Metamorphose
Ausgabe 2011
Ausgabe 2011
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<strong>Metamorphose</strong><br />
Ein Studienprojekt der AMD Akademie Mode & Design Berlin, Lehrredaktion MM3, Ausgabe No. 1, Sommer 2011
Editorial<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
2<br />
Fotocredit<br />
D<br />
ieser Sommer wird alles verändern.<br />
Mal wieder. Nichts ist so, wie es mal<br />
war und doch ist alles gleich. Noch<br />
lieben wir die Streifen von Prada, die<br />
Farben von Jil Sander, den starken<br />
Blick von Luca, wenn sie über den<br />
Catwalk der Berliner Fashion Week<br />
marschiert, das Hetzen von Event zu<br />
Event, die Sonne, die Partys, die verheißungsvolle<br />
Ungewissheit, die vor<br />
uns liegt. Bald ist die Saison vorbei, es wird eine neue kommen.<br />
Es liegt etwas in der Luft. Fortschritt, Beschleunigung, Drehmoment,<br />
Umbruch, Veränderung, Transformation, Karussell,<br />
Tempo, Schwindel, höher, weiter, schneller, immer schneller.<br />
Wir halten einen Moment inne, stehen still und wachsam da,<br />
den Blick nicht nur nach vorn, sondern zu allen Seiten gerichtet,<br />
und betrachten den Wandel im Kern. Die <strong>Metamorphose</strong>.<br />
Was wir auch tun, wohin wir auch gehen, auf sie können wir<br />
uns verlassen. Vielleicht ist sie die einzig wirkliche Konstante<br />
in unserem Leben. Deshalb widmen wir ihr gleich eine ganze<br />
Ausgabe, die erste Ausgabe von WERK VI.<br />
WERK VI ist ein Modemagazin, gegründet vom diesjährigen<br />
Abschlussjahrgang des Ausbildungsgangs Modejournalismus/Medienkommunikation<br />
der AMD Akademie Mode &<br />
Design in Berlin. Ab sofort wird es einmal jährlich erscheinen,<br />
vom jeweiligen Abschlussjahrgang mithilfe ihrer betreuenden<br />
Dozenten produziert. WERK VI grübelt gern, vergleicht und<br />
analysiert, geht unter die Oberfläche, holt weit aus, erfreut sich<br />
aber auch an den leichten und schönen Dingen des Lebens.<br />
Es nimmt Sie mit auf eine Zeitgeistreise und wandert dabei<br />
durch Themen wie Kunst, Politik, Film und neue Medien, es<br />
trifft spannende Menschen, mag Berlin und verknüpft alles auf<br />
einzigartige Weise mit der Mode als Kulturphänomen. Auch<br />
WERK VI wird sich wandeln, aber nun braucht es erst einmal<br />
Zeit. Für kluge Gespräche, für lange Geschichten und imposante<br />
Bildstrecken.<br />
Für diese Ausgabe trafen wir die Stylisten Alexx und Anton,<br />
die im Interview erzählen, was ihre Arbeit so besonders macht.<br />
In einer Modestrecke inszenierten wir Abendroben von Berliner<br />
Designern in verschiedenen Ecken der Hauptstadt, die<br />
immer anders aussieht, aber doch ein unverkennbares Ganzes<br />
bildet. Wir beschäftigten uns mit der Wirkung von Mode im<br />
bewegten Bild, mit der Identität von Düften, mit dem häufigen<br />
Designerwechsel in großen Modehäusern. Mit Haaren<br />
und Aussteigern, mit schönen Frauen und Männern und der<br />
Beständigkeit eines Traditionsunternehmens. Dabei verlieren<br />
wir unseren individuellen Blickwinkel nicht aus den Augen.<br />
Denn so vielseitig wie die Redaktion ist auch das Magazin geworden.<br />
Viele schöne, bewegende, verändernde Momente wünschen<br />
wir Ihnen beim Lesen dieser Ausgabe.<br />
Ihre WERK VI-Redaktion<br />
3Werk VI . <strong>Metamorphose</strong>
Impressum<br />
22<br />
76<br />
Verantwortliche Dozenten<br />
Olga Blumhardt<br />
(Magazinentwicklung/Text, V.i.S.d.P.)<br />
Sebastian Handke (Text)<br />
Andine Müller (Creative Direction)<br />
Stefan Korte (Fotografie)<br />
Martin Schmieder (Marketing & PR)<br />
Redaktion<br />
Manuel Almeida Vergara, Sina Bayer,<br />
Jana Burghause, Samrin Conrad,<br />
Juliane Dumjahn, Stefanie Linda Krauß,<br />
Inga Sophie Krieger, Yasemin Kulen,<br />
Brigitta Lentz, Sina Linke, Celina Plag,<br />
Julia Quante, Andrea Rachuy,<br />
Anett Steinbrecher, Anne Tröst,<br />
Madlen Uhlemann, Romina Wahlmann,<br />
Michelle Wenzel, Daniela Wilmer<br />
42<br />
48<br />
62<br />
Grafik<br />
Sina Linke, Celina Plag, Julia Quante<br />
Fotos<br />
Lennart Brede, Björn Giesbrecht, Stefan<br />
Korte, Robert Kromm, Sandra Semburg,<br />
Daniela Wilmer, Jörg Wischmann<br />
Anzeigen<br />
Jana Burghause, Samrin Conrad,<br />
Yasemin Kulen, Brigitta Lentz,<br />
Andrea Rachuy, Anne Tröst,<br />
Michelle Wenzel<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
4<br />
03<br />
05<br />
06<br />
10<br />
14<br />
22<br />
32<br />
Inhalt<br />
Editorial<br />
Impressum<br />
Mode ist Kunst, Kunst ist Mode<br />
Diese internationalen<br />
Modeausstellungen sollte man sehen<br />
Rien ne va plus<br />
Welche Rollen spielen Risiko<br />
und Glück im Spiel um<br />
Image und Verkaufszahlen?<br />
Anziehende Gegensätze<br />
Ein Gespräch mit den Berliner<br />
Stylisten Alexx & Anton<br />
Urban Couture<br />
Eine modische Stadtrundfahrt zu<br />
den Sehenswürdigkeiten Berlins<br />
Anti Anti<br />
Wir fordern eine neue Jugendkultur!<br />
36<br />
40<br />
42<br />
48<br />
52<br />
56<br />
Stoff, der bewegt<br />
Wie der Modefilm die Branche<br />
revolutioniert<br />
Liebe geht durch die Nase<br />
Düfte für die Symphatie<br />
Mischkultur<br />
Eine stilistische Weltreise in Bildern<br />
Im Westen was Neues<br />
Ein Gespräch über den<br />
richtungsweisenden Umzug<br />
von Andreas Murkudis<br />
Schön vergänglich<br />
Ist Schönheit messbar oder ist die<br />
Wahl zur Miss Germany überflüssig?<br />
Stadtgespräche<br />
Sechs Berliner über die Entwicklung<br />
ihrer Stadt<br />
Fotos: Lennart brede, Sandra semburg, PR, Björn giesbrecht, jörg wischmann<br />
62<br />
70<br />
72<br />
76<br />
80<br />
82<br />
Helter Skelter<br />
Eine Modestrecke über die<br />
düstere Seite der Love&Peace-Kultur<br />
Gestriegelte Gentlemen & lockige Rebellen<br />
Männer, Haare und ihr Stilgefühl<br />
Ein Mann der Extreme<br />
Fabians Wandel vom Workaholic<br />
zum Schamanen<br />
Werkschau<br />
Die Uhrenmanufaktur A. Lange<br />
& Söhne setzt auf Tradition und Qualität<br />
Kleider, die Geschichte machen<br />
Vintage – der emotionale Wert zählt<br />
Das Gleiche ist nicht Dasselbe<br />
Wie High Fashion die Welt erobert<br />
PR<br />
Stefanie Linda Krauß, Celina Plag,<br />
Madlen Uhlemann<br />
Event<br />
Manuel Almeida Vergara, Sina Bayer,<br />
Juliane Dumjahn, Inga Sophie Krieger,<br />
Sina Linke, Julia Quante, Anett Steinbrecher,<br />
Romina Wahlmann, Daniela Wilmer<br />
Druck<br />
Brandenburgische Universitätsdruckerei<br />
und Verlagsgesellschaft Potsdam mbH<br />
Karl-Liebknecht-Straße 24-25<br />
14476 Potsdam<br />
www.bud-potsdam.de<br />
Redaktionsanschrift<br />
AMD Akademie Mode & Design Berlin<br />
Franklinstraße 10<br />
10587 Berlin<br />
Tel.: 030 330 99 76 0<br />
olga.blumhardt@amdnet.de<br />
www.werk6-magazin.de<br />
WERK VI ist ein Studienprojekt des<br />
6. Semesters im Ausbildungsgang<br />
Modejournalismus/Medienkommunikation<br />
an der AMD Akademie Mode & Design Berlin.<br />
WERK VI erscheint jährlich und liegt an<br />
ausgewählten Orten in Berlin<br />
kostenfrei aus.<br />
Das Titelbild wurde von Sandra Semburg<br />
fotografiert. Model: Lenny/Izaio Models<br />
Wir danken allen, die WERK VI<br />
möglich gemacht haben!<br />
5Werk VI . <strong>Metamorphose</strong>
Kate Moss par<br />
les plus grands<br />
photographes<br />
La Galerie de l’Instant, Paris<br />
bis 14. September 2011<br />
unst ist Mode<br />
Die Pariser Galerie l'Instant<br />
zeigt Bilder aus der inzwischen<br />
20 Jahre andauernden Karriere<br />
des britischen Supermodels<br />
Kate Moss. Hinter der Kamera<br />
standen Fotografen wie Bettina<br />
Rheims, Arthur Elgort, Juliette<br />
Butler, Rankin und Patrick<br />
Demarchelier, die auch zum<br />
Teil bisher unveröffentlichte<br />
Arbeiten ausstellen.<br />
ode ist<br />
unst,<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
6<br />
Warum müssen wir immer<br />
noch diskutieren, ob Mode<br />
eine Kunstform ist oder<br />
nicht? Das Designhand werk<br />
hat sich spätestens durch<br />
die Entstehung der Haute<br />
Couture Mitte des 19. Jahrhunderts<br />
zur Kunstform<br />
entwickelt. Auch die Mode-<br />
Avantgarde produziert<br />
jede Saison mehr oder<br />
weniger tragbare Objekte,<br />
die kaum von bildender<br />
Kunst zu unterscheiden sind.<br />
Auf den nächsten Seiten<br />
präsentieren wir die<br />
besten modethematischen<br />
Ausstellungen der<br />
kommenden Monate<br />
Von Stefanie Linda KrauSS &<br />
Madlen Uhlemann<br />
Daphne Guinness<br />
Fashion Institute of<br />
Technology, New York City<br />
Special Exhibitions Gallery<br />
16. September 2011 bis<br />
7. Januar 2012<br />
Daphne Guinness, die<br />
schwerreiche Haute-Couture-<br />
Sammlerin, öffnet ihren<br />
spektakulären Kleiderschrank.<br />
Der Inhalt: selbstverständlich<br />
nur High High Fashion,<br />
unter anderem von Alexander<br />
McQueen (Foto), Chanel,<br />
Christian Dior, Rick Owens<br />
und Gareth Pugh. Ihre eigenen<br />
Modeentwürfe werden eben -<br />
falls zu sehen sein.<br />
Fotos: the museum at fit, bettina rheims<br />
1989 fotografierte<br />
Bettina Rheims die<br />
blutjunge Kate Moss für<br />
die Reihe „Modern Lovers“<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
7
Visions & Fashion <br />
Bilder der Mode<br />
1980-2010<br />
Sonderausstellungshallen<br />
Kulturforum, Berlin <br />
bis 9. Oktober 2011<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
8<br />
Hussein Chalayan,<br />
I am sad layla<br />
(üzgünüm layla)<br />
Lisson Gallery, London<br />
8. September bis 2. Oktober 2011<br />
Hussein Chalayan,<br />
récits de Mode<br />
Musée des Arts décoratifs, Paris<br />
bis 13. November 2011<br />
Hussein Chalayan ist seit Beginn<br />
seiner Karriere in Museen<br />
willkommen, denn den künstlerischen<br />
Ansätzen seiner<br />
Kollektionen kann sich niemand<br />
entziehen. Nun wird es Zeit<br />
für einen Rückblick auf 17 Jahre<br />
innovatives Design in Paris.<br />
Die Retrospektive zeigt die vielschichtigen<br />
Inspirationen hinter<br />
den Entwürfen des türkischstämmigen<br />
Avantgardisten, die<br />
von greifbaren historischen<br />
oder politischen Begebenheiten<br />
über türkische Trachten bis<br />
zu konzeptionellen Ansätzen wie<br />
dem Darstellen von Bewegung<br />
sowie Zeit und Raum reichen.<br />
In der Londoner Galerie Lisson<br />
zeigt Chalayan eine Installation,<br />
die Mode, Musik und Film<br />
miteinander kombiniert.<br />
Fotos: christopher moore (3)<br />
Chanel: Designs<br />
for the Modern<br />
Woman<br />
Mint Museum Randolph,<br />
North Carolina, USA<br />
bis 31. Dezember 2011<br />
Chanel: Designs for the Modern<br />
Woman zeigt die revolutionären<br />
Entwürfe von Gabrielle Coco<br />
Chanel. Sie prägte das Bild der<br />
modernen Frau nach ihrem<br />
Vorbild und verlieh dem<br />
Frauenbild in den 20er-Jahren<br />
eine neue Leichtigkeit. Sie<br />
war es, die die Wahrnehmung<br />
von weiblicher Eleganz und<br />
Stil bis heute nachhaltig<br />
veränderte.<br />
The Power of Style<br />
Prager Burg, Prag<br />
bis 17. Oktober 2011<br />
Hinter der Macht guten Stils<br />
verstecken sich selbstverständlich<br />
auch legendäre Schmuckstücke<br />
und kostbare Objekte<br />
aus dem Hause Cartier. Die 366<br />
Teile umfassende Auswahl aus<br />
Cartiers hauseigener Sammlung<br />
besteht aus ausgemusterten<br />
Stücken (insgesamt 1.370) der<br />
besseren Gesellschaft und hat<br />
somit einige Raritäten zu bieten.<br />
Ergänzend gibt es noch Fotos<br />
der berühmten Schmucksammler<br />
und Skizzen der kostbaren<br />
Kunstwerke zu sehen.<br />
Die Ausstellung widmet sich dem<br />
Wandel der Bildsprache in der<br />
Mode. Von Modefotografie und<br />
Modeillustrationen von u.a.<br />
Jacqueline Osermann (u.) über<br />
Kampagnen, Lookbooks und<br />
der Internetpräsenz bekannter<br />
Modehäuser werden alle medialen<br />
Vermittlungswege der letzten<br />
30 Jahre gezeigt. Auch das Single-<br />
Cover von Jean Paul Gaultiers<br />
One-Hit-Wonder „How To Do<br />
That“ von 1989 ist dabei.<br />
9Werk VI . <strong>Metamorphose</strong>
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
Rien ne va plus<br />
Wie die Würfel fallen, im Spiel um<br />
Image und Verkaufszahlen<br />
von Manuel Almeida Vergara Fotos: Stefan Korte<br />
ode ist Wandel. Für wohl kaum eine andere Kultursparte<br />
spielt Veränderung eine so tragende Rolle. Nicht<br />
nur Ästhetiken und Trends unterliegen der ständigen<br />
Weiterentwicklung, auch die Köpfe hinter den Kollektionen<br />
wechseln sich stetig ab. Und das in diesem<br />
Jahr besonders eindrucksvoll. Ledermagnat Trussardi<br />
trennte sich von Kreativchef Milan Vukmirovic, genauso<br />
Issey Miyake von Dai Fujiwara. Paul Helber<br />
darf sich künftig nicht mehr Direktor der Herrenlinie<br />
von Louis Vuitton nennen, Dior entlässt John Galliano.<br />
Und die Liste geht weiter. Bei der Wahl des neuen<br />
Chefdesigners ist von geschäftsführenden Seiten der<br />
prestigeträchtigen Luxusmarken größtes Geschick<br />
verlangt. Doch was zahlt sich am Ende aus − der sichere Weg<br />
oder das kreative Risiko? Wie wichtig ist eigentlich Taktik in<br />
diesem Spiel um Image und Verkaufszahlen? Und welche Rolle<br />
spielt das Glück? Mesdames et Messieurs der Pariser Chefetagen,<br />
Ihre Einsätze bitte!<br />
In der Modehistorie lassen sich zahlreiche Beispiele für das<br />
Gelingen und Scheitern solcher Spielpartien finden. Während<br />
die Negativbeispiele alsbald in Vergessenheit geraten, gingen<br />
einige sensationelle Erfolge in die Geschichte ein. So war es<br />
zum Beispiel der erst 21-jährige Yves Saint Laurent, der mit<br />
seiner ersten Kollektion Ligne Trapèze Ende der 1950er-Jahre<br />
für Dior Schlagzeilen machte. Die Silhouette Yves Saint Laurents<br />
in ihrer neuartigen, freieren und trotzdem eleganten<br />
Form machte ihn zum gefeierten Genie seines Handwerks.<br />
Ebenso legendär sind die Erfolge Karl Lagerfelds, die er bereits<br />
seit 1984 für das Haus Chanel verzeichnet, das zuvor als so gut<br />
wie Tod galt. Er war es zweifelsohne, der die Hysterie um die<br />
beiden ineinander verschlungenen Cs neu entfachte. Zwei eindrucksvolle<br />
Beispiele, deren nachhaltiger Einfluss auf die gesamte<br />
Modewelt verdeutlicht, wie entscheidend und unwiderruflich<br />
ein Designer nicht nur seine eigene, sondern auch die<br />
Positionierung seines Arbeitgebers maßgeblich bestimmen,<br />
neugestalten und festigen kann. Beide hatten aber bereits zuvor<br />
ihr Können unter Beweis gestellt, Laurent als Assistent Christian<br />
Diors höchstpersönlich und Lagerfeld an der Spitze von<br />
Chloé. Ihr folgender Triumph mag also nicht unbedingt sicher<br />
gewesen sein, er war aber gewissermaßen abzusehen. Dior und<br />
Chanel gaben sich nur wenig wagemutig.<br />
Ganz anders wird momentan Balmain wahre Risikofreude<br />
zugeschrieben. Das französische Label, das auf eine über<br />
60-jährige, durchaus turbulente Erfolgsgeschichte zurückblicken<br />
kann, legt seine kreative Zukunft in die zarten Hände des<br />
erst 25-jährigen Pariser Designers Olivier Rousteing. Zuvor<br />
hatte sich das Label im April nach sechs Jahren von Christophe<br />
Decarnin getrennt, der mit seiner Glamrock-Ästhetik<br />
eine wahre „Balmania“ ausgelöst hatte. Trotz nachweisbarer<br />
wirtschaftlicher Erfolge scheinen die Differenzen zwischen<br />
Decarnin und Balmain-CEO Alain Hivelin zuletzt unüberbrückbare<br />
Ausmaße angenommen zu haben. Es folgte die<br />
Trennung samt Nervenzusammenbruch des Kreativchefs.<br />
Von einem derartigen Erfolgsgarant zu einem so jungen und<br />
noch weitgehend unbekannten Designer zu wechseln, zeugt<br />
auf den ersten Blick von wahrer Tollkühnheit. Rousteings<br />
Biografie allerdings macht schnell deutlich, dass Balmains<br />
Wagnis bei dieser Wahl nicht allzu groß ist. Dieser arbeitete<br />
nämlich bereits seit 2009 eng an Christophe Decarnins Seite<br />
für Balmain, nachdem er Erfahrungen bei Roberto Cavalli<br />
gesammelt hatte. Beide haben an der gleichen Modeschule<br />
absolviert, beide teilen eine gewisse Vorliebe für zerschlissene<br />
Jeans und vergoldete Sicherheitsnadeln. Mit Olivier Rousteing<br />
geht Balmain also auf Nummer sicher.<br />
Das fundierte Spiel mit den internen Wechsellösungen wird<br />
nur noch drastischer vollzogen, wenn die Führung des guten<br />
Namens gleich ganz in Familienhand gelassen wird. So beispielsweise<br />
bei Prada. Das italienische Haus gehört zu den<br />
renommiertesten der internationalen Modeszene. Seine fast<br />
100-jährige Geschichte hindurch pflegte Prada ein elitäres<br />
Image, die Designs werden häufig als „intellektuell“ bezeichnet<br />
(ein Adjektiv, mit dem sich nur wenige Modemarken adeln dürfen).<br />
Diese beispiellose Firmengeschichte hat ihren Erfolg sicher<br />
nicht ausschließlich der strikten Familienpolitik zu verdanken.<br />
Fest steht allerdings, dass sowohl Gründer Mario Prada sowie<br />
Tochter und Haupterbin Miuccia eine klare Linie der Geschäftsführung<br />
teilen, die den italienischen Modekonzern zu einem<br />
der bis dato einflussreichsten Häuser gemacht hat. Andere Safe<br />
Player belegen den Triumph der Erbpolitik. Zum Beispiel die<br />
erfolgreiche Weiterführung Gianni Versaces Vision durch seine<br />
Schwester Donatella. Oder auch das Mailänder Modeimperium<br />
Missoni. 1953 von Ottavio und Rosita Missoni gegründet, gelang<br />
es dem Label dank sportlicher Designs und dem charakteristisch<br />
buntem Zickzackmuster das spießige Image von Strickwaren<br />
radikal zu verändern. Über die Salonfähigkeit hinaus machte<br />
Missoni Strick wieder zum Trendthema. Tochter Angela, die<br />
ihrer Mutter bereits seit ihrem 18. Lebensjahr bei der Konzeption<br />
der Linien assistierte, ist mittlerweile Chefdesignerin. Ihre<br />
Brüder Vittorio und Luca sind für Marketing und Menswear<br />
verantwortlich. Angela wurde von Beginn an ganz klar der traditionelle<br />
Missoni-Look vermittelt, den sie in ihren Kollektionen<br />
erfolgreich fortführt. Und auch in der nächsten Generation<br />
kommt die Nachfolge höchstwahrscheinlich aus den eigenen<br />
familiären Reihen. Angela Missonis Tochter Margherita, modemärchenhafterweise<br />
zur Mailänder Fashion Week 1983 geboren,<br />
ist bislang zwar nur als Model für das Haus tätig, trotzdem<br />
wird ihr bereits jetzt eine gewisse Teilhabe an der Entstehung<br />
der aktuellen Kollektionen zugesprochen. Mutter und Tochter<br />
sollen in einem wechselseitigen Kreativaustausch stehen, bei<br />
dem gleichwertig die Erfahrung der einen und die unbedarften,<br />
frischen Ideen der anderen fantastische Linien entstehen lassen.<br />
Die Erziehung des eigenen Nachfolgers hat Missoni also gleich<br />
das nächste Designass in den Ärmel gelegt.<br />
><br />
Auch wenn sich das Blatt mittlerweile dramatisch gewandelt hat, so<br />
war es John Galliano, der Dior zu einem Gewinnerhaus gemacht hat<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
10<br />
11
Drastische Imagewandel in Modefirmen werden<br />
nicht selten als „Doing the Gucci“ bezeichnet<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
> Ungewöhnlich nur, wenn ein solches Blatt gänzlich ohne Farbe<br />
auskommt. Bei Maison Martin Margiela zum Beispiel stehen<br />
die Zeichen aktuell weder auf Herz oder Kreuz, noch Pik<br />
oder Karo. Seit Dezember 2009 wird das Avantgarde-Label<br />
von einem internen Designteam geführt, gesichts- und namenlos<br />
quasi. Martin Margiela hatte das Haus zuvor verlassen,<br />
seine Ideen waren zu künstlerisch für die Diesel-Gruppe.<br />
Der italienische Konzern hatte das Modehaus 2002 gekauft<br />
und will die Zukunft der Marke profitorientierter konzipieren.<br />
Der klassische Kampf zwischen Kunst und Kommerz gipfelte<br />
in dem Abschied Margielas, der seine Nachfolge erfolglos<br />
Jil-Sander-Chef Raf Simons anbot. Zwar hat der Großteil des<br />
jetzigen Teams bereits an Margielas Seite gearbeitet, seit dem<br />
Verlassen des Gründers und Namensgebers gilt die Mode<br />
von Maison Martin Margiela allerdings als schwächer und<br />
ausdrucksloser. Dabei hat sich zumindest bezüglich des Verhältnisses<br />
zwischen Chefdirektion und Presse wenig verändert.<br />
Ebenso wie Martin Margiela seinerzeit die Öffentlichkeit<br />
drastisch mied, tut es auch jetzt das Phantom-Team, das die<br />
Kollektionen entwirft. Margiela selbst war berühmt für seine<br />
stets knappen und äußerst wagen Antworten in Interviews, die<br />
er ohnehin ausschließlich per Fax gab. Niemand weiß, wie er<br />
aussieht, wer er ist, der Mann hinter den drei Ms. Nie wollte er<br />
den Fokus von seiner Arbeit, der Mode, lenken. Welch erfrischende<br />
Abwechslung in den von Geltungsdrang und Gefall-<br />
sucht geprägten Reihen der Modegrößen, in der (zumindest<br />
für die Öffentlichkeit) die Exzentrik manchmal eine gewichtigere<br />
Rolle spielt als die Qualität der Designs.<br />
Dies könnte auch erklären, weshalb die Nachfolge Alexander<br />
McQueens beim gleichnamigen Label ungewöhnlich unöffentlich<br />
stattgefunden hatte. Sicherlich ist ob der Tragik des Todes<br />
von Alexander McQueen auch aus Gründen der Pietät auf das<br />
klassische Ratespiel um Zukunft und Nachfolge verzichtet worden,<br />
doch ganz so still und leise hatte man die Neubesetzung<br />
nicht erwartet. Nach dem Suizid des britischen Rebellen-Designers,<br />
der für ausladende Kleider mit Punk-Attitüde bekannt<br />
war, übernahm Sarah Burton die kreative Gesamtführung.<br />
Eine logische Wahl, arbeitete Burton doch bereits seit 1996 im<br />
Hause McQueen und war seit 2000 Designerin der Damenkollektion.<br />
Seltsam aber, dass die Übernahme eines derartig<br />
prestigeträchtigen Postens so still und ohne viel Aufsehen vollzogen<br />
wurde. Ein Grund dafür dürfte Burtons wenig spektakuläres<br />
Auftreten sein. Weitgehend unbekannt (zumindest für<br />
Modelaien), gibt es um sie wenig skandalöses zu berichten, ihr<br />
persönlicher Stil ist schlicht, geradezu unauffällig. Erst die Kreation<br />
des Hochzeitskleides für Kate Middleton, der zukünftigen<br />
Königin Großbritanniens, brachte Sarah Burton sowie der<br />
Marke Alexander McQueen die gebührenden Schlagzeilen.<br />
Seitdem ist die Saint-Martins-Absolventin in aller Munde und<br />
bricht sämtliche Verkaufszahlen. Um gute Mode zu machen,<br />
braucht es den bizarren Sonderling an der Spitze eines Unternehmens<br />
sicherlich nicht, wohl aber, um das nötige Aufsehen<br />
und die damit einhergehenden Umsätze anzuregen.<br />
Dass Exzentrik und Genialität, Aufstieg und Fall in der Modewelt<br />
oft näher beieinander liegen als den Chefetagen lieb ist,<br />
verdeutlicht die jüngste Geschichte des Hauses Dior. Auch<br />
wenn sich das Blatt mittlerweile dramatisch gewendet hat, so<br />
war es doch der Brite John Galliano, ehemaliger Chefdesigner,<br />
ehemaliges Darling der Pariser Szene, der Dior zu dem<br />
Gewinnerhaus gemacht hat, das es mittlerweile zweifelsohne<br />
ist. Nachdem der Meister der ausladenden Roben 1995 mit seiner<br />
ersten Kollektion für Givenchy die Modewelt – nicht nur<br />
positiv – überraschte (seine Linie galt angesichts einer typisch<br />
französischen Traditionsmarke als zu aufgeregt und respektlos),<br />
entschied 1997 auch der Vorstand von Dior, aufs Ganze<br />
zu gehen. Auf Anraten von Anna Wintour, Chefredakteurin<br />
der amerikanischen Vogue, stellte Dior den britischen Couturier<br />
Galliano ein. Und auch wenn die Kreation tragbarer Mode<br />
ihm nie wirklich lag, so war es doch John Galliano, der in den<br />
folgenden 15 Jahren für Dior (zumindest in der Haute Couture)<br />
immer die Siegerkollektionen präsentierte.<br />
Im Februar diesen Jahres allerdings war auch er es, der den<br />
wohl prominentesten und – nun ja – glanzlosesten Designerwechsel<br />
veranlasste. Erst Vorwürfe höchst lautstarker und äußerst<br />
öffentlicher, antisemitischer Pöbeleien, nur einen Tag<br />
später die Veröffentlichung eines mehr als aussagekräftigen<br />
Videos des ganzen Spektakels durch die britische Sun, einen<br />
weiteren Tag darauf die offizielle Bekanntgabe Diors, man<br />
trenne sich von Galliano. Es folgen eine entsetzte Natalie Portman<br />
– Schauspielerin, Jüdin und Gesicht der aktuellen Miss<br />
Dior Chérie Duftkampagne –, die ihre Dior-Robe für den roten<br />
Teppich der diesjährigen Oscar-Verleihung kurzerhand<br />
gegen eine Kreation der amerikanischen Rodarte-Schwestern<br />
eintauschte, und eine hochoffizielle Ausladung John Gallianos<br />
von der Präsentation seiner letzten Kollektion für Dior auf der<br />
Pariser Fashion Week. Ein Abgang, der seltsamer, unerwarteter<br />
und tragischer kaum hätte sein können. Und der ob seiner<br />
ausladenden Dramatik fast die Frage um die Nachfolge in den<br />
Schatten gestellt hätte.<br />
Diese ließ dann doch nicht lange auf sich warten und avancierte<br />
zu einer heißen Diskussion über Können und Nichtkönnen<br />
der möglichen Erbschaftskandidaten. Auf sämtlichen<br />
Blogs, auf Twitter und wohl auch in so mancher privaten Runde<br />
hatte scheinbar jeder etwas dazu beizutragen. Da ging es um<br />
Hedi Slimanes fehlende Erfahrung in der Haute Couture, Lanvins<br />
großen Verlust, sollte Alber Elbaz zu Dior wechseln, und<br />
um die Kombinierbarkeit Riccardo Tiscis Vorliebe für düstere<br />
Kollektionen mit der bisher so farbenfrohen DNA des Hauses.<br />
Letzterer wurde schnell zur wahrscheinlichsten Nachfolge<br />
erkoren, Modejournalist Derek Blasberg wollte von einem Insider<br />
bereits die Bestätigung Tiscis als neuen Dior-Kreativchef<br />
erhalten haben und twitterte dies umgehend. Tisci selbst hält<br />
sich weiter bedeckt, ließ ausschließlich verlauten, dass er noch<br />
immer „Happy at Givenchy“ sei, und das mit durchgehend<br />
überzeugenden Couture-Linien seit 2005. Wieder ein drastischer<br />
Wandel, wieder ein Wechsel von Givenchy zu Dior, die<br />
ohnehin beide der Moët Hennessy Louis Vuitton S.A. gehören.<br />
Die Aktiengesellschaft ist der weltgrößte Luxusgüterkonzern<br />
und hält die Mehrheitsrechte an über 60 High-End-Marken.<br />
Das Erbe bleibt also auch hier sozusagen in der eigenen Familie,<br />
auch wenn diese statt Blut Geschäftsbeziehungen teilt.<br />
Und nicht nur Prada, Missoni und Versace scheint Dior bei<br />
seiner Entscheidung eventuell in die Karten zu schauen, auch<br />
Gucci wird sich angeblich zum Vorbild genommen. Neben<br />
Tisci soll nämlich Gerüchten zufolge auch Carine Roitfeld,<br />
ehemalige Chefin der Vogue Paris, ihren Platz in der Kreativdirektion<br />
des Hauses finden. Diese hatte bereits in den 1990er-<br />
Jahren als Stylistin an der Seite Tom Fords Gucci zu einem beispiellosen<br />
Imagewechsel samt immenser Umsatzsteigerungen<br />
verholfen. War die italienische Marke zuvor noch als altbacken<br />
verschrien, so waren es Ford und Roitfeld, die Gucci mit einer<br />
nie dagewesenen Sexualisierung einer Modemarke sowohl<br />
trendtechnisch als auch wirtschaftlich zu einem ernstzunehmenden<br />
Mitspieler der ganz großen Runde machten. Ähnlich<br />
drastische Imagewandel in Modefirmen werden seitdem nicht<br />
selten als „Doing the Gucci“ bezeichnet.<br />
Die kreative Leitung Diors wird vorerst in die erfahrenen,<br />
wenn auch bisher nur im Hintergrund agierenden Hände von<br />
Bill Gaytten gelegt. Dieser hatte gemeinsam mit John Galliano<br />
bei Dior angefangen und diente dem Meister 15 Jahre hindurch<br />
als rechte Hand. Während der Entstehungsphase der<br />
neuen Couturelinie des Hauses, der ersten ohne Galliano, ließ<br />
Gaytten verlauten, die Abwesenheit seines ehemaligen Chefs<br />
hätte für ihn keinen großen Unterschied gemacht. Vermisst hat<br />
Galliano aber sicherlich so manch einer, der die Präsentation<br />
live in Paris oder vor dem heimischen Computer mitverfolgt<br />
hatte. Spürbar war die künstlerische Angestrengtheit, die in<br />
einem Designer stecken muss, der Jahre hindurch zwar Ideen<br />
und Inspiration lieferte, sich selbst aber nie zu 100 Prozent in<br />
einer Kollektion verwirklichen durfte. Mit einer allzu plumpen<br />
Metaphorik (die Show schloss eine als trauriger Clown verkleidete<br />
Karlie Kloss) und zu deutlichen Bezügen auf die Ästhetik<br />
Gallianos, präsentierte Gaytten ein überzeichnetes Resümee<br />
der letzten 15 Jahre Dior. CEO Sidney Toledano gab sich damit<br />
zumindest gegenüber der Presse zufrieden. Man ließe sich mit<br />
der letztendlichen Entscheidung über den neuen Chefdesigner<br />
bis Ende des Jahres Zeit. Wie dann die Würfel fallen, das kann<br />
niemand vorhersagen. Festhalten lässt sich aber, dass Taktik<br />
bei der Wahl des Kreativdirektors immer eine entscheidende<br />
Rolle spielt. Die detaillierte Planung, das genaue Abwägen von<br />
Gefahr und Option bleiben bei der Führung einer Marke unabdingbar,<br />
sind aber sicherlich noch kein Garant für eine weitere<br />
siegreiche Saison. Schließlich dürfte – wie in jedem Spiel – auch<br />
hier Fortuna noch ein Wörtchen mitzureden haben.<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
12<br />
13
Die deutsche L’Officiel<br />
Hommes veröffentlichte<br />
2011 die Strecke<br />
„Le Baron“, die von Leon<br />
Mark fotografiert wurde<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
anziehende gegen s ä t z e<br />
Fotocredit<br />
Fotocredit<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
14<br />
15
Alexx und Anton sind ein eingespieltes Team – zwei völlig<br />
verschiedene Menschen mit einem gemeinsamen Ziel.<br />
Das Stylistenpaar kreiert denkbar unterschiedliche Modewelten<br />
und visualisiert dabei immer ein Stück von sich selbst. Denn<br />
geht es um ihre Arbeit, werden Alexx und Anton zu einer Person<br />
doch bringt er die Dinge schneller auf den Punkt. Auch im<br />
Bezug auf ihre Arbeit ergänzen sich die beiden perfekt. Anton<br />
arbeitet eher intuitiv und stylt direkt am Model. Alexx greift<br />
die Idee auf, denkt jedoch mehr im Konzept und achtet besonders<br />
auf eine ganzheitliche Bildsprache. Diese Ungleichheiten<br />
lassen sie so gut miteinander funktionieren. Sie nehmen sich<br />
Zeit, grübeln über die verändernde Wirkung kleinster Details<br />
und sind stets im Dialog mit sich und allen anderen. Diese Herangehensweise<br />
ist selten geworden in der schnelllebigen Modewelt.<br />
Das Ergebnis: zeitlose Modestrecken mit Tiefe.<br />
lichkeit offen stand, war es in Deutschland sehr schwer. Die<br />
Arbeitseinstellung ist eine komplett andere. Uns wurde gesagt:<br />
„Ihr schafft das nicht.“<br />
Wie ging es weiter?<br />
Anton Nach einiger Zeit lief es besser. Gemeinsam hatten wir<br />
eben etwas Neues anzubieten und auch etwas Neues zu sagen.<br />
Alexx Wir wollten eigentlich nur ein Jahr in Berlin bleiben.<br />
Aus diesem einen sind aber mittlerweile acht geworden (beide<br />
lachen).<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
2004 hatten Alexx & Anton<br />
die Idee, Mode anhand<br />
von Fischen zu visualisieren.<br />
Fotografiert von Nico<br />
Hesselmann wurde die Strecke<br />
„Arti-Fishal“ im Qvest-Magazin<br />
veröffentlicht und war der<br />
Durchbruch für die beiden<br />
Stylisten. Hier das<br />
Modell „Helmut Lang“<br />
Wie kommen eigentlich zwei so unterschiedliche Menschen<br />
dazu, gemeinsam als Stylisten zu arbeiten?<br />
Alexx Als ich Anton traf, hatte er schon ein paar Jahre als Stylist<br />
auf dem Buckel. Obwohl ich eher vom Design kam dachten<br />
wir uns: „Warum es nicht einfach gemeinsam als Stylisten<br />
versuchen?“<br />
Anton Vielleicht, dachten wir, kann man irgendwann davon<br />
leben? Doch die Leute waren am Anfang sehr skeptisch. Sie<br />
haben die „Two Men Show“ nicht ganz verstanden. Die Idee,<br />
dass zwei Jungs aus New York nach Berlin kommen und gemeinsam<br />
in der Mode arbeiten, war für das damalige Berlin<br />
einfach zu neu.<br />
Alexx High Fashion gab es in Deutschland noch gar nicht.<br />
Vor allem nach meiner Zeit in New York, wo dir jede Mög-<br />
von Inga Krieger<br />
Alexx Weeber und Anton Cobb arbeiten seit acht Jahren gemeinsam<br />
als Stylisten in Berlin. Ihre Konzepte sind sorgsam<br />
durchdacht, jedes Detail bewusst gewählt. Und sie arbeiten<br />
immer zu zweit. Die Aufträge der beiden könnten unterschiedlicher<br />
nicht sein. Neben reinen Mode-Editorials für Magazine<br />
wie L’Officiel Hommes oder Qvest, entwickeln sie mittlerweile<br />
auch Schaufensterkonzepte für Marken wie Marc O’Polo oder<br />
beraten große Werbekunden wie Joop oder Strellson. Doch so<br />
sehr sich die Kunden auch unterscheiden mögen, Alexx und<br />
Anton verfolgen immer das gleiche Ziel: unter den gegebenen<br />
Umständen das bestmögliche Ergebnis zu erreichen.<br />
Alexx kommt aus einem Dorf in Süddeutschland, Anton aus<br />
New York. Letzterer fand auf eher zufällige Weise seinen Weg<br />
in die Mode. Während eines Fotografiestudiums traf Anton<br />
auf Patti Wilson, eine im New York der 90er-Jahre sehr erfolgreiche<br />
Stylistin. Sie ebnete ihm den Weg in die Modewelt.<br />
Die zweite Hälfte des Teams ist Alexx. Er folgte seiner Leidenschaft<br />
für Kulinarisches und machte erst eine Ausbildung<br />
zum Koch. Die von ihm produzierten Kochbücher brachten<br />
ihn schließlich nach New York. Als sich die beiden dort 2003<br />
trafen, war Alexx nach fünf Jahren in Manhattan gerade dabei,<br />
in seine Heimat zurückzuziehen. Kaum in Süddeutschland<br />
angekommen, kam Anton nach. Ihr gemeinsames Leben<br />
begann in Berlin.<br />
Anton, der emotionalere der beiden, spricht häufig in Metaphern.<br />
Er schmückt seine Gedanken mit bewusst gewählten<br />
Worten aus, ganz so, als wäre selbst das Sprechen ein Designprozess.<br />
Alexx' Wortwahl ist nicht weniger gewissenhaft, je-<br />
Ihr seid mit Fischen bekannt geworden. Wie kam es dazu?<br />
Anton Ja, es ist wirklich verwunderlich, dass die Leute nach<br />
so etwas Verrücktem noch mit uns arbeiten wollten (lacht).<br />
Alexx Wir saßen beim Abendessen in einem Restaurant in<br />
Kreuzberg und hatten auf einmal die Idee, eine Modegeschichte<br />
ausschließlich mit Fischen zu machen und auf Kleidung<br />
komplett zu verzichten. Wir wollten die Ästhetiken verschiedener<br />
Designer mittels der Fische darstellen und sind dann tatsächlich<br />
zu einem Fischmarkt gefahren und haben sehr teuren<br />
Fisch gekauft (lacht). Daraus ist dann ein zwölfseitiges Mode-<br />
Editorial komplett ohne Mode entstanden.<br />
Und das kam gut an?<br />
Anton Ja. Wir wurden sofort für die nächste Ausgabe gebucht<br />
(lacht).<br />
Wie muss man sich den Alltag eines Stylisten vorstellen?<br />
Alexx Von Anfang an sind wir im gesamten kreativen Prozess<br />
einer Produktion involviert. Das Konzept, die Location, die<br />
Wahl des Fotografen. Wir haben ein starkes Auftreten, denn<br />
wir wissen, was wir wollen und kämpfen auch dafür. Wir werden<br />
nicht bezahlt, um Ja zu sagen, sondern um die Aufgabe gut<br />
zu erledigen. Du musst authentisch sein und der Welt deine<br />
Handschrift zeigen.<br />
Anton Unser Alltag ist nicht der eines klassischen Stylisten.<br />
Aber der Job hat sich allgemein in den letzten Jahren verändert.<br />
Inwiefern?<br />
Anton Die Anforderungen sind größer geworden und so<br />
auch unser Arbeitsbereich. Als ich als Stylist anfing, arbeiteten<br />
wir ganz anders als heute. Es gab kein Style.com. Computer<br />
wurden kaum benutzt. Für einen Job musste ich zum Beispiel<br />
um sechs Uhr morgens ein Fax nach Paris schicken, damit ein<br />
Kleid drei Wochen später für das Shooting in New York war.<br />
Das kann man sich heutzutage gar nicht mehr vorstellen. Außerdem<br />
ging es viel mehr um Trends. Alexx und ich denken<br />
über einen Stil hinaus. Wir kreieren Atmosphären, Orte und<br />
ganze Welten. Wir wollen nicht unbedingt alles selbst machen.<br />
Aber manchmal ist es schlichtweg leichter, die Dinge selbst zu<br />
tun, als jemandem zu erklären, was du dir vorstellst.<br />
Wie verwandelt man ein Model?<br />
Alexx Wir kreieren in unserer Fantasie immer eine fiktive<br />
Person, die wir bis zum Shooting-Tag mit uns herumtragen.<br />
Anton Wir geben ihr einen Namen, kreieren eine ganze<br />
Welt um sie herum. Wer ist diese Person? Was macht sie?<br />
><br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
16 17
1<br />
2<br />
1<br />
2<br />
2<br />
3<br />
1<br />
3<br />
1<br />
1<br />
1 Die Strecke „Le Baron“ erschien<br />
dieses Jahr in der zweiten Ausgabe<br />
der deutschen L’Officiel Hommes und<br />
wurde von Leon Mark fotografiert<br />
2<br />
1<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
2 „Nuancen“ ist ein Mode-Portfolio,<br />
das im September 2010 im Quality-<br />
Magazin veröffentlicht wurde.<br />
Der damalige Chefredakteur Constantin<br />
Rothenburg hat dem Stylistenpaar<br />
für diese Arbeit völlig freie Hand gegeben<br />
3 Die Strecke „Powder“ erschien<br />
2007 in der deutschen Park Avenue<br />
und wurde von Bernd Preiml fotografiert.<br />
Ein gutes Team, denn alle drei<br />
verbindet die Liebe zu Altem und die<br />
verändernde Wirkung kleinster Details<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
18<br />
19
»Alexx und ich denken über einen Stil hinaus.<br />
Wir kreieren Atmosphären, Orte und ganze Welten«<br />
Alexx (l.) & Anton, hier inszeniert<br />
von Bernd Preiml. Anton sagt<br />
über den Fotografen, mit ihm<br />
zu arbeiten sei wie zu träumen:<br />
„Alles ist möglich, solange<br />
du es dir vorstellen kannst“<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
> Isst sie allein oder mit Freunden? Welche Musik hört sie? Und<br />
diesen Charakter bringen wir schließlich mit ans Set.<br />
Und bei einem Produkt-Shooting?<br />
Alexx ...versuchen wir genauso eine Atmosphäre zu schaffen<br />
und eine Geschichte zu erzählen. Vielleicht war die Person gerade<br />
noch im Raum oder hat diesen Gegenstand gerade noch<br />
berührt. Es geht darum, den Objekten Leben einzuhauchen.<br />
Dadurch bekommen die Bilder eine gewisse Tiefe.<br />
Macht ihr alles gemeinsam? Oder hat jeder seine Stärken und<br />
Schwächen?<br />
Alexx Grundsätzlich arbeiten wir an jedem Projekt gemeinsam.<br />
Doch meine Stärke ist sicherlich, konzeptionell zu<br />
arbeiten. Das ist vor allem bei Produkt-Shootings oder der<br />
Schaufenstergestaltung wichtig. Anton ist sehr gut, wenn es<br />
um das Styling am Model selbst geht. Er ist in der Lage, in<br />
die unterschiedlichsten ästhetischen Welten einzutauchen<br />
und dem Auftraggeber das zu liefern, was er möchte. Die<br />
Chance, dem Kunden gerecht zu werden, ist gemeinsam sehr<br />
viel größer.<br />
Anton Natürlich haben wir beide unsere eigenen Stärken und<br />
Schwächen. Wir reden jedoch drüber. In unserer Welt dreht<br />
sich alles um Kollaboration. Das gilt auch für uns. Auch wenn<br />
wir sehr gut zusammenarbeiten, bekämpfen sich unsere Ideen<br />
ab und an. Letztendlich sind wir zwei verschiedene Menschen,<br />
die wie einer arbeiten.<br />
Alexx Es ist ein großes Geschenk, jemanden zu haben, mit<br />
dem ich ständig im Dialog bin. Wir stärken einander.<br />
Könnt ihr euren Stylingstil beschreiben? Was macht euch<br />
einzigartig?<br />
Alexx Es gibt Dinge, zu denen wir immer wieder zurückfinden.<br />
Wir schätzen Werte und Qualität. Das heißt nicht, dass<br />
wir ständig in der Vergangenheit wühlen. Wir versuchen immer,<br />
unsere Sicht auf die Dinge mit in die Bilder einfließen<br />
zu lassen. Ein gutes Beispiel ist die Strecke „Le Baron“ für die<br />
deutsche L’Officiel Hommes. Uns gefiel der Gedanke, einen<br />
morbiden Charakter wie den des Barons in einen zeitgenössischen<br />
Kontext zu setzen.<br />
Anton Die Strecke hat kein Verfallsdatum. Wir haben nicht<br />
die Renner der Saison fotografiert, sondern auf die Authentizität<br />
des Charakters geachtet. Uns geht es generell weniger um<br />
Trends. Wir wollen vielmehr ein Gefühl vermitteln. Es geht<br />
um die Stoffe, die Haare, ihre Bewegung im Wind und weniger<br />
darum, ob diese eine Hose geht oder nicht. Um eine gewisse<br />
Ästhetik eben. Unser Ziel ist ein schönes Bild. Wie wir dahin<br />
kommen, ist mir egal.<br />
Was unterscheidet ein gutes von einem schlechten Bild?<br />
Anton Der Unterschied liegt darin, das Model nicht zu verkleiden,<br />
sondern ein reales Gefühl zu kreieren. Man hat gewonnen,<br />
wenn die Models bzw. Objekte das werden, was du<br />
dir vorgestellt hast.<br />
Alexx Manchmal sieht man Bilder, die nichts über den Charakter<br />
des Models aussagen. Das sind Situationen, in denen du<br />
merkst: Das Model ist tatsächlich nur ein Mannequin. Dann<br />
musst du umschalten und in ihren Charakter eintauchen. Wir<br />
suchen nicht nach der offensichtlichen Schönheit, sondern<br />
eher was sich darunter verbirgt.<br />
Anton Zwei der ersten Fotografen, mit denen ich gearbeitet<br />
habe, waren David LaChapelle und Steven Meisel. Ich bin sehr<br />
naiv an die Sache herangegangen. Diese Unvoreingenommenheit<br />
sehe ich heute als großen Bonus.<br />
Alexx Das ist eine Sache, die uns beide stark verbindet. Wenn<br />
wir etwas wollten, haben wir es einfach gemacht. In New York<br />
war es damals möglich, als ausgebildeter Koch zu sagen: „Ich<br />
mache jetzt etwas mit Mode“, und damit dann tatsächlich<br />
erfolgreich zu sein. Das wäre in Deutschland undenkbar gewesen.<br />
Wir beide glauben, dass jeder in der Lage ist, alles zu<br />
können. Auch Dinge, die man nicht gelernt hat. Nicht, was auf<br />
einem Papier steht bestimmt, wer du bist, sondern das, was du<br />
daraus machst.<br />
Ihr arbeitet für Joop, Adidas oder S.Oliver. Wie ist es, für solche<br />
großen und unterschiedlichen Marken zu stylen?<br />
Alexx Wenn wir ein Editorial machen, sind allein wir für<br />
das Team verantwortlich. Arbeitet man aber für Marken wie<br />
S.Oliver, ist der Kunde meist tiefer involviert. Dann versuchen<br />
wir, in die DNA des Kunden einzutauchen und das bestmögliche<br />
Ergebnis zu liefern. Dabei geht es dann nicht immer nur<br />
um unsere Bedürfnisse.<br />
Anton Manchmal muss man sich durchboxen. Aber es ist unser<br />
Ziel, durch jede Tür mit dem gleichen Paket zu kommen.<br />
Wir pushen uns gegenseitig – warum dann nicht auch die anderen?<br />
Dafür werden wir gebucht.<br />
Kann man bei Werbejobs überhaupt kreativ arbeiten?<br />
Alexx Es gab auch schon den Fall, dass ein Kunde für uns eine<br />
bestimmte Tasche produzierte, weil wir unbedingt diese eine<br />
für das Shooting wollten. Das ist jedoch eine Ausnahme. Ansonsten<br />
musst du mit dem arbeiten, was dir geboten wird.<br />
Anton Dieser „McGyver-Aspekt“ macht es für mich gerade<br />
so spannend. Du hast zur Verfügung: ein Gummiband, einen<br />
Rock und eine Papiertüte. Kreiere daraus einen Look. Ich liebe<br />
das. Gewisse Rahmenbedingungen sind manchmal sogar gut.<br />
Wir stehen nicht dafür, etwas komplett Neues zu kreieren, sondern<br />
bereits Existierendem eine neue Bedeutung zu geben. Es<br />
begehrenswert zu machen.<br />
Was bedeutet euch Mode privat?<br />
Anton Für mich ist Mode Dekoration deiner Selbst. Man<br />
muss mit ihr spielen, aber ich schätze vor allem den emotionalen<br />
Aspekt. Kleidung reflektiert Gefühle. Wenn du traurig<br />
bist, kannst du das schönste Kleid anziehen und trotzdem sieht<br />
es nicht gut aus. Fühlst du dich aber gut, kannst du dir eine<br />
braune Papiertüte überziehen und großartig aussehen. Ich hoffe,<br />
dass wir diesen Gedanken in unseren Bildern rüberbringen.<br />
Ganz egal, ob das Model ein Clownskostüm oder ein Büro-<br />
Outfit trägt.<br />
Alexx Ich war schon früh daran interessiert, wie sich Leute<br />
kleiden. Die Art, wie Kleidung gemacht wird. Die Stimmung,<br />
die sie verbreiten kann. Sie sagt viel über einen Menschen aus.<br />
Das Wichtigste ist, dass immer du die Kleidung trägst und<br />
nicht andersherum. Leider sieht man das oft auf der Straße. Die<br />
Menschen bewegen sich anders, wenn sie sich in ihrer Kleidung<br />
unwohl fühlen.<br />
Wie würdet ihr euer persönliches Styling beschreiben?<br />
Alexx Bei mir entwickelte sich schnell ein Bewusstsein, was mir<br />
persönlich gefällt und ich bin eher der Typ, der bei einem Stil<br />
bleibt. Einfach weil ich mich darin wohlfühle. Trotzdem habe<br />
ich noch Freude daran, mich durch Mode auszudrücken. Als ich<br />
jung war, fuhr ich oft in die Stadt und ließ mir Hosen zurücklegen,<br />
die mir gefielen. Ich kam immer wieder und probierte sie<br />
an, bis ich sie mir endlich leisten konnte. Ich denke für dich,<br />
Anton, ist zu viel manchmal gerade gut genug, oder? (lacht)<br />
Anton (lacht) Meine prägenden Jahre waren in einer Stylingwelt,<br />
in der mehr tatsächlich meistens mehr war. Aber ich habe<br />
von Anfang an gelernt, das zu reflektieren. Man kann immer<br />
überladen sein. Aber auf unterschiedliche Art und Weise. Zum<br />
Beispiel kann der Charakter, den wir in unseren Geschichten<br />
kreieren, von Gedanken überladen sein. Letztendlich ist Mode<br />
nicht definierbar. Ich mag, dass sie alles sein kann.<br />
Ihr seid seit acht Jahren in Berlin. Was hält euch hier?<br />
Alexx Ich mag die kreative Freiheit, die dir diese Stadt bietet.<br />
Berlin lässt jeden leben und sein wie er ist. Die Stadt will nicht<br />
so viel von dir und lässt dich eher in Ruhe. Berlin ist immer in<br />
Bewegung und dadurch scheint alles möglich. Es fühlt sich an<br />
wie ein Puzzle, bei dem ständig ein Teil fehlt.<br />
Ist es ganz anders als in Paris oder New York?<br />
Alexx Wir haben nach New York eine Zeit in Paris gelebt und<br />
für mich gibt es einen schönen Vergleich: Mit Paris hast du<br />
eine Affäre. Mit Berlin bist du verheiratet. Letzteres hat etwas<br />
Beständiges und verlangt wenig. Paris hingegen fordert dich<br />
ständig und kostet viel.<br />
Ist dafür aber aufregend...<br />
Alexx Genau. In New York zu leben war ebenfalls eine Herausforderung.<br />
Die Stadt ist voller Energie und kickt dich jeden Tag.<br />
In Berlin liegt die Schönheit eine Schicht tiefer. Hier gibt es viel<br />
Hässlichkeit, in der aber auch wahnsinnig viel Potenzial liegt.<br />
Anton In New York hat dich die Stadt schnell gepackt. Sie<br />
legt das Tempo vor. Nach dieser stressigen Zeit war es schön,<br />
in eine Stadt zu kommen, in der du dein Leben bestimmst, und<br />
nicht dein Leben dich.<br />
Und in Sachen Mode?<br />
Alexx Im Vergleich zu anderen Städten wie<br />
Paris oder Mailand ist Berlin sehr kommerziell.<br />
Die Stadt ist die perfekte Plattform für<br />
günstige Labels oder Denim-Marken. Berlin<br />
sollte niemals versuchen, etwas zu sein, was<br />
es nicht ist. Dafür gibt es schlichtweg keinen<br />
Bedarf.<br />
Anton Eigentlich sind Städte auch nicht<br />
miteinander vergleichbar. Für Berlin ist es<br />
einfach wichtig, etwas Eigenes und Neues zu<br />
werden und nicht eine Kopie von Paris oder<br />
New York. Vergleiche gab es genug. Jetzt ist<br />
es Zeit zu sein.<br />
Für „Arti-Fishal“<br />
ließen sich Alexx<br />
& Anton auch<br />
von Dior Homme<br />
inspirieren<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
20<br />
21
Berlin ist so facettenreich wie<br />
seine Designer. Deshalb<br />
haben wir die aufregendsten<br />
Abendroben aus den<br />
Hauptstadt-Ateliers vor den<br />
wahren Sehenswürdigkeiten<br />
inszeniert. Das Ergebnis:<br />
eine exklusive Stadtrundfahrt<br />
Urban Couture<br />
Fotos: Lennart Brede<br />
Produktion /Styling:<br />
Juliane Dumjahn<br />
Julia Quante<br />
Romina Wahlmann<br />
WERK VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
Haare/Make-up: Lyn Kato<br />
Model: Lucy Malik<br />
Place Models<br />
Retouch: Recom Berlin<br />
www.recom.de<br />
Märkisches Viertel, Reinickendorf<br />
Das Märkische Viertel ist<br />
Berlins bekannteste Hochhaussiedlung.<br />
Der Rapper Sido<br />
wuchs hier auf und widmete<br />
seinem „Block“ eine Hymne<br />
Schwarzes Paillettenkleid:<br />
Schwarzer Reiter – Edin DeSosa<br />
Ohrringe: TomShot Berlin<br />
22 23<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong>
Ahmadiyya-Mosche,<br />
Wilmersdorf<br />
In den 20er-Jahren<br />
wurde in der Brienner<br />
Straße die erste Mosche<br />
Deutschlands gebaut<br />
Schwarzes Kleid<br />
mit Rückendekolleté:<br />
Starstyling<br />
Turban-Tücher:<br />
Shoeting Berlin<br />
Kette: TomShot Berlin<br />
Wasserfall im<br />
Viktoriapark, Kreuzberg<br />
Von Berlins höchstem<br />
natürlichen Berg<br />
fließt ein 24 Meter<br />
hoher Wasserfall<br />
Federkleid:<br />
Dawid Tomaszewski<br />
Schuhe: Sanctum Berlin<br />
Federkopfschmuck:<br />
Devaki Berlin<br />
WERK VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
24<br />
25
Bode-Museum, Mitte<br />
Das 2006 nach langer<br />
Bauphase wiedereröffnete<br />
Bodemuseum gilt als<br />
neubarockes Meisterwerk<br />
und gehört zum Weltkulturerbe<br />
der Unesco<br />
Pinkes Seidenkleid und Tuch:<br />
Sabrina Dehoff<br />
Armband: Stylist's own<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
26<br />
27
Teufelsberg, Grunewald<br />
Auf dem 115 Meter<br />
hohen Trümmerberg<br />
im Westen Berlins<br />
steht die ehemalige<br />
amerikanische Abhörstation.<br />
Heute hat man von<br />
ihm die schönste Sicht<br />
auf Berlin<br />
Türkisfarbenes Kleid:<br />
Frida Weyer<br />
Haarschmuck:<br />
Sabrina Dehoff<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
28<br />
29
Rotes Seidenkleid:<br />
Lala Berlin<br />
Venezianische Maske:<br />
Schwarzer Reiter<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
Fotocredit<br />
U-Bahnhof Rathaus Schöneberg<br />
Im Rudolph-Wilde-Park ist<br />
der Eingang zum wohl schönsten<br />
U-Bahnhof der Stadt. Benannt<br />
nach dem Rathaus, das<br />
von 1949 bis zum Mauerfall<br />
Westberliner Regierungsund<br />
Amtssitz war<br />
Lachsfarbene Abendrobe:<br />
barre|noire<br />
Tuch: Shoeting Berlin<br />
Federhaarreif: Davaki Berlin<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
30<br />
31
von Celina Plag<br />
M<br />
eine Mutter ist eine bewundernswerte Frau. Emanzipiert,<br />
aufmüpfig und mit einer großen Leidenschaft für Demonstrationen.<br />
Ein wahres Kind ihrer Generation. Geboren<br />
1960 in einer kleinen provinziellen Stadt in Süddeutschland,<br />
dort, wo man allein schon aus Langeweile gar nicht anders<br />
konnte, als in die Welt hinauszuschauen. Gern stelle ich mir<br />
vor, wie sie im Alter von acht Jahren vor dem Schwarz-Weiß-<br />
Fernseher im Wohnzimmer meiner Großeltern saß und mit<br />
großen Augen die Studentenrevolte und Frauenbewegung der<br />
68er verfolgte. Das Flackern der brennenden BHs entfachte<br />
wohl auch in ihr eine lodernde Flamme, die bis zum heutigen<br />
Tag nicht erloschen ist. Wären ihre Brüste damals auch nur ansatzweise<br />
in einem sichtbaren Stadium gewesen – ich bin mir<br />
sicher, sie hätte sich ihre Minikörbchen geschnappt und mit einer<br />
Packung Streichhölzer die sexuelle Befreiung nachgespielt.<br />
Das Protestieren wurde bald zu einem festen Bestandteil<br />
ihres Lebens. Egal ob für freie Liebe und Frieden, gegen<br />
Atomkraftwerke, Atombomben, Atome ganz generell, gegen<br />
die heteronormative Gesellschaft und natürlich gegen Nazis –<br />
wogegen meine Mutter gerade rebellierte, ließ sich meist unschwer<br />
erkennen. Denn ihre Kleidung war stets Symbolträger<br />
von Idealen, ihre Mode selbst schon ein politisches Statement.<br />
Die Jugend von heute<br />
Heute verhält es sich anders. Geprägt von dem lauten Engagement<br />
unserer Eltern, die zu Recht gegen so ziemlich alles<br />
waren, was „das System“ ihnen diktierte, sind wir eine Generation,<br />
der es schwer fällt, einen eigenen und vor allem einen<br />
neuen Weg des Protests zu finden, der es uns ermöglicht, uns<br />
von den vorherigen Generationen zu distanzieren. Doch gerade<br />
das müssen wir, denn die Abgrenzung von den Eltern, das<br />
Gehen eigener Wege, dient in hohem Maße der Identitätsfindung,<br />
der Hang zum Wandel und zur Veränderung ist bereits<br />
das Wesen der Jugend selbst. ANTI ANTI ist das Motto unserer<br />
Generation. Die Eltern waren gegen etwas. Wir sind dagegen,<br />
dagegen zu sein!<br />
Das ist bedenklich, da viele der Kernprobleme der letzten 30<br />
Jahre sich zwar gewandelt haben, aber immer noch bestehen.<br />
Wir führen weiterhin Kriege, nach wie vor spielen Themen wie<br />
Diskriminierung und Chancenungleichheit eine Rolle, selbst<br />
die Atomfrage erschütterte erst kürzlich wieder die Welt, als im<br />
japanischen Fukushima nach einem schweren Erdbeben und<br />
anschließendem Tsunami der Reaktor des Kraftwerks schwer<br />
beschädigt und in mehreren Blöcken eine Kernschmelze bestätigt<br />
wurde. Natürlich ist der Generation ANTI ANTI das nicht<br />
egal, natürlich wird gegen Missstände protestiert – nur eben<br />
ziemlich leise. Dass auch die Wirkung politischer Symbole in<br />
der Mode sich verändert, ist nicht gerade hilfreich.<br />
Die Anti-Mode der Jugendkulturen<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
Politische Statements<br />
oder sinnentleerte<br />
Trends: Warum die Mode<br />
die Anti-Mode<br />
braucht – und die<br />
Gesellschaft eine neue<br />
Jugendkultur<br />
In der Vergangenheit waren es meist die Jugendkulturen, die<br />
dank ihrer Lautstärke, ihrer Authentizität und ihrer auffälligen<br />
Art, sich zu kleiden, die breite Masse provozierten und<br />
gleichzeitig zum Denken anregten. Eine Welt voll freier Liebe,<br />
Frieden und Harmonie, damit schockierten die Hippies in den<br />
60er-Jahren. Wallende Batikkleider, weite Jeans und Jesuslatschen,<br />
lange Locken, unrasierte Körper und Blumen im Haar<br />
waren die Erkennungszeichen ihres politischen Protests, der<br />
langsam aber sicher den Mainstream und seine Mode infiltrierte.<br />
Die Hippies waren neu, sie waren präsent, sie machten<br />
ergreifende Musik. Zumindest einen Teilerfolg an gesellschaftlichen<br />
Umbrüchen kann man ihnen zugestehen. Polygamie<br />
und Sex in der Öffentlichkeit sind zwar nach wie vor gesetzlich<br />
verboten, doch unverheiratete Paare längst akzeptiert. Peace.<br />
Ähnliches passierte bei den Punks, die Ende der 70er mit ihren<br />
Irokesenschnitten, den nietenbesetzten Lederjacken und<br />
ihren Doc Martens die Hippies rumgammelnderweise aus<br />
dem Straßenbild verdrängten. Wenn sie nicht gerade nichts<br />
taten, schrien sie nach Anarchie. Vivienne Westwood, Queen<br />
Mother of Punk und selbst ein Kind der Subkultur, holte diese<br />
Anti-Mode aus London auf den Laufsteg und schaffte einen<br />
Protest-Punk-Chic, der für Furore sorgte. Sie rief einen<br />
andauernden Trend aus, der selbst vor den konservativsten<br />
Gesellschaftsschichten nicht Halt machte. Die eigentliche<br />
Botschaft, eine Kritik an dem steifen, kommerziellen und<br />
bürgerlichen Klassensystem Englands, wurde natürlich entschärft<br />
und somit einem breiten Teil der Gesellschaft zugänglich<br />
gemacht – ironischerweise eben jenem Teil, gegen den<br />
><br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
32<br />
33
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
><br />
ICH<br />
sich die Rebellion ursprünglich richtete. Verstummt ist die<br />
Botschaft dabei nicht völlig, dafür war der Protest zu laut.<br />
Heute gibt es keine einflussreichen politischen Jugendkulturen<br />
mehr, folglich auch keine subkulturellen Zitate mehr auf<br />
dem Laufsteg, die in das Massenbewusstsein übergehen können.<br />
Natürlich sind da Phänomene wie die „Es ist o.k., wenn du<br />
weinst“-Emos und „Der Tod gehört zum Leben dazu“-Gothics,<br />
von denen sich einige Designer immer mal wieder inspirieren<br />
lassen. Ein generelles Desinteresse an der Politik kann man<br />
denen nicht unterstellen, der Prototyp eines rebellierenden Jugendlichen<br />
sieht allerdings anders aus.<br />
Wir mutieren zu einer Generation voll gleichgültiger Ja-<br />
Sager, deren Protest nur noch im Kleinen funktioniert. Wir<br />
haben gelernt, den Müll zu trennen, kaufen hin und wieder<br />
Bio-Produkte, mögen die Green-Linie von H&M und bekleben<br />
unsere iPhones mit Anti-AKW-Stickern. Wirklich etwas<br />
Großes zu verändern, trauen wir uns nicht mehr zu. Doch ist es<br />
nicht gerade das, was die Balance in der Gesellschaft ausmacht?<br />
Die Jugendlichen als aufmüpfiger Katalysator, als utopische<br />
Träumer von einer besseren Welt?<br />
Die Protestmode auf dem Laufsteg<br />
Wir haben das Ruder aus der Hand gegeben. Heute protestieren<br />
andere: die Designer. Und mit ihrer politischen High<br />
Fashion haben sie Erfolg, denn dank ihrer medialen Präsenz<br />
schaffen sie es immer wieder, Aufmerksamkeit zu generieren,<br />
Diskussionen anzuregen und die Gesellschaft im besten Falle<br />
sogar von ihrer Meinung zu überzeugen. Je bekannter und akzeptierter<br />
der Designer, desto besser.<br />
Politik und Mode, das passt zusammen. Während der amerikanischen<br />
Präsidentschaftswahl 2009 beispielsweise spielte<br />
der Laufsteg durchaus eine Rolle. Angesehene Modedesigner<br />
wie Diane von Fürstenberg, Marc Jacobs, Zac Posen und Proenza<br />
Schouler sympathisierten mit dem Kandidaten Barack<br />
Obama und entwarfen für das Projekt „Runway to Change“<br />
T-Shirts, Taschen und Accessoires bedruckt mit Schriftzügen<br />
wie „Vote for Obama“ oder „I love my President“, um damit<br />
die Spendenkassen zu füllen. Selbst bei der Pariser Fashion<br />
Week im September 2008 widmete Donatella Versace dem zukünftigen<br />
Präsidenten gleich ihre komplette Kollektion, Stella<br />
McCartney unterzeichnete ihre Einladungskarten mit: „P.S.:<br />
Vote for Obama“.<br />
Das Problem dabei ist, dass politische Statements auf dem<br />
Catwalk eine zweite Funktion übernehmen: Sie machen politische<br />
Umstände zu einem Trenderlebnis. Auf einmal ist es<br />
nicht mehr nur eine persönliche Überzeugung, gegen Atomkraft<br />
oder für Obama zu sein, sondern es ist en vogue. Eine<br />
kurzweilige Liebelei, die diese Saison auf den Laufstegen zu<br />
sehen war und schnelllebig wie sie ist, nächste Saison schon<br />
wieder vergessen sein kann. Denn so ist es mit der Mode, dem<br />
schönsten Spiegel des Zeitgeistes: Zeigt sie herrschende Missstände<br />
auf, wird diese Kritik gleich wieder egalisiert, sobald sie<br />
zum Massentrend wird.<br />
Noch schlimmer ist die Situation bei Statements, die nicht<br />
plakativ funktionieren. Häufig passiert dies bei avantgardistischen<br />
Designern wie Hussein Chalayan, der beispielsweise<br />
im Herbst/Winter 2000 eine skulpturale Kollektion aus tragbaren<br />
Möbeln entwarf, in welcher Stuhlhussen zu Kleidern,<br />
Sessel zu Koffern oder ein Tisch zu einem Rock wird. Inspiriert<br />
wurde er damals von Kosovo-Flüchtlingen, die auf ihrer<br />
Flucht all ihren Besitz in der Heimat zurücklassen mussten.<br />
Sein Protest gegen diese Entwurzelung stellte er dermaßen abstrahiert<br />
und untragbar dar, dass seine politische Idee niemals<br />
das Bewusstsein einer großen Gruppe verändern oder diese<br />
überhaupt erreichen konnte.<br />
Wenn Anti-It zu It wird<br />
Dass die Aussage des Designers manchmal auch einfach ins<br />
Gegenteil gedreht wird, zeigt sich an der Handtaschenmode der<br />
aktuellen Frühjahr/Sommerkollektion 2011. Das Luxuslabel Jil<br />
Sander präsentierte profane Plastikbeutel in Knallfarben und<br />
setzt damit ein Statement: Weg von der überteuerten It-Bag,<br />
das Schlichte genügt. Die Modemeute jubelt und bei H&M ist<br />
ein ähnliches Modell schon lange ausverkauft. Die Anti-It-Bag<br />
wird zur It-Bag und die ursprüngliche Intention geht einfach<br />
verloren. Doch bei einer Plastiktasche, die 120 Euro kosten<br />
soll, ist die Aussage generell infrage zu stellen.<br />
So oder so wurde der symbolische Charakter gleich zweifach<br />
sinnentleert. Zum einen bekommen tragbare Botschaften,<br />
wenn sie erst einmal den Stempel „Trend“ erhalten haben,<br />
einen oberflächlichen Beigeschmack. Zum anderen kann<br />
man nicht mehr unterscheiden, ob es jemand aus Überzeugung<br />
trägt oder lediglich, weil er es als „chic“ empfindet und<br />
„alle“ es tun.<br />
Farbe bekennen<br />
Dies führt dazu, dass man außer ein paar eingefleischten Alt-<br />
Hippies oder langweiligen FDP-Wählern kaum mehr jemandem<br />
ansieht, wie er politisch orientiert ist. Natürlich kennen<br />
wir die Codes, die uns dabei helfen, Menschen in verschiedene<br />
Schubladen zu stecken. Ob jemand Rot, Grün, Schwarz oder<br />
Braun wählt, lässt sich optisch jedoch nicht mehr festmachen.<br />
Generell ist politisch zu sein einfach nicht mehr modern. Zu<br />
Zeiten der französischen Revolution wäre das tragisch gewesen.<br />
Man stelle sich vor, die Revolutionäre hätten kein rotes<br />
Halstuch als Erkennungszeichen getragen, welche Verwirrung<br />
hätte denn da geherrscht, woher hätte man wissen sollen, wie<br />
der Gegner aussieht?<br />
Es fehlt an Elan. Elan und aufrichtigem Interesse, Farbe zu<br />
bekennen, für eine größere Sache einzustehen. Die Mode allein<br />
schafft keine wirklichen Veränderungen. Politische Mode<br />
auf dem Laufsteg verliert zu schnell ihre Bedeutung, deshalb<br />
brauchen Statements mehrere Kanäle, um gehört zu werden,<br />
um gemeinsam zu wirken. Es ist wie mit Himmel und Hölle,<br />
Hell und Dunkel, Gut und Böse, Schwarz und Weiß: Das<br />
eine braucht das andere, um bestehen zu können. Die Mode<br />
kann nicht ohne die Anti-Mode funktionieren, doch die Anti-<br />
Mode lässt sich nur noch selten blicken. Es ist an der Zeit,<br />
dass die Jugend wieder lauter wird. Wir brauchen eine neue<br />
Anti-Anti-Anti-Mode. Wir brauchen eine neue Jugendkultur.<br />
Zeit, zu protestieren!<br />
Fotos: Robert Kromm<br />
Fotocredit<br />
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anders.<br />
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Jeder Mensch darf Jeder frei Mensch seine Meinung darf frei äußern seine – Meinung egal welche, äußern wie – und egal wo welche, auch immer. wie und wo auch immer.<br />
Jeder Jeder Mensch Jeder Mensch Mensch darf darf frei darf seine frei frei seine Meinung seine Meinung Meinung äußern äußern – äußern egal – egal welche, – egal welche, welche, wie und wie wie und wo auch und wo auch wo immer. auch immer. immer.<br />
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Mehr zu den 30 Artikeln Mehr zu der den Allgemeinen 30 Artikeln Erklärung der Allgemeinen der Menschenrechte<br />
Erklärung der Menschenrechte<br />
und weitere Mehr Mehr zu Informationen Mehr den zu<br />
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den 30 zu<br />
weitere<br />
Artikeln den 30 Artikeln 30 unter Informationen<br />
Artikeln der www.amnesty.de<br />
Allgemeinen der der Allgemeinen<br />
unter<br />
Erklärung<br />
www.amnesty.de<br />
Erklärung Erklärung der Menschenrechte<br />
der der Menschenrechte<br />
und und weitere und weitere weitere Informationen Informationen unter unter www.amnesty.de<br />
unter www.amnesty.de<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
34<br />
35
Für den Dior-Imagefilm Lady Blue Shanghai hatte David Lynch freie Hand<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
Mit der Trilogie Dervishes in Space setzte der Regisseur Cristian Straub Maßstäbe im Modefilm<br />
SToff,<br />
Die Mode bahnt sich einen neuen Weg: zusammen<br />
mit der Filmkamera durch das World Wide Web.<br />
Zwischen Werbung und Editorial etablieren sie sich als<br />
neue Darstellungsform in der Branche: als Modefilm<br />
von Samrin Conrad<br />
der bewegt<br />
Wo zuvor noch Stimmen des Zweifels<br />
laut wurden, füllten kurze Zeit später Worte der Anerkennung<br />
die Zeitungen, Magazine, Blogs und Kinosäle. Mit A Single<br />
Man betrat Modedesigner Tom Ford 2009 ein ihm unbekanntes<br />
Terrain – das des Films. Durch seine Inszenierung wurde<br />
das 60er-Jahre Melodram zu einem modischen Kunstwerk,<br />
sein Blick zur bewegten Ästhetik. Spätestens seit dem Regiedebüt<br />
Fords dürfte das „Genre-Hopping“ sein negatives Image<br />
hinter sich gelassen haben. Modedesigner führen jetzt Regie<br />
und Regisseure desig nen Modefilme. Das neue Gespann aus<br />
Mode und Film gibt der Mode, was ihr bisher fehlte: den richtigen<br />
Schwung. Und das nicht nur in Spielfilmlänge.<br />
Der Film eröffnet der Mode eine neue Ebene und der Branchenfremdheit<br />
ungewohnte Perspektiven. Blickwinkel, die<br />
dem bisher wichtigsten Sprachrohr, den Magazinen, verwehrt<br />
blieben. Denn während gedruckte Bilderserien häufig zu Advertorials<br />
mit statisch posierenden Models mutieren, gelingt<br />
der neuen Ausdrucksform Modefilm, wozu die Fotografie<br />
nicht in der Lage ist: mittels der Bewegung eine Geschichte<br />
zu erzählen.<br />
Was sonst vermag den Tragekomfort eines fließenden Seidenstoffes,<br />
die Stimmung eines tiefen Schwarz oder die Wirkung<br />
einer eleganten Abendrobe besser zu transportieren<br />
als ein emotionales Medium wie der Film? Bewegte Bilder<br />
reagieren jetzt auf die Unzulänglichkeiten, die sich das eher<br />
sachliche Medium Fotografie der Mode gegenüber eingestehen<br />
muss. Der Film hingegen potenziert ihre benötigte Aussagekraft:<br />
Bewegung, Bilder und Töne sowie der geführte Blick<br />
der Kamera, Schnitt und Musik beeinflussen den Betrachter in<br />
seiner Empfindung.<br />
Dieser Wirkung werden sich auch Magazine und Modehäuser<br />
zusehends bewusst. Sie erobern die neuen Spielräume und<br />
betreten zusammen mit der Filmkamera das bisher noch ungewohnte<br />
Terrain.<br />
Branchenfremd machte sich auch Chanel-Chefdesigner<br />
Karl Lagerfeld ans Werk und kreierte den Kurzfilm Remember<br />
Now für die Cruise-Kollektion 2010/11 – und zwar gleich<br />
ohne Drehbuch: „Bevor ich einen Film mache, sehe ich ihn.<br />
Ich habe keine Drehbücher, denn in meinem Kopf ist bereits<br />
alles geschrieben. Ich mag eben kurze Einzeiler“, kommentierte<br />
Karl Lagerfeld seinen Clip in einem Interview mit der<br />
Women's Wear Daily. Dabei herausgekommen ist eine 15-<br />
minütige Aneinanderreihung von Partys im luxuriösen St.<br />
Tropez mit tanzwütigen Models – darunter auch Berühmtheiten<br />
wie Schauspieler Pascal Greggory sowie die Models Karolina<br />
Kurkova, Freja Beha Erichsen und Heidi Mount. Auch<br />
Lagerfelds omnipräsente Muse Baptiste Giabiconi, der für seine<br />
oberkörperfreie Showeinlage auf dem Bartresen horrenden<br />
Applaus erntet, durfte dabei natürlich nicht fehlen. Mit schicken<br />
Clubs, teuren Autos, großen Jachten und einem kurzen<br />
Schwenk auf Lagerfelds persönliche iPod-Sammlung waren<br />
dann auch schon alle Geschütze aufgefahren. Bis der Kurzfilm<br />
in der letzten Spielminute seinen Höhepunkt in Karls Auftritt<br />
findet, als dieser am nächsten Morgen die verkatert schlafende<br />
Modelhorde in seiner Villa entdeckt und schlussfolgert: „This<br />
is Saint Tropez.“ Genauso glatt poliert wie die Jachten ist auch<br />
der Film. Und so bleibt von der Kollektion bei Remember Now<br />
nur wenig in Erinnerung.<br />
Von dem royal-blauen Handtaschenmodell Lady Dior, das<br />
2010 von Regisseur David Lynch in Szene gesetzt wurde, bleibt<br />
hingegen mehr im Gedächtnis. Zwar ist die Wiederauflage der<br />
Kulttasche nur in wenigen Sequenzen zu sehen, um anschließend<br />
16 Minuten lang eine Geschichte von Sehnsucht, Melancholie<br />
und Ex-Liebhabern zu erzählen, jedoch feiert sie ihren<br />
großen Auftritt dramatisch in Scheinwerferlicht getaucht und<br />
von Nebelschwaden umgeben auf einem kleinen Podest.<br />
Im Gegensatz zu Lagerfelds Imagefilm, der den Wunsch<br />
nach einer sorglosen Partynacht wecken mag, setzt Regisseur<br />
Lynch in Lady Blue Shanghai mit der kurzen aber prägnanten<br />
Taschenpräsentation auf eine länger währende Produktplatzierung<br />
– und zwar im Gedächtnis der Betrachter. Denn gerade<br />
aufgrund des versteckten Einsatzes typischer Verkaufsstrategien,<br />
die Produkte mit emotionalen Werten besetzen und<br />
versprechen, ein Lebensgefühl kaufen zu können, sind beide<br />
Kurzfilme auch nach 16 Minuten, was 30-sekündige Parfumspots<br />
ganz offensichtlich sind: eben doch nur Werbung.<br />
Doch geht es bei filmisch inszenierter Mode keineswegs nur<br />
darum, Kleidungsstücke bestmöglich zu verkaufen. Sondern<br />
vielmehr darum, ein ganzheitliches Bild der Marke, der Kollektion<br />
oder der Vision des Designers zu kreieren.<br />
All das zu vereinen gelang Lynch: Seine wahrnehmungspsychologisch<br />
perfekte Inszenierung verbindet er mit bizarrer<br />
Bildsprache der in Schanghai gedrehten Filmsequenzen. Mit<br />
diesem zusätzlichen Anspruch an eine künstlerische Herangehensweise<br />
erinnert sein Werbefilm an die ersten Schritte,<br />
die Mode und Film vor mehr als zwei Jahrzehnten gemeinsam<br />
machten – zu denen ihnen Regisseur Wim Wenders unter<br />
nicht kommerziellen Gesichtspunkten verhalf.<br />
><br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
36<br />
37
Mit der Pringle-of-Scotland-Produktion setzt Regisseur Ryan McGinley auf Tilda Swinton und beweist: Mode ist Bewegung<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
> Mit Aufzeichnungen zu Kleidern und Städten porträtierte<br />
er 1989 den japanischen Modedesigner und Avantgardisten<br />
Yohji Yamamoto und betrat damit Neuland – sowohl in der<br />
Geschichte des Films als auch in der der Mode. „Ich interessiere<br />
mich für die Welt, nicht für die Mode!“, ließ Wenders<br />
anfangs noch verlauten. Doch während der Dreharbeiten bröckelten<br />
die Fronten, die Trennlinien wurden ausradiert: „Vielleicht<br />
haben Mode und Film etwas gemeinsam“, vermutete<br />
Wenders und die Mode, der er nie eine ernstzunehmende Rolle<br />
zuschrieb, wurde plötzlich zum Hauptthema und das Medium<br />
Video, das er zuvor als „Krebsgeschwür im Film“ diagnostizierte,<br />
zum spannenden Gestaltungsmittel. Wenders visuelle<br />
Erkundungsreise führte mit der Kleidung Yamamotos durch<br />
Eindrücke und Gefühle, Paris und Tokio – angereichert mit<br />
meditativen Klängen und elektronischen Bildbrüchen durch<br />
das Element Video.<br />
Dieses damals noch neue und von Wenders anfangs verachtete<br />
Darstellungsmittel, das im Gegensatz zum analogen, auf Zelluloid<br />
gebannten Film die Nachteile eines elektronischen Bildes<br />
aufweist, ist in der Entwicklung des Phänomens Modefilm heute<br />
sogar ausschlaggebend. Denn da die Digitalisierung fester Bestandteil<br />
der Internetgesellschaft ist, unterliegt die Etablierung<br />
neuer Medien einem obersten Gebot: dem der Schnelligkeit.<br />
Somit reagieren nun vermehrt auch Modemagazine sowohl<br />
auf die Schwachstellen der statischen Fotografie als auch auf<br />
die Demokratisierungsprozesse in der Branche und ergänzen<br />
ihr Repertoire in ihren Online-Ausgaben. So kursieren neben<br />
mehrminütigen Kurzfilmen der großen Designhäuser auch kurze<br />
Making-ofs im Netz, die einen Einblick hinter die Kulissen<br />
eines Vogue-Shoots gewähren, Stimmungsfilme des Tush-Magazins<br />
zum Thema der aktuellen Ausgabe oder filmisch inszenierte<br />
Modeclips, die mit einer kleinen Geschichte einen Vorgeschmack<br />
auf das Editorial im Oyster Magazine bieten – und<br />
zwar noch bevor dieses im Druckmedium veröffentlicht wird.<br />
Die dabei entstehende Zugänglichkeit für Jedermann, die das<br />
Internet bietet, soll den Magazinen, Regisseuren und Designern<br />
zu Aufmerksamkeit und einer größeren Zielgruppe verhelfen.<br />
Dies könnte auch dem Modelabel Proenza Schouler mithilfe<br />
von Kids-Drehbuchautor Harmony Korine gelungen sein, der<br />
das Label in einen ganz anderen Kontext setzte und die High-<br />
Fashion-Kollektion für Herbst/Winter 2011 an den Mitgliedern<br />
einer afroamerikanischen Mädchengang zeigte. In Act da Fool<br />
vertreibt sich diese ihre Langeweile mit Graffiti sprühen auf<br />
öffentlichem Gelände, Bierexzessen auf befahrenen Zuggleisen<br />
und Basketball-Spielen zwischen Müllcontainern. Dass<br />
sie dabei Luxusmode von Proenza Schouler tragen, spielte für<br />
Regisseur Korine keine Rolle, wie er in einem Statement zu seinem<br />
Film erklärte: „Er ist ein Liebesbrief an die Langeweile, die<br />
Menschen, die in Kleinstädten aufwachsen empfinden“, sagte<br />
Korine. „Die Stimmung der Marke vermitteln? Ich weiß nicht<br />
einmal, was das bedeutet.“<br />
Auch Regisseur Ryan McGinley findet es „großartig, dass<br />
Firmen an Künstler glauben und sie Kunst machen lassen, die<br />
einem vollkommen anderen Publikum vorgestellt wird.“<br />
Unter seiner Regie rannte Tilda Swinton für Pringle of Scotland<br />
mit wallendem Kleid aus der Frühjahr/Sommer-Kollektion<br />
2010 zu schottischer Streichermusik durch einen Wald, irrte<br />
über Felder, kletterte auf Felshügel und zwängte sich in feinster<br />
Abendgarderobe durch enge Felsritzen, während stürmischer<br />
Wind das Knirschen des flatternden Stoffes hörbar macht und<br />
dunkel aufziehende Wolken, Vorboten eines Unwetters, das<br />
Schwarz des Kleides noch düsterer erscheinen lassen.<br />
Mit diesen Werken stehen McGinley und Korine an der Spitze<br />
der Modefilm-Schaffenden. Es gelingt ihnen, innerhalb weniger<br />
Minuten die Labels zu entstauben und ins rechte Licht zu<br />
rücken – und zwar ohne den allzu offensichtlichen Gebrauch<br />
typischer Werbefilm-Instrumente wie Scheinwerferlicht und<br />
Nebelschwaden bei Dior oder Partys, Jachten und viel nackter<br />
Haut bei Chanel.<br />
Es obliegt den Modehäusern und Regisseuren, ob sie ihre<br />
Werke offen als reine Werbefilme, die sich lediglich der Produktvermarktung<br />
verschreiben, produzieren lassen oder sie<br />
zusätzlich mit einem künstlerischen Anspruch schmücken.<br />
Fest steht: Dabei entstehen spannende Kooperationen mit<br />
einzigartigen Handschriften, von denen jede auf ihre eigene<br />
Art der Mode gerecht wird.<br />
Besonders gerecht wird ihr jedoch die rennende Protagonistin<br />
in der Pringle-of-Scotland-Produktion: Sie nutzt den<br />
größten Vorteil des Films gegenüber der Fotografie, zeigt die<br />
Gemeinsamkeiten von Mode und Film und lässt beide Komponenten<br />
aufleben. Dass nämlich erst ein bewegtes Kleidungsstück<br />
für den Betrachter erfass- und erlebbar wird beweist, dass<br />
Mode kein statisches Objekt ist, sondern nur in der Bewegung<br />
ihre volle Entfaltung findet. „Nur bewegte Bilder werden dem<br />
Modedesign vollständig gerecht, alles andere ist nur ein Kompromiss“,<br />
erklärte Show-Studio-Gründer und Modefilmer der<br />
ersten Stunde Nick Knight in einem Interview.<br />
Mit der Gründung seiner Fashion-Film-Produktionsfirma<br />
Riese Farbaute steht auch Regisseur Cristian Straub für diese<br />
Ansicht. Inzwischen zu den deutschen Modefilm-Pionieren<br />
zählend, setzt er seit 2010 einerseits Auftragsarbeiten für<br />
Modedesigner um, verwirklicht aber andererseits seine eigenen<br />
Vorstellungen von filmisch inszenierter Mode in unabhängigen<br />
Werken.<br />
Denn auch den Modefilm-Schaffenden bleibt es meist nur<br />
in freien Arbeiten gegönnt, jegliche Werbefilm-Attitüden<br />
vollständig abzulegen und Raum für kleine Revolutionen und<br />
große Experimente zu schaffen.<br />
Somit findet die Begegnung von Mode und Film ihre interessanteste<br />
Verbindung in den bewegten Modestrecken, in denen<br />
Stimmungsbilder der Kleider und individuelle Gedankenwelten<br />
der Regisseure zu etwas Neuem zusammenfließen dürfen –<br />
dem Neuen, das manchmal irritiert, bannt und inspiriert. Oder<br />
einfach nur schön anzusehen ist. Das alles können auch Werbefilme,<br />
richtig. Doch die freien Werke, ohne federführenden<br />
Auftraggeber im Nacken, stehen am Ende für sich selbst. Und<br />
das, ohne Werbung für große Designernamen, Kollektionen<br />
und bekannte Models gemacht zu haben oder Verkaufszahlen<br />
verdoppeln zu müssen.<br />
Erst so scheint der Passagier „Modefilm“, der vor mehr als<br />
zwei Jahrzehnten auf Entdeckungsreise geschickt wurde, zehn<br />
Jahre nach der Gründung vom britischen Modefilmportal<br />
Show Studio nun auch endlich in Deutschland angekommen<br />
zu sein – in Form von bewegten Modestrecken wie Straubs<br />
futuristischer Weltraum-Trilogie Dervishes in Space, mittels<br />
elektronischer Bildbrüche und digitaler Spielereien. Stilelemente,<br />
die nicht von ungefähr kommen: Straub gehörte einst<br />
zu den Lehrlingen Wim Wenders.<br />
Wie dieser bereits in den späten 80er-Jahren sein Gespür<br />
für Zeitgeist und die Zukunftsaussichten des Modefilms bewies,<br />
stehen nun Modefirmen, Regisseure und vor allem aber<br />
Magazine vor eben diesem Schritt. Sie wollen auf den Zug<br />
der schnell konsumierbaren Medien mit teils geringer Halbwertszeit<br />
aufspringen und sich den richtigen Platz suchen –<br />
innerhalb der Flut von schnell geschriebenen Modeblogs und<br />
amateurhaft fotografierter Tagesoutfits der selbstbewussten<br />
Internetbenutzer.<br />
Klingt aussichtslos und nicht erstrebenswert? Das muss es<br />
aber nicht sein. Denn das neue Genre der Modefilme wertet<br />
den Qualitätsverlust erheblich auf und vereint nicht nur eine<br />
enorm breite Zielgruppe, sondern reagiert auch auf die stetig<br />
wachsende Anzahl von Tablet-Nutzern, für die inzwischen<br />
hochwertige Online-Ausgaben von Modemagazinen, Designer-Websiten<br />
oder Lookbooks eigens konzipiert werden.<br />
Kleine Streichbewegungen von Zeigefinger und Daumen<br />
über das Touchscreen lösen dann plötzlich Fotografien aus<br />
ihrer Starre, bewegen statische Cover-Aufnahmen, bewirken<br />
einen intensiven Augenaufschlag des Models und bringen<br />
den Stoff in Bewegung, um die Geschichte hinter dem Foto zu<br />
erzählen.<br />
Ob also als Werbefilm mit großem Namen und erfolgversprechenden<br />
Kooperationen, Making-of-Clip der Editorial-<br />
Produktionen, Stimmungsvideo oder bewegte Modestrecke –<br />
der Modefilm etabliert sich unaufhaltsam in all seinen Erscheinungsformen.<br />
Ein Klick auf den Video-Button oder eine Fingerbewegung<br />
über den Bildschirm ermöglichen den Zugang<br />
zur bewegten Welt der Mode, die mithilfe des Films nun keine<br />
Kompromisse mehr eingehen muss.<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
38<br />
39
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
Liebe geht<br />
durch die Nase<br />
Düfte unterstreichen unsere Persönlichkeit<br />
– und helfen auch dabei, den<br />
richtigen Partner fürs Leben zu finden<br />
von Jana Burghause<br />
Orange, Zedernholz, Moschus, Rose un<br />
– sie wirken in geheimnisvoller Weise auf<br />
unser Gemüt. Die sorgsam ausgewählten<br />
Ingredienzien der Parfums beeinflussen unsere<br />
Stimmung – oder rufen Kindheitserinnerungen ins<br />
Gedächtnis. Doch seit Anfang 2010 wird das immer<br />
schwerer für Parfümeure und Duftliebhaber. Der<br />
Chemiker Suresh Chandra-Rastogi aus Dänemark<br />
fand damals heraus, dass viele dieser<br />
Stoffe Moleküle enthalten, die Hautausschlag<br />
auslösen können – vor allem<br />
bei Allergikern. Daraufhin trat der<br />
Zusatzartikel 43 der International<br />
Fragrance Association (IFRA) im<br />
EU-Recht in Kraft: Die Inhaltsstoffe<br />
Ylang-Ylang, Eichenmoos,<br />
Heliotrop, Jasmin, Zitrusöl, Oponopax<br />
und Styrax dürfen nur<br />
noch bei einer Konzentration von<br />
unter einem Prozent verwendet werden.<br />
„Das ist, als würde man die Farbe<br />
Grün für Gemälde verbieten. Mehr noch: als<br />
würde man die Farbe Grün aus allen Gemälden von<br />
Piero della Francesca entfernen“, so der Duftexperte Luca Turin.<br />
Großartige Düfte haben ihre Seele verloren – Mitsouko von<br />
Guerlain, Magie Noire von Lancôme oder Knowing von Estée<br />
Lauder. Jeder Duft, der besagte Inhaltsstoffe in gefährdender<br />
Konzentration enthielt, musste synthetisch reformuliert werden<br />
– manche sind sogar komplett vom Markt verschwunden.<br />
City Glam for her von Armani etwa oder auch V von Valentino.<br />
Dass Düfte aus den Regalen verschwinden, muss noch nicht<br />
einmal besorgniserregend sein, denn das ist der normale Kreislauf.<br />
Viel schlimmer ist es, dass meine Großmutter nicht mehr<br />
nach Großmutter riecht. Sie schuf sich mit Magie Noire eine<br />
Duftidentität – und die ist jetzt weg.<br />
Doch was lösen Düfte bei uns aus? Nichts als positive Erinnerungen?<br />
Oder steckt noch mehr dahinter? Im Prinzip<br />
ist es einfacher als es sich anhört. Unser Körper besitzt einen<br />
genetisch verankerten Ur-Duft. Drüsen stoßen körpereigene<br />
d<br />
E<br />
i<br />
c<br />
h<br />
e<br />
n<br />
m<br />
oos<br />
Riechstoffe aus. Diese sind so lange geruchlos, bis Mikroorganismen<br />
diese Sekrete in Duftstoffe verwandeln. Das Erstaunliche<br />
dabei ist, dass unser Ur-Duft durch die MHC-Allele (M<br />
HC=Haupthistokompabilitätskomplex, Allele=Varianten von<br />
Genen) geprägt ist. Diese MHC-Allele entscheiden darüber,<br />
ob wir jemanden attraktiv und sympathisch finden oder eben<br />
nicht. Claus Wedekind und sein Forscherteam der Universität<br />
Bern fanden schon 1995 mithilfe eines so genannten Schnüffeltests<br />
heraus, dass je unterschiedlicher das MHC-Profil des<br />
Gegenübers ist, desto attraktiver finden wir ihn.<br />
Das hört sich nun ziemlich kompliziert an, aber es gibt auch<br />
einfache Lösungsansätze. Stefanie Hanssen zum Beispiel, Inhaberin<br />
der Duftmanufaktur Frau Tonis Parfum in Berlin,<br />
weiß: „Düfte verbinden wir immer mit positiven Erlebnissen,<br />
sonst würde man von Gerüchen sprechen. Eine einzige Assoziation<br />
kann Unmengen von Erinnerungen wachrufen und<br />
Düfte wirken hierbei unheimlich gut im Unterbewusstsein.“<br />
Auch bei ihr ist es ein Rosenduft, den sie mit ihrer Großmutter<br />
verbindet. Sie trug nicht Tosca, wie damals alle Damen,<br />
sondern ein eigenwilliges Rosenparfum. „Die Liebe zu meiner<br />
Großmutter bedeutet auch gleichzeitig die Liebe zu ihrer Kleidung,<br />
zu ihrem Duft und zu der Art und<br />
Weise, wie sie mit Menschen<br />
umgegangen ist. Diese positiven<br />
Erinnerungen sind<br />
von diesem Duft gar<br />
nicht zu trennen.“<br />
Düfte, angenehme<br />
Gerüche und Parfums<br />
sind wichtig für den<br />
Menschen – sie können<br />
uns beim Lernen unterstützen<br />
(einfach währenddessen<br />
am Parfum riechen,<br />
so verbinden wir den Duft mit<br />
Wissen und können in der Prüfung<br />
mithilfe des Duftes den Stoff<br />
einfacher abrufen) oder gut fühlen lassen,<br />
obwohl es uns vielleicht schlecht geht. Sie lassen das<br />
Heimweh verschwinden oder geben dem Verliebtsein eine<br />
eigene Duftnote. Das Wichtigste aber ist: Sie unterstreichen<br />
unsere Persönlichkeit. Schon Marlene Dietrich wusste in den<br />
20er-Jahren, dass ein herber Duft ihre Exzentrik verstärken<br />
kann. Sie trug einen reinen Veilchenduft, den man noch heute<br />
im Geschäft von Stefanie Hanssen in Berlin kaufen kann. Veilchen<br />
symbolisierte ihre Stärke, Kraft und Ausdauer. Und auch<br />
Parfumkritiker Luca Turin ist der Meinung, dass „die Leute<br />
immer denken, ein Duft ist halt ein Duft. Aber das stimmt<br />
nicht: Ein Duft ist eine Botschaft des Menschen, der ihn trägt.“<br />
Das hat schon Marlene Dietrich erkannt und wahrscheinlich<br />
auch unsere Großmütter. Ist es nun also der Duft, der uns zu<br />
dem macht, was wir sind? Oder kann uns ein Parfum bei der<br />
Persönlichkeitsfindung behilflich sein?<br />
Der Mensch kann bis zu 10.000 verschiedene Gerüche<br />
wahrnehmen. Es gibt ungefähr 6.000 Parfums auf der ganzen<br />
Welt – ein schlichtweg zu großes Angebot. Deshalb wird<br />
gern zum neuen Gucci-Duft, zum bekannten Coco Mademoiselle<br />
oder zum Rihanna-Parfum Reb'l fleur gegriffen. Wir<br />
wissen, dass wir uns damit eine gewisse Portion Selbstbewusstsein<br />
ins Haus holen. Da können wir noch so schüchtern<br />
auf dem Sofa sitzen, Eis essen und Liebesschnulzen á la Wie<br />
ein einziger Tag schauen. Mit dem richtigen Duft lassen wir<br />
die zarte Seite in uns verschwinden und mutieren am Abend<br />
zur Femme fatale.<br />
Doch ganz so einfach, wie es klingt, ist es nicht. Stefanie<br />
Hanssen weiß, dass „drei bis vier Düfte pro Person normal<br />
sind. Nur weil wir viele Düfte besitzen, heißt das nicht, dass<br />
wir keine gefestigte Persönlichkeit haben. Wir können aber<br />
zum Beispiel unterscheiden zwischen Düften für den Tag<br />
und für den Abend. Damit kann beliebig gespielt werden.<br />
Ein Parfum, das man abends aufträgt, soll eine ganz andere<br />
Wirkung haben – auf unsere Umgebung, auf die Menschen,<br />
die man trifft.“ Der Geruchsexperte Luca Turin unterstützt<br />
diese Meinung und bezeichnet einen Duft daher als „chemisches<br />
Gedicht“. Also keine Angst: Nur weil Sie beim<br />
Parfum nicht unbedingt nach dem Motto „Never change a<br />
winning team“ leben, heißt das noch lange nicht, dass Sie<br />
sich ihrer Persönlichkeit unsicher sind. Ganz im Gegenteil:<br />
Wer weiß, mit welchem Duft er welche Assoziationen auslösen<br />
kann, hat schon gewonnen. Ob bei Meetings, in der<br />
Oper oder beim Essen mit den angehenden Schwiegereltern.<br />
Jeder Duft kann einen gewissen<br />
Teil unseres Charakters hervorheben<br />
und positiv unterstreichen.<br />
Parfums intensivieren unseren<br />
Auftritt. Spot an!<br />
Doch Düfte unterstreichen nicht<br />
nur unsere Persönlichkeit, sondern<br />
beeinflussen durch die MHC-Allele (Gene) auch die<br />
Partnerwahl. „Über den Geruch wird das genetische<br />
Profil unseres Gegenübers übermittelt“,<br />
sagt Diplom Psychologe Markus Damm aus<br />
Worms. Und auch Psychologin<br />
und Autorin<br />
Rachel Herz von der<br />
Brown University auf<br />
Rhode Island hat herausgefunden,<br />
dass „die<br />
Frauen den schlecht<br />
rie chenden Männern<br />
bewusst aus dem Weg<br />
gehen. Sie halten aktiv<br />
nach gut riechenden<br />
Ausschau.“ Vor allem<br />
ein hoher Testosteronspiegel<br />
bescheinigt den<br />
Männern einen guten<br />
Duft, obwohl diese<br />
eher weniger auf den<br />
Duft bei Frauen achten.<br />
„Das Aussehen ist<br />
wichtiger, aber trotzdem<br />
können Frauen mit den richtigen Düften Männer fast<br />
blind verführen“, so Damm.<br />
Der Mensch kann seine genetische Duftnote also mit einem<br />
Parfum aufpeppen und so seine Chancen auf dem Liebesmarkt<br />
steigern. Das Max-Planck-Institut in Plön um Manfred<br />
Milinski forscht seit Jahren auf diesem Gebiet. „Während wir<br />
uns bei unserem eigenen Parfüm für ein genetisch passendes<br />
Make-up entscheiden, das die Botschaften unseres Körpergeruchs<br />
verstärkt, wählen wir den Partner aufgrund seiner optimalen<br />
Andersartigkeit aus – er soll eben Gene mitbringen, die<br />
wir selbst nicht haben“, so heißt es in einer Studie des Instituts<br />
aus dem Jahre 2006.<br />
Aber wieso befinden sich 08/15-Düfte wie Hilfiger Peach Blossom<br />
oder der Duft von Jimmy Choo unter den Top 10 der<br />
Douglas-Verkäufe? Will jeder gleich riechen? Bleibt da nicht<br />
die Individualität auf der Strecke? Und kann man mit solchen<br />
Durchschnittsdüften überhaupt positive Assoziationen bei<br />
anderen wecken? In welche Richtung treibt uns das bei der<br />
Partnerwahl? Mit einer guten Kampagne, einem großen Namen<br />
und einem bekannten Werbegesicht steigern Kosmetikkonzerne<br />
ihren Gewinn enorm. „Viele Menschen kaufen sich<br />
bewusst Parfums, weil ein großer Name dahinter steht und sie<br />
neugierig darauf sind. Sie haben Spaß daran, sich das neueste<br />
Produkt ins Bad zu stellen – wahrscheinlich auch aus einem<br />
Markenfetischismus heraus“, so Frau Hanssen. Das ist aber<br />
glücklicherweise nicht immer so.<br />
Hochkarätige Parfümeure benötigen<br />
teilweise Monate oder sogar<br />
Jahre für die Komposition eines<br />
neuen Duftes. Wertvolle Ingredienzien<br />
vermischen sich zu einer<br />
einzigartigen Komposition, die<br />
sich auf jeder Haut in einer andere Richtung entfalten<br />
kann. Deshalb erlebt der Nischenduft in<br />
den letzten Jahren einen regelrechten Boom.<br />
Hier kommt es den meist kleinen und unbe -<br />
kannten Firmen nicht<br />
auf die Masse, sondern<br />
auf Individualität an.<br />
Jeder Mensch muss<br />
seine eigene Duftnote<br />
Ein Duft<br />
ist eine<br />
Botschaft des<br />
Menschen,<br />
der ihn trägt<br />
verstärken – und genau<br />
deshalb hat auch jeder<br />
einen anderen Anspruch<br />
an einen Duft.<br />
Doch individuelle Par -<br />
fums sind nicht in<br />
jeder Parfümerie erhältlich<br />
und meistens<br />
ziemlich teuer – aber<br />
sie haben einen hohen<br />
emotionalen Wert und<br />
lassen Persönlichkeiten<br />
noch einzigartiger<br />
sein, als sie es ohnehin<br />
schon sind.<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
40<br />
41
mischkultur<br />
Stoffe aus Marrakesch,<br />
Silberschmuck aus Goa, Vintagemode<br />
aus Berlin und ein Junge aus<br />
Bad Pyrmont – eine stilistische Weltreise<br />
Fotos: Sandra Semburg<br />
Styling/Produktion:<br />
Manuel Almeida Vergara, Sina Bayer<br />
Haare/Make-up: Coco Meurer<br />
Model: Lenny/Izaio Models<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
Fotocredit<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
42<br />
43
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
Fotocredit<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
44<br />
45
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
46<br />
47
von SIna Bayer<br />
Im Westen was Neues<br />
ndreas Murkudis gilt als „Kurator der schönen Dinge“<br />
und seine Concept-Stores als Geheimtipp für guten<br />
Geschmack. In den letzten sechs Jahren hat er in der<br />
Berliner Münzstraße nach und nach sechs Geschäfte<br />
eröffnet: Die Schaufenster zur Straße besetzen auch<br />
heute noch sein Acne-Store und ein kleiner Laden,<br />
in dem er exklusive Schiesser-Kollektionen verkauft.<br />
Im Hinterhof, abgeschottet vom Trubel der Einkaufsmeile,<br />
befanden sich seine Concept-Stores<br />
AM1 bis 3 und der Einrichtungsladen Etage. Dort<br />
verkaufte er neben eher unbekannten Designobjekten<br />
vor allem Kleidungsstücke und Accessoires<br />
von ausgewählten Designern wie Dries<br />
van Noten, Maison Martin Margiela oder seinem<br />
Bruder Kostas Murkudis. Nun verschlug<br />
es den gebürtigen Dresdner mit griechischen<br />
Wurzeln in die Innenhöfe des alten Tagesspiegel-Geländes<br />
in der Potsdamer Straße 77-87.<br />
Zunächst eine ungewöhnliche Entscheidung.<br />
War die wilde Potse in den letzten Jahren<br />
doch eigentlich nur noch durch ihre Nähe<br />
zum Hausfrauenstrich bekannt. Warum die Potsdamer Straße<br />
dennoch eine kleine Oase ist, welche Projekte außerdem für<br />
den Westen geplant sind und warum Berlin ein Glücksfall für<br />
Andreas Murkudis ist, verrät er im WERK VI-Interview.<br />
Sie haben 20 Jahre lang im Berliner Museum der Dinge gearbeitet.<br />
Warum haben Sie sich dann entschlossen, einen eigenen<br />
Concept-Store zu eröffnen?<br />
Einerseits wollte ich wieder mal etwas Neues anfangen, andererseits<br />
hat es mich auch gereizt, nach einer Zeit mit so vielen<br />
Mitarbeitern etwas ganz allein zu machen. Ich hatte bereits im<br />
Museum der Dinge einen kleinen Shop mitinitiiert, mit dem<br />
ich ein bisschen üben konnte. Mein Traum war es aber, einen<br />
Laden zu eröffnen, in dem ich wirklich nur verkaufe, was ich<br />
selbst gern um mich habe.<br />
Kommt es vor, dass sich Dinge, die Sie persönlich toll finden,<br />
überhaupt nicht gut verkaufen?<br />
Das kommt natürlich vor. Dennoch stehe ich hinter diesen<br />
Objekten. Viele Läden schmeißen Ware aus ihrem Sortiment,<br />
weil sie nicht genug Umsatz bringt. Das ist aber nicht meine<br />
Philosophie. Dann könnte ich auch einfach in jeder Stadt einen<br />
Acne-Laden eröffnen, zu Hause sitzen und dabei zusehen, wie<br />
meine Umsätze steigen.<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
48<br />
Im neuen Concept-Store in der<br />
Potsdamer Straße bleibt sich<br />
Andreas Murkudis treu: klare Linien<br />
und ausgewählte Designobjekte<br />
Mit Ihren Hinterhof-Läden meiden Sie die breite Öffentlichkeit.<br />
Ist das Teil des Konzepts?<br />
In erster Linie will ich Ruhe haben. Die Dinge, die ich verkaufe,<br />
haben alle eine Geschichte, die es zu erzählen gilt. Ob<br />
es Designmöbelhersteller wie E15 sind oder handbemalte<br />
Totenschädel von der Porzellan-Manufaktur Nymphenburg,<br />
da braucht man einfach Zeit, um etwas über die Produkte zu<br />
erzählen. Das wäre in einem Laden mit viel Laufkundschaft<br />
gar nicht möglich.<br />
><br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
49
V o n M a n u e l A l m e i da V e r g a r a<br />
Foto: Robert Kromm<br />
Der 49-jährige<br />
Andreas Murkudis<br />
verkauft nur<br />
Dinge, die er<br />
selbst gern hätte<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
> Ist es Ihnen in Mitte jetzt also zu unruhig geworden<br />
oder warum sind Sie in die Potsdamer Straße<br />
gezogen?<br />
Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens hatten<br />
wir in der Münzstraße eindeutig zu wenig<br />
Platz. Zweitens hat sich die Gegend dort nicht<br />
zum Besten verändert. Die Mieten sind so angestiegen,<br />
dass viele interessante Konzepte ausgebremst<br />
wurden. Und ja, mittlerweile ist es mir<br />
auch zu rummelig, zu kommerziell geworden.<br />
Mir war im Grunde schon vor zwei Jahren klar,<br />
dass Mitte nicht mehr der richtige Ort für mich<br />
ist. Es war aber gar nicht so einfach, etwas Passendes zu finden.<br />
Die Potsdamer Straße in Schöneberg liegt in einer Gegend, die<br />
noch vollkommen neutral ist. Bezirke wie Friedrichshain oder<br />
Prenzlauer Berg sind inhaltlich schon besetzt, da möchte man<br />
nicht mehr hin. Nach Kreuzberg darf man meiner Meinung<br />
nach nicht ziehen, weil das in den letzten Jahren so gehyped<br />
wurde, dass es schon wieder out ist und Neukölln ist mir zu<br />
jung ... Ich war also zwei Jahre lang auf der Suche. Und in der<br />
Potsdamer Straße gibt es einfach gute Flächen zu mieten. Von<br />
außen sieht das alte Tagesspiegel-Gelände zwar scheußlich aus,<br />
aber der Hof ist wie eine kleine Oase.<br />
Haben Sie keine Angst, Kunden zu verlieren?<br />
Wir haben zu 80 Prozent Stammkunden. Die können jetzt<br />
ganz bequem mit dem Auto zu uns kommen und vor der Tür<br />
parken. Trotzdem ist der Umzug natürlich ein Experiment. Es<br />
wird eine spannende Zeit und alles andere wäre ja auch langweilig.<br />
Ich könnte natürlich auch die Beine hochlegen und sagen:<br />
„Toll, es läuft!“, aber das ist nicht meine Art. Natürlich<br />
muss man sich immer wieder etwas einfallen lassen, um die<br />
Leute zu überraschen und in den Laden zu locken. So werden<br />
wir in den neuen Räumen auch ein größeres Sortiment anbieten,<br />
um unseren Kunden noch mehr bieten zu können.<br />
Die Potsdamer Straße ist nicht Ihr einziges Projekt im Westen<br />
der Stadt. Im Bikini Berlin am Zoo haben Sie eine ganze Etage<br />
gemietet. Können Sie uns mehr darüber erzählen?<br />
In Berlin gibt es nur billige Shopping-Mals wie das Alexa oder<br />
sehr elitäre Luxuskaufhäuser wie das KaDeWe. Aber es gibt<br />
bisher nichts dazwischen. Im Bikini Berlin an der Budapester<br />
Straße soll es ein Apartmenthotel, Restaurants, Cafés, ein<br />
Brauhaus, Ärzte aber auch Geschäfte wie Muji, Vitra oder Manufactum<br />
geben. Im Grunde wird es eine kleine Stadt in der<br />
Stadt sein. Es wird auch eine wunderschöne Terrasse geben,<br />
von der aus man einen tollen Blick auf den Zoo hat und beim<br />
Kaffeetrinken die Affen und Flamingos beobachten kann. Ich<br />
denke, das wird ein sehr schönes Projekt. Anfang 2013 soll es<br />
eröffnet werden.<br />
Was planen Sie im Bikini Berlin?<br />
Ich habe zwar eine komplette Etage mit circa 1.200 qm gemietet,<br />
bin aber nicht so größenwahnsinnig zu denken, dass ich<br />
die allein bespielen kann. Die Idee ist, dass ich einen Teil davon<br />
für mich nutze und für die restliche Fläche suche ich mir<br />
Nachbarn, mit denen ich gern zusammenarbeiten würde. Am<br />
liebsten wäre mir, wenn ein Architekt die Fläche so gestaltet,<br />
dass zwar jeder seine eigene Identität behält, man aber ohne<br />
diese Glasboxen auskommt. Genaueres kann ich dazu aber<br />
noch nicht sagen.<br />
Berlin verändert sich stetig. Lange Zeit war Mitte der Bezirk, in<br />
dem sich alles abspielte. Warum ist der Westen für neue Projekte<br />
wieder so interessant geworden?<br />
Im Westen wurde immer schon das Geld ausgegeben. Leider<br />
war es bisher für Multibrand-Läden eher schwierig, sich dort<br />
zu halten. Aber das KaDeWe funktioniert gut. Das Bikini Berlin<br />
wird ein wichtiges Thema im Westen werden. Auch Apple<br />
möchte einen großen Store eröffnen, es entsteht gerade ein<br />
Waldorf-Astoria-Hotel und Hermés hat seinen Laden in der<br />
Friedrichstraße geschlossen und baut stattdessen seinen Store<br />
am Ku'Damm weiter aus. Man spürt deutlich, dass auch die<br />
Monobrand-Läden nicht mehr nach Mitte ziehen, sondern<br />
eher in den Westen gehen. Der Westen ist auf jeden Fall wieder<br />
im Kommen, gerade für hochpreisigere Läden.<br />
Mitte hingegen hat eher ein junges Publikum. Schreckt Sie das<br />
auch ein wenig ab?<br />
Es ist ja nicht so, dass wir keine jungen Kunden haben wollen.<br />
Aber dieses Mitte-Ding spricht eher junge Leute an, die mal<br />
schnell mit Easy Jet nach Berlin fliegen, bei Freunden wohnen<br />
und nur wenig Geld ausgeben wollen. Das ist ja auch in Ordnung,<br />
aber da bleibt dann wenig Raum für etabliertere Konzepte.<br />
In jeder großen Stadt findet ein stetiger Wandel statt und<br />
das ist auch gut so. Man muss eben nur mit der Zeit gehen und<br />
sich immer wieder etwas Neues einfallen lassen.<br />
Gibt es einen typischen Andreas-Murkudis-Kunden?<br />
Unsere Kunden kommen vor allem aus der Kreativbranche:<br />
Künstler, Galeristen, Schauspieler oder Musiker. Unser Angebot<br />
ist zwar hochwertig und teuer – dennoch kommen zu<br />
uns eher Leute, die sich gern etwas Schönes leisten, aber nicht<br />
kopflos mal eben einen Haufen Geld ausgeben. Unsere Kunden<br />
haben ein gewisses Bewusstsein für Nachhaltigkeit und interessieren<br />
sich dafür, wo und von wem die Ware gefertigt wurde. In<br />
Deutschland ist das leider ein Problem: Die meisten Menschen<br />
legen keinen Wert auf gutes Essen oder Handwerk, obwohl es<br />
doch durchaus Leute gibt, die ganz ordentlich Geld verdienen.<br />
Können Sie sich vorstellen, Berlin irgendwann zu verlassen?<br />
In keiner anderen Stadt hätte ich das aufbauen können, was ich<br />
mir hier geschaffen habe. Ich habe im Grunde bei null angefangen<br />
und mittlerweile sieben Geschäfte eröffnet. In anderen<br />
Städten wie Paris oder London wäre das finanziell nicht möglich<br />
gewesen. Berlin ist für mich die Stadt, in der man seine<br />
Träume und Ideen verwirklichen kann – ein absoluter Glücksfall<br />
für mich.<br />
Fotos: PR (2)<br />
Fotocredit<br />
Bikini Season<br />
In Berlins neuer alter Mitte<br />
ist der architektonische<br />
Zweiteiler wieder angesagt<br />
ie Berliner Stadtsoziologie<br />
dieser Tage erfährt<br />
einen so bemerkenswert<br />
schnellen Veränderungsprozess,<br />
dass die hauptstädtische<br />
Mundart<br />
in ihrer sonst so kodderigen<br />
Art weniger von den<br />
obligatorischen „Icke“, „Schnieke“,<br />
„Knorke“ beherrscht wird, sondern von<br />
weit komplizierteren Wörtern wie „Umstrukturierung“<br />
oder „Aufwertung“.<br />
Dass Berlin Deutschlands lebenswerteste<br />
Stadt ist, darüber waren sich hier<br />
schon immer alle einig. Stetig steigende<br />
Touristenzahlen verdeutlichen aber,<br />
dass darüber jetzt auch der Rest der<br />
Welt Bescheid weiß. Berlin ist Europas<br />
Trendmetropole der Stunde und<br />
zieht die internationalen Künstler und<br />
Kreative derzeit an wie keine zweite.<br />
Dieses Klientel reizt momentan besonders<br />
der Westen. Waren Prenzlauer Berg<br />
und Mitte im Osten vor fünf Jahren<br />
noch die unangefochtenen Szenebezirke,<br />
so sind es jetzt die Kieze vom Westberliner<br />
Wedding oder Neukölln,<br />
die als Gegend mit dem größten Trendcharakter<br />
gelten. Letzterer schaffte<br />
es ob seinem Status als neue alte Nachbarschaft<br />
der Berliner Boheme unter<br />
dem Titel „In Berlin, a creative wave“<br />
kürzlich sogar in die New York Times.<br />
Es hat sich also auch weit über die<br />
Grenzen Deutschlands hinaus herumgesprochen,<br />
dass nicht nur Berlin im<br />
Allgemeinen, sondern auch sein Westen<br />
im Besonderen ein Magnet für die<br />
internationale Kreativszene ist. Klar,<br />
dass diese eine Mitte braucht. Und da<br />
sich die eigentliche Mitte Berlins,<br />
also Mitte, besetzt von Touristenläden<br />
und Modeketten aus dem unteren<br />
Preissegment zeigt, ist es wie vor der<br />
Wende wieder der Bahnhof Zoo,<br />
der das Zentrum der Aufmerksamkeit<br />
bilden soll. Die Macher von Bikini<br />
Berlin haben diesen Trend schnell<br />
erkannt. Das Gebäudeensemble, das<br />
sich vom Bahnhof Zoo über das Kino<br />
Zoo Palast und das Bikinihaus<br />
(das seinen Namen der ehemals zweigeteilten<br />
Hausfassade verdankt) bis<br />
zu dem kleinen Hochhaus neben dem<br />
Elefantentor erstreckt, befindet<br />
sich seit 2010 in der Neugestaltungsphase.<br />
Dabei wird behutsam revitalisiert<br />
und auf radikalen Abriss verzichtet,<br />
zugunsten der Dokumentation der<br />
Geschichte und Einbindung dieser ins<br />
Heute. Das Areal, welches jeher ein<br />
Symbol für den wirtschaftlichen<br />
Aufschwung der 1950er-Jahre war,<br />
soll seine Mid-Century-Avantgarde<br />
bewahren und in das Stadtbild der<br />
Gegenwart einbinden. So wird beispielsweise<br />
das ehemalige Luftgeschoss von<br />
Paul Schwebes und Hans Schoszberger,<br />
die als bedeutende Architekten der<br />
Nachkriegsmoderne Berlins Gesicht<br />
maßgeblich mit gestalteten, über<br />
30 Jahre nach seiner Schließung wieder<br />
eröffnet. Die vollständige Verglasung<br />
des Geschosses bietet Transparenz,<br />
die für Bikini Berlin nicht nur optisch<br />
eine tragende Rolle spielen wird. Im<br />
Gegensatz zu anderen städtebaulichen<br />
Maßnahmen ist die Einbindung der<br />
Berliner Bürger bei Bikini Berlin Hauptbestandteil<br />
der Planungen. Nicht nur<br />
Einzelhandelsgeschäfte und Restaurants<br />
laden diese ein, sondern auch auf<br />
der gebäuderückseitigen Dachlandschaft<br />
ist ausdrücklich Jedermann erwünscht.<br />
Bei Bikini Berlin geht es um Zusammenführung.<br />
Verknüpfung des Alten<br />
mit dem Neuen, Bindestelle für Konsum<br />
und Konsumenten. Ein Konzept, das<br />
sich die Bayerische Hausbau einen<br />
dreistelligen Millionenbetrag kosten<br />
lässt. Damit finanziert das Münchner<br />
Unternehmen die Ermöglichung<br />
von rund 50.000 qm Nutzfläche für<br />
Einzelhandel, Gastronomie und<br />
Showrooms sowie Büro- und Lagerflächen,<br />
aber auch Serviced Apartments.<br />
Angebote, die der gesamten Gegend<br />
um den Bahnhof Zoo Anfang 2013 einen<br />
neuen Charakter verleihen werden,<br />
der vielleicht ganz Berlin eine neue<br />
Mitte geben könnte.<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
50<br />
51
Die Finalistinnen 2011<br />
im Europa Park – Miss<br />
Thüringen Anne-Kathrin<br />
Kosch (3 v. l.) wurde<br />
zur Schönsten gewählt<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
Schön vergänglich<br />
Auch in Deutschland wird jedes Jahr die schönste<br />
Frau des Landes gewählt. Wozu eigentlich?<br />
Fotocredit<br />
Fotocredit<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
52<br />
53
Von Yasemin Kulen<br />
Einer griechischen Sage nach beauftragten die<br />
Göttinnen Aphrodite, Hera und Athene im<br />
Streit um die eigene Schönheit den jungen Paris<br />
von Troja, der ihnen diese Entscheidung abnehmen<br />
sollte. Dabei versuchten alle drei, ihn mit<br />
den verlockendsten Geschenken zu bestechen.<br />
Aphrodite versprach ihm Helena, die schönste<br />
Frau der Welt. Im Gegenzug sollte er sie zur<br />
schönsten Göttin küren. Paris nahm dieses Angebot an. Diese<br />
Sage beweist: Schon in der Antike war es erstrebenswert, mit<br />
dem Attribut „die Schönste“ ausgezeichnet zu werden.<br />
Das Schönheitsideal hat sich seitdem extrem gewandelt. Galten<br />
im Barock noch die üppigen, so genannten Rubensfrauen<br />
als schön, wendete sich das Blatt Anfang des letzten Jahrhunderts.<br />
Schlank war das neue Ideal. Doch würden einstige<br />
Schönheiten wie Marilyn Monroe und Sophia Loren heute mit<br />
Konfektionsgröße 40 wohl eher ausgebuht statt gefeiert werden.<br />
Im Gegensatz zu ihnen stand Twiggy, das Topmodel der<br />
60er-Jahre. Mit einem mageren Körper und kindlichem Aussehen<br />
erlangte die Britin Weltruhm – wie drei Jahrzehnte später<br />
Kate Moss mit dem umstrittenen Heroin Chic. So ist das Empfinden<br />
von Schönheit nicht selten den kulturellen Impulsen<br />
einer Gesellschaft unterworfen.<br />
Seit 1927 wählt man in Deutschland die schönste Frau des<br />
Landes. Ein Jahr lang darf sie sich dann „Miss Germany“ nennen<br />
und nimmt mit diesem Titel an internationalen Wahlen<br />
wie Miss Universe und Miss World teil. Wurden früher<br />
diese Events noch im Fernsehen mit Moderatoren wie Rudi<br />
Carrell übertragen, finden sie heute in Dorfdiskos und im öffentlichen<br />
Rahmen statt. Nicht zu vergessen ist das Finale im<br />
Europa Park Rust, bei dem die 16 Schönheiten der jeweiligen<br />
Bundesländer im Badeanzug um die Krone laufen – mit Jury-<br />
Mitgliedern wie Prof. Dr. Werner Mang, Deutschlands bekanntestem<br />
Schönheitschirurgen, oder dem Fußballmanager<br />
Reiner Calmund.<br />
Seit nunmehr 50 Jahren betreut und organisiert Senior-Chef<br />
Horst Klemmer die Miss-Germany-Wahlen, bei denen jährlich<br />
die Frauen mit der Zahl des jeweiligen Jahres gekürt werden. Ein<br />
Jahr später ist eine Miss meist vergessen. Schon lange werden<br />
ehemalige Missen nicht mehr berühmt. Die letzte war Verona<br />
Feldbusch – und die meisten wissen gar nicht, dass sie einmal<br />
Miss Germany war. Vielleicht ist es der Mangel an stetigem<br />
Wandel, der die Miss Germany Corporation zu einer steifen,<br />
eingestaubten Institution werden ließ. Vielleicht aber auch das<br />
steigende Bewusstsein, dass wahre Schönheit von innen kommt –<br />
und das wäre ja ganz schön!<br />
»Ich wollte nie mein Leben lang nur Miss Germany sein«<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
Die Berlinerin<br />
Anne Julia Hagen wurde<br />
2010 zur schönsten<br />
Frau Deutschlands<br />
gekürt. Heute ist<br />
sie Studentin, Model<br />
und Schauspielerin<br />
Anne, du warst schon<br />
vorher Model, warum die<br />
Miss-Germany-Wahl?<br />
Als ich mit 18 die Schule<br />
beendet hatte, habe ich überlegt,<br />
was man in der Überbrückungszeit<br />
zwischen<br />
Abi und Studium machen<br />
kann. Da habe ich mich für<br />
die Wahl Berlin Miss<br />
Alexanderplatz beworben.<br />
Das hat geklappt, dann war<br />
ich bei der Miss Berlin Wahl,<br />
und das hat auch geklappt.<br />
So kam ich zu Miss Germany,<br />
die ich dann geworden bin.<br />
Ich habe das als Karrieresprungbrett<br />
genutzt.<br />
Wie stehst du zu dem Titel<br />
Miss Germany?<br />
Ich wollte nie mein Leben lang<br />
nur Miss Germany sein. Klar,<br />
man ist schon stolz, aber ich<br />
möchte nicht immer mit<br />
diesem Titel in Verbindung<br />
gebracht werden. Mich hat<br />
daran gestört, dass man immer<br />
mit „Miss Germany“ angesprochen<br />
wurde und nicht mit<br />
seinem Namen. Man ist eine<br />
Nummer und etwas Sächliches.<br />
Denkst du also, ein schöner<br />
Mensch wird automatisch als<br />
„Ding“ abgestempelt?<br />
Ich persönlich sehe mich überhaupt<br />
nicht als „Ding“, aber<br />
ich kann natürlich nicht<br />
beurteilen, wie andere das<br />
sehen. Manche Leute denken<br />
sicher so klischeehaft, dass<br />
ein schöner Mensch weniger<br />
kann oder nichts drauf hat.<br />
In den 60ern mussten die<br />
Missen noch Fragen wie „In<br />
welcher Stadt steht der<br />
Kölner Dom?“ beantworten.<br />
Musstest du dich mit dem<br />
Klischee „schön gleich dumm“<br />
auseinandersetzen?<br />
Also wenn man mit dieser<br />
Schärpe unterwegs ist, denken<br />
sich einige bestimmt: „Komm,<br />
lass stecken, mit der braucht<br />
man gar nicht zu reden, die hat<br />
eh nix im Kopf.“ Andererseits<br />
gibt es auch Leute, die dich<br />
dann behandeln, als wärst du<br />
die Kaiserin von China. Ich<br />
glaube aber, dass dies nicht<br />
nur bei Missen so ist. Es reicht<br />
schon, dass man überdurchschnittlich<br />
aussieht. Vielleicht<br />
hat man besonders lange<br />
Beine. Dann fällt man aus der<br />
Norm raus und dann heißt es<br />
immer: „Die hat nichts drauf.“<br />
Was hältst du denn davon,<br />
dass heute Frauen wie<br />
Beth Ditto oder Maite Kelly<br />
so erfolgreich sind?<br />
Ich finde es total super. Auch<br />
korpulentere Frauen wie<br />
Beth Ditto haben eine tolle<br />
Aura, weil sie so ein<br />
„Strahlekeks“ ist. Ich gucke<br />
sie mir deshalb so gern an.<br />
Es gibt einfach Leute, die<br />
sind einem sympathisch.<br />
Da kommt es nicht drauf an,<br />
ob man Konfektionsgröße<br />
46 oder 32 hat.<br />
FotoS: Missgermany.de (2)<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
54
Wir, hier in Berlin – wandelbar und wunderbar<br />
HADNET TESFAI<br />
Moderatorin<br />
Berlin ist...<br />
manchmal ganz schön dreckig,<br />
sehr wild und immer sexy.<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
Dein liebster Bezirk?<br />
Der Wedding!<br />
Was nervt dich an der Stadt?<br />
Dass der Winter manchmal<br />
so lang ist und dass Berlin<br />
nicht am Meer liegt.<br />
Welche Gegend hat sich in<br />
den letzten Jahren am<br />
meisten verändert?<br />
Mitte und Kreuzberg haben<br />
sich sehr stark verändert.<br />
Gestern bin ich zum Beispiel die<br />
Schlesische Straße runtergelaufen<br />
und habe nur Englisch,<br />
Spanisch, Portugiesisch<br />
und Französisch gehört. Ich<br />
habe mir wirklich gewünscht,<br />
mehr Türkisch zu hören.<br />
Was wird sich nie ändern?<br />
Die Schnodderigkeit der Berliner.<br />
Wärst du hier, wenn die Mauer<br />
noch stehen würde?<br />
Berlin hätte sich dann wohl<br />
niemals zu so einem wichtigen<br />
Medienstandort entwickelt.<br />
Nein, dann wäre ich nicht hier.<br />
Ich bin nach Berlin gekommen,<br />
um ein Praktikum zu machen.<br />
Ich hatte jedoch nie das Bedürfnis,<br />
hierher kommen zu müssen,<br />
weil ich mich in meiner schwäbischen<br />
Provinz so eingeengt fühlte,<br />
mal raus müsste oder weil ich<br />
mich in Berlin ausleben wollte.<br />
Ost oder West?<br />
West! All day errday!<br />
Braucht Berlin noch mehr Einwohner<br />
von außerhalb?<br />
Jede Stadt braucht immer Einwohner<br />
von außerhalb. Wenn<br />
keiner mehr kommt, findet<br />
irgendwann kein Austausch mehr<br />
zwischen Alt und Neu statt. Das<br />
ist wie in einem Aquarium, das<br />
braucht auch regelmäßig frisches<br />
Wasser. Du kannst noch so viel<br />
filtern, irgendwann ist der<br />
Sauerstoff einfach verbraucht und<br />
dann muss der Inhalt<br />
ausgetauscht werden. So ist das<br />
auch mit den Städten.<br />
STADT<br />
GESPRACHE<br />
Berlin ist immer in Bewegung. Täglich entwickelt die Hauptstadt<br />
neue Facetten und verändert ihre Gestalt. Synchron<br />
schlägt das Berliner Herz im Rhythmus seiner Bewohner – und diese<br />
kommen von überall her und schlafen nie. Mit sechs von ihnen<br />
sprechen wir über ihre Stadt<br />
Interviews:<br />
Juliane Dumjahn, Brigitta Lentz, Julia Quante<br />
Fotos: Robert Kromm<br />
Retouch: Sebastian Reuter/Roita Photodesign<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
56<br />
57
JOKO WINTERSCHEIDT<br />
Moderator<br />
Berlin ist...<br />
die provinziellste<br />
Großstadt der Welt.<br />
Dein Lieblingsplatz?<br />
Meine Badewanne.<br />
Was nervt dich an der Stadt?<br />
Mich nerven die offenen<br />
Menschen, die gar nicht so offen<br />
sind, wie sie immer tun.<br />
Was hat sich am meisten<br />
verändert, seitdem du hier bist?<br />
Kreuzberg. Der Bezirk ist zu<br />
kommerziell geworden.<br />
Was wird sich in Berlin nie<br />
ändern?<br />
Die gute Laune der Taxifahrer.<br />
Wärst du hier, wenn die<br />
Mauer noch stehen würde?<br />
Wegen des Geldes würde ich<br />
vielleicht in Westberlin<br />
wohnen. Aber wahrscheinlich<br />
eher nicht.<br />
Ost oder West?<br />
Ost.<br />
Braucht Berlin noch mehr<br />
Einwohner von außerhalb?<br />
Aus dem direkten Berliner<br />
Umfeld eher nein.<br />
Brandenburg ist Brandenburg<br />
und Berlin ist Berlin (lacht).<br />
Ansonsten ist die ganze Welt<br />
recht herzlich eingeladen.<br />
KLAUS WOWEREIT<br />
Regierender<br />
Bürgermeister<br />
Berlin ist...<br />
sexy.<br />
Ihr liebster Ort in Berlin?<br />
Ich fühle mich dort wohl,<br />
wo sich die Berliner wohl fühlen.<br />
Was nervt Sie an der Stadt?<br />
Dass alles viel zu schnell voran geht.<br />
Was hat sich in den letzten<br />
Jahren am meisten verändert?<br />
Die größte Veränderung, die Berlin<br />
gemacht hat, war der Fall der Mauer.<br />
Was wird sich in Berlin nie ändern?<br />
Definitiv die gute Laune der Berliner.<br />
Wären Sie hier, wenn die Mauer<br />
noch stehen würde?<br />
Auf jeden Fall.<br />
Ost oder West?<br />
West.<br />
Braucht Berlin noch mehr<br />
Einwohner von außerhalb?<br />
Die Stadt braucht unbedingt noch<br />
mehr Einwohner. Warum auch nicht?<br />
Jeder, der hierher kommen möchte,<br />
ist zu jeder Zeit herzlich willkommen.<br />
KATJA SCHLEGEL &<br />
KAI SEIFRIED<br />
Modedesigner,<br />
Starstyling<br />
Berlin ist...<br />
unser Zuhause.<br />
Euer liebster Platz in Berlin?<br />
Unser Atelier!<br />
Was nervt euch an der Stadt?<br />
Eigentlich nur die<br />
miesen Bäckereien.<br />
Was hat sich in den letzten<br />
Jahren am meisten verändert?<br />
Wir haben uns am meisten<br />
verändert und vor allem auch<br />
weiterentwickelt.<br />
Und was wird sich in<br />
Berlin niemals ändern?<br />
Die frechen Berliner<br />
Schnauzen werden immer<br />
zu finden sein.<br />
Wärt ihr hier, wenn die<br />
Mauer noch stehen würde?<br />
Kommt drauf an,<br />
auf welcher Seite...<br />
Ost oder West?<br />
Mitte!<br />
Braucht Berlin noch mehr<br />
Einwohner von außerhalb?<br />
Ja gern – die Stadt ist<br />
ja erst halbvoll.<br />
Berlin könnte zurzeit bis<br />
zu acht Millionen<br />
Einwohner fassen.<br />
Foto: PR (1)<br />
Fotocredit<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
58<br />
59
JAYBO MONK<br />
Künstler<br />
Berlin ist...<br />
der Ort, den ich vermisse,<br />
wenn ich weg bin und hasse,<br />
wenn ich wiederkomme.<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
Fotocredit<br />
Dein liebster Platz?<br />
Die Hasenheide um 7 Uhr<br />
morgens. Mit meinem<br />
Hund und Sprühregen.<br />
Und was nervt dich<br />
an der Stadt?<br />
So vieles und so wenig<br />
zugleich. Zu viele Kneipen,<br />
Private Viewings und<br />
kokainverzerrte Gesichter.<br />
Du kommst ursprünglich aus<br />
Frankreich. Was hat sich,<br />
seitdem du hier lebst, am<br />
meisten verändert?<br />
Die Angeberei in Mitte.<br />
Und dass es mehr<br />
Künstler als Pinsel gibt.<br />
Und was wird sich in Berlin<br />
niemals ändern?<br />
The shades of grey –<br />
Berlin hat alle Nuancen<br />
unter einem Dach.<br />
Wärst du hier, wenn die<br />
Mauer noch stehen würde?<br />
Natürlich, ich bin ein<br />
Berliner! Viel mehr als<br />
ein Franzose. Die<br />
Mauer war der Grund,<br />
dass ich hier bleiben musste.<br />
Ich werde erst gehen,<br />
wenn man eine neue baut.<br />
Ost oder West?<br />
West. Meine Inspiration hole<br />
ich aber aus dem Osten.<br />
Braucht Berlin noch mehr<br />
Einwohner von außerhalb?<br />
Berlin braucht Seelen zum<br />
Essen. Und Berlin ist<br />
hungrig. Die Stadt besteht<br />
aus Ausländern – national<br />
oder international.<br />
UDO WALZ<br />
Friseur<br />
Berlin ist...<br />
genau meine Stadt!<br />
Wo sind Sie am liebsten?<br />
Auf der Pfaueninsel,<br />
da ist es so schön ruhig.<br />
Was nervt Sie an Berlin?<br />
Rein gar nichts!<br />
Was hat sich in Berlin<br />
am meisten verändert?<br />
Hauptsächlich nur, dass<br />
die Mauer weg ist, aber Mitte<br />
hat sich auch stark verändert.<br />
Was wird sich niemals ändern?<br />
Ganz klar, die Toleranz<br />
der Menschen!<br />
Wären Sie hier, wenn<br />
die Mauer noch stehen würde?<br />
Ja!<br />
Ost oder West?<br />
West natürlich.<br />
Braucht Berlin noch<br />
mehr Einwohner von außerhalb?<br />
Ja, denn das ist ein<br />
unaufhaltsamer und natürlicher<br />
Prozess, den ich gut finde.<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
60<br />
61
HELTER SKELTE<br />
»Well will you won’t you want me to make you<br />
I’m coming down fast but don’t let me break you« *<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
Fotos: Björn Giesbrecht<br />
Styling/Produktion:<br />
Madlen Uhlemann, Stefanie Linda KrauSS<br />
Haare: Manuela Kopp, Make-up: Anna Neugebauer<br />
Models: Eva Maria/M4 Models, Reyhan/<br />
On°1 Management, Tobias/Mokka Models<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
62<br />
*The Beatles, „Helter Skelter“, 1968<br />
63
Vorherige Seite<br />
Eva (liegend)<br />
Kleid und Leggins: Minimum<br />
Rock: Cheap Monday<br />
Bolero aus Spitze: Very<br />
Schuhe: Zign<br />
Reyhan<br />
Kleid: Eucalyptus<br />
Jacke: Vila<br />
Tobias<br />
Anzug: Bally<br />
Hemd: Cheap Monday<br />
Cape: Weekday<br />
»Look down on me, you will see a fool.<br />
Look up at me, you will see your Lord.<br />
Look straight at me, you will see yourself« *<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
64<br />
* Charles Manson<br />
Eva<br />
Hut: By Malene Birger<br />
Jackett: Vero Moda<br />
Top: Vila<br />
Hose: Weekday<br />
Ohrringe & Kette: Vintage<br />
Reyhan<br />
Lederkleid: Goosecraft<br />
Leggins: By Marlene Birger<br />
Schuhe: Emma Go<br />
Gürtel: Vintage<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
65
Tobias<br />
Anzug und Hemd: Bally<br />
Cape: Weekday<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
66<br />
Fotocredit<br />
Eva<br />
Sonnenbrille: Dior Vintage<br />
(von Lunettes Berlin)<br />
Samtkleid: Eucalyptus<br />
Stricktuch: Vintage<br />
Reyhan<br />
Sonnenbrille: Vintage<br />
(von Lunettes Berlin)<br />
Bluse: By Malene Birger<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
67
Tobias<br />
Anzug: Bally<br />
Hemd: Cheap Monday<br />
Cape: Weekday<br />
Schuhe: Emu<br />
Reyhan<br />
Kleid: Vero Moda<br />
Seidenmantel: Vintage<br />
Lederjacke: Vintage<br />
Leggins: Minimum<br />
Eva<br />
Bluse: By Malene Birger<br />
Rock: Bally<br />
Hut und Leggins: Vintage<br />
Schuhe: Jeffrey Campbell<br />
Vielen Dank an Susan Hempel<br />
und Maike Schmalle<br />
Werk <strong>Metamorphose</strong> VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
. Werk VI<br />
Fotocredit<br />
Fotocredit<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
68<br />
69
VON ANne Tröst<br />
Gestriegelte<br />
Gentlemen<br />
Internationale Coiffeure wie<br />
Toni&Guy (M.) und Vidal<br />
Sassoon interpretieren in<br />
ihren Kollektionen Stil–<br />
Frisuren immer wieder neu<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
lockige<br />
Rebellen<br />
Wie die Frisur eines Mannes<br />
seinen Charakter macht<br />
Die schwarze Tolle war sein Markenzeichen. Wenn<br />
Elvis Presley auf die Bühne ging, saß nicht nur jeder<br />
Akkord, jede Oktave – sondern auch die penibel<br />
gegelte und doch so lebendig schwingende Locke in<br />
seiner Stirn. Mit drei verschiedenen Pomaden widmete sich<br />
der King of Rock’n’Roll in perfektionistischer Feinarbeit einer<br />
Frisur, die mit dem wachsenden Erfolg seines Trägers zum großen<br />
Symbol der Rockabilly-Ära wurde. Seit den 50ern unzählige<br />
Male kopiert und weiterentwickelt, verkörpert der Pompadour,<br />
der seinen Namen ursprünglich der Mätresse Ludwig<br />
XV. verdankt, noch bis heute das Empfinden von Freiheit und<br />
Rebellion. Mit ihm kreierte Elvis nicht nur eine Trendfrisur,<br />
sondern zeigte ein ganzes Lebensgefühl.<br />
Als am 18. Oktober 2009 ein Büschel seiner Haare in Chicago<br />
einen neuen Besitzer suchte, war Elvis Presley bereits 32 Jahre<br />
tot. Für 12.300 Euro gingen, neben Stofftaschentüchern und<br />
Hochzeitsfotos, die spröden Hornfäden dann über den Auktionstisch<br />
– gerechtfertigt mit der Hysterie um die Kultfigur,<br />
mit der Manie seiner Fans. Doch auch begründet im Versteigerungsobjekt<br />
selbst: dem Haar; das jemanden so unverkennbar<br />
machte und eine ganze Stil-Kultur für sich einnahm.<br />
Haare, das vielleicht beliebteste Accessoire des menschlichen<br />
Körpers, immerhin wandelbar wie kein anderes, blicken auf<br />
eine bemerkenswerte Geschichte zurück. Wobei es die Frauen<br />
eher simpel hielten: Langes, volles Haar zieht sich wie ein roter<br />
Faden durch die wechselnden Ideale weiblicher Schönheit;<br />
mit leichten Ausschweifungen, was die Farbe anbelangt – mehr<br />
aber auch nicht. Zwischenzeitlich schnitt sich zwar die ein oder<br />
andere die Haare kurz, um der Gesellschaft den modischen<br />
Mittelfinger zu zeigen, aber auch das betont nur die Einfältigkeit<br />
ihrer bislang erprobten Möglichkeiten.<br />
Viel spannender hingegen: das Männerhaar. Ein Pool an Variationen,<br />
der im Verlauf zahlreicher Trend-Diktaturen und<br />
Fotos: PR (3)<br />
zeitweiliger Rollenbilder immer größer wurde. Ob Protagonisten<br />
biblischer Erzählungen, Modeikonen oder Filmcharaktere<br />
– die Frisuren männlicher Hauptakteure einzelner Epochen<br />
sind so unterschiedlich und stilprägend, dass sie als eigenständige<br />
Persönlichkeitsmerkmale Beachtung finden. Wie Elvis’<br />
Locke, die für das Zeitgefühl des Rock’n’Roll, die Rebellion gegen<br />
die Eltern und nicht zuletzt für den berühmten Künstler<br />
selbst steht, der mit seinen hüftlastigen Tanzeinlagen als einer<br />
der Ersten einen Stab an kreischenden Groupies auf seinen<br />
Konzerten zu verzeichnen hatte.<br />
Auch Cary Grant verhalf der Haarschnitt zu Großem: Ab<br />
den 30er-Jahren verführte er Stilikonen wie Marilyn Monroe,<br />
Grace Kelly oder Audrey Hepburn auf der Leinwand – zu verdanken<br />
hat er das womöglich seinem Charme, vielleicht auch<br />
dem Grübchen an seinem Kinn, mit Sicherheit aber auch der<br />
nonchalanten Art, einen Smoking zu tragen. Doch was wirklich<br />
blieb, ist die Frisur. Denn noch heute steht der sorgfältig gezogene<br />
Seitenscheitel für männliche Eleganz und Klasse – eine<br />
Gentleman-Frisur, die immer wieder aufgegriffen und, wenn<br />
nötig, in einen zeitgemäßen Kontext gesetzt wird. So machte<br />
sich eine Neuinterpretation beispielsweise auf dem Kopf von<br />
George Clooney einen Namen: Mit dem Scheitel auf der anderen<br />
Seite und weniger streng zurückgelegt, adaptiert der<br />
Neuzeit-Kavalier den konventionellen Gentleman-Look und<br />
mit ihm nicht nur die Erinnerung an Grant, sondern vor allem<br />
die Attribute, die dabei mitschwingen.<br />
Doch auch mit weniger Haar lassen sich Charakter und Stilgefühl<br />
deutlich machen. Bekannte Filmglatzen wie Telly Savalas,<br />
der als Theo Kojak in der gleichnamigen Fernsehserie dem<br />
Zynismus ein neues Gesicht gab, oder Yul Brynner, der als heroischer<br />
Protagonist des Kultwesterns Die glorreichen Sieben internationale<br />
Bekanntheit erlangte, brachten der polierten Platte<br />
ein prägnantes Image. Abgeklärt, rabiat und aufregend – der<br />
Anti-Held trägt Glatze. So auch Ving Rhames, der als Marsellus<br />
Wallace in Pulp Fiction einen miesen Gangsterboss mimt.<br />
Aber auch biblische Erzählungen bedienen sich der symbolischen<br />
Bedeutungen von Haar. Die bekannteste und zugleich<br />
traurigste Haargeschichte ist wohl jene von Samson und Delilah,<br />
die nicht nur mit einem gebrochenen Herzen endet, sondern<br />
vor allem damit, dass Samson seine Locken lässt. Als Richter<br />
des Alten Israels hatte er vor, sein unterdrücktes Vaterland von<br />
den Philistern zu befreien. Ahnungslos, dass die reizende Delilah<br />
Spitzel des philistinischen Königs war, verriet ihr Samson das<br />
Geheimnis um seine Unbesiegbarkeit: Die Haare müssten ein<br />
Leben lang wachsen. Das Mysterium um Samsons unbezwingbare<br />
Kraft enthüllt, greift Delilah zur Schere – und entledigt<br />
ihn seiner gottgegebenen Potenz. Es ist also nicht immer allein<br />
Schnitt, Struktur oder Länge des Haares, die einer Frisur eine<br />
persönliche Eigenschaft gibt, sondern selbst der Fall von ein paar<br />
gewellten Strähnen findet seine semiotische Besetzung.<br />
In einer eher Kurzhaar-affinen Zeit ist die Bandbreite an<br />
Möglichkeiten, seine Persönlichkeit mit einem Haarschnitt<br />
auszudrücken, groß. Dabei wird an Altbewährtem festgehalten<br />
und aus nischigen Subkulturen neu geschöpft – immer mit<br />
dem Ziel, etwas noch nie Dagewesenes zu kreieren. Während<br />
Frauen sich erst einmal nur der Längen-Frage stellen – provokant<br />
oder konservativ –, haben Männer zahlreiche Auslegungen<br />
allein für den Begriff „kurz“. Und auch wenn weibliche<br />
Frisuren durch variierende Drapierungen augenscheinlich ein<br />
nahezu endloses Repertoire an Haarkunstwerken bieten, sind<br />
es doch die auffälligen Bedeutungscluster des gestylten Männerhaares,<br />
die so bedeutsam und vielsagend sind; weil zurückgeschaut<br />
und interpretiert, weil so kunstvoll zitiert wird – weil<br />
selbst, wenn Mann etwas für seinen Stil-Code ganz Übliches<br />
tut (sie kürzer schneidet, lockig lässt und gar rasiert), er eine<br />
ganz andere Geschichte mit ihnen erzählt.<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
70<br />
71
Vorbereitungen für die schamanische Hochzeitszeremonie in Secred Valley, Peru<br />
VON ANETT STEINBRECHER<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
ein mann<br />
der extreme<br />
Früher arbeitete er<br />
mit Hilfe von Drogen<br />
die Nächte durch,<br />
heute lehrt Fabian<br />
Schamanismus in den<br />
Bergen von Peru<br />
E<br />
s ist knapp drei Jahre her, als<br />
ich ihn das letzte Mal gesehen<br />
habe – in dieser Zeit sei wohl<br />
eine Menge passiert, was sein<br />
Leben angeht. So zumindest<br />
hört man es im Freundeskreis.<br />
Als er mir die Tür öffnet, muss<br />
ich zweimal hinschauen, um<br />
Fabian zu erkennen: Er ist<br />
dünner, definierter, ließ sich<br />
einen Bart wachsen, seine Haut<br />
ist unglaublich gut. Vor allem<br />
aber: Er strahlt wie nie zuvor.<br />
Er war immer ein Mensch, der<br />
viel lachte und glücklich schien. Aber dieses Lächeln, ganz<br />
warm, war anders. „Das ist die Wohnung von Denis, hier wohne<br />
ich, wenn ich bei meiner Rundreise in Berlin bin.“ Überall<br />
liegen Kissen auf dem Boden, es riecht nach Räucherstäbchen<br />
und dass er komplett in Weiß gekleidet ist, löst das Rätsel um<br />
ihn nicht im Geringsten.<br />
Fabian fängt mich direkt in meiner Unsicherheit auf und beginnt<br />
zu erzählen. „Ich habe mein Leben ohne tieferen Sinn und<br />
Ziel gelebt. Alles, was ich tat, war auf die kurzfristige Befriedigung<br />
meiner Sinne ausgerichtet: Geld verdienen (er verdiente<br />
als Managing Director bei einer indischen Outsourcing-Firma<br />
für Europa, Middle-East und Afrika wirklich viel Geld), um<br />
mich dann von diesem Geld zu betäuben, meine innere Leere<br />
mit teurem Alkohol, Drogen und exzessivem Leben zu füllen.<br />
Aber das war zum Scheitern verurteilt. Ganz plakativ: Die Seele<br />
hat keinen Mund und man kann sich noch so vollstopfen mit<br />
gutem Essen, Wein und Drogen, aber das, was man zu füllen<br />
versucht, ist dort nicht!“<br />
Heilen statt koksen<br />
Fabian ist 39 Jahre alt und hat einen Bewusstseinswandel hinter<br />
sich wie er extremer nicht sein könnte. Er bezeichnet diesen<br />
Prozess als eine rückgängig gemachte Verkrustung, die, wie<br />
er sagt, durch unser soziopolitisches System entstanden ist. ><br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
72<br />
73
V.l.n.r.: Fabian 2006; Royal Ascot Pferderennen 2008 in England; während einer schamanischen Heilzeremonie 2010; Fabians Haus in der Khula Dhamma Eco-Community im südafrikanischen Eastern Cape; Fabian und Nicole bei ihrem spirituellen Hochzeitsritual 2009; Fabian heute<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
><br />
Während er mir das erzählt, erinnere ich mich an Silvester<br />
2007. Ein Privatclub in Londons Zentrum, mit Blick auf das<br />
London Eye. Es war heiß, es war laut und vor allem war es reich<br />
an Überfluss: Alkohol, Drogen, verschwitzte Körper. Männer<br />
in Anzügen, Frauen in viel zu kurzen Kleidern. Von allem etwas<br />
zu viel und trotzdem nicht genug. Fabian hatte mich damals<br />
zu dieser Party eingeladen, er war einer der Veranstalter.<br />
„Ich war mir der Konsequenzen meiner Handlungen, jeder<br />
noch so alltäglichen wie zum Beispiel das Licht anschalten,<br />
Fleisch essen usw., nicht bewusst, ich habe mir gar keine Gedanken<br />
darüber gemacht. Jetzt, da ich selbst viel bewusster lebe<br />
und Sachen, die wir für selbstverständlich nehmen, viel mehr<br />
hinterfrage, sehe ich den alten Fabian in so vielen Menschen.“<br />
Obwohl er nie bösartig war, stand sein eigenes Wohl immer<br />
an erster Stelle. Er war stets auf seinen Vorteil ausgerichtet.<br />
Fabian hat drei wundervolle Kinder, die bei ihren Müttern leben<br />
– zu allen hat er ein sehr gutes Verhältnis. Es sind Kinder<br />
aus Beziehungen, die nicht funktionierten, mit Frauen, die zu<br />
bestimmten Phasen passten – Lebensabschnittsgefährtinnen<br />
eben. „Hätte ich auch nur eine einzige Sache unterlassen oder<br />
anders gemacht, wäre ich nicht hier, wo ich jetzt bin, auch<br />
wenn vieles unangenehme Folgen für mich und andere hatte<br />
und teilweise noch hat. Aber genau diese Situationen sind die,<br />
an denen man am meisten wächst. Durch mein jetziges Leben<br />
versuche ich durch Vorbild und Vorleben, aber auch durch Rat<br />
und Tat andere Menschen zu dem Punkt zu bringen, wo ich<br />
war, als ich begann, bewusster zu leben.“<br />
Seit 2008 lebt Fabian nicht mehr als Teil unserer Konsumgesellschaft,<br />
gliedert seine Tage in Abschnitte: „Im Prinzip schaffe<br />
ich eine Balance zwischen so genannten selbstzentrischen Erhaltungsmaßnahmen<br />
wie Yoga, Meditation oder Essen – Dinge,<br />
die mehr dazu dienen, unseren Körper-Geist-Seele-Komplex<br />
bei optimaler Leistungsfähigkeit zu erhalten – und selbstlosen<br />
Erhaltungsmaßnahmen wie die Arbeit an unterschiedlichsten<br />
Charity-Projekten, die der Erhaltung und Förderung der Umwelt<br />
und den Menschen um uns herum dienen.“<br />
Früher habe er über Vegetarier gelacht. Seine Mahlzeiten<br />
mussten edel und genussreich sein. Das Ziel – man könnte<br />
es fast schon als eines seiner Hobbys bezeichnen – war es, sich<br />
durch die Liste der am höchstbewerteten Restaurants der Welt<br />
zu essen und je exotischer das Tier oder ein Körperteil war,<br />
desto besser. Heute schwört er auf roh-vegane, gewaltfreie<br />
Kost. „Massentierhaltung trägt mehr zur Klimaerwärmung<br />
bei als alle Emissionen von allen Autos und Flugzeugen zusammengenommen.“<br />
Ein Wochenende veränderte sein Leben<br />
Durch eine Mailingliste, die sich normalerweise mit Partys in<br />
London befasst, ist Fabian vor knapp drei Jahren auf ein schamanisches<br />
Seminar in Cambridge gestoßen. „Das Seminar hat<br />
schon am ersten Tag so viel in mir bewegt, wie ich es mir nie<br />
hätte träumen lassen. Das Gefühl von Liebe - uneingeschränkter,<br />
bedingungsloser Liebe - und die Verbundenheit mit allem<br />
und jedem waren so unfassbar, dass mir sogar Tränen die<br />
Wangen herunterliefen.<br />
Bei diesen Zeremonien geht es in erster Linie um den eigenen<br />
inneren Frieden. Musik, Düfte und die Einnahme von Saft<br />
der Ayahuasca, eine Lianenart (auch Ranke der Seele genannt),<br />
sollen das Innerste in uns öffnen und tief liegende Blockaden<br />
lösen. Teilnehmer erzählen beispielsweise von Elternteilen, mit<br />
denen man sich im Geiste unterhalten und ausgesprochen hat.<br />
„Als ich dann nach drei Tagen zurück nach London fuhr,<br />
rief ich meine Frau Nicole schon aus dem Zug an, um ihr zu<br />
sagen, dass ich sie sehen muss, bevor ich nach Hause fahre. Ich<br />
bin also mit Sack und Pack vom Bahnhof zu ihr ins Büro, habe<br />
sie draußen vor der Tür getroffen und sie in den Arm genommen.<br />
Sie spürte sofort, dass sich in mir alles verändert hat – wir<br />
brauchten gar keine Worte!“<br />
Fabian gab seinen überbezahlten Job auf und begann in Peru<br />
die Ausbildung zum Schamanen. „Diese Ausbildung war voller<br />
Entbehrungen und Herausforderungen. Schließlich habe ich<br />
Fotos: Privat<br />
dann vor fast zwei Jahren angefangen, das Erlernte in die Tat<br />
umzusetzen und anderen zu helfen."<br />
Fabian macht oft ganze Familiensitzungen, in denen mehrere<br />
Generationen einer Familie die Erfahrung der Heilzeremonie<br />
teilen. „Oft reisen die Leute von weit heran, um an der<br />
Sitzung teilnehmen zu können. Nicole und ich sind nur unterwegs<br />
– letzte Woche waren wir auf Ibiza, danach in London,<br />
dann Hamburg und jetzt Berlin für zwei Tage.“<br />
Vor einem Jahr hat Fabian angefangen, selbst Schamanen<br />
auszubilden. Seine ersten Lehrlinge waren eine 39 Jahre alte<br />
Heilpraktikerin aus Frankreich und ein 41 Jahre alter Leiter<br />
eines Meditationszentrums und ehemaliger buddhistischer<br />
Mönch. Sein Ziel ist es, Menschen in den unterschiedlichen<br />
Ländern auszubilden, um sich dann zurückzuziehen. Momentan<br />
bereiten sich Fabian und seine Frau darauf vor, in<br />
der Khula Dhamma Eco-Community im südafrikanischen<br />
Eastern Cape zu leben. „Obwohl man idealerweise tatsächlich<br />
komplett weg sein sollte, ohne Internet und Telefon, so ist das<br />
aus verschiedenen Gründen nicht schlagartig umsetzbar und<br />
wäre sehr egoistisch: Die Vorbild- oder Wegweiserfunktion<br />
kann schließlich nur im Kontakt mit der Außenwelt erfüllt<br />
werden und deshalb müssen wir in Kauf nehmen, auf ähnliche<br />
Weise wie wir das jetzt schon tun um die Welt zu reisen und<br />
Menschen zu inspirieren.“<br />
Der (fast) komplette Ausstieg<br />
Diese Vereinigung von Aussteigern kann man sich wie ein<br />
kleines, grünes, sauberes Dorf vorstellen, in dem sich gleichgesinnte<br />
Menschen treffen, zusammen leben und wirtschaften<br />
– fernab von Konsum. Fernab von all dem, was wir kennen,<br />
gewohnt sind und meist auch als unseren Lebensinhalt<br />
bezeichnen. Zunächst einmal muss man in diese Community<br />
reinpassen. Es gibt ein paar Grundregeln, erstellt vom Zen-<br />
Buddhismus-Lehrer Steve Hagen, an die sich jeder halten<br />
muss, wie zum Beispiel: Du sollst nicht töten, dich vegetarisch<br />
ernähren. Du sollst nicht stehlen, nicht lügen. Alkohol,<br />
Zigaretten, Koffein sind ebenfalls nicht erlaubt.<br />
Bedingung ist, die Community im Bestehen und Wachsen<br />
zu unterstützten – da speziell diese Vereinigung noch sehr jung<br />
in ihrem Dasein ist, beschränkt sich die Unterstützung auf sehr<br />
existenzielle Dinge wie Häuser und Dämme bauen, im Garten<br />
arbeiten, Obst und Gemüse anpflanzen und ernten. Hat man<br />
eine Art Probezeit hinter sich, stimmt die Community ab, ob<br />
man aufgenommen wird.<br />
„Wir haben uns die letzten zwei Jahre sehr intensiv mit<br />
diesem Projekt beschäftigt. Es gibt unterschiedlichste Punkte,<br />
wie Vulkanhäufigkeit, Klimaveränderung oder Atomkraftwerkdichte,<br />
die zur Entscheidung beitrugen, nach Südafrika<br />
zu gehen.“ Außerdem wollen sie unabhängig, also „off-grid“<br />
sein und haben sich mit Solartechnologie, Wasseraufbereitung<br />
und Permakultur (ein Konzept, das auf die Schaffung<br />
von dauerhaft funktionierenden, nachhaltigen und naturnahen<br />
Kreisläufen zielt) beschäftigt. Das kling sehr theoretisch.<br />
Ist es auch.<br />
Im Laufe der Zeit haben sich einige Menschen von Fabian<br />
entfernt – seinen Wandel, seine neue Einstellung nicht akzeptiert.<br />
Einige haben zu ihm zurückgefunden, weil sie erkannt<br />
haben, wie viel besser es ihm geht. „Diesen Weg zu gehen war<br />
für mich das einzig Richtige, das einzig Mögliche. Und obwohl<br />
es aus vielerlei Sicht sehr schwer war – vor allem finanziell –<br />
habe ich meine Entscheidung nie bereut.“<br />
Er genießt es, mir von seinem neuen Weg zu erzählen. Teilweise<br />
fühlt es sich so an, als wolle er mir eine Botschaft vermitteln.<br />
Ganz selten schweift er von seiner Ideologie ab, wird<br />
kaum freundschaftlich intim. Fabian ist ein extremer Mensch<br />
– bei ihm gibt es kein Dazwischen. Er lebte höchst verschwenderisch<br />
und oberflächlich, jetzt gehören Nachhalt und Nächstenliebe<br />
zu seinem Lebensinhalt. Selbst wenn er, ganz simpel<br />
formuliert, vom einen Extrem ins andere gerutscht ist, so ist<br />
das Gegenwärtige das bessere.<br />
Namaste.<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
74<br />
75
Wunderwerk:<br />
Eine Lange-Uhr<br />
vereint mehrere<br />
Hundert<br />
handgefertigte<br />
Einzelteile<br />
WerkSCHAU<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
Bei A. Lange & Söhne blickt man nicht nur vor, sondern auch zurück – auf<br />
eine 165-jährige Geschichte. Anstatt in Akkordzeit entstehen hier exklusive<br />
Luxusuhren noch auf traditionelle Weise: in Handarbeit<br />
von Michelle Wenzel<br />
Fotos: Jörg Wischmann<br />
Fotocredit<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
76<br />
77
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
Ganz fragil liegt er da, auf dem weißen Arbeitstisch,<br />
und wirkt dabei so zerbrechlich<br />
– der so genannte Tourbillon-Käfig. Man<br />
fürchtet, eine falsche Bewegung oder ein falscher<br />
Atemzug könnte das so zart wirkende<br />
Gehäuse in all seine Einzelteile zerfallen<br />
lassen. Die Uhrmacherin im weißen Kittel<br />
nimmt die nicht mal 20-Cent-Stück große<br />
Skelett-Konstruktion zwischen ihre Finger<br />
und betrachtet diese ein weiteres Mal mit<br />
prüfendem Blick, die Lupe dabei stets im<br />
Auge. „Fertig.“ Nach fast zwei Tagen hat sie die Arbeit an dem<br />
feingliedrigen Käfig abgeschlossen und kann sich nun dem<br />
nächsten widmen. Das filigrane Drehgestell ist Teil der Tourbillon,<br />
die wiederum als „Wirbelwind“ oder Schwingsystem<br />
eines Gangwerks Ungenauigkeiten ausgleicht und damit die<br />
Exaktheit eines Zeitmessers fördert. Nachdem die 84 Einzelteile<br />
in sorgfältiger Einzelarbeit zur Tourbillon zusammengesetzt<br />
sind, kann man den Herzschlag der Uhr schon fast hören.<br />
Bis ein Modell von A. Lange & Söhne aber endgültig die Manufaktur<br />
in Glashütte verlässt, ist es ein langer Weg. Zwischen<br />
sechs und vierzehn Monaten kann es zuweilen dauern, bis der<br />
Kunde seine Präzisionsuhr am Handgelenk tragen darf.<br />
Alter neuer Zeitgeist<br />
In der sächsischen Manufaktur entstehen Uhren auf eine Weise,<br />
die sich Unternehmen zu Zeiten kapitalistischer Gewinnförderung<br />
eigentlich kaum leisten können – in Handarbeit.<br />
Doch genau darin liegt die Stärke des Traditionsbetriebes.<br />
Pro Jahr verlässt nur eine geringe Stückzahl der luxuriösen<br />
Armbanduhren das Werk – dabei handelt es sich um Zahlen<br />
im einstelligen Tausenderbereich. Doch trotz der stattlichen<br />
Preise von 13.900 bis 400.000 Euro sind die edlen Zeitmesser<br />
mit klangvollen Namen wie Richard Lange oder Tourbograph<br />
„Pour le Mérite“ vom Design her eher schlicht, schnörkellos<br />
und dezent. Understatement lautet die Devise. Von Trends<br />
distanziert man sich, denn die Träger schätzen den zeitlosen<br />
Stil dieser exklusiven Uhren, „ohne den Luxus provokant zur<br />
Schau tragen zu wollen“, meint PR-Direktor Arndt Einhorn.<br />
Dennoch handelt es sich bei diesen Uhren um Statussymbole,<br />
wenn auch der weniger blasierten Variante.<br />
Reise in die Vergangenheit<br />
Der 7. Dezember 1990 ist ein wichtiges Datum in der turbulenten<br />
Firmengeschichte. Auf den Tag genau 145 Jahre nach der<br />
ersten Gründung der Firma durch Ferdinand A. Lange meldet<br />
dessen Urgroßenkel Walter Lange den Betrieb neu an und<br />
wagt den Versuch, das Erbe seiner Familie weiterzuführen.<br />
Kein leichtes Unterfangen, nachdem das Unternehmen Ende<br />
der 40er-Jahren vom SED-Regime enteignet wurde. 1994 folgt<br />
die erste Kollektion neuer Lange-Uhren: Mit der Lange 1, Saxonia,<br />
Tourbillion „Pour le mérite“ und der Damenuhr Arkade<br />
war A. Lange & Söhne nach über vier Jahrzehnten Stillstand<br />
zurück und man knüpfte an die Erfolge der Taschenuhren an,<br />
mit denen sich die Firma bereits Mitte des 19. Jahrhunderts<br />
einen Namen machte.<br />
Edelmetall: Nur<br />
hochwertige Materialien<br />
wie Platin,<br />
Gold und Silber<br />
kommen bei<br />
A. Lange & Söhne<br />
zum Einsatz<br />
Gegründet wurde das Unternehmen am 7. Dezember 1845<br />
von Ferdinand Adolf Lange in dem kleinen Bergbaustädtchen<br />
Glashütte. Nach seiner Lehre beim angesehenen Dresdner Hofuhrmacher<br />
Christian F. Gutkaes zieht er durch Europa, arbeitet<br />
in Frankreich und der Schweiz. Mit vielen neuen Erkenntnissen<br />
und Ideen sowie einem enormen Tatendrang kehrt er ins<br />
heimatliche Sachsen zurück. In der Erzgebirgsregion herrscht<br />
zu dieser Zeit große Armut. Um den Menschen dort eine neue<br />
Perspektive zu geben, schlägt er der Regierung eine industrielle<br />
Uhrenfertigung vor. Mit finanzieller Unterstützung des<br />
königlich-sächsischen Ministeriums legt Lange dafür 1845 den<br />
Grundstein und macht das kleine Örtchen Glashütte zum Mittelpunkt<br />
deutscher Uhrmacherkunst.<br />
Von Anfang an folgt er einem hohen Qualitätsanspruch.<br />
Auch nach seinem Tod, als seine Söhne die Firma bereits weiterführen,<br />
hält man an der Handwerkstradition des Vaters und<br />
Firmengründers fest. Die von Ferdinand Lange eingeführten<br />
Komponenten, wie etwa die Dreiviertelplatine, sind auch heute<br />
noch feste Bestandteile der Lange-Uhren. Zu den klassischen<br />
Merkmalen kommen nach und nach immer mehr technische<br />
Erfindungen wie Großdatum oder der ewige Kalender<br />
hinzu. Der Betrieb floriert, trotz Erstem Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise.<br />
Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges<br />
beginnt schließlich Walter Lange, Ferdinands Urgroßenkel,<br />
seine Ausbildung zum Uhrmacher im väterlichen Werk, muss<br />
jedoch in den unruhigen Kriegszeiten mit ansehen, wie das<br />
Stammhaus zerbombt und der Familienbetrieb 1948 schließlich<br />
enteignet wird. Die Marke A. Lange & Söhne erlischt. Bis<br />
zum 7. Dezember 1990, an dem Walter Lange das Unternehmen<br />
wiederbelebt. Mittlerweile gehört A. Lange & Söhne zum<br />
Schweizer Luxusgüterkonzern Richemont.<br />
Wertarbeit braucht Zeit<br />
Auf den ersten Blick wirken die Manufakturräume wie klinische<br />
Labors: Die Räumlichkeiten sind hell, die Wände weiß,<br />
und große Glasfassaden lassen genügend Licht in die Zimmer.<br />
Die Uhrmacher sitzen an hohen Tischen, die bis zum Kinn reichen.<br />
Sie sind akkurat aneinandergereiht, alles wirkt fast ein<br />
wenig steril. Kein Wunder, dass sowohl die Arbeiter als auch<br />
Besucher ohne weißen Kittel die Räume nicht betreten dürfen<br />
– eben wie in einem Labor.<br />
Verteilt auf mehrere<br />
Etagen hantieren die Arbeiter<br />
fast stoisch an den<br />
Platinen, Rädchen, Rotoren,<br />
Spiralen, Schrauben<br />
und filigranen Zähnen<br />
mit vorsichtigen und<br />
zugleich routinierten Bewegungen.<br />
Die Herstellung<br />
einer mechanischen<br />
Uhr erstreckt sich über<br />
mehrere Etappen: von<br />
der Konstruktion über<br />
die Teilefertigung bis hin<br />
zur Montage. Wertarbeit<br />
erfordert eben noch Zeit<br />
und Geduld, das machen die vielen Fertigungsschritte<br />
allemal deutlich. Viel Geduld und eine<br />
ruhige Hand braucht auch Helmut Wagner. Er<br />
und seine Kollegen aus der Gravur versehen<br />
einzelne Komponenten der Uhrwerke, wie den<br />
Unruhkloben, einem Teil des Schwingsystems,<br />
in stundenlanger Feinarbeit mit filigranen Mustern.<br />
Warum sie Teile gravieren, wenn dies doch<br />
technisch keinerlei Auswirkung auf das Uhrwerk<br />
hat? Weil die Träger einer Lange-Uhr „Kenner<br />
und Sammler sind. Sie sind sich der Besonderheit<br />
der Uhren und der Werte, die darin stecken,<br />
bewusst. Und genau diese Feinheiten schätzen sie“, sagt Arndt<br />
Einhorn. Zudem ist es ein Lange-typisches Merkmal, das die<br />
Uhr zu etwas Einzigartigen, „zu einem Unikat“ macht. Mithilfe<br />
einer Mikroskop-ähnlichen Vorrichtung verziert Helmut<br />
Wagner per Hand den kleinen Kloben, frei von jeder Vorlage,<br />
mit kunstvollen Dessins, die einst schon die Taschenuhren<br />
schmückten. Ein Blick durch die Lupe beweist: Um auf diesem<br />
winzigen, nicht mal ein Zentimeter großen Kloben ein zartes<br />
Muster entstehen zu lassen, bedarf es besonders viel Fingerspitzengefühl,<br />
Zeit und Geduld. Ähnlich wie bei einer Hermès-<br />
Handtasche, die nach Fertigstellung mit der Signatur des jeweiligen<br />
Handwerkers versehen wird, lassen sich die Lange-Uhren<br />
anhand der Muster dem jeweiligen Graveur zuordnen. Denn<br />
„jeder von uns hat sein individuelles Werkzeug. Das pflegt er<br />
selber, das ist auf die Hand des Graveurs abgestimmt“, sagt<br />
Helmut Wagner.<br />
Nachdem nun die Einzelteile, graviert und geschliffen, ins<br />
Gehäuse montiert sind und die Uhr zum ersten Mal schlägt,<br />
wird sie nicht etwa zum Versand fertig gemacht, sondern wieder<br />
auseinandergebaut. Es folgt die Zweitmontage. In diesem<br />
zusätzlichen Arbeitsschritt wird jedes Uhrwerk nochmals in<br />
Hunderte von Teilen zerlegt, von eventuellen Makeln befreit,<br />
gereinigt, die vorher benutzen Arbeitsschrauben werden durch<br />
gebläute Originalschrauben ausgetauscht, exakt reguliert und<br />
anschließend in das Gehäuse eingebettet. Nach Walter Lange<br />
ein höchst aufwändiges Prozedere, mit „dem wir extrem präzise<br />
Ganggenauigkeit garantieren“.<br />
Bekenntnis zur Tradition<br />
Um diesen hohen Qualitätsanspruch zu gewährleisten, widmen<br />
sich rund 470 Arbeiter den mechanischen Kunstwerken<br />
fürs Handgelenk. Die Hälfte davon sind Uhrmacher, 70 von ihnen<br />
sind allein für die Veredelung der Einzelteile verantwortlich.<br />
Diese Detailtreue und das Festhalten an Tradition, ohne<br />
den Fortschritt dabei zu vernachlässigen, merkt man jeder Uhr<br />
an. So schlägt nicht nur in jedem Modell ein im eigenen Haus<br />
gefertigtes Uhrwerk, auch ist man stets bestrebt, mit der Zeit zu<br />
gehen und technische Neuerungen zu integrieren. Eine digitale<br />
Anzeige trotz mechanischem Werk ist nur eine der vielen Raffinessen<br />
bei A. Lange & Söhne.<br />
Und genau diese Verbindung aus Tradition und Moderne<br />
wissen die Kunden zu schätzen: präzise Funktionalität, zurückhaltendes<br />
Design sowie das, wofür diese Uhren stehen. Es ist<br />
„die Wertschätzung der Handarbeit auf höchstem Niveau“,<br />
sagt Walter Lange.<br />
Feinmotorik: Mit<br />
ruhiger Hand<br />
und gekonntem<br />
Blick fertigen<br />
die Uhrmacher<br />
pro Jahr nur<br />
wenige Einzelstücke<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
78<br />
79
Kleider, die<br />
Text und Fotos von Daniela Wilmer<br />
Geschichte machen<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
Sprechen wir von Vintage,<br />
meinen wir in den<br />
meis ten Fällen ein Erbstück,<br />
einen tollen Fund<br />
vom Flohmarkt oder alten<br />
Schmuck aus dem<br />
Second-Hand-Shop. Vintage<br />
steht für Individualität.<br />
Und man kann sich sicher<br />
sein, dass einem dieser<br />
Fund auf der Straße nicht ein<br />
zweites Mal begegnet.<br />
Noch wichtiger ist oft die<br />
Geschichte und somit<br />
der emotionale Wert, der<br />
hinter diesen Stücken<br />
steckt. Wir haben uns auf die<br />
Suche gemacht, um genau<br />
solche Liebesgeschichten und<br />
ihre Träger zu finden<br />
Shorts<br />
Vater, Mutter, Oma, Opa – Daniela<br />
Schaffarczyk weiß meistens gar<br />
nicht, wem die Sachen mal gehört<br />
haben, die sie tagtäglich trägt.<br />
Hauptsache, sie sind nicht neu<br />
gekauft und erzählen eine kleine<br />
Geschichte. Wie diese Shorts,<br />
die regelmäßig zum Streit zwischen<br />
Mutter und Vater führt, da beide<br />
behaupten, ehemaliger Besitzer gewesen<br />
zu sein. Um zu Hause keine<br />
Unruhe zu stiften, hört sich Daniela<br />
immer wieder gern beide Varianten<br />
der Hosen-Geschichte an. Die<br />
Strickjacke gehörte ihrem Opa, da<br />
sind sich wenigstens alle einig.<br />
Ring<br />
„Der Ring gehört dir, ich hab ihn<br />
nur zehn Jahre für dich aufbewahrt.“<br />
Mit diesen Worten überreichte Joana<br />
Schröders Tante ihrer Nichte das<br />
goldene Schmuckstück an ihrem<br />
18. Geburtstag. Mit acht Jahren fand<br />
Joana den Ring in Paris auf der<br />
Rue de Marseille, er passte ihr nicht,<br />
also schenkte sie ihn ihrer Tante.<br />
Dass dieses Fundstück einen hohen<br />
Goldanteil hat und mit einem echten<br />
Saphir verziert ist, stellt sich erst<br />
einige Jahre später heraus. Nun ist<br />
der Ring zurück in Joanas Besitz,<br />
ziert ihren Finger und erzählt<br />
eine Geschichte, an die sich Joana<br />
sehr gern erinnert.<br />
Lederjacke<br />
Björn Baumstark lebt in einer<br />
möblierten Wohnung in Berlin-<br />
Neukölln. Eigene Möbel oder<br />
andere materielle Gegenstände<br />
sind ihm nicht wichtig. Alle<br />
paar Monate zieht er in eine neue<br />
Behausung, im Gepäck nicht<br />
mehr als einen Laptop und ein<br />
paar Klamotten. Immer dabei ist<br />
seine rotbraune Lederjacke,<br />
ohne die er auch sonst nicht das<br />
Haus verlässt. Sie gehörte seinem<br />
Vater, der sie ebenfalls wie<br />
eine zweite Haut trug. Angeblich<br />
wurde Björn laut seinem Vater<br />
sogar auf der Jacke gezeugt.<br />
Hemd<br />
Was auf den ersten Blick wie das<br />
Innere einer Kirche wirkt, ist<br />
das zu Hause von David Roth.<br />
Ein großes Holzkreuz schmückt<br />
sein Wohnzimmer und passt<br />
hervorragend zu seiner Garderobe.<br />
David trägt das Totenhemd seines<br />
Großvaters. Es war sein Wunsch,<br />
dass der Enkel es nach seinem Tod<br />
bekommt. Ungewaschen, löchrig<br />
und in den Duft seines Großvaters<br />
gehüllt, gehört das Hemd zu<br />
einem seiner liebsten: Es erinnert<br />
David an seinen Opa und sieht<br />
auch noch gut aus.<br />
T-Shirt<br />
Ob Mauerpark, der Flohmarkt in<br />
Reinickendorf, Second-Hand-Läden<br />
oder Mamas Kleiderschrank –<br />
Coco Conradi liebt Vintage. Das<br />
gestreifte T-Shirt ist ein Fundstück<br />
aus einem stillgelegten Kraftfuttermischwerk<br />
in Fürstenberg.<br />
Hier durfte man bis vor Kurzem in<br />
liegengebliebenen Kleidungsstücken<br />
ehemaliger Arbeiter stöbern und<br />
alles mitnehmen, was gefällt.<br />
Für Coco die reinste Schatzsuche!<br />
Das T-Shirt durfte mit und<br />
gehört seitdem zu einem ihrer<br />
Lieblingsstücke.<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
80<br />
81
das gleiche<br />
ist nicht dasselbe<br />
Mode ist sehr zugänglich geworden.<br />
Aber hilft das, guten Stil zu etablieren?<br />
von Sina Linke<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
Elektronische Klänge ertönen, das Licht<br />
geht an und über den grünen Kunstrasen<br />
laufen Männer in perfekt geschnittenen<br />
karierten Anzügen, Westernhemden und<br />
mit Nieten besetzten Golftaschen über den<br />
Schultern. Die Prada Show für den Sommer<br />
2012 war ein voller Erfolg. Woher ich<br />
das weiß? Ich war dabei. Nicht in Mailand,<br />
aber beim Abendbrot via Livestream vor dem Laptop.<br />
Immer mehr Designer entscheiden sich dafür, ihre<br />
Entwürfe in Echtzeit über das Internet preiszugeben.<br />
Warum auch nicht, denn dank etlicher Modeblogs und<br />
Webmagazine wie Style.com sind die Bilder ohnehin<br />
schon zu sehen, bevor sich der Designer überhaupt vor<br />
seinem Publikum verbeugen konnte. Da zeigt man es<br />
doch lieber gleich selbst. Anschließend kommentieren<br />
junge Modebegeisterte rund um den Globus das Gesehene<br />
im Internet. Ob in Onlinemagazinen oder auf<br />
Mode- oder Streetstyle-Blogs, jeder darf und kann seine<br />
Meinung ins World Wide Web blasen. Dabei spielt es<br />
keine Rolle, ob man ein 15-jähriges Mädchen aus Chicago ist<br />
(Tavi Gevinson) oder die Modechefin der japanischen Vogue<br />
(Anna Dello Russo). Nie zuvor war die Mode so zugänglich.<br />
Ein einziger Mausklick reicht und man bekommt die wichtigsten<br />
Neuigkeiten und die Trends der kommenden Saison.<br />
Aber auch Menschen, die sich nicht für Jil Sander, Gucci und<br />
Prada interessieren, werden nahezu täglich mit High Fashion<br />
konfrontiert, ohne es überhaupt zu wissen. Ein kleiner Stadtbummel<br />
genügt. Denn Zara, Topshop, Mango und H&M haben<br />
in ihren Schaufenstern die neusten Looks aus Paris, Mailand<br />
und New York. Wie das geht? Ganz einfach: durch – sagen wir<br />
mal – Inspiration. Der spanische Modekonzern Zara geht dabei<br />
am auffälligsten vor. Die Trends werden lediglich massentauglich<br />
gemacht – aus Seide wird Polyester und eine transparente<br />
Hose wird blickdicht. Dann gehen die getarnten Designerstücke<br />
weltweit zu Spottpreisen tausendfach über die Ladentheken.<br />
Mode erreicht nicht länger nur einen kleinen, elitären<br />
Kreis – aufgrund von großen Modeketten sind es Millionen<br />
Menschen weltweit geworden. Jeder, der in den<br />
letzten Wochen an einem Schaufenster von Mango oder<br />
Topshop vorbeigelaufen ist, kann sagen, dass man diesen<br />
Sommer viel Farbe trägt. Dass dafür Designhäuser<br />
wie Jil Sander oder Gucci verantwortlich sind, ist dabei<br />
allerdings kaum jemandem bewusst. Schauspieler, Popstars<br />
und It-Girls sind die Multiplikatoren. Durch Zeitschriftenformate<br />
wie InStyle oder inTouch ist es ganz<br />
einfach geworden, deren Stil zu kopieren. Die Outfits<br />
der Stars werden bis ins kleinste Detail analysiert, damit<br />
die Leserschaft die teuren Designerlooks mit günstigen<br />
Alternativen von Zara und Co. nachstylen kann. Get the<br />
look – so steigern die Bekleidungsketten ihre Umsätze.<br />
Aber im Wettstreit um steigende Verkaufszahlen<br />
kann man auch einen anderen Weg wählen. Anstatt<br />
zu imitieren, schmückt man sich bei H&M lieber mit<br />
dem Namen des Designers. Kollektionen von u.a. Karl<br />
Lagerfeld, Stella McCartney, Alber Elbaz und Roberto<br />
Cavalli sorgen jährlich für einen Ansturm auf die Bekleidungskette.<br />
Die Grenzen zwischen Massen- und Designermode verschwimmen.<br />
Denn es wird nicht kopiert, es wird vom Designer<br />
direkt dafür entworfen. Wie von Donatella Versace, deren Visionen<br />
für die breite Öffentlichkeit ab dem 17. November 2011<br />
in ausgewählten H&M-Filialen hängen werden. Versace-Fans<br />
und solche, die es lieben, ein Luxuslabel zu tragen, werden an<br />
diesem Tag wieder für Rekordumsätze sorgen. Und die Designer?<br />
Die steigern ihren Bekanntheitsgrad.<br />
Ein Kleid von Lanvin for H&M im Schrank und bei einer<br />
Modenschau bequem von der Couch aus dabei sein – die<br />
Mode hat sich gewandelt. Sie ist offener und zugänglicher<br />
geworden. Eine Entwicklung, von der vor allem der gute<br />
Geschmack profitieren könnte. Ob wir dadurch in Zukunft<br />
weniger Modesünden auf Deutschlands Straßen zu sehen bekommen?<br />
Hoffentlich!<br />
Fotocredit<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong><br />
82<br />
83
IHRE ZUKUNFT?<br />
MODE!<br />
Studiengänge an der AMD Berlin:<br />
Mode- und Designmanagement (B.A.)<br />
Mode Design (B.A.)<br />
Ausbildungsgang an der AMD Berlin:<br />
Modejournalismus / Medienkommunikation<br />
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WINTERSEMESTER 2011/12!<br />
Ausführliche Informationen im Netz:<br />
www.amdnet.de und www.berlin.amdmag.de<br />
Werk VI . <strong>Metamorphose</strong>