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Fahreignung im Alter aus neuropsychologischer Sicht

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<strong>Fahreignung</strong> <strong>im</strong> <strong>Alter</strong> <strong>aus</strong><br />

<strong>neuropsychologischer</strong> <strong>Sicht</strong><br />

<strong>im</strong> Rahmen der Verantstaltung „<strong>Fahreignung</strong><br />

<strong>im</strong> <strong>Alter</strong>“, Gesundheitsamt, Kantonsärztlicher<br />

Dienst, Dr. med. C. Lanz<br />

lic. phil. Patrick Müller, Psychologe FSP<br />

Leiter Neuropsychologie BSS<br />

Dr. phil. Georg Grüwell, Fachpsychologe für<br />

Neuropsychologie, Memory Clinic KSO 6.6.2013


Neuropsychologie in der soH<br />

• <strong>im</strong> Bürgerspital Solothurn<br />

• Rehabilitations- und Rheumazentrum<br />

• Leitung Neuropsychologie: Patrick Müller<br />

• <strong>im</strong> Kantonsspital Olten<br />

• Memory Clinic<br />

• Neuropsychologie: Georg Grüwell<br />

• bei den Psychiatrischen Diensten<br />

• Psychologische Dienst<br />

• Neuropsychologie: Tanja Ehrenfried


Ablauf<br />

• Eine „neuropsychologische Perspektive“ auf das Autofahren<br />

• Kognitives <strong>Alter</strong>n<br />

• Der gesunde Senior am Steuer<br />

• Der erkrankte Senior be<strong>im</strong> Neuropsychologen<br />

• Die verkehrspsychologische Perspektive<br />

• Die verkehrspsychologische Abklärung<br />

• Die Probefahrt<br />

• Und weiter?


strategisch tatkisch operational<br />

Planung, Entscheidung<br />

vor der Fahrt<br />

Strecke, Wetter,<br />

Tageszeit,<br />

Verkehrsdichte,<br />

Häufigkeit von P<strong>aus</strong>en,<br />

Kondition des Fahrers<br />

Autofahren<br />

Verhalten und Entscheidungen<br />

während Fahrt<br />

Anpassung der Geschwindigkeit<br />

an Wetter und<br />

Verkehrsbedingungen,<br />

Entscheiden, wann ein<br />

Überholmanöver durchgeführt<br />

wird, Veränderung der<br />

• zählt zu den instrumentellen Aktivitäten des täglichen Lebens (IADL)<br />

• hohe Bedeutung für Unabhängigkeit, Teilhabe, Selbstwert<br />

• hierarchische Geschwindigkeit Struktur von Fahraufgaben an nach Michon (1971)<br />

• strategische Kreuzungen Ebene<br />

Urteilsvermögen, • taktische Ebene Impulskontrolle, Flexibilität,<br />

Einsicht in persönliche • operationale Urteilsvermögen,<br />

Ebene<br />

Einschränkungen Risikoabschätzung<br />

Impulskontrolle,<br />

Planungsfertigkeit<br />

basale Fähigkeiten zur<br />

Kontrolle eines Fahrzeuges<br />

Spurhalten, fliessende<br />

Beschleunigung/Verlangsam<br />

ung, Reaktion auf aktuelle<br />

Ereignisse<br />

Aufmerksamkeit,<br />

Konzentration, visuelle<br />

Suche, visuelle<br />

• hoher Zeitdruck besteht v.a. auf der operationalen Ebene<br />

Wahrnehmng, Tracking,<br />

Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit,<br />

motorische<br />

Reaktionsgeschwindigkeit<br />

• v.a. auf der strategischen und taktischen Ebene bestehen<br />

Möglichkeiten zur Kompensation<br />

modifiziert nach Michon 1971; van Zomeren et al. 1987; Z<strong>im</strong>mermann & F<strong>im</strong>m 2008


kognitive Funktionen <strong>im</strong> <strong>Alter</strong><br />

• verschiedene kognitive Funktionen verändern sich mit dem <strong>Alter</strong> in<br />

unterschiedlicher Weise:<br />

• frühe Abnahme der fluiden Funktionen<br />

• lange Stabilität der kristallinen Funktionen<br />

• viele der für das Autofahren wichtigen kognitiven Funktionen<br />

nehmen mit dem <strong>Alter</strong> ab, z.B.<br />

• nutzbares funktionales Sehfeld (UFOV)<br />

• visuomotorische Funktionen (Einfach- und Wahlreaktionen;<br />

visuomotorische Koordination)<br />

• Exekutivfunktionen: visuelle Aufmerksamkeit und ihr Wechsel,<br />

Unterdrückung ablenkender Information, Hemmung voreiliger (Re-<br />

)Aktion, Überwachung eigener Handlungen auf Fehler<br />

Poschadel et al. (2012). Verkehrssicherheitsrelevante Leistungspotenziale, Defizite<br />

und Kompensationsmöglichkeiten älterer Autofahrer. Berichte der BaSt: M231.


Senioren am Steuer<br />

• fahren trotz reduzierter Testleistungen <strong>im</strong> normalen Verkehr meist<br />

unauffällig<br />

• hohe Varianz der Leistungen <strong>im</strong> <strong>Alter</strong>: viele Senioren mit sehr guten<br />

kognitiven Funktionen<br />

• einfache und bekannte Fahrsituationen lassen sich auch mit Einbussen<br />

bewältigen<br />

• Kompensation von Schwächen auf allen Ebenen<br />

• Grenzen der Kompensation: Zeitdruck, sehr komplexe Aufgaben,<br />

zusätzliche Anforderungen<br />

Falkenstein & Poschadel (2011). <strong>Fahreignung</strong> und <strong>Alter</strong> in Deutschland. In Golka, Letztel &<br />

Nowack (Hrsg.), Verkehrsmedizin – arbeitsmedizinische Aspekte (S. 176-189). Landsberg: ecomed


der (wahrscheinlich) nicht gesunde ältere<br />

Mensch be<strong>im</strong> Neuropsychologen<br />

• zugewiesen zur Untersuchung werden nicht-gesunde Senioren<br />

• Patienten mit (fraglichen) Demenzerkrankungen<br />

• Patienten mit anderen neurologischen Erkrankungen (z.B. St.n. SHT,<br />

Epilepsie, St.n. cerebrovaskulärer Insult)<br />

• Fragestellungen<br />

• Neuropsychologische Diagnostik ohne Frage nach <strong>Fahreignung</strong><br />

• Neuropsychologische Diagnostik mit Frage nach <strong>Fahreignung</strong><br />

• Ausschliesslich Frage nach <strong>Fahreignung</strong>


Vorgehen des Neuropsychologen bei Frage<br />

nach <strong>Fahreignung</strong><br />

• <strong>Sicht</strong>ung der Vorbefunde<br />

• Neuropsychologie allgemein falls erforderlich<br />

• Fragestellung, Ergebnisse von Screenings<br />

• Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Exekutivfunktionen usw.<br />

• Neuropsychologie spezifisch für <strong>Fahreignung</strong> /<br />

Verkehrspsychologie falls erforderlich<br />

• Beurteilung bereits aufgrund der allgemeinen Neuropsychologie<br />

möglich?<br />

• Verkehrspsychologische Tests<br />

• Beurteilung<br />

• Befragen<br />

• Beobachten<br />

• Testen


Mos<strong>im</strong>ann et al. (2012). Konsensusempfehlungen zur Beurteilung der Medizinischen Mindestanforderungen<br />

für <strong>Fahreignung</strong> bei kognitiver Beeinträchtigung. Praxis 101 (7), S. 451-464.<br />

Beurteilung bei Frage nach <strong>Fahreignung</strong><br />

• Hinweise <strong>aus</strong> der Anamnese<br />

• Rolle der Diagnose und des Schweregrades


Beurteilung bei Frage nach <strong>Fahreignung</strong><br />

• Rolle von Verhaltensstörungen<br />

• Rolle spezifischer kognitiver Funktionen<br />

• Aufmerksamkeit: v.a. geteilte Aufmerksamkeit<br />

• Visuell(-räumliche) Leistungen: Neglect, Visukonstruktion


Beurteilung bei Frage nach <strong>Fahreignung</strong><br />

• Rolle der Exekutivfunktionen<br />

• Flexibilität<br />

• Inhibition<br />

• Einbussen in verschiedenen kognitiven Funktionsbereichen sind mit<br />

Einschränkungen der Fahrleistung verbunden<br />

• eine Identifikation von sicheren vs. Riskofahrern bei Patienten mit<br />

Demenz ist aufgrund spezifischer Tests bisher nicht besser möglich als<br />

aufgrund der aufgeführten globalen Tests (Iverson et al. 2010)<br />

• Rolle der Fahrprobe<br />

• Zukunftsmusik: empirische Daten zu Kompensation und<br />

Akkumulation


Outcome<br />

<strong>aus</strong> <strong>neuropsychologischer</strong> <strong>Sicht</strong><br />

• <strong>Fahreignung</strong> gegeben<br />

• <strong>Fahreignung</strong> (derzeit) nicht gegeben<br />

• <strong>Fahreignung</strong> nicht abschliessen beurteilbar => Fahrprobe<br />

(Mindestanforderungen gegeben!)<br />

• Weitere Abklärungen nötig


Was bisher geschah…<br />

• fahreignungsrelevante kognitive Leistungen nehmen be<strong>im</strong> normalen<br />

<strong>Alter</strong>sungsprozess ab: dennoch fahren geistig gesunde Senioren <strong>im</strong><br />

Allgemeinen sicher, Rolle der Kompensation<br />

• Bereits in einer „normalen“ neuropsychologischen Untersuchung<br />

werden Daten erhoben, die – zumindest bei Demenzerkrankungen –<br />

wichtige Aussagen über die <strong>Fahreignung</strong> ermöglichen<br />

• die neuropsychologische Untersuchung bietet ein standardisiertes<br />

Vorgehen mit Instrumenten bekannter Reliabilität; zusätzlich<br />

Möglichkeit zu einer intensiven Verhaltensbeobachtung


Was bietet die Verkehrspsychologie?<br />

Neuropsychologie<br />

Verkehrspsychologie<br />

Was?<br />

Kognitive Funktionen (Defizite, Ressourcen)<br />

Normen? <strong>Alter</strong>, Geschlecht, Bildung Alle (ab 18 Jahren bis …)<br />

Methode? Sehr viele Instrumente Europaweit 2 Testsysteme<br />

Outcome? Differenzierte Beurteilung <strong>Fahreignung</strong> ja/nein<br />

Konsequenzen? Therapeutisch, Aufbau<br />

Erhaltung vs. Abbau


Haltung vieler Patienten<br />

«Ich bin ein guter Autofahrer»<br />

Automatische, überlernte Handlungen sind erhalten und erfolgreich<br />

Status – Kompetenz – Selbstwert<br />

Delikt-/Unfallfreiheit und Befriedigung des Mobilitätsbedürfnisses<br />

«Wie be<strong>im</strong> Wein: Je älter desto besser!»<br />

Subjektiv positive Erfahrungen!<br />

«Die wollen mir den Führer<strong>aus</strong>weis klauen!»<br />

Angst vor Führer<strong>aus</strong>weis-Verlust<br />

Gefühl der Hilflosigkeit – Ausgeliefert-Sein gegenüber den Institutionen


Haltung vieler Patienten<br />

«Ich habe mich gut erholt – warum sollte ich nicht mehr Auto<br />

fahren können?»<br />

Fehlende Störungseinsicht<br />

Tendenz zu Überschätzung der eigenen Möglichkeiten und des<br />

Risikos (darunter ‘leiden’ auch Gesunde!)<br />

Reintegration Übernahme Alltagsfunktionen Anspruch auf FA<br />

Unser Leitgedanke<br />

Alle Patienten sollen am sozialen Leben aktiv teilnehmen können. Sie<br />

sind - trotz Erkrankungen, Verletzungen des Gehirns oder der<br />

Extremitäten oder <strong>Alter</strong>sbeschwerden ihren Wünschen und den<br />

gegebenen Vor<strong>aus</strong>setzungen entsprechend – mobil.


Verkehrspsychologische Diagnostik<br />

Rahmenbedingungen<br />

• Computer-Testung<br />

• Prüfungs-Charakter<br />

• Gefühl der Hilflosigkeit (z.B. wegen medizinischer<br />

Situation/Diagnose; Zuweisungsmodalität)<br />

Aufklärung über Prozedere, Outcome, Konsequenzen<br />

Keine Therapie sondern Diagnostik!


Verkehrspsychologische Diagnostik<br />

Leistung<br />

• Aufmerksamkeit/Konzentration<br />

• Belastbarkeit<br />

• Orientierungsleistung<br />

• Informationsaufnahme und -verarbeitung<br />

• Reaktionsfähigkeit<br />

Ergänzend: Lernen/Gedächtnis; Persönlichkeit<br />

Vergleichsgruppe: alle motorisierten Verkehrsteilnehmer!


Verkehrspsychologische Diagnostik<br />

Charakter<br />

• Keine Indikation bei den allermeisten Patienten<br />

• Mögliche Indikation bei/nach:<br />

Persönlichkeitsauffälligkeiten/-störungen<br />

Nach CVI/Hirnverletzungen insbesondere mit Frontalkordex-<br />

Beteiligung<br />

Demenzen (z.B. frontotemporal)<br />

Wichtig: Integration der Befunde in Beurteilung <strong>im</strong> Sinne von<br />

Ressourcen und Kompensationspotenzial!


Testpsychologische Abklärung 1<br />

• Visuelle Wahrnehmung<br />

• Beispielsweise Explorationsgeschwindigkeit<br />

• Aufmerksamkeit<br />

• Selektive und geteilte Aufmerksamkeit<br />

• Exekutive Funktionen<br />

• Flexibilität, Orientierung


Testpsychologische Abklärung 2<br />

• Exekutive Funktionen<br />

• Flexibilität<br />

• Orientierung<br />

• Problemlösefähigkeiten<br />

• Hemmung – Enthemmung<br />

• Andere kognitive Funktionen<br />

• Lernen, Verhaltensanpassung


Testpsychologische Abklärung 3<br />

• Persönlichkeit (Big Five)<br />

• Extraversion - Introversion<br />

• Neurotizismus (emot. Stabilität - emot. Labilität)<br />

• Gewissenhaftigkeit (Besonnenheit – Sorglosigkeit)<br />

• Verträglichkeit<br />

• Intellekt/Offenheit f. Erfahrungen


Begleitete Fahrprobe<br />

Fahrprobe ≠ Kontrollfahrt<br />

Fahrprobe = Ergänzung zur psychologischen Abklärung<br />

Standardisierung:<br />

- Schwierigkeitsgrad der Strecke<br />

- Setting<br />

- Beobachtungsvariablen und deren Erfassung<br />

- Definition der Ausprägungsgrade dieser Variablen<br />

- Beurteilungskriterien


Begleitete Fahrprobe


Begleitete Fahrprobe<br />

Fragestellungen<br />

1. Sind bei der Fahrprobe begründete Mängel erkennbar, die ein<br />

sicheres Führen des Fahrzeuges beeinträchtigen?<br />

2. Bestehen bedeutsame Auswirkungen der Grundkrankheit?<br />

Hypothesengeleitet!<br />

Auf Kompensation fokussiert<br />

Kardinalfrage: Stehen beobachtete Fehler mit (vermuteter)<br />

Diagnose in Verbindung?


Begleitete Fahrprobe<br />

Beurteilungskriterien<br />

• Fahrzeugbedienung<br />

• Aufmerksamkeit, Konzentration, Reaktionsfähigkeit<br />

• Aktive Beobachtung<br />

• Wahrnehmung und –verarbeitung, Situationserfassung<br />

• Räumliche Orientierung<br />

• Verhalten in komplexen Situationen<br />

• Umstellfähigkeit<br />

• Kommunikation <strong>im</strong> Verkehr<br />

• Lernfähigkeit


Begleitete Fahrprobe<br />

Relevante Auffälligkeiten<br />

• Ungenügende Vor<strong>aus</strong>sicht<br />

• Unzweckmässige oder unwirksame Beobachtung<br />

• Nichtanpassen der Geschwindigkeit<br />

• Krasse Fehler bei der Fahrbahnbenützung<br />

• Ungenügende Anwendung der Vortrittsregeln<br />

• Krasse Bedienungsfehler<br />

• Andere Auffälligkeiten, die zu Unfällen führen könnten.


Begleitete Fahrprobe<br />

Beobachtetes Verhalten<br />

• Beobachtungsvariablen:<br />

- Geschwindigkeitsverhalten<br />

- Abstandverhalten<br />

- Fahrbahnbenutzung<br />

- Sicherndes Verhalten<br />

- Gefährdendes Verhalten<br />

- Kommunikationsverhalten


Beurteilung der <strong>Fahreignung</strong> – und dann?<br />

Beurteilung<br />

• Positiv: <strong>Fahreignung</strong> ist uneingeschränkt gegeben.<br />

•Positiv – ABER: Aufschulung, Kursempfehlung, therapeutische<br />

Interventionen, Verlaufsuntersuchung, usw.<br />

• Negativ: Arztzeugnis an MFK<br />

Wie kann das Mobilitätsbedürfnis aufrecht erhalten werden?<br />

- Einbezug der Familie/des Umfeldes<br />

- <strong>Alter</strong>native Verkehrsmittel<br />

- Kosten-Rechnung


Zuweisung<br />

Vor<strong>aus</strong>setzungen<br />

gegeben?<br />

ja<br />

Neuropsychologische<br />

Untersuchung<br />

Praktische<br />

Fahrprobe<br />

nein<br />

fraglich<br />

nein<br />

Medizinische<br />

Untersuchung<br />

Eindeutige<br />

Ergebnisse?<br />

Gelingt die<br />

Kompensation der<br />

Einbusssn?<br />

negativ<br />

ja<br />

ja<br />

nein<br />

positiv<br />

keine FE<br />

FE<br />

keine FE /<br />

Massnahmen


Zeitschrift für Verkehrssicherung 2.2013

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