Der Vertrag von Lissabon und das Grundgesetz - Dr. Peter Gauweiler
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Murswiek, Gutachten <strong>Vertrag</strong> <strong>von</strong> <strong>Lissabon</strong> 92<br />
aus dem Umstand, daß <strong>das</strong> Gr<strong>und</strong>gesetz offen für die Übertragung <strong>von</strong> Hoheitsrechten an<br />
„zwischenstaatliche Einrichtungen“ (Art. 24) 169 <strong>und</strong> für den Dienst am Frieden der Welt<br />
„als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa“ (Präambel) in keiner Weise, daß<br />
<strong>das</strong> Gr<strong>und</strong>gesetz damit die Unterwerfung unter Mehrheitsentscheidungen in supranationalen<br />
Organisationen zuläßt. Zunächst einmal ist eine Mitarbeit in „zwischenstaatlichen Einrichtungen“<br />
durchaus auf der Basis des Einstimmigkeitsprinzips möglich <strong>und</strong> sinnvoll.<br />
Zwischenstaatlichkeit <strong>und</strong> Zusammenarbeit der Staaten in Europa als gleichberechtigte<br />
Glieder setzen keineswegs Mehrheitsentscheidungen notwendig voraus. Mit dem Hinweis<br />
auf die Entscheidung des Verfassunggebers für die Integrationsoffenheit hat <strong>das</strong> B<strong>und</strong>esverfassungsgericht<br />
also die Ermächtigung des Gr<strong>und</strong>gesetzes, bei der Übertragung <strong>von</strong><br />
Hoheitsrechten sich Mehrheitsentscheidungen zu unterwerfen <strong>und</strong> die Unterbrechung der<br />
auf <strong>das</strong> deutsche Staatsvolk zurückgehenden Legitimationskette damit zu akzeptieren, lediglich<br />
implizit behauptet, aber nicht begründet. Die Ansicht, mit dem Zustimmungsgesetz<br />
zu einem <strong>Vertrag</strong>, der Hoheitsrechte auf eine supranationale Gemeinschaft überträgt, durch<br />
welche diese die Befugnis zur Rechtsetzung nach dem Mehrheitsprinzip erhält, werde die<br />
demokratische Legitimation aller Rechtsetzungsakte begründet, die aus dieser vertraglichen<br />
Rechtsetzungsermächtigung folgen, ist mit dem Demokratieprinzip unvereinbar.<br />
Denn dieses legitimiert Herrschaft immer nur als Herrschaft auf Zeit. Die Entscheidungen<br />
aber, die im Rat der Europäischen Union auf der Basis des Mehrheitsprinzips getroffen <strong>und</strong><br />
vom deutschen Vertreter im Rat daher nicht verhindert werden können, lassen sich nicht<br />
mit der Begründung auf den Willen des deutschen Volkes zurückführen, daß – <strong>von</strong> diesem<br />
ausgehend – vor langer Zeit die generelle Ermächtigung zu Mehrheitsentscheidungen über<br />
bestimmte Regelungsmaterien erteilt worden sei. Demokratie setzt voraus, daß mit der<br />
Wahlentscheidung auf die Richtung der Politik Einfluß genommen werden kann. Dies ist<br />
aber nicht mehr möglich, wenn es auf die deutsche Stimme im Rat, die mit der Wahlentscheidung<br />
beeinflußt wird, gar nicht mehr ankommt.<br />
Dies bedeutet nicht zwangsläufig, daß der Rat der Europäischen Union zu Rechtsetzungsentscheidungen<br />
nach dem Mehrheitsprinzip überhaupt nicht ermächtigt werden dürfte. Es<br />
bedeutet zunächst einmal lediglich, daß dies anders begründet werden müßte als <strong>das</strong> B<strong>und</strong>esverfassungsgericht<br />
dies versucht hat. Ein anderer Begründungsansatz ist in der Literatur<br />
häufig vorgetragen worden: Wenn <strong>und</strong> solange an die Europäische Gemeinschaft (beziehungsweise<br />
jetzt an die Europäische Union) nur sektoral begrenzte <strong>und</strong> im einzelnen präzise<br />
bestimmte Rechtsetzungskompetenzen übertragen werden oder wenn <strong>und</strong> solange <strong>das</strong><br />
Mehrheitsprinzip bei Rechtsetzungsentscheidungen im Rat nur in bezug auf sektoral begrenzte<br />
<strong>und</strong> im einzelnen präzis bestimmte Rechtsetzungskompetenzen zur Anwendung<br />
kommt, kann man argumentieren, daß hierin keine wesentliche Beeinträchtigung des demokratischen<br />
Legitimationsprinzips liege, sondern nur eine relativ geringfügige Modifikation.<br />
Eine solche geringfügige Abweichung könne hingenommen werden, zumal in bezug<br />
nächsten Jahrzehnte ziehen. Aber ist es wirklich so kleinliche Juristenmäkelei, die Geltung des Demokratieprinzips<br />
auch für die europäische Integration einzufordern? Darf <strong>das</strong>, was historisch groß sein soll,<br />
<strong>und</strong>emokratisch sein?<br />
169 Ich weise nochmals darauf hin, daß Art. 23 GG n.F. die vom Verfassunggeber vorgenommene Öffnung<br />
für die europäische Integration nicht über <strong>das</strong> <strong>von</strong> Art. 24 i.V.m. der Präambel vorgenommene Ausmaß<br />
hinaus ausdehnen konnte, s.o. • Fn. 62.