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Wirtschaftswoche Ausgabe vom 2014-07-07 (Vorschau)

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28<br />

7.7.<strong>2014</strong>|Deutschland €5,00<br />

2 8<br />

4 1 98065 805008<br />

Skandinavische Schönheit<br />

Die Sieger des Red Dot Design Awards<br />

Neue Erbschaftsteuer<br />

So retten Sie Ihr Vermögen<br />

Das Enders-Prinzip<br />

Wie der Airbus-Chef Europas<br />

kompliziertesten Konzern umkrempelt<br />

Schweiz CHF 8,20 | Österreich €5,30 | Benelux€5,30 | Griechenland€6,00 | GroßbritannienGBP 5,40 | Italien€6,00 | Polen PLN27,50 | Portugal€6,10 | Slowakei €6,10 | Spanien€6,00 | TschechischeRep.CZK 200,- | Ungarn FT 2000,-<br />

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Einblick<br />

Deutschland geht es so gut wie nie zuvor. Das ist der<br />

ideale Zeitpunkt für echte Reformen. Leider fehlen<br />

Führung und Reformwille. Von Roland Tichy<br />

Ist Deutschland happy?<br />

FOTO: HEIKE ROST FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

Auch ohne den letzten Fußballerfolg:<br />

Deutschland erlebt ein<br />

Sommermärchen. Die Arbeitslosigkeit<br />

auf Tiefststand, die Beschäftigung<br />

spiegelbildlich ganz oben.<br />

Auch wenn es SPD und Gewerkschaften<br />

bestreiten: Die Zahl der prekären Beschäftigungen<br />

schrumpft, es sind neue Normalarbeitsverhältnisse,<br />

die entstehen. Löhne<br />

und Gehälter steigen. Selbst der gefürchtete<br />

Blackout durch die Energiewende ist<br />

bisher ausgeblieben. Die Deutschen treten<br />

kosmopolitisch auf, lieben Europa, die<br />

Demokratie, ihr Land und ihr Wohlergehen.<br />

Es ist, als ob sie die Schatten der Vergangenheit<br />

abgestreift und sich ein Volk<br />

neu erfunden hätte – lebensfroh und friedliebend,<br />

der Welt zugewandt. Laisser-faire,<br />

und doch fahren die Züge pünktlich; hedonistisch,<br />

und doch stagniert die Staatsverschuldung.<br />

Erfolge soll man feiern, die<br />

guten Tage genießen und nicht durch Bedenken<br />

kleinreden: Let the good times<br />

roll; Denglisch ist ein Teil der neuen globalen<br />

Leitkultur dieses Landes.<br />

Aber in Wirtschaft und Politik wird heute<br />

die Zukunft organisiert. Jetzt wären die<br />

Zeit, die Kraft und die Mittel da, um<br />

Langfristthemen anzupacken – da gäbe es<br />

ja einiges zu tun für eine tatkräftige Regierung<br />

mit satter Mehrheit im Bundestag.<br />

Man könnte das weltbeste Schul- und<br />

Ausbildungssystem entwickeln und sich<br />

nicht nur damit abfinden, wenn im Pisa-<br />

Vergleich ein paar Tabellenpunkte gewonnen<br />

wurden. Denn das Niveau der Universitäten<br />

nimmt in der Breite bedenklich ab,<br />

und die Spitze ist nicht Weltspitze, Schulklassen<br />

sind überfüllt, und die Pädagogik<br />

taumelt nur von einer Verschlimmbesserung<br />

zur nächsten.<br />

Die Verkehrsinfrastruktur ist brückenweise<br />

verrottet. Straßen und Bahn werden<br />

<strong>vom</strong> Verkehr überrollt, der dem wirtschaftlichen<br />

Erfolg vorausfährt.<br />

Die Verschuldung des Bundes schmilzt<br />

wegen der Nullzinspolitik, aber viele Bundesländer<br />

und Kommunen kriegen trotzdem<br />

die Kurve nicht. Wer aber in den besten<br />

aller Zeiten die schwarze Null nicht<br />

schafft, der schafft sie nimmermehr. Die<br />

Sozialpolitik schüttet ihr Füllhorn über<br />

diejenigen aus, die in den vergangenen<br />

Jahrzehnten großen Wohlstands Ansprüche<br />

erworben haben. Die Rente mit 60 ist<br />

das nächste Ziel; im satten Wohlbefinden<br />

werden die Parteiprogramme aus den<br />

Siebzigern umgesetzt, die schon in fünf<br />

Jahren unfinanzierbar sind. Dabei gibt es<br />

die beklagte Altersarmut beim heutigen<br />

Rentner kaum – bei den heutigen Beitragszahlern<br />

wird sie pandemisch. Sozialabgaben<br />

und Löhne steigen, Investitionen sinken.<br />

Bei allem Wohlstand wächst das<br />

materielle und kulturelle Elend: Als Konsequenz<br />

einer ungesteuerten Zuwanderung<br />

und mangelnder Integration entstehen<br />

Räume der Rechtlosigkeit, die die<br />

Polizei nicht mehr betritt und in der Clans<br />

und seltsame Abarten des Islamismus die<br />

Menschen manipulieren. Ludwig Erhards<br />

Formel <strong>vom</strong> „Wohlstand für alle“ ist verwirklicht,<br />

aber die Ränder fransen aus. Rezepte?<br />

Keine.<br />

STRUKTURELLER STILLSTAND<br />

Deutschland hat sich in einer Art Komfortzone<br />

der Geschichte wohlig eingerichtet.<br />

Noch sind wenig Alte zu versorgen, das<br />

sind die Spätfolgen des Krieges. Wir haben<br />

wenige Kinder, da finanziert sich die Fernreise<br />

der Doppelverdiener von alleine. Eine<br />

neue Betroffenheitskultur erregt sich über<br />

Dinge, die weit weg oder nebensächlich<br />

sind. Veganismus und Bürgerrechte für<br />

Katz und Hund sind das Sommerthema im<br />

Feuilleton. Aber diese Pseudoerregung<br />

bleibt folgenlos. Eine ständig älter werdende<br />

Gesellschaft verbindet ihre individuelle<br />

Zügellosigkeit mit einem strukturellen<br />

Konservatismus: Es ist gut, wie es ist, und<br />

so soll es auch bleiben.<br />

Aber es muss sich bekanntlich alles ändern,<br />

damit es so nett bleibt, wie es ist. Die<br />

gesellschaftlichen Eliten schweigen. Die<br />

Wirtschaft genießt den Dax-Höchststand.<br />

Die Politik will nicht verstören. Ziel ist der<br />

schiere Machterhalt. Alternativen werden<br />

ausgeschlossen, denn sie würden das<br />

Sommermärchen nur stören. Dabei müssen<br />

die Quellen des Wohlstands neu erfunden<br />

werden.<br />

n<br />

WirtschaftsWoche 7.7.<strong>2014</strong> Nr. 28 5<br />

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Überblick<br />

Menschen der Wirtschaft<br />

8 Seitenblick Park gegen Fluglärm<br />

10 Yingli: Klage aus Deutschland gegen<br />

chinesischen Solarriesen<br />

11 Rocket Internet:Samwers kassieren ab |<br />

Orange: Handyoffensive in Deutschland<br />

12 Interview: Sonys Spielechef Andrew House<br />

will mit Live-Fernsehen punkten<br />

13 EU-Kommission: Frauen gesucht |<br />

Fußball-WM: Versicherungsbetrug boomt |<br />

Drei Fragen zum Korruptionsregister<br />

14 Google: Neue Klagen drohen | Mafia: Vorbild<br />

Italien | Stahlgruber: Rückzug aus China<br />

16 Chefsessel | Start-up Bside Me<br />

18 Chefbüro Armin Papperger, Vorstandschef<br />

von Rheinmetall<br />

Politik&Weltwirtschaft<br />

20 Erbschaftsteuer Das alte System ist<br />

womöglich verfassungswidrig. Was Unternehmen<br />

und Erben jetzt droht | Wie das<br />

Ausland Erben besteuert<br />

26 Bundesregierung Die Zahl der handwerklichen<br />

Fehler und Gesetzespannen wächst<br />

28 Forum Grünen-Politiker Gerhard Schick<br />

über Defizite der Finanzmarktregulierung<br />

29 Frankreich Finanzminister Michel Sapin ist<br />

die Schlüsselfigur in Hollandes Reformplan<br />

31 Mongolei Trotz vieler Rohstoffe lässt das<br />

Land deutsche Investoren kalt. Warum nur?<br />

32 Japan Die Regierung will mit einer Frauenquote<br />

die Wirtschaft ankurbeln<br />

35 Berlin intern | Global Briefing<br />

Der Volkswirt<br />

36 Kommentar Argentinien vor der Staatspleite<br />

| Nachfragt Thomas Mayer<br />

37 Konjunktur Deutschland<br />

38 Serie Frühindikatoren (IV) Der ISM-Index<br />

ist Gradmesser für die globale Wirtschaft<br />

39 Weltwirtschaft Die Zinswende kommt –<br />

zunächst aber nur in Großbritannien<br />

40 Denkfabrik ifo-Präsident Hans-Werner<br />

Sinn rügt Tricks bei den EU-Schuldenregeln<br />

Unternehmen&Märkte<br />

42 Airbus Wie Vorstandschef Tom Enders den<br />

Luftfahrtkonzern umbaute | Panzerbauer<br />

suchen Auswege aus der Rüstungskontrolle<br />

50 Dossier Charles-Edouard Bouée So tickt<br />

der neue Chef von Roland Berger<br />

52 TUI Gelingt der Aufstieg zum weltgrößten<br />

Tourismuskonzern?<br />

54 Eintrittskarten Das dubiose Geschäft mit<br />

dem Weiterverkauf von Tickets<br />

56 Banken Der Rettungsfonds Soffin steht vor<br />

seiner letzten Herausforderung<br />

59 Interview: Werner Dornscheidt Warum die<br />

Messe Düsseldorf keine Stütze braucht<br />

60 Oldtimer Warum Superkarossen Millionen<br />

kosten und dubiose Geschäfte provozieren<br />

Airbus Das Enders-Prinzip<br />

Schnell entscheiden, Macht delegieren,<br />

Vorgesetzte zu Vorbildern machen: wie<br />

Vorstandschef Tom Enders Intrigen,<br />

Produktionsdesaster und Länderstreits<br />

überwand – und Europas schwierigsten<br />

Konzern zum Vorbild für moderne<br />

Unternehmenskultur machte. Seite 42<br />

Gefährliche Erbschaften<br />

Unternehmerfamilien wie die von Eben-Worlées aus Hamburg<br />

warten mit Sorge auf die Reform der Erbschaftsteuer. Was<br />

der Wirtschaft aus Karlsruhe und Berlin droht – und wie sich<br />

Unternehmer und Erben vorbereiten können. Seiten 20, 80<br />

Einfach schön<br />

Der Red Dot Award <strong>2014</strong><br />

zeigt:Skandinavisches<br />

Design ist auf dem Vormarsch<br />

– zum Beispiel<br />

mit norwegischen<br />

Stiefeln, deren<br />

Sohlen dank<br />

Mikroglasfasern<br />

rutschfest sind.<br />

Seite 98<br />

TITELFOTO: ANDREAS CHUDOWSKI FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

6 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Nr. 28, 7.7.<strong>2014</strong><br />

Meckern? Ja, bitte!<br />

Sie haben unzufriedene Kunden? Gut – dann haben Sie auch<br />

die Chance auf eine Wiedergutmachung. Wie Unternehmen aus<br />

Beschwerden lernen und auch noch Profit schlagen. Seite 74<br />

Technik&Wissen<br />

64 Informationstechnik Die Neuerfindung<br />

des Computers | Interview: James Goodnight<br />

sucht lebensrettende Algorithmen<br />

68 Parken Apps und Sensoren sollen bei der<br />

Suche nach freien Stellplätzen helfen<br />

69 Medizin Der Ebola-Ausbruch in Westafrika<br />

schürt die Angst vor Seuchen. Zu Recht?<br />

73 Valley Talk<br />

Management&Erfolg<br />

74 Beschwerdemanagement Warum Unternehmen<br />

sich über Kritik freuen sollten<br />

78 Interview: Stefan Heissner Hochstapler<br />

haben in Unternehmen oft leichtes Spiel<br />

FOTOS: CHRISTIAN O.BRUCH FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, PR, RUDOLF WICHERT FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE; ILLUSTRATION: FRANCESCO BONGIORNI<br />

Die Neuerfindung des Computers<br />

Handel, Banken, Autos: Alle Branchen stecken tief im digitalen<br />

Umbruch und brauchen mehr Rechenpower. Ausgerechnet jetzt<br />

aber schwächelt die IT – radikal neue Ideen sind gefragt. Seite 64<br />

Garagengold<br />

Wegen angeblich zu teuer<br />

verkaufter Autoklassiker sitzt<br />

Kunstberater Helge Achenbach<br />

in Haft. Der Fall zeigt,<br />

wie Superreiche in Zeiten<br />

niedriger Zinsen aus dem<br />

Geschäft mit Autoklassikern<br />

eine riesige Bonanza gemacht<br />

haben. Seite 60<br />

Geld&Börse<br />

80 Erben und vererben Streit vermeiden und<br />

Steuer sparen– so geht’s | Immobilien günstig<br />

übertragen | Erben gesucht<br />

86 Grauer Kapitalmarkt Ein Immobiliendeal<br />

der Investmentfirma KGAL wirft Fragen auf<br />

88 US-Techaktien Adobe und NetApp<br />

90 Steuern und Recht Online-Bewertungen |<br />

Tippspiele im Büro | Mitarbeiteraktien |<br />

Argentinien-Anleihen | Mieteinnahmen<br />

92 Geldwoche Kommentar: Twitter aus dem<br />

Takt | Trend der Woche: Silber | Dax-Aktien:<br />

Autowerte | Hitliste: Goldpreis | Aktien: E2V<br />

Technologies, Apache | Anleihe: Sixt | Investmentfonds:<br />

Franklin Mutual European |<br />

Chartsignal: Yen | Relative Stärke: Bilfinger<br />

Perspektiven&Debatte<br />

98 Spezial Red Dot Award Prämierte<br />

Produkte aus Skandinavien | Interview mit<br />

Red-Dot-Award-Gründer Peter Zec<br />

Rubriken<br />

5 Einblick, 112 Leserforum,<br />

113 Firmenindex | Impressum, 114 Ausblick<br />

n Lesen Sie Ihre WirtschaftsWoche<br />

weltweit auf iPad oder iPhone:<br />

Unter anderem mit einem Videointerview<br />

mit dem Düsseldorfer<br />

Kunstberater Helge<br />

Achenbach in seiner<br />

Oldtimersammlung, das<br />

wir vor seiner Verhaftung<br />

aufgenommen haben.<br />

wiwo.de/apps<br />

n Wende in Indien Harvard-Professor<br />

Martin Feldstein sieht Anzeichen<br />

für einen dramatischen Aufstieg<br />

Indiens nach dem Wahlsieg von<br />

Narendra Modi. wiwo.de/indien<br />

facebook.com/<br />

wirtschaftswoche<br />

twitter.com/<br />

wiwo<br />

plus.google.com/<br />

+wirtschaftswoche<br />

WirtschaftsWoche 7.7.<strong>2014</strong> Nr. 28 7<br />

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Seitenblick<br />

FLUGLÄRM<br />

Kämme gegen<br />

den Krach<br />

Der Flughafen Amsterdam-Schiphol mindert<br />

den Fluglärm auf eine weltweit einzigartige Weise:<br />

Er legt einen Park an.<br />

1100Mal täglich starten oder<br />

landen Flugzeuge auf dem Amsterdamer Flughafen<br />

Schiphol. Die Bürger in der Nachbarschaft leiden<br />

unter ungewöhnlich hohem Lärm, denn auf dem<br />

flachen Land dort gibt es kaum Hindernisse für den<br />

Schall. Vor einigen Jahren aber stießen die Anwohner<br />

auf ein seltsames Phänomen. Wenn die Bauern im<br />

Herbst ihre Felder beackerten, Furchen und Kämme<br />

in den Boden zogen, kam das Dröhnen der Flugzeugturbinen<br />

weniger laut herüber. Niederländische<br />

Wissenschaftler fanden heraus, dass die Dreiecksform<br />

der Ackerfurchen den Schall gen Himmel lenkt.<br />

33Hektar, eine Fläche so groß wie 50<br />

Fußballfelder, ließ der Flughafenbetreiber daraufhin<br />

von Landschaftskünstler Paul de Kort in einen Park<br />

verwandeln. Mittels GPS-gesteuerter Bagger wurden<br />

Furchen und Kämme der Äcker in vergrößertem<br />

Maßstab nachgestaltet, Radwege, ein künstlicher<br />

Teich sowie eine Brücke angelegt. Mittelfristig soll der<br />

Park auf 60 Hektar wachsen, um den Flugzeuglärm<br />

im Umkreis um insgesamt zehn Dezibel zu reduzieren.<br />

3Prozent der Bevölkerung fühlen sich in<br />

Deutschland von Flugzeuglärm belästigt. Streit mit<br />

Anwohnern entbrannte etwa in Frankfurt, Düsseldorf<br />

und Berlin. Allein am neuen Hauptstadtflughafen<br />

erhalten 14 000 Haushalte Schallschutzfenster oder<br />

Dämmungen – auf Kosten der Flughafengesellschaft.<br />

thomas.stoelzel@wiwo.de<br />

Vorher<br />

8 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Grüne Wälle<br />

Der Buitenschot-Park bei Amsterdam<br />

mindert nicht nur den Fluglärm,<br />

sondern dient sogar der Erholung<br />

Bioschalldämpfer<br />

Wie Furchen und Kämme den<br />

Fluglärm umlenken<br />

Nachher<br />

FOTO: YOUR CAPTAIN LUCHTFOTOGRAFIE; ILLUSTRATION: KRISTINA DÜLLMANN<br />

WirtschaftsWoche 7.7.<strong>2014</strong> Nr. 28 9<br />

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Menschen der Wirtschaft<br />

Scharf geschossen<br />

Fußballstar Schweinsteiger<br />

vor der Yingli-<br />

Werbung im Stadion<br />

YINGLI<br />

»Kein Geld auf dem Konto«<br />

Der größte Hersteller von Solarmodulen<br />

soll einem deutschen Mittelständler<br />

Millionen schulden. Jetzt klagt der<br />

Insolvenzverwalter gegen die Chinesen.<br />

Fußballfans kennen Yingli. Der chinesische Konzern,<br />

weltgrößter Hersteller von Solarmodulen,<br />

wirbt bei der Fußballweltmeisterschaft auf den<br />

Banden in den Stadien und sponsert den FC Bayern<br />

München. Doch während die Chinesen hoffen,<br />

berühmt zu werden, droht ihnen in Deutschland<br />

ein Gerichtsverfahren: Yingli wurde auf Schadensersatz<br />

verklagt. Das Landgericht Amberg bestätigt<br />

den Eingang der Klage. Die Forderung richtet sich<br />

gegen mehrere Gesellschaften des börsennotierten<br />

Fotovoltaikkonzerns. Einem Insider zufolge hat<br />

Christopher Seagon, Insolvenzverwalter des<br />

deutschen Unternehmens SIC Processing, die<br />

Klage eingereicht. Er beschuldigt demzufolge<br />

Yingli, Verträge mit SIC gebrochen zu haben. Der<br />

Partner der Kanzlei Wellensiek sieht darin einen<br />

„bedeutenden Grund“ für die Insolvenz des deutschen<br />

Unternehmens.<br />

SIC Processing reinigt Sägesuspension – Rückstände,<br />

die bei der Produktion von Wafern entstehen.<br />

Wafer wandeln in Solarmodulen Sonnenstrahlen<br />

in Energie um. SIC hatte auf Wunsch der<br />

Chinesen an deren Hauptsitz in Baoding 29 Millionen<br />

Euro in eine Aufbereitungsanlage investiert<br />

und sie betrieben. Im Gegenzug soll sich Yingli dazu<br />

verpflichtet haben, mindestens zehn Jahre lang<br />

Sägesuspension von SIC aufbereiten zu lassen. Für<br />

fünf Jahre sollen sogar Mindestmengen und Preise<br />

vertraglich fixiert gewesen sein.<br />

Dem Insider zufolge wirft der Insolvenzverwalter<br />

Yingli nun vor, „heimlich eine eigene Produktionsanlage<br />

zur Aufbereitung“ errichtet zu haben. Kaum<br />

sei die fertig gewesen, habe Yingli „weder offene<br />

Rechnungen von SIC fristgerecht bezahlt noch weitere<br />

Leistungen zu den vereinbarten Konditionen<br />

abgenommen“. Als Grund, schrieb der Sprecher von<br />

Seagon im Oktober, hätten Verantwortliche von Yingli<br />

genannt, dass sie „kein Geld zur Zahlung der SIC-<br />

Processing-Forderungen auf dem Konto“ hätten und<br />

SIC bei Yingli „auf der Liste der am dringendsten zu<br />

bezahlenden Gläubiger nicht weit genug oben stünde“.<br />

So konnte sich die Investition von SIC nicht<br />

amortisieren. Ende 2012 war SIC zahlungsunfähig.<br />

Der Sprecher von Seagon wollte sich nicht zu den<br />

aktuellen Informationen aus der offenen Teilklage<br />

äußern. Eine Teilklage signalisiert, dass aus Kostengründen<br />

nicht alle Ansprüche auf einmal geltend gemacht<br />

werden; zunächst fordert Seagon eine Million<br />

Euro. Anleger, die SIC 87 Millionen Euro geliehen<br />

haben, können hoffen: Dem Insider zufolge will Seagon<br />

bis zu 24 Millionen rausholen. Die Klage muss<br />

den Chinesen noch zugestellt werden. „Deshalb<br />

können wir leider zu Inhalten keine Stellung nehmen“,<br />

hieß es bei Yingli.<br />

annina.reimann@wiwo.de<br />

Abgestürzt<br />

Kursverlauf der SIC-<br />

Processing-Anleihe<br />

(in Prozent)<br />

100<br />

75<br />

50<br />

25<br />

0<br />

2011 12 13 14<br />

ISINDE000A1H3HQ1;<br />

Quelle:Börse Frankfurt<br />

10 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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FOTO: IMAGO/SVEN SIMON, LAIF/ANDREAS CHUDOWSKI, DPA PICTURE-ALLIANCE/PATRICK SEEGER<br />

SAMWER-BRÜDER<br />

Fette Ausschüttung vorab<br />

Für den Börsengang der Berliner<br />

Internet-Holding Rocket Internet<br />

stellen die Großaktionäre<br />

rund um die Unternehmerbrüder<br />

Marc, Oliver und Alexander<br />

Samwer die Weichen. Neben<br />

der Kür von Oliver Samwer<br />

zum Vorstandschef des gerade<br />

erst in eine Aktiengesellschaft<br />

umgewandelten Unternehmens<br />

hat sich jetzt ein Aufsichtsrat<br />

formiert. Vorsitzender ist Lorenzo<br />

Grabau, Chef des schwedischen<br />

Rocket-Aktionärs<br />

Kinnevik. Vize ist Jörg Mohaupt<br />

von Access Industries, der<br />

Beteiligungsgesellschaft des<br />

Vor dem Börsengang zugelangt<br />

Rocket-Chef Oliver Samwer<br />

Milliardärs Len Blavatnik. Zugleich<br />

aber wachsen Zweifel an<br />

den Motiven für den Börsengang.<br />

Bisher hieß es, Rocket benötige<br />

mehr Geld für künftiges<br />

Wachstum. Doch ein Gutachten<br />

des Wirtschaftsprüfers Ernst<br />

& Young sowie der Gründungsbericht<br />

der Gesellschaft zeigen,<br />

dass sich die Samwers allein<br />

dieses Jahr eine Vorabausschüttung<br />

von knapp 287 Millionen<br />

Euro gegönnt haben. Kinnevik<br />

und Access Industries erhielten<br />

statt Geld direkte Anteile an<br />

Rocket-Töchtern. Schon in den<br />

Vorjahren hatten die Investoren<br />

Kasse gemacht. 2012 flossen<br />

470 Millionen Euro als Ausschüttungen<br />

an die Gesellschafter,<br />

2013 waren es 80,6 Millionen<br />

Euro.<br />

Auch die kolportierte Bewertung<br />

von drei bis fünf Milliarden<br />

Euro bezeichnet ein Frankfurter<br />

IPO-Berater als „gewagt“.<br />

Im Gründungsbericht werden<br />

„Erfolgsfähigkeit der Geschäftsmodelle<br />

der Beteiligungsgesellschaften“<br />

sowie die „Konkurrenz<br />

durch andere Inkubatoren<br />

und Gründer“ als Risiken aufgelistet.<br />

Durch die Schnelllebigkeit<br />

des Webs könne sich der<br />

Wert von Beteiligungen ändern.<br />

henryk.hielscher@wiwo.de<br />

Aufgeschnappt<br />

Villa für Promis Sogar Lady Di<br />

hat hier schon genächtigt,<br />

Aufsehen erregte das Castillo<br />

Mallorca aber erst 2010, als<br />

sich Christian Wulff hier erholte<br />

– kurz nach seiner Vereidigung<br />

als Bundespräsident. Schon da<br />

gehörte das 6000 Quadratmeter<br />

große Anwesen dem AWD-<br />

Gründer Carsten Maschmeyer.<br />

Jetzt will er es verkaufen – für<br />

38 Millionen Euro<br />

PayPal für Monaco Der Zahlungsdienst<br />

hat seinen Service<br />

auf 200 Länder ausgedehnt.<br />

Neu dabei ist auch Monaco.<br />

Dort gab es PayPal schon vor<br />

Jahren, aber dann wurden die<br />

Accounts geschlossen. Grund:<br />

PayPal hatte die Nutzer wie EU-<br />

Bürger behandelt, doch Monaco<br />

ist nicht in der EU. Daher mussten<br />

die Bedingungen geändert<br />

werden – und das dauerte.<br />

ORANGE<br />

Offensive in<br />

Deutschland<br />

Bisher hatten Deutsche Telekom<br />

und der französische Konkurrent<br />

Orange darauf verzichtet,<br />

im Heimatland des jeweils<br />

anderen anzugreifen. Damit<br />

bricht Orange, die frühere<br />

France Télécom. Die neue Sparte<br />

Orange Horizons entwickelt<br />

Geschäftsideen ausschließlich<br />

für Länder, in denen Orange<br />

keine eigene Mobilfunkinfrastruktur<br />

besitzt. Deutschland<br />

wird einer der Testmärkte. „Wir<br />

wollen vorbereitet sein, wenn<br />

die EU die unterschiedlich regulierten<br />

Telekommunikationsmärkte<br />

der 28 Mitgliedsländer<br />

vereinheitlicht“, sagt Sébastian<br />

Crozier, Chef von Orange Horizons.<br />

Ein Ziel sei es, die Marke<br />

Orange weltweit bekannter zu<br />

machen. Allerdings fängt Orange<br />

elf Jahre nach dem Ausstieg<br />

bei Mobilcom wieder ganz klein<br />

an. Einen Online-Shop mit<br />

Smartphones gibt es schon.<br />

Jetzt startet noch eine deutsche<br />

Web-Site, auf der Kunden Prepaid-Karten<br />

aufladen können.<br />

Und deutschen Frankreich-<br />

Urlaubern will Orange eine<br />

französische SIM-Karte ohne<br />

Auslandsaufschlag anbieten.<br />

juergen.berke@wiwo.de<br />

BMW hängt die Konkurrenz ab<br />

Das Image der Dax-gelisteten Autokonzerne*<br />

Die Umweltreputation<br />

50%<br />

40%<br />

30%<br />

20%<br />

10%<br />

0%<br />

–10%<br />

–20%<br />

–30%<br />

–40%<br />

BMW Volkswagen Daimler<br />

positiver<br />

negativer<br />

2005 2006 20<strong>07</strong> 2008 2009 2010 2011 2012 2013 <strong>2014</strong> 2005 06 <strong>07</strong> 08 09 10 11 12 13 <strong>2014</strong><br />

*auf der Basis von Berichten in 32 deutschen und internationalen Medien; Quelle: Media Tenor International<br />

WirtschaftsWoche 7.7.<strong>2014</strong> Nr. 28 11<br />

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Menschen der Wirtschaft<br />

FLOSKELCHECK<br />

Gewinnwarnung<br />

Vor Hausfreunden wird gewarnt<br />

– so der Titel eines Hollywoodschinkens<br />

mit Cary<br />

Grant von 1960. Vor Gewinnen<br />

wird auch gewarnt – an<br />

der Börse im Jahre <strong>2014</strong>.<br />

Aktiengesellschaften geben<br />

tatsächlich Gewinnwarnungen<br />

heraus. Warnung? Vor<br />

Gewinnen? „Gewinnwarnung“<br />

ist ein sogenanntes<br />

Oxymoron. Oxymoron? Ist<br />

das gefährlich? Kann ich das<br />

auch kriegen? Keine Angst.<br />

Ein Oxymoron ist nichts weiter<br />

als ein Widerspruch in<br />

sich. So wie Flüssiggas oder<br />

Trauerfeier. Schwarzer<br />

Schimmel, eckiger Kreis, offenes<br />

Geheimnis, herrenloses<br />

Damenrad, nüchterner Chirurg,<br />

vertrauenswürdiger<br />

Gebrauchtwagenhändler<br />

oder eingefleischter Vegetarier.<br />

Gibt ein Unternehmen<br />

eine Gewinnwarnung heraus,<br />

ist die Ursache oft ein<br />

vorangegangenes „Minuswachstum“.<br />

Dunkel war ’s,<br />

der Mond schien helle...<br />

DER FLOSKELCHECKER<br />

Hans Gerzlich, 47, Diplom-<br />

Ökonom, ehemaliger Marketing-Referent<br />

und heute<br />

Wirtschaftskabarettist und<br />

Bürocomedian.<br />

INTERVIEW Andrew House<br />

»Wir wollen Live-TV mit<br />

Videodiensten koppeln«<br />

Der Chef von Sony Computer Entertainment machte<br />

die neue Spielekonsole Playstation 4 zum Marktführer<br />

und will jetzt neue Geschäftsmodelle testen.<br />

Herr House, Sony steckt in<br />

einer finanziellen Krise, aber<br />

Ihre Playstation 4 ist derzeit<br />

die meist verkaufte Spielekonsole.<br />

Rund sieben Millionen<br />

Stück haben Sie schon abgesetzt.<br />

Was macht Sony aus<br />

dem Erfolg?<br />

Unser Ziel für die Playstation-<br />

Sparte ist es, in diesem Geschäftsjahr<br />

ein solider Profitbringer<br />

für den Konzern zu<br />

sein. Langfristig gesehen haben<br />

wir große Wachstumschancen.<br />

Es geht ja nicht nur um die Konsolen<br />

und Spiele allein, sondern<br />

auch das Angebot an Online-<br />

Diensten. Dort haben wir nun<br />

mehr als 52 Millionen Nutzer<br />

monatlich in unserem Netzwerk.<br />

Das erlaubt uns, ganz<br />

neue Geschäftsmodelle auszuprobieren.<br />

Zum Beispiel?<br />

Viele Leute haben mich über<br />

die Jahre hinweg immer wieder<br />

gefragt, warum unser Spielfilmstudio<br />

Sony Pictures nicht<br />

einfach gezielt Inhalte für die<br />

Playstation entwickelt. Ganz<br />

einfach, weil wir nicht die entsprechende<br />

Masse an Publikum<br />

hatten. Das hat sich mit unseren<br />

52 Millionen Online-Nutzern<br />

geändert.<br />

Sie wollen die Playstation also<br />

zur Medienmarke ausbauen?<br />

Ja. Es gibt das Missverständnis<br />

im Markt, dass Spiele nicht zu<br />

den Unterhaltungsformen gerechnet<br />

werden. Entweder das<br />

eine oder das andere. Nun, wir<br />

sehen das nicht so. Es ist nicht<br />

so, dass die Fans von Computerspielen<br />

keine andere Unterhaltung<br />

wünschen. Das Gegenteil<br />

ist der Fall, wie viele Marktuntersuchungen<br />

zeigen. Die Spieler<br />

sind großartige Medienkonsumenten.<br />

Das Entscheidende<br />

ist, dass die anderen Medienangebote<br />

für sie glaubwürdig sind,<br />

relevant sind und ihren Geschmack<br />

treffen. Das ist unser<br />

Ansatz.<br />

Wie sieht ein Angebot aus?<br />

In den USA haben wir einen<br />

neuen Cloud-Service angekündigt,<br />

der Live-Fernsehen mit<br />

Video-on-Demand verbindet.<br />

DER SPIELFÜHRER<br />

House, 49, arbeitet<br />

seit 1990 für Sony,<br />

baute die Spielekonsolensparte<br />

mit auf<br />

und übernahm die<br />

Führung in Europa.<br />

Seit 2011 verantwortet<br />

der gebürtige<br />

Brite weltweit das<br />

Videospielsegment,<br />

einen der wenigen<br />

Lichtblicke im drittgrößten<br />

japanischen<br />

Elektronikkonzern.<br />

Hier wollen wir unseren Vorteil<br />

ausspielen, dass wir dank unserer<br />

Blu-ray-Abspielgeräte sowie<br />

unserer Playstations 3 und 4<br />

bereits über die größte Basis an<br />

vernetzten Geräten verfügen<br />

und damit über das erforderliche<br />

Publikum für solch einen<br />

Dienst.<br />

Gibt es da mit Netflix und<br />

Amazon Video nicht schon<br />

genug starke Wettbewerber?<br />

Die verfügen allerdings nicht<br />

über Live-Fernsehkanäle. Ich<br />

denke, schon allein dieses<br />

Merkmal wird einen großen<br />

Unterschied ausmachen.<br />

Immer mehr Spiele werden auf<br />

Smartphones genutzt. Wie<br />

attraktiv sind Spielekonsolen<br />

noch?<br />

Wir sehen Smartphones als Begleitgeräte<br />

und zusätzlichen<br />

Markt. In der Vergangenheit<br />

haben unsere eigenen Studios<br />

exklusiv für Sony-Geräte entwickelt.<br />

Das sehen wir nicht<br />

mehr so streng. Man kann unsere<br />

Inhalte auch auf Geräten<br />

konkurrierender Hersteller<br />

ausprobieren, um sie dann auf<br />

Sony-Produkten vollständig<br />

oder in erweiterter Form genießen<br />

zu können. Davon machen<br />

wir in der Zukunft mehr.<br />

Ihren Datenhelm Project Morpheus,<br />

der ähnlich wie Facebooks<br />

Oculus Rift virtuelle<br />

Realität intensiver erlebbar<br />

macht, gibt es bisher nur als<br />

Prototyp. Wann starten Serienproduktion<br />

und Verkauf?<br />

Ich sehe 2015 als frühestmöglichen<br />

Zeitpunkt.<br />

Sie arbeiten schon sehr lange<br />

in der Spielebranche. Was kann<br />

Sie noch überraschen?<br />

Es gibt ständig Überraschungen.<br />

Konkret haben mich die<br />

vielen kleineren Studios überrascht,<br />

die jetzt Spielekonsolen<br />

entwickeln. Das gab es früher<br />

nicht. Das Raumfahrtabenteuer<br />

„No Man’s Sky“ <strong>vom</strong> Entwickler<br />

Hello Games, das mit großartigen<br />

Kritiken überhäuft wurde,<br />

hat ein Team entwickelt, dem<br />

nur sechs Personen angehörten.<br />

Das ist phänomenal.<br />

matthias.hohensee@wiwo.de | Silicon Valley<br />

ILLUSTRATION: TORSTEN WOLBER; FOTOS: BLOOMBERG NEWS/KIYOSHI OTA, ROPI/EIDON/ANTIMIANI<br />

12 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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EU-KOMMISSION<br />

Frauen verzweifelt gesucht<br />

Mindestens 40 Prozent der neuen<br />

EU-Kommissare sollen<br />

weiblich sein. Das strebt der<br />

künftige Kommissionspräsident<br />

Jean-Claude Juncker an.<br />

Doch bisher sieht es nicht danach<br />

aus, dass die EU-Staaten<br />

dafür insgesamt elf Frauen<br />

nach Brüssel schicken. Sechs<br />

Länder haben bisher ihre Kandidaten<br />

benannt – alle männlich.<br />

Darunter ist der Deutsche<br />

Günther Oettinger, der eine<br />

Quotenfrau<br />

Italiens Außenministerin<br />

Mogherini<br />

VERSICHERUNGEN<br />

Mehr Betrug<br />

durch WM<br />

Die Fußballweltmeisterschaft<br />

kommt die deutschen Versicherer<br />

offenbar teuer zu stehen.<br />

„Vor sportlichen Großereignissen<br />

steigt bei vielen Haftpflichtversicherern<br />

die Zahl der als beschädigt<br />

gemeldeten Fernseher<br />

an“, sagt Björn Hinrichs,<br />

Geschäftsführer von Informa<br />

Insurance Risk and Fraud Prevention,<br />

einer Tochter des Bertelsmann-Zweigs<br />

Arvato. Das<br />

Unternehmen betreibt das Hinweis-<br />

und Informationssystem<br />

zweite Amtszeit bekommen<br />

soll. „Es zeichnet sich ab, dass<br />

die EU-Kommission ein Männerclub<br />

wird“, fürchtet der<br />

grüne Europaabgeordnete Sven<br />

Giegold.<br />

Juncker stellt Ländern, die eine<br />

Frau nominieren, nun besonders<br />

attraktive Aufgabengebiete<br />

in Aussicht. Dies erhöht<br />

die Chancen von Catherine<br />

Trautmann, Kommissarin zu<br />

werden. Frankreichs frühere<br />

der deutschen Versicherer, kurz<br />

HIS, eine zentrale Auskunftei<br />

auffälliger Schadensfälle. Viele<br />

der im Vorfeld der WM gemeldeten<br />

Fälle seien auf den Versuch<br />

zurückzuführen, „mit einem<br />

fingierten Schaden schlicht<br />

und einfach Geld zu kassieren,<br />

um damit ein neues, womöglich<br />

besseres TV-Gerät zur WM zu<br />

finanzieren“, sagt Hinrichs.<br />

Wie hoch die Zahl der Betrugsfälle<br />

genau ausfalle, lasse<br />

sich nur schätzen. Insgesamt<br />

betrage der Schaden, der den<br />

Schaden- und Unfallversicherern<br />

in Deutschland jedes Jahr<br />

durch Versicherungsbetrug entstehe,<br />

„mehr als vier Milliarden<br />

Euro“, sagt Hinrichs.<br />

Kulturministerin könnte sich<br />

um digitale Märkte kümmern,<br />

nachdem sie sich als Europaabgeordnete<br />

intensiv mit der<br />

Materie beschäftigt hat. Italiens<br />

Regierung möchte gerne die<br />

amtierende Außenministerin<br />

Federica Mogherini auf den<br />

Posten der Außenvertreterin<br />

hieven, allerdings fehlt ihr es an<br />

Erfahrung. Zudem sollte der Job<br />

nach Osteuropa gehen. Im Gespräch<br />

ist die bisherige bulgarische<br />

Kommissarin Kristalina<br />

Georgieva, die mit ihrem Dossier<br />

für Humanitäres als unterfordert<br />

galt.<br />

Großbritannien erwägt, Baroness<br />

Wheatcroft ins Rennen zu<br />

schicken, bisher im Oberhaus<br />

und davor Chefredakteurin des<br />

„Wall Street Journal Europe“.<br />

Aus Belgien könnte die bisherige<br />

Europaabgeordnete Marianne<br />

Thyssen kommen. Die<br />

schwedische EU-Innenkommissarin<br />

Cecilia Wallström rechnet<br />

sich Chancen auf eine zweite<br />

Amtszeit aus. Bereits nominiert<br />

sind Jyrki Katainen, früherer Ministerpräsident<br />

Finnlands, Andrus<br />

Ansip, vormals Ministerpräsident<br />

von Estland, Valdis<br />

Dombrovskis, Ex-Premier von<br />

Lettland, sowie Maltas Tourismusminister<br />

Karmenu Vella.<br />

silke.wettach@wiwo.de | Brüssel<br />

Aber nicht nur Sportereignisse<br />

wie WM oder Olympia treiben<br />

die Fälle von versuchtem<br />

Betrug regelmäßig in die Höhe.<br />

Die Fallzahlen nähmen auch<br />

zu, „wenn technische Neuerungen<br />

wie zum Beispiel<br />

3-D-TV auf den Markt kommen“,<br />

sagt Hinrichs.<br />

Auch Modellwechsel etwa<br />

bei Mobiltelefonen ließen sich<br />

praktisch direkt an der Zahl der<br />

gemeldeten Schadensfälle<br />

ablesen. „Sie glauben gar nicht,<br />

wie vielen Leuten plötzlich<br />

ihr iPhone herunterfällt, wenn<br />

ein neues Modell angekündigt<br />

wird“, sagt ein Branchenkenner.<br />

peter.steinkirchner@wiwo.de<br />

DREI FRAGEN...<br />

...zum bundesweiten<br />

Korruptionsregister<br />

Ute Jasper<br />

51, Vergaberechtlerin<br />

in<br />

der Kanzlei<br />

Heuking Kühn<br />

Lüer Woytek<br />

n Korrupte Unternehmen<br />

sollen künftig in einem bundesweiten<br />

Register gelistet<br />

werden. Was droht ihnen?<br />

Mit dem Korruptionsregister<br />

wird künftig sichtbar, wenn<br />

sich Unternehmen Bestechungen,<br />

Bestechlichkeit,<br />

Betrug oder verbotene<br />

Preisabsprachen zuschulden<br />

kommen ließen.<br />

n Wer auf der Liste landet,<br />

dessen Existenz ist gefährdet?<br />

Die öffentliche Hand vergibt<br />

in Deutschland jährlich Aufträge<br />

für 360 Milliarden Euro<br />

und ist in Branchen wie Tiefbau,<br />

Nahverkehr und Rüstung<br />

fast der einzige Auftraggeber.<br />

Wer hier im Korruptionsregister<br />

landet, ist von der Pleite<br />

bedroht. Und da in den Unternehmen<br />

die Bedeutung der<br />

Compliance- und Beschaffungsregeln<br />

wächst, werden<br />

auch Unternehmen so ein<br />

Korruptionsregister nutzen,<br />

um schwarze Schafe von ihren<br />

Lieferantenlisten zu streichen.<br />

Größere Firmen werden<br />

hineinsehen dürfen.<br />

n Wann werden Namen im<br />

Register gelöscht?<br />

In Nordrhein-Westfalen ist eine<br />

Selbstreinigung schon jetzt<br />

möglich, und so wird es wohl<br />

auch bundesweit laufen.<br />

Wenn der Geschäftsführer,<br />

der bestochen wurde, entlassen<br />

ist und Compliance-Regeln<br />

eingeführt sind, kann das<br />

Unternehmen beantragen,<br />

von der Liste gestrichen zu<br />

werden, und muss Beweise<br />

vorlegen.<br />

claudia.toedtmann@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche 7.7.<strong>2014</strong> Nr. 28 13<br />

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Menschen der Wirtschaft<br />

GOOGLE<br />

Klagen<br />

angedroht<br />

EU-Wettbewerbskommissar<br />

Joaquín Almunia hat sich bewusst<br />

für eine gütliche Einigung<br />

im EU-Kartellverfahren gegen<br />

Google entschieden. So gehe es<br />

„schneller“ als bei der Verhängung<br />

einer Geldstrafe. Gegen<br />

die hätte Google-Chef Larry<br />

Page mit Sicherheit geklagt.<br />

Doch die Aussichten auf eine<br />

schnelle Lösung schwinden.<br />

Mehrere der 20 offiziellen Beschwerdeführer<br />

bei der EU-<br />

Kommission werden voraussichtlich<br />

klagen, wenn sie die<br />

Auflagen in der bisher geplan-<br />

Suche nach einer Einigung<br />

Google-Chef Page<br />

ten Form nach der Sommerpause<br />

beschließen sollte.<br />

„Wenn es beim jetzigen Deal<br />

bleibt, dann halte ich es für<br />

höchst wahrscheinlich, dass es<br />

zu Klagen kommt“, sagt Anwalt<br />

Thomas Höppner, der in dem<br />

Verfahren vier Mandanten vertritt,<br />

darunter den Bundesverband<br />

Deutscher Zeitungsverleger<br />

und der Verband Deutscher<br />

Zeitschriftenverleger. „Sollte<br />

eine Einigung ohne Markttest<br />

rechtskräftig werden, ist der<br />

Europäische Gerichtshof in Luxemburg<br />

gefragt“, so Hans Biermann,<br />

Vorstand des Kartendiensts<br />

Euro-Cities. Almunia<br />

hatte einen Markttest angekündigt,<br />

verzichtet jetzt aber darauf.<br />

silke.wettach@wiwo.de | Brüssel<br />

<strong>07</strong>.<strong>07</strong>. Finanzpolitik Die Finanzminister der Euro-Länder<br />

beraten am Montag über die Lage in Griechenland<br />

und auf Zypern sowie über den Stresstest für die<br />

großen europäischen Banken. Am Dienstag stoßen<br />

die Kollegen aus den EU-Ländern dazu, die<br />

den Euro nicht eingeführt haben.<br />

08.<strong>07</strong>. Erbschaftsteuer Das Bundesverfassungsgericht<br />

verhandelt am Dienstag über das Gesetz zur Erbschaftsteuer,<br />

das seit 2009 gilt. Auslöser ist der<br />

Bundesfinanzhof. Er kritisiert, dass Betriebsvermögen<br />

in der Regel steuerfrei vererbt oder verschenkt<br />

werden dürfen. Andere Steuerpflichtige<br />

könnten diesen Vorteil nicht nutzen. Deshalb hält<br />

der Bundesfinanzhof dieses Recht für verfassungswidrig.<br />

Schifffahrt Der Europäische Gerichtshof prüft, ob<br />

die Weser vertieft werden darf. Bremen plant den<br />

Ausbau des Flusses, damit auch die weltgrößten<br />

Containerfrachter Bremerhaven problemlos anlaufen<br />

können. Geklagt hat der Bund für Umwelt und<br />

Naturschutz vor dem Bundesverwaltungsgericht,<br />

das den Fall an den Europäischen Gerichtshof verwies.<br />

Über die Vertiefung der Elbe zwischen Hamburg<br />

und Nordsee verhandelt das Bundesverwaltungsgericht<br />

am 15. Juli.<br />

10.<strong>07</strong>. Apple Im Streit um die<br />

Einrichtung der Apple-<br />

Stores entscheidet am<br />

Donnerstag der Europäische<br />

Gerichtshof.<br />

Apple hat beim Deutschen<br />

Patent- und<br />

Markenamt den<br />

Schutz für Gestaltung und Aufmachung der Filialen<br />

beantragt. Das Design der Läden sei einmalig,<br />

begründet der amerikanische IT-Konzern seinen<br />

Antrag. Die Behörde sieht das nicht so.<br />

MAFIA<br />

Vorbild Rom<br />

Der italienische Staat hat Mafia-Organisationen<br />

wie Cosa<br />

Nostra, Camorra und ’Ndrangheta<br />

binnen fünf Jahren rund<br />

30 Milliarden Euro entzogen.<br />

Deutsche Behörden stellten<br />

zwischen 2008 und 2012 dagegen<br />

nur 591 Millionen Euro<br />

in Verfahren gegen die organisierte<br />

Kriminalität sicher. Darauf<br />

weist der Präsident des<br />

Bundeskriminalamtes (BKA),<br />

TOP-TERMINE VOM <strong>07</strong>.<strong>07</strong>. BIS 13.<strong>07</strong>.<br />

Beweislast umkehren<br />

BKA-Chef Ziercke<br />

AUTOTEILEHANDEL<br />

Rückzug aus<br />

China<br />

Stahlgruber gibt auf. Der bayrische<br />

Händler von Autoteilen,<br />

Jahresumsatz eine Milliarde Euro,<br />

zieht sich aus China zurück.<br />

Seine 2011 in Shanghai gegründete<br />

Tochterfirma verkauft er<br />

an die Lingtu-Gruppe dort.<br />

„Der Markt für Autoteile in China<br />

ist viel komplexer, als sich<br />

Stahlgruber das vorgestellt<br />

hat“, sagt Qing Yan, bis vor<br />

Kurzem noch Geschäftsführer<br />

des chinesischen Ablegers von<br />

Stahlgruber und jetzt Eigentümer<br />

von Lingtu. „Wir haben<br />

versucht, einen One-Stop-Service<br />

aufzubauen, der Fabriken<br />

und Werkstätten verbindet.“<br />

Das deutsche Modell aber<br />

habe auf dem komplizierten<br />

Markt in China nicht funktioniert,<br />

sagt Qing.<br />

Neben den internationalen<br />

Autokonzernen tummeln sich<br />

mehr als 100 Autohersteller auf<br />

dem chinesischen Markt –<br />

manche produzieren weniger<br />

als 10 000 Wagen im Jahr. Das<br />

wirkt sich auf den Ersatzteilemarkt<br />

aus, der als chaotisch<br />

gilt. „Gefälschte Ersatzteile<br />

sind ein großes Problem“, sagt<br />

Branchenkenner Jochen Siebert<br />

von der Unternehmensberatung<br />

JSC .<br />

philipp.mattheis@wiwo.de | Shanghai<br />

Jörg Ziercke, in einem internen<br />

Dokument hin, in dem er<br />

von einer „ernüchternden<br />

Bilanz“ spricht.<br />

Die deutsche Polizei<br />

könnte die Mafia nur<br />

nachhaltig bekämpfen,<br />

wenn hierzulande auch<br />

deren Gewinne einkassiert<br />

werden dürften,<br />

erklärt der BKA-Präsident.<br />

Es gebe einen „erheblichen<br />

Handlungsbedarf“aufseiten<br />

der Justiz.<br />

Damit meint Ziercke insbesondere<br />

eine Umkehr der Beweislast<br />

bei mutmaßlich illegal<br />

erworbenem Vermögen.<br />

Demnach müsste<br />

nicht mehr der Staat<br />

nachweisen, dass das<br />

Geld aus illegalen<br />

Quellen stammt, sondern<br />

der Besitzer des<br />

Geldes müsste den<br />

Behörden glaubhaft<br />

darlegen, dass er es legal<br />

erworben hat.<br />

christian.ramthun@wiwo.de | Berlin<br />

FOTOS: DPA PICTURE-ALLIANCE/PIXSELL/DALIBOR URUKALOVIC, IMAGO/KOLVENBACH, GETTY IMAGES/PHOTOTHEK/MICHAEL GOTTSCHALK<br />

14 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Menschen der Wirtschaft<br />

CHEFSESSEL<br />

START-UP<br />

DEUTSCHE POST<br />

Angela Titzrath, 48, räumt<br />

ihren Posten als Personalvorstand,<br />

offiziell aus „persönlichen<br />

Gründen“. In Post-Kreisen<br />

heißt es allerdings,<br />

Vorstandschef Frank Appel,<br />

52, habe sie fallen gelassen,<br />

weil sie zu viel Rücksicht auf<br />

die Gewerkschaft Verdi genommen<br />

habe und dabei auf<br />

Widerstand in den Konzernsparten<br />

gestoßen sei. Zudem<br />

habe Titzrath zwar inhaltlich<br />

fundiert gearbeitet, aber politisch<br />

unglücklich agiert,<br />

habe Leute nicht mitgenommen<br />

und sei intern zu wenig<br />

vernetzt gewesen. So brachte<br />

sie zwei Mitarbeiter von ihrem<br />

vorherigen Arbeitgeber<br />

Daimler mit, statt sich intern<br />

Vertraute zu suchen. Zudem<br />

wollten sich die Personalchefs<br />

der einzelnen Bereiche<br />

in ihrer Machtfülle nicht beschneiden<br />

lassen. Als neue<br />

Kandidatin für den Post-Vorstand<br />

gilt intern Melanie<br />

Kreis, 42. Appel schätzt und<br />

fördert die Finanzchefin der<br />

Post-Tochter DHL Express. Sie<br />

könnte Finanzvorstand Larry<br />

Rosen, 56, nachfolgen, wenn er<br />

in den Ruhestand geht. Sein<br />

Vertrag endet im August 2017.<br />

VODAFONE<br />

Jens Schulte-Bockum, 51,<br />

bleibt bis März 2018 Vorstandschef<br />

von Vodafone Deutschland.<br />

Trotz interner und externer<br />

Kritik hat der Aufsichtsrat<br />

den Vertrag vorzeitig verlängert.<br />

Er wäre sonst im März 2015 ausgelaufen.<br />

MÜLLER-MILCH<br />

Ronald Kers, 44, übernimmt<br />

2015 den Chefposten in der<br />

Molkerei-Gruppe Müller. Noch<br />

leitet er die Müller-Tochter in<br />

Großbritannien und Irland. Der<br />

gebürtige Niederländer wird<br />

damit Nachfolger von Ex-<br />

Bäcker Heiner Kamps, 59.<br />

ESCADA<br />

Bruno Sälzer, 57, sattelt radikal<br />

um. Der Vater von vier Söhnen<br />

macht künftig Kapuzenpullis<br />

für Teenies statt teurer<br />

Damenmode. Spätestens am 1.<br />

Dezember wird er Vorstandschef<br />

des englischen Streetwear-<br />

Labels Bench und erwirbt 15<br />

Prozent der Unternehmensanteile.<br />

Bench gehört dem<br />

Münchner Finanzinvestor<br />

Emeram Capital Partners um<br />

Ex-Metro-Chef Eckhard<br />

Cordes, 63. Sälzer war seit 2008<br />

Vorstandschef von<br />

Escada.<br />

BREITBAND-INTERNET<br />

8,1 Megabit pro Sekunde<br />

beträgt die Durchschnittsgeschwindigkeit, mit der die Deutschen<br />

durchs Internet surfen. Damit rangiert das Land laut IT-Dienstleister<br />

Akamai im internationalen Mittelfeld. Selbst Rumänien ist mit 9,3<br />

Megabit schneller. Europas Spitzenreiter ist die Schweiz mit 12,7<br />

Megabit. Weltweit führt Südkorea mit 23,6 Megabit pro Sekunde.<br />

BSIDE ME<br />

Apps für Promis<br />

Fakten zum Start<br />

Gründer John Fox, Gerald Asamoah,<br />

Markus Rupprecht, Anja<br />

Odenthal, Burkhard Mathiak (v.l.)<br />

Kunden bis Ende <strong>2014</strong> rund 80<br />

bis 100 Apps<br />

Umsatz geplant 150 000 Euro<br />

Während der Weltmeisterschaft sind die Facebook-Einträge von<br />

Fußballstars allgegenwärtig. Das freut viele Fans und beschert dem<br />

Netzwerk Werbeeinnahmen, die Stars selbst profitieren finanziell<br />

jedoch nicht davon. Das will Burkhard Mathiak (rechts) ändern.<br />

Der frühere Pressesprecher von Schalke 04 hat dazu mit dem Ex-<br />

Nationalspieler Gerald Asamoah (Zweiter von links) die Firma<br />

Bside me gegründet; das Start-up entwickelt Smartphone-Apps für<br />

Prominente. Sie können darüber steuern, welche ihrer Fotos oder<br />

Beiträge bei Facebook oder Twitter veröffentlicht werden – oder<br />

aber vorab und exklusiv in der App. „Wir bieten Prominenten so<br />

die Möglichkeit, mit ihren Social-Media-Aktivitäten Geld zu verdienen“,<br />

sagt Mathiak. Im Gegensatz zu den sozialen Netzwerken<br />

teilt sich Bside Me die Werbeeinnahmen mit den Promis.<br />

Vor allem für Olympioniken, die viele Fans, aber wenige Werbeverträge<br />

haben, könnte das interessant sein. Sponsoren lassen<br />

sich integrieren und deren Konkurrenten ausschließen. Die erste<br />

App wurde für Asamoah entwickelt, als Nächstes folgen Handball-<br />

Hoffnungsträger Christian Dissinger und der frühere Fußballnationalspieler<br />

Jens Nowotny.<br />

„Das Feedback ist<br />

extrem positiv“, sagt Mathiak.<br />

Er hat auch eine Tatort-Kommissarin<br />

und einen<br />

prominenten<br />

Politiker aus der CDU/<br />

CSU an der Angel.<br />

oliver.voss@wiwo.de<br />

FOTO: ANDREAS KUEHLKEN, GETTY IMAGES<br />

16 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Menschen der Wirtschaft | Chefbüro<br />

Armin Papperger<br />

Vorstandschef des Rüstungskonzerns Rheinmetall<br />

Einst hüteten sie den Eingang zu<br />

einer Tempelstadt, jetzt bewachen<br />

die beiden steinernen Löwen<br />

seinen Schreibtisch. „Früher<br />

standen sie mal im Foyer“,<br />

sagt Armin Papperger, 51, Vorstandsvorsitzender<br />

des Technologie-<br />

und Rüstungskonzerns<br />

Rheinmetall. Wann sie in die<br />

dritte Etage der Düsseldorfer<br />

Zentrale kamen, weiß Papperger<br />

nicht mehr. Oft sitzt er am<br />

Schreibtisch und ruft auf dem<br />

iPad die neuesten Zahlen auf.<br />

Dieser Tage wirft er auch mal einen<br />

Blick in die Geschichte des<br />

1889 gegründeten Unternehmens.<br />

„125 Jahre haben Rheinmetall<br />

geformt – mit all seinen<br />

Höhen und Tiefen“, sagt der<br />

studierte Maschinenbauer. Papperger,<br />

im bayrischen<br />

Mainburg aufgewachsen,<br />

ist Rheinmetaller<br />

von Kopf bis Fuß. „Ich<br />

hatte noch nie einen<br />

anderen Arbeitgeber“,<br />

sagt er und lacht.<br />

Gleich nach dem Studium<br />

fing er 1990 als<br />

360 Grad<br />

In unseren App-<br />

<strong>Ausgabe</strong>n finden<br />

Sie an dieser<br />

Stelle ein interaktives<br />

360°-Bild<br />

Trainee im Qualitätsmanagement<br />

an. Seit dem 1. Januar 2013<br />

steht er an der Spitze des MDax-<br />

Konzerns, der im vergangenen<br />

Jahr 4,6 Milliarden Euro umsetzte<br />

und in seinen Sparten Automobiltechnik<br />

und Rüstung rund<br />

25000 Mitarbeiter beschäftigt.<br />

Sein Büro ist entmilitarisiert,<br />

nicht einmal ein Modell des<br />

Panzers Leopard 2 ist zu entdecken.<br />

Stattdessen dekorieren<br />

Mitbringsel<br />

das Arbeitszimmer,<br />

die Pappergers Vorgänger<br />

auf Geschäftsreisen<br />

gesammelt<br />

haben. In der Besprechungsecke<br />

hängen<br />

Werke des russischen<br />

Malers Serge Poliakoff und des<br />

spanischen Künstlers Pablo Picasso.<br />

Die Bilder links und rechts<br />

<strong>vom</strong> Schreibtisch sind unsigniert.<br />

Der PC musste dem iPad<br />

weichen. Auf ihm hat Papperger<br />

auch die Fotos seiner Frau Jeanette<br />

und der beiden Töchter Katrin<br />

und Romi archiviert. Wichtige<br />

Dokumente unterschreibt er<br />

seit Kurzem mit einem Füller der<br />

US-Marke Sheaffer. Ob der Manager<br />

mit ihm auch den Vertrag<br />

mit Ex-Bundesentwicklungsminister<br />

Dirk Niebel (FDP) unterzeichnet<br />

hat, der 2015 als<br />

Strategieberater bei Rheinmetall<br />

antreten soll (siehe Seite 48),<br />

bleibt ein Geheimnis.<br />

ulrich.groothuis@wiwo.de<br />

FOTO: DOMINIK PIETSCH FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

18 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

An den Baum<br />

STEUERN | Das Verfassungsgericht überprüft die Erbschaftsteuer, eine Reform dürfte<br />

folgen. Die einen wünschen sich mehr Steuereinnahmen, die anderen sorgen<br />

sich um das Überleben ihrer Firma. Es geht aber auch um eine Grundsatzfrage unserer<br />

Marktwirtschaft: Was ist wichtiger, Gerechtigkeit oder Wachstum?<br />

Der Baum spielt in dieser Geschichte<br />

eine zentrale Rolle.<br />

Als Symbol, aber auch als reale<br />

Gefahr. „Ich stelle mir oft die<br />

Frage, was passiert, wenn ich<br />

auf dem Heimweg von der Firma am Baum<br />

lande“, sagt Reinhold von Eben-Worlée.<br />

Das ist sein Horrorszenario: Ihn rafft es<br />

plötzlich dahin, Tochter Henrietta und ihre<br />

beiden Schwestern stehen alleine da, mit<br />

Papas Firma. Bald klingelt das Finanzamt:<br />

Erbschaftsteuer bitte. Doch das Erbe besteht<br />

nur aus Maschinen, Lastwagen, Büroeinrichtung.<br />

Um bezahlen zu können,<br />

müssen die Schwestern verkaufen, ein Investor<br />

steigt ein und zerschlägt die Firma.<br />

Steuer drauf, Unternehmen tot.<br />

So sorgt sich von Eben-Worlée, und so<br />

tun es viele mittelständische Unternehmen<br />

in diesen Tagen. „Immer wenn ich in<br />

letzter Zeit mit anderen Unternehmern rede,<br />

kommt das Gespräch irgendwann auf<br />

die Erbschaftsteuer.“ Von Eben-Worlée ist<br />

Inhaber der E.H. Worlée GmbH, eines<br />

Hamburger Familienbetriebs seit 1851.<br />

Das Unternehmen (gut 500 Mitarbeiter,<br />

250 Millionen Euro Umsatz) stellt in Fabriken<br />

in Lauenburg und Lübeck Lackrohstoffe<br />

her. Am Hamburger Stammsitz werden<br />

Lebensmittel für die industrielle Verarbeitung<br />

aufbereitet, an diesem Tag sind es Pilze,<br />

die man in der gesamten Firma riecht.<br />

Shitake-Krümel rauschen über das Rüttelband,<br />

während die Steinpilzkrumen schon<br />

beim Magnetsortierer angekommen sind.<br />

So läuft das hier seit fünf Generationen,<br />

und wenn es nach dem jetzigen Inhaber<br />

geht, darf es ruhig noch fünf Generationen<br />

weitergehen. Das Unternehmen hat zwei<br />

Weltkriege, Sturmfluten und Währungskrisen<br />

überlebt. Doch von Eben-Worlée sagt:<br />

„Ob es auch in der nächsten Generation<br />

noch so läuft, hängt leider nicht nur von<br />

unserem unternehmerischen Geschick ab,<br />

sondern auch von Karlsruhe.“<br />

Am Dienstag berät dort das Bundesverfassungsgericht<br />

über die Frage, vor der<br />

sich Deutschlands Mittelstand mehr<br />

fürchtet als vor Euro-Krise<br />

und Deflation: Sind die Ausnahmen<br />

für Unternehmen<br />

von der Erbschaftsteuer verfassungswidrig?<br />

Diese Frage<br />

hat der Bundesfinanzhof vorgelegt,<br />

und allein aus der harschen<br />

Stellungnahme der Finanzrichter<br />

schließen manche Beobachter, dass die<br />

obersten Richter die aktuelle Gesetzgebung<br />

verwerfen. Das allein wäre aus Sicht<br />

der Unternehmen gar nicht so schlimm,<br />

vielleicht würden ein paar kosmetische<br />

Änderungen im Jahressteuergesetz genügen,<br />

um das Werk verfassungsfest zu machen.<br />

Doch die Erfahrung zeigt:Wenn erst<br />

Luft nach oben<br />

Einnahmen aus Erbschaftsteuer und gesamte<br />

Steuereinnahmen 2013<br />

Quelle: BMF<br />

Gesamte<br />

Steuereinnahmen<br />

570,2 Mrd. €<br />

MEHR ZUM THEMA<br />

Wie Sie Erbschaftsteuer<br />

sparen und Streit in der<br />

Familie vermeiden, lesen<br />

Sie auf Seite 80.<br />

0,8 %<br />

Erbschaftsteuer<br />

= 4,6 Mrd. €<br />

einmal diskutiert wird, geht es schnell um<br />

Grundsätzliches.<br />

Bei der Erbschaftsteuer konkurrieren<br />

zwei zentrale, aber gegensätzliche Ziele.<br />

Auf der einen Seite fördert die aktuelle<br />

Rechtslage den Betriebsübergang in der Familie.<br />

So bleibt Platz für Investitionen, die<br />

Arbeitsplätze müssen zudem garantiert<br />

werden. Die Verteidiger des geltenden<br />

Rechts wollen diesen<br />

Schutz unbedingt erhalten. Ihnen<br />

gegenüber steht die große<br />

Vokabel „Gerechtigkeit“: Unternehmer<br />

bilden nicht nur den<br />

produktivsten, sondern auch<br />

den vermögendsten Teil der Bevölkerung.<br />

Wer sie schont, zementiert Ungleichheit. So<br />

mahnt der stellvertretende SPD-Vorsitzende<br />

Ralf Stegner: „Wir besteuern Arbeit stärker<br />

als Kapital und Vermögen. Das ist leistungsfeindlich<br />

und ungerecht.“<br />

HEKTISCHE UNTERNEHMEN<br />

Nicht nur für den Hamburger Unternehmer<br />

von Eben-Worlée klingt das wie eine<br />

Drohung. Nach Schätzungen des Industrieverbands<br />

BDI steht in den kommenden<br />

Jahren bei 135 000 Unternehmen mit insgesamt<br />

mehr als zwei Millionen Beschäftigten<br />

die Nachfolge an. Wer kann, der beeilt<br />

sich. „Zu uns in die Kanzlei kommen<br />

immer mehr Unternehmer, die ihre Nachfolge<br />

regeln wollen“, sagt Elke Volland, Erbschaftsteuerexpertin<br />

bei der Kanzlei<br />

Rödl & Partner. Für gewöhnlich kümmert<br />

die Gesellschaft sich um die Bilanzen deutscher<br />

Mittelständler, aber wenn einer seine<br />

Nachfolge organisieren will, ist man ebenfalls<br />

zur Stelle. „Seit klar ist, dass das Bundesverfassungsgericht<br />

bald entscheidet,<br />

»<br />

FOTO: CHRISTIAN O. BRUCH FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

20 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Familie von Eben-Worlée Lack & Lebensmittel<br />

Bei so viel Familie kann man fast durcheinanderkommen: Reinhold<br />

von Eben-Worlée (sitzend, vorne links) führt die Hamburger E.H.<br />

Worlée GmbH und warnt vor der Erbschaftsteuer. Tochter Henrietta<br />

(daneben) macht ihr erstes Praktikum im Unternehmen. Die Vorfahren<br />

Erich (ganz links, in Öl) und Albrecht (auf dem Flur) haben die<br />

Firma zuvor sicher durch Welt- und Währungskrisen geführt.<br />

WirtschaftsWoche 7.7.<strong>2014</strong> Nr. 28 21<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

»<br />

werden manche Unternehmer hektisch“,<br />

erzählt Volland. Noch in der vergangenen<br />

Woche sei ein Unternehmer zu ihr gekommen,<br />

der sein Erbe unbedingt vor einer<br />

Entscheidung des Verfassungsgerichts abwickeln<br />

wollte.<br />

Dafür gibt es gute Gründe. Die Patriarchen<br />

fürchten nicht nur um Arbeitsplätze,<br />

sie wissen auch: So günstig wie heute war<br />

es nie, ein Unternehmen zu vererben.<br />

Während auf privates Vermögen bis zu 30<br />

Prozent Steuern fällig werden, kommen<br />

Unternehmer im besten Fall steuerfrei davon.<br />

Dafür müssen sie ein paar Bedingungen<br />

erfüllen: Sie dürfen ihr Unternehmen<br />

sieben Jahre lang nicht verkaufen, auch die<br />

Lohnsumme muss in dieser Zeit im Durchschnitt<br />

konstant bleiben. Zudem müssen<br />

sie nachweisen, dass höchstens 15 Prozent<br />

der Besitztümer des Unternehmens sogenanntes<br />

„Verwaltungsvermögen“ sind, also<br />

Kunst, Immobilien oder Anlagen, die nicht<br />

zur Produktion beitragen. Wem diese Auflagen<br />

zu strikt sind, der kann ein gelockertes<br />

Modell wählen. Dann sind nur 85 Prozent<br />

des Unternehmenswertes steuerfrei,<br />

dafür muss das Unternehmen jedoch nur<br />

fünf Jahre gehalten werden und die Lohnsumme<br />

im Schnitt 80 Prozent des Ausgangswerts<br />

betragen. Auch der Anteil des<br />

Verwaltungsvermögens darf höher sein.<br />

RECHTLICHE HÄRTEFÄLLE<br />

Unternehmer sehen in diesen Regeln keine<br />

Bevorzugung, sondern einen entscheidenden<br />

Baustein des Erfolgsmodells deutscher<br />

Mittelstand. Damit sind sie nicht allein:<br />

„Bei vielen Unternehmenserben entsteht<br />

erst durch die Befreiung von der Erbschaftsteuer<br />

der Anreiz, selbst im Unternehmen<br />

tätig zu werden“, sagt Steuerberaterin Volland.<br />

Manche Wissenschaftler stellen diesen<br />

Vorzug allerdings infrage: Sie vermuten,<br />

dass die generöse Befreiungsregel<br />

auch solche Nachkommen zu Unternehmern<br />

macht, die dafür gar kein Talent haben.<br />

Dann ginge es der Firma in Familienhand<br />

schlechter als nach einem Verkauf.<br />

Steuerberaterin Volland glaubt das nicht:<br />

„Der Fortbestand des Unternehmens ist<br />

für die meisten doch eine viel bedeutsamere<br />

Größe als der Steuervorteil.“<br />

Gleichwohl bleibt die Frage, ob der Vorteil<br />

für die Unternehmer nicht zu generös<br />

ausfällt. Gegen den metaphorischen Baum<br />

prallen eben nicht nur Unternehmer, sondern<br />

auch vermögende Privatleute.<br />

Andreas Richter arbeitet bei der auf Erbrecht<br />

spezialisierten Kanzlei Pöllath und<br />

Partner. In seinem Büro hoch über dem<br />

Wolfgang Grupp KLARE KANTE<br />

Der Trigema-Boss hat zwei Kinder. Eines soll<br />

den Betrieb übernehmen, das andere wird<br />

ausbezahlt – und soll dann ruhig auch<br />

Erbschaftsteuer zahlen müssen, findet der<br />

Vater. Wer ein Unternehmen leitet und<br />

die Verantwortung für Arbeitsplätze und<br />

Investitionen übernimmt, müsse hingegen<br />

steuerlich bessergestellt werden.<br />

Potsdamer Platz in Berlin empfängt er die<br />

vermögendsten Deutschen, sobald sie ihr<br />

Erbe regeln möchten oder müssen.<br />

„Manchmal führt unser Erbschaftsteuerrecht<br />

zu ziemlichen Härtefällen“, sagt Richter.<br />

Einer ist ihm im Gedächtnis geblieben,<br />

gerade wegen der Härten mag er seinen<br />

Fall nur abstrakt schildern.<br />

Der Privatmann hatte sein gesamtes Millionenvermögen<br />

in Aktien investiert. Weil<br />

er von seinem Marktgespür überzeugt war,<br />

hatte er Teile über Kredit finanziert. Jahrelang<br />

fuhr er gute Gewinne ein, doch dann<br />

starb er, und zwar zu einem steuerrechtlich<br />

denkbar ungünstigen Zeitpunkt: Anfang<br />

August 2008. Die Erben traf die Härte des<br />

Gesetzes gleich doppelt. Denn zum einen<br />

sind Wertpapiere voll erbschaftsteuerpflichtig.<br />

Zum anderen ist die deutsche<br />

Erbschaftsteuer eine Anfallsteuer. Das<br />

heißt: Abgerechnet wird am Todestag. In<br />

diesem Fall war das der Monatsanfang, als<br />

die Börse strahlte. Ein paar Monate später,<br />

als die Steuerzahlung auf den nicht kreditfinanzierten<br />

Teil fällig wurde, hatte sich der<br />

Wert des Depots wegen der Lehman-Krise<br />

fast halbiert. Gemeinsam mit dem zu tilgenden<br />

Kredit überstiegen die Verbindlichkeiten<br />

plötzlich den Wert des Depots.<br />

„Am Ende haben die Hinterbliebenen das<br />

Erbe nicht angetreten“, berichtet Richter.<br />

Solche Fälle sind Ausnahmen, doch sie<br />

zeigen den Einfluss eines Faktors, den Verfassungsrichter<br />

und die Freunde der Gerechtigkeit<br />

gar nicht mögen: des Zufalls.<br />

Kann es sein, dass ein Steuerrecht der einen<br />

Familie ihr gesamtes Vermögen<br />

nimmt und der anderen nicht einen Cent?<br />

Im Grundsatz macht die deutsche Verfassung<br />

dem steuererhebenden Gesetzgeber<br />

nur wenige Vorgaben. Er darf besteuern,<br />

was er will, und er darf dabei bestimmte<br />

Gruppen bevorzugen und benachteiligen.<br />

Er muss es bloß absichtlich und gleichmäßig<br />

tun, zudem darf die Begünstigung nicht<br />

allzu üppig ausfallen. Gegen einige dieser<br />

Faktoren könnte die aktuelle Gesetzgebung<br />

verstoßen. Sie bevorzugt nicht nur<br />

echte Betriebsvermögen, sie gibt Unternehmern<br />

auch Möglichkeiten, ihr Privat-<br />

22 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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FOTOS: IMAGO/MARTIN WAGENHAN, VISUM/STEFAN BONESS<br />

vermögen einzubeziehen. Die Richter des<br />

Bundesfinanzhofs benutzen dafür den<br />

umständlichen, aber treffenden Ausdruck<br />

„Begünstigungsüberhang“.<br />

Christoph Gallhöfer weist auf den Baum<br />

vor ihm. Der verästelt sich symmetrisch, in<br />

der Krone wird es dicht und etwas unübersichtlich.<br />

„Das ist der Stammbaum unserer<br />

Unternehmerfamilie, über mir und meinem<br />

Bruder stehen die neun Erben, die jetzt auf<br />

die Übernahme warten“, sagt Gallhöfer. Der<br />

Senior führt das gleichnamige Unternehmen<br />

im Kölner Vorort Hürth gemeinsam mit<br />

seinem Bruder. Um die Jahrtausendwende<br />

geriet der Großhandel für den Zimmererbedarf<br />

in Schwierigkeiten, man hatte sich mit<br />

der Expansion nach Ostdeutschland übernommen.<br />

Das Kerngeschäft musste an den<br />

französischen Großkonzern Saint-Gobain<br />

verkauft werden, bei den Gallhöfers verblieben<br />

eine Filiale für den Handel mit Spezialbaustoffen,<br />

ein Bodenverlegebetrieb und<br />

vor allem: der Immobilienbesitz.<br />

ma, aber ohne geregeltes Erbe da. Die Erbschaftsteuer<br />

konnten die beiden nicht allein<br />

über Gesellschafterkredite bezahlen.<br />

„Wir mussten einen Teil unseres Privatvermögens<br />

verkaufen, um die Steuer zu bezahlen“,<br />

erinnert sich Gallhöfer und legt die<br />

nötige Andacht in seine Stimme. Doch als<br />

er darüber nachsinnt, was genau damals<br />

verkauft wurde, kommt die Erinnerung<br />

und er gerät ins Schmunzeln. „Die Briefmarkensammlung!“<br />

Was Gallhöfers Anekdote nahelegt, stützen<br />

andere mit Gutachten. „Es war nicht<br />

möglich, einen konkreten Fall zu benennen,<br />

bei dem ein Betrieb aufgrund der Erbschaftsteuer<br />

aufgegeben, veräußert oder<br />

zahlungsunfähig wurde,“ heißt es in einem<br />

Bericht des wissenschaftlichen Beirats<br />

beim Bundesfinanzministerium zur Erbschaftsteuer<br />

von 2012. Mitautor Lars Feld,<br />

Professor an der Universität Freiburg und<br />

Mitglied der Fünf Wirtschaftsweisen, wird<br />

deutlicher: „Die Warnung vor Arbeitsplatzverlusten<br />

ist absichtliche Panikmache“,<br />

meint er. „Die derzeitige Befreiung von Betriebsvermögen<br />

ist zu generös. Es gibt zu<br />

viele Gestaltungsmöglichkeiten, die dazu<br />

führen, dass gerade besonders große Privatvermögen<br />

bei Vererbung verschont<br />

werden.“ Sein Plädoyer:„Es wäre fairer, Privat-<br />

und Betriebsvermögen gleich zu behandeln.<br />

Im Gegenzug müssen die Steuersätze<br />

verringert und die Freibeträge deutlich<br />

erhöht werden.“ Außerdem, so Feld,<br />

müssten Stundungsregeln sicherstellen,<br />

So günstig wie<br />

heute war es noch<br />

nie, ein Unternehmen<br />

zu vererben<br />

Noch heiter Sigmar Gabriel und Angela<br />

Merkel droht Streit über die Erbschaftsteuer<br />

GEFRÄSSIGE KONZERNE<br />

Den vermieten sie seitdem an Saint-Gobain,<br />

und mit einer Dekade Abstand zieht<br />

Gallhöfer ein gemischtes Fazit: „Natürlich<br />

ist es schade, dass das Kerngeschäft nicht<br />

mehr in Familienhand ist, aber finanziell<br />

geht es uns heute ganz gut.“ Das sehen<br />

auch die Erben. Einen niedrigen siebenstelligen<br />

Ertrag wirft das Restgeschäft ab,<br />

das ergibt für jeden eine auskömmliche<br />

Grundrente, wenn alles glattläuft. Bisher<br />

haben die Brüder 40 Prozent der Besitztümer<br />

übergeben, die weiteren Anteile sollten<br />

folgen. Doch jetzt warnt Gallhöfer:<br />

„Wenn die Verschonungsregeln gekippt<br />

würden, müssen unsere Kinder verkaufen,<br />

und dann geht wieder ein Familienunternehmen<br />

an einen gefräßigen Konzern.“<br />

Das soll bedrohlich klingen, doch so<br />

richtig verfängt das Argument nicht. Die<br />

Gallhöfers selbst kann man verstehen.<br />

Doch wo liegt der Beitrag zum Gemeinwohl,<br />

wenn die Erben ihre Immobilien vermieten?<br />

Hier scheinen weder Arbeitsplätze<br />

in Gefahr zu sein noch die langfristig orientierte<br />

Unternehmenskultur. Saint-Gobain<br />

hat bei der Übernahme alle Mitarbeiter<br />

weiterbeschäftigt.<br />

Auch Christoph Gallhöfers eigene Steuergeschichte<br />

spricht eher nicht dafür, dass<br />

die Erbschaftsteuer das Unternehmen vernichten<br />

könnte. In den Achtzigerjahren hat<br />

er genau das erlebt, wovor Unternehmer<br />

wie von Eben-Worlée jetzt wortgewaltig<br />

warnen. Sein Vater verstarb plötzlich, auf<br />

einmal standen er und sein Bruder mit Firdass<br />

die Steuerlast auf mehrere Jahre verteilt<br />

werden könne.<br />

Beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung<br />

(DIW) rechnet Vermögensforscher<br />

Markus Grabka vor, wie eine reformierte<br />

Erbschaftsteuer ein viel größeres<br />

Problem lösen könnte: die Vermögensungleichheit.<br />

2012 besaßen die Deutschen eine<br />

Summe von insgesamt rund 7,4 Billionen<br />

Euro, abzüglich der Verbindlichkeiten<br />

blieben netto 6,3 Billionen Euro. „Betriebsvermögen<br />

sind ein wesentlicher Grund für<br />

die Vermögensungleichheit“, analysiert<br />

Grabka. Etwa zehn Prozent der 6,3 Billionen<br />

Euro sind Betriebsvermögen, aber die<br />

Eigentümer dieser Unternehmensgüter<br />

stellen nur rund vier Prozent der Bevölkerung.<br />

Außerdem gelte: „Unternehmer sind<br />

meist gut bis sehr gut verdienende Selbstständige,<br />

die privat vorsorgen müssen“, so<br />

Grabka. „Diese Gruppe besitzt deshalb<br />

auch überdurchschnittlich viele Immobilien,<br />

Aktien oder anderes Geldvermögen.“<br />

HART GEGEN ANDERE<br />

Wolfgang Grupp müsste es bei solchen<br />

Worten mit der Angst zu tun bekommen.<br />

Der 72-Jährige ist Inhaber des Bekleidungsherstellers<br />

Trigema; er hat einen<br />

Sohn und eine Tochter. Die Firma floriert,<br />

1200 Mitarbeiter, 89 Millionen Euro Umsatz,<br />

und das laut Grupp seit 1968 mit Gewinn.<br />

Wer Chef im Hause wird, steht für<br />

den Patriarchen fest: „Ein Kind wird das<br />

Unternehmen bekommen, das andere<br />

ausbezahlt.“<br />

Zur Erbschaftsteuer argumentiert er für<br />

ihn typisch: hart in der Sache, hart gegen<br />

andere. „Ich habe noch nie gehört, dass ein<br />

Unternehmen wegen der Erbschaftsteuer<br />

pleiteging.“ Weil er zu 100 Prozent mit Eigenkapital<br />

und ohne Bankkredite arbeitet,<br />

dürften zumindest seine Nachfahren keine<br />

Probleme haben, die Steuer aus dem Betriebsvermögen<br />

zu bezahlen. Von einer<br />

steuerlichen Gleichstellung mit Privatleuten<br />

will Grupp dennoch nichts wissen:<br />

„Wer mit seinem Erbe ins Risiko geht und<br />

die Verantwortung für Mitarbeiter übernimmt,<br />

muss <strong>vom</strong> Finanzamt besser behandelt<br />

werden als derjenige, der einen<br />

Haufen Geld erhält, mit dem er sich ein unbeschwertes<br />

Leben machen kann.“<br />

Sollte Karlsruhe so entscheiden wie erwartet,<br />

dürften all diese Probleme in Berlin<br />

landen. Zwar will keiner der Koalitionäre<br />

dem Gericht vorgreifen, aber hinter den<br />

Kulissen feilen sie längst an Reformkonzepten.<br />

Wer zuerst mit einer Idee an die Öffentlichkeit<br />

tritt, bestimmt die Debatte.<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 7.7.<strong>2014</strong> Nr. 28 23<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

»<br />

Gerade für die SPD könnte ein Richterspruch<br />

zum Ansatzpunkt werden, um das<br />

in den Koalitionsverhandlungen zum Tabu<br />

erklärte Thema Steuern doch noch auf die<br />

Tagesordnung zu bringen.<br />

Vor Kurzem traf Lothar Binding, finanzpolitischer<br />

Sprecher der SPD-Fraktion, den<br />

Ökonomen Feld im Zug. Bei der Erbschaftsteuer<br />

fanden sie schnell zusammen. „Wir<br />

dürfen im Idealfall keine Umgehungsmöglichkeiten<br />

mehr zulassen“, sagt Binding.<br />

„Bleibt es aber bei einer Besserstellung von<br />

Betriebsvermögen, muss der Erhalt von Arbeitsplätzen<br />

auch nach dem Erbfall garantiert<br />

werden.“ In der Fraktions-Arbeitsgruppe<br />

wird darüber nachgedacht, die<br />

Lohnsummen-Fristen zu ändern. Binding<br />

selbst feilt an einem Stundungsmodell.<br />

„Wichtig ist, dass die anfallende Steuer arbeitsplatzneutral<br />

beglichen werden kann.“<br />

RISIKO VERKEHRSWERT<br />

Genau das bezweifeln die Koalitionskollegen<br />

in der Union. So warnt der Fraktionsvize<br />

Ralph Brinkhaus: „Sollte Betriebsvermögen<br />

nicht mehr freigestellt werden, erhält die<br />

Unternehmensbewertung eine entscheidende<br />

Bedeutung.“ Das birgt Risiken: Würde<br />

man heute die Erbschaftsteuer einfach auf<br />

Betriebe ausweiten, kämen die Gallhöfer-<br />

Brüder mit ihrer Briefmarkensammlung<br />

nicht mehr weit. Denn früher wurden Unternehmen<br />

im Erbfall nach ihrem sehr niedrigen<br />

Bilanzwert beurteilt. Seit der letzten Reform<br />

zählt der Verkehrswert. Der ist schwer<br />

zu ermitteln, da auch Markenwerte oder erwartete<br />

zukünftige Erträge mit einfließen. In<br />

jedem Fall aber ist er deutlich höher als der<br />

Bilanzwert. Brinkhaus deutet an, dass er um<br />

die Ausnahmen für Betriebe kämpfen will:<br />

„Es geht darum, die Belastung für Betriebe<br />

und Arbeitsplätze – nicht für einzelne Personen<br />

– möglichst gering zu halten.“ SPD-Parteivize<br />

Stegner bringt schon mal einen möglichen<br />

Kuhhandel ins Gespräch: „Wenn wir<br />

eine Erbschaftsteuerreform hinbekommen,<br />

die robust ist und Mehreinnahmen in Milliardenhöhe<br />

bringt, könnten wir auf die Vermögensteuer<br />

verzichten.“<br />

Die Familie von Eben-Worlée kann der<br />

heraufziehenden Debatte ansatzweise entspannt<br />

entgegensehen. Bis vergangenen<br />

Herbst hielt der inzwischen 90-jährige<br />

Großvater Albrecht noch 55 Prozent der<br />

Unternehmensanteile, 40 Prozent hat er<br />

nun an seinen Sohn übertragen. Zumindest<br />

ein Grund weniger, sich wegen all der<br />

Bäume finanzielle Sorgen zu machen. n<br />

konrad.fischer@wiwo.de | Berlin, reinhold böhmer,<br />

max haerder | Berlin, cordula tutt | Berlin<br />

VERMÖGEN<br />

Viele<br />

Ausnahmen<br />

Die meisten Länder besteuern<br />

Erbschaften – doch nirgends ist es<br />

so kompliziert wie in Deutschland.<br />

Optimistisch gesinnte Experten sprechen<br />

von einem Trend: In einigen Ländern haben<br />

die Parlamente in den vergangenen<br />

Jahren Erbschaftsteuern ganz abgeschafft.<br />

Bereits seit 1992 erhebt Neuseeland<br />

keine Steuern mehr auf Erbschaften,<br />

2004 folgte Schweden, 2008 dann Österreich.<br />

Auch in der Schweiz gab es in den<br />

vergangenen Jahren einen massiven Steuersenkungswettbewerb<br />

zwischen den<br />

Kantonen in Sachen Erbschaften. Doch im<br />

Vergleich der Industrieländer bleiben diese<br />

Fälle Ausnahmen. In Österreich will<br />

man die Steuer sogar wieder einführen.<br />

Alle anderen OECD-Länder erheben ohnehin<br />

irgendeine Art von Steuern auf Erbschaften,<br />

auch wenn die Besteuerung<br />

streckenweise indirekt über eine hohe Belastung<br />

von Grundstücken erfolgt.<br />

ANDERE TRADITION<br />

Erstaunlich scharf besteuert werden Erbschaften<br />

in den USA – mit bis zu 35 Prozent<br />

des Verkehrswerts. Zwar haben die<br />

Amerikaner grundsätzlich ein höchst distanziertes<br />

Verhältnis zu staatlichen Abgaben,<br />

bei der Besteuerung von Erbschaften<br />

aber schlägt diese Überzeugung ins Gegenteil<br />

um. Zwar herrscht größtenteils Konsens,<br />

dass jeder Einzelne von dem, was er<br />

sich erarbeitet hat, möglichst viel behalten<br />

dürfen soll. Um aber allen die gleichen<br />

Wer am stärksten zugreift<br />

Steuern auf Vermögen* in Prozent <strong>vom</strong> BIP<br />

Großbritannien<br />

Frankreich<br />

USA<br />

Japan<br />

Italien<br />

Schweiz<br />

Spanien<br />

OECD-Schnitt<br />

Niederlande<br />

Polen<br />

Deutschland<br />

3,0<br />

2,8<br />

2,2<br />

2,0<br />

1,9<br />

1,8<br />

1,3<br />

1,2<br />

0,9<br />

Chancen einzuräumen, ist anstrengungslos<br />

erworbener Reichtum ein Tabu.<br />

Entsprechend wenige Möglichkeiten gibt<br />

es auch, der Erbschaftsteuer auszuweichen.<br />

Für Betriebsvermögen gelten prinzipiell<br />

keine Ausnahmen, lediglich die Grundsteuern<br />

auf betrieblich genutzte Flächen<br />

werden leicht besser gestellt. Zudem bleibt<br />

Betrieben der Vorteil, dass sie ihre Steuerschulden<br />

stunden lassen können.<br />

Etwas anders ist die Lage in Großbritannien.<br />

Hier sind Betriebsübergänge grundsätzlich<br />

von der Erbschaftsteuer ausgenommen.<br />

Einzige Voraussetzung ist, dass das<br />

Unternehmen seit mindestens zwei Jahren<br />

in der Hand des Verstorbenen war. Sowohl<br />

in Großbritannien als auch in den USA sind<br />

die Steuern als Nachlasssteuern konzipiert,<br />

es wird also nicht wie in Deutschland der<br />

Zugewinn bei den Erben, sondern der<br />

Nachlass des Verstorbenen erfasst.<br />

Anders ist die Situation in Frankreich,<br />

wo eine recht strenge Erbschaftsteuer erhoben<br />

wird, die wie in Deutschland anfällt,<br />

sobald der Erbfall eintritt. Doch die Franzosen<br />

kennen Ausnahmen nach dem<br />

deutschen Vorbild: Unternehmen können<br />

um bis zu 75 Prozent von der Steuer befreit<br />

werden. Dafür müssen die Erben Haltefristen<br />

erfüllen und selbst in ihren Unternehmen<br />

tätig sein.<br />

Weltweit am flexibelsten in Sachen Erbschaftsteuer<br />

ist wohl der Kanton Fribourg<br />

in der Schweiz. Hier gibt es die grundsätzliche<br />

Regel, dass Unternehmensübergänge<br />

steuerlich zu bevorzugen sind. Wie<br />

das genau passiert, entscheidet die lokale<br />

Steuerverwaltung. Das setzt zwar eine<br />

Menge Vertrauen in die Steuerbehörden<br />

voraus, dürfte den Missbrauch aber am<br />

wirksamsten ausschließen.<br />

konrad.fischer@wiwo.de<br />

Steuern auf Erbschaften, Schenkungen<br />

und Grundbesitz in Prozent <strong>vom</strong> BIP<br />

4,2 Frankreich<br />

0,43<br />

3,7<br />

Japan<br />

0,31<br />

Niederlande<br />

0,26<br />

Spanien<br />

0,21<br />

Großbritannien<br />

0,19<br />

Deutschland<br />

0,16<br />

Schweiz 0,15<br />

OECD-Schnitt 0,12<br />

USA 0,10<br />

Italien 0,03<br />

Polen 0,02<br />

* Steuern auf Vermögen, Grundbesitz, Kapitaltransaktionen, Erbschaften/Schenkungen; Zahlen gerundet; Quelle: OECD<br />

24 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

Arroganz<br />

der Macht<br />

GROSSE KOALITION | Hektik,<br />

handwerkliche Fehler und eine<br />

Regierung, die ihre Übermacht<br />

ausnutzt – bei Gesetzen häufen<br />

sich Pannen.<br />

Schnellstarterin Arbeitsministerin Andrea<br />

Nahles setzte die meisten Gesetze durch<br />

de Mai den Bundestag passierte. „Wir haben<br />

einem möglichen Missbrauch bei der<br />

Rente mit 63 einen Riegel vorgeschoben“,<br />

sekundierte Carsten Linnemann, Chef der<br />

CDU/CSU-Mittelständler.<br />

Sozial- wie Wirtschaftsflügel lobten, so<br />

könne die Rente ab 63 nicht zur Rente ab 61<br />

mutieren. Nötig seien 45 Beitragsjahre, und<br />

wer in den letzten beiden Jahren vor dem<br />

Ruhestand arbeitslos werde, dürfe die Zeit<br />

nicht anrechnen. Deutlich sind noch Erinnerungen<br />

an andere Rentenreformen. Arbeitgeber<br />

und Arbeitnehmer einigten sich<br />

auf Kosten der Allgemeinheit, dass Ältere<br />

erst in die Arbeitslosigkeit und dann abschlagsfrei<br />

in Pension gehen konnten.<br />

Das doppelte Selbstlob war voreilig. Nach<br />

Verabschiedung des Gesetzes musste das<br />

Ministerium auf Nachfragen des Rentenfachmanns<br />

der Grünen, Markus Kurth, zugeben:<br />

Die Sperrzeit entfällt, wenn Betroffene<br />

einen Minijob annehmen. Die Abgaben<br />

eines Jobs etwa als Verkäufer für vier Stunden<br />

die Woche sind „Pflichtbeiträge und<br />

zählen bei der Wartezeit von 45 Jahren mit“.<br />

Der Anspruch auf Arbeitslosengeld und die<br />

ersehnten Beitragszeiten bleiben erhalten.<br />

Das Schlupfloch dürfte die Zahl der Frührentner<br />

steigen lassen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund<br />

(DGB) macht für die<br />

trickreiche „Lösungsoption“ bereits in einem<br />

Info-Faltblatt unverhohlen Werbung.<br />

Panne bei EEG-Reform<br />

Ein neuer Spitzname kursiert im Bundestag:<br />

„Speedy GoNahles“. Bundesarbeitsministerin<br />

Andrea Nahles (SPD)<br />

dürfte den Vergleich mit der Trickfigur<br />

Speedy Gonzales als zähneknirschende Anerkennung<br />

verstehen. Die flitzte einst als<br />

schnellste Maus von Mexiko durchs Fernsehen.<br />

Nahles hat nach einem halben Jahr bereits<br />

zwei umfangreiche Gesetze durchgebracht,<br />

die ihre Handschrift tragen: die Rente<br />

mit 63 und den Mindestlohn.<br />

Doch Schnelligkeit und Sorgfalt sind nicht<br />

dasselbe: In der übergroßen Koalition häufen<br />

sich handwerkliche Fehler. Die Mini-<br />

Opposition aus Linken und Grünen ist überfordert.<br />

Angesichts einer Mehrheit von 504<br />

der 631 Abgeordneten mag sich die Opposition<br />

über lückenhafte Vorlagen, Änderungen<br />

in letzter Sekunde oder robuste Umgangsformen<br />

beklagen. Bewirkt hat das<br />

nichts. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und<br />

Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) lassen<br />

den Bundestag <strong>vom</strong> Gesetz- zum Stichwortgeber<br />

schrumpfen.<br />

Auch Fachleute halten die Zahl der Pannen<br />

für „auffällig hoch“. Politikprofessor<br />

Werner Patzelt von der TU Dresden urteilt:<br />

„Das Hopplahopp der Bundesregierung ist<br />

unverantwortlich.“ Möglich sei das, weil etwa<br />

bei Rente oder Mindestlohn die Opposition<br />

inhaltlich keinen Widerstand leiste. Der<br />

Wirtschaftsflügel als Korrektiv in der Regierung<br />

sei zu schwach, so der Parlamentsforscher.<br />

„Mit dem hohen Tempo konnte die<br />

Regierung ihren sozialdemokratisierten<br />

Kurs durchdrücken.“<br />

Schlupfloch bei Rente mit 63<br />

Die Ministerin und ihr eifrigster Kritiker<br />

waren sich mal einig. „Gemeinsam haben<br />

wir gute Lösungen zur Verhinderung missbräuchlicher<br />

Frühverrentungen gefunden“,<br />

sagte Nahles, als ihr Rentenpaket En-<br />

Bei der Energiewende herrscht Zeitdruck.<br />

Der Regierung sitzen Wirtschaft und Verbraucher<br />

wegen der Ökostromförderung<br />

im Nacken. Die EU-Kommission drohte,<br />

die Subventionen zu kippen.<br />

Doch das Erneuerbare-Energien-Gesetz<br />

(EEG) geriet zur Posse, weil die Abgeordneten<br />

in kürzester Zeit über Regeln entscheiden<br />

mussten, die sie noch gar nicht<br />

kannten. Die Fraktionsspitzen beruhigten,<br />

Abgeordnete müssten die 230 Seiten Gesetz<br />

nicht lesen, es reiche die Zusammenfassung<br />

auf knappen fünf Seiten.<br />

Ein Irrtum: Erst später fiel der Opposition<br />

auf, dass das Gesetz Subventionen an<br />

falscher Stelle kürzt und Verweise auf bisherige<br />

Paragrafen fehlgehen. Etliche bestehende<br />

Biogasanlagen bekämen danach<br />

weniger Geld. Dabei hatte die Regierung<br />

Bestandsschutz versprochen.<br />

Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel<br />

(SPD) ließ also in der letzten Juni-Wo-<br />

FOTOS: VISUM/STEFAN BONESS, LAIF/ZENIT/PAUL LANGROCK<br />

26 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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che ein Gesetz verabschieden, das in der<br />

ersten Juli-Woche korrigiert werden musste.<br />

Sogar Abgeordnete der Regierungsseite<br />

beschwerten sich über Gabriel, der lieber<br />

die EU für den Kuddelmuddel verantwortlich<br />

machte. Durchpeitschereien wie beim<br />

EEG sollten „nicht beispielhaft sein“, rügte<br />

die Parlamentarische Geschäftsführerin<br />

der SPD, Christine Lambrecht. Man „lege<br />

Wert auf ausreichend Zeit zur Debatte“.<br />

Zu spät: Am 11. Juli muss der Bundesrat<br />

zustimmen, am 1. August soll alles in Kraft<br />

treten. Vorher musste in der letzten Sitzungswoche<br />

des Bundestages vor der Sommerpause<br />

ein „Lumpensammler-Gesetz“<br />

her – ein ohnehin zur Abstimmung stehendes<br />

Paragrafenwerk, an das völlig fachfremde<br />

Korrekturen angepappt werden.<br />

Grünen-Fraktionsvize Oliver Krischer: „Es<br />

ist ein wohl einmaliger Vorgang, dass nicht<br />

einmal nach einer Woche ein Korrekturgesetz<br />

verabschiedet werden muss.“<br />

Murks bei Lebensversicherung<br />

Das Thema ist unangenehm. Weil die Zinsen<br />

so niedrig sind, werfen die rund 87 Millionen<br />

Lebensversicherungen für etwa 62<br />

Den Betreibern stinkt’s Eine Gesetzespanne<br />

verhieß kurzzeitig Abstriche beim Biogas<br />

Millionen Versicherte nicht mehr so viel<br />

ab. Nach dem Willen der Regierung soll<br />

deshalb der Garantiezins sinken. Abstriche<br />

müssen Versicherte teils auch bei den sogenannten<br />

Bewertungsreserven hinnehmen,<br />

die Einfluss auf die ausgezahlte Summe<br />

haben. Im Gegenzug sollen Vorgaben<br />

für Versicherer der Deutschen liebste Sparform<br />

retten.<br />

Ein Schelm denkt Böses, wenn Regierungsroutinier<br />

Wolfgang Schäuble (CDU)<br />

das Gesetz schnell durchdrückt – während<br />

der Fußball-WM. Am 4. Juni ging der<br />

Entwurf ins Kabinett, noch in der ersten<br />

Juliwoche sollte der Bundestag alles<br />

durchwinken. Knapp zwei Tage Prüffrist<br />

statt sonst vier Wochen gewährte das Finanzministerium<br />

dem Normenkontrollrat,<br />

der testet, ob Gesetze zu bürokratisch<br />

sind. „Ein grober Verstoß“ gegen die Regeln,<br />

wetterte Ratschef Johannes Ludewig<br />

per Brief.<br />

Auch die Opposition fühlt sich überrumpelt.<br />

„Etliche Menschen werden weniger<br />

aus ihrer Lebensversicherung herausbekommen<br />

als erwartet“, kritisiert Grünen-<br />

Finanzer Gerhard Schick den Schweinsgalopp.<br />

„Es geht um Millionen Betroffene<br />

und eine Branche, die relevant ist für den<br />

Finanzmarkt.“ Zudem sei „im Gesetz ein<br />

riesiges Schlupfloch“. Versicherer würden<br />

verpflichtet, den Anteilseignern weniger<br />

auszuschütten, wenn sie bei Kunden kürzten.<br />

„Doch diese Gegenleistung können<br />

viele Unternehmen leicht umgehen.“ Sie<br />

könnten Gewinnabführungsverträge mit<br />

der Muttergesellschaft schließen und seien<br />

dann nicht betroffen, so auch Marktführer<br />

Allianz. „Ich habe die Ausschüttungssperre<br />

erst gelobt – aber so geht es nicht“, ärgert<br />

sich Schick. Auch Provisionen hätten offengelegt<br />

werden sollen. Das sei „in letzter<br />

Sekunde unter den Tisch gefallen“. n<br />

cordula.tutt@wiwo.de, max haerder,<br />

christian schlesiger | Berlin<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

Eine Frage der Macht<br />

FORUM | 80 Prozent der Finanzmarktregulierung seien gemeistert, sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel.<br />

Doch diese Angabe basiert auf einer verfehlten Agenda. Komplexe Finanzmärkte lassen sich nicht<br />

mit komplexer Regulierung bändigen. Ein Plädoyer für einfache, aber harte Regeln. Von Gerhard Schick<br />

Beim G20-Gipfel in Pittsburgh, kurz nach Ausbruch der Finanzkrise,<br />

erklärten die Staats- und Regierungschefs: „Wir<br />

werden gewährleisten, dass unser aufsichtsrechtlicher Rahmen<br />

für Banken und andere Finanzunternehmen die Exzesse eindämmt,<br />

die die Krise verursacht haben.“ Allein, zu diesem Zeitpunkt<br />

waren die Ursachen bei Weitem noch nicht ausreichend<br />

analysiert. Und so begann eine qualvolle Bekämpfung von Symptomen,<br />

die noch heute die Regulierungsagenda dominiert. Der<br />

Geburtsfehler von Pittsburgh war der Glaube, Komplexität mit<br />

Komplexität bekämpfen zu können.<br />

Tausende Seiten neuer Finanzmarktregeln sind in den vergangenen<br />

fünf Jahren erlassen worden. Doch die Wahrscheinlichkeit<br />

einer Finanzkrise ist heute leider nicht geringer als vor fünf Jahren.<br />

Denn die Theorie der Finanzmärkte ist fern von der Realität: Die<br />

Risikoaufschläge an den Finanzmärkten waren zu keinem Zeitpunkt<br />

so gering wie in dem Moment<br />

des höchsten Risikos, nämlich<br />

kurz vor Ausbruch der Krise.<br />

Und in der Tendenz können wir<br />

auch <strong>2014</strong> wieder ein sorgloses<br />

Verhalten beobachten, das noch<br />

gefährlich werden könnte.<br />

Wenn Märkte versagen, muss<br />

der Staat einschreiten. Und Finanzmärkte<br />

versagen regelmäßig.<br />

Wenn es doch nur so einfach<br />

wäre! Denn das Feilschen um die<br />

notwendigen Regeln ist schlicht<br />

und ergreifend eine Frage der<br />

Macht. Hier stehen sich Markt und Staat nicht gegenüber, sie stecken<br />

häufig unter einer Decke. Die wenigen Profiteure in Politik<br />

und Konzernen organisieren die Finanzmärkte auf Kosten der Vielen.<br />

Nach außen hin werden zwar immer wieder Sonntagsreden<br />

gehalten und volkstümliche Auftritte in Talkshows hingelegt: Banken<br />

und Schattenbanken sollen effektiver reguliert werden, das<br />

Haftungsprinzip muss durchgesetzt werden... – nur gemacht wird<br />

das Gegenteil.<br />

Sicher, auf dem Papier sieht es wie ein großer Fortschritt aus,<br />

wenn das Eigenkapital von zwei Prozent auf sieben Prozent erhöht<br />

werden soll. Nur muss man verstehen, dass Europas Banken schon<br />

vor der Krise im Durchschnitt acht Prozent Eigenkapital hatten. Lehman<br />

Brothers hatte sogar elf Prozent. Schließlich werden diese Quoten<br />

auf die sogenannten risikogewichteten Aktiva berechnet – und<br />

diese bestimmen die Banken selbst. Die Deutsche Bank zum Beispiel<br />

zaubert so aus 1112 Milliarden Euro Aktiva im Investmentbanking<br />

119 Milliarden Euro risikogewichtete Aktiva. Die Anforderung<br />

von sieben Prozent beziehen sich auf diese fiktiven 119 Milliarden<br />

Euro. Auf die echten 1,1 Billionen Euro muss die Bank also nur<br />

0,7 Prozent Eigenkapital halten.<br />

Runder Tisch gegen Risiken G20-Treffen in Pittsburgh<br />

Selbst in Basel, wo das Financial Stability Board im Auftrag der<br />

G20 die globalen Regeln erarbeitet, reifte die Erkenntnis, dass auch<br />

eine Verdreifachung des Eigenkapitals zu absurden Ergebnissen<br />

führt. Drei mal null bleibt null. Daher wurde eine Leverage Ratio<br />

beschlossen, nach der Banken mindestens drei Prozent Eigenkapital<br />

auf alle Aktiva einsetzen müssen. Doch auch diese wird derzeit<br />

schon wieder aufgeweicht. Derivate und außerbilanzielle Zweckgesellschaften,<br />

das Hauptversteck für toxische Wertpapiere, sollen<br />

nicht voll in die Berechnung einfließen.<br />

In allen anderen Bereichen der Regulierung kann man diese Beispiele<br />

fortführen. Die Bundesregierung führt mit großem Tamtam<br />

ein Trennbankengesetz ein, das Eigenhandel abtrennt. Nur wird Eigenhandel<br />

so eng definiert, dass keine Bank irgendetwas abtrennen<br />

muss. Oder Schattenbanken: Bundeskanzlerin Angela Merkel und<br />

Finanzminister Wolfgang Schäuble schwingen große Reden, aber<br />

die deutschen CDU-Abgeordneten<br />

im Europaparlament weigern<br />

sich, Geldmarktfonds mit festem<br />

Rückkaufswert, einen der gefährlichsten<br />

Brandbeschleuniger der<br />

Krise, genauso hart wie Banken<br />

zu regulieren.<br />

BÜROKRATISCHES SYSTEM<br />

Seit 2010 hat es vielfältige Regulierungsaktivitäten<br />

gegeben. Tausende<br />

Seiten bürokratischer Illusionen.<br />

Die Behörden sind der<br />

Armada hoch bezahlter Lobbyisten<br />

hoffnungslos unterlegen. Parlamentarische Kontrolle findet angesichts<br />

der schieren Masse kaum mehr statt. So wird ein undemokratisches<br />

und bürokratisches System der Placeboregulierung aufgebaut,<br />

das Sicherheit vorgaukelt – und kleine Banken hoffnungslos<br />

benachteiligt.<br />

Dabei wäre eine andere Form der Regulierung möglich. Einfache,<br />

verständliche, aber harte Regeln: wesentlich mehr Eigenkapital. Ein<br />

Steuersystem, das die Privilegierung von Fremdkapital abschafft<br />

und das besonders riskante Refinanzierung bestraft. Ein Trennbankensystem,<br />

das zusammen mit der EU-Bankenunion glaubwürdige<br />

Abwicklung ermöglicht. Ein solches Regelwerk, zusammengefasst<br />

in einem europäischen Finanzgesetzbuch, würde auch der extremen<br />

Wettbewerbsverzerrung durch die impliziten Subventionen<br />

für die Too-big-to-fail-Banken, die der IWF allein in der Euro-Zone<br />

auf mehr als 200 Milliarden Euro beziffert, ein Ende bereiten. n<br />

Schick, 42, ist seit 2005 Mitglied im Deutschen<br />

Bundestag, seit 20<strong>07</strong> finanzpolitischer Sprecher der<br />

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Autor des<br />

Buches „Machtwirtschaft – nein danke“.<br />

FOTOS: REUTERS/JIM BOURG, LAIF/KATRIN DENKEWITZ<br />

28 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Der Nebenmann<br />

FRANKREICH | Finanzminister Michel Sapin ist die Schlüsselfigur<br />

beim Versuch von Präsident François Hollande, das wirtschaftlich<br />

sieche Land zu reformieren. Doch die internen Widerstände<br />

sind immens – und die Konjunktur will nicht in Gang kommen.<br />

Über Michel Sapin gibt es eine vielsagende<br />

Anekdote. Als er und ein gewisser<br />

François Hollande Ende der<br />

Siebzigerjahre ihren Militärdienst absolvierten,<br />

musste er dem heutigen französischen<br />

Staatschef zu Hilfe eilen. Beim Orientierungslauf<br />

in finsterer Nacht machte<br />

Hollande nämlich schlapp. Sapin schulterte<br />

kurz entschlossen dessen Rucksack und<br />

führte den Kameraden zurück zur Kaserne.<br />

An dieses Ereignis muss sich Hollande<br />

erinnert haben, als der Sozialist den<br />

62-jährigen Sapin im April <strong>vom</strong> Arbeitszum<br />

Finanzminister beförderte. Damit ist<br />

Sapin nun eine Schlüsselfigur beim Versuch<br />

des Präsidenten, sein malades Land<br />

auf Vordermann zu bringen.<br />

Stockduster ist die Lage auch diesmal.<br />

In dieser Woche ist Sapin gerade 100 Tage<br />

im Amt, und schon probt die Parteilinke<br />

den Aufstand gegen ihn und jedwede<br />

Sparmaßnahme. Dem von Paris initiierten<br />

„Pakt der Verantwortung“ zwischen<br />

Staat, Gewerkschaften und Arbeitgebern<br />

droht das Aus und mit ihm dem Kern der<br />

Reformpläne. Derweil hat das französische<br />

Statistikamt Insee die geschätzte<br />

Staatsschuldenquote <strong>2014</strong> auf 93,6 Pro-<br />

»Ich habe jetzt<br />

genug von diesen<br />

quengelnden<br />

Bossen«<br />

Michel Sapin<br />

FOTO: LAIF/SIGNATURES/DIDIER GOUPY<br />

Blick nach links<br />

Sapin will 50 Milliarden<br />

Euro einsparen – und<br />

steht unter Beschuss<br />

sozialistischer Fundis<br />

zent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) heraufgesetzt.<br />

Ende des ersten Quartals hatte<br />

Frankreich fast zwei Billionen Euro<br />

Schulden, über 45 Milliarden Euro mehr<br />

als Ende 2013.<br />

Fast gleichzeitig kippte Insee die Wachstumsprognose<br />

der Regierung. Nicht um<br />

ein Prozent, sondern lediglich um 0,7 Prozent<br />

dürfte das Bruttoinlandsprodukt<br />

(BIP) demnach in diesem Jahr zulegen.<br />

Damit sinkt die ohnehin geringe Chance,<br />

dass Frankreich seine Neuverschuldung<br />

bis zum Ende der von der EU bis 2015 verlängerten<br />

Frist auf das obligatorische Limit<br />

von drei Prozent des BIPs reduziert. Für<br />

<strong>2014</strong> geht der französische Rechnungshof<br />

mittlerweile von „nahe vier Prozent oder<br />

sogar leicht darüber“ aus. Im April hatte er<br />

die Prognose bereits von 3,6 auf 3,8 Prozent<br />

heraufgesetzt. Frankreich bleibt »<br />

WirtschaftsWoche 7.7.<strong>2014</strong> Nr. 28 29<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

»<br />

damit vorerst ein ökonomischer Bremsklotz<br />

in der EU.<br />

Prognosen seien „eine schwierige Kunst,<br />

weil man sich ständig irrt“, gibt Sapin zurück<br />

und zeigt wie so oft sein unergründliches<br />

Buddha-Lächeln. Die gute Nachricht<br />

sei doch, dass das Statistikamt überhaupt<br />

von Wachstum spreche. „Wir haben sehr<br />

schwierige Jahre hinter uns. Wir brauchen<br />

ein wenig Zeit“, wirbt er um Verständnis<br />

für Frankreichs Lage. Deshalb gefällt ihm<br />

die beim jüngsten EU-Gipfel gefundene<br />

Kompromissformel auch so gut, wonach<br />

die Flexibilität des Stabilitätspakts „bestmöglich“<br />

genutzt und die Haushaltskonsolidierung<br />

„wachstumsfreundlich“ fortgesetzt<br />

werden solle.<br />

Wachstum mau, Schulden hoch<br />

Defizitquote und Bruttoinlandsprodukt (BIP)<br />

in Frankreich<br />

2<br />

1<br />

0<br />

–1<br />

–2<br />

–3<br />

–4<br />

–5<br />

–6<br />

BIP (Veränderung<br />

in Prozent)<br />

2011 2012 2013 <strong>2014</strong>* 2015**<br />

* Schätzung; ** Prognose; Quelle: EU-Kommission<br />

Defizitquote<br />

(in Prozent <strong>vom</strong> BIP)<br />

Vorgeschickt Präsident François Hollande<br />

und sein alter Weggefährte Sapin<br />

AUF ROSA SOCKEN<br />

Wie tickt der Mann, der im Auftrag seines<br />

Präsidenten nun finanzpolitisch die Mühen<br />

der Ebene auf sich nehmen muss? Der<br />

massige Mann, der in zweiter Ehe mit einer<br />

Journalistin verheiratet ist, gilt als Gemütsmensch,<br />

den so schnell nichts aus der Ruhe<br />

bringt. Und als einer, der das Notwendige<br />

tun kann, ohne lange zu fackeln. Noch<br />

so eine Anekdote aus der Militärzeit: „Michel<br />

weckte uns um 6.30 Uhr und konnte<br />

nicht begreifen, dass um 6.35 Uhr die Betten<br />

noch nicht gemacht waren“, erinnert<br />

sich Jean-Pierre Jouyet, inzwischen Chef<br />

des Präsidialamts. Über Hollande erzählt<br />

Sapin aus dieser Zeit, er habe „ein Problem<br />

mit der Ordnung“ gehabt. Dass der Freund<br />

und Trauzeuge ihn nicht gleich nach dem<br />

Wahlsieg der Sozialisten im Mai 2012 zum<br />

Finanzminister machte, wunderte damals<br />

viele. Immerhin war Sapin der erfahrenste<br />

Kandidat und bereits von 1992 bis 1993 in<br />

diesem Amt. Das war, als Spekulanten den<br />

Franc attackierten.<br />

Sapin ist wohlhabend und zählt zu den<br />

wenigen sozialistischen Regierungsmitgliedern,<br />

die Vermögensteuer bezahlen<br />

müssen. Trotzdem gilt er als bodenständig.<br />

Seine Wochenenden verbringt er gern<br />

zu Hause in dem kleinen zentralfranzösischen<br />

Dorf Argenton-sur-Creuse mit Angeln<br />

und – passend für einen Finanzminister<br />

– mit Münzensammeln. Die einzige Extravaganz,<br />

die er sich erlaubt, sind: rosa<br />

Socken.<br />

Sapin ist kein Netzwerker, viele in der<br />

Partei halten ihn für einen Einzelgänger.<br />

Und politisch? Er sei Sozialdemokrat, sagt<br />

er selbst. Ein „Liberaler“, schimpft die Linke.<br />

Die viel beachtete Kapitalismuskritik<br />

seines Landsmanns Thomas Piketty hat<br />

Sapin, der an der französischen Elitehochschule<br />

ENA studierte, nach eigenen Angaben<br />

nicht gelesen. Der Wälzer sei „zu<br />

schwer für mich und zu dick“.<br />

Gleichwohl kann er dem Zeitgeist entsprechend<br />

scharf gegen die Wirtschaft<br />

schießen. „Ich habe genug von diesen<br />

quengelnden Bossen!“, platzte es vor wenigen<br />

Tagen aus ihm heraus. „Es muss<br />

Schluss sein mit den Spielchen.“ Anlass für<br />

die Tirade war die Drohung des Unternehmerverbands<br />

Medef, den Verhandlungen<br />

über den „Pakt der Verantwortung“ fernzubleiben.<br />

Sieben weitere Verbände schlossen<br />

sich der Boykottdrohung an.<br />

Die Gespräche, die an diesem Montag<br />

beginnen, sind die erste große Bewährungsprobe<br />

für Sapin. Der Minister will von<br />

2015 bis 2017 irgendwie 50 Milliarden Euro<br />

im Haushalt einsparen und die Wirtschaft<br />

im gleichen Zeitraum um insgesamt 41<br />

Milliarden Euro entlasten – sofern die Unternehmen<br />

Gegenleistungen etwa in Form<br />

von Neueinstellungen erbringen. Doch die<br />

Firmenchefs sind misstrauisch. Garantien<br />

wollen sie keinesfalls geben. Ohne Zugeständnisse<br />

der Arbeitgeber aber sei der<br />

Pakt tot, tönen die Gewerkschaften. Und<br />

innerhalb der Sozialistischen Partei gewinnen<br />

jene Meuterer Zulauf, die keinerlei Anlass<br />

für „Geschenke an die Bosse“ sehen.<br />

Sie fordern ganz im Gegenteil, Brüssel den<br />

Fehdehandschuh hinzuwerfen und den<br />

Sparkurs aufzugeben. Neue Hiobsbotschaften<br />

<strong>vom</strong> Arbeitsmarkt, wonach nun<br />

3,9 Millionen Franzosen arbeitslos sind –<br />

eine halbe Million mehr als beim Regierungswechsel<br />

2012 –, sowie der Zulauf der<br />

extremen Rechten bei den jüngsten Wahlen<br />

rechtfertigen ihrer Meinung nach einen<br />

solchen Wortbruch.<br />

Das alles schafft eine prekäre Lage für<br />

Sapin – zumal er einen populären Vertreter<br />

der Parteilinken sogar im eigenen Haus sitzen<br />

hat: Wirtschaftsminister Arnaud Montebourg.<br />

Seit der Regierungsumbildung<br />

Anfang April teilen sich die beiden die Aufgaben<br />

in „Bercy“, der über die Seine gebauten<br />

Trutzburg des Finanz- und Wirtschaftsministeriums.<br />

REICHTUM VERTEILEN<br />

Die Doppelbesetzung spricht Bände über<br />

das „Reformsystem“ von Staatschef Hollande.<br />

Der für ihn politisch wertvolle Populist<br />

Montebourg stänkert gegen Brüssel, Berlin<br />

und die Europäische Zentralbank; er streichelt<br />

damit die Volksseele. Im Übernahmekampf<br />

um den französischen Siemens-<br />

Konkurrenten Alstom wusste er sich gerade<br />

wieder in Szene zu setzen und rang den US-<br />

Bietern von General Electric ein Maximum<br />

an staatlicher Einflussnahme ab. Sapin beschränkte<br />

sich weitgehend darauf, gemeinsam<br />

mit Montebourg den Verkauf von<br />

Staatsanteilen am Gasversorger GDF Suez<br />

bekannt zu geben, mit dem die Regierung<br />

den Einstieg des Staates bei Alstom finanziert.<br />

Obwohl protokollarisch Montebourg<br />

übergeordnet, spielt Sapin öffentlich die<br />

Rolle des unaufgeregten Nebenmanns, der<br />

Frankreich im EU-Finanzministerrat und in<br />

der Euro-Gruppe vertritt und dort den verlässlichen<br />

Partner zu geben versucht.<br />

Nach außen unterstützt Sapin die EU-<br />

Schuldenregeln deutlicher als sein Präsident.<br />

„Ich habe dieses Ziel, und ich werde<br />

die Maßnahmen dafür treffen“, sagt er über<br />

die Drei-Prozent-Grenze bei der Neuverschuldung.<br />

„Es wäre ein großer Irrtum,<br />

wenn wir jeden Morgen die Wirtschaftspolitik<br />

ändern würden.“ Der Minister lässt<br />

aber auch keinen Zweifel daran, dass der<br />

Defizitabbau für ihn nicht alles ist: „Wir<br />

wollen, dass die Arbeitslosigkeit zurückgeht,<br />

die Investitionen wieder Fahrt aufnehmen<br />

– und dass es wieder Reichtum zu<br />

verteilen gibt.“<br />

n<br />

karin.finkenzeller@wiwo.de | Paris<br />

FOTO: GETTY IMAGES/AFP/BERTRAND LANGLOIS<br />

30 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

Reichtum im Boden<br />

MONGOLEI | Rohstoffreichtum und Marktwirtschaft bieten Wachstumschancen<br />

in der Steppe – doch deutsche Investoren zögern.<br />

kehrsinfrastruktur und Energie. Eine große<br />

Wirtschaftsdelegation wird den Minister in<br />

die Steppe begleiten; die Rohstoffpartnerschaft<br />

soll oben auf der Agenda stehen.<br />

Politischen Rückenwind können Investoren<br />

brauchen. Mangels Infrastruktur und<br />

Kapital, wegen der aktuell niedrigen Weltmarktpreise<br />

und des Zoffs zwischen Investoren<br />

bleibt die Rohstoffpartnerschaft hinter<br />

den Erwartungen zurück. Was auch an<br />

falschen Erwartungen liegt: Deutschland<br />

fehlen Unternehmen, die Rohstoffförderung<br />

noch können, so wie es die Mongolen<br />

gerne hätten. Nur auf ein Großprojekt hoffen<br />

die Deutschen: ThyssenKrupp-Tochter<br />

Uhde könnte die Anlage zur Kohleverflüssigung<br />

bauen; seit 2012 liegt ein entsprechendes<br />

Memorandum in der Schublade,<br />

die Machbarkeitsstudie ist in Arbeit. Für<br />

das Projekt fehlen aber Abnahmeverträge<br />

mit China – auch weil es keine Eisenbahnstrecken<br />

für den Abtransport gibt.<br />

FOTO: KFW/MAREIKE GÜNSCHE<br />

Des Landes zuverlässigste Rohstoffquelle<br />

hat vier Beine, Schlappohren,<br />

ein dichtes Fell – und beschäftigt<br />

sich hauptsächlich damit, die mongolische<br />

Steppe abzugrasen. Da es in der Mongolei<br />

im Winter bis 40 Grad kalt wird, ist das Fell<br />

der mongolischen Wollziege dichter und<br />

wärmer als das der Artgenossen im nordindischen<br />

Kaschmir. Dies versteht das Unternehmer-Ehepaar<br />

Baatarsaikhan Tsagaach<br />

und Hulan Dashdavaa aus Ulan-Bator global<br />

zu vermarkten: Statt wie einst nur Rohwolle<br />

zu exportieren, verarbeitet deren Familienunternehmen<br />

Gobi den Rohstoff in<br />

eigenen Kollektionen zu Edelklamotten.<br />

Gerade die kauffreudigen und wärmebedürftigen<br />

Russen sorgen für Nachfrage. „In<br />

den kommenden Monaten werden wir in<br />

jeder russischen Millionenstadt eine Filiale<br />

eröffnen“, sagt Dashdavaa, die umtriebige<br />

Chefin der Gobi-Mutter Tavan Bogd.<br />

So schafft ein Familienunternehmen mit<br />

der viel belächelten Kaschmirwolle, woran<br />

staatliche Konzerne bislang kläglich scheitern:<br />

heimische Rohstoffe fördern, verarbeiten,<br />

veredeln und weltweit vermarkten.<br />

Dabei lagern unter der mongolischen Steppe<br />

die weltgrößten Kupfer- und Kohlevorkommen,<br />

dazu opulente Vorräte an Silber<br />

und die in der Hochtechnologie begehrten<br />

Seltenen Erden.<br />

Edle Wolle Schals der mongolischen Kaschmirfabrik<br />

Gobi kosten in Europa 4000 Euro<br />

Ambitionen hat auch Deutschland. Die<br />

Mongolei war 2011 aus gutem Grund das<br />

erste Land, mit dem die Bundesregierung<br />

eine Rohstoffpartnerschaft unterzeichnete,<br />

findet Bundesaußenminister Frank-Walter<br />

Steinmeier (SPD): Die Mongolei sei nicht<br />

nur eines der rohstoffreichen Länder der<br />

Welt, sondern habe sich „von Anfang an intensiv<br />

für die Einhaltung internationaler<br />

Transparenz- und Umweltstandards eingesetzt“.<br />

Steinmeier, der am Samstag zu einer<br />

Reise nach Ulan-Bator aufbricht, sagte der<br />

WirtschaftsWoche: „Wir können noch viel<br />

Potenzial heben.“ Deutschland habe der<br />

Mongolei viel anzubieten, es gebe konkrete<br />

Investitionsprojekte in den Bereichen Ver-<br />

»In der Mongolei<br />

können wir<br />

noch viel Potenzial<br />

heben«<br />

Frank-Walter Steinmeier, Bundesaußenminister<br />

HANDEL MIT FÖRDERLIZENZEN<br />

Dabei sollte der Infrastrukturbau in der<br />

Mongolei am Geld nicht scheitern: Der Handel<br />

mit Förderlizenzen inmitten der Hochpreis-Phase<br />

für Metalle sicherte den Mongolen<br />

über Jahre satte Kapitalzuflüsse, was das<br />

Bruttoinlandsprodukt (BIP) um teils über 17<br />

Prozent pro Jahr wachsen ließ. „Wenn wir<br />

wie vergangenes Jahr nur um zwölf Prozent<br />

wachsen, sprechen wir von Krise“, sagt Außenminister<br />

Luvsanvandan Bold. Der in der<br />

DDR ausgebildete Ökonom wirbt für das<br />

„große Potenzial“ seiner Heimat – vor allem<br />

vor deutschen Interessenten. Aber in<br />

Deutschland sei die Mongolei leider „kein<br />

prioritäres Ziel für Investoren“, klagt Bold<br />

über die Zurückhaltung der Europäer beim<br />

Buddeln in seiner Steppe. „Dabei sind die<br />

Reichtümer in unserem Boden nicht zu<br />

übersehen – und wir liegen zwischen den<br />

Absatzmärkten Russland und China.“<br />

Womit er allerdings die Bedenken unter<br />

internationalen Investoren kleinredet, die<br />

auf den offenen Konflikt zwischen der Regierung<br />

in Ulan-Bator mit Großinvestor Rio<br />

Tinto zurückgehen. Der britisch-australische<br />

Bergbaukonzern ist Mehrheitseigentümer<br />

am Kupfervorkommen Oyu Tolgoi,<br />

das nahe der Grenze zu China liegt und für<br />

13 Milliarden Dollar erschlossen werden<br />

soll. Derweil die Übertageförderung unter<br />

den Prognosen zurückbleibt, laufen in den<br />

Bauabschnitten unter Tage die Kosten aus<br />

dem Ruder. Regierung und Rio Tinto streiten,<br />

wer zu welchen Teilen Mehrkosten von<br />

fünf bis sechs Milliarden Dollar zu stemmen<br />

hat. „Es trägt nicht zur Vertrauens-<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 7.7.<strong>2014</strong> Nr. 28 31<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

»<br />

bildung bei, wenn die Regierung Verträge<br />

mit Investoren aufschnürt“, sagt einer.<br />

Generell hält Marktkenner Sascha Stadtler<br />

von der deutschen Förderbank KfW die<br />

Mongolei für „ein Land, das sich klar in die<br />

Richtung von Marktwirtschaft und Demokratie<br />

entwickelt“ und gute Chancen bietet.<br />

Die KfW-Tochter Ipex ist einer der Financiers<br />

jener Kupfermine, die Rio Tinto mit<br />

den Mongolen entwickelt. Die KfW ist als<br />

einzige deutsche Bank in der Mongolei aktiv<br />

– und hält sich aus dem Rohstoffgeschäft<br />

ansonsten heraus. Stattdessen finanzieren<br />

die Frankfurter Projekte zur<br />

Steigerung der Energieeffizienz und<br />

Schadstoffreduktion beim größten Kohlekraftwerk<br />

des Landes.<br />

Unter der<br />

Bambusdecke<br />

JAPAN | Die Regierung hat Frauenarbeit als neuen Wachstumsmotor<br />

entdeckt. Doch ihre Quote von 30 Prozent für Top-Jobs<br />

kollidiert mit tief verwurzelten Rollenklischees.<br />

SMOG ÜBER DEN SLUMS<br />

Trotz des Rohstoff-Hypes sind Fragen der<br />

Energieversorgung für die Mongolen das<br />

wichtigere Thema: Immer noch muss das<br />

Land im Winter den Großteil des Stroms<br />

teuer aus Russland importieren, da die Kapazitäten<br />

der eigenen altersschwachen<br />

Kraftwerke nicht ausreichen. Hohe Preise<br />

für Fernwärme aus den Kohlemeilern führen<br />

dazu, dass die Menschen in Ulan-Bator<br />

lieber in den traditionellen Jurten leben –<br />

und Holz verbrennen. Über dem topografischen<br />

Kessel, der die Stadt umgibt, hängt<br />

permanent eine Smogglocke.<br />

Zugleich wächst die Hauptstadt rasant.<br />

Immer mehr Mongolen geben das Nomadenleben<br />

auf – und landen in Slum-Siedlungen<br />

rund um Ulan-Bator mit seinen 1,4<br />

Millionen Einwohnern. Der Rohstoffboom<br />

feuert die Inflation an, hat aber kaum zur<br />

Senkung der Arbeitslosigkeit beigetragen.<br />

Zu den wenigen Hoffnungsträgern zählt<br />

Tavan Bogd, die Holding von Tsagaach und<br />

Dashdavaa. Das Unternehmerpaar hat Mitte<br />

der Neunzigerjahre mit dem Import<br />

westlicher Gebrauchtwagen ein kleines<br />

Vermögen verdient – und in neue Sektoren<br />

investiert. Heute betreibt die Gruppe Fast-<br />

Food-Läden, ein Hotel, die größte Bank des<br />

Landes und viele kleinere Unternehmen.<br />

Die Kaschmirfabrik Gobi ist ein Jobmotor,<br />

der dieser Tage auf Hochtouren läuft: Rund<br />

um die Uhr bedienen Arbeiter japanische<br />

Wasch- und Webmaschinen, die die frisch<br />

geschorene, grobe Ziegenwolle verarbeiten.<br />

In klimatisierten Nähereien arbeiten Frauen<br />

mit Kopftuch an Maschinen aus deutscher<br />

Produktion. Was sie in Ulan-Bator produzieren,<br />

wird zum Winter hin auch in Europa erhältlich<br />

sein: Kaschmirschals kosten bei<br />

Harrods in London bis zu 4000 Euro. n<br />

florian.willershausen@wiwo.de<br />

Die junge Frau trägt Arbeitskleidung,<br />

hält einen Helm in der Hand und<br />

blickt auf eine gigantische, schwimmende<br />

Hebebühne. Mit einem Bild im<br />

Manga-Stil wirbt Japans viertgrößter Baukonzern<br />

Taisei um weibliche Mitarbeiter.<br />

„Baumädels“ nennen die Medien die bisher<br />

seltene Spezies im Land der zarten Geishas.<br />

Eine wachsende Zahl von Japanerinnen<br />

findet Arbeit auf dem Bau cool.<br />

Auch die Bauunternehmen denken um.<br />

„Frauen sind sehr motiviert, auf Baustellen<br />

im Ausland zu arbeiten“, sagt Taisei-Manager<br />

Tetsuya Shioiri. Bereits jede fünfte Neueinstellung<br />

bei Taisei ist weiblich, neuerdings<br />

arbeiten Frauen im Vertrieb und<br />

übernehmen auch Führungsaufgaben.<br />

Unterstützung kommt von der Regierung:<br />

Das Bauministerium möchte den Frauenanteil<br />

in der Branche binnen fünf Jahren<br />

verdoppeln. Duschräume und Toiletten für<br />

Frauen werden subventioniert.<br />

Premierminister Shinzo Abe hält ebenfalls<br />

die Fahne des Feminismus hoch. „Unser<br />

Land muss ein Platz werden, wo Frauen<br />

Vortreten, bitte! Frauen sollen Japans<br />

Wirtschaft retten<br />

glänzen“, verkündet der konservative Politiker.<br />

Frauenförderung zählt zu den Pfeilern<br />

seiner Wachstumsstrategie: Bis 2020<br />

sollen die Unternehmen 30 Prozent ihrer<br />

Führungsstellen mit Frauen besetzen – als<br />

Anreiz für junge Japanerinnen, die Kinder<br />

und Karriere kombinieren sollen. Mit der<br />

Quote reagiert Abe auf das größte Problem<br />

seines Landes: Nirgendwo auf der Welt altert<br />

und schrumpft die Bevölkerung so<br />

schnell. Jeder vierte Japaner ist bereits älter<br />

als 65 Jahre, schon 2023 müssen zwei Erwerbstätige<br />

einen Rentner ernähren.<br />

Die naheliegende Lösung, Zuwanderer<br />

ins Land zu holen, lehnt die konservative<br />

Elite in Politik und Wirtschaft ab. Abe und<br />

Gleichgesinnte halten am Bild einer angeblich<br />

rassisch homogenen Gesellschaft<br />

fest, das während der Aufbauzeit des Nationalstaats<br />

am Ende des 19. Jahrhunderts<br />

verbreitet wurde. Nicht Migranten aus<br />

Asien, sondern Japans Frauen sollen<br />

»<br />

FOTO: LAIF/JEREMIE SOUTEYRAT<br />

32 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

»<br />

Wohlstand und Wachstum sichern –<br />

und dafür auch in schweren und schmutzigen<br />

Berufen arbeiten.<br />

Noch 20<strong>07</strong> bezeichnete Japans damaliger<br />

Sozialminister Hakuo Yanagisawa<br />

Frauen öffentlich als „babyproduzierende<br />

Maschinen“, die zu Hause bleiben und Erwerbstätige<br />

gebären sollten. Regierungschef<br />

Abe klingt heute nicht weniger befremdlich,<br />

wenn er Frauen als „die am wenigsten<br />

genutzte Ressource der Nation“<br />

bezeichnet. Tatsächlich gehen in Japan nur<br />

knapp 63 Prozent der Frauen einer Erwerbsarbeit<br />

nach; in Deutschland sind es<br />

71,5 Prozent. Drei von vier berufstätigen Japanerinnen<br />

haben nur einen Teilzeitjob.<br />

Laut OECD verdienen Japanerinnen bei<br />

gleicher Arbeit 28 Prozent weniger als<br />

Männer. Nach einer Studie von Goldman<br />

Sachs würde die Wirtschaftsleistung um<br />

12,5 Prozent steigen, wenn der Anteil der<br />

erwerbstätigen Frauen auf das Männer-Niveau<br />

von 81 Prozent klettert. „Mehr Diversität<br />

der Geschlechter am Arbeitsplatz ist<br />

keine Option mehr, sondern eine Notwendigkeit“,<br />

sagt Goldman-Ökonomin Kathy<br />

Matsui, die bereits 1999 ihre These von der<br />

„Womenomics“ formuliert hat.<br />

Doch erst jetzt, wo Japan die Arbeitskräfte<br />

ausgehen, finden ihre Argumente bei<br />

Regierung und Unternehmen Gehör. So<br />

zieht sich der Wiederaufbau der <strong>vom</strong> Tsunami<br />

zerstörten Gebiete wegen des Mangels<br />

an Arbeitern bereits ins vierte Jahr hin.<br />

Automobilunternehmen bildeten jüngst<br />

eine Forschungsallianz für Verbrennungsmotoren,<br />

auch weil es nicht mehr genug<br />

Ingenieure gibt. Mitten in dieser Krise setzt<br />

die Vorgabe einer Frauenquote von 30 Prozent<br />

die Wirtschaft unter Zugzwang. 80<br />

Prozent der Unternehmen wollen diese<br />

zwar in ihre Geschäftspläne aufnehmen,<br />

und fast drei Viertel verfügen bereits über<br />

eine Abteilung zur Frauenförderung. Doch<br />

„wenn man dieses Ziel nicht mit höchster<br />

Priorität angeht, ist es nicht erreichbar“,<br />

warnt Herbert Hemming, Präsident von<br />

Bosch Japan. Selbst die erzkonservative<br />

Wirtschaftslobby Keidanren richtete eine<br />

Arbeitsgruppe zur Frauenquote ein. Das<br />

Industrieministerium zeichnet frauenfreundliche<br />

Firmen bereits über eine Positivliste<br />

als vorbildliche „Nadeshiko Brand“<br />

– benannt nach Japans beliebten Fußballerinnen<br />

– aus, der Rest steht als Frauenfeinde<br />

am Pranger. Auch öffentliche Aufträge<br />

gehen künftig vermehrt an frauenfördernde<br />

Firmen.<br />

Die Unternehmen stehen vor einer doppelten<br />

Herausforderung. Mehr Frauen zu<br />

Neues Frauenbild Japans Bauindustrie<br />

wirbt um Mitarbeiterinnen<br />

beschäftigen und ihnen mehr Karrierechancen<br />

zu bieten verlangt einen Kulturbruch:<br />

Die typische japanische Firma ist<br />

männerdominiert. Akademikerinnen werden<br />

als „Büroblumen“ zum Tee-Servieren<br />

und Fotokopieren eingestellt. Man erwartet<br />

von diesen „Office Ladies“, dass sie nach<br />

der Heirat kündigen und nie wiederkommen.<br />

„Wie in Deutschland behindert die<br />

formale und hierarchische Firmenkultur<br />

Frauen verdienen<br />

bei gleicher Arbeit<br />

28 Prozent weniger<br />

als Männer<br />

die Frauen“, sagt die deutsche Unternehmensberaterin<br />

Elke Benning-Rohnke. Jetzt<br />

versuchen Unternehmen, Frauen zu halten:<br />

Die Daimler-Nutzfahrzeugtochter Mitsubishi<br />

Fuso zum Beispiel setzt auf Elternzeit,<br />

Home Office und flexible Arbeitsstunden.<br />

„Wir verbessern uns sehr schnell“, betont<br />

Fuso-Personalchef Shigeki Egami.<br />

Zum anderen müssen die Firmen Frauen<br />

in Führungsjobs befördern. Bisher ist<br />

die Bambusdecke für weibliche Karrieren<br />

in Japan so hart wie Beton. Nur ein Prozent<br />

der Vorstandschefs, zwei Prozent der Aufsichtsräte<br />

und elf Prozent der Manager<br />

sind weiblich. Auch im 19-köpfigen Kabinett<br />

von Abe gibt es nur zwei Frauen. Im<br />

Gleichstellungs-Ranking des Weltwirtschaftsforums<br />

steht Japan auf Platz 105 –<br />

noch hinter Indien und Indonesien. „Wir<br />

haben sehr viel aufzuholen“, gesteht Bildungsstaatssekretärin<br />

Kumiko Bando.<br />

Aller Anfang ist daher bescheiden: Bosch<br />

Japan konnte den Anteil der Frauen an der<br />

internen Talenteförderung binnen zwei<br />

Jahren auf elf Prozent verdoppeln. Besonders<br />

weibliche Ingenieure seien Mangel-<br />

ware, sagt Bosch-Chef Hemming. Der Managerverband<br />

Keizai Doyukai organisiert<br />

Führungsseminare mit einem Frauenanteil<br />

von 60 Prozent. „Von Personalchefs höre<br />

ich, sie würden zu 70 Prozent Frauen<br />

einstellen, ginge es nur nach Qualifikation<br />

und Einstellungsgespräch“, erzählt die Verantwortliche<br />

und frühere Headhunterin<br />

Sakie Fukushima. Das Problem liegt ihrer<br />

Meinung nach woanders: „Die Regierung<br />

sieht Frauen weiter alleine zuständig für<br />

Kinder.“ Für einen Wandel sei jedoch eine<br />

gemeinsame Erziehung notwendig.<br />

Davon ist Japan aber noch weit entfernt.<br />

Bisher kümmern sich die Männer im<br />

Schnitt nur 67 Minuten täglich um Haushalt<br />

und Nachwuchs – drei Mal weniger als<br />

deutsche Männer. Denn es ist ein ungeschriebenes<br />

Gesetz, dass die männlichen<br />

Mitarbeiter bis spät abends in der Firma<br />

bleiben. Das benachteiligt berufstätige<br />

Mütter. „Wenn ich mit Kind weiterarbeiten<br />

wollte, müsste alles in Familie und Firma<br />

gut organisiert sein, aber so ist das nicht“,<br />

sagt die Angestellte Yuki Tamagawa. Das<br />

Problem erkennen auch immer mehr Unternehmen:<br />

So verlangt das Handelshaus<br />

Itochu von seinen Mitarbeitern, spätestens<br />

um 20 Uhr nach Hause zu gehen. Beim<br />

größten Lebensversicherer Nippon Life<br />

müssen alle jungen Väter mindestens eine<br />

Woche Erziehungsurlaub nehmen. Trotzdem<br />

stößt die Frauenförderung an Grenzen.<br />

„Viele junge Mütter wollen zum Beispiel<br />

ihren Kollegen keine Mehrarbeit – etwa<br />

durch Elternzeit oder als Folge von Besuchen<br />

beim Kinderarzt – zumuten“, stellt<br />

der Personalchef von Henkel Japan, Markus<br />

Dressel, fest. Die meisten von ihnen geben<br />

ihren Job dauerhaft auf.<br />

ALTES ROLLENBILD<br />

Zudem hängen überraschend viele junge<br />

Japanerinnen dem alten Rollenbild an. Jede<br />

dritte will einer Umfrage zufolge ihre Arbeit<br />

nach der Hochzeit aufgeben. Viele begnügen<br />

sich mit Berufswegen ohne Aufstiegschancen.<br />

„Einen Mann mit hohem<br />

Status zu heiraten ist ihnen lieber als ein<br />

Job mit hohem Status“, sagt die Präsidentin<br />

der Showa-Frauen-Universität, Mariko<br />

Bando, Autorin des Bestsellers „The Dignity<br />

of a woman“. Nicht wenige verheiratete<br />

Frauen würden aus Prestige nicht arbeiten<br />

gehen, ärgert sich die Angestellte Kyoko<br />

Mizuguchi. Die Bambusdecke existiert also<br />

auch in den Köpfen vieler Japanerinnen.<br />

Bleibt es so, kommt das Inselreich am Ende<br />

eben doch nicht ohne Zuwanderer aus. n<br />

martin.fritz@wiwo.de | Tokio<br />

FOTO: PR<br />

34 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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FOTOS: SAMMY HART, WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, PHOTOTHEK/UTE GRABOWSKY<br />

PARIS | Eine neue<br />

Zwangsabgabe für<br />

Touristen verärgert<br />

den Außenminister.<br />

Von Karin<br />

Finkenzeller<br />

Do you speak<br />

touriste?<br />

Frankreichs Außenminister<br />

Laurent Fabius ist sauer.<br />

Ihn treibt aber keine<br />

internationale Krise um,<br />

sondern die Förderung<br />

des französischen Tourismussektors.<br />

Um den kümmert sich Fabius<br />

seit der Regierungsumbildung im April<br />

quasi im Nebenberuf. „Frankreich ist außerordentlich.<br />

Das müssen wir im Ausland<br />

bekannt machen“, sagt er. Und wer<br />

könnte das besser als ein Minister, der in<br />

der Welt herumkommt? Da stört es ihn<br />

nun sehr, dass das Parlament eine Sonderabgabe<br />

für Paris-Besucher von zwei<br />

Euro pro Nacht beschlossen hat. Damit<br />

sollen ab September rund 140 Millionen<br />

Euro jährlich zusammenkommen.<br />

Er sei „strikt dagegen“, ließ Fabius wissen.<br />

Hat er doch gerade 30 Maßnahmen<br />

vorgestellt, um die Zahl ausländischer<br />

Touristen in der Hauptstadt von 83 Millionen<br />

auf 100 Millionen pro Jahr zu steigern.<br />

Dazu gehören unter anderem längere<br />

Ladenöffnungszeiten und eine<br />

Kostendeckelung für Taxifahrten von und<br />

zu den Flughäfen.<br />

Auf die Antwort der Gewerkschaften,<br />

die verhindert haben, dass die Großparfümerie<br />

Sephora auf den Champs-Élysées<br />

bis 22 Uhr geöffnet bleibt, und die Reaktion<br />

der streikfreudigen Taxifahrer darf<br />

man gespannt sein. Als jüngst Eisenbahner<br />

und Taxifahrer am gleichen Tag streikten,<br />

traf das Chaos jedenfalls auch viele<br />

Touristen. Deutschen Paris-Besuchern<br />

hilft daher eine neue Web-Site der Pariser<br />

Handelskammer vielleicht mehr als der<br />

Einsatz des Außenministers: Unter „yesispeaktouriste.com“<br />

können sie jetzt abrufen,<br />

in welchen Läden, Hotels und Restaurants<br />

Deutsch gesprochen wird.<br />

Karin Finkenzeller ist Frankreich-<br />

Korrespondentin der WirtschaftsWoche.<br />

BERLIN INTERN | Der Job als Lobbyist für die<br />

Rüstungsfirma Rheinmetall war ein Angebot, das Dirk<br />

Niebel nicht ablehnen konnte. Er hatte kein anderes<br />

mehr. Von Henning Krumrey<br />

Seine letzte Kugel trifft<br />

Als Politiker hat Ex-Entwicklungsminister<br />

Dirk Niebel viel Häme<br />

und Hass ertragen müssen. So<br />

2009, als er just jenes Amt übernahm,<br />

das er Wochen zuvor noch abschaffen<br />

wollte. Die aktuellen Schmähungen<br />

auf der Facebook-Seite des Liberalen sind<br />

jedoch schlimmer: „widerwärtig“, „verkommen“,<br />

„charakterlos“, „eklig“,<br />

„Arschkriecher“, „Verbrecher“. Hauptvorwurf<br />

der unflätigen Normalbürger: Niebel<br />

zerstöre durch das Vermitteln von Panzergeschäften<br />

für den Rüstungskonzern<br />

Schatten fällt auf Niebel Ministerium gut<br />

reformiert, dann Renommee zerschossen<br />

Rheinmetall an Despoten alles, was er als<br />

Minister mit deutschem Steuergeld aufgebaut<br />

habe. Dabei bleibt Niebel, zynisch<br />

gesprochen, konsequent: Der Hunger in<br />

der Welt lässt sich auch bekämpfen, indem<br />

man die Zahl der Esser reduziert.<br />

Attacken aus der Politik zielen auf mögliche<br />

Interessenkonflikte. Niebel ist qua Amt<br />

Mitglied des Bundessicherheitsrats gewesen<br />

und hat auch über Exportgeschäfte seines<br />

künftigen Arbeitgebers entschieden.<br />

Deshalb hatte Rheinmetall von Niebel wissen<br />

wollen, was eigentlich Kanzlerin Angela<br />

Merkel von einem möglichen Wechsel hielte.<br />

Deren Verdikt war klar: Sie sei ohnehin<br />

nicht begeistert, aber zumindest müsste<br />

ein Jahr Karenzzeit eingehalten werden.<br />

Also startet Niebel erst im Januar.<br />

Der ehemalige Arbeitsvermittler war<br />

zuvor in eigener Sache nicht vorangekommen.<br />

Die Jobs, die er viel lieber übernommen<br />

hätte, waren allesamt futsch. Zuletzt<br />

war er der einzige liberale Ex-Minister, der<br />

ohne neue Arbeit dastand. Sein Anheuern<br />

bei der Panzerschmiede ist kein Dankeschön<br />

für Liebesdienste im Sicherheitsrat<br />

und auch keine Herzensangelegenheit,<br />

sondern eine Notlösung – alternativlos.<br />

Ursprünglich wollte der frühere Fallschirmjäger<br />

für die bundeseigene Bank<br />

KfW im südlichen Afrika niedergehen. Dort<br />

hätte er gern die Unterstützung für das<br />

grenzüberschreitende Kavango-Zambezi-<br />

Schutzgebiet, einen Zusammenschluss von<br />

36 Nationalparks in Angola, Botswana, Namibia,<br />

Sambia und Simbabwe, koordiniert.<br />

Doch die KfW blockte, nachdem schon die<br />

weiche Landung von Ex-Kanzleramtsminister<br />

Ronald Pofalla bei der Staatsbahn DB<br />

AG öffentlichen Wirbel ausgelöst hatte. Derlei<br />

Turbulenzen wollte die Staatsbank nicht.<br />

Die nächste Chance bot sich beim Bundesverband<br />

mittelständische Wirtschaft<br />

(BVMW). Der suchte einen Geschäftsführer<br />

für den Bereich Politik – das passte. Verbandspräsident<br />

Mario Ohoven führte mehrere<br />

Gespräche mit Niebel. Doch am Ende<br />

wurde man sich unter anderem nicht einig<br />

über das angebotene Gehalt – dem Vernehmen<br />

nach zwischen 150 000 und 200 000<br />

Euro. Auch gab es Bedenken aus dem politischen<br />

Beirat. Dort sitzen für die FDP der<br />

ehemalige Partei- und Fraktionsvorsitzende<br />

Wolfgang Gerhardt, ansonsten die Polit-<br />

Promis Cem Özdemir (Parteichef Grüne),<br />

Gregor Gysi (Fraktionsvorsitzender Linkspartei),<br />

Thomas Strobl (Parteivize CDU),<br />

Wolfgang Tiefensee (Ex-SPD-Verkehrsminister)<br />

und Dagmar Wöhrl (ehemals Staatssekretärin<br />

im Wirtschaftsressort, CSU).<br />

Niebel sieht sich nun als Opfer von Pofalla,<br />

Merkel und seiner Partei. Niemand habe<br />

ihn bei der Suche nach einer Anschlussverwendung<br />

nach dem Sturz aus Amt und<br />

Mandat unterstützt.<br />

Sein früheres Ministerium ist geschockt,<br />

sein Nachfolger kommentiert den Wechsel<br />

nicht. Die Reste von Niebels Wirken lagern<br />

im Keller: Die Stiftung „Aid by Trade“ des<br />

Unternehmers Michael Otto (Otto Versand)<br />

hatte dem Amt zu Werbezwecken<br />

1000 Kopien der legendären Bundeswehrmütze<br />

geschenkt, mit der Niebel Auf- statt<br />

Ansehen erwarb. Die will nun keiner mehr.<br />

WirtschaftsWoche 7.7.<strong>2014</strong> Nr. 28 35<br />

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Der Volkswirt<br />

KOMMENTAR | Warum eine Staatspleite<br />

gut sein kann – nicht nur für<br />

Argentinien, sondern auch für<br />

andere Länder. Von Malte Fischer<br />

Bankrott, ja, bitte!<br />

Die Fußballkicker aus<br />

Argentinien zählen<br />

zweifelsohne zur<br />

Weltspitze. Von der<br />

Wirtschaft des lateinamerikanischen<br />

Landes lässt sich das<br />

hingegen nicht behaupten.<br />

Argentinien, das Anfang des<br />

20. Jahrhunderts noch zu den<br />

reichsten Ländern der Welt<br />

zählte, hat viele politische und<br />

wirtschaftliche Krisen hinter<br />

sich und ist von der ersten in<br />

die dritte Liga der Weltwirtschaft<br />

abgestiegen. Jetzt steht<br />

das Land erneut mit dem Rücken<br />

zur Wand. Der Grund: Ein<br />

New Yorker Gericht hat Argentinien<br />

zur Zahlung von 1,3 Milliarden<br />

Dollar an US-Hedgefonds<br />

verpflichtet.<br />

KAPITALMARKT ADE<br />

Diese hatten nach dem Staatsbankrott<br />

Argentiniens 2001<br />

zu Billigkursen Anleihen des<br />

Landes erworben und sich geweigert,<br />

den von Buenos Aires<br />

verlangten Forderungsverzicht<br />

von 70 Prozent hinzunehmen.<br />

Stattdessen verklagten sie<br />

Argentinien auf vollständige<br />

Tilgung der Bonds. Mit Erfolg.<br />

Nun muss das Land zunächst<br />

die Ansprüche der Hedgefonds<br />

bedienen, bevor es seinen Verpflichtungen<br />

gegenüber den anderen<br />

Gläubigern nachkommen<br />

kann, die das Umschuldungsangebot<br />

angenommen hatten. Das<br />

ist teuer und könnte Argentinien<br />

rund die Hälfte seiner Devisenreserven<br />

kosten. Bis Ende Juli<br />

hat Buenos Aires Zeit, sich mit<br />

den Hedgefonds zu einigen.<br />

Andernfalls muss es seinen<br />

Schuldendienst einstellen und<br />

Bankrott anmelden.<br />

Diesen Weg aber will Argentiniens<br />

Staatspräsidentin Cristina<br />

Kirchner um jeden Preis vermeiden.<br />

Denn er versperrte der<br />

Regierung auf Jahre den Zugang<br />

zum internationalen Kapitalmarkt.<br />

Dabei wäre genau<br />

dies gut für Argentinien. Nachdem<br />

das Land im Gefolge der<br />

scharfen Abwertung seiner<br />

Währung 2002 mehrere Jahre<br />

Überschüsse im Außenhandel<br />

erwirtschaftet hat, ist die Leistungsbilanz<br />

wieder in die roten<br />

Zahlen gerutscht. Auch im<br />

Staatshaushalt klaffen große<br />

Löcher, nachdem dieser von<br />

2003 bis 2010 Überschüsse<br />

ausgewiesen hatte.<br />

Was würde bei einer Staatspleite<br />

passieren? Ohne Zugang<br />

zum Kreditautomaten des internationalen<br />

Kapitalmarktes<br />

müsste Argentinien den Gürtel<br />

deutlich enger schnallen. Importe<br />

auf Pump wären dann<br />

nicht mehr möglich, Defizite im<br />

Staatshaushalt ohne das Betätigen<br />

der Notenpresse nur noch<br />

im Umfang der inländischen Ersparnis<br />

denkbar. Genau so aber<br />

lässt sich die notorische Schuldensucht<br />

des Landes therapieren.<br />

Daher sollte Buenos Aires<br />

ruhig seine Zahlungen an alle<br />

Gläubiger einstellen – und<br />

Bankrott anmelden.<br />

SCHUTZ VOR DEM STAAT<br />

Dieser ist auch aus moralischen<br />

Gründen zu empfehlen. Anders<br />

als private Schuldner begleicht<br />

der Staat seine Außenstände<br />

nicht mit am Markt erwirtschafteten<br />

Einkommen, sondern mit<br />

immer neuen Schulden und/<br />

oder höheren Steuern. Ein<br />

Staatsbankrott Argentiniens<br />

zwänge das Land daher nicht<br />

nur zu einer gesunden Frugalität,<br />

sondern schützte die Bürger<br />

zudem vor dem gierigen fiskalischen<br />

Zugriff der Regierung und<br />

ihrer Gläubiger.<br />

NACHGEFRAGT<br />

»Gegen den Strich«<br />

Thomas Mayer, Ex-Chefökonom der Deutschen Bank,<br />

leitet ein neues Forschungsinstitut. Was der<br />

Querdenker anders machen will als die Konkurrenz.<br />

Herr Mayer, Sie haben lange<br />

als Chefökonom bei großen<br />

Banken gearbeitet. Nun werden<br />

Sie Direktor eines neuen<br />

Forschungsinstituts. Warum?<br />

Die Arbeit der Banken ist <strong>vom</strong><br />

kurzfristigen Tagesgeschäft geprägt.<br />

Unser Institut hingegen<br />

will als unabhängiger Thinktank<br />

grundsätzliche Fragen der Geldpolitik,<br />

des Geldsystems sowie<br />

der Finanz- und Kapitalmärkte<br />

untersuchen – an der Schnittstelle<br />

zwischen Praxis und Wissenschaft.<br />

Das machen die staatlichen<br />

Forschungsinstitute auch.<br />

Ja, aber deren Arbeit ist auf die<br />

klassische Politikberatung ausgerichtet.<br />

Das Research der<br />

meisten Banken konzentriert<br />

sich auf kurzfristige Fragestellungen<br />

und ist <strong>vom</strong> Absatz getrieben.<br />

Die Universitätslehrstühle<br />

haben ihren Schwerpunkt<br />

in der auf Publikationen in Fachzeitschriften<br />

ausgerichteten akademischen<br />

Forschung. Diese<br />

Lücken in der wissenschaftlich<br />

fundierten, aber praxisrelevanten<br />

Kapitalmarktforschung wollen<br />

wir schließen.<br />

Wer sind Ihre Auftraggeber?<br />

Zu Beginn wird die Flossbach<br />

von Storch Vermögensverwaltung<br />

der größte Abnehmer unserer<br />

Analysen sein. Bert Flossbach<br />

und Kurt von Storch haben<br />

das Institut vorfinanziert, das<br />

mindert den Druck zur Kundenakquisition.<br />

Mit der Zeit wollen<br />

wir aber auch externe Forschungsarbeiten<br />

für private und<br />

öffentliche Auftraggeber erstellen.<br />

Langfristig soll sich das<br />

Institut finanziell selbst tragen.<br />

Und dann konkurrieren Sie mit<br />

den staatlichen Instituten um<br />

Forschungsaufträge?<br />

Durchaus, aber im Unterschied<br />

zu staatlichen Instituten werden<br />

wir nicht in die Politikberatung<br />

SEITENWECHSEL<br />

Mayer, 60, ist seit Anfang Juli<br />

Gründungsdirektor des neuen<br />

Flossbach von Storch Research<br />

Institutes in Köln.<br />

einsteigen. Mit perspektivisch<br />

zehn Mitarbeitern haben wir<br />

dazu gar nicht die Größe. Zudem<br />

sind Politiker häufig beratungsresistent.<br />

Im Geschäft der<br />

politischen Beratung verschleißt<br />

man sich schnell. Wer<br />

als Ökonom etwas bewegen<br />

will, muss versuchen, direkt auf<br />

die öffentliche Meinungsbildung<br />

einzuwirken.<br />

Was wollen Sie anders machen<br />

als die Konkurrenz?<br />

Wir konzentrieren uns auf kapitalmarktrelevante<br />

Themen und<br />

nehmen Denkansätze in unsere<br />

Arbeit auf, die außerhalb des<br />

volkswirtschaftlichen Mainstreams<br />

liegen – wie die Lehre<br />

der österreichischen Schule der<br />

Nationalökonomie. In der Finanzkrise<br />

hat der Mainstream,<br />

der heute gelehrt wird, versagt.<br />

Die meisten Bankvolkswirte<br />

unterstützen die Euro-<br />

Rettungspolitik. Sie auch?<br />

Die Banken stehen seit der Finanzkrise<br />

unter großem öffentlichem<br />

Druck. Das macht die freie<br />

Meinungsäußerung schwierig.<br />

Banken sind vorsichtig geworden,<br />

wenn es darum geht, unbequeme<br />

Studien – etwa zur Euro-<br />

Krise – zu verfassen. Wir werden<br />

uns die Freiheit nehmen, gegen<br />

den Strich zu denken.<br />

malte.fischer@wiwo.de<br />

FOTO: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, BERT BOSTELMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

36 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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KONJUNKTUR DEUTSCHLAND<br />

Der neue Earlybird:<br />

Noch kein Boom in Sicht<br />

Wer rechtzeitig wissen will, wohin<br />

die Wirtschaft steuert – sei<br />

es, um sein Geld optimal anzulegen<br />

oder um Absatzchancen<br />

zu nutzen –, kommt um einen<br />

Blick auf die Frühindikatoren<br />

für die Konjunktur nicht umhin.<br />

Leser der WirtschaftsWoche<br />

können jeden Monat mit dem<br />

exklusiv von der Commerzbank<br />

berechneten Earlybird-Frühindikator<br />

einen Blick in die ökonomische<br />

Zukunft werfen. Der<br />

Earlybird hat einen Vorlauf gegenüber<br />

der Realwirtschaft von<br />

in der Regel sechs bis neun Monaten.<br />

Er misst Veränderungen<br />

der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen,<br />

noch bevor sie<br />

von den Unternehmen wahrgenommen<br />

werden und sich in<br />

Umfragewerten niederschlagen.<br />

Daher weist der Earlybird<br />

einen zeitlichen Vorsprung vor<br />

dem viel beachteten Geschäftsklimaindex<br />

des ifo Instituts auf<br />

(siehe Grafik).<br />

METHODIK VERBESSERT<br />

Jetzt haben die Ökonomen der<br />

Commerzbank den Earlybird<br />

methodisch überarbeitet, damit<br />

dieser den Konjunkturverlauf<br />

noch präziser anzeigt. Nach wie<br />

vor gehen in den Index die<br />

Geldpolitik, die Lage der Weltwirtschaft<br />

und der Euro-Wechselkurs<br />

ein – mithin die wichtigsten<br />

Bestimmungsfaktoren<br />

für die deutsche Konjunktur.<br />

Die lange Phase der Niedrigzinsen<br />

hat den Indikator in den<br />

vergangenen Jahren jedoch in<br />

luftige Höhen katapultiert. Dadurch<br />

hat er die Wachstumsraten<br />

des Bruttoinlandsprodukts<br />

bisweilen überzeichnet.<br />

Die Minizinsen lassen Investitionen<br />

rentabel erscheinen, die<br />

es bei genauer Betrachtung gar<br />

nicht sind. Haben die Betriebe<br />

die Investition realisiert, lassen<br />

die Impulse für die Konjunktur<br />

Volkswirtschaftliche<br />

Gesamtrechnung<br />

Real. Bruttoinlandsprodukt<br />

Privater Konsum<br />

Staatskonsum<br />

Ausrüstungsinvestitionen<br />

Bauinvestitionen<br />

Sonstige Anlagen<br />

Ausfuhren<br />

Einfuhren<br />

Arbeitsmarkt,<br />

Produktion und Preise<br />

Industrieproduktion 1<br />

Auftragseingänge 1<br />

Einzelhandelsumsatz 1<br />

Exporte 2<br />

ifo-Geschäftsklimaindex<br />

Einkaufsmanagerindex<br />

GfK-Konsumklimaindex<br />

Verbraucherpreise 3<br />

Erzeugerpreise 3<br />

Importpreise 3<br />

Arbeitslosenzahl 4<br />

Offene Stellen 4<br />

Beschäftigte 4, 5<br />

wieder nach. Erst wenn die<br />

Zinsen erneut sinken, erhält die<br />

Wirtschaft zusätzlichen<br />

Schwung. Deshalb erfasst der<br />

Earlybird von nun an neben dem<br />

Niveau der Realzinsen auch deren<br />

Veränderungen in den vergangenen<br />

zwölf Monaten.<br />

Um den Realzins zu berechnen,<br />

ziehen die Commerzbank-<br />

Ökonomen den Durchschnitt<br />

der Kernteuerungsraten der<br />

vergangenen zwölf Monate <strong>vom</strong><br />

kurzfristigen Nominalzins ab.<br />

Dadurch lassen sich die monatlichen<br />

Schwankungen der<br />

Teuerungsrate glätten. Die Lage<br />

der Weltkonjunktur wird in<br />

Zukunft durch einen „Welt-Einkaufsmanagerindex“<br />

gemessen,<br />

in den neben dem bisher<br />

verwendeten US-Einkaufsmanagerindex<br />

ISM zusätzlich die<br />

entsprechenden Indizes für<br />

China und die Euro-Zone (ohne<br />

Deutschland) eingehen.<br />

Als Ergebnis der Revision<br />

verläuft der Earlybird seit Ausbruch<br />

der Finanzkrise flacher<br />

und spiegelt so die Wachstumsraten<br />

besser wider. Aktuell liegt<br />

der Index mit 0,17 Punkten im<br />

positiven Bereich, allerdings<br />

mit Tendenz nach unten. Laut<br />

Commerzbank-Ökonom Ralph<br />

Solveen zeigt er damit „ein<br />

überdurchschnittliches Umfeld<br />

für die Konjunktur an und<br />

signalisiert eine Fortsetzung<br />

des Aufschwungs – allerdings<br />

keinen Boom“.<br />

Earlybird schneller als ifo-Index<br />

ifo-Geschäftsklimaindex und Earlybird-Konjunkturbarometer<br />

1,00<br />

0,75<br />

0,50<br />

0,25<br />

0<br />

–0,25<br />

–0,50<br />

–0,75<br />

–1,00<br />

2012 2013<br />

Durchschnitt<br />

0,7<br />

0,8<br />

1,0<br />

-4,0<br />

-1,4<br />

3,4<br />

3,2<br />

1,4<br />

2012 2013<br />

Durchschnitt<br />

–0,9<br />

–4,2<br />

0,1<br />

3,3<br />

105,0<br />

46,7<br />

5,9<br />

2,0<br />

1,6<br />

2,1<br />

2896<br />

478<br />

29006<br />

Earlybird<br />

malte.fischer@wiwo.de<br />

ifo-Geschäftsklimaindex<br />

1993 1996 1999 2002 2005 2008 2011 <strong>2014</strong><br />

Quelle:Commerzbank, ifo<br />

0,5<br />

0,9<br />

0,4<br />

-2,4<br />

-0,2<br />

3,0<br />

0,9<br />

1,5<br />

–0,2<br />

2,5<br />

0,0<br />

-0,2<br />

106,9<br />

50,6<br />

6,5<br />

1,5<br />

–0,1<br />

–2,5<br />

2950<br />

435<br />

29370<br />

I/13<br />

0,0<br />

0,3<br />

0,0<br />

-1,4<br />

-1,5<br />

-0,9<br />

-0,7<br />

0,2<br />

März<br />

<strong>2014</strong><br />

–0,6<br />

–2,8<br />

0,6<br />

–1,8<br />

110,7<br />

53,7<br />

8,5<br />

1,0<br />

–0,9<br />

–3,3<br />

2917<br />

445<br />

29701<br />

II/13 III/13 IV/13<br />

Veränderung zum Vorquartal in Prozent<br />

1 Volumen, produzierendes Gewerbe, Veränderung zum Vormonat in Prozent; 2 nominal, Veränderung zum Vormonat in<br />

Prozent; 3 Veränderung zum Vorjahr in Prozent; 4 in Tausend, saisonbereinigt; 5 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte;<br />

alle Angaben bis auf Vorjahresvergleiche saisonbereinigt; Quelle: Thomson Reuters<br />

0,7<br />

0,7<br />

-0,2<br />

0,5<br />

1,7<br />

1,6<br />

2,5<br />

1,5<br />

April<br />

<strong>2014</strong><br />

0,2<br />

3,1<br />

–1,6<br />

3,0<br />

111,2<br />

54,1<br />

8,5<br />

1,3<br />

–0,9<br />

–2,4<br />

2882<br />

447<br />

29736<br />

0,3<br />

0,3<br />

0,7<br />

0,1<br />

2,1<br />

1,4<br />

-0,1<br />

0,8<br />

Mai<br />

<strong>2014</strong><br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

110,4<br />

52,3<br />

8,5<br />

0,9<br />

–0,8<br />

–<br />

29<strong>07</strong><br />

445<br />

–<br />

0,4<br />

-0,3<br />

-0,3<br />

1,4<br />

0,2<br />

1,2<br />

2,5<br />

1,3<br />

Juni<br />

<strong>2014</strong><br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

109,7<br />

52,0<br />

8,6<br />

1,0<br />

–<br />

–<br />

2916<br />

450<br />

–<br />

I/14<br />

0,8<br />

0,7<br />

0,4<br />

3,3<br />

3,6<br />

-0,8<br />

0,2<br />

2,2<br />

Juli<br />

<strong>2014</strong><br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

8,9<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

Letztes Quartal<br />

zum Vorjahr<br />

in Prozent<br />

2,5<br />

1,1<br />

0,5<br />

6,0<br />

10,2<br />

3,3<br />

5,5<br />

6,2<br />

Letzter Monat<br />

zum Vorjahr<br />

in Prozent<br />

–1,5<br />

3,4<br />

3,2<br />

–0,2<br />

3,6<br />

7,0<br />

30,9<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–1,1<br />

3,5<br />

1,5<br />

120<br />

115<br />

110<br />

105<br />

100<br />

95<br />

90<br />

85<br />

80<br />

WirtschaftsWoche 7.7.<strong>2014</strong> Nr. 28 37<br />

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Der Volkswirt<br />

SERIE FRÜHINDIKATOREN (IV)<br />

Am Puls der Zeit<br />

Der Einkaufsmanagerindex ISM ist der wichtigste<br />

Frühindikator für die US-Konjunktur – und gilt<br />

als Gradmesser für die gesamte Weltwirtschaft.<br />

Auch Irrtümer<br />

können die<br />

Märkte bewegen.<br />

Ausgerechnet<br />

das renommierte amerikanische<br />

Institute of Supply<br />

Management (ISM) musste<br />

jüngst kleinlaut zugeben, sich<br />

verrechnet zu haben. Die private<br />

Organisation<br />

SERIE<br />

Wie entstehen Frühindikatoren?<br />

Was sagen<br />

sie aus? Alle Teile der<br />

WirtschaftsWoche-Serie<br />

finden Sie unter<br />

wiwo.de/indikatoren<br />

mit Sitz in der<br />

Kleinstadt Tempe<br />

im US-Staat Arizona<br />

veröffentlicht<br />

jeden Monats<br />

einen<br />

„Report on Business“.<br />

Darin enthalten<br />

ist der weltweit beachtete<br />

Einkaufsmanagerindex der<br />

US-Industrie. So war es auch im<br />

Juni. Diesmal aber stimmte etwas<br />

nicht. Der Index fiel im Mai<br />

im Vergleich zum Vormonat –<br />

aber nur wegen eines Softwarefehlers.<br />

Besonders peinlich für<br />

das Institut war, dass es den<br />

Fehler nicht selbst bemerkte,<br />

sondern der Ökonom Kenneth<br />

Kim von Stone & McCarthy,<br />

einer Finanzanalysefirma aus<br />

Princeton. Und es war Joseph<br />

LaVorgna, US-Chefökonom der<br />

Deutschen Bank in New York,<br />

der per Twitter verkündete:<br />

„Der ISM-Index ist falsch. Er<br />

liegt bei 55,4 und nicht wie<br />

berichtet bei 53,2 Punkten.“<br />

Da hatten die Finanzmärkte<br />

bereits auf die schlechten Daten<br />

reagiert, die Kurse an der New<br />

Yorker Börse zum Tiefflug angesetzt.<br />

Am Ende musste das ISM<br />

einräumen, dass sein Index in<br />

Wahrheit um 0,5 Zähler gestiegen<br />

war.<br />

Der Reputation des „Purchasing<br />

Managers Index (PMI)“<br />

dürfte die Panne allerdings<br />

kaum schaden. Er gilt als wichtigster<br />

Frühindikator für die<br />

konjunkturelle Entwicklung in<br />

der größten Volkswirtschaft<br />

der Welt. „Der ISM-Index<br />

ermöglicht einen nützlichen<br />

und schnellen Blick auf die<br />

Konjunktur“, sagt Ethan Harris,<br />

Chefökonom bei der Bank of<br />

America Merrill Lynch in New<br />

York. Auch für<br />

David Bianco, US-<br />

Chef für Aktienstrategie<br />

bei der<br />

Deutschen Bank<br />

in New York, ist<br />

der Frühindikator<br />

von hoher Relevanz.<br />

„Wer wissen<br />

will, wie die reale ökonomische<br />

Lage in den Unternehmen ist,<br />

der kommt an diesem Index<br />

nicht vorbei“, sagt Bianco. Ein<br />

großer Vorteil sei die frühe Veröffentlichung<br />

vor allen anderen<br />

Indikatoren am ersten Arbeitstag<br />

eines jeden Monats.<br />

LANGE TRADITION<br />

Seit 1931 (mit einer Unterbrechung<br />

während des Zweiten<br />

Weltkrieges) befragt das ISM<br />

rund 350 Einkaufsleiter aus dem<br />

verarbeitenden Gewerbe in den<br />

USA, wie sich deren Geschäftslage<br />

im jeweiligen Monat entwickelt<br />

hat. Als verantwortliche<br />

Manager für Beschaffung und<br />

Materialplanung haben sie den<br />

besten Überblick über das aktuelle<br />

Geschehen im Betrieb.<br />

Das Prinzip der Befragung ist<br />

simpel, sie kostet die teilnehmenden<br />

Manager, die aus rund<br />

20 verschiedenen Branchen<br />

stammen, kaum zehn Minuten,<br />

heißt es beim Institut in Tempe.<br />

Nur wenige Antworten müssen<br />

die Manager geben, anonym<br />

über eine Web-Seite: Wie haben<br />

sich bestimmte Aktivitäten des<br />

Probleme mit der Software<br />

ISM-Chef Tom Derry<br />

Unternehmens im Vergleich<br />

zum Vormonat verändert? Sind<br />

diese gestiegen, gefallen oder<br />

gleich geblieben? Der daraus<br />

resultierende gewichtete Index<br />

basiert auf fünf Indikatoren, die<br />

saisonal bereinigt zu jeweils 20<br />

Prozent in die Wertung eingehen:<br />

neue Aufträge, Produktion,<br />

Beschäftigung, Lagerbestand<br />

und erhaltene Lieferungen.<br />

Ein Wert von 50 gilt als ökonomisch<br />

neutral. Je weiter sich<br />

der Index davon entfernt, desto<br />

stärker oder langsamer wächst<br />

die Wirtschaft. Ein Wert von<br />

über 50 Punkten deutet also auf<br />

Wachstum hin, bei unter 50<br />

Zählern geht es wirtschaftlich<br />

bergab.<br />

Das gleiche Modell gilt für die<br />

einzelnen Indikatoren: Ein Wert<br />

unter 50 bedeutet etwa eine sinkende<br />

Auftragslage, ein Wert<br />

über 50 steht für besser gefüllte<br />

Auftragsbücher.<br />

Guterholt<br />

ISM-Einkaufsmanagerindex<br />

fürdie Industrie<br />

60<br />

55<br />

50<br />

45<br />

40<br />

35<br />

30<br />

2008 2010 2012 <strong>2014</strong><br />

Quelle: ISM<br />

Aufschwung<br />

Abschwung<br />

„Die hohe Bedeutung des<br />

ISM für die Dienstleistungsgesellschaft<br />

USA mag im ersten<br />

Moment überraschen“, sagt<br />

Tobias Basse, Analyst bei der<br />

Nord/LB. Doch die befragten<br />

Einkäufer seien aufgrund ihrer<br />

Position in den Unternehmen<br />

besonders geeignete Beobachter<br />

der ökonomischen Entwicklungen.<br />

„Sie sind sozusagen<br />

am Puls der Zeit.“<br />

Seit 1998 erstellt das ISM-<br />

Institut auch einen Einkaufsmanagerindex<br />

für das nicht<br />

verarbeitende Gewerbe, der<br />

jeweils drei Tage nach dem<br />

Industrieindex veröffentlicht<br />

wird. Der ISM-Index geht zudem<br />

in andere Frühindikatoren<br />

ein. Der von der Commerzbank<br />

für die WirtschaftsWoche erstellte<br />

Earlybird-Indikator etwa,<br />

der die Perspektiven der deutschen<br />

Konjunktur abbildet, integriert<br />

den ISM als Messgröße<br />

für die Lage der Weltwirtschaft<br />

(siehe Seite 37).<br />

Für Michael Montgomery,<br />

US-Ökonom beim Finanzinstitut<br />

IHS Global Insight, hat der<br />

Index dennoch eine Schwäche:<br />

Das Konjunkturbarometer gewichte<br />

die befragten Unternehmen<br />

nicht nach ihrer Größe.<br />

„Kleinere Unternehmen sind<br />

offenbar übergewichtet, größere<br />

untergewichtet“, sagt Montgomery.<br />

Dafür sei der Index verfügbar,<br />

lange bevor die realen<br />

Daten gesammelt und ausgewertet<br />

seien – der Frühindikator<br />

hat einen Vorlauf von drei bis<br />

sechs Monaten vor der tatsächlichen<br />

Industrieproduktion.<br />

Aktuell zeigt der Index eine<br />

robuste Lage der US-Wirtschaft<br />

an. Nach den vergangene<br />

Woche präsentierten Zahlen<br />

für Juni ist der ISM im Vergleich<br />

zum Mai minimal um 0,1 Punkte<br />

auf 55,3 Punkte gefallen. Er<br />

liegt damit klar über der<br />

50-Punkte-Grenze.<br />

Wenn die Zahlen denn diesmal<br />

stimmen. ISM-Chef Tom<br />

Derry hat zumindest versprochen,<br />

dass mit der Software<br />

wieder alles in Ordnung sei.<br />

angela.hennersdorf@wiwo.de | Frankfurt<br />

38 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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FOTOS: PR, BLOOMBERG NEWS/SIMON DAWSON<br />

WELTWIRTSCHAFT<br />

Neue Richtung<br />

Als erste große Notenbank wird die Bank of England<br />

wohl bald die Leitzinsen anheben – auch um die<br />

Immobilienblase im Land zu bekämpfen.<br />

Solche Fragen ereilen Notenbankpräsidenten<br />

eher<br />

selten. „Wie finden Sie es,<br />

als unzuverlässiger Liebhaber<br />

bezeichnet zu werden?“, fragte<br />

eine Journalistin jüngst auf einer<br />

Pressekonferenz den Chef<br />

der Bank of England (BoE),<br />

Mark Carney. Der konnte sich<br />

ein Lächeln nicht verkneifen –<br />

und wusste sofort, was gemeint<br />

war. Den Vorwurf, widersprüchliche<br />

Signale über die Strategie<br />

seines Hauses auszusenden<br />

und sich wie ein Mann zu verhalten,<br />

der seine Freundin abwechselnd<br />

hoffen und bangen<br />

lässt, hatte er sich zuvor bereits<br />

aus der Politik anhören müssen.<br />

In der Tat hat der Kanadier<br />

Carney, der im Juli 2013 als erster<br />

Ausländer an die Spitze der<br />

BoE berufen wurde, in seinem<br />

ersten Amtsjahr einige Volten<br />

hingelegt. Seine viel gerühmte<br />

„Forward Guidance“ gilt als gescheitert.<br />

Zunächst verkündete<br />

er, die Zinsen würden erst angehoben,<br />

wenn die Arbeitslosenrate<br />

unter die Grenze von sieben<br />

Prozent falle. Damit rechne<br />

er 2016. Doch dann sank die<br />

Arbeitslosigkeit rascher als gedacht<br />

unter diese Schwelle –<br />

ohne dass die BoE an der Zinsschraube<br />

drehte. Im Mai <strong>2014</strong><br />

gab Carney zu Protokoll, eine<br />

Zinswende sei weit entfernt, da<br />

die Wirtschaft noch über viel<br />

ungenutzte Kapazitäten verfüge.<br />

Mitte Juni dann elektrisierte<br />

er die Märkte mit der Bemerkung,<br />

eine Zinswende könne<br />

„früher kommen, als von den<br />

Finanzmärkten angenommen“.<br />

Als das Pfund in die Höhe<br />

schnellte, ruderte er wenige Tage<br />

später zurück;vor einer Zinssenkung<br />

müssten erst die Überkapazitäten<br />

abgebaut werden.<br />

Doch trotz dieses Schlingerkurses<br />

gilt es in der Londoner<br />

City als ausgemachte Sache: In<br />

Großbritannien steht die geldpolitische<br />

Wende bevor. Unter<br />

den großen westlichen Notenbanken<br />

wird die BoE wohl als<br />

Nahe null<br />

Leitzins (in Prozent)<br />

6<br />

5<br />

4<br />

3<br />

2<br />

1<br />

Bank of England<br />

Fed<br />

0<br />

2008 <strong>2014</strong><br />

Quelle: Thomson Reuters<br />

EZB<br />

erste wieder die monetären Zügel<br />

straffen – und den Kollegen<br />

der Europäischen Zentralbank<br />

und der US-Fed Anschauungsmaterial<br />

liefern, wie die Märkte<br />

darauf reagieren. Seit März<br />

2009 bereits verharrt der Leitzins<br />

in Großbritannien auf dem<br />

historischen Tief von 0,5 Prozent.<br />

Um die Konjunktur anzukurbeln,<br />

hatte Carneys Vorgänger<br />

Mervyn King nicht nur die<br />

Zinsen nach unten geschleust,<br />

sondern auch über Anleihekäufe<br />

375 Milliarden Pfund in die<br />

Wirtschaft gepumpt.<br />

Wenn am kommenden Donnerstag<br />

der geldpolitische Ausschuss<br />

der BoE tagt, dürfte es<br />

zwar noch keine Entscheidung<br />

über einen restriktiveren Kurs<br />

geben. Viele Volkswirte rechnen<br />

aber ab dem vierten Quartal<br />

mit einer Leitzinserhöhung.<br />

Weitere Zinsschritte könnten<br />

folgen. In einem Interview mit<br />

der BBC gab Carney zu Protokoll,<br />

er betrachte Zinsen von 2,5<br />

Prozent als „normal“. Er deutete<br />

an, dieses Niveau dürfte bis Anfang<br />

2017 wieder erreicht sein.<br />

Der Grund für die Zinswende:<br />

Großbritanniens Wirtschaft<br />

droht zu überhitzen. Das Land<br />

wächst derzeit schneller als die<br />

meisten anderen Industrienationen.<br />

Die BoE prognostiziert<br />

für <strong>2014</strong> einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts<br />

von 3,4 Prozent.<br />

Nachdem die britische<br />

Konjunktur zunächst vor allem<br />

Teurerwohnen<br />

Anstieg der Häuserpreise<br />

(in Prozent zum Vorjahresmonat)<br />

18,7<br />

8,9<br />

8,5<br />

6,8<br />

6,6<br />

5,5<br />

4,8<br />

3,3<br />

2,6<br />

Südostengland<br />

East Anglia<br />

Nordengland<br />

East Midlands<br />

Südwestengland<br />

Schottland<br />

Wales<br />

Nordirland<br />

April <strong>2014</strong>, Quelle: ONS, Council of<br />

Mortgage Lenders<br />

London<br />

<strong>vom</strong> privaten Konsum getrieben<br />

wurde, ziehen inzwischen<br />

auch die Investitionen an.<br />

Die Inflationsrate liegt aktuell<br />

zwar nur bei rund 1,5 Prozent<br />

und damit unter dem Ziel der<br />

BoE von zwei Prozent. Gleichzeitig<br />

aber ist – auch infolge der<br />

expansiven Geldpolitik – eine<br />

Immobilienblase entstanden.<br />

In London sind die Preise im<br />

Stürmische Zeiten Die Bank of<br />

England tritt auf die Bremse<br />

April im Jahresvergleich um<br />

18,7 Prozent in die Höhe geschossen,<br />

landesweit betrug<br />

der Anstieg zehn Prozent. Das<br />

Problem: Hypotheken repräsentieren<br />

80 Prozent der Verschuldung<br />

der privaten Haushalte,<br />

das Verhältnis von<br />

Schulden zu verfügbarem<br />

Einkommen liegt bei durchschnittlich<br />

140 Prozent. „Die<br />

Geschichte zeigt, dass die Briten<br />

alles tun, um ihre Hypotheken<br />

zu bedienen“, sagt Carney.<br />

„Das bedeutet, dass sie ihre<br />

<strong>Ausgabe</strong>n drastisch zurückfahren,<br />

wenn unerwartete Ereignisse<br />

eintreten, und die Konjunktur<br />

damit potenziell scharf<br />

abbremsen.“ Die BoE sieht im<br />

Immobilienmarkt ein Stabilitätsrisiko<br />

für die Banken und<br />

die gesamte Wirtschaft.<br />

HALBHERZIGE REAKTION<br />

Im Vorgriff auf die Zinserhöhung<br />

trat die Notenbank in der<br />

vorvergangenen Woche daher<br />

bereits mit einem anderen Instrument<br />

auf die Bremse. Die<br />

Banken dürfen nur noch höchstens<br />

15 Prozent aller Kredite an<br />

Hauskäufer vergeben, deren<br />

Hypothek größer als das Viereinhalbfache<br />

ihres Jahreseinkommens<br />

ist. Gleichzeitig sollen<br />

sie prüfen, ob die Kunden<br />

ihre Hypotheken noch bedienen<br />

können, wenn die Zinsen<br />

auf drei Prozent steigen.<br />

Kritiker halten diese Maßnahmen<br />

für halbherzig. Die<br />

Zahl der Hypothekenschuldner,<br />

deren Verbindlichkeiten mehr<br />

als das Viereinhalbfache ihres<br />

Jahreseinkommens beträgt,<br />

liegt nur bei elf Prozent. Außerdem<br />

bleibt das „Help to Buy“-<br />

Programm der Regierung auf<br />

dem Markt, das vor allem jungen<br />

Briten den Erwerb der ersten<br />

eigenen Immobilie erleichtern<br />

soll. Immer noch ist es<br />

damit möglich, bis zu 95 Prozent<br />

des Hauswertes durch<br />

Fremdmittel zu finanzieren.<br />

Um das Image des unzuverlässigen<br />

Liebhabers abzulegen,<br />

muss Carney daher nachlegen.<br />

yvonne.esterhazy@wiwo.de | London<br />

WirtschaftsWoche 7.7.<strong>2014</strong> Nr. 28 39<br />

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Der Volkswirt<br />

DENKFABRIK | Angeführt von Frankreich und Italien, wollen viele EU-Staaten die<br />

verhasste Sparpolitik beenden. Dabei ist die Haushaltslage vielerorts noch immer<br />

dramatisch. Und das wahre Ausmaß der Schuldenkrise wird auf EU-Ebene durch eine<br />

Reihe von Manipulationen und statistischen Kniffen vernebelt. Von Hans-Werner Sinn<br />

Europäische Tricks<br />

Die kollektive Haftung<br />

für die Staatsschulden<br />

der europäischen<br />

Krisenländer<br />

zeigt Wirkung: Die Anleihezinsen<br />

der überschuldeten Staaten<br />

in der Euro-Zone sind dramatisch<br />

gefallen. Doch ein<br />

Grund zur Freude ist das nicht,<br />

denn nun lässt sich die Schuldenlawine<br />

überhaupt nicht<br />

mehr stoppen.<br />

Blicken wir zurück: Zum Ausgleich<br />

für die Euro-Rettungspakete<br />

hatte Deutschland 2012<br />

den Fiskalpakt durchgesetzt.<br />

Zusätzlich zur Einhaltung der<br />

Defizitgrenze von drei Prozent<br />

des Bruttoinlandsprodukts<br />

(BIP) mussten sich die Schuldenländer<br />

verpflichten, ihre<br />

Schulden pro Jahr um ein Zwanzigstel<br />

des jeweiligen Abstandes<br />

zu einer Schuldenquote von 60<br />

Prozent zu senken.<br />

Davon ist nun keine Rede<br />

mehr, denn bei niedrigen Zinsen<br />

ist es verlockend, mehr<br />

Schulden zu machen. Nachdem<br />

die Zwanzigstel-Regel faktisch<br />

gekippt ist, wollen europäische<br />

Politiker jetzt sogar an die Drei-<br />

Prozent-Grenze heran. Man will<br />

sie aushöhlen, indem etwa <strong>Ausgabe</strong>n<br />

für Militär, Bildung und<br />

Forschung nicht mehr bei den<br />

Staatsausgaben mitgerechnet<br />

werden.<br />

Derartige Tricksereien sind<br />

kein Einzelfall. Schon seit Längerem<br />

wird rund um die Schuldenfrage<br />

manipuliert. So behauptete<br />

die EU-Kommission<br />

kürzlich, Griechenland habe<br />

2013 einen Primärüberschuss<br />

von 0,8 Prozent <strong>vom</strong> BIP erzielt<br />

– während die EU-Statistikbehörde<br />

Eurostat ein Primärdefizit<br />

von 8,7 Prozent auswies. Das<br />

Primärdefizit wird von allen Äm-<br />

tern der Welt als jenes Haushaltsdefizit<br />

definiert, das entsteht,<br />

wenn die Zinszahlungen des Staates<br />

nicht in die Rechnung einfließen.<br />

Die EU-Kommission benutzte<br />

aber ihre eigene Definition und<br />

ließ als einmalig deklarierte <strong>Ausgabe</strong>n<br />

auch noch weg. Als das ifo<br />

Institut die unterschiedlichen Definitionen<br />

öffentlich machte, entfernte<br />

Eurostat noch am gleichen<br />

Tag die Variable „Primärdefizit“<br />

sämtlicher EU-Länder aus seiner<br />

Datenbank. Pech nur, dass der<br />

Anhang der Frühjahrsprognose<br />

der EU-Kommission, die Anfang<br />

Mai herauskam, noch immer die<br />

Eurostat-Zahlen zum Primärdefizit<br />

enthielt.<br />

»Der ESM ist ein<br />

Schattenhaushalt,<br />

dessen Schulden<br />

den Ländern<br />

nicht zugerechnet<br />

werden«<br />

Die Schulden des ersten Rettungsschirms<br />

EFSF, der 2010 installiert<br />

worden war und drei Jahre<br />

lief, wurden den Euro-Ländern<br />

korrekterweise anteilig angerechnet.<br />

Für Deutschland entstand dadurch<br />

bis Dezember 2013 eine<br />

zusätzliche Staatsschuld von 52<br />

Milliarden Euro – umgerechnet<br />

rund 1,9 Prozent <strong>vom</strong> BIP. Beim<br />

zweiten (permanenten) Rettungsschirm<br />

ESM war man schlauer.<br />

Dieser wurde als Schattenhaushalt<br />

konstruiert, dessen Schulden<br />

den Mitgliedsländern nicht zugerechnet<br />

werden – obwohl sie dafür<br />

haften. Bei voller Ausnutzung<br />

des ESM-Finanzrahmens darf<br />

Deutschland 168 Milliarden Euro<br />

an Staatsschulden verstecken.<br />

Auf ähnliche Weise wurde<br />

Deutschlands Anteil (rund neun<br />

Milliarden Euro) an den 46 Milliarden<br />

Euro Schulden verborgen, die<br />

die EU für ihren Rettungsschirm<br />

EFSM hat machen können.<br />

Die heimliche Devise bei all<br />

dem scheint zu sein: Wenn die<br />

Banken Schattenhaushalte unterhalten,<br />

dann dürfen wir es auch.<br />

Ein großes deutsches Wirtschaftsforschungsinstitut<br />

hat nun sogar<br />

vorgeschlagen, in Luxemburg<br />

einen weiteren staatlichen Schattenhaushalt<br />

der EU-Länder zur<br />

Finanzierung neuer privater Investitionen<br />

einzurichten.<br />

Als die Forderungen der Staatengemeinschaft<br />

gegenüber Griechenland<br />

im Herbst 2012 bis zur<br />

Mitte des Jahrhunderts gestreckt<br />

und für zehn Jahre zinsfrei gestellt<br />

wurden, entstand der Staatengemeinschaft<br />

ein Verlust mit einem<br />

Gegenwartswert von 43 Milliarden<br />

Euro. Auf Deutschland entfielen<br />

13 Milliarden Euro. Hätte man<br />

Griechenland den Nachlass in<br />

Form eines offenen Schuldenschnitts<br />

gewährt, hätten ihn die<br />

nationalen Finanzminister als defizitvergrößernde<br />

<strong>Ausgabe</strong> verbuchen<br />

müssen. Der deutsche Finanzierungssaldo<br />

hätte 2012 bei<br />

minus 0,4 Prozent statt bei plus<br />

0,1 Prozent <strong>vom</strong> BIP gelegen.<br />

Für die Beruhigung der Öffentlichkeit<br />

schien die Verschleierung<br />

der wirklichen Lasten die<br />

bessere Variante zu sein.<br />

KÜNSTLICHES PLUS<br />

Und es geht so weiter: 2013 erließen<br />

das EU-Parlament und<br />

der Rat der EU eine Verordnung,<br />

die den EU-Ländern ab<br />

September <strong>2014</strong> vorschreibt,<br />

<strong>Ausgabe</strong>n für Forschung und<br />

Entwicklung statt als Vorleistungen<br />

als Endprodukte in der<br />

volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung<br />

zu verbuchen. Dadurch<br />

und durch andere konzeptionelle<br />

Änderungen wird<br />

das deutsche BIP im Vergleich<br />

zu dem Wert, den es sonst<br />

gehabt hätte, rechnerisch um<br />

etwa drei Prozent angehoben.<br />

Die Staatsschuldenquote sinkt<br />

hingegen auch rückwirkend um<br />

etwa 2,3 Prozentpunkte.<br />

Das Bestreben der Politik,<br />

den Wählern zulasten zukünftiger<br />

Generationen immer mehr<br />

Geschenke zukommen zu lassen,<br />

ohne es verbuchen zu müssen,<br />

ist so übermächtig geworden,<br />

dass selbst Hardliner<br />

schwach werden. Kürzlich erklärte<br />

Ex-Finanzminister Theo<br />

Waigel in einem Interview, es sei<br />

keine schlechte Idee, die<br />

Staatsausgaben für Bildung und<br />

Forschung zu den investiven<br />

<strong>Ausgabe</strong>n zu rechnen. Wer fragt<br />

schon danach, dass dies Artikel<br />

115 des Grundgesetzes aushebeln<br />

würde, der neue Schulden<br />

an die Höhe der staatlichen Investitionen<br />

koppelt?<br />

Hans-Werner Sinn ist Präsident<br />

des ifo Instituts und Ordinarius<br />

an der Ludwig-Maximilians-<br />

Universität in München.<br />

FOTO: ROBERT BREMBECK FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, VISUM/ILJA C. HENDEL<br />

40 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Einfühlsamer<br />

Haudegen<br />

AIRBUS | Schnell entscheiden,<br />

Macht delegieren, Vorgesetzte<br />

zu Vorbildern machen: wie<br />

Konzernchef Tom Enders<br />

Intrigen, Produktionsdesaster<br />

und Länderstreits überwand –<br />

und aus Europas schwierigstem<br />

Konzern ein Musterbeispiel für<br />

moderne Unternehmenskultur<br />

machte.<br />

42 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Respekt bei Regierungen<br />

und Gewerkschaftern<br />

Konzern-Chef Enders im<br />

Rohbau eines Airbus<br />

FOTO: FRED MERZ/REZO<br />

WirtschaftsWoche 7.7.<strong>2014</strong> Nr. 28 43<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Problemfeld<br />

Großraumflugzeuge<br />

Im Kerngeschäft<br />

Ziviljets lebt Airbus<br />

fast nur von den<br />

A320-Mittelstreckenfliegern.<br />

Auf der<br />

Langstrecke bringt<br />

nur das älteste<br />

Modell A330 Geld.<br />

Der neue A350 wird<br />

netto erst nach 2020<br />

Gewinn abwerfen,<br />

der Superjumbo<br />

A380 wohl nie.<br />

Problemfeld<br />

Rüstung<br />

Kampfjets und Raketen<br />

bringen viel Profit.<br />

Doch ab 2018 fehlen<br />

neue Aufträge. Für<br />

die Drohne Talarion<br />

fand Airbus keine<br />

Kunden, und das<br />

Geschäft mit Grenzsicherung<br />

wirft weniger<br />

ab als erwartet.<br />

Wer Tom Enders treffen will, hat in seinem<br />

Büro in der Konzernzentrale am<br />

Flughafen im südfranzösischen Toulouse<br />

selten Erfolg. Anfang der Woche<br />

besucht der Chef des größten europäischen<br />

Luftfahrtkonzerns, der Airbus Group,<br />

meist ein Werk am Firmensitz oder konferiert dort<br />

mit Vorständen und Mitarbeitern. Mitte der Woche<br />

besucht der 55-Jährige dann ein paar der 180 Betriebsstätten<br />

des Konzerns oder trifft Politiker und<br />

wichtige Kunden. Und Ende der Woche reist der Vater<br />

von vier Kindern meist in die Airbus-Deutschland-Zentrale<br />

nach München, um von dort zur Familie<br />

an den Tegernsee zu fahren – sei es zur gemeinsamen<br />

Bergwanderung oder nur zu einem Tegernseer<br />

Hell aus einer Brauerei des ehemaligen bayrischen<br />

Königshauses Wittelsbach.<br />

„Wir alle haben ja schon einen höllischen Zeitplan“,<br />

seufzt Marwan Lahoud, Marketing- und Strategievorstand<br />

der Airbus-Gruppe, voller Respekt.<br />

„Aber Tom legt da noch eins drauf.“<br />

Die Omnipräsenz ist Enders’ Programm und Erfolgsrezept.<br />

Er führt den Konzern nicht einfach nur,<br />

was schon mit der schwerste Job in Europa wäre.<br />

Wohl kein Unternehmen ächzt dermaßen unter<br />

hochriskanten neuen Produkten, argwöhnischen<br />

deutschen und französischen Mitarbeitern sowie<br />

unter drohenden Einmischungen der Regierungen,<br />

in diesem Fall in Paris und Berlin.<br />

Vielmehr lenkt Enders und baut Airbus gleichzeitig<br />

unablässig um, seit er 2012 den Steuerknüppel<br />

von seinem französischen Vorgänger Louis Gallois<br />

übernahm. In diesen zwei Jahren ist Enders nicht<br />

weniger gelungen, als Airbus neu auszurichten und<br />

aus einem technikverliebten Firmenkonvolut ein<br />

modernes, gewinnorientiertes Unternehmen zu formen,<br />

das seine Möglichkeiten effektiver denn je<br />

nutzt, ohne jeden Tag die Intervention einer Kanzlerin<br />

von der Spree oder eines Staatspräsidenten von<br />

der Seine fürchten zu müssen. Zudem prosperiert<br />

Airbus wie noch nie, ist der Aktienkurs heute fast<br />

doppelt so hoch wie vor zwei Jahren und nähert sich<br />

die Marge rekordverdächtigen sieben Prozent <strong>vom</strong><br />

Umsatz. „Airbus geht es derzeit besser denn je“, sagt<br />

Richard Aboulafia, Analyst der auf die Branche spezialisierten<br />

Marktforscher Teal Group aus den USA.<br />

Wie hat der drahtige Typ mit dem schütteren Haar<br />

und dem Major in der Vita das geschafft?<br />

Für Außenstehende steht über allem, dass Enders<br />

einen Managementstil entwickelt hat, der militärische<br />

Attribute wie schnelle Entscheidungen geschickt<br />

vereint mit vermeintlich weichen Fähigkeiten,<br />

wie Verantwortung zu delegieren, offen zu diskutieren<br />

sowie menschliche Umgangsformen zu<br />

pflegen, statt sturen Gehorsam zu verlangen.<br />

„Enders ist das Beste, was Airbus passieren konnte“,<br />

sagt Heinz Schulte, Chef des Branchen-Informationsdienstes<br />

Griephan. Und Brent Scowcroft, ehemals<br />

Sicherheitsberater von drei US-Präsidenten<br />

und heute Berater in Washington, assistiert:„Mit seiner<br />

Art zu führen ist Tom ein Vorbild für die ganze<br />

Branche – und auch weit darüber hinaus.“<br />

Paradesparte Verkehrsflugzeuge<br />

Umsatz und Gewinn der Airbus Group nach Sparten 2013 sowie Aktienkurs im Vergleich zu Boeing<br />

Sonstiges 1 %<br />

Cassidian (Rüstung)<br />

Astrium<br />

(Raumfahrt)<br />

Eurocopter<br />

(Hubschrauber)<br />

10 %<br />

10 %<br />

4 %<br />

9 %<br />

Gesamtumsatz<br />

59,3<br />

Mrd. Euro<br />

Verkehrsflugzeuge<br />

Cassidian (Rüstung)<br />

66 % 14 % 55 %<br />

Astrium<br />

(Raumfahrt)<br />

Eurocopter<br />

(Hubschrauber)<br />

ZU WENIG ZEIT FÜR POMP<br />

Danach sah es am Beginn der Regentschaft des Deutschen<br />

bei EADS, wie die Airbus Group damals noch<br />

hieß, nicht aus. Im Sommer 2012, gleich nach Enders<br />

Antritt, rappelte es fundamental im Konzern. Die<br />

Auslieferung des Langstreckenflugzeugs A350, das<br />

gegen den Dreamliner 787 von Boeing anfliegen soll,<br />

verspätete sich beträchtlich, der Aktienkurs sank. Die<br />

Fusion mit dem britischen Rüstungskonzern BAE,<br />

von Enders als großer Wurf gegen die US-Konkurrenz<br />

gepriesen, scheitert nach einer medialen Schlammschlacht<br />

mit der Bundesregierung. Weitere Fehler<br />

hätte Enders sich nicht leisten können.<br />

Das hat er auch nicht. „Seitdem gab es fast keine<br />

Schlagzeilen mehr – und wenn, dann nur davon, wie<br />

Enders den Konzern umbaut“, lobt Cay-Bernhard<br />

Frank von der Beratung A.T. Kearney.<br />

Enders beherzigte, was er in Managementbüchern<br />

hätte finden können, jedoch aus eigenem Antrieb<br />

richtig machte. Als Erstes gelang ihm, die Eigentümer<br />

zu befrieden und den lähmenden Einfluss der<br />

Regierungen Deutschlands und Frankreichs zu minimieren.<br />

Dazu überzeugte er die Mächtigen beider<br />

Länder, dass sie sich künftig mit jeweils rund elf Prozent<br />

der Aktien begnügen und keinen direkten Abge-<br />

Airbus-Militärtransporter<br />

Airbus-Militärtransporter<br />

Verkehrsflugzeuge<br />

* sonstige Verluste wurden abgezogen, Gewinn vor Steuern und Abschreibungen (Ebit); Quelle: Unternehmen, Thomson Reuters<br />

10 %<br />

14 %<br />

Gewinn<br />

2,7*<br />

Mrd. Euro<br />

7 %<br />

220<br />

200<br />

180<br />

160<br />

140<br />

120<br />

100<br />

80<br />

Airbus<br />

Boeing<br />

20.0.95.6<br />

45.6.95.0<br />

1.6.2012 = 100<br />

65.12.100.12<br />

80.15.100.25<br />

2013 <strong>2014</strong><br />

44 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Teile und gewinne<br />

Den Franzosen<br />

Brégier motivierte<br />

Enders, indem er ihm<br />

die Verantwortung<br />

für das Großraumflugzeug<br />

A350 gab<br />

FOTO: REUTERS/JEAN PHILIPPE ARLES<br />

sandten in den Aufsichtsrat hieven. Um die Regierungsferne<br />

zu betonen, verlegte er die Konzernzentrale<br />

nach Toulouse, für die Mächtigen in den Metropolen<br />

die totale Provinz.<br />

In der Außenwirkung stärkte Enders den Luft- und<br />

Raumfahrtgiganten wiederum, indem er den sperrigen<br />

Konzernnamen EADS durch die wohlklingende<br />

Bezeichnung für die zivilen Flugzeuge des Konzerns,<br />

also Airbus, ersetzte.<br />

Trotz des Erfolgs fliegt Enders zeit seines Cheflebens<br />

konsequent tief und bekämpft jede aufkeimende<br />

Champagnerlaune. Im Gegensatz zu anderen erfolgreichen<br />

Managern verzichtet er auf Eigenlob in<br />

Form bunter Hochglanzbroschüren, Imagevideos<br />

und Presseinterviews, mit denen sein Vorgänger Gallois<br />

fast im Wochentakt selbst bescheidene Fortschritte<br />

vortrug. „Für Dinge wie Pomp und Personenkult<br />

ist Enders angesichts der vielen ungelösten<br />

Probleme wohl die Zeit zu schade“, so Scott Hamilton,<br />

Inhaber der US-Beratung Leeham.<br />

Vielmehr hat der Sohn eines Schäfers offenbar den<br />

langen Atem als Verhaltensmaxime ausgegeben. Die<br />

Armeen Europas ordern weder neue Jagdflieger<br />

noch unbemannte Drohnen oder Raketensysteme.<br />

In der Raumfahrt graben Billiganbieter wie der US-<br />

Elektroauto-Pionier Elon Musk mit seinen Space-<br />

X-Raketen Airbus Geschäft ab. Bei den großen Langstreckenjets<br />

bringt derzeit nur eines von drei Airbus-<br />

Modellen Geld. Und bei den kleineren Maschinen<br />

Der Enders-Effekt<br />

Analysten erwarten starkes Wachstum bei<br />

Umsatz und Gewinn (in Mrd. Euro)<br />

80<br />

74<br />

68<br />

62<br />

56<br />

50<br />

Gewinn<br />

Umsatz<br />

2012 2013 <strong>2014</strong> 2015 2016 2017<br />

Gewinn: Netto vor Sondereffekten; ab <strong>2014</strong> Schätzung;<br />

Quelle: JP Morgan<br />

4,0<br />

3,5<br />

3,0<br />

2,5<br />

2,0<br />

1,5<br />

beenden neue hoch subventionierte Wettbewerber<br />

aus China, Japan oder Russland in spätestens zehn<br />

Jahren das einträgliche Duopol mit Boeing. Da wäre<br />

Jubel fehl am Platz. „Unser Wandel steht erst am Anfang<br />

und wird wohl nie richtig zu Ende gehen“, sagt<br />

Airbus-Personalvorstand und Enders’ Altvertrauter<br />

Thierry Baril stellvertretend für seinen Chef.<br />

Flüchtigen Betrachtern erscheint Enders’ Offensive<br />

beim Umbau wie ein konventionelles Standardsparprogramm<br />

inklusive massiven Jobabbaus. Doch die<br />

Strategie des Airbus-Chefs ist viel filigraner. „Herr Enders<br />

agiert trotz aller lauten Töne wesentlich ausgefuchster<br />

und flexibler, als Außenstehende oft glauben,<br />

nicht zuletzt bei Reizthemen wie Arbeitsplatzabbau,<br />

wo er am Ende Kompromisse wie Jobgarantien<br />

akzeptiert, wenn das beiden Seiten dient“, sagt Bernhard<br />

Stiedl, Beauftragter der Gewerkschaft IG Metall<br />

für den militärischen Teil des Airbus-Konzerns.<br />

SPRUNG AUS ALLEM, WAS FLIEGT<br />

Die differenzierte Geschmeidigkeit erlaubte Enders,<br />

ohne Rücksicht auf Einsprüche der Regierungen unrentable<br />

Produktion wie die Rüstung in Bayern herunterzufahren.<br />

In gleicher Manier packte er Teile<br />

des Weltraumgeschäfts in ein Gemeinschaftsunternehmen<br />

mit dem französischen Staatskonzern Safran.<br />

Und auch mehr Fertigung in Billiglohnländern<br />

setzt er ohne allzu großen Widerstand durch.<br />

Enders hat Erfolg, nicht indem er lieb Kind sein<br />

will, sondern sich Respekt verschafft. Statt sich Berlin<br />

als Wahrer deutscher Interessen zu empfehlen, feuerte<br />

er nicht nur den deutschen Chef des heutigen<br />

Airbus-Rüstungsgeschäfts Stefan Zoller. Auf den<br />

Stopp der geplanten Fusion mit BAE durch die Bundesregierung<br />

im Herbst hin entschied Enders auch,<br />

die vor allem in Deutschland ansässige Kriegsgeräteproduktion<br />

herunterzufahren. „Das hat uns überzeugt,<br />

dass Enders es ehrlich meint“, lobt ein führender<br />

französischer Gewerkschafter.<br />

Seine Überzeugungskraft bei den Airbus-Managern<br />

steigert Enders, indem er die Begeisterung für die<br />

Branche persönlich verkörpert. Der Ex-Offizier hat einen<br />

Pilotenschein für Hubschrauber und springt aus<br />

allem, was fliegt. Als er sich im Sommer 2012 beim<br />

Aufprall auf der Erde die Sehnen zerrt und den Arm<br />

»<br />

Erblast Organisation<br />

Die Airbus Group<br />

wurde 2000 als<br />

EADS gegründet.<br />

Dabei wurden völlig<br />

unterschiedliche<br />

Unternehmen zusammengeworfen,<br />

die schon in ihren<br />

vier europäischen<br />

Heimatländern kaum<br />

kooperierten. Trotz<br />

mehrerer Umstrukturierungen<br />

werkeln<br />

Firmenteile weiter<br />

vor sich hin, gibt es<br />

Doppelarbeiten und<br />

kaum Synergien.<br />

Erblast Politik<br />

Seit der Airbus-Gründung<br />

kämpfen Frankreich<br />

und Deutschland<br />

darum, mehr<br />

High-Tech-Jobs als<br />

der andere zu bekommen.<br />

Dazu vergeben<br />

sie Aufträge<br />

und Anlauffinanzierungen.<br />

Paris versuchte<br />

auch schon,<br />

die Mehrheit am<br />

Konzern zu erlangen.<br />

WirtschaftsWoche 7.7.<strong>2014</strong> Nr. 28 45<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Keine Lust auf lieb<br />

Kind Enders mit<br />

Verteidigungsministerin<br />

von der<br />

Leyen<br />

Enders’ Fehler BAE<br />

Eine Fusion mit dem<br />

britischen Rüstungskonzern<br />

BAE schien<br />

ideal: Sie rettete<br />

Airbus das Waffengeschäft<br />

und half bei<br />

der Globalisierung.<br />

Doch Enders hatte<br />

unterschätzt, wie viel<br />

politisches Porzellan<br />

er mit seiner schroffen<br />

Art in Berlin zerschlagen<br />

hatte. Berlin<br />

legte sein Veto ein.<br />

Enders’ Übermut<br />

2008 wollte Enders<br />

Airbus-Werke an<br />

Zulieferer verkaufen.<br />

Der Deal platzte,<br />

weil er den Käufern<br />

auch einen Teil des<br />

Wechselkursrisikos<br />

aufbrummen wollte.<br />

»<br />

in der Schlinge tragen muss, sagt er: „Ich bin halt<br />

härter, als alle glauben.“ Das erhöht sein Ansehen in<br />

der Belegschaft als volksnaher Anführer.<br />

Dabei sucht er bewusst über alle Hierarchiestufen<br />

die Nähe zu den 144 000 Beschäftigten. Er startet auf<br />

Halbmarathon-Läufen, die die Mitarbeiter organisieren.<br />

Wenn er Werke besucht, startet er mit einem<br />

Frühstück in Jeans und offenem Kragen. Im Airbus-<br />

Intranet meldet er sich mit Beiträgen in Tom’s Blog.<br />

Enders hat aus dem Milliardenfiasko zu Beginn<br />

des Super-Airbus A380 gelernt, als Probleme in der<br />

Produktion teure Verspätungen bei der Auslieferung<br />

verursachten. Seitdem weiß er, wie wichtig ungefilterte<br />

Rückmeldungen aus der Belegschaft anstelle<br />

von Pseudoerfolgsmeldungen des mittleren Managements<br />

sind. „Weil Probleme bei Airbus wenn<br />

überhaupt verspätet oder gefiltert zu den Chefs<br />

drangen, will Enders genau wissen, woran es hakt<br />

und wie es besser gehen könnte“, sagt Shakeel Adam,<br />

Inhaber der Unternehmensberatung Aviado Partners<br />

aus Eschborn bei Frankfurt. Zu diesem Zweck<br />

ermuntert der Airbus-Chef Mitarbeiter sowie die Leser<br />

seines Blogs, ihm Kommentare und Mails zu<br />

schreiben. „Die beantwortet er, was viele erstaunt,<br />

sehr oft selbst sowie klar und deutlich, wie es seine<br />

Art ist“, sagt Airbus-Strategiechef Lahoud.<br />

ANIMATION FÜR EGOMANEN<br />

Diese offene Diskussion praktiziert Enders bis in die<br />

Vorstandssitzungen. „Tom will vor einer Entscheidung<br />

alle Aspekte beleuchten und ruht erst, wenn er<br />

das geschafft hat“, sagt Bernhard Gerwert, Leiter der<br />

Airbus-Rüstungs- und Raumfahrtsparte. Trotzdem<br />

dauern die Sitzungen nicht länger. „Früher wurde<br />

gerne eine Agenda voller vorab ausgetüftelter Kompromisse,<br />

Pro-forma-Wortmeldungen und langer<br />

Präsentationen abgearbeitet“, sagt Airbus-Finanzchef<br />

Harald Wilhelm. „Jetzt wird wirklich diskutiert, bis<br />

wir eine Sache endgültig im Team entscheiden.“ Allerdings<br />

verlangt Enders, dass alle Teilnehmer Entscheidungen<br />

mit Leib und Seele mittragen.<br />

Das frühere Gegeneinander verwandelte Enders<br />

in ein Miteinander, indem er seinen direkt Unterstellten<br />

(im Konzernjargon „minus 1s“) mehr Verantwortung<br />

sowie Freiheit bei der Umsetzung von Projekten<br />

gibt. Auf diese Weise hat er zum Beispiel den<br />

Chef der Ziviljetsparte, Fabrice Brégier, für sich gewonnen.<br />

Der Franzose hätte sich laut Insidern vor<br />

zwei Jahren selbst die Konzernführung zugetraut.<br />

Um ihn zu halten, gab ihm Enders die Zuständigkeit<br />

für den neuen A350-Jet, der Airbus’ Rolle im Langstreckengeschäft<br />

sichern soll. Unter Enders genössen<br />

Top-Manager „hohes Zutrauen“, sagt Finanzchef<br />

Wilhelm. Stimme die Leistung nicht, sei das aber<br />

„auch schnell aufgebraucht“, und der Betroffene<br />

könne sich einen neuen Job suchen.<br />

Gleichwohl erwartet Enders nicht Ergebnisse um<br />

jeden Preis. Fast ebenso wichtig sind ihm fairer Umgang<br />

und Zusammenarbeit über die Grenzen des eigenen<br />

Teams. Um dies zu befördern, hat Enders 2500<br />

Sport- und sonstige Events aufgelegt, um den Teamgeist<br />

zu stärken. Jeder Mitarbeiter muss sich vor seiner<br />

Beförderung einem Test stellen, bei dem hochrangige<br />

Manager und Experten von außerhalb des<br />

Konzerns prüfen, ob der Kandidat zum Chef und<br />

Teamplayer taugt. Zudem bietet Airbus neben dem<br />

klassischen Aufstieg noch eine Expertenkarriere, bei<br />

der besonders talentierte Ingenieure und Spezialisten<br />

eigene Felder in der Forschung und Entwicklung<br />

ohne große Personalverantwortung erhalten.<br />

Seit Enders Airbus regiert, macht er den Konzern<br />

trotz seiner vier Heimatländer Deutschland, Frankreich,<br />

Spanien und Großbritannien noch internationaler<br />

und vielfältiger. Dazu muss Personalchef Baril<br />

bevorzugt Mitarbeiter aus anderen Ländern und<br />

Branchen suchen. „Das bringt uns neben neuen Ideen<br />

vor allem ein Ende der deutsch-französischen<br />

Gegensätze und animiert sogar die etwas egomanen<br />

Absolventen französischer Eliteschulen zu mehr<br />

Kreativität und Teamgeist“, meint ein Insider.<br />

Den Kick von draußen braucht Enders auch, um<br />

die Produktion zu globalisieren. Hubschrauber und<br />

Passagierflugzeuge werden bereits in Übersee gebaut.<br />

Nun soll die Rüstungssparte folgen und statt<br />

heute ein Viertel künftig gut 40 Prozent ihrer Einnahmen<br />

außerhalb Europas erzielen. Dazu wird Airbus<br />

Töchter etwa in Brasilien, Singapur oder Indien<br />

gründen und dort bis zu 10 000 Leute beschäftigen.<br />

„Heute erwarten die Auftraggeber bei einer Bestellung<br />

im Gegensatz zu noch vor fünf Jahren nicht nur<br />

eine Produktion, sondern auch eine Entwicklung der<br />

Produkte vor Ort“, sagt Spartenchef Gerwert. „Und<br />

wir sollen auch in der Lage sein, bestimmte Märkte<br />

aus diesen Ländern heraus zu bedienen.“<br />

Ob Enders’ Kulturwandel ausreicht, um Airbus<br />

ausreichend zu stärken, will niemand beschwören.<br />

Doch auf dem richtigen Weg sehen ihn alle. „Enders<br />

hat das Eis gebrochen“, sagt Experte Schulte. „Auch<br />

wenn die Fahrrinne gelegentlich frei gehalten werden<br />

muss, ist das Gröbste wohl geschafft.“<br />

n<br />

ruediger.kiani-kress@wiwo.de, karin finkenzeller | Paris<br />

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FOTO: PICTURE-ALLIANCE/DPA<br />

46 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

KRAUSS-MAFFEI WEGMANN<br />

Airbus des Bodens<br />

Die Fusion des deutschen Panzerbauers mit Frankreichs Nexter gelingt nur, wenn Berlin die Ausfuhr nicht behindert<br />

– eine Nagelprobe für Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel und das Verhältnis zum westlichen Nachbarn.<br />

Partner gesucht<br />

Parade mit<br />

Nexter-Panzern<br />

in Paris<br />

Erst verhandelten sie viele Jahre. Dann einigten<br />

sich die Regierungschefs und Bosse,<br />

ihre Rüstungskonzerne schrittweise zu<br />

einem europäischen Champion in dieser<br />

Waffengattung zu fusionieren. Und um<br />

keine nationalen Gefühle zu verletzen,<br />

gaben sie dem neuen Konzern einen neutralen<br />

Namen mit vier Buchstaben: EADS.<br />

Das Unternehmen, 2000 von Deutschen<br />

und Franzosen gegründet, heißt<br />

seit Januar Airbus Group. Dem Vorbild<br />

des Luft- und Raumfahrtriesen will seit<br />

Anfang der Woche „Kant“ folgen. So heißt<br />

der geplante Zusammenschluss des Panzerbauers<br />

Krauss-Maffei Wegmann<br />

(KMW) aus München und des staatlichen<br />

französischen Wettbewerbers Nexter.<br />

Für ihr Projekt warben die Partner damit,<br />

sie würden als eine Art Airbus des<br />

Bodens den europäischen Panzerbau retten.<br />

Am Ende, so KMW-Chef Frank Haun<br />

laut einer Erklärung, sei Kant „entscheidend<br />

für die Konsolidierung der wehrtechnischen<br />

Industrie Europas“. Kurt Lauk, Präsident<br />

des CDU-Wirtschaftsrats, sieht in<br />

Kant gar „nur den ersten Schritt von einer<br />

ganzen Reihe anderer Schritte in der gleichen<br />

Industrie“. Kein Wunder, dass Frankreichs<br />

Minister für Wirtschaft, Finanzen<br />

und Verteidigung den frisch Verlobten sogleich<br />

ihre Glückwünsche aussprachen.<br />

Die kommen etwas verfrüht. Denn sowohl<br />

politisch als auch betriebswirtschaftlich<br />

steht die geplante Hochzeit auf unsicherem<br />

Fundament. „Die Fusion verschafft KMW<br />

und Nexter bestenfalls mehr Zeit, sich besser<br />

für die Zukunft aufzustellen“, sagt<br />

Heinz Schulte, Chef des Informationsdienstes<br />

Griephan und intimer Kenner der Rüstungsbranche.<br />

Im Klartext: Wenn es gut<br />

läuft, reicht die Zeit mit Ach und Krach, um<br />

die Kosten zu senken und gemeinsam neue<br />

konkurrenzfähige Waffen zu entwickeln.<br />

Politisch ist der Deal längst noch nicht<br />

durch, weil ein Zusammengehen mit Nexter<br />

für KMW nur dann einen wirklich großen<br />

Charme hat, wenn die Deutschen auf diese<br />

Weise die von Bundeswirtschaftsminister<br />

Sigmar Gabriel (SPD) angekündigte restriktivere<br />

Rüstungsexportpolitik parieren könnten.<br />

„Die Hoffnung ist die Verbindung aus<br />

deutschem High Tech und dank des französischen<br />

Staats lockerer Ausfuhrbedingungen“,<br />

so der Hamburger Rüstungsexperte<br />

Heinrich Großbongardt. „Dreh- und Angelpunkt<br />

des Deals ist deshalb die Möglichkeit<br />

für KMW, künftig vermehrt ins Ausland verkaufen“<br />

zu können. „Alles andere“, so ein Insider,<br />

„wäre den ganzen Zirkus nicht wert.“<br />

SOLLBRUCHSTELLE EXPORT<br />

In der Richtung äußerte sich Frankreichs<br />

Verteidigungsministerium unzweideutig.<br />

„Es muss eine für alle zufriedenstellende<br />

Lösung gefunden werden“, sagte ein Sprecher<br />

auf Anfrage der WirtschaftsWoche und<br />

stellte klar: „Das ist zugleich die Bedingung<br />

für den Zusammenschluss.“ Damit liegt eine<br />

mögliche Sollbruchstelle der geplanten<br />

Fusion fest: Zwingt Wirtschaftsminister Gabriel<br />

dem Gemeinschaftsunternehmen seine<br />

restriktive deutsche Exportpolitik über<br />

die deutsch-französische Grenze hinweg<br />

auf, könnte der Deal sogar noch scheitern.<br />

Das würde vermutlich eine europäische<br />

Krise auslösen. „Damit hätte Angela Merkel<br />

dann die sonst von Deutschland immer beschworene<br />

Konsolidierung der europäischen<br />

Rüstungsbranche schon zum zweiten<br />

Mal behindert“, sagt Großbongardt.<br />

Denn 2012 verhinderte die Kanzlerin den<br />

Zusammenschluss der Airbus Group mit<br />

der britischen BAE Systems, die Konzernchef<br />

Tom Enders vorangetrieben hatte.<br />

Die Gefahr ist real. Denn in keiner Firmenfusion<br />

der vergangenen Jahre ist der<br />

Gegensatz zwischen wirtschaftlicher Notwendigkeit<br />

und weltanschaulich geprägter<br />

Politik derart hart wie beim deutsch-französischen<br />

Panzerdeal.<br />

FOTO: AP/FRANCOIS MORI<br />

48 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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schen etwa durch ihre Elektronik, Getriebe<br />

der MAN-Tochter Renk oder die Kanone für<br />

ihren Leopard 2 von Rheinmetall ausgleichen.<br />

Immerhin haben diese Glanzstücke<br />

hiesiger Waffenkunst schon früher Nexters<br />

Leclerc-Panzer aufgemöbelt.<br />

Bei KMW ist es genau anders herum. Die<br />

Münchner bauen mit dem Puma oder der<br />

Haubitze 2000 die technisch besten Panzer.<br />

Doch wegen der traditionell strengen<br />

deutschen Ausfuhrregeln dürfen sie die<br />

noch nicht mal uneingeschränkt in Partnerstaaten<br />

aus der Nato liefern.<br />

DISKRETER PLAN B<br />

Zum Schwur könnte es bald kommen. Laut<br />

Insidern verhandeln beide Partner bereits<br />

über neue Aufträge. Nachdem die Fusion<br />

Airbus-BAE vor zwei Jahren an unversöhnlichen<br />

persönlichen Animositäten zwischen<br />

Airbus-Chef Tom Enders und Merkels Beauftragtem<br />

für Luft und Raumfahrt Peter<br />

Hintze scheiterte, haben die Panzerpartner<br />

offenbar einen Plan B im Köcher. In französischen<br />

Rüstungskreisen kursieren bereits<br />

Vorschläge, wie der neue Verbund mehr exportieren<br />

und Deutschland trotzdem das<br />

Gesicht wahren könnte.<br />

So könnte die Bundesregierung eine<br />

nicht zu lange Ausschlussliste mit Ländern<br />

erstellen, in die sie absolut keinen<br />

Export deutscher Technologie wünscht. In<br />

den Produkten für diese Länder würde der<br />

Verbund Nexter-KMW dann die nötige<br />

Technik mithilfe deutscher Ingenieure in<br />

seinen französischen Labors verbessern<br />

Auf der einen Seite steht Gabriel, der sein<br />

politisches Profil bevorzugt über strengere<br />

Exportkontrollen gerade bei Schusswaffen<br />

und Panzerfahrzeugen schärfen will. Auf<br />

der anderen Seite braucht die Rüstungsindustrie<br />

dringend Exporte, weil angesichts<br />

der rückläufigen Waffenbestellungen ihrer<br />

Heimatländer die Umsätze sinken.<br />

KMW und Nexter haben die Verhandlungen<br />

laut Insidern bereits vor gut zwei Jahren<br />

aufgenommen – lange vor Gabriels<br />

Amtsantritt. Denn beide Unternehmen<br />

leiden deutlich mehr als andere Rüstungsschmieden<br />

unter fehlenden Aufträgen.<br />

Zum einen zählen beide zu den wenigen<br />

Unternehmen der Branche, die noch ausschließlich<br />

<strong>vom</strong> rückläufigen Waffengeschäft<br />

leben. Zum anderen haben sie den<br />

Strukturwandel im Geschäft mit Schießwaren<br />

verschlafen. Beide fertigen statt moderner<br />

Waffentechnologie vor allem klassisches<br />

schweres Gerät und haben kaum den<br />

Schritt ins Ausland gewagt.<br />

Der Düsseldorfer Wettbewerber Rheinmetall<br />

etwa verkauft auch intelligente Munition<br />

und arbeitet an Zukunftstechnik wie<br />

Drohnen. Dazu erwirtschaftet er gut die<br />

Hälfte seines Umsatzes mit Kriegsgerät aus<br />

Fabriken außerhalb Deutschlands.<br />

KMW und Nexter hingegen tun sich gerade<br />

beim Export schwer. Die Franzosen können<br />

zwar als Staatsbetrieb uneingeschränkt<br />

auf Vermarktungshilfen ihrer Regierung<br />

bauen. Doch die Kampfwagen aus dem Pariser<br />

Vorort Versailles gelten technisch als<br />

zweite Wahl. Das Manko könnten die Deutund<br />

anschließend auch in Frankreich<br />

produzieren.<br />

Die Fachbeamten im Wirtschaftsministerium<br />

rechnen sogar damit, dass Neuentwicklungen<br />

komplett in Frankreich<br />

entstehen könnten. Mittelfristig sei also<br />

der Abbau von Arbeitsplätzen an deutschen<br />

Standorten nicht auszuschließen.<br />

„Das würde wohl die Beziehungen zwischen<br />

KMW und der Bundesregierung<br />

verschlechtern und auch die Beziehungen<br />

Deutschland/Frankreich belasten“,<br />

meint Jean-Pierre Maulny, Verteidigungsexperte<br />

der Forschungseinrichtung Institut<br />

de Relations Internationales et Stratégiques.<br />

Doch der Krach wäre deutlich<br />

geringer und für Gabriel leichter seinen<br />

Parteigenossen zu vermitteln, denn der<br />

neue Verbund wird wohl ohnehin über<br />

kurz oder lang französisch, weil Frankreich<br />

im Gegensatz zu Deutschland seine<br />

Rechte über eine goldene Aktie mit Sonderrechten<br />

wahren will.<br />

Klar ist: Der Panzer-Hickhack rückt die<br />

von vielen erträumte dritte franko-allemannische<br />

Partnerschaft zwischen den Schiffbauern<br />

von ThyssenKrupp und der staatlichen<br />

französischen Werft DCNS als<br />

„Airbus der Meere“ weiter in die Ferne.<br />

Dazu müsste Deutschland seine Überlegenheit<br />

beim U-Boot-Bau oder Frankreich<br />

seine führende Rolle bei Flugzeugträgern<br />

und Fregatten teilen. „Dafür gibt es derzeit<br />

keine Anzeichen“, sagt Experte Schulte. n<br />

ruediger.kiani-kress@wiwo.de,<br />

karin finkenzeller | Paris, henning krumrey | Berlin<br />

Deutschland unter »ferner liefen«<br />

Europas größte Rüstungsfirmen vor und nach möglichen Fusionen<br />

Rang<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

15<br />

21<br />

25<br />

Unternehmen<br />

BAE<br />

Großbritannien Raketen, Panzer, Elektronik<br />

26,8 –8,0<br />

Airbus Group D, F, GB, S Flugzeuge, Raketen, Elektronik<br />

14,9 –7,3<br />

Finmeccanica Italien Hubschrauber, Panzer, Geschütze 12,5 –14,1<br />

Thales<br />

Frankreich Elektronik, Schiffe, Drohnen, Panzer 9,2 –2,9<br />

DCNS + Thyssen (fiktiv) F/D Schiffe<br />

5,3 –10,0<br />

Rolls-Royce<br />

DCNS<br />

Safran<br />

Babcock<br />

Saab<br />

Rheinmetall<br />

KMW + Nexter (fiktiv)<br />

ThyssenKrupp<br />

KMW<br />

Nexter<br />

Großbritannien<br />

Frankreich<br />

Frankreich<br />

Großbritannien<br />

Schweden<br />

Deutschland<br />

D/F<br />

Deutschland<br />

Deutschland<br />

Frankreich<br />

* am Gesamtumsatz; Quelle: Defense News, Sipri<br />

Land Waffengattung Rüstungsumsatz in Mrd. $ Veränderung zu Vorjahr in % Anteil Rüstung in %*<br />

Motoren<br />

Schiffe<br />

Drohnen, Elektronik<br />

Elektronik, Service<br />

Schiffe, Elektronik, Flugzeuge<br />

Panzer, Elektronik, Munition<br />

Panzer<br />

Schiffe<br />

Panzer<br />

Panzer, Munition, Geschütze,<br />

unbemannte Fahrzeuge<br />

5,1<br />

3,8<br />

3,5<br />

3,1<br />

3,0<br />

3,0<br />

2,0<br />

1,5<br />

1,0<br />

1,0<br />

+8,7<br />

+3,3<br />

+6,7<br />

+8,9<br />

+0,7<br />

–7,5<br />

–20,5<br />

–28,0<br />

–21,4<br />

–19,5<br />

95<br />

21<br />

57<br />

51<br />

100<br />

26<br />

100<br />

20<br />

65<br />

85<br />

50<br />

100<br />

3<br />

100<br />

100<br />

WirtschaftsWoche 7.7.<strong>2014</strong> Nr. 28 49<br />

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Unternehmen&Märkte | Dossier<br />

Vorbilder<br />

Gleich drei Abschlüsse kann<br />

Bouée vorweisen: Er ist Ingenieur,<br />

Jurist und hat einen<br />

MBA der Harvard Business<br />

School. Entsprechend groß<br />

ist sein Ego: „Man kann von<br />

jedem etwas lernen, muss<br />

sich aber immer eigene Lösungen<br />

erarbeiten“, lautet<br />

das Credo des wuschelköpfigen<br />

Franzosen. Bei dem, was<br />

er tut, vertraut er vor allem<br />

auf den unerschütterlichen<br />

Glauben an sich selbst und<br />

die Kraft der eigenen Ideen.<br />

Quelle der Inspiration<br />

US-Präsident Kennedy<br />

Als Idole kommen für Bouée<br />

nur Menschen in Betracht,<br />

die ähnlich ticken wie er. Eine<br />

Quelle der Inspiration ist<br />

John F. Kennedy und speziell<br />

dessen berühmte Rede „We<br />

choose to go to the moon“.<br />

Mit dieser Ansprache überzeugte<br />

der US-Präsident<br />

1962 seine Nation davon,<br />

trotz des damals riesigen<br />

Vorsprungs der Sowjetunion<br />

an die Vision der bemannten<br />

Raumfahrt zu glauben. Mit<br />

dieser Denke und seinen<br />

Macherqualitäten ist Bouée<br />

mindestens so sehr Unternehmer<br />

wie Berater. Diese<br />

Mischung und der Mut,<br />

Dinge anders zu machen als<br />

andere, waren bisher sein<br />

Karrieregeheimnis bei Berger<br />

und geben ihm die Kraft<br />

für den neuen Höllenjob.<br />

Ausländer an<br />

der Spitze<br />

Neuer Berger-Chef<br />

Bouée<br />

Der Rettungsring<br />

Der Franzose Charles-Edouard Bouée soll das angeschlagene Beratungsunternehmen<br />

Roland Berger aus der Krise führen – ein schweres Erbe.<br />

Zwei gescheiterte Fusionsanläufe und monatelange<br />

Unsicherheit über das künftige<br />

Geschäftsmodell haben der Strategieberatung<br />

Roland Berger schwer geschadet: 40<br />

von 250 Partnern gingen in den vergangenen<br />

beiden Jahren von Bord, die Belegschaft<br />

schrumpfte von 2700 auf 2400 Mitarbeiter.<br />

Das hat Kompetenzlücken gerissen,<br />

für Verunsicherung bei den Zurückgebliebenen<br />

gesorgt und mutmaßlich auch Geschäft<br />

gekostet. Der Franzose Charles-<br />

Edouard Bouée, neuer Chef und erster Ausländer<br />

an der Spitze der einzigen Strategieberatung<br />

mit europäischen Wurzeln, hat<br />

von seinem Vorgänger Burkhard Schwenker<br />

ein schweres Erbe übernommen. Der<br />

45-Jährige muss den Brain Drain stoppen,<br />

trotz klammer Kassen die zu geringe internationale<br />

Präsenz ausbauen und vor allem<br />

ein tragfähiges Zukunftsmodell entwickeln,<br />

damit Berger als eigenständige Beratung<br />

überleben kann. Bouée heißt ins Deutsche<br />

übersetzt Rettungsring – genau das wird in<br />

den kommenden Jahren seine Aufgabe bei<br />

Berger sein.<br />

julia leendertse, karin.finkenzeller@wiwo.de | Paris<br />

50 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Vorlieben<br />

Bouée ist China-Fan. Er<br />

hat Bücher über den Führungsstil<br />

chinesischer<br />

Manager verfasst und ist<br />

ein gern gesehener Talkshow-Gast<br />

im chinesischen<br />

Staatsfernsehen. Er<br />

schreibt einen Management-Blog<br />

über das Reich<br />

der Mitte und nutzt jede<br />

Gelegenheit, vor Studenten<br />

oder Managern des Landes<br />

zu sprechen. Wenn er unterwegs<br />

ist, liest der frühere<br />

Investmentbanker Konfuzius<br />

oder Werke der Aufklärungs-Philosophen<br />

Gottfried Wilhelm Leibniz<br />

Große Bandbreite<br />

Gangnam-Style-Erfinder PSY<br />

und Adam Smith. Sein Musikgeschmack<br />

zeugt von<br />

ähnlicher Bandbreite und<br />

reicht <strong>vom</strong> Gangnam-Style-<br />

Erfinder PSY oder Bleeding-<br />

Heart-Produzenten David<br />

Vendetta bis zu Mozarts<br />

„Kleine Nachtmusik“ oder<br />

Jaques Offenbachs „Schöne<br />

Helena“.<br />

Stärken und<br />

Schwächen<br />

„Bouée ist Roland Berger<br />

der Zweite“, sagt ein enger<br />

Weggefährte über den neuen<br />

Chef. Anders als sein<br />

sachlich-spröder Vorgänger<br />

Burkhard Schwenker ähnelt<br />

der Franzose dem umtriebigen<br />

Firmengründer. Er ist<br />

charismatisch, international<br />

erfahren, beharrlich, entschlossen<br />

und voller Unternehmergeist.<br />

Bewiesen hat<br />

er das beim Aufbau des Geschäfts<br />

in Frankreich, vor al-<br />

FOTOS: AKG IMAGES/ELECTA, PR, PICTURE-ALLIANCE/DPA, ACTION PRESS/HANNES MAGERSTÄDT, CORBIS/IN PICTURES/QILAI SHEN, LAIF/REA/LUDOVIC<br />

Freunde und Gegner<br />

Bouée ist wie Firmengründer<br />

Roland Berger selbst ein begnadeter<br />

Netzwerker. In Paris<br />

ist er Mitglied des elitären<br />

Clubs „Le Siècle“ („Das Jahrhundert“).<br />

Die Mitglieder aus<br />

Politik, Wirtschaft und Medien<br />

treffen sich regelmäßig<br />

zum Abendessen in der Rue<br />

du Fauborg Saint-Honoré 33,<br />

gleich neben dem Élysée-Palast,<br />

dem Amtssitz des französischen<br />

Präsidenten. Zu den<br />

Weggefährten des Kosmopoliten<br />

zählen Jean-Louis Beffa,<br />

Ex-Chef des Baukonzerns<br />

Kosmopolitischer Weggefährte<br />

Haier-Vorstandschef Ruimin<br />

Saint-Gobain, Zhang Ruimin,<br />

Vorstandsvorsitzender des<br />

chinesischen Haushaltsgeräteherstellers<br />

Haier, und der<br />

deutsche Multiaufsichtsrat<br />

Jürgen Hambrecht. Bouées<br />

Gegner finden sich vor allem<br />

unter seinen Mitbewerbern,<br />

einige waren sogar mal seine<br />

Kollegen, mochten den Franzosen<br />

aber nicht als neuen<br />

Chef akzeptieren. Das Verhältnis<br />

zu McKinsey-Chef Dominic<br />

Barton gilt als angespannt:<br />

Berger ist in China erfolgreicher<br />

als die Konkurrenz.<br />

Angespanntes Verhältnis<br />

McKinsey-Weltchef Barton<br />

Ziele und<br />

Visionen<br />

Bouée ist als Strategieberater<br />

in eigener Sache gefragt:Er<br />

muss ein neues Profil für das<br />

angeschlagene Unternehmen<br />

finden. Berger ist zu<br />

klein, um weltweit in der<br />

Spitzengruppe mitzuspielen,<br />

aber zu groß für einen Nischenanbieter.<br />

Der weltmännische<br />

Franzose muss<br />

vor allem die Internationalisierung<br />

steuern, wo Berger<br />

viel Geld verpulvert hat. Er<br />

muss die Truppe neu motivieren<br />

und die Profitabilität<br />

steigern. Eine schwere Aufgabe,<br />

denn Berger-Berater<br />

verdienen weniger als bei<br />

der Konkurrenz. Inspirieren<br />

lässt sich Bouée dabei von<br />

Barack Obamas „Light Footprint<br />

Doctrine“ fürs Militär:<br />

Verstärkt durch Spezialisten,<br />

sollen die Einheiten vor Ort<br />

mit großem Handlungsspielraum<br />

und flachen Hierarchien<br />

agieren. Obama war<br />

damit wenig erfolgreich.<br />

Deutsche Prägung Berger<br />

muss globaler werden<br />

lem aber beim Vorstoß nach<br />

China. Bouée ist offen für<br />

Neues und weniger dogmatisch<br />

als die Führungskräfte<br />

der Konkurrenz. Selbst Kritiker<br />

halten ihn für die beste<br />

Wahl. In den eigenen Reihen<br />

sehen einige die Inthronisation<br />

des Franzosen<br />

skeptisch – trotz des guten<br />

Ergebnisses bei der Wahl.<br />

Sie fürchten um ihren Einfluss<br />

in dem trotz aller globalen<br />

Bestrebungen bislang<br />

deutsch geprägten Unternehmen.<br />

Allzu offen dürfte<br />

sich ihr Widerstand nicht regen:<br />

Boueé gilt als knallhart<br />

und polarisiert weit stärker<br />

als der ausgleichende<br />

Schwenker. Wer erfolglos ist<br />

oder bei seinem hohen<br />

Tempo nicht mithalten<br />

kann, muss gehen.<br />

WirtschaftsWoche 7.7.<strong>2014</strong> Nr. 28 51<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Späte Genugtuung<br />

TUI | Was bringt die Übernahme der britischen Tochter TUI Travel<br />

dem Tourismusriesen? Antworten auf die zehn wichtigsten Fragen.<br />

1.<br />

Warum soll es die<br />

Fusion geben?<br />

Europas größter Ferienkonzern leistet sich<br />

schon seit Jahren eine aufwendige Doppelstruktur:<br />

Die TUI AG als Holding und Muttergesellschaft<br />

hat ihren Sitz in Hannover,<br />

die britische 54-Prozent-Tochter TUI Travel<br />

plc ist in Crawley südlich von London in<br />

der Nähe des Flughafens Gatwick ansässig.<br />

Die renditestarken Hotelbeteiligungen und<br />

der Kreuzfahrtbereich liegen in der Holding,<br />

die auch die Minderheitsbeteilung an<br />

der Containerreederei Hapag-Lloyd verwaltet.<br />

Das umsatzstarke, aber eher margenschwache<br />

Veranstaltergeschäft, die<br />

konzerneigenen Airlines, die Reisebüros<br />

und alle Unternehmen, die die Urlauber an<br />

ihren Ferienorten betreuen, werden von<br />

der Tochter gesteuert.<br />

Die Zweiteilung ist ein Geburtsfehler.<br />

Als TUI im Frühjahr 20<strong>07</strong> den britischen<br />

Wettbewerber First Choice Travel übernehmen<br />

wollte, reichte das Geld der Deutschen<br />

nicht, um das gesamte Unternehmen<br />

zu kaufen. Als Notlösung wurde First<br />

Choice Travel in TUI Travel umfirmiert<br />

und nur gut zur Hälfte von der TUI AG<br />

übernommen. Die übrigen 46 Prozent der<br />

Aktien blieben bei den früheren First-<br />

Choice-Eigentümern. Die Parallelunternehmen<br />

in Deutschland und Großbritannien<br />

kosten unnötig Geld und verursachen<br />

Reibungsverluste. Nicht nur viele<br />

Zentralfunktionen wie die Personalabteilung,<br />

die Buchhaltung oder die IT sind<br />

doppelt vorhanden, das Konstrukt leistet<br />

sich auch zwei komplette Vorstände.<br />

Was soll sich konkret<br />

2. ändern?<br />

Mit der Übernahme der restlichen 46 Prozent<br />

der britischen Tochter durch die Holding<br />

in Hannover sollen Doppelspitze und<br />

Doppelfunktionen auf der Insel entfallen.<br />

Zugleich erfolgen eine Straffung des Konzerns<br />

und eine Konzentration auf das Kerngeschäft:<br />

Die von TUI Travel in Großbritannien<br />

betriebene Online-Plattform Hotelbeds<br />

zur Vermittlung von Hotelbetten an<br />

konzernfremde kommerzielle Kunden soll<br />

verkauft werden, ebenso etliche touristische<br />

Spezialangebote der britischen Tochter, wie<br />

etwa die Vercharterung von Segelyachten.<br />

Zu einem späteren Zeitpunkt will sich der<br />

Konzern auch von dem noch verbliebenen<br />

22-Prozent-Anteil an der Hamburger Containerreederei<br />

Hapag-Lloyd trennen. Der<br />

Teilbereich Hapag-Lloyd Kreuzfahrten mit<br />

seinen vier kleineren Musikdampfern wird<br />

vermutlich aus der Frachtschifffahrt herausgelöst<br />

und dem TUI-Kreuzfahrtbereich mit<br />

TUI Cruises zugeordnet.<br />

Wie soll die Übernahme<br />

3. ablaufen?<br />

Bei der Komplettübernahme soll kein Geld<br />

fließen, geplant ist ein Aktientausch. Bis<br />

zum Herbst soll den Minderheitsaktionären<br />

von TUI Travel ein formales Übernahmeangebot<br />

unterbreitet werden: Für jede<br />

Altaktie gibt es 0,399 neue TUI-AG-Aktien,<br />

eine zusätzliche Prämie ist aber nicht vorgesehen.<br />

Finanzieren will die TUI AG in<br />

Hannover den Deal durch eine Kapitalerhöhung.<br />

Der fusionierte Konzern soll als<br />

Aktiengesellschaft nach deutschem Recht<br />

von Vorstand und Aufsichtsrat geführt werden<br />

und seinen Sitz in Deutschland haben.<br />

Die Aktie soll aber nicht mehr im deutschen<br />

MDax, sondern im FTSE 100 gelistet<br />

werden, dem Premiumsegment der Londoner<br />

Börse und Pendant zum Dax in<br />

Deutschland. Eine zusätzliche Notierung<br />

an der Börse in Frankfurt ist für später vorgesehen.<br />

Wer wird das<br />

4. Unternehmen führen?<br />

Künftig gibt es bei der TUI nur noch einen<br />

Vorstand. 2015, im ersten Jahr nach der<br />

Übernahme, wollen TUI-AG-Chef Friedrich<br />

Joussen und TUI-Travel-Boss Peter<br />

Long sich die Führung noch als Co-Vorstände<br />

teilen. Von Februar 2016 an ist Joussen<br />

Alleinherrscher. Long wechselt dann in<br />

den Aufsichtsrat und übernimmt dort den<br />

Vorsitz <strong>vom</strong> langjährigen Chef-Aufseher<br />

Klaus Mangold.<br />

5.<br />

Wer ist der Gewinner im<br />

Vorstand?<br />

Joussen wie Long haben zwar immer wieder<br />

betont, wie gut sie miteinander könnten.<br />

Klar war aber auch, dass ein Nebeneinander<br />

der beiden Alphatiere auf Dauer<br />

nicht funktionieren würde. Eindeutiger<br />

Gewinner des Machtkampfs ist darum<br />

Joussen, Long ist der Verlierer, auch wenn<br />

der Wechsel an die Aufsichtsratsspitze das<br />

etwas kaschieren soll. Longs Machtverlust<br />

wird schon durch die Aufgabenverteilung<br />

in der Übergangsphase deutlich, in der beide<br />

offiziell gleichberechtigt sind: Joussen<br />

kümmert sich um die Konzernstrategie<br />

und das Tourismuskerngeschäft, Long darf<br />

die zum Verkauf stehenden Randaktivitäten<br />

abwickeln. Und noch jemand kann sich<br />

als Gewinner des Deals fühlen und dürfte<br />

späte Genugtuung empfinden: der häufig<br />

glücklos agierende Joussen-Vorgänger<br />

Michael Frenzel – genau dessen Vision<br />

<strong>vom</strong> vertikal voll integrierten Tourismuskonzern<br />

wird jetzt vollendet.<br />

Welche Synergien<br />

6. bringt der Deal?<br />

Die direkten Synergien sind überschaubar:<br />

Durch die Zusammenlegung der Doppelfunktionen<br />

und die Straffung der Konzernstrukturen<br />

spart das Unternehmen rund 45<br />

Millionen Kosten jährlich, und das nach den<br />

bisherigen Berechnungen drei Jahre lang.<br />

Hinzu kommen steuerliche Vorteile, die sich<br />

auf Basis des vergangenen Geschäftsjahres<br />

auf weitere 35 Millionen Euro addieren. Gegengerechnet<br />

werden müssen einmalige Integrationskosten<br />

etwa für Abfindungen von<br />

rund 45 Millionen Euro. Das Hauptargument<br />

für die Zusammenlegung der beiden<br />

TUI-Teile sind darum auch nicht so sehr die<br />

Kosteneinsparungen, sondern die zusätzlichen<br />

Wachstumsimpulse. Die sollen sich<br />

vor allem aus einer besseren Verkaufssteuerung<br />

durch den eigenen Vertrieb sowie eine<br />

höhere Auslastung der eigenen Hotels und<br />

Fluglinien durch die konzerneigenen Reiseveranstalter<br />

ergeben. Damit wäre das bei<br />

der TUI-Gründung formulierte Ziel, auf jeder<br />

Stufe der touristischen Wertschöpfungskette<br />

Geld zu verdienen, endlich erreicht.<br />

7.<br />

Sind Arbeitsplätze<br />

gefährdet?<br />

Wenn Doppelstrukturen zusammengelegt<br />

werden, kostet das in aller Regel Jobs. Davon<br />

betroffen sein dürften aber eher die<br />

FOTO: TOURISTIK-FOTO.DE/LENTHE<br />

52 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Alles unter einem Dach<br />

Künftige Struktur des Tourismuskonzerns TUI AG<br />

Konzernzentrale: Hannover<br />

Umsatz 2013: 18,5 Mrd. Euro Gewinn 2013: 1 Mrd. Euro*<br />

Reiseveranstaltung<br />

(heute: TUI Travel plc)<br />

100% Umsatz 2013: 17,8 Mrd. Euro 100%<br />

Gewinn 2013: 0,85 Mrd. Euro<br />

Reiseveranstalter in 16 Ländern<br />

(z. B. TUI Deutschland)<br />

6Fluggesellschaften<br />

(z. B. TUIfly)<br />

Reisebürosin15Ländern<br />

Touristikagenturen in<br />

28 Urlaubsländern<br />

100%<br />

22%<br />

* Geschäftsjahr <strong>vom</strong> 1. Oktober 2012 bis 30. September 2013, Gewinn vor Zinsen,<br />

Steuern und Abschreibungen (EBITDA); Quelle: Unternehmensangaben<br />

Mitarbeiter am bisherigen TUI-Travel-Sitz<br />

in Crawley als die in Hannover. Der Grund:<br />

Die Konzernzentrale in Niedersachsen hat<br />

das von Joussen verordnete Spar- und Sanierungsprogramm<br />

oneTUI schon hinter<br />

sich. Vor allem durch Personalabbau<br />

konnten die Kosten der Zentrale von früher<br />

73 auf weniger als 45 Millionen Euro<br />

gesenkt werden. In Großbritannien steht<br />

das noch aus. Joussen hat gegenüber Investoren<br />

angekündigt, dass er oneTUI auf<br />

TUI Travel ausdehnen wird.<br />

8.<br />

Gewinner<br />

TUI-Chef Joussen<br />

soll den Konzern<br />

ab Februar 2016<br />

allein führen<br />

Hotels und Resorts<br />

232 Hotels, darunter RIU, Robinson<br />

Umsatz 2013: 403 Mio. Euro<br />

Gewinn 2013: 255 Mio. Euro<br />

Kreuzfahrten<br />

TUI Cruises (4 Kreuzfahrtschiffe)<br />

Hapag-Lloyd Kreuzfahrten<br />

(4 Kreuzfahrtschiffe)<br />

Hapag-Lloyd AG<br />

Containerreederei<br />

zum<br />

Verkauf<br />

Sind die Erwartungen<br />

realistisch?<br />

Im Großen und Ganzen ja. Die direkten Synergien<br />

sind eher vorsichtig kalkuliert und<br />

könnten auch durchaus höher ausfallen.<br />

Wichtiger sind die steuerlichen Effekte und<br />

vor allem die erhofften Auswirkungen auf<br />

Umsatz und Rendite. Auch die sind einigermaßen<br />

realistisch, denn bisher war die Auslastung<br />

der konzerneigenen Flug- und Hotelkapazitäten<br />

wegen der beiden getrenn-<br />

ten Organisationen nicht optimal. Der vereinte<br />

Konzern kann aber vor allem stärker<br />

mit den starken Marken vieler TUI-Angebote<br />

wuchern. Die erfolgreiche Kreuzfahrtmarke<br />

TUI Cruises mit ihren heute drei und<br />

ab nächstem Jahr vier Schiffen etwa wird<br />

bisher nur in Deutschland verkauft, hätte<br />

aber auch in anderen Märkten Chancen.<br />

Alle Wachstumsprognosen stehen allerdings<br />

unter einem Generalvorbehalt: Die<br />

Ferienindustrie floriert nur in einer halbwegs<br />

friedlichen Welt. Regional begrenzte<br />

Einbußen durch politische Konflikte wie<br />

jetzt in Ägypten oder der Ukraine lassen<br />

sich ausgleichen, weltweite Krisen etwa<br />

durch Terroranschläge wie die <strong>vom</strong> 11.<br />

September 2001 aber nicht.<br />

9.<br />

10.<br />

Was haben die<br />

Aktionäre davon?<br />

Glaubt man den überwiegend begeisterten<br />

Kommentaren der Aktienanalysten, dann<br />

dürfte die positive Kursentwicklung der<br />

TUI-Aktie noch eine ganze Weile andauern.<br />

Schon die Ankündigung der Übernahme<br />

vor gut einer Woche trieb den Kurs in<br />

die Höhe, derzeit steht die TUI-AG-Aktie<br />

bei gut zwölf Euro, das Kursziel sehen die<br />

meisten Analysten bei 15 Euro und empfehlen<br />

das Papier weiter zum Kauf. Allerdings<br />

müssen die in den vergangenen Jahren<br />

nicht gerade verwöhnten Aktionäre der<br />

AG auch zwei Kröten schlucken: Im kommenden<br />

Jahr müssen sie auf eine Dividende<br />

verzichten und außerdem die Kapitalerhöhung<br />

hinnehmen.<br />

Kann die Übernahme<br />

noch scheitern?<br />

Eher nicht. Zwar lässt sich im Moment<br />

nicht abschätzen, ob genug britische TUI-<br />

Travel-Aktionäre das Tauschangebot annehmen.<br />

Von den deutschen TUI-AG-Eignern<br />

ist aber kein Widerstand zu erwarten,<br />

nachdem der russische Oligarch und Severstal-Chef<br />

Alexei Mordaschow grünes<br />

Licht gegeben hat. Über seine S-Group<br />

Travel Holding ist er mit einem Anteil von<br />

25 Prozent größter TUI-Einzelaktionär. Der<br />

norwegische Reeder John Fredriksen dagegen<br />

hat seine Anteile verkauft: Er war<br />

jahrelang der Schrecken jeder TUI-Hauptversammlung,<br />

weil er eine Zerschlagung<br />

des Konzerns verlangte. Nach dem Verkauf<br />

der meisten Anteile an der Reederei Hapag-Lloyd<br />

hat er aber das Interesse an der<br />

TUI verloren.<br />

n<br />

hans-juergen.klesse@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche 7.7.<strong>2014</strong> Nr. 28 53<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Schwarz abgeschöpft<br />

EINTRITTSKARTEN | Ein Ticket fürs Fußball-WM-Finale zum Preis eines Mittelklasse-Autos: Weiterverkäufer<br />

im Internet geraten zunehmend ins Zwielicht – nicht nur bei Sportveranstaltungen.<br />

Wer sich vor einem Jahr das Fußball-<br />

WM-Endspiel am 13. Juli im Maracanã-Stadion<br />

in Rio de Janeiro mit<br />

bester Sicht gönnen wollte, war mit 730 Euro<br />

dabei. So viel verlangte der Weltfußballverband<br />

Fifa damals für einen Platz der<br />

besten Kategorie, als er die Tickets offiziell<br />

zum Kauf anbot.<br />

Der gleiche Spaß kommt jetzt um ein Vielfaches<br />

teurer. Denn das Ticket-Online-Portal<br />

Viagogo im schweizerischen Genf macht<br />

eine neue Rechnung auf. Das Unternehmen<br />

verkauft Tickets für Fußballspiele und Popkonzerte<br />

weiter, deren Besitzer das Event<br />

nicht mehr besuchen können oder wollen.<br />

Die gleiche Eintrittskarte für das WM-Finale,<br />

die ursprünglich 730 Euro kostete, hat Viagogo<br />

nun für 22000 Euro im Angebot. Zehn<br />

Prozent muss der Verkäufer und 15 Prozent<br />

zusätzlich der Käufer berappen, plus Versandkosten<br />

und Mehrwertsteuer.<br />

Ein Besuch im Stadion im Wert eines Mittelklasse-Autos<br />

– Viagogo sieht darin nur<br />

das Wirken eines „freien Marktes, wo der<br />

Preis den Marktwert reflektiert“. Für Kritiker<br />

hat sich der Weiterverkauf von Eintrittskarten,<br />

der inzwischen weit über den Fußball<br />

hinausreicht, jedoch längst zu einem „legalen<br />

Ticketschwarzmarkt“ entwickelt. Das<br />

sagt der Ticketing-Berater Hans-Wolfgang<br />

Trippe aus Bad Münstereifel bei Bonn. Nach<br />

seinen Beobachtungen ziehen einzelne Anbieter<br />

zunehmend einen Zweitmarkt auf,<br />

auf dem sie tatsächlich oder angeblich be-<br />

reits verkaufte Tickets ein weiteres Mal anbieten.<br />

So werde beispielsweise das offizielle<br />

Angebot von vornherein verknappt, um<br />

die abgezweigten Eintrittskarten dann in einer<br />

zweiten Runde teurer zu verkaufen. Auf<br />

diese Weise könnten zum Beispiel Veranstalter<br />

Mondpreise erzielen, die sie sich offen<br />

nicht zu verlangen trauten.<br />

Der Wiederverkauf von Tickets zu exorbitanten<br />

Preisen war früher ein typisches<br />

Geschäft im Zwielicht. Verruchte Gestalten<br />

bieten mitunter noch heute Tickets in Spelunken<br />

und dunklen Gassen feil, um sie zu<br />

Horrorpreisen loszuschlagen. Gerade erst<br />

hob die Polizei in Brasilien einen WM-<br />

Tickethändler-Ring aus. Doch das Internet<br />

änderte das Geschäft grundsätzlich. Vor allem<br />

Pionier Viagogo hat es mit seinem Auftritt<br />

20<strong>07</strong> in Deutschland professionalisiert.<br />

Dazu garantiert das Unternehmen dem<br />

Verkäufer die Zahlung und dem Käufer die<br />

»Die benutzen<br />

Strohmänner,<br />

um große Mengen<br />

an Tickets zu<br />

bekommen«<br />

Sylle Schreyer-Bestmann<br />

22 000 Euro für ein WM-Finale-Ticket<br />

Kontrolle vor dem Maracanã-Stadion<br />

Echtheit der Tickets sowie die pünktliche<br />

Lieferung. Neben Viagogo sind heute Internet-Plattformen<br />

wie Ebay, Seatwave, Fansale<br />

und Ticketbande im Geschäft.<br />

ILLUSTRE INVESTOREN<br />

Der Weiterverkauf von Tickets zu viel höheren<br />

Preisen ist nach dem Wettbewerbsrecht<br />

grundsätzlich nicht verboten. Zwar<br />

können Veranstalter in ihren allgemeinen<br />

Geschäftsbedingungen (AGB) einen Weiterverkauf<br />

zu gewerblichen und kommerziellen<br />

Zwecken oder zu höheren Preisen<br />

als dem Originalpreis verbieten. Die AGBs<br />

gelten jedoch nur für den Erstkäufer, der<br />

sein Ticket wieder loswerden will. Kauft<br />

dies dann jemand, gelten die AGBs für den<br />

Zweitkäufer nicht. „Hat der Zweitmarktanbieter<br />

seine Karten von Privatpersonen<br />

gekauft, ist der Handel damit erlaubt“, sagt<br />

Sylle Schreyer-Bestmann, Anwältin und<br />

E-Commerce-Expertin der Sozietät CMS<br />

Hasche Sigle in Berlin. Hinter dem 2006 in<br />

London gegründeten Viagogo stehen illustre<br />

Investoren wie das Tennistraumpaar<br />

Steffi Graf und Andre<br />

Agassi, Bernard Arnault,<br />

Chef des französischen<br />

Luxuskonzerns<br />

LVMH,<br />

und der Münch-<br />

FOTOS: PIXATHLON/RIA NOVOSTI, FIFA<br />

54 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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FOTO: ACTION PRESS/HEIKO SEHRSAM<br />

ner Sportrechtehändler Herbert Kloiber.<br />

Offiziell sieht sich das Portal, das in mehr<br />

als 50 Ländern mit Web-Sites präsent ist<br />

und von London aus gelenkt wird, als reiner<br />

Vermittler zwischen denjenigen, die<br />

ihr Ticket nicht mehr selbst nutzen, und allen<br />

anderen, die gern noch eines hätten.<br />

„Wir sind ein Marktplatz für den Verkauf<br />

von Eintrittskarten. Es sind die Verkäufer,<br />

die Tickets einstellen und einen Preis festlegen“,<br />

lässt das Unternehmen erklären.<br />

An dieser Darstellung gibt es jedoch immer<br />

mehr Zweifel. So wirft Experte Trippe<br />

den Schweizern vor, die Preise aktiv nach<br />

oben zu treiben. „Wer nach deren Geschmack<br />

einen zu niedrigen Ticketpreis<br />

einstellen will, den korrigieren sie direkt<br />

bei der Eingabe, indem sie einen höheren<br />

Preis vorschlagen“, hat Trippe von vielen<br />

Nutzern erfahren. Viagogo wollte dazu bis<br />

Redaktionsschluss nicht Stellung nehmen.<br />

Der zweite Vorwurf gegen Zweithändler<br />

zielt auf die große Zahl der Tickets, die sie<br />

inzwischen anbieten. Kritiker bezweifeln,<br />

dass solche Mengen allein durch Privatpersonen<br />

zustande kommen, die ihre Tickets<br />

nicht selber nutzen. Branchenkenner<br />

vermuten, dass es Zweitverkäufern gelingt,<br />

sich heimlich oder indirekt mit Karten<br />

<strong>vom</strong> Veranstalter einzudecken. „Ich<br />

beobachte immer wieder, dass zum Vorverkaufsstart<br />

einer Band in einzelnen<br />

Städten auf einen Schlag mehrere Hundert<br />

Tickets verkauft werden“, sagt der Berliner<br />

Impresario Berthold Seliger. „Sodann läuft<br />

der Vorverkauf in den darauf folgenden<br />

Wochen auf einem normalen, niedrigeren<br />

Niveau weiter.“<br />

Im Klartext: Jemand kauft ein Kontingent<br />

an Karten, einzig um sie dann über<br />

den Zweitmarkt teurer weiterzukaufen. Die<br />

Berliner Anwältin Schreyer-Bestmann, die<br />

geschädigte Konzertveranstalter vertritt, ist<br />

sich sicher: „Die wenden alle Tricks an, benutzen<br />

Strohmänner, Fantasienamen und<br />

falsche E-Mail-Adressen, um größere Mengen<br />

an Tickets zu bekommen.“<br />

UNMUT DER FUSSBALLFANS<br />

Kenner der Veranstaltungsszene gehen<br />

mittlerweile sogar davon aus, dass hinter<br />

dem angeblichen Weiterverkauf von Tickets<br />

manchmal sogar ein gemeinsamer<br />

Plan von Künstlern, Veranstaltern und Ticketverkäufern<br />

steht. Der dient dazu, die<br />

Zahlungsbereitschaft des Publikums zu<br />

testen und es zugunsten der Anbieter maximal<br />

abzuschöpfen. „Den Profit teilen sich<br />

die Beteiligten“, sagt Scumeck Sabottka,<br />

Chef der Berliner MCT Agentur und lang-<br />

jähriger Tourorganisator unter anderem<br />

der deutschen Hardrockgruppe Rammstein<br />

sowie der legendären Düsseldorfer<br />

Elektronik-Band Kraftwerk.<br />

Sabottka beschreibt das Geschäftsmodell<br />

anderer Anbieter so: „Wenn ich als<br />

Veranstalter 10 500 Tickets für ein bestimmtes<br />

Konzert verkaufen kann, erkläre<br />

ich die Veranstaltung nach 7500 Karten für<br />

ausverkauft. Die verbleibenden 3000 Karten<br />

gebe ich einem Zweitverwerter. Somit<br />

kassiere ich noch einmal über die Wucherpreise<br />

des Wiederverkäufers tüchtig mit.<br />

Der Kunde bekommt das gar nicht mit.“ Bei<br />

größeren Hallen- und Stadiontourneen sei<br />

das schon gängige Praxis. Der Berliner<br />

schätzt den Anteil des Wiederverkaufsmarktes<br />

am gesamten Branchenumsatz inzwischen<br />

auf bis zu 20 Prozent.<br />

Eine Möglichkeit, den Grau- und<br />

Schwarzhandel auszutrocknen, sehen<br />

Branchenexperten in personalisierten Eintrittskarten.<br />

Die gibt es etwa beim Heavy-<br />

Metal-Festival im schleswig-holsteinischen<br />

Wacken. Innerhalb von 43 Stunden<br />

Persönlich im<br />

Schlamm Namenskarten<br />

für das Open<br />

Air in Wacken<br />

nahmen generieren dürfen, da will sich die<br />

DFL nicht einmischen. „Das Ticketing ist<br />

Sache der Clubs“, sagt DFL-Geschäftsführer<br />

Andreas Rettig. Ein Verbot, mit Viagogo<br />

zu kooperieren, kommt für ihn nicht infrage.<br />

„Wir sind in einem freien Wettbewerb<br />

und können einzelne Unternehmen nicht<br />

diskriminieren.“<br />

RAUM FÜR PREISDIFFERENZIERUNG<br />

Umso mehr sehen sich die Clubs offenbar<br />

gezwungen, ihre Anhänger nicht zu verprellen.<br />

Schalke 04 kündigte den Vertrag mit<br />

Viagogo, der dem Club 1,2 Millionen Euro<br />

pro Jahr bringen sollte, wenn er Viagogo im<br />

Gegenzug 300 Tickets für jedes Heimspiel<br />

abtreten würde. An den viel höheren Preisen<br />

sollte Schalke beteiligt werden. Inzwischen<br />

trennten sich auch andere Vereine von Viagogo,<br />

darunter der Hamburger SV, der 85<br />

Prozent des Ticketaufschlags hätte einstreichen<br />

können. Der Vertrag mit Bayern München<br />

ist gerade zum Monatsende ausgelaufen.<br />

Lediglich der FC Augsburg steht noch<br />

zu Viagogo. Grundsätzlich lassen die Vereiwaren<br />

75 000 Karten für das Ende Juli über<br />

die Bühne gehende Open-Air-Event vergriffen:<br />

„Wir sind das unserer treuen Community<br />

einfach schuldig, die das Abzocken<br />

der Schwarzhändler leid sind“, sagt Wacken-Sprecherin<br />

Anna Lorenz.<br />

Den wachsenden Unmut der Fußballfans<br />

über die Horrorpreise im Zweitticketmarkt<br />

versucht die Deutsche Fußball Liga<br />

(DFL) zu besänftigen, indem sie eine Ticketbörse<br />

einrichtet. Doch das ist nur die<br />

eine Seite der Medaille. Denn wie die Vereine<br />

mit dem Zweitverkauf von Tickets verfahren<br />

und ob sie damit zusätzliche Einne<br />

Einnahmequellen ungenutzt, wenn sie<br />

Preise mit Rücksicht auf die große Masse der<br />

Fans so volkstümlich niedrig festsetzen, dass<br />

die Nachfrage weit über dem Platzangebot<br />

liegt. Immerhin sind betuchte Fans bereit,<br />

für Top-Spiele Unsummen zu bezahlen.<br />

Deshalb wäre es „klug“, wenn die Vereine<br />

sich „kreative Preisdifferenzierungen“ einfallen<br />

ließen, sagt Philipp Biermann, Partner<br />

der Bonner Unternehmensberatung Simon-<br />

Kucher & Partners. „Das würde dem<br />

Schwarzmarkt die Luft abschnüren, ohne<br />

preissensible Fans zu verprellen.“<br />

n<br />

bernd mertens | unternehmen@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche 7.7.<strong>2014</strong> Nr. 28 55<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Herr im Hintergrund<br />

Soffin-Chef Pleister<br />

muss den Ausstieg<br />

des Staats aus den<br />

Krisenbanken<br />

möglichst geräuschlos<br />

managen<br />

Schwieriger Abschied<br />

BANKEN | Der Rettungsfonds Soffin steht vor seiner letzten Herausforderung: dem Ausstieg aus den<br />

verbliebenen Staatsbeteiligungen. Der entscheidet über die deutsche Schlussbilanz der Finanzkrise.<br />

Am Eingang gibt es bloß ein einfaches<br />

Hinweisschild unter vielen, die 75<br />

Mitarbeiter verteilen sich unauffällig<br />

auf zwei Etagen des Altbaus im Frankfurter<br />

Bankenviertel. Öffentlichkeit ist hier wenig<br />

erwünscht, Luxus erst recht nicht. Das<br />

sparsam eingerichtete Büro des Chefs mit<br />

ein paar wahllos wirkenden Bildern an der<br />

Wand zeigt nicht, dass Christopher Pleister<br />

eine der einflussreichsten Figuren der<br />

deutschen Bankenwelt ist.<br />

Ist er aber. Als Vorsitzender des Leitungsausschusses<br />

der Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung,<br />

so sein Jobtitel, ist er<br />

oberstes Bindeglied der in der Finanzkrise<br />

2008 unfreiwillig geschmiedeten Allianz<br />

von Politik und Banken. Der Ex-Präsident<br />

des Bundesverbands der Volks- und Raiffeisenbanken<br />

wacht über den damals eingesetzten<br />

Rettungsfonds Soffin – und steht<br />

vor einer großen Bewährungsprobe.<br />

Der Ausstieg aus dem Staatsanteil an der<br />

Commerzbank und den Resten des Immobilienfinanzierers<br />

Hypo Real Estate rückt<br />

näher – und mit ihm die Endabrechnung<br />

darüber, was die Stützungen die Steuerzahler<br />

final kosten. Wie in vielen Ländern<br />

Europas stecken in Deutschland noch Milliarden<br />

in angeschlagenen Banken. Es liegt<br />

an Pleister, möglichst viel davon zurückzuholen.<br />

Die Chancen dafür stehen nicht gut.<br />

Das liegt aber weniger an den Rettern als<br />

an der Schwäche deutscher Banken.<br />

VOLL GEFORDERT<br />

Anfang 2009 hat der damalige SPD-Finanzminister<br />

Peer Steinbrück Pleister persönlich<br />

für den Job angeworben. Der frisch installierte<br />

Rettungsfonds brauche erfahrene<br />

und einigermaßen unbeschadete Galionsfiguren<br />

aus der Finanzwelt, um glaubwürdig<br />

zu wirken, ließ er in einem Telefonat<br />

wissen. Die Aufgabe sei verdienstvoll und<br />

zeitlich mäßig aufwendig.<br />

Beschaulich ist es aber nicht zugegangen.<br />

Pleister hat einen fordernden Vollzeitjob,<br />

spätestens seit er 2011 an die Spitze des<br />

Gremiums rückte. Der Soffin-Chef geht auf<br />

in der Mission zwischen Frankfurt und<br />

Berlin, in den Verhandlungen mit Bankern,<br />

Anwälten, Regulierern. Gewinnen kann er<br />

kaum. Pleister ist erfolgreich, wenn er wenig<br />

verliert. „Bankenrettung ist kein Geschäft“,<br />

hat er klargemacht.<br />

Das war auch nicht der Plan, als die Bundesregierung<br />

den Fonds im Herbst 2008 in<br />

nur einer Woche auf die Beine stellte und<br />

mit 500 Milliarden Euro für Garantien und<br />

Kapitalhilfen aufpumpte. Nach der Pleite<br />

von Lehman Brothers sollten allein diese<br />

Ausmaße alle Zweifel an der Stabilität des<br />

deutschen Kreditwesens ersticken. Das ist<br />

geglückt. Schon deshalb gilt der Soffin bei<br />

den Verantwortlichen in Berlin als Erfolg.<br />

Knapp 30 Milliarden Euro Kapital und<br />

mehr als 140 Milliarden Euro Garantien<br />

standen zeitweise im Feuer. 17 Milliarden<br />

Euro Kapitalhilfe sind noch übrig. Wegen<br />

Abschreibungen auf seine Beteiligungen<br />

und griechische Staatsanleihen ist der Soffin<br />

mit 24 Milliarden Euro im Minus. Es hätte<br />

schlimmer kommen können, vielleicht aber<br />

FOTOS: BERND ROSELIEB, BERT BOSTELMANN<br />

56 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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auch besser. Den USA bescherte die Rettung<br />

der Banken Milliardengewinne. Anders als<br />

in Deutschland setzten sie auf Zwang. Die<br />

deutschen Retter ließen die Banken nach<br />

der Rettung weitermachen und mischten<br />

sich kaum ein. Größere Änderungen der Geschäftsmodelle<br />

sind unterblieben.<br />

An den Verlusten in Milliardenhöhe<br />

dürfte der Ausstieg nicht mehr viel ändern.<br />

Es geht nur um Schadensbegrenzung.<br />

Für die, so die Hoffnung, könnte die<br />

Commerzbank sorgen. Rund 18 Milliarden<br />

Euro hatte der Soffin für ihre Rettung aufgebracht.<br />

In zwei Kapitalerhöhungen hat<br />

sie einen Großteil zurückgezahlt, dem<br />

Bund gehören noch 17 Prozent der Anteile.<br />

Die 195 Millionen Aktien sind aktuell gut<br />

zwei Milliarden Euro wert. Um den Einstiegspreis<br />

zu erreichen, müsste sich der<br />

Kurs noch mal verdoppeln. In absehbarer<br />

Zeit erscheint das wenig realistisch.<br />

24 Milliarden Euro hat die Bankenrettung<br />

über den Soffin bisher gekostet<br />

Commerzbank<br />

Martin Blessing<br />

Die Bank hat einen Großteil der Staatshilfen<br />

zurückgezahlt. Blessing darf bleiben<br />

und das Institut auf Vordermann bringen<br />

– um es fit für den Verkauf zu machen?<br />

Kapitalhilfe: 5 100 000 000 Euro<br />

VERORDNETES SCHWEIGEN<br />

Auf den weitläufigen Fluren des Berliner<br />

Finanzministeriums herrscht von oben angeordnete<br />

Ruhe. Die Diskussion um Vorstandschef<br />

Martin Blessing und seinen<br />

Aufsichtsratsvorsitzenden Klaus-Peter<br />

Müller ist beendet. Beide dürfen bleiben.<br />

Die Bank soll sich unter ihrer Führung weiter<br />

berappeln, ungestört von Spekulationen<br />

um ihre Zukunft. Es gebe keinen<br />

Grund zur Eile beim Verkauf der verbliebenen<br />

Aktien, heißt es in Berlin.<br />

Die Politik ist dabei für alle Lösungen offen.<br />

Wichtig sei allein, dass die Bank ihre<br />

Rolle als großer Kreditgeber für den deutschen<br />

Mittelstand behalte. Das schließt<br />

den Verkauf an einen internationalen Wettbewerber<br />

ausdrücklich nicht aus. Finanziell<br />

wäre das für den Bund attraktiver als<br />

ein allmähliches Abstoßen einzelner Aktienpakete<br />

über die Börse. Ein Käufer<br />

könnte einen Aufschlag zahlen und so die<br />

Rettungsbilanz aufhübschen.<br />

Bisher hat es nur lockere Anfragen gegeben.<br />

Ab Anfang 2015 aber dürften ernsthafte<br />

Offerten für die Bank eintreffen, heißt es<br />

im Umfeld des Soffin. Dann haben die europäischen<br />

Großbanken den Stresstest der<br />

EZB absolviert. Wer die Musterung besteht,<br />

kann auf Wachstumskurs schalten.<br />

Die Commerzbank mit ihrem starken<br />

Firmenkundengeschäft bietet sich als Ziel<br />

an. Tatsächlich beflügelt sie nicht nur die<br />

Fantasie von Investmentbankern, sondern<br />

auch die der Strategieabteilungen von<br />

Großbanken. So prüfte die Schweizer UBS<br />

intern, die Commerzbank zu schlucken<br />

und dann ihren Sitz nach Frankfurt zu verlegen.<br />

Mit dem spektakulären Schritt hätte<br />

sich das in Zürich ansässige Institut dem<br />

Zugriff des strengen Regulierers in der<br />

Schweiz entzogen. Über Planspiele sind<br />

die Ideen aber nicht hinausgekommen.<br />

Die französische BNP Paribas hatte die<br />

Commerzbank intern schon vor Jahren als<br />

attraktives Ziel auserkoren. Die spanische<br />

Santander, die französische Société Générale,<br />

UniCredit aus Italien und die holländische<br />

ING gelten ebenfalls als potenzielle<br />

Käufer. Fast alle haben klar dementiert.<br />

Doch das muss nichts heißen: „Sie werden<br />

so lange sagen, dass sie nicht wollen, bis<br />

schließlich einer von ihnen zuschlägt“, sagt<br />

ein hochrangiger Banker.<br />

Anders als bei der Commerzbank steht<br />

der Soffin beim Verkauf der Deutschen<br />

Pfandbriefbank (PBB) unter Termindruck.<br />

Bis Ende 2015 muss das auf die Finanzierung<br />

von Immobilien und staatlichen Investitionen<br />

spezialisierte Münchner Institut<br />

privatisiert sein. Die PBB gilt als gesunder<br />

Teil der Pleitebank HRE. Die Eigentümer<br />

wollen den Prozess vorantreiben, um<br />

von der günstigen Marktlage zu profitieren.<br />

Zehn Milliarden Euro Kapital hat der<br />

Bund in die Rettung der HRE und die Abfindung<br />

der Aktionäre gesteckt. 2011 kamen<br />

neun Milliarden Euro Verlust hinzu,<br />

weil der Schuldenschnitt in Griechenland<br />

auch Staatsanleihen traf, die in der Abwicklungsbank<br />

der HRE liegen. Das gesamte<br />

HRE-Stützungsgeld gilt weitgehend als verloren.<br />

Der Verkauf der PBB kann da nur für<br />

kosmetische Korrekturen sorgen.<br />

Die PBB hat in den Jahren nach dem großen<br />

Knall weiter Neugeschäft gemacht,<br />

Niederlassungen eröffnet, Einkaufszentren,<br />

Bürogebäude und Kommunalprojekte<br />

in Deutschland und Europa finanziert.<br />

Sie gilt heute als solide Bank. Ihre staatlichen<br />

Eigentümer sehen das als Vorteil bei<br />

der anstehenden Privatisierung.<br />

SCHÖNER SCHEIN<br />

Investmentbanker macht gerade das skeptisch.<br />

Zwar kaufen Investoren gerne Immobilienkredite<br />

aus Bankbeständen. Im Zinstal<br />

bescheren die höhere Renditen. Sie<br />

wollen sich aber kaum eine ganze Bank mit<br />

allen regulatorischen Anforderungen unter<br />

Aufsicht der BaFin aufhalsen. Anders<br />

als das Mittelstandsgeschäft gilt die Immobilienfinanzierung<br />

bei Großbanken nicht<br />

als Wachstumssegment. Für Spezialinstitute<br />

wiederum ist die PBB mit einer Bilanzsumme<br />

von 70 Milliarden Euro zu groß.<br />

Zudem steht die Bank nicht glänzend da.<br />

Laut Geschäftsbericht hat sie Ziele für Neugeschäft<br />

und Ergebnis übertroffen und die<br />

„Zielaufstellung für die Privatisierung erreicht“.<br />

Der Erfolg beruht jedoch auch auf<br />

Einmaleffekten. Das Vorsteuerergebnis fiel<br />

mit 165 Millionen Euro nur höher aus als<br />

2012, weil die PBB eine Immobilie gut verkaufte.<br />

Trotz des gestiegenen Neugeschäfts<br />

ging das Gesamtvolumen der Finanzierungen<br />

zurück. Die Immobilienkredite etwa<br />

sanken um 1,2 auf 22,5 Milliarden Euro.<br />

Atmosphärisch belastet wird der Verkauf<br />

zudem durch die abgeblasene Veräußerung<br />

der irischen HRE-Tochter Depfa. Der US-<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 7.7.<strong>2014</strong> Nr. 28 57<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

»<br />

Investor Leucadia hatte den Kaufvertrag<br />

unterschrieben. Der Bund entschied sich in<br />

letzter Minute, die Depfa selbst abzuwickeln.<br />

Das könnte seinen Ruf als verlässlicher<br />

Verhandlungspartner lädieren.<br />

In der entscheidenden Sitzung machte<br />

sich Soffin-Chef Pleister für die Umkehr<br />

stark. Der Verkaufsprozess habe dem Eigner<br />

neue Erkenntnisse über die günstigste<br />

Lösung für die Depfa beschert, heißt es<br />

beim Soffin. Ein von Pleister in Auftrag gegebenes<br />

Gutachten habe dies bestätigt.<br />

Seine Intervention verärgerte HRE-Chefin<br />

Manuela Better so sehr, dass sie zurücktrat.<br />

Die Depfa wandert nun zur Bad Bank<br />

der HRE. Der Transfer gilt als anspruchsvoll,<br />

aber machbar. Wie Insider berichten,<br />

wollte Better, die im Aufsichtsrat der Depfa<br />

saß, dennoch sofort aus jeder persönlichen<br />

Haftung für das Institut entlassen<br />

werden. Größere Risiken gibt es im Portfolio<br />

der Depfa eigentlich nicht. Es geht darum,<br />

dass sie vorerst funktionsfähig bleibt.<br />

Dafür müssen Teile des von der Entscheidung<br />

gegen den Verkauf frustrierten Managements<br />

an Bord bleiben. Halteprämien<br />

dürften politisch jedoch kaum durchsetzbar<br />

sein.<br />

Viel spricht dafür, dass die Abwicklung<br />

mehr einbringt als der Kaufpreis von 320<br />

Millionen Euro. Dass der Staat dafür über<br />

Jahrzehnte Vermögenswerte in zweistelliger<br />

Milliardenhöhe verwaltet, hat bei dem<br />

Entschluss kaum eine Rolle gespielt. „Wir<br />

entscheiden mit dem Taschenrechner,<br />

nicht nach Ideologie“, heißt es in Regierungskreisen.<br />

Schon der Einstieg bei den<br />

Banken war schließlich ein ordnungspolitischer<br />

Tabubruch.<br />

Der soll sich nicht wiederholen. Wegen<br />

des EZB-Stresstests wird die Laufzeit des<br />

Soffin um ein Jahr verlängert. Zwar gehen<br />

Aufseher nicht davon aus, dass ein deutsches<br />

Institut bei der Prüfung durchfällt<br />

Hypo Real Estate<br />

Manuela Better<br />

Die HRE-Chefin trat aus Ärger über die<br />

staatlichen Eigentümer zurück. Das<br />

Institut verhagelt die Rettungsbilanz.<br />

Kapitalhilfe: 9 800 000 000 Euro<br />

Steuerzahler stützen mit Milliarden<br />

Aktuelle Staatshilfen an europäische Banken (Auswahl)<br />

Deutschland 1<br />

Commerzbank<br />

Hypo Real Estate, PBB<br />

WestLB<br />

Großbritannien<br />

Lloyds<br />

Royal Bank of Scotland<br />

Niederlande<br />

ING<br />

ABN Amro<br />

SNS Reaal<br />

Spanien<br />

Bankia<br />

Irland<br />

Allied Irish<br />

Bank of Ireland<br />

Portugal<br />

Millennium BCP<br />

Anteil<br />

(in Prozent)<br />

17<br />

100<br />

2<br />

41<br />

84<br />


FOTO: RENÉ TILLMANN<br />

»Wir sind kein<br />

Gemischtwarenladen«<br />

INTERVIEW | Werner Dornscheidt Der Düsseldorfer Messechef kommt<br />

schon seit Jahren ohne Subventionen aus. Die Konzentration auf Investitionsgüter<br />

und neue Themen sollen dafür sorgen, dass das so bleibt.<br />

Herr Dornscheidt, die Messe Düsseldorf<br />

gehört zu den wenigen deutschen<br />

Messegesellschaften, die ohne staatliche<br />

Subventionen auskommen. Die 600<br />

Millionen Euro Investitionen bis 2030<br />

können Sie komplett aus eigener Kraft<br />

finanzieren. Was machen Sie anders?<br />

Wir sind schlanker aufgestellt als andere,<br />

hatten aber auch viele Jahre die Möglichkeit,<br />

Gewinne zu thesaurieren. Das hat bei<br />

der Finanzierung des Investitionsprogramms<br />

sehr geholfen. Hauptgrund ist<br />

aber unser erfolgreiches Messeportfolio.<br />

Zu unserem Programm in Düsseldorf zählen<br />

rund 50 Messen, knapp die Hälfte davon<br />

ist die Nummer eins ihrer Branche. Wir<br />

sind kein Gemischtwarenladen, sondern<br />

konzentrieren uns auf Investitionsgütermessen.<br />

Die haben meist den Nachteil, dass sie<br />

nicht jährlich stattfinden.<br />

Investitionsgütermessen folgen den Investitionszyklen<br />

der jeweiligen Branche. Die<br />

Schwankungen sind für uns aber kein Problem,<br />

weil sie planbar sind. Ungerade Jahre<br />

sind für uns traditionell schwach, gerade<br />

Jahre meist stark, die Umsätze differieren<br />

um bis zu 180 Millionen Euro. 2013 hatten<br />

wir 315 Millionen Euro Umsatz, <strong>2014</strong> erwarten<br />

wir mehr als 400 Millionen. Im vergangenen<br />

Jahr blieben gut zehn Millionen<br />

Gewinn übrig, in diesem werden es 30 bis<br />

35 Millionen Euro sein.<br />

Warum veranstalten Sie nicht einfach<br />

mehr Konsumgütermessen?<br />

Wir haben mit der Boot und dem Caravan<br />

Salon zwei erfolgreiche Konsumgütermessen<br />

im Programm. Aber: Nur hochwertige<br />

Produkte will man sich vor der Kaufentscheidung<br />

anschauen. Messen sind Marktplätze,<br />

sie verlieren ihren Sinn, wenn ein<br />

wachsender Teil des Geschäfts ins Internet<br />

abwandert. Darum wird es immer schwieriger,<br />

erfolgreiche Konsumgütermessen zu<br />

veranstalten.<br />

Die Messe Düsseldorf war früher mal ein<br />

Zentrum für internationale Modemessen.<br />

Davon ist nichts mehr zu spüren.<br />

DER MESSEMACHER<br />

Dornscheidt, 60, ist seit 2004 Chef der<br />

Messe Düsseldorf. Zuvor war der Betriebswirt<br />

unter anderem bei der Messe Leipzig<br />

tätig und bei der Centralen Marketing-<br />

Gesellschaft der deutschen Agrarwirtschaft.<br />

Nicht nur wir veranstalten keine Modemessen<br />

mehr, das gilt auch für Mailand<br />

oder Paris. Mit Ausnahme der Bread & Butter<br />

für Streetware in Berlin sind Modemessen<br />

so gut wie tot.<br />

Woran liegt das?<br />

Der Einzelhandel klassischer Prägung mit<br />

mehreren Marken im Regal ist verschwunden,<br />

große Modeketten wie H&M, Zara<br />

oder Benetton verkaufen ausschließlich in<br />

eigenen Läden. Damit haben Ordermessen,<br />

wie wir sie von früher kennen, ihre<br />

Funktion verloren. Früher gab es eine<br />

Sommer- und eine Winterkollektion, die<br />

auf zwei Modemessen gezeigt wurden.<br />

Heute wechseln die Ketten ihre Kollektionen<br />

zwölf Mal im Jahr.<br />

Und was ist mit teuren Designerlabels?<br />

Für die ist Düsseldorf nach wie vor ein Zentrum.<br />

Aber das Geschäft ist sehr kleinteilig<br />

und trägt keine großen Messen mehr. Diese<br />

Mode wird heute in den mehr als 800<br />

Showrooms der Stadt gezeigt. Mit zwei<br />

kleineren Ausstellungsflächen außerhalb<br />

des Messegeländes sind wir da noch dabei.<br />

Das lastet Ihre Hallen aber nicht aus.<br />

Die Zeiten, in denen Messegesellschaften<br />

sich darauf beschränken konnten, Hallen<br />

zu vermieten, sind vorbei. Wir entwickeln<br />

bestehende Messekonzepte weiter, etwa<br />

durch begleitende Kongresse. Gleichzeitig<br />

erschließen wir neue Messethemen.<br />

Zum Beispiel?<br />

Zu den Weiterentwicklungen unseres Messeprogramms<br />

gehört der Safe-Food-Kongress.<br />

Wir haben ihn zusammen mit der<br />

Welternährungsorganisation FAO und<br />

dem UN-Umweltprogramm Unep als Ergänzung<br />

zur Verpackungsmesse Interpack<br />

gegründet, mittlerweile beteiligen sich<br />

rund 110 Unternehmen. Dabei geht es darum,<br />

Nahrungsmittel durch eine bessere<br />

Logistik besser zu nutzen – etwa, indem<br />

durch neue Verpackungen verhindert<br />

wird, dass Lebensmittel schnell verderben,<br />

oder indem durch kleinere Verpackungseinheiten<br />

weniger weggeworfen wird. Ein<br />

Beispiel für ein ganz neues Messethema ist<br />

die Energy Storage, eine kleine Fachmesse<br />

zum Thema Speichern von Energie. Safe-<br />

Food und Energy Storage sind außerdem<br />

Beispiele dafür, wie sich neue Konzepte<br />

auch im Ausland vermarkten lassen.<br />

Was bringt das Auslandsengagement?<br />

Im konsolidierten Jahresabschluss erwirtschaften<br />

wir ungefähr ein Drittel unserer<br />

Umsätze im Ausland. In Tokio, Shanghai,<br />

Singapur, Delhi, Moskau und Chicago haben<br />

wir Tochtergesellschaften, wir exportieren<br />

erfolgreich Messekonzepte und entwickeln<br />

mit Partnern neue Veranstaltungen.<br />

Mit diesem Auslandsengagement liegen<br />

wir im Vergleich zu anderen deutschen<br />

Messegesellschaften weit vorn.<br />

Schadet Ihnen der Ukraine-Konflikt?<br />

Wir haben ein Büro in Moskau, sind seit<br />

mehr als 50 Jahren in Russland vertreten<br />

und Marktführer unter den dort vertretenen<br />

Messegesellschaften aus dem Westen.<br />

Wir veranstalten in Moskau bis zu 16 Messen<br />

jährlich. Unser Geschäft hat sich immer<br />

positiv weiterentwickelt, egal, ob im<br />

Kalten Krieg oder während der Auflösung<br />

der alten Sowjetunion. Wir verfolgen die<br />

Entwicklung aufmerksam, aber wir sind<br />

zuversichtlich.<br />

n<br />

hans-juergen.klesse@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche 7.7.<strong>2014</strong> Nr. 28 59<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Gier nach Gewinnen<br />

OLDTIMER | Die Affäre um den Düsseldorfer Kunstberater Helge Achenbach bringt ans Licht,<br />

wie Superreiche in Zeiten niedriger Zinsen aus dem Geschäft mit Autoklassikern eine riesige Bonanza<br />

gemacht haben, bei der es um viele Millionen Euro pro Fahrzeug geht.<br />

Alles mein: Kunstberater Achenbach in<br />

seiner Düsseldorfer Autosammlung<br />

Allzu viele Details mag Thomas Althoff<br />

über die Autos, die in der kommenden<br />

Woche bei den 6. Schloss Bensberg<br />

Classics (SBC) antreten, nicht verraten.<br />

Aber dann lässt der Hotelier und Fan wertvoller<br />

alter Autos doch ein wenig über die<br />

Oldtimer heraus, die vor den Toren Kölns<br />

zum Concours d’Elegance auflaufen.<br />

Ein Duesenberg-Kompressor-Wagen aus<br />

den Dreißigerjahren wird sich bei dem<br />

Schönheitswettbewerb unter dem Motto<br />

„Very important cars only“ der Jury stellen,<br />

auch ein bis ins Detail originaler Bugatti aus<br />

den Zwanzigerjahren. Dazu soll einer der<br />

raren Alfa Romeo des Typs 8C, der einst den<br />

Ruhm der italienischen Automarke begründete,<br />

auf die Schlosswiese rollen. Und<br />

auch ein aerodynamisch gestylter Mercedes<br />

540 K Roadster in einer Karosserie von<br />

Erdmann & Rossi, ebenfalls ein Traumwagen<br />

der Dreißigerjahre, hat sich angesagt.<br />

Doch dieses Mal lebt das Oldtimer-Treffen<br />

im Osten der Domstadt nicht nur von<br />

den wunderschönen, äußerst seltenen und<br />

teilweise mehrere Millionen Euro teuren<br />

Fahrzeugen. Das Edel-Schnauferltreffen<br />

steht in diesem Jahr auch unter dem Eindruck<br />

der Affäre um den Düsseldorfer<br />

Kunstberater und Old-Timer-Vermittler<br />

Helge Achenbach, der seit dem 10. Juni wegen<br />

Verdacht auf Betrug und Urkundenfälschung<br />

in Untersuchungshaft sitzt. Achenbach<br />

bestreitet alle Vorwürfe.<br />

OLDTIMER-VIRUS AUS BENSBERG<br />

Denn jene Geschichte nahm vor fünf Jahren<br />

bei der ersten SBC ihren Anfang. Damals<br />

hatte der Rheinländer den inzwischen<br />

verstorbenen Berthold Albrecht und<br />

dessen Frau Babette überzeugt, die Veranstaltung<br />

zu besuchen. Irgendwann im Verlauf<br />

des Tages, beim Wandeln zwischen<br />

den automobilen Preziosen auf dem Rasen<br />

und dem Gespräch mit ihren Besitzern,<br />

sprang damals der Oldtimer-Virus auf den<br />

milliardenschweren Aldi-Erben über.<br />

Die Folge: Nur wenige Wochen später<br />

besuchte Albrecht zusammen mit Achenbach<br />

die Kienle Automobiltechnik in<br />

Heimerdingen bei Stuttgart. Klaus Kienle,<br />

Gründer des weltgrößten Restaurationsbetriebes<br />

für Mercedes-Fahrzeuge, hatte in<br />

Bensberg ein exklusives Einzelstück vorgestellt:<br />

einen Mercedes 380 K von 1934, das<br />

erste Cabriolet der Welt mit einem klappbaren<br />

Blechdach. „Das Auto war von Mercedes<br />

als Versuchsfahrzeug gebaut worden,<br />

mit einer speziellen Dachkonstruktion<br />

und einem besonderen Motor – ein absolutes<br />

Goldstück“, schwärmt Kienle.<br />

Kienle, über die Seltenheit des Fahrzeugs<br />

sehr wohl im Bilde, hatte den Kaufpreis<br />

hoch angesetzt. „Doch Achenbach<br />

war ein harter Verhandler“, erinnert sich<br />

der Oldtimer-Händler. Nach hartem Gefeilsche<br />

einigte er sich mit Achenbach und<br />

Albrecht schließlich auf eine Summe von<br />

rund einer Million Euro. „Aus heutiger<br />

Sicht war das fast ein Schnäppchen“, findet<br />

60 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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FOTOS: RUDOLF WICHERT FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE. LAIF/FREDERIC NEEMA<br />

Kienle. Nicht nur, weil der Wagen später<br />

auf internationalen Schönheitswettbewerben<br />

etwa in Kuwait und im kalifornischen<br />

Pebble Beach zahlreiche Preise einheimste<br />

und so an Wert zulegte. Zugleich explodierte<br />

weltweit die Nachfrage nach hochkarätigen<br />

Oldtimern. „Der Mercedes 380 K würde<br />

heute auf einer Auktion einen Preis erzielen,<br />

der zwei- bis dreimal so hoch ist wie<br />

vor Jahren“, ist Kienle sicher.<br />

Albrecht fand jedenfalls rasch Gefallen<br />

an seinem Investment, Achenbach an seinem<br />

neuen Tätigkeitsfeld. Bis zu seinem<br />

Tod im November 2012 kaufte der Aldi-Erbe,<br />

einer der beiden Söhne von Aldi-Nord-<br />

Gründer Theo Albrecht, eine Flotte von 15<br />

hochkarätigen Schnauferl zusammen. Mithilfe<br />

von Achenbach und der Beratung unter<br />

anderem durch Florian Zimmermann,<br />

den früheren Leiter des Mercedes-Benz<br />

Classic Centers in Fellbach bei Stuttgart, erwarb<br />

er nach dem Mercedes 380 K auch<br />

noch einen 86 Jahre alten Mercedes 680 S<br />

Roadster mit einem avantgardistischen<br />

Aufbau des französischen Karossiers<br />

Saoutchik. Ein ähnliches Fahrzeug wurde<br />

im vergangenen Jahr für umgerechnet<br />

knapp 6,2 Millionen Euro versteigert.<br />

RENNWAGEN ALS GARAGENGOLD<br />

Zudem kaufte Albrecht für angeblich 9,6<br />

Millionen Euro einen Ferrari-Rennwagen<br />

<strong>vom</strong> Typ 121 LM aus dem Jahr 1955,<br />

hübsch anzusehen, aber schwer zu bändigen<br />

und meist auch sehr unzuverlässig.<br />

Die Fahrzeuge wurden <strong>vom</strong> Werk früher<br />

unter anderem beim heutigen Oldtimer-<br />

Rennen Mille Miglia und bei den 24 Stunden<br />

von Le Mans eingesetzt. Nichts für zarte<br />

Hände war auch ein anderes Auto in Albrechts<br />

Sammlung: ein Bentley 8 Litre, das<br />

letzte der 62 Exemplare, die noch unter der<br />

Regie des Firmengründers und vor dem<br />

Verkauf an Rolls-Royce verkauft wurden.<br />

Der Marktwert des Autos dürfte heute bei<br />

1,5 Millionen Euro liegen. Ein weiterer Ferrari<br />

250 GT Berlinetta aus der Sammlung<br />

Albrecht wird nach Auktionsergebnissen<br />

ähnlicher Fahrzeuge von Experten auf einen<br />

Wert von über sieben Millionen Euro<br />

geschätzt.<br />

Der Grund dafür, dass der Markt für Oldtimer<br />

seit drei Jahren so heiß läuft, ist simpel:<br />

Wer Aktien und Immobilien bereits besitzt<br />

und konventionelle Geldanlagen aufgrund<br />

der Niedrigzinsen scheut, investiert<br />

derzeit in Kunst und seltene alte Autos. Die<br />

Werke sind leicht rund um die Welt zu<br />

transportieren, ihre Stückzahl ist begrenzt.<br />

Und Kauf wie Verkauf sind, wenn man es<br />

Schaulaufen der Schönsten Concours<br />

d’Elegance im kalifornischen Pebble Beach<br />

geschickt anstellt, nicht einmal steuerpflichtig.<br />

Die Nachfrage nach gut erhaltenen<br />

und seltenen Oldtimern bekannter<br />

Marken wie Mercedes, Ferrari, Porsche<br />

oder Maserati ist demzufolge so groß, dass<br />

seit zwei Jahren bei Auktionen immer neue<br />

Rekordpreise erzielt werden. Gewerbliche<br />

Händler haben inzwischen allergrößte<br />

Mühe, neue Fahrzeuge für interessierte<br />

Kunden zu bekommen.<br />

„Die großen Sammler geben ihre Autos<br />

nicht her, was sollten sie mit dem Verkaufserlös<br />

denn auch machen?“, umschreibt<br />

Dietrich Hatlapa das Dilemma. Der ehemalige<br />

Direktor der Bank ING Barings leitet<br />

in London die Historic Automobile<br />

Group International (HAGI), die sich auf<br />

die Beobachtung des Markts für klassische<br />

Fahrzeuge spezialisiert hat und den HAGI-<br />

Index erstellt. Dieser gilt unter Experten als<br />

eine Art Preisbarometer für historische<br />

Fahrzeuge mit einem Marktwert jenseits<br />

von 100 000 Pfund, umgerechnet rund<br />

125 000 Euro. In diese Preisklasse fallen<br />

weltweit etwa noch 300 000 Autos.<br />

Besser als Aktien<br />

Wertentwicklung hochwertiger Oldtimer<br />

seit 2009 in Relation zum Aktienmarkt<br />

250<br />

200<br />

150<br />

100<br />

Hagi-Top-Index<br />

2009 2010 2011 2012 2013 <strong>2014</strong><br />

indexiert: 2009=100; Quelle: Historic Automobile Group<br />

MSCI-Welt<br />

Deutlich schwächer besetzt ist die Preisklasse<br />

der Oldtimer, die ihren Liebhabern<br />

eine Million Pfund (1,2 Millionen Euro) und<br />

mehr wert sind. Hatlapa schätzt ihre Zahl<br />

auf etwa 2000. Von denen stehen zurzeit wenige<br />

Hundert überhaupt zum Verkauf, und<br />

das weltweit. Wohl dem, der da wie die Unternehmer<br />

Jürgen Großmann, Hans Peter<br />

Stihl oder Martin Viessmann, Besitzer der<br />

weltweit größten Mercedes-Sammlung außerhalb<br />

des Werks, frühzeitig großen Stils<br />

ins Geschäft mit automobilem Kulturgut<br />

eingestiegen ist (siehe Kasten Seite 63).<br />

EINTRITTSKARTE ZUM GLAMOUR<br />

Auch der Aldi-Erbe fuhr bald auf das Garagengold<br />

ab und muss dabei seinem Freund<br />

und Berater Achenbach mehr oder minder<br />

blind vertraut haben. „Berthold Albrecht<br />

kaufte ganz gezielt Autos, die einzigartig<br />

waren und in einem Top-Zustand“, erzählt<br />

ein Wegbegleiter, der wegen des aktuellen<br />

Streits um das Erbe und der juristischen<br />

Auseinandersetzung der Erben mit Achenbach<br />

ungenannt bleiben möchte. „Die Autos<br />

sah er auch nicht primär als Spekulationsobjekte.<br />

Vielmehr sollten sie ihm Spaß<br />

bringen und ein Entree zu glamourösen<br />

Veranstaltungen wie in Pebble Beach oder<br />

an der Villa d’Este verschaffen.“ Der Oldtimer-Schönheitswettbewerb<br />

am Comer<br />

See ist dank seiner prominenten Teilnehmer<br />

eines der Top-Ereignisse in der Branche<br />

mit höchstem Glamourwert.<br />

Achenbach, der seit über 30 Jahren große<br />

Konzerne und bekannte Vermögende bei<br />

Kunstankäufen berät, hatte Albrecht aufgrund<br />

seiner vielfältigen Kontakte schnell in<br />

die Szene eingeführt und wickelte für den<br />

Milliardär die Käufe ab. Bei der Fahrzeugauswahl<br />

zog Albrecht zumindest zeitwei-<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 7.7.<strong>2014</strong> Nr. 28 61<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

»<br />

se den früheren Mercedes-Classic-Chef<br />

Zimmermann als Berater hinzu. „Die Oldtimer<br />

waren für ihn zum Schluss sein Ein<br />

und Alles“, erzählt der Vertraute. Vor seinem<br />

Tod habe er sogar noch über Plänen für ein<br />

kleines, aber feines Automuseum gebrütet.<br />

Doch statt Architekten sind nun die Anwälte<br />

am Zug: Es geht um die Frage, wie<br />

viel die 15 Oldtimer tatsächlich wert sind<br />

beziehungsweise wie hoch der Wert für die<br />

Erbschaftsteuer anzusetzen ist – und ob<br />

Achenbach seinen Freund Albrecht beim<br />

Ankauf der Fahrzeuge betrogen hat.<br />

Der 62-jährige Kunstberater besitzt<br />

selbst eine kleine, aber feine Sammlung<br />

von Oldtimern der Marken Mercedes, Porsche,<br />

Bentley und Ferrari, die er von einem<br />

privaten Mechaniker in Schuss halten lässt.<br />

Unter den Fahrzeugen sind ein<br />

Bentley, der früher dem Künstler<br />

Joseph Beuys gehörte, und ein<br />

Exemplar des legendären Adenauer-Mercedes<br />

aus dem Jahr<br />

1952 – die Limousine schenkte<br />

ihm ein Freund zum Geburtstag.<br />

In Achenbachs Sammlung steht<br />

zudem ein Ferrari aus dem Besitz<br />

des Fotokünstlers Andreas Gursky, der<br />

früher dem Ferrari-Rennleiter und heutigen<br />

FIA-Präsidenten Jean Todt gehörte.<br />

Zudem ist der Bolide von der Formel-1-<br />

Legende Michael Schumacher signiert<br />

(„To my friend Andreas. Have a safe trip“).<br />

Mit den Oldtimern aus der Albrecht-<br />

Sammlung können sich Achenbachs Autos<br />

jedoch nicht messen.<br />

Video<br />

In unserer App-<br />

<strong>Ausgabe</strong> sehen<br />

Sie ein Interview<br />

mit Kunstberater<br />

Helge Achenbach.<br />

Durch die gemeinsamen Interessen<br />

fanden Achenbach und Albrecht<br />

schnell zueinander, privat<br />

wie geschäftlich. Vereinbart wurde<br />

ein Kommissionsgeschäft,<br />

mündlich, wie es heißt. Demnach<br />

sollte Achenbach über seine Gesellschaft<br />

Art Consulting Kunstobjekte<br />

für den Aldi-Erben beschaffen.<br />

Und über seine in Stuttgart registrierte<br />

Gesellschaft Vintage Car Company<br />

(VCC) sollte Achenbach erlesene klassische<br />

Fahrzeuge erwerben und sie zum Einkaufspreis<br />

an Albrecht weitergeben.<br />

Dafür sollte Achenbach fünf Prozent auf<br />

den Nettoeinkaufspreis von Bildern und<br />

drei Prozent bei Oldtimern erhalten. Durch<br />

die Abmachung konnte der öffentlichkeits-<br />

BMW 5<strong>07</strong> Cabriolet<br />

Traumwagen der Fünfzigerjahre.<br />

Im März<br />

ging das Auto weg für<br />

2,4 Millionen $<br />

Porsche 911 S<br />

Steve McQueen fuhr<br />

ihn in „Le Mans“. Bei<br />

der Versteigerung<br />

brachte das Filmauto<br />

1 Million €<br />

Super<br />

Modelle<br />

Bei den Auktionen der<br />

vergangenen Jahre<br />

haben Auto-Klassiker<br />

Rekordergebnisse erzielt<br />

– weil sie sehr selten<br />

sind und äußerst<br />

begehrt.<br />

Jaguar D-Type<br />

Zahlreiche Rundenrekorde fuhr<br />

1956 der Rennfahrer Bib Stillwell<br />

mit dem Leichtgewicht. Bei<br />

einer Versteigerung erzielte er<br />

3,7 Millionen €<br />

Mercedes W 196 R<br />

Juan Fangio fuhr mit<br />

dem Rennwagen<br />

1955 zur Weltmeisterschaft.<br />

Versteigert<br />

wurde er jetzt für<br />

22,7 Millionen €<br />

Ferrari 275 GTB<br />

In Monaco wurde im Mai für den<br />

Sportwagen der bislang höchste<br />

Preis geboten und bezahlt:<br />

5,71 Millionen €<br />

Mercedes 380K<br />

1934 war das Cabriolet<br />

eines der luxuriösesten<br />

Autos in Deutschland:<br />

1,08 Millionen $<br />

62 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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FOTOS: ACTION PRESS/SWNS, PR, ACTION PRESS/REX FEATURES<br />

scheue Albrecht bei den Kaufverhandlungen<br />

stets im Hintergrund bleiben. Dies<br />

erleichterte Achenbach einerseits die Verhandlungen<br />

über die Objekte. Andererseits<br />

wollte Albrecht angeblich so auch seine<br />

Aktivitäten gegenüber der Familie verschleiern,<br />

wird in Kreisen von Achenbach<br />

kolportiert.<br />

Nach Ermittlungen der Staatsanwaltschaft<br />

soll Achenbach gegenüber Albrecht in einigen<br />

Fällen jedoch falsche Einkaufspreise angegeben<br />

und so absprachewidrig zu hohe<br />

Provisionen kassiert haben. Durch einen<br />

Hinweis aus der Privatbank Berenberg, mit<br />

der Achenbach – ohne Erfolg – vor Jahren einen<br />

Kunstfonds zu gründen versuchte, soll<br />

die angebliche Vorgehensweise aufgeflogen<br />

sein. Nach einem Gutachten, das die Familie<br />

Albrecht in Auftrag gab, soll der Verkehrswert<br />

von Kunstobjekten und Fahrzeugen<br />

deutlich niedriger sein, als nach den gezahlten<br />

Kaufpreisen zu vermuten war.<br />

PREISE DURCH DIE DECKE<br />

Das allein ist allerdings noch kein zwingender<br />

Beleg für einen Betrug. Denn der aktuelle<br />

Verkehrswert von Kunstwerken und<br />

Oldtimern lässt sich nur schwer schätzen.<br />

„Was ein Oldtimer tatsächlich wert ist, zeigt<br />

sich erst beim Verkauf oder bei einer Auktion“,<br />

sagt Martin Halder, Betreiber mehrerer<br />

exquisiter Oldtimer-Zentren in Berlin und<br />

Zürich. Für bestimmte Autos gebe es weltweit<br />

nur eine Handvoll zahlungskräftiger<br />

Interessenten. „Wenn die bei einer Auktion<br />

aufeinandertreffen, gehen die Preise durch<br />

die Decke.“ Andernfalls bleiben alte Autos<br />

oft monatelang stehen, ohne dass sich dafür<br />

jemand interessiert. Der Oldtimer-Handel<br />

braucht viel Geduld und Ausdauer.<br />

Schwerer wiegt der Vorwurf, dass Achenbach<br />

bei den Kommissionsgeschäften mit<br />

seinem Freund Albrecht mit fingierten<br />

Rechnungen gearbeitet haben soll und Belege<br />

fälschte. Die Anwälte der Albrecht-Erben<br />

nahmen zu den Verkäufern einiger der<br />

Fahrzeuge Kontakt auf und bemerkten<br />

beim Abgleich der Rechnungen zum Teil<br />

eklatante Abweichungen: In einem Fall soll<br />

sich eine Differenz von vier Millionen Euro<br />

ergeben haben zwischen dem Betrag, den<br />

Achenbachs VCC für zwei Autos zahlte,<br />

und dem Betrag, den er Albrecht in Rechnung<br />

stellte. Auch die Finanzbehörden<br />

werden sich deshalb wohl noch mit dem<br />

Fall Achenbach zu befassen haben.<br />

Jede Menge Gesprächsstoff also für die<br />

nächsten Schloss Bensberg Classic und die<br />

Oldtimer-Szene.<br />

n<br />

franz.rother@wiwo.de, thorsten firlus, claudia tödtmann<br />

AUTOSAMMLUNGEN<br />

Geheime Passion<br />

Geldanlage und Hobby zugleich:<br />

Viele Unternehmer füllen ihre<br />

Hallen mit seltenen Oldtimern.<br />

Die Linien sind perfekt geschwungen,<br />

die Übergänge fließend. Der Bugatti 57SC<br />

Atlantic von Modelegende Ralph Lauren<br />

steht seinem Besitzer. Lauren besitzt einen<br />

der vier jemals gebauten 57SC Atlantic,<br />

von dem inzwischen nur noch zwei Exemplare<br />

existieren. Der Bugatti ist eine Kostbarkeit,<br />

aber nicht die einzige im Besitz<br />

von Lauren: In den letzten Jahrzehnten hat<br />

der Modemacher insgesamt 60 Oldtimer<br />

zusammengekauft. Unter dem Titel<br />

„Speed, Style and Beauty: Cars from the<br />

Ralph Lauren Collection“ wurde die<br />

Sammlung 2005 erstmals im Museum of<br />

Fine Arts in Boston öffentlich ausgestellt.<br />

Auch der US-Fernsehmoderator Jay<br />

Leno lässt Besucher nach Voranmeldung<br />

gerne in seine Autosammlung in Los Angeles<br />

schauen. Zu sehen gibt es in dem<br />

ehemaligen Hangar mobile Schätze aller<br />

Art, unter anderem verschiedene Ferraris,<br />

Bugattis, ein altes Feuerwehrauto,<br />

Dampfautos und einen Protoyp mit<br />

Düsenantrieb. Alle Fahrzeuge sind fahrbereit.<br />

Ein Automechaniker aus Deutschland<br />

hält sie fit.<br />

Seltene Oldtimer besitzen und regelmäßig<br />

fahren – das ist der Wunsch auch<br />

vieler deutscher Unternehmer. Bei der<br />

Oldtimer-Rallye Mille Miglia durch Italien<br />

waren Mitte Juni unter anderem der<br />

ehemalige RWE-Chef und Alleingesellschafter<br />

der Georgsmarienhütte Holding,<br />

Jürgen Großmann mit von der Partie –<br />

am Steuer eines Bentley 6 1/2 Litre Tourer<br />

von 1927. Mit dabei waren auch der<br />

CEO der Edel AG, Michael Haentjes (OM<br />

665 SS MM Superba von 1930) und der<br />

Schweizer Jean-Remy von Matt (OM 665<br />

SS MM Superba von 1930), Mitgründer<br />

der Hamburger Werbeagentur Jung von<br />

Matt. Die beiden Söhne von Autovermieter<br />

Erich Sixt sorgten für Schlagzeilen,<br />

weil sie mit ihrem Mercedes 300 SL<br />

Flügeltürer einen Unfall verursachten.<br />

ANGST VOR SPITZBUBEN<br />

Bei der Mille Miglia treten Oldtimer-Besitzer<br />

an, die öffentlich zu ihrem Hobby stehen.<br />

Karl-Friedrich Scheufele von Chopard<br />

nutzt als Sponsor die Rallye zudem<br />

für das Marketing seiner Luxusuhren.<br />

Viele prominente Sammler in Deutschland<br />

halten sich jedoch lieber bedeckt,<br />

um keinen Neid zu wecken oder Spitzbuben<br />

anzulocken: Autos, die Millionenwerte<br />

darstellen, legen den Verdacht nahe,<br />

dass die Besitzer im Geld schwimmen.<br />

Unternehmer wie der Heiztechnik-König<br />

Martin Viessmann zeigen ihre automobilen<br />

Preziosen deshalb nur zaghaft. Ganz<br />

anders der Büromöbelhersteller Friedrich-<br />

Wilhelm Dauphin aus Nürnberg: Er baute<br />

in einer Parklandschaft für seine 160<br />

Fahrzeuge zählende Oldtimersammlung<br />

eine große Halle, die er als Eventfläche<br />

vermietet.<br />

thorsten.firlus@wiwo.de<br />

Perfekte Linien<br />

Modeschöpfer Lauren<br />

mit seinem Bugatti<br />

WirtschaftsWoche 7.7.<strong>2014</strong> Nr. 28 63<br />

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Technik&Wissen<br />

Moores Rettung<br />

INFORMATIONSTECHNIK | Rechenpower plus Kreativität gleich Wohlstand. Die Gleichung<br />

galt, solange Bits und Bytes immer schneller rotierten. Nun droht der wichtigste<br />

Wachstumsmotor der Weltwirtschaft ins Stottern zu geraten. Die IT-Branche muss den<br />

Computer neu erfinden!<br />

Esist die perfekte Tarnung: Ein<br />

unscheinbarer Industriebau,<br />

mehrgeschossig, eine Viertelstunde<br />

Fahrt von Hongkongs noblen<br />

Central Piers gelegen. Tausende<br />

davon gibt es in der chinesischen<br />

Megacity. Nichts verrät, dass hier die<br />

Schatzgräber des 21. Jahrhunderts arbeiten.<br />

Inkognito natürlich. Wer den Bau<br />

nutzt, verrät Alex Kampl nicht, als er die<br />

codegesicherten Türen ins Innere öffnet.<br />

Verständlich. Denn die Kunden des<br />

39-jährigen Österreichers produzieren hier<br />

Geld. Der Technikchef bei Allied Control,<br />

einem Spezialisten für Hochleistungscomputer,<br />

hat ihnen aber keine illegalen Notenpressen<br />

gebaut, sondern einen Miner,<br />

einen hochgezüchteten Spezialrechner.<br />

Der hat nur einen Zweck: mithilfe extrem<br />

aufwendiger mathematischer Verfahren<br />

die virtuelle Währung Bitcoin zu errechnen,<br />

das Gold des digitalen Zeitalters.<br />

Damit die Maschinen bei dem immensen<br />

Rechenaufwand nicht durchbrennen,<br />

ist Kampl auf eine scheinbar absurde Idee<br />

verfallen. Er hat seinen Superrechner Immersion<br />

II kurzerhand in riesigen Tanks<br />

absaufen lassen. Hunderte Rechnerplatinen<br />

bringen dort, teils nur noch einen Millimeter<br />

voneinander entfern, mit ihrer Hitze<br />

die Flüssigkeit zum Brodeln, wie Koi-<br />

Karpfen einen Teich bei der Fütterung.<br />

Die Rechner geben nur deshalb nicht<br />

mit blitzenden Kurzschlüssen den Geist<br />

auf, weil in den Tanks kein Wasser kocht,<br />

sondern Novec, eine <strong>vom</strong> Mischkonzern<br />

3M entwickelte Spezialflüssigkeit. Sie fühlt<br />

sich an wie Wasser, leitet aber keinen<br />

Strom und kühlt so selbst sensible Elektronik<br />

optimal. „Wir bringen bei gleichem<br />

Platzbedarf mehr als 20 Mal so viel Rechenpower<br />

unter“, sagt Kampl. „Höchste<br />

Leistung, minimaler Platzbedarf und extrem<br />

geringer Stromverbrauch für die Kühlung<br />

– das ist der nahezu perfekte Mix.“<br />

Schwimmende Server – das mag verrückt<br />

klingen. Doch gerade solch ungewöhnliche<br />

Konzepte haben in den Forschungsabteilungen<br />

der Computerindustrie<br />

und an den Hochschulen aktuell<br />

Müde Champions<br />

Gebremster Leistungszuwachs bei<br />

den stärksten Computern der Welt<br />

100 (Billiarden Gleitkomma-Rechenoperationen)<br />

10<br />

1<br />

Schnellster Supercomputer<br />

in der Top-500-Liste<br />

0,10<br />

Durchschnittsleistung aller<br />

Rechner der Liste<br />

0,01<br />

2009 2010 2011 2012 2013 <strong>2014</strong><br />

Quelle: www.top500.org; Juni-Werte<br />

Hochkonjunktur: Biomoleküle als Transistoren,<br />

Ionen als Speicher, Neuro-Computer<br />

oder Chips aus Kohlenstoff – kaum eine<br />

Idee klingt zu abseitig, um sie nicht auf ihre<br />

Praktikabilität abzuklopfen.<br />

Wirtschaft und Wissenschaft gleichermaßen<br />

treibt eine Sorge um: Der Innovationsmotor<br />

der Computerwelt könnte ins<br />

Stottern geraten. Denn die Hersteller müssen<br />

immer mehr Aufwand treiben, um die<br />

Leistung der Rechner spürbar zu steigern.<br />

„Miniaturisierung und höhere Taktraten<br />

stoßen als Tempotreiber bei Prozessoren<br />

an ihre Grenzen“, sagt Matthias Troyer. Der<br />

Physikprofessor erforscht an der Eidgenössischen<br />

Technischen Hochschule Zürich<br />

(ETHZ) neue Rechnerkonzepte. „Inzwischen<br />

sind die Strukturen der Leiterbahnen<br />

und Transistoren so klein, dass quantenmechanische<br />

Effekte wirksam werden<br />

und die Elektronen in den Leiterbahnen<br />

immer häufiger machen, was sie wollen“,<br />

umreißt er das Dilemma der IT-Entwickler.<br />

WIE WEITER WACHSEN?<br />

Wenn sich aber „Kleiner und schneller“ als<br />

Sackgasse erweist, welche Technologien<br />

und Rechnerkonzepte können dann die digitale<br />

Revolution in fast allen Wirtschaftsbereichen<br />

weiter befeuern?<br />

Egal, ob Autobau, Luftfahrt oder Medizin,<br />

ob Musikmarkt, Logistik oder Wissensmanagement<br />

– in jeder Ecke der Wirtschaft<br />

sorgen die Rechenhirne seit gut drei Jahrzehnten<br />

für sinkende Produktionskosten<br />

durch höhere Produktivität. Was wir seither<br />

an Wohlstandsgewinn einstrichen, verdanken<br />

wir also auch der konstant wachsenden<br />

Leistung des Kollegen Computer.<br />

Damit das so bleibt, glaubt Martin<br />

Schmatz <strong>vom</strong> IBM-Forschungslabor in<br />

Rüschlikon bei Zürich, müsse sich die<br />

Computerwelt von der Idee verabschieden,<br />

es gebe die eine, entscheidende Zukunftstechnologie:<br />

„Natürlich bleiben Mikroprozessoren<br />

für Jahrzehnte die zentralen Datenpumpen“,<br />

sagt der 47-jährige Schweizer.<br />

„Aber darum herum wird der Computer<br />

neu erfunden“, so der Experte für Server-<br />

Technologien. Massiv paralleles und neurosynaptisches<br />

Rechnen, Spezialprozessoren<br />

oder gar Quantencomputer sollen helfen,<br />

den digitalen Fortschritt zu retten.<br />

64 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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ILLUSTRATION: NICHOLAS BLECHMAN<br />

Wie ernst die Lage ist, lässt sich daran erkennen,<br />

dass das berühmte Moore’sche<br />

Gesetz ins Wanken gerät. Benannt ist es<br />

nach dem Mitgründer des Chipriesen Intel,<br />

Gordon Moore. Der hatte Mitte der Sechzigerjahre<br />

eine Verdoppelung der Leistungsfähigkeit<br />

von Computern grob alle zwei<br />

Jahre vorhergesagt – ausgelöst durch die<br />

Miniaturisierung der Schaltkreise und steigende<br />

Taktraten der Mikrochips.<br />

„Die Prognose hat sich als bemerkenswert<br />

zutreffend erwiesen“, sagt der Mathematiker<br />

Horst Gietl, Mitorganisator der renommierten<br />

International Supercomputing<br />

Conference (ISC). „Die Frage ist bloß,<br />

ob und wie sich dieser Trend in Zukunft<br />

beibehalten lässt.“<br />

STILLSTAND AN DER SPITZE<br />

In der jüngsten, vor zwei Wochen bei der<br />

ISC <strong>2014</strong> in Leipzig präsentierten Liste der<br />

500 stärksten Hochleistungscomputer<br />

zeichnet sich zumindest eine Formkrise<br />

der Elektronenhirne ab. An der Spitze jedenfalls<br />

tut sich derzeit gar nichts mehr:<br />

Der chinesische Supercomputer Tianhe-2<br />

führt das Feld weiter an – ohne auch nur einen<br />

Deut schneller geworden zu sein (siehe<br />

Grafik Seite 64).<br />

Was bedeutet das? Werden Wetterprognosen<br />

nicht mehr von Jahr zu Jahr verlässlicher,<br />

wie wir es bisher gewohnt waren?<br />

Stößt die Simulation von Crashtests neuer<br />

Autos im Computer an ihre Grenzen? Lassen<br />

sich die Wechselwirkungen von Molekülen<br />

bei medizinischen Therapien nicht<br />

mehr besser vorausberechnen, weil die<br />

Rechenpower stockt?<br />

Noch geben die ITler nicht auf.<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 7.7.<strong>2014</strong> Nr. 28 65<br />

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Technik&Wissen<br />

INTERVIEW James Goodnight<br />

»Algorithmen retten Leben«<br />

Der Chef des Softwareherstellers SAS über die wachsende Datenflut,<br />

selbst lernende Software und den Schutz vor Terroranschlägen.<br />

Herr Goodnight, im Zeitalter<br />

von Big Data explodiert die<br />

Menge an Information geradezu.<br />

Erstickt die Informationstechnik<br />

an der Datenflut?<br />

Es stimmt, die Datenmengen<br />

wachsen in der Tat schneller,<br />

als die Chips an Tempo zulegen.<br />

Trotzdem hält der Leistungsanstieg<br />

der IT als Ganzes<br />

mit den Daten mit.<br />

Ist das kein Widerspruch?<br />

Nur scheinbar. Die IT ändert<br />

sich gerade grundlegend: Es<br />

zählt nicht mehr so sehr, wie<br />

schnell ein einzelner Chip<br />

rechnet, sondern wie stark<br />

das Gesamtsystem ist.<br />

Was heißt das konkret?<br />

Der wichtigste Trend ist Parallelisierung:<br />

Das bedeutet bei<br />

der Auswertung von Geschäftsdaten,<br />

wie wir sie betreiben,<br />

Aufgaben in möglichst viele Teile<br />

zu zerlegen. Die lassen sich dann auf 100<br />

oder 1000 Prozessorkernen zugleich abarbeiten.<br />

Das steigert das Tempo um den<br />

Faktor 100 und mehr. Allerdings ist Software<br />

traditionell nicht für parallele Systeme<br />

entwickelt. Wir mussten unsere Programme<br />

komplett erneuern. Ein enormer<br />

Aufwand, aber nun sind wir für Big Data<br />

wirklich gerüstet.<br />

Was haben Unternehmen davon?<br />

Als Manager habe ich heute – je nach<br />

Funktion – ganz unterschiedliche Fragen:<br />

Wen spreche ich mit Marketingkampagnen<br />

an? Wie erreiche ich die<br />

Leute? Bei einer Bank: Wem gebe ich einen<br />

Kredit? Wo versucht jemand, mich<br />

zu betrügen? All das können Sie heute<br />

nur noch mit IT-Hilfe adäquat entscheiden.<br />

Mittels Analytik, Statistik und den<br />

mathematischen Regeln, die wir in unseren<br />

Programmen abbilden...<br />

...und die dann – statt eines Verkäufers<br />

– entscheiden, ob Kunden Waren auf<br />

Rechnung oder gegen Vorkasse geliefert<br />

bekommen. Verdrängen Maschinen die<br />

Menschen in der Geschäftswelt?<br />

ZAHLEN-MEISTER<br />

Goodnight, 71, gründete<br />

1976 das auf<br />

Analytiksoftware<br />

spezialisierte Unternehmen<br />

SAS Institute.<br />

Seither leitet<br />

der Informatiker den<br />

weltweit größten,<br />

nicht börsennotierten<br />

Softwarekonzern.<br />

Es geht nicht darum, smarte<br />

Köpfe zu ersetzen, sondern,<br />

sie zu unterstützen. Software<br />

liefert Ihnen etwa nur eine<br />

Abschätzung, mit welcher<br />

Wahrscheinlichkeit Sie gerade<br />

jemand mit einer gestohlenen<br />

Kreditkarte zu betrügen<br />

versucht. Aber Menschen entscheiden,<br />

ab welcher Wahrscheinlichkeit<br />

die Bank solche<br />

Buchungen blockiert.<br />

Wie gut klappt das?<br />

Nobody is perfect. Das gilt<br />

auch für Algorithmen, aber<br />

wir arbeiten hart dafür. Übrigens<br />

nutzen wir die steigende<br />

Rechnerleistung auch, um die<br />

Algorithmen mit Computerhilfe<br />

zu verbessern.<br />

Software programmiert sich<br />

selbst?<br />

Zum Teil: Beim Durchforsten<br />

gigantischer Datenbestände entdecken<br />

Rechner heute statistische Zusammenhänge,<br />

die menschliche Programmierer<br />

nicht erkennen. Diese Algorithmen versteht<br />

auch bei uns kein Mensch mehr –<br />

aber sie arbeiten so beeindruckend verlässlich,<br />

dass wir sie einsetzen.<br />

Wie weit kann das gehen? Ersetzt Statistik<br />

womöglich dereinst die Theorie?<br />

Das ist mehr eine philosophische als eine<br />

technische Frage. Ich glaube nicht,<br />

dass Rechner menschliche Neugier verdrängen<br />

werden. Wir wollen verstehen,<br />

wie die Welt funktioniert. Aber es gibt sicher<br />

manche Situationen, in denen wir<br />

damit zufrieden sein können, was uns<br />

die Maschinen verraten.<br />

Zum Beispiel?<br />

Die US-Armee nutzt unsere Prognosesoftware,<br />

um etwa bei Patrouillen in<br />

Afghanistan vorab Anschlagsrisiken zu<br />

bewerten. Am Ende ist es egal, warum<br />

das Programm andere Routen empfiehlt,<br />

weil das Risiko auf dem ursprünglichen<br />

Weg zu hoch erscheint – wenn die Prognose<br />

stimmt. Und glauben Sie mir: Die<br />

Technik hat schon einige Leben gerettet.<br />

»<br />

Sie hoffen ausgerechnet auf die Rechenchips,<br />

für die sich bisher nur PC-Daddler<br />

und Special-Effects-Designer in Hollywood-Studios<br />

interessierten: die Grafikkarten,<br />

englisch Graphics Processing Units<br />

(GPU) genannt. Sie sorgen für die atemberaubenden<br />

Videoeffekte in Computerspielen<br />

und Filmen. Das können sie besonders<br />

gut, gemessen an herkömmlichen Prozessoren<br />

sind sie eher simpel gestrickt.<br />

SUPERCOMPUTER FÜR ALLE<br />

Dafür stecken bis zu 2880 Rechenkerne in<br />

den besten GPUs. Die können so hochkomplexe<br />

Aufgaben, etwa Simulationen,<br />

gleichzeitig statt nacheinander abarbeiten<br />

– ein enormer Zeitgewinn. „Statt in die Höhe<br />

wächst Rechenleistung künftig in die<br />

Breite“, sagt Sumit Gupta. Der 40-Jährige<br />

leitet die Supercomputing-Sparte des kalifornischen<br />

Chipproduzenten Nvidia.<br />

Sein Job markiert den radikalen Umbruch<br />

der Computerwelt. Auf einmal verwandelt<br />

sich Technik zum Leistungsturbo,<br />

die früher nur der Unterhaltung am PC<br />

diente. „Ob du Lichteffekte für Computerspiele<br />

berechnen lässt oder aerodynamische<br />

Strömungssimulationen, Rauchausbreitung<br />

bei Feuer oder die Entwicklung<br />

von Staus“, erklärt Gupta, „das ist dem Chip<br />

völlig egal.“ Nicht aber dem Anwender, der<br />

bei Nvidia inzwischen High Tech für den<br />

professionellen Einsatz bekommt – zu einem<br />

Bruchteil der Kosten konventioneller<br />

Rechner. „Supercomputing wird für ganz<br />

neue Zielgruppen bezahlbar“, so Gupta.<br />

Massiv paralleles Rechnen, davon ist<br />

auch ISC-Mitorganisator Gietl überzeugt,<br />

„ist der entscheidende Treiber für künftige<br />

Leistungssprünge in der IT“. Das sehen offenbar<br />

auch die Entwickler von Tianhe-2<br />

so, dem aktuell stärksten Rechner der Welt.<br />

Er steht in Chinas National Super Computer<br />

Center in Guangzhou und vereint die<br />

Rechenleistung von 3,12 Millionen Prozessorkernen.<br />

„Das sind gut fünf Mal so viele<br />

wie bei Titan, dem aktuell auf Rang zwei<br />

gelisteten Superrechner des US-Energieministeriums“,<br />

rechnet Gietl vor.<br />

Das enorme Potenzial der Parallelisierung<br />

kommt aber nur zum Tragen, wenn<br />

auch die Softwarehäuser ihre Programme<br />

anpassen. Das ist eine Mammutaufgabe:<br />

„Denn Software ist traditionell nicht für parallele<br />

Systeme entwickelt“, sagt etwa James<br />

Goodnight, Chef des auf Datenanalytik spezialisierten<br />

US-Softwareunternehmens SAS<br />

(siehe Interview links). „Wir mussten daher<br />

die Algorithmen zur Datenverarbeitung in<br />

unserer Software komplett erneuern.“<br />

66 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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FOTO: LAIF/MIQUEL GONZALEZ; ILLUSTRATION: NICHOLAS BLECHMAN<br />

Bei aller Euphorie fürs parallele Rechnen,<br />

schon warnen Experten, auch diese<br />

Strategie könnte an ihre Grenzen stoßen.<br />

„Längst nicht jede Aufgabe lässt sich in<br />

Tausende oder gar Millionen parallele Rechenschritte<br />

zerlegen“, warnt IBM-Experte<br />

Schmatz. Bei extrem großen Prozessorzahlen<br />

könnte der Aufwand fürs Management<br />

der vielen parallelen Operationen und für<br />

den benötigten Datentransfer den Tempogewinn<br />

sogar wieder zunichte machen.<br />

Künftig würden daher nicht nur immer<br />

mehr Prozessorkerne in Computern stecken,<br />

erwartet Schmatz, sondern auch eine<br />

Reihe hoch spezialisierter Zusatzbausteine,<br />

die gemeinsam für Leistungssprünge<br />

sorgen: „Ob für Ver- oder Entschlüsselung<br />

von Daten, die Kompression von Bildern,<br />

Musik oder Videos oder deren Wiedergabe,<br />

für all das gibt es schon Spezialhardware –<br />

und viel mehr wird noch kommen.“<br />

Doch egal, ob Computer linear rechnen<br />

oder parallel, vor einem Problem stehen<br />

Hard- und Softwareentwickler gleichermaßen:<br />

Je schneller die Chips arbeiten, desto<br />

eher geht ihnen das Futter aus. „Die Datenübertragung<br />

aus dem Speicher in die Prozessoren<br />

hat mit dem Zuwachs an Rechenleistung<br />

nicht Schritt gehalten“, sagt ISC-<br />

Experte Gietl. Auch deshalb setzen die<br />

Techniker zunehmend darauf, Daten direkt<br />

aus dem Arbeitsspeicher zu laden statt<br />

wie in der Vergangenheit von den langsameren<br />

Festplatten. Das war angesichts<br />

der extrem hohen Speicherkosten lange<br />

nicht bezahlbar. Inzwischen aber sind die<br />

Preise für das In-Memory-Computing<br />

(IMC) drastisch gefallen.<br />

GEN-CHECKS IN MINUTEN<br />

Auch der deutsche Softwareriese SAP investiert<br />

massiv in die Technik. Mit seiner<br />

Hana-Plattform verkürzt er etwa komplexe<br />

Preiskalkulationen enorm, mit denen Fluggesellschaften<br />

Ticketpreise ermitteln, von<br />

zwölf Stunden auf nur noch eine Sekunde.<br />

„Die Technik hilft aber auch in der Medizin,<br />

Genomanalysen statt in zwei bis drei<br />

Tagen in Minuten abzuarbeiten“, sagt<br />

Franz Färber, der als Softwarearchitekt<br />

maßgeblich an der Hana-Entwicklung mitgearbeitet<br />

hat. „Das hilft insbesondere bei<br />

der Suche nach speziell auf die Patienten<br />

abgestimmten Krebstherapien.“<br />

Auch das ist wohl nur ein Zwischenschritt.<br />

Denn selbst der Arbeitsspeicher<br />

wird den Entwicklern schon wieder zu<br />

langsam. „Im Grunde müssen wir die Daten<br />

noch näher an die Prozessoren heranbringen“,<br />

sagt Färber. „Da ist noch mal ein<br />

Kohlenstoff-Chips, Biorechner, Ionenspeicher:<br />

Keine Idee klingt zu abseitig<br />

Leistungssprung bis zum Faktor 100 ziemlich<br />

realistisch“, glaubt SAP-Experte Färber.<br />

Noch ist der erforderliche Spezialspeicher<br />

– der Cache – wieder einmal prohibitiv teuer.<br />

Das aber wandelt sich gerade. Vor wenigen<br />

Tagen erst hat Mark Seager, Technikchef<br />

der Abteilung für Hochleistungscomputer<br />

beim US-Chipgiganten Intel in<br />

Leipzig, neue Spezialprozessoren mit besonders<br />

großem Cache vorgestellt.<br />

Bis zu 16 Gigabyte an Daten sollen sich<br />

direkt an der neuen Prozessor-Plattform,<br />

Codename Knights Landing, ablegen und<br />

entsprechend rasant auswerten lassen,<br />

wenn die neuen Systeme im nächsten Jahr<br />

auf den Markt kommen.<br />

Spätestens dann müssen auch die Softwareentwickler<br />

ihre Programme wieder an<br />

die neue Technik anpassen. Und wohl<br />

nicht nur deshalb. Denn glaubt man Experten<br />

wie dem Zürcher Physiker Matthias<br />

Troyer, dann liegt genau hier der eigentliche<br />

Schlüssel dafür, dass das Moore’sche<br />

Gesetz seine Gültigkeit behält: „Das größte<br />

Potenzial für künftige Leistungssprünge<br />

steckt in besserer Software“, sagt der Wissenschaftler,<br />

der auch das Potenzial sogenannter<br />

Quantencomputer erforscht.<br />

Diese Zukunftscomputer sollen nicht<br />

mehr mit Einsen und Nullen rechnen, sondern<br />

– mithilfe der Quantenmechanik –<br />

unter anderem heute noch unlösbare Verschlüsselungsverfahren<br />

knacken können.<br />

Doch bis es, vorsichtig geschätzt in 20 bis<br />

30 Jahren, so weit ist, gelte es erst einmal,<br />

die Software radikal auf Effizienz zu trimmen,<br />

fordert Troyer.<br />

Um zu zeigen, was möglich ist, hat er mit<br />

seinen Kollegen modernste, optimierte Simulationsprogramme<br />

auf 20 Jahre alten<br />

Rechnern laufen lassen – und 20 Jahre alte<br />

Simulationssoftware auf den schnellsten<br />

Rechnern. „Das Ergebnis war eindeutig“,<br />

sagt der Zürcher Wissenschaftler, „die neue<br />

Software lief auf den alten Rechnern viel<br />

schneller als umgekehrt.“<br />

Zumindest theoretisch. Denn tatsächlich<br />

haben die großen Softwarekonzerne<br />

ihre Computerprogramme über Jahre fast<br />

durchweg mit immer neuen, immer komplexeren<br />

Funktionen ausgestattet. Die forderten<br />

immer mehr Leistung, was nur so<br />

lange kein Problem war, wie – Moore sei<br />

Dank – die Chips zugleich verlässlich<br />

schneller und leistungsstärker wurden.<br />

„Insofern“, sagt Troyer, „ist es vielleicht<br />

gar kein Nachteil, wenn uns der Technikwandel<br />

künftig bessere, weil effizientere<br />

Software beschert.“<br />

n<br />

thomas.kuhn@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche 7.7.<strong>2014</strong> Nr. 28 67<br />

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Technik&Wissen<br />

Lücke als Geschäft<br />

VERKEHR | Start-ups wollen Schluss machen mit der lästigen Suche<br />

nach freien Parkplätzen. Sie setzen auf Apps und Sensoren.<br />

Ende der Irrfahrt Apps wie Parku (links) und<br />

Parker (rechts) zeigen freie Parkplätze an<br />

Schlägereien, gezückte Messer,<br />

Drohungen mit der Pistole: Was<br />

nach einem billigen Hollywood-Streifen<br />

klingt, ist Alltag in<br />

deutschen Großstädten. Bei den<br />

brutalen Streitereien geht es aber<br />

nicht etwa um Raubüberfälle, Drogenhandel<br />

oder Prostitution – sondern<br />

um Parkplätze. Fast täglich muss die<br />

Polizei irgendwo in Deutschland zwischen<br />

aufgebrachte Autofahrer gehen,<br />

die sich im Kampf um einen Stellplatz<br />

in die Haare geraten sind.<br />

Dass die Emotionen hochkochen, ist<br />

kein Wunder. Denn wer in einer deutschen<br />

Stadt weniger als zehn Minuten<br />

nach einem Stellplatz sucht, ist statistisch<br />

gesehen ein Glückspilz. Zudem<br />

fährt er dabei im Schnitt mehr als vier<br />

Kilometer herum. Das Ergebnis laut Michael<br />

Schreckenberg, Verkehrsforscher an<br />

der Universität Duisburg-Essen: Die Parkplatzsuche<br />

macht 40 Prozent des Stadtverkehrs<br />

aus. Das kostet viel Nerven, Zeit und<br />

Geld und belastet die Umwelt. „Neue technische<br />

Lösungen sind deshalb dringend<br />

nötig“, sagt Schreckenberg.<br />

Und genau die will jetzt eine Riege von<br />

Start-ups bieten. Ihre wichtigsten Werkzeuge:<br />

Smartphones und Sensoren.<br />

Social Parking nennt sich der Trend, mit<br />

dem unter anderem die Berliner Firma<br />

Parktag die Suche nach Stellplätzen erleichtern<br />

will. Drei Jahre hat Gründer Silvan<br />

Rath an seiner App gefeilt. Zuvor war er<br />

Vertriebsleiter unter anderem beim Netzwerkausrüster<br />

Cisco und dem Online-Auktionshaus<br />

Ebay. Jetzt bereitet er mit seinem<br />

zwölfköpfigen Team den Marktstart vor.<br />

Gerade hat der 33-Jährige dafür eine halbe<br />

Million Euro <strong>vom</strong> halbstaatlichen High-<br />

Tech-Gründerfonds erhalten.<br />

Die Idee: Autofahrer laden sich die App<br />

auf ihr Telefon und registrieren sich samt<br />

Fahrzeug. Sensoren im Smartphone erkennen,<br />

wie schnell sich der Nutzer fortbewegt<br />

und ob er geht, sitzt oder fährt. All das liefert<br />

der Software ausreichend Indizien, um<br />

zu entscheiden, wann ein Fahrzeug seinen<br />

Parkplatz verlässt. Den freigewordenen<br />

Stellplatz zeigt das System den anderen<br />

App-Nutzern auf einer Karte an. Wer Angst<br />

hat, die detaillierten Bewegungsprofile geraten<br />

in fremde Hände, den beruhigt<br />

Rath: „Die Bewegungsdaten verlassen<br />

das Telefon nicht ungewollt.“<br />

Doch wer garantiert dem Autofahrer,<br />

dass der Parkplatz noch frei<br />

ist, wenn er Minuten später in der<br />

Straße ankommt? Auch dieses Problem<br />

will der Gründer gelöst haben.<br />

So zeigt die App an, wenn sich der Besitzer<br />

eines parkenden Autos diesem<br />

nähert und wohl bald wegfahren wird.<br />

Andere Nutzer können sich dann<br />

schon auf den Weg machen. Per Knopfdruck<br />

lassen sich auch Parkplätze reservieren<br />

– und verschwinden dann<br />

von der Karte. Warteschlangen vor freien<br />

Plätzen soll das vermeiden.<br />

PARKEN PER AUKTION<br />

Anhand von Verkehrsstudien hat Rath<br />

die kritische Masse für sein Projekt berechnet.<br />

„Sollen Autofahrer schneller als bisher<br />

einen Parkplatz finden, brauchen wir rund<br />

sechs Prozent der Verkehrsteilnehmer in<br />

einer Stadt“, erklärt er.<br />

Eine Testversion der App haben bisher<br />

immerhin 15 000 Nutzer auf ihr Handy geladen.<br />

Da sie kostenlos ist, setzt der Gründer<br />

auf Lizenzen als Geschäftsmodell. Firmen<br />

können die Parktag-Software gegen<br />

eine Gebühr in ihre Apps oder Navigationssysteme<br />

integrieren. Einige bekannte<br />

Unternehmen arbeiten bereits daran; welche,<br />

darf Rath noch nicht verraten. Will er<br />

sich am Markt durchsetzen, muss er<br />

PARKHÄUSER<br />

Besser stapeln<br />

High Tech soll künftig nicht nur das Parken<br />

am Straßenrand optimieren, sondern<br />

auch in Parkhäusern. Schon jetzt lotsen in<br />

Innenstädten zwischen Kiel und München<br />

Apps wie Parken in Deutschland oder<br />

Parkonaut Autofahrer zu Parkgaragen mit<br />

freien Stellplätzen. Bald begrüßen dort<br />

wohl sogar Roboter die Autofahrer.<br />

Aufgegabelt Parkroboter Ray stellt Autos<br />

im Abstand von wenigen Zentimetern ab<br />

So wie jetzt schon am Flughafen Düsseldorf.<br />

Dort nahm Ende Juni Ray seinen<br />

Dienst auf, der Fahrzeuge zentimetergenau<br />

in 260 Stellplätze bugsiert. Entwickelt hat<br />

den Parkroboter das Transportsystem-<br />

Unternehmen Serva aus Bayern. Autofahrer<br />

stellen ihren Wagen am Eingang ab.<br />

Ray vermisst ihn, hebt ihn an und fährt<br />

ihn zum Platz.<br />

BEI ANKUNFT WARTET DAS AUTO<br />

Der Vorteil: Der Abstand zwischen den<br />

Autos zum Ein- oder Aussteigen fällt weg,<br />

zudem benötigt Ray kaum Platz zum Rangieren.<br />

Die Auslastung soll durch die rund<br />

zwei Millionen Euro teure Investition um<br />

40 Prozent steigen. Auch die Nutzer profitieren:<br />

Ray ist mit den Flughafenrechnern<br />

verbunden und kennt die Ankunftszeiten<br />

seiner Kunden. So kann er den<br />

Wagen pünktlich wieder bereitstellen.<br />

FOTOS: PR (3), PICTURE-ALLIANCE/DPA/EPA/AHMED JALLANZO<br />

68 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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schnell mehr Nutzer gewinnen. Denn die<br />

Konkurrenz ist hart.<br />

Aktuell versucht sich international rund<br />

ein Dutzend Start-ups an Social-Parking-<br />

Apps. Eines davon, MonkeyParking aus Italien,<br />

machte kürzlich Schlagzeilen, weil ein<br />

Richter in San Francisco ihren Einsatz verbot.<br />

Das Geschäftsmodell der Italiener<br />

sieht vor, dass Nutzer per App ihren Parkplatz<br />

am Straßenrand an den Meistbietenden<br />

versteigern. Die Gründer kassierten<br />

Prozente. Der Stadt ging die Vermarktung<br />

des öffentlichen Raums zu weit.<br />

Auch andere Apps wie Parker oder Parkatmyhouse<br />

aus England, zu dessen Investoren<br />

unter anderem BMW zählt, wollen<br />

Parkplätze zu Geld machen. Nutzer vermieten<br />

über die Plattformen freie Flächen,<br />

zum Beispiel in der Einfahrt ihres Grundstücks.<br />

Eine halbe Million User soll die App<br />

weltweit haben. Auch das Schweizer Angebot<br />

Parku zeigt Autofahrern freie Stellplätze<br />

auf dem Handy an. Hier sind es aber Hotels,<br />

Unternehmen oder Kongresszentren,<br />

die Parkmöglichkeiten anbieten. Ein erster<br />

Test läuft derzeit in Berlin.<br />

Kuss des Todes<br />

MEDIZIN | Der dramatische Ebola-Ausbruch in Afrika schürt<br />

die Angst vor der Rückkehr der Seuchen. Zu Recht?<br />

AUGE ÜBER DER STRASSE<br />

Nicht nur mit Apps wollen Start-ups die<br />

Parkplatzsuche erleichtern. Die US-Firmen<br />

Streetline und Streetsmart etwa planen,<br />

Straßenränder mit Sensoren zu spicken.<br />

Die melden übers Internet, wenn ein Platz<br />

frei ist. Doch es ist aufwendig, die Technik<br />

zu installieren. Und ob Städte oder Unternehmen<br />

eine Servicegebühr an die Startups<br />

zahlen, um die Parkinfos zu nutzen,<br />

bleibt abzuwarten. Bisher haben sie nach<br />

eigener Aussage mehrere Tausend Fühler<br />

installiert, vor allem in San Francisco.<br />

Besser und vor allem günstiger als die<br />

Amerikaner will Thomas Hohenacker sein,<br />

Gründer von Schlauerparken aus Starnberg.<br />

Der Medienunternehmer hängt eine<br />

Art Kamera an Hauswände über der Straße<br />

und registriert sogar die Größe freier Parklücken<br />

– bis auf 20 Zentimeter genau. 50 bis<br />

60 Stellplätze kann ein elektronisches Auge<br />

laut Hohenacker abdecken. Dafür würden<br />

die US-Konkurrenten mindestens ebenso<br />

viele Sensoren benötigen. In München und<br />

Hamburg hat er die Technik schon getestet,<br />

demnächst folgt eine Stadt in Hessen. Mit<br />

weiteren Kommunen ist er im Gespräch.<br />

Ob Social Parking per App oder Sensoren<br />

– wer am Ende das Rennen macht, wird<br />

verzweifelten Parkplatzsuchern egal sein.<br />

Hauptsache, der tägliche Kleinkrieg um<br />

den Parkplatz hat ein Ende.<br />

n<br />

benjamin.reuter@wiwo.de<br />

Eskommt wie aus dem Nichts, schlägt<br />

zu und hinterlässt eine Spur des Todes<br />

– Ebola. Der Erreger tötet grausam<br />

und effektiv. Bis zu 90 Prozent der Infizierten<br />

sterben. Die Opfer verbluten innerlich<br />

und äußerlich oder sterben an Organversagen.<br />

1976 erstmals in Zentralafrika<br />

beschrieben, tauchte das Virus immer wieder<br />

auf und verschwand schnell wieder.<br />

Doch jetzt ist alles anders. In Westafrika –<br />

in Guinea, Sierra Leone und Liberia – tobt<br />

die bisher schlimmste Ebola-Epidemie.<br />

Fast 800 Infizierte zählte die Weltgesundheitsorganisation<br />

(WHO), fast 500 von ihnen<br />

starben. Und die Seuche breitet sich<br />

seit Monaten aus, statt wie sonst schon<br />

nach Wochen zusammenzubrechen.<br />

Auch rund 450 Virologen, Ärzte und<br />

Pfleger von WHO und Hilfsorganisationen<br />

ändern nichts. Die Lage sei „außer Kontrolle“,<br />

schlug Bart Janssens, Einsatzleiter von<br />

Ärzte ohne Grenzen, Alarm. Die WHO<br />

fürchtet, dass die Seuche auf Nachbarländer<br />

übergreift. Längst fragen sich viele in<br />

Deutschland, ob das Virus auch afrikanische<br />

Urlaubsgebiete erreicht und wie Geschäftsreisende<br />

sich schützen können.<br />

Fällt Ebola womöglich bald in Europa<br />

ein? Ist die Epidemie Vorbote einer neuen<br />

Ära, in der unbeherrschbare Seuchen wieder<br />

Millionen Opfer fordern, wie die Spanische<br />

Grippe Ende des Ersten Weltkriegs?<br />

Tödliche Skepsis Frauen in Liberia informieren<br />

sich über die dort neue Seuche Ebola<br />

Ebola ist nicht allein. In Saudi-Arabien<br />

grassiert der Atemwegsinfekt MERS<br />

(Middle East Respiratory Syndrome). In<br />

den Tropen infiziert das einst seltene Dengue-Fieber<br />

Millionen Menschen. Und in<br />

China tötet ein Vogelgrippe-Erreger Menschen.<br />

Er könnte sich weiter verändern<br />

und dann rasant ausbreiten.<br />

Ursache dieser Krankheiten sind Viren,<br />

gegen die es bisher kaum wirksame Therapien<br />

gibt. Sollte es zu einem weltweiten<br />

Seuchenzug kommen, einer Pandemie, ist<br />

nicht klar, ob Impfungen und Medikamente<br />

rechtzeitig bereitstehen. Die Pharmaindustrie<br />

investiert kaum noch in den Kampf<br />

gegen Virusinfektionen.<br />

Dazu kommt, dass zumindest „Ebola<br />

nicht das Zeug zur globalen Bedrohung<br />

hat“, beruhigt der Regensburger Infektiologe<br />

Bernd Salzberger. Anders als bei Grippeviren<br />

sei eine Ansteckung von Mensch zu<br />

Mensch nicht über Tröpfchen in der Luft<br />

möglich, sondern nur durch Kontakt mit<br />

Körperflüssigkeiten. Sobald Infizierte typische<br />

Symptome wie hohes Fieber und<br />

Durchfälle zeigen, können Mediziner sie<br />

isolieren und so die Seuche eindämmen.<br />

Die Strategie versagt aber bei Ebola in<br />

Westafrika. Dort misstrauen die Men-<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 7.7.<strong>2014</strong> Nr. 28 69<br />

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Technik&Wissen<br />

Knutschen verboten Die arabische Atemwegsepidemie MERS wird von Kamelen übertragen<br />

»<br />

schen westlichen Helfern. Statt sich von<br />

gespenstisch vermummten Ärzten in Isolierzelte<br />

sperren zu lassen, pflegen Angehörige<br />

die Kranken und stecken sich an. Bestattungsriten<br />

tragen zur Virusverbreitung bei:<br />

Verwandte waschen die Verstorbenen und<br />

umarmen sie. Ein Abschiedskuss für den Toten<br />

wird dann schnell zum Todeskuss.<br />

Wie sich bisher schwer heilbare Tropenkrankheiten<br />

durch Verstädterung und<br />

wachsende Mobilität der Menschen ausweiten<br />

können, belegt Dengue. Weltweit in<br />

allen warmen Regionen zu Hause, gefährdet<br />

es nun auch die Menschen in Brasiliens<br />

Großstädten, wo Millionen Einheimische<br />

und Touristen die Fußball-WM genießen.<br />

DIE ERREGER LAUERN IN TIEREN<br />

Wie bei Ebola verursacht das Dengue-Virus<br />

Fieber mit schweren Blutungen. Laut<br />

WHO erkranken etwa 100 Millionen Menschen<br />

pro Jahr daran, 22 000 sterben. Wo,<br />

wie in den Slums der Welt, die Menschen<br />

Trinkwasser in offenen Tonnen sammeln,<br />

haben Dengue-Mücken beste Überlebenschancen.<br />

Gut 300 Menschen schleppen die<br />

Krankheit jährlich nach Deutschland ein.<br />

Aber nicht nur altbekannte Tropenkrankheiten<br />

bereiten Probleme. Gerade<br />

bei den sich schnell genetisch verändernden<br />

Viren entstehen immer wieder neue,<br />

gefährliche Erreger. Das Prinzip ist immer<br />

gleich: Viren, die eigentlich Tiere befallen,<br />

mutieren und schaffen es plötzlich, auf den<br />

Menschen überzuspringen.<br />

So stammt der Erreger der Immunschwäche<br />

Aids <strong>vom</strong> Affen. Ebola haust ei-<br />

gentlich in Fledermäusen und Affen. Grippeviren<br />

kommen von Vögeln und Schweinen.<br />

Und bei MERS stecken Menschen sich<br />

durch engen Kontakt mit Kamelen an.<br />

Das heißt aber: Anfangs ist es schwer für<br />

die Erreger, von Mensch zu Mensch zu<br />

springen. Dann lassen sich Seuchenausbrüche<br />

noch gut eindämmen, erläutert der<br />

Bonner Virologe Christian Drosten am Beispiel<br />

MERS in Saudi-Arabien. Dort stieg die<br />

Zahl der Infektionen drastisch an, weil eine<br />

Klinik in Dschidda die Kranken nicht richtig<br />

isolierte. Pfleger und Angehörige steckten<br />

sich in der Klinik an. Als das Problem<br />

behoben war, ging die Verbreitung zurück.<br />

Einmal ausräuchern Dengue-Stechmücken<br />

gedeihen mitten in Megacitys wie Neu-Dehli<br />

Terrorangst beflügelte<br />

die Suche<br />

nach Gegenmitteln<br />

Mutiert aber einer der Erreger noch weiter,<br />

sodass er schnell von Mensch zu<br />

Mensch springen kann, wird die Sache gefährlich:<br />

Dann haben Ärzte weder Medikamente<br />

noch Impfstoffe zur Hand. Ohnehin<br />

scheut die Pharmaindustrie seit Jahren den<br />

Kampf gegen Viren. Denn sie sind schwer<br />

anzugreifen. Zudem sind etwa Ebola oder<br />

MERS so selten, dass die Industrie mangels<br />

Markt kein Interesse zeigte.<br />

Erst die Sorge, Terroristen könnten Ebola-<br />

oder MERS-Viren gezielt unters Volk<br />

bringen, führte Ende der Neunzigerjahre<br />

zu verstärkter Forschung – finanziert vor<br />

allem von staatlichen Förderprogrammen.<br />

Seither gibt es zumindest einige experimentelle<br />

Impfstoffe und Medikamente:<br />

n Am weitesten ist eine Impfung gegen<br />

Dengue-Fieber, die der deutsch-französische<br />

Hersteller Sanofi-Pasteur entwickelt:<br />

Sie wird an mehr als 20 000 Kindern und<br />

Erwachsenen in Lateinamerika erprobt.<br />

n Gegen das MERS auslösende Coronavirus<br />

aus Kamelen haben Forscher des<br />

deutschen Zentrums für Infektionsforschung<br />

gerade einen Impfstoff erfolgreich<br />

an Tieren erprobt.<br />

n Eine Reihe von Ebola-Impfstoffen wurde<br />

schon an Schimpansen getestet. Denn<br />

auch das Impfen der wild lebenden Affen<br />

wäre ein Ansatz, findet Stephan Günther,<br />

Leiter der Virologie des Bernhard-Nocht-<br />

Instituts (BNI) für Tropenmedizin in Hamburg.<br />

Er zieht den Vergleich zur Tollwut:<br />

„Europa ist weitgehend frei davon durch<br />

die Impfung der Füchse.“<br />

n Besonders vielversprechend könnte der<br />

Wirkstoff Favipiravir sein, den die japanische<br />

Fujifilm-Tochter Toyama Chemical<br />

Company gegen Grippeviren entwickelt<br />

hat. Er steht kurz vor der Marktzulassung<br />

und legt die Vervielfältigung verschiedenster<br />

Viren lahm. Deshalb fasziniert die Substanz<br />

die Forscher weltweit. BNI-Experte<br />

Günther etwa untersucht, wie wirksam Favipiravir<br />

gegen das Lassa-Virus ist, einen den<br />

Ebola-Viren verwandten Seuchenerreger.<br />

Andere Wissenschaftler zeigten, dass der<br />

Wirkstoff Gelbfieber-Erreger und das West-<br />

Nil-Virus stoppt. Sogar gegen Ebola scheint<br />

dieses Medikament Wirkung zu zeigen.<br />

Der Clou daran: Sollte sich die Wirksamkeit<br />

von Favipiravir in weiteren Studien belegen<br />

lassen, wäre das erste Breitband-<br />

Antivirenmittel gefunden. Und an der Vermarktung<br />

solch eines Rundum-Killers, den<br />

Forscher bisher für fast unmöglich hielten,<br />

hätten – natürlich – auch die Pharmakonzerne<br />

lebhaftes Interesse.<br />

n<br />

susanne.kutter@wiwo.de<br />

FOTOS: REUTERS/FAISAL AL NASSER, GETTY IMAGES/AFP/PRAKASH SINGH<br />

70 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Technik&Wissen<br />

VALLEY TALK | Die Welt retten? Klar! Doch die<br />

Probleme vor der eigenen Haustür ignoriert die<br />

High-Tech-Elite. Von Matthias Hohensee<br />

Dürre im Tal<br />

FOTO: JEFFREY BRAVERMAN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

Die Macher im Silicon Valley präsentieren<br />

sich gern als Wohltäter<br />

der Menschheit, für deren<br />

Erfindergeist und unternehmerisches<br />

Geschick kein Problem der Erde zu<br />

groß ist. Sofern es eine technische Lösung<br />

gibt – und sich ein Geschäft machen lässt.<br />

Das Internet der Dinge etwa, bei dem jeder<br />

Gegenstand mit dem weltweiten Datennetz<br />

verknüpft ist, preisen Konzerne<br />

wie Google, Cisco und General Electric mit<br />

markigen Versprechungen an. Sie wollen<br />

durch intelligentere Steuerung den Energieverbrauch<br />

senken und mit der Ausrüstung<br />

eine Menge Geld verdienen.<br />

Für das größte Problem vor der eigenen<br />

Haustür – den Wassernotstand – interessiert<br />

sich dagegen kaum jemand.<br />

Seit drei Jahren plagt Kalifornien eine<br />

Dürre. Das vergangene Jahr war das trockenste<br />

seit über 100 Jahren. Die Wasserreserven<br />

im Südwesten der USA reichen<br />

nicht für eine stärkere Besiedelung und die<br />

Expansion der Landwirtschaft aus, was spätestens<br />

seit Anfang der Siebzigerjahre klar<br />

ist. Damals mussten die Behörden wegen<br />

lang anhaltender Trockenheit das Wasser<br />

rationieren. Doch immer wenn es am<br />

schlimmsten stand, kam die Natur zur Hilfe.<br />

Zuletzt vor vier Jahren, als mächtige<br />

Stürme für Rekord-Schneemassen in der<br />

Sierra Nevada sorgten. Sie schmelzen im<br />

Sommer und bilden die wichtigste Quelle<br />

für die Wasserreservoirs Nordkaliforniens.<br />

Doch die Genies im Silicon Valley und ihre<br />

Geldgeber lässt dieses Jahrhundertproblem<br />

kalt. Ausnahmen sind einige Eliteforscher<br />

an den Universitäten in Stanford und<br />

Berkeley, die nach besseren Membranen<br />

für Meerwasserentsalzungsanlagen suchen.<br />

Oder der kürzlich <strong>vom</strong> koreanischen<br />

Chemieriesen LG Chem für 200 Millionen<br />

Dollar erworbene Entsalzungsspezialist<br />

NanoH 2 O, den Silicon-Valley-Investoren<br />

und BASF Venture Capital finanziert hatten.<br />

Die Zurückhaltung der Wagnisfinanzierer<br />

hat mehrere Gründe. Ihnen ist der Markt oft<br />

zu klein – beispielsweise bei effizienteren<br />

Bewässerungssystemen für die Landwirtschaft.<br />

Oder zu langwierig, etwa wenn es<br />

um das Wiederverwenden von Wasser geht.<br />

Und zu riskant, vor allem weil Politik im<br />

Spiel ist. Wer als Investor im vergangenen<br />

Jahrzehnt auf Umwelttechnik setzte, verbrannte<br />

sich meist die Finger. Und musste<br />

zusehen, wie andere mit sozialen Netzwerken<br />

und Smartphone-Apps bei überschaubarem<br />

Einsatz Milliarden scheffelten.<br />

SELBST WASSERZÄHLER FEHLEN<br />

Ein Geschäft wird sich nur machen lassen,<br />

wenn die Wasserpreise steigen – was kaum<br />

für Sympathien sorgt. Die Wasserdistrikte in<br />

Kalifornien sind zersplittert und werden von<br />

Lokalpolitikern verwaltet. Selbst wenn jemand<br />

wie WaterSmart Software aus San<br />

Francisco eine typische Silicon-Valley-<br />

Lösung anbietet, um per Internet den Wasserverbrauch<br />

zu überwachen, funktioniert<br />

das nicht flächendeckend. In der Landeshauptstadt<br />

Sacramento verfügt gerade die<br />

Hälfte der Haushalte über eine Wasseruhr.<br />

Die anderen werden pauschal abgerechnet;<br />

aus Furcht vor steigenden Preisen haben<br />

sie kein Interesse daran, ein Messgerät<br />

zu bekommen. Erst 2025 muss Kalifornien<br />

flächendeckend mit ihnen ausgestattet<br />

sein. Haushalte verbrauchen aber auch nur<br />

20 Prozent des Wassers, auf Landwirtschaft<br />

und Industrie entfallen 80 Prozent.<br />

Bleiben neben der Aufbereitung von<br />

Brauchwasser vor allem Meerwasserentsalzungsanlagen<br />

entlang des Pazifiks. 2016<br />

soll eine riesige Anlage südlich von Los Angeles<br />

in Betrieb gehen, fürs Silicon Valley<br />

werden noch Standorte gesucht.<br />

Trotz aller technischen Fortschritte sind<br />

die Anlagen im Schnitt dreimal so teuer wie<br />

aus dem Südwesten herangepumptes Wasser.<br />

Solange es noch etwas zu pumpen gibt.<br />

Auf die Natur kann das Silicon Valley in<br />

diesem Jahr nicht hoffen. Das mit viel Spannung<br />

für den Winter erwartete Klimaphänomen<br />

El Niño wird laut derzeitigen Prognosen<br />

nur wenig Regen bringen.<br />

Der Autor ist WirtschaftsWoche-Korrespondent<br />

im Silicon Valley und beobachtet<br />

von dort seit Jahren die Entwicklung der<br />

wichtigsten US-Technologieunternehmen.<br />

WirtschaftsWoche 7.7.<strong>2014</strong> Nr. 28 73<br />

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Management&Erfolg<br />

Meckern? Ja, bitte!<br />

BESCHWERDEMANAGEMENT | Sie haben unzufriedene Kunden? Gut – so haben<br />

Sie die Chance auf Wiedergutmachung. Wie Unternehmen aus Beschwerden lernen<br />

und daraus sogar noch Profit schlagen können.<br />

Quengelnde Kunden<br />

In diesen Branchen beschweren sich die<br />

meisten Konsumenten<br />

24,7 %<br />

13,4 %<br />

12,6 %<br />

12,0 %<br />

10,6 %<br />

Quelle: Kundenmonitor Deutschland<br />

Mobilfunkanbieter<br />

Internet-Anbieter<br />

Elektrogeräte-Online-Shops<br />

Möbelhäuser<br />

Lebensmittelmärkte<br />

ken wir, dass die Kunden unsere Mühen zu<br />

schätzen wissen.“<br />

Einmal im Monat wertet der 52-Jährige alle<br />

Mängel, die in seinem Haus beanstandet<br />

wurden, aus – und musste dabei zuletzt feststellen,<br />

dass 14 Gäste im Mai Ärger mit ihren<br />

Fernsehern hatten. Keilbar reagierte sofort.<br />

Jetzt überprüfen die Zimmermädchen bei<br />

jeder Reinigung, ob die TV-Geräte auch<br />

funktionieren. „Jede Beschwerde ist für uns<br />

kostbar“, sagt Carsten Richter, zuständig für<br />

das Qualitätsmanagement aller 87 Ibis Hotels<br />

in Deutschland. „Aus den Rückmeldun-<br />

Erst ging es fast drei Stunden mit<br />

dem Zug nach Süden, dann jagte<br />

ab halb zehn Uhr morgens ein<br />

Termin den nächsten, Kunde<br />

reihte sich an Kunde. Zwischendurch<br />

baten Kollegen per Mobiltelefon um<br />

Rat oder schickten E-Mails: Hinter dem<br />

Gast von Zimmer 623 liegt ein anstrengender<br />

Arbeitstag. Abends in seinem Hotelzimmer<br />

angekommen, 300 Kilometer von<br />

der Familie entfernt, will er einfach nur<br />

noch die Füße hochlegen und ein paar<br />

Stunden fernsehen. Er greift zur Fernbedienung,<br />

drückt auf den Einschaltknopf –<br />

aber nichts passiert, das Gerät streikt.<br />

Genervt ruft er an der Rezeption an.<br />

Dort nimmt Jessica Celik seinen Anruf<br />

entgegen. Für die Empfangsleiterin im Ibis<br />

Hotel am Düsseldorfer Hauptbahnhof beginnt<br />

nun der Countdown: In spätestens<br />

einer Viertelstunde muss das Problem von<br />

Zimmer 623 gelöst sein – so verspricht es<br />

die Hotelkette ihren Gästen. „Innerhalb<br />

von 15 Minuten lösen wir jedes Problem,<br />

für das wir verantwortlich sind“, heißt es<br />

auf einem Flyer, der auf dem Hotelbett<br />

liegt. „Und falls das einmal nicht gelingt,<br />

laden wir Sie natürlich auf die entsprechende<br />

Leistung ein.“ Um dieses Versprechen<br />

einzuhalten, hat sich das Beschwerdemanagement<br />

der Hotelkette einiges<br />

einfallen lassen. So muss Jessica Celik nur<br />

eine versteckte Schranktür hinter der Rezeption<br />

öffnen – dort lagern neue Batterien,<br />

stets griffbereit für Notfälle wie den in<br />

Zimmer 623.<br />

Doch nicht nur für defekte Fernbedienungen<br />

hat das Ibis-Personal schnelle Lösungen<br />

parat: Beschwert sich der Gast etwa<br />

über ein zu flaches Kopfkissen oder fordert<br />

eine zweite Decke, müssen die Angestellten<br />

nur die Treppe in den ersten Stock<br />

nehmen, um in einem extra Lagerraum<br />

frisch bezogene Bettwäsche zu finden.<br />

Stimmt beispielsweise etwas mit der Elektrik<br />

oder der Klimaanlage nicht, steht ein<br />

Haustechniker auf Abruf bereit.<br />

„Wir fragen bei jedem Check-out noch<br />

einmal nach, ob das Problem zur Zufriedenheit<br />

des Gastes gelöst wurde“, sagt Thomas<br />

Keilbar, Manager des Ibis Hotels in<br />

Düsseldorf. „Am positiven Feedback mergen<br />

unserer Kunden lernen wir viel und<br />

können unseren Service verbessern.“<br />

Richter und sein Team zeigen, was ein<br />

professionelles Beschwerdemanagement<br />

bewirken kann: Aus einem Kunden, der<br />

vielleicht nie mehr in einem Ibis Hotel<br />

übernachten wollte, wird ein zufriedener<br />

Gast, der gerne wiederkommt. Ein wertvolles<br />

Gut, denn gerade in Zeiten stagnierender<br />

Märkte sind bestehende Kunden überlebenswichtig:<br />

Laut einer Konsumenten-<br />

Studie der amerikanischen Regierung ist es<br />

sechs bis sieben Mal teurer, einen neuen<br />

Kunden zu gewinnen, als einen bestehenden<br />

zu halten.<br />

EINE SCHATZTRUHE VOLLER INFOS<br />

So verfügt etwa jeder Mitarbeiter in einem<br />

Ritz-Carlton-Hotel über eine Summe von<br />

2000 Dollar, die er sofort und ohne Absprache<br />

mit dem Vorgesetzen für die Zufriedenheit<br />

seines Gastes aufwenden kann.<br />

Bei Henkel sitzen ausgebildete Friseure an<br />

der Service-Hotline für Haarpflegeprodukte,<br />

damit sie unzufriedenen Kunden sofort<br />

mit fachkundigen Rat helfen können. Die<br />

Fast-Food-Kette McDonald’s hat mit<br />

fragmcdonalds.de sogar extra eine eigene<br />

Web-Plattform gegründet, um auf die zahlreichen<br />

Fragen und Beschwerden ihrer<br />

Kunden zum Thema Essen unkompliziert<br />

und schnell reagieren zu können.<br />

„Beschwerden sind eine Schatztruhe für<br />

Unternehmen, die es zu öffnen gilt“, sagt<br />

Dirk Nonnenmacher von der Unternehmensberatung<br />

Hogreve & Cie., die sich auf<br />

das Thema spezialisiert hat. Hinzu kommt:<br />

Ein unzufriedener Konsument spricht laut<br />

einer Studie des Instituts für Marketing and<br />

Consumer Research der Wirtschaftsuni-<br />

ILLUSTRATION: FRANCESCO BONGIORNI<br />

74 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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versität Wien im Schnitt mit zehn weiteren<br />

Personen über sein Erlebnis.<br />

Das allein kann schon rufschädigend für<br />

ein Unternehmen sein – doch teilt der Mecker-Kunde<br />

seinen Unmut nicht nur mit<br />

dem örtlichen Stammtisch, sondern auch<br />

mit seinen Followern auf Facebook und<br />

Co., können aus den zehn Personen<br />

schnell Hunderttausende werden. Allein<br />

Twitter hat weltweit mehr als 250 Millionen<br />

Mitglieder – durch diese enorme Reichweite<br />

verleihen die sozialen Medien dem Konsumenten<br />

eine nie da gewesene Macht.<br />

»Beschwerden<br />

sind eine Schatztruhe<br />

für Unternehmen,<br />

die es zu<br />

öffnen gilt«<br />

Dirk Nonnenmacher<br />

Was passieren kann, wenn ein Unternehmen<br />

unzufriedene Kunden einfach ignoriert,<br />

zeigt das Beispiel von Hasan Syed.<br />

British Airways verschluderte Ende 2013<br />

auf einem Paris-Flug das Gepäck von Syeds<br />

Vater. Nachdem der Brite zwei Tage lang auf<br />

eine Antwort wartete, entschloss er sich,<br />

seinem Ärger auf einem ungewöhnlichen<br />

Weg Luft zu machen: Er kaufte einen sogenannten<br />

gesponserten Tweet bei Twitter –<br />

also eine Nachricht, die normalerweise nur<br />

von Firmenkunden genutzt wird, um ihre<br />

Werbebotschaft möglichst prominent<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 7.7.<strong>2014</strong> Nr. 28 75<br />

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Management&Erfolg<br />

»<br />

auf Twitter zu platzieren – eine Privatperson<br />

hatte diese Möglichkeit bis dato noch<br />

nicht genutzt.<br />

Hasan Syeds knappe Botschaft: „Fliegt<br />

nicht mit British Airways. Ihr Kundenservice<br />

ist schrecklich.“ Diese 67 Zeichen lange<br />

Nachricht wurde an alle der rund 300 000<br />

Personen gesendet, die der Fluggesellschaft<br />

zu diesem Zeitpunkt auf ihren zwei Twitter-<br />

Kanälen folgten. Es dauerte nicht lange, bis<br />

sich auch andere Nutzer mit ihren negativen<br />

Erfahrungen meldeten und so einen<br />

gewaltigen Shitstrom in Gang setzten. Für<br />

die Airline war das eine Katastrophe. „Vielfach<br />

mangelt es bis heute an dem Verständnis<br />

von Beschwerden als größte Chance für<br />

Wachstum“, sagt Bernd Stauss, der viele Jahre<br />

an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt<br />

zu dem Thema lehrte. Denn<br />

schließlich können Beschwerden die Kundenloyalität<br />

sichern, die Verbesserung von<br />

Produkten und Dienstleistungen gewährleisten<br />

und Fehlerkosten senken.<br />

Doch dieser Grundsatz hat bislang nur in<br />

wenigen Unternehmen Einzug gehalten.<br />

Denn dahinter steht häufig nicht weniger<br />

als ein Paradigmenwechsel für die Mitarbeiter<br />

wie auch für das Management. Denn<br />

es gilt, eine Beschwerde nicht als Angriff,<br />

sondern als Chance zur Wiedergutmachung<br />

zu begreifen. Dass dieser Weg mühsam<br />

und lang sein kann, musste auch die<br />

Allianz-Versicherung feststellen.<br />

DAS PROBLEM MIT DEM MARDER<br />

Ein Marderbiss ist für Autobesitzer eine ärgerliche<br />

Sache – doch in den meisten Fällen<br />

klappt die Bearbeitung des Schadens problemlos.<br />

Die Kosten für die Reparatur werden<br />

fast komplett von der Teilkaskoversicherung<br />

übernommen. Aber eben nur fast.<br />

Um die kaputten Schläuche auswechseln<br />

zu können, muss die Werkstatt zunächst<br />

das Kühlwasser ablassen. Nach der Reparatur<br />

wird die fehlende Flüssigkeit einfach<br />

wieder aufgefüllt. Doch für den Ersatz bestand<br />

kein Versicherungsschutz, denn das<br />

Kühlwasser muss von Zeit zu Zeit <strong>vom</strong> Versicherungsnehmer<br />

selbst ausgewechselt<br />

werden. „Die Kosten für die ausgelaufene<br />

Kühlflüssigkeit nicht zu ersetzen war rechtlich<br />

zwar einwandfrei“, sagt Joachim Zäch,<br />

Leiter des zentralen Beschwerdemanagements<br />

der Allianz-Versicherung. „Aber bei<br />

den Kunden löste diese Regelung regelmäßig<br />

Unverständnis aus.“<br />

Und so landeten in den letzten Jahren<br />

365 Beschwerden zum Thema Kühlflüssigkeit<br />

auf seinem Schreibtisch – aus seiner<br />

Sicht zu viele. Und deshalb wurde es ein<br />

Thema für die nächste Beschwerdekonferenz.<br />

Achtmal im Jahr setzen sich Zäch und<br />

die Abteilungsleiter der verschiedenen<br />

Versicherungssparten, des Kundenservices<br />

sowie der Unternehmenskommunikation<br />

einen Tag lang zusammen. Das Ziel dieser<br />

Treffen: Probleme lösen, die bei den Kunden<br />

für Unmut gesorgt haben – wie zum<br />

Beispiel die Kühlflüssigkeit beim Marderbiss.<br />

Vier Monate und einige Abstimmungsrunden<br />

mit der Vertragsabteilung<br />

und dem Vertrieb später bekamen bereits<br />

die ersten Kunden ihre Flüssigkeit bezahlt.<br />

„Früher sahen viele Sachbearbeiter eine<br />

Beschwerde als Angriff“, sagt Joachim<br />

Zäch. „Wir haben ihnen klargemacht, dass<br />

sie durch eine Beschwerde nicht schlecht<br />

dastehen, sondern wir nur an einer Lösung<br />

für den Kunden interessiert sind.“<br />

»Unser Service<br />

wird durch die<br />

Beschwerden der<br />

Kunden besser«<br />

Joachim Zäch<br />

Dass so etwas heute überhaupt funktioniert,<br />

liegt auch an Markus Rieß. Der<br />

48-Jährige wurde 2010 zum Vorstandsvorsitzenden<br />

der Allianz Deutschland gewählt<br />

und verordnete dem Unternehmen einen<br />

radikalen Wechsel im Umgang mit unzufriedenen<br />

Kunden. 2011 reformierte Rieß<br />

das Beschwerdemanagement und siedelte<br />

es direkt unterhalb der Chefetage an. „Dass<br />

der Vorstand das Thema unterstützt, ist essenziell“,<br />

sagt Michael Kolbenschlag, Experte<br />

für Beschwerdemanagement bei der<br />

Unternehmensberatung Rödl & Partner.<br />

„Nur so wird auch den Mitarbeitern die<br />

Wichtigkeit dieses Aspekts deutlich.“<br />

SMILEYS AUF FRÜHSTÜCKSEIER<br />

Um diesen Grundsatz in den Köpfen der<br />

Mitarbeiter zu verankern, setzt die Allianz<br />

auf besondere Schulungsformate. Zum Beispiel<br />

lädt die Versicherung regelmäßig Experten<br />

aus anderen Branchen zu Vorträgen<br />

ein. Wie etwa den Hotelier Bernd Reutemann,<br />

der seine Gäste immer wieder überraschen<br />

möchte – und so seine Mitarbeiter<br />

schon einmal Smileys auf alle Frühstückseier<br />

malen lässt. Oder der bekannte Münchner<br />

Pfarrer Rainer Maria Schießler, der über<br />

seine Arbeit mit Hinterbliebenen und Angehörigen<br />

sprach und die Allianz-Mitarbeiter<br />

vor künstlichem Mitgefühl warnte. Stattdessen<br />

sollten sie lieber ihr Handeln genau<br />

erklären, auf Augenhöhe mit den Kunden<br />

kommunizieren und Verständnis zeigen.<br />

Und manchmal mischen sich die Allianz-Mitarbeiter<br />

auch einfach selbst unters<br />

Volk – zum Beispiel als Kaufinteressenten<br />

eines E-Bikes oder als Restaurantgäste.<br />

Wann fühle ich mich gut behandelt? Was<br />

empfinde ich als schlechten Service? „Aus<br />

diesem Perspektivwechsel haben wir viel<br />

gelernt“, sagt Zäch. Kunden werden seitdem<br />

am Anfang eines Gespräches nicht<br />

mehr als Erstes nach ihrer Versicherungsnummer<br />

gefragt, sondern nach ihrem Anliegen.<br />

Und sie erhalten regelmäßig Rückmeldung,<br />

wie weit die Bearbeitung ihrer<br />

Beschwerde gediehen ist.<br />

BESCHWERDEN VERDOPPELT<br />

Um den Mitarbeitern zu zeigen, wofür ihre<br />

Bemühungen gut sind, stellt Zäch alle sechs<br />

Wochen eine Erfolgsgeschichte ins Intranet.<br />

Wie zum Beispiel die Vertragsänderung im<br />

Fall des Marderbisses. „Unser Service wird<br />

durch die Beschwerden der Kunden besser“,<br />

sagt Zäch. Um noch mehr Rückmeldungen<br />

von ihren Versicherten zu bekommen, können<br />

sich unzufriedene Allianz-Kunden<br />

mittlerweile per Mail, Brief oder telefonisch<br />

an das Unternehmen wenden. Sie werden<br />

direkt an den zuständigen Sachbearbeiter<br />

weitergeleitet. 66 Prozent aller Beschwerden<br />

lassen sich sofort am Telefon klären,<br />

schätzt Manager Zäch. Alle anderen sollten<br />

nach spätestens fünf Tagen geklärt sein –<br />

denn die Bearbeitungsdauer ist entscheidend.<br />

„Die Ansprüche der Kunden steigen<br />

mit der Wartezeit“, sagt Unternehmensberater<br />

Nonnenmacher von Hogreve & Cie.<br />

Der Aufwand des Beschwerdemanagements<br />

scheint sich zu lohnen: Seit der Einführung<br />

im Jahr 2011 hat sich die Anzahl<br />

der Beschwerden bei der Allianz mehr als<br />

verdoppelt: Pro Jahr melden sich nun um<br />

die 200 000 verärgerte Versicherte, die vorher<br />

vielleicht ihren Unmut für sich behalten<br />

hätten. Trotzdem will Zäch künftig<br />

noch besser auf Probleme eingehen, die<br />

nur einige wenige Versicherte betreffen.<br />

Wie etwa im Fall eines Kunden der Unfallversicherung,<br />

der seinen Sachbearbeiter<br />

anrief, um ihm mitzuteilen, dass er Vater<br />

geworden sei. Kinder sind im ersten Lebensjahr<br />

kostenlos über die Eltern mitversichert,<br />

der Sachbearbeiter benötigte also<br />

lediglich einen Nachweis über die Geburt,<br />

um den Vertrag anzupassen. Ein paar Tage<br />

ILLUSTRATION: FRANCESCO BONGIORNI<br />

76 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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später lag eine Adoptionsurkunde auf seinem<br />

Schreibtisch – laut Vertrag sind aber<br />

nur leibliche Kinder versichert. Eigentlich<br />

hätte der Sachbearbeiter dem Kunden eine<br />

Absage erteilen müssen. Doch stattdessen<br />

meldete er sich bei Zächs Team. Folge:<br />

Mittlerweile sind auch nicht leibliche Kinder<br />

in dem Vertrag aufgenommen.<br />

TIPPEN, KLICKEN, MECKERN<br />

In vielen Branchen beschweren sich nur<br />

vier Prozent aller unzufriedenen Kunden.<br />

Die restlichen 96 Prozent behalten ihren<br />

Unmut für sich. Aber: „Aus solchen Erfahrungen<br />

ziehen Kunden Konsequenzen“,<br />

sagt Bernd Stauss. „Sie kündigen innerlich<br />

und wählen beim nächsten Kauf ein Konkurrenzangebot.“<br />

Rund 86 Prozent der<br />

Kunden beenden laut einer Studie des<br />

Marktforschungsinstituts Harris Interactive<br />

ihre Geschäftsbeziehung nach einer<br />

negativen Erfahrung. „Vielen Kunden ist<br />

der Aufwand zu hoch, sie haben keine Lust<br />

auf eine Auseinandersetzung mit dem Unternehmen,<br />

weil das mit Frust und Stress<br />

verbunden ist“, sagt Experte Stauss. „Der<br />

Kunde muss erkennen, dass Meckern erwünscht<br />

ist.“ Doch wie können Unternehmen<br />

das signalisieren? Zum Beispiel, indem<br />

sie es den Kunden besonders einfach<br />

machen, sich zu beschweren.<br />

Wie etwa Tammo Kayser. Der Chef der<br />

Freese Gruppe, eines BMW-Händlers aus<br />

Norddeutschland, hat in jedem Eingangsbereich<br />

seiner fünf Filialen einen zwei Meter<br />

hohen Banner aufstellen lassen. Die<br />

Aufschrift: Zufrieden? Lob und Kritik direkt<br />

ans Management. Darunter ein QR-<br />

Code. Neben den Bannern steht in jeder Filiale<br />

noch ein iPad auf einem Sockel. Nach<br />

nur wenigen Klicks ist die Meckerpost abgeschickt.<br />

Und die landet bei Tammo Kayser.<br />

Der Autohändler nutzt die Software namens<br />

iFeedback schon seit drei Jahren. „Es<br />

sind die vielen kleinen Dinge, die für den<br />

Kunden den Unterschied zum Wettbewerb<br />

ausmachen“, sagt er.<br />

Und die fallen nicht immer so aus, wie<br />

man sie erwarten könnte: So erreichten<br />

Kayser die meisten Beschwerden über<br />

durchgessene Sessel in der Kundenecke.<br />

Ein Thema, das er gar nicht auf dem Zettel<br />

hatte – welcher Chef setzt sich schon in den<br />

eigenen Wartebereich?<br />

Entwickelt haben das mobile Beschwerde-Terminal<br />

nebst App Alexander Bauer<br />

und sein Geschäftspartner Stefan Muth.<br />

Die Idee zu iFeedback kam ihnen, als die<br />

beiden noch als Unternehmensberater bei<br />

der Telekom-Tochter Detecon arbeiteten.<br />

2010 gründeten sie ihre Firma BHM als<br />

Spin-off des Kommunikationskonzerns.<br />

Mittlerweile nutzen bekannte Unternehmen<br />

wie Rewe, Metro und der Hamburger<br />

SV ihre Terminals, QR-Codes und Apps.<br />

Die Supermarktleiter oder Clubbetreiber<br />

bekommen die Beschwerden ihrer Kunden<br />

in Echtzeit auf das Smartphone geschickt.<br />

Eine große Chance: Sie können sofort<br />

reagieren – entweder indem sie die<br />

Mängel beseitigen oder den unzufriedenen<br />

Kunden noch vor Ort besänftigen. „Es<br />

gibt nichts Besseres, als die ganze Zeit zu<br />

wissen, was meine Käufer denken“, sagt<br />

Bauer.<br />

So geschehen in einer niederländischen<br />

Dependance der Großhandelskette Metro.<br />

Vor dem Eingang steht eines der iFeedback-Terminals,<br />

dort tippte sich ein Käufer<br />

nach seinem Einkauf den Ärger von der<br />

Seele. Der Marktleiter bekam die Nachricht<br />

zugeschickt und holte ihn noch auf dem<br />

Parkplatz ein – so konnte er sich für die Unannehmlichkeiten<br />

entschuldigen und den<br />

verärgerten Kunden sogar wieder zurück<br />

in den Laden locken.<br />

BEQUEME KISSEN STATT BÄDER<br />

Solche Geschichten hört Bauer oft von seinen<br />

Kunden. So wollte ein Hotelbesitzer<br />

aus Österreich 800 000 Euro in neue Bäder<br />

investieren. Doch sein Direktor stellte anhand<br />

der Rückmeldungen der Gäste fest,<br />

dass sich kein einziger Gast an den Bädern<br />

gestört hatte. Die meisten ärgerten sich<br />

über unbequeme Kopfkissen. Daraufhin<br />

verzichtete der Hotelier auf den langwierigen<br />

Umbau und investierte stattdessen in<br />

neue Bettwäsche. „Je offensiver ein Unternehmen<br />

mit dem Thema umgeht, desto erfolgreicher<br />

ist es“, sagt Bauer. Das bestätigt<br />

auch eine Studie der Universität von Maryland:<br />

Die Forscher stellten fest, dass ein<br />

Serviceversprechen, wie zum Beispiel die<br />

15-Minuten-Garantie von Ibis, einen positiven<br />

Effekt auf den Börsenwert hat.<br />

Doch der Gast von Zimmer 623 möchte<br />

nach einem langen, stressigen Tag einfach<br />

nur fernsehen. Und das kann er genau<br />

zehn Minuten nach seinem Anruf an der<br />

Rezeption auch – Versprechen eingehalten.<br />

Beim Check-out am nächsten Morgen<br />

fragt ihn Jessica Celik, ob er zufrieden war.<br />

Die Antwort überträgt sie später in ihre Beschwerdetabelle:<br />

einen Smiley.<br />

n<br />

lin.freitag@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche 7.7.<strong>2014</strong> Nr. 28 77<br />

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Management&Erfolg<br />

»Einfach keine Zeit«<br />

INTERVIEW | Stefan Heissner Warum es Hochstapler bei Unternehmen<br />

leicht haben. Und was der EY-Sicherheitsexperte gegen Betrüger rät.<br />

Herr Heissner, am Berliner Flughafen<br />

wurde der angebliche Ingenieur Alfredo<br />

di Mauro, 52, als Hochstapler enttarnt:<br />

Er betreibt zwar zwei Ingenieurbüros und<br />

führt den Titel auch auf seiner Visitenkarte,<br />

ist aber tatsächlich nur technischer<br />

Zeichner. Ihn macht BER-Chef Hartmut<br />

Mehdorn für den Millionenschaden durch<br />

seine funktionsuntüchtige Brandschutzanlage<br />

verantwortlich. Warum blieb dieser<br />

Betrug acht Jahre lang unentdeckt?<br />

Di Mauro sagt, ihn habe einfach nie jemand<br />

nach seinem Hochschulabschluss<br />

gefragt – so etwas beobachte ich ständig.<br />

Sind Chefs gegenüber Bewerbern generell<br />

zu vertrauensselig?<br />

Offenbar.<br />

Warum fühlen Vorgesetzte Bewerbern<br />

nicht auf den Zahn?<br />

Weil sie bei der Auftragsvergabe oder im<br />

Bewerbergespräch kein Misstrauen schüren<br />

oder die Gesprächsatmosphäre zerstören<br />

wollen. Und weil sie das Risiko ausblenden,<br />

auf Hochstapler hereinzufallen.<br />

Dabei sind die Folgen solcher Situationen<br />

oft genauso dramatisch wie bei Kapitalanlagebetrug<br />

oder einem Unternehmenskauf:<br />

Jemand schönt Fakten, täuscht falsche<br />

Qualitäten vor oder verkauft etwas<br />

unter Vorspiegelung falscher Tatsachen. Es<br />

ist schon schräg, wenn Unternehmen Unmengen<br />

von Geld für die Sicherheit der Firmen<br />

ausgeben, aber gleichzeitig die Flanke<br />

so offen halten.<br />

Was raten Sie denn solch leichtsinnigen<br />

Kunden?<br />

Man sollte Bewerbern sehr deutlich machen,<br />

dass gegenseitiges Vertrauen wichtig<br />

ist. Dass der Kandidat bei einem namhaften<br />

Unternehmen anfangen will. Und dass<br />

dieses Unternehmen, das einem Bewerber<br />

regelmäßig Gehalt überweist, auch das<br />

Recht hat, über ihn Bescheid zu wissen.<br />

Dass man deshalb seine Angaben prüfen<br />

will und dafür eine entsprechende Vereinbarung<br />

mit ihm trifft. Nach seiner Einwilligung<br />

schickt man dann seine Zeugnisse an<br />

DER SPÜRHUND<br />

Heissner, 47, ist Kriminologe und hat bei<br />

EY seit 2006 als Leiter die Abteilung Wirtschaftskriminalität<br />

mit 130 Mitarbeitern in<br />

Deutschland sowie weiteren 270 in Österreich,<br />

der Schweiz, Zentral- und Südosteuropa<br />

sowie den GUS-Staaten aufgebaut.<br />

die jeweiligen Aussteller und lässt sich bestätigen,<br />

dass die Originalzeugnisse so aussehen.<br />

Dass nicht mal Beglaubigungen schützen,<br />

musste selbst die Kanzlei Clifford Chance<br />

lernen, in die sich ein Junganwalt mit<br />

frisierten Examensnoten eingeschlichen<br />

und die Beglaubigung gleich mit gefälscht<br />

hatte. Der fiel jedoch den Kollegen auf –<br />

wegen seiner mangelnden Kenntnisse.<br />

Hocheffizient sind Referenzanrufe bei früheren<br />

Chefs oder Ex-Kollegen. Das gilt für<br />

direkte Vorgesetzte ebenso wie für Auftraggeber<br />

– sie müssen die Angaben der Bewerber<br />

und Auftragnehmer überprüfen und<br />

sich auch deren Vergangenheit ansehen.<br />

Schummler di Mauro beispielsweise hatte<br />

2002 bei einem Ärztezentrum in Offenbach<br />

schon einmal so teure Planungsfehler verursacht,<br />

dass die Gesellschaft dadurch fast<br />

in die Pleite getrieben wurde. Di Mauro<br />

wurde verklagt und musste Schadensersatz<br />

bezahlen.<br />

Welche Alternative empfehlen Sie, falls<br />

die direkte Kontaktaufnahme zu lange<br />

dauert?<br />

Man kann auch mal ein polizeiliches Führungszeugnis<br />

einfordern. Das hätte manchen<br />

Fall, den wir zu sehen bekommen,<br />

verhindert. Durch Outsourcing und Leiharbeitereinsätze<br />

in großem Stil geben Unternehmen<br />

heute immer mehr Kontrolle<br />

aus der Hand und erhöhen selbst ihre Risiken.<br />

Dabei fänden sich viele Hinweise<br />

allein durch eine vergleichsweise simple<br />

Internet-Recherche.<br />

Nach Erkenntnissen des Recruiting-<br />

Experten Staufenbiel checkt aber nur<br />

jedes zehnte Unternehmen die<br />

Bewerber in sozialen Netzwerken.<br />

In Berufsnetzwerken wie Xing ist es – anders<br />

als bei Facebook, wo man nur an Informationen<br />

rankommt, wenn man offensiv<br />

und offensichtlich mit den Bewerbern in<br />

Kontakt tritt – erlaubt, sich deren Profile<br />

anzusehen. Aber viele Checks oder Recherchen<br />

in Datenbanken unterbleiben<br />

schlicht, weil die zuständigen Manager sich<br />

keine Zeit dafür nehmen.<br />

Sie vertrauen also blind?<br />

Durchaus, besonders, wenn Aufträge ins<br />

Ausland vergeben werden. Dass ein Geschäftsführer<br />

vor Ort oder seine Frau in Interessenkonflikte<br />

geraten, weil sie Anteile<br />

an Wettbewerbern halten oder gerade dabei<br />

sind, sich parallel dazu eine eigene Firma<br />

aufzubauen, der sie über ihren neuen<br />

Arbeitgeber ständig Aufträge zuschanzen<br />

und ganze Prozesse dahin auslagern, habe<br />

ich sehr oft gesehen. Da riskieren Unternehmer,<br />

vor lauter Outsourcen irgendwann<br />

nur noch eine wertlose Hülle zu haben<br />

– statt einer ehemals funktionierenden<br />

Produktion.<br />

Was hilft außer langwierigen Recherchen?<br />

Vorbild sein. Kümmert sich der Chef selbst<br />

nicht um Details, schaut er sich keine Dokumente<br />

an und fragt nicht, auf welcher<br />

Basis Mitarbeiter Entscheidungen treffen,<br />

braucht er sich nicht zu wundern, wenn<br />

solche Pannen passieren, die Millionenschäden<br />

nach sich ziehen.<br />

n<br />

claudia.toedtmann@wiwo.de<br />

»Chefs blenden das Risiko, auf Betrüger reinzufallen, aus«<br />

FOTO: PR<br />

78 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Geld&Börse<br />

Steuern runterfahren<br />

ERBEN UND VERERBEN | Das Bundesverfassungsgericht entscheidet demnächst,<br />

wie vererbtes Betriebsvermögen zu versteuern ist. Möglicherweise wird es<br />

auch neue Regeln für Privatvermögen geben. Was Familien jetzt schon tun können,<br />

um Streit zu vermeiden und Erbschaftsteuer zu sparen.<br />

Die Bundesregierung bremst<br />

Wolfgang Porsche aus. Der<br />

Porsche-Erbe wollte seine in<br />

einer GmbH geparkten Unternehmensanteile<br />

von Deutschland<br />

nach Österreich bringen. Bisher wurden<br />

die Steuern auf Kursgewinne bei<br />

Volkswagen- oder Porsche-Aktien wegen<br />

des GmbH-Mantels <strong>vom</strong> deutschen Fiskus<br />

gestundet. Zudem fällt in Österreich keine<br />

Erbschaftsteuer an. Auch das Porsche-Erbe<br />

wäre somit steuerfrei geblieben. Porsche<br />

selbst hatte sein Steuersparmodell<br />

von den Finanzbehörden prüfen lassen.<br />

Jetzt will die große Koalition die Steuergesetze<br />

so ändern, dass sich Betriebsvermögen<br />

nicht ins Ausland schaffen lässt, ohne<br />

zuvor die darin enthaltenen Gewinne zu<br />

versteuern. Die neuen Regeln sollen rückwirkend<br />

zum 1. Januar <strong>2014</strong> gelten.<br />

ERBSCHAFTSTEUER SPRUDELT<br />

Nicht nur bei Milliardären schaut der Fiskus<br />

genau hin. Immerhin vererben die<br />

Deutschen jedes Jahr etwa 250 Milliarden<br />

Euro. Die Steuer geht an die Bundesländer.<br />

Von Januar bis Mai nahmen sie 2,3 Milliarden<br />

Euro ein, rund 29 Prozent mehr als im<br />

Vorjahreszeitraum. Es könnte noch deutlich<br />

mehr werden: Am 8. Juli verhandelt<br />

das Bundesverfassungsgericht darüber, ob<br />

der Steuernachlass für Mittelständler, die<br />

Unternehmen vererben, verfassungswidrig<br />

ist. Ein Urteil wird im Herbst erwartet. Die<br />

Richter könnten zudem auch die Steuerregeln<br />

für Privatvermögen kippen. Weil der<br />

Bundesfinanzhof die seit 2009 gültige Erbschaftsteuer<br />

für verfassungswidrig hielt (II<br />

R 9/11), sind alle seit 2012 verschickten<br />

Steuerbescheide für Erbschaften vorläufig.<br />

Martin Liepert, Steuerberater<br />

der Kanzlei Ecovis in München,<br />

beruhigt: „Sollte sich die<br />

Rechtsauffassung ändern und<br />

sollten dadurch mehr Steuern<br />

anfallen, darf das Finanzamt<br />

nach dem Grundsatz Treu und<br />

Glauben den Steuerbescheid<br />

nicht einfach ändern“, sagt er. Bisher habe<br />

sich der Fiskus an den Grundsatz gehalten.<br />

Unabhängig davon, wie das Gericht entscheidet,<br />

können Vererber schon jetzt einiges<br />

tun, um Erben Steuern zu ersparen.<br />

LEGALE STEUERTRICKS<br />

Kleinere Erbschaften und Schenkungen an<br />

nahe Verwandte bleiben wegen der hohen<br />

Freibeträge meist steuerfrei. Bei größeren<br />

Vermögenswerten, beispielsweise Immobilien,<br />

reichen die Freibeträge dagegen<br />

meist nicht aus, die Erben müssen Steuern<br />

zahlen (siehe Seite 82).<br />

Wer größere Vermögen vererben will,<br />

sollte daher handeln, bevor der Fiskus die<br />

Staat erbt mit<br />

Wie viel Erbschaftsteuer die Bundesländer<br />

kassieren (in Milliarden Euro)<br />

5<br />

4<br />

3<br />

2<br />

1998 2001 2004 20<strong>07</strong> 2010 2013<br />

Quelle: Bundesfinanzministerium<br />

MEHR ZUM THEMA<br />

Wie die Erbschaftsteuer<br />

Unternehmen trifft, wie<br />

das Verfassungsgericht<br />

entscheiden dürfte,<br />

lesen Sie auf Seite 20.<br />

Erben zur Kasse bittet. Um die<br />

Steuerlast zu drücken, bieten<br />

sich mehrere legale Tricks an:<br />

ä Schenken in Etappen: Ein<br />

Ehepartner schenkt dem Sohn<br />

sein Vermögen. Danach gehen<br />

Teile dieses Vermögens beispielsweise<br />

an die Schwiegertochter.<br />

Vorteil: Weil die Schwiegertochter<br />

erst über ihren Mann an das Vermögen der<br />

Schwiegereltern kommt, kann sie einen<br />

höheren Freibetrag nutzen.<br />

ä Familienheim: Das Haus, in dem beide<br />

Ehepartner wohnen, lässt sich steuerfrei an<br />

den Partner übertragen, egal, wie hoch der<br />

Wert ist. Später kann der Schenker die Immobilie<br />

zurückkaufen und überträgt so<br />

steuerfrei Geldvermögen auf den Partner.<br />

„Das Verfahren ist noch zulässig, allerdings<br />

könnte der Gesetzgeber das Schlupfloch<br />

schließen“, sagt Guido Holler, Fachanwalt<br />

für Erb- und Steuerrecht aus Düsseldorf.<br />

2013 entschied der Bundesfinanzhof,<br />

dass Zweit- und Ferienwohnungen keine<br />

begünstigten Familienheime sind (II R<br />

35/11). Zudem signalisierten die Richter,<br />

sie hielten die Begünstigung des Familienheims<br />

für verfassungswidrig.<br />

ä Familien-Pool: Das Vermögen der Familie<br />

wird als Pool auf eine Gesellschaft<br />

bürgerlichen Rechts übertragen. Die Eltern<br />

schenken den Kindern GbR-Anteile steuerfrei.<br />

Sie behalten jedoch die Geschäftsführung<br />

der GbR auf Lebenszeit und kassieren<br />

die Erträge des GbR-Vermögens.<br />

ä Zugewinnausgleich: Ein Ehepaar lebt<br />

zunächst in einer Zugewinngemeinschaft.<br />

Alles, was beide Partner an Vermögen in<br />

ihrer Ehe erwirtschaften, steht ihnen zu<br />

gleichen Teilen zu. Später vereinbaren<br />

»<br />

FOTO: GETTY IMAGES/AFP/THOMAS KIENZLE<br />

80 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Ab ins Steuerparadies<br />

Wolfgang Porsche (rechts, mit<br />

Partnerin Claudia Hübner bei einer<br />

Rallye im Porsche 356 No.1)<br />

will sein Vermögen nach Österreich<br />

bringen<br />

Erbschaften und Schenkungen über fünf Millionen Euro machen…<br />

...0,4 Prozent aller<br />

steuerpflichtigen<br />

Fälle...<br />

…aber 29 Prozent<br />

der übertragenen<br />

Vermögen aus...<br />

...und bringen dem Fiskus<br />

20 Prozent der Erbschaftund<br />

Schenkungsteuer*<br />

* Weil Millionäre mehr begünstigtes Betriebsvermögen<br />

übertragen als durchschnittlich Vermögende,<br />

ist ihr Anteil am übertragenen Vermögen höher als<br />

der am Steueraufkommen<br />

WirtschaftsWoche 7.7.<strong>2014</strong> Nr. 28 81<br />

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Geld&Börse<br />

IMMOBILIEN<br />

Dem Staat nichts<br />

schenken<br />

Wohnrecht, Nießbrauch, Übertragung: Steuertipps für Hausbesitzer<br />

Bei vererbten Vermögen sind Immobilien<br />

in der Regel der größte Posten. Das Häuschen<br />

der Eltern bleibt dank eines Freibetrags<br />

von 400 000 Euro für ihre Kinder<br />

meist steuerfrei. Immobilien, die der Verstorbene<br />

selbst genutzt hat, bleiben auch<br />

ohne Freibetrag steuerfrei – aber nur,<br />

wenn die Kinder mindestens zehn Jahre<br />

lang darin wohnen und die Wohnfläche<br />

200 Quadratmeter nicht übersteigt.<br />

Wer dagegen Mietshäuser erbt, deren<br />

Wert weit über den Freibeträgen liegt,<br />

muss größere Beträge ans Finanzamt abführen.<br />

Eine steuersparende Schenkung<br />

zu Lebzeiten scheidet häufig aus: Vermietete<br />

Immobilien sind oft eine wichtige<br />

Einnahmequelle, ihre Besitzer wollen sie<br />

ungern aufgeben. Es gibt allerdings<br />

Lösungen, bei denen die Immobilie an die<br />

nächste Generation weitergereicht wird,<br />

die ursprünglichen Eigentümer aber<br />

weiterhin <strong>vom</strong> Mietshaus profitieren:<br />

n Wohnrecht: Mutter oder Vater wohnen<br />

weiter mietfrei in der Immobilie. Die gesparte<br />

Miete mindert den Steuerwert der<br />

Immobilie. Bei einer Schenkung müssen<br />

die Erben weniger Steuern zahlen.<br />

n Nießbrauch: Die Immobilie geht an die<br />

späteren Erben, die ursprünglichen Eigentümer<br />

behalten jedoch die Mieteinnahmen.<br />

Die künftigen Mieteinnahmen rechnet<br />

das Finanzamt auf den Steuerwert der<br />

Immobilie an (siehe Tabelle). Je länger die<br />

statistische Restlebenszeit des Schenkers<br />

ist, desto größer ist der Vervielfältiger für<br />

die Jahresmiete. Im Musterfall kann der<br />

Sohn das Mietshaus mit einem Steuerwert<br />

von 800 000 Euro dank des Abzugs wegen<br />

des Nießbrauchs steuerfrei übernehmen.<br />

Stirbt seine Mutter, fällt keine weitere<br />

Steuer an.<br />

Steuersparmodelle mit Wohnrecht und<br />

Nießbrauch haben einen Nachteil. Wenn<br />

Vererber mit Angehörigen im Streit liegen,<br />

wollen sie ihnen nicht mehr als den<br />

gesetzlich vorgeschriebenen Pflichtteil<br />

zukommen lassen. Verschenken sie einzelne<br />

Vermögenswerte zu Lebzeiten an<br />

andere Verwandte, fällt das Erbe insgesamt<br />

und damit auch der Pflichtteil geringer<br />

aus. Liegen zwischen Schenkung und<br />

Erbschaft mindestens zehn Jahre, haben<br />

unerwünschte Erben über ihren Pflichtteil<br />

keinen Anspruch mehr auf die Immobilie.<br />

Dies gilt allerdings nicht, wenn der Schenkende<br />

die Mieteinnahmen behält (Nießbrauch).<br />

Dann bezieht sich der Pflichtteil<br />

auf einen reduzierten Immobilienwert: Für<br />

jedes Jahr nach der Schenkung schmilzt<br />

der zur Berechnung des Pflichtteils herangezogene<br />

Immobilienwert um zehn Prozent<br />

ab. Bei einem Mietshaus für 500 000 Euro<br />

läge der Wert, drei Jahre nachdem die<br />

Immobilie verschenkt wurde, also bei<br />

350 000 Euro.<br />

SCHENKEN IN ETAPPEN<br />

Eine Alternative ist die Schenkung in Etappen:<br />

Die Mutter schenkt ihrem Sohn die Immobilie<br />

mit einem Steuerwert von 800 000<br />

Euro. Nach Abzug des Freibetrags von<br />

400 000 Euro muss der Sohn 400 000 Euro<br />

versteuern. Bei einem Steuersatz von 15<br />

Prozent müsste er 60 000 Euro Steuern<br />

zahlen. Anschließend könnte er die Hälfte<br />

der Immobilie an seine Ehefrau schenken.<br />

Die bekäme, weil sie einen Freibetrag von<br />

500 000 Euro beanspruchen darf, die<br />

Haushälfte steuerfrei. Vorteil: Wenn die<br />

Mutter ihrer Schwiegertochter die Hälfte<br />

des Hauses direkt geschenkt hätte, wären<br />

von den 400 000 Euro wegen des deutlich<br />

niedrigeren Freibetrags nur 20 000 Euro<br />

steuerfrei gewesen. Nachteil: Die Steuerersparnis<br />

gegenüber der klassischen Erbschaft<br />

ist geringer als bei der Nießbrauch-<br />

Variante. Die Etappen-Schenkung<br />

funktioniert auch nur, wenn beide Schenkungen<br />

getrennt <strong>vom</strong> Notar beglaubigt<br />

werden. Zudem muss derjenige, der zuerst<br />

beschenkt wird, frei sein, an wen er die<br />

Immobilie weiterreicht. Zwischen den beiden<br />

Notarterminen sollten mehrere Wochen<br />

liegen. So bleibt Zeit, die erste Schenkung<br />

ins Grundbuch einzutragen. Falls<br />

beide Termine auf einen Tag fallen, könnte<br />

das Finanzamt Gestaltungsmissbrauch vermuten<br />

und den Steuervorteil kassieren.<br />

Wie sich die Erbschaftsteuer<br />

bei Immobilien optimieren lässt<br />

1. Schritt: Freibeträge abziehen<br />

Je nach Verwandtschaftsgrad können Angehörige<br />

unterschiedlich hohe Beträge steuerfrei<br />

erben oder sich schenken lassen<br />

Steuerklasse<br />

I<br />

II<br />

Verwandtschaft<br />

Ehegatten, eingetragene<br />

Lebenspartner<br />

Kinder und Stiefkinder<br />

Enkel und Urenkel<br />

Eltern, Großeltern (bei Erbe)<br />

Eltern, Großeltern<br />

(bei Schenkung)<br />

Geschwister, Nichten, Neffen<br />

Schwiegerkinder, Schwiegerund<br />

Stiefeltern<br />

III sonstige Personen<br />

2. Schritt: Steuern berechnen<br />

Freibetrag<br />

(in Euro)<br />

500000<br />

400000<br />

200000<br />

100000<br />

20000<br />

20000<br />

Sind die Freibeträge ausgeschöpft, greifen<br />

aktuell diese Steuersätze (in Prozent)<br />

Steuerpflichtiger Teil des<br />

Erbes oder der Schenkung<br />

(in Euro) bis zu...<br />

75000<br />

300000<br />

600000<br />

6 Millionen<br />

13 Millionen<br />

26 Millionen<br />

über 26 Millionen<br />

I<br />

7<br />

11<br />

15<br />

19<br />

23<br />

27<br />

30<br />

Steuerklasse<br />

II<br />

15<br />

20<br />

25<br />

30<br />

35<br />

40<br />

43<br />

Musterfall: Witwe, 70 Jahre; besitzt Mietshaus<br />

mit einem Steuerwert 1 von 800 000<br />

Euro; einziger Erbe ist ihr Sohn<br />

Steuerwert Immobilie 1<br />

– Freibetrag Sohn<br />

= zu versteuern<br />

Steuersatz<br />

zu zahlende Steuern<br />

3. Schritt: Alternative prüfen<br />

Mutter schenkt dem Sohn das Haus und<br />

behält die Mieteinnahmen (Nießbrauch)<br />

Steuerwert Immobilie 1<br />

– Wert künftiger Mieteinnahmen, die<br />

an die Mutter gehen (Nießbrauch) 2<br />

= Steuerwert abzüglich Nießbrauch<br />

– Freibetrag<br />

= zu versteuern<br />

Steuersatz<br />

zu zahlende Steuern<br />

III<br />

30<br />

30<br />

30<br />

30<br />

50<br />

50<br />

50<br />

Beträge<br />

in Euro<br />

800000<br />

400000<br />

400000<br />

15 Prozent<br />

60 000<br />

800000<br />

420000<br />

380000<br />

400000<br />

1 ist in der Regel geringer als der Verkehrswert, weil<br />

beispielsweise Verbindlichkeiten abgezogen werden;<br />

2 Formel: jährliche Mieteinnahmen multipliziert mit<br />

der statistischen Restlebenszeit des Schenkenden;<br />

Quelle: Erbschaftsteuergesetz, Ecovis<br />

0<br />

11 Prozent<br />

0<br />

82 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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FOTO: BILD-ZEITUNG/MARKUS HANNICH<br />

»<br />

sie per Ehevertrag Gütertrennung. Der<br />

Ausgleich des entstandenen Zugewinns an<br />

Vermögen ist steuerfrei. Dieses Modell<br />

lohnt besonders, wenn ein Partner deutlich<br />

mehr besitzt als der andere. Vorteil: Sowohl<br />

Mutter als auch Vater können Vermögen<br />

an die Kinder verschenken. Jedes Kind<br />

kann seinen Freibetrag zwei Mal nutzen.<br />

ä Nießbrauch: Immobilien lassen sich<br />

gegen Nießbrauch, beispielsweise das<br />

Recht auf die Mieteinnahmen, übertragen<br />

(siehe Tabelle Seite 82). Der Nießbrauch<br />

mindert den Steuerwert der Immobilie, sodass<br />

das Vermögen meist innerhalb des<br />

Freibetrags bleibt. Das funktioniert auch<br />

bei Geldvermögen, wenn der Schenker das<br />

Guthaben überträgt und die Zinsen für<br />

sich behält. Der Gesetzgeber unterstellt dabei,<br />

dass sich das Geldvermögen mit bis zu<br />

5,5 Prozent pro Jahr verzinst. Diese Zinsen<br />

werden <strong>vom</strong> Vermögen abgezogen.<br />

ä Pflegebonus: Erben, die Angehörige<br />

unentgeltlich oder gegen geringe Bezahlung<br />

gepflegt haben, können einen zusätzlichen<br />

Freibetrag von 20 000 Euro nutzen.<br />

Dies gilt jedoch nicht für Verwandte (Ehepartner,<br />

Kinder, Eltern), die gesetzlich zu<br />

Pflege und Unterhalt verpflichtet sind.<br />

Nach einem Urteil des Niedersächsischen<br />

Finanzgerichts (3 K 229/11) steht diesen<br />

nahen Verwandten aber ein Teil des Freibetrags<br />

zu, wenn kein Unterhalt gezahlt<br />

werden muss, weil die Vererber keine finanzielle<br />

Hilfe benötigen. Tipp: Angehörige<br />

sollten als Nachweis gegenüber dem<br />

Finanzamt ein Pflegetagebuch führen.<br />

Cornelius Gurlitt Testament<br />

Die Kunstsammlung seines Vaters soll auch<br />

von den Nazis geraubte Werke enthalten.<br />

Er setzte in seinem zweiten Testament das<br />

Kunstmuseum in Bern als Alleinerben ein.<br />

Einer seiner Erben drohte, dagegen zu klagen.<br />

Er hätte die Kunstwerke lieber in einem<br />

bayrischen Museum gesehen.<br />

SCHWARZGELD LEGALISIEREN<br />

Die Steuertricks funktionieren nur, wenn<br />

das geerbte oder geschenkte Vermögen zuvor<br />

korrekt versteuert wurde. So stießen die<br />

Erben der persischen Ex-Kaiserin Soraya,<br />

die 2001 verstarb, auf die Luxemburger Stiftung<br />

Zucarella, in der die vermögende<br />

Adelige Schwarzgeld versteckt hatte.<br />

Steuerfahnder verfolgen unversteuertes<br />

Vermögen auch über den Tod hinaus. Banken<br />

und Sparkassen helfen ihnen dabei.<br />

Sie sind gesetzlich verpflichtet, innerhalb<br />

eines Monats nachdem sie <strong>vom</strong> Tod ihres<br />

Kunden erfahren haben, alle Konten und<br />

Vermögenswerte offenzulegen.<br />

„Wer jetzt noch auf Zeit spielt und eine<br />

Selbstanzeige vermeidet, schadet sich<br />

selbst und seinen Erben“, sagt Franz-Georg<br />

Lauck, Anwalt für Erbrecht in Dresden. Ab<br />

2015 will die Bundesregierung die gesetzlichen<br />

Regeln für Schwarzgeld verschärfen.<br />

Hat der Vererber vor seinem Ableben keinen<br />

reinen Tisch gemacht, sollten seine Erben<br />

bei Verdacht Bankauszüge und Briefe<br />

von Banken aus Steueroasen suchen. Wer<br />

als Erbe etwas weiß und nicht dem Finanzamt<br />

meldet, macht sich strafbar.<br />

Grundsätzlich haften Erben für Schulden<br />

des Verstorbenen. Bis zu zehn Jahre<br />

rückwirkend müssen sie hinterzogene<br />

Steuern nachzahlen, plus sechs Prozent<br />

Hinterziehungszinsen und Erbschaftsteuer.<br />

Nachzahlungen und Strafe mindern das<br />

steuerpflichtige Vermögen. Selbst dieser<br />

Bonus aber ist in Gefahr, wenn Erben zu<br />

spät ehrlich werden. So lehnte es das Finanzgericht<br />

Düsseldorf ab, einem Erben<br />

nachgezahlte Steuern plus Zinsen anzurechnen,<br />

weil er erst zwei Jahre nach dem<br />

Tod seines Vaters das geerbte Schwarzgeld<br />

offenbarte (4 K 104/02). Sind die Nachzahlungen<br />

höher als das Erbe, können Nachkommen<br />

binnen sechs Wochen nach Testamentseröffnung<br />

das Erbe ausschlagen.<br />

FORM EINHALTEN<br />

Um Streit zu vermeiden, sollten Vererber<br />

Interessen aller Erben berücksichtigen.<br />

Wer zu kurz kommt, wehrt sich – häufig<br />

zum Schaden aller. So löste Margherita Agnelli<br />

de Pahlen, eine Erbin des Fiat-Patriarchen<br />

Gianni Agnelli, 2009 eine Fahndung<br />

des italienischen Fiskus nach Auslandsvermögen<br />

der Familie aus, weil sie sich bei der<br />

Verteilung des Erbes benachteiligt fühlte.<br />

Mit einem Testament kann der Vererber<br />

dafür sorgen, dass sein Vermögen gerecht<br />

verteilt wird. Diese Punkte sind wichtig:<br />

ä Form: Der letzte Wille muss handschriftlich<br />

verfasst werden. Ausnahme:<br />

Das Testament wird von einem Notar beglaubigt.<br />

ä Angaben: Vor- und Zuname sowie das<br />

Datum sind Pflicht. Nur die aktuellste Version<br />

des Testaments ist gültig.<br />

Der kürzlich verstorbene Münchner<br />

Kunstsammler Cornelius Gurlitt etwa hatte<br />

zwei Testamente verfasst. Gurlitts Vater<br />

hatte als Kunsthändler für das NS-Regime<br />

gearbeitet. Bei vielen der Kunstwerke besteht<br />

der Verdacht, dass die Nazis sie geraubt<br />

haben. In seinem zweiten Testament<br />

<strong>vom</strong> Februar <strong>2014</strong> hatte Cornelius Gurlitt<br />

das Kunstmuseum in Bern als Alleinerben<br />

der Kunstwerke eingesetzt. Einer von Gurlitts<br />

Erben drohte, dagegen zu klagen. Er<br />

hätte die Kunstwerke lieber in einem bayrischen<br />

Museum gesehen.<br />

Es ist sinnvoll, ein aktuelles Exemplar<br />

des Testaments beim Amtsgericht zu hinterlegen.<br />

Das kostet einmalig 75 Euro.<br />

Nicht selten verschwinden Dokumente,<br />

wenn ein Haushalt aufgelöst wird.<br />

Das Datum ist auch wichtig, um festzustellen,<br />

ob der Verstorbene zurechnungsfähig<br />

war, als er das Testament verfasste. Wer<br />

vermeiden will, dass sein Testament angefochten<br />

wird, sollte ein ärztliches Attest<br />

einholen. Die Tochter der L’Oréal-Erbin Liliane<br />

Bettencourt etwa wollte ihre Mut-<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 7.7.<strong>2014</strong> Nr. 28 83<br />

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Geld&Börse<br />

ment. Im Testament sollte deshalb eine<br />

Klausel eingefügt werden, nach der in jedem<br />

Fall das deutsche Erbrecht gilt.<br />

Selbst wenn klar ist, wer was bekommt,<br />

kann es Streit unter Erben geben. Ein Ferienhaus<br />

etwa lässt sich eben nicht in Viertel<br />

teilen. Dieses Problem lässt sich durch Teilungsanordnungen<br />

lösen. „Jedem Erben<br />

werden bestimmte Vermögenswerte, etwa<br />

ein Haus oder ein Auto, zugeordnet“, sagt<br />

Claus-Henrik Horn, Fachanwalt für Erbrecht<br />

in Düsseldorf. Nachteil der Teilungsanordnung<br />

sei, dass sie erst durchgesetzt<br />

werden könne, wenn das gesamte Erbe<br />

aufgeteilt wird, so Horn. Besser sei ein Vorausvermächtnis.<br />

So habe der Erbe direkt<br />

nach dem Tod des Vererbers Zugriff auf<br />

den betreffenden Vermögensgegenstand.<br />

»<br />

ter unter Vormundschaft stellen lassen,<br />

weil sie einem befreundeten Fotografen<br />

mehrere Hundert Millionen Euro schenkte.<br />

Er soll die Altersschwäche der heute<br />

91-jährigen Bettencourt ausgenutzt haben.<br />

ä Erben: Zulässig sind Verwandte, Freunde<br />

oder Vereine – keine Haustiere. Tipp:<br />

Bei mehreren Kindern sollten Eltern Ersatzerben<br />

ins Testament aufnehmen, für<br />

den Fall, dass Sohn oder Tochter sterben,<br />

bevor sie erben können. Ersatzerben können<br />

die Ehepartner der Kinder sein. Ohne<br />

Ersatzerben würde das Vermögen nur an<br />

die überlebenden Kinder fallen.<br />

QUOTEN BEACHTEN<br />

Wer Vermögen vererben will, muss sich an<br />

gesetzliche Spielregeln halten:<br />

ä Bedingungen: Das Testament darf keine<br />

sittenwidrigen Bedingungen enthalten,<br />

beispielsweise die, dass der Erbe eine bestimmte<br />

Religion anzunehmen hat.<br />

ä Pflichtteil: Nahe Verwandte lassen sich<br />

nicht komplett <strong>vom</strong> Erbe ausschließen, ihnen<br />

steht ein gesetzlicher Pflichtteil zu. Anspruch<br />

darauf haben Kinder, Enkel, Urenkel,<br />

die Ehe- oder eingetragenen Lebenspartner<br />

sowie Eltern. Geschwister und weitere<br />

Verwandte können leer ausgehen.<br />

Wie hoch der Pflichtteil ist, hängt von der<br />

Gruppierung der Erben ab. Beispiel: Ein<br />

Mann stirbt und hinterlässt seiner Ehefrau<br />

und den beiden Kindern sein Vermögen.<br />

Laut gesetzlicher Erbquote stünde der Witwe<br />

die Hälfte des Vermögens zu, den Kindern<br />

jeweils ein Viertel. Wenn der Mann in<br />

seinem Testament eines der Kinder ausschließt,<br />

hat es einen Pflichtteilsanspruch<br />

von einem Achtel des Vermögens, was der<br />

Soraya Erbengemeinschaft<br />

Die Erben der persischen Ex-Kaiserin streiten<br />

sich derzeit am Landgericht Köln. Dabei<br />

geht es auch um ein Testament von Sorayas<br />

verstorbenem Bruder. Der soll das von<br />

Soraya geerbte Vermögen seinem Chauffeur<br />

vermacht haben. Die übrigen Erben zweifeln<br />

die Ansprüche des Chauffeurs an.<br />

Hälfte der gesetzlichen Erbquote entspricht.<br />

In diesem Fall würde das Erbe zunächst<br />

je zur Hälfte auf die Witwe und das<br />

andere Kind aufgeteilt. Beide müssten<br />

dann den Pflichtteil an das nicht berücksichtigte<br />

Kind in Geld auszahlen. Ihnen<br />

verblieben dann 87,5 Prozent des Erbes.<br />

ä Berliner Testament: Soll das Erbe nicht<br />

zwischen Witwe und Kindern geteilt werden<br />

– etwa, weil die Ehefrau das Haus lebenslang<br />

behalten soll –, können Paare ein<br />

Berliner Testament abschließen. Sie setzen<br />

sich damit gegenseitig als Alleinerben ein.<br />

Da den Kindern dann noch ein Pflichtteil<br />

zusteht, sollten sie in Absprache mit den<br />

Eltern darauf verzichten. Steuerlich hat das<br />

Berliner Testament einen entscheidenden<br />

Haken: Ist der überlebende Ehepartner Alleinerbe,<br />

rechnet das Finanzamt auch nur<br />

dessen Freibetrag an. Die Freibeträge der<br />

Kinder bleiben ungenutzt. Bei Vermögen,<br />

die über dem Freibetrag des Ehepartners<br />

liegen, sollten Vererber Teile zu Lebzeiten<br />

an die Kinder verschenken.<br />

Wer seinen Lebensabend im Ausland<br />

verbringen will, sollte wissen, dass ab 2015<br />

in der EU das Erbrecht des Wohnsitzes gilt.<br />

In Spanien aber gibt es kein Berliner Testa-<br />

LETZTER AUSWEG VERSTEIGERUNG<br />

Sind große Vermögenswerte nicht klar verteilt,<br />

kann dies zu erbittertem Streit führen.<br />

Erben blockieren sich, sodass vererbte Immobilien<br />

leer stehen und verfallen. In solchen<br />

Fällen können einzelne Erben für die<br />

Immobilie eine Teilungsversteigerung beantragen.<br />

Haus oder Wohnung werden<br />

dann öffentlich bei einem Gericht versteigert.<br />

„Es kann ausreichen, eine Versteigerung<br />

anzukündigen, um Erben zu einem<br />

Kompromiss zu bewegen“, sagt Bernd Kiderlen,<br />

Rechtsanwalt aus Stuttgart.<br />

Die Teilungsversteigerung ist vor allem<br />

für begehrte Immobilien in Ballungsräumen<br />

eine Lösung. Auf dem flachen Land,<br />

bei schwacher Nachfrage besteht die Gefahr,<br />

dass die Immobilie für das Mindestgebot,<br />

die Hälfte des Verkehrswerts, weggeht.<br />

Davon könnten andere Erben profitieren,<br />

die möglichst billig ans Haus kommen wollen.<br />

Erben, die nur am Verkaufserlös interessiert<br />

sind, hätten das Nachsehen.<br />

Als Notausgang bietet sich ein Verkauf<br />

des Erbanteils. Erben kommen schnell an<br />

ihr Geld, müssen aber hohe Abschläge<br />

beim Kaufpreis hinnehmen. Schließlich<br />

muss der Käufer das Risiko eines langen<br />

Streits mit den anderen Erben einkalkulieren.<br />

Beim Verkauf von Erbanteilen haben<br />

Miterben ein Vorkaufsrecht. Sie müssen es<br />

innerhalb von zwei Monaten ausüben. Ist<br />

die Frist verstrichen, kann sich der Erbe<br />

seinen Käufer frei suchen.<br />

Diese Freiheit dürften die Erben von<br />

Wolfgang Porsche wahrscheinlich nicht haben:<br />

Die Familien Piëch und Porsche haben<br />

mit Stiftungssatzungen und Gesellschafterverträgen<br />

den Umgang mit VW- und Porsche-Anteilen<br />

detailliert geregelt.<br />

n<br />

martin.gerth@wiwo.de<br />

FOTOS: PEOPLE PICTURE/GRAZIANI, AKG-IMAGES/BILDARCHIV PISAREK<br />

84 Nr. 28 7.7.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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ERBEN-ERMITTLER<br />

Schneller ans Geld<br />

Wie Ahnenforscher in Kirchenbüchern potenzielle Erben suchen<br />

und finden, wie sie ihre Arbeit finanzieren.<br />

Klick. Klick. Erbe. Per Maus stöbert Mary<br />

Schumacher im Kirchenbuch der Kölner<br />

Gemeinde St. Gereon von 1890. Das geht,<br />

weil das Kirchenbuch, wie viele Tausend<br />

verstaubte Folianten im Archiv des Erzbistums<br />

Köln, eingescannt und als Datensatz<br />

verfügbar ist. Schumacher ist Erbenermittlerin,<br />

sie arbeitet für die Kölner GEN<br />

GmbH. Ermittler bekommen ihre Aufträge<br />

von Rechtspflegern der Gerichte, wenn<br />

diese für einen Nachlass keine Erben finden<br />

– oder sie werden aktiv, wenn<br />

im Bundesanzeiger eine Aufforderung<br />

an Erben erscheint, sich beim<br />

Nachlassverwalter zu melden. Ist<br />

der Erbe gefunden, bekommt dieser<br />

die Dokumente, die seinen Anspruch<br />

belegen – gegen 25 bis 30<br />

Prozent des Erbes. Bleibt die Suche<br />

erfolglos, geht das Vermögen an<br />

den Staat.<br />

HEIMLICHE TAUFE<br />

Schumacher sucht heute die Erben<br />

eines verstorbenen Kölners. Eine<br />

erste Spur war die ehemalige Adresse<br />

von dessen Großvater – am Friesenwall<br />

in Köln. Damit kommen zwei Kirchengemeinden<br />

infrage, St. Gereon und St.<br />

Aposteln. Schumacher hat Mühe, das<br />

handgeschriebene Latein im Kirchenbuch<br />

zu entziffern. Neben den Kindern und Taufdaten<br />

sind Eltern und Paten aufgelistet.<br />

Häufig findet sich der Hinweis „illegitim“.<br />

„Uneheliche Kinder“, flüstert Schumacher.<br />

Im Lesesaal des erzbischöflichen Archivs<br />

sind laute Gespräche unerwünscht. Nicht<br />

alle Kinder seien in den Kirchenbüchern<br />

verzeichnet: „Um einen Skandal zu vermeiden,<br />

haben viele Mütter uneheliche Kinder<br />

in der Gemeinde des Krankenhauses und<br />

nicht in der ihres Wohnsitzes taufen lassen“,<br />

sagt Schumacher. Solche Kinder sind<br />

schwerer zu finden.<br />

In ihrem aktuellen Fall aber hilft das Kirchenbuch<br />

von St. Gereon: Zwei weitere<br />

Kinder des Großvaters konnte sie ermitteln.<br />

Deren Kinder könnten als Erben infrage<br />

kommen. Sobald Schumacher alle Verwandtschaftslinien<br />

durchgesehen hat,<br />

Alles verloren Flüchtlinge aus den<br />

deutschen Ostgebieten, Berlin, 1945<br />

nisse ein. Für die Zeit vor 1875 sind Kirchenbücher<br />

daher oft die einzige Informationsquelle.<br />

Ist ein Kirchenbuch mal nicht im<br />

Archiv, ruft die Erbenermittlerin direkt bei<br />

der Kirchengemeinde an. Es gibt auch Fälle,<br />

in denen das Kirchenbuch zwar im Magazin<br />

des Archivs lagert, aber nicht öffentlich zugänglich<br />

ist. So sind beispielsweise Taufbücher<br />

bis 120 Jahre nach der Geburt gesperrt.<br />

Die Erbenermittlerin muss sich dann<br />

<strong>vom</strong> Rechtspfleger des Amtsgerichts eine<br />

Vollmacht einholen.<br />

In komplizierten Fällen kann sich die Suche<br />

nach Erben über Jahre hinziehen. 2004<br />

etwa übernahmen Schumachers Kollegen<br />

den Fall eines deutschen Auswanderers, der<br />

sich 1914 in Brasilien niedergelassen hatte.<br />

Dort hatte er eine Einheimische indianischer<br />

Abstammung geheiratet. Deren Nachkommen<br />

lebten in ärmsten Verhältnissen, muss-<br />

kann sie die Akte an ihre Kollegen weiterreichen.<br />

Die schreiben die Erben an.<br />

Schumacher ist gebürtige Amerikanerin,<br />

hat in Aachen Geschichte und Anglistik studiert<br />

und ihr Hobby Ahnenforschung zum<br />

Beruf gemacht. Im Archiv des Erzbistums<br />

Köln sei sie etwa alle zwei bis drei Monate,<br />

sagt sie. Bis 1875 gab es in Deutschland keine<br />

Standesämter, die Geburts- und Heiratsregister<br />

führten. Erst Reichskanzler Otto von<br />

Bismarck führte die öffentlichen Verzeichten<br />

als Arbeitssklaven schuften. Viele<br />

konnten weder lesen noch schreiben. Ein<br />

Enkel des Auswanderers aber hinterließ<br />

nach seinem Tod eine höhere Summe. Bis<br />

2011 konnten die Ermittler gut 20 Erben –<br />

unter anderem in Brasilien – auftreiben.<br />

Das Ganze dauerte auch deshalb so lange,<br />

weil sie falschen Spuren nachjagen mussten.<br />

So hatten vermeintliche Nachkommen<br />

versucht, mithilfe gefälschter Geburtsurkunden<br />

an Geld zu kommen.<br />

DOKUMENTE VERBRANNT<br />

„Derzeit arbeiten wir vor allem an ungeklärten<br />

Erbfällen von Personen aus den<br />

ehemaligen Ostgebieten des Deutschen<br />

Reichs“, sagt Dirk Zeiseler, Niederlassungsleiter<br />

der GEN GmbH in Köln. In den<br />

letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs,<br />

als Millionen Menschen flüchteten,<br />

vertrieben oder ausgebombt wurden,<br />

seien ungezählte Kirchenbücher,<br />

standesamtliche Geburtsund<br />

Heiratsurkunden verloren gegangen<br />

oder zerstört worden. Etwa<br />

70 Jahre nach Kriegsende sei es<br />

daher enorm schwierig, Erbansprüche<br />

zu belegen.<br />

Auch aktuelle Katastrophen erschweren<br />

die Arbeit der Erbenermittler.<br />

Im März 2009, einen Tag,<br />

bevor das Kölner Stadtarchiv einstürzte,<br />

war Mary Schumacher<br />

noch dort, um nach Erben zu fahnden.<br />

Viele historische Dokumente<br />

sind beim Einsturz verloren gegangen.<br />

„Nur in den Originalen der Geburtsverzeichnisse<br />

finden sich handschriftliche<br />

Randnotizen, beispielsweise über spätere<br />

Heiraten oder vermutliche Vaterschaften,<br />

die uns weiterhelfen“, sagt Erbenermittler<br />

Zeiseler. In Kopien, die außerhalb des Archivs<br />

lagerten, fehlten diese Notizen.<br />

Schumacher sagt, in den USA sei der<br />

Ermittler-Job deutlich einfacher: „Als wir<br />

vor einigen Monaten Erben eines verstorbenen<br />

Deutschen in Amerika suchten,<br />

sind wir nach zwei Tagen fündig geworden.“<br />

Anders als in Deutschland müsse<br />

sie in den USA Daten nicht von einem<br />

Dutzend verschiedener Ämter abfragen.<br />

Stattdessen seien viele der notwendigen<br />

Angaben per Internet abrufbar.<br />

Weniger Datenschutz als in Deutschland<br />

kann eben auch Vorteile haben:<br />

Erben werden leichter gefunden und<br />

kommen häufig schneller an ihr Geld. n<br />

martin.gerth@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche 7.7.<strong>2014</strong> Nr. 28 85<br />

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Geld&Börse<br />

Retten, was noch<br />

zu retten ist<br />

KGAL | Das milliardenschwere Fondshaus ließ sich im Schatten des<br />

S&K-Skandals auf einen merkwürdigen Immobiliendeal ein.<br />

Das Haus in der Kölner Friedensstraße<br />

verbirgt sein Geheimnis bestens.<br />

Ein Wohnsilo wie Tausende andere,<br />

so scheint es