 - Ss 314/02 Z -). Maßgeblich ist insoweit,<br />
ob die einzelnen Handlungen nicht nur äußerlich aufgrund zeitlichen und räumlichen Zusammenhangs<br />
ineinander übergehen, sondern auch innerlich derart unmittelbar miteinander<br />
verknüpft sind, dass der Unrechts- und Schuldgehalt der einen Handlung nicht ohne<br />
die Umstände, die zu der anderen Handlung geführt haben, richtig gewürdigt werden<br />
kann und daher die getrennte Würdigung und Ahndung als unnatürliche Aufspaltung eines<br />
einheitlichen Lebensvorgangs empfunden würde (BGH NJW 2000, 227; BGHSt 35,<br />
80 = NStZ 1989, 37 = NJW 1988, 837 = JZ 1988, 260 m. Anm. Roxin = StV 1988, 52;<br />
SenE v. 24.08.2001 – Ss 300/01 Z -; SenE v. 10.03.2000 – Ss 72/00-; SenE v.<br />
16.08.1988 - Ss 469/88 = ZfS 1989, 35 = DAR 1988, 428 = NStZ 1988, 568; SenE v.<br />
09.06.1989 - Ss 256/89 (B) = NZV 1989, 401). So rechtfertigen z.B. mehrere fahrlässig<br />
begangene Verkehrsverstöße, die bei ein und derselben Fahrt in einer veränderten Verkehrssituation<br />
begangen wurden und unschwer voneinander abzugrenzen sind, die Annahme<br />
mehrerer Taten (BayObLG DAR 2002, 78 = VRS 101, 446; OLG Düsseldorf NZV<br />
2001, 273 f. = VRS 100, 311 ff.; SenE v. 15.08.2002 - Ss 314/02 Z -). Mit dem Ende eines<br />
bestimmten Verkehrsvorgangs, der durch einen anderen abgelöst wird, ist in der Regel<br />
das die Tat bildende „geschichtliche Ereignis“ abgeschlossen (OLG Düsseldorf VRS 75,<br />
360; OLG München DAR 2005, 647 [648] = NZV 2005, 544 = VRS 109, 188 [190]; Senat<br />
VM 1990, 5; SenE v. 17.08.2004 - Ss 259/04 - = NZV 2004, 536 = DAR 2004, 720). Dabei<br />
stellt ein nicht verkehrsbedingtes Anhalten eine hinreichende, aber nicht zugleich notwendige<br />
Bedingung dar, um von mehreren Taten auszugehen (BayObLG DAR 2002, 78<br />
= VRS 101, 446 [447] = zfs 2002, 99 [100] = NStZ 2002, 155 Rz. 6).<br />
Bei mehreren Geschwindigkeitsüberschreitungen, auch wenn sie im Verlauf einer Fahrt<br />
auftreten, handelt es sich regelmäßig um materiell und prozessual selbständige Taten
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 35<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
(SenE v. 13.03.2001 - Ss 56/01 Z -; SenE v. 29.07.1997 - Ss 187/97 (Z) -; SenE v.<br />
12.01.1999 - Ss 589/98 (B) -; SenE v. 24.08.2001 - Ss 300/01 Z -; OLG Hamm NStZ-RR<br />
2002, 340). Der vorliegende Fall gibt keinen Anlass, von dieser Regel abzuweichen. Die<br />
mitgeteilten Zeitabstände zwischen den Überschreitungen der zulässigen Höchstgeschwindigkeit<br />
trennen diese so voneinander, dass sie Zäsuren darstellen, die es nicht<br />
erlauben, sie als ein einheitliches Geschehen gelten zu lassen.<br />
§ 74 OWiG<br />
Urteilsgründe; genügende Entschuldigung<br />
SenE v. 17.10.2006 - 81 Ss-OWi 76/06 -<br />
Die Begründung des Verwerfungsurteils hält indessen rechtlicher Überprüfung nicht<br />
stand. Das Urteil weist einen Darlegungsmangel auf, weil es den Inhalt des Attestes nicht<br />
mitteilt.<br />
Das Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG muss grundsätzlich sämtliche Tatsachen,<br />
die als Entschuldigungsgründe vorgetragen worden sind, sowie die Erwägungen des Gerichts<br />
enthalten, die es veranlasst haben, das Ausbleiben des Betroffenen dennoch als<br />
nicht genügend entschuldigt anzusehen. Das Rechtsbeschwerdegericht ist an die<br />
tatsächlichen Feststellungen des Verwerfungsurteils zur Frage der Entschuldigung<br />
gebunden und kann diese Feststellungen nicht im Wege des Freibeweises nachprüfen<br />
oder ergänzen (Senat VRS 75,113 m.w.N.). Daher muss der Tatrichter eventuelle<br />
Entschuldigungsgründe, die ihm bekannt oder erkennbar sind, im Urteil mitteilen und<br />
erörtern. Das Verwerfungsurteil ist so zu begründen, dass das Rechtsbeschwerdegericht<br />
in die<br />
Lage versetzt wird, die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung zu überprüfen (ständige Senatsrechtsprechung,<br />
vgl. nur SenE VRS 102, 106; 102, 382; vgl. auch Senge in KK-<br />
OWiG, 3. Auflage, § 74 Rn. 40 mit weiteren Nachweisen).<br />
Diesen Anforderungen entspricht das angefochtene Urteil nicht.<br />
Die fehlende Mitteilung der Entschuldigungsgründe und einer näheren Auseinandersetzung<br />
mit ihnen ist nur dann ausnahmsweise unschädlich, wenn die vorgebrachten<br />
Gründe von vornherein offensichtlich ungeeignet sind, das Fernbleiben zu entschuldigen<br />
(SenE a.a.O.; Senge a.a.O.). So liegt der Fall hier aber nicht. Die Tatsache<br />
eines Gehgipses, der nach den Daten eines ärztlichen Attestes entweder gerade erst<br />
entfernt worden ist oder erst unmittelbar vor seiner Entfernung steht, ist nicht von vornherein<br />
ungeeignet, die Annahme zu rechtfertigen, dem Betroffene sei ein Erscheinen zur<br />
Hauptverhandlung nicht zumutbar. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Betroffene – wie<br />
hier aus Österreich - eine weite Anreise hat und er auch nach der Entfernung des Gehgipses<br />
noch nicht vollständig wiederhergestellt ist, wie hier nach der Einschätzung des<br />
behandelnden Arztes, der den Betroffenen noch bis Ende Mai 2006 für arbeitsunfähig<br />
hielt.<br />
Für den Fall, dass der Betroffene auch zu einem Hauptverhandlungstermin Entschuldigungsgründe<br />
geltend macht, wird auf folgendes hingewiesen:<br />
Es kommt nicht darauf an, ob der Betroffene sich genügend entschuldigt hat, sondern ob<br />
er entschuldigt ist (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. nur SenE VRS 83, 444). Ein Betroffener<br />
ist nicht zur Glaubhaftmachung oder gar zum Nachweis der vorgebrachten Ent-
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 36<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
schuldigungsgründe verpflichtet (SenE VRS 71, 371; 75, 113; 83, 444). Liegen Anhaltspunkte<br />
für eine genügende Entschuldigung vor, so darf der Einspruch nur verworfen werden,<br />
wenn das Amtsgericht sich die Überzeugung verschafft hat, dass genügende Entschuldigungsgründe<br />
nicht gegeben sind (SenE VRS 83, 444). Zweifeln an der Richtigkeit<br />
eines vorgelegten Attestes ist ggf. im Freibeweisverfahren nachzugehen.<br />
§ 78 OWiG<br />
Verwertung einer Videoaufzeichnung<br />
SenE v. 24.08.2006 - 81 Ss-OWi 89/06 -<br />
I.<br />
Durch Urteil des Amtsgerichts Brühl vom 24. August 2006 – 52 OWi 71/06 – ist gegen<br />
den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit<br />
eine Geldbuße von 500,00 € und ein Fahrverbot von einem Monat verhängt worden.<br />
Nach den Feststellungen fuhr der Betroffene am 29. Juli 2005 um 11.34 Uhr mit seinem<br />
Pkw Audi die Bundesautobahn 555 von Köln in Fahrtrichtung Bonn und überschritt in Höhe<br />
des Kilometers 8,5 die gemäß Zeichen 274 auf 100 km/h beschränkte zulässige<br />
Höchstgeschwindigkeit über eine Strecke von 2,4 km um 94 km/h.<br />
Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der die Verletzung des<br />
Verfahrensrechts und des sachlichen Rechts gerügt wird.<br />
II.<br />
Die zulässige Rechtsbeschwerde hat (vorläufigen) Erfolg.<br />
1.<br />
Sie dringt mit der Verfahrensrüge zu § 261 <strong>StPO</strong> (i. V. m. § 46 OWiG) durch. Das Amtsgericht<br />
hat die Verurteilung auf die Videosequenz gestützt, obwohl diese nicht zum Gegenstand<br />
der Hauptverhandlung gemacht worden ist.<br />
Nach den Urteilsgründen ist die dem Betroffenen vorgeworfene Geschwindigkeitsüberschreitung<br />
„durch die Videosequenz, das vorliegende Messprotokoll und den Eichschein<br />
sowie die Einlassung des Betroffenen, soweit ihr gefolgt werden kann“ bewiesen. Ein Geständnis<br />
zur Höhe der gefahrenen Geschwindigkeit (das auch bei fahrlässiger Geschwindigkeitsüberschreitung<br />
durchaus denkbar wäre, vgl. BGHSt 39, 291; SenE vom<br />
10.03.2005 – 8 Ss-OWi 47/05 -) hat der Betroffene nicht abgelegt. Auch die an dem<br />
Nachfahren beteiligten Polizeibeamten sind nicht etwa als Zeugen vernommen worden.<br />
Messprotokoll und Eichschein haben gewöhnlich einen anderweitigen Inhalt, nämlich zu<br />
den Messungsvoraussetzungen. Die Feststellungen zur Geschwindigkeitsüberschreitung<br />
stützen sich somit allein auf die Videosequenz. Das ist rechtsfehlerhaft.<br />
a)<br />
Die zu § 261 <strong>StPO</strong> erhobene Verfahrensrüge ist zulässig ausgeführt und genügt -<br />
entgegen der Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft – den Voraussetzungen des §<br />
344 Abs. 2 Satz 2 <strong>StPO</strong> i. V. m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG.
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 37<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
Die Rechtsbeschwerdebegründung trägt dezidiert vor, dass von einem Vorspielen der<br />
Videosequenz in der Hauptverhandlung abgesehen worden ist, weil hierauf allseits ausdrücklich<br />
verzichtet wurde, und dass deswegen das Amtsgericht seine Überzeugung nicht<br />
aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung geschöpft habe. Die Bezugnahme auf das<br />
Hauptverhandlungsprotokoll (mit dem Zusatz „Beweis“) ist nur noch zusätzlich erfolgt.<br />
Soweit die Generalstaatsanwaltschaft Vorbringen dazu vermisst, dass auszuschließen<br />
sei, dass der Inhalt der Videosequenz anders in die Hauptverhandlung eingeführt worden<br />
sei, greift dies vorliegend nicht durch. Eine anderweitige Einführung der Videosequenz in<br />
die Hauptverhandlung mit dem Ergebnis, dass hierdurch die Geschwindigkeitsüberschreitung<br />
um 94 km/h bewiesen ist, ist nicht vorstellbar. Eine lediglich einfache Augenscheinseinnahme<br />
würde nur die bloße Existenz der Kassette, nicht aber deren Inhalt wiedergeben,<br />
der nicht nur die Fahrereigenschaft, sondern auch die Einblendung der gefahrenen<br />
Geschwindigkeit erwarten lässt. Auch über<br />
§ 78 Abs. 1 <strong>StPO</strong>, nämlich über die Bekanntgabe des wesentlichen Inhalts durch das<br />
Gericht, kann die Videosequenz nicht zulässig in die Hauptverhandlung eingeführt worden<br />
sein, weil sich diese Vorschrift nur auf Schriftstücke bezieht (worauf auch schon die<br />
Rechtsbeschwerdebegründung hingewiesen hat).<br />
b)<br />
Die Verfahrensrüge ist auch begründet.<br />
Der Tatrichter darf bei seiner Überzeugungsbildung nur das verwerten, was an Erkenntnissen<br />
durch die Verhandlung und in der Verhandlung gewonnen hat (BGHSt 19, 193,<br />
195; Schoreit in Karlsruher Kommentar zum OWiG, 2. Aufl., § 261 Rdn. 7).<br />
So können auch Videoaufnahmen im Wege des Augenscheinsbeweises vom Tatrichter<br />
verwertet werden (Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 28. Aufl., § 24 StVG Rdn. 76).<br />
Dieser Augenscheinsbeweis ist ausweislich der durch das Hauptverhandlungsprotokoll<br />
bestätigten Verfahrensrüge hier nicht erfolgt. Da auch der Betroffene nicht etwa die Geschwindigkeitsüberschreitung<br />
und ihre Höhe gestanden hat (er hat sich nur dahingehend<br />
eingelassen, dass er die Beschilderung zur Geschwindigkeitsbeschränkung anders verstanden<br />
habe), kommt es für die Entscheidungsfindung in dem angefochtenen Urteil ausschließlich<br />
auf die Videosequenz an, die nicht zulässig in die Hauptverhandlung eingeführt<br />
worden ist.<br />
Entgegen der Generalstaatsanwaltschaft beruht das angefochtene Urteil auch auf dem<br />
Verstoß gegen § 261 <strong>StPO</strong>. Es kann nicht dabei sein Bewenden haben, dass der Betroffene<br />
ausweislich der Urteilsgründe gestanden hat, Fahrer des auf dieser Videosequenz<br />
aufgezeichneten Pkw gewesen zu sein. Vielmehr gibt die Videosequenz bei der Überwachung<br />
durch Nachfahren mittels einer Police-Pilot-Anlage Typ Provida 2000 (ein standardisiertes<br />
Verfahren) neben anderen Daten gerade auch die gefahrene und gemessene<br />
Geschwindigkeit wieder. Hierfür ist, solange nicht die beteiligten Polizeibeamten als Zeugen<br />
vernommen werden oder ein Geständnis abgelegt wird, die Videosequenz das einzige<br />
Beweismittel.
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 38<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
Straßenverkehrsgesetz (StVG)<br />
§ 21 StVG<br />
Feststellungen zum Schuldumfang<br />
SenE v. 24.11.2006 - 83 Ss 80/06 -<br />
Z Die Überprüfung des Urteils aufgrund der erhobenen Sachrüge lässt indes Rechtsfehler<br />
zu Lasten des Angeklagten erkennen, die zur Aufhebung des Urteils führen.<br />
1.)<br />
So lassen bereits die Feststellungen des Tatgerichts zum Schuldspruch wegen vorsätzlicher<br />
Trunkenheit im Straßenverkehr in Tateinheit mit Fahren ohne Fahrerlaubnis den<br />
Schuldumfang der Tat nicht hinreichend erkennen. Vielmehr ist der Tatrichter gehalten,<br />
über die Individualisierung (Rechtskraftfrage) und die für den äußeren und inneren Tatbestand<br />
notwendigen Feststellungen hinaus Feststellungen zu Umständen zu treffen, die<br />
geeignet sind, den Schuldumfang näher zu bestimmen und einzugrenzen. Wichtige Kriterien<br />
sind dabei Dauer und Länge der bereits zurückgelegten und noch beabsichtigten<br />
Fahrstrecke, Verkehrsbedeutung der befahrenen Straßen sowie der Anlass der Fahrt<br />
(SenE v. 21.10.2003 – Ss 434/03 und v. 02.12.2003 – Ss 497/03; v. 23.09.2005 - 81 Ss<br />
52/05; insoweit gelten die von der Rechtsprechung zu § 316 StGB, § 318 <strong>StPO</strong> entwickelten<br />
Grundsätze für die Verurteilung wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis entsprechend,<br />
vgl. zu diesen: OLG Karlsruhe VRS 79, 199; BayObLG VRS 93, 108; Senatsentscheidung<br />
VRS 98, 140 und vom 04.11.1997 – Ss 547/97). Das Fehlen solcher Feststellungen zum<br />
Schuldumfang ist nur dann nicht rechtsfehlerhaft, wenn sie nicht möglich sind, weil der<br />
Angeklagte zu den Tatumständen schweigt und Beweismittel dafür entweder nicht zur<br />
Verfügung stehen oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand zu beschaffen wären (Senatsentscheidung<br />
vom 04.11.1997 - Ss 547/97 zu § 316 StGB, § 318 <strong>StPO</strong>).<br />
Die Feststellungen des Landgerichts zum Schuldspruch wegen vorsätzlicher Trunkenheit<br />
im Straßenverkehr sowie wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis entsprechen<br />
diesen Anforderungen nicht. Es ist auch nicht ersichtlich, dass Feststellungen zum<br />
Schuldumfang dieser Tat nicht hätten getroffen werden können, zumal der Angeklagte<br />
geständig ist.
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 39<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
Straßenverkehrsordnung (StVO)<br />
§§ 3, 41 Abs. 2 Nr. 7 StVO<br />
Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren mit Tachovergleich<br />
SenE v. 17.11.2006 - 82 Ss-OWi 95/06 -<br />
Die amtsgerichtlichen Feststellungen tragen nicht die Verurteilung des Betroffenen wegen<br />
einer fahrlässigen Geschwindigkeitsüberschreitung. Sie berücksichtigen die von der<br />
obergerichtlichen Rechtsprechung zur Feststellung einer Geschwindigkeitsüberschreitung<br />
durch Nachfahren zur Nachtzeit außerhalb geschlossener Ortschaften entwickelten<br />
Grundsätze nicht in zureichendem Maße.<br />
Das Nachverfahren mit Tachometervergleich kann nicht mit standardisierten Messverfahren<br />
verglichen werden, bei denen Fehlerquellen nur zu erörtern sind, wenn der Einzelfall<br />
dazu Veranlassung gibt. Vielmehr bedarf es näherer Feststellungen im tatrichterlichen<br />
Urteil, um die Zuverlässigkeit der Beobachtungen des Abstandsverhaltens beurteilen zu<br />
können. Insbesondere muss dem Urteil zu entnehmen sein, wie lang die Messstrecke und<br />
wie groß der Abstand war, sowie ferner, ob der verwendete Tachometer binnen Jahresfrist<br />
justiert war und welcher Sicherheitsabschlag vorgenommen wurde (vgl. SenE NZV<br />
1994, 77 = VRS 86, 199; NZV 1994, 290 = DAR 1994, 248). Bei einer durch Nachfahren<br />
zur Nachtzeit gemessenen Geschwindigkeitsüberschreitung sind über die allgemeinen<br />
Grundsätze zur Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren hinaus grundsätzlich zusätzliche<br />
Feststellungen dazu zu treffen, wie die Beleuchtungsverhältnisse waren und ob<br />
bei den zur Nachtzeit regelmäßig schlechteren Sichtverhältnissen der Abstand zu dem<br />
vorausfahrenden Fahrzeug durch Scheinwerferlicht des nachfahrenden Fahrzeugs oder<br />
durch andere Lichtquellen aufgehellt und damit ausreichend sicher erfasst und geschätzt<br />
werden konnte. Auch sind zusätzliche Ausführungen dazu erforderlich, ob für die Schätzung<br />
eines gleich bleibenden Abstands zum vorausfahrenden Fahrzeugs ausreichende<br />
und trotz der Dunkelheit zu erkennende Orientierungspunkte vorhanden waren. Denn die<br />
Zuverlässigkeit der Geschwindigkeitsmessung durch Tachometervergleich hängt entscheidend<br />
von der Zuverlässigkeit ab, mit der das Abstandsverhalten über längere Zeit<br />
mit bloßem Auge, ohne technische Hilfsmittel beobachtet worden ist (SenE a.a.O.). Entsprechende<br />
Angaben sind allerdings entbehrlich, wenn die Messungen auf Autobahnen<br />
oder autobahnähnlich ausgebauten Bundesstraßen vorgenommen werden, die regelmäßig<br />
mit reflektierenden Leitpfosten im Abstand von ca. 50m ausgestattet sind, die eine<br />
genaue Abschätzung der Länge der Gesamtstrecke und des Abstandes ermöglichen. In<br />
diesen Fällen kann auch ohne besondere Darlegung im Urteil davon ausgegangen werden,<br />
dass die Einhaltung eines gleich bleibenden Abstandes anhand der Leitpfostenabstände<br />
überwacht worden ist (vgl. SenE v. 13.08.1999 – Ss 363/99 B; vgl. zu allem –<br />
auch zur erforderlichen Messstreckenlänge: Janiszewski/Jagow/Burmann, Straßenverkehrsrecht,<br />
19. Auflage, StVO § 3 Rn. 89 ff. mit weiteren Nachweisen).<br />
Hier lassen sich dem angefochtenen Urteil keine Angaben dazu entnehmen, wie groß der<br />
Abstand zwischen den Fahrzeugen war, als der Zeuge nicht mehr parallel zu dem Pkw<br />
des Betroffenen, sondern dahinter fuhr, und wie sich die Messstrecke insoweit aufteilt<br />
(Strecke des Parallelfahrens - Strecke des Hinterherfahrens). Auch fehlen Angaben zu<br />
den Beleuchtungsverhältnissen.<br />
Für die neue Hauptverhandlung wird auf Folgendes hingewiesen:<br />
Sollten schon die Angaben des Zeugen zur Messtrecke ungenau bleiben, wird die Zuver-
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 40<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
lässigkeit seiner Angaben insgesamt besonders kritischer Erörterung bedürfen.<br />
Je kürzer die Messstrecke ist, um so genauere Angaben sind im Urteil über den Abstand<br />
erforderlich.<br />
§ 37 StVO<br />
Feststellung eines qualifizierten Rotlichtverstoßes; Schätzung<br />
SenE v. 06.11.2006 - 83 Ss-OWi 81/06 -<br />
Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen einer fahrlässigen Ordnungswidrigkeit gemäß<br />
§§ 37 Abs. 2, 49 StVO (Rotlichtverstoß) zu einer Geldbuße von 125 € verurteilt und<br />
ihm - verbunden mit der Anordnung nach § 25 Abs. 2 a StVG - für die Dauer von einem<br />
Monat verboten, Kraftfahrzeuge aller Art zu führen. Nach seinen Feststellungen befuhr<br />
der Betroffene am 04.02.2005 gegen 23.30 Uhr mit einem Pkw in Köln die Siegburger<br />
Straße stadteinwärts und bog nach rechts in die Straße Auf dem Sandberg ab; dabei beachtete<br />
er nicht das Rotlicht der Lichtzeichenanlage, wobei die Rotphase bereits länger<br />
als eine Sekunde dauerte, "als er die Ampel passierte". Die Feststellungen zur Missachtung<br />
des Rotlichts und zur Dauer der Rotlichtphase beruhen auf den Aussagen der Zeugen<br />
PK A. und POM'in B., die in den Urteilsgründen wie folgt wiedergegeben werden:<br />
"Der Zeuge A. hat ausgesagt, dass im Rahmen einer gezielten Überwachung das Fahrzeug<br />
(sc. der Beamten) auf dem Bürgersteig Auf dem Sandberg an der Ecke Siegburger<br />
Straße, und zwar an der Ecke der fraglichen Ampel, gestanden habe und zwar dicht an<br />
einer Toreinfahrt bzw. einem die Toreinfahrt begrenzenden Mauerpfeiler. Das Fahrzeug<br />
habe mit der Schnauze ein Stück über dem Pfeiler hinausgeragt, so dass man von der<br />
Sitzposition aus sowohl die Ampel auf der gegenüberliegenden Straßenseite, nämlich<br />
deren Lichtschein, als auch die Haltelinie bzw. die Fahrbahn auf der Siegburger Straße<br />
sowohl geradeaus als Rechtsabbieger habe beobachten können. Nachdem die Ampel<br />
bereits 1 Sekunde mindestens auf Rotlicht umgesprungen sei, sei das Fahrzeug des Betroffenen<br />
noch auf der Rechtsabbiegerspur fahrend über die Haltelinie gefahren und nach<br />
rechts abgebogen.<br />
Diese Angaben sind von der Zeugin B., die Beifahrer im Polizeifahrzeug war, bestätigt<br />
worden …<br />
Nach den Bekundungen der Zeugen A. und B., war bereits 1 Sekunde vergangen, als das<br />
Fahrzeug des Betroffenen erst auftauchte. Aus diesem Grund gehen die Zeitberechnungen<br />
im Beweisantrag ins Leere.<br />
…<br />
Die Feststellung eines Rotlichtverstoßes nach mehr als 1 Sekunde Beginn Rotlicht hält<br />
das Gericht auch für eine Feststellung, die die Polizeibeamten aus ihrer Erfahrung heraus<br />
mit den üblichen Mitteln treffen kann."<br />
Mit der Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird die Verletzung materiellen Rechts gerügt.<br />
Die gemäß § 79 Abs. 1 Nr. 2 OWiG statthafte Rechtsbeschwerde begegnet hinsichtlich<br />
ihrer Zulässigkeitsvoraussetzungen keinen Bedenken. Sie hat auch in der Sache (vorläufigen)<br />
Erfolg, indem sie gemäß §§ 353 <strong>StPO</strong>, 79 Abs. 3 S. 1 OWiG zur Aufhebung des
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 41<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht (§ 79<br />
Abs. 6 OWiG) führt.<br />
Die Feststellung des Amtsgericht, dass die Rotphase der Wechsellichtzeichenanlage<br />
beim Passieren der Haltelinie bzw. der Ampel bereits länger als eine Sekunde andauerte,<br />
findet in den Urteilsgründen keine tragfähige Grundlage. Die Ausführungen des Amtsgerichts<br />
zur Würdigung des Beweisergebnisses sind insoweit unvollständig und lassen besorgen,<br />
dass seine Überzeugung nicht frei von rechtsfehlerhaften Erwägungen gebildet<br />
worden ist.<br />
Damit die Feststellungen eines von einem Zeugen beobachteten qualifizierten Rotlichtverstoßes<br />
eine tragfähige Grundlage für die Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht<br />
bilden, ist es erforderlich, dass der Tatrichter in den Urteilsgründen die von dem<br />
Zeugen angewandte Messmethode darstellt und sie hinsichtlich ihrer Beweiskraft bewertet<br />
(BayObLG DAR 2002, 520 = NZV 2002, 518 = NStZ-RR 2002, 345 [346] = VRS 103,<br />
449 [450]). Soll durch Zeugenbeweis - ohne technische Hilfsmittel - ein qualifizierter Rotlichtverstoß<br />
bewiesen werden, so ist eine kritische Würdigung des Beweiswertes der<br />
Aussagen geboten. Um die Zuverlässigkeit der Zeitermittlung des Zeugen überprüfen zu<br />
können, sind in den Urteilsgründen Angaben dazu erforderlich, auf welchen Grundlagen<br />
sie beruht (OLG Düsseldorf VRS 96, 386). Damit korrespondieren Grundsätze zur Einschätzung<br />
der Beweiskraft entsprechender Bekundungen, da die Schätzung eines Zeitablaufs<br />
im allgemeinen mit einer hohen Unsicherheit belastet ist (OLG Düsseldorf NZV<br />
1995, 197; OLG Jena VRS 107, 200 [202]; KG NZV 1995, 240; BayObLG NZV 1995,<br />
497; SenE v. 07.09.2004 - 8 Ss-OWi 12/04 - = NJW 2004, 3439 = DAR 2005, 50 = NZV<br />
2004, 651 = VRS 107, 384).<br />
Für die Feststellung eines qualifizierten Rotlichtverstoßes genügt die bloße gefühlsmäßige<br />
Schätzung eines den Rotlichtverstoß zufällig beobachtenden Polizeibeamten allein<br />
nicht (BayObLG a.a.O.; OLG Düsseldorf a.a.O.; OLG Jena NZV 1999, 304). Ebenso verhält<br />
es sich bei einer von einem zufälligen Beobachter durch Zählen oder auf sonstige<br />
Weise vorgenommenen Schätzung der Rotlichtzeit (vgl. BayObLG a.a.O.; OLG Celle<br />
NZV 1994, 40; OLG Düsseldorf DAR 1995, 167; VRS 92, 360, 361; OLG Hamm NZV 92,<br />
281; KG NZV 1995, 240). Etwas anderes kann jedoch für eine auf Zählung beruhende<br />
Schätzung von Polizeibeamten gelten, der eine gezielte Rotlichtüberwachung zugrunde<br />
liegt (vgl. OLG Düsseldorf VRS 93, 462 = DAR 1997, 283, DAR 1997, 322 und NZV 2000,<br />
134 [135] = DAR 2000, 127 [128] = VRS 98, 225 [226 f.]; OLG Hamm VRS 91, 394 [395<br />
f.], DAR 1996, 415, 416 = VM 1997, 20 = VRS 92, 281 und DAR 1997, 77 = NZV 1997,<br />
130; Löhle/Beck DAR 2000, 1 [7]; st. Senatsrechtsprechung: SenE v. 14.02.1997 - Ss<br />
34/97 B -; SenE v. 03.06.1997 - Ss 177/97 B -, SenE v. 08.05.1998 - Ss 155/98 B -; SenE<br />
v. 02.01.2001 - Ss 537/00 B - = VRS 100, 140 [141]; SenE v. 20.03.2001 - Ss 58/01 B -;<br />
SenE v. 27.11.2001 - Ss 478/01 B -).<br />
Aber auch in diesem Fall gilt, dass zur Feststellung von Zeitintervallen im Sekundenbereich<br />
freie Schätzungen aufgrund gefühlsmäßiger Erfassung generell ungeeignet sind, da<br />
erfahrungsgemäß hierbei ein erhebliches Fehlerrisiko besteht (BayObLG DAR 2002, 520<br />
= NZV 2002, 518 = NStZ-RR 2002, 345 [346] = VRS 103, 449; OLG Düsseldorf DAR<br />
2003, 85 [86]; OLG Rostock VRS 109, 27 [31]; vgl. a. SenE v. 07.09.2004 - 8 Ss-OWi<br />
12/04 - = NJW 2004, 3439 = DAR 2005, 50 = NZV 2004, 651 = VRS 107, 384; SenE v.<br />
30.12.2005 - 82 Ss-OWi 54/05 -).<br />
Das angefochtene Urteil gibt keinen Aufschluss darüber, worauf die Zeitangaben der vernommenen<br />
Polizeibeamten beruhen. Es ist lediglich davon die Rede, dass sie "aus ihrer
Oberlandesgericht, 1. Strafsenat Seite 42<br />
Oktober 2006 - Dezember 2006<br />
Erfahrung heraus mit den üblichen Mitteln" zur Feststellung der Zeitdauer in der Lage<br />
seien. Was dabei unter den "üblichen Mitteln" verstanden wird, bleibt offen. Dass die Beamten<br />
die Dauer der Rotphase gemessen (vgl. OLG Düsseldorf DAR 2000, 579 = VRS<br />
99, 294) oder durch Mitzählen („21, 22, 23“ – vgl. hierzu OLG Brandenburg DAR 1999,<br />
512; OLG Düsseldorf VRS 93, 462; NZV 2000, 134 = VRS 98, 225; Sen v. 8.05.1998 -Ss<br />
155/98 B -; SenE v. 12.12.2003 - Ss 527/03 B - = VRS 106, 214 [215] = zfs 2004, 432;<br />
SenE v. 21.06.2005 - 8 Ss-OWi 160/05 -) ermittelt haben, wird nicht mitgeteilt. Möglich ist<br />
daher auch, dass sie auf einer bloßen Schätzung beruht.<br />
Der Mangel führt zur Aufhebung des Urteils insgesamt, obwohl die Feststellungen zwar<br />
keinen qualifizierten, wohl aber einen einfachen Verstoß gegen § 37 Abs. 2 Nr. 1 S. 7<br />
StVO belegen. Denn die Frage der Rotlichtdauer betrifft den Schuldumfang und die hierzu<br />
getroffenen Feststellungen sind untrennbar mit den Schuldfeststellungen verknüpft<br />
(SenE v. 08.02.2000 - Ss 51/00 B - = VRS 98, 389 [392]; SenE VRS 92, 228; SenE v.<br />
04.12.1998 - Ss 571/98 B -; SenE v. 02.01.2001 - Ss 537/00 B - = VRS 100, 140 [142];<br />
SenE v. 22.05.2003 - Ss 198/03 B -; SenE v. 09.09.2003 - Ss 250/03 B -; SenE v.<br />
07.09.2004 - 8 Ss-OWi 12/04 - = NJW 2004, 3439 = DAR 2005, 50 [51] = NZV 2004, 651<br />
= VRS 107, 384; OLG Düsseldorf VRS 95, 439 = NZV 1999, 94).