Nr. 66 - Soziale Welt
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Unter der Brücke<br />
Rosemarie verkauft den FREIeBÜRGER<br />
seit der ersten Ausgabe und hat sich schon<br />
sehr früh bewusst für ein Leben auf der Straße<br />
entschieden. Hier fühlt sie sich wohl, der<br />
Zusammenhalt unter den Menschen gefällt<br />
ihr und auf der Straße hat sie es auch geschafft,<br />
von ihrer Sucht wegzukommen. Obwohl<br />
sie aus familiären Gründen oft in Freiburg<br />
weilt, ist Hamburg ihre Heimatstadt.<br />
Wenn sie dort ist, verkauft sie auch das Straßenmagazin<br />
Hinz und Kunzt.<br />
Lange hat Rosemarie direkt in der Mönckebergstraße,<br />
mitten in der Hamburger Innenstadt,<br />
gemeinsam mit anderen, Platte gemacht.<br />
Die Geschäftsleute duldeten das, weil<br />
sie sehr schnell feststellten, dass dies auch ein<br />
gewisser Schutz ist, denn Sachbeschädigungen,<br />
wie eingeschlagene Schaufenster, kommen<br />
seitdem nicht mehr vor. Man hat sich<br />
arrangiert und die wohnungslosen Menschen<br />
verlassen selbstverständlich vor Ladenöffnung<br />
ihre Platte.<br />
Seit Sommer 2011 lebt Rosemarie gemeinsam<br />
mit anderen unter der nun wohl<br />
bekanntesten Brücke Deutschlands. Nur ein<br />
paar Hundert Meter von den Hamburger<br />
Landungsbrücken entfernt, steht die Kersten-Miles-Brücke.<br />
Ihr Namensgeber war im<br />
Mittelalter Bürgermeister dieser Stadt, der<br />
den legendären Piraten Störtebecker und andere<br />
Seeräuber köpfen ließ.<br />
Schon seit Jahren schlafen unter dieser Brücke<br />
wohnungslose Menschen. Auch Rosemarie<br />
und ihre Kollegen schlafen dort. „Selbstverständlich<br />
kommt es auch bei uns ab und<br />
zu einmal zu kleineren Streitereien“, meint<br />
Rosemarie, „allerdings passiert das ja auch in<br />
ganz normalen Familien“. Im Laufe der Zeit<br />
haben sich auch die Nachbarn des angrenzenden<br />
Stadtteils St. Pauli an die Brückenbewohner<br />
gewöhnt und einige kommen des Öfteren<br />
vorbei, um Lebensmittel, Bekleidung oder<br />
warme Decken zu bringen. Sicherlich gibt<br />
es auch einige Menschen, die Angst vor den<br />
Bewohnern haben, allerdings gab es bisher<br />
keine nennenswerten Zwischenfälle, die diese<br />
Ängste zu rechtfertigen.<br />
Dies sah der Bezirksamtsleiter Hamburg<br />
Mitte, Markus Schreiber (SPD), allerdings<br />
anders. Nach seiner Ansicht habe es immer<br />
wieder Beschwerden von Anwohnern und<br />
Touristen über die „unerträgliche“ Situation<br />
gegeben. Dies konnte die dort zuständige<br />
NACHRICHTEN 3<br />
Polizei allerdings nicht bestätigen.<br />
Um die Obdachlosen unter<br />
der Brücke zu vertreiben,<br />
machte die Bezirksversammlung<br />
im Juni vergangenen Jahres<br />
100.000 Euro locker und ließ<br />
dort dicke Wackersteine aufschütten, damit<br />
die wohnungslosen Menschen auf diesem unebenen<br />
Boden nicht mehr schlafen konnten.<br />
Allerdings suchten sich die Wohnungslosen<br />
zwischen den Steinen eine gerade Fläche zum<br />
Schlafen. Deshalb ließ das Bezirksamt im September<br />
2011 einen Zaun für 18.000 Euro errichten,<br />
damit sich keiner mehr dort aufhalten<br />
konnte.<br />
Herr Schreiber hatte allerdings nicht mit<br />
der Solidarität und dem Widerstand der Hamburger<br />
gerechnet. Anwohner hingen an dem<br />
ungeliebten Zaun Protestschilder auf, legten<br />
Kränze und Blumen vorm Zaun nieder, um<br />
ihre Trauer über den Tod der Menschlichkeit<br />
zu bekunden. Nach einem St. Pauli Spiel kam<br />
es außerdem zu einer Protestdemonstration<br />
gegen die Ausgrenzungspolitik wohnungsloser<br />
Menschen mit über 1.000 Teilnehmern. Es<br />
entstand ein Runder Tisch „ Obdachlose unter<br />
der Kersten-Miles-Brücke“, um Lösungen<br />
zu finden. Der Vermittler Hans-Peter Strenge<br />
(Präsident der Synode der Nordelbischen Kirche)<br />
drängte Schreiber dazu, den Zaun sofort<br />
abzubauen, denn „solange der Zaun stehe,<br />
werde kein Obdachlosenvertreter bei einem<br />
‚runden Tisch‘ mitmachen“ (Hamburger<br />
Morgenpost 1.10.2011).<br />
Letztendlich musste Schreiber Anfang<br />
Oktober klein beigeben und nach nur zwei<br />
Sitzungen konnte der Runde Tisch seine<br />
Empfehlungen aussprechen. Ergebnis: Die<br />
wohnungslosen Menschen können weiterhin<br />
unter der Brücke bleiben und sollen von einem<br />
neu zu bildenden mobilen Sozialarbeiter-Team<br />
betreut werden. Die Brücke soll in<br />
regelmäßigen Zeitabständen, genauso wie<br />
andere Gehwege, gereinigt werden und die<br />
zuständige Sozialbehörde will über den Winter<br />
zusätzliche Schlafplätze für Obdachlose<br />
mit Hund bereitstellen. Mittlerweile gibt es<br />
hier sogar eine öffentliche Toilette, von der<br />
auch viele Touristen profitieren. Der City-<br />
Bürgermeister empfindet dieses Verhandlungsergebnis<br />
nicht als Niederlage sondern<br />
meint: „Ich bin ein Problem angegangen, vor<br />
dem sich viele weggeduckt haben“, sagte er<br />
im Anschluss an die Sitzung. Wenn es den<br />
Zaun nicht gegeben hätte, so glaubt er, wäre<br />
der Runde Tisch nicht so hochkarätig besetzt<br />
gewesen. „Und wenn alle Maßnahmen, die<br />
wir empfehlen, umgesetzt werden, habe ich<br />
auch finanziell mehr gewonnen als verloren“<br />
SNS/FREIEBÜRGER - GERMANY<br />
(Foto: Rosemarie Scheer)<br />
Wasserschulen<br />
lehren Nachhaltigkeit<br />
In Mexiko haben Nichtregierungsorganisationen<br />
(NGOs) in dürregeplagten Regionen<br />
so genannte Wasserschulen aufgebaut.<br />
Dort können die Menschen die nötigen<br />
Kenntnisse über einen nachhaltigen Umgang<br />
mit der kostbaren und immer knapper<br />
werdenden Ressource erwerben und zu einem<br />
verantwortlichen Ressourcenmanagement<br />
beitragen.<br />
Bereits seit mehreren Jahren werden Menschen<br />
in verschiedenen und vor allem wasserarmen<br />
Teilen des lateinamerikanischen<br />
Landes in Wasserschulen angeleitet. „Wir<br />
widmen uns den spezifischen Problemen der<br />
einzelnen Regionen und suchen nach konkreten<br />
Lösungen“, sagt die Vorsitzende von<br />
‚Calmécac‘, Araceli Díaz.<br />
Der Name ‚Calmécac‘ geht auf die Schulen<br />
zurück, die einst die Kinder der Adeligen<br />
im alten Aztekenreich besuchten. 2011<br />
eröffnete die NGO eine Wasserschule in der<br />
Stadt Taxco im Bundesstaat Guerrero, 150<br />
Kilometer südlich von Mexiko-Stadt. Promotoren<br />
aus zwölf umliegenden Gemeinden<br />
geben in der Einrichtung Kurse.<br />
Der Südwesten Mexikos leidet nicht nur<br />
unter einem Wassermangel, sondern auch<br />
unter einer starken Verschmutzung durch<br />
den Gold- und Silberbergbau. Spezielle<br />
Schutz- und Säuberungsmaßnahmen sind<br />
dort also dringend erforderlich.<br />
Die insgesamt schwierige Wasserversorgung<br />
in dem Land wird durch den Klimawandel<br />
weiter gefährdet. Mittel- bis längerfristig<br />
rechnen Experten mit negativen Folgen für<br />
die Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion,<br />
die menschliche Gesundheit und<br />
die Artenvielfalt. Auch gibt die Übernutzung<br />
von mindestens 100 der 653 Aquifere des<br />
Landes Anlass zur Sorge.<br />
All diese Probleme sind auch anderen lateinamerikanischen<br />
Staaten bekannt. Auch<br />
dort wurden Wasserschulen gegründet, die<br />
den Menschen zudem Techniken der Wasseraufbereitung<br />
vermitteln. Die Rolle der<br />
Frau bei der Wasserversorgung wird ebenso<br />
thematisiert. In vielen Dörfern sind Frauen<br />
dafür verantwortlich, Wasser zu holen, zu lagern<br />
und zu verteilen.<br />
Individuelle Probleme,<br />
individuelle Lösungen<br />
Solche in den Gemeinden gesammelten<br />
Erfahrungen seien sehr wertvoll, so Edith<br />
Kauffer vom Zentrum für Forschung und<br />
höhere Studien in sozialer Anthropologie<br />
(CIESAS) in Mexiko-Stadt.<br />
Die Mitte und der Norden Mexikos werden<br />
seit einem Jahr von einer verheerenden<br />
Dürre heimgesucht, die Landwirtschaft und<br />
Viehzucht erheblich zusetzt. Mehrere Studien<br />
gehen davon aus, dass sie in den nördlichen<br />
Landesteilen noch länger anhalten wird.<br />
30 Prozent aller mexikanischen Haushalte<br />
sind dem Nationalen Statistikamt zufolge<br />
nicht an das öffentliche Wassernetz angeschlossen.<br />
15 Prozent beziehen ihr Wasser<br />
nur alle drei Tage aus anderen Quellen.<br />
Die Wasserschule in der Stadt Malinalco<br />
im zentralen Bundesstaat Mexiko konzentriert<br />
sich auf Maßnahmen zur Säuberung des<br />
San-Miguel-Flusses und zur Wiederaufbereitung<br />
von Brauchwasser. Sie konnte feststellen,<br />
dass allein 2008 an 125 Stellen Abwässer<br />
in den Fluss geleitet worden waren.<br />
Wasser ist Leben<br />
„Wir wollen erreichen, dass die Einwohner<br />
der Stadt sich der Verschmutzung<br />
der Gewässer bewusst werden“, erklärt die<br />
Schulleiterin Macaira Vera. „Die Menschen<br />
vor Ort müssen begreifen, dass sie sich selbst<br />
ihre Lebensgrundlage nehmen, wenn sie ihr<br />
Wasser verschmutzen.“<br />
Die Initiative hat dafür gesorgt, dass 125<br />
Biogasanlagen für den Privatgebrauch aufgestellt<br />
wurden. Eine Biogasanlage wird von jeweils<br />
18 Familien genutzt und kann sekündlich<br />
1,5 Liter Jauche verwerten. Außerdem<br />
wurden vier kommunale Kläranlagen gebaut.<br />
Zuvor waren die Abwässer ungefiltert in den<br />
Fluss geleitet worden.<br />
Jeden Monat wird die Qualität des Wassers<br />
in Malinalco überprüft. Außerdem sammelt<br />
die Organisation Geld für eine Pflanzenkläranlage<br />
und fördert Initiativen zur<br />
Wiederaufbereitung von Regenwasser. Die<br />
NGO setzt sich ferner dafür ein, dass Familien<br />
ihre eigenen Nahrungsmittel anbauen.<br />
„Denn dadurch ändern sie ihre Konsumgewohnheiten“,<br />
betont Díaz.<br />
Prioritär geht es jedoch darum, mehr<br />
Menschen den Zugang zu fließendem Wasser<br />
zu ermöglichen, die Wasserqualität zu<br />
verbessern und den enormen Mangel an<br />
Kläranlagen zu beseitigen, sagt Kauffer. „Es<br />
gibt praktisch keinen Grenzfluss zwischen<br />
Mexiko, Guatemala und Belize, der nicht<br />
verseucht ist.“ In Chiapas, einem der ärmsten<br />
und zugleich wasserreichsten mexikanischen<br />
Bundesstaaten, gibt es zwar immerhin<br />
24 Kläranlagen. Doch nur die Hälfte arbeitet<br />
effizient.<br />
Die Vollversammlung der Vereinten Nationen<br />
hatte 2010 eine Resolution verabschiedet,<br />
in der sie den Zugang zu sauberem<br />
Trinkwasser als Menschenrecht festschrieb.<br />
Der UN-Menschenrechtsrat erklärte diese<br />
Resolution für rechtlich bindend. Die Mitgliedsstaaten<br />
der <strong>Welt</strong>organisation sind damit<br />
dazu verpflichtet, ihre Gesetze entsprechend<br />
zu ändern. In Mexiko ist dies bisher<br />
allerdings nicht geschehen.<br />
www.street-papers.org / IPS<br />
(Foto: Mauricio Ramos/IPS)