Elin Hirvi Dunkle Häfen - BookRix
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niemanden mehr verletzen, es gab nichts mehr zu verletzen. Sie schien in einem<br />
merkwürdigen Zustand zwischen zwei Welten zu sein. Das Leben war aus ihr<br />
verschwunden, trotzdem hielten ein paar letzte Fäden sie noch in dieser Welt fest.<br />
Sicher würden auch sie bald reißen. Für die Kälte in ihrem Herzen gab es keine<br />
Worte. Unbeteiligt sah sie zu, wie sich etwas in ihr aufraffte, ihren Körper<br />
aufrichtete und sie zur Tür schwanken ließ. Diese Tat war so sinnlos. Ramis konnte<br />
sich selbst in dem langen, weißen Hemd mühsam vorwärts humpeln sehen. Der<br />
Schmerz, den sie spüren sollte, gehörte in eine andere Welt. Er war weggewaschen.<br />
Nicht einmal er war noch da. Dennoch musste irgendetwas in ihr noch leben, ein<br />
verborgener Wille, der Entscheidungen traf. Aber gleich einem Schlafwandler oder<br />
einem Berauschten hatte sie keine Verbindung dazu. Genauso gut hätte es jemand<br />
anders sein können, der da die leeren, dunklen Gassen durchquerte und auf den<br />
Straßen Londons dahin wankte. Die kleine, verlorene Gestalt in dem wabernden<br />
weißen Hemd glich einem Geist und die glasigen Augen waren die einer Toten.<br />
Ein verkrüppelter Bettler bekreuzigte sich hastig und humpelte auf seinem<br />
Krücken schnell davon, als er die leichenblasse Erscheinung mit den roten Flecken<br />
auf dem Kleid entdeckte, der ein blutiges Rinnsal aus der Nase lief. Der Mann war<br />
überzeugt, einen Geist gesehen zu haben, eine Botin aus dem Totenreich. Noch nie<br />
hatte er so eine Angst gehabt, obwohl er ja schon einiges gesehen hatte.<br />
Ramis sah, wie die roten Tropfen von ihrem Kinn auf den weißen Stoff fielen<br />
und dort festtrockneten. Unaufhaltsam kam immer mehr Blut, bis es zu einer Flut<br />
wurde, die ihren Körper hinabfloss. Das Hemd wurde durchnässt und schwerer und<br />
als es nichts mehr aufnehmen konnte, tropfte das Blut auf den Boden und bildete<br />
Pfützen hinter ihr. Während sie weiterlief, entstand hinter ihr ein roter Fluss. Und<br />
plötzlich floss es nicht mehr nur aus ihrer Nase. Es drang aus jeder Pore ihrer Haut<br />
hervor. Ihr Körper schien zusammenzuschrumpeln wie eine faulige Frucht und<br />
wurde immer kleiner. Doch die Leere füllte sie wieder auf, gab ihrer Form<br />
Stabilität. Sie wunderte sich nicht über diese Widersinnigkeit. Die Welt war ein<br />
einziges Chaos und hielt sich nicht an das Wirklichkeitsempfinden der Menschen.<br />
Es gab nichts Unmögliches. Die ganze Stadt und mit ihr die Häuser waren in ihr<br />
Blut getaucht, verschwammen vor ihren Augen. Die aufgehende Sonne war ebenso<br />
blutrot. Gegen ihre Füße schwappte die Flüssigkeit. Ein verfärbtes Maple House<br />
tauchte undeutlich vor ihr auf. Sie fragte sich, was sie hier wollte. Hier war die<br />
Brutstätte des Bösen, das Heim des Teufels. Sie nahm nicht die offiziellen<br />
Eingänge, sondern betrat das Haus durch eine kleine Tür vom Garten her. Ihre<br />
Beine fanden selbst den Weg, führten sie durch all die Gänge und Zimmer. Sie hielt<br />
vor einer Tür an und betrat lautlos den Raum, der ihr einst vertraut gewesen war.<br />
Als sie vor dem Bett stand und auf die kranke Frau und die graue Katze herunter<br />
starrte, da wusste sie plötzlich, warum sie zurückgekommen war.<br />
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