12/2013 - Bad Windsheim
12/2013 - Bad Windsheim
12/2013 - Bad Windsheim
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
LANDKREIS JOURNAL Nr. <strong>12</strong>/<strong>2013</strong><br />
Literarische Spurensuche im Landkreis (Folge 17)<br />
„Und blieb ich am äußersten Meer“<br />
<strong>Windsheim</strong>-Focus in W.G. Sebalds Prosagedicht „Nach der Natur“<br />
Obwohl es schon vor einem halben Jahr erschienen<br />
sei, habe es kaum einen Rezensenten<br />
gefunden, wunderte sich der Kritiker.<br />
Und seiner ebenso ratlosen Kollegin fiel es,<br />
wie sie schrieb, schwer, mit anzusehen, wie<br />
„die Lawine der literarischen Frühjahrsneuigkeiten“<br />
ein „außerordentliches“ Buch demnächst<br />
unter sich begraben werde. Kaum erklärlich<br />
sei dieser Mangel an Beachtung, der<br />
eklatante Nichterfolg Ausdruck der schon<br />
immer zu beklagenden Ungerechtigkeit des<br />
Literaturbetriebs.<br />
Die Sorge um das 1988 erschienene<br />
„schmale Werk“ war begründet: Der Verfasser,<br />
W.G. Sebald, weitgehend unbekannt, der<br />
Titel, Nach der Natur. Ein Elementargedicht,<br />
von „rätselhafter Mehrdeutigkeit“, der Text,<br />
eigenwillig in Verse gefasste Prosa, „befremdlich“.<br />
Doch der vermutete Flop des Nobody fand<br />
nicht statt. Im Gegenteil. In nur wenigen<br />
Jahren avancierte er „vom Geheimtipp zum<br />
international gefeierten Autor“, gepriesen<br />
als „ein Solitär der deutschen Gegenwartsliteratur“.<br />
Jetzt war den Rezensenten kein Vergleich<br />
zu hoch gegriffen. Sie stellten Sebald<br />
in eine Reihe mit Marcel Proust und Adalbert<br />
Stifter, fanden seine Sprache ähnlich klar und<br />
bestimmt wie die von Thomas Bernhard, bescheinigten<br />
ihm den Rang eines Vladimir Nabokov,<br />
fühlten sich an Jean Paul erinnert oder<br />
an Virginia Woolf. Er wurde mit Literaturauszeichnungen<br />
überhäuft. Die New York Times<br />
sah in ihm einen ernsthaften Anwärter auf<br />
den Nobelpreis. In Wertach im Allgäu, wo er<br />
am 18. Mai 1944 zur Welt kam, führt inzwischen<br />
ein stark frequentierter Literatur-Weg<br />
zum Geburtshaus des Dichters.<br />
Als W.G. Sebald, der seine Taufnamen Winfried<br />
und Georg nur in abgekürzter Form ertragen<br />
konnte und sich lieber Max nannte, im<br />
Dezember 2001 im Alter von siebenundfünfzig<br />
Jahren bei einem Autounfall in England<br />
ums Leben kam, war sein Ruhm längst begründet<br />
– mit im Wesentlichen vier Büchern:<br />
Schwindel. Gefühle (1990), Die Ausgewanderten<br />
(1992), Die Ringe des Saturn (1995)<br />
und Austerlitz (2001). Texte, die sich keinem<br />
Genre eindeutig zuordnen, die Fiktives, Gefundenes,<br />
Berichtetes in einer „glasklaren<br />
Prosa“ verbinden.<br />
Und Sebalds Erstling Nach der Natur? Der<br />
wurde erst richtig wahrgenommen, als der<br />
Autor den Durchbruch bei der Kritik bereits<br />
geschafft hatte und das Buch kurz nach seinem<br />
Tod in englischer Übersetzung herauskam.<br />
Literaturexperten erkannten darin viele<br />
Motive, die auch Sebalds späteres Werk bestimmten.<br />
Nach der Natur zeichnet die Lebenslinien<br />
dreier Männer nach, die „den Konflikt zwischen<br />
Mensch und Natur auf jeweils eigene<br />
Weise schmerzlich empfunden haben“. Im<br />
dritten Abschnitt des<br />
Elementargedichts, einer<br />
autobiographischen Reflexion,<br />
stellt der Autor<br />
seine Schlüsselfrage: Wie<br />
weit überhaupt muß man<br />
zurück, um den Anfang<br />
zu finden? Die Frage richtet<br />
er nicht nur an sich<br />
selbst, sie gilt auch dem<br />
Maler „Matthaeus Grünewald“,<br />
dem Schöpfer<br />
des Isenheimer Altars,<br />
und Georg Wilhelm Steller,<br />
dem Naturforscher<br />
und Entdecker. Deren Lebensumstände<br />
bilden das<br />
Material für die beiden<br />
anderen Teile des poetischen<br />
Triptychons.<br />
Verknüpft sind die in so unterschiedlichen<br />
Jahrhunderten handelnden Abschnitte des<br />
Elementargedichts durch einen konkreten<br />
Ortsbezug. Nicht zuletzt amerikanische Literaturkenner<br />
stellten diese Tatsache heraus.<br />
„But the most significant recurrence is the<br />
town of <strong>Windsheim</strong>” befand eine Besprechung<br />
von After Nature im New Yorker Village<br />
Voice Literary Supplement.<br />
Im Grünewald-Teil, der unter der Überschrift<br />
„Wie der Schnee auf den Alpen“ das Buch<br />
eröffnet, lässt Sebald den Maler zur Bauernkriegszeit<br />
in der Reichsstadt auftreten:<br />
Im Frühjahr 1525 ritt Grünewald / durch<br />
Aprillicht und Schauer / nach <strong>Windsheim</strong>,<br />
wo er / in der Werkstatt Jakob Secklers / ein<br />
kleines Gesprenge aus Weinlaub / und verschiedenen<br />
Vögeln / in Arbeit gegeben hatte.<br />
/ Während Seckler die letzte Hand / an die<br />
Sache legte, geriet Grünewald / ins Gespräch<br />
mit Barthel und Sebald Beham, / Kupferstecher<br />
und Zeichner aus Nürnberg / die, am<br />
<strong>12</strong>. Jänner als gottlose Maler / verhaftet und<br />
wegen Ketzerei / aus ihrer Heimatstadt ausgewiesen,<br />
vorläufig bei dem <strong>Windsheim</strong>er<br />
Meister logierten. / Die Brüder erzählten auf<br />
Spazierwegen / hinaus in die noch fehlfarbenen<br />
/ Felder und bis tief in die Nacht / von<br />
dem in Nürnberg gewesenen Thomas Münzer,<br />
/ der jetzt durch Schwaben und Elsaß, /<br />
in die Schweiz und den Schwarzwald gegangen<br />
sei, / die Erhebung ausrichten.<br />
Die Szene stützt sich auf historische Fakten,<br />
den Prozess gegen die gottlosen Maler, Münzers<br />
Aufenthalt in Nürnberg, enthält aber<br />
auch Fiktionales. Ein Besuch des unter dem<br />
Namen Grünewald bekannt gewordenen<br />
Künstlers Mathis Gothart-Nithart in <strong>Windsheim</strong><br />
ist nicht belegt. Ob die Brüder Barthel<br />
und Sebald Beham nach ihrer Ausweisung<br />
aus Nürnberg im nahen <strong>Windsheim</strong> Unterschlupf<br />
gefunden haben, wird zwar vermutet,<br />
gesichert gilt es aber nur für den hier nicht<br />
Die Literaturzeitschrift Text & Kritik<br />
widmete W.G. Sebald 2003 einen Titel<br />
genannten Dritten im<br />
Bunde der gottlosen Maler,<br />
Georg Pencz.<br />
Anders als im Falle Grünewald,<br />
wo angesichts<br />
spärlich überlieferter Daten<br />
dichterische Freiheit<br />
gefordert war, konnte<br />
W.G. Sebald bei Steller<br />
auf einen gut dokumentierten<br />
Lebenslauf zurückgreifen.<br />
„Und blieb<br />
ich am äußersten Meer“<br />
betitelte er das zuerst<br />
1984 in der Literaturzeitschrift<br />
Manuskripte veröffentlichte<br />
Prosagedicht,<br />
das die Stationen des<br />
Kantorensohns chronologietreu<br />
nachzeichnet:<br />
Der aus <strong>Windsheim</strong> in Franken / gebürtige<br />
Georg Wilhelm Steller / stieß im Verlauf seines<br />
Studiums / an der Universität Halle wiederholt<br />
/ auf die in die Intelligenzblätter eingerückte<br />
Nachricht, / daß die russische Zarin<br />
Anstalten treffe, / im Zuge der Erweiterung<br />
ihres Reiches / eine Expedition von nie dagewesenem<br />
Ausmaß / unter dem Oberkommando<br />
des Vitus Bering, dessen Kopf zirka<br />
zweieinhalb Jahrhunderte später / zu unserem<br />
Entsetzen noch einmal / in der Literatur<br />
auftaucht, / an die pazifischen Küsten zu<br />
entsenden, / damit von dort aus der Seeweg<br />
/ nach Amerika in Erfahrung gebracht werde.<br />
Ob Sebalds Versuch über Steller von Anfang<br />
an als Teil eines dreigliedrigen Buches vorgesehen<br />
war, ist fraglich. Fest steht, dass <strong>Windsheim</strong><br />
die Klammer bleibt, auch für den dritten<br />
Abschnitt „Die dunckle Nacht fahrt aus“, wo<br />
es um den Autor selber geht, um sein allererstes<br />
Lebenszeichen:<br />
In der Nacht auf den 28. (August 1943) flogen<br />
/ 582 Maschinen einen Angriff / auf Nürnberg.<br />
Die Mutter / die am anderen Morgen /<br />
nachhause ins Allgäu / zurückfahren wollte,<br />
/ ist mit der Bahn bloß / bis nach Fürth gekommen,<br />
/ von dort aus sah sie / Nürnberg<br />
in Flammen stehn, / weiß aber heute nicht<br />
mehr, / wie die brennende Stadt aussah /<br />
und was für Gefühle sie bei ihrem Anblick<br />
bewegten. / Sie sei, so erzählte sie neulich,<br />
/ von Fürth aus am selben Tag noch / nach<br />
<strong>Windsheim</strong> zu einer Bekannten / gefahren,<br />
wo sie das Schlimmste / abgewartet und gemerkt<br />
habe, dass sie schwanger geworden<br />
sei.<br />
Das mangelnde Erinnerungsvermögen der<br />
Mutter hat Sebald später auf eine ganze Generation<br />
übertragen und von einem „Meer<br />
des Verschweigens“ gesprochen, wenn es um<br />
die Zeit zwischen 1933 und 1945 ging.<br />
Werner P. Binder<br />
3