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http://www.mediaculture-online.de<br />

Autor: Hörburger, Christian.<br />

Titel: Nihilisten - Pazifisten - Nestbeschmutzer. Gesichtete Zeit im Spiegel des Kabaretts.<br />

Quelle: Christian Hörburger: Nihilisten - Pazifisten - Nestbeschmutzer. Gesichtete Zeit im<br />

Spiegel des Kabaretts. Tübingen 1993. S. 9-299.<br />

Verlag: Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V..<br />

Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.<br />

Christian Hörburger<br />

Nihilisten - Pazifisten - Nestbeschmutzer<br />

Gesichtete Zeit im Spiegel des Kabaretts<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

Vorwort: Wir mahlen Pfeffer in die Bonbonnière .........................................................3<br />

Auftakt ..............................................................................................................................................5<br />

Probleme, Fragen, Widersprüche .........................................................................................5<br />

Das Kabarett - Ein deutscher Totentanz ..........................................................................7<br />

Französische Uraufführung ................................................................................................10<br />

Von Kriegern und Lumpen ..................................................................................................13<br />

Unter Diktatur und Hakenkreuz ..........................................................................................16<br />

Die Nazis kommen - Kassandra und Spötter auf der Flucht.................................16<br />

Gepfeffertes aus München und Zürich...........................................................................24<br />

Witz als Widerstand - Werner Finck provoziert die Nazis in der Katakombe .....<br />

31<br />

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Frohsinn der rechten Denkungsart oder Die gute Laune ist ein Kriegsartikel,<br />

versichert der Minister .........................................................................................................43<br />

Zum Totlachen oder Theresienstadt, Theresienstadt ist das modernste<br />

Ghetto, das die Welt heut hat.............................................................................................59<br />

Trauerarbeit und Restauration ............................................................................................89<br />

Erich Kästner gibt Nachhilfe ..............................................................................................89<br />

Demokratisch - aber wie! Spötter wider die Reaktion .............................................97<br />

Das Kabarett, das aus der Kälte kam - Die Insulaner im Kampfanzug ...........111<br />

Der Tod ist ein Meister aus Deutschland und die Republik läßt wieder rüsten .<br />

122<br />

Der Ball ist rund und die Republik läßt es sich gutgehen ....................................138<br />

Vermauertes und Vernageltes. Die sechziger Jahre zwischen Aufbruch und<br />

Protest ..........................................................................................................................................147<br />

Eiszeit in den Köpfen ..........................................................................................................147<br />

Der beredte Außenseiter - Wolfgang Neuss ..............................................................158<br />

Mit strahlendem Gesicht ....................................................................................................164<br />

Unziviles - Agitation und APO- Kabartett..................................................................168<br />

Verzweiflung, Wut und Schrecken ....................................................................................187<br />

Der überwachte Staat..........................................................................................................187<br />

Nachgerüstet - Wettlauf zwischen Schwertern und Pflugscharen ...................197<br />

Von Wende zu Wende .............................................................................................................207<br />

Neues aus Skandalusien ....................................................................................................207<br />

Über die Fremde - Dialektales und Dialektisches ...................................................212<br />

Eine Zensur findet statt......................................................................................................222<br />

Ausgelacht - Das Kabarett unter Hammer und Sichel...........................................235<br />

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Deutscher Epilog ......................................................................................................................248<br />

Spreng- Sätze ..........................................................................................................................248<br />

Das Kabarett in der Bildungsarbeit .................................................................................252<br />

1. Interpretation und Neuformulierung .......................................................................253<br />

2. Was darf die Satire?........................................................................................................255<br />

3. Schlagzeilen .......................................................................................................................258<br />

Glossar zum Kabarett .........................................................................................................263<br />

Vorwort: Wir mahlen Pfeffer in die Bonbonnière<br />

„Jetzt wollen wir was Hübsches singen“ - mit diesem Vers begann in München am 1.<br />

Januar 1933 das erste Programm der Pfeffermühle. Erika und Klaus Mann haben<br />

zusammen mit Walter Mehring die Texte geschrieben und selber neben Therese Giehse,<br />

Magnus Henning oder Sybille Schloß auf den Bretteln gestanden - in der etwas<br />

heruntergekommenen Bonbonniere gleich hinter dem Hofbräuhaus. Ich erzähle diese<br />

Einzelheiten aber nicht, um mit dem so unglaublich materialreichen Fundus dieses<br />

Buches zu wetteifern, sondern weil sie in ihrer beinah niederen, jedenfalls beiläufigen<br />

Weise die Quintessenz der so merkwürdigen wie immer noch populären Gattung zum<br />

Ausdruck bringen, der sich Christian Hörburger nicht nur auf dem Papier verschrieben hat.<br />

Denn natürlich sind die derart angekündigten Lieder alles andere als hübsch im<br />

landläufigen Sinne des Worts, zumindest kommen sie vielen garstig vor, und auch<br />

diejenigen, die sich darüber amüsieren, werden sie eher witzig, satirisch, komisch oder<br />

karikaturistisch finden. Der Kabarettist, das kleine Wort lehrt es bereits, ist ein Meister der<br />

zweideutigen Rede, er meint es selten genau so, wie er es sagt, Scherz, Ironie, Satire<br />

sind seine wichtigsten Ausdrucksformen - nicht allein, weil er oftmals Verbot, Verfolgung,<br />

Zensur befürchten mußte, sondern auch weil alles Komische aus einer Spannung lebt und<br />

Anspielung, Verrätselung, Andeutung zu seinen wichtigsten Merkmalen zählen.<br />

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Pfeffermühle, wie bei den meisten Kabaretts, bedeutet ein Programm, der Name spricht<br />

und macht die Absicht kenntlich. Der Anekdote nach - und auch sie ist aussageträchtig,<br />

über den Einzelfall hinaus - hat Thomas Mann diesen Einfall gehabt. Die Familie saß beim<br />

Essen, Erika und Klaus waren voller Ideen für das gemeinsame Projekt, allein, das Kind<br />

war noch namenlos, und keine der in Erwägung gezogenen Bezeichnungen hielt stand.<br />

Da griff Thomas Mann nach der hölzernen Pfeffermühle und hielt sie den beiden mit den<br />

Worten hin: „Wie wär's denn damit?“ -Die Geburt eines Kabaretts am bürgerlichen<br />

Mittagstisch, das wirkt wie ein Gleichnis für die Entstehung dieses Zwitterwesens aus<br />

Theater und Künstlerkneipe, Satire und Gassenhauer, Unterhaltung und Belehrung: das<br />

Kabarett ist eine bürgerliche Erfindung, und die Pariser Boheme, aus deren Schoß es<br />

Ende des 19. Jahrhunderts wuchs, rekrutierte sich aus den Kindern und Enkeln des<br />

Standes, der das Hauptziel aller satirischen Angriffe und Sottisen, Witze und Spottlieder<br />

der Kleinkunst-Bühnen war und bis heute ist. Auch daß sich Die Pfeffermühle gleichsam<br />

im Rücken des Hofbräuhauses etablierte, hat in diesem Zusammenhang signifikante<br />

Bedeutung, die noch stärker auffällt, wenn man bedenkt, daß es sich nicht nur als<br />

Kneiport bierseliger Spießer, sondern vor allem als Versammlungsstätte<br />

nationalsozialistischer Parteigänger seinen Namen gemacht hat. Im Hinterhof, am Rande<br />

und ganz unspektakulär sammelte sich der Widerstand und sandte Pfeil für Pfeil in die<br />

andere, die Gegenrichtung. Denn wenn es einen gemeinsamen Nenner aller Kabaretts<br />

gibt, so ist es die Opposition, womit man aber nicht eine politische Partei verbinden darf.<br />

Der Kabarettist ist kein Politiker, und wenn er auch der politischen Opposition naturgemäß<br />

zuneigt, wird man ihn nicht als Parteigänger nehmen dürfen. Ein Kabarett ohne Distanz<br />

auch zur eigenen Wunschfraktion wird zum politischen Propaganda-Apparat und verliert<br />

seine wichtigste Funktion: wachsam nach allen Seiten zu sein, Unmoral überall<br />

anzuprangern und seinen Witz an Verirrungen aller Art und Richtung zu schärfen. Wir<br />

haben es auch hier mit einer moralischen Anstalt zu tun, die selbst dort, wo sie politisch<br />

wird, unterwegs niemals die Moral verliert. Ja, das Kabarett ist ein später Abkömmling der<br />

Aufklärung, und wenn es die Fehler der anderen Seite aufdeckt, heißt das nicht, daß es<br />

eben diejenigen der eigenen verschweigt. Insofern ist es auch eine höchst streitbare, ja<br />

kämpferische Kunst, (man denke nur noch einmal an Die Pfeffermühle), die zwar den<br />

Frieden will, aber Kirchhofsfrieden haßt.<br />

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So kommt es auch, daß Kabarett und Kabarettisten von Parteigängern, die nichts anderes<br />

sind, immer mit Mißtrauen betrachtet werden, ob sie links oder rechts stehen. Überdies<br />

gibt es noch einen weiteren Stein des Anstoßes: wenn der Kabarettist verkündet, er wolle<br />

etwas Hübsches singen, ist das ja nicht bloß ironisch gemeint. Unterhaltung gehört schon<br />

zum Kabarett dazu, Caféhaus- und Kneipenatmosphäre sind nicht nur sein äußerlicher<br />

Rahmen, sondern werden durch das Ideal geselliger Gemeinsamkeit verbunden.<br />

Didaktisches Theater, Lehrstücke im kleinen, darf man von den Sketchen und Szenen<br />

hier glücklicherweise nicht erwarten, es wird gelacht, der Humor bricht immer wieder die<br />

Speerspitzen der Feindseligkeit, und die komische Aufklärung soll das Publikum<br />

vergnügen - welch ein Greuel für Funktionärsschädel jeglicher Couleur. Ein Greuel - oder<br />

zumindest ein verdächtiger Fremdkörper ist das Kabarett wohl auch aus diesem Grunde<br />

für die Wissenschaft geblieben. Sich ernst über den Humor zu äußern, birgt immer die<br />

Gefahr, selber komisch zu wirken, und das fürchten die Gelehrten aller Zeiten und Länder<br />

seit jeher. Außerdem ist das Kabarett eine Mixtur aus allen möglichen kleinen Formen der<br />

literarischen und theatralischen Künste, dem Jahrmarkt verdächtig nahe, begrifflich<br />

schwer zu fassen, noch dazu der Tagesaktualität verpflichtet und daher offenbar von<br />

zweifelhaftem Kunstanspruch. Christian Hörburger hat in diesem Buche eine Methode<br />

bemüht, die seinem Gegenstand selber nicht fremd ist: eine Art „Nummernprogramm“, in<br />

dem das Beispiel und die Analyse, Text und Beschreibung einander abwechseln und sich<br />

gegenseitig erhellen. Der Zeitraum: die neuere deutsche Geschichte von 1933 bis zur<br />

Gegenwart, ist weit gespannt und ausladend genug, um alle Formen und Mittel des<br />

Kabaretts zur Darstellung zu bringen, uns aber auch nicht fern, so daß umständliche<br />

historische Exkurse, die detaillierte Einbettung ins Zeitgeschehen - Feinde jeder<br />

kabarettistischen Wirkung - meist entfallen können. Zum dritten Male also: „Jetzt wollen<br />

wir was Hübsches singen“ - diesmal als „Vorhang auf“ fürs Buch, seinen Autor und alle<br />

seine Proben aufs Exempel.<br />

Gert Ueding<br />

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Auftakt<br />

Probleme, Fragen, Widersprüche<br />

Die Anregungen zu diesem Buch verdankt der Autor vor allem der Tätigkeit in der<br />

Erwachsenenbildung an der Universität und im Bereich von Zivildienstschulen. Hier<br />

konnte das Medium Kabarett in seinen vielfältigen Erscheinungsformen in Seminaren und<br />

Unterrichtseinheiten erprobt und didaktisch umgesetzt werden. Es zeigte sich sehr rasch,<br />

daß der Facettenreichtum der Gattung in hervorragender Weise geeignet ist, um die<br />

verschiedenen Nahtstellen zwischen Literatur und Politik, Kultur, Subkultur und satirisch<br />

gespiegelter Zeitgeschichte exemplarisch herauszuarbeiten. Anders als das<br />

Geschichtsbuch, das dem „objektiven Rückblick“ verpflichtet ist, setzt das Kabarett in<br />

Lied, Wort und Ton auf die subjektive Ablichtung von Ereignissen. Es geht nicht um den<br />

allgemeingültigen Standpunkt, sondern um die Bewertung der Geschichte durch das<br />

artistische Individuum, das seine Zeit schrankenlos „persönlich“ betrachtet und beurteilt.<br />

Es ist ein Anliegen dieses Überblicks, der Verbindung von Kabarett und Zeitgeschichte in<br />

Deutschland besonders nachzuspüren. Die Auseinandersetzung der Künstler mit dem<br />

Staatsapparat in Diktatur und Demokratie, der Kampf um eine befriedete und ihrem<br />

Wesen nach antimilitaristische Republik soll hier an einzelnen ausgewählten Beispielen<br />

herausgearbeitet werden. Der grenzüberschreitende Blick über die engere Gattung hinaus<br />

auf Schlager, Protestlied oder auch Untergrundlyrik kann von Fall zu Fall den Blick für<br />

kulturelle Verschränkungen vertiefen. Auch im Schlager manifestiert sich unter<br />

Umständen der populäre Geist der Zeit. Abstecher in dieses abseits liegende Terrain<br />

scheinen ebenso lohnend wie kleine Seitenblicke auf das Filmgeschehen.<br />

Die Literatur über das europäische Kabarett ist umfangreich, wenngleich im Einzelfall nur<br />

noch schwer zugänglich. Kleine Auflagen, gelegentlich von exotischen Kleinverlagen<br />

publiziert, erschweren die Beschäftigung mit der Geschichte des Kabaretts. Das<br />

beigefügte Literaturverzeichnis ermöglicht hier einen ersten fundierten Einstieg in das<br />

Thema. Viele Publikationen leiden darunter, daß entweder nur auf die Überlieferung der<br />

Texte geachtet wurde -Anthologien -, oder daß sie andererseits nur die<br />

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kulturgeschichtlichen Zusammenhänge des Kabaretts - mit ganz wenigen Textbeispielen -<br />

berücksichtigen. Beide Vorgehensweisen sind legitim, haben aber auch erhebliche<br />

Schwächen.<br />

Die vorliegende Beschreibung bemüht sich um einen Kompromiß, wobei dem originalen<br />

Text neben seiner Einordnung das Augenmerk gilt. Nach Möglichkeit sind die Texte zum<br />

Kabarett durch historische Archivaufnahmen aus Funk, Schallplattenindustrie und<br />

Fernsehen abgesichert. Dabei sind den Möglichkeiten eines freien Autors - das bleibt<br />

eingeräumt - freilich Grenzen gesetzt. Die Entwicklung des deutschsprachigen Kabaretts<br />

bis 1933 wird in diesem Buch nur gestreift. Auf diesen Aspekt mußte hier verzichtet<br />

werden, die einschlägige Literatur ist gleichwohl ausgewiesen. Das Wechselspiel<br />

zwischen der Zeitgeschichte und dem Kabarett der Zeit wird besonders hervorgehoben.<br />

Das Buch wertet die Texte durchaus persönlich und nicht immer akademisch. Das hat den<br />

Vorteil der methodischen Transparenz. Das leidenschaftliche Wort der Kabarettisten für<br />

gewaltfreies Handeln und einen deutschen Friedensbeitrag in der Welt - ohne Waffen -,<br />

das hat das Arrangement der Thesen, Dokumente und Zitate aus dem Kabarett und über<br />

dieses vielfach bestimmt. Ausflüge in gegenteilige Weltbeschreibungen, zumal unter den<br />

Bedingungen des Faschismus und des Kalten Krieges, sind notwendig, um das<br />

kämpferisch-demokratische Kabarett in seiner Funktion präziser ausleuchten zu können.<br />

Hinweise für Pädagogen am Schluß des Buches zur Arbeit mit dem Kabarett verstehen<br />

sich als Anregungen, die weiter zu ergänzen sind.<br />

Das Kabarett - Ein deutscher Totentanz<br />

Das Kabarett ist eine theatralische Kunst, die je nach politischer Gesinnung und Couleur,<br />

auf geziemende Provokation angelegt ist. Auf den Zuschauer wirkt es abstoßend oder<br />

anziehend, womöglich unterhaltlich. Es kommt jeweils auf die aktuelle Gemütslage des<br />

Betrachters an. Ob dieser sich auf das Bühnengeschehen einläßt oder sich ihm<br />

verschließt, das hat oft, beileibe nicht immer, mit dem Partei- oder dem Gesangbuch zu<br />

tun.<br />

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Das Kabarett verfolgt als Gattung keine Doktrin. Es ist gemütvoll, eifernd, ätzend, auch<br />

langweilig, wenn die Sprache versagt. Es gibt sich oft parteilich und mit Bedacht<br />

weltverbessernd. Dort, wo bestallte oder unbestallte Zensoren mit der Schere Hand<br />

anlegen, lohnt es sich allemal zuzuhören. Der Griff nach dem freien Wort, unter den<br />

Bedingungen der Diktatur üblich, beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk keineswegs<br />

abgeschafft und durch den Begriff „Ausgewogenheit“ entschuldigt, hat unter allen<br />

Regierungsformen Tradition. Das obrigkeitsstaatliche Verbot der spöttelnden oder<br />

kritischen Nachricht, der Eingriff in den literarischen und künstlerischen Prozeß, in letzter<br />

Konsequenz Berufsverbot oder gar Inhaftierung in Gefängnis oder Konzentrationslager,<br />

gehören zum extremsten Risiko für die Künstler. Die Nationalsozialisten haben die Kritiker<br />

der braunen Herrschaft und die Herolde der Freiheit unversöhnlich verfolgt, geschunden<br />

und eingepfercht. Dort, im Angesicht der Todesfabriken, hatten die inhaftierten<br />

Kabarettisten, Komiker, Coupletsänger und Varietékünstler ihre Peiniger und Schlächter<br />

zu unterhalten. Die Gedemütigten haben es getan, weil der makabre Totentanz zumindest<br />

für die Dauer des Vortrags vor den Nachstellungen der Wachmannschaften schützte.<br />

Überlebende Kabarettisten aus Theresienstadt oder Auschwitz berichten<br />

übereinstimmend von dieser allerletzten Möglichkeit, sich der Identität und eigenen<br />

Menschenwürde durch das Spiel auf der Lagerbühne zu versichern. Das Kabarett in<br />

Ketten zeigt in einem verheerenden Umkehrschluß den Zusammenstoß von<br />

blutgewordener Politik und entlarvender Menschlichkeit. Die Henker besahen sich<br />

genüßlich den Spiegel, den die Sänger im grausigen End-Spiel ihnen vorhielten.<br />

Die Wirkung gefesselter Diseusen, Kabarettisten und satirischer Gedanken ist im 20.<br />

Jahrhundert niemals fataler unter Beweis gestellt worden. Der Zug der Komödianten hat<br />

unter den Bedingungen des Schafotts die brutalste Verschränkung von Gewaltpolitik und<br />

Literatur durchlitten. Das aufklärende, liberale und freie Wort, das unterhaltliche Lied, das<br />

Maskenspiel des Clowns, sie kulminieren hier in einem deutschen Extrem. Jede<br />

Auseinandersetzung mit dem Genre hat daran zu erinnern. Die Abrechnung heutiger<br />

Kabarettisten mit Mißständen in Politik und Gesellschaft verkümmerte ohne diesen<br />

notwendigen Reflex zur folgenlosen Unterhaltungskunst saturierter Spaßvögel im<br />

Windschatten des Fernsehens. Die Verschränkung von Krieg und Humanitas, Gewalt und<br />

oppositioneller Arbeit für Frieden und Menschenwürde ist in der kurzen Geschichte des<br />

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Kabarettes sinnenfällig. Stellvertretend für unbekannt gebliebene Literaten,<br />

Alleinunterhalter, Komiker, Zauberkünstler und Kabarettisten, die über Stationen wie<br />

Theresienstadt oder Westerbork in die Gaskammern kamen, hier die Namen einiger<br />

Opfer:<br />

Kurt Gerron (1897-1944). Im Künstler-Kaffee 1919, dem Küka in Berlin, für das Kabarett<br />

entdeckt. 1928 spielt er bei der Uraufführung der „Dreigroschenoper“ Tiger Brown, 1930<br />

im Film „Der blaue Engel“ den Direktor der Variégruppe. 1933 Emigration nach den<br />

Niederlanden. Inhaftierung und Deportation in die Lager Westerbork und Theresienstadt.<br />

Hier gründet er das Lagerkabarett Das Karussell und trägt hinter Stacheldraht und<br />

Wachtürmen Songs von Brecht und Weill vor. Im September 1944 muß er die Regie in<br />

dem Propagandafilm „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ übernehmen. Unmittelbar<br />

nach Abschluß der Dreharbeiten wird Gerron nach Auschwitz verschleppt und im selben<br />

Jahr ermordet.<br />

Paul Morgan (1886-1938). Schauspieler, Komiker, Kabarettist und Buchautor. 1886 in<br />

Wien geboren. Tritt 1914 im Wiener Simplicissimus auf. Er gründet 1924 mit Kurt<br />

Robitschek und Max Hansen das Berliner Kabarett der Komiker. Im März 1938 verhaften<br />

ihn die Nazis in Österreich: KZ Dachau, KZ Buchenwald. Im Dezember stirbt Morgan an<br />

Entkräftung im Lager.<br />

Egon Friedell (1878-1938). Schriftsteller, Kabarettist und Theaterkritiker. Seit 1924 spielt<br />

er abwechselnd in Berlin und Wien auf den Reinhardt-Bühnen. Leitet das Cabaret<br />

Fledermaus in Wien und schreibt seine „Kulturgeschichte der Neuzeit“. Beim Eintreffen<br />

der Gestapo springt er in Wien aus dem Fenster.<br />

Erich Mühsam (1878-1934). Schriftsteller, Politiker, Kabarettautor. Die Chansons „Der<br />

Revoluzzer“, „Lumpenlied“, „Kriegslied“ und „Die drei Gesellen“ stammen aus seiner<br />

Feder. 1919 ist er Mitglied des Zentralrats der Bayerischen Räterepublik. Anschließend<br />

sechs Jahre in Haft. Nach dem Reichstagsbrand erneute Inhaftierung. Er stirbt im<br />

Konzentrationslager Oranienburg nach Folter. Die Nazis verbreiten die Falschmeldung,<br />

Erich Mühsam habe sich erhängt.<br />

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Manfred Greiffenhagen (1896-1945). Schriftsteller und Kabarettautor. In Theresienstadt<br />

schreibt er für das Lager-Kabarett. Er wird 1944 nach Auschwitz deportiert und stirbt im<br />

Konzentrationslager Dachau.<br />

Dora Gerson (1899-1943). Die Schauspielerin tritt in Werner Fincks Berliner Katakombe<br />

auf. Sie emigriert nach Holland und wird bei einem Fluchtversuch in die Schweiz<br />

festgenommen. Sie stirbt in Auschwitz.<br />

Willy Rosen (1894-1944). Texter, Kabarettist und Schlagersänger. In den Niederlanden<br />

gründet er das Emigranten-Kabarett Theater der Prominenten. 1942 werden die meisten<br />

Mitglieder des Ensembles verhaftet und in das „zentrale Flüchtlingslager“ Westerbork<br />

eingepfercht. In der alten Garnisonsanlage kommt es zur Gründung der Bühne Lager<br />

Westerbork, das Gesangsduo Johnny & Jones singt Lieder, der Lagerkommandant<br />

Konrad Gemmeker will sich am Abend amüsieren. Zusammen mit Max Ehrlich leitet<br />

Rosen das Kabarett. Beide werden 1944 in Auschwitz ermordet.<br />

Jura Soyfer (1912-1939). Dramatiker und Kabarettist. Er gehört zu den originellsten und<br />

zugleich bedeutensten Autoren des deutschsprachigen Kabaretts. Er schließt sich 1933<br />

der illegalen kommunistischen Partei Österreichs an. Horst Jarka, der Herausgeber des<br />

Gesamtwerkes, kommentiert: „In Soyfers Stücken, ihrem Wesen nach >Hetz und Witz mit<br />

tieferer Bedeutung


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Französische Uraufführung<br />

Im November 1881 eröffnet der Maler Rodolphe Salis eine Kneipe für Künstler und<br />

Liebhaber. Chat noir heißt das gesellige Etablissement in Paris am Montmartre. Die<br />

Absichtserklärung des Gastgebers Salis ist bemerkenswert:<br />

„Wir legen ab heute unsere sämtlichen Manuskripte, Noten, Malereien, Gedanken und deren<br />

Splitter zusammen und bilden daraus eine Gesellschaft zur Veröffentlichung unserer bekannten<br />

Schöpfungen. Auf diesem Klavier werden unsere Vorträge begleitet werden, und diese Stelle,<br />

wo ich stehe, bildet das Podium, auf dem wir unsere Gedichte den Zuhörern, falls sich welche<br />

einfinden, vortragen werden. Wir werden politische Ereignisse persiflieren, die Menschheit<br />

belehren, ihr ihre Dummheit vorhalten, dem Philister die Sonnenseite des Lebens zeigen, dem<br />

Hypochonder die heuchlerische Maske abnehmen, und, um Material für diese literarischen<br />

Unternehmungen zu finden, werden wir am Tage lauschen und herumschleichen, wie es nachts<br />

die Katzen auf den Dächern tun.“ 2<br />

Als Eintrag ins „Vereinsregister“ -einmal angenommen - für die bunten und schillernden<br />

Vögel des Kabaretts gedacht, hätte die Kunstgattung sich demnach der politischen<br />

Belehrung von unten verpflichtet. Die Perspektive wäre eine bürgerliche, kaum noch<br />

aristokratische. Die Regieanweisungen kämen seit der Uraufführung 1881 nicht aus der<br />

gepolsterten Königsloge, sondern aus dem sympathischen Dunstkreis der Absinth-<br />

Trinker. Die Boheme inszeniert ihr eigenes Welttheater. Victor Hugo, Emile Zola und<br />

Claude Debussy treten sich auf die Rockschöße. Im kleinen Kreis gibt sich die Pariser<br />

Intelligenz unangepaßt, spaßig, satirisch und revolutionär. Madame Yvette Guilbert (1867-<br />

1944) erhebt das Chanson zum Kunststück, Toulouse Lautrec hält sie in einem Portrait<br />

fest. Berlin läßt sich von ihren Liedern anstecken. Alfred Polgar notiert 1928: „Aus ein<br />

paar kargen Liedzeilen schöpft sie die Fülle des Lebens, Zartes, Gefährliches, Humor und<br />

Tragik, Gestalten, Schicksal, vollkommenes Spiel ohne den breiten Umstand und<br />

Aufwand der Bühne.“ 3<br />

Das ist nicht Cabaret oder Kabarett, jedenfalls nicht nur. Die Dame bietet infizierende<br />

Kunst gegen verkleisterndes Spießertum diesseits und jenseits des Rheins. Der<br />

literarische Papst Weimars, Alfred Kerr, lobt den Gast: „Sie stülpt heute nicht mehr<br />

schieflings auf den Detz eine Mütze, schnellt nicht um die Gurgel ein Halstuch. Sie gibt<br />

zwischendurch Erläuterungen zur Mundart; zum Rotwelsch. Aber während sie nur darlegt,<br />

2 Zitiert in: Kühn, Volker, Das Kabarett der frühen Jahre,1988, S. 10. Zur Entwicklung des frühen<br />

europäischen Kabaretts Vgl. Richard, Lionel,Cabaret - Kabarett, 1993.<br />

3 Zitiert in: Budzinski, Klaus, Das Kabarett, 1985, S. 91.<br />

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was sie singen wird: schon dann steigt im Handumdrehn ein Drama heraus. In zwei, drei<br />

Gebärden der Andeutung.“ 4 Das war 1930 und bezeichnet eine Künstlerin, eine<br />

Chansonette. Der Vortrag hat im Variete Platz, auf kleinen und großen Bühnen und schert<br />

sich einen Teufel um kluge Definitionen. Kabarett? Cabaret? Das auch, und am Rande<br />

ganz bestimmt.<br />

Die Vielzahl der handgestrickten Definitionen und Mutmaßungen über die Gattung lassen<br />

Raum für Streitgespräche unter Theaterwissenschaftlern, Rhetorikern und Germanisten.<br />

Sie alle wollen es ganz genau wissen und glauben, die kleine Kunst mit der großen<br />

Wirkung präzis vermessen zu können. Die Anstrengung ist löblich, aber auch zum Teil<br />

vergeblich. Zuhören, was die Artisten zu vermelden haben, ist in der Kabarett-Variete-<br />

Cabaret-Debatte oft einträglicher als die aufreibende Schlacht um Begriffe. Max<br />

Herrmann-Neiße, Kabarettautor und Kabarettkritiker von hohem Rang, beschreibt 1924 in<br />

einem Essay zum Thema, wie die Kunst aus seiner Sicht beschaffen ist oder doch sein<br />

sollte. Bei der Nachahmung französischer Vorbilder soll es nicht bleiben.<br />

Prinzipielles zum Kabarett<br />

Kabarett hat mit dem Theater gemeinsam die Bühne, beruht wie das Varieté auf<br />

Geschmeidigkeit, Mannigfaltigkeit, komprimiertem Minuteneffekt. Aber die<br />

Bühnenvorgänge des Kabaretts müssen etwas vom Augenblicksspiel haben, die<br />

Einakter, die man hier gibt, müssen Stücke sein, die ihren Witz wie eine Rakete<br />

auffliegen lassen, die im Husch vorbeiwirbeln und keinen langen Atem haben. Und<br />

übers Varieté hebt sich das Kabarett durch seine Geistigkeit. Eine Geistigkeit, die<br />

so überlegen und beweglich schalten kann, wie kaum sonst irgendwo: unbeschwert<br />

durch den Anspruch auf Ewigkeitsgeltung aktuell kämpferisch, rebellisch sein,<br />

großzügig karikieren, angreifen, improvisiert glossieren, aufpeitschen.<br />

Lautensack schrieb vom „spezifischen Gewicht` des Kabaretts; Kerr stellte dem<br />

Brettl die Aufgabe, „tiefe Kleinigkeiten“ zu bieten. Die Formel wäre etwa: scharfe,<br />

mit Abwechslung gewürzte Momentkunst, ehrfurchtslos und unsentimental, voll<br />

4 Kerr, Alfred, 1964, S. 484.<br />

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Farbigkeit und Überraschung, Geist-Salto mortale, Hirn-Zirkus. Kein veredeltes<br />

Varieté und kein rapides Theater, sondern eben eine Sache für sich, eine Welt für<br />

sich! 5<br />

Von Kriegern und Lumpen<br />

Nur selten hört in Deutschland das Kabarett und seine Ableger auf die Mächtigen, auf den<br />

chauvinistischen und rasselnden Kriegslärm. Der Coupletsänger Otto Reutter (1870-1931)<br />

ist ein scharfer Beobachter der Bourgeoisie („Der Überzieher“, „Der gewissenhafte<br />

Maurer“), zugleich aber auch willfähriger Claqueur der Kriegsmaschinerie. Ganz auf der<br />

Linie mit der Kriegsbegeisterung intoniert er in der Revue „Berlin im Krieg“ 1917<br />

martialisches Getöse. Der bürgerliche Barde feiert die Vernichtung des Feindes und den<br />

Sieg der imperialen Denkungsart:<br />

U-Boot heraus!<br />

Für der Deutschen Heimat Ehre<br />

kämpft die todesmut'ge Schar.<br />

Für die Freiheit deutscher Meere<br />

hebt die Schwingen Preußens Aar ...<br />

Und wenn die Besten finden<br />

ein nasses Wellengrab,<br />

laßt doch den Mut nicht schwinden.<br />

Gebet! Die Mützen ab!<br />

Dann aber stoßt das Eisen<br />

ins Herz dem Briten-Leun,<br />

um würdig euch zu weisen<br />

5 Hermann-Neiße, Max, 1988, S. B. Heinrich Lautensack (1881-1919) war Kabarettautor und spielte bei<br />

den Elf Scharfrichtern mit. Alfred Kerr (1867-1948) galt als „Starkritiker“ in der Weimarer Republik und<br />

verfolgte die Entwicklung des Kabaretts sehr aufmerksam.<br />

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den Helden von U9.<br />

Otto Reutter, 1917 6<br />

Ist die „kleine Kunst Kabarett demnach nicht nur unbescholten und aufrührerisch, wie es<br />

das nachsichtige Gedächtnis glauben machen möchte? Die bequeme Anbiederung an die<br />

veröffentlichte Meinung der Herrschenden gehört auch, beileibe nicht überwiegend, zum<br />

Kennzeichen der meist ketzerischen Zunge. Aber in der Regel sind Kabarett und kleines<br />

Lied in den zwanziger Jahren der Beleg der Solidarität mit den ausgegrenzten<br />

Randgruppen, mit den ewig Zukurzgekommenen, den Verachteten, den Lumpen, den<br />

Vergessenen. Erich Mühsam, der literarische und politische „Revoluzzer“, hat ihnen 1903<br />

das Denkmal gesetzt.<br />

Lumpenlied<br />

Kein Schlips am Hals, kein Geld im Sack.<br />

Wir sind ein schäbiges Lumpenpack,<br />

Auf das der Bürger speit.<br />

Der Bürger blank von Stiebellack,<br />

Mit Ordenszacken auf dem Frack,<br />

Der Bürger mit dem Chapeau claque,<br />

Fromm und voll Redlichkeit.<br />

Der Bürger speit und hat auch recht.<br />

Er hat Geschmeide gold und echt -<br />

Wir haben Schnaps im Bauch.<br />

Wer Schnaps im Bauch hat, ist bezecht,<br />

Und wer bezecht ist, der erfrecht<br />

Zu Dingen sich, die jener schlecht<br />

6 Zitiert in: Kühn, Volker, Das Kabarett der frühen Jahre, 1988, S. 178.<br />

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Und niedrig findet auch.<br />

Der Bürger kann gesittet sein,<br />

Er lernte Bibel und Latein.<br />

Wir lernen nur den Neid.<br />

Wer Porter trinkt und Schampus-Wein,<br />

Lustwandelt fein im Sonnenschein,<br />

Der bürstet sich, wenn unserein<br />

Ihn anrührt mit dem Kleid.<br />

Wo hat der Bürger alles her:<br />

Den Geldsack und das Schießgewehr?<br />

Er stiehlt es grad wie wir.<br />

Bloß macht man uns das Stehlen schwer.<br />

Doch er kriegt mehr als sein Begehr.<br />

Er schröpft dazu die Taschen leer<br />

Von allem Arbeitstier.<br />

O, wär ich doch ein reicher Mann,<br />

Der ohne Mühe stehlen kann,<br />

Gepriesen und geehrt.<br />

Träf ich euch auf der Straße dann,<br />

Ihr Strohkumpane, Fritz, Johann,<br />

Ihr Lumpenvolk, ich spie' euch an.<br />

Das seid ihr Hunde wert!<br />

Erich Mühsam, 1903 7<br />

Werner Finck, der es wissen müßte, was das Kabarett zum Cabaret macht oder<br />

umgekehrt, er drückt sich stets eloquent und genüßlich um die beiden Begriffe. Die<br />

Festlegung scheint ihm, dem Nazi-Verspötter, ohnehin nicht dienlich, und er ist frei genug,<br />

7 Mühsam, Erich, 1984, S. 13f.<br />

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noch im siebzigsten Lebensjahr, 1972, „Cabaret“ mit einem dicken C oder auch K zu<br />

schreiben, ohne damit das eine höher, oder tiefer, frivoler oder politischer rangieren zu<br />

lassen. Der Meister notiert:<br />

„Das Cabaret war der amüsanteste Protest, der je gegen die Langeweile konventioneller<br />

Geselligkeit erhoben worden ist. Später wurde es leider umgekehrt. Die konventionelle<br />

Gesellschaft protestierte gegen die Langeweile in den Kabaretts. Cabaret ist in Deutschland mit<br />

Kabarett übersetzt worden. Es gibt bekanntlich noch verschiedene andere Übersetzungen; die<br />

verhängnisvollste scheint mir die mit ,Kleinkunst' zu sein. Seitdem erwartet man am Cabaret<br />

keine großen Künstler mehr, sondern nur noch kleine. Kleinkünstler, Zauberkünstler,<br />

Rechenkünstler, Hungerkünstler (merken Sie was?). (...) Zum Glück sind unsere Cabarets auf<br />

dem Wege der Besserung. Laßt uns weiterhin die goldenen Kälber unserer<br />

Vergnügungsindustriellen auf dem Altar der heiteren Muse, auf daß wir das Wort Cabaret oder<br />

Kabarett eines Tages wieder gebrauchen können, ohne dafür von den Vertretern der<br />

Schwesternkünste mitleidig an - oder vielmehr nicht angesehen zu werden. Auf daß wir weder<br />

das Cabaret signieren können mit unserem ehrlichen Namen.“<br />

Werner Finck, 1972 8<br />

Unter Diktatur und Hakenkreuz<br />

Die Nazis kommen - Kassandra und Spötter auf der Flucht<br />

Das Gift der kommenden Diktatur hat eine überraschend lange Inkubationszeit und wirkt<br />

nicht erst zum 30. Januar 1933. Schon vor der braunen Wende ist der Rundfunk und sein<br />

kultureller Auftrag zerstört und ausgehöhlt, Zensur und machtgeschützte Parteilichkeit<br />

sind die verbrieften Maximen. Völkisch nationale Töne in Musik und Hörspiel bilden die<br />

Fanfare zum programmgemäßen Staffettenwechsel an die Partei-Intendanten. Die<br />

kulturellen Eruptionen erschüttern die sensible Kabarettlandschaft schon Ende der<br />

zwanziger Jahre. Sie ist verletzlicher als der aufgeblähte Staatsrundfunk und antizipiert<br />

das Unheil der Diktatur auf vielen Bühnen. Kurt Tucholsky, der linksintellektuelle Publizist<br />

und Chansonautor, flieht bereits 1929 in das schwedische Exil. Das TTT, das Tingeltangel<br />

Theater in Berlin, verliert mit Friedrich Hollaenders Flucht seinen erfolgreichsten<br />

Komponisten („Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“, „Ich bin die fesche Lola“).<br />

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Der Hauskomponist von Max Reinhardt verabschiedet sich 1932 von seinem Publikum mit<br />

dem programmatischen Hinweis: „Höchste Eisenbahn!“ Schlägertrupps der SA fühlen sich<br />

nicht ohne Grund angesprochen und ziehen pöbelnd und spuckend durchs Theater.<br />

Hollaender emigriert über Paris nach Hollywood. Werner Finck, dem bürgerlich-liberalen<br />

Spötter, schwant in seiner Katakombe 1932 Unheiliges und ein brauner Herbst. Hardy<br />

Worm warnt in dem Kabarett Die Pille vor den braunen Chaoten, die anläßlich der<br />

Premiere des Antikriegsfilms „Im Westen nichts Neues“ 9 im Kinosaal weiße Mäuse tanzen<br />

lassen. Hellmuth Krüger nimmt mit seinem Lied vom „Bücherkarren“ 1931 im Korso-<br />

Kabarett die Bücherverbrennung voraus. Wer den Mund noch aufmacht, hat mit Zensur<br />

und anderen Repressalien zu rechnen. Das politisch-satirische Kabarett Die Wespen - es<br />

führte in besseren Tagen Nummern von Erich Mühsam, Erich Weinert, Ernst Busch und<br />

Erich Kästner auf - fällt einer der üblich gewordenen „Notverordnungen“ zum Opfer. Die<br />

Republik torkelt in den Abgrund und verabschiedet ihre kritischen und bissigen Barden mit<br />

Fußtritten. Der Bahnsteig ist für viele letzte Hoffnung auf Flucht. Die planmäßige Fahrt der<br />

Güterzüge nach Theresienstadt oder Auschwitz vermag sich jetzt noch niemand<br />

vorzustellen.<br />

Höchste Eisenbahn!<br />

Höchste, höchste, allerhöchste Eisenbahn!<br />

Für alles, was du nicht getan!<br />

Gibt's eine Frau, die du noch nicht geküßt?<br />

Gibt's noch ein Land, wo du nicht gewesen bist?<br />

Höchste Eisenbahn! Höchste Eisenbahn!!<br />

Gibt's einen Ausweg, den du noch nicht ersannst?<br />

Gibt's ein Recht, das du dir holen kannst?<br />

Höchste Eisenbahn! Höchste Eisenbahn!!<br />

Denn keiner weiß, was morgen wird geschehn,<br />

9 Nach dem Roman von Erich Maria Remarque 1930 unter der Regie von Lewis Milestone gedreht. Der<br />

Film wurde von den Nazis 1933 verboten, Remarques Bücher öffentlich verbrannt.<br />

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Und niemand kann die nächste Stunde sehn.<br />

Schon übermorgen kann sich alles drehn!<br />

Heute gilt nur:<br />

Zu fassen, was zu fassen ist,<br />

Zu hassen, was zu hassen ist,<br />

Zu ketten, was zu ketten ist,<br />

Zu retten, was zu retten ist.<br />

Höchste Eisenbahn! Höchste Eisenbahn!!<br />

Höchste, allerhöchste Eisenbahn!!<br />

Wer heute seine Zeit verpaßt, der ist ein schlimmer Sünder,<br />

Für verlorne Chancen gibt es keinen ehrlichen Finder.<br />

Höchste Eisenbahn!<br />

Ach, es rast der Uhrzeiger wie im Fieberwahn:<br />

Höchste, allerhöchste Eisenbahn!!!<br />

Gibt es ein Unrecht, das du nicht gesühnt?<br />

Gibt es ein Glück, das du dir nicht verdient?<br />

Höchste Eisenbahn! Höchste Eisenbahn!!<br />

Gibt's ein Schuft, den du noch nicht gefaßt?<br />

Gibt's einen Armen, dem du nicht geholfen hast?<br />

Höchste Eisenbahn! Höchste Eisenbahn!!<br />

Gibt's eine Wahrheit, die dein Mund verschwieg?<br />

Gibt es noch immer Militärmusik?<br />

Immer noch den verfluchten Traum vom Krieg?<br />

Jetzt ist's an dir:<br />

Zu wagen, was du wagen mußt!<br />

Zu sagen, was du sagen mußt!<br />

Verzeihn, was du verzeihen mußt!<br />

Zu schreien, was du schreien mußt!<br />

Höchste Eisenbahn! Höchste Eisenbahn!!<br />

Höchste, allerhöchste Eisenbahn!!<br />

Der Zug, den du jetzt verpaßt, du träge Menschenschnecke,<br />

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Fährt dir vor der Nase weg, und du bleibst auf der Strecke.<br />

Höchste Eisenbahn!<br />

Unbarmherzig rückt der Zeiger. Hast du deine Pflicht getan?<br />

Höchste, allerhöchste Eisenbahn!!<br />

Friedrich Hollaender, 1932 10<br />

Herbst 1932<br />

Wie es so regnet heut' nacht,<br />

hab' ich sofort: Aha! gedacht,<br />

der Sommer ist zu Ende.<br />

O mein prophetisches Gefühl!<br />

Heut' morgen war's schon richtig kühl<br />

und herbstlich im Gelände.<br />

Die Sonne scheint noch immer froh,<br />

doch sieh dich vor: es scheint nur so,<br />

das sind noch Restbestände.<br />

Nein, nein, der Sommer ist vorbei,<br />

und Feld und Fluren werden frei<br />

für unsre Wehrverbände.<br />

Wie schnell das ging! Ja, die Natur!<br />

Glaubt nicht, daß eine Diktatur<br />

Mal ähnlich schnell verschwände!<br />

Werner Finck, 1932 11<br />

Die Nationalstrolchisten<br />

Anjetreten! Held markieren!<br />

10 Zitiert in: Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 3,1989, S. 26f.<br />

11 Finck, Werner, 1972, S. 59; mit abweichender Orthographie auch in: Kühn,Volker, Kleinkunststücke, Bd.<br />

3,1989, S. 20.<br />

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Und Proleten massakrieren!<br />

Saal umstellen! Blut muß fließen!<br />

Janze Blase niederschießen!<br />

Jeist ist Dreck. Mit Dolch und Knüppel,<br />

Arjument der Jeisteskrüppel,<br />

Haun sie ein uff jeden Mann,<br />

Wenn er sich nicht wehren kann.<br />

Stilljestanden! Augen rechts!<br />

Hakenkreuz uff rotem Jrunde<br />

Flattert über der Rotunde –<br />

Hosen runter vorm Jefecht!<br />

An der Spitze von det Janze:<br />

Goebbels im Heldenjlanze!<br />

Mimt des Vaterlandes Retter<br />

Uff der Schmiere blutje Bretter.<br />

Alle sind hurrabejeistert,<br />

Wenn er ihr Jehirn verkleistert.<br />

Beifall tobt durchs volle Haus,<br />

Läßt er weiße Mäuse raus.<br />

Stilljestanden! Hand zum Schwur!<br />

Hakenkreuz uff roter Fahne,<br />

Stramm bezahlt von Thyssens Jelde,<br />

Is das Sinnbild der Kultur.<br />

Phrasen dreschen, Mord ausbrüten,<br />

Wie die wilden Tiere wüten –<br />

Das, nur das, kann diese Horde,<br />

Stets bereit zum Meuchelmorde.<br />

Wenn's bezahlt jibt und die Pässe,<br />

Haun sie jeden vor die Fresse.<br />

Jeld her! Die Kanone kracht.<br />

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Nachher ham se nischt jemacht.<br />

Stilljestanden! Denn es naht:<br />

Hakenkreuz uff rotem Felde,<br />

Ruhmjekrönt wie ein Jermane,<br />

Den ihr an der Front nie saht.<br />

Hardy Worm, 1932 12<br />

Der Bücherkarren<br />

Ich baue meinen Karren um, weil ich so langsam spüre,<br />

Der Felix Dahn kriegt Publikum, nach rechts geht die Lektüre.<br />

Den Emil Ludwig stell ich weg, der hat nun ausgejodelt,<br />

jetzt kommt die Karre aus dem Dreck: Wir werden umgemodelt!<br />

Wie sag ich's meinen Lesern gleich:<br />

Wir kriegen jetzt das Dritte Reich!<br />

Wenn ich wüßte, was der Adolf mit uns vorhat,<br />

Wenn er erst die Macht am Brandenburger Tor hat?<br />

Müssen wir dann alle braune Hemden tragen?<br />

Darf dann niemand mehr das Wörtchen „nebbich“ sagen?<br />

Wird ein Vollbart unsre Heldenbrust bedecken?<br />

Werden wir zum Gruß die dürren Arme recken?<br />

Rufen wir dem Adolf „Heil“?!<br />

Oder auch das Gegenteil?<br />

Bald gibt es keine Mollen Bier, nur Met gibt es zu trinken,<br />

Und bei Kempinski rollen wir aufs Brot den Bärenschinken.<br />

Statt Girls tanzt ein Walkürenchor bei Hermann Haller balde,<br />

Das Kadeko macht Kabarett im Teutoburger Walde.<br />

Hab ich das richtig vorgeahnt?<br />

12 Zititiert in: Kühn,Volker, Kleinkunststücke, Bd. 3, 1989, S. 23f. Die „weißen Mäuse“ beziehen sich auf die<br />

NS-Randale anläßlich der Filmvorführung von „Im Westen nichts Neues“. Worm wurde in der Republik<br />

wegen „Antikriegspropaganda“ zu einer sechsmonatigen Haftstrafe verurteilt und emigrierte 1933 nach<br />

Paris, später nach London.<br />

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Ich weiß ja nicht, was Adolf plant!<br />

Wenn ich wüßte, was der Adolf mit uns vorhat,<br />

Macht er aus Berlin nur eine Münchner Vorstadt?<br />

Wird das Tageblatt Fraktur nur schreiben?<br />

Wird der Kreuzberg ohne Haken bleiben?<br />

Darf sich Reinhardt nur noch Goldmann nennen?<br />

Oder wird man ihn trotzdem verbrennen?<br />

Trifft ins Herz uns Adolfs Pfeil?<br />

Oder nur ins Gegenteil?<br />

Hellmuth Krüger, 1931 13<br />

Die Lieder aus dunkler Zeit belegen nachhaltig, daß es vor dem Machtwechsel genügend<br />

Mahner und Rufer gibt, die laut und unmißverständlich die drohende<br />

Schreckensherrschaft als Menetekel skizzieren. Hellmuth Krüger nimmt mit<br />

protokollarischer Präzision die kommende Totschlag-Aktion der Bücherverbrennung<br />

zwischen April und Mai 1933 vorweg, fiebert von dekretierten „Sprachregelungen“ und<br />

„Säuberungsfeldzügen“ gegen jüdische Mitbürger und Intellektuelle, Hardy Worm<br />

beschwört die unheilige Allianz von Großindustrie und Braunhemd-Mob, Werner Finck<br />

bemüht den „deutschen Herbst 1932“ als „politisches“ Naturschauspiel. Friedrich<br />

Hollaender läßt den Zug der Zeit als Tertium comparationis zwischen eigenem Versagen<br />

und dem kommenden Schrecken, zwischen Vergangenheit und Zukunft pendeln. Die<br />

Redewendung wird beim Wort genommen, das Kabarett zur moralischen Anstalt, in der<br />

ein Künftiges - der Albtraum vom Krieg, Mutlosigkeit und Verzagtheit - verhandelt wird. Es<br />

gibt keine Unverbindlichkeit in diesen Chansons, kein Zurückweichen in die Berliner Idylle.<br />

Fakten werden beschrieben, die Apokalypse des Nationalsozialismus nach der Bedingung<br />

der hellwachen Fantasie ausgemalt.<br />

13 Zitiert in: Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 3,1989, S. 29f. Felix Dahn (1834-12) Historiker, Jurist und<br />

Schriftsteller, genoß bei den Nazis wegen der völkisch-nationalen Tendenz seiner Bücher („Die Könige<br />

der Germanen“, 20 Bände; „Ein Kampf um Rom“, 4 Bände) hohes Ansehen. Emil Ludwig (1881-1948)<br />

gehörte zu den „verbrannten Dichtern“ während der Nazi-Diktaturund mußte fliehen. Er verfaßte die<br />

Biographien „Wagner oder Die Entzauberten“, „Goethe“, „Roosevelt“. -Das Wort „nebbich“ ist jidischer<br />

Herkunft und bedeutet „schade“, „leider“. Hermann Haller (1871 -1943) kreierte in Berlin nach ihm<br />

benannte Revuen. Max Reinhardt (1873-1943) schrieb für das Künstlerkabarett Schall und Rauch und<br />

zählt zu den profiliertesten Regisseuren der Republik. Sein bürgerlicher Name ist Goldmann. Krüger<br />

spielt absichtsvoll auf den jüdischen Namen an.<br />

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Gepfeffertes aus München und Zürich<br />

Erika Mann, 1934<br />

Neunundzwanzig Tage vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler gründet Erika Mann am<br />

1. Januar 1933 zusammen mit dem Bruder Klaus und der bereits arrivierten Therese<br />

Giehse das politisch-literarische Kabarett Die Pfeffermühle in München. Der Vater,<br />

Thomas Mann, hat die Idee für den Namen; er spricht von dem Unternehmen als<br />

„Schwanengesang der deutschen Republik“. Erika Mann weiß von Anfang an um die<br />

Gefährlichkeit der politischen Situation, um das eingegangene Risiko. Der Völkische<br />

Beobachter nahm die Schauspielerin und Publizistin bereits 1932 unter massiven<br />

Beschuß. Sie referierte bei der „Internationalen Frauenversammlung für Frieden und<br />

Abrüstung“. Das Kampfblatt VB drohte ihr und der Familie ganz unverhohlen: „Das Kapitel<br />

'Familie Mann' erweitert sich nachgerade zu einem Münchener Skandal, der auch zu<br />

gegebener Zeit seine Liquidierung finden muß.“ Erika Mann läßt sich durch die kruden<br />

Drohungen nicht einschüchtern und verfolgt unbeirrt die Pläne für die Etablierung des<br />

Kabaretts. Sie riskiert beim Aufmarsch der braunen Kolonnen den politisch-literarischen<br />

Gegenangriff und notiert später:<br />

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„Es war ein kühnes Unterfangen. Denn von Anfang an war die 'Mühle' militant antinazistisch.<br />

Während Hitler brüllte, schwiegen wir nicht. Wir schwiegen auch nicht an jenem Februarabend,<br />

da im Hofbräuhaus, Rücken an Rücken mit unserer 'Bonbonniere', der 'Führer' seine<br />

Antrittsrede als Reichskanzler hielt. In unserem überfüllten Saal befand sich Herr Frick - eifrig<br />

kritzelnd. Er stellte seine schwarze Liste her. Wir spielten, während der Reichstag brannte.“ 14<br />

Nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 residiert der braune Ritter von Epp als<br />

Gauleiter in München. Die erste Verhaftungswelle rollt. Otto Falckenberg, Direktor der<br />

Kammerspiele, wird von den Nazis vorübergehend in „Schutzhaft“ genommen. 15 In<br />

München spielt Die Pfeffermühle nur zweimal. Das Kabarett debütiert mit Texten von<br />

Erika und Klaus Mann und Walter Mehring, das Folgeprogramm (Premiere 1.2.1933)<br />

bildet bereits das Finale in Deutschland vor der erzwungenen Flucht. Die streitbare<br />

Kabarettistin Mann erinnert sich:<br />

„Es war undenkbar, die ,Pfeffermühle` weiter zu betreiben. Ich ging zu dem Besitzer vom<br />

'Serinissimus' und sagte: 'Es ist Ihnen klar, daß wir nicht am 1.4. bei Ihnen eröffnen können.'<br />

Der, ein Ur-Münchner, sagte: 'Was, warum nicht. Sie haben einen Vertrag, einen Vertrag<br />

ham'S!' Ich sagte: 'Ja ja, wir haben einen Vertrag, aber wir sind doch ein Antidingsda-<br />

Unternehmen, und die Schwarzen Listen liegen schon vor, und das wäre doch für Sie, auch für<br />

Sie ...' Sagt er: 'Für mi! Des war no des Bessre, es geht ums G'schäft.' Ich sagte: 'Ja, es geht<br />

ums Geschäft, aber es wird ja sofort geschlossen, und wir werden alle verhaftet. Sie auch!' Sagt<br />

er: 'I? Ich bin ein altes Parteimitglied, da schaun's her, und ich stell Ihnen ein SA-Saalschutz, Sie<br />

werden beschützt sein ...' Ich hab also gesagt: 'Mit einem SA-Saalschutz machen wir das eins-<br />

A, die Sache ist geschaukelt, das wäre ja noch besser.', 'Ja', sagt er, 'sonst müßt ich Sie wegen<br />

Vertragsbruch glatt belangen.' 'Nein, wir treten auf.' Also dies gesagt habend, setzte ich mich mit<br />

den Mitgliedern meiner Truppe in Verbindung und sagte: 'Dies geht nicht, wie Euch klar ist.'“ 16<br />

Mit englischem Paß ist die Flucht nach Zürich für Erika Mann problemloser als für das<br />

übrige Ensemble. Therese Giehse, Sybille Schloß und der Komponist und Pianist Magnus<br />

Henning folgen in das Exil. Nach längeren, durchweg schwierigen Vorarbeiten eröffnet<br />

das erste Exil-Programm der Pfeffermühle im Züricher Hotel „Hirschen“ am 30. September<br />

1933. „Dieses ungewöhnliche Kabarettprogramm“, schreibt Klaus Mann, „hatte nicht nur<br />

sittlichen Ernst und geistige Aktualität, sondern Charme, Rhythmus, Laune:<br />

14 Mann, Erika, 1984, S. 30. Die Bonbonniere war die Kleinkunstbühne in der Neuturmstraße 5 in München.<br />

Hiergastierte zunächst Die Pfeffermühle. Wilhelm Frick (1877-1946) war der berüchtigte<br />

Reichsinnenminister und Berater Hitlers.<br />

15 OttoFalckenberg (1873-1947) war Mitbegründer des politisch-literarischen Kabaretts Die Elf Scharfrichter<br />

in München. Es spielte seit Früjahr 1900 bis Herbst 1904.<br />

16 Zitiert in: Keiser-Hayne, 1990, S. 48. Serinissimus war als das neue Domizil für Die Pfeffermühle<br />

vorgesehen. Zur Geschichte des Mann Kabaretts Vgl. Mann, Klaus, 1952, S. 299f, 316f. und S. 380.<br />

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Eigenschaften, ohne die keine Gesinnung, sei sie noch so schön, sich bei dem<br />

Theaterpublikum durchsetzt.“ 17<br />

Die Texte können im übrigen jetzt in der Fremde die häßlichen Spuren im Gesicht von<br />

Hitler-Deutschland schärfer umreißen, als es beim Münchner Start möglich war. Das<br />

erzwungene Exil bietet die Chance, den Gegenstand der Kritik deutlicher zu artikulieren.<br />

Die Autoren begnügen sich keineswegs nur mit artigen Andeutungen und unverbindlichen<br />

Anspielungen. Der Barbarismus im Reich läßt sich benennen, die Aufkündigung der<br />

Menschenwürde wenigstens aus der Distanz ins Visier nehmen. Therese Giehse als Frau<br />

X besingt die Furcht vor neuen Kriegen, das Säbelrasseln jenseits der Grenze:<br />

Wenn wir daheim sind und am Radio hören,<br />

Wie das so funkt und tut aus manchem Reich.<br />

Und andre Leute lassen sich nicht stören, -<br />

Nur Österreich selber ward ein bißchen bleich 18<br />

Der militärische Griff nach der Alpenrepublik steht noch aus, doch die Kassandra im<br />

Theatersaal vom Hotel „Hirschen“ beschwört vorauseilend kommende Ereignisse. Mit<br />

politischer Intuition hat dies zu tun, mit einem sensiblen Gespür für die realen<br />

gesellschaftlichen Machtverhältnisse und die damit verbundenen Gefahren. Die neu<br />

errungene Freiheit außerhalb Deutschlands hat freilich auch ihre Schranken. Die<br />

Fremdenpolizei ist dem Ensemble permanent auf den Versen, die dubiosen<br />

diplomatischen Beziehungen zwischen Bern und Berlin erschweren indirekt den<br />

ungezügelten Zungenschlag in der Pfeffermühle. Die Kritik in der Neuesten Zürcher<br />

Zeitung ist freundlich und wohlwollend, das Baseler Publikum applaudiert nach einem<br />

Abstecher nicht minder.<br />

17 Mann, Klaus, 1952, S. 316.<br />

18 Mann, E., Frau X, zitiert in: Keiser-Hayne, 1990, S. 55.<br />

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Die Pfeffermühle<br />

Es war eine reichlich massivere „Kunst“, die einen bisher aus den ausgehängten Photos und<br />

Plakaten im Vorbeigehen am „Gambrinus“ anrief, als die, welche seit gestern dort eingezogen<br />

ist. Skeptisch ging man hin: werden die Basler wirklich dem Rufe hierher folgen? Und die erste<br />

Überraschung, wie man das Lokal betritt, ist - das Publikum. Der Saal ist bombenvoll, viel<br />

Künstlerjugend, und daneben ein wenig tout Bâle! Was in Zürich glänzend gelang, scheint in<br />

Basel nicht fehlschlagen zu wollen. Und gerne beglückwünscht man das Halbdutzend junger<br />

Künstler, die sich da um Erika Mann, die Dichtertochter und begabte Dichterin, geschart haben,<br />

zu ihrem Unternehmen. Denn sie überraschen uns wirklich mit etwas Apartem. Erika Mann<br />

bringt ja aus München Kabaretttradition mit. Und doch: wie hat sich seit Wolzogens Ueberbrettl,<br />

seit den Elf Scharfrichtern und dem Simplizissimus das literarische Kabarett wieder gewandelt!<br />

Wie zeitberührt sind diese jungen Menschen, wie weit entfernt vom Klingklanggloribusch<br />

romantischer Vorkriegs Kabarettkunst. Wie ernst ist ihr Spott und doch wie echt dabei ihr<br />

Lachen, wie treffsicher ihre Satire, wie übermütig ihre Kunst und doch wie gesinnungsgetragen.<br />

Wenn Erika Mann ihren Märchentraum vorträgt, dann wird die tiefere Kraft, die in ihrem Dichten<br />

und Singen steckt, ganz offenbar, und für Harlekins Zeitlied möchte man ihr ganz besonders<br />

danken. Ihres Bruders Klaus Beiträge zum Programm sind da viel mehr auf äußeren Effekt hin<br />

gearbeitetes, wenn auch schlagkräftiges Kabarett. (...)<br />

Basler Nationalzeitung, November 1933 19<br />

Doch es gibt Kritik von ganz links, von sozialdemokratischer und kommunistischer Seite.<br />

Dem Kabarett fehle es an klassenkämpferischem Engagement, heißt es. Der parteiliche<br />

Vorwurf vergißt freilich die Adressaten im Parkett und das Anliegen der exilierten<br />

Harlekine. Sie missionieren nur insofern, als das literarische Anliegen mit der Konvention<br />

parteiloser Mitmenschlichkeit übereinstimmen muß. Die Botschaften gegen<br />

Bevormundung und Tyrannei bedürfen nicht der plakativen Etikette. Jiri Voskovec,<br />

tschechischer Kabarettist und Autor, schreibt einen Brief an Erika Mann und Die<br />

Pfeffermühle und charakterisiert die Qualitäten des antifaschistischen Kabaretts.<br />

Liebe Erika Mann und liebe Pfeffermühle,<br />

ich komme ungefähr einmal im Jahr ins Theater, weil ich jeden Abend spiele: 1935 habe ich das<br />

Glück gehabt, der schönsten Aufführung beizuwohnen, die ich je gesehen habe, auf der<br />

kleinsten Bühne, die ich je zu sehen bekam.<br />

Ich möchte Ihnen sagen, wie sehr ich Ihre Glut, Ihr Herz, Ihren Stil und Ihren Mut<br />

bewundere. Es ist eine recht kleine Insel, eine winzige Oase inmitten eines verfaulten Europas,<br />

aber wie schön ist diese Insel und welch ein Trost stellt sie dar!<br />

19 Zitiert in: Keiser-Hayne, 1990, S. 61.<br />

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Sie werden nie den Erfolg ernten können, den Sie verdienen; seien Sie aber zumindest<br />

in der Gewißheit gestärkt, die von Dauer ist: Sie machen das einzige Theater, das ich als das<br />

wahre bezeichnen kann, ein Theater, in dem weder Tricks noch Manien zählen, sondern allein<br />

das Herz und das Bedürfnis, etwas auszudrücken.<br />

Auf Wiedersehen und Dank an alle Prag, den 9.2.1935<br />

Jiri Voskovec 20<br />

Das politische Selbstverständnis der Kabarettisten ruft indessen reaktionäre Schweizer<br />

Kreise auf den Plan. Mit gezielten Provokationen schüren die „Frontisten“ bei den<br />

Aufführungen Krawalle. Das angeheizte Klima erinnert an bekannte und ferngelenkte<br />

Störaktionen aus Nazi Deutschland. Der Kanton Zürich beugt sich schließlich dem Druck<br />

der rechten Kreise und verabschiedet 1935 die „Lex Pfeffermühle“. Das kantonale Gesetz<br />

verbietet ausländischen Kabarettisten, mit „politischen“ Texten aufzutreten. Zuvor schon<br />

haben der Völkische Beobachter und die politische Polizei im Reich versucht, über die<br />

Grenze hinweg die Auftritte der Pfeffermühle zu unterbinden. Der österreichische<br />

Gesandte in Bern läßt sich in die Kampagnen gegen das Kabarett einspannen. In einem<br />

diplomatisch gehaltenen Brief versucht Erika Mann zu beschwichtigen. Doch dem Druck<br />

der Politik vermögen die Kabarettisten auf Dauer nicht zu widerstehen. Die Exilierten<br />

packen die Koffer- schon wieder. Die Tourneen in die Enklaven des noch unbesetzten<br />

Europas beschreiben den verengten Spielraum der Truppe. Es ist eine permanente<br />

Fluchtbewegung vor staatlichem Terror, der Krieg gegen das freie Wort überschreitet jetzt<br />

alle Grenzen.<br />

Von 1933 bis 1937 gibt es 1034 Vorstellungen der Pfeffermühle. Nach dem<br />

Aufführungsverbot in der Schweiz spielen die Künstler in Holland, Belgien, Luxemburg<br />

und der Tschechoslowakei. Die Flucht führt zuletzt bis in die Vereinigten Staaten. Mit<br />

einem Fiasko der Peppermill in New York endet die Wanderschaft der verfemten und<br />

verfolgten Kabarettisten 1937. Amerika hat seine Schwierigkeiten mit der kleinen und<br />

bitteren europäischen Kunstform. Der Kopf des Unternehmens aber, Erika Mann, versucht<br />

sich gegen alle Widerstände als Publizistin und engagierte „Lecturer“ durchzusetzen. Das<br />

Schicksal der Emigranten hat 1934 bereits Walter Mehring in der Mühle besungen.<br />

20 Zitiert in: Mann, Erika, 1984, S. 65.<br />

27


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Der Emigrantenchoral<br />

Werft eure Herzen über alle Grenzen,<br />

Und wo ein Blick grüßt, werft die Anker aus!<br />

Zählt auf der Wandrung nicht nach Monden, Wintern, Lenzen-<br />

Starb eine Welt - ihr sollt sie nicht bekränzen!<br />

Schärft das euch ein und sagt: Wir sind zu Haus!<br />

Baut euch ein neues Nest!<br />

Vergeßt - vergeßt Was man euch aberkannt und euch gestohlen!<br />

Kommt ihr von Isar, Spree und Waterkant:<br />

Was gibt's da heut zu holen?<br />

Die ganze Heimat und<br />

Das bißchen Vaterland<br />

Die trägt der Emigrant<br />

Von Mensch zu Mensch – von Ort zu Ort<br />

An seinen Sohlen, in seinem Sacktuch mit sich fort.<br />

Tarnt Euch mit Scheuklappen - mit Mönchskapuzen:<br />

Ihr werdt Euch doch die Schädel drunter beuln!<br />

Ihr seid gewarnt: das Schicksal läßt sich da nicht uzen<br />

Wir wollen uns lieber mit Hyänen duzen<br />

Als drüben mit den Volksgenossen heuln!<br />

Wo Ihr auch seid:<br />

Das gleiche Leid<br />

Auf 'ner Wildwestfarm - einem Nest in Polen,<br />

Die Stadt, der Strand, von denen Ihr verbannt:<br />

Was gibt's da noch zu holen?<br />

Die ganze Heimat und<br />

Das bißchen Vaterland<br />

Die trägt der Emigrant<br />

Von Mensch zu Mensch - von Ort zu Ort<br />

An seinen Sohlen, in einem Sacktuch mit sich fort.<br />

28


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Werft eure Hoffnung über neue Grenzen -<br />

Reißt Euch die alte aus wie'n hohlen Zahn!<br />

Es ist nicht alles Gold, wo Uniformen glänzen!<br />

Solln sie verleumden - sich vor Wut besprenzen -<br />

Sie spucken Haß in einen Ozean!<br />

Laßt sie allein<br />

Beim Rachespein<br />

Bis sie erbrechen, was sie euch gestohlen,<br />

Das Haus, den Acker - Berg und Waterkant.<br />

Der Teufel mag sie holen!<br />

Die ganze Heimat und<br />

Das bißchen Vaterland<br />

Die trägt der Emigrant<br />

Von Mensch zu Mensch - landauf, landab<br />

Und wenn sein Lebensvisum abläuft, mit ins Grab.<br />

Walter Mehring, 1934 21<br />

Hans Sahl, Dichter und Emigrant, erinnert sich:<br />

Es gehörte Mut dazu, den Kampf gegen Hitler in einem Lande auszutragen, das sich, jedenfalls<br />

nach außen hin, zu politischer Neutralität verpflichtet hatte und wahrscheinlich nur aus<br />

Rücksicht auf den Namen Thomas Mann seine Tochter stillschweigend gewähren ließ. Erika<br />

Mann hatte in der Pfeffermühle einen Stil entwickelt, der Kunst mit Politik und Literatur geschickt<br />

vermischte. Sie schrieb ihre Texte selber und trug sie vorn an der Rampe vor. Sie hatte große,<br />

brennende Augen und einen wunderbar geformten, klassischen Kopf, der mit den in die Stirn<br />

gekämmten Haarsträhnen ein wenig an Heinrich von Kleist erinnerte. Sie war von einer<br />

Unmittelbarkeit, die überzeugte, weil sie so verblüffend kunstlos etwas beim Namen nannte, das<br />

in der Luft lag. „Warum ist es so kalt?“ sang sie. Oder das Chanson, mit dem die<br />

unvergleichliche Therese Giehse vor das Publikum trat und mit dröhnender Stimme verkündete:<br />

„Ich bin die Dummheit, hört mein Lied.“<br />

Erika Mann wirkte vor allem durch ihre Persönlichkeit. Mehr noch als dies: sie hatte eine<br />

Mission, sie war die Tochter Thomas Manns, seine Statthalterin auf Erden. Sie war sein<br />

politisches Gewissen, die letzte Instanz, an die der ewig Zaudernde und Zögernde sich wandte,<br />

wenn er nicht weiter wußte. Sie war es auch gewesen, die Thomas Mann schließlich bewog,<br />

sich von Deutschland loszusagen.<br />

21 Zitiert in: Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 3, S. 59f. Mehring trug seinen Text 1934 beim Baseler<br />

Gastspiel der Pfeffermühle persönlich vor. Er war für Therese Giehse eingesprungen.<br />

29


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Hans Sahl, Das Exil im Exil, 1990 22<br />

Witz als Widerstand - Werner Finck provoziert die Nazis in der<br />

Katakombe<br />

Der Apothekersohn aus Görlitz kommt auf Umwegen 1928 nach Berlin. Als ausgebildeter<br />

Schauspieler spricht er Verse und Reime; zunächst im literarisch-politischen Kabarett Die<br />

Unmöglichen, im Larifari, dann im Küka, dem Künstler-Kaffee in der Budapester Straße.<br />

Einen ersten Zusammenstoß mit der politischen Wirklichkeit erlebt Werner Finck bei der<br />

Parodie auf ein jiddisch-russisches Theaterstück. Es kommt zum Skandal. Das<br />

vorwiegend jüdische Publikum bei den Unmöglichen erzwingt die Absetzung der Nummer.<br />

Jahre später, 1935 im Konzentrationslager Esterwege, drängt die SS-Leitung den<br />

Conferencier Finck, die Nummer auch dort hinter Stacheldraht vorzutragen. Der Künstler<br />

erinnert sich: „Ich bedauerte, daß ich den Text völlig vergessen hätte und daß er mir<br />

wahrscheinlich erst wieder einfallen werde, wenn die Juden nicht mehr verfolgt und<br />

vernichtet werden.“ 23<br />

Werner Finck läßt sich nicht vereinnahmen. Er verstummt nicht im Konzentrationslager<br />

und er erkennt vor der sogenannten Machtergreifung die aufziehenden Gefahren. Dabei<br />

ist seine Kritik eher verhalten und von sarkastischer Noblesse. Das, was er zu kritisieren<br />

hat, nennt er chiffriert beim Namen, ohne daß er dabei sein Gesicht je in Haß verzerrt.<br />

Politische Aufklärung ist bei ihm auf allen Bühnen, die er bespielt, ein humanes Geschäft.<br />

Seine Worte zerstören nicht, sie desavouieren und demaskieren. Sie beschreiben die<br />

törichte Dumpfheit der Herrenmenschen und ihre schamlose Ideologie.<br />

Nach dem Krieg beklagt Werner Finck, daß die Mehrheit der Kabarettisten in der<br />

Weimarer Republik den aufziehenden Faschismus unterschätzt hätten, sich selbst nimmt<br />

er dabei keineswegs aus. Doch der „Fall Werner Finck“ belegt eindrücklich den genutzten<br />

Spiel- und Oppositionsraum unter den Bedingungen der Diktatur. Die Sticheleien des<br />

22 Sahl, Hans,1990, S. 40f.<br />

23 Finck, Werner, 1972, S. 43.<br />

30


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Künstlers gegen das Regime, die Provokation der Mächtigen im NS-Staat ist ein naiver<br />

und zugleich ausgeklügelter Balanceakt, stets bedroht mit Berufsverbot oder Inhaftierung.<br />

Frühzeitig polemisieren nationalsozialistische Kampfblätter gegen den Schauspieler und<br />

Komiker. In dem berühmt-berüchtigten Fridericus-Film „Der Choral von Leuthen“ (1932)<br />

erhält Finck eine Nebenrolle. Unter der Regie von Carl Froelich mimt er einen Kandidaten<br />

der Theologie. Die Stahlhelm-Zeitung spricht von einem „unverzeihlichen Mißgriff“ und<br />

poltert: „Dieser 'große Dichter' Werner Finck, der von Krieg und Heldentum keine Ahnung<br />

hat, muß ausgerechnet auf den Feldern von Leuthen den Heldentod sterben!“ 24 Die<br />

braune Film-Kritik belegt anläßlich der Uraufführung des Streifens im Februar 1933 den<br />

latenten Widerspruch zwischen öffentlichem Agieren des Künstlers in der Katakombe und<br />

den Intentionen des propagandistisch operierenden Fridericus-Schinkens.<br />

Kabarett unter dem Hakenkreuz, das heißt für das Ensemble der Katakombe, sich in der<br />

Kunst der hingespielten Andeutung zu spezialisieren. Jedes Wort zu viel kann dem<br />

Schlußstrich für das Unternehmen bedeuten. Kontrolliert und überwacht durch Gestapo<br />

und Sicherheitsdienst, nimmt der Kabarettist seine Überwacher höchstpersönlich ins<br />

Visier. Finck spricht sie an: „Spreche ich zu schnell? Kommen Sie mit? - Oder - muß ich<br />

mitkommen?“ - so lautet eine der vielen Provokationen, die an die Zensoren im Saal<br />

gerichtet sind. 25<br />

Die ungebrochene Popularität des Künstlers Werner Finck ist es letztlich, die ihn zunächst<br />

vor dem Zugriff der politischen Polizei schützt. Den Skandal einer Verhaftung zieht der<br />

Propagandaminister Joseph Goebbels sicherlich mit ins politische Kalkül. Immerhin räumt<br />

das Regime dem Künstler eine Galgenfrist von zwei Jahren ein, bis der Vorhang in der<br />

Katakombe endgültig nicht mehr hochgeht. Bis zuletzt frotzelt Finck ganz halsbrecherisch<br />

über die Rassepolitik:<br />

In der Ritterzeit taucht in unserer Familie ein Knappe Lewinski auf. Glücklicherweise brannte die<br />

Kirche in seinem Sprengel ab, so daß keine nachteiligen Beweise mehr vorhanden sind.<br />

Oder er macht sich sehr freie Gedanken über Deutschlands Bäume in Verbindung mit<br />

Adolf Hitler:<br />

24 Zitiert ebd., S. 61.<br />

25 Vgl. Kabarett 1946-1969, CD 1, Nr. 2: „Am besten nichts Neues“.<br />

31


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Weil ich mit meinem kleinen Bäumchen so reingefallen war, wollte ich mir beim Fachmann den<br />

Sprößling eines großen Baumes besorgen. Den fand ich dann auch in einer Baumschule, der<br />

Gärtner bot mir den Steckling einer Eiche an. Preis 150.- Mark. Mir blieb die Spucke weg. „Das<br />

ist doch ein Wucherpreis“, rief ich, „wenn das der Führer wußte!“ „Ja“, sagte der Baumverkäufer,<br />

„das ist ja auch keine gewöhnliche Eiche, das ist eine Hitler-Eiche, die kann 1000 Jahre alt<br />

werden.“ „Na“, meinte ich, „das ist eine Vertrauenssache.“ 26<br />

Werner Finck muß die Pointe auf Weisung dann streichen. Ergebnis: er<br />

verschlimmbessert die Klimax durch eine weitere, höchstriskante Volte.<br />

Am nächsten Abend habe ich mich entschuldigt: Es wäre keine Vertrauenssache - im Gegenteil!<br />

Ich wäre mit dem gesunden Wachsen der Hitler-Eiche sehr zufrieden. „Vor ein paar Monaten<br />

war sie noch ganz klein, gerade bis zu meinen Knöcheln, dann reichte sie mir bis an die Knie,<br />

und jetzt steht sie mir schon bis zum Hals“ 27<br />

Aus historischer Distanz von rund sechzig Jahren muten die Seitenhiebe gegen die<br />

Tyrannei den Leser vielleicht harmlos an. Die Texte und Vorträge des Chefs der<br />

Katakombe haben gewiß nicht die literarische Dichte eines Kurt Tucholsky, die geballte<br />

Kampfkraft eines Walter Mehring oder das aufklärerische Pathos von Erich Mühsam.<br />

Doch die oberflächliche Einschätzung verkennt den Kontext und den Spielraum, der dem<br />

satirischen Wort nach 1933 noch eingeräumt bleibt. Werner Finck, der Bourgeois mit der<br />

Moral eines Humanisten und Republikaners, predigt keine neue politische Utopie, ist<br />

gewiß kein Sozialist, und redet doch dem aufgeklärten Menschenverstand und der<br />

Menschenwürde das Wort. Unter den Bedingungen des Staatsterrors schöpft er die<br />

Nischen des versteckten und sublimen Widerstands im Wort aus. Finck ist ein Exempel<br />

des Mutes und der unbeugsamen Zivilcourage. Wo andere schweigen oder sich<br />

Scheuklappen anlegen, kitzelt er die braunen Militaristen, gibt dem Publikum ein Beispiel,<br />

wie individuelle Integrität unter den neuen Machtverhältnissen zu bewahren sei. Der<br />

Kampf des David mit der Tarnkappe gegen den Staats Goliath bleibt ein Intermezzo des<br />

intellektuellen Widerstands, ein unnachahmliches Signal.<br />

Im „Fragment vom Schneider“, 1935 in der Katakombe zusammen mit Ivo Veit<br />

vorgetragen, wird die subversive Kraft des Kabaretts und ihre Stoßrichtung gegen<br />

Militarismus und die faschistische Ideologie deutlich.<br />

26 Finck, Werner, 1972, S. 64 .<br />

27 Ebd., S. 65.<br />

32


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Den Sketch nehmen die Nazis zum Anlaß, um das Auftrittsverbot für Finck und seine<br />

Kollegen nach langen „Vorarbeiten“ der Gestapo definitiv durchzusetzen.<br />

Fragment vom Schneider<br />

(Auf der Bühne ein Stuhl. Der Schneider wartet. Ein Kunde kommt herein.)<br />

Schneider (Ivo Veit): Womit kann ich dienen?<br />

Kunde (Werner Finck, beiseite):<br />

Spricht der auch schon vom Dienen! (Laut) Ich möchte einen Anzug haben.<br />

(Vielsagende Pause. Dann nachdenklich, mit gedämpfter Stimme:) Weil mir was im<br />

Anzug zu sein scheint.<br />

Schneider: Schön<br />

Kunde: Ob das schön ist - Na, ich weiß nicht ...<br />

Schneider: (Etwas ungeduldig) Was soll's denn nun sein? Ich habe neuerdings eine<br />

ganze Menge auf Lager.<br />

Kunde: Auf's Lager wird ja alles hinauslaufen.<br />

Schneider: Soll's was Einheitliches oder Gemustertes sein?<br />

Kunde: Einheitliches hat man jetzt schon genug. Aber auf keinen Fall Musterung!<br />

Schneider: Vielleicht etwas mit Streifen?<br />

Kunde: Die Streifen kommen von alleine, wenn die Musterung vorbei ist. (Dann<br />

resigniert:) An den Hosen wird sich ein Streifen nicht vermeiden lassen ...<br />

Schneider: Fangen wir mal erst mit der Jacke an. Wie wäre denn eine mit Winkel<br />

und Aufschlägen?<br />

KKunde: Ach, Sie meinen eine Zwangsjacke?<br />

Schneider: Wie man's nimmt ... (fragt weiter:) Einreihig oder zweireihig?<br />

Kunde: Das ist mir gleich. Nur nicht diesreihig ... (Von Finck gesprochen wie: „Nur<br />

nicht dies Reich.“)<br />

33


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Schneider: Wie wünschen Sie die Revers?<br />

Kunde: Recht breit, damit ein bißchen was draufgeht. Vielleicht gehen wir alle mal<br />

drauf. Immer fest druff, hat schon der Kronprinz gesagt. (Dann nachdenklich das<br />

letzte Wort fortspinnend:) Vielleicht gehen wir alle mal drauf.<br />

Schneider: Dann darf ich vielleicht einmal Maß nehmen?<br />

Kunde: Doch, doch, das sind wir gewöhnt. (Der Kunde nimmt Haltung an, der<br />

Schneider stellt sich mit dem Zentimetermaß neben ihn. Er nimmt Maß, während<br />

der Kunde die Hände stramm an die Hosennaht legt:)<br />

Schneider: (Auf das Maßband blickend:) 14/18.-Ach, bitte, steh'n Sie doch bitte<br />

einmal gerade!<br />

Kunde: Für wen?<br />

Schneider: Ach so - ja ... Und jetzt bitte den rechten Arm hoch - mit geschlossener<br />

Faust 18/19. Und jetzt mit ausgestreckter Hand ... 33 ... Ja, warum nehmen Sie<br />

denn den Arm nicht herunter? Was soll denn das heißen?<br />

Kunde: Aufgehobene Rechte ... 28<br />

Die Doppelbödigkeit der Satire, ihre antimilitaristische Tendenz bei gleichzeitigen<br />

Seitenhieben auf den Geneneralfeldmarschall Hermann Göring und seine Ordenssucht,<br />

die kaum verhüllte Benennung der Konzentrationslager, alles das muß der geheimen<br />

Staatspolizei höchst verdächtig sein. Die relative Narrenfreiheit der Katakombe dauert<br />

trotz günstiger Pressestimmen nur bis zur Jahreswende 1934/35. Danach wird das<br />

Programm auf Weisung der Herren Goebbels, Reinhard Heydrich und Gestapochef<br />

Heinrich Müller massiv überwacht. „Das Fragment vom Schneider“ wird ebenso<br />

beanstandet wie eine freche Satire („Fragment vom Zahnarzt“) über die Bespitzelung der<br />

Mitbürger im NS-Staat. Unter dem Datum 6. Mai 1935 ist ein Dossier überliefert, in dem<br />

es verunsichert und grollend über die Auftritte in der Lutherstraße 22 heißt:<br />

„Die Darbietungen stehen durchweg auf einem sehr niedrigen Niveau und sind fast<br />

ausschließlich politisch beeinflußt. Sie stellen so ziemlich das Übelste an politischer<br />

Brunnenvergiftung dar, wie sie im neuen Staat überhaupt noch möglich sein kann. Bei jedem<br />

politischen Angriff, mag er auch noch so versteckt sein, rast das eigenartig zusammengesetzte<br />

28 Zitiert in: Hippen, Reinhard, 1988, S. 96; mit kleinen Varianten auch in: Heiber, Helmut, 1966, o.S.; Finck,<br />

Werner, 1972, S. 66.<br />

34


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Publikum Beifall: Es wartet nur auf das politische Stichwort, (sic) das oft nur in einer zynischen<br />

Andeutung besteht. Besonders gefährlich erscheint der pazifistische Einschlag in den<br />

Darbietungen, in denen alles Militärische verächtlich gemacht wird. Es hat sich bei dieser Art<br />

Kabaretts gegen früher nichts geändert. Die Personen, die hauptsächlich peinlich und hetzerisch<br />

wirken, sind Werner (sic) Fink, Heinrich Giesen und Ivo Veit.“ 29<br />

Am 10. Mai schließen Die Katakombe und das Tingeltangel Theater (ITT). Das Referat III<br />

A 1/1 meldete am 18. Mai<br />

„Gemäß Entscheidung des Herrn Reichsminister Dr. Goebbels sind die nachstehend<br />

aufgeführten, in der Angelegenheit 'Tingel-Tangel' und 'Katakombe' in Schutzhaft genommenen<br />

Schauspieler für die Dauer von 6 Wochen in ein Lager mit körperlicher Arbeit zu überführen.<br />

1.) Walter Gross, 5. 2. 04 Eberswalde geb.,<br />

2.) Walter Liek, 15. 6. 06 Charlottenburg geb.,<br />

3.) Heinrich Giesen, 20. 3. 13 Berlin geb.,<br />

4.) Walter Trautschold, 20. 2. 02 Berlin geb.,<br />

5.) Werner Finck, 2.5. 02 Görlitz geb.,<br />

6.) Günther Lüders, 5. 3. 05 Lübeck geb.<br />

Ich bitte, die Überführung der vorgenannten Schutzhäftlinge in das Konzentrationslager<br />

Esterwege beschleunigt durchzuführen.“ 30<br />

Bis Anfang Juli 1935 sitzen die Künstler von der Katakombe und vom Tingeltangel in<br />

Esterwege bei Papenburg in „Schutzhaft“ und erst im Herbst 1936 gibt es ein<br />

Gerichtsverfahren. Doch das juristische Unterfangen erweist sich als hausgemachte<br />

Blamage. Das eigens etablierte „Heimtücke-Gesetz“ von 1934 bleibt in seiner Anwendung<br />

auf die Kabarettisten ein untaugliches Instrument. Die Anklageschrift nennt u.a. aus<br />

Conférencen, politische Witze, Chansons und Sketche, die öffentlich zu verlesen sind.<br />

Der prozessuale Vortrag gipfelt in einer brisanten und grotesken Zuspitzung. Die<br />

inkriminierten Passagen, auch das „Fragment vom Schneider“, müssen der Öffentlichkeit<br />

29 Zitiert in: Heiber, Helmut, 1966, S. 23.<br />

30 Ebd., S. 55.<br />

35


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ein weiteres Mal zur Kenntnis gebracht werden. Werner Finck erinnert sich an<br />

„ungeniertes Gelächter“ unter den Anwesenden und an einen gereizten Vorsitzenden der<br />

Kammer, der wütend dazwischenfährt: „Wenn das Gelache nicht aufhört, lasse ich den<br />

Saal räumen! Wir sind hier nicht im Kabarett!“ 31 Mangels Beweisen stellt das Gericht das<br />

Verfahren ein, ein Tatbestand, der nur formal für einen Rest an Rechtsstaatlichkeit<br />

spricht. Die Verurteilung des populären Kabarettisten und seiner Kollegen zu einer<br />

längeren Haftstrafe wäre ohne politischen Gesichtsverlust in der Presse kaum zu<br />

vermitteln. Auch bei den vorangegangenen Schauprozessen des Jahres 1935 gegen<br />

verdiente Rundfunkintendanten und Hörfunkpioniere aus der Weimarer Republik -<br />

darunter Hans Flesch, Hans Bredow und Kurt Magnus - vermeiden es die<br />

Nationalsozialisten tunlichst, den Bogen zu überspannen. Die intendierte Verhängung von<br />

Freiheitsstrafen käme in beiden Fällen einem Pyrrhus-Sieg gleich. Die Richter, die das<br />

Verfahren gegen Die Katakombe und das Tingeltangel leiten, werden auf Anordnung des<br />

Propagandaministers strafversetzt; der Minister bekundet damit seinen Unmut.<br />

Für Werner Finck folgen Monate mit eingeschränkter Berufstätigkeit und nur<br />

gelegentlichen Bühnenauftritten. Im Kabarett der Komiker (KadeKo) kann Werner Finck<br />

bedingt weiterarbeiten, bis auch dieses Theater den Betrieb auf Weisung einstellt. Auf die<br />

Frage des Berliner Tageblatt, ob die Deutschen Humor haben, antwortet der Kabarettist<br />

Finck schlagfertig wie gewohnt:<br />

„Doch, doch, wir haben. Oder meinen Sie mit wir Ihr geschätztes, auf 90.000 geschätztes Blatt?<br />

Denn schon die Fragestellung beweist es. - Oder meinen Sie uns, wenn Sie wir sagen? Auch<br />

dann bejahe ich es. Denn unter uns haben wir Humor. Aber das unter uns. Bliebe also noch die<br />

Frage, ob wir über uns auch Humor haben.“ 32<br />

Diese neuerliche Attacke gegen das System, das antidemokratische Klima und den<br />

verwalteten NS-Humor führt dann endgültig zum umfassenden Berufsverbot für Werner<br />

Finck und zum Ausschluß aus der Reichskulturkammer. Das Berliner Tageblatt stellt sein<br />

Erscheinen ein. Aufgeschreckt durch den publizistischen Wirbel um die Kabarettisten,<br />

sieht sich Goebbels seinerseits gedrängt, zu erläutern, was deutscher Linien-Humor sei.<br />

Im Schlagabtausch mit dem verhaßten Werner Finck meint der Minister am 4. Februar<br />

1939 im Völkischen Beobachter:<br />

31 Finck, Werner, S.72.<br />

32 Ebd., S. 101.<br />

36


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„Man komme uns nicht mit dem Einwand, daß wir humorlos wären. Wir waren nicht immer im<br />

Besitz des Staates und der öffentlichen Gewalt. Auch wir standen einmal in der Opposition; und<br />

es ist der deutschen Öffentlichkeit wohl noch nicht ganz entfallen, daß wir es waren, die einmal<br />

einen gewissen Polizeipräsidenten mit Namen Isidor Weiß durch Witze politisch getötet haben.<br />

Wir könnten also auch so mit unseren Kritikern verfahren, wenn wir wollten. Aber wir wollen<br />

nicht. Wir haben keine Lust, und vor allem auch keine Zeit, uns mit armseligen Literaten<br />

polemisch auseinanderzusetzen. Wir haben augenblicklich Besseres zu tun.<br />

Die politische Witzemacherei ist ein liberales Überbleibsel. Im vergangenen System konnte man<br />

damit noch etwas erreichen. Wir sind in diesen Dingen zu gescheit und erfahren, als daß wir sie<br />

ruhig weitertreiben ließen. Wir wissen, daß jetzt die deutsch-feindlichen Zeitungen in Paris,<br />

London und New York für unsere armen Conferenciers eintreten werden. Wir erwarten, daß die<br />

demokratischen Gouvernanten in Westeuropa erdenklich Klagen führen werden über den<br />

Mangel an Freiheit der Meinung in Deutschland. Uns berührt das innerlich gar nicht mehr.“<br />

Weitere Konfrontationen mit der Goebbels-Diktatur wird der unbotmäßige Schelm nicht<br />

durchstehen, genauer: überleben. Deshalb flieht der Kabarettist an die Front. „Flucht ins<br />

graue Tuch“ heißt der Tatbestand. 33 An der Front, so sieht es der verfolgte Kabarettist, ist<br />

das Leben sicherer als im Umfeld der Gestapo in Berlin. Werner Finck hätte nach 1945<br />

allen Grund, kollegiale Mitläufer, Denunzianten oder die halbherzigen inneren Emigranten<br />

- es gibt derer im „Dritten Reich“ sehr viele - laut zu tadeln. Aber hier übt er sich in<br />

souveräner Zurückhaltung. Mit seinem Publikum stellt er Einverständnis her. Finck gibt<br />

den Zuhörern zu verstehen, daß sie damals unter dem „Irren“ genauso entschieden,<br />

profiliert und mutig gehandelt hätten wie er, der lächelnde Diktaturverächter. Das ist eine<br />

sympathische Vorgabe, eine allzu optimistische Einschätzung des Pädagogen in Sachen<br />

deutscher Zivilcourage zugleich. Immerhin dient Werner Finck nach 1945 unverdrossen<br />

und unbeschädigt als demokratisches Leitbild, er, der die politisch Labilen und braunen<br />

Mitläufer wegen ihres Versagens nicht beckmesserisch tadelt. Anstatt über das Versagen<br />

der eigenen Generation zu klagen, schlägt er bis zu seinem Tod 1978 versöhnliche Töne<br />

an und lebt ohne Aufhebens als Beispiel zur Nachahmung empfohlen.<br />

Am besten nichts Neues<br />

Dieses Institut war die Katakombe am Potsdamer Platz in Berlin. Und da wir nun alle unbekannt<br />

waren, waren wenig Leute da zu allererst. Es kamen kaum welche. Das waren vielleicht zwei,<br />

33 Ebd., S. 109.<br />

37


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drei. Auf die konnte man sich verlassen. Die waren von der Baupolizei. Die Baupolizei hatte<br />

damals Anforderungen an uns gestellt, die waren ungeheuerlich. Beispielsweise verlangten sie<br />

zwei Notausgänge. Stellen Sie sich das einmal vor! So ein kleiner Raum und zwei Notausgänge!<br />

Und die hatten das Programm vorher noch gar nicht gesehen. (Lachen) Sehen Sie mal, und alle<br />

die damals in der Katakombe waren, sind eigentlich später etwas geworden. Wir haben einen<br />

Fehler gemacht, wir gingen nicht in die Politik hinein. Wir haben unser Publikum gehabt. Das<br />

genügte uns. Und unser Publikum (...) Also: Wir genügten dem Publikum und so. (...) Es war<br />

Inzucht. Dann haben wir uns gesagt: Ach Gott, das ist doch ein Irrer, haben wir uns gesagt. Das<br />

ist doch ein Irrer, der Hitler. Als ob das was in der Politik zu sagen hat! (Lachen) Und eines<br />

Tages landete ich denn im Gefängnis. 1935 war ich drin. Und völlig unvorbereitet! Das ist auch<br />

eine Sache, die ich dem bürgerlichen Leben vorwerfe. Ich sehe noch den Moment, wo ein<br />

baumlanger Mann auf mich zugeschossen kam, betastete mich von allen Seiten, sämtliche<br />

Taschen oben, unten, Mitte und so, aber mit einem Griff, alles artistisch, und rief dazu: „Haben<br />

Sie Waffen?!“ Ich sagte: „Nein. Wieso braucht man hier welche?“ So naiv war man da. Und alles<br />

wegen ein paar politischen Witzen. Darauf lief's hinaus. Ich weiß noch ganz genau wie ich<br />

eingezogen wurde. Ich hatte mich freiwillig gemeldet. Ja, 1939. Ich sollte ja für wehrunwürdig<br />

erklärt werden. Unwürdig? Merkwürdig war ich. Da wurde die ganze Persönlichkeit aufgelöst - in<br />

nichts. (...) Wie ich hörte, der Zusammenbruch ist da, bin ich erst mal auf die Schreibstube<br />

gegangen, habe gefragt, ob noch was wäre (Lachen) und erst als man mir sagte, „vielen Dank“,<br />

es hätte sich erledigt, gab ich mich dem Zusammenbruch hin.<br />

Werner Finck 34<br />

In seiner Untersuchung über das schwäbische Humoristen-Paar Häberle und Pfleiderer,<br />

alias Oscar Heiler und Willy Reichert, kommt Ulrich Keuler zu der Einschätzung, daß<br />

Werner Finck das Machtgefüge im NS-Staat zwar nicht erschüttern konnte, „aber er<br />

brachte die Fassade der Eintracht zum Bröckeln, erinnerte daran, daß das Staatsgebäude<br />

auf einem Fundament von Zwang und Einschüchterung ruhte.“ 35 Im Kontext des<br />

industriellen Mordens gehört dieser bald spaßige, bald subversive Kabarettist in der Tat<br />

zur kleinen Galerie der Unbeugsamen. Sein Witz und seine „Lust am Widerspruch und am<br />

Widerstand zuckten, sobald er das Gefühl hatte, man wolle seine Freiheit beschneiden.<br />

Und das wollte man.“ 36 Zum Widerstandskämpfer läßt sich Finck nach 1945 nicht<br />

stilisieren. Er könnte diese gängige Art der persönlichen „Bewältigung“ allemal für sich in<br />

Anspruch nehmen. Er tut es nicht. Der Kabarettist Weiß Ferdl (1883-1949), früher<br />

Sympathisant der Nationalsozialisten und strammer bajuwarisch-völkischer Komiker,<br />

bemüht sich nach dem Krieg zum Beispiel um solche nützliche Legendenbildung. Finck<br />

hat derlei Kapriolen nicht nötig.<br />

34 Kabarett 1946-1969, CD 1, Nr. 2.<br />

35 Keuler, Ulrich, 1992, S. 62.<br />

36 Friedrich Luft in: Finck, W., 1972, S. 9.<br />

38


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An meinen Sohn Hans Werner<br />

Du brauchst dich deines Vaters nicht zu schämen,<br />

Mein Sohn.<br />

Und wenn Sie dich einmal beiseite nehmen<br />

Und dann auf mancherlei zu sprechen kämen,<br />

Sei stolz, mein Sohn.<br />

Sie haben deinem Vater reichlich zugesetzt,<br />

Mein Sohn. Ihn ein- und ausgesperrt und abgesetzt,<br />

Sie haben manchen Hund auf ihn gehetzt<br />

Paß auf, mein Sohn:<br />

Dein Vater hat gestohlen nicht und nicht betrogen,<br />

Er ist nur gern mit Pfeil und Bogen<br />

Als Freischütz auf die Phrasenjagd gezogen -<br />

Und so, mein Sohn,<br />

Kannst du den Leuten ruhig in die Augen gucken,<br />

Mein Sohn.<br />

Brauchst, wenn sie fragen, nicht zusammenzucken.<br />

Ich ließ mir ungern in die Suppe spucken,<br />

Das war's, mein Sohn.<br />

Wie vieles hat der Wind nun schon verweht,<br />

Mein Sohn.<br />

Der Wind, nach dem ich mich noch nie gedreht -<br />

Daß dir mein Name einmal nicht im Wege steht,<br />

Gib Gott, mein Sohn! 37<br />

37 Ebd., S. 171.<br />

39


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Bertolt Brecht, mit Applaus für die „inneren Emigranten“ und Hinterbliebenen während des<br />

„Dritten Reichs“ gewiß sparsam, schreibt 1947 anläßlich eines Finck-Gastspiels in Zürich<br />

eine Eloge auf den Narren. Der Sozialist verteilt über den unbeugsamen Alleinunterhalter<br />

nur die allerbesten menschlichen und zeitgeschichtlichen Noten.<br />

Eulenspiegel überlebt den Krieg<br />

Werner Finck gewidmet<br />

Gleichend einer madigen Leich<br />

Lag das dutzendjährige Reich<br />

Als, fünfhundert Jahre alt<br />

Eulenspiegel in Gestalt<br />

Sich den Schweizern präsentierte<br />

Und, für eine Mahlzeit, referierte<br />

Wie, indem er Witze riß und bebte<br />

Er die großen Zeiten überlebte.<br />

Denn es war für Späßemacher<br />

Die S.S. ein schlechter Lacher:<br />

Eulenspieglein an der Wand,<br />

Wer ist der Dümmste im ganzen Land?<br />

Nun, da galt es mittlerweilen<br />

Sich die Späße einzuteilen<br />

Sich den Gürtel eng zu schnallen und gelassen<br />

Grad nur so viel Witze zu verpassen<br />

Als man unbedingt zum Leben brauchte<br />

Daß die Bestie höchstens fauchte<br />

Doch nicht biß.<br />

Und als der große Gütevolle,<br />

40


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würdenlose Späßevogel diese knappe<br />

Zeit beschrieb, da war's, als klappe<br />

Geisterhaft ihm manche tote<br />

Hand noch Beifall. Von dem Aufgebote<br />

Derer unter Schutt und Aschehügel.<br />

Und es war, als wüchsen Flügel<br />

Diesem ungelenken Gaste<br />

Der in großer Zeit nicht paßte<br />

Und indem er witzig war und bebte<br />

Wie das niedre Volk sie überlebte.<br />

Bertolt Brecht, 1947 38<br />

Frohsinn der rechten Denkungsart oder Die gute Laune ist ein<br />

Kriegsartikel, versichert der Minister<br />

Die Kriegserklärung des Propagandaministers Goebbels gegen aufmüpfige Kabarettisten,<br />

die Schließung der Katakombe, des Tingeltangel und das Aus für Die Nachrichter 39 führen<br />

zu einer empfindlichen Lücke in der Berliner Kabarettlandschaft. Doch ist der<br />

Propagandaminister Profi genug, um für den eingetretenen Verlust zumindest im Sinne<br />

der Parteidoktrin Abhilfe zu schaffen. In der Filmpolitik hat es der Minister bereits<br />

durchexerziert, wie unter der Maske der wohlfeilen Unterhaltung die Volksgenossen bei<br />

Laune zu halten sind. Es kommt ihm nicht darauf an, das Amüsement im Korsett von<br />

Marschmusik, Fahnen und Uniformen vorzuführen. Goebbels warnt immer wieder vor<br />

abgegriffenen Aufmärschen in Bild und Ton. Auch die einschläfernde Wirkung von<br />

germanischen „Thing-Hörspielen“, die braun-barocken „Hörkantaten“ zum Ruhme der<br />

38 Brecht, Bertolt, 1967, Bd. 10, S. 9blf. Auch in Brecht,1993, S. 189; mit Varianten auch in Finck,1972, S.<br />

201f. Erich Kästner notierte über die Aufführung: „Hier lachten die Herren Schriftsteller und das Züricher<br />

Publikum um die Wette. Bert Brechtbewies am hörbarsten, daß er auch auf dem Gebiet des Lachens zu<br />

den 'Spitzenkönnern' zählt.“ (Die Neue Zeitung, München, 21.11.1947.)<br />

39 Am 1.10.1935.<br />

41


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Bewegung, sind ihm als Intellektuellem höchst suspekt. Die politische Infiltration hat<br />

vielmehr im Kostüm bekannter und tradierter Muster zu geschehen. In der Maske des<br />

Biedermanns spielen die genehmen NS-Claqueure ihrem bürgerlichen Publikum auf. Es<br />

ist fast alles so wie früher. Aber doch nur fast.<br />

Da kommt das relativ unbekannte Tourneekabarett Die acht Entfesselten , 1935 von<br />

Ernst August Brenn und Rudi Godden gegründet, gerade recht. In einer parteilichen<br />

Umarmung vereinnahmt die NS-Kulturgemeinde das Ensemble. Unter Protektion der<br />

Entfesselten hofft die braune Brigade, den PG-Ulk in ihrem Sinne popularisieren zu<br />

können. Die Künstler sind willfährig genug, sich dieser Gunstbezeugung nicht zu<br />

entziehen. Ein gewisser Günter Meerstein bejubelt 1937 in seiner (selbst für<br />

nationalsozialistische Verhältnisse dürftigen) Dissertation („Das Kabarett im Dienste der<br />

Politik“) den neuen Geist, dem sich nun auch die Kleinkunst verpflichtet habe. So seien<br />

Die acht Entfesselten die ersten, „die den richtigen Weg zur Erneuerung der<br />

Kabarettkunst beschritten haben. Der Erfolg, den alle ihre Darbietungen erzielten, ist ein<br />

Beweis dafür, daß diese Kleinkunstbühne für die Gestaltung des Kabaretts im neuen<br />

Deutschland richtungsweisend sein kann.“ 40<br />

Von höchst offizieller Seite, vom Kulturdienst der NSDAP, heißt es am 2. April 1936 zum<br />

Auftreten der angepaßten Witzbolde: „Aus dem Alltag des Volkes sind die Themen der<br />

Darbietungen genommen. Gegen Unnatürlichkeit in Kunst, Film, Funk, Theater, Operette,<br />

Wochenschau, Reklame wird eine vergnügte Attacke geritten. Dabei darf natürlich ein<br />

politischer Spott auf die Greuelpropaganda nicht fehlen.“ 41 Rudi Godden zelebriert mit<br />

seiner Truppe unverbindliches Wortgeplänkel, die Kunst der Ablenkung und des<br />

Amüsements, wie dies der schlesische Stimmenimitator Ludwig Manfred Lommel mit<br />

seinen Alltagssketchen im Radio ebenfalls mit Erfolg demonstriert. Der Intendant der<br />

Schlesischen Funkstunde in Breslau, Friedrich Bischoff, hat Lommel übrigens schon 1925<br />

entdeckt und für das Radio verpflichtet. In Breslau kreiert der Spaßmacher seinen „Sender<br />

Runxendorf auf Welle 0,5“. Nichts Weltbewegendes will er erzählen. Immerhin präsentiert<br />

er seinen kleinen ländlich-akustischen Mikrokosmos ganz allein und mit der eigenen<br />

Stimme. Als Meister der menschlichen Stimme kann er drei oder vier Personen<br />

40 Meerstein, Günter, 1937, S. 65.<br />

41 Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 3, 1989, S. 100.<br />

42


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gleichzeitig in einem Sketch zu Worte kommen lassen. Ludwig Manfred Lommels<br />

Runxendorf ist „kein schlesisches Himmelreich“, wie Hans -Günter Martens betont, „es<br />

war ein Ort, wo die Sorgen des Alltags nicht so ernst genommen wurden, wo es Kalauer<br />

regnete, wo mitunter sogar - und das waren Lommels schönste Momente - der blühende<br />

Unsinn regierte.“ 42<br />

Die Verbindlichkeit des Unverbindlichen, der Scherz ohne gesellschaftliche Erdung,<br />

lassen den Charme des Schlesiers eben auch für die nationalsozialistischen Ideologen<br />

hochwillkommen sein.<br />

Mir ist schon alles ganz egal<br />

Wir sterben lieber heut als morgen,<br />

Ick hab den ganzen Kopp voll Sorgen:<br />

Hab keenen Vater und keene Mutter,<br />

Aufs Brot nicht mal die nötige Butter.<br />

Wenn ich nicht bald'n Graf beerb,<br />

Dann ist's mir lieber, wenn ich sterb.<br />

Sterben müssen wir alle mal,<br />

Mir ist schon alles ganz egal.<br />

Selbst Steuern soll ick noch berappen,<br />

Die woll'n das letzte mir wegschnappen.<br />

Ich zahle nischt, ick kann's beteuern:<br />

Ick hab ne Wut auf alle Steuern.<br />

Ick soll bezahlen mit Barschecken?<br />

Die können mich alle ... nicht entdecken.<br />

Ick bin auf Reisen allemal<br />

Mir ist schon alles ganz egal.<br />

42 Martens, Hans-Günter, auf Plattencover: Lommel, Ludwig Manfred, Elektrola.<br />

43


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Früher soff ick wie'n Stier<br />

Helles, dunkles Lager-Bier.<br />

Ick soff mit Freunden im Verein,<br />

Jetzt sitz ick vor mein'm Glas allein.<br />

Ick sitze da mit offnem Maul<br />

Und bin zum Saufen schon zu faul,<br />

Die Nase tropft, das Bier wird schal.<br />

Mir ist schon alles ganz egal.<br />

Ick liebte manches Mägdelein,<br />

Doch mußte's stets ne Hübsche sein.<br />

Jetzt bin ick verheirat', welch Malheur,<br />

Meine Olle gefällt mir gar nicht mehr.<br />

Hat Beene wie'n Droschkengaul,<br />

Een halben Zahn bloß noch im Maul<br />

Und uff der Neese'n Muttermal.<br />

Mir ist schon alles ganz egal.<br />

Am Rundfunk sprech ick seit Jahren schon,<br />

Ick sang viel Platten für Homophon.<br />

Im Theater spiel ick alle Tage,<br />

Auch oft im Varieté. Es ist ne Plage.<br />

Jetzt soll ick noch zum Tonfilm gehen,<br />

Dann könnt ihr mich auf der Leinwand sehen!<br />

Die Hauptsache ist, es wird bezahlt –<br />

Sonst ist mir alles ganz egal.<br />

Ludwig Manfred Lommel, 1934 43<br />

Die Liebe macht gewöhnlich blind<br />

43 Kühn, Kleinkunststücke, Bd. 3, 1989, S. 104f.<br />

44


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Ich bin im allgemeinen sehr verträglich,<br />

Ich bin die Ruhe selbst, das steht mal fest.<br />

Ich bin kein Ekel, also auch nicht eklig,<br />

Doch jetzt ist Schluß, mein liebes Kind,<br />

Jetzt mach ich mal Protest.<br />

Sonst denkst du, alles was du tust, ist richtig<br />

Und alles, was du sagst, für mich Musik.<br />

Sei bitte nicht so eitel und so zuversichtlich.<br />

Ich übe jetzt, jetzt übe ich, ich übe jetzt Kritik.<br />

Die Liebe macht gewöhnlich blind<br />

Doch Gott sei dank nicht so, mein Kind!<br />

Neenee, i wo, nicht so!<br />

Ich weiß doch, daß du Fehler hast.<br />

Ich sag dir auch, was mir nicht paßt,<br />

Nicht wahr? Na, klar! Ja, ja.<br />

Da war erst neulich, das fiel mir doch gleich auf<br />

Und das fällt ganz besonders ins Gewicht,<br />

Was war denn das? Na, ich komme jetzt nicht drauf,<br />

Na, ganz egal, auf jeden Fall: Man tut so etwas nicht!<br />

Die Liebe macht gewöhnlich blind,<br />

Doch Gott sei dank nicht so, mein Kind !<br />

Neenee, i wo, nicht so!<br />

Doch andrerseits, das kann ich nicht bestreiten:<br />

Ich hab dich gern, ach was, ich liebe dich!<br />

Du hast auch deine wirklich guten Seiten,<br />

Die hast du, Liebling, laß mal, nee!<br />

Du weißt es bloß noch nicht!<br />

Ich stehe auch für dich mal gern im Regen,<br />

Mir kommt es auf'n Schnupfen gar nicht an!<br />

Ich warte letztenendes ja nur deinetwegen,<br />

45


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Damit ich dir was Nettes, wirklich Nettes sagen kann.<br />

Die Liebe macht gewöhnlich blind.<br />

In deinem Fall auch mich, mein Kind,<br />

Nicht wahr? Na, klar! Ja, ja.<br />

Zwar steh ich hier im Wolkenbruch,<br />

'n Mann wie ich verträgt ja Zug,<br />

Nich wahr? Na, klar? Ja, ja.<br />

Aber ne ganze Stunde, das ist'n bißchen viel,<br />

Ich grüble, ob ich länger warten soll,<br />

Denn ohne dich wird's doch'n bißchen kühl.<br />

Ich huste auch schon prima, und ich hab die Nase voll!<br />

Die Liebe macht gewöhnlich blind,<br />

Doch Gott sei dank nicht so, mein Kind,<br />

I wo, neenee. Nicht so!<br />

Die Liebe macht gewöhnlich blind,<br />

Doch Gott sei dank nicht mich, mein Kind!<br />

Neenee. Adieu! Ich geh!!<br />

Rudi Godden, 1938 44<br />

Während das kritische und liberale Großstadtkabarett der zwanziger Jahre die realen<br />

Konfrontationen der Gesellschaft nicht ausklammert, Finck mit seinen Conférencen die<br />

Stimme gegen die Diktatur erhebt, unterhalten vermeintlich unpolitische und komische<br />

Köpfe ab 1935 ihr Publikum mit standardisierter Fröhlichkeit. Wie im billigen<br />

Massenschlager sind die Texte dieser liebsamen Künstler bieder und dienen damit der<br />

erwünschten Stabilisierung nach innen. „Das kabarettistische Moment, das bei allen<br />

Völkern zu allen Zeiten vorhanden war und auch noch heute vorhanden ist“, betont der<br />

linientreue Kabarett-Theoretiker Meerstein, „wird im nationalsozialistischen Deutschland in<br />

der Kleinkunststätte 'Kabarett' als politisches Führungs- und Beeinflussungsmittel des<br />

gesamten Volkes herausgestellt, um der Staatsführung ein wirkungsvolles Instrument zur<br />

44 Ebd., S. 120f. Rudi Godden präsentierte das Lied 1938 bei den Acht Entfesselten.<br />

46


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Unterhaltung und zur politischen Führung und Beeinflussung des Volkes in die Hand zu<br />

geben.“ 45<br />

Uniformer Humor, im patriarchalischen Geist der Zeit geschrieben, Ulk-Witz, der nicht weh<br />

tut und doch vergessen läßt, kennzeichnet Goddens Liebesgruß für eine Verlassene,<br />

„denn Liebe macht gewöhnlich blind“. Sentimentaler Weltschmerz im Dienst der<br />

militärischen Logik ebnet 1937 im Münchener Simplicissimus den Siegeszug von Lili<br />

Marleen mit Lale Andersen. Hans Leip, Schriftsteller und Grafiker, hat den Text bereits<br />

1915 als Soldat zu Papier gebracht. Die Zeilen bleiben über zwanzig Jahre unbeachtet.<br />

Der kommende Weltschlager - 1939 im Kabarett der Komikerin einer zweiten, der jetzt<br />

noch bekannten Version, vorgestellt und 1941 vom Besatzungssender in Belgrad als „Lied<br />

eines jungen Wachposten“ präsentiert - verschränkt in beispielhafter Weise<br />

melancholischen Weltschmerz des liebenden und beinahe straffällig werdenden Landsers<br />

mit unbedingter Pflichterfüllung. Über dem Privaten lauert allgegenwärtig das Diktat des<br />

soldatischen Gesetzes, das nicht hinterfragt werden darf. Glück und Liebe sind zulässig<br />

indem kasernierten Hitler-Reich. Sie unterstehen aber der profanen Logik des<br />

Kasernenhofes. Das suggestive musikalische Arrangement - von dem Pianisten Norbert<br />

Schultze komponiert - läßt beinahe den Kontext vergessen, in dem das Lied steht.<br />

Kornettsignale und Trommelschläge erinnern wie von fern, „wo die Musik spielt“ und wer<br />

sie macht.<br />

Die stets betonte Internationalität des Liedes - u.a. werden es in den kommenden Jahren<br />

Bing Crosby, Jean-Claude Pascal, Freddy Quinn und Greta Garbo singen -, die<br />

Verfolgung der Lale Andersen durch die Gestapo, das Verbot des Schlagers nach der<br />

Schlacht von Stalingrad, alles das kann nicht über die Verherrlichung der soldatischen<br />

„Tugenden“ hinwegtäuschen. Lili Marleen, auf den Brettern des nationalsozialistischen<br />

Kabaretts zum zweitenmal geboren, im Äther zwischen den Fronten millionenfach<br />

ausgestrahlt, ist die Apotheose der soldatischen Pose schlechthin. Die Liebe unterliegt in<br />

dem Weltschlager den Gesetzen der Kaserne. Liebesschmerz gehorcht selbstverständlich<br />

und ohne Widerspruch den unausgesprochenen und höheren Einsichten hinter der<br />

Militärfeste mit ihrer romantischen Laterne „vor dem großen Tor“.<br />

45 Meerstein, 1937, S. 72.<br />

47


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Anders als der Interpretin, bringt dem Komponisten Norbert Schultze der musikalische<br />

Triumph erheblichen materiellen Nutzen. Der Präsident der Reichsmusikkammer, Peter<br />

Raabe, setzt Schultze 1939 auf die Liste der „schöpferischen Künstler“. Filmmusiken zu<br />

„Feuertaufe“, einem Propagandafilm über den Überfall auf Polen, „Bomben auf England“<br />

und 25 „Lieder der Nation“ kennzeichnen die nationalsozialistische Produktivität des<br />

Komponisten. Noch 1967 erklärte er gegenüber der New York Times : „Ich kann es nicht<br />

bedauern, daß ich all diese Lieder geschrieben habe. Es war die Zeit, die das verlangte,<br />

nicht ich. Andere haben geschossen. Ich habe diese Lieder komponiert.“ 46<br />

Im Verlauf des Ätherkriegs nutzen die Engländer die Popularität des Liedes für die<br />

Gegenpropaganda: Was das Soldatenleben ist, für die Soldatenbraut Lili Marleen in dem<br />

Schlager bedeutet, das wird jetzt in Stoßrichtung Deutsches Reich laut und parodistisch<br />

zu Gehör gebracht. Die verträumte Melancholie des Originals ist durch die<br />

unmissverständliche Aufforderung zum Handeln aufgebrochen. Der pervertierte Schlager<br />

mahnt die Hörer zum Kampf gegen Unterdrückung und Hitlerfaschismus. Lucie Mannheim<br />

singt die neue Version am 3. April 1943 in einer deutschsprachigen Sendung der BBC,<br />

der Krieg hat sich an der russischen Front bereits gewendet.<br />

Lili Marleen<br />

Ich muß heut an Dich schreiben,<br />

Mir ist das Herz so schwer.<br />

Ich muß zuhause bleiben<br />

Und lieb Dich doch so sehr.<br />

Du sagst, Du tust nur deine Pflicht,<br />

Doch trösten kann mich das ja nicht,<br />

Ich wart an der Laterne -<br />

Deine Lili Marleen<br />

46 Zitiert in Dokumentation: Das Dritte Reich, Bd.4, S. 103.<br />

48


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Was ich still hier leide,<br />

Weiß nur der Mond und ich.<br />

Einst schien er auf uns beide,<br />

Nun scheint er nur auf mich.<br />

Mein Herz tut mir so bitter weh,<br />

Wenn ich an der Laterne steh<br />

Mit meinem eignen Schatten -<br />

Deine Lili Marleen<br />

Vielleicht fällst du in Rußland,<br />

Vielleicht in Afrika.<br />

Doch irgendwo da fällst Du,<br />

So will's Dein Führer ja.<br />

Und wenn wir doch uns wiedersehen,<br />

O möge die Laterne stehn<br />

In einem andern Deutschland -<br />

Deine Lili Marleen<br />

Der Führer ist ein Schinder,<br />

Das sehn wir hier genau.<br />

Zu Waisen macht er Kinder,<br />

Zur Witwe jede Frau.<br />

Und wer an allem schuld ist, den<br />

Will ich an der Laterne sehn,<br />

Hängt ihn an die Laterne!<br />

Deine Lili Marleen<br />

BBC-Sendung am 3.4.1943 47<br />

Zu den engagierten Claqueuren des Nationalsozialismus zählt der Sänger und Kabarettist<br />

Weiß Ferdl. Um ihn ranken sich Legenden und anekdotische Begebenheiten, die ihn zum<br />

47 Als Tondokument erhalten in: Dümling, Albrecht, 1988, CD 4.<br />

49


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Gegner des Nationalsozialismus stilisieren. Dabei dürfte es sich freilich um<br />

selbstgestrickte oder lancierte „Meldungen aus dem Reich“ handeln. Angeblich soll des<br />

Führers komischer Liebling 1938 im Münchner Platzl in einer von der NSDAP gemieteten<br />

Vorstellung vor vollem Haus gesagt haben: „Bleibt lieber in Euren mit sauer verdientem<br />

Geld ersparten, kleinen bescheidenen Villen am Lago di Bonzo. Ihr habt ja nicht einmal<br />

mehr Eisen-Euren 'eisernen Willen' habt ihr schon längst aufgegeben und nun fangt ihr<br />

schon an aus Materialnot die Juden einzuschmelzen.“ 48 Authentische Belege für solche<br />

Äußerungen des fröhlichen Rechtsauslegers gibt es indessen nicht. Auch Volker Kühn<br />

meldet in seinen Recherchen Zweifel an solchen nicht bezeugten „Heldentaten“ an.<br />

Ferdinand Weisheitinger (1883-1949), genannt Weiß Ferdl, der Kabarettist vom Platzl in<br />

München, bejubelt 1934 jedenfalls die neuen „Errungenschaften“ im<br />

nationalsozialistischen Staat. Darunter fällt in seiner Hymne „Gleichgeschaltet“ auch die<br />

Drohung einer deutschen Gattin. Eheliche Untreue wird notfalls mit „Dachau“ bestraft, wer<br />

nicht hören will, muß sich im Konzentrationslager fügen. Die Stätte der Folter und<br />

Erniedrigung wird bei Weiß Ferdl salonfähig. Der böse Spaß treibt Kumpanei mit den<br />

Schlächtern und jagt die Eingesperrten wie in den obszönen „Juden-Witzen“. Die<br />

Solidarität mit den Gepeinigten ist aufgekündigt, gelacht wird - ausgesprochen oder nicht -<br />

mit den Folterknechten. Es gibt kein Tabu, der Komiker treibt mit dem Entsetzen Scherz<br />

und setzt auf Einverständnis mit seinem Publikum. Auch in der Conférence „Über die<br />

Lage“ (1936) ist mit „Dachau“ ein magisches sprachliches Zeichen gesetzt. Die<br />

topographische Einordnung genügt. Nichts muß erklärt, nichts erläutert werden. Der<br />

Sprecher kann sich des Kürzels bedienen, der Chiffre des Schreckens. Was gemeint ist –<br />

und zugleich nicht ausgesprochen - ,das darf er offensichtlich bei seinem Publikum<br />

voraussetzen. Dachau und die gedankliche Verbindung zu einem Luftkurort und einer<br />

„Luftveränderung in konzentrierter Form“ verdichten sich zu einer bösen euphemistischen<br />

Konstruktion. Die Schlächter werden nicht mehr provoziert und gereizt. Der Kabarettist<br />

sucht sich schon im nächsten Abschnitt des Wohlwollens und der Gunst der Mächtigen zu<br />

versichern. Gewiß, „große Männer verstehen schon Spaß“ und können die lax<br />

dahergesagte Dachau-Metapher gar nicht in den falschen Hals bekommen. Doch Weiß<br />

Ferdl ist auf der Hut und leistet schon mal vorsichtshalber Abbitte – auch auf Kosten<br />

48 Zitiert in Hippen, Reinhard, 1988, S. 67.<br />

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jener, die gemeint sind: die geschundenen KZ-Häftlinge. Werner Finck lehnt später<br />

übrigens jeden Vergleich, vor allem in politischer Hinsicht, mit Weiß Ferdl ab.<br />

Der Witz hinter der Hand – Lust und Gefahr<br />

Überleben, dazu verhalf auch der Witz. Überleben, möglichst bei bester Gage. Man erzählte<br />

sich ihn von Karl Valentin, von Erich Kästner, der ohne publizieren zu dürfen, in den<br />

Cafehäusern des oberen Kurfürstendamm wie ein Relikt der schönsten „Systemzeit“ staunend<br />

zu betrachten war. Man legte Schauspielern, nur weil sie Komiker waren, politische Witze in den<br />

Mund. Dabei waren viele dieser Herren in Wirklichkeit jeder Störung ihrer Karriere durch solche<br />

Späße abhold. Auch sie wollten überleben, möglichst bei bester Gage.<br />

Es ging das Gerücht um, daß überall, wo der Don Carlos gespielt wurde, bei des Posa<br />

dröhnender Forderung nach Gedankenfreiheit das Publikum in Schreie der Zustimmung<br />

ausgebrochen sei. Keiner konnte es bestätigen. Ich war bei einer solchen Aufführung. Aber da<br />

blieb es an dieser Stelle still. Man hörte dergleichen immerhin so gern. Man konnte bei solchen<br />

Gerüchten so schön Mut schöpfen und man tat es.<br />

Witze höhlen kein diktatorisches System aus, sie werfen es nicht um. Aber sie können es<br />

weniger sicher erscheinen lassen. Die Machthaber merken vielleicht, daß ihr Stuhl wackelt oder<br />

doch wenigstens ein ganz bißchen unsicher steht. Wenn verbreitet wurde, der dicke, gern jovial<br />

und kumpelhaft hingestellte Hermann Göring habe sich allmorgendlich die neusten Witze<br />

erzählen lassen und sich dann lachend auf die monumentalen Schenkel geschlagen, so war<br />

diese offenbar doch offiziell verbreitete Onkelanekdote deutlich gezielt: Sie sollte den Witz<br />

gegen die Tyrannen unerheblich - und sollte die Tyrannen möglichst humorvoll und diesem Falle<br />

freundlich liberal erscheinen lassen. Beides ein Zeichen, wie man den Witz aus dem Volke und<br />

im Volke wohl fürchtete, ihn „offiziell“ zu entschärfen versuchte.<br />

In den Kabaretts saßen damals meist die Schnüffler und Spitzel der Geheimen Staatspolizei,<br />

wie sie auch in den Gottesdiensten der mehr unbotmäßigen Geistlichen auf der harten<br />

Kirchenbank hockten und mitschrieben. An beiden Plätzen konnte man sie, wenn man seinen<br />

Blick für die Handlangertypen der Diktatur nur etwas geschärft hatte, sofort erkennen.<br />

Friedrich Luft 49<br />

Gleichgeschaltet<br />

Früher gab's so viel Parteien,<br />

Deshalb auch viel Reibereien.<br />

Bis dann sprach ein Ingenieur:<br />

49 Luft, Friedrich, Überstehen ist alles. Der Witz hinter der Hand - Lust und Gefahr, in: Dokumentation: Das<br />

Dritte Reich, Bd. 1, S. 138.<br />

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Deutsche, nein, so geht's nicht mehr.<br />

Weg mit diesen Wechselströmen,<br />

Woll'n wir lieber Gleichstrom nehmen!<br />

Er hat aus- und umgestaltet.<br />

Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet.<br />

Hat man Zeitungen gelesen,<br />

Früher ist man blöd gewesen.<br />

Die schrieb: „Bravo, sehr gut. Heil!“<br />

Die andre „Pfui“, grad's Gegenteil.<br />

Jetzt kannst du das Geld dir sparen.<br />

Liest du eine, bist im klaren.<br />

Gleichlautend sind all'gestaltet:<br />

Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet.<br />

Arbeitsdienst wurd' eingeführet<br />

Mancher freudig mitmaschieret:<br />

„Endlich schaffen, Gott sei Dank.“<br />

Andre aber macht es bang.<br />

Statt beim 5-Uhr-Tee fein schwofen,<br />

soll er jetzt im Gleichschritt loofen.<br />

Hand, gepflegt, a Schaufel haltet<br />

Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet.<br />

Man hört nicht mehr Saxophone,<br />

Tanzt nicht Rumba, Charlestone.<br />

Fort mit Jazz und Niggertanz,<br />

Sind nicht mehr meschugge ganz.<br />

Alte Weisen hört man wieder,<br />

Stramme Märsche, deutsche Lieder,<br />

Die man gern im Ohr behaltet.<br />

Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet.<br />

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Mit dem Eintopf, dem bekannten,<br />

Sind die Frau'n sehr einverstanden.<br />

Weg mit Austern, Kaviar,<br />

Mit dö Schmankerln is jetzt gar.<br />

Am Sonntag kochen s' alte Boana,<br />

Sag'n: „Das is a Picklstoana“,<br />

Aufg'wärmt, daß bis Samstag haltet,<br />

Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet.<br />

Will der Mann a Freundin halten<br />

Und nicht treu bleib'n seiner Alten,<br />

Steht in Saft die deutsche Frau,<br />

Droht dem Gatten mit Dachau:<br />

„Zwanzig Jahr hast unverdrossen<br />

Meine, Reize du genossen.<br />

Dabei bleibt's, bist auch veraltet,<br />

Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet.“<br />

Bei den Abrüstungskonf'renzen<br />

Die Franzosen immer benzen:<br />

Deutschland, ach, bedroht uns sehr!<br />

Doch die Welt glaubt's längst nicht mehr.<br />

Unser Kanzler sprach es offen:<br />

„Friede hat nur der zu hoffen,<br />

Der abrüstet, da Wort haltet.“<br />

Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet<br />

Ganz vereint sind Bayern, Preißen,<br />

Nicht mehr auseinand' zu reißen.<br />

Statt, daß in die Berg' wir zieh'n,<br />

Mach ma Weekend in Berlin,<br />

Tun im Lunapark dort rodeln,<br />

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Preußen lernen dafür jodeln.<br />

Mensch, wie det zusammenhaltet!<br />

Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet.<br />

Wenn wir fest zusammenstehen,<br />

Muß's doch wieder aufwärts gehen.<br />

Bauer, Arbeitsmann und Knecht,<br />

Adel, Bürger - gleiches Recht.<br />

Für das Land, das wir gestritten<br />

Und viel Jahre Not gelitten,<br />

Woll'n wir leben, ungespaltet,<br />

Gleichgestaltet, gleichgestaltet.<br />

Weiss Ferdl, 1934 50<br />

Über die Lage<br />

Heutzutage ist es nicht leicht, Humorist zu sein. Das Publikum hat es so leicht, die kommen<br />

herein, zahlen den kleinen Eintritt, setzen sich hin und sagen: „Los!“ Das ist schnell gesagt, aber<br />

das Losgehen ist nicht so einfach. Ich weiß genau, was die Leute am liebsten hören. Schon im<br />

grauen Altertum war es so, daß sich die Leute am meisten gefreut haben, wenn man über die<br />

Großkopfat'n losgezogen hat und dieser Brauch hat sich bis auf den heutigen Tag erhalten. Nun<br />

werden Sie aber auch verstehen, daß dieses momentan eine etwas kitzlige Angelegenheit ist; -<br />

man hat Hemmungen. Mir persönlich kann ja nichts passieren, ich bin ja schon längere Zeit<br />

„Dachauer“ -da käme höchstens eine kleine Luftveränderung in konzentrierter Form in Frage.<br />

Aber die Sache ist nicht so gefährlich. Ich weiß auch, daß die wirklich großen Männer schon<br />

Spaß verstehen und selber darüber lachen. Die wissen auch ganz genau, daß, wenn ich herin<br />

im Platzl einen Witz mache, deshalb ihre Position noch nicht erschüttert ist. Unangenehm sind<br />

nur die anderen, - die sich einbilden großkopfert zu sein - und sind's gar nicht. 51<br />

1941, da die deutsche Politik irreversibel auf die Vernichtung der Juden hinausläuft,<br />

Göring die „Evakuierung“ der Opfer anordnet, erste Vergasungen in Auschwitz anlaufen,<br />

der Kabarettist und Schlagertexter Fritz Grünbaum („Ich hab das Fräulein Helen baden<br />

50 Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 3, S. 102 ff. Das Wort „benzen“ oder „penzen“ bedeutet „betteln“,<br />

nachdrücklich „bitten“. Die Nummer erschien auch als Schallplatte. Mit Varianten auch in: Hippen,<br />

Reinhard, 1988, S. 72.<br />

51 Zitiert in: Hippen, Reinhard, 1988, S. 74.<br />

54


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sehn“) im Konzentrationslager Dachau zu Tode kommt, beschneidet der<br />

Propagandaminister nochmals entscheidend das Kabarettgeschehen. 1941 ist auch das<br />

Jahr, in welchem Goebbels die weitere Verbreitung von Lili Marleen zu verhindern sucht<br />

und sich dann letztlich geschlagen gibt. Sein Hinweis, die Verse seien zu „makaber“, die<br />

Musik zu „sentimental“, verfängt nicht, er muß klein beigeben. Es ist das Jahr, in dem die<br />

Propaganda nochmals gestrafft wird. Karl Valentin, von den Nationalsozialisten schon<br />

1936 mit Film-Zensur belegt, verabschiedet sich erst einmal von der Wort- und<br />

Darstellungskunst und verdingt sich bis Ende des Krieges als Schreiner, Scherenschleifer<br />

und fabriziert Nudelwalker für den Haushalt. Im Radio dominieren Marschmusik und das<br />

reine Propaganda-Hörspiel. Unterhaltung abseits des cui bono duldet der Minister nicht.<br />

Im Film setzt sich mehr und mehr das krude Propagandakonstrukt durch. Veit Harlans<br />

Machwerk von 1940 „Jud Süß“ ist hierfür ebenso ein Beleg, wie das „dokumentarische“<br />

Lügenprodukt „Der ewige Jude“ (1940) von Fritz Hippler oder Liebeneiners „Ich klage an“<br />

(1941), ein Film der unverhohlen das Mordprogramm an Behinderten und Kranken<br />

rechtfertigt. In diesem Abschnitt der ideologischen Bündelung und verschärfter<br />

Indoktrination unterbindet Goebbels schließlich die freie Conférence im Kabarett. 52 Das<br />

Spiel mit Personen und ihre Erwähnung ist dadurch eingeschränkt. Bezeichnend, daß die<br />

Anordnung in der Presse nicht diskutiert werden darf.<br />

Es ist davon auszugehen, daß der Befehl kaum flächendeckend zu überprüfen ist,<br />

geschweige denn eingehalten wird. Ob im Frontkabarett Der Knobelbecher, das von 1942<br />

bis 1944 die Truppe bei Laune hält 53 , oder auf der Wehrmachtsbühne Die Platzpatrone in<br />

Neapel 1943, die Ausklammerung der Conférence ist in der Tat nicht praktikabel und dient<br />

vor allem der vorbeugenden Disziplinierung der verbliebenen Amüsierbetriebe zwischen<br />

Dänemark, Rußland, Frankreich und Italien. Die Durchhaltekabaretts unterstehen seit<br />

Beginn des Krieges dem Oberkommando der Wehrmacht (OKW) und dem<br />

Propagandaministerium. Ursula Herking, Wolfgang Neuss, der in der Heimat verstoßene<br />

Werner Finck und auch der spätere Insulaner-Chef Günter Neumann sorgen für stramme<br />

Landserunterhaltung. Illusionen über das künstlerische Niveau dieser Truppenbetreuung<br />

braucht man sich nicht zu machen, die Frontklamotte als Normalmaß setzt sich durch.<br />

52 Zitiert in: Hippen, Reinhard, 1988, S. 74.<br />

53 Vgl. Murmann, Geerte, 1992.<br />

55


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Anordnung<br />

betreffend Verbot des Conférence- und Ansagewesens.<br />

Trotz meiner wiederholten Erlasse vom 8. Dezember 1937, 6. Mai 1939 und 11. Dezember<br />

1940, in denen ich eindringlich die Forderung erhob, das Kabarett- und Vortragswesen den<br />

Erfordernissen des öffentlichen Geschmacks, besonders aber denen des Krieges anzugleichen,<br />

treiben sogenannte Conférenciers, Ansager und Kabarettisten, wie aus der Menge von<br />

Beschwerden aus dem Lande, vor allem aber von der Front berichtet wird, weiterhin ihr<br />

Unwesen. Sie gefallen sich in einer leichten und billigen Anpöbelung von Zuständen im<br />

öffentlichen Leben, die durch die Not des Krieges bedingt sind. In sogenannten politischen<br />

Witzen üben sie offene oder versteckte Kritik an der Politik, Wirtschafts- und Kulturführung des<br />

Reiches. Sie verhöhnen die bodenständigen Eigenheiten der einzelnen Stämme unseres Volkes<br />

und tragen damit dazu bei, die innere Einheit der Nation, die für die siegreiche Beendigung des<br />

Krieges die wichtigste Voraussetzung ist, zu gefährden. In Anbetracht dessen, da meine<br />

wiederholten, mit allem Ernst eingeschärften Mahnungen offenbar nichts gefruchtet haben und<br />

die alten, aus einer demokratisch-liberalistischen Staatsauffassung resultierenden Mängel und<br />

Fehler der Gestaltung der öffentlichen Unterhaltung immer aufs Neue wieder auftauchen, sehe<br />

ich mich nunmehr auf Befehl des Führers zu einschneidenden Maßnahmen gezwungen.<br />

Auf Grund des §25 der Ersten Verordnung zur Durchführung des Reichskulturkammergesetzes<br />

vom 1. November 1933 (Reichsgesetzblatt I S. 797) ordne ich hiermit an:<br />

1. Jegliche sogenannte Conférence oder Ansage wird ab sofort für die ganze Öffentlichkeit<br />

grundsätzlich verboten. Es ist dabei ganz gleichgültig, ob sie sich mit Dingen der Politik, der<br />

Wirtschaft, der Kultur oder sonstigen Angelegenheiten des öffentlichen oder privaten Lebens<br />

befassen will.<br />

2. Glossierungen von Persönlichkeiten, Zuständen oder Vorgängen des öffentlichen Lebens,<br />

auch angeblich positiv gemeinte, sind in Theatern, Kabaretts, Varietés und sonstigen<br />

öffentlichen Unterhaltungsstätten verboten.<br />

3. Die Presse ist schärfstens angewiesen, die Behandlung aller lebensunwichtigen Fragen, die<br />

das Volk heute unnötig belasten oder verstimmen könnten, peinlichst zu vermeiden. Dazu<br />

gehören vor allem Angelegenheiten, die Eigenheiten, Sitten, Gebräuche oder Dialekte einzelner<br />

Volksstämme betreffen.<br />

4. Es ist verboten, einen Volksstamm gegen einen anderen, eine Stadt gegen eine andere oder<br />

einen Teil des Reiches oder Volkes gegen den anderen, wenn auch in angeblich gutgemeinter<br />

Art, auszuspielen. Alle Kräfte des öffentlichen Lebens müssen auf die Einheit des Volkes<br />

ausgerichtet werden. Probleme, an denen sich die Gemüter unnötig erhitzen und die für die<br />

siegreiche Durchführung des Krieges von untergeordneter Bedeutung sind, werden aus der<br />

öffentlichen Diskussion ausgeschaltet.<br />

Dieser Erlaß stellt eine letzte, ernste und eindringliche Mahnung dar. Übertretungen werden auf<br />

Befehl des Führers mit schärfsten Strafen geahndet.<br />

Berlin, den 30. Januar 1941<br />

gez.<br />

56


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Dr. Goebbels<br />

Anlage:<br />

Abschrift überreiche ich zur Kenntnisnahme. Eine Veröffentlichung durch die Presse darf nicht<br />

erfolgen.<br />

Gez.<br />

Dr. Goebbels 54<br />

Zum Totlachen oder Theresienstadt, Theresienstadt ist das modernste<br />

Ghetto, das die Welt heut hat<br />

Im Oktober 1941 kommt es zu „Verhandlungen“ zwischen der Jüdischen Kultusgemeinde<br />

in Prag und der SS mit dem Ziel, 60 Kilometer von Prag in Terezin (Theresienstadt) an der<br />

Eger ein Ghetto einzurichten. Die Interessenlage ist dabei freilich sehr unterschiedlich:<br />

Die jüdischen Verhandlungsführer hoffen, durch dieses Vorgehen Zeit zu gewinnen und<br />

die drohenden Massendeportationen nach Polen eindämmen zu können. Die<br />

Konzentrierung der jüdischen Häftlinge in Zwischenlagern entspricht der von langer Hand<br />

geplanten „Endlösung“, der systematischen Ermordung der jüdischen Minderheit.<br />

Theresienstadt ist als sogenanntes Altersghetto konzipiert. Tausende alter, invalider und<br />

kranker Menschen sollen in der historischen Garnison kaserniert werden. In das KZ<br />

Theresienstadt, leichtfertig als Vorzugslager gehandelt und im SS-Jargon als<br />

„Reichsaltersheim“ gepriesen, müssen sich die Juden gegen haltlose Versprechungen<br />

selbst „einkaufen“. Das heißt im Klartext: Das Vermögen der Häftlinge wird<br />

beschlagnahmt, bewegliches und festes Eigentum konfisziert.<br />

In den „besseren“ Zeiten besteht die Lebensmittelration aus 225 Gramm Brot, 60 Gramm<br />

Kartoffeln und der üblichen Wassersuppe.<br />

„Die Zuteilung war nicht größer als etwa 1000, höchstens 1200 Kalorien pro Kopf und Tag. Für<br />

Arbeitsunfähige ist die Zahl der Kalorien unter 800 gesunken. Tierisches Eiweiß gab es fast gar<br />

nicht und die Verdauungsorgane, besonders von alten Leuten, konnten die Kost nicht verdauen.<br />

Deutsche Ärzte ließen sich hier Avitaminosen, Pellagra, Nachtblindheit und Austrocknen der<br />

Bindehäute vorführen.“ 55<br />

54 Zitiert in: Hippen, Reinhard, 1988, S. 125.<br />

55 Adler, H.G., 1960, S, 736.<br />

57


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Am 18. September 1942 leben und hungern in dem Lager rund 59.000 Menschen,<br />

darunter 30.000 Alte und Kranke, 4.000 Krüppel und über 1.000 blinde Gefangene. Nur 60<br />

Prozent der Inhaftierten haben einen eigenen Schlafplatz. 20.848 Menschen sterben<br />

durch die Entbehrungen und den Terror im Ghetto, über 16.000 Menschen müssen noch<br />

einmal die Reise im Viehwaggon antreten und fahren von Theresienstadt in die<br />

Todesfabriken von Auschwitz, Riga, Treblinka oder Izbica und werden dort ermordet.<br />

Ungeachtet dieser Todes- und Schreckensbilanz verstehen es die Nationalsozialisten,<br />

das Zwischenlager mit infamsten Methoden propagandistisch auszuschlachten. Durch<br />

eine Lagerinfrastruktur, die zumindest nach außen den Anschein einer bürgerlichen<br />

Ordnung bietet, gaukeln die Bewacher sich und der Welt eine umzäunte Normalität vor.<br />

Zwar ohne ernstliches Warenangebot in den Regalen und Auslagen, gibt es eine<br />

Fleischerei ohne Fleisch, eine Apotheke ohne Medikamente und eine Parfümerie ohne<br />

Seife und Flacons, ein Haushaltsgeschäft, dekoriert mit Vasen aus beschlagnahmten<br />

Hinterlassenschaften. Im Sinne einer Potemkinschen Suggestion wird Wirklichkeit<br />

inszeniert und über die krude Faktizität gestülpt. Leni Riefenstahl beweist mit ihrem<br />

Dokumentarfilm „Triumph des Willens“ (1935) zuvor, daß das „Dritte Reich“ latent als<br />

inszenatorisches Show-Ereignis zu begreifen ist, als Exhibition der Mythen und Legenden,<br />

als theatralisches Spektakel. In Theresienstadt, im Wartesaal für Auschwitz, belegt die<br />

Umstülpung der Realität, daß die Henker die gefesselte Gemeinschaft von Theresienstadt<br />

choreographisch ausgetüftelt manipulieren.<br />

In diesen Kontext gehört das Programm der „Stadtverschönerung“ von 1943, eine<br />

Propagandamaßnahme, die für die angekündigten Besuche des Internationalen Roten<br />

Kreuzes gedacht ist. „Viele Kommissionen besahen die Fortschritte und befahlen weitere<br />

Verbesserungen oder Änderungen. Bisher hatte sich niemand darum gekümmert, wie die<br />

Menschen untergebracht waren und wie für ihre primitivsten Bedürfnisse gesorgt war. Nun<br />

wurde man von einer durch und durch verlogenen Fürsorge sozusagen überfallen.“ 56 Man<br />

pflanzt Rosenstöcke, baut einen Kinderspielplatz, repariert die Straßen, Häuser erhalten<br />

einen frischen Anstrich ...<br />

56 Ebd.,S.164.<br />

58


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Die Restaurierung und „Verschönerung“ im Ort der Qualen dient aber nicht nur dem<br />

Selbstschutz vor kritischen Rückfragen. Nochmals zeigt der Vorgang den Bezug zu einer<br />

Theater- und Filmwelt. Die Nationalsozialisten möchten auch in der Tat für interne oder<br />

externe Propagandafeldzüge einen Film über das „Paradies“ in Theresienstadt herstellen.<br />

Gipfel der Schamlosigkeit: Regie, Produktionsleitung und Darsteller sind von den<br />

Inhaftierten zu stellen. Der Titel des „Dokumentarfilms“ lautet „Der Führer schenkt den<br />

Juden eine Stadt“, ein Fragment (427 Meter) dieses beispiellosen Machwerks ist erhalten.<br />

Der Berliner Kabarettist Kurt Gerron - er spielt 1928 bei der Uraufführung der<br />

Dreigroschenoper den Tiger Brown, im Film Der blaue Engel übernimmt er die Rolle des<br />

Varieté-Direktors - hat zusammen mit dem niederländischen Zeichner Joe Spier und dem<br />

Prager Bühnenarchitekten Frantisek Zelenka die Produktion zu leiten. Das<br />

propagandistische Loblied auf das Ghetto - jedes Bild ist Pose, jedes Kommentarwort<br />

Lüge - entsteht zwischen dem 16. August und dem 11. September 1944. Nach<br />

Fertigstellung dieses Machwerks des „organisierten Wahnsinns“ 57 - man spielt Fußball,<br />

plaudert nach Feierabend, bildet sich bei Konzert und Vorträgen - vergasen die<br />

Nationalsozialisten so gut wie alle Beteiligten an diesem Film. Zwischen Fertigstellung der<br />

„Auftragsarbeit“ und Deportation liegen nach Augenzeugenberichten nur 24 Stunden. Die<br />

Künstler, Statisten und das übrige Personal beteiligen sich an dem inszenierten<br />

Schwindel, weil die trügerische Hoffnung besteht, man werde zumindest während der<br />

Dreharbeiten vor der Deportation nach Polen verschont.<br />

Im Vorzeige-Ghetto sorgen die Mörder überaus eilfertig für Kunst, Musik und<br />

Unterhaltung, ein Angebot, das immer den Doppelaspekt von ideologischer Fassade für<br />

die Bewacher und mentalem Überlebenstraining für die Häftlinge erfüllt. Auf der<br />

Schaubühne der Tyrannen spielen Opfer in Theresienstadt Sinfoniekonzerte. Es gibt<br />

Matineen mit kammermusikalischen Darbietungen; die Ghetto Swingers intonieren die<br />

ansonsten im Reich verpönten Unterhaltungsklänge aus Amerika. Angesichts der<br />

Transporte nach Auschwitz ist das Zugeständnis ein doppelbödiges und janusgesichtiges.<br />

Der Geiger, der gestern noch Mozart spielte, wird genauso abgeholt wie die Künstler der<br />

Lustigen Ghetto-Revue, die 1942 das einjährige „Jubiläum“ begehen. Im KZ spielt die<br />

Musik, gibt es Lieder-, Opern und Klavierabende. „Jüdische Komponisten“ wie Offenbach,<br />

57 Ebd., S. 180.<br />

59


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Mendelssohn oder Abraham kommen hier, höchstoffiziell genehmigt, vor der SS und den<br />

Gepeinigten zu Gehör. In Theresienstadt, im exterritorialen Bereich der Kunst, da werden<br />

gespenstische „Freikarten“ verteilt: Billetts für eine weite, fast frei anmutende<br />

Kunstausübung, verbunden mit dem tödlichen Vermerk auf der Transportliste nach<br />

Treblinka, Auschwitz oder Riga. Die Bewacher gönnen ihren Opfern gar ein „Kaffeehaus“<br />

für musikalische Darbietungen. Aber auch dieser Ort hat ein doppeltes und zynisches<br />

Gesicht: Livrierte Gefangene spielen Kellner und führen die Besucher zu den Plätzen. Es<br />

gibt Eintrittskarten, doch keine Bewirtung. Die Musik spielt auf, doch im „Kaffeehaus“ gibt<br />

es keinen Kaffee, keinen Kuchen. Alles das gehört mit zu dieser scheinbar<br />

bewirtschafteten Hölle. Fiktionen besetzen die Wirklichkeit, musische Aktivitäten, auch<br />

Aktionismus, verschleiern die Abfahrt des Güterzugs.<br />

Zeittafel<br />

1933<br />

30.1. Hitler wird Reichskanzler.<br />

27.2. Reichstagsbrand, Zerschlagung der KPD.<br />

28.2. Aufhebung der Grundrechte.<br />

März<br />

Konzentrationslager Osthofen errichtet.<br />

20.3. Konzentrationslager Dachau.<br />

23.3. Konzentrationslager Heuberg.<br />

23.3. Ermächtigungsgesetz.<br />

1.4. Boykottaktion der SA gegen Juden.<br />

2.5. Zerschlagung der Gewerkschaften.<br />

10.5. Bücherverbrennung.<br />

1.11. Konzentrationslager Oberer Kuhberg.<br />

31.12. Konzentrationslager Heuberg aufgelöst.<br />

60


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1935<br />

15.9. Die sogenannten Nürnberger Gesetze werden verabschiedet: „Gesetz zum<br />

Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“. Sie sind die Grundlage für die<br />

Ausschaltung der Juden aus allen öffentlichen Arbeitsverhältnissen.<br />

1937<br />

1.7. Martin Niemöller verhaftet.<br />

16.7. Konzentrationslager Buchenwald errichtet.<br />

1938<br />

17.8. Alle Juden müssen zusätzlich den Namen „Israel“ bzw. „Sarah“ tragen.<br />

Konzentrationslager Mauthausen errichtet.<br />

9.-10.11. „Reichskristallnacht“. Zerstörung von Synagogen, Geschäften und<br />

Wohnhäusern. Über 26000 Juden werden verhaftet. Jüdische Kinder werden fünf Tage später<br />

vom Besuch allgemeinbildender Schulen ausgeschlossen.<br />

1939<br />

30.1. Hitler verkündet vor dem Reichstag die Vernichtung der „jüdischen Rasse“.<br />

1.9. Überfall auf Polen.<br />

23.11. Das Tragendes Judenstern wird zur Pflicht im Generalgouvernement.<br />

1940<br />

30.4. Erstes Judenghetto in Lodz.<br />

20.5. Konzentrationslager Auschwitz errichtet.<br />

16.10. Errichtung des Warschauer Ghetto.<br />

22.10. Judendeportationen aus <strong>Baden</strong>, Saarland, Pfalz, Elsaß-Lothringen nach<br />

Südfrankreich (Gurs).<br />

1941<br />

61


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25.-26.2. Streiks in Holland gegen die Judenverfolgung, Konzentrationslager Natzweiler<br />

errichtet.<br />

Juni<br />

Massenmorde der SS in der Sowjetunion.<br />

13.9. Erste Vergasungen in Auschwitz.<br />

13.9. Judenstern muß auch im Reich getragen werden.<br />

10.10. Heydrich bestimmt Theresienstadt als Ghetto.<br />

1.12. Deportation württembergischer Juden nach Riga.<br />

1942<br />

20.1. Wannsee-Konferenz über die „Endlösung der Judenfrage“.<br />

18.5. Vernichtungslager Sobibor errichtet.<br />

2.6. 1. Transport deutscher Juden nach Theresienstadt.<br />

21.6. 1. Transport österreichischer Juden nach Theresienstadt.<br />

23.7. Vernichtungslager Treblinka errichtet.<br />

18.9. Gefangenenhöchstzahl in Theresienstadt: 58.491.<br />

26.10. Beginn der systematischen Transporte von Theresienstadt nach Auschwitz -<br />

insgesamt 25 mit 46.000 Menschen.<br />

1943<br />

19.4.-16.5. Aufstand und Vernichtung des Warschauer Ghettos.<br />

30.4. Bergen Belsen errichtet.<br />

24.5. Deutsche Pressevertreter besichtigen Theresienstadt.<br />

27.6. Deutsches Rotes Kreuz besucht Theresienstadt.<br />

2.8. Aufstand in Treblinka.<br />

1944<br />

Februar<br />

„Stadtverschönerung“ wird für Theresienstadt angeordnet.<br />

62


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23.6. Dänisch-schweizerische Kommission besucht Theresienstadt.<br />

20.7. Maidanek von sowjetischen Truppen befreit.<br />

20.7. Attentat auf Hitler gescheitert.<br />

1945<br />

26.1. Konzentrationslager Auschwitz befreit.<br />

11.4. Buchenwald befreit.<br />

6.4. Eine Kommission des Internationalen Roten Kreuzes besucht Theresienstadt.<br />

19.4. Dachau befreit.<br />

2.5. IRK übernimmt den Schutz des Lagers Theresienstadt.<br />

8.5. Theresienstadt wird durch die Rote Armee befreit. Bedingungslose Kapitulation.<br />

Nach den Untersuchungen von Ulrike Migdal gibt es für die Bühnen am Abgrund keinerlei<br />

Zensur: „Aus dem Bewußtsein heraus, daß dies alles Todeskandidaten seien, gab man<br />

den Gefangenen in der winzigen Frist, die ihnen noch zugestanden wurde, Narrenfreiheit.<br />

Ob sie knapp vor ihrem Tode Heine rezitierten oder Goethe, ob sie Mahler spielten oder<br />

Beethoven, war dem SS-Personal völlig gleichgültig“. 58 Was empfinden die Zuhörer, die<br />

Mozarts „Entführung aus dem Serail“ hören, Lessings „Nathan“ sehen? Man gibt Verdis<br />

„Requiem“, auch Eichmann gönnt sich die Abschweifung ins Kulturelle in Theresienstadt<br />

und ist mitten unter seinen Opfern.<br />

1942 kreiert das tschechoslowakische Svenk -Kabarett in der Sudeten-Kaserne ein Lied,<br />

das später die Bezeichnung „Theresienstädter Marsch“ erhält.<br />

58 Migdal, Ulrike, 1986, S. 31.<br />

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Alles geht, wer's versteht,<br />

Faßt an Händen euch und seht,<br />

Böser Zeit zum Trutz Humor im Herzen haben,<br />

Jeder Tag, Schlag auf Schlag,<br />

Stets die Übersiedlungsplag'<br />

Und nicht mehr als 30 Worte für den Brief.<br />

Holla, morgen fängt das Leben an,<br />

Mit ihm beginnt die Zeit<br />

Da werd'n wir uns're Ranzen packen<br />

Und nachhause gehn befreit.<br />

Alles geht, wer's versteht.<br />

Faßt an Händen euch und seht,<br />

Und auf Ghettotrümmern lachen wir uns schief. 59<br />

Deportation und letzte Fahrt schrumpfen zur „Übersiedlungsplag“. Die Angst befreit sich<br />

im Lachen auf Trümmern, die die Kabarettisten beschwören. Das Hofer-Kabarett tritt allein<br />

17 mal mit seinem Programm „Für Jugendliche verboten“ auf, die Ghetto-Swingers<br />

begleiten das Unternehmen. Die Komiker Ernst Morgan und Bobby John sind dabei, Berti<br />

Deutsch, Annie Frey und Lucie Hofer. Es gibt die Ensembles Lach mit uns, das Popper<br />

Kabarett, ein Frauenkabarett und nicht zuletzt Das Karussel unter Leitung von Kurt<br />

Gerron. Auf dieser Bühne sind die Songs aus der „Dreigroschenoper“ zu hören. Maceath<br />

trägt sein Messer im Namen der Gefangenen und rächt die Gepeinigten für Augenblicke.<br />

Der kunstvolle Protest wird nicht verboten. Die Schlächter goutieren die Kunst-<br />

Nachrichten der Opfer als prickelnde Sensation, als eine genehmigte Verschwörung, die<br />

nach Belieben beendet wird, in Polen oder durch die lapidare Erschießung in der<br />

Garnison.<br />

Dank dem lieben Cabaret<br />

59 Hippen, Reinhard, 1988, S. 178.<br />

64


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Zur tausendsten Blockveranstaltung gewidmet dem<br />

Strauß-Ensemble<br />

Hungrig sitz ich auf der Leiter –<br />

Da erklingts auf einmal heiter,<br />

Wiener Walzer, Prager Weisen<br />

Und mein Herz geht gleich auf Reisen.<br />

In den Hof hinunter rasch,<br />

Daß ich noch ein Lied erhasch<br />

Fort ist meines Hungers Weh,<br />

Dank dem lieben Cabaret.<br />

Müde komm ich und verdrossen<br />

Abends von dem Dienst zurück -<br />

Da, durchs Tor, nur halb geschlossen,<br />

Klingt entzückende Musik,<br />

Melodie auf Melodie,<br />

Dargereicht mit viel Esprit<br />

Fort ist bald des Tages Weh,<br />

Dank dem lieben Cabaret.<br />

Das sind unsre besten Truppen,<br />

Unsre braven Künstlergruppen.<br />

Durch der harten Zeiten Qual<br />

Tönt ihr Lied „Es war einmal“<br />

Und die Herzen fallen ein<br />

„Es wird wieder einmal sein“,<br />

Fort ist unsrer Sehnsucht Weh,<br />

Dank dem lieben Cabaret.<br />

Frieda Rosenthal 60<br />

60 Migdal, Ulrike, 1986, S. 70f.<br />

65


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Wir jagen die Zeit<br />

Wir jagen die Zeit,<br />

Drehen das Rad der Geschichte,<br />

Sie zieht durch Nebel<br />

Ein verwundetes Schiff.<br />

Hundert irreführende Lichter<br />

Erschweren uns den Weg.<br />

Hunderte Schwache<br />

Verlangsamen den Lauf,<br />

Das Schiff der Welt fährt<br />

Voll von Sterbenden.<br />

Das Ruder wollen wir,<br />

Wir kämpfen darum.<br />

Die morsche Welt Sträubt sich,<br />

Die Barrieren zu überwinden,<br />

Das Schiff schwankt,<br />

Die Maschine setzt aus,<br />

Die Angst vor Meuterei<br />

Baut einen Galgen am Bug,<br />

Allen den Mund stopfen<br />

Will der blutige Henker.<br />

Nur kurze Zeit habt ihr uns nicht gehört,<br />

Deshalb ist die Stimme nicht erschlafft.<br />

Das Schiff der Welt rettet<br />

Niemand vor dem Untergang<br />

Als wir und Die von uns erkämpfte Ordnung.<br />

Auf seinem Mast Hissen wir unsere Flagge.<br />

Sie können uns aufhalten,<br />

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Doch nicht bezwingen.<br />

Der Kampf hört nicht auf,<br />

Das Deck kracht unter dem Balken,<br />

Unter dem Rad der Geschichte<br />

Hat nur der Schotter geknirscht.<br />

Wir gehen von neuem,<br />

Fester und stärker,<br />

Unser Werk noch besser zu verrichten.<br />

Karel Svenk, 1942 aufgeführt im KZ Theresienstadt 61<br />

Spuk in der Kaserne<br />

In einer Stadt, von allem abgeschlossen,<br />

In einem Land, das vielen heut noch fremd,<br />

In einer Welt, in der viel Tränen flossen,<br />

In einer Zeit, die alles in uns hemmt,<br />

Erscheinen wir in festlich hellem Rahmen,<br />

Vor Ihnen, meine werten Herrn und Damen.<br />

Den jungen Menschenkindern, die sich fanden<br />

Sie zu erfreuen, sei deshalb gedankt,<br />

Sie haben selbst schon viel zu gut verstanden,<br />

Was diese Zeit und was ihr Geist verlangt.<br />

Doch mit dem Rechte ihrer jungen Jahre<br />

Erblicken sie im Frohsinn nur das Wahre.<br />

Wer wollte ihnen auch das Recht bestreiten,<br />

Zu singen und im Tanze sich zu drehn,<br />

Der vielbeliebte Hinweis auf die Zeiten<br />

61 Hippen, Reinhard, 1988, S. 181.<br />

67


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War stets bei denen nur, die abseits stehn:<br />

Es läßt sich leicht von fern mit billgen Mitteln<br />

Verständnislos an einer Leistung kritteln.<br />

Sie haben sich nach ihren Arbeitsstunden<br />

Die Lieder und die Tänze einstudiert,<br />

Und echte Freude haben sie empfunden,<br />

Als man mit ihnen dieses Spiel probiert.<br />

Was so entstand - wer wollt es kritisch trennen -,<br />

Ist das Produkt von Wollen und von Können.<br />

Sie wollen Ihnen heute gar nichts zeigen,<br />

Sie spielen für sich selbst das kleine Spiel,<br />

Sie tanzen unbeschwert den muntern Reigen,<br />

Das Publikum bekümmert sie nicht viel,<br />

Wobei Sie keineswegs vergessen wollen,<br />

Den Beifall, den so gern man hört, zu zollen.<br />

Nun wird es Nacht, es leuchten schon die Sterne,<br />

Es schläft die Stadt, fast jede Arbeit ruht,<br />

Und nur ein Scherz, ein Spuk in der Kaserne,<br />

Dringt in die Stille, voller Übermut.<br />

Es geht ein Posten pflichtgemäß die Runde,<br />

Das Spiel beginnt, es schlägt die Geisterstunde.<br />

Manfred Greiffenhagen<br />

1944 im KZ Theresienstadt vorgetragen 62<br />

Transport<br />

62 Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 3, S. 270.<br />

68


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Nach hartem Kampfe mit den Elementen<br />

War Menschengeist der stolze Sieg geglückt,<br />

Mit der Verbindung zwischen Kontinenten<br />

Hat man nicht nur Entfernung überbrückt.<br />

Man maß im scharfem Wettbewerb die Kräfte,<br />

Man exportiert und reist von Land zu Land,<br />

Und dabei blühten nicht nur die Geschäfte,<br />

Man kam sich nah und reichte sich die Hand.<br />

Transport, Transport<br />

Von Ort zu Ort,<br />

Eilen die Wagen, sausen und jagen,<br />

Ohne zu rosten, von West bis Osten,<br />

Von Süd bis Nord<br />

Transport.<br />

Es brennt die Welt, es lodern die Flammen,<br />

Darin die Erde schaurig sich erhellt,<br />

Und krachend stürzt in Rauch und Glut zusammen,<br />

Was sich der Mensch erbaut als seine Welt.<br />

Was segensreich dem Frieden konnte dienen,<br />

Gibt seine Kraft nun der Zerstörung her,<br />

Im Tempokampf der Menschen und Maschinen<br />

Erzeugt der Krieg gesteigerten Verkehr.<br />

Transport, Transport<br />

In einem fort<br />

Rollen die Wagen, donnern und tragen<br />

Millionenheere von Meer zu Meere,<br />

Leistungsrekord!<br />

Transport.<br />

Wie häufig führte man das Wort im Munde.<br />

Wie ahnungslos sprach man es vor sich hin,<br />

69


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Bis für alle kam die schwere Stunde,<br />

Da wir erfaßten seinen wahren Sinn.<br />

Man rollt die Decken, ein paar Abschiedsküsse,<br />

Ein rascher Händedruck, ein letzter Blick,<br />

Es dampft ein Zug hinaus ins Ungewisse,<br />

Und leere Schienen bleiben uns zurück.<br />

Transport, Transport, Kennst du das Wort,<br />

Kennst du die Wagen, hörst du die Klagen?<br />

Eh du begriffen, ist abgepfiffen,<br />

Und sie sind fort.<br />

Transport.<br />

Doch eines bleibt, es bleibt uns bis zum Tode,<br />

Das ist der Glaube, ihm gehört der Sieg,<br />

Einmal wird alles für uns Episode,<br />

Und einmal, einmal endet auch der Krieg.<br />

Wir fragen nicht nach Sieg und Niederlage,<br />

Wir fragen nur, wann kommt Ihr uns zurück?<br />

Wir Juden wolln den Frieden unsrer Tage<br />

Und irgendwo ein ganz bescheidenes Glück.<br />

Transport, Transport<br />

tönt's dann sofort!<br />

Wir sehen sie wieder, Schwestern und Brüder,<br />

Lachend und weinend sich wieder vereinend<br />

Am Schlußakkord<br />

Transport!!<br />

Manfred Greiffenhagen<br />

1944 im KZ Theresienstadt vorgetragen 63<br />

63 Ebd., S. 294f.<br />

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Manfred Greiffenhagen, der im Oktober 1944 nach Ausschwitz deportiert wird und<br />

schließlich im KZ Dachau ums Leben kommt, beschreibt die Intention der letzten Lieder<br />

vor dem Transport in den Tod. In Transport verweist der Autor auf eine Kunst, die nicht<br />

mehr auf das Publikum setzt. Die Gesänge im Schatten der SS und der<br />

Hinrichtungsmaschinerie sind in besonderem Maße Therapie im Dienste einer letzten<br />

Überlebensstrategie. Die Klage gegen die letzte Fahrt im Zug dient nicht mehr der<br />

Befriedigung eines satirisch disponierten Unterhaltungsbedürfnisses. Die kasernierten<br />

Opfer von Theresienstadt, Buchenwald oder Westerbork betreiben in der extremen<br />

Situation ein „psychodramatisches“ Schutztraining, das dem organisierten Wahnsinn der<br />

Bewacher mit Ernst und Würde begegnet. Wenn die unterernährten Gefangenen ein<br />

Potpourri aus dem Weißen Rössel intonieren, Villon-Balladen rezitieren oder Mozart<br />

spielen, dann sind die Artisten zugleich der Adressat. Die uniformierten Schlächter<br />

amüsieren sich an dem Spiel der Narren. Sie goutieren als wissende Bewacher die<br />

Endspiele vor Abfahrt der Viehwaggons nach Auschwitz. Ob Carmen, La Boheme, Die<br />

Fledermaus, ein Sketch oder Molieres George Dandin auf dem Programm steht, über die<br />

Gefangenen sagt dies nur wenig aus. Auch das scheinbar unverbindliche<br />

Unterhaltungslied aus Varieté und Operette rangiert in Theresienstadt in einem völlig<br />

neuen Kontext und evoziert dadurch Qualitätssprünge. Aus der belanglosen<br />

Unterhaltungskunst im bürgerlichen Rahmen entwickeln die Insassen die Kunst des<br />

Überlebens schlechthin.<br />

Hinter der blutrünstigen Haupt- und Staatsaktion von Rudolf Kalmar unter dem Titel „Die<br />

Blutnacht auf dem Schreckenstein oder Ritter Adolars Brautfahrt und ihr grausiges Ende<br />

oder Die wahre Liebe ist das nicht“ 64 verbirgt sich die historisch drapierte Abrechnung mit<br />

Adolf Hitler. Das „komisch-schaurige Ritterstück in drei Aufzügen mit Musik“ wird 1943 an<br />

sechs Wochenenden vor rund eintausend Häftlingen und „Ehrengästen“ der SS in Dachau<br />

gespielt. Den Peinigern fällt die intendierte Parodie auf den amtierenden Reichstyrannen<br />

freilich nicht auf. Die Ungeheuerlichkeit dürfen sich die Angesprochenen nicht<br />

eingestehen. Sie lachen „manchmal verlegen mit, wenn die Gefangenen lachten“, notiert<br />

der Autor in seinen Erinnerungen. 65 Erwin Geschonneck - er überlebt das<br />

64 Vgl. ebd., S. 310.<br />

65 Zitiert ebd., S. 365.<br />

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Konzentrationslager - spielt 1943 in Dachau den mythischen Blutritter Adolar. Rudolf<br />

Kalmar bemerkt zu dem Auftritt Geschonnecks vor der Wachmannschaft:<br />

„Er hielt sich in der pompösen Aufmachung seiner Raubritterrolle Wort für Wort an den<br />

genehmigten Text und vermied - wie alle übrigen Mitglieder - jedes anzügliche Extempore. Aber<br />

er betonte in seinen Tiraden die Zeitwörter gegen den inneren Sinn der jeweiligen Phrase und<br />

ritardierte komplizierte Perioden, um sie plötzlich gegen den Schluß mit dem aufgeregten<br />

Fortissimo eines wütenden Hundes herauszubellen. Anstatt Soldaten sagte er beharrlich<br />

Soldatten und unterstrich bei passendem Anlaß auch noch durch hämmernde Gesten mit<br />

geballter Faust, was ihm aus der Sprachparodie allein nicht deutlich genug zu sein schien. Der<br />

Adolar des Erwin Geschonneck war die Hitler-Persiflage einer Pfeffermühle im<br />

Konzentrationslager und wurde von den Gefangenen auch als solche erkannt.“ 66<br />

Die Zauberflöte, Aida oder das berühmte Lied der Moorsoldaten - im August 1933 ist die<br />

Uraufführung im Konzentrationslager Börgermoor im Rahmen der Kabarettveranstaltung<br />

„Zirkus Konzentrazani“, 1000 Häftlinge hören zu - markieren an diesen Stätten keinen<br />

Gegensatz zwischen erhabener Kunst und Liedgut der Unterdrückten. Im dialektischen<br />

Brückenschlag ist das Wertekorsett zwischen ernster und unterhaltlich „leichter“ Kunst im<br />

Lager aufgehoben. Die Kategorien oben und unten, bildend und erhebend, haben unter<br />

den Bedingungen der Todeslager ihre normierende Wirkung eingebüßt. Es zählt vor<br />

Abfahrt des Zuges nach Auschwitz allein die Hoffnung auf Veränderbarkeit. Die Lieder der<br />

Verzweifelten sind Klänge, die auf den neuen Morgen setzen. Resignation gibt es, aber<br />

sie hat nicht das letzte Wort. Witz und selbstkritischer Humor transzendieren das Elend,<br />

schaffen mit an einer konkreten Friedensutopie.<br />

Eines der frühesten Lieder gegen den Nazi-Terror ist aus dem Lager Heuberg in<br />

<strong>Württemberg</strong> überliefert. Das Lied entsteht 1933. Auf dem Heuberg sind vor allem<br />

Sozialdemokraten und Kommunisten festgehalten. Neben den Moorsoldaten erlangt das<br />

Dachau-Lied von Jura Soyfer große Popularität. Das Lied ist im August 1938 erstmals zu<br />

hören, geschrieben an einem schweren Arbeitstag, als der Literat und Kabarettist<br />

zusammen mit dem Komponisten Herbert Zipper in der Kiesgrube Dienst leistet. Im März<br />

1940 steht das Lied im Londoner Exil-Kabarett Laterndl auf dem Programm. Jura Soyfer<br />

stirbt im Februar 1939 im KZ Buchenwald - „Typhus“ lautete die offizielle Diagnose.<br />

66 Ebd.<br />

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Dachau-Lied<br />

Stacheldraht, mit Tod geladen,<br />

Ist um unsre Welt gespannt.<br />

Drauf ein Himmel ohne Gnaden<br />

Sendet Frost und Sonnenbrand.<br />

Fern von uns sind alle Freuden,<br />

Fern die Heimat und die Fraun,<br />

Wenn wir stumm zur Arbeit schreiten,<br />

Tausende im Morgengraun.<br />

Doch wir haben die Losung von Dachau gelernt,<br />

Und wir wurden stahlhart dabei.<br />

Bleib ein Mensch, Kamerad,<br />

Sei ein Mann, Kamerad,<br />

Mach ganze Arbeit, pack an, Kamerad:<br />

Denn Arbeit, denn Arbeit macht frei,<br />

Denn Arbeit, denn Arbeit macht frei!<br />

Vor der Mündung der Gewehre<br />

Leben wir bei Tag und Nacht.<br />

Leben wird uns hier zur Lehre,<br />

Schwerer, als wir's je gedacht.<br />

Keiner mehr zählt Tag' und Wochen,<br />

Mancher schon die Jahre nicht.<br />

Und so viele sind zerbrochen<br />

Und verloren ihr Gesicht.<br />

Doch wir haben die Losung von Dachau gelernt,<br />

Und wir wurden stahlhart dabei.<br />

Bleib ein Mensch, Kamerad,<br />

Sei ein Mann, Kamerad,<br />

Mach ganze Arbeit, pack an, Kamerad:<br />

Denn Arbeit, denn Arbeit macht frei,<br />

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Denn Arbeit, denn Arbeit macht frei!<br />

Heb den Stein und zieh den Wagen,<br />

Keine Last sei dir zu schwer.<br />

Der du warst in fernen Tagen,<br />

Bist du heut schon längst nicht mehr.<br />

Stich den Spaten in die Erde,<br />

Grab dein Mitleid tief hinein,<br />

Und im eignen Schweiße werde<br />

Selber du zu Stahl und Stein.<br />

Doch wir haben die Losung von Dachau gelernt,<br />

Und wir wurden stahlhart dabei.<br />

Bleib ein Mensch, Kamerad,<br />

Sei ein Mann, Kamerad,<br />

Mach ganze Arbeit, pack an, Kamerad:<br />

Denn Arbeit, denn Arbeit macht frei,<br />

Denn Arbeit, denn Arbeit macht frei!<br />

Einst wird die Sirene künden:<br />

Auf zum letzten Zählappel!<br />

Draußen dann, wo wir uns finden,<br />

Bist du, Kamerad, zur Stell.<br />

Hell wird uns die Freiheit lachen,<br />

Schaffen heißt's mit großem Mut.<br />

Und die Arbeit, die wir machen,<br />

Diese Arbeit, sie wird gut.<br />

Denn wir haben die Losung von Dachau gelernt,<br />

Und wir wurden stahlhart dabei.<br />

Bleib ein Mensch, Kamerad,<br />

Sei ein Mann, Kamerad,<br />

Mach ganze Arbeit, pack an, Kamerad:<br />

Denn Arbeit, denn Arbeit macht frei,<br />

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Denn Arbeit, denn Arbeit macht frei!<br />

Text Jura Soyfer, Melodie Herbert Zipper<br />

Konzentrationslager Dachau 1938 67<br />

Bertolt Brecht erinnert in seinem Gedicht „An die Nachgeborenen“ 1938 in der<br />

Svedenborger Emigration, daß der Kampf gegen die Ungerechtigkeit in der Welt die Züge<br />

der Menschen verzerre. „Auch der Haß gegen die Niedrigkeit / Verzerrt die Züge. / Auch<br />

der Zorn über das Unrecht / Macht die Stimme heiser“, heißt es dort. Jura Soyfer greift -<br />

etwa zur selben Zeit wie Brecht - das Motiv auf: Die Diktatur des Konzentrationslagers<br />

gefährdet im Kampf um das Überleben auch die Integrität und Würde der Inhaftierten. Ein<br />

von der SS installiertes Subsystem der internen Bespitzelung und Überwachung der<br />

Gefangenen untereinander - verbunden mit kurzfristigen Privilegien und vermeintlichen<br />

Vorteilen für die Blockältesten, Kolonnenführer usw. - sät Mißtrauen und Haß unter den<br />

Inhaftierten. Es gibt zahlreiche Berichte, die dieses perfide System des<br />

sozialdarwinistischen Überlebenskampfes im Konzentrationslager beschreiben. Im<br />

Vernichtungskampf der Bewacher gegen jüdische Mitbürger und andere Opfer gehört die<br />

interne Bedrohung der Gefangenen zum Kalkül der bestallten Mörder. Sich auf dieses<br />

zerstörerische Spiel nicht einzulassen, das ist die entscheidende und Mut machende<br />

Botschaft im Dachau-Lied. Wer das mörderische Spiel durchschaut, dem kann die<br />

beispiellose Provokation am Lager-Tor - „Arbeit macht frei“ - nicht mehr viel anhaben. Der<br />

bösen Einladung der Nazis zu Verstümmelung und Tod durch Arbeit wird im sarkastischen<br />

Zitat die Spitze gebrochen. Der Hohn der Schlächter wird produktiv umgemünzt, der Satz<br />

seiner Intention entkleidet und mit neuem Mut zum Leben, zum Überleben gewendet. Für<br />

ein aufatmendes Lachen lassen die Verse keinen Spielraum. Es sind kleine literarische<br />

Bojen, begründete Versprechungen für eine freilich noch uneingelöste angstfreie Zukunft<br />

ohne Gaskammern. Dort, wo satirische Brechungen durchschimmern - eher verhalten<br />

denn lautstark polternd -, gilt auch das Wort von Alfred Polgar. Er schreibt 1938: „Der<br />

rechte Satiriker zieht, was er ins Lächerliche zieht, mit dem gleichen Griff auch ins<br />

67 Soyfer, Jura, 1980, S. 246. Die Losung „Arbeit macht frei“ stand in großen Lettern über dem<br />

Eingangstor zum Konzentrationslager.<br />

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Ernstere.“ 68 Jura Soyfer zeigt zusammen mit Herbert Zipper solch ein Zusammenspiel von<br />

Spott und Nachdenklichkeit.<br />

Leo Strauß, der Sohn des Operetten-Komponisten Oscar Strauß, persifliert in<br />

Theresienstadt vor seinem Abtransport im Oktober 1944 nach Auschwitz das<br />

gespenstische Leben der Potemkinschen KZ-Garnison. Der Schrecken meldet sich<br />

verschlüsselt zu Wort, das Vertraute ist Maske, ein Spiel von Figuren und<br />

Marionetten rollt in der Garnison ab. Die unschwer zu vollziehende Dechiffrierung<br />

entlarvt ein Gemeintes als Fassaden-Wirklichkeit. Das Cafe ist eine installierte Fata<br />

Morgana, die Menschen dieser Geisterstadt bewegen sich im Irrealis, sie täuschen<br />

sich Vergangenheit und Zukunft in ungesicherten Projektionen vor. Gefährdungen,<br />

die Jura Soyfer beschrieben hat, Verlust der Mitmenschlichkeit, sie tauchen auch in<br />

diesem Chanson auf. Die Stadt ist „als ob“, die Menschen sind Opfer lancierter<br />

Gerüchte. Die Realität liegt außerhalb der Umzäunung, die Welt spult sich wie bei<br />

der Ufa in Babelsberg als Film ab. Irgendwo draußen, fern ab von der Geisterstadt<br />

Als-Ob, gibt es die geahnte Schreckensbühne. Dort gibt es Gleise, Bahnhöfe, den<br />

Prellbock, Schornsteine. Das Kabarett-Lied erlangt in Theresienstadt große<br />

Popularität und ist ein anrührendes Kabinettstück der artistischen Camouflage, der<br />

enthüllenden Aussparung.<br />

Als ob<br />

Ich kenn ein kleines Städtchen,<br />

Ein Städtchen ganz tipptopp,<br />

Ich nenn es nicht beim Namen,<br />

Ich nenns die Stadt Als-ob.<br />

Nicht alle Leute dürfen<br />

In diese Stadt hinein,<br />

Es müssen Auserwählte<br />

68 Zitiert in: Budzinski, Klaus, 1985, S. 219.<br />

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Der Als-ob-Rasse sein.<br />

Die leben dort ihr Leben,<br />

Als obs ein Leben wär,<br />

Und freun sich mit Gerüchten,<br />

Als obs die Wahrheit wär.<br />

Die Menschen auf den Straßen,<br />

Die laufen im Galopp<br />

Wenn man nichts zu tun hat,<br />

Tut man doch so als ob.<br />

Es gibt auch ein Kaffeehaus<br />

Gleich dem Cafe de l'Europe,<br />

Und bei Musikbegleitung<br />

Fühlt man sich dort als ob.<br />

Und mancher ist mit manchem<br />

Auch manchmal ziemlich grob<br />

Daheim war er kein Großer,<br />

Hier macht er so als ob.<br />

Des Morgens und des Abends<br />

Trinkt man Als-ob-Kaffee<br />

Am Samstag, ja am Samstag,<br />

Da gibts Als-ob-Haché.<br />

Man stellt sich an um Suppe,<br />

Als ob da etwas drin,<br />

Und man genießt die Dorsche<br />

Als Als-ob-Vitamin.<br />

Man legt sich auf den Boden,<br />

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Als ob das wär ein Bett,<br />

Und denkt an seine Lieben,<br />

Als ob man Nachricht hätt.<br />

Man trägt das schwere Schicksal,<br />

Als ob es nicht so schwer,<br />

Und spricht von schöner Zukunft,<br />

Als obs schon morgen wär.<br />

Leo Strauß<br />

Konzentrationslager Theresienstadt, 1943 69<br />

Karussell<br />

In den lang entschwundenen Jahren,<br />

Da wir kleine Kinder waren,<br />

Hatten wir ein Ideal.<br />

Wollt man Ruhe in der Wohnung<br />

Oder gab es als Belohnung<br />

Ein Geschenk nach unserer Wahl,<br />

Riefen alle Kinder schnell:<br />

Karussell, ach bitte, bitte, Karussell...<br />

Wir reiten auf hölzernen Pferden<br />

Und werden im Kreise gedreht.<br />

Wir sehnen uns, schwindlig zu werden,<br />

Bevor noch das Ringelspiel steht.<br />

Das ist eine seltsame Reise,<br />

Das ist eine Fahrt ohne Ziel -<br />

Wir kommen nicht fort aus dem Kreise<br />

Und dennoch erleben wir viel.<br />

69 Kühn, Kleinkunststücke, Bd. 3, S. 273f.<br />

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Und die Musik vom Leierkasten<br />

Vergessen wir im Leben nie,<br />

Wenn lang die Bilder schon verblaßten.<br />

Tönt noch im Ohr die Melodie:<br />

Wir reiten auf hölzernen Pferden<br />

Und werden im Kreise gedreht.<br />

Wenn schwindlig wir haltmachen werden,<br />

9.9.1944<br />

Sehr geehrter Herr Eppstein!<br />

Darf ich Sie daran erinnern, morgen bei der Dienststelle folgende Fragen zu klären:<br />

1. Wann können wir in C III, 105 die „Karussell“-Dekoration aufbauen.<br />

2. Wird der neue Prolog gestattet?<br />

3. Werden weiterhin gestattet: Das Kasernenlied, die 2 französischen Refrains und das neue<br />

Finale: „Ein Glück, wenn man keins hat“, dessen letzte Strophe noch nicht genehmigt ist.<br />

Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn wir morgen mittag eine Antwort bekommen könnten.<br />

Ergebenst: (gez.)<br />

Kurt Gerron 70<br />

Dann wird man erst sehn, wo man steht.<br />

Leer ist meistensteils das Leben<br />

Und erst Leidenschaften geben<br />

Seinem Ablauf Sinn und Wert.<br />

Ehrgeiz, Börse, Lotterbetten,<br />

70 Zitiert in: Hippen, Reinhard, 1988, 5.184; auch in Adler, H.G. Nachgewiesen. Gerrons Brief ist an den<br />

Judenältesten gerichtet.<br />

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Kino, Fußball, Zigaretten -<br />

Jeder hat sein Steckenpferd.<br />

Laßt uns unsre Sensation:<br />

Illusion, ach bitte, bitte, Illusion ...<br />

Wir reiten auf hölzernen Pferden<br />

Und werden im Kreise gedreht.<br />

Wir sehnen uns, schwindlig zu werden,<br />

Bevor noch das Ringelspiel steht.<br />

Das ist eine seltsame Reise,<br />

Das ist eine Fahrt ohne Ziel<br />

Wir kommen nicht fort aus dem Kreise<br />

Und dennoch erleben wir viel.<br />

Und die Musik vom Leierkasten<br />

Vergessen wir im Leben nie,<br />

Wenn lang die Bilder schon verblaßten,<br />

Tönt noch im Ohr die Melodie:<br />

Wir reiten auf hölzernen Pferden<br />

Und werden im Kreise gedreht.<br />

Wenn schwindlig wir halt machen werden,<br />

Dann wird man erst sehn, wo man steht.<br />

Menschen haben Ambitionen<br />

Selbst, wenn sie im Elend wohnen,<br />

Wollen sie was Beßres sein.<br />

Hat auch keiner was zu reden,<br />

Ist's doch ein Genuß für jeden,<br />

Mit noch Ärmeren zu schrein:<br />

Hört ihr das Gespensterlied:<br />

Unterschied, ach bitte, bitte, Unterschied...<br />

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Wir reiten auf hölzernen Pferden<br />

Und werden im Kreise gedreht.<br />

Wir sehnen uns, schwindlig zu werden,<br />

Bevor noch das Ringelspiel steht.<br />

Das ist eine seltsame Reise,<br />

Das ist eine Fahrt ohne Ziel<br />

Wir kommen nicht fort aus dem Kreise<br />

Und dennoch erleben wir viel.<br />

Und die Musik vom Leierkasten<br />

Vergessen wir im Leben nie,<br />

Wenn lang die Bilder schon verblaßten,<br />

Tönt noch im Ohr die Melodie:<br />

Wir reiten auf hölzernen Pferden<br />

Und werden im Kreise gedreht.<br />

Wenn schwindlig wir haltmachen werden,<br />

Dann wird man erst sehn, wo man steht.<br />

Leo Strauß, 1944 im KZ Theresienstadt vorgetragen 71<br />

Karussell, das anspruchvollste Kabarett in der KZ-Garnison, schart auf seinen Brettern die<br />

hellsten Köpfe, Kritiker und Künstler. Stalingrad ist längst gefallen, die Gegenoffensiven<br />

aus Ost und West rollen. Die Gefangenen in der Theresienstädter Scheinwelt ahnen von<br />

der Wende der politischen Lage nur Unbestimmtes. Leo Strauß läßt in seinem Karussell-<br />

Lied zum schaurigen und ungewissen Finale aufspielen. Hölzerne Pferde jagen die Opfer<br />

als Spielball und Marionette im Kreis.<br />

Auf dem Jahrmarkt regieren Ohnmacht und Illusion. Die Triebkräfte des Bösen, die solch<br />

mörderisches Spiel veranlassen, bleiben im dunkeln. Zum danse macabre trifft man sich<br />

im Kabarett und auf dem Rummelplatz des Leo Strauß. Er kann keine Hoffnungen<br />

machen, er weiß nicht, wie lang das Uhrwerk funktioniert. Sein Lied und Couplet über die<br />

71 Kühn, Kleinkunststücke, Bd. 3, S. 287f.; Hippen, R., 1988, S. 183f.<br />

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Gespensterstadt dient kaum der Unterhaltung. Es sind Strophen, gesungen am offenen<br />

Grab - für die Künstler, die gebetenen und ungebetenen Gäste im Saal. Im Zug nach<br />

Auschwitz hocken sie dann nebeneinander, die Sänger und Besungenen. Der letzte<br />

Transport nach Auschwitz mit 2038 Gefangenen verläßt am 28. Oktober 1944 das<br />

„Vorzeige-Ghetto“. Kurt Gerron, Leo Strauß und seine Frau Myra sind darunter, viele<br />

andere Künstler und Namenlose mit dem Stern müssen mit auf die letzte Reise nach<br />

Polen. Die Doppelgesichtigkeit in dem Wartesaal zum Tod hat Leo Strauß in dem Sketch<br />

zweier Damen - zwischen einer vermeintlich Wissenden und einer im Ghetto gerade<br />

Ankommenden - unter die Lupe genommen. Der Refrain spiegelt gestanzte NS-<br />

Propaganda und enttarnt die Sprache der Bewacher.<br />

ERSTE DAME<br />

kommt im Reisekleid<br />

mit Plaid und Vogelkäfig<br />

Ich komm grad herein vom Land,<br />

Bin hier gänzlich unbekannt,<br />

Sagen Sie mir, wo ich hier<br />

Mich am besten informier<br />

ZWEITE DAME<br />

im Putzkolonnen-Overall<br />

kehrt nachlässig die Straße<br />

Wollen Sie über mich verfügen,<br />

Steh zu Diensten mit Vergnügen,<br />

Als alter Wien-Transport<br />

Kenn ich ganz genau den Ort<br />

Theresienstadt, Theresienstadt,<br />

Ist das modernste Ghetto, das die Welt heut hat.<br />

Sagen Sie, wie kommt das bloß,<br />

Gestern noch ganz stemelos,<br />

Bin ich heute schon inmitten<br />

Lauter polnischer Semiten?<br />

Mancher, der die Nase rümpft,<br />

Will sich tarnen, wenn er schimpft,<br />

Drum frag ich ganz unverhohlen,<br />

Gehörn Sie zu den Tarnopolen?<br />

Theresienstadt, Theresienstadt,<br />

Ist das antisemitischste Ghetto, das die Welt heut hat.<br />

Ist das Klima hier gesund?<br />

Oder geht man hier zugrund?<br />

Ist das Mittagessen reichlich?<br />

Ist hier Krankheit unausweichlich?<br />

Kost ist knapp für starke Esser,<br />

Für die Kranken sorgt man besser,<br />

Will man stets gesund hier bleiben,<br />

Muß man dauernd krank sich schreiben.<br />

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ERSTE DAME<br />

ZWEITE DAME<br />

Theresienstadt, Theresienstadt,<br />

Ist das humanste Ghetto, das die Welt heut hat.<br />

Also nicht genug zum Essen.<br />

hat man uns denn ganz vergessen?<br />

Ist das meines Lebens Schluß,<br />

Daß ich hier verhungern muß?<br />

Bitte, schweigen Sie sofort!<br />

Hunger ist ein garstig Wort.<br />

Hier benennt man diese Chose<br />

Vornehm Avitaminose.<br />

Theresienstadt, Theresienstadt,<br />

Ist das vornehmste Ghetto, das die Welt heut hat.<br />

Wer besorgt mir mein Logis,<br />

Ganz bescheiden, wissen Sie,<br />

Zimmer, Küche, Kabinett,<br />

Aber ruhig, sauber, nett?<br />

Mit ein wenig Phantasie,<br />

Meine Gnädge, träumen Sie<br />

Von Zimmer, Küche, Kabinett<br />

Auf dem obern Cavalett.<br />

Theresienstadt, Theresienstadt,<br />

Ist das verträumteste Ghetto, das die Welt heut hat.<br />

Richtig, eh ich dran vergeß,<br />

Wie stehts hier mit Evening-Dress?<br />

Muß ein Mann, so möcht ich fragen,<br />

Abends einen Frack hier tragen?<br />

Meistens geht man hier salopp,<br />

Und nur manche tun als ob.<br />

Schmücken sich je nach Geschmack,<br />

Mein Mann geht hier nur als Wrack.<br />

Theresienstadt, Theresienstadt,<br />

Ist das mondänste Ghetto, das die Welt heut hat.<br />

Ich bin zwar recht abgespannt<br />

Von der Reise in dies Land,<br />

Dennoch möchte ich mich bequemen,<br />

Heute noch ein Bad zu nehmen.<br />

Gehn Sie nur direkt nach Haus,<br />

Schlafen Sie sich richtig aus,<br />

Denn die ersten Badekarten<br />

Können Sie im Mai erwarten.<br />

Theresienstadt, Theresienstadt,<br />

Ist das hygienischste Ghetto, das die Welt heut hat.<br />

Ach, noch etwas, mein Gepäck<br />

Ist zum größten Teile weg,<br />

Sagen Sie mir bitte an,<br />

Wie ichs holen lassen kann.<br />

Lassen Sie das Zeug nicht holen,<br />

Denken Sie sich, Gott befohlen,<br />

Jeder Schritt ist für die Katz,<br />

Und Sie haben doch eh kein Platz.<br />

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ERSTE DAME<br />

ZWEITE DAME<br />

Theresienstadt, Theresienstadt,<br />

Ist das kulanteste Ghetto, das die Welt heut hat.<br />

Apropos, ich möchte morgen<br />

Vogelfutter hier besorgen,<br />

Ach, mein Vogel braucht Diät,<br />

Frißt nur prima Qualität.<br />

Dafür gibts hier kein Import,<br />

Gebens rasch den Vogel fort,<br />

Wer hier einen Vogel hat,<br />

Ist Cvokárna-Kandidat.<br />

Theresienstadt, Theresienstadt,<br />

Ist das verzwockteste Ghetto, das die Welt heut hat.<br />

Sagen Sie mir noch zum Schluß,<br />

Ja, da kann man sich nur richten<br />

Was ich dringend wissen muß,<br />

Nach den neuesten Berichten.<br />

Denn ich will nach Hause schreiben. Heute hört ich beispielsweise -<br />

Wie lang werden wir hier bleiben? Musik übertönt ihre Worte<br />

Leo Strauß 72<br />

Theresienstadt, Theresienstadt,<br />

Ist das informierteste Ghetto, das die Welt heut hat!<br />

In Buchenwald, Westerbork, Dachau oder Theresienstadt singen Gefangene gegen ihre<br />

Mörder, hier dichten, tanzen und steppen sie. Es ist der historisch singuläre Versuch,<br />

unter der Herrschaft der SS sich Menschenwürde zu bewahren. Während im zerfallenden<br />

Imperium nur noch Frontkabarettisten mit ihrem fragwürdigen Durchhalte-Humor geduldet<br />

sind, intonieren die Theresienstädter Narren ihr Lied als ein vielschichtiges Couplet der<br />

Entrechteten. Komik pervertiert in Bitterkeit, Zorn über die Wächter sucht sich die<br />

Sklavensprache der Allusionen und Andeutungen. Es bedarf des gezielten Winks, des<br />

kabarettistischen Kassibers, um sich in den Kasematten von Theresienstadt zu<br />

verständigen. Erst als die verheerenden Bombennächte über Deutschland anbrechen,<br />

Hamburg, Dresden und Stuttgart in Trümmern liegen, wagen sich nach und nach aus der<br />

Asche der Städte anonyme Spötter ans Licht. Die satirischen Partisanen riskieren viel,<br />

leben aber immerhin in Freiheit. Flugblätter aus unbekannter Hand verhöhnen den „Erlaß<br />

des Führers über die Bildung des deutschen Volkssturms“ vom 25. September 1944.<br />

72 Ebd., S. 272f.<br />

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Leg weg das Strickzeug, liebe Olga,<br />

und hör auch du her, Klaus, mein Sohn;<br />

wir kämpfen nicht mehr an der Wolga,<br />

wir fechten an der Neiße schon.<br />

Vom Nil zum Rhein, vom Don zur Planke<br />

mit Sack und Pack und Flak und Pferd,<br />

welch niederschmetternder Gedanke:<br />

der Krieg ist heim ins Reich gekehrt.<br />

Wie anders kam es, als ich dachte,<br />

Schatz, reich mir deine weiße Hand,<br />

wir fahren in den Abgrund sachte<br />

und nicht mehr gegen Engeland.<br />

Nach Rache und Vergeltung lechz' ich,<br />

drum auf zum Volkssturm, lieber Klaus!<br />

Du bist erst zwölf, ich sechsundsechzig,<br />

doch sehn wir fast wie Männer aus.<br />

Und du, mein Weib - als Ehrengabe<br />

sei dir der Spaten anvertraut.<br />

O Olga, schippe, schanze, grabe,<br />

ganz Deutschland ist auf Sand gebaut.<br />

Gebiete, Teure, deinen Tränen,<br />

wenn du auf deinen Garten schaust.<br />

Ich knirsch' mit meinen letzten Zähnen<br />

und ball' vor Wut die Panzerfaust.<br />

Laßt uns die Gartentür verriegeln,<br />

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dann werfe ich mich in den Schmutz.<br />

Ich bin bereit, mich einzuigeln,<br />

Gemeinnutz geht vor Eigennutz.<br />

So wollen wir den Feind erwarten,<br />

des Führers letztes Aufgebot,<br />

durch Panzerschreck im Schrebergarten<br />

zum Reichsfamilienheldentod.<br />

Wir hissen die zerfetzten Segel<br />

und wandern froh an Hitlers Stab<br />

Mit Mann und Maus und Kind und Kegel<br />

ins Massengrab, ins Massengrab.<br />

Anonym, 1944 73<br />

Trauerarbeit und Restauration<br />

Erich Kästner gibt Nachhilfe<br />

Die Metropolen sind zertrümmert, Aufräumarbeiten in der verfilmten Propagandafeste<br />

Kolberg. Köln, Dresden, München verwüstet, apokalyptische Endzeit ohne Aussicht auf<br />

gestaltbare Zukunft. Hiroshima und Nagasaki, das sind die anderen Katastrophen und<br />

liegen weit entrückt vom deutschen Trümmerfeld. Die Sorge um das Brennholz und die<br />

Lebensmittelmarke wiegt schwer. Die Überlebenden im amputierten Reich sind mit sich<br />

selbst beschäftigt. Die Sieger schnüren das Korsett für die Besiegten. Kultur und das<br />

befreite Radio unterstehen den Kontrolloffizieren der Alliierten. Die Freiheit bemißt sich<br />

ganz selbstverständlich nach dem Freiheitsbegriff der militärischen Zensoren.<br />

Im September 1945 besteht in Hamburg das Ausgehverbot noch immer. Um 22 Uhr 30 ist<br />

Schluß der Vorstellung. In Turnhallen, die noch Fenster haben, gibt es<br />

73 Zitiert in: Dokumentation: Das Dritte Reich, Bd. 4, 1984, S. 468.<br />

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Theateraufführungen. Kirchen und Gemeindehäuser helfen im Dienste der neuen<br />

Trümmerkultur aus. Reeducation ist im Namen der ungewohnten Demokratie und der<br />

Alliierten angesetzt. Im Kino gehören Chaplins „Der große Diktator“, „Der Dritte Mann“ und<br />

Staudtes Defa-Produktion „Die Mörder sind unter uns“ zum Nachhilfeprogramm.<br />

Fragebögen über die nationalsozialistische Vergangenheit werden unters Volk gebracht.<br />

Radio und Wochenschau dokumentieren in Ton und Bild die Nürnberger Prozesse. Das<br />

Rote Kreuz fahndet nach den Verschollenen von Stalingrad. Die Opfer der<br />

Konzentrationslager, die gezeichneten Überlebenden, bleiben stumm.<br />

Sie haben keine Lobby und keine Stimme. Ein Unerschrockener, Eugen Kogon, bringt die<br />

Fratze des SS-Staats zu Papier, störend für alle Mitläufer, die von nichts gewußt haben<br />

wollen, entlarvend, aber nahezu folgenlos, für Täter, die sich bald wieder in deutsche<br />

Amtsstuben einnisten oder unter der Sonne Südamerikas ihr Heil suchen. „Mit vielen und<br />

mit Freunden zusammen hoffte ich, es werde, obschon einmalig in der Geschichte, aus<br />

kollektiver Moral Politik entstehen können. Ungeheuerlich war doch das Erlebte<br />

gewesen“ 74 , darauf setzt in der Stunde Null der Gefangene von Buchenwald und spätere<br />

Herausgeber der legendären „Frankfurter Hefte“. Viele Menschen suchen den ethischen<br />

und moralischen Aufbruch, formulieren die Utopie eines sozial verantworteten<br />

Christentums aus neuer Perspektive. Die evangelische Kirche bekennt sich im Oktober<br />

1945 beispielhaft zur geschichtlichen Schuld und Mitverantwortung im „Dritten Reich“. Aus<br />

dem Untergrund tauchen die unter dem Nationalsozialismus verfemten Dichter auf. Die<br />

Verbotenen und Illegalen von einst melden sich zu Wort. Günter Weisenbom, Carl<br />

Zuckmayer, Thomas Mann und Friedrich Wolf setzen auf die Zäsur. Der Appell an den<br />

neuen Menschen hat kein gesichertes und stabiles Forum. Das meiste bleibt im<br />

Vorläufigen. Der Applaus, wenn er denn kommt, ist eher bescheiden, und niemand schreit<br />

hurra. Die Prospekte für die Zukunft sind rar. Angst und Entsetzen sitzen noch im Nacken.<br />

Die Analyse des vergangenen Terrors ist einsamen Rufern überlassen, die das<br />

persönliche Versagen in der Vergangenheit nicht verschweigen und mit in das Kalkül des<br />

Wiederaufbaus integrieren. Die Mehrheit der Geschlagenen, die Millionen, sie schweigen<br />

indessen.<br />

74 Kogon, Eugen, 1974.<br />

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Ablenkung und Unterhaltung werden großgeschrieben, weiterhin. Erich Kästner, der<br />

„verbrannte Literat“, der sich mit Pseudonym und Glück bei der nationalsozialistischen<br />

Propagandamaschinerie der Ufa mit dem Drehbuch für Münchhausen (1942)<br />

durchmogelte, er ist jetzt im zerbombten München ein gefragter Texter für die kleinen und<br />

größeren Kabaretts. Dort kann sich literarischer Zeitgeist nach der Liszt-Fanfare im<br />

„Volksempfänger“ wieder melden. Zunächst verstohlen und zaghaft. Theateroffiziere<br />

kontrollieren den Nachkriegsspaß. Es herrscht ganz selbstverständlich und<br />

unwidersprochen Zensur im Namen der Demokratie und der Reeducation. Für drei Jahre,<br />

bis zur Währungsreform, bestimmt die Münchner Schaubude das kabarettistische<br />

Geschehen der Stadt. Im Theatersaal des Katholischen Gesellenvereins-Hauses ist am<br />

21. April 1946 Premiere.<br />

Ursula Herking, Hellmuth Krüger, Karl John und Siegfried Lowitz treten hier auf. Um den<br />

Prominenten Erich Kästner versammeln sich Axel von Ambesser und Herbert Witt. Und<br />

hier singt die vierunddreißigjährige Herking Kästners „Marschlied 1945“. Zeitzeugen<br />

berichten von der „Betroffenheit“, die das Chanson unter dem Publikum auslöst. Der<br />

Dichter, der Komponist Edmund Nick und die Interpretin bewirken in der Stunde Null die<br />

Konvergenz zwischen Publikum und Bühne. Als zerlumpte Flüchtlingsfrau, mit Rucksack<br />

und Koffer bepackt, intoniert die Kabarettistin das Lied von Niederlage und Neubeginn.<br />

Jahre später heißt es in den Memoiren: „Schon nach den ersten drei Minuten war der<br />

Kontakt da. Als ich den letzten Ton des Marschliedes gesungen hatte, sprangen die<br />

Menschen von den Sitzen, umarmten sich, schrien, manche weinten, eine kaum<br />

glaubliche ‘Erlösung’ hatte da stattgefunden. Das lag nur zum kleinen Teil an mir, es war<br />

einfach das richtige Lied, richtig formuliert, richtig gebracht, im richtigen Moment! Das<br />

kommt selten vor, ist kaum zu wiederholen.“ 75 Die Musik, eher schlicht in seiner liedhaften<br />

bis „geschlagerten“ Melodie, untermalt mit eingängigen Klangmustern den Trauermarsch<br />

der gebeutelten Flüchtlingsfrau.<br />

Marschlied 1945<br />

Prospekt: Landstraße. Zerschossener Tank im Feld. Davor junge Frau in<br />

Männerhosen und altem Mantel, mit Rucksack und zerbeultem Koffer.<br />

75 Herking, Ursula, 1973, 5.121.<br />

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1.<br />

In den letzten dreißig Wochen<br />

zog ich sehr durch Wald und Feld.<br />

Und mein Hemd ist so durchbrochen,<br />

daß man's kaum für möglich hält.<br />

Ich trag Schuhe ohne Sohlen,<br />

und der Rucksack ist mein Schrank.<br />

Meine Möbel hab'n die Polen<br />

und mein Geld die Dresdner Bank.<br />

Ohne Heimat und Verwandte,<br />

und die Stiefel ohne Glanz, -<br />

ja, das wär nun der bekannte<br />

Untergang des Abendlands!<br />

Links, zwei, drei, vier,<br />

links, zwei, drei –<br />

Hin ist hin! Was ich habe, ist allenfalls:<br />

links, zwei, drei, vier,<br />

links, zwei, drei –<br />

ich habe den Kopf, ich hab ja den Kopf<br />

noch fest auf dem Hals.<br />

2.<br />

Eine Großstadtpflanze bin ich.<br />

Keinen roten Heller wert.<br />

Weder stolz, noch hehr, noch innig,<br />

sondern höchstens umgekehrt.<br />

Freilich, als die Städte starben ...<br />

als der Himmel sie erschlug ...<br />

zwischen Stahl- und Phosphorgarben<br />

damals war'n wir gut genug.<br />

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Wenn die andern leben müßten,<br />

wie es uns sechs Jahr geschah –<br />

doch wir wollen uns nicht brüsten.<br />

Dazu ist die Brust nicht da.<br />

Links, zwei, drei, vier,<br />

links, zwei, drei –<br />

Ich hab keinen Hut.<br />

Ich hab nichts als:<br />

links, zwei, drei, vier,<br />

links, zwei, drei –<br />

ich habe den Kopf, ich hab ja den Kopf<br />

noch fest auf dem Hals!<br />

3.<br />

Ich trage Schuhe ohne Sohlen.<br />

Durch die Hose pfeift der Wind.<br />

Doch mich soll der Teufel holen,<br />

wenn ich nicht nach Hause find.<br />

In den Fenstern, die im Finstern<br />

lagen, zwinkert wieder Licht.<br />

Freilich nicht in allen Häusern.<br />

Nein, in allen wirklich nicht...<br />

Tausend Jahre sind vergangen<br />

samt der Schnurrbart-Majestät.<br />

Und nun heißt's: Von vorn anfangen!<br />

Vorwärts marsch! Sonst wird's zu spät!<br />

Links, zwei, drei, vier,<br />

links, zwei, drei –<br />

Vorwärts marsch, von der Memel bis zur Pfalz!<br />

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Spuckt in die Hand und nimmt den Koffer hoch.<br />

Links, zwei, drei, vier,<br />

links, zwei, drei –<br />

Denn wir hab'n ja den Kopf, denn wir hab'n ja den Kopf<br />

noch fest auf dem Hals!<br />

Marschiert ab.<br />

Erich Kästner, Musik von Edmund Nick vorgetragen am 21.4.1946 in<br />

der „Schaubude“ 76<br />

„Marschlied 1945“ - das ist ein eruptiver Aufschrei der Herking, der auch in dem<br />

historischen Mitschnitt deutliche Spuren der Situaton von 1946 vermittelt. Der<br />

Schulterschluß der Ausgebombten und Flüchtlinge ist hier in der Reitmorstraße möglich,<br />

weil der Texter keine unbequemen Fragen nach Schuld und Mitverantwortung stellt. Krieg<br />

und Feuerhagel sind in der Sprache von 1945/46 auch bei dem kritischen Feuilletonisten<br />

des Münchner Blattes Die Neue Zeitung ein blindes Naturereignis. Kästner beschreibt in<br />

melancholischen Chiffren die Krise der demoralisierten Nation. Einer „Schnurrbart-<br />

Majestät“ - in handlicher und faßbarer Form des Diminutivum - ist das angesprochene<br />

Publikum gefolgt. Die sprachlichen Figuren reflektieren das Entsetzen in verdaulichen<br />

Häppchen. Noch ist nicht die Zeit der Aufarbeitung, geschweige der „Bewältigung“ der<br />

Vergangenheit gekommen, auch nicht für den Kritiker Kästner. Die Trauer über den<br />

Verlust der Menschen und den Krieg ist allgemein. Der Mut für die Zukunft kommt aus der<br />

Vergangenheit, aus den Marschrhythmen, die ins Verderben geführt haben. Diese Sicht<br />

unterstellt dem Autor keinen militaristischen Gestus. Das Lied offenbart aber aus dem<br />

Abstand von nahezu fünfzig Jahren die Widersprüche und die Sprachlosigkeit gegenüber<br />

dem Elend der gerade überwundenen Diktatur. Die Flüchtlingsfrau Ursula Herking besingt<br />

mit trotziger Stimme die Leidensfähigkeit der Deutschen - ihres Publikums. Mehr noch:<br />

Die geschundenen Verlierer sind unvergleichlich, auch im Erdulden. „Wenn die andern<br />

leben müßten, wie es uns sechs Jahr geschah“, das sind Verse, die auf die besondere<br />

Leidensfähigkeit der Deutschen hinweisen. Der Verlust von Menschen, Haus und Hof hat<br />

76 Kästner, Erich, 1959, S. 49f.; Budzinski, Klaus, 1989, S. 8f.; Kühn, Kleinkunststücke, Bd. 4, S. 29f.;<br />

Kabarett 1946-1969, CD 1, Nr. 1.<br />

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auch bei Kästner (ganz konkret und wörtlich) fatale Ursachen, die außerhalb einer<br />

geschichtlichen Verantwortung liegen. Die Ursachenforschung begnügt sich hier in dem<br />

gefeierten Lied mit dem Anreißen von „deutschen“ Symptomen, beschreibt<br />

Schicksalsschläge der verhängten Art.<br />

Die Popularität des Chansons ist in diesem Sinne völlig einleuchtend, ja zwingend. Die<br />

Konvergenz von Tätern und Opfern, von Ausgebombten und Eroberern schafft nach dem<br />

Zusammenbruch dem bürgerlichen Kopf erst einmal Luft. Dabei liegt es Erich Kästner<br />

gewiß fern, die Nazis direkt oder indirekt zu exkulpieren. Das Chanson spiegelt aber<br />

gleichwohl die deutsche „Unfähigkeit zu trauern“, die von Alexander und Margarete<br />

Mitscherlich zwanzig Jahre später aufgedeckt wird. Kästners Abrechnung mit der<br />

Vergangenheit zählt fast alle Merkmale der kollektiven Entschuldung. Dazu heißt es<br />

später bei Mitscherlich: „Zu den Mitteln der Schuldleugnung gehört die seither häufig<br />

vertretene Auffassung, das Hereinbrechen einer Diktatur sei ein Naturereignis, das sich<br />

getrennt von Einzelschicksalen vorbereite und gleichsam über sie hinweggehe.“ 77<br />

Ansprechend und melodisch gestaltet, vermittelt das „Marschlied 1945“ bei aller kritischen<br />

Intention des Autors vor allem Mitleidsaffekte für verschuldetes Elend. „Links, zwei, drei,<br />

vier“ ist ein böser und ein satirischer Refrain. Er reflektiert den Weg von der Pfalz bis zur<br />

Memel und zurück. Die Parole vom Wiederaufbau („nun heißt's von vorn anfangen!“)<br />

macht dem Publikum Mut, Mut für eine ganz und gar unbestimmte Zukunft. Daß es in der<br />

Realität - bei der Wiederbewaffnung, beim Ost-West-Konflikt - unverbesserliche<br />

geschichtliche Wiederholungen geben würde, dies steht 1946 noch nicht zu vermuten. Die<br />

Ohnmacht der melancholischen - mit hinreißendem Glissando gesungen -Argumente zeigt<br />

die vage Verbindlichkeit des kritischen Kopfes.<br />

Der kabarettistische Rückspiegel ist, wenn man so will, beschlagen. Mit den<br />

unbestimmten Konturen läßt sich ein angekränkeltes Nachkriegs-Gemüt vorerst<br />

beruhigen. In dieser Verschränkung von vermeintlicher Aufklärung und objektiven<br />

Blindflecken ist die Zeitgenossenschaft des Liedes aus der Reitmorstraße begründet. Zur<br />

Stunde Null ist es das Chanson par excellence. Der „Untergang des Abendlandes“ läßt<br />

77 Mitscherlich, A. und M., 1990, S. 30.<br />

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sich damit zeittypisch verkraften, ohne bindende Versprechen für einen qualitativen<br />

Neuanfang.<br />

Doch Kästner hat gelegentlich auch einen schneidenden, ja zynischen Zungenschlag.<br />

Freilich, der kabarettistisch getrimmte Zorn unterschlägt Ursache und Wirkung, vermischt<br />

das Symptom mit dem Bedingenden. Es entsteht dadurch für den Hörer und Zuschauer<br />

ein Irrgarten der verschiedensten Befindlichkeiten. Die Wut ist ehrlich, das allgemeine<br />

Schnauben über die Missetaten - die unbenannten - ebenfalls. Die Fragen nach dem<br />

Wieso und Weshalb bleiben unbeantwortet. Die Stimmung ist schlecht und ein bißchen<br />

traurig und misanthropisch. Und weil Taten und Untaten vielleicht doch einem zirkulärem<br />

Gesetz unterliegen, deswegen gibt es aus der Sicht des berufenen Pessimisten keine<br />

Perspektive für Besserung. Die nächste Völkerschlacht ist angesagt:<br />

Wir richten Deutschland jedesmal zugrund –<br />

Und dann kommt ihr und dürft es retten.<br />

Dann schaun wir zu und schimpfen euch Verräter<br />

und spotten all der Fehler, die ihr macht.<br />

Habt ihr das Land dann wieder hochgebracht,<br />

Entsenden wir die ersten Attentäter<br />

Und werben für die nächste Völkerschlacht!<br />

Soviel für heute, alles andre später. 78<br />

Mit diesem lustvollen „moralischen Pessimismus“ bespielt die Schaubude das Münchner<br />

Publikum. Kästner setzt auf die Kritik des Eulenspiegels, auf die unbestimmte<br />

Selbstheilung durch das satirische Wort, ohne daß die Bilder und Metaphern sich<br />

analytisch und notwendig zuspitzen. Die Klage bleibt drohend und doch allgemein. Was<br />

treibt also die spitze Feder des Satirikers im Jahre 1946? Kästner: „Satiriker können nicht<br />

schweigen, weil sie Schulmeister sind. Und Schulmeister müssen schulmeistern. Ja, und<br />

im verstecktesten Winkel ihres Herzens blüht schüchtern und trotz allem Unfug der Welt<br />

die törichte, unsinnige Hoffnung, daß die Menschen vielleicht doch ein wenig, ein ganz<br />

78 Kästner, Erich, 1959, S. 104.<br />

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klein wenig besser werden könnten, wenn man sie oft genug beschimpft, bittet, beleidigt<br />

und auslacht. Satiriker sind Idealisten.” 79<br />

Demokratisch - aber wie! Spötter wider die Reaktion<br />

1947: Es ist die Geburtsstunde einiger Studentenkabaretts, des nonkonformistischen<br />

Spotts zwischen Mensa-Tischen und der Alma mater. Die Amnestierten heißt ein solcher<br />

Zusammenschluß an der Kieler Universität. Zunächst als „Reisekabarett“ mit literarischen<br />

und politischen Ambitionen gestartet, schicken sich Joachim Hackethal, Klaus Peter<br />

Schreiner, Walter Niebuhr und Ernst König an, hinter den Müll der braunen Vergangenheit<br />

und Gegenwart zu leuchten. Die Männer haben etwas zu sagen, es gibt auch reichlich zu<br />

beklagen. Den Namen legen sich die akademischen Kabarettisten in direkter Anspielung<br />

auf einem Erlaß der Alliierten zu: Diese verfügen im Sinne der bürokratischen<br />

Vereinfachung bei der „Entnazifizierung“ erst einmal, jeder habe als unbescholten und<br />

unbelastet zu gelten, der nach 1919 geboren ist. Auch das erfüllt den Tatbestand der<br />

„Gnade der späten Geburt“, ein Vorzug, von dem Jahrzehnte später der erste pfälzische<br />

Bundeskanzler mit Nachdruck sprechen wird. Das Eingangslied der Amnestierten - sie<br />

singen es in Cambridge und London, in Basel und in Skandinavien - kündet davon.<br />

700.000 Reisekilometer legen die Kabarettisten bis zum Aus im Juni 1965 in Berlin<br />

zurück.<br />

Song der Amnestierten<br />

Unbelastet,<br />

Doch betroffen<br />

Von den letzten tausend Jahren,<br />

Hat man uns amnestiert,<br />

Doch die Deutschen<br />

79 Ebd., S. 489.<br />

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Nur die Deutschen?<br />

Sind von Nöten und Gefahren<br />

Immer noch nicht ganz kuriert.<br />

Wir können heute leicht begreifen,<br />

Was damals nicht ganz richtig war.<br />

Doch warum in die Ferne schweifen?<br />

Seht, das Übel liegt so nah!<br />

Man könnte alles auch ganz anders seh'n<br />

Was nützen Ideale, wenn andre drauf spazierengehen?<br />

Mit Witz allein ist es noch nicht getan!<br />

Noch ist es Zeit zur Therapie, -<br />

Aber höchste Eisenbahn<br />

Joachim Hackethal, 1947 80<br />

Immer wieder greift die Obrigkeit in das Kabarettgeschehen ein. Im April 1948 verbietet<br />

ein britischer Theateroffizier wegen einer pointierten Hitler-Szene das Programm. Günter<br />

Neumann, Chef der Insulaner in Berlin, übt in seinem Programm heftige Kritik an den<br />

sozialistisch angehauchten Nestbeschmutzern, und der VDS, der Verband Deutscher<br />

Studentenschaften, schließt Die Amnestierten 1950 aus dem Dachverband aus. Man<br />

untersagt den Profis von studentischer Seite das werbewirksame Attribut<br />

„Studentenkabarett“. Doch die eher kleinkarierten Nadelstiche lähmen die Arbeit der<br />

Truppe nicht, sie sind Teil eines realsatirischen Aspekts und künden von der Permanenz<br />

des zensorischen Kulturbetriebs, von einem verwalteten Kabarett, das sich der<br />

verschiedensten Zugriffe erwehrt.<br />

Ein Schuster, namens Krause, vergegenwärtigt bei den Amnestierten, im Wechsel mit<br />

einem „Zeit-Chor“, das Elend der Kriege. Der Krieg ist zum beklagenswerten<br />

Weltenschicksal verkommen, er kann wiederkehren. Der makabre Vergleich zwischen<br />

den Gliedern Krieg und Leben/ Prothese und Bein verrät die kritische Distanz zur<br />

Zeitgeschichte. Wie bei Erich Kästner bleibt es jedoch bei der allgemeinen Klage, die<br />

80 Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 4, S. 95; Kabarett 1946-1969, CD 1, Nr. 8.<br />

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Ursachenforschung findet nicht statt. Der Text besagt, daß Krieg eine allemal<br />

„scheußliche Geschichte“ ist, mit der der Zuhörer dem Grunde nach nichts zu tun hat. „Die<br />

da oben“ haben das Elend ausgelöst, die andern haben es über sich ergehen lassen. Hier<br />

sind bereits viele Muster des Verdrängens und Vergessens angelegt. Es fehlt an einem<br />

analytischen Zugriff, an einer differenzierten Sprache und klarer Bildlichkeit. Immerhin, der<br />

Tod ist als numerische Größe aufgelistet. Im Namen der Militärs hat man bombardiert,<br />

präsentiert und liquidiert. Doch die Kritik nimmt sich aus heutiger Sicht eigentümlich<br />

kraftlos und unverbindlich aus. Die Szene bleibt - und das ist allemal zeittypisch für das<br />

Kabarett in Trümmern - im geschichtslosen Raum haften, auch wenn die Zahl der Toten<br />

von Weltkrieg zu Weltkrieg beträchtlich angewachsen ist. Krieg, das ist bei den<br />

Amnestierten zunächst ein unvermeidliches Desaster, aber nicht jede Kugel hat getroffen.<br />

Was gestern war, kann morgen wieder kommen, so lautet die triste Botschaft. Es ist ein<br />

Song der linken Melancholie, wie Walter Benjamin es für den Fall Erich Kästner<br />

beschrieben hat. Die Betrachtung des Reisekabaretts schafft immerhin ein wenig Luft fürs<br />

Überleben und das Arrangement mit dem Status quo.<br />

Kriege wird es immer geben<br />

Kriege werden immer sein.<br />

Denn der Krieg gehört zum Leben,<br />

wie die Prothese zu dem Bein!<br />

Stimmen:<br />

Präsentieren, schwadronieren<br />

bombardieren, liquidieren,<br />

triumphieren, salutieren,<br />

internieren und erfrieren,<br />

Kampf für kommende Generationen,<br />

Volkssturm, Kapitulationen,<br />

Massenaufgebote!<br />

Krause:<br />

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Für 1914-1918:<br />

Zwei Millionen Tote!<br />

Für 1939-1945:<br />

Zehn Millionen Tote!<br />

So spielt man mit uns Heldenspiel,<br />

mal unten und mal oben.<br />

Die Regel ist nur zu bekannt,<br />

Gewinne stellt das Vaterland,<br />

man wird von selbst geschoben.<br />

Chor:<br />

Ein Volk von Spielern steht bereit.<br />

Entscheidend ist Geschicklichkeit.<br />

Der Einsatz ist gegeben:<br />

Er kostet nur das Leben!<br />

Krause:<br />

Na, eben!<br />

Die Amnestierten 81<br />

Im Kabarett der Stunde Null ist der Blick auf die Mittäterschaft im „Dritten Reich“ ein<br />

vermittelter. Das Klaglied über die Vermißten und Toten mündet oft in psychoanalytisch<br />

begründeter Entschuldung des eigenen Mittuns. Das Böse und die Verbrechen, das<br />

betrifft die „anderen“, verschmilzt zu einem Parameter, der als Selbstschutz außerhalb der<br />

persönlichen Einflußsphäre steht.<br />

Wo das Kabarett sich verantwortlich artikuliert, das plätschernde Gleichmaß der<br />

Unterhaltung meidet, da ist auch die beherzte Abrechnung mit den neofaschistischen<br />

Tendenzen, mit dem Tschingderrassabumm der Ewiggestrigen und den restaurativen<br />

Strömungen in der neuen Republik zu entdecken. Die Hinterbliebenen, das<br />

vagabundierende Reisekabarett aus Bad Reichenhall, erinnert in einem entsprechenden<br />

81 Zitiert in: Budzinski, Klaus, Die öffentlichen Spaßmacher, 1966, S. 33f.<br />

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Lied an den Fall Veit Harlan, den Regisseur der perfiden Propandafilme vor 1945, an die<br />

Riege der Film- und Theaterprominenz, die Stehaufmännchen, die mit der Nachsicht einer<br />

einäugigen Nachkriegsjustiz rechnen können. Ernst Leopold Stahl begeistert sich in der<br />

Zeitschrift Die Quelle über den Biß der Kabarettisten und bemerkt:<br />

„Man muß sich vorstellen, was es heißt: man führt uns zwei Stunden lang in der künstlerischen<br />

Übertreibung von Parodie und Satire Vorgänge und Tatbestände vor, von denen jeder ohne<br />

Ausnahme zum Heulen ist. Man bagatellisiert sie nicht, beschönigt nichts und schont niemanden<br />

und vermag doch mit einem tollen Galgenhumor eine Wirkung zu erzielen, die zugleich nach<br />

außen höchst heiter und nach innen tief ernst, will sagen nachdenklich stimmt. Das ist, mit zwei<br />

Worten, Aristophanisches Theater.(...) Auf einer über die Parteipolitik erhobenen Ebene<br />

geschieht eine demokratische Aufklärung und Erziehung des Volkes, die bisher in Deutschland<br />

von keiner Stelle aus wirkungsvoller, gescheiter, phantasiebegabter und unterhaltender<br />

durchgeführt worden ist.“ 82<br />

Mit schwarzen Zylindern und violetten Mänteln ausstaffiert, verspotten die Künstler - sie<br />

verstehen sich als kabarettistisches Gesinnungskollektiv - den politischen und kulturellen<br />

Morast, den Sieger und Besiegte in großer Einmütigkeit pflegen.<br />

Die pädagogischen Moralisten erinnern und ziehen auf ihrer Bühne zur Verantwortung.<br />

Die braunen VIPs aus der Vergangenheit, die prominenten Mitläufer, die unter der Diktatur<br />

Kasse gemacht und von den Segnungen des Hakenkreuzes bestens gelebt haben, sie<br />

geben reichlich Stoff zum Lachen und Nachdenken.<br />

Schüttelgereimte Conférence<br />

Es geht ja schon vorwärts, im vierten Gang:<br />

Spruchkammern gehn auf Privilegiertenfang.<br />

Und die Bühnenwelt fühlt sich genesen:<br />

Was? Schauspieler Nazis? Nie gewesen!<br />

Man bat, daß die Kammer sich laß erweichen -<br />

Und Frau Söderbaum spielt wieder Reichswasserleichen,<br />

82 Stahl, Ernst Leopold, 1948, S. 118.<br />

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Weil ihr Hermann einmal den Eh'ring gab,<br />

Lehnt doch keiner die Emmy Göring ab,<br />

Herr Krauss wird in Braus und Saus gegrüßt,<br />

Weil die bittersten Zeit uns Herr Krauss „gesüßt“.<br />

Es schöß wohl nur, wer ein Quängler war,<br />

Gegen Furtsbusch und Knappertswängler quer;<br />

Und wenn Zeugen sich wegen Herrn Wiemanns regen<br />

Auch Heinz Rühmanns und Johannes Riemanns wegen,<br />

Und wenn wieder Theater haben die Gründgens,<br />

Dann beweist das: hier liegen's begraben, die Hündgens!<br />

Doch da schon der alte Lärm anhebt,<br />

Auch wenn nicht mehr der wackere Hermann lebt,<br />

Da, um uns vor östlicher Macht zu beschützen,<br />

Schon der Ami beginnt, unsern Schacht zu benützen,<br />

Da es Männer schon gibt mit Verstümmlerhirnen<br />

Hinter den markigen Himmlerstirnen,<br />

Und da schon Demokraten wie Hitler schalten,<br />

Kann getrost seinen Mund jetzt der Schüttler halten!!<br />

Hermann Mostar 83<br />

Die kabarettistischen Attacken der Hinterbliebenen bleiben bis zu ihrem Abschied 1949<br />

leidenschaftlich und scharf. Sie haben beileibe nichts von der Betulichkeit, die der<br />

Kabarett-Direktor in Wolfgang Borcherts Hörspiel und Theaterstück „Draußen vor der Tür“<br />

(1947) anmahnt. Die Radio- und Bühnenfigur verlangt die wohlfeile Unterhaltung für das<br />

Publikum. Begriffe wie Kultur, Wahrheit und Schönheit dienen im Diskurs über die Qualität<br />

der kleinen Bretterkunst meist als Totschlag-Argumente der Obrigkeit und sind gegen das<br />

freie Wort gerichtet. Der CSU-Kultusminister Alois Hundhammer attackiert im Münchner<br />

83 Zitiert in: Greul, Heinz, 1967, S. 385. Kristina Söderbaum war die Frau von NS-Regisseur Veit Harlan und<br />

spielte in zahlreichen Propagandafilmen mit, aufgrund melodramatischer Rollen auch<br />

„Reichswasserleiche“ genannt. Werner Krauss spielte in „Jud Süß“ die Hauptrolle. „Furtsbusch“ und<br />

„Knappertswängler“ zielt auf die Dirigenten Furtwängler und Knappertsbusch. Sie hofierten das NS-<br />

System mehr oder minder offen. Auch Rühmanns Verhältnis zum NS-Staat ist zwiespältig. Er trennte sich<br />

von seiner jüdischen Frau und ließ sich für die Propaganda im Film einspannen. Hjalmar Schacht war<br />

enger Wirtschaftsberater Hitlers, im Nürnberger Prozeß 1946 dann freigesprochen.<br />

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Mittag (25.7.47) Die Amnestierten als „Kulturschande“. Die Kieler Narren prangern die<br />

selektive Flüchtlingspolitik des Ministers respektlos an und verlieren das Wohlwollen des<br />

Politikers.<br />

Flüchtlinge können jetzt<br />

das bayerische Bürgerrecht erwerben.<br />

Auf zwei Arten,<br />

durch Auswandern<br />

oder durch Sterben. 84<br />

Der Krieg ist vorbei, Frieden eine ungesicherte Vision, und das militärische Denken ist<br />

keineswegs ausgerottet. Günter Neumann, der gelehrige Schüler des Werner Finck,<br />

verlacht in einer Kabarett-Revue mit dem Titel „Schwarzer Jahrmarkt“ den Militarismus,<br />

angereichert mit den „schmissigen“ Klängen der „Alten Kameraden“, Neumann, den<br />

später die Kritik „Frontkämpfer des Kalten Krieges“ tituliert, er findet im Umfeld des<br />

Kabaret Ulenspiegel zu einer kritischen Diktion und rundet die jüngste deutsche<br />

Zeitgeschichte zu einen packenden Panorama. Straßennamen stehen für Fakten<br />

zwischen Monarchie, Republik und Diktatur, und die Marschmusik, das klingende Spiel,<br />

schafft jene einfühlende Emotionalität, mit der sich die Kriegssehnsucht eines Offiziers<br />

desavouieren läßt. Der verknöcherte Militarist, er träumt gar vom Weltkrieg Nummer drei,<br />

er ist dem Spott preisgegeben und darf auf ein beifälliges Publikum rechnen. Im<br />

bloßstellenden Lachen wird seine unverbesserliche Sehnsucht nach Krieg symbolisch<br />

„vernichtet“, während der ängstliche Budenbesitzer in unschlüssiger Kumpanei auch die<br />

objektive Unsicherheit vieler aus dem Saal reflektiert. 15. Dezember 1947,<br />

Nürnbergerstraße 50 in West-Berlin, „Schwarzer Jahrmarkt“ im Ulenspiegel:<br />

Alte Kameraden<br />

Offizier (in Zivil mit Ledermantel und Schlapphut):<br />

84 Zitiert in: Greul, H., 1967, S. 384.<br />

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Saren Se ma - jibt's denn hier keene Schießbude? Man kommt ja ganz aus der Übung!<br />

Budenbesitzer:<br />

Schießbude is hier, mein Herr. Aber Schießen is nich mehr.<br />

Offizier:<br />

Nanu? Muß doch aber irjend'n Ersatz dafür jeben?<br />

Budenbesitzer:<br />

Sie können was einschmeißen. Sie kriegen 'ne Stoffkugel und töppern leere Konservenbüchsen<br />

runter. Macht auch ganz schön Krach.<br />

Offizier:<br />

Na ja - aber der richtije Jenuß isses nich!<br />

Budenbesitzer (mit leuchtenden Augen):<br />

Nee, Herr Oberstleutnant!<br />

Offizier (peinlich berührt): Sie kenn' mich?<br />

Budenbesitzer:<br />

Jawoll, Herr Oberstleutnant!<br />

Offizier:<br />

Rühren! Wo jedient?<br />

Budenbesitzer:<br />

In Ihrem Rrrrrrrement, Herr Oberstleutnant!<br />

Offzier:<br />

Rühren! Tja, soweit sind wir also jekommen. Nich mal jeschossen darf mehr werden. Und so<br />

was nennt sich nu Volksbelustigung! (Singt nach den Melodien des Marsches „Alte<br />

Kameraden“:)<br />

Ein Jewehr<br />

ham wir leider heut nich' mehr,<br />

und wir schmeißen doch die Flinte nich' ins Korn!<br />

Budenbesitzer:<br />

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Jawoll, Herr Oberstleutnant<br />

Offizier:<br />

Zwei, drei Zeil'n,<br />

und wir wer'n zur Fahne eil'n,<br />

janz ejal zu welcher, und bejinn'von vorn!<br />

Budenbesitzer:<br />

Jawoll, Herr Oberstleutnant!<br />

Offzier:<br />

Wort wie<br />

LKW und PKW,<br />

Dienstbefehl und Einsatz sind noch nich' entfernt!<br />

Budenbesitzer:<br />

Jawoll, Herr Oberstleutnant!<br />

Offizier:<br />

Noch sind wir schwach nich' jeworden,<br />

noch sind die Tage der Orden,<br />

wir stehn ohne Jewähr bei Fuß,<br />

jelernt is jelemt!<br />

(Er flaniert nach alter Operettenart grüßend über die Bühne:)<br />

Noch jibt's den<br />

Kaiserplatz, Wilhelmplatz, Lützowplatz, Herrmannplatz<br />

Kronprinzenallee!<br />

Kaiserdamm, Preußenpark, Friedrichstadt, Bismarckplatz<br />

und den Schlachtensee,<br />

noch jibt's die<br />

Kanonierstraße, die Jrenadierstraße,<br />

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den Hohenzollemplatz!<br />

Da komm'se wieder an<br />

mit Stresemann,<br />

alles für die Katz!<br />

Augen gradeaus!<br />

(Er legt Hut und Mantel ab. Darunter kommen Pickelhaube und ordenschwere Litewka zum<br />

Vorschein. Er klimpert mit den Orden und beginnt wie ein Irrsinniger im Stechschritt auf der<br />

Stelle zu marschieren.)<br />

Unsre Zeit is' nich' vorbei!<br />

Budenbesitzer (besorgt):<br />

Sei'n Se doch bloß vorsichtig!<br />

Offizier:<br />

Wir sind noch da wie einst im Mai!<br />

Budenbesitzer:<br />

Sei'n Se doch bloß vorsichtig!<br />

Offizier:<br />

Erst kam Weltkrieg eins und zwei<br />

Budenbesitzer:<br />

Sei'n Se doch bloß vorsichtig!<br />

Offizier:<br />

Doch aller juten Dinge sind drei!<br />

Budenbesitzer:<br />

Sei'n Se doch bloß vorsichtig!<br />

Offizier:<br />

Demokratie - janz jut und schön,<br />

Budenbesitzer:<br />

Sei'n Se doch - ach was! (Er marschiert begeistert mit.)<br />

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Offizier:<br />

Bloß 'n Führer müßte oben stehn!<br />

Was fängt man an<br />

als deutscher Mann,<br />

solang' man keinem treu jehorchen kann!<br />

Günter Neumann, 1947 85<br />

Am 30. September 1946 enden die Nürnberger Prozesse, der „größte“ Strafprozeß der<br />

Geschichte, wie die Alliierten betonen. Doch die zwölf Todesurteile bemänteln letztlich die<br />

gescheiterte „Denazification“- so der englische Begriff-, das große juristische Aufräumen<br />

mit der Vergangenheit. Bis Ende 1949 finden 2,5 Millionen Überprüfungen durch die<br />

zuständigen Spruchkammern in den drei Westzonen statt. 1,4% der Überprüften<br />

rangieren als „Hauptschuldige“ oder „Belastete“, 9,4% als „Minderbelastete. 54 % der<br />

untersuchten Fälle erhalten den Stempel „Mitläufer“ und nicht einmal 0,6 Prozent gelten<br />

als zweifelsfrei „entlastet“, als Gegner des Naziregimes. Trotz des gewaltigen<br />

publizistischen Aufwands, mit dem die Prozesse aufgerollt werden, ist das Trommelfeuer<br />

der Presse und Justiz bei der „Aufarbeitung“ von zweifelhaftem Erfolg gekrönt. Die Richter<br />

des „Dritten Reiches“ bleiben gänzlich ungeschoren und haben schon nach wenigen<br />

Jahren ihre Schäfchen wieder im Trockenen. Die Herren Globke, Kiesinger, Filbinger oder<br />

auch Gerstenmaier, sie alle demonstrieren mit Geschick und Raffinement, wie sich<br />

Karrieren trotz brauner Vergangenheit mühelos wieder planen und einrichten lassen. 86<br />

Und wenn, Jahrzehnte später die „Großkopfeten“ dann doch ein später politischer Sturz<br />

ereilt, dann haben die Täter und ehemaligen Blutrichter in aller Regel, wie einst die<br />

Nomenklatura im Nürnberger Gerichtssaal oder, später, die Stasi-Schergen und<br />

Mauerschützen, ein schlechtes Gedächtnis.<br />

Der Kabarett-Autor Horst Lommer beschreibt die Nürnberger Vergeßlichkeit, die<br />

retrograde Amnesie der Nazi-Größen vor den Schranken des Gerichts, und Hellmuth<br />

85 Kabarett 1946-1969, CD1, Nr.5; Text in:Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 4, l0lf.<br />

86 Vgl. Hafner, Georg M., Jacoby, Edmund, 1992.<br />

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Krüger vom Ulenspiegel sinniert über die Schuldfrage, über die Strategien der<br />

Exkulpierung der eigenen Mittäterschaft.<br />

Nürnberger Betrachtungen<br />

Ich wandle wie im Traum einher,<br />

Der Paralyse streb' ich zu,<br />

Ich habe kein Gedächtnis mehr,<br />

Das wirkt wie ein Theatercoup.<br />

Ich sitze auf dem Sünderstuhl<br />

Als Primadonna der Idee,<br />

Ich weiß nicht, bin ich somnambul?<br />

Bin ich Prophet? Bin ich Premier?<br />

Wußt' ich als Hitlers rechte Hand<br />

Nicht recht, was seine linke tat?<br />

War ich Trabant, war ich Garant,<br />

War ich Infant im Führerstaat?<br />

Nach allem, was ich letztlich las,<br />

Ist mir die Politik ein Graus.<br />

Nur eine Politik macht Spaß,<br />

Die Politik des Vogel Strauß.<br />

Ach, litte doch die ganze Welt<br />

An Rudolf-Heß-Gedächtnisschwund,<br />

Dann wär es wohl um mich bestellt,<br />

Zur Klage hätte keiner Grund.<br />

Und keiner käm' mir auf die Spur,<br />

Ich schwebte durch das Weltgericht<br />

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Und blühte auf der deutschen Flur<br />

Als herziges Vergißmeinnicht.<br />

Horst Lommer 1946 87<br />

Die Schuld<br />

Einer muß die Schuld daran doch tragen,<br />

Daß uns heute so die Schuld bedrückt,<br />

Und wir wollen darum nicht verzagen,<br />

Bis es ihn zu fnden uns geglückt.<br />

War es Bismarck, der uns falsch geleitet?<br />

Hat der Alte Fritz uns so versaut?<br />

War es Nietzsche, der uns also zubereitet?<br />

Hat uns Hegel das Gehirn verhaut?<br />

Sind es die Gebrüder Grimm gewesen,<br />

Deren Märchen Grausamkeit durchzieht?<br />

Oder haben wir zu lang gelesen<br />

In dem bösen Nibelungenlied?<br />

Sicher werden wir den Kerl noch finden,<br />

Also wappnen wir uns mit Geduld!<br />

Sind es nicht die alten Adams Sünden,<br />

Sind zum Schlusse doch die Radfahrer dran schuld.<br />

Heldmuth Krüger, 1947 88<br />

In einem dadaistischen Kabinettstück analysiert Fritz Winterling die Kunst des<br />

Verdrängens und Abschiebens. Der Tod ist ein Meister aus Deutschland, und die Mörder<br />

87 Hoche, Karl, 1984, S 47f.<br />

88 Ebd., S. 46f.<br />

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sind mitten unter uns. Bei den kleinen Schiebern ist das geradeso wie bei den großen aus<br />

der Politik.<br />

Du<br />

mir.-<br />

Ich<br />

dir.-<br />

Schwer!<br />

Her!<br />

Nein!!<br />

mein!-<br />

Schuft!<br />

Luft!!!---<br />

tot?<br />

tot!<br />

-<br />

-<br />

Mord!<br />

fort!!!<br />

Fritz Winterding 1947 89<br />

Das Kabarett, das aus der Kälte kam - Die Insulaner im Kampfanzug<br />

Die Geburtsstunde der lnsulaner, des West-Berliner Rundfunkkabaretts, fällt unmittelbar in<br />

den Zeitraum der Berlinkrise und der Blockade der Stadt durch die sowjetischen<br />

Besatzungsmächte. Am 24. Juni 1948 kommt der gesamte Interzonenverkehr zum<br />

Stillstand. Als Antwort auf die Bedrohung des westlichen Sektors der Frontstadt richten<br />

die Westalliierten die legendäre Luftbrücke mit den „Rosinenbombern“ ein. General Lucius<br />

89 Zitiert in: Hoche, Karl, 1984, S. 22.<br />

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Clay, Militärgouverneur im amerikanischen Sektor der gespaltenen Metropole, macht ein<br />

Bekenntnis: „Wir haben die Tschechoslowakei verloren. Norwegen ist bedroht, in Italien<br />

bereiten sich entscheidende Wahlen vor. Geben wir Berlin auf, dann ist Westdeutschland<br />

verloren. Wenn wir Europa gegen den Kommunismus verteidigen wollen, müssen wir<br />

durchhalten.“ 90<br />

Dieser politischen Einschätzung ist auch Günter Neumann, der Gründer der Radio-<br />

Insulaner, weitgehend verpflichtet. Zunächst erscheint nur das gedruckte Insulaner-<br />

Magazin, eine Satirezeitschrift, die sich bis zur Währungsreform beim Publikum<br />

behauptet. Herbert Sandberg fungiert als Chefredakteur, setzt sich dann aber in den<br />

Osten der Stadt ab. Günter Neumann kann dank gefestigter Verbindungen zum alliierten<br />

Radiosender RIAS 91 ein erstes Konzept für ein Radio-Kabarett anbieten. Geplant ist in<br />

aller Bescheidenheit nur eine Sendung zum Weihnachtsfest am 25. Dezember 1948.<br />

Doch es kommt in der Folge ganz anders. Der durchschlagende Erfolg der Kabarettisten<br />

ermöglicht von 1948 bis 1968 über 150 Radio-Inszenierungen. Erst das aufkommende<br />

Fernsehen Ende der fünfziger Jahre, aber auch die veränderte politische Landschaft in<br />

den sechziger Jahren in Berlin, die außerparlamentarische Opposition,<br />

Antiamerikanismus und Vietnam-Trauma bei der jungen Generation, verändern die<br />

Rezeptionsbedingungen für Neumanns Truppe entscheidend - und zu seinen Ungunsten.<br />

Mit den Protagonisten Tatjana Sais, Edith Schollwer, Rita Paul, Agnes Windeck, Joe<br />

Furtner, Bruno Fritz, Walter Gross und Ewald Wenck tingeln die Sänger im Namen der<br />

westlichen Freiheitsvorstellung in die Schweiz und nach Luxemburg. Der kalte Wind der<br />

Konfrontation zwischen Ost und West, das Säbelgerassel der Herren Stalin, Wilhem<br />

Pieck, Harry S. Truman, des Kanzlers am fernen Rhein, dienen als fruchtbarer Grund, auf<br />

dem der durchschlagende Erfolg der trutzigen Adenauer-Barden wurzelt. Ihre<br />

Erkennungsmelodie, das Lied der Insulaner, ist nicht nur eine patriotische Liebeserklärung<br />

an den Westen, in Sonderheit an die Schutzmacht Amerika. Die Komposition ist eine<br />

Reverenz an die swingende Liedtradition der Freunde aus den Staaten, an den<br />

süßlichverkitschten Sound der Andrew Sisters. Der angeschlagene Ton referiert ganz<br />

unverstellt das unter der jungen Generation beliebte AFN-Programm, Klänge, die nach<br />

90 Clay, Lucius, zitiert in: Zentner, Christian, 1984, S. 63<br />

91 d.i.: Radio im amerikanischen Sektor (RIAS).<br />

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dem Überdruß des <strong>Baden</strong>weiler-Marsches ein neues Kulturverständnis - auch den Protest<br />

gegen die braune Tradition versprechen. Amerikanisches ist in, mindestens im belagerten<br />

Berlin. Die erhaltenen Aufnahmen der Erkennungsmelodie von Günter Neumann und<br />

seinen Insulanern sind kostbare „Zeitmarken“.<br />

Der Insulaner<br />

Es liegt eine Insel im roten Meer, und die Insel heißt Berlin.<br />

Der Osten ist nah, und der Westen ist fern,<br />

und manch Flugzeug dröhnt durch die Nacht,<br />

und wacht man dann auf, ham verärgerte Herrn<br />

sich was Neues ausgedacht.<br />

Wir woll'n unter fremdes Joch nicht,<br />

trotz Drohungen und trotz Atom.<br />

Wir bleiben auf dem Teppich,<br />

und noch nich kriegen se uns auf den Boom!<br />

Der Insulaner verliert die Ruhe nich,<br />

der Insulaner liebt keen Jetue nich!<br />

Und brumm' des Nachts auch laut die viermotor’ jen Schwärme,<br />

det is Musik für unser Ohr,<br />

wer red't vom Lärme?<br />

Der Insulaner träumt lächelnd wunderschön,<br />

daß wieder Licht ist, und alle Züge geh'n!<br />

Der Insulaner hofft unbeirrt,<br />

daß seine Insel wieder'n schönes Festland wird –<br />

Ach, wär das schön!<br />

Günter Neumann, 1948 92<br />

92 Kabarett 1946-1969, CD 1, Nr. 7; vgl. Sweringen, van Bryan T., 1989, S. 137.<br />

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Günter Neumanns Kabarettist eindeutig und unmißverständlich parteilich und etabliert<br />

(unterhaltlich) den ideologischen Konsens im Kampf gegen alles, was nur den Anschein<br />

von Sozialismus und Kommunismus im Panier mit sich führt. Das verzerrte Bild über den<br />

Feind im Osten, das Klaglied über die gemutmaßte Gewaltbereitschaft aller Kommunisten<br />

dieser Welt, perpetuiert die alten Urteile und Vorurteile, die während der faschistischen<br />

Diktatur das Propagandaministerium und seine Unterabteilungen verbreiten. West-Berlin<br />

ist in der Tat bedroht und abgeschnürt. Das Überleben in der Frontstadt können demnach<br />

nur die Alliierten sichern. Im Gegensatz zu den kabarettistischen Entwicklungen in der<br />

Bundesrepublik und der oft kritischen und oppositionellen Grundhaltung gegenüber der<br />

Regierung zeigt sich Günter Neumann dem neuen amerikanischen Denken und damit der<br />

Westpolitik, letztlich auch der Kommunisten-Hysterie des Senators Joe McCarthy,<br />

verpflichtet. Der „Bolschewismus“ dient als das neue und alte Feindbild. Reflexion auf die<br />

geschichtliche Mitverantwortung im Kalten-Kriegs-Geschehen ist in dieser geschichtlichen<br />

Phase, vor allem in Berlin, nicht opportun. Dem Feind im Gewand der SED oder ihrer<br />

roten Schutzmacht gilt aller Spott, ein Zugriff, der auch in den Rundfunkanstalten der<br />

Bundesrepublik auf große Zustimmung rechnen kann. Die im Felde „mißglückte“<br />

Vernichtung des Gegners kann so - im symbolischen Akt - quasi rituell zu dem<br />

gewünschten Ende gedacht werden.<br />

In der Neumann-Nummer „Der Funzionär“ - Walter Gross spricht zumeist diese<br />

vielbeklatschte Repertoirefigur- zeigt sich sklerotisierter Witz im Kalten Krieg. Der SED-<br />

Vertreter ist dumm, dreist und von dumpfer Naivität. Ihm gilt der Hohn im RIAS-Radio. Die<br />

„volkseigene Reportage“ ist eine direkte Antwort auf die Interviewserien in der<br />

sowjetischen Besatzungszone mit Werktätigen. Günter Neumann mixt Berliner mit<br />

sächsischem Dialekt, läßt vom Chinesischen ins Russische stolpern und umgekehrt.<br />

„Professor Quatschnie“ und der Chinese „Wat-Nu“ bilden ein freches Polit-Pärchen. Die<br />

freundliche These von Hans Rosenthal, Neumann habe „nie mit dem Hammer gearbeitet“<br />

93<br />

ist kaum haltbar. Die intellektuelle Exekution des Ost-Feindes dient nicht allein der<br />

selbstlosen Unterhaltung. Neumann bläst mit vernehmlichem Hurra zur Demontage des<br />

Ostens, was dann oft auf Kosten der „Brüder“ und „Schwestern“ geht, die mit ihren realen<br />

Nöten bei den Insulanern kaum zu Wort kommen. Der Spaß trägt fast immer Züge der<br />

93 Rosenthal im Gespräch mit Sweringen, zitiert in Sweringen, van Bryant., 1989, S. 137.<br />

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politischen Aufrüstung, ist die beredte Kampfansage an alle Duckmäuser, die sich etwa<br />

mit denen „drüben“ und ihrer Politik arrangieren wollen. Mit dieser ideologischen<br />

Stoßrichtung ist das Programm von höchstem Unterhaltungswert. Der deftige bis<br />

aggressive Grundton, das Kalkül der Auf- und Abrechnung mit der sozialistischen<br />

Ideologie, verschafft dem Programm jenen dramaturgischen Kitzel, der die Zuhörer und<br />

Zuschauer fesselt. Das Gefühl einer kollektiven Unschuldsvermutung - bezogen auf den<br />

Westen und seine Werteskala - kann sich via Radio breitmachen. Die Debilität der Ost-<br />

Figuren in der Insulaner-Schlacht bestärkt im vierwöchigem Rhythmus den<br />

selbstherrlichen Traum vor der eigenen politischen Unbescholtenheit. Stets lauert der<br />

Feind außerhalb des Sendesaales und wohnt ganz selbstverständlich jenseits der<br />

Sektorengrenzen. Westlich polierte Hybris, flockig und suggestiv serviert. bekämpft im<br />

RIAS-Kreuzzug östliche Borniertheit, ohne dabei die eigene Position je zu hinterfragen. 94<br />

Der Funzionär und die Planwirtschaft<br />

Der Funzionär<br />

... und damit, liebe Jenossen und Jenossinn', komme ick<br />

nunmehr zu unsern heutijen Themata: Vorüberjehende<br />

Mangelerscheinung in unse Planwirtschaft!<br />

Jenossen! Wat de DDR in de letzten Jahre jeleistet hat, das jeht<br />

auf keene Kuhhaut! In eine Kette von beispiellose Erfolge<br />

kann natürlich nich alles auf eenmal klappen, es jibt immer<br />

mal wieder Kinderkrankheiten, aber der Zahn der Zeit wird<br />

se schon abschleifen. Ihr müßt euch ja immer wieder<br />

verwegenjewärtigen: Wat is bei uns losjewesen? Eier von<br />

die jrößten Tirannen, den de Weltgeschichte je jesehn hat,<br />

94 Der Verfasser bekennt gerne, die Sendungen zusammen mit seiner Insulaner-süchtigen Großmutter in<br />

atemloser Spannung ein um das andere Mal im Süddeutschen Rundfunk gehört zu haben.<br />

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hat de Oojen zujekniffen -<br />

Alle:<br />

Psst! Vorsichtig!<br />

Der Funzionär:<br />

Sehta! Wir ham uns alle jesagt, na, d e n Verbrecher sind wa los, hahaha!<br />

Alle:<br />

Pscht!<br />

Der Funzionär:<br />

Was habt ihr denn zu pischten? Also mit eenen Wort: Hitler war dot!<br />

Alle:<br />

Ach so!<br />

Der Funzionär:<br />

Also nu bringt ma hier nich durcheinander! Nach diesen schaotischen Zusammenbruch<br />

herrschten bei uns die dollsten Zustände, und so kam es, daß unsa verehrter Jenosse<br />

Präzedent eines Tages das Ruder in seine kummerjewohnten Hände nahm, um - ick will ma bei<br />

das poetische' Bild bleiben - um als wettererprobter Steuermann die DDR in eine bessere<br />

Zukunft rüberzuschiffen! Natürlich jehts bei sowas nich ohne Havarjen ab ! Det is nu mal im<br />

Leben so! Ick möchte mal die Jenossen von de Landwirtschaft fragen: Wat passiert, wenn ihr'n<br />

neuen Traktor kriegt?<br />

Einer:<br />

Dann jeht er erstmal kaputt!<br />

Der Funzionär:<br />

Na sehta. Jenau so isses mit de DDR. Det sagt nich, daß wa uns mit jede Panne abfinden<br />

sollen, aber wir sollen ooch nicht unjeduldig werden. Die Zoffjetunion besteht nu schon über 35<br />

Jahren, und wenn ihr vielleicht denkt, bei die is alles in Ordnung, denn seid ihr aber schief<br />

jewickelt! Jut Ding will Weile haben! Ihr wert euch vielleicht fragen, weshalb ick dieses Problem<br />

heute aufs Trapez bringe, aber das hat seinen juten Jrund! Bei de HO in Dresden hat sich<br />

nämlich ein unliebsamer Vorfall zujetragen. Und zwar haben sich die Jenossen aufjeregt, weil<br />

draußen dranstand: „Regenmäntel einjetroffen!“ Nu kamen se zu Hunderten mit ihre Punktkarte<br />

anjetrabt, es waren aber nur fünf Mäntel da! Tablau! Wat hätten die Jenossen von de<br />

Verkoofbrigade. machen sollen? Man kann doch keen Paletoto veranstalten! Also ham se die<br />

Mäntel an die Verdienstesten abjeben wollen, und dabei hats natürlich böses Blut jejeben.<br />

Eenen Tag drauf aber hat de Brigade Zwirn schon eenen rinjewürjt bekommen, und fürs<br />

nächstes Jahr ham se schon eine hundertprozentige Steigerung der Lieferung garantiert, so daß<br />

also 1954 schon zehn Rejenmäntel zur Verfügung stehen. Und soville regnet's ja jarnich in<br />

Dresden. Ihr seht, mit jutem Willen jeht alles!<br />

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Die Insulaner, 1953 95<br />

Der RIAS weiß, was er seinen Insulanern schuldig ist und hofiert die Künstler aus gutem<br />

Grund. Die Medien allgemein, das Radio zumal, feiern die Kabarettisten als die<br />

beliebtesten und bekanntesten Botschafter der geteilten Stadt. Das, was mit der diffusen<br />

Begrifflichkeit „Zeitgeist“ zu umreißen ist, die Focussierung objektiver gesellschaftlicher<br />

Bedingungen, verdichtet sich im Funk-Kabarett aus Berlin in aller Schärfe.<br />

Hans Rosenthal erinnert sich an den „Funzionär“ und an Herrn „Kummer“<br />

Diese Rolle wurde bald Walter Gross’ Standardauftritt im Insulaner: Er wurde zum „Funzionär“,<br />

der in einem aussichtslosen Kampf die Parteilinie gegen Wahrheit und Wirklichkeit, gegen<br />

Widersprüche und Widerstand, gegen Vernunft und Logik zu verteidigen sucht. Würde<br />

Lächerlichkeit töten, dann hätte Walter Gross mit diesen Auftritten ganzen Heerscharen von<br />

SED-Funktionären die Existenzgrundlage entzogen.<br />

Und da war auch Bruno Fritz als „Herr Kummer“. Er führte Telefongespräche mit einem<br />

eingebildeten Partner, in denen er die politischen Zusammenhänge- immer neuen,<br />

unentwirrbaren Mißverständnissen zum Opfer fallend - zu erhellen sich bemühte. Diese Figur<br />

lehnte sich an Tucholskys berühmten „Wendriner“ an und hatte ein lebhaftes Publikumsecho.<br />

Die meisten Sender in der Bundesrepublik übernahmen schließlich die „Insulaner“, deren<br />

Aufnahmeleiter und späterer Regisseur ich war. Die Zeitschrift Günter Neumanns ging leider<br />

trotz unserer Rundfunkhilfe ein. Blockade, Papierknappheit, ein Alltag des Mangels - vielleicht<br />

auch unsere Radiokonkurrenz - hatten ihr das Leben zu schwer werden lassen. Fortan lebte<br />

„Der Insulaner“ also im Äthermeer. Manchmal - vor allem, wenn wir mit der Sendung auf<br />

Tournee in Westdeutschland waren und sie öffentlich produzierten - kam ich ganz schön ins<br />

Schwitzen: Günter komponierte immer die Musik zuerst. Die Texte ließen auf sich warten. Das<br />

Manuskript für den „Funzionär“ Walter Gross brachte er manchmal erst in der Pause an. Dann<br />

reichte die Zeit nicht einmal für eine einzige Probe, sondern nur noch zu flüchtigem Durchlesen.<br />

Aber gerade dieser Zeitdruck, der häufig zu Improvisationen zwang, hat der Sendung viel von<br />

ihrem Esprit gegeben. 96<br />

Das Kolorit der Ost-Westkonfrontation, der Jargon der Ära Adenauer, mithin das Freund-<br />

Feind-Denken, inkarniert sich in den satirisch-polemischen Sentenzen des Günter<br />

Neumann:<br />

95 Neumann, Günther, 1954, S. 23ff. Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd.4, S. 115 ff. “Jrösten Tirannen” ist<br />

eine Anspielung auf den Tod Stalins 1953.<br />

96 Rosenthal, Hans, 1982, S. 162f.<br />

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Die östlichen Herrn, die so prunkhaft reich,<br />

sind äußerlich kapitalistengleich,<br />

und dennoch gibt es da einen Unterschied,<br />

den man auf den ersten Blick nicht gleich sieht:<br />

der Kapitalist zahlt sein eigenes Geld,<br />

er braucht nicht sein Volk auszumisten,<br />

und in dem wunden Punkt<br />

unterscheid'n sich die Herrn von den richtigen Kapitalisten! 97<br />

Das kaltkriegerische Weltbild ist populistisch. Nicht selten, so scheint es, sind die<br />

kabarettistischen Attacken im blinden Eifer niedergeschrieben. Die kleine<br />

„Kapitalismusanalyse“, die die Konvergenzen bei Ausbeutung und Korruption hüben und<br />

drüben platt unterschlägt, macht die politische Einäugigkeit deutlich. Günter Neumann,<br />

der lachende Star in der Ruinenstadt, hat für sich ein Programm entwickelt. Es lautet: „Wir<br />

sollten unsere Zuschauer nicht aus dem Kabarett schicken mit der fragwürdigen<br />

Quintessenz: ‘Von den Alliierten ist einer nicht besser als der andere’, und der mißmutige<br />

Kabarettist, der mit Gott und der westlichen Welt nicht zufrieden ist, sollte entweder nach<br />

Osten türmen oder sich und seinem Publikum klarmachen, daß er immerhin noch das<br />

kleinere Übel erwischt hat.“ 98 Die Empfehlung, bei kritischer Distanz zum Westen die<br />

Fronten zu wechseln, hat Tradition und beleuchtet das rauhe Klima im west-östlichen<br />

Kräftespiel. Die Normabweichung wird getadelt, auch im Kabarett, das im Namen der<br />

Freiheit und der Demokratie angetreten ist.<br />

Die Hororatioren aus Kultur und Politik, zumal der Regierende Bürgermister der Stadt,<br />

Willy Brandt, bedankt sich freundlich und mit großem Respekt für die 100. Insulaner-<br />

Sendung. Das Oberhaupt der Stadt schreibt am 19. Oktober 1957 in einem Brief an den<br />

Insulaner-Chef:<br />

97 Neumann, Günter, 1954, S. 46.<br />

98 Neumann, Günter, in: Der Tag, 23.3.1952.<br />

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„Günter Neumann und seine Insulaner sind ein Bestandteil Berlins. Sie sind unseren Weg durch<br />

Dunkelheit, Kälte und Not mit uns gegangen bis zum heutigen Tage und haben mit Humor und<br />

Scherz, mit Musik und Reim unserem Fühlen, Denken, Wollen und Sehnen so unübertroffen<br />

Ausdruck gegeben. Der wahre Humor lacht und weint zu gleicher Zeit. Und das haben die<br />

Insulaner trefflich verstanden, und deshalb gehören die Insulaner zu uns, wie wir zu ihnen<br />

gehören. Dafür Ihnen meinen Dank zu sagen, ist mir Herzenssache an dem Tage, da Sie Ihre<br />

100. Sendung machen. 100 Sendungen, die den Berlinern und unseren Mitbürgern und<br />

Landsleuten jenseits des Brandenburger Tores Hoffnung und Mut und noch mehr Lachen und<br />

Schmunzeln gegeben haben.“ 99<br />

Die Insulaner vermögen wie kaum ein anderes Kabarett ihrer Zeit, Identität<br />

widerzuspiegeln und diese gleichzeitig hervorzurufen. Ein überzeugendes Beispiel hierfür<br />

liefert eine Liedcollage aus dem Jahre 1952. Ernst Reuters Verdienste für die Stadt und<br />

ihre Menschen feiern die Kabarettisten geradezu enthusiastisch. Der „OB“ fungiert über<br />

alle Parteigrenzen hinweg als der Held der geteilten Stadt, er ist ein Botschafter des guten<br />

Willens, der anläßlich seines Amerikabesuchs die „Kasse“ für Berlin wieder auffrischt. In<br />

der historischen Aufnahme überschlägt sich das Publikum geradezu in Ovationen für Die<br />

Insulaner. Die Zuhörer bejubeln die Spitzen gegen Bonn, vor allem aber das<br />

„Schuldbekenntnis“ der Amerikaner, denen der Texter die Zeilen in den Mund legt: „Hätten<br />

wir lieber dat Jeld verjraben, das wir im Krieg an die Sowjets gaben.“ Musik und Text<br />

treffen den Nerv des Publikums. Die kabarettistische Volte exkulpiert deutsches Tun,<br />

zumal den Terror zur Zeit der Nazi-Dikatur. Das Rundfunk-Kabarett dient in diesem Sinne<br />

als ein köstliches Ruhepolster, als die wohlschmeckende Medizin, die vor inquisitorischen<br />

Geschichtsbetrachtungen schützt. Just in diesem Kontext sind Die Insulaner ein<br />

Paradigma für den staatsnahen Spaß in der Ära Adenauer. Gründlicher als manches<br />

Geschichtsbuch reflektieren die sechs Minuten im RIAS die Spuren der ideologischen<br />

Befindlichkeit zur Zeit des Kalten Krieges. Das Medley dokumentiert -versteckt wie auch<br />

immer - Wut der Besiegten über die verzweifelte Lage und ihre Liebe zum bürgernahen<br />

Idol Ernst Reuter. Er verspricht personal faßbare Sicherheit nach verlorener Schlacht.<br />

Ernst Reuter in Amerika<br />

Keine Mark in der Kasse mehr,<br />

auch der Stadtsäckel schlaff und leer,<br />

99 Abdruck in: Sweringen, van Bryan T., S. 245f.<br />

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täglich neue Probleme.<br />

Reuter dachte, als er das sah:<br />

„Hilft nischt, ick muß nach USA,<br />

auf die Spendierhosen kloppen<br />

sonst sitzen wer hier uffem Trocknen.<br />

(Applaus)<br />

Muß i denn, muß i denn, ja ick muß mal übern Teich,<br />

muß mal übern Teich, und ihr bleibt an der Spree!<br />

Wenn ich drüben unser Leid erzähl,<br />

dann is gleich alles o.k.<br />

Wenn ich komm, wenn ich komm, wenn ich wieder, wieder komm,<br />

wieder, wieder komm, komm ich mit nem Portemonnaie.“<br />

(Lachen. Applaus)<br />

Drüben fuhr er an der Spitze eines Geleits durch die Leut.<br />

Seine kleine Baskenmütze wurd mit Konfetti bestreut.<br />

In janz New York war een Hallo<br />

und Reuter dachte froh:<br />

„Das gibts nur einmal, ick komm bald wieder<br />

(Großer Applaus)<br />

Das is ja mehr als jut jejang!<br />

Es fällt Konfetti auf mich hernieder,<br />

in Bonn wurd ich nie so empfangen!<br />

(Tosender Applaus, lange und anhaltend)<br />

Die netten Leute,<br />

ick weiß schon heute,<br />

daß ick hier Unterstützung krieg.<br />

Mir scheint New York liegt<br />

von uns aus näher als mancher Ort der Bundesrepublik!“<br />

(Großer Applaus)<br />

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Alle Amis standen da,<br />

die mal in Berlin warn:<br />

Herr McCloy und noch mehr von der Spree.<br />

Clay, der in Erinnerung schwamm,<br />

rief: „I have Heimweh nach se Kufürstendamm!“<br />

(Beifall, tosend)<br />

Und dann fuhrn se mit Gesang<br />

immerzu den Broadway lang,<br />

von det eene Restorang<br />

in det andre Restorang.<br />

Und dann gaben se an ihn<br />

einen Scheck für West-Berlin,<br />

und die Amis habn dazu im Chor jeschrien:<br />

„Hätten wir lieber dat Jeld verjraben,<br />

das wir im Krieg an die Sowjets gaben,<br />

(Unterbrechung durch tosenden Beifall,<br />

Füßegetrampel, zustimmendes Gejohle etc.)<br />

könnten wir euch noch viel mehr jeben<br />

als wirn Berlinern bisher jeben.“<br />

Aber da kam schon der zweite Scheck,<br />

Reuter erfuhr dann mit freudigem Schreck,<br />

Dass er auch Aufträge bringt.<br />

Zum Schluß hamse alle gewinkt:<br />

„Auf Wijderseen, auf Wijderseen!<br />

Bleib nicht zu lange fort!<br />

Wenns wieder brennt:<br />

Wir sind solvent<br />

You know ein Män ein Word.<br />

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Auf Wijderseen, auf Wijderseen!<br />

Du sollst zum Dank fürs Geld<br />

bald in Neukölln<br />

neu Gruß bestellln:<br />

Daß auch ne neue Welt!“<br />

(Applaus)<br />

Und wenn jetzt Reuter wiederkommt<br />

jehn wir in langen Schlangn<br />

nach Tempelhof zum Flugplatz hin,<br />

den OB zu empfangen.<br />

Wenn's Flugzeug kommt,<br />

dann stehn wir da,<br />

wie Kinder feingemacht:<br />

„Du Onkel aus Amerika,<br />

was haste mitjebracht!“<br />

(Großer Schlußapplaus)<br />

Die Insulaner, 1952 100<br />

Auf Günter Neumann trifft der Begriff „Nestbeschmutzer“ nicht zu. Sein Protest - anders<br />

als kurz nach dem Krieg - sucht sehr bald den politischen Konsens mit der atlantischen<br />

Westpolitik. Er tritt für die Wiederbewaffnung ein und feiert am 7. Dezember 1968 in<br />

seiner letzten „Sonderausgabe des Insulaners“ kaum zufällig die Geschichte des Axel<br />

Springer Verlags mit einer musikalischen Revue. Gleichwohl dankt sein Kabarett ab. Es<br />

hat den kabarettistischen Kampf gegen Wolfgang Neuss, gegen revoltierende Studenten,<br />

gegen Die Stachelschweine oder auch gegen Dieter Hildebrandt endgültig verloren.<br />

Günter Neumann ignoriert nach Eintritt des latenten Tauwetters im Ost-West-Konflikt, des<br />

„Wandels durch Annäherung“, die Veränderungen im gesellschaftlichen Umfeld. Sein<br />

Kabarett gründet auf den Koordinaten des Kalten Krieges und der Insulaner-Chef<br />

verweigert sich einem Denken, das die politische Konfrontation und den militanten<br />

Antikommunismus auch nur für Augenblicke auf der Bühne oder im Radio vernachlässigt.<br />

100Kabarett 1946-1969, CD 1, Nr. 13.<br />

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Dieser Rigorismus macht den satirischen Fanatismus der Insulaner aus, ist aber zugleich<br />

das Brandzeichen der Unversöhnlichkeit. In der Ära Adenauers geschrieben und gespielt,<br />

tragen die meisten Nummern eine retrospektive Handschrift, eine Signatur, die ihre<br />

Aggressivität dem nationalen Pathos der Zeit vor 1945 entlehnt zu haben scheint.<br />

Der Tod ist ein Meister aus Deutschland und die Republik läßt wieder<br />

rüsten<br />

Die Mahnungen von Paul Celan oder Wolfgang Borchert und vieler anderer Künstler und<br />

Intellektueller, nach innen und außen einen neuen Weg zu beschreiten, sich nicht erneut<br />

dem militärischen Denken zu verschreiben, verhallen ungehört. Konrad Adenauer zielt<br />

von Anfang an auf die Remilitarisierung der Bundesrepublik, eine Politik, die in ihrer<br />

Konsequenz zwar latente Stabilität garantiert, gleichzeitig aber auch zur Verschärfung des<br />

Kalten Krieges beiträgt. Die Politik der DDR operiert in den fünfziger Jahren mit den<br />

gleichen Vorgaben, die Regierung ist Vasall und Vollzugsorgan der östlichen Welt- und<br />

Großmacht und hat deren Interessen im Kalten Krieg mehr oder weniger bedingungslos<br />

zu erfüllen. Adenauer fordert im November 1950 im Bundestag die Schaffung einer neuen<br />

Armee und erklärt, daß die Bundesrepublik Deutschland, wenn sie von den westlichen<br />

Mächten dazu aufgefordert wird, bereit sein müsse, einen „angemessenen“ Beitrag zu<br />

dem Aufbau einer Abwehrfront zu leisten, und das in der Absicht, „die Freiheit ihrer<br />

Bewohner und die Weitergeltung der westlichen Kulturideale zu sichern.“ 101 Die forsche<br />

Gangart der Regierung in dieser Frage korreliert im übrigen allem Anschein nach nicht mit<br />

den tatsächlichen Wünschen der Bevölkerung. Diese verhält sich eher ablehnend, ja<br />

zurückhaltend. Eine Umfrage, die der Süddeutsche Rundfunk im Dezember 1949 zu<br />

dieser Frage aufzeichnet, bestätigt in deutlichen Worten die ablehnende Haltung fast aller<br />

Bevölkerungsschichten in dieser Frage.<br />

101 Am 8.11.1950; Vgl. Tonaufzeichnung bei Weber, Jürgen, 1987, Kasette IV,1, Nr. 7.<br />

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Soll es wieder deutsche Soldaten geben?<br />

Eine Pfarrerswitwe spricht:<br />

Wenn man wie ich seinen Mann und seinen einzigen Bruder im Krieg verloren hat und nun mit<br />

seinen drei Kindern mehr oder weniger allein in der Welt steht, will man von Wiederaufrüstung<br />

oder dergleichen nichts mehr hören. Man kann es nicht mehr. Bei dem bloßen Gedanken, daß<br />

meine beiden heranwachsenden Söhne auch wieder den grauen Rock tragen und alles, was<br />

damit zusammenhängt, erdulden müßten, möchte ich aufschreien und rufen: Nein und noch<br />

einmal nein! Ich weiß, daß Wiederaufrüstung noch kein Krieg ist, aber der Weg dazu ist nicht<br />

weit. Helfen Sie alle mit, daß wir endlich im Frieden leben können und unsere Kinder für ein<br />

Leben in Frieden erziehen dürfen.<br />

Es spricht ein Fischhändler, 32 Jahre alt, Kriegsteilnehmer, in Gefangenschaft gewesen:<br />

Ich bin ein grundsätzlicher Gegner für die Remilitarisierung Deutschlands, nachdem ich selber<br />

zwölf Jahre Soldat war und in amerikanische Gefangenschaft geraten bin. Ich lehne es<br />

grundsätzlich ab, nachdem man mir diese Uniform, die ich zuletzt getragen habe, vom Leib<br />

gerissen hat und nun heute wieder auch in eine Uniform für dieselben Westalliierten eintreten<br />

soll, um ein Bollwerk gegen den Osten zu sein.<br />

Ein junger Journalist, 26 Jahre alt, Kriegsteilnehmer und Flüchtling:<br />

Ich würde eine Remilitarisierung Deutschlands geradezu für eine Katastrophe halten und zwar<br />

aus zwei Gründen: aus innenpolitischen und aus außenpolitischen. Meiner Ansicht nach würde<br />

eine Wiederbewaffnung Deutschlands einen Krieg, den sie angeblich vermeiden soll,<br />

beschleunigt herbeiführen. Es ist in der Geschichte immer so gewesen, daß steigende<br />

Rüstungen nie bewirkt haben, daß damit ein Konflikt hinausgeschoben wird, sondern ihn immer<br />

noch schneller herbeigeführt haben. Rußland würde sich durch eine Wiederbewaffnung<br />

Deutschlands bedroht fühlen, würde seinerseits Maßnahmen ergreifen. Die Westmächte würden<br />

das gleiche tun. Und so würden wir uns eines Tages in der größten Katastrophe befinden.<br />

Ein junger Student, 23 Jahre, Kriegsteilnehmer und Fliegergeschädigter:<br />

Als Student habe ich zu einer Remilitarisierung folgendes zu sagen: Die meisten Studenten<br />

haben ihre Ausbildung schon einmal unterbrechen müssen, um angeblich ein Vaterland zu<br />

verteidigen und andere totzuschießen, denen man dasselbe gesagt hat. Die Aufstellung eines<br />

sogenannten Verteidigungsheeres ist schon an sich eine der Bedrohungen des Weltfriedens. Ich<br />

habe keine Lust mehr mitzubedrohen.<br />

Aus einer Sendung im Süddeutschen Rundfunk am 7. Dezember 1949 102<br />

102Ebd, Kasette IV, 1, Nr. 1.<br />

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Bekanntlich bestimmen die privaten und antimilitaristischen Äußerungen den Lauf der<br />

deutschen Innenpolitik nicht. Die Aufnahme der Bundesrepublik in die Nato erfolgt 1955,<br />

ein Jahr darauf marschieren die ersten 1000 Freiwilligen in die Kasernen der Bundeswehr.<br />

In Konsequenz dieser Politik wird auch die sogenannte Stalin-Note von 1952 nie ernsthaft<br />

als politische Möglichkeit für eine neue Deutschlandpolitik in Erwägung gezogen. Dem<br />

Westen ist die damit verbundene Neutralisierung Deutschlands ein zu hoher Preis. Die<br />

Note paßt ganz und gar nicht „in die politische Landschaft“, in der der Graue Rock wieder<br />

in Mode kommen soll. Adenauer lehnt entschieden ab, Kriegsdienstgegner haben wieder<br />

einen schweren Stand. Die Friedenstaube, die am 3. März 1952 bei einer Ansprache des<br />

Kanzlers eingefangen wird, spricht für sich.<br />

Die Spötter der Nation, sie protestieren auf breiter Front gegen das alte und neue Lied,<br />

gegen die Wiederbewaffnung der Republik. Erich Kästner präsentiert sich im Kabarett Die<br />

Kleine Freiheit in München als entschiedener Gegner des militärischen Kurses und<br />

bemerkt rückblickend: „Während es in unserer Republik noch bei Strafe verboten war,<br />

auch nur eine Jagdflinte zu besitzen, wurden Hitler-Generäle nach Bonn beordert, um<br />

hinter verschlossenen Türen der Regierung wertvolle Ratschläge zu erteilen. -An Stelle<br />

der im laufenden Geschäftsjahr geplanten Kasernen könnten vierhunderttausend<br />

Wohnungen gebaut werden.“ 103 In dem „Solo mit unsichtbarem Chor“ beklagt der<br />

prominente Dichter 1952 die Vogel-Strauß-Politik und die Blindheit der Militärs.<br />

Wir kommen, sehn und siegen<br />

in ziemlich allen Kriegen,<br />

ganz wurscht, unter welcher Regierung.<br />

Das ist eine Frage der Führung.<br />

Na also und hurra: Drum sind wir wieder da.<br />

Unter Hitler hieß es „Wehrmacht“.<br />

103Kästner, Gesammelte Schriften, Bd. 5, 1959, S. 209.<br />

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Unter Doktor Lehr heißt's „Lehrmacht“.<br />

Doch ob Wehr - oder Lehr,<br />

ist ja völlig sekundär.<br />

Hauptsache, daß wir wieder Ordnung kriegen.<br />

Und das deutsche Rückgrat wieder gradebiegen.<br />

Und daß wir wieder gegen Engeland fliegen. 104<br />

Die Berliner Stachelschweine verspotten 1954 den neuen militaristischen Geist in ihrem<br />

Garnisons-Lied. Die große Bonner Politik und ihre Intentionen werden darin aus der<br />

Perspektive der Kleinstadt gesehen. Geld stinkt nicht und leitet auch den örtlichen<br />

Gemeinderat.<br />

(Solo:) Nach langem Sitzen.<br />

(Chor repetierend:) Nach langem Sitzen.<br />

(Solo:) Und heftigem Schwitzen.<br />

(Chor:) Und heftigem Schwitzen.<br />

(Solo:) Stell ich, Gemeinderat von Poppenlohn,<br />

folgendes Themata zur Diskussion.<br />

(Chor:) Folgendes Themata zur Diskussion:<br />

(Solo:) Da wir aus der Stadt keinen Kurort können machen<br />

(Chor:) Zum Lachen!<br />

Zum Lachen!<br />

(Solo:) Ham wir doch kein Wald und Quellen heiß und sauer<br />

(Chor:) O Trauer, o Trauer!<br />

(Solo:) Auch kein großer Mann in Poppenlohn geboren ist.<br />

Und wenn wir Festspiele bereiten:<br />

(Chor:) Nur Pleiten! Nur Pleiten!<br />

(Solo:) Wenn wir Festspiele bereiten:<br />

(Chor:) Nur Pleiten! Nur Pleiten!<br />

104Ebd., S. 212; Robert Lehr war im ersten Kabinett in der Nachfolge Gustav Heinemanns Innenminister.<br />

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(Solo:) Sage ich, Gemeinderat von Poppenlohn,<br />

um zu retten diese Situation:<br />

Gibt's nur eins, selbst für die Opposition:<br />

Unsere Stadt wird Garnison<br />

(Chor:) Garnison, Garnison!<br />

Ovation,<br />

Diskussion<br />

Garnison, Garnison,<br />

Ovation,<br />

Diskussion!<br />

(Solo:) Möchte, daß die Stadt sich drum darum bewerbe,<br />

zu bekommen Deutschlands Tradition und Erbe.<br />

Und der Stolze ruft dann brausend durch die Nation:<br />

Poppen-lohn, Poppen-lohn:<br />

Deutschlands schönste Garnison<br />

(Chor:)<br />

Poppen-lohn, Poppenlohn:<br />

Deutschlands schönste Garnison! 105<br />

In den weiteren Strophen besingen Die Stachelschweine die offensichtlich zahlreichen<br />

Vorzüge, die eine Garnisonsstadt im Bewußtsein des Spießers hat. Der Jubel ist<br />

allenthalben, das erträumte Glück ein rosiges und vermeintlich ungetrübtes. Die Feier der<br />

künftigen Militärniederlassung wird zur deutlichen Kritik an den bestehenden politischen<br />

Verhältnissen. Die Mittel, die die Sänger einsetzen, sind parodistische Überhöhung und<br />

satirische Verzerrung der kleinbürgerlichen Welt, die Musik ist sentimental und süßlich<br />

verkitscht. Hinter dem Spießer, der das Militär herbeisehnt, steht dann freilich auch eine<br />

Obrigkeit, die solches erst ermöglicht. Die Stachelschweine operieren hier ganz in der<br />

Tradition des klassischen Kabaretts: Über den musikalischen Gestus werden die Affekte<br />

angesprochen, die kitschigen Klänge dienen der Destruktion eines Unausgesprochenen -<br />

in diesem Fall des Militärs. Die „Garnison“ fungiert als pars pro toto, wird zum<br />

Schlüsselbegriff für die kritisierte Bonner Militärpolitik. Im Spott wird Einvernehmen mit<br />

105Weber, Jürgen, 1987, Kassette IV/3, Nr. 22, Aufnahme vom 14.1.1954.<br />

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dem Publikum provoziert. Die Intention ist bei aller Unterhaltung, die der Wechselgesang<br />

anbietet, die auf Veränderung setzende Kritik.<br />

Als einsamer Gegner aller pazifistischen Tendenzen im deutschen Kabarett beklagt<br />

Günter Neumann mit den Insulanern jede militärische „Leisetreterei“. Er hat sich, wie<br />

bereits weiter oben besprochen, ohne Einschränkung der Bonner Linie verpflichtet.<br />

Neumanns Klagelied ist schrill, die Töne entstammen dem intellektuellen Sperrfeuer der<br />

Militärs. Auge um Auge heißt die Devise aus Berlin.<br />

Die Bundeswehr will man vom Osten hintertreiben,<br />

die sind bewaffnet, darum soll'n wir schutzlos bleiben,<br />

Herr Ebert schrie: Bonn soll das Militär entfernen,<br />

allein der Osten hat das Anrecht auf Kasernen,<br />

wo man sich nicht, wie wir, vor Uniformen scheute –<br />

seid wachsam Leute. 106<br />

Die panische Angst vor dem Osten, die Furcht vor einer soldatenlosen Gegenwart in<br />

Berlin, sie spiegelt nicht die gängige Auffassung der Kabarettisten wider. Landauf, landab<br />

- zumal in den Westsektoren bekämpft das Ensemble der Kritiker auf den Kleinbühnen die<br />

Remilitarisierung. Der Konsens, der hier herrscht, ist nahezu einhellig und unterscheidet<br />

sich höchstens graduell, nicht jedoch prinzipiell. Das Kabarett, und das ist bei seinem<br />

Hang zur Übertreibung und Überspitzung dann doch erstaunlich, befindet sich insgesamt<br />

Mitte der fünfziger Jahre mit seinen antimilitaristischen Nummern in einem größeren<br />

Konsens zu der Bevölkerung als die Mehrheit der Bonner Volksvertreter bei diesem<br />

Thema. Eine repräsentative Untersuchung vom Allensbacher Institut für Demoskopie<br />

signalisiert 1957 jedenfalls immer noch erhebliche Distanz der Befragten zu der<br />

Einrichtung der Bundeswehr.<br />

106Zitiert in: Sweringen, van Bryan T., 1989, S. 165.<br />

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Das Untersuchungsergebnis kann für das regierungsnahe Institut am Bodensee und seine<br />

Auftraggeber nicht befriedigend sein, zeigt es doch - trotz suggestiver Fragestellung - das<br />

brüchige Verhältnis der Bevölkerung zu Heer und Waffen.<br />

Frage: „Hier sind verschiedene Ansichten über die Aufstellung von deutschen Truppen. Welche<br />

davon trifft am besten das, was Sie selbst darüber denken?“<br />

Ich bin nicht so sehr für Militär, aber solange die anderen<br />

Staaten Soldaten haben, brauchen wir auch welche: 23<br />

Junge Männer<br />

in %<br />

Ich bin in jedem Fall gegen die Aufstellung von Truppen.<br />

Wir brauchen in Deutschland kein Militär: 20<br />

Ich bin nicht gegen Soldaten, aber zur Zeit wäre es für<br />

Deutschland besser, keine Truppen aufzustellen: 18<br />

Ich bin in jedem Fall für die Aufstellung von Truppen.<br />

Wir brauchen in Deutschland ein starkes Militär: 14<br />

Ich bin eigentlich gegen Militär, aber in der jetzigen<br />

Lage braucht Deutschland eine Armee: 13<br />

Mir ist es ganz egal, ob in Deutschland Truppen<br />

aufgestellt werden oder nicht: 11<br />

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Keine Angabe: 1<br />

Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1957 107<br />

Ob Die Schmiere - „das schlechteste Theater der Welt“ nennt es sich - in Frankfurt a. M.<br />

auftritt, Das Bügelbrett in Heidelberg oder West-Berlin sich Gehör verschafft, Die<br />

Stachelschweine zur Jagd auf Ungereimtes in der Republik blasen, der Stachel gegen das<br />

Militär wird jeweils tief in das Fleisch der alten Haudegen getrieben. Auf dem Höhepunkt<br />

der Krisen am Suezkanal und in Ungarn schreibt Rolf Ulrich 1956 ein „Freiheitslied“ ganz<br />

eigenen Zuschnitts. Im Programm „Die Wucht am Rhein“ beklagen die Kabarettisten den<br />

Widerspruch von Freiheitsideologie und militärischer Aufrüstung, sie kritisieren die<br />

postulierte Unabwendbarkeit von Kriegen, von „guten“, „gerechten“ und „heiligen“<br />

Metzeleien.<br />

Freiheit, Freiheit über alles,<br />

höchstes Ziel auf dieser Welt!<br />

Unser Leben, unser Sterben<br />

dieses Wort zusammenhält.<br />

Segen ruht auf allen Waffen,<br />

ewig zieh'n mit Himmelsmacht<br />

alle Völker, alle Rassen<br />

für die Freiheit in die Schlacht.<br />

Und keiner dachte an den dritten<br />

Weltkrieg und schrie:<br />

Halt! - Keiner!<br />

Nicht in der Downingstreet -<br />

107Noelle, Elisabeth/Neumann, Erich Peter, 1957, S. 152.<br />

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Nicht am Arc de Triomphe –<br />

Nicht in Manhattan –<br />

Nicht auf dem Rudolph-Wilde Platz.<br />

Nein, sie sangen:<br />

Vorwärts, vorwärts für die Freiheit!<br />

Was heißt schon Vernunft, Moral?<br />

Nein: Millionen sterben ewig<br />

für das Freiheitsideal.<br />

Wann zerplatzt dies Wort einmal,<br />

diese gold'ne Seifenblase?<br />

Wann wird einmal klar gesagt:<br />

Freiheit - du bist eine Phrase!?<br />

Die Stachelschweine, 1956 108<br />

Die Wucht am Rhein<br />

O wie schön, daß wir den Osten haben,<br />

Die Gefahr aus Pankow, Moskau und den Don;<br />

Denn der Osten ja der gab uns schließlich<br />

Erst die Teilung Deutschlands und zum Glück dann Bonn.<br />

Und durch Bonn da zogen Geld und Banken<br />

An den Rhein und zogen Handel, Wirtschaft nach,<br />

Millionäre - Fremde und Devisen<br />

Und das Ganze krönt jetzt schließlich Andernach.<br />

O es wär nicht auszudenken,<br />

108Zitiert in: Budzinski, Klaus, Die öffentlichen Spaßmacher, 1966, S. 45f.<br />

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Wenn jetzt plötzlich eine Einheit käm<br />

Und statt unserm goldnen Rheine<br />

Dann die Spree wär Deutschlands Diadem.<br />

Und was mühsam haben wir erworben<br />

Unter dem Geheimwort Provisorium,<br />

Schnappte weg uns die Berliner Schnauze,<br />

Und uns bliebn die Greise im Panoptikum.<br />

Drum bewahret uns den lieben Osten,<br />

Haltet Wacht und laßt auf kein Gespräch euch ein,<br />

Kämpft um unsre Nibelungenschätze,<br />

Sonst ist es vorbei mit unserer Wucht am Rhein!<br />

Rolf Ulrich, 1956 109<br />

Die oberen Zehntausend in der Republik, die Herren aus Industrie und Wirtschaft, sie<br />

haben schon wieder gelernt, mit Krisen zu leben und dabei auch kräftig abzusahnen. In<br />

der Kleinen Freiheit in München leiht Martin Morlock ihnen das Wort. Makler und<br />

Industrielle kommen auf den Brettern ins Grübeln und schwärmen trist und melancholisch.<br />

Der Tod ist ein Meister aus Deutschland, aber es gibt auch Schwierigkeiten in dem<br />

eisernen Gewerbe:<br />

Erster Industrieller:<br />

Daß die Lage so gespannt ist,<br />

Will uns zwar betrüblich scheinen,<br />

Doch ein Mensch, der bei Verstand ist<br />

Und im Industrieverband ist,<br />

Kann deshalb nicht dauernd weinen!<br />

109Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 4, S. 168. In Andemach wurde die erste Bundeswehreinheit<br />

aufgestellt.<br />

128


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Erster Makler:<br />

Was den Laien so erschreckt, ist<br />

Doch im Grunde das alte Spiel:<br />

Wenn die Sahne abgeleckt ist,<br />

Der Zivilbedarf gedeckt ist,<br />

Braucht die Wirtschaft ein Ventil.<br />

Zweiter Industrieller:<br />

Wär' die Welt ein wenig weiser<br />

Und die Propaganda beider<br />

Hemisphären etwas leiser,<br />

Bauten wir euch Fertighäuser.<br />

So sind's eben Panzer.<br />

Alle (zucken unschuldig die Achseln):<br />

Leider<br />

Zweiter Makler:<br />

Denn das ist nun einmal der triste<br />

Tatbestand auf diesem Stern:<br />

Wenn der eine sicher wüßte,<br />

Daß der andre, wenn er rüste,<br />

Wüßte, daß er rüsten müßte,<br />

Rüstete er halb so gern.<br />

Erster Makler:<br />

Weil jedoch in jedem Falle<br />

Jeder glaubt, er habe mehr Macht<br />

Als die andersgläub'ge Wehrmacht,<br />

Rüsten alle ...<br />

Martin Morlock, 1952 110<br />

110Zitiert in: Hoche, Karl, 1984, S. 84f.<br />

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In dem Schwabinger Kabarett Die kleinen Fische nimmt das Ensemble unter Therese<br />

Angeloff die geplante Wiederbewaffnung aufs Korn. Eine Damenriege, der „Louisenbund“,<br />

träumt sich in die alten Tage der Kriegsmarine zurück. Ingrid van Bergen, Lia Pahl und<br />

Anita Bucher gehören zu den trutzigen Amazonen, die bei der Verherrlichung der<br />

stählernen Maschinerie alle Register ziehen. Dabei ist zu bedenken, daß zu diesem<br />

Zeitpunkt die Diskussion um die Remilitarisierung noch nicht abgeschlossen ist, Franz<br />

Josef Strauß, damals ein junger CSU-Abgeordneter, die parlamentarisch notwendigen<br />

Seilschaften für ein neues Heer erst um sich schart:<br />

„Wer als Deutscher dem deutschen Volke die innere Befähigung abspricht, Waffen zur<br />

Selbstverteidigung zu erhalten, ohne gleichzeitig dem Militarismus zu verfallen, der hat innerlich<br />

vor dem Militarismus kapituliert. Schließlich muß der Unfug einmal aufhören, daß man den<br />

ehrlichen und anständigen Soldaten immer zum Militaristen stempelt. Der Ungeist des<br />

Militarismus muß überwunden bleiben und wo er auftreten sollte rücksichtslos unterdrückt<br />

werden. Die Verteidigungsbereitschaft des friedlichen deutschen Bürgers darf nicht durch die<br />

Verunglimpfung des Ansehens des deutschen Soldaten geschwächt oder erstickt werden.“<br />

Franz Josef Strauß, 10. Juli 1952 111<br />

So gesehen ist der kleine Damen-Kranz unter Abzug der ironischen Brechungen ganz auf<br />

Kurs des Bayern und künftigen Atom- und Verteidigunsministers, wenn er jubiliert:<br />

Wir sitzen auf dem Kanapee<br />

und träumen Ach und Weh<br />

Wir wollen wieder Kriegsschiffe taufen!<br />

Mit deutschem Sekt am deutschen Heck!<br />

Und wieder Margueriten verkaufen<br />

zum wohltätigen Zweck!<br />

Drum gründen wir ein Komitee,<br />

111Spiegel, Der, Reden aus Deutschland, CD 1, Nr. 3.<br />

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ein Wohltätigkeitskomitee,<br />

Wir sind die Damen<br />

mit gutem Namen,<br />

die Damen vom Louisenbund!<br />

Wir sind die kommenden Größen von morgen,<br />

die für Sitte und Ordnung dann sorgen!<br />

Unsre Fahne flattert fröhlich uns voraus!<br />

Wir sterben niemals aus!<br />

Die kleinen Fische, 1954 112<br />

Nach dem Beitritt der Bundesrepublik zur NATO, dem Unterzeichnen der Pariser<br />

Verträge, geht die Bundesregierung in die zweite Runde und eröffnet die Debatte über die<br />

Ausrüstung der Bundeswehr mit atomaren Gefechtsköpfen. Adenauer tritt<br />

höchstpersönlich vor die Presse. „Unterscheiden Sie doch“, so erklärt der Kanzler am 5.<br />

April 1957, „die taktischen und die großen atomaren Waffen. Die taktischen Waffen sind<br />

nichts weiter als die Weiterentwicklung der Artillerie. Selbstverständlich können wir nicht<br />

darauf verzichten, daß unsere Truppen auch in der normalen Bewaffnung die neueste<br />

Entwicklung mitmachen.“ 113<br />

Trotz einer großen Oppositionsbewegung kann die CDU-Mehrheit am 28. März 1958 den<br />

Beschluß über die Atombewaffnung der Bundeswehr durchsetzen. Weder die Göttinger<br />

Erklärung der 18 Atomwissenschaftler noch kirchliche oder gewerkschaftliche Proteste<br />

ändern hieran etwas im grundsätzlichen. Die SPD hat ihr Nein zur atomaren Bewaffnung<br />

ohnehin - im Zeichen der verlorenen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen und im<br />

Zeichen des kompromißbereiten und „moderaten“ Godesberger Programms - revidiert.<br />

Wehner, Erler und Brandt bringen die Genossen auf Kurs. Der Sieg der CDU in der Frage<br />

der Atombewaffnung erweist sich im nachhinein als innerparteilicher Pyrrhus-Sieg, da die<br />

Verfügungsgewalt über die Atomwaffen bei den Alliierten liegt. Die öffentlichen Bedenken,<br />

dies könne unter einer veränderten außenpolitischen Lage einmal anders werden, bleibt<br />

jedoch bestehen.<br />

112Zitiert in: Hösch, Rudolf, 1972, S.103.<br />

113Vgl. Jäger, Uli, Schmid-Vöhringer, Michael, 1982.<br />

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Der Aufruf der „Göttinger“ hat in der Bundesrepublik ein großes publizistisches Echo, wird<br />

zum Anstoß für weitere Protestresolutionen und mahnende Appelle. Der Theologe Karl<br />

Barth schaltet sich ein, Stefan Andres, Erich Kästner, Eugen Kogon, Walter Dirks und<br />

viele weitere Intellektuelle richten eine Resolution an den Bundestag, sich der<br />

„lebensbedrohenden Rüstungspolitik“ zu widersetzen. „Wir werden nicht Ruhe geben,<br />

solange der Atomtod unser Volk bedroht“, geben die Wissenschaftler und Künstler zu<br />

bedenken. 114 Gerd Semmer, einer der wichtigsten Chansonautoren im Kontext der Lieder<br />

gegen Militarismus und Atomrüstung, reagiert auf die Göttinger Erklärung ganz<br />

unmittelbar und verfaßt ein Solidaritätslied, das Dieter Süverkrüp vertont. Das Lied nimmt<br />

Bezug auf die Beschwichtigungsversuche aus der Bundeshauptstadt, die honorigen<br />

Wissenschaftler mögen doch bitte ihre Finger aus der Tagespolitik lassen.<br />

Göttinger Erklärung<br />

Die Pläne einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr erfüllen die unterzeichneten<br />

Atomforscher mit tiefer Sorge. Einige von ihnen haben den zuständigen Bundesministerien ihre<br />

Bedenken schon vor mehreren Monaten mitgeteilt. Heute ist die Debatte über diese Frage<br />

allgemein geworden. Die Unterzeichneten fühlen sich daher verpflichtet, ihrerseits auf einige<br />

Tatsachen hinzuweisen, die alle Fachleute wissen, die aber der Öffentlichkeit noch nicht<br />

hinreichend bekannt zu sein scheinen.<br />

Erstens: Taktische Atomwaffen haben die zerstörende Wirkung normaler Atombomben. Als<br />

‘taktisch’ bezeichnet man sie, um auszudrücken, daß sie nicht nur gegen menschliche<br />

Siedlungen, sondern auch gegen Truppen im Erdkampf eingesetzt werden sollen. Jede einzelne<br />

taktische Atombombe oder -granate hat eine ähnliche Wirkung wie die erste Atombombe, die<br />

Hiroshima zerstört hat. Da die taktischen Atomwaffen heute in großer Zahl vorhanden sind,<br />

würde ihre zerstörende Wirkung im ganzen sehr viel größer sein. Als ‘klein’ bezeichnet man<br />

diese Bombe nur im Vergleich zur Wirkung der inzwischen entwickelten ‘strategischen’ Bomben,<br />

vor allem den Wasserstoffbomben.<br />

Zweitens: Für die Entwicklungsmöglichkeiten der lebensausrottenden Wirkung der strategischen<br />

Atomwaffen ist keine natürliche Grenze bekannt. Heute kann eine taktische Atombombe eine<br />

kleinere Stadt zerstören, eine Wasserstoffbombe aber einen Landstrich von der Größe des<br />

Ruhrgebietes zeitweilig unbewohnbar machen. Durch Verbreitung von Radioaktivität könnte<br />

man mit Wasserstoffbomben die Bevölkerung der Bundesrepublik heute schon ausrotten. Wir<br />

kennen keine technischen Möglichkeit, große Bevölkerungsmengen vor dieser Gefahr sicher zu<br />

schützen. (...)<br />

Wir fühlen keine Kompetenz, konkrete Vorschläge für die Politik der Großmächte zu machen.<br />

Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, daß es sich heute noch am besten<br />

schützt und den Weltfrieden noch am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf<br />

den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet. Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichneten<br />

bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner<br />

114Ebd., S. 19f.<br />

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Weise zu beteiligen. Gleichzeitig betonen wir, daß es äußerst wichtig ist, die friedliche<br />

Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern, und wir wollen an dieser Aufgabe wie<br />

bisher mitwirken.<br />

12. April 1957 115<br />

Atomgedicht 57<br />

Achtzehn Professoren durchbrachen<br />

Das tobende Schweigen der Schallmauer,<br />

Aufgebaut von bezahlter Journaille<br />

Um den Massenmordplan.<br />

Aber, meine Herren, was geht denn Sie das an?<br />

Sie glauben, daß man einfach hereinreden kann?<br />

Das ist doch Politik, wovon Sie nichts verstehen!<br />

Mund halten, weiterforschen!<br />

Sie sind gar nicht gefragt!<br />

Keine Diskussion! Weitergehn!<br />

Seit Generationen wuschen sie<br />

Die Hände in reiner Wissenschaft.<br />

Die Folgen haben sie nie gewollt.<br />

Endlich machten achtzehn den Mund auf,<br />

Männer zeigten Herz.<br />

Aber meine Herren, was gehn Sie die Folgen an?<br />

Sie glauben, daß man einfach hereinreden kann?<br />

Machen Sie Ihre Arbeit, wovon Sie etwas verstehn!<br />

Haben Sie denn kein Berufsethos?<br />

Sie sind außerdem nicht gefragt!<br />

Keine Diskussion! Weitergehn!<br />

115Ebd., S. 18f. Zu den Unterzeichnern gehörten die Professoren Fritz Bopp, Max Born, Rudolf<br />

Fleischmann, Walther Gerlach, Otto Hahn, Otto Haxel, Werner Heisenberg, Hans Kopfermann, Max von<br />

Laue, Heinz Maie Leibnitz, Josef Mattauch, Friedrich-Adolf Paneth, Wolfgang Paul, Wolfgang Riezler,<br />

Fritz Straßmann, Wilhelm Walcher, Carl Friedrich von Weizsäcker.<br />

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„Ihre Kinder an sich drückend<br />

Stehen die Mütter und durchforschen<br />

Angstvoll den Himmel nach den Erfindungen<br />

der Gelehrten.“<br />

Aber meine Herren, was gehn Sie Kinder an?<br />

Sie glauben, daß man einfach hereinreden kann?<br />

Das ist unsere Politik, wovon Sie nichts verstehn!<br />

Überlassen Sie das den Fachleuten!<br />

Keine Diskussion! Auseinandergehn!<br />

Gerd Semmer, 1957 116<br />

Der Ball ist rund und die Republik läßt es sich gutgehen<br />

Es gibt neben der politisierten Republik freilich auch jene des stetig wachsenden Luxus,<br />

der Nierentische und des genußvollen UKW-Empfangs am Kofferradio. Wer die Augen nur<br />

halboffen hat, der kann es sich bequem einrichten. Die Werkstoffe Schaumgummi, Trevira<br />

und PVC sind neben dem „Starmix“-Küchengerät und dem Nyltest-Hemd die<br />

Versprechungen der Zeit. Die Republik im Westen hat mit den fünfziger Jahren äußerlich<br />

wieder Tritt gefaßt. Freddy Quinn trällert seinen „Heimat“-Song, Cornelia Froboess - noch<br />

ganz Kinderstar - darf ihre Badehose fürs „kleine Schwesterlein“ einpacken und Rudi<br />

Schuricke schmelzt für die ersten wohlhabenden Italienurlauber sein Capri-Lied in den<br />

Äther:<br />

Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt,<br />

Und vom Himmel die bleiche Sichel des Mondes blinkt<br />

Zieh'n die Fischer mit ihren Booten aufs Meer hinaus,<br />

Und sie legen in weitem Bogen die Netze aus.<br />

Nur die Sterne, sie zeigen ihnen am Firmament,<br />

Ihren Weg mit den Bildern, die jeder Fischer kennt,<br />

116Zitiert in: Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd 4, S. 227.<br />

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Und von Boot zu Boot das alte Lied erklingt,<br />

Hör' von fern, wie es singt:<br />

Bella, bella, bella Mari,<br />

Bleib mir treu, ich komm zurück morgen früh!<br />

Bella, bella, bella Mari, vergiß mich nie! 117<br />

Die Schlager der Zeit mimen auf unerschütterlichen Optimismus. Lieschen Müller hat<br />

wieder etwas zu knabbern und muß gar höllisch aufpassen, daß sie von der Fresswelle<br />

nicht ganz verschlungen wird. Peter Frankenfeld und Liselotte Götz warnen am 12.<br />

Dezember 1950 die Radiohörer des Süddeutschen Rundfunks vor den fatalen Folgen.<br />

Das Essen ist Frau Müllers Lust,<br />

das Essen ist Frau Müllers Lust, das E-e-s-s-e-n.<br />

Sie ißt und frißt von früh bis spät,<br />

kein Wunder, daß sie in die Breite geht,<br />

daß die schlanke Linie pleite geht,<br />

kein W-u-u-n-d-e-r. 118<br />

Seit dem 1. März des Jahres sind die Lebensmittelkarten endgültig abgeschafft. Es<br />

scheint alles in Butter. Die Regenbogenpresse bejubelt 1951 die persische<br />

„Märchenhochzeit“ von Soraya und Schah Reza Pahlevi auf dem Pfauenthron. In<br />

Westminster läuten zwei Jahre später die Glocken für Königin Elisabeth II. von<br />

Großbritannien. Das Fernsehen inszeniert die erste weltweite Übertragung, die<br />

„Fernseh“-Queen ist geboren. Wer es sich leisten kann, fährt Mitte des Jahrzehnts einen<br />

Hansa Borgward, bei knapperem Budget darf es eine Isetta oder der Vespa-Roller aus<br />

Italien sein. Persil ist immer noch Persil, und Bauknecht glaubt zu wissen, was sich<br />

Frauen wünschen. Auf dem Aktienmarkt spiegelt sich bald die Goldgräbermentalität derer,<br />

117Zitiert in: Politik und Unterricht, 1991, H. 4, S. 19.<br />

118Weber, Jürgen, 1987, Kassette IV/2, Nr. 1.<br />

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die es geschafft haben. Die Spuren des Krieges sind noch nicht getilgt, aber die<br />

Stimmung ist dank des „Wirtschaftswunders“ prächtig. Moskau läßt auf Initiative von<br />

Konrad Adenauer die letzten 10.000 Kriegsgefangenen wieder frei, eine humanitäre<br />

Aktion, die auch 12 Jahre später in repräsentativen Umfragen als die herausragende<br />

Leistung des Kanzlers benannt wird. Am 4. Juli 1954 wird das auf dem Schlachtfeld des<br />

Krieges geschlagene Deutschland Fußballweltmeister. Die Nation torkelt im Fußballglück,<br />

die britische Presse mutmaßt in ihren Schlagzeilen eine heimliche „Rache für Stalingrad“.<br />

Die sich formierende Freizeit-Nation sublimiert auf dem Rasen den verlorenen Krieg und<br />

zeigt ihre Zähne. Die Sprache der Fußballmatadore ist verräterisch wie eh und je. Was<br />

der Krieg verwehrt hat, erlaubt das runde Leder: dem Rest der Welt zu zeigen, daß die<br />

Nation (mindestens) in einer Disziplin unbesiegbar ist. Die Schlachtenbummler verstehen<br />

es so, der martialisch sprechende Reporter des Tages, Herbert Zimmermann, ohnehin,<br />

und die hypnotisierten Fußballer auf dem Platz ebenfalls.<br />

Fritz Walter erinnert sich:<br />

Auf engstem Raum spielen wir einander zu. Vergeblich warten die Ungarn auf Steilpässe oder<br />

weite Flanken. Nur wenn wir angegriffen werden, geben wir den Ball zu einem freistehenden<br />

Mann, nach vorn, zur Seite oder auch zurück. Eine sportlich durchaus korrekte Form, gut über<br />

die Zeit zu kommen. Niemand wird uns das verdenken. Natürlich erkämpfen sich auch die<br />

Ungarn den Ball wieder und stürmen dann mit letzter Kraft noch einmal gegen das Tor.<br />

Zwei Minuten noch. Eine Minute noch. Da bekommt Czibor bei einem überraschenden<br />

Flankenwechsel halbrechts in Strafraumhöhe den Ball. Er wird ihm direkt auf den Fuß serviert.<br />

Mir steht vor Schreck fast das Herz still. Jetzt, jetzt ist es passiert! denke ich, als Czibor aus<br />

sieben, acht Metern einen Mordsschuß losläßt. Er zielt in die kurze Ecke, auf die sich Toni zum<br />

Glück konzentriert. Blitzschnell geht unser Düsseldorfer zu Boden und befördert in fliegender<br />

Parade den Ball mit beiden Fäusten in Richtung Eckfahne. Ebenso schnell setzt Werner<br />

Kohlmeyer hinterher und will das Leder zum Linksaußen schlagen. In der Drehung rutscht es<br />

ihm ab ins Aus. In diesen Sekunden stand unser Sieg auf des Messers Schneide. Einwurf der<br />

Ungarn. Ich fange den Ball ab, versuchte ihn nach vorn zu schlagen. Aber das nasse Leder<br />

rutscht wieder ins Aus. Ist denn noch nicht Schluß? Schiedsrichter Ling müßte jetzt abpfeiffen.<br />

Ob er wegen Tonis Verletzung nachspielen läßt? Die Ungarn führen den Einwurf aus. In diesem<br />

Augenblick höre ich - Mister Ling steht nur ein paar Meter von mir entfernt - den ersehnten<br />

Schlußpfiff. Das Spiel ist aus! Das Unglaubliche ist wahr, das Unerwartete Wirklichkeit! Der<br />

Fußball-Weltmeister 1954 heißt Deutschland. 119<br />

119Zitiert in:Siepmann, Eckhard (Hrsg.), 1988, S. 441.<br />

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Freilich, das kritische Gewissen der Nation, das Kabarett auf der Bühne und im Film, es<br />

betreibt Spurensuche in Nischen und Winkeln und begnügt sich nicht mit dem Gebrüll in<br />

dem Stadion von Bern. Nach einem Roman von Hugo Hartung erzählen Heinz Pauck und<br />

Günter Neumann zum Beispiel in dem Kurt Hoffmann-Film Wir Wunderkinder (1958) ein<br />

ganz deutsches Märchen: Aufstieg und später Fall einer lokalen Nazigröße, die mit der<br />

Durchschnittsbiografie eines sympathischen Journalisten (Hansjörg Felmy) kontrastiert<br />

ist. Der Nazi-Terror wird nicht ohne Geschick mit satirischem Zugriff in seiner<br />

Menschenverachtung und Gewalt geschildert. Neumanns Texte zeichnen sich hier durch<br />

Witz und Biß aus, auch die neue Anpassung in der Ära Adenauer rückt in meisterlichen<br />

Couplets- und Kabarettnummern ins treffliche Schwarz-Weiß-Bild. Von der Kritik hat<br />

dieser im Genre ganz „besondere“ Film teilweise eine unverständliche Unterbewertung<br />

erfahren. Man spricht von „positivistischer Grundhaltung“ 120 , obwohl dieser filmische<br />

Gehversuch vor allem im furiosen Finale die Restauration gekonnt ins Bild rückt. Der<br />

kabarettistische Deutschlandfilm lebt übrigens nicht zuletzt von den köstlichen<br />

Gesangseinlagen, den Moritatensängern Wolfgang Müller und Wolfgang Neuss. 121 Der<br />

Spaß stimmt nachdenklich und gibt über die Generation der „Großväter“ mittels der<br />

pointierten Vergrößerung Auskunft. Das deutsche Lesebuch vom Kaiserreich bis<br />

Adenauer ist nicht zwangsläufig ein politischer Aufklärungsfilm. Gleichwohl ist die Satire<br />

mit deutlichem Strich gezeichnet. Das „Lied vom Wirtschaftswunder“ wird in diesen Jahren<br />

zu einem vergnüglichen Hit. Es beschreibt mustergültig Faules und Oberfaules im neuen<br />

demokratischen Staat und benennt die gärenden neonazistischen Umtriebe. Im<br />

„Gnadenfieber“ des Jahres 1954 kehrt die Justiz mit der Billigung des Bundestages sehr<br />

viel unter den Teppich. Das Straffreiheitsgesetz regelt den „Erlaß von Strafen und<br />

Geldbußen und die Niederschlagung von Strafverfahren und Bußgeldverfahren“ für<br />

Straftaten, die zwischen dem 1.10.1944 und dem 31.7.1945 verübt wurden. 122 Auch für<br />

NS-Verbrecher, die unter falschem Namen gelebt haben, gilt der befristete „Persilschein“.<br />

Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller nehmen solche von höchster Stelle dekretierte<br />

Moral aufs Korn.<br />

120Lexikon des Internationalen Films, S. 4336.<br />

121Der Autor hat den Film in der politischen Bildungsarbeit mehrfach und mit gutem Erfolg eingesetzt.<br />

122Vgl. Weber, Jürgen, 1987, S. 316<br />

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Das Lied vom Wirtschaftswunder<br />

Die Straßen haben Einsamkeitsgefühle,<br />

Aus Pappe und aus Holz sind die Gardinen,<br />

Und Bretter liefert nicht mehr die Fabrik!<br />

Den Zaun verdeckt ein Zettelmosaik.<br />

Nur ab und zu mal klappert eine Mühle,<br />

Wer rauchen will, der muß sich selbst bedienen,<br />

Ist ja kein Wunder, ist ja kein Wunder,<br />

Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg!<br />

Einst waren wir frei, nun sind wir besetzt!<br />

Das Land ist entzweit, was machen wir jetzt?<br />

Jetzt kommt das Wirtschaftswunder,<br />

Jetzt kommt das Wirtschaftswunder!<br />

Jetzt gibt's im Laden Karbonaden schon und Räucherflunder!<br />

Jetzt kommt das Wirtschaftswunder,<br />

Jetzt kommt das Wirtschaftswunder!<br />

Der deutsche Bauch erholt sich auch<br />

Und ist schon sehr viel runder!<br />

Jetzt schmeckt das Eisbein wieder in Aspik!<br />

Ist ja kein Wunder, ist ja kein Wunder.<br />

Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg!<br />

Die Läden offenbaren uns wieder Luxuswaren,<br />

Wer Sorgen hat, hat auch Likör und gleich in hellen Scharen!<br />

Man muß beim Autofahren nicht mehr mit Brennstoff sparen!<br />

Die ersten Nazis schreiben fleißig ihre Memoiren,<br />

Denn den Verlegern fehlt es an Kritik!<br />

Ist ja kein Wunder, ist ja kein Wunder,<br />

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Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg.<br />

Wenn wir auch ein armes Land sind,<br />

Zeig'n wir, daß wir imposant sind!<br />

Und so ziemlich abgebrannt sind!<br />

Weil wir etwas überspannt sind!<br />

Wieder hau'n wir auf die Pauke!<br />

Wir leben Hoch! Hoch! Hoch! Hoch! Hoch! Hoch! Hoch! Hoch!<br />

Das ist das Wirtschaftswunder, das ist das Wirtschaftswunder!<br />

Zwar gibt es Leut', die leben heut<br />

noch zwischen Dreck und Plunder.<br />

Doch für die Naziknaben,<br />

Die das verschuldet haben,<br />

Hat unser Staat viel Geld parat und<br />

Spendet Monatsgaben!<br />

Wir sind 'ne ungelernte Republik!<br />

Ist ja kein Wunder, ist ja kein Wunder,<br />

Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg.<br />

Aus dem Film“ Wir Wunderkinder“ 1958.<br />

Text: Günter Neumann, Musik: Franz Grothe 123<br />

Der Reflex auf die neuen Machtverhältnisse in der Republik, die Kritik an einer<br />

Wirtschaftspolitik, die den ohnehin Habenden zu weiterem Wohlstand verhilft und die<br />

sozial Schwachen wie gehabt im Schatten stehen läßt, kann mit vielen Kabarettnummern<br />

belegt werden. Die zweite Bundestagswahl endet mit einem überwältigenden Sieg der<br />

CDU/CSU (45,2%). Konrad Adenauer beruft im Oktober 1953 sein Kabinett, der<br />

Wiederaufbau floriert, drei Jahre später speckt der Kanzler das Kabinett auf 16 Minister<br />

ab, Generalmajor Reinhard Gehlen baut mit Billigung der Alliierten wieder einen<br />

Nachrichtendienst auf. 124 Alles läuft nach Plan, alles steuert peu à peu auf die<br />

123Kabarett 1946-1969, CD 1,Nr.12; Text u.a. in: Hippen, Reinhard, Das Kabarett-Chanson, 1986, S. 152f.<br />

Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 4, S. 126f.<br />

124Vgl. Friedrich, Jörg, in: Hafner, Georg M., Jacoby, Edmund, 1992, S. 26.<br />

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Wiederbewaffnung zu, die am 2. Januar 1956 mit der Einberufung von 1.000 Freiwilligen<br />

praktisch besiegelt ist. Joachim Hackethal schreibt auf diesem zeitgeschichtlichen<br />

Hintergrund das raffinierte Lied von der „Bundesmodenschau“, einer komplexen Metapher<br />

auf das neue Bonner Klima. Ursula Noack singt die kleine kabarettistische Kostbarkeit.<br />

Die Anspielungen aus der Zeit sind souverän drapiert, die Decodierung der Bezüge<br />

können die Zuschauer der Zeit bei den Amnestierten unschwer lösen.<br />

Die Bundesmodenschau<br />

Ich begrüße Sie herzlich, meine Damen,<br />

und auch die Herren, die mit Ihnen kamen<br />

zur großen Bundesmodenschau –<br />

oh, hier ist noch ein Platz frei, gnädige Frau!<br />

Ich bitte um Ruhe und Aufmerksamkeit!<br />

Laufsteg frei für das erste Kleid!<br />

Sehr viele Bonner Damen wählen<br />

das Modell Geheim aus dem Hause Gehlen;<br />

vorne zu und hinten geschlossen,<br />

der Stoff undurchsichtig und etwas verschossen,<br />

er stammt nämlich noch aus dem letzten Krieg,<br />

obwohl das Modell jüngst im Preise stieg.<br />

Wiewohl sehr prunkvoll in der Gestaltung,<br />

verleiht es doch abwehrende Haltung.<br />

Die Taschen in V -Form, unsichtbar verbunden,<br />

ein Kleid so richtig für Dämmerstunden.<br />

Ein Tusch! Und erneute Aufmerksamkeit,<br />

Laufsteg frei für das nächste Kleid!<br />

Das Modell Konjunktur wird an heißen Tagen<br />

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von den Bonner Damen bevorzugt getragen,<br />

weil es in keiner Weise beengt.<br />

Es läßt sehr viel Spielraum nach unten und hängt<br />

an hauchdünnen Trägern aus schwarzem Kredit,<br />

die man beliebig verkürzt, wenn es zieht.<br />

Der Unterbesatz aus buntem Diskont.<br />

Er kann heraufgesetzt werden, wenn es sich lohnt.<br />

Die Qualität des Modells ist es nicht, was wirkt.<br />

Wichtig ist, daß es vieles verbirgt.<br />

Einen Tusch! Und erneute Aufmerksamkeit,<br />

Laufsteg frei für das nächste Kleid!<br />

Das Modell Juliusturm aus dem Hause Schäffer<br />

bezeichnet man gewöhnlich als den besten Treffer.<br />

Denn je nachdem, an welchen Tagen,<br />

kann man es doppelseitig tragen:<br />

Die eine Seite schäbig und ärmlich,<br />

ein wenig zerschlissen und ziemlich erbärmlich,<br />

trägt man gewöhnlich bei Rentendebatten<br />

und im deutschen Wirtschaftswunderschatten.<br />

Die schäbige Form ist auch noch zu preisen<br />

bei Gewerkschaftsempfängen und Auslandsreisen.<br />

Die andere Seite - reich, goldverziert<br />

und sechzigmilliardenfach demarkiert<br />

trägt man gewöhnlich bei Haushaltsdebatten<br />

und beim Besuch exotischer Potentaten.<br />

Als Steuersäckel getarnt sind die Taschen,<br />

außen verdeckt durch weite Maschen.<br />

Und ist der Inhalt auch noch so schwer,<br />

man hat stets das Gefühl, der Säckel sei leer.<br />

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Ein Tusch! Und erneute Aufmerksamkeit,<br />

Laufsteg frei für das nächste Kleid!<br />

Das Modell Verfassung wurde gerade geändert<br />

und ein wenig auf zackig gerändert.<br />

An den Hals kam ein engangliegender Wickel,<br />

auch benötigt das Kleid wieder etliche Zwickel.<br />

Man versucht es zwar schon mit Gummizügen,<br />

doch das wollte dem Zuge der Zeit nicht genügen.<br />

Es war zu eng für die Bonner Figuren,<br />

trotz mancherlei Kuren.<br />

Ein Tusch! Und erneute Aufmerksamkeit,<br />

Laufsteg frei für das nächste Kleid!<br />

Das Modell Kabinett aus schwarzem Ressort<br />

herrscht neuerdings im Straßenbild vor.<br />

Es war kürzer und wird seit einigen Tagen<br />

nur noch mit 16 Knöpfen getragen.<br />

Doch sind auch von diesen Knöpfen fast alle entbehrlich,<br />

weil letztlich die Konradin-Schnalle das ganze Modell zusammenhält,<br />

und alles stürzt, wenn die Schnalle fällt.<br />

Ein Tusch! Und erneute Aufmerksamkeit,<br />

Laufsteg frei für das nächste Kleid!<br />

Meine Damen und Herren, Sie sehen jetzt unseren Dernier cri,<br />

ein Import-Modell aus den USA, das Luxus-Kleid Demokratie.<br />

Das, meine Damen und Herren, war wirklich noch nicht da.<br />

Ich bitte Sie, diesem Modell Ihr Auge zu leihen.<br />

Ehm, was ist denn das?<br />

Oh, meine Damen und Herren,<br />

bitte, Sie müssen verzeihen,<br />

142


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aber der Mannequin weigert sich, nackt zu kommen,<br />

der Importeur hat das Kleid wieder mitgenommen.<br />

Text von Joachim Hackethal, gesungen von Ursula Noack 1957 bei<br />

den „Amnestierten“ 125<br />

Vermauertes und Vernageltes. Die sechziger Jahre<br />

zwischen Aufbruch und Protest<br />

Eiszeit in den Köpfen<br />

Westdeutschland rüstet sich zum vierten Bundestagswahlkampf, als in den<br />

Nachmittagsstunden des 13. August 1961 unter dem Schutz gepanzerter Einheiten die<br />

Nationale Volksarmee Sperren gegen die Westsektoren Berlins errichtet. Vier Divisionen<br />

der bewaffneten DDR-Einheiten sind nach Berlin beordert, Staatssicherheitschef Mielke<br />

hat bei Androhung der standrechtlichen Erschießung äußerste Diskretion erzwungen und<br />

auch die westlichen Geheimdienste hinreichend getäuscht oder im unklaren gelassen. Die<br />

anschwellende Flüchtlingslawine von Ost nach West - im April verlassen allein 30 000<br />

Menschen die DDR droht zur ökonomischen Katastrophe für das Ulbricht-Regime zu<br />

werden, 50 Prozent der Flüchtlinge sind Jugendliche unter 25 Jahre, die dem<br />

sozialistischen „Arbeiter- und Bauernstaat“ den Rücken kehren. Die überrumpelten<br />

Westalliierten greifen nicht ein, während Betriebskampfgruppen und Soldaten die<br />

Sektorengrenze systematisch abriegeln und den Steinwall errichten. Von nun an gilt der<br />

Schießbefehl, die Bernauerstraße erlangt triste Berühmtheit durch ihre Toten, die<br />

verzweifelten Zeugnisse eines letzten Fluchtversuchs.<br />

Wie die Mauer zu beseitigen sei, das ist die bestimmende Frage in den Debattierklubs am<br />

Stammtisch, aber auch im Bundestag. Protestierende Bürger im Westen bauen jeweils am<br />

Jahrestag symbolische Gedenkmauern quer durch belebte Geschäftsstraßen. 126 Die<br />

Betroffenheit ist zum Teil echt, aber auch mit ganz handfesten merkantilen Interessen<br />

125Kabarett 1946-1969, CD 1, Nr. 9.<br />

143


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gepaart, wie bei der Bildzeitung. Sie zählt von nun an im Titelblatt das Bestehen der<br />

„Schandmauer“ Tag für Tag mit. Erst nach Jahren wird das Spiel des bigotten Protestes<br />

aufgegeben. Auch dem greisen Kanzler am Rhein, Konrad Adenauer, kommt die<br />

Entwicklung der Mauerkrise nicht einmal ungelegen, zementiert das Bollwerk doch für<br />

jedermann sichtbar die Teilung der Welt. Über die Wiedervereinigung läßt sich von der<br />

Regierungsbank zwar weiterhin vollmundig sprechen, doch Handlungen in diese Richtung<br />

sind überflüssiger denn je. Die Mauer schützt über drei Jahrzehnte vor der Überprüfung<br />

eigener politischer Positionen, sie zementiert eine Spaltung, die vielen Politikern und<br />

Intellektuellen nicht unwillkommen ist. Das Gabenpaket in die „Zone“ mit steuerlicher<br />

Absetzbarkeit ist allemal die bequemere Variante im Vergleich mit den denkbaren<br />

Problemen, die ein wiedervereinigtes Deutschland mit sich bringen würde. Trauer über die<br />

Gegenwart und die Teilung ist im Parlament angesagt, doch wer was wirklich denkt, ist<br />

von den Politikern so ohne weiteres nicht zu erfahren. Umfragen vor der Wahl im<br />

November 1961 zeigen den Vertrauensverlust des Kanzlers. 47 Prozent der Befragten<br />

meinen immerhin, er habe sich in der Krisenzeit „nicht richtig“ verhalten, nur 31 Prozent<br />

stützen ihn noch.<br />

Aus Berliner Sicht, aus der Sicht der Bedrohten, aus der Perspektive der RIAS-Insulaner<br />

ist die Einschätzung verhältnismäßig einfach. „Die Mauer muß weg“, so lautet die Devise.<br />

Am Brennpunkt des Kalten Krieges ist keine Zeit für Psychologisieren, an<br />

Ursachenforschung - zumal dann, wenn am Haus gezündelt wird - ist niemand<br />

interessiert, auch Günter Neumann nicht. Er läßt in schweren Berliner Tagen das<br />

Insulaner-Lied durch den Durchhalte-Song Woll'n wir wetten? ersetzen. Neumann gibt wie<br />

in früheren Tagen Unterricht im Überlebenskampf gegen den Osten. Die Rechnung ist die<br />

nämliche wie vor dem Mauerbau, und überhaupt: Der Westen wird siegen.<br />

Woll'n wir wetten?<br />

1.<br />

126Das gilt auch für die kleineren Städte, z.B. Schauplatz Esslingen am Neckar, Innere Brücke. Hier wurde<br />

die Einkaufsstraße am Jahrestag symbolisch „zugemauert“.<br />

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Berlin is eine schöne Stadt,<br />

die Mumm und Lebensfreude hat,<br />

drum zuppelnse ooch immer an uns rum.<br />

Da muß man gute Nerven haben,<br />

und daß wir die Nerven haben,<br />

das nimmt uns der kleene Ulbricht krumm.<br />

Auch daß hier gute Freunde sitzen,<br />

und daß uns die Freunde schützen,<br />

davor is dem Spitzbart mehr als mies.<br />

Obendrein kommt vom Westen<br />

oft 'ne Schar von Gästen,<br />

nehm'n Se nur die vielen Kennedys.<br />

Woll'n wir wetten,<br />

woll'n wir wetten,<br />

woll'n wir wetten<br />

woll'n wir wetten,<br />

wer sich von uns länger hält:<br />

Herr Ulbricht oder Berlin?<br />

Woll'n wir wetten,<br />

was Bestand hat auf der Welt?<br />

Herr Ulbricht oder Berlin?<br />

Denn wenn Ulbricht längst kassiert is<br />

oder gar am Kinn rasiert is,<br />

bleibt Berlin - immer noch Berlin!<br />

Denn wenn Ulbricht längst jeschaßt is<br />

oder wenn er gar im Knast is,<br />

bleibt Berlin - immer noch Berlin!<br />

2.<br />

Was sahn wir in den wilden Tagen<br />

hier für 'n Haufen Möbelwagen,<br />

weil so mancher nach dem Westen fuhr.<br />

145


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Dann hörten draußen die Jewitzten,<br />

daß se ohne Anlaß flitzten,<br />

und nu kam'n se reumütig retour.<br />

Ein oller Urberliner Knacker<br />

von Beruf her Möbelpacker<br />

schleppte 'ne Kommode mit Elang.<br />

Und zum Kunden sprach er bieder:<br />

Türmen Sie schon wieder?<br />

Nehm' Se doch een Abonnemang!<br />

Woll'n wir wetten,<br />

woll'n wir wetten,<br />

woll'n wir wetten<br />

woll'n wir wetten,<br />

wer sich von uns länger hält:<br />

Herr Ulbricht oder Berlin?<br />

Woll'n wir wetten,<br />

wer aus de Pantinen fällt:<br />

Herr Ulbricht oder Berlin?<br />

Denn kiekt Ulbricht in der Fremde<br />

ziemlich dußlich aus dem Hemde,<br />

bleibt Berlin - immer noch Berlin!<br />

Und sind alle für uns schwier jen<br />

Volksbeglücker in Sibirien,<br />

bleibt Berlin - immer noch Berlin!<br />

(...)<br />

Die Insulaner, März 1962 127<br />

Auch die anderen Kabarett-Ensembles melden sich sehr bald mit dem Thema „Mauer“ zu<br />

Wort. Die Mauer fungiert fortan als Metapher für politische Unvernunft schlechthin, für die<br />

Konfrontation zwischen Blöcken, Menschen und Systemen. Das in Beton gegossene<br />

Bauwerk eignet sich in besonderer Weise für assoziative Sprünge und Pointen. Es dient<br />

127Zitiert in: Sweringen, van Bryan T., 1989, S. 169ff.<br />

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zur Codierung der verschiedensten politischen Widersprüche, es taugt zur Kombination<br />

von zunächst Unvereinbarem. Mit Mauer und Demarkationslinien lassen sich - trefflich für<br />

die Bretter- und Fernsehkunst - ideologische Verkrustungen anreißen. Die Mehrzahl der<br />

Künstler sehen hinter dem Symbol der Teilung eben mehr als eine faktische, auch<br />

todbringende, Grenzziehung. Wo das deutschsprachige Kabarett auf dem Höhepunkt der<br />

Zeit und mit ihr agieren kann, weitet sich das Bild zur kritischen Zwischenbilanz einer bis<br />

dato objektiv gescheiterten Deutschlandpolitik. Damit verbunden ist die Erkenntnis, daß<br />

bislang nichts zu bewegen ist, auch nicht durch die beiderseitigen<br />

Konfrontationsstrategien im Kalten Krieg. Dieter Hildebrandt beschreibt die gängigsten<br />

Muster der deutsch-deutschen Empörung, sie sind gleichzeitig eine Schule des privaten<br />

und öffentlichen Euphemismus, des Schönredens aus sehr durchsichtigem Anlaß.<br />

Die Mauer<br />

(Vor der Mauer versammelt sich eine Schulklasse aus „dem Westen „. Der Lehrer baut sich zu<br />

einer Belehrung auf.)<br />

Lehrer: Jungs und Mädels! Wir stehen vor der deutschen Schicksalsmauer, und was denken wir<br />

dabei?<br />

Schülerin: Daß wir nächste Woche darüber einen Schulaufsatz schreiben müssen.<br />

Lehrer: Nein. Sondern?<br />

Schüler: Daß es eine Schande ist.<br />

Lehrer: Richtig. Und was denken wir noch?<br />

Schülerin: Daß sie wieder weg muß!<br />

Lehrer: Gut. Und wie?<br />

Schüler: Indem wir ... indem wir ... indem die ... Weiß nicht, also wie?<br />

Lehrer: Das weiß ich auch nicht, wir haben sie ja schließlich nicht hingemacht!<br />

Schülerin: Nein, das waren die da drüben, weil sie Angst vor uns haben.<br />

Lehrer: Und ist das berechtigt?<br />

Schülerin: Na klar! Immer wenn wir Onkel Max in Neuruppin besuchen, sagt der: Jetzt kommen<br />

die Angeber wieder mit ihren Scheiß-Appelsinen!<br />

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(Schulklasse ab. Eine Referentin tritt auf, ihr nachfolgend der Minister.)<br />

Referentin: Fahren Sie den Wagen des Herrn Ministers vor, wir sind in Eile! Das ist sie, die<br />

Mauer, Herr Minister. Wie sind Ihre Eindrücke?<br />

Minister: Ich bin erschüttert.<br />

Referentin: Dort ist Ihr Wagen, Herr Minister. (Beide gehen schnell ab. Zwei Herren betreten das<br />

Aussichtspodium.)<br />

Produzent: Das ist sie, Schleierkorn! Habe ich Ihnen zuviel versprochen?<br />

Schleierkorn: Fabelhaft beklemmend!<br />

Produzent: Eben. Da muß Ihnen doch was einfallen. Hier Deutschland - da Deutschland - in der<br />

Mitte die Mauer! Ist das ein Film? Was? Schleierkorn: Toller Stoff. Den Film mache ich.<br />

Produzent: Aber hart!<br />

Schleierkorn: Na ja, wenn ich mir das so überlege ...<br />

Produzent: ... wie tief das gehen kann!<br />

Produzent: Mit Berlin?<br />

Schleierkorn: Nein mit dem Stoff.<br />

Produzent: Schleierkorn! Der Stoff schreibt sich von selbst!<br />

Schleierkorn: Haha. Der Billy Wilder hat einen Ost-West-Stoff gemacht, der war heiter, da kam<br />

die Mauer dazwischen - aus. Stellen Sie sich vor, wir machen einen harten Stoff ganz ernst<br />

und ...<br />

Produzent: Und?<br />

Schleierkorn: Und die Mauer ist weg!<br />

Produzent: Malen Sie den Teufel nicht an die Wand.<br />

Die Berliner Stachelschweine, 28. August 1961 128<br />

128Hildebrandt, Dieter, Was bleibt mir übrig, 1989, S. 133ff.<br />

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Die Vermarktung der Mauer in Film und Pädagogik ist hier trefflich eingefangen und<br />

berührt den ambivalenten Mauer-Protest zu Beginn der sechziger Jahre: Das Bauwerk ist<br />

das materielle Korrelat zum sklerotisierten politischen Bewußtsein. Der Ruf nach<br />

Mauerabriß trägt a priori Spuren der Halbherzigkeit und des rhetorisch geschulten<br />

Euphemismus in sich. Das Gesagte wird nicht mit Ernsthaftigkeit verfolgt, die Herolde des<br />

Westens bedienen sich ein um das andere Mal der „uneigentlichen“ Redeweise. Das Alsob<br />

beherrscht den Zungenschlag über den Berliner Status. Hannelore Kaub leuchtet in<br />

das neue ideologische Schattenreich tief hinein und bringt 1963 die doppelte Moral der<br />

Politiker scharfzüngig aufs Tapet. Diese Offenherzigkeit und Direktheit bekommt der<br />

Leiterin des Bügelbretts indessen nicht. Für die Fernsehaufzeichnung im Juli 1964 wird<br />

das Chanson auf Weisung wieder flugs aus dem Programm genommen, ein Fall von<br />

Zensur. Die hehren deutsch-deutschen Gefühle will sich das Fernsehen nach den Berlin-<br />

Bekenntnissen des John F. Kennedy jedenfalls nicht entweihen und beschmutzen lassen.<br />

Und jeden Tag ein Stück<br />

Am 13. August 1961 begann der Bau der Mauer durch die Regierung der DDR.<br />

Kein Mensch im Westen hat sie gewollt, und jeder von uns verurteilt sie. Und<br />

denoch wird sie täglich höher, denn wir ...<br />

Wir bauen an der Mauer,<br />

und jeden Tag ein Stück.<br />

Wir bauen an der Mauer<br />

mit tränenfeuchtem Blick.<br />

Wir bauen mit Verbissenheit,<br />

wir bauen für die Ewigkeit,<br />

und merken's nicht einmal.<br />

Wir bauen an der Mauer<br />

gedankenlos und satt,<br />

wir bauen an der Mauer,<br />

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weil man die riesengroße Angst im Nacken hat.<br />

Ein bißchen Lüge und nicht dran denken,<br />

doch jeden Festtag gesamt-gerührt.<br />

Ein paar Briketts per Päckchen schenken –<br />

wir mögen nicht, wenn unser Bruder friert.<br />

Pauschales Mißtrau'n, pauschale Liebe<br />

für den Bruder, den man nur aus Briefen kennt.<br />

Pauschales Mitleid, pauschale Lüge,<br />

doch im Grunde ist uns unser Bruder fremd.<br />

Wir haben ihn zu lange warten lassen,<br />

wir rieten ihm nur immer: hab Geduld!<br />

Eines Tages wird uns unser Bruder hassen,<br />

er wird sagen: Ihr im Westen, ihr seid schuld!<br />

Was haben uns in diesen vielen Jahren<br />

eure Worte und Versprechen denn genützt?<br />

Wir haben auf euch gehofft und nur erfahren,<br />

daß ein Weihnachtsstollen nicht vor Hunger schützt.<br />

Wir bauen an der Mauer<br />

aktiv und resolut.<br />

Wir bauen an der Mauer<br />

und meinen's doch nur gut.<br />

Wir bauen an der Mauer,<br />

und jeden Tag ein Stück.<br />

Wir bauen an der Mauer<br />

mit tränenfeuchtem Blick.<br />

Wir haben stets auf Gott vertraut<br />

und still-ergeben zugeschaut,<br />

ob sich das Wunder tut.<br />

Wir bauen an der Mauer<br />

mit Phrasen und Geschick.<br />

150


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Wir bauen an der Mauer<br />

mit dieser fünfzehn Jahre falschen Politik.<br />

Und einmal jährlich ein Tag der Einheit,<br />

mit Richard Wagner - ein Volk hat frei.<br />

Man spricht von Einheit in Frieden und Freiheit,<br />

als ob das nicht ganz selbstverständlich sei.<br />

Wann wird man aufhören mit dem Bekennen<br />

und der Wunschvorstellung: Was wir tun, ist gut!<br />

Wann wird man die Dinge beim Namen nennen?<br />

Warum fehlt uns denn für Tatsachen der Mut?<br />

Warum können wir die Wahrheit nicht vertragen,<br />

daß man Chancen, die wir hatten, glatt vertat?<br />

Warum darf man es nicht laut und offen sagen,<br />

daß da drüben ist ein zweiter deutscher Staat?<br />

Man kann nicht nur von der deutschen Einheit träumen,<br />

es ist nötig, daß man mit den andern spricht.<br />

Doch das heißt, Kompromisse einzuräumen.<br />

Na, wir wollen doch die Einheit. Oder nicht?<br />

Wir bauen an der Mauer<br />

verbissen wie noch nie.<br />

Wir bauen an der Mauer<br />

und einer Utopie.<br />

Wir bauen an der Mauer<br />

und jeden Tag ein Stück.<br />

Wir bauen an der Mauer<br />

mit tränenfeuchtem Blick.<br />

Wir hören, wie's dort drüben ist,<br />

fast jeder ist ein Kommunist,<br />

nur unser Bruder nicht.<br />

Wir bauen an der Mauer,<br />

151


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verdummt und schizophren.<br />

Wir bauen an der Mauer,<br />

und das Ende ist vorerst nicht abzuseh'n.<br />

Selbständig handeln, politisch denken<br />

hat unser Staat uns nicht gelehrt.<br />

Es wurde immer schon bewußt nicht aufgeklärt.<br />

Und dann die Angst und das Erkennen:<br />

die da drüben sind geschult und instruiert –<br />

man wird uns geistig überrennen –<br />

wir sind in Kürze kommunistisch infiltriert.<br />

Das fürchtet man und ist darum dagegen.<br />

Diese Haltung ist gefährlich doch bequem.<br />

Dabei sind wir doch dem Osten überlegen<br />

mit unsrem westlich demokratischen System.<br />

Wir woll'n das ganze Deutschland neu vereinen<br />

ohne Opfer und reale Konzeption.<br />

Doch solange wir den zweiten Staat verneinen,<br />

bleibt die deutsche Einheit eine Illusion.<br />

Wir bauen an der Mauer,<br />

und jeden Tag ein Stück.<br />

Wir bauen an der Mauer<br />

mit tränenfeuchtem Blick.<br />

Und wenn die Wiedervereinigung kommt - die Mauer, die<br />

der Osten errichtet hat, ist an einem Tag niedergerissen,<br />

doch die geistige Mauer, an der wir beide arbeiten, wird<br />

in zehn Jahren noch nicht abgetragen sein.<br />

Hannelore Kaub, 1963 129<br />

129Kabarett 1946-1969, CD 3, Nr. 5; Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 4, S. 243f.<br />

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Was vor dreißig Jahren der Fernsehzensur zum Opfer fällt, weil das Medium Fernsehen<br />

sich wieder einmal als verlängerter Arm der Regierungsgewalt versteht, das klingt heute<br />

wie eine weitsichtige Offenbarung, die die Schwierigkeiten der Deutschlandpolitik der<br />

neunziger Jahre beschreibt. Das Lied der Hannelore Kaub darf rückblickend als die<br />

scharfsinnigste „Mauer-Analyse“ im deutschsprachigen Kabarett der Zeit bezeichnet<br />

werden. Der Blickwinkel ist analytisch und beschreibt die vorgefundene Wirklichkeit in<br />

ihrer doppelten Facette. Nicht nur die Mauer hat geteilt, auch der Westen gibt sich Janusgesichtig.<br />

Deutsches Tremolo bestimmt die Lieder an der Mauer der Klage und verdeckt<br />

das politische Kalkül der Regierungen Adenauer und Erhard. Beider Blick ist bis Mitte der<br />

sechziger Jahre - ungeachtet aller Beteuerungen stramm nach Washington und Paris<br />

gerichtet.<br />

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Der beredte Außenseiter - Wolfgang Neuss<br />

Vereinnahmen läßt sich das kabarettistische Urgestein Wolfgang Neuss, der Kabarettist<br />

mit der veritablen Metzgerlehre, nicht. Er gehört zu Berlin, die Stadt zu ihm: Der<br />

Exzentriker ohne Beispiel mischt sich nicht nur nebenbei ein, seine Nachrichten über das<br />

geteilte Deutschland lassen die Medien erzittern. Er ist ein Verfolger und Verfolgter, ein<br />

messianischer Eulenspiegel und ein salbadernder Guru. Er hat bis zu seinem Tod im Mai<br />

1989 nie die Bühne verlassen, auch nicht als zahnloser Aussteiger, als Kiffer und Fixer,<br />

der sich am Schluß seines Lebens dem Kulturbetrieb in gezielter masochistischer<br />

Provokation verweigert und von Sozialhilfe lebt und dies auch will. Er sympathisiert mit<br />

einer linken SPD, die es nicht gibt, wirbt 1965 für Willy Brandt im Wahlkampf und<br />

empfiehlt zugleich die DFU mit der Zweitstimme zu bedenken. Neuss liebt das<br />

Anarchische und überprüft sich und das System in allen Ecken und Nischen auf<br />

Glaubwürdigkeit. Im Berliner Abend verrät der Clown 1962 in einer privaten Anzeige, wer<br />

der „Halstuch“-Mörder in der Fernsehserie ist. Das Fernsehpublikum von West-Berlin tobt,<br />

die Presse ebenfalls. Es gibt Drohungen an die Adresse des deutschen Nonkonformisten,<br />

den unnachahmlichen Schnelldenker und Schnellsprecher, den Akrobaten der<br />

verwegenen und kruden Assoziation. Neuss - und dieses Dokument hat verpflichtenden<br />

Charakter – demontiert 1983 in einer Talk-Show des SFB den Regierenden Bürgermeister<br />

von Berlin und zukünftigen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker.<br />

Außerlich gezeichnet vom Abstieg in die soziale Randzone, vollführt Wolfgang Neuss hier<br />

in knapp bemessenen Sendeminuten - wild, exzentrisch, naiv und zudringlich-die verbale<br />

Ausbeinung des Politikers. Gemeinplätze des politischen Jargons desavouiert der<br />

Zahnlose, rhetorische Staffagen des Bürgermeisters zertrümmert der furiose Künstler und<br />

Kabarettist in einer wilden Kür. Nummerntheater und gelebtes Bekenntnis vermischen<br />

sich beispiellos. Der ins Fernsehen gerufene Clown holt aus, trifft sie alle noch mal, die<br />

Schönredner und Möchtegerns. Der Bogen, den Neuss gespannt hat, ist mit Pfeilen<br />

bestückt, die die Heuchler und Bigotten treffen.<br />

Im Jüngsten Gerücht, einer Solo-Nummer über Gott und die Welt, vor allem aber über<br />

Bonner und deutsch-deutsches Getümle, demonstriert Wolfgang Neuss ab Dezember<br />

154


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1963 im Domizil am Lützowplatz monomanische Kabarettkunst. Das Feuerwerk<br />

unverbindlicher Verbindlichkeiten, die Kaskaden des politischen Witzes machen ihn<br />

endgültig berühmt. Die Schallplattenindustrie kümmert sich jetzt auch um das Talent, und<br />

die Lobby beehrt die Gerüchtsverhandlung mit dem „Preis der deutschen<br />

Schallplattenkritik“.<br />

Das Jüngste Gerücht<br />

(Schlagzeugwirbel, von Neuss unterlegt)<br />

Faites votre jeu et venez au milieu!<br />

Guten Abend! Rauchend und trällernd begrüßt Sie hier ein Bebrillter. Ich rauche sehr gern. Sie<br />

doch auch, na klar?! Wer hat Angst vor Virginia Filter? Guten Abend! Guten Abend, auch Du<br />

politischer Banause! Wir können hier richtig deutsch diskutieren, richtig deutsch. Wir haben<br />

Verbandszeug im Hause. (Schlagzeug weiter.) Schön vorsichtig sein, hier im Keller. Der<br />

Rotwein ist getauft. Schon gehört? Der Neuss ist von der SPD gekauft. Schon gehört? Pfui<br />

Deibel! Das Schwein läßt sich mit Rompilgern ein. (Singt und johlt, Schlagzeug weiter.)<br />

Prinzessin Irene von Holland ist nach Spanien konvertiert, nicht zu fassen. Nun können wir ja<br />

wieder niederländische Eier nach Bayern lassen. Ein protestantischer Christ war in Madrid und<br />

stellt fest: Franco ist kein Faschist, sondern Antikommunist. Man beachte, daß da ein<br />

Unterschied ist. Guten Abend! Ich seh' Sie hier alle nicht ohne Rührung. Sie sehen so schön<br />

einig aus! Einig in der Passierscheinfrage, einig mit der Bundesregierung. (Schlagzeug weiter.)<br />

Nur keine Risikotaten ! Am 8. April nächste „Halstuch“-Folge. Ich glaube, ich muß bald mal<br />

wieder einen Mörder verraten! (Lachen des Publikums, Schlagzeug weiter.) Übrigens: Asylrecht<br />

kann ich hier nicht gewähren, am Schluß muß man raus aus dem Keller! Nur dadurch kann man<br />

wiederkehren. Wir alle müssen von der „Morgenpost“ genesen, wir müssen viel mehr Bücher<br />

lesen. Nächste Woche tagen im Reichstag die Bundestagsfraktionen - auch die CDU/CSU.<br />

Nanu, im Reichstag? Hat man was erkannt? Im Reichstag? Fürchtet man wieder Brand(t),<br />

Brand(t) im Reichstag? Bundesmickymaus Felix von Eckardt streut Gerüchte aus (Schlagzeug).<br />

Adenauer liest chinesische Gedichte. Chinesisch entspricht seinem Wesen. Das soll uns erst<br />

einer nachmachen: Mit 88 noch senkrecht lesen!<br />

Das jüngste Gerücht, hat mir Felix erzählt: Adenauer will Marlene Dietrich heiraten. Ich sage, na<br />

und? Muß er? - So meine Damen und Herren, spätestens an dieser Stelle beginnt die Pflicht, bis<br />

hierher war Kür. Ach, die Höcherl-Membrane hab ich noch nicht ausprobiert. Ich klage im<br />

Moment gegen Höcherl. Ich bin einer der wenigen Berliner Telefonbesitzer, die nicht abgehört<br />

werden. Ich meine, so unwichtig bin ich ja nun auch nicht, nicht? Ich sehe mir jede Woche einen<br />

polnischen Film an. Da muß man doch langsam abhörreif sein. Ich will mal ein richtiges Gerücht<br />

machen: Vor dem Bundesverfassungsgericht 1966 steht der ehemalige Außenminister Gerhard<br />

Schröder, Scheitel-Gerhard, my fair Schrödi, und sagt aus, daß er für seine englandfreundliche<br />

Politik im vergangenen Jahr von Augstein bezahlt wurde. Hui, ich merke schon, akustisch haut<br />

das alles hier noch gar nicht richtig hin. (Singt:)<br />

Sag mir, wo die Falken sind, wo sind sie gebl... (bricht ab). Die wollen doch nach Oslo, wollen<br />

die jetzt, ja. Und Senator Neubauer, der ist übrigens noch im Amt (lautes Lachen). Der hat eine<br />

völlig, der hat eine völlig neue Gerüchtslinie rausgegeben: Mit städtischem Reisegeld darf im<br />

155


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Ausland nicht mehr gelogen, sondern muß die Wahrheit verschwiegen werden. Also, wenn man<br />

das einhält, dann dürfen die Falken hin, wo sie wollen. (...) 130<br />

Zur Zeit der Studentendemonstrationen agiert und agitiert „der Große Kleine Mann, der<br />

vollkommene Kabarettist“ 131 selbstverständlich gegen die Schlachten im fernen Vietnam.<br />

Er erklärt dem Krieg den Krieg, nimmt an den Zirkeln des SDS teil. Doch kopflastiges<br />

Debattieren ohne Konkretion liegt ihm nicht. In dem autobiografischen Roman „Der Mann<br />

mit der Pauke“ nimmt sich das Zusammtreffen des Kabarettisten mit den Spontis,<br />

Dogmatikern und Kommunarden und Demonstranten recht amüsant aus:<br />

„Wir saßen am Ofen. Viele andere standen, Sie sollten die Demonstration besprechen, aber was<br />

man hörte, waren theoretische Erinnerungen an den Ursprung des Vietnamkrieges. Ich wollte<br />

sofort abhauen. Aber die Leute, die an der Tür standen und sie versperrten, sahen so düster<br />

aus, daß ich ängstlich sitzen blieb und ein intelligentes Gesicht machte, als ob ich den ganzen<br />

Quatsch tatsächlich verstehen würde. Die SDS-ler erinnerten sich weiter. Sie erinnerten sich<br />

derart intensiv an den Vietnamkrieg, daß sie daraus eine Wissenschaft machten. Man wußte<br />

nicht, wogegen sie eigentlich waren und wofür, und inzwischen wurde der Krieg immer<br />

schlimmer. Ich hatte mir vorgenommen, den Mund nicht aufzumachen. Außerdem hatte ich<br />

Angst, eine unheimliche Angst, mich zu blamieren.“ 132<br />

Der Protest gegen die amerikanische Kriegspolitik ist besonders in Berlin laut und<br />

vernehmlich. Die großen Zeitungskonzerne werden von der linken Szene als<br />

Ideologieträger dieser Politik entlarvt. „Haut dem Springer auf die Finger“ lautet das Motto,<br />

während die Demonstranten am Verlagsgebäude des Bechtle-Drucks in Esslingen a.N.,<br />

schwäbisch verkleinernd, „Bechtle, Bechtle - Springers Knechtle“ skandieren. Wolfgang<br />

Neuss rechnet mit der BILD-Zeitung auf seine Weise ab. Hannelore Kaub hat schon 1963<br />

ein ganzes Kabarettprogramm im Bügelbrett dem Massenblatt gewidmet, der Titel:<br />

„Millionen BILD-Leser fordern“. Wenn Neuss über das Massenblatt spricht, dann ist dies<br />

immer zugleich auch die ganz persönliche Abrechnung mit der Berliner Journaille, die den<br />

Kabarettisten im vermeintlichen Interesse ihrer bürgerlichen Leser über Jahre mit<br />

Verunglimpfungen traktiert. Neuss über sein verhaßtes Blatt:<br />

Neuss spricht BILD<br />

Das jüngste Gewerbe der Welt<br />

Zweistimmiges Anhearing. Zum Abtreiben der Manipulation.<br />

Nicht von Schering.<br />

130Kabarett 1946-1969, CD 3, Nr. 8; Felix von Eckhardt lebte von 1903-1979 und war 1956-1962 Leiter des<br />

Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 1962 - 1965 Bundesbevollmächtigter für<br />

Berlin.<br />

131Vgl. Salvatore, Gaston, 1981.<br />

132Ebd., S. 311.<br />

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BILD ist eine deutsche Geschlechtskrankheit. Mit Leichtigkeit,<br />

ohne Beschwerden kann sie in eine heilsame Zwerchfellentzündung umgemünzt<br />

werden<br />

Denn BILD ist magnetisch. Durch Neuss wird sie phonetisch.<br />

Eine Köstlichkeit: offen undemokratisch-freimütig reaktionär<br />

liberal bis zur<br />

täglichen Mord-Anstiftung für den gelungenen Ernstfall.<br />

Ich werde mich der einflußreichen Spalte annehmen.<br />

Ich benutze die Plattform, um Stellung zu nehmen mit Haltung.<br />

Ich huste den Annoncenteil. Die Anzeigen.<br />

Wir zeigen BILD an. BILD ist guuut. Machen Sie sich ein BILD,<br />

und Sie wissen<br />

wie man System mit System austreibt.<br />

In dieser Gesellschaft heißt Springer enteignen Springer beklaun.<br />

BILD verlor seinen Starreporter Roy Clark<br />

und damit erstmals<br />

Malz und Hopfen. Axel enteignen heißt Schulterklopfen<br />

(...)<br />

BILD fordert: Radikalinskis in den Osten und Wiedervereinigung!<br />

BILD, wir fragen DICH, warum erscheinst du täglich?<br />

Arbeite lieber!<br />

Wolfgang Neuss, Asyl im Domizil 133<br />

Das Kabarett von Wolfgang Neuss, seine Texte und Glossen nehmen in diesen zehn<br />

Jahren zwischen Adenauers Alleinherrschaft, der Großen Koalition und der SPD-<br />

Regierung den politischen Gegner ins Fadenkreuz. Es gibt keine vornehmen oder<br />

zurückhaltenden Ausweichmanöver, keine Flucht in die Unverbindlichkeit. Die Mächtigen<br />

in Staat und Gesellschaft sind dem Scharfzüngigen allemal suspekt. Neuss verwaist<br />

schonungslos auf die braunen Wurzeln des neuen Staates, auf die Seilschaften aus der<br />

133Neuss, Wolfgang, Asyl im Domizil, 1968, S. 101f.<br />

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nationalsozialistischen Ära. Der Sänger klopft die Wohlstandsfassade des dicken<br />

Ludwigs, des gepriesenen Architekten des Wirtschaftswunders ab. Was er dort findet<br />

mieft nach Morast. Und darauf will er hinaus, der Barde, auf die Kenntlichmachung<br />

usurpierter Macht. Strauß als Sinnbild des Herrschaftsmenschen, gezeichnet durch die<br />

Spiegelaffäre von 1962 und schon wieder auf dem Weg nach oben. Er ist das<br />

Schreckgepenst der kritischen Intelligenz in West-Berlin und in der Bundesrepublik. Der<br />

ehemalige Minister für Atomfragen, der Verteidigungsminster von 1956-1962, ist immer<br />

wieder Gegenstand der heftigsten Attacken. Neuss mißtraut dem Aufrüster und<br />

parlamentarischen Schwindler, malt das Menetekel eines Auferstandenen an die Wand.<br />

O Sonnenkanzler Ludwig<br />

lange braucht der Narr sich zu besinnen.<br />

Nie wird der Staat in dem du lebst<br />

sagst du<br />

'neu Krieg beginnen.<br />

Du willst es ganz bestimmt von mir nicht hörn:<br />

Ich würd dir so gern einmal den Krieg erklärn.<br />

Gebt doch dem Bulln aus Rott am Inn<br />

Zurück´s Ministeramt.<br />

Ihr habt ihn doch nicht für die Ewigkeit verdammt.<br />

Ihr wißt<br />

sein Appetit auf Macht ward ihm zum Grab<br />

die liberalen Neider knöpften ihm sein Pöstchen ab.<br />

Schaut auf den Kerl<br />

ein weibverschlingender Koloß<br />

er ist für das System (in dem ihr gerne lebt)<br />

der ideale Boß.<br />

Ein Mann der halbe Kälber zehrt<br />

ein Krematorium voll Fleisch und Bier<br />

sein Leib bringt ihn nicht um.<br />

Der Franz aus dem Moränenland hat mehr Verstand<br />

als selber du!<br />

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Nur er schafft aus der CD eine originale NSCDU<br />

Faschist ist er?<br />

Ei freilich<br />

doch ich sage mir<br />

ein kalter Ofen ist der Grund warum ich frier.<br />

Was uns erwartet<br />

das verrät uns Strauß aus erster Hand.<br />

Rehabilitiert den Mann<br />

er liebt sein Vaterland.<br />

Verzeiht ihm doch<br />

daß er zu früh euch weckt<br />

zur Schlacht ums Abendland<br />

die euch - ich weiß - nicht schmeckt. j'<br />

Ach wenn die westzonale Sau sich bunt benimmt<br />

so seid ihr wenn sie sich eins grunzt - noch lange nicht froh.<br />

Jedoch wenn es euch juckt<br />

so ist das nicht ihr Floh.<br />

Ihr seht<br />

es kommt darauf an daß man den Vorteil nimmt<br />

den uns die Fabrikanten vor die Füße tun<br />

in Krokolederschuhn.<br />

Aus dem Programm „Neuss Testament“, 1965 134<br />

134Zitiert in: Budzinski, Klaus, Vorsicht, die Mandoline ist geladen, 1970, S. 194f.<br />

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Mit strahlendem Gesicht<br />

In der großen Politik herrscht saturierte Selbstzufriedenheit, die nur durch die atomare<br />

Bedrohung gefährdet werden könnte. Der Optimismus ist grenzenlos und wird durch ein<br />

neues Zivilschutz-Konzept untermauert. Der Bevölkerung wird in breitangelegten<br />

Kampagnen die rosigen Aussichten nach einem Atomkrieg vor Augen geführt. Überleben<br />

läßt sich immer, lautet die obszöne Verteidigungsdevise 1965. In der strahlenden Zukunft<br />

kann die Aktentasche, ein Stuhl, ein Tisch - so trommelt es in Faltblättern - Lebensrettung<br />

bringen. Doch in den Ostermärschen wird das Mißtrauen gegenüber jedweder Atom- und<br />

Rüstungspolitik Jahr um Jahr von der außerparlamentarischen Opposition bekräftigt und<br />

in Erinnerung gebracht. Dieter Hildebrandt kritisiert seit 1962 in der Münchner Lach- und<br />

Schießgesellschaft den Beschwichtigungsschwindel der Bonner Politik, die ihren Bürgern<br />

die Harmlosigkeit einer atomaren Katastrophe durchaus und sehr plump schmackhaft<br />

machen will. Der Bürger soll nach den Vorgaben der Innenpolitik lernen, mit der Bombe zu<br />

leben. Wer auf die Straße geht, dagegen aufmuckt oder gegen die Verharmloser<br />

protestiert, hat ausgespielt oder ist womöglich bezahlter „Agent“ aus dem Osten. Bei<br />

Hildebrandt wird jetzt angesungen, frech, laut und auch notwendig. Es sind Lieder gegen<br />

die Gewöhnung an das Undenkbare, gegen den Gleichschritt bürgerlicher Mitläufer.<br />

Überleben Sie mal<br />

Überkleben Sie Plakate, Transparente,<br />

wo geschrieben steht, es ist nun alles aus.<br />

Überlassen Sie das bitte dem Talente,<br />

der Voraussicht unsrer Herrn im Bundeshaus.<br />

Übergeben Sie suspekte Elemente,<br />

die das sagen, der Verfassungspolizei.<br />

Auch der Untergang der Welt war eine Ente.<br />

Pazifismus ist nur leere Rederei.<br />

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Weil alles halb so wild ist,<br />

wenn man nur recht im Bild ist.<br />

Weil man nur angeschmiert ist,<br />

wenn man nicht informiert ist.<br />

Weil alles halb so schwer ist,<br />

weil alles kein Malheur ist,<br />

weil jeder Amateur ist,<br />

der sich dabei empört.<br />

Überheben Sie sich sämtlicher Bedenken,<br />

Eine Bombe kostet nicht gleich jeden Kopp,<br />

Und die Kirche sagt, der Herr wird sie schon lenken,<br />

Und der lenkt sie in den Osten. Na und ob...<br />

sie aber über Oberammergau<br />

oder aber über Unterammergau,<br />

oder aber überhaupt nicht fällt,<br />

ist nicht gewiß.<br />

Bürgerin: Der Mensch von heute soll nicht höher als höchstens im Hochparterre wohnen.<br />

1.Bürger: Warum denn das?<br />

Bürgerin: Je höher der Stand der Technik, um so tiefer muß der Mensch wohnen.<br />

1.Bürger: Weswegen?<br />

Bürgerin: Damit er's nicht so weit in den Keller hat.<br />

2. Bürger: (Zieht ein Buch heraus) „Eine moderne Fernrakete hat eine Geschwindigkeit von 28<br />

000 Stundenkilometern. Die Flugzeit von Bratislawa bis München würde also fünf Sekunden<br />

betragen.“<br />

3. Bürger: Sagen Sie!<br />

2. Bürger: Nein, sagt der Fachmann.<br />

1. Bürger: Sie vergessen unser hochentwickeltes Warnsystem; es kann uns nichts passieren.<br />

3. Bürger: Unser was?<br />

1. Bürger: Warnsystem. (Zieht eine Broschüre heraus und liest:) „Bei einem drohenden Angriff<br />

wird die Bevölkerung durch den Rundfunk über die allgemeine Lage laufend unterrichtet.“<br />

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3. Bürger: Sagen Sie?<br />

1. Bürger: Nein, sagt diese amtliche Broschüre.<br />

3. Bürger: Moment, das möchte ich wissen. Ich gehe jetzt hinaus und bin die Rakete. Einer von<br />

Ihnen spielt den Bayerischen Rundfunk, und einer zählt von 21-25, und dann schlage ich ein...<br />

Dieter Hildebrandt, 1962 135<br />

In den Ostermärschen der fünfziger und sechziger Jahre wird das Mißtrauen gegenüber<br />

der „Verteidigungs“-, Atom- und Rüstungspolitik Jahr um Jahr von der<br />

außerparlamentarischen Opposition bekräftigt und in Erinnerung gebracht. In der<br />

„Kampagne für Abrüstung“ - die Vorläuferin der Ostermarsch-Bewegung - organisieren<br />

sich bürgerliche und sozialistische Intellektuelle, Kriegsdienstverweigerer, Mitglieder von<br />

SPD und DGB und auch die Naturfreundejugend. Der nur locker formierte oppositionelle<br />

Zusammenschluß versteht sich Mitte der sechziger Jahre zugleich als Forum für die<br />

Gegner einer Notstandsgesetzgebung und reklamiert die Anerkennung der DDR. Trotz<br />

einer noch weitgehend stabilen Wirtschaft bis 1967, ist die Stimmung eher kritisch als<br />

optimistisch. Die Hatz auf verdächtige Sozialisten und Kommunisten verstärkt sich wieder<br />

einmal. Was Senator McCarthy mit der Verfolgung Andersdenkender vorexerzierte, findet<br />

in Westdeutschland durchaus Nachahmer. Aber nicht nur politisch stehen die Zeichen auf<br />

Sturm - die CDU-Mehrheiten bröckeln -, mit dem Gespenst von der feindlichen und<br />

atomaren Bedrohung versucht das christlich-liberale und später christlich-soziale<br />

Regierungsbündnis nach bewährtem Freund-Feind-Schema von eigenen Schwierigkeiten<br />

abzulenken. Die Bevölkerung, die der atombestückte Bundeswehr „entbehrt“, wird<br />

weiterhin auf die Apokalypse eingeschworen. Günstige öffentliche Kredite für die<br />

Zwischenfinanzierung privater Atombunker im heimischen Garten sollen den Eindruck<br />

erwecken, als sei das atomare Inferno prinzipiell und mit optimalen Chancen zu<br />

überleben. Das Schüren tiefsitzender Ängste gehört zur Strategie im Feldzug gegen den<br />

östlichen Feind. Die Arbeitsämter werden für den Fall der Fälle wieder mit<br />

Lebensmittelmarken ausgestattet, die in der Stunde X, merkwürdig genug, zur Verteilung<br />

kommen sollen. Dieter Hallervorden macht sich als Kopf der Wühlmäuse in diesem<br />

135Hildebrandt, Dieter, Was bleibt mir übrig, 1989, S. 144ff.<br />

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verteidigungstechnischen Sinne mit einer Assistentin seine Gedanken. Man schreibt das<br />

Jahr 1965.<br />

Maske in Gas<br />

(Hallervorden: ) Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie wundern sich vielleicht, warum<br />

ich - von Ihnen aus gesehen von links außen - operiere. Aber es handelt sich um eine sehr<br />

delikate Angelegenheit, die von hinten rum an das Volk gebracht werden muß. Kurzum, hier<br />

erhalten Sie Ihre Überlebenschance im Falle des Atomkrieges, wie sie die BILD-Zeitung vom<br />

10. Juli 65 verspricht, eine Überlebenschance für 4250 Pfennige. Meine MTA, meine<br />

Medizinisch-technische -Assistentin<br />

(Sie): N´abend<br />

(Hallervorden:)...wird jetzt einige Möglichkeiten Ihren Pupillen preisgeben. Denken Sie zunächst<br />

mal an so verschieden kleine Dingelchen, die Sie sich laut Gesetz ab 1.1.68 sowieso anschaffen<br />

müssen. Hier zunächst dieses zauberhaft süße kleine Gasmaske Modell...<br />

(Sie): Atomtod<br />

Hallervorden (korrigiert): Atemnot, mit der Sicherungsklappe „Schluckauf“. Also die ziehen Sie<br />

sich über den Kopf. Die ist elektronisch geprüft für höhere Ansprüche, von äußerster<br />

Sensibilität, für ganze 15 Mark. Also mal ehrlich, 15 Mark, dafür kriegen Sie sonst keine<br />

Kleidungsstücke für, nicht mal neu Hut oder so. Und manch einer hat sowieso nicht so ein<br />

schönes Gesicht, dem kommt das dann zugute. Und dann hätten wir hier noch diesen (? C. H.)<br />

mit der Notverpflegung für 20 Mark, sozusagen die Henkersmahlzeit, nicht? Da ist also drin:<br />

Kohlrüben, Brom, Kohlrüben, Schlaftabletten, Kohlrüben, Kaugummi, Kohlrüben, Kohlrüben,<br />

Kohlrüben, Kohlrüben, Kohlrüben. Oh? Kohlrüben! Also eine sehr phantasievolle<br />

Zusammenstellung für den Feinschmecker. Und dazu bekommen Sie noch für 5 Mark einen<br />

Verbandskasten und der Rest geht drauf - ich meine, für ein paar Kleinigkeiten geht der Rest<br />

drauf. Gratis dazu bekommen Sie ein nettes kleines Büchelchen, versiegelt, erst nach Eintreten<br />

des Ernstfalls zu lesen, mit dem wunderschönen Titel: „Zu spät“. Und außerdem ist dann noch<br />

vorgesehen, daß Sie sich in 10 Übungsstunden auf den Ernstfall vorbereiten. Nun werden Sie<br />

fragen, warum gerade 10 Stunden? Mal ehrlich: So lange dauert es doch schon, bis Sie das<br />

Vaterunser wieder können, nicht? Sollten Sie sich jetzt immer noch nicht entschließen können,<br />

den Dingen geistig näherzutreten, dann werde ich die Dinge jetzt mal bei ihrem richtigen Namen<br />

nennen. Da sag ich nämlich: Luftschutz, Löschsand, Volksgasmaske, Phosphorregen, statt:<br />

(Sie:) Selbstschutzbau, Vorsorge, Inspektion<br />

(Hallervorden:) Heissa, das ist ein kleiner Unterschied, oder? Na, was ist denn, der Herr? Wollen<br />

Sie nicht freudestrahlend zustimmen? Bitte? Sie sind schon 66? Da haben Sie unverschämtes<br />

Schwein gehabt, denn selbstschutzverpflichtet ist man nur bis 65. Für alles, was über 65 ist,<br />

möchte ich jetzt sozusagen außer meiner sonstigen Tätigkeit bei den deutschen<br />

Wochenschauen, mal nen ganz lieben Rat geben: Nehmen Sie ein großes weisses Tischtuch<br />

übern Arm, in die andere Hand nehmen Sie einen schönen großen Blumenstrauß, und dann<br />

gehen Sie schon mal g-an-n-zz l-ang-sa-m -mm in Richtung Friedhof.<br />

Dieter Hallervorden, vorgetragen bei den „Wühlmäusen“ 136<br />

136Kabarett 1946-1969, CD 5, Nr. 5; Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 4, S. 228.<br />

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Unziviles - Agitation und APO-Kabartett<br />

Ein Blick in eine Anthologie ausgewählter „Primanerlyrik-Primanerprosa“ aus dem Jahre<br />

1965 zeigt den politisierten Konaflikt zwischen der Väter- und Söhnegeneration. Eine<br />

gemeinsame Sprache gibt es nicht mehr. Die Jüngeren protestieren vernehmlich gegen<br />

die Gleichgültigkeit der Eltern, die das „Dritte Reich“ zugelassen oder mitgetragen haben<br />

und jetzt im Wohlstandsrausch weiteres Unrecht dulden: Vietnam. Viele Jugendliche und<br />

Kinder fühlen sich betrogen und wollen auf der vorgezeichneten Einbahnstraße nicht<br />

mitziehen. Sie fordern Rechenschaft von den Vätern.<br />

Vorwurf<br />

Uns stellt ihr<br />

euch<br />

als Helden dar.<br />

Jeder von euch will<br />

in den Krisenjahren<br />

ein Widerständlergewesen sein.<br />

Im stillen Kämmerlein<br />

so viele Jahre durch.<br />

So frag ich<br />

mich,<br />

wer war es, der<br />

gejubelt, der ja gesagt<br />

und zugestimmt?<br />

Ihr!<br />

164


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Ihr alle,<br />

angefangen bei euch,<br />

die ihr doppelt mir<br />

an Alter heut' überlegen.<br />

Alle seid ihr schuldig,<br />

nicht nur wenige;<br />

nicht bloß einige.<br />

Alle!<br />

Primanerlyrik 1965 137<br />

Aber nicht nur in der „Schubladenlyrik“ der jungen Generation artikuliert sich Spannung zu<br />

den Vätern. Auch im populären Schlager der Zeit wird die Krise sinnenfällig - wenigstens<br />

hin und wieder. Obwohl der Schlager meist der ideologischen Kaschierung und<br />

Vernebelung verpflichtet ist, gibt es Belege, die, konträr, seine Aktualität und<br />

Zeitgenossenschaft dokumentieren. Wie auf der Bühne des Kabaretts vermag die<br />

ansprechende und raffinierte Komposition im Zusammenspiel mit lebendigen oder<br />

zeitnahen Texten eine treffende Zustandsbeschreibung abzulichten. Dem Hazy<br />

Osterwald-Sextett („Kriminaltango“) glückt 1966 mit Der Fahrstuhl die emotionale Nähe<br />

zum Gegenwartsgeschehen, zur politischen Realität in der Republik und zeigt<br />

Bruchstellen auf. Der Schlager ist in die erste Rezession der Republik plaziert, das<br />

Vertrauen in den ungebrochenen wirtschaftlichen Boom erstmals erschüttert. Die Große<br />

Koalition fungiert als Krisenmanagerin. Kurt Feltz, der Texter, hat Risse im System mit<br />

Osterwald zum Klingen gebracht.<br />

Der Fahrstuhl<br />

Der Fahrstuhl nach oben ist besetzt<br />

Sie müssen warten<br />

Sie können zum Weg nach oben jetzt<br />

137Zitiert in: Schmid, Armin (Hrsg.), 1965, S. 72.<br />

165


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erst später starten<br />

Der richtige Fahrstuhl für Sie<br />

fährt unter Umständen nie<br />

Der Fahrstuhl nach oben ist besetzt<br />

Sie müssen warten<br />

Sie sind kein kleiner Mann, Sie sind kein großer Mann<br />

Sie sind die Mitte<br />

Doch ab und zu stehn Sie dem Schicksal vis-ä-vis<br />

mit einer Bitte<br />

Sie denken, so dumm kann ja ich nun auch nicht sein<br />

ich steig mal in den Karriereaufzug ein<br />

Der Fahrstuhl nach oben ist besetzt<br />

Sie müssen warten<br />

die lassen zum Weg nach oben jetzt<br />

die andern starten<br />

Sie haben da keine Schuld<br />

drum haben Sie nur Geduld<br />

Der Fahrstuhl nach oben ist besetzt<br />

Sie müssen warten<br />

Sie möchten auch einmal laut rufen: hörn Sie mal<br />

und Leute jagen<br />

Sie möchten Schritte tun, wenn's sein muß Tritte tun<br />

und nicht erst fragen<br />

Sie möchten fühlen, daß Respekt Sie rings umgibt<br />

Sie möchten können, was der andre heut noch übt<br />

Der Fahrstuhl nach oben ist besetzt<br />

Sie müssen warten<br />

die Herren von der Wirtschaft geben Schecks<br />

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als Eintrittskarten<br />

Minister mußt du schon sein<br />

sonst gibt dir keiner 'nen Schein<br />

Der Fahrstuhl nach oben ist besetzt<br />

Sie müssen warten<br />

Text: Kurt Feltz, Musik: Peter Laine, 1966 138<br />

Als das iranische Kaiserpaar im Frühsommer 1967 die Bundesrepublik und West-Berlin<br />

besucht, kommt es zu gewalttätigen Ausschreitungen. Angeheuerte „Jubel-Perser“ auf der<br />

einen Seite und eine brutal zuschlagende Polizei auf der anderen heizen die Stimmung in<br />

Berlin an. Eine Vermittlung zwischen Demonstranten und Ordnungskröten ist aufgrund der<br />

militanten Stimmung nicht möglich. Am Abend des 2. Juni wird der Germanistik-Student<br />

Benno Ohnesorg von einer Polizeikugel hingestreckt. Polizeiobermeister Karl-Heinz<br />

Kurras gibt um 20 Uhr 30 die beiden tödlichen Schüsse ab. Der Journalist Jürgen<br />

Henschel erinnert sich:<br />

„Wir Journalisten machten unsere Arbeit, angesteckt von der allgemeinen Stimmung. Ich<br />

pendelte hinter, vor und zwischen den Polizeilinien. So kam ich auch in den Garagenhof, wo ein<br />

kopfverletzter Jugendlicher gerade von einer jungen Frau, die offenbar nicht zu den<br />

Demonstranten gehörte, versorgt wurde. Ich wechselte mit der Frau einige Worte, machte eine<br />

Aufnahme, auch noch, als der Jugendliche auf einer Trage ins Sanitätsauto gebracht wurde.<br />

Spät in der Nacht erst endeten die Auseinandersetzungen. Am nächsten Morgen teilte der<br />

Rundfunk mit, daß ein Jugendlicher bei dem Polizeieinsatz `zum Schutz der öffentlichen<br />

Ordnung´ ums Leben gekommen war.“ 139<br />

Kaum ein Jahr später wird der intellektuelle Kopf der Studentenbewegung, Rudi Dutschke,<br />

am Gründonnerstag 1968 von Josef Bachmann durch Kopfschuß schwer verletzt. Tage<br />

zuvor hat die Deutsche Nationalzeitung (22.3.68) zur bedenkenlosen Hatz auf den<br />

Studentenführer aufgerufen. „Stoppt Dutschke jetzt! Sonst gibt es Bürgerkrieg“ - so lautet<br />

die Schlagzeile im braunen Kampfblatt. Bachmann liest den Aufruf und setzt das<br />

Gelesene naiv und bedenkenlos in die Tat um. Die Saat der Presse geht auf, und ein<br />

kleiner Teil der Studenten wird sich in der Folgezeit weiter radikalisieren, bis hin zur<br />

folgenschweren Abirrung des RAF-Terrors.<br />

138Zitiert in: Buhmann, Heide, Liederbuch der Rock- und Songpoesie, Bd. 2, 1993, S. 198.<br />

139Henschel, Jürgen, in: Siepmann, Eckhard (Hrsg.), Heiss und kalt, 1988, S. 569.<br />

167


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Wolf Biermann findet in diesen Schreckenswochen als erster zu Wort und (künstlerischer)<br />

Stimme. In Ost-Berlin komponiert und textet er ein Lied, das Protest und Revolte zugleich<br />

ist. Das Attentat versteht er wie die Linke nicht als bedauerlichen Einzelfall. Es ist ihm<br />

Indiz für eine aus dem Ruder gelaufene Politik, die in Bonn zum Beispiel durch den Alt-<br />

Nazi Kurt Georg Kiesinger bestimmt wird, in Berlin durch den Regierenden Klaus Schütz.<br />

Dessen verächtliche Sentenz über demonstrierende Studenten („Ihr müßt diesen Typen<br />

nur ins Gesicht sehen“) erlangt unrühmliche Popularität.<br />

Drei Kugeln auf Rudi Dutschke<br />

1<br />

Drei Kugeln auf Rudi Dutschke<br />

Ein blutiges Attentat<br />

Wir haben genau gesehen<br />

Wer da geschossen hat<br />

Ach Deutschland, deine Mörder!<br />

Es ist das alte Lied<br />

Schon wieder Blut und Tränen<br />

Was gehst Du denn mit denen<br />

Du weißt doch, was Dir blüht!<br />

2<br />

Die Kugel Nummer Eins kam<br />

Aus Springers Zeitungswald<br />

Ihr habt dem Mann die Groschen<br />

Auch noch dafür bezahlt<br />

Ach Deutschland, deine Mörder!<br />

3<br />

Des zweiten Schusses Schütze<br />

Im Schöneberger Haus<br />

168


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Sein Mund war ja die Mündung<br />

da kam die Kugel raus<br />

Ach Deutschland, deine Mörder!<br />

4<br />

Der Edel-Nazi Kanzler<br />

Schoß Kugel Nummer Drei<br />

Er legte gleich der Witwe<br />

Den Beileidsbrief mit bei<br />

Ach Deutschland, deine Mörder!<br />

5<br />

Drei Kugeln auf Rudi Dutschke<br />

Ihm galten sie nicht allein<br />

Wenn wir uns jetzt nicht wehren<br />

Wirst Du der Nächste sein<br />

Ach Deutschland, deine Mörder!<br />

6<br />

Es haben die paar Herren<br />

so viel schon umgebracht<br />

Statt daß sie Euch zerbrechen<br />

Zerbrecht jetzt ihre Macht!<br />

Ach Deutschland, deine Mörder!<br />

Es ist das alte Lied<br />

Schon wieder Blut und Tränen<br />

Was gehst Du denn mit denen<br />

Du weißt doch, was dir blüht!<br />

Wolf Biermann, 1968 140<br />

140Biermann, Wolf, in: Budzinski, Klaus, Vorsicht, die Mandoline ist geladen,1970, S. 213f.<br />

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Frankfurt, 15.5.1968<br />

Du hast nicht nur drei Kugel verdient, du hast vier Kugel verdient. Leider, eine hat gefehlt. Aber<br />

du sollst nicht verrecken sondern dein ganzes Leben Krüppel bleiben und leiden, leiden...Als<br />

kommunistisches Schwein und Verräter hast du es verdient.<br />

Aber dann verschwinde aus Deutschland, Verräter. Hau ab nach Moskau, du kommunistisches<br />

Schwein! P.B<br />

Bielefeld, den 16.4.68<br />

Lieber Rudi!<br />

HAU AB AUS DEUTSCHLAND!<br />

IHR ROTEN AHNT NOCH NICHTS VON EUREM GLÜCK:<br />

BACHMANN HATTE EINE SCHLECHTE WAFFE. MEINE MÄNNER HABEN BESSERE<br />

GUTE BESSERUNG<br />

Heinrich M<br />

GENANNT:“GESTAPO MÜLLER“<br />

Drohbriefe nach dem Attentat auf Rudi Dutschke<br />

Die allenthalben zu konstatierende Konfrontation zwischen Staatsmacht und<br />

studentischer Revolte provoziert die Kabarettisten in Deutschland. In der politisierten<br />

Auseinandersetzung müssen sie Stellung beziehen. Sie werden befragt nach ihrer<br />

Einstellung zu den Ereignissen, nach den Grundsätzen ihrer Parteilichkeit.<br />

Unentschiedenheit ist nicht möglich, „bürgerliches“ Lavieren unpopulär. Ansonsten eher<br />

literarisch orientierte Kabarettisten wie Hanns Dieter Hüsch bekennen sich jetzt zur<br />

Veränderbarkeit der Gesellschaft. Die Botschaft ist verbindlich. Die Hoffnung liegt in einer<br />

demokratisierten Gesellschaft, sozialistischen Zuschnitts ganz gewiß, vielleicht auch<br />

170


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kommunistisch. Verismus siegt über obsolete Innerlichkeit. Es werden Utopien formuliert,<br />

Entwürfe gegen die Verkrustung entstehen. Der Kabarettist und Pädagoge Jürgen<br />

Henningsen formuliert 1967: „Das Kabarett ist ein Instrument der Aufklärung im<br />

klassischen Sinn: „Durch Mündigkeit soll Freiheit realisiert werden, wobei geistige und<br />

politische Freiheit als Einheit verstanden werden. Dieses gerade in Deutschland immer<br />

wieder suspendierte Programm scheint heute trotz aller reaktionären Tendenzen eine<br />

echte Chance zu haben, zumindest bei einer aktiven Minorität.“ 141<br />

Heißer Herbst<br />

Komm heißer Herbst und mache<br />

Die Bäume alle rot<br />

Komm heißer Herbst und lache<br />

Die Herrschenden lausetot<br />

Verändre unsre Reime<br />

Denn Kunst tut nicht mehr not<br />

Grad wie die großen Bäume<br />

Mach unsere Träume rot<br />

Komm heißer Herbst und zeige<br />

Das Fallen der Blätter im Wind<br />

Daß sich kein Mensch verneige<br />

Vor denen die oben sind<br />

Verändre unsre Lieder<br />

Die Herrschenden zittern schon<br />

Komm heißer Herbst komm wieder<br />

und mache Revolution<br />

141Henningsen, Jürgen, 1967, S. 77.<br />

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Oktober soll es werden<br />

Oktober soll es sein<br />

Des Menschen Not auf Erden<br />

Sie soll zum Himmel schrein<br />

Komm heißer Herbst und bringe<br />

Weil ja sonst nichts geschieht<br />

Den Sturm zu uns und singe<br />

Mit uns ein neues Lied<br />

Ein Lied das alle hören<br />

Im Elend und in Gefahr<br />

Und sich mit uns verschwören<br />

Im Herbst und immerdar<br />

Komm heißer Herbst komm wieder<br />

Die Herrschenden zittern schon<br />

Verändre unsre Lieder<br />

Und mache Revolution.<br />

Hanns Dieter Hüsch, 1968 142<br />

Das utopische Moment ist nicht zufällig zentrales Anliegen in dem Bekenntnis-Lied. Die<br />

Hoffnung gründet sich in der Annahme, der historische Augenblick zur Revolutionierung<br />

der Gesellschaft sei jetzt, Ende der sechziger Jahre, gekommen. Selbstbestimmung,<br />

antiautoritäre Erziehung, Ablösung der Ordinarien-Universität durch basisdemokratische<br />

Strukturen, das sind die Träume in der linken Szene. Patriarchalische Strukturen kommen<br />

zwar nicht (immer noch nicht) zum Einsturz, doch das im Modell vorangetriebene Denken<br />

und Handeln hat Folgen für die kommenden beiden Jahrzehnte zwischen 1970 und 1990.<br />

142Zitiert in: Kühn, Volker, Kleinkunststücke, Bd. 4, S. 327f.<br />

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Rückblick 1993:<br />

Von Zweifeln geplagt, der Bauch gerundet<br />

Die 68er-Generation feiert silbernes Jubiläum<br />

25 Jahre nach den 68er Studentenunruhen: Was ist davon übriggeblieben? Unter diesem Tenor<br />

diskutierten im Frankfurter Römer die alten Kontrahenten von damals die heutige Situation. Und<br />

viele kamen- zum Teil auch im Edel-Gammellook und mit Fettpölsterchen, die sich im Laufe der<br />

Jahre angesammelt hatten. Eine Nostalgie-Veranstaltung von Protestlern, die sich feiern<br />

wollten? Mitnichten. Werner Schneider etwa, damals in der APO, stellt den Gegenwartsbezug<br />

her: „Es ist eine Art Kulturkampf um 68 ausgebrochen, eine Generalabrechnung.“<br />

Was er meint, sind politische Angriffe Konservativer, wie etwa der Vorwurf, die 68er hätten mit<br />

der antiautoritären Erziehung durch das Nicht-Anerkennen von Autorität zum Aufkommen<br />

Rechtsradikaler beigetragen. Die Frage, was ein ehemaliger 68er heute als Position<br />

dagegenhalten könnte, beschäftigte die Diskutanten und über 1000 Besucher bis in die Nacht.<br />

Es war eine Suche nach der Antwort auf die Frage: Was ist links? Ist es links, wenn Joschka<br />

Fischer selbstkritisch meint, daß das Streben nach Utopien „uns in eine tiefe Krise gestürzt“<br />

habe?<br />

Alexander Gauland (CDU), Ex-Chef der Wiesbadener Staatskanzlei unter Walter Wallmann, hat<br />

so gut wie keine Probleme mit vielen Positionen Fischers. Aber „ich frage mich, was daran noch<br />

links sein soll“. Ein Beispiel: Würde man die damalige Technologiegläubigkeit der Linken als<br />

Maßstab anlegen, wäre „der Bundesverband der deutschen Industrie links“ - und Fischer<br />

konservativ.<br />

Es gab viel Selbstkritisches zu hören, etwa zur zeitweiligen „Schizophrenie“ im politischen<br />

Denken. Ein Beispiel nannte Alt-Sponti Daniel Cohn-Bendit: Um seinerzeit überzeugend gegen<br />

die Militärmacht USA zu demonstrieren, hätte man nicht mit dem Stalinismus in Vietnam zu<br />

sympathisieren brauchen - Blindheit auf dem linken Auge.<br />

Es blieb Cohn-Bendit vorbehalten, mit seinem moralischen Rigorismus in der Jugoslawien-<br />

Debatte fast die Veranstaltung zu sprengen: Während er vehement für ein militärisches<br />

Eingreifen auch Deutschlands eintrat, hatte Fischer aus historischen Gründen damit seine<br />

Probleme.<br />

Klaus Jürgen Schröder, Südwestpresse Ulm, 24. 3. 1993<br />

Ohne die Radikalität des Protestes von 1968 lassen sich die Teilerfolge der<br />

Friedensbewegung im kritischen Jahr 1983 kaum denken, ohne den damaligen Aufbruch<br />

173


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hätte die Protestkultur bei der Abrüstungsdebatte sicherlich ein anderes Gesicht<br />

bekommen. Der Irrweg der letztlich „unpolitischen“ RAF-Genossen ist dabei mitzudenken.<br />

Von deutlich aggressivem Zuschnitt im Kontext der Wohlstands- und Kapitalismuskritik ist<br />

Mitte der sechziger Jahre der Floh de Cologne, das satirisch-politische Chaoten-Kabarett-<br />

Ensemble aus Köln. Die Truppe um Dieter Klemm versteht sich ohne Ausflüchte und<br />

Hintertürchen dezidiert als ein systemkritisches APO-Kabarett, das gegen saturierte<br />

Bequemlichkeit und auch die externe Gewalt im Vietnam-Krieg laut und vernehmlich<br />

opponiert. Die Presse reagiert auf die gewagten Auftritte immer wieder mit Kopfschütteln.<br />

Den Kritiker des Reutlinger Generalanzeiger packt 1969 anläßlich des 7. Programms das<br />

schiere Entsetzen und er ruft nach dem Staatsanwalt. So hat der bestallte Kritiker nicht<br />

gewettet. Er sorgt sich um die „guten“ Sitten und den „guten“ Geschmack. Der Floh ist<br />

angetreten, die Große Koalition (1966) von CDU/CSU und SPD zu „entlarven“ und muß<br />

sich nach und nach die begrenzte Einflußmöglichkeit durch die kabarettistische Agitation<br />

eingestehen. In einem Selbstbekenntnis der Truppe aus dem Jahr 1969 heißt es lapidar:<br />

„Mit dem bürgerlichen Kabarett kann man bei dem bürgerlichen Publikum als Sozialist<br />

nichts erreichen. Man kann die Kassen füllen, man kann den Schreiberlingen der<br />

Feuilletonspalten zu erhöhtem Zeilenhonorar verhelfen, man kann sich auf den Kopf<br />

stellen und „Sozialismus“ brüllen, das Publikum wird klatschen, weil es in dieser Art noch<br />

keiner gesagt hat. Man will eine scharfe Kritik genießen, sich anbrüllen lassen und das<br />

Ganze eine Spur zu einseitig finden. Diese Leute lassen sich sogar anpissen, wenn es<br />

formal gut gelöst wird.“ 143<br />

Die neue, auch verzweifelte Rache des Flohs lautet zum Beispiel im Programm für die<br />

Reutlinger Tonne: „Antiautoritär vom Scheitel bis zum Pimmel.“ Die Provokation hat sich<br />

als Ultima ratio und anstelle des sanften oder aufklärerischen Diskurses in die<br />

Theatergewölbe eingeschlichen. Die Agitation der Hoffnungslosen gipfelt in juristischen<br />

„Grenzüberschreitungen“, im Affront gegen das bürgerliche Wertesystem und -korsett:<br />

„Zieht in leerstehende Häuser und Wohnungen ein! Treibt vorehelichen<br />

Geschlechtsverkehr oder Ehebruch! Stehlt die Grundnahrungsmittel, die ihr braucht!“ Im<br />

143Floh de Cologne, 1971, S. 61.<br />

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biederen Schwaben, im stillen Mekka von Deutschlands Millionären, in der Friedrich List-<br />

Metropole Reutlingen klingt das so:<br />

wenn den Blinden das Astloch im Zaun stört<br />

wenn Frau Schulze dem Minirock-Mädchen mal ordentlich den Hintern versohlen will<br />

wenn Herr Schulze dem Langhaarigen mal gehörig den Marsch blasen will<br />

wenn Frau Mayer den Studenten in ein Arbeitslager schicken will<br />

wenn Frau Müller den Lustmörder lynchen will<br />

wenn Herr Schmidt dem Rocker mal ordentlich eins in die Fresse hauen will<br />

wenn Müllers Aggressionen Ruhe stiften<br />

wenn Mayers Sadismus Ordnung schafft<br />

wenn Schulzes Verdrängungen für Sitte und Anstand sorgen<br />

wenn die eigenen verbotenen Träume durch Menschenopfer beschwört werden sollen<br />

wenn die Moral ihre Lustmorde braucht, um sich zu rechtfertigen<br />

wenn die lüsterne Beschreibung des Lustmords zugleich die Todesstrafe fordert<br />

wenn die Sühne am Lustmord zur Lust am Mord wird<br />

wenn sich also jemand für sein schlechtes Gewissen an anderen rächt, so geschieht Recht<br />

wenn das Recht zum Recht auf Sadismus wird<br />

dann ist Himmelfahrt<br />

dann besuchen wir Kardinal Spellmann<br />

sitzend zur Rechten Gottes<br />

umringt von den amerikanischen Heerscharen<br />

dann besuchen wir die Päpste<br />

175


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wenn sich die Hirten erheben<br />

sitzend zur Linken Gottes<br />

stapfen sie durch Milliarden<br />

abgetriebener und verhungerter Kinder<br />

Frau Müller, Sie haben die Erlaubnis,<br />

den Lustmörder zu lynchen.<br />

Wo fangen Sie an?<br />

Frau Müller, wo fangen Sie an?<br />

Frau Müller, wo fangen Sie an?<br />

Würden Sie ihn zuerst nackt ausziehen?<br />

Würden Sie ihn nackt ausziehen?<br />

Frau Müller, an welcher Stelle fangen Sie an?<br />

An welcher Stelle fangen Sie an?<br />

Frau Müller, wo fangen Sie an<br />

Herr Müller, es geht um die Freiheit.<br />

Sie haben den Befehl, diesen Vietcong zu foltern.<br />

Wo fangen Sie an?<br />

Herr Müller, wo fangen Sie an?<br />

Herr Müller, wo fangen Sie an?<br />

Würden Sie ihn zuerst nackt ausziehen?<br />

Würden Sie ihn nackt ausziehen?<br />

Herr Müller, an welcher Stelle fangen Sie an?<br />

An welcher Stelle fangen Sie an?<br />

Herr Müller, wo fangen Sie an?<br />

176


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Floh de Cologne, 1969 144<br />

Die Revolte-Lieder sind in ihrer Mehrzahl von literarisch gewiß nur mittlerer Qualität. Der<br />

Protest gegen die Gewalt des bestehenden Systems ist oft ein ungelenker anarchischer<br />

Aufschrei. Dennoch argumentiert der Floh verhältnismäßig stringent. Es geht nicht (nicht<br />

nur) um Zerschlagung der verfestigten Strukturen. Die neue Gesellschaft und die Utopie<br />

werden gleichzeitig angemahnt. Die Kabarett-Analytiker in den Zeitungen übersehen das<br />

gelegentlich und lassen sich von der analen Vulgarität (wie gewünscht) einschüchtern<br />

oder blenden. Anders als Dieter Süverkrüp, der mit dem Floh 1968 eine LP<br />

herausbringt 145 , verkriecht sich die provinzielle Journaille hinter den Postulaten der Ruhe,<br />

Ordnung und Sauberkeit.<br />

Floh de Cologne im Gespräch<br />

Aber ihr wart doch schon ein relativ etabliertes Kabarett?<br />

Kabarett schon, aber ohne daß wir es wirklich sein wollten. Wir haben mit Studenten-Kabarett<br />

angefangen im Rahmen der Kölner APO, SDS-Linie. So Stichworte: Wir sind alle mal nach<br />

Berlin gefahren, haben ordentlich Rabatz gemacht auf dem Kudamm. Haben Marx bis Marcuse<br />

gelesen und das so verarbeitet. Haben sozusagen das Ding „für die APO“ gemacht.<br />

Trotzdem hattet ihr gute Resonanz bei den Schlipsen?<br />

Ja, ging los wie die Tiere. Die waren alle gewöhnt an „Lach- und Schießgesellschaft“ und die<br />

Berliner „Stachelschweine“ im Fernsehen. Und die war'n also brav und wir war'n also frech ...<br />

Und so saßen wir da, wir hatten auch 'n festen Spielort in Köln. Da paßten so hundert Leute<br />

rein, die zweimal in der Woche kamen. Da kamen die ersten Bürger nach Feierabend hin, 'ne<br />

Pulle Sekt, und dann ließen sie sich von uns alles erzählen, lachten, freuten sich, „nette Jungs“.<br />

Und ihr habt denen „schön radikal“ einen vorgekaspert?<br />

Ja. So hübsch hat das noch keiner gesagt. Leider ist das falsch. Das ist die Reaktion gewesen<br />

bei den Bürgern und ihrem Kabarett.<br />

Ihr habt Schock-Therapie betrieben, das hat funktioniert, und die Leute sind euch weggelaufen<br />

67/68.<br />

144Ebd., S. 64f.<br />

145 Ihr Titel: „Vietnam“.<br />

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Das Ding hieß „7. Programm“ und war 'n absolutes Anarcho-Programm! Haben da auf der<br />

Bühne rumgewichst und uns ausgezogen, und da steht auch 'ne schöne Kritik irgendwo in<br />

Reutlingen, wo der Bürgermeister unter Protest den Saal verlassen hat und alle anderen mit.<br />

Das war so die Linie: das Bürgertum aus dem Saal zu prügeln, und wenn der Saal dann leer ist,<br />

könnten wir uns überlegen, wen wir uns reinholen. So war auch die ganze Systemkritik damals<br />

angelegt: erst mal alles kaputtmachen und dann gucken, was wir danach machen.<br />

Das war gut zu erklären aus der Zeit. Ja, und heute haben wir uns überlegt, für wen wir spielen<br />

wollen. Wir haben gedacht, junge Leute, Lehrlinge, Arbeiterjugend, die ändern sich noch im<br />

Kopf. Die sind noch nicht so kaputt und konsumorientiert wie die älteren Kollegen. Also erst mal<br />

am besten den Spiel-Ort aufgeben, die kommen nicht dahin, wo du bist, sondern die mußt du dir<br />

suchen. 146<br />

Schmutz aus Köln<br />

Peinliches Gastspiel in der Reutlinger Tonne<br />

Unter dem Vorwand, ein kabarettistisches Programm zu bringen, haben fünf Männer aus Köln<br />

am Wochenende in der Reutlinger „Tonne“ kübelweise Schmutz und Dreck über das Publikum<br />

gegossen. Ihre Ausdrücke, Wortbilder und Vergleiche muten einen wie eine Blütenlese aus<br />

Kaschemmen an, in denen der menschliche Abschaum verkehrt.<br />

Das Programm dieses fragwürdigen Quintetts, das sich „Floh de Cologne“ nennt, war zudem so<br />

bar jeden Geistes, Witzes und künstlerischer Qualität und so voller Plattitüden und<br />

Ungereimtheiten, wenn es „politisch“ wurde, daß jeder Vergleich auch mit der denkbar<br />

niedrigsten künstlerischen Produktion hinken müßte. Was da geboten wurde, war ganz schlicht<br />

und einfach Schmutz und Dreck aus Köln, für den Alf André, Leiter der „Tonne“, hier die Bühne<br />

freigab. Diese Abschaum-Pornographie wurde zudem noch als Textbuch an Jugendliche<br />

verkauft!<br />

Hut ab vor denen, die nach den ersten Schweinereien und Unflätigkeiten dieser „Flöhe“ (ein<br />

treffender Name, denn Flöhe sind Ungeziefer) die Tonne verließen, weil ihnen dieser Schmutz<br />

vermutlich einen Brechreiz verursachte. Der Protest des Publikums wurde am Premierenabend<br />

auch sonst deutlich: Keine einzige Hand erhob sich, als die letzte Jauche verspritzt war. Kein<br />

Beifall.<br />

Weil es jugendgefährdend wäre, gegen Sitte und Anstand verstoßen und unsere Leser anekeln<br />

würde; können hier keine Textproben gebracht werden. Die Feststellung muß genügen, daß in<br />

der „Tonne“ verletzt, beleidigt und beschmutzt wurde, was nur denkbar ist: Der gute<br />

Geschmack, jede Moral, die Frauen, die Kirche, der Staat und last not least Bundeskanzler Kurt<br />

Georg Kiesinger. Zu einer anderen Darstellung als etwa eines Koitus oder des Onanierens auf<br />

offener Bühne zeigten sich diese Leute unfähig. Ihre einzige Fähigkeit bestand darin,<br />

ohrenbetäubend laut zu sein.<br />

Hier hat der Kritiker zu schweigen. Hier haben Staatsanwalt, Richter und<br />

Jugendschutzbehörden tätig zu werden, und zwar schnell. Am kommenden Wochenende soll<br />

dieser „Floh“-Schmutz nämlich über Tübingen ausgegossen werden. Auch von einer<br />

subventionierten, mit Steuergeldern finanzierten Bühne herab!<br />

E.G. Schäfer, Reutlinger Generalanzeiger, 24. März 1969<br />

146Abdruck in: Peinemann, Steve B., 1980, S. 22f.<br />

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Mit dem Wechsel von der Großen Koalition zur sozialliberalen Regierungsmannschaft im<br />

September 1969 hat sich auch das Selbstverständnis vieler Kabarettisten geändert.<br />

Einige Künstler setzen auf die neuen politischen Akzente, doch ist ihnen damit gleichzeitig<br />

der Boden zur Kritik an den Bonner Verhältnissen entzogen. Willy Brandt formuliert mit<br />

Egon Bahr die neue Deutschland-Politik und mahnt zur Versöhnung, die Akteure der Ära<br />

Adenauer hat es auf die Oppositionsbänke verschlagen. Das ist für das Strauß- und CDUfixierte<br />

Kabarett in Deutschland nicht eben lustvoll, weil der Stein des Anstoßes zunächst<br />

im Abseits liegt. Zu kabarettistischem Mißmut ist freilich kein ernstlicher Anlaß: im<br />

sozialdemokratischen Frühling wachsen die Skandale heran, der Sauerteig fürs gute<br />

Kabarett. Mit den Berufsverboten, die sich die Regierung Brandt leichtfertig aufschwatzen<br />

läßt, mit der Einengung der Grundrechte im RAF-Fieber wuchert unversehens wieder<br />

neuer Stoff heran. Willy Brandt taugt nicht als Figur fürs Kabarett, allenfalls für die<br />

zahlreichen Stimmenimitatoren, die sich schon lange an Herbert Wehner und dem<br />

Bayern-König Strauß üben. Der Konsens über das, was Kabarett soll und was es kann,<br />

schwindet. Die Kabarettisten sprechen selbstkritisch von Krise, die Revolution ist erst<br />

einmal vertagt. Hannelore Kaub vom Bügelbrett beschreibt die Krise in der Krise.<br />

Das Kabarett ist tot, es lebe das Cabaret!<br />

Wir können noch so bös-satirisch<br />

bis zum Tag St. Nimmerlein<br />

gegen Notstandsrecht und Springer<br />

und den Krieg in Vietnam sein.<br />

Gegen atomare Rüstung,<br />

gegen Staat und Parlament,<br />

das perfekte Koalieren,<br />

gegen das Establishment.<br />

Gegen Waffenlieferungen<br />

an das Pattakos-Regime -<br />

Kabaretts, die dürfen so was.<br />

Links zu sein ist legitim!<br />

179


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Wir genießen Narrenfreiheit.<br />

Unsereins, der ist für die<br />

mit dem ungeheuren Phlegma<br />

das bequeme Alibi.<br />

Ihr Do-it-yourself-Ersatz,<br />

d.h. alles, was wir brachten,<br />

was wir tun und was wir machten,<br />

war umsonst und für die Katz.<br />

Unsretwegen ist kein Kanzler<br />

durch die Hintertür entwichen.<br />

Unsretwegen wurde noch kein<br />

Polizeichef suspendiert.<br />

Unsretwegen hat Justitia<br />

sich nie auf so jämmerliche<br />

Art und Weise bloßgestellt<br />

und bis auf die Haut blamiert.<br />

Wir hab'n weder Bürgermeister<br />

noch Senat zu Fall gebracht.<br />

Höchstens mal zum „Drüber-lachen“,<br />

doch nie lächerlich gemacht.<br />

Wir hab'n engagiert und witzig<br />

kritisiert und resigniert,<br />

uns're Ohnmacht rührend, tapfer<br />

so wie Märtyrer goutiert.<br />

Und sie hab'n gelacht.<br />

And're hab'n für uns gehandelt:<br />

revoltiert statt diskutiert,<br />

den Protest der Minderheiten<br />

zu Opposition formiert.<br />

Und aus Ohnmacht wurde Macht.<br />

And're haben es gewagt.<br />

Wir dagegen hab'n versagt.<br />

180


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Die Peitsche liegt in andern Händen.<br />

Traurig, traurig so zu enden.<br />

Das Kabarett, das Kabarett,<br />

das Kabarett ist tot!<br />

Es lebe das Cabaret!<br />

Fritz Teufel bei der Haftentlassung<br />

mit Adventskranz aufem Kopp.<br />

So ein Gag sagt dreimal mehr aus<br />

als zwei Stunden Agitprop.<br />

Selbst die kleine Anti-Springer-<br />

Kampfplakette am Jackett<br />

regt den Durchschnittsbürger mehr auf<br />

als zwei Stunden Kabarett.<br />

Jeder Piepser der Kommune,<br />

jede Kunzelmann-Aktion<br />

hat beim Publikum mehr Chancen<br />

auf gereizte Reaktion.<br />

Der Gefängnishof von Tegel<br />

als Protestfeld für Vietnam -<br />

Teufel sagt uns, was Satire<br />

heute noch erreichen kann.<br />

Schon alleine die Idee,<br />

einfach Strafanstaltsinsassen<br />

gegen Krieg marschieren lassen.<br />

Wir gehör'n ins Cabaret.<br />

Mit Vietnam hab'n wir noch keinen<br />

aus dem Sessel hochgerissen.<br />

Bei Vietnam, da wurde nur noch<br />

leise, höflich applaudiert.<br />

181


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Seit dem Tage, als die andern<br />

Eier und Tomaten schmissen,<br />

wird das Thema doch zumindest<br />

oft und offen diskutiert.<br />

Hochschulkrise, Bildungsnotstand,<br />

das hat keinen aufgeweckt.<br />

Erst ein Wurfgeschoß aus Pudding<br />

hat die Leute aufgeschreckt.<br />

(...)<br />

Hannelore Kaub, 1967 147<br />

Zwanzig Jahre später bemerkt die Kabarettistin sichtlich resigniert: „Die gesellschaftlichen<br />

und politischen Wirklichkeiten haben sich so verändert, daß die menschliche Fantasie<br />

eigentlich nicht ausreicht, um sich die nächste Steigerung zum Bösen überhaupt<br />

vorzustellen (siehe: Südafrika, islamischer Fundamentalismus, Umwelt,<br />

Menschenverachtung beim Thema Asyl, Schamlosigkeit der Politiker etc. etc.). Und da<br />

das Kabarett auf Realität reagiert, werden auch wir immer böser, schärfer,<br />

verzweifelter.“ 148<br />

Verzweiflung, Wut und Schrecken<br />

Der überwachte Staat<br />

Die blutigen Anschläge der RAF-Terroristen Anfang der siebziger Jahre und die<br />

Reaktionen darauf haben in kurzer Zeit die Hoffnungen auf den liberalen und<br />

sozialdemokratisch orientierten Rechtsstaat zerschlagen. Mit der Befreiungsaktion von<br />

147Kaub, Hannelore, zitiert in: Meyer, Ellen, S. 260ff.<br />

148Ebd., S. 264.<br />

182


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Andreas Baader aus dem Berliner Gefängnis eskaliert im Mai 1970 der Straßenterror der<br />

RAF. Mord und Totschlag gehören zum einkalkulierten Risiko der stalinistischen<br />

Desperados, die eine fremde Sprache sprechen und sehr bald auch in der linken Szene<br />

keine Unterstützung mehr finden. Im US-Hauptquartier explodiert 1972 eine Bombe und<br />

tötet drei Soldaten. Peter Lorenz, Landesvorsitzender der CDU in Berlin, wird entführt,<br />

Generalbundesanwalt Siegfried Buback im April 1974 ermordet. Im Göttinger Untergrund<br />

stiftet ein unbekannter „Mescalero“ mit seinem Rechtfertigungs-Nachruf Verwirrung: „Ich<br />

konnte und wollte (und will) eine klammheimliche Freude nicht verhehlen“. 149 Das kleine<br />

Wort „klammheimlich“ ist von da an für Jahre unbrauchbar. Es ist ein „Un-Wort“, besetzt<br />

mit fahrlässiger Verachtung für das Leben und den politischen Diskurs. „Klammheimlich“<br />

wird aber auch zur Schlag-tot-Keule gegen Intellektuelle, die nicht müde werden wollen zu<br />

differenzieren, um zu verstehen. Wer den sogenannten Buback-Nachruf abdruckt, muß<br />

sich nun seinerseits der Verherrlichung von Gewalt bezichtigen lassen. Den Psychologie-<br />

Professor Peter Brückner erwartet in diesem Sinne ein mehrmonatiges Verfahren. In<br />

Stuttgart-Stammheim werden Baader, Ensslin und Raspe zu lebenslänglich verurteilt, im<br />

Oktober begehen sie in ihren Zellen Selbstmord.<br />

Der Terror der RAF hebt die Republik nicht aus den Angeln. Der Amoklauf hat gleichwohl<br />

schwere Folgen für die Demokratie und den Rechtsstaat. Der „Radikalenerlaß“, der<br />

Beschluß der Ministerpräsidenten der Länder vom Januar 1972, ist ein solcher<br />

gravierender Einschnitt. Wer im öffentlichen Dienst arbeitet, hat mit hochnotpeinlichen<br />

Überprüfungen zu rechnen. Verfassungstreue und eine „untadelige“ politische Weste sind<br />

gefragt. Das gilt nicht nur für den Lehrer und den Gerichtsreferendar, auch der Briefträger<br />

und der Schaffner bei der Bundesbahn müssen den Lebenslauf unter Beweis stellen. Die<br />

Angst vor der beruflichen Zukunft schlägt bis in die Seminare der Universitäten durch: Es<br />

werden jetzt unverfängliche Diplom- und Magisterarbeiten geschrieben, politischen<br />

Fragestellungen weichen verunsicherte Studenten tunlichst aus - sicher ist sicher.<br />

Der politischen Realität, die Mitte der siebziger Jahre in der Republik vorzufinden ist, läßt<br />

sich nicht mehr mit sanften Späßen begegnen. Wo es den Literaten nicht die Sprache<br />

verschlagen hat, da üben sie sich bei Gelegenheit in der decouvrierenden Satire, dem<br />

Aufschrei gegen die gewachsene Deformation in der Gesellschaft. Peter O. Chotjewitz<br />

149Abdruck in: Flemming, Thomas, Chronik 1977, Dortmund 1991, S. 61<br />

183


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bekennt sich zu seinen politischen Schwächen und hofft, vor diesem seinem Staat Gnade<br />

zu finden.<br />

Beichte des Staatsbürgers<br />

Herr, im Lichte Deiner Wahrheit erkenne ich, daß ich gesündigt habe in Gedanken, Worten und<br />

Werken. Ich soll Dich meinen Staat und Herrn über alles lieben, aber ich habe mich selbst mehr<br />

geliebt als Dich. Du hast mich zu Deinem Diener gemacht, aber ich habe die Zeit vertan, die Du<br />

mir anvertraut hast. Du hast mir Gesetze gegeben, sie zu lieben wie mich selbst, aber ich<br />

erkenne, wie ich versagt habe in Hochmut und Eigenmächtigkeit meines Geistes. Darum<br />

komme ich zu Dir und bekenne meine Schuld. Richte mich, mein Staat, aber verwirf mich nicht.<br />

Ich weiß keine andere Zuflucht, als Dein unergründliches Erbarmen. Verfolge mich wegen<br />

Unterstützung einer kriminellen Vereinigung, Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener,<br />

Verherrlichung und Verharmlosung von Gewalt, durchsuch mein Haus mit Maschinenpistolen<br />

bei Gefahr im Verzug, nimm mich vorläufig fest und verhäng über mich die Präventivstrafe der<br />

Kontaktsperre auf daß ich dreißig Jahre lang kein Lebenszeichen von mir gebe, verurteile mich<br />

in einem Schnellverfahren mit gefälschten Beweisen und ohne Anwälte meines Vertrauens,<br />

bestrafe diejenigen, die sich für meine Haftbedingungen und meinen Prozeß interessieren,<br />

insbesondere aber jene, die die Öffentlichkeit aufzuklären versuchen, wie mich selbst,<br />

unterrichte alle Zeitungen und Rundfunk- und Fernsehanstalten, damit die Welt erfahren möge,<br />

daß ich gesündigt habe wider Deinen Geist, aber ich bitte Dich: Vergib mir alle meine Sünden.<br />

Ich glaube an den Staat, den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden und an die<br />

freiheitlich demokratische Grundordnung, unser unerklärliches Gesetz, empfangen vom<br />

internationalen Finanzkapital, geboren vom parlamentarischen Rat, gelitten unter Max<br />

Reichmann und der außerparlamentarischen Opposition, gekreuzigt, gestorben und begraben<br />

vom deutschen Bundestag, niedergefahren in die Massenmedien von dannen sie kommen wird,<br />

zu richten die Lebenden und die Toten. Ich glaube an das Kapital, die freie Marktwirtschaft, den<br />

deutschen Bundestag, die Gemeinsamkeit der Demokraten, die Bundesanwaltschaft, das<br />

Bundeskriminalamt, den Bundesverfassungsschutz, den Bundesnachrichtendienst, den<br />

Bundesgrenzschutz, Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben, Amen. Schmidt<br />

erbarme Dich unser, Kohl erbarme Dich unser, Strauß erbarme Dich unser. Ehre sei dem Staat<br />

in Bonn und Friede auf Erden und egal wie es den Menschen geht, Halleluja, halleluja, halleluja!<br />

Peter O. Chotjewitz, 1977 150<br />

Im Bundestag geht im Herbst 1977 alles drunter und drüber. Im Parlament dabattieren am<br />

29. September die Abgeordneten ein Gesetz über die zeitlich begrenzte „Kontaktsperre“<br />

für inhaftierte Terroristen. Bereits am folgenden Tag stimmt das Hohe Haus der Vorlage<br />

zu. Der Disput zwischen den Befürwortern und Gegnern der Vorlage spiegelt die<br />

explosive Stimmung wider, es herrscht ein Klima der Unterstellung und wechselseitigen<br />

Verunglimpfung. Abwägen der Argumente ist nicht gefragt. Aus der Distanz von rund<br />

zwanzig Jahren hat der Schlagabtausch etwas Gespenstisches, ist selbst Teil eines<br />

Cabaret macabre.<br />

150Chotjewitz, Peter O., in: Boehnecke, Heiner u.a., Nicht heimlich und nicht kühl, 1977, S. 38.<br />

184


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Bundesminister Dr. Vogel<br />

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, namens der Bundesregierung danke<br />

ich allen, die in dieser Woche unter Anspannung ihrer Kräfte am Zustandekommen dieses<br />

Gesetzes mitgewirkt haben. Die Bundesrepublik hat damit ihre Handlungsfähigkeit unter<br />

Beweis gestellt und das Erforderliche ebenso besonnen wie entschlossen getan. Die<br />

Verfassungsorgane dieser Republik werden ihre Pflicht unter diesen Gesichtspunkten und<br />

Maximen auch künftig tun.<br />

(Beifall bei der SPD und der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)<br />

Vizepräsident Stücklen: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Coppik.<br />

Coppik (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute ein Gesetz, das<br />

erst gestern in diesem Bundestag eingebracht wurde und dessen endgültiger Wortlaut den<br />

Abgeordneten sogar erst heute früh, also vor wenigen Stunden, vorgelegt wurde. Bei einem<br />

wichtigen Gesetz ist das ein ungewöhnlicher, ja, ein einmaliger Vorgang.<br />

(Dr. Stark (Nürtingen) (CDU/CSU): Sie waren doch bei der Beratung gar nicht dabei!)<br />

Da bei diesem Gesetz Grundfragen des Verhältnisses von rechtsstaatlichen<br />

Verfahrensgarantien und den Notwendigkeiten der Terrorismusbekämpfung angesprochen<br />

werden. macht die Geschwindigkeit der Verabschiedung es um so notwendiger, alle hier zu<br />

berücksichtigenden Gesichtspunkte mit aller Sorgfalt abzuwägen. Die Sorgfalt und die<br />

Nüchternheit dieser Abwägung werden dadurch zusätzlich erschwert, daß wir dieses Gesetz in<br />

einer außerordentlichen Situation beraten. Die Morde von Köln und in den Niederlanden und die<br />

ungeklärte Situation im Entführungsfall Schleyer haben eine breite Welle berechtigter Empörung<br />

in der Bevölkerung hervorgerufen. In einer solchen Situation ist es außerordentlich schwer,<br />

Gehör gilt Argumente zu finden, die für Besonnenheit werben.<br />

Vizepräsident Stücklen: Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn<br />

Abgeordneten Dr. Stark (Nürtingen)?<br />

Coppik (SPD): Nein, ich bedaure. Ich möchte keine Zwischenfragen gestatten.<br />

(Dr. Ritz (CDU/CSU): Die wären Ihnen sehr peinlich! - Weitere Zurufe von der CDU/<br />

CSU).<br />

Es ist außerordentlich schwer, Gehör für Argumente zu finden, die für Besonnenheit werben.<br />

(Dr. Klein (Göttingen) (CDU/CSU): Warum waren Sie denn nicht im Rechtsausschuß? -<br />

Dr. Stark (Nürtingen) (CDU/CSU): So eine Unverschämtheit! Unerhört!)<br />

Da ist es viel einfacher, mit einer Handbewegung über solche Argumente hinwegzugehen und,<br />

dem Gefühl folgend, mehr Härte zu verlangen, auch dann, wenn man bei sorgfältiger Prüfung<br />

feststellen würde, daß diese Härte zwar nichts verhindert, aber die Erscheinungsformen dieses<br />

Staates schrittweise so umgestalten kann, daß seine rechtsstaatlichen Grundstrukturen in<br />

Gefahr geraten.<br />

(Leicht (CDU/CSU): Pfui!)<br />

185


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Damit keine Mißverständnisse aufkommen, möchte ich an dieser Stelle eine Bemerkung<br />

machen, die mir infolge der bisherigen öffentlichen Diskussion erforderlich zu sein scheint, bei<br />

der seitens einiger Oppositionspolitiker der verantwortungslose Versuch unternommen würde,<br />

alle, die sich mit dem Problem des Terrorismus differenziert auseinandersetzen.<br />

(Dr. Jenninger [CDU/CSU): Sie waren ja gar nicht im Ausschuß, Herr Kollege!)<br />

alle, die nicht nach Popularität, sondern nach der Vernunft ihre Meinung bilden,<br />

(Dr. Jenninger [CDU/CSU): Sie sollten in die Ausschußsitzungen gehen!- Weitere Zurufe<br />

von der CDU/CSU)<br />

als Sympathisanten, geistiges Umfeld und ähnliches zu diffamieren.<br />

(Dr. Jenninger (CDU/CSU]: Warum gehen Sie nicht in du Rechtsausschuß, Herr<br />

Kollege? Ich wäre an Ihrer Stelle bei den Ausschußberatungen gewesen - Dr. Stark<br />

(Nürtingen) (CDU/CSU]: So eine Unverschämtheit - Dr. Ritz [CDU/CSU]: Unerhört! -<br />

Weitere erregte Zurufe von der CDU/CSU)<br />

- Man merkt, wie schwer es für Sie offensichtlich ist, Argumente anzuhören.<br />

(Dr. Jenninger (CDU/CSU): Im Rechtsausschuß haben wir Argumente beraten! - Unruhe<br />

bei der CDU/CSU)<br />

Damit Sie s nicht zu einfach haben,<br />

(Dr. Klein (Göttingen) (CDU/CSU): Warum haben Sie Ihre Argumente nicht im Ausschuß<br />

vorgebracht?)<br />

sage ich hier ganz deutlich: Ab demokratischer Sozialist lehne ich Mord, Terror und überhaupt<br />

Gewalt in einer parlamentarischen Demokratie ab, und zwar ohne jedes Wenn und Aber.<br />

(Beifall bei der SPD - Dr. Jenninger (CDU/ CSU): Das haben wir gern) - Dr. Klein<br />

(Göttingen) CDU/CSU): Das ist ja ungehäuerl! - Dr. Stark (Nürtingen) (CDU/CSU): Das<br />

ist ja wohl das wenigste! - Dr. Jenninger (CDU/CSU): Arbeiten sollte man wenigstens -<br />

Weitere Zurufe von der CDU/CSU)<br />

Das Ziel einer humanen, einer sozialistischen Gesellschaft ist mit den Mitteln des Mordes und<br />

des Verbrechens weder vereinbar noch erreichbar.<br />

Coppik<br />

(Beifall bei der SPD - Erhard (Bad Schwalbach) (CDU/CSU): Wer sich entschuldigt, klagt<br />

sich an! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU)<br />

Terror nutzt objektiv nur den Kräften der Reaktion.<br />

(Zurufe von der CDU/CSU: Unglaublich! Unerhört! Pfui!)<br />

Mit ihren Schüssen schafft die RAF die Stimmung, die die Reaktionäre in unserem Land<br />

brauchen, um das kaputtzumachen, was in vielen Jahren mühsam an demokratischen<br />

Errungenschaften und rechstsstaatlichen Garantien erkämpft wurde. Auch deshalb bin ich<br />

gegen Gewalt und Terror. Aber auch deshalb,<br />

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(Reddemann (CDU/CSU): Auch deshalb! Und der kommt aus einer Regierungspartei!)<br />

damit diese Rechnung der Terroristen nicht aufgeht, bin ich gegen jeden Abbau der<br />

Freiheitsrechte in unserem Land, und deshalb bin ich auch gegen dieses Gesetz.<br />

(Weitere Zurufe von der CDU/CSU)<br />

Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen bei terroristischen Anschlägen die Gefangenen,<br />

die der Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung verdächtigt werden, von jeder<br />

Verbindung untereinander und mit der Außenwelt isoliert werden. Das hört sich zunächst<br />

unproblematisch an. Die Probleme werden aber besonders deutlich, wenn man bedenkt, daß<br />

diese Regelung auch für die nach einem solchen Anschlag neu Verhafteten gilt. Und wer da<br />

auch noch sagt:"Was geht das mich an? Ich habe nichts mit Terroristen zu tun", dem muß<br />

deutlich gesagt werden, daß nach dem neuen Gesetz niemand, und sei er noch so unschuldig,<br />

davor sicher sein kam, etwa auf Grund einer Denunziation verhaftet zu werden und für Wochen<br />

und Monate ohne jeden Kontakt zu einem Rechtsenwalt<br />

(Pfui-Rufe bei der CDU/CSU)<br />

oder auch nur zu seinen Familienangehörigen in einem Gefängnis zu verschwinden.<br />

(Zurufe von der CDU/CSU)<br />

Ich halte das unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten für unerträglich.<br />

(Zurufe von der CDU/CSU)<br />

Inzwischen liegt uns ein Änderungsantrag vor, der sich mit dieser Kernproblematik befaßt. Es ist<br />

nicht möglich, jetzt etwas zu diesem Antrag zu sagen, zumal da er uns erst seit ganz kurzer Zeit<br />

vorliegt und die Aussichten seiner Annahme von mir jetzt nicht zu beurteilen sind, wobei immer<br />

noch die Frage ist, welche Zielsetzung diesem Gesetz dann verbleibt. Ich muß von dem<br />

ausgehen, was uns hier als Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses vorliegt.<br />

(Dr. Stark (Nürtingen) (CDU/CSU): Haben Sie es wenigstens gelesen?)<br />

Es ist nun einmal so, daß die Möglichkeit, sie im Falle der Verhaftung mit einem Rechtsanwalt<br />

eigener Wahl in Verbindung zu setzen, zu den grundlegenden Bedingungen eines<br />

rechtsstaatlichen Strafverfahrens gehört. Ich bezweifle, ob der Ausschluß dieser Möglichkeit<br />

überhaupt mit den Bestimmungen der Menschenrechtskonvention vereinbar ist.<br />

Meine Damen und Herren, daß auch ein Unschuldiger verhaftet werden kann, ist doch nicht nur<br />

eine theoretische Möglichkeit; das wissen wir doch alle. Dieser Unschuldige kann dann über<br />

einen längeren Zeitraum ohne Kontakt im Gefängnis sitzen, denn das Gesetz kennt ja keine<br />

feste zeitliche Begrenzung. Die Feststellung, daß die Isolation notwendig sei, kann ja mehrfach<br />

wiederholt werden.<br />

(Frau Pack [CDU/CSU]: "Isolation!" – Dr. Klein [Göttingen] [CDU/CSU]: Das ist nicht zu<br />

glauben! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)<br />

Ich bin davon überzeugt, daß in solchen Fällen die neue Regelung dazu führen würde, daß das<br />

Vertrauen in den demokratischen Rechtsstaat auf das tiefste erschüttert und damit letztlich<br />

jenen Kräften in die Hände gearbeitet würde, die diesen Staat ohnehin für verdammenswert<br />

halten und zur Gewaltanwendung aufrufen.<br />

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Nun wird dagegen argumentiert, man sehe die Gefahren dieser Regelung, aber schließlich<br />

müsse man abwägen zwischen den Kontaktbedürfnissen der Gegangenen auf der einen<br />

Seite und der Lebensbedrohung auf der anderen Seite. Da könne man sich nur für die<br />

Lebensrettung entscheiden. Ich glaube nicht, daß diese Argumentation den Kern der Sache<br />

trifft, und zwar nicht nur deshalb, weil man sehr daran zweifeln kann, ob die Isolation von<br />

Gefangenen wirklich hilft, das Leben einer Geisel zu retten, die schließlich nicht in der Gewalt<br />

von Gefangenen, sondern von in Freiheit befindlichen Terroristen ist.<br />

Aber unabhängig davon halte ich insgesamt die Abwägung "hier Leben eines Menschen, dort<br />

rechtsstaatliche Grundprinzipien" für nicht möglich. Die Aufgabe rechtsstaatlicher<br />

Grundprinzipien rettet nämlich kein Menschenleben, schafft aber Lebensverhältnisse, in denen<br />

die friedliche demokratische Entwicklung in einem Rechtsstaat gefährdet wird und damit weitere<br />

Menschenleben in Gefahr geraten.<br />

(Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Unwahrscheinlich!)<br />

Meine Damen und Herren, der Kampf gegen den Terrorismus wird nicht durch Sondergesetze<br />

gewonnen, sondern durch eine entschlossene Anwendung des geltenden Rechts, verbunden<br />

mit einem glaubwürdigen und überzeugenden Entfalten der rechtsstaatlichen Prinzipien und<br />

einem unermüdlichen Kampf für mehr soziale Gerechtigkeit im Inland und in den internationalen<br />

Beziehungen.<br />

(Dr. Jenninger [CDU/CSU]: Vor allem arbeiten im Rechtsausschuß! – Dr. Klein<br />

[Göttingen] [CDU/CSU]: Finden Sie es sozial gerecht, wenn Kollegen im<br />

Rechtsausschuß bis in die Nacht arbeiten und Sie inzwischen feiern?)<br />

Nur wenn junge sozial engagierte Menschen darauf vertrauen können, daß es im<br />

parlamentarischen Bereich Kräfte gibt, die diesen Weg ohne Rücksicht auf opportunistische<br />

Überlegungen kompromißlos gehen, werden sie gegen Gewaltpredigten falscher Propheten<br />

immun sein.<br />

Deutscher Bundestag, 29.9.1977<br />

Die berufenen Kabarettisten verstummen nicht. Doch sie sind merklich verunsichert. Die<br />

politische Realität provoziert Fragen nach dem kabarettistischen Selbstverständnis. Der<br />

Floh de Cologne zeigt 1976 erste Auflösungserscheinungen, 1983 verabschiedet sich das<br />

Ensemble unwiederbringlich mit dem Hinweis auf die veränderten Zeiten. „Wenn wir jetzt<br />

so mithalten wollten, daß ein besseres Leben herausschaut - Fettaugen sind wir sowieso<br />

nie gewesen, es hat immer gerade so gereicht -, dann müßten wir richtig kommerziell<br />

hinlangen. Das aber wäre unter dem Namen Floh de Cologne unmöglich, das wäre der<br />

Ruin dieses guten Namens.“ 151 Die Fanfarenstöße in Rock und Pop gibt es nicht mehr.<br />

Von der miesen und verkorksten Stimmung draußen lassen sich Die 3 Tornados nicht<br />

unterkriegen. Holger Klotzbach, Günter Thews und Arnulf Rating trommeln zwar mächtig<br />

auf Sozialismus und Weltkommunismus, aber auf der anarchischen Arche Noah aus<br />

Berlin darf kräftig gelacht werden.<br />

151Zitiert in: Budzinski, Klaus, Das Kabarett, 1985, S.78.<br />

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Im Lied von der „Terror-Rosita“ lugt der Schalk des selbstironischen Kommentars<br />

zwischen den Zeilen hervor. „Ob Stromboykott und Rucksackreisen, Frauenbewegung<br />

und Männergruppen, Piratensender und Schreinerkollektive,<br />

Wohngemeinschaftsfrühstücke und Beziehungskisten, unser alternativer Alltag war<br />

Kabarett“. Das schreibt Kuno Kruse anläßlich des Tods von Günter Thews. Und weiter:<br />

„Wir tanzten auf TuNix und im Tempodrom, wir lagen vor Brokdorf, Grohnde und<br />

Wackersdorf, und dort waren auch die Tornados: Zwischen Schlamm,<br />

Tränengasschwaden und Haßkappen spazierten sie - in weissem Smoking, Strohhüten<br />

und Ringelsöckchen.“ 152<br />

Terror-Rosita<br />

Nachdem von den 50 gesuchten Terroristen bereits 100 erschossen wurden<br />

und inzwischen wieder 30 auf der Fahndungsliste stehen, meist Frauen,<br />

widmen wir das folgende Lied der Terror-Rosita und ihrem Anwalt so wie sie<br />

in der bürgerlichen Presse dargestellt werden werden.<br />

Zwei Tellerminen im Haar<br />

Und an der Hüfte Granaten,<br />

Ja, das ist die Welt,<br />

Die Rosita gefällt.<br />

Sicher noch übers Jahr,<br />

Das kann man heute schon sagen,<br />

Zieht der Terror ins Feld<br />

Gegen jeden mit Geld.<br />

Und alle Leute in der Stadt sagen:<br />

„O la-la-la! Solch eine Terroristin<br />

War noch nie da.“<br />

Aus Präsidenten<br />

Werden überall Leichen,<br />

152Kruse, Kuno, Irgendwie sauwahr, in: Die Zeit, 12.2.1993.<br />

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Der Terror setzt Zeichen.<br />

Rosita ist da!<br />

Und zwei Kassiber im Arsch<br />

Und in der Akte Raketen,<br />

Ja, das ist die Welt,<br />

Die dem Anwalt gefällt.<br />

Sicher noch übers Jahr<br />

Baut der Terror sein Plan,<br />

Zieht er selber ins Land<br />

Ein MG in der Hand.<br />

Und der Anwaltverein,<br />

Der sagt: „O la-la-la!<br />

So eine starke Verteidigung<br />

War noch nie da!“<br />

Und der Rechtsanwalt<br />

beschreibt mit den Leichen<br />

Sein Aktenzeichen -<br />

Der Terror ist da!<br />

Die 3 Tornados 153<br />

Die alternative und grüne Bewegung ist Ende der siebziger Jahre, im Gegenzug zur<br />

Agonie im politischen Alltag in Bonn, im Aufbruch. Robert Jungk, der Verbündete des<br />

neuen konstruktiv-oppositionellen Denkens, warnt vor dem Fortschritt in die<br />

Unmenschlichkeit und schreibt das aufklärerische Kultbuch „Der Atomstaat“. Es beinhaltet<br />

das Vermächtnis gegen blinden Fortschrittsglauben und ist ein Aufruf gegen die<br />

industrielle Beherrschung des Menschen. 154 Die Katastrophe von Harrisburg im April 1979<br />

hat die Anti-Atomkraftbewegung neu formiert. Im niedersächsischen Gorleben soll die<br />

Wiederaufbereitungsanlage installiert werden. Es kommt zu Auseinandersetzungen<br />

153Tornados, Die 3, Rundschlag am Mittag, Kassette.<br />

154Vgl. Jungk, Robert, Der Atomstaat, 1977; ders., Menschenbeben, 1983<br />

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zwischen der Polizei und Demonstranten in Brokdorf und Grohnde. Klaus Pokatzky ist<br />

1979 fünfundzwanzig Jahre alt und resümiert als junger Journalist den Wandel in der<br />

Republik, den Weg von der APO-Dialektik zur neuen Kultur und Subkultur. Die alternative<br />

Generation hat Veränderung im Kleinen und im sozialen Mikrokosmos auf ihre Fahnen<br />

geschrieben.<br />

Die Kinder der Republik<br />

Die demonstrierenden Studenten vor zehn Jahren kannten Furcht, die sehr konkrete Furcht vor<br />

Polizeiknüppeln und Wasserwerfern - die von heute hingegen sind von einer abstrakten Angst<br />

befallen, die dieser Staat des Radikalenerlasses und der Kernkraft ausströmt. Vielleicht ist dies<br />

einer der Gründe, wenn der Abschied, den der Jugendprotest von der Bundesrepublik<br />

genommen hat, wenn das Entstehen der alternativen Subkultur radikaler und konsequenter ist,<br />

als es der studentische Protest vor zehn Jahren war.<br />

Denn die da in Berlin, Hamburg oder Frankfurt zu ihrer eigenen geschlossenen Gesellschaft<br />

zusammengefunden haben, scheinen eine weitaus widerstandsfähigere Subkultur zu errichten,<br />

als dies die so rasch wieder auseinanderfallende Studentenbewegung vermochte. Sie bilden<br />

das Fundament einer neuen politischen Kraft, die womöglich als erste in der Existenz der<br />

Bundesrepublik die Chance zu dauerhaftem Bestand hat. Das Engagement gegen die Atomkraft<br />

hat dabei eher die Funktion eines Katalysators. Im Kampf gegen Atom und<br />

Wachstumsfetischismus versammelt sich mittlerweile alles, was aus dieser Gesellschaft weg<br />

will, dafür aber nicht bereit ist, die Hoffnung auf eine bessere aufzugeben - eine bessere, die<br />

freilich nicht errichtet wird von den Politikern und sonstigen Repräsentanten des Bestehenden.<br />

Journalisten, die nur die herkömmliche und nicht sonderlich phantasievolle Berichterstattung<br />

über die etablierten Parteien gewohnt sind, stehen ratlos vor den Werten, die bei den<br />

„chaotischen“ Alternativlern obenan rangieren.<br />

Klaus Pokatzky, 1979 155<br />

Nachgerüstet - Wettlauf zwischen Schwertern und Pflugscharen<br />

Am 12. Dezember 1979 faßt die NATO in Brüssel den Beschluß zur sogenannten<br />

Nachrüstung. Er bedeutet für Europa eine massive Um- und Aufrüstung, auch die<br />

Erhöhung des Kriegsrisikos, da die Reaktion der Sowjetunion nicht genau einzuschätzen<br />

ist. Die veralteten Mittelstreckenrakten vomTyp Pershing Ia sollen durch die „moderneren“<br />

Pershing-II-Raketen ersetzt werden. 464 bodengestützte Cruise-Missiles, die<br />

155Pokatzky, Klaus, 1979, S. 47.<br />

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„Marschflugkörper“,kommen hinzu. Zugleich sollen Verhandlungen eingeleitet werden mit<br />

dem Ziel, „durch Rüstungskontrolle ein stabileres, umfassendes Gleichgewicht bei<br />

geringeren Beständen an Nuklearwaffen auf beiden Seiten zu erreichen.“ 156 Damit ist der<br />

NATO-Doppelbeschluß auf der Tagesordnung, der in Europa, vor allem aber in der<br />

Bundesrepublik, zu einer breiten Protestbewegung führt. Die Friedensbewegung<br />

veranstaltet im November 1980 in 350 Orten der Republik „Friedenswochen“. Vier<br />

Millionen Menschen werden bis Februar 1983 den „Krefelder Apell“ unterzeichnen. - In<br />

ihm wird die Bundesregierung aufgefordert, ihre Zustimmung zur Stationierung der neuen<br />

Waffensysteme nicht zu geben.<br />

Gert Bastian, Generalmajor der Bundeswehr und späterer Bundestagsabgeordneter der<br />

Grünen, bittet um Versetzung in den Ruhestand und begründet seine Ablehnung des<br />

Beschlusses in einem ausführlichen Schreiben an den Verteidigungsminister Hans Apel:<br />

„Bei einem Versagen der Abschreckung würden zunächst einmal die Deutschen vom ersten<br />

Schuß an den Krieg im eigenen Land erleiden. Selbst ohne den Einsatz von Nuklearwaffen<br />

müßten die Auswirkungen verheerend sein. Auch ein nicht auszuschließender Einsatz nuklearer<br />

Gefechtsfeldwaffen würde in erster Linie Mitteleuropa verwüsten. Und erst wenn dieser Krieg<br />

auf einer höheren Stufe der Eskalation auf das Territorium der Supermächte übergriffe, müßten<br />

dort vergleichbare Schäden befürchtet werden. Schon bei der gegenwärtigen Verteilung der<br />

Kriegsmittel würde Mitteleuropa dehalb nicht von weiteren nuklearen Schlägen verschont<br />

bleiben. Bei einer Neuverteilung der nuklearen Kapazitäten, wie sie am 12.12.1979 in Brüssel<br />

beschlossen worden ist, wären die Überlebenschancen der Mitteleuropäer bei einem Versagen<br />

der Abschreckung allerdings noch geringer, nämlich gleich Null.“ 157<br />

Auch die Kabarettisten der Republik formieren sich unter dem Eindruck der drohenden<br />

Nachrüstung zum satirischen und intellektuellen Widerstand. Das Fernsehen wird<br />

verstärkt zur Artikulation des Protestes genutzt. Es ist wichtig, daß jetzt von exklusiver<br />

Stelle vor allem prominente Kabarett-Köpfe auftreten. Am 18. Januar 1981 gibt es eine<br />

ZDF-Matinee, in der das achtzigjährige Wiegenfest der deutschen Kleinkunst gefeiert<br />

wird. Helmut Ruge und Reinhard Hippen schreiben ein Drehbuch wider die Krieger und<br />

Säbelrassler. Kabarettisten als „Antikriegsverbrecher“ in Geschichte und Gegenwart<br />

werden auf den Bildschirm gebracht. Ob an Borchert oder Mühsam dabei erinnert wird,<br />

die Kritik der Satiriker gilt der Gegenwart, ist ein Beitrag gegen die Aufstellung neuer<br />

Raketen. Die Ausstrahlung der Sendung ist nicht selbstverständlich, aber sie findet statt.<br />

156Zitiert in: Gehlhoff, Beatrix, 1992, S. 21.<br />

157Ebd.<br />

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Selbstschutz-Übung<br />

In der letzten Stunde unserer Aufklärungsreihe: „Überleben leicht gemacht“ haben wir, meine<br />

Damen und Herren, gelernt, daß die modernen Kriegswaffen in technischer Hinsicht einen<br />

enormen Höchststand erreicht haben, die Mittel aber, die einem Zivilisten zur Verfügung stehen,<br />

um dieses zu überleben, im wesentlichen gleich geblieben sind. Worin besteht nun unsere<br />

Chance? Nun, meine Damen und Herren, eine Bombe kann nur auf einen ganz bestimmten<br />

Punkt fallen. Wem es gelingt, zum Zeitpunkt des Abwurfs nicht an diesem Punkte zu verweilen,<br />

hat schon die erste Voraussetzung zu einem gütlichen Ausgang geschaffen. Die im Umkreis von<br />

ca. 100 Kilometern einsetzende Strahlung behandeln wir später.<br />

Nun aber kommen wir zun einem weitaus interessanteren Thema, zu der strategischen<br />

Lenkflugwaffe, der Rakete. Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, daß wir ab nächster<br />

Woche im 3. Programm um 10 Uhr morgens einen Raketenerkennungsdienst ausstrahlen<br />

werden, der Sie darüber informieren wird, was Ihnen gegebenenfalls ins Haus steht. Wir haben<br />

es im wesentlichen mit zehn bis zwölf verschiedenen Raketentypen zu tun. Es handelt sich<br />

dabei selbstverständlich um eine Dunkelziffer. Alle Zahlen, die sich im militärischen Bereich<br />

bewegen, sind Dunkelziffern. Dieses aber wissen wir: Es handelt sich dabei um unbemannte<br />

Verteidigungswaffen, die auch als Angriffswaffen verwendet werden können. Das ist eine Frage<br />

der Auslegung.<br />

Wir notieren also: Long-Distance-Raketen, die inzwischen mit bewundernswerter Zielsicherheit<br />

jedes zu treffende Ziel zu treffen in der Lage sind. Das, meine Damen und Herren, erfüllt uns<br />

nun wieder mit zusätzlicher Überlebenshoffnung, da es sich ja nicht, wie in früheren Kriegen um<br />

Sprengkörper zu handeln scheint, die in flächendeckender Weise wahllos Zerstörung<br />

beabsichtigen, sondern um gezielt eingesetzte Flugkörper, die ganz bestimmte - dem Feind<br />

bekannte! - Personen oder Sachen aufsuchen, ja - sogar solange um das Haus kreisen, bis der<br />

Gemeinte in es hineingegangen ist. Auch wissen wir, daß diese fliegenden Atomköpfe so<br />

programmiert zu sein scheinen, daß eine zusätzliche Sachbeschädigung tunlichst vermieden<br />

wird. Das heißt? Na? (Holt vom Tisch der Verteidigung Sandeimer und Feuerpatsche.)<br />

Diese programmierte Rakete wird erst in das Haus hineinfliegen, wenn ihr durch Zufall jemand<br />

die Tür öffnet! Daraus ist zu folgern: Haben Sie aufgrund Ihres abgeleisteten<br />

Raketenerkennungsdienstes eine dieser Raketen ausgemacht, schließen Sie unverzüglich die<br />

Haustür. Daran sehen wir, daß der Zivilist mehr als eine Möglichkeit hat, auch einen<br />

hochtechnisierten Konflikt zu überstehen.<br />

Dieter Hildebrandt, 1981 158<br />

Lied vom sogenannten Frieden<br />

Frieden hienieden<br />

Soll immer von oben kommen<br />

Kommt aber nicht von oben<br />

158Hildebrandt, Dieter, 1981, S. 59f.<br />

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Soviel wir auch den MEISTER loben<br />

Frieden hienieden<br />

Soll stets um unsre Seelen kreisen<br />

Kreist aber nicht um unsre Seelen<br />

Sooft es uns die Herren auch empfehlen<br />

Und zwar daß wir<br />

Vor unsrer eignen Tür<br />

Den berühmten Besen schwingen<br />

Dann wird schon der Friede in uns dringen<br />

So zu uns leis<br />

Wie jeder weiß<br />

Wird dann der bekannte Engel durch die Stube fliegen<br />

Und in uns den innren Schweinehund besiegen<br />

Ja Frieden hienieden<br />

Soll tief in unsrem Innern wohnen<br />

Wohnt aber nicht in unsrem Innern<br />

Sooft uns die Apostel auch erinnern<br />

Und zwar daß wir<br />

Weil der Mensch kein Tier<br />

Erstmal in der kleinsten Zelle<br />

Beispielsweise der Familienhölle<br />

Uns die Hände reichen<br />

Dann wird schon der Satan aus dem Schornstein schleichen<br />

Und zu uns leis<br />

Wie jeder weiß<br />

Wird dann eine unsichtbare Orgel spielen<br />

Und jeder wird den Frieden deutlich in der Magengrube fühlen.<br />

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Ja Frieden hienieden<br />

Soll ganz von alleine kommen<br />

Kommt aber niemals von alleine<br />

Denn er hat zu kurze Beine<br />

Also müssen wir uns Beine machen<br />

Und den Herren die sich ins Fäustchen lachen<br />

In den orthodoxen Hintern treten<br />

Wenn Sie grade für den Frieden beten<br />

Denn sie haben da so ein System<br />

Das ist ihnen äußerst angenehm<br />

Daß man ab und zu die Menschheit dezimiert<br />

Damit man von dem Rest dann wieder profitiert<br />

Und dann darf wieder Frieden hienieden<br />

Unser Herz zu Freudentränen rühren<br />

Und das Volk kann seine Krüppel pflegen<br />

Bis die Herrn sich's wieder anders überlegen<br />

Darum hütet euch vor diesem Frieden<br />

Hütet euch vor diesen Hunden<br />

Die sich Mörder mieten<br />

Daß die Dutschkes Kings und Kennedys verbluten<br />

Die den Frieden nur für sich und ihresgleichen<br />

Daß die Armen ärmer und die Reichen reicher werden<br />

Nur für sich erfunden<br />

Doch Frieden hienieden<br />

Soll endlich unser Frieden werden<br />

Soll endlich mal von unten kommen<br />

Mag das auch den hohen Herrn nicht frommen<br />

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Denn wir sind aus Fleisch und Blut und nicht aus Lehm<br />

Ja aus Fleisch und Blut und nicht aus Lehm<br />

Aus Fleisch und Blut und nicht aus Lehm<br />

Drum verändert das System<br />

Drum verändert das System<br />

Drum verändert das System<br />

Drum verändert das System<br />

Hanns Dieter Hüsch, 1981 159<br />

Kriegsvoyeure<br />

Gegen 19 Uhr warten wir immer auf den Krieg.<br />

Meistens kommt er an zweiter Stelle von „Heute“<br />

Und an dritter Stelle von der „Tagesschau“.<br />

Der Krieg: Iran / Irak geht für meinen Geschmack<br />

Schon etwas zu lange.<br />

Eine Serie hat dreizehn Folgen.<br />

Und dann sollte man wechseln.<br />

Sonst glaubt man, der Mann am MG sei immer der Gleiche.<br />

Oder mal eine schöne Wiederholung bringen.<br />

Mir tun ja die Leute leid,<br />

Die hinter der Glasscheibe sterben,<br />

Bloß damit wir Fernsehen können.<br />

Je größer der Bildschirm,<br />

Umso größer unser Mitleid.<br />

Wir haben schon viele Kriege beim Abendbrot gesehen.<br />

Wir sehen einfach zu.<br />

159Hüsch, Hanns Dieter, Lied vom sogenannten Frieden, in: Kürbiskem, 1981, H. 2, S. 61f.<br />

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Wenn wir wissen, daß regelmäßig ein Krieg kommt,<br />

Dann essen wir schon leichter,<br />

damit uns der Krieg besser bekommt.<br />

Wenn es manchmal zu laut ist<br />

Stellen wir den Krieg einfach leiser.<br />

Das ist das Schöne am Fernsehen.<br />

Man kann ihn auch heller und dunkler stellen<br />

Oder ihn einfach abschalten.<br />

Aber wer macht das schon gerne.<br />

Neulich war ich in der Küche<br />

Und habe eine Tonstörung gehört.<br />

Als ich ins Zimmer kam, war es ein Todesschrei.<br />

Das menschliche Leid ist eine Frage<br />

Der Bild- und Tonschärfe geworden.<br />

Gestern stand der Krieg unentschieden.<br />

Mal sehen, wer gewinnt.<br />

Mir sind beide recht.<br />

Ich habe da keine Ressentiments.<br />

Wenn ein Krieg gezeigt wird,<br />

Meint man manchmal, das Bild ist zu rot.<br />

Und ruft die Störungsstelle an.<br />

Das Bild ist nicht zu rot.<br />

Eine Stadt brennt.<br />

Manchmal bin ich ganz froh,<br />

Daß vor den Schüssen eine Trennscheibe ist.<br />

Die Toten stinken nicht im Zimmer<br />

Und man muß kein Blut vom Teppich waschen.<br />

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Das wäre nämlich eine Riesensauerei,<br />

Wenn das alles auf den Teppich tropfen würde,<br />

Was man auf dem Bildschirm sieht.<br />

Dann würde ich mir keine Kriege mehr anschauen.<br />

Kleinere, begrenztere Kriege sind für das Fernsehen besser.<br />

Denn bei'm großen Knall sehen wir bestimmt nichts mehr.<br />

Und bei der Neutronenbombe<br />

Läuft höchstens noch der Apparat.<br />

Helmut Ruge, 1981 160<br />

Am 10. Juni 1982 demonstrieren im Bonner Hofgarten rund 450.000 Menschen gegen die<br />

Nachrüstungspolitik, im Herbst 1983 formiert sich eine 108 Kilometer lange<br />

Menschenkette zwischen Stuttgart und Ulm. Die Massendemonstrationen haben den von<br />

Bundeskanzler Helmut Schmidt gebilligten NATO-Doppelbeschluß nicht verhindert. Die<br />

Mobilisierung Hunderttausender Rüstungsgegner stärkt jedoch das heterogene<br />

Selbstbewußtsein im alternativen politischen Spektrum. Über Wochen herrscht zumindest<br />

in den Universitätszirkeln, in Theater und Kneipen, Aufbruchsstimmung. Der große<br />

organisatorische Erfolg täuscht zunächst über die tatsächlichen Machtverhältnisse<br />

hinweg. Die neue Regierungsmannschaft mit Helmut Kohl läßt sich in ihrer<br />

eingeschlagenen atlantischen Bündnispolitik nicht erschüttern und erfüllt die alten<br />

Vorgaben aus SPD-Zeiten. Die Belagerer von amerikanischen Kasernen und Depots<br />

werden wie eh und je vor die Gerichte gezerrt und als Straftäter behandelt und verurteilt.<br />

Die Verfahren werden sich über Jahre hinziehen. Nur wenige Prominente, wie zum<br />

Beispiel Walter Jens, erlangen durch die Auseinandersetzung zwischen Individuum und<br />

staatlichem Machtmonopol zusätzliche Popularität und geben Beispiele provozierender<br />

und radikaldemokratischer Gesinnung.<br />

Herbst 1983, das bringt nach dem Wechsel im Regierungsgeschäft in Bonn ein<br />

ambivalentes Resultat für die pazifistische Bewegung in Deutschland und Europa. Doch<br />

die eindrückliche Solidarität bildet eine markante Zwischenstation, die entscheidende<br />

160Helmut Ruge, Kriegsvoyeure, ebd, S. 67f.<br />

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Folgen in der politischen Kultur der alternativen Szene hat. Die Reaktion der bürgerlichen<br />

Öffentlichkeit in den neunziger Jahren auf Rassismus und Ausländerfeindlichkeit<br />

reflektiert diese kollektive Erfahrung zumindest in Teilen und reagiert damit spät - fast zu<br />

spät - auf die rechtsextremen Provokationen in der Republik. Wenn die Beobachtungen<br />

nicht trügen, so haben sich fast alle maßgeblichen Gaukler des Worts und des<br />

Mienenspiels mit in die Phalanx der Atomwaffen-Kritiker gestellt. Es gibt hier keine<br />

Ausnahmen, wenn man einmal von bunten Abenden bei CDU-Wahlveranstaltungen oder<br />

Parteitagen absieht.<br />

Der engagierte und stets politisch argumentierende Liedermacher Franz Josef<br />

Degenhardt meldet sich im Jahr der Nachrüstung mit „Lullaby zwischen den Kriegen“<br />

nochmals zu Wort. Das Lied, im öffentlichrechtlichen Rundfunk von 1983 kaum gespielt,<br />

erzählt vom Ohnmachtsgefühl und der stillen Wut, die vorherrschen. Die verschlüsselte<br />

„Heilsbotschaft“ am Schluß - „die roten Reiter sind schon über den Fluß“ - mag ein billiges<br />

Zugeständnis an parteiliches Denken sein. Der kunstvollen Verarbeitung der Angst in<br />

einer fernsehregierten Gesellschaft tut dies aber in dem Schlaflied keinen Abbruch.<br />

Lullaby zwischen den Kriegen<br />

Nimm meine Faust und wünsch dir was.<br />

Ja, unsere Fenster sind schußsicheres Glas.<br />

Und der galaktische General<br />

mit den Tressen aus Milchzähnen, den Fingern aus Stahl,<br />

zieht sich Pantoffeln an, spielt mit E.T.<br />

Wie lang eine Nacht langt, das weiß man nie.<br />

Natürlich, das Mädchen ohne Beine und Hand<br />

unter den Trümmern im Morgenland,<br />

im Arm noch die Puppe, die Schleife im Haar,<br />

hat nichts mehr gespürt, als es soweit war.<br />

Ja, ich guck nochmal unter dein Bett,<br />

ob Krümelmonster sich da nicht versteckt.<br />

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Das Fieber steigt,<br />

das Fieber sinkt,<br />

schlafen mußt du, mein Kind,<br />

träumen mußt du allein, mein Kind.<br />

Nein, das Rauschen ist nicht im Fernsehgerät,<br />

das ist ein Flieger, der fliegt noch so spät.<br />

Aber nein, der stürzt ganz gewiß nicht ab,<br />

nämlich das ist der strategische Stab,<br />

der macht einen Ausflug nach Engeland.<br />

Nein, Stuttgart ist noch nicht abgebrannt.<br />

Ja, Mr. Spock von der Enterprise,<br />

der ist dabei, weil er alles weiß.<br />

Der beamt uns vielleicht auf den grünen Planet,<br />

wo deine Mutter am Info-Stand steht.<br />

Die Unterschriftliste ist sicher schon voll,<br />

dann treibt es Herr Reagan nicht mehr so toll.<br />

Das Fieber steigt,<br />

das Fieber sinkt,<br />

schlafen muß du, mein Kind,<br />

träumen mußt du allein, mein Kind.<br />

Horch, Kind, horch, wie der Sturmwind weht.<br />

Nein, das Lied sing ich nicht,<br />

weil das Lied nicht mehr geht.<br />

Wir hören uns dafür, was der schwarze Mann<br />

in der Silberhose so lustig singt, an:<br />

Daß morgen ganz sicher der Morgen beginnt<br />

und Bobby Ewing doch noch gewinnt.<br />

Ja, Max und Moritz, die beiden sind tot,<br />

200


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die sind zermahlen zu braunem Schrot.<br />

Ja, Donald Duck, der hat das gefressen.<br />

Ja, auch den bösen Wolf, den kannst du vergessen,<br />

Mickey Mouse hat uns davon befreit.<br />

Die Mainzelmännchen, die wissen Bescheid.<br />

Das Fieber steigt,<br />

das Fieber sinkt,<br />

schlafen mußt du, mein Kind,<br />

träumen mußt du allein, mein Kind.<br />

Ja, träumen mußt du allein, mein Kind,<br />

weil träumen hilft nur allein, mein Kind.<br />

Komm auf die Brücke aus Knüppeln und Bast<br />

und halte dich fest an dem stürzenden Ast.<br />

Na, siehst du, das ging doch bis jetzt ganz gut.<br />

Dein Dröhnen im Kopf ist dein Leben im Blut.<br />

Hab auch keine Angst vor der engen Schlucht,<br />

da kommen wir durch auf unserer Flucht.<br />

Die blauen Soldaten, die reiten nicht mehr,<br />

die haben keine Kugeln mehr für ihr Gewehr.<br />

Ja, heute, das war der letzte Schuß,<br />

und die roten Jäger sind schon über den Fluß.<br />

Das Fieber steigt,<br />

das Fieber sinkt,<br />

schlafen mußt du, mein Kind,<br />

träumen mußt du allein, mein Kind.<br />

Franz Josef Degenhardt, Juni 1983 161<br />

161Degenhardt, Franz Josef, Polydor 815 227-1.<br />

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Von Wende zu Wende<br />

Neues aus Skandalusien<br />

Mit hehren moralischen Versprechungen auf den Lippen übernimmt das christlich-liberale<br />

Not- und Überläuferbündnis am 4. Oktober 1982 die Bonner Regierungsgeschäfte. Die<br />

Resignation unter dem gestürzten Hanseaten Helmut Schmidt und seiner Mannschaft ist<br />

beträchtlich. Das konstruktive Mißtrauensvotum im Bundestag hat ihn zu Fall gebracht,<br />

die sozialdemokratische Regierungsarbeit ist mit einem spektakulären innenpolitischen<br />

Finale beendet. Spott über den ungeliebten Nachfolger Kohl vermag die Stimmung auf<br />

den Brettern gelegentlich ein wenig aufzuhellen. In einer fiktiven Regierungserklärung läßt<br />

Karl Hoch den neuen Kanzler tremolieren:<br />

„Die Regierung wird Atome spalten, aber nicht unser sowieso schon geteiltes Land. Wir wollen<br />

weg von der Konfusion und hin zur Kernfusion. Dann wird eines Tages auch die Stunde<br />

schlagen, da die Endlagerung für unsere Menschen hier und draußen nicht mehr weit ist. Es ist<br />

Zeit, die Gräben zuzuschütten. Es geht doch um die Gemeinsamkeit der Demokraten über den<br />

Gräben.“ 162<br />

Die postulierte Harmonie in Bonn ist selbstverständlich alles andere als von untadeliger<br />

Beschaffenheit, und so feiert die Satire landauf, landab wieder ihre Renaissance, im<br />

Chanson und im Kabarett. Der beschworene Aufschwung wird von den Barden mit<br />

monströsen Volten ins Lächerliche gezogen. Die Nachrüstungsdebatte ist gelaufen, die<br />

Realpolitik ist im Sinne der Falken entschieden, und die Kleinkunst hat wieder einen<br />

politischen Kontrahenten, der auf der Regierungsbank sitzt. Der Neokonservatismus, der<br />

sich wieder ungehemmt Bahn bricht, läßt sich nach der Frontbegradigung offen<br />

attackieren. Die alten klassischen Muster von rechts und links aus Kaiserzeit und Ära<br />

Adenauer haben wieder Gültigkeit. Degenhardt besingt das neue Lebensgefühl, die<br />

Rückkehr zur Bürgerlichkeit und law and order, die Losung heißt Restauration, und in<br />

seiner „Aufschwungs-Hymne“ jubeln teutonische Mannen:<br />

162Hoche, Karl, 1984, S. 229.<br />

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Wieder alles im Lot und auf Vordermann.<br />

Die Börse ist froh und der Herr Pastor.<br />

Die Feuerwehr rückt wieder ein, und dann<br />

singt der vereinigte Män-n-e-er-ch-o-o-r:<br />

Juwi juwi di haha ha... 163<br />

Werner Schneyder ist in seinem „Liederkabarett“ zu einem ganz ähnlichen Wende-Befund<br />

gekommen. Deutschsein hat wieder Konjunktur - in einem überwunden geglaubten Sinne.<br />

Bitterkeit spricht aus den Zeilen, der Zorn einer gescheiterten Bemühung. Die Niederlagen<br />

unter der vorigen Regierung sind bereits vergessen. Das, was kommt, kommen könnte,<br />

scheint bedrohlicher als vergangene Halbherzigkeiten unter Helmut Schmidt oder Willy<br />

Brandt.<br />

Jetzt reden wir wieder Fraktur<br />

Vorbei sind die bitteren Jahre<br />

der sprachlichen Duckmäuserei.<br />

Man muß nicht mehr Worte abwägen.<br />

Die Zeiten sind endlich vorbei.<br />

Wir tragen das Herz auf der Zunge.<br />

Das hat uns die Wende geschenkt.<br />

So ist uns der Schnabel gewachsen.<br />

Ein Schuft, der nicht sagt, was er denkt!<br />

Jetzt reden wir wieder Fraktur!<br />

Wer hat schuld am KZ? Pazifisten!<br />

Sie brauchen sich nicht zu entrüsten,<br />

Sie vaterlandslose Figur!<br />

163Degenhardt, Franz Josef, Polydor 815 227-I.<br />

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Wenn Staatsanwälte den Verdacht<br />

gegen Minister formulieren,<br />

dann ist das, wie wenn Terroristen<br />

eine Geisel liquidieren!<br />

Wir können wieder Blutzoll leisten.<br />

Das Wort ist wieder eingeführt,<br />

damit der einfache Soldat<br />

auch sprachlich was von Wende spürt.<br />

Jetzt hat unser Deutsch Konjunktur!<br />

Mit Worten, die nichts mehr vernebeln.<br />

Jetzt sitzen wir an den Hebeln.<br />

Und wir reden wieder Fraktur.<br />

Es ist die deutsche Geschichte<br />

in Illustrierten zu lesen.<br />

Wie spannend, wie sie an der Ostfront<br />

am deutschen Wesen genesen.<br />

Jetzt darf man auch wieder sagen,<br />

wie decorum et dulce es est,<br />

wenn man für die Heimat auch einmal<br />

das blühende Leben läßt.<br />

Jetzt reden wir wieder Fraktur!<br />

Wir haben schon lang drauf gewartet!<br />

Entartet bleibt immer entartet!<br />

Und unsre Natur ist Natur!<br />

Man darf wieder von Dolchstoß sprechen<br />

und Auschwitz leicht relativieren.<br />

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Es gibt hier viel zuviel Kanaken!<br />

Wir werden sie schon reduzieren.<br />

Ein freies Leben führen wir und<br />

rüsten voller Wonne!<br />

Und wer etwas dagegen sagt,<br />

ist Moskaus 5. Kolonne!<br />

Schaut nur besorgt auf die Uhr!<br />

Es ist nicht zwölf, es ist später.<br />

Die Sprache ist ein Chronometer!<br />

Und wir reden wieder Fraktur.<br />

Werner Schneyder, 1984 164<br />

An kleineren und größeren Skandalen fehlt es in der Republik nicht. Es macht auch<br />

keinen Unterschied, wer an der Macht ist. Die Verfügbarkeit angehäufter materieller und<br />

politischer Gewalt hat die Politiker quer durch die Parteienlandschaft verführbar und<br />

erpressbar gemacht. Die Barschel-Affäre des Jahres 1987, zum Beispiel, ist nicht allein<br />

Affäre der CDU, wie sich später zeigt. Sie hat auch auf der Opferseite Spuren<br />

hinterlassen. Im Wechselbad der Macht bleibt die Makellosigkeit der Westen und der<br />

Moral eine uneinlösbare Utopie. Moralität reduziert sich bei Opposition und Regierung auf<br />

Augenblicke, Dogmen der Unfehlbarkeit haben auf lange Sicht keinen Bestand. Der<br />

Kabarettist hält wie der Fotograf ein Sofort-Bild in der Hand. Er kritisiert notwendig aus<br />

dem Augenblick und kann nicht wägend abwarten. Er bezieht Stellung, radikal, und muß<br />

mit Revisionen rechnen.<br />

Der Kabarettist zur Kießling-Wörner-Affäre. Ein Viersterne-General wird entlassen, weil er<br />

als Homosexueller für den Minister und die NATO angeblich zum Sicherheitsrisiko<br />

geworden ist. Der Minister sitzt aus und rehabilitiert den Geschaßten. 165<br />

164Schneyder, Werner, 1984, S. 61f.<br />

165Vgl. Sichtermann, Barbara, Die Affäre Wörner/Kießling, in: Hafner, Georg M. und Jacoby, Edmund,<br />

1989, S. 243ff.<br />

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Vorzeitig entlassen werden kann man in diesem Land ja aus den verschiedensten Gründen, wie<br />

man in jüngster Zeit erfahren hat. Ich möchte zu diesen Affären nur eines sagen: Ob homo-,<br />

hetero-oder asexuell, ich halte Generäle an und für sich für ein Sicherheitsrisiko. Worum ging es<br />

eigentlich? Erst ging es um den Kopf von Wörner und um den Hintern von Kießling. Dann ging's<br />

kurz um den Kopf von Kießling und um den Hintern von Wörner. Dann haben sie sich anläßlich<br />

eines großen Zapfenstreiches verlobt. Wissen Sie, wer für mich der Mieseste in dieser ganzen<br />

Affäre war? Der Kießling. Der läßt sich von einem Herrn Wörner die Ehre zurückgeben! Also<br />

eine Ehre, die Herr Wörner einmal in der Hand gehabt hat, an die würde ich nicht einmal mehr<br />

anstreifen wollen.<br />

Werner Schneyder, 1984 166<br />

Über die Fremde - Dialektales und Dialektisches<br />

Der Dialekt, der geläufige oder grenzüberschreitende Akzent im Kabarett, im politischen<br />

Lied und im Chanson, gehören zu den beliebten künstlerischen Ausdrucksmitteln. Sie<br />

verleihen, je nach Intention des Texters und Protagonisten, dem Fremden Vertrautheit<br />

und Nähe, die die Nüchternheit der Hochsprache auf der Bühne nicht einräumt. Dialekt<br />

oder fremdländischer, mit Akzent behafteter Sprachgebrauch, schenken der dargestellten<br />

und besprochenen Wirklichkeit eine neue „Optik“ im akustischen Kontext. Die Nähe, die<br />

sich zum Zuhörer - gewissermaßen einschmeichelnd - herstellen läßt, verschafft unter<br />

Umständen eine dramaturgisch gewollte und sprachliche Spannung zum Inhalt des<br />

Textes. „Der brave Soldat Schweyk“, von Helmut Qualtinger gesprochen, ist nicht nur<br />

wegen des Inhalts für den Zuhörer von Interesse. Was über Krieg und Frieden hier im<br />

böhmischen Dialekt gesagt wird, trifft den Zuschauer, weil regionaler Sprach- und<br />

Sprechgebrauch der Tatsache des Krieges intime Nähe verleihen. Dialekt ist auf Bühne<br />

und Schallplatte selten dem Zufall überlassen. Die Mundart ermöglich in aller Regel die<br />

schamloseste Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen. Mit ihr kann die kognitive<br />

Verkrustung beim Zuschauer leichter überlistet werden. Das gilt freilich auch dann, wenn,<br />

umgekehrt, Fremde und Ausländer im „deutschen“ Kabarett auftreten. Die Realität läßt<br />

sich durch diesen absichtsvollen Kunstgriff ein weiteres Mal spiegeln: Durch einen<br />

Ausländer, der einen Deutschen spielt und durch den fremden Akzent, der die Konflikte<br />

166Schneyder, Werner, 1984, S. 50.<br />

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zwischen Ausländern und Deutschen aus ungewohnter akustischer Perspektive<br />

transparent macht.<br />

Das Ulmer Knobi-Bonbon-Kabarett der türkischen Einwanderer Mushin Omurca und<br />

Sinasi Dikmen macht solches in seinen Programmen deutlich, zuletzt in dem Programm<br />

Der Beschneider aus Ulm. Beim Abgang unterhalten sich die beiden nochmals über ihre<br />

Erlebnisse als türkische Fremde unter Deutschen.<br />

Omurca: (Nach der Verbeugung) So, das wärs ... Tschüüß! (Ab)<br />

Dikmen: Du darfst noch nicht gehen!<br />

Omurca: (Von hinten) Warum nicht? Ich bin fertig, hab Hunger ...<br />

Dikmen: Die (zu den Zuschauern) sind noch da!<br />

Omurca: Mein Gott! Müssen wir uns denn immer auf türkische Art verabschieden? Erst müssen<br />

die Gäste raus, dann wir. Das stinkt mir aber langsam!<br />

Dikmen: So sind eben die Kabarett-Zuschauer! Wenn sie was bezahlt haben, bleiben sie bis<br />

zum bitteren Ende da!<br />

Omurca: (Kommt zurück zu Dikmen) Merken die nicht, daß wir fertig sind?<br />

Dikmen: Wenn sie es gemerkt hätten, wären sie schon längst draußen.<br />

Omurca: (Zum Publikum) Guten Abend! Draußen ist noch schöner Abend! ... (Zu Dikmen)<br />

Keiner rührt sich!<br />

Dikmen: Die sitzen immer noch.<br />

Omurca: Schön, daß ihr da wart!<br />

Dikmen: ... gewesen seid!<br />

Omurca: Merkwürdig, die kapieren nicht.<br />

Dikmen: Langsam wird es mir aber zu blöd, ich gehe!<br />

Omurca: Spinnst Du, was soll ich denn machen?<br />

Dikmen: Kein türkischer Abend ohne Bauchtanz!<br />

Omurca: Warte doch! ... O.K. ich mache etwas Bauchtanz, aber du hast die Gage kassiert in der<br />

Pause. Gib mir meinen Anteil, dann kannst du gehen.<br />

Dikmen: Nimm! (gibt Omurca einen Hunderter)<br />

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Omurca: He! Was soll das? Das ist nicht die Hälfte!<br />

Dikmen: Tschuldigung! Ich hätte es dir vorher sagen sollen: Mein Bruder Osman ... ,Ossi` ... ist<br />

in Schwierigkeiten.<br />

Omurca: Was habe ich mit deinem Bruder Osman zu tun?<br />

Dikmen: Theoretisch nichts, aber praktisch schon!<br />

Omurca: Ich komme überhaupt nicht mit.<br />

Dikmen: Dann bleibe eben da, wo du bist.<br />

Omurca: Mann, ich bin doch nicht der Bruder deines Bruders!<br />

Dikmen: Sei doch froh!<br />

Omurca: Ihr seid Brüder! Außerdem, ihr beide wohnt in zwei Eigentumswohnungen<br />

nebeneinander ... Ich dagegen bin zur Miete hier ...<br />

Dikmen: Nein, nein, nein! Nicht zwei Wohnungen! Sondern nur eine!<br />

Omurca: Nur eine? Ach, hat der Ossi seine Wohnung verkauft?<br />

Dikmen: Nicht direkt ... Wir haben die Wände dazwischen abgerissen und ...<br />

Omurca: Ach soo. Wiedervereinigung, sozusagen.<br />

Dikmen: Ja. Ein bißchen.<br />

Omurca: Weißt du, ich habe nichts dagegen ....<br />

Dikmen: Keiner war dafür.<br />

Omurca: ... aber, wenn ihr beide euch eine doppelt große Wohnung leisten wollt, dann müßt ihr<br />

beide sie finanzieren, nicht ich, oder?<br />

Dikmen: Das ist nur ein Solidaritätsbeitrag.<br />

Omurca: Solidaritätsbeitrag ist abgeschafft worden! Nicht mehr aktuell!<br />

Dikmen: Dann ist es ... Zwangsanleihe!<br />

Omurca: Du hast mich aber nicht mal gefragt, ob ich mich mit euch beiden solidarisieren will,<br />

zahlen will, zahlen kann ...<br />

Dikmen: Na gut! Hiermit stelle ich dir die Frage in aller Öffentlichkeit: Entweder zahlst du ...<br />

oder ... zahlst du!<br />

Omuca: Sehr demokratisch.<br />

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Dikmen: Und die Antwort?<br />

Omurca: Ooo! Ich darf sogar wählen! ... Mmmmm ... Ich nehme den zweiten, aber unter einer<br />

Bedingung: Ich möchte mitentscheiden, was ihr aus meinem Geld macht!<br />

Dikmen: Na! Na! Na! Vertraue uns doch! Du weißt gar nicht, was gut oder was schlecht ist!<br />

Mensch sei doch froh, daß du nicht gezwungen wirst zu denken! Wir werden auch für dich<br />

denken müssen! ... Apropos: denken ... Im nächsten Monat ziehe ich dir 50,- Mark ab.<br />

Omurca: Wofür muß ich den Fuffi zahlen?<br />

Dikmen: Denksteuer! Auch das Denken muß bezahlt werden! (Ab)<br />

Omurca: Arschloch! (Zum Publikum) ... Seid ihr immer noch da?! ... Also, meine Damen und<br />

Herren, aus kabarett-wirtschaftlichen Gründen, können wir leider eure Aufenthaltserlaubnis in<br />

diesem Saal nicht mehr verlängern, gute Nacht!<br />

Knobi-Bonbon: „Der Beschneider von Ulm", 1993 167<br />

Die deutsch-türkische Gruppe Yarinistan mit ihren Gründern Geo Schaller und Nadim<br />

Hazar vermag in hervorragend arrangierten Songs die Vermischung der Kulturkreise<br />

zwischen Okzident und Orient zu artikulieren. Die Lieder sind durch ein hohes Maß an<br />

Selbstironie und sarkastischer Zuspitzung äußerst wirkungsvoll. Die Rolle, die der<br />

deutsche Spießer dem Türken als Kloputzer und Straßenfeger für des Deutschen<br />

Behaglichkeit und Bequemlichkeit zugedacht hat, sie wird von der singenden Truppe nur<br />

allzu bereitwillig artikuliert. Die verkrusteten Vorurteile werden spielerisch als gegeben<br />

und richtig angenommen, intellektuell bloßgestellt und dialektisch enttarnt. Die Balladen,<br />

Schau- und Hörstücke erzählen von „Emigrantenschicksalen, Hodschas,<br />

Bauchtänzerinnen, von Heimat und Heimatlosigkeit in der Großstadt“, so die<br />

Liedersammler Heide Buhmann und Hanspeter Haeseler. Und weiter: „Dabei gelingt es<br />

Yarinistan, zeitgenössische Musik zu kreieren, die aus deutscher, türkischer und<br />

kurdischer Kultur Anregungen schöpft, um sie zu etwas Neuem zu vereinen. Interessante<br />

Rhythmen der Balkanfolklore, die reizvollen Klänge der traditionellen Volksinstrumente,<br />

mischen sich mit Sequenzen des Rock.“ 168<br />

167 Unveröffentlichtes Manuskript von Mushin Omurca,dem Autor freundlich zur<br />

Verfügung gestellt.<br />

168Buhmann, Heide, Haesler, Hanspeter, 1993, S. 420.<br />

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Türken sind froh<br />

Zigeuner sind lustig, die Türken sind froh<br />

trinken viel Raki und putzen das Klo<br />

Im dritten Stock boxt Mohammed<br />

der Orient erwacht<br />

Kopftuch-Schönheit, Hosen bunt<br />

Ali winkt und lacht<br />

Fatma tanzt mit ihrem Bauch<br />

andre tanzen auch<br />

Kewapspieß und grüner Türke<br />

Oh Allah bin ich zu<br />

Saßgedudel, Trommelklang<br />

Frauen sind tabu<br />

Ali singt vom Schwarzen Meer<br />

alle weinen sehr<br />

Zigeuner sind lustig, die Türken sind froh<br />

trinken viel Raki und putzen das Klo<br />

Sie feiern bis der Morgen graut<br />

der Selim ist schon weg<br />

Draußen in den Pissoirs<br />

wartet schon der Dreck<br />

Keiner sagt, was jeder weiß<br />

Deutschland ist ein S ........<br />

Im dritten Stock kehrt Ruhe ein<br />

der Tschai schmeckt heimatlich<br />

Türken bleiben, Türken sind<br />

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lieber unter sich<br />

Aber fröhlich könn' sie sein<br />

alle stimmen ein<br />

Zigeuner sind lustig, die Türken sind froh<br />

trinken viel Raki und putzen das Klo<br />

Yarinistan, 1987 169<br />

Uli Keuler, der schwäbische Solist und Moralist aus Mähringen, betreibt kabarettistische<br />

Aufklärung, indem er gängige Klischees über „den Islam“ ins Absurde steigert. Die<br />

landläufige Unwissenheit über die Weltreligion und ihre Vertreter wird durch den<br />

geschwätzigen - in der Aufführung deftig schwäbelnden - „Kenner“ drastisch bestätigt. Die<br />

Nummer ist aus Anlaß des Golfkrieges 1991 geschrieben und fordert die Selbstprüfung<br />

des Zuhörers und Zuschauers heraus. Teilt er die Tatsachenbehauptungen, die wüsten<br />

ethnischen und religiösen Unterstellungen, oder hat er andere Erfahrungen gemacht? Der<br />

schwäbische Dialekt ermöglicht die Verschränkung von „großer Politik“ mit der Erfahrung<br />

in der Provinz und am Stammtisch. Reaktionäres Denken und Sprechen, die<br />

Animalisierung der fremden Rasse und Kultur gewinnen im Dialekt an Plastizität.<br />

Hochdeutsche Rationalität muß nicht erst durchdrungen werden, um die Borniertheit zu<br />

desavouieren. Schwäbisches kommt gewissermaßen heimtückisch, ja „hinterfotzig“ daher.<br />

Die Distanz der hochdeutschen Nachrichtensprache zwischen einem Gesagten und<br />

einem Gemeinten verringert sich hier im rustikalen Dialekt auf ein relatives Minimum.<br />

Horväth, Karl Valentin oder Liesl Karlstadt bedienten sich ganz selbstverständlich dieses<br />

Mittels. Kein Künstler, der es stimmlich handhaben kann, wird auf diese suggestive<br />

Möglichkeit verzichten. Die bodenständige Aussprache, sie wirkt zudem stets<br />

„authentischer“ als gemeißeltes Mediendeutsch. Kabarett, das sich dieser Technik<br />

bedient, ist beim Publikum in aller Regel hochwillkommen und genießt einen<br />

„Vertrauensvorsprung“.<br />

169Ebd. S. 216. Text: Jürgen Fischer, Musik: Nedim Hazar und Georg Schaller.<br />

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Was wissen wir über den Islam?<br />

Meine Damen und Herren, was wissen wir über den Islam ? Als mir diese Frage vor einigen<br />

Monaten zum ersten Mal gestellt wurde, da war ich zunächst etwas ratlos. Ich hatte das Wort<br />

zwar oft gelesen, aber mir nie Gedanken darüber gemacht. Ein Sondierungsgespräch mit<br />

Fachleuten aus der Winzerstube meines Stammlokals „Zum Rössle“ ergab zunächst ein recht<br />

uneinheitliches Bild. Der Islam... Die einen erklärten, es handle sich um eine Geheimwaffe von<br />

Saddam Hussein, andere sprachen von einer afghanischen Rebellenorganisation und wieder<br />

andere meinten, es handle sich um eine Art Wirbelsturm, der sich über Asien zusammenbraue,<br />

und dann gut Nacht um sechse .... Der Informationsstand war so unübersichtlich, daß ich kurz<br />

davor stand, in einem dieser Dinger da nachzusehen, mit denen man normalerweise Blumen<br />

preßt und den Diaprojektor waagrecht hält. Dank Ausbruch des Golfkriegs blieb mir diese<br />

Prozedur erspart. Und inzwischen darf ich sagen: 15 Fernsehkanäle und ein Videogerät haben<br />

mich zu einem der profundesten Islamkenner zwischen der Straße von Hormuz, der Straße von<br />

Gibraltar und der „Lindenstraße“ gemacht.<br />

Was wissen wir über den Islam? Das hervorstechendste Merkmal des Islam ist sein<br />

granatenmäßiger Fanatismus. So hat es einer der lautesten Islamkenner auf der S-Bahn-<br />

Strecke Stuttgart-Plochingen formuliert, gestützt auf Ergebnisse eines Kolloquiums, das im<br />

Rahmen des Cannstatter Volksfestes stattfand. Im Islam ist alles verboten: Schweinefleisch,<br />

Alkohol, Bomerlunder, Saurer Fritz, Fernet Branca, Strümpfelbacher Trollinger, Asbach Uralt,<br />

Sechsämtertropfen, Amselfelder, Sannwald Weizen ... und das ist nur ein repräsentativer<br />

Querschnitt. Ebenso düster sieht's in anderen Lebensbereichen aus. Wo in den Tagen der<br />

Kreuzfahrer der Minnedienst für die orientalische Frau in zarten Versen verherrlicht wurde, da<br />

werden heute Frauen im Namen Gottes gegängelt und bevormundet, daß sogar der Vatikan<br />

schon von einer Annäherung zwischen den Weltreligionen spricht. (...) Wir haben bislang nur<br />

über die religiösen Grundlagen des Islams gesprochen. Aber was wäre der Islam ohne den<br />

Moslem? Nun, was wissen wir über den Moslem? Wie wir seit den Orientstudien des<br />

Ethnographen Kara Ben Nemsi wissen, lebt der Moslem in würfelförmigen Lehmbehausungen,<br />

die er bevorzugt in Oasen errichtet. Zur Vernichtung seiner Feinde benutzt er diese Oasen auch<br />

gerne als Fata Morgana. Das ist ein arabisches Wort und bedeutet „Christenfopper“. Der<br />

Moslem neigt zur Vielweiberei, die jedoch im Rückgang begriffen ist und das macht ihn<br />

aggressiv. Er rottet sich daher gerne mit anderen Artgenossen zusammen, um den Amerikaner<br />

für jeden Hennenfurz verantwortlich zu machen.<br />

Uli Keuler 1991 170<br />

Gerhard Polt hat zusammen mit dem Kabarettautor Hanns Christian Müller die<br />

bloßstellende Schlagkraft des Dialekts auf der Bühne zur anerkannten Meisterschaft<br />

getrieben. Müllererhält 1982 für seine Arbeit den Adolf-Grimme-Preis und hat an<br />

zahlreichen Scheibenwischer-Sendungen als Autor mitgewirkt. Polt schaut bei seiner<br />

Interpretation dem Volk nicht nur aufs bayerische Maul, er seziert mit sprachlichen und<br />

szenischen Mitteln die kleinbürgerlichen Ängste und ihre gewalttätigen Obsessionen. Man<br />

hat gelegentlich auf die Nähe der Poltschen Figur zu Ödön von Horváths Theater<br />

verwiesen, und der Kabarettist selbst räumt diese Nähe auch ein. Bei Horváth und Polt<br />

170Unveröffentlichtes Manuskript, dem Autor freundlich zur Verfügung gestellt.<br />

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liegen Lächerliches und Schockierendes eng beieinander. Polt läßt seinen Spießer eine<br />

„entstellte“ und entstellende Sprache sprechen. „Weniger der Inhalt als vielmehr die Art<br />

der Rede gibt Aufschluß über den Redner selbst“, betont Mario Gamper in einer<br />

Untersuchung zur Sprache des Münchner Kabarettisten. 171 DerUmgang mit völkischen<br />

und ethnischen Ressentiments reflektiert das Sprechstück über den Russen. Das Fremde<br />

wird als zoologisches Ereignis begriffen, als ein organologisches „Phänomen“, das den<br />

deutschen Stammtischbruder und Spießer immer wieder „staunen“ läßt. Tiefsitzende<br />

Urängste gegen den alten Kriegsgegner kommen beiläufig an die Oberfläche. In einer<br />

weiteren Ebene ist es der Argwohn des Bajuwaren gegen alles Fremde, den Ausländer<br />

schlechthin, der sein extremes Recht einfordert. Erreicht wird solches auch durch die<br />

Schilderung einer „Russin“, die „sogar“ Mensch ist. Das Normale dient als Beleg für die<br />

Anomalität in dieser schlitzohrigen Völker-Posse, die aus der Negation ihre pädagogische<br />

Intention für den Zuschauer zieht.<br />

Alles über den Russen<br />

(...) Schaun Sie, jetzt sag ich Ihnen mal was: Ich mein, der Russe<br />

das Feindbild - der Russe, net ... Ich mein, der Kontakt zum Russen ist ja gewissermaßen seit<br />

der letzten Kriegsgefangenschaft ziemlich abgerissen. Der Russe ... Ich war ja drüben, aber wie<br />

soll ma den Russen, mein Gott ... Der Russe ist natürlich sehr vielfältig, verstehen Sie, es gibt<br />

ihn zum Beispiel in der Form von jüngeren Russen, net? Den Russen gibts auch älter ... in der<br />

Form vom Senior praktisch, nicht wahr ... Der Russe, eh ... Was, farblich? Ja, er geht praktisch<br />

vom Flachsblonden ... geht der Russe hinüber ins Braune, also bis ins Kastanienbraune, nicht<br />

wahr, rothaarig ist auch dabei ... Ja, schwarzhaarig ... Na ja, also bis ins Grau-Weiße geht er<br />

hinein, zweifellos...<br />

Interessant ist der Russe ... Da hab ich a interessante Beobachtung gemacht: Also, so im<br />

Herbst, wissens, was er da macht? Der Russe, da zieht er sich an Mantel an, und so a Mütze ...<br />

Des macht er gern. Und im Sommer, da läuft er, wenns heiß is, direkt hemdsärmelig herum. Net<br />

wahr. Wissens, was er gern mag ??? A Eis. A Speiseeiserl.<br />

Wissen Sie, ich muß Ihnen noch was sagen. Es ist ja schon interessant: Wenn er grinst, der<br />

Russe, oder wenn er lacht, wissens, was ma glauben könnte? - Da könnt ma glaubn, der hat a<br />

Gaudi!<br />

171Gamper, Mario, Die Sprache als Verräter. Der Kabarettist Gerhard Polt, Tübingen 1991, S. 5<br />

(unveröffentlichtes Ms.).<br />

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Ich habe folgende Beobachtung gemacht ... muß ich Ihnen schildern, weil - das ist interessant:<br />

Ein Russe, ein weiblicher, beugt sich über einen so winzigen, klitzekleinen Russen ... So a<br />

gewindelter Russe, net wahr. Und ich mein, sprachlich kann ichs nicht so, aber ich versuchs. Er<br />

sagt da zu dem kleinen Russen: „Guggugguggug, dadadada“. Und dieser kleine Russe, der hat<br />

gestrahlt! Dem is der Diezl ausm Mund gfalln. Der war restlos begeistert.<br />

Was er nicht mag, der Russe, des is der Krieg, den mag er gar net - interessanterweise. Den<br />

lehnt er direkt ab. Ma könnt sagn, er hat Angst davor. Aber wissen Sie, des is des, was ma dazu<br />

sagn kann. Die haben Angst. Und drum frag ich Sie: Wenn dieser Russe kommt ... verstehn<br />

Sie ... wissen Sie, was dann los ist? - Der Russe, wenn er kommt, dann is er da.<br />

Gerhard Polt, 1984 172<br />

Das Gespenst des Pazifismus<br />

Vitus Maria Deutelmoser entnimmt seiner Mappe einen Apfel, beißt hinein und räsoniert.<br />

Deutelmoser:<br />

Jetzt werd ich doch A 13, im Staatsdienst, gel. Da is überraschend eine Stelle freiworden, weil,<br />

es hat sich herausgestellt, daß der ander a Pazifist gwesen waar. Der hat sich öffentlich dazu<br />

bekannt, ohne das geringste ah, Schamgefühl, sagn mir mal. Ja, des hat doch keinen Sinn, daß<br />

man so jemand hinläßt. A 13, diese Position, und dann so a Einstellung, des geht doch net, da is<br />

doch der Pazifismus fehl am Platz. Weil simmer uns doch amal ganz ehrlich: Unsere<br />

Friedenssituation, des is doch eindeutig nur das Verdienst vom Militär. - Im Osten genauso. I will<br />

da gar nichts beschönigen. Da werd der Pazifist sogar - huit, Sie verstehen, de wissen genau,<br />

warumsn eisperrn, i muaß sagn, da kimmt er bei uns no direkt guat weg.<br />

Jetzt stelln Sie sich amal vor, mir hätten in der gesamten Welt lauter so Pazifisten, und nacherd<br />

kimmt der Ernstfall: Dann stehen sich Ost und West einander praktisch wehrlos gegenüber und<br />

dann bumsts, dann hammem Krieg. Denn diese Pazifisten habn ja noch nie an Krieg verhindert.<br />

Oder können Sie mir irgend einen Krieg nennen, den wo die verhindert hätten? - Eben. Und im<br />

Krieg selber sans praktisch so gut wie ein Ausfall, direkt eine Schwächung, und hinterher schlau<br />

daherreden, net, des kann ajeder. I moan, was so einer privat macht, des is dem seine<br />

Privatsache, gut, Schwamm drüber. Aber im öffentlichen Dienst waar er annähernd ein<br />

Schädling, und des haben die im Verwaltungsgericht ihm auch prompt anerkannt. - Er soll ja<br />

gsagt habn. Ost und West waar net desselbe, aber er hat überhaupt nix Eindeutiges gegan<br />

Osten direkt gsagt, und des is doch eine gefährliche Tendenz, wenn man so einen dann hi laßt.<br />

Bitte, ich mein, als Entschuldigung hat er angführt, daß sei Vater a Pfarrer war oder so, aber<br />

wenn die Kirche schon solche Gedanken aussprengt, na muaß ich ihm darauf verweisen, daß<br />

mir hier leben, hier, net in Wolkenkuckucksheim - Sie sehng ja, wer den Posten kriagt hat. Also i<br />

muaß schon sagn, mit diesem Pazifismus kimmr er net weit, jedenfalls nicht zum Staat.<br />

Gerhard Polt, Hanns Christian Müller: Da schau her, 1984 173<br />

172Polt, Gerhard/Biermösl Blosn, CD 33.624; auch in: Hildebrandt, Dieter, Müller, Hanns - Christian,<br />

Krieger Denkmal, 1984, S. 78ff.<br />

173Polt, Gerhard, Müller, Hanns-Christian, Da schau her, 1984, S. 23f<br />

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Die Ansprache im Dialekt - als Berliner Schnauze wie Günter Neumann, als „Schlesischer<br />

Schwan“ wie Ludwig Manfred Lommel, als schwäbischer Nörgler wie Willy Reichert, als<br />

kritische Instanz wie Polt oder Keuler - läßt sich für die Ablichtung subjektiv erlebten<br />

Unglücks oder sozialen Leids, in der Wirkung intensiv und „zudringlich“, ganz vorzüglich<br />

nutzen. Die Mundart demaskiert nicht nur Protagonisten, sie erlaubt auch den Blick in<br />

bedrohte Innenräume, auf den Zustand der psychischen Verunsicherung durch<br />

Arbeitslosigkeit zum Beispiel. In diesem Kontext haben Joana Emetz und Joy Fleming<br />

1986 mit dem Chanson Butzekrampele ein ansprechendes Lied kreiert. Der Mannheimer<br />

Dialekt schafft Nähe, aus der das Bild einer anonymen und feindlichen Gesellschaft sich<br />

abhebt. Die Welt wird im Chanson als insgesamt dichotomisch erfahren: Der Idylle ist das<br />

drohende Schreckgespenst der Arbeitslosigkeit vermittelt, die von anonymen Kräften<br />

(„was mache se bloß?“) gesteuert ist. Das Lied argumentiert nicht durch eine Geschichte,<br />

es überzeugt durch Emotionalität im vorgetragenen Ton. Seine Rationalität ist die<br />

Perfektion der Künstlerinnen Joana Emetz (Text und Musik) und Joy Fleming (Gesang),<br />

„ein musikalisches Gassenkind, das Musik nicht liest, nicht lesen kann, sondern hört, das<br />

Sprachen durch Singen gelernt hat, das nur ein paar Takte Rhythmus und eine<br />

Andeutung von Melodie wahrzunehmen braucht, um sofort in Musik zu verfallen“. 174<br />

Butzekrampel<br />

1.<br />

Do renne se moi kläne Butze,<br />

Vertreiwe drauß de Rege.<br />

Mache Wind bis in die Wolke,<br />

Daß die sich bewege.<br />

Lache, pfeife, mache Krach<br />

Un en Mordskrakeel,<br />

Un ich steh unner'm Regedach,<br />

Hab Wolke uff de Seel':<br />

Die werre bald groß,<br />

Was mache se bloß?<br />

174Sack, Manfred, 1991, S. 62.<br />

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Mit Arweit is nix los,<br />

Die hocke uff de Stroß ...<br />

2.<br />

Warum solle se dann fleißisch soi<br />

Un lerne wie die Affe?<br />

Un äner besser wie der anner,<br />

In de Schul sisch dabbisch schaffe?<br />

Dann stehe se do, als Verlierer,<br />

Leit, des is beschisse,<br />

Wenn se schaffe wolle un wie Hausierer<br />

Um ä Lehrstell bettle misse!<br />

Die werre bald groß ...<br />

3.<br />

Geh her, mein kläner Butzekrampel,<br />

Ich nemm dich in de Arm.<br />

Sie steht noch net uff Grün, doi Ampel,<br />

Noch hoschts trocke un hoschts warm.<br />

Noch hoschts dehäm schä, wie en Ferscht,<br />

Weescht nix von Lug und Trug:<br />

Im große Lewens-Rege werscht<br />

Demnächscht noch naß genug ...<br />

Die werre bald groß...<br />

Text und Melodie Joana Emetz, 1986 175<br />

175Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin.Unter dem Titel „Moi kläne Butze“ auch in:<br />

Kröher, Hein und Oss, 1991, S. 356f.<br />

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Eine Zensur findet statt<br />

Das Kabarett hat von jeher die Zensur - was immer dies global betrachtet meint - und ihre<br />

scheinbar zivil und nur dem Recht und dem Geschmack verpflichteten Obmänner in den<br />

Funk- und Fernsehanstalten beschäftigt. „Eine Zensur findet nicht statt“ wird im<br />

Grundgesetz Artikel 5 freundlich und bestimmt behauptet. Die Realität sieht freilich auch<br />

nach 1949 anders aus und ist mit der Verfassungswirklichkeit weiterhin nicht in Deckung.<br />

Dabei ist von vornherein zu fragen, ob die Interventionen von kirchlicher, staatlicher oder<br />

öffentlich-rechtlicher Seite für die Kabarett-Kunst nicht zugleich stets eine fruchtbare<br />

Provokation bedeuten. Das klingt ketzerisch, dient gleichwohl der Standortbestimmung<br />

der öffentlich befehdeten Kunst. Es gibt die bislang nicht widerlegte These, daß das<br />

Kabarett ganz allgemein, vor allem aber das politische, den direkten Schlagabtausch mit<br />

der Obrigkeit als kreatives Potential für sich nutzt. Wäre alles geduldet, gäbe es nicht<br />

immer wieder öffentlich-rechtliche Nachstellungen und Verfolgungen in Richtung<br />

Kleinkunst, dann müßte dieser Kunstbetrieb um seine Legitimation und seine literarische<br />

Wirkung zu Recht fürchten. Es ist eine schizophrene und zugleich, wenn man so will,<br />

sadomasochistische Ausgangslage: Das Kabarett wird von den Rezipienten gerade dort<br />

als unverzichtbares Instrumentarium verstanden, wo es auf Kollisionskurs mit einer<br />

mächtigen oder staatstragenden Auffassung ist. Die Spannung, die Werner Finck<br />

erzeugte, liegt gerade im unausgesprochenen Verbot, in der Möglichkeit zum staatlichen<br />

Eingriff. Die verfolgte Kunst lebt von dem Tanz auf dem Vulkan und von der relativen<br />

Ungewißtheit ihrer Wirkung auf die Politik. Zensur, wenn sie heute im Kontext des<br />

Kabaretts stattfindet, hat ihren Ort in der Fernsehgesellschaft fast ausschließlich im<br />

Fernsehmedium selbst. Im Theatersaal, auf den Kanälen der Rundfunksender ist nahezu<br />

alles erlaubt, herrscht nächtens ein gerüttelt Maß an Narrenfreiheit, wobei freilich immer<br />

noch die feinen Mechanismen der „inneren Zensur“ in Rechnung zu stellen sind. Der<br />

öffentliche Skandal, der registrierte, er findet seit den späten fünfziger Jahren in bezug auf<br />

das Kabarett nur noch im Fernsehen statt. Emsige Staatskanzleien zwischen München<br />

und Kiel, geschaftelhuberische Rundfunkräte prüfen mit Bedacht, ob Sitte und Anstand -<br />

in deren Sinne - gewahrt bleiben, und die Kirche - heute leiser als früher- läßt ebenfalls<br />

die Übereinstimmung mit ihren verfügten Dogmen und Moralwerten prüfen. Jeder dieser<br />

Eingriffe von seiten der bestallten Fernsehwächter alarmiert die Kabarettisten, weil die<br />

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Folgen meist viel weiterreichen als der konkrete Einzelfall zunächst signalisiert. Zu<br />

erinnern ist hier an den „Fall“ Mathias Richling vom Oktober 1989. In einer<br />

„Nachschlag“-Sendung des SDR hat der Künstler die Äußerungen des Papstes zur<br />

Empfängnisverhütung frech und „schamlos“ auf die Schippe genommen. Der SDR stellt<br />

sich nach Protesten der katholischen Kirche nur noch halbherzig vor den Kabarettisten<br />

und gibt dem Künstler zumindest für diese Sendereihe den Laufpaß.<br />

An dem Beispiel werden die Mechanismen der Zensur vermittelt sichtbar. Ihr Gesicht<br />

präsentiert sich seit den Tagen des Fürsten Metternich in vielerlei Gestalt und<br />

Kostümierung. Sie genießt Bestandsschutz und provoziert die Rituale präventiver<br />

Vorsichtsmaßnahmen bei den verantwortlichen Fernsehredaktionen und den Akteuren am<br />

Bildschirm. Die krude und nackte Zensur findet heute in der Tat nur noch sporadisch statt,<br />

doch ist sie aus dem Medienalltag nicht wegzudenken. Die Praxis belegt es, wenngleich<br />

die Einflüsse von seiten der Politik insgesamt subtiler geworden sind. Der Eingriff des<br />

Bundeskanzlers, der seine „Betroffenheit“ über den Fernsehfilm „Die Terroristen“ 176<br />

artikuliert, weil er darin als (fiktives) Opfer eines gescheiterten Anschlags benannt wurde,<br />

hat für den Kunstbetrieb freilich erhebliche Folgen. Die Empörung des Politikers ist stets<br />

bedeutsam, weil sie der Liberalität im Kulturbetrieb fast immer entgegensteht. Das Husten<br />

der Volksvertreter schlägt, kalkuliert und beabsichtigt, Wellen und dient in aller Regel der<br />

Einschüchterung. Auf die Presse, zumal auf die aus der Provinz, machen Minister-Rügen<br />

Eindruck. Der politische Effekt der indirekten Kunstdisziplinierung ist damit erreicht.<br />

Bösartig<br />

Der Fernsehausschuß des Südwestfunks hat mehrere Stunden nachgedacht und ist nach dieser<br />

schwierigen Übung zu dem Schluß gekommen, daß man es gerade noch einmal durchgehen<br />

lassen kann, wenn in einem vom SWF zu verantwortenden Film der Bundeskanzler ein bißchen<br />

zum Abschuß freigegeben wird. Der Ausschuß konnte logischerweise auch keine Gründe für ein<br />

Mißtrauen gegenüber der SWF-Spitze erkennen, die in einem schwierigen Abwägungs- und<br />

Entscheidungsprozeß gestanden habe. Die Senderwirklichkeit sah etwas anders aus: Die<br />

Verantwortlichen waren entweder nicht greifbar oder sie ließen sich von nachgeordneten<br />

Chargen versichern, der Film sei gänzlich harmlos. Senderwirklichkeit ist: Die<br />

Kontrollmechanismen beim SWF funktionieren nicht, ob aus Inkompetenz oder Desinteresse<br />

bleibe dahingestellt.<br />

176Südwest Presse, 23.11.92.<br />

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Der Ausschuß drehte sich so gequält, weil der Intendant nur noch kurz im Amt ist und weil man<br />

ihm zum Abschied keine Rüge mitgeben wollte. Das ist nett, dient aber nicht der Reinlichkeit des<br />

Senders. Wer einen bösartigen Schwachsinn zu verantworten hat, wie er in dem Film „Die<br />

Terroristen“ zu besichtigen war, der muß sich auch noch am letzten Tag an seine<br />

Verantwortung erinnern lassen.<br />

Ulrich Wildermuth, Südwestpresse, 5.12.1992<br />

Zensur sei die mit Machtmitteln versehene Kontrolle menschlicher Äußerungen, haben die<br />

Wissenschaftler Michael Kienzle und Dirk Mende notiert. 177 Zensur führt nach dieser<br />

Einschätzung bei Bedarf „zu rechtsförmigen und außerrechtlichen Sanktionen.<br />

Beispielsweise zur Behinderung, Verfälschung oder Unterdrückung von Äußerungen vor<br />

oder nach ihrer Publizierung.“ Die Grenzen, die dabei berührt oder auch überschritten<br />

werden sind fließend, manchmal auch schwierig in ihrer Bewertung. Die Ablehnung eines<br />

zur Uraufführung eingereichten Schauspiels durch den Intendanten kann mit Zensur<br />

etwas zu tun haben, es ist aber nicht zwingend. Die objektiv zensurierende Arbeit im<br />

Lektorat des Senders steht gelegentlich unter dem Verdacht der Literatur-Beugung. Das<br />

Terrain ist allemal schlüpfrig, die Begriffe müssen am jeweiligen Fall stets neu definiert<br />

werden. Der Rotstift kommt gelegentlich ganz leichtfüßig und mit dem beliebten Argument<br />

des „Sachzwangs“ daher. Ein solches Beispiel bringt Hanns Dieter Hüsch zu Papier. Die<br />

Satire ist der Realität absolut gewachsen und belegt die Mutationen der Zensur, zeigt<br />

alten Wein in neuen Schläuchen.<br />

Eins dreißig<br />

„Jaa ...“, sagte der junge Redakteur Roland Müller-Remscheid, „Ihr Textbeitrag ist ja<br />

hochinteressant. Aber zu lang, zu lang.“<br />

„Wie lang ist er denn?“, fragte ich.<br />

„Frau Bachmann, wie lang ist der neue Hüsch-Text?“<br />

„Etwas über neun Minuten“, rief Frau Bachmann zurück.<br />

177Kienzle, Michael/Mende, Dirk, 1980, S.231.<br />

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„Über neun Minuten. Das ist leider zu lang.“<br />

„Und wie lang darf er sein?“, fragte ich.<br />

„Eins dreißig, notfalls auch eins vierzig.“<br />

„Seh'n Sie“, sagte er, „es ist ja in der Hauptsache eine Musiksendung.“<br />

„Ich dachte, es wäre eine Wortsendung. Kulturelles Wort.“<br />

„Ja schon“, sagte er, „aber in Musik verpackt, gell? Das Wort sozusagen als Schmuggelware.<br />

Aber Ihr Text ist zu lang.“<br />

„Neun Minuten, das kann ich beim besten Willen nicht machen. Ich kann nur eins dreißig<br />

machen, maximal.“<br />

„Viellleicht kann man den Beitrag singen“, sagte ich, „dann wär's ja Musik.“<br />

„Ja, wenn es Poesie wäre“, sagte er, „aber es ist ja Prosa und da geht ja dann der<br />

Informationscharakter flöten.“<br />

„Wenn er flöten geht“, sagte ich, „ist er doch schon verpackt.“<br />

„Nein, nein“, sagte er, „es ist ja alles drin, von Johannes über Zefirelli bis zum Kirchentag. Der<br />

Text ist ausgezeichnet, gar keine Frage. Ich hab' ihn unserer Putzfrau vorgelesen als Test, sie<br />

war begeistert. Nur: Es wird in ihrem Text zu viel gesprochen, versteh'n Sie. Wir lassen ja schon<br />

zum Teil unsere Moderatoren die Ansage singen.“<br />

„Und das geht?“, fragte ich.<br />

„Natürlich geht das. Die jungen Burschen heutzutage sind doch flexibel.“<br />

„Tja“, sagte ich, „dann machen Sie doch nur noch Musik. Ein Programm völlig ohne Wort.“<br />

„Das geht nicht“, sagte er, „wir haben ja einen Auftrag. Etwas muß schon gesprochen werden.<br />

Und wenn's ein Telephon-Interview von 20 Sekunden ist. Der Hörer soll schon ab und zu seine<br />

Muttersprache hören.“<br />

„Seh'n Sie mal“, sagte er. „Ich würde ja Ihren Beitrag ungekürzt auf mich nehmen. Aber ab<br />

Herbst dürfen die meisten Texte sowieso nicht länger als 40 Sekunden sein.<br />

„Ja“, sagte ich, „was mach' ich da?“<br />

„Oh ... Und wenn wir die neun Minuten jeweils nach einer Minute mit Musik unterbrechen. Also,<br />

den Text neunmal unterbrechen wie einen Fortsetzungstext. Das wäre eine Möglichkeit“, sagte<br />

er. „Aber dann müßte ich alle anderen Textbeiträge rausschmeißen.“<br />

„Wie lang sind die?“<br />

„In der Regel 15 Sekunden: eine Frage, eine Antwort. Und dann rasch wieder Musik.“<br />

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„Sie müssen Ihren Text eben noch mal verdichten“, sagte er. „Es tut mir leid, aber Sie machen<br />

doch Kleinkunst, Sie bevorzugen doch die kleine Form, und jetzt müssen Sie eben noch etwas<br />

kleiner werden, eins dreißig, das hat auch was Spannendes, und was wegfällt, fällt nicht durch,<br />

das wissen Sie ja (...)<br />

Hanns Dieter Hüsch, 1992 178<br />

Mit dem Tatbestand der unmittelbaren Rundfunkzensur muß sich Hüsch neben anderen<br />

Kollegen schon Ende der fünfziger Jahre auseinandersetzen. Der öffentlich-rechtliche<br />

Rundfunk der Ära Adenauer ist machtgeschützt und vertritt das pluralistische Prinzip nur<br />

insoweit, als er nicht mit Bonner Interessen kollidiert. Die Antiatombewegung hat es im<br />

Radio schwer und kann sich anfänglich nicht durchsetzen, und das gilt auch für Hüsch.<br />

Der Niederrheiner erinnert sich in einem Interview: „Ich bekam eine Auftragsarbeit und<br />

zwar vom Südwestfunk. Diese Sache kriegten glaube ich vier Leute. Ich weiß nicht, wer<br />

die anderen drei waren. Jedenfalls, es sollte etwas über die Atombombe gemacht werden.<br />

Und zwar sollte das in einer Form gemacht werden, die so ein bißchen oratorisch war. Ich<br />

glaube, der Kästner hat damals auch noch mitgemacht. Und ich habe dann meine später<br />

sehr bekannt gewordenen vier Gesänge gegen die Atombombe geschrieben. Das war 58<br />

oder 57, jedenfalls Ende der fünziger Jahre und das wurde dann in <strong>Baden</strong>-<strong>Baden</strong> mit<br />

Musik produziert, mit meiner eigenen Musik, und nicht gesendet und auf Eis gelegt. Das<br />

war das erste Mal. >Ja warum können Sie es nicht machen?< - >Ja, wir können es nicht<br />

machen, es ist zu scharf und aggressiv.< Es war eine schöne Mischung aus Bibelzitaten<br />

usw. Aber dann wurde das 1965, dieselbe Geschichte, neu produziert vom<br />

Saarländischen Rundfunk. Und auf einmal ging es. Das heißt, das ist die alte Geschichte:<br />

Die Zeit, sagen wir der Sturm war vorbei, nun konnte man das machen. Man konnte es<br />

praktisch historisch machen. Das ist genauso, wenn man sagt: Tucholsky kann man<br />

immer machen, man muß nur die Jahreszahl dazu sagen.“ 179<br />

Hannelore Kaub, das streitbare Kabarett-Haupt vom Bügelbrett, erfährt im Juli 1964, was<br />

es mit der öffentlich-rechtlichen Zensur im Fernsehen auf sich hat. 180 . Das Mauer- und<br />

178Hanns Dieter Hüsch, Eins dreißig, 1992, S. 48.<br />

179Hippen/Jacobshagen, SDR: 4.11.89.<br />

180Vgl. S. 152ff.<br />

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Deutschlandbild der Kabarettistin ist nicht genehm und paßt nicht in die kaltkriegerische<br />

Fernsehlandschaft der einseitigen Schuldzuweisung. „Das war die erste und letzte<br />

Chance, die wir je hatten, im Abendprogramm zu landen. Und das sollte erst ein und eine<br />

Viertelstunde sein, dann eine Stunde und als dann wirklich gesendet wurde, waren es nur<br />

noch 45 Minuten. Es war alles rausgeschnitten, was spannend und neu war und darunter<br />

auch dieser Mauersong. Den könnte man heute noch singen.“ 181 Die Kabarettserie „Hallo<br />

Nachbarn“ des NDR wird 1965/66 trotz reichlicher Zuschauerproteste ersatzlos<br />

gestrichen, mancher Biß sitzt den Verantwortlichen denn doch zu tief. Peter Altmann<br />

befindet: „Als die Hamburger Intendanz die Sendung „Hallo Nachbarn“ absetzte, tat sie es<br />

aus Sorge um das vermutlich weitgehend unmündige Publikum. Das fatale Elite-Denken<br />

also in Reinkultur, verbunden mit einer autoritären Verneinung des Kabarettisten-Rechts<br />

auf öffentliche Wirksamkeit - raffiniert ausgedrückt durch die Unterstellung, das Kabarett<br />

maße sich ein Mandat an, das niemand erteilt habe.“ 182<br />

Wolfgang Neuss wird durch eine Springer-Kampagne in West-Berlin mit<br />

Aufführungsverboten belegt oder in den Medien bewußt ausgegrenzt.<br />

Er hat schließlich in seiner satirischen Postille Neuss Deutschland die Leser ermahnt, kein<br />

Geld mehr für die amerikanischen Soldaten im Vietnamkrieg locker zu machen. 1972 fällt<br />

das Programm „Der Abfall Bayerns“ der Fernsehzensur zum Opfer. Die euphemistischen<br />

Drahtseilakte einer vermeintlichen Entschuldigung oder Begründung sind immer noch<br />

hörenswert. Fernsehdirektor Helmut Oeller gibt anrührende Erklärungen einer<br />

gewundenen Medienrhetorik zur Entschuldigung ins Mikrofon. O-Ton Oeller: „Es war so,<br />

daß wir in einigen Nummern der Ansicht waren, daß diese zu verbessern seien. Wir<br />

konnten uns darüber mit Sammy Drechsel und seinen Freunden nicht verständigen. Ich<br />

habe das sehr bedauert, zumal wir schon 20 Sendungen gemacht hatten. Ich glaube aber,<br />

diese Qualitätsfrage war nicht nur eine Frage der Lach- und Schießgesellschaft, sondern<br />

auch der Entwicklung.<br />

181In: Hippen/Jacobshagen, SDR: 4.11.89.<br />

182Altmann, Peter, Was darf und was ist der politische Kabarettist: Hofnarr oder Agitator?, in: Die Andere<br />

Zeitung, 24.3.1966, hier zitiert nach: Meyer, Ellen, 1988, S. 33.<br />

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Es war einfach nicht mehr so viel da, was die Lach- und Schießgesellschaft provoziert und<br />

animiert hätte, entsprechend gut und scharf zu sein.“ Und weiter meint der<br />

Fernsehgewaltige: „Satire darf aufklären, informieren, kritisieren. Aber wo ist die Grenze?<br />

Ich glaube die Grenze ist dort, wo statt Information Unterstellung stattfindet, wo statt<br />

Information Voyeurismus gemacht wird. Ich glaube, sie hat ihre Grenze dort, wo statt<br />

Aufklärung möglicherweise sogar Verleumdung stattfindet, wo statt notwendiger<br />

Unterscheidung, notwendigem Gefecht, möglicherweise schutzwürdige religiöse oder<br />

sittliche Werte verletzt werden.“ 183<br />

Z wie Zensur<br />

Wichtig nicht, ob sie so heißt!<br />

In einer Demokratie sind jene, welche sich zensieren lassen,<br />

noch schuldiger als die Zensoren.<br />

Die hündischste aller Zensuren: die eigene Vorzensur!<br />

Wieviele Worte werden von dem Blick auf die<br />

Fernsehgage zensiert.<br />

Der teuflischste aller Zensoren „das Geld“.<br />

Rundfunk und Fernsehen sind bemüht, das Volk vor der Luft<br />

zu schützen, die möglicherweise nicht nach dem eigenen<br />

Käse riecht.<br />

Zensoren haben eine gute Nase. Denken Sie mal mit der Nase.<br />

Sie kastrieren und halten das Ergebnis noch für Potenz.<br />

183Hippen/Jacobshagen,SDR: 4.11.89.<br />

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Sie machen das öffentliche Leben zu einer Bühne. Zu einer Bühne gehören Versatzstücke,<br />

Vorhang und Kulissen.<br />

Eine Gesellschaft, in welcher ein Busen anrüchig ist und ein Marschallstab eine Reliquie.<br />

Rudolf Rolfs, 1967 184<br />

Franz Josef Degenhardt, Dietrich Kittner, Die 3 Tornados, der unerschrockene Siegfried<br />

Zimmerschied aus Passau 185 , auch der Floh de Cologne, sie alle haben als Kabarettisten<br />

oder Ensemble die Zensur am eigenen Programm erfahren. Es gibt Prozesse wegen des<br />

Verdachts der Religionsbeschimpfung im Falle der Tornados. Sie melden zum Beispiel<br />

Zweifel an der sogenannten unbefleckten Empfängnis der Mutter Maria an und handeln<br />

sich damit eine Strafverfolgung ein. Der Generalsekretär der Bischofskonferenz, Prälat<br />

Schätzler, hat jedenfalls gegen die Überwachung und Reglemetierung des Kabaretts im<br />

Fernsehen dem Grunde nach keine Bedenken. Im Gegenteil: „Wenn ich jetzt im<br />

Rundfunkrat bin, oder wenn ich als Sekretär der Bischofskonferenz plötzlich nach einer<br />

solchen Sendung auch eine große Anzahl Briefe bekomme, von Leuten, bei denen ich<br />

annehme, daß sie nicht nur jetzt schreiben, damit sie auch schreiben, sondern, die<br />

wirklich betroffen sind, die sich beleidigt fühlen, dann kann ich annehmen, daß das eine<br />

größere Gruppe ist. Und dann habe ich sogar die Verpflichtung, daß ich öffentlich gegen<br />

so etwas auftrete und öffentlich den Sender befrage: Wie kommt ihr dazu, den Leuten, die<br />

euch die Gebühren geben, so etwas vorzulegen und vorzusetzen. Und dann frage ich<br />

mich natürlich auch, wieso kommt denn so ein Dilettant, der sich als Satiriker ausgibt<br />

dazu, permanent die Mattscheibe zu mißbrauchen?“ 186<br />

Zensur, einmal protegiert und geduldet, erzieht zur fatalen Duckmäuserei, zur Anpassung<br />

an die vorherrschende Moral und staatliche Doktrin. Im Scheibenwischer vom 16. Juni<br />

1988 wird solches besungen. Aus der Sicht der Kabarettisten ist das angepaßte Verhalten<br />

184Rolfs, Rudolf, 1967.<br />

185Vgl. Landshuter, Walter/Liegl, Edgar, 1987.<br />

186In: Hippen/Jacobshagen, SDR: 4.11.89.<br />

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im übrigen die beste Voraussetzung für einen gehobenen Posten bei einer öffentlichrechtlichen<br />

Anstalt.<br />

Lieber Gott mach mich fromm,<br />

daß ich weit nach oben komm,<br />

hilf mir meinen Mund zu halten,<br />

vor den irdischen Gewalten,<br />

laß mich nicht zu tolerant sein<br />

und ein bißchen Intrigant sein,<br />

daß mich der Herr Pfarrer liebt<br />

und mir Heiligenbildchen gibt.<br />

Lieber Gott mach mich kalt,<br />

daß ich nie zu Schwachen halt,<br />

hilf mir Treue vorzuheucheln<br />

und den Mächtigen zu schmeicheln,<br />

laß mich nicht an Dogmen zweifeln<br />

und mich hüten vor den Teufeln,<br />

die stets alles kritisieren<br />

und des Lehrers Gunst verlieren.<br />

Lieber Gott mach mich dumm,<br />

daß ich niemals frag warum.<br />

Hilf mir stets das eigne Denken<br />

auf den Alltag einzuschränken,<br />

vor Geboten mich zu ducken,<br />

gegen Zwang nicht aufzumucken,<br />

dann schaff 's ich mit dieser Tour<br />

sicher bis zum Abitur.<br />

Lieber Gott mach mich fromm,<br />

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daß ich weit nach oben komm.<br />

Laß mich stets ein dumpfer Christ sein,<br />

nie ein grüner Anarchist sein.<br />

Ich will statt zu demonstrieren<br />

an Fronleichnam mitmarschieren.<br />

Hilf mir nirgends anzuecken,<br />

alle Stiefel blank zu lecken,<br />

dann werd ich, das hoff ich sehr,<br />

einmal Fernsehredakteur.<br />

Scheibenwischer, 16.6.1988 187<br />

Zu spektakulärer Berühmheit gelangt die radikale Zensurmaßnahme des Bayerischen<br />

Rundfunks vom 22. Mai 1986. Der Sender setzt im Einvernehmen mit der<br />

Programmdirektion und dem Intendanten Reinhold Vöth die Sendung ab. Die<br />

Reaktorkatastrophe von Tschernobyl (26. April 1986) findet in das Programm zwar nicht<br />

direkten Eingang, immerhin reflektiert aber Lisa Fitz den Vorgang in ihrer Nummer vom<br />

verstrahlten Opa auf einer surrealen Ebene. So hat aber der BR nicht gewettet und macht<br />

von der Möglichkeit Gebrauch, sich im Namen seiner Zuschauer auszublenden. Die<br />

Sittenwächter des Südens haben wieder einmal mächtig zugeschlagen, wobei sie aber<br />

nicht mit der vehementen öffentlichen Reaktion rechnen. Die Presse auf den<br />

bajuwarischen Zensurstreich ist jedenfalls verheerend, die nachträglichen<br />

Rechtfertigungsversuche des Fernsehdirektors Helmut Oeller an den Haaren<br />

herbeigezogen und mit der üblichen „machtgeschützten Ästhetik“ begründet.<br />

Der verstrahlte Großvater<br />

(Lisa Fitz kommt auf die Bühne, setzt sich ans Telefon und wählt.)<br />

Lisa Fitz: Ja? Hallo? Ist dort die Strahlenschutzkommission?<br />

187Ebd.<br />

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Ja? Na prima, also es geht um folgendes: Unser Großvater, gestern ist er übrigens 91<br />

geworden, der war neulich draußen im Garten, das heißt, er saß eben draußen in seinem<br />

Rollstuhl ... der macht das übrigens fast jeden Tag, das ist bei dem ganz normal, bloß jetzt war's<br />

eben so, daß es auf einmal angefangen hat zu regnen und ... von uns hat leider keiner dran<br />

gedacht, den Großvater reinzuholen, und auf die Art und Weise ist der gute Mann geschlagene<br />

vier Stunden im Regen gesessen. Klar, das wär natürlich nicht weiter schlimm, aber wir haben<br />

uns jetzt eben gedacht, wegen dem russischen Kernkraftwerk, wissen Sie, da hat's doch<br />

geheißen, man soll sich bei Regen möglichst nicht im Freien aufhalten ... ich mein, wie soll ich<br />

sagen, wir befürchten jetzt eben, daß der Großvater schon ordentlich was abgekriegt hat von<br />

der Radioaktivität und wie gesagt, gestern ist er 91 geworden, da muß man ja auch jeden Tag<br />

mit dem Schlimmsten rechnen ... und deswegen ... ich mein, den kann man ja nicht so einfach<br />

begraben, am Ende verstrahlt der noch den ganzen Friedhof ... und jetzt wollt ich eben wissen:<br />

Müssen wir unseren Großvater jetzt endlagern? Oder vielleicht muß man ihn ja auch<br />

wiederaufbereiten, ich versteh von diesen Dingen ja nichts, aber man macht sich nun mal so<br />

seine Gedanken, wo ich doch erst kürzlich in der Zeitung gelesen hab, daß radioaktiv<br />

verseuchte Leute nicht normal begraben werden dürfen. Die sind doch praktisch ... wie sagt<br />

man dazu?<br />

Sondermüll, richtig. Ja, gut, können Sie mir vielleicht sagen, wie das laufen soll, weil irgend so<br />

etwas wie eine Beerdigung muß man einem Menschen ja geben ... gibt's da vielleicht Richtlinien<br />

dafür, zum Beispiel ob der Pfarrer seine Predigt im Strahlenschutzanzug halten muß? ... Gibt's<br />

nicht, aha ... aber eine anständige Beerdigung, das ist doch das einzige, worauf sich der<br />

Großvater jetzt noch freut, ich meine, vielleicht täte es eine richtig weihevolle Endlagerung ja<br />

auch, aber ein bißchen christlich müßte es eben schon zugehen ... Wieso geht das nicht?! ...<br />

Ach was! Die Halbwertzeit von meinem Großvater interessiert mich nicht! Solche Sachen hätten<br />

Sie sich eben überlegen sollen, bevor Sie mit der Atomspalterei angefangen haben, jetzt haben<br />

wir den Salat, und der Großvater darf's ausbaden ... Ja, ebenfalls, wiederhörn.<br />

(Sie legt den Hörer auf.)<br />

Opa lassen wir nicht mehr an die frische Luft. Ab 100 Millirem ist man nämlich kein Christ mehr.<br />

(Lisa Fitz geht ab.)<br />

Scheibenwischer vom 22.5.86 188<br />

Interview mit dem Intendanten<br />

Interview mit dem Intendanten Reinhold Vöth zur Nichtübernahme der Sendung<br />

„Scheibenwischer“ am 22.5.1986, gesendet in „Funk Intern“ auf Bayern 1<br />

März: Von Zensur, Entmündigung, Sauerei, Diktatur und Unverschämtheit war die Rede nach<br />

dem Ausblenden des BR aus dem „Scheibenwischer“. Der bayerische Zuschauer hat sich<br />

gefragt, warum er eigentlich nicht selber entscheiden kann darüber, ob er ein Programm sehen<br />

will oder nicht. Herr Vöth, warum hat der Bayerische Rundfunk ausgeblendet?<br />

Vöth: Für das Programm des Bayerischen Rundfunks gibt es klare gesetzliche Regelungen. Wir<br />

haben hier ein eigenes Rundfunkgesetz. In diesem Gesetz sind auch die Verantwortlichkeiten<br />

geregelt, wer entscheidet, was im Programm kommt. Das ist nun einmal so geregelt, und wenn<br />

188In: Hildebrandt, Dieter, Zensur, 1986, S. 29ff.<br />

227


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die Verantwortlichen, in diesem Fall der Fernsehdirektor, der für das Fernsehprogramm<br />

zuständig ist, und in der Gesamtverantwortung der Intendant, sich entscheiden, etwas nicht zu<br />

bringen, dann tun sie das in Ausfluß ihrer Verantwortung. Das Gesetz sieht nicht vor, den<br />

sogenannten mündigen Fernsehzuschauer, der nun selbst entscheidet, was er sehen will und<br />

was nicht, sein Programm gewissermaßen selber macht. Wenn man das wollte, müßte das<br />

Gesetz geändert werden. Dann könnte alles gesendet werden. Dann gibt es aber auch keine<br />

aufsichtsrechtlichen Beanstandungen und keine Debatten im Rundfunkrat, ob Sendungen des<br />

Bayerischen Rundfunks oder der ARD gegen das Rundfunkgesetz verstoßen haben, ob wir<br />

Programmdefizite vielfältiger Art haben. Dann ist das eben reguliert über den sogenannten<br />

mündigen Fernsehzuschauer und Radiohörer, der selbst entscheidet, ob er einschaltet oder<br />

nicht. Solange aber das Gesetz besteht, und solange klare Verantwortlichkeiten hier festgelegt<br />

sind, mit der Konsequenz, daß der für diese Maßnahme Verantwortliche jederzeit mit der<br />

Mehrheit des Rundfunkrates abberufen werden kann, so lange müssen diese Verantwortungen<br />

wahrgenommen werden. Und da kann man nicht von einer Zensur sprechen, da kann man auch<br />

nicht von einer Sauerei sprechen oder einer Entmündigung. Das ist ein gesetzlicher Auftrag und<br />

eine Verpflichtung, die wir haben und die wir erfüllen müssen.<br />

März: Was im „Scheibenwischer“ war denn der Anlaß, daß man sich ausgeblendet hat?<br />

Vöth: Diese Sendung war eine Livesendung des Senders Freies Berlin, die der SFB in das<br />

ARD-Programm eingebracht hat. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß der Bayerische<br />

Rundfunk für die Ausstrahlung dieser Sendung die volle rundfunkrechtliche Verantwortung trägt.<br />

In Wahrnehmung dieser Verantwortung hat der Fernsehdirektor den SFB gebeten, informiert zu<br />

werden über die Inhalte dieser Sendung. Nachdem es hier einige Probleme der Information<br />

gegeben hat, kam dann das Manuskript, und der Fernsehdirektor kam beim Studium des<br />

Manuskriptes zu dem Ergebnis, daß er diese Sendung nicht verantworten kann. Es hat sich hier<br />

um Passagen über einen strahlenverseuchten Großvater und seine Beerdigung, die<br />

Diffamierung der Bundeswehr, das im Krieg als Düngemittel vergossene Blut auf schlesischem<br />

Boden und die Dekontaminierung des Papstes nach der Berührung der Erde gehandelt.<br />

März: Herr Vöth, was wäre denn umgekehrt gewesen, wenn dieses Programm ausgestrahlt<br />

worden wäre?<br />

Vöth: Da hätte es sicher Beschwerden von Zuschauern gegeben; da hätte es sicher eine<br />

Behandlung im Rundfunkrat gegeben. Aber das alles war nicht das Motiv unseres Handelns. Wir<br />

haben das in eigener Verantwortung getan, weil wir der Meinung waren, daß hier etwas<br />

geschehen ist, was umschrieben werden kann mit Verletzung des Geschmacks, der<br />

Lebenswerte und der Würde anderer. Und damit wir uns richtig verstehen: Es geht nicht darum,<br />

daß Kabarett nicht sein kann. Das Kabarett braucht einen Spielraum; das Kabarett muß die<br />

Möglichkeit haben, kritisch zu formulieren, Überspitzungen und Provokationen als Stilmittel<br />

einsetzen zu können. Aber es gibt eine Grenze auch hier im Kabarett. Darüber haben wir oft<br />

gestritten. Die Grenze ist unserer Meinung hier verletzt worden. Ich möchte hier auch einmal<br />

grundsätzlich etwas sagen. Wir haben hier die Toleranz, die immer gefordert wird, nun auch<br />

einmal so gesehen, daß sie nicht einseitig von denen in Anspruch genommen werden kann, die<br />

den Freiraum für den Affront ständig für sich beanspruchen, sondern daß die Toleranz auch<br />

denen zugebilligt werden muß, die hier verletzt werden. Sie müssen dabei ja bedenken, daß<br />

eine solche Sendung von uns gewissermaßen frei Haus an die Zuschauer geliefert wird. Ich<br />

möchte nicht wissen, wieviele unserer Zuschauer durch persönliche Beziehungen im<br />

Verwandtenkreis, im Familienkreis betroffen sind, wenn Opfer des letzten Krieges und der<br />

Vertreibung in Schlesien, das Blut, das dort geflossen ist, als schlechtes Düngemittel bezeichnet<br />

finden, um nur ein Beispiel zu nennen. 189<br />

189Ebd., o.S.<br />

228


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Der normative Diskurs des Intendanten, seine rhetorischen Finten und Ausflüchte, die<br />

Fülle der Schutzbehauptungen sind keineswegs „historisch“. Die verbale Flucht hinter die<br />

Bürde der „Verantwortung“, das vorgegebene Wissen um den „guten Geschmack“, sind<br />

alles klassische Argumentationsmomente im alten Kampf zwischen Zensurkräften und<br />

dem abgetrotzten Anspruch auf künstlerische Freiheit. Die ästhetischen Parolen dienen<br />

wie zu Zeiten der römischen censura der mehr oder weniger geglückten Kaschierung der<br />

realen politischen Absichten. Die Absetzung eines Kabarettprogramms aus vorgeblichen<br />

Gründen der künstlerischen Unzulänglichkeit hat nicht nur Tradition, sondern gehört zu<br />

den Regularien im machtgeschützten Kulturbetrieb, zumal im öffentlich-rechtlichen, der<br />

die Vorzensur de jure und aus politischen Motiven eben nicht vorsieht.<br />

Ausgelacht - Das Kabarett unter Hammer und Sichel<br />

Kabarett unter den Bedingungen der sich sozialistisch nennenden Kulturpolitik der DDR<br />

heißt 40 Jahre Auseinandersetzung mit einer expliziten oder auch impliziten Zensurpolitik.<br />

Diese ist ganz gewiß nicht mit den Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik zu<br />

vergleichen. Berufsverbot oder Androhung der Verhaftung in der DDR tangieren nicht nur<br />

das künstlerische Selbstverständnis der Artisten der Leipziger Pfeffermühle, der Distel<br />

oder der Academixer. Die Kontrolle durch Stasi einerseits und die sogenannten<br />

Bezirkskommissionen andererseits, denen die Manuskripte vorab vorzulegen sind,<br />

bedeutet Vorzensur der extremen Art. Insofern ist der staatliche Zensureingriff in der DDR<br />

von fundamental anderer Qualität als hierzulande. Es gibt Konvergenzen der staatlichen<br />

und öffentlich-rechtlichen Kabarettpolitik, die Unterschiede sind aber dennoch gravierend.<br />

Nicht immer fühlen sich die Künstler der Kabaretts in der DDR kontrolliert. Das staatlich<br />

verordnete Wohlwollen kann von Fall zu Fall auch zur zweiten, unkritisch übernommenen<br />

Selbstzensur der Kabarettisten werden. Rainer Otto, vor der Wende noch der Leiter der<br />

Leipziger Pfeffermühle, läßt solches jedenfalls 1989 noch mehr oder minder unverblümt<br />

durchblicken. Er beteuert im Interview in naiver Unschuld: „Erstens schreibt mir niemand<br />

vor, was ich schreiben soll worüber ich schreiben soll. Es gibt natürlich immer mal<br />

Auseinandersetzungen, Differenzen zwischen bestimmten Funktionären und uns; und ich<br />

229


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finde, ein Satiriker der so etwas nicht erzeugt, der ist kein guter Satiriker. Wer sich keine<br />

Feinde macht, der sollte sowieso von der Satire lassen.“ Es gebe über „einzelne“ Sätze<br />

und Nummern „gelegentlich“ Diskussionen, räumt Otto ein, und weiter: „Und wenn man<br />

uns nachweist - das machen andere Kabaretts in der Bundesrepublik zum Beispiel auch-,<br />

wenn man uns nachweist, daß die Fakten nicht stimmen, wenn man uns nachweist, daß<br />

das, was wir auf der Bühne sagen, nicht der Wirklichkeit entspricht, dann sind wir natürlich<br />

auch bereit, darüber nachzudenken.“ 190<br />

Das Zitat belegt anschaulich die Zwickmühle im alten DDR-Kabarett. Hurra-Humor ist<br />

unter der staatlichen Aufsicht ebenso gegeben, wie gelegentlich kritischer Widerstand zu<br />

vernehmen ist. Das Programm „Lebensverweise“ (1979) der Pfeffermühle wird abgesetzt.<br />

Die Aufsicht moniert eine Passage, in der Volkskammerpräsident Horst Sindermann als<br />

„Kaviarfreund“ und notorischer Intershop-Kunde bezeichnet ist. Eben das geht zu weit.<br />

Der Pfeffermühlen-Gag: „Sie wissen ja, warum wir so viele Schlaglöcher haben - weil wir<br />

die nicht exportieren können“, führt zu einem sechsmonatigen Aufführungsverbot. Die<br />

gesteckten Grenzen bleiben allemal eng. 191 Schon 1957 wird Konrad Reinhold auf offener<br />

Bühne verhaftet, vier weitere Pfeffermühlen-Chefs müssen den Hut nehmen.<br />

Doch es gibt auch, von Fall zu Fall, die Möglichkeit auf kleinere Miß- oder Übelstände zu<br />

verweisen. Die Kritik richtet sich dann vor allem gegen „menschliche Schwächen“ und<br />

politische „Untugenden“. Ein stürmisch gefeiertes Lied von 1974 belegt diese Möglichkeit<br />

der verdeckten Systemkritik.<br />

Ja verzeihen Sie die Befragung:<br />

Warn Sie schon einmal auf einer Tagung?<br />

(Er war schon einmal auf einer Sitzung.)<br />

Was ich jetzt leicht bringe, ist keine Überspitzung:<br />

Jede Sitzung hat ein Protokoll,<br />

Worin verzeichnet steht, wer reden soll.<br />

190In: Antl/Naumer, SDR: 17.6.1989.<br />

191Vgl. ebd.<br />

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Erstens spricht der Direktör,<br />

Und wer spricht dann hinterher?<br />

Danach spricht Kollege Schade<br />

von der Renommier-Brigade.<br />

Danach spricht der BGL,<br />

aber nicht besonders schnell,<br />

denn er hat sein Manuskript<br />

aus Versehen nicht getippt;<br />

und nun hat er's nicht dabei,<br />

deshalb spricht er heute frei.<br />

Danach spricht die FDJ,<br />

zur Verwunderung ziemlich flott,<br />

denn der Jugendsekretär<br />

ist ja nicht der Jüngste mehr.<br />

Dann kommt die DFD heran,<br />

mit dem Frauenförderungsplan.<br />

Doch die Rede schrieb ein Mann,<br />

man merkt's den Kraftausdrücken an.<br />

So läuft die Sitzung wie sie soll,<br />

nach dem Protokoll, nach dem Protokoll.<br />

Wenn man Bier trinkt, und in Mengen,<br />

spürt man ein gewisses Drängen.<br />

Das einzige, was Erleichterung brächte,<br />

wär die Tür am Eingang da, die rechte.<br />

Festgelegt ist, wer wann soll –<br />

in 'nem Protokoll, Protokoll.<br />

Erstens geht der Ehrengast,<br />

und es folgen voller Hast<br />

Direktör und Meister Schade<br />

231


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von der Renommier-Brigade.<br />

Danach geht der BGL,<br />

aber nicht besonders schnell,<br />

denn er weiß nicht, was er soll,<br />

doch ihn zwingt das Protokoll.<br />

Und so ist er dann bereit<br />

und tut seine Schuldigkeit.<br />

Und dann kommt die FDJ,<br />

und die muß besonders flott,<br />

denn der Jugendsekretär<br />

steht auf einem Bein nurmehr.<br />

Und dann fragt die DFD<br />

- daß kein Irrtum hier entsteh -,<br />

woher sie denn nun erführ,<br />

wo für sie die rechte Tür,<br />

wo sie darf und wo sie dürfen soll,<br />

steht im Protokoll, steht im Protokoll.<br />

Der Betrieb und alle seine Kader<br />

gehn zuweilen auch in ein Theater,<br />

gehn zuweilen auch ins Kabarett<br />

- schön wär's, wenn auch das gefallen tät.<br />

Naja, und auch da geht's weiter wie es soll<br />

nach dem Protokoll, nach dem Protokoll.<br />

Erstens lacht der Direktör,<br />

dann erst lacht sein Sekretär,<br />

dann erst lacht Kollege Schade<br />

von der Renommier-Brigade,<br />

danach lacht der BGL,<br />

aber nicht sofort sehr schnell;<br />

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schaut erst einmal hin und her<br />

hin zu seinem Direktör.<br />

Wie er sieht, daß der sich krümmt,<br />

na da wird auch eingestimmt.<br />

Und dann lacht die FDJ,<br />

na die lacht besonders flott,<br />

geht vor Lachen in die Höh<br />

und sie haut der DFD<br />

lachend auf das linke Knie;<br />

Na, und nun lacht auch die.<br />

Denn die Höhen der Kultur,<br />

die erstürmt man lachend nur,<br />

aber stets nur wie man soll,<br />

nach dem Protokoll, nach dem Protokoll.<br />

Leipziger Pfeffermühle, 1974 192<br />

Ein Jahr vor der Vereinigung der beiden Teile Deutschlands spitzt sich die Sprache im<br />

DDR-Kabarett merklich zu. Die Kabarettisten sprechen jetzt unverhohlener und deutlicher<br />

über die Mißstände im eigenen Land. Was früher unmöglich schien, hat sich die Plattform<br />

des Kabaretts erobert. In dem Programm „Neudeutsch für DDR-Bürger“ experimentiert<br />

das Leipziger Ensemble Academixer 1988 mit dem noch Unerlaubten, kritisiert nahezu<br />

ungetarnt Ideologie und Sprechweise der Nomenklatura. Auf der Schallplatte heißt es<br />

indessen eher abwiegelnd und beschwichtigend: „Es ist politische Satire, wo wir<br />

Zeitgenossen in Zeitverhältnissen vorführen und spielerisch mit dieser widersprüchlichen<br />

Wirklichkeit umgehen - und zwar so, daß gelacht werden kann und Veränderungswille und<br />

Widerspruchsgeist der Zuschauer bestärkt werden.“ 193<br />

Die Zurechtbiegung der Sprache als ideologisches Machtinstrument der Funktionäre<br />

demonstrieren Die Academixer in der Endphase der alten Republik mit Deutlichkeit. Von<br />

einer verdeckten „Sklavensprache“, einem Rösselsprung zwischen einem Gesagten und<br />

192Ebd. - BGL d.i. Betriebsgewerkschaftsleiter; DFD d.i. Demokratischer Frauenbund Deutschland.<br />

193Academixer, Neudeutsch für DDR-Bürger; Text: Jürgen Hart.<br />

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dem Gemeinten, ist nunmehr, Monate vor dem Einsturz der Mauer, kaum noch etwas zu<br />

spüren. Die Academixer agieren offensiv und mit fröhlicher Unerschrockenheit. Es gibt<br />

nichts mehr zu verlieren.<br />

Unter Kollegen<br />

Anke Geißler: In unserem ersten Unterrichsabschnitt wollen wir uns mit dem<br />

Vollständigkeitsprinzip beschäftigen. Wir nehmen einen beliebigen Satz.<br />

Christian Becher: Die Schuhe stehen im Schrank.<br />

Anke Geißler: Oder:<br />

Christian Becher: Der Hund bellt auf dem Hof.<br />

Anke Geißler: Oder:<br />

Christian Becher: Die Kollegen stellten unbequeme Fragen.<br />

Anke Geißler: Ja, wir nehmen den letzten Satz, denn dieser ist ungenau und unvollständig. Ein<br />

DDR-Bürger in leitender oder mittlerer Position weiß nichts damit anzufangen.<br />

Christian Becher: Worum geht's?<br />

Anke Geißler: Sehen Sie! Denn nicht alle Kollegen stellten unbequeme Fragen.<br />

Christian Becher: ... und sie stellen auch nicht immer unbequeme Fragen. Besser ist also<br />

Gong<br />

Anke Geißler: Einige unserer Kollegen stellten anläßlich der Vorbereitung der<br />

Gewerkschaftswahlen unbequeme Fragen.<br />

Christian Becher: Halt! Sie merken: Hier paßt die zweite Hälfte des Satzes „unbequeme Fragen“<br />

nicht mit der ersten Hälfte des Satzes „anläßlich der Vorbereitung der Gewerkschaftswahlen“<br />

zusammen. Also vervollständigen wir:<br />

Gong<br />

Anke Geißler: Einige unserer Kollegen stellten anläßlich der Vorbereitung der<br />

Gewerkschaftswahlen interessante und anregende Probleme zu Diskussion.<br />

Christian Becher: Sie merken: Der Satz ist vollständig und somit druckreif.<br />

Die Academixer, 1988 194<br />

194Ebd.<br />

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Es folgen dann weitere groteske Beispiele aus der sozialistischen Sprachfabrik. Das Kind<br />

ist demnach in die sozialistische Schülerpersönlichkeit zu übersetzen, aus Jugendliche<br />

wird Vertreter der heranreifenden jungen Generation. Der Satz Wir sammeln Kartoffeln<br />

lautet demzufolge sozialistische Schülerpersönlichkeiten, Vertreter der heranreifenden<br />

jungen Generation unseres Landes beteiligen sich erfolgreich an der verlustlosen<br />

Einbringung der Hackfruchternte.<br />

Das Program der Ost-Berliner Distel „Keine Mündigkeit vorschützen“ fällt 1988 der Zensur<br />

zum Opfer. Die Autoren haben das verbotene Programm in Auszügen inzwischen<br />

dokumentiert. Der inkriminierte Text reflektiert in einem Beitrag die fehlende Freizügigkeit<br />

im Reiseverkehr der DDR. Nicht zuletzt an dieser Einschränkung und den damit<br />

verbundenen Demütigungen zerbricht die DDR ein Jahr später. Die kesse Distel nimmt<br />

hier vieles vorweg - ohne Publikum, auf dem Papier, nur zur Lektüre für die<br />

Bezirkskommission, die Stasi und ihre Funktionäre. Was niemand sehen darf, trägt die<br />

Überschrift:<br />

Die Vorhut des Kommunismus<br />

(Im Reisebüro. Mann A und Reisebüroangestellte R)<br />

A: (provozierend) Ich möchte eine Reise zum Wolfgangsee buchen.<br />

R: (sehr freundlich) Wieviel Personen bitte?<br />

A: Ich meine den Wolfgangsee in Österreich.<br />

R: Ich weiß, wo der Wolfgangsee liegt, ich war schließlich im „Weissen Rössl“. Wieviel<br />

Personen?<br />

A: Drei. Ich, meine Frau und unsere 17jährige Tochter.<br />

R: Mal sehen, was wir noch haben ... (schlägt ein Buch auf) Seeblick oder Waldblick?<br />

A: Beides.<br />

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R: Dann geht's nur noch Juni, Juli oder August.<br />

A: Ich nehme alle drei Monate.<br />

R: Ihren Ausweis bitte.<br />

A: ( Provokatorische Haltung, kippt, plötzlich sehr erschrocken) Aber wieso denn?! ... Es war<br />

doch nicht so gemeint ... Man wird sich doch noch einen kleinen Scherz. Ich hab'doch mit<br />

meinen Kumpels von der Gießerei gewettet, daß ich mich traue! ... Ich nehme auch Halle-Süd<br />

im November oder Bitterfeld mit Werkblick!<br />

R: (immer gleichmäßig freundlich) Ich denke, Sie wollen nach Österreich? Und dazu brauch' ich<br />

Ihren Personalausweis.<br />

A: Ich weiß genau, warum: Personenkennzahl - und dann geht alles seinen Computergang! Sie<br />

wollen doch meiner Tochter nicht die Zukunft vermasseln!<br />

R: Wieso vermasselt sich Ihre Tochter die Zukunft, wenn sie mal nach Österreich fährt? Was<br />

glauben Sie, wie viele Söhne und Töchter des Landes nach Österreich fahren! Und die haben<br />

alle eine Bombenzukunft vor sich.<br />

A: Ja diiie! - Sie müssen mich verwechseln. Wir gehören nicht dazu.<br />

R: Ich verwechsle Sie nicht. Im Gegenteil ...<br />

A: Und warum wollen Sie mir dann eine Österreich-Reise andrehen!? Sie, das ist eine<br />

Provokation! Gleich verlange ich Ihren Ausweis!<br />

R: Aber Bürger! ... Ich werd Ihnen das mal erklären ... Seh'n Sie mal: der Kommunismus ...<br />

A: Damit dürfen Sie mir gar nicht kommen. Der ist ja nun vertagt bis zum - nach dem Jüngsten<br />

Gericht.<br />

R: (Immer noch lächelnd) Ja eben. Und trotzdem haben wir doch die schönsten Vorstellungen<br />

von den Möglichkeiten des Kommunismus. Und damit uns diese schönen Vorstellungen in den<br />

Alltagskämpfen nicht verloren gehen, hat sich eine kleine Schar von Vorkämpfern - also ein<br />

bewußter Vortrupp - ohne großes Aufheben bereit erklärt, die materiellen Möglichkeiten schon<br />

jetzt vorzuleben. Und dazu gehört auch Urlaub am Wolfgangsee.<br />

A: Und zu diesen Vorkämpfern gehöre ich nicht! Ich bin keine Kulturprominenz und ich hab'<br />

keinen Onkel in der Politprominenz!<br />

R: Aber Bürger ... Damit es nicht heißt, diese ... vorweggenommene Zukunft sei auf die Dauer<br />

nur für eine bestimmte Elite vorgesehen, sondern für alle, werden jedes Jahr drei ganz normale<br />

Bürger unserer Republik reingelassen. Und dazu gehören Sie!<br />

A: (Entsetzt) Drei im Jahr?<br />

R: (leise) Unter uns: Im Jahr 2000 werden es 10 sein. Die Jahrtausendüberraschung.<br />

A: Drei im Jahr ... !<br />

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R: Man kann nicht alle 17 Millionen auf einmal reinlassen. Die Leute sind ja nicht vorbereitet.<br />

Sieht man ja an Ihnen, wie Sie sich sperren. Und dann sagt sich ja der Vortrupp: Wozu kämpfen<br />

wir vor, wenn die anderen so schnell nachkommen. Fehlt ja jegliche Motivation!<br />

A: Dann gehöre ich also jetzt zu den Privilegierten, gegen die ich immer gewettert habe ... Wie<br />

stehe ich denn da vor meinen Kumpels?<br />

R: Sie können getrost mit sich im reinen bleiben, denn wir haben keine Privilegierten. Wir haben<br />

nur Leute, die sich aufgrund ihrer eigenen Verdienste oder der Verdienste anderer so verdient<br />

gemacht haben, daß... ich nicht weiß, ob wir den Satz zu Ende denken sollten.<br />

A: (Unglücklich, verzweifelt) Also nun muß ich an den Wolfgangsee? Oder wie?<br />

R: Sie müssen nicht. Das Reinlassen in die Klasse der Vorleber von morgen findet auf<br />

freiwilliger Basis statt.<br />

A: Wie ist man denn ausgerechnet auf mich gekommen?<br />

R: Eine Fügung dunkler Schicksalsmächte. Wer zu den Glücklichen gehört - der fährt und fragt<br />

nicht.<br />

A: Und wer nicht zu den Glücklichen gehört?<br />

R: Der fährt nicht - und fragt erst recht nicht. In der Hoffnung, daß er vielleicht doch mal fährt.<br />

Man will sich doch die Schicksalsmächte nicht verärgern, die im Dunklen webenden und<br />

wägenden.<br />

A: Und wenn ich mich weigere?<br />

R: Dann wären Sie schön dumm. Wir haben noch mehr Sonderknüller im Angebot:<br />

Sonderläden, Sonderautos, Sonderärzte, Sonderwohnungen, Sonderkuren ...<br />

A: Nun sage einer, bei uns kann man nicht wie im Paradies leben.<br />

R: Man muß nur DAZU gehören.<br />

A: Und wer bestimmt, wer dazu gehört?<br />

R: Na die, die dazu gehören.<br />

Die Distel, 1988 195<br />

Die anfängliche Wende-Begeisterung weicht über Nacht in den Neuen Ländern der<br />

Nachdenklichkeit. So hat man sich die Wiedervereinigung nicht vorgestellt. Die<br />

Spaßmacher der Herkules-Keule in Dresden, das Kabarett am Obelisk in Potsdam oder<br />

195Zitiert in: Oechelshaeuser, Gisela (Hrsg.), 1990, S. 91f.<br />

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die Hallenser Kiebitzsteiner kritisieren unisono die „Abwicklung“ ihrer Kultur und die<br />

kolonialen Handlungsmuster der Wessis. Von Zusammenwachsen keine Spur, allenfalls<br />

von unkontrollierten Wucherungen, die soziales Handeln vermissen lassen. Die<br />

Academixer beklagen solches in dem Programm „Schlag auf Schlag“ (1993), Die Distel<br />

konstatiert die Struktur der aufziehenden Konkurrenz- und Ellenbogengesellschaft schon<br />

früher. Auch jetzt, im Zuge der neugewonnenen Meinungsfreiheit, erfüllt das östliche<br />

Kabarett eine Ventilfunktion. Das Syndrom der mentalen und psychischen Unterwerfung<br />

unter das Diktat des Geldes und Marktes ist allenthalben (kritisch) spürbar. Das Kabarett<br />

verschafft im Rahmen seiner bescheidenen, aber doch kathartisch disponierten<br />

Möglichkeiten einen kleinen, aber wichtigen spielerischen Freiraum. Kabarett jenseits der<br />

Elbe rechnet mit den spezifischen Alltagsnöten seiner vereinigten Zuschauer. Anders als<br />

das westdeutsche Fernsehen, das einem egalitären Humor von Lübeck bis Garmisch<br />

verpflichtet ist, ist das Ost-Kabarett auf regionale Problemstellungen eingestellt. Der<br />

Bundeskanzler und die große Politik ist ein Thema, aber nicht das entscheidende. Die<br />

Selbstbehauptung gegen Westarroganz ist wichtiger als die nochmalige stimmliche<br />

Imitation von Blüm oder Kohl. Demnach gibt es in der Breite deutliche Unterschiede in der<br />

Struktur der Satire und der Persiflage.<br />

Winter ade<br />

Zensor ade - scheiden tut weh.<br />

Aber das Scheiden macht,<br />

daß jetzt kein Aas mehr lacht.<br />

Komm Stück für Stück<br />

heimlich zurück.<br />

Stasi ade - schipp Sand und Schnee.<br />

Doch in der Produktion<br />

kriegt ihr nur Leistungslohn.<br />

Aus Horch und Guck<br />

wird jetzt Hauruck.<br />

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Privilegiert war, wer regiert.<br />

Aber der Handwerker lacht,<br />

denn er behält seine Yacht.<br />

Weiter regiert,<br />

wer repariert.<br />

Grenzen ade - Reisen tut weh,<br />

wenn man im Trabbi zwängt,<br />

finanziell eingeschränkt,<br />

geht's uns auch mies,<br />

wir fahr'n nach Paris.<br />

Winter ade - scheiden tut weh.<br />

„Der scharfe Kanal“ - Distel-Programm vom 31.12.1989 196<br />

Lieder zur Niederlage<br />

Einheit, schöne Götterspeise –<br />

Deutsche ins Elysium.<br />

Auf zur deutschen Hochzeitsreise,<br />

himmlisches Delirium.<br />

Kohl und Modrow binden wieder,<br />

was einst Ulbricht streng geteilt.<br />

Alle Deutschen werden Brüder,<br />

wo ihr rechter Flügel weilt.<br />

Seid verschlungen Millionen<br />

von dem Kuß der Deutschen Bank.<br />

D-Mark heißt der Göttertrank.<br />

Leistung muß sich wieder lohnen.<br />

Brüder, in der Deutschen Bank<br />

muß ein lieber Vater wohnen.<br />

196Ebd., S. 21. Text: P. Ensikat.<br />

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Auferstanden aus Ruinen<br />

und dem Wohlstand zugewandt,<br />

lasset uns jetzt mitverdienen<br />

deutsche Hand wäscht deutsche Hand.<br />

Laßt uns brüderlich verteilen<br />

Deutschland Ost an Deutschland West.<br />

Laßt sie um die Beute keilen.<br />

In den Mond wie eh und je<br />

sieht der dumme Rest,<br />

sieht der dumme Rest.<br />

Süßer Versprechen nie klingen<br />

als bis zum 18. März.<br />

Grad als ob Engelein singen,<br />

wolln die Partein dir ans Herz.<br />

Was sie gesungen in heiliger Schlacht,<br />

das ist vergessen in eiliger Nacht.<br />

Erst wenn die Stimmen gezählt,<br />

sieht man auch, was man gewählt.<br />

Im Märzen der Wähler die Stimme abgibt.<br />

Hier wird bloß der Bundestagswahlkampf geübt.<br />

Ob Kohl oder Genscher und ob Lafontaine,<br />

das wolln die drei hier bei uns bloß mal sehn.<br />

Wir wähln Amateure für Profis in Bonn –<br />

egal, wer verliert - bei uns wird nicht gewonn'.<br />

Ob Eppelmann, Böhme, ob Schnur, de Maizière –<br />

die legen sich Oskar und Helmut nicht quer.<br />

Das Wählen ist des Bürgers Lust,<br />

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er hat es ja noch nie gemußt –<br />

das Wählen.<br />

Das muß ein guter Wähler sein,<br />

der unterscheidet die Partein.<br />

Wer unterscheidet die Partein?<br />

Der Wähler.<br />

Mein Haus hat eine Ecke –<br />

es ist ein Westgrundstück.<br />

Nun kommt der Eigentümer<br />

und will das Stück zurück.<br />

Ich hab das Haus gebauet.<br />

Doch das macht ih'm nichts aus.<br />

Er hat's schon angeschauet<br />

sein Grundstück und mein Haus.<br />

Der Hai ist gekommen,<br />

die Räume mißt er aus.<br />

Nun zieht endlich Freiheit<br />

und Einheit ins Haus.<br />

Wenn die Makler erst da sind,<br />

dann wohn' wir im Zelt.<br />

Es stand doch der Sinn uns<br />

nach der freien, freien Welt.<br />

Die Distel am 10.3.1990 197<br />

197Ebd., S. 27f. Text: P. Ensikat.<br />

241


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Deutscher Epilog<br />

Spreng-Sätze<br />

Es fing alles ganz harmlos an.<br />

Irgendwann mußte Friedrich Karl Flick<br />

eintausendachthundertmillionen DM vorbeibringen. An der<br />

Steuer. Legal.<br />

Das Volk ließ ihn mit dieser Bürde allein.<br />

Einzig die Herren Minister Friedrichs, Lambsdorff, Matthöfer,<br />

Karry, Kiep, Lahnstein, sowie die Kanzler Schmidt und Kohl<br />

hatten Mitleid und nahmen ihren Anteil. Ebenso nahmen Anteil<br />

die CDU, CSU, FDP und SPD. Der SPIEGEL war dabei.<br />

Darauf beschloß der Handelsvertreter Norbert M. für seine<br />

Reisekostenabrechnung die Strecke Stuttgart-München künftig<br />

um 60 Kilometer zu verlängern.<br />

Irgendwann hatten die Vorstandsmitglieder der NEUEN<br />

HEIMAT soviel Anteil genommen, daß die NEUE HEIMAT<br />

liquidiert werden mußte, der SPIEGEL war dabei.<br />

Irgendwann, nachdem Gewerkschaftsfunktionär Alfons Lappas<br />

siebzigtausend Wohnungen verkauft hatte, mußte sich das<br />

Gewerkschaftsmitglied Erich K. mit seiner dreiköpfigen<br />

Familie eine neue Heimat suchen, der SPIEGEL war nicht dabei.<br />

Irgendwann gab ein Ministerpräsident sein „persönliches Ehrenwort“.<br />

242


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Irgendwann wurde er in einer Schweizer Badewanne tot aufgefunden.<br />

Der STERN war dabei.<br />

Irgendwann gab's „Tutti frutti“.<br />

Irgendwann war die Antenne am VW-Golf der Altenpflegerin<br />

Monika W mutwillig abgebrochen worden.<br />

Irgendwann entstand in Libyen eine deutsche Giftgasfabrik.<br />

Irgendwann konnte Herr K. seine Kredite nicht mehr abzahlen<br />

und brachte sich um.<br />

Irgendwann gab es die Fernbedienung.<br />

Irgendwann zog Schalck-Golodkowski an den Tegernsee.<br />

Irgendwann zog es Honecker nach Chile und Möllemann kam<br />

aus der Dominikanischen Republik zurück.<br />

Irgendwann wurden die Landschaften in den<br />

Hochglanzanzeigen immer exotischer und schöner.<br />

Irgendwann setzte sich der achtzehnjährige Günter L. in einer<br />

Bahnhofstoilette den Goldenen Schuß.<br />

Irgendwann starb Miss Elli - und am blauen Ascona von<br />

Herrn S. war der Seitenspiegel abgeknickt.<br />

Irgendwann wurden die Mieten erhöht.<br />

Irgendwann hatte sich der Treibhauseffekt verdreifacht.<br />

Irgendwann wurden die Diäten erhöht.<br />

Irgendwann erfand SAT 1 das Glücksrad.<br />

Irgendwann kündigte die Wohnungsbauministerin –<br />

wegen Eigenbedarf.<br />

Irgendwann sagte der Kanzler: „Gemeinsam werden wir es schaffen.“<br />

Irgendwann wurden die Menschen in den Hochglanzanzeigen<br />

immer reicher und schöner, und der bayerische Ministerpräsident<br />

verreiste mit seiner Familie nach Kenia.<br />

243


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Irgendwann stand in den drei Kinderzimmern der Familie F.<br />

jeweils ein Fernseher.<br />

Irgendwann hatte Rambo als Held ausgedient, an seine Stelle<br />

trat ein Ehemann, der für eine Reality-Show seine Frau erschoß.<br />

Darauf beschloß Herr Mayer, wohnhaft in Günzburg, Drosselweg 16,<br />

nicht länger Zuschauer zu sein.<br />

Irgendwann fand man das Beil, mit dem er seine Frau<br />

erschlagen hatte, in einem Wäldchen bei Neu-Ulm.<br />

BILD war dabei.<br />

Irgendwann gab's Computerspiele.<br />

Irgendwann gab's Computerkriege.<br />

Irgendwann intervenierte der amerikanische Präsident George<br />

B. in der Golfregion.<br />

Irgendwann ertrug der Jugendliche Marco T. die Einsamkeit<br />

der Techno-Disco nur noch mit crack.<br />

Irgendwann gab's das Schweigen der Lämmer.<br />

Irgendwann hatten wir die Freiheit, eine Kreditkarte zu nutzen.<br />

Irgendwann entdeckte man im Kernkraftwerk Brunsbüttel Risse und Petra Kelly<br />

und Gert Bastian tot in ihrer Wohnung. Keiner war dabei.<br />

Irgendwann sagte ein Vater zu seinem zwölfjährigen Sohn:<br />

„Laß dir nichts gefallen!“<br />

Irgendwann packte der Lehrer H. aus Berlin zu seinem Frühstücksbrot eine<br />

Gaspistole in seine Aktentasche.<br />

Irgendwann hatte der Jurist und Abgeordnete Wissmann<br />

zehntausend Mark Strafe wegen Steuerhinterziehung bezahlt.<br />

Daraufhin wurde er Forschungsminister.<br />

Irgendwann wurde der querschnittsgelähmte Bernd G.<br />

an einem verkaufsoffenen Samstag in der Fußgängerzone<br />

244


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aus seinem Rollstuhl gestoßen.<br />

Irgendwann hat so ein Rotzlöffel auf dem Nachhauseweg<br />

dem überfüllten Abfalleimer an der Bushaltestelle<br />

den Boden weggetreten.<br />

Dabei hatte alles so harmlos angefangen.<br />

Irgendwann mußte jemand eintausendachthundert Millionen<br />

ganz legal an der Steuer vorbeibringen.<br />

Irgendwann stank der Fisch vom Kopf,<br />

und die Republik hatte sich verändert.<br />

Thomas Freitag, 1993 198<br />

198Thomas Freitag (1993). Dem Autor freundlich zur Verfügung gestellt.<br />

245


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Anhang<br />

Das Kabarett in der Bildungsarbeit<br />

Wenn die Beobachtung nicht täuscht, dann steht die Kabarett-Kultur in der<br />

Bundesrepublik in Blüte. Nach Hanns Dieter Hüsch wäre solches durchaus ambivalent,<br />

denn: „Kabarettisten sind Protestanten. Man hat ihnen ein Leids angetan, und nun zahlen<br />

sie's heim mit barem Spott.“ Der Konsum der literarischen Kabarett-Kost ist vor allem<br />

bequem, manchmal auch billig, wenn sie im Fernsehen angeboten wird.<br />

Über die didaktische Umsetzung des Genres in der Bildungsarbeit und im politischen<br />

Unterricht ist freilich bislang nur wenig nachgedacht worden. 199 Dabei könnte sich<br />

durchaus ergeben, daß das Kabarett in hervorragender Weise geeignet ist, um die<br />

verschiedenen Nahtstellen zwischen Literatur und Politik, Kultur und Subkultur und<br />

satirisch gespiegelter Zeitgeschichte exemplarisch herauszuarbeiten. Anders als das<br />

Geschichtsbuch, das dem „objektiven Rückblick“ verpflichtet ist, setzt das Kabarett in<br />

Lied, Wort und Ton auf die subjektive, auch polemische Ablichtung von gesellschaftlichen<br />

Fragen und Ereignissen. Es geht dabei nicht um den allgemeinen Standpunkt, sondern<br />

um die Bewertung der Geschichte durch das artistische Individuum.<br />

199Die didaktischen Hinweise wurden in Zusammenarbeit mit Günther Gugel, Verein für<br />

Friedenspädagogik, Tübingen, entwickelt.<br />

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1. Interpretation und Neuformulierung<br />

Text 1: Der Mond ist aufgegangen<br />

Helmut Kohl spricht Matthias Claudius<br />

Der Mond,<br />

meine Damen und Herren, und<br />

das möchte ich hier in aller Offenheit sagen,<br />

ist aufgegangen!<br />

Und niemand von Ihnen, liebe Freunde, meine Damen und<br />

Herren, wird mich daran hindern, hier in aller Entschlossenheit<br />

festzustellen:<br />

Die goldnen Sternlein prangen<br />

und wenn Sie mich fragen, meine Freunde, wo, dann sage ich es<br />

Ihnen:<br />

am Himmel!<br />

Und zwar, und das sei hier in aller Eindeutigkeit gesagt, so, wie<br />

meine Freunde und ich uns immer zu allen Problemen geäußert haben:<br />

hell und klar.<br />

Und ich scheue mich auch nicht, hier an dieser Stelle ganz<br />

konkret zu behaupten:<br />

Der Wald steht schwarz und ...<br />

lassen Sie mich das hinzufügen<br />

und schweiget.<br />

Und hier sind wir doch alle aufgerufen - gemeinsam -,<br />

die uns alle tief bewegende Frage an uns gemeinsam zu richten:<br />

Wie geht es denn weiter? Und ich habe den Mut und die tiefe<br />

Bereitschaft und die Entschlossenheit, hier in allem Freimut<br />

und aller Entschiedenheit zu bekennen, daß ich es weiß!<br />

Nämlich:<br />

Und aus den Wiesen steiget<br />

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das, was meine Reden immer ausgezeichnet hat:<br />

der weiße Nebel wunderbar.<br />

Quelle: Dieter Hildebrandt, Was bleibt mir übrig, 1989, S. 286 f.<br />

Tonaufzeichnung: KLIG H.D. Hüsch, K. Wecker, D. Hildebrandt,<br />

Merkton, Doppel - CD 882 976<br />

Vorschläge zur Interpretation<br />

– Vor welchem Hintergrund ist der Text vermutlich entstanden?<br />

– Welches sind die Stilmittel, die Hildebrandt einsetzt?<br />

– An welche Zielgruppe richtet sich der Vortrag?<br />

– Welcher Vorkenntnisse bedarf der Leser / Hörer?<br />

– Was wird kritisiert?<br />

– Welches Verständnis von Politik verbirgt sich hinter dem Vortrag?<br />

– Ist der Text auch auf andere Persönlichkeiten im öffentlichen Leben übertragbar?<br />

– Worin besteht der Unterschied zwischen der gedruckten Fassung und dem<br />

Tondokument?<br />

– Wie ist die Reaktion beim Fernsehpublikum einzuschätzen im Gegensatz zu einem<br />

Bühnenvortrag?<br />

Umgangsmöglichkeiten mit dem Text<br />

– Skizzieren Sie auf einem Blatt Papier in groben Umrissen ein Bühnenbild für den<br />

Kabarettvortrag.<br />

– Welche Regieanweisungen würden Sie einem Kameramann für die<br />

Fernsehaufzeichnung geben? Notieren Sie entsprechende Anweisungen an den Rand<br />

des Textes.<br />

– Schreiben Sie eine kurze Zeitungskritik von 10 bis 15 Zeilen in der Rolle: eines erklärten<br />

Gegenes von Hildebrandt bzw. eines begeisterten Zuschauers.<br />

– Wählen Sie ein Volkslied (z.B. „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“ oder „Alle meine<br />

Entchen“) und legen Sie den Text nach dem obigen Muster einer bekannten<br />

Persönlichkeit in den Mund.<br />

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2. Was darf die Satire?<br />

1986 wurde eine Folge der Sendereihe Scheibenwischer vom Bayerischen Runfunk<br />

abgesetzt. Der folgende Text von Lisa Fitz erzürnte die bayerischen Mediengewaltigen:<br />

Text 2: Der verstrahlte Großvater<br />

(Lisa Fitz kommt auf die Bühne, setzt sich ans Telefon und wählt.)<br />

Lisa Fitz: Ja? Hallo? Ist dort die Strahlenschutzkommission?<br />

Ja? Na prima, also es geht um folgendes: Unser Großvater, gestern ist er übrigens<br />

91 geworden, der war neulich draußen im Garten, das heißt, er saß eben draußen<br />

in seinem Rollstuhl ... der macht das übrigens fast jeden Tag, das ist bei dem ganz<br />

normal, bloß jetzt war's eben so, daß es auf einmal angefangen hat zu regnen<br />

und ... von uns hat leider keiner dran gedacht, den Großvater reinzuholen, und auf<br />

die Art und Weise ist der gute Mann geschlagene vier Stunden im Regen<br />

gesessen. Klar, das wär natürlich nicht weiter schlimm, aber wir haben uns jetzt<br />

eben gedacht, wegen dem russischen Kernkraftwerk, wissen Sie, da hat's doch<br />

geheißen, man soll sich bei Regen möglichst nicht im Freien aufhalten ... ich mein,<br />

wie soll ich sagen, wir befürchten jetzt eben, daß der Großvater schon ordentlich<br />

was abgekriegt hat von der Radioaktivität und wie gesagt, gestern ist er 91<br />

geworden, da muß man ja auch jeden Tag mit dem Schlimmsten rechnen ... und<br />

deswegen ... ich mein, den kann man ja nicht so einfach begraben, am Ende<br />

verstrahlt der noch den ganzen Friedhof ... und jetzt wollt ich eben wissen: Müssen<br />

wir unseren Großvater jetzt endlagern? Oder vielleicht muß man ihn ja auch<br />

wiederaufbereiten, ich versteh von diesen Dingen ja nichts, aber man macht sich<br />

nun mal so seine Gedanken, wo ich doch erst kürzlich in der Zeitung gelesen hab,<br />

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daß radioaktiv verseuchte Leute nicht normal begraben werden dürfen. Die sind<br />

doch praktisch ... wie sagt man dazu?<br />

Sondermüll, richtig. Ja, gut, können Sie mir vielleicht sagen, wie das laufen soll,<br />

weil irgend so etwas wie eine Beerdigung muß man einem Menschen ja geben ...<br />

gibt's da vielleicht Richtlinien dafür, zum Beispiel ob der Pfarrer seine Predigt im<br />

Strahlenschutzanzug halten muß? ... Gibt's nicht, aha ... aber eine anständige<br />

Beerdigung, das ist doch das einzige, worauf sich der Großvater jetzt noch freut,<br />

ich meine, vielleicht täte es eine richtig weihevolle Endlagerung ja auch, aber ein<br />

bißchen christlich müßte es eben schon zugehen ... Wieso geht das nicht?! ... Ach<br />

was! Die Halbwertzeit von meinem Großvater interessiert mich nicht! Solche<br />

Sachen hätten Sie sich eben überlegen sollen, bevor Sie mit der Atomspalterei<br />

angefangen haben, jetzt haben wir den Salat, und der Großvater darf's ausbaden ...<br />

Ja, ebenfalls, wiederhörn.<br />

(Sie legt den Hörer auf.)<br />

Opa lassen wir nicht mehr an die frische Luft. Ab 100 Millirem ist man nämlich kein<br />

Christ mehr.<br />

(Lisa Fitz geht ab.)<br />

Scheibenwischer vom 22.5.86 (194) (Quelle: Scheibenwischer<br />

Zensur, S.29-32.)<br />

Text 3: Unmündig? BR blendet sich erneut aus<br />

Man mag die Begründung der bayerischen Rundfunkgewaltigen zur Absetzung des<br />

Scheibenwischers drehen und wenden, wie man will: der Vorgang ist und bleibt ein<br />

Skandal. Denn erneut wurde damit dem „frei“-staatlichen Zuschauer eine TV-Sendung<br />

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vorenthalten, die alle anderen Bundesdeutschen getrost sehen durften und gegen die<br />

sämtliche anderen ARD-Anstalten auch nichts einzuwenden hatten. Der unmündige<br />

Bürger als idealer BR-Konsument: So hätten sie's wohl gern. Und das offerierte<br />

Ersatzprogramm unter dem Titel: „Heiße Ware Swing“ deutet - ob nun unter Mitwirkung<br />

Dieter Hildebrandts oder nicht - auf eine in jedem Fall bedenkliche Tendenz hin. Ohnehin<br />

nämlich hat ebenso unverbindliches wie unsägliches Tralala anstelle Anstoß erregender<br />

Beiträge ein unerträgliches Übergewicht auf dem Bildschirm bekommen.<br />

Sowieso wird uns so ziemlich jeder erdenkliche Mattscheibenschwachsinn zugemutet. So<br />

läßt sich denn über die Grenzen des guten Geschmacks in der Tat trefflich streiten.<br />

Nicht aber darüber, daß in einer freiheitlich verfassten Demokratie und im öffentlichrechtlichen<br />

Rundfunk Satire erlaubt sein muß. Die jedoch ist nun einmal oft genug nicht<br />

nach dem Geschmack jener Entscheidungsträger, welche die bevorzugte Zielscheibe für<br />

professionelle Spötter abgeben.<br />

Bleibt ihnen und ihrer Verträglichkeit die letztwillige Verfügung überlassen, dürften wir wir<br />

über kurz oder lang in die alles nivellierende, anödende, kritikfreie Röhre gucken.<br />

Nürnberger Nachrichten, 23. Mai. 1986<br />

Positionenspiel<br />

Zwei TeilnehmerInnen übernehmen in Rede und Gegenrede die Position „Der Text darf<br />

nicht gesendet werden, weil ...“ bzw. „Der Text muß gesendet werden weil ...“.<br />

In einer Ecke des Raumes steht der „Pro-Redner“, in der anderen der „Kontra-Redner“,<br />

die übrigen Teilnehmer stehen im Raum dazwischen. Nun tragen die beiden Redner<br />

abwechselnd je ein Argument vor. Die Zuhörer verändern ihren Standpunkt, je nach<br />

Zustimmung oder Ablehnung des Argumentes. Sich auf den Redner hinbewegen bedeutet<br />

Zustimmung. Sich von ihm fortbewegen, Ablehnung. Dabei sollen die Zuhörer nur auf die<br />

vorgetragenen Argumente hören und nicht aufgrund ihrer Vorüberzeugung reagieren.<br />

251


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Nach jedem vorgetragenen Argument verändern also die Zuhörer ihren Stand-Punkt. An<br />

der Stellung und Verteilung der Gruppe im Raum läßt sich die Überzeugungskraft der<br />

jeweiligen Argumente ablesen.<br />

Diskussionsübung<br />

Im Rundfunkrat wird die bereits erfolgte Absetzung einer PolitikerParodie heftig diskutiert.<br />

Der Intendant hat sie mit seinem Fernsehdirektor verfügt. Der Rundfunkrat hat über die<br />

Entscheidung nachträglich zu befinden. Es kommt zu kontroversen Stellungnahmen und<br />

einer Abstimmung. An der Sitzung nimmt nebem dem Intendanten und dem<br />

Fernsehdirektor ein Vertreter der CSU, CDU, FDP, SDP und der GRÜNEN teil. Hinzu<br />

kommen die Vertreter der „gesellschaftlich relevanten Gruppen“ im Rundfunkrat. Sie<br />

werden u.a. durch die Gewerkschaften, die Kirchen, Städtetag, Bühnengenossenschaft,<br />

Bauernverband, Journalistenverband oder auch Landesfrauenverband repräsentiert; auch<br />

sie beteiligen sich an der Diskussion. Die Vertreter diskutieren die Entscheidung der<br />

Intendanz und sollen nach ca. 30 Minuten ihr Votum abgeben. Diese Übung kann in<br />

simultanen Kleingruppen oder als Podiumsdiskussion vor dem Plenum durchgeführt<br />

werden. Der monierte Text ist dabei zunächst nur den Teilnehmern der Diskussionsrunde<br />

bekannt. Im Anschluß an die Abstimmung wird er auch dem Plenum vorgetragen.<br />

3. Schlagzeilen<br />

Das Münchner Crüppel Cabaret<br />

Die Kabarettisten im Rollstuhl fanden sich Anfang der achtziger Jahre zu gemeinsamer<br />

Arbeit zusammen. Wer ihr Programm gesehen hat, ist zur Überprüfung des eigenen,<br />

vermeintlich „gesunden“ Standorts aufgerufen. Der Vortrag ist Provokation, ein Schlag<br />

gegen betuliches caritatives Handeln im Sinne einer beliebigen<br />

Wohltätigkeitsveranstaltung. Die „Versehrten“ im Rolli zeigen auf Doppelbödiges in<br />

252


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unserer Gesellschaft, auf die Ideologie von strahlenden athletischen Körpern, wie sie uns<br />

die Werbung präsentiert, und auf ihren berechtigten Anspruch ernstgenommen zu<br />

werden.<br />

Text 4: Schlagzeilen knüppeldick<br />

Halbblinder Arzt operierte:<br />

Zwei Tote!<br />

In einem Koblenzer Krankenhaus<br />

operierte dieser Mann<br />

kranke Menschen dann und wann.<br />

Zwei Patienten starben kurz darauf.<br />

Der Skandal war perfekt, der Arzt flog auf.<br />

Keine Lehrstelle für behinderten Sohn:<br />

Vier Tote!<br />

Architekt brachte die ganze Familie um.<br />

Kinderlähmung war der Grund.<br />

Der Vater flippte aus,<br />

machte allen den Garaus.<br />

Auch er selbst macht sich hin.<br />

Es geschah in Berlin.<br />

Aus Verzweiflung: Todkranke Mutter vergiftete ihr Kind!<br />

Danach schnitt sich die Frau ihre Pulsadern auf.<br />

Multiple Sklerose hatte sie,<br />

hatte Angst, sie zu vererben<br />

und ihr Söhnchen zu verderben.<br />

Grad drei Jahre war der Knabe,<br />

und schon trug man ihn zu Grabe.<br />

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Medizin tötet mehr Menschen<br />

als Straßenverkehr!<br />

Geheimstatistik: Jährlich lassen 15.000 ihr Leben.<br />

In der Bundesrepublik müssen viele Menschen leiden,<br />

weil die Ärzte Mist verschreiben.<br />

Selbst Kleinkinder, die aufmucken,<br />

müssen Tranquilizer schlucken.<br />

Anwalt spricht von Skandal:<br />

Rollstuhlfahrer in Haar eingesperrt!<br />

Zum Notarzt wollt der Rolli hin.<br />

Doch er landete in Haar,<br />

weil er eigensinnig war,<br />

und dort sperrte man ihn ein;<br />

Eigensinn, der darf nicht sein.<br />

Gelähmter Bruder aus Mitleid erstochen!<br />

Der Vierundzwanzigjährige bat: Erlöse mich!<br />

Er tat es aus Liebe zu ihm,<br />

zu dem Bruder, der ihn bat:<br />

Mach ein Ende, schreit zur Tat.<br />

Stich dein Messer mir ins Herz,<br />

und vorbei ist all mein Schmerz<br />

Weil es verkrüppelt auf die Welt kam:<br />

Vater erschlug Baby im Kreißsaal!<br />

Eine Hasenscharte war der Grund,<br />

Der Vater konnte sie nicht ertragen,<br />

deshalb hat er sein Kind erschlagen.<br />

Aus dem Brutkasten raus,<br />

an die Wand und aus.<br />

254


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Das war ein Überblick<br />

über Schlagzeilen krüppeldick.<br />

Wenn die Presse von uns auch nichts<br />

wissen mag,<br />

jeden Mord an einem Krüppel bringt sie an den Tag<br />

in Schlagzeilen krüppeldick.<br />

Wie gesagt, das war nur ein Überblick.<br />

Werner Geifrig, Neues aus Rollywood, 1987<br />

Text 5: Die Kunst des aufrechten Ganges im Sitzen<br />

Ganz unten, da sind die „Rollis“, wie sie sich selbst bezeichnen, die hinaufschauen<br />

müssen, wenn Passanten den Betreuer fragen, ohne den Gemeinten anzuschauen,<br />

„was er denn hätte“. Die Solidarität der Nichtbehinderten, die nie daran denken,<br />

dass der Rollstuhl um die Ecke stehen kann. Oder ist der Text, den eine PR-<br />

Agentur für das Verkehrsministerium erfand: „Blöder Radler“ - „Sturer Autler“ -<br />

„Bumms!“ nicht so gemeint, daß man in Sekundenschnelle aus der Mitte der<br />

Gesellschaft verschwinden und sich in einer „Randgruppe“ wiederfinden könnte?<br />

Randgruppen werden von Politikern als „Paket“ behandelt. Sie stehen außerhalb<br />

der gesunden Gesellschaft, nörgeln an ihrem Status herum, fühlen sich nicht<br />

integriert, möchten nicht zusammen mit Asozialen, Chaoten oder Terroristen in<br />

einem Atemzug genannt werden und vor allem keine Almosen erhalten. Sie fühlen<br />

sich als Restrisiko der Gesellschaft, die sich im Kriegszustand befindet. Zum<br />

Zuschauen gezwungen, sehen sie den Kampf Chemie gegen die Natur,<br />

Arbeitsplatzinhaber gegen Arbeitslose, Auto gegen Auto, Erwachsene gegen<br />

Kinder, Menschen gegen Tiere, Medien gegen Menschen oder Nullen gegen Null-<br />

Lösungen, fühlen sich unschuldig an der Entstehung des ganz normalen<br />

Wahnsinns, sehen aber mit Erstaunen, dass sie die Rechnung bezahlen sollen. Die<br />

Urheber von Katastrophen beschließen, sparsamer zu werden, suchen lobbyarme<br />

Gruppen, finden sie unter anderen in den Behinderten und sanieren ihren Haushalt<br />

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mit Abstrichen am Haushalt der Schwächsten. Regt sich Protest bei den<br />

Betroffenen, den man eigentlich gar nicht erwartet hatte, dann klärt man die<br />

Mehrheit der Nichtbehinderten kühl und knapp auf, wie viele Millionen es kostet, die<br />

Behinderten, die keine Gegenleistung erbringen könnten, am Leben zu erhalten.<br />

Dieter Hildebrandt in: Werner Geifrig: Neues aus Rollywood, 1987<br />

Fragen zu den Texten<br />

– Wie wirkt Text 4, wie Text 5 auf Sie?<br />

– Welche Gefühle werden angesprochen?<br />

– Welche Methoden der Distanzierung werden bei Ihnen aktiviert? Was beschreiben die<br />

„Schlagzeilen knüppeldick“?<br />

– Welches Verständnis von der Gesellschaft steht dahinter?<br />

– Deckt sich ein solches Kabarett mit Ihrer Auffassung von „Kunst“? Was wollen die<br />

Behinderten erreichen?<br />

– Was kann ein „Rollstuhl-Kabarett“ beim Zuschauer, bei Wohlfahrtsfunktionären und bei<br />

Politikern auslösen?<br />

Möglichkeiten der Weiterarbeit<br />

– Text 3 wird ohne die Schlagzeilen verteilt. Die TeilnehmerInnen sollen jeweils eigene<br />

Schlagzeilen formulieren. Diese werden dann mit den Schlagzeilen von „Rolli“<br />

verglichen.<br />

– Die 6. Schlagzeile berichtet von einem Tod auf Verlangen. Nehmen Sie darauf in einem<br />

Brief an die Autoren des Kabaretts Stellung.<br />

– Suchen Sie aus der Tagespresse Meldungen und Berichte über Behinderte. Lesen Sie<br />

diese Berichte laut in der Gruppe, ohne Kommentar. Lesen Sie die Meldungen in<br />

verschiedener Betonung und verschiedenem Rhythmus. Kontrastieren Sie dieAussagen<br />

durch Werbeaussagen.<br />

– Stellen Sie sich vor, es ist Volkstrauertag. Am Kriegerdenkmal der Stadt wird mit Musik<br />

und Ansprachen der Opfer von Kriegen und Gewaltherrschaft gedacht.<br />

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– Ein junger Behinderter im Rollstuhl liest zum Abschluß der Veranstaltung Wolfgang<br />

Borcherts Aufruf „Dann gibt es nur eins“. Im Anschluß an die Feier kommen<br />

nacheinander der Bürgermeister, der Pfarrer und ein Ortsvorsitzender der örtlichen<br />

Mehrheitspartei zu dem Rollstuhlfahrer. Wie verlaufen vermutlich die Gespräche?<br />

Spielen Sie diese als kleine Szene mit verteilten Rollen.<br />

– Ein junger Nicht-Behinderter der provokativ einen Rollstuhl benützt, macht in ernster<br />

Absicht dasselbe. Wie reagieren nun die drei Personen?<br />

Glossar zum Kabarett<br />

Bühne<br />

Sie spielt im Kabarett eine untergeordnete Rolle, zumal kleine provisorische Spielstätten<br />

wie Kellertheater oder Varietébühnen bevorzugt werden. Das Spiel mit dem Unfertigen<br />

und Unkonfektionierten im Kabarett mag hier sein Korrelat haben. Gleichwohl haben sich<br />

die Kabaretts immer wieder um Originalität beim Dekor bemüht, um augenfällige Akzente<br />

zur Hervorhebung des individuellen Ansatzes. Wolfgang Neuss setzte im Berliner Domizil<br />

auf die Pauke und die vorhandenen architektonischen Besonderheiten des Raumes.<br />

Hanns Dieter Hüsch tingelt seit Jahr und Tag mit dem Harmonium durch die Lande und<br />

hat dieses zu seinem Markenzeichen gemacht. Die Bühne ist im Idealfall für den<br />

Kabarettisten das, was er dazu erklärt: zusammengeschobene Mensatische, eine<br />

stillgelegte Fabrikhalle.<br />

Conférence (französisch: Vortrag)<br />

Der Conférencier war vor allem in den zwanziger und dreißiger Jahren im Kabarett von<br />

herausragender Bedeutung. Zunächst nur als Überleitung zwischen den einzelnen<br />

Nummern gedacht, enwickelte sich die Zwischenansage zu einer selbständigen Gattung<br />

mit solistischem Charakter. Finck pflegte dieses Genre mit vielen weiteren Kollegen. Bei<br />

257


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Unterhaltungssendungen im Rundfunk kommt die Conférence gelegentlich noch zum<br />

Vortrag. „Doppelconférencen“ sind von Paul Morgan und Kurt Robitschek überliefert.<br />

„Eine Doppelconférence ist ein Dialog zwischen einem G'scheiten und einem Blöden,<br />

wobei der G'scheite dem Blöden etwas Gescheites möglichst gescheit zu erklären<br />

versucht - mit dem Resultat, daß zum Schluß der Blöde zwar nicht gescheiter, aber dem<br />

Gescheiten die Sache zu blöd wird. Beide haben daher am Ende nichts zu lachen. Dafür<br />

desto mehr das Publikum.“( Karl Farkas, Wiener Kabarettist)<br />

Couplet (französisch: Pärchen)<br />

Seit dem 19. Jahrhundert ist es die Bezeichnung für ein scherzhaftsatirisches Lied, oft<br />

zweideutig und pikant-erotisch. Meist mit gleichlautender Endzeile oder Kehrreim<br />

vorgetragen, aber keineswegs ausschließlich. Claire Waldoff, Otto Reutter, Willy Rosen<br />

sind bekannte Couplet-Sänger. Das Couplet steht in engster Nachbarschaft zum<br />

Chanson. Überschneidungen sind gegeben. Vergleiche hierzu das Lied „lieber Gott mach<br />

mich fromm“ (S. 231).<br />

Dialekt<br />

Er wird im deutschsprachigen Kabarett in zunehmendem Maße eingesetzt. Mit ihm lassen<br />

sich, oft schärfer als durch die Hochlautung, Zustände und Mißstände charakterisieren. Er<br />

schafft Nähe und täuscht diese auch gelegentlich vor (Polt). Die sprachliche Fallhöhe (Uli<br />

Keuler schwadroniert in schwäbischer Mundart über islamischen Fundamentalismus)<br />

rückt das scheinbar Unvereinbare dicht zusammen: Eine Weltreligion wird aus der<br />

Perspektive der sinistren Regionalität abgeklopft. Nicht die Religion wird desavouiert,<br />

dagegen der Sprecher und seine ideologische Verhaftung. Damit hat auch die<br />

zunehmende Nachahmung von Politikern etwas zu tun. Vor allem über den Dialekt wird<br />

eine hohe Identifikationsmöglichkeit geschaffen. (Vergl. M. Richling, Gerhard Polt, Jürgen<br />

von Manger, Siegfried Zimmerschied und viele andere.)<br />

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Fernseh-Kabarett<br />

Wir haben zu unterscheiden: Kabarett im Fernsehen, das direkt für die Bedingungen des<br />

Mediums konzipiert ist („Nachschlag“, „Jetzt schlägt's Richling“ u.a.), und die abgefilmten<br />

Aufzeichnungen von Kabarettveranstaltungen (z.B. aus dem Unterhaus in Mainz). Dieter<br />

Hildebrandts „Scheibenwischer“ stellt eine Mischform dar, da im Sendesaal auch<br />

Publikum anwesend ist. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Qualitätsfrage, ob das<br />

Medium das Produkt insgesamt verändert. Der Autor neigt zur Bejahung dieser Frage. Am<br />

„Scheibenwischer“ läßt sich das nachweisen. Witz und Humor als ein „regionales<br />

Ereignis“ finden hier nur noch bedingt statt. Die Pointe ist eine solche, die in Rostock oder<br />

Meersburg ganz ähnliche Reaktionen hervorrufen wird. Das Fernsehen, so scheint es,<br />

macht das Kabarett über weite Strecken egalitär, weil jeder alles verstehen muß. Das ist<br />

eine Chance, aber auch ein nicht zu unterschätzendes Problem. Nur selten kommen im<br />

übrigen fernsehspezifische Techniken zum Einsatz. Die Möglichkeiten von Schnitt,<br />

Beleuchtung und Montage sind bislang kaum ausgeschöpft.<br />

Humor (lateinisch humor / umor: Feuchtigkeit)<br />

„Gabe eines Menschen, die Unzulänglichkeit der Welt und der Menschen, den<br />

Schwierigkeiten und Mißgeschicken des Alltags mit heiterer Gelassenheit zu begegnen“<br />

(Duden, Das Herkunftswörterbuch, 1989).<br />

Nach klassischer und antiker Vorstellung steht dahinter die Lehre von den Körpersäften<br />

und damit auch die Temperamentenlehre: sie unterscheidet den cholerischen,<br />

melancholischen, phlegmatischen und sanguinischen Charakter, die „schlechte“ oder<br />

„gute“ Gestimmtheit des Menschen. Humor- aus lateinisch humores „Feuchtigkeiten“ - hat<br />

erst im 17. und 18. Jahrhundert die allein positive Deutung erfahren. Wichtig ist beim<br />

Humor die philantropische Haltung: Ohne Schärfe wird auf „Ungereimtheiten“ verwiesen.<br />

Anders als die Satire, die mit Bissigkeit auf Veränderung setzt, ist der humorige Ansatz<br />

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„versöhnlich“ gestimmt. Der Humor ist konstituierend für das Kabarett und definiert nur in<br />

Grenzfällen eine Gattung, z.B. die „Humoreske“.<br />

Ironie (griechisch eironeia: Verstellung)<br />

Das Mittel ist ebenfalls konstituierend für das Kabarett. Die Bühnentechnik des Als-Ob<br />

kommt zur Anwendung. Der Kabarettist „verstellt“ sich. Zwischen seinem Wissen und<br />

seiner Aktion und Rede wird eine Diskrepanz sichtbar. „Die Ironie ist eines der wichtigsten<br />

Mittel, die Glaubwürdigkeit einer Person oder Sache in Zweifel zu ziehen.“ (Ueding, 1991,<br />

S. 80.) Der Akteur simuliert vor dem Publikum Nichtwissen und verbirgt seine Kenntnis<br />

über den wahren Sachverhalt. Oft wird Einverständnis mit dem beschriebenen<br />

Sachverhalt nur vorgetäuscht oder „geheuchelt“. Durch Übertreibung läßt sich aus dieser<br />

Perspektive nachdrücklich kritisieren. Ironie, die für den Zuschauer nicht kenntlich wird,<br />

verfehlt ihr Anliegen im übrigen und führt unter Umständen zu eklatanten<br />

Mißverständnissen. In der zwischenmenschlichen Alltagskommunikation ist dies oft zu<br />

beobachten. Im klassischen Griechenland war der „Ironiker“ im übrigen ein zu tadelnder<br />

Zeitgenosse: „Auch wer vor der Steuer sein Eigentum niedriger als richtig angab, tat klein<br />

und galt als Ironiker. Das war im Grunde ebensosehr Lüge und Täuschung wie die<br />

entsprechende Verstellung nach oben hin, das Großtun. Aristoteles muß in seiner Ethik<br />

zugeben, das Großtun und Kleintun eigentlich gleich weit von der goldenen Tugendmitte<br />

der Wahrhaftigkeit entfernt sind.“ (Weinrich, H., 1966, S. 59.)<br />

Kabarett 1894<br />

(Französisch cabaret), Schenke, Wirtshaus; Kaffe-, Teebrett und -geschirr; fächerweise<br />

abgeteilte Schüssel für Kompotts. (Brockhaus Konversations-Lexikon, vierzehnte<br />

vollständig neubearbeitete Auflage in sechzehn Bänden, Berlin und Wien 1894.)<br />

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Karikatur (italienisch caricare: übertreiben, überladen)<br />

Sie besteht in der verzerrenden Übertreibung einer charakteristischen Eigenschaft. Damit<br />

die Karikatur durch den Zuschauer erschlossen werden kann, sollte ihm das<br />

überzeichnete Vorbild bekannt sein. Bei der gezeichneten Karikatur von Politikern wird<br />

das deutlich. Die herausgestellten Augenbrauen des Finanzminister Theo Waigel auf<br />

Zeitungskarikatur machen nur für den Kenner des Ministers Sinn. Dieter Hildebrandt<br />

karikiert in dem Gedicht „Der Mond ist aufgegangen“ (vgl. S. 254f.) die Sprechweise des<br />

Bundeskanzler Kohl. Die Leerformeln werden jedoch als bekannt vorausgesetzt und<br />

entfalten durch diese Beziehung die komische Wirkung.<br />

Komik (griechisch komikos / komos: Festzug, dörfliches Fest)<br />

Sie beruht u.a. auf der Inkongruenz von der jeweiligen Anschauung über eine Sache oder<br />

Menschen und der tatsächlichen Erscheinung im Leben, auf der Bühne, im Film oder<br />

Varieté. Ein volleibiger Minister für Sozialfragen, der im Spiel auf der Bühne für die sozial<br />

Schwachen Interesse zeigt, kann komisch wirken, weil dies nicht mit der vorgefaßten<br />

Vorstellung des Publikums in Einklang zu bringen ist. Die grölende und prustende Witwe<br />

wirkt komisch, weil der Zuschauer Trauer voraussetzt. Man unterscheidet zwischen<br />

„freiwilliger“ und „unfreiwilliger“ Komik. Jene ist gegebenenfalls literarisch oder<br />

künstlerisch kalkuliert, diese Ergebnis des platten Unvermögens, sich auszudrücken. Das<br />

Kabarett jongliert und hantiert mit dem Spektrum der Komik ganz selbstverständlich.<br />

Komik wird unterschiedlich erfahren, da der eigene Standort die Reichweite und Wirkung<br />

der Komik bestimmen. Kabarett ohne Komik ist denkbar. Ihr Entzug - je länger, je mehr -<br />

weitet sich im Theatersaal und am Bildschirm zur Katastrophe. Kluge Analytiker haben<br />

den Humor qualitativ über die Komik gesetzt, den Witz darunter. Die Massenmedien<br />

verwechseln zunehmend Komik mit Ulk und Blödelei. Und das ist gar nicht komisch.<br />

Musik<br />

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Sie spielt im Kabarett traditionell eine wichtige Rolle. Auf die enge historische Verbindung<br />

von Chanson, Couplet und Kabarett ist zu verweisen. Das Lied erlaubt einen hohen<br />

affektiven Zugang. Mit ihr lassen sich Szenen gliedern und Texte akzentuieren. Auffallend<br />

ist der häufige Einsatz von bekannten Melodien im Kabarett, die als Grundlage für den<br />

neuen Text dienen. Hier wird im allgemeinen auf den Wiedererkennungseffekt gesetzt.<br />

Dieser erlaubt die rasche emotionale Einstimmung. Ein parodistisch eingesetzter Liedtext<br />

kann auf der „bekannten“ Musikschiene wesentlich leichter rezipiert werden. Auf dem<br />

Bekannten fußt die neue Botschaft. Das Musikzitat schafft ein Ambiente der vertrauten<br />

musikalischen Behaglichkeit, auf der sich ganz Ungewohntes oder Überraschendes<br />

sagen und singen läßt.<br />

Parodie (griechisch: Gegengesang)<br />

Sie setzt ein wissendes Publikum voraus, das den Original-Text kennt. Dieser wird ganz<br />

oder in Teilen verspottet oder lächerlich gemacht, indem die äußere Form beibehalten<br />

wird und ein anderer dem Original „unangemessener“ Inhalt präsentiert wird. Das<br />

Verfahren hat große Verwandtschaft zur Travestie, wobei die Abgrenzung nicht immer<br />

sinnvoll gemacht werden kann. Erwin Rotermund führt aus: „Eine Parodie ist ein<br />

literarisches Werk, das aus einem anderen Werk beliebiger Gattung formal-stilistische<br />

Elemente, vielfach auch den Gegenstand übernimmt, das Entlehnte aber teilweise so<br />

verändert, daß eine deutliche, oft komisch wirkende Diskrepanz zwischen den einzelnen<br />

Strukturschichten entsteht. Die Veränderung des Originals, das auch ein nur fiktives sein<br />

kann, erfolgt durch totale oder partiale Karikatur, Substitution (Unterschiebung), Adjektion<br />

(Hinzufügung) oder Detraktion (Auslassung) und dient einer bestimmten Tendenz des<br />

Parodisten, zumeist der bloßen Erheiterung oder der satirischen Kritik.“ (Rotermund,<br />

1963, S. 9.)<br />

Pointe<br />

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Auf Ihr basiert die entscheidende Wirkung im Kabarett. Das Moment der überraschenden<br />

Wendung spielt dabei eine Rolle. Der „eigentliche, unerwartete Sinn“ (Wilpert) rückt in die<br />

Szene. Sprachlich kommt es dabei oft zu einer „Enttarnung“ von Meinungen oder<br />

Vorurteilen, ein Gesagtes erscheint im neuen Licht, auf alle Fälle ereignet sich ein<br />

dramaturgischer Umschlag. Die Pointe betont nicht nur einen Schlußakzent - wie beim<br />

Witz -, sie tritt auch innerhalb der Szene in Erscheinung.<br />

Satire<br />

Die Herkunft des Wortes scheint nicht gesichert. Ein Zusamenhang mit griechisch satyros<br />

ist nicht gegeben. Das lateinische Wort satura (Opferschale) kommt in Betracht, auch die<br />

etruskische Wendung satir „reden“. Unter Satire versteht man im literarischen Sinn eine<br />

Spottdichtung mit erzieherischer Tendenz. Heute bezeichnet die Satire im allgemeinen die<br />

Verspottung und kritische Auseinandersetzung mit Mißständen oder Personen. Anders als<br />

wie bei der „humorigen“ Betrachtung, setzt die Satire auf die Veränderung des<br />

beschriebenen Defizits. Die Satire agiert „politischer“ als die Humoreske; die Satire<br />

prangert an und stellt auch bloß, sie kann auch verletzen oder den Gegner demütigen. Die<br />

Mittel der Satire sind u.a. Humor, Ironie und Witz. Das satirische Element ist im Kabarett<br />

fast immer vertreten.<br />

Travestie ( italienisch travestire: verkleiden)<br />

Der Inhalt wird beibehalten, doch die Form gezielt verändert und manipuliert. Auch hier<br />

wird die Kenntnis vom „Original“ vorausgesetzt. Bei Hildebrandts Kohl-Vortrag der<br />

Claudius-Vorlage („Der Mond ist aufgegangen“, S. 254f.) sind Mittel der Travestie<br />

eingesetzt, freilich auch die der Parodie. An Friedrich Theodor Vischers (1807-1887)<br />

FaustParodie oder -Travestie sei erinnert.<br />

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Witz<br />

Das Wort bedeutete in der Klassik „Verstand“, „Klugheit“ und „Geist“. Heute hat es die<br />

Verschiebung zu „Schlauheit“ und „Pfiffigkeit“ erfahren. Die prägnante, meist kurze und<br />

„pointierte“ sprachliche Ausformung eines Sachverhalts mit einer überraschenden<br />

Wendung gehört zur Charakteristik des Witzes. Zu seiner Dramaturgie zählt das Moment<br />

der Überraschung, das Zussammenspiel von enttäuschter Erwartung und tatsächlichem<br />

Vortrag.<br />

Zensur (lateinisch censura: strenge Prüfung)<br />

Staatliche, halbstaatliche oder kirchliche Überwachung des Literatur-, Musik-, Film-,<br />

Radio- oder Fernsehbetriebs mit dem Ziel der inhaltlichen Überwachung und Steuerung.<br />

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk kennt im Sinne des Grundgesetzes (Artikel 5) keine<br />

Zensur, gleichwohl gibt es immer wieder faktische Zensureingriffe. „Zensur ist die mit<br />

Machtmitteln versehene Kontrolle menschlicher Äußerungen. Sie führt bei Bedarf zu<br />

rechtsförmigen und außerrechtlichen Sanktionen. Beispielsweise zur Behinderung,<br />

Verfälschung oder Unterdrückung von Äußerungen vor oder nach ihrer Publizierung.<br />

Durch die Bedrohung der beruflichen/ bürgerlichen Existenzen zielt Zensur auf die<br />

Internalisierung von Herrschaftsansprüchen. Selbstzensur ist das Resultat erfolgreicher<br />

Zensur.“ (Kienzle/Mende, Zensur in der BRD, 1980, S. 231.) Die Geschichte des<br />

Kabaretts ist immer auch die Geschichte der behinderten Kunst- und Meinungsäußerung,<br />

mithin der Zensur, gewesen.<br />

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung<br />

außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des<br />

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Rechteinhabers unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,<br />

Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in<br />

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