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Metamorphose

Ausgabe 2011

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<strong>Metamorphose</strong><br />

Ein Studienprojekt der AMD Akademie Mode & Design Berlin, Lehrredaktion MM3, Ausgabe No. 1, Sommer 2011


Editorial<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

2<br />

Fotocredit<br />

D<br />

ieser Sommer wird alles verändern.<br />

Mal wieder. Nichts ist so, wie es mal<br />

war und doch ist alles gleich. Noch<br />

lieben wir die Streifen von Prada, die<br />

Farben von Jil Sander, den starken<br />

Blick von Luca, wenn sie über den<br />

Catwalk der Berliner Fashion Week<br />

marschiert, das Hetzen von Event zu<br />

Event, die Sonne, die Partys, die verheißungsvolle<br />

Ungewissheit, die vor<br />

uns liegt. Bald ist die Saison vorbei, es wird eine neue kommen.<br />

Es liegt etwas in der Luft. Fortschritt, Beschleunigung, Drehmoment,<br />

Umbruch, Veränderung, Transformation, Karussell,<br />

Tempo, Schwindel, höher, weiter, schneller, immer schneller.<br />

Wir halten einen Moment inne, stehen still und wachsam da,<br />

den Blick nicht nur nach vorn, sondern zu allen Seiten gerichtet,<br />

und betrachten den Wandel im Kern. Die <strong>Metamorphose</strong>.<br />

Was wir auch tun, wohin wir auch gehen, auf sie können wir<br />

uns verlassen. Vielleicht ist sie die einzig wirkliche Konstante<br />

in unserem Leben. Deshalb widmen wir ihr gleich eine ganze<br />

Ausgabe, die erste Ausgabe von WERK VI.<br />

WERK VI ist ein Modemagazin, gegründet vom diesjährigen<br />

Abschlussjahrgang des Ausbildungsgangs Modejournalismus/Medienkommunikation<br />

der AMD Akademie Mode &<br />

Design in Berlin. Ab sofort wird es einmal jährlich erscheinen,<br />

vom jeweiligen Abschlussjahrgang mithilfe ihrer betreuenden<br />

Dozenten produziert. WERK VI grübelt gern, vergleicht und<br />

analysiert, geht unter die Oberfläche, holt weit aus, erfreut sich<br />

aber auch an den leichten und schönen Dingen des Lebens.<br />

Es nimmt Sie mit auf eine Zeitgeistreise und wandert dabei<br />

durch Themen wie Kunst, Politik, Film und neue Medien, es<br />

trifft spannende Menschen, mag Berlin und verknüpft alles auf<br />

einzigartige Weise mit der Mode als Kulturphänomen. Auch<br />

WERK VI wird sich wandeln, aber nun braucht es erst einmal<br />

Zeit. Für kluge Gespräche, für lange Geschichten und imposante<br />

Bildstrecken.<br />

Für diese Ausgabe trafen wir die Stylisten Alexx und Anton,<br />

die im Interview erzählen, was ihre Arbeit so besonders macht.<br />

In einer Modestrecke inszenierten wir Abendroben von Berliner<br />

Designern in verschiedenen Ecken der Hauptstadt, die<br />

immer anders aussieht, aber doch ein unverkennbares Ganzes<br />

bildet. Wir beschäftigten uns mit der Wirkung von Mode im<br />

bewegten Bild, mit der Identität von Düften, mit dem häufigen<br />

Designerwechsel in großen Modehäusern. Mit Haaren<br />

und Aussteigern, mit schönen Frauen und Männern und der<br />

Beständigkeit eines Traditionsunternehmens. Dabei verlieren<br />

wir unseren individuellen Blickwinkel nicht aus den Augen.<br />

Denn so vielseitig wie die Redaktion ist auch das Magazin geworden.<br />

Viele schöne, bewegende, verändernde Momente wünschen<br />

wir Ihnen beim Lesen dieser Ausgabe.<br />

Ihre WERK VI-Redaktion<br />

3Werk VI . <strong>Metamorphose</strong>


Impressum<br />

22<br />

76<br />

Verantwortliche Dozenten<br />

Olga Blumhardt<br />

(Magazinentwicklung/Text, V.i.S.d.P.)<br />

Sebastian Handke (Text)<br />

Andine Müller (Creative Direction)<br />

Stefan Korte (Fotografie)<br />

Martin Schmieder (Marketing & PR)<br />

Redaktion<br />

Manuel Almeida Vergara, Sina Bayer,<br />

Jana Burghause, Samrin Conrad,<br />

Juliane Dumjahn, Stefanie Linda Krauß,<br />

Inga Sophie Krieger, Yasemin Kulen,<br />

Brigitta Lentz, Sina Linke, Celina Plag,<br />

Julia Quante, Andrea Rachuy,<br />

Anett Steinbrecher, Anne Tröst,<br />

Madlen Uhlemann, Romina Wahlmann,<br />

Michelle Wenzel, Daniela Wilmer<br />

42<br />

48<br />

62<br />

Grafik<br />

Sina Linke, Celina Plag, Julia Quante<br />

Fotos<br />

Lennart Brede, Björn Giesbrecht, Stefan<br />

Korte, Robert Kromm, Sandra Semburg,<br />

Daniela Wilmer, Jörg Wischmann<br />

Anzeigen<br />

Jana Burghause, Samrin Conrad,<br />

Yasemin Kulen, Brigitta Lentz,<br />

Andrea Rachuy, Anne Tröst,<br />

Michelle Wenzel<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

4<br />

03<br />

05<br />

06<br />

10<br />

14<br />

22<br />

32<br />

Inhalt<br />

Editorial<br />

Impressum<br />

Mode ist Kunst, Kunst ist Mode<br />

Diese internationalen<br />

Modeausstellungen sollte man sehen<br />

Rien ne va plus<br />

Welche Rollen spielen Risiko<br />

und Glück im Spiel um<br />

Image und Verkaufszahlen?<br />

Anziehende Gegensätze<br />

Ein Gespräch mit den Berliner<br />

Stylisten Alexx & Anton<br />

Urban Couture<br />

Eine modische Stadtrundfahrt zu<br />

den Sehenswürdigkeiten Berlins<br />

Anti Anti<br />

Wir fordern eine neue Jugendkultur!<br />

36<br />

40<br />

42<br />

48<br />

52<br />

56<br />

Stoff, der bewegt<br />

Wie der Modefilm die Branche<br />

revolutioniert<br />

Liebe geht durch die Nase<br />

Düfte für die Symphatie<br />

Mischkultur<br />

Eine stilistische Weltreise in Bildern<br />

Im Westen was Neues<br />

Ein Gespräch über den<br />

richtungsweisenden Umzug<br />

von Andreas Murkudis<br />

Schön vergänglich<br />

Ist Schönheit messbar oder ist die<br />

Wahl zur Miss Germany überflüssig?<br />

Stadtgespräche<br />

Sechs Berliner über die Entwicklung<br />

ihrer Stadt<br />

Fotos: Lennart brede, Sandra semburg, PR, Björn giesbrecht, jörg wischmann<br />

62<br />

70<br />

72<br />

76<br />

80<br />

82<br />

Helter Skelter<br />

Eine Modestrecke über die<br />

düstere Seite der Love&Peace-Kultur<br />

Gestriegelte Gentlemen & lockige Rebellen<br />

Männer, Haare und ihr Stilgefühl<br />

Ein Mann der Extreme<br />

Fabians Wandel vom Workaholic<br />

zum Schamanen<br />

Werkschau<br />

Die Uhrenmanufaktur A. Lange<br />

& Söhne setzt auf Tradition und Qualität<br />

Kleider, die Geschichte machen<br />

Vintage – der emotionale Wert zählt<br />

Das Gleiche ist nicht Dasselbe<br />

Wie High Fashion die Welt erobert<br />

PR<br />

Stefanie Linda Krauß, Celina Plag,<br />

Madlen Uhlemann<br />

Event<br />

Manuel Almeida Vergara, Sina Bayer,<br />

Juliane Dumjahn, Inga Sophie Krieger,<br />

Sina Linke, Julia Quante, Anett Steinbrecher,<br />

Romina Wahlmann, Daniela Wilmer<br />

Druck<br />

Brandenburgische Universitätsdruckerei<br />

und Verlagsgesellschaft Potsdam mbH<br />

Karl-Liebknecht-Straße 24-25<br />

14476 Potsdam<br />

www.bud-potsdam.de<br />

Redaktionsanschrift<br />

AMD Akademie Mode & Design Berlin<br />

Franklinstraße 10<br />

10587 Berlin<br />

Tel.: 030 330 99 76 0<br />

olga.blumhardt@amdnet.de<br />

www.werk6-magazin.de<br />

WERK VI ist ein Studienprojekt des<br />

6. Semesters im Ausbildungsgang<br />

Modejournalismus/Medienkommunikation<br />

an der AMD Akademie Mode & Design Berlin.<br />

WERK VI erscheint jährlich und liegt an<br />

ausgewählten Orten in Berlin<br />

kostenfrei aus.<br />

Das Titelbild wurde von Sandra Semburg<br />

fotografiert. Model: Lenny/Izaio Models<br />

Wir danken allen, die WERK VI<br />

möglich gemacht haben!<br />

5Werk VI . <strong>Metamorphose</strong>


Kate Moss par<br />

les plus grands<br />

photographes<br />

La Galerie de l’Instant, Paris<br />

bis 14. September 2011<br />

unst ist Mode<br />

Die Pariser Galerie l'Instant<br />

zeigt Bilder aus der inzwischen<br />

20 Jahre andauernden Karriere<br />

des britischen Supermodels<br />

Kate Moss. Hinter der Kamera<br />

standen Fotografen wie Bettina<br />

Rheims, Arthur Elgort, Juliette<br />

Butler, Rankin und Patrick<br />

Demarchelier, die auch zum<br />

Teil bisher unveröffentlichte<br />

Arbeiten ausstellen.<br />

ode ist<br />

unst,<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

6<br />

Warum müssen wir immer<br />

noch diskutieren, ob Mode<br />

eine Kunstform ist oder<br />

nicht? Das Designhand werk<br />

hat sich spätestens durch<br />

die Entstehung der Haute<br />

Couture Mitte des 19. Jahrhunderts<br />

zur Kunstform<br />

entwickelt. Auch die Mode-<br />

Avantgarde produziert<br />

jede Saison mehr oder<br />

weniger tragbare Objekte,<br />

die kaum von bildender<br />

Kunst zu unterscheiden sind.<br />

Auf den nächsten Seiten<br />

präsentieren wir die<br />

besten modethematischen<br />

Ausstellungen der<br />

kommenden Monate<br />

Von Stefanie Linda KrauSS &<br />

Madlen Uhlemann<br />

Daphne Guinness<br />

Fashion Institute of<br />

Technology, New York City<br />

Special Exhibitions Gallery<br />

16. September 2011 bis<br />

7. Januar 2012<br />

Daphne Guinness, die<br />

schwerreiche Haute-Couture-<br />

Sammlerin, öffnet ihren<br />

spektakulären Kleiderschrank.<br />

Der Inhalt: selbstverständlich<br />

nur High High Fashion,<br />

unter anderem von Alexander<br />

McQueen (Foto), Chanel,<br />

Christian Dior, Rick Owens<br />

und Gareth Pugh. Ihre eigenen<br />

Modeentwürfe werden eben -<br />

falls zu sehen sein.<br />

Fotos: the museum at fit, bettina rheims<br />

1989 fotografierte<br />

Bettina Rheims die<br />

blutjunge Kate Moss für<br />

die Reihe „Modern Lovers“<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

7


Visions & Fashion
<br />

Bilder der Mode<br />

1980-2010<br />

Sonderausstellungshallen<br />

Kulturforum, Berlin
<br />

bis 9. Oktober 2011<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

8<br />

Hussein Chalayan,<br />

I am sad layla<br />

(üzgünüm layla)<br />

Lisson Gallery, London<br />

8. September bis 2. Oktober 2011<br />

Hussein Chalayan,<br />

récits de Mode<br />

Musée des Arts décoratifs, Paris<br />

bis 13. November 2011<br />

Hussein Chalayan ist seit Beginn<br />

seiner Karriere in Museen<br />

willkommen, denn den künstlerischen<br />

Ansätzen seiner<br />

Kollektionen kann sich niemand<br />

entziehen. Nun wird es Zeit<br />

für einen Rückblick auf 17 Jahre<br />

innovatives Design in Paris.<br />

Die Retrospektive zeigt die vielschichtigen<br />

Inspirationen hinter<br />

den Entwürfen des türkischstämmigen<br />

Avantgardisten, die<br />

von greifbaren historischen<br />

oder politischen Begebenheiten<br />

über türkische Trachten bis<br />

zu konzeptionellen Ansätzen wie<br />

dem Darstellen von Bewegung<br />

sowie Zeit und Raum reichen.<br />

In der Londoner Galerie Lisson<br />

zeigt Chalayan eine Installation,<br />

die Mode, Musik und Film<br />

miteinander kombiniert.<br />

Fotos: christopher moore (3)<br />

Chanel: Designs<br />

for the Modern<br />

Woman<br />

Mint Museum Randolph,<br />

North Carolina, USA<br />

bis 31. Dezember 2011<br />

Chanel: Designs for the Modern<br />

Woman zeigt die revolutionären<br />

Entwürfe von Gabrielle Coco<br />

Chanel. Sie prägte das Bild der<br />

modernen Frau nach ihrem<br />

Vorbild und verlieh dem<br />

Frauenbild in den 20er-Jahren<br />

eine neue Leichtigkeit. Sie<br />

war es, die die Wahrnehmung<br />

von weiblicher Eleganz und<br />

Stil bis heute nachhaltig<br />

veränderte.<br />

The Power of Style<br />

Prager Burg, Prag<br />

bis 17. Oktober 2011<br />

Hinter der Macht guten Stils<br />

verstecken sich selbstverständlich<br />

auch legendäre Schmuckstücke<br />

und kostbare Objekte<br />

aus dem Hause Cartier. Die 366<br />

Teile umfassende Auswahl aus<br />

Cartiers hauseigener Sammlung<br />

besteht aus ausgemusterten<br />

Stücken (insgesamt 1.370) der<br />

besseren Gesellschaft und hat<br />

somit einige Raritäten zu bieten.<br />

Ergänzend gibt es noch Fotos<br />

der berühmten Schmucksammler<br />

und Skizzen der kostbaren<br />

Kunstwerke zu sehen.<br />

Die Ausstellung widmet sich dem<br />

Wandel der Bildsprache in der<br />

Mode. Von Modefotografie und<br />

Modeillustrationen von u.a.<br />

Jacqueline Osermann (u.) über<br />

Kampagnen, Lookbooks und<br />

der Internetpräsenz bekannter<br />

Modehäuser werden alle medialen<br />

Vermittlungswege der letzten<br />

30 Jahre gezeigt. Auch das Single-<br />

Cover von Jean Paul Gaultiers<br />

One-Hit-Wonder „How To Do<br />

That“ von 1989 ist dabei.<br />

9Werk VI . <strong>Metamorphose</strong>


Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

Rien ne va plus<br />

Wie die Würfel fallen, im Spiel um<br />

Image und Verkaufszahlen<br />

von Manuel Almeida Vergara Fotos: Stefan Korte<br />

ode ist Wandel. Für wohl kaum eine andere Kultursparte<br />

spielt Veränderung eine so tragende Rolle. Nicht<br />

nur Ästhetiken und Trends unterliegen der ständigen<br />

Weiterentwicklung, auch die Köpfe hinter den Kollektionen<br />

wechseln sich stetig ab. Und das in diesem<br />

Jahr besonders eindrucksvoll. Ledermagnat Trussardi<br />

trennte sich von Kreativchef Milan Vukmirovic, genauso<br />

Issey Miyake von Dai Fujiwara. Paul Helber<br />

darf sich künftig nicht mehr Direktor der Herrenlinie<br />

von Louis Vuitton nennen, Dior entlässt John Galliano.<br />

Und die Liste geht weiter. Bei der Wahl des neuen<br />

Chefdesigners ist von geschäftsführenden Seiten der<br />

prestigeträchtigen Luxusmarken größtes Geschick<br />

verlangt. Doch was zahlt sich am Ende aus − der sichere Weg<br />

oder das kreative Risiko? Wie wichtig ist eigentlich Taktik in<br />

diesem Spiel um Image und Verkaufszahlen? Und welche Rolle<br />

spielt das Glück? Mesdames et Messieurs der Pariser Chefetagen,<br />

Ihre Einsätze bitte!<br />

In der Modehistorie lassen sich zahlreiche Beispiele für das<br />

Gelingen und Scheitern solcher Spielpartien finden. Während<br />

die Negativbeispiele alsbald in Vergessenheit geraten, gingen<br />

einige sensationelle Erfolge in die Geschichte ein. So war es<br />

zum Beispiel der erst 21-jährige Yves Saint Laurent, der mit<br />

seiner ersten Kollektion Ligne Trapèze Ende der 1950er-Jahre<br />

für Dior Schlagzeilen machte. Die Silhouette Yves Saint Laurents<br />

in ihrer neuartigen, freieren und trotzdem eleganten<br />

Form machte ihn zum gefeierten Genie seines Handwerks.<br />

Ebenso legendär sind die Erfolge Karl Lagerfelds, die er bereits<br />

seit 1984 für das Haus Chanel verzeichnet, das zuvor als so gut<br />

wie Tod galt. Er war es zweifelsohne, der die Hysterie um die<br />

beiden ineinander verschlungenen Cs neu entfachte. Zwei eindrucksvolle<br />

Beispiele, deren nachhaltiger Einfluss auf die gesamte<br />

Modewelt verdeutlicht, wie entscheidend und unwiderruflich<br />

ein Designer nicht nur seine eigene, sondern auch die<br />

Positionierung seines Arbeitgebers maßgeblich bestimmen,<br />

neugestalten und festigen kann. Beide hatten aber bereits zuvor<br />

ihr Können unter Beweis gestellt, Laurent als Assistent Christian<br />

Diors höchstpersönlich und Lagerfeld an der Spitze von<br />

Chloé. Ihr folgender Triumph mag also nicht unbedingt sicher<br />

gewesen sein, er war aber gewissermaßen abzusehen. Dior und<br />

Chanel gaben sich nur wenig wagemutig.<br />

Ganz anders wird momentan Balmain wahre Risikofreude<br />

zugeschrieben. Das französische Label, das auf eine über<br />

60-jährige, durchaus turbulente Erfolgsgeschichte zurückblicken<br />

kann, legt seine kreative Zukunft in die zarten Hände des<br />

erst 25-jährigen Pariser Designers Olivier Rousteing. Zuvor<br />

hatte sich das Label im April nach sechs Jahren von Christophe<br />

Decarnin getrennt, der mit seiner Glamrock-Ästhetik<br />

eine wahre „Balmania“ ausgelöst hatte. Trotz nachweisbarer<br />

wirtschaftlicher Erfolge scheinen die Differenzen zwischen<br />

Decarnin und Balmain-CEO Alain Hivelin zuletzt unüberbrückbare<br />

Ausmaße angenommen zu haben. Es folgte die<br />

Trennung samt Nervenzusammenbruch des Kreativchefs.<br />

Von einem derartigen Erfolgsgarant zu einem so jungen und<br />

noch weitgehend unbekannten Designer zu wechseln, zeugt<br />

auf den ersten Blick von wahrer Tollkühnheit. Rousteings<br />

Biografie allerdings macht schnell deutlich, dass Balmains<br />

Wagnis bei dieser Wahl nicht allzu groß ist. Dieser arbeitete<br />

nämlich bereits seit 2009 eng an Christophe Decarnins Seite<br />

für Balmain, nachdem er Erfahrungen bei Roberto Cavalli<br />

gesammelt hatte. Beide haben an der gleichen Modeschule<br />

absolviert, beide teilen eine gewisse Vorliebe für zerschlissene<br />

Jeans und vergoldete Sicherheitsnadeln. Mit Olivier Rousteing<br />

geht Balmain also auf Nummer sicher.<br />

Das fundierte Spiel mit den internen Wechsellösungen wird<br />

nur noch drastischer vollzogen, wenn die Führung des guten<br />

Namens gleich ganz in Familienhand gelassen wird. So beispielsweise<br />

bei Prada. Das italienische Haus gehört zu den<br />

renommiertesten der internationalen Modeszene. Seine fast<br />

100-jährige Geschichte hindurch pflegte Prada ein elitäres<br />

Image, die Designs werden häufig als „intellektuell“ bezeichnet<br />

(ein Adjektiv, mit dem sich nur wenige Modemarken adeln dürfen).<br />

Diese beispiellose Firmengeschichte hat ihren Erfolg sicher<br />

nicht ausschließlich der strikten Familienpolitik zu verdanken.<br />

Fest steht allerdings, dass sowohl Gründer Mario Prada sowie<br />

Tochter und Haupterbin Miuccia eine klare Linie der Geschäftsführung<br />

teilen, die den italienischen Modekonzern zu einem<br />

der bis dato einflussreichsten Häuser gemacht hat. Andere Safe<br />

Player belegen den Triumph der Erbpolitik. Zum Beispiel die<br />

erfolgreiche Weiterführung Gianni Versaces Vision durch seine<br />

Schwester Donatella. Oder auch das Mailänder Modeimperium<br />

Missoni. 1953 von Ottavio und Rosita Missoni gegründet, gelang<br />

es dem Label dank sportlicher Designs und dem charakteristisch<br />

buntem Zickzackmuster das spießige Image von Strickwaren<br />

radikal zu verändern. Über die Salonfähigkeit hinaus machte<br />

Missoni Strick wieder zum Trendthema. Tochter Angela, die<br />

ihrer Mutter bereits seit ihrem 18. Lebensjahr bei der Konzeption<br />

der Linien assistierte, ist mittlerweile Chefdesignerin. Ihre<br />

Brüder Vittorio und Luca sind für Marketing und Menswear<br />

verantwortlich. Angela wurde von Beginn an ganz klar der traditionelle<br />

Missoni-Look vermittelt, den sie in ihren Kollektionen<br />

erfolgreich fortführt. Und auch in der nächsten Generation<br />

kommt die Nachfolge höchstwahrscheinlich aus den eigenen<br />

familiären Reihen. Angela Missonis Tochter Margherita, modemärchenhafterweise<br />

zur Mailänder Fashion Week 1983 geboren,<br />

ist bislang zwar nur als Model für das Haus tätig, trotzdem<br />

wird ihr bereits jetzt eine gewisse Teilhabe an der Entstehung<br />

der aktuellen Kollektionen zugesprochen. Mutter und Tochter<br />

sollen in einem wechselseitigen Kreativaustausch stehen, bei<br />

dem gleichwertig die Erfahrung der einen und die unbedarften,<br />

frischen Ideen der anderen fantastische Linien entstehen lassen.<br />

Die Erziehung des eigenen Nachfolgers hat Missoni also gleich<br />

das nächste Designass in den Ärmel gelegt.<br />

><br />

Auch wenn sich das Blatt mittlerweile dramatisch gewandelt hat, so<br />

war es John Galliano, der Dior zu einem Gewinnerhaus gemacht hat<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

10<br />

11


Drastische Imagewandel in Modefirmen werden<br />

nicht selten als „Doing the Gucci“ bezeichnet<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

> Ungewöhnlich nur, wenn ein solches Blatt gänzlich ohne Farbe<br />

auskommt. Bei Maison Martin Margiela zum Beispiel stehen<br />

die Zeichen aktuell weder auf Herz oder Kreuz, noch Pik<br />

oder Karo. Seit Dezember 2009 wird das Avantgarde-Label<br />

von einem internen Designteam geführt, gesichts- und namenlos<br />

quasi. Martin Margiela hatte das Haus zuvor verlassen,<br />

seine Ideen waren zu künstlerisch für die Diesel-Gruppe.<br />

Der italienische Konzern hatte das Modehaus 2002 gekauft<br />

und will die Zukunft der Marke profitorientierter konzipieren.<br />

Der klassische Kampf zwischen Kunst und Kommerz gipfelte<br />

in dem Abschied Margielas, der seine Nachfolge erfolglos<br />

Jil-Sander-Chef Raf Simons anbot. Zwar hat der Großteil des<br />

jetzigen Teams bereits an Margielas Seite gearbeitet, seit dem<br />

Verlassen des Gründers und Namensgebers gilt die Mode<br />

von Maison Martin Margiela allerdings als schwächer und<br />

ausdrucksloser. Dabei hat sich zumindest bezüglich des Verhältnisses<br />

zwischen Chefdirektion und Presse wenig verändert.<br />

Ebenso wie Martin Margiela seinerzeit die Öffentlichkeit<br />

drastisch mied, tut es auch jetzt das Phantom-Team, das die<br />

Kollektionen entwirft. Margiela selbst war berühmt für seine<br />

stets knappen und äußerst wagen Antworten in Interviews, die<br />

er ohnehin ausschließlich per Fax gab. Niemand weiß, wie er<br />

aussieht, wer er ist, der Mann hinter den drei Ms. Nie wollte er<br />

den Fokus von seiner Arbeit, der Mode, lenken. Welch erfrischende<br />

Abwechslung in den von Geltungsdrang und Gefall-<br />

sucht geprägten Reihen der Modegrößen, in der (zumindest<br />

für die Öffentlichkeit) die Exzentrik manchmal eine gewichtigere<br />

Rolle spielt als die Qualität der Designs.<br />

Dies könnte auch erklären, weshalb die Nachfolge Alexander<br />

McQueens beim gleichnamigen Label ungewöhnlich unöffentlich<br />

stattgefunden hatte. Sicherlich ist ob der Tragik des Todes<br />

von Alexander McQueen auch aus Gründen der Pietät auf das<br />

klassische Ratespiel um Zukunft und Nachfolge verzichtet worden,<br />

doch ganz so still und leise hatte man die Neubesetzung<br />

nicht erwartet. Nach dem Suizid des britischen Rebellen-Designers,<br />

der für ausladende Kleider mit Punk-Attitüde bekannt<br />

war, übernahm Sarah Burton die kreative Gesamtführung.<br />

Eine logische Wahl, arbeitete Burton doch bereits seit 1996 im<br />

Hause McQueen und war seit 2000 Designerin der Damenkollektion.<br />

Seltsam aber, dass die Übernahme eines derartig<br />

prestigeträchtigen Postens so still und ohne viel Aufsehen vollzogen<br />

wurde. Ein Grund dafür dürfte Burtons wenig spektakuläres<br />

Auftreten sein. Weitgehend unbekannt (zumindest für<br />

Modelaien), gibt es um sie wenig skandalöses zu berichten, ihr<br />

persönlicher Stil ist schlicht, geradezu unauffällig. Erst die Kreation<br />

des Hochzeitskleides für Kate Middleton, der zukünftigen<br />

Königin Großbritanniens, brachte Sarah Burton sowie der<br />

Marke Alexander McQueen die gebührenden Schlagzeilen.<br />

Seitdem ist die Saint-Martins-Absolventin in aller Munde und<br />

bricht sämtliche Verkaufszahlen. Um gute Mode zu machen,<br />

braucht es den bizarren Sonderling an der Spitze eines Unternehmens<br />

sicherlich nicht, wohl aber, um das nötige Aufsehen<br />

und die damit einhergehenden Umsätze anzuregen.<br />

Dass Exzentrik und Genialität, Aufstieg und Fall in der Modewelt<br />

oft näher beieinander liegen als den Chefetagen lieb ist,<br />

verdeutlicht die jüngste Geschichte des Hauses Dior. Auch<br />

wenn sich das Blatt mittlerweile dramatisch gewendet hat, so<br />

war es doch der Brite John Galliano, ehemaliger Chefdesigner,<br />

ehemaliges Darling der Pariser Szene, der Dior zu dem<br />

Gewinnerhaus gemacht hat, das es mittlerweile zweifelsohne<br />

ist. Nachdem der Meister der ausladenden Roben 1995 mit seiner<br />

ersten Kollektion für Givenchy die Modewelt – nicht nur<br />

positiv – überraschte (seine Linie galt angesichts einer typisch<br />

französischen Traditionsmarke als zu aufgeregt und respektlos),<br />

entschied 1997 auch der Vorstand von Dior, aufs Ganze<br />

zu gehen. Auf Anraten von Anna Wintour, Chefredakteurin<br />

der amerikanischen Vogue, stellte Dior den britischen Couturier<br />

Galliano ein. Und auch wenn die Kreation tragbarer Mode<br />

ihm nie wirklich lag, so war es doch John Galliano, der in den<br />

folgenden 15 Jahren für Dior (zumindest in der Haute Couture)<br />

immer die Siegerkollektionen präsentierte.<br />

Im Februar diesen Jahres allerdings war auch er es, der den<br />

wohl prominentesten und – nun ja – glanzlosesten Designerwechsel<br />

veranlasste. Erst Vorwürfe höchst lautstarker und äußerst<br />

öffentlicher, antisemitischer Pöbeleien, nur einen Tag<br />

später die Veröffentlichung eines mehr als aussagekräftigen<br />

Videos des ganzen Spektakels durch die britische Sun, einen<br />

weiteren Tag darauf die offizielle Bekanntgabe Diors, man<br />

trenne sich von Galliano. Es folgen eine entsetzte Natalie Portman<br />

– Schauspielerin, Jüdin und Gesicht der aktuellen Miss<br />

Dior Chérie Duftkampagne –, die ihre Dior-Robe für den roten<br />

Teppich der diesjährigen Oscar-Verleihung kurzerhand<br />

gegen eine Kreation der amerikanischen Rodarte-Schwestern<br />

eintauschte, und eine hochoffizielle Ausladung John Gallianos<br />

von der Präsentation seiner letzten Kollektion für Dior auf der<br />

Pariser Fashion Week. Ein Abgang, der seltsamer, unerwarteter<br />

und tragischer kaum hätte sein können. Und der ob seiner<br />

ausladenden Dramatik fast die Frage um die Nachfolge in den<br />

Schatten gestellt hätte.<br />

Diese ließ dann doch nicht lange auf sich warten und avancierte<br />

zu einer heißen Diskussion über Können und Nichtkönnen<br />

der möglichen Erbschaftskandidaten. Auf sämtlichen<br />

Blogs, auf Twitter und wohl auch in so mancher privaten Runde<br />

hatte scheinbar jeder etwas dazu beizutragen. Da ging es um<br />

Hedi Slimanes fehlende Erfahrung in der Haute Couture, Lanvins<br />

großen Verlust, sollte Alber Elbaz zu Dior wechseln, und<br />

um die Kombinierbarkeit Riccardo Tiscis Vorliebe für düstere<br />

Kollektionen mit der bisher so farbenfrohen DNA des Hauses.<br />

Letzterer wurde schnell zur wahrscheinlichsten Nachfolge<br />

erkoren, Modejournalist Derek Blasberg wollte von einem Insider<br />

bereits die Bestätigung Tiscis als neuen Dior-Kreativchef<br />

erhalten haben und twitterte dies umgehend. Tisci selbst hält<br />

sich weiter bedeckt, ließ ausschließlich verlauten, dass er noch<br />

immer „Happy at Givenchy“ sei, und das mit durchgehend<br />

überzeugenden Couture-Linien seit 2005. Wieder ein drastischer<br />

Wandel, wieder ein Wechsel von Givenchy zu Dior, die<br />

ohnehin beide der Moët Hennessy Louis Vuitton S.A. gehören.<br />

Die Aktiengesellschaft ist der weltgrößte Luxusgüterkonzern<br />

und hält die Mehrheitsrechte an über 60 High-End-Marken.<br />

Das Erbe bleibt also auch hier sozusagen in der eigenen Familie,<br />

auch wenn diese statt Blut Geschäftsbeziehungen teilt.<br />

Und nicht nur Prada, Missoni und Versace scheint Dior bei<br />

seiner Entscheidung eventuell in die Karten zu schauen, auch<br />

Gucci wird sich angeblich zum Vorbild genommen. Neben<br />

Tisci soll nämlich Gerüchten zufolge auch Carine Roitfeld,<br />

ehemalige Chefin der Vogue Paris, ihren Platz in der Kreativdirektion<br />

des Hauses finden. Diese hatte bereits in den 1990er-<br />

Jahren als Stylistin an der Seite Tom Fords Gucci zu einem beispiellosen<br />

Imagewechsel samt immenser Umsatzsteigerungen<br />

verholfen. War die italienische Marke zuvor noch als altbacken<br />

verschrien, so waren es Ford und Roitfeld, die Gucci mit einer<br />

nie dagewesenen Sexualisierung einer Modemarke sowohl<br />

trendtechnisch als auch wirtschaftlich zu einem ernstzunehmenden<br />

Mitspieler der ganz großen Runde machten. Ähnlich<br />

drastische Imagewandel in Modefirmen werden seitdem nicht<br />

selten als „Doing the Gucci“ bezeichnet.<br />

Die kreative Leitung Diors wird vorerst in die erfahrenen,<br />

wenn auch bisher nur im Hintergrund agierenden Hände von<br />

Bill Gaytten gelegt. Dieser hatte gemeinsam mit John Galliano<br />

bei Dior angefangen und diente dem Meister 15 Jahre hindurch<br />

als rechte Hand. Während der Entstehungsphase der<br />

neuen Couturelinie des Hauses, der ersten ohne Galliano, ließ<br />

Gaytten verlauten, die Abwesenheit seines ehemaligen Chefs<br />

hätte für ihn keinen großen Unterschied gemacht. Vermisst hat<br />

Galliano aber sicherlich so manch einer, der die Präsentation<br />

live in Paris oder vor dem heimischen Computer mitverfolgt<br />

hatte. Spürbar war die künstlerische Angestrengtheit, die in<br />

einem Designer stecken muss, der Jahre hindurch zwar Ideen<br />

und Inspiration lieferte, sich selbst aber nie zu 100 Prozent in<br />

einer Kollektion verwirklichen durfte. Mit einer allzu plumpen<br />

Metaphorik (die Show schloss eine als trauriger Clown verkleidete<br />

Karlie Kloss) und zu deutlichen Bezügen auf die Ästhetik<br />

Gallianos, präsentierte Gaytten ein überzeichnetes Resümee<br />

der letzten 15 Jahre Dior. CEO Sidney Toledano gab sich damit<br />

zumindest gegenüber der Presse zufrieden. Man ließe sich mit<br />

der letztendlichen Entscheidung über den neuen Chefdesigner<br />

bis Ende des Jahres Zeit. Wie dann die Würfel fallen, das kann<br />

niemand vorhersagen. Festhalten lässt sich aber, dass Taktik<br />

bei der Wahl des Kreativdirektors immer eine entscheidende<br />

Rolle spielt. Die detaillierte Planung, das genaue Abwägen von<br />

Gefahr und Option bleiben bei der Führung einer Marke unabdingbar,<br />

sind aber sicherlich noch kein Garant für eine weitere<br />

siegreiche Saison. Schließlich dürfte – wie in jedem Spiel – auch<br />

hier Fortuna noch ein Wörtchen mitzureden haben.<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

12<br />

13


Die deutsche L’Officiel<br />

Hommes veröffentlichte<br />

2011 die Strecke<br />

„Le Baron“, die von Leon<br />

Mark fotografiert wurde<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

anziehende gegen s ä t z e<br />

Fotocredit<br />

Fotocredit<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

14<br />

15


Alexx und Anton sind ein eingespieltes Team – zwei völlig<br />

verschiedene Menschen mit einem gemeinsamen Ziel.<br />

Das Stylistenpaar kreiert denkbar unterschiedliche Modewelten<br />

und visualisiert dabei immer ein Stück von sich selbst. Denn<br />

geht es um ihre Arbeit, werden Alexx und Anton zu einer Person<br />

doch bringt er die Dinge schneller auf den Punkt. Auch im<br />

Bezug auf ihre Arbeit ergänzen sich die beiden perfekt. Anton<br />

arbeitet eher intuitiv und stylt direkt am Model. Alexx greift<br />

die Idee auf, denkt jedoch mehr im Konzept und achtet besonders<br />

auf eine ganzheitliche Bildsprache. Diese Ungleichheiten<br />

lassen sie so gut miteinander funktionieren. Sie nehmen sich<br />

Zeit, grübeln über die verändernde Wirkung kleinster Details<br />

und sind stets im Dialog mit sich und allen anderen. Diese Herangehensweise<br />

ist selten geworden in der schnelllebigen Modewelt.<br />

Das Ergebnis: zeitlose Modestrecken mit Tiefe.<br />

lichkeit offen stand, war es in Deutschland sehr schwer. Die<br />

Arbeitseinstellung ist eine komplett andere. Uns wurde gesagt:<br />

„Ihr schafft das nicht.“<br />

Wie ging es weiter?<br />

Anton Nach einiger Zeit lief es besser. Gemeinsam hatten wir<br />

eben etwas Neues anzubieten und auch etwas Neues zu sagen.<br />

Alexx Wir wollten eigentlich nur ein Jahr in Berlin bleiben.<br />

Aus diesem einen sind aber mittlerweile acht geworden (beide<br />

lachen).<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

2004 hatten Alexx & Anton<br />

die Idee, Mode anhand<br />

von Fischen zu visualisieren.<br />

Fotografiert von Nico<br />

Hesselmann wurde die Strecke<br />

„Arti-Fishal“ im Qvest-Magazin<br />

veröffentlicht und war der<br />

Durchbruch für die beiden<br />

Stylisten. Hier das<br />

Modell „Helmut Lang“<br />

Wie kommen eigentlich zwei so unterschiedliche Menschen<br />

dazu, gemeinsam als Stylisten zu arbeiten?<br />

Alexx Als ich Anton traf, hatte er schon ein paar Jahre als Stylist<br />

auf dem Buckel. Obwohl ich eher vom Design kam dachten<br />

wir uns: „Warum es nicht einfach gemeinsam als Stylisten<br />

versuchen?“<br />

Anton Vielleicht, dachten wir, kann man irgendwann davon<br />

leben? Doch die Leute waren am Anfang sehr skeptisch. Sie<br />

haben die „Two Men Show“ nicht ganz verstanden. Die Idee,<br />

dass zwei Jungs aus New York nach Berlin kommen und gemeinsam<br />

in der Mode arbeiten, war für das damalige Berlin<br />

einfach zu neu.<br />

Alexx High Fashion gab es in Deutschland noch gar nicht.<br />

Vor allem nach meiner Zeit in New York, wo dir jede Mög-<br />

von Inga Krieger<br />

Alexx Weeber und Anton Cobb arbeiten seit acht Jahren gemeinsam<br />

als Stylisten in Berlin. Ihre Konzepte sind sorgsam<br />

durchdacht, jedes Detail bewusst gewählt. Und sie arbeiten<br />

immer zu zweit. Die Aufträge der beiden könnten unterschiedlicher<br />

nicht sein. Neben reinen Mode-Editorials für Magazine<br />

wie L’Officiel Hommes oder Qvest, entwickeln sie mittlerweile<br />

auch Schaufensterkonzepte für Marken wie Marc O’Polo oder<br />

beraten große Werbekunden wie Joop oder Strellson. Doch so<br />

sehr sich die Kunden auch unterscheiden mögen, Alexx und<br />

Anton verfolgen immer das gleiche Ziel: unter den gegebenen<br />

Umständen das bestmögliche Ergebnis zu erreichen.<br />

Alexx kommt aus einem Dorf in Süddeutschland, Anton aus<br />

New York. Letzterer fand auf eher zufällige Weise seinen Weg<br />

in die Mode. Während eines Fotografiestudiums traf Anton<br />

auf Patti Wilson, eine im New York der 90er-Jahre sehr erfolgreiche<br />

Stylistin. Sie ebnete ihm den Weg in die Modewelt.<br />

Die zweite Hälfte des Teams ist Alexx. Er folgte seiner Leidenschaft<br />

für Kulinarisches und machte erst eine Ausbildung<br />

zum Koch. Die von ihm produzierten Kochbücher brachten<br />

ihn schließlich nach New York. Als sich die beiden dort 2003<br />

trafen, war Alexx nach fünf Jahren in Manhattan gerade dabei,<br />

in seine Heimat zurückzuziehen. Kaum in Süddeutschland<br />

angekommen, kam Anton nach. Ihr gemeinsames Leben<br />

begann in Berlin.<br />

Anton, der emotionalere der beiden, spricht häufig in Metaphern.<br />

Er schmückt seine Gedanken mit bewusst gewählten<br />

Worten aus, ganz so, als wäre selbst das Sprechen ein Designprozess.<br />

Alexx' Wortwahl ist nicht weniger gewissenhaft, je-<br />

Ihr seid mit Fischen bekannt geworden. Wie kam es dazu?<br />

Anton Ja, es ist wirklich verwunderlich, dass die Leute nach<br />

so etwas Verrücktem noch mit uns arbeiten wollten (lacht).<br />

Alexx Wir saßen beim Abendessen in einem Restaurant in<br />

Kreuzberg und hatten auf einmal die Idee, eine Modegeschichte<br />

ausschließlich mit Fischen zu machen und auf Kleidung<br />

komplett zu verzichten. Wir wollten die Ästhetiken verschiedener<br />

Designer mittels der Fische darstellen und sind dann tatsächlich<br />

zu einem Fischmarkt gefahren und haben sehr teuren<br />

Fisch gekauft (lacht). Daraus ist dann ein zwölfseitiges Mode-<br />

Editorial komplett ohne Mode entstanden.<br />

Und das kam gut an?<br />

Anton Ja. Wir wurden sofort für die nächste Ausgabe gebucht<br />

(lacht).<br />

Wie muss man sich den Alltag eines Stylisten vorstellen?<br />

Alexx Von Anfang an sind wir im gesamten kreativen Prozess<br />

einer Produktion involviert. Das Konzept, die Location, die<br />

Wahl des Fotografen. Wir haben ein starkes Auftreten, denn<br />

wir wissen, was wir wollen und kämpfen auch dafür. Wir werden<br />

nicht bezahlt, um Ja zu sagen, sondern um die Aufgabe gut<br />

zu erledigen. Du musst authentisch sein und der Welt deine<br />

Handschrift zeigen.<br />

Anton Unser Alltag ist nicht der eines klassischen Stylisten.<br />

Aber der Job hat sich allgemein in den letzten Jahren verändert.<br />

Inwiefern?<br />

Anton Die Anforderungen sind größer geworden und so<br />

auch unser Arbeitsbereich. Als ich als Stylist anfing, arbeiteten<br />

wir ganz anders als heute. Es gab kein Style.com. Computer<br />

wurden kaum benutzt. Für einen Job musste ich zum Beispiel<br />

um sechs Uhr morgens ein Fax nach Paris schicken, damit ein<br />

Kleid drei Wochen später für das Shooting in New York war.<br />

Das kann man sich heutzutage gar nicht mehr vorstellen. Außerdem<br />

ging es viel mehr um Trends. Alexx und ich denken<br />

über einen Stil hinaus. Wir kreieren Atmosphären, Orte und<br />

ganze Welten. Wir wollen nicht unbedingt alles selbst machen.<br />

Aber manchmal ist es schlichtweg leichter, die Dinge selbst zu<br />

tun, als jemandem zu erklären, was du dir vorstellst.<br />

Wie verwandelt man ein Model?<br />

Alexx Wir kreieren in unserer Fantasie immer eine fiktive<br />

Person, die wir bis zum Shooting-Tag mit uns herumtragen.<br />

Anton Wir geben ihr einen Namen, kreieren eine ganze<br />

Welt um sie herum. Wer ist diese Person? Was macht sie?<br />

><br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

16 17


1<br />

2<br />

1<br />

2<br />

2<br />

3<br />

1<br />

3<br />

1<br />

1<br />

1 Die Strecke „Le Baron“ erschien<br />

dieses Jahr in der zweiten Ausgabe<br />

der deutschen L’Officiel Hommes und<br />

wurde von Leon Mark fotografiert<br />

2<br />

1<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

2 „Nuancen“ ist ein Mode-Portfolio,<br />

das im September 2010 im Quality-<br />

Magazin veröffentlicht wurde.<br />

Der damalige Chefredakteur Constantin<br />

Rothenburg hat dem Stylistenpaar<br />

für diese Arbeit völlig freie Hand gegeben<br />

3 Die Strecke „Powder“ erschien<br />

2007 in der deutschen Park Avenue<br />

und wurde von Bernd Preiml fotografiert.<br />

Ein gutes Team, denn alle drei<br />

verbindet die Liebe zu Altem und die<br />

verändernde Wirkung kleinster Details<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

18<br />

19


»Alexx und ich denken über einen Stil hinaus.<br />

Wir kreieren Atmosphären, Orte und ganze Welten«<br />

Alexx (l.) & Anton, hier inszeniert<br />

von Bernd Preiml. Anton sagt<br />

über den Fotografen, mit ihm<br />

zu arbeiten sei wie zu träumen:<br />

„Alles ist möglich, solange<br />

du es dir vorstellen kannst“<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

> Isst sie allein oder mit Freunden? Welche Musik hört sie? Und<br />

diesen Charakter bringen wir schließlich mit ans Set.<br />

Und bei einem Produkt-Shooting?<br />

Alexx ...versuchen wir genauso eine Atmosphäre zu schaffen<br />

und eine Geschichte zu erzählen. Vielleicht war die Person gerade<br />

noch im Raum oder hat diesen Gegenstand gerade noch<br />

berührt. Es geht darum, den Objekten Leben einzuhauchen.<br />

Dadurch bekommen die Bilder eine gewisse Tiefe.<br />

Macht ihr alles gemeinsam? Oder hat jeder seine Stärken und<br />

Schwächen?<br />

Alexx Grundsätzlich arbeiten wir an jedem Projekt gemeinsam.<br />

Doch meine Stärke ist sicherlich, konzeptionell zu<br />

arbeiten. Das ist vor allem bei Produkt-Shootings oder der<br />

Schaufenstergestaltung wichtig. Anton ist sehr gut, wenn es<br />

um das Styling am Model selbst geht. Er ist in der Lage, in<br />

die unterschiedlichsten ästhetischen Welten einzutauchen<br />

und dem Auftraggeber das zu liefern, was er möchte. Die<br />

Chance, dem Kunden gerecht zu werden, ist gemeinsam sehr<br />

viel größer.<br />

Anton Natürlich haben wir beide unsere eigenen Stärken und<br />

Schwächen. Wir reden jedoch drüber. In unserer Welt dreht<br />

sich alles um Kollaboration. Das gilt auch für uns. Auch wenn<br />

wir sehr gut zusammenarbeiten, bekämpfen sich unsere Ideen<br />

ab und an. Letztendlich sind wir zwei verschiedene Menschen,<br />

die wie einer arbeiten.<br />

Alexx Es ist ein großes Geschenk, jemanden zu haben, mit<br />

dem ich ständig im Dialog bin. Wir stärken einander.<br />

Könnt ihr euren Stylingstil beschreiben? Was macht euch<br />

einzigartig?<br />

Alexx Es gibt Dinge, zu denen wir immer wieder zurückfinden.<br />

Wir schätzen Werte und Qualität. Das heißt nicht, dass<br />

wir ständig in der Vergangenheit wühlen. Wir versuchen immer,<br />

unsere Sicht auf die Dinge mit in die Bilder einfließen<br />

zu lassen. Ein gutes Beispiel ist die Strecke „Le Baron“ für die<br />

deutsche L’Officiel Hommes. Uns gefiel der Gedanke, einen<br />

morbiden Charakter wie den des Barons in einen zeitgenössischen<br />

Kontext zu setzen.<br />

Anton Die Strecke hat kein Verfallsdatum. Wir haben nicht<br />

die Renner der Saison fotografiert, sondern auf die Authentizität<br />

des Charakters geachtet. Uns geht es generell weniger um<br />

Trends. Wir wollen vielmehr ein Gefühl vermitteln. Es geht<br />

um die Stoffe, die Haare, ihre Bewegung im Wind und weniger<br />

darum, ob diese eine Hose geht oder nicht. Um eine gewisse<br />

Ästhetik eben. Unser Ziel ist ein schönes Bild. Wie wir dahin<br />

kommen, ist mir egal.<br />

Was unterscheidet ein gutes von einem schlechten Bild?<br />

Anton Der Unterschied liegt darin, das Model nicht zu verkleiden,<br />

sondern ein reales Gefühl zu kreieren. Man hat gewonnen,<br />

wenn die Models bzw. Objekte das werden, was du<br />

dir vorgestellt hast.<br />

Alexx Manchmal sieht man Bilder, die nichts über den Charakter<br />

des Models aussagen. Das sind Situationen, in denen du<br />

merkst: Das Model ist tatsächlich nur ein Mannequin. Dann<br />

musst du umschalten und in ihren Charakter eintauchen. Wir<br />

suchen nicht nach der offensichtlichen Schönheit, sondern<br />

eher was sich darunter verbirgt.<br />

Anton Zwei der ersten Fotografen, mit denen ich gearbeitet<br />

habe, waren David LaChapelle und Steven Meisel. Ich bin sehr<br />

naiv an die Sache herangegangen. Diese Unvoreingenommenheit<br />

sehe ich heute als großen Bonus.<br />

Alexx Das ist eine Sache, die uns beide stark verbindet. Wenn<br />

wir etwas wollten, haben wir es einfach gemacht. In New York<br />

war es damals möglich, als ausgebildeter Koch zu sagen: „Ich<br />

mache jetzt etwas mit Mode“, und damit dann tatsächlich<br />

erfolgreich zu sein. Das wäre in Deutschland undenkbar gewesen.<br />

Wir beide glauben, dass jeder in der Lage ist, alles zu<br />

können. Auch Dinge, die man nicht gelernt hat. Nicht, was auf<br />

einem Papier steht bestimmt, wer du bist, sondern das, was du<br />

daraus machst.<br />

Ihr arbeitet für Joop, Adidas oder S.Oliver. Wie ist es, für solche<br />

großen und unterschiedlichen Marken zu stylen?<br />

Alexx Wenn wir ein Editorial machen, sind allein wir für<br />

das Team verantwortlich. Arbeitet man aber für Marken wie<br />

S.Oliver, ist der Kunde meist tiefer involviert. Dann versuchen<br />

wir, in die DNA des Kunden einzutauchen und das bestmögliche<br />

Ergebnis zu liefern. Dabei geht es dann nicht immer nur<br />

um unsere Bedürfnisse.<br />

Anton Manchmal muss man sich durchboxen. Aber es ist unser<br />

Ziel, durch jede Tür mit dem gleichen Paket zu kommen.<br />

Wir pushen uns gegenseitig – warum dann nicht auch die anderen?<br />

Dafür werden wir gebucht.<br />

Kann man bei Werbejobs überhaupt kreativ arbeiten?<br />

Alexx Es gab auch schon den Fall, dass ein Kunde für uns eine<br />

bestimmte Tasche produzierte, weil wir unbedingt diese eine<br />

für das Shooting wollten. Das ist jedoch eine Ausnahme. Ansonsten<br />

musst du mit dem arbeiten, was dir geboten wird.<br />

Anton Dieser „McGyver-Aspekt“ macht es für mich gerade<br />

so spannend. Du hast zur Verfügung: ein Gummiband, einen<br />

Rock und eine Papiertüte. Kreiere daraus einen Look. Ich liebe<br />

das. Gewisse Rahmenbedingungen sind manchmal sogar gut.<br />

Wir stehen nicht dafür, etwas komplett Neues zu kreieren, sondern<br />

bereits Existierendem eine neue Bedeutung zu geben. Es<br />

begehrenswert zu machen.<br />

Was bedeutet euch Mode privat?<br />

Anton Für mich ist Mode Dekoration deiner Selbst. Man<br />

muss mit ihr spielen, aber ich schätze vor allem den emotionalen<br />

Aspekt. Kleidung reflektiert Gefühle. Wenn du traurig<br />

bist, kannst du das schönste Kleid anziehen und trotzdem sieht<br />

es nicht gut aus. Fühlst du dich aber gut, kannst du dir eine<br />

braune Papiertüte überziehen und großartig aussehen. Ich hoffe,<br />

dass wir diesen Gedanken in unseren Bildern rüberbringen.<br />

Ganz egal, ob das Model ein Clownskostüm oder ein Büro-<br />

Outfit trägt.<br />

Alexx Ich war schon früh daran interessiert, wie sich Leute<br />

kleiden. Die Art, wie Kleidung gemacht wird. Die Stimmung,<br />

die sie verbreiten kann. Sie sagt viel über einen Menschen aus.<br />

Das Wichtigste ist, dass immer du die Kleidung trägst und<br />

nicht andersherum. Leider sieht man das oft auf der Straße. Die<br />

Menschen bewegen sich anders, wenn sie sich in ihrer Kleidung<br />

unwohl fühlen.<br />

Wie würdet ihr euer persönliches Styling beschreiben?<br />

Alexx Bei mir entwickelte sich schnell ein Bewusstsein, was mir<br />

persönlich gefällt und ich bin eher der Typ, der bei einem Stil<br />

bleibt. Einfach weil ich mich darin wohlfühle. Trotzdem habe<br />

ich noch Freude daran, mich durch Mode auszudrücken. Als ich<br />

jung war, fuhr ich oft in die Stadt und ließ mir Hosen zurücklegen,<br />

die mir gefielen. Ich kam immer wieder und probierte sie<br />

an, bis ich sie mir endlich leisten konnte. Ich denke für dich,<br />

Anton, ist zu viel manchmal gerade gut genug, oder? (lacht)<br />

Anton (lacht) Meine prägenden Jahre waren in einer Stylingwelt,<br />

in der mehr tatsächlich meistens mehr war. Aber ich habe<br />

von Anfang an gelernt, das zu reflektieren. Man kann immer<br />

überladen sein. Aber auf unterschiedliche Art und Weise. Zum<br />

Beispiel kann der Charakter, den wir in unseren Geschichten<br />

kreieren, von Gedanken überladen sein. Letztendlich ist Mode<br />

nicht definierbar. Ich mag, dass sie alles sein kann.<br />

Ihr seid seit acht Jahren in Berlin. Was hält euch hier?<br />

Alexx Ich mag die kreative Freiheit, die dir diese Stadt bietet.<br />

Berlin lässt jeden leben und sein wie er ist. Die Stadt will nicht<br />

so viel von dir und lässt dich eher in Ruhe. Berlin ist immer in<br />

Bewegung und dadurch scheint alles möglich. Es fühlt sich an<br />

wie ein Puzzle, bei dem ständig ein Teil fehlt.<br />

Ist es ganz anders als in Paris oder New York?<br />

Alexx Wir haben nach New York eine Zeit in Paris gelebt und<br />

für mich gibt es einen schönen Vergleich: Mit Paris hast du<br />

eine Affäre. Mit Berlin bist du verheiratet. Letzteres hat etwas<br />

Beständiges und verlangt wenig. Paris hingegen fordert dich<br />

ständig und kostet viel.<br />

Ist dafür aber aufregend...<br />

Alexx Genau. In New York zu leben war ebenfalls eine Herausforderung.<br />

Die Stadt ist voller Energie und kickt dich jeden Tag.<br />

In Berlin liegt die Schönheit eine Schicht tiefer. Hier gibt es viel<br />

Hässlichkeit, in der aber auch wahnsinnig viel Potenzial liegt.<br />

Anton In New York hat dich die Stadt schnell gepackt. Sie<br />

legt das Tempo vor. Nach dieser stressigen Zeit war es schön,<br />

in eine Stadt zu kommen, in der du dein Leben bestimmst, und<br />

nicht dein Leben dich.<br />

Und in Sachen Mode?<br />

Alexx Im Vergleich zu anderen Städten wie<br />

Paris oder Mailand ist Berlin sehr kommerziell.<br />

Die Stadt ist die perfekte Plattform für<br />

günstige Labels oder Denim-Marken. Berlin<br />

sollte niemals versuchen, etwas zu sein, was<br />

es nicht ist. Dafür gibt es schlichtweg keinen<br />

Bedarf.<br />

Anton Eigentlich sind Städte auch nicht<br />

miteinander vergleichbar. Für Berlin ist es<br />

einfach wichtig, etwas Eigenes und Neues zu<br />

werden und nicht eine Kopie von Paris oder<br />

New York. Vergleiche gab es genug. Jetzt ist<br />

es Zeit zu sein.<br />

Für „Arti-Fishal“<br />

ließen sich Alexx<br />

& Anton auch<br />

von Dior Homme<br />

inspirieren<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

20<br />

21


Berlin ist so facettenreich wie<br />

seine Designer. Deshalb<br />

haben wir die aufregendsten<br />

Abendroben aus den<br />

Hauptstadt-Ateliers vor den<br />

wahren Sehenswürdigkeiten<br />

inszeniert. Das Ergebnis:<br />

eine exklusive Stadtrundfahrt<br />

Urban Couture<br />

Fotos: Lennart Brede<br />

Produktion /Styling:<br />

Juliane Dumjahn<br />

Julia Quante<br />

Romina Wahlmann<br />

WERK VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

Haare/Make-up: Lyn Kato<br />

Model: Lucy Malik<br />

Place Models<br />

Retouch: Recom Berlin<br />

www.recom.de<br />

Märkisches Viertel, Reinickendorf<br />

Das Märkische Viertel ist<br />

Berlins bekannteste Hochhaussiedlung.<br />

Der Rapper Sido<br />

wuchs hier auf und widmete<br />

seinem „Block“ eine Hymne<br />

Schwarzes Paillettenkleid:<br />

Schwarzer Reiter – Edin DeSosa<br />

Ohrringe: TomShot Berlin<br />

22 23<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong>


Ahmadiyya-Mosche,<br />

Wilmersdorf<br />

In den 20er-Jahren<br />

wurde in der Brienner<br />

Straße die erste Mosche<br />

Deutschlands gebaut<br />

Schwarzes Kleid<br />

mit Rückendekolleté:<br />

Starstyling<br />

Turban-Tücher:<br />

Shoeting Berlin<br />

Kette: TomShot Berlin<br />

Wasserfall im<br />

Viktoriapark, Kreuzberg<br />

Von Berlins höchstem<br />

natürlichen Berg<br />

fließt ein 24 Meter<br />

hoher Wasserfall<br />

Federkleid:<br />

Dawid Tomaszewski<br />

Schuhe: Sanctum Berlin<br />

Federkopfschmuck:<br />

Devaki Berlin<br />

WERK VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

24<br />

25


Bode-Museum, Mitte<br />

Das 2006 nach langer<br />

Bauphase wiedereröffnete<br />

Bodemuseum gilt als<br />

neubarockes Meisterwerk<br />

und gehört zum Weltkulturerbe<br />

der Unesco<br />

Pinkes Seidenkleid und Tuch:<br />

Sabrina Dehoff<br />

Armband: Stylist's own<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

26<br />

27


Teufelsberg, Grunewald<br />

Auf dem 115 Meter<br />

hohen Trümmerberg<br />

im Westen Berlins<br />

steht die ehemalige<br />

amerikanische Abhörstation.<br />

Heute hat man von<br />

ihm die schönste Sicht<br />

auf Berlin<br />

Türkisfarbenes Kleid:<br />

Frida Weyer<br />

Haarschmuck:<br />

Sabrina Dehoff<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

28<br />

29


Rotes Seidenkleid:<br />

Lala Berlin<br />

Venezianische Maske:<br />

Schwarzer Reiter<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

Fotocredit<br />

U-Bahnhof Rathaus Schöneberg<br />

Im Rudolph-Wilde-Park ist<br />

der Eingang zum wohl schönsten<br />

U-Bahnhof der Stadt. Benannt<br />

nach dem Rathaus, das<br />

von 1949 bis zum Mauerfall<br />

Westberliner Regierungsund<br />

Amtssitz war<br />

Lachsfarbene Abendrobe:<br />

barre|noire<br />

Tuch: Shoeting Berlin<br />

Federhaarreif: Davaki Berlin<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

30<br />

31


von Celina Plag<br />

M<br />

eine Mutter ist eine bewundernswerte Frau. Emanzipiert,<br />

aufmüpfig und mit einer großen Leidenschaft für Demonstrationen.<br />

Ein wahres Kind ihrer Generation. Geboren<br />

1960 in einer kleinen provinziellen Stadt in Süddeutschland,<br />

dort, wo man allein schon aus Langeweile gar nicht anders<br />

konnte, als in die Welt hinauszuschauen. Gern stelle ich mir<br />

vor, wie sie im Alter von acht Jahren vor dem Schwarz-Weiß-<br />

Fernseher im Wohnzimmer meiner Großeltern saß und mit<br />

großen Augen die Studentenrevolte und Frauenbewegung der<br />

68er verfolgte. Das Flackern der brennenden BHs entfachte<br />

wohl auch in ihr eine lodernde Flamme, die bis zum heutigen<br />

Tag nicht erloschen ist. Wären ihre Brüste damals auch nur ansatzweise<br />

in einem sichtbaren Stadium gewesen – ich bin mir<br />

sicher, sie hätte sich ihre Minikörbchen geschnappt und mit einer<br />

Packung Streichhölzer die sexuelle Befreiung nachgespielt.<br />

Das Protestieren wurde bald zu einem festen Bestandteil<br />

ihres Lebens. Egal ob für freie Liebe und Frieden, gegen<br />

Atomkraftwerke, Atombomben, Atome ganz generell, gegen<br />

die heteronormative Gesellschaft und natürlich gegen Nazis –<br />

wogegen meine Mutter gerade rebellierte, ließ sich meist unschwer<br />

erkennen. Denn ihre Kleidung war stets Symbolträger<br />

von Idealen, ihre Mode selbst schon ein politisches Statement.<br />

Die Jugend von heute<br />

Heute verhält es sich anders. Geprägt von dem lauten Engagement<br />

unserer Eltern, die zu Recht gegen so ziemlich alles<br />

waren, was „das System“ ihnen diktierte, sind wir eine Generation,<br />

der es schwer fällt, einen eigenen und vor allem einen<br />

neuen Weg des Protests zu finden, der es uns ermöglicht, uns<br />

von den vorherigen Generationen zu distanzieren. Doch gerade<br />

das müssen wir, denn die Abgrenzung von den Eltern, das<br />

Gehen eigener Wege, dient in hohem Maße der Identitätsfindung,<br />

der Hang zum Wandel und zur Veränderung ist bereits<br />

das Wesen der Jugend selbst. ANTI ANTI ist das Motto unserer<br />

Generation. Die Eltern waren gegen etwas. Wir sind dagegen,<br />

dagegen zu sein!<br />

Das ist bedenklich, da viele der Kernprobleme der letzten 30<br />

Jahre sich zwar gewandelt haben, aber immer noch bestehen.<br />

Wir führen weiterhin Kriege, nach wie vor spielen Themen wie<br />

Diskriminierung und Chancenungleichheit eine Rolle, selbst<br />

die Atomfrage erschütterte erst kürzlich wieder die Welt, als im<br />

japanischen Fukushima nach einem schweren Erdbeben und<br />

anschließendem Tsunami der Reaktor des Kraftwerks schwer<br />

beschädigt und in mehreren Blöcken eine Kernschmelze bestätigt<br />

wurde. Natürlich ist der Generation ANTI ANTI das nicht<br />

egal, natürlich wird gegen Missstände protestiert – nur eben<br />

ziemlich leise. Dass auch die Wirkung politischer Symbole in<br />

der Mode sich verändert, ist nicht gerade hilfreich.<br />

Die Anti-Mode der Jugendkulturen<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

Politische Statements<br />

oder sinnentleerte<br />

Trends: Warum die Mode<br />

die Anti-Mode<br />

braucht – und die<br />

Gesellschaft eine neue<br />

Jugendkultur<br />

In der Vergangenheit waren es meist die Jugendkulturen, die<br />

dank ihrer Lautstärke, ihrer Authentizität und ihrer auffälligen<br />

Art, sich zu kleiden, die breite Masse provozierten und<br />

gleichzeitig zum Denken anregten. Eine Welt voll freier Liebe,<br />

Frieden und Harmonie, damit schockierten die Hippies in den<br />

60er-Jahren. Wallende Batikkleider, weite Jeans und Jesuslatschen,<br />

lange Locken, unrasierte Körper und Blumen im Haar<br />

waren die Erkennungszeichen ihres politischen Protests, der<br />

langsam aber sicher den Mainstream und seine Mode infiltrierte.<br />

Die Hippies waren neu, sie waren präsent, sie machten<br />

ergreifende Musik. Zumindest einen Teilerfolg an gesellschaftlichen<br />

Umbrüchen kann man ihnen zugestehen. Polygamie<br />

und Sex in der Öffentlichkeit sind zwar nach wie vor gesetzlich<br />

verboten, doch unverheiratete Paare längst akzeptiert. Peace.<br />

Ähnliches passierte bei den Punks, die Ende der 70er mit ihren<br />

Irokesenschnitten, den nietenbesetzten Lederjacken und<br />

ihren Doc Martens die Hippies rumgammelnderweise aus<br />

dem Straßenbild verdrängten. Wenn sie nicht gerade nichts<br />

taten, schrien sie nach Anarchie. Vivienne Westwood, Queen<br />

Mother of Punk und selbst ein Kind der Subkultur, holte diese<br />

Anti-Mode aus London auf den Laufsteg und schaffte einen<br />

Protest-Punk-Chic, der für Furore sorgte. Sie rief einen<br />

andauernden Trend aus, der selbst vor den konservativsten<br />

Gesellschaftsschichten nicht Halt machte. Die eigentliche<br />

Botschaft, eine Kritik an dem steifen, kommerziellen und<br />

bürgerlichen Klassensystem Englands, wurde natürlich entschärft<br />

und somit einem breiten Teil der Gesellschaft zugänglich<br />

gemacht – ironischerweise eben jenem Teil, gegen den<br />

><br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

32<br />

33


Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

><br />

ICH<br />

sich die Rebellion ursprünglich richtete. Verstummt ist die<br />

Botschaft dabei nicht völlig, dafür war der Protest zu laut.<br />

Heute gibt es keine einflussreichen politischen Jugendkulturen<br />

mehr, folglich auch keine subkulturellen Zitate mehr auf<br />

dem Laufsteg, die in das Massenbewusstsein übergehen können.<br />

Natürlich sind da Phänomene wie die „Es ist o.k., wenn du<br />

weinst“-Emos und „Der Tod gehört zum Leben dazu“-Gothics,<br />

von denen sich einige Designer immer mal wieder inspirieren<br />

lassen. Ein generelles Desinteresse an der Politik kann man<br />

denen nicht unterstellen, der Prototyp eines rebellierenden Jugendlichen<br />

sieht allerdings anders aus.<br />

Wir mutieren zu einer Generation voll gleichgültiger Ja-<br />

Sager, deren Protest nur noch im Kleinen funktioniert. Wir<br />

haben gelernt, den Müll zu trennen, kaufen hin und wieder<br />

Bio-Produkte, mögen die Green-Linie von H&M und bekleben<br />

unsere iPhones mit Anti-AKW-Stickern. Wirklich etwas<br />

Großes zu verändern, trauen wir uns nicht mehr zu. Doch ist es<br />

nicht gerade das, was die Balance in der Gesellschaft ausmacht?<br />

Die Jugendlichen als aufmüpfiger Katalysator, als utopische<br />

Träumer von einer besseren Welt?<br />

Die Protestmode auf dem Laufsteg<br />

Wir haben das Ruder aus der Hand gegeben. Heute protestieren<br />

andere: die Designer. Und mit ihrer politischen High<br />

Fashion haben sie Erfolg, denn dank ihrer medialen Präsenz<br />

schaffen sie es immer wieder, Aufmerksamkeit zu generieren,<br />

Diskussionen anzuregen und die Gesellschaft im besten Falle<br />

sogar von ihrer Meinung zu überzeugen. Je bekannter und akzeptierter<br />

der Designer, desto besser.<br />

Politik und Mode, das passt zusammen. Während der amerikanischen<br />

Präsidentschaftswahl 2009 beispielsweise spielte<br />

der Laufsteg durchaus eine Rolle. Angesehene Modedesigner<br />

wie Diane von Fürstenberg, Marc Jacobs, Zac Posen und Proenza<br />

Schouler sympathisierten mit dem Kandidaten Barack<br />

Obama und entwarfen für das Projekt „Runway to Change“<br />

T-Shirts, Taschen und Accessoires bedruckt mit Schriftzügen<br />

wie „Vote for Obama“ oder „I love my President“, um damit<br />

die Spendenkassen zu füllen. Selbst bei der Pariser Fashion<br />

Week im September 2008 widmete Donatella Versace dem zukünftigen<br />

Präsidenten gleich ihre komplette Kollektion, Stella<br />

McCartney unterzeichnete ihre Einladungskarten mit: „P.S.:<br />

Vote for Obama“.<br />

Das Problem dabei ist, dass politische Statements auf dem<br />

Catwalk eine zweite Funktion übernehmen: Sie machen politische<br />

Umstände zu einem Trenderlebnis. Auf einmal ist es<br />

nicht mehr nur eine persönliche Überzeugung, gegen Atomkraft<br />

oder für Obama zu sein, sondern es ist en vogue. Eine<br />

kurzweilige Liebelei, die diese Saison auf den Laufstegen zu<br />

sehen war und schnelllebig wie sie ist, nächste Saison schon<br />

wieder vergessen sein kann. Denn so ist es mit der Mode, dem<br />

schönsten Spiegel des Zeitgeistes: Zeigt sie herrschende Missstände<br />

auf, wird diese Kritik gleich wieder egalisiert, sobald sie<br />

zum Massentrend wird.<br />

Noch schlimmer ist die Situation bei Statements, die nicht<br />

plakativ funktionieren. Häufig passiert dies bei avantgardistischen<br />

Designern wie Hussein Chalayan, der beispielsweise<br />

im Herbst/Winter 2000 eine skulpturale Kollektion aus tragbaren<br />

Möbeln entwarf, in welcher Stuhlhussen zu Kleidern,<br />

Sessel zu Koffern oder ein Tisch zu einem Rock wird. Inspiriert<br />

wurde er damals von Kosovo-Flüchtlingen, die auf ihrer<br />

Flucht all ihren Besitz in der Heimat zurücklassen mussten.<br />

Sein Protest gegen diese Entwurzelung stellte er dermaßen abstrahiert<br />

und untragbar dar, dass seine politische Idee niemals<br />

das Bewusstsein einer großen Gruppe verändern oder diese<br />

überhaupt erreichen konnte.<br />

Wenn Anti-It zu It wird<br />

Dass die Aussage des Designers manchmal auch einfach ins<br />

Gegenteil gedreht wird, zeigt sich an der Handtaschenmode der<br />

aktuellen Frühjahr/Sommerkollektion 2011. Das Luxuslabel Jil<br />

Sander präsentierte profane Plastikbeutel in Knallfarben und<br />

setzt damit ein Statement: Weg von der überteuerten It-Bag,<br />

das Schlichte genügt. Die Modemeute jubelt und bei H&M ist<br />

ein ähnliches Modell schon lange ausverkauft. Die Anti-It-Bag<br />

wird zur It-Bag und die ursprüngliche Intention geht einfach<br />

verloren. Doch bei einer Plastiktasche, die 120 Euro kosten<br />

soll, ist die Aussage generell infrage zu stellen.<br />

So oder so wurde der symbolische Charakter gleich zweifach<br />

sinnentleert. Zum einen bekommen tragbare Botschaften,<br />

wenn sie erst einmal den Stempel „Trend“ erhalten haben,<br />

einen oberflächlichen Beigeschmack. Zum anderen kann<br />

man nicht mehr unterscheiden, ob es jemand aus Überzeugung<br />

trägt oder lediglich, weil er es als „chic“ empfindet und<br />

„alle“ es tun.<br />

Farbe bekennen<br />

Dies führt dazu, dass man außer ein paar eingefleischten Alt-<br />

Hippies oder langweiligen FDP-Wählern kaum mehr jemandem<br />

ansieht, wie er politisch orientiert ist. Natürlich kennen<br />

wir die Codes, die uns dabei helfen, Menschen in verschiedene<br />

Schubladen zu stecken. Ob jemand Rot, Grün, Schwarz oder<br />

Braun wählt, lässt sich optisch jedoch nicht mehr festmachen.<br />

Generell ist politisch zu sein einfach nicht mehr modern. Zu<br />

Zeiten der französischen Revolution wäre das tragisch gewesen.<br />

Man stelle sich vor, die Revolutionäre hätten kein rotes<br />

Halstuch als Erkennungszeichen getragen, welche Verwirrung<br />

hätte denn da geherrscht, woher hätte man wissen sollen, wie<br />

der Gegner aussieht?<br />

Es fehlt an Elan. Elan und aufrichtigem Interesse, Farbe zu<br />

bekennen, für eine größere Sache einzustehen. Die Mode allein<br />

schafft keine wirklichen Veränderungen. Politische Mode<br />

auf dem Laufsteg verliert zu schnell ihre Bedeutung, deshalb<br />

brauchen Statements mehrere Kanäle, um gehört zu werden,<br />

um gemeinsam zu wirken. Es ist wie mit Himmel und Hölle,<br />

Hell und Dunkel, Gut und Böse, Schwarz und Weiß: Das<br />

eine braucht das andere, um bestehen zu können. Die Mode<br />

kann nicht ohne die Anti-Mode funktionieren, doch die Anti-<br />

Mode lässt sich nur noch selten blicken. Es ist an der Zeit,<br />

dass die Jugend wieder lauter wird. Wir brauchen eine neue<br />

Anti-Anti-Anti-Mode. Wir brauchen eine neue Jugendkultur.<br />

Zeit, zu protestieren!<br />

Fotos: Robert Kromm<br />

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unter www.amnesty.de<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

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35


Für den Dior-Imagefilm Lady Blue Shanghai hatte David Lynch freie Hand<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

Mit der Trilogie Dervishes in Space setzte der Regisseur Cristian Straub Maßstäbe im Modefilm<br />

SToff,<br />

Die Mode bahnt sich einen neuen Weg: zusammen<br />

mit der Filmkamera durch das World Wide Web.<br />

Zwischen Werbung und Editorial etablieren sie sich als<br />

neue Darstellungsform in der Branche: als Modefilm<br />

von Samrin Conrad<br />

der bewegt<br />

Wo zuvor noch Stimmen des Zweifels<br />

laut wurden, füllten kurze Zeit später Worte der Anerkennung<br />

die Zeitungen, Magazine, Blogs und Kinosäle. Mit A Single<br />

Man betrat Modedesigner Tom Ford 2009 ein ihm unbekanntes<br />

Terrain – das des Films. Durch seine Inszenierung wurde<br />

das 60er-Jahre Melodram zu einem modischen Kunstwerk,<br />

sein Blick zur bewegten Ästhetik. Spätestens seit dem Regiedebüt<br />

Fords dürfte das „Genre-Hopping“ sein negatives Image<br />

hinter sich gelassen haben. Modedesigner führen jetzt Regie<br />

und Regisseure desig nen Modefilme. Das neue Gespann aus<br />

Mode und Film gibt der Mode, was ihr bisher fehlte: den richtigen<br />

Schwung. Und das nicht nur in Spielfilmlänge.<br />

Der Film eröffnet der Mode eine neue Ebene und der Branchenfremdheit<br />

ungewohnte Perspektiven. Blickwinkel, die<br />

dem bisher wichtigsten Sprachrohr, den Magazinen, verwehrt<br />

blieben. Denn während gedruckte Bilderserien häufig zu Advertorials<br />

mit statisch posierenden Models mutieren, gelingt<br />

der neuen Ausdrucksform Modefilm, wozu die Fotografie<br />

nicht in der Lage ist: mittels der Bewegung eine Geschichte<br />

zu erzählen.<br />

Was sonst vermag den Tragekomfort eines fließenden Seidenstoffes,<br />

die Stimmung eines tiefen Schwarz oder die Wirkung<br />

einer eleganten Abendrobe besser zu transportieren<br />

als ein emotionales Medium wie der Film? Bewegte Bilder<br />

reagieren jetzt auf die Unzulänglichkeiten, die sich das eher<br />

sachliche Medium Fotografie der Mode gegenüber eingestehen<br />

muss. Der Film hingegen potenziert ihre benötigte Aussagekraft:<br />

Bewegung, Bilder und Töne sowie der geführte Blick<br />

der Kamera, Schnitt und Musik beeinflussen den Betrachter in<br />

seiner Empfindung.<br />

Dieser Wirkung werden sich auch Magazine und Modehäuser<br />

zusehends bewusst. Sie erobern die neuen Spielräume und<br />

betreten zusammen mit der Filmkamera das bisher noch ungewohnte<br />

Terrain.<br />

Branchenfremd machte sich auch Chanel-Chefdesigner<br />

Karl Lagerfeld ans Werk und kreierte den Kurzfilm Remember<br />

Now für die Cruise-Kollektion 2010/11 – und zwar gleich<br />

ohne Drehbuch: „Bevor ich einen Film mache, sehe ich ihn.<br />

Ich habe keine Drehbücher, denn in meinem Kopf ist bereits<br />

alles geschrieben. Ich mag eben kurze Einzeiler“, kommentierte<br />

Karl Lagerfeld seinen Clip in einem Interview mit der<br />

Women's Wear Daily. Dabei herausgekommen ist eine 15-<br />

minütige Aneinanderreihung von Partys im luxuriösen St.<br />

Tropez mit tanzwütigen Models – darunter auch Berühmtheiten<br />

wie Schauspieler Pascal Greggory sowie die Models Karolina<br />

Kurkova, Freja Beha Erichsen und Heidi Mount. Auch<br />

Lagerfelds omnipräsente Muse Baptiste Giabiconi, der für seine<br />

oberkörperfreie Showeinlage auf dem Bartresen horrenden<br />

Applaus erntet, durfte dabei natürlich nicht fehlen. Mit schicken<br />

Clubs, teuren Autos, großen Jachten und einem kurzen<br />

Schwenk auf Lagerfelds persönliche iPod-Sammlung waren<br />

dann auch schon alle Geschütze aufgefahren. Bis der Kurzfilm<br />

in der letzten Spielminute seinen Höhepunkt in Karls Auftritt<br />

findet, als dieser am nächsten Morgen die verkatert schlafende<br />

Modelhorde in seiner Villa entdeckt und schlussfolgert: „This<br />

is Saint Tropez.“ Genauso glatt poliert wie die Jachten ist auch<br />

der Film. Und so bleibt von der Kollektion bei Remember Now<br />

nur wenig in Erinnerung.<br />

Von dem royal-blauen Handtaschenmodell Lady Dior, das<br />

2010 von Regisseur David Lynch in Szene gesetzt wurde, bleibt<br />

hingegen mehr im Gedächtnis. Zwar ist die Wiederauflage der<br />

Kulttasche nur in wenigen Sequenzen zu sehen, um anschließend<br />

16 Minuten lang eine Geschichte von Sehnsucht, Melancholie<br />

und Ex-Liebhabern zu erzählen, jedoch feiert sie ihren<br />

großen Auftritt dramatisch in Scheinwerferlicht getaucht und<br />

von Nebelschwaden umgeben auf einem kleinen Podest.<br />

Im Gegensatz zu Lagerfelds Imagefilm, der den Wunsch<br />

nach einer sorglosen Partynacht wecken mag, setzt Regisseur<br />

Lynch in Lady Blue Shanghai mit der kurzen aber prägnanten<br />

Taschenpräsentation auf eine länger währende Produktplatzierung<br />

– und zwar im Gedächtnis der Betrachter. Denn gerade<br />

aufgrund des versteckten Einsatzes typischer Verkaufsstrategien,<br />

die Produkte mit emotionalen Werten besetzen und<br />

versprechen, ein Lebensgefühl kaufen zu können, sind beide<br />

Kurzfilme auch nach 16 Minuten, was 30-sekündige Parfumspots<br />

ganz offensichtlich sind: eben doch nur Werbung.<br />

Doch geht es bei filmisch inszenierter Mode keineswegs nur<br />

darum, Kleidungsstücke bestmöglich zu verkaufen. Sondern<br />

vielmehr darum, ein ganzheitliches Bild der Marke, der Kollektion<br />

oder der Vision des Designers zu kreieren.<br />

All das zu vereinen gelang Lynch: Seine wahrnehmungspsychologisch<br />

perfekte Inszenierung verbindet er mit bizarrer<br />

Bildsprache der in Schanghai gedrehten Filmsequenzen. Mit<br />

diesem zusätzlichen Anspruch an eine künstlerische Herangehensweise<br />

erinnert sein Werbefilm an die ersten Schritte,<br />

die Mode und Film vor mehr als zwei Jahrzehnten gemeinsam<br />

machten – zu denen ihnen Regisseur Wim Wenders unter<br />

nicht kommerziellen Gesichtspunkten verhalf.<br />

><br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

36<br />

37


Mit der Pringle-of-Scotland-Produktion setzt Regisseur Ryan McGinley auf Tilda Swinton und beweist: Mode ist Bewegung<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

> Mit Aufzeichnungen zu Kleidern und Städten porträtierte<br />

er 1989 den japanischen Modedesigner und Avantgardisten<br />

Yohji Yamamoto und betrat damit Neuland – sowohl in der<br />

Geschichte des Films als auch in der der Mode. „Ich interessiere<br />

mich für die Welt, nicht für die Mode!“, ließ Wenders<br />

anfangs noch verlauten. Doch während der Dreharbeiten bröckelten<br />

die Fronten, die Trennlinien wurden ausradiert: „Vielleicht<br />

haben Mode und Film etwas gemeinsam“, vermutete<br />

Wenders und die Mode, der er nie eine ernstzunehmende Rolle<br />

zuschrieb, wurde plötzlich zum Hauptthema und das Medium<br />

Video, das er zuvor als „Krebsgeschwür im Film“ diagnostizierte,<br />

zum spannenden Gestaltungsmittel. Wenders visuelle<br />

Erkundungsreise führte mit der Kleidung Yamamotos durch<br />

Eindrücke und Gefühle, Paris und Tokio – angereichert mit<br />

meditativen Klängen und elektronischen Bildbrüchen durch<br />

das Element Video.<br />

Dieses damals noch neue und von Wenders anfangs verachtete<br />

Darstellungsmittel, das im Gegensatz zum analogen, auf Zelluloid<br />

gebannten Film die Nachteile eines elektronischen Bildes<br />

aufweist, ist in der Entwicklung des Phänomens Modefilm heute<br />

sogar ausschlaggebend. Denn da die Digitalisierung fester Bestandteil<br />

der Internetgesellschaft ist, unterliegt die Etablierung<br />

neuer Medien einem obersten Gebot: dem der Schnelligkeit.<br />

Somit reagieren nun vermehrt auch Modemagazine sowohl<br />

auf die Schwachstellen der statischen Fotografie als auch auf<br />

die Demokratisierungsprozesse in der Branche und ergänzen<br />

ihr Repertoire in ihren Online-Ausgaben. So kursieren neben<br />

mehrminütigen Kurzfilmen der großen Designhäuser auch kurze<br />

Making-ofs im Netz, die einen Einblick hinter die Kulissen<br />

eines Vogue-Shoots gewähren, Stimmungsfilme des Tush-Magazins<br />

zum Thema der aktuellen Ausgabe oder filmisch inszenierte<br />

Modeclips, die mit einer kleinen Geschichte einen Vorgeschmack<br />

auf das Editorial im Oyster Magazine bieten – und<br />

zwar noch bevor dieses im Druckmedium veröffentlicht wird.<br />

Die dabei entstehende Zugänglichkeit für Jedermann, die das<br />

Internet bietet, soll den Magazinen, Regisseuren und Designern<br />

zu Aufmerksamkeit und einer größeren Zielgruppe verhelfen.<br />

Dies könnte auch dem Modelabel Proenza Schouler mithilfe<br />

von Kids-Drehbuchautor Harmony Korine gelungen sein, der<br />

das Label in einen ganz anderen Kontext setzte und die High-<br />

Fashion-Kollektion für Herbst/Winter 2011 an den Mitgliedern<br />

einer afroamerikanischen Mädchengang zeigte. In Act da Fool<br />

vertreibt sich diese ihre Langeweile mit Graffiti sprühen auf<br />

öffentlichem Gelände, Bierexzessen auf befahrenen Zuggleisen<br />

und Basketball-Spielen zwischen Müllcontainern. Dass<br />

sie dabei Luxusmode von Proenza Schouler tragen, spielte für<br />

Regisseur Korine keine Rolle, wie er in einem Statement zu seinem<br />

Film erklärte: „Er ist ein Liebesbrief an die Langeweile, die<br />

Menschen, die in Kleinstädten aufwachsen empfinden“, sagte<br />

Korine. „Die Stimmung der Marke vermitteln? Ich weiß nicht<br />

einmal, was das bedeutet.“<br />

Auch Regisseur Ryan McGinley findet es „großartig, dass<br />

Firmen an Künstler glauben und sie Kunst machen lassen, die<br />

einem vollkommen anderen Publikum vorgestellt wird.“<br />

Unter seiner Regie rannte Tilda Swinton für Pringle of Scotland<br />

mit wallendem Kleid aus der Frühjahr/Sommer-Kollektion<br />

2010 zu schottischer Streichermusik durch einen Wald, irrte<br />

über Felder, kletterte auf Felshügel und zwängte sich in feinster<br />

Abendgarderobe durch enge Felsritzen, während stürmischer<br />

Wind das Knirschen des flatternden Stoffes hörbar macht und<br />

dunkel aufziehende Wolken, Vorboten eines Unwetters, das<br />

Schwarz des Kleides noch düsterer erscheinen lassen.<br />

Mit diesen Werken stehen McGinley und Korine an der Spitze<br />

der Modefilm-Schaffenden. Es gelingt ihnen, innerhalb weniger<br />

Minuten die Labels zu entstauben und ins rechte Licht zu<br />

rücken – und zwar ohne den allzu offensichtlichen Gebrauch<br />

typischer Werbefilm-Instrumente wie Scheinwerferlicht und<br />

Nebelschwaden bei Dior oder Partys, Jachten und viel nackter<br />

Haut bei Chanel.<br />

Es obliegt den Modehäusern und Regisseuren, ob sie ihre<br />

Werke offen als reine Werbefilme, die sich lediglich der Produktvermarktung<br />

verschreiben, produzieren lassen oder sie<br />

zusätzlich mit einem künstlerischen Anspruch schmücken.<br />

Fest steht: Dabei entstehen spannende Kooperationen mit<br />

einzigartigen Handschriften, von denen jede auf ihre eigene<br />

Art der Mode gerecht wird.<br />

Besonders gerecht wird ihr jedoch die rennende Protagonistin<br />

in der Pringle-of-Scotland-Produktion: Sie nutzt den<br />

größten Vorteil des Films gegenüber der Fotografie, zeigt die<br />

Gemeinsamkeiten von Mode und Film und lässt beide Komponenten<br />

aufleben. Dass nämlich erst ein bewegtes Kleidungsstück<br />

für den Betrachter erfass- und erlebbar wird beweist, dass<br />

Mode kein statisches Objekt ist, sondern nur in der Bewegung<br />

ihre volle Entfaltung findet. „Nur bewegte Bilder werden dem<br />

Modedesign vollständig gerecht, alles andere ist nur ein Kompromiss“,<br />

erklärte Show-Studio-Gründer und Modefilmer der<br />

ersten Stunde Nick Knight in einem Interview.<br />

Mit der Gründung seiner Fashion-Film-Produktionsfirma<br />

Riese Farbaute steht auch Regisseur Cristian Straub für diese<br />

Ansicht. Inzwischen zu den deutschen Modefilm-Pionieren<br />

zählend, setzt er seit 2010 einerseits Auftragsarbeiten für<br />

Modedesigner um, verwirklicht aber andererseits seine eigenen<br />

Vorstellungen von filmisch inszenierter Mode in unabhängigen<br />

Werken.<br />

Denn auch den Modefilm-Schaffenden bleibt es meist nur<br />

in freien Arbeiten gegönnt, jegliche Werbefilm-Attitüden<br />

vollständig abzulegen und Raum für kleine Revolutionen und<br />

große Experimente zu schaffen.<br />

Somit findet die Begegnung von Mode und Film ihre interessanteste<br />

Verbindung in den bewegten Modestrecken, in denen<br />

Stimmungsbilder der Kleider und individuelle Gedankenwelten<br />

der Regisseure zu etwas Neuem zusammenfließen dürfen –<br />

dem Neuen, das manchmal irritiert, bannt und inspiriert. Oder<br />

einfach nur schön anzusehen ist. Das alles können auch Werbefilme,<br />

richtig. Doch die freien Werke, ohne federführenden<br />

Auftraggeber im Nacken, stehen am Ende für sich selbst. Und<br />

das, ohne Werbung für große Designernamen, Kollektionen<br />

und bekannte Models gemacht zu haben oder Verkaufszahlen<br />

verdoppeln zu müssen.<br />

Erst so scheint der Passagier „Modefilm“, der vor mehr als<br />

zwei Jahrzehnten auf Entdeckungsreise geschickt wurde, zehn<br />

Jahre nach der Gründung vom britischen Modefilmportal<br />

Show Studio nun auch endlich in Deutschland angekommen<br />

zu sein – in Form von bewegten Modestrecken wie Straubs<br />

futuristischer Weltraum-Trilogie Dervishes in Space, mittels<br />

elektronischer Bildbrüche und digitaler Spielereien. Stilelemente,<br />

die nicht von ungefähr kommen: Straub gehörte einst<br />

zu den Lehrlingen Wim Wenders.<br />

Wie dieser bereits in den späten 80er-Jahren sein Gespür<br />

für Zeitgeist und die Zukunftsaussichten des Modefilms bewies,<br />

stehen nun Modefirmen, Regisseure und vor allem aber<br />

Magazine vor eben diesem Schritt. Sie wollen auf den Zug<br />

der schnell konsumierbaren Medien mit teils geringer Halbwertszeit<br />

aufspringen und sich den richtigen Platz suchen –<br />

innerhalb der Flut von schnell geschriebenen Modeblogs und<br />

amateurhaft fotografierter Tagesoutfits der selbstbewussten<br />

Internetbenutzer.<br />

Klingt aussichtslos und nicht erstrebenswert? Das muss es<br />

aber nicht sein. Denn das neue Genre der Modefilme wertet<br />

den Qualitätsverlust erheblich auf und vereint nicht nur eine<br />

enorm breite Zielgruppe, sondern reagiert auch auf die stetig<br />

wachsende Anzahl von Tablet-Nutzern, für die inzwischen<br />

hochwertige Online-Ausgaben von Modemagazinen, Designer-Websiten<br />

oder Lookbooks eigens konzipiert werden.<br />

Kleine Streichbewegungen von Zeigefinger und Daumen<br />

über das Touchscreen lösen dann plötzlich Fotografien aus<br />

ihrer Starre, bewegen statische Cover-Aufnahmen, bewirken<br />

einen intensiven Augenaufschlag des Models und bringen<br />

den Stoff in Bewegung, um die Geschichte hinter dem Foto zu<br />

erzählen.<br />

Ob also als Werbefilm mit großem Namen und erfolgversprechenden<br />

Kooperationen, Making-of-Clip der Editorial-<br />

Produktionen, Stimmungsvideo oder bewegte Modestrecke –<br />

der Modefilm etabliert sich unaufhaltsam in all seinen Erscheinungsformen.<br />

Ein Klick auf den Video-Button oder eine Fingerbewegung<br />

über den Bildschirm ermöglichen den Zugang<br />

zur bewegten Welt der Mode, die mithilfe des Films nun keine<br />

Kompromisse mehr eingehen muss.<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

38<br />

39


Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

Liebe geht<br />

durch die Nase<br />

Düfte unterstreichen unsere Persönlichkeit<br />

– und helfen auch dabei, den<br />

richtigen Partner fürs Leben zu finden<br />

von Jana Burghause<br />

Orange, Zedernholz, Moschus, Rose un<br />

– sie wirken in geheimnisvoller Weise auf<br />

unser Gemüt. Die sorgsam ausgewählten<br />

Ingredienzien der Parfums beeinflussen unsere<br />

Stimmung – oder rufen Kindheitserinnerungen ins<br />

Gedächtnis. Doch seit Anfang 2010 wird das immer<br />

schwerer für Parfümeure und Duftliebhaber. Der<br />

Chemiker Suresh Chandra-Rastogi aus Dänemark<br />

fand damals heraus, dass viele dieser<br />

Stoffe Moleküle enthalten, die Hautausschlag<br />

auslösen können – vor allem<br />

bei Allergikern. Daraufhin trat der<br />

Zusatzartikel 43 der International<br />

Fragrance Association (IFRA) im<br />

EU-Recht in Kraft: Die Inhaltsstoffe<br />

Ylang-Ylang, Eichenmoos,<br />

Heliotrop, Jasmin, Zitrusöl, Oponopax<br />

und Styrax dürfen nur<br />

noch bei einer Konzentration von<br />

unter einem Prozent verwendet werden.<br />

„Das ist, als würde man die Farbe<br />

Grün für Gemälde verbieten. Mehr noch: als<br />

würde man die Farbe Grün aus allen Gemälden von<br />

Piero della Francesca entfernen“, so der Duftexperte Luca Turin.<br />

Großartige Düfte haben ihre Seele verloren – Mitsouko von<br />

Guerlain, Magie Noire von Lancôme oder Knowing von Estée<br />

Lauder. Jeder Duft, der besagte Inhaltsstoffe in gefährdender<br />

Konzentration enthielt, musste synthetisch reformuliert werden<br />

– manche sind sogar komplett vom Markt verschwunden.<br />

City Glam for her von Armani etwa oder auch V von Valentino.<br />

Dass Düfte aus den Regalen verschwinden, muss noch nicht<br />

einmal besorgniserregend sein, denn das ist der normale Kreislauf.<br />

Viel schlimmer ist es, dass meine Großmutter nicht mehr<br />

nach Großmutter riecht. Sie schuf sich mit Magie Noire eine<br />

Duftidentität – und die ist jetzt weg.<br />

Doch was lösen Düfte bei uns aus? Nichts als positive Erinnerungen?<br />

Oder steckt noch mehr dahinter? Im Prinzip<br />

ist es einfacher als es sich anhört. Unser Körper besitzt einen<br />

genetisch verankerten Ur-Duft. Drüsen stoßen körpereigene<br />

d<br />

E<br />

i<br />

c<br />

h<br />

e<br />

n<br />

m<br />

oos<br />

Riechstoffe aus. Diese sind so lange geruchlos, bis Mikroorganismen<br />

diese Sekrete in Duftstoffe verwandeln. Das Erstaunliche<br />

dabei ist, dass unser Ur-Duft durch die MHC-Allele (M<br />

HC=Haupthistokompabilitätskomplex, Allele=Varianten von<br />

Genen) geprägt ist. Diese MHC-Allele entscheiden darüber,<br />

ob wir jemanden attraktiv und sympathisch finden oder eben<br />

nicht. Claus Wedekind und sein Forscherteam der Universität<br />

Bern fanden schon 1995 mithilfe eines so genannten Schnüffeltests<br />

heraus, dass je unterschiedlicher das MHC-Profil des<br />

Gegenübers ist, desto attraktiver finden wir ihn.<br />

Das hört sich nun ziemlich kompliziert an, aber es gibt auch<br />

einfache Lösungsansätze. Stefanie Hanssen zum Beispiel, Inhaberin<br />

der Duftmanufaktur Frau Tonis Parfum in Berlin,<br />

weiß: „Düfte verbinden wir immer mit positiven Erlebnissen,<br />

sonst würde man von Gerüchen sprechen. Eine einzige Assoziation<br />

kann Unmengen von Erinnerungen wachrufen und<br />

Düfte wirken hierbei unheimlich gut im Unterbewusstsein.“<br />

Auch bei ihr ist es ein Rosenduft, den sie mit ihrer Großmutter<br />

verbindet. Sie trug nicht Tosca, wie damals alle Damen,<br />

sondern ein eigenwilliges Rosenparfum. „Die Liebe zu meiner<br />

Großmutter bedeutet auch gleichzeitig die Liebe zu ihrer Kleidung,<br />

zu ihrem Duft und zu der Art und<br />

Weise, wie sie mit Menschen<br />

umgegangen ist. Diese positiven<br />

Erinnerungen sind<br />

von diesem Duft gar<br />

nicht zu trennen.“<br />

Düfte, angenehme<br />

Gerüche und Parfums<br />

sind wichtig für den<br />

Menschen – sie können<br />

uns beim Lernen unterstützen<br />

(einfach währenddessen<br />

am Parfum riechen,<br />

so verbinden wir den Duft mit<br />

Wissen und können in der Prüfung<br />

mithilfe des Duftes den Stoff<br />

einfacher abrufen) oder gut fühlen lassen,<br />

obwohl es uns vielleicht schlecht geht. Sie lassen das<br />

Heimweh verschwinden oder geben dem Verliebtsein eine<br />

eigene Duftnote. Das Wichtigste aber ist: Sie unterstreichen<br />

unsere Persönlichkeit. Schon Marlene Dietrich wusste in den<br />

20er-Jahren, dass ein herber Duft ihre Exzentrik verstärken<br />

kann. Sie trug einen reinen Veilchenduft, den man noch heute<br />

im Geschäft von Stefanie Hanssen in Berlin kaufen kann. Veilchen<br />

symbolisierte ihre Stärke, Kraft und Ausdauer. Und auch<br />

Parfumkritiker Luca Turin ist der Meinung, dass „die Leute<br />

immer denken, ein Duft ist halt ein Duft. Aber das stimmt<br />

nicht: Ein Duft ist eine Botschaft des Menschen, der ihn trägt.“<br />

Das hat schon Marlene Dietrich erkannt und wahrscheinlich<br />

auch unsere Großmütter. Ist es nun also der Duft, der uns zu<br />

dem macht, was wir sind? Oder kann uns ein Parfum bei der<br />

Persönlichkeitsfindung behilflich sein?<br />

Der Mensch kann bis zu 10.000 verschiedene Gerüche<br />

wahrnehmen. Es gibt ungefähr 6.000 Parfums auf der ganzen<br />

Welt – ein schlichtweg zu großes Angebot. Deshalb wird<br />

gern zum neuen Gucci-Duft, zum bekannten Coco Mademoiselle<br />

oder zum Rihanna-Parfum Reb'l fleur gegriffen. Wir<br />

wissen, dass wir uns damit eine gewisse Portion Selbstbewusstsein<br />

ins Haus holen. Da können wir noch so schüchtern<br />

auf dem Sofa sitzen, Eis essen und Liebesschnulzen á la Wie<br />

ein einziger Tag schauen. Mit dem richtigen Duft lassen wir<br />

die zarte Seite in uns verschwinden und mutieren am Abend<br />

zur Femme fatale.<br />

Doch ganz so einfach, wie es klingt, ist es nicht. Stefanie<br />

Hanssen weiß, dass „drei bis vier Düfte pro Person normal<br />

sind. Nur weil wir viele Düfte besitzen, heißt das nicht, dass<br />

wir keine gefestigte Persönlichkeit haben. Wir können aber<br />

zum Beispiel unterscheiden zwischen Düften für den Tag<br />

und für den Abend. Damit kann beliebig gespielt werden.<br />

Ein Parfum, das man abends aufträgt, soll eine ganz andere<br />

Wirkung haben – auf unsere Umgebung, auf die Menschen,<br />

die man trifft.“ Der Geruchsexperte Luca Turin unterstützt<br />

diese Meinung und bezeichnet einen Duft daher als „chemisches<br />

Gedicht“. Also keine Angst: Nur weil Sie beim<br />

Parfum nicht unbedingt nach dem Motto „Never change a<br />

winning team“ leben, heißt das noch lange nicht, dass Sie<br />

sich ihrer Persönlichkeit unsicher sind. Ganz im Gegenteil:<br />

Wer weiß, mit welchem Duft er welche Assoziationen auslösen<br />

kann, hat schon gewonnen. Ob bei Meetings, in der<br />

Oper oder beim Essen mit den angehenden Schwiegereltern.<br />

Jeder Duft kann einen gewissen<br />

Teil unseres Charakters hervorheben<br />

und positiv unterstreichen.<br />

Parfums intensivieren unseren<br />

Auftritt. Spot an!<br />

Doch Düfte unterstreichen nicht<br />

nur unsere Persönlichkeit, sondern<br />

beeinflussen durch die MHC-Allele (Gene) auch die<br />

Partnerwahl. „Über den Geruch wird das genetische<br />

Profil unseres Gegenübers übermittelt“,<br />

sagt Diplom Psychologe Markus Damm aus<br />

Worms. Und auch Psychologin<br />

und Autorin<br />

Rachel Herz von der<br />

Brown University auf<br />

Rhode Island hat herausgefunden,<br />

dass „die<br />

Frauen den schlecht<br />

rie chenden Männern<br />

bewusst aus dem Weg<br />

gehen. Sie halten aktiv<br />

nach gut riechenden<br />

Ausschau.“ Vor allem<br />

ein hoher Testosteronspiegel<br />

bescheinigt den<br />

Männern einen guten<br />

Duft, obwohl diese<br />

eher weniger auf den<br />

Duft bei Frauen achten.<br />

„Das Aussehen ist<br />

wichtiger, aber trotzdem<br />

können Frauen mit den richtigen Düften Männer fast<br />

blind verführen“, so Damm.<br />

Der Mensch kann seine genetische Duftnote also mit einem<br />

Parfum aufpeppen und so seine Chancen auf dem Liebesmarkt<br />

steigern. Das Max-Planck-Institut in Plön um Manfred<br />

Milinski forscht seit Jahren auf diesem Gebiet. „Während wir<br />

uns bei unserem eigenen Parfüm für ein genetisch passendes<br />

Make-up entscheiden, das die Botschaften unseres Körpergeruchs<br />

verstärkt, wählen wir den Partner aufgrund seiner optimalen<br />

Andersartigkeit aus – er soll eben Gene mitbringen, die<br />

wir selbst nicht haben“, so heißt es in einer Studie des Instituts<br />

aus dem Jahre 2006.<br />

Aber wieso befinden sich 08/15-Düfte wie Hilfiger Peach Blossom<br />

oder der Duft von Jimmy Choo unter den Top 10 der<br />

Douglas-Verkäufe? Will jeder gleich riechen? Bleibt da nicht<br />

die Individualität auf der Strecke? Und kann man mit solchen<br />

Durchschnittsdüften überhaupt positive Assoziationen bei<br />

anderen wecken? In welche Richtung treibt uns das bei der<br />

Partnerwahl? Mit einer guten Kampagne, einem großen Namen<br />

und einem bekannten Werbegesicht steigern Kosmetikkonzerne<br />

ihren Gewinn enorm. „Viele Menschen kaufen sich<br />

bewusst Parfums, weil ein großer Name dahinter steht und sie<br />

neugierig darauf sind. Sie haben Spaß daran, sich das neueste<br />

Produkt ins Bad zu stellen – wahrscheinlich auch aus einem<br />

Markenfetischismus heraus“, so Frau Hanssen. Das ist aber<br />

glücklicherweise nicht immer so.<br />

Hochkarätige Parfümeure benötigen<br />

teilweise Monate oder sogar<br />

Jahre für die Komposition eines<br />

neuen Duftes. Wertvolle Ingredienzien<br />

vermischen sich zu einer<br />

einzigartigen Komposition, die<br />

sich auf jeder Haut in einer andere Richtung entfalten<br />

kann. Deshalb erlebt der Nischenduft in<br />

den letzten Jahren einen regelrechten Boom.<br />

Hier kommt es den meist kleinen und unbe -<br />

kannten Firmen nicht<br />

auf die Masse, sondern<br />

auf Individualität an.<br />

Jeder Mensch muss<br />

seine eigene Duftnote<br />

Ein Duft<br />

ist eine<br />

Botschaft des<br />

Menschen,<br />

der ihn trägt<br />

verstärken – und genau<br />

deshalb hat auch jeder<br />

einen anderen Anspruch<br />

an einen Duft.<br />

Doch individuelle Par -<br />

fums sind nicht in<br />

jeder Parfümerie erhältlich<br />

und meistens<br />

ziemlich teuer – aber<br />

sie haben einen hohen<br />

emotionalen Wert und<br />

lassen Persönlichkeiten<br />

noch einzigartiger<br />

sein, als sie es ohnehin<br />

schon sind.<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

40<br />

41


mischkultur<br />

Stoffe aus Marrakesch,<br />

Silberschmuck aus Goa, Vintagemode<br />

aus Berlin und ein Junge aus<br />

Bad Pyrmont – eine stilistische Weltreise<br />

Fotos: Sandra Semburg<br />

Styling/Produktion:<br />

Manuel Almeida Vergara, Sina Bayer<br />

Haare/Make-up: Coco Meurer<br />

Model: Lenny/Izaio Models<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

Fotocredit<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

42<br />

43


Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

Fotocredit<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

44<br />

45


Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

46<br />

47


von SIna Bayer<br />

Im Westen was Neues<br />

ndreas Murkudis gilt als „Kurator der schönen Dinge“<br />

und seine Concept-Stores als Geheimtipp für guten<br />

Geschmack. In den letzten sechs Jahren hat er in der<br />

Berliner Münzstraße nach und nach sechs Geschäfte<br />

eröffnet: Die Schaufenster zur Straße besetzen auch<br />

heute noch sein Acne-Store und ein kleiner Laden,<br />

in dem er exklusive Schiesser-Kollektionen verkauft.<br />

Im Hinterhof, abgeschottet vom Trubel der Einkaufsmeile,<br />

befanden sich seine Concept-Stores<br />

AM1 bis 3 und der Einrichtungsladen Etage. Dort<br />

verkaufte er neben eher unbekannten Designobjekten<br />

vor allem Kleidungsstücke und Accessoires<br />

von ausgewählten Designern wie Dries<br />

van Noten, Maison Martin Margiela oder seinem<br />

Bruder Kostas Murkudis. Nun verschlug<br />

es den gebürtigen Dresdner mit griechischen<br />

Wurzeln in die Innenhöfe des alten Tagesspiegel-Geländes<br />

in der Potsdamer Straße 77-87.<br />

Zunächst eine ungewöhnliche Entscheidung.<br />

War die wilde Potse in den letzten Jahren<br />

doch eigentlich nur noch durch ihre Nähe<br />

zum Hausfrauenstrich bekannt. Warum die Potsdamer Straße<br />

dennoch eine kleine Oase ist, welche Projekte außerdem für<br />

den Westen geplant sind und warum Berlin ein Glücksfall für<br />

Andreas Murkudis ist, verrät er im WERK VI-Interview.<br />

Sie haben 20 Jahre lang im Berliner Museum der Dinge gearbeitet.<br />

Warum haben Sie sich dann entschlossen, einen eigenen<br />

Concept-Store zu eröffnen?<br />

Einerseits wollte ich wieder mal etwas Neues anfangen, andererseits<br />

hat es mich auch gereizt, nach einer Zeit mit so vielen<br />

Mitarbeitern etwas ganz allein zu machen. Ich hatte bereits im<br />

Museum der Dinge einen kleinen Shop mitinitiiert, mit dem<br />

ich ein bisschen üben konnte. Mein Traum war es aber, einen<br />

Laden zu eröffnen, in dem ich wirklich nur verkaufe, was ich<br />

selbst gern um mich habe.<br />

Kommt es vor, dass sich Dinge, die Sie persönlich toll finden,<br />

überhaupt nicht gut verkaufen?<br />

Das kommt natürlich vor. Dennoch stehe ich hinter diesen<br />

Objekten. Viele Läden schmeißen Ware aus ihrem Sortiment,<br />

weil sie nicht genug Umsatz bringt. Das ist aber nicht meine<br />

Philosophie. Dann könnte ich auch einfach in jeder Stadt einen<br />

Acne-Laden eröffnen, zu Hause sitzen und dabei zusehen, wie<br />

meine Umsätze steigen.<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

48<br />

Im neuen Concept-Store in der<br />

Potsdamer Straße bleibt sich<br />

Andreas Murkudis treu: klare Linien<br />

und ausgewählte Designobjekte<br />

Mit Ihren Hinterhof-Läden meiden Sie die breite Öffentlichkeit.<br />

Ist das Teil des Konzepts?<br />

In erster Linie will ich Ruhe haben. Die Dinge, die ich verkaufe,<br />

haben alle eine Geschichte, die es zu erzählen gilt. Ob<br />

es Designmöbelhersteller wie E15 sind oder handbemalte<br />

Totenschädel von der Porzellan-Manufaktur Nymphenburg,<br />

da braucht man einfach Zeit, um etwas über die Produkte zu<br />

erzählen. Das wäre in einem Laden mit viel Laufkundschaft<br />

gar nicht möglich.<br />

><br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

49


V o n M a n u e l A l m e i da V e r g a r a<br />

Foto: Robert Kromm<br />

Der 49-jährige<br />

Andreas Murkudis<br />

verkauft nur<br />

Dinge, die er<br />

selbst gern hätte<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

> Ist es Ihnen in Mitte jetzt also zu unruhig geworden<br />

oder warum sind Sie in die Potsdamer Straße<br />

gezogen?<br />

Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens hatten<br />

wir in der Münzstraße eindeutig zu wenig<br />

Platz. Zweitens hat sich die Gegend dort nicht<br />

zum Besten verändert. Die Mieten sind so angestiegen,<br />

dass viele interessante Konzepte ausgebremst<br />

wurden. Und ja, mittlerweile ist es mir<br />

auch zu rummelig, zu kommerziell geworden.<br />

Mir war im Grunde schon vor zwei Jahren klar,<br />

dass Mitte nicht mehr der richtige Ort für mich<br />

ist. Es war aber gar nicht so einfach, etwas Passendes zu finden.<br />

Die Potsdamer Straße in Schöneberg liegt in einer Gegend, die<br />

noch vollkommen neutral ist. Bezirke wie Friedrichshain oder<br />

Prenzlauer Berg sind inhaltlich schon besetzt, da möchte man<br />

nicht mehr hin. Nach Kreuzberg darf man meiner Meinung<br />

nach nicht ziehen, weil das in den letzten Jahren so gehyped<br />

wurde, dass es schon wieder out ist und Neukölln ist mir zu<br />

jung ... Ich war also zwei Jahre lang auf der Suche. Und in der<br />

Potsdamer Straße gibt es einfach gute Flächen zu mieten. Von<br />

außen sieht das alte Tagesspiegel-Gelände zwar scheußlich aus,<br />

aber der Hof ist wie eine kleine Oase.<br />

Haben Sie keine Angst, Kunden zu verlieren?<br />

Wir haben zu 80 Prozent Stammkunden. Die können jetzt<br />

ganz bequem mit dem Auto zu uns kommen und vor der Tür<br />

parken. Trotzdem ist der Umzug natürlich ein Experiment. Es<br />

wird eine spannende Zeit und alles andere wäre ja auch langweilig.<br />

Ich könnte natürlich auch die Beine hochlegen und sagen:<br />

„Toll, es läuft!“, aber das ist nicht meine Art. Natürlich<br />

muss man sich immer wieder etwas einfallen lassen, um die<br />

Leute zu überraschen und in den Laden zu locken. So werden<br />

wir in den neuen Räumen auch ein größeres Sortiment anbieten,<br />

um unseren Kunden noch mehr bieten zu können.<br />

Die Potsdamer Straße ist nicht Ihr einziges Projekt im Westen<br />

der Stadt. Im Bikini Berlin am Zoo haben Sie eine ganze Etage<br />

gemietet. Können Sie uns mehr darüber erzählen?<br />

In Berlin gibt es nur billige Shopping-Mals wie das Alexa oder<br />

sehr elitäre Luxuskaufhäuser wie das KaDeWe. Aber es gibt<br />

bisher nichts dazwischen. Im Bikini Berlin an der Budapester<br />

Straße soll es ein Apartmenthotel, Restaurants, Cafés, ein<br />

Brauhaus, Ärzte aber auch Geschäfte wie Muji, Vitra oder Manufactum<br />

geben. Im Grunde wird es eine kleine Stadt in der<br />

Stadt sein. Es wird auch eine wunderschöne Terrasse geben,<br />

von der aus man einen tollen Blick auf den Zoo hat und beim<br />

Kaffeetrinken die Affen und Flamingos beobachten kann. Ich<br />

denke, das wird ein sehr schönes Projekt. Anfang 2013 soll es<br />

eröffnet werden.<br />

Was planen Sie im Bikini Berlin?<br />

Ich habe zwar eine komplette Etage mit circa 1.200 qm gemietet,<br />

bin aber nicht so größenwahnsinnig zu denken, dass ich<br />

die allein bespielen kann. Die Idee ist, dass ich einen Teil davon<br />

für mich nutze und für die restliche Fläche suche ich mir<br />

Nachbarn, mit denen ich gern zusammenarbeiten würde. Am<br />

liebsten wäre mir, wenn ein Architekt die Fläche so gestaltet,<br />

dass zwar jeder seine eigene Identität behält, man aber ohne<br />

diese Glasboxen auskommt. Genaueres kann ich dazu aber<br />

noch nicht sagen.<br />

Berlin verändert sich stetig. Lange Zeit war Mitte der Bezirk, in<br />

dem sich alles abspielte. Warum ist der Westen für neue Projekte<br />

wieder so interessant geworden?<br />

Im Westen wurde immer schon das Geld ausgegeben. Leider<br />

war es bisher für Multibrand-Läden eher schwierig, sich dort<br />

zu halten. Aber das KaDeWe funktioniert gut. Das Bikini Berlin<br />

wird ein wichtiges Thema im Westen werden. Auch Apple<br />

möchte einen großen Store eröffnen, es entsteht gerade ein<br />

Waldorf-Astoria-Hotel und Hermés hat seinen Laden in der<br />

Friedrichstraße geschlossen und baut stattdessen seinen Store<br />

am Ku'Damm weiter aus. Man spürt deutlich, dass auch die<br />

Monobrand-Läden nicht mehr nach Mitte ziehen, sondern<br />

eher in den Westen gehen. Der Westen ist auf jeden Fall wieder<br />

im Kommen, gerade für hochpreisigere Läden.<br />

Mitte hingegen hat eher ein junges Publikum. Schreckt Sie das<br />

auch ein wenig ab?<br />

Es ist ja nicht so, dass wir keine jungen Kunden haben wollen.<br />

Aber dieses Mitte-Ding spricht eher junge Leute an, die mal<br />

schnell mit Easy Jet nach Berlin fliegen, bei Freunden wohnen<br />

und nur wenig Geld ausgeben wollen. Das ist ja auch in Ordnung,<br />

aber da bleibt dann wenig Raum für etabliertere Konzepte.<br />

In jeder großen Stadt findet ein stetiger Wandel statt und<br />

das ist auch gut so. Man muss eben nur mit der Zeit gehen und<br />

sich immer wieder etwas Neues einfallen lassen.<br />

Gibt es einen typischen Andreas-Murkudis-Kunden?<br />

Unsere Kunden kommen vor allem aus der Kreativbranche:<br />

Künstler, Galeristen, Schauspieler oder Musiker. Unser Angebot<br />

ist zwar hochwertig und teuer – dennoch kommen zu<br />

uns eher Leute, die sich gern etwas Schönes leisten, aber nicht<br />

kopflos mal eben einen Haufen Geld ausgeben. Unsere Kunden<br />

haben ein gewisses Bewusstsein für Nachhaltigkeit und interessieren<br />

sich dafür, wo und von wem die Ware gefertigt wurde. In<br />

Deutschland ist das leider ein Problem: Die meisten Menschen<br />

legen keinen Wert auf gutes Essen oder Handwerk, obwohl es<br />

doch durchaus Leute gibt, die ganz ordentlich Geld verdienen.<br />

Können Sie sich vorstellen, Berlin irgendwann zu verlassen?<br />

In keiner anderen Stadt hätte ich das aufbauen können, was ich<br />

mir hier geschaffen habe. Ich habe im Grunde bei null angefangen<br />

und mittlerweile sieben Geschäfte eröffnet. In anderen<br />

Städten wie Paris oder London wäre das finanziell nicht möglich<br />

gewesen. Berlin ist für mich die Stadt, in der man seine<br />

Träume und Ideen verwirklichen kann – ein absoluter Glücksfall<br />

für mich.<br />

Fotos: PR (2)<br />

Fotocredit<br />

Bikini Season<br />

In Berlins neuer alter Mitte<br />

ist der architektonische<br />

Zweiteiler wieder angesagt<br />

ie Berliner Stadtsoziologie<br />

dieser Tage erfährt<br />

einen so bemerkenswert<br />

schnellen Veränderungsprozess,<br />

dass die hauptstädtische<br />

Mundart<br />

in ihrer sonst so kodderigen<br />

Art weniger von den<br />

obligatorischen „Icke“, „Schnieke“,<br />

„Knorke“ beherrscht wird, sondern von<br />

weit komplizierteren Wörtern wie „Umstrukturierung“<br />

oder „Aufwertung“.<br />

Dass Berlin Deutschlands lebenswerteste<br />

Stadt ist, darüber waren sich hier<br />

schon immer alle einig. Stetig steigende<br />

Touristenzahlen verdeutlichen aber,<br />

dass darüber jetzt auch der Rest der<br />

Welt Bescheid weiß. Berlin ist Europas<br />

Trendmetropole der Stunde und<br />

zieht die internationalen Künstler und<br />

Kreative derzeit an wie keine zweite.<br />

Dieses Klientel reizt momentan besonders<br />

der Westen. Waren Prenzlauer Berg<br />

und Mitte im Osten vor fünf Jahren<br />

noch die unangefochtenen Szenebezirke,<br />

so sind es jetzt die Kieze vom Westberliner<br />

Wedding oder Neukölln,<br />

die als Gegend mit dem größten Trendcharakter<br />

gelten. Letzterer schaffte<br />

es ob seinem Status als neue alte Nachbarschaft<br />

der Berliner Boheme unter<br />

dem Titel „In Berlin, a creative wave“<br />

kürzlich sogar in die New York Times.<br />

Es hat sich also auch weit über die<br />

Grenzen Deutschlands hinaus herumgesprochen,<br />

dass nicht nur Berlin im<br />

Allgemeinen, sondern auch sein Westen<br />

im Besonderen ein Magnet für die<br />

internationale Kreativszene ist. Klar,<br />

dass diese eine Mitte braucht. Und da<br />

sich die eigentliche Mitte Berlins,<br />

also Mitte, besetzt von Touristenläden<br />

und Modeketten aus dem unteren<br />

Preissegment zeigt, ist es wie vor der<br />

Wende wieder der Bahnhof Zoo,<br />

der das Zentrum der Aufmerksamkeit<br />

bilden soll. Die Macher von Bikini<br />

Berlin haben diesen Trend schnell<br />

erkannt. Das Gebäudeensemble, das<br />

sich vom Bahnhof Zoo über das Kino<br />

Zoo Palast und das Bikinihaus<br />

(das seinen Namen der ehemals zweigeteilten<br />

Hausfassade verdankt) bis<br />

zu dem kleinen Hochhaus neben dem<br />

Elefantentor erstreckt, befindet<br />

sich seit 2010 in der Neugestaltungsphase.<br />

Dabei wird behutsam revitalisiert<br />

und auf radikalen Abriss verzichtet,<br />

zugunsten der Dokumentation der<br />

Geschichte und Einbindung dieser ins<br />

Heute. Das Areal, welches jeher ein<br />

Symbol für den wirtschaftlichen<br />

Aufschwung der 1950er-Jahre war,<br />

soll seine Mid-Century-Avantgarde<br />

bewahren und in das Stadtbild der<br />

Gegenwart einbinden. So wird beispielsweise<br />

das ehemalige Luftgeschoss von<br />

Paul Schwebes und Hans Schoszberger,<br />

die als bedeutende Architekten der<br />

Nachkriegsmoderne Berlins Gesicht<br />

maßgeblich mit gestalteten, über<br />

30 Jahre nach seiner Schließung wieder<br />

eröffnet. Die vollständige Verglasung<br />

des Geschosses bietet Transparenz,<br />

die für Bikini Berlin nicht nur optisch<br />

eine tragende Rolle spielen wird. Im<br />

Gegensatz zu anderen städtebaulichen<br />

Maßnahmen ist die Einbindung der<br />

Berliner Bürger bei Bikini Berlin Hauptbestandteil<br />

der Planungen. Nicht nur<br />

Einzelhandelsgeschäfte und Restaurants<br />

laden diese ein, sondern auch auf<br />

der gebäuderückseitigen Dachlandschaft<br />

ist ausdrücklich Jedermann erwünscht.<br />

Bei Bikini Berlin geht es um Zusammenführung.<br />

Verknüpfung des Alten<br />

mit dem Neuen, Bindestelle für Konsum<br />

und Konsumenten. Ein Konzept, das<br />

sich die Bayerische Hausbau einen<br />

dreistelligen Millionenbetrag kosten<br />

lässt. Damit finanziert das Münchner<br />

Unternehmen die Ermöglichung<br />

von rund 50.000 qm Nutzfläche für<br />

Einzelhandel, Gastronomie und<br />

Showrooms sowie Büro- und Lagerflächen,<br />

aber auch Serviced Apartments.<br />

Angebote, die der gesamten Gegend<br />

um den Bahnhof Zoo Anfang 2013 einen<br />

neuen Charakter verleihen werden,<br />

der vielleicht ganz Berlin eine neue<br />

Mitte geben könnte.<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

50<br />

51


Die Finalistinnen 2011<br />

im Europa Park – Miss<br />

Thüringen Anne-Kathrin<br />

Kosch (3 v. l.) wurde<br />

zur Schönsten gewählt<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

Schön vergänglich<br />

Auch in Deutschland wird jedes Jahr die schönste<br />

Frau des Landes gewählt. Wozu eigentlich?<br />

Fotocredit<br />

Fotocredit<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

52<br />

53


Von Yasemin Kulen<br />

Einer griechischen Sage nach beauftragten die<br />

Göttinnen Aphrodite, Hera und Athene im<br />

Streit um die eigene Schönheit den jungen Paris<br />

von Troja, der ihnen diese Entscheidung abnehmen<br />

sollte. Dabei versuchten alle drei, ihn mit<br />

den verlockendsten Geschenken zu bestechen.<br />

Aphrodite versprach ihm Helena, die schönste<br />

Frau der Welt. Im Gegenzug sollte er sie zur<br />

schönsten Göttin küren. Paris nahm dieses Angebot an. Diese<br />

Sage beweist: Schon in der Antike war es erstrebenswert, mit<br />

dem Attribut „die Schönste“ ausgezeichnet zu werden.<br />

Das Schönheitsideal hat sich seitdem extrem gewandelt. Galten<br />

im Barock noch die üppigen, so genannten Rubensfrauen<br />

als schön, wendete sich das Blatt Anfang des letzten Jahrhunderts.<br />

Schlank war das neue Ideal. Doch würden einstige<br />

Schönheiten wie Marilyn Monroe und Sophia Loren heute mit<br />

Konfektionsgröße 40 wohl eher ausgebuht statt gefeiert werden.<br />

Im Gegensatz zu ihnen stand Twiggy, das Topmodel der<br />

60er-Jahre. Mit einem mageren Körper und kindlichem Aussehen<br />

erlangte die Britin Weltruhm – wie drei Jahrzehnte später<br />

Kate Moss mit dem umstrittenen Heroin Chic. So ist das Empfinden<br />

von Schönheit nicht selten den kulturellen Impulsen<br />

einer Gesellschaft unterworfen.<br />

Seit 1927 wählt man in Deutschland die schönste Frau des<br />

Landes. Ein Jahr lang darf sie sich dann „Miss Germany“ nennen<br />

und nimmt mit diesem Titel an internationalen Wahlen<br />

wie Miss Universe und Miss World teil. Wurden früher<br />

diese Events noch im Fernsehen mit Moderatoren wie Rudi<br />

Carrell übertragen, finden sie heute in Dorfdiskos und im öffentlichen<br />

Rahmen statt. Nicht zu vergessen ist das Finale im<br />

Europa Park Rust, bei dem die 16 Schönheiten der jeweiligen<br />

Bundesländer im Badeanzug um die Krone laufen – mit Jury-<br />

Mitgliedern wie Prof. Dr. Werner Mang, Deutschlands bekanntestem<br />

Schönheitschirurgen, oder dem Fußballmanager<br />

Reiner Calmund.<br />

Seit nunmehr 50 Jahren betreut und organisiert Senior-Chef<br />

Horst Klemmer die Miss-Germany-Wahlen, bei denen jährlich<br />

die Frauen mit der Zahl des jeweiligen Jahres gekürt werden. Ein<br />

Jahr später ist eine Miss meist vergessen. Schon lange werden<br />

ehemalige Missen nicht mehr berühmt. Die letzte war Verona<br />

Feldbusch – und die meisten wissen gar nicht, dass sie einmal<br />

Miss Germany war. Vielleicht ist es der Mangel an stetigem<br />

Wandel, der die Miss Germany Corporation zu einer steifen,<br />

eingestaubten Institution werden ließ. Vielleicht aber auch das<br />

steigende Bewusstsein, dass wahre Schönheit von innen kommt –<br />

und das wäre ja ganz schön!<br />

»Ich wollte nie mein Leben lang nur Miss Germany sein«<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

Die Berlinerin<br />

Anne Julia Hagen wurde<br />

2010 zur schönsten<br />

Frau Deutschlands<br />

gekürt. Heute ist<br />

sie Studentin, Model<br />

und Schauspielerin<br />

Anne, du warst schon<br />

vorher Model, warum die<br />

Miss-Germany-Wahl?<br />

Als ich mit 18 die Schule<br />

beendet hatte, habe ich überlegt,<br />

was man in der Überbrückungszeit<br />

zwischen<br />

Abi und Studium machen<br />

kann. Da habe ich mich für<br />

die Wahl Berlin Miss<br />

Alexanderplatz beworben.<br />

Das hat geklappt, dann war<br />

ich bei der Miss Berlin Wahl,<br />

und das hat auch geklappt.<br />

So kam ich zu Miss Germany,<br />

die ich dann geworden bin.<br />

Ich habe das als Karrieresprungbrett<br />

genutzt.<br />

Wie stehst du zu dem Titel<br />

Miss Germany?<br />

Ich wollte nie mein Leben lang<br />

nur Miss Germany sein. Klar,<br />

man ist schon stolz, aber ich<br />

möchte nicht immer mit<br />

diesem Titel in Verbindung<br />

gebracht werden. Mich hat<br />

daran gestört, dass man immer<br />

mit „Miss Germany“ angesprochen<br />

wurde und nicht mit<br />

seinem Namen. Man ist eine<br />

Nummer und etwas Sächliches.<br />

Denkst du also, ein schöner<br />

Mensch wird automatisch als<br />

„Ding“ abgestempelt?<br />

Ich persönlich sehe mich überhaupt<br />

nicht als „Ding“, aber<br />

ich kann natürlich nicht<br />

beurteilen, wie andere das<br />

sehen. Manche Leute denken<br />

sicher so klischeehaft, dass<br />

ein schöner Mensch weniger<br />

kann oder nichts drauf hat.<br />

In den 60ern mussten die<br />

Missen noch Fragen wie „In<br />

welcher Stadt steht der<br />

Kölner Dom?“ beantworten.<br />

Musstest du dich mit dem<br />

Klischee „schön gleich dumm“<br />

auseinandersetzen?<br />

Also wenn man mit dieser<br />

Schärpe unterwegs ist, denken<br />

sich einige bestimmt: „Komm,<br />

lass stecken, mit der braucht<br />

man gar nicht zu reden, die hat<br />

eh nix im Kopf.“ Andererseits<br />

gibt es auch Leute, die dich<br />

dann behandeln, als wärst du<br />

die Kaiserin von China. Ich<br />

glaube aber, dass dies nicht<br />

nur bei Missen so ist. Es reicht<br />

schon, dass man überdurchschnittlich<br />

aussieht. Vielleicht<br />

hat man besonders lange<br />

Beine. Dann fällt man aus der<br />

Norm raus und dann heißt es<br />

immer: „Die hat nichts drauf.“<br />

Was hältst du denn davon,<br />

dass heute Frauen wie<br />

Beth Ditto oder Maite Kelly<br />

so erfolgreich sind?<br />

Ich finde es total super. Auch<br />

korpulentere Frauen wie<br />

Beth Ditto haben eine tolle<br />

Aura, weil sie so ein<br />

„Strahlekeks“ ist. Ich gucke<br />

sie mir deshalb so gern an.<br />

Es gibt einfach Leute, die<br />

sind einem sympathisch.<br />

Da kommt es nicht drauf an,<br />

ob man Konfektionsgröße<br />

46 oder 32 hat.<br />

FotoS: Missgermany.de (2)<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

54


Wir, hier in Berlin – wandelbar und wunderbar<br />

HADNET TESFAI<br />

Moderatorin<br />

Berlin ist...<br />

manchmal ganz schön dreckig,<br />

sehr wild und immer sexy.<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

Dein liebster Bezirk?<br />

Der Wedding!<br />

Was nervt dich an der Stadt?<br />

Dass der Winter manchmal<br />

so lang ist und dass Berlin<br />

nicht am Meer liegt.<br />

Welche Gegend hat sich in<br />

den letzten Jahren am<br />

meisten verändert?<br />

Mitte und Kreuzberg haben<br />

sich sehr stark verändert.<br />

Gestern bin ich zum Beispiel die<br />

Schlesische Straße runtergelaufen<br />

und habe nur Englisch,<br />

Spanisch, Portugiesisch<br />

und Französisch gehört. Ich<br />

habe mir wirklich gewünscht,<br />

mehr Türkisch zu hören.<br />

Was wird sich nie ändern?<br />

Die Schnodderigkeit der Berliner.<br />

Wärst du hier, wenn die Mauer<br />

noch stehen würde?<br />

Berlin hätte sich dann wohl<br />

niemals zu so einem wichtigen<br />

Medienstandort entwickelt.<br />

Nein, dann wäre ich nicht hier.<br />

Ich bin nach Berlin gekommen,<br />

um ein Praktikum zu machen.<br />

Ich hatte jedoch nie das Bedürfnis,<br />

hierher kommen zu müssen,<br />

weil ich mich in meiner schwäbischen<br />

Provinz so eingeengt fühlte,<br />

mal raus müsste oder weil ich<br />

mich in Berlin ausleben wollte.<br />

Ost oder West?<br />

West! All day errday!<br />

Braucht Berlin noch mehr Einwohner<br />

von außerhalb?<br />

Jede Stadt braucht immer Einwohner<br />

von außerhalb. Wenn<br />

keiner mehr kommt, findet<br />

irgendwann kein Austausch mehr<br />

zwischen Alt und Neu statt. Das<br />

ist wie in einem Aquarium, das<br />

braucht auch regelmäßig frisches<br />

Wasser. Du kannst noch so viel<br />

filtern, irgendwann ist der<br />

Sauerstoff einfach verbraucht und<br />

dann muss der Inhalt<br />

ausgetauscht werden. So ist das<br />

auch mit den Städten.<br />

STADT<br />

GESPRACHE<br />

Berlin ist immer in Bewegung. Täglich entwickelt die Hauptstadt<br />

neue Facetten und verändert ihre Gestalt. Synchron<br />

schlägt das Berliner Herz im Rhythmus seiner Bewohner – und diese<br />

kommen von überall her und schlafen nie. Mit sechs von ihnen<br />

sprechen wir über ihre Stadt<br />

Interviews:<br />

Juliane Dumjahn, Brigitta Lentz, Julia Quante<br />

Fotos: Robert Kromm<br />

Retouch: Sebastian Reuter/Roita Photodesign<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

56<br />

57


JOKO WINTERSCHEIDT<br />

Moderator<br />

Berlin ist...<br />

die provinziellste<br />

Großstadt der Welt.<br />

Dein Lieblingsplatz?<br />

Meine Badewanne.<br />

Was nervt dich an der Stadt?<br />

Mich nerven die offenen<br />

Menschen, die gar nicht so offen<br />

sind, wie sie immer tun.<br />

Was hat sich am meisten<br />

verändert, seitdem du hier bist?<br />

Kreuzberg. Der Bezirk ist zu<br />

kommerziell geworden.<br />

Was wird sich in Berlin nie<br />

ändern?<br />

Die gute Laune der Taxifahrer.<br />

Wärst du hier, wenn die<br />

Mauer noch stehen würde?<br />

Wegen des Geldes würde ich<br />

vielleicht in Westberlin<br />

wohnen. Aber wahrscheinlich<br />

eher nicht.<br />

Ost oder West?<br />

Ost.<br />

Braucht Berlin noch mehr<br />

Einwohner von außerhalb?<br />

Aus dem direkten Berliner<br />

Umfeld eher nein.<br />

Brandenburg ist Brandenburg<br />

und Berlin ist Berlin (lacht).<br />

Ansonsten ist die ganze Welt<br />

recht herzlich eingeladen.<br />

KLAUS WOWEREIT<br />

Regierender<br />

Bürgermeister<br />

Berlin ist...<br />

sexy.<br />

Ihr liebster Ort in Berlin?<br />

Ich fühle mich dort wohl,<br />

wo sich die Berliner wohl fühlen.<br />

Was nervt Sie an der Stadt?<br />

Dass alles viel zu schnell voran geht.<br />

Was hat sich in den letzten<br />

Jahren am meisten verändert?<br />

Die größte Veränderung, die Berlin<br />

gemacht hat, war der Fall der Mauer.<br />

Was wird sich in Berlin nie ändern?<br />

Definitiv die gute Laune der Berliner.<br />

Wären Sie hier, wenn die Mauer<br />

noch stehen würde?<br />

Auf jeden Fall.<br />

Ost oder West?<br />

West.<br />

Braucht Berlin noch mehr<br />

Einwohner von außerhalb?<br />

Die Stadt braucht unbedingt noch<br />

mehr Einwohner. Warum auch nicht?<br />

Jeder, der hierher kommen möchte,<br />

ist zu jeder Zeit herzlich willkommen.<br />

KATJA SCHLEGEL &<br />

KAI SEIFRIED<br />

Modedesigner,<br />

Starstyling<br />

Berlin ist...<br />

unser Zuhause.<br />

Euer liebster Platz in Berlin?<br />

Unser Atelier!<br />

Was nervt euch an der Stadt?<br />

Eigentlich nur die<br />

miesen Bäckereien.<br />

Was hat sich in den letzten<br />

Jahren am meisten verändert?<br />

Wir haben uns am meisten<br />

verändert und vor allem auch<br />

weiterentwickelt.<br />

Und was wird sich in<br />

Berlin niemals ändern?<br />

Die frechen Berliner<br />

Schnauzen werden immer<br />

zu finden sein.<br />

Wärt ihr hier, wenn die<br />

Mauer noch stehen würde?<br />

Kommt drauf an,<br />

auf welcher Seite...<br />

Ost oder West?<br />

Mitte!<br />

Braucht Berlin noch mehr<br />

Einwohner von außerhalb?<br />

Ja gern – die Stadt ist<br />

ja erst halbvoll.<br />

Berlin könnte zurzeit bis<br />

zu acht Millionen<br />

Einwohner fassen.<br />

Foto: PR (1)<br />

Fotocredit<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

58<br />

59


JAYBO MONK<br />

Künstler<br />

Berlin ist...<br />

der Ort, den ich vermisse,<br />

wenn ich weg bin und hasse,<br />

wenn ich wiederkomme.<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

Fotocredit<br />

Dein liebster Platz?<br />

Die Hasenheide um 7 Uhr<br />

morgens. Mit meinem<br />

Hund und Sprühregen.<br />

Und was nervt dich<br />

an der Stadt?<br />

So vieles und so wenig<br />

zugleich. Zu viele Kneipen,<br />

Private Viewings und<br />

kokainverzerrte Gesichter.<br />

Du kommst ursprünglich aus<br />

Frankreich. Was hat sich,<br />

seitdem du hier lebst, am<br />

meisten verändert?<br />

Die Angeberei in Mitte.<br />

Und dass es mehr<br />

Künstler als Pinsel gibt.<br />

Und was wird sich in Berlin<br />

niemals ändern?<br />

The shades of grey –<br />

Berlin hat alle Nuancen<br />

unter einem Dach.<br />

Wärst du hier, wenn die<br />

Mauer noch stehen würde?<br />

Natürlich, ich bin ein<br />

Berliner! Viel mehr als<br />

ein Franzose. Die<br />

Mauer war der Grund,<br />

dass ich hier bleiben musste.<br />

Ich werde erst gehen,<br />

wenn man eine neue baut.<br />

Ost oder West?<br />

West. Meine Inspiration hole<br />

ich aber aus dem Osten.<br />

Braucht Berlin noch mehr<br />

Einwohner von außerhalb?<br />

Berlin braucht Seelen zum<br />

Essen. Und Berlin ist<br />

hungrig. Die Stadt besteht<br />

aus Ausländern – national<br />

oder international.<br />

UDO WALZ<br />

Friseur<br />

Berlin ist...<br />

genau meine Stadt!<br />

Wo sind Sie am liebsten?<br />

Auf der Pfaueninsel,<br />

da ist es so schön ruhig.<br />

Was nervt Sie an Berlin?<br />

Rein gar nichts!<br />

Was hat sich in Berlin<br />

am meisten verändert?<br />

Hauptsächlich nur, dass<br />

die Mauer weg ist, aber Mitte<br />

hat sich auch stark verändert.<br />

Was wird sich niemals ändern?<br />

Ganz klar, die Toleranz<br />

der Menschen!<br />

Wären Sie hier, wenn<br />

die Mauer noch stehen würde?<br />

Ja!<br />

Ost oder West?<br />

West natürlich.<br />

Braucht Berlin noch<br />

mehr Einwohner von außerhalb?<br />

Ja, denn das ist ein<br />

unaufhaltsamer und natürlicher<br />

Prozess, den ich gut finde.<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

60<br />

61


HELTER SKELTE<br />

»Well will you won’t you want me to make you<br />

I’m coming down fast but don’t let me break you« *<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

Fotos: Björn Giesbrecht<br />

Styling/Produktion:<br />

Madlen Uhlemann, Stefanie Linda KrauSS<br />

Haare: Manuela Kopp, Make-up: Anna Neugebauer<br />

Models: Eva Maria/M4 Models, Reyhan/<br />

On°1 Management, Tobias/Mokka Models<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

62<br />

*The Beatles, „Helter Skelter“, 1968<br />

63


Vorherige Seite<br />

Eva (liegend)<br />

Kleid und Leggins: Minimum<br />

Rock: Cheap Monday<br />

Bolero aus Spitze: Very<br />

Schuhe: Zign<br />

Reyhan<br />

Kleid: Eucalyptus<br />

Jacke: Vila<br />

Tobias<br />

Anzug: Bally<br />

Hemd: Cheap Monday<br />

Cape: Weekday<br />

»Look down on me, you will see a fool.<br />

Look up at me, you will see your Lord.<br />

Look straight at me, you will see yourself« *<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

64<br />

* Charles Manson<br />

Eva<br />

Hut: By Malene Birger<br />

Jackett: Vero Moda<br />

Top: Vila<br />

Hose: Weekday<br />

Ohrringe & Kette: Vintage<br />

Reyhan<br />

Lederkleid: Goosecraft<br />

Leggins: By Marlene Birger<br />

Schuhe: Emma Go<br />

Gürtel: Vintage<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

65


Tobias<br />

Anzug und Hemd: Bally<br />

Cape: Weekday<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

66<br />

Fotocredit<br />

Eva<br />

Sonnenbrille: Dior Vintage<br />

(von Lunettes Berlin)<br />

Samtkleid: Eucalyptus<br />

Stricktuch: Vintage<br />

Reyhan<br />

Sonnenbrille: Vintage<br />

(von Lunettes Berlin)<br />

Bluse: By Malene Birger<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

67


Tobias<br />

Anzug: Bally<br />

Hemd: Cheap Monday<br />

Cape: Weekday<br />

Schuhe: Emu<br />

Reyhan<br />

Kleid: Vero Moda<br />

Seidenmantel: Vintage<br />

Lederjacke: Vintage<br />

Leggins: Minimum<br />

Eva<br />

Bluse: By Malene Birger<br />

Rock: Bally<br />

Hut und Leggins: Vintage<br />

Schuhe: Jeffrey Campbell<br />

Vielen Dank an Susan Hempel<br />

und Maike Schmalle<br />

Werk <strong>Metamorphose</strong> VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

. Werk VI<br />

Fotocredit<br />

Fotocredit<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

68<br />

69


VON ANne Tröst<br />

Gestriegelte<br />

Gentlemen<br />

Internationale Coiffeure wie<br />

Toni&Guy (M.) und Vidal<br />

Sassoon interpretieren in<br />

ihren Kollektionen Stil–<br />

Frisuren immer wieder neu<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

lockige<br />

Rebellen<br />

Wie die Frisur eines Mannes<br />

seinen Charakter macht<br />

Die schwarze Tolle war sein Markenzeichen. Wenn<br />

Elvis Presley auf die Bühne ging, saß nicht nur jeder<br />

Akkord, jede Oktave – sondern auch die penibel<br />

gegelte und doch so lebendig schwingende Locke in<br />

seiner Stirn. Mit drei verschiedenen Pomaden widmete sich<br />

der King of Rock’n’Roll in perfektionistischer Feinarbeit einer<br />

Frisur, die mit dem wachsenden Erfolg seines Trägers zum großen<br />

Symbol der Rockabilly-Ära wurde. Seit den 50ern unzählige<br />

Male kopiert und weiterentwickelt, verkörpert der Pompadour,<br />

der seinen Namen ursprünglich der Mätresse Ludwig<br />

XV. verdankt, noch bis heute das Empfinden von Freiheit und<br />

Rebellion. Mit ihm kreierte Elvis nicht nur eine Trendfrisur,<br />

sondern zeigte ein ganzes Lebensgefühl.<br />

Als am 18. Oktober 2009 ein Büschel seiner Haare in Chicago<br />

einen neuen Besitzer suchte, war Elvis Presley bereits 32 Jahre<br />

tot. Für 12.300 Euro gingen, neben Stofftaschentüchern und<br />

Hochzeitsfotos, die spröden Hornfäden dann über den Auktionstisch<br />

– gerechtfertigt mit der Hysterie um die Kultfigur,<br />

mit der Manie seiner Fans. Doch auch begründet im Versteigerungsobjekt<br />

selbst: dem Haar; das jemanden so unverkennbar<br />

machte und eine ganze Stil-Kultur für sich einnahm.<br />

Haare, das vielleicht beliebteste Accessoire des menschlichen<br />

Körpers, immerhin wandelbar wie kein anderes, blicken auf<br />

eine bemerkenswerte Geschichte zurück. Wobei es die Frauen<br />

eher simpel hielten: Langes, volles Haar zieht sich wie ein roter<br />

Faden durch die wechselnden Ideale weiblicher Schönheit;<br />

mit leichten Ausschweifungen, was die Farbe anbelangt – mehr<br />

aber auch nicht. Zwischenzeitlich schnitt sich zwar die ein oder<br />

andere die Haare kurz, um der Gesellschaft den modischen<br />

Mittelfinger zu zeigen, aber auch das betont nur die Einfältigkeit<br />

ihrer bislang erprobten Möglichkeiten.<br />

Viel spannender hingegen: das Männerhaar. Ein Pool an Variationen,<br />

der im Verlauf zahlreicher Trend-Diktaturen und<br />

Fotos: PR (3)<br />

zeitweiliger Rollenbilder immer größer wurde. Ob Protagonisten<br />

biblischer Erzählungen, Modeikonen oder Filmcharaktere<br />

– die Frisuren männlicher Hauptakteure einzelner Epochen<br />

sind so unterschiedlich und stilprägend, dass sie als eigenständige<br />

Persönlichkeitsmerkmale Beachtung finden. Wie Elvis’<br />

Locke, die für das Zeitgefühl des Rock’n’Roll, die Rebellion gegen<br />

die Eltern und nicht zuletzt für den berühmten Künstler<br />

selbst steht, der mit seinen hüftlastigen Tanzeinlagen als einer<br />

der Ersten einen Stab an kreischenden Groupies auf seinen<br />

Konzerten zu verzeichnen hatte.<br />

Auch Cary Grant verhalf der Haarschnitt zu Großem: Ab<br />

den 30er-Jahren verführte er Stilikonen wie Marilyn Monroe,<br />

Grace Kelly oder Audrey Hepburn auf der Leinwand – zu verdanken<br />

hat er das womöglich seinem Charme, vielleicht auch<br />

dem Grübchen an seinem Kinn, mit Sicherheit aber auch der<br />

nonchalanten Art, einen Smoking zu tragen. Doch was wirklich<br />

blieb, ist die Frisur. Denn noch heute steht der sorgfältig gezogene<br />

Seitenscheitel für männliche Eleganz und Klasse – eine<br />

Gentleman-Frisur, die immer wieder aufgegriffen und, wenn<br />

nötig, in einen zeitgemäßen Kontext gesetzt wird. So machte<br />

sich eine Neuinterpretation beispielsweise auf dem Kopf von<br />

George Clooney einen Namen: Mit dem Scheitel auf der anderen<br />

Seite und weniger streng zurückgelegt, adaptiert der<br />

Neuzeit-Kavalier den konventionellen Gentleman-Look und<br />

mit ihm nicht nur die Erinnerung an Grant, sondern vor allem<br />

die Attribute, die dabei mitschwingen.<br />

Doch auch mit weniger Haar lassen sich Charakter und Stilgefühl<br />

deutlich machen. Bekannte Filmglatzen wie Telly Savalas,<br />

der als Theo Kojak in der gleichnamigen Fernsehserie dem<br />

Zynismus ein neues Gesicht gab, oder Yul Brynner, der als heroischer<br />

Protagonist des Kultwesterns Die glorreichen Sieben internationale<br />

Bekanntheit erlangte, brachten der polierten Platte<br />

ein prägnantes Image. Abgeklärt, rabiat und aufregend – der<br />

Anti-Held trägt Glatze. So auch Ving Rhames, der als Marsellus<br />

Wallace in Pulp Fiction einen miesen Gangsterboss mimt.<br />

Aber auch biblische Erzählungen bedienen sich der symbolischen<br />

Bedeutungen von Haar. Die bekannteste und zugleich<br />

traurigste Haargeschichte ist wohl jene von Samson und Delilah,<br />

die nicht nur mit einem gebrochenen Herzen endet, sondern<br />

vor allem damit, dass Samson seine Locken lässt. Als Richter<br />

des Alten Israels hatte er vor, sein unterdrücktes Vaterland von<br />

den Philistern zu befreien. Ahnungslos, dass die reizende Delilah<br />

Spitzel des philistinischen Königs war, verriet ihr Samson das<br />

Geheimnis um seine Unbesiegbarkeit: Die Haare müssten ein<br />

Leben lang wachsen. Das Mysterium um Samsons unbezwingbare<br />

Kraft enthüllt, greift Delilah zur Schere – und entledigt<br />

ihn seiner gottgegebenen Potenz. Es ist also nicht immer allein<br />

Schnitt, Struktur oder Länge des Haares, die einer Frisur eine<br />

persönliche Eigenschaft gibt, sondern selbst der Fall von ein paar<br />

gewellten Strähnen findet seine semiotische Besetzung.<br />

In einer eher Kurzhaar-affinen Zeit ist die Bandbreite an<br />

Möglichkeiten, seine Persönlichkeit mit einem Haarschnitt<br />

auszudrücken, groß. Dabei wird an Altbewährtem festgehalten<br />

und aus nischigen Subkulturen neu geschöpft – immer mit<br />

dem Ziel, etwas noch nie Dagewesenes zu kreieren. Während<br />

Frauen sich erst einmal nur der Längen-Frage stellen – provokant<br />

oder konservativ –, haben Männer zahlreiche Auslegungen<br />

allein für den Begriff „kurz“. Und auch wenn weibliche<br />

Frisuren durch variierende Drapierungen augenscheinlich ein<br />

nahezu endloses Repertoire an Haarkunstwerken bieten, sind<br />

es doch die auffälligen Bedeutungscluster des gestylten Männerhaares,<br />

die so bedeutsam und vielsagend sind; weil zurückgeschaut<br />

und interpretiert, weil so kunstvoll zitiert wird – weil<br />

selbst, wenn Mann etwas für seinen Stil-Code ganz Übliches<br />

tut (sie kürzer schneidet, lockig lässt und gar rasiert), er eine<br />

ganz andere Geschichte mit ihnen erzählt.<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

70<br />

71


Vorbereitungen für die schamanische Hochzeitszeremonie in Secred Valley, Peru<br />

VON ANETT STEINBRECHER<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

ein mann<br />

der extreme<br />

Früher arbeitete er<br />

mit Hilfe von Drogen<br />

die Nächte durch,<br />

heute lehrt Fabian<br />

Schamanismus in den<br />

Bergen von Peru<br />

E<br />

s ist knapp drei Jahre her, als<br />

ich ihn das letzte Mal gesehen<br />

habe – in dieser Zeit sei wohl<br />

eine Menge passiert, was sein<br />

Leben angeht. So zumindest<br />

hört man es im Freundeskreis.<br />

Als er mir die Tür öffnet, muss<br />

ich zweimal hinschauen, um<br />

Fabian zu erkennen: Er ist<br />

dünner, definierter, ließ sich<br />

einen Bart wachsen, seine Haut<br />

ist unglaublich gut. Vor allem<br />

aber: Er strahlt wie nie zuvor.<br />

Er war immer ein Mensch, der<br />

viel lachte und glücklich schien. Aber dieses Lächeln, ganz<br />

warm, war anders. „Das ist die Wohnung von Denis, hier wohne<br />

ich, wenn ich bei meiner Rundreise in Berlin bin.“ Überall<br />

liegen Kissen auf dem Boden, es riecht nach Räucherstäbchen<br />

und dass er komplett in Weiß gekleidet ist, löst das Rätsel um<br />

ihn nicht im Geringsten.<br />

Fabian fängt mich direkt in meiner Unsicherheit auf und beginnt<br />

zu erzählen. „Ich habe mein Leben ohne tieferen Sinn und<br />

Ziel gelebt. Alles, was ich tat, war auf die kurzfristige Befriedigung<br />

meiner Sinne ausgerichtet: Geld verdienen (er verdiente<br />

als Managing Director bei einer indischen Outsourcing-Firma<br />

für Europa, Middle-East und Afrika wirklich viel Geld), um<br />

mich dann von diesem Geld zu betäuben, meine innere Leere<br />

mit teurem Alkohol, Drogen und exzessivem Leben zu füllen.<br />

Aber das war zum Scheitern verurteilt. Ganz plakativ: Die Seele<br />

hat keinen Mund und man kann sich noch so vollstopfen mit<br />

gutem Essen, Wein und Drogen, aber das, was man zu füllen<br />

versucht, ist dort nicht!“<br />

Heilen statt koksen<br />

Fabian ist 39 Jahre alt und hat einen Bewusstseinswandel hinter<br />

sich wie er extremer nicht sein könnte. Er bezeichnet diesen<br />

Prozess als eine rückgängig gemachte Verkrustung, die, wie<br />

er sagt, durch unser soziopolitisches System entstanden ist. ><br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

72<br />

73


V.l.n.r.: Fabian 2006; Royal Ascot Pferderennen 2008 in England; während einer schamanischen Heilzeremonie 2010; Fabians Haus in der Khula Dhamma Eco-Community im südafrikanischen Eastern Cape; Fabian und Nicole bei ihrem spirituellen Hochzeitsritual 2009; Fabian heute<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

><br />

Während er mir das erzählt, erinnere ich mich an Silvester<br />

2007. Ein Privatclub in Londons Zentrum, mit Blick auf das<br />

London Eye. Es war heiß, es war laut und vor allem war es reich<br />

an Überfluss: Alkohol, Drogen, verschwitzte Körper. Männer<br />

in Anzügen, Frauen in viel zu kurzen Kleidern. Von allem etwas<br />

zu viel und trotzdem nicht genug. Fabian hatte mich damals<br />

zu dieser Party eingeladen, er war einer der Veranstalter.<br />

„Ich war mir der Konsequenzen meiner Handlungen, jeder<br />

noch so alltäglichen wie zum Beispiel das Licht anschalten,<br />

Fleisch essen usw., nicht bewusst, ich habe mir gar keine Gedanken<br />

darüber gemacht. Jetzt, da ich selbst viel bewusster lebe<br />

und Sachen, die wir für selbstverständlich nehmen, viel mehr<br />

hinterfrage, sehe ich den alten Fabian in so vielen Menschen.“<br />

Obwohl er nie bösartig war, stand sein eigenes Wohl immer<br />

an erster Stelle. Er war stets auf seinen Vorteil ausgerichtet.<br />

Fabian hat drei wundervolle Kinder, die bei ihren Müttern leben<br />

– zu allen hat er ein sehr gutes Verhältnis. Es sind Kinder<br />

aus Beziehungen, die nicht funktionierten, mit Frauen, die zu<br />

bestimmten Phasen passten – Lebensabschnittsgefährtinnen<br />

eben. „Hätte ich auch nur eine einzige Sache unterlassen oder<br />

anders gemacht, wäre ich nicht hier, wo ich jetzt bin, auch<br />

wenn vieles unangenehme Folgen für mich und andere hatte<br />

und teilweise noch hat. Aber genau diese Situationen sind die,<br />

an denen man am meisten wächst. Durch mein jetziges Leben<br />

versuche ich durch Vorbild und Vorleben, aber auch durch Rat<br />

und Tat andere Menschen zu dem Punkt zu bringen, wo ich<br />

war, als ich begann, bewusster zu leben.“<br />

Seit 2008 lebt Fabian nicht mehr als Teil unserer Konsumgesellschaft,<br />

gliedert seine Tage in Abschnitte: „Im Prinzip schaffe<br />

ich eine Balance zwischen so genannten selbstzentrischen Erhaltungsmaßnahmen<br />

wie Yoga, Meditation oder Essen – Dinge,<br />

die mehr dazu dienen, unseren Körper-Geist-Seele-Komplex<br />

bei optimaler Leistungsfähigkeit zu erhalten – und selbstlosen<br />

Erhaltungsmaßnahmen wie die Arbeit an unterschiedlichsten<br />

Charity-Projekten, die der Erhaltung und Förderung der Umwelt<br />

und den Menschen um uns herum dienen.“<br />

Früher habe er über Vegetarier gelacht. Seine Mahlzeiten<br />

mussten edel und genussreich sein. Das Ziel – man könnte<br />

es fast schon als eines seiner Hobbys bezeichnen – war es, sich<br />

durch die Liste der am höchstbewerteten Restaurants der Welt<br />

zu essen und je exotischer das Tier oder ein Körperteil war,<br />

desto besser. Heute schwört er auf roh-vegane, gewaltfreie<br />

Kost. „Massentierhaltung trägt mehr zur Klimaerwärmung<br />

bei als alle Emissionen von allen Autos und Flugzeugen zusammengenommen.“<br />

Ein Wochenende veränderte sein Leben<br />

Durch eine Mailingliste, die sich normalerweise mit Partys in<br />

London befasst, ist Fabian vor knapp drei Jahren auf ein schamanisches<br />

Seminar in Cambridge gestoßen. „Das Seminar hat<br />

schon am ersten Tag so viel in mir bewegt, wie ich es mir nie<br />

hätte träumen lassen. Das Gefühl von Liebe - uneingeschränkter,<br />

bedingungsloser Liebe - und die Verbundenheit mit allem<br />

und jedem waren so unfassbar, dass mir sogar Tränen die<br />

Wangen herunterliefen.<br />

Bei diesen Zeremonien geht es in erster Linie um den eigenen<br />

inneren Frieden. Musik, Düfte und die Einnahme von Saft<br />

der Ayahuasca, eine Lianenart (auch Ranke der Seele genannt),<br />

sollen das Innerste in uns öffnen und tief liegende Blockaden<br />

lösen. Teilnehmer erzählen beispielsweise von Elternteilen, mit<br />

denen man sich im Geiste unterhalten und ausgesprochen hat.<br />

„Als ich dann nach drei Tagen zurück nach London fuhr,<br />

rief ich meine Frau Nicole schon aus dem Zug an, um ihr zu<br />

sagen, dass ich sie sehen muss, bevor ich nach Hause fahre. Ich<br />

bin also mit Sack und Pack vom Bahnhof zu ihr ins Büro, habe<br />

sie draußen vor der Tür getroffen und sie in den Arm genommen.<br />

Sie spürte sofort, dass sich in mir alles verändert hat – wir<br />

brauchten gar keine Worte!“<br />

Fabian gab seinen überbezahlten Job auf und begann in Peru<br />

die Ausbildung zum Schamanen. „Diese Ausbildung war voller<br />

Entbehrungen und Herausforderungen. Schließlich habe ich<br />

Fotos: Privat<br />

dann vor fast zwei Jahren angefangen, das Erlernte in die Tat<br />

umzusetzen und anderen zu helfen."<br />

Fabian macht oft ganze Familiensitzungen, in denen mehrere<br />

Generationen einer Familie die Erfahrung der Heilzeremonie<br />

teilen. „Oft reisen die Leute von weit heran, um an der<br />

Sitzung teilnehmen zu können. Nicole und ich sind nur unterwegs<br />

– letzte Woche waren wir auf Ibiza, danach in London,<br />

dann Hamburg und jetzt Berlin für zwei Tage.“<br />

Vor einem Jahr hat Fabian angefangen, selbst Schamanen<br />

auszubilden. Seine ersten Lehrlinge waren eine 39 Jahre alte<br />

Heilpraktikerin aus Frankreich und ein 41 Jahre alter Leiter<br />

eines Meditationszentrums und ehemaliger buddhistischer<br />

Mönch. Sein Ziel ist es, Menschen in den unterschiedlichen<br />

Ländern auszubilden, um sich dann zurückzuziehen. Momentan<br />

bereiten sich Fabian und seine Frau darauf vor, in<br />

der Khula Dhamma Eco-Community im südafrikanischen<br />

Eastern Cape zu leben. „Obwohl man idealerweise tatsächlich<br />

komplett weg sein sollte, ohne Internet und Telefon, so ist das<br />

aus verschiedenen Gründen nicht schlagartig umsetzbar und<br />

wäre sehr egoistisch: Die Vorbild- oder Wegweiserfunktion<br />

kann schließlich nur im Kontakt mit der Außenwelt erfüllt<br />

werden und deshalb müssen wir in Kauf nehmen, auf ähnliche<br />

Weise wie wir das jetzt schon tun um die Welt zu reisen und<br />

Menschen zu inspirieren.“<br />

Der (fast) komplette Ausstieg<br />

Diese Vereinigung von Aussteigern kann man sich wie ein<br />

kleines, grünes, sauberes Dorf vorstellen, in dem sich gleichgesinnte<br />

Menschen treffen, zusammen leben und wirtschaften<br />

– fernab von Konsum. Fernab von all dem, was wir kennen,<br />

gewohnt sind und meist auch als unseren Lebensinhalt<br />

bezeichnen. Zunächst einmal muss man in diese Community<br />

reinpassen. Es gibt ein paar Grundregeln, erstellt vom Zen-<br />

Buddhismus-Lehrer Steve Hagen, an die sich jeder halten<br />

muss, wie zum Beispiel: Du sollst nicht töten, dich vegetarisch<br />

ernähren. Du sollst nicht stehlen, nicht lügen. Alkohol,<br />

Zigaretten, Koffein sind ebenfalls nicht erlaubt.<br />

Bedingung ist, die Community im Bestehen und Wachsen<br />

zu unterstützten – da speziell diese Vereinigung noch sehr jung<br />

in ihrem Dasein ist, beschränkt sich die Unterstützung auf sehr<br />

existenzielle Dinge wie Häuser und Dämme bauen, im Garten<br />

arbeiten, Obst und Gemüse anpflanzen und ernten. Hat man<br />

eine Art Probezeit hinter sich, stimmt die Community ab, ob<br />

man aufgenommen wird.<br />

„Wir haben uns die letzten zwei Jahre sehr intensiv mit<br />

diesem Projekt beschäftigt. Es gibt unterschiedlichste Punkte,<br />

wie Vulkanhäufigkeit, Klimaveränderung oder Atomkraftwerkdichte,<br />

die zur Entscheidung beitrugen, nach Südafrika<br />

zu gehen.“ Außerdem wollen sie unabhängig, also „off-grid“<br />

sein und haben sich mit Solartechnologie, Wasseraufbereitung<br />

und Permakultur (ein Konzept, das auf die Schaffung<br />

von dauerhaft funktionierenden, nachhaltigen und naturnahen<br />

Kreisläufen zielt) beschäftigt. Das kling sehr theoretisch.<br />

Ist es auch.<br />

Im Laufe der Zeit haben sich einige Menschen von Fabian<br />

entfernt – seinen Wandel, seine neue Einstellung nicht akzeptiert.<br />

Einige haben zu ihm zurückgefunden, weil sie erkannt<br />

haben, wie viel besser es ihm geht. „Diesen Weg zu gehen war<br />

für mich das einzig Richtige, das einzig Mögliche. Und obwohl<br />

es aus vielerlei Sicht sehr schwer war – vor allem finanziell –<br />

habe ich meine Entscheidung nie bereut.“<br />

Er genießt es, mir von seinem neuen Weg zu erzählen. Teilweise<br />

fühlt es sich so an, als wolle er mir eine Botschaft vermitteln.<br />

Ganz selten schweift er von seiner Ideologie ab, wird<br />

kaum freundschaftlich intim. Fabian ist ein extremer Mensch<br />

– bei ihm gibt es kein Dazwischen. Er lebte höchst verschwenderisch<br />

und oberflächlich, jetzt gehören Nachhalt und Nächstenliebe<br />

zu seinem Lebensinhalt. Selbst wenn er, ganz simpel<br />

formuliert, vom einen Extrem ins andere gerutscht ist, so ist<br />

das Gegenwärtige das bessere.<br />

Namaste.<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

74<br />

75


Wunderwerk:<br />

Eine Lange-Uhr<br />

vereint mehrere<br />

Hundert<br />

handgefertigte<br />

Einzelteile<br />

WerkSCHAU<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

Bei A. Lange & Söhne blickt man nicht nur vor, sondern auch zurück – auf<br />

eine 165-jährige Geschichte. Anstatt in Akkordzeit entstehen hier exklusive<br />

Luxusuhren noch auf traditionelle Weise: in Handarbeit<br />

von Michelle Wenzel<br />

Fotos: Jörg Wischmann<br />

Fotocredit<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

76<br />

77


Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

Ganz fragil liegt er da, auf dem weißen Arbeitstisch,<br />

und wirkt dabei so zerbrechlich<br />

– der so genannte Tourbillon-Käfig. Man<br />

fürchtet, eine falsche Bewegung oder ein falscher<br />

Atemzug könnte das so zart wirkende<br />

Gehäuse in all seine Einzelteile zerfallen<br />

lassen. Die Uhrmacherin im weißen Kittel<br />

nimmt die nicht mal 20-Cent-Stück große<br />

Skelett-Konstruktion zwischen ihre Finger<br />

und betrachtet diese ein weiteres Mal mit<br />

prüfendem Blick, die Lupe dabei stets im<br />

Auge. „Fertig.“ Nach fast zwei Tagen hat sie die Arbeit an dem<br />

feingliedrigen Käfig abgeschlossen und kann sich nun dem<br />

nächsten widmen. Das filigrane Drehgestell ist Teil der Tourbillon,<br />

die wiederum als „Wirbelwind“ oder Schwingsystem<br />

eines Gangwerks Ungenauigkeiten ausgleicht und damit die<br />

Exaktheit eines Zeitmessers fördert. Nachdem die 84 Einzelteile<br />

in sorgfältiger Einzelarbeit zur Tourbillon zusammengesetzt<br />

sind, kann man den Herzschlag der Uhr schon fast hören.<br />

Bis ein Modell von A. Lange & Söhne aber endgültig die Manufaktur<br />

in Glashütte verlässt, ist es ein langer Weg. Zwischen<br />

sechs und vierzehn Monaten kann es zuweilen dauern, bis der<br />

Kunde seine Präzisionsuhr am Handgelenk tragen darf.<br />

Alter neuer Zeitgeist<br />

In der sächsischen Manufaktur entstehen Uhren auf eine Weise,<br />

die sich Unternehmen zu Zeiten kapitalistischer Gewinnförderung<br />

eigentlich kaum leisten können – in Handarbeit.<br />

Doch genau darin liegt die Stärke des Traditionsbetriebes.<br />

Pro Jahr verlässt nur eine geringe Stückzahl der luxuriösen<br />

Armbanduhren das Werk – dabei handelt es sich um Zahlen<br />

im einstelligen Tausenderbereich. Doch trotz der stattlichen<br />

Preise von 13.900 bis 400.000 Euro sind die edlen Zeitmesser<br />

mit klangvollen Namen wie Richard Lange oder Tourbograph<br />

„Pour le Mérite“ vom Design her eher schlicht, schnörkellos<br />

und dezent. Understatement lautet die Devise. Von Trends<br />

distanziert man sich, denn die Träger schätzen den zeitlosen<br />

Stil dieser exklusiven Uhren, „ohne den Luxus provokant zur<br />

Schau tragen zu wollen“, meint PR-Direktor Arndt Einhorn.<br />

Dennoch handelt es sich bei diesen Uhren um Statussymbole,<br />

wenn auch der weniger blasierten Variante.<br />

Reise in die Vergangenheit<br />

Der 7. Dezember 1990 ist ein wichtiges Datum in der turbulenten<br />

Firmengeschichte. Auf den Tag genau 145 Jahre nach der<br />

ersten Gründung der Firma durch Ferdinand A. Lange meldet<br />

dessen Urgroßenkel Walter Lange den Betrieb neu an und<br />

wagt den Versuch, das Erbe seiner Familie weiterzuführen.<br />

Kein leichtes Unterfangen, nachdem das Unternehmen Ende<br />

der 40er-Jahren vom SED-Regime enteignet wurde. 1994 folgt<br />

die erste Kollektion neuer Lange-Uhren: Mit der Lange 1, Saxonia,<br />

Tourbillion „Pour le mérite“ und der Damenuhr Arkade<br />

war A. Lange & Söhne nach über vier Jahrzehnten Stillstand<br />

zurück und man knüpfte an die Erfolge der Taschenuhren an,<br />

mit denen sich die Firma bereits Mitte des 19. Jahrhunderts<br />

einen Namen machte.<br />

Edelmetall: Nur<br />

hochwertige Materialien<br />

wie Platin,<br />

Gold und Silber<br />

kommen bei<br />

A. Lange & Söhne<br />

zum Einsatz<br />

Gegründet wurde das Unternehmen am 7. Dezember 1845<br />

von Ferdinand Adolf Lange in dem kleinen Bergbaustädtchen<br />

Glashütte. Nach seiner Lehre beim angesehenen Dresdner Hofuhrmacher<br />

Christian F. Gutkaes zieht er durch Europa, arbeitet<br />

in Frankreich und der Schweiz. Mit vielen neuen Erkenntnissen<br />

und Ideen sowie einem enormen Tatendrang kehrt er ins<br />

heimatliche Sachsen zurück. In der Erzgebirgsregion herrscht<br />

zu dieser Zeit große Armut. Um den Menschen dort eine neue<br />

Perspektive zu geben, schlägt er der Regierung eine industrielle<br />

Uhrenfertigung vor. Mit finanzieller Unterstützung des<br />

königlich-sächsischen Ministeriums legt Lange dafür 1845 den<br />

Grundstein und macht das kleine Örtchen Glashütte zum Mittelpunkt<br />

deutscher Uhrmacherkunst.<br />

Von Anfang an folgt er einem hohen Qualitätsanspruch.<br />

Auch nach seinem Tod, als seine Söhne die Firma bereits weiterführen,<br />

hält man an der Handwerkstradition des Vaters und<br />

Firmengründers fest. Die von Ferdinand Lange eingeführten<br />

Komponenten, wie etwa die Dreiviertelplatine, sind auch heute<br />

noch feste Bestandteile der Lange-Uhren. Zu den klassischen<br />

Merkmalen kommen nach und nach immer mehr technische<br />

Erfindungen wie Großdatum oder der ewige Kalender<br />

hinzu. Der Betrieb floriert, trotz Erstem Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise.<br />

Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges<br />

beginnt schließlich Walter Lange, Ferdinands Urgroßenkel,<br />

seine Ausbildung zum Uhrmacher im väterlichen Werk, muss<br />

jedoch in den unruhigen Kriegszeiten mit ansehen, wie das<br />

Stammhaus zerbombt und der Familienbetrieb 1948 schließlich<br />

enteignet wird. Die Marke A. Lange & Söhne erlischt. Bis<br />

zum 7. Dezember 1990, an dem Walter Lange das Unternehmen<br />

wiederbelebt. Mittlerweile gehört A. Lange & Söhne zum<br />

Schweizer Luxusgüterkonzern Richemont.<br />

Wertarbeit braucht Zeit<br />

Auf den ersten Blick wirken die Manufakturräume wie klinische<br />

Labors: Die Räumlichkeiten sind hell, die Wände weiß,<br />

und große Glasfassaden lassen genügend Licht in die Zimmer.<br />

Die Uhrmacher sitzen an hohen Tischen, die bis zum Kinn reichen.<br />

Sie sind akkurat aneinandergereiht, alles wirkt fast ein<br />

wenig steril. Kein Wunder, dass sowohl die Arbeiter als auch<br />

Besucher ohne weißen Kittel die Räume nicht betreten dürfen<br />

– eben wie in einem Labor.<br />

Verteilt auf mehrere<br />

Etagen hantieren die Arbeiter<br />

fast stoisch an den<br />

Platinen, Rädchen, Rotoren,<br />

Spiralen, Schrauben<br />

und filigranen Zähnen<br />

mit vorsichtigen und<br />

zugleich routinierten Bewegungen.<br />

Die Herstellung<br />

einer mechanischen<br />

Uhr erstreckt sich über<br />

mehrere Etappen: von<br />

der Konstruktion über<br />

die Teilefertigung bis hin<br />

zur Montage. Wertarbeit<br />

erfordert eben noch Zeit<br />

und Geduld, das machen die vielen Fertigungsschritte<br />

allemal deutlich. Viel Geduld und eine<br />

ruhige Hand braucht auch Helmut Wagner. Er<br />

und seine Kollegen aus der Gravur versehen<br />

einzelne Komponenten der Uhrwerke, wie den<br />

Unruhkloben, einem Teil des Schwingsystems,<br />

in stundenlanger Feinarbeit mit filigranen Mustern.<br />

Warum sie Teile gravieren, wenn dies doch<br />

technisch keinerlei Auswirkung auf das Uhrwerk<br />

hat? Weil die Träger einer Lange-Uhr „Kenner<br />

und Sammler sind. Sie sind sich der Besonderheit<br />

der Uhren und der Werte, die darin stecken,<br />

bewusst. Und genau diese Feinheiten schätzen sie“, sagt Arndt<br />

Einhorn. Zudem ist es ein Lange-typisches Merkmal, das die<br />

Uhr zu etwas Einzigartigen, „zu einem Unikat“ macht. Mithilfe<br />

einer Mikroskop-ähnlichen Vorrichtung verziert Helmut<br />

Wagner per Hand den kleinen Kloben, frei von jeder Vorlage,<br />

mit kunstvollen Dessins, die einst schon die Taschenuhren<br />

schmückten. Ein Blick durch die Lupe beweist: Um auf diesem<br />

winzigen, nicht mal ein Zentimeter großen Kloben ein zartes<br />

Muster entstehen zu lassen, bedarf es besonders viel Fingerspitzengefühl,<br />

Zeit und Geduld. Ähnlich wie bei einer Hermès-<br />

Handtasche, die nach Fertigstellung mit der Signatur des jeweiligen<br />

Handwerkers versehen wird, lassen sich die Lange-Uhren<br />

anhand der Muster dem jeweiligen Graveur zuordnen. Denn<br />

„jeder von uns hat sein individuelles Werkzeug. Das pflegt er<br />

selber, das ist auf die Hand des Graveurs abgestimmt“, sagt<br />

Helmut Wagner.<br />

Nachdem nun die Einzelteile, graviert und geschliffen, ins<br />

Gehäuse montiert sind und die Uhr zum ersten Mal schlägt,<br />

wird sie nicht etwa zum Versand fertig gemacht, sondern wieder<br />

auseinandergebaut. Es folgt die Zweitmontage. In diesem<br />

zusätzlichen Arbeitsschritt wird jedes Uhrwerk nochmals in<br />

Hunderte von Teilen zerlegt, von eventuellen Makeln befreit,<br />

gereinigt, die vorher benutzen Arbeitsschrauben werden durch<br />

gebläute Originalschrauben ausgetauscht, exakt reguliert und<br />

anschließend in das Gehäuse eingebettet. Nach Walter Lange<br />

ein höchst aufwändiges Prozedere, mit „dem wir extrem präzise<br />

Ganggenauigkeit garantieren“.<br />

Bekenntnis zur Tradition<br />

Um diesen hohen Qualitätsanspruch zu gewährleisten, widmen<br />

sich rund 470 Arbeiter den mechanischen Kunstwerken<br />

fürs Handgelenk. Die Hälfte davon sind Uhrmacher, 70 von ihnen<br />

sind allein für die Veredelung der Einzelteile verantwortlich.<br />

Diese Detailtreue und das Festhalten an Tradition, ohne<br />

den Fortschritt dabei zu vernachlässigen, merkt man jeder Uhr<br />

an. So schlägt nicht nur in jedem Modell ein im eigenen Haus<br />

gefertigtes Uhrwerk, auch ist man stets bestrebt, mit der Zeit zu<br />

gehen und technische Neuerungen zu integrieren. Eine digitale<br />

Anzeige trotz mechanischem Werk ist nur eine der vielen Raffinessen<br />

bei A. Lange & Söhne.<br />

Und genau diese Verbindung aus Tradition und Moderne<br />

wissen die Kunden zu schätzen: präzise Funktionalität, zurückhaltendes<br />

Design sowie das, wofür diese Uhren stehen. Es ist<br />

„die Wertschätzung der Handarbeit auf höchstem Niveau“,<br />

sagt Walter Lange.<br />

Feinmotorik: Mit<br />

ruhiger Hand<br />

und gekonntem<br />

Blick fertigen<br />

die Uhrmacher<br />

pro Jahr nur<br />

wenige Einzelstücke<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

78<br />

79


Kleider, die<br />

Text und Fotos von Daniela Wilmer<br />

Geschichte machen<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

Sprechen wir von Vintage,<br />

meinen wir in den<br />

meis ten Fällen ein Erbstück,<br />

einen tollen Fund<br />

vom Flohmarkt oder alten<br />

Schmuck aus dem<br />

Second-Hand-Shop. Vintage<br />

steht für Individualität.<br />

Und man kann sich sicher<br />

sein, dass einem dieser<br />

Fund auf der Straße nicht ein<br />

zweites Mal begegnet.<br />

Noch wichtiger ist oft die<br />

Geschichte und somit<br />

der emotionale Wert, der<br />

hinter diesen Stücken<br />

steckt. Wir haben uns auf die<br />

Suche gemacht, um genau<br />

solche Liebesgeschichten und<br />

ihre Träger zu finden<br />

Shorts<br />

Vater, Mutter, Oma, Opa – Daniela<br />

Schaffarczyk weiß meistens gar<br />

nicht, wem die Sachen mal gehört<br />

haben, die sie tagtäglich trägt.<br />

Hauptsache, sie sind nicht neu<br />

gekauft und erzählen eine kleine<br />

Geschichte. Wie diese Shorts,<br />

die regelmäßig zum Streit zwischen<br />

Mutter und Vater führt, da beide<br />

behaupten, ehemaliger Besitzer gewesen<br />

zu sein. Um zu Hause keine<br />

Unruhe zu stiften, hört sich Daniela<br />

immer wieder gern beide Varianten<br />

der Hosen-Geschichte an. Die<br />

Strickjacke gehörte ihrem Opa, da<br />

sind sich wenigstens alle einig.<br />

Ring<br />

„Der Ring gehört dir, ich hab ihn<br />

nur zehn Jahre für dich aufbewahrt.“<br />

Mit diesen Worten überreichte Joana<br />

Schröders Tante ihrer Nichte das<br />

goldene Schmuckstück an ihrem<br />

18. Geburtstag. Mit acht Jahren fand<br />

Joana den Ring in Paris auf der<br />

Rue de Marseille, er passte ihr nicht,<br />

also schenkte sie ihn ihrer Tante.<br />

Dass dieses Fundstück einen hohen<br />

Goldanteil hat und mit einem echten<br />

Saphir verziert ist, stellt sich erst<br />

einige Jahre später heraus. Nun ist<br />

der Ring zurück in Joanas Besitz,<br />

ziert ihren Finger und erzählt<br />

eine Geschichte, an die sich Joana<br />

sehr gern erinnert.<br />

Lederjacke<br />

Björn Baumstark lebt in einer<br />

möblierten Wohnung in Berlin-<br />

Neukölln. Eigene Möbel oder<br />

andere materielle Gegenstände<br />

sind ihm nicht wichtig. Alle<br />

paar Monate zieht er in eine neue<br />

Behausung, im Gepäck nicht<br />

mehr als einen Laptop und ein<br />

paar Klamotten. Immer dabei ist<br />

seine rotbraune Lederjacke,<br />

ohne die er auch sonst nicht das<br />

Haus verlässt. Sie gehörte seinem<br />

Vater, der sie ebenfalls wie<br />

eine zweite Haut trug. Angeblich<br />

wurde Björn laut seinem Vater<br />

sogar auf der Jacke gezeugt.<br />

Hemd<br />

Was auf den ersten Blick wie das<br />

Innere einer Kirche wirkt, ist<br />

das zu Hause von David Roth.<br />

Ein großes Holzkreuz schmückt<br />

sein Wohnzimmer und passt<br />

hervorragend zu seiner Garderobe.<br />

David trägt das Totenhemd seines<br />

Großvaters. Es war sein Wunsch,<br />

dass der Enkel es nach seinem Tod<br />

bekommt. Ungewaschen, löchrig<br />

und in den Duft seines Großvaters<br />

gehüllt, gehört das Hemd zu<br />

einem seiner liebsten: Es erinnert<br />

David an seinen Opa und sieht<br />

auch noch gut aus.<br />

T-Shirt<br />

Ob Mauerpark, der Flohmarkt in<br />

Reinickendorf, Second-Hand-Läden<br />

oder Mamas Kleiderschrank –<br />

Coco Conradi liebt Vintage. Das<br />

gestreifte T-Shirt ist ein Fundstück<br />

aus einem stillgelegten Kraftfuttermischwerk<br />

in Fürstenberg.<br />

Hier durfte man bis vor Kurzem in<br />

liegengebliebenen Kleidungsstücken<br />

ehemaliger Arbeiter stöbern und<br />

alles mitnehmen, was gefällt.<br />

Für Coco die reinste Schatzsuche!<br />

Das T-Shirt durfte mit und<br />

gehört seitdem zu einem ihrer<br />

Lieblingsstücke.<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

80<br />

81


das gleiche<br />

ist nicht dasselbe<br />

Mode ist sehr zugänglich geworden.<br />

Aber hilft das, guten Stil zu etablieren?<br />

von Sina Linke<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

Elektronische Klänge ertönen, das Licht<br />

geht an und über den grünen Kunstrasen<br />

laufen Männer in perfekt geschnittenen<br />

karierten Anzügen, Westernhemden und<br />

mit Nieten besetzten Golftaschen über den<br />

Schultern. Die Prada Show für den Sommer<br />

2012 war ein voller Erfolg. Woher ich<br />

das weiß? Ich war dabei. Nicht in Mailand,<br />

aber beim Abendbrot via Livestream vor dem Laptop.<br />

Immer mehr Designer entscheiden sich dafür, ihre<br />

Entwürfe in Echtzeit über das Internet preiszugeben.<br />

Warum auch nicht, denn dank etlicher Modeblogs und<br />

Webmagazine wie Style.com sind die Bilder ohnehin<br />

schon zu sehen, bevor sich der Designer überhaupt vor<br />

seinem Publikum verbeugen konnte. Da zeigt man es<br />

doch lieber gleich selbst. Anschließend kommentieren<br />

junge Modebegeisterte rund um den Globus das Gesehene<br />

im Internet. Ob in Onlinemagazinen oder auf<br />

Mode- oder Streetstyle-Blogs, jeder darf und kann seine<br />

Meinung ins World Wide Web blasen. Dabei spielt es<br />

keine Rolle, ob man ein 15-jähriges Mädchen aus Chicago ist<br />

(Tavi Gevinson) oder die Modechefin der japanischen Vogue<br />

(Anna Dello Russo). Nie zuvor war die Mode so zugänglich.<br />

Ein einziger Mausklick reicht und man bekommt die wichtigsten<br />

Neuigkeiten und die Trends der kommenden Saison.<br />

Aber auch Menschen, die sich nicht für Jil Sander, Gucci und<br />

Prada interessieren, werden nahezu täglich mit High Fashion<br />

konfrontiert, ohne es überhaupt zu wissen. Ein kleiner Stadtbummel<br />

genügt. Denn Zara, Topshop, Mango und H&M haben<br />

in ihren Schaufenstern die neusten Looks aus Paris, Mailand<br />

und New York. Wie das geht? Ganz einfach: durch – sagen wir<br />

mal – Inspiration. Der spanische Modekonzern Zara geht dabei<br />

am auffälligsten vor. Die Trends werden lediglich massentauglich<br />

gemacht – aus Seide wird Polyester und eine transparente<br />

Hose wird blickdicht. Dann gehen die getarnten Designerstücke<br />

weltweit zu Spottpreisen tausendfach über die Ladentheken.<br />

Mode erreicht nicht länger nur einen kleinen, elitären<br />

Kreis – aufgrund von großen Modeketten sind es Millionen<br />

Menschen weltweit geworden. Jeder, der in den<br />

letzten Wochen an einem Schaufenster von Mango oder<br />

Topshop vorbeigelaufen ist, kann sagen, dass man diesen<br />

Sommer viel Farbe trägt. Dass dafür Designhäuser<br />

wie Jil Sander oder Gucci verantwortlich sind, ist dabei<br />

allerdings kaum jemandem bewusst. Schauspieler, Popstars<br />

und It-Girls sind die Multiplikatoren. Durch Zeitschriftenformate<br />

wie InStyle oder inTouch ist es ganz<br />

einfach geworden, deren Stil zu kopieren. Die Outfits<br />

der Stars werden bis ins kleinste Detail analysiert, damit<br />

die Leserschaft die teuren Designerlooks mit günstigen<br />

Alternativen von Zara und Co. nachstylen kann. Get the<br />

look – so steigern die Bekleidungsketten ihre Umsätze.<br />

Aber im Wettstreit um steigende Verkaufszahlen<br />

kann man auch einen anderen Weg wählen. Anstatt<br />

zu imitieren, schmückt man sich bei H&M lieber mit<br />

dem Namen des Designers. Kollektionen von u.a. Karl<br />

Lagerfeld, Stella McCartney, Alber Elbaz und Roberto<br />

Cavalli sorgen jährlich für einen Ansturm auf die Bekleidungskette.<br />

Die Grenzen zwischen Massen- und Designermode verschwimmen.<br />

Denn es wird nicht kopiert, es wird vom Designer<br />

direkt dafür entworfen. Wie von Donatella Versace, deren Visionen<br />

für die breite Öffentlichkeit ab dem 17. November 2011<br />

in ausgewählten H&M-Filialen hängen werden. Versace-Fans<br />

und solche, die es lieben, ein Luxuslabel zu tragen, werden an<br />

diesem Tag wieder für Rekordumsätze sorgen. Und die Designer?<br />

Die steigern ihren Bekanntheitsgrad.<br />

Ein Kleid von Lanvin for H&M im Schrank und bei einer<br />

Modenschau bequem von der Couch aus dabei sein – die<br />

Mode hat sich gewandelt. Sie ist offener und zugänglicher<br />

geworden. Eine Entwicklung, von der vor allem der gute<br />

Geschmack profitieren könnte. Ob wir dadurch in Zukunft<br />

weniger Modesünden auf Deutschlands Straßen zu sehen bekommen?<br />

Hoffentlich!<br />

Fotocredit<br />

Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />

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83


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Werk VI . <strong>Metamorphose</strong>

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