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Heft 2/2005 - Offene Kirche Württemberg

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inne und schaute uns traurig an, dann<br />

sagte sie: „Ich war ein Kind und weiß<br />

noch, wie die Menschen sich damals in<br />

unsere <strong>Kirche</strong> flüchteten. Ich kann das<br />

nicht vergessen. Die Angst von damals<br />

steckt in mir bis heute; sie steckt in uns<br />

allen, die wir Christen sind und im Tur<br />

Abdin leben“. Ich stand einer Zeitzeugin<br />

gegenüber, die das „Jahr des Schwertes“<br />

miterlebt hatte.<br />

Neue Entwicklung: Rückkehr<br />

Jahre nach dieser Begegnung gibt es<br />

eine neue und hoffnungsvolle Entwicklung<br />

im Tur Abdin, die sicher ein neues<br />

Kapitel nach all den dunklen Jahren<br />

aufschlägt – vor Jahren hätte niemand<br />

auch nur davon geträumt: Familien, die<br />

ihr Land und ihre Dörfer vor 20 oder 30<br />

Jahren aus Angst verlassen haben,<br />

kehren wieder zurück an den Ort, wo<br />

ihre Wurzeln liegen. „Rückkehr“ ist das<br />

geheime Zauberwort, das gegenwärtig<br />

unter den Assyrern und Aramäer im<br />

westlichen Ausland heiß und kontrovers<br />

diskutiert wird. Die politische Situation<br />

ist entspannter und ruhiger geworden,<br />

die ehemaligen militärischen Auseinandersetzungen<br />

zwischen PKK und<br />

türkischem Militär sind beendet, die<br />

Anstrengungen der Türkei, in die EU zu<br />

kommen, sind auch im Tur Abdin von<br />

den syrischen Christen zu spüren. Was<br />

noch fehlt, ist eine Garantie ihrer<br />

Menschenrechte, so wie sie im Lausanner<br />

Vertrag 1923 festgelegt wurden,<br />

und damit auch eine Anerkennung als<br />

religiöse und ethnische Minderheit. Das<br />

wird aber hoffentlich noch Wirklichkeit<br />

werden!<br />

Die Assyrer heute führen ihre Existenz auf<br />

die altorientalischen Völker der Assyrer,<br />

Chaldäer und Aramäer in Mesopotamien,<br />

dem heutigen Irak zurück. Sie sind Christen<br />

und gehören vor allem vier <strong>Kirche</strong>n an:<br />

„Der Heiligen <strong>Kirche</strong> des Ostens“ (assyrische<br />

<strong>Kirche</strong>, nestorianisch), der „<strong>Kirche</strong><br />

von Antiochien“ (jakobitisch oder syrisch<br />

orthodox), der Chaldäisch Katholischen<br />

<strong>Kirche</strong> und der Syrisch Katholischen <strong>Kirche</strong>.<br />

Wenn von „syrischen Christen“ gesprochen<br />

wird, dann erinnern wir uns an<br />

die ursprüngliche Bezeichnung „Süriani“<br />

für die „ersten Christen“ in Antiochia<br />

(Apost.. 11, 26). Sie sprechen bis heute<br />

einen Dialekt des Aramäischen, der Muttersprache<br />

Jesu.<br />

○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />

Pfarrer i.R. Horst Oberkampf<br />

berichtet unter www.nordirakturabdin.de<br />

über seine Reisen in<br />

die Türkei und den Nordirak<br />

Getürkte Realitäten<br />

Pünktlich zum 90-jährigen Gedenken<br />

des Genozids an den Armeniern ist ein<br />

Buch erschienen, das den gegenwärtigen<br />

Stand der historischen Forschung in<br />

spannender Weise darstellt. Allerdings<br />

führt der Titel insofern in die Irre, als die<br />

Aktionen der armenischen Untergrundorganisation<br />

„Operation Nemesis“<br />

mit dem Attentat auf führende türkische<br />

Kriegsverbrecher nur die Einführung<br />

und den Schluss ausmachen. Im<br />

Hauptteil wird ausführlich mit schrecklichen<br />

Details geschildert, wie schon<br />

1895, aber dann vor allem ab 1915<br />

Armenier in den verschiedensten<br />

Landesteilen systematisch vertrieben<br />

und vernichtet wurden. Rolf Hosfeld<br />

arbeitet insbesondere die deutsche<br />

Beteiligung heraus, da das Kaiserreich<br />

alle kritischen Nachrichten unterdrückte,<br />

um im Ersten Weltkrieg den wichtigen<br />

Bundesgenossen nicht zu verlieren.<br />

Es wird aber auch klar, dass die türkische<br />

Rechtfertigung, es habe sich um<br />

notwendige Kriegshandlungen gehandelt,<br />

nur Zweckpropaganda ist. Denn<br />

der Wille zur Vernichtung ist viel älter.<br />

Der Krieg war eine willkommene<br />

Gelegenheit, unbehelligt von den<br />

Großmächten mit einer unbequemen<br />

Minderheit endlich „aufzuräumen“. Der<br />

historisch interessierte Leser, der einige<br />

Schriften von Johannes Lepsius oder<br />

Armin T. Wegner kennt, erfährt noch<br />

Neues. So kennen viele den Roman von<br />

Franz Werfel „Die vierzig Tage des<br />

Musa Dagh“, aber nicht die tatsächliche<br />

Geschichte. Sein wichtigster Zeitzeuge<br />

und Organisator des Widerstands war<br />

nämlich der protestantische Pastor<br />

Dikran Andreasian. So setzt der Autor<br />

vielen Menschen ein Denkmal, deren<br />

Namen keiner mehr kennt.<br />

Das „Nachspiel“ des Völkermords ist<br />

mindestens so deprimierend wie die<br />

Mordgeschichten selbst. Nachdem sich<br />

die Hauptverantwortlichen abgesetzt<br />

hatten, verurteilte sie ein osmanisches<br />

Gericht zum Tode. Von den siebzehn<br />

Todesurteilen werden aber nur drei<br />

vollstreckt. Die Vorstellung des zuständigen<br />

Staatsanwalts bei der Eröffnung des<br />

Hauptverfahrens geht nicht in Erfüllung:<br />

„Die unschuldig Ermordeten werden<br />

wieder auferstehen“. Mustafa Kemal,<br />

genannt Atatürk, löst die Gerichte, die<br />

sich mit dem Völkermord befassen,<br />

1920 auf. In seiner Tradition wird das<br />

Verbrechen bis heute von der türkischen<br />

Regierung geleugnet. Die Hauptverantwortlichen<br />

wurden rehabilitiert und mit<br />

Ehren beigesetzt. Zuletzt erhält 1996<br />

der ehemalige Kriegsminister des<br />

Osmanischen Reiches, Enver Pascha, auf<br />

dem Freiheitshügel in Istanbul ein<br />

posthumes Staatsbegräbnis. Initiator der<br />

Rehabilitierung Envers war übrigens der<br />

damalige islamistische Bürgermeister<br />

von Istanbul und jetzige Ministerpräsident<br />

Recap Tayyip Erdogan. Doch es<br />

gibt auch kritische Stimmen. Der<br />

türkische Journalist Murat Belge bekennt:<br />

„Wir haben die ethnischen<br />

Säuberungen erfunden“. Er fügt hinzu:<br />

„Ich behaupte, die Fortsetzung der<br />

Leugnungspolitik der Türkei widerspricht<br />

ihren nationalen Interessen. Der<br />

Grund für diese Behauptung ist sehr<br />

einfach: weil sie falsch ist. Jede Politik,<br />

die auf falschen Prämissen beruht, ist<br />

dazu verdammt, über kurz oder lang in<br />

sich zusammenzufallen.“<br />

Die Leugner des Völkermordes kann<br />

man fragen, wo denn die Armenier<br />

geblieben seien, deren Siedlungsgebiete<br />

man noch aufspüren kann. 1913 lebten<br />

im Osmanischen Reich auf dem Gebiet<br />

der heutigen Türkei 1.834.900 Armenier,<br />

zur Zeit der Gründung der Türkischen<br />

Republik 1923 waren es noch<br />

300.000, heute sind es 60.000. Selbst<br />

wenn man Auswanderung einbezieht,<br />

schwanken die Opferzahlen zwischen<br />

800.000 und 1,4 Millionen. Der Autor<br />

nennt viele Dörfer und Städte, wo<br />

Armenier gelebt haben. Kein moderner<br />

Reiseführer erwähnt das. Sollte man<br />

nicht einmal einen „alternativen<br />

Baedeker“ herausgeben, mit dem der<br />

heutige Tourist die Spuren der Opfer<br />

finden kann? Bisher muss man sich mit<br />

dem nur antiquarisch erhältlichen Buch<br />

von Johannes Lepsius „Der Todesgang<br />

des Armenischen Volkes“ von 1927<br />

begnügen, der alle Orte detailliert<br />

auflistet.<br />

In jedem Dorf der Türkei gibt es mindestes<br />

ein Denkmal für den Massenmörder<br />

Mustafa Kemal. Wann wird es dort ein<br />

einziges Denkmal für die umgekommenen<br />

Armenier geben? Wann werden<br />

Türken auch hierzulande Trauer und<br />

Scham über den Genozid an den<br />

Armeniern ausdrücken? Sollte man<br />

nicht auch bei uns wie in der kleinen<br />

mutigeren Schweiz die Leugnung dieses<br />

Genozids unter Strafe stellen?<br />

Wolfgang Wagner<br />

Rolf Hosfeld, Operation Nemesis.<br />

Die Türkei, Deutschland und der<br />

Völkermord an den Armeniern.<br />

Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln<br />

<strong>2005</strong>, 351 Seiten, 19,90 Euro.<br />

Seite 8 OFFENE KIRCHE<br />

Nr. 2, Juni <strong>2005</strong>

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