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Integration der HWS bei der Funktionsanalyse und ... - Spitta

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<strong>Integration</strong> <strong>der</strong> <strong>HWS</strong> <strong>bei</strong> <strong>der</strong> <strong>Funktionsanalyse</strong> <strong>und</strong> Behandlung von cranio-mandibulären<br />

Dysfunktionen/Teil II<br />

Einleitung<br />

von John Langendoen-Sertel<br />

Auch <strong>der</strong> hier vorliegende zweite Teil des Beitrags betont die mögliche Relevanz <strong>der</strong> Halswirbelsäule im<br />

Gesamtmanagement von chronischen Kauorganbeschwerden. Die Halswirbelsäule ist die Domäne <strong>der</strong><br />

Manualtherapeuten <strong>und</strong> Manualmediziner <strong>und</strong> im Rahmen <strong>der</strong> Patientenzentriertheit wird sie hier nicht nur<br />

aus biomechanischer Sicht präsentiert. Während sich <strong>der</strong> erste Teil des Beitrages schwerpunktmäßig mit den<br />

Beziehungen zwischen Kauorgan <strong>und</strong> <strong>HWS</strong>, auch unter neuro-anatomischen Gesichtspunkten <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Palpation <strong>der</strong> verschiedenen Abzweigstellen <strong>der</strong> 3 NV Äste (s. Abb. 5) beschäftigte, behandelt <strong>der</strong> zweite<br />

Teil vorwiegend die <strong>HWS</strong>-Untersuchung <strong>bei</strong> Dysfunktion des Kauorgans.<br />

Abb. 5:<br />

Die palpablen Austrittstellen <strong>der</strong> 3 Hauptäste des N. trigeminus (Autor in Anlehnung an An<strong>der</strong>son 103 )<br />

Im ersten Teil des Beitrags haben wir das sensorische Kerngebiet des N. V angeschaut, auch N.<br />

trigeminozervikalis, pars kaudalis genannt. Zusammen mit den dort ebenfalls eintretenden Afferenten <strong>der</strong><br />

1


<strong>HWS</strong>-Segmente vergrößert sich das Hinterhorn zu einem wahren Wasserkopf.<br />

Schmerzphysiologie<br />

In diesem aufgeblähten Ballon bzw. quasi Wassermelone mit einer extrem hohen Dichte von<br />

Hinterhornzellen kommt es <strong>bei</strong> Daueraktivierung leicht zur Übertragung auf die Nachbarzellen. Im Zustand<br />

kontinuierlicher nozizeptiver Afferenten gibt es zentrale Sensibilisierungsprozesse mit Vergrößerung <strong>der</strong><br />

rezeptiven Fel<strong>der</strong> 14,17,18,35,69,82,99,100 . Diese aktiven, dynamischen o<strong>der</strong> plastischen Än<strong>der</strong>ungen führen <strong>bei</strong>m<br />

Patienten zur Wahrnehmung des Schmerzes in größeren bzw. entfernten Gebieten, anstatt (nur) an <strong>der</strong><br />

primären nozizeptiven Quelle 29 bzw. zur Muskelinhibition 5 .<br />

Eine Folge könnte sein, dass die Schmerzlokalisierung nicht spezifisch für die Lokalisierung <strong>der</strong> Störung ist.<br />

Dies könnte zu inkompletten o<strong>der</strong> sogar Fehldiagnosen führen. Ein klinisches Beispiel dieser zentralen<br />

Schmerzübertragung stellen Gesichts- bzw. Ohrenschmerzen durch eine Funktionsstörung <strong>der</strong> oberen <strong>HWS</strong>,<br />

z. B. des C2/3 Gelenkes dar 38 . Ein weiteres Beispiel ist ein Unterkieferschmerz übertragen vom Kiefergelenk,<br />

ohne dass lokal am Gelenk Schmerzen wahrgenommen werden. Ob <strong>der</strong> Schmerz tatsächlich zentral<br />

übertragen ist, o<strong>der</strong> über den Verlauf eines sensibilisierten N. mandibularis (N. V3) ausstrahlt, lässt sich<br />

klinisch testen 66 . Weiter ist klinisch beobachtet <strong>und</strong> berichtet worden, dass ein ehemaliger Zahnschmerz, <strong>der</strong><br />

früher lange sehr stark gewesen ist, jetzt z. B. während einer Nebenhöhlenentzündung wie<strong>der</strong> auftritt (mit<br />

gleichzeitig vielleicht nur mäßigem Kopfschmerz), was nach Wurzelbehandlung <strong>und</strong> Kronenversorgung des<br />

Zahnes ausgeschlossen wäre. Dieses Phänomen wird häufig memory of pain (Schmerzgedächtnis) genannt,<br />

obwohl eine zentrale Sensibilisierung durch das Phänomen <strong>der</strong> Neuroplastizität <strong>der</strong> anerkannte Fachbegriff<br />

ist 18,69,100 .<br />

Diese dauerhafte Steigerung <strong>der</strong> Sensibilität <strong>der</strong> Hinterhornzellen <strong>und</strong> teilweise von supraspinalen<br />

Kerngebieten könnte nur langsam reversibel bzw. irreversibel sein 82 .<br />

Weitere Erklärungen für die Fehllokalisierung <strong>der</strong> Schmerzen bzw. verbreitete Schmerzbereiche <strong>und</strong><br />

anhaltende (tonische) statt vorübergehende (phasische) Muskeltonuserhöhung bieten die neuroanatomischen<br />

Verbindungen zur Höhe <strong>der</strong> primären Trigeminus-Kerngebiete in <strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong> Formatio reticularis im<br />

Hirnstamm 15,77 , bzw. weitere Konvergenz im kognitiv-emotionalen Bereich des limbischen Systems mit<br />

komplexen Folgen wie z. B. autonome Einflüsse 8,27,28,34,89 .<br />

Der Verlust an Spezifität <strong>der</strong> Schmerzlokalisierung könnte zu Fehldiagnosen bzw. lang anhaltenden <strong>und</strong><br />

verschleppten Beschwerden, wie im Beispiel <strong>der</strong> Nebenhöhlenentzündung, o<strong>der</strong> erfolglosen Behandlungen<br />

führen. Viele Zahnärzte haben sicherlich schon gehört, dass ein gesun<strong>der</strong> Zahn gezogen wurde, nur weil <strong>der</strong><br />

Zahn schmerzte <strong>und</strong> ungenügend Diagnostik betrieben wurde.<br />

Selbstverständlich kann auch <strong>der</strong> N. V selbst die Quelle <strong>der</strong> Reizung sein. Die neuropathischen Merkmale<br />

von episodischen Trigeminusneuralgien stellen in diesem Kontext einen Höhenpunkt dar. Da das Thema <strong>der</strong><br />

wahren Trigeminus-Neuralgien <strong>und</strong> Neuropathien den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen würde, wird hier<br />

nur auf die aktuelle einschlägige Literatur hingewiesen 11,16,37,67,78,83,84,95 . Trotzdem leiden gerade Patienten<br />

mit einem sensibilisierten peripheren N. V noch lange unter nur langsamem Abklingen <strong>der</strong> nervalen<br />

Sensibilisierung. Auch <strong>bei</strong> solchen Patienten könnte eine adäquate manuelle <strong>und</strong> physiotherapeutische<br />

Behandlung unterstützend erfolgreich sein. Eine Erklärung dafür bietet die Reduzierung <strong>der</strong> nozizeptiven<br />

Afferenten aus <strong>der</strong> <strong>HWS</strong> im kaudalen Gebiet des Nucleus trigeminocervicalis, wodurch <strong>der</strong> Prozess <strong>der</strong><br />

zentralen Sensibilisierung nicht länger durch die <strong>HWS</strong> unterhalten wird.<br />

<strong>HWS</strong>-Untersuchung <strong>bei</strong> Dysfunktion des Kauorgans<br />

Der übliche Ansprechpartner für die primäre Diagnostik craniomandibulärer Dysfunktionen <strong>und</strong> fe<strong>der</strong>führend<br />

in <strong>der</strong>en Therapie ist <strong>und</strong> bleibt <strong>der</strong> Zahnarzt bzw. Kieferorthopäde. Beide können auch die erfor<strong>der</strong>lichen<br />

Verordnungen für die unterstützenden Therapien, wie Manuelle Therapie, Cranio-Sacrale Therapie o<strong>der</strong><br />

Myofunktionelle Therapie ausstellen. Eine Funktionsuntersuchung <strong>und</strong> evtl. anschließende bildgebende<br />

2


Verfahren geben über die mögliche Beteiligung <strong>der</strong> <strong>HWS</strong> am Kauorganproblem Aufschluss. Die klinische<br />

Erfahrung zeigt, dass <strong>bei</strong> fast je<strong>der</strong> chronischen Symptomatik die <strong>HWS</strong>, wenn valide getestet, mehr o<strong>der</strong><br />

weniger auffällig ist. Eine adäquate Therapie sollte nicht nur bessere <strong>und</strong> schnellere Ergebnisse<br />

gewährleisten, son<strong>der</strong>n auch zum Erfolg <strong>der</strong> erfor<strong>der</strong>lichen anschließenden definitiven zahnärztlichen<br />

Therapie <strong>bei</strong>tragen.<br />

Obwohl <strong>bei</strong>m Erwähnen <strong>der</strong> Referenzen im Kontext dieses Schriftsatzes bewusst auf eine kritische Analyse<br />

<strong>der</strong> Forschungen aus methodologischer, statistischer <strong>und</strong> interpretativer Sicht verzichtet wurde, sollte<br />

obenstehendes ausreichend überzeugend sein, um auch <strong>bei</strong> Patienten, die anamnestisch keine<br />

<strong>HWS</strong>-Beschwerden angeben, routinemäßig eine Funktionsuntersuchung <strong>der</strong> <strong>HWS</strong> durchzuführen. Der<br />

aktuelle Trend zur evidenz-basierten Praxis bedeutet nicht, dass nur, was eindeutig wissenschaftlich<br />

nachgewiesen ist, rezeptbuchartig praktiziert werden sollte, son<strong>der</strong>n dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse<br />

zusammen mit kritischer klinischer Erfahrung zum besser überlegten, individuellen Management des<br />

Patienten führen sollen 74 .<br />

Wenn an<strong>der</strong>erseits <strong>HWS</strong>-Beschwerden im Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong> stehen, bedeutet dies nicht, dass keine zusätzlichen<br />

<strong>und</strong> zu behandelnden Kauorganstörungen bestehen, bzw. dass diese sek<strong>und</strong>är sind, o<strong>der</strong> sich gegenseitig<br />

beeinflussen müssen. Nur eine funktionelle Bef<strong>und</strong>aufnahme, eine spezifische Behandlung <strong>der</strong> gef<strong>und</strong>enen<br />

Funktionsstörungen <strong>und</strong> eine anschließende Effektkontrolle des Initialbef<strong>und</strong>es könnten darüber Aufschluss<br />

geben.<br />

Strategie<br />

Eine vollständige physiotherapeutische Funktionsuntersuchung des Bewegungsapparates <strong>bei</strong><br />

craniomandibulären Dysfunktionen ist schematisch in Tabelle 1 abgebildet. Selbstverständlich ist dies auch<br />

für den Physiotherapeuten zu umfangreich, um diese in <strong>der</strong> ersten Sitzung komplett durchzuführen. Generell<br />

ist es nicht angebracht, zu viele belastende Teste an einem Tag durchzuführen, auch könnten überflüssige<br />

Nachreaktionen hervorgerufen werden. Die primären Ziele <strong>der</strong> Untersuchung sind das Feststellen von<br />

strukturellen somatischen Dysfunktionen, die für die Symptome (mit)verantwortlich sein können wie auch<br />

das gezielte <strong>und</strong> dosierte Reproduzieren <strong>der</strong> Symptome, um die primär verantwortliche Struktur zu<br />

identifizieren. Zur Verbesserung <strong>der</strong> interdisziplinären Kommunikation ist <strong>der</strong> Gebrauch <strong>der</strong> offiziellen<br />

Nomenklatur <strong>der</strong> nicht diagnosegeb<strong>und</strong>enen funktionellen International Classification of Impairment,<br />

Disability and Handicap (ICIDH) <strong>der</strong> Weltges<strong>und</strong>heitsorganisation unumgänglich (ICIDH 1997).<br />

Aktive Tests (4a)<br />

Für Zahnärzte <strong>und</strong> Kieferorthopäden empfiehlt sich eine schnelle Basisuntersuchung (screening) <strong>und</strong>, wenn<br />

erfor<strong>der</strong>lich, eine kurze erweiterte Untersuchung <strong>der</strong> <strong>HWS</strong> 51 . Nach <strong>der</strong> Inspektion (2), die hier nicht in<br />

Einzelheiten besprochen wird, sind am Patient sechs aktive <strong>HWS</strong>-Standardtests auszuführen, die auf Ausmaß<br />

<strong>der</strong> Bewegung (Quantität), Ablauf <strong>der</strong> Bewegung (Qualität) <strong>und</strong> Schmerzverhalten beurteilt werden.<br />

• 1. Flexion o<strong>der</strong> Inklination (das Kinn kann normalerweise auf die Brust gebracht werden),<br />

• 2. Extension o<strong>der</strong> Reklination (die normale Beweglichkeit zeigt die Gesichtslinie 90° zur<br />

Körperachse),<br />

• 3./4. Lateroflexion o<strong>der</strong> Seitneigung links <strong>und</strong> rechts (Ohr-Schulterdistanz 5-8 cm) <strong>und</strong><br />

• 5./6. Rotation links <strong>und</strong> rechts (90°).<br />

Wenn keine Schmerzen reproduziert werden, sollte am Ende aller Bewegungen stufenweise starker<br />

Überdruck nach Maitland 51 ausgeführt werden. Wenn auch dies ohne Schmerzreproduzierung möglich ist,<br />

sind die maximal belastenden, dreidimensionalen Tests auszuführen (Abb. 6-10).<br />

3


Abb. 6:<br />

Ausführung des Überdrucks für die obere <strong>HWS</strong> am Ende einer aktiven Inklinationsbewegung ohne Schmerz<br />

Abb. 7:<br />

Ausführung des Überdrucks für die obere <strong>HWS</strong> am Ende einer aktiven Reklinationsbewegung ohne Schmerz<br />

Abb. 8:<br />

Ausführung des Überdrucks für das Segment C2/3 am Ende einer aktiven Seitneigungsbewegung nach links<br />

ohne Schmerz<br />

4


Abb. 9:<br />

Ausführung des Überdrucks für die gesamte <strong>HWS</strong> am Ende einer aktiven Rotationsbewegung nach rechts<br />

ohne Schmerz<br />

Abb. 10a:<br />

Die <strong>bei</strong>den maximal belastenden 3-dimensionalen Tests für die obere <strong>HWS</strong> nach Maitland51. Hier 10a: Flexion <strong>der</strong> oberen <strong>HWS</strong> + Lateroflexion <strong>und</strong><br />

gleichsinnige Rotation zur maximalen kontralateralen Dehnbelastung<br />

Abb. 10b:<br />

Extension <strong>der</strong> oberen <strong>HWS</strong> + Rotation <strong>und</strong> gleichsinnige Lateroflexion zur maximalen ipsilateralen<br />

Kompressionsbelastung<br />

Erst wenn diese letzten Tests ohne Schmerz <strong>und</strong> Einschränkung ausgeführt werden können, dürfen die<br />

Bewegungsrichtungen <strong>der</strong> <strong>HWS</strong> für in Ordnung bef<strong>und</strong>en werden. Wenn dies bereits nach aktiven Testen<br />

ohne Überdruck bescheinigt wird, führt dies möglicherweise zu einer falsch negativen Interpretation. Nicht,<br />

weil die Tests zu unsensitiv wären, son<strong>der</strong>n weil die Ausführung nicht ausreichend belastend <strong>und</strong> somit nicht<br />

valide war. Zudem ist noch passiv mit linearen Bewegungen zu untersuchen (9a), um die <strong>HWS</strong> definitiv von<br />

5


einer Beteiligung an <strong>der</strong> cranio-facialen Symptomatik auszuschließen.<br />

Spezialtests (7)<br />

Bevor die in Bezug auf Schmerz wichtigsten passiven, linearen Tests erläutert werden, könnte es in <strong>der</strong><br />

Praxis indiziert sein, einige so genannte Sicherheitsmaßnahmen durch Spezialtests auszuführen. Bei<br />

subjektiven Angaben o<strong>der</strong> ersichtlich funktionellen Hinweisen, die auf peripher bzw. zentral neurologische<br />

Störungen deuten, sollte umgehend eine neurologische Untersuchung angeordnet werden.<br />

Bei Verdacht auf eine A. vertebralis-Problematik sind eine Reihe von Sicherheitstests durchzuführen, bevor<br />

passiv an <strong>der</strong> <strong>HWS</strong> untersucht bzw. behandelt wird 2,49 . Dieser Verdacht besteht <strong>bei</strong> Schwindel, Doppelsehen,<br />

Schluckstörungen, Artikulierungsschwierigkeiten, kurzzeitiger Ohnmacht, Umfallen, Tinnitus, regelmäßiges<br />

Erbrechen <strong>und</strong> Übelkeit, v. a., wenn mehrere dieser Symptome auftreten bzw. wenn die Symptome<br />

typischerweise <strong>HWS</strong>-Haltungs- o<strong>der</strong> bewegungsabhängig scheinen.<br />

Wenn diese Problematik stark im Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong> steht, sollte die Funktionsuntersuchung sogar mit den A.<br />

vertebralis-Tests begonnen werden. Wird da<strong>bei</strong> <strong>der</strong> Verdacht erhärtet, sollte eine Doppleruntersuchung<br />

angeordnet werden. Da diese Bewegungsuntersuchung selbst nicht ohne Risiko ist, sollte sie nur erfahrenen<br />

Manualtherapeuten <strong>und</strong> Medizinern überlassen werden.<br />

Bei Verdacht auf Instabilität des passiven Stützapparats <strong>der</strong> oberen <strong>HWS</strong> sollten manuelle Stabilitätstests<br />

ausgeführt werden 41,61,81 . Eine Stabilitätsüberprüfung ist <strong>bei</strong> folgenden subjektiven Hinweisen indiziert:<br />

anhaltende, v. a. haltungsabhängige, post-traumatische Kopf-Nackenbeschwerden (Beispiel<br />

Schleu<strong>der</strong>trauma), das Gefühl den Kopf nicht halten zu können, Down Syndrom Patienten, Rheumatoide<br />

Arthritis Patienten, Morbus Grisel Patienten (ligamentäre Instabilität durch chronische Entzündungsprozesse,<br />

z. B. chronisch rezidivierende Mandelentzündungen) als auch die <strong>bei</strong> <strong>der</strong> A. vertebralis genannten<br />

kopf-nackenhaltungsabhängigen Symptome. Wenn sich <strong>der</strong> Verdacht <strong>bei</strong>m Testen bestätigt, ist anschließend<br />

eine funktionelle Kernspintomographie <strong>bei</strong>m spezialisierten Radiologen anzuordnen86. Da diese<br />

Stabilitätsuntersuchung teilweise etwas schwieriger <strong>und</strong> selbst nicht ohne Risiko ist, sollte sie nur erfahrenen<br />

Manualtherapeuten <strong>und</strong> Medizinern überlassen werden.<br />

Passive Tests (9a)<br />

Die wichtigsten passiven linearen Tests zur Bestimmung <strong>der</strong> Relevanz <strong>der</strong> <strong>HWS</strong> <strong>bei</strong> cranio-facialen<br />

Schmerzen sind auch vom Zahnarzt bzw. Kieferorthopäden einfach zu erlernen <strong>und</strong> schnell auszuführen. Auf<br />

nachfolgenden Fotos ist die praktische Handhabung deshalb in <strong>der</strong> zahnärztlichen Praxis <strong>und</strong> nicht in <strong>der</strong><br />

physiotherapeutischen Praxis dargestellt. Eine passive anguläre o<strong>der</strong> physiologische segmentale<br />

Untersuchung ist generell etwas schwieriger, zudem nicht immer einfach mit dem Schmerz zu korrelieren,<br />

<strong>und</strong> wird deshalb im Rahmen dieses Aufsatzes nicht erläutert.<br />

Beide Querfortsätze des Atlas sind einfach zu palpieren <strong>und</strong> sollten gleich stark (wenig) druckempfindlich<br />

<strong>und</strong> möglichst gleich gut palpabel sein. Häufig ist eine Seite aber ungleich viel druckempfindlicher bzw.<br />

prominenter. Bei festerem <strong>und</strong> oszillierendem Bewegen wird getestet, ob irgendwelche Symptome<br />

hervorgerufen werden, was daraufhinweist, dass dieses Segment für die Symptomatik (mit)verantwortlich ist.<br />

Durch die kurzen Nackenstrecker (s. auch einschlägige Anatomiebücher) hindurch wird tief in Richtung <strong>der</strong><br />

atlanto-occipital Gelenke (Occ/C1) palpiert <strong>und</strong> anschließend oszillierend bewegt (Abb. 11).<br />

6


Abb. 11:<br />

Alternative sitzende Ausgangsstellung für die Palpation <strong>der</strong> Muskelansätze am Occiput, <strong>der</strong> Nn. occipitalis<br />

major & minor <strong>und</strong> schräg nach antero-cranial zu den atlanto-occipital Gelenken (abgebildet durch die<br />

Richtung des Daumens)<br />

Das Occ/C1 Gelenk ist zwar nicht direkt palpabel, dafür aber gezielt zu bewegen <strong>und</strong> zu belasten. In<br />

zahnärztlicher Praxis ist die Palpation einfach im Sitzen durchführbar. Die linearen Bewegungen werden<br />

normalerweise mit <strong>bei</strong>den Daumen vom Physiotherapeuten in Bauchlage ausgeführt, was dem Zahnarzt bzw.<br />

Kieferorthopäden ein wenig Improvisation abverlangt. Hier<strong>bei</strong> könnten v.a. occipitale Kopfschmerzen,<br />

manchmal ausstrahlend zur Schläfe o<strong>der</strong> Stirn, ausgelöst werden. Die Palpation <strong>der</strong> Muskelansätze, als auch<br />

die Nn. occipitalis major & minor bzw. N. suboccipitalis, am Hinterkopf könnten ebenfalls lokale <strong>und</strong><br />

ausstrahlende Schmerzen verursachen (s. Abb. 11 sowie einschlägige Anatomiebücher).<br />

Wie das Occ/C1 Gelenk ist das atlanto-axiale Gelenk (C1/2) ebenfalls von posterior nicht direkt palpabel.<br />

Dafür ist es von antero-lateral einfach zu finden, wenn hinter dem Ramus mandibulae zwischen dem Angulus<br />

mandibulae <strong>und</strong> Querfortsatz C1 palpiert wird (Abb. 12).<br />

Abb. 12:<br />

Palpation des C1/2 Gelenkes im Sitzen (in <strong>der</strong> zahnärztlichen/kieferorthopädischen Praxis)<br />

C1/2 ist aber deutlich seltener für die cranio-faciale Symptomatik verantwortlich <strong>und</strong> wenn, dann liegt<br />

wahrscheinlich eine rotatorische Bewegungsstörung vor. Die anterioren Anteile (Tuberculi) <strong>der</strong> Querfortsätze<br />

<strong>der</strong> Halswirbel sind ebenfalls antero-lateral gut palpabel <strong>und</strong> die asymmetrische Beweglichkeit <strong>und</strong><br />

Schmerzempfindlichkeit einer Bewegungsuntersuchung könnte relevant sein (Abb. 13).<br />

7


Abb. 13:<br />

Palpation des Tuberculum anterius des Processes transversus C3 links am Skelett. Die Palpation wird durch<br />

die Ansätze des M. scalenus anterior <strong>und</strong> M. longus colli (C3-6) erschwert<br />

Wenn sogar Reproduzierung von Ohr- bzw. Gesichtschmerzen erreicht wird, ist die Aussagekraft über die<br />

Relevanz <strong>der</strong> <strong>HWS</strong> noch deutlicher.<br />

Sehr relevant sind häufig die C2/3 Gelenke, die posterior links <strong>und</strong> rechts gut palpabel sind. Dazu wird zuerst<br />

<strong>der</strong> riesige erste Dornfortsatz unterhalb des Occiputs gesucht: <strong>der</strong> Processus spinosus des Axis (C2).<br />

Waagerecht nach lateral wird <strong>der</strong> äußerste laterale Knochenanteil des zweiten Halswirbels gesucht.<br />

Senkrechte Palpation <strong>und</strong> oszillierende Bewegungen mit <strong>bei</strong>den Daumen testen v. a. das C2/3 Facetten- o<strong>der</strong><br />

Zygapophysealgelenk <strong>und</strong> werden häufig links-rechts Differenzen in Hinsicht auf Druckempfindlichkeit <strong>und</strong><br />

Beweglichkeit aufweisen (Abb. 14).<br />

Abb. 14:<br />

Untersuchung des C2/3 Facettengelenks in <strong>der</strong> alternativen Ausgangsstellung <strong>der</strong> Seitenlage mit<br />

gleichzeitiger funktioneller rotatorischer Ausgangsstellung<br />

Zudem könnten Beschwerden im Kopfbereich reproduziert werden. Wenn zervikogene Komponenten für die<br />

cranio-faciale Symptomatik (mit)verantwortlich sind, dann ist C2/3 in den meisten Fällen das betroffene<br />

Niveau 38 .<br />

Der Manualtherapeut wird die Untersuchung mit diesen linearen Bewegungen, wenn erfor<strong>der</strong>lich, noch in<br />

weiteren funktionellen Ausgangspositionen <strong>der</strong> Gelenke <strong>und</strong> des Körpers (<strong>und</strong> somit des Nervensystems)<br />

8


durchführen, um die Symptomatik noch einfacher, deutlicher <strong>und</strong> damit aussagekräftiger zu reproduzieren.<br />

Diskussion<br />

Aus topographischer, ontogenetischer, arthrokinematischer, muskelfunktioneller, neuroanatomischer <strong>und</strong><br />

schmerzphysiologischer Sicht gibt es enge Korrelationen zwischen dem Kauorgan <strong>und</strong> <strong>der</strong> (v.a. oberen)<br />

<strong>HWS</strong>. Nur eine spezifische manuelle Funktionsuntersuchung könnte die Relevanz <strong>der</strong> <strong>HWS</strong> am<br />

cranio-facialen Problem bestimmen. Die primären Ziele dieser Erweiterung <strong>der</strong> <strong>Funktionsanalyse</strong> des<br />

Kauorgans sind das Reproduzieren <strong>der</strong> Symptomatik bzw. das Feststellen einer links-rechts Differenz in<br />

Beweglichkeit <strong>und</strong> Druckempfindlichkeit. Bildgebende Verfahren können das nicht. Röntgen-,<br />

computertomographische bzw. kernspintomographische Untersuchungen dienen v. a. dazu, das klinische (<strong>und</strong><br />

vorher bef<strong>und</strong>ete) Bild zu erklären <strong>und</strong> Gefahrensituationen zu erkennen. Diese ergänzende Diagnostik<br />

könnte den Rahmen für die konservative Therapie stecken, bzw. Indikationen für Chirurgie feststellen.<br />

Obwohl die Zusammenhänge zwischen Kauorgan <strong>und</strong> (Hals-)Wirbelsäule theoretisch bekannt sind, könnte<br />

dies in <strong>der</strong> Praxis ungenügend berücksichtigt sein. Das liegt möglicherweise daran, dass die spezifische<br />

klinische Expertise im multidisziplinären Team noch nicht ausreichend vorhanden ist. Das zunehmende<br />

Interesse an Zusammenar<strong>bei</strong>t von Zahnärzten/Kieferorthopäden <strong>und</strong> Physio-/Manualtherapeuten zeigt, dass<br />

die Vielseitigkeit <strong>der</strong> cranio-facialen Problematik zunehmend erkannt wird. Dementsprechend steigen auch<br />

das Bedürfnis nach Kenntnis, die Anfor<strong>der</strong>ungen an die Therapie als auch an die Qualitäten <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong><br />

des multidisziplinären Teams.<br />

Dieser Aufsatz hatte das Ziel, Zahnärzte/Kieferorthopäden in einer spezifischen ergänzenden<br />

Funktionsuntersuchung <strong>der</strong> <strong>HWS</strong> <strong>bei</strong> Patienten mit cranio-facialer Problematik einzuführen, die Auffälligkeit<br />

bzw. Relevanz <strong>der</strong> <strong>HWS</strong> festzustellen <strong>und</strong> gegebenenfalls, durch eine gezielte Überweisung zum<br />

spezialisierten Physiotherapeuten, eine zusätzliche Komponente am Behandlungsplan zuzufügen.<br />

Jetzt sollte <strong>der</strong> Zahnarzt/Kieferorthopäde den Patienten nicht nur auf den Zahn fühlen, son<strong>der</strong>n auch noch an<br />

den Kragen gehen! Aber, es lohnt sich. Eine praktische eintägige Einführung in diese<br />

<strong>HWS</strong>-Funktionsuntersuchung bietet <strong>der</strong> zahnärztliche Ar<strong>bei</strong>tskreis Kempten jährlich in <strong>der</strong> Fachklinik<br />

Enzensberg, Hopfen am See/Allgäu an. Die ersten Nutznießer dieser Fortbildung sind die Damen <strong>und</strong> Herren<br />

Zahnmediziner selbst, die die Spezifität dieser Untersuchung (bzw. Behandlung) an <strong>der</strong> eigenen<br />

Berufskrankheit, dem Zervikalproblem, selbst erfahren. Wenn da<strong>bei</strong> zudem cranio-faciale Beschwerden<br />

beeinflusst werden, sind auch die letzten Skeptiker überzeugt.<br />

Tab. 1: Schema einer standardisierten physiotherapeutischen Funktionsuntersuchung <strong>bei</strong><br />

zerviko-cranio-facialer Symptomatik (adaptiert von Maitland 50,51 ):<br />

1. Fragen nach Symptomatik im Moment des Beginns <strong>der</strong> Untersuchung<br />

2. Inspektion a) Rumpf, b) Schulter, c) Nacken, d) Kopf - extra-oral & intraoral<br />

3. Demonstration <strong>der</strong> funktionellen Einschränkung / schmerzhaften Bewegung o<strong>der</strong> Haltung<br />

4. Aktive Bewegungen a) <strong>HWS</strong>, b) TMG, c) Brustwirbelsäule (BWS), d) Schultergürtel<br />

5. Statische Tests <strong>und</strong> Funktionstests <strong>der</strong> Muskeln<br />

6. Neurologische Untersuchung (wenn indiziert)<br />

7. Spezialtests (A. vertebralis, Stabilitätstests obere <strong>HWS</strong>, wenn indiziert)<br />

8. Passive anguläre (physiologische) Bewegungen a) <strong>HWS</strong>, b) TMG, c) BWS, d) Schulter, e)<br />

Nervensystem, f) Muskellängen<br />

9. Palpation <strong>und</strong> passive (lineare) Zusatzbewegungen a) <strong>HWS</strong>, b) TMG, c) BWS, d) Schultergürtel, e)<br />

Os Hyoideum, f) Cranium<br />

9


10. Okklusion<br />

Die Reihenfolge <strong>der</strong> Tests kann variieren. Nicht alle Tests sind <strong>bei</strong>m Initialbef<strong>und</strong> durchzuführen.<br />

Die Literaturliste kann <strong>bei</strong> <strong>der</strong> Redaktion angefor<strong>der</strong>t werden.<br />

Ein herzliches Dankeschön an Zahnarzt Per Fossdal, seiner Assistentin Rosanna Sabato <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Physiotherapeutin Karin Sertel für <strong>der</strong>en Unterstützung.<br />

Korrespondenzadresse:<br />

John Langendoen-Sertel<br />

B.PT, Grad.OMT<br />

Prälat-Götz-Straße 3<br />

87439 Kempten<br />

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