Heinz Sahner (Hrsg.) Zur Leistungsfähigkeit telefonischer ... - SFB 580
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<strong>SFB</strong> <strong>580</strong><br />
Mitteilungen<br />
Heft 4 (2002)<br />
CATI-Labor<br />
am Zentrum<br />
für Sozialforschung<br />
Halle e.V.<br />
<strong>Heinz</strong> <strong>Sahner</strong> (<strong>Hrsg</strong>.)<br />
<strong>Zur</strong> <strong>Leistungsfähigkeit</strong><br />
<strong>telefonischer</strong> Befragungen<br />
Gesellschaftliche<br />
Entwicklungen<br />
nach dem<br />
Systemumbruch<br />
Das Methodenprojekt des <strong>SFB</strong> <strong>580</strong> -<br />
zwischen Methodenentwicklung und Dienstleistung
Heft 4, September 2002<br />
Sonderforschungsbereich <strong>580</strong><br />
“Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch.<br />
Diskontinuität, Tradition und Strukturbildung”<br />
Sprecher: Prof. Dr. Rudi Schmidt<br />
<strong>SFB</strong> <strong>580</strong>, Carl-Zeiß-Straße 2, 07743 Jena<br />
Telefon: (49-3641)945050<br />
Fax: (49-3641)945052<br />
E-Mail:<br />
schmidt@soziologie.uni-jena.de<br />
Internet: www.sfb<strong>580</strong>.uni-halle.de<br />
www.sfb<strong>580</strong>.uni-jena.de<br />
Verantwortlich für dieses Heft:<br />
Dipl.-Soz. Christian Koll<br />
Zentrum für Sozialforschung Halle e.V.<br />
an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg,<br />
Emil-Abderhalden-Str. 6, 06108 Halle/Saale<br />
Telefon: (49-345)5526622<br />
Fax: (49-345)5526601<br />
E-Mail:<br />
koll@zsh.uni-halle.de<br />
Satz: Yvonne Müller<br />
Logo: Elisabeth Blum; Peter Neitzke (Zürich)<br />
Druck: Art Publicity Promotion GmbH Halle<br />
ISSN: 1619-6171<br />
Diese Arbeit ist im Sonderforschungsbereich <strong>580</strong> “Gesellschaftliche Entwicklungen<br />
nach dem Systemumbruch. Diskontinuität, Tradition und Strukturbildung” entstanden<br />
und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung des Landeszuschusses<br />
Sachsen-Anhalt zur Grundausstattung des Teilprojektes M gedruckt.<br />
Alle Rechte vorbehalten.
Nr. 4 2002 <strong>SFB</strong> <strong>580</strong> Mitteilungen<br />
Inhalt des Heftes 4<br />
Vorwort ......................................................................................Seite 5<br />
HEINZ SAHNER<br />
Teil 1<br />
Das telefonische Interview ............................................................Seite 7<br />
MICHAEL BAYER<br />
Methodeneffekte in telefonischen Interviews ....................................Seite 19<br />
CHRISTIAN KOLL<br />
Anmerkungen zur Zusammenarbeit unterschiedlicher<br />
Forschungstraditionen .................................................................. Seite 27<br />
GERALD PREIN<br />
Diskussion ...................................................................................Seite 33<br />
Teil 2<br />
Das CATI-System......................................................................... Seite 35<br />
CHRISTINA BUCHWALD<br />
Diskussion ...................................................................................Seite 43<br />
Die Autoren .................................................................................Seite 47
Nr. 4 2002 <strong>SFB</strong> <strong>580</strong> Mitteilungen<br />
Vorwort<br />
HEINZ SAHNER<br />
Stellung und Bedeutung des M-Projektes im <strong>SFB</strong> <strong>580</strong><br />
Dem M-Projekt kommt innerhalb des <strong>SFB</strong> eine ganz besondere Bedeutung zu. Warum? Zumindest<br />
drei Gründe sind aufzuführen:<br />
(1) Als Teilprojekt mit einem eigenständigen Profil dient das M-Projekt der Methodenentwicklung.<br />
Insbesondere im Bereich der Qualitätssicherung sowie der methodischen<br />
Weiterentwicklung der Möglichkeiten der Integration von quantitativen und qualitativen<br />
Methodologien existiert ein nachgerade hoher Forschungs- und Entwicklungsbedarf.<br />
(2) Zweitens hat das M-Projekt eine integrative Funktion. Es ist projektübergreifend und<br />
es nötigt die an den Universitäten Halle und Jena tätigen Wissenschaftler, vor und während<br />
der Erhebung in einen Diskurs zu treten: Aus inhaltlichen, aus methodischen und aus<br />
organisatorischen Gründen. Telefonische Befragungen setzen andere Standards als paper<br />
and pencil interviews (PAPI). Notwendig werden beim Entwurf des elektronischen Fragebogens<br />
auch inhaltliche Fragen berührt. Zusammen mit der Notwendigkeit der Abstimmung<br />
der Fülle der Erhebungen wird also ein reger Austausch zwischen den Beteiligten erforderlich<br />
sein.<br />
(3) Drittens hat das Projekt Dienstleistungsfunktion, wie sich unschwer aus dem Projektantrag<br />
und an der Zahl der computergestützten telefonischen Befragungen (CATI) ablesen<br />
lässt (vgl. Tab. 1).<br />
Alle diese Aspekte haben auch die Gutachter betont und diese Sicht der Dinge, diese Erwartung,<br />
ist auch in die Genehmigung des <strong>SFB</strong> <strong>580</strong> durch die DFG eingegangen:<br />
“Durch gemeinsame Entwicklung der Methoden (v. a. Telefoninterviews) und die Überwindung<br />
der in diesem Fachgebiet manchmal sehr hohen disziplinären Schranken ist ein in sich<br />
kohärentes Vorhaben gewachsen. (...) Um den methodischen Austausch weiter zu intensivieren<br />
und alle Teilprojekte von dem im Sonderforschungsbereich vorhandenen Methoden-Know-how<br />
profitieren zu lassen, wird empfohlen, im methodischen Bereich gemeinsame<br />
Workshops oder Sommerschulen durchzuführen. Auch über ein eigenes Projekt zur<br />
Methodenentwicklung sollte mittelfristig nachgedacht werden” (DFG-Bewilligung vom 6.<br />
Juni 2001, Abschnitt III).<br />
Mit dem Workshop am 12. März 2002 sollte begonnen werden, dieses Programm zu realisieren.<br />
Funktionen des Workshops:<br />
1. Präsentation des Instrumentes: CATI-Labor,<br />
2. Einführung in die Möglichkeiten und Probleme <strong>telefonischer</strong> Befragungen,<br />
3. Möglichkeit für die Cooperanten zur Diskussion und zur Abstimmung von Fragen.<br />
Vor allem ging es auch darum, Vorurteile gegenüber der telefonischen Befragung abzubauen.<br />
Immer noch wird dem Instrument mit großer Skepsis begegnet. Der Einschätzung als “quick<br />
and dirty” in den siebziger und achtziger Jahren ist längst einer Neubewertung gewichen,<br />
die selbst zwar schon in Lehrbüchern ihren Niederschlag gefunden hat 1 , aber in der Profession<br />
noch nicht verankert ist, und weder in der Lehre noch in der Forschung angemessenen<br />
Niederschlag findet.<br />
5
Teil 1<br />
H. <strong>Sahner</strong>: Vorwort<br />
So wurden nach dem Jahresbericht 2000 des Arbeitskreises Deutscher Markt- und<br />
Sozialforschungsinstitute e. V. Frankfurt (ADM) schon 1996 im privatwirtschaftlich<br />
verfassten Bereich der Markt- und Sozialforschung bereits 44% der Befragungen mit dem<br />
Telefon (CATI) durchgeführt und über 10% der persönlichen Interviews mit dem Laptop<br />
gewonnen, während der akademische Bereich weit hinterherhinkt. Recherchen in den Datenbanken<br />
des Informationszentrums Sozialforschung Bonn (IZ) ergeben, dass in den<br />
Forschungsprojekten und wissenschaftlichen Publikationen, in denen auf Befragungen<br />
zurückgegriffen wurde, Telefonumfragen nur eine geringe Rolle spielen. Für den Zeitraum<br />
von 1992 bis 1997 ist das in der Literaturdatei SOLIS nur in 0,5% der Fälle und in der<br />
Forschungsdatei FORIS nur in 1,5% der Fälle geschehen. Während in den etwa 40 Mitgliedsinstituten<br />
des ADM 1996 1.738 CATI-Plätze installiert waren, waren es an den deutschen<br />
Universitäten nur etwa 100 2 . Wie können unter diesen Umständen Studenten adäquat auf<br />
die Praxis vorbereitet werden?<br />
Auch vor diesem Hintergrund ist die Initiative der Gutachter und der DFG zu begrüßen.<br />
Packen wir’s an!<br />
Tabelle 1:<br />
Arbeitsprogramm des Teilprojektes M des <strong>SFB</strong> <strong>580</strong>:<br />
Geplante CATI-Erhebungen von 2002 bis 2013<br />
<strong>SFB</strong>-<br />
Antragsphase<br />
Teilprojekt A2 Teilprojekt A3 Teilprojekt A4 Teilprojekt B2<br />
Elitenpanel:<br />
Quantitatives<br />
Betriebspanel:<br />
Führungskräftebefragung<br />
Abgeordnetenbefragung<br />
Bevölkerungsbefragung<br />
Elitenpanel<br />
Betriebspanel<br />
Erste<br />
Antragsphase:<br />
2001-2004<br />
1. Welle:<br />
N ca. 700<br />
1. Welle:<br />
N=1500<br />
1. Welle:<br />
N=2000<br />
1. Welle:<br />
N ca. 200<br />
1. Welle:<br />
N=800<br />
Zweite<br />
Antragsphase:<br />
2004-2007<br />
2. Welle 2. Welle:<br />
N=2000<br />
2. Welle:<br />
N ca. 200<br />
2. Welle<br />
Dritte<br />
Antragsphase:<br />
2007-2010<br />
3. Welle 3. Welle:<br />
N=2000<br />
3. Welle:<br />
N ca. 200<br />
3. Welle<br />
Vierte<br />
Antragsphase:<br />
2010-2013<br />
4. Welle 2. Welle 4. Welle:<br />
N=2000<br />
4. Welle:<br />
N ca. 200<br />
4. Welle<br />
1<br />
Rainer Schnell / Paul Hill / Elke Esser, 1999: Methoden der empirischen Sozialforschung. München, S.<br />
340ff. Selbst die befürchteten Methodeneffekte scheinen weit übertrieben. Vgl. hierzu: E.D. de Leeuwe,<br />
1993: Data quality in mail, telephone and face-to-face surveys. Amsterdam. Oder: Band 15 der Schriftenreihe<br />
“Spektrum Bundesstatistik”: Neue Erhebungsinstrumente und Methodeneffekte. Stuttgart 2000.<br />
2<br />
Vgl. hierzu: Deutsche Forschungsgemeinschaft, 1999: Qualitätskriterien der Umfrageforschung. Denkschrift.<br />
Herausgegeben von Max Kaase. Bonn, S. 71 und S. 145 f.<br />
6
Nr. 4 2002 <strong>SFB</strong> <strong>580</strong> Mitteilungen<br />
Das telefonische Interview<br />
MICHAEL BAYER<br />
1. Methodologische Voraussetzungen<br />
empirischer Sozialforschung<br />
Das telefonische Interview, als ein Sonderfall des<br />
Interviews in Bezug auf das benutzte Instrument<br />
und als ein mittlerweile gängiges Verfahren der<br />
Erhebung quantitativer Daten (vgl. Bayer 2001,<br />
S. 2 f.), erscheint auf den ersten Blick als methodologisch<br />
wenig erklärungsbedürftig. Betrachtet<br />
man jedoch die vorhandene Literatur<br />
zur allgemeinen Interviewthematik 1 , so zeigt<br />
sich, dass diese Methodik bzw. dieses Instrument<br />
theoretisch meist unterreflektiert geblieben<br />
ist.<br />
Unter Theorien verstehen wir, in Anlehnung an<br />
Habermas, ”Ordnungsschemata, die wir in einem<br />
syntaktisch verbindlichen Rahmen beliebig konstruieren.<br />
Sie erwiesen sich für einen speziellen<br />
Gegenstandsbereich dann als brauchbar, wenn<br />
sich ihnen die reale Mannigfaltigkeit fügt.”<br />
(Habermas 1982, S. 17). Insoweit grenzen wir<br />
uns an dieser Stelle explizit von der Popperschen<br />
Definition von Theorien ab, der sie als eine Art<br />
Netz betrachtet, ”das wir auswerfen, um die<br />
”Welt” einzufangen, – sie zu rationalisieren, zu<br />
erklären und zu beherrschen.” (Popper 1989, S.<br />
31). Der Unterschied liegt hierbei weniger im<br />
Verfahren selbst, als vielmehr in den damit verbundenen<br />
Absichten. Die bei Habermas explizite<br />
Abhängigkeit oder auch <strong>Zur</strong>ückgenommenheit<br />
der Theoriekonstruktion wird bei Popper zu einem<br />
zielgerichteten Prozess, dessen Endpunkt<br />
in der Beherrschung der ”Welt” liegt.<br />
Die Sozialwissenschaften sind immer bereits mit<br />
der Rache des Objekts bedroht, ”wenn das noch<br />
im Erkennen befangene Subjekt den Zwängen<br />
eben der Sphäre verhaftet bleibt, die es doch<br />
analysieren will.”(Habermas 1982, S. 18). Im<br />
Hinblick auf die Methode des (telefonischen)<br />
1<br />
Vgl. hierzu grundlegend Scheuch (1967) für den<br />
deutschsprachigen und Hyman, Feldman & Stemper<br />
(1954) für den angloamerikanischen Bereich.<br />
2<br />
An dieser Stelle kann man insoweit Soeffner zustimmen,<br />
wenn er sagt: ”jede Form von Sozialforschung<br />
[ist] in einem sehr allgemeinen Sinn interpretativ.[...]<br />
Sozialforschung basiert auf Akten der Deutung, erarbeitet<br />
und bezieht sich auf verstehensmäßig konstituierte<br />
Daten und gewinnt ihre Erklärungen durch<br />
Dateninterpretation. Aus dieser Perspektive ergibt<br />
sich kein Fundament für eine Konfrontation zwischen<br />
quantitativer und qualitativer Sozialforschung.”<br />
(Soeffner 1989, S. 53).<br />
Interviews zeigt sich eine grundsätzliche Problematik<br />
empirisch-analytischer Handlungswissenschaften,<br />
wie wiederum Habermas treffend<br />
anmerkt: im fehlenden Kontinuum ”zwischen<br />
kategorialem Rahmen, Meßstandards und<br />
Erfahrungsbasis [...] Hier wählen wir die Meßinstrumente<br />
ad hoc, ohne zu wissen, ob die darin<br />
implizierten Annahmen mit den Theorien, die<br />
überprüft werden sollen, überhaupt eine systematische<br />
Beziehung haben.” (ebd., S. 215).<br />
Im Interview – zumal im telefonischen – stellt die<br />
gesprochene Sprache den einzigen Träger von<br />
Information und gegenseitigem Verständnis dar.<br />
Die Wissenschaft insgesamt setzt, wie Apel treffend<br />
ausführt, ”als Bedingung der Möglichkeit<br />
ihrer eigenen Sätze die Intersubjektivität der<br />
Sprache bereits als hergestellt voraus – und<br />
zwar nicht nur im Sinne einer schlecht und recht<br />
funktionierenden Verständigung, sondern im Sinne<br />
von Eindeutigkeit möglicher Tatsachenbeschreibung...<br />
.” (Apel 1976, S. 42).<br />
Verstehen und Tatsachenbeschreibung bis hin<br />
zur Erklärung von Tatsachenzusammenhängen<br />
basieren letzten Endes immer auf Vorgängen der<br />
Interpretation. 2 Entscheidend für den Charakter<br />
dieser Interpretationsprozesse ist für Soeffner<br />
weniger die Unterscheidung in qualitativ und<br />
quantitativ Forschende, als vielmehr die<br />
wissenschaftstheoretische Qualität des<br />
Untersuchungsansatzes. Es geht um Unterschiede<br />
in der Beantwortung der Frage nach dem<br />
Status des Subjekts in der Welt als entweder<br />
immer schon intersubjektives in der Welt sein<br />
oder als der (objektiven) Welt gegenüber stehendes<br />
Subjekt. 3<br />
3<br />
Für Soeffner unterscheiden sich standardisierte und<br />
nicht-standardisierte Verfahren der Datengewinnung<br />
vor allem dadurch, dass die ersten ihre Erhebungsstandards<br />
künstlich erarbeiten, während letztere sich<br />
in ihren Erhebungen auf die vorhandenen natürlichen<br />
Standards und Routinen innerhalb der Kommunikation<br />
beziehen. ”Und schon auf dieser ersten Ebene<br />
scheitert eine ganze Anzahl der qualitativen Untersuchungen,<br />
deren zweifelhafte Qualitäten entweder in<br />
naivem Intuitionismus und Empathie sowie in der unkontrollierten<br />
Anwendung alltäglicher Deutungsroutinen<br />
und Plausibilitätsmaximen bestehen...”<br />
(ebd., S. 59).<br />
7
Teil 1<br />
M. Bayer: Das telefonische Interview<br />
Für das (telefonische) Interview bedeutet dies<br />
nunmehr, dass es jenseits der anvisierten und<br />
prinzipiell asymmetrischen Kommunikationssituation<br />
zwischen Interviewer und Befragten<br />
eine Verständlichkeit und Möglichkeit zur Verständigung<br />
geben muss, auf der das Interview<br />
als Methode insgesamt aufliegt. Der Interviewer<br />
steht in der anforderungsreichen Position eines<br />
Übersetzers von wissenschaftlichem Code<br />
in alltagsweltlich verstehbare Kommunikation. Die<br />
standardisierte Befragung muss sich hierbei vor<br />
allem in Bezug auf die zur Anwendung kommenden<br />
(sozialwissenschaftlichen) Standards Rechenschaft<br />
geben; nur so kann gewährleistet<br />
werden, dass die darin angelegte Kontrollbasis<br />
tatsächlich als eine solche fungieren kann. 4<br />
Grundsätzlich arbeitet die standardisierte Befragung<br />
mit der Idee, die Übersetzungsleistung –<br />
im Sinne einer Verständlichmachung – bereits in<br />
der Fragebogenkonstruktion zu bewerkstelligen.<br />
Der beste standardisierte Fragebogen macht<br />
eben keinen ”Sinn”, wenn er von den Befragten<br />
nicht verstanden wird. Zudem sind die Sozialwissenschaften<br />
immer bereits mit dem Problem<br />
konfrontiert, dass ihre wissenschaftlichen Codes<br />
auf vermeintliches Verständnis treffen, was es<br />
um so schwieriger macht, mögliche ”Fehlverständnisse”<br />
als solche zu identifizieren. 5<br />
An dieser Stelle muss unter Bezug auf das soeben<br />
angemerkte ein kurzer thematischer Exkurs<br />
angefügt werden, der sich mit der Frage nach<br />
dem kritisch-emanzipatorischen Potenzial von<br />
empirischer Sozialforschung auseinandersetzt.<br />
Soziologisch relevante und oftmals hoch abstrakte<br />
Konzepte, wie beispielsweise ”Demokratie”,<br />
”Macht” oder ”Gerechtigkeit”, finden sich in der<br />
Alltagskommunikation in ausgeprägtem Maße<br />
wieder. 6 In verschiedenen Studien wurde immer<br />
wieder festgestellt, dass man jedoch bei näherem<br />
Hinterfragen auf keine klare Vorstellung trifft.<br />
4<br />
Wenn der oder die Forschenden in der Konstruktion<br />
und der Anwendung von Standards Wissen einfließen<br />
lassen, welches nicht expliziert wird, dann steht die<br />
Interpretation der gewonnenen Daten immer bereits<br />
unter Annahmeverdacht.<br />
5<br />
Letzten Endes versucht das Interview in Bezug auf<br />
den Interviewer, das zu vermeiden, was bereits Mead<br />
als Spezifikum vokaler Kommunikation bezeichnet:<br />
”sie ist einer jener gesellschaftlichen Reize, der das<br />
sie gebrauchende Wesen auf die gleiche Weise beeinflussen<br />
würde, wenn er von einem anderen Wesen<br />
käme.” (Mead 1973, S. 101 f.). In Bezug auf den Fragebogen<br />
merken Bourdieu u.a. jedoch an: ”Auch ein<br />
Fragebogen ausschließlich mit geschlossenen Fragen<br />
garantiert nicht schon deshalb Eindeutigkeit der Antworten,<br />
weil er alle Untersuchungspersonen formal<br />
gleichen Fragen unterwirft.” (Bourdieu,<br />
Chamboredon, Passeron 1991, S. 49).<br />
An diesem Punkt zeigt sich die soziale<br />
Veränderungs- bzw. Einwirkungsmächtigkeit<br />
empirischer Sozialforschung in besonderem<br />
Maße. Die vorgenommenen Operationalisierungen<br />
bzw. die für spezifische Fragen angebotenen<br />
Antwortkategorien vermitteln dem Befragten<br />
eine Art von allgemein vorherrschender<br />
Interpretation des je spezifischen Begriffes. 7<br />
Insoweit dient die empirische Sozialforschung<br />
den Befragten auch als eine Möglichkeit der<br />
Wahrnehmung von gesellschaftlich akzeptierten<br />
Einstellungen und Verhaltensweisen. 8<br />
Das heißt zusammenfassend, dass die empirische<br />
Sozialforschung in einer besonderen Verantwortung<br />
im Hinblick auf das eigene Handeln steht,<br />
und das gerade, weil sie durch ihre<br />
Untersuchungsmethoden immer auch den untersuchten<br />
Gegenstand verändert, und weil mit<br />
dieser Veränderung immer auch ein spezifischer<br />
Kommunikations- und Handlungstyp einhergeht.<br />
Die grundsätzliche Frage, die jede Wissenschaft<br />
aber auch jede spezifische Methodik zu beantworten<br />
hat, ist die nach dem ihr zugrundeliegenden<br />
Erkenntnisinteresse. Welche Art von Antwort<br />
bzw. welche Qualität von Information soll<br />
mittels des (telefonischen) Interviews erhoben<br />
werden? Oder anders formuliert: Was ist denn<br />
eigentlich – um ein Anwendungsbeispiel zu nutzen<br />
– der ”wahre” Wert der persönlichen Einstellung<br />
zu Demokratie? Genau an dieser Stelle zeigt<br />
sich sehr deutlich die Wichtigkeit, über die<br />
Grundannahmen methodischer Arbeit zu reflektieren.<br />
So könnte die Frage ebenso lauten: Gibt es jenseits<br />
einer intersubjektiven Kommunikationssituation<br />
– wozu auch ein Interview zählt –<br />
überhaupt so etwas wie eine Einstellung zur<br />
Demokratie? Gesetzt den Fall, die zugrundelie-<br />
6<br />
”Die Alltagssprache, diese ”Hinterlassenschaft von<br />
Wörtern. Hinterlassenschaft von Ideen” wie<br />
Brunschvigs Titel lautet, die, weil alltäglich, nicht<br />
mehr wahrgenommen wird, birgt in ihrem Wortschatz<br />
wie ihrer Syntax eine gleichsam versteinerte Philosophie<br />
des Sozialen, die aus den umgangssprachlichen<br />
Wörtern oder den damit gebildeten komplexen Ausdrücken,<br />
die der Soziologe zwangsläufig benutzt,<br />
immer wieder zum Leben erweckt werden kann.”<br />
(Bourdieu, Chamboredon, Passeron 1991, S. 24).<br />
7<br />
Befragte nehmen Antwortkategorien oder auch<br />
Antwortskalen als sinnvoll an, wie sich in verschiedenen<br />
Teststudien immer wieder nachweisen ließ.<br />
8<br />
So zeigt sich, dass unterschiedliche Skalen bei derselben<br />
Frage zu unterschiedlichen Antwortmustern führten,<br />
was von Porst (1998) als Wahrnehmungseffekt<br />
im Hinblick auf die in der Antwortskala vermutete<br />
Bevölkerungsverteilung interpretiert wurde.<br />
8
Nr. 4 2002 <strong>SFB</strong> <strong>580</strong> Mitteilungen<br />
genden subjekttheoretischen Annahmen sprächen<br />
dem entgegen, dann würde eine Standardisierung,<br />
die auf Ausschaltung von Intersubjektivität<br />
setzt, etwas messen, was für die<br />
soziale Welt ausschließlich Artefaktcharakter<br />
hätte.<br />
Es geht hierbei nicht darum, bestimmte Informationen<br />
in Frage zu stellen, sondern vielmehr um<br />
eine Einortbarkeit erhobener Daten in Relevanzordnungen,<br />
die es dem Forschenden ermöglichen,<br />
eine Unterscheidung zwischen: (1) durch<br />
die Befragung artifiziell erzeugten Stimuli, (2)<br />
verhaltens- und handlungsrelevanten Momenten<br />
von subjektiven Äußerungen und (3) durch die<br />
Subjektivierung und die Schematisierung erzeugte,<br />
sozial irrelevante Äußerungen vorzunehmen,<br />
die jedoch nichtsdestotrotz folgenreich werden<br />
können.<br />
Bevor in den nachfolgenden Überlegungen die<br />
vorhandenen Ansätze zur Methodik des Interviews<br />
– insbesondere des telefonischen Interviews<br />
– angeführt und diskutiert werden, soll in<br />
einer vertiefenden Darstellung auf die besondere<br />
Form der Kommunikationssituation eines (standardisierten)<br />
Interviews als Frage-Antwort-Interaktion<br />
eingegangen werden. Nicht zuletzt,<br />
weil in dieser außeralltäglichen Form der Kommunikation<br />
alltagsrelevante Informationen erhoben<br />
werden sollen, was diese Erhebungsmethode<br />
mit besonderen Schwierigkeiten konfrontiert.<br />
2. Menschliche Kommunikation in<br />
der Spezifik eines Frage-<br />
Antwort-Spiels<br />
9<br />
Dasselbe gilt in etwas anderer Zielrichtung für den<br />
Einsatz von Forscher-Interviewern. Hier verlagert<br />
sich die Problematik in stärkerem Maße in den Bereich<br />
der Replizierbarkeit von Studien.<br />
10<br />
In dieser Vorgabe drückt sich zweifelsohne eine<br />
Machtasymmetrie aus, derer sich jeder Sozialforscher<br />
bewusst sein muss. Diskurstheoretisch gewendet<br />
kann man im Interview auch eine Methodik<br />
des Aufzwingens eines spezifisch wissenschaftlichen<br />
Diskurses sehen. Hierbei werden Antwortmöglichkeiten<br />
vorgegeben, was gleichzeitig den<br />
Ausschluss anderer bedeutet. Dass in den meisten<br />
Fällen eine sogenannte ”Sonstiges”-Kategorie vorgesehen<br />
ist, reduziert diese Asymmetrie nicht wirklich,<br />
da dem Befragten im Gegensatz zum Forscher kein<br />
adäquater Zeitraum zur Verfügung steht, um regelmäßigen<br />
Gebrauch von dieser Möglichkeit zu machen.<br />
Anders und, wenn man Habermas folgen will,<br />
Telefonische Interviews arbeiten im Gegensatz<br />
zu ”Face-to-face”-Interviews ausschließlich mit<br />
dem Medium der gesprochenen Sprache; zudem<br />
soll Sprache in der Interviewsituation zuvorderst<br />
zum Transport von Informationen genutzt werden,<br />
deren Reihenfolge ausschließlich der Interviewer<br />
weiß bzw. bestimmt. Das heißt, der Befragte<br />
befindet sich in einer Situation von<br />
Ungewissheit über die jeweils nächste Frage,<br />
was ihm meist die Möglichkeit nimmt, einen Gesamteindruck<br />
in Bezug auf die Frageninhalte zu<br />
erzeugen bzw. zu gewinnen.<br />
Die Kommunikationssituation im Interview sollte<br />
im Regelfall problem- bzw. Frage-Antwort-orientiert<br />
strukturiert sein. Zwischen dem Interviewer<br />
und dem Befragten soll es hingegen – so die<br />
Auffassung der meisten quantitativ Forschenden<br />
– keine soziale Interaktion geben. Eine derartige<br />
Form von Interaktion und Kommunikation<br />
hätte im Sinne einer empirisch-analytisch arbeitenden<br />
Soziologie einerseits enormen Einfluss<br />
auf die Befragungsinhalte und kann andererseits<br />
durch den Forscher nicht reflektiert werden. 9<br />
Die am jeweiligen Interview Beteiligten verfügen<br />
im Regelfall über je spezifische Sprach- bzw.<br />
Sprechkompetenzen, die in manchen Fällen erheblich<br />
divergieren können. Diese Unterschiede<br />
beziehen sich hierbei sowohl auf die syntaktisch/<br />
semantische, aber vor allem auf die pragmatische<br />
Ebene. Über die verwendete Sprache, mithin<br />
über die verwendeten Sätze, wird die jeweilige<br />
Frage- bzw. Antwortbedeutung transportiert.<br />
Wenn es sich um eine ”geschlossene” Frage<br />
handelt, also um eine Frage die feste Antwortkategorien<br />
vorsieht und diese dem Befragten<br />
übermittelt, dann wird der gesamte Antwortbzw.<br />
Ausdrucksraum durch den Befrager vorgegeben.<br />
10 Gleich den Antwortmöglichkeiten, besitzen<br />
die je spezifischen Fragen einen<br />
Objektivierungscharakter, der jenseits aller<br />
lebensweltlichen Relevanz einen Gegenstand<br />
konstruiert, dem der Befragte möglicherweise<br />
vollkommen indifferent gegenübersteht. 11 Soziale<br />
Relevanz gewinnt eine solche Gegenstandskonstruktion<br />
dann, wenn der diskursiv erzeugte<br />
beispielhaft verfährt in dieser Hinsicht der psychoanalytische<br />
Diskurs zwischen Analytiker und Patient.<br />
”Die analytische Grundregel formuliert die Bedingungen<br />
eines repressionsfreien Reservats, in dem für die<br />
Dauer der Kommunikation zwischen Arzt und Patient<br />
die Ernstsituation, also der Druck der gesellschaftlichen<br />
Sanktionen, so glaubhaft als möglich außer<br />
Kraft gesetzt ist.” (Habermas 1991, S. 305 f.). Der<br />
Aufhebung gesellschaftlicher Sanktionsinstanzen<br />
dient im Interview vor allem die Versicherung der<br />
Anonymität der Angaben, was jedoch wiederum die<br />
Rolle des Befragten als relevantes Individuum außer<br />
Kraft setzt.<br />
11<br />
Das Interview ist insoweit ebenfalls ein spezifischer<br />
Diskurs, für den die Beschreibung von Diskursen bei<br />
Foucault zutrifft, der diese als Praktiken ansieht, ”die<br />
systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie<br />
sprechen.” (Foucault 1981, S. 74).<br />
9
Teil 1<br />
M. Bayer: Das telefonische Interview<br />
Gegenstand soziale Auswirkungen nach sich<br />
zieht, die ohne das Interview nicht erzeugt<br />
worden wären. 12<br />
Das Interview als eine alltagsferne oder außeralltägliche<br />
Form der Kommunikation trifft im Regelfall<br />
auf einen Befragten, der zwar – wenn es<br />
zu keiner Interviewverweigerung kommt – prinzipiell<br />
kommunikationsbereit ist, der jedoch über<br />
die im Interview behandelten Phänomene und Gegenstände<br />
in einer auch nicht annähernd ähnlichen<br />
Art und Weise reflektiert. Insoweit ist er<br />
mit ständigen Übersetzungs- und<br />
Interpretationsleistungen während des Interviews<br />
beschäftigt; vorausgesetzt die angesprochenen<br />
Fragen erzeugen in ihm irgendeine Motivation,<br />
derartige Übersetzungen überhaupt<br />
vorzunehmen. Auf der anderen Seite befindet<br />
sich – im Regelfall – ein Interviewer, der immer<br />
zwischen einer sozialisatorisch erworbenen Fähigkeit<br />
und Präferenz zu sozialer Interaktion und<br />
Kommunikation und den (extern formulierten)<br />
Anforderungen der Ausschaltung von sozialen<br />
Interaktionskompetenzen während des Interviews<br />
steht.<br />
Für standardisierte Sozialforscher besteht die<br />
erste (mit)entscheidende Hürde in einer<br />
Interviewsituation aus dem Interpretationsprozess,<br />
den der Interviewer in Bezug auf den<br />
ihm vorliegenden Text unternimmt. 13 Diese Interpretation<br />
wirkt sich direkt auf die Interaktion<br />
bzw. Kommunikation zwischen Interviewer und<br />
Befragtem aus. Die Interpretationsmöglichkeiten<br />
– im Sinne eines sprachlich aufgespannten und<br />
an den Befragten übermittelten Interpretationsraumes<br />
– werden insoweit durch den Interviewer<br />
erstselektiert. Der entscheidende Interpretationsprozess<br />
findet dann auf Seiten des Befragten<br />
statt. Dieser muss die sprachlichen Signale<br />
bzw. die vokalen Gesten, die ihm durch den Interviewer<br />
zukommen, in ihrem Bedeutungsgehalt<br />
im Rahmen seiner eigenen lebensweltlichen Verankerung<br />
interpretieren, um danach eine entsprechende<br />
Antwort zu formulieren.<br />
An dieser Stelle setzen die meisten Konzepte der<br />
Standardisierung von Fragen an. Standardisierung<br />
meint insoweit nichts anderes, als der Versuch,<br />
die Kette: Forscher-Interviewer-Befragter<br />
an den jeweiligen Übergangspunkten möglichst<br />
interpretationsinvariant zu halten. 14<br />
Wie bereits angesprochen, weiß der Befragte in<br />
den meisten Fällen nicht, wie die nächste Frage<br />
lauten wird. Er ist insoweit nicht in der Lage,<br />
eine, wie Goffman sagen würde, Strategie der<br />
Imagepflege zu verfolgen, welche in ”normalen”<br />
Gesprächssituationen der Präsentation seiner<br />
selbst dient. (vgl. Goffman 1986) Nichtsdestotrotz<br />
ist davon auszugehen, dass der Befragte<br />
während jeder Frage eine solche Zuordnung zu<br />
einer gewünschten Gesamtpräsentation bzw.<br />
eine Selbstverortung innerhalb der Bevölkerung<br />
versucht. Wie oben bereits angeführt, zeigte<br />
sich in Methodenstudien immer wieder das Phänomen,<br />
dass Befragte die angebotenen Antwortkategorien<br />
unter der Annahme, dass diese (sozial)<br />
sinnvoll seien, für diesen Prozess einer Präsentation<br />
im Sinne einer Einordnung nutzen und<br />
das unabhängig vom tatsächlichen Verhalten. 15<br />
Auf Seiten des Interviewers lassen sich Effekte<br />
festmachen, die unter anderem mit dem Einsatz<br />
der spezifischen Technologie (Telefon und Computer)<br />
zusammenhängen. So konstatiert Fuchs:<br />
”...dass die Gestaltung des Bildschirminterfaces<br />
die Verhaltensweisen der beteiligten Akteure beeinflussen<br />
kann, was u.a. auch Konsequenzen<br />
für die Interviewdauer hat.” (Fuchs 2000, S. 87).<br />
Im Folgenden sei eine erste (Zwischen-)Graphik<br />
dargestellt, die den Fokus vor allem auf die<br />
Kommunikationssituation zwischen den beiden<br />
Personen legt, die direkt am Interview beteiligt<br />
sind.<br />
Die Interviewsituation ist – wie an der Graphik<br />
deutlich ablesbar – eine eminent komplexe Interaktions-<br />
bzw. Kommunikationssituation. Sowohl<br />
12<br />
Jenseits aller Frageformulierung mit der bereits eine<br />
spezifische Relevanzordnung bestimmter Gegenstände<br />
erzeugt werden kann, verändert die Befragung<br />
immer bereits die soziale Welt durch ihren fragenden<br />
Eintritt, gerade wenn Befragte zu Überlegungen angehalten<br />
werden, die sie ohne ein/das Interview aktuell<br />
nicht vollzogen hätten. Diese Überlegungen können<br />
jedoch wiederum Handlungsfolgen nach sich ziehen,<br />
deren eigentliche Ursache dann jedoch im Interview<br />
als solchem liegt.<br />
13<br />
Es wäre naiv davon auszugehen, dass es selbst bei<br />
gleich realisierter Textvorlage nicht erhebliche Unterschiede<br />
in Bezug auf Textbetonung oder textbegleitende<br />
vokale Signale gäbe.<br />
14<br />
Das trifft zumindest für die eigentliche Feldphase zu,<br />
der jedoch im Regelfall eine sogenannte Pretestphase<br />
vorgeschaltet ist. Dass die Einbindung der prinzipiell<br />
erklärenden Methodik des standardisierten Interviews<br />
genau an dieser Pretestphase ansetzen muss,<br />
wird im Weiteren noch entwickelt werden (s.u.).<br />
15<br />
Bei Studien zum Fernsehkonsum zeigte sich dies<br />
sehr prägnant, was im Endeffekt zu vollkommen unterschiedlichen<br />
Gesamtverteilungen und Mittelwerten<br />
führte.<br />
10
Nr. 4 2002 <strong>SFB</strong> <strong>580</strong> Mitteilungen<br />
der Interviewer als auch der Befragte besitzen<br />
eine sowohl tätigkeitsspezifische als auch<br />
lebensweltliche Einbettung, die zum größten Teil<br />
im Interview selbst keine Thematisierung findet<br />
bzw. finden soll; die jedoch die Interviewsituation<br />
in hohem Maße mitbeeinflusst. Hierbei<br />
zeigt sich aus der Perspektive des Interviewenden<br />
eine ”Pfadabhängigkeit” in Bezug auf das<br />
vorherige bzw. die vorherigen Interviews (sowohl<br />
die erfolgreichen als auch die nicht-erfolgreichen),<br />
während beim Befragten ein Ausstrahlungseffekt<br />
der bereits gestellten bzw.<br />
noch nicht gestellten Fragen angenommen werden<br />
kann.<br />
Abbildung 1:<br />
Interview als soziale Kommunikationssituation<br />
mit Vergangenheit und Zukunft<br />
GR<br />
Ein nicht zu unterschätzendes Moment der<br />
Befragungssituation ist die oben bereits angesprochene<br />
Sprachkompetenz oder zumindest die<br />
vom Befragten subjektiv wahrgenommene und<br />
dem Interviewer zugeschriebene Sprachkompetenz.<br />
16 Wie Reuband aus einer empirischen<br />
Teststudie zu berichten weiß, zeichnen sich<br />
mittlere Bildungsabschlüsse durch Distinguiertheit<br />
in der Sprachverwendung im Interview aus,<br />
was signifikante Effekte bezüglich der Befragungsinhalte<br />
erzeugte. 17 Was sich also hier<br />
manifestiert, ist nichts anderes, als ein Effekt,<br />
der zuvorderst durch den sozialen Interaktionskontext<br />
des Interviews erzeugt wurde. Bleibt<br />
man konsequent in der Perspektive einer notwendigen<br />
Kontrolle derartiger Kontexteffekte,<br />
dann müsste das Interview letztlich in einer<br />
lebensweltlich neutralen Sprache stattfinden.<br />
Eine solche Sprache hätte jedoch zur Folge,<br />
dass es überhaupt nicht mehr zu einer Verständigung<br />
kommen könnte. Sprache und Sprachverwendung<br />
sind immer bereits Ausdruck unserer<br />
je eigenen Lebensform, und wenn wir ein prinzipielles<br />
Interesse an Verständigung besitzen,<br />
müssen wir das Sprechen (respektive das Antworten)<br />
des anderen als einen Ausdruck einer<br />
noch zu erschließenden Lebensform akzeptieren.<br />
Einbettungskontext<br />
Folgende<br />
Frage<br />
Einbettungskontext<br />
Wissen<br />
Erwartung/Unsicherheit<br />
Konkurrenz<br />
Alter/Geschlecht<br />
Supervisorkontrolle<br />
Interesse/Zeit<br />
Inhaltliches<br />
Interesse/<br />
Desinteresse<br />
Sprachliche<br />
Kompetenz<br />
Interviewer/in<br />
Kommunikations-<br />
situation<br />
Befragte/r<br />
Soziale Einbettung<br />
Sprachliche<br />
Kompetenz<br />
Erinnerung<br />
Erwartung<br />
Vorheriges<br />
Interview<br />
16<br />
Fowler & Mangione (1990) referieren verschiedene<br />
Befunde, die jedoch alle zeigen, dass es signifikante<br />
Intervieweinflüsse bezüglich vorhandener Sprachkompetenz<br />
bei allen beteiligten Personen gibt.<br />
17<br />
Reuband vermutet eine Dimension, die möglicherweise<br />
bisher unterschätzt wurde: ”die der demonstrativen<br />
Kompetenz im Kontakt mit dem<br />
Fassen wir das Gesagte bis zu dieser Stelle zusammen,<br />
so zeigen sich grundsätzliche Problematiken<br />
im Hinblick auf das Interview als methodisches<br />
Instrumentarium. Einerseits gilt der Befragte<br />
nicht als interessierendes Subjekt, sondern<br />
immer bereits als (austauschbarer) Typus,<br />
der jedoch andererseits im Sprechen seine Individualität<br />
bewahrt und ausdrückt, deren Typik<br />
jedoch außerhalb des Untersuchungsziels<br />
liegt. 18<br />
Interviewer.” (Reuband 2001, S. 53).<br />
18<br />
Das heißt, wir wissen einerseits, dass Sprache fundamental<br />
für soziale Phänomene ist; andererseits<br />
unterstellen wir in der Anwendung von (standardisierten)<br />
Interviews eine sprachliche Gleichförmigkeit,<br />
die, wenn vorhanden, soziale Ungleichförmigkeiten<br />
abermals erklärungsbedürftig machen würde.<br />
11
Teil 1<br />
M. Bayer: Das telefonische Interview<br />
3. Standardisierung von Fragen –<br />
Frageformulierung und Pretest<br />
Ein grundsätzliches Problem bei der Konzeption<br />
von Fragebögen ist die Art und Weise der Frageformulierung.<br />
Hierbei werden im Regelfall Annahmen<br />
getroffen, die der sozialen Realität nicht<br />
ohne weiteres unterstellt werden können. ”Insbesondere<br />
wird vorausgesetzt, dass zumindest<br />
eine einheitliche Sprache mit gleichartigem<br />
Stimuluscharakter für die Empfänger von Mitteilungen<br />
existiert.” (Scheuch 1967, S. 141). 19 Dieser<br />
berechtigte Hinweis von Scheuch bezieht<br />
sich nicht nur auf interkulturelle Sprach- und<br />
Verständigungsschwierigkeiten, sondern auch<br />
und gerade auf signifikante Unterschiede in der<br />
Alltagssprache innerhalb einer (Sprach-) Kultur.<br />
Während der entsprechende Interpretationsvorgang<br />
beispielsweise in narrativen Interviews auf<br />
Seiten des Befragers liegt, findet dies im vollstandardisierten<br />
Interview meist unbeeinflussbar<br />
vom Interviewer beim Befragten statt. 20<br />
In Anlehnung an Sudman, Bradburn und Schwarz<br />
kann die Befragung bzw. das Interview in zwei<br />
Elemente unterteilt werden: (1) die soziale Begegnung<br />
(zwischen Interviewer und Befragtem)<br />
und (2) die kognitiven Anforderungen an den Befragten<br />
bei der Beantwortung von Fragen. Zentral<br />
hierbei ist – wie bereits mehrfach angedeutet<br />
– die sprachliche Interaktion zwischen den<br />
beiden beteiligten Personen. 21 Der Bedeutungstransport<br />
aus dem Fragebogen über den Interviewer<br />
hin zum Befragten und wieder zurück ist<br />
ein Indiz für die Wichtigkeit, die der Fragekonstruktion<br />
im Erhebungsprozess zukommt.<br />
Dass unterschiedliche Formulierungen für den –<br />
zumindest vermeintlich – gleichen Inhalt (also<br />
syntaktische Änderung bei semantischer Konstanz)<br />
ergebnisrelevant sind, zeigen sowohl<br />
klassische als auch neuere Untersuchungen (vgl.<br />
hierzu Reuband 2001).<br />
Aus diesem Grund sollten Sozialwissenschaftler<br />
sehr sorgfältig bei der Fragebogenkonstruktion<br />
vorgehen, um zumindest vermeidbare Fehler aus<br />
den jeweiligen Erhebungskonzepten auszuschließen.<br />
Zweifelsohne gab und gibt es keine perfekten<br />
Fragebögen; zumindest jedoch gibt es mittlerweile<br />
standardisierte Methodiken der Evaluation<br />
von Surveyfragen, die eine Identifikation<br />
bestimmter Fehlerarten ermöglichen.<br />
Ein wichtiger Bestandteil jeder Fragebogenkonstruktion<br />
ist zweifelsohne das Pretesting von<br />
Fragen bzw. Fragekonstrukten. Prüfer und<br />
Rexroth benennen diverse Verfahren, mit denen<br />
in Pretest-Interviews die Fragen- und<br />
Fragebogenqualität ermittelt werden kann. Unter<br />
Bezugnahme auf die entsprechenden Analysen<br />
bei Sudman, Bradburn & Schwarz sollen im<br />
Folgenden drei verschiedene Verfahren näher<br />
vorgestellt und untersucht werden: das<br />
Behavioural Coding, die Retrospective-Think-<br />
Aloud-Methode und die Expertenbeurteilung.<br />
Oksenberg, Cannell & Kalton verwenden ein<br />
Codeschema für das ”Behavioural Coding”, welches<br />
drei dem Interviewer zugeordnete Codes<br />
und sieben Befragtencodes umfasst (Oksenberg,<br />
Cannell & Kalton 1991). 22 Eine derartige Form der<br />
Fragen-Überprüfung eignet sich für die Anwendung<br />
bei telefonischen Befragungen. Mit dieser<br />
Methodik kann zwar ein prinzipiell mögliches Fehlverständnis<br />
der Frage nicht expliziert werden;<br />
jedoch ist die notwendige Bandaufnahme des<br />
Interviews problemlos möglich, die für entsprechende<br />
Analysen des Interviews verwendet<br />
werden kann. Insgesamt ist das Behavioural<br />
Coding, wie Prüfer und Rexroth im Vergleich zu<br />
anderen Pretesttechniken anmerken, ”diejenige<br />
Technik, deren Pretesterkenntnisse am<br />
reliabelsten sind.” (Prüfer, Rexroth 1996, S. 11).<br />
Die zweite Technik der Fragebogenevaluation ist<br />
die sogenannte ”Retrospective-think-aloud”-Methode.<br />
Vor allem Sudman, Bradburn & Schwarz<br />
plädieren aus Erfahrungen heraus für diese retrospektive<br />
Variante in Abgrenzung von antwortbegleitenden<br />
Versionen (Concurrent-Think-<br />
Aloud) derselben Methodik. Im Pretestinterview<br />
wird der Befragte nach erfolgter Antwort gebeten,<br />
den Prozess der eigenen Antwortfindung zu<br />
beschreiben bzw. darzustellen. Auf diesem Wege<br />
lassen sich Informationen über die kognitiven<br />
Prozesse gewinnen, welche durch spezifische<br />
Stimuli beim Befragten angestoßen werden. Insgesamt<br />
lässt sich – bei nicht zu unterschätzen-<br />
19<br />
Vergleiche hierzu auch die ausführliche Besprechung<br />
methodischer Aspekte in der ALLBUS Befragung<br />
1998 bei Wüst (1998).<br />
20<br />
Insgesamt kann man Scholl zustimmen, dass eine<br />
”sozialwissenschaftliche Erhebung [...] eine Gleichung<br />
mit zwei Unbekannten [ist].” (Scholl 1993, S. 14).<br />
21<br />
”Language comprehension is based not only on formal<br />
structures like syntax, but more importantly, on<br />
pragmatic factors that may deeply affect meaning.”<br />
(Sudman, Bradburn & Schwarz, S. 2).<br />
22<br />
Das Codeschema findet sich in einer tabellarischen<br />
Variante bei Prüfer, Rexroth (1996, S. 8).<br />
12
Nr. 4 2002 <strong>SFB</strong> <strong>580</strong> Mitteilungen<br />
der Komplexität der Anforderung an die Befragten<br />
– sagen, dass sich mit dieser Methode vor<br />
allem Befunde über die Operationalisierung von<br />
Konzepten sammeln lassen.<br />
Abbildung 2:<br />
Chronologischer Ablauf der Fragebogenevaluation<br />
(Idealtypisch)<br />
Fragebogen<br />
konstruktion<br />
Expert<br />
Evaluation<br />
Fragebogen<br />
überarbeitung<br />
Restrospective<br />
Think-Aloud<br />
Fragebogen<br />
überarbeitung<br />
Als letzte Methode im Bereich des Pretesting sei<br />
auf die Expertenevaluation verwiesen, die darüber<br />
hinaus auch bei der Erstellung von Stichproben<br />
zur Anwendung kommt. Sudman,<br />
Bradburn & Schwarz kommen zu folgender<br />
Schlusseinteilung der drei Methoden: ”Ideally,<br />
they should be used in combination, with the<br />
experts‘ evaluation first, the retrospective think<br />
alouds second, and the evaluation of taperecorded<br />
pretests third.” (Sudman, Bradburn &<br />
Schwarz 1996, S. 30). In Abbildung 2 ist die entsprechende<br />
Pretest-Chronologie graphisch dargestellt.<br />
Wie aus der Vielzahl an Zwischenstationen<br />
deutlich wird, benötigt der gesamte<br />
Pretestprozess einen nicht zu unterschätzenden<br />
zeitlichen Aufwand.<br />
Wie jedoch gezeigt werden konnte und was in<br />
der entsprechenden Literatur auch deutlich wird,<br />
ist der Pretest als Instrument empirischer Befragungen<br />
nicht nur wichtig und unerlässlich, sondern<br />
stellt m. E. den zentralen Anknüpfungspunkt<br />
von Verstehens- und Erklärensprozessen<br />
dar. Die Expertenevaluation und die<br />
Retrospective-Think-Aloud-Methode stellen zwei<br />
Instrumente dar, die in zwei Richtungen die<br />
Möglichkeit des Verstehens erst eröffnen. Einerseits<br />
findet damit eine Anbindung an Diskurse<br />
der ”scientific community” statt und stellt andererseits<br />
einen Versuch dar, die Lebenswelten<br />
der Befragtenpopulation und damit auch die<br />
sprachlichen Äußerungen der zukünftig zu Befragenden<br />
tatsächlich verstehen zu können. Ob<br />
Behaviour<br />
Coding<br />
Fragebogen<br />
Endversion<br />
Erhebung<br />
man nunmehr<br />
der von<br />
Sudman,<br />
Bradburn, &<br />
Schwarz<br />
vorgeschlagenen<br />
Reihenfolge<br />
der<br />
drei Pretestinstrumentarien<br />
folgt,<br />
ist letzten<br />
Endes eine<br />
sekundäre<br />
Gewichtungsfrage.<br />
Die<br />
Anbindung an innerwissenschaftliche Diskurse<br />
und an zu erschließende Lebenswelten der Befragten<br />
bewegen sich jedoch auf zwei unterscheidbaren<br />
Dimensionen, die manchmal eben<br />
auch gegenläufig sein können. 23<br />
Abbildung 3 versucht einige der soeben vorgenommenen<br />
Überlegungen in eine graphische<br />
Übersicht zu bringen.<br />
Zweifelsohne stellt das Schaubild eine grobe<br />
Vereinfachung der tatsächlichen Restriktionen<br />
und Dimensionalitäten eines Forschungsprozesses<br />
dar. 24 Nichtsdestotrotz ist es<br />
sinnvoll, die beiden als getrennt visualisierten Dimensionen<br />
im tatsächlichen Forschungsprozess<br />
auch als getrennte zu behandeln. Inwieweit die<br />
so gewonnenen Ergebnisse und Befunde in die<br />
Befragungskonzeption Eingang finden sollten<br />
bzw. welche Spezifika der telefonischen<br />
Befragungssituation auch in diesen Abläufen und<br />
Verläufen eine Rolle spielen, wird in den nachfolgenden<br />
Abschnitten behandelt werden.<br />
23<br />
Selbstredend ist der innerwissenschaftliche Diskurs<br />
kein Diskurs, der ohne Machtasymmetrien funktioniert.<br />
Insofern stellt jede Anbindung an diesen<br />
Diskursraum auch ein Sich-Unterwerfen unter den<br />
herrschenden wissenschaftlichen Diskurs dar. Solange<br />
dies – wovon jedoch in den meisten Fällen nicht<br />
ausgegangen werden kann – keine Auswirkungen auf<br />
den Forschungsprozess im engeren Sinne hat, stellt<br />
dies ein nicht zu vermeidendes Faktum eigener Natur<br />
dar.<br />
24<br />
Hierbei sei nur beispielhaft auf die prinzipiell finanziellen<br />
und zeitlichen Restriktionen eines jeden Forschungsprojektes<br />
verwiesen. Diese Formen von Restriktionen wirken<br />
sich entsprechend auf die vorhandenen Zusammenhänge<br />
aus, die im oben dargestellten Schaubild eingezeichnet<br />
sind. Prinzipiell kann die Hypothese formuliert werden:<br />
Je geringer die vorhandenen zeitlichen und finanziellen Ressourcen<br />
der Projektdurchführenden sind, desto größer ist<br />
die Wahrscheinlichkeit, dass die Expertenevaluation<br />
13
Teil 1<br />
M. Bayer: Das telefonische Interview<br />
Abbildung 3:<br />
Dimensionen von Verstehen im Forschungsprozess<br />
„scientific<br />
community”<br />
Anbindung<br />
hoch<br />
Experten-<br />
Evaluation<br />
Interessen ( wissenschaftiche<br />
u. nicht-wissenschaftliche)<br />
Idealposition<br />
nach Pretest<br />
Innerwissenschaftlicher<br />
Diskurs mit Vergangenheit<br />
und spezifischen Machtressourcen<br />
Vorhandene<br />
Erfahrungen<br />
niedrig<br />
Ausgangsposition<br />
niedrig<br />
Erfahrungen u. Erwartungen<br />
„ retrospectivethink-aloud”<br />
hoch<br />
Verstehen der<br />
Lebenswelt der<br />
Befragten<br />
4. Notwendigkeiten der<br />
Operationalisierung<br />
Ein mitentscheidender Aspekt im Hinblick auf die<br />
Validität, aber auch Reliabilität zu erhebender<br />
Daten, ist die ”gelungene” Umsetzung theoretischer<br />
Konzepte in konkrete Fragen. Dabei geht<br />
es in diesem Teil weniger um die bereits oben angesprochene<br />
Problematik des Zusammenhangs<br />
von syntaktischer Beschreibung und entsprechenden<br />
Effekten in der Befragung selbst, als<br />
vielmehr um die ”Kunst” 25 der Formulierung von<br />
Fragen, die das messen, was sie letztendlich<br />
messen sollen, mithin um die Operationalisierung<br />
von theoretischen Konstrukten.<br />
Gallhofer und Saris (2000) unterscheiden hierbei<br />
zwischen ”intuitiven” und ”postulierten” Konzepten,<br />
was nichts anderes meint, als dass aus<br />
einem postulierten Konzept eine Frage nicht direkt<br />
generiert werden kann. Postulierte Konzepte,<br />
wie etwa Demokratievorstellungen oder<br />
Machtbegrifflichkeiten sind – selbstredend –<br />
nicht direkt in Frageformulierungen umsetzbar 26 ,<br />
sondern müssen an intuitive Konzepte geknüpft<br />
werden, die dann in je spezifische Fragestellungen<br />
übersetzbar sind. Bevor diese theorieorientierte<br />
Problematik weiter ausgeführt werden<br />
kann, ist es sinnvoll sich mit einem grundlegenden<br />
und immer wiederkehrenden ”Streit” der<br />
Frageformulierung auseinander zu setzen: offene<br />
oder geschlossene Fragen. Converse und<br />
Presser konstatieren in diesem Zusammenhang:<br />
”when not enough is known to write appropriate<br />
response categories, open questions are to be<br />
prefered.” (Converse, Presser 1986, S. 34). Unklar<br />
bleibt in dieser Stellungnahme jedoch, wann<br />
genug an Informationen vorliegt, um entsprechend<br />
geschlossene Antwortkategorien im Interview<br />
zu nutzen. Bradburn argumentiert ähnlich<br />
und proklamiert eine zwar moderate, aber im<br />
Prinzip unproblematische Verwendung von offenen<br />
Fragen, insbesondere wenn es sich um Erhebungskonzepte<br />
und inhaltliche Fragestellun-<br />
durch eine indirekte Evaluation ersetzt wird; was nichts<br />
anderes heißt, als dass sich diejenigen innerwissenschaftlichen<br />
Standpunkte innerhalb des<br />
Forschungsprojektes durchsetzen werden, die am stärksten<br />
den ”common sense” repräsentieren, was jedoch die<br />
Falsifikations- bzw. Überprüfungspotenziale der Soziologie<br />
als solche reduziert. Problematisch ist dies m. E. vor<br />
allem, weil Befragungen und den darin verwendeten Konzepten<br />
immer auch eine Wirklichkeit verändernde Kraft innewohnt.<br />
Das heißt mit anderen Worten: Stetiges Fragen<br />
nach der Wichtigkeit eines spezifischen Themas führt über<br />
kurz oder lang dazu, dass dieses Thema auch wichtig werden<br />
wird.<br />
25<br />
Die Bezeichnung der Fragebogenkonstruktion als eine<br />
Kunst geht auf das Grundlagenwerk zur Fragenformulierung<br />
von Payne (1951) zurück. Es kann jedoch nicht oft genug<br />
wiederholt werden, dass Fragenformulierung gerade<br />
keine Kunst sein sollte, sondern vielmehr ein Prozess stetiger<br />
Reflexion und Interpretation.<br />
26<br />
Man kann entsprechend eben nicht fragen: ”Wie zufrieden<br />
sind Sie mit der Demokratie in der Bundesrepublik?”.<br />
14
Nr. 4 2002 <strong>SFB</strong> <strong>580</strong> Mitteilungen<br />
gen handelt, über die es wenig oder keine<br />
Forschungs- bzw. Befragungserfahrung gibt<br />
(vgl. Bradburn 1983). 27<br />
Anschließend an die oben formulierten Überlegungen<br />
zur Rolle und Stellung des Pretest im<br />
Erhebungsprozess insgesamt, lässt sich zweierlei<br />
konstatieren. Zum Einen stellt die offene Frage<br />
eine Möglichkeit der Annäherung an tatsächliche<br />
Befragten-Lebenswelten dar, zum Anderen<br />
erfordert sie jedoch im Interview sowohl auf Seiten<br />
des Befragten als auch auf Seiten des Interviewenden<br />
ein Mehr an Konzentration und Motivation.<br />
Zudem sind die Forschenden bei offenen<br />
Fragen immer mit der Problematik konfrontiert,<br />
dass sie den Befragten bereits ”verstanden”<br />
haben müssen, um seine Antworten auf<br />
offene Fragen zu verstehen, die jedoch gerade<br />
für einen solchen Verstehensprozess fundamental<br />
sein sollen.<br />
Abbildung 4:<br />
Der Befragungsprozess in seiner<br />
Zusammenhangslogik<br />
Forscher/in<br />
Methodik<br />
Erkenntnisinteresse<br />
des<br />
Erkenntnisinteresses<br />
Befragte/r<br />
Möglichkeiten/Restriktionen<br />
Vorannahmen<br />
Möglichkeiten der<br />
Individualisierung<br />
Kommunikationssituation als Frage-<br />
Antwort-Spiel u. als soziale Interaktion<br />
Festzuhalten ist, dass auch vorhandene Antwortskalen<br />
und vor allem Antwortmöglichkeitsräume<br />
zwar einerseits als Ausgangspunkt – auch<br />
im Sinne einer Forschungskontinuität und<br />
Ergebnisvergleichbarkeit – genutzt werden können,<br />
dies jedoch andererseits nicht unhinterfragt<br />
geschehen sollte. 28 Ein damit zusammenhängendes,<br />
jedoch instrumentenspezifisches<br />
Phänomen von telefonischen Befragungen stellt<br />
das Ausmaß an möglichen Antwortvorgaben und<br />
die Präsentation dieser Vorgaben dar. Im Gegensatz<br />
zu schriftlichen Befragungen ist die Anzahl<br />
an möglichen Antwortvorgaben im telefonischen<br />
Interview durch das verwendete Instrument eingeschränkt.<br />
Es gibt Möglichkeiten im Rahmen<br />
computergestützter Interviews Antwortalternativen<br />
in jedem Interview randomisiert anzubieten,<br />
um die Begünstigung von Randkategorien<br />
nicht als systematische Verzerrungen<br />
in die gewonnen Daten einzuschreiben. Diese<br />
Möglichkeiten finden jedoch innerhalb eines immer<br />
schon durch die kognitiven Kapazitäten der<br />
Befragten begrenzten Antwortmöglichkeitsraumes<br />
ihre Anwendbarkeit. Zwar lassen sich<br />
Antworthierarchien formulieren, die es ermöglichen,<br />
über Ober- und Untergruppen eine Vielzahl<br />
an Antwortmöglichkeiten als gefilterte Pfade<br />
durchzuarbeiten; diese Möglichkeit bleibt jedoch<br />
entweder auf unproblematische<br />
Fragekonzepte<br />
Elektronischer<br />
Fragebogen<br />
Möglichkeiten/<br />
Restriktionen<br />
Interviewer/in<br />
beschränkt oder muss in<br />
Pretests auf ihre<br />
Passungsfähigkeit hin<br />
geprüft werden. Das<br />
nutzt die besprochenen<br />
Zusammenhänge zu einer<br />
Darstellung der<br />
Prozesslogik, welche einer<br />
Befragung zu Grunde<br />
liegt.<br />
Der gesamte rechte Bereich<br />
der Graphik (gestricheltes<br />
Rechteck)<br />
dient letzten Endes dem<br />
Erkenntnisinteresse,<br />
welches der oder die<br />
Forscher/in dem Befragten<br />
entgegenbringt. Das<br />
heißt jedoch, dass der gesamte Prozess der<br />
Fragenformulierung, der Operationalisierung etc.<br />
immer an das zugrundeliegende Erkenntnisinteresse<br />
rückgebunden werden muss.<br />
27<br />
Es sei an dieser Stelle jedoch darauf hingewiesen, dass<br />
die Interpretation von Antworten auf offene Fragen eine<br />
Problematik eigener Natur darstellt, die in der einschlägigen<br />
Literatur wenig oder überhaupt keine Beachtung findet.<br />
Selbst ein Forscher wie Charles Ragin, der immer<br />
schon auf die Verknüpfung von qualitativen und quantitativen<br />
Methodiken hinarbeitete, verbleibt in dieser Frage<br />
ebenfalls im Nebulösen. (vgl. Ragin 1994, S. 57 f.)<br />
28<br />
Forschungs- und erhebungspraktisch bieten sich sogenannte<br />
”split-ballot”-Verfahren an, wobei die Befragten-<br />
population in Subpopulationen unterteilt wird, denen das<br />
gleiche inhaltliche Fragekonzept in unterschiedlichen<br />
Operationalisierungen vorgelegt wird. Fowler fasst dieses<br />
Verfahren folgendermaßen zusammen: ”Small split-ballot<br />
field tests, with samples of 150 to 200 interviews<br />
randomized to alternative forms of a survey instrument<br />
can provide information on these and many more topics<br />
in a cost-effective manner.” (Fowler 2001, S. 62).<br />
15
Teil 1<br />
M. Bayer: Das telefonische Interview<br />
Ein wichtiges Moment in der Konstruktionsphase<br />
eines Befragungsinstrumentes und hier insbesondere<br />
eines computergestützten Instrumentes<br />
sind die Vorannahmen des Forschers, die<br />
beispielsweise Eingang in zu implementierende<br />
Filterungen finden. Derartige Filterführungen<br />
stellen einerseits ein sehr mächtiges und<br />
situationsentlastendes Moment computergestützter<br />
Befragungsinstrumente dar, erzeugen<br />
jedoch andererseits verstärkte Reflexionsanforderungen<br />
im Vorfeld der Befragung. Die in der<br />
Graphik als ”Möglichkeiten der Individualisierung”<br />
bezeichneten Filterführungskapazitäten elektronischer<br />
Fragebögen dienen in der Intention dem<br />
Zweck, den Interviewer einerseits zu entlasten<br />
und andererseits den Befragten nur mit Fragen<br />
zu konfrontieren, die ”sinnhaften” Charakter bezüglich<br />
ihrer je individuellen Situation besitzen.<br />
Das heißt aber auch, dass in eine derartige<br />
Filterführung Vorannahmen über Kombinationsmöglichkeiten<br />
bzw. soziale Muster Eingang finden.<br />
Verknüpft man diese Überlegung mit den oben<br />
angeführten Befunden zur unterstellten<br />
Sinnhaftigkeit der Fragen und Antwortkategorien<br />
durch die Befragten, dann werden Inkonsistenzen<br />
möglicherweise einfach nicht entdeckt.<br />
Darüber hinaus stellt eine ausgeprägte Filterführung<br />
immer auch eine Form der veröffentlichten<br />
”Normalisierung” von möglichen Zusammenhängen<br />
dar. Insgesamt kann man festhalten,<br />
dass mit dieser Möglichkeit der sehr komplexen<br />
Filterführung gleichzeitig immer eine Erhöhung<br />
der Reflexionsanforderungen an die Forschenden<br />
einhergeht.<br />
5. Abschließende Anmerkungen<br />
Insgesamt kann festgehalten werden, dass mit<br />
der Methodik des (telefonischen) Interviews und<br />
der Spezifik eines computergestützten telefonischen<br />
Erhebungsinstrumentes eine Fülle an<br />
Möglichkeiten verbunden sind, die jedoch weder<br />
von wissenschafts- noch substanztheoretischen<br />
Überlegungen entlasten. Die Verwendung der Methode<br />
des telefonischen Interviews in der Soziologie<br />
kommt nicht an der Beantwortung<br />
grundsätzlicher Fragen nach Erkenntnisinteresse,<br />
Verstehenspotenzial und Erklärungsabsicht<br />
vorbei. Mit dem Einsatz von Pretests ist<br />
der Versuch verbunden, sowohl Frageformulierungen<br />
als auch Fragenkonstrukte als<br />
solche zu testen bzw. in Explorationen erst zu<br />
entwickeln. Gerade der Einsatz von offenen Fragen<br />
dient einer solchen Exploration von Antworträumen;<br />
wobei die Methodiken des Zugangs zu<br />
und des Umgangs mit entsprechenden Antworten<br />
nach wie vor theoretisch unterreflektiert ist.<br />
In der Forschungspraxis laufen hier oftmals<br />
intuitionistische und subsumptionstheoretische<br />
Verfahrensweisen ineinander, ohne dass diese<br />
tatsächlich expliziert werden. Der Einsatz moderner<br />
Kommunikationstechnologien entlastet<br />
die Forschenden nicht von derartigen Überlegungen,<br />
vielmehr erhöht dies die Gefahr, dass<br />
durch die vermeintlich professionelleren Zugangsmöglichkeiten<br />
zu den jeweiligen<br />
Untersuchungsfeldern die wissenschaftstheoretische<br />
und methodische Reflexion vernachlässigt<br />
wird.<br />
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17
Nr. 4 2002 <strong>SFB</strong> <strong>580</strong> Mitteilungen<br />
Methodeneffekte in telefonischen Interviews<br />
CHRISTIAN KOLL<br />
1. Einleitung<br />
Seit relativ kurzer Zeit erst sind telefonische<br />
Interviews eine anerkannte sozialwissenschaftliche<br />
Methode der Datenerhebung, obwohl sie<br />
seit über 30 Jahren vor allem im angelsächsischen<br />
Raum als Forschungsinstrument bekannt<br />
sind und genutzt werden. Die technische Verfeinerung<br />
der Telefonbefragung hin zur CATI-<br />
Befragung (Computer-Assisted-Telephone-<br />
Interviewing) begann etwa um das Jahr 1980.<br />
Zu dieser Zeit fanden telefonische Interviews in<br />
der deutschen Sozialforschung verstärkt Berücksichtigung.<br />
Und auch hier wurden sie zunächst<br />
für marktforschungsorientierte und professionelle<br />
Umfrageinstitute nutzbar gemacht, bevor sich<br />
die universitäre Forschung ihnen zuwandt, was<br />
hauptsächlich methodische Bedenken zur Ursache<br />
hatte. (vgl. Fuchs 1994, S. 33)<br />
Mittlerweile konnte methodischen Problemen und<br />
Mängeln weitgehend begegnet werden. Strategien,<br />
die entwickelt wurden, rankten sich wie<br />
die methodische Diskussion anfangs um<br />
Stichprobenziehungen sowie Ausschöpfungsund<br />
Verweigerungsquoten. Seit relativ kurzer<br />
Zeit erst wurden Methodeneffekte und ihr<br />
Einfluss auf die Validität von Daten, auf Antwortmuster<br />
und Verzerrungen sowie auf das Verhalten<br />
und auf die Akzeptanz dieser Befragungsvariante<br />
bei den Beteiligten zum Gegenstand von<br />
Untersuchungen.<br />
2. Besonderheiten der Interaktion<br />
in telefonischen Interviews<br />
Befragungen gelten als der Königsweg in der<br />
empirischen Sozialforschung. Das Interview bzw.<br />
die standardisierte Befragung schließt an ein<br />
alltagsweltliches Verfahren an, d.h. eine sozialwissenschaftliche<br />
Befragung funktioniert zunächst<br />
nicht grundlegend anders als eine alltägliche<br />
Kommunikation. Als Besonderheit standardisierter<br />
Interviews wird jedoch meist angenommen,<br />
dass infolge der besonderen<br />
Strukturiertheit der Kommunikation der Stimulus<br />
der Fragen bei allen Untersuchungsobjekten<br />
gleichartige Reizwirkungen entfaltet. Computergestützte<br />
telefonische Befragungen werden für<br />
gewöhnlich als eine gut geeignete Methode<br />
standardisierter Datenerhebung beschrieben.<br />
Nicht selten wird jedoch vergessen, dass sich<br />
verbales Verhalten – und dieses ist in der telefonischen<br />
Kommunikation zweifellos von maßgeblicher<br />
Bedeutung – immer im Kontext einer sozialen<br />
Interaktion bzw. Situation entäußert, an<br />
deren Definition und Ausdeutung mindestens<br />
zwei Akteure einen entscheidenden Anteil haben:<br />
der Befragte und der Interviewer. Jede<br />
Verhaltensweise ruft Reaktionen bei Mitmenschen<br />
hervor. Die Interviewsituation unterliegt<br />
folglich auch am Telefon einer nicht zu vernachlässigenden<br />
sozialen Dynamik. (vgl. dazu auch<br />
den Beitrag von M. Bayer in diesem Band)<br />
Im Unterschied zu postalischen oder face-toface-Befragungen<br />
lassen sich zwei ganz zentrale<br />
Elemente bestimmen, die typisch für die CATI-<br />
Methode sind: telefonische Interviews sind auf<br />
den auditiven Kanal beschränkt, und der Computer<br />
greift als eine Art zusätzlicher ”Akteur” in<br />
die Interaktion ein. Dem Interviewer, der grundsätzlich<br />
in jeder Form des Interviews wesentliche<br />
Aufgaben übernimmt, die beispielsweise von<br />
der Motivationsarbeit bis hin zur Vermittlung der<br />
Befragtenrolle reichen, wird in diesem Fall zusätzlich<br />
abverlangt, mit dem Computer zu kommunizieren,<br />
da dieser unmittelbar mit der Problemlösung<br />
verknüpft ist (vgl. Abb. 1).<br />
CATI-spezifische Effekte und Fehlerquellen können<br />
demzufolge unter zwei Gesichtspunkten<br />
analysiert werden: Modeeffekte resultieren aus<br />
der spezifischen Kommunikationssituation, die in<br />
diesem Fall durch die physische Abwesenheit des<br />
Interviewers während der Befragung charakterisiert<br />
ist. Darüber hinaus beeinflusst die Technologie<br />
– also der Computer – das Verhalten der<br />
beteiligten Akteure, indem sie unmittelbar in die<br />
Fragebogenadministrierung einbezogen ist. Hier<br />
erweisen sich Technologieeffekte als wirksam.<br />
Im folgenden wird insbesondere auf einige Modeeffekte<br />
näher eingegangen, denn als ein entscheidender<br />
Faktor bei der Situationsdefinition<br />
in der Interaktion können Merkmale des Interviewers<br />
angesehen werden (vgl. Steinert 1984,<br />
S. 20). Hierin liegt eine potentielle Fehlerquelle.<br />
Anhand einiger Beispiele soll aufgezeigt werden,<br />
in welcher Weise telefonische computergestützte<br />
Erhebungen von Merkmalen des Interviewers<br />
– und hier insbesondere durch das Geschlecht<br />
des Interviewers – beeinflusst werden können.<br />
Darüber hinaus ergeben sich aber auch Effekte,<br />
19
Teil 1<br />
Ch. Koll: Methodeneffekte in telefonischen Interviews<br />
die zwar weniger in Zusammenhang mit<br />
Interviewermerkmalen gebracht werden können,<br />
aber trotzdem auf Spezifika der Kommunikationssituation<br />
zurückführbar sind. Es soll gezeigt<br />
werden, dass sich verändertes Antwortverhalten<br />
und Fehlertendenzen auch auf die Erhebungsmethode<br />
zurückführen lassen. Am Beispiel<br />
von ”Unentschieden”-Antworten in telefonischen<br />
und face-to-face-Befragungen wird dieser<br />
Effekt näher erläutert werden.<br />
Abbildung 1:<br />
Interviewer-Befragten-Interaktion im<br />
computergestützten Interview<br />
CATI-Instrument<br />
Frage/Item<br />
Interface<br />
Interview<br />
Quelle: Fuchs 2000, S. 73<br />
3. Geschlechtsspezifische Effekte in<br />
telefonischen Interviews<br />
Häufig wird davon ausgegangen, dass in standardisierten<br />
Befragungen der Interviewer zwar<br />
Einfluss auf die Qualität der Antworten nehmen<br />
kann, doch ist eine ebenfalls weit verbreitete Annahme,<br />
durch Training und Schulungsmaßnahmen<br />
könne dieser Einfluss derart neutralisiert<br />
werden, so dass er letztlich vernachlässigbar<br />
sei. Als potenziell problematisch erweisen<br />
sich jedoch solche Merkmale einer Person,<br />
die der Kontrolle weitgehend entzogen sind. Diese<br />
Charakteristika des Fragenden können über<br />
beabsichtigte Stimuli hinaus Wirkungen entfalten,<br />
obwohl oder gerade weil sie ungewollt und<br />
unbewusst sind. Die im Kommunikationsprozess<br />
wirksamen Eigenschaften der Interaktionspartner<br />
sind in Abbildung 2 überblicksartig dargestellt.<br />
Als die offensichtlichsten Merkmale in der telefonischen<br />
Kommunikation können das Geschlecht<br />
oder auch das Alter des Interviewers betrachtet<br />
werden. Auch ohne visuellen Kontakt mögen<br />
sie – vor allem in Kopplung mit Stimmeigenschaften<br />
und rhetorischen Fähigkeiten – dem<br />
Befragten als Hinweise beispielsweise auf den<br />
sozialen Status des Fragestellers, dessen Persönlichkeit<br />
und andere das Antwortverhalten beeinflussende<br />
Faktoren dienen. Gerade weil in telefonischen<br />
Interviews im Gegensatz zur normalen<br />
Interaktion weniger Merkmale über die Person<br />
des Gegenübers Aufschluss geben, werden<br />
diese wenigen Charakteristika um so bedeutsamer,<br />
da sie als Anhaltspunkte<br />
für die<br />
Situationsdefinition<br />
herangezogen werden<br />
und einer Be-<br />
Interviewer<br />
wertung unterliegen<br />
(vgl. z.B. Friedrichs<br />
1990).<br />
Befragter<br />
Besonders evident<br />
ist in diesem Zusammenhang<br />
das<br />
Geschlecht des Interviewers.<br />
Die Erkenntnis,<br />
dass<br />
Untersuchungsergebnisse<br />
auch bei<br />
telefonischen Interviews<br />
durch Interviewer<br />
beeinflusst<br />
werden können, existieren<br />
beinahe solange telefonische Befragungen<br />
durchgeführt werden. Obwohl es in einer<br />
Reihe von Studien gelang, verschiedenartige<br />
Wirkungen von Interviewermerkmalen sichtbar<br />
zu machen, wird dieser Problematik bislang noch<br />
zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet. In einer telefonisch<br />
durchgeführten Befragung zu Rechten<br />
und zur Rolle von Frauen fand Landis bereits<br />
1973 heraus, dass Studentinnen, wenn sie von<br />
Männern interviewt wurden, zu feministischeren<br />
Antworten tendierten, als wenn sie von Frauen<br />
befragt worden waren. Thematisch ähnlich gelagerte<br />
Untersuchungen zeigten ähnliche Befunde<br />
und konnten deutlich machen, dass Männer<br />
gegenüber männlichen Interviewern eher geneigt<br />
waren, konservative Antworten zu geben (z.B.<br />
Ballou & DelBocca 1980). Eine detaillierte Analyse<br />
des im telefonischen Panelstudiendesign<br />
angelegten Survey of Consumer Attitudes des<br />
Survey Research Center ergab, dass männliche<br />
Interviewer von den Befragten eine positivere<br />
Einschätzung der allgemeinen, noch stärker aber<br />
der persönlichen wirtschaftlichen Lage erhielten.<br />
20
Nr. 4 2002 <strong>SFB</strong> <strong>580</strong> Mitteilungen<br />
Es bestand eine Tendenz, sich Männern gegenüber<br />
optimistischer und erfolgsorientierter zu<br />
äußern. (Groves & Fultz 1985) In dem als<br />
Telefonstudie angelegten Farm Women´s Survey<br />
aus dem Jahre 1980 erhielten männliche Interviewer<br />
höhere Verweigerungsraten vor allem bei<br />
weiblichen Befragten. In Bezug auf die Interviewdauer<br />
fand man, dass männliche Interviewer im<br />
Durchschnitt mehr Zeit für eine Befragung benötigten<br />
(Naelon 1983).<br />
Abbildung 2:<br />
Das Interview als sozialer Prozess<br />
Befragter:<br />
Demographische<br />
Merkmale<br />
Persönlichkeit<br />
Information /<br />
Erfahrung<br />
Einstellungen<br />
Erwartungen<br />
Motive<br />
Wahrnehmungen<br />
Verhalten<br />
Quelle: Cannell & Kahn 1968<br />
Meinungslosigkeit und unentschiedene Einstellungen<br />
zu Sachverhalten stellen für die Sozialforschung<br />
immer ein Problem dar. Einerseits<br />
möchte der Forscher ausreichende Angaben von<br />
Respondenten erhalten, um entsprechende Aus-<br />
Interviewergebnis<br />
Interviewer:<br />
Demographische<br />
Merkmale<br />
Persönlichkeit<br />
Information /<br />
Erfahrung<br />
Einstellungen<br />
Erwartungen<br />
Motive<br />
Wahrnehmungen<br />
Verhalten<br />
Diese Ergebnisse mögen zunächst als Hinweise<br />
dafür genügen, wie in unterschiedlichen Weisen<br />
das Antwortverhalten von Befragten durch das<br />
Geschlecht von Interviewern unbewusst und<br />
ungewollt beeinflusst werden kann. Deutlich wird<br />
mithin, dass die Datenqualität und folglich auch<br />
Ergebnisse von Befragungen dadurch tangiert<br />
werden. Unklar bleibt jedoch, worin letztlich die<br />
Ursachen für die geschlechtsspezifischen<br />
Interviewerwirkungen liegen. Insgesamt betrachtet<br />
existieren relativ wenige Erklärungsansätze<br />
für derartige Phänomene, die zudem als<br />
weitgehend unbewiesen oder nur partiell bestätigt<br />
angesehen werden können. Eine Annahme<br />
geht davon aus, dass sich das Geschlecht des<br />
Interviewers nur in Befragungen als relevant herausstellt,<br />
wenn das Befragungsthema unbedingt<br />
einen unmittelbaren Bezug zu geschlechts- und<br />
rollenspezifischen Verhaltensweisen aufweist<br />
(vgl. Reinecke 1991, S. 119). Ein ähnlicher Erklärungsansatz<br />
beruht auf spezifischen Erwartungshaltungen:<br />
unterschiedliche soziale Erwartungen<br />
an den Interaktionspartner können<br />
das Antwortverhalten derart beeinflussen, dass<br />
Männern gegenüber eher Stärke und Optimismus<br />
gezeigt werden. Dies steht mit generellen Einstellungen<br />
gegenüber Männern und Frauen sowie<br />
den ihnen zugeschriebenen Merkmalen im<br />
Zusammenhang. So kann beispielsweise in Bezug<br />
auf Fragen nach ökonomischen Merkmalen<br />
oder bei Einschätzungen aus der Perspektive eines<br />
Befragten eine Situation entstehen, welche<br />
er als Wettbewerb interpretiert oder in der er<br />
Konkurrenzdruck empfindet. Das Bemühen nach<br />
der Vermittlung eines positiven Bildes gegenüber<br />
dem vermeintlichen Konkurrenten führt zu einer<br />
Betonung positiver Aspekte. Eine weitere Vermutung<br />
basiert auf der Zuschreibung unterschiedlicher<br />
Kompetenzen von Männern und<br />
Frauen in Bezug auf unterschiedliche Frageinhalte.<br />
Das bedeutet, sie werden auf bestimmten<br />
Gebieten als Experten oder Laien wahrgenommen.<br />
Diese Wahrnehmung bewirkt insbesondere<br />
dann eine Antwortverzerrung, wenn beim<br />
Befragten noch keine festen Einstellungen oder<br />
Meinungen zu einem Gegenstand herausgebildet<br />
sind. (vgl. Groves & Fultz 1985, S. 49 f.)<br />
Nun muss aber in Bezug auf die genannten Studien<br />
einschränkend bemerkt werden, dass mit<br />
Ausnahme der letztgenannten verschiedene<br />
Grundvoraussetzungen nicht oder nur unzureichend<br />
geprüft wurden: Zunächst muss berücksichtigt<br />
werden, dass jeder Interviewer potentiell<br />
bestimmte Cluster von Interviews generiert.<br />
Demzufolge können Interviews nicht ohne weiteres<br />
als voneinander unabhängige Fälle betrachtet<br />
werden, was bedeuten kann, dass verzerrte<br />
Schätzungen von Standardfehlern der<br />
Effektstärken des Geschlechtseinflusses auftreten<br />
(vgl. Dijkstra 1983). Hinzu kommt, dass in<br />
Interviewerstäben meist nur wenige männliche<br />
Interviewer vertreten sind und dass insbesondere<br />
in der universitären Forschung Interviewer<br />
meist aus der Gruppe der Studierenden rekrutiert<br />
werden. Infolge dessen sind Unterschiede<br />
in Antwortmustern mit einer höheren Wahrscheinlichkeit<br />
auch auf andere Persönlichkeitseigenschaften<br />
zurückführbar.<br />
4. Meinungslosigkeit und unentschiedene<br />
Meinungen in telefonischen<br />
Interviews<br />
21
Teil 1<br />
Ch. Koll: Methodeneffekte in telefonischen Interviews<br />
wertungen, denen häufig statistische Methoden<br />
und multivariate Schätzverfahren zu Grunde liegen,<br />
durchführen zu können. Auf der anderen<br />
Seite ist eine geäußerte Meinungslosigkeit, eine<br />
Antwortverweigerung oder eine unentschiedene<br />
Haltung zu einem Sachverhalt immer auch ein<br />
inhaltliches Problem. Versucht man Antworten<br />
wie ”teils/teils” oder ”unentschieden” inhaltlich<br />
näher zu bestimmen, stößt man leicht an Grenzen,<br />
da mit diesen Kategorien verschiedene Dimensionen<br />
angesprochen werden können, die<br />
nicht zwangsläufig einen unmittelbaren Bezug<br />
auf einen Stimulus in Form einer Frage haben.<br />
Befragte können diese Antwort aus verschiedenen<br />
Gründen wählen:<br />
Der wünschenswerte Fall liegt vor, wenn eine<br />
unentschiedene Antwort tatsächlich Ausdruck<br />
eines Zweifels über die inhaltliche Richtigkeit<br />
einer Frage ist. Die Antwort ist dann das Resultat<br />
eines gedanklichen Abwägungsprozesses;<br />
der Befragte ist in solch einem Fall tatsächlich<br />
unentschieden – was nicht gleichbedeutend mit<br />
meinungslos ist.<br />
Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass gar<br />
keine Meinung vorliegt, aber trotzdem eine Antwort<br />
gegeben wird. Beispielsweise um sich selbst<br />
und/oder dem Fragenden Unsicherheiten oder<br />
Unwissenheit nicht einzugestehen, wird auf eine<br />
Frage geantwortet, obwohl kein Abwägungsprozess<br />
und keine Entscheidungsfindung stattgefunden<br />
hat. Unentschieden wird eine solche<br />
produzierte Meinung tendenziell dann ausfallen,<br />
wenn dem Befragten zudem keine Anhaltspunkte<br />
vorliegen, welche Meinung die richtige oder<br />
was erwünscht sei. Die Kategorie dient in diesem<br />
Fall als Fluchtmöglichkeit. Ebenfalls zu einer<br />
Fluchtkategorie kann eine Unentschieden-<br />
Kategorie werden, wenn ein Befragter aus irgendeinem<br />
Grund Angst hat, eine Meinung zu äußern,<br />
sei es als Folge sozialen Drucks, antizipierter<br />
Konsequenzen oder aus einem Zweifel an der<br />
Anonymität einer Befragung heraus. Nicht zuletzt<br />
besteht die Möglichkeit, dass jemand meinungslos<br />
ist oder sich unentschieden äußert, weil in<br />
der Befragungssituation eine Entscheidungsfindung<br />
als zu mühsam erachtet wird und die angebotene<br />
Kategorie die psychologisch<br />
naheliegendste und am leichtesten erreichbare<br />
ist. (vgl. Petersen 2000, S. 26; auch Reuband<br />
1990, S. 428 f.)<br />
Man hat es alles in allem mit verschiedenartig<br />
zustande gekommenen Problemlagen und Antworten<br />
zu tun. Die genannten Schwierigkeiten<br />
sind nicht neu und treten ganz allgemein bei jeder<br />
Form von Befragungen auf. In Bezug auf die<br />
CATI-Methode ergibt sich hingegen noch ein<br />
weiterer Gesichtspunkt, den es zu beachten gilt:<br />
Nachdem das Gallup-Institut zu Beginn des Jahres<br />
1997 seine Wahlumfrage von face-to-faceauf<br />
Telefonbefragung umstellte, zeigte sich, dass<br />
bei telefonischen Befragungen der Anteil von<br />
”Unentschieden”-Antworten zurückging. Was<br />
nun auf den ersten Blick als vorteilhaft und positiv<br />
erachtet werden kann, erweist sich bei genauerem<br />
Hinsehen als Problem. Der Effekt trat<br />
lediglich zugunsten der damals unter öffentlichem<br />
Druck stehenden konservativen Partei auf.<br />
Eine telefonische Befragung bringt eine spezifische<br />
Kommunikationssituation mit sich, in der<br />
sozialer Druck potentiell weniger stark ausgeprägt<br />
ist; die Situation ist eher flüchtig, sie ist<br />
tendenziell anonymer und möglicherweise wird<br />
sie auch als störend oder lästig empfunden. Diese<br />
Umstände können nun zur Folge haben, dass<br />
es dem Befragten einerseits leichter fällt, zu bestimmten<br />
Themen eine bestimmte Meinung zu<br />
äußern. Gleichzeitig bewirken sie aber auch,<br />
dass Befragte eigene Einstellungen entweder beharrlicher<br />
vertreten oder aber auch verbal<br />
schneller negieren und infrage stellen können.<br />
(vgl. Petersen 2000, S. 34 ff.)<br />
In der Praxis bedeutet dies folgendes: Wird jemand<br />
nach seiner Einstellung oder Meinung zu<br />
einem Sachverhalt gefragt, wenn dieser beispielsweise<br />
in der Öffentlichkeit stark kritisiert<br />
oder als sozial unerwünscht wahrgenommen<br />
wird, so fällt es dem Befragten am Telefon leichter,<br />
auf der unter moralischem Druck stehenden<br />
Position zu verharren.<br />
Ausgehend von einer Situation, in der ein<br />
Respondent bereits eine eigene Meinung hat, so<br />
kann zunächst angenommen werden, dass diese<br />
relativ stabil und resistent gegen externe Einflüsse<br />
ist. Auch wenn ab einem bestimmten<br />
Punkt Zweifel an der Richtigkeit der eigenen<br />
Position als Folge äußerer Einflüsse oder Ereignisse<br />
auftreten, hat dies i.d.R. nicht sofort eine<br />
Einstellungsänderung zur Folge. Einstellungsoder<br />
Meinungswandel findet erst dann statt,<br />
wenn bestimmte Schwellenwerte erreicht und<br />
überschritten werden. Naheliegend ist in diesem<br />
Zusammenhang überdies die Annahme, dass<br />
auch der Interviewer in diesem Prozess der Meinungsbildung<br />
und –äußerung keine unerhebliche<br />
Rolle spielt. Der Prozess der Meinungsbildung<br />
und Meinungsänderung wird durch ein vereinfachtes<br />
Schema in Abbildung 3 verdeutlicht.<br />
22
Nr. 4 2002 <strong>SFB</strong> <strong>580</strong> Mitteilungen<br />
Abbildung 3:<br />
Meinungsbildung und Meinungsänderung<br />
als rekursiver Prozess<br />
Meinung A<br />
Bewertungsprozess<br />
Zustand der<br />
Ambivalenz<br />
(„Unentschieden”)<br />
Beibehaltung<br />
(Meinung A)<br />
vs.<br />
Meinungsänderung<br />
(Meinung B)<br />
externe Ereignisse<br />
Die CATI-Methode tut sich nun etwas schwerer<br />
damit, die ambivalenten Zustände abzubilden,<br />
weil Befragte dazu neigen, länger die vermeintlich<br />
oder tatsächlich negativer bewertete<br />
Meinung zu vertreten und sich dafür in einem<br />
späteren Stadium schneller einer Gegenmeinung<br />
anzuschließen. Als bedeutsam erweist sich dieser<br />
Effekt insbesondere bei der Analyse von Einstellungswandel<br />
und Einstellungsänderungen<br />
sowie in der Panelforschung. Dort kommt es<br />
möglicherweise zu abrupteren Seitenwechseln<br />
von einem zum anderen Ende eines Meinungsspektrums,<br />
die Trends schwanken stärker und es<br />
besteht die Gefahr, dass Effekte überschätzt<br />
werden. (Tennstedt 1997) Unsicherheiten sowie<br />
Phasen und Prozesse der Um- und Neuorientierung<br />
bei Befragten lassen sich schwerer erfassen.<br />
5. Zusammenfassende<br />
Überlegungen<br />
Anhand der beispielhaft erörterten Effekte sollte<br />
deutlich geworden sein, dass die am Telefon<br />
durchgeführten standardisierten Befragungen mit<br />
spezifischen methodischen Problemen behaftet<br />
sind. Wirkungen, die aus Interviewermerkmalen<br />
und aus der Befragungssituation resultieren und<br />
das Antwortverhalten mit beeinflussen können,<br />
erweisen sich auch in CATI-Befragungen als<br />
bedeutsam. Doch auch wenn methodischen Fragestellungen<br />
in den vergangenen Jahren verstärkt<br />
Aufmerksamkeit gewidmet wurde, sind<br />
sowohl Datenlage als auch Erkenntnisstand bislang<br />
recht spärlich. Es gilt folglich, derartige<br />
Probleme stärker in den Mittelpunkt zu rücken.<br />
Die Handhabung des Phänomens der Äußerung<br />
von unentschiedenen, ablehnenden oder zustimmenden<br />
Antwortmustern speziell in CATI-Befragungen<br />
gestaltet sich zunächst verhältnismäßig<br />
schwierig. Zumindest liegt es nahe, dass ein<br />
vorsichtiger Umgang mit Ergebnissen von Befragungen<br />
erforderlich ist. So sollte man externen<br />
Einflüssen auf das Antwortverhalten bei der<br />
Ergebnisinterpretation stärker Rechnung tragen,<br />
sofern systematische Zusammenhänge begründet<br />
vermutet werden. Bereits geringe Änderungen<br />
im Antwortverhalten sind dann möglicherweise<br />
als Indizien für größere Zusammenhänge<br />
bzw. stärkere Veränderungen externer Bedingungen<br />
zu werten.<br />
Darüber hinaus ist es sinnvoll, auf die Konstruktion<br />
von Fragen und auf Antwortformulierungen<br />
und –vorgaben stärkeres Augenmerk zu richten.<br />
Ein Ansatz könnte z.B. in der sogen. ”Unfolding”-<br />
Taktik bestehen, d.h. man bittet Befragte erst<br />
relativ eindeutig zu einem Sachverhalt Stellung<br />
zu beziehen (im Sinne einer einfachen Ja-Nein-<br />
Antwort), anschließend wird dann in einer Nachfrage<br />
differenziert erhoben, wie stark eine Meinung<br />
ausgeprägt ist. (vgl. Fuchs 1994, S. 105<br />
f.) Man splittet hierbei den Prozess des Nachdenkens<br />
bzw. Antwortens quasi in mehrere<br />
Schritte, was mit höherer Wahrscheinlichkeit zu<br />
valideren Antworten führt. Diese Annahme bedürfte<br />
allerdings noch der Überprüfung.<br />
Eine weitere Lösungsmöglichkeit bestünde darin,<br />
differenziertere Antwortskalen und Antwortspektren<br />
vorzugeben; man könnte darüber hinaus<br />
breiter streuende mit weniger stark differenzierten<br />
Skalen und ihre Wirkungen vergleichen.<br />
Ebenso könnten Effekte wahrscheinlich besser<br />
differenziert werden, indem geeignetere<br />
Antwortvorgaben präsentiert werden, die beispielsweise<br />
explizite Möglichkeiten der Antwortverweigerung<br />
oder Stimmenthaltung wie ”weiß<br />
nicht” oder ”kenne ich nicht” oder ”möchte mich<br />
nicht äußern” o.ä. anbieten.<br />
Um wiederum unentschiedene von meinungslosen<br />
Befragten besser zu unterscheiden, und bei die-<br />
23
Teil 1<br />
Ch. Koll: Methodeneffekte in telefonischen Interviews<br />
sen wiederum angemessener differenzieren zu<br />
können zwischen Indifferenten als Folge von<br />
Gleichgültigkeit oder Uninformiertheit und Ambivalenten<br />
resultierend aus einem Meinungszwiespalt,<br />
bietet es sich an, verschiedene Fragen<br />
zum Wissensvorrat sowie zum Interesse des<br />
Befragten am Befragungsgegenstand einzubauen<br />
(vgl. Reuband, 1990, S. 432 f.). Ein weiteres<br />
Validitätskriterium könnte zusätzlich noch die<br />
Einschätzung des Befragten sein, ob er die Befragung<br />
bzw. die Fragen als interessant und<br />
relevant bzw. wie nützlich er sie hinsichtlich<br />
bestimmter Problemstellungen oder für einen<br />
Bereich einschätzt.<br />
Die Identifikation von Interviewereffekten erweist<br />
sich dagegen auf den ersten Blick offenbar als<br />
weit weniger schwierig. Wenn jedoch Einstellungen,<br />
Wahrnehmungen, Verhaltensweisen und<br />
Bewertungen als wesentlich für das Antwortverhalten<br />
angenommen werden, stellt sich die<br />
Frage, wie diesem Problem begegnet werden<br />
kann. Unklar bleibt nach wie vor, in welcher Art<br />
und Weise weibliche und männliche Interviewer<br />
unterschiedliche Reaktionen provozieren und<br />
welche Rolle andere Kontextvariablen und<br />
Einflussfaktoren spielen können. Es ist anzunehmen,<br />
dass eine Vielzahl von Interviewermerkmalen<br />
existieren, die zusätzlich wirksam<br />
werden. Über die offensichtlichen sozialen Merkmale<br />
wie Geschlecht und Alter hinaus bietet es<br />
sich an, die Analysen auf Stimmeigenschaften<br />
von Interviewern, aber auch ihre kognitiven und<br />
sprachlichen Kompetenzen sowie auf<br />
Persönlichkeitsmerkmale, aber auch auf das<br />
Wissen und die Einstellungen zu Befragungen, zu<br />
Befragten und zu Befragungsthemen auszudehnen.<br />
All diesen Variablen gemeinsam ist letztlich<br />
der Vorteil, dass sie infolge der zentral durchgeführten<br />
Erhebungen bei der CATI-Methode<br />
sehr gut erfasst werden können, ohne wesentlichen<br />
zusätzlichen Aufwand zu verursachen.<br />
CATI bietet mithin der sozialwissenschaftlichen<br />
Forschung außergewöhnliche Möglichkeiten,<br />
wenn schon nicht bestimmte Wirkfaktoren zu<br />
unterbinden, so doch zumindest ihre Einflüsse in<br />
konkreten Befragungssituationen systematischer<br />
zu untersuchen und zu kontrollieren.<br />
Literatur<br />
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survey measures in telephone interviews.<br />
Presented at the 35 th annual conference, American<br />
Association for Public Opinion Research,<br />
Mason, Ohio, May 29 – June 1.<br />
Cannell, C. F.; Kahn, L. R. (1968): Interviewing.<br />
In: Lindzey, G., Aronson, E. (<strong>Hrsg</strong>.): Handbook<br />
of Social Psychology. Vol. 2 Reading, Mass.<br />
Dijkstra, W. (1983): How interviewer variance<br />
can bias the results of research on interviewer<br />
effects. In: Quality and Quantity 17, pp. 179-<br />
187.<br />
Friedrichs, J. (1990): Gesprächsführung im telefonischen<br />
Interview. In: Forschungsgruppe Telekommunikation<br />
(<strong>Hrsg</strong>.): Telefon und Gesellschaft,<br />
Bd. 2, Internationaler Vergleich – Sprache<br />
und Telefon – Telefonseelsorge und Beratungsdienste<br />
– Telefoninterview. Spiess, Berlin,<br />
S. 413-425.<br />
Fuchs, M. (1994): Umfrageforschung mit Telefon<br />
und Computer. Einführung in die computergestützte<br />
Befragung. Psychologie Verlags Union,<br />
Weinheim.<br />
Fuchs, M. (2000): Interviewsituation in computergestützten<br />
Befragungen – zur Wirkung von<br />
Technologieeffekten. In: Statistisches Bundesamt:<br />
Neue Erhebungsinstrumente und<br />
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among telephone interviewers in a Survey of<br />
Economic Attitudes. In: Sociological Methods<br />
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31-52.<br />
Meulemann, H.; Reuband, K.-H. (<strong>Hrsg</strong>.) (1984) :<br />
Soziale Realität im Interview. Campus Verlag,<br />
Frankfurt am Main/New York.<br />
Nealon, J. (1983): The effects of male vs. female<br />
telephone interviewers. In: Proceedings of the<br />
Section on Survey Research Methods, American<br />
Statistical Association, pp. 139-141.<br />
Petersen, T. (2000): Keine Alternativen: Telefon-<br />
und Face-to-Face-Umfragen. In: Statistisches<br />
Bundesamt: Neue Erhebungsinstrumente<br />
und Methodeneffekte. Wiesbaden, S. 22-41.<br />
24
Nr. 4 2002 <strong>SFB</strong> <strong>580</strong> Mitteilungen<br />
Reinecke, H. (1991): Interviewer und Befragtenverhalten.<br />
Theoretische Ansätze und methodische<br />
Konzepte. Studien zur Sozialwissenschaft,<br />
Bd. 106, Westdeutscher Verlag, Opladen.<br />
Reuband, K.-H. (1990): Meinungslosigkeit im<br />
Interview – Erscheinungsformen und Folgen<br />
unterschiedlicher Befragungsstrategien. In:<br />
Zeitschrift für Soziologie, Jg. 19, Heft 6, Dezember<br />
1990, S. 428-443.<br />
Steinert, H. (1984): Das Interview als soziale<br />
Interaktion. In: Meulemann, H., Reuband, K.-H.<br />
(<strong>Hrsg</strong>.): Soziale Realität im Interview, Campus<br />
Verlag, Frankfurt am Main/New York, S. 17-59.<br />
Tennstädt, F. (1997): General Election von 1.<br />
Mai in Great Britain. Ein Rückblick auf die Opinion<br />
Polls. Manuskript im Allensbacher Archiv.<br />
25
Nr. 4 2002 <strong>SFB</strong> <strong>580</strong> Mitteilungen<br />
Anmerkungen zur Zusammenarbeit unterschiedlicher<br />
Forschungstraditionen<br />
GERALD PREIN<br />
Während die vorangegangenen Beiträge den<br />
Fokus auf Möglichkeiten und Probleme<br />
computerunterstützter Telefonerhebungen gelegt<br />
haben, dies aber nur einen der methodologischen<br />
Fragen des Sonderforschungsbereichs<br />
ausmacht, möchte ich in diesem Beitrag einige<br />
allgemeinere Fragestellungen angehen.<br />
Zunächst will ich auf die Möglichkeiten der Zusammenarbeit<br />
von Forscherinnen und Forschern<br />
eingehen, die aus unterschiedlichen methodischen<br />
Traditionen stammen. Da eine Vielzahl von<br />
Publikationen zu den hierbei aufgeworfenen<br />
methodologischen Fragen vorliegt, 1 will ich an<br />
dieser Stelle eher praktisch und alltäglich über<br />
meine Erfahrungen aus dem jetzt ausgelaufenen<br />
Bremer Sonderforschungsbereich 186 ”Statuspassagen<br />
und Risikolagen im Lebensverlauf”<br />
berichten. Im Anschluss daran will ich einige Fragen<br />
aufwerfen, die mir im Rahmen dieses Sonderforschungsbereichs<br />
als methodisch interessant<br />
erscheinen und einige Vorschläge machen,<br />
wie wir uns mit diesen Fragen beschäftigen<br />
könnten.<br />
Der Bremer Sonderforschungsbereich 186 bestand<br />
– ebenso wie der Sonderforschungsbereich<br />
<strong>580</strong> – aus Projekten, die aus unterschiedlichen<br />
methodologischen Traditionen stammten und die<br />
auch projektintern mit unterschiedlichen – ”qualitativen”<br />
und ”quantitativen” 2 – Daten und Verfahren<br />
arbeiteten. Ich habe dort in zwei unterschiedlichen<br />
Projekten gearbeitet:<br />
Zunächst von Ende 1991 bis Mitte 1997 im Bereich<br />
Methodenentwicklung und EDV des Teilprojekts<br />
Z, dann bis November 2001 im Teilprojekt<br />
A3 ”Berufsverlauf und Delinquenz<br />
1<br />
Eine sehr gute Literaturübersicht gibt Erzberger<br />
(1998).<br />
2<br />
Die Begriffe ”qualitative” bzw. ”quantitative” Sozialforschung<br />
erscheinen mir eher als Etiketten, die einen<br />
Forschungsansatz forschungspolitisch verorten sollen,<br />
denn als taugliche Beschreibungen verschiedener<br />
Formen des Forschungshandelns. Im weiteren Verlauf<br />
dieses Textes sollen diese Begriffe daher eher<br />
vermieden werden.<br />
bildungsbenachteiligter Jugendlicher”, in dem auf<br />
der Basis verbaler und standardisierter<br />
Längsschnittdaten gearbeitet wurde.<br />
Eine solche Kombination verschiedener<br />
Forschungsansätze war in der damaligen Zeit<br />
keineswegs selbstverständlich, verwiesen doch<br />
Schnell, Hill und Esser damals noch in ihrem<br />
Methodenlehrbuch die Ergebnisse ”qualitativer”<br />
Sozialforschung in den Bereich ”subjektiver<br />
Evidenzerlebnisse” (Schnell, Hill, Esser 1992, S.<br />
118).<br />
Innerhalb des Sonderforschungsbereichs 186<br />
wurde hingegen die ”Integration quantitativer<br />
und qualitativer Methoden” als neues Paradigma<br />
für die Erforschung von Lebensverläufen und<br />
Biographien gehandelt (vgl. Kluge und Kelle<br />
2001), es fiel dabei gar das Wort vom ”Bremer<br />
Ansatz”. Eine Verbindung unterschiedlicher<br />
Forschungsansätze ist jedoch weder neu 3 , noch<br />
für die Beantwortung aller Fragen zwingend notwendig<br />
oder überhaupt durchführbar. Der<br />
”nomologisch-deduktiven” und ”interpretativen”<br />
Orthodoxie eine weitere hinzuzufügen, erscheint<br />
mir daher eher fragwürdig. Trotzdem gibt und gab<br />
es – nicht nur aus dem Sonderforschungsbereich<br />
186 – zahlreiche Projekte, in denen eine Kombination<br />
unstandardisierter und standardisierter<br />
Daten, interpretativer und statistisch orientierter<br />
Auswertungsverfahren im Forschungsprozess erfolgreich<br />
war. Auf einige dieser Beispiele will ich<br />
hier eingehen, um zur Nachahmung zu ermuntern<br />
– sofern die Forschungsfrage passt und die<br />
Bedingungen gegeben sind.<br />
3<br />
Bereits im Jahre 1927 schrieb Burgess, zwischen statistischen<br />
Methoden und Fallstudien bestünde kein<br />
Konflikt, da beide Methoden in Wirklichkeit komplementär<br />
seien. Einerseits könnten auf der Grundlage<br />
statistischer Vergleiche und Korrelationen Orientierungen<br />
für Fallstudien entwickelt werden; andererseits<br />
trügen dokumentarische Materialien, die eher<br />
soziale Prozesse beleuchteten, zur Entwicklung angemessenerer<br />
sozialer Indikatoren bei. Wolle man,<br />
dass sowohl die Statistik als auch die Fallstudien ihren<br />
vollen Beitrag als Werkzeuge soziologischer Forschung<br />
leisteten, müsse man ihnen die gleiche Anerkennung<br />
garantieren und beiden Methoden erlauben,<br />
die jeweils eigene Technik zu perfektionieren. Im<br />
übrigen sei die Interaktion der beiden Methoden unbestreitbar<br />
fruchtbar (vgl. Burgess 1927, S. 120).<br />
Auch anderen Pionierinnen der Sozialforschung wie<br />
Jahoda oder Lazarsfeld scheint eine Einteilung der<br />
sozialwissenschaftlichen Welt in ”quantitativ” und<br />
”qualitativ” eher fremd gewesen zu sein.<br />
27
Teil 1<br />
G. Prein: Anmerkungen zur Zusammenarbeit unterschiedlicher Forschungstraditionen<br />
Weitgehend akzeptiert sind Vorgehensweisen,<br />
bei denen unstandardisiertes Material zur Generierung<br />
und Spezifizierung von Hypothesen genutzt<br />
wird, die in einem folgenden Schritt dann<br />
auf der Grundlage standardisierter Erhebungen<br />
geprüft werden (vgl. Barton/Lazarsfeld, 1984).<br />
Über die Notwendigkeit des Einsatzes solcher<br />
explorativer Vorstudien besteht allerdings – wie<br />
man angesichts der Debatte zwischen Kelle/<br />
Lüdemann und Lindenberg in der Kölner Zeitschrift<br />
für Soziologie und Sozialpsychologie (vgl.<br />
Kelle und Lüdemann, 1995, 1996; Lindenberg,<br />
1996) feststellen muss – keineswegs ein Konsens.<br />
Noch weniger selbstverständlich, wenngleich<br />
ebenso produktiv sind Vorgehensweisen,<br />
bei denen Ergebnisse statistischer Berechnungen<br />
zum Ausgangspunkt für interpretative Analysen<br />
gemacht werden, die interpretative Analyse<br />
damit zur ”Hauptstudie” wird.<br />
Dies wird etwa dann interessant, wenn empirische<br />
Verteilungen, die deutlich den Erwartungen<br />
widersprechen, zum Ausgangspunkt für<br />
Intensiverhebungen gemacht werden: So standen<br />
beispielsweise im oben genannten Bremer<br />
Teilprojekt A3 die Ergebnisse einer<br />
Delinquenzerhebung bei Bremer Haupt- und<br />
Sonderschulabsolventen nicht nur im Widerspruch<br />
zu den einschlägigen Theorien der<br />
Kriminalsoziologie, sondern auch zu den ursprünglichen<br />
Hypothesen des Projekts: Nicht<br />
etwa erwerbslose oder gescheiterte Jugendliche<br />
zeigten in den ersten Panelerhebungen die höchsten<br />
Delinquenzbelastungen, sondern gerade die<br />
erfolgreichen, in qualifizierenden Berufsausbildungen<br />
etablierten (vgl. Schumann, 1995; Dietz<br />
et al., 1997). Ein solcher Befund war erklärungsbedürftig,<br />
denn er stellte einen Topos der<br />
Kriminalsoziologie auf den Kopf: Dass Armut und<br />
Ausgrenzung Kriminalität produzieren. Auf der<br />
Grundlage von biographischen Interviewmaterialien<br />
wurde ausgehend von diesem Befund<br />
gefragt, ob eine solche Konstellation ein statistisches<br />
Artefakt darstellt oder ob Jugendliche<br />
selbst über Lebensarrangements berichten können,<br />
in denen ein solches Ergebnis plausibel erscheint.<br />
Effektiv zeigte sich in der erarbeiteten<br />
Typologie eine Gruppe, der es hinreichend gut<br />
gelang, die Sphären ”Ausbildung/Arbeit” und<br />
”Freizeit” zu trennen, um in ersterer als wohl<br />
angepasster Lehrling zu erscheinen, in letzterer<br />
aber zusammen mit der peer group über<br />
delinquentes Verhalten ”thrill” und ”action” zu<br />
suchen. 4<br />
Dies verweist auf eine zweite Funktion, die eine<br />
Kombination unterschiedlicher Methoden und/<br />
oder Forschungstraditionen haben kann und die<br />
häufig unter dem Begriff der Triangulation (vgl.<br />
Campbell/Fiske, 1959; Denzin, 1977) diskutiert<br />
wird. Wird ein Gegenstand mit unterschiedlichen,<br />
unabhängigen Verfahren untersucht, steigt die<br />
Chance, methodenspezifische Artefakte zu identifizieren.<br />
Auch hierzu zwei Beispiele:<br />
So stach im gleichen Projekt bei ersten<br />
interpretativen Analysen von Gerichtsakten ins<br />
Auge, dass im Rahmen von Jugendgerichtsverfahren<br />
Erwerbslosigkeit und Scheitern in<br />
Schule und Ausbildung keinesfalls durchgängig<br />
zum Nachteil der Jugendlichen gewertet wurde,<br />
sondern teilweise sogar in Gerichtsentscheidungen<br />
angeführt wurde, um Strafaussetzung<br />
oder Verfahrenseinstellung zu begründen.<br />
Erst eine standardisierte Analyse von<br />
Gerichtsentscheidungen machte deutlich, dass<br />
dieses Ergebnis zwar zutreffend ist, dass die<br />
Chancen beruflich etablierter Jugendlicher, ungeschoren<br />
davonzukommen, allerdings um ein<br />
Vielfaches höher waren. Dadurch wird das erste<br />
Ergebnis nicht falsch, nur muss es anders<br />
interpretiert werden, wenn Verteilungen bekannt<br />
sind (vgl. Prein und Seus, 1999; Panter, Prein,<br />
Seus, 2001).<br />
Dass die Probleme bestimmter Erhebungs- und<br />
Auswertungstechniken nicht erst in der Phase<br />
der Datenanalyse auftreten können und dass<br />
keine der Forschungstraditionen, sei ihre Fehlertheorie<br />
noch so ausgearbeitet, unfehlbar ist,<br />
zeigt aber auch die bekannte Studie von Kurz,<br />
Prüfer und Rexroth in den ZUMA Nachrichten Nr.<br />
44 (1999). Im Rahmen des Pretests für den ALL-<br />
BUS 1998 wurde bei bestimmten Items nachgefragt,<br />
was die Befragten überhaupt unter der<br />
Frage verstanden hatten. So wurde in Bezug auf<br />
das geplante Item ”Volksbegehren und Volksentscheide<br />
sind eine notwendige Ergänzung der repräsentativen<br />
Demokratie.” u.a. die Nachfrage<br />
gestellt: ”Und was verstehen Sie unter ‚repräsentativer<br />
Demokratie‘?” Der überwiegende Teil<br />
der Befragten wusste keine Artwort bzw. antwortete<br />
eindeutig in einem anderen Sinne als<br />
dem in der Frage intendierten. So zum Beispiel:<br />
”Schwierig, was soll ich sagen, wenn man sie<br />
vorzeigen kann, wenn andere Länder sagen: Da<br />
schau mal her!” (Kurz/Prüfer/Rexroth, 1999, S.<br />
93).<br />
4<br />
Damit ist allerdings noch nicht alles geklärt, denn es<br />
bleiben die Fragen, wie die Jugendlichen dies bewerkstelligen,<br />
obwohl sie der Kontrolle von Justiz und<br />
Arbeitgebern ausgesetzt sind, und wie sich dies über<br />
den weiteren Lebenslauf entwickelt.<br />
28
Nr. 4 2002 <strong>SFB</strong> <strong>580</strong> Mitteilungen<br />
Wir sehen also, dass weder standardisiert-statistische<br />
noch hermeneutisch-interpretative<br />
Methoden davor gefeit sind, Artefakte zu produzieren<br />
und eine parallele Verwendung unterschiedlicher<br />
Verfahren die Aufdeckung solcher<br />
Probleme begünstigt.<br />
Eine dritte Funktion hat die Verzahnung von statistischen<br />
Verfahren mit interpretativen Herangehensweisen<br />
in den Fällen, in denen beide spezifische<br />
Teilaspekte des Untersuchungsfelds zu<br />
erfassen vermögen, erst aber deren – mehr oder<br />
weniger passgenaue – Kombination ein einigermaßen<br />
vollständiges Bild des Gegenstandes ergibt.<br />
Eine solche Komplementarität verschiedener<br />
Herangehensweise zeigte sich wiederum im<br />
Rahmen der oben genannten Analyse der Gerichtsakten,<br />
bei der mittels der statistischen<br />
Analysen zwar wichtige Verteilungsaussagen gemacht,<br />
nicht aber der ”Mechanismus” identifiziert<br />
werden konnte, der dazu führte, dass –<br />
abgesehen von der ”Deliktschwere” – bestimmte<br />
erwerbslose Jugendliche sanktioniert wurden<br />
und andere nicht. Hier zeigten erst interpretative<br />
Textanalysen, dass die zentrale Kategorie der<br />
Justiz gar nicht der Erwerbsstatus, sondern das<br />
Akzeptieren der ”Arbeitsmoral” der Gesellschaft<br />
war, d.h. dass auch Nicht-Erwerbstätigkeit unter<br />
bestimmten Bedingungen als ”unverschuldet”<br />
akzeptiert wurde, wenn die Jugendlichen etwa<br />
deutlich machen konnten, dass sie sich um Arbeit<br />
bemühten (vgl. Panter, Prein, Seus, 2001).<br />
Die hier dargestellten Beispiele sind natürlich<br />
stark verkürzt und aus dem Zusammenhang<br />
genommen. Ich hoffe dennoch, dass deutlich<br />
geworden ist, dass methodologische Offenheit<br />
sich lohnen kann, unabhängig davon, ob nun<br />
Theoriegenerierung oder Hypothesenprüfung im<br />
Zentrum des Projektinteresses steht: In beiden<br />
Fällen erhöhen multiple Sichtweisen auf ein Thema<br />
und einen Gegenstand die Chancen, Neues<br />
zu entdecken bzw. scheinbar Sicheres in Frage<br />
zu stellen. Kurzum: Die Zusammenarbeit von Forschern,<br />
die auf der Grundlage unterschiedlicher<br />
Methoden in einem Forschungszusammenhang<br />
arbeiten, ist nicht per se ein Garant für bessere<br />
Daten und Ergebnisse, wohl aber dafür, dass sich<br />
Blickwinkel im Forschungsprozess verändern und<br />
dass Gegenevidenz nicht zur Bedrohung wird,<br />
5<br />
In Bremen war es häufig schwer zu vermitteln, dass<br />
die Doppelbelastung die methodischen Arbeiten erschwerte,<br />
denn der Erfolg des Projekts wurde in der<br />
Begutachtung nicht daran gemessen, ob die Computer<br />
liefen oder die Sekretärinnen mit der Textverarbeitung<br />
zurechtkamen, sondern daran, ob im Bereich<br />
der Methodenentwicklung neue Ansätze erkennbar<br />
waren, Publikationen erstellt worden waren,<br />
die Präsenz auf Tagungen da war etc. Der Bremer<br />
sondern zum Ausgangspunkt der Theorieentwicklung.<br />
Eine solche Zusammenarbeit setzt allerdings<br />
voraus, dass Qualitätskriterien grundsätzlich<br />
geteilt werden und die Existenz von Validitätsbedrohungen<br />
für die eigene Methode überhaupt<br />
anerkannt werden. Dabei können Diskussionen<br />
im Zusammenhang mit Sfb-übergreifenden<br />
Methodenprojekten an konkreten gemeinsamen<br />
methodologischen Fragen weiterführend sein.<br />
Dies allerdings nur unter der Bedingung, dass<br />
solche Projekte an konkreten Problem- und Fragestellungen<br />
der Teilprojekte ansetzen und nicht<br />
abstrakte Methodologie betreiben. Auch hier –<br />
denke ich – gibt es sowohl positive wie negative<br />
Vorerfahrungen aus Bremen.<br />
In Bremen wie in Halle war das Methodenprojekt<br />
zunächst kein genuines Sfb-Projekt - in Bremen<br />
hat es bis zum Schluss diesen Status nicht erlangt<br />
und ist ”Bereich” der zentralen Geschäftsstelle<br />
geblieben. Entstanden ist der Bereich –<br />
wie auch das M-Projekt – aus einer Service<br />
Abteilung, in Bremen EDV-Betreuung, hier in Halle<br />
und Jena standardisierte Befragungen. Eine solche<br />
Konstellation beinhaltet Probleme, wenn das<br />
Verhältnis zwischen Service und Methodenentwicklung<br />
ungeklärt ist. 5 Wenn ein Methodenprojekt<br />
erfolgreich sein will, muss es als solches<br />
ernst genommen werden – und in dieser Richtung<br />
scheint ja auch das Monitum der Gutachter<br />
zu gehen. Dies mit den derzeit vorhandenen<br />
Ressourcen zu bewerkstelligen erscheint mir allerdings<br />
nicht möglich.<br />
Nun mag das anfängliche Unbehagen mit einem<br />
Methoden-Projekt auch noch andere Gründe<br />
gehabt haben, denn Methodiker gelten als unangenehme<br />
”backseat driver”, die – ohne selbst<br />
fahren zu müssen, dem Autofahrer gute Ratschläge<br />
geben und ihm permanent vorhalten,<br />
was er alles hätte besser machen können. Wir<br />
haben deshalb versucht, im Bremer Sonderforschungsbereich<br />
ein Konzept umzusetzen, das wir<br />
”forschungsbegleitende Methodenentwicklung”<br />
genannt haben: Dies bedeutet, konkrete methodische<br />
Problemstellungen aus der Forschungspraxis<br />
der Projekte aufzunehmen, zu generalisieren<br />
und zu lösen. Damit wurden die Arbeits-<br />
Sfb hat lange gebraucht, um diese Schizophrenie zu<br />
erkennen und durch entsprechende Professionalisierung<br />
des EDV-Bereichs durch die Einstellung eines<br />
Technikers eine notwendige Entlastung der Wissenschaftler<br />
zu schaffen.<br />
29
Teil 1<br />
G. Prein: Anmerkungen zur Zusammenarbeit unterschiedlicher Forschungstraditionen<br />
schwerpunkte recht heterogen, wenn gleichzeitig<br />
Fragen nach Inferenzstrategien für kleine<br />
Stichproben, Software zur Verwaltung von Textdaten<br />
aus Panelerhebungen oder nach statistischen<br />
Verfahren zur Exploration von Lebensverlaufsdaten<br />
formuliert werden. Eine solche<br />
Anbindung hat es allerdings ermöglicht, mit sehr<br />
unterschiedlichen Forschungsansätzen kommunizieren<br />
zu können, denn im Vordergrund standen<br />
nicht abstrakte wissenschaftstheoretische<br />
Überlegungen, sondern reale Probleme vor Ort.<br />
Zu deren Regulierung hatte sich in Bremen –<br />
zumindest in der ersten Zeit – die Einrichtung<br />
projektübergreifender Arbeitsgruppen bewährt,<br />
in denen Probleme überhaupt erst formuliert und<br />
spezifiziert werden konnten.<br />
Doch bislang besteht das Methodenprojekt hier<br />
vor allem aus CATI. Aufgrund der Personalausstattung<br />
ist zumindest derzeit ein umfassender<br />
Methodenservice kaum zu leisten. Aber CATI<br />
– oder allgemeiner: Datenerhebung – erscheint<br />
mir als eines der vielversprechendsten Felder<br />
methodischer Innovation. Viel Energie wird derzeit<br />
in den Methoden – seien sie nun eher<br />
interpretativ oder statistisch orientiert – in Kontroversen<br />
um Auswertungs- und<br />
Schätzverfahren vergeudet. All diese Diskussionen<br />
vergessen, dass das Material, das den Analysen<br />
zugrunde liegt, in den Sozialwissenschaften<br />
eine weit größere Fehlerquelle darstellt als<br />
Interpretationsfehler oder Fehlspezifikationen<br />
von Modellen. Dass gerade in diesem Bereich die<br />
Zusammenarbeit von Forschern aus unterschiedlichen<br />
Traditionen weiterführend sein kann, ist<br />
vielleicht aus den hier gegebenen Beispielen<br />
deutlich geworden. Dies spitzt sich noch einmal<br />
zu, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass es in<br />
diesem Sonderforschungsbereich darum geht,<br />
längerfristige gesellschaftliche Wandlungsprozesse<br />
zu verstehen und wir dabei immer mehr mit<br />
Daten über Prozesse zu tun haben werden.<br />
Ich denke, ein erster Ansatzpunkt könnte hier<br />
im Bereich des CATI-Labors liegen, denn im Gegensatz<br />
zum schriftlichen Interview stellt ein<br />
Telefonat eine Gesprächssituation dar – und ist<br />
damit nicht nur zur Erhebung standardisierter<br />
Daten nutzbar. Das Teilprojekt B2 diskutiert etwa<br />
die Einschaltung offener Frageblöcke weit über<br />
das Maß hinaus, das allgemein üblich ist. Inwieweit<br />
dies durchführbar ist, welchen Nutzen dies<br />
hat, ob und wie dies auf andere Erhebungen<br />
übertragen werden kann, welche Auswertungsmethoden<br />
man bei solchen ”unstandardisierten<br />
Breitenerhebungen” noch anwenden kann – all<br />
dies sind Fragen, die mir interessant und wichtig<br />
erscheinen – zu wichtig, um sie nur im Rahmen<br />
dieses Projektes zu diskutieren.<br />
Mein Vorschlag wäre daher zu versuchen, eine<br />
methodenorientierte Arbeitsgruppe aus Mitarbeitern<br />
verschiedener Projekte zu implementieren,<br />
in der solche Fragen diskutiert und ein<br />
methodenorientierter Austauschprozess innerhalb<br />
des Sonderforschungsbereichs vorbereitet<br />
werden kann.<br />
Literatur<br />
Barton, A. H.; Lazarsfeld, P. F. (1984): Einige<br />
Funktionen von qualitativer Analyse in der Sozialforschung.<br />
In: Hopf, C.; Weingarten, E.<br />
(<strong>Hrsg</strong>.): Qualitative Sozialforschung. Stuttgart:<br />
Klett-Cotta, S. 41-89 (engl. Original von 1955).<br />
Burgess, E. W. (1927): Statistics and Case<br />
Studies as Methods of Sociological Research. In:<br />
Sociology and Social Research, 12, S. 120 ff.<br />
Campbell, D. T.; Fiske, D. W. (1959): Convergent<br />
and Discriminant Validation by the Multitrait-<br />
Multimethod Matrix. In: Psychological Bulletin,<br />
Vol. 56, Nr. 2, März 1959. S. 81-105.<br />
Denzin, N. K. (1977): The Research Act. A<br />
Theoretical Introduction to Sociological<br />
Methods. New York etc.: McGraw Hill Book Company.<br />
Dietz, G.-U.; Mariak, V.; Matt, E.; Seus, L.;<br />
Schumann, K. F. (1997): Lehre tut viel ... Münster:<br />
Votum.<br />
Erzberger, C. (1998): Zahlen und Wörter. Die<br />
Verbindung quantitativer Daten und Methoden<br />
im Forschungsprozess. Vol. XI. Weinheim: Deutscher<br />
Studien Verlag.<br />
Kelle, U.; Lüdemann, C. (1995): ”Grau, teurer<br />
Freund ist alle Theorie...” Rational Choice und das<br />
Problem der Brückenannahmen. In: Kölner Zeitschrift<br />
für Soziologie und Sozialpsychologie, 47,<br />
Köln. S. 249-267.<br />
Kelle, U.; Lüdemann, C. (1996): Theoriereiche<br />
Brückenannahmen? Eine Erwiderung auf Siegwart<br />
Lindenberg. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie<br />
und Sozialpsychologie 48, Köln.<br />
S. 542-545.<br />
Kluge, S.; Kelle, U. (<strong>Hrsg</strong>.) (2001): Methodeninnovation<br />
in der Lebenslaufforschung. Integration<br />
qualitativer und quantitativer Verfahren in<br />
der Lebenslauf- und Biographieforschung.<br />
Statuspassagen und Lebenslauf, Band 4. Weinheim<br />
und München: Juventa.<br />
30
Nr. 4 2002 <strong>SFB</strong> <strong>580</strong> Mitteilungen<br />
Kurz, K.; Prüfer, P.; Rexroth, M. (1999): <strong>Zur</strong><br />
Validität von Fragen in standardisierten Erhebungen.<br />
Ergebnisse des Einsatzes eines kognitiven<br />
Pretestinterviews. In: ZUMA Nachrichten,<br />
Nr. 44, Mai 1999, S. 83-108.<br />
Lazarsfeld, P.; Jahoda, M.; Zeisel, H. (1997): Die<br />
Arbeitslosen von Marienthal. Ein<br />
soziographischer Versuch über die Wirkungen<br />
langdauernder Arbeitslosigkeit. Mit einem Anhang<br />
zur Geschichte der Soziographie. Frankfurt<br />
am Main: Suhrkamp (13. Auflage, Erstauflage<br />
1933).<br />
Lindenberg, S. (1996): Theoriegesteuerte Konkretisierung<br />
der Nutzentheorie. Eine Replik auf<br />
Kelle/Lüdemann und Opp/Friedrichs. In: Kölner<br />
Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie<br />
48, Köln. S. 560-565.<br />
Panter, R.; Prein, G.; Seus, L. (2001): Per<br />
Doppelpass ins Abseits! <strong>Zur</strong> Kontinuität von<br />
Interpretations- und Handlungsmustern in Arbeitsmarkt<br />
und Strafjustiz und deren Konsequenzen.<br />
In: Leisering, L.; Müller, R.; Schumann, K.<br />
F. (<strong>Hrsg</strong>.) (2001): Institutionen und Lebensläufe<br />
im Wandel. Institutionelle Regulierungen von<br />
Lebensläufen. Statuspassagen und Lebenslauf<br />
Band 2. Weinheim/München: Juventa, S. 157-<br />
185.<br />
Prein, G.; Seus, L. (1999): ”Müßiggang ist aller<br />
Laster Anfang?” – Beziehungen zwischen Erwerbslosigkeit<br />
und Delinquenz bei Jugendlichen<br />
und jungen Erwachsenen. In: Soziale Probleme,<br />
10. Jahrgang, Heft 1, S. 43-73.<br />
Schnell, R.; Hill, P. B.; Esser, E. (1992): Methoden<br />
der empirischen Sozialforschung. München,<br />
Wien: Oldenbourg (3. Aufl.).<br />
Schumann, K. F. (1995): The Deviant<br />
Apprentice. The Impact of the German Dual<br />
System of Vocational Training on Juvenile<br />
Delinquency. In: Hagan, J. (ed.): Delinquency<br />
and Disrepute in the Life Course. Greenwich/<br />
Connecticut: Jai Press Inc. S. 91-195.<br />
31
Nr. 4 2002 <strong>SFB</strong> <strong>580</strong> Mitteilungen<br />
Diskussion zum Teil 1<br />
<strong>Heinz</strong> <strong>Sahner</strong> informiert zu Beginn der Diskussionsrunde<br />
die Anwesenden darüber, dass die<br />
Betriebsführung des CATI-Labors an das zsh<br />
übergeben wurde. Bis zum Herbst vergangenen<br />
Jahres war das Telefonlabor in der Regie des<br />
Instituts für Soziologie, also an der MLU angegliedert.<br />
In dieser Zeit konnte eine Vielzahl von<br />
Untersuchungen durchgeführt werden, so dass<br />
auf Erfahrungswerte zurückgegriffen werden<br />
kann. Außerdem existiert bereits ein Stab von<br />
Interviewern und Interviewerinnen, die gut geschult<br />
sind und ebenfalls Erfahrungen aufweisen<br />
können.<br />
Im Anschluss daran eröffnet er die Diskussion.<br />
Infolge der thematisch ähnlich gelagerten beiden<br />
ersten Vorträge, rankten sich Fragen, Kritikpunkte<br />
und Anregungen hauptsächlich um die<br />
Interviewsituation und die Bedeutung des Interviewers<br />
im Interviewprozess. Zwei wesentliche<br />
Schwerpunkte kristallisierten sich heraus. Zunächst<br />
wurde hinsichtlich der Interviewereinflüsse<br />
die Bedeutung des Alters von Interviewern<br />
thematisiert. Es wurden davon ausgehend<br />
Überlegungen angestellt, inwiefern sich unterschiedliche<br />
Kompetenzen infolge von Statusunterschieden<br />
zwischen den Befragten und den<br />
Interviewern systematisch auf den Interviewverlauf<br />
und auf die Bereitschaft der<br />
Respondenten, an Befragungen mitzuwirken,<br />
vorteilhaft oder nachteilig auswirken können.<br />
Zunächst äußert Ursula Rabe-Kleberg, dass das<br />
Thema Geschlechtseffekte von Interviewern<br />
unmittelbar einsichtig sei. Sie interessiert sich<br />
ausgehend von der Annahme, dass die Stimme<br />
eines Interviewers auch dessen Alter transportiert,<br />
weiterführend dafür, welche Wirkungen dies<br />
für die Kommunikation im Interview haben könnte.<br />
Es sei bedenkenswert, dass für bestimmte<br />
Studien eher ältere Interviewer herangezogen<br />
würden.<br />
Rudi Schmidt greift die Frage auf und verweist<br />
auf frühere Erfahrungen mit Befragungen von<br />
Managern. Gerade die High Potentials legten<br />
demnach besonderen Wert auf die Gleichrangigkeit<br />
der Gesprächspartner. Er gibt zu bedenken,<br />
dass die Reziprozität wesentlich ist, da nur in<br />
dieser Konstellation für den Befragten eine Art<br />
Nutzeneffekt erkennbar sei. Erfahrungsgemäß<br />
würden demnach Interviews mit jüngeren bzw.<br />
unerfahreneren Interviewern eher abgebrochen<br />
und insgesamt von kürzerer Dauer sein.<br />
Brigitte Geißel wendet ein, dass auch in Konstellationen,<br />
in denen der Fragende jünger oder unerfahrener<br />
als der zu Befragende ist, ein Nutzen<br />
für den Interviewten sich ergeben könnte. Ihrer<br />
Erfahrung zufolge ist eine Gleichrangigkeit<br />
zwischen den Beteiligten keine unbedingte Voraussetzung<br />
für ein gelungenes Interview.<br />
Rudi Schmidt zeigt sich trotzdem skeptisch. Zu<br />
unsicher sei es, mit Interviewern zu arbeiten, die<br />
nur teilweise das notwendige Fachwissen für<br />
eine annähernd symmetrische Kommunikation<br />
besitzen. Jedoch räumt er ein, dass er sich vorstellen<br />
könne, Studenten höherer Semester und<br />
mit einer relevanten Studienfachrichtung die<br />
Durchführung von Interviews anzuvertrauen.<br />
Hier sei die Wissensdifferenz möglicherweise<br />
nicht zu stark ausgeprägt.<br />
Christian Koll entgegnet, dass gerade in der<br />
universitären Forschung es üblich sei, Interviewer<br />
aus studentischen Kreisen zu rekrutieren.<br />
Fragen nach dem Effekt von Altersunterschieden<br />
nachzugehen, sei aus diesem Grunde nicht<br />
sehr einfach. <strong>Heinz</strong> <strong>Sahner</strong> beklagt in diesem<br />
Zusammenhang Defizite der universitären Forschung.<br />
Insbesondere privatwirtschaftlich organisierte<br />
Forschungsinstitute seien in diesem<br />
Punkt wesentlich weiter. Dort würden bereits<br />
seit längerer Zeit Erfahrungen bestehen, welche<br />
Eigenschaften und Qualitäten von Interviewern<br />
in unterschiedlichen Feldstudien besonders positive<br />
Effekte hervorrufen. Bedauerlicherweise<br />
sind die dort durchgeführten methodischen Studien<br />
der Öffentlichkeit nur zum Teil zugänglich.<br />
Brigitte Geißel äußert ihre Zustimmung und zeigt<br />
sich optimistisch, dass im Rahmen der<br />
Methodenentwicklung des M-Projektes zumindest<br />
einige der offenen Fragen einer Antwort<br />
zugeführt werden können. Auch Burkart Lutz<br />
sieht erhebliche Möglichkeiten, mit relativ wenig<br />
Aufwand Interviewer je nach deren Eigenschaften<br />
und Fähigkeiten für verschiedene<br />
CATI-Befragungen einzusetzen und Material zu<br />
sammeln, welche Effekte sich für die Qualität<br />
von Befragungsergebnissen ergeben können.<br />
Diese – sozusagen Forschung über die Forschung<br />
– sei gerade deswegen interessant, weil<br />
sie fast keine zusätzlichen Ressourcen benöti-<br />
33
Teil 1<br />
Diskussion<br />
ge. Perspektivisch zeigt er sich hoffnungsvoll,<br />
dass in Bezug auf CATI gerade im Rahmen des<br />
Sonderforschungsbereiches eine außerordentlich<br />
gute Chance besteht, Lernprozesse systematisch<br />
in Gang zu setzen.<br />
An die letzten Gedanken anknüpfend regt Michael<br />
Hofmann an, die Methodenerfahrungen der einzelnen<br />
Teilprojekte in Forschungstagebüchern<br />
festzuhalten, um somit Probleme,<br />
Problemlösungsstrategien und Erkenntnisse später<br />
verdichten zu können. Nicht zuletzt im Hinblick<br />
auf zukünftige Publikationen und Veröffentlichungen<br />
erweise sich ein solches Vorgehen als<br />
nützlich. Bezugnehmend auf den Vortrag von<br />
Gerald Prein lenkt er die Aufmerksamkeit darauf,<br />
dass innerhalb des <strong>SFB</strong> <strong>580</strong> noch viele weitere<br />
methodische und forschungspraktische Fragen<br />
offen seien. Er erinnert die Anwesenden noch<br />
einmal daran, dass häufig eine retrospektive Dokumentation<br />
aufgetretener Schwierigkeiten sich<br />
als zu ungenau erweist. Zustimmend ist <strong>Heinz</strong><br />
<strong>Sahner</strong> der Meinung, dass mit dieser Veranstaltung<br />
bereits ein Schritt in diese Richtung gemacht<br />
worden ist. Die Diskussion vorerst beendend<br />
zeigt er sich optimistisch, dass ungeklärte<br />
Fragen – insbesondere die Problematik der<br />
Verknüpfung quantitativer und qualitativer Methoden<br />
der empirischen Sozialforschung – auf<br />
dem nächsten Methoden-Workshop in Jena weiter<br />
in der Diskussion stehen werden.<br />
34
Nr. 4 2002 <strong>SFB</strong> <strong>580</strong> Mitteilungen<br />
Das CATI-System<br />
CHRISTINA BUCHWALD<br />
1. Einführung in das CATI-System<br />
Ein kostenminimierendes und schnelles Erhebungsverfahren<br />
in allen Gesellschaften mit<br />
einem entwickelten Fernmeldesystem stellt die<br />
telefonische Befragung dar. Aufgrund einer überwiegend<br />
anwendungsorientierten Forschung<br />
entwickelte sich die Telefonbefragung zu einer<br />
fortschrittlichen Erhebungstechnik. In der Bundesrepublik<br />
Deutschland gelangten Telefoninterviews<br />
nach Erreichen einer akzeptablen<br />
Telefondichte zu Beginn der 80er Jahre zunächst<br />
in der Marktforschung zum Einsatz (vgl. Schenk<br />
1990, S. 379f.; Fuchs 1990, S. 55). Kurze Zeit<br />
später bediente sich auch die wissenschaftliche<br />
Forschung des computergestützten Telefoninterviews.<br />
Heutzutage sind CATI-Erhebungen<br />
sowohl aus der kommerziellen Forschung wie auch<br />
aus dem wissenschaftlichen Bereich immer weniger<br />
wegzudenken. In Ostdeutschland war die<br />
Telefonanschlussdichte nach dem Systemumbruch<br />
sehr gering. Seit Mitte der 90er Jahre jedoch<br />
sind die Anschlusszahlen in Ostdeutschland<br />
denen im Westen Deutschlands angeglichen.<br />
Durch die Einbeziehung der Computertechnologie<br />
in den Interviewprozess eröffneten sich neue<br />
Dimensionen für die Datengewinnung. Die Diskussion<br />
über methodische Fragen der Datenerhebung<br />
mittels Telefon und die Entwicklung bzw.<br />
der Einsatz dieses Umfrageverfahrens ist von einer<br />
Dynamik geprägt, die nicht nur umwälzende<br />
Entdeckungen technischer Möglichkeiten, sondern<br />
auch methodische Herausforderungen im<br />
Hinblick auf grundlegende theoretische Probleme<br />
der Umfrageforschung beinhaltet.<br />
Durch den Einsatz von CATI eröffneten sich bei<br />
der telefonischen Befragung nicht nur neue<br />
Möglichkeiten sondern auch eine Vielzahl von<br />
Vorteilen (vgl. Porst 2000, S. 125; Frey/ Kunz/<br />
Lüschen 1990, S. 181 ff.).<br />
1. CATI erlaubt Sozialforschern sehr komplexe<br />
Umfragen durchzuführen. Der Vorteil<br />
eines computergesteuerten Fragebogens<br />
liegt in der automatisierten Filterführung.<br />
Durch differenzierte, automatisierte<br />
Filterführungen (beispielsweise muss<br />
ein Betrieb, der keine Azubis hat, nicht nach<br />
dem Erhalt von Fördermitteln für Auszubildende<br />
befragt werden) wird der Interviewer<br />
1 und auch der Befragte von dieser Aufgabe<br />
entlastet. Zugleich ist die Möglichkeit<br />
eines individualisierten Befragungsablaufs<br />
gegeben.<br />
2. CATI ermöglicht die Steuerung von<br />
Fragefolgen. Auswahllisten und Fragerotationen<br />
werden durch den Computer erledigt.<br />
Dies erspart dem Interviewer die Aufgabe<br />
der Auswahl eines Zufallstarts oder die<br />
spezielle Beschäftigung mit verschiedenen<br />
Designs des Fragebogens.<br />
3. Der programmierte Fragebogen kann eine<br />
vorangehende Antwort oder Stichpunkte<br />
in eine spätere Frage wieder<br />
einbauen. Das heißt, CATI-Systeme sind in<br />
der Lage, Kommentare festzuhalten und<br />
diese mit bestimmten Fragen zu verbinden.<br />
4. Konsistenzprüfungen im Laufe des Interviews,<br />
die Antwortmuster oder Widersprüche<br />
in den Antworten festhalten, können<br />
programmiert werden.<br />
Beispiel aus der ”Befragung ausbildender<br />
Betriebe in Sachsen-Anhalt”:<br />
Frage 1: ”Wie viele Auszubildende bilden<br />
Sie aus?”<br />
1a: ”Wie viele davon sind<br />
männlich?”<br />
und/oder<br />
1b: ”Wie viele sind weiblich?”<br />
Die Summe der männlichen und weiblichen<br />
Lehrlinge muss mit der angegebenen<br />
Gesamtanzahl übereinstimmen, sonst erhält<br />
der Interviewer ein Signal.<br />
5. Die Anruflisten werden durch das System<br />
auf den neuesten Stand gebracht und<br />
sind dadurch eine ausgezeichnete Unterstützung<br />
für die Verwaltung der Stichprobe<br />
1<br />
Aus Gründen der Lesbarkeit beschränke ich mich<br />
im Text auf die maskulinen Formen. Ich verzichte<br />
darauf, die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer<br />
Aspekte stets durch Wortschöpfungen wie<br />
InterviewerInnen oder Interviewer/innen zu unterstreichen.<br />
35
Teil 2<br />
Ch. Buchwald: Das CATI-System<br />
und die Auswahl der Untersuchungsteilnehmer,<br />
welche nach Priorität vorgelegt<br />
werden. Das heißt Rückrufe, erneute<br />
Anrufversuche und vereinbarte Termine<br />
werden automatisch mitgeteilt.<br />
6. CATI hilft dem Interviewer beim Teilnehmerrückruf.<br />
Die Interviewer brauchen<br />
sich nichts aus vorangegangenen Interviews<br />
zu merken, da das Programm die notwendigen<br />
Aufschlüsselungen und Fragefolgen berücksichtigt.<br />
Bei Fortführung eines Interviews<br />
startet es den Fragebogen an der<br />
Stelle, an der das Interview unterbrochen<br />
wurde.<br />
7. Sofortige Rückkopplungen zur zeitbezogenen<br />
Realisierung von Stichproben<br />
sind durch die Überprüfung der<br />
Abschlussraten, der optimalen Zeit für Anrufe<br />
je nach Zielgruppe und der Rate von Abschlüssen<br />
je Interviewer möglich. Diese Informationen<br />
können für eine effiziente Planung<br />
weiterer Anrufe benutzt werden.<br />
8. Die Daten werden unmittelbar nach der<br />
Erfassung gespeichert.<br />
9. Begrenzungen in der Stichprobengröße<br />
nach Reichweite und Umfang sind nicht notwendig.<br />
10. CATI garantiert die Anonymität der Befragung<br />
bzw. der Befragungsperson.<br />
Abbildung 1:<br />
Organisation eines CATI-Labors<br />
Supervisor - PC<br />
Überwachung<br />
Datenpflege<br />
Polling<br />
Abfrage von Terminen<br />
Überprüfung von<br />
Interviewstatistiken<br />
Zuordnung von Samples<br />
Verteilung von<br />
Termininterviews<br />
Daten - Server<br />
Datenspeicherung<br />
Samplespeicherung<br />
Hauptprogramme<br />
Stationsdaten<br />
Quelle: M. Bayer: Der Hallesche Graureiher 98-1<br />
An die Nutzung des CATI-Systems sind bestimmte<br />
Voraussetzungen gebunden. CATI-Programme<br />
verlangen eine hohe Funktionstüchtigkeit der<br />
Technik und stellen hohe Anforderungen an die<br />
Datensicherheit. Die Programmierung der Eingabemasken<br />
muss erlernt und ständig angewendet<br />
werden.<br />
2. Technische Realisierung von<br />
CATI-Befragungen<br />
Die Organisation eines CATI-Labors kann folgendermaßen<br />
veranschaulicht werden:<br />
Die Datenbank, welche die Telefonnummern,<br />
Namen u. a. enthält sowie der programmierte<br />
Fragebogen werden zentral und vom<br />
Supervisor-PC bereitgestellt. Das CATI-System<br />
ermöglicht eine zugriffsgesteuerte Verteilung von<br />
Interviews an die einzelnen PC-Stationen. Jedem<br />
Interviewer wird eine spezielle Kennung zugewiesen,<br />
so dass die Produktivität einzelner Interviewer<br />
kontrolliert werden kann.<br />
Nach Beendigung eines Interviews werden die<br />
gewonnenen Daten zentral auf dem Server in<br />
eine Datei geschrieben. Diese Datei sollte zudem<br />
regelmäßig gesichert werden; hierzu wird ein<br />
DAT-Streamer oder ein Wechselplattenlaufwerk<br />
für die externe Sicherung der Telefonstichproben<br />
und der erhobenen Daten benötigt. Durch die<br />
unmittelbare Dateneingabe am Bildschirm verringert<br />
sich der Aufwand für die Datenaufbereitung,<br />
so dass Ergebnisse von Telefonumfragen<br />
mit CATI schneller zur Verfügung stehen.<br />
(vgl. Abb. 1)<br />
Die Möglichkeit,<br />
Zwischenauswertungen<br />
vorzu-<br />
Interview - Station nehmen, ist mittels<br />
Interview<br />
CATI gegeben, da<br />
Dateneingabe<br />
die Rohdaten direkt<br />
nach Abschluss des<br />
Interviews vorliegen.<br />
Die Exportfunktion<br />
Rückführung absolvierter<br />
Interviews<br />
des Programms er-<br />
Temporäres Zwischenlagern<br />
von Termininterviews<br />
möglicht eine leichte<br />
Integration in ein<br />
Statistikprogramm<br />
(bspw. SPSS). Im<br />
CATI-Programm<br />
selbst sind grundlegende<br />
Auswertungsmodule<br />
implementiert,<br />
so dass eine direkte<br />
Datenkontrolle<br />
möglich ist.<br />
36
Nr. 4 2002 <strong>SFB</strong> <strong>580</strong> Mitteilungen<br />
3. Kontaktaufnahme<br />
Der Interviewer loggt sich mit seiner persönlicher<br />
Nummernkennung (ID) an seinem Arbeitsplatz in<br />
die entsprechende Studie ein. Jeder<br />
Interviewerstation werden dann per Zufallsverfahren<br />
aus der Stichprobe Adressen bzw. Telefonnummern<br />
zugewiesen. Vor jedem Interview<br />
zeigt CATI am Bildschirm die wichtigsten Informationen<br />
an - wie die zugewiesene Record-<br />
Nummer, die Telefonnummer, die Firma bzw. den<br />
Namen der Zielperson. Aus dieser Tafel ist die bevorstehende<br />
Situation im Vorfeld ersichtlich, z.<br />
B. wie viele Kontaktversuche bereits vorangegangen<br />
sind, wann diese erfolgten und mit welchem<br />
Ergebnis sowie ggf. eine notierte Nachricht.<br />
Über die ebenfalls angezeigte Interviewer-ID<br />
lassen sich die Interviewer den einzelnen<br />
Interviews zuordnen. Somit erhält der Interviewer<br />
zu Beginn der Kontaktaufnahme alle relevanten<br />
Informationen. Startet der Interviewer den<br />
Fragebogen und wählt dann die angezeigte Telefonnummer,<br />
so findet er auf dem Eröffnungsbildschirm<br />
neben dem Einleitungsstatement die<br />
drei möglichen Varianten vor:<br />
1. Das Interview kommt zustande.<br />
2. Die Kontaktaufnahme soll zu einem späteren<br />
Zeitpunkt erfolgen.<br />
3. Das Interview kommt nicht zustande.<br />
Abbildung 2:<br />
Kontaktaufnahme<br />
Einloggen<br />
mit pers. ID<br />
Stichprobe<br />
Tel.-Nr. an<br />
Interview-Station<br />
abgeschlossenes<br />
Interview<br />
Zufallsauswahl<br />
Infos auf<br />
Bildschirm<br />
Kontaktversuch<br />
Terminvereinbarung<br />
Interview<br />
durchführen<br />
ja später nein<br />
Dispositionscode<br />
angeben<br />
Kommt ein Interview zustande, so werden die<br />
Fragen in der vom Forscher gewünschten Reihenfolge<br />
einschließlich der automatisierten Filterführung<br />
am Bildschirm angezeigt. Der Interviewer<br />
gibt die Antworten in das Terminal ein. Die erhobenen<br />
Daten werden geprüft und Fehler<br />
(z. B. Eingabefehler) dem Interviewer signalisiert.<br />
Abgeschlossene Interviews werden vom<br />
2<br />
Der Export der erhobenen Daten sollte im Normalfall<br />
erst durchgeführt werden, wenn die Erhebung abgeschlossen<br />
ist. Zwischenanalysen sind möglich, aber<br />
Server gespeichert und stehen sofort zur Durchsicht<br />
und ersten Analysen zur Verfügung 2 .<br />
Soll eine erneute Kontaktaufnahme zu einem<br />
späteren Zeitpunkt erfolgen oder handelt es sich<br />
um eine Terminabsprache, öffnet sich ein entsprechendes<br />
Fenster, in das der vereinbarte<br />
Termin und evtl. eine Bemerkung eingetragen<br />
werden. Terminvereinbarungen werden vom<br />
System zentral verwaltet und zur vereinbarten<br />
Zeit automatisch mit der entsprechenden Priorität<br />
an der Interviewerstation vorgelegt. (vgl.<br />
Abb. 2)<br />
Kommt das Interview nicht zustande, so erscheint<br />
nach Eingabe des dafür vorgesehenen<br />
Antwortcodes auf dem nächsten Bildschirm eine<br />
Reihe von möglichen Gründen für das Nicht-Zustande-Kommen<br />
(z. B. ”besetzt” oder ”Verweigerung”).<br />
Für diesen Zweck werden vor jeder<br />
Untersuchung sog. Dispositionscodes zur Verwaltung<br />
und Einordnung der Interviews definiert.<br />
(vgl. Abb. 3) Diese entscheiden dann, ob ein Interview<br />
wieder vorgelegt wird (z. B. wenn besetzt<br />
war) oder nicht (z. B. bei Verweigerung).<br />
Abbildung 3:<br />
Beispiel für die Vergabe von Dispositionscodes<br />
Code Disposition<br />
1 kein Anschluss<br />
2 besetzt<br />
3 kein Kontakt/ Anrufbeantworter<br />
keine Firma oder kein Privathaushalt<br />
4<br />
5 kein Interesse<br />
6 FAX<br />
7 Abbruch/ Verweigerung<br />
15 Terminvereinbarung<br />
99 komplettes Interview<br />
Der Supervisor hat die Möglichkeit, den Prozess<br />
der Feldphase in allen Punkten zu überwachen<br />
und zu dokumentieren, d. h. konkret, dass die<br />
Nummerndatenbank (z. B. die Anzahl der Nummern<br />
im Sample, die Anzahl der Terminvereinbarungen<br />
usw.) jederzeit überprüft werden kann.<br />
sehr aufwendig und sollten nur vorgenommen werden,<br />
wenn es zu einem bestimmten Zeitpunkt erforderlich<br />
ist.<br />
37
Teil 2<br />
Ch. Buchwald: Das CATI-System<br />
4. Struktur des Fragebogens<br />
4.1 Einleitungsstatement<br />
In der Einleitungsphase des Interviews ist es<br />
wichtig, das Vertrauen des Befragten zu gewinnen<br />
und seine Teilnahmebereitschaft zu fördern,<br />
da ein Interviewabbruch erfahrungsgemäß zumeist<br />
nach der Einleitungsphase und vor der<br />
ersten Frage erfolgt. Der Erfolg einer telefonischen<br />
Erhebung hängt somit entscheidend von<br />
den ersten Minuten des Kontaktversuches ab.<br />
Eine erfolgreiche Kontaktphase liegt zwar in den<br />
Händen (oder besser in den Stimmen) der Interviewer,<br />
sie kann jedoch durch bestimmte Vorgaben<br />
erleichtert wie auch erschwert werden (vgl.<br />
ZUMA 98/04, S. 15; Friedrichs 1990, S. 416 f.).<br />
Je nach Art der Stichprobe ist es möglich, den<br />
zu Befragenden vorab schriftlich über die geplante<br />
Umfrage in Kenntnis zu setzen. Die Bereitschaft,<br />
an der Erhebung teilzunehmen, steigt<br />
durch ein Anschreiben nachweislich. Bei Zufallsstichproben<br />
auf der Grundlage von Telefonverzeichnissen<br />
ist eine öffentliche Bekanntgabe der<br />
geplanten Untersuchung, z. B. durch die Presse,<br />
eine Möglichkeit der Information im Vorfeld.<br />
Das Einleitungsstatement sollte folgende Informationen<br />
enthalten:<br />
1.<br />
2.<br />
3.<br />
4.<br />
5.<br />
6.<br />
7.<br />
8.<br />
9.<br />
Den vollständigen Namen des Interviewers<br />
Die Quelle des Anrufes (Universität, Fakultät, Institut)<br />
und ggf. das Angebot eines Rückrufs zur<br />
Identifizierbarkeit<br />
Informationen über den Auftraggeber<br />
Das verwendete Auswahlverfahren<br />
Thema der Untersuchung<br />
Verweis auf die Anonymitätszusicherung<br />
Hinweis auf die Freiwilligkeit des Interviews<br />
Angabe über die voraussichtliche Länge<br />
des Interviews<br />
Möglichkeit, Fragen zu stellen<br />
Im Einleitungsstatement muss ggf. die<br />
Haushaltsgröße und die Zielperson ermittelt<br />
werden. Die Interviewer müssen auf Rückfragen<br />
der Zielperson vorbereitet sein.<br />
Den ersten Fragen eines beginnenden Telefoninterviews<br />
kommt eine entscheidende Bedeutung<br />
zu, da diese das geweckte Interesse des Befragten<br />
an der Themenstellung aufrechterhalten<br />
sollen. Folgende Strategie wird für die ersten<br />
Fragen vorgeschlagen (vgl. Dillmann 1978):<br />
Die erste Frage sollte<br />
1. themenbezogen,<br />
2. interessant und<br />
3. als geschlossene Frage leicht zu beantworten<br />
sein, damit der Befragte mit der Fragetechnik<br />
der vorgegebenen Antwortkategorien<br />
vertraut gemacht wird.<br />
Zudem ist es wichtig einen inhaltlichen Bezug<br />
zum Thema der Befragung herzustellen (vgl.<br />
Schnell/ Hill/ Esser 1992, S. 382).<br />
Die zweite Frage hingegen sollte mit offenen<br />
Antwortmöglichkeiten formuliert sein, um den<br />
Befragten gleich zu Beginn des Interviews in eine<br />
natürliche Gesprächssituation einzubinden und<br />
ihm somit die Möglichkeit zu geben, seine Meinung<br />
frei zu äußern. Außerdem kann der Interviewpartner<br />
im Rahmen einer offenen Frage mit<br />
eigenen Worten ins Gespräch kommen und seine<br />
eigene ”Telefonstimme” finden (vgl. Frey/<br />
Kunz/ Lüschen 1990, S. 139). Die Platzierung der<br />
demographischen Fragen zu Beginn des Interviews<br />
führt erfahrungsgemäß zu einer erhöhten<br />
Abbruchwahrscheinlichkeit. Die sozialstatistischen<br />
Fragen sollten deshalb an das Ende des<br />
Fragebogens gelegt werden.<br />
4.2 Konstruktion von CATI-Fragebögen<br />
Bei der Konstruktion eines standardisierten Fragebogens<br />
für ein computergestütztes telefonisches<br />
Interview müssen folgende Gesichtspunkte<br />
berücksichtigt werden (vgl. Fuchs 1994,<br />
S. 63 f.):<br />
1.<br />
2.<br />
3.<br />
4.<br />
Im Prozess der Operationalisierung müssen<br />
Forschungsfragen in kommunizierbare Erhebungsfragen<br />
für ein standardisiertes Interview<br />
übersetzt werden.<br />
Der Fragebogen muss die Bereitschaft des Befragten<br />
zur Teilnahme am Telefoninterview<br />
wecken. Im Interesse der Umfrage sollte der<br />
Untersuchungsteilnehmer vor allem in zweierlei<br />
Hinsicht motiviert werden: teilzunehmen und<br />
”wahre” Antworten zu geben.<br />
Mit dem Fragebogen soll der Interviewer befähigt<br />
werden, die Aufmerksamkeit des Befragten<br />
für die Gesamtdauer des Interviews auf sich zu<br />
ziehen.<br />
Der Befragte soll dem gesamten Interview<br />
leicht folgen können.<br />
Die Planung und Konstruktion des CATI-Fragebogens<br />
stellt besondere Ansprüche an den Programmierer<br />
und den Interviewer. Insgesamt<br />
hängt die Antwortqualität weitgehend vom Vertrauen<br />
des Befragten gegenüber dem Umfrage-<br />
38
Nr. 4 2002 <strong>SFB</strong> <strong>580</strong> Mitteilungen<br />
institut, dem Befragungsthema, dem Interviewer<br />
und auch der Art und Weise ab, wie die Fragen<br />
angeordnet und gestellt werden.<br />
Für das standardisierte Telefoninterview eignen<br />
sich in erster Linie geschlossene Fragen. Dabei<br />
ermöglicht die computergestützte Datenerfassung<br />
sowohl die vollkommen freie Erfassung gegebener<br />
Antworten als auch die Zuordnung der<br />
Antwort zu bereits festgelegten Antwortkategorien<br />
(Feldvercodung). Neben den<br />
Antwortkategorien ”weiß nicht” bzw. ”keine<br />
Angabe” ist es mit CATI möglich, für die Kategorie<br />
”Sonstiges” oder ”Anderes” ein sich öffnendes<br />
Fenster zu programmieren, um kurze Antworten<br />
offen einzutragen.<br />
Ist es bei geschlossenen Fragen nicht möglich,<br />
kurz und bündig zu formulieren, so werden zunächst<br />
alle Elemente der Frage im Detail dargestellt<br />
und in der eigentlichen Frage dann jedoch<br />
nur die Schlüsselbegriffe der einzelnen Teile<br />
aufgegriffen (vgl. Dillmann 1978, S. 206 f.).<br />
Häufig ist es von Vorteil, zweistufige oder mehrstufige<br />
Fragen zu formulieren (vgl. ZUMA 98/ 04,<br />
S. 23).<br />
Eine Beispielfrage aus der ”Befragung ausbildender<br />
Betriebe in Sachsen-Anhalt” soll dies verdeutlichen.<br />
Die Frage: ”Falls Ihr Betrieb Auszubildende<br />
hat, für wie viele Lehrlinge haben Sie<br />
Fördermittel beantragt und nach welchen Kriterien?”<br />
lässt sich mittels CATI in folgender<br />
Stufenabfrage realisieren:<br />
Frage 1:<br />
Sind bei Ihnen derzeit Auszubildende im Betrieb,<br />
für die Sie Fördermittel beantragt<br />
haben?<br />
ja ............. 1<br />
nein .......... 2 (weiter mit Frage ....)<br />
weiß nicht.. 3 (weiter mit Frage ....)<br />
k. A. .......... 4 (weiter mit Frage ....)<br />
Frage 2:<br />
Für wie viele Lehrlinge trifft dies zu? ...........<br />
Frage 3:<br />
Nach welchem Förderkriterium wurden diese<br />
Mittel beantragt? (Mehrfachnennung möglich)<br />
• Erstmalige Ausbildung<br />
• Übernahme von Konkurslehrlingen<br />
• Übernahme aus einer überbetrieblichen Einrichtung<br />
• Förderung von Mädchen in männlich dominierten<br />
Berufen usw.<br />
Sollen längere Antwortlisten abgefragt werden,<br />
so bietet sich eine Einzelabfrage der Items an.<br />
Die Struktur, in der geantwortet werden soll<br />
(z. B. fünf Antwortkategorien oder eine Skala)<br />
ist meistens nach dem zweiten Item eingeübt<br />
und kann bei einem anderen Frageblock wieder<br />
gut Verwendung finden.<br />
Bei der Verwendung von Antwortskalen ist zwar<br />
im Telefoninterview eine optische Unterstützung<br />
nicht möglich, jedoch kann bei Einsatz einer<br />
überschaubaren Skala, bspw. der 5er Skala von<br />
”sehr gut” bis ”sehr schlecht” oder einer<br />
Thermometerskala das gleiche Resultat wie bei<br />
der Verwendung von optisch unterstützten<br />
Antwortskalen im persönlich-mündlichen Interview<br />
erreicht werden.<br />
Auch Rankings sind einsetzbar. Dazu wird die<br />
Liste aller Items (in einer vom Rechner gesteuerten<br />
Zufallsreihenfolge) vorgelegt und zunächst<br />
nach dem wichtigsten Item gefragt, in der Folge<br />
wird dann nach dem wichtigsten unter den<br />
jeweils verbliebenen Items gefragt.<br />
Offene Fragen können im Telefoninterview gestellt<br />
werden, jedoch sollte sich die Anzahl in<br />
Grenzen halten. Es ist darauf zu achten, dass<br />
die Antworten telefonisch meist kürzer als im<br />
face-to-face-Interview sind. Offene Fragen lassen<br />
sich mittels CATI gut praktizieren, wenn<br />
kurze und konkrete Antworten erwünscht sind<br />
wie bspw. die Frage nach dem Beruf des Befragten<br />
oder nach den Ausbildungsrichtungen eines<br />
Betriebes. Andernfalls sollten offene Fragen so<br />
angelegt sein, dass sich die Antworten in einen<br />
Schlüsselbegriff fassen lassen, der dann vom Interviewer<br />
eingetragen werden kann. Möglich ist<br />
auch, dass der Interviewer die offene Antwort<br />
selbst in ein bereits vorgegebenes Schema einordnet.<br />
Besteht die Notwendigkeit offene Fragen<br />
zu stellen, die einer ausführlicheren Antwort<br />
bedürfen, so sollte dies im Vorfeld abgesprochen<br />
werden, um evtl. ein Aufnahmegerät einzuschalten<br />
und längere Statements mitschneiden zu<br />
können.<br />
Grundsätzlich ist es von Vorteil, im inhaltlichen<br />
Teil die wichtigsten Fragen im zweiten Drittel des<br />
Fragebogens zu platzieren, während die sozialstatistischen<br />
Fragen an den Schluss gehören.<br />
39
Teil 2<br />
Ch. Buchwald: Das CATI-System<br />
4.3 Formulierung der Fragen<br />
Für die Formulierung von Fragen haben sich eine<br />
Reihe von Regeln als günstig erwiesen:<br />
1.<br />
2.<br />
3.<br />
4.<br />
5.<br />
6.<br />
Die Fragen sollten nach Möglichkeit kurz und<br />
einfach formuliert sein.<br />
Sie sollten jeweils am Ende eine Aufzählung<br />
der zulässigen Antwortalternativen enthalten,<br />
wobei die Möglichkeit der Antwortverweigerung<br />
oder ”weiß nicht” bzw. ”keine<br />
Meinung” nicht vorgelesen werden.<br />
Wichtig ist, dass zu viele Antwortmöglichkeiten<br />
vermieden werden, da dies<br />
die Erinnerungsleistung des Befragten überfordern<br />
könnte und der Interviewte verstärkt<br />
dazu neigt, die erste oder letzte Kategorie<br />
zu nennen (”Response-Order-Effekt”).<br />
Die Verwendung von 5 Antwortkategorien<br />
sollte nicht überschritten werden.<br />
Numerische Skalen mit wechselnden, verbalisierten<br />
Extrempunkten und Zahlwerten<br />
innerhalb eines leicht überschaubaren Vorstellungsraumes<br />
wie ein Kontinuum von 0<br />
bis 10, Thermometerfragen von –5 bis +5<br />
oder Schulnoten sind einsetzbar.<br />
Ein häufiger Wechsel der Antwortformate<br />
eines Fragebogens kann zu Verwirrungen<br />
bei den Befragten führen und die Qualität<br />
der Daten senken. Jedoch ist es ratsam,<br />
aufgrund möglicher Ermüdungseffekte den<br />
Fragebogen abwechslungsreich zu gestalten.<br />
Fragen sollten inhaltlich gruppiert werden<br />
und die Fragekomplexe mit überleitenden<br />
Formulierungen eingeleitet werden.<br />
4.4 Pretest<br />
Bevor der entwickelte Fragebogen ins Feld geht,<br />
bevor also die ersten telefonischen Interviews<br />
mit Hilfe des Instruments durchgeführt werden,<br />
muss der Fragebogen (wie bei allen anderen<br />
Erhebungstypen auch) hinsichtlich seiner Funktionstüchtigkeit<br />
getestet werden.<br />
Beim Pretest finden zwei Aspekte Beachtung:<br />
1. Der Fragebogen muss auf seine Kommunizierbarkeit<br />
mittels CATI getestet werden.<br />
Folgende Aspekte sollten dabei Berücksichtigung<br />
finden:<br />
• Der Fragebogen sollte von Seiten der Interviewer<br />
als ein flüssiges und nicht stockendes<br />
Erhebungsgespräch handhabbar sein, d. h.<br />
auf einen durchgängigen Fluss des Interviews<br />
ist zu achten, um Pausen, Brücken u.<br />
ä. zu vermeiden, da diese Anlass für einen<br />
Abbruch des Interviews bieten könnten.<br />
• Die Einzelfragen müssen für ein telefonisches<br />
Interview geeignet und insbesondere telefonisch<br />
kommunikabel sein und in der vom Forscher<br />
intendierten Weise vom Befragten verstanden<br />
werden (Bedeutungsäquivalenz).<br />
(vgl. Fuchs 1994, S. 125 ff.)<br />
2. Der Fragebogen muss auf seine Filterführung<br />
hin getestet werden.<br />
• Die Filterführung und die Gabelstruktur des<br />
Fragebogens müssen geprüft werden, damit<br />
alle antizipierten Interviewvarianten vollständig<br />
erfasst sind.<br />
• Im Pretest des Erhebungsbogens sollte die<br />
zeitliche Dauer abgeschätzt und ggf. der Fragebogen<br />
gekürzt werden. Die Angaben über<br />
die optimale Länge eines Telefoninterviews<br />
variieren in der Literatur – es finden sich Angaben<br />
von 20 bis 30 Minuten, aber auch bis<br />
zu 60 und mehr Minuten bspw. für Unternehmens-<br />
oder Expertenbefragungen. Dabei ist<br />
allerdings zu berücksichtigen, dass ein inhaltlich<br />
identisches Telefoninterview ein Zehntel<br />
bis ein Fünftel oder sogar noch kürzer ausfällt<br />
als das entsprechende face-to-face-Interview<br />
(vgl. Groves 1990, S. 234; Fuchs<br />
1994, S. 56).<br />
Für die Fragebogenkonstruktion und den Pretest<br />
muss genügend Zeit veranschlagt werden, da im<br />
Fragebogen enthaltene Fehler nach Abschluss<br />
der Feldzeit nur schwer zu beheben sind.<br />
5. Interviewerschulung<br />
Der Erfolg einer Befragung ist neben der Konstruktion<br />
des Fragebogens, der Verlässlichkeit<br />
der Antworten, der Ausschöpfung der Stichprobe<br />
usw. auch von der Qualität der Interviewerschulung<br />
abhängig. Beim Einsatz von Interviewern<br />
soll nach Möglichkeit das inhaltliche Interesse<br />
für eine bestimmte Studie oder ein bestimmtes<br />
Thema und auch die Eignung für bestimmte<br />
Umfragetypen berücksichtigt werden.<br />
Die Vorbereitung der Interviewer umfasst folgende<br />
zwei Bereiche:<br />
40
Nr. 4 2002 <strong>SFB</strong> <strong>580</strong> Mitteilungen<br />
1. Grundschulung, dazu gehört:<br />
• Vermittlung von Grundlagen bezüglich der<br />
Rolle des Interviewers in der Erhebungssituation<br />
sowie Besonderheiten der telefonischen<br />
Befragung;<br />
• Sprechtechniken;<br />
• Umgang mit der Interviewersoftware;<br />
• Umgang mit der Telefonanlage;<br />
• Richtlinien bezüglich des Datenschutzes und<br />
des Persönlichkeitsrechts der Befragten.<br />
2. Umfragespezifische Schulung:<br />
• Einführung in das Thema der Befragung;<br />
• Vorstellung des Fragebogens (inklusive der zur<br />
Anwendung kommenden Filterführung bzw.<br />
Besonderheiten);<br />
• Übungsinterviews.<br />
Der Aufbau und Erhalt eines festen Interviewerstammes<br />
hat sich als sinnvoll erwiesen. Das zsh<br />
arbeitet derzeit mit ca. 100 Studenten und Studentinnen<br />
zusammen, welche teilweise von der<br />
Universität übernommen werden konnten und<br />
zum Teil neu angeworben wurden und dem<br />
Interviewerstamm zugerechnet werden können.<br />
Es gibt gute Gründe, einen permanenten<br />
Interviewerstamm aufzubauen und zu erhalten.<br />
Beispielsweise muss dann nicht mehr vor jeder<br />
neuen Studie eine Grundschulung durchgeführt<br />
werden, sondern nur noch die jeweilige umfragespezifische<br />
Schulung. Des weiteren können die<br />
spezifischen Fähigkeiten der Interviewer zum<br />
Einsatz in unterschiedlichen Umfragearten besser<br />
Berücksichtigung finden.<br />
Eine Schulung sollte nicht in einem zu kurzen<br />
Zeitraum vor der tatsächlichen Feldphase liegen,<br />
damit eine gründliche Einarbeitung in die jeweilige<br />
Thematik erfolgen kann. Die Übungsphase<br />
mit dem fertigen Fragebogen sollte nicht zu kurz<br />
gehalten werden, um Einarbeitungsverzerrungen<br />
während der ersten Feldtage zu vermeiden.<br />
Aufgrund ihres Erfahrungsschatzes ist zukünftig<br />
geplant, Interviewer des Interviewerstammes<br />
an der Ausarbeitung eines Fragebogens zu beteiligen,<br />
damit sie ihre aus vielen Untersuchungen<br />
gewonnenen Erfahrungen konstruktiv einbringen<br />
können.<br />
der Literatur wird immer wieder davon berichtet,<br />
dass es eine spezifische Interviewerpersönlichkeit<br />
gibt, die tatsächlich auch nicht erlernt<br />
werden kann. Wiederum gibt es für je spezifische<br />
Umfragetypen (Managerbefragungen,<br />
Bevölkerungsbefragungen, Experteninterviews)<br />
unterschiedliche Befähigungen. Aus sprechtheoretischer<br />
Perspektive lässt sich sagen, dass<br />
häufig Frauen mit mittlerer Stimmlage und mittlerer<br />
Sprechgeschwindigkeit die besten Ausschöpfungsraten<br />
produzieren.<br />
Auch im Rahmen von Telefoninterviews sind<br />
Interviewereinflüsse zu verzeichnen. Allerdings<br />
können diese aufgrund des zentral geführten<br />
Interviewereinsatzes vom Supervisor besser<br />
kontrolliert werden (vgl. Schenk 1990, S. 381).<br />
6. Abschließende Bemerkungen<br />
Die Vorteile einer Erhebung mittels CATI lassen<br />
sich folgendermaßen stichpunktartig zusammenfassen<br />
(vgl. Schnell/ Hill/ Esser 1999, S. 353):<br />
1. Computergeleitete Befragung per Telefon auch<br />
für komplexere Fragebogendesigns mit komplizierten<br />
Filterführungen möglich<br />
2. Höhere Ausschöpfungsquoten als bei schriftlichen<br />
Befragungen<br />
3. Realisierung größerer Stichproben in kürzerer<br />
Zeit und mit weniger Interviewern<br />
4. Verkürzung der Feld- und Bearbeitungsphase<br />
5. Schnellere Datenerfassung<br />
6. Hohe Qualität der Daten bei gleichzeitig komplexeren<br />
Befragungsmöglichkeiten<br />
7. Verwaltung der Anrufwiederholungen bei Nicht-<br />
Erreichen eines Anschlusses<br />
8. Aktuelle Informationen über die Zahl abgeschlossener<br />
Interviews bzw. über Abschlussraten<br />
(sind laufend präsent)<br />
9. Computergestützte Kontrolle der Interviewer<br />
durch einen Supervisor (Dadurch ist ein reduzierter<br />
bzw. besser kontrollierter Interviewereinfluss<br />
gegeben.)<br />
10. Ständige Überwachung des gesamten<br />
Interviewprozesses<br />
11. Erstellung von Zwischenergebnissen möglich<br />
12. Kostenreduzierung<br />
Erfahrungen haben gezeigt, dass es erhebliche<br />
Varianzen in Bezug auf Qualität und Quantität<br />
der Arbeit gibt. Diesem Problem muss durch<br />
Schulungsanstrengungen begegnet werden. In<br />
41
Teil 2<br />
Ch. Buchwald: Das CATI-System<br />
Im Bereich der kommerziellen Umfrageforschung<br />
wie auch in der Wissenschaft gewinnt die<br />
Telefonbefragung immer mehr an Bedeutung.<br />
Untersuchungen mittels CATI können für verschieden<br />
Umfrageformen (z. B. Unternehmensoder<br />
Bevölkerungsbefragungen) eingesetzt werden<br />
und sind besonders effektiv bei Befragungen<br />
mit großen Fallzahlen und standardisierten<br />
Fragestellungen.<br />
Telefoninterviews sind auch bei Wiederholungsbefragungen,<br />
z. B. in Panelstudien, entweder<br />
allein oder in Kombination mit anderen Erhebungsverfahren<br />
nützlich. Es besteht zudem die Möglichkeit,<br />
im Rahmen repräsentativer Telefonumfragen<br />
besondere Zielgruppen herauszufiltern,<br />
die später nachbefragt werden (sog.<br />
”screening”). Wird die computergestützte<br />
Telefonbefragung mit anderen Alternativen verglichen,<br />
so muss gesagt werden, dass es eine<br />
Vielzahl von Vorteilen dieser Befragungsform<br />
gibt; jedoch besitzt jede Umfrageform in je spezifischen<br />
Feldern ihre Berechtigung.<br />
Literatur<br />
Anders, M. (1990): Praxis der Telefonbefragung.<br />
In: Forschungsgruppe Telekommunikation<br />
(<strong>Hrsg</strong>.): Telefon und Gesellschaft. Band 2: Internationaler<br />
Vergleich, Sprache und Telefon,<br />
Telefonseelsorge und Beratungsdienste, Telefoninterview.<br />
Berlin: Spiess, S. 426-436.<br />
Bayer, M. (1998): Computer Assisted Telephone<br />
Interviewing. Methodik und praktische Umsetzung.<br />
Halle: Institut für Soziologie 1998 (Der<br />
Hallesche Graureiher 98-1).<br />
Friedrichs, J. (1990): Gesprächsführung im telefonischen<br />
Interview. In: Forschungsgruppe<br />
Telekommunikation (<strong>Hrsg</strong>.): Telefon und Gesellschaft.<br />
Band 2: Internationaler Vergleich, Sprache<br />
und Telefon, Telefonseelsorge und Beratungsdienste,<br />
Telefoninterview. Berlin: Spiess,<br />
S. 413-425.<br />
Fuchs, Marek (1994): Umfrageforschung mit<br />
Telefon und Computer. Einführung in die computergestützte<br />
telefonische Befragung. Weinheim:<br />
Psychologie-Verl.-Union.<br />
Groves, Robert (1990): Theories And Methodes<br />
Of Telephone Survey. Annual Review of<br />
Sociology, 16, S. 221-240.<br />
Porst, Rolf (2000): Praxis der Umfrageforschung.<br />
Wiesbaden: Teubner.<br />
Schenk, Michael (1990): Das Telefon als Instrument<br />
der Sozialforschung. In: Forschungsgruppe<br />
Telekommunikation (<strong>Hrsg</strong>.): Telefon und Gesellschaft.<br />
Band 2: Internationaler Vergleich,<br />
Sprache und Telefon, Telefonseelsorge und Beratungsdienste,<br />
Telefoninterview. Berlin: Spiess,<br />
S. 379-385.<br />
Schnell, R.; Hill, P. B.; Esser, E. (1999): Methoden<br />
der empirischen Sozialforschung. 5. Aufl.,<br />
München u. a.: Oldenbourg.<br />
Wüst, Andreas (1989): Die Allgemeine<br />
Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften<br />
als Telefonumfrage. ZUMA-Arbeitsbericht 89/04.<br />
Dillmann, D. A. (1978): Mail and Telephone<br />
Surveys: The Total Design Method. New York:<br />
John Wiley & Sons.<br />
Forschungsgruppe Telekommunikation (<strong>Hrsg</strong>.):<br />
Telefon und Gesellschaft. Band 2: Internationaler<br />
Vergleich, Sprache und Telefon, Telefonseelsorge<br />
und Beratungsdienste, Telefoninterview. Berlin:<br />
Spiess.<br />
Frey, J. H. (1989): Survey Research by Telephone.<br />
Beverly Hills: SAGE Publications.<br />
Frey, J. H.; Kunz, G.; Lueschen, G. (1990):<br />
Telefonumfragen in der Sozialforschung : Methoden,<br />
Techniken, Befragungspraxis. Opladen:<br />
Westdt. Verl.<br />
42
Nr. 4 2002 <strong>SFB</strong> <strong>580</strong> Mitteilungen<br />
Diskussion zum Teil 2<br />
Nach der ”Einführung in das CATI-System” folgte<br />
erneut eine lebhafte Diskussion. Die Fragen,<br />
Kommentare, Ergänzungen und kritischen Hinweise<br />
der Teilnehmer des Kolloquiums lassen sich<br />
folgenden Themenbereichen zuordnen:<br />
• Nachteile von CATI-Befragungen bei qualitativen<br />
Interviews,<br />
• Datenqualität und Fehleranfälligkeit,<br />
• Grenzen der CATI-Untersuchung in Bezug auf<br />
die Zielgruppen.<br />
Im folgenden werden die Diskussionsbeiträge<br />
zusammenfassend dargestellt.<br />
1. Nachteile von CATI-Befragungen<br />
bei qualitativen Interviews<br />
Karl Schmitt findet die Vorteile von CATI-Befragungen<br />
sehr überzeugend. Da jedoch jede Befragung<br />
ihr eigenes Instrument braucht, stellt<br />
sich die Frage, wann der Einsatz von CATI nicht<br />
von Vorteil ist. Christina Buchwald antwortete<br />
dazu, dass es schwierig ist, einen Fragebogen<br />
mit vielen offenen Fragen, deren Antwort nicht<br />
in wenige Worte oder kurze Statements gefasst<br />
werden kann, mit dem CATI-Instrument zu realisieren.<br />
Das heißt bei der Durchführung von<br />
qualitativen Interviews mittels CATI oder<br />
narrativen Passagen innerhalb einer Telefonbefragung<br />
ist es sinnvoll, ein Aufnahmegerät<br />
einzuschalten. Die Möglichkeit des Mitschneidens<br />
während einer telefonischen Befragung wird im<br />
CATI-Labor des zsh in Kürze gegeben sein. Acht<br />
Interviewerplätze des Telefonlabors werden mit<br />
Aufnahmegeräten ausgestattet.<br />
Burkart Lutz ergänzt zu dieser Aussage, dass<br />
Telefoninterviews durchstrukturiert sein müssen,<br />
das heißt die möglichen Fragen und Antworten<br />
müssen in ihrer Grundstruktur vorher festgelegt<br />
sein. Bei narrativen Interviews beispielsweise, in<br />
denen der Befragte selber die Themenfolge, den<br />
Thematisierungsprozess steuern muss entsprechend<br />
der Logik des Interviews, sollte die<br />
Befragungsart im Vorfeld geprüft werden. Was<br />
aber nicht ausschließt, dass man angesichts der<br />
Vorteile, die das Telefoninterview bietet, prüfen<br />
sollte, inwieweit ein Fragebogen, den man als<br />
unstrukturiert annehmen würde, nicht doch in<br />
größeren Teilen strukturierbar ist ohne einen<br />
nennenswerten Verlust an Inhalten. Burkart Lutz<br />
vertritt die Ansicht, dass nicht aufgrund der<br />
Untersuchung bzw. des Fragebogens entschieden<br />
werden muss, welches Instrument angewandt<br />
wird, sondern auch zu diskutieren ist, wie<br />
eine Fragestellung soweit verändert werden<br />
kann, dass der Einsatz eines entsprechenden Instrumentes<br />
möglich wird.<br />
Rudi Schmidt bemerkt zu dieser Thematik, dass<br />
die Grenze bei computergestützten telefonischen<br />
Interviews in der Durchführung qualitativer Interviews<br />
zu sehen ist, da der Befragte am Telefon<br />
nicht warten kann, bis der Text vom Interviewer<br />
eingegeben wurde. Der Interviewfluss<br />
wäre in dieser Situation extrem gestört. Aus diesem<br />
Grund ist die Möglichkeit des Aufnehmens<br />
offener Antworten mit einem Tonbandgerät eine<br />
gute Alternative, da somit auch narrative Passagen<br />
eines Interviews mittels CATI realisiert<br />
werden können.<br />
Sören Petermann spricht nochmals den Vorteil<br />
von CATI-Untersuchungen an, dass entsprechend<br />
mehr Fragen im Telefoninterview realisiert<br />
und quantitativ bearbeitet werden können, als<br />
es in gleicher Zeit im Rahmen von face-to-face-<br />
Interviews möglich ist.<br />
2. Datenqualität und Fehleranfälligkeit<br />
Michael Bayer macht auf die höhere Datenqualität<br />
bei CATI-Erhebungen aufmerksam, welche<br />
sich auf die Anzahl an Fehlerquellen im gesamten<br />
Interviewprozess bis hin zu den vorliegenden<br />
maschinenlesbaren Daten bezieht. Faceto-face-Interviews<br />
beinhalten den Nachteil,<br />
dass die erhobenen Daten im Nachgang eingegeben<br />
werden müssen, das heißt die Interviewergebnisse<br />
werden nach der Feldphase in maschinenlesbare<br />
Formen übertragen. Im computergestützten<br />
Telefoninterview werden diese<br />
beiden Prozesse gekoppelt, was prinzipiell eine<br />
höhere Datenqualität impliziert. Fehler sind natürlich<br />
auch während des Interviewprozess bei<br />
CATI-Befragungen möglich, jedoch bei einmaliger<br />
Vercodung immer noch niedriger als bei faceto-face-Interviews,<br />
bei denen die Daten doppelt<br />
aufgenommen werden müssen, einmal bei<br />
der Durchführung des Interviews und zum zweiten<br />
mal bei der Dateneingabe.<br />
43
Teil 2<br />
Diskussion<br />
Rüdiger Stutz stellt die Frage nach der Fehleranfälligkeit,<br />
die bei CATI registriert wird. Gibt es<br />
typische Verzerrungen, bspw. wenn beim<br />
Antwortcode statt ”4” eine ”5” eingegeben wird?<br />
Außerdem ist auch hin und wieder die Meinung<br />
zu hören, dass Daten bei telefonischen Interviews<br />
eingegeben werden, obwohl kein Interviewpartner<br />
am Telefon war und das Gespräch<br />
nicht stattgefunden hat. In diesem Fall ist ein<br />
großer Aufwand an Überwachung und Supervision<br />
notwendig. Inwieweit ist die Interviewerschulung<br />
für die Qualität der Befragung bzw. für<br />
die Qualität der Interviewer ausschlaggebend?<br />
Aus eigener Erfahrung kann gesagt werden, dass<br />
Eingabefehler durch Vertippen relativ gering<br />
sind. Bei bestimmten Frageformen sind nur<br />
Antwortcodes zugelassen, die auch realistisch<br />
(zum Beispiel bei Jahreszahlen) bzw. gefordert<br />
sind (bspw. bei Antwortskalen von 1 bis 5).<br />
Wenn Interviewer einen Eingabefehler feststellen,<br />
kann dieser im Nachgang im System korrigiert<br />
werden.<br />
Von der Loyalität der Interviewer kann man im<br />
allgemeinen ausgehen. Die Supervisoren sind<br />
während der gesamten Interviewerzeit anwesend.<br />
Außerdem wurde eine neue Telefonanlage<br />
in das CATI-Labor integriert, welche das Einschalten<br />
in die Gespräche erlaubt. Somit kann<br />
der Supervisor bei komplizierten Gesprächssituationen<br />
sofort in den Prozess eingreifen.<br />
Christina Buchwald weist in diesem Zusammenhang<br />
darauf hin, dass die Interviewerschulung<br />
– die Grundschulung genauso wie die inhaltliche<br />
Schulung – eine wichtige Rolle für die Qualität<br />
der Untersuchung spielt. Eine inhaltliche Schulung<br />
wird vor jeder neuen Studie durchgeführt,<br />
um<br />
1. in die Thematik einzuleiten, damit inhaltliche<br />
Rückfragen der Interviewten beantwortet<br />
werden können,<br />
2. auf Besonderheiten hinzuweisen, zum Beispiel<br />
in der Struktur des Fragebogens oder<br />
der Antwortmöglichkeiten,<br />
3. den Fragebogen am Computer zu üben,<br />
damit die Interviewer in der Handhabung<br />
des relevanten Bogens versiert sind.<br />
Rudi Schmidt merkt zum Ende dieses Themenfeldes<br />
an, dass das CATI-System im Vergleich<br />
zu Data Entry einen Rückschritt darstellt. Es wird<br />
davon ausgegangen, dass die Interviewer genau<br />
arbeiten, aber eine hundertprozentige Kontrolle<br />
kann nicht zugesichert werden. Bei Data<br />
Entry lag die Fehlerquote bei 1%, beim Telefoninterview<br />
können diese genauen Angaben jedoch<br />
nicht bereitgestellt werden.<br />
3. Grenzen von CATI-Befragungen<br />
und Zielgruppen<br />
Hinsichtlich der Fehlerquellen und eingeschränkten<br />
Nutzbarkeit von telefonischen Interviews<br />
wird selbstverständlich auch auf die Erreichbarkeit<br />
von Befragungspopulationen eingegangen.<br />
Auf die Frage von Hale Decdeli-Holzwarth, ob<br />
denn die telefonische mit einer face-to-face-Befragung<br />
hinsichtlich der Qualität vergleichbar sei,<br />
nimmt Holle Grünert Bezug. Zunächst berichtet<br />
sie von Erfahrungen mit einer früheren Befragung<br />
zur Ausbildungssituation in Betrieben. Demzufolge<br />
wirke es sich äußerst positiv auf die Antwortbereitschaft<br />
aus, wenn ein entsprechendes Anschreiben<br />
an die zu befragenden Betriebe gerichtet<br />
werde. Mit einer gezielten und gut durchdachten<br />
Strategie bei der Kontaktaufnahme<br />
könne man die Ausschöpfungsquoten auf ein<br />
recht hohes und akzeptables Niveau heben. Zum<br />
Vergleich beruft sie sich auf postalisch durchgeführte<br />
Untersuchungen, in denen sogar mit einer<br />
telefonischen Nachfassaktion gearbeitet<br />
wurde, und die trotzdem weit geringere Ausschöpfungen<br />
erzielen konnten. Mit Abstrichen<br />
rechnet sie jedoch bei der Genauigkeit und<br />
Detailliertheit einiger Antworten auf bestimmte<br />
Fragen. Man müsse sich bei komplizierten Fragen<br />
unter Umständen auf kleinere Ungenauigkeiten<br />
und Schwankungen einstellen. Die Phase der<br />
Kontaktaufnahme sieht auch Karl Schmitt als<br />
problematisch an. Gerade für das Teilprojekt A<br />
3 des <strong>SFB</strong>, in welchem politische Eliten interviewt<br />
werden sollen, erweisen sich vertrauensbildende<br />
Maßnahmen bereits im Vorfeld der Untersuchung<br />
als wesentlich. Er zweifelt daran,<br />
dass sich beispielsweise der Erstkontakt zu einem<br />
Bürgermeister über das Telefon herstellen<br />
ließe. Vermutlich erweist sich eine persönliche<br />
Kontaktaufnahme bei heiklen Befragungspopulationen<br />
als notwendig, um eine<br />
Kooperationsbereitschaft herzustellen. Rudi<br />
Schmidt problematisiert darüber hinaus die Verwertbarkeit<br />
von Interviews. Es bedürfe einer<br />
genaueren Untersuchung darüber, welche systematischen<br />
Unterschiede durch bestimmte<br />
Befragungsmethoden bei unterschiedliche Zielgruppen<br />
sich ergäben. So sei es denkbar, dass<br />
neben bestimmten Personengruppen auch verschiedene<br />
Institutionen es ablehnen würden,<br />
Auskünfte über das Telefon zu geben. Michael<br />
Bayer merkt jedoch dazu an, dass einerseits<br />
bereits einige Studien zu dieser Problematik vor-<br />
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Nr. 4 2002 <strong>SFB</strong> <strong>580</strong> Mitteilungen<br />
liegen würden. Zum anderen verweist er auf seine<br />
persönlichen Erfahrungen mit telefonischen Interviews,<br />
wonach vor allem Berufsgruppen, die<br />
grundsätzlich viel über das Medium Telefon kommunizieren,<br />
eher geringe Berührungsängste zeigen<br />
würden. Er räumt jedoch ein, dass Fälle<br />
auftreten, in denen eine telefonische Befragung<br />
kaum angebracht sei.<br />
Rudi Schmidt ergänzt schließlich diesen Gesichtspunkt<br />
um einige Anmerkungen auch zur<br />
technischen Erreichbarkeit von Personen. Gerade<br />
sehr mobile und flexibel agierende Akteure seien<br />
häufig nur schwer über einen<br />
Festnetzanschluss zu kontaktieren. Vermutlich<br />
würde diese Problematik zukünftig sogar an Bedeutung<br />
gewinnen. <strong>Heinz</strong> <strong>Sahner</strong> und Michael<br />
Bayer äußern ihr Verständnis für diese Bedenken.<br />
Allerdings bestünde kein Anlass, die Problematik<br />
generell überzubewerten. Unterschiedliche<br />
Erreichbarkeiten ergäben sich eben bei spezifischen<br />
Gruppen auch bei anderen Erhebungsdesigns.<br />
Burkart Lutz verweist in diesem Zusammenhang<br />
auf eine Befragung von Jugendlichen.<br />
Gerade hier seien Mobiltelefone sehr stark verbreitet.<br />
Trotzdem könne davon ausgegangen<br />
werden, dass insgesamt gerade in dieser Teilpopulation<br />
eine sehr hohe Akzeptanz gegenüber<br />
telefonischen Befragungen bestehe, die Erreichbarkeit<br />
im Sinne einer Kontaktierung indes sei im<br />
wesentlichen über die in den Haushalten bestehenden<br />
Telefonanschlüsse gewährleistet. In dieser<br />
Hinsicht müsse eben auch bedacht werden,<br />
dass gerade die CATI-Methode nicht nur Möglichkeiten<br />
begrenzt oder einschränkt, sondern<br />
neue Wege für die Sozialforschung eröffnet.<br />
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Nr. 4 2002 <strong>SFB</strong> <strong>580</strong> Mitteilungen<br />
Die Autoren<br />
Michael Bayer, Dr. phil., geb. 1970, Studium der Sozialwissenschaften,<br />
Politikwissenschaften und Psychologie an der Heinrich-Heine-<br />
Universität in Düsseldorf. Seit 1998 wissenschaftlicher Mitarbeiter am<br />
Institut für Soziologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.<br />
Von 1997 bis 2001 wissenschaftliche Betreuung des CATI-Labors.<br />
Christina Buchwald, geb. 1964, Diplomsoziologin, Studium der Soziologie<br />
an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seit 2001<br />
wissenschaftliche Mitarbeiterin des zsh. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftliche<br />
und organisatorische Betreuung des CATI-Labors.<br />
Christian Koll, geb. 1972, Diplomsoziologe, Studium der Soziologie an<br />
der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seit 2001 wissenschaftlicher<br />
Mitarbeiter des zsh. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftliche<br />
und organisatorische Betreuung des CATI-Labors.<br />
Gerald Prein, Dr. phil., geb. 1956, Studium der Erziehungswissenschaften<br />
und Soziologie an den Universitäten Paris VIII und Dortmund. 1986<br />
Promotion im Fach Soziologie. Tätigkeiten als wissenschaftlicher Mitarbeiter<br />
an der Universität Dortmund sowie an der Universität-GHS<br />
Essen. 1991-2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich<br />
186 „Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf“.<br />
Seit 2001 Mitarbeiter des Zentrums für Sozialforschung in<br />
Halle. Arbeitsschwerpunkte: Methodenberatung und -entwicklung,<br />
Längsschnittanalysen, Arbeitsmarkt.<br />
<strong>Heinz</strong> <strong>Sahner</strong>, Dr. rer. pol. ,geb. 1938. 1957 Gesellenprüfung (Elektromechaniker),<br />
1959 Technikerprüfung (Hochfrequenz).<br />
1969 Dipl.-Volkswirt sozialwissenschaftliche Richtung in Köln, 1973<br />
Promotion in Köln bei Erwin K. Scheuch und René König. 1981 Habilitation<br />
in Kiel. 1982 – 1992 Professor in Lüneburg. Seit 1992<br />
Gründungsprofessor für allgemeine Soziologie an der Martin-Luther-<br />
Universität Halle-Wittenberg.<br />
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