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Gesellschaftliche Einstellungen zu Menschen mit Behinderung und ...

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Nickel: <strong>Gesellschaftliche</strong> <strong>Einstellungen</strong> Seite 1 von 54<br />

<strong>Gesellschaftliche</strong> <strong>Einstellungen</strong> <strong>zu</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong><br />

<strong>Behinderung</strong> <strong>und</strong> deren Widerspiegelung in der Kinder<strong>und</strong><br />

Jugendliteratur<br />

Sven Nickel<br />

Einleitung<br />

Teil A: Soziale Reaktion auf <strong>Behinderung</strong><br />

1. Begriffsbestimmungen<br />

1.1 <strong>Behinderung</strong><br />

1.2 Soziale Reaktion / Einstellung<br />

2. Ergebnisse der Einstellungsforschung<br />

2.1 Determinanten der Sozialen Reaktion <strong>zu</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong><br />

2.1.1 Art der <strong>Behinderung</strong><br />

2.1.1.1 Rangordnung von <strong>Behinderung</strong>en<br />

2.1.1.2 Schwere der <strong>Behinderung</strong><br />

2.1.1.3 Funktionsbeeinträchtigungen<br />

2.1.1.4 Eigenverantwortlichkeit <strong>und</strong> "Heilungschancen"<br />

2.1.1.5 Visibilität & Auffälligkeit der <strong>Behinderung</strong><br />

2.1.2 Subjektorientierte Größen<br />

2.1.2.1 Sozio-ökonomische & demografische Variablen<br />

2.1.2.2 Persönlichkeitsvariablen<br />

2.1.3 Beziehungsaspekt<br />

2.2 Veränderte <strong>Einstellungen</strong> der letzten zwei Dekaden<br />

2.3 Zusammenfassung <strong>und</strong> kritische Würdigung der Untersuchungsergebnisse<br />

3. Erklärungsansätze <strong>zu</strong> Fremdwahrnehmung, Erleben <strong>und</strong> Verarbeitung von <strong>Behinderung</strong><br />

3.1 Soziologische Ansätze<br />

3.2 Sozialpsychologische Ansätze<br />

3.3 Psychologische & Psychoanalytische Ansätze<br />

3.4 Zusammenfassende Charakteristika: "Angst vor <strong>Behinderung</strong>"<br />

4. Individuelle <strong>und</strong> institutionelle Verhaltensweisen gegenüber <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> <strong>und</strong> deren<br />

Hintergründe<br />

4.1 Negativ bewertete Verhaltensweisen<br />

4.2 Positiv bewertete Verhaltensweisen<br />

4.3 Behindertenfeindlichkeit<br />

5. Kindliche Sozialreaktion auf <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong><br />

5.1 Ergebnisse der Einstellungsforschung<br />

5.2 Sozialverhalten von Kindern aus integrativen Zusammenhängen<br />

5.2.1 Geschlechtsspezifische Unterschiede<br />

5.3 Erklärungsansätze für das kindliche Erleben von <strong>Behinderung</strong><br />

5.4. Erwerb von sozialen <strong>Einstellungen</strong><br />

Teil B: <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> in der Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur<br />

6. Begriffsbestimmung<br />

6.1 Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur<br />

7. Historischer Abriss der literalen Darstellung von <strong>Behinderung</strong><br />

8. Das Thema "<strong>Behinderung</strong>" in der Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur<br />

8.1 Verteilungshäufigkeit von <strong>Behinderung</strong>sformen: Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur vs. Realität<br />

8.2 Das Behinderten-Bild: Visualisierung von <strong>Behinderung</strong><br />

8.3 Prinzipien der Darstellung einiger <strong>Behinderung</strong>sformen<br />

Körperliche <strong>Behinderung</strong>en<br />

Geistige <strong>Behinderung</strong>en<br />

Sehbehinderungen<br />

Hörbehinderung<br />

Sprachbehinderungen<br />

8.4 Darstellung der behinderten Person: Strukturelle "Strickmuster"<br />

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Nickel: <strong>Gesellschaftliche</strong> <strong>Einstellungen</strong> Seite 2 von 54<br />

8.4.1 <strong>Behinderung</strong> als etwas Böses / <strong>Behinderung</strong> als Dumm-sein<br />

8.4.2 <strong>Behinderung</strong> als Strafe<br />

8.4.3 Musterkrüppel: Behinderte <strong>Menschen</strong> als äußerst angepasste Wesen<br />

8.4.4 Tyrannen: Behinderte <strong>Menschen</strong> als <strong>und</strong>ankbare Zeitgenossen<br />

8.4.5 Helden: Behinderte <strong>Menschen</strong> als besonders mutige Charaktere<br />

8.5 Literarische Umgangsformen <strong>mit</strong> "<strong>Behinderung</strong>"<br />

8.5.1 Heilung<br />

8.5.2 Flucht in Fantasien<br />

8.5.3 Plötzlich verschw<strong>und</strong>en<br />

8.5.4 Behinderte Geschwister<br />

8.5.5 <strong>Behinderung</strong> als dramaturgisches Mittel<br />

8.6 Darstellung von gesellschaftlichen Reaktionen auf behinderte Personen<br />

9. Ergebnisse der medienbezogenen Wirkungsforschung<br />

10. Schlussbetrachtung<br />

<strong>Gesellschaftliche</strong> <strong>Einstellungen</strong> in der Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur<br />

<strong>Gesellschaftliche</strong> <strong>Einstellungen</strong> durch Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur?<br />

Literatur<br />

1. fachwissenschaftliche Literatur, Rezensionen, Bibliografien<br />

2. verwertete Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur<br />

2.1 Arbeiten <strong>zu</strong>r didaktisch-methodischen Umset<strong>zu</strong>ng der aufgeführten Kinder- <strong>und</strong><br />

Jugendliteratur<br />

Anhang<br />

Gegenüberstellung BINDING / HOCHE vs. SINGER<br />

© Sven Nickel 1999<br />

Einleitung<br />

Dass <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> in aller Regel eher ablehnende Haltungen entgegengebracht werden, ist allgemein bekannt.<br />

Dass sich diese <strong>Einstellungen</strong>, die sich in den Haltungen ausdrücken, im Laufe eines jeden <strong>Menschen</strong> erst entwickeln,<br />

erscheint ebenso als eine triviale Tatsache. Die Entwicklung solch ablehnender <strong>Einstellungen</strong> bei weitgehend fehlender<br />

Konfrontation <strong>mit</strong> behinderten <strong>Menschen</strong> macht bereits das Wirken kultureller Tradierungsmechanismen deutlich.<br />

Welches Bild von behinderten <strong>Menschen</strong> in Kinder- <strong>und</strong> Jugendbüchern gezeichnet wird, wie die Darstellungen in diesem<br />

Medium auf die Einstellung der Leser/innen einwirken können <strong>und</strong> inwieweit kulturelle Tradierungsmechanismen in<br />

Kinder- <strong>und</strong> Jugendbüchern existent sind, ist weitgehend unbekannt.<br />

Die vorliegende Arbeit untersucht Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur dahingehend, wie behinderte <strong>Menschen</strong> in den<br />

entsprechenden Werken dargestellt werden. Um die mögliche Wirkungsweise dieser Darstellungen heraus<strong>zu</strong>arbeiten, ist es<br />

notwendig, die gesellschaftlichen Einstellungstrukturen in differenzierter Weise <strong>zu</strong> beschreiben. Da<strong>zu</strong> werden in einem<br />

ersten Teil die Ergebnisse der vorliegenden sozialpsychologischen Untersuchungen angeführt (Kap. 2), die jedoch, um nicht<br />

auf dieser phänomenologischen Ebene haften <strong>zu</strong> bleiben, durch entsprechende Theorien ergänzt werden, die die Ursachen<br />

<strong>und</strong> Hintergründe für die er<strong>mit</strong>telten Ergebnisse <strong>zu</strong> beschreiben versuchen (Kap. 3-4). Die Ergebnisse <strong>zu</strong>m kindlichen<br />

Einstellungserwerb einschließlich den bisher bekannten unterscheiden in be<strong>zu</strong>g auf Geschlechtsspezifität sowie<br />

unterschiedliche Schulmodelle ("Integration") (Kap. 5) bilden den Übergang <strong>zu</strong>m zweiten Teil der Arbeit.<br />

In diesem geht es um Tendenzen gesellschaftlicher Einstellungsstrukturen, die in Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur wirksam<br />

werden. Dabei wird - nicht <strong>zu</strong>letzt aus Gründen des begrenzten Umfangs der Arbeit - sowohl auf eine literarische<br />

Bewertung der vorliegenden Werke wie auch auf eine umfangreiche sozialwissenschaftlich orientierte Inhaltsanalyse<br />

einzelner Werke verzichtet (wenngleich sich die Untersuchung an einer solchen Vorgehensweise orientiert). Vielmehr soll<br />

versucht werden, ggf. auftretende, immer wiederkehrende, d.h. stereotype Muster <strong>und</strong> deren Hintergründe <strong>und</strong> Funktionen<br />

auf<strong>zu</strong>zeigen.<br />

Nach der Darstellung allgemein relevanter Teilbereiche wie historischer Entwicklung (Kap. 7), Visualisierung (Kap. 8.3)<br />

<strong>und</strong> den bis heute bekannten Strickmustern (Kap. 8.4 - 8.5) wird in Kap. 8.6 ein Modell aufgezeigt, das in der heutigen<br />

Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur als ein typisches Muster <strong>zu</strong>r literarischen Verarbeitung von (geistiger) <strong>Behinderung</strong> gelten<br />

kann.<br />

Den Abschluss der Arbeiten bilden Ergebnisse der medienbezogenen Wirkungsforschung (Kap. 9) sowie Überlegungen <strong>zu</strong>m<br />

Einsatz literarischer Werke im schulischen Unterricht (Kap.10).<br />

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In Be<strong>zu</strong>g auf Personen-, Rollen- oder Berufsbezeichnungen verwende ich in meinen Ausführungen die inzwischen weit<br />

verbreitete <strong>und</strong> meiner Ansicht nach dadurch gesellschaftlich akzeptierte Schreibweise der <strong>zu</strong>sätzlich anhängenden,<br />

weiblichen Form (Bsp. Leser/innen) wenn ich die Ausrichtung auf beide Geschlechter deutlich machen möchte. Auf eine<br />

(orthografisch korrektere) Auflistung sowohl des maskulinen wie des femininen Begriffs werde ich aus Gründen der<br />

einfacheren Lesbarkeit weitestgehend verzichten.<br />

In Be<strong>zu</strong>g auf <strong>Menschen</strong>, die allgemein als behindert bezeichnet werden, verwende ich in dieser Arbeit in der Regel die<br />

Bezeichnung "<strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong>" <strong>und</strong> ergänze sie ggf. aus semantischen bzw. syntaktischen Gründen durch die<br />

Verwendung des Begriffs "behinderte <strong>Menschen</strong>" oder "beeinträchtigte <strong>Menschen</strong>".<br />

Teil A: Soziale Reaktion auf <strong>Behinderung</strong><br />

1. Begriffsbestimmungen<br />

1.1 <strong>Behinderung</strong><br />

"Alle eindeutig psychologischen Besonderheiten des defektiven Kindes sind ihrer Gr<strong>und</strong>lage nach nicht biologischer,<br />

sondern sozialer Natur. [...]<br />

Möglicherweise ist die Zeit nicht mehr fern, da die Pädagogik es als peinlich empfinden wird, von einem defektiven Kind <strong>zu</strong><br />

sprechen, weil das ein Hinweis darauf sein könnte, es handele sich um einen unüberwindbaren Mangel seiner Natur. [...] In<br />

unseren Händen liegt es, so <strong>zu</strong> handeln, daß das gehörlose, das blinde <strong>und</strong> das schwachsinnige Kind nicht defektiv sind.<br />

Dann wird auch das Wort selbst verschwinden, das wahrhafte Zeichen für unseren eigenen Defekt".<br />

LEW SEMJONOWITSCH WYGOTSKI<br />

Der Begriff "<strong>Behinderung</strong>" wird von pädagogischer wie von medizinischer, psychologischer, soziologischer, ökonomischer,<br />

juristischer oder sozialpolitischer Seite <strong>mit</strong> jeweils fachspezifischen Akzentuierungen definiert. Entscheidend für die<br />

Definition sind die Zielset<strong>zu</strong>ngen, die <strong>mit</strong> einer Definition verb<strong>und</strong>en sind.<br />

Ein international weitgehend anerkanntes Klassifikationssystem <strong>zu</strong>r Beschreibung von <strong>Behinderung</strong> ist die Definition der<br />

WHO (World Health Organisation). Sie unterscheidet drei Komponenten der <strong>Behinderung</strong>:<br />

• Impairment[1] (Schädigung): Impairment bezeichnet eine dauernde oder vorübergehende anatomische,<br />

physiologische oder psychologische Einbuße <strong>und</strong>/oder Anomalie des Organismus oder eines Organsystems, die an<br />

äußerlichen Symptomen, an einer fehlerhaften Funktion oder an dem Verlust einer Funktion objektivierbar ist.<br />

• Disability (Beeinträchtigung, Leistungsminderung): Aus einem Impairment folgen Funktions- <strong>und</strong><br />

Aktivitätseinschränkungen (Disability), die bei der Bewältigung von Aufgaben <strong>und</strong> Anforderungen im Alltag<br />

auffällig werden.<br />

• Handicap (Benachteiligung, <strong>Behinderung</strong>): Hier<strong>mit</strong> wird die aus Impairment <strong>und</strong> Disability hervorgehende<br />

Schwierigkeit, Tätigkeiten, die im allgemeinen als wesentliche Gr<strong>und</strong>komponenten der täglichen Lebensführung<br />

gelten, aus<strong>zu</strong>üben. Diese Schwierigkeiten führen <strong>zu</strong> einer Benachteiligung in familiärer, beruflicher <strong>und</strong><br />

gesellschaftlicher Hinsicht.<br />

Diese von der WHO vorgelegte Definition bezieht die soziale Benachteiligung <strong>mit</strong> ein <strong>und</strong> hebt da<strong>mit</strong> die Reduktion anderer<br />

offizieller Definitionen (wie z.B. BSHG, SchwBG u.a.) auf. Dennoch legt auch diese Definition den Ausgangspunkt der<br />

<strong>Behinderung</strong> im Individuum, in seinen biologischen Konstitutionen fest. Die drei Bestimmungsstücke folgen in der Regel<br />

konsekutiv aufeinander.<br />

Im Bereich der Pädagogik ist die Definition BLEIDICKs vermutlich die verbreiteste. Er unterscheidet im Prinzip vier<br />

konkurrierende Paradigmen von <strong>Behinderung</strong> (BLEIDICK / HAGEMEISTER 1977), wobei nur eine multifaktorielle<br />

Betrachtungsweise das Phänomen des Behindertseins erklären könne:<br />

• <strong>Behinderung</strong> nach dem individual-theoretischen oder personenorientierten Begriff, eingebettet in ein medizinisches<br />

Modell von Heilpädagogik,<br />

• <strong>Behinderung</strong> nach dem interaktions-theoretischen (interaktionistischen) Modell , nach dem <strong>Behinderung</strong> ein Etikett<br />

infolge schulischer Leistungsabweichung <strong>und</strong> Zuschreibung sozialer Erwartungshaltungen ist,<br />

• <strong>Behinderung</strong> als Systemfolge in einem systemtheoretischen (systemsoziologischen) Modell , das besagt, dass<br />

Institutionen als Systeme <strong>Behinderung</strong> hervorbringen <strong>und</strong> produzieren<br />

• <strong>Behinderung</strong> nach dem gesellschaftstheoretischen Modell.<br />

BLEIDICK konstatiert, dass individuelle Schuld<strong>zu</strong>weisungen inzwischen hinter eine Sichtweise von Behindert-Sein<br />

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<strong>zu</strong>rückgetreten sind, die dessen gesellschaftliche Ver<strong>mit</strong>tlung betonen <strong>und</strong> hält auch zehn Jahre später fest: "Die<br />

Tatbestände Behindertsein <strong>und</strong> <strong>Behinderung</strong> sind sozial ver<strong>mit</strong>telt [...]. Darum sind alle Aussagen darüber, wer gestört,<br />

behindert, beeinträchtigt, geschädigt usw. ist, relativ, von gesellschaftlichen <strong>Einstellungen</strong> <strong>und</strong> diagnostischen<br />

Zuschreibungen abhängig" (BLEIDICK 1995, 4). Dennoch scheint er an einer medizinisch-defektologischen Definition von<br />

<strong>Behinderung</strong> fest<strong>zu</strong>halten. Trotz der o.g. Aussagen besteht der Ausgangs- <strong>und</strong> Kernpunkt einer <strong>Behinderung</strong> für<br />

BLEIDICK im erstgenannten Modell, das die Ursache <strong>und</strong> den Defekt in der betroffenen Person sucht. So formuliert er,<br />

dass <strong>Behinderung</strong> "als ein persönliches, weitgehend unabänderliches Schicksal hingenommen [wird]. Der Defekt ist kausalätiologisch<br />

in der Person lokalisiert" (1985, 254). "<strong>Behinderung</strong>", so BLEIDICK (1995, 3), "ist fast immer die Folge einer<br />

Schädigung, eines Mangels oder eines Defektes." BLEIDICKs Theorie reduziert meiner Ansicht nach das Phänomen<br />

<strong>Behinderung</strong> <strong>zu</strong> einseitig auf die subjektorientierte Seite, während gesellschaftliche Zusammenhänge keine adäquate<br />

Beachtung finden. <strong>Behinderung</strong> wird dadurch <strong>zu</strong> einem statischen Zustand, der keine Veränderung <strong>zu</strong>lässt.<br />

Auch in der Empfehlung "Zur pädagogischen Förderung behinderter <strong>und</strong> von <strong>Behinderung</strong> bedrohter Kinder <strong>und</strong><br />

Jugendlicher" des Deutschen Bildungsrats nimmt <strong>Behinderung</strong> von der biologischen Schädigung aus ihren Ausgang <strong>und</strong><br />

führt von da aus <strong>zu</strong> Beeinträchtigungen des Sozialen:<br />

"Als behindert im erziehungswissenschaftlichen Sinne gelten alle Kinder, Jugendlichen <strong>und</strong> Erwachsenen, die in ihrem<br />

Lernen, im sozialen Verhalten, in der sprachlichen Kommunikation oder in den psychomotorischen Fähigkeiten so weit<br />

beeinträchtigt sind, daß ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft wesentlich erschwert ist. [...]<br />

<strong>Behinderung</strong>en können ihren Ausgang nehmen von Beeinträchtigungen des Sehens, des Hörens, der Sprache, der Stütz- <strong>und</strong><br />

Bewegungsfunktionen, der Intelligenz, der Emotionalität, des äußeren Erscheinungsbilds sowie von bestimmten<br />

chronischen Krankheiten. [...]"<br />

Wie JANTZEN (1992) formuliert, ist der Benennung der Ebenen (biologische, psychologische, soziale) durch die<br />

Definition der WHO durchaus <strong>zu</strong><strong>zu</strong>stimmen, wobei jedoch die Wechselwirkungen der einzelnen Ebenen, die <strong>Behinderung</strong><br />

als einen Prozess erscheinen lassen, <strong>zu</strong> berücksichtigen bleiben. Die "bio-psycho-soziale Einheit Mensch" wird nicht allein<br />

durch eine Schädigung in ihrem innersten Kern (der biologischen Ebene) behindert. Die lineare <strong>und</strong> kausalattribuierte<br />

Annahme, dass Schädigungen un<strong>mit</strong>telbar <strong>und</strong> zwangsläufig <strong>zu</strong> einer Beeinträchtigung der gesellschaftliche Teilhabe führe<br />

(ohne dabei die gesellschaftliche Verhältnisse <strong>zu</strong> reflektieren), trifft meines Erachtens nicht <strong>zu</strong>. Soziale bzw.<br />

gesellschaftliche Prozesse <strong>und</strong> Verhältnisse wirken auf die Entwicklung menschlicher Individuen <strong>zu</strong>rück. Der<br />

gesellschaftliche Kontext ist immer entscheidend, wie, also auf welche Weise <strong>und</strong> in welchem Ausmaß, <strong>Behinderung</strong> -<br />

unabhängig von der Art <strong>und</strong> Schwere einer ggf. existierenden Schädigung - im Bewusstsein der einzelnen<br />

Gesellschafts<strong>mit</strong>glieder existent wird! GOFFMAN (1975) versteht <strong>Behinderung</strong> als ein Stigma, d.h. ein Individuum ist in<br />

unerwünschter Weise anders, als es von den Gesellschafts<strong>mit</strong>gliedern antizipiert wurde. JANTZEN (1992) sieht den Kern<br />

einer gesellschaftlichen Definition von <strong>Behinderung</strong> in der Abweichung des Individuum von den geltenden<br />

Leistungsnormen, welche sich vorwiegend am Verwertungsmaßstab einer Leistungsgesellschaft unter kapitalistischen<br />

Produktionsverhältnissen herleiten lassen. So betrachtet er <strong>Behinderung</strong> als eine Möglichkeit menschlichen Lebens, die es<br />

<strong>zu</strong> bekämpfen gilt: jedoch ausschließlich als Ausdruck historisch entstandener Lebensumstände, die es <strong>zu</strong> verändern gilt<br />

<strong>und</strong> nicht am einzelnen <strong>Menschen</strong> als Störpotential, das sich unserem Willen <strong>und</strong> unseren Normvorstellungen<br />

entgegenstellt.<br />

Da <strong>Behinderung</strong> nur aus gesellschaftlichen Verhältnissen heraus begreifbar ist, kann "Isolation" als zentralste Kategorie <strong>zu</strong>r<br />

begrifflichen Fassung des Wesens von <strong>Behinderung</strong> angesehen werden. Isolation ist dabei Ausdruck jener Bedingungen, die<br />

ein Individuum im adäquaten Austausch <strong>mit</strong> seiner Umwelt beeinträchtigen. Die Isolation vom außerindividuellen,<br />

kulturellen Erbe kann sowohl durch innere (z.B. veränderte Wahrnehmungsstrukturen) als auch durch äußere (z.B.<br />

Vorenthaltung von Erfahrung <strong>und</strong> Wissen) isolierende Bedingungen begründet sein.<br />

Insbesondere die Theorie der Selbstorganisation lebendiger Systeme sowie die Übertragung postrelativistischer<br />

Erkenntnisse auf die Humanwissenschaft, wie sie vor allem in den jüngeren Veröffentlichungen von FEUSER (1994, 1995)<br />

dargestellt werden, ermöglichen ein <strong>Menschen</strong>bild, in dem "<strong>Behinderung</strong>" als eine von vielen möglichen Formen<br />

menschlicher Entwicklung sowie eine für dieses Individuum höchst sinnvolle <strong>und</strong> " entwicklungslogische" Integration von<br />

div. Bedingungen menschlichen Lebens verstanden werden kann. "Wie werden nicht umhinkommen, ´<strong>Behinderung</strong>´,<br />

´Entwicklungsstörungen´ <strong>und</strong> ´psychische Krankheit´ als Konfliktlösungsstrategien <strong>zu</strong> begreifen" (FEUSER 1995, 123).<br />

"Erst wenn organische Beeinträchtigungen <strong>zu</strong> solchen sozialer Ächtung <strong>und</strong> Ausgren<strong>zu</strong>ng führen, findet <strong>Behinderung</strong> der<br />

Persönlichkeitsentwicklung eines <strong>Menschen</strong> statt, die <strong>zu</strong>r ´<strong>Behinderung</strong>´ des betroffenen <strong>Menschen</strong> gemacht<br />

wird." (FEUSER 1995, 51)<br />

"<strong>Behinderung</strong> verstehen wir als Ausdruck jener gesellschaftlichen, ökonomischen <strong>und</strong> sozialen Prozesse, die auf einen<br />

<strong>Menschen</strong> hin <strong>zu</strong>r Wirkung kommen, der durch soziale <strong>und</strong>/oder biologisch-organische Beeinträchtigungen<br />

gesellschaftlichen Minimalvorstellungen <strong>und</strong> Erwartungen hinsichtlich seiner individuellen Entwicklung, Leistungsfähigkeit<br />

<strong>und</strong> Verwertbarkeit in Produktions- <strong>und</strong> Konsumtionsprozessen nicht entspricht.<br />

Sie definiert folglich einen sozialen Prozeß <strong>und</strong> ist in diesem selbst wiederum eine wesentliche Variable. Davon<br />

unterscheiden wir humanbiologisch-organisch, neurophysiologisch <strong>und</strong> neuropsychologisch erklärbare Beeinträchtigungen<br />

eines <strong>Menschen</strong>, die als Bedingungen den Prozess der ´Be´-Hinderung seiner Persönlichkeitsentwicklung im o.a.<br />

gesellschaftlichen Kontext auslösen <strong>und</strong> modifizieren. Die Gr<strong>und</strong>strukturen menschlicher Aneignungs-, Entwicklungs- <strong>und</strong><br />

Lernprozesse bleiben davon unberührt.<br />

<strong>Behinderung</strong> ist letztlich das Produkt der sozialen Beantwortung einer Beeinträchtigung eines <strong>Menschen</strong>. D.h. wir<br />

unterscheiden Beeinträchtigungen in der Entwicklung eines <strong>Menschen</strong> von seiner <strong>Behinderung</strong> als soziale Kategorie. Ferner<br />

verstehen wir, was im sozialen Kontext eines <strong>Menschen</strong> als Folge von Beeinträchtigungen resultiert <strong>und</strong> sich sichtbar<br />

dokumentiert (physisch, psychisch, sozial), als ein logisches Produkt seiner Entwicklung unter den für ihn gegebenen<br />

Bedingungen , die wir <strong>mit</strong> dem Begriff der Isolation beschreiben" ( *Feuser 1989, 20).<br />

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1.2 Soziale Reaktion / Einstellung<br />

Die Soziale Reaktion lässt sich in zwei Komponenten unterteilen: die verbal geäußerte Reaktion im Sinne von innerer<br />

Einstellung auf der Basis des sozialpsychologischen Einstellungskonzepts sowie die reale, tatsächliche Reaktion im Sinne<br />

von Verhalten auf der theoretischen Gr<strong>und</strong>lage des Stigmakonzepts (vgl. CLOERKES 1984). Die meisten Forschungen<br />

bezüglich der Sozialen Reaktion gegenüber <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> beschränken sich auf die (meist verbale) Erhebung<br />

der <strong>Einstellungen</strong>.<br />

Die Konzeptionen, die Einstellung in Modellen <strong>zu</strong> beschreiben suchen, unterscheiden sich prinzipiell in mehrdimensionale<br />

<strong>und</strong> eindimensionale Ansätze. Unter den mehrdimensionalen Ansätzen ist die Drei-Komponenten-Theorie die verbreiteste.<br />

Sie unterteilt eine Einstellung in eine kognitive, eine affektive sowie eine konative (handlungsbestimmende) Dimension. Das<br />

Modell geht von der Annahme einer gr<strong>und</strong>legenden Konsistenz (bei durchaus möglichen Diskrepanzen) zwischen den<br />

verschiedenen Dimensionen sowie von einer prinzipiellen Konsistenz der gesamten Einstellung <strong>und</strong> dem offenen Verhalten<br />

aus. Diese Annahmen sind nicht unumstritten. Für PIAGET (vgl. SCHMITT 1979) beispielsweise ist die<br />

Handlungskomponente in der Affektivität enthalten, folglich unterscheidet er nur die zwei f<strong>und</strong>amentalen Aspekte<br />

Affektivität <strong>und</strong> Kognitivität . Andere Autoren ziehen es vor, <strong>Einstellungen</strong> eindimensional <strong>zu</strong> betrachten <strong>und</strong> nur auf die<br />

affektive Komponente <strong>zu</strong> beziehen, da vieles darauf hindeutet, dass die affektive Komponente in höchstem Maße die<br />

Einstellung bestimmt.<br />

Mit Hilfe des Einstellungskonzepts sucht die Sozialpsychologie in der Regel soziale <strong>und</strong> gesellschaftliche Probleme auf der<br />

individuellen Ebene <strong>zu</strong> erklären, d.h. Einstellungskonzepte erfassen lediglich den persönlichkeitspsychologischen Aspekt.<br />

Die Aspekte zwischenmenschlicher Beziehungen wie Analysen gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse bleiben<br />

weitestgehend unberücksichtigt. Menschliches Verhalten kann jedoch nie ahistorisch <strong>und</strong> von der Gesellschaft losgelöst<br />

betrachtet werden. RUBINSTEIN (vgl. SCHWARZ 1978) trifft daher eine Unterscheidung zwischen einem dynamischen<br />

<strong>und</strong> einem qualitativ-inhaltlichen Aspekt der Einstellung. Der dynamische Aspekt bezeichnet dabei eine gewisse<br />

Handlungs- <strong>und</strong> Reaktionsbereitschaft des Individuums, während der qualitativ-inhaltliche Aspekt auf den Objektbereich<br />

verweist, dem gegenüber die Handlungs- oder Reaktionsbereitschaft besteht. <strong>Einstellungen</strong>, die neurophysiologisch als<br />

funktionelle Systeme <strong>zu</strong> betrachten sind, entwickeln sich immer in Abhängigkeit vom realen, gesellschaftlichen Sein.<br />

Die materialistische Sozialpsychologie (ebd.) unterscheidet zwischen der aktuellen Einstellung, die sich in einer aktuellen<br />

Handlung realisiert, <strong>und</strong> der fixierten Einstellung, die eine habituelle Reaktionsbereitschaft ermöglicht. Fixierte <strong>Einstellungen</strong><br />

sind Verhaltensdispositionen, die man als Ergebnisse von Lernvorgängen beschreiben kann, bei denen Erlebnisinhalte, die<br />

aus Verhalten, das <strong>mit</strong> aktueller Einstellung gesteuert wurde, vom Individuum kognitiv <strong>und</strong> wertend verarbeitet wurden.<br />

Die fixierte Einstellung ist in jeder Handlung beteiligt, jedoch nur als eine Variable. Es gibt so<strong>mit</strong> keine direkte Beziehung<br />

zwischen Einstellung <strong>und</strong> Verhalten. Die erfasste Einstellung eines <strong>Menschen</strong> kann ein tatsächliches Verhalten nicht<br />

voraussagen, sie vermag jedoch einen Teil des beobachtbaren Verhaltens <strong>zu</strong> erklären. Dies bedeutet, dass aus dem<br />

beobachteten Verhalten eine mögliche, dahinterstehende Einstellung bestimmt werden kann. Fixierte <strong>Einstellungen</strong> sind<br />

allerdings nicht ausschließlich Vorausset<strong>zu</strong>ng des Handelns, sondern gleichzeitig auch dessen Produkt. In kommender<br />

Tätigkeit, also in kommendem Verhalten geht die aus aktuellen <strong>Einstellungen</strong> abstrahierte <strong>und</strong> gewonnene fixierte<br />

Einstellung wieder als eine Variable in die Erscheinungsform des Verhaltens ein <strong>und</strong> wird ihrerseits im Verlauf der Handlung<br />

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modifiziert. Da<strong>mit</strong> wird die Thematik der Entstehung von <strong>Einstellungen</strong> berührt (vgl. 5.4).<br />

Die Funktion der Einstellung besteht im wesentlichen aus zwei Merkmalen: Zum einen stellt sie eine<br />

Orientierungserleichterung im Verhältnis eines Individuums <strong>zu</strong> seiner Umwelt dar, <strong>zu</strong>m anderen gilt sie als Statusmerkmal<br />

einer Gruppen<strong>zu</strong>gehörigkeit. Diese Bezeichnung verdeutlicht, dass durch den gleichen Standort in einer Gesellschaft <strong>und</strong><br />

die gleichen Beziehungen <strong>zu</strong> ihr auch mehrere <strong>Menschen</strong> oder Gruppen die gleiche Einstellung besitzen können. Die<br />

gruppenbedingte inhaltliche Bestimmung der Einstellung wird durch den Begriff des Einstellungsstereotyps wiedergegeben.<br />

Nach VORWERG (1966, zit. n. SCHWARZ 1978, 244) ist das Einstellungsstereotyp ein "unter gewöhnlichen<br />

Bedingungen nicht bewusst werdendes sozialpsychologisches Phänomen <strong>mit</strong> relativ konstantem Charakter gegenüber<br />

Veränderungen der ihn betreffenden Wirklichkeit. Er stellt auf diese Weise eine existentielle Vorausset<strong>zu</strong>ng des<br />

Gruppengeschehens dar, sichert (sich projizierend) die für jede Gruppenaktion notwendige Informationsgleichheit der<br />

Mitglieder <strong>und</strong> hält so [...] die Gruppenstruktur relativ konstant. Auf diese Weise dient er der Persönlichkeit <strong>zu</strong>r<br />

Entscheidungserleichterung im sozialen Akt <strong>und</strong> erfüllt so eine ökonomische Funktion."<br />

2. Ergebnisse der Einstellungsforschung<br />

Ich heiße Martin. Ich bin behindert. Ich habe gute Gefühle. Ich fühle mich glücklich, weil ich Mitmenschen habe. Aber<br />

manchmal fühle ich mich auch unglücklich, wenn mir keiner hilft. Manche Leute sagen: "Wenn man behindert ist, ist das<br />

Leben aus!" Das stimmt aber nicht! Ich lebe noch!<br />

Martin, 8 Jahre<br />

(aus: FRANZ-JOSEPH HUAINIGG :<br />

"Was hat´n der? Kinder über Behinderte."<br />

Klagenfurt 1993.S.110 & Rückcover)<br />

2.1 Determinanten der Sozialen Reaktion <strong>zu</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong><br />

2.1.1 Art der <strong>Behinderung</strong><br />

Die Kategorie "Art der <strong>Behinderung</strong>" umfasst die Determinanten, in denen, gemäß den sozialpsychologischen<br />

Untersuchungen, wesentliche Variablen der Sozialen Reaktion in der behinderten Person gesucht werden.<br />

2.1.1.1 Rangordnung von <strong>Behinderung</strong>en<br />

Eine "Rangordnung" impliziert eine Klassifikation in Kategorien von <strong>Behinderung</strong>en, die zwar recht gängig, jedoch<br />

fachwissenschaftlich <strong>zu</strong>mindest problematisch sein dürfte. Untersuchungsergebnisse weisen darauf hin, dass <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong><br />

einer sog. geistigen <strong>Behinderung</strong> die weitaus größte Ablehnung erfahren, während die <strong>Einstellungen</strong> <strong>zu</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong><br />

körperlichen <strong>Behinderung</strong>en oder Sinnesbeeinträchtigungen vergleichsweise positiv ausfallen. Die gesellschaftliche<br />

Vorstellung beruht <strong>mit</strong>hin auf einem Bild, nach dem "Beeinträchtigungen des Kopfes" weit beunruhigender sind als<br />

"Beeinträchtigungen des übrigen Körpers" (CLOERKES 1984, 167ff). Je weniger eine <strong>Behinderung</strong> verstanden wird, desto<br />

geringer scheint die soziale Akzeptanz <strong>zu</strong> sein.<br />

Mit den Worten von SCHöNBERGER (zit. n. CLOERKES 1984, 174) "rangiert in unserem Kulturkreis Intelligenz vor<br />

Sprachfähigkeit, diese vor Sinnestüchtigkeit, diese vor Handlungsgeschick <strong>und</strong> diese schließlich vor<br />

Fortbewegungsfähigkeit. "Je ´tiefer´ die <strong>Behinderung</strong> [in dieser Aufzählung; SN] liegt, desto leichter wird der Behinderte als<br />

Mensch <strong>und</strong> Mitmensch toleriert."<br />

2.1.1.2 Schwere der <strong>Behinderung</strong><br />

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Nickel: <strong>Gesellschaftliche</strong> <strong>Einstellungen</strong> Seite 7 von 54<br />

Während die Schwere einer <strong>Behinderung</strong> den höchsten Stellenwert für die Betroffenheit der Nichtbehinderten <strong>zu</strong> haben<br />

scheint, gilt ebenso, dass schwerer beeinträchtigten <strong>Menschen</strong> signifikant positivere <strong>Einstellungen</strong> entgegengebracht werden<br />

als <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> einer leichteren <strong>Behinderung</strong> (CLOERKES 1984) . <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> einer schwereren <strong>Behinderung</strong> scheinen<br />

eindeutiger dem gesellschaftlichen Bild des "Behinderten" <strong>zu</strong> entsprechen, was wiederum die Einordnung des Betroffenen<br />

in diese vermeintliche Gruppe <strong>mit</strong> entsprechenden, normativ großenteils vorgegeben Reaktionsschemata (z.B. Mitleid)<br />

erleichtert. Der Umgang <strong>mit</strong> leichter beeinträchtigte <strong>Menschen</strong> hingegen erschwert die Stereotypisierung, was <strong>zu</strong> einer<br />

verstärkten Verhaltensunsicherheit seitens der nicht-behinderten Gesellschafts<strong>mit</strong>glieder führt.<br />

Dieses recht eindeutig er<strong>mit</strong>telte Untersuchungsergebnis gilt jedoch nicht für Personen, die als geistig behindert bezeichnet<br />

werden. Diesen <strong>Menschen</strong> wird eine negativere Einstellung entgegengebracht, je schwerer ihr Zustand beschrieben wird<br />

(ebd., 174). Geistige <strong>Behinderung</strong> wie Blindheit gelten als besonders schwere Beeinträchtigungen, aber blinde <strong>Menschen</strong><br />

erfahren weitaus größere soziale Akzeptierung als <strong>Menschen</strong>, die als geistig Behinderte klassifiziert werden. "Die Schwere<br />

einer Beeinträchtigung scheint demnach kein wesentlicher Faktor für die <strong>Einstellungen</strong> gegenüber Behinderten <strong>zu</strong><br />

sein" (ebd., 179).<br />

2.1.1.3 Funktionsbeeinträchtigungen<br />

Nach TRöSTER (1990) ergibt sich aus einer funktionalen Beeinträchtigung kommunikativer Fähigkeiten eine Belastung der<br />

Kommunikation, wobei die Art <strong>und</strong> das Ausmaß der Kommunikationsstörung von der Art der <strong>Behinderung</strong> abhängig ist<br />

<strong>und</strong> es bei bestimmten <strong>Behinderung</strong>en wiederum nicht oder nur in sehr geringem Maße möglich ist, die<br />

Funktionsbeeinträchtigungen des behinderten Interaktionspartners aus<strong>zu</strong>gleichen oder deren Auswirkungen in der<br />

Interaktion <strong>zu</strong> kompensieren. CLOERKES (1984, 176) führt Vorarbeiten anderer Autoren an <strong>und</strong> spricht davon, dass<br />

"funktionale <strong>Behinderung</strong>en, die <strong>zu</strong> einem Verlust [Heraushebung SN] der Kommunikationsfähigkeit führen (sprechen,<br />

hören, sehen), [...] außerordentlich negative Konsequenzen für alle Arten von sozialen Beziehungen [haben]."<br />

2.1.1.4 Eigenverantwortlichkeit <strong>und</strong> "Heilungschancen"<br />

Eine weitere Determinante der Sozialen Reaktion ist die <strong>zu</strong>geschriebene Verantwortlichkeit. Die gesellschaftlichen<br />

Vorstellungen über die Ursachen einer <strong>Behinderung</strong> prägen die Soziale Reaktion. Ob <strong>und</strong> in welchem Ausmaß ein Mensch<br />

als eigenverantwortlich für seine <strong>Behinderung</strong> (bzw. für das von der Norm abweichende Verhalten) angesehen wird, gilt laut<br />

TRöSTER (1990) als ein entscheidender Aspekt in der Frage der Sozialen Reaktion. Da sowohl die Einstellungsobjekte<br />

eine große Variabilität aufweisen, als sich auch die Subjekte der <strong>Einstellungen</strong> individuell unterscheiden, sind keine<br />

verlässlichen Aussagen möglich. Es ist aber davon aus<strong>zu</strong>gehen, dass Personen, denen eine größere Eigenverantwortlichkeit<br />

unterstellt wird, ablehnender begegnet wird. Dies sind insbesondere <strong>Menschen</strong>, deren Verhaltensweisen von der sozialen<br />

Norm abweichen.<br />

Ergänzt wird dieses Moment durch die Determinante der "Heilungschancen". Ist die (Wieder-) Anpassung an die Norm<br />

unwahrscheinlich, dürfte die Soziale Reaktion negativer, d.h. ablehnender <strong>und</strong> isolierender ausfallen, als bei einem<br />

<strong>Menschen</strong>, bei dem es sich nur um eine "temporäre" Beeinträchtigung handelt, die "Heilungschancen" <strong>mit</strong>hin als gut<br />

beurteilt werden.<br />

2.1.1.5 Visibilität & Auffälligkeit der <strong>Behinderung</strong><br />

Die Sichtbarkeit einer <strong>Behinderung</strong> wird von allen Autor/innen als bedeutendste Determinante der Sozialen Reaktion<br />

angesehen. Dies gilt auch für Untersuchungen, die die <strong>Einstellungen</strong> von Kindern <strong>zu</strong> erfassen versuchten.<br />

TRöSTER (1990) weist darauf hin, dass Sichtbarkeit nicht <strong>mit</strong> Auffälligkeit gleichgesetzt werden sollte. Auffällig könne<br />

eine <strong>Behinderung</strong> für einen nichtbehinderten Interaktionspartner sowohl durch die Sichtbarkeit als auch durch die<br />

veränderte Kommunikationsstruktur werden. Seiner Meinung nach ermöglicht die Sichtbarkeit einer <strong>Behinderung</strong> dem<br />

Interaktionspartner, sich auf die <strong>Behinderung</strong> ein<strong>zu</strong>stellen, während z.B. eine Beeinträchtigung der verbalen<br />

Kommunikation erst nach Kontaktaufnahme auffällig wird. Un<strong>mit</strong>telbar auffällige <strong>Behinderung</strong>en hemmen eine<br />

Kontaktaufnahme, während erst <strong>mit</strong>telbar auffällige (d.h. erst während längerfristigen sozialen Beziehungen auffällig<br />

werdende) <strong>Behinderung</strong>en die Fortführung des erfolgten Kontakts erschweren. Für physische Beeinträchtigungen hält<br />

SEYWALD (1976) fest, dass die Auffälligkeit bzw. die Abweichung von der Norm als dominante Eigenschaft betrachtet<br />

<strong>und</strong> auf andere Eigenschaften einer Person verallgemeinert wird.<br />

Eng verb<strong>und</strong>en <strong>mit</strong> den un<strong>mit</strong>telbar auffälligen <strong>Behinderung</strong>en ist auch die sog. "ästhetische Beeinträchtigung", nach der die<br />

physische Attraktivität eines <strong>Menschen</strong> erheblichen Einfluss auf <strong>Einstellungen</strong> <strong>und</strong> Verhalten anderer habe. Wenngleich<br />

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ungeklärt scheint, welche Merkmale einen <strong>Menschen</strong> attraktiv erscheinen lassen, finden sich in Untersuchungen hohe<br />

Übereinstimmungskoeffizienten bei der Bewertung der Attraktivität einer Person. TRöSTER (1990, 36) berichtet, dass "im<br />

allgemeinen [...] körperlich unattraktiven <strong>Menschen</strong> eher sozial unerwünschte Attribute <strong>zu</strong>geordnet werden". Besonders<br />

Entstellungen im Bereich des Gesichts haben die weitreichendsten Konsequenzen in be<strong>zu</strong>g auf eine negative Einstellung.<br />

Bei Kontakten <strong>mit</strong> <strong>Menschen</strong>, die "extreme ästhetische Beeinträchtigungen" aufweisen, überwiegen affektiv-aversive<br />

Spontanreaktionen, die JANSEN (1984) "originäre Reaktionen" nennt. In den Gegensatz da<strong>zu</strong> stellt JANSEN "kulturell<br />

überformte Reaktionen", welche Resultate kognitiver Verarbeitungsprozesse sind <strong>und</strong> ein "sachliches Zusammenleben" <strong>mit</strong><br />

den behinderten <strong>Menschen</strong> erst ermöglichen. Von einigen Autor/innen wird die sog. ästhetischen Beeinträchtigung als<br />

Inbegriff der Sichtbarkeit einer <strong>Behinderung</strong> gar als eine der wichtigsten Ursachen für die Ablehnung <strong>und</strong> Vermeidung von<br />

als behindert klassifizierten <strong>Menschen</strong> angesehen. Einer von TRöSTER (1990) angeführten Untersuchung <strong>zu</strong>folge scheinen<br />

"ästhetische <strong>Menschen</strong>" tatsächlich ein höheres Maß an Selbstvertrauen <strong>und</strong> da<strong>mit</strong> einhergehend ein positiveres<br />

Selbstkonzept <strong>zu</strong> besitzen. Dies lässt sich meiner Ansicht nach durch die gesellschaftliche Widerspiegelung auf das Primat<br />

der Ästhetik, d.h. <strong>mit</strong> der negativen Reaktion auf als unästhetisch empf<strong>und</strong>ene <strong>Menschen</strong> <strong>und</strong> dessen intersubjektive<br />

Verarbeitung dieser Reaktionen erklären.<br />

2.1.2 Subjektorientierte Größen<br />

Im Folgenden handelt es sich um Determinanten, die Bestimmungsgrößen auf Seite der Subjekte der Sozialen Reaktion <strong>zu</strong><br />

bestimmen versuchen.<br />

2.1.2.1 Sozio-ökonomische & demografische Variablen<br />

Untersucht wurden Variablen wie Schicht<strong>zu</strong>gehörigkeit, Bildungsgrad, Beruf, Alter, Geschlecht u.a.m.<br />

Eine eindeutige Beziehung konnte nur bei der Variable Geschlecht nachgewiesen werden. Frauen akzeptieren <strong>Menschen</strong>, die<br />

als behindert bezeichnet werden, in stärkerem Maße als Männer dies tun. Als Erklärungsversuche werden in der<br />

sozialpsychologischen Literatur ausnahmslos Annahmen angeführt, nach denen Frauen da<strong>zu</strong> tendieren, in sozial<br />

erwünschter Weise <strong>zu</strong> reagieren <strong>und</strong> nicht bereit sind, Aversionen auch offen <strong>zu</strong> artikulieren. Physiologische Verfahren oder<br />

freie Verhaltensbeobachtungen, die die Annahme der Ergebnisverfälschungen durch "Social Desirability" (die Verfälschung<br />

der Ergebnisse durch ein bewusstes Antworten im gesellschaftlich erwünschten Sinne) bestätigen oder widerlegen könnten,<br />

scheinen nicht durchgeführt worden <strong>zu</strong> sein. Generell erfährt die Annahme, Frauen verhalten sich verstärkt in sozial<br />

erwünschter Weise, keine weitere Reflexion, Hintergründe für dieses Verhalten (z.B. gesellschaftliche Rollenerwartung)<br />

werden nicht aufgeführt.<br />

Ein weiterer Zusammenhang ist zwischen der Variable Bildung <strong>und</strong> den <strong>Einstellungen</strong> gegenüber <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong><br />

<strong>Behinderung</strong> <strong>zu</strong> erkennen. Dies in der Form, "dass <strong>mit</strong> steigendem Bildungsgrad die Bereitschaft, behinderte Personen <strong>zu</strong><br />

akzeptieren, <strong>zu</strong>nimmt" (CLOERKES 1984, 191). CLOERKES führt jedoch massive Einwände in Form von<br />

methodologischen Unkorrektheiten der Erhebung sowie die bestehende Möglichkeit des "Social Desirability" an <strong>und</strong> warnt<br />

davor, das o.g. Ergebnis <strong>zu</strong> überinterpretieren.<br />

Die Kritik des "Social Desirability" wird ebenfalls oft angebracht, wenn es um einen nachgewiesenen Zusammenhang<br />

zwischen Schicht<strong>zu</strong>gehörigkeit <strong>und</strong> Einstellung geht. Generell liegen in dieser Frage widersprüchliche Ergebnisse vor, so<br />

dass es un<strong>zu</strong>lässig wäre, von einem klaren Zusammenhang zwischen Einstellung <strong>und</strong> Schicht<strong>zu</strong>gehörigkeit <strong>zu</strong> sprechen.<br />

Zwischen dem Lebensalter der Respondenten <strong>und</strong> der Einstellung konnte ein schwacher Zusammenhang gef<strong>und</strong>en werden.<br />

Demnach sei die Einstellung von älteren <strong>Menschen</strong> in der Tendenz eher ablehnend orientiert als die von jüngeren <strong>Menschen</strong><br />

(CLOERKES 1984).<br />

Keinerlei oder <strong>zu</strong>mindest keine eindeutigen Zusammenhänge konnten indes für die meisten anderen untersuchten Variablen<br />

(Beruf [ohne Professionals], ethnische Herkunft, Konfessions<strong>zu</strong>gehörigkeit, Wohnort [Stadt-Land] <strong>und</strong> Familienstand)<br />

ausgewiesen werden.<br />

2.1.2.2 Persönlichkeitsvariablen<br />

Ein weiterer Forschungsschwerpunkt, der sich auf Bestimmungsgrößen der Einstellung auf Seiten der Subjekte richtet, ist<br />

der Zusammenhang von <strong>Einstellungen</strong> <strong>und</strong> Persönlichkeitsmerkmalen. Diese basieren auf psychoanalytischen<br />

Erklärungskategorien <strong>und</strong> begründen sich in der Regel <strong>mit</strong> Hilfe von Arbeiten von ADORNO. ADORNO et al. hatten<br />

postuliert, dass negative <strong>und</strong> abwertende <strong>Einstellungen</strong> bei Personen <strong>mit</strong> autoritärer Persönlichkeitsstruktur besonders<br />

ausgeprägt sind.<br />

Die wichtigsten Persönlichkeitsmerkmale in be<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>r Vorurteilsforschung sind Autoritarismus, Ethnozentrismus <strong>und</strong><br />

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Dogmatismus, kognitive Einfachheit, Ambiguitätstoleranz, Ich-Schwäche <strong>und</strong> Angst.<br />

Die Zusammenfassung verschiedener Untersuchungen bei CLOERKES (1984) zeigt einen deutlichen Zusammenhang<br />

zwischen <strong>Einstellungen</strong> <strong>und</strong> den eng <strong>mit</strong>einander verb<strong>und</strong>enen Persönlichkeitsvariablen Autoritarismus, Dogmatismus <strong>und</strong><br />

Ethnozentrismus als Kern einer vorurteilsvollen Persönlichkeit. CLOERKES warnt jedoch völlig <strong>zu</strong> Recht vor einer<br />

Überbewertung dieser individualistischen Betrachtungsweise. Persönlichkeiten wie Persönlichkeitsmerkmale sind Produkte<br />

von Sozialisationsprozessen. Mithin spiegeln sich gesellschaftliche Intentionen, Werte <strong>und</strong> Normen in<br />

Persönlichkeitsstrukturen wider, dies jedoch auf unterschiedlichste Weise. Autorität u.a. Persönlichkeitsstrukturen müssen<br />

so<strong>mit</strong> als Produkte menschlicher Entwicklung in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext verstanden werden.<br />

Dennoch bleibt fest<strong>zu</strong>halten, dass je klarer ausgeprägt jemand die Merkmale einer autoritären Persönlichkeit zeigt, desto<br />

wahrscheinlicher er da<strong>zu</strong> neigen wird, negative Einstellungsmomente stärker <strong>zu</strong>m Ausdruck <strong>zu</strong> bringen (vgl. z.B.<br />

BäCHTHOLD 1984). Unter dem Gesichtspunkt des Einstellungserwerbs ist es wichtig, <strong>zu</strong> betonen, dass eine autoritäre<br />

Erziehung die Bildung von <strong>und</strong>ifferenzierten Betrachtungsweisen <strong>und</strong> Vorurteilen fördert.<br />

2.1.3 Beziehungsaspekt<br />

Nachdem bisher Untersuchungen dargestellt wurden, die die Bedingungen für <strong>Einstellungen</strong> auf der einen oder auf der<br />

anderen Seite, also im Objekt oder im Subjekt gesucht haben, folgt nun die Darstellung empirischer Untersuchungen, die<br />

sich <strong>mit</strong> den Beziehungen zwischen ihnen befassen. Vielfach ist die Bedeutung der Erfahrung von direkten Kontakten <strong>zu</strong><br />

<strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> als bedeutendste Determinante überhaupt für die Herausbildung von positiven <strong>Einstellungen</strong><br />

ihnen gegenüber apostrophiert worden. Dies ist der Gr<strong>und</strong>tendenz nach sicher richtig. Dennoch erscheint es notwendig,<br />

etwas vertiefender auf diesen Bereich ein<strong>zu</strong>gehen.<br />

Differenziert betrachtet korrespondiert nicht jeder, sondern in verstärktem Maße freiwilliger Kontakt <strong>mit</strong> positiveren<br />

<strong>Einstellungen</strong>. Es zeigte sich, dass den Kontakten eine affektive, gefühlsmäßige Bindung <strong>zu</strong>gr<strong>und</strong>e liegen muss, da<strong>mit</strong> sie <strong>zu</strong><br />

positiven <strong>Einstellungen</strong>, also <strong>zu</strong>r Erfüllung der erwähnten Annahme, führt (CLOERKES 1984, SEIFERT 1984).<br />

Vorhandene negative <strong>Einstellungen</strong> können durch eine Bestätigung des negativen Bildes im direkten Kontakt durchaus <strong>zu</strong>r<br />

Verstärkung von ablehnenden Tendenzen führen. Der auf Negativmerkmale fokussierte Blickwinkel <strong>und</strong> die da<strong>mit</strong><br />

verb<strong>und</strong>ene Bestätigung der Erwartungshaltung lässt ein Anders-Sein als in der Erwartungshaltung nicht mehr <strong>zu</strong>.<br />

CLOERKES (1984, 219) hebt als Zusammenfassung <strong>zu</strong> der Bedeutung des Kontakts <strong>zu</strong> behinderten <strong>Menschen</strong> heraus:<br />

"Nicht die Häufigkeit des Kontakts ist entscheidend, sondern seine Intensität. Nicht jeder intensive <strong>und</strong> enge Kontakt ist<br />

aber der Entwicklung positiver <strong>Einstellungen</strong> förderlich; wichtige Nebenbedingungen sind seine emotionale F<strong>und</strong>ierung <strong>und</strong><br />

seine Freiwilligkeit"<br />

Innerhalb der empirischen Untersuchungen <strong>zu</strong>r Variable Kontakt finden die Kontakte von Professionals (in den<br />

medizinischen, pädagogischen <strong>und</strong> sozialen Berufsbereichen), von Familienangehörigen (Eltern <strong>und</strong> Geschwistern) sowie<br />

von Gleichaltrigen (Peers) <strong>zu</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> weitere Beachtung. Die Ergebnisse sind im wesentlichen<br />

gekennzeichnet von starken Einstellungsunterschieden, die <strong>mit</strong> bereits erwähnten Randbedingungen des<br />

Einstellungserwerbs begründet werden.<br />

Wegen der Bedeutung für diese Arbeit sollen die <strong>Einstellungen</strong> von Lehrkräften <strong>zu</strong> behinderten Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen<br />

expliziter dargestellt werden. Viele Untersuchungen, darunter VON BRACKENs (1976), stellten bei Sonderpädagog/inn/en<br />

positivere <strong>Einstellungen</strong> <strong>zu</strong> behinderten Kindern fest als bei Regelpädagog/inn/en. Deren Meinungsbild sei eher noch<br />

vorurteilsbelasteter als das der Bevölkerung im Durchschnitt. Demgegenüber muss aber auch festgestellt werden, dass auch<br />

Sonderpädagog/inn/en nicht frei von Vorurteilen sind. Laut CLOERKES (1984) kommt eine Studie sogar <strong>zu</strong> dem Schluss,<br />

dass Sonderschullehrkräfte <strong>zu</strong> autoritärem Erziehungsstil <strong>und</strong> <strong>zu</strong> Isolierung von lernbehinderten Schüler/innen neigen,<br />

wobei diese Tendenzen <strong>mit</strong> steigendem Fachwissen <strong>zu</strong>nehmen! Die Kenntnisse bzw. das Wissen um <strong>Behinderung</strong>en allein<br />

scheinen so<strong>mit</strong> kein Garant für positivere <strong>Einstellungen</strong> <strong>zu</strong> sein. BöTTCHER / GIPSER/ LAGA (1995) weisen ferner nach,<br />

dass die Stärke von Vorurteilen bei Lehrkräften der Tendenz nach korreliere <strong>mit</strong> dem <strong>zu</strong>nehmenden Alter der Lehrpersonen<br />

wie auch <strong>mit</strong> der <strong>zu</strong>nehmenden Dauer der Lehrtätigkeit.<br />

2.2 Veränderte <strong>Einstellungen</strong> der letzten zwei Dekaden<br />

Die bisher aufgeführten Untersuchungen entstammen <strong>zu</strong>m überwiegendem Teil der Zeit vor etwa ein bis zwei Jahrzehnten,<br />

als die Einstellungsforschung ihren Höhepunkt hatte.<br />

Seitdem besteht angesichts der Arbeit der Betroffenengruppen ("Krüppelbewegung", "Selbstbestimmt leben") bzw. deren<br />

Stellvertreter ("Lebenshilfe") sowie der in den letzten Jahren verstärkt praktizierten gemeinsamen Erziehung <strong>und</strong> Bildung<br />

behinderter <strong>und</strong> nicht-behinderter Kinder <strong>und</strong> Jugendlicher die Möglichkeit, dass diese Veränderungen bereits <strong>zu</strong><br />

gesamtgesellschaftlichen Einstellungsveränderungen geführt haben.<br />

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In den vergangenen Jahren sind nur kleinere Untersuchungen durchgeführt worden. Sie zeigen auf, dass Alltagskontakte <strong>zu</strong><br />

<strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> heute häufiger sind als früher. Dadurch sind die Erscheinungsbilder behinderter <strong>Menschen</strong> eher<br />

präsent. KURTH u.a. (1994) sprechen von einer "integrativen Bereitschaft", die auch die Ergebnisse der Bremer Studie von<br />

HEUSMANN / LAUE (1983) erkennen lassen. LENZEN betont, dass die populären Vorstellungen über Ursache <strong>und</strong><br />

Wesen dieser <strong>Menschen</strong> aufgr<strong>und</strong> der vermehrten Bekanntheit die <strong>Einstellungen</strong> zwar hat positiver werden lassen, die<br />

Vorstellungen über Entwicklungs- <strong>und</strong> Bildungsvorausset<strong>zu</strong>ngen jedoch nicht <strong>zu</strong> verändern vermochte. "Ironisch kann<br />

anlässlich dieser Feststellung nicht verschwiegen werden, dass auch übliche ´medizinische´, ´psychologische´ <strong>und</strong><br />

´pädagogische´ Auffassungen nicht so weit vom ´Image´ in der Mehrheit der Gesellschaft entfernt sind" (LENZEN 1985,<br />

71). Nach HIEBSCH (1973, 128) brauchen "auch sachlich als falsch nachweisbare <strong>Einstellungen</strong> ihre Wirkung nicht <strong>zu</strong><br />

verlieren (...), da deren ausdrückliche Anerkennung in bestimmten Gruppen Ansehen <strong>und</strong> soziale Anerkennung einbringen<br />

kann."<br />

KLAUß (1996) beschreibt als Hypothesen, dass Toleranz <strong>und</strong> das Wissen über die Ursachen von geistiger <strong>Behinderung</strong><br />

<strong>zu</strong>genommen, Verhaltensweisen <strong>und</strong> Eigenschafts<strong>zu</strong>schreibungen gegenüber <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> geistiger <strong>Behinderung</strong> sich<br />

jedoch kaum verändert haben. Weiterhin kommt er <strong>zu</strong> der Annahme, dass sich das Ansehen der betroffenen Familien trotz<br />

gestiegener Toleranz <strong>und</strong> erweiterten Wissens deutlich verschlechtert habe! Zu ähnlichen Ergebnissen kommen<br />

BREITENBACH / EBERT (1997), die bei Kindern ein deutlich gestiegenes Wissen, einhergehend <strong>mit</strong> einem gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

positiverem Bild von Kindern <strong>mit</strong> geistiger <strong>Behinderung</strong> in unserer Gesellschaft (z.B. weniger Vorurteile) er<strong>mit</strong>teln<br />

konnten, dabei jedoch betonen, dass ein allgemeines Anwachsen der sozialen Distanz <strong>zu</strong> beobachten wäre. Bei Eltern von<br />

Regelschulkindern (1998) stellen sie jedoch eine abnehmende soziale Distanz fest.<br />

Der Untersuchung von BöTTCHER / GIPSER / LAGA (1995) <strong>zu</strong>folge, die explizit die <strong>Einstellungen</strong> von Lehrkräften<br />

erhob, scheint eine Abnahme der Vorurteilsbereitschaft sich vorwiegend auf <strong>Einstellungen</strong> gegenüber <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong><br />

geistigen <strong>Behinderung</strong>en, also auf die Gruppe, der den sozialpsychologischen Erhebungen <strong>zu</strong>folge die negativsten<br />

<strong>Einstellungen</strong> entgegengebracht werden, <strong>zu</strong> beziehen. Diese Tendenz sei bei den Einstellungswerten gegenüber<br />

lernbehinderten oder verhaltensauffälligen Schüler/innen weniger stark ausgeprägt bzw. z.T. nicht beobachtbar.<br />

2.3 Zusammenfassung <strong>und</strong> kritische Würdigung der Untersuchungsergebnisse<br />

Die sozialpsychologische Einstellungsforschung hat trotz einer großen Anzahl von durchgeführten Untersuchungen nur<br />

wenige eindeutige Ergebnisse erbracht. Zu ihnen gehören, dass die Einstellung <strong>zu</strong> behinderten Personen abhängt a) von der<br />

Art der <strong>Behinderung</strong>, b) vom Ausmaß des intensiven <strong>und</strong> emotional positiv erlebten Kontakts <strong>zu</strong> behinderten Personen<br />

<strong>und</strong> c) von der Ausprägung autoritären Verhaltens. Hin<strong>zu</strong><strong>zu</strong>fügen ist weiterhin, dass d) weibliche Personen günstigere<br />

<strong>Einstellungen</strong> aufweisen <strong>und</strong> dass e) die Einstellung nicht - wie so oft vermutet - von der sozialen Schicht abhängt. Diese<br />

Ergebnisse verbleiben auf einem beschreibenden Niveau. Sie müssen für eine Interpretation in einen gesellschaftlichen<br />

Kontext gestellt werden. Beispielsweise die Prozesse, die hinter dem Phänomen stehen, dass die Eigenwahrnehmung der<br />

betroffenen <strong>Menschen</strong> von deren Fremdwahrnehmung durch die Gesellschaft abweicht, werden in den erwähnten<br />

Untersuchungen nicht hinterfragt. Auftretende Diskrepanzen werden allenfalls dem fehlenden Einschät<strong>zu</strong>ngsvermögen der<br />

behinderten Person <strong>zu</strong>geschrieben (z.B. STEINHAUSEN 1980). CLOERKES (1984, 254) kommt <strong>zu</strong> dem Schluss:<br />

"Insgesamt weist das Ergebnis unserer bisherigen Betrachtungen auf eine bemerkenswerte Unabhängigkeit der sozialen<br />

Reaktion auf Behinderte von einem möglichen Einfluss der untersuchten Variablen hin."<br />

Die Ursachen der überwiegend negativ ausgerichteten Einstellung sind augenscheinlich in anderen Zusammenhängen als in<br />

den aufgeführten <strong>zu</strong> suchen. Die Sozialpsychologie verbleibt auf der Ebene eines kausalattribuierten Denkschemas <strong>und</strong><br />

gelangt nicht <strong>zu</strong> einer dialektischen Betrachtungsweise. Autoritäre Verhaltensweisen <strong>und</strong> erlebte Kontakte allein sagen<br />

nichts über die wirklichen Zusammenhänge aus. Auch sie entwickeln sich - ebenso wie <strong>Einstellungen</strong> - im Laufe der<br />

Sozialisation <strong>und</strong> sind <strong>zu</strong>r Erklärung von negativen <strong>Einstellungen</strong>, sofern die Ausbildung z.B. eines autoritären Verhaltens<br />

nicht reflektiert wird, nur bedingt geeignet. Die im Rahmen der bio-psycho-sozialen Einheit Mensch auf der biologischen<br />

Ebene gr<strong>und</strong>gelegten psychischen Regelungen (<strong>Einstellungen</strong>, Vorurteile autoritäre Neigungen etc.) werden stets von der<br />

höheren sozialen Ebene entwickelt <strong>und</strong> reguliert. Es erscheint daher notwendig, die historisch ver<strong>mit</strong>telten Mechanismen<br />

auf gesellschaftlich-sozialer Ebene auf<strong>zu</strong>decken.<br />

3. Erklärungsansätze <strong>zu</strong> Fremdwahrnehmung, Erleben <strong>und</strong> Verarbeitung von <strong>Behinderung</strong><br />

3.1 Soziologische Ansätze<br />

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Eine der möglichen Erklärungsansätze für die Soziale Distanz gegenüber <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> bietet JANTZEN<br />

(1974). Das <strong>Menschen</strong>bild von behinderten <strong>Menschen</strong> wird im Sozialisationsprozess im Sinne eines für Vorurteile<br />

notwendigen "falschen Bewusstseins" geprägt. Nach JANTZEN ist die Ablehnung von behinderten <strong>Menschen</strong> eng<br />

verb<strong>und</strong>en <strong>mit</strong> der geringeren Verwertbarkeit ihrer Arbeitskraft vornehmlich in kapitalistischen Wirtschaftsformen.<br />

"Derjenige, der seine (wenn auch reduzierte) Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt verkaufen kann, hat einen (wenn auch<br />

reduzierten) Wert; derjenige, dessen Arbeitskraft nichts wert ist, ist auch selbst nichts wert, er wird als ´lebensunwertes<br />

Leben´, als ´nicht lebenswert´ betrachtet" (ebd.,159). In das sog. falsche Bewusstsein dringen nach JANTZEN durch die<br />

aktive Aneignung eines historisch kumulierten gesellschaftlichen Erbes traditionsgeb<strong>und</strong>ene <strong>und</strong> magische wie auch<br />

ideologische Vorstellungen ein.<br />

Neben dem Gebrauchswert aller Waren (hier: der Ware Arbeitskraft) sei jedoch die Erscheinung des Gebrauchswertes<br />

entscheidend. Die verhängnisvolle Überbetonung von Werten wie Schönheit <strong>und</strong> Jugend fasst JANTZEN unter<br />

Heranziehung von Vorarbeiten anderer Autoren als "Warenästhetik" <strong>zu</strong>sammen, der beeinträchtigte <strong>Menschen</strong> in aller Regel<br />

nicht genügen können. Da<strong>mit</strong> verstoßen sie - wie ROHR (1995) schreibt - gegen die in Jahrtausenden verinnerlichten<br />

ästhetischen Normen. In diese Normen, welche in dem Wechselspiel von gesellschaftlichen <strong>und</strong> biografischen Bedingungen<br />

eines jeden <strong>Menschen</strong> in seinem Sozialisations- <strong>und</strong> Erziehungsprozess erworben werden, gingen stets die<br />

Wesensmerkmale eines Gesellschaftssystems <strong>mit</strong> ein. Das, was von marktbeherrschenden gesellschaftlichen Gruppen als<br />

schön <strong>und</strong> ästhetisch definiert wird, orientiert sich an Wesensmerkmalen marktwirtschaftlicher Systeme, nämlich an<br />

gesellschaftlicher Brauchbarkeit <strong>und</strong> Zweckerfüllung. Über die <strong>zu</strong>r Verfügung stehenden Beeinflussungskanäle der suggestiv<br />

arbeitenden Werbung, die ein reines Nützlichkeitsdenken ästhetifiziert wiedergibt, werden Werte wie Leistung, Erfolg,<br />

Karriere gekoppelt <strong>mit</strong> Erscheinungen, die als schön, ges<strong>und</strong> oder ordentlich definiert werden (vgl. BONFRANCHI 1994).<br />

<strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong>, die diesen gesetzten Attributen in der Regel nicht entsprechen, erfahren in der Folge die<br />

Kehrseite dieses ästhetischen Stereotyps: Wer eben nicht schön, ges<strong>und</strong>, ordentlich etc. erscheint, dem wird auch keine<br />

entsprechende Leistung <strong>zu</strong>getraut.<br />

Ein anderer soziologischer Erklärungsansatz richtet sich auf das abweichende Verhalten (Devianz) behinderter <strong>Menschen</strong>.<br />

Abweichung wird dabei verstanden als eine Verlet<strong>zu</strong>ng gesellschaftlicher Erwartungen, wobei diese Erwartungen auf<br />

bestimmten Wert- <strong>und</strong> Normvorstellungen fußen. Während die strukturelle Ausformung dieses Ansatzes davon ausgeht,<br />

dass eine Norm wie entsprechend auch eine Verlet<strong>zu</strong>ng der Norm objektiv fassbar ist, geht die prozessuale Ausformung<br />

davon aus, dass ein abweichendes Verhalten dann vorliege, wenn eine Verhaltensweise negativ sanktioniert wird. Der<br />

Schwerpunkt liegt bei dieser Ausformumg, die auch als "Symbolischer Interaktionismus" bezeichnet wird, nicht auf dem<br />

eigentlichen Verhalten, sondern auf der gesellschaftlichen Interpretation eines Verhaltens ("labeling").<br />

Die Stigmatisierungstheorie grenzt sich von der Theorie des abweichenden Verhaltens ab. Die Vertreter der Stigmatheorie<br />

argumentieren da<strong>mit</strong>, dass sie nur von einem abweichenden Verhalten sprechen, wenn sich Personen absichtlich so (d.h.<br />

abweichend von der Norm) verhalten. Beispielsweise <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> jedoch verhalten sich nicht absichtlich<br />

von der Norm abweichend, sondern verletzen <strong>mit</strong> ihrem So-Sein bestimmte "ungeschriebene" Normen. Nach GOFFMAN<br />

(1975) ist eine Eigenschaft einer Person <strong>zu</strong>nächst weder kreditierend noch diskreditierend. Erst in Relationen, in sozialen<br />

Bezügen, könne ein Merkmal diskreditiert werden, also <strong>mit</strong> einem Stigma belegt werden. Andere Autoren weisen darauf<br />

hin, dass nicht allein dem Merkmal, dem Stigma Beachtung geschenkt werden sollte, sondern in erster Linie dem<br />

Definitionsprozess, der dieser Zuschreibung <strong>zu</strong>gr<strong>und</strong>e liegt sowie dessen Folgen für die durch diesen Prozess<br />

Stigmatisierten.<br />

Entscheidend ist in der Stigmatheorie, dass nicht nur das auslösende Merkmal, für das GOFFMAN im Übrigen dessen<br />

Visibilität für entscheidend hält, negativ definiert wird, sondern dass eine Generalisierung dieser Bewertung auf die ganze<br />

Person erfolgt. Für GOFFMAN ist die Beschädigung der normalen Identität die wichtigste Konsequenz der<br />

Stigmatisierung. Als Folge der gestörten Identität sei das Unvermögen <strong>zu</strong> normaler Interaktion besonders fatal. Die eigene,<br />

bedrohte Identität aufrecht<strong>zu</strong>erhalten sei folglich ein Ziel der nicht-stigmatisierten Personen, das sie durch die Abgren<strong>zu</strong>ng<br />

von stigmatisierten Personen <strong>zu</strong> realisieren versuchen. Stigmatisierung habe auf der mikrosozialen Seite die Funktion einer<br />

Entlastung <strong>und</strong> der Stabilisierung der eigenen Identität.<br />

Auf der gesellschaftlichen Ebene besitzt die Stigmatisierung nicht <strong>zu</strong>letzt die Funktion, die Normtreue bzw.<br />

Normkonfor<strong>mit</strong>ät <strong>zu</strong> belohnen <strong>und</strong> letztlich das gesellschaftliche System <strong>zu</strong> stabilisieren (HOHMEIER angef. n.:<br />

CLOERKES 1984 & HENSLE 1979).<br />

3.2 Sozialpsychologische Ansätze<br />

Sozialpsychologische Ansätze beziehen sich in der Regel auf eine Benachteiligung von Minderheiten. Der klassische<br />

Minoritätenansatz sieht beeinträchtigte Personen als eine Minorität in der Gesellschaft an. Der Ansatz der "Disadvantaged<br />

Group" (benachteiligte Gruppe) geht hingegen davon aus, dass <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> sich in wesentlichen Punkten<br />

von anderen Minoritäten unterscheiden. Beispielsweise haben beeinträchtigte <strong>Menschen</strong> keine eigene Tradition, keine<br />

eigene Kultur, keinen eigenen Glauben.<br />

Auch wenn eine direkte Übertragung von Minoritäten auf <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> schwierig scheint, so erscheint es mir<br />

im Hinblick auf die Soziale Reaktion behinderten <strong>Menschen</strong> gegenüber durchaus sinnvoll, eine Minderheit (als behindert<br />

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klassifizierte Personen) von einer Mehrheit (sich selbst als "normal" bezeichnende Personen) ab<strong>zu</strong>grenzen. Entscheidend<br />

ist die Soziale Reaktion der Umwelt, die Definition als "von Normen abweichend" (in be<strong>zu</strong>g auf äußere Erscheinung,<br />

Glauben oder Verhalten) <strong>und</strong> die gesellschaftliche Sichtweise der beeinträchtigten <strong>Menschen</strong> als Minorität.<br />

Die Gemeinsamkeit der Minoritäten liegt darin, dass ihnen besondere Plätze ("Inseln") innerhalb einer Gesellschaft<br />

eingeräumt werden, ihre Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe jedoch begrenzt werden. Minoritäten sind oftmals<br />

Opfer von starren Vorurteilen <strong>und</strong> Diskriminierungen.<br />

3.3 Psychologische & Psychoanalytische Ansätze<br />

Psychologische Ansätze messen physischen Angstreaktionen <strong>zu</strong>r Erklärung der Ablehnung von <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong><br />

<strong>Behinderung</strong> besondere Bedeutung <strong>zu</strong>. Die psychoanalytische Lehre geht dabei von einer natürlichen, triebhaften<br />

Ablehnung von beeinträchtigten <strong>Menschen</strong> aus, die gesellschaftlich stark sanktioniert wird, was <strong>zu</strong> einer Schuldangst vor<br />

dem verinnerlichten Über-Ich führt. Dabei wirke die Schuldangst so stark, dass der triebhafte Impuls selbst gar nicht ins<br />

Bewusstsein dringt, sondern verdrängt wird. Neben dieser Verdrängung bewirke die Schuldangst weitere<br />

Abwehrmechanismen, wie Projektion <strong>und</strong> Rationalisierung, die die Basis für die Ablehnung von beeinträchtigten <strong>Menschen</strong><br />

bilden.<br />

Auf einem psychoanalytischen Hintergr<strong>und</strong> erklärt *Niedecken (1993) ihre Kategorie "Phantasmen". Die Bilder, die wir<br />

von behinderten <strong>Menschen</strong> haben, also die Erscheinungen, die wir beobachten, verschmelzen häufig <strong>mit</strong> einem unterstellten<br />

Anders-Sein. Das Bild wird <strong>zu</strong>r Realität. Bei Phantasmen handelt es sich um "jene psychischen Konfigurationen, in denen<br />

Gesellschaften ihre Herrschaftsstrukturen in den Individuen gesellschaftlich unbewusst absichern, sie wie unabänderlich<br />

<strong>und</strong> naturgegeben erscheinen lassen" (ebd., 113). Sie sind das Konglomerat gesellschaftlicher <strong>Einstellungen</strong>, die die<br />

menschliche Persönlichkeitsentwicklung <strong>mit</strong>bestimmen. Kein Mensch, so NIEDECKEN, wird geistig behindert geboren.<br />

Die geistige Entwicklung konstituiert sich in der Auseinanderset<strong>zu</strong>ng zwischen dem Säugling <strong>und</strong> seiner Be<strong>zu</strong>gsperson.<br />

Dabei geht die Haltung der sie umgebenden Umwelt in die Auseinanderset<strong>zu</strong>ng <strong>mit</strong> ein. Diese Haltung scheint geprägt <strong>zu</strong><br />

sein von Prozessen der Angstabwehr, seien es Abgren<strong>zu</strong>ng von diesem scheinbaren Anders-Sein, Anpassungsversuche des<br />

Anders-Sein an die Normalität oder die Übertragung tabuisierter kollektiver Tötungswünsche.<br />

Auch in anderen psychologischen Ansätzen spielt die Kategorie "Angst" eine große Rolle. Das Bild, das der einzelne<br />

Mensch von sich selbst hat ("self-image", "Selbst") beinhaltet auch die Vorstellung, die der einzelne Mensch von seinem<br />

Körper hat. Dieses wird als "body-concept" oder "body-image" bezeichnet. "Angesichts der außerordentlich positiven<br />

gesellschaftlichen Bewertung von Schönheit <strong>und</strong> körperlicher Integrität ist eine Abweichung von diesen Standards von<br />

großer Bedeutung für das body-image des Einzelnen" (CLOERKES 1984, 27). Einige Autoren gehen davon aus, dass<br />

zwischen der Wertigkeit des eigenen body-image <strong>und</strong> den <strong>Einstellungen</strong> <strong>zu</strong> von diesen Idealen abweichenden Personen ein<br />

großer Zusammenhang bestehe. Der hohe Wert, den Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> physische Integrität in unserer Gesellschaft<br />

einnehmen, führe <strong>zu</strong> einer Angst vor dem Verlust dieses Besitzstandes, die beim Anblick von <strong>Behinderung</strong>en anderer<br />

aktualisiert wird. Als Reaktion auf die Gefährdung physischer Integrität infolge eines Mangels an anderen, <strong>zu</strong>r Verfügung<br />

stehenden Verhaltensweisen, setzen die einem Individuum <strong>zu</strong>r Verfügung stehenden Abwehrmechanismen Vermeidung <strong>und</strong><br />

Rationalisierung ein. Die beschriebene Angst ist jedoch nicht allein auf gesellschaftliche Werte wie Schönheit, Ges<strong>und</strong>heit<br />

etc. <strong>zu</strong>rück<strong>zu</strong>führen. Historisch gesehen resultiert diese Angst nicht <strong>zu</strong>letzt aus einer magischen Furcht vor Ansteckung,<br />

also aus einer mangelnden Informiertheit.<br />

Den kognitiven Konsistenztheorien liegt die Annahme <strong>zu</strong>gr<strong>und</strong>e, dass Angstreaktionen nicht angeboren <strong>und</strong> instinktiv<br />

seien, sondern auf "kognitive Dissonanzen" zwischen bekannten <strong>und</strong> fremdartigen Wahrnehmungen gründen. Dabei wird<br />

eine prinzipielle Konsistenz zwischen Meinungen, Gefühlen, Verhaltensabsichten <strong>und</strong> offenem Verhalten postuliert.<br />

Nach HERDERs Gleichgewichtstheorie reagiert der Mensch auf alles Fremdartige negativ, da dieses einen angestrebten<br />

Gleichgewichts<strong>zu</strong>stand stört. Der psychologische Gleichgewichts<strong>zu</strong>stand wird durch die Konfrontation <strong>mit</strong><br />

beeinträchtigten <strong>Menschen</strong> gestört, die Folge ist eine Verunsicherung insbesondere für unsichere Personen.<br />

Die Gr<strong>und</strong>annahme von FESTINGERs Theorie der kognitiven Dissonanz ist, dass die kognitiven Elemente eines<br />

Individuums (Informationen, Kenntnisse, Meinungen) bzw. die Erkenntnisse über die Welt <strong>und</strong> über sich selbst entweder<br />

in irrelevanten, konsonanten oder dissonanten Beziehungen <strong>zu</strong>einander stehen können. Zwei kognitive Elemente stehen in<br />

einer dissonanten Beziehung <strong>und</strong> da<strong>mit</strong> in einer psychischen Spannung, wenn ein Element das Gegenteil des anderen<br />

impliziert. Rufen zwei sich widersprechende Einsichten Dissonanz hervor, können diese abgebaut <strong>und</strong> Konsonanz<br />

hergestellt werden, indem ein Element verändert wird. Auf die vorliegende Problematik bezogen bedeutet dies, dass ein<br />

Mensch z.B. bei der Bitte um Hilfe Abneigung empfindet, er jedoch der Ansicht ist, diese Bitte sozialen Normen folgend<br />

nicht ablehnen <strong>zu</strong> können. Die Widersprüchlichkeit erzeugt eine kognitive Dissonanz. Das Individuum wird versuchen,<br />

diese Dissonanz <strong>zu</strong> verringern, <strong>und</strong> zwar indem es diejenige Kognition verändert, deren Änderung den relativ geringsten<br />

psychischen Aufwand erfordert. Durch diese Theorie werden vor allem die ausweichenden Verhaltensweisen erklärt, wie<br />

z.B. unpersönliche Hilfe (Geld spenden) oder das Verweisen auf die größere Kompetenz anderer.<br />

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3.4 Zusammenfassende Charakteristika: "Angst vor <strong>Behinderung</strong>"<br />

Die Kategorie, die nahe<strong>zu</strong> alle Erklärungsansätze anführen, ist "Angst". Die Angst vor <strong>Behinderung</strong> äußert sich in<br />

vielfältiger Weise. Da ist z.B. die Angst, selbst behindert <strong>zu</strong> werden (durch Unfall etc.) <strong>und</strong> in der Folge von<br />

gesellschaftlichen <strong>und</strong>/oder ästhetischen Normen ab<strong>zu</strong>weichen, von seiner Umwelt stigmatisiert, diskriminiert <strong>und</strong><br />

ausgegrenzt <strong>zu</strong> werden, seine Arbeitskraft nicht mehr optimal verkaufen <strong>zu</strong> können etc. Daneben gibt es die Angst, ein<br />

behindertes Kind <strong>zu</strong> bekommen, ergänzt durch die Angst vor einer narzistischen Kränkung.<br />

Angst an sich ist eine Emotion auf der Basis des biologischen <strong>und</strong> des individuellen Sinns. Doch Angst vor <strong>Behinderung</strong><br />

wird erst auf der Basis des persönlichen Sinns, d.h. in einem gesellschaftlichen <strong>und</strong> sozialen Kontext wirksam. Die<br />

biologische Ebene ist die Basis der bio-psycho-sozialen Einheit Mensch, die den Aufbau der höheren Ebenen ermöglicht.<br />

Dabei reguliert die nächst höhere Ebene jeweils die darunter liegende(n). Der biologisch erklärbare Prozess des<br />

Angstempfindens wird durch die soziale Ebene gesteuert. So wie Angst auch kontrollierbar ist, so kann sie auch geschürt<br />

werden. Angst wird in der Regel dann empf<strong>und</strong>en, wenn "in einer gedanklich vorweggenommenen oder realen, als<br />

bedrohlich empf<strong>und</strong>enen Situation kein Handlungskonzept oder Verhaltensmuster <strong>zu</strong>r Verfügung steht" (KöBSELL 1993).<br />

Steigt die Neuigkeit einer Handlung <strong>zu</strong> stark an, richtet sich die Tätigkeit auf die Vermeidung von negativen Emotionen,<br />

z.B. durch Flucht oder Aggression. Der hohe Grad von Neuigkeit infolge eines plötzlichen <strong>und</strong> unerwarteten Kontakts<br />

erzeugt negative Emotionen <strong>und</strong> die entstandene Handlungsungewissheit führt <strong>zu</strong>m Gerichtetsein auf Vermeidung. "Da<br />

behinderte <strong>Menschen</strong> nicht <strong>zu</strong>m b<strong>und</strong>esdeutschen Alltag gehören, (...) stehen den <strong>Menschen</strong>, die nie <strong>mit</strong> Behinderten<br />

konfrontiert werden, auch keinerlei Handlungs- <strong>und</strong> Umgehensweisen <strong>zu</strong>r Verfügung. Sie haben lediglich ein Zerrbild im<br />

Kopf, das sie für absolut halten <strong>und</strong> das von den Medien ständig bestätigt wird" (ebd., 182). "So sind die Vorurteile<br />

gegenüber <strong>Behinderung</strong> zwar historisch gewachsen, werden jedoch sowohl durch die Medien als auch durch die, durch<br />

Vorurteile bereits auf Negativmerkmale reduzierte, Wahrnehmung ständig reproduziert" (ebd. 180).<br />

Es wird deutlich, dass die derzeitigen gesellschaftlichen Verhältnisse, die den Kontakt <strong>zu</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong><br />

erschweren, die Gr<strong>und</strong>lagen für diese Prozesse darstellen. Streng marktorientierte Wettbewerbsformen, Separierung von als<br />

behindert klassifizierten <strong>Menschen</strong> u.v.m. forcieren Ängste innerhalb einer Gesellschaft, welche durch vorherrschende<br />

Ideologien <strong>und</strong> Vor-Urteile bestätigende Mechanismen manifestiert werden. Im folgenden sollen nun konkrete individuelle<br />

<strong>und</strong> institutionelle Verhaltensmuster beschrieben werden, deren Analysen die Hintergründe der Sozialen Reaktion<br />

konkretisieren werden.<br />

4. Individuelle <strong>und</strong> institutionelle Verhaltensweisen gegenüber <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong><br />

<strong>und</strong> deren Hintergründe<br />

Verhaltensmuster können auch als Ausformungen der Sozialen Reaktion bezeichnet werden. Dabei können<br />

Verhaltensweisen, die gesellschaftlich negativ bewertet werden, unterschieden werden von solchen, die gesellschaftlich<br />

akzeptiert sind <strong>und</strong> gemeinhin als positiv bewertet werden. Diese allgemeine gesellschaftliche Bewertung sagt indes nichts<br />

über die wirkliche Funktion der <strong>mit</strong> den Verhaltensweisen verb<strong>und</strong>enen Prozesse aus.<br />

4.1 Negativ bewertete Verhaltensweisen<br />

Das visuelle Fixieren, also das gerade<strong>zu</strong> ungläubige Anstarren, sowie diskriminierende Äußerungen, taktloses Fragen,<br />

Schuld<strong>zu</strong>weisungen, Witze oder Verspotten sorgen für einen Stigmaeffekt sowohl bei den Betroffenen als auch bei deren<br />

Angehörigen. Viele Fallbeispiele zeigen, dass diese Verunsicherung <strong>und</strong> Verlet<strong>zu</strong>ng da<strong>zu</strong> führen kann, dass Eltern sich nicht<br />

mehr trauen, <strong>mit</strong> ihrem behinderten Kind auf die Straße <strong>zu</strong> gehen. Sie entziehen sich den negativen Reaktionen der<br />

Gesellschaft <strong>und</strong> geraten immer stärker in die Isolation. Die Gründe für die gesellschaftlichen Reaktionen sind in einem<br />

mangelnden differenzierten Wissen <strong>und</strong> in einer Unerfahrenheit im Umgang <strong>mit</strong> behinderten <strong>Menschen</strong> <strong>zu</strong> suchen. Durch<br />

mangelnde Erfahrung prägt sich (aufgr<strong>und</strong> der gleichzeitig gegebenen, Akzeptanz implizierenden sozialen Normen) eine<br />

Handlungsunsicherheit aus. Die während der Sozialisation tradierten negativen Emotionen gegenüber <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong><br />

<strong>Behinderung</strong> bei gleichzeitigem Fehlen gesellschaftlicher Rechtfertigungen für dieses Empfinden bewirken<br />

Interaktionsspannungen (SEYWALD 1976, TRöSTER 1988).<br />

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4.2 Positiv bewertete Verhaltensweisen<br />

Maßgeblich die in den letzten Jahren vollzogene Emanzipation der Behindertenbewegung, unterstützt durch<br />

Interessenvertretungen (z.B. Elternvereinigungen), haben das gesellschaftliche Bild von <strong>Behinderung</strong> verändert.<br />

Bestrebungen der gemeinsamen Erziehung <strong>und</strong> Bildung von Kindern <strong>mit</strong> <strong>und</strong> ohne <strong>Behinderung</strong>en, der erlassene Zusatz im<br />

§3 GG, das neue Betreuungsgesetz u.a.m. können Zeichen einer sich (langsam) verändernden Einstellungsstruktur sein. Es<br />

stellt sich jedoch die Frage, wie stabil diese <strong>Einstellungen</strong> bei Eintritt anderer Randbedingungen, etwa in ökonomischen<br />

Krisensituationen, sein werden.<br />

Trotz aller Veränderungen ist bei der Bevölkerung die weit verbreitete Annahme vorhanden, dass man bei der <strong>zu</strong>fälligen<br />

Begegnung das oben beschriebene Anstarren vermeiden <strong>und</strong> - so<strong>zu</strong>sagen in Umkehrung des Prozesses - die beeinträchtigten<br />

Personen lieber "übersehen" solle. BäCHTHOLD (1984) <strong>zu</strong>folge glauben etwa 50% der Befragten, dass es am besten sei,<br />

den Kontakt <strong>zu</strong> beeinträchtigten <strong>Menschen</strong> <strong>zu</strong> meiden. Dabei wird auf die größere Kompetenz anderer (Fachkräfte) <strong>und</strong> die<br />

eigene Angst, etwas falsch <strong>zu</strong> machen, verwiesen. Ebenso wird die eigene soziale Distanzierung <strong>mit</strong> der Annahme <strong>und</strong><br />

Zuschreibung von Isolationsbedürfnissen von beeinträchtigten <strong>Menschen</strong> gerechtfertigt. GOFFMAN (1976) formuliert als<br />

Erklärung für dieses Vermeidungsverhalten die Irrelevanzregel, nach der die Schädigung bzw. ein auffälliges, gesellschaftlich<br />

negativ besetztes Verhalten nicht wahrgenommen wird [2], was eine Scheinnormalität <strong>zu</strong>r Folge hat. Diese Scheinnormaltät<br />

behindert die Ausbildung einer wirklichen Akzeptanz.<br />

Die scheinbare Anteilnahme an beeinträchtigten <strong>Menschen</strong> wird überwiegend durch Mitleid ausgedrückt. Wie isolierend<br />

<strong>und</strong> ausgrenzend Mitleid in Wirklichkeit ist, wird deutlich, wenn man einzelne Ergebnisse der Einstellungsforschung<br />

betrachtet. Nach VON BRACKEN (1976) empfinden 98,6%, also fast alle Respondenten, mehr oder weniger Mitleid<br />

gegenüber einem Kind <strong>mit</strong> einer geistigen <strong>Behinderung</strong>. Da es sich fast um die gesamte Gruppe der Respondenten handelt,<br />

lässt sich festhalten, dass ein großer Teil eben dieser Gruppe auch Ablehnung, Entsetzen <strong>und</strong> Abscheu (jeweils 42-44%)<br />

oder sogar Angst <strong>und</strong> Ekel (jeweils um 35%) gegenüber diesen Kindern empfindet. Etwa 70% waren der Ansicht, dass es<br />

eher gut wäre, wenn ein Kind <strong>mit</strong> einer geistigen <strong>Behinderung</strong> früh sterben würde <strong>und</strong> fast 60% waren der Meinung, dass<br />

die Tötung eines behinderten Kindes durch die eigene Mutter nicht <strong>mit</strong> Mord bestraft werden dürfe! Lediglich 3% würden<br />

bei einer eventuellen Adoption eines Kindes auch ein Kind <strong>mit</strong> einer geistigen <strong>Behinderung</strong> adoptieren.<br />

Mitleid hat offensichtlich nur sehr wenig <strong>mit</strong> wirklicher Akzeptanz <strong>zu</strong> tun [3], was sich auch im konkreten, sog. "diffusen"<br />

Hilfeverhalten ausdrückt. So sprechen sich laut JANSEN (1972) 65% der Befragten eindeutig für materielle, unpersönliche<br />

Hilfe (Spenden, Produkte aus beschützten Werkstätten kaufen, Geld sammeln...) <strong>und</strong> gegen direkte, persönliche Hilfe aus.<br />

Dennoch gilt das Mitleid in unserer Gesellschaft als gemeinhin positiv bewertete Ausdrucksform sozialen<br />

Verantwortungsbewusstseins. Aus der subjektiven Sicht der Betroffenen sind dies jedoch extrem segregierende <strong>und</strong><br />

isolierende Randbedingungen. So stellte die Einstellungsforschung folgerichtig fest, dass nicht nur eine an materiellem <strong>und</strong><br />

sozialem Prestige orientierte Wertehaltung <strong>zu</strong> eher negativeren <strong>Einstellungen</strong> führt, sondern dass auch bei altruistischer<br />

Wertorientierung ein schwach positiver Zusammenhang <strong>zu</strong> negativen, ablehnenden <strong>Einstellungen</strong> bestehen kann (SEIFERT<br />

1984).<br />

Hintergr<strong>und</strong> all dieser Auffassungen ist u.a., dass in der Regel von der Annahme ausgegangen wird, dass das Leben eines<br />

beeinträchtigten <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Leid gleich<strong>zu</strong>setzen sei. Anstelle der wirklichen <strong>und</strong> konkreten Lebensverhältnisse werden<br />

eigene Emotionen ("so wie der da möchte ich nicht sein") <strong>zu</strong>m Gegenstand der Wahrnehmung gemacht [4]. Obwohl laut<br />

VON BRACKEN (1976) 78,2% der Respondenten der Meinung sind, dass ein Kind <strong>mit</strong> einer <strong>Behinderung</strong> darunter leidet,<br />

wenn ihm die Umwelt abweisend gegenübersteht, scheint es nicht ins gesellschaftliche Bewusstsein <strong>zu</strong> gelangen, dass das<br />

potentiell mögliche Leid dieser <strong>Menschen</strong> nicht durch deren psycho-biologische Konstitution gegeben ist, sondern allenfalls<br />

aus unserem Verhalten ihnen gegenüber entstehen kann. Diese Negation wiederum erscheint nach herrschender Auffassung<br />

erwünscht <strong>und</strong> ist entsprechend gesellschaftlich ver<strong>mit</strong>telt. Als Beispiel für eine auf institutioneller Basis organisierten <strong>und</strong><br />

auf Mitleid basierenden Verhaltensform sei nur die "Aktion Sorgenkind" genannt, dessen "Werbung" für ihre Zwecke ein<br />

Mitleid erregendes Behindertenbild schafft, auf dem schließlich wiederum jene ausgrenzenden <strong>und</strong> isolierenden<br />

Verhaltensweisen wiederaufbauen können. Die vermeintliche Teilhabe ("<strong>mit</strong>-") an diesem vermeintlichen Leid ("<strong>mit</strong>leiden")<br />

entpuppt sich letztendlich als strukturelle, aber <strong>mit</strong> dem Tuch der "sozialen Hilfsbereitschaft" vertuschte Form<br />

von Ausgren<strong>zu</strong>ng, die FEUSER (1995, 50) als deren "elitärste Form" bezeichnet <strong>und</strong> die eine wirkliche Annäherung <strong>und</strong><br />

Auseinanderset<strong>zu</strong>ng <strong>mit</strong> behinderten <strong>Menschen</strong> eher verhindert <strong>und</strong> für eine Ausbildung von positiven <strong>Einstellungen</strong> eher<br />

kontraindiziert ist.<br />

Bei der Betrachtung der institutionellen Verhaltensweisen kommt - neben den dezentralen Wohnheimen für <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong><br />

<strong>Behinderung</strong> <strong>und</strong> den "beschützenden" Werkstätten - dem b<strong>und</strong>esdeutschen Schulsystem eine besondere Rolle <strong>zu</strong>. Unter<br />

dem Deckmantel von verbesserten Förderungsmöglichkeiten <strong>und</strong> angeblich größerer Chancengleichheit wird am vertikalhierarchisch<br />

aufgebauten <strong>und</strong> auf Segregation ausgerichteten Schulsystems festgehalten. Dieses hierarchisch gegliederte<br />

Schulsystem kann als Struktur gewordener Ausdruck der Bewertung von Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen nach dem<br />

Nützlichkeitsprinzip aufgefasst werden (FEUSER 1995). Hier finden Gewalt <strong>und</strong> Ausschluss ihre gesellschaftliche<br />

Legitimation in der erzieherischen Zielset<strong>zu</strong>ng, die in den von BASAGLIA (1973, 124) so benannten "Institutionen der<br />

Gewalt" praktiziert wird. Nach BASAGLIA habe die sog. Wohlstands- <strong>und</strong> Überflussgesellschaft erkannt, dass sie ihr<br />

wahres Gesicht nicht zeigen dürfe <strong>und</strong> aus diesem Gr<strong>und</strong>e die Macht an Techniker delegiert, welche <strong>mit</strong>tels der neuen Form<br />

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der technisierten Gewalt die Gewalt mystifizieren. Dadurch würden sich die Opfer der Gewalt ihrer Situation nicht mehr<br />

bewusst werden. Ohne die im Zusammenhang der Arbeit sicher interessanten Aussagen der "demokratischen<br />

Psychiatriebewegung" Italiens weiter verfolgen <strong>zu</strong> können, muss spätestens an dieser Stelle deutlich werden, dass<br />

ablehnende <strong>Einstellungen</strong> beeinträchtigten <strong>Menschen</strong> gegenüber nicht als individuelle Erscheinungen betrachtet werden<br />

können, sondern vielmehr als gesellschaftlich determinierte, im historischen Kontext <strong>und</strong> auf institionellem Wege<br />

ver<strong>mit</strong>telte ideologische Ausprägungen einer Ideologie verstanden werden müssen.<br />

4.3 Behindertenfeindlichkeit<br />

<strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> waren schon immer Gegenstand von Ausgren<strong>zu</strong>ng <strong>und</strong> Isolierung (vgl. REICHMANN 1986,<br />

REICHMANN-ROHR in: EBERWEIN 1994, ZIELKE 1992, CLOERKES 1984, 309f, HöHN 1982, BLEIDICK 1984).<br />

Zu nennen wären da die Praxen des Versteckens oder des Tötens, z.B. in antiken Kulturen oder im Mittelalter. Auf<br />

mystische <strong>und</strong> dämonische Vorstellungen, auch im christlichen Glauben (vgl. z.B. LUTHERs "Wechselbälge", vom Teufel<br />

untergeschobene Kreaturen) folgten medizinische Modelle <strong>und</strong> alsbald am Nützlichkeitsprinzip angelehnte ökonomische<br />

wie philosophische Orientierungen. Die Historie zeigt, dass dies bis hin <strong>zu</strong> einer beispiellos strukturierten Vernichtung von<br />

als minderwertig <strong>und</strong> lebensunwert bewerteten Lebens reichte.<br />

Offene Gewalt gegen <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> hat in den letzten Jahren wieder <strong>zu</strong>genommen. Dies kann laut<br />

FRüHAUF / NIEHOFF (1994) auf einen allgemeinen Werteverlust <strong>und</strong> auf eine nachweislich gesunkene Hemmschwelle bei<br />

Gewaltanwendung <strong>zu</strong>rückgeführt werden. Die Gründe dafür sind in gesellschaftlichen Zusammenhängen <strong>zu</strong> suchen. So<br />

führt nach FRüHAUF / NIEHOFF der Wegfall von alten Orientierungen (Glaube, Autorität) bei Nicht-Vorhandensein<br />

neuer Orientierungen <strong>zu</strong> motivgeleiteten Handlungen, in deren Folge negative Zuwendung immer noch positiver empf<strong>und</strong>en<br />

werden als Nichtbeachtung. Offene Gewalt gegen <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> sind in einen Kontext einer übergeordneten<br />

Randgruppenfeindlichkeit <strong>zu</strong> stellen. Diese ist eine Folge der wirtschaftlichen Situation <strong>und</strong> sozial ungleichmäßig<br />

vorgetragener Sparbemühungen, die die Diskussion der Kosten-Nutzen-Spirale [5] wieder aufleben lassen. Sozialpolitisch<br />

unterpriviligierte Bevölkerungsgruppen sind in Grenzsituationen, in denen sie ihren sozialen Status bedroht sehen, geneigt,<br />

sich gegen andere marginalisierte Gruppen z.T. massiv <strong>und</strong> aggressiv ab<strong>zu</strong>grenzen.<br />

Diese als "Neue Behindertenfeindlichkeit" bezeichnete Ablehnung basiert andererseits auf alten ungebrochenen<br />

<strong>Einstellungen</strong>, die derzeit wieder massiv hervorbrechen (vgl. NIEHOFF 1990, FEUSER 1995). Genauso wie das eugenische<br />

Denken nicht erst <strong>mit</strong> dem 1933 erlassenen "Gesetz <strong>zu</strong>r Verhütung erbkranken Nachwuchses" begann (vgl. GERAEDTS /<br />

ZUPER 1990), hörte es nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches nicht abrupt auf. Vielmehr weisen viele<br />

Ansätze, die sich <strong>mit</strong> dem Zusammenhang von Eugenik <strong>und</strong> "Euthanasie" befassen, auf unveränderte Kontinuitäten im<br />

Denken auch nach dem Euthanasie-Programm des nationalsozialistischen Regimes hin (vgl. BRILL 1994). "SINGER <strong>und</strong><br />

seine Thesen können deshalb ohne weiteres in einen historischen <strong>und</strong> interkulturellen Gesamt<strong>zu</strong>sammenhang gestellt<br />

werden" (BONFRANCHI 1992, 43).<br />

Nun ist BONFRANCHI (1992a) <strong>zu</strong>folge die Offenbarung <strong>und</strong> Praktizierung innerer Tötungs- <strong>und</strong> Vernichtungswünsche<br />

nicht <strong>zu</strong> vereinbaren <strong>mit</strong> einer christlich-abendländischen Kultur. Folglich fänden heut<strong>zu</strong>tage offene Aktionen keine große<br />

gesellschaftliche Akzeptanz. Vielmehr müssten sie durch noch <strong>zu</strong> benennende Mechanismen legitimiert <strong>und</strong> verschleiert<br />

werden. Diese Legitimierungsmechanismen funktionieren seit <strong>Menschen</strong>gedenken <strong>und</strong> seien heute lediglich in<br />

technologisierter Form optimiert.<br />

Die Mechanismen, die da wären, um die Vernichtung von behindertem Leben <strong>zu</strong> legitimieren, möchte ich bezeichnen als<br />

• die Befreiung von angeblichem Leid,<br />

• die Aufstellung von (utilitaristisch f<strong>und</strong>ierten) ökonomischen Kosten-Nutzen-Analysen <strong>und</strong><br />

• den sozialdarwinistisch orientierten, rassenhygienischen Traum eines "vollkommenen, hochwertigen <strong>Menschen</strong>".<br />

Die Praxen, die diese Mechanismen vertechnisieren, bezeichnet FEUSER (1995) als "Mythen der Moderne". Sie reichen<br />

von der Sterbehilfe über das Verwahren von schwerst beeinträchtigten <strong>Menschen</strong> (z.B. im Koma oder <strong>mit</strong> einem<br />

apallischen Syndrom), dem sog. "Liegenlassen" von schwerbeeinträchtigten Säuglingen gleich nach der Geburt bis hin <strong>zu</strong>r<br />

"Prävention von <strong>Behinderung</strong>" durch humangenetische Beratung (pränatale Diagnostik), Invitro-Fertilisation, Sterilisation<br />

von beeinträchtigten Frauen, prädiktiver Medizin <strong>und</strong> Gentechnologie.<br />

Die Praxis der auf der Position einer negativen Eugenik [6] basierenden Humangenetik erscheint als lediglich unblutiger <strong>und</strong><br />

unsichtbarer gewordenes Wechselspiel zwischen den eugenischen Kategorien Ausmerze <strong>und</strong> Auslese. Dabei wird nicht<br />

mehr <strong>mit</strong> der Ausrottung Minderwertiger, sondern unter dem Deckmantel des Humanität <strong>und</strong> angeblicher gesellschaftlicher<br />

Verantwortung <strong>mit</strong> der Verminderung schweren Leidens argumentiert.<br />

Wie bereits beschrieben wurde, basiert die Ablehnung von <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> in der Regel auf Angst ihnen<br />

gegenüber. "Angst erzeugt gerade<strong>zu</strong> den Wunsch nach Kontrolle" (KöBSELL in: DEGENER / KöBSELL 1992, 33). Das<br />

Gegenteil von Angst ist Sicherheit <strong>und</strong> es wird nichts unversucht gelassen, ein größtmögliches Maß eben dieser <strong>zu</strong><br />

erreichen. Seien es die Patiententestamente der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben oder pränatale Diagnostik <strong>und</strong><br />

humangenetische Beratung: sie alle dienen da<strong>zu</strong>, eine Sicherheit vor <strong>Behinderung</strong> <strong>zu</strong> suggerieren, die es objektiv nicht geben<br />

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kann.<br />

Die Gentechnolog/inn/en setzen dabei in der Tradition des biologisch-medizinischen <strong>und</strong> z.T. sozialdarwinistisch<br />

orientierten Denkmodells noch immer (in Negation der bis hierhin beschriebenen Prozesse) auf die Annahme, dass sich das<br />

individualisierte <strong>und</strong> ontologisierte Phänomen <strong>Behinderung</strong> schlicht <strong>und</strong> einfach abschaffen ließe [7]. <strong>Behinderung</strong> wird <strong>mit</strong><br />

Leid gleichgesetzt <strong>und</strong> es erscheint als eine humane Aufgabe, Leid <strong>zu</strong> verhindern. <strong>Behinderung</strong> als ein soziales Konstrukt<br />

kann indes auch nur auf sozialer Ebene verhindert werden. Sie biologisch <strong>zu</strong> verhindern ist unmöglich. Verhindert werden<br />

kann nur Leben, welches durch gesellschaftliche Prozesse der Ausgren<strong>zu</strong>ng <strong>und</strong> Isolation als behindert klassifiziert wird.<br />

Dieses Leben <strong>zu</strong> verhindern, heißt <strong>mit</strong>hin, <strong>zu</strong> töten (vgl. FEUSER 1995). In konkreter Weise wird dies heute bereits im sog.<br />

"Liegenlassen" von schwerbehinderten Säuglingen praktiziert <strong>und</strong> propagiert [8]. Auch hier bedeutet das Vorenthalten<br />

apparativer Unterstüt<strong>zu</strong>ng <strong>zu</strong>r Aufrechterhaltung <strong>und</strong> Stabilisierung der selbstorganisierten Lebensprozesse nichts anderes,<br />

als dieses Leben <strong>zu</strong> töten. "Der Allmachtsanspruch der Medizin fordert dort den Tod, wo die Grenzen ihrer Kompetenz<br />

erreicht sind" (FEUSER 1995, 55).<br />

Den Prozess der Entmenschung [9] über die Klassifizierung als leidvoll <strong>und</strong> lebensunwert bis <strong>zu</strong>r Tötung dieser Existenzen<br />

als ethisch gebotenem Akt bezeichnet WOLFENSBERGER als die "Logik des Totmachens".<br />

Eng verb<strong>und</strong>en <strong>mit</strong> solchen Vernichtungstendenzen sind die immer wieder angeführten Kosten-Nutzen-Analysen.<br />

<strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong>, deren Verwertbarkeit in am Kapital orientierten Wirtschaftsformen eingeschränkt erscheint,<br />

werden - um es <strong>mit</strong> einem nationalsozialistischen Begriff <strong>zu</strong> beschreiben - als "Ballastexistenzen", als "unnütze Esser"<br />

dargestellt. Ungebrochen scheint heute (frei nach malthusischem Denken [10]) der Mythos der endlichen Ressourcen <strong>und</strong><br />

den da<strong>mit</strong> verb<strong>und</strong>enen Verteilungsproblemen innerhalb der Gesellschaft. Welche Wertigkeiten bei diesen<br />

Verteilungskämpfen <strong>zu</strong>m Ausdruck kommen, wird deutlich, wenn man betrachtet, dass z.B. 1981 der<br />

Ges<strong>und</strong>heitsökonomiepreis des B<strong>und</strong>esministers für Arbeits- <strong>und</strong> Sozialordnung für eine Arbeit verliehen wurde, die die<br />

volkswirtschaftlichen Einsparungen durch die Vermeidung von behinderten Säuglingen durch humangenetische Beratung<br />

errechnete (vgl. z.B. GERAEDTS / ZUPER 1990, 31). Es wird deutlich, dass es sich bei der Vernichtung bzw. Vermeidung<br />

von beeinträchtigtem Leben in erster Linie nicht um rassistische Ideologien, sondern vielmehr um ökonomische<br />

Zusammenhänge handelt, die laut FEUSER in den nationalökonomischen Ausprägungen des Liberalismus des 18. <strong>und</strong> 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts fußen. So kann die faschistische Herrschaftstruktur auch als pragmatisch durchführende Staatsgewalt einer<br />

<strong>zu</strong>vor von medizinisch-psychologischen, philosophischen <strong>und</strong> ökonomischen Fachwissenschaften vorbereiteten<br />

Vernichtung gelten. Was die gegenwärtige Situation FEUSERs Ansicht nach heute von der nationalsozialistischen<br />

Herrschaftszeit noch unterscheide, seien lediglich die Herrschafts- <strong>und</strong> Gewaltstrukturen, die die Tötung realisieren - was<br />

wiederum seiner Überzeugung nach in Zukunft nach sog. liberalen Prinzipen der Selbstbestimmung vollzogen werden wird<br />

(FEUSER 1995, 60ff).<br />

Die Angebote der humangenetischen Beratung oder pränatalen Diagnostik z.B., die eine selbstbestimmte Entscheidung für<br />

oder gegen die Geburt eines Säuglings suggerieren, entpuppen sich bei systemischer Betrachtung als verschleierte<br />

Fremdbestimmung in volksökonomischem Interesse. Aufgr<strong>und</strong> der fehlenden Gewalt- <strong>und</strong> Herrschaftsstrukturen<br />

entwickelt das System der Ausgren<strong>zu</strong>ng, unterstützt durch neue techologische Möglichkeiten, eine veränderte Strategie, die<br />

ich das Psychologisieren auf der Basis struktureller Gewalt nennen möchte. Diese Strategien wiederum erscheinen<br />

gesellschaftlich akzeptierter als die offenen Vernichtungen der Vergangenheit <strong>und</strong> wirken systemstabilisierend. Die<br />

derzeitigen gesellschaftlichen Verhältnisse ver<strong>mit</strong>teln auf psychologisierter Ebene eine moralische bzw. ethische<br />

Handlungsnorm, nach der es Frauen (bzw. Paaren) im Falle von vorhandener oder geplanter Schwangerschaft immer<br />

schwerer haben werden, sich der "gesellschaftlichen Pflicht <strong>zu</strong>r Prävention von <strong>Behinderung</strong>" <strong>zu</strong> entziehen <strong>und</strong> das<br />

Angebot der humangenetischen Beratung (so<strong>zu</strong>sagen selbstbestimmt) eben nicht wahr<strong>zu</strong>nehmen. Die Mechanismen, die ich<br />

da<strong>mit</strong> meine, sind gesellschaftliche Bemühungen, das Leben <strong>mit</strong> einem beeinträchtigten Kind <strong>zu</strong> erschweren.<br />

Die Vorausset<strong>zu</strong>ngen für eine solche Entwicklung scheinen angesichts der Diskussion um die "Neue Euthanasie", die<br />

KöBSELL (1993) als die intellektuelle Form der im Überbau verankerten Aggression gegen <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong><br />

bezeichnet, bereits vorhanden. Als philosophisch-wissenschaftliche F<strong>und</strong>ierung dient vor allem der Utilitarismus [11],<br />

<strong>zu</strong>meist in der Form des präferenz-utilitaristisch argumentierenden Moralphilosophen SINGER (1984). Seinen<br />

Auffassungen, deren Ähnlichkeit <strong>mit</strong> der Aussagen von BINDING <strong>und</strong> HOCHE (1922) augenscheinlich ist [12], wurde<br />

von diversen Autor/innen <strong>und</strong> aus unterschiedlichen theoretischen Auffassungen heraus widersprochen (JANTZEN 1991,<br />

1991a, FEUSER 1993a, 1994, 1995, BONFRANCHI 1992a, 1993, THEUNISSEN 1990, BLEIDICK 1990).<br />

BONFRANCHI (1992) hält m.E. völlig <strong>zu</strong> recht fest, dass davon aus<strong>zu</strong>gehen sei, dass vermutlich viele <strong>Menschen</strong> in<br />

unserer Gesellschaft die SINGERschen Gedanken nicht falsch finden. Vermutlich würden sie ihnen - erst leise <strong>und</strong> dann<br />

immer lauter - <strong>zu</strong>stimmen, wenn sie auf breiterer Basis bekannt wären. Die Gr<strong>und</strong>lage sieht er in den weit verbreiteten<br />

Auffassungen der Leid-Zuschreibung in Verbindung <strong>mit</strong> unbewussten Todeswünschen. Die Gründe dürften allerdings<br />

ebenso in den oben skizzierten ökonomischen Zusammenhängen wie in der vermutlich stark verbreiteten Denkweise des<br />

Nützlichkeitsprinzips liegen.<br />

BONFRANCHI (1992a, 1993) ist ferner einer der Autoren, die in der Ausprägung eines segregierenden Schulsystems eine<br />

Mitschuld der klassischen Heil- <strong>und</strong> Sonderpädagogik (bzw. der Erziehungswissenschaft allgemein) am Erscheinen der so<br />

titulierten "Neuen Euthanasie" sehen. Hätte in den letzen Jahrzehnten eine umfassende schulische <strong>und</strong> <strong>mit</strong>hin auch<br />

gesellschaftliche Integration stattgef<strong>und</strong>en, wäre diese Diskussion seiner Ansicht nach gar nicht denkbar gewesen. Die<br />

Sonderpädagogik sei während ihrer Entwicklung derart <strong>mit</strong> sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie nicht in der Lage war,<br />

gesellschaftliche Tendenzen wahr<strong>zu</strong>nehmen. Die Hochzeit der Ausweitung von sonderpädagogischen Einrichtungen sei in<br />

Wirklichkeit ein vom Staat instruierter Akt <strong>zu</strong>m Zwecke der gesellschaftlichen Entlastung von <strong>Behinderung</strong> gewesen.<br />

Angesichts <strong>zu</strong>gestandener Mittel <strong>und</strong> erreichten Einflusses habe sich die Sonderpädagogik korrumpieren lassen. Andere<br />

Vertreter der Heil- <strong>und</strong> Sonderpädagogik (z.B. BLEIDICK) haben diesen Aussagen widersprochen. Ich halte den von<br />

BONFRANCHI beschriebenen Prozess, für den der "Dienstbarkeit der Intellektuellen", welchen BASAGLIA <strong>mit</strong> dem<br />

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Begriff "Befriedungsverbrechen" umschrieb. Nach der anfänglich sicherlich notwendigen Einrichtungen von Sonderschulen<br />

scheint keine wirkliche Analyse der Bedingungen vorgenommen worden <strong>zu</strong> sein, die es erlaubt hätte, eine Integration im<br />

Sinne von Demokratisierung <strong>und</strong> Humanisierung sowie im Interesse der Betroffenen ein<strong>zu</strong>leiten. Vielmehr scheint es um<br />

eine Ausweitung der seit über 100 Jahren praktizierten Segregation gegangen <strong>zu</strong> sein, <strong>mit</strong> dem Ziel, die sich entwickelnde<br />

Eigenständigkeit als Wissenschaft <strong>zu</strong> festigen. Die politischen Absichten verkennend, ermöglichte dies eine<br />

"Instrumentalisierung der Wissenschaft <strong>zu</strong> einem Mittel der Herrschaft" (BASAGLIA).<br />

5. Kindliche Sozialreaktion auf <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong><br />

5.1 Ergebnisse der Einstellungsforschung<br />

Die meisten Untersuchungen im Bereich der Einstellungsforschung beziehen lediglich Jugendliche oder Kinder im Schulalter<br />

<strong>mit</strong> ein. Bei ihnen scheinen keine prinzipiellen Unterschiede <strong>zu</strong> <strong>Einstellungen</strong> von Erwachsenen beobachtbar <strong>zu</strong> sein (vgl.<br />

CLOERKES 1984). Sie scheinen das gesellschaftliche Normen- <strong>und</strong> Wertesystem bereits so sehr internalisiert <strong>zu</strong> haben,<br />

dass ihre Einstellungswerte sich denen der Gesamtgesellschaft weitgehend annähern. Dieser Installationsprozess der<br />

gesellschaftlich bedingten Normvorstellungen in subjektive Wertesysteme beginnt bereits in der frühen Kindheit, wobei die<br />

entscheidenden Prozesse der Einstellungsbildung bzw. der innerpsychischen Verarbeitung von <strong>Behinderung</strong>en im<br />

Kindergarten- bzw. im jüngeren Schulalter statt<strong>zu</strong>finden scheinen.<br />

Zu <strong>Einstellungen</strong> von jüngeren Kindern liegen nur wenige Untersuchungen vor. Generell kann davon ausgegangen werden,<br />

dass die gr<strong>und</strong>legenden kulturellen Normen einer Gesellschaft im wesentlichen bereits im ersten Lebensjahr internalisiert<br />

werden.<br />

Dreijährige zeigten in den Untersuchungen keine spezifischen Reaktionen auf beeinträchtigte Personen. Dieses Alter, also<br />

ungefähr die Periode zwischen dem 3. <strong>und</strong> 4. Lebensjahr, die LEONTJEV als "Erste Geburt der Persönlichkeit" bezeichnet<br />

<strong>und</strong> in der die individuelle Ich-Bedeutung gewonnen wird, gilt als Beginn des entscheidenden Sozialisationsalters, was die<br />

Bildung von individuellen Werten <strong>und</strong> <strong>Einstellungen</strong> betrifft. Vier- bis Sechsjährige äußerten sich hingegen <strong>mit</strong><br />

<strong>zu</strong>nehmendem Alter tendenziell negativer. Ab ca. dem achten Lebensjahr kann von einer recht stabilen Einstellung<br />

ausgegangen werden. Generell stimmen die sozialpsychologischen Untersuchungen darin überein, dass auch bei Kindern die<br />

Visibilität einer <strong>Behinderung</strong> bei der Einstellungsbildung von größter Bedeutung ist (vgl. KRON 1994, Becker-Gebhard<br />

1990a, MüNZING 1972).<br />

WOCKEN (angeführt nach: PODLESCH / PREUSS-LAUSITZ 1993) ergänzt dies in seiner 1992 durchgeführten<br />

Untersuchung, in der er die Soziale Distanz von 1055 Schüler/innen unterschiedlichen Alters <strong>und</strong> verschiedenen<br />

Schulformen angehörend erfasste. Die größte soziale Distanz wurde dabei gegenüber Kindern <strong>mit</strong> Verhaltensstörungen<br />

er<strong>mit</strong>telt, gefolgt von Kindern <strong>mit</strong> geistigen <strong>Behinderung</strong>en, Kindern nicht-deutscher Herkunft, Kindern <strong>mit</strong> körperlichen<strong>und</strong><br />

schließlich Kindern <strong>mit</strong> Lernbehinderungen. Möglicherweise machten die in die Untersuchung involvierten Kinder ihren<br />

Wunsch nach Abgren<strong>zu</strong>ng <strong>und</strong> Distanz nicht einzig an der Visibilität oder an der Schwere einer <strong>Behinderung</strong> fest, sondern<br />

an den Schwierigkeiten, die in der Interaktion <strong>und</strong> Kooperation <strong>mit</strong> einem anderen Kind entstehen könnten.<br />

5.2 Sozialverhalten von Kindern aus integrativen Zusammenhängen<br />

Häufig ist in Berichten über integrative Erziehung im Elementar- oder Primarbereich davon die Rede, dass Kinder "<strong>mit</strong><br />

Behinderten anders umgehen", sie "keine Scheu zeigen", "<strong>Behinderung</strong>en gar nicht wahrnehmen" oder "so etwas wie<br />

<strong>Behinderung</strong> gar nicht kennen". Diese sehr oberflächlichen Beschreibungen erlauben es jedoch nicht, in einem<br />

wissenschaftlichen Sinn davon <strong>zu</strong> sprechen, dass eine gemeinsame Erziehung <strong>und</strong> Bildung von Kindern <strong>mit</strong> <strong>und</strong> ohne<br />

<strong>Behinderung</strong>en <strong>zu</strong> einer (generell) vorurteilsfreien, positiv ausgerichteten <strong>und</strong> Akzeptanz schaffenden Einstellung gegenüber<br />

beeinträchtigten <strong>Menschen</strong> führe.<br />

Arbeiten, die sich gezielt <strong>mit</strong> Veränderungen von <strong>Einstellungen</strong> gegenüber behinderten <strong>Menschen</strong> infolge der <strong>zu</strong>nehmenden<br />

gemeinsamen Erziehung <strong>und</strong> Unterrichtung behinderter <strong>und</strong> nichtbehinderter Kinder befassen, lagen bis vor wenigen Jahren<br />

laut BECKER-GEBHARD (1990a) nicht vor. BREITENBACH / EBERT (1997) sind dieser Frage in einer recht neuen<br />

Untersuchung nachgegangen. Wenn auch später wieder etwas einschränkend, so kommen beide <strong>zu</strong> der klaren Aussage, dass<br />

eine intensive schulische Kooperation <strong>zu</strong> einer deutlich geringeren sozialen Distanz, realistischeren Einschät<strong>zu</strong>ngen <strong>und</strong><br />

weniger Vorurteilen gegenüber Kinder <strong>mit</strong> geistiger <strong>Behinderung</strong> führt. "Häufiger <strong>und</strong> bewußt gestalteter Kontakt zwischen<br />

Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern <strong>mit</strong> <strong>und</strong> ohne geistige <strong>Behinderung</strong> verändert die <strong>Einstellungen</strong> der nichtbehinderten Kinder<br />

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gegenüber Kindern <strong>mit</strong> geistiger <strong>Behinderung</strong> positiv <strong>und</strong> wirkt der <strong>zu</strong> beobachtenden wachsenden sozialen Distanz<br />

entgegen. Nimmt die Quantität <strong>und</strong> die Qualität dieser Kontakte <strong>zu</strong>, verstärkt sich der beobachtbare Trend" (1997, 66).<br />

Weitere Untersuchungen, die im Zusammenhang <strong>mit</strong> wissenschaftlichen Begleitungen von Integrationsprojekten<br />

durchgeführt wurden, zeigen, dass Kinder, die im Rahmen der gemeinsamen Erziehung <strong>und</strong> Bildung von Kindern <strong>mit</strong> <strong>und</strong><br />

ohne <strong>Behinderung</strong>en heranwachsen, behinderte Kinder nicht anhand der Beeinträchtigung, sondern in erster Linie an den<br />

Besonderheiten ihrer je einmaligen Persönlichkeit charakterisieren. Die räumliche <strong>und</strong> vor allem die <strong>zu</strong>meist entstandene<br />

emotionale Nähe <strong>zu</strong> ihnen erlaubt es Kindern, die Einmaligkeit eines jeden Kindes, ob <strong>mit</strong> einer <strong>Behinderung</strong> oder nicht, <strong>zu</strong><br />

erfassen, ohne da<strong>mit</strong> auf die äußerlich beobachtbare <strong>Behinderung</strong> als Definitions- <strong>und</strong> Zuschreibungsmerkmal angewiesen<br />

<strong>zu</strong> sein. WOCKEN hat in der differenzierten Auswertung seiner o.a. Untersuchung festgestellt, dass eine deutliche<br />

Reihenfolge der Distanzwerte hinsichtlich der Zugehörigkeit unterschiedlicher Schulformen existiert: Sonderschüler/innen<br />

zeigten die distanziertesten <strong>Einstellungen</strong>, Kinder aus Integrationsklassen hingegen die integrativsten!<br />

Die deutschsprachige Integrationsliteratur bietet ferner einige soziometrische Untersuchungen an, dessen Ergebnisse<br />

hinsichtlich der kindlichen Einstellungsbildung von Interesse sein könnten [13]. Untersuchungsergebnisse belegen, dass<br />

Kinder bereits im Vorschulalter in der Lage sind, das Entwicklungsniveau ihres Spielpartners <strong>zu</strong> berücksichtigen, was sich<br />

z.B. in der Schaffung von unterschiedlichen linguistischen Umgebungen für unterschiedliche Spielpartner/innen ausdrückt.<br />

Bei der freien Wahl ihres Spielpartners / ihrer Spielpartnerin wählten nichtbehinderte Kinder jedoch überwiegend Kinder<br />

gleichen Entwicklungsniveaus. In den Fällen, in denen sich nichtbehinderte Kinder für behinderte Kinder als Spielpartner<br />

entschieden hatten, wurde die kooperative Spielform annähernd so häufig gewählt wie bei Spielpartner/innen gleichen /<br />

ähnlichen Entwicklungsniveaus (BECKER-GEBHARD 1990).<br />

Kontakte innerhalb eines integrativen Unterrichts seien in hohem Maße geprägt durch ausgeglichene<br />

Austauschbeziehungen, die sich im Laufe der Schulzeit, also <strong>mit</strong> <strong>zu</strong>nehmender Dauer des emotional positiv erlebten<br />

Kontaktes, stabilisieren <strong>und</strong> teilweise weiter positiv entwickeln (PODLESCH / PREUSS-LAUSITZ 1993,<br />

MAIKOWSKI / PODLESCH 1988, FEUSER / MEYER 1987).<br />

Hinsichtlich der Zuordnung <strong>zu</strong> den soziometrischen Typen (in Anlehnung an die weit verbreitete Typisierung<br />

PETILLONs) seien laut DUMKE / SCHäFER etwa 50% der behinderten Schüler/innen dem Typ "unauffällig"<br />

<strong>zu</strong><strong>zu</strong>ordnen. Überdies finden sich behinderte Schüler/innen in allen weiteren Typen. Verglichen <strong>mit</strong> den nichtbehinderten<br />

Schüler/innen finden sich allerdings wesentlich mehr behinderte Schüler/innen in den negativen <strong>und</strong> weniger behinderte<br />

Schüler/innen in den positiven Typisierungen wieder.<br />

Schüler/innen <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> schneiden hinsichtlich ihres Wahl- <strong>und</strong> Ablehnungsstatus ungünstiger ab als Schüler/innen<br />

ohne <strong>Behinderung</strong>en. Insbesondere schulleistungsschwache <strong>und</strong> "verhaltensauffällige" Kinder erhielten in der Untersuchung<br />

von DUMKE / SCHäFER in der Regel niedrigere Statuswerte als Kinder <strong>mit</strong> körperlichen- oder Sinnesbeeinträchtigungen.<br />

Für Schüler/innen <strong>mit</strong> geistigen <strong>Behinderung</strong>en seien die Werte derart uneinheitlich, dass eine klare Aussage nicht möglich<br />

scheint.<br />

HAEBERLIN et. al. (1990) führen an, dass der soziometrische Status von schulleistungsschwachen ("lernbehinderten")<br />

Schüler/innen in integrativen Klassen durchweg geringer sei als der Durchschnitt. Dies wird auch von BLESS (1995) bei der<br />

Durchsicht verschiedener Arbeiten bestätigt. FEUSER / MEYER (1987) hingegen kommen in ihrer Untersuchung <strong>zu</strong> der<br />

Aussage, dass in der Gruppe der Schüler/innen <strong>mit</strong> erhöhtem Förderbedarf dieselben Verteilungen <strong>und</strong> Häufigkeiten ihrer<br />

Kommunikation <strong>zu</strong> beobachten seien wie in der Gesamtgruppe. Die Unterschiede zwischen den Untersuchungen sind<br />

vermutlich auf die bereits anskizzierte Problematik der unterschiedlichen Konzeptionen <strong>zu</strong>rück<strong>zu</strong>führen 13 . Generell kann<br />

festgehalten werden, dass die soziale Integration von Kindern <strong>mit</strong> Erschwernissen des Lernens <strong>und</strong> des Verhaltens größere<br />

pädagogische Probleme aufwirft als die soziale Integration von Kindern z.B. <strong>mit</strong> geistiger <strong>Behinderung</strong> oder einer<br />

Sinnesbeeinträchtigung. Vermutlich unterliegt die Einstellung der nichtbehinderten Kinder oben ausgeführten Prozessen,<br />

nach der z.B. nicht-verstehbares Verhalten Angst macht <strong>und</strong> <strong>zu</strong>r vermehrten Ablehnung führt.<br />

Die soziale Einbindung behinderter Schüler/innen ist indes in starkem Maße von Variablen abhängig, die über die<br />

(integrative) Unterrichtsgestaltung hinausgehen. So schreibt KRON (1994), dass er<strong>mit</strong>telte <strong>Einstellungen</strong> bei (freiwilligen)<br />

Spielkontakten weniger ungünstig waren als bei schulischen Kontakten. SCHNITTKA / SOMMER (1994) halten fest,<br />

dass es empirisch belegte Tatsache sei, dass diejenigen als behindert etikettierten Kinder am stärksten sozial integriert <strong>und</strong><br />

akzeptiert seien, bei denen sich Schulkasse <strong>und</strong> un<strong>mit</strong>telbare Nachbarschaft überschneiden, deren fre<strong>und</strong>schaftliche<br />

Kontakte so<strong>mit</strong> nicht auf eine Institution beschränkt bleiben, sondern darüber hinaus durch die Nachbarschaft im<br />

außerschulischen Rahmen weitergeführt <strong>und</strong> weiter gefestigt werden. Dies zeigt deutlich auf, in welchem Maße<br />

gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die über die un<strong>mit</strong>telbare Unterrichtgestaltung hinausgehen, für die soziale<br />

Integration <strong>und</strong> da<strong>mit</strong> auch für die Soziale Reaktion verantwortlich sind.<br />

5.2.1 Geschlechtsspezifische Unterschiede<br />

Mädchen <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> sind sowohl in Sonderschulen als auch in Integrationsgruppen unterrepräsentiert. Der Anteil<br />

von Mädchen <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> innerhalb von Integrationsklassen liegt nach den Angaben von PRENGEL (nach *Hinz<br />

1993) zwischen 0% <strong>und</strong> 34% <strong>und</strong> ist so<strong>mit</strong> immer noch niedriger als der Anteil der Mädchen an Sonderschulen<br />

(durchschnittlich 40%).<br />

Demgegenüber lag in den ersten zehn Jahren integrativer Beschulung der Anteil von Mädchen ohne <strong>Behinderung</strong>en im<br />

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Durchschnitt bei 57%, wo<strong>mit</strong> Mädchen in Integrationsklassen im Vergleich <strong>zu</strong> Regelklassen der allgemeinen Gr<strong>und</strong>schule,<br />

in denen der Mädchenanteil durchschnittlich 49% betrug, überrepräsentiert sind. Allein diese Zahlenverhältnisse belegen<br />

bereits, dass Mädchen in Integrationsgruppen eine besondere Rolle einnehmen.<br />

Kinder, die als beeinträchtigt klassifiziert werden, kommen in überwiegendem Maße aus Familien, die der Unterschicht<br />

<strong>zu</strong>gerechnet werden. Soziokulturell benachteiligte Kinder haben im Verlauf ihrer familiären Sozialisation Sprach-,<br />

Einstellungs- <strong>und</strong> Orientierungsmuster erworben, die für die Bewältigung schulischer Anforderungen oftmals nicht<br />

funktional sind <strong>und</strong> die eine reibungslose Anpassung an die real existierende Schulkultur erschweren. Ihre<br />

Problemlösungsversuche werden in der Regel als unangepasstes, auffälliges <strong>und</strong> störendes Verhalten wahrgenommen <strong>und</strong><br />

beurteilt, was den Beginn der schulischen Ausgren<strong>zu</strong>ng markiert. Die Tendenz von Erwachsenen, bei Jungen <strong>und</strong> Mädchen<br />

von Geburt an unterschiedliche Wahrnehmungen <strong>und</strong> unterschiedliche <strong>Einstellungen</strong> <strong>zu</strong> bilden, ist empirisch inzwischen gut<br />

belegt. Die geringere Quote von Mädchen an Sonderschulen kann also in der Art <strong>und</strong> Weise interpretiert werden, dass bei<br />

Mädchen innerhalb ihrer familiären Sozialisation diejenigen Eigenschaften gefördert werden, die im schulischen<br />

Zusammenleben gefordert werden <strong>und</strong> die für die Bewältigung des schulischen Alltags funktional sind.<br />

Die geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Verhaltensweisen von Mädchen <strong>und</strong> Jungen sind heute weitgehend bekannt.<br />

Jungen verhalten sich gemäß "typisch männlicher" Verhaltensrollen eher laut, stark, mutig etc., während Mädchen im Laufe<br />

ihrer Sozialisation eher die ihnen <strong>zu</strong>geschriebenen, "weiblichen" Rollen erlernen, die <strong>mit</strong> Attributen wie leise,<br />

<strong>zu</strong>rückhaltend, kooperativ, vorsichtig oder gar ängstlich <strong>und</strong> schwach beschrieben werden. Auf die gesellschaftlichen<br />

Hintergründe dieser Verhaltensweisen kann an dieser Stelle nicht ausgiebig eingegangen werden. Für die hier vorliegende<br />

Fragestellung erscheint es wichtig, dass es vornehmlich Mädchen sind, die in größerem Maße bereit sind, sich anderen<br />

Kindern, speziell den Kindern <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong>, an<strong>zu</strong>nähern. Sie sind es, die den "Löwenanteil der<br />

Integrationsarbeit" (PRENGEL) leisten. Dabei tendieren Lehrer/innen da<strong>zu</strong>, Verständnis <strong>und</strong> Hilfestellungen in besonderem<br />

Maße von Mädchen ein<strong>zu</strong>fordern, wo<strong>mit</strong> sie tradierte Rollenspezifika weiter unterstützen (SCHöLER 1993).<br />

Kinder im Gr<strong>und</strong>schulalter neigen da<strong>zu</strong>, fast ausschließlich geschlechtshomogene Gruppen <strong>zu</strong> bilden <strong>und</strong> sich so<strong>mit</strong><br />

vornehmlich an Angehörigen des eigenen Geschlechts <strong>zu</strong> orientieren ( *Hinz 1993, 391). Während der durchschnittliche<br />

soziometrische Status von Kindern <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> gemäß mehreren Untersuchungen in der jeweils gegenschlechtlichen<br />

Gruppe keine gravierenden Unterschiede <strong>zu</strong>m normalen Durchschnittswert aller Kinder aufweist, ist der Status behinderter<br />

Kinder innerhalb des eigenen Geschlechts niedriger als der nichtbehinderter Kinder! Kinder <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> erfahren von<br />

den Mitschüler/innen des eigenen Geschlechts <strong>mit</strong>hin weniger Zuneigung <strong>und</strong> mehr Abneigung (DUMKE / SCHäFER<br />

1990, PODLESCH / PREUSS-LAUSITZ 1993, WOCKEN 1987, HAEBERLIN 1990).<br />

Da Mädchen, wie oben beschrieben, Annäherung in stärkerem Maße suchen als Jungen, passt es ins Bild, dass Jungen <strong>mit</strong><br />

<strong>Behinderung</strong> gemäß mehrerer Untersuchungen tendenziell günstigere Statuswerte erzielen als Mädchen <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong>.<br />

Die einzige mir bekannte Erklärungshypothese da<strong>zu</strong> bieten PODLESCH / PREUSS-LAUSITZ (1993) an. Sie vermuten,<br />

dass sich Mädchen wie Jungen in der Phase ihrer Identitätsfindung <strong>und</strong> der Entwicklung ihres Selbstkonzepts auf<br />

gesellschaftlich determinierte Idealbilder des eigenen Geschlechts beziehen. Die beginnende Übernahme von<br />

Geschlechtsrollen ist laut SCHEU (1977) bereits bei Kindern im Alter von 3;6 Jahren <strong>zu</strong> beobachten, wobei die<br />

Zuschreibung ab 5;6 Jahren stereotyp <strong>und</strong> relativ gefestigt erscheint. Diese Normvorstellungen, an denen sich Kinder<br />

orientieren, schließen, so PODLESCH / PREUSS-LAUSITZ, etwaige Beeinträchtigungen physischer oder psychischer<br />

Ausprägung nicht ohne weiteres ein. Von Mitschüler/innen eigenen Geschlechts scheinen Kinder <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> <strong>mit</strong>hin<br />

weniger anerkannt <strong>zu</strong> werden, weil sie weniger der gesellschaftlichen Norm der geschlechtlichen Rollenerwartung<br />

entsprechen.<br />

Das würde bestätigt durch Beobachtungen, wie sie z.B. MENTZENDORFF-MITLEHNER (1992, 1994) machte. Sie<br />

berichtet u.a. von einem Jungen <strong>mit</strong> Trisomie 21, der von eindeutigem rollenspezifischen Verhalten abweicht, indem er<br />

neben den als männlich geltenden Verhaltensweisen, die er für sich beansprucht, auch das der weiblichen Rolle<br />

<strong>zu</strong>geschriebene Verhalten zeigt. <strong>Gesellschaftliche</strong> Normen in be<strong>zu</strong>g auf geschlechtliche Orientierung am Männlichen<br />

scheinen für ihn kein Maßstab <strong>zu</strong> sein, weil er diesen Normen entsprechend - aufgr<strong>und</strong> seiner <strong>Behinderung</strong> - nicht als<br />

männlich gelte. Für das Verhalten von Jungen <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> bedeute dies, dass sie sich nicht gezwungen bzw.<br />

verpflichtet fühlen, sich einer eindeutigen Rolle <strong>zu</strong><strong>zu</strong>ordnen. Mädchen <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> hingegen verhielten sich laut ihren<br />

Beobachtungen eindeutig ihrer geschlechtsspezifisch tradierten Rolle entsprechend. [14]<br />

5.3 Erklärungsansätze für das kindliche Erleben von <strong>Behinderung</strong><br />

Wie beschrieben zeigen jüngere Kinder in stärkerem Maße originäre Verhaltensweisen, während ältere Kinder normative<br />

<strong>und</strong> moralische Erwartungen <strong>zu</strong> erfüllen suchen. Die allmähliche Anpassung an die gesellschaftlichen Standards führe nach<br />

CLOERKES (1984) <strong>zu</strong> einem permanenten Ambivalenzkonflikt zwischen originärer <strong>und</strong> "sozial erlaubter" Haltung<br />

beeinträchtigten <strong>Menschen</strong> gegenüber, der sich schließlich in Verhaltensunsicherheit ausdrücke. Diese Unsicherheit wird<br />

meiner Ansicht nach wesentlich dadurch verstärkt, dass Kindern auf der einen Seite negative, ablehnende <strong>Einstellungen</strong> im<br />

Rahmen ihrer Sozialisation vorgelebt werden, andererseits diesen ablehnenden Tendenzen durch soziale <strong>und</strong><br />

gesellschaftliche Normen widersprochen wird.<br />

Bei dem Versuch, das kindliche Erleben von <strong>Behinderung</strong> <strong>zu</strong> erklären, muss berücksichtigt werden, dass Kinder im<br />

Kindergartenalter über keinen exakten Begriff "<strong>Behinderung</strong>" verfügen. "<strong>Behinderung</strong>" wird von Kindern individuell nach<br />

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Maßgabe ihres derzeitigen Entwicklungsniveaus unter Berücksichtigung der psychosozialen Vorerfahrungen unterschiedlich<br />

aufgefasst. Ohne die Zusammenhänge an dieser Stelle weiter ausführen <strong>zu</strong> können, soll darauf aufmerksam gemacht werden,<br />

dass die Aneignung des Begriffs "<strong>Behinderung</strong>" <strong>und</strong> dessen gesellschaftlich determinierte Bedeutung eng verb<strong>und</strong>en ist <strong>mit</strong><br />

der individuellen Entwicklung des abstrakten <strong>und</strong> begrifflichen Denkens.<br />

Für das Verständnis des kindlichen Erlebens von Beeinträchtigungen können die bereits beschriebenen Erklärungsansätze,<br />

insbesondere die soziologisch <strong>und</strong> sozialpsychologisch ausgerichteten, nur eingeschränkten Erklärungswert beanspruchen.<br />

Sie führen <strong>Einstellungen</strong> gegenüber <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> vorwiegend auf gesellschaftliche Normen <strong>und</strong> Werte <strong>zu</strong>rück<br />

<strong>und</strong> unterstellen dabei, dass ein individuelles Wertesystem bereits ausgebildet sei. Angesichts der sich gerade entwickelnden<br />

Normvorstellungen von Kindergartenkindern können diese Konzeptionen keinesfalls als alleinige Erklärungsgr<strong>und</strong>lage,<br />

sondern allenfalls als Bedingung der Ausbildung individueller Normensysteme im Spannungsfeld der sie umgebenden<br />

familiären, institutionellen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Wertvorstellungen gelten. Die kindlichen Erfahrung von <strong>Behinderung</strong><br />

hängt neben dem erlebten Kontakt stark vom individuellen Entwicklungsniveau ab.<br />

Auf der Basis psychologischer <strong>und</strong> psychoanalytischer Erklärungsansätze versucht KRON (1994) in ihrer Untersuchung,<br />

die kindlichen innerpsychischen Vorgänge, die in der Auseinanderset<strong>zu</strong>ng <strong>mit</strong> behinderten Kindern entstehen, <strong>zu</strong><br />

beschreiben.<br />

Die kindliche Wahrnehmung richtet sich nicht auf den gesamten Umfang einer Beeinträchtigung, sondern auf einzelne<br />

Aspekte davon. Dabei werden Aspekte, die in stärkerem Maße evident sind (vor allem motorische) eher <strong>und</strong> häufiger<br />

wahrgenommen als andere. Ihre Wahrnehmung ist dabei jedoch nicht auf die Sichtbarkeit der Einschränkungen<br />

<strong>zu</strong>rück<strong>zu</strong>führen, sondern vielmehr auf die wachsende Diskrepanz <strong>zu</strong> ihrer eigenen Entwicklung. Ihre sich ständig<br />

erweiternden Fähigkeiten vor allem im motorischen <strong>und</strong> sprachlichen Bereich sind demnach stark an ihre Wahrnehmung von<br />

behinderten Kindern geknüpft. Da<strong>mit</strong> sind auch die unterschiedlichen Äußerungen <strong>und</strong> Verhaltensweisen im Laufe der<br />

Kindergartenzeit erklärbar. Was sich innerhalb dieser Zeitspanne ändert, sind primär nicht die Erscheinungsformen, d.h. die<br />

Visibilität der <strong>Behinderung</strong>en, sondern die sich verändernden Wahrnehmungs- <strong>und</strong> Verarbeitungsmöglichkeiten der nichtbehinderten<br />

Kinder. Auf diese muss das veränderte Erleben <strong>zu</strong>rückgeführt werden.<br />

Generell unterscheidet KRON zwischen zwei Modi der Auseinanderset<strong>zu</strong>ng <strong>mit</strong> den Besonderheiten behinderter Kinder:<br />

Während eine Kategorie Situationen erfasst, deren Ausgangspunkt der Auseinanderset<strong>zu</strong>ng die <strong>Behinderung</strong> eines Kindes<br />

selbst ist, begreift die zweite Kategorie die Art <strong>und</strong> Weise des Umgangs <strong>mit</strong> dem Kind als Auslöser der<br />

Auseinanderset<strong>zu</strong>ng, in deren Verlauf ein Kind eigene, frühere psychische Erfahrungen reaktiviert.<br />

Die kindliche Erfahrung von <strong>Behinderung</strong> steht in einem Spannungsverhältnis zwischen alten <strong>und</strong> neuen Erfahrungen.<br />

Jüngere Kinder verarbeiten <strong>Behinderung</strong> als Variation vertrauter Ereignisse, indem sie die objektiv neue Erfahrung nach<br />

vertrauten Situationsmustern interpretieren. So würden sie den beeinträchtigten Kindern häufig Absicht unterstellen <strong>und</strong><br />

ihnen Verantwortung für ihr Verhalten <strong>zu</strong>schreiben. Wo hingegen nicht von einer absichtlichen Handlung ausgegangen wird,<br />

bietet sich vielfach die Deutung als eine vorübergehende Beeinträchtigung als Erklärung an, was die Kinder oft aus eigenen<br />

Erfahrungen kennen (z.B. Krankheit, Unfallverlet<strong>zu</strong>ngen etc.). Das bisher Unbekannte wird von Kindern in diesem Stadium<br />

<strong>mit</strong>hin zwar wahrgenommen, jedoch nicht als fremd empf<strong>und</strong>en. Diese Phase, in denen Kinder ihre Erklärungsmuster für<br />

<strong>Behinderung</strong> un<strong>mit</strong>telbar ihrer bisherigen Erfahrungswelt entnehmen, fällt <strong>zu</strong>sammen <strong>mit</strong> der Entwicklung des Zeitbegriffs.<br />

Ihre Wahrnehmung von Welt ist noch stark egozentrisch geprägt (PIAGET). Eine Zeitperspektive, die sich in Begriffen wie<br />

"immer" oder "nie" ausdrücken würde, fehlt noch.<br />

Mit <strong>zu</strong>nehmendem Zeitbewusstsein stellt sich gleichzeitig auch die größer werdende Selbstständigkeit infolge der<br />

motorischen, sprachlichen <strong>und</strong> kognitiven Entwicklung ein. Die auftretende Diskrepanz der eigenen Entwicklung <strong>zu</strong> der<br />

Entwicklung der behinderten Kinder könne nun nicht mehr <strong>mit</strong> vertrauten Erklärungsmustern <strong>zu</strong>reichend verarbeitet<br />

werden. Zwischen absichtsvollem Handeln <strong>und</strong> einem Handeln, das wesentlich durch gegebene Vorausset<strong>zu</strong>ngen bestimmt<br />

werde, lernen Kinder <strong>zu</strong> differenzieren. Die Art <strong>und</strong> Weise der Verarbeitung ihrer Erfahrungen, die im Widerspruch stehen<br />

<strong>zu</strong> ihrer bisherigen Erfahrungswelt, sind dabei höchst unterschiedlich, wobei sie von einem beginnenden Verständnis von<br />

individueller Verschiedenheit geprägt <strong>zu</strong> sein scheinen.<br />

Bei dieser Auseinanderset<strong>zu</strong>ng kommt es laut KRON <strong>zu</strong>dem <strong>zu</strong> einer Repräsentation eigener psychischer Anteile. Dabei<br />

könnten Kinder <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> anderen Kindern bei der Stabilisierung während der Ablösephase von primären<br />

Be<strong>zu</strong>gspersonen oder bei der Gewährung von emotionaler Zuwendung behilflich sein. Die eigenen psychischen Anteile<br />

können für andere Kinder, insbesonders für Kinder, die unter starkem Leistungs- <strong>und</strong> sozial-normativen Konfor<strong>mit</strong>ätsdruck<br />

heranwachsen, jedoch auch Anlass sein, gemäß sozial-normativer Set<strong>zu</strong>ngen <strong>zu</strong> handeln oder die eigenen, verdrängten<br />

Anteile von Schwäche <strong>zu</strong> entdecken.<br />

Bei einigen dieser Prozesse könnten Wut <strong>und</strong> Aggressionen entstehen, beispielsweise wenn ein Kind die Enttäuschung über<br />

die individuell erlebte mangelnde Zuwendung auf ein (behindertes) Kind projiziere, bei dem es all die Zuwendung<br />

beobachten könne, die es für sich selbst wünscht. Bei der auftretenden Diskrepanz zwischen dem subjektiv Erlebten (das<br />

Empfinden, mangelnde emotionale Zuwendung <strong>zu</strong> erfahren) <strong>und</strong> dem idealen Selbstbild (z.B. geliebt <strong>und</strong> angenommen <strong>zu</strong><br />

sein) könnten sich aggressive Wünsche gegen den Auslöser dieser subjektiven Erfahrung richten.<br />

Emotionen wie Wut könnten aber auch entstehen, wenn kindliches Verhalten in starkem Maße von sozialen Normen <strong>und</strong><br />

Konfor<strong>mit</strong>ätsdruck geprägt sei <strong>und</strong> eigene Bedürfnisse in der Beziehung <strong>zu</strong> einem behinderten Kind keinen Platz hätten.<br />

Die Zurückstellung eigener Bedürfnisse in einer solchen Beziehung entspricht auf diesem Entwicklungsniveau einer klaren<br />

Überforderung. So könnten auch hier Aggressionen auf andere (behinderte) Kinder entstehen, die das Ausleben eigener<br />

Bedürfnisse dem subjektiven Erleben nach verwehren würden.<br />

Generell muss, so KRON weiter, die Abgren<strong>zu</strong>ng von behinderten Kindern als ein notwendiger Prozess der Bewältigung<br />

eigener Ängste verstanden werden, wobei diese Abgren<strong>zu</strong>ng nicht als eine endgültige Definition der Beziehung, sondern<br />

vielmehr als ein <strong>zu</strong> diesem Zeitpunkt für die Entwicklung eines Individuums unabdingbare Notwendigkeit aufgefasst<br />

werden muss. Der Gefahr, dass dabei ein gr<strong>und</strong>legender Aussonderungsprozess angestoßen werde, könne explizit in<br />

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integrativen Zusammenhängen entgegengewirkt werden, indem Kinder durch die täglich wiederkehrende<br />

Auseinanderset<strong>zu</strong>ng die für die Abgren<strong>zu</strong>ng notwendigen Emotionen wie Angst verarbeiten können. "Angst machen also<br />

nicht die behinderten Kinder, sondern die eigenen Anteile, die im Zusammensein <strong>mit</strong> ihnen angesprochen werden<br />

(...)" (KRON 1994, 121).<br />

In welchem Maße sie verarbeitet werden können, ist stark vom Umfeld des Kindes abhängig. Gemeint sind da<strong>mit</strong><br />

<strong>Einstellungen</strong> <strong>und</strong> Verhaltensweisen, die dem Kind bedeutungsvolle Personen (Eltern, Pädagog/inn/en, andere Kinder)<br />

offenbaren, d.h. die Art <strong>und</strong> Weise, wie diese Personen sich auf <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> beziehen. Da<strong>mit</strong> soll<br />

abschließend noch einmal betont werden, dass sich in der kindlichen, innerpsychischen Erfahrung <strong>und</strong> Verarbeitung von<br />

<strong>Behinderung</strong> immer auch gesellschaftlich-sozial bedingte Einflüsse wiederfinden lassen. So hängen kindliche Entwicklungen<br />

in diesem Bereich neben der modellhaften Verarbeitung anderer Subjekte insbesondere von der Internalisierung sozialer<br />

Normen <strong>und</strong> da<strong>mit</strong> von dem Ausmaß ab, <strong>mit</strong> dem Kinder in ihrem Umfeld <strong>mit</strong> solchen Normvorstellungen konfrontiert<br />

werden.<br />

5.4. Erwerb von sozialen <strong>Einstellungen</strong><br />

Soziale Verhaltensweisen bzw. <strong>Einstellungen</strong> werden im Rahmen der Sozialisation erworben. Das bedeutet, dass<br />

<strong>Einstellungen</strong> sich stets unter den Verhältnissen der jeweiligen Gesellschaftsordnung bilden, unter denen die<br />

Heranwachsenden leben <strong>und</strong> sozialisiert werden.<br />

"Im heute allgemein vorherrschenden Verständnis wird <strong>mit</strong> Sozialisation der Prozess der Entstehung <strong>und</strong> Entwicklung der<br />

menschlichen Persönlichkeit in Abhängigkeit von <strong>und</strong> in Auseinanderset<strong>zu</strong>ng <strong>mit</strong> den sozialen <strong>und</strong> dinglich-materiellen<br />

Lebensbedingungen verstanden, die <strong>zu</strong> einem bestimmten Zeitpunkt der historischen Entwicklung einer Gesellschaft<br />

existieren." (K. HURRELMANN 1995, 14).<br />

<strong>Einstellungen</strong> bilden sich so<strong>mit</strong> durch Aufnahme von Information <strong>und</strong> durch aktive, sich in der materiellen <strong>und</strong> psychischen<br />

Form der Tätigkeit abspielende Auseinanderset<strong>zu</strong>ng <strong>mit</strong> der Umwelt. Vergegenständlichung menschlicher Wesenskräfte<br />

bedeutet dabei, sich die Existenz einer bestimmten Gesellschaftsstruktur <strong>mit</strong> ihren Besonderheiten (Klassencharakter,<br />

Institutionen, Wertesysteme, Verhaltensnormen, <strong>Einstellungen</strong> etc.) an<strong>zu</strong>eignen. Die Aneignung von Welt ist in diesem<br />

Sinne die in der aktiven Auseinanderset<strong>zu</strong>ng <strong>mit</strong> den Sozialisationsinstanzen stattfindende Aneignung von Weltbildern.<br />

Die bestehende Einstellungsstruktur eines Individuums bezeichnet RUBINSTEIN (vgl. SCHWARZ 1978) als<br />

"Einstellungshintergr<strong>und</strong>". Die vorhandenen <strong>Einstellungen</strong>, also die inneren Bedingungen, brechen laut RUBINSTEIN die<br />

äußeren Einflüsse. Generell sind Einstellungsstrukturen am stabilsten, wenn die vorhandenen <strong>Einstellungen</strong> von einem<br />

Individuum als persönlich bedeutsam erlebt werden. Dies wäre z.B. dann der Fall, wenn <strong>Menschen</strong> ihre Einstellung in<br />

tätiger Auseinanderset<strong>zu</strong>ng, in einem kooperativen <strong>und</strong> dialogischen Miteinander <strong>und</strong> unter Herausbildung von<br />

entsprechenden Sinn- <strong>und</strong> Bindungsstrukturen erwerben konnten.<br />

Aus der Sozialisationsforschung ist bekannt, dass gesellschaftliche Strukturen indirekt (über ver<strong>mit</strong>telnde Sozialisatoren)<br />

auf die Persönlichkeitsentwicklung eines <strong>Menschen</strong> einwirken [15]. Dass die sozialen Umweltbedingungen, z.B.<br />

Interaktions- <strong>und</strong> Kommunikationsstile primärer <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>ärer Sozialisationsinstanzen (Eltern, Kindergartengruppe,<br />

Schulklasse), abhängig sind von der jeweiligen gesellschaftlichen Einbindung, ist deutlich. Genauso trifft dies indes auch für<br />

die physisch-materiellen Umweltbedingungen <strong>zu</strong>: Spielzeug, Wohnort, Spielplatz etc. Die gesamte materielle Umwelt<br />

befindet sich in keinem natürlichen Ur<strong>zu</strong>stand, sondern ist stets gesellschaftlich geformt. TILLMANN (1989, 11) hält<br />

da<strong>zu</strong> fest:<br />

"Alle sozialen <strong>und</strong> materiellen Umweltfaktoren sind so<strong>mit</strong> gesellschaftlich beeinflusst, sie alle können als Bedingungen des<br />

Sozialisationsprozesses Bedeutung erlangen."<br />

Das Modelllernen scheint für die Ausbildung der sozialen <strong>Einstellungen</strong> bei Kindern von entscheidender Bedeutung <strong>zu</strong> sein.<br />

Über die Erwartungshaltung der Umwelt sowie über die vorgelebten Beziehungen in der Umgebung internalisiert das<br />

Subjekt schließlich die Struktur der gesellschaftlichen Verhältnisse. Unbewusste Nachahmung oder bewusste I<strong>mit</strong>ation<br />

setzen "die Gegenwart von mindestens zwei Personen - Modell <strong>und</strong> Beobachter - voraus; dabei kann die Gegenwart des<br />

Modells auch medial ver<strong>mit</strong>telt sein" (ebd., 77). Medien allgemein bzw. Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur im speziellen können<br />

gemeinhin auch als Sozialisatoren, also als Mittler menschlicher Kommunikation, wirken. Welche <strong>Menschen</strong>bilder in<br />

Kinder- <strong>und</strong> Jugendbüchern als Träger von (verdeckten) <strong>Einstellungen</strong> existent sind <strong>und</strong> inwieweit sie der<br />

gesamtgesellschaftlichen (offenen) Einstellungsstruktur ent- oder widersprechen, soll im folgenden Teil herausgearbeitet<br />

werden.<br />

Teil B: <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> in der Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur<br />

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Kind: Behinderte sind Mißgeburten.<br />

Franz: Was ist eine Mißgeburt? Wenn jemand behindert ist?<br />

Lehrerin: Das Kind meint es nicht so. Es war im Haus der Natur. Dort hat es konservierte Mißgeburten gesehen.<br />

Franz: Ist Margit in meinem Buch eine Mißgeburt?<br />

Kind: Ja, Alle Behinderten sind Mißgeburten.<br />

(aus: FRANZ-JOSEPH HUAINIGG:<br />

"Was hat´n der? Kinder über Behinderte."<br />

Klagenfurt 1993, S. 59)<br />

6. Begriffsbestimmung<br />

6.1 Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur<br />

Unter Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur ist Literatur, die speziell für Kinder <strong>und</strong> Jugendliche geschrieben wird, <strong>zu</strong> verstehen.<br />

Historisch betrachtet reichen ihre Wurzeln <strong>zu</strong>rück bis ins späte Mittelalter, wobei Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur immer im<br />

Kontext des historischen Verständnisses von "Kindheit" <strong>und</strong> "Jugend" verstanden werden muss. Kindheit bzw. Jugend<br />

galten im Mittelalter als Vorbereitungsphasen auf das Erwachsenenalter. Entsprechend dienten die <strong>zu</strong> lesenden Texte<br />

ausschließlich belehrenden Zwecken. Kinder nahmen <strong>zu</strong>dem am Literalisierungsprozess der Erwachsenen teil.<br />

Die Anfänge der modernen Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur sind in der zweiten Hälfte des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts fixierbar<br />

(DAHRENDORF 1980). Mit der Epoche der Aufklärung, die eng <strong>mit</strong> dem Namen ROUSSEAU verb<strong>und</strong>en ist, bildete sich<br />

nicht nur der Begriff "Kindheit", wie er heute gebraucht wird, aus, sondern auch die Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur als<br />

eigenständiger Literaturzweig. In den folgenden Jahrzehnten der Romantik gewannen Kinderreime, Sagen, Legenden etc. an<br />

Einfluss. Die Romantik wandte sich <strong>mit</strong> ihrer Betonung von Gefühlen gegen die Aufklärung. Deutlich wird, dass<br />

gesellschaftliche Epochen auch in der Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur Niederschlag finden, so auch etwa 100 Jahre später, in<br />

der nationalsozialistischen Zeit.<br />

Bei der Betrachtung der Entwicklung der deutschsprachigen Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur nach dem Ende des Zweiten<br />

Weltkrieges werden drei aufeinanderfolgende Phasen unterschieden (TABBERT 1986):<br />

• 1950 - ca. 1965: Restaurative Phase : Die Suche nach Ordnung drückte sich in der Darstellung einer heilen Welt /<br />

eines Schonraums, bei gleichzeitigem Erziehungsziel des Gehorsams, aus. Die eigene Kindheit wurde von vielen<br />

Autor/innen reproduziert, Kinder wurden nicht in der Weise dargestellt, wie sie waren, sondern wie sie gewünscht<br />

wurden, dass sie seien.<br />

• ca. 1965 - ca. 1980: Oppositionelle Phase : Statt einer heilen Welt wurden nun <strong>zu</strong>nehmend Probleme der<br />

Gesellschaft, die sich im Erlebnishorizont des Kindes befanden, dargestellt. Deutlich wurde dabei stets, dass auch<br />

Kinder an der Veränderung einer Gesellschaft beteiligt sind.<br />

• ca. 1980 - heute: Emotionale Phase : Etwa <strong>mit</strong> dem b<strong>und</strong>esdeutschen Regierungswechsel drückte sich die<br />

gesellschaftliche Veränderung auch in der Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur aus. Der Blick wurde <strong>zu</strong>nehmend auf das<br />

Kind gelenkt bzw. auf das Innere des Kindes. Kinder sollten sich in einem Buch wiederentdecken, sich einfühlen<br />

können, wobei Einfühlung wichtiger erschien als Einsicht. Die aufklärerische Betrachtung wurde weitgehend<br />

<strong>zu</strong>rückgenommen.<br />

Die geschilderte Entwicklung beschreibt in ihrer knappen Darstellung selbstverständlich lediglich eine Tendenz <strong>und</strong> besitzt<br />

keine Allgemeingültigkeit.<br />

Zusammenfassend kann präzisiert werden, dass Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur<br />

• sowohl in Gattungen wie Romane (Unterteilt in Epik, Dramatik, Lyrik etc.) als auch in Form von Sach- <strong>und</strong><br />

Fachbüchern vertreten ist, wobei Romane wiederum unterteilt werden in verschiedene Genres, von denen vor allem<br />

die realistische von der phantastischen Erzählung <strong>zu</strong> unterscheiden ist;<br />

• unterschieden wird in Bilderbücher (für Kinder in der präliteralen Phase, d.h. ohne Lesekenntnisse), Kinderbücher<br />

(als Gattung für Jungen <strong>und</strong> Mädchen vom ersten Lesealter bis etwa zehn / zwölf Jahre) <strong>und</strong> Jugendbücher<br />

(konzipiert für Heranwachsende vom zwölften Lebensjahr an);<br />

• abhängt ist von drei raum-zeitlichen Bedingungsfaktoren: dem Kindheitsbild einer Zeit, dem Kindheitsbild einer<br />

Kultur <strong>und</strong> dem Bild von der eigenen Kindheit;<br />

• heute in Prinzip zwei Hauptfunktionen wahrnehmen will: die Erziehung <strong>zu</strong>r Literatur (im Sinne von Einführung in<br />

Literatur als Prozess der Literalisierung) sowie die Erziehung durch Literatur (durch Ver<strong>mit</strong>tlung von Kenntnissen<br />

<strong>und</strong> Normen sowie durch Anbieten modellhafter Konfliktlösestrategien als Teil einer Hilfe <strong>zu</strong>r Lebensbewältigung)<br />

(DAHRENDORF 1980).<br />

Besonders die Ver<strong>mit</strong>tlung von Normen in Anlehnung an eine Orientierung an historisch-konkrete Gesellschaftstrukturen<br />

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ist es, die im Zusammenhang <strong>mit</strong> dieser Arbeit von Interesse scheint. Dabei wird der überwiegende Teil der heutigen<br />

Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur, der sich <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> bzw. dessen Trägern auseinandersetzt, der problemorientierten,<br />

realistischen Erzählung <strong>zu</strong>gerechnet. Diese versucht, in erzählerischer Weise die Widersprüchlichkeit der Realität<br />

kindgerecht ab<strong>zu</strong>bilden. "Das problemorientierte Kinderbuch will ganz bewußt Wirklichkeitserfahrungen ver<strong>mit</strong>teln,<br />

bezieht sich dabei aber auf Situationen <strong>und</strong> Verhältnisse, die Komplikationen enthalten (...). Im Gr<strong>und</strong>e genommen handelt<br />

es sich um Konfliktliteratur" (SAHR 1987, V).<br />

Die realistischen, problemorientierten Erzählungen, werden ergänzt durch Sachbücher, die beispielsweise den Tagesablauf<br />

eines beeinträchtigten Kindes beschreiben, sowie selten durch phantastische Erzählungen. Märchen <strong>und</strong> Comics stellen<br />

besondere Gattungen dar, die im Verlauf dieser Arbeit nur am Rande Beachtung finden werden.<br />

7. Historischer Abriss der literalen Darstellung von <strong>Behinderung</strong><br />

Die Darstellung von <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> lässt sich über die Zeit der eigentlichen Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur hinaus<br />

<strong>zu</strong>rückverfolgen. Dies erscheint deshalb interessant, da diese alte Literatur <strong>zu</strong>m einen als historischer Vorläufer der heutigen<br />

Literatur <strong>zu</strong> betrachten ist <strong>und</strong> <strong>zu</strong>m anderen Literatur <strong>zu</strong> allen Zeiten - so RADTKE (1982) - ein (wenn auch gebrochenes)<br />

Abbild der jeweiligen Situation behinderter <strong>Menschen</strong> darstellte, wobei die literarische Verarbeitung von "<strong>Behinderung</strong>"<br />

wesentlich von den literarischen Strömungen einer Epoche <strong>und</strong> da<strong>mit</strong> auch von den historisch-gesellschaftlichen<br />

Gegebenheiten einer Zeit bestimmt war.<br />

In der griechischen Mythologie beispielsweise galt Blindheit als die schwerste Strafe, die die Götter über die <strong>Menschen</strong><br />

verhängen konnten. Doch selbst die Götter empfanden diese Strafe als derart furchtbar, dass sie den betroffenen Personen<br />

<strong>zu</strong>m Ausgleich übermenschliche Kräfte schenkten. Geheimnisvolle Kräfte werden auch in der nordischen Mythologie bzw.<br />

der germanischen Sagenwelt verwandt. Hier sind vor allem Krüppel <strong>und</strong> Bucklige Träger eben dieser Kräfte<br />

(ZIMMERMANN 1982).<br />

Der Gedanke der überirdischen Fähigkeiten ist der altjüdischen Mythologie fremd. Sie attribuiert blinden <strong>Menschen</strong> in<br />

erster Linie Hilflosigkeit <strong>und</strong> verbindet dies <strong>mit</strong> der Auffassung der sozialen Nutzlosigkeit. Dem entspricht, dass in der<br />

hebräischen wie übrigens auch in der ägyptischen Kultur die meisten Blinden Bettler waren.<br />

In der Bibel finden neben Blinden auch Taubstumme <strong>und</strong> Gelähmte Erwähnung. Während im Alten Testament <strong>Behinderung</strong><br />

oft als Strafe Gottes für begangenes Unrecht aufgefasst wird, nutzt das Neue Testament die W<strong>und</strong>erheilungen Jesus´, um<br />

sein göttliches Wirken <strong>zu</strong> offenbaren, wobei der Sündengedanke ausdrücklich abgelehnt wird.<br />

Die Darstellung behinderter <strong>Menschen</strong> während des Mittelalters kann an dieser Stelle nicht ausreichend differenziert<br />

ausgeführt werden. In Fabeln, Sprichwörtern wie auch in Schelmenromanen <strong>und</strong> in Schwänken wurden in dieser Zeit<br />

behinderte <strong>Menschen</strong> in unterschiedlicher Weise dargestellt (ZIMMERMANN 1982, UTHER 1981), wobei sich die dort<br />

<strong>zu</strong>m ersten Mal beobachtete Gebrestenkomik in veränderter Form (sog. "Behindertenwitze") bis heute erhalten hat. Die<br />

allgemein-literarische Darstellung von <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> (vgl. ebd.) soll an dieser Stelle verkürzt werden auf die<br />

Darstellung in Texten, die sich an Kinder wenden.<br />

Märchen gelten dabei als ein Genre, das ursprünglich für erwachsene Rezipienten konzipiert war <strong>und</strong> sich erst allmählich in<br />

Richtung einer Kindheitsliteratur entwickelte. In ihnen wurde die Figur eines behinderten <strong>Menschen</strong> <strong>zu</strong>r Verdeutlichung<br />

bestimmter Charakteristiken relativ häufig verwendet, wobei diese Rollenverteilung als stereotyp angesehen werden kann.<br />

Den buckligen oder blinden Bösewichten standen laut LüTHI (vgl ebd., 65) jedoch viel häufigere positive Darstellungen<br />

gegenüber, in denen behinderte Personen ihre moralische Kraft besonders entfalten.<br />

In der frühen Kinder- <strong>und</strong> Jugenderzählung (im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert) kamen behinderte Protagonisten dagegen eher selten vor<br />

(R. KAGELMANN 1984). Wenn sie auftraten, wurden sie als ungewöhnlich geduldige, tapfere <strong>und</strong> selbstlose <strong>Menschen</strong><br />

dargestellt. Mit der Zunahme der sogenannten realistischen Kinderbücher <strong>zu</strong> Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts nahm die Zahl<br />

der Darstellungen <strong>zu</strong>. Die Schilderungen sogenannter realer Lebensumstände wurden jedoch von unrealistischen Happy-<br />

End-Lösungen begleitet. Mit den allgemeinen Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg bezüglich der Auffassungen von<br />

Kindheit, Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur sowie deren Aufgaben <strong>und</strong> Funktionen fand neben anderen ehemals tabuisierten<br />

Themen, die im "Schonraum Kindheit" nicht thematisiert wurden, auch <strong>Behinderung</strong> bzw. die Lebensumstände von<br />

<strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> allmählich <strong>zu</strong>nehmende Beachtung. Diese Entwicklung setzte sich fort in der unterschiedlichen<br />

Darstellung von <strong>Behinderung</strong>: Abgesehen vom historisch-konkreten Kontext, in dem <strong>Behinderung</strong> unterschiedlich definiert<br />

wurde, waren es in den frühen Erzählungen (in der Restaurativen Phase) fast ausschließlich körperbehinderte <strong>und</strong> blinde<br />

<strong>Menschen</strong>, die dargestellt wurden. Die Darstellung von geistig behinderten <strong>Menschen</strong> erfolgte weitestgehend erst Anfang<br />

der 70er Jahre (Oppositionelle Phase). Die <strong>zu</strong>nehmende Darstellung dieser auch in der Realität am längsten <strong>und</strong> am<br />

stärksten von der gesellschaftlichen Teilhabe isolierten <strong>Menschen</strong> wird als Reaktion auf die <strong>zu</strong>nehmende öffentliche<br />

Beachtung dieser <strong>Menschen</strong> gewertet. Seit dem Ende dieser literalen Epoche wurden auch vereinzelt psychische<br />

Beeinträchtigungen in Kinder- <strong>und</strong> Jugendbüchern thematisiert.<br />

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8. Das Thema "<strong>Behinderung</strong>" in der Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur<br />

Worte <strong>und</strong> Bilder bestimmen unser Denken. Manchmal geben sie Hoffnung. Entscheidend ist, daß sie uns helfen <strong>zu</strong> lernen.<br />

Was wir <strong>zu</strong> lernen haben, ist so schwer <strong>und</strong> doch so einfach <strong>und</strong> klar: Es ist normal, verschieden <strong>zu</strong> sein.<br />

RICHARD V. WEIZSäCKER<br />

8.1 Verteilungshäufigkeit von <strong>Behinderung</strong>sformen:<br />

Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur vs. Realität<br />

Die umfangreichen Untersuchungen von AMMAN / BACKOFEN / KLATTENHOFF (1987) <strong>und</strong> ZIMMERMANN<br />

(1982) kommen übereinstimmend <strong>zu</strong> dem Ergebnis, dass die quantitative Darstellung einzelner <strong>Behinderung</strong>sformen in der<br />

Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur ein großes Übergewicht der Körperbehinderungen erkennen lassen. Diese werden <strong>mit</strong><br />

deutlichem Abstand gefolgt von den Sehbeeinträchtigungen <strong>und</strong> den geistigen <strong>Behinderung</strong>en. <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> Sprach- oder<br />

Hörbehinderungen werden dagegen seltener erwähnt. Lernbehinderungen, Verhaltensauffälligkeiten, psychische<br />

Beeinträchtigungen <strong>und</strong> andere <strong>Behinderung</strong>sarten tauchen in der Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur nur vereinzelt auf.<br />

<strong>Behinderung</strong>sform Realität Kinder- <strong>und</strong><br />

Jugendliteratur<br />

Körperbehinderungen KB 19,6 60,0<br />

Geistige <strong>Behinderung</strong>en GB 16,8 10,0<br />

Lernbehinderungen (incl. LRS) LB 33,4 0,5<br />

Verhaltensauffälligkeiten VA 4,7 0,0<br />

Sprachbehinderungen SpB 6,6 2,7<br />

Hörbehinderungen HB 4,6 3,2<br />

Sehbehinderungen SB 6,0 17,7<br />

Chron. Kranke & Anfallsleiden Chron. 7,6 1,9<br />

sonstige Sonst. 0,7 4,0<br />

Gesamt 110,0 100,0<br />

Die Darstellung von <strong>Behinderung</strong>en in der Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur entspricht quantitativ in keiner Weise den realen<br />

Gegebenheiten. Sie stellt kein repräsentatives Abbild der Verteilung in der Realität dar, sondern orientiert sich an medialen<br />

Bedingungen<br />

Die Gründe für die Bevor<strong>zu</strong>gung einzelner <strong>Behinderung</strong>sformen dürften im gesellschaftlichen Verständnis von <strong>Behinderung</strong><br />

liegen, nach dem Beeinträchtigungen in erster Linie anhand von Visibilität <strong>und</strong> funktionalen Kommunikationsproblemen<br />

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markiert werden. Zudem lassen sich evidente Beeinträchtigungen sowohl in Schrift als auch im Bild leichter darstellen als<br />

andere.<br />

Die Abbildung einzelner <strong>Behinderung</strong>sformen folgt dem in den sozialpsychologischen Untersuchungen festgestellten<br />

Gr<strong>und</strong>satz, dass je schwerer eine Beeinträchtigung sei, desto leichter die Kategorisierung erscheint. Durch höhere<br />

Schulanforderungen erst beobachtbare "<strong>Behinderung</strong>en des Lernens" werden <strong>zu</strong>m einen gesellschaftlich nur bedingt als<br />

<strong>Behinderung</strong> begriffen <strong>und</strong> lassen sich <strong>zu</strong>m anderen in Kinder- <strong>und</strong> Jugendbüchern schwerer darstellen als<br />

<strong>Behinderung</strong>sformen, dessen Schwere oder Visibilität eine bestimmte Kategorisierung impliziert.<br />

Blindheit gilt laut der Sozialpsychologie neben der geistigen <strong>Behinderung</strong> als eine der Beeinträchtigungen, die<br />

gesellschaftlich als besonders schwere Beeinträchtigungen aufgefasst werden. Gleichzeitig werden blinden <strong>Menschen</strong> - den<br />

Untersuchungen entsprechend - eine große soziale Akzeptanz entgegengebracht. Dies kann als ein Interpretationsmodell<br />

für die überrepräsentative Darstellung von blinden <strong>Menschen</strong> in der Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur verstanden werden. Die<br />

verstärkte Darstellung von sozial akzeptierten Beeinträchtigungen bei weitgehender Negierung anderer Beeinträchtigungen<br />

macht die soziale Distanz von Kinder- <strong>und</strong> Jugendbuchautor/innen <strong>zu</strong> bestimmten Formen von <strong>Behinderung</strong>en (bzw. deren<br />

Trägern) deutlich.<br />

Nach THIMM (in: AMMAN / BACKOFEN / KLATTENHOFF 1987, 9-12) ist es angesichts der zahlenmäßigen<br />

Überrepräsentanz einzelner <strong>Behinderung</strong>sformen <strong>zu</strong>dem denkbar, dass Körperbehinderungen <strong>und</strong> vor allem Blindheit noch<br />

immer den Reiz des "Andersartigen", des "Heroischen" ausmache, das <strong>mit</strong> "geheimnisvollen, übernatürlichen Begabungen"<br />

verb<strong>und</strong>en sei, <strong>und</strong> deshalb als beliebter literarischer Inhalt herhalten müsse.<br />

8.2 Das Behinderten-Bild: Visualisierung von <strong>Behinderung</strong><br />

Die Visibilität einer Beeinträchtigung gilt den Ergebnissen der Einstellungsforschung <strong>zu</strong>folge als bedeutendste Determinante<br />

der Sozialen Reaktion. Die visuelle Darstellung von Kindern <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> in Kinder- <strong>und</strong> Jugendbüchern orientiert sich<br />

an diesem Gr<strong>und</strong>satz: Eine eindeutige Darstellung erleichtert die Kategorisierung.<br />

Bild <strong>und</strong> Text eines Buches können einander unterstützen oder sich auch widersprechen. Bilder sollten im Idealfall die<br />

Botschaft des Textes steigern, sie eignen sich jedoch auch da<strong>zu</strong>, eine geschilderte, problematische Wirklichkeit durch<br />

fre<strong>und</strong>liche, niedliche Bilder <strong>zu</strong>rück<strong>zu</strong>nehmen.<br />

Die Fokussierung des Blickwinkels auf bestimmte Elemente menschlicher Erscheinungsformen erscheint insofern schwierig,<br />

als dass beim Betrachten des Bildes nicht der Mensch oder sein Erleben, sondern einzig <strong>und</strong> allein seine von der Norm<br />

abweichende optische Erscheinung im Mittelpunkt der Betrachtung steht.<br />

Abb.: Beispiel Down-Syndrom TVEIT 1991 (links) <strong>und</strong> FLEMING / COOPER 1998 (rechts)<br />

Das in Bilderbüchern oft verwendete Kindchenschema (übergroßer Kopf, Kulleraugen, kleiner M<strong>und</strong>) lässt in Verbindung<br />

<strong>mit</strong> anderen Klischees (übergroße Hornbrille etc.) ein behindertes Kind als schwach erscheinen. Eine solche Darstellung<br />

appelliert auf einer vordergründigen, visuellen Ebene an den Pflege- <strong>und</strong> Schutztrieb der Leser/innen (HUMBERT in:<br />

AMMAN / BACKOFEN / KLATTENHOFF 1987, 74ff).<br />

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Beispiel: "Dann kroch Martin durch den Zaun", DESMAROWITZ 1979<br />

Der Bilderbuch-Martin - von KRENZER (1981) ironisch als Universal-Behinderter bezeichnet - soll offensichtlich<br />

emotional betroffen machen <strong>und</strong> an den Pflege- <strong>und</strong> Schutztrieb der Leser/innen appellieren.<br />

Da<strong>mit</strong> er so recht armselig wirkt, müssen alle nur erdenklichen <strong>Behinderung</strong>en auf ihn einwirken: Geistige <strong>Behinderung</strong>,<br />

Motorische <strong>Behinderung</strong>, Sprachbehinderung (Stottern), Sehbehinderung. Der "krumme dumme Martin" kann schlecht<br />

laufen, schlecht sprechen, er hält den Kopf schief, hinter dicken Brillengläsern wirken die Augen riesig. "Martin sieht<br />

wirklich anders aus: Sein M<strong>und</strong> steht meistens offen <strong>und</strong> auf der Unterlippe glänzt ein Speicheltropfen."<br />

Verstärkt wird die Personenbeschreibung durch die Beschreibung der Interaktionen von Martin <strong>mit</strong> seiner Umwelt: Von<br />

den anderen Kindern wird er gehänselt, von Erwachsenen als behindert abgestempelt. Martin scheint gesellschaftlich<br />

hochgradig isoliert.<br />

Doch auch ohne die schriftsprachlich codierten Informationen des Textes gelingt es der Autorin anhand nur einer einzigen<br />

Darstellung, ihren Protagonisten auf der visuellen Ebene für die Rezipient/innen so schutzbedürftig wie nur irgend möglich<br />

dar<strong>zu</strong>stellen, um an das Mitleid der Leser/innen <strong>zu</strong> appellieren.<br />

In dem beschriebenen Beispiel handelt es sich eindeutig nicht um die Zurücknahme einer gesellschaftlichen Wirklichkeit<br />

durch "niedliche" Bilder. Dieses Buch ist ein Beispiel für eine Kompatibilität von Bild <strong>und</strong> Text: Beide Botschaftsebenen<br />

unterstützen sich gegenseitig. In guter Absicht hat hier eine Autorin versucht, Emotionalität (Mitleid) für behinderte<br />

Personen <strong>zu</strong> wecken. Für diesen Zweck bedient sie sich neben der angesprochenen Visualisierung mehrerer linearer<br />

Denkmuster, die ich etwas später unter dem Begriff "Strukturelle Strickmuster" aufzeigen werde. Zu vermuten wäre, dass<br />

die Einstellung der Autorin wesentlich auf Mitleid gegenüber behinderten <strong>Menschen</strong> basiert. Dabei kann sie als<br />

Repräsentantin des überwiegenden Teils unserer Gesellschaft gelten: Laut VON BRACKEN (1976) empfanden 98,6% aller<br />

Respondenten seiner Studie Mitleid gegenüber einem Kind <strong>mit</strong> einer geistigen <strong>Behinderung</strong>. Dass Mitleid gegenüber<br />

behinderten Personen eine Form eigenen, projizierten Leids darstellen kann <strong>und</strong> dabei stark isolierend wirkt, wurde im<br />

ersten Teil der Arbeit bereits deutlich gemacht.<br />

Zu vermuten ist weiterhin, dass <strong>Menschen</strong>, die eigene Erfahrungen <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> oder <strong>mit</strong> behinderten <strong>Menschen</strong><br />

gemacht haben, ihre Erfahrungen auch in Bildern ausdrücken. Das veränderte Welt- <strong>und</strong> <strong>Menschen</strong>bild derjenigen<br />

Autor/innen drückt sich entsprechend in ihren Werken aus, die <strong>mit</strong>hin andere "Behindertenbilder" ver<strong>mit</strong>teln, als dies<br />

beispielsweise DESMAROWITZ tut.<br />

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Ein Beispiel für diese Hypothese ist das Bilderbuch von FRANZ-JOSEPH HUAINIGG, dessen eigene Erfahrungen als<br />

Mensch <strong>mit</strong> einer körperlichen <strong>Behinderung</strong> in seinem Werk verarbeitet sind. Dabei wird der Blick der betrachtenden<br />

Person weder in Text noch in Bild auf die Beeinträchtigung oder auf äußere, phänomenologische Erscheinungen gelenkt:<br />

Beim Betrachten seines von ANNEGRET RITTER illustrierten Werkes richtet sich die Aufmerksamkeit des Betrachters /<br />

der Betrachterin auf das Leben <strong>mit</strong> einer <strong>Behinderung</strong>, was an nachfolgendem Beispiel veranschaulicht werden soll. Möglich<br />

wird eine solche Betrachtungsweise erst durch die Abkehrung von personenzentrierten Portraits <strong>und</strong> durch die<br />

Hinwendung <strong>zu</strong>r Darstellung von Tätigkeiten, die die betroffene Person ausführt.<br />

Beispiel: Meine Füße sind der Rollstuhl", HUAINIGG 1992<br />

Erzählt wird die Geschichte eines fiktiven Tages aus dem Leben Margits. Der Tag beginnt <strong>mit</strong> der Darstellung des<br />

Aufstehens. Die Illustration leitet das Buch ein; der Blick der rezipierenden Person richtet sich auf die behinderte Person<br />

Margit; dies jedoch in einem sozialen Kontext, d.h. bei der Verrichtung alltäglicher Vorgänge. Deutlich werden die<br />

Schwierigkeiten, die sich bereits <strong>mit</strong> der Verrichtung von Alltagstätigkeiten (z.B. Aufstehen, Einkaufen) ergeben sowie die<br />

Selbstverständlichkeit, <strong>mit</strong> der Margit <strong>mit</strong> diesem Handicap umgeht.<br />

Im Vordergr<strong>und</strong> steht so<strong>mit</strong> das Leben <strong>mit</strong> der körperlichen <strong>Behinderung</strong> <strong>und</strong> nicht die <strong>Behinderung</strong> an sich. Anders<br />

ausgedrückt ist die aufgeworfene Frage nicht mehr, welche <strong>Behinderung</strong> ein Mensch ´hat´, sondern durch welche<br />

Gegebenheiten das Leben erschwert, d.h. behindert wird.<br />

Im Hinblick auf Visualisierung von <strong>Behinderung</strong>en verdient die Kategorie "Comic", die in den sonstigen Teilen dieser Arbeit<br />

weitestgehend unberücksichtigt bleibt, besondere Beachtung. Comics <strong>mit</strong> ihrem dominierenden Bildcharakter sind auf<br />

starke Visualisierungsmechanismen angewiesen. Hier werden oftmals ganze Persönlichkeitsmerkmale verbildlicht:<br />

Bösewichter haben in der Regel einen Holzfuß oder auch andere unästhetische Merkmale. Diese Botschaften können <strong>mit</strong><br />

Hilfe einer Zeichnung verschlüsselt werden, so dass Leser/innen sie implizit aufnehmen. Die Art der Zeichnung ermöglicht<br />

es, daß charakterliche Eigenschaften wie Bosheit, Kriminalität etc. von den Leser/innen so verstanden werden, wie sie vom<br />

Zeichner / von der Zeichnerin intendiert sind.<br />

Zusätzlich bedienen sich Comics dem Prinzip der zeichnerischen Schlüsselsymbole. <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> können als<br />

solche <strong>mit</strong> Hilfe eines Schlüsselsymbols, wie z.B. Rollstuhl, Blindenh<strong>und</strong> oder Langstock gekennzeichnet werden, ohne<br />

dass die <strong>Behinderung</strong> im Text erwähnt werden muss. Mit diesen Schlüsselsymbolen werden dann in der Regel Attribute<br />

wie Schwäche <strong>und</strong> Hilfsbedürftigkeit verb<strong>und</strong>en (ZIMMERMANN 1982).<br />

8.3 Prinzipien der Darstellung einiger <strong>Behinderung</strong>sformen<br />

Neben der Bevor<strong>zu</strong>gung evidenter <strong>Behinderung</strong>sformen ist als eine zweite Tendenz die Reduzierung der Ausprägungen<br />

einzelner Beeinträchtigungen auf Extreme fest<strong>zu</strong>stellen (ZIMMERMANN 1982). Differenzierungen innerhalb einer<br />

Kategorie sind selten <strong>zu</strong> finden.<br />

Körperliche <strong>Behinderung</strong>en<br />

Die dargestellten körperlich beeinträchtigten Personen in der Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur werden <strong>zu</strong>meist entweder als<br />

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Rollstuhlfahrer/innen oder als Gehbehinderte abgebildet. Das körperliche Erscheinungsbild ist in 64% der von<br />

ZIMMERMANN (1982) untersuchten Werke als nicht abweichend dargestellt, was darauf schließen lässt, dass sich ein<br />

Großteil der dargestellten Beeinträchtigungen auf evidente <strong>und</strong> leicht darstellbare Einschränkungen der<br />

Fortbewegungsmöglichkeit beschränkt. Schwieriger dar<strong>zu</strong>stellende Beeinträchtigungen wie z.B. Cerebralparese kommen nur<br />

selten vor. Diagnosen oder Hintergr<strong>und</strong>informationen finden sich nur selten, die Darstellung bleibt, die Schädigung<br />

betreffend, verkürzt (BACKOFEN / SCHWEDES in: AMMAN / BACKOFEN / KLATTENHOFF 1987, 129ff).<br />

Unterstützende Hilfs<strong>mit</strong>tel, z.B. alternative Kommunikationsmethoden (BLISS, u.a.) finden sich meines Wissens in<br />

Kinder- <strong>und</strong> Jugendbüchern nicht.<br />

Geistige <strong>Behinderung</strong>en<br />

Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte, in denen vermehrt Kinder <strong>mit</strong> geistigen <strong>Behinderung</strong>en (darunter auch <strong>zu</strong>nehmend<br />

Kinder <strong>mit</strong> sog. "Schwerstbehinderungen") als Haupt- <strong>und</strong> da<strong>mit</strong> auch als Identifikationsfigur dargestellt wurden, erscheint<br />

meiner Ansicht nach noch nicht abgeschlossen. So sind die meisten Bücher, die von <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> geistiger <strong>Behinderung</strong><br />

handeln, für Jugendliche <strong>und</strong> weniger für Kinder konzipiert. Offensichtlich wird die Konfrontation von Kindern <strong>mit</strong><br />

solchen Entwicklungsformen menschlichen Lebens noch immer nicht als angebracht empf<strong>und</strong>en.<br />

Zudem fehlt es den Autor/innen augenscheinlich an geeigneten literarischen Mitteln, geistige <strong>Behinderung</strong> im Kinder- <strong>und</strong><br />

Jugendbuch adäquat ab<strong>zu</strong>bilden. In der Regel sind die Bücher, in denen geistige <strong>Behinderung</strong> thematisiert wird, in der Form<br />

eines äußeren Erzählers aufgebaut; dies ist in vielen Fällen ein Geschwisterkind des behinderten Kindes. Mir ist -<br />

autobiografische Werke wie z.B. NIGEL HUNTs "Tagebuch eines mongoloiden Jungen" ausgenommen - kein Kinder- oder<br />

Jugendbuch bekannt, das die Welt aus der Sicht eines geistig behinderten Kindes beschreibt <strong>und</strong> sich da<strong>zu</strong> der Ich-Form<br />

bedient.<br />

Meiner Ansicht nach spiegelt sich darin die gesellschaftliche Einstellungsstruktur wider. Die Einstellungsforschung hat sehr<br />

deutlich beschrieben, dass die Gruppe der <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> geistiger <strong>Behinderung</strong> diejenige Gruppe unter den behinderten<br />

<strong>Menschen</strong> ist, deren <strong>Behinderung</strong> als besonders schwer angesehen wird, ihnen gleichzeitig jedoch sehr negativ <strong>mit</strong> Ekel <strong>und</strong><br />

Abscheu sowie <strong>mit</strong> Mitleid begegnet wird. Quantitativ stellen <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> geistiger <strong>Behinderung</strong> <strong>mit</strong> 10% die drittgrößte<br />

Gruppe unter den einzelnen, dargestellten <strong>Behinderung</strong>sformen innerhalb der Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur. Qualitativ<br />

gesehen scheint es den Autor/innen nicht <strong>zu</strong> gelingen, sich in das Wahrnehmungs- <strong>und</strong> Denkniveau eines <strong>Menschen</strong><br />

hinein<strong>zu</strong>versetzen, der allgemein als geistig behindert bezeichnet wird. Dies drückt sich u.a. darin aus, dass sich kaum ein<br />

Autor / eine Autorin darauf einlässt, die Perspektive eines <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> einer geistigen <strong>Behinderung</strong> ein<strong>zu</strong>nehmen. Ein<br />

Versuch, dieses <strong>zu</strong> tun, ist z.B. PETER HäRTLINGs "Das war der Hirbel", in dem der Autor <strong>zu</strong>sätzlich unterschwellig<br />

Kritik übt am Anstaltswesen <strong>und</strong> da<strong>mit</strong> an bestehenden gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen.<br />

Wenn <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> einer geistigen <strong>Behinderung</strong> sowie ihre Handlungen <strong>und</strong> Verhaltensweisen dargestellt werden sollen,<br />

verwenden Autor/innen sehr häufig die Darstellung aus der Sicht einer Person, die der behinderten Person sehr nahe steht,<br />

wie z.B. Geschwister. Von einigen Autor/innen, denen es auf diese Weise gelungen ist, <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> geistiger <strong>Behinderung</strong><br />

adäquat dar<strong>zu</strong>stellen (wie z.B. RENATE WELSH), ist bekannt, dass sie sich selbst in ihrem Leben <strong>mit</strong> <strong>Menschen</strong><br />

auseinandergesetzt haben, die wir als geistig behindert bezeichnen. Die freiwillige, emotional positiv erlebte<br />

Auseinanderset<strong>zu</strong>ng scheint auch bei Autor/innen Schrittmacher bei der Entwicklung einer positiven Einstellung <strong>zu</strong> sein,<br />

die sie da<strong>zu</strong> bewegte, ihre Erfahrungen an junge Leser/innen weitergeben <strong>zu</strong> wollen.<br />

Sehbehinderungen<br />

In den von ZIMMERMANN (1982) untersuchten Werken, in denen sehbehinderte Personen dargestellt wurden, waren<br />

95% dieser <strong>Menschen</strong> als blind charakterisiert. Sehbehinderung wird <strong>mit</strong>hin <strong>zu</strong> einem - unrealistischen - Extrem polarisiert.<br />

Laut SCHNEIDER (in: AMMANN / BACKOFEN / KLATTENHOFF 1987, 99) erlangen blinde <strong>Menschen</strong> in vielen<br />

Büchern ihr Augenlicht wieder: oftmals auf sehr w<strong>und</strong>erlicher Weise, weniger durch konkrete medizinische Eingriffe. Dies<br />

kann ich bei der Durchsicht heutiger Werke nicht bestätigen.<br />

Bei der von SCHNEIDER beobachteten Darstellung wird die stärkere, kompensatorische Herausbildung der anderen Sinne<br />

bei Beeinträchtigung des visuellen Systems in der Regel nicht als ein logisches Produkt menschlicher, sensomotorischer<br />

Entwicklung erklärt, sondern meistens als eine "Gabe an die vom Schicksal Benachteiligten" gedeutet. <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> einer<br />

Sehbehinderung werden - im Gegensatz <strong>zu</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> körperlichen oder geistigen <strong>Behinderung</strong>en - in ihrem äußeren<br />

Erscheinungsbild oft als ausgesprochen schön beschrieben. Hilfs<strong>mit</strong>tel (z.B. Braille) sind in den Darstellungen der Kinder<strong>und</strong><br />

Jugendliteratur wieder<strong>zu</strong>finden.<br />

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Hörbehinderung<br />

Auch bei dieser Gruppe innerhalb der Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur wird deutlich, wie sehr der gesellschaftliche Eindruck<br />

von <strong>Behinderung</strong> optisch ver<strong>mit</strong>telt ist. Die bildlichen Darstellungen in den Kinder- <strong>und</strong> Jugendbüchern stellen - ja nach<br />

Intention des Buches - Kinder entweder in Spielsituationen dar (in denen optisch keine Beeinträchtigung ausgemacht<br />

werden kann), oder sie zeigen die Kinder in Therapiesituationen, in denen durch die inhaltliche Gestaltung das Augenmerk<br />

auf die Hörschädigung gelenkt wird.<br />

Selten wird zwischen angeborener <strong>und</strong> später erfolgter Hörbeeinträchtigung unterschieden. Die Darstellungen konzentrieren<br />

sich in der Regel auf defektologische Schädigungen, während durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen forcierte<br />

Schwierigkeiten im alltäglichen Leben wie auch Hilfs<strong>mit</strong>tel, die die Lebensführung <strong>mit</strong> einer Hörbeeinträchtigung erleichtern,<br />

nur in wenigen Büchern dargestellt werden.<br />

Gebärdensprache wird gelegentlich, aber nicht durchgehend in Kinder- <strong>und</strong> Jugendbüchern geschildert. Hier könnte<br />

möglicherweise das "orale Dogma" präsent sein. Dass durch das Erlernen der Gebärdensprache hörende <strong>Menschen</strong> in die<br />

Lage versetzt würden, in einen Dialog <strong>mit</strong> hörbeeinträchtigten bzw. gehörlosen <strong>Menschen</strong> <strong>zu</strong> treten, wird weitestgehend<br />

ausgeklammert.<br />

Sprachbehinderungen<br />

Die meisten Darstellungen von Personen <strong>mit</strong> Sprachbehinderungen beziehen sich auf <strong>Menschen</strong>, deren Redefluss gestört ist<br />

(meist: Stottern). Andere Sprachbeeinträchtigungen werden so gut wie nicht aufgegriffen.<br />

Diese Reduktion sowie die Tatsache, dass nur wenige stotternd gesprochene Sätze in einem Text ausreichen, um eine<br />

Person negativ <strong>zu</strong> typisieren, lässt vermuten, dass die Darstellung von sprachbehinderten <strong>Menschen</strong> ein vergleichsweise<br />

negatives Bild zeichnet.<br />

Dieses Schema findet sich sehr häufig in Comics. Dort werden sie als humoristisches Element verwandt. Comic-Figuren<br />

werden Sprachfehler attribuiert, da<strong>mit</strong> sich die Rezipient/inn/en über diese Figuren amüsieren können.<br />

Es stellt sich die Frage, warum ausgerechnet die <strong>Behinderung</strong>sform der Sprachbehinderung verwendet wird, um Komik <strong>zu</strong><br />

erzielen. Eine mögliche Antwort gibt ZIMMERMANN (1982). Sie ist der Meinung, dass z.B. <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> einer<br />

Blindheit oder einer Körperbehinderung als schwer behindert gelten, sie folglich vor offenen negativen Reaktionen (wie<br />

Auslachen, Verspotten etc.) geschützt würden. Diese Ansicht wird unterstützt durch die in dieser Arbeit bereits<br />

dargelegten Ergebnisse der Einstellungsforschung. Einer Sprachbehinderung würde laut ZIMMERMANN ein solcher<br />

Behindertenstatus nicht oder nur teilweise <strong>zu</strong>erkannt. So<strong>mit</strong> entfallen die Schutznormen vor negativen Reaktionen.<br />

8.4 Darstellung der behinderten Person: Strukturelle "Strickmuster"<br />

Bei der Durchsicht der Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur fällt auf, dass es eine Reihe von Gr<strong>und</strong>formen <strong>und</strong> Verarbeitungsmuster<br />

gibt, die in der Realität, im Leben von Kindern <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> eher selten, in der Literatur jedoch sehr häufig auftreten.<br />

Der von BACKOFEN (in: AMMAN / BACKOFEN / KLATTENHOFF 1987, 18-23) verwendete Begriff des<br />

"Strickmusters" verdeutlicht die stereotype Ausrichtung bestimmter Darstellungsformen, von denen einige im Folgenden<br />

dargestellt <strong>und</strong> <strong>mit</strong> Beispielen belegt werden sollen. Werden stereotype "Strickmuster" stark vereinfacht oder überzogen,<br />

entsteht die Gefahr, dass bei der rezipierenden Person ein stark vereinfachtes, verzerrtes <strong>und</strong> stereotypes Bild von<br />

<strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> verfestigt wird. Die Häufung von solchen Strickmustern ist ein Anzeichen für sehr dominante<br />

stereotype Einstellungsmuster auf Seiten der Autor/innen.<br />

8.4.1 <strong>Behinderung</strong> als etwas Böses / <strong>Behinderung</strong> als Dumm-sein<br />

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Diese Sichtweise von <strong>Behinderung</strong> bezieht sich im Wesentlichen auf die alten Volksmärchen. <strong>Behinderung</strong> in Verbindung<br />

<strong>mit</strong> den Märchen der GEBRüDER GRIMM löst in der Regel Assoziationen an die böse Hexe <strong>mit</strong> ihrer langen krummen<br />

Nase (in "Hänsel <strong>und</strong> Gretel") oder an Bucklige, die immer das Böse darstellen, aus.<br />

Körperlich unattraktiven Personen werden nach den Ergebnissen der Einstellungsforschung eher sozial unerwünschte<br />

Attribute <strong>zu</strong>geordnet. Die Verbindung zwischen (<strong>zu</strong>meist körperlicher) <strong>Behinderung</strong> <strong>und</strong> Boshaftigkeit scheint ein häufiges<br />

Merkmal in Märchen <strong>zu</strong> sein. <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> werden als schlecht, hintertrieben, listig <strong>und</strong> abstoßend<br />

dargestellt. Da ein Mensch <strong>mit</strong> einer <strong>Behinderung</strong> nur selten <strong>zu</strong>m Märchenheld werden kann, wird er von vornherein da<strong>zu</strong><br />

bestimmt, den negativen Part <strong>zu</strong> übernehmen.<br />

Neben den körperlichen Beeinträchtigungen werden in vielen Märchen (besonders stark in den russischen Volksmärchen)<br />

"dumme" <strong>Menschen</strong> dargestellt, oftmals in der Form des dritten Sohnes, der von seinen Brüdern verspottet wird.<br />

Beispiel: "Das fliegende Schiff", MäRCHEN DER VöLKER DER SOWJETUNION 1987<br />

"Es lebte einst ein alter Mann <strong>mit</strong> seinem Weib. Sie besaßen drei Söhne: Zwei waren klug, der dritte war ein Dummerjan.<br />

Die alten Leutchen liebten die klugen Söhne (...), <strong>mit</strong> Dummerjan aber trieben alle ihren Spott <strong>und</strong> schalten ihn"<br />

Beispiel: "Die goldene Gans", GEBRüDER GRIMM 1977<br />

"Es war ein Mann, der hatte drei Söhne, davon hieß der jüngste der Dummling <strong>und</strong> wurde verachtet <strong>und</strong> verspottet <strong>und</strong> bei<br />

jeder Gelegenheit <strong>zu</strong>rückgesetzt"<br />

Während die Brüder meist habgierig erscheine n, ist der "Dumme" hilfsbereit <strong>und</strong> teilt das Wenige, was er hat, gerne. Der<br />

"Dumme" wird hier jedoch keinesfalls <strong>mit</strong> dem geistig behinderten <strong>Menschen</strong> gleichgesetzt. Mit dem "Dummerling" ist<br />

meistens der reine Tor gemeint, der unerfahren, tolpatschig <strong>und</strong> nicht gescheit wirkt (KRENZER 1981). Seine<br />

Gutherzigkeit wird meist erst gegen Ende des Märchens deutlich. <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> können in Märchen so<strong>mit</strong><br />

durchaus auch als sympathische Handlungsfigur erscheinen, der in der literalen Handlung Vorurteile entgegengebracht<br />

werden. KILIAN (1967, vgl. ZIMMERMANN 1982, 66) differenziert den "Dummen" im Märchen dahingehend, dass es<br />

neben anderen Darstellungen eine Ausrichtung auf "Dumme" gibt, die nicht aus Erfahrungen lernen, sondern vielmehr<br />

immer dieselben Fehler begehen. Mit diesen Darstellungen dürften am ehesten die <strong>Menschen</strong> geschildert worden sein, die<br />

allgemein als "geistig behindert" bezeichnet werden.<br />

8.4.2 <strong>Behinderung</strong> als Strafe<br />

Die Darstellung von <strong>Behinderung</strong> als (göttliches) Schicksal ist in verstärktem Maße in der älteren Kinder- <strong>und</strong><br />

Jugendliteratur <strong>zu</strong> finden (vgl. auch UTHER 1981). Eine <strong>Behinderung</strong> ist von der sie tragenden Person sowie von dessen<br />

Umfeld als unabänderlich hin<strong>zu</strong>nehmen. Diese Auffassung ist auch in der gesellschaftlichen Einstellungsstruktur<br />

wieder<strong>zu</strong>finden: Laut der Untersuchung VON BRACKENs (1976) wird <strong>Behinderung</strong> von etwa 38% (ebd., 358) der<br />

Gesellschaft <strong>und</strong> von 66% der Elternschaft behinderter Kinder (ebd., 375) als Schicksalsschlag des Lebens empf<strong>und</strong>en, der<br />

hingenommen werden müsse. Die Einstellungsforschung macht ebenfalls deutlich, dass (<strong>zu</strong>mindest bis in die jüngere<br />

Vergangenheit) die Geburt eines behindertes Kind von vielen Mitgliedern der Gesellschaft als Strafe für das Fehlverhalten<br />

der Eltern aufgefasst wurde (ebd., 362).<br />

Die Auffassung von <strong>Behinderung</strong> als Schicksalsschlag <strong>und</strong> vor allem als Strafe wird in der heutigen Kinder- <strong>und</strong><br />

Jugendliteratur nur noch selten aufgegriffen.<br />

Beispiel: "Gänseblümchen für Christine", RüCK 1989<br />

» Alle sagen immer: Ich weiß es nicht, oder sie sagen gar nichts. Und doch ist Gott schuld daran. Vielleicht, ja<br />

wahrscheinlich, ganz sicher sogar hat er Mama <strong>und</strong> Papa bestrafen wollen, weil sie irgend etwas getan haben, was er nicht<br />

wollte. Aber was? Es muß etwas sehr Schlimmes gewesen sein, wofür sie eine solch strenge Strafe bekommen haben."<br />

« (S.18)<br />

8.4.3 Musterkrüppel: Behinderte <strong>Menschen</strong> als äußerst angepasste Wesen<br />

Die Darstellung von <strong>Behinderung</strong> als Strafe ist eng verknüpft <strong>mit</strong> der Darstellung von behinderten <strong>Menschen</strong> als<br />

Musterkrüppel. Es entstand ein Bild des lieben <strong>und</strong> geduldigen Behinderten, der keinerlei Schwächen oder negative<br />

Verhaltensformen zeigt. Ein solcher Mensch, angepasst <strong>und</strong> liebenswürdig, stellt keine Bedingungen <strong>und</strong> keine<br />

Forderungen. Dieses Strickmuster entspricht durchaus gesellschaftlichen Ansichten: Nach SAXER (1970, angef. n.:<br />

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LENZEN 1985, 48) sei Dankbarkeit für 45% der Befragten eine Eigenschaft, die behinderte <strong>Menschen</strong> charakterisiere.<br />

Beispiel: "Heidi", SPYRI (vgl. AMMAN / RIES in: AMMAN / BACKOFEN, KLATTENHOFF 1987, 58-73)<br />

Die im Rollstuhl sitzende Klara entspricht dem Idealbild eines "Musterkrüppels": Sie ist dankbar, sanftmütig, beklagt sich<br />

nie <strong>und</strong> stellt keine Forderungen an ihre Mitmenschen.<br />

8.4.4 Tyrannen: Behinderte <strong>Menschen</strong> als <strong>und</strong>ankbare Zeitgenossen<br />

Mit der Oppositionellen Phase Anfang der Siebziger Jahre änderte sich diese Darstellungsweise. Während wenige<br />

Autor/innen die bisherige Darstellung <strong>und</strong> gesellschaftliche Denkweise des Musterkrüppels in ihren Werken kritisch<br />

karikierten (z.B. KLEE 1974), erwuchs durch viele Darstellungen ein neues Stereotyp (ZIMMERMANN 1982, 141f).<br />

Nun wurden <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> auch unfre<strong>und</strong>lich oder aggressiv dargestellt; dies indes nicht im Rahmen sozialer<br />

Interaktionen, sondern als Teil ihrer Persönlichkeit. Behinderte <strong>Menschen</strong> seien zynisch, argwöhnisch, <strong>und</strong>ankbar,<br />

verbittert <strong>und</strong> aggressiv, wobei einer dieser <strong>Menschen</strong> alle behinderte <strong>Menschen</strong> symbolisieren sollte: Das Erscheinungsbild<br />

wurde verallgemeinert (BACKOFEN in: AMMANN / BACKOFEN / KLATTENHOFF 1987, 18f).<br />

Bei der Darstellung eines <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> als einen Tyrannen leiden die Personen in seiner Umgebung unter<br />

dessen negativen Eigenschaften. Nur wenigen Autor/innen ist es dabei gelungen, die eigentlichen Ursachen für diese<br />

Verhaltensweisen, seien es Mitleid, Ausgren<strong>zu</strong>ng oder andere sozial-gesellschaftliche Erfahrungen, auf<strong>zu</strong>zeigen.<br />

Da die Umgebung der behinderten Person Mitleid empfindet, lässt sie sie aufgr<strong>und</strong> ihrer <strong>Behinderung</strong> gewähren. Gemäß des<br />

Normalisierungspostulats sind viele Autor/innen bemüht, die Figur des behinderten <strong>Menschen</strong> in Richtung einer<br />

verständnisvollen Person <strong>zu</strong> entwickeln. Oft endet eine solche Geschichte da<strong>mit</strong>, dass eine einzige Person (häufig ein<br />

Mädchen) sich da<strong>zu</strong> berufen fühlt, das Wesen des behinderten <strong>Menschen</strong> völlig um<strong>zu</strong>krempeln, bis er endlich "gut" wird:<br />

Die Umwelt quittiert die große Tat der nicht-behinderten Person <strong>mit</strong> Hochachtung. Es wird nicht ver<strong>mit</strong>telt, dass die<br />

Verhaltensveränderung der behinderten Person auf die Verhaltensveränderung der Umwelt <strong>zu</strong>rück<strong>zu</strong>führen ist.<br />

8.4.5 Helden: Behinderte <strong>Menschen</strong> als besonders mutige Charaktere<br />

Eine äußergewöhnliche Leistung, die ein behindertes Kind vollbringt <strong>und</strong> die ihm endlich die Achtung <strong>und</strong> Akzeptanz der<br />

Umwelt einbringt, kann <strong>zu</strong> Recht als ein klassisches <strong>und</strong> sehr häufig auftretendes Darstellungsstereotyp bezeichnet<br />

werden. Mut <strong>und</strong> Tapferkeit, zwei Eigenschaften, die laut SAXER (1970; angef. n.: LENZEN 1985, 48) von 63% der<br />

Bevölkerung als charakteristisch für behinderte <strong>Menschen</strong> empf<strong>und</strong>en werden, finden sich auch in der Kinder- <strong>und</strong><br />

Jugendliteratur wieder.<br />

Beispiel: "Dann kroch Martin durch den Zaun", DESMAROWITZ 1979<br />

Der "kleine hilflose Junge" <strong>mit</strong> dem "krummen Rücken" darf nicht <strong>mit</strong> den ges<strong>und</strong>en Kindern <strong>zu</strong>m Schulhaus am Ende der<br />

Allee gehen - er besucht die Sonderschule im Park, dort ist er <strong>mit</strong> anderen behinderten Kindern <strong>zu</strong>sammen. In den Pausen<br />

beobachtet er ein Pferd auf der naheliegenden Wiese. Einmal kriecht er durch den Zaun <strong>und</strong> darf anschließend auf dem Pferd<br />

reiten. Als dieses Pferd eines Tages ausbricht, sich in den Verkehr wagt, nervös wird <strong>und</strong> ausschlägt, fürchten sich die<br />

Kinder <strong>und</strong> ein paar Männern gelingt es nicht, das Pferd <strong>zu</strong> beruhigen. Nur der "kleine Kerl <strong>mit</strong> der dicken Brille", der "seit<br />

seiner Geburt im Kopf einen Schaden haben soll" ist, läßt sich nicht beirren, rettet das hilflose Pferd aus dem Verkehr <strong>und</strong><br />

bringt es in Sicherheit. Jetzt wollen die nichtbehinderten Kinder auf dem Heimweg ganz nahe bei Martin sein: "Zum ersten<br />

Mal passen sie ihre große Schritte seinen kleinen an."<br />

8.5 Literarische Umgangsformen <strong>mit</strong> "<strong>Behinderung</strong>"<br />

8.5.1 Heilung<br />

Eine universelle, da sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart vorkommende <strong>und</strong> auf alle <strong>Behinderung</strong>sarten<br />

<strong>zu</strong>treffende Lösung der Probleme von <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> ist deren Heilung, d.h. die Aufhebung ihrer Schädigung.<br />

Die Reduktion der <strong>Behinderung</strong> auf eine biologische Schädigung geht oft einher <strong>mit</strong> einer w<strong>und</strong>ersamen Heilung, bei der<br />

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deren Hintergründe ebenso unbekannt bleiben wie die Ursache der eigentlichen Schädigung. Psychosoziale Elemente bleiben<br />

in Geschichten, die sich dieses Strickmusters bedienen, weitestgehend ausgeklammert.<br />

Beispiel: "Heidi", SPYRI [o.J.] (vgl. AMMAN / RIES in: AMMAN / BACKOFEN, KLATTENHOFF 1987, 58-73)<br />

Ohne Hintergr<strong>und</strong>informationen über Klaras Beeinträchtigung erfährt die rezipierende Person, wie sehr die heilenden Kräfte<br />

der Alpenwelt den Heilungsprozess Klaras beschleunigen bzw. erst ermöglichen.<br />

8.5.2 Flucht in Fantasien<br />

In Fantasien haben Kinder die Gelegenheit, Aufmerksamkeit <strong>und</strong> Anerkennung, Zuwendung <strong>und</strong> Liebe <strong>zu</strong> erlangen, die sie<br />

in ihrem realen Leben nicht bekommen. Behinderte Kinder, vor allem Kinder <strong>mit</strong> Körperbehinderungen, aber auch Kinder<br />

<strong>mit</strong> Sinnesbeeinträchtigungen oder Außenseiter ziehen sich in Kinder- <strong>und</strong> Jugendbüchern aus einer sie isolierenden<br />

Umgebung in eine Traumwelt <strong>zu</strong>rück <strong>und</strong> erleben spannende Abenteuer. BACKOFEN (in: AMMAN / BACKOFEN /<br />

KLATTENHOFF 1987) verdeutlicht an einem Unterrichtsbeispiel, dass Kinder die gedankliche Flucht eines behinderten<br />

Kindes als befriedigende Lösung seiner Probleme empfinden.<br />

8.5.3 Plötzlich verschw<strong>und</strong>en<br />

Das Weglaufen von Kindern ist ein häufiges Moment in der allgemeinen Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur. Auch Kinder <strong>mit</strong><br />

<strong>Behinderung</strong>, speziell Kinder <strong>mit</strong> geistiger <strong>Behinderung</strong>, verlaufen sich oder laufen gezielt weg, worauf die verzweifelten<br />

Angehörigen ihr Verhalten dem Kind gegenüber überdenken <strong>und</strong> meistens reuevoll <strong>zu</strong> dem Ergebnis kommen, dass sie das<br />

Kind in der Vergangenheit entweder vernachlässigt oder falsch behandelt haben. Das Verschwinden eines Kindes <strong>und</strong> das<br />

Nachdenken der Angehörigen über die Beweggründe, leitet im Allgemeinen eine Wendung <strong>zu</strong>m Guten ein.<br />

Beispiel: "Eine Schwester so wie Danny" , KRENZER 5 1995<br />

In diesem Buch schildert der elfjährige Oliver seine Gefühle seiner 15jährigen Schwester Danny gegenüber, die eine geistige<br />

<strong>Behinderung</strong> hat. Die Schwester gilt für Oliver als Auslöser vieler Probleme. Die Eltern von Oliver verlangen von ihm Hilfe<br />

<strong>und</strong> Unterstüt<strong>zu</strong>ng bei den alltäglich wiederkehrenden Alltagsverrichtungen. So erhält Oliver z.B. die Aufgabe, seine<br />

Schwester <strong>zu</strong>m Bus <strong>zu</strong> begleiten. Als Danny sich verläuft bzw. <strong>mit</strong> dem Bus verfährt <strong>und</strong> nicht auffindbar ist, fühlt sich<br />

Oliver für das Verschwinden verantwortlich. Am Ende des Buches lernt Oliver, dass seine Ängste im Umgang <strong>mit</strong> seiner<br />

Schwester unbegründet waren. Von nun an steht er <strong>zu</strong> Danny <strong>und</strong> wird dafür von seinen Schulkamerad/innen <strong>mit</strong><br />

Fre<strong>und</strong>schaft belohnt.<br />

8.5.4 Behinderte Geschwister<br />

Wie bereits beschrieben, übernehmen in vielen Büchern, vor allem in solchen, in denen Kinder <strong>mit</strong> einer geistigen<br />

<strong>Behinderung</strong> vorkommen, nicht die behinderten Kinder, sondern ihre nicht-behinderten Geschwister die Hauptfigur der<br />

Erzählung. Dies unterstreicht die Tatsache, dass es im Bereich der Bücher <strong>mit</strong> Kindern <strong>mit</strong> geistigen <strong>Behinderung</strong>en nur<br />

sehr wenigen Autor/innen gelungen ist, die Perspektive eines <strong>Menschen</strong> ein<strong>zu</strong>nehmen, den wir als geistig behindert<br />

bezeichnen. Die Geschwister beschreiben das Verhältnis <strong>zu</strong> ihrem behinderten Bruder bzw. ihrer behinderten Schwester<br />

aus ihrer eigenen Sicht. Sie schildern beispielsweise ihre Angst, von ihren Fre<strong>und</strong>en nicht mehr anerkannt oder von fremden<br />

Leuten angegafft <strong>zu</strong> werden. Im Vordergr<strong>und</strong> steht das psychische Erleben des nichtbehinderten Kindes <strong>und</strong> nicht das der<br />

behinderten Person.<br />

Das Geschwisterkind eines behinderten Kindes besitzt selbst <strong>Einstellungen</strong> gegenüber dem Bruder / der Schwester. Die<br />

eigenen <strong>Einstellungen</strong> werden ebenso aufgegriffen wie die Reaktionen der Umwelt, die das Geschwisterkind erlebt. Die<br />

Schilderung eines (geistig) behinderten <strong>Menschen</strong> aus der Geschwisterperspektive bietet dadurch die Möglichkeit, in<br />

verstärktem Maße gesellschaftliche <strong>Einstellungen</strong> <strong>und</strong> Verhaltensweisen <strong>zu</strong> thematisieren.<br />

Die behinderten Geschwisterkinder sind doppelt so häufig männlich wie weiblich. Bei den nichtbehinderten<br />

Geschwisterkindern verhält es sich genau umgekehrt. Dort überwiegen die Mädchen. Der Gr<strong>und</strong> für diese Vorgehensweise<br />

ist möglicherweise die geschlechtsstereotype Vorstellung, dass Mädchen eher in pflegenden, dienenden Rollen vorstellbar<br />

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seien als Jungen (vgl. AMMANN in: AMMANN / BACKOFEN / KLATTENHOFF 1987).<br />

Da<strong>zu</strong> passt, dass in der Untersuchung von ZIMMERMANN (1989) 2 / 3<br />

aller dargestellten behinderten Personen<br />

männlichen Geschlechts waren. Die untersuchten Werke richteten sich <strong>zu</strong> 82% ohne eindeutigen Geschlechtsadressaten, <strong>zu</strong><br />

15% an Mädchen <strong>und</strong> nur <strong>zu</strong> 3% eindeutig an Jungen. Das Thema "<strong>Behinderung</strong>" in der Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur scheint<br />

in den Augen der Autor/innen <strong>und</strong> der Verlage eher ein Mädchen- als ein Jungenthema <strong>zu</strong> sein.<br />

Beispiel: "Ben lacht", LAIRD 1991<br />

Die Darstellung der Schwester des behinderten Ben, die sich in die pflegende, beschützende Mutter-Rolle hineinträumt,<br />

wird im nächsten Kapitel ("Darstellung der gesellschaftlichen Reaktionen ...") noch einmal aufgegriffen.<br />

Beispiel: "Eine Schwester so wie Danny", KRENZER 5 1995<br />

Oliver beschreibt, wie er sich schämt, sich <strong>mit</strong> seiner geistig behinderten Schwester Danny in der Öffentlichkeit sehen <strong>zu</strong><br />

lassen, da er dann das Gefühl hat, ständig von allen Leuten angegafft <strong>zu</strong> werden. Eines Tages setzt sich Danny in den Kopf,<br />

<strong>zu</strong> ihren Großeltern nach Heidelberg <strong>zu</strong> fahren. Während die Eltern glauben, Danny auf die kommenden Ferien vertröstet<br />

<strong>zu</strong> haben, setzt sich Danny eines Morgens nicht in den Schulbus, sondern in den Linienbus, von dem sie eigentlich weiß,<br />

dass sie ihn nicht nehmen darf. Sie ist sich sicher, dass dieser Bus sie nach Heidelberg bringen wird. Am Hauptbahnhof<br />

endet die Fahrt schließlich - <strong>zu</strong> einem Zeitpunkt, <strong>zu</strong> dem alle schon nach ihr suchen.<br />

Der Autor ROLF KRENZER, Rektor an einer 'Sonderschule für Geistigbehinderte´ in Hessen, schildert im Nachwort des<br />

Buches, dass die Geschichte authentisch sei, die Namen jedoch geändert wurden <strong>und</strong> es sich eigentlich um einen Jungen <strong>und</strong><br />

nicht um ein Mädchen <strong>mit</strong> einer geistigen <strong>Behinderung</strong> handele. Als Gr<strong>und</strong> für diese geschlechtsspezifische Veränderung<br />

der Handlung wird genannt, dass dem Jungen das Missgeschick <strong>mit</strong> dem falschen Bus peinlich gewesen sei: "Schreib doch<br />

einfach, es wäre ein anderer gewesen!" meinte er dann. "Vielleicht ein Mädchen!" (S. 87).<br />

Auch wenn es hier nicht um die pflegende Rolle von Mädchen geht, scheinen hier tiefverwurzelte geschlechtsspezifische<br />

Klischees <strong>zu</strong>m Tragen <strong>zu</strong> kommen.<br />

Die Geschwisterperspektive wird auch oft da<strong>zu</strong> verwandt, Informationen über die Art der <strong>Behinderung</strong> an die Leser/innen<br />

<strong>zu</strong> bringen. Der Bruder oder die Schwester erzählt aus seinem / ihrem kindlichen Verständnis heraus, um welche Diagnose<br />

es sich handelt. Neben kindgemäßen Schilderungen <strong>und</strong> Erklärungen existieren dabei auch Erklärungen, bei denen auf die<br />

Richtigkeit der Aussagen <strong>zu</strong>gunsten einer angeblich kindgerechen Anschauung verzichtet wird:<br />

Beispiel: "Mein kleiner großer Bruder" , TVEIT 1991<br />

Ein Beispiel für die Ver<strong>mit</strong>tlung von falschen <strong>und</strong> stigmatisierenden Kenntnissen über eine <strong>Behinderung</strong>sform ist die<br />

folgende: Der zehnjährige, kleine Bruder von Kjell schildert, welche Schwierigkeiten er im Umgang <strong>mit</strong> seinem großen<br />

Bruder hat <strong>und</strong> wie er diese bewältigt. Im Vordergr<strong>und</strong> steht das psychische Erleben von Kjells Bruder. Das Besondere an<br />

Kjell erklärt er wie folgt:<br />

"Kjell hat etwas schräge Augen. Deswegen ist er den <strong>Menschen</strong> in China <strong>und</strong> Japan ein wenig ähnlich. Die <strong>Menschen</strong>, die<br />

dort wohnen, gehören der mongolischen Rasse an. Deswegen sagt man auch, daß mein Bruder mongoloid ist. Es gibt auch<br />

andere Namen dafür: Aber ich finde "mongoloid" in Ordnung. Denn das ist irgendwie, als ob er einer anderen Rasse<br />

angehören würde. Trotzdem ist er mein Bruder" (S. 8).<br />

8.5.5 <strong>Behinderung</strong> als dramaturgisches Mittel<br />

In einer Reihe von Kinder- <strong>und</strong> Jugendbüchern erscheint das behinderte Kind nicht im Mittelpunkt der Handlung, sondern<br />

in einer unbedeutenden Rolle am Rand. Dabei werden sie jedoch nicht als integrierte Selbstverständlichkeit dargestellt<br />

(solche Bücher, in denen Kinder <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> auf diese Weise <strong>und</strong> nicht als Protagonisten dargestellt werden, existieren<br />

nahe<strong>zu</strong> nicht), sondern <strong>zu</strong> dramaturgischen Zwecken eingesetzt. Sie eignen sich da<strong>zu</strong>, die Hilfsbereitschaft <strong>und</strong> den guten<br />

Charakter der Hauptperson <strong>zu</strong> demonstrieren oder die Dramatik von Geschichten bestimmter Genres (z.B.<br />

Liebesgeschichten oder Katastrophenschilderungen) <strong>zu</strong> verstärken.<br />

Beispiel: "Die letzten Kinder von Schewenborn. Oder ... sieht so unsere Zukunft aus?", PAUSEWANG 1983<br />

Bei GUDRUN PAUSEWANGs Werk handelt es sich um ein Buch, das den atomaren Wahnsinn deutlich machen soll. Bei<br />

ihrem Bemühen, die Gefahren der Atomnut<strong>zu</strong>ng deutlich <strong>zu</strong> machen, ergibt sich aus der Darstellung der Konsequenzen ein<br />

Nebeneffekt, der Leser/innen eine "heimliche" Botschaft über<strong>mit</strong>telt: PAUSEWANG benutzt "<strong>Behinderung</strong>" als eines von<br />

mehreren Abschreckungsmerkmalen, die das Grauenhafte der Geschichte steigern sollen. In dem preisgekrönten Werk sind<br />

Passagen enthalten, die die Auffassung von <strong>Behinderung</strong> als schlimmere Alternative <strong>zu</strong>m Tod, als Aufforderung <strong>zu</strong>r aktiven<br />

Sterbehilfe <strong>und</strong> sogar als Rechtfertigung für einen Mord an einem Neugeborenen <strong>mit</strong> schwersten Beeinträchtigungen<br />

ver<strong>mit</strong>teln. Die traditionellen Denkmuster, nach denen die Autorin verfährt, werden von ihr weder kritisch beleuchtet noch<br />

in irgendeiner Weise in Zweifel gezogen.<br />

BOBAN / HINZ (1990, 42f) kommen <strong>zu</strong> folgenden Aussagen: "Gudrun Pausewang bietet ein ganzes »Menü der<br />

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Behindertenfeindlichkeit« an, das dramaturgisch gekonnt, eine <strong>zu</strong>nehmend schärfere Wür<strong>zu</strong>ng aufweist. (...) Die Bilder <strong>und</strong><br />

Lösungsvorschläge von Gudrun Pausewang, deren Bücher mehrfach ausgezeichnet wurden, fügen sich reibungslos in ein<br />

wachsendes gesellschaftliches Klima der Behindertenfeindlichkeit ein <strong>und</strong> wirken - wenn auch unbeabsichtigt - <strong>mit</strong> ihr<br />

<strong>zu</strong>sammen. Atomare Bedrohung <strong>und</strong> Behindertenfeindlichkeit sind zwei existentiell wichtige Themen unserer Zeit. Beide<br />

müssen dringend thematisiert werden. In diesen Büchern [ergänzend <strong>zu</strong> "Die letzten Kinder von Schewenborn" ist "Die<br />

Wolke" gemeint, ein Buch von PAUSEWANG <strong>mit</strong> der gleichen Thematik; SN] werden sie unselig <strong>mit</strong>einander verknüpft."<br />

Nach der Herauskristallisierung der "heimlichen Lernziele" bringen BOBAN / HINZ das ver<strong>mit</strong>telte Behindertenbild <strong>mit</strong><br />

einem Ausspruch von FRANZ CHRISTOPH auf den Punkt: "Es gibt Entsetzlicheres als den Atomtod. Nämlich mich."<br />

8.6 Darstellung von gesellschaftlichen Reaktionen auf behinderte Personen<br />

"Jeder sieht sich am deutlichsten in den Augen des anderen"<br />

(aus: "Die Reise <strong>zu</strong>m Meer", GüNTHER 1994, S. 59)<br />

"Der Mensch wird am Du <strong>zu</strong>m Ich." (MARTIN BUBER)<br />

"Er wird <strong>zu</strong> dem Ich, dessen Du wir ihm sind." (GEORG FEUSER)<br />

Die Hauptproblematik von Kindern <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> innerhalb der Darstellungen in der Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur liegt<br />

eindeutig in der sozialen Isolation (ZIMMERMANN 1982). Die Ursachen dieser Isolation werden häufig reduziert auf<br />

ablehnende Nachbarskinder etc.; andere Gründe, wie z.B. getrennte Schulbesuche, die eine soziale Integration erschweren,<br />

finden selten Niederschlag in der Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur. Entsprechend werden Annahmen, Set<strong>zu</strong>ngen wie auch<br />

Vorurteile selten hinterfragt <strong>und</strong> deren mögliche Gründe wie politische <strong>und</strong> soziale Funktionen nicht aufgezeigt.<br />

Anhand der Interaktionen in einem literalen Werk kann bewertet werden, inwieweit es der Autorin / dem Autor gelungen<br />

ist, soziale Sachverhalte einer gesellschaftlich theoretischen Ebene <strong>zu</strong> konkretisieren <strong>und</strong> auf einer sozialen Mikroebene als<br />

Interaktion zwischen mindestens zwei <strong>Menschen</strong> ab<strong>zu</strong>bilden.<br />

Die typische Entwicklung einer kinder- <strong>und</strong> jugendliteralen Handlung beginnt <strong>mit</strong> der Darstellung der gesellschaftlichen<br />

Isolation <strong>und</strong> der Angst vor Mitleid. Durch die Ver<strong>mit</strong>tlung von Information <strong>und</strong> Wissen sowie möglichst da<strong>mit</strong><br />

einhergehende persönliche, emotionale Auseinanderset<strong>zu</strong>ng <strong>mit</strong> der behinderten Person, verändert sich die Einstellung ihr<br />

gegenüber deutlich. Zu beobachten ist außerdem ein wachsendes Selbstbewusstsein bei allen literalen Figuren - bei der<br />

behinderten Person wie auch bei den Personen, die sich in stärkerem Maße <strong>mit</strong> ihr umgeben.<br />

Das aufgezeigte Muster folgt eindeutig der Intention von Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur, die Modelle aufzeigen <strong>und</strong><br />

Problemlösungsmöglichkeiten anbieten will. Die Häufung von "Strickmustern" wie in DESMAROWITZ 1979 ("Dann<br />

kroch Martin durch den Zaun") sind die Ausnahme. ZIMMERMANN (1982, 124) kam schon vor zehn Jahren <strong>zu</strong><br />

folgender Auffassung: "Einer Mehrzahl von Erzählungen, in denen gegen übertriebene Hilfsbereitschaft, falsch verstandene<br />

Rücksichtnahme <strong>und</strong> Fürsorge, gegen Bew<strong>und</strong>erung <strong>und</strong> Mitleid Stellung bezogen wird, steht eine kleinere Anzahl von<br />

Geschichten gegenüber, in denen eine ´Sonderbehandlung´ des fiktiven Behinderten befürwortet wird."<br />

Diese Auffassung besitzt meiner Ansicht nach mehr Gültigkeit denn je. Dies entspricht ebenso der Veränderung der<br />

gesellschaftlichen Einstellungsstruktur, da vor allem schulische Sonderbehandlung in immer stärkerem Maße <strong>zu</strong>gunsten der<br />

Integration <strong>und</strong> des Normalisierungsprinzips abgelehnt wird.<br />

Ein verschöntes Bild wird in den aktuellen Werken der Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur in aller Regel ebensowenig gezeichnet<br />

wie stereotypes Darstellen <strong>mit</strong>tels bekannter "Strickmuster". Kinder- <strong>und</strong> Jugendbücher greifen die aus dem ersten Teil<br />

dieser Arbeit bekannten Kategorien auf <strong>und</strong> verarbeiten sie literarisch im o.g. Sinne, d.h. im Verlauf der Handlung ist immer<br />

eine Lösung der Probleme <strong>zu</strong> erkennen. Begonnen wird die Darstellung <strong>zu</strong>meist <strong>mit</strong> der Darstellung negativer Reaktionen.<br />

Beispiel: "Drachenflügel", WELSH ³1995.<br />

»Kaum war die junge Frau ausgestiegen, begannen die Fahrgäste <strong>zu</strong> reden.<br />

"Armes Tschapperl, ich mag gar nicht hinschauen, wenn ich so was seh´".<br />

"Die hat es nötig, sich so auffallend her<strong>zu</strong>richten! Mit so einem Kind lackiert man sich doch nicht die Fingernägel blau."<br />

"Bin ich froh, daß meine Tochter nicht <strong>mit</strong>gefahren ist, eigentlich wollte sie, aber dann hat sie sich´s anders überlegt. Sie ist<br />

schwanger, <strong>und</strong> wer weiß, wenn sie so was sieht..."<br />

"Also ich würde nicht <strong>mit</strong> so einem Kind auf die Straße gehen, das kann man doch den Leuten nicht <strong>zu</strong>muten."<br />

Anne wollte sich die Ohren <strong>zu</strong>halten, aber sie saß steif da, <strong>und</strong> die Sätze prasselten weiter:<br />

"Was hat denn so ein Kind von seinem Leben?"<br />

"Unverantwortlich ist das, was die Ärzte heute tun, früher wär so ein armes Wurm einfach gestorben."<br />

"Aber eines muss man sagen, sie war nett <strong>zu</strong> dem Kind."<br />

Anne stand auf, (...).« (S. 35)<br />

Eine solche Kumulation von offenen, verbalisierten <strong>Einstellungen</strong> gegenüber einem Kind <strong>mit</strong> einer geistigen <strong>Behinderung</strong>, in<br />

der Abscheu / Ekel, Scham, Hintergründe von Isolation, Mitleid, projiziertes Leid <strong>und</strong> sogar Lebensrechte innerhalb nur<br />

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weniger Zeilen angesprochen werden, ist selten. Häufiger beziehen sich Situationen einer literalen Handlung auf einzelne<br />

Elemente.<br />

Negative, von der Sozialpsychologie festgestellte Reaktionen werden in der Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur oft als Reaktion<br />

eines Erstkontaktes dargestellt. Dabei handelt es sich vorwiegend um das Anstarren <strong>und</strong> das Ausdrücken von Abscheu<br />

bzw. Ekel. Das "Übersehen" im Sinne der Irrelevanzregel findet keine Beachtung in Interaktionen, sondern allenfalls in der<br />

Schilderung baulicher Infrastrukturmängel.<br />

Beispiel: "Die Reise <strong>zu</strong>m Meer", GüNTHER 1994<br />

»Alles in mir protestierte gegen das, was ich sah. In der Kinderkarre lag ein Gesicht. Ja, so war es. Das Gesicht eines<br />

Mädchen. Eingerahmt von langem braunen Haar. Große Augen. Das Gesicht war ungefähr so alt wie die vermeintlichen<br />

Eltern. Aber alles andere, die Arme, die Beine, der übrige Körper, war wie bei einem höchstens siebenjährigen Kind.<br />

Spindeldürre Beine, spindeldürre Arme. Die Arme nach oben angewinkelt, kleine, verkrüppelte Hände nach innen gerollt.<br />

Die Augen sahen mich neugierig an <strong>und</strong> lächelten.<br />

Ich wollte es nicht, aber ich lief weg.<br />

Erst langsam, dann immer schneller. Ich lief <strong>und</strong> lief, <strong>und</strong> der hölzerne Steg knarrte ohrenbetäubend, wie Hohn <strong>und</strong><br />

Spott.« (S. 9)<br />

Im Verlauf der Handlung, in der die rezipierende Person etwas über das behinderte Kind des Buches erfährt, wenden sich<br />

die dargestellten literalen Figuren neuerer Werke überwiegend gegen Mitleid. Die Wirkungsweise von Mitleid als Form der<br />

Ausgren<strong>zu</strong>ng wurde offensichtlich vom überwiegenden Teil der Autor/innen erkannt.<br />

Beispiel: "Die Reise <strong>zu</strong>m Meer", GüNTHER 1994<br />

»"Mit mir braucht keiner Mitleid haben. Ich leide doch nicht."<br />

Ungläubig starrte ich sie an.« (S. 35)<br />

Beispiel: "Drachenflügel", WELSH ³1995<br />

»"Und Mitleid brauchen wir erst recht nicht."« (S. 88)<br />

Dass Mitleid eine verpackte negative Einstellung darstellen kann, wird manchmal auch auf andere Weise deutlich gemacht:<br />

Beispiel: "Drachenflügel", WELSH ³1995.<br />

»"Hoffentlich macht der Herr Spitzner heute keinen Mittagschlaf", sagte die Mutter ängstlich. Nicht daß die Spitzners sich<br />

je beklagten über den Lärm nebenan. Sie sagten nur <strong>mit</strong>leidig: "Das muß ja heute nacht sehr schlimm gewesen sein für Sie",<br />

oder "Gibt es denn gar nichts, wo<strong>mit</strong> man ihn etwas ruhiger halten kann? Ich weiß nicht, wie Sie das aushalten. Ich<br />

bew<strong>und</strong>ere Sie." Und die Mutter schrumpfte <strong>und</strong> fühlte sich verantwortlich für die Störung, <strong>und</strong> die Spitzners wußten das<br />

<strong>und</strong> wußten, daß jede offene Beschwerde nicht halb so wirkungsvoll gewesen wäre.« (S. 79f)<br />

Gelegentlich wird indes deutlich, dass die Autor/innen Mitleid <strong>mit</strong> behinderten <strong>Menschen</strong> positiv werten <strong>und</strong> den<br />

Leser/innen als Akt der Nächstenliebe darlegen. Dies ist z.B. im folgenden Beispiel der Fall, in dem die "Besonderheit"<br />

einer lebenslang notwendigen Pflege <strong>und</strong> Betreuung eines <strong>Menschen</strong> unreflektiert als Mittel <strong>zu</strong>r Selbststabilisierung einer<br />

Außenseiterin herhalten muss, was durch das geschlechtsspezifische Stereotyp der weiblichen Beschützer/innen- <strong>und</strong><br />

Pfleger/innen-Rolle verstärkt wird. In der Untersuchung VON BRACKENs (1976) äußerten über 50% der Befragten, dass<br />

sie es als ihre Aufgabe empfinden, ein Kind <strong>mit</strong> einer geistigen <strong>Behinderung</strong> <strong>zu</strong> umsorgen. Zu vermuten ist, dass die literale<br />

Auseinanderset<strong>zu</strong>ng der folgenden Autorin auf eigene Erfahrungen <strong>und</strong> <strong>Einstellungen</strong> basiert, die von ähnlicher Anschauung<br />

geprägt sind.<br />

Beispiel: "Ben lacht", LAIRD 1991.<br />

» "Es ist mir egal, wie behindert du bist", flüsterte ich ihm <strong>zu</strong>. "Ich liebe dich. Ich werde dich immer lieben. Ich werde dich<br />

beschützen <strong>und</strong> für dich sorgen. Wenn jemand gemein <strong>zu</strong> dir sein will, dann kriegt er es <strong>zu</strong>erst <strong>mit</strong> mir <strong>zu</strong> tun." (S.22)<br />

"Ich bemerkte kaum, daß sein großer Kopf immer größer wurde <strong>und</strong> daß sein armer kleiner Hals <strong>zu</strong> schwach war, um ihn <strong>zu</strong><br />

halten. Ich war viel <strong>zu</strong> sehr da<strong>mit</strong> beschäftigt, seine Windeln <strong>zu</strong> wechseln <strong>und</strong> seinen kleinen Hintern <strong>zu</strong> pudern. Mam<br />

lachte über mich.<br />

"Eines Tages wirst du eine w<strong>und</strong>erbare Mutter sein", sagte sie.<br />

"Was soll das heißen, eines Tages?" dachte ich empört. "Ich wäre schon jetzt eine w<strong>und</strong>erbare Mutter." (S.23)<br />

"Ich wollte einfach wieder <strong>mit</strong> einem Kind <strong>zu</strong>sammensein. Mit einem besonderen Kind, das mich brauchte. Ein Kind wie<br />

Ben." « (S. 147)<br />

In aller Regel richten sich die Aussagen der Werke, wie bereits beschrieben, jedoch gegen das Mitleid als positiv <strong>zu</strong><br />

bewertende Umgangsform <strong>mit</strong> behinderten <strong>Menschen</strong>. Im ersten Teil dieser Arbeit wurde geschildert, dass sich Mitleid<br />

auch im konkreten, sog. "diffusen" Hilfeverhalten ausdrücken kann. Laut JANSEN sprachen sich 1972 65% der Befragten<br />

eindeutig für materielle, unpersönliche Hilfe aus. Obwohl seine Untersuchung bereits 25 Jahre alt ist, muss angesichts<br />

aktueller, institutionell organisierter Spendenaktionen davon ausgegangen werden, dass auch heute ein Großteil dieser<br />

Bevölkerung diese Ansicht unterstützt.<br />

Die konkrete Gewissensbefriedung durch materielle Hilfen drückt HUAINIGG in seinem Bilderbuch so aus:<br />

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Beispiel: "Meine Füße sind der Rollstuhl", HUAINIGG 1992<br />

»"Weil du so arm bist", sagt die Frau. Sie drückt Margit einen Geldschein in die Hand. (...) da fragt der Mann <strong>mit</strong>leidig:<br />

"Was ist denn dir passiert?"<br />

Margits Gesicht wird ganz rot vor Zorn.<br />

"Was wollen die denn alle von mir?" « (o.S.)<br />

Das Werk von HUAINIGG ist das einzige mir bekannte Bilderbuch, das in einem Werk für sehr junge Leser/innen<br />

gesellschaftliche <strong>Einstellungen</strong> in angemessener Weise thematisiert.<br />

Obwohl viele Bücher einzelne Fragmente gesellschaftlicher Verhaltensweisen kritisch beleuchten, findet sich nur selten die<br />

Diskussion darüber, dass ein "richtiges" Verhalten schwierig <strong>zu</strong> bestimmen ist:<br />

Beispiel: "Drachenflügel", WELSH ³1995<br />

»" (...) ist <strong>zu</strong>rückgekommen <strong>und</strong> hat mir Geld in die Hand gedrückt, <strong>und</strong> dem Jakob hat sie den Kopf gestreichelt."<br />

"Na <strong>und</strong>?"<br />

"Wie einen H<strong>und</strong> hat sie ihn gestreichelt!"<br />

"Und woher weißt du, daß es nicht fre<strong>und</strong>lich gemeint war?", fragte Lea. "Du tust ja so, als hätte sie auch ´Spasti´<br />

geschrien."<br />

"Es kommt auf dasselbe heraus", sagte Anne. "Beide haben nichts kapiert. Gar nichts."<br />

"Du hilfst ihnen auch nicht <strong>zu</strong> kapieren. Du willst nicht, daß einer schaut, <strong>und</strong> nicht, daß einer wegschaut. Du willst nicht,<br />

daß sie fragen, <strong>und</strong> nicht, daß sie schweigen. Was willst du eigentlich?"<br />

Anne <strong>zu</strong>ckte <strong>mit</strong> den Schultern.« (S. 89)<br />

Nachdem in Kinder- <strong>und</strong> Jugendbüchern die negativen Reaktionen der Umwelt (Anstarren etc.) aufgegriffen wurden, wird<br />

in einigen Werken auch deutlich, dass diese gesellschaftliche Reaktionen nicht ohne Auswirkungen auf die beteiligten<br />

Personen bleibt.<br />

Die bisher genannten Einstellungsmuster werden in erster Linie in Werken aufgegriffen, die von Kindern <strong>mit</strong> geistigen<br />

<strong>Behinderung</strong>en handeln. Da diese Werke überwiegend nicht aus der Perspektive des behinderten Kindes geschrieben sind,<br />

steht bei der Schilderung des Erlebens <strong>und</strong> der Verarbeitung gesellschaftlicher Reaktionen auf <strong>Behinderung</strong> die psychische<br />

Situation der Person im Vordergr<strong>und</strong>, die die Erzählung übernommen hat (meist Geschwister).<br />

Beispiel: "Ben lacht", LAIRD 1991.<br />

» "(...) Du schämst Dich doch nicht wegen Ben?"<br />

"Natürlich nicht", sagte ich, aber das stimmte nicht.« (S. 34)<br />

Dabei sind gelegentlich Werke <strong>zu</strong> finden, die Umgangsweisen <strong>und</strong> Problemlösungsmöglichkeiten un<strong>mit</strong>telbar <strong>und</strong> nicht erst<br />

später im Verlauf der Handlung aufzeigen. Im folgenden Beispiel lassen die Eltern von Kjell ihren nichtbehinderten Sohn an<br />

ihrer eigenen Entwicklung teilhaben. Ihm wird gewissermaßen ein Probehandeln ermöglicht, ein Modell vorgezeigt <strong>und</strong><br />

begründet:<br />

Beispiel: "Mein kleiner großer Bruder", TVEIT 1991.<br />

» "Ich habe Kjell gern", sagte ich <strong>zu</strong>m Schluß. "Ich habe ihn gern! Aber ich ..."<br />

"Wir verstehen, was du meinst", sagte Vater. "Es ging uns auch lange Zeit so"<br />

"Seid ihr auch ... verlegen geworden wegen Kjell?" fragte ich erstaunt.<br />

"Ja" sagte Vater. "Sicher"<br />

"Wenn wir <strong>mit</strong> Kjell in ein Geschäft oder in ein Café gingen, war es mir oft peinlich", sagte Mutter. "Wenn er etwas<br />

Ungewöhnliches machte, fühlte ich, wie ich rot anlief. Ich glaubte, alle Leute sehen uns an."<br />

"Und jetzt?" fragte ich.<br />

"Es war lange Zeit schwer", sagte Vater. "Ich habe mich nie entspannen können, wenn Kjell dabei war. Ich wartete die<br />

ganze Zeit darauf, daß etwas passieren würde. Aber jetzt kümmert mich das nicht mehr."<br />

"Mich auch nicht", sagte Mutter. "Aber es ist schwer, <strong>und</strong> es dauert. (...)"<br />

"Weißt du, wenn wir Kjell nicht so akzeptieren wie er ist, dann können wir auch nicht erwarten, daß andere es tun. (...)<br />

Wenn sie ihn mögen sollen, müssen sie ihn kennenlernen. Und das können sie nur, wenn wir <strong>mit</strong> ihm ausgehen. Er muß<br />

überall sein können, wo wir sind.« (S. 21f)<br />

Kann die Bewältigung der eigenen Emotion (Scham) <strong>zu</strong>nächst nicht geleistet, eigene <strong>Einstellungen</strong> <strong>mit</strong>hin nicht verändert<br />

werden, ist eine soziale Isolation eine mögliche Folge, die auch in der Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur thematisiert wird:<br />

Beispiel: "Drachenflügel", WELSH ³1995.<br />

»" (...) Übrigens, Anne, in zwei Wochen hast du doch Geburtstag. Du solltest dir langsam überlegen, wen du einladen<br />

willst."<br />

Anne nickte, obwohl sie jetzt schon wußte, daß sie niemanden einladen wollte. Die Leute aus ihrer Klasse bekamen alle<br />

solche Augen, wenn sie Jakob sahen. Starrten ihn an oder blickten weg, <strong>und</strong> beides war gleich schlimm. Nein, sie wollte<br />

niemanden von denen hier in der Wohnung haben. Wirklich nicht.« (S. 13)<br />

Beispiel: "Katja <strong>und</strong> die Buchstaben", NAHRGANG 1995.<br />

Ohne es in kurzen Dialogen dar<strong>zu</strong>stellen, gelingt es der Autorin, <strong>zu</strong> verdeutlichen, dass die Angst von Katjas Mutter, als<br />

funktionale Analphabetin entlarvt <strong>zu</strong> werden, sie <strong>und</strong> ihre Tochter in eine gesellschaftliche Isolation zieht. Mutter <strong>und</strong><br />

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Tochter leben unter dem Druck, gesellschaftklich nur nicht auffallen <strong>und</strong> nicht "anders" sein <strong>zu</strong> wollen. Die Folge ist eine<br />

selbsttätige Reduktion ihrer gesellschaftlichen Teilhabe <strong>und</strong> eine immer stärker werdende Isolation.<br />

Das So-Sein von Personen, die <strong>mit</strong> ihrem Verhalten ungeschriebene Normen verletzen, wird - gemäss der<br />

Stigmatisierungstheorie GOFFMANs <strong>mit</strong> einem Stigma belegt. Ein Verhalten, dass nicht verstanden wird (im folgenden<br />

Beispiel: MCD, Hyperaktivität), wirkt "anders" <strong>und</strong> macht Angst. Um diese Angst <strong>zu</strong> kontrollieren, wird die<br />

Konfrontation <strong>mit</strong> <strong>Menschen</strong>, die sich entsprechend verhalten, vermieden:<br />

Beispiel: "Zappelhannes", RUSCH 1993.<br />

» "Sie hat es verboten, verstehst du?" sagt Sven heftig. Nein, Hannes versteht nicht. Svens Mutter hat verboten, Hannes<br />

<strong>zu</strong>m Geburtstag ein<strong>zu</strong>laden?<br />

"Warum?" fragt Hannes.<br />

Es dauert einen Augenblick, bis Sven antwortet. "Du bist immer so wild, hat meine Mutter gesagt." Hannes hört, wie Sven<br />

schluckt. "Sie hat gesagt, du bist so anders."<br />

Hannes fühlt sich plötzlich, als ob er krank wäre.« (S.43)<br />

Eine andere Ebene der Stigmatisierung kann die Etikettierung der eigenen Person durch die Identifizierung <strong>mit</strong> einem<br />

behinderten Familien<strong>mit</strong>glied sein:<br />

Beispiel: "Drachenflügel", WELSH ³1995.<br />

»"Welche Anne meist du?" fragte der Leiter der Musikschule eben, <strong>und</strong> Lea antwortete: "Die <strong>mit</strong> dem behinderten Bruder."<br />

Anne drehte sich auf dem Absatz um, rannte die Treppe hinunter, rannte aus dem Haus, rannte über die Straße. (...) Sie<br />

rannte einfach weiter, einfach geradeaus, bis sie nicht mehr konnte (...).<br />

Die <strong>mit</strong> dem behinderten Bruder.<br />

Das war alles, was Lea über sie sagen konnte?« (S. 63)<br />

Bereits im eingehenden Defintionsversuch von "<strong>Behinderung</strong>" <strong>zu</strong> Beginn dieser Arbeit wurde deutlich, dass individuelle<br />

Schuld<strong>zu</strong>weisungen heute auch auf breiter Basis hinter ein gesellschaftliches determiniertes Verständnis von <strong>Behinderung</strong><br />

<strong>zu</strong>rückgetreten sind. Entsprechend wird das Schuldempfinden nur noch ebenso gelegentlich wie die nicht mehr weit<br />

verbreitete Auffassung von <strong>Behinderung</strong> als göttlicher Strafe thematisiert. Die Sichtweise von <strong>Behinderung</strong> als einem<br />

persönlichen Schicksal, <strong>mit</strong> dem man sich abfinden muss, dürfte heute angesichts bekannterer Ursachen von Schädigungen<br />

<strong>und</strong> verbreiteter Unterstüt<strong>zu</strong>ngmaßnahmen (z.B. familienentlastende Dienste) nicht mehr so verbreitet sein wie 1976, als<br />

VON BRACKEN diese Auffassung bei etwa 40% seiner Respondenten er<strong>mit</strong>teln konnte. In der erzählenden Kinder- <strong>und</strong><br />

Jugendliteratur wird <strong>Behinderung</strong> nur sehr selten als persönliches Schicksal definiert, Möglichkeiten der Hilfe <strong>zu</strong>r<br />

Bewältigung des Lebensalltags werden allerdings auch nur vereinzelnd genannt.<br />

Beispiel: "Sei nett <strong>zu</strong> Eddie", FLEMING / COOPER 1998<br />

» "Ihre Mitter sagte, sie solle nett sein <strong>zu</strong> Eddie. (...) Bloß weil er anders war.<br />

"Ihre Mutter sagte, Gott habe ihn so gemacht. Aber Christina dachte, dass sich ihre Mutter dieses eine Mal vielleicht irrte.<br />

Gott macht keine Fehler, <strong>und</strong> wenn es überhaupt einen Fehler gab, dann war es Eddie." (ohne Seitenzahl)<br />

Beispiel: "Die Reise <strong>zu</strong>m Meer", GüNTHER 1994<br />

» "Eine Zeitlang haben wir Schuldgefühle gehabt", erzählte er weiter.« (S. 57)<br />

Beispiel: "Gänseblümchen für Christine", RüCK 1989<br />

» "Gott ist schuld, nicht wahr, Juli? Er hätte machen können, daß Christinchen ein normales ges<strong>und</strong>es Kind geworden wäre.<br />

Oder nicht?« (...)<br />

Alle sagen immer: Ich weiß es nicht, oder sie sagen gar nichts. Und doch ist Gott schuld daran. Vielleicht, ja wahrscheinlich,<br />

ganz sicher sogar hat er Mama <strong>und</strong> Papa bestrafen wollen, weil sie irgend etwas getan haben, was er nicht wollte. Aber<br />

was? Es muß etwas sehr Schlimmes gewesen sein, wofür sie eine solch strenge Strafe bekommen haben." (S.18)<br />

" (...) Auf welcher einsamen Insel haben wir gelebt, daß wir die ganze Zeit geglaubt haben, Chrsitinchen sei unser Schicksal,<br />

unsere Strafe. (...)" « (S. 59f)<br />

Bei der Untersuchung der Darstellung gesellschaftlicher <strong>Einstellungen</strong> <strong>und</strong> Verhaltensweisen konnten auch Werke gef<strong>und</strong>en<br />

werden, die die Diskussion über das Lebensrecht aufgreifen. Während HäRTLING diese Auffassung einer negativ<br />

besetzten Figur <strong>zu</strong>schreibt, so dass sich Leser/innen des Buches nicht <strong>mit</strong> dieser Ansicht identifizieren, müssen<br />

Rezipient/innen des idealistisch geprägten Buches von RüCK annehmen, dass einerseits das Leben <strong>mit</strong> einem<br />

schwerstbehinderten Kind auf Nächstenliebe <strong>und</strong> Mitleid basiert <strong>und</strong> dass andererseits das Leben des Kindes selbst<br />

höchstgradig leidvoll ist. In diesem Beispiel wird sehr deutlich, wie die Belastungen des eigenen Lebens auf das Kind<br />

projiziert werden, um dessen Leben als leidvoll <strong>zu</strong> deklarieren, bei dem der Tod des Kindes schließlich als Erlösung<br />

aufgefasst werden kann. Dass dies eine stark verbreitete Ansicht ist, macht die Untersuchung VON BRACKENs (1976)<br />

deutlich, nach der über 70% (!) <strong>zu</strong>mindest bedingt der Ansicht sind, dass es gut wäre, wenn ein Kind <strong>mit</strong> einer geistigen<br />

<strong>Behinderung</strong> früh sterben würde.<br />

Beispiel: "Das war der Hirbel", HäRTLING 21 1994<br />

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» (...) so sagte Herr Schoppenstecher, die Sach für die Freßsäck <strong>zu</strong> holen, <strong>und</strong> fügte hin<strong>zu</strong>, die fressen uns überhaupt noch<br />

die Haare vom Kopf! solche Kinder sind nichts wert. « (S. 44)<br />

Beispiel: "Gänseblümchen für Christine", RüCK 1989<br />

» Aber dann fällt mir ein, daß Mama immer gesagt hat, welche Erlösung es für Tinchen wäre, wenn sie sterben könnte, <strong>und</strong><br />

Oma hat genickt.« (S. 9)<br />

» Juli sagt (...), darüber, daß Chrsitinchen gestorben ist, könnte niemand weinen. Da müßte man eher lachen <strong>und</strong> sich <strong>mit</strong> ihr<br />

freuen, daß die Plagerei für sie nun beendet ist <strong>und</strong> sie ihren Frieden gef<strong>und</strong>en hat.<br />

Das ist genau das, was ich auch schon gedacht habe, denn eigentlich war das Leben für Christinchen nicht so schön. Das<br />

haben ja auch Mama <strong>und</strong> Oma immer gesagt <strong>und</strong> Papa sowieso (...).« (S.20)<br />

» "Siehst du nicht, daß sie viel mehr <strong>zu</strong> tun haben, als einem Kind ihre Liebe auf<strong>zu</strong>drängen, die es gar nicht will."<br />

"Christinchen will Liebe", widersprach Mama. « (S. 31)<br />

» "Ich tu´s", sagte Papa <strong>mit</strong> einer ganz fremden Stimme. Oder klang sie nur so fremd, weil ich sie schon so lange nicht mehr<br />

gehört hatte? (...)<br />

"Wofür?" fragte Papa. "Wofür lebt sie eigentlich? Erkennt sie uns überhaupt? (...)"<br />

"Aber warum denn nicht?" fragte Papa.<br />

"Warum denn nicht? Wofür lassen wir sie am Leben?" (..)<br />

"(...) Aber ich kann doch nichts dafür, es kommt aus mir, einfach so, diese furchtbaren Gedanken, obwohl ich sie gar nicht<br />

will. Hast du niemals solchen Gedanken?"<br />

"Doch", sagte Mama, aber ich verbiete sie mir. « (S. 39ff)<br />

» Juli sagt:"Nun ist Christinchen erlöst". Und dann sagte sie noch: "Eure Insel könnt ihr jetzt wohl verlassen, <strong>und</strong><br />

überhaupt wird wohl irgendwie alles anders werden."« (S.60)<br />

[Anmerkung: Christine starb eines natürlichen Todes].<br />

Dass Lebensrechte von <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> nicht ausschließlich wegen des "lebensunwerten" Lebens, sondern<br />

aufgr<strong>und</strong> ökonomischer Kosten-Nutzen-Überlegungen in Frage gestellt werden, wird in der Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur<br />

weitestgehend ebenso ausgeblendet wie die Verknüpfung solcher Überlegungen <strong>mit</strong> historischen Ereignissen in der Zeit des<br />

Nationalsozialismus. Gelegentlich finden sich kurze Stellen, in denen diese Bereiche angeschnitten werden.<br />

Beispiel: "Drachenflügel", WELSH ³1995.<br />

» "Vater sagt, die Nazis hätten ihn umgebracht, wenn er vierzig Jahre früher auf die Welt gekommen wäre. Weißt du, wie<br />

die Leute heute reden in der Straßenbahn?"«<br />

(S. 89)<br />

Die nationalsozialistischen Verbrechen an <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> werden detalliert in nur einem mir bekannten Kinderoder<br />

Jugendbuch dargestellt. JUNGs (1996) Werk ist nicht unter dem Stichwort "<strong>Behinderung</strong>", sondern allgemein unter<br />

"Geschichte" katalogisiert. Das Besondere an diesem Buch ist, dass der Ich-Erzähler selbst körperbehindert ist, <strong>und</strong> sich<br />

sein neu erworbenes Wissen um die "Euthanasie" in seine Träume mischt, bis er die Angst so real erlebt, dass er Traum <strong>und</strong><br />

Realität nur schwer auseinanderhalten kann.<br />

Beispiel: "Auszeit oder Der Löwe von Kaúba", JUNG 1996<br />

» Ich bin froh, daß ich heute lebe. Hätte ich damals gelebt, wäre ich heute ein Überlebender. Oder auch nicht. Damals war<br />

so einem wie mir der Tod <strong>zu</strong>gedacht. Lebensunwertes Leben. Eigentlich bin ich aber auch so ein Überlebender: Ich habe<br />

meine Geburt überlebt. Das ist nicht selbstverständlich. Es gibt Eltern, die diese Last nicht auf sich nehmen wollen; <strong>und</strong> es<br />

gibt Ärzte, die das wissen.<br />

Ich lebe.<br />

Obwohl - gentechnisch dürfte es mich gar nicht geben. Ich bin nicht so, wie man es sich wünscht. Und trotzdem denke ich<br />

oft, daß ich Glück habe. Ich lebe richtig gerne! « (S. 6)<br />

Während JUNGs Verknüpfung von Historie <strong>und</strong> heutigen gesellschaftlichen Problemen den Schwerpunkt auf die NS-Zeit<br />

legt, betrachtet das weitgehend unbekannte Werk [16] von THüMINGER (1992) diese Verknüpfung insbesondere aus der<br />

Sicht heutiger Entwicklungen. In THüMINGERs Werk muss sich eine Familie entscheiden, ob sie ihr Kind <strong>mit</strong> Down-<br />

Syndrom <strong>zu</strong>r Welt bringen will oder nicht. Die Autorin beschreibt darin die Auseinanderset<strong>zu</strong>ng der ganzen Familie <strong>mit</strong> der<br />

Thematik "<strong>Behinderung</strong>" wie auch <strong>mit</strong> den gesellschaftlichen <strong>Einstellungen</strong> gegenüber behinderten <strong>Menschen</strong>, denen in<br />

Zukunft auch sie unterworfen sein würden.<br />

Beispiel: Die Entscheidung", THüMINGER 1992<br />

» "Ich war vorgestern in der Stadtbibliothek <strong>und</strong> habe mir Informationen über mongoloide Kinder geholt. Auch über<br />

behinderte <strong>Menschen</strong> im allgemeinen", sagt die Oma.<br />

Da habe ich also das Wort "mongoloid" das erste Mal gehört.<br />

"Bis man nicht selber <strong>mit</strong> so einem Problem konfrontiert ist weiß man ja nichts. Man kümmert sich einfach um nichts. Was<br />

übrigens ein Fehler ist."<br />

"Daß derart geschädigte <strong>Menschen</strong> immer noch mongoloid genannt werden, geht auf den englischen Arzt Langdon Down<br />

<strong>zu</strong>rück. Der hat ihm bekannte Schwachsinns<strong>zu</strong>stände beschrieben <strong>und</strong> geglaubt, <strong>zu</strong> ihrer Kennzeichnung Rassenmerkmale<br />

verwenden <strong>zu</strong> können", fährt Oma fort <strong>zu</strong> erzählen. "Es ist ein rassistischer Ausdruck"<br />

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Nickel: <strong>Gesellschaftliche</strong> <strong>Einstellungen</strong> Seite 39 von 54<br />

"Ich glaube, dieser Arzt hat im vorigen Jahrh<strong>und</strong>ert gelebt, oder?", fragt der Papa.<br />

Die Oma nickt. "Genau. Ich habe übrigens keine Ahnung gehabt, wie das Thema heute diskutiert wird. Habt ihr das<br />

gewußt, daß einige Wissenschaftler das ganze Problem auch unter dem Aspekt ´Kosten-Nutzen´ betrachten?<br />

Ich w<strong>und</strong>ere mich, verstehe nicht, was das bedeuten soll. Auch die Mutti schüttelt den Kopf.<br />

"Nun, wenn die Wissenschaft schon so weit ist, daß man die <strong>Behinderung</strong> bereits im Mutterleib erkennen kann, sollten<br />

solche Kinder, die nur Geld kosten, aber keinen Nutzen bringen, gar nicht auf die Welt gebracht werden."<br />

Nun braust die Mutti auf. "Was redest du daher?"<br />

"Nun, so ist es nun einmal, Monika. Ich habe gelesen, daß eine Dissertation über den volkswirtschaftlichen <strong>und</strong><br />

bevölkerungspolitischen Nutzen von vorgeburtlichen Untersuchungen den Ges<strong>und</strong>heitsökonomiepreis erhalten hat. In<br />

Deutschland. Aber bei uns wird in Fachkreisen ähnlich diskutiert."<br />

Ich verstehe <strong>zu</strong>erst überhaupt nicht, was die Oma da<strong>mit</strong> meint. Nach einigem Hin <strong>und</strong> Her erst wird mir klar: Manche<br />

Leute sind tatsächlich davon überzeugt, daß es besser ist, wenn behinderte Kinder nicht auf die Welt kommen, weil sie<br />

gepflegt <strong>und</strong> betreut werden müssen, was eben Geld kostet. (...)<br />

"Du hast recht, Mama", sagte der Papa <strong>zu</strong>r Oma. "Probleme, die behinderte <strong>Menschen</strong> haben könnten, interessieren einen<br />

nicht, man denkt nicht darüber nach, <strong>und</strong> plötzlich betrifft es die eigene Familie."<br />

Die Oma nickt. "Ich finde solche Kosten-Nutzen-Rechnungen, auf <strong>Menschen</strong> bezogen, furchtbar unmenschlich. Einfach<br />

entsetzlich. Mich erinnert das an die Nazizeit. Damals war ich ja noch ganz jung, aber da haben wir in der Schule so<br />

ähnliche Sachen gelernt. Ich habe geglaubt, das ist nun vorbei, aber siehe da, nichts ist vorbei."<br />

Da habe ich mich auch erinnert, nämlich an das Flugblatt, das die zwei Skins vor unserer Schule verteilt haben. Ich erzähle<br />

das (...).« (S. 32f)<br />

Die Theorien, die die Soziale Reaktion auf <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> <strong>zu</strong> erklären versuchen, führen als gemeinsame<br />

Kategorie die "Angst vor <strong>Behinderung</strong>" an. Dass eine verdeckte Angst Hintergr<strong>und</strong> für viele ablehnende Reaktionen sein<br />

kann, wird leider so gut wie nie beschrieben. Es muss davon ausgegangen werden, dass dieser Zusammenhang vielen<br />

Autor/innen nicht explizit bewusst ist.<br />

Eine der seltenen Ausnahme stellt TVEIT dar, der die Leser/innen durch die Identifikation <strong>mit</strong> der Hauptfigur Anteil haben<br />

lässt am langsamen Begreifen der gesellschaftlichen Hintergründe.<br />

Beispiel: "Mein kleiner großer Bruder", TVEIT 1991<br />

» Dann hörte ich die Frau <strong>mit</strong> lauter Stimme sprechen: "Ich habe gedacht, daß man hier in aller Ruhe sein Essen <strong>zu</strong> sich<br />

nehmen könnte. Aber es sieht nicht so aus. Komm, laß uns gehen!"<br />

Der Mann hat nichts gesagt. Beide sind aufgestanden. "Wie kann man so einen <strong>mit</strong> ins Restaurant nehmen", sagte die Frau.<br />

"Sie könnten doch etwas Rücksicht auf andere nehmen!" (...)<br />

Es hat immer noch in mir gekocht. Vater <strong>und</strong> Mutter aßen weiter, als ob nichts passiert wäre. Wie konnten sie nur so ruhig<br />

bleiben?<br />

"Was für eine beschissene Ziege", sagte ich.<br />

Vater schaute mich <strong>mit</strong> strengen Augen an.<br />

"So was darfst du nicht sagen", sagte er.<br />

"Das muß ich doch", sagte ich erzürnt. "Sie war dumm!" Vater legte Messer <strong>und</strong> Gabel beiseite.<br />

"Du weißt, was Kjell gemacht hat, war falsch", sagte er. "Es ist also kein W<strong>und</strong>er, daß sie ärgerlich wurde."<br />

"Es war doch nicht nötig <strong>zu</strong> ... sagen, daß wir Kjell nicht ins Restaurant hätten <strong>mit</strong>nehmen sollen", sagte ich.<br />

"Nein, das war nicht nötig. Aber eigentlich tut sie mir ein bißchen leid", sagte Vater.<br />

"Die dumme Frau?" fragte ich ganz überrascht. Mir tut sie kein bißchen leid!" (...)<br />

"Vielleicht hat sie noch nie Kontakt <strong>mit</strong> Leuten wie Kjell gehabt", sagte Vater. "Stell´ dir vor, wir würden Kjell heute <strong>zu</strong>m<br />

ersten Mal sehen ...<br />

Dann hätten wir uns vielleicht auch dumm benommen. Sie war wohl unsicher. Und vielleicht auch ein bißchen ängstlich."<br />

"Man braucht doch keine Angst vor Kjell haben", sagte ich.<br />

"Wenn uns etwas begegnet, das wir nicht kennen <strong>und</strong> nicht verstehen, dann werden wir oft ängstlich", sagte Mutter. "Und<br />

wenn wir ängstlich <strong>und</strong> unsicher sind, werden wir oft böse. Das ist eine Möglichkeit, seine Angst los<strong>zu</strong>werden."<br />

Ich schwieg <strong>und</strong> dachte darüber nach. Sie hatten wahrscheinlich recht.<br />

"Glaubt ihr ... glaubt ihr, daß sie böse wurde, weil sie Angst hatte?" fragte ich.<br />

"Ja, das glaube ich", sagte Vater <strong>und</strong> fing wieder an <strong>zu</strong> essen.<br />

"Es ist wichtig, daß wir das kennenlernen <strong>und</strong> <strong>zu</strong> verstehen versuchen, wovor wir Angst haben", sagte Mutter.<br />

Ich mußte noch mal nachdenken. Vielleicht hatte ich doch nicht ganz verstanden, was sie meinten. Aber ich fühlte, wie ich<br />

innerlich ruhiger wurde.« (S. 44ff)<br />

9. Ergebnisse der medienbezogenen Wirkungsforschung<br />

Die Bedeutung der Medien als Sozialisationsfaktor ist heute allgemein anerkannt <strong>und</strong> wird hoch eingeschätzt (SCHORB /<br />

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MOHN / THEUNERT 1991). Besonders bei Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen wird von einem verhältnismäßig hohen Grad der<br />

Beeinflussbarkeit ausgegangen, da bei ihnen Medien bzw. die von ihnen transportierten Inhalte <strong>und</strong> da<strong>mit</strong> auch Werte,<br />

Normen, <strong>Einstellungen</strong> <strong>und</strong> Anschauungen, in den Prozess der affektiven <strong>und</strong> kognitiven Entwicklung eingreifen. Inwieweit<br />

(Massen-)Medien als Sozialisationsfaktoren im Vergleich <strong>zu</strong> anderen Sozialisationsinstanzen wie Familie, Schule oder<br />

peer-group abschneiden, ist heute noch weitgehend unbekannt. Auf jeden Fall lassen sich Medien laut SCHORB /<br />

MOHN / THEUNERT (ebd, 495) "als fremdbestimmte Instrumente der Sozialisation nutzen, als Hilfs<strong>mit</strong>tel der<br />

Enkulturation, also der Übertragung des in einer Gesellschaft für verbindlich erachteten Wissens- <strong>und</strong> Normenkanons."<br />

Die Annahme der frühen Medienwirkungsforschung, bei der Medienwirkung handele es sich um einen einseitigen<br />

Beeinflussungsprozess, wird heute als widerlegt betrachtet. Medien sind nicht nur gesellschaftliche Einflussgrößen,<br />

sondern unterliegen ebenso einerseits gesellschaftlichen Vorgaben, die festlegen, in welchem Ausmaß eine mediale<br />

Artikulation möglich ist, andererseits der selektiven Auswahl der Rezipienten, die dadurch wie auch durch ihre<br />

innerpsychische Verarbeitung medialer Inhalte die Wirkung von Medien <strong>mit</strong>bestimmen. Medien, Gesellschaft <strong>und</strong><br />

Individuum stehen so<strong>mit</strong> in einem Wechselverhältnis, in dem jeder Faktor den anderen beeinflusst (vgl. ebd.).<br />

Die vier folgenden, in Fragen der Medienwirkung immer wieder auftauchenden Hypothesen, können aufgr<strong>und</strong> ihrer<br />

Linearität die Medienwirkung nur begrenzt erklären:<br />

• Stimulationshypothese<br />

Durch bestimmte Darstellungen kann ein entsprechendes Verhalten der Rezipienten stimuliert werden, indem sie<br />

das beobachtbare Verhalten i<strong>mit</strong>ieren.<br />

• Katharsishypothese<br />

Ein populärwissenschaftlicher Ansatz der Darstellung beabsichtigt durch die emotionale <strong>und</strong> moralische<br />

Überwältigung des Betrachters / der Betrachterin durch Grauen <strong>und</strong> Entsetzen beim Rezipienten eine katharsische<br />

(reinigende, abreagierende) Wirkung <strong>zu</strong> erzielen.<br />

• Inhibititionshypothese<br />

Entsprechend beobachtete Verhaltensweisen werden von Rezipienten deswegen nicht dargestellt, weil die negative<br />

Sanktionierung dieses Verhaltens beobachtet wurde.<br />

• Habitualisierungshypothese (auch: Nullhypothese)<br />

Aufgr<strong>und</strong> der eintretenden Gewöhnung an das beobachtete Verhalten findet keine spezifische Wirkung auf die<br />

Rezipienten statt.<br />

Neuere Ansätze gehen davon aus, dass sozialisationsrelevante Effekte des Medienkonsums in Form von<br />

Handlungsorientierungen nur nachweisbar seien, wenn medial ver<strong>mit</strong>telte Botschaften <strong>mit</strong> entsprechenden<br />

Alltagserfahrungen der Rezipienten korrespondieren oder wenn sie in keinem un<strong>mit</strong>telbaren Zusammenhang <strong>zu</strong> ihrer<br />

Realität stehen. (SCHORB / MOHN / THEUNERT 1991). Bezogen auf <strong>Einstellungen</strong> <strong>zu</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong><br />

würde dies bedeuten, dass ein gebildeter Einstellungshintergr<strong>und</strong> als stabile, fixierte Einstellungsstruktur eines Individuums<br />

durch medial dargebotene Botschaften nur verstärkt, nicht aber verändert werden kann. Ist noch kein stabiler<br />

Einstellungshintergr<strong>und</strong> gebildet, werden rezipierte Botschaften adaptiert. Insofern kommt - die bereits nachgewiesene, auf<br />

Ablehnung ausgerichtete, gesellschaftliche Einstellungsstruktur <strong>zu</strong>gr<strong>und</strong>e gelegt - der negativen Darstellung von behinderten<br />

<strong>Menschen</strong> in Medien <strong>zu</strong>m einen die Rolle des Verstärkers dieser gesellschaftlichen <strong>Einstellungen</strong>, <strong>zu</strong>m anderen die<br />

Orientierung auf eben diese <strong>Einstellungen</strong> <strong>zu</strong>, während positive Darstellungen lediglich als Orientierung für die Personen<br />

dienen können, die noch keinen fixierten Einstellungshintergr<strong>und</strong> gebildet haben. Eine Veränderung bestehender<br />

<strong>Einstellungen</strong> allein durch medial verschlüsselte Botschaften scheint nicht realistisch <strong>zu</strong> sein.<br />

Die frühen ideologiekritischen Ansätze (z.B. ADORNO) bieten in be<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>r vorliegenden Arbeit wertvolle Anregungen,<br />

indem sie sozialisationsrelevante Effekte der Medien insbesondere darin sehen, dass Medien Ideologien im Bewusstsein der<br />

Rezipienten verfestigen <strong>und</strong> so einen Beitrag <strong>zu</strong>r Stabilisierung gesellschaftlicher Strukturen leisten. In neueren Ansätzen,<br />

die sich auf die sog. Frankfurter Schule um ADORNO berufen, werden diese Aussagen dahingehend ergänzt, dass davon<br />

ausgegangen werden muss, dass massenmedialen Aussagen durch das Aufdecken des Ideologiegehaltes <strong>und</strong> der<br />

Manipulationsmechanismen entgegengewirkt werden kann. HOLZER (vgl. SCHORB / MOHN / THEUNERT 1991, 503)<br />

misst den Massenmedien okönomisch wie ideologisch Bedeutung für die Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems<br />

<strong>zu</strong>.<br />

Dieser mediale Ideologietransport (vgl. DAHRENDORF 1979) wie auch die durch bestimmte Mechanismen der<br />

Darstellung intendierte Funktion der Aufrechterhaltung bestehender Strukturen scheinen ebenso im Bereich der Kinder<strong>und</strong><br />

Jugendliteratur nachvollziehbar <strong>zu</strong> sein. Auf Kinder- <strong>und</strong> Jugendbücher bezogen hat die Lesewirkungsforschung jedoch<br />

ebenso feststellen müssen, dass einer Beeinflussung der kindlichen Einstellung allein durch Lesetexte klare Grenzen gesetzt<br />

sind (SAHR 1981). Ihre Wirkung würde dann am größten sein, wenn - bei Annahme einer entsprechenden Konsistenz der<br />

einzelnen Komponenten - alle drei Komponenten der 3-Ebenen-Theorie angesprochen werden. Ein Text sollte also die<br />

kognitive, die affektive sowie die konative Komponente ansprechen. Der Prozess, der hinter der Einstellungsveränderung<br />

steht, ist der der Identifikation eines Rezipienten <strong>mit</strong> der Hauptfigur des Textes, wobei diese protagonistische Figur eher<br />

durch die Erzählung als durch Beschreibung charakterisiert wird. Obwohl Texte die Bereiche "Wissen" <strong>und</strong> "Fühlen"<br />

durchaus <strong>zu</strong> behandeln wissen, führen Änderungen im kognitiven <strong>und</strong> im affektiven Bereich nicht notwendigerweise <strong>zu</strong><br />

Veränderungen im Handlungsbereich. Neue Fakten bzw. ein erhöhtes Wissen, wie es durch einige der Sachbücher ver<strong>mit</strong>telt<br />

wurde, haben nur Einfluss auf unstrukturierte, unklare Situationen. Auf <strong>Menschen</strong>, die bereits einen stabilen<br />

Einstellungshintergr<strong>und</strong> gebildet haben, besitzen sie nur sehr geringen Einfluss. Das Verhalten eines <strong>Menschen</strong> wird - wie<br />

bereits festgehalten wurde - um so stärker von einer Einstellung beeinflusst, desto wichtiger diese Einstellung für die<br />

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Orientierung <strong>und</strong> den Lebens<strong>zu</strong>sammenhang derjenigen Person ist. Um Wirkungen im Handlungsbereich <strong>zu</strong> erzielen,<br />

erscheint es daher notwendig, solche Lebens<strong>zu</strong>sammenhänge her<strong>zu</strong>stellen, in denen interpersonelle Auseinanderset<strong>zu</strong>ngen<br />

möglich werden, beispielsweise indem direkte Kontakte <strong>zu</strong> den Objekten des Textes (hier: Kontakte <strong>zu</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong><br />

<strong>Behinderung</strong>) hergestellt oder modellhafte Interaktionen (Rollenspiele) durchgeführt werden, falls diese Objekte zwecks<br />

eines direkten Kontaktes nicht <strong>zu</strong>r Verfügung stehen bzw. entsprechende Kontakte durch gesamtgesellschaftliche<br />

Strukturen systematisch verhindert werden.<br />

Eine weitere Einschränkung der Wirkungsmöglichkeiten erfahren Bücher dadurch, dass an eine Rezeption Vorbedingungen<br />

geknüpft sind. Zum einen müssen Bücher gelesen werden, <strong>zu</strong>m anderen kann sich die kommunikative Struktur des Werkes<br />

erst durch die Beteiligung des Lesers / der Leserin entfalten. Nun ist bekannt, dass es vielen Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen<br />

Mühe macht, schriftsprachlich codierte Bedeutungen in eigene Vorstellungen um<strong>zu</strong>setzen. Im Zuge der sich verändernden<br />

kindlichen Lebensbedingungen (Schlagwort: "Veränderte Kindheit") stehen Kinder- <strong>und</strong> Jugendbücher heute neben einer<br />

wachsenden Anzahl anderer Medien. Die Folgen dieser Mediatisierung können hier keinesfalls auch nur ansatzweise<br />

beschrieben werden. Deutlich ist jedoch, dass problemorientierte Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur andere Anforderungen an<br />

Kinder <strong>und</strong> Jugendliche stellen als Darstellungen omnipotenter Helden in audiovisuellen Medien. SCHöN (angeführt nach<br />

B. HURRELMANN 1992) versucht verschiedene Niveaus der Verstehensfähigkeit <strong>zu</strong> beschreiben. Danach sind<br />

Betroffenheit <strong>und</strong> die Substitution (der Vorgang der Illusionsbildung, in dem das Ich die Teilnahme am fiktiven Geschehen<br />

quasi durch eine Selbstverset<strong>zu</strong>ng der eigenen Person in die literale Handlung realisiert) Vorausset<strong>zu</strong>ng für affektive<br />

Beziehungen <strong>zu</strong> literalen Figuren. Die literale Erfahrung im Kindesalter ist eine wesentliche Variable bei der Frage nach den<br />

Wirkungschancen von Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur.<br />

Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass Kinder- <strong>und</strong> Jugendbücher einen wichtigen Beitrag leisten, wenn es um die<br />

Herausbildung von positiven <strong>Einstellungen</strong> gegenüber <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> geht, indem sie durch die Identifikation<br />

<strong>mit</strong> dem Protagonisten ein Probehandeln ermöglichen, bei dem Verhaltensmuster sozialer Interaktion sprachlich, also<br />

gedanklich vorweggenommen werden (ELBRECHTZ 1979). So weist SAHR (1983) am Beispiel des Buches "Die<br />

Vorstadtkrokodile" von MAX VON DER GRüN nach, dass <strong>Einstellungen</strong> durch die unterrichtliche Behandlung eines<br />

Jugendbuches verändert werden können, sofern möglichst günstige Ausgangs- <strong>und</strong> Randbedingungen (kaum Sachkenntnis<br />

über die <strong>zu</strong> behandelnde Sache sowie keine festen Einstellungshintergründe) die Wirkungschancen eines Textes positiv<br />

beeinflussen.<br />

PROCHNOW / MüHL (1996) relativieren den "Enthusiasmus von Experteren <strong>und</strong> Parktikern in be<strong>zu</strong>g auf den Einfluß von<br />

Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur auf die <strong>Einstellungen</strong> von nichtbehinderten Schülern/Schülerinnen gegenüber Kindern <strong>mit</strong><br />

geistiger <strong>Behinderung</strong>" (ebd., 216). In ihrem Versuch konnten sie lediglich einen begrenzten Einfluß auf die kognitive<br />

Komponente der Einstellung nachweisen; dies ist jedoch aufgr<strong>und</strong> der Struktur ihres Vorgehens auch <strong>zu</strong> erwarten gewesen.<br />

Zudem verwenden sie einen sehr engen Lernbegriff, bei dem <strong>Einstellungen</strong> vor <strong>und</strong> nach einer "Behandlung des Buches im<br />

Unterricht" per Interview gemessen wird. Aussagen über Veränderungen des konkreten Verhaltens der Einzelnen erlauben<br />

solche Untersuchungen m.E. nicht.<br />

Ich gehe davon aus, dass methodische Unterschiede bei dem unterrichtlichen Einsatz eines Buches von Bedeutung auf des<br />

Ergebnis einer Einstellungsveränderung sein wird. Dieses wird - <strong>zu</strong>sammen <strong>mit</strong> einem Resumee der gesamten Arbeit - in der<br />

folgenden Schlussbetrachtung etwas genauer ausgeführt werden.<br />

10. Schlussbetrachtung<br />

Wenn ich an behinderten Personen vorbeigehe, habe ich so ein komisches Kribbeln im Bauch. Meistens sehe ich nach <strong>und</strong><br />

denke: "Sieht der aber komisch aus. Die Behinderten müssen arm sein."<br />

Doch in kann mir keinen Überblick schaffen, weil ich noch nie <strong>mit</strong> einem Behinderten <strong>zu</strong>sammen war. Ich würde es besser<br />

finden, wenn Behinderte hier selbständig so leben könnten wie Nichtbehinderte. Natürlich brauchen wir Geld da<strong>zu</strong>. Das ist<br />

meine Meinung. Und ich hoffe aufrichtig, daß dieser Brief einmal Wirklichkeit wird.<br />

Susanne, 9 Jahre<br />

(aus: FRANZ-JOSEPH HUAINIGG :<br />

"Was hat´n der? Kinder über Behinderte."<br />

Klagenfurt 1993. S. 92f & Rückcover)<br />

Die von ZIMMERMANN (1982) <strong>und</strong> AMMANN U.A. (1987) angeführten Stereotypen der Darstellung haben meiner<br />

Ansicht nach heute keine Gültigkeit mehr. Die Definition von <strong>Behinderung</strong> als etwas Böses oder als Strafe wird in den<br />

heutigen Werken ebenso wenig verwendet wie die historisch später einsetzende Charakterisierung von behinderten<br />

<strong>Menschen</strong> als unterwürfige "Musterkrüppel" oder die unrealistischen Darstellungen von plötzlichen "Heilungen".<br />

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Nickel: <strong>Gesellschaftliche</strong> <strong>Einstellungen</strong> Seite 42 von 54<br />

<strong>Gesellschaftliche</strong> <strong>Einstellungen</strong> in der Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur<br />

Im ersten Teil der Arbeit ist deutlich geworden, dass ablehnende <strong>Einstellungen</strong> gegenüber <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> nicht<br />

anders als ein gesellschaftlich determiniertes, in ökonomischen Zusammenhängen stehendes Produkt auf der Basis geltender<br />

Herrschafts- <strong>und</strong> Normenstrukturen verstanden werden kann.<br />

Bei der Beurteilung der Abbildung dieser gesellschaftlichen Sachverhalte in Werken der Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur kann<br />

eine historische Entwicklung festgestellt werden. Während vor etwa 20 Jahren im Mittelpunkt stand, welche<br />

Beeinträchtigung ein Kind "hat", liegt das Augenmerk heute stärker auf dem Kind selbst, seinem Leben <strong>und</strong> seinem Erleben.<br />

Dieses Erleben beinhaltet die <strong>Behinderung</strong> in ihrer Ausprägung als organische <strong>und</strong> als soziale Kategorie.<br />

Die gesellschaftlichen Reaktionen wurden hauptsächlich in Werken thematisiert, in denen <strong>Behinderung</strong>sformen aufgegriffen<br />

wurden, die von der Gesellschaft nicht verstanden werden. Dies sind in der Regel geistige <strong>Behinderung</strong>en sowie<br />

Verhaltensweisen, die von der sozialen Norm abweichen. Dies entspricht den geschilderten Ergebnissen der<br />

sozialpsychologischen Untersuchungen, die <strong>zu</strong> dem Schluss kommen, dass die soziale Akzeptanz desto geringer sein wird,<br />

je weniger seine Beeinträchtigung oder sein Verhalten verstanden wird.<br />

Das, was sich <strong>Menschen</strong> nicht erklären können, ist fremd <strong>und</strong> macht Angst. Im ersten Teil dieser Arbeit wurde dargestellt,<br />

dass "Angst" die zentrale Kategorie darstellt, <strong>mit</strong> der gesellschaftliche Reaktionen auf <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> erklärt<br />

werden kann. Die quantitative Zunahme der Werke, in denen <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> geistigen (Schwerst-) <strong>Behinderung</strong>en<br />

geschildert werden <strong>und</strong> die immer häufiger werdende Auseinanderset<strong>zu</strong>ng <strong>mit</strong> gesellschaftlichen Ablehnungs- <strong>und</strong><br />

Aussonderungstendenzen können als ein Indiz dafür gewertet werden, dass die Autor/inn/en von Kinder- <strong>und</strong><br />

Jugendbüchern erkannt haben, dass insbesondere die Verhaltensweisen, die nicht verstanden werden können, Auslöser für<br />

ablehnende Reaktionen sind. Sie versuchen daher, durch das oben beschriebene Vorgehen <strong>mit</strong> dem "Fremden" <strong>zu</strong><br />

konfrontieren, um das Empfinden von Angst <strong>und</strong> die folgenden Ablehnungsreaktionen <strong>zu</strong> erschweren.<br />

Auffällig ist jedoch auch, dass z.B. sozialdarwinistische Auffassungen, Kosten-Nutzen-Diskussionen oder die durch eine<br />

<strong>Behinderung</strong> verminderte menschliche Arbeitskraft <strong>und</strong> deren mindere kapitalistische Verwertung in Kinder- <strong>und</strong><br />

Jugendbüchern fast vollständig ausgeklammert bleiben.<br />

Dies ist <strong>zu</strong> einem Teil dadurch <strong>zu</strong> erklären, dass diese Thematiken nicht unbedingt dem Erfahrungs- <strong>und</strong> Informationsfeld<br />

der meisten Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen entstammen, so dass die Autor/innen auf eine Auseinanderset<strong>zu</strong>ng <strong>mit</strong> ihnen<br />

weitestgehend verzichten. Möglich ist indes auch, dass die Autor/innen in ihren eigenen <strong>Einstellungen</strong> dem sog. "falschen<br />

Bewusstsein" unterliegen oder sich dieser Sachverhalte selbst nicht bewusst sind.<br />

Kinder- <strong>und</strong> Jugendbuchautor/innen stellen keinen repräsentativen Ausschnitt der gesellschaftlichen Einstellungsstruktur<br />

dar. Als Träger sozialer <strong>Einstellungen</strong> werden sie jedoch durch gesellschaftliche <strong>Einstellungen</strong> geformt. Daher kommen in<br />

ihren Werken eigene, soziale <strong>Einstellungen</strong> <strong>zu</strong>m Tragen, die die Darstellung von <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> beeinflussen.<br />

Autor/innen sind, da sie in konkreten historischen Situationen leben, immer von den jeweils vorherrschenden<br />

gesellschaftlichen Normen <strong>und</strong> Werten beeinflusst. Entweder schließen sie sich den gängigen Auffassungen an oder sie<br />

stellen sie in Frage. Ihre literarischen Produkte sind also entweder Spiegelbild von Normen <strong>und</strong> Werten der entsprechenden<br />

Zeitepoche oder sie enthalten Kritik an bestehenden Verhältnissen. Die Darstellung von <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> in<br />

Medien ist so<strong>mit</strong> raum-zeitlich variabel, sie ist abhängig vom Welt- <strong>und</strong> <strong>Menschen</strong>bild einer Zeit <strong>und</strong> einer Kultur. Dabei<br />

fällt auf, dass viele positiv auffallende Werke von Autor/innen verfasst wurden, die entweder selbst Träger einer<br />

<strong>Behinderung</strong> sind (z.B HUAINIGG) oder selbst einen positiven, emotionalen Kontakt <strong>zu</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong><br />

erlebt haben (z.B. WELSH, HäRTLING, VON DER GRüN, GäRTNER <strong>und</strong> vermutlich andere mehr). Der Zusammenhang<br />

von emotional positiv erlebten Kontakten <strong>und</strong> positiven <strong>Einstellungen</strong> ist ersichtlich.<br />

Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur als eine Ausprägung medialer Normenver<strong>mit</strong>tlung sind nicht <strong>zu</strong> isolieren aus dem<br />

gesellschaftlichen Gesamtkontext, dem sie entstammen, auf den sie sich beziehen <strong>und</strong> auf den sie einwirken. Da<strong>mit</strong> besitzen<br />

Kinder- <strong>und</strong> Jugendbücher neben der literalen <strong>und</strong> der pädagogischen auch eine politische Funktion. Als Teil der<br />

Gesellschaft kann sie gesellschaftliche Verhältnisse verändern. In Anlehnung an BASAGLIA ist da<strong>mit</strong> jedes Kinderbuch<br />

auch politisch . Diese Funktion muss berücksichtigt <strong>und</strong> reflektiert werden. Darstellungen von <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong><br />

lassen so<strong>mit</strong> einen Schluss über die politische Aussage der Autor/innen <strong>zu</strong>.<br />

Die Nichtbeachtung einzelner Momente isolierender Bedingungen, wie z.B. die weitestgehende Ausklammerung schulintegrativer<br />

Bestrebungen, wirkt verfestigend auf bestehende Strukturen. Herrschende Verhältnisse werden in diesen Fällen<br />

nicht kritisch hinterfragt <strong>und</strong> dadurch automatisch tradiert. Nicht die Verhaltensweisen sog. behinderter <strong>Menschen</strong> sind das<br />

eigentliche Problem, sondern die Verhältnisse, die diese Verhaltensweisen produzieren. Diese Erkenntnis wird innerhalb der<br />

Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur nach meinen Beobachtungen lediglich auf einer personalisierten sozialen Mikro-Ebene<br />

thematisiert, d.h. <strong>Einstellungen</strong> werden <strong>zu</strong>meist in Form individueller Verhaltensweisen einzelner <strong>Menschen</strong> dargestellt,<br />

wobei gesellschaftliche Strukturen, die den Boden dieser Verhaltensweisen darstellen, weitestgehend unberücksichtigt<br />

bleiben.<br />

Auffällig ist, daß es sich bei den Werken, die Mechanismen der gesellschaftlichen Ausgren<strong>zu</strong>ng behinderter <strong>Menschen</strong><br />

kritisieren - sieht man von den frühen Werken von HäRTLING <strong>und</strong> KLEE ab - vor allem um neuere Werke handelt, die in<br />

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den letzten Jahren erschienen sind. Auch wenn Aspekte der schulischen Integration <strong>und</strong> der Problematik vom Kosten-<br />

Nutzen-Rechnungen vom überwiegenden Teil der Werke noch ausgeblendet bleiben, kann dies als Zeichen einer sich<br />

verändernden Einstellungsstruktur interpretiert werden. Es wäre wünschenswert, wenn diese Beobachtung <strong>und</strong> die da<strong>mit</strong><br />

verb<strong>und</strong>ene These <strong>mit</strong>tels standardisierter Verfahren (z.B. inhaltsanalytisch an einer größeren Anzahl von Werken oder <strong>mit</strong><br />

Hilfe halb-standardisierter Interviews <strong>mit</strong> den Autor/innen) empirisch überprüft werden würde, was innerhalb dieser Arbeit<br />

aus Kapazitätsgründen nicht geleistet werden konnte.<br />

<strong>Gesellschaftliche</strong> <strong>Einstellungen</strong> durch Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur?<br />

Die Sachbücher der 70er Jahre versuchten, durch die Schilderung von Lebensalltagen kognitives Wissen <strong>zu</strong> ver<strong>mit</strong>teln. Die<br />

Belehrungssucht vieler Texte aus diesen Jahren erscheint aus heutiger Sicht zweifelhaft (B. HURRELMANN 1992). Heute<br />

werden <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> hauptsächlich in Erzählungen dargestellt. In ihnen werden verstärkt auch emotionale<br />

Aspekte angesprochen <strong>und</strong> den Leser/innen ein modellhaftes Probehandeln ermöglicht. Viel wichtiger als die Ebene der<br />

über<strong>mit</strong>telten Text inhalte ist nach B. HURRELMANN die Ebene der Einübung sozial-emotionaler Kommunikation. Der<br />

Zugewinn an literarischer Differenziertheit ermöglicht einen größeren Spielraum für die Imaginationsfähigkeit junger<br />

Leser/innen. "<strong>Gesellschaftliche</strong>s ist da<strong>mit</strong> nicht abwesend, es bildet nicht das Thema, eher das Erfahrungsmuster der<br />

Geschichten" (ebd., 11). Dieses Vorgehen erscheint richtig, beachtet man die Ergebnisse der Sozialpsychologie, nach denen<br />

eine Einstellungsveränderung nur erreicht werden kann, wenn alle Komponenten einer <strong>Einstellungen</strong> angesprochen werden,<br />

eine reine Wissensver<strong>mit</strong>tlung <strong>mit</strong>hin nicht ausreicht.<br />

In den Werken der aktuellen Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur kann ein Modell beobachtet werden, nach dem <strong>zu</strong> Beginn des<br />

Buches gesellschaftliche ablehnende Haltungen geschildert werden. Im Verlauf der literalen Handlung verändert sich die<br />

Einstellung einer oder mehrerer Personen durch den positiv erlebten Kontakt. Durch ein erzählliterales Vorgehen wird<br />

versucht, den jungen Leser/innen durch den fiktiven Kontakt sowohl <strong>mit</strong> der beeinträchtigten Person als auch <strong>mit</strong> Personen,<br />

die sie umgeben, ein Probehandeln <strong>zu</strong> ermöglichen, das durch Modelllernen in das reale Verhalten der Leser/innen<br />

übernommen werden soll.<br />

Wichtig erscheint mir dabei, neben dem emotionalen Aspekt den konativen Bereich hervor<strong>zu</strong>heben, da dieser in der Regel<br />

außerhalb der Rezeption von Kinder- <strong>und</strong> Jugendbüchern liegt. Daher erscheinen die Möglichkeiten der Kinder- <strong>und</strong><br />

Jugendliteratur, <strong>zu</strong> einer positiven Einstellungsbildung bei<strong>zu</strong>tragen, stark begrenzt, solange gesellschaftlich tradierte<br />

Segregationsmechanismen (z.B. getrennte Schulbesuche) nicht aufgegeben werden. Wichtiger als jeder mediale Kontakt <strong>mit</strong><br />

behinderten Figuren ist der persönliche Kontakt <strong>mit</strong> behinderten <strong>Menschen</strong>. Dennoch können Kinder- <strong>und</strong> Jugendbücher<br />

helfen, die Unsicherheit im Umgang <strong>mit</strong> behinderten <strong>Menschen</strong> <strong>zu</strong> überwinden, indem sie ein Handlungsmodell anbieten, an<br />

dem sich junge Leser/innen orientieren können.<br />

Die Möglichkeit einer solchen Orientierung ist m.E. in Abhängigkeit von der didaktischen Aufbereitung des Literatur-<br />

Einsatzes <strong>zu</strong> sehen. Bisherige Versuche (vgl. PROCHNOW / MüHL 1996) unterstanden einem recht engen Lernbegriff:<br />

Auf die rein sprachliche Erfassung vorhandener <strong>Einstellungen</strong> folgte der m.E. stark kognitiv ausgerichtete 9- bzw 14-<br />

stündige Unterrichtsversuch, in dem ein literales Werk interpretierend <strong>und</strong> vorwiegend sprachlich angegangen wurde.<br />

Abschließend wurden die <strong>Einstellungen</strong> erneut in einem Interview-Verfahren er<strong>mit</strong>telt. Angesehen von der Gefahr der<br />

Verfälschung durch sozial erwünschte Antworten kann m.E. von diesen Aussagen kaum auf ein tatsächliches Verhalten<br />

geschlossen werden. Die Feststellung, dass der Einfluss des Unterrichtsversuches überwiegend auf die kognitive<br />

Komponente, also auf die reine Wissensver<strong>mit</strong>tlung begrenzt blieb (ebd., 216), ist m.E. bereits durch das<br />

Untersuchungssettting <strong>mit</strong>bedingt gewesen <strong>und</strong> hätte gar vorausgesagt werden können.<br />

Es erscheint als eine Farce, wenn "die Behandlung eines Kinderbuches <strong>zu</strong>m Thema »geistige <strong>Behinderung</strong>« im Unterricht<br />

von Gr<strong>und</strong>schulklassen einen Beitrag <strong>zu</strong>r Vorbereitung nichtbehinderter Kinder auf mögliche Kontakte <strong>mit</strong> Kindern <strong>mit</strong><br />

geistiger <strong>Behinderung</strong> leisten" soll, "indem Vorstellungen über sie positiv beeinflußt" werden (PROCHNOW / MüHL<br />

1996; Hervorhebungen SN). Was Kinder benötigen, um positive <strong>Einstellungen</strong> <strong>zu</strong> entwickeln, ist die Handlung, also die<br />

konkrete Auseinanderset<strong>zu</strong>ng <strong>mit</strong> behinderten <strong>Menschen</strong>, aber keine Be-Handlung eines Kinderbuches <strong>zu</strong>r Vorbereitung<br />

evtl. möglicher Kontakte.<br />

Werden Kontakte <strong>zu</strong> behinderten Kindern durch gesamtgesellschaftliche Strukturen erschwert, bietet sich m.E. eine<br />

Möglichkeit durch eine handelnde Unterrichtsgestaltung, wie sie im "handlungs- <strong>und</strong> produktionsorientierten<br />

Literaturansatz" (vgl. WALDMANN 1984, HAAS / MENZEL / SPINNER 1994; in Einzelaspekten auch: ALTENBURG<br />

1991, FORYTTA 1991, MENZEL 1994; überblicksartig auch: NICKEL 1997) beschrieben wird. Eine Untersuchung <strong>mit</strong><br />

einem solchen Setting soll möglicherweise Thema einer weiteren Arbeit des Verfassers werden, weswegen der Ansatz<br />

abschließend an dieser Stelle kurz skizziert werden soll.<br />

Aus der Rezeptionsforschung ist schon länger bekannt, dass Rezeption ein aktiver <strong>und</strong> produktiver Vorgang ist. Auch die<br />

Literaturdidaktik nimmt dieses seit etwa 15 Jahren in ihrem "handlungs- <strong>und</strong> produktionsorientierten Literaturansatz" auf,<br />

einem Ansatz, der die traditionelle Textanalyse <strong>und</strong> -interpretation ergänzt, indem er die Leser/innen auch in ihrem<br />

Empfinden, ihren Gefühlen <strong>und</strong> ihrer Fantasie anspricht. Bisher herrschte das interpretierende Gespräch über den Text vor,<br />

kaum einmal wurde etwas <strong>mit</strong> einem Text getan. Zunehmend wird erkannt, dass an einem Text didaktisch gesehen nicht<br />

mehr allein seine Bedeutung wichtig ist, also das, was er ausdrücken will, sondern viel mehr das, was er macht oder <strong>mit</strong> sich<br />

machen läßt. Es geht - vereinfacht gesagt - nicht mehr darum, "was der Dichter uns wohl sagen will", sondern vielmehr<br />

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darum, was der Text in uns bewirkt, was er in uns auslöst.<br />

Der Doppelbegriff "handlungs- <strong>und</strong> produktionsorientiert" meint einerseits das praktische Handeln, also den aktiven<br />

Umgang <strong>mit</strong> gegebenen Texten, andererseits das produktive Erzeugen von neuen Texten, Textteilen oder Textvarianten.<br />

"Mit dem Begriff ´handlungsorientiert´ ist dementsprechend der Aspekt des tausend Möglichkeiten einschließenden<br />

bildlich-illustrativen, musikalischen, darstellenden <strong>und</strong> spielenden Reagierens auf Texte bezeichnet; der Begriff<br />

´produktionsorientiert´ meint dagegen die stärker das kognitive Vermögen beanspruchende Erzeugung von neuen<br />

Texten" (ebd., 18).<br />

Lesen als Rezeption ist aber weit mehr als nur kognitive Übernahme einer im Text enthaltenen Botschaft. Der Leser / die<br />

Leserin entnimmt beim Lesen dem Text nicht nur etwas sondern gibt eigene Erfahrungen <strong>und</strong> Gefühle hin<strong>zu</strong>. Erst dadurch<br />

entsteht der persönliche Sinn, den der Text für den Einzelnen hat. "Sinn ist nicht einfach etwas, das im Text enthalten ist,<br />

das so<strong>zu</strong>sagen an den Wörtern <strong>und</strong> Sätzen <strong>und</strong> Textteilen haftet <strong>und</strong> automatisch <strong>und</strong> mechanisch <strong>mit</strong> ihnen übernommen<br />

wird, sondern Sinn ist Geschehen zwischen Text <strong>und</strong> Leser innerhalb eines übergeordneten Sinnsystems" (WALDMANN<br />

1984, 101). "Verstehen ist so<strong>mit</strong> nicht das bloße Zurkenntnisnehmen dessen, was da steht, sondern das Aufnehmen in<br />

umfassende Sinn<strong>zu</strong>sammenhänge" (ebd., 102). Das Gelesene muß in das persönliche Sinnsystem eingeordnet werden,<br />

wobei sich das Sinnsystem modifiziert <strong>und</strong> aktualisiert. Lesen als elementare, schriftkulturelle Tätigkeit entspricht so<strong>mit</strong><br />

einer Sinnkonstruktion, d.h. der Sinn eines Textes wird vom Leser / von der Leserin <strong>mit</strong>geschaffen.<br />

Lesen trägt demnach da<strong>zu</strong> bei, "soziale Phantasie" (WALDMANN) <strong>zu</strong> entwickeln, indem er dem Leser / der Leserin die<br />

Möglichkeit eröffnet, vorstellungsmäßig neue Erfahrensbereiche <strong>zu</strong> erk<strong>und</strong>en. Die Identifikation <strong>mit</strong> der fiktionalen literalen<br />

Figur erlaubt gedankliches Probehandeln, das Vorwegnehmen realer Situationen. Dadurch können Texte Hilfe bieten <strong>zu</strong>r<br />

Ich-Findung <strong>und</strong> Wertorientierung. Die Leser/innen können im Schutz der Fiktion (versteckt hinter den Handlungsträgern)<br />

über sich selbst reden, ohne sich preis <strong>zu</strong> geben.<br />

Ich gehe davon aus, dass Kindern erst <strong>mit</strong> einem handlungs- <strong>und</strong> produktionsorientierten Vorgehen die Möglichkeit <strong>zu</strong><br />

einem Probehandeln in interagierenden Situationen gegeben wird <strong>und</strong> dass solche Erfahrungen auch auf die emotionale <strong>und</strong><br />

die konative Ebene einer Einstellung wirken, die als Variable der Sozialen Reaktion wirksam werden kann.<br />

Für die weitere Entwicklung der Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur ist <strong>zu</strong> hoffen, dass Autor/innen einerseits <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong><br />

<strong>Behinderung</strong> als in eine integrierte Persönlichkeiten darstellen, ohne das Phänomen "<strong>Behinderung</strong>" in den Mittelpunkt der<br />

Betrachtung <strong>zu</strong> rücken <strong>und</strong> <strong>zu</strong> problematisieren. Andererseits wäre es erstrebenswert, wenn mehr Autor/innen bei ihrem<br />

Bestreben nach Identifikation <strong>und</strong> Empathie gegenüber behinderten <strong>Menschen</strong> verstärkt Momente der sozialen<br />

Makroebene einbeziehen, um den gesamten Bedingungskomplex für Vor-Urteile <strong>und</strong> Isolation umfassend <strong>und</strong> adäquat in<br />

ihren Werke abbilden <strong>zu</strong> können. Ausgrenzende Verhaltensweisen beschränken sich nicht auf Anstarren oder<br />

Mitleidsäußerungen. Die Basis der Segregation ist in gesamtgesellschaftlichen Zusamenhängen <strong>und</strong> ihren<br />

volkswirtschaftlichen, politischen <strong>und</strong> philosophischen Hintergründen <strong>zu</strong> suchen. Die Aspekte Kosten-Nutzen-Denken,<br />

segregierendes Schulsystem u.v.m. sollten daher in Zukunft stärker Berücksichtigung in Kinder- <strong>und</strong> Jugendbüchern finden.<br />

"Alles wäre leichter, wenn Tag für Tag, in der Schule, in der Arbeit, in der Freizeit, immer <strong>und</strong> überall behinderte<br />

<strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> uns leben würden <strong>und</strong> wir <strong>mit</strong> ihnen. Als Selbstverständlichkeit. Aber da<strong>zu</strong> müßte vieles anders sein. (...) Da<br />

braucht es einen nicht <strong>zu</strong> w<strong>und</strong>ern, daß man im täglichen Leben so wenigen behinderten <strong>Menschen</strong><br />

begegnet." ( THüMINGER: "Die Entscheidung", 1992, S. 75).<br />

Wie wahr.<br />

Anschrift des Verfassers: *s.nickel@iname.com<br />

Literatur<br />

1. fachwissenschaftliche Literatur, Rezensionen, Bibliografien<br />

Altenburg, Erika: Wege <strong>zu</strong>m selbständigen Lesen. 10 Methoden der Texterschließung. Cornelsen: Frankfurt / Main 1991<br />

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behindert-sein als Thema in Kinder- <strong>und</strong> Jugendbüchern. Bibliotheks- <strong>und</strong> Informationssystem der Univ. Oldenburg, 1987<br />

Bächthold, Andreas: Soziale Reaktionen auf behinderte Jugendliche. <strong>Einstellungen</strong> <strong>und</strong> gesellschaftliche Hintergründe. In:<br />

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Becker-Gebhard, Bernd: Auswirkungen integrativer Erziehung auf nichtbehinderte Kinder. In: Staatsinstitut für<br />

Frühpädagogik <strong>und</strong> Familienforschung, München: Handbuch der integrativen Erziehung behinderter <strong>und</strong> nichtbehinderter<br />

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²1922.<br />

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²1995; S. 3f. (gleichzeitig in: Zeitschrift für Heilpädagogik, Heft 10/1994, S. 680f).<br />

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320.<br />

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Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1996]<br />

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Feuser, Georg: Entwicklungspsychologische Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> Abweichungen in der Entwicklung. Zur Revision des<br />

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die Aussprache zwischen K.-L. Holtz <strong>und</strong> G. Feuser in: ZfH Heft 2/1992, S. 114-131.<br />

Feuser, Georg: Integration <strong>und</strong>/oder Kooperation? Wohin <strong>mit</strong> der "Sonder"-Pädagogik? In: Behindertenpädagigik, 1/1993,<br />

2-22<br />

Feuser, Georg: Pädagogik ohne Ausgren<strong>zu</strong>ng - Ethische Aspekte gegen die "Euthanasie". Statement während des<br />

Fachforums: "Gegen die neue Lebensunwert-Diskussion. Nie wieder "Euthanasie"" des Arbeitskreises <strong>zu</strong>r Erforschung der<br />

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Bonn 1993 (a), unveröffentlicht.<br />

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wider die "Neue Euthanasie". In: Merz, Hans-Peter / Eugen X. Frei (Hrsg.): <strong>Behinderung</strong> - verhindertes <strong>Menschen</strong>bild?<br />

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Feuser, Georg: Behinderte Kinder <strong>und</strong> Jugendliche: Zwischen Integration <strong>und</strong> Aussonderung. Darmstadt 1995.<br />

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Frühauf, Theo / Ulrich Niehoff: Gewalt gegen behinderte <strong>Menschen</strong>. In: Behindertenpädagogik Heft 1/1994, S. 58-74.<br />

Geraedts, Regine / Claudia Zuper: Zur Geschichte <strong>und</strong> Gegenwart der Humangenetik. In: Z. Behindertenpädagogik, Heft<br />

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3-5.<br />

(à vgl. da<strong>zu</strong> die Kontroverse:<br />

Hurrelmann, Bettina: Wider die neue Eindimensionalität. (Stellungnahme <strong>zu</strong>m Artikel von G. Haas) In: Praxis Deutsch,<br />

Heft 90/1988?, S. 2f; sowie<br />

Haas, Gerhard: Wider die alte Eindimensionalität. (Stellungnahme <strong>zu</strong> Hurrelmann, Bettina) In. Praxis Deutsch, Heft ???, S.<br />

8-9; sowie<br />

Praxis Deutsch: Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur zwischen poetischen <strong>und</strong> pädagogischen Ansprüchen. Zur Kontroverse um die<br />

Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur. Heft ???, S. 5-7)<br />

Haas, Gerhard / Wolfgang Menzel / Kaspar H. Spinner: Handlungs- <strong>und</strong> produktionsorientierter Literaturunterricht. In: Z.<br />

Praxis Deutsch, Heft 123/1994. Friedrich: Velber, S. 17ff.<br />

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Hamburger, Käte: Das Mitleid. Stuttgart 1985.<br />

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Erwachsener. Schriftliche Hausarbeit <strong>zu</strong>r ersten Staatsprüfung für das Lehramt an öffentlichen Schulen. Univ. Bremen<br />

1983, unveröffentlicht.<br />

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Hiebsch, Hans / Manfred Vorweg (Hrsg.): Sozialpsychologie. Berlin / DDR 1978.<br />

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Hurrelmann, Bettina: Lesen <strong>und</strong> soziale Erfahrung. In: Praxis Deustch 13/1975, S. 39-42.<br />

Hurrelmann, Bettina: Wider die neue Eindimensionalität. à s. unter Haas, G. 1988.<br />

Hurrelmann, Bettina: Aktuelle Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur. In: Praxis Deutsch, Heft 111/1992, S. 9-18.<br />

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Handbuch der Sonderpädagogik Band 1. Berlin 1985, S. 322-342<br />

Jantzen, Wolfgang: "Praktische Ethik" als Verlust der Utopiefähigkeit - Antropologische <strong>und</strong> naturphilosophische<br />

Argumente gegen Peter Singer. In: Z. Behindertenpädagogik Heft 1/1991, S. 11-25. [à vgl. da<strong>zu</strong> auch in Heft 2/1992 die<br />

Stellungnahme von Anstötz, Christoph, S. 186-191 <strong>und</strong> Jantzens Replik, S. 191-197.]<br />

Jantzen, Wolfgang: Glück - Leiden - Humanität. In: ZfH, Heft 4/1991 (a), S. 230-244.<br />

Jantzen, Wolfgang: Psychologischer Materialismus, Tätigkeitstheorie, marxistische Anthropologie. Hamburg / Berlin 1991<br />

(b).<br />

Jantzen, Wolfgang: Allgemeine Behindertenpädagogik. Bd.1: Sozialwissenschaftliche <strong>und</strong> psychologische Gr<strong>und</strong>lagen.<br />

Beltz: Weinheim, ²1992.<br />

Jantzen, Wofgang: <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> geistiger Behiderung - veränderte Sichtweisen. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 12/1998,<br />

S. 526-532.<br />

Jonas, Monika: Behinderte Kinder - behinderte Mütter? Frankfurt / Main 1990.<br />

Kagelmann, Hans-Jürgen / Rosemarie Zimmermann (Hrsg.): Massenmedien <strong>und</strong> Behinderte. Im besten Falle Mitleid?<br />

Weinheim / Basel 1982.<br />

Kagelmann, Rosmarie: Behindertsein. In: Gründewald, D. / W. Kaminski (Hrsg.): Kinder- <strong>und</strong> Jugendmedien. Weinheim /<br />

Basel 1984, S. 303-312.<br />

Kiper, H.: Kinderbücher über behinderte Kinder - eine kritische Annäherung. In: Z. Förderschulmagazin, Heft 4 / 1995, S.<br />

5-7.<br />

Klauß, Theo: Ist Integration leichter geworden? Zur Veränderung von <strong>Einstellungen</strong> für die Realisierung von Leitideen. In:<br />

Z. Geistige <strong>Behinderung</strong>, Heft 1/1996, S. 56-68.<br />

Köbsell, Swantje: Was ist das eigentlich: "Behindert"? <strong>Behinderung</strong> als Unterrichtsgegenstand in einer Lerngruppe <strong>mit</strong><br />

behinderten <strong>und</strong> nichtbehinderten Kindern in einem 3./4. Schuljahr der Gr<strong>und</strong>schule an der Robinsbalje. Bremen 1992.<br />

[Schriftliche Hausarbeit <strong>zu</strong>m 2. Staatsexamen; unveröffentlicht]<br />

Köbsell, Swantje: Dreht euch nicht rum, die Angst geht um ... . In: Mürner, Christian / Susanne Schriber (Hrsg):<br />

Selbstkritik der Sonderpädagogik? Stellvertretung <strong>und</strong> Selbstbestimmung. Luzern 1993, S. 179-188.<br />

Köbsell, Swantje / Monika Strahl: "Meine Füße sind der Rollstuhl". Mädchen <strong>und</strong> Jungen <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong>en in der<br />

Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur. In: Z. die randschau, Heft 3/1994, S. 25-27.<br />

Köbsell, Swantje / Anne Waldschmidt: Pränatale Diagnostik, <strong>Behinderung</strong> <strong>und</strong> Angst. In: Bradish / Feyerabend / Winkler<br />

(Hrsg.): Frauen gegen Gen- <strong>und</strong> Reproduktionstechnologie. München 1989.<br />

Köhne, Anne-Lore: Diskriminierungsprobleme. Dargestellt am Beispiel der <strong>Einstellungen</strong> <strong>zu</strong> geistig behinderten Kindern.<br />

In: Neumann, Lothar F. (Hrsg.): Sozialforschung <strong>und</strong> soziale Demokratie - Festschrift für Otto Blume <strong>zu</strong>m 60. Geburtstag.<br />

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Krenzer, Rolf: Das behinderte Kind im Jugendbuch. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 3/1981, 229-240.<br />

Kron, Maria: Kindliche Entwicklung <strong>und</strong> die Erfahrung von <strong>Behinderung</strong>. Eine Analyse der Fremdwahrnehmung von<br />

<strong>Behinderung</strong> <strong>und</strong> ihre psychische Verarbeitung bei Kindergartenkindern. Afra: Frankfurt / Griedel, ²1994.<br />

Krüppelzeitung: Krüppel im Märchen. Nicht namentlich gekennzeichneter Beitrag. o.J. (etwa 1983, exakte Ausgabe<br />

unbekannt, Kopie liegt vor), S. 5-9.<br />

Kurth, Erich / Dietrich Eggert / Paul Berry: <strong>Einstellungen</strong> deutscher (ost/west) Oberschüler gegenüber geistig behinderten<br />

<strong>Menschen</strong> - ein Vergleich <strong>mit</strong> Befragungsergebnissen bei australischen <strong>und</strong> irischen Schülern. In: Sonderpädagogik, Heft<br />

1/1994, S. 34-40.<br />

Lenzen, Heinrich: Das Image von behinderten Kindern bei der Bevölkerung der B<strong>und</strong>esrepublik. In: Heilpädagogische<br />

Forschung, Bd.12, Heft 1/1985, S. 43-72.<br />

Nickel, Sven: Sich dem Text allmählich nähern. Begründungen <strong>und</strong> Anregungen für ein handlungsorientiertes Lesenlernen.<br />

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In: Z. Alfa-R<strong>und</strong>brief, Zeitschrift für Alphabetisierung <strong>und</strong> Elementarbildung, Heft 36/1997, S. 19-23.<br />

Niehoff, Ulrich: Tendenzen einer neuen (alten) Behindertenfeindlichkeit. In: Z. Behindertenpädagogik, Heft 1/1990, S. 86-<br />

103.<br />

Maikowski, Rainer / Podlesch, Wolfgang: Zur Sozialentwicklung behinderter <strong>und</strong> nichtbehinderter Kinder. In:<br />

Projektgruppe Integrationsversuch: Das Fläming-Modell: Gemeinsamer Unterricht für behinderte <strong>und</strong> nichtbehinderte<br />

Kinder an der Gr<strong>und</strong>schule. Weinheim / Basel 1988; S. 232-251.<br />

Mattenklott, G<strong>und</strong>el: Buch-Befragung. Von der Schwierigkeit, Kinder- <strong>und</strong> Jugendbücher <strong>zu</strong> bewerten. In: , S146-151.<br />

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Mentzendorff-Mitlehner, Martina: Annäherung <strong>und</strong> Abgren<strong>zu</strong>ng. Mädchen <strong>und</strong> Jungen in einer Integrationsklasse. In:<br />

Pfister, Gertrud / Valtin, Renate (Hrsg.): MädchenStärken: Probleme der Koedukation in der Gr<strong>und</strong>schule. Arbeitskreis<br />

Gr<strong>und</strong>schule Bd. 50, Frankfurt / Main 1993, S. 92-96.<br />

Mentzendorff-Mitlehner, Martina: Mädchen <strong>und</strong> Jungen in Integrationsklassen. In: Z. Behindertenpädagogik, Heft 2/1994,<br />

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Menzel, Wolfgang: Literatur erschließen - operativ. In: Gr<strong>und</strong>schulzeitschrift, (Themen-)Heft 79/1994. Friedrich: Velber.<br />

Münzing, Ilse: Soziale Verhaltensweisen von körperbehinderten <strong>und</strong> unbehinderten Kindern. In: Thimm, Walter (Hrsg.):<br />

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Neubert, Dieter / Peter Billich / Günther Cloerkes: Stigmatisierung <strong>und</strong> Identität. Zur Rezeption <strong>und</strong> Weiterführung des<br />

Stigma-Ansatzes in der Behindertenforschung. In: Z. für Heilpädagogik, Heft 10/1991, S. 673-688.<br />

Niedecken, Dietmut: *Geistig Behinderte verstehen. dtv: München 1993.<br />

Nölling, Claudia: Behindertsein im Kinderbuch. (div. Rezensionen) In: Z. Die Gr<strong>und</strong>schulzeitschrift, Heft 29/1989. S. 42f.<br />

Österreichische Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation: Behinderte <strong>Menschen</strong> <strong>und</strong> Massenmedien. Behindern<br />

Massenmedien behinderte <strong>Menschen</strong>? Behindern behinderte <strong>Menschen</strong> die Massenmedien? Skript <strong>zu</strong>m Anlass des 7.<br />

Internationalen Kongresses für Sozialarbeit <strong>und</strong> Rehabilitation 5. - 8. August 1985. Wien.<br />

Petermann, Franz (Hrsg.): Einstellungsmessung - Einstellungsforschung. Göttingen / Toronto / Zürich 1980.<br />

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In: Heyer, Peter u.a. (Hrsg.): Zehn Jahre wohnortnahe Integration. Behinderte <strong>und</strong> nichtbehinderte Kinder gemeinsam an<br />

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Frankfurt / Main 1993, S. 65-72.<br />

Prengel, Annedore: Mädchen <strong>und</strong> Jungen in Integrationsklassen an Gr<strong>und</strong>schulen. In: Z. Die Deutsche Schule. Beiheft<br />

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Preuss-Lausitz, Ulf: Soziale Beziehungen in Schule <strong>und</strong> Wohnumfeld. In: Heyer, Peter / Ulf Preuss-Lausitz / Gitta Zielke:<br />

Wohnortnahe Integration. Gemeinsame Erziehung behinderter <strong>und</strong> nichtbehinderter Kinder in der Uckermark-Gr<strong>und</strong>schule<br />

in Berlin; S. 95-128.<br />

Prill, Renate: <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> geistiger <strong>Behinderung</strong> in der neueren Jugendliteratur. In: Z. Geistige <strong>Behinderung</strong>, Heft 1 /<br />

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Prochnow, Sybille / Heinz Mühl: Zur Veränderbarkeit von Vorstellungen über geistige <strong>Behinderung</strong> bei Gr<strong>und</strong>schulkindern<br />

durch Unterricht <strong>mit</strong> Hilfe eines Kinderbuchs. In: Beck, Iris (Hrsg.): Normalisierung: Behindertenpädagogische <strong>und</strong><br />

sozialpolitische Perspektiven eines Reformkonzeptes. Winter / Ed. Schindele: Heidelberg 1996, S. 194-220.<br />

Radtke, Peter: Behinderte <strong>Menschen</strong> in Werken der Weltliteratur. Literatur - ein Abbild, das Wirklichkeit schafft. In:<br />

Kagelmann, Hans-Jürgen / Rosemarie Zimemrmann (Hrsg.): Massenmedien <strong>und</strong> Behinderte. Weinheim <strong>und</strong> Basel 1982 (a),<br />

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die randschau / Zeitschrift für Behindertenpädagogik: "KrüppelMEDIAL - Der öffentliche Blick auf <strong>Behinderung</strong>", Heft<br />

5/1992.<br />

Reicher, Hannelore: Zur schulischen Integration behinderter Kinder. Eine empirische Untersuchung der <strong>Einstellungen</strong> von<br />

Lehrern/-/innen. In: Z. Erziehung <strong>und</strong> Unterricht, Heft 9/1990, S.540-551.<br />

Reichmann, Erwin: Geschichte <strong>und</strong> Formen der Aussonderung behinderter <strong>Menschen</strong>. In: Z. Behindertenpädagogik, Heft<br />

2/1986, S. 114-122.<br />

Reinhardt, Petra: <strong>Behinderung</strong> als Politikum. <strong>Behinderung</strong>spolitik für Kinder <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong>en: Konzeptionen der<br />

Parteien im Bayerischen Landtag. Klinkhardt: Bad Heilbrunn 1996.<br />

Reisbeck, G.: Massenmedien <strong>und</strong> psychische Störungen. Ein wissenschaftlicher Be<strong>zu</strong>gsrahmen. In: Faust, Volker / Günter<br />

Hole (Hrsg.): Psychiatrie <strong>und</strong> Massenmedien. Stuttgart 1983, S. 92-97.<br />

Rohr, Barbara: " *Wie gut, dass ich nicht so aussehe". Eine Auseinanderset<strong>zu</strong>ng <strong>mit</strong> unseren Schönheitsnormen aus der<br />

Sichtweise einer nichtbehinderten Behindertenpädagogin. In: Z. Behindertenpädagogik, Heft 4/1982, S. 310-318.<br />

Rohr, Barbara: Topfit <strong>und</strong> schön! - 5 Szenen über Schönheit, Leistung <strong>und</strong> Zerstörung. In: Z. Behindertenpädagogik, Heft<br />

3/1995, S. 241-253.<br />

Sahr, Michael: Wirkung von Kinderliteratur. Kempten 1981.<br />

Sahr, Michael: Abbau von Vorurteilen durch Kinderbücher? Betrachtungen <strong>zu</strong>m Behindertenproblem am Beispiel des<br />

Buches "Vorstadtkrokodile" von Max von der Grün. In: Die Deutsche Schule, Heft 2/1983, S. 139-151.<br />

Sahr, Michael: Problemorientierte Kinderbücher im Unterricht der Gr<strong>und</strong>schule. Kempten 1987.<br />

Schäfer, Bernd / Franz Petermann (Hrsg.): Vorurteile <strong>und</strong> <strong>Einstellungen</strong>. Sozialpsychologische Beiträge <strong>zu</strong>m Problem<br />

sozialer Orientierung. Festschrift für Reinhold Bergler. Deutscher Institus-Verlag: Köln 1988.<br />

Scheu, Ursula: Wir werden nicht als Mädchen geboren - wir werden da<strong>zu</strong> gemacht. Frankfurt am Main 1977.<br />

Schiefele, Ulrich: Einstellung, Selbstkonsistenz <strong>und</strong> Verhalten. Verlag für Psychologie Hogrefe: Göttingen 1990.<br />

Schildmann, Ulrike: Lebensbedingungen behinderter Frauen. Focus: Gießen, 1983<br />

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Sch<strong>mit</strong>t, Rudolf: Kinder <strong>und</strong> Ausländer. Einstellungsänderung durch Rollenspiel - eine empirische Untersuchung.<br />

Braunschweig, 1979.<br />

Schnack, Dieter / Rainer Neutzling: Kleine Helden in Not. Jungen auf der Suche nach Männlichkeit. Rowohlt 1990<br />

Schnittka, Thomas / Elisabeth Sommer: "Nee, der soll noch hierbleiben. Wir wollen weiterspielen!" Außerschulische<br />

Aktivitätern zwischen behinderten <strong>und</strong> nichtbehinderten Gr<strong>und</strong>schüler/innen. Eine empirische Studie in einem Bremer<br />

Stadtteil. Diplomarbeit Stg. Behindertenpädagogik, Univ. Bremen, unveröffentlicht. 1994.<br />

Schöler, Jutta: Integrative Schule - Integrativer Unterricht. Reinbek b. Hamburg 1993.<br />

Schönwiese, Volker: Das Bild von <strong>Behinderung</strong> als Phantasma <strong>und</strong> Möglichkeiten des "begleitenden Ich". In: Z.<br />

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Schorb, Bernd / Erich Mohn / Helga Theunert: Sozialisation durch (Massen-)Medien. In: Hurrelmann, Klaus (Hrsg.):<br />

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Seifert, Karl-Heinz: <strong>Einstellungen</strong> von Nichtbehinderten <strong>zu</strong> Behinderten. In: Z. Erziehung <strong>und</strong> Unterricht Heft 2/84, S.<br />

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Seebaum, Katja / B<strong>und</strong>esverband für spastisch Gelähmte <strong>und</strong> andere Körperbehinderte e.V. (Hrsg): Die Bedeutung<br />

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Seywald, Ajga: Physische Abweichung <strong>und</strong> soziale Stigmatisierung. Rheinstetten 1976.<br />

Seywald, Ajga: Körperliche <strong>Behinderung</strong>. Gr<strong>und</strong>fragen einer Soziologie der Benachteiligten. Frankfurt a.M. / New York<br />

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Seywald, Ajga: Anstossnahme an sichtbar Behinderten: Soziologische <strong>und</strong> psychologische Ansätze <strong>zu</strong>r Erklärung der<br />

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Sierck, Udo / Didi Danquart (Hrsg.): Der Pannwitzblick. Wie Gewalt gegen Behinderte entsteht. Verlag Libertäre<br />

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Singer, Peter: Praktische Ethik. Stuttgart 1984.<br />

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Spöhring, Walter: Qualitative Sozialforschung. (S. 189-210). Stuttgart 1989.<br />

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Stadtbibliothek Duisburg: Behinderte im Kinder- <strong>und</strong> Jugendbuch. Auswahlverzeichnis hrsg. <strong>zu</strong>r 8. IKiBu 1981. Bearb.:<br />

Imma Wick. Duisburg 1981.<br />

Steffens, Wilhelm: Literarische <strong>und</strong> didaktische Aspekte des modernen realistischen Kinderbuches. Teil 1 in: Z. Die<br />

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Stein, Anne-Dore (Hrsg.): Lebensqualität statt Qualitätskontrolle menschlichen Lebens. Marhold: Berlin, 1992.<br />

Steinhausen, Hans-Christoph: <strong>Einstellungen</strong> gegenüber körperbehinderten Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen. In: Heilpädagogische<br />

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Tabbert, Reinbert: ... 1986 (exakte Quelle nicht bekannt, Angaben gem. Lehrveranstaltung "Kinder in der Kinderliteratur",<br />

SoSe 1995, Univ. Bremen, Dr. Claus Forytta)<br />

Tillmann, Klaus-Jürgen: Sozialisationstheorien. Reinbek bei Hamburg 1989.<br />

Theunissen, Georg: Behindertenfeindlichket <strong>und</strong> <strong>Menschen</strong>bild. In Z. für Heilpädagogik, Heft 8/1990, S. 546-552.<br />

Tröster, Heinrich: Interaktionsspannungen zwischen Körperbehinderten <strong>und</strong> Nichtbehinderten. Göttingen 1988.<br />

Tröster, Heinrich: <strong>Einstellungen</strong> <strong>und</strong> Verhalten gegenüber Behinderten: Konzepte, Ergebnisse <strong>und</strong> Perspektiven<br />

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Ulich, Michaela / Dieter Ulich: Literarische Sozialisation: Wie kann das Lesen von Geschichten <strong>zu</strong>r<br />

Persönlichkeitsentwicklung beitragen? In: Zeitschrift für Pädagogik, 40/1994, S. 821-834.<br />

Uther, H.-J.: Behinderte in populären Erzählungen. Studien <strong>zu</strong>r historischen <strong>und</strong> vergleichenden Erzählforschung. Berlin<br />

1981.<br />

Waldmann, Günter: Gr<strong>und</strong>züge von Theorie <strong>und</strong> Praxis eines produktionsorientierten Literaturunterrichts. In: Hopster,<br />

NORBERT (Hrsg.): Handbuch "Deutsch". Schöningh: Paderborn 1984, S. 98-141.<br />

Wallrabenstein, Karin: Leserbrief <strong>zu</strong>m Thema "<strong>Behinderung</strong> im Bilderbuch". In: Z. Die Gr<strong>und</strong>schulzeitschrift, Heft<br />

47/1991, S. 3. (be<strong>zu</strong>gnehmend auf Unterrichtsarbeitsblatt, veröffentlicht in: Z. Die Gr<strong>und</strong>schulzeitschrift, Heft 46/1991, S.<br />

40.)<br />

Warzecha, Birgit: "Verhaltensstörungen" im Spannungsfeld von Prävention <strong>und</strong> Segregation. In: Z. Behindertenpädagogik<br />

1/1998, S. 2-11.<br />

Weser-Kurier: "Die Medizin hält den Tod an". Gespräch <strong>mit</strong> Prof. Dr. Hegselmann über Probleme der Euthanasie-Debatte.<br />

Ausgabe vom 19.Januar 1993.<br />

Weiser, M. / W.R. Wilms: Zur Geschichte des Sonderschulwesens. In: Weiser P. <strong>und</strong> M. (Hrsg.): Eine Schule für alle, S.<br />

11-23, St. Ingbert, 1991.<br />

Wildner, Kurt: Monster, Wilde <strong>und</strong> die Brüder Löwenherz. Behinderte in Kinderbüchern <strong>und</strong> Erwachsenenliteratur: Ein<br />

historischer Abriß von Darstellungen zwischen Sensationsmache <strong>und</strong> Sachkenntnis. In: Börsenblatt für den deutschen<br />

Buchhandel, 44/1981, S. 1384-1386.<br />

Wocken, Hans : Soziale Entwicklung behinderter Kinder. In: Wocken, Hans / Georg Antor: Integrationsklassen in<br />

Hamburg. Oberbiel 1987; S. 203-275.<br />

Wörmann, Dagmar: Sie gehören doch <strong>zu</strong> uns! Eine Befragung von Kindern in Berliner Integrationsklassen. Heft 31 der<br />

"Beiträge aus dem FB 1 der Fachhochschule für Verwaltung <strong>und</strong> Rechtspflege, Alt-Friedrichsfelde 60, 10315 Berlin", 1994.<br />

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Zielke, Gitta: Zum Wandel des Behindertenbegriffs. In: Behindertenpädagogik, Heft 3/1992, S. 314-324.<br />

Zimmermann, Rosi: Immer wieder strahlende Kinderaugen. Das Bild des Behinderten in der Presse. In: Z. Psychologie<br />

heute, Heft Jan. 1977, S. 26-31<br />

Zimmermann, R.: Bücher über Behinderte im "Jahr der Behinderten". In: Z. Jugendliteratur <strong>und</strong> Medien, Heft 6 /1981, S.<br />

102-105.<br />

Zimmermann, Rosemarie: Behinderte in der Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur. Spiess: Berlin 1982.<br />

Zimmermann, Rosemarie: Behinderte in der realistischen Kinder- <strong>und</strong> Jugenderzählung. In: Kagelmann, Hans-Jürgen /<br />

Rosemarie Zimmermann (Hrsg.): Massenmedien <strong>und</strong> Behinderte. Weinheim <strong>und</strong> Basel 1982, S. 177-206.<br />

2. verwertete Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur<br />

Achilles, Ilse / Karin Schliehe: Meine Schwester ist behindert. B<strong>und</strong>eszentrale Lebenshilfe für <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> geistiger<br />

<strong>Behinderung</strong> e.V.: Marburg, ³1993.<br />

Boie, Kirsten: Eine w<strong>und</strong>erbare Liebe. Oetinger: Hamburg 1996.<br />

Bongartz, Dieter: Humpelstilzchen. Patmos: Düsseldorf 1995.<br />

Brand, Matthias: Stärker als Supermann. Elefanten-Press: Berlin, 1981.<br />

Desmarowitz, Dorothea: Dann kroch Martin durch den Zaun. Maier: Ravensburg 1979.<br />

Fleming, Virginia / Floyd Cooper: Seid nett <strong>zu</strong> Eddie. Lappan: Oldenburg ²1998.<br />

Gärtner, Hans: Johanna ist anders. Echter: Würzburg 1996.<br />

Gleitzman, Moritz: Quasselstrippe. Anrich: Weinheim 1995<br />

Grün, Max von der: Vorstadtkrokodile. Rowohlt: Reinbek b. Hamburg 1993.<br />

Günther, Herbert: Die Reise <strong>zu</strong>m Meer. Oetinger: Hamburg 1994.<br />

Haberzeth-Grau, Edith: Ein Tag <strong>mit</strong> Kai im Heim. Saatkorn: Hamburg, o.J.<br />

Härtling, Peter: Das war der Hirbel. dtv junior: München 1978 ( 21 1994).<br />

Huainigg, Franz-Joseph / Annegret Ritter: Meine Füße sind der Rollstuhl. Ellermann: München 1992.<br />

Jung, Reinhardt: Auszeit oder der Löwe von Kaúba. Jungbrunnen: Wien 1996.<br />

Kautz, Gisela: Eine Chance für Barbara. Thienemann: Stuttgart / Wien 1994.<br />

Klee, Ernst: Der Zappler. Schwann: Düsseldorf. 1974.<br />

Klare, Margaret: Hallo hier ist Felix.. Bitter: Recklinghausen, 1994.<br />

Krenzer, Rolf: Und darum muß ich für dich sprechen. Bitter: Recklinghausen 1981.<br />

Krenzer, Rolf: Eine Schwester so wie Danny. Arena: Würzburg 5 1995.<br />

Kutsch, Angelika: Eine Brücke für Joachim. Rowohlt: Reinbek. b. Hamburg, 1979.<br />

Laird, Elizabeth: Ben lacht. Oetinger: Hamburg, 1991.<br />

Lindquist, Bosse: Ausflug ins Glück. Eine Liebesgeschichte im Rollstuhl: Stuttgart u.a., 1996.<br />

Little, Jean: Ein Wunsch geht in Erfüllung. Carlsen: Hamburg 1991.<br />

Nahrgang, Frauke: Katja <strong>und</strong> die Buchstaben. Beltz: Weinheim / Basel 1995.<br />

Neumann-Skara, Wolfgang: Paul <strong>und</strong> Rita. Die Kronenklauer: Bielefeld. 1986<br />

Pausewang, Gudrun: Die letzten Kinder von Schewenborn. Oder .... sieht so unsere Zukunft aus? Maier, Ravensburg 1983.<br />

Peter, Diana: Heike <strong>und</strong> Jutta können nicht hören. Finken: Oberursel / Taunus 1979.<br />

Petersen, Palle: Susanne kann nicht sehen. Finken: Oberursel / Taunus 1979.<br />

Petersen, Palle: Thorsten lernt jetzt laufen. Finken: Oberursel / Taunus 1979.<br />

Pressler, Mirjam: Stolperschritte. Maier: Ravensburg 1981.<br />

Rosen, Lillian: Greller Blitz <strong>und</strong> stummer Donner. Herder: Freiburg / Basel / Wien 1983<br />

Ruegenberg, Lukas / Willi Fährmann: Karl-Heinz vom Bilderstöckchen. Middelhauve: Köln / Zürich 1990.<br />

Rück, Solfried: Gänseblümchen für Christine. Bitter: Recklinghausen 1989.<br />

Rusch, Regina: Der Zappelhannes. Anrich: Kevelaer 1988.<br />

Schröder, Silke / Elisabeth Reuter: Carla. Ein Bilderbuch über Epilepsie. Ellermann: München, 1996.<br />

Steinbach, Peter: Benni Sprachlos. dtv: München 1991<br />

ter Haar, Jaap: Behalt das Leben lieb. dtv junior: München 8 1985.<br />

Thüminger, Rosmarie: Die Entscheidung. Dachs (Jugend & Volk): Wien 1992.<br />

Tveit, Tore: Mein kleiner großer Bruder. Bitter: Recklinghausen 1991.<br />

Welsh, Renate: Stefan. Jungbrunnen: Wien / München 1989.<br />

Welsh, Renate: Wer fängt Kitty? dtv junior: München. 1992.<br />

Welsh, Renate: Drachenflügel. dtv junior: München ³1995.<br />

White, Paul: Andrea kann nicht laufen. Finken: Taunus / Oberursel 1979.<br />

Wölfel, Ursula: Mannis Sandalen. In: Die grauen <strong>und</strong> die grünen Felder. Maier: Ravensburg 1982, S. 37-40.<br />

http://bidok.uibk.ac.at/texte/nickel-einstellungen.html 03.07.02


Nickel: <strong>Gesellschaftliche</strong> <strong>Einstellungen</strong> Seite 51 von 54<br />

2.1 Arbeiten <strong>zu</strong>r didaktisch-methodischen Umset<strong>zu</strong>ng der aufgeführten Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteratur<br />

Brandt, Rudolf: Lektüre als Auseinanderset<strong>zu</strong>ng <strong>mit</strong> dem geistigbehindertem Kind. Unterrichtsmodell <strong>zu</strong> "Das war der<br />

Hirbel" von Peter Härtling,. In: Z. Praxis Deutsch, Heft 29/1978, S. 46-48.<br />

Deubert, Hannelore: Peter Härtling im Unterricht. Klassen 3-6. Weinheim <strong>und</strong> Basel 1996.<br />

Dorst, Gisela: Renate Welsh: "Drachenflügel" (4./5. Schuljahr). In: Lesen in der Schule <strong>mit</strong> dtv junior. Lehrertaschenbuch 7:<br />

Unterrichtsvorschläge für die Altersstufen 9 bis 12 Jahren. München 1996.<br />

Höfelmann, M. <strong>und</strong> G.: Peter Härtling: "Das war der Hirbel". In: Lesen in der Schule <strong>mit</strong> dtv junior. Lehrertaschenbuch 1<br />

für die Primarstufe. München 3 1994.<br />

Hurrelmann, Bettina: Lesen <strong>und</strong> soziale Erfahrung. [Unterrichtsmodelle für: Ursula Wölfel "Mannis Sandalen", Irmela<br />

Brender "Von einem Kindergarten <strong>mit</strong> Thomas, Friederike, <strong>und</strong> anderen"] In: Praxis Deutsch 13/1975, S. 39-42.<br />

Göttler, Hans: Moderne Kinderbücher in der Schule. Modelle <strong>zu</strong> einem handlungs- <strong>und</strong> produktionsorientiertem<br />

Literaturunterricht (darin Unterrichtsmodell für: Mirjam Pressler "Stolperschritte", S. 78-105). Schneider,<br />

Baltmannsweiler, 1993.<br />

"Meine Füße sind der Rollstuhl": Didaktisches Begleitheft <strong>und</strong> Dias <strong>zu</strong>m Kinderbuch von Franz-Joseph Huainigg.<br />

Stuttgart 1994<br />

Neumeister, Stephanie: Literaturkartei <strong>zu</strong> "Vorstadtkrokodile" (Max von der Grün). Mülheim an der Ruhr 1996.<br />

Anhang<br />

Gegenüberstellung BINDING / HOCHE vs. SINGER<br />

1. Set<strong>zu</strong>ngen / Annahmen / Folgerungen<br />

BINDING / HOCHE (1920) (²1922)<br />

"Das Wesentliche ist das Fehlen der Möglichkeit, sich der eigenen Persönlichkeit bewusst <strong>zu</strong> werden, das Fehlen des<br />

Selbstbewußtseins. Die geistig Toten stehen auf einem intellektuellen Niveau, das wir erst tief unten in der Tierreihe wieder<br />

finden, <strong>und</strong> auch die Gemütsregungen erheben sich nicht über die Linie elementarster, an das animalische Leben geb<strong>und</strong>ene<br />

Vorgänge." (S. 57)<br />

SINGER (1984)<br />

"Ein Schimpanse, ein H<strong>und</strong> oder ein Schwein etwa wird ein höheres Maß an Bewusstsein seiner selbst <strong>und</strong> eine größere<br />

Fähigkeit <strong>zu</strong> sinnvollen Beziehungen <strong>mit</strong> anderen haben als ein schwer <strong>zu</strong>rückgebliebenes Kind oder jemand im Zustand<br />

fortgeschrittener Senilität. Wenn wir also das Recht auf Leben <strong>mit</strong> diesen Merkmalen begründen, müssen wir jenen Tieren<br />

ein ebenso großes Recht auf Leben <strong>zu</strong>erkennen oder sogar ein noch größeres als den erwähnten <strong>zu</strong>rückgebliebenen oder<br />

senilen <strong>Menschen</strong>." (Singer 1982, 40 zit. n. Feuser 1995, 77)<br />

"Weder der Fötus noch das neugeborene Kind ist ein Individuum, fähig, sich selbst als distinkte Endität <strong>zu</strong> betrachten, <strong>und</strong><br />

<strong>mit</strong> einem Leben begabt, das es als sein eigenes <strong>zu</strong> führen hat." (S. 186)<br />

2. Tötungsrechtfertigungen<br />

BINDING / HOCHE (²1922)<br />

"Wieder finde ich weder vom rechtlichen, noch sozialen, noch vom sittlichen, noch vom religiösen Standpunkt aus<br />

schlechterdings keinen Gr<strong>und</strong>, die Tötung dieser <strong>Menschen</strong>, die das furchtbare Gegenbild echter <strong>Menschen</strong> bilden <strong>und</strong> fast<br />

Jedem Entsetzen erwecken, der ihnen begegnet, frei<strong>zu</strong>geben" (S. 32)<br />

"Wer also einem Paralytiker am Anfang von dessen vielleicht auf Dauer von Jahren <strong>zu</strong> berechnenden Krankheit auf dessen<br />

Bitte oder vielleicht sogar ohne diese die tödliche<br />

Morphiumsprit<strong>zu</strong>ng macht - bei dem kann von einer reinen Bewirkung der Euthanasie keine Rede sein. [...] Das ist keine<br />

Tötungshandlung im Rechtssinne, deren Vernichtung nicht mehr gelingen kann: Es ist in Wahrheit eine reine<br />

Heilbehandlung." (S. 17f)<br />

" Es ist eine peinliche Vorstellung, daß ganze Generationen von Pflegern neben diesen leeren Menschhüllen dahinalltern,<br />

von denen nicht wenige 70 Jahre <strong>und</strong> älter werden. Die Frage, ob der für diese Kategorien von Ballastexistenzen<br />

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notwendigen Aufwand nach allen Richtungen hin gerechtfertigt sei, war in den verflossenen Zeiten des Wohlstands nicht<br />

dringend, jetzt ist es anders geworden, <strong>und</strong> wir müssen uns ernstlich <strong>mit</strong> ihr beschäftigen. [...] Der Erfüllung dieser Aufgabe<br />

steht das moderne Bestreben entgegen, möglichst auch die Schwächlinge einer Sorte <strong>zu</strong> erhalten, allen, auch den zwar nicht<br />

geistig toten, aber doch ihrer Organisation nach, minderwertigen Elementen Pflege <strong>und</strong> Schutz angedeihen <strong>zu</strong> lassen -<br />

Bemühungen , die dadurch ihre besondere Tragweite erhalten, daß es bisher nicht möglich ist, auch nicht im Ernst versucht<br />

worden ist, diese Defektmenschen von der Fortpflan<strong>zu</strong>ng aus<strong>zu</strong>schließen." (S. 55)<br />

SINGER (1984)<br />

"Einige Ärzte, die an schwerer Spina bifida leidende Kinder behandeln, sind der Meinung, das Leben mancher Kinder sei so<br />

elend, daß es falsch wäre, eine Operation vor<strong>zu</strong>nehmen, um sie am Leben <strong>zu</strong> erhalten. Das bedeutet, daß ihr Leben nicht<br />

lebenswert ist.<br />

Veröffentlichungen, die das Leben dieser Kinder beschreiben, stützen dieses Urteil. Wenn das stimmt, dann legen<br />

utilitaristische Prinzipien den Schluß nahe, daß es richtig sei, solche Kinder <strong>zu</strong> töten. (S. 181)<br />

"Sie [missgebildete Säuglinge, SN.] <strong>zu</strong> töten kann daher nicht gleichgesetzt werden <strong>mit</strong> dem Töten normaler menschlicher<br />

Wesen" (S. 179)<br />

"Der Kern der Sache ist freilich klar: die Tötung eines behinderten Säuglings ist nicht moralisch gleichbedeutend <strong>mit</strong> der<br />

Tötung einer Person. Sehr oft ist sie überhaupt kein Unrecht." (S. 188)<br />

"Und es ist ebenfalls plausibel an<strong>zu</strong>nehmen, daß die Aussichten auf ein glückliches Leben für ein normales Kind besser<br />

wären als für ein hämophiles. Sofern der Tod eines geschädigten Säuglings <strong>zu</strong>r Geburt eines anderen Kindes <strong>mit</strong> besseren<br />

Aussichten auf ein glückliches Leben führt, dann ist die Gesamtsumme des Glücks größer, wenn der behinderte Säugling<br />

getötet wird." (S. 183)<br />

"Sterbenlassen - "passive Euthanasie" - wird in bestimmten Fällen bereits als eine menschliche <strong>und</strong> angemessene<br />

Handlungsweise akzeptiert. Wenn es zwischen Töten <strong>und</strong> Sterbenlassen keinen moralischen Unterschied an sich gibt, dann<br />

sollte "aktive Euthanasie" ebenfalls unter bestimmten Umständen menschlich angemessen akzeptiert werden." (S. 207)<br />

..."auch sollte man dabei die Belastung für das Personal <strong>und</strong> die Apparaturen des Krankenhauses nicht außer Acht<br />

lassen." (S. 208)<br />

Quelle:<br />

BIDOK - Volltextbibliothek: Erstveröffentlichung im Internet<br />

Sven Nickel: <strong>Gesellschaftliche</strong> <strong>Einstellungen</strong> <strong>zu</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> <strong>und</strong> deren Widerspiegelung in der Kinder- <strong>und</strong><br />

Jugendliteratur<br />

*ftp://ftp.uibk.ac.at/pub/uni-innsbruck/bidok/texte/nickel-einstellungen.zip (RTF-Version)<br />

*http://bidok.uibk.ac.at/texte/nickel-einstellungen.html (HTML-Version)<br />

Stand: 25. Mai 1999<br />

[1] Die originalen englischsprachigen Begriffe der WHO sind bei der Adaptation durch die deutschsprachige Fachwelt von<br />

unterschiedlichen Autoren unterschiedlich übersetzt worden. Ich habe daher die originalen Begriffe sowie mehrere mir<br />

bekannte Überset<strong>zu</strong>ngen angeführt.<br />

[2] Diese Irrelevanz wird ebenso augenscheinlich im Hinblick auf bauliche Infrastrukturen, bei denen etwaige Bedürfnisse<br />

von <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> noch immer nicht ausreichend wahrgenommen werden.<br />

[3] HAMBURGER (1985, 55ff) bietet einige (u.a. historische) Aspekte, die es erlauben, Mitleid als Folge von<br />

Angstempfinden <strong>zu</strong> verstehen.<br />

So kann Mitleid seine Wurzeln in der Furcht haben, das Übel des anderen könne einen selbst treffen. Die an sich<br />

altruistische Regung verkehrt sich in seinen offenbaren Gegensatz. Nach HOBBES wird die altruistische Haltung durch eine<br />

egoistische ersetzt.<br />

ROUSSEAU versucht in "Emile" eine Erklärung des Mitleids, nach der man bei anderen nur die Übel beklagt, vor denen<br />

man selbst nicht gefeit ist. Daher sei die Mitleidslosigkeit einiger daraus <strong>zu</strong> schließen, dass es sich dabei um Personen<br />

handele, die das Übel anderer nicht <strong>zu</strong> fürchten brauchen (z.B. Reiche - Arme).<br />

Nach ARISTOTELES, dem Begründer der Furchttheorie des Mitleids, entstehe Mitleid nur, wenn einer, der es nicht<br />

verdient, in Unglück gerät. Wenn ein Gleicher oder Ähnlicher in Unglück gerät, löse dies Furcht aus, weil es sich bei ihm um<br />

einen <strong>Menschen</strong> handele, der wie wir alle sei.<br />

[4] Dieser Mechanismus kommt m.E. deutlich im sog. "Flensburger Urteil" <strong>zu</strong>m Ausdruck: "Der unausweichliche Anblick<br />

der Behinderten auf engem Raum bei jeder Mahlzeit verursachte Ekel <strong>und</strong> erinnerte ständig in einem ungewöhnlichem Maße<br />

an die Möglichkeiten menschlichen Leidens." (vgl. z.B. die randschau 5/92, S. 3). Das beeinträchtigte Wohlbefinden der<br />

Kläger wird hier von der b<strong>und</strong>esdeutschen Judikative in die beeinträchtigten Personen projiziert <strong>und</strong> als Ausdrucksform<br />

menschlichen Leidens aufgefasst.<br />

[5] FRüHAUF / NIEHOFF (1994) stellen auch die Widersprüchlichkeit der Entwicklung heraus: Auf der einen Seite sich<br />

mehrende Übergriffe auf beeinträchtigte Personen <strong>und</strong> Lebensrechtdiskussion, auf der anderen Seite Entwicklungen wie der<br />

Integration oder der Schaffung eines Antidiskriminierungsgesetzes. Sie stellen diese Entwicklungen in den Kontext eines<br />

Kosten-Nutzen-Denkens: Engagemant für sich artikulierende (<strong>mit</strong>hin in ihrer Persönlichkeitsentwicklung weit<br />

vorangeschrittene <strong>und</strong> so<strong>mit</strong> ihre Arbeitskraft betreffend eher verwertbare) beeinträchtigte <strong>Menschen</strong> vs. Kür<strong>zu</strong>ng von<br />

Sozialleistungen <strong>und</strong> bewusste Ablehnung gegenüber schwerer beeinträchtigter <strong>Menschen</strong>.<br />

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Möglich wäre indes auch eine Interpretation einer Thesen-Antithesen-Beziehung: Bewegung erzeugt Gegenbewegung, zwei<br />

gegensätzliche Strömungen entwickeln sich.<br />

[6] Laut GERAEDTS / ZUPER (1990) sei unter negativer Eugenik die Vermeidung von unerwünschten Phänomen im<br />

Gegensatz <strong>zu</strong>r positiven Eugenik, die die Züchtung bestimmter <strong>Menschen</strong>typen, -rassen etc. beschreibt, <strong>zu</strong> verstehen<br />

[7] vgl. da<strong>zu</strong> z.B. die Ausführungen in einem der EG-Kommission 1989 vorgelegten - <strong>und</strong> "vorläufig eingefrorenen"<br />

Forschungsvorhaben (vgl. NIEHOFF 1990, 93f):<br />

Es gelte "Personen vor Krankheiten <strong>zu</strong> schützen, für die sie von der genet. Struktur her äußerst anfällig sind <strong>und</strong> ggf. die<br />

Weitergabe der genetischen Disponiertheit an die folgende Generation <strong>zu</strong> verhindern. Da es unwahrscheinlich ist, daß wir in<br />

der Lage sein werden, die umweltbedingten Risikofaktoren vollständig aus<strong>zu</strong>schalten, ist es wichtig, daß wir soviel wie<br />

möglich über Faktoren der genetischen Prä-Dispostion lernen <strong>und</strong> so<strong>mit</strong> stark gefährdete Personen identifizieren können".<br />

Auf welche Weise die Weitergabe der genetischen Disponiertheit verhindert werden soll, wird nicht ausgeführt.<br />

[8] Vorsichtige Schät<strong>zu</strong>ngen gehen heute von etwa jährlich 1200 beeinträchtigten Neugeborenen aus, die in<br />

b<strong>und</strong>esdeutschen Krankenhäusern "liegengelassen" werden. (vgl. FRüHAUF / NIEHOFF 1994, 63)<br />

Siehe da<strong>zu</strong> auch die 1986 erschienene "Einbecker Empfehlung" (vgl FEUSER 1995, 54f), in der <strong>zu</strong> der Schlußfolgerung<br />

gekommen wird, dass die Einschränkung der ärztlichen Behandlungspflicht u.a. auch dann als gegeben angesehen werden<br />

kann, wenn es "trotz der Behandlung ausgeschlossen ist, dass das Neugeborene jemals die Fähigkeit <strong>zu</strong>r Kommunikation<br />

<strong>mit</strong> der Umwelt erlangt", wobei vorliegende wissenschaftliche Erkenntnisse aus dem medizinischen (vgl. z.B. die Arbeiten<br />

von ZIEGER, BERGER u.a.) wie auch aus dem nicht-medizinischen Bereich (lern-, kommunikations- <strong>und</strong><br />

systemtheoretische Ansätze) nicht <strong>zu</strong>r Kenntnis genommen werden. Das Nicht-Erlangen der Fähigkeit <strong>zu</strong>r Kommunikation<br />

ist nach heutigem wissenschaftlichen Erkenntnisstand einem sich selbstorganisierend-lebendigem System bereits auf<br />

Einzeller-Niveau (!) nicht mehr möglich.<br />

[Der Vollständigkeit halber ist <strong>zu</strong> sagen, dass sich in der inzwischen vorliegenden revidierten Fassung der "Einbecker<br />

Empfehlung" von 1992 dieser Passus nicht mehr finden lässt. Vielmehr wird davon gesprochen, dass "der Umstand, daß<br />

dem Neugeborenen ein Leben <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong>en bevorsteht, [...] es nicht [rechtfertigt], lebenserhaltende Maßnahmen <strong>zu</strong><br />

unterlassen oder ab<strong>zu</strong>brechen." (Kopie der revidierten Fassung liegt mir vor; Veröffentlichungsquelle ist jedoch nicht<br />

bekannt). Ob sich nun wirklich die Auffassungen der Unterzeichner/innen geändert haben, oder ob die revidierte Fassung<br />

lediglich eine formal veränderte, auf höhere gesellschaftliche Akzeptanz abzielende Korrektur darstellt, erscheint <strong>zu</strong>mindest<br />

fraglich. So wird an anderer Stelle ausgesagt, dass "das Prinzip der verantwortungsvollen Einzelfallentscheidung nach<br />

sorgfältiger Abwägung" nicht aufgegeben werden darf, wobei im Einzelfall keine absolute Verpflichtung <strong>zu</strong><br />

lebensverlängernden Maßnahmen besteht.]<br />

Auch auf der Basis des Europäischen Parlaments werden solche Gedanken k<strong>und</strong>getan (<strong>und</strong> hier sogar ohne jeglichen<br />

Begründungsnachweis, sondern lediglich auf der Basis fadenscheinig anmutender Annahmen <strong>zu</strong>m »Lebenswert« eines<br />

<strong>Menschen</strong>). In einem 1988 vorgelegten (<strong>und</strong> später vorläufig gestoppten) Gesetzentwurf <strong>zu</strong>r "Verringerung der Zahl<br />

anormaler Kinder" sollte es in Artikel 1 heißen: "Ein Arzt begeht weder ein Verbrechen noch ein Vergehen, wenn er einem<br />

Kind von weniger als 3 Tagen die <strong>zu</strong>m Überleben notwendige Pflege verweigert, wenn dieses Kind ein unheilbares<br />

Gebrechen aufweist, derart, dass man voraussetzen kann, dass es niemals ein lebenswertes Leben führen können<br />

wird." (zit. n. BLEIDICK 1990, 516.)<br />

Zu weiteren Beispielen. z.B. in be<strong>zu</strong>g auf prädiktive Medizin <strong>und</strong> eugenischen Denkens innerhalb der Kommission der<br />

Europäischen Gemeinschaften vgl. BLEIDICK 1995.<br />

[9] FREDI SAAL beschreibt den innerpsychischen Vorgang dieser Entmenschung so: "Natürlich fiele es schwer, einen<br />

<strong>Menschen</strong> gleichgültig in eine Abtötungsmaschine geraten <strong>zu</strong> lassen, hätte man eine enge Beziehung <strong>zu</strong> ihm, die mich selbst<br />

im Mitmenschen widerspiegelte. Solange ich mich im anderen <strong>mit</strong>sehe, bin ich gehindert, ihn ernstlich um sein Leben <strong>zu</strong><br />

bringen. Darum werden ihm alle humanen Attribute abgesprochen. Er wird ein Gegenstand, dem man auch <strong>mit</strong> innerlich<br />

unbeteiligten Eingriffen <strong>zu</strong> Leibe rücken kann. [...] Die Bereitschaft <strong>zu</strong>m »Totmachen« <strong>und</strong> Töten erfordert dabei die<br />

Entpersonalisierung eines Individuums <strong>und</strong> seine Degradierung <strong>zu</strong>m bloßen Objekt, <strong>mit</strong> dem sich emotionslos wie <strong>mit</strong><br />

einem <strong>zu</strong> entsorgenden Abfallprodukt hantieren läßt." (SAAL, FREDI: "Euthanasie" - eine schleichende Infizierung der<br />

Gesellschaft <strong>mit</strong> dem Selbstmordbazillos. In: Behinderte in Familie, Schule <strong>und</strong> Gesellschaft, Heft 3/1992, Seite 51-55.<br />

Zit.n. FRüHAUF / NIEHOFF 1994, 68).<br />

[10] Der englische Ökonom Thomas Robert MALTHUS ( 1834) stellte <strong>zu</strong> Beginn des 19. Jh. sein Malthusisches<br />

Bevölkerungsgesetz auf. Seiner Theorie nach erfolge das Wachstum der Bevölkerung in geometrischer Progression, die<br />

Nahrungs<strong>mit</strong>telproduktion jedoch nur in arithmetischer Reihe. Die Folge wäre eine <strong>zu</strong>nehmende Verknappung von<br />

Lebens<strong>mit</strong>teln <strong>und</strong> eine <strong>zu</strong>nehmende Verelendung. Die politische Konsequenz, die Anhänger dieser Theorie formulierten,<br />

müsse daher eine radikale Geburtenbeschränkung sein. Der Malthusianismus wird auch als Vorentwicklung bzw. als<br />

Baustein <strong>zu</strong>m sich später entwickelnden Sozialdarwinismus bezeichnet.<br />

[11] Unter dem Utilitarismus wird die etwa 1850 auf der Basis von ARISTOTELES (also aus dem Idealismus heraus)<br />

entwickelte philosophische Ausrichtung des Nützlichkeitsdenkens verstanden, dessen ethische Lehre davon ausgeht, dass<br />

der Zweck sittlichen Handelns der <strong>Menschen</strong> darin <strong>zu</strong> sehen sei, <strong>zu</strong>m Glück bei<strong>zu</strong>tragen <strong>und</strong> so<strong>mit</strong> nützlich <strong>zu</strong> sein. Zu<br />

unterscheiden sind dabei die Summe des Glücks aller <strong>und</strong> die Summe des Glücks für den Einzelnen. SINGER begreift den<br />

Präferenz-Utilitarismus als Maxime der maximalen Befriedigung von Präferenzen, die es gegeneinander ab<strong>zu</strong>wegen gelte.<br />

THEUNISSEN (1990) stellt dar, dass die Wurzeln des utilitaristischen Lebensprinzips <strong>zu</strong>rückreichen bis in die<br />

feudalistische Ideologie (vgl. da<strong>zu</strong> auch JANTZEN z.B. 1974). Der Mittelklassestandard der Nützlichkeit bildete sich aus.<br />

In kapital-orientierten Systemen müsse sich ein Händler oder Produzent bei der Bewertung von Folgen eigener Handlungen<br />

<strong>mit</strong>hin nicht an moralischen Vorstellungen, sondern an rationalen Maßstäben (Kalkulation) der Verwertbarkeit orientieren.<br />

Randgruppen wie z.B. <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> schweren Beeinträchtigungen sind als Arbeitskräfte minderer Güte aus der Sicht des<br />

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Ulitarismus nicht verwertbar. Folglich hänge ihr Schicksal davon ab, was die Gesellschaft bereit sei, für die Fürsorge dieser<br />

Personen <strong>zu</strong> investieren, wobei ökonomische Krisensituationen die Situation von <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong> zwangsläufig<br />

verschärfen.<br />

[12] vgl. die Gegenüberstellung von SINGER <strong>und</strong> BINDING / HOCHE im Anhang.<br />

[13] Dabei muß beachtet werden, dass es nicht möglich ist, innerhalb von Integrationsklassen, die ja im Prinzip (je nach<br />

Modell in unterschiedlichem Maße) durch das Nichtbestehen von Ausschluss- <strong>und</strong> Aussonderungsfaktoren charakterisiert<br />

sind, behinderte Schüler/innen als eine eigenständige Gruppe <strong>zu</strong> fassen <strong>und</strong> <strong>zu</strong> Untersuchungszwecken <strong>zu</strong> isolieren. Die<br />

Überschneidungsflächen <strong>mit</strong> anderen Variablen als "<strong>Behinderung</strong>" sind vielfältig, weswegen alle auf<strong>zu</strong>führenden Ergebnisse<br />

eher als tendenzielle Ausrichtung verstanden werden müssen. Generell scheinen solche Daten stark abhängig <strong>zu</strong> sein vom<br />

jeweiligen Aufbau des Schulmodells, in dem die Erhebung vollzogen wird. Zur Erfassung des wahren Gehaltes solcher<br />

Untersuchungen kommt es darauf an, <strong>zu</strong> berücksichtigen, in welchem Maße die selektierenden <strong>und</strong> segregierenden<br />

Bedingungen des heutigen Erziehungs- <strong>und</strong> Bildungswesens ausgeschaltet wurden. Die Ausschaltung dieser Bedingungen ist<br />

nicht in allen als "integrativ" plakatierten Schulmodellen gegeben. Sie ist in der vollständigen Form eher die Ausnahme (vgl.<br />

FEUSER 1995).<br />

[14] Studien, die sich <strong>mit</strong> der gesellschaftlichen Lebenssituation von Frauen <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong>en auseinandersetzen<br />

(SCHILDMANN 1983, EWINKEL / HERMES 1985, BARWIG / BUSCH 1993, ARNADE 1992, FRSIKE 1995)<br />

kommen <strong>zu</strong> dem Schluss, dass Frauen <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong>en gesellschaftlich doppelt benachteiligt würden: <strong>zu</strong>m einen als<br />

Frau, <strong>zu</strong>m anderen als Mensch <strong>mit</strong> einer <strong>Behinderung</strong>.<br />

Die dieser Benachteiligung <strong>zu</strong>gr<strong>und</strong>e liegenden hierarchischen Strukturen (geschlechtsspezifische <strong>und</strong><br />

behinderungsspezifische) ließen sich ergänzen durch die kulturelle Herkunft, so dass letztendlich das schwarze Mädchen /<br />

die schwarze Frau <strong>mit</strong> einer <strong>Behinderung</strong> am unteren Ende dieser etablierten Hierarchien wieder<strong>zu</strong>finden ist. So verw<strong>und</strong>ert<br />

es nicht, dass trotz eines relativ hohen Anteils von Sonderschüler/innen nicht-deutscher Herkunft so gut wie keine<br />

ausländischen Mädchen <strong>mit</strong> einer <strong>Behinderung</strong> in Integrationsklassen <strong>zu</strong> finden sind. (vgl. SCHöLER 1993).<br />

[15] Für das subjektive Erleben von <strong>Behinderung</strong> hält KRON (1994) fest, dass Vorgänge auf interpersoneller,<br />

institutioneller <strong>und</strong> gesellschaftlicher Ebene maßgeblich die Vorgänge der innerpsychischen Ebene beeinflussen, d.h. die Art<br />

<strong>und</strong> Weise, wie <strong>Behinderung</strong>en anderer <strong>Menschen</strong> subjektiv verarbeitet werden. Umgekehrt würden jedoch die Vorgänge<br />

auf psychischer Ebene alle anderen Ebenen beeinflussen, da auf diesen Ebenen <strong>Menschen</strong> agieren, deren psychische<br />

Widerspiegelung entscheidend sein dürfte für die Ausprägung der sie umgebenen Bereiche.<br />

Integration als veränderte Struktur der interpersonellen, institutionellen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Ebene könne also Vorgänge<br />

der innerpsychischen Ebene jedes in die integrativen Prozesse eingeb<strong>und</strong>enen Individuums maßgeblich verändern, wobei es,<br />

eine große Verbreitung der integrativen Prozesse vorausgesetzt, an<strong>zu</strong>nehmen sei, dass diese Veränderungen <strong>zu</strong><br />

Veränderungen aller sonstigen Ebenen führen werden.<br />

Subjekt <strong>und</strong> Gesellschaft stehen <strong>mit</strong>hin in einem sich gegenseitig beeinflussenden Wechselverhältnis, dabei bleibe die<br />

Gesellschaft jedoch stets das führende <strong>und</strong> bestimmende Moment.<br />

GEULEN / HURRELMANN (1980, angef. n. TILLMANN 1989) haben ein "Strukturmodell der<br />

Sozialisationsbedingungen" vorgelegt (vgl. TILLMANN 1989, 18), das vier Bedingungsebenen der Subjektentwicklung<br />

aufzeigt. TILLMANN (ebd., 17) schreibt da<strong>zu</strong>: "Strukturen <strong>und</strong> Abläufe der unteren Ebene wirken immer auch auf die<br />

nächsthöhere <strong>zu</strong>rück <strong>und</strong> können dort Veränderungen bewirken. Auf diese Weise sind Prozesse der gesellschaftlichen<br />

Makroebene (gesamtgesellschaftliche Strukturen, Institutionen) <strong>mit</strong> Prozessen der Mikroebene (Interaktion,<br />

Subjektentwicklung) verknüpft."<br />

[16] B. HURRELMANN (1992) beobachtet auf dem Kinder- <strong>und</strong> Jugendbuchmarkt neben einer steigenden Zahl von<br />

Neuerscheinungen eine wachsende Orientierung des Marktes an Novitäten. "Immer mehr Titel erscheinen nur kurz, um<br />

ebenso schnell <strong>zu</strong> verschwinden. Offenbar ist es Ziel der Verlage geworden, einen großen Teil der Auflage eines neuen<br />

Buches gleich nach dem Erscheinen ab<strong>zu</strong>setzen. Weniger gängige Titel werden immer rascher wieder vom Markt genommen<br />

<strong>und</strong> durch neue ersetzt. Auf diese Weise beschleunigt sich der Umschlag von Büchern. (...). Genau dieser Mechanismus ist<br />

es dann auch, der dafür sorgt, daß wichtige Bücher sich nicht durchsetzen können, weil sie gar nicht wahrgenommen<br />

werden" (ebd., 9)<br />

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