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3. Die überlange Dauer von Strafverfahren - Materiellrechtliche und

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Schriften zum Strafrecht<br />

Heft 89<br />

<strong>Die</strong> <strong>überlange</strong> <strong>Dauer</strong> <strong>von</strong><br />

<strong>Strafverfahren</strong><br />

<strong>Materiellrechtliche</strong> <strong>und</strong> prozessuale Rechtsfolgen<br />

Von<br />

Dr. inr. Dr. phil. Uwe Scheffler<br />

Privatdozent an der Freien Universität Berlin<br />

Duncker & Humblot . Berlin


<strong>Die</strong> Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme<br />

Schemer, Uwe:<br />

<strong>Die</strong> <strong>überlange</strong> <strong>Dauer</strong> <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong> : materiellrechtliche<br />

<strong>und</strong> prozessuale Rechtsfolgen / <strong>von</strong> Uwe Scheffler. - Berlin :<br />

Duncker <strong>und</strong> Humblot, 1991<br />

(Schriften zum Strafrecht ; H. 89)<br />

Zugl.: Berlin, Freie Univ., Habil.-Schr., 1990/91<br />

ISBN 3-428-07244-8<br />

NE:GT<br />

Meinen Eltern<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

© 1991 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41<br />

Fremddatenübemahme: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61<br />

Druck: Druckerei Gerike GmbH, Berlin 36<br />

Printed in Germany<br />

ISSN 0558-9126<br />

ISBN 3-428-07244-8


Vorwort<br />

<strong>Die</strong>se Arbeit hat dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität<br />

Berlin im Wintersemester 1990/91 als Habilitationsschrift vorgelegen.<br />

Literatur <strong>und</strong> Rechtsprechung sind bis November 1990 berücksichtigt; auf<br />

Neueres, insbesondere das Einstellungsurteil des LG Berlin im sog. "Schmücker­<br />

Verfahren" 1, habe ich gelegentlich noch in den Fußnoten hingewiesen.<br />

Ich habe vielfältigen Dank abzustatten. <strong>Die</strong>s gilt zuallererst für Herrn Prof.<br />

Dr. Axel Montenbruck, der mir in den Jahren, die ich an seinem Lehrstuhl tätig<br />

war, wohlwollendste Förderung zuteil werden ließ. Ohne seine ständige Anteilnahme<br />

unter Gewährung wissenschaftlichen <strong>und</strong> zeitlichen Freiraums wäre die<br />

Entstehung dieser Arbeit kaum möglich gewesen. Ihm fühle ich mich zutiefst<br />

verpflichtet. Zu danken habe ich auch Herrn Prof. Dr. Klaus Geppert für zahlreiche<br />

Anregungen <strong>und</strong> die schnelle Erstellung des Zweitgutachtens. Ferner gilt mein<br />

Dank meinen Assistentenkollegen, den Herren Gero Meinen <strong>und</strong> Thomas Babel,<br />

die in fre<strong>und</strong>schaftlicher Solidarität so manche durch meine Habilitation bedingte<br />

Mehrlast getragen haben. Herr Assessor Günter Räcke hat durch einige scharfsinnige<br />

Gedanken meine Überlegungen gefördert. Es ist mir insbesondere auch ein<br />

großes Bedürfnis, Frau Sabine Rabbel meine Dankbarkeit dafür auszusprechen,<br />

daß sie die ganzen Jahre über das sich ständig verändernde Manuskript mit<br />

größter Sorgfalt <strong>und</strong> Zuverlässigkeit erstellt hat. Herrn Professor Norbert Simon<br />

<strong>und</strong> seinen Mitarbeitern danke ich für die verlegerische Betreuung.<br />

Meine Eltern haben meinen wissenschaftlichen Werdegang in jeder nur denkbaren<br />

Hinsicht beständig gefördert. Ihnen widme ich dieses Buch.<br />

Berlin, im September 1991<br />

Uwe Scheffler<br />

1 Nunmehr als Dokumentation abgedruckt in StV 1991, S. 371 - 397; ich habe das<br />

Urteil in einem Aufsatz für die JZ ausführlicher besprochen.


,11<br />

Inhaltsübersicht<br />

Einleitung 19<br />

Erster Teil<br />

Gr<strong>und</strong>lagen der Rechtsfolgenbestimmung <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer _<br />

Forschungsstand, Beschl~.unigungsproblematik,<br />

Begriff der Uberlänge 21<br />

1. Kap.: Überblick über den Forschungsstand. Zur Notwendigkeit weiterer Erörterung<br />

der Rechtsfolgen 21<br />

2. Kap.: Schwierigkeiten der Beschleunigung <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong>. Zur Relevanz<br />

eines umfassenden Rechtsfolgensystems 49<br />

<strong>3.</strong> Kap.: Aufgliederung des Begriffs der <strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer. Zur Ermöglichung<br />

neuer Rechtsfolgenbestimmung 105<br />

Zweiter Teil<br />

<strong>Die</strong> einzelnen Rechtsfolgen ­<br />

Freispruch, Einstellung, Beweiserleichterung,<br />

Strafmilderung, Entschädigung 131<br />

4. Kap.: Freispruch wegen Verwirkung des Strafanspruchs 134<br />

5. Kap.: Einstellung wegen Verletzung <strong>von</strong> Verfahrensrecht 155<br />

6. Kap.: Beweiserleichterung wegen Unterganges <strong>von</strong> Beweismitteln........... 184<br />

7. Kap.: Strafmilderung wegen Strafzumessungsrelevanz 201<br />

8. Kap.: Entschädigung wegen Schadenszufügung 262<br />

Schlußbetrachtung 271<br />

Anhang: Auszüge aus nicht (vollständig) veröffentlichten höchstrichterlichen<br />

Entscheidungen zu den Rechtsfolgen <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer .... 276<br />

Schrifttumsverzeichnis 283


Inhaltsverzeichnis<br />

Einleitung<br />

19<br />

Erster Teil<br />

Gr<strong>und</strong>lagen der Rechtsfolgenbestimmung <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer ­<br />

Forschungsstand, Beschleunigungsproblematik,<br />

Begriff der Überlänge 21<br />

Erstes Kapitel<br />

Überblick über den Forschungsstand<br />

Zur Notwendigkeit weiterer Erörterung der Rechtsfolgen 21<br />

A. Entwicklung zur heute herrschenden Meinung 23<br />

I. Der Weg der Rechtsprechung.............................................. 23<br />

1. BGHSt 21, 81 24<br />

2. BGHSt 24, 239 27<br />

<strong>3.</strong> BVerfG (Vorprüfungsausschuß), NJW 1984,967 30<br />

4. BGHSt 35, 137 33<br />

II. Der Diskussionsstand in der Literatur 36<br />

1. Zur Verfahrensdauer allgemein 36<br />

2. Zu den Rechtsfolgen <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer 39<br />

B. Kritik der heute herrschenden Meinung 42<br />

I. Zum qualitativen Umschlagen in den Extremfall <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer<br />

42<br />

11. Zum Vorliegen <strong>von</strong> Verzögerungen....................................... 43<br />

III. Zur dogmatischen Begründung 45<br />

Zweites Kapitel<br />

Schwierigkeiten der Beschleunigung <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong><br />

Zur Relevanz eines umfassenden Rechtsfolgensystems 49<br />

A. Verfahrensbeschleunigung durch den Gesetzgeber............................. 49<br />

I. Verhinderung <strong>von</strong> Verzögerungen......................................... 51<br />

I. Fristsetzungen 51<br />

2. Personelle <strong>und</strong> organisatorische Maßnahmen 54<br />

II. Vereinfachungen der Verfahrensstruktur 56<br />

I. Strafprozeßreforrn - Einige Beispiele 56<br />

a) <strong>Die</strong> Argumentation des Gesetzgebers 58<br />

b) Zur empirischen Absicherung 59<br />

c) Zur Problematik <strong>von</strong> Strukturänderungen 61<br />

aa) <strong>Die</strong> Rügepräklusion gemäß § 222 b StPO 62<br />

bb) Das Selbstleseverfahren gemäß § 249 II StPO 63


8 Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis 9<br />

d) Das Problem <strong>von</strong> Fristverlängerungen 66<br />

e) <strong>Die</strong> Nichtverfolgung gemäß § 154 I Nr. 2 StPO 68<br />

2. Reformvorschläge - Einige Beispiele 70<br />

a) Neuerungen für das Strafprozeßrecht 70<br />

b) Übertragungen aus dem Ordnungswidrigkeitenrecht 71<br />

aa) Der Umfang der Beweisaufnahme gemäß § 77 OWiG 72<br />

bb) <strong>Die</strong> Zulassung der Rechtsbeschwerde gemäß § 80 OWiG 74<br />

B. Verfahrensbeschleunigung durch den Beschuldigten........................... 75<br />

I. Obliegenheit des Beschuldigten? 76<br />

11. Befugnis des Beschuldigten 77<br />

I. Anträge (i.w. S.) an das verzögernde Organ........................... 77<br />

a) Antrag <strong>und</strong> Gegenvorstellung 77<br />

b) Ablehnungsgesuch wegen Befangenheit 78<br />

aa) Verfahrensverzögerung 78<br />

bb) Nicht- oder Falschbescheidung 80<br />

2. Rechtsbehelfe (i. w. S.) 82<br />

a) Beschwerde, § 304 StPO 82<br />

b) Antrag auf gerichtliche Entscheidung, §§ 23 ff. EGGVG 85<br />

c) <strong>Die</strong>nstaufsichtsbeschwerde 87<br />

d) Strafanzeige 89<br />

aa) Zur Strafbarkeit des Amtsträgers bei grammatikalischer Auslegung<br />

der §§ 336,258 a StGB 91<br />

bb) Zur Straflosigkeit des Amtsträgers bei restriktiver Interpretation<br />

der §§ 336, 258 a StGB 93<br />

e) Wiederaufnahme des Verfahrens, § 359 StPO 97<br />

f) Verfassungs- <strong>und</strong> Menschenrechtsbeschwerde 98<br />

aa) Verfassungsbeschwerde 99<br />

bb) Menschenrechtsbeschwerde 103<br />

Drittes Kapitel<br />

Aufgliederung des Begriffs der <strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer<br />

Zur Ermöglichung neuer Rechtsfolgenbestimmung 105<br />

A. Zur Unterscheidung <strong>von</strong> Verfahrenslänge <strong>und</strong> -verzögerungen 107<br />

I. Untersuchungshaftdauer 108<br />

11. Verfahrensdauer 109<br />

B. Zur Einordnung mit Hilfe des Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satzes 111<br />

I. Geeignetheit <strong>und</strong> überflüssiges Tun 112<br />

11. Erforderlichkeit <strong>und</strong> Verzögerungen 113<br />

III. Proportionalität <strong>und</strong> <strong>Dauer</strong> 117<br />

I. Verjährung als abschließende Regelung.. 117<br />

2. Aufhebung des Haftbefehls als Hilfserwägung 118<br />

<strong>3.</strong> Entkriminalisierung <strong>von</strong> Bagatellsachen als Konsequenz 119<br />

a) <strong>Die</strong> vereinfachten Kriminalstrafverfahren 120<br />

b) <strong>Die</strong> entkriminalisierten Verfahren 122<br />

IV. Zumutbarkeit <strong>und</strong> Belastungen 124<br />

V. "Vernünftigkeit" <strong>und</strong> Gesamtwürdigung 126<br />

Zweiter Teil<br />

<strong>Die</strong> einzelnen Rechtsfolgen ­<br />

Freispruch, Einstellung, Beweiserleichterung,<br />

Strafmilderung, Entschädigung 131<br />

Viertes Kapitel<br />

Freispruch wegen Verwirkung des Strafanspruchs 134<br />

A. Zur Verwirkbarkeit des Strafanspruchs 138<br />

I. Verwirkung durch Arglist 141<br />

I. Rügeverwirkung zu Lasten des Beschuldigten 141<br />

2. Verzögerung zwecks Verurteilung 143<br />

11. Verwirkung durch Zeitablauf 145<br />

I. Rechtsbehelfsverwirkung zu Lasten des Beschuldigten............... 146<br />

2. Enttäuschung berechtigten Vertrauens 147<br />

B. Zum Freispruch infolge Srafaufhebungsgr<strong>und</strong>es 151<br />

Fünftes Kapitel<br />

Einstellung wegen Verletzung <strong>von</strong> Verfahrensrecht 155<br />

A. Überlange Verfahrensdauer als Verfahrenshindernis 155<br />

I. Verfahrensdauer <strong>und</strong> Verjährung 156<br />

11. Verfahrensbelastungen <strong>und</strong> Verhandlungsunfähigkeit 160<br />

III. Verfahrensverzögerungen <strong>und</strong> Verfahrenshindernis praeter legern 162<br />

I. Menschenrechtskonvention <strong>und</strong> Einstellung 163<br />

2. Strafprozeßordnung <strong>und</strong> Einstellung 164<br />

B. Schwerwiegende Rechtsstaatswidrigkeit als Verfolgungsverbot 165<br />

I. Der Meinungswandel zum Verfolgungsverbot 165<br />

1. "Ein" Vorprüfungsausschuß des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts 166<br />

2. Der <strong>3.</strong> Strafsenat des B<strong>und</strong>esgerichtshofs.............................. 168<br />

11. Der qualitative Sprung zum Verfolgungsverbot 169<br />

1. Rechtsverweigerung 171<br />

2. Verfahrensstillstand 173<br />

<strong>3.</strong> Willkür 174<br />

4. Irreparabilität 176<br />

a) Beweismittelverlust durch Verzögerungen 177<br />

b) Rechtsverluste durch sonstige Rechtsstaatswidrigkeiten . .. . 179<br />

Sechstes Kapitel<br />

Beweiserleichterung wegen Unterganges <strong>von</strong> Beweismitteln 184<br />

A. Beweisverlust - <strong>Die</strong> Ausgangslage 184<br />

B. Beweisvereitelung - Das Extrem 186<br />

I. <strong>Die</strong> gesetzlichen Anknüpfungspunkte 187<br />

1. Beeinträchtigung des Erinnerungsvermögens, § 136 all StPO 187<br />

2. Beseitigung einer Urk<strong>und</strong>e, § 444 ZPO 188


----~-----~----<br />

10 Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis<br />

II<br />

11. <strong>Die</strong> rechtlichen Parallelen 188<br />

1. Indizbeweis <strong>und</strong> Alibi 190<br />

2. Indizbeweis <strong>und</strong> Blutalkoholkonzentration 191<br />

III. <strong>Die</strong> praktische Umsetzung 193<br />

C. Unterlasselle Beweissicherung - Der Hauptfall 194<br />

I. Freie Beweiswürdigung - <strong>Die</strong> faktische Gleichstellung mit dem Beweisverlust<br />

194<br />

11. Beweiserleichterung - <strong>Die</strong> normative Gleichstellung mit der Beweisvereitelung<br />

197<br />

1. Verspätete Beweiserhebung - <strong>Die</strong> erste Sorgfaltspflichtverletzung 197<br />

2. Verkennung der Sicherungsbedürftigkeit - <strong>Die</strong> zweite Sorgfaltspflichtverletzung<br />

198<br />

Siebtes Kapitel<br />

Strafmilderung wegen Strafzumessungsrelevanz 201<br />

A. Verzögerungen als Strafzumessungsgr<strong>und</strong> 201<br />

I. Flexibilität - Das pragmatische Argument 202<br />

1. Erste Probleme mit der Strafzumessungslösung 202<br />

2. Das Versagen der Strafzumessungslösung 205<br />

11. Strafzumessungsirrelevanz - Der dogmatische Einwand 206<br />

1. Zum schuldabhängigen Milderungsgr<strong>und</strong> 207<br />

2. Zum schuldunterschreitenden Milderungsgr<strong>und</strong> 208<br />

B. Tatfeme als Strafzumessungsgr<strong>und</strong> 211<br />

I. Verringertes Strafbedürfnis <strong>und</strong> Stratböhenbemessung 212<br />

1. Sprunghafter Wegfall? - Das Verhältnis zur Verfolgungsverjährung 214<br />

2. Kontinuierliche Abschwächung? - Das Verhältnis zur Integrationsprävention<br />

217<br />

11. Verbesserte Sozialprognose <strong>und</strong> Strafaussetzung zur Bewährung 218<br />

C. Belastungen als Strafzumessungsgr<strong>und</strong> 219<br />

I. Verzögerungen <strong>und</strong> Belastungen........................................... 220<br />

1. Belastungen als abgeleiteter Strafzumessungsfakor 220<br />

2. Belastungen als selbständiger Strafzumessungsfaktor 223<br />

11. Verfahrensdauer <strong>und</strong> Belastungen 224<br />

1. Anrechnung - Der objektive Maßstab 224<br />

a) Zur Anrechenbarkeit <strong>von</strong> Untersuchungshaft 227<br />

b) Zur Anrechenbarkeit <strong>von</strong> Verfahrensbelastungen 228<br />

2. Schon-bestraft-Sein - Der gemischte Maßstab 230<br />

a) Anwendungsbereich 230<br />

aa) Absehen <strong>von</strong> Strafe 230<br />

bb) Strafmilderung 234<br />

cc) Strafaussetzung zur Bewährung................................ 235<br />

dd) Strafvollstreckungs- <strong>und</strong> -vollzugserleichterungen (Strafmilderung<br />

i. w. S.) 237<br />

b) Rechtsfortbildung 238<br />

III. Verschleppung <strong>und</strong> Belastungen 241<br />

1. Konfrontationsstrategie des Beschuldigten............................. 241<br />

a) Erschleichen <strong>von</strong> Strafmilderung 244<br />

b) Selbstbegünstigung 245<br />

c) Rechtsmißbrauch 247<br />

2. Kooperationsstrategie des Beschuldigten 250<br />

IV. Verfahrensbeendigung <strong>und</strong> Belastungen................................... 254<br />

1. Vor der Hauptverhandlung 255<br />

2. Während der Hauptverhandlung 256<br />

<strong>3.</strong> Nach der Hauptverhandlung............................................ 257<br />

a) Eigene Sachentscheidung des Revisionsgerichts bei Rechtsverletzung,<br />

§ 354 StPO 258<br />

b) Eigene Sachentscheidung des Revisionsgerichts bei Änderung der<br />

Rechtslage, § 354 a StPO 260<br />

Achtes Kapitel<br />

Entschädigung wegen Schadenszufügung 262<br />

A. Allgemeines Staatshaftungsrecht - Überblick über den Anwendungsbereich<br />

bei <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer 263<br />

I. Amtshaftung 263<br />

11. Aufopferung 265<br />

B. Strafrechtsentschädigungsrecht - Ausblick auf Erweiterungsmöglichkeiten<br />

hinsichtlich <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer 267<br />

I. Analoge Anwendung der Anspruchsgr<strong>und</strong>lagen, §§ 1, 2 StrEG 267<br />

II. Analoge Anwendung der Zuständigkeitsregeln, §§ 8, 9 StrEG 268<br />

Schlußbetrachtung 271<br />

Anhang: Auszüge aus nicht (vollständig) veröffentlichten höchstrichterlichen<br />

Entscheidungen zu den Rechtsfolgen <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer .... 276<br />

Schrifttumsverzeichnis 283


a. A.<br />

a. a. O.<br />

Abs.<br />

Abschn.<br />

AcP<br />

AE<br />

ÄndG<br />

a. F.<br />

AG<br />

AG Strafrecht<br />

AK<br />

AlsbE<br />

Alt.<br />

Anh.<br />

Anm.<br />

AnwBI.<br />

AO<br />

AöR<br />

ArbGG<br />

Art.<br />

AT<br />

Aufl.<br />

AuR<br />

BA<br />

Bad.-württ. AGGVG<br />

BAG<br />

BAGE<br />

BAK<br />

BayObLG<br />

BayObLGSt<br />

Bay. StGB<br />

BayVerfGHE<br />

BB<br />

Bd.<br />

BDO<br />

Abkürzungsverzeichnis<br />

anderer Ansicht<br />

am angegebenen Ort<br />

Absatz<br />

Abschnitt<br />

Archiv für die civilistische Praxis<br />

Alternativentwurf<br />

Änderungsgesetz<br />

alte Fassung<br />

Amtsgericht<br />

Arbeitsgemeinschaft Strafrecht<br />

Alternativkommentar<br />

<strong>Die</strong> strafprozessualen Entscheidungen der Oberlandesgerichte,<br />

herausgegeben <strong>von</strong> Alsberg <strong>und</strong> Friedrich<br />

Alternative<br />

Anhang<br />

Anmerkung<br />

Anwaltsblatt<br />

Abgabenordnung<br />

Archiv des öffentlichen Rechts<br />

Arbeitsgerichtsgesetz<br />

Artikel<br />

Allgemeiner Teil<br />

Auflage<br />

Arbeit <strong>und</strong> Recht<br />

= Blutalkohol<br />

Baden-württembergisches Gesetz zur Ausführung des Gerichtsverfassungsgesetzes<br />

B<strong>und</strong>esarbeitsgericht<br />

Entscheidungen des B<strong>und</strong>esarbeitsgerichts<br />

Blutalkoholkonzentration<br />

Bayerisches Oberstes Landesgericht<br />

Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts in<br />

Strafsachen<br />

Bayerisches Strafgesetzbuch<br />

Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes<br />

Der Betriebs-Berater<br />

Band<br />

B<strong>und</strong>esdisziplinarordnung<br />

bearb.<br />

BEG<br />

Begr.<br />

Bf.<br />

BFH<br />

BGB<br />

BGH<br />

BGHR<br />

BGHSt<br />

BGHZ<br />

BonnKomm<br />

BRat<br />

BRatE<br />

BR-DrS<br />

BSG<br />

BT<br />

BT-DrS<br />

BtMG<br />

BVerfG<br />

BVerfGE<br />

BVerfGG<br />

BVerwG<br />

BZRG<br />

bzw.<br />

ca.<br />

CD<br />

Cilip<br />

DAR<br />

DAV<br />

DB<br />

ders.<br />

d. h.<br />

Diss.<br />

DJT<br />

DJZ<br />

DNotZ<br />

DÖV<br />

dpa<br />

DR<br />

DR<br />

DRB<br />

DRiG<br />

DRiZ<br />

Abkürzungsverzeichnis 13<br />

bearbeitet<br />

B<strong>und</strong>esentschädigungsgesetz<br />

Begründung<br />

Beschwerdeführer<br />

B<strong>und</strong>esfinanzhof<br />

Bürgerliches Gesetzbuch<br />

B<strong>und</strong>esgerichtshof<br />

BGH-Rechtsprechung in Strafsachen<br />

Entscheidungen des B<strong>und</strong>esgerichtshofs in Strafsachen<br />

Entscheidungen des B<strong>und</strong>esgerichtshofs in Zivilsachen<br />

Bonner Kommentar zum Gr<strong>und</strong>gesetz<br />

B<strong>und</strong>esrat<br />

Gesetzesentwurf des B<strong>und</strong>esrates<br />

Drucksachen des Deutschen B<strong>und</strong>esrates<br />

B<strong>und</strong>essozialgericht<br />

Besonderer Teil<br />

Drucksachen des Deutschen B<strong>und</strong>estages<br />

Betäubungsmittelgesetz<br />

B<strong>und</strong>esverfassungsgericht<br />

Entscheidungen des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts<br />

Gesetz über das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht<br />

B<strong>und</strong>esverwaltungsgericht<br />

B<strong>und</strong>eszentralregistergesetz<br />

beziehungsweise<br />

circa<br />

Collection of Decisions, Sammlung der Entscheidungen der<br />

Europäischen Kommission für Menschenrechte<br />

Bürgerrechte <strong>und</strong> Polizei<br />

Deutsches Autorecht<br />

Deutscher Anwaltverein<br />

Der Betrieb<br />

derselbe<br />

das heißt<br />

Dissertation<br />

Deutscher Juristentag<br />

Deutsche Juristenzeitung<br />

Deutsche Notar-Zeitschrift<br />

<strong>Die</strong> Öffentliche Verwaltung<br />

Deutsche Presse-Agentur<br />

Decisions and Reports, Sammlung der Entscheidungen <strong>und</strong><br />

Berichte der Europäischen Kommission für Menschenrechte<br />

Deutsches Recht<br />

Deutscher Richterb<strong>und</strong><br />

Deutsches Richtergesetz<br />

Deutsche Richterzeitung


14 Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis 15<br />

DuR<br />

DVBl.<br />

E 1962<br />

EGGVG<br />

EGH<br />

EGMR<br />

EGMR<br />

EGOWiG<br />

EGStGB<br />

Einl.<br />

EKMR<br />

EMRK<br />

etc.<br />

EuGRZ<br />

evtl.<br />

EZSt<br />

f.<br />

ff.<br />

FamRZ<br />

FG<br />

Fn.<br />

FS<br />

GA<br />

GebGabe<br />

GebColloquium<br />

gern.<br />

GerS<br />

gesetzl.<br />

GG<br />

ggf.<br />

GKG<br />

GS<br />

GVG<br />

Ha1bbd.<br />

HansOLG<br />

HdB<br />

HESt<br />

h. L.<br />

RR<br />

Hrsg.<br />

hrsg.<br />

Demokratie <strong>und</strong> Recht<br />

Deutsches Verwaltungsblatt<br />

Regierungsentwurf eines Strafgesetzbuches (E 1962),<br />

BT-DrS IV/650<br />

Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz<br />

Ehrengerichtshof<br />

Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte<br />

(Deutsche Übersetzung)<br />

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte<br />

Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten<br />

Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch<br />

Einleitung<br />

Europäische Kommission für Menschenrechte<br />

Europäische Menschenrechtskonvention<br />

et cetera<br />

Europäische Gr<strong>und</strong>rechte-Zeitschrift<br />

eventuell<br />

Entscheidungssammlung zum Straf- <strong>und</strong> Ordnungswidrigkeitenrecht<br />

folgende<br />

fortfolgende<br />

Zeitschrift für das gesamte Familienrecht<br />

Festgabe<br />

Fußnote<br />

Festschrift<br />

Goltdammer's Archiv für Strafrecht<br />

Geburtstagsgabe<br />

Geburtstagscolloquium<br />

gemäß<br />

Der Gerichtssaal<br />

gesetzlich<br />

Gr<strong>und</strong>gesetz<br />

gegebenenfalls<br />

Gerichtskostengesetz<br />

Gedächtnisschrift<br />

Gerichtsverfassungsgesetz<br />

Halbband<br />

Hanseatisches Oberlandesgericht<br />

Handbuch<br />

Höchstrichterliche Entscheidungen. Sammlung <strong>von</strong> Entscheidungen<br />

der Oberlandesgerichte <strong>und</strong> der Obersten Gerichte in<br />

Strafsachen<br />

herrschende Lehre<br />

Höchstrichterliche Rechtsprechung<br />

Herausgeber<br />

herausgegeben<br />

HWiStR<br />

i. d. F.<br />

Information<br />

insbes.<br />

IntKomm<br />

IPBR<br />

i. S. d.<br />

i. S. v.<br />

iur.<br />

i. w. S.<br />

JA<br />

JGG<br />

JherJb.<br />

JK<br />

JMBl. NW<br />

JR<br />

Jura<br />

JurBüro<br />

JuS<br />

Justiz<br />

JVA<br />

JVBl.<br />

JW<br />

JZ<br />

Kap.<br />

KB<br />

KG<br />

KK<br />

Kl.<br />

KMR<br />

KO<br />

KpS<br />

Krim<br />

KrimJ<br />

KritJ<br />

KritV<br />

KV<br />

l.<br />

LAG<br />

Lehrkomm.<br />

Lfg.<br />

LG<br />

1it.<br />

LK<br />

Handwörterbuch des Wirtschafts- <strong>und</strong> Steuerstrafrechts<br />

= in der Fassung<br />

Deutscher Richterb<strong>und</strong>. Information<br />

insbesondere<br />

Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention<br />

Internationaler Pakt über bürgerliche <strong>und</strong> politische Rechte<br />

im Sinne des / der<br />

im Sinne <strong>von</strong><br />

= juristisch<br />

im weiteren Sinne<br />

Juristische Arbeitsblätter<br />

Jugendgerichtsgesetz<br />

Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen<br />

Rechts<br />

Jura-Kartei<br />

= Justizministerialblatt für das Land Nordrhein-Westfa1en<br />

= Juristische R<strong>und</strong>schau<br />

= Juristische Ausbildung<br />

= Juristisches Büro<br />

= Juristische Schulung<br />

= <strong>Die</strong> Justiz<br />

= Justizvollzugsanstalt<br />

= Justizverwaltungsblatt<br />

= Juristische Wochenschrift<br />

= Juristenzeitung<br />

= Kapitel<br />

Kriminalsoziologische Bibliographie<br />

Kammergericht<br />

Kar1sruher Kommentar<br />

Kläger<br />

Kleinknecht / Müller / Reitberger<br />

Konkursordnung<br />

Kriminalpolizeiliche personenbezogene Sammlung<br />

Kriminalistik<br />

Kriminologisches Journal<br />

Kritische Justiz<br />

Kritische Vierteljahresschrift<br />

Kostenverzeichnis<br />

1etzte(r)<br />

Landesarbeitsgericht<br />

Lehrkommentar<br />

Lieferung<br />

Landgericht<br />

litera<br />

= Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch


16 Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis 17<br />

LM<br />

LR<br />

LwVG<br />

MDR<br />

m. E.<br />

MiStra<br />

MRK<br />

MschrKrim<br />

MStGB<br />

MünchKomm<br />

m. w.N.<br />

Nachtr.<br />

Nachw.<br />

Nds. AGGVG<br />

NdsRpfl.<br />

n. F.<br />

NJW<br />

NJW-RR<br />

Nr.<br />

NS<br />

NStE<br />

NStZ<br />

NuR<br />

NZVR<br />

NZWehrr<br />

ÖJZ<br />

OGH<br />

OGHBZ<br />

OGHSt<br />

OGHZ<br />

OLG<br />

OLGSt (alt)<br />

OLGSt (neu)<br />

OLGZ<br />

Olshausen's Komm.<br />

Lindenmaier / Möhring, Entscheidungen des B<strong>und</strong>esgerichtshofs<br />

Löwe / Rosenberg<br />

Gesetz über das gerichtliche Verfahren in Landwirtschaftssachen<br />

Monatsschrift für Deutsches Recht<br />

meines Erachtens<br />

Anordnung über Mitteilungen in Strafsachen<br />

(Europäische) Menschenrechtskonvention<br />

Monatsschrift für Kriminologie <strong>und</strong> Strafrechtsreform<br />

Militärstrafgesetzbuch<br />

Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch<br />

mit weiteren Nachweisen<br />

Nachtrag<br />

Nachweise<br />

Niedersächsisches Gesetz zur Ausführung des Gerichtsverfassungsgesetzes<br />

Niedersächsische Rechtspflege<br />

neue Fassung<br />

Neue Juristische Wochenschrift<br />

Neue Juristische Wochenschrift - Rechtsprechungs-Report<br />

Zivilrecht<br />

Nummer<br />

Nationalsozialismus<br />

Neue Entscheidungssammlung für Strafrecht<br />

Neue Zeitschrift für Strafrecht<br />

Natur <strong>und</strong> Recht<br />

Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht<br />

Neue Zeitschrift für Wehrrecht<br />

Österreichische Juristenzeitung<br />

Oberster Gerichtshof (Österreich)<br />

Oberster Gerichtshof für die Britische Zone<br />

Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs für die Britische<br />

Zone in Strafsachen<br />

Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs für die Britische<br />

Zone in Zivilsachen<br />

Oberlandesgericht<br />

Entscheidungen der Oberlandesgerichte zum Straf- <strong>und</strong><br />

<strong>Strafverfahren</strong>srecht (alte Folge)<br />

Entscheidungen der Oberlandesgerichte in Straf-, Ordnungswidrigkeiten-<br />

<strong>und</strong> Ehrengerichtssachen (neue Folge)<br />

Entscheidungen der Oberlandesgerichte in Zivilsachen<br />

Olshausen's Kommentar zum Strafgesetzbuch<br />

OVG<br />

OVGE<br />

OWi<br />

OWiG<br />

Polizei<br />

RdJB<br />

RegE<br />

RG<br />

RGB!.<br />

RGSt<br />

RGZ<br />

RiStBV<br />

RIGG<br />

RKG<br />

Rn.<br />

RPfleger<br />

RuP<br />

RzW<br />

S.<br />

SchlHA<br />

SchSch<br />

SchwZStR<br />

SK<br />

sog.<br />

Sp.<br />

StA<br />

StGB<br />

StPÄG<br />

StPO<br />

StrÄndG<br />

StrEG<br />

StrRG<br />

StrRK<br />

st. Rspr.<br />

StV<br />

StVÄG<br />

StVG<br />

StVollzG<br />

StVRG<br />

1. StVRGErgG<br />

StVZO<br />

teilw. abw.<br />

u. a.<br />

u. a.<br />

Oberverwaltungsgericht<br />

Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts<br />

Ordungswidrigkeit<br />

Gesetz über Ordungswidrigkeiten<br />

<strong>Die</strong> Polizei<br />

Recht der Jugend <strong>und</strong> des Bildungswesens<br />

Regierungsentwurf<br />

Reichsgericht<br />

Reichsgesetzblatt<br />

Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen<br />

Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen<br />

Richtlinien für das <strong>Strafverfahren</strong> <strong>und</strong> das Bußgeldverfahren<br />

Reichsjugendgerichtsgesetz<br />

Reichskammergericht<br />

Randnummer<br />

Der Deutsche Rechtspfleger<br />

Recht <strong>und</strong> Politik<br />

Rechtsprechung zum Wiedergutmachungsrecht<br />

Seite<br />

Schleswig-Holsteinische Anzeigen<br />

Schönke/Schröder<br />

Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht<br />

Systematischer Kommentar<br />

sogenannte(r)<br />

Spalte<br />

Staatsanwaltschaft<br />

Strafgesetzbuch<br />

Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung<br />

Strafprozeßordnung<br />

Strafrechtsänderungsgesetz<br />

Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen<br />

Gesetz zur Reform des Strafrechts<br />

Strafrechtskommission<br />

ständige Rechtsprechung<br />

Strafverteidiger<br />

<strong>Strafverfahren</strong>sänderungsgesetz<br />

Straßenverkehrsgesetz<br />

Strafvollzugsgesetz<br />

Gesetz zur Reform des <strong>Strafverfahren</strong>srechts<br />

Gesetz zur Ergänzung des Ersten Gesetzes zur Reform des<br />

<strong>Strafverfahren</strong>srechts<br />

Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung<br />

teilweise abweichend<br />

unter anderem<br />

<strong>und</strong> anderen<br />

2 Scheffler


18<br />

u. u.<br />

v.<br />

VereinfVO<br />

VereinhG<br />

Verh.<br />

VersR<br />

VfGH<br />

VG<br />

vgI.<br />

VO<br />

vorI.<br />

VRS<br />

VV<br />

VwGO<br />

wistra<br />

WM<br />

WStG<br />

ZAkDR<br />

ZaöRV<br />

z. B.<br />

ZHR<br />

zit. b.<br />

zit. n.<br />

ZPO<br />

ZRP<br />

ZSchwR<br />

ZStW<br />

Zweitbearb.<br />

ZZP<br />

Abkürzungsverzeichnis<br />

unter Umständen<br />

<strong>von</strong>, vom<br />

Vereinfachungsverordnung<br />

Vereinheitlichungsgesetz<br />

Verhandlungen<br />

Versicherungsrecht<br />

Verfassungsgerichtshof (Österreich)<br />

Verwaltungsgericht<br />

vergleiche<br />

Verordnung<br />

vorletzte(r)<br />

Verkehrsrecht-Sammlung<br />

Verwaltungsvorschriften zum Strafvollzugsgesetz<br />

Verwaltungsgerichtsordnung<br />

Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer, Strafrecht<br />

Wertpapier-Mitteilungen<br />

Wehrstrafgesetz<br />

Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht<br />

Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht <strong>und</strong> Völkerrecht<br />

zum Beispiel<br />

Zeitschrift für das gesamte Handels- <strong>und</strong> Wirtschaftsrecht<br />

zitiert bei<br />

zitiert nach<br />

Zivilprozeßordnung<br />

Zeitschrift für Rechtspolitik<br />

Zeitschrift für Schweizerisches Recht<br />

Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft<br />

Zweitbearbeitung<br />

Zeitschrift für Zivilprozeß<br />

Einleitung<br />

Es war Beccaria, der sich schon 1764 vehement gegen die <strong>überlange</strong> <strong>Dauer</strong><br />

<strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong> wandte: "Der Prozeß selber muß in möglichst kurzer Zeit<br />

abgeschlossen werden" I. Feuerbach betonte ein halbes Jahrh<strong>und</strong>ert später: "Nicht<br />

zögern ist Richterpflicht"2. Obwohl Hommel1778 meinte, man habe "in Deutschland<br />

eher Ursache, sich über Eilfertigkeit, als Verzögerung, zu beklagen"3, dürfte<br />

wohl eher da<strong>von</strong> auszugehen sein, "daß der Prozeßverschlepp jahrh<strong>und</strong>ertelang<br />

ungeheuerlich gewesen sein muß"4.<br />

Nun ist die Strafjustiz heute <strong>von</strong> solchen Zuständen weit entfernt. Überlange<br />

Verfahrensdauer hat sich erst Anfang der siebziger Jahre zu einem ernsteren<br />

Problem entwickelt 5. Gr<strong>und</strong> hierfür dürfte neben der ansteigenden Verfahrensflut<br />

die seitdem intensivere Betreibung <strong>von</strong> Wirtschaftsstrafverfahren 6, die gestiegene<br />

Aufklärungsschwierigkeit in NS-Sachen7 <strong>und</strong> der Beginn der Terroristenprozesse<br />

sein. Seitdem beschäftigen sich verstärkt Gesetzgebung, Rechtsprechung <strong>und</strong><br />

I Beccaria, Über Verbrechen <strong>und</strong> Strafen, S. 9<strong>3.</strong><br />

2 Feuerbach in: Kleine Schriften vennischten Inhalts, S. 132.<br />

3 Hommel, Des Herrn Marquis <strong>von</strong> Beccaria unsterbliches Werk <strong>von</strong> Verbrechen <strong>und</strong><br />

Strafen, S. 95; kritisch dazu auch Hillenkamp, JR 1975, S. 13<strong>3.</strong><br />

4 Kip, Das sogenannte Mündlichkeitsprinzip, S. 25; vgI. auch Vollkommer, ZZP 81<br />

(1968), S. 121 f.; Baur, Justizaufsicht <strong>und</strong> richterliche Unabhängigkeit, S. 9; Döhring,<br />

Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500, S. 28.<br />

So hatte Friedrich der Große in einem Reskript vom 31. Oktober 1765 Anlaß zu dem<br />

.Befehl, auf die Beschleunigung <strong>von</strong> Strafsachen ein besonderes Augenmerk zu richten,<br />

"daß die Inquisiten durch Verzögerung der Prozesse nicht zu viel leiden mögen" (zit.<br />

n. Kern, MschrKrimPsych 15 , S. 240 - unrichtig wiedergegeben bei Hillenkamp,<br />

JR 1975, S. 133 Fn. 3-; vgI. auch Baur, a. a. 0., S. 8 f.; Eb. Schmidt, Kammergericht<br />

<strong>und</strong> Rechtsstaat, S. 25; 27; Vollkommer, a. a. 0., S. 110 f.). Das Reichskammergericht<br />

(RKG), allerdings weniger in Strafsachen tätig (vgI. etwa Rüping, Gr<strong>und</strong>riß der<br />

Strafrechtsgeschichte, § 6 1 c bb; Weitze1, Der Kampf um die Appellation ans Reichskammergericht,<br />

S. 34 Fn. 38; unklar Schmidt-v. Rhein, NJW 1990, S. 489), hatte regelmäßig<br />

die Territorialgerichte aufgr<strong>und</strong> der gemeinrechtlichen Beschwerde wegen Justizverweigerung<br />

<strong>und</strong> Justizverzögerung (querela denegatae ve1 protractae justitiae) zu rügen<br />

(vgI. Döhring, a. a. 0., S. 28; Weitzel, a. a. 0., S.44; Vollkommer, a. a. 0., S. 121 f.;<br />

Baur, a. a. 0., S. 6; Gritschneder, DRiZ 1988, S. 453). Aber auch am RKG selbst sah<br />

es nicht besser aus (vgI. Rüping, a. a. 0., § 6 1 c aa; Vollkommer, a. a. 0., S. 121 f.;<br />

Gritschneder, a. a. 0., S. 452). So berichtet Goethe, 1772 Praktikant am RKG <strong>von</strong> der<br />

"nach <strong>und</strong> nach aufschwellenden ungeheuren Anzahl <strong>von</strong> verspäteten Prozessen" (Goethe,<br />

Aus meinem Leben - Dichtung <strong>und</strong> Wahrheit, <strong>3.</strong> Teil, 12. Buch, S. 143).<br />

5 VgI. Hammerstein in: Absprache im Strafprozeß, S.95; Wolfslast, NStZ 1990,<br />

S.41O.<br />

6 Schünemann, Verh. 58. DJT, S. B 16.<br />

7 VgI. RückerI, NS-Verbrechen vor Gericht 2 , S. 269 f.; 273 f.<br />

2*


20 Einleitung<br />

Wissenschaft mit der Thematik. <strong>Die</strong>s geschieht in unterschiedlicher Weise: Der<br />

Gesetzgeber hat sich in, wie Kohlmann meint 8 , "bislang wenig erfolgreichen<br />

Bemühungen" für eine Vereinfachung der Verfahrensstruktur eingesetzt. Von<br />

der Literatur ist die Strafprozeßreform - wenngleich auch gelegentlich kritisch<br />

- begleitet worden, wobei vor allem die Suche nach möglichen Ursachen <strong>überlange</strong>r<br />

Verfahrensdauer den Ausgangspunkt darstellte. Seit einigen Jahren beherrscht<br />

nun mehr <strong>und</strong> mehr das Thema "Verständigung im <strong>Strafverfahren</strong>" die<br />

wissenschaftliche Diskussion; sowohl das Aufkommen <strong>von</strong> Verständigungen soll<br />

danach Folge längerer Verfahrensdauer 9 als auch ihr weiterer Ausbau probates<br />

Mittel gegen lange Verfahrensdauer 10 sein. <strong>Die</strong> Rechtsprechung schließlich hat<br />

sich vor allem - bedingt durch ihre Funktion - mit im Einzelfall in Rede<br />

stehender <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer beschäftigen müssen, wobei es regelmäßig<br />

um die Frage der rechtlichen Konsequenzen für das konkrete <strong>Strafverfahren</strong><br />

gegangen ist.<br />

Das Problem der Rechtsfolgen <strong>überlange</strong>r <strong>Dauer</strong> <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong> soll Gegenstand<br />

der nachfolgenden Untersuchung sein. Sie ist insofern gerade auch<br />

darauf ausgerichtet, der Rechtsprechung Hilfestellung anzubieten. Demzufolge<br />

legt sie einen Schwerpunkt auf die kritische Überprüfung der Lösungsansätze<br />

der bisherigen Judikatur. Im 1. Kapitel des 1. Teils, der Gr<strong>und</strong>lagen der Rechtsfolgenbestimmung<br />

<strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer vorbehalten ist, wird der Meinungsstand<br />

in Rechtsprechung <strong>und</strong> Literatur erörtert. Im 2. Kapitel sind - zunächst<br />

- die Bemühungen <strong>von</strong> Gesetzgebung <strong>und</strong> Wissenschaft um eine Beschleunigung<br />

<strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong> zu betrachten. Zu prüfen ist, ob <strong>von</strong> weiteren Änderungen<br />

des Strafprozeßrechts erwartet werden könnte, <strong>überlange</strong> Verfahrensdauer rein<br />

tatsächlich zu verhindern. <strong>Die</strong>s hätte zur Folge, daß das Suchen nach Rechtsfolgen<br />

nur das Ansetzen an den Symptomen eines zu beseitigenden Mißstandes wäre.<br />

Danach ist zu erörtern, inwieweit für den Beschuldigten Möglichkeiten bestehen,<br />

drohender <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer entgegenzutreten, so daß insoweit die<br />

Einräumung umfassender Rechtsfolgen unnötig sein könnte. Im <strong>3.</strong> Kapitel soll<br />

dann der Begriff der <strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer präzisiert werden. Es ist zu<br />

fragen, nach welchen Kriterien sich entscheidet, ob ein Verfahren "überlang" ist<br />

<strong>und</strong> deshalb Rechtsfolgen auslösen soll. Im 2. Teil schließlich werden in den<br />

Kapiteln 4-8 die einzelnen in Betracht kommenden Rechtsfolgen zu diskutieren<br />

sein, wobei ein weiter Rechtsfolgenbegriff zugr<strong>und</strong>e zu legen ist: "Rechtsfolgen"<br />

sind danach nicht nur solche des <strong>3.</strong> Abschnitts des StGB (§§ 38 ff.), sondern<br />

auch sonstige, insbesondere prozeßrechtliche Konsequenzen innerhalb des <strong>Strafverfahren</strong>s.<br />

Erster Teil<br />

Gr<strong>und</strong>lagen der Rechtsfolgenbestimmung<br />

<strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer<br />

Forschungsstand, Beschleunigungsproblematik, Begriff der Überlänge<br />

Erstes Kapitel<br />

Überblick über den Forschungsstand<br />

Zur Notwendigkeit weiterer Erörterung der Rechtsfolgen<br />

<strong>Die</strong> Schwierigkeit der Rechtsfolgenbestimmung zeigt sich schon bei einem<br />

ersten Blick auf einige "Meilensteine" in der Entwicklung der Rechtsprechung<br />

zur <strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer:<br />

- 21.12.1962: Der 4. Strafsenat des BGH erklärt, der Länge des <strong>Strafverfahren</strong><br />

komme "gr<strong>und</strong>sätzlich keine rechtliche Bedeutung" zu 1.<br />

- 12.6.1966: Der 1. Strafsenat des BGH führt aus, eine Verletzung des Beschleunigungsgr<strong>und</strong>satzes<br />

habe "jedenfalls nicht ohne weiteres die Unzulässigkeit<br />

des Verfahrens zur Folge"2.<br />

- 1O. 11. 1971: Für den 2. Senat des BGH ist "nicht Verfahrenseinstellung,<br />

sondern Berücksichtigung bei der Strafzumessung das geeignete Mittel",<br />

<strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer Rechnung zu tragen <strong>3.</strong><br />

- 2.7.1974: Der 5. Strafsenat des BGH stellt ein Verfahren nach § 206a StPO<br />

ein, weil es sich "ungewöhnlich lange hingezogen" habe 4.<br />

- 24.11.1983: Ein Vorprüfungsausschuß des BVerfG befindet, "in extrem gelagerten<br />

Fällen" <strong>von</strong> Verfahrensverzögerung läge es nahe, "<strong>von</strong> Verfassungs<br />

8 Kohlmann, FS Pfeiffer, S. 210.<br />

9 Siehe etwa Schünemann, Verh. 58. DJT, S. B 16.<br />

10 Siehe etwa Schmidt-Hieber, FS Deutsche Richterakademie, S. 193 ff.: "Beschleunigung<br />

des <strong>Strafverfahren</strong>s durch Kooperation".<br />

I BOH, DAR 1963, S. 169.<br />

2 BOHSt 21, S. 81 (84).<br />

3 BOHSt 24, S. 239 (242).<br />

4 BOH, Besch!. v. 2.7.1974 - 5 StR 48/74 (Anhang 3).


22 1. Kap.: Überblick über den Forschungsstand A. Entwicklung zur heute herrschenden Meinung 23<br />

wegen ein Verfahrenshindernis unmittelbar aus dem Rechtsstaatsgebot des<br />

Gr<strong>und</strong>gesetzes abzuleiten" 5.<br />

9.12.1987: Der <strong>3.</strong> Strafsenat des BGH ordnet den Abbruch eines <strong>Strafverfahren</strong>s<br />

wegen "willkürlicher <strong>und</strong> schwerwiegender Verletzung des Beschleunigungsgebots"<br />

an, was sich "nicht notwendig mit der Annahme eines allgemeinen<br />

Verfahrenshindernisses der <strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer" decke 6.<br />

Auch ein Blickrichtungswechsel auf drei spätere Urteile in spektakulären Verfahren,<br />

<strong>und</strong> zwar einem NS-Verfahren, einem Terroristenprozeß <strong>und</strong> einer Wirtschaftsstrafsache<br />

(also in Beispielen der drei Hauptgruppen <strong>von</strong> Großverfahren7),<br />

ergibt, daß bislang die Rechtsprechung dogmatisch keinen festen Standpunkt<br />

gef<strong>und</strong>en hat:<br />

1988 hebt der 2. Strafsenat des BGH im sog. Euthanasie-Verfahren gegen<br />

Bunke <strong>und</strong> Ullrich die Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord in mindestens<br />

11.000 bzw. 4.500 Fällen zu je vier Jahren Freiheitsstrafe auf: Der Schuldspruch<br />

sei auf 9.200 bzw. 2.340 Mordfälle zu beschränken. Vor allem weil<br />

die Ermittlungsverfahren bereits vor über 28 Jahren eingeleitet wurden, verwies<br />

der BGH zur Rechtsfolgenbestimmung nicht zurück, sondern setzte<br />

selbst (vgl. § 354 I StPO) die Strafe aufdie Mindeststrafe <strong>von</strong> drei Jahren fest 8 •<br />

- Im sog. Schmücker-Verfahren, das als "längster Prozeß der deutschen Justizgeschichte"<br />

bezeichnet wird 9 , erklärte Anfang 1989 der 5. Strafsenat des<br />

BGH nach r<strong>und</strong> dreizehn Jahren Verhandlungsdauer <strong>und</strong> sieben Jahren Untersuchungshaft<br />

für die Hauptangeklagte 10 bei der dritten Urteilsaufhebung, es<br />

lägen keine "besonderen Umstände" vor, die Veranlassung gäben, das Verfahren<br />

durch Einstellung "abzubrechen"; er verwies zur vierten Hauptverhandlung<br />

über den Mordvorwurf zurück 11.<br />

Ende 1989 stellte wiederum der 2. Senat dann im sog. Herstatt-Komplex ein<br />

Verfahren anstatt der an sich gebotenen Zurückverweisung nach § 153 StPO<br />

ein: Zwar habe, sollte sich der Anklagevorwurfbestätigen, der zu zwei Jahren<br />

5 BVerfG (Vorprüfungsausschuß), NJW 1984, S. 967.<br />

6 BGHSt 35, S. 137 (142 f.).<br />

7 Vgl. K. Peters in: Strafprozeß <strong>und</strong> Refonn, S. 82; Rebmann, NStZ 1984, S. 241;<br />

Herrmann, ZStW 85 (1973), S. 256 ff.; Baumann, FS Klug, S. 463 f.<br />

8 BGH, NStZ 1989, S. 238 (239).<br />

9 Vgl. etwa Strate, DuR 1986, S. 363; J. Blau, DuR 1989, S. 251. Das eben erwähnte<br />

Euthanasie-Verfahren dauerte insofern nicht 28 Jahre, als es 16 Jahre wegen Verhandlungsunfähigkeit<br />

der Angeklagten vorläufig eingestellt war (vgl. dazu Renz, Lauter<br />

pflichtbewußte Leute, S. 126). Zuvor kam dieser Titel zunächst dem 1971 beendeten<br />

Contergan-Verfahren zu (LG Aachen, JZ 1971, S. 507 ; Bmns, FS Maurach,<br />

S. 469; Tiedemann in: <strong>Die</strong> Verbrechen in der Wirtschaft', S. 37), dann dem Majdanek­<br />

Prozeß (Renz, a.a.O., S. 144). Im Juni 1991 wurde das Schmücker-Verfahren inzwischen<br />

endgültig beendet.<br />

10 Vgl. Grünwald, StV 1987, S. 457.<br />

11 BGH, StV 1989, S. 187 (188).<br />

<strong>und</strong> sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilte Angeklagte nicht nur geringe<br />

Schuld auf sich geladen. Insbesondere aufgr<strong>und</strong> der langen Verfahrensdauer<br />

<strong>und</strong> des jahrelangen Verfahrensdrucks sei jedoch nunmehr trotzdem § 153<br />

StPO anwendbar 12 •<br />

A. Entwicklung zur heute herrschenden Meinung<br />

I. Der Weg der Rechtsprechung<br />

<strong>Die</strong> Entwicklung in der Dogmatik der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur<br />

<strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer ist also nicht geradlinig verlaufen. Auch die praktische<br />

Bewältigung spektakulärer <strong>Strafverfahren</strong> erweckt den Eindruck, vor allem<br />

auf Lösungen für den Einzelfall orientiert zu sein. Es scheint so, als ob der<br />

konkrete Entscheidungsdruck 13 den BGH in Fällen <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer<br />

gelegentlich veranlaßt hat, zum Erreichen des für richtig gehaltenen Ergebnisses<br />

mehr oder weniger weitreichende Modifikationen bisheriger Rechtsprechung<br />

vorzunehmen 14. Manchmal wird dies wohl dadurch hervorgerufen, daß in einer<br />

früheren höchstrichterlichen Entscheidung ein Satz aufgestellt wurde, der dort<br />

das gewünschte Ergebnis ermöglichte, hier nun aber im Wege steht. Darüber<br />

hinaus kann die Unsicherheit der Rechtsprechung auch zu vagen <strong>und</strong> vorsichtigen<br />

Formulierungen führen, mit denen eine Festlegung der Rechtsentwicklung offenbar<br />

vermieden <strong>und</strong> jede Entscheidungsmöglichkeit für die Zukunft offengehalten<br />

werden soll. Dann ist aber nicht auszuschließen, daß genau diese Rechtsfrage<br />

bald wieder zu entscheiden ist, weil Verteidiger sie bei nächster Gelegenheit für<br />

ihre praktischen Fälle nutzbar zu machen suchen 15 <strong>und</strong> untere Gerichte dies<br />

gelegentlich aufgreifen <strong>und</strong> die Rechtsunsicherheit vergrößern 16. <strong>Die</strong>ses Problem<br />

könnte sich in Zukunft noch verstärkt stellen, da zu den nun schon seit r<strong>und</strong><br />

einem Jahrzehnt existierenden Spezialzeitschriften (NStZ, StV, wistra) einige<br />

strafrechtliche Entscheidungssammlungen (EZSt, NStE, BGHR) getreten sind,<br />

so daß praktisch "keine Entscheidung der obersten Richter mehr der Veröffentlichung"<br />

entgeht l7 •<br />

12 BGH, wistra 1990, S. 65.<br />

13 Vgl. Schlüter, Das Obiter dictum, S. 32 f.<br />

14 Vgl. dazu Hattenhauer, <strong>Die</strong> Kritik des Zivilurteils, S. 128 ff.; E. Schneider, MDR<br />

1971, S. 184.<br />

15 Vgl. Bmns, NStZ 1985, S. 565; Hillenkamp, NJW 1989, S. 2845 Fn. 54.<br />

16 Vgl. Strate, StV 1990, S. 39<strong>3.</strong><br />

17 E. Blankenburg, KritV 1988, S. 111.


-----------------------_ .._--- ..~~<br />

24 1. Kap.: Überblick über den Forschungsstand A. Entwicklung zur heute herrschenden Meinung 25<br />

1. BGHSt 21, 81<br />

Ein solcher Fall findet sich, vollzieht man die Entwicklung der Rechtsprechung<br />

nach, gleich am Anfang der Historie: Nachdem die erwähnte Entscheidung des<br />

4. Strafsenats des BGH 18, Verfahrensdauer sei für die Rechtsfolgen schlechterdings<br />

unbeachtlich, kaum auf Resonanz stieß 19 <strong>und</strong> auch nur relativ entlegen<br />

veröffentlicht wurde, hat 1966 der 1. Strafsenat seine Entscheidung sogar in die<br />

amtliche Sammlung aufnehmen lassen (BGHSt 21,81): Ihr lag die "nicht alltägliche<br />

Revisionsrüge" eines "einfallsreichen Verteidigers" zugr<strong>und</strong>e 20, wonach<br />

das Recht des Beschuldigten "auf alsbaldige <strong>und</strong> schnelle Verhandlung" nach<br />

Art. VII Abs. 91it. ades NATO-Truppenstatuts durch die lange Verfahrensdauer<br />

nicht gewahrt worden sei, was zur Einstellung des Verfahrens zwinge. Das LG<br />

Bad Kreuznach als Instanzengericht hatte dies apodiktisch abgelehnt 21 . Der Senat<br />

führte aus, eine Verletzung des Beschleunigungsgr<strong>und</strong>satzes habe - auch unter<br />

dem Blickwinkel <strong>von</strong> Art. 6 I EMRK, der Gehör innerhalb einer "angemessenen<br />

Frist" garantiert - "jedenfalls nicht ohne weiteres" die Unzulässigkeit des Verfahrens<br />

zur Folge 22 • Zwar möge eine gewisse Verzögerung eingetreten <strong>und</strong> das<br />

staatsanwaltschaftliehe Ermittlungsverfahren etwas unzulänglich gefördert worden<br />

sein; unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der Schwere des<br />

Tatvorwurfs (Totschlag), sei es aber zweifelhaft, ob das Recht des Beschuldigten<br />

auf alsbaldige <strong>und</strong> schnelle Verhandlung in nennenswertem Maß verletzt worden<br />

sei 2<strong>3.</strong> Immerhin erging das angefochtene tatrichterliche Urteil auch nur gut eineinhalb<br />

Jahre nach Tat <strong>und</strong> Verhaftung des Beschuldigten 24 •<br />

<strong>Die</strong>se Entscheidung beschäftigte in den nächsten Jahren Literatur <strong>und</strong> Rechtsprechung.<br />

Unklarheiten entstanden nicht zuletzt dadurch, daß der Senat im<br />

Leitsatz der Entscheidung lediglich formulierte: "nicht ohne weiteres", also das<br />

Wort "jedenfalls" wegließ 25. So waren demzufolge zwei Interpretationen möglich<br />

26 : Zum einen die, der 1. Strafsenat habe die Möglichkeit des Verfahrenshindernisses<br />

offen gelassen 27 , aber auch die, er habe prinzipiell, beschränkt auf<br />

besondere Fälle, das Prozeßhindernis der <strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer anerkannt.<br />

18 BGH, DAR 1963, S. 169.<br />

19 Zustimmend aber Bruns, Strafzumessungsrechtl, S. 411.<br />

20 Hübner, LM NT. 1 zu NATO-Truppenstatut.<br />

21 Siehe dazu Schwenk, ZStW 79 (1967), S. 721; vgl. auch LG Duisburg, NJW 1965,<br />

S.643 (644), das die Norm überhaupt nicht erwähnt.<br />

22 BGHSt 21, S. 81 (84).<br />

23 BGHSt 21, S. 81 (82).<br />

24 Vgl. Hübner, LM NT. 1 zu NATO-Truppenstatut; Schwenk, ZStW 79 (1967),<br />

S. 721 f.<br />

25 Vgl. dazu Sarstedt / Hamm, <strong>Die</strong> Revision in Strafsachen', Rn. 515; Hattenhauer,<br />

<strong>Die</strong> Kritik des Zivilurteils, S. 145.<br />

26 Ähnlich Schwenk, ZStW 79 (1967), S. 737; JZ 1976, S. 583; Kramer, Menschenrechtskonvention,<br />

S. 59.<br />

So hat etwa kurz daraufdas OLG Stuttgart zwar im konkreten Fall Verzögerungen<br />

verneint, aber in einem obiter dictum aus dieser BGH-Entscheidung gefolgert,<br />

man könne aus einer Verletzung der genannten Bestimmung des NATO-Truppenstatuts<br />

für den Fall ihrer Mißachtung "keineswegs schlechthin" auf die Unzulässigkeit<br />

des folgenden Verfahrens schließen, sondern es müßten irgendwelche<br />

besonderen Umstände vorhanden sein, die ausnahmsweise eine Sperre des weiteren<br />

Verfahrens begründen könnten 28 •<br />

1970 nahm mit dem LG Frankfurt erstmals, soweit ersichtlich, ein Gericht an,<br />

daß aus dem Verbot <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer in Art. 6 I EMRK ein Verfahrenshindernis<br />

gefolgert werden könnte 29. Das LG Frankfurt knüpfte an den 1.<br />

Strafsenat des BGH sowie an eine Bemerkung Tiedemanns bezüglich des Contergan-Verfahrens<br />

an, das dessen Ansicht zufolge wegen Verletzung des Beschleunigungsprinzips<br />

hätte eingestellt werden müssen 30. Noch darüber hinausgehend<br />

äußerte das Landgericht, daß dann, wenn im Einzelfall die <strong>Dauer</strong> eines <strong>Strafverfahren</strong>s<br />

die angemessene Frist in Art. 6 EMRK überschritten hat, die Konsequenz<br />

nur darin bestehen könne, wegen eines Prozeßhindernisses einzustellen. Da Auslegungsrichtlinien<br />

<strong>und</strong> Präzedenzentscheidungen nicht existierten, versuchte das<br />

LG Frankfurt selbst, den Begriff der Angemessenheit i. S. v. Art. 6 I EMRK<br />

auszulegen. Zuvörderst seien sachbezogene Umstände heranzuziehen: Es sei die<br />

für das Verfahren benötigte Zeit in Verhältnis zu setzen zu der Bedeutung des<br />

Verfahrensgegenstands, dem Maß der Schuld des Beschuldigten, der Aussicht<br />

auf zuverlässige <strong>und</strong> vollständige Wahrheitsermittlung, der Straferwartung im<br />

Falle der Verurteilung, dem Umfang der Sache, dem Schwierigkeitsgrad der<br />

Ermittlungen <strong>und</strong> der Führung des Ermittlungsverfahrens 31 • Ergibt nicht schon<br />

diese Prüfung, daß ein <strong>Strafverfahren</strong> unangemessen lang sei, so ist für das LG<br />

Frankfurt weiterhin "personenbezogen" zu untersuchen, ob der Beschuldigte<br />

durch die <strong>Dauer</strong> des Verfahrens ges<strong>und</strong>heitlich <strong>und</strong> wirtschaftlich so sehr betroffen<br />

worden ist, daß dessen Fortsetzung ihm nicht mehr zugemutet werden kann 32.<br />

Ohne Bezug auf diese Entscheidungen stellte kurz darauf das LG Aachen im<br />

"Contergan-Beschluß" etwas mißverständlich fest, ein Verfahrenshindernis bestünde<br />

nicht, weil keine Vorschrift "im vorliegenden Falle" einen Verfahrensabbruch<br />

"gebieten" würde 3<strong>3.</strong><br />

27 So BGHSt 24, S.239 (243); OLG Karlsruhe, NJW 1972, S. 1907 (1909); LG<br />

Frankfurt, JZ 1971, S. 234 (235); LG Krefeld, JZ 1971, S. 733 (735).<br />

28 OLG Stuttgart, NJW 1967, S. 508 (509 f.); vgl. auch OLG Koblenz, NJW 1972,<br />

S. 404 f.; Hillenkamp, JR 1975, S. 137 Fn. 65; Schultz, MDR 1971, S. 191.<br />

29 LG Frankfurt, JZ 1971, S. 234.<br />

30 Tiedemann in: <strong>Die</strong> Verbrechen in der Wirtschaft', S. 37. Vgl. auch Schultz, MDR<br />

1971, S. 191.<br />

31 LG Frankfurt, JZ 1971, S. 234 (236).<br />

32 LG Frankfurt, JZ 1971, S. 234 (236).<br />

33 LG Aachen, JZ 1971, S. 507 (521); siehe auch StA Aachen, DRiZ 1971, S. 45.


26 1. Kap.: Überblick über den Forschungsstand A. Entwicklung zur heute herrschenden Meinung 27<br />

Dem LG Frankfurt widersprach wenige Monate später das LG Krefeld 34: Es<br />

käme nicht auf tat- <strong>und</strong> persönlichkeitsbezogene Umstände an, sondern ausschließlich<br />

darauf, ob die tatsächliche Verfahrensdauer, gemessen an der notwendigen<br />

Verfahrensdauer, unangemessen lang gewesen sei. Ob dies "ohne weiteres"<br />

die Unzulässigkeit des Verfahrens zur Folge hätte, ließ die Kammer mit Hinweis<br />

aufdie Entscheidung des 1. Strafsenats des BGH offen, da dies hier schon deshalb<br />

nicht in Betracht käme, weil der zur Revisionsaufhebung <strong>und</strong> damit zur Verfahrensdauer<br />

führende Verfahrensfehler auch auf das Verhalten der Verteidigung<br />

zurückzuführen sei 35 •<br />

Ende 1971 erwog das LG Lübeck dem Revisionsgericht zufolge, ein Verfahren<br />

wegen Verstoßes gegen Art. 6 I EMRK einzustellen 36 •<br />

Das OLG Koblenz 37 , das den 1. Strafsenat des BGH dahingehend verstand,<br />

daß dieser gr<strong>und</strong>sätzlich schon für bestimmte Fälle das Vorliegen eines Verfahrenshindernisses<br />

bejaht hätte 38, schränkte den Anwendungsspielraum zurgleichen<br />

Zeit gegenüber den genannten Landgerichten dadurch ein, daß ein Prozeßhindernis<br />

erst dann vorliegen sollte, wenn das Beschleunigungsprinzip in so unerträglicher,<br />

in so gravierender <strong>und</strong> unzumutbarer Weise verletzt sei, daß die eingetretene<br />

Verzögerung einer "Rechtsverweigerung" gleichkomme. Das OLG nahm diese<br />

Einschränkung vor, nachdem es das insgesamt über neunjährige Ermittlungs<strong>und</strong><br />

Eröffnungsverfahren als zum Teil verzögert angesehen hatte.<br />

Auch das OLG Karlsruhe knüpfte in seinem Urteil vom 20. 1. 1972 noch an<br />

die Entscheidung des 1. Strafsenats an 39 <strong>und</strong> ließ dahingestellt sein, ob unter<br />

ganz besonderen Umständen eine Verfahrensverzögerung einmal ein Verfahrenshindernis<br />

begründen könnte 40. Das OLG Karlsruhe stand allerdings vor dem<br />

Problem, daß es aufgr<strong>und</strong> jahrelanger Nichtbetreibung des Verfahrens auch bei<br />

dieser Einschränkung Art. 6 I EMRK als an sich verletzt ansah. Es hielt dem<br />

aber entgegen, daß dem Beschuldigten auferlegt sei, wollte er aus einer Verfahrensverzögerung<br />

Rechte herleiten, sein Recht auf Förderung des Verfahrens bei<br />

<strong>von</strong> ihm feststellbaren Verzögerungen mit Entschiedenheit, insbesondere mittels<br />

einer <strong>Die</strong>nstaufsichtsbeschwerde, geltend zu machen.<br />

2. BGHSt 24, 239<br />

<strong>Die</strong> Zurückhaltung der Oberlandesgerichte, auf Verfahrensverzögerungen mit<br />

Einstellungen zu reagieren, wurde durch eine Gr<strong>und</strong>satzentscheidung des 2.<br />

Strafsenats des BGH bestätigt 41 • Auch der 2. Senat stellte fest, "daß die ungewöhnlich<br />

lange <strong>Dauer</strong> des Vorverfahrens zu einem wesentlichen Teil auf unzulängliche<br />

Förderung durch die für seinen Fortgang verantwortlichen Organe<br />

zurückgeführt werden muß", <strong>und</strong> folgerte daraus einen Verstoß gegen Art. 6 I<br />

EMRK. Trotzdem lehnte der BGH jedoch die Möglichkeit des Vorliegens eines<br />

Verfahrenshindernisses gr<strong>und</strong>sätzlich <strong>und</strong> apodiktisch ab. <strong>Die</strong> Berücksichtigung<br />

bei der Strafzumessung sei "das geeignete Mittel", einer Verletzung des Beschleunigungsprinzips<br />

Rechnung zu tragen. <strong>Die</strong> Strafzumessung gewähre einen Spielraum,<br />

der ausreiche, um auf unangemessene Verzögerungen des Verfahrens zu<br />

reagieren. <strong>Die</strong>s könne in den vom Gesetz vorgesehenen Fällen bis zum völligen<br />

Absehen <strong>von</strong> Strafe gehen. Bei Vergehen könne das Verfahren nach § 153 StPO<br />

eingestellt werden, bei Verbrechen sei regelmäßig die Möglichkeit des Zurückgehens<br />

auf die gesetzliche Mindeststrafe ausreichend 42 •<br />

<strong>Die</strong>se überraschende Entscheidung läßt sich vielleicht tatsächlich, wie Kristian<br />

Kühl meint, durch die "Schubkraft" des Art. 6 I EMRK43 <strong>und</strong> durch das Wemhoff­<br />

Urteil des EGMR erklären, in dem dieser 1968 erstmalig - <strong>und</strong> zwar gegen die<br />

B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland - über eine Verletzung des Beschleunigungsprinzips<br />

zu befinden hatte 44. Der 1. Strafsenat hätte 1966 in seinermehrfach erwähnten<br />

Entscheidung das Vorliegen <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer, hielte er es für strafzumessungsrelevant,<br />

nicht einfach dahingestellt lassen dürfen 45, sofern der Beschwerdeführer,<br />

wie es regelmäßig geschieht 46 , (auch) die allgemeine Sachriige<br />

erhoben hatte 47.<br />

Der 2. Senat vertrat die Auffassung, daß die Entscheidung des 1. Senats nicht<br />

seinem Ergebnis entgegenstehen würde. Es habe sich dort nur um eine beiläufige<br />

Erörterung der Folgen eines Verstoßes gegen das Beschleunigungsprinzip gehandelt;<br />

die Worte "nicht ohne weiteres" sollten nur die vorgreifliche Beantwortung<br />

einer für die Entscheidung unerheblichen Frage vermeiden, nicht aber die Möglichkeit<br />

der Entstehung eines Verfahrenshindernisses im Gr<strong>und</strong>satz bejahen.<br />

34 LG Krefeld, IZ 1971, S. 73<strong>3.</strong><br />

35 LG Krefeld, IZ 1971, S. 733 (735).<br />

36 Vgl. BGH, Beschl. v. 2.7.1974 - 5 StR 48/74 (Anhang 3).<br />

37 OLG Koblenz, NIW 1972, S. 404.<br />

38 Vgl. auch BGH, Urt. v. 14.6.1972 - 2 StR 3/72 (Anhang 2).<br />

39 <strong>Die</strong> Entscheidung des OLG Karlsruhe erging zwar nach der Gr<strong>und</strong>satzentscheidung<br />

des 2. Senats (BGHSt 24, S. 239 vom 10.11.1971); offenbar war dieses Urteil dem OLG<br />

Karlsruhe jedoch noch nicht bekannt. Allerdings wies das OLG ebenfalls auf die ­<br />

erstmals in dem Urteil des 2. Senats ausgesprochene - Möglichkeit der Strafmilderung<br />

hin.<br />

40 OLG Karlsruhe, NIW 1972, S. 1907.<br />

41 BGHSt 24, S. 239.<br />

42 BGHSt 24, S. 239 (242 f.).<br />

43 K. Kühl, ZStW 100 (1988), S. 642. Kritisch aber Ress in: Europäischer Menschenrechtsschutz,<br />

S. 276.<br />

44 EGMR, IR 1968, S. 46<strong>3.</strong><br />

45 BGHSt 21, S. 81 (82).<br />

46 Vgl. etwa Grethlein, Problematik des Verschlechterungsverbotes im Hinblick auf<br />

die besonderen Maßnahmen des Jugendrechts, S. 29 Fn. 26a; Kodde, Zur Praxis der<br />

Beschlußverwerfung <strong>von</strong> Revisionen (§ 349 Abs. 2 StPO), S. 27. Vgl. aber auch Sarstedt /<br />

Hamm, <strong>Die</strong> Revision in Strafsachen" Rn. 10; Doller, MDR 1977, S. 370.<br />

47 Vgl. BayObLG, StV 1989, S. 394 (395); Ulsamer, FS Zeidler, S. 1804 f.


28 1. Kap.: Überblick über den Forschungsstand A. Entwicklung zur heute herrschenden Meinung 29<br />

So richtig diese Begründung im Ergebnis sein dürfte, so sind im einzelnen<br />

doch erhebliche Zweifel anzumelden. Zunächst spricht gegen die Annahme eines<br />

"unverbindlichen Schlenkers"48 durch den 1. Strafsenat, daß diese Ausführungen<br />

den Inhalt des - noch dazu einzigen - Leitsatzes der Entscheidung darstellen49,<br />

die der 1. Senat zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung für geeignet<br />

gehalten hat. Zwar sind solche Darlegungen gerade beim 1. Senat nicht unüblich,<br />

wie etwa die Senatsentscheidungen BGHSt 32,345 5 °; 35, 308 51 <strong>und</strong> StV 1986,<br />

374 52 zeigen. Sie dürften aber doch wohlbedacht sein, etwa, um damit ganz<br />

allgemein Hinweise an die Tatrichter zu geben oder um die anderen BGH-Senate<br />

zu beeinflussen5<strong>3.</strong> Zudem mag aus der Formulierung des Leitsatzes - <strong>und</strong> nur<br />

die hat der 2. Senat wiedergegeben - kaum die sprachliche Auslegung möglich<br />

sein, daß hier eine Rechtsfrage offengelassen werden sollte. <strong>Die</strong> Gedankenführung<br />

des 2. Senats dürfte allerdings dann richtig sein, wenn man das beim 1. Senat<br />

in der Begründung auftauchende Wort ,jedenfalls" mit zur Würdigung heranzieht.<br />

Selbst wenn man jedoch eine Unvereinbarkeit zwischen den beiden Entscheidungen<br />

feststellen sollte, wäre auch dann der 2. Strafsenat nicht zu einer Vorlage<br />

an den Großen Strafsenat des BGH gemäß § 136 I GVG genötigt gewesen, da<br />

die Entscheidung des 1. Senats nicht auf dieser Passage beruht 54.<br />

<strong>Die</strong> gegen die Entscheidung des 2. Senats erhobene Verfassungsbeschwerde<br />

verwarf das BVerfG mit der Begründung, die Ablehnung der Verfahrenseinstellung<br />

<strong>und</strong> die Berücksichtigung der langen Verfahrensdauer bei der Strafzumessung<br />

verstoße hier nicht gegen rechtsstaatliche Gr<strong>und</strong>sätze 55 . Allerdings deutet<br />

diese Entscheidung, was in der Literatur regelmäßig übersehen wird 56, schon an,<br />

daß in schwerwiegenderen Fällen anderes gelten könnte. <strong>Die</strong> dagegen eingelegte<br />

Menschenrechtsbeschwerde sah die Kommission als zulässig an 57. Das Verfahren<br />

konnte durch einen fre<strong>und</strong>schaftlichen Ausgleich (vgl. Art. 28 lit. b EMRK)<br />

beendet werden, nachdem dem Beschwerdeführer der Rest der dreijährigen Freiheitsstrafe<br />

nach Verbüßung <strong>von</strong> wenig mehr als einem Drittel im Gnadenwege<br />

bedingt erlassen wurde 58.<br />

48 Kramer, Menschenrechtskonvention, S. 59.<br />

49 Vgl. Bruns, MDR 1987, S. 177; vgl. aber auch Sarstedt/Hamm, <strong>Die</strong> Revision in<br />

Strafsachen 5 , Rn. 8.<br />

50 Vgl. Bruns, StV 1984, S. 389 f.<br />

51 Vgl. G. Blau, BA 1989, S. 4.<br />

52 Vgl. Metzger, GebColloquium Kielwein, S. 97.<br />

53 Vgl. Bruns, StV 1984, S. 389 f.<br />

54 Vgl. BGHSt 9, S. 24 (29); 11, S. 159 (162); 19, S. 7 (9).<br />

55 BVerfG (Vorprüfungsausschuß), Beschl. v. 21.6.1972 -<br />

hang 1).<br />

2 BvR 146/72 (An-<br />

56 Vgl. Vogler, ZStW 89 (1977), S. 781; Peukert, EuGRZ 1979, S. 264 Fn. 20.<br />

57 EKMR, CD 44 (1973), S. 81.<br />

58 Vogler, ZStW 89 (1977), S. 781 f. Siehe auch Peukert, EuGRZ 1979, S. 274.<br />

Nachdem der 2. Senat 1972 in einem Hinweis an den Tatrichter wiederholte,<br />

daß aus Art. 6 I EMRK kein Verfahrenshindernis hergeleitet werden könne,<br />

stellte 1974 der 5. Strafsenat des BGH ein <strong>Strafverfahren</strong> wegen Verstoßes gegen<br />

diese Vorschrift ein, weil die Taten erst abgeurteilt worden seien, "nachdem sich<br />

das Verfahren über die dreifache Verjährungsfrist (§ 67 Abs. 2 StGB) <strong>und</strong> annähernd<br />

2 weitere Jahre hingeschleppt hat" 59. Wenngleich der 5. Senat betonte,<br />

hierin würde sich dieses Verfahren wesentlich <strong>von</strong> demjenigen unterscheiden,<br />

das dem Urteil BGHSt 24, 239 zugr<strong>und</strong>e lag, hätte er gemäß § 136 I GVG die<br />

- für beide Entscheidungen erhebliche - Rechtsfrage, ob aus Art. 6 I EMRK<br />

ein Verfahrenshindernis herleitbar ist, dem Großen Senat vorlegen müssen. Allerdings<br />

hat die Entscheidung des 5. Senats die Rechtsentwicklung nicht beeinflußt.<br />

Selbst nicht veröffentlicht, ist sie, soweit ersichtlich, weder in der Literatur noch<br />

in der (veröffentlichten) Rechtsprechung jemals auch nur erwähnt worden. Lediglich<br />

der 5. Senat selbst zitierte die Entscheidung zwei Jahre später in einem<br />

ebenfalls unveröffentlichten Urteil mit der Bemerkung, er halte an der dort<br />

niedergelegten Auffassung nicht fest 60.<br />

In der Ablehnung der Annahme eines Verfahrenshindernisses <strong>und</strong> der Befürwortung<br />

der Berücksichtigung <strong>von</strong> Verfahrensverzögerungen in der Strafzumessung<br />

schlossen sich in der Folgezeit auch alle anderen Senate des BGH - also<br />

ebenfalls der 1. Senat - dem 2. Strafsenat an 61 . Lediglich der <strong>3.</strong> Strafsenat<br />

akzeptierte in einer Entscheidung, daß die ca. zehnjährige Verfahrensdauer vom<br />

Tatgericht nicht strafmildernd herangezogen wurde 62. Im einzelnen präzisierten<br />

vor allem der 2. <strong>und</strong> der <strong>3.</strong> Senat die "Strafzumessungslösung": Strafmilderung<br />

dürfe es nur im Rahmen der gesetzlichen Voraussetzungen geben63, <strong>überlange</strong><br />

Verfahrensdauer könne aber auch für die Strafaussetzung zur Bewährung Bedeu-<br />

59 BGH, Beschl. v. 2.7.1974 - 5 StR 48/74 (Anhang 3).<br />

60 BGH, Urt. v. 6.7.1976 - 5 StR 184/76 (Anhang 7).<br />

61 1. Senat: GA 1977, S.275; NStZ 1987, S.232; StV 1988, S.487; NStZ 1989,<br />

S.526; wistra 1990, S.20; Urt. v. 24.2.1977 - 1 StR 554/76 (Anhang 8); Urt. v.<br />

5.7.1990 - 1 StR 135/90 (Anhang 16; jetzt auch bei Deuer, NStZ 1991, S. 274).<br />

2. Senat: NStZ 1982, S.291; 1983, S. 135; 1986, S. 162; S.217; 1989, S. 238; NJW<br />

1986, S. 75; StV 1983, S. 502; 1985, S. 322; S. 411; wistra 1990, S. 65; BGHR StPO<br />

§ 154a Abs. 3 Wiedereinbeziehung 1; wohl auch BGHR StGB § 46 Abs. 2 Nachtatverhalten<br />

4 (insoweit nicht in NStZ 1987, S. 171 abgedruckt); Urt. v. 14.6.1972 - 2 StR 3/<br />

72 (Anhang 2); Urt. v. 18.2.1976 - 2 StR 566/75 (Anhang 4); Urt. v. 19.2.1976­<br />

2 StR 585/73 (Anhang 5); Urt. v. 5.1. 1978 - 2 StR 425/77 (Anhang 12).<br />

<strong>3.</strong> Senat: BGHSt 27, S. 274; 35, S. 137; StV 1982, S. 266; wistra 1982, S. 108; 1983,<br />

S. 106; bei Mösl, NStZ 1983, S. 494; Urt. v. 31.<strong>3.</strong>1976 - 3 StR 502/75 (Anhang 6).<br />

4. Senat: Urt. v. 24.11.1977 - 4 StR 459/77 (Anhang 11).<br />

5. Senat: BGH, StV 1989, S. 187 (188); bei Pfeiffer/Miebach, NStZ 1987, S. 19; Urt.<br />

v. 6.7.1976 - 5 StR 184/76 (Anhang 7); Urt. v. 5.7.1977 - 5 StR 771/76 (Anhang<br />

9); Beschl. v. 25.10.1977 - 5 StR 616/77 (Anhang 10); Urt. v. 4.<strong>3.</strong>1980 - 5 StR<br />

14/80 (Anhang 13).<br />

62 BGH, Urt. v. 31.<strong>3.</strong>1976 - 3 StR 502/75 (Anhang 6).<br />

63 BGHSt 27, S. 274.


30 1. Kap.: Überblick über den Forschungsstand A. Entwicklung zur heute herrschenden Meinung 31<br />

tung erlangen 64. Verzögerungen <strong>von</strong> Mitbeschuldigten dürfen dem Beschuldigten<br />

genausowenig entgegengehalten werden 65 wie der durch sein eigenes Leugnen<br />

verursachte Zeitablauf 66 .<br />

Auch <strong>von</strong> den Oberlandesgerichten wurde diese Rechtsprechung nicht in Frage<br />

gestellt. So hat das OLG Koblenz 1978 in Abweichung zu seiner erwähnten<br />

Entscheidung <strong>von</strong> 1971 67 auch die Strafzumessungslösung übemommen 68 . Allerdings<br />

ist gelegentlich eine leichte Distanz spürbar geworden. Das OLG Stuttgart<br />

hat etwa weiterhin nicht ausgeschlossen, daß ein Verfahrenshindernis im Einzelfall<br />

möglich sein könnte 69 . Das OLG Hamm bemerkte, der ihm vorliegende Fall<br />

weise keine Besonderheiten auf, die zu einer vom BGH abweichenden Beurteilung<br />

Anlaß geben könnten 70. Von den Instanzengerichten hat das LG Köln 1975,<br />

wie aus der aufhebenden Entscheidung des 2. Senats des BGH zu entnehmen<br />

ist7 l , ein Verfahren mit der Begründung eingestellt, "das Recht des Angeklagten<br />

auf Durchführung des <strong>Strafverfahren</strong>s innerhalb einer angemessenen Frist sei<br />

seitens der Justiz in unerträglicher Weise verletzt worden" 72.<br />

<strong>3.</strong> BVerfG (Vorprüfungsausschuß), NJW 1984,967<br />

Erst 1983 wurde diese nahezu einhellige Rechtsprechung erstmalig wieder in<br />

Frage gestellt durch ein "Vorbeben" 73: Ein - damals noch so genannter ­<br />

Vorprüfungsausschuß des BVerfG führte nunmehr in einem obiter dictum aus,<br />

daß die Auffassung des BGH, aus einer Verletzung des Beschleunigungsgebots<br />

könne in keinem Falle ein Verfahrenshindernis hergeleitet werden, verfassungsrechtlichen<br />

Bedenken unterliege. Im Einzelfall sei eine so erhebliche Verletzung<br />

des Rechtsstaatsgebots im <strong>Strafverfahren</strong> möglich, daß ein anerkennenswertes<br />

Interesse an weiterer Strafverfolgung, die allgemein dem verfassungsrechtlich<br />

gebotenen Rechtsgüterschutz dient, nicht mehr besteht <strong>und</strong> eine Fortsetzung des<br />

Verfahrens rechtsstaatlich nicht mehr hinnehmbar ist. In solch extrem gelagerten<br />

64 BGR, StV 1983, S. 502; 1985, S. 322; S. 411. Siehe auch schon BGR, Beschl. v.<br />

25.10.1977 - 5 StR 616/77 (Anhang 10).<br />

65 BGR, NStZ 1982, S. 291 (292).<br />

66 BGR, wistra 1983, S. 106.<br />

67 OLG Koblenz, NJW 1972, S. 404.<br />

68 OLG Koblenz, Beschl. v. 2<strong>3.</strong> I. 1978 (zit. n. Krey, <strong>Strafverfahren</strong>srecht I, Rn. 137<br />

Fn.30).<br />

69 OLG Stuttgart, JZ 1974, S. 268.<br />

70 OLG Ramm, NJW 1975, S. 702.<br />

71 BGR, Urt. v. 18.2.1976 - 2 StR 566/75 (Anhang 4).<br />

72 Im Fall Eckle hat das LG Köln 1977 nicht, wie die Ausführungen des EGMR,<br />

EuGRZ 1983, S. 553 (555), zur Entschädigung nach Art. 50 EMRK zu bedeuten scheinen,<br />

wegen <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer das Verfahren eingestellt; vgl. EGMR, EuGRZ 1983,<br />

S. 371 (377; 379).<br />

73 Rillenkamp, NJW 1989, S. 2842; 2843; 2845.<br />

Fällen sei ein Verfahrenshindernis unmittelbar aus dem Rechtsstaatsgebot des<br />

Gr<strong>und</strong>gesetzes abzuleiten74.<br />

<strong>Die</strong>sen Ausführungen kommt gerade deshalb besondere Bedeutung zu, weil<br />

es sich um ein obiter dictum handelt, was für Karlheinz Meyer sogar eine "offensichtliche<br />

Überschreitung" der "Befugnisse nach § 93a Abs. 3 BVerfGG" darstellt7<br />

s . Der Vorprüfungsausschuß sah sich also offensichtlich aufgr<strong>und</strong> der ständigen<br />

Rechtsprechung des BGH genötigt7 6 , sich zu diesem Punkt zu äußern, was<br />

dann auch mit deutlichen Worten geschehen ist 77 •<br />

Allerdings dürfte dieser Beschluß wohl weniger als Reaktion auf das Eckle­<br />

Urteip8 des EGMR <strong>von</strong> 1982 anzusehen sein, durch das die B<strong>und</strong>esrepublik zum<br />

ersten - <strong>und</strong> bisher einzigen - Mal wegen <strong>überlange</strong>r <strong>Dauer</strong> eines <strong>Strafverfahren</strong>s<br />

verurteilt wurde 79. Denn nach den vorsichtigen Ausführungen des erwähnten<br />

Nichtannahmebeschlusses gegen BGHSt 24, 239 80 ließ 1979 ein Vorprüfungsausschuß<br />

des BVerfG zur <strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer eines Konkursverfahrens<br />

ausdrücklich offen, ob "über die in §§ 202 ff. KO gesetzlich vorgesehenen Einstellungsmöglichkeiten<br />

hinaus eine Einstellung des Konkursverfahrens in Betracht<br />

kommt oder sogar ... unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten geboten<br />

sein kann" 81. <strong>Die</strong>se Bemerkung könnte eher durch das König-Urteil 82 initiiert<br />

sein 83, das der Dreierausschuß ausdrücklich erwähnt <strong>und</strong> das 1978 die erste<br />

Verurteilung der B<strong>und</strong>esrepublik wegen <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer, nämlich<br />

eines Verwaltungsverfahrens, darstellte.<br />

Der Beschluß des Vorprüfungsausschusses zur <strong>überlange</strong>n <strong>Strafverfahren</strong>sdauer<br />

<strong>von</strong> 1983 wurde durch zwei weitere Nichtannahmebeschlüsse, die zu dem<br />

Problemkreis der völkerrechtswidrigen Verschleppung ergingen, bekräftigt 84 . In<br />

beiden Entscheidungen, die der Dreierausschuß, seit 1986 Kammer genannt, in<br />

jeweils völlig anderer Besetzung traf, tauchte der Satz auf, daß auch in der<br />

Rechtsprechung das Eingreifen eines Verfahrenshindernisses <strong>von</strong> Verfassungs<br />

wegen in Fällen <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer "als möglich erachtet" würde. <strong>Die</strong>s<br />

muß überraschen, weil jedenfalls vor Fassung des ersten der beiden Beschlüsse<br />

seit über zehn Jahren keine Entscheidung mehr - außer eben der des Vorprü-<br />

74 BVerfG (Vorprüfungsausschuß), NJW 1984, S. 967.<br />

75 K. Meyer, FS Kleinknecht, S. 272. Vgl. auch Bruns, StV 1984, S. 389.<br />

76 So auch K. Meyer, FS Kleinknecht, S. 272.<br />

77 Kritisch zu dieser Praxis des BVerfG Sarstedt / Ramm, <strong>Die</strong> Revision in Strafsachen',<br />

Rn. 8 Fn. 21.<br />

78 EGMR, EuGRZ 1983, S. 371.<br />

79 Vgl. dazu K. Kühl, ZStW 100 (1988), S. 605.<br />

80 Siehe oben, 2.<br />

81 BVerfG (Vorprüfungsausschuß), EuGRZ 1979, S. 363 (364).<br />

82 EGMR, EuGRZ 1978, S. 406.<br />

83 Vgl. dazu Ress in: Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 276.<br />

84 BVerfG (Vorprüfungsausschuß), NStZ 1986, S. 178 (179); (Kammer), NStZ 1986,<br />

S. 468; vgl. auch NJW 1987, S. 1874.


32 1. Kap.: Überblick über den Forschungsstand A. Entwicklung zur heute herrschenden Meinung 33<br />

fungsausschusses - veröffentlicht worden war85, in der ein Verfahrenshindernis<br />

auch nur für denkbar gehalten wurde.<br />

Wenngleich Entscheidungen des Dreierausschusses gern. § 31 I BVerfGG<br />

keine Bindungswirkung haben, weil in einem summarischen Verfahren lediglich<br />

die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung abgelehnt wird 86 ,<br />

haben diese Entscheidungen die gefestigte Rechtsprechung ins Wanken gebracht<br />

<strong>und</strong>, wie auch sonst häufig 87 , die Rechtsentwicklung mitbestimmt.<br />

Unter Berufung auf den Beschluß des Vorprüfungsausschusses des BVerfG<br />

zur <strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer stellte 1987 das LG Düsseldorf ein <strong>Strafverfahren</strong><br />

ein 88 , nachdem zuvor (in anderer Sache) schon das OLG Düsseldorf hatte<br />

dahinstehen lassen, ob aufgr<strong>und</strong> des obiter dictum des Vorprüfungsausschusses<br />

ein Verfahrenshindernis denkbar sei 89. Überlange Verfahrensdauer könne ein<br />

unmittelbar aus dem Rechtsstaatsgebot des Gr<strong>und</strong>gesetzes abzuleitendes Verfahrenshindernis<br />

sein, wenn eine extreme, vom Beschuldigten nicht zu vertretende<br />

Verfahrensverzögerung vorliegt. Aus dieser sei zu folgern, daß ein anerkennenswertes<br />

Interesse an weiterer Strafverfolgung nicht mehr besteht. Auch das OLG<br />

Karlsruhe 90 <strong>und</strong> das OLG Koblenz 91 folgten nunmehr der Argumentation des<br />

Vorprüfungsausschusses.<br />

Aber auch in die Rechtsprechung des BGH kam Bewegung, wenngleich sich<br />

die Vermutung <strong>von</strong> Miehsler / Vogler, durch die Entscheidung des Vorprüfungsausschusses<br />

sei die bisherige Ansicht des BGH überholt, zunächst nicht als richtig<br />

erwies 92. Insbesondere der 2. Strafsenat erwähnte den Nichtannahmebeschluß<br />

allenfalls, um darauf hinzuweisen, der Vorprüfungsausschuß habe die Strafzumessungslösung<br />

des BGH gebilligt 93 .<br />

85 Zuletzt OLG Hamm, NJW 1975, S. 702. K. Schäfer in LR24, Ein!. Kap. 12 Rn. 91<br />

Fn. 184, führt hier zu Unrecht das LG Flensburg, MDR 1979, S. 76, an.<br />

86 BVerfGE 23, S. 191 (207); 33, 1 (11); 53, S.336 (348); Schmidt-Bleibtreu in<br />

Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, BVerfGG, § 93b Rn. 14; Pestalozza, VerfassungsprozeBrecht<br />

2 , § 14 vor 1. Soweit die fehlende Bindun~swirkun~ damit be,gründet<br />

wird, die Entscheidung des Vorprüfungsausschusses beruhe mcht auf diesen Erwagun~en<br />

(BGHSt 32, S. 345 ; Pfeiffer in KK StP02, Ein!. Rn. 131) bzw. es handele sich<br />

um ein obiter dictum (RieB in LR24, § 206a Rn. 56), ist dies deshalb nur vom Ergebnis<br />

her richtig.<br />

87 Vg!. dazu Gilles, JuS 1981, S.405; Jekewitz, StV 1982, S. 124; K. Meyer, FS<br />

Kleinknecht, S. 272; Hillenkamp, NJW 1989, S. 2842; Zuck, NJW 1990, S. 2450; dagegen<br />

Schlaich, Das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht, S. 125 f.<br />

88 LG Düsseldorf, NStZ 1988, S. 427.<br />

89 OLG Düsseldorf, NJW 1986, S. 2204 (2205); vg!. aber auch NStE Nr. 56 zu § 46<br />

StGB.<br />

90 OLG Karlsruhe, StV 1986, S. 10 (11).<br />

91 OLG Koblenz, GA 1987, S. 367 (368).<br />

92 Miehsler / Vogler in IntKomm, Art. 6 Rn. 329 Fn.1. Richtiger die Einschätzung<br />

<strong>von</strong> Bruns, StV 1984, S. 393: Es sei "Hoffnung auf eine Anderung der Rechtsprechung<br />

zwar gegeben", diese dürfe aber "nicht überschätzt werden"; zurückhaltend auch RieB,<br />

JR 1985, S. 46.<br />

Auch der 1. Senat zeigte sich <strong>von</strong> der Entscheidung offenbar "unbeeindruckt"94,<br />

wenn er ausführt, sie beruhe nicht auf dieser Erwägung <strong>und</strong> der zuständige<br />

Senat des BVerfG habe sich zu dieser Frage noch nicht geäußert 95 . Wie<br />

der 1. zitierte auch der <strong>3.</strong> Senat des BGH die "Auffassung", die "ein" Vorprüfungsausschuß<br />

vertreten hat, um sich <strong>von</strong> dieser sogleich zu distanzieren 96. <strong>Die</strong>ser<br />

womöglich mit abwertender Tendenz gemeinte Hinweis 97 ist insofern nicht präzise,<br />

als durch anders besetzte Dreierausschüsse der Entscheidung zugestimmt<br />

worden ist. Da hierbei nicht nur die Entscheidung einstimmig getroffen werden<br />

muß (vgl. §§ 92a II a. F., 93b I n. F. BVerfGG), sondern auch Einstimmigkeit in<br />

der rechtlichen Begründung gefordert wird 98 , haben somit sieben Richter des<br />

2. Senats des BVerfG dieser Auffassung beigepflichtet: Zeidler, Wand, Träger,<br />

Steinberger, Böckenförde, NiebIer <strong>und</strong>Klein 99. <strong>Die</strong> Vermutung Karlheinz Meyers,<br />

die drei Richter des Vorprüfungsausschusses würden bei einer späteren Senatsentscheidung<br />

zur <strong>überlange</strong>n <strong>Dauer</strong> <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong> ein Sondervotum abgeben<br />

müssen 100, dürfte sich als nicht zutreffend erwiesen haben.<br />

Der 5. Senat schließlich stellte 1986 fest, <strong>überlange</strong> Verfahrensdauer begründe<br />

nach der Rechtsprechung des BGH kein Verfahrenshindernis; er halte an dieser<br />

Auffassung trotz des Beschlusses des Vorprüfungsausschusses "jedenfalls für<br />

die Fälle" fest, in denen der Tatrichter dem Zeitablauf bei der Strafzumessung<br />

(i. w. S.) in angemessener Weise Rechnung tragen könne 101. Der 5. Senat sah<br />

sich interessanterweise zu dieser Entscheidung deshalb genötigt, weil 1985 das<br />

LG Frankfurt - wiederum - ein Verfahren wegen <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer<br />

eingestellt hatte. Auch in einer späteren Entscheidung folgte der 5. Senat nicht<br />

dem Vorprüfungsausschuß "angesichts der Schwere des Tatvorwurfs <strong>und</strong> der<br />

Schwierigkeit der Beweislage" 102.<br />

4. BGHSt 35,137<br />

Ende 1987 kam es dann zu einem heftigen Beben: Der <strong>3.</strong> Strafsenat des BGH<br />

stellte ein Verfahren wegen <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer einlOJ, dem "unvorstell-<br />

93 BGH, NJW 1986, S. 75 (76); ähnlich NStZ 1986, S. 162.<br />

94 Krey, <strong>Strafverfahren</strong>srecht I, Rn. 126 Fn. 7a.<br />

95 BGHSt 32, S. 345 (351).<br />

96 BGHSt 35, S. 137 (140); allerdings kommt der <strong>3.</strong> Senat doch zur Verfahrenseinstellung,<br />

siehe dazu unten, 4.<br />

97 Vg!. Bruns, StV 1984, S. 391; Becker, StV 1985, S. 400.<br />

98 Schmidt-Bleibtreu in Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer,<br />

§ 93b Rn. 10; Rupprecht, JZ 1970, S. 209 f.<br />

BVerfGG,<br />

99 Vg!. EuGRZ 1984, S. 95; 1986, S. 21; 1987, S. 9<strong>3.</strong><br />

100 K. Meyer, FS Kleinknecht, S. 272 Fn. 30.<br />

101 BGH bei Pfeiffer/Miebach, NStZ 1987, S. 19.<br />

102 BGH, StV 1989, S. 187 (188).<br />

103 BGHSt 35, S. 137.<br />

3 Scheffler


34 1. Kap.: Überblick über den Forschungsstand A. Entwicklung zur heute herrschenden Meinung 35<br />

bare Geschehnisse" 104 zugr<strong>und</strong>e lagen: Entgegen § 347 StPO waren die Akten<br />

vom LG Frankfurt fast fünf Jahre lang nicht an den BGH weitergeleitet worden 105.<br />

Der BGH meinte nun an sich, die Sache (auch) aus sonstigen sachlich-rechtlichen<br />

Gründen zurückverweisen zu müssen. Er sah das Dilemma, daß durch die dann<br />

folgende Hauptverhandlung, die - es lag ein Fall <strong>von</strong> Wirtschaftskriminalität<br />

vor - wiederum erhebliche Zeit in Anspruch nehmen dürfte, das Verfahren<br />

weitere Jahre dauerte. Zudem bestand für den Senat eine gewisse Wahrscheinlichkeit,<br />

daß die erneute Hauptverhandlung mit einem Freispruch enden würde, so<br />

daß er den Weg, das Problem der <strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer über die Strafzumessung<br />

zu lösen, verbaut sah. Da dem BGH selbst für eine Einstellung gemäß<br />

§ 153a StPO die Freispruchswahrscheinlichkeit zu groß war <strong>und</strong> die Staatsanwaltschaft<br />

bei dem Landgericht sich gegen eine Einstellung nach § 153 StPO sperrte,<br />

stellte er schlichtweg ohne Angabe einer Rechtsgr<strong>und</strong>lage ein 106.<br />

Aufgr<strong>und</strong> des Geschäftsverteilungsplans des BGH 107 <strong>und</strong> der gesonderten Verfolgung<br />

eines Mitbeschuldigten hatte wenige Wochen nach der Entscheidung<br />

des <strong>3.</strong> Strafsenats der 2. Strafsenat einen letztlich sehr ähnlichen Sachverhalt 108<br />

zu entscheiden 109. Ohne die Entscheidung des <strong>3.</strong> Senats, die dem 2. Senat bekannt<br />

gewesen sein dürfte, auch nur zu erwähnen, traf hier der 2. Senat eine eigene<br />

Sachentscheidung <strong>und</strong> sprach frei. <strong>Die</strong>s mag zwar aufgr<strong>und</strong> im einzelnen nuancierender<br />

tatsächlicher Feststellungen in den beiden tatrichterlichen Urteilen gerechtfertigt<br />

sein, deutet aber doch an, daß der 2. Strafsenat nicht den Weg des <strong>3.</strong> Senats<br />

gehen wollte. Ferner mußte der 2. Senat, um zu dem Ergebnis der Verfahrensbeendigung<br />

zu kommen, in Erweiterung der umstrittenen Rechtsprechung zur Wiedereinbeziehung<br />

ausgeschiedener Tatteile in der Revisionsinstanz 110 unter Hinweis<br />

auf das Beschleunigungsprinzip es ablehnen, die Sache zur Verhandlung über<br />

den ausgeschiedenen Tatteil zurückzuverweisen 111. Auch in einer weiteren Ent-<br />

104 Kühne, EuGRZ 1988, S. 306.<br />

105 Zum Hintergr<strong>und</strong> teilt Leppert, Frankfurter R<strong>und</strong>schau v. 25.8.1988, S. 12, mit:<br />

"... über Jahre nicht verfügbar waren die Akten eines ... Frankfurter Richters, der sich<br />

vorzeitig pensionieren ließ. Immer hatte er an seiner Akte noch etwas verändern oder<br />

verbessern wollen - bis es dem B<strong>und</strong>esgerichtshof in einem Fall zu viel wurde ..."<br />

106 <strong>Die</strong>s mißversteht Hasserner, JuS 1989, S. 146 f., dem zufolge der BGH der Einstellung<br />

§ 153 StPO zugr<strong>und</strong>e gelegt hat.<br />

107 Sämtlichen vor dem LG Frankfurt Angeklagten - die Verantwortlichen der zusammengebrochenen<br />

Selmi-Bank AG, Frankfurt - war u. a. eine Zuwiderhandlung gegen<br />

§ 129 StGB vorgeworfen worden. Daher war die Staatsschutzkammer gern. § 74a I Nr. 4<br />

GVG zuständig mit der Folge, daß nach dem Geschäftsverteilungsplan des BGH der<br />

<strong>3.</strong> Strafsenat zuständig gewesen ist. Zur Zuständigkeit des 2. Strafsenats bezüglich des<br />

einen gesonderten verfolgten Angeklagten kam es dadurch, daß dieser <strong>von</strong> der Schweiz<br />

ausgeliefert werden mußte <strong>und</strong> das schweizerische B<strong>und</strong>esgericht die Auslieferung allein<br />

wegen des Vorwurfs der Untreue bewilligte, so daß es bei der Zuständigkeit des 2. Strafsenats<br />

für die Revisionen des Bezirks des OLG Frankfurt blieb.<br />

108 Vgl. den redaktionellen Hinweis in wistra 1988, S. 230.<br />

109 BGH, wistra 1988, S. 227.<br />

110 BGHSt 21, S. 326 (328 f.).<br />

scheidung vermied der 2. Senat die Erwähnung des Urteils des <strong>3.</strong> Senats 112, traf<br />

aber selbst eine abschließende Sachentscheidung unter äußerst extensiver Interpretation<br />

<strong>von</strong> § 354 I StPO 11<strong>3.</strong> Ob sich etwas anderes aus einem neueren Beschluß<br />

des 2. Strafsenats ergibt, in dem dieser ein Verfahren nach § 153 StPO einstellte<br />

<strong>und</strong> erwähnte, der BGH habe ein Verfahrenshindernis "bisher" verneint, bleibt<br />

abzuwarten 114. Immerhin wird hier das verfahrensbeendende Urteil des <strong>3.</strong> Strafsenats<br />

wenigstens zitiert, der inzwischen Gemeinsamkeiten zwischen beiden Entscheidungen<br />

hervorgehoben hat 115.<br />

Der 1. Strafsenat des BGH erwähnte die Entscheidung BGHSt 35, 137 in<br />

einem Beschluß zwar, jedoch ausschließlich als Beleg dafür, daß nach der ständigen<br />

Rechtsprechung des BGH eine der Vorschrift des Art. 6 I EMRK zuwiderlaufende<br />

Verfahrensverzögerung zugunsten des Angeklagten strafmildernd berücksichtigt<br />

werden müsse, ging jedoch aufdie sonstige dort angesprochene Problematik<br />

mit keinem Wort ein, sondern wies die Sache unter Aufhebung des Strafausspruchs<br />

an das Landgericht zurück 116. In anderen Entscheidungen zur <strong>überlange</strong>n<br />

Verfahrensdauer wurde das Urteil des <strong>3.</strong> Strafsenats überhaupt nicht erwähnt l17 •<br />

Vor allem dieser Senat scheint mit Krey übereinzustimmen, der davor warnt, die<br />

Entscheidung des <strong>3.</strong> Senats überzubewerten: "hard cases make bad law" 118.<br />

Der 5. Senat bekräftigte u. a. unter Berufung auf BGHSt 35, 137 nochmals,<br />

daß ungewöhnlich lange Verfahrensdauer "gr<strong>und</strong>sätzlich" kein Verfahrenshindernis<br />

begründe; er lehnte einzelfallorientiert <strong>und</strong> ohne nähere Begründung ab, das<br />

Verfahren durch Einstellung "abzubrechen", weil die besonderen Umstände, die<br />

den <strong>3.</strong> Senat dazu veranlaßt hätten, im konkreten Fall nicht vorlägen 119.<br />

Das OLG Zweibrücken nahm unter Bezug sowohl auf die Entscheidung des<br />

Vorprüfungsausschusses des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts als auch die des <strong>3.</strong> Senats<br />

des BGH in einem Fall "schwerwiegender Verfahrensverzögerung" ein<br />

Verfahrenshindernis an 120. In dem Verfahren war wegen Fahrens ohne Führerschein<br />

eine Geldstrafe verhängt worden. Im Rechtsmittelverfahren waren, wie<br />

das OLG Zweibrücken berichtet, zahlreiche Verfahrensfehler unterlaufen, so u. a.<br />

die beantragte Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsfrist nicht gewährt<br />

111 BGHR StPO § 154a Abs. 3 Wiedereinbeziehung 1 (insoweit nicht in wistra 1988,<br />

S. 227 abgedruckt).<br />

112 BGH, NStZ 1989, S. 238.<br />

113 Vgl. Daub, KritJ 22 (1989), S. 330.<br />

114 BGH, wistra 1990, S. 65.<br />

115 BGHSt 36, S. 363 (372).<br />

116 BGH, StV 1988, S. 487.<br />

117 BGH, NStZ 1989, S. 526; wistra 1990, S. 20; Urt. v. 5.7.1990 -<br />

(Anhang 16; jetzt auch bei Detter, NStZ 1991, S. 274).<br />

I StR 135/90<br />

118 Krey, <strong>Strafverfahren</strong>srecht II, Rn. 587.<br />

119 BGH, StV 1989, S. 187 (188).<br />

120 OLG Zweibrücken, StV 1989, S. 51.<br />

3*


36 1. Kap.: Überblick über den Forschungsstand A. Entwicklung zur heute herrschenden Meinung 37<br />

<strong>und</strong> Ersatzfreiheitsstrafe vollstreckt worden. Ein Ausgleich über die Strafzumessung<br />

schied insofern <strong>von</strong> vornherein aus. Mit Rücksicht aufdas außergewöhnliche<br />

Ausmaß der durch Justizorgane verursachten Verzögerung <strong>und</strong> der dadurch bedingten<br />

Gesamtdauer des <strong>Strafverfahren</strong>s, das nicht besonders erhebliche Gewicht<br />

des Tatvorwurfs <strong>und</strong> Verfahrensgegenstandes einerseits <strong>und</strong> die beträchtlichen<br />

tatsächlichen, auf den Zeitablauf zurückzuführenden Beweisschwierigkeiten andererseits<br />

sowie aufgr<strong>und</strong> der Prozeßmängel in der ersten Instanz <strong>und</strong> der ­<br />

durch die Strafvollstreckung <strong>und</strong> sie begleitende Zwangsmaßnahmen verstärkten<br />

- Belastung des Angeklagten durch das Verfahren sah es das OLG als geboten<br />

an, das Verfahren einzustellen.<br />

Andere Gerichte haben in der darauffolgenden Zeit ihnen vorliegende Sachverhalte<br />

immer wieder an den Kriterien des <strong>3.</strong> Senats des BGH geprüft, jedoch<br />

jeweils die Auffassung vertreten, daß die "besonderen Umstände" des dortigen<br />

Falles nicht vorlägen 121.<br />

11. Der Diskussionsstand in der Literatur<br />

1. Zur Verfahrensdauer allgemein<br />

In der Literatur wird die Diskussion um die <strong>überlange</strong> Verfahrensdauer vor<br />

allem <strong>von</strong> der Rechtstatsachenforschung bestimmt.<br />

Nachdem der Gesetzgeber in der Begründung zum 1. StVRG 1974 122 <strong>und</strong> vor<br />

allem zum StVÄG 1979 123 statistisches Material zur <strong>Dauer</strong> <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong><br />

vorgelegt hatte, präsentierte 1981 RießI24 umfangreiche, neuere Daten. Einige<br />

aktuelle Zahlen veröffentlichte vor kurzem Caesar l25 . Älteres Datenmaterial<br />

findet sich bei Ritter 126 <strong>und</strong> bei Stein / Schumann / Winter 127. Bei diesen Statistiken<br />

ist zu beachten, daß sie nicht einmal Aussagen über korrelative Zusammenhänge<br />

zwischen Verfahrensdauer <strong>und</strong> bestimmten Verfahrensereignissen zulassen<br />

128. Rechtstatsächliche Untersuchungen, die solche Aussagen erlauben, haben<br />

121 OLG Düsseldorf, MDR 1989, S.935; BayObLG, StV 1989, S.394; LG Köln,<br />

NStZ 1989, S. 442. So auch der <strong>3.</strong> Strafsenat des BGH selbst (BGHSt 36, S. 363


38 1. Kap.: Überblick über den Forschungsstand A. Entwicklung zur heute herrschenden Meinung 39<br />

pflege Tätige vor allem auf Strukturen in StPO <strong>und</strong> GVG hinweisen 143, legen<br />

vornehmlich Strafrechtsdogmatiker zusätzliches Augenmerk auf Verkomplizierungen<br />

im materiellen Strafrecht (Wandel in Richtung Täterstrafrecht, Hinwendung<br />

zu subjektiven Tatbestandsmerkmalen) 144. Unter kriminologischen Gesichtspunkten<br />

wird auch auf einen Wandel in der Kriminalität (Professionalisierung)<br />

<strong>und</strong> in den gesellschaftlichen Auffassungen (Strafrechtsmüdigkeit) 145, in<br />

der Verteidigermentalität 146 sowie in der Belastung <strong>und</strong> Belastbarkeit der Strafverfolgungsbehörden<br />

147 aufmerksam gemacht.<br />

Neben diesen Aussagen zu Phänomenologie <strong>und</strong> Ätiologie ist das Thema der<br />

<strong>überlange</strong>n <strong>Dauer</strong> <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong> gelegentlich rechtsvergleichend betrachtet<br />

worden: Erwähnt sei die Freiburger Dissertation <strong>von</strong> Prochnow, der 1971 die<br />

deutschen Reformvorschläge mit dem österreichischen, schweizerischen <strong>und</strong><br />

französischen Recht verglich 148. Daneben findet sich rechtsvergleichendes Material<br />

etwa bei Schwenk, der über das Recht aufalsbaldige <strong>und</strong> schnelle Verhandlung<br />

in den USA <strong>und</strong> Großbritannien berichtet 149. Kohlmann analysiert den Anspruch<br />

des Beschuldigten auf schnelle Durchführung des Ermittlungsverfahrens nach<br />

dem Recht der (ehemaligen) DDR ISO. Einen japanischen Fall <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer<br />

beschreibt Nose 151; ein holländisches <strong>Strafverfahren</strong> erwähnt Peukert<br />

l52 • Umgekehrt haben 1984 Driendl 153 für das österreichische <strong>und</strong> Küng-<br />

143 Vgl. etwa K. Peters in: Strafprozeß <strong>und</strong> Reform, S. 83 ff.; Michaelsen, Krim 1982,<br />

S. 498 ff.; Kohlhaas, ZRP 1972, S. 7 ff.; Bode, DRiZ 1982, S. 454 ff.; Gössel, GA 1979,<br />

S. 241 ff.; G. Schmidt, DRiZ 1971, S. 77 ff.; Sack, NJW 1976, S. 604 ff.; Keller / Schmid,<br />

wistra 1984, S. 201 ff.; Dästner, RuP 1978, S. 219 ff.; v. Glasenapp, NJW 1982,<br />

S. 1057 f.; Dahs, NJW 1974, S. 1542 f.<br />

144 K. Peters in: Strafprozeß <strong>und</strong> Reform, S. 84 f.; Küng-Hofer, Beschleunigung,<br />

S. 6 ff.; Rönnau, <strong>Die</strong> Absprache im Strafprozeß, S. 45; vgl. auch Kohlmann, FS Pfeiffer,<br />

S. 206 ff.; Nestler-Tremel, DRiZ 1988, S.289; Schünemann, FS Pfeiffer, S. 173 f.;<br />

Schroeder, NJW 1983, S. 137.<br />

145 K. Peters in: Strafprozeß <strong>und</strong> Reform, S. 86 f.; Küng-Hofer, Beschleunigung,<br />

S. 10 ff.<br />

146 Vgl. dazu etwa Gatzweiler, FG L. Koch, S. 93 ff.; Franzheim, GA 1990, S. 331 f.;<br />

Hanack, StV 1987, S. 500 ff.; Terhorst, DRiZ 1988, S. 298; Nestler-Tremel, DRiZ 1988,<br />

S.289; Kintzi, JR 1990, S. 313; Römer, FS Schmidt-Leichner, S. 143 ff.; Wolfslast,<br />

NStZ 1990, S. 410; Caesar, RuP 1990, S. 46.<br />

147 Vgl. etwa Rönnau, <strong>Die</strong> Absprache im Strafprozeß, S. 42 ff.; K. Peters in: Strafprozeß<br />

<strong>und</strong> Reform, S. 88 f.<br />

148 Prochnow, <strong>Die</strong> Beschleunigung des <strong>Strafverfahren</strong>s in rechtsvergleichender Betrachtung.<br />

149 Schwenk, ZStW 79 (1967), S. 726 ff.; vgl. auch Küng-Hofer, Beschleunigung,<br />

S. 97 ff.; Nose, ZStW 82 (1970), S. 792 Fn. 28; Vollkommer, ZZP 81 (1968), S. 106;<br />

Adam, DRiZ 1974, S. 261 f.<br />

ISO Kohlmann, FS Maurach, S. 512 ff.; ZRP 1972, S. 212 f.<br />

151 Nose, ZStW 82 (1970), S. 790 f. In einem anderen asiatischen Staat, Indien, soll<br />

1990 das längste <strong>Strafverfahren</strong> nach 33 Jahren eingestellt worden sein (Weser-Kurier<br />

v. 21.12.1990, S. 16).<br />

152 Peukert, EuGRZ 1979, S. 264 Fn. 19.<br />

153 Driendl, Verfahrensökonomie <strong>und</strong> Strafprozeßreform.<br />

Hofer 154 für das schweizerische Recht Untersuchungen vorgelegt, die rechtsvergleichend<br />

die deutsche Rechtslage mit herangezogen haben.<br />

Alle diese Untersuchungen stehen mit der Frage der Rechtsfolgen <strong>überlange</strong>r<br />

Verfahrensdauer nur in indirektem Zusammenhang, da man aus ihnen am ehesten<br />

etwas zur Verfahrensbeschleunigung de lege ferenda, weniger zur rechtlichen<br />

Reaktion de lege lata ableiten kann, zu der sich die meisten Autoren allenfalls<br />

am Rande geäußert haben.<br />

2. Zu den Rechtsfolgen <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer<br />

In der Literatur zu den Rechtsfolgen <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer hat sich,<br />

jedenfalls im Anschluß an den Beschluß des Vorprüfungsausschusses des BVerfG<br />

<strong>von</strong> 1983, die Auffassung durchgesetzt 155, daß in Fällen krassester Verzögerung<br />

Verfahrensbeendigung eintreten müßte 156. So hat etwa Claus Roxin <strong>von</strong> "extrem<br />

gelagerten Fällen, bei denen eine <strong>überlange</strong> Verfahrensdauer hauptsächlich auf<br />

justizinternen Unzulänglichkeiten beruht", gesprochen 157. Für Karl Peters ist ein<br />

Verfahrenshindernis notwendig bei übermäßiger Verfahrensdauer, die zu einem<br />

unmenschlichen Verfahren führen kann, "namentlich wenn sie <strong>von</strong> Justizbehörden<br />

zu vertreten ist" 158. Rogall nennt erhebliche Verfahrensverzögerungen "durch<br />

gravierende Versäumnisse der Strafverfolgungsbehörden" 159. Auch für Kühne,<br />

Hillenkamp <strong>und</strong>Imme Roxin ist die Einstellung in "Extremfällen" <strong>von</strong> Verfahrensverzögerungen<br />

geboten 160.<br />

In den Jahren davor hat die Strafrechtswissenschaft ähnliches nur gelegentlich<br />

anklingen lassen: Bruns etwa sprach <strong>von</strong> "extrem krassen Fällen" 161, Kramer<br />

<strong>von</strong> "seltensten Ausnahmen", <strong>von</strong> "ganz besonderen, geradezu einmaligen Umständen"<br />

162, unter denen ein Verfahrenshindernis einmal in Betracht kommt.<br />

Ansonsten war in der Literatur zunehmend die Tendenz zu beobachten, <strong>von</strong> der<br />

Einstellungslösung weg zur Strafzumessungslösung des BGH zu wechseln. Entgegen<br />

Michael 163 war das Problem zu dieser Zeit nicht in Richtung Einstellung<br />

"in Fluß".<br />

154 Küng-Hofer, Beschleunigung; siehe dazu Scheffler, MschrKrim 68 (1985), S. 67 f.<br />

155 Dagegen aber noch Kleinknecht/Meyer, StP039, Art. 6 MRK Rn. 9; wohl auch<br />

Krey, <strong>Strafverfahren</strong>srecht I, Rn. 126; II, Rn. 587. Vgl. auch Kohlmann, FS Pfeiffer,<br />

S. 211; G. Schäfer, <strong>Die</strong> Praxis des <strong>Strafverfahren</strong>s', § 11 III <strong>3.</strong><br />

156 So auch Neumann, ZStW 101 (1989), S. 74.<br />

157 C. Roxin, <strong>Strafverfahren</strong>srecht 20 , § 16 C.<br />

158 K. Peters, Strafprozeß" § 28 IV 6.<br />

159 Rogall in SK StPO, vor § 133 Rn. 120.<br />

160 Kühne, Strafprozeßlehre 3 , Rn. 128.1; Hillenkamp, NJW 1989, S.2845; 2848; 1.<br />

Roxin, Rechtsfolgen, S. 268.<br />

161 Bmns, FS Maurach, S. 472; wohl auch Leitfaden des StrafzumessungsrechtsI,<br />

S. 154; ähnlich Priebe, FS v. Simson, S. 309.<br />

162 Kramer, Menschenrechtskonvention, S. 198.


40 1. Kap.: Überblick über den Forschungsstand A. Entwicklung zur heute herrschenden Meinung 41<br />

<strong>Die</strong> frühesten Erörterungen des Themas in der Literatur in den sechziger Jahren<br />

durch Baumann 164 <strong>und</strong> Schwenk 165 gingen dagegen sogar noch da<strong>von</strong> aus, daß<br />

jede <strong>überlange</strong> Verfahrensdauer verfahrensbeendende Wirkung haben könnte.<br />

Dem trat Hanack 1971 - praktisch zeitgleich mit der Gr<strong>und</strong>satzentscheidung<br />

des 2. Senats des BGH, mit der dieser die Strafzumessungslösung konstituierte<br />

- entgegen 166: In ausführlicher Auseinandersetzung mit den Urteilen der Landgerichte<br />

Frankfurt <strong>und</strong> Krefeld verneinte er die Möglichkeit eines Prozeßhindernisses<br />

des <strong>überlange</strong>n <strong>Strafverfahren</strong>s. Nunmehr war auch in der Literatur die<br />

Einstellungslösung auf dem Rückzug l67 . Lediglich v. Stackelberg war 1979 in<br />

einigen kurzen, wenig auf Differenzierung angelegten Bemerkungen noch so zu<br />

verstehen, als schriebe er der Verletzung des Beschleunigungsprinzips gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

verfahrensbeendende Wirkung zu 168. Eine Mittelposition nahmen Hillenkamp<br />

<strong>und</strong> Ulsenheimer ein, die ein Verfahrenshindernis bei "gravierenden Verstößen"<br />

bejahten 169.<br />

Ansonsten wurde die Einstellungslösung - weder allgemein noch bezogen<br />

auf schwere, noch auf schwerste Fälle - im Spezialschrifttum praktisch nicht<br />

mehr vertreten 170. <strong>Die</strong> Kommentar- <strong>und</strong> Lehrbuchliteratur schloß sich dem BGH<br />

sogar nahezu geschlossen an 171. Symptomatisch war etwa der Wandel <strong>von</strong> Karl<br />

Peters <strong>und</strong> Kleinknecht. Während Karl Peters noch Ende der siebziger Jahre die<br />

Annahme eines Prozeßhindernisses für "richtig" bei einer "eindeutigen" Verfahrensverzögerung<br />

hielt <strong>und</strong> die Entscheidung des 2. Strafsenats des BGH kritisierte<br />

172, hielt er 1981 dessen Weg nur in Ausnahmefällen nicht für hinreichend 17<strong>3.</strong><br />

Auch Kleinknecht formulierte 1971 in der 30. Aufl. seines Kommentars noch<br />

unter Hinweis auf das LG Frankfurt, bei insgesamt unerträglicher Verletzung<br />

des Beschleunigungsgebots käme die Unzulässigkeit des Verfahrens in Betracht<br />

174, während er dann in der 31. Aufl. <strong>von</strong> 1974 nur noch ausführte, daß<br />

auch die starke Verletzung des Beschleunigungsgebots keine verfahrensbeendende<br />

Wirkung habe 175.<br />

163 Michael, Der Gr<strong>und</strong>satz in dubio pro reo im <strong>Strafverfahren</strong>srecht, S. 172.<br />

164 Baumann, FS Eb. Schmidt, S. 540 f.<br />

165 Schwenk, ZStW 79 (1967), S. 721 ff.<br />

166 Hanack, JZ 1971, S. 705 ff.<br />

167 Vgl. D. Meyer, JurBüro 1983, Sp. 32; ähnlich Fezer, Strafprozeßrecht I, S. 185.<br />

A. A. Geppert, JK 1983, MRK Art. 6/1; teilweise abweichend Ulsenheirner, wistra<br />

1983, S. 12 Fn. 4: "Von einer ,h. L.' bzw. ,Mindermeinung' kann man kaum sprechen".<br />

168 v. Stackelberg, FS Bockelmann, S. 768 f. Siehe auch Bruns, Leitfaden des Strafzumessungsrechtsi,<br />

S. 154 f.<br />

169 Hillenkamp, JR 1975, S. 140; Uisenheimer, wistra 1983, S. 14.<br />

170 Vgl. Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 227 ff.; Vogler, ZStW 89 (1977), S. 783;<br />

Kloepfer, JZ 1979, S. 215 Fn. 53; Müller-<strong>Die</strong>tz, ZStW 93 (1981), S. 1245; Herrmann,<br />

ZStW 95 (1983), S. 131; Uisamer, FS Faller, S. 382 ff.<br />

171 Vgl. die Nachweise bei Uisenheimer, wistra 1983, S. 12 Fn. 4.<br />

172 K. Peters, JR 1978, S. 247 f.; in: Strafprozeß <strong>und</strong> Reform, S. 9<strong>3.</strong><br />

173 K. Peters, Strafprozeß3, § 28 IV 6.<br />

174 Kleinknecht, StP030, Art. 6 MRK Anm. 6.<br />

Ohnehin fällt das Fehlen monographischen Schrifttums zu den Rechtsfolgen<br />

<strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer auf. Abgesehen <strong>von</strong> der Dissertation Kramers, der<br />

1973 sich mit Art. 5 III <strong>und</strong> 6 I EMRK <strong>und</strong> deren Rechtsfolgen beschäftigte 176,<br />

tat sich bis Ende der achtziger Jahre nichts. Erst dann fragte Imme Roxin nach<br />

den "Rechtsfolgen schwerwiegender Rechtsstaatsverstöße", zu denen sie auch<br />

<strong>überlange</strong> Verfahrensdauer gerechnet hat 177. Katzorke diskutierte umfassend die<br />

Rechtsfolgen der Strafanspruchsverwirkung auch für den Bereich <strong>überlange</strong>r<br />

Verfahrensdauer 178.<br />

Beide Untersuchungen stellen jedenfalls die bisher umfassendsten Überlegungen<br />

zu einer theoretischen Einordnung des Problems <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer<br />

dar, die den relevantesten Beitrag der Literatur zu der Rechtsfolgenproblematik<br />

in den letzten Jahren verkörpert: Nachdem Ulsenheimer 1983 als erster 179 Parallelen<br />

zum rechtswidrigen V-Mann-Einsatz aufzeigte l80 , die die Rechtsprechung<br />

inzwischen aufgegriffen hat 181, wird nunmehr immer häufiger die <strong>überlange</strong><br />

Verfahrensdauer mit Fallgruppen (vermeintlich) "schwerster Rechtsstaatswidrigkeit"<br />

verglichen <strong>und</strong> verb<strong>und</strong>en 182. Erwähnt seien hier vor allem die völkerrechtswidrige<br />

Ergreifung, die rechtswidrige Kenntniserlangung der Strafverfolgungsbehörden<br />

vom Verteidigungskonzept, Beweismanipulationen durch die Strafverfolgungsbehörden,<br />

die öffentliche Vorverurteilung in Massenmedien, die Einflußnahme<br />

seitens der Justizverwaltung, die staatliche Duldung rechtswidrigen<br />

Verhaltens <strong>und</strong> schließlich die Verletzung des Gleichheitsgr<strong>und</strong>satzes bei der<br />

Einleitung der Strafverfolgung 18<strong>3.</strong> Als nächste Fallgruppe dürfte der Bruch einer<br />

"Zusage" durch die Strafverfolgungsbehörden diskutiert werden 184.<br />

175 Kleinknecht, StP031, Art. 6 MRK Anm. 6.<br />

176 Vgl. Kramer, Menschenrechtskonvention, S. 183 ff.; 235 ff.<br />

177 Vgl. I. Roxin, Rechtsfolgen, S. 246 ff.<br />

178 Vgl. Katzorke, Verwirkung, S. 64 ff.; 83 ff.; 196 ff.<br />

179 I. Roxin, Rechtsfolgen, S. 90; Geppert, JK 1983, MRK Art. 6/1.<br />

180 Uisenheimer, wistra 1983, S. 1<strong>3.</strong><br />

181 Vgl. BVerfG (Vorprüfungsausschuß), NStZ 1986, S. 178 (179); (Kammer), NStZ<br />

1986, S. 468; BGH, NJW 1986, S. 75 (76); NStZ 1986, S. 16<strong>3.</strong><br />

182 Rieß, JR 1985, S. 45 ff.; Hassemer, NJW 1985, S. 1928; Arloth, NJW 1985,<br />

S. 417 f.; Becker, StV 1985, S. 399 ff.; Bruns, NStZ 1985, S. 565; Geppert, JK 1985,<br />

StPO § 260 III/1; Volk, StV 1986, S. 34 ff.; Creutz, ZRP 1988, S. 417; Hillenkamp,<br />

NJW 1989, S. 2842 ff.; Seelmann, GebColloquium Kielwein, S. 25 ff.; Neumann, ZStW<br />

101 (1989), S. 74.<br />

183 <strong>Die</strong> Einordnung der Verletzung des Gleichheitsgr<strong>und</strong>satzes in diesen Zusammenhang<br />

durch Hillenkarnp (NJW 1989, S. 2845) erstaunt insofern, als daß trotz der Einstellungsbegehren<br />

in einigen Entscheidungen (BVerfG , NStZ 1982,<br />

S.430; HansOLG Hamburg, NStZ 1988, S. 467; OLG Düsseldorf, NJW 1989, S. 466;<br />

vgl. auch OLG Celle, MDR 1978, S. 954


42 1. Kap.: Überblick über den Forschungsstand B. Kritik der heute herrschenden Meinung 43<br />

In diesem Zusammenhang ist das Thema zu erwähnen, das die Strafrechtswissenschaft<br />

zur Zeit wohl am meisten beschäftigt: die "Verständigung im <strong>Strafverfahren</strong>",<br />

die sich wohl seit Mitte der siebziger Jahre nicht zuletzt als Folge<br />

<strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer in der Rechtswirklichkeit ausgebreitet hat 185. <strong>Die</strong><br />

Stellungnahmen hierzu sind nahezu unüberschaubar 186. Einigkeit herrscht jedoch<br />

in einem Punkt: Man kann "Verständigung" nicht als eine Art Rechtsfolge <strong>überlange</strong>r<br />

Verfahrensdauer begreifen. Selbst wenn man - was äußerst zweifelhaft<br />

wäre - die Bereitschaft der Strafverfolgungsorgane zur Verständigung bei (drohender)<br />

<strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer forderte 187, kann weder vom Beschuldigten<br />

ein entsprechendes Vorgehen verlangt noch das Gelingen der "Verständigung"<br />

den Beteiligten "befohlen" werden.<br />

B. Kritik der heute herrschenden Meinung<br />

I. Zum qualitativen Umschlagen<br />

in den Extremfall <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer<br />

Hat es somit den Anschein, als habe sich in Rechtsprechung <strong>und</strong> Literatur<br />

eine herrschende Meinung gebildet, die das "Entweder-Oder" zwischen Strafzumessungs-<br />

<strong>und</strong> Einstellungslösung zu einem "Sowohl-als-Auch" verbindet, so<br />

bleiben doch einige Fragen offen - Fragen, aufgr<strong>und</strong> derer diese kompromißbehaftete<br />

These in Zweifel zu ziehen ist.<br />

<strong>Die</strong> erste Frage ist: Wann liegt denn eigentlich ein solcher Extremfall vor, der<br />

zur Einstellung führen soll? <strong>Die</strong> Festlegung der Grenze für einen qualitativen<br />

Sprung zwischen "etwas rechtswidrig" <strong>und</strong> "sehr rechtswidrig" macht der Strafprozeßrechtwissenschaft<br />

<strong>und</strong> der Rechtsprechung nun bekanntlich größte Probleme.<br />

Bisher bleiben die Konturen des Extremfalles "im Ideenhimmel angesiedelt"<br />

188. Selbst der BGH hat anerkannt, daß es nicht möglich sei, "zwischen<br />

schwereren <strong>und</strong> leichteren Gesetzesverletzungen eine scharfe Grenze zu ziehen"<br />

189. Beispielhaft sei hingewiesen etwa auf die "unrichtige Sachbehandlung"<br />

185 Schünemann, Verh. 58. DJT, S. B 16.<br />

186 Vgl. die Bibliographie bei Niemöller, StV 1990, S. 38 sowie Rönnau, <strong>Die</strong> Absprache<br />

im Strafprozeß; Wagner / Rönnau, GA 1990, S. 387 ff.; RuP 1990, S. 161 ff.; Schünemann,<br />

Verh. 58. DJT, S. B 1 ff.; Niemöller, StV 1990, S. 34 ff.; Lüderssen, StV 1990,<br />

S. 415 ff.; Wolfslast, NStZ 1990, S. 409 ff.; Caesar, RuP 1990, S. 45 ff.; K.-H. Koch,<br />

ZRP 1990, S. 249 ff.; Hamm, ZRP 1990, S. 337 ff.; Schmidt-Hieber, DRiZ 1990,<br />

S. 321 ff.; NJW 1990, S. 1884 ff.; Möh1mann, DRiZ 1990, S. 201 ff.; Kintzi, JR 1990,<br />

S. 309 ff.; Weigend, JZ 1990, S. 774 ff.<br />

187 Vgl. Siolek, DRiZ 1989, S. 32<strong>3.</strong> Siehe jetzt auch BGH, NStZ 1991, S. 346 (347 0.<br />

188 Hillenkamp, NJW 1989, S. 2845; ähnlich Kohlmann, FS Pfeiffer, S. 211.<br />

189 BGH, LM Nr. 25 zu § 24 LwVG; NJW-RR 1986, S. 1263 (1264); ebenso<br />

BayObLGSt 1988, S. 120 (123); vgl. dazu Bohnert, Beschränkungen der strafprozessualen<br />

Revision durch Zwischenverfahren, S. 5<strong>3.</strong><br />

bei § 8 GKG 190, die "unvertretbare" Rechtsauslegung bei § 338 Nr. 1 StPO 191,<br />

den "groben Rechtsfehler" bei § 24 Abs. 2 StPO 192, die "Beugung des Rechts"<br />

bei § 336 StGB 193 oder die "greifbare Gesetzeswidrigkeit" etwa bei § 55 JGG 194.<br />

So finden sich selbst in der Rechtsprechung die unterschiedlichsten Versuche,<br />

über Kategorien wie Rechtsverweigerung 195, Verfahrensstillstand 196, Willkür 197<br />

<strong>und</strong> Irreparabilität 198 die qualitative Abgrenzung bei Verfahrensverzögerungen<br />

zu leisten.<br />

Einen interessanten Weg, dieses Umschlagen inhaltlich festzulegen, ist neuerdings<br />

Imme Roxin gegangen 199. Für sie ist ein Verfahren dann einzustellen, wenn<br />

der Zeitraum der Verfahrensverzögerungen den Regelstrafrahmen des begangenen<br />

- besser wohl: vorgeworfenen - Delikts bereits ausschöpft. <strong>Die</strong>se Lösung<br />

wirkt allerdings - andere Bedenken zunächst zurückgestellt - nur so lange,<br />

wie Hillenkamp meint 200, "bestechend klar", wie die Feststellung <strong>von</strong> Verfahrensverzögerungen<br />

ein "simples Rechenexempel"201 sein sollte.<br />

11. Zum Vorliegen <strong>von</strong> Verzögerungen<br />

Genau hier liegt aber ein entscheidendes Problem. Ungeklärt ist zunächst<br />

einmal, wann überhaupt Verzögerungen vorliegen. Es fällt schon die negative<br />

Abgrenzung schwer, daß Verfahrensverzögerungen, die der Beschuldigte selbst<br />

verursacht hat, nicht geeignet seien, die Feststellung einer seine Rechte verletzenden<br />

<strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer zu begründen. Gilt dies nur dann, so ist zu<br />

190 Siehe dazu unten, 8. Kap. A 11.<br />

191 Siehe dazu unten, 5. Kap. B 11 <strong>3.</strong><br />

192 Siehe dazu unten, 2. Kap. Bill b aa.<br />

193 Siehe dazu unten, 2. Kap. B 11 2 d aa.<br />

194 Vgl. BayObLG, NStZ 1989, S. 194 (195); vgl. auch BGH, NJW 1990, S.838<br />

(840) m. w.N.<br />

195 Vgl. BGHSt 21, S. 81 (83); OLG Kob1enz, NJW 1972, S. 404 (405); OLG Zweibrücken,<br />

StV 1989, S. 51 (52).<br />

196 Vgl. OLG Zweibrücken, StV 1989, S. 51 (52); LG Köln, NStZ 1989, S. 442 (443).<br />

197 Vgl. BGHSt 35, S. 137 (138; 140; 141); OLG Celle, NJW 1963, S. 1320 (1321);<br />

OLG Düsseldorf, NJW 1986, S. 2204 (2205); MDR 1989, S. 935; BayObLG, StV 1989,<br />

S.394.<br />

198 Vgl. BGHSt 35, S. 137 (142).<br />

199 1. Roxin, Rechtsfolgen, S. 255 ff.; zustimmend Schroth, NJW 1990, S. 31; wohl<br />

auch C. Roxin, <strong>Strafverfahren</strong>srecht 21 , § 16 C. Siehe auch Wolter in SK StGB, vor<br />

§ 151 Rn. 210.<br />

200 Hillenkamp, NJW 1989, S. 2847 Fn. 71.<br />

201 I. Roxin, Rechtsfolgen, S. 262; ähnlich Uisamer, FS Faller, S. 384; dagegen BoUke,<br />

StV 1986, S. 121 Fn. 11: Im Einzelfall unauslotbare Verantwortlichkeit für eine lange<br />

Verfahrensdauer. Gegen eine "strenge Mathematisierbarkeit" auch Kühne, EuGRZ 1983,<br />

S.38<strong>3.</strong>


44 1. Kap.: Überblick über den Forschungsstand B. Kritik der heute herrschenden Meinung 45<br />

fragen, wenn dem Beschuldigten Prozeßverschleppung (vgI. §§ 26a I Nr. 3,<br />

244 III Satz 2 vorI. Alt., 245 11 1. Alt. StPO) vorgeworfen werden kann? Oder<br />

auch dann, wenn der Beschuldigte die Verzögerungen etwa durch Flucht, durch<br />

Verwischen seiner Spuren oder durch Vortäuschen <strong>von</strong> Verhandlungsunfähigkeit<br />

herbeigeführt hat202? Oder darfdem Beschuldigten auch jedes prozessual unzulässige<br />

Handeln angelastet werden, aber nicht anderes, wenn auch objektiv verzögerndes<br />

<strong>und</strong> aussichtsloses Verhalten (z. B. Schweigen, Leugnen, Stellen <strong>von</strong><br />

Beweisanträgen USW.)203? Oder ist letzteres ihm dann zuzuordnen, wenn er keine<br />

"hinreichende Veranlassung" hatte 204 ? Oder gilt dies gar für alle im Ergebnis<br />

unbegründeten Prozeßhandlungen 20S? Oder sogar auch für zulässiges <strong>und</strong> begründetes<br />

Prozeßverhalten des Beschuldigten 206 ? Oder sind Verzögerungen nur dann<br />

relevant, wenn der Beschuldigte ihnen nicht mit Entschiedenheit entgegengetreten<br />

ist 207 ?<br />

Aber selbst dies außer acht gelassen, ist der zeitliche Umfang der Verzögerungen<br />

nicht einfach zu bestimmen: Es kann nicht darauf ankommen, wie schnell<br />

ein <strong>Strafverfahren</strong> theoretisch <strong>und</strong> isoliert betrachtet hätte stattfinden können 208<br />

- was ohnehin hinsichtlich des Entschließungszeitraums der Strafverfolgungsbehörden<br />

nicht quantifizierbar ist 209 . Strafsachen sind nicht nach dem Prinzip: "Wer<br />

zuerst kommt, mahlt zuerst!" zu bearbeiten 210. <strong>Die</strong>s verbietet sich sogar; so sind<br />

beispielsweise nach Nr. 5 IV RiStBV Haftsachen, Strafsachen, die besonderes<br />

Aufsehen erregt haben, <strong>und</strong> Strafsachen mit kurzer Verjährungsfrist "besonders<br />

zu beschleunigen". Rechtsmittelsachen sind stets als Eilsachen zu behandeln<br />

(Nr. 153 RiStBV).<br />

Betrachtet man Einzelfragen, entsteht endgültig Konfusion: Wie sind Personalmangel<br />

oder Überlastung <strong>von</strong> Gericht bzw. Justizverwaltung zu würdigen 211 ?<br />

Muß etwa die durchschnittliche Arbeitsbelastung empirisch ermittelt werden,<br />

wie Kohlmann meint 212 ? Können Verzögerungen im Verlaufdes weiteren Verfah-<br />

202 LG Frankfurt, JZ 1971, S. 234 (236); Geppert, JK 1983, MRKArt. 6/1; vgl. auch<br />

BGH, GA 1977, S. 275 (276).<br />

203 Vgl. BGH, wistra 1983, S. 106; Geppert, JK 1983, MRK Art. 6/1.<br />

204 Priebe, FS v. Simson, S. 304.<br />

205 So offenbar Molketin, BA 1982, S. 184.<br />

206 BVerfG (VorpTÜfungsausschuß), NJW 1984, S.967; OLG Koblenz, VRS 59,<br />

S. 339 (340).<br />

207 OLG Karlsruhe, NJW 1972, S. 1907 (1908); dagegen ausdrücklich OLG Stuttgart,<br />

JZ 1974, S. 268 (269).<br />

208 Vgl. BVerfG (Vorprüfungsausschuß), EuGRZ 1982, S. 75 (76).<br />

209 Vgl. BGH, StV 1988, S. 441; Schairer, Der befangene Staatsanwalt, S. 133; Thiel,<br />

<strong>Die</strong> Verfolgungspflicht im Rahmen verdeckter Ermittlungen, S. 58.<br />

210 Vgl. Frowein / Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 108; selbst Zivilsachen nicht, vgl. J.<br />

Blomeyer, NJW 1977, S. 558; Kloepfer, JZ 1979, S. 215. Vgl. auch Weber-Grellet, NJW<br />

1990, S. 1777.<br />

211 Siehe dazu unten, <strong>3.</strong> Kap. B H.<br />

212 Kohlmann, FS Maurach, S. 511.<br />

rens durch besonders zügige Verfahrensabwicklung wieder ausgeglichen werden2l3?<br />

Liegen überhaupt Verzögerungen vor, wenn etwa eine Hauptverhandlung<br />

überdurchschnittlich lange vorbereitet wird mit dem Ziel, das Verfahren in dieser<br />

Instanz zum Abschluß zu bringen, also Verzögerungen durch Rechtsmittel zu<br />

vermeiden 214 ? Was ist, wenn ein Gesamtkomplex in "aufgelöster Verfahrensweise"<br />

erledigt wird, so daß jedes Verfahren, isoliert betrachtet, nicht verzögert<br />

wird, die Zergliederung aber die Erledigung des Gesamtkomplexes verzögert 21S ?<br />

Liegt auch zu berücksichtigende Überlänge vor, wenn bei auf Verschleppungsabsicht<br />

beruhenden Anträgen eine verzögerte Bearbeitung durch die Strafverfolgungsbehörden<br />

auftritt 216 ?<br />

Hat demzufolge optimale Strafmaßverteidigung dahin zu führen, daß letztendlich<br />

sich Gericht <strong>und</strong> Staatsanwaltschaft zu verteidigen haben, was die Notwendigkeit<br />

oder Schnelligkeit bestimmter Verfolgungshandlungen angeht? Sind verbleibende<br />

Zweifel an der ordnungsgemäßen Ermittlungs- <strong>und</strong> Prozeßtätigkeit<br />

dann zugunsten des Beschuldigten zu berücksichtigen 217 ? Kann es vom Beschuldigten<br />

<strong>und</strong> seinem Verteidiger erwartet werden, in der Hauptverhandlung oder<br />

im Revisionsverfahren ihre Verteidigungsstrategie zu offenbaren, um darzulegen,<br />

daß der Zeitraum, der aufgr<strong>und</strong> bestimmter Verteidigungshandlungen verflossen<br />

ist, nicht dem Beschuldigten angelastet werden darf? Kann es dazu kommen,<br />

daß die im Strafprozeß nur bedingt bekannte Verspätung <strong>von</strong> Prozeßhandlungen<br />

de facto über die Strafzumessung eingeführt wird?<br />

IH. Zur dogmatischen Begründung<br />

Schließlich schafft es die Kompromißlösung aber auch nicht, in dem Argumentationspatt<br />

zwischen Strafzumessungs- <strong>und</strong> Einstellungslösung die Vorzüge der<br />

beiden unter Vermeidung ihrer Nachteile zu verbinden:<br />

Was zunächst die dogmatische Zulässigkeit angeht, so hat schon der 2. Senat<br />

des BGH in seiner Gr<strong>und</strong>satzentscheidung gefolgert, daß das Mittel des Verfahrenshindernisses<br />

seiner Natur nach gänzlich ungeeignet sei, auf<strong>überlange</strong> Verfahrensdauer<br />

zu reagieren. Es könne immer nur dort eingreifen, wo in sinnvoller<br />

Weise an eine bestimmte, für das Verfahren im ganzen uneingeschränkt rechtserhebliche<br />

Tatsache angeknüpft werden könne, wie es etwa beim Ablauf einer<br />

Frist der Fall sei. Eine Vernachlässigung des Beschleunigungsgebots sei jedoch<br />

für sich keine Tatsache, welche in diesem Sinne der Eigenart des Prozeßhindernis-<br />

213 Siehe dazu unten, 5. Kap. B H 4.<br />

214 Vgl. W. Gollwitzer, FS Kleinknecht, S. 153; Bender / Heissler, ZRP 1978, S. 30;<br />

Helmken, ZRP 1978, S. 134.<br />

215 Vgl. K. Peters in: Strafprozeß <strong>und</strong> Reform, S. 8<strong>3.</strong><br />

216 Vgl. Peukert, EuGRZ 1979, S. 272; Ulsamer, FS Faller, S. 378 f.<br />

217 Vgl. Michael, Der Gr<strong>und</strong>satz In dubio pro reo im <strong>Strafverfahren</strong>srecht, S. 172.


46 1. Kap.: Überblick über den Forschungsstand B. Kritik der heute herrschenden Meinung 47<br />

ses gemäß sein könnte. Es könne für eine so weitgehende Rechtsfolge nicht auf<br />

die Verfahrensverzögerung schlechthin, sondern nur auf die Unangemessenheit<br />

der Verzögerung ankommen, also auf ein Werturteil 2IR • In der Literatur ist diese<br />

Ansicht gelegentlich als methodisch naiv, vordergründig <strong>und</strong> trivial abgelehnt<br />

worden 219. Vielmehr sei umgekehrt die Strafzumessungslösung unhaltbar, da<br />

<strong>überlange</strong> Verfahrensdauer nicht das Unrecht der Tat des Beschuldigten berühre<br />

220 . Dementsprechend sprach Hillenkamp <strong>von</strong> der Abschiebung des Problems<br />

in die Strafzumessung 221 , die einen "zweifelhaften Komprorniß" darstelle 222 <strong>und</strong><br />

dogmatisch wenig zutreffend seim. Dahs nannte die Strafzumessungslösung eine<br />

"Krücke", die eines Rechtsstaats unwürdig sei 224, Schwenk die Strafmilderung<br />

eine "willkürlich gewählte Folgerung" 225.<br />

<strong>Die</strong>ses Argumentationspatt wird noch dadurch bestätigt, daß neuerdings beide<br />

Lösungen Befürworter finden unter Aufweichung ihrer dogmatischen Gestalt:<br />

Während Rieß für die Einstellungslösung ins Gespräch bringt, ob nicht "außerhalb<br />

des Begriffs des Verfahrenshindernisses" das Rechtsinstitut des"Verfolgungsverbotes"<br />

selbständig entwickelt werden könnte 226, verteidigt etwa der 2. Strafsenat<br />

die Strafzumessungslösung damit, schuldunabhängige Gesichtspunkte könnten<br />

hier selbst zur Schuldunterschreitung der Strafe führen 227; der 1. Senat wiederum<br />

formulierte, die Berücksichtigung verfahrensrechtlicher Vorgänge sei "geboten",<br />

um "Verletzungen der Menschenrechtskonvention durch Strafmilderung auszugleichen"<br />

228.<br />

Ein weiterer dogmatischer Einwand betrifft die Strafzumessungslösung insofern,<br />

als sie dem Freigesprochenen keine Kompensation für eine Verletzung des<br />

Beschleunigungsprinzips gewährt 229 . Dem hält der BGH entgegen, daß dem<br />

218 BGHSt 24, S. 239 (240); ähnlich 32, S. 345 (351 f.); NStZ 1983, S. 135; Urt. v.<br />

18.2.1976 - 2 StR 566/75 (Anhang 4); LG Köln, NStZ 1989, S. 442 (443); K. Schäfer<br />

in LR24, Ein!. Kap. 11 Rn. 9; Heubel, Der "fair trial", S. 121; Reinecke, <strong>Die</strong> Fernwirkung<br />

<strong>von</strong> Beweisverwertungsverboten, S. 199; Hillenkamp, NJW 1989, S.2846. Dagegen<br />

aber Paulus in KMR, § 206a Rn. 36.<br />

219 Volk, ProzeBvoraussetzungen, S.215; Schünemann, StV 1985, S.427; ähnlich<br />

Geppert, JK 1983, MRK Art. 6/1.<br />

220 Horn in SK StGB, § 46 Rn. 136; 146; Frisch, ZStW 99 (1987), S. 379 f.; Bruns,<br />

MDR 1987, S. 181; Kühne, EuGRZ 1983, S. 384; I. Roxin, Rechtsfolgen, S. 18<strong>3.</strong><br />

221 Hillenkamp, JR 1975, S. 139; zustimmend Ulsenheimer, wistra 1983, S. 14; ähnlich<br />

Bruns, StV 1984, S. 39<strong>3.</strong><br />

222 Hillenkamp, JR 1975, S. 134.<br />

213 Hillenkamp, JR 1975, S. 138; ähnlich I. Roxin, Rechtsfolgen, S. 182 f.<br />

224 Dahs, NJW 1974, S. 154<strong>3.</strong><br />

225 Schwenk, JZ 1976, S. 58<strong>3.</strong><br />

226 RieB, JR 1985, S. 48; vg!. auch BGHSt 35, S. 137 (143).<br />

227 BGH, NStZ 1986, S. 162; StV 1988, S. 296; vg!. auch NJW 1986, S. 75 (76); StV<br />

1988, S. 295.<br />

228 BGH, NStZ 1989, S. 526; ähnlich StV 1989, S. 487 (488); wistra 1990, S. 20.<br />

229 Hillenka.np, JR 1975, S. 139; NJW 1989, S. 2846 f. Fn. 67.<br />

Unschuldigen bei Verfahrenseinstellung die "Genugtuung des Freispruchs" versagt<br />

bliebe 230. Geppert kontert dieses Argument damit, daß eben dies bei der<br />

Verfahrenseinstellung wegen Verfolgungsverjährung ebenso der Fall wäre 231 .<br />

Vielmehr würden die Strafverfolgungsbehörden, wie das LG Frankfurt formulierte,<br />

im Fall des Weiterprozessierens "mit jeder weiteren Prozeßhandlung ein<br />

ausdrücklich normiertes Menschenrecht des Angeklagten verletzen, obwohl ihnen<br />

dies bewußt wäre; sie müßten mit anderen Worten wissentlich <strong>und</strong> willentlich<br />

Recht verletzen" 232. Darüber hinaus wird darauf hingewiesen, daß dieses Problem<br />

schon rein rechtstatsächlich gering sei: Zunächst stelle sich die Unschuld nur<br />

äußerst selten erst nach <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer heraus 233; insbesondere würde<br />

bei dem nur nicht überführten Betroffenen kaum einmal der Wunsch nach<br />

Rehabilitierung stärker sein als der nach Beendigung des Verfahrens 234 . Zudem<br />

sei die einhellige Rechtsprechung, daß der Freispruch vor der Einstellung Vorrang<br />

hat 235, dahingehend zu erweitern, daß das Verfahren auch dann fortgeführt werden<br />

kann, wenn die Möglichkeit eines Freispruchs naheliegt <strong>und</strong> die noch erforderliche<br />

Sachaufklärung mit präsenten Beweismitteln <strong>und</strong> ohne nennenswerte Verzögerung<br />

erreichbar ist 236 . Noch weitergehend sei daran zu denken, daß diese als<br />

nobile officium bezeichnete Möglichkeit gerade bei Verstößen gegen das Beschleunigungsprinzip,<br />

also Verstößen gegen gerade die Pflicht, die hier die Verfahrensfortführung<br />

verbieten soll, zu einem Recht des Beschuldigten erstarken<br />

könnte 237. Schließlich beschloß der 50. Deutsche Juristentag 238 auf Vorschlag<br />

<strong>von</strong> Bruns 239 , die zukünftige Gewährung einer "prozeßhindernden Einrede der<br />

<strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer" zu prüfen, also faktisch dem Beschuldigten eine<br />

Art Wahlrecht zuzubilligen 240.<br />

Doch das entscheidende Argument der Befürworter der Strafzumessungslösung<br />

stellt sich als ein pragmatisches dar: Das "Alles oder Nichts" der Einstellungslö-<br />

230 BGHSt 24, S.239 (241); ähnlich OLG Karlsruhe, NJW 1972, S. 1907 (1908);<br />

Hanack, JZ 1971, S. 714; Rüping, Das <strong>Strafverfahren</strong>2, S. 110.<br />

231 Geppert, JK 1983, MRK Art. 6/1.<br />

232 LG Frankfurt, JZ 1971, S. 234 (235); ähnlich Hillenkamp, JR 1975, S. 139; Schroth,<br />

NJW 1990, S. 31.<br />

233 I. Roxin, Rechtsfolgen, S. 265.<br />

234 Hillenkamp, JR 1975, S. 140; Ulsenheimer, wistra 1983, S. 14.<br />

235 RGSt 70, S. 193 (196); BGHSt 13, S. 75 (80); S. 268 (273); 20, S. 333 (335);<br />

OLG Düsseldorf, NJW 1950, S. 360; 1982, S. 2614 (2615); 1989, S. 51; BayObLGSt<br />

1963, S. 44 (47); NJW 1989, S. 1621 (1622); OLG Celle, NJW 1968, S. 2119 (2120);<br />

OLG Oldenburg, NJW 1982, S. 1166; KG, NStZ 1983, S. 561; JR 1990, S. 124. Ausführlich<br />

dazu K. Kühl, Unschuldsvermutung, Freispruch <strong>und</strong> Einstellung, S. 87 f.<br />

236 K. Schäfer in LR24, Ein!. Kap. 11 Rn. 56; W. Gollwitzer in LR24, § 245 Rn. 86;<br />

§ 260 Rn. 100; Sax in KMR, Ein!. IX Rn. 19; Kleinknecht 1Meyer, StP039, § 244 Rn. 1<strong>3.</strong><br />

237 Hillenkamp, JR 1975, S. 140; ähnlich I. Roxin, Rechtsfolgen, S.266; Schroth,<br />

NJW 1990, S. 31; wohl auch Kleinknecht/Meyer, StP039, § 244 Rn. 1<strong>3.</strong><br />

238 Verh. 50. DJT, S. K 271.<br />

239 Bruns, Verh. 50. DJT, S. K 83; K 87.<br />

240 Ähnlich auch Kramer, Menschenrechtskonvention, S. 195: Widerspruchsrecht.


48 I. Kap.: Überblick über den Forschungsstand<br />

sung, wie es der 2. BGH-Senat genannt hat 241 , erscheint unbillig. <strong>Die</strong> Strafzumessungslösung<br />

stelle, wie Zipf es ausdrückt, "wegen ihrer flexiblen Lösungsmöglichkeit<br />

eine angemessene Bewältigung des Problems" der Verfahrensverzögerungen<br />

dar 242 ; sie sei, so die bezeichnende Formulierung Kloepfers, "zu bevorzugen"<br />

24<strong>3.</strong> Zwar läßt sich gegen diese Argumentation einwenden, daß der<br />

Strafzumessungslösung die Gefahr innewohnt, nicht statt des "Alles oder Nichts"<br />

dem Beschuldigten "Etwas" zu bieten, sondern "Strafrabatt" lediglich "verbal"<br />

zu gewähren244; hierbei handelt es sich allerdings um ein prinzipielles Problem<br />

der Strafzumessung 245. Es bleibt aber doch das Ergebnis, daß die neue, kombinierte<br />

Lösung nicht die dogmatischen Probleme löst, sondern sie eher vertieft als<br />

Preis dafür, das "Etwas oder Alles" der Strafzumessungsvariante mit dem<br />

"Nichts" der Einstellungsvariante pragmatisch zu verbinden - <strong>und</strong> damit den<br />

Weg über die Strafzumessung um die dort vermißte "Nullösung" 246 zu erweitern.<br />

Zweites Kapitel<br />

Schwierigkeiten der Beschleunigung <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong><br />

Zur Relevanz eines umfassenden Rechtsfolgensystems<br />

Das Problem der Rechtsfolgen <strong>überlange</strong>r <strong>Dauer</strong> <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong> ist also<br />

nach wie vor existent. Auf seine Lösung ist diese Untersuchung ausgerichtet.<br />

In diesem Kapitel sind zunächst einige Überlegungen anzustellen, ob durch<br />

Rechtsänderungen de lege ferenda das <strong>Strafverfahren</strong> an sich beschleunigt werden<br />

könnte. Hier ließe sich - allerdings nur rein theoretisch - das Übel an der<br />

Wurzel packen, gelänge es, <strong>überlange</strong> Verfahrensdauer gr<strong>und</strong>sätzlich unmöglich<br />

zu machen. Weiterhin ist zu erörtern, inwieweit prozessuale Möglichkeiten des<br />

Beschuldigten, Verzögerungen seines Verfahrens entgegenzuwirken, bestehen.<br />

<strong>Die</strong> Relevanz der Rechtsfolgenbestimmung <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer ergibt<br />

sich gerade dann, wenn eine Verfahrensbeschleunigung durch Initiative des Gesetzgebers<br />

mittels Rechtsänderungen oder durch Initiative des Beschuldigten<br />

mittels Rechtswahrnehmung nur unbefriedigend möglich ist. Es besteht dann zur<br />

Einräumung weitgehender Rechtsfolgen <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer weder die<br />

Alternative "Einschreiten des Gesetzgebers" 1 noch die der Wahrnehmung <strong>von</strong><br />

prozessualen Möglichkeiten durch den Beschuldigten 2.<br />

A. Verfahrensbeschleunigung durch den Gesetzgeber<br />

241 BGHSt 24, S. 239 (241).<br />

242 Zipf, Strafprozeßrecht 2 , S. 89.<br />

243 Kloepfer, JZ 1979, S. 215 Rn. 5<strong>3.</strong><br />

244 Ulsenheimer, wistra 1983, S. 14; HWiStR, S. 4; ähnlich Kohlmann, FS Pfeiffer,<br />

S. 211 f.; Schroth, NJW 1990, S. 31; Peukert, EuGRZ 1979, S. 263; Ress in: Europäischer<br />

Menschenrechtsschutz, S.283; vgl. auch Hillenkamp, JR 1975, S. 139; Schünemann,<br />

StV 1985, S. 426.<br />

245 Vgl. etwa Bruns, Das Recht der Strafzumessung 2 , S. 263 f.; Montenbruck, Abwägung<br />

<strong>und</strong> Umwertung, S. 46; We. Schmid, <strong>Die</strong> Verwirkung <strong>von</strong> Verfahrensrügen, S. 320;<br />

H. Weber, NJW 1961, S. 1388 f.<br />

246 Hillenkamp, NJW 1989, S. 2846 Fn. 67.<br />

Das Beschleunigungsprinzip ist in der Strafprozeßordnung - anders als etwa<br />

in § 9 I Satz 1 ArbGG3 - nicht ausdrücklich ausgesprochen. <strong>Die</strong> Einfügung<br />

einer entsprechenden Vorschrift lehnte der Gesetzgeber 1974 mit der Begründung<br />

ab, "die Tragweite <strong>und</strong> Bedeutung einer solchen Vorschrift" sei nur aus den<br />

Einzelvorschriften zu erschließen, was Wissenschaft <strong>und</strong> Rechtsprechung zu<br />

überlassen sei 4 . Nach allgemeiner Ansicht ist der Beschleunigungsgr<strong>und</strong>satz<br />

I So aber Kohlmann, FS Pfeiffer, S. 208 ff.; Hillenkamp, JR 1975, S. 13<strong>3.</strong><br />

2 Vgl. etwa C. Roxin, <strong>Strafverfahren</strong>srecht 21 , § 16 C; Müller-<strong>Die</strong>tz, ZStW 93 (1981),<br />

S. 1246; Priebe, FS v. Simson, S. 288.<br />

3 § 9 I Satz I ArbGG: "Das Verfahren ist in allen Rechtszügen zu beschleunigen".<br />

4 Begr. RegE 1. StVRG, BT-DrS 7/551, S. 37. Für eine solche Vorschrift Kohlmann,<br />

FS Maurach, S. 511 f.; Asbrock, Gr<strong>und</strong>züge <strong>und</strong> Besonderheiten eines <strong>Strafverfahren</strong>s<br />

<strong>und</strong> einer Gerichtsverfassung für Jungerwachsene, S. 165 ff.<br />

4 Scheffler


52 2. Kap.: Schwierigkeiten der Beschleunigung <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong> A. Verfahrensbeschleunigung durch den Gesetzgeber 53<br />

Wichtigstes gesetzgeberisches Beispiel für eine solche Fristsetzung im Rahmen<br />

der Strafprozeßreform bildet der durch das StPÄG <strong>von</strong> 1964 eingefügte § 121<br />

StPO, der Art. 5 III EMRK jedenfalls partiell realisieren soll 27. Gemäß § 121<br />

StPO ist bis zu einem auf Freiheitsentziehung lautenden Urteil der Vollzug der<br />

Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus <strong>von</strong> der Anordnung des Oberlandesgerichts<br />

auf Vorlage <strong>von</strong> Amts wegen abhängig <strong>und</strong> nur aus "wichtigem Gr<strong>und</strong>"<br />

zulässig.<br />

Im Anschluß daran könnte erwogen werden, Vorschriften zu schaffen, nach<br />

denen für einzelne Abschnitte des Verfahrens, insbesondere für das Ermittlungsverfahren,<br />

gesetzliche Fristen gesetzt werden, nach deren Ablauf die Akten etwa<br />

dem Oberlandesgericht vorzulegen wären, das ausnahmsweise eine Fristverlängerung<br />

genehmigen könnte 28 • <strong>Die</strong> Einführung solcher Vorschriften ist gelegentlich<br />

schon in Betracht gezogen worden 29 • Eine Variante findet sich im Beamtendisziplinarrecht<br />

(§ 66 BDO), wo nach Ablauf einer Sechsmonatsfrist seit Verfahrenseinleitung<br />

der Beamte die Entscheidung des B<strong>und</strong>esdiszplinargerichts beantragen<br />

kann, das bei Feststellung einer "unangemessenen Verzögerung" eine Frist zu<br />

bestimmen hat. In diesem Kontext ist auch auf § 138a III Nr. 3 StPO hinzuweisen,<br />

wonach - im Zusammenhang mit dem Verteidigerausschluß - innerhalb eines<br />

Jahres das Hauptverfahren zu eröffnen ist <strong>und</strong> wegen der besonderen Schwierigkeit<br />

oder des besonderen Umfanges der Sache oder eines anderen wichtigen<br />

Gr<strong>und</strong>es diese Frist um maximal ein Jahr verlängert werden kann 30 •<br />

Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß eine solche rechtliche Regelung<br />

ein "nicht ungefährliches gesetzestechnisches Instrument" darstellt 3l . <strong>Die</strong> erste<br />

Schwierigkeit besteht schon darin, daß eine solche Regelung nur dann sinnvoll<br />

ist, wenn eine wirksame Sanktionierung bei Verletzung gesichert wird 32. Eine<br />

26 Sarstedt in: Rechtsstaat als Aufgabe, S. 224 f. Vgl. auch Sendler, DVBI. 1982,<br />

S. 923 ff.<br />

27 Begr. RegE StPÄG 1964, BT-DrS IV/178, S. 25. Vgl. dazu K. Kühl, ZStW 100<br />

(1988), S. 611.<br />

28 Kritisch zur Möglichkeit der Fristverlängerung Vollkommer, ZZP 81 (1968), S. 111.<br />

29 Kohlmann, FS Maurach, S. 512 ff.; G. Schmidt, DRiZ 1971, S. 79; I. Roxin, Rechtsfolgen,<br />

S. 169; Kühne, Strafprozeßlehre3, Rn. 128; vgl. auch Küng-Hofer, Beschleunigung,<br />

S. 205.<br />

Eine entsprechende Vorschrift enthielt § 103 StPO-DDR:<br />

,,(1) Alle Ermittlungsverfahren sind innerhalb einer Frist <strong>von</strong> höchstens drei Monaten<br />

abzuschließen.<br />

(2) Der Generalstaatsanwalt setzt für die einzelnen Arten der Ermittlungsverfahren<br />

Fristen fest. Kann ausnahmsweise wegen des Umfanges der Sache oder wegen der<br />

Schwierigkeit der Ermittlungen die Frist nicht eingehalten werden, ist die Genehmigung<br />

des zuständigen Staatsanwalts zur Überschreitung der Frist einzuholen. Eine Überschreitung<br />

der Höchstfrist <strong>von</strong> drei Monaten ist nur mit Zustimmung des Staatsanwalts des<br />

Bezirkes zulässig."<br />

30 Vgl. Begr. RegE StVÄG 1979, BT-DrS 8/976, S. 38.<br />

31 Driendl, Verfahrensökonomie <strong>und</strong> Strafprozeßreform, S. 304.<br />

32 Driendl, Verfahrensökonomie <strong>und</strong> Strafprozeßreform, S. 304.<br />

solche Sanktionierung, etwa die Einräumung eines Verfahrenshindemisses oder<br />

eines Revisionsgr<strong>und</strong>es, dürfte jedoch zumindest den Beschuldigten beflügeln<br />

können, zur Verfahrensverlängerung beizutragen 33 • Das nächste Problem wäre,<br />

bei der Fristsetzung dem Rechnung zu tragen, daß Verfahren infolge der jeweiligen<br />

Deliktsstruktur unterschiedlichen Zeitraum benötigen 34. Da dies mit der<br />

Schwere des Vorwurfs zusammenhängen dürfte, ließe sich zwar entsprechend<br />

§ 78 III StGB ein abgestufter Zeitrahmen vorstellen; allerdings mag hier auch<br />

der Einwand Kohlmanns Beachtung finden, daß dies zu einer "kaum zu bewältigenden<br />

Unübersichtlichkeit" führen könnte 35 •<br />

Entscheidend aber dürfte sein, daß eine solche Regelung dem Anspruch auf<br />

unverzögertes Verfahren nur bedingt gerecht werden kann, weil selbst Fristen<br />

primär auf die absolute Verfahrensdauer, kaum aber auf Verzögerungen ausgerichtet<br />

sind: Sofern der zeitliche Rahmen, was wohl erforderlich wäre, relativ<br />

großzügig gesetzt wird, können Verfahrensverzögerungen im Sinne des unnötigen<br />

vollständigen Ausschöpfens des Zeitrahmens überhaupt nicht verhindert werden<br />

36. Umgekehrt stünde dann zu befürchten, wenn der zeitliche Rahmen sich<br />

als eng erweist - sei es, daß die Sache außerordentlich kompliziert ist, sei es,<br />

daß ein Teil der Frist durch Verzögerungen fruchtlos verstrichen ist-, daß der<br />

nun entstandene Zeitdruck sich zu Lasten der Rechtsfindung auswirkt 37 • Einedurch<br />

wen auch immer - "individuell" bemessene Frist, wie Küng-Hofer sie<br />

anspricht, ist mit diesem aus rechtsstaatlichen Gründen abzulehnen38.<br />

Nicht weniger problematisch würde sich die Vorlage darstellen. Hier stünde<br />

zu befürchten, daß selbst bei unverzögerter Vorlage - also insoweit dann strukturbedingt<br />

- aufgr<strong>und</strong> der notwendigen Einarbeitung des Vorlagegerichts <strong>und</strong><br />

des erforderlichen Einholens <strong>von</strong> Stellungnahmen nicht unerheblich Zeit verstreicht,<br />

wie dies schon hinsichtlich § 121 StPO vorgetragen wurde 39 •<br />

33 Driendl, Verfahrensökonomie <strong>und</strong> Strafprozeßreform, S. 304.<br />

34 Kohlmann, FS Maurach, S. 512; Eb. Schmidt, NJW 1968, S. 2209; Driendl, Verfahrensökonomie<br />

<strong>und</strong> Strafprozeßreform, S. 303 f.<br />

35 Kohlmann, FS Maurach, S. 512. Vgl. auch Asbrock, Gr<strong>und</strong>züge <strong>und</strong> Besonderheiten<br />

eines <strong>Strafverfahren</strong>s <strong>und</strong> einer Gerichtsverfassung für Jungerwachsene, S. 169 f.<br />

36 Vgl. Driendl, Verfahrensökonomie <strong>und</strong> Strafprozeßreform, S.304; Küng-Hofer,<br />

Beschleunigung, S. 126; Prochnow, <strong>Die</strong> Beschleunigung des <strong>Strafverfahren</strong>s in rechtsvergleichender<br />

Betrachtung, S. 259; Kern, MschrKrimPsych 15 (1924), S. 240 f.; VolIkommer,<br />

ZZP 81 (1968), S. 111.<br />

37 Kern, MschrKrimPsych 15 (1924), S. 240 f.; Küng-Hofer, Beschleunigung, S. 184.<br />

38 Küng-Hofer, Beschleunigung, S. 126.<br />

39 Vgl. Sarstedt, Justiz 1963, S. 187 f.; in: Rechtsstaat als Aufgabe, S.227; Eb.<br />

Schmidt, NJW 1968, S. 2209; K. Peters in: Strafprozeß <strong>und</strong> Reform, S. 92; G. Schmidt,<br />

DRiZ 1971, S. 79; Heinitz, FG v. Lübtow, S. 838.


54 2. Kap.: Schwierigkeiten der Beschleunigung <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong> A. Verfahrensbeschleunigung durch den Gesetzgeber 55<br />

2. Personelle <strong>und</strong> organisatorische Maßnahmen<br />

Gelegentlich wird vorgeschlagen, die Staatsanwaltschaft etwa durch Listen<br />

über die Bearbeitungsdauer oder Aktenkontrollen zu unverzögerter Arbeit anzuhalten<br />

40. Mag eine solche Kontrolle, soweit sie über Selbstverständlichkeiten<br />

hinausgeht, schon zweifelhaft sein, so ist sie wegen Art. 97 I GG noch fraglicher<br />

bezüglich der richterlichen Tätigkeit 4 \, für die sie Küng-Hofer anregt 42 . Soweit<br />

darüber hinaus sogar vorgeschlagen wird, jedenfalls die Ermittlungsbehörde habe<br />

innerhalb bestimmter Fristen Berichte über die anhängigen <strong>Strafverfahren</strong> an die<br />

Aufsichtsbehörde einzureichen43, so erscheint es möglich, daß hierdurch das<br />

Verfahren gerade aufgehalten statt gefördert wird 44 . Zudem könnte die Gefahr<br />

bestehen, daß der "leichte" Fall vorgezogen oder der "schwere" Fall verfrüht<br />

erledigt wird, um einen "Punkt" in der Statistik zu gewinnen, während andere<br />

(weiter) verzögert werden, was sich in umfangreichen, komplizierten Sachen<br />

zudem eher kaschieren lassen dürfte 45 .<br />

<strong>Die</strong>se Kontrollen gehören zum Bereich der Justizverwaltungsmaßnahmen zur<br />

Vermeidung <strong>von</strong> Verfahrensverzögerungen, unterscheiden sich aber <strong>von</strong> den im<br />

folgenden angedeuteten dadurch, daß ihre Ergreifung zur Förderung des konkreten<br />

Falles vorgetragen wird <strong>und</strong> nicht nur allgemein zur weniger verzögerten<br />

Verfahrenserledigung. Hier ist der Übergang fließend zwischen Maßnahmen, die<br />

des Gesetzgebers direkt (Gerichtsverfassungsrecht) oder indirekt (Haushaltsrecht)<br />

bedürfen oder bloß administrativen Charakter haben.<br />

Gelegentlich wird angeregt, etwa durch MehreinsteIlungen im Bereich der<br />

Gerichte, Staatsanwaltschaften <strong>und</strong> Justizverwaltungen Überlastungen entgegenzuwirken<br />

<strong>und</strong> diesbezügliche Verzögerungen zu vermeiden 46 . Dem stehen allerdings<br />

häufiger geäußerte Zweifel gegenüber, inwieweit tatsächlich generell Überlastungen<br />

der Strafverfolgungsbehörden über Einzelfälle hinaus vorliegen 47. Dem<br />

40 K. Peters in: Strafprozeß <strong>und</strong> Reform, S. 107 f.; Küng-Hofer, Beschleunigung,<br />

S. 204 f.; 29<strong>3.</strong><br />

41 Vgl. K. Peters in: Strafprozeß <strong>und</strong> Reform, S. 107, sowie Scheffler, MschrKrim<br />

68 (1985), S. 68, einerseits <strong>und</strong> BGH, DRiZ 1978, S. 185 f. (<strong>und</strong> neuerdings DRiZ 1991,<br />

S. 20 ff.), andererseits.<br />

42 Küng-Hofer, Beschleunigung, S. 29<strong>3.</strong><br />

43 Küng-Hofer, Beschleunigung, S. 204 f.<br />

44 Vgl. Scheffler, MschrKrim 68 (1985), S. 68.<br />

45 Vgl. J. Blomeyer, NJW 1977, S. 557; Stötter, NJW 1968, S. 523; Hohendorf, NJW<br />

1984, S. 958; Eisenberg, Kriminologie3, § 40 Rn. 4; vgl. auch BGH. DRiZ 1978, S. 185.<br />

46 Küng-Hofer, Beschleunigung, S. 290; Berz, NJW 1982, S. 735; Böttcher, DRiZ<br />

1983, S. 132; Caesar, RuP 1990, S. 46.<br />

47 Vgl. Sarstedt in: Rechtsstaat als Aufgabe, S. 218; Stein / Schumann / Winter in:<br />

Der Prozeß der Kriminalisierung, S. 120; Voss, DRiZ 1988, S. 466; E. Schneider, MDR<br />

1989, S. 871; Maeffert, Strafjustiz, S. 9 ff.; Ehrig, StV 1990, S. 139; Lindemann, AnwBI.<br />

1983, S. 389 ff.; Sendler, DVBI. 1982, S. 923 ff.; Hieronimi, NJW 1984, S. 108 f. Vgl.<br />

aber Hamm, ZRP 1990, S. 340: "Daß die Strafjustiz überlastet ist, bestreitet niemand".<br />

verwandt sind Vorstellungen, eine höhere Leistungsfähigkeit der Strafverfolgungsbehörden<br />

- also vor allem die Vermeidung unnötiger Maßnahmen, aber<br />

auch die schnelle, weil kompetentere Verfahrensführung - dadurch zu erreichen,<br />

daß die Juristenausbildung verbessert wird 48 . Es wird ferner vorgeschlagen, vermehrt<br />

Spezialkammern zu schaffen 49, Richter <strong>und</strong> Staatsanwälte über die Geschäftsverteilung<br />

mehr ihren Fähigkeiten entsprechend einzusetzen 50 <strong>und</strong> unnötige<br />

Versetzungen mit der Notwendigkeit der Neueinarbeitung zu vermeiden51.<br />

Nun mag gegen solche Vorschläge gr<strong>und</strong>sätzlich nichts einzuwenden sein, jedenfalls<br />

so lange nicht, wie nicht mit dem Ziel der Beschleunigung das Kind mit<br />

dem Bade ausgeschüttet <strong>und</strong> die gesamte Gerichtsverfassung zur Disposition<br />

gestellt wird 52.<br />

Sämtlichen dieser Vorschläge kommt jedoch nur geringe Bedeutung deshalb<br />

zu, weil sie das Problem <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer nicht lösen können. Sie<br />

können nur Konstellationen schaffen, in denen seltener verzögert wird, Verzögerungen<br />

an sich jedoch nicht unterbinden.<br />

<strong>Die</strong>ser Einwand hat allerdings kaum Bedeutung für rein organisatorische <strong>und</strong><br />

technische Verbesserungen: Daß Aktenbewegungen im Bereich der Justiz einfach<br />

zu lange dauern (<strong>und</strong> durch den Einsatz <strong>von</strong> EDV zumindest eingeschränkt oder<br />

durch das Anlegen <strong>von</strong> Aktendoppeln vermieden werden könnten53), ist ein<br />

Gr<strong>und</strong> für lange Verfahrensdauer 54 . Das Anlegen <strong>von</strong> Doppelakten wird übrigens<br />

schon in Nr. 1211,54 III, 56 III RiStBV genannt. Das bedeutet nun aber: Gegen<br />

Verfahrensverzögerungen bleibt der Praxis nicht viel mehr zu raten als - in<br />

leichter Abwandlung einer sarkastischen Formulierung Tiedemanns - "sie solle<br />

sich noch ein paar Fotokopierer kaufen"55.<br />

48 Küng-Hofer, Beschleunigung, S. 18; K. Peters in: Strafprozeß <strong>und</strong> Reform, S. 89 f.;<br />

108.<br />

49 Küng-Hofer, Beschleunigung, S. 291; K. Peters in: Strafprozeß <strong>und</strong> Reform, S. 103;<br />

Gössel, GA 1979, S. 248.<br />

50 K. Peters in: Strafprozeß <strong>und</strong> Reform, S. 107.<br />

5\ K. Peters in: Strafprozeß <strong>und</strong> Reform, S. 107; Michaelsen, Krim 1982, S. 499; vgl.<br />

auch Böttcher, DRiZ 1983, S. 129.<br />

52 So aber Michaelsen, Krim 1982, S. 499; vgl. auch Gössel, GA 1979, S. 250, sowie<br />

für die Zivilgerichtsbarkeit Stiefel, ZRP 1989, S. 324 f.; Stötter, NJW 1968, S.523;<br />

Lüke, FS Baumgärtel, S. 352 ff.<br />

53 Küng-Hofer, Beschleunigung, S. 13; 198 f.; 290; Prochnow, <strong>Die</strong> Beschleunigung<br />

des <strong>Strafverfahren</strong>s in rechtsvergleichender Betrachtung, S. 144 ff.; Gössel, GA 1979,<br />

S. 241 f.; Dahs, NJW 1974, S. 1542; Jescheck, JZ 1970, S. 204; Böttcher, DRiZ 1983,<br />

S.129.<br />

54 Vgl. etwa OLG Karlsruhe, NJW 1973, S. 380 (381); OLG Köln, NJW 1973, S. 1009<br />

(1010); OLG Frankfurt, MDR 1973, S. 780; StV 1983, S. 380; OLG Stuttgart, StV 1983,<br />

S. 70; HansOLG Hamburg, StV 1983, S. 289 (290).<br />

55 Tiedemann, zit. n. Hünerfeld, ZStW 85 (1973), S. 444 ("<strong>Die</strong> Praxis solle sich noch<br />

ein paar Tonbänder kaufen").


56 2. Kap.: Schwierigkeiten der Beschleunigung <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong><br />

11. Vereinfachungen der Verfahrensstruktur<br />

Regelmäßig werden in der Literatur allerdings solche Überlegungen mit Vorschlägen<br />

zu Gesetzesänderungen vermengt, die nicht darauf zielen, Verzögerungen<br />

durch die Strafverfolgungsbehörden zu verhindern, sondern darauf, die Verfahrensstruktur<br />

zu vereinfachen, um die Verfahrensdauer allgemein zu verkürzen.<br />

Sie können Verzögerungen höchstens kaschieren, sofern sie es ermöglichen,<br />

Verfahren trotz Verzögerungen noch in einem relativ kurzen Zeitraum abzuschließen.<br />

Insofern hat sich der Gesetzgeber gelegentlich zu Unrecht zur Legitimation<br />

<strong>von</strong> Verfahrensvereinfachungen auf die Rechtsprechung zu Verfahrensverzögerungen<br />

berufen 56. Auch die Vermutung, Verfahrensvereinfachungen würden<br />

<strong>überlange</strong> Verfahrensdauer deshalb nicht beseitigen, weil die Strafverfolgungsbehörden<br />

zu wenig Gebrauch <strong>von</strong> dem neu angebotenen Instrumentarium machen<br />

würden5 7, berücksichtigt nicht ihre Wirkungslosigkeit in bezug auf Verzögerungen.<br />

Innerhalb dieser Vereinfachungen sind theoretisch zwei Möglichkeiten zu<br />

unterscheiden: Es geht häufig nicht nur darum, durch mehr oder weniger große<br />

Eingriffe in die Struktur des Strafprozesses diesen zu straffen, sondern es wird<br />

auch beabsichtigt, eine Beschleunigung durch Einschränkung <strong>von</strong> Aktivitäten<br />

des Beschuldigten zu erreichen. Auch hier ist der Übergang zwischen der Eindämmung<br />

<strong>von</strong> (rechtsmißbräuchlichen) Verschleppungen <strong>und</strong> der Beschneidung <strong>von</strong><br />

Beschuldigtenrechten fließend. Praktisch lassen sich diese Varianten aber, wie<br />

Strafprozeßreform <strong>und</strong> Reformvorschläge zeigen, kaum auseinanderhalten.<br />

Ein frühes Beispiel einer solchen vereinfachenden Gesetzesänderung war die<br />

va zur Sicherung <strong>von</strong> Wirtschaft <strong>und</strong> Finanzen vom 6. 10.1931 58 , die für Strafsachen,<br />

bei denen mit einer Verhandlungsdauer <strong>von</strong> mehr als sechs Tagen zu<br />

rechnen war, die durch die Emminger-Reform abgeschaffte erstinstanzliche Zuständigkeit<br />

der Strafkammer wieder begründete mit der Folge des erneuten Wegfalls<br />

der zweiten Tatsacheninstanz 59 .<br />

A. Verfahrensbeschleunigung durch den Gesetzgeber 57<br />

fung, "das Verfahren zu beschleunigen <strong>und</strong> zu straffen <strong>und</strong> damit dem<br />

Anspruch des Beschuldigten auf Durchführung des Verfahrens in einer angemessenen<br />

Zeit gerecht zu werden" 60. <strong>Die</strong>se Linie setzte sich im StVÄG 1979 fort.<br />

Gesetzgeberische Absicht beim StVÄG 1979 war es vor allem, den Verfahrensablauf<br />

zu vereinfachen, so daß eine Beschleunigung des Strafprozesses erreicht<br />

werden könne 6 \. Schließlich wurde mit dem StVÄG <strong>von</strong> 1987 das primäre Ziel<br />

verfolgt, die Strafgerichtsbarkeit <strong>und</strong> die Staatsanwaltschaft durch Verfahrensvereinfachung<br />

zu entlasten, da der Geschäftsanteil weiter gestiegen sei <strong>und</strong> die<br />

Kompliziertheit vieler Verfahren zugenommen habe 62 .<br />

Durch dieses Gesetz sollte nun ein gewisser Abschluß der Gesetzesänderungen<br />

zwecks Vereinfachung erreicht sein 63 . Der Gesetzgeber meinte, vielfach sei nun<br />

dergesetzgeberische Spielraum für zugleich effiziente <strong>und</strong> die Gr<strong>und</strong>bedingungen<br />

eines rechtsstaatlichen Verfahrens wahrende Rechtsänderungen ausgeschöpft 64 •<br />

<strong>Die</strong>se Auffassung hatte freilich Berz schon nach Inkrafttreten des StVÄG <strong>von</strong><br />

1979 vertreten 6 5, während anderen sogar schon das 1. StVRG zu weit ging 66 ­<br />

ein Beleg dafür, daß sich (bloße) Änderungen der Prozeßstruktur <strong>und</strong> Einschränkungen<br />

der Rechtsstellung des BeSChuldigten nur theoretisch trennen lassen.<br />

Unter empirischen Gesichtspunkten ist jedenfalls aufschlußreich, inwieweit<br />

der Gesetzgeber schon in diesen drei Beschleunigungsgesetzen den Beweis der<br />

Möglichkeit des Gelingens der "Quadratur des Zirkels"67 - Prozeßbeschleunigung<br />

unter Aufrechterhaltung aller rechtsstaatlichen Garantien - schuldig geblieben<br />

ist. Gegen einen nicht unerheblichen Teil der Reformen könnten aus verschiedenen<br />

Gesichtspunkten erhebliche Bedenken anzumelden sein. <strong>Die</strong>s soll im folgenden<br />

(nur) an einigen ausgewählten Beispielen überprüft werden: Erweist sich,<br />

daß schon die durchgeführte Strafprozeßreform das erklärte Ziel der Verfahrensbeschleunigung<br />

unter Wahrung der Beschuldigtenrechte in verschiedenen Punkten<br />

verfehlt hat, ist ein gewichtiges Indiz dafür gegeben, daß weitere Änderungen<br />

der Verfahrensstruktur keinen sinnvollen Weg darstellen können, wenigstens die<br />

Verfahrensdauer allgemein zu verkürzen. <strong>Die</strong> Frage nach den Rechtsfolgen <strong>überlange</strong>r<br />

Verfahrensdauer erhielte gesteigerte praktische Relevanz.<br />

1. Strafprozeßreform - Einige Beispiele<br />

Vereinfachungsbestrebungen beherrschen die Strafprozeßreform seit 1974, in<br />

der zahlreiche, (auch) in der Wissenschaft diskutierte Beschleunigungsvorschläge<br />

realisiert wurden. Beispiele finden sich insbesondere im 1. StVRG <strong>von</strong> 1974 <strong>und</strong><br />

den StVÄGen <strong>von</strong> 1979 <strong>und</strong> 1987: Hauptziel des 1. StVRG war es laut Begründung<br />

des Regierungsentwurfes neben der Verbesserung der Verbrechensbekämp-<br />

56 Vg\. Begr. RegE 1. StVRG, BT-DrS 7/551, S. 37.<br />

57 So aber Kohlmann, FS Pfeiffer, S. 210.<br />

58 RGB\. I, S. 537 (563).<br />

59 Ausführlich dazu Fezer, Reform der Rechtsmittel, S. 35 f.<br />

60 Begr. RegE 1. StVRG, BT-DrS 7/551, S. 31; ähnlich S. 34; 36.<br />

6\ Begr. RegE StVÄG 1979, BT-DrS 8/976, S. 16.<br />

62 Begr. RegE StVÄG 1987, BT-DrS 10/1313, S. 10.<br />

63 Meyer-Goßner, NJW 1987, S. 1169.<br />

64 Begr. RegE StVÄG 1987, BT-DrS 10/1313, S. 11; vg\. auch Begr. BRatE StrÄndG,<br />

BT-DrS 10/272, S. 5. Siehe jetzt aber den Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung der<br />

Rechtspflege, BR-DrS 314/91, S. 49; 52; 106; 118.<br />

65 Berz, NJW 1982, S. 735.<br />

66 Siehe etwa I. Müller, Rechtsstaat <strong>und</strong> <strong>Strafverfahren</strong>, S. 110 ff.; Schmidt-Leichner,<br />

NJW 1975, S. 417 ff.; Dästner, RuP 1978, S. 225.<br />

67 VgI. Hünerfeld, ZStW 85 (1973), S.443; ähnlich Kloepfer, JZ 1979, S. 210 f.


58 2. Kap.: Schwierigkeiten der Beschleunigung <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong> A. Verfahrensbeschleunigung durch den Gesetzgeber 59<br />

a) <strong>Die</strong> Argumentation des Gesetzgebers<br />

Es fällt schon beim oberflächlichen Lesen der Gesetzesbegründungen auf, daß<br />

der Gesetzgeber in äußerst problematischer Weise Art. 6 I EMRK, der einen<br />

Anspruch des Beschuldigten regelt, zur Legitimation für Maßnahmen heranzieht,<br />

die die Rechtsstellung des Beschuldigten schmälern 68 . Dem Gesetzgeber dürfte<br />

dies auch bewußt gewesen sein: So führt er etwa in der Begründung zum<br />

I. StVRG zunächst aus, die Beschleunigung diene den Interessen des Beschuldigten,<br />

weil die Verpflichtung zur Achtung der Würde des Menschen es gebiete,<br />

ihn nicht länger als unerläßlich der Ungewißheit über den Ausgang des Verfahrens<br />

auszusetzen - um dann fortzufahren, es würde der Abschreckungseffekt erhöht,<br />

wenn sich niemand mehr Chancen errechnen könne, daß durch eine lange Verfahrensdauer<br />

die Wahrheitsfindung erschwert <strong>und</strong> die Vollstreckung des Urteils<br />

hinausgeschoben würde 69 . In der Begründung zum StVÄG 1979 formulierte der<br />

Gesetzgeber dann nur noch, ohne Art. 6 I EMRK zu erwähnen, die Verfahrensbeschleunigung<br />

diene dem "wohlverstandenen" Interesse des Beschuldigten 70.<br />

Durch diese "Objektivierung" des Interesses 71 wird eingestanden, daß die realen<br />

Interessen des Beschuldigten häufig anders liegen können 72. <strong>Die</strong>s zeigt sich auch<br />

dann, wenn in der Begründung wenige Sätze später als (Mit-)Ursache langer<br />

Verfahrensdauer die exzessive Ausnutzung prozessualer Möglichkeiten durch<br />

den Beschuldigten <strong>und</strong> seinen Verteidiger angedeutet7 3 <strong>und</strong> <strong>von</strong> der erstrebten<br />

"störungsfreien Durchführung" geredet wird 74 .<br />

Beispielhaft kann auf die Verfahrensumstrukturierung durch das 1. StVRG<br />

<strong>von</strong> 1974 hingewiesen werden. Durch den Wegfall der gerichtlichen Voruntersuchung,<br />

der staatsanwaltschaftlichen Schlußanhörung <strong>und</strong> des Schlußgehörs sowie<br />

die Einführung der Verpflichtung <strong>von</strong> Beschuldigten, Zeugen <strong>und</strong> Sachverständigen,<br />

auch den Ladungen der Staatsanwaltschaft Folge zu leisten, entstand wohl<br />

68 So auch Rüping, ZStW 91 (1979), S. 361; Heinicke, Der Beschuldigte <strong>und</strong> s.ein<br />

Verteidiger, S. 437; vgl. auch K. Kühl, ZStW 100 (1988), S. 622; RÖI?~r, FS Schrmdt­<br />

Leichner, S. 141. Siehe auch Blumers / Göggerle, Handbuch des Verteidigers <strong>und</strong> Beraters<br />

im Steuerstrafverfahren2, Rn. 171: Es gebe zwei Beschleunigungsgebote, nämlich<br />

den Anspruch des einzelnen Beschuldigten auf schnelle Verfahrensdurchführung<br />

(Art. 6 I EMRK) <strong>und</strong> das Gebot der schnellen Realisierung des staatlichen Bestrafungsanspruchs.<br />

Ähnlich auch Hiegert, <strong>Die</strong> Sphäre der Offenk<strong>und</strong>igkeit in der Strafprozeßordnung,<br />

S. 262. Im Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege, BR-DrS 314/<br />

91, S. 46, findet sich dennoch wieder die Berufung auf Art. 6 I EMRK.<br />

69 Begr. RegE 1. StVRG, BT-DrS 7/551, S. 34 f.<br />

70 Begr. RegE StVÄG 1979, BT-DrS 8/976, S. 16.<br />

71 Ostendorf, AK JGG, § 56 Rn. 8; ähnlich Eisenberg, JGG3, § 56 Rn. 10; siehe auch<br />

zum Begriff BGHSt 7, S. 17 (20 f.) (zu § 356 StGB); Schünemann, Verh. 58. DJT,<br />

S. B 46.<br />

72 Vgl. K. Kühl, ZStW 100 (1988), S. 622.<br />

73 Begr. RegE StVÄG 1979, BT-DrS 8/976, S. 16 f.<br />

74 Begr. RegE StVÄG 1979, BT-DrS 8/976, S. 17.<br />

unbestritten ein staatsanwaltschaftlicher Machtzuwachs, der Kritiker sogar auf<br />

die Barrikaden trieb: Dahs etwa sprach <strong>von</strong> der "Aufgabe bewährter Kontrollmechanismen<br />

<strong>und</strong> Rechtsgarantien"7S, <strong>und</strong> lngo Müller äußerte sogar, die Staatsanwaltschaft<br />

erhalte hiermit eine "Machtfülle, die man 1950 noch als typisch<br />

nationalsozialistische gebrandmarkt hatte"76. Der Gesetzgeber dagegen formulierte,<br />

diese Umgewichtung diene "auch dem Beschuldigten", da nunmehr "noch<br />

besser als bisher ungerechtfertigte Anklageerhebungen vermieden werden" könnten<br />

77.<br />

Ein weiteres Beispiel stellt die Aufhebung <strong>von</strong> § 328 11 a. F. StPO durch das<br />

StVÄG <strong>von</strong> 1987 dar, der dem Berufungsgericht die Zurückverweisung der Sache<br />

bei Verfahrensfehlern erlaubte. Hier formuliert der Gesetzgeber lapidar, eine<br />

Einbuße an Rechtsschutz für den Beschuldigten sei nicht gegeben 78. Kein Wort<br />

findet sich dazu, daß § 328 11 a. F. StPO sehr wohl dem Rechtsschutz des<br />

Beschuldigten diente: <strong>Die</strong>se Norm sollte eine ordnungsgemäße Justizgewährung<br />

in der ersten Instanz absichern <strong>und</strong> verhindern, daß der Beschuldigte eine mit<br />

einem schweren Verfahrensmangel behaftete Entscheidung hinnehmen <strong>und</strong> dadurch<br />

eine Instanz verlieren muß. Nur in diesen seltenen Fällen sollte ausnahmsweise<br />

zurückverwiesen werden 79.<br />

b) Zur empirischen Absicherung<br />

<strong>Die</strong> Beschränkung der Zurückverweisung auf Ausnahmefälle deutet an, daß<br />

sich die Bedenken gegen die Aufhebung <strong>von</strong> § 328 11 a. F. StPO noch aus einem<br />

anderen Gesichtspunkt heraus verstärken: Wie der Gesetzgeber selbst feststellt,<br />

ist eine Zurückverweisung gemäß dieser Vorschrift nur in lediglich 0,4 % aller<br />

Berufungsurteile vorgekommen 8o . Bedenkt man nun, daß nur 12 % der amtsgerichtlichen<br />

<strong>Strafverfahren</strong> in die Berufungsinstanz gegangen sind, kann man sich<br />

des Eindrucks nicht erwehren, daß hier mit Kanonen auf Spatzen geschossen<br />

worden ist 81, zumal der geringe Beschleunigungseffekt noch dadurch aufgehoben<br />

sein könnte, daß § 328 11 a. F. StPO ein Disziplinierungsmittel des Amtsrichters<br />

dahingehend darstellte, auch in Sachen, bei denen er annahm, daß sie in die<br />

75 Dahs, NJW 1974, S. 1539.<br />

76 I. Müller, KritJ 10 (1977), S. 20; noch weitergehend Schumacher, Kontinuität <strong>und</strong><br />

Diskontinuität im <strong>Strafverfahren</strong>srecht, S.44: "Der Staatsanwaltschaft wurden damit<br />

Kompetenzen eingeräumt, die sie nicht einmal im Dritten Reich hatte".<br />

77 Begr. RegE 1. StVRG, BT-DrS 7/551, S. 37.<br />

78 Begr. RegE StVÄG 1987, BT-DrS 10/1313, S. 30 f. Kritisch dazu auch BGH,<br />

wistra 1989, S. 353 f.<br />

79 Werle, ZRP 1983, S. 199; W. Gollwitzer in LR23, § 328 Rn. 23; 25. Vgl. auch<br />

BayObLGSt 1957, S. 11 (13).<br />

80 Begr. RegE StVÄG 1987, BT-DrS 10/1313, S. 31.<br />

81 Ähnlich Kempf, StV 1987, S. 222; Werle, ZRP 1983, S. 20<strong>3.</strong>


60 2. Kap.: Schwierigkeiten der Beschleunigung <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong> A. Verfahrensbeschleunigung durch den Gesetzgeber 61<br />

Berufungsinstanz gehen würden, eine ordnungsgemäße Hauptverhandlung durchzuführen82.<br />

Folge der Gesetzesänderung kann somit auch die Erhöhung der<br />

Berufungsquote sein8<strong>3.</strong><br />

Nun hat zwar der Gesetzgeber selbst betont, die Entlastungsmaßnahmen des<br />

StVÄG 1987 hätten für sich allein betrachtet nur eine geringe Entlastungswirkung<br />

84. <strong>Die</strong>sem ist auch etwa für die Vorverlegung des Präklusionszeitpunktes<br />

für Befangenheitsgesuche in § 25 I StPO zuzustimmen85. Aber diese Tendenz<br />

ist auch schon in den früheren Gesetzen zu erkennen: Grünwald weist etwa zu<br />

Recht darauf hin, daß die Begründung für die im 1. StVRG vorgesehene Zeugnispflicht<br />

vor der Staatsanwaltschaft, sie diene der ökonomischen <strong>und</strong> schnellen<br />

Verfahrensdurchführung, schon deshalb wenig überzeugend ist, weil nicht ermittelt<br />

worden ist, wie häufig denn Zeugen überhaupt die Aussage vor der Staatsanwaltschaft<br />

ablehnen 86. Denn die bloße Argumentation, es sei immerhin auch <strong>von</strong><br />

Vorteil, auch nur bisweilen auftretende Zeitverluste auszuschließen, ist fragwürdig,<br />

weil regelmäßig dieser Vorteil durch die Beeinträchtigung anderer Interessen<br />

erkauft wird 87.<br />

So wird, um ein weiteres Beispiel zu nennen, durch das 1. StVRGErgG <strong>von</strong><br />

1974 in § 137 I StPO die Zahl der <strong>von</strong> einem Beschuldigten zu wählenden<br />

Verteidiger auf drei herabgesetzt, um Prozeßverschleppung <strong>und</strong> Prozeßvereitelung<br />

zu verhindern 88. Der Gedanke der Beschränkung der Verteidigeranzahl<br />

tauchte im Gesetzgebungsverfahren erst spät auf89 <strong>und</strong> stellte eine Reaktion auf<br />

die Terroristenverfahren dar 90 (so waren im sog. Baader-Meinhof-Verfahren zu<br />

einem Zeitpunkt für den Beschuldigten Baader 22 Anwälte, für Ensslin <strong>und</strong><br />

Meinhof je 16, für Meins 14 <strong>und</strong> für Raspe 17 Anwälte als Verteidiger bevollmächtigt,<br />

infolge der seinerzeit zulässigen Mehrfachverteidigung insgesamt 32<br />

Anwälte91). Auch hier wurde ohne empirische Absicherung dahingehend, wie<br />

häufig eine größere Anzahl <strong>von</strong> Verteidigern für einen Beschuldigten auftritt 92<br />

82 Vgl. Steindorf in KK OWiG, § 79 Rn. 153 (zu § 79 VI 2. Alt. OWiG).<br />

83 Vgl. Werle, ZRP 1983, S. 202 f.<br />

84 Begr. RegE StVÄG 1987, BT-DrS 10/1313, S. 12.<br />

85 Vgl. weitergehend Kempf, StV 1987, S. 220: "keinerlei Beschleunigungseffekt";<br />

Brüssow, FG L. Koch, S. 00: "allenfalls ... Verzögerung des Verfahrens".<br />

86 Grünwald, Verh. 50. DJT, S. C 1<strong>3.</strong><br />

87 Grünwald, Verh. 50. DJT, S. C 1<strong>3.</strong><br />

88 Rechtsausschußbericht zum RegE 2. StVRG, BT-DrS 7/2989, S. <strong>3.</strong><br />

89 Siehe Stellungsnahme BRat zum RegE 2. StVRG, BR-DrS 348/74, S. 4.<br />

90 Laufhütte in KK2, § 137 Rn. 2; H. W. Schmidt, MDR 1977, S. 529; Herrmann,<br />

JuS 1976, S. 417; Schmidt-Leichner, NJW 1975, S. 419; vgl. auch Witte, DRiZ 1978,<br />

S. 291; Rebmann, DRiZ 1979, S. 366.<br />

91 Löchner, FS Rebmann, S. 311. In drei weiteren Verfahren dieses Komplexes waren<br />

13,15 <strong>und</strong> 16 Verteidiger für jeweils einen Beschuldigten tätig (vgl. BVerfGE 39, S. 156<br />

(159 f.); Vogel, NJW 1978, S. 1224; Küng-Hofer, Beschleunigung, S. 163 f.; Witte,<br />

DRiZ 1978, S. 291).<br />

<strong>und</strong> inwieweit dadurch Verfahren verzögert werden, Eingriffe in die Verfahrensstruktur<br />

vorgenommen, die unter den Gesichtspunkten der Waffengleichheit93<br />

<strong>und</strong> der anwaltlichen Berufsfreiheit 94 angegriffen worden sind <strong>und</strong> jedenfalls in<br />

Großverfahren berechtigte Interessen des Beschuldigten beeinträchtigen dürften<br />

95. Besonders auffällig ist der Widerspruch zu der gleichzeitigen, aber länger<br />

geplanten 96 Änderung des § 146 StPO. Hierdurch wurde, obwohl es in der Vergangenheit<br />

wohl nicht zu Schwierigkeiten gekommen war 97 , die Mehrfachverteidigung<br />

umfassend verboten mit der Folge, daß für den praktisch häufigen Fall<br />

fehlender konkreter Interessenkollision die verzögernde Konstellation dort erst<br />

geschaffen wurde 98 , zu deren Vermeidung in § 137 I StPO die Verteidigerzahl<br />

beschränkt worden ist: vielfache Ausübung <strong>von</strong> Akteneinsichts-, Frage-, Antrags-,<br />

Erklärungs- <strong>und</strong> Schlußvortragsrecht 99 . Das BVerfG hat beide Normen<br />

für verfassungsgemäß erklärt 100, die EKMR eine gegen § 137 I StPO gerichtete<br />

Menschenrechtsbeschwerde als unbegründet zurückgewiesen 101.<br />

c) Zur Problematik <strong>von</strong> Strukturänderungen<br />

Exemplarisch für eine weitere Variante der Gesetzgebung sind die Rügepräklusion<br />

gemäß § 222b StPO <strong>und</strong> das Selbstleseverfahren gemäß § 249 11 StPO zu<br />

nennen. Beiden Normen ist gemein, daß sie tief in die Struktur des Strafprozesses<br />

eingreifen <strong>und</strong> damit Probleme aufwerfen, die jede mögliche Beschleunigungswirkung<br />

in Frage stellen 102. Denn Änderungen des Verfahrensrechts schlagen<br />

92 Nach Löchner, FS Rebmann, S. 316, bildete die Vertretung eines Beschuldigten<br />

durch (nur) drei Verteidiger "in der langjährigen Geschichte des Strafprozesses die<br />

Ausnahme". Selbst im Contergan-Verfahren traten für 7 Beschuldigte lediglich 18 Verteidiger<br />

auf (Herrmann, ZStW 85 , S. 258; JuS 1976, S. 417 Fn. 65). Im Fall Eckle<br />

waren vorübergehend vier Wahlverteidiger gemeldet (vgl. EGMR, EuGRZ 1983, S. 371<br />

:c372». Vgl. aber auch C.-F. Rahn, DuR 1988, S. 268, wonach in einem <strong>Strafverfahren</strong><br />

10 der Türkei 16 Beschuldigte zunächst <strong>von</strong> 180, später sogar <strong>von</strong> "fast 450" Rechtsanwälten<br />

verteidigt wurden.<br />

93 Krekeler, AnwBI. 1979, S. 214; Herrmann, JuS 1976, S. 417.<br />

94 Quack, NJW 1975, S. 1339.<br />

95 Lüderssen in LR24, § 137 Rn. 77; Schmidt-Leichner, NJW 1975, S. 419 f.; wohl<br />

auch u. ~eber, GA 1975, S. 297 f. A. A. G. Schmidt, JR 1974, S. 325; Küng-Hofer,<br />

Beschleumgung, S. 164: Auch hier genügten zwei Verteidiger höchstens.<br />

96 Vgl. RegE 2. StVRG, BT-DrS 7/2526, S. 6. Vgl. aber auch Dünnebier, FS Pfeiffer,<br />

S. 272 f.; 283 f.; Lüderssen in LR24, § 146 Rn. 4 f.<br />

97 Zuck, NJW 1975, S.435; Herrmann, JuS 1976, S. 418; Dünnebier, FS Pfeiffer,<br />

S. 271 f.; 283 f.<br />

98 Vgl. Zuck, NJW 1975, S. 434 f.; I. Müller, Rechtsstaat <strong>und</strong> <strong>Strafverfahren</strong> S. 104·<br />

Küng- Hofer, Beschleunigung, S. 165; K. Peters in: Strafprozeß <strong>und</strong> Reform, S. 91 f. '<br />

99 Vgl. G. Schmidt, JR 1974, S. 325 Fn. 29; Zuck, NJW 1975, S. 435; K. Peters in:<br />

Strafprozeß <strong>und</strong> Reform, S. 91 f.<br />

100 BVerfGE 39, S. 156.<br />

101 Witte, DRiZ 1978, S. 291.<br />

102 Vgl. W. Gollwitzer, FS Kleinknecht, S. 171.


62 2. Kap.: Schwierigkeiten der Beschleunigung <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong> A. Verfahrensbeschleunigung durch den Gesetzgeber 63<br />

notwendig auch auf das Verhalten der Prozeßbeteiligten durch. So wird der<br />

Beschuldigte, dessen Rechtsstellung beeinträchtigt wird, Wege suchen, dies auszugleichen<br />

mit der Folge, daß der bezweckte Beschleunigungseffekt in das Gegenteil<br />

verkehrt werden kann 10<strong>3.</strong><br />

aa) <strong>Die</strong> Rügepräklusion gemäß § 222b StPO<br />

Auf die verfassungsrechtliche Problematik der Rügepräklusion gemäß § 222b<br />

StPO soll hier, nachdem ein Vorprüfungsausschuß des BVerfG sie für gr<strong>und</strong>gesetzmäßig<br />

gehalten hat 104, nicht näher eingegangen werden. Es genügt in diesem<br />

Zusammenhang, mitRamm <strong>und</strong> Krekeler 105 daraufhinzuweisen, daß die Rügepräklusion<br />

mit dem ansonsten unbestrittenen Gr<strong>und</strong>satz kollidiert, daß der Beschuldigte<br />

sein Rügerecht bei Vorschriften, deren Verletzung als absoluter Revisionsgr<strong>und</strong><br />

ausgestaltet ist, nicht verlieren kann 106. <strong>Die</strong> Tatsache, daß bei Eintritt der<br />

Rügepräklusion der Beschuldigte nicht <strong>von</strong> seinem gesetzlichen Richter abgeurteilt<br />

wird, kann auch nicht durch Fiktionen wie die Ulrich Webers überdeckt<br />

werden, daß bei nicht rechtzeitiger Rüge eben die ursprünglich fehlerhaft besetzte<br />

Richterbank zum gesetzlichen Richter würde 107. <strong>Die</strong> Problematik der Vorschrift<br />

liegt gerade darin, daß sie der Beschleunigung dienen soll, indem sie die Zahl<br />

der Besetzungsrügen einschränkt. Sie ist also, wie Sarstedt / Ramm zu Recht<br />

feststellen, geradezu darauf angelegt, den Beschuldigten in einer Reihe <strong>von</strong> Fällen<br />

seinem gesetzlichen Richter zu entziehen 108. <strong>Die</strong> Begründung des StVÄG 1979<br />

verklärt dies, indem formuliert wird, die Präklusionsvorschriften würden dem<br />

Recht des Beschuldigten, sich nur vor seinem gesetzlichen Richter verantworten<br />

zu müssen, "besser Rechnung tragen". Wenige Sätze später wird jedoch zugestanden,<br />

daß die Präklusion für den Beschuldigten Erschwernisse, wenngleich "keine<br />

unzumutbaren", hervorrufen würde 109.<br />

Was allerdings die tatsächliche Beschleunigungswirkung der Besetzungsrügepräklusion<br />

angeht, so dürfte sie jedenfalls in größeren Strafsachen eher zu erheblichen<br />

Verfahrensverzögerungen führen, weil die Rüge nunmehr prophylaktisch<br />

im Hinblick auf eine etwaige Revision erhoben werden muß 110. Hierdurch kann<br />

nicht ausbleiben, daß die Hauptverhandlungen weiter belastet werden 111: Verteidiger<br />

werden auch dann Besetzungsrügen erheben, wenn sie da<strong>von</strong> ausgehen, daß<br />

die Revisionsgerichte ihnen nicht folgen würden: Es ist möglich, daß der Tatrichter,<br />

dem die gerichtsverfassungsrechtliche Materie nicht so vertraut ist, der Rüge<br />

stattgibt. Oder aber er lehnt sie ab <strong>und</strong> ist nun eher geneigt, auf Vorstellungen<br />

der Verteidigung hinsichtlich des Verfahrensergebnisses einzugehen, um die<br />

Besetzung revisionsrechtlicher Überprüfung zu entziehen, da die revisionsgerichtliche<br />

Urteilsaufhebung als Beeinträchtigung für Karriere <strong>und</strong> Prestige des Richters<br />

gilt 112. Konsequenz ist die "Renaissance der Besetzungsrüge" 11<strong>3.</strong><br />

bb) Das Selbstleseverfahren gemäß § 249 11 StPO<br />

Ein weiteres Lehrstück für diese Problematik stellt das Selbstleseverfahren<br />

gemäß § 24911 StPO i. d. F. des StVÄG 1987 dar, in dessen Beschleunigungswirkung<br />

große Hoffnungen gesetzt worden sind 114. Auch diese Norm ist exemplarisch<br />

für zwei gravierende Mängel der Gesetzesänderungen zwecks Vereinfachung:<br />

Zum einen greifen diese Änderungen tiefer in das Gefüge des <strong>Strafverfahren</strong>s,<br />

in Mündlichkeits- <strong>und</strong> Unmittelbarkeitsprinzip ein, als der Gesetzgeber es wahrhaben<br />

will 115 • Zum anderen sind die geänderten Normen häufig so unklar <strong>und</strong><br />

ungeschlossen konzipiert <strong>und</strong> formuliert, daß sie Probleme aufwerfen, die entweder<br />

ihrer Anwendung entgegenstehen 116 oder aber selbst zum Gegenstand <strong>von</strong><br />

Erörterungen im Prozeß werden, so daß der erhoffte Beschleunigungseffekt aufgezehrt<br />

wird 117.<br />

103 Werle, ZRP 1983, S. 201; 203; vgl. auch K. Peters in: StrafprozeB <strong>und</strong> Refonn,<br />

S. 102; Prochnow, <strong>Die</strong> Beschleunigung des <strong>Strafverfahren</strong>s in rechtsvergleichender Betrachtung,<br />

S. 8.<br />

104 BVerfG (VorprüfungsausschuB), NStZ 1984, S. 370 f.<br />

lOS Hamm, NJW 1979, S. 137 f.; Krekeler, AnwBI. 1979, S. 216. A. A. Ho. Müller,<br />

Zum Problem der Verzichtbarkeit, S. 118 ff., unter Berufung auf die richtige, aber sehr<br />

umstrittene Ansicht, das Gericht selbst könne auch noch nach Ablauf der Präklusionsfrist<br />

seine Besetzung prüfen, sei also an den "Verzicht" nicht geb<strong>und</strong>en.<br />

106 Vgl. OLG Frankfurt,JR 1987, S. 81; We. Schmid, <strong>Die</strong> Verwirkung <strong>von</strong> Verfahrensrügen,<br />

S.99; Ho. Müller, Zum Problem der Verzichtbarkeit, S. 116 f.; Kiderlen, <strong>Die</strong><br />

Verwirkung <strong>von</strong> Verfahrensrügen, S. 38; 85; Schlüchter, JR 1987, S. 82; Jescheck, GA<br />

1953, S. 89. A. A. nur K. Peters, StrafprozeB\ § 75 II 7; 8.<br />

107 U. Weber, GA 1975, S. 304; dagegen auch KieBling, DRiZ 1977, S. 330; Ranft,<br />

NJW 1981, S. 1478; Seebode, JR 1986, S. 475.<br />

108 Sarstedt / Hamm, <strong>Die</strong> Revision in Strafsachen', Rn. 195.<br />

109 Begr. RegE StVÄG 1979, BT-DrS 8/976, S. 26.<br />

110 1. Müller, Rechtsstaat <strong>und</strong> <strong>Strafverfahren</strong>, S. 123; Kießling, DRiZ 1977, S. 326 ff.;<br />

Rudolphi, JuS 1978, S. 866 f.; ähnlich Benz, ZRP 1977, S. 251; Weiss, AnwBI. 1981,<br />

S. 326; dagegen aber ausdrücklich RieB, JR 1981, S. 89 ff. (vgl. aber auch JR 1982,<br />

S.256).<br />

111 Vgl. E. Müller, NJW 1981, S. 1805; Schroeder, NJW 1983, S. 142.<br />

112 Schünemann, Verh. 58. DJT, S. B 33; Lautmann, Justiz - die stille Gewalt,<br />

S. 166; H. Weber, NJW 1961, S. 1388 f.<br />

113 Jungfer, StV 1982, S.462; zurückhaltender RieB, JR 1982, S. 256. Dreher, FS<br />

Kleinknecht, S. 100, verkennt die Problematik, wenn er meint, die Besetzungsrüge "lohne"<br />

sich jetzt nicht mehr.<br />

114 Siehe Meyer-GoBner, NJW 1987, S. 116<strong>3.</strong> Vgl. aber auch Günter, DRiZ 1987,<br />

S.66.<br />

115 Siehe Begr. RegE StVÄG 1987, BT-DrS 10/1313, S. 28; dagegen aber Geppert,<br />

Der Gr<strong>und</strong>satz der Unmittelbarkeit im deutschen <strong>Strafverfahren</strong>, S. 191 ff.; Kleinknecht /<br />

Meyer, StP039, § 249 Rn. 17; Mayr in KK StP02, § 249 Rn. 3<strong>3.</strong><br />

116 So die Begr. RegE StVÄG 1987 zu § 249 11 StPO i. d. F. des StVÄG 1979 (BT­<br />

DrS 10/1313, S. 28).


64 2. Kap.: Schwierigkeiten der Beschleunigung <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong> A. Verfahrensbeschleunigung durch den Gesetzgeber 65<br />

Schon mit dem StVAG 1979 war durch die Einfügung <strong>von</strong> § 249 II a. F. StPO<br />

beim Urk<strong>und</strong>enbeweis die bis dahin zwingend vorgeschriebene Verlesung aufgelockert<br />

worden, was Kar! Peters als "gesetzliche Fehlleistung" 118 bezeichnete<br />

<strong>und</strong> für Geppert ein durch keinerlei Verfahrensbeschleunigung auszugleichender<br />

,,(partieller) Rückfall in Zeiten <strong>von</strong> Geheimverfahren <strong>und</strong> Geheimjustiz" 119 war.<br />

Durch die Erweiterung der Norm ist es seitdem ausreichend, daß die Richter<br />

<strong>und</strong> Schöffen vom Wortlaut der Urk<strong>und</strong>e "Kenntnis genommen haben". Nach<br />

der nochmaligen Ausdehnung der Vorschrift durch das StVÄG 1987 kann der<br />

Vorsitzende nunmehr sogar ohne Verzichtserklärung der Beteiligten das Selbstleseverfahren<br />

anordnen; erst auf unverzüglichen Widerspruch der Verfahrensbeteiligten<br />

müßte Gerichtsbeschluß ergehen. Nun böte sich die Interpretation der<br />

Vorschrift an, daß diese "Anordnung" innerhalb der Beweisaufnahme zu ergehen<br />

hat <strong>und</strong> daraufhin die Schöffen Kenntnis nehmen müssen. Dann wäre allerdings<br />

zumindest in kurzen Hauptverhandlungen kein Beschleunigungseffekt mehr zu<br />

erwarten: Denn die Schöffen dürfen die Urk<strong>und</strong>en nicht während der Hauptverhandlung<br />

lesen 120, wohl auch nicht in den Sitzungspausen 121, sondern nur zwischen<br />

den Sitzungstagen 122. <strong>Die</strong>ser Interpretation ist der Gesetzgeber jedoch<br />

entgegengetreten: Es sei - entgegen § 249 II Satz 3 Halbsatz 2 StPO i. d. F.<br />

des StVÄG 1979 - nunmehr zulässig, daß auch die Schöffen schon vor Verlesung<br />

des Anklagesatzes Kenntnis <strong>von</strong> der Urk<strong>und</strong>e nehmen 12<strong>3.</strong> Das bedeutet zunächst<br />

einmal, daß die "Anordnung" im Sinne <strong>von</strong> § 249 II StPO sich nicht schon auf<br />

das Lesen beziehen kann, sondern nur noch darauf, daß das schon Gelesene<br />

nunmehr als Inbegriff der Hauptverhandlung anzusehen ist 124. Welchen Sinn hat<br />

dann aber das Widerspruchsrecht der Prozeßbeteiligten? Hat ein solcher Widerspruch<br />

Erfolg - etwa, weil der Vorsitzende ein Verlesungs- oder Verwertungsverbot<br />

nicht beachtet hat -, soll also <strong>von</strong> den Schöffen erwartet werden, daß<br />

sie das Gelesene aus ihrem Kopf streichen. Befangenheitsgesuche gegen die<br />

Schöffen dürften zu erwarten sein: Wenngleich ihnen auch ansonsten häufiger<br />

im Rahmen ihrer Beweiswürdigung die Berücksichtigung normativer Beweisregeln<br />

(in dubio pro reo, Schweigen des Beschuldigten) zugemutet wird, sollen<br />

117 So die Begr. RegE StVÄG 1979 zur Ablehnung der - nunmehr doch Gesetz<br />

gewordenen - Verzichtsmöglichkeit auf die Verlesung gegen den Willen der Verfahrensbeteiligten<br />

(BT-DrS 8/976, S. 54); ähnlich Geppert, Der Gr<strong>und</strong>satz der Unmittelbarkeit<br />

im deutschen Strar'verfahren, S. 192. Vgl. auch Brüssow, AG Strafrecht des DAV<br />

4 (1988), S. 95 f.<br />

118 K. Peters, StrafprozeB4, § 39 III 6.<br />

119 Geppert, Der Gr<strong>und</strong>satz der Unmittelbarkeit im deutschen <strong>Strafverfahren</strong>, S. 19<strong>3.</strong><br />

120 Schroeder, NIW 1979, S. 1530; Paulus in KMR, § 249 Rn. 27; teilw. abweichend<br />

W. Gollwitzer in LR24, Nachtr. § 249 Rn. 24; vgl. BGH, JR 1963, S. 228.<br />

121 Paulus in KMR, § 249 Rn. 27; Kleinknecht/Meyer, StP039, § 249 Rn. 22; a.A.<br />

W. Gollwitzer in LR24, Nachtr. § 249 Rn. 25.<br />

122 Dagegen Henneberg, BB 1979, S. 588 f.<br />

123 Begr. RegE StVÄG 1987, BT-DrS 10/1313, S. 29.<br />

124 So auch RieB, IR 1987, S. 393; a.A. wohl Paulus in KMR, § 249 Rn. 30 f.<br />

sich Befangenheitsgesuche damit begründen lassen, daß der Beschuldigte befürchten<br />

muß, Schöffen - noch eher als Berufsrichter - könnten die gewonnenen,<br />

aber unverwertbaren Eindrücke doch bei der Überzeugungsbildung verwerten<br />

125. Für Grünwald liegt bei einer solchen Konstellation "geradezu ein Musterfall<br />

der Besorgnis der Befangenheit" vor 126.<br />

Noch problematischer ist die angenommene Zulässigkeit der Kenntnisnahme<br />

der Urk<strong>und</strong>en durch die Schöffen vor der Hauptverhandlung, also auch schon<br />

vor der Beweisaufnahme. § 249 II StPO i. d. F. des StVÄG 1979 hatte dies<br />

gerade mit der ausdrücklichen Begründung als "unverzichtbar" verboten, daß<br />

sonst nicht gewährleistet sei, "daß der Schöffe den Inhalt der Urk<strong>und</strong>e verstehen,<br />

in den Zusammenhang einordnen <strong>und</strong> gleichzeitig unbefangen sein Amt wahrnehmen<br />

kann" 127. Das nunmehr zulässige Verfahren verstößt - jedenfalls ohne die<br />

Einwilligung des Beschuldigten - damit gegen §§ 243 IV, 244 I StPOI28, wie<br />

sie die Rechtsprechung verstanden hat 129: Denn schon vor der Einlassung des<br />

Beschuldigten wird durch das Lesen - jedenfalls faktisch - ein Teil der Beweisaufnahme<br />

durchgeführt. Mit den Worten des BGH: "<strong>Die</strong> Vorschrift, daß die<br />

Beweisaufnahme der Vernehmung des Angeklagten nachzufolgen habe, gehört<br />

zu den wesentlichen, dem Schutz des Angeklagten dienenden Verfahrensregeln,<br />

indem sie diesem die Möglichkeit einräumt, seine Verteidigung vorweg zusammenhängend<br />

zu führen <strong>und</strong> das Gericht zu veranlassen, daß bei der nachfolgenden<br />

Beweisaufnahme die <strong>von</strong> ihm geltendgernachten Gesichtspunkte berücksichtigt<br />

werden. <strong>Die</strong> nachträgliche Befragung des Angeklagten gemäß § 257 StPO ist<br />

kein ausreichender Ersatz für die Gelegenheit zur zusammenhängenden Widerlegung<br />

der Verdachtsmomente <strong>und</strong> zur geschlossenen Darstellung der entlastenden<br />

Gesichtspunkte vor der Beweisaufnahme" 130.<br />

Des weiteren ergibt sich ein Spannungsverhältnis zu der Rechtsprechung 13l,<br />

daß es unzulässig sei, wenn ein Schöffe Kenntnis vom einstweiligen Ermittlungsergebnis<br />

(bzw. vom rechtsfehlerhaft Elemente da<strong>von</strong> enthaltenden Anklagesatz)<br />

125 So wohl auch Kempf, StV 1987, S. 222; vgl. BGH, StV 1984, S. 414 f.; Grünwald,<br />

JZ 1966, S. 500 f.; Gössel, NStZ 1984, S. 421. Das Problem sieht auch RieB, JR 1987,<br />

S. 392 f.; vgl. zum Ganzen Arzt, FS K. Peters, S. 231 f.; Schreiber, FS Welzel, S. 943 f.;<br />

953; Kemmer, Befangenheit <strong>von</strong> Schöffen durch Aktenkenntnis?, S. 62 ff.; Häger, GS<br />

K. Meyer, S. 172 ff.<br />

126 Grünwald, JZ 1966, S. 501.<br />

127 Begr. RegE StVAG 1979, BT-DrS 8/976, S. 54.<br />

128 Zweifelnd auch Danckert, StV 1988, S. 282.<br />

129 BGHSt 13, S. 358 (360 f.); 19, S. 93 (96 f.); NJW 1957, S. 1527 f. (insoweit nicht<br />

in BGHSt 10, S. 342 abgedruckt); StV 1982, S. 457 f.; 1990, S. 245; NStZ 1986, S. 370<br />

(371); BayObLGSt 1953, S. 130 f.; W. Gollwitzer in LR24, § 243 Rn. 2; 6.<br />

130 BGHSt 19, S. 93 (97); ähnlich NJW 1957, S. 1527 f. (insoweit nicht in BGHSt<br />

10, S. 342 abgedruckt); StV 1982, S. 457 (458); BayObLGSt 1953, S. 130 f.<br />

131 RGSt 69, S. 120 ff.; BGHSt 13, S. 73 ff.; offengelassen <strong>von</strong> BGH, GA 1976,<br />

S. 368 f.; IR 1987, S. 389.<br />

5 Scheffler


66 2. Kap.: Schwierigkeiten der Beschleunigung <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong> A. Verfahrensbeschleunigung durch den Gesetzgeber 67<br />

erhält 132; auch hierdurch soll die unbefangene Überzeugungsbildung aus dem<br />

Inbegriff der Hauptverhandlung gesichert werden 13<strong>3.</strong><br />

d) Das Problem <strong>von</strong> Fristverlängerungen<br />

Ein weiteres Problem in der Gesetzgebung stellt das Paradoxon Beschleunigung<br />

durch Fristverlängerung dar 134. Überspitzt formuliert, bedeuten legislatorische<br />

Erweiterungen der den Strafverfolgungsbehörden gesetzten Fristen regelmäßig<br />

nichts anderes als deren teilweises Freistellen vom Makel des verzögerlichen<br />

Handeins 135. Allerdings ist möglich, daß durch die Verlängerung <strong>von</strong> Fristen des<br />

Beschuldigten sogar Verfahrensbeschleunigung erreicht werden kann 136. So ist<br />

z. B. die durch das StVÄG 1987 auf zwei Wochen ausgedehnte Einspruchsfrist<br />

gegen einen Strafbefehl gemäß § 410 I StPO ein solcher Fall: In der Praxis hatte<br />

die frühere, äußerst knappe Einwochenfrist zu unzähligen Wiedereinsetzungsanträgen<br />

geführt, die nicht nur zu einer Verzögerung geführt haben, wenn ihnen<br />

stattgegeben wurde, sondern auch im Falle der Verwerfung des Einspruchs häufig<br />

kaum geringeren Arbeitsaufwand machten als die Sachentscheidung der zumeist<br />

einfach gelagerten Fälle 137.<br />

Ein Gegenbeispiel stellt jedoch die Verlängerung der Unterbrechungsfrist für<br />

die Hauptverhandlung in Großverfahren (§ 229 StPO) dar. Durch das StVRG<br />

<strong>von</strong> 1974 wurde zunächst die Möglichkeit einer Unterbrechung der Hauptverhandlung<br />

für 30 Tage geschaffen, durch das StVÄG <strong>von</strong> 1987 wurde diese<br />

Möglichkeit noch erweitert <strong>und</strong> für den Fall der Erkrankung des Angeklagten<br />

eine bis zu sechswöchige Fristhemmung eingeführt (§ 229 III StPO). Rein theoretisch,<br />

in der extremen Konstellation, kann nun eine Hauptverhandlung für fast<br />

ein Vierteljahr unterbrochen werden 138, was bezeichnenderweise weder im Gesetzestext<br />

noch in der Gesetzesbegründung klar ausgesprochen wird. Es mag hier<br />

dahingestellt bleiben, ob diese Ausweitung der Unterbrechungsfristen sinnvoll<br />

ist. Vergegenwärtigt man sich jedoch die Kritik, die etwa Robert v. Hippel an<br />

der Erweiterung der Unterbrechungsfrist <strong>von</strong> drei aufzehn Tage durch die Notverordnung<br />

vom 14. Juli 1932 äußerte, so tritt die Problematik der nunmehr erweiterten<br />

Fristverlängerungen deutlich hervor: FürRobert v. Hippel war die Fortsetzung<br />

der Hauptverhandlung erst am elften Tag eine "üble Gefährdung der geistigen<br />

Beherrschung des Stoffes der mündlichen Verhandlung <strong>und</strong> damit der Brauchbarkeit<br />

des Mündlichkeitsprinzips", wodurch eine "Förderung des Krebsschadens<br />

uferloser Monstreprozesse" eintrete 139, ein Anreiz zu verlängerter Prozeßdauer<br />

gegeben sei 140. Für den Gesetzgeber haben die Änderungen <strong>von</strong> § 229 StPO<br />

jedoch eine Maßnahme für die Verfahrensbeschleunigung dargestellt, da sie die<br />

Wiederholung einer vieltägigen Hauptverhandlung verhindern sollen 141. Es mutet<br />

fast grotesk an, wenn der Gesetzgeber formuliert, daß die nicht völlige Aufgabe<br />

der zeitlichen Beschränkung für Unterbrechungen "Ausfluß des Konzentrationsprinzips"<br />

sei <strong>und</strong> "Verfahrensverschleppungen" verhindere 142. Letztendlich gibt<br />

der Gesetzgeber hiermit zu, daß die Neufassung <strong>von</strong> § 229 StPO, wie auch Kempj<br />

ausgeführt hat, gerade unter dem Gesichtspunkt einer Beschleunigung <strong>und</strong> Straffung<br />

<strong>von</strong> Verfahren kontraindiziert ist 14<strong>3.</strong><br />

Ein weiteres Beispiel bildet die Änderung <strong>von</strong> § 275 StPO durch das 1. StVRG.<br />

Durch dieses Gesetz wurde die bis 1921 dreitägige, dann auf eine Woche verlängerte<br />

Urteilsabsetzungsfrist gleich auf mindestens fünf Wochen verlängert. Der<br />

Gesetzgeber sah hierin deshalb eine Maßnahme zur Verfahrensbeschleunigung,<br />

weil die früheren Fristen kaum eingehalten wurden, die Rechtsprechung 144 aber<br />

§ 275 I a. F. StPO als bloße Ordnungsvorschrift ansah 145. Das Beschleunigungsprinzip<br />

mußte nun dafür herhalten, daß die Frist "großzügig bemessen" 146 wurde,<br />

weil durch die Ausgestaltung als absoluter Revisionsgr<strong>und</strong> nunmehr die Wiederholung<br />

der gesamten Hauptverhandlung droht, was nach altem Recht die seltene<br />

Ausnahme war. Ein weiterer Gr<strong>und</strong> für die Ausweitung der Frist auf (mindestens)<br />

fünf Wochen war für den Gesetzgeber die gleichzeitige Erweiterung des § 267 IV<br />

StPO auf Urteile, die durch Fristablauf rechtskräftig geworden sind, was wiederum<br />

der Entlastung der Gerichte dienlich sein soll 147 • Der Gesetzgeber sieht das<br />

Problem, daß in der neugefaßten Vorschrift ein Anreiz bestehen könnte, das<br />

132 <strong>Die</strong>sen Zusammenhang sehen auch Rieß, JR 1987, S. 392 f.; Danckert, StV 1988,<br />

S.282.<br />

l33 Ausführlich zur Möglichkeit eines Befangenheitsgesuches Kemmer, Befangenheit<br />

<strong>von</strong> Schöffen durch Aktenkenntnis?, S. 114 ff., sowie zuletzt Häger, GS K. Meyer,<br />

S. 172 ff.<br />

134 Kritisch auch Schmidt-Leichner, NJW 1975, S. 418 f.; W. Gollwitzer, FS Kleinknecht,<br />

S. 166 ff.; Jung, JuS 1975, S. 263; K. Peters in: Strafprozeß <strong>und</strong> Reform, S. 100;<br />

Tiedemann, Verh. 49. DJT, S. C 103; ausführlich I. Müller, Rechtsstaat <strong>und</strong> <strong>Strafverfahren</strong>,<br />

S. 110 ff.<br />

l35 Vgl. Kühne, <strong>Strafverfahren</strong>srecht als Kommunikationsproblem, S. 73 Fn. 42.<br />

136 Vgl. Rudolph, FS Deutsche Richterakademie, S. 171. Vgl. auch Hohendorf, NJW<br />

1984, S. 958.<br />

137 Vgl. W. Gollwitzer, FS Kleinknecht, S. 164 f.<br />

138 Vgl. Krey, <strong>Strafverfahren</strong>srecht II, Rn. 63<strong>3.</strong><br />

139 Rob. v. Hippe!, Der deutsche Strafprozeß, § 52 VI 3 a.<br />

140 Rob. v. Hippe!, MSchrKrimPsych 26 (1935), S. 246. ..<br />

141 Begr. RegE 1. StVRG, BT-DrS 7/551, S. 47 f.; Begr. RegE StVAG 1987, BT­<br />

DrS 10/1313, S. 24.<br />

142 Begr. RegE StVÄG 1987, BT-DrS 10/1313, S. 24. Gegen eine zeitliche Begrenzung<br />

Bode, DRiZ 1982, S. 455 ff.<br />

143 Kempf, StV 1987, S. 221; ähnlich Brüssow, AG Strafrecht des DAV 4 (198~),<br />

S. 95. Vgl. auch Baur, Wege zu einer Konzentration der mündlichen Verhandlung Im<br />

Prozeß, S. 13 f.<br />

144 Siehe etwa BGHSt 21, S. 4 (5); NJW 1951, S. 970; MDR 1953, S. 309.<br />

145 Begr. RegE 1. StVRG, BT-DrS 7/551, S. 49.<br />

146 Begr. RegE 1. StVRG, BT-DrS 7/551, S. 84.<br />

147 Begr. RegE 1. StVRG, BT-DrS 7/551, S. 48; 81.<br />

5*


68 2. Kap.: Schwierigkeiten der Beschleunigung <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong> A. Verfahrensbeschleunigung durch den Gesetzgeber 69<br />

Urteil nicht unmittelbar nach der Hauptverhandlung, sondern erst nach Ablauf<br />

der einwöchigen Rechtsmittelfrist abzusetzen 148: <strong>Die</strong> Fünfwochenfrist soll dem<br />

Rechnung tragen, indem die Zeit bis zum Ablauf der Frist zur Rechtsmitteleinlegung<br />

"außer Betracht bleiben" kann, da sich in vielen Fällen erst danach entscheide,<br />

ob das Urteil aufgr<strong>und</strong> des neuen § 267 IV StPO abgekürzt begründet werden<br />

könne 149. 1m Ergebnis bedeutet das, daß die abgeschaffte einwöchige Urteilsabsetzungsfrist<br />

nunmehr mit Billigung des Gesetzgebers als eine Art Erklärungsfrist<br />

vor der Urteilsabsetzung verstanden werden kann 150.<br />

e) <strong>Die</strong> Nichtverfolgung gemäß § 154 I Nr. 2 StPO<br />

Abschließend ist in diesem Zusammenhang noch ein Blick auf eine Vorschrift<br />

zu werfen, die - jedenfalls auf den ersten Blick - Verfahrensbeschleunigung<br />

in Großverfahren ohne Rechtsverlust des Beschuldigten zu gewährleisten scheint,<br />

wenngleich auch häufiger als ihr sogar "ausschließlicher" Zweck die Entlastung<br />

der Strafverfolgungsorgane genannt wird 151: Durch das StVÄG <strong>von</strong> 1979 wurden<br />

die §§ 154, 154a StPO ausgeweitet. Insbesondere wurde mit § 154 I Nr. 2 StPO<br />

die Möglichkeit des Absehens <strong>von</strong> Verfolgung wegen einer Tat geschaffen, deren<br />

Aburteilung nicht in "angemessener Frist" erwartet werden kann. Hierdurch sollte<br />

der Prozeßstoff vor allem <strong>von</strong> Großverfahren auf die wesentlichen Tatvorwürfe<br />

konzentriert <strong>und</strong> somit die Durchführung dieser Verfahren vereinfacht <strong>und</strong> beschleunigt<br />

werden 152.<br />

Nun mögen zwar die Befürchtungen lebensfremd sein, der Beschleunigungseffekt<br />

könnte deshalb verpuffen, weil nunmehr Täter es geradezu beabsichtigen<br />

könnten, durch geschickte Anlage ihrer Straftat den Verfolgungsverzicht zu erschleichen<br />

153; realistischer könnten jedoch die <strong>von</strong> Dahs geäußerten Bedenken<br />

sein, die Vorschrift sei deshalb zur Beschleunigung ungeeignet, weil sie einen<br />

"Anreiz für den Beschuldigten zu nachhaltiger Obstruktion" im <strong>Strafverfahren</strong><br />

bieten könnte 154. Auch die Staatsanwaltschaft könnte durch die Vorschrift geradezu<br />

dazu veranlaßt werden, zunächst einmal alles irgendwie in Betracht Kommende<br />

anzuklagen, um genügend "Manövriermasse" bei einer eventuellen "Verständigung"<br />

mit dem Beschuldigten zu haben 155. Schließlich ist der Hinweis Karl<br />

Peters', daß die Wiederaufnahme voreilig ausgeschiedener Verfahrensteile zu<br />

Verfahrensverzögerungen führt, zu beachten 156.<br />

Abgesehen da<strong>von</strong> kann selbst diese Vorschrift, die den Beschuldigten nur zu<br />

entlasten scheint, ihn in bestimmten Fällen auch schlechter stellen, was vor allem<br />

damit zusammenhängt, daß die Beschränkung der Strafverfolgung auch gegen<br />

seinen Willen zulässig ist. So ist zunächst einmal zu befürchten, daß § 154 StPO<br />

den Beschuldigten um den (endgültigen) Freispruch hinsichtlich der vorläufig<br />

eingestellten Verfahrensteile mit der Kostenfolge des § 467 IV StPO bringen<br />

kann 157. Des weiteren besteht die Gefahr - auf die vor allem Karl Peters<br />

hinweist 158 -, daß sich die Haltlosigkeit (auch) der weiterverfolgten Vorwürfe<br />

aus den ausgeschiedenen Verfahrensteilen hätte ergeben können, die der Beschuldigte<br />

nur eingeschränkt etwa über das Beweisantragsrecht (wieder) zum Gegenstand<br />

der Hauptverhandlung machen kann. Außerdem dürfen die nach § 154<br />

StPO ausgeschiedenen Verfahrensteile - nach einem rechtlichen Hinweis ­<br />

zur Strafschärfung herangezogen werden 159. Zwar ist erforderlich, daß diese Teile<br />

prozeßordnungsgemäß zur Überzeugung des Gerichts festgestellt worden sind 160.<br />

<strong>Die</strong>s kann jedoch nur, soll § 154 I Nr. 2 StPO nicht leerlaufen, durch Begnügung<br />

mit einfacheren Formen der Überzeugungsbildung geschehen 161. Schließlich ist<br />

denkbar, daß der Beschuldigte im Falle der späteren Wiederaufnahme der ausgeschiedenen<br />

Teile Entlastungsmöglichkeiten eingebüßt hat 162.<br />

148 Begr. RegE 1. StVRG, BT-DrS 7/551, S. 82.<br />

149 Begr. RegE 1. StVRG, BT-DrS 7/551, S. 84.<br />

150 Kritisch auch 1. Müller, Rechtsstaat <strong>und</strong> <strong>Strafverfahren</strong>, S. 112. Allerdings wird<br />

in der Gesetzesbegründung an anderer Stelle ausgeführt, daß sich aus § 275 I Satz I<br />

StPO ergebe, daß die in Satz 2 vorgesehenen Höchstfristen nicht voll ausgeschöpft<br />

werden dürfen (Begr. RegE 1. StVRG, BT-DrS 7/551, S. 37; 84). Jedoch wird § 275 I<br />

Satz I StPO vom absoluten Revisionsgr<strong>und</strong> des § 338 Nr. 7 StPO nicht erfaBt <strong>und</strong> § 337<br />

StPO kann mangels Beruhenkönnens nie der Revision zum Erfolg verhelfen (Rieß, NStZ<br />

1982, S. 442), so daß ein Verstoß gegen Satz I "unschädlich" ist (He. Müller in KMR,<br />

§ 275 Rn. 17).<br />

151 OLG München, NJW 1975, S. 68 (70); Meyer-Goßner in LR23, § 154 Rn. 1; G.<br />

Schäfer, <strong>Die</strong> Praxis des <strong>Strafverfahren</strong>s4, § 18 II 3 c.<br />

152 Begr. RegE StVÄG 1979, BT-DrS 8/976, S. 39.<br />

153 So aber Römer, Verh. 50. DJT, S. K 15 f.; Sack, NJW 1976, S. 606; kritisch dazu<br />

auch Grauhan, GA 1976, S. 238.<br />

154 Dahs, NJW 1974, S. 1540; vgl. auch Schünemann, Verh. 58. DJT, S. B 109.<br />

155 Schünemann, Verh. 58. DJT, S. B 109; ähnlich Schmidt-Hieber, Verständigung<br />

im <strong>Strafverfahren</strong>, Rn. 69 f.<br />

156 K. Peters in: StrafprozeB <strong>und</strong> Reform, S. 96; vgl. auch Schmidt-Hieber, Verständigung<br />

im <strong>Strafverfahren</strong>, Rn. 69.<br />

157 K. Peters, StV 1981, S. 411 f.; vgl. auch RieB in LR24, § 154 Rn. 5; Kapahnke,<br />

Opportunität <strong>und</strong> Legalität im <strong>Strafverfahren</strong>, S. 111 f.<br />

158 K. Peters, StrafprozeB4, § 23 IV 1 c cc; in: Strafprozeß <strong>und</strong> Reform, S. 96; StV<br />

1981, S. 411 f.<br />

159 Siehe etwa BGHSt 30, S. 147; S. 197; 31, S. 302.<br />

160 Vgl. statt vieler RieB in LR24, § 154 Rn. 56 m. W.N.<br />

161 Haberstroh, NStZ 1984, S. 292; vgl. auch Vogler, FS Kleinknecht, S. 438 f.; Sarstedt<br />

/ Hamm, <strong>Die</strong> Revision in Strafsachen', Rn. 465 ff.; Kapahnke, Opportunität <strong>und</strong><br />

Legalität im <strong>Strafverfahren</strong>, S. 150.<br />

162 Vgl. K. Peters in: Strafprozeß <strong>und</strong> Reform, S. 96.


·_------_..----- ----- .._-<br />

70 2. Kap.: Schwierigkeiten der Beschleunigung <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong><br />

2. Reformvorschläge - Einige Beispiele<br />

a) Neuerungen für das Strafprozeßrecht<br />

Schon dieser beispielhafte Überblick über verwirklichte Änderungen des <strong>Strafverfahren</strong>srechts<br />

dürfte zu starker Skepsis berechtigen, ob <strong>und</strong> inwieweit die<br />

StPO bedenkenfrei geändert, das Verfahren vereinfacht <strong>und</strong> damit beschleunigt<br />

werden könnte, ohne in rechtsstaatlich bedenklicher Weise in die Verfahrensstruktur<br />

zu Lasten des Beschuldigten einzugreifen. <strong>Die</strong>s wäre wohl überhaupt nur<br />

dann möglich, wenn man "traditionell Überkommenes" <strong>und</strong> "rechtsstaatlich Gebotenes"<br />

im Strafprozeßrecht unterscheiden könnte 16<strong>3.</strong> Ansonsten besteht die<br />

große Gefahr, wie schon Feuerbach betonte, daß der Gesetzgeber, indem er "die<br />

Processe abkürzt, auch das Recht verkürze" 164. Unter diesem Blickwinkel sind<br />

auch die unterschiedlichen in der Literatur angeregten Vereinfachungsvorschläge<br />

zu sehen, die in der Strafprozeßreform nicht näher diskutiert worden sind. Ohne<br />

Anspruch auf Vollzähligkeit sind hier zu nennen:<br />

die Einführung der Vorabanklage 16S,<br />

die Schaffung einer speziellen Verfahrensart für Bagatellkriminalität l66 ,<br />

die Einführung einer Berufungsbegründungspflicht 167,<br />

die Verschärfung der Revisionsbegründungspflicht 168,<br />

die (weitere) Einschränkung der Richterablehnung 169,<br />

die Abschaffung der schriftlichen Absetzung der Urteilsgründe 170.<br />

In diesem Zusammenhang ist auch die in letzter Zeit in den Mittelpunkt des<br />

Interesses im Strafprozeßrecht gerückte "Verständigung im <strong>Strafverfahren</strong>" zu<br />

erwähnen, die zweifellos außerordentlich verfahrensabkürzend wirken kann. Hier<br />

ist die Diskussion im Fluß, so daß eine endgültige Einschätzung verfrüht wäre.<br />

Zweierlei läßt sich aber sagen: Zum einen dürfte es sehr zweifelhaft sein, inwieweit<br />

Verständigungen nicht auch die Tendenz innewohnt, die Rechtsstellung des<br />

Beschuldigten zu beeinträchtigen. Schünemann hat vor kurzem die Bedenken im<br />

Hinblick aufUnschuldsvermutung, Verbot der Verdachtsstrafe, Fair-trial-Gr<strong>und</strong>-<br />

163 Vogel, NJW 1978, S. 1221.<br />

164 Feuerbach, Betrachtungen über die Oeffentlichkeit <strong>und</strong> Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege<br />

11, S. 109; vgl. auch in: Kleine Schriften vermischten Inhalts, S. 132.<br />

165 Dazu Dästner, RuP 1978, S. 221 ff.<br />

166 Gössel, GA 1979, S. 243 f. Vgl. auch Wolter, GA 1989, S. 397 ff.<br />

167 Bender / Heissler, ZRP 1978, S. 31; Helmken, ZRP 1978, S. 134.<br />

168 Gössel, GA 1979, S. 245 ff.<br />

169 Bode, DRiZ 1982, S. 455.<br />

170 K. Peters in: Strafprozeß <strong>und</strong> Reform, S. 101; Herrmann, ZStW 85 (1973), S. 287;<br />

vgl. auch Hünerfeld, ZStW 85 (1973), S. 440; 442; 448; Küng-Hofer, Beschleunigung,<br />

S. 20 f.; 242 f.; Gössel, GA 1979, S. 250 f.<br />

A. Verfahrensbeschleunigung durch den Gesetzgeber 71<br />

satz, Willensentschließungsfreiheit <strong>und</strong> richterliche Unbefangenheit zusammengestellt<br />

171. Zum anderen setzt eine verfahrensabkürzende Verständigung voraus,<br />

daß objektiv Raum für einen "Vergleich" besteht <strong>und</strong> daß subjektiv Vergleichsbereitschaft<br />

bei allen Beteiligten vorhanden ist. Ein "Allheilmittel" kann die "Verständigung"<br />

also mit Sicherheit nicht sein.<br />

Andere, zumeist weniger weitgehende Änderungsvorschläge fehlten schon im<br />

Regierungsentwurf zum StVÄG <strong>von</strong> 1987 mit der Begründung, sie erschienen<br />

teilweise bei genauerer Betrachtung als nicht hinreichend effizient, sie würden<br />

zum Teil die Wahrheitsfindung gefährden oder aber die legitimen Verteidigungsinteressen<br />

des Beschuldigten zu sehr beeinträchtigen 172. Hiermit wird insbesondere<br />

auf die Vorschläge angespielt, die die 52. Konferenz der Iustizminister <strong>und</strong><br />

-senatoren 1981 unterbreitete 173 <strong>und</strong> die in wesentlichen Gr<strong>und</strong>zügen etwa die<br />

Strafrechtskommission des Deutschen Richterb<strong>und</strong>es unterstützte 174. <strong>Die</strong>se Vorschläge<br />

sahen unter anderem Einschränkungen des Antragsbegründungs-, Frage<strong>und</strong><br />

Erklärungsrechts (§§ 238 I, 241, 257 StPO), die Veränderung des amtsgerichtlichen<br />

Verfahrens <strong>und</strong> Einschränkungen im Haftprüfungsrecht vor.<br />

b) Übertragungen aus dem Ordnungswidrigkeitenrecht<br />

Dürften solche Vorschläge in näherer Zukunft auch kaum Umsetzungschancen<br />

haben 175, so lohnt sich doch eine nähere Untersuchung zweier weiterer Vorschläge<br />

der genannten Konferenz, weil diese im Bereich des Ordnungswidrigkeitenrechts<br />

realisiert sind, nämlich Einschränkungen des Beweisantrags- sowie des Rechtsmittelrechts.<br />

Das Ordnungswidrigkeitenrecht könnte hier, wie gelegentlich prognostiziert<br />

wird, zur "Einstiegsdroge" werden 176:<br />

Durch Art. 3 EGOWiG <strong>von</strong> 1968 wurden die kleineren Verkehrsdelikte <strong>von</strong><br />

strafbewehrten Übertretungen in bußgeldpflichtige Ordnungswidrigkeiten umgewandelt;<br />

gleiches passierte durch Art. 13 EGStGB 1974 hinsichtlich weiterer<br />

171 Schünemann, Verh. 58. DJT, S. B 93 ff.; vgl. auch Dencker / Hamm, Der Vergleich<br />

im Strafprozeß, S. 124 ff. Siehe jetzt auch BGH, NStZ 1991, S. 346 (347 f.).<br />

172 Begr. RegE StVÄG 1987, BT-DrS 10/1313, S. 11 f.<br />

173 Beschluß der 52. Konferenz der Justizminister <strong>und</strong> -senatoren, StV 1982, S. 325 ff.<br />

174 StrRK des DRB, Information 1982, S. 47 ff.<br />

. 175 Vgl. dazu Günther, DRiZ 1990, S. 106; Caesar, RuP 1990, S. 46. <strong>Die</strong>se Vorschläge<br />

smd auch fast ausnahmslos nicht im Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege<br />

wieder aufgetaucht (BR-DrS 314/91).<br />

176 Brüssow, AG Strafrecht des DAV 4 (1988), S.80; FG L. Koch, S.6<strong>3.</strong> <strong>Die</strong>se<br />

Prognose hat sich unerwartet schnell bestätigt: <strong>Die</strong> Sonderkonferenz der Justizminister<br />

<strong>und</strong> -~enatoren beschloß am 24.4.1991 in Berlin (u. a.) entsprechende Änderungen des<br />

Bewelsantrags- <strong>und</strong> Rechtsmittelrechts, die inzwischen Gegenstand eines Gesetzesantrags<br />

der Länder sind (BR-DrS 3145/91, insbes. S. 99 f.; 118). Siehe dazu ZRP 1991,<br />

S. 274 ff.; StV 1991, S. 280 ff.; DRiZ 1991, S. 221 ff.


72 2. Kap.: Schwierigkeiten der Beschleunigung <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong> A. Verfahrensbeschleunigung durch den Gesetzgeber 73<br />

kleiner Straftaten 177. Verfahrensrechtliche Folge da<strong>von</strong> ist, daß zwar prinzipiell<br />

(vgl. § 46 I OWiG) bei der Verfolgung dieser Delikte nach wie vor die StPO<br />

gilt, "jedoch mit Abweichungen, die auf eine erhebliche Vereinfachung des<br />

Verfahrens bei OWi abzielen" 178. Der Preis der Entkriminalisierung ist der Abbau<br />

schützender Vorschriften: "Wesentliche Vereinfachungen" wollte der Gesetzgeber<br />

etwa durch Beschränkungen der Beweisaufnahme <strong>und</strong> des Rechtsmittelzuges<br />

erreichen 179. Beide Bereiche erweisen sich bei Übernahme in das Strafprozeßrecht<br />

als höchst brisant: Mag man noch bereit sein, Einschränkungen im Tausch für<br />

die Entkriminalisierung zu akzeptieren, so wird in der gesetzgeberischen Diskussion<br />

dieser Zusammenhang nunmehr umgedreht mit der Argumentation, daß das,<br />

was sich im Ordnungswidrigkeitenrecht bewährt habe, auch für (kleinere) Strafsachen<br />

geeignet wäre 180.<br />

aa) Der Umfang der Beweisaufnahme gemäß § 77 OWiG<br />

Im Bereich des Ordnungswidrigkeitenrechts ist - noch verschärft durch das<br />

OWiGÄndG <strong>von</strong> 1987 - das Beweisantragsrecht gegenüber dem der StPO<br />

eingeschränkt: "Vor allem kann das strenge Beweisrecht nach § 244 Abs. 3 StPO<br />

im Bußgeldverfahren, insbesondere wegen weniger bedeutsamer Ordnungswidrigkeiten,<br />

zu solchen Verfahrensverzögerungen <strong>und</strong> -erschwerungen führen, daß<br />

der dadurch bedingte Aufwand an Personal <strong>und</strong> Sachmitteln nicht mehr in einem<br />

angemessenen Verhältnis zu der Bedeutung der Sache steht."181 Infolgedessen<br />

beschränkt § 77 OWiG sowohl die Aufklärungspflicht als auch das Beweisantragsrecht<br />

gegenüber der StPO; entgegen § 246 StPO ist etwa der Ablehnungsgr<strong>und</strong><br />

der Verspätung eingeführt worden.<br />

<strong>Die</strong> 52. Konferenz der Justizminister <strong>und</strong> -senatoren beschloß nun "zur Entlastung<br />

der Gerichte <strong>und</strong> Staatsanwaltschaften" folgenden, wörtlich mit § 77 a. F.<br />

OWiG übereinstimmenden Änderungsvorschlag unter Verzicht auf das formelle<br />

Beweisantragsrecht bezüglich § 244 StPO für das amtsgerichtliche <strong>Strafverfahren</strong>:<br />

"Das Gericht bestimmt unbeschadet des § 244 Abs. 2 StPO den Umfang<br />

der Beweisaufnahme" 182. Folge der Angleichung wäre, daß ein Beweisantrag<br />

auch dann abgelehnt werden könnte, wenn die Erhebung des Beweises zur Erfor-<br />

177 Siehe dazu die Übersicht bei Lüderssen in: Polizei <strong>und</strong> Strafprozeß, S. 211 f.<br />

178 Göhler, OWiG9, Ein!. Rn. 12.<br />

179 Begr. RegE OWiG 1968, BT-DrS V/1269, S. 36.<br />

180 Vg!. etwa Rieß in: Strafprozeß <strong>und</strong> Reform, S. 118.<br />

181 Begr. RegE OWiGÄndG 1987, BT-DrS 10/2652, S. 11.<br />

182 Beschluß der 52. Konferenz der Justizminister <strong>und</strong> -senatoren, StV 1982, S. 325;<br />

zustimmend StrRK des DRB, Information 1982, S. 47. Vg!. auch Kunz, Das strafrechtliche<br />

Bagatellprinzip, S.342; Rieß, JR 1975, S.228; Rebmann, NStZ 1984, S.245;<br />

v. Glasenapp, NJW 1982, S. 2057 f.; Böttcher, DRiZ 1983, S. 130; Meyer-Goßner, NJW<br />

1987, S. 1169; siehe auch § 384 III StPO.<br />

schung der Wahrheit dem Gericht nicht erforderlich erscheint 18<strong>3.</strong> Auch die Aufhebung<br />

<strong>von</strong> § 246 StPO wurde auf der Konferenz diskutiert 184.<br />

<strong>Die</strong> Befürchtung, solche Vorschläge zeigten die Gefahr eines "Dammbruchs"<br />

infolge der Vereinfachungen des Ordnungswidrigkeitenrechts im Kriminalstrafrecht,<br />

ohne den Preis der Entkriminalisierung zahlen zu wollen, versucht Rieß<br />

mit dem Hinweis auf die Entstehungsgeschichte des Beweisantragsrechts zu<br />

entkräften 185. Genaueres Hinsehen läßt diesen Gedanken jedoch als zweifelhaft<br />

erscheinen: Seit der "Geburtsst<strong>und</strong>e des Beweiserhebungsanspruchs" 186 mit der<br />

Entscheidung RGSt 1,61 187 entwickelte die Rechtsprechung des Reichsgerichts<br />

kontinuierlich den heute in § 244 III StPO kodifizierten numerus clausus der<br />

Ablehnungsgründe 188. Mit Gesetz zur Abänderung der Strafprozeßordnung vom<br />

21. 12. 1925 galt für das gesamte Strafrecht (mit Ausnahme der Übertretungstatbestände)<br />

im großen <strong>und</strong> ganzen das heutige Beweisantragsrecht gemäß § 244 III<br />

StPO 189. Es wurde zunächst durch die AusnahmeVO vom 14.6.1932 190 aufgr<strong>und</strong><br />

der wirtschaftlichen Notlage des Reiches eingeschränkt 191 <strong>und</strong> letztendlich im<br />

Dritten Reich völlig abgeschafft 192. Das Vereinheitlichungsgesetz <strong>von</strong> 1950 kehrte<br />

jedoch dann ausdrücklich zur Rechtslage <strong>von</strong> 1925 zurück 193, <strong>und</strong> zwar nicht<br />

nur, um die Änderungen der NS-Zeit zu beseitigen, sondern auch, um "namentlich<br />

die noch nicht aufgehobenen Teile der Notverordnungen <strong>von</strong> 1931 <strong>und</strong> 1932"<br />

zu bereinigen 194. Deshalb ist Rieß' Anregung <strong>von</strong> der "Wiederbelebung einzelner<br />

Gedanken des früheren Rechts" <strong>und</strong> ihre "Einbettung in ein umfassendes Konzept"<br />

nicht damit begründbar, daß in der Geschichte der StPO die Beschränkung<br />

des Beweisantragsrechts "keinen ganz neuen Gedanken" darstellt, der lediglich<br />

"nie mit der wünschenswerten Klarheit verwirklicht worden" sei 195. Vielmehr<br />

183 Vgl. BGHSt 12, S. 333 (334 f.).<br />

184 Beschluß der 52. Konferenz der Justizminister <strong>und</strong> -senatoren, StV 1982, S. 325;<br />

vg!. auch Rebmann, NStZ 1984, S. 246 f.; Kintzi, JR 1990, S. 316; Strate, StV 1990,<br />

S.392.<br />

185 Rieß, JR 1975, S. 226.<br />

186 Alsberg, Der Beweisantrag im StrafprozeßI, S. 59.<br />

187 Vg!. dazu Alsberg / Nüse / Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozeß5, S. 4 Fn. 13;<br />

S.21.<br />

188 Vorübergehende Einschränkungen erfuhr diese Entwicklung durch die "VO über<br />

Sondergerichte gegen Schleichhandel <strong>und</strong> Preistreiberei - Wuchergerichte" <strong>von</strong> 1919­<br />

1924 <strong>und</strong> durch die faktischen Auswirkungen der Zuständigkeitsänderungen durch die<br />

sog. "Emminger-VO" <strong>von</strong> 1924.<br />

189 Ausführlich dazu Hartung, DJZ 1926, Sp. 129 ff.<br />

190 RGB!. I, S. 285.<br />

191 Alsberg / Nüse / Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozeß5, S. 5 f.<br />

192 Ausführlich dazu Alsberg / Nüse / Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozeß5,<br />

S. 7 ff.<br />

193 Begr. RegE VereinhG, BT-DrS 1/530, S. 47.<br />

194 Begr. RegE VereinhG, BT-DrS 1/530, S. 3<strong>3.</strong><br />

195 Rieß, JR 1975, S. 226.


74 2. Kap.: Schwierigkeiten der Beschleunigung <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong> B. Verfahrensbeschleunigung durch den Beschuldigten 75<br />

könnten bei historischer Betrachtung, wie Berz hervorhebt, die "Erfahrungen im<br />

Dritten Reich" Warnung sein 196.<br />

bb) <strong>Die</strong> Zulassung der Rechtsbeschwerde gemäß § 80 OWiG<br />

Eine Übernahme der Regelung des § 77 OWiG für das amtsgerichtliche <strong>Strafverfahren</strong><br />

hätte zudem noch eine problematische Folge: Wird in erster Instanz<br />

beschleunigt, indem der Umfang der Beweisaufnahme gering gehalten wird, so<br />

würde der Beschuldigte die verhinderte Beweiserhebung in der Berufungsinstanz<br />

nachholen wollen. Werte beschreibt anschaulich, wie die durch die Emminger­<br />

VO entstandene vergleichbare Rechtslage zu einem Anstieg der Berufungen<br />

führte 197. Im Ordnungswidrigkeitenrecht wird diese Konsequenz nun dadurch<br />

vermieden, daß zusätzlich zur Beweisaufnahme auch der Rechtsmittelzug drastisch<br />

beschnitten wird: Im Unterschied zu kleinen Strafsachen gibt es keine<br />

Berufung, <strong>und</strong> auch der Zugang zur revisionsähnlichen Rechtsbeschwerde ist<br />

für den Betroffenen nur bei Geldbußen <strong>von</strong> mehr als 200,- DM unbeschränkt<br />

(§ 79 I Nr. 1 OWiG). Darunter ist die Rechtsbeschwerde an die Zulassung wegen<br />

Rechtsfortbildung, Sicherung einheitlicher Rechtsprechung oder Versagung<br />

rechtlichen Gehörs geb<strong>und</strong>en (§ 80 I OWiG). Durch das OWiGÄndG <strong>von</strong> 1987<br />

ist die Zulassung bei Geldbußen unter 80,- DM sogar noch weiter eingeschränkt<br />

worden (§ 80 11 OWiG). <strong>Die</strong> bloße "Wahrung der Rechte des Betroffenen" ist<br />

für die Zulassung der Rechtsbeschwerde bedeutungslos 198.<br />

Auch die Ausweitung dieser Einschränkungen spielte in der Strafprozeßreformdiskussion<br />

eine Rolle: Nicht nur die oben erwähnte Justizminister- <strong>und</strong> -senatorenkonferenz,<br />

sondern auch der B<strong>und</strong>esrat hat vorgeschlagen, die Revision bei<br />

erstinstanzlicher Amtsgerichtszuständigkeit an eine Zulassung zu binden, deren<br />

Ausgestaltung an das OWiG angelehnt werden könnte 199.<br />

Daß die Kombination <strong>von</strong> Beschränkung des Umfangs der Beweisaufnahme<br />

<strong>und</strong> Einschränkung der Revision nicht nur abstrakt zu einer Beschneidung der<br />

196 Berz, NJW 1982, S. 734; dagegen v. Glasenapp, NJW 1982, S. 2058. Vgl. auch<br />

Schünemann, Verh. 58. DJT, S. B 48: "die Aufrichtung ... des aufgeklärten Absolutismus<br />

im <strong>Strafverfahren</strong>"; G. Herdegen, GS K. Meyer, S. 194: "Amputation des Beweisantragsrechts,<br />

die nicht einmal aufrecht erhielte, was die StPO in ihrer Erstfassung (in § 243<br />

Abs. 2) bot".<br />

197 Werle, ZRP 1983, S. 201; ähnlich Kern, MschrKrimPsych 15 (1924), S. 247.<br />

198 Begr. RegE OWiG 1968, BT-DrS V/1269, S. 95; BGHSt 24, S. 15 (21); OLG<br />

Hamm, VRS 62, S. 294 (295); OLG Celle, MDR 1988, S. 521; OLG Koblenz, NJW<br />

1990, S.2398; Steindorf in KK OWiG, § 80 Rn. 1; Michalke 1Hamm, NJW 1990,<br />

S.2369.<br />

199 Beschluß der 52. Konferenz der Justizminister <strong>und</strong> -senatoren, StV 1982, S. 326;<br />

Stellungnahme BRat zum RegE StVÄG 1987, BT-DrS 10/1313, S. 52 f.; zustimmend<br />

StrRK des DRB, DRiZ 1986, S. 394 (anders noch Information 1982, S.48); so auch<br />

schon K. Peters in: Strafprozeß <strong>und</strong> Reform, S. 105.<br />

Verteidigungsmöglichkeiten insgesamt in unvertretbarer Weise führte 200, sondern<br />

sogar konkret zu geänderter amtsgerichtlicher Verfahrenspraxis zu Lasten des<br />

Beschuldigten führen soll 201 , hat die Konferenz der Justizminister <strong>und</strong> - senatoren<br />

in kaum zu überbietender Deutlichkeit ausgesprochen 202: Durch die Verringerung<br />

der Revisibilität <strong>von</strong> Verfahrensverstößen würde der Tatrichter in die Lage<br />

versetzt, "bei aller Gewissenhaftigkeit etwas freier <strong>und</strong> einzelfallangepaßter<br />

zu verhandeln, als es bei ,revisionssicherer' Verfahrensweise möglich ist" ­<br />

v. Jherings Wort 203 <strong>von</strong> der Form als geschworener Feindin der Willkür scheint<br />

vergessen 204; v. Savignys Satz 2 0s, das "einzig zuverlässige Mittel, die Beobachtung<br />

wenigstens der wesentlichen Prozeßvorschriften zu sichern", bestehe darin,<br />

"an die Nichtbefolgung die Nichtigkeit des Verfahrens" (oder jedenfalls die<br />

Aufhebung des Urteils in der Revisionsinstanz 206 ) zu knüpfen, besitzt noch immer<br />

Aktualität 207.<br />

B. Verfahrensbeschleunigung durch den Beschuldigten<br />

<strong>Die</strong> gesetzgeberischen Aktivitäten der siebziger <strong>und</strong> achtziger Jahre zur Verfahrensbeschleunigung<br />

haben das Problem langer Verfahrensdauer fast ausschließlich<br />

nur insoweit berührt, als es um die Verfahrenslänge, nicht aber um Verfahrensverzögerungen<br />

ging. <strong>Die</strong> Reformen sind überdies skeptisch zu beurteilen,<br />

weil sie häufiger kaum zur Verfahrensbeschleunigung geeignet erscheinen oder<br />

einseitig mit der Einschränkung <strong>von</strong> Verfahrensrechten des Beschuldigten einhergehen.<br />

Gesetzesänderungen, um staatliche Verzögerungen zu vermeiden, bieten<br />

sich jedenfalls bei erster Betrachtung kaum an. Es soll bei dem kursorischen<br />

Überblick bleiben, da die Bedeutung <strong>von</strong> Rechtsänderungen für die Rechtsfolgenbestimmung<br />

<strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer - zudem - nur indirekter Art ist: Sie<br />

200 Werle, ZRP 1983, S. 200; 20<strong>3.</strong><br />

201 Vgl. Brüssow, FG L. Koch, S. 68 f.<br />

202 Beschluß der 52. Konferenz der Justizminister <strong>und</strong> -senatoren, StV 1982, S. 326.<br />

Ähnlich jetzt auch wieder in dem <strong>von</strong> der gleichen Konferenz 1991 vorbereiteten Entwurf<br />

eines Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege, BR-DrS 314/91, S. 108; 118 f.<br />

203 v. Jhering, Der Geist des Römischen Rechts 11 121, § 45, S. 497.<br />

204 Vgl. aber I. Müller, Rechtsstaat <strong>und</strong> <strong>Strafverfahren</strong>, S. 2; Tönnies, ZRP 1990,<br />

S. 294; Jungfer, AnwBI. 1987, S. 76.<br />

205 v. Savigny, <strong>Die</strong> Prinzipienfrage in Beziehung auf eine neue Strafprocess-Ordnung,<br />

S.99 (zit. n. We. Schmid, <strong>Die</strong> Verwirkung <strong>von</strong> Verfahrensrügen, S. 320).<br />

206 Vgl. Bohnert, NStZ 1982, S. 8; Kindhäuser, NStZ 1987, S. 532.<br />

207 Vgl. auch We. Schmid, <strong>Die</strong> Verwirkung <strong>von</strong> Verfahrensrügen, S. 320; Hillenkamp,<br />

JR 1975, S. 134; NJW 1989, S. 2848 Fn. 81; Seebode, JR 1986, S. 477 f.; Puppe, NStZ<br />

1986, S. 406.<br />

Ein weiteres Beispiel für die Aktualität dieses Gedankens findet sich etwa in dem<br />

(handlungsanleitenden) Beitrag <strong>von</strong> (Staatsanwalt) Füllkrug, Krim 1987, S. 387 ff., in<br />

dem er darauf "hinweist", daß es praktisch keine Konsequenzen hat, wenn bei polizeilichen<br />

Untersuchungen die Gefahr im Verzug zu Unrecht angenommen wird (S. 389 f.).


76 2. Kap.: Schwierigkeiten der Beschleunigung <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong> B. Verfahrensbeschleunigung durch den Beschuldigten 77<br />

stellen keine näher in Betracht zu ziehende umfassende Alternative dar, sondern<br />

können höchstens flankieren. <strong>Die</strong> Rechtsfolgenbestimmung bleibt unabdingbar.<br />

Letzteres könnte allerdings dann in Frage zu stellen sein, wenn dem Beschuldigten<br />

Möglichkeiten eingeräumt sind, Verzögerungen seines Verfahrens entgegenzuwirken,<br />

also gewissermaßen seinen "Primäranspruch" auf Beschleunigung<br />

durchzusetzen. Hier geht es nicht (erst) um die Rechtsfolgen <strong>von</strong> Verzögerungen,<br />

sondern (schon) um deren Vermeidung. Sollte es einen praktikablen Rechtsbehelf<br />

geben, um Verzögerungen zu verhindern, so bliebe zwar, daß dieser regelmäßig<br />

erst dann greifen kann, wenn schon - erste - Verzögerungen eingetreten sind;<br />

abgesehen da<strong>von</strong> aber wäre in diesem Fall der Frage nach den Rechtsfolgen<br />

praktische Bedeutung genommen, als der Beschuldigte insoweit <strong>überlange</strong> Verfahrensdauer<br />

weitgehend vermeiden könnte. Sogar die theoretische Relevanz<br />

wäre eingeschränkt, sollte dem Beschuldigten gar auferlegt sein, sofern aus einer<br />

Verfahrensverzögerung Konsequenzen folgen sollen, sein Recht auf Förderung<br />

des Verfahrens bei <strong>von</strong> ihm feststellbaren Verzögerungen zuvor mit Entschiedenheit<br />

geltend zu machen.<br />

I. Obliegenheit des Beschuldigten?<br />

<strong>Die</strong> Auffassung, der Beschuldigte sei zum Ergreifen <strong>von</strong> Rechtsbehelfen verpflichtet,<br />

will er aus den Verzögerungen Rechtsfolgen herleiten, hat in einer<br />

vereinzelten Entscheidung das OLG Karlsruhe vertreten 208. Dem ist nicht nur<br />

schon kurz darauf das OLG Stuttgart entgegengetreten209, sondern auch ansonsten<br />

wird diese Auffassung entschieden abgelehnt 210, sofern nicht sogar mit Selbstverständlichkeit<br />

über sie hinweggegangen wird. <strong>Die</strong> Begründung hierfür liegt auf<br />

der Hand. Mangels Mitwirkungspflicht könne dem Beschuldigten im <strong>Strafverfahren</strong><br />

keine "Beschleunigungsobliegenheit" 211 auferlegt sein.<br />

Das OLG Karlsruhe beruft sich demgegenüber auf die Verfahrensgarantie bei<br />

Konventionsverletzungen des Art. 13 EMRK. Danach habe sich die EMRK als<br />

Rechtsfolge <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer für ein (nationales) Beschwerderecht<br />

entschieden 212. Nun ist diese Auffassung so unhaltbar. Es liegt die Verwechselung<br />

<strong>von</strong> Rechtsbehelf <strong>und</strong> Rechtsfolge vor. Art. 13 EMRK könnte allenfalls so interpretiert<br />

werden, daß er die Durchsetzbarkeit des materiellen Anspruchs aus<br />

Art. 6 I EMRK vor den nationalen Gerichten einschränkt. <strong>Die</strong>s scheitert jedoch<br />

208 OLG Karlsruhe, NJW 1972, S. 1907 (1908).<br />

209 OLG Stuttgart, JZ 1974, S. 268 (269).<br />

210 Vgl. etwa Miehsler / Vogler, IntKomm, Art. 6 Rn. 323; Schaupp-Haag, <strong>Die</strong> Erschöpfung<br />

des innerstaatlichen Rechtsweges, S. 36.<br />

211 Priebe, FS v. Simson, S. 304.<br />

212 OLG Karlsruhe, NJW 1972, S. 1907 (1908). Vgl. auch Schwenk, ZStW 79 (1967),<br />

S. 731 ff.<br />

daran, daß Art. 13 EMRK selbst ein konventionsgeschütztes Gr<strong>und</strong>recht auf<br />

Beschwerdemöglichkeit vor den nationalen Instanzen darstellt 2l3 • <strong>Die</strong> vorherige<br />

Einlegung einer Beschwerde spielt nur insofern eine Rolle, als Art. 26 EMRK<br />

für die Menschenrechtsbeschwerde zu den europäischen Organen zur Rechtswegerschöpfung<br />

die Beschwerdeeinlegung fordert, um dem völkergewohnheitsrechtlichen<br />

Anspruch des Staates, behauptete Menschenrechtsverletzungen selbst zu<br />

beseitigen, Rechnung zu tragen 214.<br />

Schwieriger wird es freilich, wenn man auf das BVerwG hinweist, das im<br />

Disziplinarverfahren gegen einen Beamten auf die - unterlassene - Anrufung<br />

des B<strong>und</strong>esdisziplinargerichts nach § 66 BDO abstellte 215. Auch das BVerfG<br />

erklärte eine wegen <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer angegriffene Disziplinarmaßnahme<br />

für verfassungsgemäß, weil "nicht unberücksichtigt" blieben könne, daß der<br />

Beschuldigte "die ihm im Gesetz eingeräumten Möglichkeiten" ungenutzt ließ216.<br />

Nun ist dem BVerfG schon Martin Hirsch in seinem Sondervotum mit dem<br />

Hinweis auf die mangelnde Mitwirkungspflicht im Amtsermittlungsverfahren<br />

entgegengetreten 217 • Aber selbst wenn man dem nicht folgte, zeigt sich, daß das<br />

deutsche Strafprozeßrecht, anders als das Beamtendisziplinarrecht mit § 66 BDO,<br />

nicht über praktikable Rechtsbehelfe gegen Verzögerungen verfügt.<br />

11. Befugnis des Beschuldigten<br />

1. Anträge (i. w. S.) an das verzögernde Organ<br />

a) Antrag <strong>und</strong> Gegenvorstellung<br />

Der Beschuldigte hat bei Verzögerungen zwar in jedem Verfahrensstadium<br />

die - selbstverständliche - Befugnis, einen Antrag auf Verfahrensbeschleunigung<br />

(genauer gesagt: "Anregung zum gesetzmäßigen Handeln" 218) an das verzögernde<br />

Strafverfolgungsorgan zu stellen 219. Zudem besteht die Möglichkeit der<br />

Gegenvorstellung, also der Aufforderung an die Stelle, die die (verzögernde)<br />

Entscheidung erlassen hat, diese <strong>von</strong> Amts wegen aufzuheben oder abzuändern 220.<br />

213 Matscher, FS Kralik, S. 265.<br />

214 Guradze, EMRK, Art. 26 Anm. 1; Frowein / Peukert, EMRK, Art. 26 Rn. 1; Ulsamer,<br />

FS Zeidler, S. 1813 f.<br />

215 BVerwGE 46, S. 122 (124).<br />

216 BVerfGE 46, S. 17 (30).<br />

217 BVerfGE (Abweichende Meinung) 46, S. 31 (32 f.).<br />

218 Vgl. BVerfGE 16, S. 119 (122).<br />

219 Vgl. BGHSt 35, S. 137 (138).<br />

220 BGH, VersR 1982, S. 598; Frisch in SK StPO, vor § 296 Rn. 32; W. Gollwitzer<br />

in LR24, vor § 296 Rn. 8; Kleinknecht / Meyer, StP039, vor § 296 Rn. 23; Albers in<br />

Baumbach / Lauterbach 48 , vor § 567 Anm. 1 C; Woesner, NJW 1960, S. 2130; Bauer,<br />

<strong>Die</strong> Gegenvorstellung im Zivilprozeß, S. 21; E. Schumann, FS Baumgärtel, S. 492.


78 2. Kap.: Schwierigkeiten der Beschleunigung <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong> B. Verfahrensbeschleunigung durch den Beschuldigten 79<br />

Nun sind die Erfolgsaussichten, hierdurch tatsächlich Verzögerungen entgegenzuwirken,<br />

wohl eher skeptisch zu beurteilen. Allerdings könnten sie - was bisher<br />

nicht näher untersucht worden ist - als Instrumentarium zumindest gegen richterliche<br />

Verzögerungen dergestalt nutzbar gemacht werden, daß sie quasi nur als<br />

"Vorverfahren" eingesetzt werden: Da bei Anträgen (vgl. § 34 StPO) <strong>und</strong> nach<br />

herrschender Meinung auch bei Gegenvorstellungen 221 ein Anspruch auf Prüfung<br />

<strong>und</strong> Verbescheidung besteht, kann im Falle der Nichtbescheidung oder rechtsfehlerhaften<br />

Bescheidung der Weg zur Richterablehnung eröffnet sein.<br />

b) Ablehnungsgesuch wegen Befangenheit<br />

aa) Verfahrensverzögerung<br />

Der einzige Ablehnungsgr<strong>und</strong> des § 24 StPO ist - abgesehen vom Ausschluß<br />

nach §§ 22, 23 StPO - das "Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters",<br />

§ 24 11 StPO. Es geht nicht um den Ablehnungsgr<strong>und</strong> der Verzögerung 222,<br />

sondern darum, ob durch die verzögerte Verfahrensweise ein Indiz für die parteiliche<br />

Einstellung des Richters gegeben ist 223 . Konsequenz dieser nur mittelbaren<br />

Relevanz der Verzögerungen ist eine gewisse Widersprüchlichkeit insofern, als<br />

ein durch sie initiiertes Ablehnungsgesuch (zunächst) weitere Verfahrensverzögerungen<br />

hervorruft 224. Schon dies stellt die Eignung dieses Rechtsinstituts bei<br />

Verzögerungen in Frage.<br />

Rechtsfehler des Richters können an sich kein Ablehnungsrecht auslösen. Sie<br />

sind nicht im Ablehnungsverfahren, sondern im Rechtsmittelverfahren zu überprüfen<br />

225. Allerdings wird betont, daß im Falle "grober Rechtsfehler" 226 oder bei<br />

einem "massiven Verstoß"227 ein Befangenheitsgesuch begründet sein könnte,<br />

wenn die Rechtsauffassung des abgelehnten Richters "nicht mehr hingenommen<br />

werden kann" 228, "rechtlich im Ergebnis völlig unhaltbar" sei 229 oder "den An-<br />

221 Kleinknecht / Meyer, StP039, vor § 296 Rn. 26; Frisch in SK StPO, vor § 296<br />

Rn. 35; W. Gollwitzer in LR24, vor § 296 Rn. 9; Schwentker, Der Ausschluß der Beschwerde<br />

nach § 305 StPO, S. 154; Woesner, NJW 1960, S. 2132; a.A. Ruß in KK<br />

StP02, vor § 296 Rn. 4; Paulus in KMR, vor § 296 Rn. 30.<br />

222 So aber etwa Bay. StGB <strong>von</strong> 1813, Teil II Art. 33 Nr. 5, wonach ein Ablehnungsrecht<br />

besteht, wenn sich der Richter einer "auffallenden Verzögerung ... schuldig oder<br />

verdächtig gemacht hat".<br />

223 BGH, NJW 1952, S. 1425 (1426), Arzt, Der befangene Strafrichter, S. 99; Schairer,<br />

Der befangene Staatsanwalt, S. 130 ff.; Bohnert, Beschränkungen der strafprozessualen<br />

Revision durch Zwischenverfahren, S. 78 f.<br />

224 Vgl. dazu Arzt, Der befangene Strafrichter, S. 6; 98 (mit entstellendem Druckfehler);<br />

Hillenkamp, JR 1975, S. 139.<br />

225 Wassermann in AK StPO, § 24 Rn. 16.<br />

226 Pfeiffer in KK StP02, § 24 Rn. 37.<br />

227 BGH, StV 1985, S. 2 (3).<br />

228 BGH, StV 1984, S. 99 (101).<br />

schein der Willkür erweckt" 230. <strong>Die</strong>se Rechtsprechung durchbricht jedoch nicht<br />

den Gr<strong>und</strong>satz, daß nur der Anschein der Unparteilichkeit die Ablehnung begründen<br />

könnte. Vielmehr wird auch in diesen Fällen konsequent an dem Kriterium<br />

des "Mißtrauens gegen die Unparteilichkeit" festgehalten. Denn bei schwersten<br />

Rechtsverletzungen durch den Richter kann der verständige Beschuldigte die<br />

Befürchtung hegen, der Rechtsverstoß könnte auf der Parteilichkeit ihm gegenüber<br />

fußen, weil ein solch eklatanter Rechtsverstoß einem Richter nicht einfach<br />

bloß unterlaufen dürfte. Als Erklärung <strong>von</strong> groben Fehlern bietet sich für den<br />

verständigen Beschuldigten also neben dem Rechtsirrtum der gegen ihn gerichtete<br />

Rechtsbruch an. <strong>Die</strong>se Indizkonstruktion hat besonders deutlich das BayObLG<br />

zum Ausdruck gebracht, wenn es formuliert, daß schwerste Verfahrensfehler<br />

unabhängig <strong>von</strong> ihren tatsächlichen Gründen den für die Ablehnung hinreichenden<br />

Verdacht erwecken können, ursächlich sei die parteiliche Einstellung des<br />

Richters oder seine Voreingenommenheit in der Sache 231.<br />

<strong>Die</strong>se Interpretation wird auch <strong>von</strong> der ZPO gestützt. § 42 11 ZPO läßt die<br />

Richterablehnung wortgleich mit § 24 11 StPO nur für den Fall des "Mißtrauens<br />

gegen die Unparteilichkeit" des Richters zu. § 1032 I ZPO bestimmt, daß ein<br />

Schiedsrichter "aus denselben Gründen <strong>und</strong> unter denselben Voraussetzungen"<br />

abgelehnt werden kann. Weiter heißt es in § 103211 ZPO: "<strong>Die</strong> Ablehnung kann<br />

außerdem erfolgen, wenn ein ... Schiedsrichter die Erfüllung seiner Pflichten<br />

ungebührlich verzögert." Demzufolge dürfte auf § 1032 11 ZPO - entgegen<br />

Arzt 232 - die Zulässigkeit der Verfahrensverzögerung als Ablehnungsgr<strong>und</strong> im<br />

<strong>Strafverfahren</strong> kaum gestützt werden können. Im Gegenteil scheint der Umkehrschluß<br />

zulässig, daß Verfahrensverzögerungen jedenfalls nach dem Willen des<br />

Gesetzgebers gerade nicht die Befangenheit des Richters begründen können<br />

sollen. Im übrigen dürfte im Verwaltungs- oderZivilprozeß die Sorge des verständigen<br />

Klägers, der Richter könnte aus Parteilichkeit für den Beklagten den Prozeß<br />

verzögern, um dadurch den <strong>von</strong> ihm angefochtenen Status quo aufrechtzuerhalten<br />

233, näher liegen als ein Verdacht des verständigen, durch die Unschuldsvermutung<br />

vor Rechtsfolgen (allerdings nicht vor verfahrenssichernden Maßnahmen<br />

<strong>und</strong> Belastungen) geschützten Beschuldigten, der Richter wolle ihm durch Verzögerung<br />

des gegen ihn gerichteten <strong>Strafverfahren</strong>s schaden.<br />

229 OLG Koblenz, GA 1977, S. 314 (315); ähnlich BGH, NStZ 1984, S. 419 (420).<br />

Siehe jetzt auch OLG Köln, StV 1991, S. 292.<br />

230 BayObLG, DRiZ 1977, S.244 (245); ähnlich BGH, NStZ 1984, S.419 (420);<br />

StV 1990, S. 241.<br />

231 BayObLG, DRiZ 1977, S. 244 (245); ähnlich Tolksdorf, Mitwirkungsverbot für<br />

den befangenen Staatsanwalt, S. 111; Strate, FG L. Koch, S. 274 f. Vgl. auch BGH, StV<br />

1985, S. 2 (3); OLG Zweibrücken, MDR 1982, S. 940.<br />

232 Arzt, Der befangene Strafrichter, S. 97.<br />

233 Vgl. J. Blomeyer, NJW 1977, S. 558. Umgekehrt bei einstweiligem Rechtsschutz,<br />

vgl. Priebe, FS v. Simson, S. 302.


80 2. Kap.: Schwierigkeiten der Beschleunigung <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong> B. Verfahrensbeschleunigung durch den Beschuldigten 81<br />

Allerdings hat Arztdie Ansicht vertreten, daß es darüber hinaus auch Rechtsverletzungen<br />

gebe, die ohne weiteres, also ohne daß sie Indizfunktion für die parteiliche<br />

Haltung des Richters haben, zur Ablehnung berechtigen können 234. Hier<br />

würde also nicht nur vennutet, sondern gewissennaßen fingiert, daß die Rechtsverletzung<br />

auf Parteilichkeit beruhe. Eine Erweiterung der Ablehnungsgründe<br />

sei dann erforderlich, wenn es sich um schwerwiegende Rechtsverletzungen<br />

handelt, gegen die der Beschuldigte sich jedoch mit der Revision nicht genügend<br />

zur Wehr setzen kann. Ablehnungsgr<strong>und</strong> sei hier eine (andere) schwere Störung<br />

des Vertrauensverhältnisses zwischen Beschuldigtem <strong>und</strong> Richter.<br />

Selbst wenn man prinzipiell Arzt insoweit folgte, zeigt sich doch, daß jedenfalls<br />

Verfahrensverzögerungen sich in diese Kategorie nicht einordnen lassen. Zwar<br />

ist die Schwierigkeit, Verfahrensverzögerungen revisionsrechtlich zu rügen,<br />

zweifelsohne gegeben 235 ; das Kriterium der schwerwiegenden Rechtsverletzung<br />

haftet Verfahrensverzögerungen - entgegen Arzt 236 - jedoch nicht per se an.<br />

So wäre man auch hier gezwungen, innerhalb <strong>von</strong> Verfahrensverzögerungen<br />

qualitativ zu unterscheiden, wie es im Rahmen der Indizkonstruktion erforderlich<br />

ist. Demzufolge erscheint es zweifelhaft, warum gerade bei dem Rechtsfehler<br />

Verfahrensverzögerung genau für die Fälle ein Systembruch erfolgen soll, bei<br />

denen die Befangenheit indiziert werden kann. Zumindest bei eindeutig unvertretbaren,<br />

erheblichen <strong>und</strong> vorwerfbaren Verfahrensverzögerungen dürfte auch auf<br />

Gr<strong>und</strong>lage der Indizkonstruktion die Befangenheit sehr nahe liegen 237.<br />

Allerdings bleibt als Gegeneinwand aufrechtzuerhalten, daß auf Gr<strong>und</strong>lage<br />

der Indizkonstruktion Nonnverstoß <strong>und</strong> Ablehnungsgr<strong>und</strong> sowohl konstruktiv<br />

verschieden als auch prozessual auseinanderzuhalten sind 238, oder anders ausgedrückt:<br />

Zwar mag bei Verfahrensverzögerungen das Befangenheitsrecht praktikabel<br />

gemacht werden können; ein "gegen" Verzögerungen gerichtetes prozessuales<br />

Mittel stellt es jedoch nicht dar.<br />

bb) Nicht- oder Falschbescheidung<br />

Auf der Gr<strong>und</strong>lage der Indizkonstruktion dürfte Weitergehendes dann gelten,<br />

wenn der Beschuldigte sich mit seinem Ablehnungsgesuch nicht gegen die Verfahrensverzögerungen<br />

an sich wendet, sondern gegen die Untätigkeit des Gerichts,<br />

nachdem er im Hinblick auf das Beschleunigungsprinzip die Verfahrens-<br />

fortführung oder die Unterlassung verzögernder Maßnahmen beantragt (oder<br />

Gegenvorstellung erhoben) hat.<br />

Das OLG Hamm hat sich zu § 42 ZPO mit der Möglichkeit der Ablehnung<br />

wegen Befangenheit in einem Fall beschäftigt, in dem der Vorsitzende an ihn<br />

gerichtete Erinnerungsschreiben einer Partei nicht beantwortet hatte <strong>und</strong> für die<br />

Partei nicht ersichtlich war, worauf die Verzögerung beruhte 239 • Es hat in diesem<br />

Fall das Gesuch für begründet erachtet. <strong>Die</strong>se Entscheidung ist richtig. Sie paßt<br />

nahtlos in das System des Ablehnungsrechts. Anders als bei bloßen Verfahrensverzögerungen,<br />

die auf Nachlässigkeiten beruhen <strong>und</strong> eine bloß abstrakte Pflicht<br />

zum zügigen Handeln, die nicht z. B. durch konkrete Fristen präzisiert wird 240,<br />

verletzen, kann ein verständiger Beschuldigter Sorge um die Unparteilichkeit<br />

des Richters dann haben, wenn er sich ausdrücklich gegen bestimmte Verzögerungen<br />

wendet <strong>und</strong> die schleunige Fortführung des Verfahrens begehrt, insoweit<br />

jedoch nicht einmal beschieden wird. Dem Richter verbleibt die Möglichkeit, in<br />

seiner dienstlichen Äußerung diesen Verdacht zu entkräften 241.<br />

Wird ein entsprechendes Begehren dagegen (ablehnend) beschieden, so kann<br />

Befangenheit dann zu besorgen sein, wenn die Begründung - ggf. im Zusammenhang<br />

mit der dienstlichen Erklärung des abgelehnten Richters - erkennen läßt,<br />

daß die Verfahrensverzögerungen auf einer nicht mehr hinnehmbaren Verkennung<br />

des Beschleunigungsprinzips beruhen. Denn dann liegt ein Rechtsfehler<br />

solcher Qualität vor, daß der verständige Beschuldigte an einem bloßen Irrtum<br />

des Richters zweifeln darf. Gleiches würde natürlich dann gelten, wenn die<br />

Begründung unzutreffende Ausführungen enthielte, um einen Verstoß gegen das<br />

Beschleunigungsprinzip zu kaschieren. Hierbei käme es weniger auf die Erheblichkeit<br />

der Verzögerung als auf den (indizierten) inneren Beweggr<strong>und</strong> des Richters<br />

an.<br />

Bei Ablehnung solcher Befangenheitsgesuche könnte die Revision auf § 338<br />

Nr. 3 StPO gestützt werden mit der Folge, daß die Verfahrensverzögerung zu<br />

einem absoluten Revisionsgr<strong>und</strong> wird, freilich auch mit dem Nachteil, daß in<br />

diesem Fall das verzögerte <strong>und</strong> zudem unnütze Verfahren bis zu der aufzuhebenden<br />

Entscheidung durchgeführt werden müßte 242.<br />

234 Arzt, Der befangene Strafrichter, S. 96 ff.<br />

235 So auch Bruns, NStZ 1985, S. 565; Arzt, der befangene Strafrichter, S. 97.<br />

236 Arzt, Der befangene Strafrichter, S. 14.<br />

237 So Hartmann in Baumbach / Lauterbach 48 , § 42 Anm. 2 B; ähnlich Strate, FG L.<br />

Koch, S.27<strong>3.</strong> Vg!. auch BGH, NJW 1952, S. 1425 (1426); Schairer, Der befangene<br />

Staatsanwalt, S. 13<strong>3.</strong><br />

238 Bohnert, Beschränkungen der strafprozessualen Revision durch Zwischenverfahren,<br />

S. 79; zustimmend Erker, Das Beanstandungsrecht gern. § 23811 StPO, S. 126 Fn. 80.<br />

239 OLG Hamm, JMB!. NW 1976, S. 111; zustimmend Hartmann in Baumbach /<br />

Lauterbach 48 , § 42 Anm. 2 B.<br />

240 Vg!. BGH, NJW 1952, S. 1425 (1426); Schairer, Der befangene Staatsanwalt,<br />

S.13<strong>3.</strong><br />

241 Vg!. Strate, FG L. Koch, S. 275.<br />

242 Vg!. Arzt, Der befangene Strafrichter, S. 1<strong>3.</strong><br />

6 Scheffle,


.._-_..._--~-----------<br />

82 2. Kap.: Schwierigkeiten der Beschleunigung <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong> B. Verfahrensbeschleunigung durch den Beschuldigten 83<br />

2. Rechtsbehelfe (i. w. S.)<br />

a) Beschwerde, § 304 StPO<br />

Das prinzipielle Problem <strong>von</strong> Berufung <strong>und</strong> Revision bei Verfahrensverzögerungen,<br />

daß sie eine Entscheidung des Instanzengerichts voraussetzen, um deren<br />

nicht rechtzeitiges Erlassen es gerade geht 24 3, ließe sich durch die Einräumung<br />

einer Beschwerdemöglichkeit vermeiden. Es ist jedoch zweifelhaft, ob die Beschwerde<br />

gemäß § 304 StPO als praktikabler Rechtsbehelf genutzt werden kann.<br />

Zwar ist sie gr<strong>und</strong>sätzlich gegen richterliche Beschlüsse oder Verfügungen des<br />

Vorsitzenden zulässig. Weiterhin ist sie nach herrschender Ansicht auch gegen<br />

unterlassene Entscheidungen statthaft 244; dies setzt allerdings voraus, daß in dem<br />

Unterlassen eine Stellungnahme im Sinne einer stillschweigenden Ablehnung<br />

zum Ausdruck kommt245. <strong>Die</strong>s mag zwar bei beschlußmäßiger Versagung der<br />

Entscheidung der Fall sein 246, ist aber ansonsten schwer vorstellbar. Reine Untätigkeiten<br />

an sich fallen jedenfalls nicht darunter 247 ; auch eine Beschwerde "gegen<br />

die stillschweigende Entscheidung", daß das erkennende Gericht "nicht entscheiden<br />

will", ist unzulässig 248 • Schon gr<strong>und</strong>sätzlich ist damit die Verfahrensbeschwerde<br />

nur bei verzögernden Prozeßhandlungen <strong>und</strong> gegen die Ablehnung <strong>von</strong><br />

auf die Beschleunigung zielenden Anträgen denkbar.<br />

Als weitere Hürde stellt sich § 305 Satz 1 StPO dar, der die Beschwerde gegen<br />

Entscheidungen des erkennenden Gerichts einschränkt 249 : Nach Eröffnung bleibt<br />

eine Beschwerde nur noch dann möglich, wenn etwa eine Aussetzung nicht<br />

ausschließlich dazu bestimmt <strong>und</strong> geeignet ist, die Urteilsfällung vorzubereiten,<br />

diese also das Verfahren unnötig verzögert 250, oder der Vorsitzende den Verhandlungstermin<br />

so weit hinausschiebt, daß es einer Aussetzung des Verfahrens gleich-<br />

243 Vg!. allgemein Papier, HdB Staatsrecht VI, § 153 Rn. 2<strong>3.</strong><br />

244 OLG Nümberg, HESt 2, S. 152; BayObLG, NJW 1958, S. 1693; KG, GA 1978,<br />

S.81 (82); OLG Hamm, JMB!. NW 1981, S.69 (70); W. Gollwitzer in LR24, § 304<br />

Rn. 8; Engelhardt in KK StP02, § 304 Rn. 3; Ellers~~k, <strong>Die</strong> Beschwerde im Strafprozeß,<br />

S. 65. Siehe auch hierzu (<strong>und</strong> zum folgenden) in Ubereinstimmung mit dem Text LG<br />

Stuttgart, NStZ 1991, S. 204.<br />

245 OLG Nürnberg, HESt 2, S. 152; Paulus in KMR, § 304 Rn. 1; Kleinknecht / Meyer,<br />

StP039, § 309 Rn. 5; Ellersiek, <strong>Die</strong> Beschwerde im Strafprozeß, S. 65; Erker, Das Beanstandungsrecht<br />

gern. § 238 II StPO, S. 69.<br />

246 Paulus in KMR, § 304 Rn. 1.<br />

247 OLG Hamm, JMB!. NW 1981, S. 69 (70); vg!. auch RGSt 19, S. 333 (337 f.).<br />

248 Vg!. BFH, JZ 1963, S. 261; Hummer, Justizgewährung <strong>und</strong> Justizverweigerung<br />

in verfassungsrechtlicher Sicht, S. 142.<br />

249 Kritisch dazu Bohnert, GA 1982, S. 169 f.; Paulus, NStZ 1985, S. 520 f.<br />

250 OLG Frankfurt, NJW 1966, S. 992; KG, JR 1966, S. 230; OLG Stuttgart, NJW<br />

1973, S. 2309 (2310); OLG Karlsruhe, GA 1974, S. 285; NStZ 1985, S. 227; W. Gollwitzer<br />

in LR24, § 305 Rn. 17; Engelhardt in KK StP02, § 305 Rn. 9; Paulus in KMR, § 305<br />

Rn. 12; Kleinknecht, JR 1966, S. 231; weitergehend Giesler, Der Ausschluß der Beschwerde,<br />

S. 116 f. Ausführlich Schwentker, Der Ausschluß der Beschwerde nach § 305<br />

StPO, S. 186 ff.<br />

kommt 251 • Möglich ist also die Beschwerde nach Eröffnung nur bei Entscheidungen,<br />

die nicht bloß das Verfahren unzulänglich fördern, sondern die den Erlaß<br />

des Urteils regelrecht hemmen <strong>und</strong> hindern <strong>und</strong> insofern mit der Urteilsfällung<br />

in keinem inneren Zusammenhang stehen: Nur bei überflüssigem Prozeßhandeln<br />

ist die Beschwerde überhaupt denkbar. Freilich würde die allgemeine Anerkennung<br />

der Beschwerdemöglichkeit bei der Behauptung verzögernder Maßnahmen<br />

gegen Sinn <strong>und</strong> Zweck <strong>von</strong> § 305 StPO verstoßen, der gerade Verzögerungen<br />

durch die Unanfechtbarkeit vorbereitender Entscheidungen verhindern will 252.<br />

Demzufolge kann eine Beschwerde nur zulässig sein, wenn die Entscheidung<br />

des Gerichts <strong>von</strong> vornherein ungeeignet ist, die Urteilsfällung vorzubereiten 25<strong>3.</strong><br />

Der Beschuldigte kann also nicht etwa eine Aussetzung zur Heranschaffung eines<br />

Beweismittels mit der Behauptung anfechten, daß die Beweisfragen für das Urteil<br />

unerheblich seien 254.<br />

Noch ungünstiger sieht es für die Beschwerde gegen Entscheidungen im Eröffnungsverfahren<br />

aus. Hier sind die Entscheidungen des Gerichts nach §§ 201,<br />

202 StPO <strong>von</strong> der Beschwerde ausgenommen. Gleiches gilt gemäß § 210 I StPO<br />

für den Eröffnungsbeschluß; gleichzeitige Entscheidungen gelten schon als Entscheidungen<br />

des erkennenden Gerichts 255 • Soweit eine unterbliebene Entscheidung<br />

nicht beschwerdefähig wäre, kann auch deren Nichterlaß nicht mit der<br />

Beschwerde angegangen werden 256.<br />

Nach Urteilsfällung verwehrt § 305 StPO nicht mehr die Beschwerde. <strong>Die</strong>se<br />

wäre also insoweit in Fällen, in denen Verzögerungen durch das erkennende<br />

Gericht nach Verurteilung geschehen, zulässig, sofern man in der Unterlassung<br />

eine stillschweigende Ablehnung sehen kann. Anderes mag dann gelten, wenn<br />

Revision gegen das Urteil eingelegt ist <strong>und</strong> über die Verzögerung ohnehin vom<br />

Rechtsmittelgericht zu entscheiden ist 257, was vor allem bei einer Verletzung der<br />

Urteilsabsetzungsfrist in § 275 I StPO relevant werden kann, aber auch im Bereich<br />

<strong>von</strong> § 347 StPO angenommen werden könnte 258 •<br />

Ob dieses unbefriedigende Zwischenergebnis nun ein gewichtiges Argument<br />

dafür darstellt, die Einführung einer Untätigkeitsbeschwerde gegen den Richter<br />

251 BayObLG, DJZ 1917, Sp. 248; OLG Nürnberg, OLGSt (alt) § 305 StPO, S. 15;<br />

LG Hildesheim, NStZ 1988, S.569; W. Gollwitzer in LR24, § 305 Rn. 16; Engelhardt<br />

in KK StP02, § 305 Rn. 6.<br />

252 Vg!. Eb. Schmidt, Lehrkomm. II, § 305 Rn. 1; Häsemeyer, FS Michaelis, S. 149.<br />

253 OLG Braunschweig, NJW 1955, S. 565; OLG Stuttgart, NJW 1973, S. 2309 (2310);<br />

Engelhardt in KK StP02, § 305 Rn. 9.<br />

254 Vg!. Häsemeyer, FS Michaelis, S. 149; unklar KG, JR 1966, S. 230 (231).<br />

255 BayObLGSt 1955, S. 113 (114); Engelhardt in KK StP02, § 305 Rn. 2; Giesler,<br />

Der Ausschluß der Beschwerde, S. 120.<br />

256 BayObLG, NJW 1958, S. 1693 (1694); OLG Hamm, JMB!. NW 1981, S. 69 (70);<br />

Engelhardt in KK StPO', § 304 Rn. <strong>3.</strong><br />

257 Vg!. W. Gollwitzer in LR'4, § 304 Rn. 3<strong>3.</strong><br />

258 BayObLG, StV 1989, S. 394 (395); vg!. auch BGHSt 35, S. 137.<br />

6*


84 2. Kap.: Schwierigkeiten der Beschleunigung <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong> B. Verfahrensbeschleunigung durch den Beschuldigten 85<br />

zu befürworten, ist zurückhaltend zu beurteilen. Zwar kennt das geltende Recht<br />

eine Untätigkeitsklage aufdas dreimonatige Unterlassen <strong>von</strong> Verwaltungshandeln<br />

hin in §§ 27 EGGVG, 75 VwGO, 113 StVollzG, auf das einjährige Unterlassen<br />

hin in § 216 BEG. Im Beamtendisziplinarrecht kann der Beamte gemäß § 66<br />

BDO nach Ablauf <strong>von</strong> sechs Monaten seit Verfahrenseinleitung ohne Vorlage<br />

der Anschuldigungsschrift (bzw. Verfahrenseinstellung) die Entscheidung des<br />

B<strong>und</strong>esdisziplinargerichts beantragen.<br />

<strong>Die</strong> Einführung einer solchen Untätigkeitsbeschwerde ist insbesondere <strong>von</strong><br />

Häsemeyer diskutiert worden 259 • Danach könnte nach Ablauf einer bestimmten,<br />

festgelegten Untätigkeitsfrist das Beschwerdegericht eingeschaltet werden. Bei<br />

begründeter Beschwerde sieht Häsemeyer drei Möglichkeiten: Zunächst wäre an<br />

eine Anweisung an den Erstrichter zu denken 260; hier dürfte fraglich erscheinen,<br />

inwieweit dieses Verfahren tatsächlich Erfolg verspricht. Als zweites sieht Häsemeyer<br />

die Möglichkeit der Überleitung des Verfahrens in die Rechtsmittelinstanz,<br />

was jedoch den Verlust einer Instanz zur Folge hätte. Demzufolge schlägt Häsemeyer<br />

entsprechend dem Befangenheitsrecht die Verweisung an den zur Vertretung<br />

berufenen Richter bzw. die entsprechende Spruchkammer vor.<br />

Eine solche Untätigkeitsbeschwerde wäre unter zwei Gesichtspunkten unbefriedigend:<br />

Zum einen könnte auch hier wegen des Gr<strong>und</strong>gedankens <strong>von</strong> § 305<br />

Satz 1 StPO nur die schlichte Untätigkeit, verzögerndes Handeln lediglich in<br />

den erwähnten Ausnahmefällen gerügt werden 261. Zum anderen wäre die Festlegung<br />

einer bestimmten Frist, etwa der Dreimonatsfrist, nicht geeignet, Verzögerungen<br />

Einhalt zu bieten262: Bei einer kürzeren Frist bestünde die Gefahr, daß<br />

auf den Richter ein unzumutbarer <strong>und</strong> sachwidriger Entscheidungszwang ausgeübt<br />

wird 26<strong>3.</strong> Bei Festlegung einer längeren Frist <strong>von</strong> z. B. drei Monaten aber<br />

könnte sich die Untätigkeitsbeschwerde gerade bei hartnäckiger Verzögerung als<br />

zu stumpfes Schwert erweisen, weil durch jede noch so ungeeignete Tätigkeit,<br />

sofern sie sich nicht nur als bloßer Rechtsrnißbrauch, als Scheinmaßnahme darstellt,<br />

die Frist <strong>von</strong> vorne laufen würde. Legte man aber keine Frist fest, sondern<br />

würde man, wie Kissel es für das FGG-Verfahren vorschlug 264, nur <strong>von</strong> der<br />

Angemessenheit der Frist sprechen, so bedeutete dies die Vermengung mit dienstaufsichtsrechtlichen<br />

Fragen 265, was, wie noch zu zeigen sein wird, besonders im<br />

Bereich richterlicher Tätigkeit nicht angängig ist.<br />

259 Häsemeyer, FS Michaelis, S. 143 ff.; vgl. auch Echterhölter, JZ 1956, S. 146.<br />

260 Vgl. dazu Kleinknecht, StP035, § 309 Rn. 4: Das Beschwerdegericht könne, vgl.<br />

§ 28 II EGGVG, § 115 II StVollzG, die Verpflichtung des zuständigen Richters aussprechen,<br />

den Beschwerdeführer in bestimmter Weise zu bescheiden, wenn die Unterlassung<br />

rechtswidrig war <strong>und</strong> die Sache entscheidungsreif ist; dagegen ausdrücklich OLG Hamm,<br />

JMBl. NW 1981, S. 69 (70 f.). Siehe jetzt auch LG Stuttgart, NStZ 1991, S. 204.<br />

261 Vgl. Häsemeyer, FS Michaelis, S. 149.<br />

262 Vgl. auch oben, AlL<br />

263 So auch Häsemeyer, FS Michaelis, S. 146.<br />

264 Kissel, ZZP 69 (1951), S. 16; vgl. auch Küng-Hofer, Beschleunigung, S. 126.<br />

b) Antrag auf gerichtliche Entscheidung, §§ 23 ff. EGGVG<br />

Kohlmann hat die Ansicht vertreten, bei Verzögerungen der Staatsanwaltschaft<br />

im Vorverfahren sei der Anspruch auf schnelle Durchführung des Ermittlungsverfahrens<br />

aufgr<strong>und</strong> <strong>von</strong> Art. 19 IV GG vor den ordentlichen Gerichten einklagbar,<br />

was gemäß §§ 23 ff. EGGVG zu geschehen habe 266. Zwar sei die Ermittlungstätigkeit<br />

als solche kein Verwaltungshandeln; der Beschuldigte könne jedoch einen<br />

Antrag auf Beendigung des Ermittlungsverfahrens stellen, was ein Justizverwaltungsakt<br />

sei. Der Rechtsweg könne dann beschritten werden, wenn entweder die<br />

Staatsanwaltschaft den Antrag ablehnte - § 23 11 EGGVG - oder ihn binnen<br />

drei Monaten nicht bescheide - § 27 EGGVG. Als dogmatisches Problem sieht<br />

Kohlmann lediglich, daß entgegen dem Wortlaut <strong>von</strong> § 23 11 EGGVG der Beschuldigte<br />

nicht den Erlaß eines bestimmten, sondern eines VOn zwei möglichen<br />

Verwaltungsakten, nämlich entweder die Einstellung (§ 170 11 StPO) oder den<br />

Vermerk des Abschlusses der Ermittlungen nach § 169a I StPO begehren muß.<br />

Im Ergebnis besteht demgegenüber in Literatur <strong>und</strong> Rechtsprechung Einigkeit,<br />

daß der Rechtsweg nach §§ 23 ff. EGGVG nicht gangbar ist. Zum einen wird<br />

<strong>von</strong> der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung <strong>und</strong> einem Teil der Literatur<br />

die Auffassung vertreten, daß die staatsanwaltschaftliche Tätigkeit im Ermittlungsverfahren<br />

nicht Justizverwaltungshandeln sei, sondern Prozeßhandlungen<br />

vorlägen, die nur der richterlichen Kontrolle im <strong>Strafverfahren</strong> selbst unterstellt<br />

seien 267 • Zum anderen hebt eine Ansicht im Schrifttum darauf ab, daß lediglich<br />

unanfechtbare, weil unselbständige Einzelrnaßnahmen vorlägen 268 • Hingewiesen<br />

wird auf § 62 I Satz 2 OWiG, wonach die Anrufung des Strafrichters gegen<br />

Maßnahmen der Verwaltungsbehörden als Verfolgungsbehörde im Bußgeldverfahren<br />

wegen Ordnungswidrigkeiten ausgeschlossen ist bei Maßnahmen, die nur<br />

zur Vorbereitung der Entscheidung getroffen werden, ob ein Bußgeldbescheid<br />

erlassen oder das Verfahren eingestellt wird, <strong>und</strong> die keine selbständige Bedeutung<br />

haben 269.<br />

Rieß sieht es als eine sek<strong>und</strong>äre Frage an, wie man die Nichtanwendbarkeit<br />

der §§ 23 ff. EGGVG auf die Führung des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungs-<br />

265 Vgl. Häsemeyer, FS Michaelis, S. 145 f. Siehe jetzt auch LG Stuttgart, NStZ<br />

1991, S. 204.<br />

266 Kohlmann, FS Maurach, S. 514 f.<br />

267 OLG Karlsruhe, NJW 1976, S. 1418; Justiz 1980, S. 94; NStZ 1982, S. 434; OLG<br />

Hamm, NStZ 1983, S. 38; OLG Stuttgart, Justiz 1987, S. 199; Kissel in KK StP0 2 , § 23<br />

EGGVG Rn. 32; Altenhain, DRiZ 1970, S. 106; Bottke, StV 1986, S. 121; 123; dagegen<br />

etwa Schenke, NJW 1976, S. 1817 ff.; Frisch in SK StPO, vor § 296 Rn. 1<strong>3.</strong><br />

268 Vgl. etwa K. Meyer, FS K. Schäfer, S. 121 ff.; Kleinknecht / Meyer, StP039, § 23<br />

EGGVG Rn. 9; K. Schäfer in LR2J, § 23 EGGVG Rn. 38 f.; Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht,<br />

§ 23 EGGVG Rn. 14.<br />

269 OLG Karlsruhe, NStZ 1982, S.434 (435); K. Schäfer in LR2J, § 23 EGGVG<br />

Rn. 38; RieB, NStZ 1982, S. 436.


86 2. Kap.: Schwierigkeiten der Beschleunigung <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong> B. Verfahrensbeschleunigung durch den Beschuldigten 87<br />

verfahrens insgesamt dogmatisch begründet 270. Es sei entscheidend, daß die<br />

Bejahung der Zulässigkeit des Rechtswegs nach §§ 23 ff. EGGVG bei Verzögerungen<br />

durch die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren die Gr<strong>und</strong>strukturen<br />

des <strong>Strafverfahren</strong>s aus den Angeln heben <strong>und</strong> die gr<strong>und</strong>sätzliche Rollenverteilung<br />

im Strafprozeß in Frage stellen würde 271 : Nicht die Staatsanwaltschaft,<br />

sondern das Gericht trüge die Verantwortung für das strafprozessuale Ermittlungsverfahren.<br />

Dessen gerichtliche Überprüfung sei bei Anklageerhebung im<br />

eigentlichen <strong>Strafverfahren</strong> <strong>und</strong> bei Einstellung nach § 170 11 StPO im Klageerzwingungsverfahren<br />

vorgesehen. Bei strafprozessualen Zwangsmaßnahmen der<br />

Staatsanwaltschaft bestehe ein richterliches Rechtsschutzinstrumentarium (bei<br />

dem freilich bezweifelt werden kann, inwieweit es im Lichte <strong>von</strong> Art. 19 IV GG<br />

genügt 272).<br />

Insoweit schlägt hier auch der Gedanke durch, der bei Prozeßhandlungen des<br />

erkennenden Gerichts zum Ausschluß der Beschwerde führt (§ 305 StPO): Das<br />

Verfahren würde zerrissen <strong>und</strong> der Prozeßverschleppung Tür <strong>und</strong> Tor geöffnet<br />

werden 27 3, wenn jede Handlung - oder jedes Unterlassen - der Staatsanwaltschaft<br />

zum Gegenstand (oberlandes-)gerichtlicher Überprüfung werden könnte.<br />

<strong>Die</strong> Tätigkeit der Staatsanwaltschaft könnte "gelähmt" werden 27 4, wenn ihre<br />

vorbereitenden Handlungen nicht erst mit ihrer Abschlußentscheidung zusammen<br />

angefochten werden dürfen.<br />

Eine Ausnahme soll dann gelten, wenn das Ermittlungsverfahren "offenbar<br />

aus Gründen fortgeführt wird, die unter keinem Gesichtspunkt mehr nachvollziehbar<br />

sind, mithin objektiv willkürliches Handeln der StA zum Nachteil des Beschuldigten<br />

in Rede steht"275. Ob ein solcher Fall nur in der Theorie existieren<br />

kann, mag zweifelhaft sein. Immerhin hatte das VG Berlin sich mit Verzögerungen<br />

in einem disziplinarrechtlichen Vorermittlungsverfahren zu befassen 276, das<br />

Kloepfer Anlaß dazu gab, <strong>von</strong> "formenmißbräuchlich" <strong>und</strong> "schikanös" zu sprechen<br />

277 .<br />

c) <strong>Die</strong>nstaufsichtsbeschwerde<br />

Auch der Ausweg, der Beschuldigte könnte seinem Anspruch auf unverzögerte<br />

Durchführung des <strong>Strafverfahren</strong>s mittels des Ablehnungsrechts Nachdruck verleihen,<br />

versagt bei <strong>von</strong> der Staatsanwaltschaft verursachten Verzögerungen, also<br />

insbesondere im Ermittlungsverfahren. Es kann hier nicht der Ort sein zu diskutieren,<br />

ob etwa der Gr<strong>und</strong>satz des fairen Verfahrens ein solches Ablehnungsrecht<br />

erfordert 278. Das geltende Recht enthält die Ausschließungsmöglichkeit des<br />

Staatsanwalts wegen Befangenheit ausdrücklich nur in § 7 11 Nds. AGGVG279.<br />

Demzufolge hat sich die Rechtsprechung bislang durchweg geweigert, ein Ablehnungsrecht<br />

anzuerkennen.<br />

Einigkeit dürfte aber dahingehend bestehen, daß der Beschuldigte das Recht<br />

hat, die Ablösung eines ihm befangen erscheinenden Staatsanwalts beim vorgesetzten<br />

Beamten der Staatsanwaltschaft zu beantragen <strong>und</strong> daß dessen Verpflichtung<br />

besteht, einen Staatsanwalt abzulösen, wenn ihm gegenüber die Besorgnis<br />

der Befangenheit besteht 280 . <strong>Die</strong>s wird allgemein aus der richtergleichen Bindung<br />

des Staatsanwalts an Wahrheit <strong>und</strong> Gerechtigkeit 28 I , speziell aus der funktionalen<br />

Gleichschaltung mit dem Richter im Vorverfahren 282 abgeleitet.<br />

Damit verschiebt sich das Problem zur Frage der <strong>Die</strong>nstaufsicht 28<strong>3.</strong> Hier dürfte,<br />

unabhängig vom "Umweg" über die Befangenheitsdogmatik, kein Zweifel bestehen,<br />

daß die unverzögerte Durchführung des (Ermittlungs-)Verfahrens <strong>Die</strong>nstpflicht<br />

der Staatsanwaltschaft ist 284 mit der Folge, daß im Rahmen der <strong>Die</strong>nstaufsicht<br />

gemäß § 147 GVG der Staatsanwalt zur beschleunigten Verfahrensdurchführung<br />

angewiesen (vgl. § 146 GVG) oder abgelöst (vgl. § 145 GVG) werden kann.<br />

Einer weitverbreiteten Ansicht zufolge bietet sich die <strong>Die</strong>nstaufsichtsbeschwerde<br />

als Rechtsbehelf gegen Verfahrensverzögerungen durch den Richter an, da<br />

nach § 26 11 DRiG der Richter explizit zur unverzögerten Erledigung seiner<br />

270 Rieß, NStZ 1982, S. 435; vgl. auch Frisch in SK StPO, vor § 296 Rn. 15.<br />

271 Rieß, NStZ 1982, S. 435 f.<br />

272 Dazu Rieß / Thym, GA 1981, S. 189 ff.; K. Amelung, Rechtsschutz gegen strafprozessuale<br />

Gr<strong>und</strong>rechtseingriffe, S. 25 ff.; Frisch in SK StPO, vor § 296 Rn. 15.<br />

273 Vgl. W. Gollwitzer in LR'4, § 305 Rn. 2; Schwentker, Der Ausschluß der Beschwerde<br />

nach § 305 StPO, S.29; siehe auch BVerfG (Vorprüfungsausschuß), NStZ 1984,<br />

S.228.<br />

274 OLG Karlsruhe, NStZ 1982, S. 434; K. Schäfer in LR'3, § 23 EGGVG Rn. 39; K.<br />

Meyer, FS K. Schäfer, S. 120f. Vgl. auch Strubel/Sprenger, NJW 1972, S. 1739, mit<br />

dem zweifelhaften Vorschlag, dann müsse eben "das Verfahren nach § 23 EGGVG<br />

beschleunigt" werden.<br />

275 BVerfG (Vorprüfungsausschuß), NStZ 1984, S. 228 (229); OLG Frankfurt, NStZ<br />

1989, S. 96 (97). Vgl. auch Kloepfer, DVBl. 1977, S. 741 f.<br />

276 VG Berlin, DVBl. 1977, S. 739.<br />

177 Kloepfer, DVBl. 1977, S. 741 f.<br />

278 Vgl. dazu BGH, NJW 1980, S. 845 f.; NStZ 1984, S. 419.<br />

279 Inhaltlich ähnlich, wenngleich auch nicht ganz so weitgehend: § 11 Bad.-württ.<br />

AGGVG; zur verfassungsrechtlichen Problematik der Vorschriften siehe Frisch, FS Bmns,<br />

S. 389 f.<br />

280 Vgl. OLG Hamm, NJW 1969, S. 808 f.; Frisch, FS Bruns, S. 392 f.; C. Roxin, <strong>Strafverfahren</strong>srecht'l,<br />

§ 10 A III 5; Tolksdorf, Mitwirkungsverbot für den befangenen Staatsanwalt,<br />

S. 121 f.; Bruns, GebGabe Grützner, S. 44 f.<br />

281 Vgl. etwac. Roxin, <strong>Strafverfahren</strong>srecht 21 , § 10 A III 5.<br />

282 Vgl. etwa Frisch, FS Bmns, S. 409 f.<br />

283 Tolksdorf, Mitwirkungsverbot für den befangenen Staatsanwalt, S. 121; Bruns, Geb­<br />

Gabe Grützner, S. 45.<br />

284 Vgl. BGH, NStZ 1982, S. 291 (292); OLG Koblenz, NJW 1972, S. 1907 (1908);<br />

BGHZ20,S. 178(181 f.);AnwBI.1958,S. 152;StV 1988,S. 441; Kohlmann,FSMaurach,<br />

S. 505; J. Blomeyer, NJW 1977, S. 558 Fn. 9; K. Peters, Strafprozeß4, § 23 IV I a; vgl. auch<br />

Nr. 7 Abs. 1Satz 1RiStBV 1970: "<strong>Die</strong> Ermittlungen sind schnell <strong>und</strong> zielbewußt durchzuführen".


88 2. Kap.: Schwierigkeiten der Beschleunigung <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong> B. Verfahrensbeschleunigung durch den Beschuldigten 89<br />

Amtsgeschäfte ermahnt werden kann 285 • <strong>Die</strong>se Auffassung ist jedoch Zweifeln<br />

ausgesetzt, weil sich das Verhältnis <strong>von</strong> richterlicher Unabhängigkeit <strong>und</strong> <strong>Die</strong>nstaufsicht<br />

komplizierter gestaltet, als es § 26 11 DRiG nahelegt: <strong>Die</strong> <strong>Die</strong>nstaufsicht<br />

besteht nur insoweit, als die richterliche Tätigkeit mit der Rechtsfindung in der<br />

einzelnen Sache in keinem Zusammenhang steht. Nur dann besteht unter dem<br />

Gesichtspunkt richterlicher Unabhängigkeit kein Anlaß, der dienstaufsichtsführenden<br />

Stelle jede Einflußmöglichkeit zu versagen 286. Sie kann jedoch nur gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

die zeitliche <strong>Dauer</strong> der richterlichen Amtsausübung überwachen 287. Jeder<br />

Eingriff, sogar jede speziell auf das konkrete Verfahren zielende Ermahnung ist<br />

der <strong>Die</strong>nstaufsicht versagt; sie darf den Richter insbesondere nicht ermahnen,<br />

ein ganz bestimmtes Verfahren umgehend zu bearbeiten288. <strong>Die</strong> <strong>Die</strong>nstaufsicht<br />

ist nur befugt, dem Richter anläßlich eines Einzelfalls die ordnungswidrige Ausübung<br />

seiner Tätigkeit vorzuhalten <strong>und</strong> ihn für die Zukunft durch eine Ermahnung<br />

allgemein dazu anzuhalten, seine Amtsgeschäfte ordnungsgemäß zu erledigen 289.<br />

Folglich versagt die <strong>Die</strong>nstaufsicht völlig, wenn der Richter ansonsten hinsichtlich<br />

der Zahl seiner Erledigungen ständig über dem Durchschnitt liegt 290. Zudem<br />

scheidet die <strong>Die</strong>nstaufsichtsbeschwerde bei prozeßverzögernder fehlerhafter<br />

Sachbehandlung durch überflüssige Maßnahmen aus 291.<br />

Weitergehendes soll in Ausnahmefällen dann gelten, wenn der Richter sich<br />

"offensichtlich" prozeßordnungswidrig oder fehlerhaft verhält 292.<br />

285 Vg!. Schroeder, Strafprozeßrechtl, S. 10; Kramer, Menschenrechtskonventi~n,<br />

S. 193; Dütz, Rechtsstaatlicher Oerichtsschutz im Privatrecht, S. 291; wohl auch C. Roxm,<br />

<strong>Strafverfahren</strong>srecht 21 , § 16 C. Ähnlich Hillenkamp, JR 1975, S. 139, der den Hinweis auf<br />

die <strong>Die</strong>nstaufsichtsbeschwerde für rechtlich unanfechtbar <strong>und</strong> nur psychologisch unrealistisch<br />

hält. Vg!. auch BOHSt 35, S. 137 (138).<br />

286 Vg!. BOHZ 51, S. 280 (287); 85, S. 145 (162); 90, S. 41 (45 f.); DRiZ 1971, S. 317;<br />

1985,S. 181 (182 f.).<br />

287 BOHZ 51, S. 280 (286 f.); 90, S.41 (45); DRiZ 1978, S. 185 f.; 1985, S. 181<br />

(182 f.); NJW 1987, S. 1197 (1198); jetzt auch DRiZ 1991, S.20 (21); OLO Köln,<br />

OLOZ 1970, S. 119; R. Schmidt-Räntsch, <strong>Die</strong>nstaufsicht über Richter, S. 123; Häsemeyer,<br />

FS Michaelis, S. 141 f.; unklar Albers in Baumbach / Lauterbach 48 , § 26 DRiG<br />

Anm.3 B b bb; a.A. offenbar OLO Hamm, JMB!. NW 1981, S. 69 (71); H. Klein, JZ<br />

1963, S. 591. Sehr weitgehend Kleinknecht / Meyer 36 , § 26 DRiO Rn. I, unter u~~utreffender<br />

Berufung auf BGH, DRiZ 1974, S. 163: Einflußnahme bei "vermeintlicher Uberlastung"<br />

zulässig. Sehr kritisch Hieronimi, NJW 1984, S. 108 f.<br />

288 So ausdrücklich BGH, NJW 1987, S. 1197 (1198); Papier, NJW 1990, S. 12. Kritisch<br />

Baur, FS Schwab, S. 56 f.<br />

289 BOHZ 51, S. 280 (286); 90, S. 41 (45); DRiZ 1985, S. 181 (182); Schmidt- Räntsch /<br />

Schmidt-Räntsch, DRi04, § 26 Rn. 28. Ausführliche Kasuistik bei Papier, NJW 1990,<br />

S. 11 f.<br />

290 Joachim,DRiZ 1965,S. 186.<br />

291 OLO Hamm, JMB!. NW 1981, S. 69 (71); Vollkommer, ZZP 81 (1968), S. 132; Papier,<br />

NJW 1990, S. 11.<br />

292 BOHZ46, S. 147 (150); 47, S. 275 (287); 67, S. 184 (187 f.); 70, S. 1 (4); 90, S. 41<br />

(46); 100, S. 271 (276); Schmidt-Räntsch / Schmidt-Räntsch, DRi0 4 , § 26 Rn. 23; Kleinknecht<br />

/ Meyer 36 , § 26 DRiO Rn. 1; Papier, NJW 1990, S. 11; kritisch Eb. Schmidt, Lehrkomm.<br />

I, Rn. 531; JZ 1963, S. 79; Hohendorf, NJW 1984, S. 959 f.<br />

Von einer <strong>Die</strong>nstaufsichtsbeschwerde gegen den Richter kann der Beschuldigte<br />

ansonsten mithin allenfalls mittelbare Wirkung erwarten, die darauf fußt, daß<br />

dem Richter prinzipiell anläßlich der konkreten Verfahrensverzögerung ein Disziplinarverfahren<br />

drohen kann mit Disziplinarstrafen vom Verweis bis zur Amtsenthebung<br />

29<strong>3.</strong> <strong>Die</strong>s wäre dann aber eine Konsequenz der <strong>Die</strong>nstaufsichtsbeschwerde,<br />

die weit über das vom Beschuldigten erstrebte Ziel hinausschießt. Der Beschuldigte,<br />

der damit die Überprüfung der Amtsausführung des Richters allgemein initiiert,<br />

gerät in die psychologisch unzumutbare <strong>und</strong> prozeßtaktisch riskante Situation,<br />

"seinen" Richter außerhalb des eigentlichen Verfahrens in Unannehmlichkeiten<br />

gebracht zu haben 294. Aus dieser Situation kann sich - ohne das Hinzutreten<br />

weiterer Umstände - kein Befangenheitstatbestand ergeben 295 •<br />

Weiterhin ist auch insoweit zu bedenken, daß <strong>Die</strong>nstaufsichtsbeschwerden ­<br />

sowohl gegen Richter als auch gegen Staatsanwalt - schwerlich als Rechtsbehelf<br />

im eigentlichen Sinne verstanden werden können: Wie auch die EKMR ausführt<br />

296 , ist dies darin begründet, daß die <strong>Die</strong>nstaufsichtsbeschwerde dem Antragsteller<br />

keinen persönlichen Anspruch auf Ausübung des Aufsichtsrechts durch<br />

den Staat gibt. Sie ist tatsächlich nur eine Mitteilung an die Aufsichtsbehörde<br />

mit der Anregung, <strong>von</strong> der Aufsichtsgewalt Gebrauch zu machen, sofern sie<br />

Veranlassung dazu sieht. Der Beschwerdeführer ist in dem Verfahren, das genausogut<br />

ohne seine Initiative eingeleitet werden kann, nicht Partei. Er erhält nicht<br />

einmal eine Entscheidung über seine Aufsichtsbeschwerde, sondern nur eine<br />

Mitteilung, auf welche Weise das Aufsichtsorgan seine Aufsichtsbeschwerde<br />

behandelt hat.<br />

Letztendlich bedeutet das vor allem für richterliche Verzögerungen, mit Weber­<br />

Grellet gesprochen: "Das <strong>Die</strong>nstrecht ist kein Instrument zur Beschleunigung<br />

<strong>von</strong> Verfahren." 297<br />

d) Strafanzeige<br />

Eine weitere Überlegung, sich gegen Verzögerungen zu wehren, erscheint auf<br />

den ersten Blick kurios, beim zweiten Hinsehen verführerisch <strong>und</strong> bei genauer<br />

Betrachtung schließlich abwegig: Es wird immer wieder darauf hingewiesen, es<br />

sei möglich, durch eine Strafanzeige, insbesondere wegen Rechtsbeugung 298 , die<br />

Strafverfolgungsbehörden zu unverzögertem Handeln anzuhalten.<br />

293 Häsemeyer, FS Michaelis, S. 142 f.<br />

294 Vg!. EKMR, CD 38 (1972), S. 44 (55); Häsemeyer, FS Michaelis, S. 144 f.; Hillenkamp,JR<br />

1975, S. 139.<br />

295 Vgl. BOH,NJW 1952, S. 1425; Häsemeyer,FS Michaelis, S. 145.<br />

296 EKMR, EuORZ 1979, S. 346 (348).<br />

297 Weber-Orellet,NJW 1990,S. 1778.<br />

298 Häsemeyer, FS Michaelis, S. 138 f.; E. Schumann in Stein / Jonas 20 , Ein!. Rn. 213;<br />

Papier in HdB Staatsrecht VI, § 153 Rn. 23; vgl. auch Dütz, Rechtsstaatlicher Oerichtsschutz<br />

im Privatrecht, S. 291.


90 2. Kap.: Schwierigkeiten der Beschleunigung <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong> B. Verfahrensbeschleunigung durch den Beschuldigten 91<br />

Nun ist eine Strafanzeige oder schon die Äußerung des Verdachts einer Straftat<br />

gegenüber dem erkennenden Richter oder dem sachbearbeitenden Staatsarnwalt<br />

prozeßtaktisch <strong>und</strong> psychologisch außerordentlich risikobehaftet. Rein tatsäcltlich<br />

stünde zu befürchten, daß hier - mehr noch als bei einer <strong>Die</strong>nstaufsichrtsbeschwerde<br />

- eine nicht unerhebliche Befangenheit des angezeigten Strafv~rfolgungsorgans<br />

gegenüber dem Beschuldigten hervorgerufen werden könnte; ein<br />

diesbezügliches Befangenheitsgesuch fällt jedoch regelmäßig auch gegen. den<br />

Richter aufgr<strong>und</strong> der Strafanzeige aus: Mit der Begründung, der Angeklagte<br />

hätte es sonst in seiner eigenen Hand, sich nach Belieben jedem Richter zu<br />

entziehen, wird bei Erstattung einer Strafanzeige gegen den Richter <strong>von</strong> der ganz<br />

herrschenden Meinung die Möglichkeit eines Befangenheitsgesuches verneiflt 299 ,<br />

solange dieser nicht mit seiner Reaktion zeigt, daß er tatsächlich befangen ist 3 °O.<br />

Rechtfertigen läßt sich dies nicht damit, daß keine Befangenheit zu besorge:n ist,<br />

sondern nur dadurch, daß die Rechtsordnung vernünftigerweise einer so vom<br />

Beschuldigten provozierten Besorgnis der Befangenheit des Richters keine Bedeutung<br />

beimessen wolle 301 .<br />

Insofern gilt für die Strafanzeige das gleiche, was auch ansonsten zu Skoepsis<br />

veranlaßt, wenn etwa diskutiert wird, ob das Ankündigen einer Entschädigongsklage<br />

302, eines Antrags auf Nichterhebung <strong>von</strong> Verfahrenskosten gemäß § 8<br />

GKG303 oder einer <strong>Die</strong>nstaufsichtsbeschwerde 304 als "stimulans" 305 für beschleunigte<br />

Verfahrensführung angeraten werden kann, zumal das drohende Risik 0 die<br />

Initiative des Amtsträgers genausogut auch lähmen könnte 306.<br />

Soweit die Verzögerungen den Verdacht einer Straftat im Amt rechtfertigen,<br />

wäre natürlich auch ohne Strafanzeige ein Ermittlungsverfahren <strong>von</strong> Amts wegen<br />

einzuleiten. Allerdings mag fraglich sein, ab welchem Punkt die Strafverfolgongsbehörden<br />

bereit sind, das strafrechtliche Instrumentarium "gegen das eigene<br />

Personal" in Gang zu setzen307.<br />

299 BGH, NJW 1962, S. 748 (749); KG, JR 1962, S. 113; ähnlich BGH, NJW 1952,<br />

S. 1425 (<strong>Die</strong>nstaufsichtsbeschwerde); differenzierend Wendisch in LR24, § 24 Rn. 23 f.<br />

300 Vgl. OLG Oldenburg, HESt 3, S. I (2); AG Oldenburg, StV 1990, S. 259; Arzt, Der<br />

befangene Strafrichter, S. 53 f.; Baur, FS Schwab, S. 58.<br />

301 Rudolphi in SK StPO, § 24 Rn. 13; Arzt, Der befangene Strafrichter, S. 53 f.; Baur,<br />

FS Schwab, S. 58 f.<br />

302 Vgl. Häsemeyer, FS Michaelis, S. 139; Peukert, EuGRZ 1979, S. 264.<br />

303 Vgl.J. Blomeyer,NJW 1977, S. 557.<br />

304 VgI.EKMR,CD38 (1972),S. 38 (55); EuGRZ 1979,S. 346(347 f.);Hillenkamp,JR<br />

1975, S. 139; Häsemeyer, FS Michaelis, S. 144 f.; Peukert, EuGRZ 1979, S. 264.<br />

305 J. Blomeyer, NJW 1977, S. 557.<br />

306 Häsemeyer,FS Michaelis, S. 139. Vgl. auchPeukert, EuGRZ 1979, S. 26<strong>3.</strong><br />

307 Vgl. K. Amelung, Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß, S. 18.<br />

aa) Zur Strafbarkeit des Amtsträgers bei grammatikalischer<br />

Auslegung der §§ 336, 258a StGB<br />

Dagegen erstaunt es, wie leichthin in der Literatur zu § 336 StGB gelegentlich<br />

die kurze Bemerkung fallengelassen wird, daß bei Verzögerungen durch den<br />

Amtsträger das Verbrechen der Rechtsbeugung vorliegen kann 308. Zwar bereitet<br />

die Vorschrift in der Tat, jedenfalls aufden ersten Blick, insofern wenig Probleme:<br />

Der Tatbestand kann nach herrschender Ansicht auch vom Staatsanwalt als Herr<br />

des Ermittlungsverfahrens verwirklicht werden 309. Tathandlung ist sowohl nach<br />

der herrschenden objektiven Theorie 310 als auch nach der im Vordringen befindlichen<br />

Pflichtverletzungslehre 311 - die subjektive Theorie 312 dürfte obsolet sein 313<br />

- bei eindeutigen Normen 314 (wie etwa Fristbestimmungen) das Abweichen <strong>von</strong><br />

deren Aussagegehalt. Bei mehrdeutigen Normen besteht insoweit Einigkeit, daß<br />

Rechtsbeugungjedenfalls dann objektiv vorliegt, wenn sich die Rechtsanwendung<br />

nicht mehr im Rahmen des "noch Vertretbaren" hält. Da nach allgemeiner Ansicht<br />

auch die "Beugung" <strong>von</strong> Normen des Verfahrensrechts tatbestandsmäßig ist315,<br />

könnten prinzipiell alle "unvertretbaren" Verzögerungen unter § 336 StGB fallen.<br />

<strong>Die</strong> "Ausscheidung <strong>von</strong> Bagatellfällen" 316 aus dem objektiven Tatbestand bewirkt<br />

die Voraussetzung der Zufügung eines Vor- oder Nachteils einer Partei: Will<br />

man hier nicht die "abstrakte" Verletzung des Beschleunigungsprinzips ausreichen<br />

lassen, das im rechtlichen Interesse sowohl des Beschuldigten als auch des<br />

Staates liegen soll 317 , wäre hier erforderlich, daß sich die prozessuale Situation<br />

308 Spendel in LKIO, § 336 Rn. 54; Wacker, <strong>Die</strong> Rechtsbeugung, S. 22; Binding, Lehrbuch<br />

des Gemeinen Deutschen Strafrechts BT II / 2, § 227 VII 5. Vgl. auch Wemer in LK8,<br />

§ 336 Anm. IV; Frank, StGB 18, § 336 Anm. II; Freiesleben in Olshausen's Komm.ll § 336<br />

Anm. 2 c, die nur die Justizverweigerung erwähnen.<br />

'<br />

309 A. A. vor allem Vormbaum, Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils, S. 339 ff.<br />

310 Spendel in LKIO, § 336 Rn. 41; Dreher / Tröndle, StGB44, § 336 Rn. 5; Cramer in<br />

SchSch 23 , § 336 Rn. 5a; Maurach / Schroeder, Strafrecht BT /2 6 , § 74 II 3; Seebode, Das<br />

Verbrechen der Rechtsbeugung, S. 20 ff.; Heinitz, Probleme der Rechtsbeugung, S. 16 f.;<br />

Vormbaum, Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils, S. 362 f.; Bemmann GA 1969<br />

S. 65 ff. ' ,<br />

311 Rudolphi,ZStW82 (l970),S. 610 ff.;inSKStGB,§ 336Rn. 13;G.HerdegeninLK9,<br />

§ 336 Rn. 4 ff.;. Otto, C!r<strong>und</strong>kurs Strafrecht BT2, § 98 I 3; H. Wagner, Amtsverbrechen,<br />

S. 202 f.; Schmldt-Spelcher, Hauptprobleme der Rechtsbeugung, S. 63; 80; Geppert, JA<br />

1981,S. 80; Behrendt,JuS 1989,S. 948 f.<br />

312 H. v. Weber,NJW 1950, S. 272 ff.; Mohrbotter,JZ 1969, S. 491 f.; Sarstedt,FS Heinitz,<br />

S. 428 ff.; Musielak, <strong>Die</strong> Rechtsbeugung, S. 23 ff.<br />

31<strong>3.</strong> Vgl. Schünemann, Verh. 58. DJT, S. B 132. Dem Streitkommtohnehinrelativgeringe<br />

praktIsche Bedeutung zu, vgl. Blei, Strafrecht BTI2, § 112 II 3; Schreiber, GA 1972, S. 207;<br />

dagegen aber Spendel in LKW, § 336 Rn. 37.<br />

314 Kritisch zu diesem Begriff Sarstedt, FS Heinitz, S. 428; dagegen Spendel in LKW,<br />

§ 336 Rn. 43; Vormbaum, Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils, S. 362 Fn. 109.<br />

315 Vgl.stattvielerSchünemann, Verh. 58. DJT,S. B 132m.w.N.<br />

316 Vormbaum, Derstrafrechtliche Schutz des Strafurteils, S. 366; ähnlich Schünemann,<br />

Verh. 58. DJT, S. B 13<strong>3.</strong><br />

317 BGHSt26, S. 228 (232). Vgl. auch BVerfGE 63, S. 45 (69); 66, S. 313 (321).


92 2. Kap.: Schwierigkeiten der Beschleunigung <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong> B. Verfahrensbeschleunigung durch den Beschuldigten 93<br />

einer Partei verändert, was bei Verzögerungen insbesondere durch Veränderung<br />

der Beweislage der Fall sein könnte 318 • Darüber hinaus dürften auch Verfahrensbelastungen,<br />

die aus der Verzögerung erwachsen, einen Nachteil des Beschuldigten<br />

i. S. v. § 336 StGB darstellen können 319 . Da nunmehr entgegen der früher<br />

herrschenden Ansicht da<strong>von</strong> ausgegangen wird, daß § 336 StGB auch bedingt<br />

vorsätzlich verwirklicht werden kann 320, dürfte bezüglich des subjektiven Tatbestands<br />

noch am ehesten fraglich sein können, ob der dolus eventualis bezüglich<br />

des Taterfolges, nämlich des Vor- oder Nachteils für eine Partei, vorhanden ist.<br />

Ob, wie gelegentlich gemeint wird, eine Verurteilung wegen Rechtsbeugung in<br />

praxi an der Beweisbarkeit des Vorsatzes regelmäßig scheitern würde 321, erscheint<br />

zumindest fraglich.<br />

Noch Verblüffenderes ergibt ein Blick auf die Strafvereitelung im Amt, § 258a<br />

StGB. Erkennt man mit der herrschenden Meinung an, daß auch eine Strafvereitelung<br />

auf Zeit möglich ist, führt das zu dem Ergebnis, daß jegliches verzögernde<br />

Verhalten der Strafverfolgungsorgane tatbestandsmäßig wäre: <strong>Die</strong> Strafvereitelung<br />

im Amt würde "zur Strafbewehrung des sonst prozessual diskutierten Beschleunigungsgebotes"<br />

322. Konsequenz hier<strong>von</strong> wäre, daß etwa jeder Richter<br />

gegen § 258a StGB verstoßen würde, der ohne zwingenden Gr<strong>und</strong> einen Hauptverhandlungstermin<br />

später als eigentlich möglich ansetzt, jeder Staatsanwalt, der<br />

unzweckmäßige <strong>und</strong> überflüssige Ermittlungshandlungen vornimmt oder jeder<br />

Polizist, der nicht unverzüglich den Tatortbericht abfaßt 32<strong>3.</strong><br />

Nun ist es allerdings grotesk, wenn man ernsthaft erwägt, der Beschuldigte<br />

solle Strafanzeige wegen Strafvereitelung zu seinen Gunsten - der Nichtgeständige<br />

kann konsequenterweise ohnehin nur den Vorwurf versuchter Strafvereitelung<br />

erheben - stellen. Jedoch besteht auch die Pflicht des Staatsanwalts, ein<br />

Ermittlungsverfahren bei Wegfall des Tatverdachts unverzüglich gemäß § 17011<br />

StPO einzustellen, sowie die richterliche Pflicht, die Ablehnung der Eröffnung<br />

des Hauptverfahrens oder die Einstellung nach § 206a StPO nicht hinauszuzögern<br />

<strong>und</strong> die Hauptverhandlung zwecks Freisprechung unverzögert anzuberaumen. In<br />

einem solchen Verhalten kann gr<strong>und</strong>sätzlich die Verfolgung Unschuldiger gemäß<br />

318 Rudolphi in SK StGB, § 336 Rn. 18; Seebode, Das Verbrechen der Rechtsbeugung,<br />

S. 96; Vorrnbaum, Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils, S. 366.<br />

319 Vgl. BGHSt32, S. 357 (359 f.); Rudolphiin SKStGB, § 336Rn. 18.<br />

320 Vgl. statt vieler ausführlich Behrendt, JuS 1989, S. 949 f.; a.A. Krause, NJW<br />

1977, S. 285 f.; 1. Müller, NJW 1980, S. 2390 ff.; kritisch Rudolphi in SK StGB, § 336<br />

Rn. 20; offengelassen <strong>von</strong> OLG Düsseldorf, JZ 1990, S. 396; BGH bei Holtz, MDR<br />

1978, S. 626. Unklar Hassemer, JuS 1990, S. 766.<br />

321 Häsemeyer, FS Michaelis, S. 138; E. Schumann in Stein IJonas 2o , Einl. Rn. 21<strong>3.</strong><br />

322 Samson, JA 1982, S. 183; ähnlich in SK StGB, § 258 Rn. 29; Vorrnbaum, Der<br />

strafrechtliche Schutz des Strafurteils, S. 435.<br />

323 Samson in SK StGB, § 258a Rn. 7; Vorrnbaum, Der strafrechtliche Schutz des<br />

Strafurteils, S. 435.<br />

§ 344 StGB liegen 324. Insbesondere Fälle, in denen der Richter <strong>von</strong> der Nichtverfolgbarkeit<br />

weiß oder die Verfolgung eines Unschuldigen beabsichtigt, sind jedoch<br />

seltene, zudem kaum nachweisbare Ausnahmen.<br />

bb) Zur Straflosigkeit des Amtsträgers bei restriktiver<br />

Interpretation der §§ 336, 258a StGB<br />

Das bisherige Zwischenergebnis, daß der Amtsträger sich durch jede Verzögerung<br />

wegen Strafvereitelung strafbar macht <strong>und</strong> bei jeder "eindeutig" gegen das<br />

Recht verstoßenden Verzögerung sogar den Verbrechenstatbestand des § 336<br />

StGB erfüllt, ist natürlich nicht ernsthaft vertretbar. Eine solche Auslegung stünde<br />

übrigens auch im Widerspruch zu § 83911 BGB, der zwischen Pflichtverletzung<br />

durch Straftat <strong>und</strong> pflichtwidriger Verzögerung unterscheidet.<br />

So wird auch im Bereich der Tatbestände <strong>von</strong> §§ 258, 258a StGB allgemein 32 5,<br />

wenn auch in unterschiedlicher Weise versucht, die "eklatanten Unzuträglichkeiten"<br />

326 einzugrenzen <strong>und</strong> die Strafbarkeit <strong>von</strong> Verzögerungen zu reduzieren:<br />

Zunächst einmal ist es überwiegende Auffassung, daß Strafvereitelung nicht<br />

schon dann gegeben ist, wenn einzelne Verfahrenshandlungen später erfolgen,<br />

sondern erst dann, wenn es zu einer Verzögerung der Bestrafung kommt 327 . Das<br />

entgegengesetzte Ergebnis kollidierte zum einen mit dem Wortlaut <strong>von</strong> § 258 I<br />

StGB ("bestraft")328 <strong>und</strong> zum anderen auch mit der Entstehungsgeschichte, wonach<br />

die sog. "Strafjustizvereitelung" gerade nicht unter Strafe gestellt werden<br />

sollte 329 • Zweifelhafte Folge dieser Auslegung wäre im übrigen, daß nahezu jeder<br />

Zeuge, der in der Hauptverhandlung unentschuldigt ausbleibt, <strong>und</strong> der Sachverständige,<br />

der die Frist zur Erstellung des Gutachtens nach § 77 StPO versäumt,<br />

Strafvereitelung beginge 330. Andererseits bedeutet die restriktive Auslegung aber<br />

eine verringerte Praktikabilität der Strafvereitelungstatbestände 331 : Es ist nunmehr,<br />

gerade bei Verzögerungen im frühen Stadium des <strong>Strafverfahren</strong>s, etwa<br />

324 Vgl. BVerfG (Vorprüfungsausschuß), NStZ 1984, S. 228 (229); OLG Frankfurt,<br />

StV 1989, S. 96 (97); Jescheck in LKlO, § 344 Rn. 7; eramer in SchSch 23 , § 344 Rn. 14;<br />

Schmidhäuser, Strafrecht BT, Kap. 23 Rn. 48; Bockelmann, Strafrecht BT 13, § 11 I 1<br />

b bb; Rieß, NStZ 1982, S. 436.<br />

325 Anders wohl nur Beulke, <strong>Die</strong> Strafbarkeit des Verteidigers, Rn. 132. Vgl. dazu<br />

Tondorf, StV 1990, S. 285 f.<br />

326 Vorrnbaum, Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils, S. 435.<br />

327 KG, JR 1985, S. 25; Stree in SchSch 23 , § 258 Rn. 16; Vorrnbaum, Der strafrechtliche<br />

Schutz des Strafurteils, S. 404 f.; Geppert, JK 1981, StGB § 258/2; a.A. aber Ruß<br />

in LKlO, § 258 Rn. 10; Beulke, <strong>Die</strong> Strafbarkeit des Verteidigers, Rn. 132. Unklar häufig<br />

die Rechtsprechung; vgl. Vorrnbaum, a.a.O., S. 405.<br />

328 Schroeder, NJW 1976, S. 980; Samson, JA 1982, S. 181 f.<br />

329 Dazu Samson, JA 1982, S. 181 f.<br />

330 So Samson in SK StGB, § 258 Rn. 29; JA 1982, S. 18<strong>3.</strong><br />

331 Vgl. Samson, JA 1982, S. 181.


94 2. Kap.: Schwierigkeiten der Beschleunigung <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong> B. Verfahrensbeschleunigung durch den Beschuldigten 95<br />

dem Ermittlungsverfahren, kaum im konkreten Fall die hypothetische Kausalität<br />

nachweisbar - Blei weist darauf hin, daß die auf Vereitelung zielende Intervention<br />

das Verfahren sogar beschleunigen kann 332 -, so daß regelmäßig keine<br />

vollendete Strafvereitelung feststellbar ist 33<strong>3.</strong> Auch die Strafbarkeit des Amtsträgers<br />

wegen Versuchs entfiele, sofern ihm nicht zu widerlegen ist, daß er bei<br />

seiner Verzögerung auf die zeitgleiche Bestrafung vertraute.<br />

Insbesondere die Rechtsprechung versucht die Strafbarkeit im Rahmen <strong>von</strong><br />

§ 258 StGB einzudämmen, indem sie vollendete Strafvereitelung nur dann annimmt,<br />

wenn für "geraume Zeit" verzögert wird 334: So soll nach Ansicht des<br />

BGH eine Verzögerung <strong>von</strong> sechs Tagen nicht genügen 335; das Kammergericht<br />

stimmte dem für die <strong>Dauer</strong> <strong>von</strong> sieben bzw. acht Tagen zu 336. Das OLG Stuttgart<br />

nahm dagegen vollendete Strafvereitelung bei einer Verzögerung <strong>von</strong> zehn Tagen<br />

an 337, das LG Hannover beim Verstecken für "mehrere Nächte" 338. Kleinere<br />

Verzögerungen bei der Strafverfolgung wären demnach also irrelevant. Nun ist<br />

dieses Merkmal der "geraumen Zeit" unter Hinweis auf Art. 103 11 GG Kritik<br />

ausgesetzt, <strong>und</strong> zwar in zwei entgegengesetzte Richtungen:<br />

Im Anschluß an Lenckner wird die Auffassung vertreten, daß zwarjede Verzögerung,<br />

die nicht nur ganz unerheblich ist, dem Strafvereitelungstatbestand unterfieie,<br />

jedoch sei der subjektive Tatbestand dahingehend zu interpretieren, daß<br />

wissentliche Strafvereitelung nur dann vorliegen kann, wenn es zu einer "Solidarisierung"<br />

mit dem Vortäter kommt, wenn also der Täter die Strafvereitelung, <strong>und</strong><br />

sei es nur als Nebenfolge, will 339. Hiernach wäre Strafvereitelung auf Zeit im<br />

Amt durch bloße Nachlässigkeiten praktisch kaum denkbar.<br />

Von der Gegenposition, deren Wortführer Samson ist, wird dieser Lösung<br />

entgegengehalten, sie würde die Strafvereitelung entgegen dem Willen des Gesetzgebers<br />

<strong>von</strong> einem Erfolgs- in ein Absichtsdelikt verwandeln 340. Vielmehr sei<br />

332 Blei, Strafrecht II12, § 109 IV 2.<br />

333 KG, JR 1985, S. 24 (25); Samson in SK StGB, § 258 Rn. 28; JA 1982, S. 182;<br />

Vormbaum, Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils, S. 410 f.; Lenckner, GS Schröder,<br />

S.348; Schroeder, NJW 1976, S. 980; Frisch, NJW 1983 S.2474· Geppert JK 1981<br />

StGB § 258/2. ' , , ,<br />

334 Vgl. etwa RGSt 70, S. 251 (254); BGH, NJW 1984, S. 135' bei Holtz MDR 1981<br />

S. 631. <strong>Die</strong>se Re~tt:iktion befÜhrt)edoch nicht die Strafbarkeit in Faligest~ltungen wi~<br />

der ,:,o? der V~~emigung der Berhner Staatsanwälte vorgetragenen, infolge der Wiederve.reImg~ng<br />

wurden aufgr<strong>und</strong> Personalmangels zahlreiche Verfahren "stillgelegt", also<br />

(bIS zu emem Jahr) "verfristet"; siehe Spandauer Volksblatt v. 21. 7.1991, S. <strong>3.</strong><br />

335 BGH, NJW 1959, S. 494 (495); kritisch dazu Ruß in LKIO, § 258 Rn. 10.<br />

336 KG, JR 1985, S. 24 (25); NStZ 1988, S. 178.<br />

337 OLG Stuttgart, NJW 1976, S. 2084.<br />

338 LG Hannover, NJW 1976, S. 979.<br />

339 Lenckner, GS Schr?der, S. 343 ff.; Rudolphi, JuS 1979, S. 859 ff.; Geppert, JK<br />

1981, StGB § 258/2; zustimmend auch OLG Koblenz, NJW 1982, S. 2785 (2786); vgl.<br />

auch Stree, JuS 1976, S. 140; Müller-<strong>Die</strong>tz Jura 1979 S 246' Ku"pper GA 1987<br />

S. 399 ff. "" , '<br />

die Figur der "Strafvereitelung auf Zeit" völlig abzulehnen 34\. Für diese Lösung<br />

ließe sich vor allem anführen, daß nach dem allgemeinen Sprachgebrauch "Vereiteln"<br />

das endgültige Verhindern bedeutet342. Zwar ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte,<br />

daß der Gesetzgeber auch die zeitige Strafvereitelung unter §§ 258,<br />

258a StGB fassen wollte 343; jedoch ist selbst dann, wenn man insoweit <strong>von</strong> einem<br />

offensichtlichen Redaktionsversehen ausgeht, fraglich, inwieweit hier nicht<br />

Art. 103 11 GG sperrt 344 • Kriminalpolitisch würden Strafbarkeitslücken aufgr<strong>und</strong><br />

der Versuchsstrafbarkeit ausbleiben 345, jedoch wäre Straflosigkeit dort gegeben,<br />

wo nicht die Entziehung auf <strong>Dauer</strong> gewollt ist, also insbesondere bei verzögerndem<br />

Verhalten der Strafverfolgungsorgane. Hier läge Strafvereitelung vor allem<br />

vor bei bedingt vorsätzlichem Erreichen der Grenze der Verfolgungsverjährung<br />

346 , wenn also, wie einem Pressebericht zufolge 347 das LG Düsseldorf 348 ,<br />

ein Gericht eine Sache "der Verjährung zuführen" will. Im Vorfeld dazu könnte<br />

für die Auslegung des Merkmals "auf <strong>Dauer</strong>" die zu § 224 StGB vorhandene<br />

Kasuistik herangezogen werden 349, so daß "unbestimmt langwierige" Verzögerungen<br />

tatbestandsmäßig sein könnten 350.<br />

<strong>Die</strong> Rechtsprechung hat zur Frage der Strafvereitelung durch Verzögerungen<br />

des Amtsträgers, also im Rahmen <strong>von</strong> § 258a StGB, bisher nur einzelfallorientiert<br />

entschieden. Sie hat in Fällen bloßer Verzögerung entweder an den subjektiven<br />

Tatbestand sehr hohe Anforderungen gestellt351 oder aber die Rechtswidrigkeit<br />

verneint, weil der Amtsträger seiner Rechtspflicht zum Handeln nicht in vorwerfbarer<br />

Weise zuwidergehandelt habe, wenn er bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit<br />

heran gearbeitet habe <strong>und</strong> einen Vorgesetzten auf die Rückstände aufmerksam<br />

gemacht habe 352. Letzteres läßt freilich den bedenklichen Umkehrschluß<br />

340 Samson in SK StGB, § 258 Rn. 29b; JA 1982, S. 183; Frisch, JuS 1983, S. 917.<br />

34\ Samson in SK StGB, § 258 Rn. 25 ff.; § 258a Rn. 10; JA 1982, S. 181 ff.; Vormbaum,<br />

Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils, S. 404 ff.; Wassmann, Strafverteidigung<br />

<strong>und</strong> Strafvereitelung, S. 245.<br />

342 VgI: dazu Maurach 1Schroeder, Strafrecht BT/2 6 , § 98 II 3; Vormbaum, Der<br />

strafrechthche Schutz des Strafurteils, S. 403; Samson, JA 1982, S. 181. A. A. Beulke,<br />

<strong>Die</strong> Strafbarkeit des Verteidigers, Rn. 132.<br />

343 Vgl. Begr. RegE EGStGB, BT-DrS 7/550, S. 249.<br />

344 So Vormbaum, Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils, S. 404 Fn. 70; anders<br />

Maurach 1Schroeder, Strafrecht BT 12 6 , § 98 II <strong>3.</strong><br />

345 A. A. Maurach 1Schroeder, Strafrecht BT 12 6 , § 98 II <strong>3.</strong><br />

346 Samson, JA 1982, S. 181.<br />

347 Elendt, Stern 50/1988 vom 8.12.1988, S. 134; vgl. auch Papier, NJW 1990, S. 8;<br />

Schmalz, JuraTelegramm 1990, S. 32.<br />

348 LG Düsseldorf, NJW 1988, S. 427.<br />

349 Vormbaum, Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils, S. 407.<br />

350 Vgl. BGHSt 24, S. 315 (317).<br />

351 BGHSt 19, S. 79.<br />

352 BGHSt 15, S. 18 (22); DRiZ 1977, S. 87 (88) (a.A. die Vorinstanz LG Kiel DRiZ<br />

1976, S. 217). '


96 2. Kap.: Schwierigkeiten der Beschleunigung <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong> B. Verfahrensbeschleunigung durch den Beschuldigten 97<br />

zu, daß der BGH Verzögerungen aufgr<strong>und</strong> bloßer Arbeitsüberlastung pönalisieren<br />

wollte 35<strong>3.</strong> Da der BGH jedoch (in einem Amtshaftungsprozeß) betonte, dem<br />

Amtsträger müsse eine gewisse Zeitspanne für seine Entschließung zugebilligt<br />

werden 354, läßt sich vermuten, daß die höchstrichterliche Rechtsprechung weiterhin<br />

bei Verzögerungen durch den Amtswalter nicht wegen Strafvereitelung im<br />

Amt bestrafen wird.<br />

Letzteres dürfte im Ergebnis auch bezüglich der Strafbarkeit wegen Rechtsbeugung<br />

gelten, wenngleich die Einschränkungen bei dieser "Vorschrift mit Haken<br />

<strong>und</strong> Ösen"355 noch schwerer fallen. So hat der BGH356 wiederholt unter Berufung<br />

auf die Gesetzgebungsgeschichte eine, wie Rudolphi 357 formuliert, "normative<br />

Einschränkung, deren Gehalt völlig im Dunkeln bleibt", angedeutet: § 336 StGB<br />

erfasse "nicht schlechthin jede unrichtige Rechtsanwendung, sondern nur die<br />

Beugung des Rechts ... In dem Begriffder Rechtsbeugung wird man ein normatives<br />

Element erblicken können, das bereits als ein wesentliches Regulativ zu<br />

wirken vermag". Klarer hat der BGH in einer neueren Entscheidung zur Rechtsbeugung<br />

in einem obiter dictum einschränkend ausgeführt, die Unabhängigkeit<br />

richterlichen Entscheidens würde Schaden leiden, wenn ein Richter aufgr<strong>und</strong><br />

einer Ermessensüberschreitung in einem Verfahren, an dem er keinerlei persönliches,<br />

die Objektivität seines Urteils möglicherweise trübendes Interesse nimmt,<br />

wegen des Verbrechens der Rechtsbeugung - mit der möglichen Folge der<br />

Beendigung des <strong>Die</strong>nstverhältnisses, § 24 DRiG - verfolgt würde 358 . Bezogen<br />

auf Verzögerungen durch Strafverfolgungsorgane ließe sich ein ähnlicher Wertungswiderspruch<br />

zwischen Strafandrohung einerseits <strong>und</strong> Rechtsverletzung andererseits<br />

herleiten: Auch hier wird der verzögernde Amtswalter normalerweise<br />

keinerlei persönliches Interesse an dem Fall haben, wobei noch hinzukommt,<br />

daß sich in aller Regel kaum absehen läßt, ob sich die Verzögerung zugunsten<br />

oder zu Lasten der Verteidigung des Beschuldigten auswirkt 359 . Des weiteren ist<br />

eine gewisse Rechtsähnlichkeit zur Ermessensüberschreitung gegeben: <strong>Die</strong> Strafverfolgungsbehörden<br />

sind bis aufwenige Ausnahmen nicht durch Fristen, sondern<br />

nur durch das allgemeine "Beschleunigungsgebot" angehalten. Insofern existiert<br />

ein gewisser Freiraum für die Entscheidung, wann welche Maßnahme im jeweiligen<br />

Verfahren vorzunehmen ist <strong>und</strong> in welcher Reihenfolge verschiedene Verfah-<br />

353 Vgl. Weber-Grellet, NJW 1990, S. 1778. Siehe aber auch BVerfGE 81, S.264<br />

(272).<br />

354 BGH, StV 1988, S. 441 (444); vgl. auch BGHSt 19, S. 79 (80 f.). Siehe jetzt auch<br />

OLG Düsseldorf, StV 1990, S. 504 (505).<br />

355 Hassemer, JuS 1990, S. 766. Vgl. auch OLG Celle, NJW 1990, S. 2570 (2571).<br />

356 BGHSt 32, S. 357 (363 f.); 34, S. 146 (149); vgl. auch KG, NStZ 1988, S. 557.<br />

357 Rudolphi in SK StGB, § 336 Rn. 11; ähnlich Behrendt, JuS 1989, S. 946 Fn. 19.<br />

358 BGH, NStZ 1988, S. 218 (219); zustimmend Doller, NStZ 1988, S. 220.<br />

359 <strong>Die</strong> sich hieraus ergebenden Vorsatzprobleme dürften noch weitgehend unklar<br />

sein; vgl. BGHSt 32, S.357 (361); Spendei, JR 1985, S. 489 f.; Fezer, NStZ 1986,<br />

S. 29 f. Siehe auch Schünemann, Verh. 58. DJT, S. B 135.<br />

ren bearbeitet werden sollen 360. Insofern ist der Hinweis Schünemanns beachtenswert,<br />

daß eine Art "Saldotheorie" die Einzelbetrachtung der zeitlichen Bearbeitung<br />

verschiedener Verfahren beim Rechtsbeugungstatbestand ersetzen könnte,<br />

deren "methodengerechte Umsetzung" allerdings "kaum überwindliche Schwierigkeiten"<br />

machen würde 361.<br />

Soweit die unklaren Grenzen der Rechtsbeugung durch Verzögerungen enger<br />

sein sollten als die der Strafvereitelung im Amt, würde die Bestrafung aus § 258a<br />

StGB insoweit an der Sperrwirkung des § 336 StGB 362 scheitern, die auch in<br />

bezug auf andere Rechtspflegedelikte gilt 363 .<br />

e) Wiederaufnahme des Verfahrens, § 359 StPO<br />

Daß kein anderes Ergebnis mit der StPO vereinbar ist, als die Strafbarkeit <strong>von</strong><br />

Amtsträgern wegen Verfahrensverzögerungen auf Extremfälle zu beschränken,<br />

ergibt sich auch aus §§ 359 Nr. 3,362 NI. 3 StPO: Nach rechtskräftiger Verurteilung<br />

(vgl. § 364 StPO) wegen strafbarer Amtspflichtverletzung des Richters, also<br />

etwa wegen §§ 258a, 336, 344 StGB364, ist die Wiederaufnahme des Verfahrens<br />

unabhängig da<strong>von</strong> möglich, ob die Pflichtverletzung Einfluß aufdie Entscheidung<br />

gehabt hat; es liegt also ein absoluter Wiederaufnahmegr<strong>und</strong> vor 365 . Allerdings<br />

wäre der theoretische Anwendungsbereich <strong>von</strong> § 359 NI. 3 StPO, der bisher so<br />

gut wie keine praktische Bedeutung erlangt hat 366 , für den Beschuldigten weniger<br />

groß, als es auf den ersten Blick erscheinen mag: Zum einen findet § 359 Nr. 3<br />

StPO nur auf richterliche Pflichtverletzungen Anwendung 367 <strong>und</strong> zum anderen<br />

nur dann, wenn das Urteil nicht in der Rechtsmittelinstanz in tatsächlicher Hinsicht<br />

vollumfänglich überprüft wurde 368. Praktisch bedeutet dies, daß bei Fortset-<br />

360 Vgl. LG Köln, NStZ 1989, S.442 (443); Schairer, Der befangene Staatsanwalt,<br />

S. 133; Thiel, <strong>Die</strong> polizeiliche Verfolgungspflicht im Rahmen verdeckter Ermittlungen,<br />

S. 58; Kloepfer, JZ 1979, S. 213; Weber-Grellet, NJW 1990, S. 1777.<br />

361 Schünemann, Verh. 58. DJT, S. B 134. Insbesondere erscheint zweifelhaft, inwieweit<br />

eine solche Konstruktion über die Lösungsmöglichkeiten der nicht vollständig<br />

geklärten <strong>und</strong> umstrittenen Rechtsfigur der (rechtfertigenden) Pflichtenkollision hinausgehen<br />

könnte (vgl. statt vieler Otto, Pflichtenkollision <strong>und</strong> RechtswidrigkeitsurteiJ3;<br />

Küper, Gr<strong>und</strong>- <strong>und</strong> Grenzfragen der rechtfertigenden Pflichtenkollision im Strafrecht).<br />

362 A. A. Cramer in SchSch23, § 336 Rn. 7.<br />

363 OLG Düsseldorf, JZ 1990, S. 396; Hassemer, JuS 1990, S. 766 f.<br />

364 Gössel in LR24, § 359 Rn. 38; K. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß III,<br />

§ 13 I 1.<br />

365 BGHSt31, S. 365 (372); Gössel in LR24, § 359Rn. 34; Wasserburg, <strong>Die</strong> Wiederaufnahme<br />

des <strong>Strafverfahren</strong>s, S. 270; 281.<br />

366 Gösse! in LR24, § 359 Rn. 34; Paulus in KMR, § 359 Rn. 31; Wasserburg, <strong>Die</strong><br />

Wiederaufnahme des <strong>Strafverfahren</strong>s, S. 282; K. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß<br />

III, § 13 I 1.<br />

367 Kritisch hierzu Wasserburg, <strong>Die</strong> Wiederaufnahme des <strong>Strafverfahren</strong>s, S. 281.<br />

368 Vgl. (mit unterschiedlicher Begründung) BGHSt 31, S. 365 (372 f.); Gössel in<br />

LR24, § 359 Rn. 42.<br />

7 Scheffler


98 2. Kap.: Schwierigkeiten der Beschleunigung <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong> B. Verfahrensbeschleunigung durch den Beschuldigten 99<br />

zung der Sache auf (vollumfängliche) Zurückverweisung (§ 354 11 StPO) oder<br />

Berufung, aber nicht durch abschließende Entscheidungen des Revisionsgerichts<br />

die Wiederaufnahme ausgeschlossen wird 369 - die zur Beschleunigung eines<br />

(rechtskräftig abgeschlossenen) Verfahrens vollständig ungeeignet ist.<br />

Ansonsten ist im Anschluß an Ekkehard Schumann 370 diskutiert worden, ob<br />

die <strong>von</strong> dem EGMR festgestellte Verletzung der Menschenrechtskonvention<br />

einen Wiederaufnahmegr<strong>und</strong> analog § 359 Nr. 5 StPO darstellen könnte. Selbst<br />

wenn man dies - entgegen der herrschenden Ansicht3 71 - gr<strong>und</strong>sätzlich bejahte,<br />

bliebe doch zu fragen, wie denn gerade bei <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer Wiedergutmachung<br />

(vgl. Art. 50 EMRK) durch Verfahrenswiederholung zu leisten sein<br />

sollte 372 • Demzufolge ist dem OLG Koblenz zuzustimmen, das im Fall Eckleder<br />

bislang einzigen Verurteilung der B<strong>und</strong>esrepublik wegen <strong>überlange</strong>r <strong>Strafverfahren</strong>sdauer<br />

durch den EGMR373 - die Wiederaufnahme ablehnte 374. Eine<br />

hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde hat das BVerfG nicht zur Entscheidung<br />

angenommen, da weder das Willkürverbot des Art. 3 I GG noch sonstiges<br />

Verfassungsrecht durch die unterlassene "ausdehnende Auslegung" <strong>von</strong> § 359<br />

Nr. 5 StPO verletzt sei 375.<br />

f) Verfassungs- <strong>und</strong> Menschenrechtsbeschwerde<br />

Damit sind die denkbaren Möglichkeiten des Beschuldigten, sich gegen Verfahrensverzögerungen<br />

zu wehren, praktisch schon erschöpft. Ergänzungen könnten<br />

sich nur noch durch die Verfassungs- <strong>und</strong> Menschenrechtsbeschwerde, auf die<br />

gelegentlich hingewiesen wird, ergeben.<br />

<strong>Die</strong> Richteranklage gemäß Art. 98 11, V GG kommt entgegen Häsemeyer 376<br />

nicht in Betracht. Zunächst einmal hat der Beschuldigte hierzu überhaupt kein<br />

Antragsrecht. Darüber hinaus setzt die Richteranklage einen Verstoß "gegen die<br />

Gr<strong>und</strong>sätze des Gr<strong>und</strong>gesetzes oder gegen die verfassungsmäßige Ordnung eines<br />

Landes" voraus. Hierunter wird nichts anderes verstanden als ein Verstoß gegen<br />

die freiheitlich-demokratische Gr<strong>und</strong>ordnung 377 • Der Verstoß gegen eine Amts-<br />

369 Vgl. Paulus in KMR, § 359 Rn. 32; Kleinknecht/Meyer, StP039, § 359 Rn. 14;<br />

Wasserburg, <strong>Die</strong> Wiederaufnahme des <strong>Strafverfahren</strong>s, S. 282.<br />

370 E. Schumann, NJW 1964, S. 753 ff.<br />

371 BVerfG (Vorprüfungsausschuß), EuGRZ 1985, S. 654; OLG Stuttgart, VRS 68,<br />

S. 367; OLG Kob1enz, GA 1987, S. 367; Gössel in LR24, vor § 359 Rn. 132; Vogler in:<br />

<strong>Die</strong> Wiederaufnahme des <strong>Strafverfahren</strong>s im deutschen <strong>und</strong> ausländischen Recht,<br />

S.713ff.<br />

372 So wohl auch Krey, <strong>Strafverfahren</strong>srecht I, Rn. 155.<br />

373 EGMR, EuGRZ 1983, S. 371.<br />

374 OLG Koblenz, GA 1987, S. 367.<br />

375 BVerfG (Kammer), Beschl. v. 24.9.1986 - 2 BvR 1021/86 (unveröffentlicht).<br />

376 Häsemeyer, FS Michaelis, S. 137 f., der lediglich ihre "zurückhaltende Anwendung"<br />

empfiehlt. VgJ. auch Dütz, Rechtsstaatlicher Gerichtsschutz im Privatrecht, S. 291.<br />

pflicht, mag es sich auch um eine verfassungsrechtlich garantierte Pflicht handeln,<br />

kann somit nicht die Verantwortlichkeit des Richters nach Art. 98 11, V GG<br />

begründen 378. Etwas anderes könnte nur - rein theoretisch - dann gelten, wenn<br />

- etwa in einem "politischen Prozeß" - die Verzögerung durch den Richter<br />

Ausdruck seiner aggressiv-kämpferischen Haltung gegen die freiheitlich- demokratische<br />

Gr<strong>und</strong>ordnung darstellte 379 .<br />

aa) Verfassungsbeschwerde<br />

Bei der Verfassungsbeschwerde ist schon die Zulässigkeit äußerst umstritten:<br />

Häufig wird schon die erforderliche Gr<strong>und</strong>rechtsverletzung verneint <strong>und</strong> das<br />

Beschleunigungsprinzip nur objektiv-rechtlich aus Art. 20 GG abgeleitet 38o . Verschiedene<br />

Versuche, das Beschleunigungsprinzip aus den Justizgr<strong>und</strong>rechten abzuleiten,<br />

erscheinen problematisch:<br />

<strong>Die</strong> einmal vom BVerfG geäußerte Auffassung, Justizverweigerung könnte<br />

einen durch Art. 101 I Satz 2 GG (Gebot des gesetzlichen Richters) verbotenen<br />

Fall darstellen 381, beruht - begründungslos 382 - nur auf einem Hinweis auf<br />

Kern, der zwar auch ausdrücklich <strong>von</strong> Justizverzögerung spricht 38 3, aber vom<br />

BVerfG mißverstanden wird384. Nun wäre dies an sich "kein Argument" 385.<br />

Richtig dürfte jedoch sein, daß Art. 101 I Satz 2 GG keinen Anspruch auf<br />

Justizgewährung gibt 386 . <strong>Die</strong> gesetzlichen Zuständigkeiten bleiben unangetastet;<br />

die Sache liegt niemandem anders als ihrem gesetzlichen Richter vor, <strong>und</strong> niemand<br />

hindert diesen an der Entscheidung der Sache 387 .<br />

<strong>Die</strong> gelegentlich geäußerte Ansicht 388, eine Verletzung des Beschleunigungsprinzips<br />

würde gleichzeitig eine Verletzung des Gr<strong>und</strong>satzes des rechtlichen<br />

377 Herzog in Maunz I Dürig, Art. 98 Rn. 24 ff.; H. Klein, JZ 1963, S. 591.<br />

378 H. Klein, JZ 1963, S. 591; zustimmend Joachim, DRiZ 1965, S. 186. Vgl. auch<br />

Bettermann in: <strong>Die</strong> Gr<strong>und</strong>rechte III12, S. 583 ff.<br />

379 Häsemeyer, FS Michaelis, S. 138; vgJ. auch Herzog in Maunz I Dürig, Art. 98<br />

Rn. 26.<br />

380 Bettermann in: <strong>Die</strong> Gr<strong>und</strong>rechte I1I/2, S. 559; Häsemeyer, FS Michaelis, S. 138<br />

Fn.18.<br />

381 BVerfGE 3, S. 359 (364); zustimmend J. Blomeyer, NJW 1977, S. 559; wohl auch<br />

K10epfer, JZ 1979, S. 21<strong>3.</strong><br />

382 Vgl. Marx, Der gesetzliche Richter, S. 71 Fn. 334.<br />

383 Kern, Der gesetzliche Richter, S. 203 f.<br />

384 Bettermann in: <strong>Die</strong> Gr<strong>und</strong>rechte III/2, S. 559; Marx, Der gesetzliche Richter,<br />

S.71 Fn. 334; Häsemeyer, FS Michaelis, S. 138 Fn. 18; H. Klein, JZ 1963, S. 592.<br />

385 Joachim, DRiZ 1965, S. 186.<br />

386 Bettermann in: <strong>Die</strong> Gr<strong>und</strong>rechte I1I/2, S. 559.<br />

387 Marx, Der gesetzliche Richter, S. 71.<br />

388 Baur, AcP 153 (1954), S. 398 ff.; Habscheid, ZZP 67 (1954), S. 197; Dahs, Das<br />

rechtliche Gehör im Strafprozeß, S. 8 ff.; Eb. Schmidt, Lehrkomm. I, Rn. 17.<br />

7*


100 2. Kap.: Schwierigkeiten der Beschleunigung <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong> B. Verfahrensbeschleunigung durch den Beschuldigten 101<br />

Gehörs bedeuten, so daß die Verfassungsbeschwerde auf Art. 103 I GG gestützt<br />

werden könnte, erscheint so ebenfalls nicht richtig. Beide Prinzipien haben selbständige<br />

Bedeutung. Sie können sich zwar berühren 389; regelmäßig wird <strong>überlange</strong><br />

Verfahrensdauer jedoch ohne gleichzeitige Verletzung des rechtlichen Gehörs<br />

vorliegen. Im Einzelfall kann sogar das Gr<strong>und</strong>recht auf rechtliches Gehör dem<br />

Beschleunigungsgebot entgegenstehen 390.<br />

In der verfassungsrechtlichen Literatur wird weiterhin häufig die Auffassung<br />

vertreten, für die rechtsprechende Gewalt folge aus Art. 19 IV GG ein mit der<br />

Verfassungsbeschwerde einklagbares Gebot zur Verfahrensbeschleunigung 391 .<br />

Auch das BVerfG hat betont, Art. 19 IV GG garantiere Rechtsschutz innerhalb<br />

angemessener Zeit 392 . Schließlich hat eine Kammer des BVerfG bei <strong>überlange</strong>r<br />

<strong>Dauer</strong> eines Finanzgerichtsverfahrens eine Verfassungsbeschwerde "unter dem<br />

Gesichtspunkt effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. IV GG)" gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

für möglich gehalten 39<strong>3.</strong> Erste Bedenken gegen die Übertragung dieser Überlegungen<br />

auf das <strong>Strafverfahren</strong> fußen darauf, daß hier dem Bürger nicht Rechtsschutz<br />

gewährt, sondern ein Eingriff angedroht wird 394. Deshalb ist im <strong>Strafverfahren</strong><br />

"der Zugang zum Gericht normalerweise unproblematisch" 395. Denkfehlerhaft<br />

wäre es allerdings, Art. 19 IV GG deshalb für nicht anwendbar zu halten, weil<br />

nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG Art. 19 IV GG Schutz durch den<br />

Richter, nicht gegen ihn gewährt 396 . Denn es kommt nicht daraufan, ob Art. 19 IV<br />

GG einen Rechtsweg gegen Beeinträchtigungen durch die rechtsprechende Gewalt<br />

eröffnet, sondern darauf, ob die Gerichtsbarkeit das in Art. 19 IV GG<br />

garantierte Recht aufJustizgewährung verletzen kann 397. Umgekehrt kommt vielmehr<br />

dem Bedeutung zu, daß - wie auch die eben schon aus anderen Gründen<br />

abgelehnten Art. 101 I Satz 2, 103 I GG - Art. 19 IV GG gerade nur <strong>von</strong><br />

richterlichen Handlungen, nicht aber etwa <strong>von</strong> der Staatsanwaltschaft tangiert<br />

werden kann. Zudem ist zu bedenken, daß es im Rahmen <strong>von</strong> Art. 19 IV GG<br />

nur um Justizverweigerung gehen kann, also Art. 19 IV GG durch Verzögerungen<br />

überhaupt erst verletzt werden könnte, wenn man annimmt, daß Verzögerungen<br />

qualitativ in Verweigerung umschlagen können, also lediglich, wie Schmidt­<br />

Aßmann formuliert, "in besonders krassen Fällen"398.<br />

389 BayVerfGHE 16, S. 10; Mendler, NJW 1961, S. 2104; Röhl, NJW 1964, S. 278.<br />

390 Gössel, OLGSt (neu) NI. 2 zu § 453 StPO, S. 5; Priebe, FS v. Simson, S. 305.<br />

391 Bötticher, ZZP 74 (1961), S. 317; H. Klein, JZ 1963, S. 592; Kloepfer, JZ 1979,<br />

S. 215; Schmidt-Aßmann in Maunz / Dürig, Art. 19 Abs. IV Rn. 263; Papier, HdB Staatsrecht<br />

VI, § 154 Rn. 78.<br />

392 BVerfGE 55, S. 349 (369); 60, S. 253 (269).<br />

393 BVerfG (Kammer), DB 1987, S. 1722.<br />

394 Vgl. Kirchhof, FS Doehring, S. 450 f.<br />

395 Frowein, Der europäische Gr<strong>und</strong>rechtsschutz <strong>und</strong> die nationale Gerichtsbarkeit,<br />

S.2<strong>3.</strong><br />

396 BVerfGE 4, S. 74 (96); 11, S. 263 (265); 15, S. 275 (280); 22, S. 106 (110); 25,<br />

S. 352 (375); 49, S. 329 (340); 73, S. 339 (372 f.); 77, S. 1 (51 f.).<br />

397 Vgl. H. Klein, JZ 1963, S. 592.<br />

Allerdings bleibt zu prüfen, ob nicht die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde<br />

auch anders als durch extensive Interpretation <strong>von</strong> Justizgr<strong>und</strong>rechten<br />

eröffnet sein kann. <strong>Die</strong> nächstliegende Möglichkeit scheidet allerdings nach ganz<br />

herrschender Ansicht aus: Entgegen Guradze 399 läßt sich eine Verfassungsbeschwerde<br />

nicht aufArt. 6 I EMRK stützen, da nach der ständigen Rechtsprechung<br />

des BVerfG die Menschenrechtskonvention nicht Verfassungsrang hat400. Man<br />

wird auch kaum mit Klug sagen können, Art. 6 I EMRK enthielte "ungeschriebene<br />

GG-Normen"401.<br />

Eine "Wendung"402 hat sich allerdings in den letzten Jahren vollzogen: Hatte<br />

das BVerfG bisher Normen der EMRK lediglich zur Auffüllung <strong>von</strong> Begriffen<br />

des Gr<strong>und</strong>gesetzes herangezogen, also Gr<strong>und</strong>rechte unter Berücksichtigung der<br />

EMRK interpretiert 40 \ so deutet es nunmehr an, daß es die Auslegung der<br />

Vorschriften der EMRK am Willkürverbot prüfen würde 404 • Bezogen auf<strong>überlange</strong><br />

Verfahrensdauer bedeutet dies, daß das BVerfG nunmehr im Rahmen <strong>von</strong><br />

Art. 3 GG messen könnte, inwieweit Art. 6 I EMRK verletzt ist. <strong>Die</strong>ser "neue<br />

Standard"405 weist nun eine überraschende Parallele zu der älteren Auffassung<br />

Habscheids <strong>und</strong> Lindachers auf406, bei Verletzung des Beschleunigungsprinzips<br />

könne das Willkürverbot <strong>von</strong> Art. 3 I GG verletzt sein. <strong>Die</strong>se Aussage ist kaum<br />

einmal näher betrachtet worden. Häsemeyer 407 hat ihr entgegengehalten, Verfahrensverzögerungen<br />

würden nicht immer auf Absicht beruhen- <strong>und</strong> dabei übersehen,<br />

daß es im Rahmen <strong>von</strong> Art. 3 I GG nur auf Willkür im objektiven Sinn<br />

ankommt408. 1985 hat auch das BVerfG in einer Strafvollzugssache ausgeführt,<br />

die "erheblichen Verzögerungen" durch die Vollzugsbehörden verstießen gegen<br />

das Willkürverbot des Art. 3 I GG409. <strong>Die</strong> Problematik der Auffassung liegt<br />

woanders: Willkür liegt nicht schon dann vor, wenn die Rechtsanwendung fehlerhaft<br />

ist. Hinzukommen muß vielmehr, daß die Ausrichtung des gesamten Rechts<br />

aufdie Wertordnung des Gr<strong>und</strong>gesetzes verfehlt ist, also die besonderen Wertentscheidungen<br />

der Verfassung nicht beachtet werden 41O . Auch diese Lösung könnte<br />

398 Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig, Art. 19 Abs. IV Rn. 26<strong>3.</strong><br />

399 Guradze, EMRK, Einl. § 10 Anm. I; NJW 1960, S. 1243; DÖV 1960, S. 286 ff.<br />

400 BVerfGE 10, S. 271 (274); 34, S. 384 (395); 41, S. 88 (105 f.); S. 126 (149); 64,<br />

S. 135 (157); vgl. auch schon 4, S. 110 (111 f.); 6, S. 389 (440); offen gelassen noch<br />

in 9, S. 36 (39).<br />

401 Klug, GS H. Peters, S. 442.<br />

402 Frowein, FS Zeidler, S. 1766.<br />

403 Vgl. etwa BVerfGE 15, S.245 (255 f.); 19, S. 342 (347); 20, S. 162 (208); 31,<br />

S. 58 (67); 35, S. 311 (320).<br />

404 BVerfGE 64, S. 135 (157); 74, S. 102 (128).<br />

405 Frowein, FS Zeidler, S. 1766.<br />

406 Habscheid, ZZP 67 (1954), S. 196 f.; Lindacher, DRiZ 1965, S. 199.<br />

407 Häsemeyer, FS Michaelis, S. 138 Fn. 18.<br />

408<br />

200.<br />

Vgl. BVerfGE 69, S. 161 (169); Leibholz/ Rinck/Hesselberger, GG, Art. 3 Rn. 28;<br />

409 BVerfGE 69, S. 161 (168).


--_._--------- ------------------<br />

102<br />

2. Kap.: Schwierigkeiten der Beschleunigung <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong> B. Verfahrensbeschleunigung durch den Beschuldigten 103<br />

also nicht über den Weg über Art. 19 IV GG hinausgehen. Vielmehr wäre die<br />

Verfassungsbeschwerde auf "wohl selten bleibende Ausnahmefälle" beschränkt<br />

411 .<br />

Einen anderen Weg, Verletzungen <strong>von</strong> Konventionsrechten vor das BVerfG<br />

zu bringen, haben vor allem Seibert <strong>und</strong> Frowein gewiesen 412 . Bei einem Verstoß<br />

gegen die EMRK sei Art. 2 I GG verletzt: <strong>Die</strong> Konvention sei Bestandteil der<br />

"verfassungsmäßigen Ordnung", so daß ihr widersprechende Einzelakte oder<br />

Rechtsnormen <strong>von</strong> der Schrankenklausel des Art. 2 I GG erfaßt würden. <strong>Die</strong>se<br />

Auffassung kommt der früher <strong>von</strong> Echterhälter vertretenen Ansicht nahe 41 3, die<br />

Konventionsrechte gehörten zu den "unverletzlichen <strong>und</strong> unveräußerlichen Menschenrechten"<br />

i. S. v. Art. 1 11 GG414. Frowein kann insoweit auf die Rechtsprechung<br />

des BVerfG verweisen, daß Art. 2 I GG gegen belastende Hoheitsakte<br />

schützt, die gegen allgemeine Regeln des Völkerrechts verstoßen 415 . Im übrigen<br />

korrespondiert diese Auffassung damit, daß schon häufiger, auch vom BVerfG,<br />

angenommen wurde, <strong>überlange</strong> Verfahrensdauer könne über Art. 2 I GG mit der<br />

Verfassungsbeschwerde gerügt werden, weil hierdurch die Handlungsfreiheit<br />

verletzt würde 416 .<br />

Darüber hinaus erweist sich auch das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung<br />

als Problem. Da es um die Anfechtung der Verfahrensführung <strong>und</strong> nicht die des<br />

Urteils geht, sperrt zwar nicht die Möglichkeit, Rechtsmittel gegen das Urteil<br />

einzulegen, so daß insoweit die Verfassungsbeschwerde aufgr<strong>und</strong> der Untätigkeit<br />

möglich wäre 417 • <strong>Die</strong> Verfassungsbeschwerde ist jedoch gegen solche Entscheidungen<br />

(bzw. Unterlassungen) unzulässig, gegen die wegen § 305 StPO nicht<br />

einmal die gewöhnliche Beschwerde zulässig ist 418 . Nichts anderes dürfte dann<br />

410 Vgl. BVerfGE 12, S. 124; 29, S.56; 31, S.218; 36, S.235; Leibholz/Rinck/<br />

Hesselberger, GG, Art. 3 Rn. 198; E. Klein in: Entwicklung der Menschenrechte innerhalb<br />

der Staaten des Europarates, S. 58.<br />

411 K. Kühl, ZStW 100 (1988), S. 427; ähnlich Spaniol, Das Recht aufVerteidigerbeistand,<br />

S. 189. Vgl. aber auch Sommermann, AöR 114 (1989), S. 412 f.<br />

412 Seibert, FS M. Hirsch, S. 522 ff.; Frowein, Der europäische Gr<strong>und</strong>rechtsschutz<br />

<strong>und</strong> die nationale Gerichtsbarkeit, S.26; ZaöRV 46 (1986), S. 286 ff.; FS Zeidler,<br />

S. 1768 ff.; kritisch Sommermann, AöR 114 (1989), S. 408 ff.; Spaniol, Das Recht auf<br />

Verteidigerbeistand, S. 187 ff. Vgl. auch K. Kühl, ZStW 100 (1988), S. 427 ff.; E. Klein<br />

in: Entwicklung der Menschenrechte innerhalb der Staaten des Europarates, S. 53 ff.<br />

413 Vgl. Sommermann, AöR 114 (1989), S. 409 f.<br />

414 Echterhölter, JZ 1955, S. 691 f.; 1956, S. 142; ähnlich Klug, GS H. Peters, S. 442.<br />

415 Frowein, FS Zeidler, S. 1768, mit Hinweis auf BVerfGE 23, S.288 (300); 31,<br />

S. 145 (177).<br />

416 BVerfG (Vorprüfungsausschuß), NStZ 1982, S. 430; NJW 1984, S. 967; vgl. auch<br />

EuGRZ 1979, S. 363; K. Peters in: Strafprozeß <strong>und</strong> Reform, S. 93; 1. Roxin, Rechtsfolgen,<br />

S. 161; Krey, <strong>Strafverfahren</strong>srecht I, Rn. 130; v. Stackelberg, FS Bockelmann, S. 768;<br />

Schroth, NJW 1990, S. 29 f.; Niebier, FS Kleinknecht, S. 311.<br />

417 Vgl. Leibholz/Rupprecht, BVerfGG, § 90 Rn. 79.<br />

418 BVerfGE 1, S. 9 (10); 9, S. 261 (265); Kleinknecht/Meyer, StP039, § 305 Rn. 1;<br />

W. Gollwitzer in LR24, § 305 Rn. 5; Schwentker, Der Ausschluß der Beschwerde nach<br />

§ 305 StPO, S. 155; unklar Frisch, SK StPO, vor § 296 Rn. 50.<br />

auch für das staatsanwaltschaftliehe Ermittlungsverfahren gelten, sofern man die<br />

fehlende Anfechtungsmöglichkeit damit begründet, daß einzelne staatsanwaltschaftliehe<br />

Handlungen bzw. Unterlassungen nur zusammen mit der Endentscheidung<br />

(Anklageerhebung oder Einstellung gemäß § 170 11 StPO) anfechtbar<br />

sind 419 .<br />

Aber selbst die Einlegung einer zulässigen Verfassungsbeschwerde hilft fast<br />

nur theoretisch weiter: Rein praktisch stellt sich die Verfassungsbeschwerde<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich als ein im Justizalltag zu aufwendiges <strong>und</strong> stumpfes Mittel dar,<br />

um effektiv zur Beschleunigung eingesetzt werden zu können 42o . Paradoxerweise<br />

nutzt dem Beschuldigten noch am ehesten ein Nichtannahmebeschluß einer Kammer<br />

mit dem Hinweis an das Gericht, die Grenze angemessener Verfahrensdauer<br />

sei nahezu erreicht 421 . Allerdings dauern auch Vorprüfungsverfahren häufig zwei<br />

Jahre422.<br />

bb) Menschenrechtsbeschwerde<br />

Rein konstruktiv könnte auch vom Beschuldigten gemäß Art. 25,6 I, 53 EMRK<br />

versucht werden, (weitere) Verzögerungen im laufenden Verfahren durch die<br />

Menschenrechtsbeschwerde zu verhindern. Beachtung verdient zunächst, daß der<br />

Beschuldigte in diesen Verfahren nicht Partei ist 423 . Unabhängig <strong>von</strong> den schwierigen<br />

<strong>und</strong> auch nicht umfassend geklärten Fragen der Erschöpfung des Rechtsweges<br />

in diesem Fall 424 erweist sich die Menschenrechtsbeschwerde ebenfalls<br />

zur Verfahrensbeschleunigung als kaum geeignet: Verfahren vor den Straßburger<br />

Organen dauern bis zur Entscheidung des EGMR im Durchschnitt mindestens<br />

fünf bis höchstens sieben Jahre <strong>und</strong> sechs Monate425. Allerdings erfolgt nach der<br />

Verfahrenspraxis der Kommission, schon nachdem eine Beschwerde für zulässig<br />

erklärt <strong>und</strong> der Sachverhalt aufgeklärt ist, eine vorläufige Abstimmung zur Frage,<br />

ob die geltendgemachten Menschenrechtsverletzungen zu bejahen sind oder nicht.<br />

<strong>Die</strong> beklagte Regierung wird <strong>von</strong> diesem vorläufigen Abstimmungsergebnis unterrichtet.<br />

Häufig zieht sie dann eine gütliche Beilegung einem sie möglicherweise<br />

belastenden Bericht der Kommission vor <strong>und</strong> macht entsprechende Vorschläge<br />

419 Vgl. Frisch in SK StPO, vor § 296 Rn. 4<strong>3.</strong><br />

420 Häsemeyer, FS Michaelis, S. 138; Priebe, FS v. Simson, S. 297.<br />

421 Priebe, FS v. Simson, S. 297; siehe BVerfG (Vorprüfungsausschuß), EuGRZ 1982,<br />

S. 75 f.; vgl. auch BVerfGE 55, S. 349 (369 f.).<br />

422 Vgl. Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht2, § 14 vor I; Zuck, NJW 1990, S. 2449.<br />

423 Vgl. v. Stackelberg / v. Stackelberg, Das Verfahren der deutschen Verfassungsbeschwerde<br />

<strong>und</strong> der europäischen Menschenrechtsbeschwerde, Rn. 78; A. Blomeyer, FS<br />

Bötticher, S. 64; Ress in: Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 248.<br />

424 Vgl. dazu Peukert, EuGRZ 1979, S. 263 ff.; Schaupp-Haag, <strong>Die</strong> Erschöpfung des<br />

innerstaatlichen Rechtsweges, S. 36; 55.<br />

425 Matscher, EuGRZ 1982, S. 528; Miehsler / Vogler, IntKomm Art. 6, Rn. 317 Fn. 1;<br />

Ulsamer, FS Faller, S. 376 Fn. 11; vgl. dazu auch B. Wagner, EuGRZ 1983, S. 485; K.<br />

Kühl, ZStW 100 (1988), S. 416 f.


104 2. Kap.: Schwierigkeiten der Beschleunigung <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong><br />

zur Beilegung 426. So berichtet Peukert <strong>von</strong> vier gegen die B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland gerichteten Beschwerden über die <strong>Dauer</strong> <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong>, die<br />

durch gütliche Beilegung - gnadenweise Strafaussetzung - relativ schnell<br />

zugunsten des Beschwerdeführers erledigt werden konnten 427 •<br />

Drittes Kapitel<br />

Aufgliederung des Begriffs<br />

der <strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer<br />

Zur Ermöglichung neuer Rechtsfolgenbestimmung<br />

Das gewonnene Zwischenergebnis fällt also dürftig aus: Der Beschuldigte hat<br />

kaum praktikable Möglichkeiten, Verzögerungen "seines" Verfahrens durch die<br />

Strafverfolgungsorgane zu vermeiden. Am ehesten kommen noch die "Zweckentfremdung"<br />

des Befangenheitsrechts bei richterlichen Verzögerungen <strong>und</strong> die<br />

<strong>Die</strong>nstaufsichtsbeschwerde hinsichtlich des Staatsanwalts in Betracht. Ob diese<br />

SChwierigkeit de lege ferenda gr<strong>und</strong>legend ohne tiefe Struktureingriffe in das<br />

Prozeßrecht zu beseitigen wäre, muß äußerst skeptisch beurteilt werden.<br />

Aber selbst dann wäre <strong>überlange</strong> Verfahrensdauer denkbar, die sich den Anträgen<br />

<strong>und</strong> (innerstaatlichen) Rechtsbehelfen (im weiteren Sinne) des Beschuldigten<br />

entzöge: Verfahrensüberlänge kann auch darauf beruhen, daß aufgr<strong>und</strong> <strong>von</strong> Verfahrensstruktur<br />

<strong>und</strong> Prozeßgegenstand eine Sache nicht in normaler Zeit erledigt<br />

werden kann. Hiergegen könnte sich der Beschuldigte nur insofern ohne Verzicht<br />

auf Verteidigungsaktivitäten wehren, als daß er sich um die vieldiskutierte verfahrensabkürzende<br />

"Verständigung" mit den Strafverfolgungsorganen bemüht ­<br />

auf die er auch in Anbetracht zu erwartender (über-)langer Verfahrensdauer<br />

keinerlei Anspruch hat!. Insofern kann man die "Verständigung" jedOCh nicht<br />

als eine Art Rechtsbehelf des Beschuldigten gegen <strong>überlange</strong> Verfahrensdauer<br />

verstehen. Wenngleich der weitere Verlauf der Diskussion um dieses Thema<br />

noch nicht abzusehen ist, spricht wohl sehr viel dafür, daß sich hieran auch in<br />

Zukunft nichts ändern wird: Auch die bisherigen Vorschläge, die "Verständigung"<br />

zu verrechtlichen, sehen nur vor, deren Zulässigkeit gesetzlich zu regeln, nicht<br />

aber, eine "Verständigung" etwa bei (drohender) <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer für<br />

das Gericht auf Betreiben des BeSChuldigten vorzuschreiben 2 •<br />

Überlange Verfahrensdauer aufgr<strong>und</strong> eines langwierigen, jedoch unverzögerten<br />

Verfahrens kann nichtsdestotrotz lediglich durch Veränderungen des Straf-<br />

426 Peukert, EuGRZ 1979, S. 274. Vgl. auch Ostendorf, StV 1990, S. 231.<br />

427 Peukert, EuGRZ 1979, S.274 Fn. 141. Vgl. auch Vogler, ZStW 89 (1977),<br />

S. 781 f.; Frowein, JZ 1969, S. 214.<br />

I Vgl. dazu Siolek, DRiZ 1989, S. 32<strong>3.</strong> Siehe jetzt auch BGH, NStZ 1991, S. 346<br />

(347 f.).<br />

2 Vgl. etwa Baumann, NStZ 1987, S. 161; Bode, DRiZ 1988, S. 287 f.; Wagner /<br />

Rönnau, GA 1990, S. 388 ff.; Schünemann in: Absprache im Strafprozeß, S. 148; Verh.<br />

58. DJT, S. B 160.


106 <strong>3.</strong> Kap.: Aufgliederung des Begriffs der <strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer A. Zur Unterscheidung <strong>von</strong> Verfahrenslänge <strong>und</strong> -verzögerungen 107<br />

(verfahrens)rechts verhindert werden. Insoweit also, wie Verfahrenslänge "auf<br />

einem komplizierten Prozeßrecht"3beruht, hat die oben4angesprochene Strafprozeßreform<br />

Relevanz zur Verhinderung <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer.<br />

Historisch gesehen hat sich die Diskussion <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer auch<br />

nicht an Verfahrensverzögerungen durch die Strafverfolgungsbehörden entzündet:<br />

Klagen über die lange Prozeßdauer häuften sich zum Ende der Zeit der<br />

Weimarer Republik 5 . Ausgelöst wurden sie durch die <strong>Dauer</strong> sog. Monstreverfahren.<br />

Es handelte sich meist um Wirtschaftsstrafsachen, hervorgerufen durch den<br />

Zusammenbruch zahlreicher deutscher Unternehmen infolge der Weltwirtschaftskrise<br />

6 . Allerdings waren diese Verfahren vom Umfang her nicht mit den großen<br />

Prozessen der letzten dreißig Jahre (Wirtschafts-, Contergan-, Terroristen- <strong>und</strong><br />

NS-Verfahren) yergleichbar 7 . Schon in der damaligen Diskussion um die Monstreprozesse<br />

fällt auf, daß vor allem die unzulängliche Ausgestaltung des Strafprozeßrechts<br />

für die Verfahrensdauer verantwortlich gemacht wird, wie das später<br />

besonders drastisch das LG Aachen für das Contergan-Verfahren ausgedrückt<br />

hat: Das LG Aachen wies in seinem Einstellungsbeschluß auf"unsinnige" Bestimmungen<br />

<strong>und</strong> die "Unzulänglichkeit der auf Prozesse dieses Ausmaßes nicht<br />

zugeschnittenen Strafprozeßordnung" hin 8.<br />

Hinweise auf die Problematik <strong>von</strong> Verfahrensverzögerungen durch die Strafverfolgungsorgane<br />

finden sich dagegen in Äußerungen aus den zwanziger <strong>und</strong><br />

dreißiger Jahren nur relativ selten: Robert v. Hippel etwa wirft den Richtern ein<br />

"uferloses Streben nach sog. Gründlichkeit; in Wirklichkeit Prozeßverschleppung"<br />

vor, wodurch "unnötige Prozeßdauer" entstünde 9 • Baumbach fragte, wie<br />

oft eine Verhandlung in weitaus kürzerer Zeit ebenso gut <strong>und</strong> besser zu erledigen<br />

wäre, wenn der Vorsitzende "die Zügel straff in der Hand hätte, zielbewußt auf<br />

das Wesentliche hinsteuerte, den Prozeßstoffrichtig anordnete <strong>und</strong> sich um Presse<br />

<strong>und</strong> Oeffentlichkeit nicht kümmerte" 10. Baumbach gehörte auch zu den wenigen,<br />

die gesetzliche Maßnahmen als wenig erfolgversprechend ablehnten: "Der Vorsitzende<br />

... ist der, an den man sich zu halten hat" 11.<br />

3 Kloepfer, JZ 1979, S. 215.<br />

4 Oben, 2. Kap. A 11.<br />

5 Siehe dazu Hachenburg/Bing, DJZ 1932, Sp. 913; K. Peters in: Strafprozeß <strong>und</strong><br />

Refonn, S. 82; Küng-Hofer, Beschleunigung, S. 2; Grauhan, GA 1976, S. 225; Rebmann,<br />

NStZ 1984, S. 241; G. Schmidt, JR 1974, S. 321; Hernnann, ZStW 85 (1973), S. 255 f.<br />

6 Hernnann, ZStW 85 (1973), S. 255; Rebmann, NStZ 1984, S. 241.<br />

7 Siehe K. Schäfer in LR24, Einl. Kap. 3 Rn. 18; K. Peters in: Strafprozeß <strong>und</strong> Refonn,<br />

S. 82; Hernnann, ZStW 85 (1973), S. 256; Wolfslast, NStZ 1990, S. 410; Hammerstein<br />

in: Absprache im Strafprozeß, S. 95.<br />

8 LG Aachen, JZ 1971, S. 507 (520). Vgl. dazu Bruns, FS Maurach, S. 481 f.<br />

9 Siehe Rob. v. Hippel, Lehrbuch des Strafrechts, § 98 IV 1 d; MschrKrim 26 (1935),<br />

S. 245; Der deutsche Strafprozeß, § 25 I 3 Fn. 2; § 59 VI; ähnlich auch Siegert, DRiZ<br />

1932, S. 203; Hel. Lehmann, DRiZ 1932, S. 12<strong>3.</strong><br />

10 Baumbach, DJZ 1934, Sp. 128.<br />

11 Baumbach, DJZ 1934, Sp. 128.<br />

Ansonsten schlug man die Erweiterung oder jedenfalls extensive Anwendung<br />

des erst durch die sog. "Emminger-Verordnung"12 1924 eingeführten § 154<br />

StPO 13 sowie sonstige, teilweise weitgehende gesetzliche Änderungen 14 vor:<br />

"Aber der wahre Gr<strong>und</strong> dieser Rechtsinflation ... liegt im Gesetz" 15. Hintergr<strong>und</strong><br />

dieser Klagen ist also vor allem, daß bezweifelt wird, "ob das Endergebnis<br />

derartiger Prozesse mit dem aufgebotenen Aufwand wirklich im Verhältnis<br />

steht" 16. Ganz deutlich wird dies an den Worten, mit denen Kern einen <strong>von</strong> ihm<br />

dargestellten exemplarischen Einzelfall kommentierte: "Gewiß hat jeder einzelne<br />

Beamte, der in der Prüfung <strong>und</strong> Entscheidung der Sache mitgewirkt hat, pflichtgemäß<br />

mit aller Beschleunigung gearbeitet; aber das Verfahren ist in der Tat viel<br />

zu umständlich." 17<br />

A. Zur Unterscheidung <strong>von</strong><br />

Verfahrenslänge <strong>und</strong> -verzögerungen<br />

<strong>Die</strong> entscheidende Problematik bei Monstreprozessen wurde also schon damals<br />

darin gesehen, daß das Strafprozeßrecht zu umständlich sei, um solche Umfangsachen<br />

zu bewältigen. Großverfahren stellen den Hauptfall dieser Gruppe dar, die<br />

<strong>von</strong> derjenigen, die gemeinhin unter dem Schlagwort <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer<br />

diskutiert wird <strong>und</strong> bisher im Mittelpunkt dieser Untersuchung stand, nämlich<br />

der der <strong>von</strong> den Strafverfolgungsbehörden verzögerten Verfahren, theoretisch<br />

scharf zu unterscheiden ist: Es handelt sich, um dies nochmals zu betonen, um<br />

die Konstellation, daß ein Verfahren aus in seinem Gegenstand liegenden Gründen<br />

länger dauert, als es angebracht erscheint. So ist etwa bezüglich des Contergan­<br />

Verfahrens nie der Vorwurf aufgetaucht, die Strafverfolgungsbehörden hätten es<br />

verzögert 18. Umgekehrt hatte z. B. das OLG Stuttgart als Revisionsgericht in<br />

einer Verkehrssache Veranlassung gesehen, Rechtsfolgen wegen der Anberaumung<br />

einer Hauptverhandlung (erst) drei Monate nach Tat <strong>und</strong> Verfahrenseinlei-<br />

12 <strong>Die</strong> VO sollte "bis an die Grenzen des im Interesse der Rechtspflege noch Erträglichen<br />

die Strafrechtspflege vereinfachen <strong>und</strong> verbilligen"; vgl. Eb. Schmidt, Einführung<br />

in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege 3 , S. 418; teilw. abw. Vonnbaum, <strong>Die</strong><br />

Lex Emminger vom 24. Januar 1924, S. 83 f,; 174 ff.<br />

13 Siegert, DRiZ 1932, S. 204; Bethke, DJZ 1932, Sp. 1470; Ebennaier, DRiZ 1932,<br />

S. 123; Rob. v. Hippel, Lehrbuch des Strafrechts, § 98 IV 1 d Fn. 6; MschrKrim 26<br />

(1935), S. 244; Gerland/Heilbron, ZStW 55 (1936), S. 719.<br />

14 Siegert, DRiZ 1932, S. 205; Bethke, DJZ 1932, Sp. 1470; Schwarz, DJZ 1934, Sp.<br />

50; Rob. v. Hippe!, MschrKrim 26 (1935), S. 245 f.; Oetker, GerS 105 (1935), S. 1 ff.;<br />

Gallrein, Das schleunige Verfahren im Strafprozess, S. 86 ff.<br />

15 Hel. Lehmann, DRiZ 1932, S. 12<strong>3.</strong><br />

16 Hel. Lehmann, DRiZ 1932, S. 12<strong>3.</strong><br />

17 Kern, MschrKrimPsych 15 (1924), S.261. Vgl. auch Gallrein, Das schleunige<br />

Verfahren im Strafprozess, S. 2.<br />

18 Vgl. Hernnann, ZStW 85 (1973), S. 258; Bruns, FS Maurach, S. 472; Ostenneyer,<br />

ZRP 1971, S. 76; Schultz, MDR 1971, S. 191.


108 <strong>3.</strong> Kap.: Aufgliederung des Begriffs der <strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer A. Zur Unterscheidung <strong>von</strong> Verfahrenslänge <strong>und</strong> -verzögerungen 109<br />

tung zu diskutieren 19. In der Mehrzahl der Fälle freilich werden lange Verfahrensdauer<br />

<strong>und</strong> Verfahrensverzögerungen zusammenfallen, wird die Verfahrensdauer<br />

auf Verfahrensverzögerungen beruhen. Demzufolge wird die Unterscheidung<br />

danach, ob ein Verfahren verzögert ist oder aber zwar unverzögert ist, jedoch<br />

zu lange dauert, in Rechtsprechung <strong>und</strong> Literatur nur unzulänglich vorgenommen.<br />

I. Untersuchungshaftdauer<br />

Das erstaunt, da die Unterscheidung zwischen Verfahrensdauer <strong>und</strong> Verfahrensverzögerung<br />

im Untersuchungshaftrecht durchgeführt wird: So hatte schon<br />

vorInkrafttreten der §§ 120,121 StPO durch das StPÄG 1964 das OLG Saarbrükken<br />

ausgeführt, Fortdauer <strong>von</strong> Untersuchungshaft scheide nicht nur (erst) dann<br />

aus, wenn die Untersuchungshaft die zu erwartende Strafe überschreite, weil sich<br />

die Aburteilung wegen Schwierigkeiten des Verfahrens hinzieht, sondern auch<br />

(schon) dann, wenn extreme, sachlich nicht gerechtfertigte Verfahrensverzögerungen<br />

vorliegen, auch wenn die Untersuchungshaft die zu erwartende Strafe<br />

noch nicht erreicht hat 20 .<br />

<strong>Die</strong>se Differenzierung hat die StPO dann ebenfalls zum Ausdruck gebracht:<br />

Nach § 120 I Satz 1 StPO ist für die Aufhebung des Haftbefehls darauf abzustellen,<br />

"daß die weitere Untersuchungshaft zu der Bedeutung der Sache <strong>und</strong> der<br />

zu erwartenden Strafe ... außer Verhältnis stehen würde". Haftentlassung bleibt<br />

danach auch dann geboten, wenn die Inhaftierung zur Aburteilung <strong>von</strong>nöten<br />

(etwa wegen konkreter Fluchtabsichten) wäre 21 . Umgekehrt soll allerdings ­<br />

was die Unterscheidung verwischt - bei der für § 120 I StPO gebotenen Abwägung<br />

ein offensichtlicher <strong>und</strong> schlechthin nicht vertretbarer Verstoß gegen das<br />

Beschleunigungsprinzip bedeutsam sein22.<br />

§ 121 StPO erlaubt eine Haftfortdauer über sechs Monate hinaus nur dann,<br />

"wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen<br />

oder ein anderer wichtiger Gr<strong>und</strong> das Urteil noch nicht zulassen". Hier wird also<br />

nicht nach dem Verhältnis <strong>von</strong> Haftdauer <strong>und</strong> Straferwartung gefragt, sondern<br />

danach, ob für die Aburteilung eine längere Untersuchungshaftdauer <strong>von</strong>nöten<br />

ist oder nur infolge <strong>von</strong> Verzögerungen erfolgen müßte. Eine Berücksichtigung<br />

der Schwere der Tat, also letztlich der Straferwartung, wie sie jedoch das OLG<br />

Hamm für richtig hält 2 3, ist demzufolge unzulässig 24 .<br />

19 OLG Stuttgart, NJW 1967, S. 508 (509 f.).<br />

20 OLG Saarbrücken, NJW 1961, S.377 (378). Vgl. auch LG Köln, NJW 1964,<br />

S. 1816.<br />

21 Wendisch in LR24, § 120 Rn. 11.<br />

22 Kleinkecht/ Janischowsky, Das Recht der Untersuchungshaft, Rn. 232; RieB, JR<br />

1983, S. 260.<br />

23 OLG Hamm, JMBl. NW 1971, S. 283; 1974, S. 47 (48); zustimmend Kleinknecht/<br />

Janischowsky, Das Recht der Untersuchungshaft, Rn. 260.<br />

II. Verfahrensdauer<br />

Auch in der Rechtsprechung zur <strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer läßt sich ­<br />

weitgehend unbemerkt 25 - die Differenzierung zwischen Verfahrensdauer <strong>und</strong><br />

Verfahrensverzögerung, wenn auch weniger deutlich, erkennen:<br />

Der BGH hat in einigen Entscheidungen letztendlich nur betont, daß die<br />

tatsächliche Verfahrensdauer nicht mehr in angemessenem Verhältnis zur notwendigen<br />

Länge des Verfahrens gestanden habe <strong>und</strong> die Verzögerungen nicht<br />

vom Beschuldigten verursacht worden seien 26. Entsprechend hat sich auch die<br />

Mehrzahl der Untergerichte geäußert 27 . Der EGMR, der in seiner ersten Entscheidung<br />

zur <strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer (Fall Wemhoff) noch ähnlich allgemein<br />

formulierte 28, hat seit dem Eckle-Urteil in ständiger Rechtsprechung 29 auf drei<br />

Kriterien zur Feststellung <strong>überlange</strong>r <strong>Strafverfahren</strong>sdauer abgehoben, die er<br />

erstmalig im Fall König 30 explizit benannte: die Schwierigkeit des Falles <strong>und</strong><br />

das Verhalten des Beschuldigten sowie das der Justizbehörden seien mit der<br />

Gesamtdauer des Verfahrens ins Verhältnis zu setzen. Betrachtet man diese<br />

Kriterien genauer, so ergibt sich letztendlich zu der Herangehensweise der genannten<br />

nationalen Gerichte kein bedeutender Unterschied: Auch vom EGMR<br />

wird danach unterschieden, ob die Verfahrensdauer entweder auf staatlichen<br />

Verzögerungen beruht oder aber <strong>von</strong> der Sache bedingt bzw. vom Beschuldigten<br />

herbeigeführt worden ist. Unterschieden wird also jeweils Verfahrensdauer <strong>und</strong><br />

Verfahrensverzögerungen durch die Strafverfolgungsorgane.<br />

Da<strong>von</strong> abweichend <strong>und</strong> ohne die Kriterien der Straßburger Rechtsprechung<br />

zu prüfen3 !, hat der BGH in anderen Entscheidungen auf die Notwendigkeit<br />

"wertender Betrachtung" abgehoben, wobei insbesondere die Schwere des Tatvorwurfs,<br />

der Umfang der Sache <strong>und</strong> die bei den Ermittlungen auftretenden<br />

24 OLG Köln, NJW 1973, S. 1009 (1010); OLG Koblenz, OLGSt (neu) NI. 7 zu § 121<br />

StPO (insoweit nicht in NJW 1990, S. 1375 abgedruckt); LG Köln, NStZ 1989, S. 442<br />

(443); Wendisch in LR24, § 121 Rn. 6; Kleinknecht / Meyer, StP039, § 121 Rn. 20.<br />

25 Siehe aber 1. Roxin, Rechtsfolgen, S. 77.<br />

26 BGH, GA 1977, S.275 (276); StV 1983, S.502; 1985, S.322; S.411; 1988,<br />

S. 487 f.; NStZ 1986, S. 217 f.; 1987, S. 232.<br />

27 OLG Stuttgart, NJW 1967, S. 508 (509); 1974, S. 284; OLG Karlsruhe, NJW 1972,<br />

S. 1907 (1908); OLG Saarbrücken, NJW 1975, S. 941 (942); OLG Hamm, NJW 1975,<br />

S.702 (703); OLG Düsseldorf, MDR 1989, S. 935 f.; OLG Zweibrücken, StV 1989,<br />

S. 51 f.; BayObLG, StV 1989, S. 394; LG Krefeld, JZ 1971, S. 733 (735); LG Düsseldorf,<br />

NStZ 1988, S. 427 (428); LG Köln, NStZ 1989, S. 442 (443).<br />

28 EGMR,JR 1968, S. 463 (466); vgl. auchEGMR I, S. 143 (180 f.)(FallNeumeister);<br />

3, S. 61 (101) (Fall Ringeisen).<br />

29 EGMR, EuGRZ 1983, S.371 (380) (Fall Eckle); 1985, S.578 (581) (Fall Foti<br />

u. a.); S. 585 (587) (Fall Corig1iani).<br />

30 EGMR, EuGRZ 1978, S. 406 (417).<br />

31 Ress in: Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 276; ähnlich K. Kühl, ZStW 100<br />

(1988), S. 642.


110 <strong>3.</strong> Kap.: Aufgliederung des Begriffs der <strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer B. Zur Einordnung mit Hilfe des Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satzes 111<br />

Schwierigkeiten zu berücksichtigen seien 32. Gelegentlich hat der BGH zusätzlich<br />

- wie übrigens auch das LG Frankfurt 33 <strong>und</strong> ein Vorprüfungsausschuß des<br />

BVerfG34 - auf die Empfindlichkeit des Beschuldigten hingewiesen 35. Nun<br />

kann es für die Würdigung <strong>von</strong> Verfahrensverzögerungen keine Rolle spielen,<br />

ob ein schwerer Tatvorwurf vorliegt 36 oder besondere Belastungen des Beschuldigten<br />

zu besorgen sind; ersteres kann Verfahrensverzögerungen genausowenig<br />

legitimieren wie das Fehlen <strong>von</strong> letzterem. Insoweit wird in diesen Entscheidungen<br />

also auf Kriterien abgestellt, die Bedeutung für die Verfahrensdauer an sich<br />

<strong>und</strong> nicht für Verfahrensverzögerungen haben könnten. Allerdings krankt diese<br />

Interpretation daran, daß bei dieser "wertenden Betrachtung" <strong>von</strong> den Gerichten<br />

auch auf den Aspekt der bei den Ermittlungen aufgetretenen Schwierigkeiten<br />

abgestellt wird.<br />

In der strafprozessualen Literatur unterscheidet vor allem Zipfzwischen langer<br />

Verfahrensdauer <strong>und</strong> Verfahrensverzögerungen 37, Schroth zwischen "schlichter"<br />

<strong>und</strong> "qualifizierter" Überlänge 38 . Auch Imme Roxin erkennt, daß <strong>überlange</strong> Verfahrensdauer<br />

sich in zwei Gruppen einteilen lassen kann 39 . Priebe differenziert<br />

zwischen "verfahrensinternen" - Schwierigkeit <strong>und</strong> Umfang der Sache - <strong>und</strong><br />

"verfahrensexternen" Verzögerungsursachen 40 ; Seelmann trennt die "durch die<br />

Kompliziertheit der Materie bedingte besonders lange Verfahrensdauer" ab 41 ,<br />

die der <strong>von</strong> Schünemann abgegrenzten "justizinternen Saumseligkeit"42 gegenübergestellt<br />

werden kann.<br />

Weitergehend halten Kohlmann <strong>und</strong> Kloepfer die beiden Aspekte auseinander<br />

43 : Zunächst dürfe kein Verfahren länger ausgedehnt werden, als es unbedingt<br />

erforderlich ist, um zu einer Entscheidung zu gelangen. Zudem müsse ein vertretbares<br />

Verhältnis zwischen der Verfahrensdauer <strong>und</strong> den daraus für den Beschuldigten<br />

erwachsenden Nachteilen - so Kohlmann - bzw. der verfolgten Tatso<br />

Kloepfer - gewahrt sein. Kohlmann <strong>und</strong> Kloepfer legten ihrer Differenzierung<br />

32 BGHSt 24, S. 239 (240); NStZ 1982, S. 291; 1983, S. 135; StV 1989, S. 187 (188);<br />

ähnlich OLG Koblenz, NJW 1972, S. 403 (404). Vgl. auch neuerdings EGMR, EuGRZ<br />

1990, S. 209 (211) (Fall Obermeier): "globale Beurteilung".<br />

33 LG Frankfurt, JZ 1971, S. 234 (235 f.).<br />

34 BVerfG (Vorprüfungsausschuß), NJW 1984, S. 967.<br />

35 BGHSt 24, S. 239 (240).<br />

36 Vgl. Reinecke, <strong>Die</strong> Fernwirkung <strong>von</strong> Beweisverwertungsverboten, S. 195 f.; I.<br />

Roxin, Rechtsfolgen, S. 168.<br />

37 Maurach / Gössel/Zipf, Strafrecht AT / 2 7 , § 63 Rn. 34.<br />

38 Schroth, NJW 1990, S. 30 f.<br />

39 I. Roxin, Rechtsfolgen, S. 77.<br />

40 Priebe, FS v. Simson, S. 30<strong>3.</strong><br />

41 Seelmann, GebColloquium Kielwein, S. 26; 29.<br />

42 Schünemann, Verh. 58. DJT, S. B 30 f.<br />

43 Kohlmann, FS Maurach, S. 508 ff.; Kloepfer, JZ 1979, S. 214; ähnlich DVBl. 1977,<br />

S.741.<br />

den Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satz zugr<strong>und</strong>e: Der Gr<strong>und</strong>satz der Erforderlichkeit<br />

sei es, der Verfahrensverzögerungen verbiete; der der Angemessenheit verbiete<br />

zu lange, wenn auch unverzögerte Verfahren.<br />

B. Zur Einordnung<br />

mit Hilfe des Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satzes<br />

Verfolgt man Kohlmanns <strong>und</strong> Kloepfers Gedanken weiter, so läßt sich unter<br />

Anwendung des Gr<strong>und</strong>satzes der Verhältnismäßigkeit die Einordnung der Fallgruppen<br />

<strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer vornehmen. Ohne hier auf die im einzelnen<br />

umstrittene Zugehörigkeit <strong>von</strong> Teilgr<strong>und</strong>sätzen zum Verhältnismäßigkeitsprinzip<br />

<strong>und</strong> den insoweit uneinheitlichen Sprachgebrauch eingehen zu wollen44, läßt sich<br />

zunächst doch eine gewisse Übereinstimung dahingehend feststellen, daß das<br />

Verhältnismäßigkeitsprinzip sich aus drei Gr<strong>und</strong>sätzen zusammensetzt, die sich<br />

als Geeignetheit, Erforderlichkeit <strong>und</strong> Proportionalität (bzw. Angemessenheit)<br />

bezeichnen lassen 45.<br />

Nun ist der Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satz schon häufiger mit <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer<br />

in Verbindung gebracht worden. Während etwa v. Stackelberg <strong>und</strong><br />

ähnlich Kar! Peters nur kurz formulierten, die Konkretisierung der zeitlichen<br />

Grenze <strong>von</strong> Strafverfolgungen ließe sich nur aus dem Gebot der Verhältnismäßigkeit<br />

ableiten46, lag es für Geppert nahe, das verfassungsrechtliche Übermaßverbot<br />

zu Hilfe zu nehmen47. Aber auch bei einigen detaillierteren Ausführungen ist<br />

die Begrifflichkeit wohl mehr schlagwortartig gebraucht worden: Für Vogler<br />

gebietet der Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satz, Beeinträchtigungen des Beschuldigten<br />

zu vermeiden bzw. auszugleichen 48 . Imme Roxin setzt den Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satz<br />

in Beziehung zu den Zielen des <strong>Strafverfahren</strong>s 49. Hillenkamp<br />

formuliert, ohne daß klar wird, ob er vom Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satz als<br />

Oberbegriff oder vom Teilgr<strong>und</strong>satz der Proportionalität spricht, es seien alle<br />

Umstände zu wägen, die den Rechtsstaatsverstoß so unverhältnismäßig werden<br />

44 Vgl. dazu Scheffler, Gr<strong>und</strong>legung eines kriminologisch orientierten Strafrechtssystems,<br />

S. 80 f.<br />

45 Siehe dazu die Nachweise bei Scheffler, Gr<strong>und</strong>legung eines kriminologisch orientierten<br />

Strafrechtssystems, S. 80 f.; siehe auch Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot,<br />

S.5; M. Jakobs, Der Gr<strong>und</strong>satz der Verhältnismäßigkeit, S. 8 ff.; Ress in: Der<br />

Gr<strong>und</strong>satz der Verhältnismäßigkeit in europäischen Rechtsordnungen, S. 11; Noske, <strong>Die</strong><br />

Prozeßökonomie als Bestandteil des verfassungsrechtlichen Gr<strong>und</strong>satzes der Verhältnismäßigkeit,<br />

S. 58 ff.; Holzlöhner, <strong>Die</strong> Gr<strong>und</strong>sätze der Erforderlichkeit <strong>und</strong> Verhältnismäßigkeit,<br />

S. 10 ff.<br />

46 v. Stackelberg, FS Bockelmann, S. 768; K. Peters, JR 1978, S. 247.<br />

47 Geppert, JK 1983, MRK Art. 6/1.<br />

48 Vogler, ZStW 89 (1977), S. 78<strong>3.</strong><br />

49 I. Roxin, Rechtsfolgen, S. 161 ff.


_u __nd ~<br />

112 ______<br />

_<br />

<strong>3.</strong> Kap.: Aufgliederung des Begriffs der <strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer B. Zur Einordnung mit Hilfe des Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satzes 113<br />

lassen, daß unzweideutig feststehe, daß durch eine Verfahrensfortsetzung rechtsstaatlich<br />

unverzichtbare Erfordernisse nicht mehr gewahrt wären 50.<br />

I. Geeignetheit <strong>und</strong> überflüssiges Tun<br />

Hillenkamp <strong>und</strong> Imme Roxin haben allerdings auch versucht, im einzelnen die<br />

drei Teilgr<strong>und</strong>sätze der Geeignetheit, Erforderlichkeit <strong>und</strong> Proportionalität nutzbar<br />

zu machen. Sie gehen insofern über Kohlmann <strong>und</strong> Kloepfer hinaus, die den<br />

Gr<strong>und</strong>satz der Geeignetheit überhaupt nicht erwähnen51. Bei der Geeignetheit<br />

heben sie darauf ab, daß bei großem Zeitablauf die Verfahrensfortsetzung die<br />

Eignung verliere, die Ziele des Strafprozesses, insbesondere das der zuverlässigen<br />

Wahrheitsermittlung 52, zu verwirklichen 5<strong>3.</strong><br />

<strong>Die</strong>se Erwägung erscheint äußerst zweifelhaft. Zwar mag es sein, daß der<br />

Strafprozeß seine Ziele am besten durch die frühe überzeugende Klärung der<br />

Schuld oder Unschuld erreicht54. Auf der rein naturwissenschaftlich-kausalen<br />

Stufe der Geeignetheit genügt jedoch schon geringe Teileignung 55. Ein staatliches<br />

Mittel ist schon dann geeignet, einen Zweck zu erreichen, "wenn mit seiner Hilfe<br />

der gewünschte Erfolg gefördert werden kann" 56. Hierbei kommt es auf die<br />

Betrachtung ex ante an 57 • <strong>Die</strong> Möglichkeit, daß auch nach langem Zeitablauf<br />

noch die Wahrheitsermittlung gelingt, wird sich kaum einmal ausschließen lassen,<br />

wie auch in der Rechtsprechung zum Beweisantragsablehnungsgr<strong>und</strong> der Ungeeignetheit<br />

des Zeugenbeweises bei lange zurückliegenden Vorgängen anerkannt<br />

ist 58 . Dem kann zur Seite gestellt werden, wie Kloepfer formuliert 59, daß in aller<br />

Regel "die Gewähr für die ,richtige' Entscheidung um so größer ist, je sorgfältiger<br />

ermittelt, verhandelt <strong>und</strong> beraten wird". Auch bei dem anderen immer wieder<br />

genannten Ziel des Strafprozesses, der Wiederherstellung des Rechtsfriedens 60 ,<br />

50 Hillenkamp, NJW 1989, S. 2848 mit unklarem Bezug auf BVerfG (Kammer), NStZ<br />

1987, S. 276.<br />

51 Kohlmann, FS Maurach, S. 508 ff.; Kloepfer, JZ 1979, S. 214.<br />

52 Vgl. BVerfGE 63, S. 45 (61).<br />

53 1. Roxin, Rechtsfolgen, S. 162; Hillenkamp, NJW 1989, S. 2848.<br />

54 Vgl. Schmidhäuser, FS Eb. Schmidt, S. 522.<br />

55 Vgl. etwa Gentz, NJW 1968, S. 1603; Grabitz, AöR 98 (1973), S. 572; vgl. auch<br />

BVerfGE 16, S. 147 (183).<br />

56 BVerfGE 30, S. 292 (316); 33, S. 171 (187).<br />

57 BVerfGE 16, S. 147 (181); 25, S. 1 (12); 30, S. 250 (263); Grabitz, AöR 98 (1973),<br />

S. 572; Schnapp, JuS 1983, S. 854; Ress in: Der Gr<strong>und</strong>satz der Verhältnismäßigkeit in<br />

europäischen Rechtsordnungen, S. 16 f.<br />

58 Vgl. BGH, StV 1981, S. 167; 1982, S. 339; OLG Frankfurt, JR 1984, S. 40. Siehe<br />

aber auch unten, 5. Kap. B 11 4 a.<br />

59 Kloepfer, JZ 1979, S. 210; siehe auch Wolter in SK StPO, vor § 151 Rn. 210.<br />

60 Vgl. C. Roxin, <strong>Strafverfahren</strong>srecht21, § 1 B 11; Volk, Prozeßvoraussetzungen,<br />

S. 183 ff.; 1. Roxin, Rechtsfolgen, S. 161 f.; Schmidhäuser, FS Eb. Schmidt, S. 516 ff.;<br />

W. Gollwitzer, FS Kleinknecht, S. 149.<br />

entfällt die Eignung durch lange Verfahrensdauer nicht völlig: Ein spätes Urteil<br />

dürfte regelmäßig eher für Rechtsfrieden sorgen als überhaupt keines 61.<br />

Eine Maßnahme ist vielmehr dann ungeeignet, wenn sie nicht zur Entscheidungsfindung<br />

beitragen kann, sondern aus unsachlichen, nicht der Entscheidungsfindung<br />

dienenden Gründen erfolgt 62 • In diese Kategorie fallen die Fälle "qualifizierter<br />

Verfahrensverzögerung", wie Jürgen Blomeyer sie nennt 63 • Qualifizierte<br />

Verfahrensverzögerung liegt dann vor, wenn durch überflüssige Tätigkeit der<br />

Strafverfolgungsbehörden das Verfahren verlängert wird. Jürgen Blomeyer beschreibt<br />

- bezogen auf den Zivilprozeß - Fälle, in denen der Richter etwa<br />

unnötig Beweise erhebt, um so die schwierige eigentliche Bearbeitung (zunächst)<br />

loszuwerden 64. Ähnlich weist Vormbaum auf die "Schiebeverfügung" im <strong>Strafverfahren</strong><br />

hin65. Häufiger dürften Fälle des <strong>von</strong> vornherein ungeeigneten Handeins<br />

aufgr<strong>und</strong> Rechtsirrtums mit der Folge der Verzögerung sein 66 • Den bisherigen<br />

(veröffentlichten) Entscheidungen zur <strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer lag ein solcher<br />

Sachverhalt zwar bislang nicht zugr<strong>und</strong>e; zu § 121 StPO sind jedoch Entscheidungen<br />

ergangen, in denen unnötigerweise ein schriftliches Gutachten abgewartet<br />

worden ist 6 7, die Staatsanwaltschaft bei einem unzuständigen Gericht<br />

anklagte 68 , zu Unrecht verwiesen 69 oder rechtsfehlerhaft die Hauptverhandlung<br />

ausgesetzt wurde 70. Auch bezüglich § 228 StPO ist etwa der Sachverhalt der<br />

"überflüssigen Entscheidung" der Aussetzung zwecks Erhebung <strong>von</strong> Beweisen,<br />

die dem Gericht in der Hauptverhandlung zur Verfügung standen, aufgetaucht7 1 •<br />

11. Erforderlichkeit <strong>und</strong> Verzögerungen<br />

Der Gr<strong>und</strong>satz der Erforderlichkeit gebietet, daß der in die Rechtssphäre des<br />

einzelnen eingreifende Staat jederzeit nach milderen Mitteln Umschau halten<br />

muß, um die Beeinträchtigungen so gering wie möglich zu halten. Ein staatliches<br />

Mittel ist nach der Rechtsprechung des BVerfG erforderlich, "wenn ein anderes,<br />

61 Vgl. etwa Bemmann, JuS 1965, S. 337.<br />

62 Kloepfer, JZ 1979, S. 21<strong>3.</strong><br />

63 J. Blomeyer, NJW 1977, S. 559 f.<br />

64 J. Blomeyer, NJW 1977, S. 560; vgl. auch Kirchhof, FS Doehring, S. 445.<br />

65 Vormbaum, Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils, S. 435.<br />

66 Vgl. Sarstedt in: Rechtsstaat als Aufgabe, S. 224 ff.<br />

67 OLG Köln, NJW 1973, S. 1009. Siehe jetzt auch OLG Düsseldorf, StV 1990,<br />

S.503 (504).<br />

68 OLG Bremen, MDR 1968, S. 863; KG, StV 1983, S. 111 (112). Siehe jetzt auch<br />

(zu § 111 aStPO) OLG Köln, StV 1991, S. 248 (249).<br />

69 OLG Hamm, StV 1990, S. 168.<br />

70 OLG Düsseldorf, OLGSt (alt) § 121 StPO, S. 73; OLG Frankfurt, StV 1981, S. 25;<br />

OLG Bremen, StV 1986, S. 540.<br />

71 KG, JR 1966, S. 230; siehe dazu W. Gollwitzer in LR24, § 305 Rn. 17; Kleinknecht,<br />

JR 1966, S. 231.<br />

8 Scheffler


114 <strong>3.</strong> Kap.: Aufgliederung des Begriffs der <strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer B. Zur Einordnung mit Hilfe des Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satzes 115<br />

gleich wirksames, aber das Gr<strong>und</strong>recht weniger fühlbar einschränkendes Mittel<br />

nicht gewählt werden könnte"72. <strong>Die</strong>s gilt auch im Sinne "zeitlicher Erforderlichkeil"<br />

7<strong>3.</strong> Verfahrensdauer ist demzufolge so kurz wie möglich zu halten 74 (Prinzip<br />

des kürzestmöglichen Eingriffs 75). Der Gr<strong>und</strong>satz der Erforderlichkeit korrespondiert<br />

mit dem - vor allem Interessen der Rechtspflege dienenden - Prinzip<br />

der Prozeßökonomie76. Insofern kann es hier nicht darum gehen, in welchem<br />

Zeitraum ein Verfahren theoretisch hätte abgeschlossen werden können77; die<br />

StPO kennt keinen Anspruch auf das theoretisch schnellstmögliche Verfahren<br />

gar noch unter Zurückstellung anderer Aufgaben der Strafverfolgungsorgane 78.<br />

So hat auch ein Vorprüfungsausschuß des BVerfG hervorgehoben, es könne<br />

nicht darauf ankommen, ob <strong>und</strong> inwieweit eine Maßnahme "möglicherweise<br />

früher hätte getroffen werden können. <strong>Die</strong>s verbietet sich schon im Hinblick auf<br />

den Umstand, daß ein Gericht jeweils mit einer Vielzahl <strong>von</strong> Verfahren gleichzeitig<br />

befaßt ist <strong>und</strong> sich hieraus zwangsläufig für das einzelne Verfahren Verzögerungen<br />

ergeben, deren Ursachen nicht in diesem Verfahren selbst liegen" 79.<br />

Dementsprechend hat vor kurzem, deutlicher als der BGH, das BayObLG ausgesprochen,<br />

daß nichtjede den Durchschnitt überragende, <strong>von</strong> den Strafverfolgungsbehörden<br />

zu vertretende Verzögerung im weiteren Verfahren schon Beachtung<br />

zu finden habe; eine bedeutsame Verfahrensverzögerung sei nur anzunehmen,<br />

"wenn sie ganz entschieden außerhalb der Bandbreite üblicher Verfahrensführung<br />

liegt" 80. Verwaltungsrechtlich gesprochen: Den Strafverfolgungsbehörden ist hinsichtlich<br />

der Einschätzung des Zeitpunkts ihrer Initiative ein Beurteilungsspielraum<br />

zuzubilligen 81 , bezüglich der Art ihres Handeins haben sie Ermessen82.<br />

Es kommen hierbei zunächst einmal Verfahrensverzögerungen aufgr<strong>und</strong> "justizinterner<br />

Saumseligkeit"83 in Betracht. <strong>Die</strong>se kann zum einen in individuellen<br />

Mängeln liegen - etwa Entscheidungsschwäche oder mangelnde Arbeitsdiszi-<br />

72 BVerfGE 33, S. 171 (187); ähnlich 25, S. 1 (18); 30, S. 292 (316).<br />

73 Kloepfer, JZ 1979, S. 214.<br />

74 Vgl. Rosenthai, § 121 StPO, S.45; Kohlmann, FS Maurach, S.509; Kloepfer,<br />

DVBI. 1977, S. 741; JZ 1979, S. 214; Hillenkamp, NJW 1989, S. 2848.<br />

75 Kloepfer, JZ 1979, S. 214.<br />

76 Vgl. Sauer, Gr<strong>und</strong>lagen des Prozeßrechts Z , S. 604 f.; E. Schumann, FS Larenz,<br />

S. 279; W. Gollwitzer, FS Kleinknecht, S. 157; Noske, <strong>Die</strong> Prozeßökonomie als Bestandteil<br />

des verfassungsrechtlichen Gr<strong>und</strong>satzes der Verhältnismäßigkeit, S. 74 f.; Holzlöhner,<br />

<strong>Die</strong> Gr<strong>und</strong>sätze der Erforderlichkeit <strong>und</strong> Verhältnismäßigkeit, S. 134 ff.<br />

77 Vgl. Rosenthai, § 121 StPO, S. 45 f.; abweichend I. Roxin, Rechtsfolgen, S. 166.<br />

78 1. Roxin, Rechtsfolgen, S. 175 f.; Priebe, FS v. Simson, S. 30<strong>3.</strong><br />

79 BVerfG (Vorprüfungsausschuß), EuGRZ 1982, S. 75 (76); vgl. auch BVerfGE 55,<br />

S. 345 (369).<br />

80 BayObLG, StV 1989, S. 394; ähnlich schon OLG Saarbrücken, NJW 1975, S. 941<br />

(942).<br />

81 Vgl. LG Köln, NStZ 1989, S. 442 (443).<br />

82 Vgl. Kloepfer, JZ 1979, S. 21<strong>3.</strong><br />

83 Schünemann, Verh. 58. DJT, S. B 31.<br />

plin des einzelnen Amtswalters 84 -, zum anderen aber zu organisatorischen<br />

Fehlern - etwa zeitweiliger Aktenverlust im Bereich der Strafverfolgungsorgane<br />

85 - führen. Des weiteren ist Verfahrensdauer dann als Verfahrensverzögerung<br />

einzustufen, wenn das Nichtstun zwar gegenüber der Verfahrensfortführung zum<br />

Erreichen der Verfahrensziele sogar geeigneter sein mag, das Zuwarten jedoch<br />

normativ unzulässig ist: Sofern in absehbarer Zeit nicht mit der Herbeischaffung<br />

eines erforderlich erscheinenden Beweismittels zu rechnen ist, muß das Verfahren<br />

auch ohne das Beweismittel fortgesetzt werden 86 - ein Gr<strong>und</strong>satz, der aus dem<br />

Beweisantragsrecht zur Ablehnung wegen (vorübergehender) Unerreichbarkeit<br />

bekannt ist 87. Schließlich ist in der Rechtsprechung zu § 121 <strong>und</strong> § 275 StPO<br />

anerkannt, daß Personalmangel oder Überlastungen <strong>von</strong> Gericht bzw. Justizverwaltung<br />

nicht als wichtiger Gr<strong>und</strong> 88 bzw. unabwendbarer Umstand 89 anzuerkennen<br />

sind <strong>und</strong> Fristüberschreitungen rechtfertigen können. Solche Umstände sind<br />

also ebenfalls als Verfahrensverzögerungen <strong>und</strong> nicht als verfahrensbedingte<br />

Umstände anzusehen 90 .<br />

Offen bleibt noch die Frage, wie Verfahrensdauer zu beurteilen ist, die nicht<br />

auf Verzögerung durch die Strafverfolgungsorgane beruht, sondern <strong>von</strong> anderen<br />

staatlichen Stellen verursacht worden ist. Praktisch relevant soll dies im sog.<br />

Schmücker-Verfahren durch verschleiernde Aktivitäten des Verfassungsschutzes<br />

geworden sein 91 , die das Gericht allenfalls "hingenommen" habe 92. Der 5. Strafsenat<br />

des BGH hat sich in seiner letzten Revisionsentscheidung dazu nicht geäußert,<br />

84 Vgl. Hillenkamp, NJW 1989, S. 2848 Fn. 83; Kirchhof, JZ 1989, S. 464.<br />

85 OLG Frankfurt, StV 1990, S. 412; vgl. auch BGHSt 35, S. 137 (138).<br />

86 BGH, NStZ 1982, S. 291 (292) (vgl. zu diesem Fall auch BVerfGE 53, S. 152<br />


116 <strong>3.</strong> Kap.: Aufgliederung des Begriffs der <strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer B. Zur Einordnung mit Hilfe des Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satzes 117<br />

obwohl er entsprechendes Verhalten staatlicher Behörden wohl für erwiesen<br />

gehalten hat 93 • Das LG Köln ist im sog. OPEC-Verfahren als selbstverständlich<br />

da<strong>von</strong> ausgegangen, daß <strong>von</strong> der B<strong>und</strong>esregierung verursachte Verfahrensverzögerungen<br />

(später Auslieferungsantrag) wie solche der Strafverfolgungsorgane zu<br />

behandeln seien 94. <strong>Die</strong>se Einstufung dürfte richtig sein: <strong>Die</strong> staatlichen Funktionen<br />

können dem Beschuldigten gegenüber nicht aufgeteilt werden 95. Das bedeutet<br />

nun aber andererseits, daß dann keine Verzögerungen vorliegen, wenn die staatlichen<br />

Stellen ihrerseits durch die Wahrnehmung ihrer Befugnisse die Verfahrensdauer<br />

verursacht haben: So hat der <strong>3.</strong> Strafsenat des BGH eine Verletzung des<br />

Beschleunigungsprinzips verneint, weil die Strafverfolgung <strong>von</strong> Gesetzes wegen<br />

- infolge der vom Parlament verweigerten Aufhebung der Immunität des Beschuldigten<br />

- nicht fortgesetzt werden konnte 96 .<br />

Es dürfte nun müßig sein, darüber diskutieren zu wollen, ob auch die Vornahme<br />

nicht geeigneter, vor allem aber nicht erforderlicher Maßnahmen den Gr<strong>und</strong>satz<br />

der Proportionalität verletzen können 97. Geht man da<strong>von</strong> aus, daß die Gr<strong>und</strong>sätze<br />

der Geeignetheit, Erforderlichkeit <strong>und</strong> Proportionalität in einem Stufenverhältnis<br />

stehen 98, könnte dies, logisch betrachtet, naheliegend sein. Soweit diese Frage<br />

erörtert wird, wird allerdings häufig da<strong>von</strong> ausgegangen, ein Mittel könnte proportional<br />

sein, obwohl es nicht erforderlich ist 99 , was bei isolierter Betrachtungsweise<br />

100 nicht denkfehlerhaft ist lOl • Ohne dies hier weiter vertiefen zu wollen, soll<br />

jedenfalls aus heuristischen Gründen im folgenden <strong>von</strong> dem isolierten Verständnis<br />

dieser Teilgr<strong>und</strong>sätze ausgegangen werden. Anders sieht es mit dem Verhältnis<br />

<strong>von</strong> Geeignetheit <strong>und</strong> Erforderlichkeit aus: Ein ungeeignetes Mittel kann niemals<br />

93 BGH, StV 1989, S. 187.<br />

94 LG Köln, NStZ 1989, S. 442 (443); zustimmend Paeffgen, NStZ 1990, S. 534.<br />

95 Vgl. J. Meyer, ZStW 95 (1983), S. 850; Grünwald, JZ 1966, S. 494.<br />

96 BGHSt 36, S. 363 (372).<br />

97 So auch L. Hirschberg, Der Gr<strong>und</strong>satz der Verhältnismäßigkeit, S. 150 f.<br />

98 M. Jakobs, Der Gr<strong>und</strong>satz der Verhältnismäßigkeit, S. 103 f.; Witt, Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satz,<br />

S. 40 f.; Paeffgen, VOfÜberiegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts,<br />

S. 165; weitere Nachweise bei Scheffler, Gr<strong>und</strong>legung eines kriminologisch<br />

orientierten Strafrechtssystems, S. 83 Fn. 2.<br />

99 M. Jakobs, Der Gr<strong>und</strong>satz der Verhältnis~äßigkeit, S.77; Wittig, DÖV 1968,<br />

S. 817; van Gelder, AuR 1972, S. 107; Lerche, Uberrnaß <strong>und</strong> Verfassungsrecht, S. 23<br />

Fn. 10; Betterrnann / Loh, BB 1969, S. 72; Langheineken, Der Gr<strong>und</strong>satz der Verhältnismäßigkeit,<br />

S. 8; Noske, <strong>Die</strong> Prozeßökonomie als Bestandteil des verfassungsrechtlichen<br />

Gr<strong>und</strong>satzes der Verhältnismäßigkeit, S. 71; unklar v. Krauss, Der Gr<strong>und</strong>satz der Verhältnismäßigkeit,<br />

S. 14 f., der m. E., obwohl er <strong>von</strong> Angemessenheit spricht, wohl Verhältnismäßigkeit<br />

im weiteren Sinne meint (andere Interpretation bei L. Hirschberg, Der Gr<strong>und</strong>satz<br />

der Verhältnismäßigkeit, S. 4); a. A. Glitz, Gesetzmäßigkeitsprinzip <strong>und</strong> Übermaßverbot,<br />

S. 82; Holzlöhner, <strong>Die</strong> Gr<strong>und</strong>sätze der Erforderlichkeit <strong>und</strong> Verhältnismäßigkeit,<br />

S.19.<br />

100 Vgl. L. Hirschberg, Der Gr<strong>und</strong>satz der Verhältnismäßigkeit, S. 47.<br />

101 So auch L. Hirschberg, Der Gr<strong>und</strong>satz der Verhältnismäßigkeit, S. 150 f., der diese<br />

Betrachtungsweise aber ablehnt.<br />

erforderlich sein 102. Demzufolge betreffen Überlegungen zur fehlenden Erforderlichkeit<br />

regelmäßig auch die Ungeeignetheit, die somit bei <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer<br />

nur gelegentlich eine selbständige Rolle spielt.<br />

IH. Proportionalität <strong>und</strong> <strong>Dauer</strong><br />

1. Verjährung als abschließende Regelung<br />

Nun kann ein Verfahren nicht nur deshalb überlang sein, weil es aufgr<strong>und</strong><br />

<strong>von</strong> Verfahrensverzögerungen nicht mehr (zeitlich) erforderlich ist, sondern auch,<br />

weil die Verfahrenslänge, unabhängig <strong>von</strong> ihrer Ursache, disproportional zur<br />

verfolgten Tat wird. Damit könnte sich die <strong>von</strong> Geppert 103 weitgehend vermißte<br />

Diskussion um die Abgrenzung <strong>von</strong> <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer <strong>und</strong> Verjährung<br />

führen lassen: <strong>Die</strong> immer wieder beschworene "Rechtsähnlichkeit zur Verfolgungsverjährung"<br />

104 des Problems <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer würde auf dem<br />

Gesichtspunkt der Disproportionalität beruhen. Bei bloßer Verfahrenslänge stellen<br />

dann die Vorschriften der Verfolgungsverjährung eine - jedenfalls gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

- abschließende rechtliche Regelung dar, wie neuerdings Schroth betont<br />

hat 105.<br />

Allerdings scheint dies im Widerspruch zu den Stimmen in der Literatur zu<br />

stehen, die den inhaltlichen Zusammenhang zwischen der Verjährungsregelung<br />

<strong>und</strong> dem Problem <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer bekämpfen 106. Doch analysiert<br />

man diese Äußerungen genauer, ergibt sich Übereinstimmung: Es wird gerade<br />

hervorgehoben, daß die Verjährungsvorschriften automatisch an den Zeitablauf<br />

anknüpfen <strong>und</strong> somit nicht den Gesichtspunkt der Verzögerungen miteinbeziehen<br />

würden. Verzögerungen spielen aber gerade unter dem Gesichtspunkt der Disproportionalität<br />

keine Rolle.<br />

Im Gegenteil: Wie sehr sich die Problemkreise der Disproportionalität <strong>und</strong><br />

der Verjährung decken, zeigt sich sogar an ihrem Verhältnis zum (verzögerlichen)<br />

Handeln der Strafverfolgungsorgane: Gemäß § 78c StGB wird die Verjährung<br />

durch die dort aufgezählten Verfahrenshandlungen unterbrochen. Auch ihre verzögerte<br />

Handhabung hat keinerlei Einfluß auf die Verjährungsunterbrechung <strong>und</strong><br />

102 L. Hirschberg, Der Gr<strong>und</strong>satz der Verhältnismäßigkeit, S. 59 f.; Wittig, DÖV 1968,<br />

S. 817; Witt, Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satz, S. 40 Fn. 1; Glitz, Gesetzmäßigkeitsprinzip,<br />

S. 82; unklar Langheineken, Der Gr<strong>und</strong>satz der Verhältnismäßigkeit, S. 7.<br />

103 Geppert, JK 1983, MRK Art. 6/1.<br />

104 LG Frankfurt, JZ 1971, S. 234 (235); Hanack, JZ 1971, S. 707; 712; v. Stackelberg,<br />

FS Bockelmann, S. 767; K. Peters, JR 1978, S. 247.<br />

105 Schroth, NJW 1990, S. 31; vgl. auch Hanack, JZ 1971, S. 712.<br />

106 Schwenk, ZStW 79 (1967), S.722; Hillenkamp, JR 1975, S. 135 f.; I. Roxin,<br />

Rechtsfolgen, S. 187 ff.; Bruns, Verh. 50. DJT, S. K 8<strong>3.</strong>


118 <strong>3.</strong> Kap.: Aufgliederung des Begriffs der <strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer B. Zur Einordnung mit Hilfe des Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satzes 119<br />

damit auf die Verlängerung des Verjährungszeitraums 107. Sogar Maßnahmen,<br />

die fehlerhaft oder ungeeignet 108, die nicht notwendig oder unzweckmäßig sind 109<br />

oder die gerade nur deshalb ergriffen werden, um die Unterbrechung der Verjährung<br />

herbeizuführen 110, sind nach herrschender Ansicht zulässig, solange sie<br />

nicht nichtig 111 oder bloße Scheinmaßnahmen 112 sind. Selbst unzulässige Vorlagen<br />

nach Art. 100 GG können zum Ruhen der Verjährung nach § 78b I StPO<br />

führen 11<strong>3.</strong><br />

2. Aufhebung des Haftbefehls als Hilfserwägung<br />

<strong>Die</strong> Ansicht, das (Verfolgungs-)Verjährungsrecht regele abschließend die Disproportionalität,<br />

korrespondiert mit der Wertung des Untersuchungshaftrechts,<br />

aus der folgt, daß in praxi bloße Disproportionalität der Verfahrensdauer bei<br />

Großverfahren nur selten eine Rolle spielen dürfte: Selbst Untersuchungshaftvollzug<br />

mit seinem schwerwiegenderen Eingriffscharakter gegenüber der bloßen<br />

Durchführung des <strong>Strafverfahren</strong>s wird so lange als proportional betrachtet, wie<br />

seine <strong>Dauer</strong> nicht die Straferwartung übertrifft 114, <strong>und</strong> zwar unter Berücksichtigung<br />

der wahrscheinlichen Strafaussetzung zur Bewährung 115. Konsequenz ist,<br />

daß Disproportionalität (wegen bloßer Verfahrensdauer) jedenfalls nicht früher<br />

oder gleichzeitig vorliegen kann 116.<br />

Demzufolge ist insbesondere in NS- <strong>und</strong> Terroristenprozessen, in denen regelmäßig<br />

lebenslange Freiheitsstrafe droht, Disproportionalität kaum denkbar. So<br />

107 Schroeder, Strafprozeßrecht2, S. 3 f.; dagegen Hillenkamp, JR 1975, S. 136 (ohne<br />

Begründung).<br />

108 Stree in SchSch2 3, § 78c Rn. 3; OLG Celle, NdsRpfl. 1984, S. 239 (240).<br />

109 BGHSt 7, S.202 (205); OLG Koblenz, DAR 1980, S.250 (251); BayObLGSt<br />

1976, S. 28 (30); Jähnke in LKlO, § 78c Rn. 11.<br />

110 BGHSt 7, S. 202 (205); 9, S. 198 (203); 12, S. 177 (180); Stree in SchSch 23 , § 78c<br />

Rn. 3; Dreher I Tröndle, StGB44, § 78c Rn. 7; Jähnke in LK'O, § 78c Rn. 11; a. A. Rudolphi<br />

in SK StGB, § 78c Rn. 7; Lackner, StGB'8, § 78c Anm. <strong>3.</strong><br />

111 Stree in SchSch2 3, § 78c Rn. <strong>3.</strong><br />

JI2 BGHSt 7, S. 202 (205); 9, S. 198 (203); 12, S. 335; OLG Celle, NdsRpfl. 1984,<br />

S. 239 (240); OLG Koblenz, DAR 1980, S. 250 (251); BayObLGSt 1976, S. 28 (30);<br />

Jähnke in LKIO, § 78c Rn. 11; Stree in SchSch 2 3, § 78c Rn. <strong>3.</strong><br />

113 VgI. BGHSt 24, S. 6 (10); Ulsamer in Maunz I Schmidt-Bleibtreu I Klein I Ulsamer,<br />

BVerfGG, § 80 Rn. 299; 306 ff.: "ordnungsgemäße Vorlage" genügt.<br />

114 OLG Bremen, NJW 1960, S. 1265; Dürig in Maunz I Dürig, Art. 1 Abs. II Rn. 71;<br />

Wendisch in LR24, § 120 Rn. 10; Boujong in KK StP02, § 120 Rn. 6; Kleinknechtl<br />

Janischowsky, Das Recht der Untersuchungshaft, Rn. 115; Echterhölter, JZ 1956, S. 145;<br />

v. Stackelberg, NJW 1960, S. 1266; vgI. auch BGHZ 45, S. 30 (40).<br />

115 Boujong in KK StP02, § 112 Rn. 48; Kleinknecht I Meyer, StP039, § 120 Rn. 4;<br />

LG Freiburg, StV 1988, S. 394; vgl. aber auch OLG Frankfurt, NStZ 1986, S. 568.<br />

116 Siehe aber I. Roxin, Rechtsfolgen, S. 255 ff.; zustimmend Schroth, NJW 1990,<br />

S. 31; vgI. auch Grauhan, GA 1976, S. 236 f.; Hillenkamp, NJW 1989, S. 2847 Fn. 71.<br />

Siehe dazu auch unten, 7. Kap. C II 1.<br />

ist es jedenfalls konsequent, daß der BGH im sog. Schmücker-Verfahren auch<br />

nach r<strong>und</strong> dreizehn Jahren Verhandlungsdauer es "angesichts der Schwere des<br />

Tatvorwurfs <strong>und</strong> der Schwierigkeit der Beweislage" <strong>und</strong> unter der - allerdings<br />

tatsächlich zweifelhaften 117 - Voraussetzung des Fehlens <strong>von</strong> "besonderen Umständen"<br />

(gemeint sind wohl gravierende Verfahrensverzögerungen durch die<br />

Strafverfolgungsbehörden) abgelehnt hat, das Verfahren einzustellen. Disproportionale,<br />

nicht auf Verzögerungen beruhende Verfahrensdauer wird im Bereich<br />

der Großverfahren am ehesten in Wirtschaftsstrafprozessen denkbar sein, also<br />

in Strafsachen <strong>von</strong> großer Schwierigkeit bei relativ geringer Straferwartung.<br />

<strong>3.</strong> Entkriminalisierung <strong>von</strong> Bagatellsachen als Konsequenz<br />

Das zur Proportionalität bezüglich des Verhältnisses <strong>von</strong> Verfahrensdauer <strong>und</strong><br />

Strafe Ausgeführte bedarf einer ergänzenden Überlegung für den Bereich der<br />

Bagatellkriminalität: Wegen § 50 I StGB (Mindeststrafe: fünf Tagessätze) könnte<br />

rein theoretisch schon eine Verfahrensdauer <strong>von</strong> nur einer Woche die verwirkte<br />

Strafe übertreffen. Bei diversen Delikten 118 erreicht schon einjährige, bei<br />

§§ 106a I, 107b I, 160 I 2. Alt., 184a StGB schon halbjährige Verfahrensdauer<br />

die Strafrahmenobergrenze 119. <strong>Die</strong>sen Gedanken zuende zu denken bedeutet, daß<br />

die Strafverfolgung <strong>von</strong> Bagatellkriminalität über eine relativ kurz bemessene<br />

zeitliche Spanne hinaus unter dem Gesichtspunkt <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer<br />

als problematisch anzusehen ist 120. In diesem Sinne hat sich, wie der 2. Strafsenat<br />

des BGH in seiner Revisionsentscheidung mitteilt, auch das LG Köln geäußert:<br />

Es widerspräche dem Gr<strong>und</strong>satz der Verhältnismäßigkeit, "das Verfahren in dem<br />

Bewußtsein fortzusetzen, daß kaum mehr als eine symbolische Strafe zu erwarten<br />

sei" 121.<br />

117 BGH, StV 1989, S. 187 (188). Zweifelhaft ist die Entscheidung allerdings unter<br />

zwei Gesichtspunkten, auf die jetzt auch das LG Berlin in seinem Einstellungsurteil<br />

hingewiesen hat: Zum einen insofern, als die Verfahrensdauer (auch) auf das Verhalten<br />

staatlicher Organe zurückzuführen sein könnte (siehe oben, II), zum anderen deshalb,<br />

weil der BGH in einigen Entscheidungen Verfahrensverzögerungen der Strafverfolgungsbehörden<br />

darin erblickt hat, daß Urteile auf die Revision des Beschuldigten hin aufgehoben<br />

werden mußten (BGHSt 35, S. 137 ; StV 1985, S. 322; NStZ 1987, S. 232 f.;<br />

BGHR StGB § 46 Abs.2 Nachtatverhalten 4


120 <strong>3.</strong> Kap.: Aufgliederung des Begriffs der <strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer B. Zur Einordnung mit Hilfe des Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satzes 121<br />

<strong>Die</strong>ses Problem ist durch die strafrechtlichen Änderungen im Bereich der<br />

Bagatellkriminalität der letzten Jahrzehnte jedenfalls prinzipiell gelöst worden,<br />

<strong>und</strong> zwar in zweifacher Hinsicht. Zum einen hat der Gesetzgeber hier zu Verfahrensvereinfachungen<br />

zwecks Beschleunigung gegriffen: Während bei Großverfahren<br />

Hintergr<strong>und</strong> <strong>von</strong> Verfahrensvereinfachungen ist, daß das Strafprozeßrecht<br />

in seiner Ausgestaltung diesen Prozessen nicht "gewachsen" sei 122, geht es hier<br />

darum, daß das Verfahrensrecht aufgr<strong>und</strong> des Bagatellcharakters teilweise als<br />

"überflüssig" angesehen wird 12<strong>3.</strong> Zum anderen,<strong>und</strong> nur dies kann die Legitimation<br />

für ersteres darstellen, findet eine Entkriminalisierung im Bereich der Bagatelldelikte<br />

statt: Es wird an die Sanktionierung des Täters kein Strafmakel geknüpft.<br />

Es geht, auch wenn dies formal betrachtet ist, nicht mehr um ein Verfahren, das<br />

mit einem tiefen Einschnitt in die soziale Integrität des Beschuldigten droht, der<br />

(Freiheits-)Strafe zu befürchten hat, sondern es geht ausschließlich um die Verhängung<br />

einer nicht mit einem Unwerturteil verknüpften finanziellen Verpflichtung.<br />

<strong>Die</strong> Situation des Beschuldigten ist der Situation angenähert, in der sich<br />

jemand befindet, der sich einer zivilrechtlichen Zahlungsklage oder eines belastenden<br />

Verwaltungsaktes erwehren muß 124.<br />

a) <strong>Die</strong> vereinfachten Kriminalstrafverfahren<br />

Gegenbeispiel zu den Entkriminalisierungen sind die schon in der ursprünglichen<br />

Fassung der StPO angelegten sog. vereinfachten <strong>Strafverfahren</strong>. Exemplarisch<br />

soll dazu im folgenden nicht das Augenmerk auf das Strafbefehlsverfahren<br />

mit dem Einwand gelegt werden, es könne die Rechtsstellung der Beschuldigten<br />

verkürzen, indem (Kriminal-)Strafen vorschnell <strong>und</strong> ohne hinreichendes rechtliches<br />

Gehör festgesetzt würden, die Betroffenen sich aber aus den verschiedensten<br />

Gründen nicht zur Wehr setzten 125. Statt dessen werden das beschleunigte Verfahren<br />

(§ 212 StPO) <strong>und</strong> die Nachtragsklage (§ 266 StPO) betrachtet, die die Vereinfachung<br />

<strong>und</strong> Beschleunigung durch die Überspringung gewisser regelmäßig vorgeschriebener<br />

Verfahrenshandlungen erreichen wollen 126, aber ebenfalls formelle<br />

Strafe nach sich ziehen. Beide sind für den Bereich der Kleinkriminalität bestimmt.<br />

Beim beschleunigten Verfahren ergibt sich dies schon aus der Beschränkung<br />

der Strafgewalt gemäß § 212b I Satz 2 StPO. Bei § 266 StPO war in der<br />

ursprünglichen Fassung die Nichtanwendbarkeit auf Verbrechen ausgesprochen;<br />

rein faktisch dürfte sich daran nichts geändert haben: Nur in kleineren Sachen<br />

ist anzunehmen, daß die Staatsanwaltschaft ohne weitere Ermittlungen sofort<br />

122 Vgl. Baumann, FS Klug, S. 46<strong>3.</strong><br />

123 Vgl. Rieß, JR 1975, S. 224 ff.; in: Strafprozeß <strong>und</strong> Reform, S. 114 f.<br />

124 Vgl. dazu Priebe, FS v. Simson, S. 302.<br />

125 Vgl. Gössel in LR'4, vor § 407 Rn. 12.<br />

126 Vgl. W. Gollwitzer in LR'4, § 266 Rn. 1; Gallrein, Das schleunige Verfahren im<br />

Strafprozess, S. 2 f.<br />

anklagen, das Gericht ohne vorbereitendes Verfahren verhandeln <strong>und</strong> der Beschuldigte<br />

sich ohne Aussetzung der Hauptverhandlung (vgl. § 266 III Satz 1<br />

StPO) verteidigen kann. Gegen beide Vorschriften sind Bedenken anzumelden:<br />

<strong>Die</strong> Durchbrechung des wohlerwogenen regelmäßigen Verfahrensganges mit<br />

schriftlicher Anklage, Eröffnungsverfahren <strong>und</strong> Hauptverhandlung nach angemessener<br />

Ladungsfrist ist, mit Meyer-Goßner gesprochen, eo ipso suspekt1 27 •<br />

Beim beschleunigten Verfahren hat der Beschuldigte keinerlei Möglichkeiten,<br />

sich gegen diese Verfahrensart zu wehren - ein einmaliger Vorgang in der<br />

StPO, der schon mit den frühen StPO-Entwürfen revidiert werden sollte 128. Wenngleich<br />

auch diese Verfahrensart einen "einfachen Sachverhalt" - sprich, wie<br />

das bezeichnende Wort "Aburteilung" in § 212 StPO zeigt, einfache Überführung<br />

des Täters 129 - voraussetzt, so ist doch im heutigen Strafrecht selbst bei offensichtlicher<br />

Täterschaft ein einfacher Sachverhalt niemals gegeben 130: Schon Karl<br />

Peters hat als eine Ursache für heute länger als früher andauernde Verfahren<br />

darauf hingewiesen, daß das (auch) spezialpräventiv ausgerichtete Strafrecht die<br />

Gewinnung eines umfassenden Persönlichkeitsbildes aufgr<strong>und</strong> der Tätereigenschaften,<br />

der Täterentwicklung <strong>und</strong> der Täterumwelt sowie eine Persönlichkeitsprognose<br />

erfordert 131. Welche Bedeutung gerade auch bei "einfachen Sachverhalten"<br />

der Ermittlung des Strafzumessungssachverhalts zukommt, zeigt sich gerade<br />

daran, daß in jüngerer Zeit ein Schwerpunkt des Anwendungsbereichs des beschleunigten<br />

<strong>Strafverfahren</strong>s die Verurteilung <strong>von</strong> Fußballrowdies <strong>und</strong> gewalttätigen<br />

Demonstranten 132 mit der häufigen Verhängung <strong>von</strong> Freiheitsstrafen ohne<br />

Strafaussetzung gewesen ist1 33 • Hier hebt verstärkt § 56 I StGB sowohl die<br />

Relevanz der Ermittlung der spezialpräventiven Gesichtspunkte als auch die<br />

große Bedeutung der Strafzumessungsverteidigung für den Beschuldigten hervor.<br />

<strong>Die</strong>se Bedenken schlagen hinsichtlich § 266 StPO weit weniger durch, weil<br />

hier die Zustimmung des Beschuldigten zur Einbeziehung der Nachtragsklage<br />

erforderlich ist. Doch bestimmt dann § 266 III Satz 1 StPO, daß die Verhandlung<br />

nicht einmal unterbrochen wird, wenn der Angeklagte einen Unterbrechungsantrag<br />

auf die Nachtragsklage hin "offenbar mutwillig oder nur zur Verzögerung<br />

127 Meyer-Goßner in LR23, vor § 198 Rn. 15.<br />

128 Vgl. dazu Gallrein, Das schleunige Verfahren im Strafprozess, S. 80 f.; 90 f.;<br />

K.-H. Lehmann, DRiZ 1970, S. 288.<br />

129 Vgl. Meyer-Goßner in LR'3, § 212 Rn. 16; K.-H. Lehmann, DRiZ 1970, S. 289<br />

Fn.31.<br />

130 Siehe Schünemann, NJW 1968, S. 975; vgl. auch Rieß in LR'4, § 212 Rn. 8; 22;<br />

24, sowie Nr. 146 I Satz 2 RiStBV.<br />

131 K. Peters in: StrafprozeB <strong>und</strong> Reform, S. 84; vgl. auch Küng-Hofer, Beschleunigung,<br />

S. 6 ff.<br />

132 Vgl. RieB in LR'4, § 212 Rn. 6; Baumann, FS Klug, S.462; Priestoph, Polizei<br />

1979, S. 296 ff.; K.-H. Lehmann, DRiZ 1970, S. 287 ff.; Schünemann, NJW 1968,<br />

S. 975 f.<br />

133 Vgl. Meyer-Goßner in LR23, vor § 198 Rn. 15.


122 <strong>3.</strong> Kap.: Aufgliederung des Begriffs der <strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer B. Zur Einordnung mit Hilfe des Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satzes 123<br />

des Verfahrens gestellt" hat. Nun ist die Vorstellung schlechterdings unerträglich,<br />

das Gericht könnte erst die Zustimmung des Beschuldigten erlangen <strong>und</strong> dann<br />

seinen Unterbrechungsantrag ablehnen: Entweder ist der Beschuldigte "kooperativ"<br />

- wie seine Zustimmung zeigt -, dann muß unterbrochen werden. Oder<br />

der Unterbrechungsantrag ist zu Recht abgelehnt worden - dann ist die Zustimmung<br />

des Beschuldigten zur Nachtragsklage ihm doch wohl, wie es beim sofortigen<br />

Rechtsmittelverzicht nach Urteilsverkündung so schön heißt, "herausgefragt"<br />

134 worden. <strong>Die</strong>ser Widerspruch ist dadurch in das Gesetz gelangt, daß mit<br />

dem VereinhG <strong>von</strong> 1950 die Fassung des § 266 III StPO gemäß der 2. VereinfVO<br />

<strong>von</strong> 1942 übernommen wurde, jedoch die damals abgeschaffte Zustimmung des<br />

Beschuldigten wieder zur Voraussetzung der Einbeziehung gemacht wurde.<br />

Jedenfalls zeigt sich in beiden Verfahrensarten: Vereinfachung des Verfahrensganges<br />

ohne gleichzeitige Entkriminalisierung sichert die Proportionalität bei<br />

Kleinkriminalität auf Kosten der Rechtsstellung des Beschuldigten.<br />

b) <strong>Die</strong> entkriminalisierten Verfahren<br />

<strong>Die</strong> heiden wichtigsten Bereiche der neueren Entkriminalisierungsgesetzgebung,<br />

nämlich das Ordnungswidrigkeitenrecht <strong>und</strong> die Einstellung nach § l53a<br />

StPO 135, sind Reaktionen auf die zwei materiell möglichen Formen <strong>von</strong> Bagatellen:<br />

Während die Umwandlung in Ordnungswidrigkeiten die gesetzgeberische<br />

Reaktion bei selbständigen leichten Delikten 136 bzw. eigentlichen Bagatelldelikten<br />

137, also Taten, die nach ihrer Tatbestandsbeschreibung schlechthin nur geringfügig<br />

sind, darstellte, ist die Erledigung nach § 153a StPO die Lösung für jedes<br />

Vergehen - "Verbrechenstatbestände sind bagatellfrei" 138 -, das lediglich im<br />

Einzelfall als geringfügig anzusehen ist (unselbständig leichtes Delikt oder uneigentliches<br />

Bagatelldelikt). Problematisch hieran ist, bei weniger formalistischer<br />

Betrachtungsweise, vor allem, inwieweit hier ein bloßer "Etikettenschwindel"<br />

vorliegt mit der Konsequenz, daß gegen materiell doch strafgleiche Sanktionen<br />

ein verringerter Rechtsschutz besteht.<br />

Unter dem Gesichtspunkt der Proportionalität ist es dann zumindest konsequent,<br />

daß im Ordnungswidrigkeitenrecht die Verfolgungsverjährung gegenüber<br />

dem StGB früher eintritt: Nach § 11 OWiG staffelt sich die Verjährungsfrist je<br />

nach Bußgeldandrohung <strong>von</strong> drei Jahren bis zu sechs Monaten; im Bereich des<br />

Verkehrsrechts ist diese Frist sogar auf drei Monate herabgesetzt (§ 26 In StVG).<br />

Gerade die Verkehrsordnungswidrigkeiten machen die Problematik besonders<br />

deutlich: Auf der einen Seite ist zwar ihr Unrechtsgehalt eindeutiger als etwa<br />

im Bereich des Wirtschaftsrechts unter dem der Straftaten einzuordnen 139. Auf<br />

der anderen Seite drohen jedoch Rechtsfolgen, die mit denen des Kriminalstrafrechts<br />

identisch sind (Fahrverbot, § 25 StVG; Entziehung der Fahrerlaubnis, § 4<br />

StVG), registerrechtlich sogar schwerer wiegen können 140. Das bedeutet, daß die<br />

Kette: aufgr<strong>und</strong> geringeren Unrechtsgehaltes wird zu Ordnungswidrigkeiten herabgestuft<br />

<strong>und</strong> deshalb kann der Rechtsschutz des Betroffenen verkürzt werden<br />

durch die angedrohten Rechtsfolgen durchbrochen wird. <strong>Die</strong> Unterschiede z~<br />

den vereinfachten Kriminalstrafverfahren verflüchtigen sich.<br />

1974 wurde durch das EGStGB § l53a StPO eingeführt, "damit kleinere <strong>Strafverfahren</strong><br />

rasch <strong>und</strong> zweckmäßig ohne Schuldspruch <strong>und</strong> Hauptverhandlung<br />

erledigt werden" können 141. <strong>Die</strong> Problematik hier stellt sich anders dar: Daß sich<br />

die Geldzahlung nach § l53a I Nr. 2 StPO formell betrachtet <strong>von</strong> der Geldstrafe<br />

unterscheidet, dürfte nicht zweifelhaft sein. Genauso eindeutig dürfte es aber<br />

sein, daß die materiellen Wirkungen strafähnlicher Art sind. Geht man da<strong>von</strong><br />

aus, erscheint ein Gesichtspunkt interessant, den vor einigen Jahren vor allem<br />

Dencker hervorgehoben hat: § l53a StPO würde die rasche Erledigung nur dadurch<br />

erreichen, daß er Gr<strong>und</strong>prinzipien des Verfahrensrechts über Bord wirft 142:<br />

Jedem Verteidiger ist die unangenehme Situation bekannt, daß ihm <strong>von</strong> seiten<br />

des Gerichts <strong>und</strong> der Staatsanwaltschaft das Verfahren nach § l53a StPO in der<br />

Hauptverhandlung regelrecht aufgedrängt wird. Häufig passiert dies in einer<br />

Situation, in der das Verfahren aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen relativ<br />

kompliziert ist, der Verteidiger aber - u. U. gerade deswegen - eine reale<br />

Freispruchschance sieht. Lehnt der Verteidiger nun die Zustimmung zum Verfahren<br />

nach § 153a StPO ab, so hat sich das Risiko einer Verurteilung deutlich<br />

erhöht, da das Gericht nunmehr zum Ausdruck gebracht hat, daß es den Beschuldigten<br />

für schuldig hält 14<strong>3.</strong> Ein Befangenheitsgesuch dürfte hier kaum helfen 144.<br />

Vielmehr hat der Beschuldigte nunmehr, wie Eisenberg formuliert, die Wahl<br />

134 Vgl. Dahs, FS Schmidt-Leichner, S. 17 ff.<br />

135 Wenngleich es unüblich ist, kann auch § 153a StPO als Instrument zur Entkriminalisierung<br />

bezeichnet werden, vgl. etwa RieB in LR24, § 153a Rn. 4; Montenbruck / Kuhlmey<br />

/ Enderlein, JuS 1987, S. 967; Neumann, ZStW 101 (1989), S. 55 Fn. 10; Lüderssen<br />

in: Polizei <strong>und</strong> Strafprozeß, S. 213; Wolter, GA 1989, S. 398.<br />

136 H. Mayer, Zuchtgewalt <strong>und</strong> Strafrechtspflege, S. 63 f.; GerS 96 (1928), S. 407 f.;<br />

Krümpelmann, <strong>Die</strong> Bagatelldelikte, S. 36 f.<br />

137 Dreher, FS Welzel, S. 918 ff.; Wolter, GA 1989, S. 398.<br />

138 Vgl. Krümpelmann, <strong>Die</strong> Bagatelldelikte, S. 127; Kunz, Das strafrechtliche Bagatellprinzip,<br />

S. 206; 311.<br />

139 Vgl. etwa Kunz, Das strafrechtliche Bagatellprinzip, S. 157.<br />

. 140 In das Verkehrszentralregister werden zwar gemäß § 28 Nr. 3 StVG, § 13 I Nr. 2<br />

iI~. a StVZO Verurteilungen zu Geldbußen ab 80,- DM eingetragen, nicht jedoch<br />

Eillstellungen gemäß § 153a StPO (vgl. § 28 Nr. I StVG, § 13 I Nr. 2 lit. d StVZO).<br />

141 Begr. RegE EGStGB, BT-DrS 7/550, S. 298.<br />

142 Dencker, JZ 1973, S. 149.<br />

143 Insofern ist die Situation - entgegen RieB in LR24, § 153a Rn. 14; Herrmann,<br />

ZStW 96 (19.84), S. 472 - anders als bei der Entscheidung, ob Einspruch gegen einen<br />

Strafbefehl eillgelegt werden sollte.<br />

144 Vgl. Dencker, JZ 1973, S. 150; vgl. auch Eisenberg, Kriminologie3, § 40 Rn. <strong>3.</strong>


124 <strong>3.</strong> Kap.: Aufgliederung des Begriffs der <strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer B. Zur Einordnung mit Hilfe des Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satzes 125<br />

"zwischen zwei Übeln" 145. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e ist auch die Regelung des § 153a<br />

StPO gelegentlich sogar als ein Verstoß gegen § 136a StPO bezeichnet worden 146.<br />

Interessanterweise hat in einer neueren Entscheidung - es ging um Einstellung<br />

des Verfahrens nach § 153a StPO wegen <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer - der<br />

BGH erstaunlich deutliche Worte zu diesem Problem geäußert: Er sprach da<strong>von</strong>,<br />

die Anwendung <strong>von</strong> § 153a StPO könnte die Beschuldigten "der Zwangslage<br />

aussetzen, entweder die Bedingungen der Staatsanwaltschaft hinsichtlich Art <strong>und</strong><br />

Umfang der Auflagen zu akzeptieren odereine unabsehbare weitere Verlängerung<br />

des Verfahrens mit ungewissem Ausgang hinzunehmen. Da die Angeklagten bei<br />

einer neuen Hauptverhandlung auch mit einem Freispruch rechnen können, darf<br />

ihnen die Aussicht auf einen günstigen Ausgang des Verfahrens nicht dadurch<br />

genommen werden, daß ihnen unter dem Druck weiterer insgesamt unangemessener<br />

Verfahrensdauer die Übernahme belastender Auflagen gleichsam abgenötigt<br />

wird" 147. Zu dem Gebrauch der Worte "Zwangslage" <strong>und</strong> "abnötigen" erübrigt<br />

sich jeder Kommentar 148.<br />

IV. Zumutbarkeit <strong>und</strong> Belastungen<br />

Das bisherige Schema - Einordnung <strong>von</strong> <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer unter<br />

die Gesichtspunkte des Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satzes (Geeignetheit, Erforderlichkeit,<br />

Proportionalität) - vermag allerdings noch nicht die Einfügung eines<br />

Aspekts zu leisten, den insbesondere das LG Frankfurt <strong>und</strong> das BVerfG (Vorprüfungsausschuß)<br />

hervorgehoben haben 149: Auch ein unverzögertes, noch nicht<br />

verjährtes, also noch proportionales Verfahren kann zu außerordentlichen Verfahrensbelastungen<br />

beim Beschuldigten führen. Hinsichtlich der rechtlichen Bedeutung<br />

dieses Aspektes hat zur <strong>überlange</strong>n Untersuchungshaftdauer das LG Köln<br />

vor Inkrafttreten des StPÄG hingewiesen 150: "Auch dann nämlich, wenn das<br />

angemessene Verhältnis zwischen der Länge der Untersuchungshaft <strong>und</strong> der zu<br />

erwartenden Strafe nicht überschritten ist <strong>und</strong> wenn die Schwierigkeiten der<br />

Ermittlungen so außerordentlich sind, daß trotz längstem Zeitablauf<strong>von</strong> vermeidbaren<br />

Verfahrensverzögerungen nicht die Rede sein kann, muß die Untersuchungshaft<br />

ihr Ende finden, wenn ihr weiterer Vollzug den Inhaftierten seelisch<br />

zerbrechen, seine Verteidigungsbereitschaft weitgehend untergraben <strong>und</strong> damit<br />

seine Menschenwürde empfindlich verletzen würde."<br />

145 Eisenberg, Kriminologie', § 27 Rn. 19.<br />

146 Dencker, JZ 1973, S. 149 f.; C. Roxin, <strong>Strafverfahren</strong>srecht 21 , § 14 B II 2 b;<br />

Baumann, FS Klug, S. 463; dagegen Dreher, FS Welzel, S. 936 ff.; Meyer-Goßner in<br />

LR23, § 153a Rn. 108; Herrmann, JuS 1976, S. 417.<br />

147 BGHSt 35, S. 137 (141 f.).<br />

148 Vgl. auch Dencker / Hamm, Der Vergleich im Strafprozeß, S. 131.<br />

149 LG Frankfurt, JZ 1971, S.234 (2350; BVerfG (Vorprüfungsausschuß), NJW<br />

1984, S. 967. Vgl. auch BGHSt 24, S. 239 (240).<br />

150 LG Köln, NJW 1964, S. 1816 (1817).<br />

Hinter dem Gedanken der (Verfahrens-)Belastungen verbirgt sich, wie auch<br />

Hillenkamp deutlich macht l51 , der Zumutbarkeitsgesichtspunkt. Insoweit wäre<br />

richtigerweise die Auffassung Kohlmanns hier einzuordnen, es müsse (auch) die<br />

Angemessenheit <strong>von</strong> Verfahrensdauer <strong>und</strong> den daraus für den Beschuldigten<br />

erwachsenden Nachteilen gewahrt sein 152.<br />

Allerdings ist der Terminus der Zumutbarkeit nicht eindeutig. Er wird zunächst<br />

einmal, ähnlich wie durch Kohlmann, in zahlreichen Entscheidungen des<br />

BVerfG153 mit dem Proportionalitätsgr<strong>und</strong>satz vermengt, was deutliche Kritik<br />

erfahren hat 154. Von anderen wird der Zumutbarkeit dagegen ein eigener, abgegrenzter.<br />

Be~eutungsgehalt zugesprochen: <strong>Die</strong>ser Gr<strong>und</strong>satz ergänze die Wertung<br />

nac.h objektiven Maßstäben mittels Geeignetheit, Erforderlichkeit <strong>und</strong> ProportionalItät<br />

durch die Berücksichtigung der subjektiven Lage des Betroffenen; er<br />

verbiete Maßnahmen, die nach der subjektiven Sicht des Betroffenen eine unbillige<br />

Härte darstellen 155. Der Gr<strong>und</strong>satz der Zumutbarkeit richte sich gerade an den<br />

Rechtsanwender im konkreten Fall bezüglich der Umsetzung einer generellabstrakten<br />

Regelung 156 ohne "starre Opfergrenze" 157.<br />

Uneinigkeit herrscht weiterhin hinsichtlich der theoretischen Beziehung zum<br />

Verhältnismäßigkeitsprinzip. Für einige ist der Gr<strong>und</strong>satz der Zumutbarkeit ein<br />

weiterer Teilgr<strong>und</strong>satz des Verhältnismäßigkeitsprinzips 158, andere verstehen ihn<br />

als selbständiges, der Verhältnismäßigkeitsprüfung nachgeschaltetes Kriterium<br />

159. Billigt man dem Zumutbarkeitsgr<strong>und</strong>satz einen selbständigen Sinngehalt<br />

zu, so ist es letztendlich relativ bedeutungslos, ob man ihn als selbständigen<br />

Gr<strong>und</strong>satz oder aber als weiteres Element des Verhältnismäßigkeitsprinzips be-<br />

151 Hillenkamp, NJW 1989, S. 2848.<br />

152 Kohlmann, FS Maurach, S. 510.<br />

153 Vgl. BVerfGE 7, S. 377 (406); 21, S. 150 (155 f.); S. 173 (183); 26, S. 215 (228);<br />

30, S. 292 (316); 33, S. 240 (244); 36, S. 47 (59); 37, S. 1 (18 f.); 40, S. 371 (382 f.);<br />

41, S. 2~1 (264); 49, S. 24 (58); vgl. auch Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot,<br />

S. 13; Zimmerh, ZSchwR 97 II (1978), S. 16 f.; Grabitz, DVBl. 1973, S. 683; Bettermann<br />

/ Loh, BB }969, S. 70; 72; Erichsen, DVBl. 1967, S. 270.<br />

154 Lücke, DOy 1974, S. 769 ff.; Ossenbühl, FG Gesellschaft für Rechtspolitik,<br />

S. 316 ff.; Langhemeken, Der Gr<strong>und</strong>satz der Verhältnismäßigkeit, S. 17 ff.; L. Hirschberg,<br />

Der Gr<strong>und</strong>satz der Verhältnismäßigkeit, S. 98 f.<br />

155 V~l. etwa Lücke, <strong>Die</strong> (Un-)Zumutbarkeit als allgemeine Grenze öffentlich-rechtlicher<br />

Pfhchten des Bürgers, S. 44 ff.; Witt, Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satz, S. 37; 42; M.<br />

Jakobs, Der Gr<strong>und</strong>satz der Verhältnismäßigkeit, S. 89 ff.; H. Henkel, FS Mezger, S. 267 f.<br />

156 H. Henkel, FS Mezger, S. 262; M. Jakobs, Der Gr<strong>und</strong>satz der Verhältnismäßigkeit<br />

S.94.<br />

'<br />

157 L. Hirs~hberg, Der. ~r<strong>und</strong>satz der Verhältnismäßigkeit, S.98; Ossenbühl, FG<br />

Gesellsc?aft fur Rechtspohtlk, S. 321; Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot, S. 9 ff.<br />

158 Wltt, Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satz, S. 42; Steinberg, BB 1968, S. 436; Sommer,<br />

I?VB~. 1?73, S. 482; Huber, ZSchwR 96 I (1977), S. 27 f.; wohl auch Isensee, Subsidiaritatspnnzlp<br />

<strong>und</strong> Verfassungsrecht, S. 91.<br />

159 Lücke, DÖV 1974, S. 769 ff.; M. Jakobs, Der Gr<strong>und</strong>satz der Verhältnismäßigkeit<br />

S. 93 ff.; Ossenbühl, FG Gesellschaft für Rechtspolitik, S. 320 ff. '


126 <strong>3.</strong> Kap.: Aufgliederung des Begriffs der <strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer B. Zur Einordnung mit Hilfe des Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satzes 127<br />

trachtet, wozu ich neige 160. Für das Verhältnis zur Proportionalität gilt in jedem<br />

Fall: Steigt die noch proportionale Verfahrensdauer entsprechend der Schwere<br />

des Tatvorwurfs (vgl. § 78 III StGB), so verhalten sich die Verfahrensbelastungen<br />

eher reziprok - je höher die Straferwartung, desto stärker könnten die Belastungen<br />

sein 161. Demzufolge kann auch ein Verfahren, das noch proportional ist,<br />

unzumutbar sein 162. Umgekehrt ist es denklogisch genausowenig ausgeschlossen,<br />

ein disproportionales Mittel immer zugleich als unzumutbar zu bezeichnen 163,<br />

wie auch möglich, beide Gr<strong>und</strong>sätze isoliert zu betrachten 164.<br />

V. "Vernünftigkeit" <strong>und</strong> Gesamtwürdigung<br />

Problematisch erscheint noch, wie der Begriff der Angemessenheit im Sinne<br />

<strong>von</strong> Art. 6 I EMRK zu verstehen ist, der terminologisch mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip<br />

oder dem Teilgr<strong>und</strong>satz der Proportionalität gleichgesetzt werden<br />

könnte. Rechtsbegriffe der Konvention sind jedoch nicht ohne weiteres identisch<br />

mit gleichlautenden des (sonstigen) innerstaatlichen Rechts 165. Der Terminus ist<br />

nicht aus der deutschen Dogmatik zum Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satz hervorgegangen<br />

166, die ihre heutige Ausgestaltung ohnehin erst ab 1955 entwickelte 167,<br />

also nach Inkrafttreten der EMRK. Der dortige Begriff der Angemessenheit<br />

beruht auf der Übersetzung des (maßgebenden) authentischen englischen <strong>und</strong><br />

französischen Textes (reasonable time; delai raisonnable). Insofern ist die Ansicht,<br />

Proportionalität <strong>und</strong> Angemessenheit i. S. v. Art. 6 I EMRK deckten sich 168,<br />

sehr zweifelhaft. Von einigen Autoren werden zwischen beiden Prinzipien geringe<br />

160 Vgl. Scheffler, Gr<strong>und</strong>legung eines kriminologisch orientierten Strafrechtssystems,<br />

S.108.<br />

161 1. Roxin, Rechtsfolgen, S. 168; Priebe, FS v. Simson, S. 302 f. Siehe dazu auch<br />

unten, 7. Kap. C Il 1 b.<br />

162 Vgl. M. Jakobs, Der Gr<strong>und</strong>satz der Verhältnismäßigkeit, S. 95; Lücke, <strong>Die</strong> (Un-)<br />

Zumutbarkeit als allgemeine Grenze öffenlich-rechtlicher Pflichten des Bürgers, S. 6<strong>3.</strong><br />

163 Steinberg, BB 1968, S. 436.<br />

164 Witt, Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satz, S. 36.<br />

165 EGMR, EuGRZ 1982, S. 297 (301) (Fall Adolf); E. Müller, FG L. Koch, S. 196;<br />

Frowein 1Ulsamer, Europäische Menschenrechtskonvention <strong>und</strong> nationaler Rechtsschutz,<br />

S. 44; Ulsamer, FS Zeidler, S. 1812 f.; FS Faller, S. 375.<br />

166 Der Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satz wurde entwickelt im preußischen Verwaltungsrecht<br />

(v. Krauss, Der Gr<strong>und</strong>satz der Verhältnismäßigkeit, S. 4; L. Hirschberg, Der<br />

Gr<strong>und</strong>satz der Verhältnismäßigkeit, S. 2 ff.; Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot,<br />

S. 5 f.; H. Schneider, FG BVerfG H, S. 394; Ress in: Der Gr<strong>und</strong>satz der Verhältnismäßigkeit<br />

in europäischen Rechtsordnungen, S. 12; Huber, ZSchwR 96 I , S. 1).<br />

167 Mit der Monographie <strong>von</strong> v. Krauss, Der Gr<strong>und</strong>satz der Verhältnismäßigkeit; vgl.<br />

L. Hirschberg, Der Gr<strong>und</strong>satz der Verhältnismäßigkeit, S. 8 f.; Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot,<br />

S. 6; Ress in: Der Gr<strong>und</strong>satz der Verhältnismäßigkeit in europäischen<br />

Rechtsordnungen, S. 12.<br />

168 Vogler in: <strong>Die</strong> Untersuchungshaft, S. 882; wohl auch Küng-Hofer, Beschleunigung,<br />

S. 81; v. Stackelberg, FS Bockelmann, S. 768 f.<br />

Unterschiede gesehen 169, während andere den Proportionalitätsgr<strong>und</strong>satz nur zur<br />

Auslegung <strong>von</strong> Art. 6 I EMRK mit heranziehen wollen 170. Es dürfte besser da<strong>von</strong><br />

auszugehen sein, daß die Übersetzung mit "Angemessenheit" unzureichend ist 171.<br />

Man könnte demzufolge, um terminologische Mißverständnisse zu vermeiden,<br />

auch hier (wie schon bei der Proportionalität) auf den Terminus "Angemessenheit"<br />

verzichten <strong>und</strong> mit Herzog <strong>von</strong> der "Vernünftigkeit"172 in Anlehnung an<br />

den englischen <strong>und</strong> französischen Text sprechen.<br />

Der EGMR interpretiert letztendlich die "Vernünftigkeit" durch seine drei<br />

Kriterien (Schwierigkeit des Falles, Verhalten <strong>von</strong> Behörden <strong>und</strong> vom Beschuldigten)<br />

vom Ansatz her eher dem Erforderlichkeitsprinzip vergleichbar 173 - der<br />

Begriff der Angemessenheit verwirrt also vollends, da die absolute Verfahrensdauer<br />

nur noch in Relation hierzu gesetzt wird: Auch die außerordentlich lange<br />

<strong>Dauer</strong> eines Verfahrens führt für den EGMR nicht schlechthin zu einer Verletzung<br />

<strong>von</strong> Art. 6 I EMRK, soll jedoch als "Beweis des ersten Anscheins" für seine<br />

Verletzung sprechen 174. <strong>Die</strong> Straßburger Rechtsprechung wendet also nicht die<br />

einzelnen Kriterien dem deutschen Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satz vergleichbar<br />

an, sondern führt eine Gesamtwürdigung durch.<br />

Macht man mit dem Verständnis der "Vernünftigkeit" in dieser Weise ernst,<br />

zeigt sich als weitere Konsequenz, daß sie auch abgekoppelt vom Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satz<br />

relevant werden kann: Mahler weist darauf hin, daß selbst ein<br />

relativ kurzer Zeitraum bei einem sehr alten Menschen unangemessen i. S. v.<br />

Art. 6 I EMRK sein könne, da er "praktisch lebenslänglich" bedeute 175. Selbst<br />

zu kurze Verfahrensdauer - die niemals gegen den Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satz<br />

verstoßen kann - könnte als "unvernünftig" mit Art. 6 I EMRK kollidieren<br />

- eine Schlußfolgerung, die jedenfalls Driendl ausdrücklich zieht 176.<br />

Problematisch wird die Rechtsprechung des EGMR dadurch, daß sie einen<br />

Konflikt zwischen nationalem Strafrecht <strong>und</strong> Art. 6 I EMRK für möglich hält 177:<br />

<strong>Die</strong> Ausgestaltung der staatlichen Rechtsordnung würde nicht <strong>von</strong> der Verantwortung<br />

für <strong>überlange</strong> Verfahrensdauer befreien 178. So wurde gegenüber der B<strong>und</strong>es-<br />

169 Pieck, Der Anspruch auf ein rechtsstaatliches Gerichtsverfahren, S. 82 f.; Herzog,<br />

AöR 86 (1961), S. 227 f.; Bartseh, NJW 1973, S. 1305.<br />

170 Geppert, JK 1983, MRK Art. 6/1.<br />

171 Pieck, Der Anspruch auf ein rechtsstaatliches Gerichtsverfahren, S. 82; Herzog,<br />

AöR 86 (1961), S. 227.<br />

172 Herzog, AöR 86 (1961), S. 227. Vgl. auch Pieck, Der Anspruch auf ein rechtsstaatliches<br />

Gerichtsverfahren, S. 82.<br />

173 Siehe oben.<br />

174 Miehsler/Vogler, IntKomm, Art. 6 Rn. 310; Uisamer, FS Faller, S. 376.<br />

175 Mahler, NJW 1969, S. 354.<br />

176 Driendl, Verfahrensökonomie <strong>und</strong> Strafprozeßreform, S. 294. Vgl. auch Giebeler,<br />

<strong>Die</strong> Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe, S. 309; 318; Kirchhof, FS Doehring,<br />

S.439.<br />

177 Kühne, EuGRZ 1983, S. 383 Fn. 1<strong>3.</strong>


128 <strong>3.</strong> Kap.: Aufgliederung des Begriffs der <strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer B. Zur Einordnung mit Hilfe des Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satzes 129<br />

republik Deutschland etwa vorgebracht, daß das Legalitätsprinzip nicht dazu<br />

führen dürfe, das <strong>Strafverfahren</strong> auf sämtliche Straftaten zu erstrecken 179, ferner,<br />

daß das deutsche Rechtsmittel- <strong>und</strong> Instanzensystem problematisch sei 180. Demzufolge<br />

kann also auch bei Einhaltung des nationalen Rechts ein Verstoß gegen<br />

Art. 6 I EMRK nach Auffassung des EGMR vorliegen. <strong>Die</strong>se Folgerung ist<br />

problematischer als die umgekehrte, daß für den EGMR auch dann nicht Art. 6 I<br />

EMRK verletzt sein muß, wenn nach innerstaatlichem Prozeßrecht zu beachtende<br />

Fristen nicht eingehalten werden 181. Durch diese - <strong>von</strong> Kühne 182 als "leichtfertig"<br />

bezeichnete - Rechtsprechung des EGMR entstehen Auslegungs- <strong>und</strong> Rangprobleme.<br />

Geht man mit der herrschenden Ansicht da<strong>von</strong> aus, daß die EMRK den<br />

Rang innerstaatlichen 183, aber nur einfachen 184 Rechts in der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland hat, so bedeutet das, daß die EMRK zwar echte, unmittelbar anwendbare<br />

Individualrechte begründen kann, die das deutsche Strafprozeßrecht nicht<br />

nur bestätigen, sondern auch ergänzen oder ändern können 185; es erscheint aber<br />

zweifelhaft, inwieweit das deutsche Verständnis über Erfordernisse der Rechtsstaatlichkeit<br />

i. S. v. Art. 20 GG in Frage gestellt werden kann 186.<br />

Jedenfalls prüft der EGMR die "Vernünftigkeit" (auch) anhand einer imaginären<br />

Rechtsordnung 187. Letztendlich werden hier also lediglich Billigkeitskriterien<br />

einer Gesamtwürdigung zugr<strong>und</strong>e gelegt. <strong>Die</strong>s hat für das nationale Recht unterschiedliche<br />

Konsequenzen: Geht das deutsche Recht weiter, gibt es keine Auslegungsschwierigkeiten,<br />

da die EMRK ohnehin nur "Mindestgr<strong>und</strong>sätze" (vgl.<br />

Art. 60 EMRK) beinhaltet. Ergibt sich aus der Rechtsprechung des EGMR dagegen,<br />

daß das nationale Recht nicht seiner Auslegung <strong>von</strong> Art. 6 I EMRK genügt,<br />

so sind die vollziehende Gewalt <strong>und</strong> die Rechtsprechung zwar gemäß Art. 20 III<br />

GG zur Einhaltung, Beachtung <strong>und</strong> Verwirklichung der EMRK als innerstaatlich<br />

in Kraft gesetzten Rechts <strong>von</strong> sich aus - also auch ohne Einwirkung der Konventionsorgane<br />

- verpflichtet 188. Allerdings galt nach lange Zeit herrschender Auffassung<br />

die lex-posterior-RegeI1 89 mit der Folge, daß der Richter bei späterem<br />

Recht die konventionswidrige Norm anwenden müßte 190.<br />

Nun hat sich jedoch ein Wandel vollzogen 191: Das BVerfG hat mit Entscheidung<br />

vom 26.<strong>3.</strong> 1987 ausgeführt, (Straf-)Gesetze seien "im Einklang mit den<br />

völkerrechtlichen Verpflichtungen der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland auszulegen<br />

<strong>und</strong> anzuwenden, selbst wenn sie zeitlich später erlassen worden sind als ein<br />

geltender völkerrechtlicher Vertrag; denn es ist nicht anzunehmen, daß der Gesetzgeber,<br />

sofern er dies nicht klar bek<strong>und</strong>et hat, <strong>von</strong> völkerrechtlichen Verpflichtungen<br />

der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland abweichen oder die Verletzung solcher<br />

Verpflichtungen ermöglichen will" 192. Das BVerfG kommt damit im Ergebnis<br />

der in der Literatur erörterten "lex-specialis-Regel" nahe 19<strong>3.</strong> Folge da<strong>von</strong> ist, daß<br />

Strafrechts- <strong>und</strong> <strong>Strafverfahren</strong>srechtsänderungs- <strong>und</strong> -reformgesetze die Garantien<br />

der EMRK nicht aufheben oder abschwächen können, es sei denn, der<br />

Gesetzgeber hat klar zu erkennen gegeben, er wolle trotz Verletzung völkerrechtlicher<br />

Verpflichtungen eine <strong>von</strong> der EMRK abweichende gesetzliche Regelung<br />

schaffen 194.<br />

178 Vgl. Miehsler / Vogler, IntKomm, Art. 6 Rn. 324; Ulsamer, FS Faller, S. 376 f.<br />

179 Miehsler / Vogler, IntKomm, Art. 6 Rn. 326.<br />

180 Peukert, EuGRZ 1979, S. 27<strong>3.</strong><br />

181 EGMR, EuGRZ 1985, S. 548 (551 f.) (Fall Pretto u. a.); Frowein / Peukert, EMRK,<br />

Art. 6 Rn. 107.<br />

182 Kühne, EuGRZ 1983, S. 383 Fn. 1<strong>3.</strong><br />

183 A. A. Jescheck, NJW 1954, S. 783 ff.; Hemichs, MDR 1955, S. 140 ff.<br />

184 A. A. Guradze, EMRK, Einl. § 5 Anm. IV; Baumann, FS Eb. Schmidt, S. 529 f.<br />

185 Heubel, Der "fair trial", S. 32.<br />

186 Kühne, EuGRZ 1983, S. 383 Fn. 1<strong>3.</strong><br />

187 Vgl. Bartsch, JuS 1970, S. 450.<br />

188 Frowein / Uisamer,<br />

Rechtsschutz, S. 44 f.<br />

Europäische Menschenrechtskonvention <strong>und</strong> nationaler<br />

189 Frowein / Ulsamer, Europäische Menschenrechtskonvention <strong>und</strong> nationaler<br />

Rechtsschutz, S. 39; kritisch dazu etwa Ress in: Europäischer Menschenrechtsschutz,<br />

S. 273 f.; Seibert, FS M. Hirsch, S. 525.<br />

190 Vgl. E. Schumann, FS Schwab, S. 459; Sommennann, AöR 114 (1989), S. 409.<br />

191 Vgl. K. Kühl, ZStW 100 (1988), S. 409; Sommennann, AöR 114 (1989), S. 414.<br />

192 BVerfGE 74, S. 358 (370).<br />

193 K. Kühl, ZStW 100 (1988), S. 410.<br />

194 K. Kühl, ZStW 100 (1988), S. 409 f.<br />

9 Scheffler


Zweiter Teil<br />

<strong>Die</strong> einzelnen Rechtsfolgen<br />

Freispruch, Einstellung, Beweiserleichterung,<br />

Strafmilderung, Entschädigung<br />

Damit sind für den weiteren Gang der Untersuchung einige Voraussetzungen<br />

geklärt:<br />

Es ist notwendig, die Erörterung der Rechtsfolgen <strong>überlange</strong>r <strong>Dauer</strong> <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong><br />

weiter fortzuführen, da die kumulative "Einstellungs-/Strafzumessungslösung"<br />

der nunmehr herrschenden Ansicht vor allem dogmatisch, aber<br />

auch praktisch nicht befriedigen kann (1. Kapitel).<br />

<strong>Die</strong> Entwicklung eines umfassenden Rechtsfolgensystems ist vor allem deshalb<br />

<strong>von</strong> gesteigerter Bedeutung, weil weder die lange Prozeßdauer durch gesetzgeberische<br />

Initiativen effektiv <strong>und</strong> rechtsstaatlich unbedenklich beseitigt werden kann<br />

noch der Beschuldigte genügende Möglichkeiten hat, Verzögerungen seines Verfahrens<br />

zu unterbinden (2. Kapitel).<br />

Im <strong>3.</strong> Kapitel ist eine schärfere Fassung des Begriffs der <strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer<br />

anhand der Kriterien des Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satzes versucht worden.<br />

Hierdurch ist zwar eine Unterscheidung in Verfahrensverzögerungen, Verfahrenslänge<br />

<strong>und</strong> Verfahrensbelastungen bewirkt worden, aber wenig dazu ausgesagt,<br />

wann denn ein <strong>Strafverfahren</strong> nun unverhältnismäßig, also überlang ist.<br />

Zwei Wege zur Konkretisierung sind verbaut: Zum einen lassen sich dem<br />

Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satz (einschließlich des Zumutbarkeitsprinzips) keine<br />

festen Bezugsgrößen entnehmen, zum anderen entzieht sich auch das Phänomen<br />

der Verfahrensdauer selbst einer solchen Ordnung: Aufgr<strong>und</strong> der Bedeutung der<br />

Umstände des Einzelfalls läßt sich weder eine Mindest- noch eine Normal-,<br />

geschweige denn eine Überlänge <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong> allgemein ermitteln, lassen<br />

sich keine noch vertretbaren Verzögerungen festlegen <strong>und</strong> ist erst recht nicht<br />

eine starre Grenze für zumutbare Verfahrensbelastungen zu bestimmen. Allerdings<br />

ist oben zum Verhältnis <strong>von</strong> Verjährung <strong>und</strong> Disproportionalität schon ein<br />

dritter Weg angedeutet worden I: Es kann vorsichtig versucht werden, dem Begriff<br />

der <strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer mit Hilfe des zur Verfügung stehenden Rechtsfolgensystems<br />

näher zu kommen. Ein Verfahren könnte dann als überlang zu<br />

9*<br />

1 Siehe oben, <strong>3.</strong> Kap. B III 1.


132 2. Teil: <strong>Die</strong> einzelnen Rechtsfolgen 2. Teil: <strong>Die</strong> einzelnen Rechtsfolgen 133<br />

behandeln sein, wenn die Rechtsordnung für die konkrete Konstellation über<br />

Rechtsfolgen verfügt. Insofern sollen im folgenden auch bisher weniger bedachte<br />

Rechtsfolgen in Betracht gezogen werden.<br />

Für die weitere Untersuchung liegt es demzufolge nahe, die einzelnen denkbaren<br />

Rechtsfolgen nacheinander zu diskutieren. Eine mögliche rechtliche Folge,<br />

die allerdings nicht als Rechtsfolge in dem hier zugr<strong>und</strong>egelegten Sinn - verfahrensimmanente,<br />

den Prozeß betreffende Konsequenzen - verstanden werden<br />

kann, ist schon angesprochen worden: <strong>Die</strong> Verursachung nicht erforderlicher<br />

Verfahrensdauer kann u. U. Anlaß zu dienstrechtlichen Maßnahmen geben 2 oder<br />

gar zur Strafbarkeit des Amtswalters gemäß §§ 258a, 336, 344 StGB führen <strong>3.</strong><br />

Als Rechtsfolgen in dem hier verstandenen Sinn kommen zunächst theoretisch,<br />

mit Kühne gesprochen 4 , "Geldersatz, Strafermäßigung, Strafbefreiung <strong>und</strong> Verfahrenseinstellung"<br />

in Betracht. Über die bloße Strafbefreiung hinaus könnte,<br />

was Hillenkamp 5 erörtert hat, selbst ein Freispruch in Erwägung gezogen werden.<br />

Schließlich sollte auch die Möglichkeit der Berücksichtigung im Beweisrecht<br />

ins Auge gefaßt werden, was das LG Köln 6 angedeutet hat. Für die Diskussion<br />

der Rechtsfolgen bietet sich eine bestimmte Reihenfolge aus zwei Gründen an<br />

- zum einen, weil sie der Ideengeschichte am ehesten gerecht wird, zum anderen<br />

aus Gründen der Systematik, da sie eine Stufenform orientiert an der Intensität<br />

der Rechtsfolge einhält:<br />

<strong>Die</strong> weitestgehende Rechtsfolge, der Freispruch, läßt sich konstruktiv herleiten,<br />

wenn man <strong>von</strong> dem schon in den sechziger Jahren diskutierten Schlagwort <strong>von</strong><br />

der "Verwirkung des staatlichen Strafanspruchs durch <strong>überlange</strong> Verfahrensdauer"<br />

ausgeht. Im 4. Kapitel soll dies, was bisher kaum einmal genauer geprüft<br />

worden ist, dargetan werden - mit dem vielleicht überraschenden Ergebnis, daß<br />

für einige, allerdings eng umgrenzte Konstellationen die Annahme der Verwirkung<br />

nicht abwegig ist, wenngleich auch Freispruch als Rechtsfolge äußerst<br />

zweifelhaft sein dürfte.<br />

Entgegen der inzwischen herrschenden Ansicht ist aber die Verfahrenseinstellung<br />

- über die anerkannten Prozeßhindemisse der Verjährung <strong>und</strong> Verhandlungsunfähigkeit<br />

hinaus-, wie sie vor allem Anfang der siebziger Jahre diskutiert<br />

wurde <strong>und</strong> neuerdings wieder eine Renaissance erlebt, auch in "Extremfällen"<br />

<strong>von</strong> Verzögerungen unzulässig (5. Kapitel).<br />

<strong>Die</strong>s liegt vor allem daran, daß eine Einstellung immer nur als ultima ratio<br />

in Frage kommt. Hier ist aber eine prozessuale Berücksichtigung <strong>von</strong> "Extremfäl-<br />

len" in Betracht zu ziehen, die bisher kaum erwähnt, geschweige denn näher<br />

herausgearbeitet worden ist: die Berücksichtigung <strong>von</strong> durch Verzögerungen<br />

hervorgerufenen Beweisverlusten im Rahmen der Beweiswürdigung. Dem wird<br />

im 6. Kapitel nachgegangen.<br />

Im 7. Kapitel wird die Strafzumessungslösung betrachtet, die vor allem in den<br />

siebziger <strong>und</strong> achtziger Jahren die Diskussion beherrschte: Entgegen der ganz<br />

herrschenden Ansicht ist die Berücksichtigung <strong>von</strong> Verfahrensverzögerungen auf<br />

der Gr<strong>und</strong>lage des geltenden Strafzumessungsrechts unzulässig <strong>und</strong> kriminalpolitisch<br />

auch nicht erforderlich. Zu berücksichtigen sind vielmehr sowohl der Zeitablauf<br />

zwischen Tat <strong>und</strong> Verurteilung unabhängig <strong>von</strong> der Verfahrensdauer oder<br />

Verfahrensverzögerung (Gesichtspunkt der Verjährungsnähe) - dies entspricht<br />

der allgemeinen Ansicht - als auch, wie vor allem in letzter Zeit häufiger <strong>von</strong><br />

Rechtsprechung <strong>und</strong> Literatur ohne dogmatische Vertiefung angedeutet wird, die<br />

durch die Verfahrensdauer unabhängig <strong>von</strong> ihrem Gr<strong>und</strong> beim Beschuldigten<br />

hervorgerufenen Verfahrensbelastungen (Gesichtspunkt des Schon-bestraft­<br />

Seins). Bei letzterem kann sogar Strafbefreiung durch den "Extremfall einer<br />

Strafzumessungsregel"7, das Absehen <strong>von</strong> Strafe gemäß § 60 StGB, zulässig sein.<br />

Schlußendlich ist im 8. Kapitel ergänzend anzusprechen, inwieweit dieses<br />

System vor allem hinsichtlich des Nichtverurteilten durch das Entschädigungsrecht<br />

vervollständigt werden kann, das für <strong>überlange</strong> Verfahrensdauer, trotz der<br />

Parallele zur (<strong>überlange</strong>n) Untersuchungshaft, bisher über kurze Bemerkungen<br />

hinaus nicht als Rechtsfolge näher in Betracht gezogen worden ist.<br />

2 Siehe oben, 2. Kap. B II 2 c.<br />

3 Siehe oben, 2. Kap. B II 2 d.<br />

4 Kühne, EuGRZ 1983, S. 383; vgl. auch 1. Roxin, Rechtsfolgen, S. 246; Hillenkamp,<br />

IR 1975, S. 133; 136.<br />

5 Hillenkamp, IR 1975, S. 137; vgl. auch Katzorke, Verwirkung, S. 197.<br />

6 LG Köln, NStZ 1989, S. 442 (443); vgl. auch 1. Roxin, Rechtsfolgen, S. 246.<br />

7 Maiwald, ZStW 83 (1971), S. 663; Hirsch in LKIO, § 60 Rn. 6; ähnlich H. v. Weber,<br />

MDR 1956, S. 706.


4. Kap.: Freispruch wegen Verwirkung des Strafanspruchs 135<br />

Viertes Kapitel<br />

Freispruch wegen Verwirkung des Strafanspruchs<br />

Es erstaunt, daß die Frage, welche Konsequenzen Verfahrensverzögerungen<br />

der Strafverfolgungsorgane auf das Verfahren haben, lange Zeit überhaupt nicht<br />

gestellt wurde. Selbst nach Inkrafttreten der EMRK änderte sich daran zunächst<br />

nichts, so daß sich für Hanack sogar der Eindruck aufdrängte, daß die doch<br />

naheliegende Frage, welchen Ausgleich der Beschuldigte erhalten sollte, bewußt<br />

ausgeklammert worden wäre 1. So äußerte sich etwa Hellmuth v. Weber, der sich<br />

schon 1953 mit Art. 6 I EMRK beschäftigte, zu der Frage, was denn im Falle<br />

eines Verstoßes zu geschehen habe, überhaupt nicht. Er sah in der Unterzeichnung<br />

der Konvention lediglich einen Anlaß mehr für den Gesetzgeber, im Hinblick<br />

auf eine Beschleunigung des <strong>Strafverfahren</strong>s die Strafprozeßreform voranzutreiben,<br />

<strong>und</strong> eine Mahnung an die Justizverwaltungen, nunmehr durch geeignete<br />

organisatorische Maßnahmen die Hemmungen einer raschen Erledigung zu beseitigen<br />

2 • Jescheck bemerkte ein Jahr später lediglich, daß nunmehr vor den neuen<br />

europäischen Organen übermäßig verzögerte <strong>Strafverfahren</strong> auch vor Erschöpfung<br />

des innerstaatlichen Rechtsmittelzuges "aufgerollt" werden könnten 3 • Echterhölter<br />

meinte 1956 nur, sofern nicht binnen angemessener Frist entschieden<br />

werde, sei eine Untätigkeitsbeschwerde an die Rechtsmittelinstanz, gestützt auf<br />

Art. 13 EMRK, möglich4. Dünnebier stellte 1959 lediglich, ohne Konsequenzen<br />

zu erörtern, fest, daß das Recht des Beschuldigten auf ein Urteil "innerhalb einer<br />

angemessenen Frist" im Strafprozeß nicht voll gewahrt sei 5.<br />

Es war 1961 als erster Baumann, der sich damit beschäftigte, welche Rechtsfolgen<br />

<strong>überlange</strong> Verfahrensdauer nach sich ziehen könnte 6 • Baumann zufolge sei<br />

zu prüfen, ob nicht auch im Strafrecht neben <strong>und</strong> innerhalb der Strafverfolgungsverjährungsfristen<br />

eine "Verwirkung des staatlichen Strafanspruchs" denkbar sei.<br />

Es sei jedenfalls prinzipiell nicht einzusehen, inwieweit der Rechtsgedanke der<br />

Verwirkung, der im Zivilrecht eine bedeutende Rolle spiele, nicht auch auf den<br />

staatlichen Strafanspruch übertragen werden könnte. Baumann verstand seine<br />

I Hanack, JZ 1971, S. 708.<br />

2 H. v. Weber, ZStW 65 (1953), S. 339.<br />

3 Jescheck, NJW 1954, S. 786.<br />

4 Echterhölter, JZ 1956, S. 146.<br />

5 Dünnebier, GA 1959, S. 27<strong>3.</strong><br />

6 Baumann, FS Eb. Schmidt, S. 540 f. Siehe dazu Hillenkamp, JR 1975, S. 134. Vg!.<br />

auch Katzorke, Verwirkung, S. 9.<br />

Ausführungen nur als Andeutungen, die er jedoch nicht wieder aufgegriffen hat.<br />

1964 erwähnte er im Zusammenhang mit Zeitablaufnur noch, daß es im Zivilrecht<br />

die Verwirkung "außer <strong>und</strong> vor der Verjährung" gibt?<br />

Trotzdem war ein Schlagwort geprägt, das eine nicht unerhebliche Rolle in<br />

der späteren Diskussion spielen sollte. Zunächst griff Schwenk es auf <strong>und</strong> stimmte<br />

Baumann mit der Begründung zu, es könne nicht rechtens sein, daß der Staat<br />

seinen Strafanspruch unter Verletzung einer dem Schutz des Beschuldigten dienenden<br />

Rechtsgarantie durchsetzt 8. In der Folgezeit knüpfte insbesondere Hillenkamp<br />

an den Verwirkungsgedanken an 9 • Aber auch er beließ es bei kurzen<br />

Bemerkungen, ohne dogmatische Vertiefung zu leisten: In der "illoyalen Verspätung"<br />

durch die Verfahrensverzögerung liege der nicht wiedergutzumachende<br />

Verstoß gegen Treu <strong>und</strong> Glauben, der den Strafanspruch inhaltlich begrenze, an<br />

sich jedoch unberührt lasse. 1977 bemerkte dann der 5. Strafsenat des BGH<br />

kurzweg, entgegen der Meinung der Revision sei "die Strafverfolgung" nicht<br />

vor Ablauf der Verjährungsfristen "verwirkt" 10.<br />

Über diese knappen Äußerungen hinaus ist dann auch bis 1989 nicht weiter<br />

versucht worden, die Übertragung des Rechtsinstituts der Verwirkung auf das<br />

Problem <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer ernsthaft vorzunehmen. Da lediglich noch<br />

Vogler den Verwirkungsgedanken 1977 mit ablehnender Tendenz in Betracht<br />

zog ll, erscheint schon die Wertung <strong>von</strong> Volk ein Jahr später, beim Problem<br />

<strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer würde der Gr<strong>und</strong>satz der Verwirkung "mehr <strong>und</strong><br />

mehr als tragend bezeichnet" 12, zweifelhaft. Obwohl sich Ulsenheimer 1985 noch<br />

für den Verwirkungsgedanken aussprach, indem er ihn als eines <strong>von</strong> mehreren<br />

Prinzipien bezeichnete, das als "Ausfluß des auch das Strafprozeßrecht durchziehenden<br />

Gr<strong>und</strong>prinzips <strong>von</strong> Treu <strong>und</strong> Glauben" eine "einschneidende Sanktion"<br />

<strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer erfordere 13, erscheint die Würdigung Heribert Schumanns<br />

kurze Zeit darauf zutreffender, daß in der Diskussion um die Folgen<br />

<strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer <strong>von</strong> der Verwirkung des Strafanspruchs "die Rede<br />

gewesen" sei 14. Seitdem haben lediglich noch Karl Schäfer den Gedanken einer<br />

Verwirkung des Strafanspruchs für schwere Versäumnisse der Strafjustizbehörden<br />

"in Erwägung" gezogen 15 <strong>und</strong> Seelmann die Rechtsfigur für die Beurteilung<br />

staatlicher Verzögerungen als einen "Abwägungsgesichtspunkt" angesehen 16;<br />

7 Baumann in: <strong>Die</strong> nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, S. 318 Fn. 157.<br />

8 Schwenk, ZStW 79 (1967), S. 736.<br />

9 Hillenkamp, JR 1975, S. 137 ff.; vg!. auch NJW 1989, S. 2846.<br />

10 BGH, Urt. v. 5.7.1977 - 5 StR 771/76 (Anhang 9).<br />

11 Vogler, ZStW 89 (1977), S. 782 f.<br />

12 Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 228.<br />

13 Ulsenheimer, HWiStR, S. 3 (vorher schon in wistra 1983, S. 14).<br />

14 H. Schumann, JZ 1986, S. 69.<br />

15 K. Schäfer in LR24, Ein!. Kap. 12 Rn. 92.<br />

16 Seelmann, GebColloquium Kielwein, S. 26.


136 4. Kap.: Freispruch wegen Verwirkung des Strafanspruchs 4. Kap.: Freispruch wegen Verwirkung des Strafanspruchs 137<br />

auch Hillenkamp hat 1989 noch seine schon 1975 geäußerte Auffassung verteidigt<br />

17. Im gleichen Jahr hat schließlich Katzorke in einer umfassenden Untersuchung<br />

den Verwirkungsgedanken für den Bereich <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer<br />

abgelehnt 18.<br />

"Karriere" machte das Schlagwort <strong>von</strong> der Verwirkung des staatlichen Strafanspruchs<br />

jedoch dadurch, daß es <strong>von</strong> dem Problem der Rechtsfolgen <strong>überlange</strong>r<br />

Verfahrensdauer weg zu anderen Fallgruppen durch staatliche Fehler belasteter<br />

Fälle transformiert wurde 19: So hat zunächst Arzt 1974 in der Karl-Peters-Festschrift<br />

bei groben Verstößen gegen § 136a StPO gefordert, die Verwirkung des<br />

staatlichen Strafanspruchs anzunehmen, weil es eines Rechtsstaats unwürdig sei,<br />

wenn er das Verfahren weiter betreibt mit dem Ziel, eine Verurteilung doch noch<br />

<strong>und</strong> abgesehen vom Rechtsverstoß zu erreichen 20. <strong>Die</strong>ser Gedanke ist, soweit<br />

ersichtlich, nicht näher aufgegriffen worden 21.<br />

In dem gleichen Sammelwerk wurde <strong>von</strong> Lüderssen erstmals 22 die Frage<br />

aufgeworfen, ob der Umstand, daß ein Täter zu seiner Tat <strong>von</strong> einem V-Mann<br />

der Polizei angestiftet worden ist, der Verfolgung dieser Tat entgegenstehen<br />

kann2<strong>3.</strong> <strong>Die</strong> Rechtsprechung entwickelte dann ab 1980 die Auffassung, es könne<br />

bei unzulässigem Lockspitzeleinsatz zur Verwirkung des staatlichen Strafanspruchs<br />

kommen 24 . Der <strong>3.</strong> 25 <strong>und</strong> 4. 26 Senat des BGH sprachen dies ausdrücklich<br />

aus, die anderen Senate wohl der Sache nach 27: Es könne hier ein dem Staat<br />

zuzurechnender Rechtsverstoß vorliegen, der in das <strong>Strafverfahren</strong> hineinwirke,<br />

weil das dem Gr<strong>und</strong>gesetz <strong>und</strong> der Strafprozeßordnung immanente Rechtsstaatsprinzip<br />

es den Strafverfolgungsbehörden untersage, auf die Verfolgung <strong>von</strong> Straf-<br />

taten hinzuwirken, wenn die Gründe dafür vor diesem Prinzip nicht bestehen<br />

können. In praxi freilich nahm der BGH - im Gegensatz zu einigen Instanzengerichten<br />

28 - in keinem <strong>von</strong> ihm abschließend entschiedenen Fall Strafanspruchsverwirkung<br />

an 29 . Mit der Entscheidung des 1. Senats im 32. Band der amtlichen<br />

Sammlung 30 schloß diese Entwicklung in der Rechtsprechung ab: Mit einer<br />

"völligen Wende"31 wurde "in einem wohl einmaligen Verwirrspiel"32 der "bis<br />

dahin nur vereinzelt angefochtene Gr<strong>und</strong>konsens aufgekündigt"3<strong>3.</strong> Der 1. Senat<br />

lehnte hier die Möglichkeit der Verwirkung des staatlichen Strafanspruchs gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

ab. Ihm schlossen sich - entgegen der Prognose <strong>von</strong> Bruns 34 - die<br />

anderen Senate des BGH an 35.<br />

In späteren Entscheidungen ist <strong>von</strong> der Rechtsprechung der Gedanke der<br />

Verwirkung des staatlichen Strafanspruchs auch im Zusammenhang mit anderen<br />

Sachverhalten nur gelegentlich noch einmal, <strong>und</strong> auch dann nur kurz, erwähnt<br />

worden: 1984 versagte das LG Köln in einem Parteispendenprozeß dem Verwirkungsgr<strong>und</strong><br />

der "staatlichen Duldung <strong>von</strong> Zuwiderhandlungen"36, 1985 ein Vorprüfungsausschuß<br />

des BVerfG dem der "völkerrechtswidrigen Ergreifung" 37 das<br />

Anerkenntnis. Der 5. Senat des BGH lehnte im gleichen Jahr die Konstruktion<br />

bezüglich eines Verfahrens ab, in dem es um den Versuch <strong>von</strong> Polizeibeamten<br />

ging, eine Verurteilung "um jeden Preis" herbeizuführen 38. Auch das OLG Düsseldorf<br />

beschränkte sich ein Jahr später in einem Fall, in dem offenbar <strong>überlange</strong><br />

Verfahrensdauer unter diesem Gesichtspunkt gerügt war, auf die Argumentation,<br />

die schon der 1. <strong>und</strong> der 5. Senat des BGH in den eben erwähnten Entscheidungen<br />

39 gebraucht hatten: Es handele sich um eine unzulässige Übertragung zivil-<br />

17 Hillenkamp, NJW 1989, S. 2846.<br />

18 Katzorke, Verwirkung, insbes. S. 196 ff.<br />

19 Seelmann, ZStW 95 (1983), S. 821; H. Schumann, JZ 1986, S. 69; Drywa, <strong>Die</strong><br />

materiellrechtlichen Probleme des V-Mann-Einsatzes, S. 29.<br />

20 Arzt, FS K. Peters, S. 232.<br />

21 VgI. Drywa, <strong>Die</strong> materiellrechtlichen Probleme des V-Mann-Einsatzes, S. 68; Katzorke,<br />

Verwirkung, S. 156; vgI. aber auch S. 190 sowie Reinecke, <strong>Die</strong> Fernwirkung <strong>von</strong><br />

Beweisverwertungsverboten, S. 193 ff; Wolter, SK StPO, vor § 151 Rn. 209 f.; Gössel,<br />

NStZ 1984, S. 420 f.<br />

22 C. Roxin, <strong>Strafverfahren</strong>srecht21, § 21 BIll 4; Bruns, NStZ 1983, S. 50; StV 1984,<br />

S.389; Schünemann, StV 1985, S. 428; Arloth, NJW 1985, S. 417; H. Schumann, JZ<br />

1986, S. 66; Hillenkamp, NJW 1989, S. 2843 Fn. 20.<br />

23 Lüderssen, FS K. Peters, S. 349 ff.<br />

24 C. Roxin, <strong>Strafverfahren</strong>srecht21, § 21 B III 4; Bruns, StV 1984, S. 389 f.; H.<br />

Schumann, JZ 1986, S. 68.<br />

25 BGH, StV 1981, S. 276.<br />

26 BGH, NStZ 1981, S. 70 (71); StV 1984, S. 406 (407).<br />

27 VgI. zum 1. Senat (BGH, NJW 1980, S. 1761; StV 1981, S. 163 f.) BGHSt 32,<br />

S. 345 (348 f.); Seelmann, ZStW 95 (1983), S. 820 f.; zum 2. Senat (BGH, NJW 1981,<br />

S. 1626; 1982, S.56) BGHSt 32, S.345 (349); H. Schumann, JZ 1986, S.68; zum<br />

5. Senat (BGH, StV 1984, S. 58 f.) BGHSt 32, S. 345 (350,352 f.); Rieß in LR24, § 206a<br />

Rn. 57a.<br />

28 AG Heidenheim, NJW 1981, S. 1628 (1629) (kritisch hierzu Bruns, NStZ 1983,<br />

S. 50); LG Stuttgart, StV 1984, S. 197 (199); wohl auch LG Berlin, StV 1984, S. 457<br />

(460) ("Verlust des staatlichen Strafanspruchs").<br />

29 VgI. Foth, NJW 1984, S. 221; Hillenkamp, NJW 1989, S. 2843 Fn. 26; Katzorke,<br />

Verwirkung, S. 2 f.<br />

30 BGHSt 32, S. 345 (348).<br />

31 C. Roxin, <strong>Strafverfahren</strong>srecht21 , § 21 B III 4; ähnlich Katzorke, Verwirkung,<br />

S.3; 11.<br />

32 Hillenkamp, NJW 1989, S. 284<strong>3.</strong><br />

33 Schünemann, StV 1985, S. 424.<br />

34 Bruns, StV 1984, S. 389 Fn.5; vgI. auch Schünemann, StV 1985, S. 426; Rieß,<br />

JR 1985, S. 46.<br />

35 V.gI. BGHSt 33, S. 356 (362). Soweit ersichtlich, hat sich der 4. Senat allerdings<br />

noch mcht dazu geäußert, vgI. Creutz, ZRP 1988, S. 417; Krey, <strong>Strafverfahren</strong>srecht II,<br />

Rn. 589 Fn. 89. VgI. auch Katzorke, Verwirkung, S. 3 ff.<br />

36 LG Köln, NJW 1985, S. 1037 (1040). VgI. aber Rüping, <strong>Die</strong> Mitverantwortung<br />

des Staates als Strafverfolgungsverbot, S. 20 ff.; Felix, DB 1983, S. 2728 f.; Schreiber,<br />

GS Arm. Kaufmann, S. 831 f.<br />

37 BVerfG (Vorprüfungsausschuß), NStZ 1986, S. 178 (179).<br />

38 BGHSt 33, S. 283 (283 f.). Differenzierend hierzu jetzt auch das LG Berlin im<br />

"Schmücker-Urteil".<br />

39 BGHSt 32, S. 345; 33, S. 28<strong>3.</strong>


138 4. Kap.: Freispruch wegen Verwirkung des Strafanspruchs A. Zur Verwirkbarkeit des Strafanspruchs 139<br />

rechtlicher Kategorien auf das Strafrecht, da der Strafanspruch eine Funktion<br />

des Staates, die Verpflichtung zur Strafverfolgung, <strong>und</strong> keine verwirkbare Rechtsposition<br />

sei, <strong>von</strong> der er durch das Fehlverhalten einzelner in seinem Namen<br />

Handelnder freigestellt werden könnte 40 •<br />

A. Zur Verwirkbarkeit des Strafanspruchs<br />

Mit der Übernahme der Begründung des BGH, der in der Literatur häufig<br />

zugestimmt wird 41 , macht es sich das OLG Düsseldorf zu einfach. <strong>Die</strong>se nicht<br />

näher begründete Behauptung könnte, wie Bruns zutreffend meint42, schon durch<br />

die apodiktische Gegenthese hinreichend in Zweifel gezogen werden. Zudem<br />

kommt es auch im Verwaltungsrecht vor, daß der Allgemeinheit zustehende<br />

Rechtspositionen verwirkt werden4<strong>3.</strong> Allerdings ist hierbei nicht endgültig geklärt,<br />

wann ein entgegenstehendes "öffentliches Interesse" eine Verwirkung ausschließt44.<br />

Problematisch ist auch, inwieweit der Verwirkbarkeit des staatlichen<br />

"Strafanspruchs" entgegengehalten werden kann, daß dieser unverzichtbar sei 45.<br />

Zum einen können nach ganz herrschender Ansicht auch unverzichtbare Ansprüche<br />

verwirkt werden46. Zum anderen ist zu bedenken, ob sich nicht vor allem<br />

aus den §§ 153ff, 376 StPO ergibt, daß der staatliche "Strafanspruch" gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

verzichtbar ist 47 ; daß diese Normen kein freies Ermessen begründen, dürfte<br />

entgegen Heribert Schumann kein durchschlagender Einwand sein 48 . <strong>Die</strong> gr<strong>und</strong>sätzliche<br />

Verwirkbarkeit wird wohl auch vom Vorprüfungsausschuß des BVerfG<br />

angenommen, der die Verwirkung in dem Fall völkerrechtswidriger Ergreifung<br />

nur mit der Begründung ablehnte, es könne dem Gr<strong>und</strong>gesetz nicht entnommen<br />

werden, "daß auch bei einer solchen Lage der Dinge der Strafanspruch des Staates<br />

als verwirkt anzusehen wäre"49.<br />

Sinnvoller Ansatzpunkt wäre wohl, beim "zivilrechtlichen Erbe"50 des Verwirkungsgedankens<br />

anzusetzen. Allerdings herrscht hier terminologisches Durchein-<br />

40 OLG Düsseldorf, NJW 1986, S. 2204 (2205).<br />

41 Siehe Sax in KMR, Ein!. IX Rn. 8; 1. Roxin, Rechtsfolgen, S. 208 ff.; Kramer,<br />

Menschenrechtskonvention, S. 188 f.; Seelmann, ZStW 95 (1983), S. 825; K. Meyer,<br />

NStZ 1985, S. 134.<br />

42 Bruns, StV 1984, S. 391; zustimmend Katzorke, Verwirkung, S. 152.<br />

43 Puppe, NStZ 1986, S. 405.<br />

44 Vg!. dazu J. Schmidt in StaudingerlZ, § 242 Rn. 499.<br />

45 So 1. Roxin, Rechtsfolgen, S. 208 ff.; Drywa, <strong>Die</strong> materiellrechtlichen Probleme<br />

des V-Mann-Einsatzes, S. 64.<br />

46 Roth in MünchKomm 2 , § 242 Rn. 294; Teichmann in Soergelll , § 242 Rn. 312;<br />

siehe auch BGHZ 6, S. 342 (346 f.); 84, S. 280 (282); LM Nr. 2 zu § 1598 BGB; a.A.<br />

Wieling, AcP 176 (1976), S. 338 ff.<br />

47 So wohl auch Katzorke, Verwirkung, S. 104.<br />

48 H. Schumann, JZ 1986, S. 70.<br />

49 BVerfG (Vorprüfungsausschuß), NStZ 1986, S. 178 (179).<br />

50 Seelmann, ZStW 95 (1983), S. 822.<br />

ander. Faßt man den Begriff weit, so kann Verwirkung wegen verschiedener aus<br />

der "exceptio doli" entwickelter Fallgruppen in Frage kommen: wegen rechtswidrig<br />

begründeter Rechtsstellung ("turpitudinem suam allegans non auditur"); wegen<br />

der Verletzung eigener Pflichten ("tu quoque"); wegen widersprüchlichen<br />

Verhaltens ("venire contra factum proprium"). <strong>Die</strong> systematische Ordnung dieser<br />

Varianten, ihre Abgrenzung zueinander <strong>und</strong> ihre Voraussetzungen im einzelnen<br />

sind nicht endgültig geklärt. Einigkeit herrscht in der zivilrechtlichen Dogmatik<br />

allerdings insoweit, daß die Zuordnung zu den einzelnen Gruppen, wie Teichmann<br />

es formuliert 51 , als "Argumentationserleichterung" zu verstehen ist, "um die zu<br />

treffende Wertung deutlicher zu machen". Es läßt sich aber wohl zur Differenzierung<br />

dieser drei hier interessierenden Varianten mit aller Vorsicht folgendes als<br />

gesichert festhalten: <strong>Die</strong> aus der "exceptio doli praeteriti" entwickelte Fallgruppe<br />

"turpitudinem suarn allegans non auditur" ist zwar nicht auf die Arglist beschränkt52,<br />

setzt aber bei nur objektiv rechtswidrigem Verhalten voraus, daß bei<br />

einer Interessenabwägung die des Anspruchsgegners deutlich überwiegen5<strong>3.</strong> Der<br />

"tu-quoque"-Einwand, ebenfalls aus der "exceptio doli praeteriti" hervorgegangen,<br />

setzt einen besonderen, rechtlich relevanten Zusammenhang zwischen der<br />

beanspruchten <strong>und</strong> der selbst geübten Verhaltensweise voraus 54. <strong>Die</strong> herrschende<br />

Meinung im Zivilrecht erkennt einen allgemeinen Gr<strong>und</strong>satz, daß nur derjenige<br />

Rechte geltend machen kann, der sich selbst rechtstreu verhalten hat, nicht an 55.<br />

Der Gr<strong>und</strong>satz des aus der "exceptio doli praesens" ableitbaren 56 "venire contra<br />

factum proprium" ist nur dann einschlägig, wenn das widersprüchliche Verhalten<br />

- das nicht rechtswidrig zu sein braucht - beim Anspruchsgegner schutzwürdig<br />

erscheinendes Vertrauen in die Nichtinanspruchnahme hervorgerufen hat57. Tendenzen,<br />

in Ausnahmefällen auf die Vertrauensbegründung als Tatbestandsmerkmal<br />

zu verzichten, werden in der Zivilrechtsdogmatik äußerst zurückhaltend<br />

aufgenommen58 <strong>und</strong> dürften sich kaum auf das Strafrecht übertragen lassen 59.<br />

51 Teichmann in Soergel'l, § 242 Rn. 280.<br />

52 Vg!. aber Seelmann, ZStW 95 (1983), S. 82<strong>3.</strong><br />

53 Vg!. Teichmann in Soergel 11 , § 242 Rn. 281; Dette, Venire contra factum proprium<br />

nulli conceditur, S. 32 f.<br />

54 Siehe etwa Roth in MünchKomm 2 , § 242 Rn. 381 ff.; Wieacker, Zur rechtstheoretischen<br />

Präzisierung des § 242 BGB, S. 31; Dette, Venire contra factum proprium nulli<br />

conceditur, S. 34.<br />

55 ~ie~e statt ~ieler Teichmann in Soergel'l, § 242 Rn. 287 m. w.N. in Fn.53; J.<br />

Schmldt In StaudInger, § 242 Rn. 612 m. w. N.; a. A. nur Wieacker, Zur rechtstheoretischen<br />

Präzisierung des § 242 BGB, S. 31; ausführlich hierzu Prölss ZHR 132 (1969)<br />

S. 35 ff. "<br />

56 Nicht unstreitig, vg!. etwa Teichmann in Soergel' 1, § 242 Rn. 312; Canaris, <strong>Die</strong><br />

Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, S. 287 f.; Dette, Venire contra factum proprium<br />

nulli conceditur, S. 36.<br />

57.vg~. etwa Roth i~ MünchKomm 2 , § 242 Rn. 289; Sirp in Erman 8 , § 242 Rn. 79;<br />

ausfuhrhch Dette, Vemre contra factum proprium nulli conceditur, S. 57 ff.<br />

58 Vgl. ausführlich J. Schmidt in Staudinger l2, § 242 Rn. 606 ff.; Roth in Münch­<br />

Komm 2 , § 242 Rn. 314 ff.


140 4. Kap.: Freispruch wegen Verwirkung des Strafanspruchs<br />

Problematisch erscheint es auch, ob es überhaupt einen "Strafanspruch" des<br />

Staates gibt. <strong>Die</strong> auf Binding zurückgehende60, zunächst vom überwiegenden<br />

Schrifttum übernommene 61 Lehre vom staatlichen Strafanspruch besagt, der Staat<br />

habe aus dem (objektiven) Strafrecht das (subjektive) Recht auf Bestrafung im<br />

Einzelfall 62. Der Strafanspruch sei das an die Schranken <strong>und</strong> Voraussetzungen<br />

des Strafgesetzes geb<strong>und</strong>ene "Strafendürfen" des Staates im Verhältnis zum<br />

einzelnen Staatsbürger6<strong>3.</strong> Es wird mithin eine Analogie zum zivilrechtlichen<br />

Anspruch hergestellt 64 • <strong>Die</strong> Strafanspruchslehre, schon früh vor allem <strong>von</strong> Goldschmidt,<br />

Gerland <strong>und</strong> Sauer kritisiert 6 5, wurde zunächst zur Zeit des Nationalsozialismus<br />

r<strong>und</strong>weg abgelehnt 66 ("Der Staat wird hier auf die gleiche Stufe mit<br />

dem Verbrecher gestellt"67). Seit 1945 werden vor allem zwei Einwände vorgetragen:<br />

Zum einen wird auf das schon <strong>von</strong> den frühen Kritikern verwendete Argument<br />

abgestellt, dem Staat werde mit der Strafverfolgung kein Recht zuerkannt,<br />

sondern eine Pflicht auferlegt 68 . Zum anderen sei die Strafe kein Rechtsgut, das<br />

den Staat begünstige 69 . Gegeneinwände werden kaum laut7°, so daß Klose noch<br />

1974 konstatieren konnte, den Begriff des Strafanspruchs habe "die heutige<br />

Strafrechtswissenschaft wohl doch nahezu aufgegeben"71.<br />

Da auch trotz der "Renaissance" des Begriffs in der Diskussion im Zusammenhang<br />

mit der V-Mann-Problematik 72 , wie Heribert Schumann es formuliert 7 3,<br />

59 Vgl. dazu Hillenkamp, JR 1975, S. 137 f.; Bruns, NStZ 1983, S. 54; H. Schumann,<br />

JZ 1986, S. 68 f.; Seelmann, ZStW 95 (1983), S. 822 f.<br />

.. 60 Binding, <strong>Die</strong> Normen <strong>und</strong> ihre Übertretung 1', S. 10 ff.; <strong>Die</strong> Normen <strong>und</strong> ihre<br />

Ubertretung 12, S. 24; Handbuch des Strafrechts I, S. 191; Strafrechtliche <strong>und</strong> strafprozessuale<br />

Abhandlungen H, S. 265 ff.; vgl. dazu H. Kaufmann, Strafanspruch - Strafklagerecht,<br />

S. 72 ff.; Klose, ZStW 86 (1974), S. 41 f.<br />

61 Vgl. die Nachweise bei H. Kaufmann, Strafanspruch - Strafklagrecht, S. 75 f.<br />

Fn. 34; vgl. auch Klose, ZStW 86 (1974), S. 42.<br />

62 Vgl. Rob. v. Hippel, Deutsches Strafrecht I, § I III; Allfeld, Lehrbuch des deutschen<br />

Strafrechts9, § 1 I; BeJing, Gr<strong>und</strong>züge des StrafrechtslI, § 71.<br />

63 Eb. Schmidt, HdB Deutsches Staatsrecht H, § 100 IV 2.<br />

64 Vgl. Klose, ZStW 86 (1974), S. 42 Fn. 32.<br />

65 Goldschmidt, FG Hübler, S. 102 ff.; Der Prozeß als Rechtslage, S. 243 ff. Fn. 1327;<br />

Gerland, Deutsches Reichsstrafrecht2, S. 8 f.; Sauer, Gr<strong>und</strong>lagen des Strafrechts l § 11<br />

II 1.<br />

'<br />

66 Vgl. etwa Schaffstein, DJZ 1934, Sp. 1174 ff.; JW 1934, S. 531; Höhn, DR 1935,<br />

S. 266 f.; H. Henkel, DJZ 1935, Sp. 533 f. Vgl. aber auch H. Mayer, GerS 104 (1934),<br />

S. 308 ff.; Oetker, GerS 108 (1936), S. I ff.; Rob. v. Hippel, Der deutsche Strafprozeß,<br />

§ 42 IV Fn. 4.<br />

67 Höhn, DR 1935, S. 266 f.<br />

68 Esser, Einführung in die Gr<strong>und</strong>begriffe des Rechtes <strong>und</strong> Staates, S. 154 f.; Schmidhäuser,<br />

ZStW 71 (1959), S. 550 f.; Hamann, Gr<strong>und</strong>gesetz <strong>und</strong> Strafgesetzgebung, S. 15;<br />

Amdt, JZ 1965, S. 148 Fn. 18; Tiedemann, FS K. Peters, S. 197; Seelmann, ZStW 95<br />

(1983), S. 825; 1. Roxin, Rechtsfolgen, S. 210; Sax in KMR, Einl. IX Rn. 8.<br />

69 H. Kaufmann, Strafanspruch - Strafklagrecht, S. 98 ff.; H. Schumann, JZ 1986,<br />

S. 70; I. Roxin, Rechtsfolgen, S. 209; wohl auch Flume, FS Smend, S. 79.<br />

70 Vgl. Klose, ZStW 86 (1974), S. 45.<br />

71 Klose, ZStW 86 (1974), S. 46; ähnlich H. Schumann, JZ 1986, S. 70.<br />

A. Zur Verwirkbarkeit des Strafanspruchs 141<br />

"der dogmatische Gehalt des Begriffs ,Strafanspruch' wohl weitgehend in Vergessenheit<br />

geraten" ist, wird man der Frage eher gerecht, wenn man einfacher<br />

ansetzt: Versteht man den Begriff schlichtweg mit dem BGH als "mißverständlich"74<br />

<strong>und</strong> benutzt ihn "redensartlich"75, so ist seine Verwendung "unschädlieh"<br />

76: Geht man mit der im Zivilrecht herrschenden Ansicht da<strong>von</strong> aus, daß<br />

durch Verwirkung nicht der Bestand eines Rechtes, sondern nur dessen Geltendmachung<br />

ausgeschlossen wird 77 , so bedeutet dies, daß es bei <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer<br />

nicht um die Verwirkbarkeit des staatlichen Strafanspruchs, sondern<br />

um die der staatlichen Strafverfolgungsbefugnis geht 78 , also um die (konkrete)<br />

Befugnis des Staates im Einzelfall, den Beschuldigten zu verfolgen 79 . <strong>Die</strong> zivilprozessuale<br />

Parallele wäre die - verwirkbare 80 - Prozeßführungsbefugnis.<br />

Dann aber reduziert sich die Problematik auf die Frage, ob derartige strafprozessualen<br />

Befugnisse gr<strong>und</strong>sätzlich der Verwirkung unterliegen können 81 - <strong>und</strong><br />

zwar die <strong>von</strong> beiden "prozessualen Antipoden" 82: sowohl vom Staat als auch<br />

vom Beschuldigten.<br />

I. Verwirkung durch Arglist<br />

1. Rügeverwirkung zu Lasten des Beschuldigten<br />

Nun wird aber bei der einen Ausgangslage, nämlich zu Lasten des Beschuldigten,<br />

<strong>von</strong> der herrschenden Meinung die Verwirkbarkeit strafprozessualer Befugnisse<br />

anerkannt: Es soll die Verwirkung <strong>von</strong> Verfahrensrügen im Revisionsrecht<br />

möglich sein, wobei freilich der Begriff, der auch hier aus dem Zivilrecht übertragen<br />

werden so1l83, ebenfalls eine unklare Verwendung findet 84 .<br />

72 Seelmann, ZStW 95 (1983), S. 822 ff.; Bruns, StV 1984, S. 391; 393; Schünemann,<br />

StV 1985, S. 427 f.<br />

73 H. Schumann, JZ 1986, S. 70.<br />

74 BGHSt 32, S. 345 (353).<br />

75 Klose, ZStW 86 (1974), S. 46 Fn. 56; dagegen Seelmann, ZStW 95 (1983), S. 82<strong>3.</strong><br />

76 Zipf, GA 1969, S. 235 f. Fn.5; dagegen Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 184<br />

Fn. 81; Seelmann, ZStW 95 (1983), S. 82<strong>3.</strong><br />

. 77 ~ilcher in Staudinger l2 , vor § 194 Rn. 14; Roth in MünchKomm, § 242 Rn. 338;<br />

Sirp m Erman8, § 242 Rn. 96; Augustin in SoergeJll, vor § 194 Rn. 17; G. Walter in<br />

SoergeJl2, vor § 194 Rn. 17; Pawlowski, Allgemeiner TeiP, Rn. 333; Enneccerus / Lehm~nn,<br />

Recht der SchuldverhältnisseiS, § 4 II 5; Enneccerus / Nipperdey, Allgemeiner<br />

Teil/2 15 , § 228 IV; Sie?ert, V~rwirkung <strong>und</strong> Unzulässigkeit der Rechtsausübung, S. 175;<br />

a. A. Larenz, Allgememer TeI16, § 13 IV b; J. Schmidt in Staudinger'2, § 242 Rn. 502.<br />

78 Hillenkamp, JR 1975, S. 139; H. Schumann, JZ 1986 S. 69' Katzorke Verwirkung<br />

S. 108 ff. " , ,<br />

79 Vgl. Katzorke, Verwirkung, S. 108 ff.; 204 ff.<br />

.80 Vgl. Griebeling, <strong>Die</strong> Verwirkung prozessualer Befugnisse, S. 64 ff.; Katzorke, Ver­<br />

Wirkung, S. 115.<br />

81 So auch Katzorke, Verwirkung, S. 111.<br />

82 Schünemann, Verh. 58. DIT, S. B 35.


142 4. Kap.: Freispruch wegen Verwirkung des Strafanspruchs A. Zur Verwirkbarkeit des Strafanspruchs 143<br />

Zwar ist die teilweise nach dem Zweiten Weltkrieg <strong>von</strong> der Rechtsprechung 85<br />

<strong>und</strong> später noch in der Literatur 86 , insbesondere <strong>von</strong> Werner Schmid 87 vertretene<br />

Auffassung, daß eine Rüge schon dann verwirkt sei, wenn der Beschuldigte einen<br />

Verfahrensverstoß, der ihm in seinen Auswirkungen voll bewußt <strong>und</strong> den zu<br />

verhindern er in der Lage war, in der Hauptverhandlung hingenommen hat, ohne<br />

<strong>von</strong> den ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten einer Abhilfe Gebrauch<br />

zu machen, heute nur noch vereinzelt anzutreffen 88. Da den Beschuldigten <strong>und</strong><br />

seinen Verteidiger im <strong>Strafverfahren</strong> keine Mitwirkungs-, Abhilfe- oder Wampflichten<br />

in bezug auf die vom Gericht zu beachtenden Förmlichkeiten treffen,<br />

kann Schweigen nicht zur Verwirkung entsprechend dem "tu-quoque"-Einwand<br />

führen. Es ist Aufgabe des Gerichts, für die Beachtung prozessualer Vorschriften<br />

selbst einzustehen 89, so daß ein "venire contra factum proprium" am fehlenden<br />

schutzwürdigen Vertrauen scheitert. Dem entspricht es, dies sei am Rande bemerkt,<br />

daß auch der kostenrechtliche Anspruch aus § 8 GKG nicht dadurch<br />

ausgeschlossen wird, daß der Beschuldigte die unrichtige Sachbehandlung zugelassen<br />

oder gar mitverursacht hat, solange nicht ein Fall absichtlicher Täuschung<br />

des Gerichts vorliegt90.<br />

<strong>Die</strong> herrschende Ansicht geht in paralleler Wertung da<strong>von</strong> aus, daß eine Rüge<br />

dann verwirkt sei, wenn der Beschuldigte selbst (oder sein Verteidiger in zurechenbarer<br />

Weise 9J ) den Verstoß durch eigenes Zutun mitherbeigeführt hat in<br />

der Absicht, hierauf später die Revision zu stützen n , was Kar! Peters sogar bei<br />

unverzichtbaren Vorschriften bejaht 93 . <strong>Die</strong>se Ansicht läßt sich mit der Variante<br />

"turpitudinem suam allegans non auditur" begründen.<br />

83 BVerfGE 27, S. 231 (237); Sax in KMR, Einl. X Rn. 75; Bruns, StV 1984, S. 391;<br />

Schlüchter, JR 1987, S. 82.<br />

84 Sax in KMR, Einl. X Rn. 73; Schlüchter, GS K. Meyer, S. 447 ff.<br />

85 OLG Hessen, NJW 1947/48, S. 395; HESt 3, S. 71; OLG Bremen, GA 1953, S. 87;<br />

bei We. Schmid, <strong>Die</strong> Verwirkung <strong>von</strong> Verfahrensrügen, S. 379; S. 384.<br />

86 Kiderlin, <strong>Die</strong> Verwirkung <strong>von</strong> Verfahrensrügen, S. 59 ff.; H. Henkel, <strong>Strafverfahren</strong>srecht2,<br />

§ 99 III 8; A. Wolff, NJW 1953, S. 1656 ff.; Fuhrmann, NJW 1963, S. 1230 ff.;<br />

ähnlich Walther, "Verwirkung" <strong>von</strong> Verfahrensrügen?, S. 91 ff.<br />

87 We. Schmid, <strong>Die</strong> Verwirkung <strong>von</strong> Verfahrensrügen, S. 297 ff.<br />

88 A. A. wohl Dahs, Handbuch des StrafverteidigersS, Rn. 684.<br />

89 OLG Frankfurt, JR 1987, S. 81; Kleinknechtl Meyer, StP039, § 337 Rn. 47; K.<br />

Peters, Strafprozeß4, § 75 II 7; Bohnert, <strong>Die</strong> Beschränkung der strafprozessualen Revision<br />

durch Zwischenverfahren, S. 112; Erker, Das Beanstandungsrecht gern. § 238 II StPO,<br />

S. 163 f.; Jescheck, JZ 1952, S. 402 f.<br />

90 Markl, GKG2, § 8 Rn. 2; Mümmler, JVBl. 1971, S. 224.<br />

91 Vgl. etwa BGHSt 24, S. 280 (282 f.).<br />

91 OLG Hamm, VRS 14, S. 370 (371); 20, S. 68 (69); Hanack in LR24, § 337 Rn. 284;<br />

Kleinknecht 1Meyer, StP039, § 337 Rn. 47; K. Peters, Strafprozeß4, § 75 II 7; C. Roxin,<br />

<strong>Strafverfahren</strong>srecht21 , § 42 D II 2; Jescheck, JZ 1952, S. 402 f.; GA 1953, S. 89; unklar<br />

Pikart, KK StP02, § 344 Rn. 61; Gössel, <strong>Strafverfahren</strong>srecht, § 35 C III 2 e, die <strong>von</strong><br />

"arglistiger Herbeiführung oder Nichthinderung <strong>von</strong> Verfahrensverstößen" sprechen;<br />

dagegen aber Sax in KMR, Ein!. X Rn. 77 f.; U. Weber, GA 1975, S. 302 f.; Kindhäuser,<br />

NStZ 1987, S. 532 f.; Schlüchter, GS K. Meyer, S. 460 ff.<br />

Zwar ist aufgr<strong>und</strong> dieser Einschränkungen die Verwirkung einer Rüge kaum<br />

denkbar, so daß entsprechende Rechtsprechung auch kaum mehr vorkommt94.<br />

Trotzdem ist nicht anzunehmen, daß, wie Ulrich Weber aber meint, diese Rechtsprechung<br />

"Episode geblieben" sei 95: So hat das OLG Frankfurt noch 1986<br />

ausdrücklich betont, eine Rüge könne "wegen arglistigen Verhaltens als verwirkt<br />

anzusehen" sein 96 • Der BGH (2. Senat)97 hat 1988 in bedenklicher Rückkehr an<br />

die frühere Rechtsprechung der OLGe für Hessen <strong>und</strong> Bremen in einem obiter<br />

dictum der Rüge der fehlerhaften Behandlung eines Beweisantrages als Beweisermittlungsantrag<br />

"das eigene Verhalten des Bf. <strong>und</strong> seines Verteidigers" entgegengestellt,<br />

da diese es unterlassen hätten, "nach Kenntnisnahme <strong>von</strong> der Begründung<br />

des Ablehnungsbeschlusses ausdrücklich klarzustellen, daß damit ihr Beweisbegehren<br />

trotz der vom Gericht entfalteten Aufklärungsbemühungen nicht erledigt<br />

sei ... Wenn sich der Bf. <strong>und</strong> sein Verteidiger damit nicht zufriedengeben,<br />

sondern auf weiterer Beweiserhebung bestehen wollten, so hätten sie dies ­<br />

ohne daß darin ein unzumutbares Ansinnen läge - ausdrücklich klarstellen<br />

können <strong>und</strong> müssen".<br />

<strong>Die</strong> Rechtsprechung zur Rügeverwirkung stellt den Staat also bei der Strafverfolgung<br />

wie den Bürger unter den Schutz des Verwirkungsrechts. Es wird insoweit<br />

aktionenrechtlich gedacht 98 . Werden aber Beschuldigter <strong>und</strong> Gericht gleich Parteien<br />

mit interferierenden Interessen gegenübergestellt, so folgt daraus die wechselseitige<br />

Rücksichtnahme99. Dann müßte aber aus der Anerkennung der Rügeverwirkung<br />

im Revisionsrecht folgen, daß auch die "Strafanspruchsverwirkung" ­<br />

also die Verwirkung der Strafverfolgungsbefugnis - jedenfalls theoretisch denkbar<br />

sein muß.<br />

2. Verzögerung zwecks Verurteilung<br />

Selbst wenn man dem folgt, ergibt dies für die Frage der Rechtsfolgen <strong>überlange</strong>r<br />

Verfahrensdauer nur wenig: Eine Verwirkung der staatlichen Strafverfol-<br />

93 K. Peters, Strafprozeß., § 75 II 7; 8.<br />

94 Hanack in LR24, § 337 Rn. 285; Kleinknecht 1Meyer, StP039, § 337 Rn. 47; K.<br />

Peters, Strafprozeß" § 75 II 7; Gössel, <strong>Strafverfahren</strong>srecht, § 35 C III 2 e; Kindhäuser,<br />

NStZ 1987, S. 532; Schlüchter, GS K. Meyer, S. 46<strong>3.</strong> Vg!. aber auch Dahs, Handbuch<br />

des Strafverteidigers 5 , Rn. 685.<br />

95 U. Weber, GA 1975, S. 302.<br />

96 OLG Frankfurt, JR 1987, S. 81. Noch weitergehend OLG Köln, OLGSt (alt) § 244<br />

S.43 (44): Eine Aufklärungsrüge der Staatsanwaltschaft kann verwirkt sein, "wenn der<br />

Sitzungsvertreter die zu einer Vernehmung drängenden Umstände gekannt, aber gleichwohl<br />

da<strong>von</strong> abgesehen hat, einen Beweisantrag zu stellen".<br />

97 BGH, StV 1988, S. 469 (472).<br />

98 Dütz, NJW 1972, S. 1028; vg!. auch Schenke in BonnKomm (Zweitbearb.), Art. 19<br />

IV Rn. 69.<br />

99 Vg!. Sax in KMR, Einl. X Rn. 77; Erker, Das Beanstandungsrecht gern. § 238 II<br />

StPO, S. 159 f.; Kindhäuser, NStZ 1987, S. 532.


144 4. Kap.: Freispruch wegen Verwirkung des Strafanspruchs A. Zur Verwirkbarkeit des Strafanspruchs 145<br />

gungsbefugnis käme im Bereich <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer nach bisher Gesagtem<br />

dann in Betracht, wenn, in Parallele zur Rügeverwirkung, die Strafverfolgungsorgane<br />

die Verzögerungen deshalb herbeigeführt haben, um die Verteidigungsposition<br />

des Beschuldigten zu schmälern 1()(). Aus der Vereitelung der<br />

Rechtsstellung des anderen können schon nach der ursprünglichen "exceptio<br />

doli" keine Ansprüche abgeleitet werden. Auch der BGH hat in einer Zivilsache<br />

angedeutet, daß Verwirkung bei Prozeßverschleppung mit dem Ziel, in bis dahin<br />

nicht gegebene Voraussetzungen eines Rechts "hineinzuwachsen", denkbar sei 101.<br />

Ein die Verurteilung bezweckendes Verhalten der Strafverfolgungsorgane<br />

dürfte jedoch kaum einmal vorkommen <strong>und</strong> noch seltener zu beweisen sein.<br />

Theoretisch hat das OLG Celle den Fall "willkürlicher Verschleppung polizeilicher<br />

Ermittlungen zwecks Beeinträchtigung des Erinnerungsvermögens eines<br />

Beschuldigten (oder Zeugen)" gebildet 102. Ein Verhalten solcher Qualität, das<br />

allerdings nichts mit <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer zu tun hat, ist auf Gr<strong>und</strong>lage<br />

der veröffentlichten Rechtsprechung am ehesten in dem vom LG Hannover<br />

festgestellten Sachverhalt der Beweismanipulationen durch Ermittlungsorgane<br />

zwecks"Verurteilung um jeden Preis" 103 zu sehen, in dem allerdings vom 5. Senat<br />

des BGH die Verwirkbarkeit des staatlichen Strafanspruchs gr<strong>und</strong>sätzlich verneint<br />

wurde 104. Dennoch ist das Verwirkungsargument auch im sog. "Schmücker­<br />

Verfahren" geäußert worden, weil wichtige Beweismittel unterdrückt worden<br />

seien 105.<br />

Fraglich erscheint, ob über die Arglistfälle hinaus auch bei sonstigen Verzögerungen<br />

Verwirkung möglich ist. Der weitergehende "tu-quoque-"Einwand scheitert<br />

daran, daß die zu vergleichenden Verhaltensweisen - Verstoß gegen das<br />

Beschleunigungsprinzip <strong>und</strong> Verstoß gegen das Strafgesetz - nicht miteinander<br />

"korrespondieren" 106, nicht gegen die gleichen Rechtssätze verstoßen 107. Ob Verwirkung<br />

aus dem Gedanken "turpitudinem suam allegans non auditur" dann<br />

denkbar ist, wenn durch (rechtswidrige) Verzögerungen, aber ohne Arglist eine<br />

bessere Rechtsstellung kausal erlangt worden ist, erscheint schwer zu beantworten.<br />

Immerhin ist in der Zivilrechtsdogmatik anerkannt, daß insofern eine Interessenabwägung<br />

vorzunehmen ist: Je stärker das Unrechtselement bewertet werden<br />

100 Ähnlich K. Schäfer in LR24, Einl. Kap. 12 Rn. 92: Verwirkung kann nur in Erwägung<br />

gezogen werden, wenn verschuldete schwere Versäumnisse der Justizbehörden<br />

vorliegen, die die Verfahrensfortsetzung "illoyal" erscheinen lassen.<br />

101 BGH, LM Nr. 39 zu § 242 BGB (Ce).<br />

102 OLG Celle, NJW 1963, S. 1320 (1321).<br />

103 LG Hannover, StV 1985, S. 94.<br />

104 BGHSt 33, S. 283 (283 f.).<br />

105 Vgl. Volksblatt Berlin v. <strong>3.</strong>11.1990, S. 14. So jetzt auch das Einstellungsurteil<br />

des LG Berlin.<br />

106 Vgl. Roth in MünchKomm2, § 242 Rn. 381 ff.; Dette, Venire contra factum proprium<br />

nulli conceditur, S. 34.<br />

107 Vgl. Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, S. 31.<br />

muß, desto eher sind die Interessen des Inanspruchgenommenen zu berücksichtigen<br />

108. Hier mögen die Interessen des Beschuldigten wohl jedenfalls gewichtiger<br />

sein als die des Staates bei der oben erörterten Rügeverwirkung, bei der diese<br />

Variante nicht näher in Betracht zu ziehen war. Allerdings dürften auch hier<br />

zwei Argumente dafür sprechen, eine so weitgehende Verwirkbarkeit der Strafverfolgungsbefugnis<br />

nicht anzuerkennen: Bei immanenter Betrachtung ist zunächst<br />

äußerst zweifelhaft, ob die Interessen des Beschuldigten gegenüber denen<br />

des Staates dermaßen überwiegen können - schlichtes Interessenungleichgewicht<br />

genügt im Zivilrecht für eine so weitgehende Konsequenz wie die Verwirkung<br />

nicht 109. Immerhin geht es um das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung;<br />

hier spielt auch das Argument eine Rolle, daß lediglich das Fehlverhalten<br />

einzelner Amtsträger Ansprüche des Staates verwirken soll I10. Bei Betrachtung<br />

aus mehr übergeordnetem Blickwinkel muß zudem äußerst zweifelhaft erscheinen,<br />

inwieweit jedenfalls im Strafrecht Verfahrensbeendigung durch das "rigide<br />

Alles-oder-Nichts-Prinzip" 111 der Verwirkung infolge einer Interessenabwägung<br />

eintreten kann. Mit diesem Argument hat vor allem der BGH die Annahme <strong>von</strong><br />

Verfahrenshindernissen der <strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer" 2 <strong>und</strong> des rechtswidrigen<br />

Lockspitzeleinsatzes ll3 bekämpft l14 • Ohne die Zivilrechtsdogmatik zu dieser<br />

Frage - die noch als "weitgehend ungeklärt" bezeichnet wird 115 - in Zweifel<br />

ziehen zu wollen, dürfte doch die Ausdehnung der ursprünglichen "exceptio<br />

doli" insoweit für das Strafrecht abzulehnen sein.<br />

11. Verwirkung durch Zeitablauf<br />

<strong>Die</strong> Fallgruppe der Verzögerung zwecks Verurteilung befindet sich freilich<br />

weit <strong>von</strong> den Vorstellungen Baumanns entfernt, der sich Verwirkung "neben<br />

<strong>und</strong> innerhalb der Strafverfolgungsverjährungsfristen" vorstellte 116. Baumann<br />

spielt hier auf die im Zivilrecht bedeutsame Verwirkung durch Zeitablauf, die<br />

"illoyale Verspätung" 117 an, die einen Unterfall des "venire contra factum proprium"<br />

darstellt 118. Sie kommt in Betracht, wenn neben die bereits seit einem<br />

108 Vgl. etwa Teichmann in SoergeJiI, § 242 Rn. 281; Dette, Venire contra factum<br />

proprium nulli conceditur, S. 32 f.<br />

109 Vgl. etwa Teichmann in Soergel ll , § 242 Rn. 281; 290.<br />

110 Vgl. BGHSt 32, S. 345 (353); 33, S. 283; OLG Düsseldorf, NJW 1986, S. 2204<br />

(2205).<br />

111 Roth in MünchKomm2, § 242 Rn. 236.<br />

112 BGHSt 24, S. 239 (240).<br />

113 BGHSt 32, S. 345 (351 f.).<br />

114 Siehe dazu unten, 5. Kap. A III 2.<br />

115 Roth in MünchKomm2, § 242 Rn. 231.<br />

116 Baumann, FS Eb. Schmidt, S. 541.<br />

117 Heinrichs in Palandt 49 , § 242 Anm. 5 a; vgl. auch BGHZ 25, S. 47 (52); BAGE<br />

6, S. 165 (167); kritisch Teichmann in Soergel ll , § 242 Rn. 332.<br />

10 Seheffter


146 4. Kap.: Freispruch wegen Verwirkung des Strafanspruchs A. Zur Verwirkbarkeit des Strafanspruchs 147<br />

längeren Zeitraum bestehende Möglichkeit der Geltendmachung eines Rechts<br />

("Zeitmoment") auch noch gewisse Umstände hinzutreten, die die verspätete<br />

Geltendmachung des Rechts als unzulässige Rechtsausübung erscheinen lassen<br />

("Umstandsmoment"). Der Ablauf eines extrem langen ungenutzten Zeitraums<br />

genügt nicht für sich allein 119, was der BGH für den langjährigen Stillstand eines<br />

Zivilverfahrens ausdrücklich betont hat 120. Das Umstandsmoment ist erfüllt, wenn<br />

der Berechtigte durch sein Verhalten den Eindruck erweckt hat, er wolle sein<br />

Recht nicht mehr geltend machen, der Verpflichtete sich hierauf eingerichtet hat<br />

<strong>und</strong> ihm die verspätete Inanspruchnahme nicht mehr zugemutet werden kann 121,<br />

etwa, weil er ansonsten einen Nachteil erleidet, der bei rechtzeitiger Geltendmachung<br />

des Rechts ausgeblieben wäre 122. <strong>Die</strong> "illoyale Verspätung" hat sachliche<br />

Nähe zur Verjährung 12<strong>3.</strong><br />

1. Rechtsbehelfsverwirkung zu Lasten des Beschuldigten<br />

Auch die Verwirkung durch Zeitablauf ist im <strong>Strafverfahren</strong>srecht - ebenfalls<br />

zu Lasten des Beschuldigten - bekannt: So sollen nach der Rechtsprechung<br />

unbefristete Rechtsbehelfe (z. B. Beschwerde, Antrag nach § 33a StPO, GegenvorsteIlung)<br />

infolge Verwirkung unzulässig werden können, wenn der Beschuldigte<br />

längere Zeit hindurch untätig bleibt 124. <strong>Die</strong>se Judikatur wird <strong>von</strong> der Literatur<br />

weitgehend gebilligt 125.<br />

<strong>Die</strong> Rechtsbehelfsverwirkung stellt die präzise Übernahme der "illoyalen Verspätung"<br />

aus dem Zivilrecht dar. Allerdings soll für das Umstandsmoment ­<br />

die Nichtzumutbarkeit der verspäteten Inanspruchnahme - das öffentliche Interesse<br />

an der Erhaltung des Rechtsfriedens genügen 126.<br />

118 Heinrichs in Palandt49, § 242 Anm. 5 a; Roth in MünchKomm2, § 242 Rn. 290;<br />

Teichmann in Soergel ll , § 242 Rn. 332; vgl. auch BAGE 6, S. 165 (168).<br />

119 BVerfGE 32, S. 305 (308); BGH, WM 1971, S. 1084 (1086); Schenke in Bonn­<br />

Komm (Zweitbearb.), Art. 19 IV Rn. 69; Teichmann in Soergel ll , § 242 Rn. 337; Schubert,<br />

JR 1989, S. 280.<br />

120 BGH, LM Nr. 39 zu § 242 BGB (Ce); RzW 1979, S. 106.<br />

121 BGHZ 25, S.47 (52); 26, S. 52 (65); 67, S.56 (68); 84, S.280 (281); DNotZ<br />

1973, S.379 (380); BAGE 6, S. 165 (168); BSG, NJW 1973, S. 871; Heinrichs in<br />

Palandt 49 , § 242 Anm. 5 d ce.<br />

122 Griesbeck, Venire contra factum proprium, S. 99.<br />

123 Vgl. Roth in MünchKomm2, § 242 Rn. 290.<br />

124 BVerfGE 32, S.305; OLG Koblenz, MDR 1985, S.344; wistra 1987, S.357;<br />

OLG Stuttgart, OLGSt (neu) NI. 1 zu § 235 StPO. .<br />

125 W. Gollwitzer in LR24, vor § 296 Rn. 48; Kleinknecht / Meyer, StP039, vor § 296<br />

Rn. 6; Ellersiek, <strong>Die</strong> Beschwerde im Strafprozeß, S. 147; a. A. Sax in KMR, Einl. X<br />

Rn. 73 ff.; Dütz, NJW 1972, S. 1025.<br />

126 BVerfGE 32, S. 305 (308 f.); kritisch dazu Sax in KMR. Einl. X Rn. 78; Dütz,<br />

NJW 1972, S. 1025 ff.<br />

Hinsichtlich des Umstandsmoments folgt aus der Ableitung der "illoyalen<br />

Verspätung" aus der Variante "venire contra factum proprium", daß dem Zeitmoment<br />

nur eine untergeordnete Rolle zukommt: "Der Schwerpunkt des Verwirkungsbegriffs<br />

liegt ... im Umstandsmoment ... Ihm fällt weitgehend, wenn<br />

auch nicht völlig unabhängig vom reinen Zeitablaufseit Entstehen des Anspruchs,<br />

die entscheidende Bedeutung zu" 127. Demzufolge hat auch das OLG Stuttgart<br />

die Verwirkung der - fristlosen - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand<br />

gemäß § 235 Satz 1 2. Alt. StPO nicht wegen Zeitablaufs angenommen, sondern<br />

weil der Beschuldigte <strong>von</strong> vornherein entschlossen gewesen sei, an der Hauptverhandlung<br />

nicht teilzunehmen 128. Daraus folgt, daß bei langem Zeitablauf an das<br />

Umstandsmoment nur noch geringe Anforderungen zu stellen sind 129, während<br />

umgekehrt Verwirkung auch nahezu ohne besonderes Zeitmoment bei entsprechender<br />

Ausprägung des Umstandsmoments denkbar ist 130.<br />

2. Enttäuschung berechtigten Vertrauens<br />

Auf das Umstandsmoment hat nun der 1. Senat des BGH in seiner Lockspitzelentscheidung,<br />

die das OLG Düsseldorf zur Frage der Verwirkung bei <strong>überlange</strong>r<br />

Verfahrensdauer zugr<strong>und</strong>e gelegt hat, als Hilfsargument im Anschluß an See/­<br />

mann 131 mit Nachdruck hingewiesen: Es fehle im übrigen am "für die Anwendung<br />

des Verwirkungsgedankens wesentlichen Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes"<br />

132. Sowohl in dieser Entscheidung als auch in der Diskussion, die sich um<br />

diese Formulierung entwickelt hat 133, wird zumeist übersehen 134, daß es im Zusammenhang<br />

mit der Lockspitzelproblematik nicht um "illoyale Verspätung",<br />

sondern nur um Ableitungen der "exceptio doli praeteriti" gehen kann, da es<br />

hier an jeder Anknüpfung für das Zeitmoment fehlt. Dann kommt es aber nicht<br />

darauf an, ob der Provozierte auf seine Straflosigkeit vertrauen konnte, sondern<br />

darauf, daß der Staat sich nicht durch rechtsstaatlich unzulässiges Vorgehen den<br />

Strafanspruch verschaffen darf135 •<br />

127 BAGE 6, S. 165 (167).<br />

128 OLG Stuttgart, OLGSt (neu) NI. 1 zu § 235 StPO.<br />

129 Vg1. etwa OLG Frankfurt, MDR 1978, S. 52.<br />

130 Schubert, JR 1989, S. 280.<br />

131 Seelmann, ZStW 95 (1983), S. 82<strong>3.</strong><br />

132 BGHSt 32, S. 345 (353).<br />

133 Bruns, StV 1984, S. 391 (mit Hinweis auf NStZ 1983, S. 54); Schünemann, StV<br />

1985, S. 428; Puppe, NStZ 1986, S. 405; Drywa, <strong>Die</strong> materiellrechtlichen Probleme des<br />

V-Mann-Einsatzes, S. 65.<br />

134 Vg1. aber I. Roxin, Rechtsfolgen, S. 207 f.; H. Schumann, JZ 1986, S.69; vgl.<br />

auch Menzel, Gr<strong>und</strong>fragen der Verwirkung, S. 143; 145 Fn. 303; Katzorke, Verwirkung,<br />

S. 152 f.<br />

135 H. Schumann, JZ 1986, S. 69.<br />

10*


148 4. Kap.: Freispruch wegen Verwirkung des Strafanspruchs A. Zur Verwirkbarkeit des Strafanspruchs 149<br />

Ein weiteres Indiz dafür, daß der 1. Senat in seiner Entscheidung die Formen<br />

der Verwirkung vermengt, ergibt sich auch daraus, daß er in einem Atemzug<br />

unter der Bezeichnung"Verwirkung prozessualer Befugnisse" auf Urteile sowohl<br />

zur Rechtsbehelfsverwirkung 136 als auch zur Rügeverwirkung 137 hinweist. Mit<br />

dieser Vermengung steht der BGH nicht allein. Hingewiesen sei etwa auf Fuhrmann,<br />

der versuchte, hinsichtlich der Rügeverwirkung das Zeitmoment der "illoyalen<br />

Verspätung" zu konstruieren 138. Allgemein ist festzustellen, daß die schon<br />

erwähnte Übertragung des Gedankens der Verwirkung des staatlichen Strafanspruchs<br />

<strong>von</strong> der <strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer auf andere Sachverhalte, insbesondere<br />

die V-Mann- Problematik, ohne die erforderliche "rechtsdogmatische Vertiefung"<br />

139 geschah: Es blieb nahezu unbemerkt, daß man hier die Formen der<br />

Verwirkung wechselte.<br />

Jedoch folgt hieraus, daß der Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes bei der<br />

"illoyalen Verspätung" in den Mittelpunkt zu rücken ist, so daß bezüglich des<br />

Problems <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer selbst dann, wenn man <strong>von</strong> der prinzipiellen<br />

Möglichkeit der Verwirkbarkeit der Strafverfolgungsbefugnis ausgeht, eine<br />

weitergehende Beschränkung gegeben ist, als sich die Befürworter dies vorgestellt<br />

hatten: So kann zunächst einmal das Verwirkungsargument nicht, wie aber <strong>von</strong><br />

der Verteidigung im sog. "Euthanasie-Prozeß" vorgetragen wurde 140, (nur) darauf<br />

gestützt werden, daß die Taten extrem lange (hier: 46 Jahre) zurückliegen würden.<br />

Auch die bloße Untätigkeit der Strafverfolgungsbehörden kann noch nicht generell<br />

die Erwartung nach sich ziehen, daß die Strafverfolgung künftig unterbliebe<br />

141. Nur dann, wenn der Beschuldigte bei besonderer Fallgestaltung ausnahmsweise<br />

aus dem Verhalten der Organe entnehmen durfte <strong>und</strong> tatsächlich entnommen<br />

hat, der Staat werde seine Strafverfolgungsbefugnis nicht mehr wahrnehmen,<br />

könnte "illoyale Verspätung" denkbar sein 142. Nur in diesem Fall wird das berechtigte<br />

Vertrauen des Beschuldigten, nicht mehr verfolgt zu werden, aufgr<strong>und</strong><br />

widersprüchlichen Verhaltens der Strafverfolgungsbehörden enttäuscht. Hanack<br />

hat hierzu beispielhaft den Fall gebildet, daß der Beschuldigte jahrelang <strong>von</strong><br />

einem eingeleiteten Ermittlungsverfahren nichts mehr hört <strong>und</strong> annehmen darf,<br />

die Staatsanwaltschaft habe die Mitteilung gemäß § 170 11 StPO vergessen 14<strong>3.</strong><br />

136 BVerfGE 32, S. 305 (308 f.).<br />

137 BVerfGE 27, S.231 (236); 33, S.265 (293); BVerwGE 3, S.297 (299 f.); 6,<br />

S. 262 (263).<br />

138 Fuhnnann, NJW 1963, S. 123<strong>3.</strong> Vgl. auch Schlüchter, GS H. Kaufmann, S. 461 f.<br />

139 Bruns, StV 1984, S. 391.<br />

140 Vgl. Daub, KritJ 22 (1989), S. 328 Fn. <strong>3.</strong><br />

141 So auch Mezger, Gr<strong>und</strong>fragen der Verwirkung, S. 145; Katzorke, Verwirkung,<br />

S.84.<br />

142 Vgl. Hillenkamp, JR 1975, S. 137; unklar Seelmann, GebColloquium Kielwein,<br />

S. 28 f.<br />

143 Hanack, JZ 1971, S. 715. Vgl. auch Katzorke, Verwirkung, S. 37; 42; 52 f.; 83;<br />

198 f.; 204.<br />

Praktisch vorstellbar ist ein solcher Fall kaum 144. Gegen das Beispiel Hanacks<br />

spricht zudem, daß selbst bei einer erfolgten Einstellung der ehemals Beschuldigte<br />

mit einem Wiederaufgreifen durch die Staatsanwaltschaft rechnen muß 145. Allenfalls<br />

könnte man hieran vielleicht in den gelegentlich berichteten Fällen denken 146,<br />

wonach es im Umweltstrafrecht vorkommt, daß die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren<br />

hinauszögert, um Druck bezüglich der Lösung des Umweltproblems<br />

auszuüben, wenn dann nach Durchführung <strong>von</strong> umweltschützenden Maßnahmen<br />

doch noch Anklage erhoben würde. Weiterhin wurde auf eine entsprechende<br />

Revisionsrüge hin vom OLG Düsseldorf geprüft (<strong>und</strong> verneint), ob die<br />

Einstellung wegen eines (behebbaren) Verfahrenshindernisses <strong>und</strong> darauffolgender<br />

Zeitablauf bis zur Einleitung eines (neuen) Ermittlungsverfahrens zur Verwirkung<br />

führte 147.<br />

DerSache nach - ohne <strong>von</strong> Verwirkung zu sprechen - wird in der oberlandesgerichtlichen<br />

Rechtsprechung gemäß den Verwirkungskriterien in dem hier nicht<br />

näher interessierenden Sonderfall des verspäteten Widerrufs der Strafaussetzung<br />

zur Bewährung (§ 56f StGB) vorgegangen. Danach ist der Widerruf nicht schon<br />

aufgr<strong>und</strong> bloßer Verspätung unzulässig, wohl aber im Einzelfall aus dem Gesichtspunkt<br />

des Vertrauensschutzes 148. Allerdings ist auch hier zu fragen, ob<br />

wirklich schutzwürdiges Vertrauen <strong>und</strong> nicht nur bloße "Hoffnung" enttäuscht<br />

wird 149.<br />

Das Problem der Enttäuschung eines berechtigten Vertrauens ist somit, wie<br />

Hanack zu Recht hervorgehoben hat 150, <strong>von</strong> dem der <strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer<br />

zu trennen. Allerdings können die beiden Problemkreise miteinander verknüpft<br />

sein, da das Vertrauen um so eher berechtigt sein wird, je mehr Zeit vergangen<br />

ist (Zeitmoment).<br />

Umgekehrt wäre eine Verwirkung unter diesem Gesichtspunkt - rein konstruktiv<br />

- auch dann nicht <strong>von</strong> vornherein ausgeschlossen, wenn das Verfahren<br />

zwar schnell durchgeführt wird, gleichzeitig aber <strong>von</strong> den Strafverfolgungsbehörden<br />

ein so vertrauensbildendes Verhalten an den Tag gelegt wird, daß derBeschuldigte<br />

sich hieraufeinrichten durfte <strong>und</strong> dies tat, indem er etwa Entlastungsmaterial<br />

144 Katzorke, Verwirkung, S. 199.<br />

145 Katzorke, Verwirkung, S. 199.<br />

146 Vgl. dazu Kellennann, KB 55 (1987), S. 23 ff.; Michalke, ZRP 1988, S. 273 ff.;<br />

Kneip, ZRP 1989, S. 111; Trändie, GS K. Meyer, S. 610.<br />

147 OLG Düsseldorf, NJW 1986, S. 2204 (2205).<br />

148 OLG Karlsruhe, Justiz 1976, S. 436; OLG Celle, NdsRpfl. 1980, S. 91 (92); StV<br />

1987, S.30; OLG Koblenz, NStZ 1981, S.260 (261); DAR 1987, S. 93 (94); OLG<br />

Stuttgart, Justiz 1982, S. 273; StV 1985, S. 380; OLG Braunschweig, StV 1983, S. 72;<br />

OLG Düsseldorf, MDR 1983, S. 509; GA 1983, S. 87; OLG Hamm, NStZ 1984, S. 362<br />

(363); StV 1985, S. 198 (199).<br />

149 KG, JR 1958, S. 189; Horn in SK StGB, § 56f Rn. 33; 37; GS H. Kaufmann,<br />

S. 548; 554.<br />

150 Hanack, JZ 1971, S. 715.


150 4. Kap.: Freispruch wegen Verwirkung des Strafanspruchs B. Zum Freispruch infolge Strafaufhebungsgr<strong>und</strong>es 151<br />

vernichtet hat, <strong>und</strong> ihm somit weitere Verfolgung nun nicht mehr zugemutet<br />

werden kann. Hier läge das Schwergewicht der Problematik weniger im Zeitmoment<br />

als im auf das Handeln der Strafverfolgungsbehörden bezogenen Umstandsmoment.<br />

Es wäre die allgemeine Variante "venire contra factum proprium"<br />

einschlägig. Insofern hätte der <strong>3.</strong> Senat des BGH auch Verwirkung erörtern<br />

können bei der Nichteinhaltung einer "Zusage" der Staatsanwaltschaft, eine bestimmte<br />

Tat nicht zu verfolgen, wenn der Beschuldigte sein Rechtsmittel unter<br />

Hinnahme einer empfindlichen Strafe in einer anderen Sache zurücknimmt 151.<br />

Nun dürfte bei der Fallgruppe der Enttäuschung berechtigten Vertrauens durch<br />

Zeitablauf, noch mehr als bei der der Verwirkung durch Arglist, Anlaß zu Zweifeln<br />

bestehen, inwieweit ihre Anerkennung jedenfalls im Strafrecht geboten ist:<br />

Nach ganz herrschender Meinung 152 setzt die "illoyale Verspätung" kein Verschulden<br />

des Rechtsinhabers voraus. Soll die Verwirkung der Strafverfolgungsbefugnis<br />

also - theoretisch - auch dann eintreten können, wenn die Vertrauensbildung<br />

beim Beschuldigten erfolgt, obwohl das Verfahren <strong>von</strong> den Strafverfolgungsorganen<br />

unverzögert vorangetrieben wird? Nach im einzelnen umstrittener,<br />

aber herrschender Ansicht 153 ist nicht einmal die Kenntnis des Berechtigten <strong>von</strong><br />

seinem Recht erforderlich; es genügt, daß er Kenntnis hätte haben können. Folgte<br />

man dem, könnte also - wiederum rein theoretisch - selbst bei Nichtwissen<br />

der Strafverfolgungsbehörden <strong>von</strong> der Straftat schon die Strafverfolgungsbefugnis<br />

verwirkt werden. Es kann hier nicht der Ort sein zu erörtern, ob außerhalb<br />

des Strafrechts überhaupt die Rechtsfigur der Verwirkung durch Zeitablauf neben<br />

Verjährung <strong>und</strong> Verzicht erforderlich ist oder jedenfalls einen zu weiten Anwendungsbereich<br />

findet. Der eine Teil der dortigen Fallgestaltungen läßt sich, so<br />

scheint es, statt durch den Rückgriff auf die Verwirkung durch die objektive<br />

Auslegung der Willenserklärungen als Verzicht auf das zustehende Recht auslegen<br />

154, <strong>und</strong> bei anderen Fallgestaltungen drängt sich der Eindruck auf, als ginge<br />

es hier um die Verkürzung der teilweise als zu lang empf<strong>und</strong>enen Verjährungsfristen<br />

des BGB durch richterliche Rechtsfortbildung 155. Freilich ist nicht zu übersehen,<br />

daß auch in neueren Monographien der Anwendungsbereich der Verwirkung<br />

im Zivil- <strong>und</strong> öffentlichen Recht mit entgegengesetzterTendenz extensiv interpre-<br />

151 BGH, NStZ 1990, S. 399; vgl. dazu Scheffler, wistra 1990, S. 321.<br />

152 BGHZ 25, S. 47 (53); OLG Saarbrücken, NJW-RR 1989, S. 558 (559); LG München,<br />

NJW-RR 1989, S. 852; J. Schmidt in Staudinger 12 , § 242 Rn. 492; 494; Heinrichs<br />

in Palandt 49 , § 242 Anm. 5 d bb; Teichmann in Soergel '1 , § 242 Rn. 319; unklar BSG,<br />

NJW 1969, S. 767 (768).<br />

153 Einzelheiten bei J. Schmidt in Staudinger l2 , § 242 Rn. 494; Heinrichs in Palandt 49 ,<br />

§ 242 Anm. 5 d bb; Mezger, Gr<strong>und</strong>fragen der Verwirkung, S. 61 ff.<br />

154 Ähnlich Wieling, AcP 176 (1976), S. 334 ff.; 187 (1987), S. 100. Vgl. dazu auch<br />

Roth in MünchKomm 2 , § 242 Rn. 293; Teichmann in Soergel", § 242 kn. 312; 333; JA<br />

1985, S. 500.<br />

155 Vgl. Teubner, AK BGB, § 242 Rn. 34; Enneccerus / Nipperdey, Allgemeiner<br />

Teil/2'" § 228 IV 1. Siehe dazu auch Teichmann in Soergel", § 242 Rn. 334.<br />

tiert wird 156. Für das Strafrecht dürfte jedenfalls äußerste Zurückhaltung geboten<br />

sein.<br />

B. Zum Freispruch infolge Strafautbebungsgr<strong>und</strong>es<br />

Aber selbst bei Außerachtlassung der Frage, ob denn die Figur der Verwirkung<br />

des Strafanspruchs bzw. der Strafverfolgungsbefugnis überhaupt anerkannt werden<br />

kann, hat sich ihre Übertragung auf <strong>überlange</strong> Verfahrensdauer somit als<br />

fast nur theoretisches Problem erwiesen: Wie Hanack betont, ist die Möglichkeit<br />

der Enttäuschung berechtigten Vertrauens "im Strafprozeß bislang noch kaum<br />

bedacht" 157 - eben weil solche Fälle theoretische Konstrukte sind. Auch die<br />

andere denkbare Variante - Verzögerung zwecks Verurteilung - ist bisher<br />

nicht bekanntgeworden.<br />

Um zur Rechtsfolge des Freispruchs zu gelangen, wäre ein zweites Problem,<br />

das bisher weniger im Mittelpunkt der Diskussion stand, zu bewältigen: Es wird<br />

meistens, insbesondere <strong>von</strong> der Rechtsprechung, als selbstverständlich da<strong>von</strong><br />

ausgegangen, daß die Verwirkung des staatlichen Strafanspruchs zu einem Verfahrenshindernis<br />

mit der Folge der Einstellung zu führen hätte. Nun hat schon<br />

Bruns völlig zu Recht darauf hingewiesen, daß hierdurch verdunkelt würde, daß<br />

es sich hierbei um mehr als eine selbständige rechtliche Konstruktion handelt 158.<br />

Soweit bisher - <strong>und</strong> im Gegensatz zu der hier vertretenen Auffassung ­<br />

<strong>von</strong> der Verwirkung - einem im Zivilrecht unbestritten materiellrechtlichen<br />

Institut - des staatlichen Strafanspruchs <strong>und</strong> nicht der -verfolgungsbefugnis<br />

ausgegangen wird, erscheint die Annahme einer Prozeßentscheidung fragwürdig<br />

159: Bei Verwirkung des Strafanspruchs, also der materiellen Strafbefugnis,<br />

müßte in Anlehnung an das Zivilrecht der Freispruch die richtige Rechtsfolge<br />

sein, weil im Zivilrecht durch die Verwirkung eines Anspruchs auch nicht etwa<br />

das Verfahren als solches unzulässig wird, sondern die zulässige Klage lediglich<br />

abgewiesen wird, weil der materielle Anspruch nicht prozessual durchsetzbar<br />

ist 160. <strong>Die</strong>s ist nur gelegentlich angedeutet worden: So fragte etwa Lüderssen,<br />

ob es sich bei dem Begriff der Verwirkung des staatlichen Strafanspruchs "um<br />

ein materiell-rechtliches Argument" handele 161. Auf der gleichen Linie liegt auch<br />

die Äußerung <strong>von</strong> Heribert Schumann, daß, machte man mit dem Begriff der<br />

156 Vgl. DeUe, Venire contra factum proprium nulli conceditur, insbes. S. 58 ff.;<br />

Menzel, Gr<strong>und</strong>fragen der Verwirkung, insbes. S. 53 ff.<br />

157 Hanack, JZ 1971, S. 715.<br />

158 Bruns, StV 1984, S. 391; ähnlich Katzorke, Verwirkung, S. 125.<br />

159 So auch Sieg, StV 1981, S. 636; siehe auch Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 228;<br />

StV 1986, S. 37. Vgl. auch Grethlein, Problematik des Verschlechterungsverbotes, S. 29<br />

Fn. 26 f.<br />

160 Vgl. Katzorke, Verwirkung, S. 125.<br />

161 Lüderssen, Jura 1985, S. 12<strong>3.</strong>


152 4. Kap.: Freispruch wegen Verwirkung des Strafanspruchs B. Zum Freispruch infolge Strafaufhebungsgr<strong>und</strong>es 153<br />

Verwirkung des staatlichen Strafanspruchs einmal ernst, materiellrechtliche Folgen<br />

erwogen werden müßten 162. Drywa nimmt dies als selbstverständlich an 16<strong>3.</strong><br />

<strong>Die</strong> Annahme materiellrechtlicher Folgen der Verwirkung hätte erhebliche<br />

Konsequenzen auch für das <strong>Strafverfahren</strong>: Anders als bei der Feststellung <strong>von</strong><br />

Prozeßvoraussetzungen wäre dann das Freibeweisverfahren nicht zulässig 164 mit<br />

der Folge, daß mit Hilfe <strong>von</strong> Beweisanträgen die Verteidigung die Frage der<br />

Verwirkung wegen § 244 III-VI StPO viel umfangreicher (<strong>und</strong> erfolgversprechender)<br />

zum Gegenstand der Hauptverhandlung machen könnte 165. Andererseits wäre<br />

ab Eröffnung des Hauptverfahrens das Verfahren nicht ohne Hauptverhandlung<br />

zu beenden 166.<br />

Heribert Schumann weist in diesem Zusammenhang auf den 5. Senat des BGH<br />

hin, der, wohl im Anschluß an Sieg l67 , bezüglich der V-Mann-Problematik in<br />

einem obiter dictum die Annahme eines Strafausschließungsgr<strong>und</strong>es erwogen<br />

hatte 168. <strong>Die</strong>se "rechtstheoretisch eigenwillige Lösung" 169 des 5. Strafsenats spielte<br />

zunächst in der theoretischen <strong>und</strong> praktischen Diskussion keine große Rolle 170,<br />

so daß allenfalls im Hinblick aufExtremfälle für sie plädiert wurde 171. Neuerdings<br />

greifen jedoch Imme <strong>und</strong> Claus Roxin die These, es sei ein materiellrechtlicher<br />

Strafausschließungsgr<strong>und</strong> anzunehmen, wieder auf l72 •<br />

Bezogen auf die <strong>überlange</strong> Verfahrensdauer läge ein Umstand vor, der erst<br />

nach der Tat eingetreten sein kann, so daß insoweit nicht <strong>von</strong> einem Strafausschließungs-,<br />

sondern <strong>von</strong> einem Strafaufhebungsgr<strong>und</strong> zu reden wäre 173, der<br />

nach herrschender Meinung rückwirkend wieder die bereits begründete Strafbarkeit<br />

beseitigt 174. <strong>Die</strong>s deckte sich auch mit der - allerdings inzwischen überwun-<br />

162 H. Schumann, JZ 1986, S. 69.<br />

163 Drywa, <strong>Die</strong> materiellrechtlichen Probleme des V-Mann-Einsatzes, S. 32.<br />

164 Drywa, <strong>Die</strong> materiellrechtlichen Probleme des V-Mann-Einsatzes, S.32; Sieg,<br />

StV 1981, S. 636; MDR 1987, S. 368; Geppert, JK 1985, StPO § 260 III/ 1; E. Peters,<br />

Der sogenannte Freibeweis im Zivilprozeß, S. 45 f. Vgl. aber auch C. Roxin, <strong>Strafverfahren</strong>srecht21,<br />

§ 21 C; Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 73 ff.; Herrmann, ZStW 95 (1983),<br />

S.128.<br />

165 A. A. Mache, <strong>Die</strong> Zulässigkeit des Einsatzes <strong>von</strong> agents provocateurs, S. 200.<br />

166 A. A. LG Nürnberg, NStZ 1983, S. 136; siehe dazu Krey, <strong>Strafverfahren</strong>srecht<br />

II, Rn. 116 f. m. w.N.<br />

167 Sieg, StV 1981, S. 636; 638; vgl. auch Seelmann, ZStW 95 (1983), S. 830; unklar<br />

Mache, <strong>Die</strong> Zulässigkeit des Einsatzes <strong>von</strong> agents provocateurs, S. 201.<br />

168 BGH, StV 1984, S. 58 (59).<br />

169 Geppert, JK 1985, StPO § 136a/2.<br />

170 Bruns, StV 1984, S. 392; Schünemann, StV 1985, S. 429.<br />

171 Vgl. K. Meyer, NStZ 1985, S. 135; Teske, JA 1986, S. 109.<br />

l72 I. Roxin, Rechtsfolgen, S. 233 ff.; C. Roxin, <strong>Strafverfahren</strong>srecht21 , § 21 B 1II 4.<br />

173 Katzorke, Verwirkung, S. 197. <strong>Die</strong>s übersieht I. Roxin, Rechfsfolgen, S. 246, die<br />

die Annahme eines Strafausschließungsgr<strong>und</strong>es nur mit der Begründung ablehnt, daß<br />

die Verfahrensüberlänge nicht bereits bei Tatbegehung vorliegen kann, ohne ein Wort<br />

zur Frage des Strafaufhebungsgr<strong>und</strong>es zu verlieren.<br />

denen - Diskussion um die Rechtsnatur der Verjährung. <strong>Die</strong> Autoren, die der<br />

Verjährung (ausschließlich) materiellrechtlichen Charakter zugesprochen hatten,<br />

betrachteten sie als Strafaufhebungsgr<strong>und</strong> 175, soweit sie zu dieser Frage überhaupt<br />

Stellung nahmen 176.<br />

Zwar hatte der 5. Strafsenat sich zur materiellen Gr<strong>und</strong>lage seiner Konstruktion<br />

nicht geäußert; jedoch ist er so verstanden worden, daß die Verwirkung des<br />

staatlichen Strafanspruchs dem Strafausschließungsgr<strong>und</strong> zugr<strong>und</strong>e läge 177. Folge<br />

einer solchen Konstruktion wäre der Freispruch. <strong>Die</strong>s hat Arzt schon für seine<br />

Auffassung der Verwirkung des staatlichen Strafanspruchs bei schweren Verstößen<br />

gegen § 136a StPO gefolgert 178, Hillenkamp hat einen Freispruch bei <strong>überlange</strong>r<br />

Verfahrensdauer konstruktiv für möglich gehalten 179 <strong>und</strong> Volk allgemein für<br />

rechtsstaatswidriges Verhalten staatlicher Organe angenommen 180. Das LG Verden<br />

hat einen unzulässigen V-Mann-Einsatz zwar als Verfahrenshindernis angesehen,<br />

den Angeklagten aber daraufhin freigesprochen 181.<br />

Nun wird ein Freispruch, wie Volk bemerkt 182, als inadäquat empf<strong>und</strong>en 18<strong>3.</strong><br />

Hierdurch sei impliziert, man habe "den ,Fall' anhand der Maßstäbe des materiel-<br />

174 H. J. Hirsch in LKIO, vor § 32 Rn. 213, lehnt die Unterscheidung zwischen Strafausschließungs-<br />

<strong>und</strong> -aufhebungsgr<strong>und</strong> ab.<br />

175 Lazarus, <strong>Die</strong> sog. Schuld-, Strafausschließungs- <strong>und</strong> Strafaufhebungsgründe im<br />

Strafprozeß, S. 46 f.; v. Liszt / Schmidt, Lehrbuch des Strafrechts F6, § 72 I; Beling,<br />

Gr<strong>und</strong>züge des Strafrechts", § 34; vgl. auch Rob. v. Hippel, Deutsches Strafrecht II,<br />

§ 40 VI; Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts4, § 86 I 1; Volk, Prozeßvoraussetzungen,<br />

S. 226; Frank, StGB'8, § 66 Anm. II; Baumann / Weber, Strafrecht AT", § 30 III; Welzel,<br />

Das Deutsche Strafrechti], § 34 IV I b; Rudolphi in SK StGB, vor § 78 Rn. 10;<br />

Bockelmann, Niederschriften 2, S.330; K. Schäfer, Niederschriften 2, S.334; a.A.<br />

Lorenz, <strong>Die</strong> Verjährung im Strafrechte, S. 28 f.; 53; <strong>Die</strong> Regelung der Verjährung im<br />

Entwurf des Allgemeinen Teils eines Strafgesetzbuches, S. 8 m. w.N. (unklar aber in:<br />

<strong>Die</strong> Verjährung in der deutschen Strafgesetzgebung, S.56); Bloy, <strong>Die</strong> dogmatische<br />

Bedeutung der Strafausschließungs- <strong>und</strong> Strafaufhebungsgründe, S. 247.<br />

176 Dazu Bloy, <strong>Die</strong> dogmatische Bedeutung der Strafausschließungs- <strong>und</strong> Strafaufhebungsgründe,<br />

S. 200, der auch hinsichtlich der hierzu schweigenden Autoren annimmt,<br />

sie würden diese Auffassung teilen. So wohl auch Bockelmann, Niederschriften 2, S. 329.<br />

Unklar Bemmann, JuS 1965, S. 338.<br />

177 BGHSt 32, S. 345 (352 f.); Rieß in LR24, § 206a Rn. 57a; H. Schumann, JZ 1986,<br />

S. 69; Geppert, JK 1985, StPO § 136a/2; wohl auch LG Berlin, StV 1984, S. 457 (460).<br />

A. A. bezüglich ihrer Lösung aber I. Roxin, Rechtsfolgen, S. 208 ff. Vgl. auch Bruns,<br />

StV 1984, S. 392: Verwirkung <strong>und</strong> materieller Strafausschließungsgr<strong>und</strong> haben sachlich<br />

überhaupt nichts miteinander zu tun; ähnlich wohl J. Meyer, ZStW 95 (1983), S. 85<strong>3.</strong><br />

178 Arzt, FS K. Peters, S. 232 f.<br />

179 Hillenkamp, JR 1975, S. 137.<br />

180 Volk, StV 1986, S. 37; vgl. auch Neumann, ZStW 101 (1989), S. 93 f.<br />

181 LG Verden, StV 1982, S. 364 (365).<br />

182 Volk, StV 1986, S. 37.<br />

183 Vgl. Geppert, JK 1985, StPO § 136a/2: "Ich muß bekennen, daß ich so gesehen<br />

bei staatlich mit-provozierter Kriminalität dem provozierten Täter weniger gern einen<br />

Freispruch attestieren würde <strong>und</strong> folglich eher zur Lösung der Einstellung tendiere".<br />

Ähnlich Drywa, <strong>Die</strong> materiellrechtlichen Probleme des V-Mann-Einsatzes, S. 79; Katzorke,<br />

Verwirkung, S. 147.


154 4. Kap.: Freispruch wegen Verwirkung des Strafanspruchs<br />

len Rechts geprüft" 184. Es gehört also wohl nicht viel Prophetie zu der Annahme,<br />

daß dann, wenn die <strong>von</strong> Geppert noch vermißte abschließende Klärung der<br />

dogmatischen Grenzziehung zwischen Verfahrenshindernis einerseits <strong>und</strong> Strafausschließungsgr<strong>und</strong><br />

(bzw. -aufhebungsgr<strong>und</strong>) andererseits 185 bezüglich der Verwirkung<br />

des staatlichen Strafanspruchs zugunsten des materiellrechtlichen Instituts<br />

ausfiele, zwei Alternativen bestünden: Entweder würde - ähnlich wie häufig<br />

hinsichtlich der Verfolgungsverjährung 186 - der Verwirkung eine Doppelnatur<br />

zugesprochen wird mit der Folge des Prozeßurteils - oder aber das Schicksal<br />

der Figur der Strafanspruchsverwirkung wäre endgültig besiegelt. Ein Freispruch<br />

dürfte jedenfalls kaum zugestanden werden.<br />

Noch ungünstiger sehen die Möglichkeiten, über das Institut der Verwirkung<br />

einen Freispruch herzuleiten, dann aus, wenn man die "Redewendung <strong>von</strong> der<br />

Verwirkung des staatlichen Strafanspruchs"187, wie hier für richtig gehalten, im<br />

Sinne der Verwirkung der Strafverfolgungsbefugnis versteht: Es entfiele nicht<br />

die Strafbarkeit, sondern die Verfolgbarkeit 188. Darf der bestehende "Strafanspruch"<br />

aber lediglich nicht verfolgt werden, kann die korrekte Rechtsfolge nur<br />

Verfahrenseinstellung lauten 189. <strong>Die</strong>ses Ergebnis ergibt sich auch dann, wenn<br />

man es anhand anderer Abgrenzungsversuche überprüft: Stellt man mit Hilde<br />

Kaufmann die "Testfrage", ob beim Nichtmitdenken des Strafprozesses die Bestrafung<br />

<strong>von</strong> dem in seiner Rechtsnatur fraglichen Umstand abhängen würde 190,<br />

so wäre dies bei der Verwirkung der Strafverfolgungsbefugnis wohl zweifelsfrei<br />

zu verneinen, so daß Freispruch ausscheiden würde. Nichts anderes gilt vom<br />

Ergebnis her, fragte man mit Gallas, ob die Verwirkung der Strafverfolgungsbefugnis<br />

den Schutz des Gr<strong>und</strong>satzes "nulla poena sine lege" verdiene 191, stellte<br />

man mit Schmidhäuser auf den unmittelbaren Zusammenhang mit dem Tatgeschehen<br />

ab 192 oder machte man mit Stratenwerth die Grenzziehung vom Maß<br />

der Rechtsordnungswidrigkeit abhängig 19<strong>3.</strong><br />

184 Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 230. Vgl. dazu H. Kaufmann, Strafanspruch -<br />

Strafklagrecht, S. 114 ff.; 122.<br />

185 Geppert, JK 1985, StPO § 136a/2.<br />

186 Siehe unten, 7. Kap. B I 1.<br />

187 Katzorke, Verwirkung, S. 14<strong>3.</strong><br />

188 Katzorke, Verwirkung, S. 149. Vgl. auch schon Hillenkamp, JR 1975, S. 139.<br />

189 Vgl. Gallas, Niederschriften 5, S. 104; Schmidhäuser, ZStW 71 (1959), S. 550;<br />

Stratenwerth, ZStW 71 (1959), S. 57<strong>3.</strong><br />

190 H. Kaufmann, Strafanspruch - Strafklagrecht, S. 134. Vgl. dazu Volk, Prozeßvoraussetzungen,<br />

S. 11 ff., mit "ungewöhnlich scharfer Kritik" (Herrmann, ZStW 95<br />

, S. 126); Zielinski, GS H. Kaufmann, S. 876 f.; Bloy, <strong>Die</strong> dogmatische Bedeutung<br />

der Strafausschließungs- <strong>und</strong> Strafaufhebungsgründe, S. 24 ff.<br />

191 Gallas, Niederschriften 5, S. 104.<br />

192 Schmidhäuser, ZStW 71 (1959), S. 553; 558.<br />

193 Stratenwerth, ZStW 71 (1959), S. 57<strong>3.</strong><br />

Fünftes Kapitel<br />

Einstellung wegen Verletzung <strong>von</strong> Verfahrensrecht<br />

A. Überlange Verfahrensdauer als Verfahrenshindernis<br />

Ob damit aber schon die Verwirkung der Strafverfolgungsbefugnis als ein<br />

Verfahrenshindernis aufzufassen sein könnte, ist zurückhaltend zu beurteilen.<br />

Nach der herkömmlichen, auch <strong>von</strong> der Rechtsprechung vertretenen Ansicht ist<br />

für eine Prozeßvoraussetzung (also ein Verfahrenshindernis) bestimmend, daß<br />

es sich um einen Umstand handelt, der nach dem ausdrücklich erklärten oder<br />

aus dem Zusammenhang ersichtlichen Willen des Gesetzes für das <strong>Strafverfahren</strong><br />

so schwer wiegt, daß <strong>von</strong> seinem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein die<br />

Zulässigkeit des Verfahrens im ganzen (oder in ganzen Verfahrensabschnitten)<br />

abhängig gemacht werden muß, <strong>und</strong> zwar nicht nur im Interesse des Beschuldigten,<br />

sondern auch im öffentlichen Interesse. Der Umstand muß so beschaffen<br />

sein, daß er an eine bestimmte rechtserhebliche Tatsache angeknüpft werden<br />

kann <strong>und</strong> nicht <strong>von</strong> wertender Betrachtung abhängig ist I.<br />

<strong>Die</strong>se Beschreibung hat freilich nur eine geringe Aussagekraft2. Volk hat<br />

demgegenüber im Anschluß an Rimmelspacher 3 versucht, Prozeßvoraussetzungen<br />

als typisierte Voraussetzungen der Sicherung des Rechtsfriedens zu verstehen,<br />

so daß bei ihrem Fehlen <strong>von</strong> Rechts wegen kein Anlaß zur Bewährung der<br />

Strafrechtsordnung bestünde 4 . Nun hat Volk selbst schon den Einwand späterer<br />

Kritiker vorweggenommen5, daß auch sein Ansatz keine eindeutige Abgrenzung<br />

der Prozeßhindernisse <strong>von</strong> anderen Rechtsinstituten ermöglicht6.<br />

1 BGHSt 15, S. 287 (290); 24, S. 239 (240); 26, S. 84 (90 f.); 33, S. 183 (186); K.<br />

Schäfer in LR24, Einl. Kap. ll, Rn. 7; 9.<br />

2 Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 214 f.; Rieß in LR24, § 206a Rn. 25; JR 1985,<br />

S. 46 f.; Alberts, <strong>Die</strong> Feststellung doppelt relevanter Tatsachen in der strafprozessualen<br />

Revisionsinstanz, S. 122 ff.<br />

3 Rimmelspacher, Zur Prüfung <strong>von</strong> Amts wegen im Zivilprozeß, insbes. S. 134 ff.<br />

4 V~lk, Prozeßvoraussetzungen, S. 204 ff.; vgl. auch Sax in KMR, Einl. IX vor Rn. I;<br />

C. Roxm, <strong>Strafverfahren</strong>srecht 21 , § 21 A; Schlüchter, Das <strong>Strafverfahren</strong>2, Rn. 367; Herr­<br />

?1 ann , ZStW 95 (1983), S. 129 f.; Alberts, <strong>Die</strong> Feststellung doppelt relevanter Tatsachen<br />

m der strafprozessualen Revisionsinstanz, S. 126 f.<br />

5 Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 205.<br />

6 Vgl. Zielinski, GS H. Kaufmann, S. 877 f.; M.-K. Meyer, Zur Rechtsnatur <strong>und</strong><br />

Funktion des Strafantrags, S. 36; RieB, JR 1985, S. 47.


156 5. Kap.: Einstellung wegen Verletzung <strong>von</strong> Verfahrensrecht A. Überlange Verfahrensdauer als Verfahrenshindemis 157<br />

Da nun sowohl Volk 7 als auch etwa Karl SchäferS, auf dessen Ausführungen<br />

Bruns9 zufolge die einschlägige Rechtsprechung des BGH zum Begriff der Prozeßvoraussezungen<br />

basiert, ausdrücklich die Annahme eines Verfahrenshindernisses<br />

bei <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer folgend aus dem Verwirkungsgedanken<br />

verworfen haben, mag die Frage zunächst zurückgestellt werden, ob die Einstellung,<br />

erkennt man die Verwirkbarkeit der Strafverfolgungsbefugnis in Randbereichen<br />

<strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer an, mit einem Verfahrenshindernis zu begründen<br />

sei. Zuvor ist ein detaillierterer Blick auf die Diskussion vor allem in der<br />

Rechtsprechung zu werfen, der für weitergehende Klärung sorgen kann.<br />

I. Verfahrensdauer <strong>und</strong> Verjährung<br />

Nachdem die Erörterung der Möglichkeit einer Einstellung <strong>von</strong> <strong>Strafverfahren</strong><br />

gemäß §§ 170 11, 206a, 260 III, 354 I StPO wegen <strong>überlange</strong>r Verfahrensdauer<br />

1966 mit einem Revisionsverfahren vor dem 1. Strafsenat des BGH begonnen<br />

hatte 10, wurde 1970 erstmals ein Prozeßhindernis der <strong>überlange</strong>n Verfahrensdauer<br />

durch das LG Frankfurt dann auch tatsächlich bejaht 11. Das Gericht untersuchte,<br />

ob die für die Verfolgung benötigte Zeit in einem angemessenen Verhältnis zur<br />

Bedeutung des Verfahrensgegenstandes <strong>und</strong> dem Maß der Schuld des Beschuldigten<br />

gestanden habe, ob unter Berücksichtigung dieser Umstände seine Strafverfolgung<br />

noch geboten sei <strong>und</strong> ob in Anbetracht der verflossenen Zeit noch Aussicht<br />

auf zuverlässige <strong>und</strong> vollständige Wahrheitsermittlung bestehe. Hierbei berücksichtigte<br />

es vor allem, welche Strafe der Beschuldigte im Falle seiner Verurteilung<br />

zu erwarten hätte, <strong>und</strong> zwar sowohl nach dem abstrakten gesetzlichen Strafrahmen<br />

als auch nach den besonderen objektiven wie subjektiven Gegebenheiten des<br />

Einzelfalles. Zu beachten seien schließlich auch der Umfang der Sache <strong>und</strong> der<br />

Schwierigkeitsgrad der Ermittlungen 12.<br />

Damit hat das LG Frankfurt vor allem jene Aspekte hervorgehoben, die auch<br />

bei der Verfolgungsverjährung eine Rolle spielen 1<strong>3.</strong> <strong>Die</strong>s hat auch das LG Frankfurt<br />

erkannt, das vor dem Problem stand, daß gemäß § 78c III StGB i. d. F. des<br />

2. StrRG, das zwar schon verkündet, aber noch nicht in Kraft getreten war,<br />

Verfolgungsverjährung eingetreten wäre. Da das Verjährungsrecht auch im Hinblick<br />

auf die EMRK geändert wurde 14, war der Schluß des LG Frankfurt, eine<br />

7 Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 228 f.<br />

8 K. Schäfer in LR24, Einl. Kap. 12 Rn. 91.<br />

9 Bruns, NStZ 1985, S. 565.<br />

10 BGHSt 21, S. 81.<br />

11 LG Frankfurt, JZ 1971, S. 234.<br />

12 LG Frankfurt, JZ 1971, S. 234 (236).<br />

13 Hanack, JZ 1971, S. 712; zustimmend Heubel, Der "fair trial", S. 121.<br />

14 Vgl. OLG Kar1sruhe, NStZ 1972, S. 1907 (1909); LG Aachen, JZ 1971, S. 507<br />

(521); LG Krefeld, JZ 1971, S. 733 (734); Vogler, ZStW 89 (1977), S. 782.<br />

so lange <strong>Dauer</strong> könne generell nicht mehr als vereinbar mit Art. 6 I EMRK<br />

angesehen werden, ohne weiteres vertretbar. Wie richtig - jedenfalls intuitiv<br />

- das LG Frankfurt hier vorging, zeigt folgendes: Im Rahmen der geprüften<br />

sachbezogenen Umstände formulierte das Gericht nur "recht zurückhaltend" 15<br />

<strong>und</strong> "sehr vage" 16, wie erstaunt angemerkt wurde, daß der Umstand, ob das<br />

Ermittlungsverfahren "zielstrebig <strong>und</strong> energisch oder verzögerlich behandelt"<br />

worden sei, "ebenfalls nicht ohne Bedeutung bleiben" könne 17. Denn dieser<br />

Aspekt spielt für die Verjährung keine Rolle.<br />

Ähnliches gilt auch hinsichtlich des - völlig unbeachteten - Einstellungsbeschlusses<br />

des 5. Strafsenats des BGH <strong>von</strong> 1974. Hier hinterfragte der BGH nicht,<br />

ob oder inwieweit die Strafverfolgungsbehörden das Verfahren verzögert hatten,<br />

sondern betonte, daß schon weit über das Doppelte der Verjährungsfrist bis zum<br />

erstinstanzlichen Urteil verstrichen war - also nach dem noch nicht in Kraft<br />

getretenen neuen § 78c III StGB längst Verjährung eingetreten wäre IS.<br />

Der 2. Strafsenat des BGH <strong>und</strong> das OLG Koblenz kritisierten am Urteil des<br />

LG Frankfurt, mit der Heranziehung des künftigen Rechts zur Ausgestaltung<br />

<strong>und</strong> Konkretisierung <strong>von</strong> Art. 6 I EMRK würde gegen den erklärten Willen des<br />

Gesetzgebers noch nicht geltendes Recht angewendet 19. <strong>Die</strong>ser formellen Betrachtung<br />

ist jedoch entgegenzuhalten, daß zur Interpretation <strong>von</strong> Vorschriften<br />

wie zur Ausfüllung einer Gesetzeslücke es sogar geboten ist, eine ohnehin schon<br />

verabschiedete Gesetzesregelung heranzuziehen 20. Folglich dürfte die Verfahrenseinstellung<br />

sowohl durch das LG Frankfurt 21 als auch durch den 5. Senat<br />

des BGH in den konkreten Fällen richtig gewesen sein, <strong>und</strong> zwar unabhängig<br />

<strong>von</strong> der Frage, ob diese Rechtsfolge aus Art. 6 I EMRK folgen kann. Umgekehrt<br />

sind damit insoweit auch der Contergan-Beschluß des LG Aachen, ein Urteil<br />

des OLG Karlsruhe sowie die Entscheidung des LG Krefeld kurze Zeit später<br />

konsequent, die trotz vieljähriger Verfahrensdauer unter Hinweis auf den zukünftigen<br />

§ 78c III StGB ein Verfahrenshindernis verneinten, weil noch nicht die<br />

doppelte Verjährungsfrist erreicht war (vgl. § 78c 111 StGB)22 bzw. weil ein<br />

erstinstanzliches Urteil den Ablauf der Verjährungsfrist verhinderte (vgl. § 78b<br />

III StGB)2<strong>3.</strong> Auch die genannte Entscheidung des 2. Senats 24 erscheint vertretbar,<br />

15 Hanack, JZ 1971, S. 712.<br />

16 Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 229 Fn. 228.<br />

17 LG Frankfurt, JZ 1971, S. 234 (236).<br />

IS BGH, Beschl. v. 2.7.1974 - 5 StR 48/74 (Anhang 3).<br />

19 BGHSt 24, S. 239 (243); OLG Koblenz, NJW 1972, S. 404 (405).<br />

20 So auch Hanack, JZ 1971, S.712 Fn. 81; Kramer, Menschenrechtskonvention,<br />

S.191f.<br />

21 So auch ausdrücklich Kramer, Menschenrechtskonvention, S. 191 f.; wohl auch<br />

Hanack, JZ 1971, S. 712.<br />

22 OLG Karlsruhe, NJW 1972, S. 1907 (1909); LG Aachen, JZ 1971, S. 507 (521).<br />

23 LG Krefeld, JZ 1971, S. 733 (734).<br />

24 BGHSt 24, S. 239.


158 5. Kap.: Einstellung wegen Verletzung <strong>von</strong> Verfahrensrecht A. Überlange Verfahrensdauer als Verfahrenshindernis 159<br />

weil, wie der Dreierausschuß im Verfassungsbeschwerdeverfahren betonte, die<br />

doppelte Verjährungsfrist nur geringfügig überschritten war 25 .<br />

Allerdings enthält das Verjährungsrecht in diesem Bereich eine Lücke 26 , die<br />

äußerst bedenklich im Hinblick auf Art. 6 I EMRK ist 27 : Gemäß § 78b III StGB<br />

kann Verfolgungsverjährung nicht mehr nach Erlaß des erstinstanzlichen Urteils<br />

eintreten. <strong>Die</strong> Vollstreckungsverjährung nach § 79 StGB beginnt jedoch erst mit<br />

Rechtskraft des Urteils (§ 79 VI StGB).<br />

Hanack hat nun vorgeschlagen, diese Lücke im Wege des Erst-recht-Schlusses<br />

zu schließen 28: Ihm zufolge müsse es, wenn selbst bei rechtskräftiger Verurteilung<br />

die Strafvollstreckung ausgeschlossen sei, auch verboten sein, den Beschuldigten,<br />

dessen Verfahren nach der ersten Verurteilung die Vollstreckungsverjährungsfrist<br />

erreicht, noch mit der Vollstreckung zu bedrohen. Angesichts der Unschuldsvermutung<br />

könne der Verzicht auf die Vollstreckung nur in der Einstellung des<br />

Verfahrens bestehen. Als Ersatz für die verhängte Strafe gemäß § 79 StGB schlägt<br />

Hanack bei Geltung des Verbots der reformatio in peius den Strafausspruch des<br />

erstinstanzlichen Urteils vor, ansonsten den Rechtsmittelantrag der Staatsanwaltschaft.<br />

Letzteres wäre allerdings in der Praxis kaum realisierbar: <strong>Die</strong> Staatsanwaltschaft<br />

wird bei Rechtsmitteln zu Lasten des Beschuldigten regelmäßig in Berufungen<br />

beantragen, diesen (zu einer angemessenen Strafe) zu verurteilen 29 bzw. in<br />

Revisionen beantragen, die Sache zurückzuverweisen 30.<br />

Ob man eine solche Lückenschließung für prinzipiell zulässig erachtet, hängt<br />

letztlich da<strong>von</strong> ab, wie man bei Kollision <strong>von</strong> nationalem Strafrecht <strong>und</strong> EMRK<br />

deren Rangverhältnis versteht: Da der Gesetzgeber das Problem gesehen hat 3 !,<br />

würde dessen Absicht unterlaufen werden 32. Im Gegenteil ist in neueren Gesetzgebungsverfahren<br />

sogar diskutiert worden, § 78b III StGB schon an den Erlaß des<br />

Eröffnungsbeschlusses <strong>und</strong> nicht erst an das erstinstanzliche Urteil anzuknüpfen<br />

3<strong>3.</strong> So dürfte wohl selbst dann, wenn man der weitgehenden Entscheidung<br />

des BVerfG im 74. Band der amtlichen Sammlung folgt 3 4, da<strong>von</strong> ausgegangen<br />

werden können, daß die §§ 78 ff. StGB abschließend auch in Ansehung <strong>von</strong><br />

Art. 6 I EMRK sind. Aus der Menschenrechtskonvention könnte sich jedoch<br />

zumindest eine Verpflichtung des Gesetzgebers ergeben, § 78b III StGB abzuschaffen<br />

oder jedenfalls abzuändern 35.<br />

Möglicherweise wäre die <strong>von</strong> Hanack diskutierte Lücke jedoch - was hier<br />

nicht abschließend erörtert zu werden braucht - durch eine vorsichtige Analogie<br />

zu Normen des nationalen Rechts wenigstens teilweise zu schließen: Gemäß<br />

§§ 36,46 BZRG werden Verurteilungen zu Strafe (mit Ausnahme der lebenslangen<br />

Freiheitsstrafe) auf Gr<strong>und</strong>lage eines zeitlich gestaffelten Katalogs aus dem<br />

Zentralregister getilgt, der auf den "Tag des ersten Urteils" abhebt 36 . Es erscheint<br />

nun widersprüchlich, wenn einerseits eine Tat bei Erledigung u. U. schon nach<br />

fünf Jahren einem Verwertungsverbot (§ 51 I BZRG) unterliegt, andererseits<br />

aber das <strong>Strafverfahren</strong> zeitlich unbegrenzt weiter fortlaufen dürfen so1l37.<br />

Weitere, mehr theoretische Bedenken dürften auch im Bereich <strong>von</strong> § 78 11<br />

<strong>und</strong> IV StGB bestehen: <strong>Die</strong> "Balance ,lebenslange Strafe -lebenslange Verfolgung'''38<br />

ist vor allem für die Beihilfe zum (Völker-)Mord - Strafrahmen: 3<br />

bis 15 Jahre Freiheitsstrafe - vom Gesetzgeber im 16. StrÄndG nicht eingehalten<br />

worden 39; sie wird auch <strong>von</strong> der vom BGH zugelassenen Strafrahmensenkung<br />

gemäß § 49 I Nr. 1 StGB40 <strong>und</strong> der gemilderten Höchststrafe im Jugendstrafrecht<br />

(§ § 18 I Satz 2, 105 III JGG) 41 berührt. Selbst die nunmehr gesetzlich zugelassene<br />

Aussetzung des Strafrests zur Bewährung bei lebenslanger Freiheitsstrafe (§§ 57a,<br />

57b StGB) - man vergleiche die oben erwähnte Rechtsprechung zurProportionalität<br />

<strong>von</strong> Untersuchungshaft <strong>und</strong> vollstreckter Freiheitsstrafe 42 - verstärkt die<br />

Bedenken. Es dürfte also - jedenfalls theoretisch - so lang andauernde, wenngleich<br />

unverzögerte Mordprozesse geben können, daß Art. 6 I EMRK verletzt<br />

sein würde.<br />

25 BVerfG (Vorprüfungsausschuß), Besch!. v. 21.6.1972 - 2 BvR 146/72 (Anhang<br />

1). Gleiches gilt auch für BGH, Urt. v. 31.<strong>3.</strong>1976 - 3 StR 502/75 (Anhang 6).<br />

26 Dreher / Tröndle, StGB44, § 78 Rn. 11; Hanack, JZ 1971, S. 714; ähnlich Kohlmann,<br />

FS Pfeiffer, S. 219 ff.<br />

27 Hanack, JZ 1971, S. 71<strong>3.</strong><br />

28 Hanack, JZ 1971, S. 714.<br />

29 Vg!. etwa Kunigk, <strong>Die</strong> staatsanwaltschaftliehe Tätigkeit', S. 271 f.; D. Rahn, Mustertexte<br />

zum Strafprozeß4, S. 198.<br />

30 Vg!. etwa Kunigk, <strong>Die</strong> staatsanwaltschaftliehe Tätigkeit" S. 277; 280; D. Rahn,<br />

Mustertexte zum Strafprozeß4, S. 220; 214; Amelunxen, <strong>Die</strong> Revision der Staatsanwaltschaft,<br />

S. 42 f.<br />

31 Siehe Begr. E 1962, BT-DrS IV /650, S. 359; 2. Schrift!. Bericht des Sonderausschusses<br />

für die Strafrechtsreform, BT-DrS V/4095, S. 44.<br />

32 Jähnke in LKlO, vor § 78 Rn. 18; K. Schäfer in LR24, Ein!. Kap. 12 Rn. 92.<br />

33 Vg!. Begr. BRatE StrÄndG, BT-DrS 10/272, S. 6.<br />

34 BVerfGE 74, S. 358 (370); siehe dazu oben, <strong>3.</strong> Kap. B V.<br />

35 Vg!. Kohlmann, FS Pfeiffer, S. 22<strong>3.</strong><br />

36 Interessanterweise wurde auf Vorschlag <strong>von</strong> Lorenz (<strong>Die</strong> Verjährung in der deutschen<br />

Strafgesetzgebung, S. 66 ff.) in den Gesetzgebungsarbeiten zum E 1962 (vg!. Begr.<br />

RegE 1962, BT-DrS 7/551, S. 257) diskutiert - <strong>und</strong> abgelehnt -, die Tilgung der<br />

(registerrechtlichen) Strafwirkungen in einer dritten Verjährungsart, der Straffolgenverjährung,<br />

zu regeln.<br />

37 Vg!. J. Blau, DuR 1989, S. 252 f.<br />

38 LG Hamburg, NStZ 1981, S. 141 (142).<br />

39 LG Hamburg, NStZ 1981, S. 141; Triffterer, NJW 1980, S. 2049 ff.; vg!. auch<br />

Schünemann, NStZ 1981, S. 143 f.; OLG Frankfurt, NJW 1988, S. 2900.<br />

40 Ständige Rechtsprechung seit BGHSt 30, S. 105; siehe auch unten, 7. Kap.<br />

eIl 2 b.<br />

41 Vg!. J. Blau, DuR 1989, S. 252 f.<br />

42 Siehe oben, <strong>3.</strong> Kap. B III 2.


160 5. Kap.: Einstellung wegen Verletzung <strong>von</strong> Verfahrensrecht A. Überlange Verfahrensdauer als Verfahrenshindernis 161<br />

11. Verfahrensbelastungen <strong>und</strong> Verhandlungsunfähigkeit<br />

Weiterhin hielt es das LG Frankfurt in der genannten Entscheidung für möglich,<br />

ein <strong>Strafverfahren</strong> einzustellen, wenn die "personengeb<strong>und</strong>ene Prüfung" ergäbe,<br />

daß "der konkrete Angeklagte durch die lange <strong>Dauer</strong> eines Verfahrens so sehr<br />

betroffen <strong>und</strong> beeinträchtigt worden ist, daß dessen Fortsetzung ihm nicht mehr<br />

zugemutet werden kann. Dabei sind insbesondere ges<strong>und</strong>heitliche <strong>und</strong> wirtschaftliche<br />

Folgen eines langen Verfahrens zu berücksichtigen, aber auch das Maß der<br />

seelischen Bedrückung, der Angst <strong>und</strong> der Unruhe, mit denen ein Angeklagter<br />

seinem Verfahren entgegengesehen hat."43 Hier ändert das Gericht seinen Blickwinkel<br />

<strong>von</strong> der Proportionalität hin zur Zumutbarkeit.