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Der Tag geht über mein Gesicht
Jacques Hurni
Der Ort vereinigt Gegensätze: Natur und
Technik, Wissenschaft und Handwerk,
Eile mit Langsamkeit, Licht und
Schatten. Wir sind in Vingelz, etwas
mehr als einen Kilometer seeaufwärts.
Vom Parkplatz neben dem Gottstatterhaus
blicken wir über die Autostrasse
zur Stützmauer am Jurahang. Üppiger
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Efeu und wilde Reben erobern dort
neuen Lebensraum. Aber zwischen dem
dunkeln Grün der Efeugirlanden und
dem flammenden Rot der herbstlichen
Reben gewahren wir ein kunstvolles
Geflecht aus geraden und verschlungenen
Linien. Die römischen Ziffern
von V bis XII am oberen Rand deuten an,
dass wir dort eine Sonnenuhr vor uns
haben. Vom frühen Morgen bis zum
Mittag können wir am langsam wandernden
Schatten des Sonnenzeigers die
Zeit ablesen. Der Bieler Mathematiker
und Astronom Heinz Schilt (1910–1999)
hat diese besondere Anordnung berechnet
und entworfen. Einem Meister
seines Handwerks gelang es, die Pläne
souverän in eine Metallkonstruktion umzusetzen.
Lassen wir uns von der Eile und den
Geräuschen des Verkehrs auf der Autostrasse
nicht stören. Es vergehen etwa
15 Minuten, bis sich die dunkle Zeitmarke
für uns erkennbar nach rechts
verschoben hat. Während dieser Zeit
können wir die Tafel am Geländer zum
See studieren. Text und Bild entschlüsseln
uns die Geheimnisse dieser aussergewöhnlichen
Sonnenuhr. Über die Geometrie
des Linienmusters erschliessen
sich uns die echte Ortszeit, die Stunden
von Sonnenauf- und -untergang, den
Monat und das entsprechende Tierkreiszeichen.
Alle diese Werte ergeben sich
unmittelbar aus den Bewegungen der
Gestirne im Raum, in diesem Fall aus
der Stellung der Erde zur Sonne. Die
Sonnenuhr zeigt nicht unsere persönliche
Zeit. Sie vereinigt Raum und Zeit
zur übergeordneten Raumzeit. So betrachtet,
ist vielleicht jedes Vorrücken
des runden Schattens zwischen den
Arabesken von Efeu und Rebe auch ein
Partikelchen Ewigkeit.
An einem alten Turm in Darmstadt lässt
der Dichter Rudolf Binding (1867–1938)
eine Sonnenuhr zu uns sprechen:
Der Tag geht über mein Gesicht
Die Nacht, sie tastet leis vorbei.
Und Tag und Nacht ein gleich Gewicht
und Nacht und Tag ein Einerlei.
Es schreibt die dunkle Schrift der Tag
und dunkler noch schreibt sie die Nacht.
Und keiner lebt, der deuten mag,
was beider Schatten ihm gebracht.
Und ewig kreist die Schattenschrift,
verweist dich auf des Lebens dunkles
Spiel.
Bis einmal dich die Deutung trifft:
Die Zeit ist um. Du bist am Ziel.
Jacques Hurni ist pensionierter Fernmeldetechniker;
er wohnt in Biel.
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