<strong>Innenwelten</strong> Erstmals seit 50 Jahren haben das Museum Oskar Reinhart, Winterthur und die Nationalgalerie Berlin dem bedeutenden Poträtisten <strong>Anton</strong> Graff eine umfassende Einzelausstellung gewidmet. Am 25. Oktober 2013 eröffnet die Berliner Station dieser Retrospektive in der Alten Nationalgalerie. „Gesichter einer Epoche“ vermittelt tiefe menschliche Einblicke in die Zeitgenossen des Malers. Für sie galten „die Lehren der Revolution und die rationalen Werte der Aufklärung schon als Basis einer neuen gesellschaftlichen Ordnung, die auf Achtung der Menschenwürde, der Gleichheit und Freiheit aller Menschen und auf religiöser Toleranz baute“ 1 . Wir sprachen mit den Kuratoren der Ausstellung, Dr. Birgit Verwiebe von der Alten Nationalgalerie in Berlin und Dr. Marc Fehlmann vom Oskar Reinhart Museum in Winterthur. Die Fragen stellte Katharina Lau (*1983), Kunst- und Modehistorikerin. Sie promoviert derzeit an der Universität Heidelberg im Bereich der englischen Porträtmalerei. <strong>Anton</strong> Graff gilt als der wohl bedeutendste deutsche Porträtmaler. Er ist der Maler der geistigen und kulturellen Elite der Goethezeit. Warum geriet er lange Zeit in Vergessenheit? Birgit Verwiebe: Es hat sehr lange keine Ausstellung zum Werk <strong>Graffs</strong> gegeben. Vor 50 Jahren wurden seine Porträts in Ostberlin und in Dresden in Sonderausstellungen letztmals gezeigt. Mit den Publikationen zu seinem Werk sieht es ähnlich aus. In den 1960er-Jahren erschien zwar das sehr verdienstvolle Werkverzeichnis von Ekhart Berckenhagen, die Bildnisse <strong>Graffs</strong> wurden darin jedoch meist in kleinen Schwarz-Weiß-Abbildungen wiedergegeben. Bisher existierte keine Monografie mit farbigen Reproduktionen. Dies hat sich nun dank unseres gemeinsam erarbeiteten Katalogs mit über 200 Farbabbildungen geändert. Marc Fehlmann: In Winterthur wurde Graff vermutlich auch deshalb vergessen, weil das hiesige Kunstmuseum seine Werke, zusammen mit jeglicher Kunst vor 1850, seit 1993 nicht mehr zeigt. Das Museum Oskar Reinhart war die letzten Jahre der einzige Ort in <strong>Graffs</strong> Heimatstadt, wo seine Werke kontinuierlich ausgestellt waren. Wenn ein Künstler oder ganze Epochen 20 Jahre lang weggeschlossen und nur noch Werke vom Impressionismus bis zur Gegenwartskunst gezeigt werden, dann werden selbst die größten Talente der älteren Kunst vergessen. 1 So schreibt Christina Weiss im Vorwort des im Hirmer Verlag zur Ausstellung erscheinenden Kataloges. <strong>Anton</strong> Graff: Selbstbildnis mit Augenschirm, 1813 © bpk / Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie, Foto: Andres Kilger Die Zeit der Aufklärung ist auch die Zeit des Aufstiegs des Bürgertums und des revolutionären Umbruchs. Inwiefern spiegelt sich der Zeitgeist der Aufklärung in <strong>Graffs</strong> Porträts? Birgit Verwiebe: Graff hat bedeutende Vertreter der Aufklärung porträtiert. Aus ihren Gesichtern spricht ihr Geist und wenn man so will – ihr Vermächtnis, ihre Ideen der Toleranz, Verständigung und individuellen Freiheit. Die Bildnisse sind so präsent und lebendig, dass man meint, ihren Gedanken und Gefühlen nachspüren zu können. Marc Fehlmann: Graff hat dem aufstrebenden Bürgertum ein Gesicht gegeben und Bürger wie Adlige visuell gleichwertig dargestellt. Der Schweizer Philosoph Johann Georg Sulzer, der 1771 Schwiegervater <strong>Anton</strong> <strong>Graffs</strong> wurde, schrieb einmal in seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste, dass „ein Porträtist das scharfe Auge des Geistes haben müsse, die Seele ganz in dem Körper zu sehen“. Ähnliches sagte ein enger Freund <strong>Graffs</strong>, Daniel Chodowiecki, 1785: „Es ist eine unbeschreibliche Wahrheit in seinen Bildern.“ Wie entdeckt Graff die Seele und wie drückt er sie auf der Leinwand aus? Was macht das „Wahre“ bei Graff aus? Marc Fehlmann: Mit dieser Frage könnten wir ganze Seminare füllen... aber kurz: Das Verlangen nach der Wahrhaftigkeit – das Malen und Zeichnen „ad vivum“ – ist bei Graff einfach außerordentlich stark ausgeprägt, sodass er mit seiner handwerklichen Fertigkeit und Empathie Menschen derart festhalten konnte, dass ihre Bildnisse eine überzeitliche Qualität erreichten und auch heute Betrachter berühren können. Weder schmeichelte Graff noch idealisierte er, er typisierte auch nicht wie etwa Gainsborough. Bei ihm ist jede Darstellung eines Individuums authentisch. Ob Graff seine Modelle geschönt hat, lässt sich nicht überprüfen. Wichtiger ist hingegen, <strong>Anton</strong> Graff: Elisabeth Sophie Auguste Graff, 1771–1772, Öl auf Leinwand, 55,5 x 45,5 cm Kunstmuseum Winterthur, Foto: Lutz Hartmann, © Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft, Zürich dass die Bildnisse glaubhaft sind – und dadurch wahr, echt, richtig und authentisch wirken. Birgit Verwiebe: Graff respektierte sein Gegenüber. Er ließ sich auf die Personen ein, die er porträtierte. Er beobachtete genau, konnte präzise erfassen und dies auf der Leinwand treffsicher umsetzen. Die Porträts derer, die er näher kannte, sind seine besten. Graff ging es stets sowohl um die äußere Erscheinung als auch um das Innere des Menschen. Bis heute sind seine Werke höchst lebendig und sprechend. 6 7