Der Vertrag von Lissabon und das Grundgesetz - Dr. Peter Gauweiler
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Murswiek, Gutachten <strong>Vertrag</strong> <strong>von</strong> <strong>Lissabon</strong> 24<br />
geht es darum, ob für ihn überhaupt noch eine demokratisch legitimierte Repräsentation<br />
möglich ist.<br />
Wenn andererseits die einstweilige Anordnung ergeht <strong>und</strong> sich dann im Hauptsacheverfahren<br />
herausstellt, daß die Verfassungsbeschwerde oder die Organklage unbegründet ist, sind<br />
überhaupt keine oder – je nach zeitlichem Ablauf des verfassungsgerichtlichen Verfahrens<br />
– jedenfalls keine weitreichenden Nachteile erkennbar. Wie bereits gesagt, kann der <strong>Vertrag</strong><br />
<strong>von</strong> <strong>Lissabon</strong> ohnehin frühestens am 1.1.2009 in Kraft treten. <strong>Der</strong> <strong>Vertrag</strong> tritt gem.<br />
Art. 6 Abs. 2 erst in Kraft, wenn sämtliche <strong>Vertrag</strong>sstaaten die Ratifikationsurk<strong>und</strong>en hinterlegt<br />
haben. Nach den Erfahrungen mit der Ratifikation früherer Verträge, insbesondere<br />
des <strong>Vertrag</strong>es <strong>von</strong> Maastricht, kann durchaus damit gerechnet werden, daß dies noch nicht<br />
zum 1.1.2009 der Fall sein wird. Wenn die B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland ihre Ratifikationsurk<strong>und</strong>e<br />
vorerst nicht hinterlegt, sondern zunächst die Entscheidung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts<br />
in der Hauptsache abwartet, gibt es hinsichtlich des Inkrafttretens des <strong>Vertrag</strong>es<br />
also nicht die geringste Verzögerung, sofern <strong>das</strong> B<strong>und</strong>esverfassungsgericht in der<br />
Hauptsache zügig entscheidet. <strong>Der</strong> <strong>Vertrag</strong> ist fertig ausgehandelt, so daß auch die Verhandlungsposition<br />
der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland durch die einstweilige Anordnung in<br />
keiner Weise geschmälert würde.<br />
Möglicherweise wird dagegen die B<strong>und</strong>esregierung geltend machen, daß <strong>das</strong> Ansehen der<br />
B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland in Europa beeinträchtigt würde, wenn durch den Erlaß einer<br />
einstweiligen Anordnung die Ratifikation hinausgeschoben würde. Dieses Argument muß<br />
jedoch mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen werden. Die Kontrolle eines <strong>Vertrag</strong>es<br />
auf seine Verfassungsmäßigkeit ist eine Handlung, die nicht geeignet ist, <strong>das</strong> internationale<br />
Ansehen eines Verfassungsstaates zu schädigen. Vielmehr zeigt sich in einer solchen<br />
Handlung – auch nach außen – wie ernst die Verfassung in Deutschland genommen wird.<br />
Dies kann <strong>das</strong> Ansehen Deutschlands in Europa nur stärken, denn ein Partner, der seine<br />
Verfassung achtet <strong>und</strong> sie nicht tagespolitischer Opportunität opfert, gewinnt damit Vertrauen<br />
auch in bezug auf die Verläßlichkeit der Wahrung der f<strong>und</strong>amentalen Wertstrukturen,<br />
die doch <strong>das</strong> gemeinsame F<strong>und</strong>ament der verfassungsstaatlichen „Wertegemeinschaft“<br />
sein sollen. Umgekehrt müßte man sich fragen, was <strong>das</strong> für eine „Wertegemeinschaft“ wäre,<br />
in der die Achtung der Verfassung <strong>und</strong> die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit staatlichen<br />
Handelns außenpolitischen Schaden verursachen könnten. – Abgesehen hier<strong>von</strong> hat<br />
sich bei anderer Gelegenheit gezeigt, daß die <strong>Vertrag</strong>sstaaten der Europäischen Gemeinschaft<br />
zwar kritisch, aber doch gelassen darauf reagiert haben, daß der britische Premierminister<br />
Major die Ratifikation eines ähnlich bedeutsamen <strong>Vertrag</strong>swerkes, des <strong>Vertrag</strong>es<br />
<strong>von</strong> Maastricht, durch Großbritannien ohne zwingenden Gr<strong>und</strong> – aus rein parlamentstaktischen<br />
Erwägungen – auf einen Zeitpunkt verschoben hat, der weit hinter dem Zeitpunkt<br />
des vertraglich vorgesehenen Inkrafttretens lag 33 . Außenpolitische Nachteile sind Großbritannien<br />
durch diese Verschiebung offenk<strong>und</strong>ig nicht entstanden. Um so weniger können<br />
der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland durch eine Aufschiebung der Ratifikation außenpolitische<br />
Nachteile entstehen, wenn diese Aufschiebung aus Gründen der verfassungsgerichtlichen<br />
Kontrolle notwendig ist <strong>und</strong> <strong>das</strong> Inkrafttreten des <strong>Vertrag</strong>es dadurch nicht oder jedenfalls<br />
nicht wesentlich verzögert wird.<br />
33 FAZ v. 6.11.1992.