MIXTAPE
Ausgabe 2013
Ausgabe 2013
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<strong>MIXTAPE</strong><br />
Ein Studienprojekt der AMD Akademie Mode & Design Berlin, Lehrredaktion MM5, Ausgabe No. 3
*bezogen auf den UVP<br />
Editorial<br />
MARKEN ZUM VERLIEBEN<br />
PREISE ZUM ANBETEN<br />
So viele Topmarken unter einem Dach. Für Sie,<br />
für Ihn, für Kinder, für Zuhause. Immer bis zu<br />
60% günstiger* und jeden Tag neu. Denn unser<br />
Sortiment wechselt täglich.<br />
W<br />
ir alle kennen diesen Moment.<br />
Man hört dieses eine Lied wieder<br />
– und es katapultiert einen zurück<br />
in die Zeit, als es zum Soundtrack<br />
für einen besonderen Augenblick<br />
wurde. Wir leben die Situation<br />
noch einmal. Riechen, schmecken<br />
und fühlen sie so intensiv, als wäre<br />
erst ein Herzschlag vergangen.<br />
Musik ist ein Katalysator für unsere Gefühle, sie vereint<br />
Emotion, Fortschritt, Kunst und Bewegung.<br />
Die dritte Ausgabe von WERK VI fasst diese universelle<br />
Kultur auf, in der sich zahlreiche spannende Facetten verbergen.<br />
Der französische Schriftsteller Victor Hugo sagte<br />
einmal, Musik drücke aus, was nicht in Worte gefasst werden<br />
kann. Wir haben uns dieser Herausforderung gestellt<br />
und uns gefragt: Wie sieht es aus, wenn eine Generation<br />
durch exzessives Feiern abschaltet, wie fühlt es sich an, mit<br />
der Diskotheken-Legende und Potenzwaffe Rolf Eden um<br />
die Häuser zu ziehen, wie klingt es, wenn Musik zur Therapiemethode<br />
wird, was passiert, wenn die Liebe eines Fans<br />
dessen gesamtes Leben einnimmt und vor allem, welche<br />
Rolle spielt die Musik in der Mode?<br />
Aus diesen und noch vielen weiteren Geschichten ist ein<br />
<strong>MIXTAPE</strong> aus Interviews, Reportagen, Dokumentationen<br />
und Portraits aus den unterschiedlichsten Stimmungen<br />
und Themenbereichen entstanden. Die vier Modestrecken<br />
befassen sich mit aktuellen Trends, Klassikern und<br />
Haute-Couture-Kreationen und zeigen in verschiedenen<br />
Ansätzen, wie sich Mode mit Musik verbinden lässt.<br />
3<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Wir wünschen Ihnen viel Spaß mit dieser Ausgabe.<br />
Ihre WERK VI-Redaktion<br />
Werden Sie Fan auf<br />
facebook.com/tkmaxx.de<br />
DAMEN HERREN KINDER SCHUHE ACCESSOIRES HOME
Inhalt<br />
14<br />
86<br />
Impressum<br />
4<br />
Werk VI . Mixtape<br />
3<br />
5<br />
6<br />
10<br />
14<br />
20<br />
26<br />
36<br />
40<br />
44<br />
52<br />
56<br />
Editorial<br />
Impressum<br />
Intro<br />
Champagner für die Damen<br />
Durch die Nacht mit Rolf Eden<br />
Heavy-Metal-Seefahrt<br />
Das Wacken-Festival<br />
sticht in See<br />
Lifestyle Of Rebellion<br />
Wie man mit Metallica<br />
Walzer tanzt<br />
Der Familien-Clan<br />
Eine Fan-Kultur auf Abwegen<br />
Stadtgeschichte<br />
Der Sound in Berlin der<br />
70er- und 80er-Jahre<br />
J’adore Hardcore<br />
Der wahrscheinlich größte<br />
Scooter-Fan der Welt<br />
Us And Them<br />
Backstage mit der Band<br />
8-Bit Chess Club<br />
Zwei Künste, eine Welt<br />
Mode und Musik verbindet<br />
Entweder du kommst mit<br />
Power, oder du gehst besser<br />
wieder nach Hause<br />
An der Tür mit Smiley Baldwin<br />
62<br />
68<br />
74<br />
78<br />
86<br />
96<br />
98<br />
102<br />
106<br />
Die zweite Chance<br />
Mit Rap zurück ins Leben<br />
Dancing On My Own<br />
Körperbeherrschung mit Stil<br />
Kostümtraum und<br />
Theaterzauber<br />
Dorothea Katzer über<br />
ihre Arbeit als Kostümdirektorin<br />
an<br />
der Deutschen Oper<br />
Der Klang macht die Kunst<br />
Ein Interview mit dem Künstler<br />
Gerriet K. Sharma<br />
Drop It Like It’s Hot<br />
HipHop-Style Deluxe auf<br />
den Straßen Berlins<br />
Mein erstes Mal<br />
Musikgeschichten<br />
Zwischen Himmel und Erde<br />
Der Roofer Marat Dupri<br />
in schwindelerregender<br />
Höhe<br />
Aufstand der Dandys<br />
Die Rüpel-Blogger von<br />
Dandy Diary<br />
Kinder der Nacht<br />
Bilder einer Generation<br />
Daniel Cronin, Friederike Koenig, Michelle Gornick, Matthias Wehofsky, Patrick Wüstner, gksh<br />
74<br />
44<br />
26<br />
78<br />
Verantwortliche Dozenten<br />
Olga Blumhardt (Magazinentwicklung,<br />
Text, V.i.S.d.P.)<br />
Andine Müller (Kreativ Direktion)<br />
Martin Schmieder (Marketing & PR)<br />
Florian Sievers (Text)<br />
Redaktion, Kurs MM5<br />
Julia Balandynowicz, Carmen<br />
Benker, Alexandra Brechlin,<br />
Daliah Hoffmann, Virginie<br />
Henzen, Greta Kehl-Detemple,<br />
Friederike Koenig, Annika Krüger,<br />
Valentine Linke, Tina Meyer,<br />
Jeannette Petersmann, Pina Pipprich,<br />
Elena Schröder, Inga Schwarze,<br />
Sarah Thürsam, Annika Zapp<br />
Chef vom Dienst<br />
Pina Pipprich<br />
Schlussredaktion<br />
Heinrich Dubel<br />
Artwork Tape<br />
Lena Petersen<br />
Bildbearbeitung<br />
Markus Dreyer<br />
Fotos<br />
Carina Adam, Hannes Albert,<br />
Verena Brüning, Daniel Cronin,<br />
Marat Dupri, Markus Dreyer,<br />
Philippe Gerlach, Michelle<br />
Gornick, Mark Henderson,<br />
Friederike Koenig, Stefan Korte,<br />
Juliette Mainx, Arturo Martinez<br />
Steele, Jessica Prautzsch,<br />
Sarah Sondermann, Patrick<br />
Wüstner, Annika Zapp<br />
Anzeigen<br />
Julia Balandynowicz,<br />
Friederike Koenig,<br />
Sarah Thürsam<br />
PR<br />
Carmen Benker, Daliah Hoffmann,<br />
Valentine Linke, Jeannette<br />
Petersmann, Pina Pipprich, Inga<br />
Schwarze, Annika Zapp<br />
Event<br />
Alexandra Brechlin, Virginie Henzen,<br />
Greta Kehl-Detemple, Annika<br />
Krüger, Tina Meyer, Elena Schröder<br />
Druck<br />
Brandenburgische<br />
Universitätsdruckerei und<br />
Verlagsgesellschaft Potsdam mbH<br />
Karl-Liebknecht-Straße 24-25<br />
14476 Potsdam<br />
www.bud-potsdam.de<br />
Redaktionsanschrift<br />
AMD Akademie Mode & Design<br />
Franklinstraße 10<br />
10587 Berlin<br />
Tel.: 030 330 99 76 0<br />
olga.blumhardt@amdnet.de<br />
www.werk6-magazin.de<br />
WERK VI ist ein Studienprojekt<br />
des 6. Semesters im Ausbildungsgang<br />
Modejournalismus/Medienkommunikation<br />
an der AMD<br />
Akademie Mode & Design Berlin.<br />
WERK VI erscheint jährlich<br />
und liegt an ausgewählten Orten<br />
in Berlin kostenfrei aus.<br />
Das Titelbild wurde von<br />
Matthias Wehofsky fotografiert.<br />
Model: Juni/Seeds<br />
Juni trägt Pullover und<br />
Miederhose, gesehen bei TK Maxx.<br />
Kette von by Malene Birger.<br />
Ohrringe: Stylists own<br />
Wir danken allen, die WERK VI<br />
möglich gemacht haben.<br />
5<br />
Werk VI . Mixtape
Play<br />
DrauSSen im Dunkel<br />
Weitermachen nach der Mode<br />
Hörprobe<br />
Showstudio.com ist eine preisgekrönte<br />
Mode-Webseite, die der<br />
britische Starfotograf Nick Knight<br />
im November 2000 gründete.<br />
Neben experimentellen Modefilmen,<br />
Interviews mit interessanten Leuten<br />
aus der Branche und dem Neuesten<br />
vom Laufsteg gibt es hier die Rubrik<br />
Fashion Mix. Dafür stellen etablierte<br />
Designer, Models, Journalisten<br />
und Fotografen jede Woche ihre<br />
aktuellen persönlichen Top-10-Hits<br />
zum Hören auf die Seite. Unter ihnen<br />
zum Beispiel Matthew Williamson,<br />
Toni Garrn, Phillip Treacy, Rick<br />
Owens oder Carine Roitfeld. Großzügig<br />
teilen sie mit uns den<br />
aktuellen Soundtrack ihres Lebens.<br />
showstudio.com/project/fashion_mix<br />
„Mein herz schlägt höher“<br />
Katrin Erichsen (li.) und Aleksandra Skwarc sind die Gründerinnen<br />
von Musique Couture, einer Berliner Agentur, die passende Musik für<br />
Fashion Shows, Modefilme und Firmen-Events liefert. Ein Interview<br />
über die Schnittstelle von Musik und Mode.<br />
Woher kommt eure Liebe zur Musik?<br />
Aleks: Mein Herz brannte einfach schon<br />
immer für Musik. Mein Vater war Toningenieur<br />
und meine Eltern haben mich in<br />
dem Bereich sehr gefördert. Ich hab als Kind<br />
lange Violine gespielt und war auf einem<br />
Musikgymnasium. Musik zieht sich wie ein<br />
roter Faden durch mein ganzes Leben. Wenn<br />
es um Musik geht, war ich mir immer sicher.<br />
Katrin: Bei mir war das ähnlich: Meine<br />
ganze Familie war sehr musikaffin, da habe<br />
ich total viel mitgekriegt. Schon mit zehn<br />
Jahren habe ich angefangen, Platten zu<br />
kaufen und Mixtapes aufzunehmen, wenn<br />
am Sonntag die Lieblingssendung im Radio<br />
lief. Andere Kinder hatten andere Hobbys.<br />
Mein Lebensmittelpunkt war Musik.<br />
Was hat Mode mit Musik gemeinsam?<br />
Aleks: Mode und Musik sind beides<br />
kreatives Schaffen, ein Lebensgefühl: Es<br />
ist beides Kunst. Ein Modedesigner, der<br />
sein eigenes Modelabel hat, ist da mit<br />
ganzem Herzen dabei. Genau wie ein Musiker.<br />
Oder ein Regisseur. Zu diesen<br />
kreativen Feldern gehört ganz viel dazu:<br />
Film, Musik, Mode, Kunst oder Literatur.<br />
Wieso passt Musik so gut zu Mode?<br />
Katrin: Jeder Designer, der eine neue<br />
Kollektion entwirft, hat eine bestimmte<br />
Vision im Kopf – zu der auch Musik gehört.<br />
Für uns ist es jedes Mal unglaublich aufregend,<br />
die Musik für eine Fashionshow<br />
auszuwählen. Das ist unser Herzstück. Es<br />
macht Spaß, eng mit einem Designer zusammenzuarbeiten.<br />
Ideen abzugleichen, ein<br />
passendes Musikkonzept zu entwickeln, bis<br />
die Kollektion ihren ganz eigenen Sound hat.<br />
Profitiert Mode mehr von Musik, oder<br />
umgekehrt?<br />
Katrin: „Profitieren“.<br />
Das kann man so nicht sagen.<br />
Aleks: Ich glaube, das ist eine Win-Win-<br />
Situation. Zum Beispiel bei Beth Dito und<br />
Karl Lagerfeld: Die Künstlerin bekommt<br />
durch ihn wahnsinnig viel Aufmerksamkeit<br />
in der Presse, weil Lagerfeld sie zu seiner<br />
Muse gekrönt hat. Und auf der anderen Seite<br />
gewinnt Chanel, weil die extreme Persönlichkeit<br />
von Beth Dito, die sehr wild und rau<br />
ist, auf das Label abfärbt. Bei Mode und Musik<br />
geht es um eine gegenseitige Befruchtung.<br />
Was berührt Menschen mehr, Musik oder Mode?<br />
Aleks: Hm. Das ist sehr individuell.<br />
Aber trotzdem antworte ich „Musik“. Musik<br />
spricht die Sinne ganz anders an. Musik<br />
geht direkt ins Ohr.<br />
Katrin: Genau. Der eine ist eben mode- und<br />
der andere musikaffiner. Oder beides. Mein<br />
Herz schlägt höher, wenn ich Musik höre, als<br />
wenn ich Mode ansehen. Es sei denn, ich sehe<br />
etwas von Yves Saint Laurent aus den 70ern.<br />
– Valentine Linke<br />
Smells<br />
Like<br />
Music<br />
Spirit<br />
Wie stark Musikkultur<br />
Mode beeinflusst,<br />
zeigen viele Designer<br />
auf dem Laufsteg<br />
für Herbst/Winter 2013.<br />
Fotos: Presse<br />
Im Museum Angewandter<br />
Kunst in Frankfurt am Main<br />
können Besucher noch bis<br />
Mitte September eine Antwort<br />
auf die anscheinend unlösbare<br />
Frage suchen, was Mode in<br />
der heutigen Zeit bedeutet. Die<br />
aktuelle Ausstellung Draußen<br />
im Dunkel. Weitermachen nach<br />
der Mode – kuratiert von u.a.<br />
Mahret Kupka, die an der AMD<br />
Berlin Modetheorie lehrt, bietet<br />
einen Einblick in die ungewisse<br />
und teils düstere Welt der<br />
Anti-Mode. Seit den 90-Jahren<br />
steht der Begriff Anti-Mode für<br />
die Entwürfe von Designern<br />
wie Martin Margiela, Helmut<br />
Lang, Yohji Yamamoto oder<br />
Alexander McQueen. Sie<br />
etablierten den Heroin-Chic,<br />
Minimalismus und Dekonstruktivismus<br />
und prägten<br />
den bis dato schrillen und<br />
bunten Kosmos der Mode.<br />
Schon immer fungiert unsere<br />
Barbara I Congini<br />
Collection 18,<br />
H/W 2013/14<br />
Kleidung als Spiegel der<br />
Gesellschaft und als Reflektion<br />
für Stimmung, gesellschaftliche<br />
Veränderungen und<br />
subkulturelle Entwicklungen.<br />
Doch was macht die Mode<br />
der Gegenwart aus und für was<br />
steht sie? Um das zu verstehen,<br />
wird der Besucher in Draußen<br />
im Dunkel mit Hilfe von<br />
multimedialen Installationen<br />
auf eine Reise geschickt und wird<br />
dabei von Werken und Arbeiten<br />
der teilnehmenden Designer<br />
begleitet. Neben Kleidern von<br />
Augustin Teboul und Ann<br />
Demeulemeester ist ebenfalls<br />
Mode von Alexander McQueen,<br />
Rodarte und Leandro Cano ausgestellt.<br />
- Daliah Hoffmann<br />
Museum Angewandte Kunst,<br />
Schaumainkai 17,<br />
Frankfurt am Main<br />
Bis 15. September 2013<br />
HipHop Punk Techno Grunge Gothic Rock<br />
Lanvin Jeremy Scott Mugler Saint Laurent<br />
Paris<br />
Versace<br />
1 Piu 1 Uguale 3<br />
7<br />
Werk VI . Mixtape
8 tige Mischung: „Wir wollen unbekannten<br />
Noch nie waren schwullesbische Rapper in Gay-Rap-Richtung, das bedeutet aber Frauenkörper in knappen Bikinis räkeln<br />
9<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Bekleidung,<br />
Musik, Kunst<br />
Um einen Shop am Berliner Hackeschen<br />
Markt zu eröffnen, der zwischen den vielen<br />
minimalistischen Concept Stores auffällt,<br />
braucht man vor allem Mut und eine so noch<br />
nicht da gewesene Idee – beides hatten<br />
Bodo Volke und Stéphane Argillet für ihren<br />
Laden Uni+Form. Ihr Konzept, Mode mit<br />
Musik zu verbinden, sticht heraus. „Wir<br />
wollten hier unbedingt Farbe reinbringen,<br />
Berlin ist uns einfach nicht bunt genug“, sagt<br />
Bodo Volke. Von außen ist das zwar nicht<br />
unbedingt sichtbar, doch im Ladeninneren<br />
ist eine Farbbombe geplatzt. Verteilt in<br />
einem Verkaufsbereich und einer Ausstellungsfläche,<br />
reihen sich die Bügel mit etablierten<br />
Designer- und Newcomer-Stücken an<br />
Gitterrosten vor Backsteinwänden. Insgesamt<br />
15 Designer sind im Shop vertreten.<br />
Die Besitzer achten vor allem auf die rich-<br />
Designern eine Chance geben, deshalb<br />
kommen immer wieder neue, kleinere Labels<br />
zu den schon etablierten dazu“, sagt Volke.<br />
Wichtig ist, dass die Kombination von<br />
Musik plus Mode stimmt. Momentan finden<br />
sich neben Bernard Willhelm, Roberto<br />
Piquera und Anntian, Labels wie Superated,<br />
Bombe Surprise und Mundi. Uni+Form<br />
vertreibt auch Musiklabels wie Minimal<br />
Wave Records, Enfant Terrible, La Forme<br />
Lente, Tsunami Addiction und Weird Records.<br />
Gegenwärtig zeigt der französische<br />
Designer Sebastien Saraiva sein Label Un<br />
Garcon Octobre. A Knitted History of Music<br />
umfasst Pullover, Hoodies, Blazer und<br />
Lederjacken, die er mit aus dem Gedächtnis<br />
nachgestrickten Plattencovern von u.a. Klaus<br />
Nomi, Sonic Youth oder Michael Jackson<br />
veredelt. Die exzentrische Pariserin Vava<br />
Dudu entwarf schon Accessoires für Jean<br />
Paul Gaultier und stylte Lady Gaga, ist DJ<br />
und Musikerin. Die Songtexte ihrer Band<br />
La Chatte – bei der auch Storebesitzer<br />
Stéphane Argillet alias Stereovoid Mitglied ist<br />
– schreibt sie mit Edding auf Bomberjacken,<br />
Trenchcoats oder Lederjacken, so dass<br />
jedes Stück ein Unikat ist. – Pina Pipprich<br />
Uni+Form, Bekleidungsgeschäft<br />
Musikgeschäft/Kunstgalerie<br />
Linienstraße 77, Berlin-Mitte<br />
Der Designer Sebastien Saraiva<br />
strickt für seine Kollektion A<br />
Knitted History of Music aus dem<br />
Gedächtnis Plattencover von<br />
u.a. Sonic Youth oder Duft Punk<br />
nach. Seine Kollegin Vava Dudu<br />
schreibt ihre Songtexte auf<br />
Textilien – aber auch Vinyl kann<br />
man bei Uni+Form kaufen<br />
Fotos: Annika zapp<br />
QUEER PIONIEERS<br />
HipHop: Ein Genre, das traditionell als übermaskulin und homophob gilt,<br />
bekommt dank Künstlern wie Le1f, Zebra Katz und Mykki Blanco einen<br />
neuen Fokus: die Homosexualität. Die US-amerikanischen Musikkritiker<br />
gaben dieser neuen Stilrichtung bereits einen eigenen Namen: Queer Rap.<br />
Und da fängt das Problem schon an.<br />
L<br />
e1f, Zebra Katz und<br />
Mykki Blanco sind<br />
homo-, bi- oder<br />
transsexuell und rappen<br />
so offen in ihren<br />
Liedern darüber, als<br />
wäre dies schon immer möglich gewesen.<br />
den Massenmedien so präsent – das kommt<br />
leider daher, dass die Presse sie als schwule<br />
Rapper feiert und nicht deshalb, weil sie<br />
begabte Künstler sind, die eine Revolution<br />
im homophoben HipHop auslösen.<br />
Nachdem sich erst Frauen in der roughen<br />
Welt des testosterongeladenen HipHop<br />
emanzipieren mussten, sich vom schmucken<br />
Beiwerk und Statussymbol der Männer<br />
einen Platz am Mikro erkämpften,<br />
sind nun Frauen und Männer an der Reihe,<br />
die wegen ihrer sexuellen Orientierung<br />
in der Szene gegen Spott und Ausgrenzung<br />
kämpfen müssen. Der Erfolg gibt ihnen<br />
recht. Unter den „echten“ Gangster-<br />
Rappern macht sich stilles Entsetzen breit.<br />
Dabei entstand HipHop doch eigentlich<br />
als Ausdrucksmittel gegen Unterdrückung<br />
von Minderheiten. „Keep it real“ ist die<br />
Essenz einer Musikkultur, die offenbar ihre<br />
eigenen Credos vergessen und gegen Bling-<br />
Bling und Money eingetauscht hat.<br />
Angefangen hat die Queer-Bewegung<br />
im HipHop vergangenes Jahr mit dem<br />
öffentlichen Outing von Franc Ocean,<br />
dem R’n’B-Sänger aus dem kalifornischen<br />
Odd-Future-Clan um Tyler The Creator.<br />
Künstler aus der HipHop-Branche wie<br />
Jay-Z lobten Ocean für seinen Mut. Dabei<br />
nahm der das Wort „gay“ nie in den Mund,<br />
er sprach ausschließlich von „Liebe“.<br />
Gleichzeitig wurde das Subgenre Queer<br />
Rap immer stärker publik, obwohl es<br />
schon viel länger im Untergrund existierte.<br />
Aus New Yorker Clubs fand es seinen<br />
Weg an die Öffentlichkeit. Blogger und<br />
die liberale Musikpresse stürzen sich<br />
regelrecht auf diese neu aufkommende<br />
auch, dass vor allem das gay und nicht der<br />
Rap im Vordergrund steht. Denn je öfter<br />
die Bezeichnung schwullesbisch zusammen<br />
mit HipHop fällt, desto weltoffener<br />
und aufgeschlossener fühlen sich die<br />
Konsumenten. Trotzdem der alteingesessene<br />
HipHop noch die Übermacht hält<br />
und wir hier nur von einer ausgewählten<br />
Randerscheinung reden, werden durch<br />
den Hype der Presse zumindest längst<br />
fällige Umdenkprozesse – auch bei Konsumenten<br />
– in Bewegung gesetzt. Immerhin.<br />
Das beste Beispiel für Künstler, die sich<br />
schon einen Namen in der Szene gemacht<br />
haben, ist Ojay Morgan alias Zebra Katz.<br />
Sein Jahre alter Song “Ima Read” wurde<br />
erst durch die Fashionshow des Modedesigners<br />
Rick Owens 2012 zum Hit und<br />
er zum Everybodys Darling der Pariser<br />
Modeszene. Der Song wurde unzählige<br />
Male geremixt. Auf der Bühne präsentiert<br />
Zebra Katz ein Posenwettstreit, der an<br />
das Voguing der 80er angelehnt ist.<br />
Doch Künstler wie der Harlemer Michael<br />
Quattlebaum Jr. alias Mykki Blanco wollen<br />
nicht auf ihre Sexualität reduziert werden,<br />
obwohl die Presse sie damit groß rausbringt.<br />
Blanco, der erste transsexuelle Musiker<br />
in der HipHop-Szene, beruft sich statt<br />
auf die Revolution lieber auf den dadurch<br />
entstandenen Glamour des HipHop. Nicht<br />
Mykki Blanco bei seinem<br />
Videodreh zu „Kingpinning“.<br />
Foto: Philippe Gerlach<br />
sich in seinen HipHop-Videos, sondern er<br />
selbst. Blanco erscheint auf der Bühne<br />
so, wie er sich in dem Moment am wohlsten<br />
fühlt: mal als Stereotyp eines harten<br />
Rappers, mal als halbnackter Knabe<br />
in Öl auf einem Männerschoß jauchzend<br />
oder als aufgesexte Frau im knappen<br />
Minirock und mit blonder Perücke.<br />
Auch die Musik hat sich verändert, statt<br />
auf dumpfe HipHop-Beats zu reimen,<br />
untermauert Blanco seinen aggressiven<br />
Rapstil lieber mit einer Mischung aus<br />
hartem House, Crunk, Dubstep und<br />
Hardstyle. Seine grenzüberschreitenden,<br />
unerschrockenen und oft dreisten Texte<br />
handeln nicht nur von Money, Hoes<br />
und Fame, sondern sind eine Mischung<br />
aus eben diesem genannten Braggadocio-Rapstil<br />
und dem Leben einer Drag-<br />
Queen. Diese Stilrichtung verbindet klassischen<br />
HipHop mit bis dato nie berappten<br />
Begehren. Khalif Diouf alias Le1f bezeichnet<br />
sich dazu passend als „Gayngster“.<br />
So verschieden die Stile der HipHop-Acts<br />
auch sind, sie alle werden dank ihrer<br />
offenen, homosexuellen Orientierung über<br />
einen Kamm geschoren. Gerade deshalb<br />
wird es Zeit sich zurückzubesinnen: „Keep<br />
it rea!“ Denn diese Musikerinnen und<br />
Musiker sollten allein für ihre Authentizität<br />
und ihr Talent gefeiert werden.<br />
– Pina Pipprich<br />
Werk VI . Mixtape
„Champagner<br />
für die Damen“<br />
Berliner Diskotheken-Legende, galanter Kavalier und ewiger<br />
Schwerenöter. Rolf Eden, Deutschlands letzter Playboy,<br />
erzählt bei einer nächtlichen Kneipentour, wie er für mehr<br />
10<br />
als ein halbes Jahrhundert Berlin unsicher gemacht hat.<br />
11<br />
Werk VI . Mixtape<br />
von Julia Balandynowicz & Sarah Thürsam<br />
fotos: Markus Dreyer<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Auf der Bühne ist<br />
Entertainer Rolf<br />
Eden in seinem<br />
Element: 83 Jahre<br />
pure Energie<br />
L<br />
eise Saxophonklänge, ein runder<br />
Holztisch mit weißem Leinentuch<br />
und ein Mann mit halblangen<br />
blonden Haaren, der mit den Fingern<br />
im Takt der Musik klopft. Es<br />
ist 22 Uhr in Berlin-Wilmersdorf.<br />
Vor der urigen Kneipe Die kleine<br />
Weltlaterne nippt Rolf Eden unter<br />
einem sternenklaren Himmel an seinem Wasserglas. Mit<br />
83 Jahren ist er perfekt zurechtgemacht: Die Haare zurück<br />
gekämmt, optimal sitzender blauer Anzug, gestreiftes<br />
Hemd, passendes Einstecktuch und manikürte Nägel.<br />
Fast jeden Donnerstag besucht Eden das Lokal. Wegen<br />
der Livemusik, die nirgendwo in Berlin besser ist, sagt er.<br />
Das Durchschnittsalter liegt hier über 60 und die Stimmung<br />
ist sehr ausgelassen.<br />
„Ich liebe alles, was eine schöne Melodie und schöne Texte<br />
hat. Am besten gefallen mir Lieder über die Liebe.“ Seine<br />
blauen Augen sind trüb und glasig, fangen aber urplötzlich<br />
an zu leuchten, als er tief Luft holt und das amerikanische<br />
Kinderlied „You Are My Sunshine“ anstimmt. Seine Mundwinkel<br />
zaubern ein so ausdrucksstarkes Lachen hervor,<br />
dass jeden um ihn herum ergreift. Eden schwärmt weiter<br />
von der alten Jazzmusik. Erroll Garner oder Benny Goodman<br />
gehören zu seinen Lieblingsmusikern. Während der
12<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Seit Anbeginn<br />
seiner Playboy-<br />
Karriere fährt<br />
Eden Rolls-Royce<br />
Musikplauderei, verfällt er im Minutentakt ins Singen und<br />
stimmt den Refrain von Liedern wie „Baby Baby Balla Balla“<br />
oder „Aber schön muss sie sein“ an. Oft steht Rolf Eden in<br />
der Kleinen Weltlaterne selbst auf der Bühne und gibt diese<br />
Lieder zum Besten.<br />
Rolf Eden wurde in Deutschland durch seine Berliner Diskotheken<br />
berühmt und nach etlichen Liebeleien zum Playboy<br />
ernannt. Heute investiert er in Immobilien und pflegt<br />
sein Image als Frauenheld. 800 Mietwohnungen besitzt er im<br />
Westen der Stadt. Auch im Osten Berlins hat er in Häuser<br />
investiert. „Die Leute zahlen dafür, dass sie in meinen Wohnungen<br />
schlafen dürfen. Süß oder?“, sagt Eden gerührt.<br />
Gebürtig heißt er Rolf Sigmund Sostheim und ist jüdischer<br />
Abstammung. 1933, als er drei Jahre alt ist, flüchtet<br />
seine Familie von Berlin nach Palästina. Eden kämpft mit<br />
18 Jahren im israelischen Unabhängigkeitskrieg. Später<br />
geht er nach Paris und schlägt sich als Musiker durch. Als<br />
er in der Zeitung liest, dass jeder gebürtige Berliner 6.000<br />
DM erhält, wenn er wieder in die Stadt kommt, kehrt Eden<br />
zurück. Mit Erspartem und der Prämie eröffnet er seinen<br />
„Alle waren beim Eden.<br />
Die Stones, die Beatles. Alle“<br />
ersten Club, das Old Eden (zuerst Eden-Salon genannt).<br />
Mit seinem Geschäftssinn prägt er das Berliner Nachtleben<br />
der 50er- und 60er-Jahre. Er lässt Frauen in riesigen Champagnergläsern<br />
baden und entkleidet seine weiblichen DJs.<br />
Die Eskapaden in seinen Clubs machen ihn berühmt und<br />
die Presse feiert ihn als „Deutschlands Playboy Number<br />
One“. Nach mehr als 30 Jahren Prunk und Party schließt<br />
er 2002 seinen letzten Club, das Big Eden am Kurfürstendamm.<br />
Insgesamt hatte Eden fünf Diskotheken: das Old<br />
Eden, das New Eden, den Eden Playboy Club, das Eden<br />
Kabarett und zuletzt das Big Eden. „Das Old Eden, mein<br />
erstes Lokal, ist immer mein Lieblingsclub geblieben.“ Alle<br />
Lokale lagen in der Nähe des Ku’damms. Um die rund 250<br />
Mitarbeiter zu kontrollieren, fuhr der Partykönig mit seinem<br />
Chauffeur von Club zu Club. „Alle waren beim Eden.<br />
Die Stones, die Beatles. Alle.“ Nach wilden Partynächten<br />
haben die Rolling Stones ihn noch Jahre später zu all ihren<br />
Konzerten in Berlin eingeladen, sagt er. Für die frühen<br />
60er-Jahre waren diese Diskotheken eine Sensation – mit<br />
Pool, Telefonen auf den Tischen und nackten Frauen. Inspiration<br />
holte sich Rolf Eden auf seinen Reisen. So erinnert<br />
er sich an New Yorker Nächte im Studio 54 mit dem Playboy-Gründer<br />
Hugh Hefner: „Die hatten den DJ über dem<br />
Publikum schweben. Das hab ich dann auch gemacht, nur<br />
mit einer Dame, die oben-ohne aufgelegt hat.“ Auch privat<br />
ließ es Eden krachen. Mit sieben Frauen zeugte der Schwerenöter<br />
seine sieben Kinder. Seine Tochter Irit ist heute 64<br />
Jahre alt. Sein jüngster Sohn Kai ist 1997 geboren.<br />
Ein Rosenverkäufer kommt an den Tisch in der Kleinen<br />
Weltlaterne. Rolf Eden begrüßt ihn vertraut. Er zückt seine<br />
Geldklammer aus Sterlingsilber aus der Seitentasche seines<br />
Sakkos und gibt dem Verkäufer einen Zwanziger. „Madame,<br />
suchen Sie sich bitte eine aus“, raunt er und trinkt einen<br />
Schluck Wasser, ohne seinen Blick abzuwenden. Er ist immer<br />
noch ein Casanova, wie er im Buche steht. Ein Funkensprüher.<br />
Aus irgendeinem Grund ist man angetan von ihm,<br />
trotz der 60 Jahre Altersunterschied. „Ich bin jede Sekunde<br />
happy“, sagt er. Und genau das kommt bei seinem Gegenüber<br />
auch an. Er begeistert die Menschen mit seiner Herzlichkeit.<br />
Von seinem Charme, seiner Großzügigkeit und seinem offenen,<br />
ehrlichen Wesen wird jeder gefesselt. Obwohl Eden im<br />
Februar 83 Jahre alt geworden ist, lässt er laut eigener Aussage<br />
nichts anbrennen. „Ich werde permanent von schönen<br />
Frauen umgarnt“, sagt er. „Jede will was mit dem Eden haben.“<br />
Aus seinem Mund klingt das wie ein Versprechen.<br />
Seit mehr als acht Jahren ist Rolf Eden jedoch mit seiner<br />
Dauerfreundin Brigitte („Ausgesprochen: Brischid“)<br />
zusammen. Die Blondine ist ein halbes Jahrhundert jünger<br />
und heißt eigentlich Aline. Da Eden seit seiner Jugend für<br />
die französische Schauspielerin Brigitte Bardot schwärmt,<br />
hat er Aline in Brigitte umbenannt. Die beiden wohnen<br />
in seiner Villa in Dahlem. Vielleicht gezwungenermaßen:<br />
Rolf Eden stürzte in seinem Domizil und verletzte sich dabei<br />
so schwer, dass er ins Krankenhaus musste. Zu Hause<br />
ließ er sich dann von Brigitte pflegen. Seitdem wohnen die<br />
beiden unter einem Dach. Rolf Eden behauptet, dass er sich<br />
nur mit Frauen unter 26 umgibt. Das die 31-jährige Brigitte<br />
trotzdem noch aktuell ist, erklärt er so: „Die ist so süß, bei<br />
der mach ich eine Ausnahme. Brigitte darf bleiben bis sie<br />
40 ist, dann muss sie weg.“<br />
Es folgt ein typisch unbeschwerter Rolf-Eden-Lacher, der<br />
zeigt, dass es vielleicht nicht ganz so ernst gemeint war. Auf<br />
die Frage, ob seine Freundin nicht eifersüchtig auf all die<br />
26-Jährigen sei, antwortet er: „Nein, ganz im Gegenteil. Brigitte<br />
hilft mir sogar, Frauen in Bars auszusuchen, die ich für<br />
den Abend mitnehme.“ Mit Brigitte ist Eden zum ersten mal<br />
richtig glücklich, doch heiraten will er sie trotzdem nicht: „Ein<br />
Playboy darf niemals heiraten, dann ist er kein Playboy mehr.“<br />
Ein alter Bekannter kommt an den Tisch und bringt<br />
schlechte Nachrichten: „Die Heike ist tot. Du kennst doch<br />
die Heike, die ist tot“, sagt er mehrmals hintereinander<br />
aufgeregt. „Jaja, kenn ich“, erwidert Eden unberührt. „Ich<br />
hasse es, wenn Menschen mir von Toten erzählen“, sagt er,<br />
als der Mann endlich weg ist.<br />
Genug von Brigitte. Und den traurigen Nachrichten. Der<br />
Lebemann will jetzt singen.<br />
Natürlich sind alle Augen auf Eden gerichtet, als er sich<br />
auf der Bühne das Mikrofon schnappt. Das Publikum ist<br />
über seinen bevorstehenden Spontanauftritt geteilter Meinung.<br />
Von „Muss das jetzt sein!“ bis „Toll, jetzt singt Rolf<br />
Eden!“ tuscheln die Leute in der kleinen Kneipe. Eden überhört<br />
sowohl das eine als auch das andere. Die Band legt los.<br />
Und plötzlich steht dort wieder dieser junge, energetische<br />
Ladykiller auf der Bühne. „Fehler kann sie haben, aber<br />
schön muss sie sein, schön muss sie sein, nur für mich!“,<br />
singt er mit anschmiegsamer Stimme. Bewusst versucht er,<br />
die Frauen im Raum in seinen Bann zu ziehen. Rolf Eden<br />
ist voll in seinem Element. Dass er diese Showeinlage nicht<br />
zum ersten Mal macht, ist nicht zu übersehen. Der Text<br />
sitzt, und die Blicke und Handbewegungen wirken routiniert.<br />
Der Mann weiß genau, was er tut, ein Entertainer<br />
durch und durch. Trotzt anfänglicher Skepsis einiger Gäste<br />
ist der Applaus riesig. Rolf Eden verbeugt sich ganz gentlemanlike<br />
und geht zurück zu seinem Tisch. Er bestellt sich<br />
einen Cognac, trinkt einen Schluck und entspannt sich. „Ich<br />
war mal Musiker in Paris. Ich spiele Piano, Saxophon und<br />
Schlagzeug. Ich liebe die Musik.“<br />
Nach seinem Auftritt hat er Hunger und will in sein<br />
Lieblingsrestaurant, die Paris Bar in der Kantstraße. „Ich<br />
liebe französische Küche. Die Austern und die Zwiebelsuppe<br />
sind ganz fantastico dort.“<br />
Es ist Mitternacht, als Rolf Eden seinen schwarzen<br />
Rolls-Royce Convertible mit dem Kennzeichen B-RE-6000<br />
aus dem Halteverbot ausparkt. „Die Polizei kennt mich,<br />
ich bekomme nie einen Strafzettel“, sagt er mit einem Augenzwinkern.<br />
Er lenkt seinen Wagen auf den Kurfürstendamm,<br />
das Dach ist offen. Das helle Licht des Mondscheins<br />
strahlt auf die beigen Ledersitze, als Xavier Naidoos Stimme<br />
aus den hochwertigen Lautsprechern tönt. „Ich mag<br />
diesen Naidoo. Er hat schöne Texte über die Liebe, da kann<br />
man was lernen.“ Rolf Eden parkt standesgemäß direkt vor<br />
der Paris Bar an einer Bushaltestelle. Die Paris Bar ist um<br />
diese Uhrzeit fast leer. Lediglich drei Gäste sitzen an den<br />
Tischen, die vor dem Restaurant stehen. Alle kennen ihn<br />
und begrüßen ihn herzlich. Bevor sich Rolf Eden setzt, holt<br />
er sich die International Harald Tribune. „Da war letztens<br />
ein Artikel über mich zu lesen, den Playboy aus Deutschland“,<br />
sagt er stolz. Er liest immer die gleichen Zeitungen:<br />
„Bild, BZ, Berliner Morgenpost und die Tribune. Ich guck<br />
immer, ob die was über mich schreiben.“ Zuhause sammelt<br />
er alle Artikel, die über ihn veröffentlicht werden. Inzwischen<br />
sind es sehr viele.<br />
Der Kellner bringt Champagner. „Alle Damen, die mit<br />
Eden unterwegs sind, trinken Champagner“, säuselt er mit<br />
funkelnden Augen. Dazu bestellt er Rinderfiletspitzen mit<br />
Bratkartoffeln und grünen Bohnen. „Nur eine halbe Portion!“,<br />
bittet er den Kellner.<br />
Rolf Eden hat die Metamorphose von Berlin von Beginn<br />
an beobachtet: die geteilte Stadt, der Mauerfall, der internationale<br />
Hype. Eines war seiner Meinung nach immer<br />
gleich: „In Berlin gibt es die besten Partys Deutschlands.“<br />
Er geht immer noch gerne aus. Die ganze Stadt liegt ihm zu<br />
Füßen. Aber mit Clubs, in denen elektronische Musik gespielt<br />
wird, kann er nichts anfangen. „Dieses Elektronische<br />
mag ich überhaupt nicht“, winkt er ab, als der Vorschlag<br />
kommt, die Nacht im Kater Holzig ausklingen zu lassen.<br />
„Da tanzen die Leute doch wie Affen, und die Damen tragen<br />
nur flache Schuhe.“<br />
Die Paris Bar leert sich, die Kellner wischen demonstrativ<br />
die Bar. Sie wollen nach Hause. Aber Eden erzählt noch die<br />
Geschichte von Brigitte Bardot, die er unbedingt in St. Tropez<br />
kennenlernen wollte, wohin er extra ihretwegen fuhr.<br />
Vergeblich. Kurze Zeit später schnappte Gunter Sachs sich<br />
„Ein Gentleman genießt und schweigt,<br />
und ein Playboy besonders“<br />
die blonde Schauspielerin. Doch Rolf Eden hatte viele andere<br />
aus dem Showbiz gekannt und geliebt. Namen verrät<br />
er nicht. „Ein Gentleman genießt und schweigt, und ein<br />
Playboy besonders.“ Versteht sich von selbst.<br />
Der stolze Schwerenöter Eden hat trotz halber Portion<br />
seinen Teller nicht leer gegessen. „Ich würde gerne zahlen“,<br />
weist er den Kellner an. Er holt seine schwarze American<br />
Express aus der Anzughose und legt sie auf den Tisch. Als<br />
die Rechnung beglichen ist, steht er langsam auf und verabschiedet<br />
sich: „Es war mir ein großes Vergnügen, mit so<br />
hübschen Damen“, sagt er galant. Ein Schmunzeln umgibt<br />
seine Lippen. Bevor er in seinen Wagen steigt, dreht er sich<br />
ein letztes Mal um und haucht: „Ciao, ciao, Baby.“ Dann<br />
fährt er davon. Ganz langsam.<br />
Unsere Autorinnen<br />
Julia Balandynowicz<br />
(li.) und Sarah<br />
Thürsam mit Rolf<br />
Eden in der<br />
Kleinen Weltlaterne<br />
13<br />
Werk VI . Mixtape
Martin Metz war<br />
schon sechs Mal<br />
auf dem berühmten<br />
Wacken-Festival.<br />
Das schwimmende<br />
Pendant wollte er<br />
sich nicht entgehen<br />
lassen<br />
Heavy<br />
Werk VI . Mixtape<br />
See-<br />
14<br />
15<br />
fahrt<br />
Werk VI . Mixtape<br />
text und fotos von Friederike Koenig<br />
Fotocredit<br />
Fotocredit<br />
Sieben Tage, mehr als 20 Bands, knapp 2.000 Fans und dreißigtausend Liter Bier: Das ist die<br />
Full Metal Cruise, Europas größtes Heavy-Metal-Festival auf hoher See. Die Veranstalter des traditionsreichen<br />
und weltweit größten Festival seiner Art Wacken Open Air haben das Spektakel<br />
auf ein Kreuzfahrtschiff verlegt. Und wir waren dabei.
16<br />
Werk VI . Mixtape<br />
A<br />
re there Metalheads in da house?“,<br />
ruft ein uniformierter Mann<br />
durch den Raum. Die Meute grölt<br />
zur Bestätigung. „Ich will, dass<br />
wir die lauteste Musterstation<br />
werden!“ Die Meute grölt noch<br />
lauter und reckt mit den Fingern<br />
die Teufelshörner in die Luft.<br />
Der Mann in Uniform ist Crewmitglied<br />
auf der Mein Schiff 1, einem luxuriösen Kreuzfahrtschiff,<br />
das in den nächsten sieben Tagen als Europas<br />
einziger Heavy-Metal-Dampfer durch die Nordsee und<br />
den Ärmelkanal fahren wird. Mit an Bord sind knapp<br />
2000 Fans, unter anderem aus Deutschland, Finnland und<br />
Kanada. Zwei Drittel davon Männer. Gerade erklärt der<br />
uniformierte Mann den Metallern, wie sie sich im Notfall<br />
verhalten müssen. Der offizielle Treffpunkt, für den<br />
er im Ernstfall verantwortlich ist, ist der Kinosaal – die<br />
„Musterstation“.<br />
Später wird Kapitän Remko Fehr sagen: „So viel Spaß<br />
hatten wir bei einer Seenotrettungsübung noch nie.“ Denn<br />
so chaotisch wie heute läuft eine Notfall-Probe mit gewöhnlichen<br />
Kreuzfahrtpassagieren nicht ab. „Gibt es jetzt<br />
Popcorn?“, brüllt jemand aus der hinteren Reihe. Erneut<br />
grölende Bestätigung von allen Rängen. Der Mann in Uniform<br />
bettelt um Ruhe, denn eigentlich ist die Übung ein<br />
wichtiger Teil der Schifffahrt. Seine Stimme klingt schon<br />
heiser als er ruft: „Jungs, das ist der einzig ernste Part der<br />
Reise.“ Dabei hakt er auf einer Liste die Anwesenheit der<br />
Gäste ab, doch schon jetzt fehlen 15 Passagiere. Wenn sie<br />
nicht innerhalb der nächsten Minuten auftauchen, müssen<br />
sie sich persönlich beim Kapitän melden. „Wir finden euch<br />
alle. Auch wenn ihr mit 3,5 Promille in der Ecke liegt“, sagt<br />
der Mann in Uniform.<br />
Die Vermutung, dass einige schon jetzt betrunken sind,<br />
ist nicht abwegig. Das Schiff liegt noch im Hafen, da hält<br />
schon jeder mindestens eine Bierdose in der Hand. Auf der<br />
Full Metal Cruise ist das Bier im Preis inbegriffen. 30.000<br />
Das Schiff liegt noch im Hafen,<br />
da hält schon jeder mindestens eine<br />
Bierdose in der Hand<br />
Liter sind mit an Bord, das sind 15 Liter pro Passagier. Das<br />
Bizarre daran: Der flüssige Proviant muss nur zwei Tage<br />
halten, beim ersten Landgang wird nachgeladen.<br />
Nach einer halben Stunde ist die Rettungsübung beendet.<br />
Auch wenn es nicht den Eindruck macht, als wüsste<br />
hier irgendjemand, was im Notfall zu tun ist, sticht das<br />
Kreuzfahrtschiff in See. Zurück am Ufer bleiben Schaulustige<br />
und die Wacken Firefighters. Die Kapelle der Freiwilligen<br />
Feuerwehr Wacken ist aus dem schleswig-holsteinischen<br />
Ort angereist, um die Passagiere zu verabschieden.<br />
Mit ihren Uniformen und Blasinstrumenten werden sie<br />
immer kleiner am Horizont, während das Schiff den Ham-<br />
burger Hafen verlässt. Teil der Tradition ist es eigentlich,<br />
das berühmte Open-Air-Festival im Heimatdorf mit den<br />
Firefighters zu eröffnen.<br />
Schon bald wird die Blasmusik von den ersten Metal-Klängen<br />
auf dieser Reise übertönt. Einige Fans tragen<br />
ihre Mini-Stereoanlagen mit sich herum, aus denen in<br />
schlechter Qualität Lieder von Iron Maiden oder AC/DC<br />
scheppern.<br />
Es ist nach Mitternacht, als das Schiff auf dem Wasser zu<br />
wanken beginnt. Die See ist ruhig, doch auf dem Pooldeck<br />
tanzen tausende Metal-Fans Pogo. Auf drei extra aufgebauten<br />
Bühnen spielen Bands wie In Extremo, Firewind und<br />
Gamma Ray. Die Feierwütigen bangen ihre Köpfe ruckartig<br />
vor und zurück, recken die Fäuste zum Teufelsgruß in<br />
die Höhe. Ihre langen Haare peitschen durch die Luft. Es<br />
wirkt fast schon beängstigend, wie sie in ihrer schwarzen<br />
Kleidung wild auf und ab springen. Umso unerwarteter die<br />
Szene, wenn sie aus Versehen zusammenprallen und sich<br />
beieinander mit Handschlag entschuldigen. Oft trinken<br />
sie einen großen Schluck Bier zur Versöhnung und tanzen<br />
friedlich weiter. Aus den Boxen dröhnen die harten Klänge<br />
der deutschen Band Betontod: „Wir müssen aufhör’n, weniger<br />
zu trinken, wir brauchen viel mehr Alkohol. Wenn<br />
wir nicht aufhör’n, weniger zu trinken, dann werden wir<br />
heut nicht mehr voll.“ Zur selben Zeit grölt eine Frau im<br />
Casino ins Mikrofon einer Karaokestation. Zur Auswahl<br />
stehen Klassiker von Motörhead, Rammstein, Alice Cooper<br />
und Black Sabbath. Was davon sie ausgewählt hat, lässt sich<br />
nur erahnen, so undefinierbar ist ihr Schreigesang. Schlaf<br />
findet heute niemand. Warum auch? Die Party hat doch<br />
gerade erst begonnen.<br />
Bei Sonnenaufgang ähnelt das Pooldeck einer Geisterstadt.<br />
Ein, zwei Hartgesottene streifen in ihren Bademänteln,<br />
die stilecht mit Badges unterschiedlicher Metal-Bands<br />
versehen sind, über die Joggingstrecke. Der Spa-Bereich<br />
bleibt leer, und niemand kommt auf die Idee, den Tag mit<br />
Yogaübungen zu begrüßen, auch wenn ein Teil der üblichen<br />
Fitnesskurse wie Zumba angeboten werden. Zur Entspannung<br />
gibt es hier allerdings eine Wacken-Schlamm-<br />
Packung und eine Neckbreaker-Massage für geschundene<br />
Headbanger-Nacken.<br />
Es ist nach neun Uhr, als sich das Sonnendeck füllt. Zum<br />
Frühstück gibt es Rührei mit Speck, statt Kaffee oder Tee<br />
steht Sekt auf den Tischen. „Vor zehn gibt es kein Bier“, sagt<br />
Andreas Standt. Er sitzt mit zehn Leuten an einem großen<br />
Tisch und trinkt aus der Not heraus Schaumwein. Sie singen,<br />
lachen, erzählen ihre besten Geschichten aus Wacken.<br />
So zum Beispiel der Commander. Ein etwa 60-jähriger<br />
Mann, braun gebrannt, mit langen, grauen Haaren und<br />
Schnurrbart, der auf dem Festival-Acker in Schleswig Holstein<br />
durch sein silberfarbenes Zelt bekannt geworden ist.<br />
Sein Raumschiff, wie er es selber nennt, hat ihm schließlich<br />
den Spitznamen eingebracht. Auf dem Acker wie auf dem<br />
Schiff ist er eine kleine Berühmtheit.<br />
Die Gruppe um den Tisch wird immer größer. In der<br />
letzten Nacht hat man sich kennengelernt. Jetzt ist es an<br />
der Zeit, die Fan-Freundschaften auszubauen.<br />
Seaway to Hell:<br />
In Hamburg<br />
sticht die Full<br />
Metal Cruise<br />
das erste Mal<br />
in See. Mit<br />
an Bord des<br />
schwimmenden<br />
Heavy-Metal-<br />
Festivals sind<br />
unermüdliche<br />
Fans, ein<br />
Brautpaar und<br />
ein Tätowierer<br />
17<br />
Werk VI . Mixtape
Trotz dreißigtausend<br />
Liter Bier und aggressiv<br />
lauter Musik feiern die<br />
Metaller friedlich miteinander<br />
„Wir sind wie eine Familie hier“, sagt Martin Metz. Er ist<br />
Krankenpfleger, war schon sechs Mal in Wacken. Metz<br />
kam gestern mit sieben Freunden auf das Schiff, heute<br />
sind sie nur noch zu zweit. Wo die anderen fünf geblieben<br />
sind: schleierhaft. Mit dem Commander und den anderen<br />
Tischnachbarn hat er nun eine neue Familie gefunden.<br />
Maik Weichert, Gitarrist der Thüringer Metalcore-Band<br />
Heaven Shall Burn erklärt sich das Phänomen so: „Es ist<br />
eine Parallelwelt, die Leute lieben die Musik. Und mit einem<br />
Schlag sind sie verwandt.“<br />
Auch Andreas Standt versucht, seine Gefühle in Worte<br />
zu fassen („Da muss man dabei sein. Das sind Momentaufnahmen“),<br />
als ein Unbekannter vorbei kommt, ihm auf<br />
die Schulter klopft und ruft: „Eine Woche Wacken ist wie<br />
Jahresurlaub.“ Standt nickt zustimmend, als hätte er genau<br />
das sagen wollen.<br />
Die 21-jährige Laura Kreuzpaintner ist mit ihrem<br />
Freund, ihren Eltern und ihrem Cousin an Bord. „Wäre<br />
es keine Metal-Fahrt, hätte ich in dem Alter keine Kreuzfahrt<br />
gemacht. Da hätte ich mein Geld anders investiert“,<br />
sagt sie. Ihre ersten zwei Monatsgehälter sind in die Reisekasse<br />
geflossen: „Ich musste meinen Gesellenbrief schaffen,<br />
um hier mitfahren zu können, das Lehrlingsgehalt<br />
hätte nicht ausgereicht.“<br />
Eine Woche Metal-Festival auf hoher See kostet pro<br />
Person in einer Vier-Mann-Innenkabine etwa 1.000 Euro<br />
inklusive Verpflegung – eine Suite für zwei Passagiere das<br />
Achtfache. Im Vergleich: Ein Ticket für das Wacken Open<br />
Air kostet circa 150 Euro. Dafür erleben die Metaller hier<br />
an Bord einen Luxus, den sie auf keinem Festival der Welt<br />
finden würden: Kabinen mit großen Betten, Pralinen auf<br />
dem Zimmer, eine eigene Dusche, saubere Toiletten und<br />
im Restaurant Sechs-Gänge-Menüs.<br />
Für Lauras Mutter Gabi ist es das Erlebnis schlechthin.<br />
„Manche Familien gehen in Freizeitparks, wir kommen<br />
hierher“, johlt sie. Es folgt Applaus, und die Gruppe stößt<br />
so heftig mit ihren Sektgläsern an, dass die Hälfte des Inhalts<br />
überschwappt. Alle lachen und brüllen „Wackööön“,<br />
den Schlachtruf des Festivals.<br />
Es ist eine Gemeinschaft mit einem hohen Maß an Liebenswürdigkeit,<br />
die nicht für alle auf den ersten Blick ersichtlich<br />
ist. Der Look der Fans – schwarze Hose, Band-<br />
T-Shirt, Leder-Kutte – ist für manch Außenstehenden<br />
furchteinflößend. Und dennoch gibt es an Bord keine Gewaltausbrüche,<br />
ganz im Gegenteil, alle feiern friedlich miteinander.<br />
Denn was sie eint, ist die Liebe zur Musik – und<br />
die Leidenschaft für Tattoos. Die Veranstalter haben extra<br />
einen Massageraum in ein Tattoo-Studio verwandelt, in<br />
dem sich die Hardcore-Fans kostenlos das Wacken-Logo,<br />
einen Stierschädel, stechen lassen können. Schon vor Reisebeginn<br />
waren die dreißig verfügbaren Termine bei Tätowierer<br />
Alf Rentmeister ausgebucht.<br />
Doch die Tätowierung ist längst nicht die einzige Erinnerung<br />
für die Ewigkeit, die es auf dieser Reise gibt. Marina<br />
Müller und Frank Albrecht geben sich an Bord das<br />
Ja-Wort. Der berühmte Hochzeitsmarsch schallt in einer<br />
harten Version mit Schlagzeug und E-Gitarre in die<br />
Lounge, in der die Hochzeit stattfindet. Die Braut trägt<br />
ein schwarz-weißes, bodenlanges Kleid. In ihren Haaren<br />
stecken schwarze Kunstblumen. Der Bräutigam, mit Ziegenbart<br />
und langen Haaren, weint vor Freude beim Anblick<br />
seiner Frau. Im Anschluss spielt Metal-Legende Doro<br />
Pesch live ihre Hymne „Für immer“. Wenn die Seenotrettungsübung<br />
der einzige ernste Part der Reise war, ist das<br />
der einzige romantische.<br />
Am Abend geht es mit harter Musik weiter. Die Metalcore-Band<br />
Heaven Shall Burn schreit sich im Schiffstheater<br />
die Seele aus dem Leib. Vor der Bühne drängeln sich nur<br />
noch die Unermüdlichen, selbst für manche Metaller ist<br />
das zu laut. In den Ohren der Fans blitzen bunte Ohropax,<br />
manche haben ihre Gesichter mit Tiermasken bedeckt –<br />
Zebra- und Pferdeköpfe.<br />
Nach dem Konzert nutzen einige die Gänge, Treppen<br />
oder Aufzüge für ein kleines Schläfchen. Zu stark ist die<br />
Mischung aus Jack Daniel’s und Cola, die es ab 18 Uhr<br />
ebenfalls kostenlos gibt. Wenn sie aufwachen, stärken sie<br />
sich am 24-Stunden-Grill mit Currywurst, Burger und<br />
Pommes rot/weiß, um anschließend wieder in einen komatösen<br />
Schlaf zu fallen. Für die ersten Tage auf See sind<br />
350 Kilo Pommes, 170 Kilo Bratwurst und 300 Kilo Steak<br />
mit an Bord.<br />
Noch vier Tage geht die Reise mit Konzerten und zehntausenden<br />
Litern Bier weiter, bis das Schiff zum Hafengeburtstag<br />
in Hamburg einläuft. Die zweite Nacht hat selbst<br />
die härtesten Fans geschlaucht. Nur 200 Metal-Fans haben<br />
sich am dritten Tag für den Ausflug nach Stonehenge angemeldet.<br />
Sie fahren nach Southampton, während die restlichen<br />
Gäste auf dem Schiff im komatösen Schlaf liegen.<br />
„Auf Festivals sind alle nach drei Tagen wie Zombies “, sagt<br />
Maik Weichert über die auffällig ruhige Stimmung, die einen<br />
Tag vorher noch ausgelassen war. Vielleicht ist es aber<br />
auch ein stickiges Zelt, eine Bierdusche am Morgen oder<br />
der Schlamm auf dem Acker in Wacken, was ihnen auf dieser<br />
ungewohnten Fahrt fehlt.<br />
„Eine Woche Wacken ist wie Jahresurlaub“<br />
Auch in den Bussen auf dem Weg nach Stonehenge herrscht<br />
absolute Stille. Keiner grölt oder spritzt mit Bier um sich.<br />
Die Ausflügler schlafen und sehen dabei ganz friedlich aus<br />
– bis das erste Handy klingelt und für ein paar Sekunden<br />
wieder Metal-Klänge durch die Reihen scheppern. „Man<br />
hätte die Einwohner warnen müssen“, gibt eine Frau zu bedenken,<br />
als 200 schwarz gekleidete Metaller beginnen, bei<br />
einem Zwischenstopp die malerische Stadt Salisbury zu erkunden.<br />
Und hätten die vergangenen drei Tage nicht schon<br />
an den Kräften der Fans gezehrt, hätte man das wohl auch<br />
tun müssen. „If it’s not in your blood, you will never understand“<br />
steht auf einem T-Shirt, das ein hagerer Metaller<br />
trägt. Und besser kann man den Wahnsinn Wacken nicht<br />
erklären. Für die Fans gibt es immer ein Heavy End und<br />
immer ein nächstes Mal. Verstehen muss man das nicht,<br />
Spaß haben trotzdem alle.<br />
19<br />
Werk VI . Mixtape
Tüllrock<br />
von Anne Wolf.<br />
Tourshirt von<br />
Metallica, 1990<br />
Lifestyle<br />
20<br />
Werk VI . Mixtape<br />
of Rebellion *<br />
Wer sich immer an die Regeln hält,<br />
wird nie erfahren, wie es ist, in einem<br />
Metallica-Shirt Walzer zu tanzen.<br />
Fotos: Jessica Prautzsch<br />
*Against All AUTHority, 1996<br />
Produktion: Alexandra Brechlin,<br />
Friederike Koenig<br />
Models: Julia/Izaio, Amelie/Satory<br />
Haare/Make-up: Karina Berg<br />
Danke an das Schloss Friedrichsfelde<br />
und Diana Weis
22<br />
23<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Kleid von Andrea<br />
Schelling Couture.<br />
Jacke, gesehen<br />
bei TK Maxx.<br />
Joy-Division-Shirt:<br />
Vintage<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Spitzenkleid von<br />
Andreas Remshardt.<br />
Tourshirt von den<br />
Ramones, 1993<br />
Kleid von Andreas<br />
Remshardt.<br />
Ring von Yayalove.<br />
Tourshirt von<br />
Danzig, 1990
Kleid von Andreas<br />
Remshardt. Jacke,<br />
gesehen bei TK Maxx.<br />
Schulter-Pads<br />
von Yayalove. David-<br />
Bowie-Shirt: Vintage<br />
24 25<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Kleid von Andreas<br />
Remshardt. Armreif von<br />
Yayalove. Schuhe von<br />
Buffalo.Tourshirt von And<br />
you will know us by the<br />
Trail of Dead, 2004<br />
Fotocredit<br />
Fotocredit
Der Juggalo-Schriftzug<br />
ist neben dem<br />
Running Hatchet Man<br />
die meist gesehene<br />
Tätowierung auf<br />
dem Gathering of<br />
the Juggalo-Festival<br />
Der<br />
Familien-<br />
26 27<br />
ow<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Cl n A<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Text: Pina Pipprich<br />
Fotos: Daniel Cronin<br />
Fotocredit<br />
Die konservative USA zeigt mit dem Finger auf die Juggalos: Fans des Rap-Duos Insane Clown Posse,<br />
die ihre Gesichter zu Clownsfratzen schminken. Juggalos sehen sich als eine Familie aus Männern,<br />
Frauen und Kindern, die durch ihren Außenseiterstatus miteinander verbunden sind. Doch für die<br />
Gesellschaft sind sie schlicht Asoziale – nicht mehr wert als White Trash. Ein Blick hinter die Kulissen<br />
einer Subkultur, die auf einem schmalen Grat zwischen Illegalität und simplem Fantum lebt.
Werk VI . Mixtape<br />
E<br />
ine endlose Weite aus Feldern,<br />
bleichgrünen Laubbäumen und<br />
ausgetrockneten Straßen. Die<br />
Hitze steht flirrend über dem<br />
Asphalt, und der Ohio River<br />
schiebt sich gemütlich zwischen<br />
Illinois und dem angrenzenden<br />
US-Bundesstaat Kentucky. Recht<br />
idyllisch alles. So wie man sich<br />
das mitten in den USA auf dem Lande vorstellt. „Welcome<br />
Juggalos“, das Laken hängt locker an Seilen über dem<br />
Waldweg. Ein von der Hitze ermatteter Mann sitzt mitten<br />
auf der Lichtung auf seinem Campingstuhl, sein nackter<br />
Bauch liegt bis zu den Knien auf seinen Oberschenkeln.<br />
Die strähnigen Haare folgen den im Rhythmus kreisenden<br />
Stößen seines Kopfes in alle Richtungen. Seine bis auf<br />
„Wir sind Clowns, die Menschen verletzen<br />
und töten, wenn sie es verdient haben!“<br />
die Hände zu benutzen, die Asche rieselt bei jedem Nicken<br />
auf seine Brust. Zwischen seinen aus Fett bestehenden<br />
Brüsten liegt eine silberfarbene Kette, daran hängt ein<br />
rennendes Männchen mit einem erhobenen Fleischerbeil<br />
in der Hand: Das Running-Hatchet-Man-Logo ist das allgegenwärtige<br />
Symbol der Juggalos.<br />
Es könnte der Herzchirurg aus der Ambulanz, die Kassiererin<br />
im Supermarkt oder der Gärtner von nebenan<br />
sein – im Alltag sind Juggalos und Juggalettes nicht immer<br />
direkt zu erkennen. Hauptsächlich stammen sie aus dem<br />
Herzen der USA, aus Bundesstaaten wie Kansas, Missouri<br />
und Iowa – wo verdorrte Strohbüsche über die Straßen wehen<br />
und es von Rednecks nur so wimmelt. Selten passen<br />
Juggalos in das Bild des Durchschnittsamerikaners: Sie<br />
sind zu groß oder klein, zu fett oder schlaksig, haben zu<br />
schlechte Haut oder ein ungepflegtes Äußeres. Bei Konzerten<br />
oder Partys schminken sie ihre Gesichter zu grenzdebilen<br />
Clownsfratzen und flechten ihre Kopf- und Barthaare<br />
zu sogenannten Spider-Legs – schmale Zöpfe, die<br />
an Spinnenbeine erinnern. Sie spritzen mit Limonade der<br />
Firma Faygo um sich und grölen „Whooop Whooop!“,<br />
während sie zu den tiefen Bässen der Insane Clown Posse<br />
headbangen. Faygo ist für den Juggalo, was für den Berliner<br />
Hipster die Club Mate ist – sein inoffizielles Szenegetränk.<br />
Obwohl dessen enormer Absatz hauptsächlich<br />
ihnen zu verdanken ist, hat sich der Hersteller bis heute<br />
nicht zu den Juggalos bekannt, sondern deren Existenz<br />
eher beschämt zur Kenntnis genommen.<br />
Das langgezogene Whoopen ist Begrüßung oder Ausdruck<br />
von Stolz und Respekt zugleich. Es klingt wie ein sehr<br />
langes, tiefes Alpenhorn und verändert seine Bedeutung,<br />
je nachdem wie lange Juggalos den Laut ziehen. Sie hängen<br />
es an jeden Satz, an jede Aussage – whooop whooop.<br />
Ihr Kleidungsstil lässt sich schwerer einordnen, er changiert<br />
zwischen klassischer Streetwear, schwarzer Rockerkluft,<br />
Emo-Nuancen und Techno-Einflüssen. So schwierig sich ihr<br />
Stil beschreiben lässt, die Modeindustrie hat ihn schon längst<br />
für sich entdeckt. Der japanische Designer Yoshio Kubo<br />
transportiert in seiner Männerkollektion für den Sommer<br />
2013 die Clownsmaskerade und wilde Farb-, Muster- und<br />
Schnittkombinationen in einen tragbaren Streetwearstyle, zu<br />
High-Top-Sneakern und nackten Männerbrüsten.<br />
Die Juggalettes haben hingegen wenig bis nichts an,<br />
sie feiern gerne komplett nackt. Das Logo des Running<br />
28 den Stummel abgebrannte Zigarette raucht er, ohne dabei Hatchet Man ist auf der Kleidung und vor allem als Täto-<br />
29<br />
wierung weit verbreitet. Ursprünglich galt es als Logo der<br />
Plattenfirma der Insane Clown Posse, mittlerweile ist es eines<br />
der Erkennungszeichen der Juggalos.<br />
Die Insane Clown Posse besteht aus Joseph Bruce und<br />
Joseph Utsler, bekannter als Violent J und Shaggy 2 Dope.<br />
Zusammen mit ihrem Manager gründeten sie früh ihr eigenes<br />
Musiklabel namens Psychopathic Records, für dessen<br />
Logo sie den Running Hatchet Man kreierten. Wer weiß, ob<br />
sie unter einem anderen Label jemals Platten veröffentlicht<br />
hätten, denn ihre Texte handeln von Huren, Nekrophilie,<br />
Suizid, Satanismus, Vergewaltigung und Mord. Zwar sagen<br />
sie selbst, in ihren Lyrics stecke viel Sarkasmus und Ironie,<br />
doch auch das beruhigt die entsetzte Gesellschaft der<br />
USA wenig. Ihr HipHop-Musikstil Horrorcore ist ein Mix<br />
aus Rap, Death Metal und Alternative Rock. In den Worten<br />
von Bruce hört sich das etwas anders an: „In unseren<br />
Liedern vereinen wir unsere größten Ängste und unsere<br />
Wut. Wir sind Clowns, die Menschen verletzen und töten,<br />
wenn sie es verdient haben!” Das sind ihrer Meinung nach<br />
Rassisten und Gotteslästerer. Seit zwei Jahrzehnten werden<br />
sie dafür von MTV gänzlich ignoriert. Mehrfach bekamen<br />
sie von USA Today den Award für das schlechteste Album<br />
des Jahres verliehen und selbst auf Youtube erhalten ihre<br />
Videos mehr negative als positive Kommentare. Doch das<br />
macht ihnen gar nichts. Mit mehr als sieben Millionen verkauften<br />
Tonträgern und auch dank Merchandise-Artikeln<br />
scheffeln sie ordentlich US-Dollar.<br />
Heute verdienen beide durch ihre Musik viel Geld. Ihr<br />
Background sieht aber ganz anders aus. Bruce (Violent J)<br />
wuchs in bitterer Armut auf. Seine Kleidung bekam er bei<br />
Wohnungsauflösungen, das Essen spendeten ihm Hilfsorganisationen.<br />
Er hatte keinen Job, kein Auto und keine<br />
Freundin. Seine Mitschüler spotteten über sein Loser-<br />
Dasein. Aber anstatt sich dafür zu schämen, beschloss er<br />
Fotocredit<br />
Das geschminkte<br />
Clownsgesicht ist eines<br />
der Erkennungszeichen<br />
der Juggalos. Manche<br />
sprühen es sich mit<br />
Graffitifarbe auf, damit<br />
es die vier Festivaltage<br />
überdauert<br />
Werk VI . Mixtape
30 a bitchboy and beat down a rich boy“) und Frauen nicht<br />
31<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Neben mehreren<br />
Zelten, in denen für<br />
Unterhaltung gesorgt<br />
wird, gibt es unzählige<br />
Snackbuden auf<br />
dem Gelände<br />
gemeinsam mit seinem Bruder, stolz darauf zu sein: Sie<br />
nannten sich und alle Gleichgesinnten Floobs und schufen<br />
sich eine Gemeinschaft aus Leidensgenossen. Der Respekt<br />
untereinander sowie der starke Stolz der Floobs erinnern<br />
sehr an die familiäre Haltung zwischen den Juggalos.<br />
Ihren Namen bekamen die Juggalos mit dem Song „The<br />
Juggla“, der 1994 auf dem Album Carnival of Carnage der<br />
Insane Clown Posse erschienen ist. Die Fans betitelten sich<br />
danach selbst als Juggalos und mutierten zu fanatischen<br />
Anhängern des Rap-Duos und den Künstlern von Psychopathic<br />
Records. Unter Vertrag befinden sich bei dem Label<br />
momentan zehn weitere Musiker. Einer der bekanntesten ist<br />
wohl Vanilla Ice – der erste weiße Rapper mit kommerziellem<br />
Erfolg, der dadurch seine Credibility verlor. Mittlerweile<br />
versucht er sich an einem Mix aus HipHop und Rockmusik<br />
und erntet dafür nur mäßigen Respekt.<br />
Die Insane Clown Posse griff die Bewegung ihrer Fans<br />
auf und skizzierte drei Jahre später in dem Lied „What Is<br />
A Juggalo“ ein paar nähere Eigenschaften der Posse. Es<br />
sind Verrückte, die mit ihren nicht minder durchgedrehten<br />
Freunden abhängen („A fucking lunatic...Winking at<br />
the freaks“), nebenher ein paar Snobs verprügeln („He ain’t<br />
immer ganz ehrenhaft behandeln („He could give a fuck<br />
less what a bitch thinks”). Jedoch lassen sich Juggalos nicht<br />
gerne definieren, sie sind eine Familie – und nur das zählt:<br />
„What is a Juggalo? I don’t know, but I’m down with the<br />
clown, and I’m down for life, yo!“<br />
Seit ihrer Entstehung in den späten 90ern haben Juggalos<br />
ihre eigenen Slangausdrücke, Symbole, Verhaltensweisen<br />
und Handzeichen entwickelt. Mit dem Zeichen des Wicked<br />
Clowns symbolisieren sie ihren Stolz und die Familienzugehörigkeit.<br />
Dafür formen sie mit der linken Hand das W des<br />
Westside-Zeichens und mit der Rechten ein C – dabei überkreuzen<br />
sie die Hände. Denn um Stolz und Liebe zur Familie<br />
dreht sich alles bei ihnen, sie nennen das auch MMFWCL<br />
(Much Mother-Fucking Wicked Clown Love).<br />
Diese Zusammengehörigkeit feiern sie jedes Jahr mit einer<br />
Art Familientreffen – dem „Gathering of the Juggalos“.<br />
Ob Mann, Frau oder Kind – für jeden gibt es hier etwas zu<br />
Das Festival ist eine Mischung aus keuschem<br />
Kinderkarussell und obszöner Geisterbahn<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Fotocredit<br />
Fotocredit<br />
erleben. Ganze Familien pilgern zum Gathering, und nicht<br />
selten ist es ihr einziger Urlaub im Jahr. Als Einzelgänger<br />
vereint, chillen und campen sie zusammen für vier Tage<br />
auf 46 Hektar – eine Fläche, die größer ist als der Vatikan.<br />
Egal, wie ihr Gegenüber aussieht, egal, was er in seinem<br />
Leben gemacht hat – er ist ein Juggalo und das ist Grund<br />
genug, ihn zu akzeptieren und stolz auf ihn zu sein. Genau<br />
dieses Gefühl wird gefeiert.<br />
Der Ort des Irrsinns nennt sich Cave-In-Rock und liegt<br />
in Illinois, USA. Es gibt viele Mythen und Sagen über<br />
das „Gathering of the Juggalos“, aber wohl auch wahre
Geschichten. HipHop-Acts wie Bubba Sparxxx wurden<br />
dort von der Bühne gebuht, Glamour-Sternchen wie Tila<br />
Tequila auf derselben fast gesteinigt, und der Schauspieler<br />
Charlie Sheen war mindestens stoned, als er versuchte, gegen<br />
die whoopende Menge anzuschreien.<br />
Das Gelände des Gathering ist wie ein Vergnügungspark<br />
aufgebaut, eine Mischung aus keuschem Kinderkarussell<br />
und obszöner Geisterbahn. Auf zwei großen Bühnen treten<br />
„Hier ist es egal, ob du mit einem Silberlöffel<br />
oder einem Crack-Klumpen im Mund<br />
geboren wurdest“<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Fotocredit<br />
Fotocredit<br />
alle Künstler von Psychopathic Records sowie geladene Acts<br />
auf. Neben der Insane Clown Posse waren das über die Jahre<br />
Busta Rhymes, Ol’ Dirty Bastard, Master P, Method Man &<br />
Redman, Three 6 Mafia, die Ying Yang Twins oder Xzibit.<br />
Um die drei Campingplätze Chaos District, Red Mist<br />
Mountain und Loonie Boonies verteilen sich sechs weite-<br />
32 re kleine Bühnen. Doch Musik ist nicht alles beim Gathe-<br />
33<br />
ring. Es gibt Zelte für Seminare, Freakshows, Autogramme,<br />
Comedy sowie für Juggalo-Karaoke. Wem das nicht<br />
reicht, für den gibt es Frauenwrestling – stilecht mit viel<br />
Öl versteht sich –, Wet-T-Shirt-Contests und Ms-Juggalettes-Schönheitswettbewerbe.<br />
Wer keine Lust auf Riesenrad<br />
fahren hat, fliegt eben mit einem Helikopter über das<br />
Gelände oder shoppt Fanartikel. Im Spazmatic Hangout<br />
wäscht man Kleidung und schlürft Energy Drinks. Selbst<br />
eine eigene Wrestling Liga namens Juggalo Championship<br />
Wrestling wurde von der Insane Clown Posse gegründet –<br />
bei den Männern selbstredend ohne Öl.<br />
Das 7-Juggaleven ist ein kleiner Laden unter einer Lastwagenplane,<br />
in dem zwei Besucher Süßigkeiten, Zahnbürsten<br />
und andere Kleinigkeiten verkaufen. Daneben ist die<br />
Drug Bridge, auf der bis zu zwanzig Dealer ihre Drogen mit<br />
selbstgemalten Schildern anpreisen. Obwohl die Polizei den<br />
Drogenmissbrauch vor Ort mitbekommt, greifen sie nur in<br />
den seltensten Fällen ein, denn die Juggalos sind weit in der<br />
Überzahl. Und zu guter Letzt ist da der Lake Hepatitis – ein<br />
mickriger See mit einem warnenden „Swim at your own<br />
risk“-Schild, das tief in der braunen Brühe steckt.<br />
Bruce und Utsler nennen es „das umstrittenste Festival der<br />
Welt“, ins Leben gerufen von der „meistgehassten Band der<br />
Welt“ – sie benutzen gerne Superlative. „Es ist ein verficktes<br />
Juggalo-Woodstock, nur besser. Hier gibt es mehr zu erleben,<br />
mehr zu sehen, mehr Frauen zu ficken. Alle sind am<br />
Durchdrehen!“, fügt Bruce hinzu. Juggalos brennen hier vor<br />
Freude schon mal ein Auto nieder oder schieben sich gegenseitig<br />
Fleischerhaken mit Seilen verknotet in den Rücken,<br />
um Seilziehwettkämpfe auszutragen. Ein Wahnsinns-Fest.<br />
Doch was hier vor allem zählt, ist die Gemeinschaft,<br />
und die spürt wohl jeder. Der Juggalo ist endlich unter<br />
Gleichgesinnten, fühlt den Stolz der Familie und findet das<br />
friedliche, harmonische Nest, das ihm in seinem Alltag als<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Ganze Familien<br />
reisen zum Gathering<br />
of the Juggalos<br />
und verbringen dort<br />
ihren Jahresurlaub
34<br />
Werk VI . Mixtape<br />
freakiger Außenseiter verwehrt bleibt. Der US-amerikanische<br />
Journalist Richard Metzger beschreibt das Gathering<br />
als eine „White-Trash-Version des Burning-Man-Festivals,<br />
nur dass die Besucher einen deutlich niedrigeren IQ haben<br />
und erschreckend hässlich sind. Frauen saufen und rauchen,<br />
obwohl sie schwanger sind, und das ganze Gelände versifft<br />
durch leere Faygo-Limonadenflaschen zu einer Müllhalde.“<br />
Auf dem Festival herrscht eine niedrige Kriminalitätsrate.<br />
Dass dem Juggalo inzwischen der Ruf des kriminellen<br />
Asozialen anhaftet, liegt daran, dass die Subkultur sich<br />
unaufhaltsam in zwei Lager aufspaltet – in die gewalttätige<br />
und in die gewaltfreie Fraktion.<br />
Die Subkultur spaltet sich in zwei<br />
Lager – in die gewalttätige und in die<br />
gewaltfreie Fraktion<br />
Seit Anfang 2000 registriert die amerikanische Regierung<br />
eine schnell wachsende kriminelle Gruppe, die sich von<br />
der ursprünglichen Gemeinschaftsidee entfernt. Inzwischen<br />
spricht man von mehreren Juggalo-Gangs mit mehr<br />
als 150.000 Mitgliedern. 2011 erklärte das FBI die Juggalos<br />
offiziell zu einer kriminellen Organisation. Denn während<br />
die gewaltfreien Fans zu Texten über Mord, Suizid, Nekrophilie,<br />
Satanismus, Vergewaltigung und Huren nur feiern,<br />
setzen die gewalttätigen Juggalo-Gangs die Liedtexte in die<br />
Tat um: Ihr Strafregister umfasst Mord, Schießerei, Drogenhandel,<br />
Brandstiftung, Einbruch, Hausfriedensbruch,<br />
bewaffneter Raub und schwere Körperverletzung. Sie<br />
zählen berüchtigte Gruppierungen wie die kalifornischen<br />
Bloods, Crips und Sureños zu ihren Verbündeten. Als ihren<br />
größten Gegner sehen sie die lateinamerikanische<br />
Gang Mara Salvatrucha (MS-13): die aggressivste unter<br />
den gewaltbereiten Gruppierungen der USA – quasi der<br />
Tod persönlich.<br />
Besonders kriminell agiert unter den Juggalo-Gangs eine<br />
Gruppe namens Juggalo Killers. Sie ist eng verbunden mit<br />
dem Ku Klux Klan und der Aryan Brotherhood – beide<br />
stark rassistisch verwurzelt.<br />
Zwischen den zwei Juggalo-Fraktionen herrscht absolute<br />
Feindseligkeit: Die Gangs halten die Musikfans für Loser –<br />
denn die wollen mit dem Gedankengut und der Gewaltbereitschaft<br />
nichts zu tun haben. Die Fans versuchen sich von<br />
den Gangs zu distanzieren, und dafür werden sie von den<br />
Bandenmitgliedern verachtet und angegriffen.<br />
Sie sehen zwar gleich aus, tragen alle als Erkennungszeichen<br />
den Running Hatchet Man und nennen sich Juggalos.<br />
Doch einzig der Glaube an die jeweilige Familie, sowie ihr<br />
gemeinsamer Name verbindet sie.<br />
Die US-amerikanische Kriminalbeamtin und Expertin<br />
für Gangbildung, Michelle Vasey, bat die Öffentlichkeit<br />
2011 in einem offiziellen Schreiben deshalb zu bedenken:<br />
„Ich hoffe nicht, dass die Leute einen Juggalo sehen und<br />
sagen: ‚Oh, er ist ein Gang-Mitglied, er hat eine Machete<br />
und wird uns alle zerstückeln.’ Aber die Leute müssen sich<br />
bewusst machen, dass es in den vergangenen drei Jahren<br />
riesige Probleme in den östlichen und westlichen Vereinigten<br />
Staaten gab, bei denen wir im Zusammenhang mit Verbrechen<br />
und grausamen Straftaten mehrere Personen einer<br />
Gang verhaftet haben, die sich ‚Juggalos’ nennt.“<br />
Der US-amerikanische Fotograf Daniel Cronin beschäftigt<br />
sich seit langem mit der Juggalo-Subkultur und dokumentiert<br />
die Besucher des „Gathering of the Juggalos“ seit<br />
2010 mit seiner Großformatkamera. „Sie werden für ihre<br />
Art von den Mainstream-Amerikanern verspottet und gehasst“,<br />
sagt er. „Besonders an der Freizügigkeit der Juggalettes<br />
stört sich die Öffentlichkeit.“ Er möchte nicht bestreiten,<br />
dass das Festival auf Außenstehende frauenverachtend<br />
wirken muss und dass Fremdenhass dort ein Thema ist.<br />
Er selbst hat aber weder von sexueller Belästigung gehört,<br />
noch Rassismus oder Nötigung erlebt.<br />
Utsler von der Insane Clown Posse unterstützt diese<br />
Aussage: „Juggalos stammen aus den verschiedensten sozialen<br />
Schichten – sie sind arm, reich, gehören allen Religionen<br />
und allen Ethnien an. Hier ist es egal, ob du mit einem<br />
Silberlöffel oder einem Crack-Klumpen im Mund geboren<br />
wurdest.“ Utslers Wurzeln liegen bei den Cherokee-Indianern,<br />
auch deshalb wehrt sich die Insane Clown Posse<br />
in Liedtexten gegen Rassismus-Vorwürfe. Sie wollen sich<br />
und die nicht-kriminellen Juggalos deutlich von den Gangs<br />
abgrenzen, sie kämpfen gegen eine Verallgemeinerung. In<br />
ihrer Internet-Kampagne „Juggalos Fight Back“ rufen sie<br />
deshalb ihre Fans auf, ungerechtes Verhalten der Polizei<br />
gegenüber Juggalos online zu stellen. Dadurch wollen sie<br />
vor allem auf die Konsequenzen der Juggalo-Verallgemeinerung<br />
aufmerksam machen.<br />
Daniel Cronin, der selbst kein Juggalo ist, ist sich sicher:<br />
„In jeder Musikszene gibt es faule Äpfel. Ich denke jedoch<br />
nicht, dass die Mehrzahl der Juggalos kriminell ist.“ Mehr<br />
noch: „Ich bewundere ihre Loyalität zueinander. Ich bewundere<br />
sie dafür zu sein, wie sie sein möchten – während<br />
Amerika sie verspottet und wie Dreck behandelt. Ich mag,<br />
dass sie anderen gegenüber trotzdem nicht voreingenommen<br />
auftreten. Sie sind sehr egalitär!“<br />
Daniel Cronin wurde 1983 im US-Bundesstaat<br />
Virginia geboren. Neben Musik und Philosophie<br />
studierte er Fotografie und lebt heute als<br />
Fotograf in Oregon.Unter anderem arbeitete<br />
er für MTV, seine Werke erschienen bis jetzt im<br />
The Guardian UK, Vice/Noisey, The Huffington<br />
Post und The Wall Street Journal. Seit 2010 fährt<br />
er zu dem jährlichen Gathering of the Juggalos<br />
und porträtiert dort die Besucher und Fans –<br />
sein gleichnamiger Bildband The Gathering of<br />
the Juggalos erschien dieses Jahr beim Prestel<br />
Verlag. Daniel Cronin liebt in Alufolie eingewickelte<br />
Burritos, den Sound von Güterzügen,<br />
70er Prog Rock, 4x5 Kameras und Jameson<br />
Whiskey mit Ginger-Ale.<br />
Fotocredit<br />
35<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Einen Dresscode<br />
gibt es auf dem<br />
Festival nicht,<br />
selbst im Pyjama<br />
fällt man nicht auf.
Werk VI . Mixtape<br />
Stadtgeschichte<br />
Auf den Spuren von Musikern im Berlin der 70er- und 80er-Jahre<br />
Von: Alexandra Brechlin<br />
Fotos: Carina Adam UND INKA CHALL<br />
E<br />
s ist schon jetzt das Comeback des<br />
Jahres: Die Single „Where Are We<br />
now“ von David Bowie. Das Stück<br />
ist nicht nur das erste musikalische<br />
Lebenszeichen des Musikers<br />
seit über 10 Jahren, es ist auch<br />
eine Liebeserklärung an Berlin.<br />
Genauer gesagt an das Berlin der<br />
70er-Jahre, das damals Musiker<br />
aus aller Welt inspirierte. Durch die Mauer isoliert, hatte<br />
Berlin einen ganz eigenen Rhythmus, war ebenso düster wie<br />
verweigernd. Dieses alte Berlin existiert nicht mehr, aber<br />
es wurden Spuren hinterlassen. Überall gibt es Orte und<br />
Plätze, die ihre eigene musikalische Geschichte haben. Die<br />
Stadt wurde geprägt durch ihre berühmten Ex-Bewohner,<br />
ebenso wie Berlin diese prägte.<br />
Friedhof Grunewald,<br />
Bornstedter StraSSe 11-12, Grunewald<br />
Der ehemalige Selbstmörderfriedhof im Grunewald ist<br />
einer der meistverwunschenen Friedhöfe in Berlin. Abseits<br />
der Havelchaussee, mitten im Wald, liegt er versteckt<br />
und ist ohne Wegweiser schwer zu finden. Hier, im Grab<br />
36 Nummer 82, liegt seit mehr als 20 Jahren eine internatio-<br />
Es war in den späten 70ern, als sich Iggy Pops Band The 37<br />
nale Berühmtheit begraben. Christa Päffgen steht auf dem<br />
Grabstein und darüber in großen Lettern: Nico.<br />
In Köln geboren und in Berlin aufgewachsen, wurde Nico<br />
mit 18 Jahren als Model entdeckt. Sie spielte in Fellinis La dolce<br />
Vita und traf in New York auf Andy Warhol, der sie zur<br />
Leadsängerin der Band Velvet Underground machte. Als sie<br />
20 Jahre alt wurde, hatte Nico bereits alles erreicht. Die ganze<br />
Welt lag der blonden Schönen aus Deutschland zu Füßen.<br />
Aber Nico war anders. Sie hasste Mode und vor allem ihre<br />
Schönheit. Ihr harter Gesang, der so gar nicht zu ihrem hübschen<br />
Gesicht passen wollte, veränderte das Bild von Frauen<br />
in der Popwelt. In ihrer Musik spiegelte diese innere Zerrissenheit<br />
und traf den Nerv der Zeit. „Warum Selbstmord<br />
begehen, wenn Sie diese Platte kaufen können?“, hieß es zur<br />
Veröffentlichung ihres Albums The End. Sowohl Ian Curtis<br />
von Joy Division als auch die Band Bauhaus hoben Nicos<br />
Einfluss auf ihre eigene Musik hervor.<br />
Für eine lange Zeit war Nico heroinabhängig und zerstörte<br />
sich damit systematisch selbst. Am Ende ihres Lebens<br />
geisterte sie in abgedunkelten Hotelzimmern zwischen<br />
Paris, Berlin, New York und Ibiza umher. Frisch<br />
aus dem Entzug, starb sie am 18. Juli 1988 auf Ibiza an den<br />
Folgen einer Gehirnblutung. In Berlin wurde sie schließlich<br />
auf dem Friedhof im Grunewald begraben. Zu Beginn<br />
ihrer Karriere hatte sie sich diese Todesstätte für sich und<br />
ihre Mutter Margarete ausgesucht. Sie wusste, dass man<br />
hier früher Leute begrub, die ihrem Leben selbst ein Ende<br />
gesetzt hatten. Und obwohl es ein Unfall war, durch den<br />
sie ums Leben kam, liegt Nico jetzt auf diesem ehemaligen<br />
Selbstmörderfriedhof für Melancholiker begraben. Ganz<br />
weit weg von den anderen Ikonen ihrer Zeit. Denn sie wollte<br />
nie eine von ihnen sein.<br />
Winterfeldtplatz, Schöneberg<br />
Es ist kurz nach drei Uhr an einem kalten Januarmorgen.<br />
James Newell „Jim“ Osterberg, besser bekannt unter<br />
dem Namen Iggy Pop, kommt aus einem Club und möchte<br />
noch schnell jemanden aus einer Telefonzelle am Schöneberger<br />
Winterfeldtplatz anrufen. Er hat ein bisschen viel<br />
getrunken und ein paar Pillen eingeworfen. Eigentlich<br />
ist also alles wie immer. Doch als er wieder aus der Zelle<br />
heraus will, passiert nichts. Er drückt gegen die Tür. Einmal.<br />
Zweimal. Aber sie öffnet sich nicht. Jemand hat den<br />
Rockstar eingesperrt.<br />
In einem Anflug von Panik ruft er schließlich seine damalige<br />
Freundin an, die glaubt ihm allerdings kein Wort<br />
und legt gleich wieder auf.<br />
Bis sechs Uhr morgens sitzt Iggy Pop in der Telefonzelle<br />
fest. Dann entdeckt ihn schließlich ein Taxifahrer und befreit<br />
ihn mit einem Generalschlüssel.<br />
Wer den Popstar dort eingeschlossen hatte, weiß bis<br />
heute niemand. Aber warum ihm seine damalige Freundin<br />
Esther Friedman nicht half, erklärte sie später in einfachen<br />
Worten in einem Interview mit Zeit Online: „Bei einem<br />
Anruf um drei Uhr morgens war es nicht Jim, der sich meldete,<br />
sondern Iggy.“<br />
Stooges zum zweiten Mal aufgelöst hatte. Der Sänger befand<br />
sich in einer Sinnkrise und geriet durch seinen exzessiven,<br />
selbstzerstörerischen Lebensstil in eine starke<br />
Alkohol- und Drogenabhängigkeit. Nach mehreren Aufenthalten<br />
in Entzugskliniken in seiner Heimat, den USA,<br />
verschlug es den Exzentriker schließlich nach Berlin, zusammen<br />
mit dem damals ebenfalls stark drogenabhängigen<br />
David Bowie. Hier schaffte es der Musiker, sich langsam<br />
wieder zu fangen und seiner Karriere neuen Schwung<br />
zu geben. Er schloss einen Plattenvertrag bei RCA ab und<br />
produzierte gemeinsam mit Bowie das Album Lust for<br />
Life, auf dem auch sein erfolgreichster Hit „The Passenger“<br />
erschien. Diese sehnsüchtige Gier nach Leben, welche er<br />
in dem Song beschreibt, soll eine Hymne auf die Berliner<br />
S-Bahn und seine Fahrten raus zum Wannsee sein.<br />
Werk VI . Mixtape
38<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Kant Kino, KantstraSSe 54,<br />
Charlottenburg<br />
Läuft man am Tag einfach nur so am Kant Kino vorbei,<br />
wirkt es völlig unspektakulär. Aber es ist nicht nur eines<br />
der ältesten Kinos in Berlin, hier wurde Ende der 70er- und<br />
Anfang der 80er-Jahre auch Musikgeschichte geschrieben.<br />
Hier spielten Patti Smith, die Ramones oder Blondie ebenso<br />
wie eine damals noch weitgehend unbekannte Band aus<br />
England: Joy Division.<br />
In ihrer Heimat hatte sie es bereits zu einiger Bekanntheit<br />
gebracht, Konzerte gespielt und ein Album inklusiver<br />
einiger Singles auf den Markt geworfen. Jetzt sollte mit<br />
einer Tour durch die Niederlande, Belgien und die Bundesrepublik<br />
der Rest Europas erobert werden. Abschlussstation<br />
der Tournee: das Kant Kino in Berlin. Damals ahnte<br />
noch niemand, dass es der letzte Ort sein sollte, an dem<br />
sich die junge aufstrebende Band ihrem Publikum auf dem<br />
Festland zeigte.<br />
Das Konzert war an einem kalten Januarabend. Joy Divison<br />
spielten vor gerade mal 150 Leuten.<br />
„Die Atmosphäre war seltsam – irgendwie kalt und<br />
anonym. Man konnte beinahe meinen, das Böse zu spüren“,<br />
erinnert sich noch Jahre später Bernard Sumner, der<br />
ehemalige Gitarrist von Joy Division.<br />
Vier Monate nach diesem Auftritt nahm sich der Sänger<br />
Ian Curtis das Leben. Er war 23 Jahre alt. Wenige<br />
Wochen vor seinem Tod erschien die Single „Love Will<br />
Tear Us Apart“, das Stück wurde kurz danach zu einem<br />
Welthit. Der Liedtext wird oft mit Curtis’ Eheproblemen<br />
in Verbindung gebracht. Seine Witwe Deborah verewigte<br />
die Lyrics am Ende sogar auf seinem Grabstein. Curstis’<br />
Suizid ließen ihn und seine Band zu einer Legende werden.<br />
Keine fünf Wochen nach seinem Tod erschien die<br />
Single „Komakino“, zu der Ian Curtis von seinem Auftritt<br />
im Kant Kino inspiriert wurde.<br />
Dresdener StraSSe 11, Kreuzberg<br />
„Ich würde gern für ein paar Monate in Berlin leben“,<br />
soll Nick Cave eines Tages ganz spontan und angetrunken<br />
zu einem Freund in London gesagt haben. Genau das<br />
tat er bald darauf und aus ein paar Monaten wurden fast<br />
acht Jahre. 1983 zog er bei seinem Freund Christoph Dreher<br />
von der Punkband Die Haut in eine Fabriketage in der<br />
Dresdener Straße 11 in Berlin-Kreuzberg ein.<br />
Oft ist der Sänger während dieser Zeit mitten in der<br />
Nacht aus dem Schlaf senkrecht aus dem Bett hochgeschreckt<br />
und fing an, laut zu schreien. Seinem besorgten<br />
Mitbewohner erklärte er darauf immer: „Das ist normal.<br />
Das mache ich oft.“<br />
Heute sagt Nick Cave, er könne nicht über seine Berliner<br />
Zeit sprechen, weil er sich nicht mehr daran erinnere. Als<br />
er damals in der geteilten Stadt ankam, herrschte so etwas<br />
wie Weltuntergangsstimmung – da war die Mauer und diese<br />
unterschwellige Angst vor dem Kalten Krieg. Aber es war ein<br />
perfekter Ort für den jungen Nick Cave, der damals pleite,<br />
perspektivlos und vor allem heroinabhängig war. Er schaffte<br />
es, sich in der Stadt neu zu erfinden und zog eine ganze<br />
Jugendbewegung mit. Nachdem er seine Band The Birthday<br />
Party aufgelöst hatte, stolzierte er jede Nacht von Club<br />
zu Club und eroberte Berlin im Sturm. Durch eine Konzert-Szene<br />
in dem Wenders-Film Der Himmel über Berlin<br />
wurde er zum Idol der Kunst- und Musikszene. Bald trugen<br />
alle die für Nick Cave typischen Anzüge, gebügelte Hemden<br />
und Lederhandschuhe. Die Stadt baute ihn auf, hier galt er<br />
als Exot, irgendwie cool und irgendwie gefährlich.<br />
Im Club Risiko traf Cave auf Blixa Bargeld und gründete<br />
mit ihm The Bad Seeds. Mit Musikern, die nicht wussten,<br />
was genau sie eigentlich wollten, beginnt er, mehrere, kommerziell<br />
erfolgreiche Alben zu veröffentlichen. Anstelle lärmender<br />
Punkmusik von The Birthday Massacre singt er jetzt<br />
kunstvollen, dunklen Blues und gefühlvolle Balladen.<br />
Als Cave kurz vor dem Mauerfall weiterzog und Berlin<br />
verließ, feierte man ihn als den großen Überlebenden eines<br />
wilden Jahrzehnts, der ohne Plan in der Stadt gestrandet<br />
war und es zum stilprägenden Künstler schaffte.<br />
Weinstube Ganymed,<br />
Schiffbauerdamm 5, Mitte<br />
In der Weinstube Ganymed trifft sich heute gern die<br />
Polit-Prominenz. Das prunkvolle, stuckverzierte Lokal<br />
am Schifferbauerdamm liegt nah am Bundestag und<br />
auch direkt an der ehemaligen Sektorengrenze, die einst<br />
den Osten vom Westen trennte. Damals passte das Nobelrestaurant<br />
im Ostteil der Stadt in keines der sozialistischen<br />
Raster. Mit französischer Speisekarte und Kellnern<br />
in Frackhemden mit echten Perlmuttknöpfen galt es als<br />
kleines Tor zum Westen.<br />
Es war einer der weniger bekannten Lieblingsplätze von<br />
Popikone David Bowie während seiner legendären Berliner<br />
Jahre. Bis heute wird Bowie und seine Beziehung<br />
zu Berlin in den Medien diskutiert. Alle reden von der<br />
Hauptstraße, den Hansa-Studios und den langen Nächten<br />
im Club Dschungel. Aber fasziniert war Bowie auch<br />
vom Osten der Stadt. Sein britischer Pass ermöglichte es<br />
ihm problemlos, über den Checkpoint Charlie zwischen<br />
den beiden Stadthälften zu wandern. Am Tag fuhr er oft<br />
raus zum Wannsee und am Abend besuchte er gern die<br />
Vorstellungen des Berliner Ensembles, um sich danach<br />
gleich um die Ecke in der Weinstube Ganymed niederzulassen.<br />
Nach der künstlichen Welt der USA, insbesondere<br />
Hollywoods, in der Bowie zuvor gelebt hatte, muss ihm<br />
der Osten von Berlin wie eine Reise in eine andere Zeit<br />
vorgekommen sein.<br />
Berlin inspirierte, faszinierte und kurierte ihn sogar weitgehend<br />
von seinen damaligen Depressionen und seiner<br />
Kokainsucht.<br />
Erst Anfang diesen Jahres überraschte David Bowie die<br />
Musikwelt mit seinem Comeback und einem Anflug von<br />
Berlin-Sehnsucht. „Where Are We Now?“ ist eine Hommage<br />
an die Stadt, die ab 1976 für drei Jahre sein Zuhause<br />
war und die ihn bis heute offensichtlich nicht losgelassen hat.<br />
Eisengrau, GoltzstraSSe 37, Schöneberg<br />
Im Berlin Anfang der 80er-Jahre lag Neuerung und Aufbruch<br />
in der Luft. Es war die Zeit der Untergrundszene und<br />
der Entstehung ganz neuartiger Musik. Plötzlich gab es<br />
überall Punkbands mit klangvollen Namen wie Die Tödliche<br />
Doris, Malaria! oder Einstürzende Neubauten.<br />
Sie alle gelten als Pioniere in der experimentellen Musik,<br />
beeinflussten Bands wie Depeche Mode und haben eines<br />
gemeinsam: die Goltzstraße 37 in Berlin-Schöneberg.<br />
Eigentlich kaum vorstellbar, denn heute befindet sich an<br />
dieser Ecke und auf drei Etagen verteilt ein gut sortierter<br />
Hobby- und Bastelshop.<br />
Vor 20 Jahren hieß der Laden noch Eisengrau und wurde<br />
von Christian Emmerich bewohnt. Einem dünnen, sehr<br />
nervösen jungen Mann, der gern mit synthetischen Drogen<br />
experimentierte und später unter dem Künstlernamen<br />
Blixa Bargeld als langjähriger Gitarrist der Bad Seeds und<br />
vor allem als Gründungsmitglied der Einstürzenden Neubauten<br />
in die Musikgeschichte eingehen sollte.<br />
Ursprünglich gehörte der Laden, in dem sich der junge<br />
Musiker eingenistet hatte, den beiden Frauen Bettina Köster<br />
und Gudrun Gut. Das Eisengrau war eine kleine Modeboutique<br />
für Punk-Klamotten, in der es selbstgestrickte<br />
grau-schwarze Pullover zu kaufen gab. Doch schnell entwickelte<br />
er sich zum Treffpunkt der deutschen Punk- und<br />
New-Wave-Szene.<br />
Der junge Alex Hacke, damals besser bekannt als Alexander<br />
von Borsig, späterer Bassist bei den Neubauten,<br />
schwänzte hier regelmäßig die Schule. Sowohl der Technopionier<br />
Dr. Motte, Ben Becker und DJ Fetisch von den Stereo<br />
MCs trafen sich hier zum Kaffeetrinken, Flipperspielen<br />
oder einfach nur zum Tratschen.<br />
Das Sortiment des Eisengrau erweiterte sich über die Zeit<br />
um allerlei seltsame Sammelsurien und ein Kassetten- und<br />
Plattenlabel, um die aufkeimende Szene zu fördern.<br />
Hier erschienen die ersten Platten der Einstürzenden<br />
Neubauten, limitiert auf 20 Stück, hier fanden die ersten<br />
Bandproben und Konzerte statt, direkt neben selbstgemachten<br />
Farbfolienportemonnaie aus Sexmagazinen vom<br />
Sperrmüll. Und von hier wurde der deutsche Dark Wave<br />
hinaus in die Welt getragen.<br />
39<br />
Werk VI . Mixtape
40<br />
Werk VI . Mixtape<br />
von Inga Schwarz<br />
Fotos: Sarah Sondermann<br />
Christiane P. ist seit ihrem 13. Lebensjahr Scooter-<br />
Fan. Die heute 33-Jährige hat seitdem fast jedes<br />
Konzert des Happy-Hardcore-Trios besucht. Ihr<br />
ganzes Leben dreht sich um die kommerziell<br />
erfolgreichste deutsche Techno-Band. Die Musik<br />
von Scooter, sagt Christiane, hätte es<br />
ihr sogar einmal gerettet. Ein Porträt<br />
über den wahrscheinlich größten<br />
Fan Deutschlands.<br />
41<br />
Werk VI . Mixtape<br />
In Christianes<br />
Fan-Höhle wachen<br />
Stofftiere und<br />
Scooter-Poster
Christiane mit einem<br />
ihrer kostbarsten<br />
Sammlerstücke:<br />
Diese Flying-V-Gitarre<br />
gehörte einst H. P.<br />
Baxxter, bevor er<br />
sie auf einer Bühne<br />
zerschlug<br />
Im Bahnhof in einem Stadtteil des nordrhein-westfälischen<br />
Euskirchen gibt es nur<br />
ein Gleis. Zweimal stündlich fährt hier ein<br />
Regionalzug in Richtung Norden oder Süden.<br />
Das Bahnhofsgelände sieht verlassen<br />
aus. Nur eine einzige Person mit kräftiger<br />
Statur wartet vor der betonierten Treppe, die<br />
zum Gleis führt. Auf Christianes großzügig<br />
geschnittenem T-Shirt steht etwas in leuchtenden<br />
Buchstaben geschrieben. Ihre langen,<br />
dunkelblonden Haare und das schwarze<br />
Shirt wehen im Wind, als sie lässig, aber etwas<br />
unsicher eine Hand zum Gruß hebt. Von<br />
weitem sieht sie aus, als käme sie gerade von<br />
einem Rockkonzert. Erst als der Schriftzug<br />
auf ihrem T-Shirt lesbar wird, ist klar: Diese<br />
Frau wäre auf einem Rockkonzert völlig fehl<br />
am Platz: „Scooter – The Big Mash Up“ steht<br />
da in weißen Großbuchstaben. Von ihren<br />
insgesamt 65 Scooter-Shirts ist dieses momentan<br />
ihr liebstes. Gekauft hat sie es auf einem Konzert der<br />
gleichnamigen Tour vor einem Jahr.<br />
Christiane besucht fast jedes Konzert von Scooter. Seit<br />
Gründung der Band im Jahr 1993 müssen es um die 500<br />
gewesen sein, schätzt sie. Ein paar wenige fehlen auf ihrer<br />
Liste. Reisen nach Spanien, Finnland, Frankreich, Belgien,<br />
England, Irland oder Ungarn gehören allerdings zur Routine:<br />
Um Scooter auf Konzerten entgegenzufiebern, fährt<br />
Christiane gerne in die großen Metropolen der Welt. Doch<br />
zu Hause ist sie in Euskirchen. Seit 1987 lebt sie in dieser<br />
eher ländlichen Gegend. Einen Grund, in eine größere<br />
Stadt zu ziehen, sieht sie nicht. „Ich mag die Idylle und die<br />
Ruhe. Eigentlich bin ich auch ein sehr ruhiger Mensch“,<br />
sagt sie und schließt die Tür zu ihrer Wohnung auf. Ihren<br />
Schlüsselband schmückt ein Scooter-Schriftzug.<br />
Auf geschätzten 40 Quadratmeter Wohnraum verteilt<br />
sich all das, was sich in fast 20 Jahren Fan-Dasein angesammelt<br />
hat. An den Wänden reihen sich Scooter-Poster<br />
aneinander, Plakate von lange zurückliegenden Touren<br />
lassen etwas mitgenommen ihre Ecken hängen. CD-Regale,<br />
in denen sich die sorgfältig sortierte Scooter-Sammlung<br />
befindet, drohen unter der Last zusammenzubrechen. Das<br />
Auge versucht vergeblich, eine freie Stelle an Wänden und<br />
Türen zu finden. In zwei von drei Zimmern der Wohnung<br />
herrscht die absolute Scooter-Welt. „Das eine habe ich erst<br />
vor Kurzem dazubekommen, weil die anderen fast auseinandergeplatzt<br />
sind“, sagt Christiane, etwas peinlich berührt.<br />
Von alten Videokassetten über DVDs, CDs und Schallplatten<br />
bis hin zu Zeitschriften und Plakaten besitzt sie so<br />
ziemlich alles, was Scooter jemals veröffentlicht hat. Nahezu<br />
alle ihre Sammlerstücke sind original unterschrieben.<br />
Stolz zeigt sie auf ramponierte Flying-V-Gitarren hinter der<br />
Zimmertür. „Die hat H.P. auf der Bühne zerdeppert“, sagt<br />
sie, und ihre Augen fangen an zu leuchten. Auf einem ihrer<br />
unzähligen Konzertbesuche konnte Christiane eine der Gitarren<br />
abstauben. „Die andere wollte H.P. wegschmeißen,<br />
als ich die Jungs spontan in Hamburg im Studio besucht<br />
habe“, sagt sie. „Da habe ich sie natürlich sofort mitgenommen.“<br />
Das Management von Scooter hält nichts von<br />
spontanen Studiobesuchen, das hat Christiane schon am<br />
eigenen Leib erfahren. Sie hält sich inzwischen ein bisschen<br />
zurück. „Die waren irgendwann schon richtig genervt, und<br />
das möchte ich natürlich auch nicht“, gibt sie zu. Die Frau,<br />
die für Scooter lebt, möchte sich nicht aufdrängen, weil sich<br />
das nicht gehört. Der große Fan, der sie ist, kommt nur in<br />
Konzerthallen während der Autogrammstunden aus ihr<br />
heraus. Vor allem im Berufsleben hat er nichts zu suchen.<br />
Daher versucht Christiane, ihre Arbeit klar vom Privatleben<br />
und damit auch von Scooter zu trennen. „Meine Kollegen<br />
würden das nicht verstehen“, sagt sie.<br />
Bis vor kurzem arbeitete Christiane für eine Zeitarbeitsfirma<br />
an einer Papierpresse. Meistens wurde sie für die Nachtschichten<br />
eingeteilt. Keinesfalls ein Job, von dem sie immer<br />
geträumt hat. Doch als gelernte Bäckerin sind ihre Möglichkeiten<br />
begrenzt. Am liebsten hätte sie beruflich etwas mit<br />
Computern oder Handys zu tun. Denn neben Scooter sind<br />
die ebenfalls aus ihrem Alltag nicht mehr wegzudenken. Sie<br />
zeigt auf einige Computer, die verteilt im Raum stehen. „Ich<br />
baue sie auch selbst zusammen“, sagt sie.<br />
Als Christiane vor knapp 20 Jahren das erste Mal „Hyper<br />
Hyper“ im Radio hörte, konnte sie mit dem Stück erstmal<br />
nur wenig anfangen. „Rhapsody in E“, ebenfalls auf der<br />
Single-CD, überzeugte sie allerdings sofort. Nachdem sie<br />
dann auch das Musikvideo zu „Hyper Hyper“ im Fernsehen<br />
gesehen hatte, war es endgültig um sie geschehen. „Als<br />
ich H.P. Baxxter in dem Video sah, wusste ich, er ist ein Engel.<br />
Ihm fehlen nur noch die Flügel.“ Christiane schwärmt<br />
für seine blonden Haare und die blauen Augen. „Darin<br />
kann ich mich vergessen“, sagt sie verträumt.<br />
Das Vergessen spielt in Christianes Leben eine große<br />
Rolle. Schon in den frühen Kindheitsjahren hatte die heute<br />
33-Jährige das erste Mal mit Leukämie zu kämpfen. Sie<br />
schaffte es, die Krankheit zu besiegen. Doch der Tod ihrer<br />
Eltern und ein Krankheitsrückfall haben sie zu einem<br />
Menschen gemacht, der in sich gekehrt und zurückgezogen<br />
lebt. „Ich hatte nie viel Erfolg im Leben, erst durch Scooter<br />
bin ich aus mir herausgekommen, sah wieder einen<br />
Sinn im Leben und konnte richtig gesund werden“, sagt<br />
sie mit ernster Stimme. Als es Christiane gesundheitlich so<br />
schlecht ging, hatte sie nur einen einzigen Wunsch: „Ich<br />
dachte mir, auch wenn ich vielleicht bald sterbe, vorher<br />
möchte ich H.P. Baxxter kennenlernen“, erinnert sie sich.<br />
Als Christiane damals anfing, Scooter hinterherzureisen,<br />
ging es ihr hauptsächlich um H.P. Baxxter. „Mit 16 Jahren<br />
war ich in diesen Mann verliebt, er ist der Grund, warum<br />
ich Scooter-Fan geworden bin“, sagt sie. Heute ist Christiane<br />
erwachsen, und ihr sind alle drei Bandmitglieder sowie<br />
auch der Manager Jens Thele gleich wichtig. Attraktiv findet<br />
sie H.P. nach wie vor. Auf ihrem Facebook-Profilbild<br />
grinst er in die Kamera, und auch ihren Computerbildschirm<br />
ziert ein Foto von ihm. Christiane ist schon seit vielen<br />
Jahren in einer festen Beziehung. Äußerlich haben ihr<br />
Freund und H.P. Baxxter immerhin zweierlei gemeinsam:<br />
dieselbe Haar- und Augenfarbe. Eifersucht spiele in der Be-<br />
Scooter gehören<br />
mit über 20 Top-<br />
Ten Hits in den<br />
deutschen Single<br />
Charts zu den<br />
erfolgreichsten<br />
Bands Deutschlands.<br />
Der erfolgreichste<br />
Song<br />
der Techno-Band<br />
ist Hyper Hyper<br />
aus dem Jahr<br />
1994. Er verschaffte<br />
Scooter<br />
den internationalen<br />
Durchbruch<br />
und hielt sich<br />
24 Wochen in<br />
den deutschen<br />
Single-Charts. Die<br />
Band besteht heute<br />
aus dem Frontmann<br />
H.P. Baxxter<br />
(eigentlich Hans<br />
Peter Geerdes),<br />
Rick J. Jordan<br />
(eigentlich Hendrik<br />
Stedler) und<br />
Michael Simon. Zu<br />
ihren bekanntesten<br />
Stücken zählen<br />
„How Much<br />
Is The Fish“ und<br />
„Wicked!“. Bis<br />
heute verkaufte die<br />
Band weit mehr<br />
als 25 Millionen<br />
Tonträger und<br />
haben dafür über<br />
80 Gold- und<br />
Platin-Schallplatten<br />
bekommen.<br />
ziehung keine Rolle. „Mein Freund hat mich so kennengelernt.<br />
Er muss das akzeptieren.“ Dem einen oder anderen<br />
mag Christianes extremes Fan-Dasein auch schon seltsam<br />
vorgekommen sein. „Ich wurde schon mal vor die Wahl<br />
gestellt: entweder Scooter oder ich. Da habe ich den Kerl in<br />
den Wind geschossen.“<br />
Christiane hat H.P. Baxxter und seine Bandmitglieder<br />
Rick J. Jordan und Michael Simon mehr als 20 Mal persönlich<br />
getroffen. „Ich gehöre schon zum Inventar“, sagt sie.<br />
Meistens versucht sie, die Band vor oder nach den Konzerten<br />
zu erwischen, um ein paar Fotos zu schießen. An<br />
das erste Zusammentreffen mit H.P. erinnert sich Christiane<br />
gut. „Es war 1997 auf der ,The Age Of Love’-Tour in<br />
Hamburg. Eine Freundin und ich haben die Jungs einfach<br />
vor dem Eingang abgepasst.“ Ihre regelmäßigen Versuche,<br />
die Band persönlich zu treffen, kommen nicht immer gut<br />
an. „Manchmal reagieren sie schon genervt, vor allem, als<br />
ich H.P. einmal privat gesehen habe und ihm ,Hallo‘ sagen<br />
wollte.“ Seitdem versucht Christiane, die Privatsphäre des<br />
Trios zu respektieren und nur auf Konzerten die Crew zu<br />
fragen, ob sie die Band kurz treffen darf. „Ich habe dann<br />
einfach Glück, wenn es klappt“, sagt sie und schaut gedankenversunken<br />
auf ihr Handy, von dessen Bildschirm ihr<br />
H.P. Baxxters blaue Augen entgegen strahlen.<br />
Einen Moment lang verharrt Christiane in ihren Erinnerungen,<br />
dann steht sie plötzlich auf. „Ich habe die schönste<br />
Autogramm-Sammlung“, sagt sie begeistert und sucht<br />
etwas in einem Schrank, in dem es von Scooter-Artikeln<br />
nur so wimmelt. Einen Augenblick später kommt sie mit<br />
einem riesigen Fotoalbum zurück. „Ich gehe auf jede Autogrammstunde“,<br />
sagt sie stolz. Auf einem etwas vergilbten<br />
Exemplar von 1994 lächelt ihr ein sehr viel jüngerer H.P.<br />
Baxxter entgegen. Verträumt blättert Christiane durch ihre<br />
Sammlung, zeigt hier und da auf eine Karte. „Für Christiane“<br />
steht dort fast überall geschrieben. „Das ist jetzt<br />
auch schon 13 Jahre her“, erinnert sie sich, als sie ihre<br />
Lieblings-Autogrammkarte zeigt. „Da sieht H.P. einfach<br />
supersexy aus.“ Für kein Geld der Welt würde sie diese Raritäten<br />
verkaufen.<br />
In ihrer Wohnung hört Christiane momentan nur selten<br />
Musik. Schuld daran ist ein Hörsturz auf dem rechten Ohr,<br />
den sie der Lautstärke auf den Konzerten zu verdanken hat.<br />
Auf die Live-Auftritte von Scooter möchte sie aber trotzdem<br />
nicht verzichten. Mit Ohrstöpseln im Gepäck reist sie<br />
weiter in fast alle Länder, in denen Scooter auftreten. Besonders<br />
bei den Konzerten kann Christiane alles um sich<br />
herum vergessen und ganz mit der Musik davonschweben.<br />
Es ist ein Erlebnis, das Christiane mit Worten kaum<br />
beschreiben kann: ausrasten, tanzen, feiern trifft es ganz<br />
gut. Natürlich in der ersten Reihe. „Ich bin immer vorne.<br />
Der Platz gehört mir“, sagt sie. Um diese Position bei<br />
jedem Konzert zu behaupten, kommt es schon mal vor,<br />
dass sie 13 Stunden vor Einlass vor der Tür steht. Das sei<br />
aber ein Extremfall. „Normalerweise kann man ab 19 Uhr<br />
rein. Dann bin ich immer zwischen 11 und 12 Uhr mittags<br />
da“, sagt sie, als sei es ganz selbstverständlich. Sobald die<br />
Türen aufgehen, könne es auch mal mörderisch werden.<br />
Ohne Rücksicht auf Verluste versucht jeder, nach ganz<br />
vorne zu kommen. Christiane erinnert sich an ein Konzert<br />
in Prag, auf dem ihr ein Fan im Gedränge mit voller<br />
Wucht seinen Ellenbogen ins Gesicht rammte. Auch während<br />
des Live-Auftritts kann es gefährlich werden. „Eines<br />
meiner heftigsten Konzerte war 1997 in Mainz“, sagt sie.<br />
„Scooter haben vor 40.000 Fans gespielt, danach hatte ich<br />
am ganzen Körper blaue Flecken, und mein T-Shirt war<br />
zerrissen.“ Wenn Scooter auf der Bühne „Maria, I Like It<br />
Loud“, „Fuck The Millennium“ oder „Wicked“ spielen, ist<br />
es für Christiane an der Zeit, alles andere hinter sich zu lassen.<br />
Ihre Vergangenheit, die von schlechten Erinnerungen<br />
geprägt ist, gerät für sie völlig in Vergessenheit. Auf einem<br />
Scooter-Konzert kann sie neuen Lebensmut schöpfen und<br />
dadurch die Zukunft optimistischer betrachten.<br />
Über ihre Vorliebe für Scooter hat Christiane schon<br />
einige Freundschaften knüpfen können. Viele hat sie auf<br />
Konzerten oder im Internet bei Facebook oder in Scooter-<br />
Foren kennengelernt. Doch nicht alle sind gut auf Christiane<br />
zu sprechen. „Manche Fans sind neidisch auf das, was<br />
ich durch Scooter schon alles erlebt habe. Sie hätten es lieber<br />
selbst erlebt“, sagt sie. „Ich wurde schon oft angefeindet<br />
und bloßgestellt, aber ich bleibe so, wie ich bin.“ Nach 20<br />
Jahren Fan-Dasein haben die Menschen, die ihr nahe stehen,<br />
akzeptiert, dass sie an ihrem Leben und ihrer Liebe zu<br />
Scooter nichts ändern möchte. Dass die Charterfolge der<br />
Band momentan eher dürftig ausfallen, stört sie nicht. Sie<br />
glaubt fest daran, dass Scooter auch noch im Senioren-Alter<br />
live auf der Bühne stehen werden. Und dabei wird sie selbst<br />
natürlich nicht fehlen. Doch zunächst wird sie sämtliche<br />
Konzerte der „20 Years Of Hardcore“-Tour besuchen, die<br />
im nächsten Jahr ansteht. Eine Karte für Hamburg hat sie<br />
sich bereits gekauft. Etwa 50 Euro zahlt Christiane für ein<br />
Ticket, gern sogar. 70 Prozent ihrer monatlichen Ausgaben<br />
gehen auf Scooters Konto, schätzt sie. „Ich gönne mir sonst<br />
keinen Luxus.“ Christiane steht erneut auf und hält das für<br />
Scooter typische Megaphon in die Luft. „Wickeeeeeeed“,<br />
ruft sie hinein, doch die Batterie des Geräts scheint leer zu<br />
sein. Vor ein paar Jahren hat sie sich das Megaphon-Motiv<br />
auf den rechten Oberarm tätowieren lassen. Der Tätowierer<br />
hätte ihr zwar davon abgeraten, doch für Christiane gibt<br />
es schon seit „Hyper Hyper“ keinen Zweifel daran, dass<br />
Scooter sie bis an ihr Lebensende begleiten wird.<br />
Als der Regionalzug in Richtung Köln einfährt, ist der<br />
Bahnhof genauso verlassen wie einige Stunden zuvor.<br />
Mit dem Megaphon in der linken und ihren fünf liebsten<br />
Scooter-Shirts in der rechten Hand ist sie mit zum<br />
Gleis gekommen, um sich zu verabschieden. „Bis bald in<br />
Berlin“, ruft sie, ein bisschen traurig. Ja, spätestens dann,<br />
wenn Scooter wieder spielen.<br />
43<br />
„Ich wurde schon mal vor die Wahl gestellt<br />
– entweder Scooter oder ich – da<br />
habe ich den Kerl in den Wind geschossen“<br />
Werk VI . Mixtape
Fotograf: Matthias Wehofsky<br />
Produktion: Carmen Benker,<br />
Daliah Hoffmann, Valentine<br />
Linke, Jeannette Petersmann,<br />
Inga Schwarze, Annika Zapp<br />
Models: Johanna (Seeds), Bianca<br />
(Seeds), Blandina (Seeds)<br />
Hair/Make-Up: Patrycja Postek<br />
(Blossom) & Eavan Derbyshire<br />
44<br />
45<br />
*Pink Floyd, 1973<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Us and<br />
Them<br />
*Wo Musiker sind, sind auch<br />
Mädchen. Und wo Mädchen<br />
sind, ist auch Mode. Eine<br />
After-Show-Party mit der<br />
Berliner Band 8-Bit Chess Club.
Vorherige Seite:<br />
Jakob: T-Shirt, gesehen<br />
bei TK Maxx. Cap: Privat<br />
BusTea: Jacke von<br />
Fred Perry. T-Shirt, gesehen<br />
bei TK Maxx<br />
Falq: Hemd von Guess.<br />
Jeans & T-Shirts: Privat<br />
Blandina: Cap von<br />
New Era. Blazer: Vintage<br />
Johanna: Rock von Selected.<br />
Lederjacke: Vintage<br />
Bianca: Kleid von Guess.<br />
Kette: Stylists own<br />
Ori: Lederjacke von Guess<br />
Johannes: Shirt: Privat<br />
46 47<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Blandina:<br />
Fake-Fur-Jacke<br />
von Vero Moda<br />
Falk: T-Shirt,<br />
gesehen bei TK Maxx<br />
Fotocredit<br />
Fotocredit<br />
Johanna: Lederjacke:<br />
Vintage. Rock<br />
von Selected Femme.<br />
Shirt: Stylists own
Bianca: Top von American Apperal.<br />
Jeans von Paige. Armreif: Vintage<br />
BusTea: Jeanshemd von Guess. Schuhe<br />
von Filippa K.. T-Shirt und Hose: Privat<br />
Johannes: Shirt und Hose: Privat<br />
Johanna: Weste von Only. Transparente<br />
Bluse von Vero Moda. Shorts von Mavi.<br />
Boots von Urban Outfitters<br />
48 49<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Fotocredit<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Bianca: Hut von by Malene<br />
Birger. Jeansweste: Vintage<br />
Johanna: Goldener Blazer,<br />
über Nelly. Jeanshemd<br />
von Vero Moda. Lederhose<br />
von Topshop
50<br />
51<br />
Fotocredit<br />
Fotocredit<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Werk VI . Mixtape<br />
V.l.n.r.:<br />
BusTea: T-Shirt, gesehen bei TK Maxx.<br />
Jeans von Guess. Chucks: Privat<br />
Bianca: Lederhose von by Malene<br />
Birger. Top von Guess. Leo-Pelzjacke<br />
und Schuhe: Stylists own<br />
Ori: T-Shirt von Zoo York. Schuhe<br />
von Filippa K.. Hose: Privat<br />
Johannes: Cap von New Era. Pullover<br />
von Cheap Monday. Lederjacke,<br />
Hose und Sneaker: Privat<br />
Blandina: Jeansjacke von Cheap<br />
Monday. Kleid und Schuhe von<br />
Monki. Kette von by Malene Birger<br />
Jakob: Cap: New Era. Jeansjacke<br />
von G-Star. Jeans, T-Shirt<br />
und Sneaker: Privat<br />
Falq: T-Shirt, gesehen bei TK<br />
Maxx. Jeans: Privat Johanna:<br />
Weste, über Nelly. Spitzenbody,<br />
gesehen bei TK Maxx. Jeans-Shorts<br />
von Guess. Boots: Stylists own
Achtland<br />
Designer: Thomas Bentz (r.), Oliver Lühr<br />
52<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Zwei Künste,<br />
eine Welt<br />
Noch nie zuvor standen sich Musik und Mode so nah wie heute.<br />
Musiker gründen Modelabels oder laufen als Model über den<br />
Laufsteg. Designer entwerfen Bühnenkostüme oder buchen<br />
Sänger für ihre Kampagnen – wie jüngst Hedi Slimane für Saint<br />
Laurent Paris. Wir wollten wissen, was deutsche Musiker und<br />
Designer zu dieser Symbiose sagen.<br />
Interviews: Jeannette Petersmann<br />
Ben Ivory<br />
Popmusiker<br />
Mode ist?<br />
Ben: Eine Art Religion.<br />
Welcher Modedesigner ist ein Visionär für dich?<br />
Jean Paul Gaultier. Er hat eine ganz eigene<br />
Sprache entwickelt, zum Beispiel mit den<br />
BHs für Madonna. Gaultier ist sich treu<br />
geblieben, auch wenn Kollektionen mal nicht<br />
so kommerziell erfolgreich sind.<br />
Welcher Berliner Designer macht Mode,<br />
die zu dir passt?<br />
Ich mag Sopopular. Und natürlich<br />
auch Kilian Kerner, mit dem ich in den<br />
letzten fünf Jahren immer wieder<br />
zusammengearbeitet habe. Das hat auch<br />
mein Interesse für Mode geweckt.<br />
Wo gehst du gern shoppen?<br />
Leider bei Zara und H&M. Ich weiß, das ist<br />
gar nicht gut. Auch bei All Saints und Kilian Kerner.<br />
Ich bekomme allerdings auch viele Sachen<br />
geschenkt, was durchaus praktisch ist (lacht).<br />
Wie würdest du deinen Modestil beschreiben?<br />
Ich sehe meine Kleidung als eine Art Rüstung,<br />
daher sind mir gerade die Formen wichtig.<br />
Fotos: Verena Brühning<br />
Man kann eben nicht nur seine Stimmung<br />
mit Mode ausdrücken, sondern auch den<br />
Körper verändern.<br />
Gibt es auch musikalische Stilvorbilder, die dich<br />
geprägt haben?<br />
Michael Jackson hat mich modisch beeinflusst.<br />
Aber auch ganz klar David Bowie, der<br />
ist ja super vielseitig. Ich bemühe mich, Stile<br />
nicht zu kopieren, sondern sie individuell<br />
weiterzuführen.<br />
Was war deine absolut größte Modesünde?<br />
Cordhosen mit riesengroßem Schlag. Meine<br />
Schwester und ich waren damals bei der Antifa<br />
und trugen dazu Doc Martens (lacht).<br />
Welche Stadt gefällt dir modisch besonders gut?<br />
Stockholm, die Stadt ist ein wenig mein Zuhause<br />
geworden. Hier herrscht ein ganz anderer<br />
Umgang mit Mode, die Leute wissen einfach,<br />
was ihnen steht und wie sie es tragen müssen.<br />
Du hast eine Ausbildung als Fotograf.<br />
Hast du einen Lieblingsmodefotografen?<br />
International auf jeden Fall Steven Klein.<br />
Ich mag seinen Stil total, obwohl er natürlich<br />
sehr kommerziell geworden ist. Held<br />
meiner Kindheit ist aber auch Sven Marquardt.<br />
Fotocredit<br />
Fotocredit<br />
Musik ist?<br />
Thomas: Alles<br />
Oliver: Emotion<br />
Euer Lieblingssong?<br />
O: „Don’t Rain On My Parade” von Barbra Streisand<br />
und „Make Your Own Kind of Music” von Mama<br />
Cass Elliot. Letzteres ist sowas wie unser Label-Motto.<br />
T: Es sind eher die Künstler, zu denen ich immer<br />
wieder zurückkomme. Dinah Washington,<br />
Bobby Womack oder Nina Simone begleiten mich<br />
schon mein ganzes Leben.<br />
Seid ihr in der Musik so harmonisch wie in der Mode?<br />
T: Oliver ist der visuelle Mensch. Ich bin derjenige,<br />
der die Musik aussucht und auch viel konsumiert.<br />
Ich kann nicht ohne Musik leben. Ich liebe Dolly P<br />
arton, Oliver hasst sie (beide lachen).<br />
Wo trifft man euch nachts in Berlin?<br />
T: Wir sind viel zu alt, um wegzugehen (lacht).<br />
O: Die Bässe von den umliegenden<br />
Clubs hören<br />
wir in unserem Atelier. Das<br />
ist mein „Passiv Partying“.<br />
In der King Size Bar oder im<br />
Pauly Saal trifft man uns aber<br />
noch häufiger.<br />
Welches war euer letztes Konzert?<br />
O: Scissor Sisters.<br />
T: Nee, ich glaube Grace Jones,<br />
das war das letzte!<br />
Mit welchem Musiker würdet<br />
ihr gern mal tauschen?<br />
T: Die meisten Musiker,<br />
die ich cool finde, waren<br />
heroinabhängig (lacht).<br />
O: Mit Tina Turner (Thomas<br />
nickt ihm aufgeregt zu). Sie ist<br />
einfach fantastisch. Ihre Musik<br />
ist eine wahnsinnige Passion.<br />
Eure größte Konzertsünde?<br />
O: Dieter Thomas Kuhn mit 17<br />
Jahren. Da sind wir in Lübeck<br />
damals richtig abgegangen.<br />
T: Bei mir war es Madonna mit 19 Jahren.<br />
Aber Dieter Thomas Kuhn, krass (lacht).<br />
Das ist auch der Grund, warum ich die Musik aussuche.<br />
Welche Musikerin würdet ihr gerne mal in Achtland sehen?<br />
T: Grace Jones. Sie ist einer der letzten echten<br />
Freigeister und funktioniert einfach nicht nach Regeln.
Sascha Braemer<br />
Techno-DJ und Produzent<br />
Mode ist?<br />
Sascha: Immer individuell.<br />
Wie wichtig ist dir Mode?<br />
Sehr wichtig. Ich könnte mir<br />
auch vorstellen, mein eigenes<br />
Label aufzuziehen.<br />
Welcher Musiker hat deinen<br />
Modestil geprägt?<br />
Eine Zeit lang Depeche Mode.<br />
Aber ich hatte wenige Stilvorbilder.<br />
In den 90ern war ich aber ein absoluter<br />
Raver und sah auch so aus.<br />
Wie würdest du deinen<br />
Kleidungsstil beschreiben?<br />
Ich mag enge Röhrenjeans und<br />
Sabrina Dehoff<br />
Designerin<br />
Musik ist?<br />
Sabrina: Ein Lebensgefühl.<br />
Lässt du dich davon inspirieren?<br />
Ja, doch das ist auf keinen Fall ein<br />
Schwerpunkt. Ich liebe zum Beispiel<br />
Elvis Presley, für eine Modenschau<br />
habe ich einen Remix seiner<br />
Musik gespielt. Die Musik ist bei<br />
Shows natürlich ein absoluter Träger.<br />
Welche Lieder begleiten dich durch<br />
dein Leben?<br />
Die Musik von Serge Gainsbourg<br />
ist ein Teil meines Lebens. Da ich lange<br />
in Frankreich gelebt habe, war mein<br />
Musikgeschmack lange etwas frankophil.<br />
Als mein Sohn noch ein kleines Baby<br />
war, habe ich gern mit ihm dazu getanzt.<br />
Warum Berlin, wenn du in Modestädten<br />
wie Paris und London gelebt hast?<br />
Mir haben gewisse Formen des Umgangs<br />
und der Entspanntheit gefehlt, die es hier<br />
in Berlin gibt. Ehrlich gesagt habe ich auch<br />
gemerkt, dass französische Männer nicht<br />
so mein Ding sind (lacht). Die Engländer<br />
liegen mir da schon mehr, ich mag ihren<br />
Humor. Berlin ist aber meine Heimat.<br />
Welche Musikerin hast du schon<br />
mit deinem Schmuck ausgestattet?<br />
schlichte Shirts. An den Füßen<br />
trage ich Adidas-Turnschuhe<br />
in allen Variationen, davon habe<br />
ich so einige.<br />
Sieht man dich auch mal im Anzug?<br />
Ja, auf jeden Fall, aber natürlich<br />
nur zu gewissen Anlässen. Wenn<br />
ich in die Oper gehe oder auf<br />
eine Feier. Mein Lieblingsanzug ist<br />
von Hugo Boss.<br />
Was trägst du zu Hause, was dir<br />
in der Öffentlichkeit peinlich wäre?<br />
Ich hab ein Micky-Mouse-T-Shirt<br />
(lacht). Das kombiniere ich gern<br />
mit einer giftgrünen kurzen Hose<br />
von Humör. Ich find’s toll,<br />
aber ich glaube, die Leute wollen<br />
sowas nicht sehen.<br />
Beyoncé zum Beispiel. Diese<br />
Arbeiten machen besonders Spaß,<br />
denn für die Bühne kann man<br />
dann auch mal etwas größer denken.<br />
Mit welchem Musiker würdest du<br />
gern mal Kaffee trinken?<br />
Mit Bette Midler, einfach eine tolle Frau.<br />
Kann Mode ohne Musik existieren?<br />
Musik transportiert die Mode einfach.<br />
Die Stimmung und das Lebensgefühl.<br />
Das, was man ausdrücken will,<br />
kann durch das Zusammenspiel perfekt<br />
transportiert werden. Das habe ich<br />
auch in Paris mitbekommen. Die<br />
Musik für eine Show ist etwas ganz<br />
Persönliches für den Designer.<br />
Welche Musik jagt dir einen Schauer<br />
über den Rücken?<br />
Rock-Balladen. Ich weiß, die romantische<br />
Rockrichtung ist eine ganz schwierige<br />
Sache. Aber Geschmäcker sind<br />
verschieden, das ist ja das Tolle daran.<br />
Welchen Song hast du zuletzt in<br />
Dauerschleife gehört?<br />
„Escape – The Piña Colada Song“ von<br />
Rupert Holmes. Das Lied ist so amüsant.<br />
Kannst du dich noch an dein erstes<br />
selbstgekauftes Album erinnern?<br />
Das war von Smokie. Ich war natürlich<br />
unsterblich in den Sänger verliebt<br />
(lacht laut).<br />
Gibt es in deinem Kleiderschrank ein<br />
Teil, das du noch nie anhattest, weil<br />
du Angst vor Kritik hast?<br />
Da gibt es und bestimmt nicht nur<br />
eines. Auf jeden Fall eine dunkelblaue<br />
Samtjacke im Uniformstil.<br />
Die würde ich eigentlich gern mal<br />
auf der Bühne anziehen, aber die<br />
Leute denken sich dann wahrscheinlich:<br />
Was ist mit dem Braemer los?<br />
Du musst mit wenig Schlaf<br />
auskommen. Dein Tipp, um<br />
schnell wieder frisch auszusehen?<br />
Pflege ist das Allerwichtigste.<br />
Meine besteht aus ein bisschen<br />
Sonne und Feuchtigkeitscremes.<br />
Bester Tipp wenn nichts mehr<br />
geht: Sonnenbrille.<br />
Panda<br />
Berliner Band: Chris Lippert (li.),<br />
Oskar Alpen und Anna Fischer<br />
Mode ist?<br />
Anna: Bunt.<br />
Oskar: Sehr wichtig.<br />
Chris: Zeitgeist.<br />
Auf welcher Modenschau würdet ihr gerne mal<br />
auftreten?<br />
A: Bei Unrath & Strano. Das wäre natürlich megageil.<br />
O: Da bin ich dabei! Wenn ich es mir aussuchen<br />
könnte, wäre Céline natürlich auch ganz nett.<br />
Macht ihr euch viele Gedanken über eure Kleidung<br />
vor einem Auftritt?<br />
A: Ich bin schon einen Monat vorher am Schwitzen<br />
und überlege, was ich anziehe. Ich versuche auch<br />
immer, ein Teil zu tragen, das man so nicht<br />
kaufen kann. Ob selbst gebastelt oder von<br />
befreundeten Jungdesignern, das finde ich immer<br />
eine schöne Sache.<br />
O: Ja, auf jeden Fall. Anna ist ja oft etwas bunter,<br />
dann versuchen wir Jungs, etwas subtiler zu sein.<br />
C: Wir haben tatsächlich auch ein Farbkonzept<br />
auf der Bühne. Es wirkt einfach, wenn auch<br />
unbewusst, auf das Publikum.<br />
Was ist für euch der typische Berlin-Stil?<br />
A: Nach zwei Stunden vor dem Kleiderschrank so<br />
auszusehen, als hätte man sich gerade nur etwas<br />
übergeworfen. Je unschicker, desto besser.<br />
O: Ich finde Berlin so interessant, weil es so ein<br />
Schmelztiegel ist. Hier treffen die verschiedensten<br />
Kulturen aufeinander. Zudem hat man<br />
hier noch die verschiedenen Stadtteile, da sehen<br />
die Leute alle unterschiedlich aus.<br />
C: Ich habe gestern in der Tram jemanden<br />
gesehen, der hatte einen Stars-and-Stripes-<br />
Ganzkörperanzug an. Das ist Berlin.<br />
Welches war eure größte Modesünde?<br />
A: Ich hatte Buffalo-Plateauschuhe. Allerdings<br />
zu einer Zeit, als die noch niemand getragen hat.<br />
O: Ich hatte eine ganz schlimme Frisuren-Phase<br />
mit schulterlangen Haaren.<br />
C: Daran erinnere ich mich, zu der Zeit habe ich<br />
Schlaghosen mit vorgefertigten Löchern getragen.<br />
Dazu überlange Hemden und Holzkettchen.<br />
Habt ihr damals einer Jugendkultur angehört?<br />
A: Ich glaube, ich habe jeder Jugendkultur angehört,<br />
der man nur angehören konnte. Ich bin immer<br />
noch in einer absoluten Findungsphase. Man könnte<br />
auch sagen, ich gehe von Style zu Style und habe<br />
gar keinen Style. Aber damit kann ich leben (lacht).<br />
Könnt ihr euch noch an das Lieblingskleidungsstück<br />
eurer Kindheit erinnern?<br />
A: Ich hatte einen ganz kratzigen grauen Pullover,<br />
den ich auch im Sommer bei 30 Grad anhatte.<br />
O: Ich mochte schon damals Wachsjacken. Ich<br />
habe Enid Blytons Fünf Freunde gelesen und<br />
habe diesen ganzen British-Heritage-Look geliebt.<br />
C: Ich erinner mich an mein erstes Accessoire.<br />
Ein rosa Teddybär. Mit dem wurde sogar<br />
der Mund abgewischt.<br />
Ist Mode für euch Kunst?<br />
A: Für mich ist Mode die absolute Kunst.<br />
C: Ich finde diesen Begriff „Kunst“ so<br />
schwierig. Es ist eher eine Mischung aus Kreativität<br />
und Handwerk. Kunst ist für mich eher Fortschritt.<br />
A: Es ist aber auf jeden Fall eine Kunst, die Silhouette<br />
einer Frau richtig zu erfassen und zu betonen.<br />
Karl Lagerfeld zum Beispiel schafft es, eine Frau<br />
mit seiner Mode so zu verpacken, dass sie immer<br />
toll aussieht.<br />
Blogs sind sehr umstritten. Lest ihr Modeblogs?<br />
O: Es gibt vielleicht eine Handvoll vernünftiger<br />
Modeblogs in Deutschland. Dandy Diary<br />
zum Beispiel ist bewundernswert. Die haben<br />
es geschafft, die Balance zwischen Kommerz<br />
und subjektiver Meinung zu finden.<br />
55<br />
Werk VI . Mixtape
56<br />
Werk VI . Mixtape<br />
„Entweder du kommst<br />
mit Power, oder du<br />
gehst besser wieder<br />
nach Hause“<br />
Interview: Greta Kehl-Detemple & Annika Krüger<br />
Foto: Stefan Korte<br />
57<br />
Werk VI . Mixtape<br />
S<br />
miley Baldwin kommt ein paar<br />
Minuten zu spät. Die schwarzen<br />
Chucks an seinen Füßen sind fest<br />
geschnürt und ein wenig verschlissen.<br />
Die großen Taschen der khakifarbenen<br />
Cargohose sind ausgebeult,<br />
der Schnitt ist weit und<br />
lässig. Das ausgeblichene Blau des<br />
T-Shirts passt perfekt zum Look.<br />
Dass er seit den 90er-Jahren im Berliner Nachtleben arbeitet,<br />
sieht man dem 47-Jährigen auf den ersten Blick nicht<br />
an – genauso wenig wie sein Alter. Smiley, wie er seit seiner<br />
Kindheit genannt wird, ist Türsteher in Bars und Clubs wie<br />
dem Cookies oder dem The Grand. Die Entscheidung, wen er<br />
reinlässt und wen nicht, beeinflusst seit fast 20 Jahren die Berliner<br />
Clubszene und somit den Stil mehrerer Generationen.<br />
Ein Interview über seine Wahlheimat Berlin, seine Zahnlücke<br />
und darüber, warum ein „Servus!“ die rote Karte gibt.<br />
viele Dinge in meinem Leben passiert, die mich bis hierher<br />
gebracht haben. Da ich schon früh die Welt sehen<br />
wollte, bin ich nach der Schule zur US-Armee gegangen.<br />
Von dort wurde ich nach Europa geschickt. Durch einen<br />
Zufall bin ich für vier Tage in Berlin gelandet. Und ich<br />
dachte mir nur: geil! Es hat mir sofort total gut gefallen.<br />
Als ich wieder in den USA war, habe ich mich für Berlin<br />
beworben. Im Februar 1987 kam ich hier an. Seitdem<br />
möchte ich auch nirgendwo sonst leben.<br />
Du bist schon sehr lange Türsteher. Macht dir Spaß, was<br />
du tust?<br />
Ich liebe es. Ich war acht Jahre in der US-Armee, da war<br />
das Motto To protect and serve. Danach hatte ich die Schnauze<br />
voll von einer Tätigkeit, bei der es darum geht, anderen<br />
Menschen zu dienen, beziehungsweise zu helfen. Da habe<br />
ich andere Dinge probiert, die auch gut liefen. Aber am Ende<br />
entschied ich mich für das, was ich im Schlaf kann: Security.<br />
Fotocredit<br />
Smiley, wie hat es dich nach Berlin verschlagen?<br />
Ich bin auf einer kleinen amerikanischen Inselgruppe<br />
zwischen dem Atlantik und der Karibik geboren, den<br />
Jungferninseln. Dass sich mein Leben mal mitten in Europa<br />
abspielen würde, hätte ich niemals gedacht. Es sind<br />
Wie würdest du jemanden beschreiben, der als Gast in die<br />
Clubs passt, für die du arbeitest?<br />
Meine Jungs und ich arbeiten nach bestimmten Konzepten,<br />
die sich aber von Laden zu Laden wirklich kaum unterscheiden.<br />
Wir sprechen uns vorher mit dem Betreiber ab
58 besser wieder nach Hause.<br />
reinkommen, und ich erkläre es dann einfach. Das mache<br />
59<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Wer in Berlin ausgehen<br />
will, muss erst<br />
an ihm vorbei: Smiley<br />
Baldwin ist seit fast<br />
20 Jahren Türsteher<br />
und entwickeln gemeinsam eine Vorstellung von seinem<br />
Wunschpublikum. Allgemein kann man sagen, dass die<br />
Gäste sexy und gut aussehen sollten. Sie müssen gepflegt<br />
gekleidet sein und sich Mühe bei ihrem Outfit geben. Es<br />
kommt trotzdem nicht jeder rein, der einfach hübsch ist.<br />
Die Clubszene schließt viele Menschen aus, aber die, die sie<br />
einschließt, ergeben zusammen eine bunte Mischung. In<br />
den Clubs, in denen wir arbeiten, kann man sich ein gutes<br />
Bild von Berlin machen, denn da ist fast alles dabei.<br />
Gibt es etwas, was man bei dir an der Tür vermeiden sollte?<br />
Auf jeden Fall. Ich hasse „Servus!“ Das ist in Berlin fast<br />
wie ein Schimpfwort. Das sagt doch niemand. „Servus!“,<br />
willkommen in der Neuzeit! Was ich auch nicht leiden<br />
kann, ist die Frage: „Ist drinnen was los?“ Jeder, der vor<br />
mir steht und fragt, ob bei uns was los ist, kommt zu mir<br />
mit der Einstellung, dass ich ihm was bieten muss. Wir<br />
drehen das um. Wir suchen nach Publikum, das von sich<br />
aus Stimmung macht und das zu uns passt. Also gibt’s<br />
auf diese dumme Frage auch eine dumme Antwort: „Nee,<br />
heute ist es leider total leer!“ Wir sind schließlich kein<br />
Varieté, da gibt es niemanden, der dich kitzelt oder belustigt.<br />
Entweder du kommst mit Power, oder du gehst<br />
Also sind beim Einlass nicht nur Aussehen und die Kleidung<br />
entscheidend, sondern auch die Einstellung?<br />
Genau, die Klamotten müssen natürlich passend sein.<br />
Wenn ein Gast total cool drauf ist, aber nicht passend angezogen,<br />
dann ist das auch manchmal in Ordnung. Wenn<br />
man zum Beispiel merkt, dass jemand nicht aus Berlin<br />
kommt und nur für eine Nacht mit dem Zug gekommen<br />
ist, um seinen Lieblings-DJ im Club zu sehen, dann sag<br />
ich doch nicht Nein. Dann ist das okay, denn die sind nur<br />
wegen der Musik bei uns, denen geht es nicht um die anderen<br />
im Club. Die gehen dann die ganze Nacht auf der<br />
Tanzfläche ab und machen komische Bewegungen. Die<br />
achten gar nicht auf die anderen Gäste. Aber solche Leute<br />
braucht man auch.<br />
Wie viel Zeit brauchst du, um einen Gast einzuschätzen?<br />
Ich glaube, das geht mittlerweile bei mir automatisch. Ich<br />
fang nicht erst an, wenn die Person vor mir steht. Meistens<br />
erkenne ich das schon auf 50 Meter Entfernung, ob<br />
es passt oder nicht. Manchmal geht es nur darum, dass ich<br />
sage: „Hallo, wie geht’s dir? Was kann ich für dich tun?“<br />
Dann gibt es einen Austausch, und dann check ich, was in<br />
meinem Gesprächspartner steckt. Aber fast immer ist die<br />
Entscheidung auf 50 Meter Entfernung schon getroffen.<br />
Welche optischen Veränderungen bemerkst du im Laufe der<br />
Zeit an deinen Stammgästen?<br />
Es ist richtig lustig zu beobachten, dass bestimmte Typen<br />
oder Mädels, die vorher eher 08/15 waren, von einer<br />
Woche auf die nächste plötzlich Skinny Jeans und Chucks<br />
rausholen, andere Frisuren tragen und sogar in anderen<br />
Freundeskreisen abhängen. Dann erzählen sie auf einmal:<br />
„Ich war gestern im Kater!“ (Anm.d.Red.: Kater Holzig,<br />
Berliner Techno-Club) Das ist natürlich ein bisschen zum<br />
Lachen. Aber es ist auch schon mal passiert, dass jemand<br />
öfter zu uns gekommen ist, aber nie rein kam. Verändert<br />
diese Person sich positiv, ist mit coolen Freunden unterwegs<br />
oder kennt den DJ, dann sagt man auch mal: „Hey,<br />
der hat sich so viel Mühe gegeben, lasst uns sehen, was in<br />
dem steckt!“ Aber wenn jemand es immer wieder auf die<br />
gleiche Schiene versucht, bringt das einfach nichts. Wir<br />
merken uns ja auch jedes Gesicht. Ich hab echt ein gutes<br />
Gedächtnis. Ich erkenne die meisten sogar, wenn die ein<br />
Jahr später wieder vor mir stehen.<br />
Also bist du dir bewusst, dass du das Publikum über das<br />
Image des Clubs beeinflussen kannst?<br />
Ich weiß nicht, ob ich sie beeinflusse oder ob ich das<br />
überhaupt möchte. Ich würfle die Leute einfach nur<br />
zusammen, verändern tun sie sich von selbst. Es passiert<br />
sogar, dass ich Personen in den einen Laden reinlasse, aber<br />
in den anderen nicht.<br />
Und wie gehen sie damit um?<br />
Ganz natürlich. Manchmal fragen sie, warum sie nicht<br />
ich eigentlich nicht gern, nur wenn ich merke, dass die<br />
Leute wirklich betroffen sind, weil ich sie nicht reingelassen<br />
habe. Dann nehme ich mir die Zeit und gehe auf sie zu.<br />
Kann man dabei immer freundlich bleiben?<br />
Ich ja. Und ich rate das auch meinem Team. Denn das,<br />
was wir tun, ist nicht persönlich gemeint. Ich bin ein Menschenfreund,<br />
ich liebe unsere Gäste und ich bin nicht dazu<br />
da, ihnen weh zu tun. Ich weiß, dass ein Nein jemanden<br />
verletzen kann. Ist mir auch schon passiert. Ich bin nicht<br />
Die Clubszene schließt viele Menschen<br />
aus, aber die, die sie einschließt, ergeben<br />
zusammen eine bunte Mischung<br />
einer von denen, die da stehen und die Leute anschreien<br />
oder unfreundlich sind.<br />
Hast du dich denn persönlich verändert, seitdem du als Türsteher<br />
arbeitest?<br />
Ich hab mich nicht verändert. Meine Arbeit hat den<br />
Weg, auf dem ich sowieso war, bestärkt und bestätigt. Du<br />
lernst viele verschiedene Charaktere kennen an der Tür, die<br />
du auch mal enttäuschen musst. Aber ich denke, ich habe<br />
einen ausgeprägten Sinn und ich mag Menschen an ihren<br />
guten, aber auch an den nicht so schönen Tagen.<br />
Wo arbeitest du momentan am liebsten?<br />
Im Cookies in Mitte, weil das mein Lieblingsladen ist.Da<br />
arbeite ich schon am längsten. Doch leider leidet der Club<br />
auch unter der Gentrifizierung von Berlin-Mitte. Gerne bin<br />
Werk VI . Mixtape
Werk VI . Mixtape<br />
ich noch im The Grand in Mitte – das ist noch recht neu. Das<br />
geht in eine etwas konventionellere Richtung als das Cookies.<br />
Das Konzept ist ein Mix aus Restaurant und klassischer<br />
Cocktailbar. Das spricht natürlich ein älteres Publikum an.<br />
Inwiefern beeinflusst die Gentrifizierung das Cookies?<br />
Früher war Berlin-Mitte die Hochburg der Jugendkultur.<br />
Die Mieten waren natürlich dementsprechend niedrig,<br />
also konnten sich die Studenten ihre Wohnung dort<br />
leisten. Jetzt ist das nicht mehr so. Die junge Generation<br />
wohnt nicht mehr in Mitte, sie zieht nach Kreuzberg, Neukölln,<br />
teilweise in den Wedding und nach Friedrichshain.<br />
Das geht nicht spurlos am Cookies vorüber. Denn wenn<br />
man in Kreuzberg wohnt und nicht ganz so viel Geld zur<br />
Verfügung hat, kann ein Abend in Mitte ganz schön teuer<br />
werden. Man will ja nicht mit dem Fahrrad fahren. Also<br />
zehn Euro für das Taxi hin, zehn Euro Eintritt, zwei Drinks<br />
und nochmal zehn Euro für das Taxi zurück. Das ist dann<br />
schon ein ganz schön teurer Abend. Vor allem, wenn man<br />
in Kreuzberg Läden direkt vor der Tür hat, die dann auch<br />
noch keinen Eintritt kosten. Da muss das Cookies einfach<br />
kämpfen, egal wie toll und angesehen es ist.<br />
Ja, das hat aber auch was damit zu tun, dass ich mir aussuchen<br />
kann, wo ich arbeiten möchte. Ich würde sehr ungern<br />
in einem Club oder Etablissement arbeiten, wo jeder<br />
automatisch reinkommt. Nicht jeder Clubbesucher geht<br />
durch die Tür mit guten Absichten. Ich möchte mitwirken<br />
können, diese Leute auszusortieren. Und ich will auch<br />
nicht, dass mir jemand sagt, jeder Gast ist ihm heilig. Weil<br />
das im Umkehrschluss heißt, dass meine Gesundheit ihm<br />
nicht heilig ist. Ich habe bereits meine Narben, und es gibt<br />
auch einige, die in diesem Beruf gestorben sind, nur weil<br />
jemand anders ein, zwei Euro mehr verdienen wollte.<br />
Nicht jeder Clubbesucher geht<br />
durch die Tür mit guten Absichten<br />
Also ist dir an deinem Arbeitsplatz schon mal etwas passiert?<br />
Ja, leider. Das war in den 90er-Jahren auf der Oranienburger<br />
Straße. Da habe ich ein paar Jungs nicht reingelassen<br />
und sogar Hausverbot erteilt. Diese Gruppe hat sich<br />
später mit unserem Chef angefreundet, und er hat sie einfach<br />
wieder reingelassen. Für die Gäste war es keine professionelle<br />
Sache mehr, es war persönlich. Daraufhin haben<br />
sie sich zusammengetan – das waren ungefähr zehn bis<br />
fünfzehn Mann. Und die haben sich gedacht, dass sie die<br />
zwei Türsteher loswerden müssen. Wir wurden also überfallen<br />
und ich bin im Krankenhaus gelandet. Mein Kiefer<br />
war gebrochen und ich habe einen Zahn verloren. Diese<br />
Lücke habe ich nie füllen lassen. So werde ich immer daran<br />
erinnert, dass mein Job echt ist. Ich versuche mit meiner<br />
Arbeit nicht nur für mich, sondern auch für mein ganzes<br />
Team so etwas zu vermeiden. Damit solche Situationen nie<br />
wieder vorkommen.<br />
Du arbeitest ja schon eine lange Zeit im Berliner Nachtleben.<br />
Inwiefern haben sich die Clubber in den vergangenen Jahren<br />
verändert?<br />
Ich habe schon vor vielen Jahren angefangen. Ich glaube,<br />
das war so 1995 oder 1996. Seitdem hat sich einiges getan.<br />
Wir haben jetzt das Informationszeitalter, wir haben Facebook<br />
und Twitter, wir haben Telefone, die allen möglichen<br />
Scheiß machen können. Ob fotografieren – was ich<br />
hasse – oder sonst was. Und die Beziehung zu Drogen und<br />
Alkohol hat sich stark verändert. Der Umgang damit, die<br />
Art und Weise ist einfach nicht mehr die gleiche. Die Leute<br />
nehmen mehr von allem. Ich würde sagen, es ist sehr viel<br />
passiert. Aber eben bei den Leuten selbst. Und das ist nicht<br />
unbedingt positiv. Ich weiß nicht, ob ich da einfach zu viel<br />
an meine gute Erziehung denke oder in meiner eigenen Jugend<br />
gefangen bin. Keine Ahnung, da streite ich mich jetzt<br />
gerade mit mir selbst.<br />
Also war es früher leichter in deinem Job, weil die Gäste einfach<br />
besser erzogen waren?<br />
Auf jeden Fall. Auch wenn jemand üble Sachen getan<br />
hat, hatte er zumindest ein schlechtes Gewissen. Das findet<br />
man heutzutage nicht mehr so leicht. Es ist auch sehr<br />
schwer, den Personen zu verklickern, dass sie mit ihrem<br />
Verhalten die anderen Gäste stören. Sachen, die früher<br />
niemand getan hätte, sind heute selbstverständlich. So<br />
wie einem Türsteher Zigarettenqualm ins Gesicht zu<br />
pusten. Oder mit einer Flasche in der Hand in den Club<br />
zu wollen. Das sind Sachen, die früher einfach nicht passiert<br />
sind.<br />
Nachts verhalten sich die meisten Menschen ja anders als<br />
am Tag. Nimmst du Leute tagsüber anders wahr?<br />
Total. Vielleicht sind Drogen im Spiel, vielleicht ein<br />
Mädchen, vielleicht hat man nur einen schlechten Moment.<br />
Außerdem kommen in der Nacht verschiedene Charaktere<br />
zusammen, die sich so im Leben nicht begegnen<br />
würden. All diese Dinge spielen eine Rolle. Ich würde einem<br />
Gast, dem ich tagsüber begegne, nie sagen: „Das von<br />
gestern Nacht war total scheiße, rede nicht mit mir.“ Wer<br />
wäre ich dann? Ich arbeite vor einem Loch in der Wand,<br />
und ich tue mein Bestes, damit jeden Abend viele Gäste<br />
Spaß haben. Wenn ich den irgendwo anders treffe, und er<br />
ist mir gegenüber offen, dann kann ich dem einen Kaffee<br />
spendieren oder sogar mit dem frühstücken gehen. Wenn<br />
ich dann wieder vor dem Loch in der Wand stehe, dann<br />
sag ich aber auch trotzdem erneut Nein.<br />
Hast du Vorurteile?<br />
Ich habe alle meine Vorurteile weggeschafft. Sehr<br />
bewusst! Ich hab sie gesucht, gefunden und jetzt gibt es kei-<br />
ne mehr. Auch da, wo ich dachte, ich hätte vielleicht noch<br />
welche, sind keine mehr. Ich kenne Leute aus jeder Schicht<br />
und von überall her. Zum Beispiel bin ich eigentlich kein<br />
großer Freund von Religionen. Aber ich habe mal eine<br />
ganze Gruppe von Priestern kennengelernt, und die waren<br />
einfach die coolsten Jungs.<br />
Kriegst du von den Clubbetreibern gesagt, wie viele Besucher<br />
von bestimmten Gruppen du reinlassen darfst?<br />
Nee, das entscheiden wir selbst. Dazu gibt es eine lustige<br />
Geschichte: Ich habe einen Laden betreut, den Shark Club.<br />
Das war Ende der 90er einer der ersten Schickimicki-Clubs<br />
im Ostteil der Stadt. Am Anfang des Abends habe ich für<br />
eine coole und ausgewogene Mischung gesorgt. Also auch<br />
viele aus dem Ausland reingelassen und Männer und Frauen<br />
gemischt. Alle sahen gut aus. Irgendwann um vier Uhr<br />
morgens kam ein Gast auf mich zu und meinte: „Smiley,<br />
was ist denn mit euch los? Da sind nur Ausländer bei<br />
euch!“ Ich wollte wissen, ob das gut oder schlecht ist, und<br />
er hat gesagt: „Ja, ist nicht schlecht, aber da sind halt nur<br />
Ausländer!“ Wenn der deutsche Anteil in einem Club zu<br />
gering ist, kommt ein ungutes Gefühl auf. Warum das so<br />
ist, weiß ich nicht. Auch die Ausländer selber mögen es<br />
60<br />
Gibt es Clubs in Berlin, in denen du niemals arbeiten würdest?<br />
nicht, wenn der Laden voll von ihresgleichen ist. Die wol-<br />
Inwiefern bist du in das Geschehen auf der Fashion Week<br />
61<br />
len einfach eine gute Mischung haben. Dann bin ich in den<br />
Club reingegangen, und er hatte recht. Der Grund dafür<br />
war, dass zwischen drei und halb vier Uhr morgens die<br />
meisten Deutschen in einem bestimmten Alter nach Hause<br />
gehen. Das war mir bis zu diesem Zeitpunkt nie so bewusst.<br />
Ab einer bestimmten Uhrzeit machen nur noch die zugezogenen<br />
Ausländer oder Touristen immer weiter Party.<br />
Die rocken richtig.<br />
Gibt es in deinem Job als Türsteher einen Dresscode?<br />
Dunkel ist Standard. Die Leute können uns daran erkennen.<br />
Für mich ist es wichtig, dass ich, egal was ich<br />
anhabe, eine gewisse Bewegungsfreiheit habe. Denn im<br />
Notfall muss ich kämpfen. Das ist der Grund, warum<br />
die meisten Jungs diese bequemen Baggy-Pants tragen.<br />
Natürlich kommt es aber auch darauf an, wo ich arbeite.<br />
In manchen Clubs muss es etwas schicker sein als in<br />
anderen. Besonders wichtig ist das auch bei Events. Aber<br />
zum Glück darf ich meistens selbst bestimmen, was ich<br />
anziehe. Ich habe ein kleines bisschen einen Sinn für<br />
Mode. Da darf es auch mal etwas Style haben. Wir ziehen<br />
zum Beispiel öfter zu unseren Anzügen Chucks an<br />
oder Turnschuhe. Damit wir nicht so stocksteif und altmodisch<br />
aussehen.<br />
Du arbeitest viel auf der Fashion Week. Wie unterscheidet<br />
sich das Mode- vom Clubpublikum?<br />
Naja, die Leute, die im Fashion-Bereich arbeiten, sind<br />
nicht automatisch die schönsten und bestgekleideten<br />
überhaupt. Das ist in der Musikszene eigentlich auch so.<br />
Auf der Fashion Week wird zwar viel präsentiert, aber die<br />
Besucher, die zu den Events kommen, passen auch nicht<br />
unbedingt alle ins Bild. Und an der Tür ist meine Arbeit<br />
eher eine Art Kontroll-Abfertigung – Gästelisten-Dienst<br />
eben. Da muss ich mir selbst überhaupt keine großen Gedanken<br />
machen.<br />
Unterscheidet sich das Verhalten der Gäste am Einlass?<br />
Nicht so sehr. Ein kleiner Unterschied ist, dass diese<br />
Abende extra für solche Gäste aus der Modewelt veranstaltet<br />
werden. Da akzeptiere ich mehr, wenn die Besucher<br />
nicht nett sind. Es ist halt Fashion Week. Es würde mich<br />
zu viel Kraft kosten, jemanden auszuschließen. In unserer<br />
Stadt und in unserem Viertel, in unserem Club, da sind<br />
nicht alle nett. Da sagt man eher auch mal Nein. Aber die<br />
„Der Club war schon immer ein guter<br />
Schauplatz für das Neueste aus Musik<br />
und Mode – egal wie experimentell“<br />
Modeleute sind von weit her gekommen, extra wegen der<br />
Fashion Week. Und wenn sie nicht super negativ auffallen,<br />
dann akzeptiert man auch schlechteres Benehmen.<br />
eingebunden?<br />
Leider geht die Fashion Week immer so schnell vorbei.<br />
Ich arbeite Tag und Nacht, und weil es Arbeit ist, krieg ich<br />
wenig mit. Ich hab die letzten paar Jahre zum Beispiel das<br />
Michalsky-Event gemacht, aber die Show leider nie gesehen.<br />
Ich habe auch schon ein paar Mal für Hugo Boss gearbeitet.<br />
Manchmal auch als Bodyguard. Das heißt, ich saß<br />
dann direkt in der ersten Reihe. Neben irgendeinem Promi.<br />
Da durfte ich dann die ganze Show anschauen.<br />
Was denkst du über das Verhältnis von Clubkultur, Musik<br />
und Mode?<br />
Die ergänzen einander, haben über Jahre immer zusammengehört<br />
und sich gegenseitig inspiriert. Der Club war<br />
immer ein guter Schauplatz für beides: für das Neueste aus<br />
Musik, egal wie experimentell, und auch für das Neueste<br />
aus Mode, egal wie experimentell. Aber das ist heute nicht<br />
mehr so extrem. Außer unter den schwulen Jungs, die an<br />
einem Clubabend so ausgeflippt aussehen wie nirgendwo<br />
anders. Nachts gibt es immer eine Möglichkeit, dass man<br />
sich so kleiden kann wie man will, ohne dass man sich wie<br />
ein Fremdkörper fühlt.<br />
Gibt es Musik, die in jedem Club laufen sollte?<br />
Nicht wirklich. Meiner Meinung nach ist es wichtiger, dass<br />
jeder DJ die Stimmung aufgreifen kann, die im Club gerade<br />
herrscht. Also sollte er einfach spielen, was gut ankommt.<br />
Das kann auch mal ein bisschen aus der Reihe tanzen oder<br />
mal anders gemixt sein. Ich bin aufgewachsen mit Reggae<br />
und Calypso, habe Soul kennengelernt. Ich war in der Highschool,<br />
als der Rap geboren wurde, und habe in Berlin schon<br />
von Anfang an in House-Clubs gearbeitet. Ich mag viele Musikrichtungen<br />
und schließe grundsätzlich nichts aus.<br />
Werk VI . Mixtape
Jeden Mittwoch<br />
bittet die Berliner<br />
Gruppe The Swag<br />
zur Live Hip-<br />
Hop-Jam-Session<br />
62 63<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Christopher Celiz<br />
alias NYC Beatbox<br />
kommt aus New<br />
York, um an der<br />
Swag Jam im Badehaus<br />
teilzunehmen<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Die zweite<br />
Chance<br />
Wie junge Erwachsene den Kampf gegen die<br />
Unsichtbarkeit antreten – und gewinnen.<br />
Mit und dank HipHop und Gangway e.V., der<br />
größten Streetworking-Institution Deutschlands.<br />
Von Annika Zapp<br />
Fotos: Hannes Albert<br />
Fotocredit
Für Nossis aus<br />
Brooklyn ist Hip-<br />
Hop wie eine<br />
zweite Natur, von<br />
der sie schon immer<br />
umgeben war<br />
64<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Im HipHop-<br />
Stützpunkt von<br />
Gangway e.V.<br />
legen DJs zu den<br />
Rap Battles auf<br />
A<br />
usflugsziel: Rap am Mittwoch. Im<br />
Stadtteil Kreuzberg, im Bi Nuu<br />
am Schlesischen Tor, trifft sich<br />
zweimal im Monat die Berliner<br />
HipHop-Community. Entweder<br />
um selbst zu rappen, oder um sich<br />
anzuhören, was die anderen Rapper<br />
so zu sagen haben. Unter ihnen<br />
ist eine bunt zusammengewürfelte<br />
Gruppe von Rappern und Beatboxern aus den Niederlanden,<br />
den USA und Deutschland. Sie sind im Rahmen der Bronx-<br />
BerlinConnection unterwegs – einem Jugendaustausch-Programm<br />
des mehr als 20 Jahre alten Sozialarbeitsvereins Gangway<br />
– und ziemlich heiß darauf, auf die Bühne zu gehen.<br />
Bis in die hinterste Ecke gequetscht stehen sie, die HipHop-Fans<br />
der alten und neuen Stunde, und lassen die<br />
Rap-Battles auf der kleinen Bühne des Bi Nuu auf sich wirken.<br />
„So viel Liebe für den HipHop gibt’s nicht überall“,<br />
sagt Nossis. Die Rapperin aus Brooklyn ist für eine Woche<br />
nach Berlin gekommen, um ihre Passion für die Musik<br />
mit anderen Rappern aus Europa zu teilen. Auf dem<br />
Wochenplan der BronxBerlinConnection steht zum einen<br />
klassisches Touri-Programm, zum anderen verheißungsvolle<br />
Studioaufnahmen und Open-Mic-Sessions. Ziel ist es,<br />
musikalisch zu fusionieren – länderübergreifend Musik zu<br />
machen, von den Rap-Kollegen aus der Bronx, Paris oder<br />
Barcelona zu lernen oder sich einfach nur inspirieren zu<br />
lassen. Was ursprünglich als transatlantischer Austausch<br />
zwischen den USA und Deutschland geplant war, wurde<br />
schnell zu einem größeren Projekt. Inzwischen waren der<br />
US-Amerikaner Olad Aden und der Deutsche Joe Bliese,<br />
die Initiatoren des Projekts, mit ihren Berliner Schützlingen<br />
schon in mehreren europäischen Städten – und die<br />
dort ansässigen HipHopper ebenfalls in Berlin.<br />
Vor drei Jahren fand die BronxBerlinConnection das<br />
erste Mal statt. Die 15 Flugtickets der Berliner Rapper nach<br />
New York hatte das Goethe Institut bezahlt, die übrigen 250<br />
Euro für Unterbringung und Aktivitäten mussten von den<br />
Teilnehmern selbst aufgebracht werden. Hatte man diese<br />
Hürde genommen, war man schon mitten in der Bronx:<br />
bei Gleichgesinnten, eine Woche lang auf Entdeckungsreise,<br />
auf den Spuren des HipHop.<br />
Obwohl Gangway für die BerlinBronxConnection von<br />
Institutionen wie der amerikanischen Botschaft in Berlin<br />
und dem Goethe Institut gesponsert wurde, mangelt es<br />
trotzdem an Geld für neue Projekte. Gerade vonseiten der<br />
Politik fehlt Hilfe und finanzieller Beistand. „Man muss<br />
immer wieder erklären, warum man gerade Kriminelle<br />
und ehemalige Häftlinge unterstützt und dafür Geld haben<br />
möchte“, sagt Olad.<br />
Olad und Joe, die als Streetworker für Gangway<br />
unterwegs sind, haben neben der BronxBerlinConnection<br />
noch weitere konstruktive HipHop-Projekte angekurbelt.<br />
Warum gerade HipHop? „Weil es ein ungemein kreatives<br />
Potenzial hat: Ob Breakdancer, Beatboxer, DJs oder<br />
Graffiti-Sprayer – jeder kann sich seinen Weg aussuchen“,<br />
sagt Olad. Junge Erwachsene, die ihre Chance auf ein stabiles<br />
Leben schon früh versaut haben, bekommen mithilfe<br />
von Gangway ihre zweite Chance.<br />
Musik verbindet, erreicht und begleitet Menschen. Und<br />
gerade für die, die Musik machen, ist sie so etwas wie ein<br />
Sprachrohr, ein Weg, Geschichten aus dem Leben zu erzählen.<br />
Ob Knast-Erfahrung, Frust über den nicht vorhandenen<br />
Schulabschluss oder null Perspektive – mit Rap kann man<br />
seinen Unmut zu Papier bringen, seinen Worten Ausdruck<br />
verleihen. Oder sich selbst therapieren, Sachen verarbeiten.<br />
So wie der 21-jährige Vecz, ein blonder Rapper aus Buch<br />
bei Pankow. Zu Gangway gekommen ist er über ein jährlich<br />
stattfindendes HipHop-Fest in Pankow, bei dem er auf<br />
Olad und Joe traf und sich gleich gut mit ihnen verstand.<br />
Vecz besuchte hier und da ein paar HipHop-Workshops<br />
von Joe, bis letzterer meinte: „Okay, dir kann ich nichts<br />
mehr zeigen.“ Olad war übrigens der erste Dunkelhäutige,<br />
den Vecz kennengelernt hat. „Buch ist superrechtsradikal.<br />
Da wird sich teils noch mit dem Hitlergruß begrüßt“,<br />
sagt Vecz über seinen ehemaligen Kiez – jetzt wohnt er in<br />
Prenzlauer Berg.<br />
Er sei definitiv viel weltoffener geworden, sagt Vecz. Da<br />
wird plötzlich mit Iranern, Afghanen und Türken gerappt<br />
– mit Leuten, mit denen Vecz in Buch wahrscheinlich nie<br />
ins Gespräch gekommen wäre. Raus aus dem Klischeedenken,<br />
rein ins Produzieren von Musik. „Gangway hat mir<br />
eine Tür aufgeschlossen, zu der ich selbst nie den Schlüssel<br />
gefunden habe“, sagt Vecz. Von außen betrachtet ist er den<br />
geraden Weg gegangen: mit 16 die Schule beendet, dann<br />
eine Ausbildung angefangen und seitdem als Dachklempner<br />
gearbeitet. „Aber hintenrum, da bin ich viele Umwege<br />
gegangen.“ Dass seine Eltern nicht respektieren und tolerieren,<br />
was er sich zusätzlich mit Musik aufgebaut hat,<br />
ist ihm egal. „HipHop ist die Musik von Schwarzen, der<br />
schwarzen Kultur“, sagt Vecz, „das kommt in Buch nicht<br />
so gut an.“<br />
Der Überraschungseffekt im Rap ist überhaupt das Beste<br />
von allem: „Keiner kennt dich und dann kommst du auch<br />
noch als kleines Dickerchen wie ich auf die Bühne, und<br />
wenn du dann loslegst, fällt denen die Kinnlade runter. Da<br />
NYC-Battle: Der<br />
Beatboxer NYC<br />
Beatbox (r.) und<br />
Rapper Farbeon<br />
zeigen, was<br />
sie drauf haben
JP Nolos kommt<br />
hat brasilianische<br />
Wurzeln<br />
66<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Der Rapper<br />
Vecz aus Berlin<br />
ist mit HipHop<br />
gewachsen<br />
kannst du schwarz, gelb, grün, rot sein – du musst es nur<br />
sprachlich im Kopf drauf haben!“ Wie Vecz zum HipHop<br />
kam? Es ist die Liebe zur deutschen und englischen Sprache<br />
gewesen, die Faszination darüber, was man mit Wörtern<br />
alles machen kann, die ihn zum Rappen brachte. 98 Prozent<br />
seiner Texte sind persönliche Geschichten: Durch die<br />
Lyrics verarbeitet er Probleme, die ihn beschäftigen. „Zwei<br />
bis drei Tage schreibe ich am Text, dann ist das, was mich<br />
beschäftigt, meistens aus dem Kopf.“<br />
Es sind solche Projekte wie die BronxBerlinConnection<br />
oder Gangway Beatz, die es jungen, kreativen Leuten mit<br />
und ohne Startschwierigkeiten ermöglichen, ihre Träume zu<br />
verwirklichen und aktiv zu werden. „Mit mehr Information<br />
kommt der Perspektivwechsel“, sagt Olad, der seit 2003 für<br />
Gangway unterwegs ist. „Die Jungs und Mädels da draußen<br />
kommen zu uns, verändern sich, weil sie sich weiterentwickeln.<br />
Sie setzen sich mit Themen auseinander, informieren<br />
sich über das, was sie rappen, weil sie keinen Mist erzählen<br />
wollen. Sie machen sich Gedanken, erkennen, was wichtig<br />
ist im Leben. Es ist schön, so etwas beobachten zu können.“<br />
Gangway Beatz ist ein Projekt, das jungen Künstlern die<br />
Möglichkeit gibt, Stücke auf einer CD-Compilation zu veröffentlichen.<br />
Im August diesen Jahres erscheint nun schon<br />
das dritte Album mit dem Titel Gangway Beatz VOL III.<br />
Mehr als ein Jahr harte Arbeit steckt darin. Die Ergebnisse,<br />
resultierend aus einem Schreib-Workshop und Studiozeit,<br />
können sich, wie die beiden Vorgänger, absolut hören lassen.<br />
Es ist ein pädagogisch wertvolles Projekt: Wer auf das<br />
Album möchte, muss pünktlich sein, respektvoll mit den<br />
anderen umgehen und tolerant gegenüber den Kollegen<br />
bleiben. Es ist eben ein Geben und Nehmen.<br />
JP Nolos, 25 Jahre alt und aus Brasilien adoptiert, kommt<br />
ursprünglich aus Nordrhein-Westfalen und wohnt seit fünf<br />
Jahren in Berlin. Er ist auch so einer, der unbedingt seinen<br />
Namen auf einer Gangway-Beatz-Platte sehen wollte. Den<br />
Weg zu Gangway hat er über HipHop-Workshops von<br />
Olad in der Zeit seines Gefängnisaufenthaltes gefunden.<br />
Über den Grund für seine Strafe möchte er nicht sprechen.<br />
Für ihn ist das Entscheidende beim HipHop, dass man mit<br />
Worten klar machen kann, dass man kein Idiot ist, wie er<br />
sagt. „Nicht das ist, wonach man aussieht.“ Musik verbindet,<br />
bringt Menschen zum Nachdenken. Sport sei damals<br />
nicht cool genug gewesen, um sich darüber bei Freunden<br />
Respekt und Identität zu verschaffen. Er ahmte lieber das<br />
nach, was Rapper im HipHop vorgelebt haben. „Für Hip-<br />
Hop braucht man nicht viel“, sagt JP Nolos und schüttelt<br />
dabei seine Afro-Mähne. „Noch nicht mal Musik, das gehe<br />
auch ohne Mikro und Beat. Generell ist die Community<br />
S/W Foto von JP NOLOS: FARBEON<br />
ein großes Miteinander, da werden keine Unterschiede gemacht<br />
werden. Es ist egal, woher du kommst, wie du aussiehst,<br />
was du anhast. Man fühlt sich schnell zugehörig. Es<br />
läuft alles über das Mach-mal-mit-Prinzip.“<br />
Das, was er kann, gibt er auch gern weiter, getreu dem<br />
Motto: „Each one, teach one.“ Gangway ist so etwas wie<br />
ein Familienersatz, sagt JP Nolos weiter. „Man muss sich<br />
dafür Zeit nehmen, pünktlich kommen und konzentriert<br />
bei der Sache sein. Man darf auch nur kommen, wenn man<br />
cool und normal bleibt. Ich bin leider nicht der Pünktlichste,<br />
aber das ändert sich dann auch im Laufe der Zeit“, sagt<br />
er und lächelt dabei entschuldigend. „Solche Projekte bringen<br />
einen von anderen krummen Sachen weg. Selbst wenn<br />
ich mich nur einmal die Woche Gangway widme, war das<br />
schon mal ein guter Tag. Es ist sozusagen eine Prävention<br />
gegen Mistbauen.“ Er gibt sich eigene Hausaufgaben auf,<br />
um dabei bleiben zu können, arbeitet an sich, um Privilegien<br />
wie die Reise nach New York im nächsten Jahr mitmachen<br />
zu können, denn dann steht wieder ein Austausch mit<br />
der BronxBerlinConnection an.<br />
Falls er es in die Gruppe schafft, die nächstes Jahr auf Reisen<br />
geht, trifft JP Nolos bestimmt wieder auf Nossis, die 20<br />
Jahre junge Produzentin und Rapperin aus Brooklyn, New<br />
York, die auch im Berliner Bi Nuu aufgetreten ist. Schrei-<br />
ben konnte und wollte sie schon immer: erst Gedichte,<br />
dann Songtexte. HipHop ist für sie wie eine zweite Natur,<br />
von der sie schon immer umgeben war, sagt sie mit einem<br />
Lächeln auf dem Gesicht. „Musik ist eine super Möglichkeit,<br />
ge- oder erhört zu werden. Menschen verurteilen dich<br />
nicht für das, was du mal gemacht hast, sie schätzen es,<br />
wenn du Leidenschaft in deine Tracks steckst. Für HipHop<br />
brauche ich keinen Elite-Abschluss.“<br />
In der Highschool war Nossis schüchtern, fühlte sich<br />
nicht wohl, hatte Depressionen und viel Stress. Abgebaut<br />
hat sie diese negativen Emotionen mithilfe von Schreiben.<br />
„Das hat mich auf jeden Fall geöffnet. Ich habe meine negative<br />
Energie in positive umgewandelt.“ Der dringliche<br />
Wunsch, den Menschen, die sie eine lange Zeit missverstanden,<br />
endlich ihre Meinung zu sagen, war so groß, dass<br />
sie irgendwann ganz in die Welt des Raps abtauchte. Eigentlich<br />
wollte Nossis Journalistin werden, aber es hat ihr<br />
nicht gefallen, dass andere Leute ihr vorgeben wollten, worüber<br />
sie zu schreiben hat.<br />
Ihre Eltern hat Nossis übrigens, im Gegensatz zu früher,<br />
auch wieder auf ihrer Seite: „Sie respektieren mich endlich<br />
für das, was ich mache. Sie sehen meine Fortschritte, meine<br />
Auftritte, wie ich mich für die Musik hingebe und alles dafür<br />
tue, um erfolgreich zu sein.“<br />
Uniq Being (M.)<br />
und Lvg aus<br />
New York rappen<br />
nicht über<br />
Guns & Bitches
68<br />
Werk VI . Mixtape<br />
dancing on my own *<br />
Für diesen Tanz braucht man nicht unbedingt Musik, dafür Disziplin und absolute Körperbeherrschung – dürfen wir bitten...<br />
Fotos: Juliette Mainx<br />
Produktion: Greta Kehl-Detemple,<br />
Annika Krüger, Tina Meyer,<br />
Elena Schröder<br />
Model: Ly Huyen<br />
Haare/Make-Up: Audry Romano<br />
Bildbearbeitung: Markus Dreyer<br />
* Robyn, 2010<br />
Rock von Liebig Berlin.<br />
Top von Saymono.<br />
Schmuck: Vintage<br />
69<br />
Werk VI . Mixtape
Kleid von Guess.<br />
Top von Saymono.<br />
Schuhe, gesehen<br />
bei TK Maxx.<br />
Kette von Nelly<br />
70<br />
71<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Links: Kleid von<br />
Weekday, Kette von<br />
Bjørg Jewellery.<br />
Tuch: Vintage<br />
Rechts: Kleid von<br />
Victor Stuhlmann.<br />
Leggins, gesehen<br />
bei TK Maxx
Top von Cheap Monday.<br />
Rock von Vero Moda.<br />
Schuhe von Nelly (nly)<br />
Schmuck & Gürtel:<br />
Vintage<br />
72<br />
73<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Kleid von Weekday.<br />
Jacke, gesehen<br />
bei TK Maxx.<br />
Kopfschmuck:<br />
Stylists own
74<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Kostümtraum<br />
und Theaterzauber<br />
Der Nussknacker, Schwanensee oder<br />
Carmen – die prachtvollen, handgearbeiteten<br />
Kostüme dieser<br />
Ballettstücke und Opern versprühen<br />
einen Zauber, der lange nachwirkt.<br />
In dem Fundus der Deutschen<br />
Oper in Berlin-Charlottenburg<br />
treffen wir Dorothea Katzer.<br />
Seit 2001 ist sie für die Kostüme<br />
der Oper und des Berliner Staatsballetts<br />
verantwortlich.<br />
Sie kennt jedes kostbare Stück.<br />
bodenlange Kleider aus Seide<br />
und nachtblauem Samt, Rokoko,<br />
Renaissance oder Zukunft, Gaultier<br />
oder Lacroix. Der Fundus ist bis<br />
unter die Decke mit Schätzen gefüllt<br />
und sorgt für viel Gesprächsstoff.<br />
Interview: Daliah Hoffmann<br />
Fotos: Michelle Gornick<br />
Ein Meer aus<br />
Tüll: Voluminöse,<br />
pinkfarbene Tutus<br />
warten auf ihren<br />
nächsten Auftritt<br />
Frau Katzer, Musik ist seit mehreren Jahrzehnten berufsbedingt<br />
ein wichtiger Teil Ihres Lebens. Haben Sie beim Entwerfen<br />
der Kostüme auch Musik gehört? Zur Inspiration<br />
oder Beruhigung?<br />
Nein, nie. Ich gehöre zu den Menschen, die, wenn sie Musik<br />
hören, total in sich hinein driften. Ich kann nicht mal<br />
beim Kochen nebenbei ein Hörspiel hören oder beim Bügeln<br />
fernsehen. Das absorbiert zu stark meine Aufmerksamkeit.<br />
Ich höre sehr gern Musik, aber wenn ich entwerfe,<br />
dann gar nicht. Es sei denn, ich designe für eine Oper, dann<br />
höre ich natürlich immer mal wieder rein, um Zeiten zu<br />
prüfen und um mir das Klima und die Stimmung zu vergegenwärtigen.<br />
Ich habe hier die Gelegenheit, sehr viel Musik<br />
zu hören, und tue das auch oft.<br />
Was hören Sie denn privat am liebsten?<br />
Ehrlich gesagt hat es mich inzwischen sehr zu Wagner hingeführt.<br />
Ja, ich höre ganz gern Wagner.<br />
Was hat Sie an dem Beruf des Kostümdesigners so fasziniert?<br />
Waren es die Opern, die Stoffe oder das Entwerfen selbst?<br />
Ich habe immer schon gezeichnet und wollte ursprünglich<br />
Illustrationen machen. Über das Zeichnen hinaus interessierte<br />
ich mich auch für die kostümtechnische Darstellung<br />
von Figuren. Also habe ich das Zeichnen mit dem Theater<br />
verbunden und den Entwurf als Form der Illustration für<br />
mich gewählt. Es ging dabei nicht um Mode, sondern um<br />
die Darstellung von dramatischen Figuren. Eine Schneiderlehre<br />
und ein Gewandmeister-Studium gab mir eine<br />
handwerkliche Basis. Danach habe ich als Assistentin an<br />
der Schaubühne angefangen.<br />
Wie war die Zeit an der Berliner Schaubühne?<br />
Es gab dort nur eine kleine Werkstatt, in der damals sehr<br />
experimentell gearbeitet wurde. Wir haben keine abstrakten<br />
Kostüme gemacht, es ging eher darum, beispielsweise<br />
Renaissance-Kleider genauso herzustellen wie die Originale<br />
aus dem 16. Jahrhundert. Dafür wurden auch mal fünf<br />
Perlen übereinander gestickt. Wir hatten die Möglichkeit,<br />
uns richtig auszutoben. Die Schaubühne war für mich eine<br />
Mischung aus Entwerfen, Charakterisieren und handwerklicher<br />
Ausbildung. Das war für die späteren Jahre natürlich<br />
ein unglaublicher Vorteil.<br />
Wie haben Sie diesen Vorteil für sich genutzt?<br />
Nach den zwei Jahren an der Schaubühne habe ich sehr lange<br />
als Kostümbildnerin für verschiedene deutsche Häuser<br />
gearbeitet. Man geht auf Reisen, trifft Regisseure und merkt<br />
schnell, dass man dieselben Interessen hat und eine gemeinsame<br />
Geschichte erzählen will. Es geht ja darum, die Vorstellung<br />
des Regisseurs zu bebildern. Als Kostümbildnerin bin<br />
ich in der angewandten Kunst tätig. Teamarbeit ist besonders<br />
wichtig. Nach langen Gesprächen mit dem Regisseur und<br />
dem Bühnenbildner, der durch sein Werk den Mikrokosmos<br />
für die Schauspieler schafft, verleiht der Kostümdesigner den<br />
Figuren durch die Kleider den gesamten Ausdruck. Ich will<br />
den Charakter der Rolle durch die Kostüme unterstreichen.<br />
Sie haben sich dann auf Opern spezialisiert, woher kommt<br />
Ihre Leidenschaft dafür?<br />
Mich hat die Emotionalität in der Oper, die mich viel stärker<br />
und anders berührt als im Theater oder Ballett, schon<br />
immer begeistert. Allein schon wie die Figuren über die<br />
Musik und das Libretto zum Leben erweckt werden. Die<br />
Oper ist unglaublich lebendig und man sieht, wie diese Arien<br />
den Sänger dazu drängen, darstellerisch zu werden. Das<br />
ist mit Schauspiel nicht zu vergleichen. Es erfasst einen in<br />
einem viel größeren Umfang.<br />
In all den Jahren haben Sie bestimmt mehr als 100 Opern<br />
gesehen und waren selbst Teil der Entstehungsprozesse. Welche<br />
ist ihre Lieblingsoper?<br />
Ich mag Wagners Parsifal und Verdis Requiem unheimlich.<br />
Das sind eher so die schweren Stücke, fällt<br />
mir gerade auf. Aber ich höre auch Gioachino<br />
Rossini und Gaetano Donizetti oder<br />
auch mal Giacomo Puccinis La Bohème.<br />
Mittlerweile haben Sie sich aus dem Kostümdesign<br />
eher zurückgezogen und sind<br />
nur noch für die Organisation und Direktion<br />
der Abteilung zuständig. Was haben<br />
Sie zuletzt für das Berliner Staatsballett<br />
entworfen?<br />
Ich habe 2011 noch Die Liebe der Danae<br />
unter der Regie von Kirsten Harms gemacht.<br />
Außerdem habe ich das Kinderballett<br />
organisiert und an kleinen Produktionen<br />
mitgewirkt.<br />
2009 entwarf Jean Paul Gaultier die Kostüme<br />
für Schneewittchen. Wie war die Arbeit<br />
mit ihm?<br />
Er hat für Schneewittchen sehr eng mit<br />
Angelin Preljocaj, dem Choreographen,<br />
zusammengearbeitet. Sie haben gemeinsam<br />
Entscheidungen getroffen, sind aufeinander<br />
eingegangen und haben sich<br />
gegenseitig inspiriert. Ich habe damals<br />
nach seinen Vorgaben die Kostüme in den Werkstätten des<br />
Staatsballetts produzieren lassen. Er hatte leider keine Zeit,<br />
persönlich dabeizusein.<br />
Wie haben Sie Gaultier als Menschen wahrgenommen? Auf<br />
dem Laufsteg wirkt er ja eher extravagant, laut und verrückt.<br />
Ich bin damals zu ihm nach Aix-en-Provence gefahren, um<br />
mir die Entwürfe vor Ort anzuschauen. Ich fand es wirklich<br />
sehr beeindruckend zu sehen, dass er nicht nur deshalb ein<br />
sehr erfolgreicher Designer ist, weil er im Leben viel Glück hat,<br />
sondern weil er wirklich ein unglaublich konzentrierter Arbeiter<br />
ist. Er sieht sich in gewisser Weise auch als Dienstleister<br />
und hat seine Aufgaben mit großer Virtuosität abgearbeitet.<br />
Und wer geht bei diesen Designer-Kooperationen üblicherweise<br />
auf wen zu?<br />
Die Kostümdirektorin<br />
Dorothea Katzer
76<br />
Werk VI . Mixtape<br />
„Viele Modedesigner<br />
suchen<br />
sowohl in<br />
der Historie<br />
als auch im<br />
Theater und<br />
im Film nach<br />
Inspiration“<br />
Meist engagiert das Opernhaus oder das Ballett einen Regisseur<br />
oder einen Choreographen, der etwas für das Haus<br />
entwickeln soll. Und dann überlegt das Regie-Team, welche<br />
Künstler zu der Produktion passen könnten. Manchmal<br />
hat er Partner, mit denen er immer zusammenarbeitet.<br />
Wie beispielsweise Peter Stein, der seit Jahrzehnten<br />
mit Moidele Bickel arbeitet. Andere wechseln mit jeder<br />
Produktion auch den Kostümbildner. Herr Preljocaj arbeitet<br />
sehr gern mit bekannten und interessanten Modedesignern<br />
zusammen. Das hat auch Tradition in seiner Heimat<br />
Frankreich. Coco Chanel hat damals auch Ballettkostüme<br />
entworfen. Ich denke, er führt diese Tradition weiter.<br />
Ich finde, das ist im Ballett auch wirklich fruchtbar. Das<br />
Schneewittchen war wirklich großartig. Für Februar 2014<br />
planen wir gerade eine Produktion mit Preljocaj und dem<br />
Designer Azzedine Alaïa. Er ist berühmt für<br />
seine Strickmode, seine körpernahen Formen<br />
und seine ganz spezielle Linienführung,<br />
die von den Schnitten her eine Herausforderung<br />
ist. Alaïa hat die Schnitte sozusagen<br />
dekonstruiert. Er hat auch nach dem Ende<br />
seiner Designerkarriere ganz unglaubliche<br />
Stricktechniken und ganz tolle Kostüme<br />
gemacht. Ich bin gespannt auf das Ergebnis<br />
und freue mich schon sehr.<br />
Christian Lacroix hat bei Ihnen im Haus ja<br />
auch Kostüme für das Ballett designt.<br />
Ja, er hat 2010 erstmals Kostüme für die Deutsche<br />
Oper gemacht. Damals für die Barockoper<br />
Agrippina von Georg Friedrich Händel.<br />
Alle Kostüme waren den Sängern und<br />
Solisten auf den Leib geschneidert worden.<br />
Er ist ein sehr umgänglicher und sehr kreativer<br />
Mensch. Und offensichtlich geht er auch<br />
auf die Regisseure und ihre Wünsche ein. Es<br />
sind ja immer dramaturgische Figuren, die<br />
in der Dramaturgie auch bedient werden<br />
müssen. Und das ist auch für die Modedesigner<br />
eine Anregung.<br />
Wie würden Sie die Beziehung zwischen der Oper, dem Ballett<br />
und der Mode beschreiben? Wie wichtig sind diese kulturellen<br />
Phänomene für einander?<br />
Meiner Meinung nach wird Mode durch theatralische Momente<br />
beeinflusst. Viele Modedesigner suchen ja sowohl in<br />
der Historie als auch im Theater und im Film nach Inspiration.<br />
Auch Kostümdesigner für Film und Ballett lassen sich<br />
sehr von der Mode inspirieren. Ich glaube, das befruchtet<br />
sich gegenseitig. Mode und Musik sind sehr emotionale<br />
Angelegenheiten.<br />
Wie fängt man an, ein Kostümbild zu entwerfen? Was muss<br />
alles beachtet werden?<br />
Als erstes führt man Konzeptionsgespräche mit der Regie,<br />
liest das Stück oder hört die Oper. Im ganzen Team<br />
sammelt man Ideen, tauscht sich über Assoziationen aus<br />
und inspiriert sich gegenseitig. Dann beginnt das Zeichnen<br />
oder das Sammeln von Material: Bilder aus Kostümbüchern,<br />
Zeitungsausschnitte, Modezeichnungen, Modebücher.<br />
Textilfetzen, Material- und Farbproben sind oft<br />
auch Teil des Entstehungsprozesses. Ich habe eigentlich<br />
immer gezeichnet und nur selten Collagen gemacht. Auch<br />
Anregungen von Stylisten sind hilfreich und die momentane<br />
Modeströmung ebenfalls. Vielleicht setzt aber auch<br />
gerade der Kostümbildner einen Modetrend.<br />
Und was passiert dann?<br />
Wenn der Kostümdesigner alle Bilder und Inspirationen<br />
beisammen hat, geht er damit zu der Kostümdirektion des<br />
Hauses und legt die Zeichnungen vor. Dann wird gemeinsam<br />
besprochen, was gemacht werden kann, und was nicht.<br />
Anschließend fängt der Kostümbildner mit der Umsetzung<br />
an und präsentiert die fertigen Kostüme an Figurinen. Es<br />
kommt aber auch vor, dass Kostümbildner noch gar nicht<br />
genau wissen, was sie machen wollen und erst während<br />
der Proben eine Idee bekommen. Ungefähre Skizzen und<br />
Entwürfe werden dann während der Proben auf der Bühne<br />
konkretisiert. Das geht in der Oper nicht ganz so gut, weil<br />
für manche Stücke gut 300 Kostüme benötigt werden.<br />
Sie sagen, dass Mode und Musik sich gegenseitig befruchten.<br />
Designer lassen sich vom Theater inspirieren und Kostümbildner<br />
nutzen Modeströmungen, um ihre Kostüme dem<br />
Zeitgeist anzupassen. Wie können wir uns das vorstellen?<br />
Ein sehr passendes Beispiel lieferte die Schaubühne in den<br />
80er-Jahren, als dort Maxim Gorkis Sommergäste aufgeführt<br />
wurde. Die Kostümbildner haben damals aus lauter<br />
Trödelläden in Berlin-Kreuzberg alte Leinentücher zusammengeholt,<br />
um dann russische Sommeranzüge aus<br />
der Zeit um 1900 nachzuschneidern. Plötzlich standen die<br />
Zuschauer da und sagten alle: „Wir wollen auch so einen<br />
Leinenanzug haben wie Bruno Ganz. Der knittert so wunderbar.“<br />
Ich bin mir sicher, dass die Schaubühne mit diesem<br />
Stück tatsächlich den Leinen-Boom ausgelöst hat. Zu<br />
der Zeit trugen eigentlich alle halbsynthetische Stoffe, die<br />
nicht knitterten. Dann fingen die Designer an, mit Leinen<br />
zu arbeiten, und so verbreitete sich der Look. Vielleicht haben<br />
die Kostümbildner an der Schaubühne aber auch nur<br />
einen Trend gespürt, ihn aufgenommen und so an die breite<br />
Masse gebracht.<br />
Haben Sie in den letzten Jahren ein Kostüm aus ihrem Fundus<br />
besonders ins Herz geschlossen?<br />
Ja, es gibt ein Kostüm, das ich sehr liebe. Es ist ein furchtbar<br />
schäbiges Kleid. Das der Clytemnestra in Elektra von<br />
Götz Friedrich. Das Kleid war auf der Bühne ein ganz<br />
beeindruckendes rotes Kostüm mit einer breiten, pinkfarbenen<br />
Schlange vorne drauf. Aber wenn man es sich<br />
von Nahem anschaut, ist es nur ein banaler Wollstoff<br />
mit einem pinkfarbenen draufgestrickten Jersey. Die<br />
Ketten sind tatsächlich aus Korken und mit Glanzpapier<br />
überzogen und bemalt. Dieses Kostüm ist wirklich ein<br />
Theaterzauber.<br />
77<br />
Werk VI . Mixtape
78<br />
Der<br />
Klang<br />
macht<br />
79<br />
Werk VI . Mixtape<br />
die<br />
Kunst<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Ein Gespräch über Geräusche,<br />
die man sehen und fühlen kann.<br />
Interview: Virginie Henzen<br />
Grafiken:<br />
Visualisierungsmodelle<br />
der Raum-<br />
Klangkomposition<br />
I_Land, 2007-2009<br />
Foto: A. Hartmann<br />
Monochrome<br />
blaue Fläche von<br />
der audiovisuellen<br />
Klangkomposition<br />
Der Schlaf & die<br />
Betäubung, 2011
D<br />
Gerriet K. Sharma<br />
bei Außenaufnahmen<br />
auf<br />
Sylt für sein<br />
Projekt I_Land,<br />
2007-2009<br />
er Künstler Gerriet Krishna Sharma<br />
kreiert Klänge. Indem er sie in Treppenhäusern<br />
einfängt, sich im Badezimmer<br />
einschließt, ein Schnippen im<br />
Kreis laufen lässt oder sich Rettungsfolien<br />
als Haustiere hält. Seine Kunst<br />
reicht von einfachen Alltagsgeräuschen<br />
über Lautsprecherklänge bis hin zum<br />
fiktiven Klang ganzer Inseln. Wie man aus etwas Banalem<br />
Kunst machen kann, zeigt der heute 39-Järhige mit seiner Arbeit<br />
Melt: Aufnahmen von schmelzendem Eis. Im Interview<br />
spricht Gerriet K. Sharma über die Faszination von offenen<br />
Fenstern, warum sich Klangkunst nicht genau definieren lässt<br />
und über den Inhalt seines akustischen Werkzeugkastens.<br />
Herr Sharma, wie würden Sie in eigenen Worten Klangkunst<br />
beschreiben?<br />
Klangkunst kommt aus dem Bereich der Medienkunst.<br />
Medienkunst als solche existiert eigentlich gar nicht. Das<br />
ist eine Strategie, mit der man es geschafft hat, auf künstlerische<br />
Art und Weise Geld zu akquirieren für eine bestimmte<br />
Richtung von Kunst. Klangkunst ist bestimmt<br />
nicht älter als 90 Jahre. In Deutschland wird sie nicht zur<br />
Musik gezählt, sondern eher zur Bildenden Kunst. In Österreich<br />
zum Beispiel gehört das eher zur Musik. Im Wesentlichen<br />
geht es darum, über die auditive Wahrnehmung<br />
des Besuchers eine bestimmte Welt zu öffnen und in dieser<br />
Welt etwas zu verhandeln.<br />
Momentan arbeiten Sie gerade an Keine Ahnung von<br />
Schwerkraft. Können Sie uns ein bisschen mehr über dieses<br />
Projekt erzählen.<br />
Sechs leerstehende Gebäude werden in verschiedenen<br />
europäischen Städten als Klangräume genutzt und als<br />
integraler Bestandteil von mehrkanaligen Klangkompositionen<br />
verstanden und erfahrbar gemacht. Ich habe<br />
viele Jahre lang in abgedunkelten Studios, abgedichteten<br />
Kellern und „Verliesen“ verbracht. Irgendwann hab ich<br />
gedacht, der Klang stimmt hier nicht mehr: Im Studio<br />
muss alles still sein, aber ich würde gern die natürlichen<br />
Geräusche miteinbeziehen. Die Frage war, wie kann ich<br />
das, was ich die letzten Jahre im Elfenbeinturm der Akademie<br />
gelernt habe, anders umsetzen? Ich habe mich ganz<br />
stark mit Raumakustik beschäftigt. Irgendwann habe ich<br />
eine Sammlung gemacht von den Klängen aus Treppen-<br />
häusern. Die ersten Versuche mit Gebäudebespielungen<br />
habe ich in leerstehenden Hörsälen gemacht.<br />
Was für eine Verbindung gibt es zwischen Klangkunst und<br />
Architektur?<br />
Es gibt eine Tradition. Ich habe viel recherchiert und fing<br />
an, mich zu fragen: Wie klingt Architektur? Und warum<br />
klingt dieses Treppenhaus anders als das da drüben? Ich<br />
habe festgestellt, wenn irgendjemand keine Ahnung hat<br />
von akustischer Atmosphäre, sind es die Architekten. Das<br />
ist doch komisch, dass sich Leute Häuser bauen lassen und<br />
sich im eigenen Wohnzimmer anschreien müssen.<br />
Sie beginnen Ihre Arbeit mit einem Frage-Antwort-Spiel an<br />
den Raum. Was kann man sich darunter vorstellen?<br />
In der Kürze sieht das so aus: Sie betreten ein Gebäude, gehen<br />
herum und hören erst mal zu. Dann folgen drei genau festgelegte<br />
Arbeitsschritte: Begehung, Befragung und Antwort.<br />
Wie genau gehen Sie vor?<br />
Bei der Befragung habe ich meine 32 Lautsprecher und einen<br />
akustischen Fragebogen für jedes Gebäude, da sind Testprogramme<br />
drin mit akustischen Signalen, die den Raum auf<br />
verschiedene Weisen anregen. Sie kennen das Phänomen<br />
des Echos. Wenn Sie sich vorstellen, Sie lassen ein Schnippen<br />
im Kreis von Lautsprecher zu Lautsprecher laufen, und<br />
diese Lautsprecher stehen aber in verschiedenen Räumen,<br />
dann läuft der Impuls durch die Räume und kommt wieder<br />
bei Ihnen raus, aber jedes einzelne Schnippen hat dann<br />
die auditive Information dieses Ortes in sich. Da gibt es<br />
ganz viele erprobte und entwickelte Testklänge in meinem<br />
Werkzeugkasten, den ich über die Zeit programmiert habe.<br />
Durch deren Anwendung bekomme ich einen akustischen<br />
Eindruck. So wird das Gebäude langsam erkundet. Meistens<br />
interessiert sich das Gebäude am Anfang überhaupt nicht<br />
für einen – null. Ich meine, was für ein Idiot sitzt im Badezimmer<br />
oder in der Besenkammer und lässt Klänge springen?<br />
Ich erfahre ganz viel über Material, Bauweise, Hallwege<br />
und eben auch über die akustische Architektur. Und diese<br />
ist dann die Grundlage für die Gebäude-Klangkomposition.<br />
Die Komposition ist dann meine Antwort.<br />
Was für eine Botschaft hat Keine Ahnung von Schwerkraft?<br />
Die Botschaft ist das Gebäude selbst als bisher ungehörter<br />
und unerhörter Erfahrungsraum. Natürlich ist es auch<br />
FotoS: Martin Voss, Nico Bergmann<br />
Rechte Seite:<br />
Gerriet K. Sharma<br />
beim Arrangieren<br />
von Rettungsfolie<br />
für das Experiment<br />
Lose Enden, 2010<br />
81<br />
Werk VI . Mixtape
Aufnahme von<br />
knisternden<br />
Isolierfolien für<br />
die Arbeit Lose<br />
Enden, 2010<br />
82<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Foto: Nico Bergmann, gksh<br />
irgendwie politisch, Leerstand zu bespielen. Die Frage ist,<br />
ob man immer neue Gebäude für die Kunst bauen muss<br />
oder ob man die Art und Weise, wie wir Kunst produzieren<br />
und rezipieren, verändern kann, um das Werk wieder<br />
zu „erleben“? Es geht letztendlich aber vor allem darum,<br />
akustische Umwelt durch künstlerische Setzung und Intervention<br />
erfahrbar zu machen.<br />
In Ihrem Online-Projekt Strichliert, Vol. 01 - Vol. 15 Operationen<br />
am offenen Fenster bitten Sie den Online-Besucher,<br />
15 Tracks mit Miniaturkompositionen herunterzuladen, das<br />
Fenster zu öffnen und die Tracks geloopt für mindestens eine<br />
Stunde über einen Lautsprecher abzuspielen. Der Zuschauer<br />
soll dem Ganzen keine besondere Beachtung schenken. Ist<br />
das Selbstironie?<br />
Ich finde es total spannend, bei offenem Fenster zu sitzen<br />
und zu hören, wie sich Drinnen und Draußen verbindet.<br />
Und wenn Sie dazu noch etwas Drittes spielen, z.B. Whitney<br />
Houston, passieren die tollsten Sachen. Das an sich als<br />
Installation ist schon total spannend. Aber was, wenn ich<br />
als Klangkünstler noch dazwischen komme? Wie komme<br />
ich in Ihr Wohnzimmer, ohne einzubrechen? Wie kann<br />
ich da eine Umgestaltung vornehmen, und wie massiv ist<br />
die? Auch hier versuche ich eine andere Form zu finden.<br />
Wenn Sie jetzt Klangkunst im öffentlichen Raum nehmen,<br />
das tutet immer ganz furchtbar und wird irgendwann nervig.<br />
Oder in einer Galerie – hoffentlich werden die mich<br />
im Sommer am Bochumer Kunstverein nicht total hassen<br />
dafür. Die Ausstellung läuft sechs oder acht Wochen und<br />
das Museumspersonal muss das dann die ganze Zeit hören.<br />
Bei Ihrem Projekt Lose Enden übertragen Sie physische<br />
Bewegungsgesten akustisch skulptural auf den Raum, wodurch<br />
dreidimensional Höreindrücke entstehen. Dabei geht es<br />
Ihnen nicht nur um die bloße Wiedergabe der aufgezeichneten<br />
Klänge, sondern um eine physische Gesamterfahrung.<br />
Was genau ist das?<br />
Die auditive Wahrnehmung von der Welt ist eine total andere<br />
als durch die Augen. Was passiert zwischen Augen und<br />
Ohren in einer künstlerischen Arbeit? Ich habe für Film und<br />
Fernsehen und auch lange mit VJs zusammengearbeitet. Es<br />
weiß keiner. Bei Lose Enden ist mir irgendwann aufgefallen,<br />
dass erstaunlich viele Leute im Performance-Bereich zu der<br />
Zeit etwas mit Rettungsfolien machten. Wahrscheinlich weil<br />
es günstig ist und weil es so schön knistert. Außerdem gibt es<br />
eine Fluxusarbeit des japanischen Künstlers Takehisa Kosugi,<br />
die heißt Micro 1. Die hat mich stark geprägt, die beiden<br />
Eindrücke wollte ich weiterverfolgen.<br />
Wie funktioniert Micro 1?<br />
Das ist eigentlich eine Gebrauchsanweisung, wie Fluxus das<br />
viel gemacht hat. „Wrap a sheet of paper around a microphone<br />
and wait for five minutes.“ Das ist die ganze Arbeit.<br />
Und das ist wunderbar, denn Ihre Ohren werden bei der<br />
Performance immer genauer. Ich habe überlegt, dass man<br />
das installativ anders einsetzen kann. Ich habe ein Jahr lang<br />
Rettungsfolien zerknüllt und auf meinem Atelierboden<br />
liegen lassen. Nebenbei habe ich andere Sachen gemacht<br />
und immer ein Fenster offen gehabt. Da kommt ein leichter<br />
Wind rein, diese Folien bewegen sich durch den Raum,<br />
weil sie so leicht sind. Die sind ein Jahr wie Haustiere bei<br />
mir rumgehüpft und dann hört man, wie die langsam wieder<br />
aufgehen, wie sie vermeintlich anfangen zu kommunizieren.<br />
Diesen Klang habe ich mit speziellen, sensiblen<br />
Mikrofonen aufgenommen. Da hört man eine wahnsinnige<br />
Vielfalt. Ich habe so lange experimentiert, bis ich zu diesem<br />
Aufbau kam. Die Folien liegen erstarrt und darunter sind<br />
Lautsprecher, die eine bestimmte Choreographie von bearbeiteten<br />
Klängen abspielen und diese orchestrieren. Wenn<br />
man diese goldene Insel danach umschreitet, tanzt etwas<br />
über diese Folie. Tanz hat immer etwas mit Körper zu tun<br />
und einem Wesen, das eine Geste verfolgt. So kommt es<br />
dann zu dreidimensionalen Klangeindrücken.<br />
Arbeiten Sie auch mit Video?<br />
An der Kunsthochschule für Medien in Köln haben sie<br />
mich immer gefragt: „Herr Sharma, wann machen se`<br />
denn endlich mal was mit Video?“ Und ich habe immer geantwortet:<br />
„Wenn ich keine Angst mehr vor Bildern habe.“<br />
Das ist natürlich ziemlich plakativ, im wahrsten Sinne des<br />
Wortes. Aber ich finde, dass die Bilder sich weitgehend verbraucht<br />
haben. Auch weil wir momentan sehr stark auf der<br />
Kippe sind, mit Bildern, die digital entstehen, und diesen<br />
Hybriden, die halt noch so tun, als ob sie gezeichnet wären.<br />
Die Erzählstrukturen sind aber immer die gleichen.<br />
Welche war die bewegendste Geschichte, die Sie umgesetzt<br />
haben?<br />
I_Land, eine ambisonische Raum-Klangkomposition, das<br />
war bisher mein umfangreichstes Projekt. Damit bin ich<br />
83<br />
Werk VI . Mixtape
Links: Tonaufnahmen<br />
von Eis für die<br />
Arbeit Melt, 2009<br />
Rechts: Sound-Installation<br />
Wiegenlied, Berlin 2009<br />
84<br />
Werk VI . Mixtape<br />
sehr wahrscheinlich erwachsen geworden. Ich habe zwei<br />
Jahre über Inseln recherchiert und mich gefragt: Was sind<br />
Inseln? Als Metapher, als geografische Formation, Leerstelle,<br />
Zufluchtsort und Gefängnis. Das ist die bewegendste<br />
Geschichte, weil ich festgestellt habe, dass wir ohne Inseln<br />
nicht leben könnten und alles zusammenbrechen würde.<br />
Inseln sind die Fixpunkte, die Koordinaten, die wir alle<br />
brauchen, und eben nicht das Festland.<br />
Wie ist die Resonanz auf Ihre Kunst?<br />
Ganz unterschiedlich. Ich habe großes Glück, ich kriege<br />
wahnsinnig viel Unterstützung. Aber es gibt auch Ablehnung.<br />
Und mir ist auch schon alles vorgeworfen worden.<br />
Ich bin schon eine Stunde angebrüllt worden von jemandem,<br />
der meinte, meine Arbeit sei Gotteslästerung. Der<br />
Mensch an sich erträgt visuell die krassesten Dinge, aber<br />
im auditiven Bereich ist es überhaupt nicht so. Der Raum<br />
als kompositorisches Mittel auf der Ebene von Rhythmik,<br />
Melodik und Harmonik, das ist erst ganz stark durch die<br />
Computermusik gekommen. In der Klangkunst geht es<br />
häufig darum, dass der Raumklang an sich unglaublich<br />
reich sein kann, was Farben und Frequenzen angeht. Der<br />
kann auch an sich wandelbar sein, wie ein Morph, eine<br />
Skulptur. Wie Lehm, da ist Ton doppeldeutig, wie forme<br />
ich etwas im Raum?<br />
Sie haben einen ziemlich hohen Anspruch an Ihr Publikum,<br />
wieso?<br />
Ich glaube, weil es Spaß machen kann. Weil ich auch glaube,<br />
dass es ganz viele Leute gibt, denen es ganz ähnlich geht<br />
wie mir. Man muss den Anspruch sehr hoch schrauben,<br />
wenn man gute Bekannte treffen möchte.<br />
Wie wichtig ist elektronische Musik für Ihre Kunst?<br />
Die ist ziemlich wichtig. Die Frage ist natürlich, was elektronische<br />
Musik ist? Ich habe sehr wenig mit Clubmusik zu tun.<br />
Die Erzeugung von Klängen oder die Veränderung von Klängen<br />
am Computer hat ganz viel mit meiner Arbeit zu tun. Der<br />
Lautsprecher als Instrument spielt für mich eine große Rolle.<br />
Hören Sie privat elektronische Musik?<br />
Privat geht es gar nicht. Ich kann privat sowieso wenig Musik<br />
hören. Da ich mich in meiner Arbeit den ganzen Tag<br />
mit Hören beschäftige, ist das ein Problem. Ich kann mir<br />
das aber anhören im Club. Aber dann ist für mich natürlich<br />
ausschlaggebend, ob die Anlage gut ist. Ich höre sofort, ob<br />
da ein Arschloch am Werk ist, der die Leute umbringen<br />
will. Und immer dieser Nimbus mit der Lautstärke, die<br />
drehen die immer unglaublich hoch. Müssten sie aber gar<br />
nicht, wenn die Anlage gut wäre. Clubmusik ist auch nicht<br />
zum Hören da, sondern zum Fühlen.<br />
Was ist Ihr Lieblingsklang?<br />
Ich glaube, ich habe keinen Lieblingsklang. Weil aus dem<br />
Kontext herausgelöste Klänge nicht per se etwas sind. Ich<br />
mag aber zum Beispiel sehr hohe Frequenzen.<br />
Und der schlimmste?<br />
Oh, da gibt’s viele im Alltag. Presslufthammer im öffentlichen<br />
Raum oder meistens die erste halbe Sekunde bei der<br />
Lautsprecherdurchsage am Bahnhof. Ganz schlimm ist<br />
Berlin. Noch schlimmer Köln. Und diese Laubbläser.<br />
Wenn Sie jeden möglichen Raum auf der Welt bespielen<br />
könnten, welcher wäre es?<br />
Momentan träume ich von einem Raum, den ich selbst in<br />
seiner akustischen Architektur gestalten kann: Ein Gebäude,<br />
das an sich schon eine Installation ist, ohne dass ich es<br />
bespielen muss. Jemand geht rein und hört Geschichten,<br />
aber da ist nichts. Es ist nur der Raum und seine Akustik.<br />
Oder einmal für Yohji Yamamoto Musik machen.<br />
Wieso gerade für Yohji Yamamoto?<br />
Ich denke, es ist sein Umgang mit dem Material und die<br />
Verbindung von Tradition und High-Tech, was mir an Yamamotos<br />
Arbeit gefällt. Ich bin auch kein Anhänger von<br />
bunten Farben. Farblose Schlichtheit führt zu einer sehr<br />
konzentrierten Wahrnehmung. Die handwerklich perfekte<br />
Dekonstruktion von Schnitten und Formen und das Ermöglichen<br />
anderer Raumausdehnungen kann zu einer anderen<br />
Wahrnehmung von Körper und Raum führen. Und<br />
genau das finde ich auch wichtig, wenn man komponiert.<br />
Nur dann kommt es zu einem zweiten Angebot, das sich<br />
von dem, was wir sowieso schon alle wissen und erleben<br />
bzw. erlebt haben, als Alternative abzeichnet. Ich hoffe immer,<br />
dass darin der Schlüssel zum Wundern liegt.<br />
Gerriet K. Sharma ist mit seiner Soloausstellung Speicherlos<br />
noch bis zum 28. August am Kunstverein Bochum zu hören.<br />
www.kunstverein-bochum.de<br />
Foto: Nico bergMaNN, GKSH<br />
85<br />
Werk VI . Mixtape<br />
85<br />
Werk VI . Mixtape
David: T-Shirt<br />
von 5Preview<br />
Edem: Sweatshirt<br />
von The Shit Shop.<br />
Leggings: Vintage<br />
DROP<br />
86<br />
IT LIKE<br />
IT’S<br />
87<br />
Werk VI . Mixtape<br />
HOT *<br />
HipHop Deluxe:<br />
Viel Gold, kräftige<br />
Farben und<br />
fette Prints geben<br />
dieses Jahr den<br />
Ton an.<br />
*Snoop Dogg, 2004<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Fotocredit<br />
Fotos: Patrick Wüstner<br />
Produktion: Julia Balandynowicz,<br />
Virginie Henzen, Pina Pipprich<br />
Haare/Make-up: Jacqueline Nikuta<br />
Models: David/Splendide Models, Edem
88 89<br />
Fotocredit<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Edem: Top von 5Preview.<br />
Shorts von Levi’s.<br />
Mütze von Carhartt.<br />
Sneaker von Nike.<br />
Gürtel von Escada<br />
David: Hose von<br />
Minimum. Shirt von H&M.<br />
Sneaker von Nike<br />
Wollmütze von<br />
Funky Bling
90 91<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Edem: Jacke: Vintage.<br />
Top von H&M Trend.<br />
Schmuck: Stylists own<br />
David: Pullover von<br />
The Shit Shop<br />
Fotocredit<br />
Fotocredit
92<br />
93<br />
Fotocredit<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Edem: Kleid von Asos.<br />
Cap von River Island.<br />
Boots von Timberland.<br />
Schmuck: Stylists own<br />
David: T-Shirt von<br />
Snoop Dogg.<br />
Cap von New Era<br />
Jacke: Vintage.<br />
Schmuck: Stylists own
Edem: Pullover von<br />
The Shit Shop.<br />
Leggings: Vintage.<br />
Sneaker von Nike.<br />
Kette von Mango<br />
David: Hose von<br />
Minimum. T-Shirt<br />
von 5Preview.<br />
Sneaker von Nike<br />
94<br />
95<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Werk VI . Mixtape
Mein Erstes Mal<br />
von Valentine Linke<br />
von Carmen Benker<br />
Schlagerkonzert<br />
Musikfestival<br />
96<br />
Werk VI . Mixtape<br />
B<br />
acksteinhäuser, Felder, Idylle. Das<br />
ist das Dörfchen Scheeßel in Niedersachsen.<br />
Einmal im Jahr, an<br />
einem Wochenende im Juni, ist es<br />
mit der Ruhe vorbei. Denn dann<br />
findet hier das Hurricane-Festival<br />
statt. Mit Indie, Techno und hartem<br />
Rock. In diesem Jahr sollte<br />
ich also in eine mir bis dato völlig fremde Musikwelt eingeführt<br />
werden: in die der Festivals.<br />
Die Aussicht auf drei Tage voller Dreck, Müll und ungewaschener<br />
Menschen löste bei mir bereits im Vorfeld Panik<br />
aus. Wieso sollte ich mein Bett gegen eine Isomatte und einen<br />
Schlafsack eintauschen? Für mich bis dahin ein Rätsel.<br />
An einem schwül-heißen Donnerstagnachmittag startete<br />
also meine Reise in das Ungewisse. In einem vollgestopften<br />
Kleinwagen machte ich mich gemeinsam mit meinen Mitbewohnern<br />
Eileen und Toko auf gen Westen. Was mich auf<br />
dem Hurricane, dem zweitgrößten Festival Deutschlands,<br />
erwarten würde, war mir zu diesem Zeitpunkt noch völlig<br />
unklar. Eingequetscht zwischen Zelt, Isomatte und einem<br />
Wasserkanister lauschte ich gespannt der Musik meiner<br />
festivalerprobten Mitbewohner.<br />
Kurz vor Hamburg erreichte uns die Unwetterwarnung<br />
des deutschen Wetterdienstes. Es wurde geraten, die Anreise<br />
um einen Tag zu verschieben. So kurz vor dem Ziel<br />
umzukehren kam für uns nicht infrage. Für viele andere<br />
wohl auch nicht. Wenige Kilometer vor unserem Ziel: Stau.<br />
Kleinere Menschentrauben bildeten sich um die Autos,<br />
viele stiegen aus, um sich die Beine zu vertreten. Am<br />
Straßenrand entleerten viele der Herren erst einmal ihre<br />
Blasen, um sich kurz darauf das nächste Dosenbier in den<br />
Rachen zu kippen.<br />
Es wurde gesungen, oder nennen wir es besser gegrölt,<br />
getrunken und gelacht. Schon bald hielt uns einer der<br />
Gröler sein blankes Hinterteil an die Scheibe. Für Eileen<br />
und Toko schien dies normaler Festivalalltag zu sein. Spät<br />
abends erreichten wir endlich das matschige Gelände, das<br />
sich an diesem Wochenende Parkplatz nennen durfte. Der<br />
Campingplatz war mittlerweile randvoll. Zelt an Zelt, wie<br />
die Ölsardinen. In völliger Dunkelheit bauten wir unseres<br />
auf. Die Taschenlampe gab nach einigen Minuten den<br />
Geist auf, und mittlerweile waren wir bis auf die Unterwäsche<br />
durchnässt. Wie viel schlimmer konnte es eigentlich<br />
noch werden? Nach einer Stunde Aufbau fielen wir wie<br />
Steine auf unsere Isomatten.<br />
Morgens um acht weckte mich Musik aus dem Nachbarzelt.<br />
Ein bunter Mix aus allem: Von Schnulze bis hartem<br />
Rock war alles dabei, was das Herz so früh am Morgen<br />
begehrt. Mittlerweile hatte es aufgehört zu regnen, dafür<br />
knallte nun die Sonne in unser Zelt. Der erste Schock: das<br />
Bad, oder der Container, der ein Bad sein möchte. Einzelne,<br />
eng aneinander liegende Duschköpfe. Weit und breit weder<br />
Spiegel noch Steckdosen. Ein Wochenende ohne Smartphone<br />
und Glätteisen? Nun gut, nach dem kurzen Schock<br />
und einer kalten Dusche ging es zurück ins Zelt, in dem<br />
Toko schon mit dem Frühstück auf uns wartete. Kellogs mit<br />
Milch und Likör. Ein stilechter Start in den Festivaltag eben.<br />
Einige Biere später ging es nachmittags Richtung Festivalgelände,<br />
endlos groß und voller Matsch. Die ersten<br />
Bands spielten bereits.<br />
Mit der Dämmerung wurde es immer voller vor der Bühne,<br />
vor der auch wir standen. Anscheinend wollten alle 70.000<br />
Besucher die Show von Rammstein hautnah miterleben.<br />
Den Abend ließen wir auf dem Campingplatz ausklingen,<br />
bevor am nächsten Morgen das gleiche Spiel von vorn<br />
begann. Nach zwei weiteren verregneten Tagen, vollgestopft<br />
mit Bands, von denen ich teilweise noch nie etwas<br />
gehört hatte, und vielen neuen Eindrücken, ging für uns<br />
am Sonntagabend mit dem Berliner Technoproduzenten<br />
Paul Kalkbrenner das Hurricane zu Ende.<br />
Jetzt hieß es wieder: Hallo Alltag, tschüss ausgelassene<br />
Partystimmung. Rülpser in der Öffentlichkeit samt den<br />
mittlerweile kaputtgelatschten Gummistiefeln zurücklassen.<br />
Festivals, ein Erlebnis, das mir mittlerweile nicht mehr<br />
gar so absurd erscheint. Drei Tage abschalten, je ungesünder,<br />
desto besser, und jegliche Manieren über Bord werfen.<br />
Was gibt es besseres? Was für andere Menschen Karneval<br />
oder Oktoberfest sind, werden für mich ab sofort Festivals<br />
sein, trotz Dreck und Gestank. Oder gerade deswegen.<br />
W<br />
ir erwarteten Schreckliches. Schon<br />
die absurd rosarote Abenddämmerung<br />
verstanden wir als ein<br />
unheilvolles Zeichen. So schlenderte<br />
ich mit meinem Freund im<br />
Schlepptau, der ununterbrochen<br />
Rosamunde-Pilcher-Witze machte,<br />
zur O2-World-Großkonzerthalle<br />
in Berlin. Völlig ahnungslos, jedoch ziemlich skeptisch.<br />
An diesem Abend würden wir eine Parallelwelt der<br />
Musik kennenlernen. Eine Welt, die für Mittzwanziger wie<br />
uns ein einziges Rätsel ist. Die seit Jahrzehnten nicht nur<br />
eine riesige, sondern auch eine konstante Fanbase hat. Und<br />
in der das Geld fließt wie in keinem anderen Musikgenre.<br />
Wir waren auf dem Weg zu einem Konzert der Schlagergröße<br />
Roland Kaiser.<br />
Kaiser war schon auf der Bühne, als ich schließlich einer<br />
Platzanweiserin unsere Karten hinhielt. Dass wir zu spät waren,<br />
zeigte erneut, dass wir uns auf völlig fremdem Terrain<br />
befanden. Welches Berliner Konzert fängt denn tatsächlich<br />
zur angegebenen Uhrzeit an?<br />
Und während ich noch total perplex versuchte, den<br />
Denkfehler unserer Verspätung nachzuvollziehen, öffnete<br />
sich uns die schwere Tür zur Konzerthalle.<br />
Wie eine peitschende Flutwelle schlug uns ein Schwall aus<br />
dröhnender Live-Musik und bunten Lichtern ins Gesicht.<br />
Mit offenen Kinnläden starrten wir die Ränge hinunter: Die<br />
Halle war randvoll. Halb taub, halb blind – Roland Kaiser<br />
hätte mit der Lautstärke der Musik locker mit einem Metallica-Konzert<br />
mithalten können – tastete ich mich mit meinem<br />
Freund an den Fersen die Treppe herab. Vorbei an hysterisch<br />
klatschenden Rentnern. An sich in den Armen liegenden<br />
Frauen. Und schunkelnden Großfamilien, die alle das<br />
gleiche Roland-Kaiser-Fanshirt trugen. Mit jeder Stufe begaben<br />
wir uns tiefer und tiefer in die heitere Zuckerwatteblase.<br />
Bis sie uns komplett verschluckt hatte.<br />
Schon völlig geschafft von dem Feuerwerk an Eindrücken,<br />
das alleine auf dem Weg zu unseren Plätzen auf uns eingeprasselte,<br />
schoben wir uns endlich zu unseren Sitzen durch.<br />
Die Stimmung, die die Halle füllte, war hier, mitten drin, so<br />
überwältigend, dass sie mich förmlich in meinen Stuhl drückte.<br />
Aus Angst, von dem mitsingenden Publikumschor davongetragen<br />
zu werden, klammerte ich mich an meinen Freund.<br />
Der Song, der uns zu unseren Plätzen begleitet hatte, war<br />
beendet. Um uns herum pure Euphorie. Auf der riesigen<br />
Leinwand erschien nun das gekonnte Lächeln von Roland<br />
Kaiser. Die Menge kreischte. Aalglatt auf der Bühne auf<br />
und ab schreitend, erzählte er eine kleine Anekdote. Dabei<br />
erinnerte er stark an einen alten Löwen, der einen Morgenspaziergang<br />
durch sein Revier macht. Bei den Backgroundsängerinnen,<br />
die alle lange, schwarze Glitzerkleider trugen<br />
und denen dasselbe Zahnpastawerbungslächeln ins Gesicht<br />
getackert war, verweilte er schließlich. Auf eine rhetorische<br />
Frage antwortete das Publikum schreiend mit dem Titel<br />
des nächsten Songs: „Schachmatt!!!“ Bingo, die korrekte<br />
Antwort, denn die Band donnerte aufs Neue los. Immer<br />
noch fassungslos nutzte ich die Gelegenheit und schaute<br />
mir die Menge genauer an. In der Reihe hinter uns tanzte<br />
eine Gruppe Frauen. Vielleicht Anfang Dreißig. Kleine<br />
Blazer über gemusterten Blusen. Kammsträhnchen. Föhnfrisur.<br />
Hätte einem auch in einer Bank begegnen können.<br />
Nur nicht grölend.<br />
Plötzlich durchbrach ein Saxofon den seichten Popbeat.<br />
In einem silbernen Glitzerkleid tanzte nun eine Frau mit<br />
ihrem Blasinstrument in die Mitte der Bühne. Als sie ihre<br />
rote Lockenfrisur im Scheinwerferlicht hin und her warf,<br />
erinnerte sie auf komische Weise an Tina Turner. Kaiser<br />
bückte sich inzwischen zu den Stehplätzen vor der Bühne<br />
runter und sammelte Rosen, die ihm entgegen gestreckt<br />
wurden.<br />
Nach zwei Stunden mit poppigen Hits über die Liebe,<br />
hatte Kaiser drei Anzüge durchgeschwitzt und die Show<br />
war zu ende. Während ich das Gefühl hatte, von dem ganzen<br />
zuckersüßen Herzschmerz einen klebrigen Mund zu<br />
haben, war die Energie der Fans nicht ein bisschen abgesunken.<br />
Im Gegenteil. Das Publikum hatte sich mittlerweile<br />
in eine Ekstase getanzt und gesungen. Zumindest sah es<br />
aus, als hätten viele eine Zigarette danach gebrauchen können.<br />
Wir hingegen waren völlig fertig.<br />
So ließen wir uns von einer Gruppe von Mädchen in Richtung<br />
S-Bahn treiben. Sie schunkelten immer noch. Und als<br />
eine von ihnen anstimmte, stiegen die anderen heiter ein. Ein<br />
Song über die Liebe. Da wurde mir bewusst: Schlager lebt.<br />
Und zwar nicht in einer fernen Galaxie, wo ich ihn vermutet<br />
hatte. Sondern mitten auf der Warschauer Brücke im Berliner<br />
„Szenebezirk“ Friedrichshain. Verrückt.<br />
97<br />
Werk VI . Mixtape
215 Meter über<br />
dem Boden – für<br />
Mascha keine<br />
außergewöhnliche<br />
Situation. Sie spielt<br />
die Querflöte in<br />
schwindelerregender<br />
Höhe<br />
zwischen<br />
himmel<br />
und Erde<br />
98<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Der Fotograf und Filmemacher Marat<br />
Dupri findet seine Motive erst in einer<br />
Höhe von mehreren hundert Metern –<br />
und das ohne Sicherung. Der junge<br />
Russe liebt es zu provozieren. Immerhin<br />
hat ihm das für eines seiner Fotos bereits<br />
den „Best of Russia“-Fotografiepreis<br />
eingebracht. Auch seine Youtube-Videos<br />
aus schwindelerregender Höhe sorgen<br />
dafür, dass Marat immer erfolgreicher wird.<br />
text: elena schröder fotos: marat dupri
Der 21-jährige<br />
Roofer Marat<br />
Dupri gewann<br />
2011 den<br />
„Best of Russia“–<br />
Fotografiepreis<br />
Ein schmaler Eisenträger, befestigt an<br />
einem 215 Meter hohen Radiomasten.<br />
Barfuß betritt sie das kalte Eisen.<br />
Der Wind weht stark, sodass ihr ihre<br />
blonden Haare trotz Zopf ums Gesicht<br />
wehen. Doch das stört sie nicht.<br />
Das Mädchen balanciert aufrecht bis<br />
an die Spitze des Eisenträgers. Mascha<br />
setzt ihre silberne Querflöte an,<br />
schließt die Augen und fängt an zu<br />
spielen. Eine Melodie mit solch weichen<br />
Klängen – perfekt, um dem Alltäglichen<br />
für einen Moment zu entfliehen.<br />
Freiheit. Und nicht zu vergessen:<br />
die wunderschöne Aussicht über die<br />
etwa 150.000-Einwohner-Stadt Elektrostal,<br />
in der Nähe von Moskau.<br />
Das sind Momente, die Marat Dupri<br />
faszinieren und die er mit seiner<br />
Kamera festhalten muss. Der 21-Jährige liebt es, hohe Gebäude<br />
oder stillgelegte Radiomasten zu erklimmen. Meist<br />
tut er dies zusammen mit Bekannten aus der Roofer-Community.<br />
Roofer sind junge Leute, oft im Alter zwischen 16<br />
und 26 Jahren, die ohne Sicherung auf Dächer klettern. Ursprünglich<br />
kommt dieser Extremsport aus New York, wo<br />
es 1990 die ersten Roofer gegeben haben soll. Doch mittlerweile<br />
hat sich der Trend des ungesicherten Kletterns auf<br />
Dächer vor allem in Russland verbreitet. Es ist eine Bewegung,<br />
deren Mitglieder der Drang zur Selbstüberwindung,<br />
der Nervenkitzel oder das Verlangen nach Freiheit treibt.<br />
Vorlieben innerhalb der Roofer gibt es verschiedene: Einige<br />
bevorzugen das Herumlaufen auf spiegelglatten vereisten<br />
Dächern oder Klimmzüge in freier Luft und in einer<br />
Höhe von mehreren hundert Metern über dem Boden. Andere<br />
lieben dort oben einfach nur das Gefühl, frei zu sein,<br />
das einer Meditation gleicht.<br />
Zu letzteren gehört auch der junge Fotograf Marat. Aber<br />
es sind vor allem die Motive in unfassbarer Höhe, die<br />
ihm seine größte Motivation für das Roofing liefern. Seine<br />
Fotos haben ihn in Russland – und mittlerweile auch<br />
in anderen Ländern – bekannt gemacht. „Ich liebe nicht<br />
ausschließlich das Roofing. Ich liebe vor allem das Ergebnis<br />
meiner Roofing-Touren“, sagt Marat. Bekannt zu werden<br />
und Anerkennung zu gewinnen – das ist es, was sich viele<br />
Jugendliche in Russland wünschen. Vor allem diejenigen,<br />
die in sozial schwachen Verhältnissen aufgewachsen<br />
sind und dieser Situation auch so schnell nicht entfliehen<br />
können. Manche entdecken das gefährliche und verbotene<br />
Hobby auch nur für sich, weil ihnen langweilig ist. Auch<br />
Marat hatte damals Langeweile. Er suchte nach Ablenkung<br />
im Internet und fand interessante Informationen zur<br />
Roofer-Szene. Kurz darauf erlebte er seinen ersten Ausflug<br />
nach oben. Und das, obwohl ihm die Ärzte damals sagten,<br />
er dürfe wegen einer Herzschwäche keinen Sport treiben.<br />
Seitdem lässt das Roofing nicht nur sein Herz besser<br />
schlagen, sondern gibt ihm auch noch einen Status, den er<br />
bisher nicht kannte. Denn die jungen Roofer werden von<br />
anderen für ihren Mut bewundert. Sei es in der Community<br />
oder aufgrund ihrer selbstgedrehten Youtube-Videos, in<br />
denen sie jeden Schritt ihrer Touren dokumentieren. Dazu<br />
zählt das etwa dreißigminütige Klettern auf Radiomasten,<br />
Denkmäler oder Brücken genauso wie das Einbrechen in<br />
die Zugänge zu Hochhausdächern. Um überhaupt so weit<br />
zu kommen, schrecken viele Roofer nicht davor zurück,<br />
tagelang um das Zielgebäude zu schleichen und den Bewohnern<br />
während der Code-Eingabe heimlich über die<br />
Schulter zu schauen.<br />
Stern meiner Träume heißt das Video, das Marat dabei<br />
zeigt, wie er in Moskau den 136 Meter hohen Stalinbau –<br />
ein Fünf-Sterne-Hotel namens Hilton Moscow Leningradskaya<br />
– erklimmt. Selbstverständlich ist er bis an die absolute<br />
Spitze geklettert, die ein Sowjetstern aus den 50er-Jahren<br />
schmückt. „Die Sprossen waren fast rostfrei“, sagt Marat. In<br />
Moskau hat er bereits fünf der sieben Stalinbauten, die sogenannten<br />
Sieben Schwestern, erklommen. Weil das bisher<br />
noch kein anderer geschafft hat, wird er in der Roofer-Szene<br />
Skywalker genannt. Ein Name, der darauf hinweist, wo sich<br />
Marat am wohlsten fühlt: ganz nah am Himmel, auf Dächern<br />
und Denkmälern in beängstigender Höhe. Dabei sei<br />
das Klettern, genauso wie das Dächer-Spazieren, „gar nicht<br />
so gefährlich wie alle immer denken“, sagt er. Man müsse<br />
währenddessen nur etwas vorsichtig sein, und das sei er ja<br />
schließlich auch. „Natürlich muss ich mich immer ein bisschen<br />
überwinden, aber am Ende lohnt es sich.“ Doch allein<br />
Vorsicht reicht nicht aus, Unfälle gibt es viele. Immer wieder<br />
sterben junge Leute während ihrer Roofing-Touren – durch<br />
Unachtsamkeit, ein versehentliches Stolpern im falschen<br />
Moment oder aufgrund rostiger Feuerleitern. Der Sturz in<br />
die Tiefe ohne Sicherung ist in den meisten Fällen tödlich.<br />
Die erste gefährliche Hürde ist aber das Vorbeischleichen<br />
an den Wachen vor potenziellen Roofing-Zielen. Wie<br />
wenige Monate zuvor in Ägypten: Aufgeregt warteten Marat<br />
und seine beiden Freunde Vitali und Wadim in einem<br />
Versteck, ganz in der Nähe der drei Pyramiden von Gizeh.<br />
Einmal die Aussicht von der Spitze der Cheops-Pyramide<br />
zu genießen, war ihre Vision. Sie ist nicht nur die älteste<br />
unter den drei Pyramiden, sondern mit ihren knapp 140<br />
Metern auch die höchste. Den Plan, die Pyramide zu besteigen,<br />
hatten die drei bereits vor Antritt ihrer Reise in Moskau<br />
geschmiedet. Jetzt kam es nur noch darauf an, ob sie<br />
diesen auch in die Realität umsetzen können. „Wir wussten,<br />
dass der Aufstieg kein Problem für uns wird, hatten<br />
aber Angst vor den Wachleuten, da das Klettern auf eine<br />
Pyramide natürlich strengstens verboten ist“, sagt Marat.<br />
Umzukehren kam jedoch nicht infrage. Wenn sich Roofer<br />
etwas vornehmen, ziehen sie es in der Regel auch bis zum<br />
Ende durch. Alles andere würde ihrem Ruf in der Szene<br />
schaden. Außerdem hat die Auseinandersetzung mit<br />
den Wachleuten auch immer etwas Anarchisches an<br />
sich. „Wir fordern gerne heraus“, sagt Marat und<br />
macht damit wieder einmal deutlich, wie groß<br />
das Verlangen nach dem Verbotenen ist –<br />
vor allem, wenn man aus einem Land wie<br />
Russland kommt.<br />
Fotocredit<br />
Der Zeiger sprang auf ein Uhr nachts. Mittlerweile schliefen<br />
die Wachleute oder waren nach Hause gegangen. Die drei<br />
ergriffen ihre Chance, schlichen sich über die Absperrung<br />
und erklommen die ersten Pyramidensteine. Niemand sah<br />
sie, deswegen hielt sie auch niemand auf. „Bis jetzt ist das<br />
meine aufregendste Roofing-Tour gewesen. Die Aussicht<br />
war einfach unbeschreiblich“, sagt Marat. Da klingt es fast<br />
wie ein Witz, wenn man sein Studienfach erfährt. Der Junge,<br />
der mindestens einmal im Monat gegen das Gesetz verstößt,<br />
sogar vor dem Klettern auf das Siebte Weltwunder<br />
der Antike nicht zurückschreckt, studiert tatsächlich Jura.<br />
In Russland ist das verbotene Klettern auf Gebäude kein<br />
schwerwiegendes Verbrechen. „Es ist wie bei Rot über die<br />
Straße gehen“, vergleicht Marat. „Wird man erwischt, gibt<br />
es schlimmstenfalls eine Geldstrafe.“ Die fällt so gering aus,<br />
dass sie nicht abschreckt, sondern die Jugendlichen eher<br />
noch zu ihrer Extremsportart ermutigt.<br />
Marat selbst hat nach vier Jahren Klettern die Aufregung<br />
vor seinen Touren schon längst verloren. Er ist auch nicht<br />
süchtig nach dem Adrenalinkick wie viele andere Roofer.<br />
Und trotzdem denkt er nicht ans Aufhören. In den Wolken<br />
kann er ganz er selbst sein. Dort stört ihn niemand. Dort<br />
kommt auch kein Mensch außer seiner Roofing-Freunde<br />
hin. Die Stadt liegt ihm zu Füßen. Er ist frei, weil er für<br />
einen Moment aus seinem öden Alltag ausbrechen kann.<br />
Und das ist sein Antrieb. Außerdem haben ihn seine Fotos<br />
weltberühmt gemacht. Solch ein Ruhm fühlt sich natürlich<br />
gut an in einem Land, das seinen Kindern nur wenige Perspektiven<br />
bietet. Dass sich Marat dafür selbst und seine Konkurrenz<br />
immer wieder überbieten muss, ist klar. Aber die<br />
Anerkennung in der Community ist einfach zu verlockend<br />
und der freie Fall, der ihn erwarten könnte, ganz weit weg.<br />
Auch Mascha, die zu dem Zeitpunkt der Aufnahme des<br />
Fotos mit der Querflöte im zweiten Monat schwanger war,<br />
hat schon lange keine Angst mehr vor den Risiken, die das<br />
Roofing mit sich bringt. Die 27-Jährige klettert solch einen<br />
Radiomasten sogar lieber an der Außenseite hoch, anstatt<br />
die innenliegende Feuerleiter zu benutzen. Denn das gibt<br />
ihr einen größeren Kick. Sie lehnt sich damit gegen das verstaubte<br />
Idealbild der typischen Hausfrau auf. Wie für Marat<br />
ist auch für Mascha das Roofing ein kurzer Ausbruch<br />
aus dem alltäglichen Leben in Russland. Und für dieses<br />
Glücksgefühl geht sie gern bis an ihre Grenzen. Nur 25 Minuten<br />
brauchten Mascha, Marat und die anderen, um den<br />
Stahlgiganten zu besteigen. Dies ist übrigens auch der Ort,<br />
den der Skywalker für sein bisher berühmtestes Werk auswählte:<br />
Das 2011 preisgekrönte Foto, auf dem statt Mascha<br />
ein Junge namens Alexej mit weit ausgebreiteten Armen<br />
von hinten zu sehen ist.<br />
Wenn Marat Dupri auf einem Dach herumschlendert,<br />
hört er laute Musik auf seinem MP3-Player. Am liebsten<br />
Electro oder beruhigende Lounge-Musik. Manchmal<br />
auch Goa-Trance. Sein momentaner Lieblingssong ist<br />
„Need You Now“ von der australischen Band Cut Copy.<br />
Fraglich, ob Marat bei dem Song an ein Mädchen oder an<br />
sein nächstes Ziel denkt – ein Gebäude, das er noch nie<br />
zuvor erklettert hat.<br />
101<br />
Werk VI . Mixtape
Aufstand<br />
der dandys<br />
Das neue Video der<br />
Dandys zu dem Sommerhit<br />
„My Girl“ wurde auf<br />
Mallorca gedreht. Die<br />
beiden tragen aktuelle<br />
Designerkollektionen,<br />
die Mädchen nicht<br />
Sie nehmen kein Blatt vor den Mund, kennen keinerlei Regeln oder Einschränkungen<br />
und plädieren für den Ausbruch aus der elitären Modewelt. Gemeinsam<br />
gegen den Rest der Welt, so könnte das Motto der beiden Blogger von Dandy<br />
Diary lauten. Ihr Stilmittel ist die Provokation. Jetzt haben sich David Roth und<br />
Jakob Haupt wieder einem neuen Feld gewidmet: Sie machen Musik.<br />
text: Tina Meyer foto: Arturo martinez steele<br />
103<br />
S<br />
ommer, Sonne, Pool-Party. Gebräunte<br />
Mädchen in knappen<br />
Tanga-Bikinis lassen im Takt der<br />
poppigen Beats ihre Hüften kreisen.<br />
Um sich zu erfrischen, springen<br />
sie in den Swimmingpool oder<br />
nehmen eine kleine Champagnerdusche<br />
am Beckenrand. Zwischendurch<br />
wird lasziv Eiscreme<br />
von silbernen Löffeln geschleckt.<br />
Mittendrin: David Roth und Jakob<br />
Haupt, die Zeilen wie „She rocked my world through<br />
the night“ oder „My body is already in the danger zone“ in<br />
die Kamera trällern. Die Macher von Dandy Diary, einem<br />
der führenden deutschen Männer-Modeblogs, drehten ihr<br />
zweites von insgesamt drei geplanten Musikvideos auf der<br />
Urlaubsinsel Mallorca. Für ihr Musikprojekt bedienen sie<br />
sich jedes Mal unterschiedlicher Klischees und treiben sie<br />
auf die Spitze.<br />
David lebt in Berlin und ist Absolvent der Akademie<br />
Mode & Design im Bereich Modejournalismus, Jakob<br />
kommt aus Hamburg und ist studierter Politikwissenschaftler.<br />
Beide sind Jahrgang 1984 und kennen sich noch<br />
aus der Schulzeit. Auf ihrem Blog Dandy Diary treten sie<br />
als eine Art Modediktatoren in Erscheinung und wollen<br />
dem interessierten Volk zeigen, was modisch geht und was<br />
man auf keinen Fall tragen sollte. Dabei gehen sie ziemlich<br />
radikal vor, kennen nur Schwarz oder Weiß. Sie gelten<br />
als die Punks der Blogger-Szene und haben in der Ver-<br />
gangenheit vor der Kamera gekotzt, geschissen oder sich<br />
anpinkeln lassen, um zu demonstrieren, dass ihnen etwas<br />
gegen den Strich geht. Ganz so radikal sind sie heute nicht<br />
mehr, verwenden ihre Energie für größer angelegte Projekte<br />
und verpacken ihren Unmut in eine rotzige Sprache.<br />
Man könnte meinen, sie wollen einfach nur provozieren<br />
und immer noch einen drauf setzen. Aber es steckt doch<br />
wesentlich mehr dahinter.<br />
Am Anfang steht immer die Idee, unterschiedliche<br />
Bereiche mit der Mode zu verbinden, um den typischen<br />
Fashion-Blog-Stil aufzubrechen. Dabei spielen Jakob<br />
und David gern mit gängigen Klischees. „Wir möchten<br />
die Grenzen des klassischen Modeblogs weiter fassen<br />
und uns eben nicht nur auf geschriebene Berichterstattung,<br />
ein paar Instagram-Fotos von Goodie-Bags und hin<br />
und wieder ein paar Outfit-Posts reduzieren“, sagt Jakob.<br />
Und meint damit Projekte wie einen Fashion-Porno, in<br />
dem sich ein Pärchen in der Rückschleife anzieht, ein<br />
Designer-Quartett mit Kategorien wie „Sexyness“ oder<br />
„Cock-Size“ oder ein Video, bei dem sie im Juni während<br />
der Mailänder F/S-Show für 2014 von Dolce & Gabbana<br />
einen Flitzer über den Laufsteg schicken.<br />
Dass sie nun auch Musikvideos drehen, sei nur eine<br />
logische Konsequenz, sagt David. Schließlich sind Mode<br />
und Musik schon seit Jahrzehnten miteinander verbunden<br />
und Protagonisten aus der Musikszene versuchen<br />
sich schon seit einiger Zeit in der Welt der Mode. Dass<br />
Modeblogger jedoch Musik machen, ist neu, und darin<br />
liegt für die beiden auch der Reiz.<br />
Werk VI . Mixtape
104<br />
Werk VI . Mixtape<br />
„Da ich schon immer Musik gemacht und Songs produziert<br />
habe, ist das jetzt gar nicht so ein Riesending“, sagt<br />
Jakob. „Die Frage ist nur, warum ich das nicht schon viel<br />
früher gemacht habe.“ Als Kind hatte er Klavierunterricht:<br />
„Bei einer sexy Klavierlehrerin aus dem Iran, in die ich<br />
selbstverständlich lange verliebt war.“ Später fing er dann<br />
an, Gitarre zu spielen. Weil es cooler und bandtauglicher<br />
war und man damit Mädchen beeindrucken konnte. Seit<br />
er zwölf Jahre alt ist, spielt Jakob in verschiedenen Bands<br />
– von Punk-Hardcore über Electro-Pop bis zu Boygroup-Schnulz<br />
– Gitarre, Bass und Synthesizer.<br />
„Wenn mir jemand einen<br />
Kackhaufen schenkt, fühle ich<br />
mich nicht verpflichtet,<br />
das auf den Blog zu bringen“<br />
Auch David griff als Kind zur Gitarre. „Ich war nicht<br />
wirklich begabt und hinzu kamen auch noch meine kleinen<br />
Wurstfinger, die es noch schwieriger machten, die Saiten<br />
zu spielen.“ Für das Musikprojekt von Dandy Diary nahm<br />
David wieder Unterricht, dieses Mal im Gesang. Das kostete<br />
ihn viel Überwindung. „Ich stand da singend bei einer<br />
fremden Frau in der Privatwohnung, sie hatte ihre Hand<br />
auf meinem Bauch und es hieß nur: ,Los, noch mehr‘.“<br />
Ihr erstes Musik-Video zu dem Stück „Christmas Time“,<br />
das an Schnulzen von den Backstreet Boys oder ’NSync erinnert,<br />
erschien am 23. Dezember 2012. „Wie das Video zu<br />
einer Weihnachtssingle auszusehen hat, ist in der Popmusik<br />
seit Jahren festgelegt, daran haben wir uns orientiert. Genauso<br />
wie für die aktuelle Single ,My Girl‘ am Look eines<br />
Sommerhits“, sagt Jakob. Mit dem dazugehörigen Video<br />
bedienen sie dieses Mal das Klischee eines prolligen Sänger-Duos:<br />
Party, viel nackte Haut und Mädchen ohne Ende.<br />
Für „My Girl“ haben sie sich einen Gast eingeladen, den<br />
Rapper LayZee von Mr. President. „Das war einfach ein<br />
großer Wunsch von uns, ihn dabei zu haben. Durch seinen<br />
Hit ‚Coco Jambo‘ steht er symbolisch für den Sommer“,<br />
sagt David. Die beiden wollen mit ihren Songs die Charts<br />
stürmen und die Modewelt ein Stück öffnen. „Auch in prolligen<br />
Sommer- oder schwülstigen Weihnachtsvideos findet<br />
Mode statt und unterscheidet sich gar nicht sonderlich von<br />
den aktuellen Kollektionen der angesagten und teuren Modelabels“,<br />
findet Jakob. Und um das unter Beweis zu stellen,<br />
tragen sie auch genau das in ihren eigenen Videos: die Kollektionen<br />
der Saison, von Marken wie Selected Homme, Y-3<br />
oder Julian Zigerli.<br />
Doch vor allem, so scheint es zumindest, wollen die beiden<br />
ihren Spaß haben. David und Jakob tun generell genau<br />
das, worauf sie gerade Lust haben. Ohne Einschränkungen<br />
oder feste Regeln. Das gilt auch für die jährlich stattfindende<br />
Dandy-Diary-Party im Rahmen der Berliner Fashion Week,<br />
die mal zum Thema Punk in einem besetzten Haus stattfindet<br />
oder zu der unter dem Motto „Zirkus“ ein echter Elefant<br />
auftaucht. Ihre Regeln lauten dazu wie immer, dass es keine<br />
gibt. „Alles kann, nichts muss.“ Jeder Gast sei dazu eingeladen,<br />
einfach das zu tun, worauf er oder sie gerade Bock hat.<br />
Ähnlich halten es die beiden auch mit ihrem Blog. Dort<br />
haben sie nämlich keinen Bock auf Werbung und verzichten<br />
deshalb komplett auf den Verkauf von Bannern. Leben<br />
können sie so nicht von ihrem Blog. David ist Redakteur<br />
bei Fashiondaily.tv und Jakob ist freier Markenberater. Um<br />
ihre Projekte wie die Fashion-Filme und Videos produzieren<br />
zu können, müssen auch sie Kompromisse eingehen.<br />
Sie finanzieren ihren Blog teilweise durch ihre Partys und<br />
teilweise auch durch verkaufte Beiträge. „Es ist für uns in<br />
Ordnung, über einen Schuh zu schreiben, den wir selbst<br />
okay finden, wenn wir das Honorar dafür dann in unsere<br />
eigenen Projekte stecken können, die dann natürlich<br />
wieder in eine ganz andere Richtung gehen“, sagt David.<br />
Und diese Beiträge lassen sie sich gut bezahlen. 1.000 Euro<br />
kostet ein Advertorial auf Dandy Diary. Das sei zwar vergleichsweise<br />
teuer, selektiere die Anfragen dadurch aber<br />
auf natürliche Weise.<br />
Auch bei den teilweise großzügigen Geschenken der<br />
Designer vertreten sie eine klare Meinung. „Wenn mir jemand<br />
einen Kackhaufen schenkt, fühle ich mich nicht verpflichtet,<br />
das auf den Blog zu bringen“, sagt Jakob. „Aber<br />
wenn mir jemand ein schönes Paar Schuhe schickt, über<br />
das ich mich sehr freue, ziehe ich die auch gerne an und<br />
poste vielleicht ein Foto auf Dandy Diary.“<br />
In Modeblogs und der Tatsache, dass das Geschehen vor<br />
den Veranstaltungsorten der Modenschauen mittlerweile<br />
fast wichtiger ist als die Schauen selbst, sehen sie die Demokratisierung<br />
der Modewelt und einen Ausbruch aus den<br />
elitären Kreisen. Das sei eine positive Entwicklung und das<br />
eher schlechte Ansehen der Blogger in Deutschland auf<br />
Unwissenheit zurückzuführen. „Alles, was anders ist, was<br />
das Volk nicht kennt, ist gleich negativ behaftet“, kritisiert<br />
David. „Wenn man hingegen in anderen Ländern wie den<br />
USA einfach anders ist, wird einem dafür auf die Schulter<br />
geklopft.“ Dieser Zustand in Deutschland könne viel zerstören<br />
und lasse einem gar nicht mehr die Freiheit, neue<br />
Ideen zu entwickeln und sich einfach frei zu entfalten.<br />
David und Jakob plädieren für das Bloggen, egal ob professionell<br />
oder nicht. „Jeder, der etwas postet, ob gut oder<br />
schlecht, hat zumindest die Chance, gesehen zu werden,<br />
zeigt Engagement und produziert etwas“, sagt David. So<br />
sind auch die zwei Dandys zu recht stolz auf ihren Blog<br />
und ihre Arbeit, mit der sie sich international einen Namen<br />
gemacht haben und der sich durch seine Radikalität von<br />
anderen unterscheidet. Dies sei aber gar nicht unbedingt<br />
ihr Anspruch. „Wir wollen gar nicht bewusst anders sein,<br />
aber wir wollen eben auch nicht so sein wie die anderen“,<br />
sagt Jakob. „Wären die cooler und besser und kreativer und<br />
auch schöner, dann wäre das vielleicht etwas anderes.“<br />
Während der Dreharbeiten<br />
zu ihrem<br />
Video „My Girl“<br />
posieren David<br />
Roth (li.) und Jakob<br />
Haupt in Dixie-Klos –<br />
warum auch nicht?<br />
105<br />
Werk VI . Mixtape
Kinder<br />
der Nacht<br />
Es ist dunkel, verraucht, der Bass vibriert, die Lichter<br />
kreisen im Warehouse-Club und lassen die tanzende Meute<br />
für eine kurze Sekunde in hellem Licht erscheinen. Klick. Eine<br />
Momentaufnahme. Anfang der Nuller Jahre hat der englische<br />
Fotograf Mark Henderson die Jugend- und Clubkultur in<br />
Manchester festgehalten und mit seiner Arbeit 24HR Party<br />
People den Stil einer ganzen Generation eingefangen.<br />
106<br />
107<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Werk VI . Mixtape
108<br />
109<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Werk VI . Mixtape
110<br />
111<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Werk VI . Mixtape
112<br />
113<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Mark Henderson untersucht mit seinen<br />
Fotografien, die meist aus Porträts bestehen,<br />
kulturelle und soziale Zusammenhänge.<br />
Selbst schreibt er sich keinen künstlerischen<br />
Anspruch zu, das lässt er lieber andere Leute<br />
entscheiden. Sein Interesse an Clubkultur<br />
hängt mit den sozialen und gemeinschaftlichen<br />
Ideen zusammen. Dazu sagt er: „Eine gute<br />
Zeit haben, durch das Land reisen und<br />
gute Musik hören. Schmeiß noch ein paar<br />
synthetische Drogen mit rein und deine<br />
kreativen Möglichkeiten sind unermesslich.“<br />
Für sein Projekt 24HR Party People porträtierte<br />
Henderson die Gäste im The Warehouse<br />
in Manchester, einem der ersten und<br />
legendärsten Techno-Tempel Englands.<br />
Die Arbeiten entstanden Anfang der Nuller<br />
Jahre. – Virginie Henzen<br />
www.markhenderson.info<br />
Werk VI . Mixtape
Mode Design (B.A.)<br />
Mode- und Designmanagement (B.A.)<br />
Visual and Corporate Communication (B.A.)<br />
(Marken- und Kommunikationsdesign)<br />
Modejournalismus / Medienkommunikation<br />
(Bachelor-Aufbauprogramm in Kooperation mit<br />
der University of Wales, Newport möglich)<br />
INFOABEND<br />
am Dienstag den 13. August 2013<br />
um 19 Uhr<br />
und am Dienstag den 10. September 2013<br />
um 19 Uhr<br />
114<br />
Werk VI . Mixtape<br />
Nähere Infos und Voranmeldung<br />
unter www.amdnet.de<br />
per mail berlin@amdnet.de<br />
oder telefonisch 030 -33 09 97 6-18<br />
Bewerben Sie sich jetzt!<br />
berlin@amdnet.de<br />
Jetzt für das<br />
Wintersemester 2013/14<br />
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Standort Berlin<br />
Franklinstraße 10<br />
10587 Berlin<br />
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