Wirtschaftswoche Ausgabe vom 25.08.2014 (Vorschau)
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35<br />
25.8.2014|Deutschland €5,00<br />
3 5<br />
4 1 98065 805008<br />
Gold aus dem Container<br />
Der harte Kampf um unsere Altkleider<br />
Grünstrom-Pioniere<br />
Ideen für das Netz der Zukunft<br />
DREI<br />
GLORREICHE<br />
HALUNKEN<br />
DAS RISKANTE<br />
MILLIARDEN-<br />
GESCHÄFT DER<br />
SAMWER-BRÜDER<br />
Schweiz CHF 8,20 | Österreich €5,30 | Benelux€5,30 | Griechenland€6,00 | GroßbritannienGBP 5,40 | Italien€6,00 | Polen PLN27,50 | Portugal€6,10 | Slowakei €6,10 | Spanien €6,00 | TschechischeRep.CZK 200,- | Ungarn FT 2000,-<br />
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Einblick<br />
Pioniere brauchen Spürsinn, Durchsetzungskraft,<br />
manchmal auch Frechheit. Mancher Entrepreneur<br />
wird darüber zum Hasardeur. Von Franz W. Rother<br />
Revolver oder Schippe<br />
FOTO: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
Tuco, steckbrieflich gesucht unter<br />
anderem wegen Bankraub und<br />
Bigamie, hat sich mit einem anderen<br />
Abenteurer verbündet und ein<br />
einträgliches Geschäftsmodell entwickelt:<br />
Der wortkarge „Blonde“ mit dem scharfen<br />
Colt liefert Tuco an den nächsten Sheriff<br />
aus und kassiert die ausgesetzte Belohnung.<br />
Die Behörden fackeln nicht lange<br />
und verurteilen den mutmaßlichen Verbrecher<br />
gleich zum Tod durch Erhängen.<br />
Doch kurz bevor die Strafe vollstreckt<br />
wird, zerschießt der Blonde den Galgenstrick<br />
und befreit so seinen Komplizen. Es<br />
gibt auf dieser Welt, so doziert er dabei,<br />
zwei Kategorien von Menschen: Die einen<br />
haben den Strick um den Hals – und die<br />
anderen haben das Schießeisen.<br />
Unter dem deutschen Titel „Zwei glorreiche<br />
Halunken“ war der Italo-Western vor<br />
bald 50 Jahren ein Kinoschlager. Der satirische<br />
wie zynische Erzählstil von Starregisseur<br />
Sergio Leone, die starke Mimik von<br />
Hauptdarsteller Clint Eastwood und die<br />
mitreißende Filmmusik von Ennio Morricone<br />
ließen nicht nur bei uns die Kassen<br />
klingeln. „The Good, the Bad and the Ugly“,<br />
wie der Originaltitel des Films lautete, war<br />
auch in den USA und Asien ein großer Erfolg.<br />
Es gab immerhin jede Menge Action<br />
und jede Menge Spannung auf der Suche<br />
nach einem Goldschatz. Und lachen konnte<br />
man zwischendurch auch noch.<br />
Ob irgendwann einmal das Leben der<br />
Samwer-Brüder verfilmt wird, wissen wir<br />
nicht. Eine Biografie über das Leben der<br />
drei Unternehmer-Brüder aus Köln ist immerhin<br />
schon erschienen. Das Buch mit<br />
dem Titel „Die Paten des Internets“ schildert<br />
die Jugend von Oliver, Marc und Alexander<br />
Samwer und erzählt, wie sie den<br />
Online-Schuhhandel Zalando finanzierten<br />
und ein weltumspannendes Internet-Imperium<br />
aufbauten (siehe Seite 42).<br />
Mit dem für den Herbst geplanten Börsengang<br />
ihrer aus 1500 Einzelgesellschaften<br />
bestehenden Start-up-Fabrik Rocket<br />
Internet stehen die glorreichen Samwer-<br />
Boys jetzt vor ihrem größten Coup. Mit einer<br />
gigantischen Wette auf die Zukunft<br />
wollen die drei deutschen Online-Stars<br />
Milliarden erlösen und damit auf Augenhöhe<br />
kommen mit den Größen der US-<br />
Internet-Szene wie Marc Zuckerberg oder<br />
Jeff Bezos. Ein Team der WirtschaftsWoche<br />
und des ZDF-Magazins „Frontal21“ hat<br />
sich deshalb gemeinsam an die Fersen der<br />
Samwer-Brüder geheftet und wochenlang<br />
hinter den Kulissen ihres Internet-Konzerns<br />
recherchiert.<br />
Dabei herausgekommen ist eine hochspannende<br />
Geschichte, die Licht bringt in<br />
ein intransparentes Unternehmensgeflecht<br />
– und die zeigt, dass man nicht nur ein ausgefuchstes<br />
Geschäftsmodell braucht, um<br />
im heutigen Wilden Westen des Web zu<br />
bestehen. Man muss auch gut flunkern<br />
können, braucht starke Nerven und auch<br />
die Bereitschaft, Gegner aus dem Weg zu<br />
räumen, wenn diese die Dreistigkeit besitzen,<br />
einen Teil des Goldschatzes für sich zu<br />
reklamieren.<br />
ENTREPRENEUR ODER HASARDEUR<br />
So knallhart ging es zu bei der Besiedelung<br />
Nordamerikas, so knallhart geht es heute<br />
zu in der Pionierzeit der Digitalisierung. Jede<br />
ökonomische Entwicklung, wissen wir<br />
seit Joseph Schumpeter, baut auf dem Prozess<br />
der schöpferischen Zerstörung auf.<br />
Durch eine Neukombination von Produktionsfaktoren,<br />
durch ein Wechselspiel aus<br />
Innovation und Imitation entsteht ein<br />
dynamischer Fortschrittsprozess, der alte<br />
Strukturen verdrängt und zerstört.<br />
Die Leistung des Unternehmers besteht<br />
unter anderem darin, die Innovationen zu<br />
erkennen und die Kraft, die in ihnen steckt,<br />
zur Entfaltung zu bringen. Doch nur wenige<br />
sind tatsächlich in der Lage, sich über<br />
die Ideen der Zeit hinwegzuheben, die<br />
Schmetterlinge schon im Puppenstadium<br />
zu erkennen und sie zum Fliegen zu bringen.<br />
Hier teilt sich das Feld dann in Sieger<br />
und Verlierer, aber auch in Hasardeure und<br />
Entrepreneure.<br />
Es gibt auf dieser Welt, philosophiert jener<br />
blonde Westernheld, zwei Kategorien<br />
von Menschen: Die einen haben einen geladenen<br />
Revolver. Die anderen müssen<br />
buddeln. Und sich fügen.<br />
Wohl dem, der eine starke Waffe hat. n<br />
WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 3<br />
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Überblick<br />
Menschen der Wirtschaft<br />
6 Seitenblick Die Welt der Kleinstaaterei<br />
8 Nürburgring: Verkauf wird zur Hängepartie<br />
9 Bahnverkehr: Interconnex droht das Aus |<br />
Sicherheit: Firmen rüsten auf<br />
10 Rewe: Amazon abhängen | Interview: BASF-<br />
Vorstand Martin Brudermüller will in Asien<br />
Milliarden investieren<br />
11 Freihandel: Geldregen für die Gegner |<br />
Energiewende: Brite will mitverdienen |<br />
Musikindustrie: Weltweite Absprachen<br />
12 Chefsessel | Start-up Sensorberg<br />
14 Chefbüro Hans-Georg Maaßen, Präsident<br />
des Bundesamtes für Verfassungsschutz<br />
Politik&Weltwirtschaft<br />
16 Altkleider Deutsche Städte steigen in das<br />
Geschäft mit gebrauchten Textilien ein<br />
21 Sachsen Ein Besuch im Erzgebirge erklärt,<br />
warum die AfD die FDP überflügelt |<br />
Ministerpräsident Stanislaw Tillich setzt auf<br />
eine absolute Mehrheit<br />
25 Interview: Fjodor Lukjanow Der Putin-<br />
Berater über eine mögliche Lösung des<br />
Ukraine-Konflikts<br />
27 China Die Regierung treibt den Verkauf von<br />
Elektroautos voran<br />
28 Pro & Contra Hans Jakob Ginsburg und<br />
Andreas Wildhagen diskutieren das Für und<br />
Wider eines bewaffneten Einsatzes im Irak<br />
29 Global Briefing | Berlin intern<br />
Der Volkswirt<br />
30 Kommentar | New Economics<br />
31 Deutschland-Konjunktur<br />
32 Nachgefragt: Vernon Smith Der Wirtschafts-Nobelpreisträger<br />
hält die Finanzkrise<br />
noch lange nicht für überwunden<br />
33 Denkfabrik Die Demoskopin Renate<br />
Köcher über die Meinung der Deutschen<br />
zum Freihandelsabkommen mit den USA<br />
Unternehmen&Märkte<br />
36 Rocket Internet Deutschlands größtes<br />
Online-Konglomerat ist ein intransparentes<br />
Geflecht und eine gigantische Wette auf<br />
die Zukunft | Zalando erhielt Subventionen<br />
wie kaum ein anderes Handelsunternehmen<br />
| Auszüge aus der Samwer-Brüder-<br />
Biografie „Die Paten des Internets“<br />
46 Karstadt Eine Schließung von 20 Filialen<br />
würde viele Innenstädte veröden lassen<br />
50 Alno Der Kauf eines Konkurrenten ist die<br />
letzte Chance für den Küchenhersteller<br />
51 Merck Die gleichnamigen Pharmakonzerne<br />
in Deutschland und den USA gehen wieder<br />
auf Kollisionskurs<br />
54 Interview: Ignaz Walter Der einstige<br />
Bauriese gibt den Banken die Schuld am<br />
Zusammenbruch seines Lebenswerks<br />
Titel Wildwest-Internet<br />
Vom Börsengang ihrer Berliner Start-up-<br />
Fabrik Rocket Internet erhoffen sich<br />
die Gründer-Brüder Marc, Oliver und<br />
Alexander Samwer Milliarden. Doch ihr<br />
Online-Konglomerat ist intransparent,<br />
verfilzt und eine riskante Wette auf<br />
die Zukunft. Seite 36<br />
Die Lumpen-Wirtschaft<br />
Die einen wollen mit dem Sammeln von Gebrauchtem öffentliche<br />
Kassen füllen, die anderen am Weltfrieden arbeiten. Ein Lehrstück<br />
über einen globalen, aber keineswegs perfekten Markt. Seite 16<br />
Berliner Geldmaschine<br />
Anleger bekommen hier oft schlechtere Preise als anderswo.<br />
Dennoch stieg Tradegate zur größten Börse für Privatanleger auf.<br />
Geholfen hat ihr ausgerechnet die Frankfurter Konkurrenz. Seite 72<br />
Aktive Alte<br />
Viele Unternehmen sorgen sich wegen<br />
der Rente mit 63. Andere zeigen, wie sie<br />
Senioren halten – etwa das Technologieunternehmen<br />
Gore, Arbeitgeber des<br />
67-jährigen Wolfgang Nocker. Seite 68<br />
TITELILLUSTRATION: TORSTEN WOLBER<br />
4 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Nr. 35, 25.8.2014<br />
FOTOS: BOB BEECHEY FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, DIETER MAYR FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, MARTIN HANGEN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE; ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS<br />
Bitte wenden<br />
Drei Jahre nach Fukushima stockt der<br />
Totalumbau der deutschen Stromversorgung.<br />
Dabei zeigen jede Menge smarter Projekte, was möglich<br />
ist. Eine Reise zu den Pionieren – wie Familie Koch. Seite 60<br />
Versteckspiel<br />
Sie führen ein Leben, das<br />
erfolgreich wirkt – bis die<br />
Fassade Risse bekommt. Der<br />
Publizist Daniel Schreiber<br />
über die Selbsttäuschung<br />
von Alkoholikern und das<br />
Trinken gegen den Stress.<br />
Seite 92<br />
Technik&Wissen<br />
60 Energiewende Eine Sommerreise zu den<br />
besten Ideen und den smartesten Machern<br />
der Energiewende<br />
67 Valley Talk<br />
Management&Erfolg<br />
68 Rente mit 63 Wie Unternehmen versuchen,<br />
erfahrene Mitarbeiter länger zu halten<br />
71 Dekra-Award In drei Kategorien sollen<br />
auch dieses Jahr vorbildliche Managementprojekte<br />
prämiert werden<br />
Geld&Börse<br />
72 Aktienhandel Wie Tradegate zur größten<br />
deutschen Privatanlegerbörse wurde<br />
78 Geldanlage Was Superreiche jetzt kaufen –<br />
wie Anleger ihre Geschäfte kopieren<br />
80 Aktien Kaufchancen an der US-Börse<br />
82 Steuern und Recht Verbrecher verstecken<br />
Geld in Scheinfirmen | Schwarzarbeit am<br />
Bau | Wie der Westen gegen Steueroasen<br />
mobil macht<br />
86 Geldwoche Kommentar: Jahrhundertaktie<br />
Google | Trend der Woche: US-Anleihekäufe |<br />
Dax-Aktien: Münchener Rück | Hitliste:<br />
Reiche und Arme in den USA | Aktien: Hamborner,<br />
Republic Services | Anleihe: BMW |<br />
Zertifikat: US-Technologiewerte | Investmentfonds:<br />
SEB Concept Biotechnology |<br />
Nachgefragt:Fondsmanager Christoph<br />
Bruns erwartet steigende Kurse<br />
Perspektiven&Debatte<br />
92 Interview: Daniel Schreiber Der Publizist<br />
über Alkoholismus, Entspannungstrinken<br />
und das Glück der Nüchternheit<br />
95 Kost-Bar<br />
Rubriken<br />
3 Einblick, 96 Leserforum,<br />
97 Firmenindex | Impressum, 98 Ausblick<br />
n Lesen Sie Ihre WirtschaftsWoche<br />
weltweit auf iPad oder iPhone:<br />
Diese Woche sehen Sie im Video,<br />
wie ein Windpark entsteht und<br />
wie Haie die Unterseekabel<br />
von Google anknabbern.<br />
Zudem gibt es<br />
einen 360-Grad-Blick ins<br />
aktuelle Chefbüro.<br />
wiwo.de/apps<br />
n Videotext Der Teletext lebt – allen<br />
digitalen Errungenschaften zum<br />
Trotz. Warum der Videotext auch<br />
2014 nicht totzukriegen ist.<br />
wiwo.de/videotext<br />
facebook.com/<br />
wirtschaftswoche<br />
twitter.com/<br />
wiwo<br />
plus.google.com/<br />
+wirtschaftswoche<br />
WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 5<br />
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Seitenblick<br />
KLEINSTSTAATEREI<br />
Einfach mal<br />
König sein<br />
Das Gerücht verschwindet nicht: Google, so lautet<br />
es, plane Rechenzentren auf hoher See, um nationalen<br />
Regularien zu entkommen. PayPal-Gründer<br />
und Facebook-Finanzier Peter Thiel glaubt an neue<br />
Gesellschaften auf dem Meer, investierte in das<br />
Seasteading-Institute. Die Idee: bohrinselähnliche<br />
Siedlungen mit eigener Regierung. Tatsächlich<br />
existieren solche Mikronationen schon. Andere<br />
Staaten erkennen sie zwar nicht an, aber aufgeben<br />
wollen die Kleinststaatengründer nicht.<br />
Sealand | Vor der Küste von Suffolk, Großbritannien<br />
Staatsoberhaupt: Prinz Michael Bates<br />
Nachdem das Militär die Seefestung Fort Roughs verließ,<br />
besetzte Vater Paddy Roy Bates sie 1967. Gerichten<br />
zufolge ist sie völkerrechtlich nicht anerkennbar.<br />
Verkaufsversuche scheiterten 2007<br />
Conch Republik | Insel der Florida Keys, USA<br />
Staatsoberhaupt: Generalsekretär Peter Anderson<br />
Die Stadt Key West sagte sich 1982 von den USA los,<br />
als die vor den Toren Grenzkontrollen gegen Einwanderer<br />
einführten. Zurzeit leben dort 25 000 Einwohner.<br />
Marine mit zehn Schiffen, ein Flugzeug<br />
Republik Molossia | Bei Dayton, Nevada, USA<br />
Staatsoberhaupt: Präsident Kevin Baugh<br />
Für seine 5000-km 2 -Nation veröffentlichte Kevin<br />
Baugh 2012 auf der Web-Site des Weißen Hauses<br />
eine Petition zur Anerkennung. Sie scheiterte.<br />
Hat der DDR 1983 den Krieg erklärt<br />
6 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Königreich Calsahara | bei Los Angeles, USA<br />
Staatsoberhaupt: König Montague I.<br />
Der frühere US-Marinesoldat und heutige Schauspieler<br />
Travis McHenry rief das Wüsten-Königreich im November<br />
2009 aus. Seine Mikro-Nation ist 47 Hektar groß.<br />
Unbewaffnete Ein-Mann-Armee<br />
Republik Saugeais | Frankreich, Grenze zur Schweiz<br />
Staatsoberhaupt: Präs. Georgette Bertin-Pourchet<br />
1947 <strong>vom</strong> Vater, dem Hotelier Georges Pourchet, gegründet,<br />
4000 Einwohner in der 40-km 2 -Republik. Es<br />
gibt Wahlen, die Währung Sol und Grenzkontrollen.<br />
Eigene Sonderbriefmarke der französischen Post<br />
Königreich Elleore | Insel bei Roskilde, Dänemark<br />
Staatsoberhaupt: König Leo III.<br />
Eine Gruppe Lehrer kaufte die Insel 1944 als Camp,<br />
erklärte sie aus Ironie zum Königreich. Das gibt inzwischen<br />
eigene Briefmarken und eigenes Geld heraus.<br />
Eigene Zeitzone, Uhren gehen zwölf Minuten nach<br />
Kaiserreich Atlantium | New South Wales, Australien<br />
Staatsoberhaupt: Kaiser George II.<br />
George Cruickshank gründete die 0,8 km 2 große<br />
Nation 1981. Sie hat rund 2000 Staatsbürger und<br />
unterstützt eine liberal-utopische Weltanschauung.<br />
Eigene Briefmarken, Münzen und Banknoten<br />
FOTOS: AGENTUR FOCUS/PICTURETANK/LEO DELAFONTAINE (7), DDP IMAGES, GETTY IMAGES (5), ISTOCK (3)<br />
WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 7<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
Hofft auf Post aus<br />
Brüssel<br />
Capricorn-Chef Wild<br />
NÜRBURGRING<br />
Warten, warten, warten<br />
Trotz Verkauf der Pleite-Rennstrecke<br />
an Capricorn fließt noch immer kein<br />
Geld an die Gläubiger. Deren Wut auf<br />
die Insolvenzverwalter wächst.<br />
Am Nürburgring wird die Krise zum Dauerzustand:<br />
Beim Verkauf an den Düsseldorfer Autozulieferer<br />
und Projektentwickler Capricorn gibt es Probleme<br />
mit der EU-Kommission. „Ich rechne nicht mit einer<br />
schnellen Entscheidung“, sagt Capricorn-Chef<br />
Robertino Wild. „Das wird sich noch über Jahre<br />
hinziehen.“ Die EU-Kommission muss dem Deal<br />
zustimmen, weil sie ermittelt, ob die millionenschweren<br />
Beihilfen des Landes Rheinland-Pfalz für<br />
den Nürburgring rechtmäßig waren. Ursprünglich<br />
sollte die Entscheidung im Juni fallen. Doch die EU-<br />
Kommission hat den Termin bereits mehrfach verschoben<br />
– obwohl die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin<br />
Malu Dreyer (SPD) am 14. Juli eigens<br />
nach Brüssel gekommen war, um EU-Wettbewerbskommissar<br />
Joaquín Almunia zu einer schnellen<br />
Entscheidung zu drängen.<br />
Capricorn hatte im März <strong>vom</strong> Gläubigerausschuss<br />
der Nürburgring GmbH für 77 Millionen Euro<br />
den Zuschlag bekommen. Die ersten 15 Millionen<br />
sollten laut Kaufvertrag in drei Raten zu je fünf<br />
Millionen Euro gezahlt werden. Die zweite Rate davon<br />
war am 31. Juli fällig. Doch Capricorn erhielt<br />
nun Aufschub bis zum 31. Oktober, weil sich die<br />
Prüfung der EU-Kommission hinzieht. Sobald eine<br />
Entscheidung vorliegt, muss Capricorn allerdings<br />
weitere 45 Millionen Euro überweisen.<br />
Das aber führt zu neuen Problemen. Denn im<br />
Gläubigerausschuss hatten die Insolvenzverwalter<br />
mitgeteilt, dass die 15 Millionen Euro auf jeden Fall<br />
auf ein Treuhandkonto flössen und nur die Zahlung<br />
der 45 Millionen Euro von einer positiven EU-Entscheidung<br />
abhinge. Sollte eine Zahlung ausfallen,<br />
hieß es damals, müsse Wild zudem 25 Millionen<br />
Euro Vertragsstrafe zahlen. Im Gläubigerausschuss<br />
regt sich nun Unmut, weil Insolvenzverwalter Jens<br />
Lieser die Zahlungsmodalitäten ohne Abstimmung<br />
geändert hat. Lieser teilte auf Nachfrage mit, eine<br />
erneute Zustimmung des Gläubigerausschusses sei<br />
nicht erforderlich gewesen.<br />
In Brüssel liegen aktuell vier Beschwerden gegen<br />
den Verkauf des Rings an Capricorn vor. Einer der<br />
Beschwerdeführer, der Brite Meyrick Cox, kündigte<br />
an, er werde erneut eine Stellungnahme nach Brüssel<br />
schicken. Denn in dem Zahlungsaufschub sieht<br />
er eine weitere unzulässige Beihilfe.<br />
An einen Rücktritt <strong>vom</strong> Kauf denkt Wild nicht,<br />
obwohl er dies laut Vertrag bis zum 20. Dezember<br />
dürfte. Er sei auf alle Eventualitäten eingestellt.<br />
Sollte Brüssel bis Ende des Jahres kein grünes Licht<br />
geben, werde die Capricorn Nürburgring GmbH<br />
den Ring als Pächter betreiben. Aber auch gegen<br />
den Pachtvertrag liegen der EU Beschwerden vor.<br />
florian.zerfass@wiwo.de, franz rother, silke wettach | Brüssel<br />
Teure Spektakel<br />
Verluste der Nürburgring<br />
GmbH durch Formel-1-<br />
Rennen<br />
2004<br />
2005<br />
2006<br />
2007<br />
2009<br />
2011<br />
Quelle: Statista<br />
11,0 Mio. €<br />
10,0 Mio. €<br />
9,9 Mio. €<br />
10,9 Mio. €<br />
10,4 Mio. €<br />
13,5 Mio. €<br />
8 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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BAHNVERKEHR<br />
Interconnex droht das Aus<br />
Seit zwölf Jahren pendelt der<br />
Interconnex zwischen Leipzig,<br />
Berlin, Rostock und Warnemünde<br />
– als erster Wettbewerber<br />
der Deutschen Bahn im<br />
Fernverkehr. Demnächst könnte<br />
Schluss sein. „Wir prüfen alle<br />
Optionen“, sagt Christian<br />
Schreyer, der neue Chef des<br />
Interconnex-Betreibers Veolia<br />
Verkehr, einer Tochter des privaten<br />
französischen Verkehrskonzerns<br />
Transdev. Möglich<br />
seien andere Haltestationen<br />
und Abfahrzeiten. „Ich schließe<br />
auch die Einstellung des<br />
Interconnex nicht aus“, sagt<br />
Schreyer. Schuld sei die neue<br />
Konkurrenz auf der Straße wie<br />
MeinFernbus, ADAC Postbus<br />
und Flixbus.<br />
Allein zwischen Leipzig und<br />
Berlin fahren die Fernbusse 16<br />
Mal am Tag, teils schon für sieben<br />
Euro pro Fahrt. Interconnex<br />
verlangt für das Ticket im<br />
Schnitt 16 Euro. Die Zahl der<br />
Passagiere sank 2013 um 16<br />
Prozent auf 335 000. Die Nachfrage<br />
habe sich inzwischen stabilisiert,<br />
aber nur weil Veolia<br />
die Preise gesenkt habe, sagt<br />
Schreyer. Profitabel fuhr der<br />
Zug nie.<br />
Die Liberalisierung des Fernbusverkehrs<br />
im Januar vergangenen<br />
Jahres trifft so schon den<br />
Maut für Fernbusse gefordert<br />
Veolia-Verkehr-Chef Schreyer<br />
zweiten Wettbewerber der<br />
Deutschen Bahn im Fernverkehr.<br />
Kürzlich erst änderte das private<br />
Kölner Bahnunternehmen<br />
Hamburg-Köln-Express seine<br />
Strategie, es klassifiziert Züge<br />
nun als Nahverkehr. Auf Teilstrecken<br />
können Kunden bald<br />
auch mit Nahverkehrstickets<br />
einsteigen.<br />
Veolia-Verkehr-Chef Schreyer<br />
fordert eine Bus-Maut. „Der<br />
Bund“, meint der Bahnmanager,<br />
„sollte die Fernbusse ebenso an<br />
den Infrastrukturkosten beteiligen,<br />
wie das auf der Schiene bereits<br />
heute über Trassengebühren<br />
der Fall ist.“<br />
christian.schlesiger@wiwo.de | Berlin<br />
Aufgeschnappt<br />
Angefressen Google leidet tierisch<br />
unter Haien. Sie knabbern<br />
die Tiefseekabel des Internet-<br />
Riesen an. Um die Glasfaserleitungen<br />
zu schützen, werden sie<br />
jetzt mit dem Kunststoff Kevlar<br />
ummantelt. Forscher vermuten,<br />
dass die Haie durch elektromagnetische<br />
Felder angelockt werden,<br />
die sich um die Kabel herum<br />
aufbauen. In Kürze beginnt<br />
Google gemeinsam mit anderen<br />
Firmen, ein Unterseekabel von<br />
den USA nach Japan zu verlegen.<br />
Kosten: 300 Millionen Dollar,<br />
Haischutz inklusive.<br />
Aufgeschreckt Wenn es in den<br />
nächsten Tagen an der Tür klingelt,<br />
erschrickt manch deutscher<br />
Rentner, der in Spanien<br />
lebt. Die Steuerfahnder dort<br />
kontrollieren jetzt verschärft<br />
Ausländer. Den Kontakt zu ihren<br />
deutschen Kollegen haben die<br />
Fahnder schon intensiviert.<br />
SICHERHEIT<br />
Unternehmen<br />
rüsten auf<br />
Die Sicherheitswirtschaft in<br />
Deutschland wächst rasant. Für<br />
dieses Jahr erwartet die Branche<br />
ein Plus von 5,6 Prozent, in<br />
den nächsten Jahren sogar eines<br />
von 6,4 Prozent, ermittelte<br />
das Brandenburgische Institut<br />
für Gesellschaft und Sicherheit<br />
in Potsdam. Für IT-Sicherheit<br />
würden die Kunden künftig sogar<br />
jährlich sieben Prozent<br />
mehr ausgeben. 64 Prozent der<br />
Aufträge kommen aus der gewerblichen<br />
Wirtschaft.<br />
60 Prozent der befragten Sicherheitsunternehmen<br />
sehen<br />
in Daten- und Netzwerksicherheit<br />
das Hauptthema der kommenden<br />
Jahre. Ein Drittel der<br />
Branche investiert derzeit in Innovationen.<br />
Auf die wachsende Internet-<br />
Kriminalität „reagieren Unternehmen<br />
und Bürger bereits<br />
jetzt mit Milliardeninvestitionen,<br />
während die Bundesregierung<br />
im Rahmen der Digitalen<br />
Agenda und des IT-Sicherheitsgesetzes<br />
29 Millionen Euro zusätzlich<br />
bereitstellt“, sagt Institutsdirektor<br />
Tim Stuchtey.<br />
„Das zeigt:Im Internet ist Sicherheit<br />
derzeit vor allem eine<br />
private Angelegenheit.“<br />
henning.krumrey@wiwo.de | Berlin<br />
FOTOS: ROBERT POORTEN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, PR, MASTERFILE/MINDEN PICTURES<br />
Trend zu kleineren Autos<br />
Die durchschnittliche Größe der Pkws im Straßenverkehr nach Hubraum 2003 2013<br />
Österreich<br />
Dänemark<br />
Frankreich<br />
Deutschland<br />
Luxemburg<br />
Niederlande<br />
EU*<br />
1300 cm 3 1400 cm 3 1500 cm 3 1600 cm 3 1700 cm 3 1800 cm 3 1900 cm 3 2000 cm 3<br />
* ohne die osteuropäischen Mitgliedsländer; Quelle: European Automobile Manufactures Association<br />
WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 9<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
REWE<br />
Amazon<br />
abhängen<br />
Der Handelsriese Rewe will<br />
sein Online-Geschäft ausbauen.<br />
Schon im März hatte er<br />
sich die Mehrheit am Internet-<br />
Tierfutterhändler Zooroyal<br />
gesichert. Nun sollen unter<br />
Leitung von Rewe-Digital-<br />
Chef Jean-Jacques van Oosten<br />
weitere Web-Shops aufgebaut<br />
werden, heißt es intern. Nachgedacht<br />
werde über den Verkauf<br />
von Drogerieprodukten<br />
und Kosmetik im Netz. Auch<br />
Kinder- und Babyartikel seien<br />
eine Option.<br />
In der Branche wurde zuletzt<br />
über ein neues Wein-<br />
Portal spekuliert. Zwar ist der<br />
Konzern über den Ableger<br />
Kölner Weinkeller schon im<br />
Online-Weinmarkt aktiv, bietet<br />
hier aber vor allem höherpreisige<br />
Sorten an.<br />
Rewe wolle das „größte<br />
Online-Unternehmen<br />
im Lebensmittelbereich“ in<br />
Deutschland werden und so<br />
dem Rivalen Amazon zuvorkommen,<br />
hatte van Oosten<br />
vor Kurzem erklärt. Auch<br />
Rewe-Chef Alain Caparros<br />
hat bereits auf die Bedeutung<br />
des Online-Einkaufs für unterschiedliche<br />
Sortimente hingewiesen.<br />
„Tiernahrung, Wein,<br />
Spirituosen oder auch Drogerieartikel<br />
und Kosmetik<br />
werden zunehmend im Netz<br />
gekauft“, sagte er.<br />
Einen Klick schneller<br />
Rewe-Chef Caparros<br />
henryk.hielscher@wiwo.de<br />
INTERVIEW Martin Brudermüller<br />
»Der Chinese Dream ist<br />
wie der American Dream«<br />
Der Asien-Vorstand des Chemiekonzerns<br />
BASF will in der Region gemeinsam mit Partnern<br />
zehn Milliarden Euro investieren.<br />
Herr Brudermüller, China ist<br />
zwar der größte Wachstumsmarkt<br />
Asiens, die Wirtschaft<br />
legt aber nicht mehr so stark zu<br />
wie früher. Was nun?<br />
Ich glaube weiterhin an China.<br />
Die Wirtschaftsreformen werden<br />
durchgesetzt werden, auch<br />
wenn es dabei ab und zu holpert.<br />
Der <strong>vom</strong> Staatspräsidenten<br />
Xi Jinping verkündete<br />
Chinese Dream ist vergleichbar<br />
mit dem American Dream:<br />
Das Land ist in Bewegung und<br />
wächst weiter. Das ist in unser<br />
aller Interesse. Dass China nicht<br />
ständig zweistellig wachsen<br />
kann, ist auch klar. Schließlich<br />
ist die Basis, von der das Wachstum<br />
ausgeht, viel größer. Allein<br />
der Zuwachs 2013 entspricht<br />
dem Bruttoinlandsprodukt von<br />
Norwegen. Dementsprechend<br />
groß sind allerdings auch die<br />
Probleme: Die Verschuldung,<br />
der Schattenbankensektor und<br />
nicht zuletzt die großen Umweltschäden<br />
geben Anlass zur<br />
Sorge. Aber ich glaube, dass das<br />
Land diese Probleme in den<br />
Griff kriegen wird.<br />
Verschlechtert sich das<br />
Geschäftsumfeld, wie es in<br />
einer EU-Studie steht?<br />
Nein, was das Volumen betrifft,<br />
wachsen wir weiter. Allerdings<br />
hat sich der Preisdruck erhöht.<br />
Grund dafür sind viele Überkapazitäten<br />
im Markt. Von der<br />
Nachfrageseite her ist unser<br />
Geschäft aber sehr stabil.<br />
BASF hat sich zum Ziel gesetzt,<br />
75 Prozent all seiner in der Region<br />
Asien/Pazifik verkauften<br />
Chemieprodukte auch dort zu<br />
produzieren. Wie weit sind Sie?<br />
Das ist unser strategisches Ziel<br />
bis 2020. Wir sind jüngst etwas<br />
zurückgefallen, weil wir auf-<br />
DER FERNOST-SPEZIALIST<br />
Brudermüller, 53, ist seit 2011<br />
Vize des BASF-Vorstands und<br />
zuständig für die Region Asien-<br />
Pazifik. Zudem ist der promovierte<br />
Chemiker China-Sprecher<br />
im Asien-Pazifik-Ausschuss der<br />
deutschen Wirtschaft.<br />
grund der neuen IFRS-Bilanzierungsregeln<br />
für manche Joint<br />
Ventures den Umsatz nicht<br />
mehr ausweisen dürfen. Jetzt<br />
liegt der Anteil bei rund 60 Prozent.<br />
Wir haben also noch ein<br />
gutes Stück vor uns, aber wir<br />
sind gut positioniert und wollen<br />
in der Region zusammen mit<br />
Partnern zehn Milliarden Euro<br />
bis 2020 investieren.<br />
Wie viel Forschung betreiben<br />
Sie in China?<br />
Langfristig möchten wir 50 Prozent<br />
unserer Forschung in Europa<br />
und jeweils 25 Prozent in<br />
Nordamerika und in Asien haben.<br />
Wir wollen nichts in Europa<br />
abbauen. Dass das größte<br />
Wachstum deswegen in Asien<br />
stattfinden wird, ist damit klar.<br />
Vor allem in China wollen wir<br />
näher an unseren Kunden sein.<br />
Aber die hier gewonnenen<br />
Erkenntnisse werden auch auf<br />
anderen Märkten Anwendung<br />
finden.<br />
China flutet zwar den Markt mit<br />
neuen Patenten, deren Bedeutung<br />
ist aber meist gering. Wie<br />
innovativ ist China wirklich?<br />
Im Rahmen unserer Strategie<br />
haben wir auch evaluiert, wo<br />
sich die Forschung global hinbewegen<br />
wird. Von den 184<br />
Unternehmen, die weltweit am<br />
meisten für Forschung ausgeben,<br />
wollen die meisten ihren<br />
Anteil in Asien erhöhen. Im Jahr<br />
2025 wird China rund zwei Drittel<br />
des gesamtasiatischen Chemiemarktes<br />
ausmachen. China<br />
steht also im Mittelpunkt.<br />
Was muss China an seinem<br />
Ausbildungssystem tun?<br />
China hat in den letzten Jahren<br />
die Zahl der Universitätsabsolventen<br />
massiv erhöht. Mehr als<br />
ein Drittel davon haben einen<br />
Ingenieurabschluss. Die Qualifikationen<br />
sind aber nicht immer<br />
mit dem westlichen Niveau<br />
vergleichbar. Das chinesische<br />
Studium legt noch zu viel Wert<br />
auf Wiederholung, Fakten sammeln<br />
und Auswendiglernen.<br />
Kreativität wird noch zu wenig<br />
gefördert.<br />
Wo investiert BASF in China?<br />
Wir stellen Anfang 2015 eine<br />
große Anlage in Chongqing fertig.<br />
Erst kürzlich haben wir unser<br />
sehr erfolgreiches Joint Venture<br />
in Nanjing erweitert. Darüber<br />
hinaus entstehen Anlagen<br />
in Shanghai und Maoming.<br />
Ihre China-Zentrale steht noch<br />
immer in Hongkong. Warum in<br />
der Sonderwirtschaftszone?<br />
Natürlich brauchen wir die<br />
Nähe zum großen Wachstumsmarkt.<br />
Hongkong als Teil von<br />
China ist da eine gute Wahl.<br />
Allerdings machen wir rund<br />
50 Prozent unseres Asien-<br />
Geschäfts außerhalb Chinas.<br />
Hongkong ist der richtige Ort,<br />
um sowohl China als auch die<br />
anderen Märkte der Region zu<br />
bedienen.<br />
philipp.mattheis@wiwo.de | Shanghai<br />
FOTOS: VARIO PRESS/RAINER UNKEL, PHOTOTHEK.NET/THOMAS KOEHLER, CARO FOTOAGENTUR/FRANK SORGE, ZOONAR, GETTY IMAGES/WIREIMAGE<br />
10 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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FREIHANDEL<br />
Geldregen für<br />
die Gegner<br />
Die Kritik am geplanten transatlantischen<br />
Freihandelsabkommen<br />
TTIP beschert Protestorganisationen<br />
hohen<br />
Zuspruch – besonders in finanzieller<br />
Form. Allein die Kampagnen-Plattform<br />
Campact erhielt<br />
nach ihrem Anti-TTIP-Aufruf in<br />
diesem Jahr schon mehr als<br />
600 000 Euro an Spenden.<br />
30 000 Unterstützer haben sich<br />
bisher an der Aktion beteiligt.<br />
Die Zahl zeige, „wie wichtig vielen<br />
Menschen das Thema ist“,<br />
teilt Campact mit.<br />
Die Organisation LobbyControl<br />
nahm 2014 nach ihrem<br />
Spendenaufruf gegen das Abkommen<br />
mehr als 42 000 Euro<br />
ein. Fast ein Drittel aller Spenden<br />
für die Kölner Protestgruppe<br />
resultiert damit inzwischen<br />
aus deren Arbeit gegen TTIP.<br />
Selbst bei der Anti-Globalisierungsbewegung<br />
Attac war<br />
die Resonanz auf ein Spenden-<br />
Mailing zum Freihandelsabkommen<br />
„überdurchschnittlich<br />
hoch“, so Attac. Genaue Summen<br />
liegen zwar noch nicht vor.<br />
Aber die Zahl der Interessenten<br />
stieg im Zuge des Protests gegen<br />
das Handelsabkommen<br />
seit dem Frühjahr von 60 000<br />
auf 80 000.<br />
max.haerder@wiwo.de | Berlin<br />
MUSIKINDUSTRIE<br />
Globale<br />
Absprache<br />
25.08. Konjunktur Das ifo Institut präsentiert am Montag<br />
den Geschäftsklimaindex für August. Im Juli war er<br />
gegenüber dem Vormonat um 1,7 Punkte auf 108<br />
Punkte gefallen. Das war der dritte Rückgang in<br />
Folge und der niedrigste Stand seit Oktober.<br />
26.08. Arbeitsmarkt Das Institut für Arbeitsmarkt- und<br />
Berufsforschung (IAB) stellt am Dienstag seine<br />
Prognose für die nächsten drei Monate vor. Am<br />
Donnerstag veröffentlich die Bundesagentur für<br />
Arbeit ihre Zahlen. Im Juli erhöhte sich die Arbeitslosenrate<br />
um 0,1 Punkte auf 6,6 Prozent. Grund<br />
war die Sommerpause in vielen Unternehmen.<br />
27.08. Konsum Der Konsumforscher GfK berichtet am<br />
Mittwoch über die Laune der Verbraucher. Im Juli<br />
kletterte der Konsumklimaindex um 0,1 auf 9,0<br />
Punkte, so hoch wie zuletzt im Dezember 2006.<br />
30.08. EU-Gipfel In Brüssel wollen die Staats- und Regierungschefs<br />
der EU-Staaten am Samstag über die<br />
Besetzung der EU-Spitzenposten beraten und<br />
über die Aufgaben der neuen EU-Kommission.<br />
31.08. Landtagswahl Die Sachsen wählen am Sonntag<br />
einen neuen Landtag. 2009 kam die CDU auf 40,2<br />
Prozent, in Umfragen liegt sie bei 43 Prozent. Sie<br />
regiert das Land seit 1990, seit 2009 zusammen<br />
mit der FDP. Die Liberalen erreichten 2009 zehn<br />
Prozent, schaffen in Umfragen aber nur drei Prozent.<br />
Die SPD gewann 19,1 Prozent, liegt jetzt bei<br />
14 Prozent. Die Linke dürfte wieder auf gut 20 Prozent<br />
kommen. Die AfD<br />
sehen Umfragen bei fünf<br />
Prozent. Die Grünen<br />
hatten 6,4 Prozent und<br />
könnten jetzt sieben<br />
Prozent schaffen.<br />
Neue Töne in der<br />
Branche<br />
Popsängerin Beyoncé<br />
TOP-TERMINE VOM 25.08. BIS 31.08.<br />
Das jüngste Album von Popstar<br />
Beyoncé erschien weltweit am<br />
selben Tag, einem Freitag, und<br />
löste damit offenbar ein Umdenken<br />
in den Musikfirmen<br />
aus. Bis dahin kamen neue Platten<br />
in England montags heraus,<br />
in den USA dienstags und in<br />
Deutschland freitags. Konzerne<br />
wie Universal Music und Warner<br />
wollen nun mit den Industrieverbänden<br />
IFPI und RIAA<br />
erreichen, dass <strong>vom</strong> nächsten<br />
Sommer an neue Werke<br />
weltweit freitags um 0.01<br />
Uhr Ortszeit veröffentlicht<br />
werden. Vorbild<br />
sind die Filmstudios,<br />
die sich schon länger<br />
ein einheitliches<br />
Datum für<br />
eine Premiere wünschen.<br />
Sie wollen so die Verbreitung<br />
illegaler Kopien eindämmen.<br />
Zudem, so der<br />
Bundesverband Musikindustrie,<br />
mache es angesichts<br />
globaler Plattformen<br />
wie Twitter wenig<br />
Sinn, wenn ein Star<br />
dort eine neue Platte<br />
ankündigt, das<br />
Werk in einigen<br />
Ländern jedoch<br />
erst Tage später<br />
erscheine.<br />
peter.steinkirchner<br />
@wiwo.de<br />
ENERGIEWENDE<br />
Brite will<br />
mitverdienen<br />
Ausgerechnet ein Brite will den<br />
Deutschen sagen, woher der<br />
Wind weht. Wenn Rob Varley<br />
Anfang September zum Chef<br />
des britischen Wetterdienstes<br />
Met Office aufsteigt, will er das<br />
Prognosegeschäft internationalisieren.<br />
Dabei schielt er vor allem<br />
auf deutsche Kunden.<br />
Vom Winde gedreht<br />
Met Office hilft Windparks<br />
Allerdings geht es dem<br />
52-Jährigen nicht darum, den<br />
ausländischen Abnehmern vorherzusagen,<br />
wann in London<br />
Nebel aufzieht. Vielmehr will<br />
der Meteorologe, der seit 30<br />
Jahren für den Dienst arbeitet,<br />
von der Energiewende profitieren<br />
und Met Office als Berater<br />
und Dienstleister beim Aufbau<br />
sowie Betrieb von Windkraftanlagen<br />
etablieren.<br />
Beratung bei der Wahl des<br />
Standortes oder spezifische<br />
Wetterprognosen bietet das Unternehmen<br />
in Großbritannien<br />
seit Jahren an, neben hoheitlichen<br />
Aufgaben wie dem allgemeinen<br />
Wetter- und Warndienst.<br />
2013 setzte das Unternehmen<br />
mit kommerziellen<br />
Kunden 255 Millionen Euro um.<br />
Der Deutsche Wetterdienst<br />
erlöst aus zahlungspflichtigen<br />
Angeboten wie dem Flugwetterdienst<br />
im Jahr rund 51 Millionen<br />
Euro – die direkt in den<br />
Bundeshaushalt fließen.<br />
thomas.kuhn@wiwo.de<br />
WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 11<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
CHEFSESSEL<br />
START-UP<br />
UBER<br />
David Plouffe, 47, ehemaliger<br />
Wahlkampfhelfer und<br />
Berater des US-Präsidenten<br />
Barack Obama, 53, geht<br />
im September zum Taxidienst<br />
Uber. Das US-Unternehmen<br />
braucht dringend<br />
Hilfe. Mehrere Städte, darunter<br />
auch deutsche, wollen<br />
ihm verbieten, Fahrer<br />
zu vermitteln, die nicht die<br />
dafür nötige Erlaubnis besitzen.<br />
Plouffe scheut sich<br />
nicht vor heiklen Aufträgen.<br />
Er arbeitete auch<br />
schon für Aserbaidschans<br />
umstrittenen Staatspräsidenten<br />
Ilham Aliyev, 52.<br />
DEUTSCHE BANK<br />
Richard Shannon wechselt<br />
im Oktober von Goldman<br />
Sachs zur Deutschen Bank.<br />
Als Chief Information Officer<br />
(CIO) soll er deren IT-Systeme<br />
in den USA verbessern<br />
und sich darum kümmern,<br />
dass die US-Richtlinien eingehalten<br />
werden. Die US-Börsenaufsicht<br />
SEC hatte das Berichtswesen<br />
der Bank kritisiert.<br />
KARSTADT<br />
Kai-Uwe Weitz, 49, quittiert<br />
den Dienst beim Warenhauskonzern<br />
Karstadt. Nach dem<br />
überraschenden Abgang der<br />
Karstadt-Chefin Eva-Lotta Sjöstedt,<br />
48, im Juli hatte Weitz zusammen<br />
mit Finanzvorstand<br />
Miguel Müllenbach die Führung<br />
übernommen. Müllenbach<br />
steht nun vorerst allein an<br />
der Spitze. Mitte August hatte<br />
der österreichische Immobilien-Investor<br />
René Benko, 37,<br />
das Unternehmen übernommen<br />
(siehe Seite 46).<br />
MICROSOFT<br />
Steve Ballmer, 58, verlässt ein<br />
halbes Jahr nach seinem Abschied<br />
als Microsoft-Chef nun<br />
den Aufsichtsrat des Softwarekonzerns.<br />
Damit endet eine<br />
Ära. Gründer Bill Gates hatte<br />
seinen Studienfreund 1980 angeheuert.<br />
2000 stieg Baller zum<br />
Konzernchef auf. Er erhöhte<br />
zwar den Umsatz, schaffte es<br />
aber nicht, die PC-Dominanz<br />
von Windows auf Smartphones<br />
und Tablets zu übertragen. Ballmer,<br />
mit rund vier Prozent noch<br />
vor Gates der größte Einzelaktionär<br />
von Microsoft, will sich<br />
stärker seinem Basketball-Team<br />
LA Clippers widmen, das er für<br />
zwei Milliarden Dollar erwarb.<br />
FERNSEHEN<br />
277 Minuten<br />
schauen die Bürger in Sachsen-Anhalt täglich fern, länger als alle<br />
anderen Deutschen. Am kürzesten sitzen die Baden-Württemberger<br />
vor dem TV-Gerät: 192 Minuten. Der Bundesdurchschnitt<br />
liegt bei 221 Minuten, am höchsten war er 2011 mit 225 Minuten.<br />
Vor zehn Jahren betrug er 210 und vor 20 Jahren 167 Minuten.<br />
SENSORBERG<br />
Signalfeuer für Sparkassen<br />
Diese Technologie ist jetzt besonders angesagt: Beacons, auf<br />
deutsch Signalfeuer. Nicht nur Supermärkte und Kaufhäuser setzen<br />
große Hoffnungen auf sie. Denn via Bluetooth können die<br />
kleinen Funkchips Smartphones im Umkreis von bis zu 50 Metern<br />
orten – auch in geschlossenen Räumen, wo kein GPS-Signal empfangen<br />
wird. Unternehmen können dann Werbung und Angebote<br />
verschicken, die auf den jeweiligen Nutzer zugeschnitten sind.<br />
Alexander Oelling, Gründer des Start-ups Sensorberg, verkauft<br />
Beacons, bietet aber vor allem eine Softwareplattform zum Managen<br />
der Chips an.<br />
Das Berliner Unternehmen arbeitet an Pilotprojekten für Flughäfen,<br />
Bahnhöfe und Hotels. Größter Kunde ist das Sparkassen-<br />
Finanzportal, der Internet-Dienstleister der Sparkassen. „Wir<br />
wollen bis Jahresende mehrere Hundert Filialen mit Beacons ausrüsten“,<br />
sagt Oelling. Dort könnten die sieben Millionen Nutzer<br />
der Sparkassen-App dann per Smartphone Terminvorschläge ihres<br />
Kundenberaters erhalten oder Immobilienangebote, abgestimmt<br />
auf ihre persönlichen Wünsche. Im Schnitt kontaktiert ein<br />
Kunde seinen Berater<br />
Fakten zum Unternehmen<br />
Finanzierung von Berlin Technologie<br />
Holding 750 000 Euro<br />
Kosten Startpaket mit drei<br />
Beacons und Software 89 Euro<br />
Absatz bisher ausgeliefert<br />
mehrere 10 000 Beacons<br />
derzeit nur alle zwei Jahre.<br />
Zu wenig, meinen die<br />
Sparkassen. Etwa ein<br />
Viertel der 417 Institute<br />
habe Interesse gezeigt,<br />
sagt Oelling. Im Oktober<br />
könnte er mit den ersten<br />
Installationen beginnen.<br />
oliver.voss@wiwo.de<br />
FOTOS: LAIF/UPI, PR<br />
12 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Menschen der Wirtschaft | Chefbüro<br />
Hans-Georg Maaßen<br />
Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz<br />
Auf dem Schild neben der Tür<br />
steht kein Name, nur das Kürzel<br />
7-A-612. Wer Hans-Georg Maaßen,<br />
51, sucht, ist hier richtig.<br />
Der Präsident des Bundesamtes<br />
für Verfassungsschutz arbeitet<br />
auf der siebten Etage eines weiträumigen<br />
Gebäudekomplexes<br />
im Kölner Stadtteil Chorweiler.<br />
Sein Büro ist abhörsicher, Besucher<br />
müssen sich strengen Kontrollen<br />
unterziehen. Seit August<br />
2012 leitet der promovierte Jurist<br />
die Behörde. Rund 2770 Mitarbeiter<br />
sammeln und analysieren<br />
Informationen über terroristische<br />
oder extremistische<br />
Aktivitäten und versuchen, die<br />
Spionage ausländischer Nachrichtendienste<br />
aufzudecken.<br />
Wie es aus Regierungskreisen<br />
heißt, soll das Amt<br />
weitere Stellen erhalten.<br />
Gemeinsam mit<br />
dem Bundeskriminalamt<br />
und dem Bundesamt<br />
für Sicherheit in<br />
der Informationstechnik<br />
sollen die neuen<br />
Mitarbeiter helfen,<br />
360 Grad<br />
In unseren App-<br />
<strong>Ausgabe</strong>n finden<br />
Sie an dieser<br />
Stelle ein interaktives<br />
360°-Bild<br />
Unternehmen besser vor Cyberattacken<br />
und Wirtschaftsspionage<br />
zu schützen. „Wir sind ein<br />
Dienstleister für unsere Demokratie“,<br />
betont Maaßen, der seine<br />
Karriere im Bundesinnenministerium<br />
startete. In seinem Büro<br />
hängt ein Porträt des Bundespräsidenten<br />
Joachim Gauck. Auf<br />
dem Schreibtisch stehen vier<br />
abhörgeschützte Telefone. Der<br />
Wandschrank beherbergt<br />
neben dem<br />
Panzerschrank eine<br />
Sammlung an Geschenken,<br />
die ausländische<br />
Partnerdienste<br />
mitgebracht haben.<br />
Durch seine japanische<br />
Frau Yuko hat<br />
Maaßen eine intensive Beziehung<br />
zu Japan entwickelt. Einen<br />
besonders reizvollen Ort dort<br />
hat sein Onkel Hanns für ihn<br />
gemalt. Das Bild des Hobbykünstlers<br />
hängt in der Besprechungsecke<br />
neben der Deutschland-Fahne<br />
und zeigt die Bucht<br />
von Hiroshima. „Hier lässt es<br />
sich ungestört arbeiten“, sagt<br />
Maaßen und blickt sich in seinem<br />
Büro um. Dabei zeigt er auf<br />
den Alarmknopf unter seinem<br />
Schreibtisch und auf eine unauffällige<br />
Tür. Dahinter liegt ein<br />
Raum, in den er sich zurückziehen<br />
kann; ein Zimmer mit<br />
Schlafcouch, Duschbad – und<br />
Aufzug für den Notfall.<br />
ulrich.groothuis@wiwo.de<br />
FOTO: DOMINIK PIETSCH FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
14 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Der Kampf um<br />
unsere Lumpen<br />
ALTKLEIDER | Die einen wollen mit dem Sammeln von<br />
Gebrauchtem öffentliche Kassen füllen, andere am Weltfrieden<br />
arbeiten oder einer effizienten Entsorgung. Am Ende<br />
landen alle Klamotten auf demselben afrikanischen Markt.<br />
Ein Lehrstück über einen nicht perfekten Markt.<br />
Man kennt die Geschichten:<br />
In Afrika werden Rohstoffe<br />
abgebaut, nach Europa<br />
exportiert und hier veredelt.<br />
Arme Afrikaner,<br />
skrupellose Europäer. Diese aber geht genau<br />
andersherum. Silvano Nyakapala,<br />
Händler auf dem Markt von Daressalam,<br />
macht in Tansania einen Rohstoff grammweise<br />
zu Geld, für dessen Abbau es in Europa<br />
nur ein paar Hundert Euro pro Tonne<br />
gibt: Altkleider. Die Minen für diesen Rohstoff<br />
stehen zum Beispiel mitten in Berlin:<br />
Hafenplatz 5–7, zwischen Landwehrkanal<br />
und Potsdamer Platz.<br />
Die einstige Mauerrandlage ist einer dieser<br />
vielen Orte in der Mitte der Hauptstadt,<br />
an denen sich wohlhabendes Publikum<br />
breitmacht. Oder, aus der Perspektive von<br />
Herrn Nyakapala gesehen: wo besonders<br />
wertvolle Rohstoffe abgebaut werden können.<br />
Doch am Hafenplatz ist eine Lücke<br />
geblieben. Zwischen den noblen Eigentumswohnungen<br />
hat sich ein stufenweise<br />
aufragender Wohnblock gehalten. Abblätternde<br />
Farbe, ein paar verrostete Schaukeln<br />
im Innenhof und Graffiti, so weit die<br />
Arme reichen. An gleich vier Seiten grenzt<br />
der Block an öffentliche Straßen – für Unternehmer<br />
wie Alaittin Nargül die perfekte<br />
Kombination.<br />
Seine Firma Altkleidervertrieb Nargül<br />
hat an der südöstlichen Ecke des Blocks einen<br />
Container aufgestellt, genauso wie das<br />
Unternehmen Berlin-Textilrecycling. Weiter<br />
nördlich steht die Haytex GmbH, am<br />
südwestlichen Eck das Deutsche Rote<br />
Kreuz mit zwei Containern. Sie alle wollen<br />
das Gleiche: die Altkleider der Nachbarn<br />
aus den netten Eigentumswohnungen.<br />
Die Berliner Traumlage für Kleidersammler<br />
ist ein ziemlich gewöhnliches<br />
Beispiel für eine Welle, die seit einigen Monaten<br />
über Deutschland schwappt. Wo<br />
gestern noch ein Vorgarten war, befindet<br />
sich heute schon ein Altkleidercontainer.<br />
Mal steht der Name eines Unternehmens<br />
drauf, mal der des städtischen Entsorgungsbetriebs,<br />
mal der einer Wohlfahrtsorganisation,<br />
manchmal gar kein Hinweis<br />
auf den Betreiber. Nur eines fehlt nie: der<br />
Verweis auf die gute Tat, die der Spender<br />
mit seiner Abgabe vollbringe.<br />
EINZIGARTIGES PANOPTIKUM<br />
Der Grund für die Verbreitung ist zunächst<br />
ein ziemlich simpler: der Preis. Laut dem<br />
Marktbericht des Branchendienstes der<br />
Entsorger „Euwid“ gibt es für eine Tonne<br />
Altkleider derzeit rund 400 Euro, auch<br />
wenn bereits vor einer bevorstehenden<br />
Abkühlung des Marktes gewarnt wird. Vor<br />
wenigen Jahren waren es 200 Euro, ein<br />
bisschen früher wurde man die Waren gar<br />
nicht kostendeckend los. Das erklärt den<br />
Boom auf oberflächliche Weise. Doch dahinter<br />
steckt eine komplexere Erzählung.<br />
Sie handelt davon, was passiert, wenn<br />
Gewinnstreben, Moral und klamme Staatskassen<br />
aufeinandertreffen. Sie zeigt, dass<br />
Märkte nicht immer zu optimalen Ergebnissen<br />
führen – sie auch gestört sein können<br />
durch asymmetrische Information, öffentliche<br />
Güter, Marktmacht und externe<br />
Effekte. Der Markt für Altkleider ist geradezu<br />
ein einzigartiges Panoptikum des ökonomischen<br />
Grauens: Alle Verzerrungen,<br />
die schon vereinzelt absurde Auswirkungen<br />
haben, hier existieren sie fröhlich nebeneinander.<br />
»<br />
FOTO: ROB BEECHEY FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
16 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Wo aus Altkleidern<br />
wertvolle Ware wird<br />
Klamottenmarkt in<br />
Tansanias Hauptstadt<br />
Daressalam<br />
1,5<br />
Milliarden gebrauchte<br />
Kleidungsstücke landen<br />
pro Jahr in den Containern<br />
300<br />
Millionen Euro<br />
werden mit den Altkleidern<br />
jährlich verdient<br />
26<br />
Millionen Tonnen<br />
könnten aus China<br />
hinzukommen<br />
17<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
I. Öffentliche Güter<br />
In Daressalam, Tansania, ist der Einkaufsbummel<br />
an diesem Mittag ein Balanceakt<br />
auf Holzbohlen, doch das stört die Menschen<br />
nicht: Kaum ist die Sonne nach dem<br />
Regenguss zurück, zwängt sich Kundschaft<br />
durch die matschige Enge des Markts von<br />
Mchikichnini. Sofort wird es laut. Unter all<br />
dem Gebrüll immer wieder dieses eine<br />
Wort: „Mitumba“, der Suaheli-Begriff für<br />
„Ballen“. Das beschreibt den Zustand, in<br />
dem die Ware ankommt, um die sich hier<br />
alles dreht. Klamotten, sauber, aber ungebügelt<br />
und verschnürt, in Paketen zu je 50<br />
Kilogramm. Mehr als 12 000 Händler bieten<br />
hier Tag für Tag ihre Waren an, es ist neben<br />
dem kenianischen Mombasa der zentrale<br />
Umschlagplatz für den kompletten<br />
ostafrikanischen Altkleidermarkt – den bedeutendsten<br />
der Welt.<br />
Während in Ostafrika die meisten<br />
Abnehmer von Altkleidern leben, ist<br />
Deutschland einer der wichtigsten Exporteure.<br />
Das liegt zwar auch daran, dass<br />
Deutschland ein wohlhabendes und<br />
leidlich großes Land ist, in erster Linie aber<br />
an der einzigartigen Kultur des Sortierens<br />
und Wiederverwertens hierzulande. In<br />
Südeuropa sind Altkleidersammlungen<br />
völlig unüblich.<br />
TRIVIALE ERFINDUNG<br />
Bei uns waren es zunächst kirchliche und<br />
wohltätige Organisationen, die in der<br />
Nachkriegszeit begannen, von Tür zu Tür<br />
zu gehen, um die Spenden zu sammeln.<br />
Die gesammelten Klamotten landeten<br />
dann in Kleiderkammern, wo Bedürftige<br />
sich versorgen konnten. Bald aber überstieg<br />
die Menge der gesammelten Kleider<br />
die Nachfrage bei Weitem, man begann,<br />
die Kleider weiterzuverkaufen.<br />
Eine ziemlich trivial erscheinende Erfindung<br />
machte Anfang der Neunzigerjahre<br />
daraus ein Geschäftsmodell: der Altkleidercontainer.<br />
Die Container standen von<br />
nun an dauerhaft an der Straße und wurden<br />
regelmäßig geleert. Für die Wohltätigkeitsorganisationen<br />
wurden die Altkleider<br />
so zur regulären Einnahmequelle. Sie<br />
schlossen Verträge mit Entsorgungsunternehmen<br />
ab, die feste Mengenpreise garantierten.<br />
Die Container passten perfekt in<br />
das Heimatland des „Kreislaufwirtschaftsgesetzes“:<br />
So wie wir leere Weinflaschen<br />
brav zum Glascontainer bringen, landen<br />
Altkleider im Container. Einfach wegwerfen?<br />
Wäre doch schade drum!<br />
Insgesamt kommen so in Deutschland<br />
pro Jahr rund 750 000 Tonnen Altkleider<br />
zusammen, das entspricht 1,5 Milliarden<br />
ordnungsgemäß entsorgten Textilien oder<br />
einem Marktvolumen von rund 300 Millionen<br />
Euro – wenn die Klamotten verkauft<br />
werden. Das hinterlässt einen ordentlichen<br />
Profit, denn in der Herstellung sind sie unschlagbar<br />
günstig: Sie kosten nichts außer<br />
dem guten Willen des Entsorgenden.<br />
Ein öffentliches Gut zeichnet sich allgemein<br />
dadurch aus, dass es in scheinbar unbegrenzter<br />
Menge verfügbar ist. So steht<br />
die Sache auch bei den Altkleidern: Was in<br />
den nie ausgeräumten Umzugskisten, unerreichbaren<br />
Regalmetern und vergessenen<br />
Schubfächern der deutschen Reihenhaussiedlungen<br />
lagert, würde genügen,<br />
um den Weltmarkt dauerhaft zu versorgen.<br />
Das macht Altkleider attraktiv, aber wie<br />
bei jedem öffentlichen Gut gibt es auch<br />
hier einen Haken. Wenn die Nutzung nicht<br />
koordiniert erfolgt, sondern exzessiv, dann<br />
verbraucht es sich. Das passiert bei Altkleidern<br />
nicht auf so klassische Weise wie bei<br />
Fischgründen, sondern über Umwege.<br />
Denn den Kampf um die Altkleider gewinnt<br />
nicht derjenige, der den besten Preis<br />
bietet oder die besten Herstellungsverfahren<br />
kennt. Sondern wer die beste Geschichte<br />
zu erzählen hat – oder sie sich ausdenkt.<br />
Bald aber prangte auf jedem Container<br />
ein glückliches Kindergesicht, und die<br />
Suche nach dem Haken begann.<br />
Bunt is beautiful<br />
Händler Silvano<br />
Nyakapala zieht<br />
asiatische Waren<br />
den grauen<br />
deutschen vor<br />
Schnell wurde man fündig: Altkleiderhandel<br />
ist böse, denn er zerstört die afrikanischen<br />
Märkte. Je mehr Menschen das<br />
glauben, desto mehr Klamotten bleiben im<br />
Keller oder landen im Hausmüll, anstatt<br />
nach Tansania verschifft zu werden.<br />
II. Externe Effekte<br />
Immer wieder gab es Versuche, das<br />
Mitumba-Geschäft zu regulieren. Julius<br />
Nyerere, Tansanias erster Präsident nach der<br />
1961 erreichten Unabhängigkeit, wollte einen<br />
sich selbst versorgenden Sozialismus<br />
aufbauen – Textilfabriken, die für den lokalen<br />
Markt produzieren, inklusive. Folgerichtig<br />
war Mitumba eines der ersten Güter, auf<br />
die er ein striktes Einfuhrverbot verhängte.<br />
Als der Sozialismus Anfang der Neunzigerjahre<br />
in Tansania zusammenbrach, fielen<br />
auch die Importhürden – und mit ihnen<br />
brach die lokale Textilindustrie fast schlagartig<br />
zusammen. Wer sucht, der findet in den<br />
Industriequartieren der Hauptstadt noch<br />
heute verfallende Fabriken oder ehemalige<br />
Angestellte, die über das Verschwinden der<br />
Textilindustrie klagen.<br />
Es waren auch, aber nicht nur die deutschen<br />
Altkleider, die den Markt kaputt gemacht<br />
haben. Die lokale Textilindustrie<br />
wäre heutzutage auch ohne Mitumba nicht<br />
wettbewerbsfähig: Moderne Hersteller<br />
müssen entweder mit viel Handarbeit<br />
12 000 Händler bieten auf dem<br />
Markt von Mchikichnini Altkleider zum Verkauf an<br />
18 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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FOTOS: ROB BEECHEY, FRANK BEER, BEIDE FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
Massenware produzieren, wie in Bangladesch<br />
– oder erlesene Premiumprodukte,<br />
die teures Equipment erfordern und am<br />
Ende viel Geld kosten. Tansania aber ist<br />
mit seinen 42 Millionen Einwohnern weder<br />
ein geeigneter Beschaffungs- noch Absatzmarkt:<br />
Es fehlt – anders als in Bangladesch<br />
– an billigen und devoten Näherinnen,<br />
an Kapital und Know-how, an einer<br />
kaufkräftigen Kundschaft.<br />
Viele einheimische Beobachter bewerten<br />
den Zustrom der Klamotten aus dem<br />
Norden gar nicht so negativ. Denn rund um<br />
Mitumba hat sich ein lukrativer Markt der<br />
Weiterverarbeitung etabliert. Da die gebrauchten<br />
Waren aus Europa so günstig<br />
wie asiatische Erstware sind, aber von viel<br />
höherer Qualität, werden sie als Ausgangsprodukt<br />
genutzt, um daraus höherwertige<br />
Modeware zu fertigen. Selbstständige<br />
Schneider oder Kleinkollektive verzieren<br />
die Klamotten mit Ornamenten oder Aufdrucken<br />
und schaffen so neue Werte.<br />
III. Marktmacht<br />
Horst Tschöke war nie in Tansania, <strong>vom</strong><br />
Textilhandel hat er keine Ahnung, aber ein<br />
bisschen mitverdienen möchte er trotzdem.<br />
Um genau zu sein, sind es 150 000<br />
Euro im Jahr, auf die er es abgesehen hat.<br />
Tschöke ist Geschäftsführer der Entsorgungsgesellschaft<br />
der Stadt Herne im<br />
nördlichen Ruhrgebiet, und für diesen<br />
Herbst hat er eine klare Mission: den örtlichen<br />
Altkleidermarkt übernehmen. „Es<br />
gibt einen Wildwuchs von Containern in<br />
Will mitverdienen<br />
Horst Tschöke,<br />
Entsorgung Herne<br />
150 000 Euro soll die Altkleidersammlung<br />
der Stadt Herne im Jahr bringen<br />
der Stadt, das stört das Stadtbild und zieht<br />
eine weitere Vermüllung nach sich“,<br />
referiert Tschöke die offizielle Erklärung.<br />
Neben den zwei karitativen Organisationen,<br />
die in Herne schon seit Urzeiten Altkleider<br />
sammeln, sind in den vergangenen<br />
Jahren immer mehr gewerbliche Sammler<br />
hinzugekommen. Die stellen ihre Container<br />
irgendwo im Stadtgebiet auf, hoffen,<br />
dass sich keiner beschwert und ein paar<br />
Menschen ihre Kleider hineinwerfen. Gerade<br />
deshalb sind Plätze wie der am Berliner<br />
Wohnsilo so beliebt. Auf Kleinanzeigenportalen<br />
im Internet werden demjenigen<br />
bis zu 500 Euro pro Jahr geboten, der<br />
sein Grundstück für einen Container zur<br />
Verfügung stellt. Die Kehrseite: Dort, wo<br />
viele Menschen wohnen, die sich untereinander<br />
kaum kennen, fühlt sich auch keiner<br />
für Sauberkeit und Ordnung an der<br />
Sammelstelle verantwortlich.<br />
„Die Container ziehen den Dreck quasi<br />
an“, sagt Tschöke. Es ist ein Phänomen, das<br />
amerikanische Soziologen einmal Broken-<br />
Window-Theorie getauft haben. Mit jeder<br />
demolierten Scheibe im Downtown-Ghetto<br />
von Detroit oder Chicago sinkt die Hemmschwelle,<br />
eine weitere einzuschmeißen.<br />
Wird aber die erste Scheibe schnell repariert,<br />
schmeißt keiner eine zweite ein. Einen<br />
ähnlichen Zusammenhang vermutet<br />
Tschöke zwischen Altkleidercontainern<br />
und den Unrathaufen daneben. Man könnte<br />
einwenden: Bei allen Problemen, Herne<br />
ist nicht die Bronx. Und Tschökes Argumente<br />
sind vielleicht nur ein Vorwand.<br />
Denn wo die Städte die Sammlung an<br />
sich reißen, bleibt kein Platz für andere. Mit<br />
ihren hoheitlichen Rechten können sie alle<br />
anderen Container entfernen lassen, weil<br />
sie entweder auf öffentlichem Grund stehen<br />
oder dieser genutzt wird, um sie zu befüllen.<br />
„Die Städte sind an den Einnahmen<br />
interessiert, das ist alles“, sagt Jörg Lacher,<br />
Geschäftsführer des Bundesverbands Sekundärrohstoffe<br />
und Entsorgung. Bis 2012<br />
war es Städten nicht erlaubt, sich in den Altkleidermarkt<br />
einzumischen. Die Unternehmen<br />
mussten entsprechende Sammlungen<br />
nur anzeigen, die Verwaltung prüfte lediglich<br />
die Zuverlässigkeit der Anbieter. Solange<br />
die Unternehmen ihre Container nicht<br />
auf öffentlichen Grund stellten, mussten<br />
die Verwaltungen es akzeptieren.<br />
Auch auf Drängen der öffentlichen Unternehmen,<br />
denen die sagenhaften Preise<br />
für die alten Kleider zu Ohren gekommen<br />
waren, öffnete der Gesetzgeber vor zwei<br />
Jahren ein Hintertürchen im Kreislaufwirtschaftsgesetz.<br />
Wenn ein „öffentliches Interesse“<br />
es rechtfertigt, dürfen die Städte den<br />
Wildwuchs an Containern beseitigen und<br />
selbst tätig werden. Sie können dann nicht<br />
nur einzelne Container entfernen, sondern<br />
die Sammlung als Ganzes übernehmen.<br />
EIN OFFENES SPIEL<br />
Die Städte machen davon extensiv Gebrauch:<br />
Mehrere Dutzend Großstädte haben<br />
inzwischen eigene Sammlungen, unter<br />
den kleineren Gemeinden sind es noch viel<br />
mehr. Den freien Unternehmen bleibt dagegen<br />
nur der Gang vor Gericht. An fast allen<br />
deutschen Verwaltungsgerichten werden<br />
inzwischen Streitigkeiten zwischen<br />
Entsorgungsunternehmen und Stadtverwaltungen<br />
ausgetragen, mal obsiegen die<br />
Städte, mal die Sammler. „Die Rechtslage ist<br />
ziemlich unübersichtlich“, sagt Verbandsvertreter<br />
Lacher. Gerade hat das Verwaltungsgericht<br />
München dem Landkreis<br />
Landsberg am Lech untersagt, die gewerblichen<br />
Entsorger aus dem Markt zu drängen.<br />
Die Unternehmen genössen Vertrauensschutz.<br />
Anderswo wird es den Städten erlaubt.<br />
Bis eine höchstrichterliche Entscheidung<br />
ergeht, wird der Gang vor Gericht ein<br />
offenes Spiel bleiben. Gerade deshalb aber<br />
scheuen sowohl Verwaltungen als auch Unternehmen<br />
den Gang durch die Instanzen:<br />
Solange alles unklar ist, können beide Seiten<br />
ihr Glück zumindest mal versuchen.<br />
Horst Tschöke hat noch eine andere Reaktion<br />
beobachtet. „Seit einige unserer<br />
Nachbarstädte begonnen haben, gegen Altkleidercontainer<br />
vorzugehen, tauchen<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 19<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
»<br />
bei uns in Herne immer mehr auf.“ Die<br />
karitativen Sammler hingegen setzen zumeist<br />
noch auf Kooperation. Immerhin haben<br />
sie das starke Argument der guten Tat.<br />
Damit gelingt es ihnen, den Städten zumindest<br />
einzelne Stellplätze oder einen Anteil<br />
an den Einnahmen abzuringen. Doch je<br />
größer die Haushaltsnot ist, desto geringer<br />
wiegen diese Argumente. Oder, wie es die<br />
Monopolkommission in ihrem aktuellen<br />
Bericht ausdrückt: „Kommunale Entsorger<br />
weiten ihre unternehmerischen Tätigkeiten<br />
in jüngster Zeit deutlich aus. Im Ergebnis<br />
werden die vorrangigen Ziele der veränderten<br />
Regelungen zu gewerblichen Sammlungen<br />
– die Stärkung des Wettbewerbs sowie<br />
eine Verbesserung der Qualität und Quantität<br />
des Recyclings – gerade nicht erreicht.“<br />
IV. Asymmetrische Information<br />
Auch wenn ihr Geschäft in Gefahr gerät, zumindest<br />
ein wenig Schadenfreude könnte<br />
den gewerblichen Sammlern am Ende bleiben.<br />
Denn die Mühlen der Verwaltung malen<br />
langsam. So vergeht zwischen der Entscheidung<br />
der Stadt Herne, in die<br />
Altkleiderentsorgung einzusteigen, und der<br />
Aufstellung des ersten Containers, mehr als<br />
ein halbes Jahr. Und damit gehört die Stadt<br />
noch zu den schnelleren. Doch während die<br />
Verwaltung prüft, genehmigt und vollzieht,<br />
stehen auch die Absatzmärkte nicht still.<br />
Die beiden Sprösslinge Frank und Wolfgang<br />
der Familie Dohmann sind Dortmunder<br />
Lumpensammler seit 1926. Einst verarbeiteten<br />
sie alte Textilien zu Rohrdichtungen<br />
für die Schwerindustrie. Doch mit dem<br />
Niedergang der Industrie geriet auch ihr<br />
Geschäftsmodell in Gefahr. Sie entdeckten,<br />
dass sie mit den Textilien deutlich mehr<br />
verdienen konnten, wenn sie die brauchbaren<br />
Teile weiterverkauften. Verträge mit<br />
den Wohltätigkeitsorganisationen der Region<br />
sichern ihnen heute einen zuverlässigen<br />
Zustrom an Waren. Ihre Aufgaben haben<br />
die beiden klar aufgeteilt: Wolfgang<br />
Dohmann kümmert sich zu Hause darum,<br />
dass die Sortieranlage stets Futter bekommt.<br />
Frank Dohmann, sein jüngerer<br />
Bruder, ist der Weltenbummler mit Kontakten<br />
zu Händlern und Häfen in Afrika<br />
und Asien. Wenn es gut läuft, reist er dafür<br />
zwei- oder dreimal im Jahr nach Daressalam.<br />
Aber gut läuft es gerade nicht, deshalb<br />
ist Dohmann fast permanent in Afrika. „In<br />
Ostafrika dominieren Südkoreaner und<br />
Chinesen den Markt“, klagt Dohmann, „die<br />
haben uns die Preise verdorben.“<br />
Was deutsche Kämmerer noch nicht ahnen:<br />
Westliche Händler drohen im Handel<br />
Wo gestern noch<br />
ein Vorgarten<br />
war, stehen heute<br />
Altkleidercontainer<br />
Mülltonne oder Goldgrube? Städtischer<br />
Altkleidercontainer in Köln<br />
mit Gebrauchtklamotten ins Hintertreffen<br />
zu geraten. Schon vor rund zehn Jahren<br />
gab es einmal einen heftigen Preiseinbruch,<br />
als die Ostafrikaner reihenweise auf<br />
importierte Neuware von chinesischen<br />
Herstellern umstellten. Die Qualität dieser<br />
Waren erwies sich jedoch als so minderwertig,<br />
dass viele Kunden wieder auf europäische<br />
Zweitware umstiegen.<br />
Nun hat die Konkurrenz dazugelernt, die<br />
günstigen Neuwaren sind besser geworden.<br />
Hinzu kommt: Allein China produziert<br />
jedes Jahr für den eigenen Markt 43<br />
Millionen Tonnen Kleidung – und jährlich<br />
landen 26 Millionen in der Tonne. Langsam<br />
beginnt man auch dort, die gebrauchten<br />
Klamotten weiterzuverwenden. Da die<br />
Transport- und Logistikkosten deutlich<br />
niedriger als in Europa liegen, kommt<br />
die getragene Ware gut 30 Prozent günstiger<br />
in Afrika an.<br />
In Daressalam lagern Dohmanns „Mitumba“-Packen<br />
aus den Malteser-Containern<br />
mit ihren rund 40 Kilogramm Gewicht<br />
direkt neben asiatischen Ballen mit<br />
dem doppelten Gewicht. Der Preis ist fast<br />
der gleiche. In einer Holzhütte mitten im<br />
Markt von Daressalam sitzt Ali Mualim<br />
Urembu. Der kahle Mittfünfziger ist am<br />
Markt von Mchikichnini einer der wichtigsten<br />
Männer, er leitet die Abteilung für<br />
Gebrauchtwaren. „Der Stückwaren-Absatz<br />
läuft gut, aber die Qualität der Waren wird<br />
immer schlechter, und die Margen sinken“,<br />
sagt der Marktmanager. „Die Großhändler<br />
drücken billige Klamotten aus China und<br />
Südkorea in den Markt“, sagt er. Wer Europas<br />
Mitumba kaufen wolle, habe schlechte<br />
Karten: „Unsere Großimporteure arbeiten<br />
fast nur noch mit Asiaten zusammen, weil<br />
auch für sie die Gewinne dabei größer<br />
sind“, erzählt Urembu.<br />
LILA FÜR DIE LADYS<br />
Ähnliches berichtet Silvano Nyakapala, der<br />
auf verschlungenen Pfaden zu seinem Verkaufsstand<br />
führt. Flink bewegt er sich<br />
durch den verwinkelten Markt aus Tausenden<br />
Blechcontainern und Holzhütten. Er<br />
springt über Pfützen, biegt links und rasch<br />
wieder rechts ab. „Ich kaufe kaum noch<br />
Ware aus Europa, weil die Größen für unsere<br />
Frauen zu groß sind“, sagt der Händler.<br />
„Außerdem tragen die Asiaten gern lila, so<br />
wie unsere afrikanischen Ladys.“<br />
Der Altkleidermarkt ist heute zwar globalisiert<br />
wie jeder andere, aber der Gang<br />
von Informationen ist hier nach wie vor ein<br />
ziemlich unübersichtlicher. Da es keine<br />
zentralen Handelsplattformen oder Börsen<br />
gibt, verbreiten sich Preise nur über informelle<br />
Wege. Mit anderen Worten: Wer keinen<br />
Kontakt in Daressalam hat, der erfährt<br />
viel zu spät, wie es um seine Absätze steht.<br />
Für Horst Tschöke könnte die ganze Geschichte<br />
daher noch zu einem großen Ärgernis<br />
werden. Er investiert gerade in Container,<br />
bald auch in Fahrzeuge und Personal.<br />
Wenn die Preise wie prophezeit sinken,<br />
würde all das die ohnehin hoch verschuldete<br />
Stadt weiter belasten.<br />
Der Berliner Hafenplatz mit seinen vielen<br />
Containern ist kein Schmuckstück in<br />
der schmucken Hauptstadt. Seinen vielversprechenden<br />
Namen hat er aus einer Zeit,<br />
als hier noch Waren umgeschlagen wurde,<br />
das einstige Hafenbecken aber ist längst<br />
zugeschüttet, ein reizloser Park und eine<br />
donnernde Hauptstraße sind an die Stelle<br />
getreten. Als Reiseziel für lernwillige Ökonomen,<br />
geläuterte Stadtkämmerer und gegängelte<br />
Unternehmer aber ist er trotzdem<br />
eine Reise wert. Ein bisschen dreckig, aber<br />
mit viel Freiheit und Profitchancen für jeden,<br />
der sich streckt. Richtig schön kapitalistisch<br />
eben.<br />
n<br />
konrad.fischer@wiwo.de, florian willershausen | Berlin<br />
FOTO: PICTURE-ALLIANCE/DPA<br />
20 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Weg nach unten<br />
FDP-Bürgermeister<br />
und Hobbyschatzsucher<br />
Haustein<br />
Des einen Abstieg<br />
PARTEIEN | In Sachsen zeichnet sich ab: Wo die FDP geht, kommt die AfD. Fehlt am Ende<br />
trotzdem eine wirtschaftsliberale Partei? Erkundungen im Erzgebirge.<br />
FOTO: AGENTUR FOCUS/JONAS WRESCH<br />
Heinz-Peter Haustein ist ein FDP-Politiker<br />
aus dem Grenzort Deutschneudorf<br />
im Erzgebirge, und er<br />
schaut nur ein bisschen verdutzt, als der<br />
Mann neben ihm beginnt, Hakenkreuze<br />
auf die Holzkiste zu sprühen, die er gleich<br />
mit sich herumtragen soll. Er kommentiert<br />
achselzuckend: „Wenn es unserer Sache<br />
dient...“ Man ist geneigt, das als Symbol dafür<br />
zu verstehen, dass der siechenden Partei<br />
inzwischen jedes Mittel recht ist, um ihr<br />
Überleben zu sichern. Doch diese Geschichte<br />
ist ein bisschen komplizierter.<br />
2009 war das mittlere Erzgebirge stärkster<br />
Wahlkreis der FDP in ganz Sachsen,<br />
14,8 Prozent der Stimmen holte die Partei<br />
hier. Bei der Europawahl im Mai reichte es<br />
nur zu 2,6 Prozent, stattdessen landete die<br />
AfD bei 11,4 Prozent – eines der besten Ergebnisse<br />
bundesweit. Können diese Zahlen<br />
lügen? In Sachsen wird am kommenden<br />
Sonntag gewählt. In Dresden sitzt die<br />
letzte Landesregierung mit FDP-Ministern,<br />
für die AfD ist es die erste Landtagswahl<br />
seit Gründung. In aktuellen Umfragen liegt<br />
die FDP bei drei, die AfD bei mindestens<br />
sechs Prozent. Ein Wachwechsel wäre wegweisend<br />
für die deutsche Parteienlandschaft.<br />
Die junge Partei, die sich als die Bewegung<br />
des „gesunden Menschenverstands“<br />
preist und mit deren Verortung<br />
sich Medien und Konkurrenten schwertun,<br />
würde das in die Mitte des Parteienspektrums<br />
bugsieren, die siechende FDP könnte<br />
es vernichten. Sollte es so kommen, in<br />
der einstigen FDP-Hochburg Erzgebirge<br />
müsste man es am deutlichsten sehen.<br />
Herr Haustein hält nicht viel von diesem<br />
Zusammenhang. Lieber spricht er über die<br />
Rechts ist die Überholspur<br />
Wahlergebnisse in Sachsen (in Prozent)<br />
FDP<br />
AfD<br />
12,3<br />
2009<br />
Landtagswahl<br />
3,1<br />
6,8<br />
2013<br />
Bundestagswahl<br />
Quelle: Statistisches Landesamt Sachsen,<br />
Bundeswahlleiter<br />
2,6<br />
10,1<br />
2014<br />
Europawahl<br />
NPD. Die Rechtsradikalen werden in diesem<br />
Jahr wohl deutlich schlechter abschneiden<br />
als 2009, da sei doch klar, woher die Zuwächse<br />
der AfD kämen. Haustein ist nicht nur<br />
Bürgermeister in seinem Heimatörtchen<br />
Deutschneudorf, er ist auch Unternehmer<br />
und anerkannter Tausendsassa in der Region.<br />
Wenn die Fußballprofis der Zweitligamannschaft<br />
Erzgebirge Aue ins Stadion laufen,<br />
prangt auf der Werbebande die Anzeige<br />
für „Haustein Aufzüge“. Einen alten Stollen<br />
im Ort hat er zum Besucherbergwerk umgebaut,<br />
es ist eine Touristenattraktion, sogar<br />
das Bernsteinzimmer vermutet er in seinem<br />
Stollen. Auf seinem Betriebsgelände im Ort<br />
hat er einen Pfosten montiert, an dem in<br />
Wegweiser-Optik Holzlatten in verschiedene<br />
Richtungen weisen. Darauf eingeritzt sind<br />
Hausteins Erfolge. „Bundestagsabgeordneter“<br />
steht da, „Schatzsucher“, „Chef Elektro“<br />
und natürlich „Bürgermeister“.<br />
Seit 1994 ist er das. „Ich denke die Leute<br />
hier honorieren, dass ich mich immer voll<br />
und ganz für das Dorf eingesetzt habe.“<br />
Haustein ist einer dieser erfolgreichen<br />
FDP-Politiker, die selten geworden sind in<br />
diesem Land. Er ist der wichtigste, der<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 21<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Alleine stark Landeschef Volker Zastrow auf einem Plakat der FDP<br />
»<br />
einzige Arbeitgeber im Ort. Wer Haustein<br />
wählt, der wählt den Glauben daran,<br />
dass der tüchtige Unternehmer der bessere<br />
Politiker ist. Wer seinen eigenen Laden im<br />
Griff hat, der kann auch ein Land nach vorne<br />
bringen. So haben FDP-Erfolge früher<br />
oft funktioniert, in der Vor-Spaßpartei-Zeit.<br />
Da war die Partei eine der Vorbilder.<br />
EINFACHE REZEPTE<br />
In Deutschneudorf klappt das immer<br />
noch. Bei der jüngsten Bürgermeisterwahl<br />
holte Haustein 597 der 607 abgegebenen<br />
Stimmen. Dass er seinen Erfolg in die Gegenwart<br />
gerettet hat, liegt auch daran, dass<br />
er nicht gerade das ist, was man einen klassischen<br />
Liberalen nennen würde. Wenn er<br />
über Wirtschaftspolitik spricht, ist er<br />
schnell bei den ganz einfachen Rezepten.<br />
Griechenlands Probleme? „Es kann doch<br />
nicht sein, dass die da unten jeden Abend<br />
eine Party feiern und von unserem Geld die<br />
Wohnungen in Berlin kaufen.“ Lösung?<br />
„Man hätte die gleich am Anfang rausschmeißen<br />
müssen.“ Auch an der aktuellen<br />
Regierung lässt er kein gutes Haar. Die Politik<br />
in Deutschland gehe „immer mehr in<br />
Richtung Kommunismus“, sagt Haustein.<br />
Vielleicht ist das einer der großen Trugschlüsse,<br />
den die FDP noch erkennen<br />
muss. Nur weil sie sich auf dem Programmpapier<br />
eine liberale Partei nennt, heißt das<br />
nicht, dass sie auch eine Partei der Liberalen<br />
ist. Und genau das wird in diesen Tagen<br />
zum Problem. Denn in der Politküche der<br />
einfachen Rezepte ist jemand, der die Sache<br />
besser kann: die AfD.<br />
Carsten Hütter ist es, der 2014 in Hausteins<br />
Territorium jagen will. Hütter ist seit<br />
einiger Zeit stellvertretender Landesvorsitzender<br />
der AfD, im Erzgebirge ist er Spitzenkandidat.<br />
Ansonsten führt er einen Kfz-<br />
Ersatzteilhandel in Marienberg, eine halbe<br />
Autostunde von Hausteins Dorf entfernt.<br />
Auf dem marktplatzgroßen Hof stehen in<br />
langen Reihen aufgebockte Autoleichen.<br />
Aus denen bauen Hütters Leute brauchbare<br />
Ersatzteile aus, der Rest kommt in die<br />
Schrottpresse. Die Teile selbst verkauft<br />
Hütter im Internet weiter. Besitzer alter<br />
Subaru-Modelle kennen den Mann, politisch<br />
Interessierte bisher eher nicht.<br />
Doch das dürfte sich ändern, zumindest<br />
im Erzgebirge. Erreicht die Partei sieben,<br />
acht Prozent bei der Wahl, dann wird Hütter<br />
in einigen Wochen im Dresdner Landtag<br />
sitzen. Schon jetzt hat er sein Büro zum<br />
AfD-Treffpunkt umgestaltet, die Tischdekoration<br />
wird durch eine Deutschlandfahne<br />
abgerundet. Wenn er über Wirtschaftspolitik<br />
spricht, ähneln seine Sätze denen<br />
von Haustein. Die Euro-Rettung? „Wir finanzieren<br />
den Südländern, dass sie über<br />
ihren Verhältnissen leben.“ Brüssel? „Ein<br />
bürokratischer Apparat ohne ausreichende<br />
demokratische Legitimation.“ Wenn Hütter<br />
sich erst mal in Rage redet, ist er kaum<br />
Die AfD bietet<br />
ein glitzerndes<br />
Kaleidoskop der<br />
Ressentiments<br />
Schnelle Alternative AfD-Landeschefin Frauke Petry unterwegs<br />
noch zu stoppen. Dann zeigt sich ein entscheidender<br />
Unterschied zwischen der<br />
FDP, wie sie in Sachsen erfolgreich war,<br />
und der AfD. Bei der FDP war mit den einfachen<br />
Rezepten jenseits der Steuerpolitik<br />
Schluss. Die AfD aber bietet ein Kaleidoskop<br />
der Ressentiments: Egal, von welcher<br />
Seite man es betrachtet, es glitzert immer.<br />
Zum Pressegespräch hat AfD-Mann Hütter<br />
Julien Wiesemann mitgebracht. „Er ist<br />
noch ein junger Mann, aber wir wollen ihm<br />
die Chance geben, zu lernen“, sagt Hütter.<br />
Seit Juni ist Wiesemann Pressesprecher der<br />
Landespartei. In seinem Job mag er neu<br />
sein, trotzdem steht er bereits für eine ganz<br />
spezielle Art von Gratwanderung, die Erfolg<br />
und Streitbarkeit der AfD erklären.<br />
Denn Wiesemanns politische Karriere<br />
bei der AfD ist bereits seine zweite. Zuvor<br />
war er bei der Partei „Die Freiheit“, einer<br />
rechten Splittergruppe, aktiv. Auf seinem<br />
Facebook-Profil bezeichnet er sich als<br />
„rechtskonservativ wie die FPÖ“ und stellt<br />
klar: „Moschee & Islam gehört nicht zu<br />
Deutschland.“ Besonders aktiv ist Wiesemann<br />
auf den Facebook-Seiten der „Patriotischen<br />
Plattform“ einer nationalkonservativen<br />
Gruppe, die nicht direkt mit der<br />
AfD verbunden ist, aber aus Mitgliedern<br />
besteht. Per „Like-Button“ drückt Wiesemann<br />
hier seine Zustimmung zu kryptischen<br />
Statements wie „Dem Vaterland die<br />
ganze Kraft“ aus. Drei seiner Facebookund<br />
Parteifreunde luden jüngst den FPÖ-<br />
Politiker Andreas Mölzer zu einer Podiumsdiskussion<br />
ein. Der Mann steht selbst<br />
in seiner Partei am rechten Rand, die EU<br />
hat er einmal als „Negerkonglomerat“ bezeichnet.<br />
Die Stellungnahme von Wiese-<br />
FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/DPA, IPON/STEFAN BONESS<br />
22 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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mann ist typisch AfD: „Begriffe wie ‚Negerkonglomerat‘<br />
sind nicht die Wortwahl der<br />
AfD.“ Auf die Veranstaltung selbst habe<br />
man keinen Einfluss, heißt es zunächst –<br />
obwohl die Organisatoren AfD-Kandidaten<br />
sind. Als der politische Druck steigt,<br />
wird die Veranstaltung dann mit Verweis<br />
auf ein „akutes Augenleiden“ des Österreichers<br />
abgesagt.<br />
LABEL DER MEINUNGSFREIHEIT<br />
Beispiele wie diese findet man reihenweise<br />
in der AfD. Unter dem Label der Meinungsfreiheit<br />
finden radikale Gestalten ihre Öffentlichkeit<br />
in der Partei, ohne Teil dieser<br />
zu sein. So sammelt die AfD extreme Meinungen<br />
ein, ohne für die Mitte der Gesellschaft<br />
unwählbar zu werden. Das macht es<br />
so schwierig, die Wähler im politischen<br />
Spektrum zu verorten. Im Sachsen-Wahlkampf<br />
zeigt sich aber, dass es zunehmend<br />
enttäuschte Konservative sind, die sich<br />
hier sammeln. Wie der Neupolitiker Carsten<br />
Hütter war auch Uwe Wurlitzer früher<br />
in der CDU aktiv, heute ist er Generalsekretär<br />
der AfD für Sachsen. Welches Thema<br />
hat ihn zur AfD gelockt? „Ganz klar, die<br />
Ausländerpolitik!“ Es folgt ein längerer Vortrag,<br />
der bei alten CDU-Positionen anfängt<br />
und auf dem Grat endet, auf dem auch<br />
Pressesprecher Wiesemann balanciert. „Es<br />
kann doch nicht sein, dass man schon als<br />
rechts gilt, wenn man nur eine Deutschlandfahne<br />
hisst.“ Oder: „Die Polizei ist auf<br />
dem linken Auge blind.“ Er fordert mehr<br />
Beamte an den Grenzen, Volksabstimmungen<br />
über Minarette und Familienförderung<br />
statt Genderpolitik. Wer unzufrieden<br />
mit seiner eigenen Lage und der heutigen<br />
Gesellschaft insgesamt ist, der findet<br />
bei der AfD ein viel breiteres Angebot, als<br />
es die FDP je bieten konnte.<br />
Für Heinz-Peter Haustein ist das nicht<br />
mehr von Bedeutung. Seit er im Herbst<br />
sein Bundestagsmandat verloren hat, zieht<br />
er sich Schritt für Schritt aus der Politik zurück,<br />
bei der Landtagswahl tritt er nicht an.<br />
Werbung macht Haustein nur noch für sich<br />
selber, so auch mit den Hakenkreuz-Kisten.<br />
Die trägt er für das amerikanische<br />
Fernsehen durch den Stollen. Für eine<br />
Bernsteinzimmer-Dokumentation sind die<br />
Journalisten des Travel Channel ins Erzgebirge<br />
gereist, da mimt Haustein gern den<br />
Schatzsucher. Es könnte ja Touristen ins<br />
Erzgebirge bringen. Da verbleibt noch<br />
mehr Hoffnung als für seine Partei. n<br />
konrad.fischer@wiwo.de<br />
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WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 23<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
SACHSEN-WAHL<br />
Lieber Juniorpartner<br />
als Daueropposition<br />
Die CDU in Sachsen hofft auf eine absolute Mehrheit im Landtag. Doch<br />
die kleineren Parteien geben die Hoffnung aufs Mitregieren nicht auf.<br />
Wenn Sachsens Ministerpräsident Stanislaw<br />
Tillich (CDU) und Holger Zastrow, der<br />
Landesvorsitzende der FDP, über ihre gemeinsame<br />
Koalition sprechen, dann klingt<br />
das selbst in Wahlkampfzeiten nahezu<br />
identisch. „Es gab und gibt einen großen<br />
Unterschied zwischen der schwarz-gelben<br />
Koalition im Bund und hier“, sagt etwa der<br />
CDU-Mann. „Wir haben uns in Sachsen<br />
nicht in erster Linie mit uns selbst beschäftigt,<br />
sondern mit den Aufgaben, die<br />
zu lösen waren.“ Und Zastrow wird nicht<br />
müde darauf hinzuweisen, dass er mit der<br />
Bundes-FDP „nicht in einen Topf geschmissen“<br />
werden mag: „Im Gegensatz<br />
zur Berliner FDP haben wir unseren Koalitionsvertrag<br />
zu 100 Prozent erfüllt. Wir haben<br />
Wort gehalten.“ Entsprechend sagt<br />
Tillich mit zufriedenem Stolz, er sehe „keine<br />
Notwendigkeit“ für einen Regierungswechsel.<br />
„Die Zusammenarbeit mit der<br />
FDP war gut, ich blicke auf gute fünf Jahre<br />
für Sachsen zurück.“<br />
KOPIERTE SLOGANS<br />
Und doch ist der lobende Ministerpräsident<br />
Tillich das größte Risiko für die sächsischen<br />
Liberalen: Denn ihr bisheriger Koalitionspartner<br />
setzt voll auf die absolute<br />
Mehrheit der Mandate. Riskant ist das für<br />
die CDU nicht. Ganz offen gibt er die Parole<br />
aus: „Ich bin sehr zuversichtlich,<br />
dass wir nach der Landtagswahl eine Option<br />
für Koalitionsgespräche mit FDP,<br />
SPD und Grünen haben werden.“ Ganz<br />
nach dem Vorbild der Bundesvorsitzenden<br />
Angela Merkel kopiert Tillich die Slogans<br />
der Konkurrenz. „Für gute Arbeit“ prangt<br />
auf seinen Postern – „gute Arbeit“ hatte die<br />
SPD im Bundestagswahlkampf plakatiert.<br />
Sein großes Plus: Alle drei potenziellen<br />
Partner wären heilfroh, wenn er sie denn erwählen<br />
würde.<br />
Die Grünen-Spitzenkandidatin Antje Hermenau<br />
wartet schon lange auf ihre Chance,<br />
endlich mitzuregieren. Zwar ist sie mit diesem<br />
Kurs in den eigenen Reihen nicht mehr<br />
unumstritten, aber Juniorpartner ist besser<br />
als machtlose Daueropposition. Genauso<br />
sieht es Martin Dulig, der Vorsitzende der<br />
SPD. Für den jungenhaft wirkenden Sechsfach-Vater<br />
wäre der Posten als Vize-Regierungschef<br />
die beste, vielleicht die einzige<br />
Chance, mit Blick auf spätere Wahlen überhaupt<br />
im Land bekannt zu werden. Die Genossen<br />
sind derzeit begeistert von den Umfragen.<br />
Die verheißen, sie könnten ihr<br />
Wahlergebnis von 2009 um ein Drittel steigern.<br />
Klingt gewaltig, wäre aber eben nur<br />
ein Sprung von 10,4 auf 14 Prozent. Eine<br />
„große“ Koalition wäre Schwarz-Rot in<br />
Sachsen wahrlich nicht.<br />
Hier ist alles anders, sogar die FDP. Sie<br />
zelebriert ihren „sächsischen Weg“: konservativer,<br />
patriotischer, vor allem aber erheblich<br />
marktwirtschaftlicher als die Bundespartei<br />
und die politische Konkurrenz im<br />
Land. Als „wirtschaftsfreundlichste Regierung“<br />
Deutschlands preist Zastrow das<br />
schwarz-gelbe Bündnis. „Hier gibt es große<br />
Skepsis gegen die planwirtschaftliche<br />
Energiewende, den üblen Quotenrausch,<br />
eine staatliche Lohnfestsetzung.“ Schon<br />
bald würde in Sachsen der Fluch der Mindestlöhne<br />
spürbar werden, die Taxifahrer<br />
litten bereits darunter.<br />
Zastrow verweist mit Stolz auf die Spitzenergebnisse<br />
des Landes in Bildungsvergleichen<br />
und in der Haushaltspolitik, lobt<br />
die Investitionsquote von 18 Prozent,<br />
auch dies ein Rekord. Es komme auf die<br />
Liberalen an, denn „mit einem linken Koalitionspartner<br />
wird die CDU selber links<br />
– sieht man ja auf Bundesebene“. Und er<br />
wünscht sich die gesetzlichen Experimentierklauseln<br />
zurück, die in den ersten<br />
Nachwendejahren unbürokratischen Aufbau<br />
erlaubten. „Die Sattheit, das Wohlstandsdenken<br />
des Westens, lähmt ganz<br />
Deutschland, vor allem aber Sachsen.“<br />
FRONT GEGEN WINDRÄDER<br />
Seit Jahren streitet seine FDP in Veranstaltungen<br />
ihrer „Fortschrittsoffensive“<br />
gegen den Zeitgeist, gegen Klimawahn,<br />
Ökofimmel und Meinungsdiktate. „Ihr Auto<br />
würde uns wählen“, locken sie Staufrustrierte.<br />
Wie sonst keine Partei machte<br />
sie Front gegen Windräder, drängte den<br />
Partner CDU zu einer Bundesratsinitiative,<br />
um als Land einen Mindestabstand<br />
von Windrädern zur Wohnbebauung festlegen<br />
zu dürfen. Gerade ist der Passus<br />
mit dem EEG Gesetz geworden. Den entsprechenden<br />
Entwurf für die Umsetzung<br />
hat Wirtschafts- und Energieminister<br />
Sven Morlok (FDP) noch vorgelegt, mitten<br />
im Wahlkampf mochte die CDU den aber<br />
nicht mehr gegenzeichnen. Dafür freuen<br />
sich die Liberalen, dass nun Anti-Windkraft-Bürgerbündnisse<br />
blau-gelbe Wahlplakate<br />
aufhängen.<br />
n<br />
henning.krumrey@wiwo.de | Berlin<br />
Im Osten vorn<br />
Ostdeutsche Flächenländer im ökonomischen Vergleich<br />
Arbeitslosenquote<br />
(Juli 2014)<br />
Staatsverschuldung pro Kopf<br />
(2012)<br />
Bruttoinlandsprodukt pro Kopf<br />
(2013)<br />
Sachsen<br />
Mecklenburg-Vorpommern<br />
Brandenburg<br />
Sachsen-Anhalt<br />
Thüringen<br />
8,4 %<br />
10,4 %<br />
9,1 %<br />
10,3 %<br />
7,5 %<br />
2363 €<br />
6460 €<br />
8751 €<br />
9178 €<br />
7796 €<br />
24 226 €<br />
22 817 €<br />
23 751 €<br />
23 196 €<br />
23 168 €<br />
Quelle: BA, VGR der Länder, Haushaltssteuerung.de<br />
24 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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GLOBALER EXPERTE<br />
Lukjanow, 47, ist Chefredakteur<br />
der Moskauer<br />
Zeitschrift „Russland in der<br />
Weltpolitik“ und Präsidiumsmitglied<br />
des Russischen<br />
Rates für internationale<br />
Angelegenheiten (RIAC),<br />
einer Denkfabrik mit großem<br />
Einfluss auf den Kreml.<br />
FOTO: RIAC/YURII SERGEEV<br />
»Der Kreml kann<br />
nicht gewinnen«<br />
INTERVIEW | Fjodor Lukjanow Russlands außenpolitischer Vordenker<br />
erklärt, wie eine Lösung der Ukraine-Krise aussehen kann – und<br />
warum er sein Land weiterhin als Teil Europas ansieht.<br />
Herr Lukjanow, der Westen will Russland<br />
mit Sanktionen von der Einmischung<br />
in die Ostukraine abbringen. Warum funktioniert<br />
das nicht?<br />
Die Wirtschaftssanktionen sind zu kleinkalibrig.<br />
Und zum ersten Mal in der Geschichte<br />
will der Westen damit einen Politikwechsel<br />
in einem Land von der Größe<br />
Russlands erreichen. Eines, das auf Atomwaffen<br />
sitzt und Mitglied im Sicherheitsrat<br />
der UN ist. Vielleicht gelingt es dem Westen,<br />
Russland wirtschaftlich zu schaden.<br />
Politisch bewirken sie das Gegenteil: Die<br />
Popularität Putins steigt und steigt.<br />
Kürzlich schrieben Sie von einer neuen<br />
„Perestroika“ in der russischen Außenpolitik<br />
unter Präsident Wladimir Putin.<br />
Was meinen Sie damit?<br />
Viele Jahre hielt es Moskau für sinnvoll, sich<br />
den Regeln des Westens unterzuordnen –<br />
vorwiegend aus ökonomischen Gründen.<br />
Mit der Krim-Annexion hat Putin gezeigt,<br />
dass Russland entschiedener eigene Interessen<br />
vertritt. Im Zweifel auch gegen Verträge,<br />
die man in Russland als einseitige Regelsetzung<br />
des Westens sieht...<br />
...aber diesen Regeln hat Russland selbst<br />
zugestimmt. Etwa in Verträgen wie<br />
dem Budapester Memorandum, das die<br />
Ukraine zur Abgabe ihrer Atomwaffen<br />
verpflichtete und Russland zur Achtung<br />
der postsowjetischen Grenzen.<br />
Das Budapester Memorandum war eine<br />
Absichtserklärung, kein international bindender<br />
Vertrag, und wurde nie ratifiziert.<br />
Das Hauptziel der USA war damals nicht die<br />
territoriale Integrität der Ukraine, vielmehr<br />
wollte man den Abzug der Atomwaffen<br />
erreichen. Insofern hat niemand ernsthaft<br />
auf dessen Gültigkeit gesetzt. Erst als die<br />
Ukraine unter dem Präsidenten Viktor<br />
Juschtschenko der Nato ernsthaft beitreten<br />
wollte, kam Moskau auf dieses Memorandum<br />
zurück – als sicherheitspolitische<br />
Grundlage anstelle des Nato-Beitritts. Nur<br />
haben weder Kiew noch Washington damals<br />
das Abkommen ernst genommen.<br />
Und was Russland betrifft, so wurden Hoffnungen<br />
enttäuscht, als die Nato entgegen<br />
mündlicher Versprechen bis an die Grenzen<br />
Russlands erweitert wurde. Heute sieht man<br />
im Kreml einen Nato-Beitritt der Ukraine als<br />
existenzielle Bedrohung an. Auf der Krim<br />
geht es darum, russische Interessen und internationale<br />
Regeln neu auszutarieren. Das<br />
war ein riskantes, aber realpolitisch nachvollziehbares<br />
Manöver zur Verbesserung<br />
des Status Russlands in der Weltpolitik. Mit<br />
dem Krieg in der Ostukraine gerät diese<br />
Nachbarschaftspolitik aber außer Kontrolle:<br />
Russland ist da in einen Konflikt geraten,<br />
den der Kreml nicht gewinnen kann.<br />
Ist dem Kreml die Kontrolle über die<br />
Separatisten in der Ukraine entglitten?<br />
Es gibt einen gewissen politischen Einfluss,<br />
aber keine absolute Steuerung. Es ist<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 25<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
»<br />
ropa und die Ukraine Einfluss zu nehmen.<br />
Dass das im großen Stil funktioniert und<br />
die USA den Krieg vorantreiben, sehe ich<br />
im Moment noch nicht.<br />
Wird Russland jetzt immer wieder Regeln<br />
der internationalen Politik ignorieren?<br />
Nein, das glaube ich nicht. Die Russen sind<br />
einfach selbstbewusster. Im Kreml weiß<br />
man aber sehr genau, was die Weltgemeinschaft<br />
von Russland erwartet. Und die Kosten<br />
infolge der Krim- und Ukraine-Politik<br />
sind überaus groß, weshalb der Kreml künftig<br />
vorm Kräftemessen zurückschreckt.<br />
Sollten die Ukraine-Krise und die Sanktionspolitik<br />
aber zu einer neuen Block-Kon-<br />
„Deutschland muss vermitteln“<br />
Präsident Putin, Bundeskanzlerin Merkel<br />
»Die Russen sind<br />
einfach selbstbewusster<br />
geworden«<br />
auch eine Illusion, zu glauben, der Osten<br />
der Ukraine wäre sofort stabil, wenn<br />
sich Russland heraushalten würde. Es gab<br />
dort schon vorher alle Vorzeichen für einen<br />
sozialpolitischen Konflikt. Jetzt sehen wir<br />
einen Bürgerkrieg, den die russische Einflussnahme<br />
schlimmer macht. Aber getragen<br />
wird er vor allem von lokalen Kräften.<br />
Wird es dabei bleiben?<br />
Aus meiner Sicht wird es keinen Einmarsch<br />
russischer Truppen geben. Im Gegenteil,<br />
Moskau ist bereit, den Konflikt zu<br />
beenden. Aber das ist nicht so einfach: Es<br />
würde ja zu Hause aussehen, als ließe Putin<br />
die Freiheitskämpfer im Stich. Das wäre<br />
politisch ein Fiasko.<br />
Wie ließe sich der Konflikt denn lösen?<br />
Wir brauchen ein Paket an Abkommen<br />
zwischen der Ukraine, Russland und Europa.<br />
Erstens muss eine politische Lösung<br />
her, wie die Menschen im Osten innerhalb<br />
der Ukraine zivilisiert zusammenleben<br />
können. Das dürfte gewisse Autonomierechte<br />
erfordern. Zweitens muss ein Gas-<br />
Vertrag her – mit vernünftigen Preisen, realistischen<br />
Mengen und Transitvereinbarungen<br />
für Europa. Drittens muss die<br />
Blockfreiheit der Ukraine auf den Tisch.<br />
Viertens benötigt die Ukraine ein Programm,<br />
wie das Land ökonomisch zwischen<br />
Russland und Europa überleben<br />
kann. Alles, was in diesem Paket drin ist,<br />
wäre einzeln nur schwer zu erreichen. Aber<br />
zusammen könnte das gelingen.<br />
EU-Länder wie Polen und die Balten<br />
fürchten sich vor einer Einigung Berlins mit<br />
Moskau gegen den Willen der Ukrainer.<br />
Glauben Sie, eine zerstrittene EU wäre zum<br />
Kompromiss mit Russland fähig?<br />
Dann wird sich die EU eben zusammenreißen<br />
müssen! Eine einheitliche Einstellung<br />
wird es in Europa kaum geben. Die Menschen<br />
im Baltikum werden in Russland immer<br />
den schrecklichen Aggressor sehen.<br />
Darum müssen Länder wie Deutschland<br />
vorangehen und vermitteln. Die Alternative<br />
ist, dass der Krieg in der Ostukraine bis<br />
zur völligen Selbstzerstörung weitergeht.<br />
Was könnte Washington beitragen – oder<br />
sollten die USA sich heraushalten und auf<br />
den Irak konzentrieren?<br />
In Russland wird der Einfluss der Amerikaner<br />
auf die Ukraine systematisch überschätzt.<br />
Die USA sind weit weg, die Folgen<br />
des Konflikts treffen die Europäer. Für die<br />
USA geht es nicht um die Ukraine, sondern<br />
um Russland. Der Kreml ist aus Sicht der<br />
Amerikaner wieder zu einem Problem geworden,<br />
das man mit aller Härte anpacken<br />
will. In diesem Sinn versucht man, auf Eufrontation<br />
wie zu Zeiten des Kalten Kriegs<br />
führen, bliebe der russischen Führung<br />
nichts anderes übrig als die Suche nach<br />
neuen Partnern. Es gibt in der Welt mehr als<br />
genug Staaten, die die Weltordnung für ungerecht<br />
halten. Nur will keiner einen Widerstand<br />
gegen die Dominanz der Amerikaner<br />
in der Weltpolitik anführen. Diese Rolle<br />
könnte Russland übernehmen.<br />
Mit China will Putin die wirtschaftliche<br />
Zusammenarbeit massiv ausbauen.<br />
Entsteht da ein politischer Block gegen<br />
den Westen?<br />
Das ist kein Automatismus, aber eine Option.<br />
In Peking wird die politische Kooperation<br />
mit Moskau derzeit intensiv geprüft.<br />
Umgekehrt birgt dies für Russland aber<br />
enorme Risiken, da China größer und wirtschaftlich<br />
stärker ist.<br />
Stört es die Russen überhaupt nicht, dass<br />
sich ihr Land immer weiter <strong>vom</strong> Westen<br />
entfernt – und Asien zuwendet, einem<br />
völlig fremden Kulturraum?<br />
Ein großer Teil der russischen Gesellschaft<br />
verfolgt die Außenpolitik von Putin mit Enthusiasmus.<br />
Heute steht auch ein großer<br />
Teil jener urbanen Mittelschicht hinter Putin,<br />
die vor drei Jahren noch gegen ihn auf<br />
die Straße gegangen ist – darunter das gesamte<br />
linke und rechte Lager. Nur die Liberalen<br />
kritisieren die Politik, aber die spielen<br />
in Russland nur eine marginale Rolle.<br />
Ist Russland noch ein Teil Europas?<br />
Ich glaube nicht daran, dass Russland<br />
ernsthaft und auf Dauer in der Lage ist,<br />
sich <strong>vom</strong> Westen zu distanzieren. Schon<br />
wegen der intensiven ökonomischen Beziehungen.<br />
Optimal wäre es, wenn Russland<br />
diesen Unsinn zwar beendet – sich<br />
dabei aber innerhalb der westlichen Zivilisation<br />
die Eigenständigkeit bewahrt. So<br />
wie Brasilien: Die leugnen auch nicht ihre<br />
europäischen Wurzeln, leben aber in ihrer<br />
eigenen Welt.<br />
Was kann Europa tun, damit sich<br />
Russland uns wieder stärker annähert?<br />
Nichts. Denn genau das ist der Fehler. Der<br />
Westen sollte aufhören, Russland sein Wertemodell<br />
aufzuoktroyieren. Das westliche<br />
Demokratiemodell ist in Russland im Chaos<br />
der Neunzigerjahre gescheitert. Und<br />
zwar auch deshalb, weil viele hier geglaubt<br />
haben, dass Russland genauso werden<br />
muss wie Europa. Das wurde nichts, daran<br />
sind wir ebenso schuld wie der Westen. Wir<br />
sollten aufhören, uns Russland als ein riesiges<br />
Polen vorzustellen, das einfach nur<br />
viel länger braucht, bis es so demokratisch<br />
wird wie der Rest Europas. Europäische<br />
Werte sind doch auch kein Gesetzeswerk,<br />
einmal beschlossen und für immer gültig.<br />
Als Russland vor fast 20 Jahren dem Europarat<br />
beitrat, waren Rechte sexueller Minderheiten<br />
nicht so entscheidend wie heute.<br />
Die Europäer sollten nüchtern auf Russland<br />
blicken als ein Land, das der europäischen<br />
Kultur zwar nahesteht, aber es ist<br />
nicht Teil eines Werteraums, wie ihn die EU<br />
anstrebt.<br />
Und Putin ist ein lupenreiner Europäer?<br />
Auf jeden Fall ist Putin ein Europäer. Wie<br />
lupenrein er ist, das hängt wieder von der<br />
Sichtweise ab. Er steht dem europäischen<br />
Westen näher als Asien – allerdings einem<br />
Europa, so wie es vor einigen Jahrzehnten<br />
aussah. Ich glaube, er hätte sich großartig<br />
mit Bismarck, Churchill oder de Gaulle verstanden.<br />
Das waren Interessenpolitiker,<br />
keine Werte-Missionare wie die heutigen<br />
europäischen Politiker.<br />
n<br />
florian.willershausen@wiwo.de | Berlin<br />
FOTO: CORBIS IMAGES/ BELGA PHOTO<br />
26 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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FOTO: BLOOMBERG NEWS/BRENT LEWIN<br />
Der Luft zuliebe<br />
CHINA | Die Regierung will den Verkauf von Elektroautos fördern.<br />
Mit gutem Beispiel voran, lautet das<br />
Motto der chinesischen Regierung.<br />
Die hat sich vorgenommen,<br />
die Elektromobilität im Land zu fördern.<br />
Schon 2016 sollen 30 Prozent aller Dienstwagen<br />
der Kommunistischen Partei mit<br />
Strom angetrieben werden. Bei bisher mindestens<br />
500 000 neuen Dienstwagen pro<br />
Jahr ist das eine beachtliche Anzahl.<br />
2020 sollen laut aktuellem Fünfjahresplan<br />
fünf Millionen Elektroautos auf Chinas<br />
Straßen fahren. Ambitionierte Ziele<br />
braucht das Land, denn Chinas Städte ersticken<br />
im Smog. Die Luftverschmutzung<br />
führt zunehmend zu sozialen Unruhen.<br />
BEGEHRTE NUMMERNSCHILDER<br />
22 Millionen Fahrzeuge wurden 2013 in<br />
China verkauft. Das Auto ist für die meisten<br />
Chinesen nach wie vor das Statussymbol<br />
Nummer eins, auch wenn die wenigsten es<br />
in den dicht besiedelten Städten wirklich<br />
zur Fortbewegung nutzen können. Seit Jahren<br />
schon bezuschusst die Regierung den<br />
Kauf von Elektroautos. 50 000 Yuan, umgerechnet<br />
rund 6000 Euro, erhalten die Käufer<br />
eines E-Mobils rückerstattet. Auch eines der<br />
begehrten Nummernschilder erhalten sie<br />
sofort – wer dagegen einen Benziner kauft,<br />
muss an einer Lotterie teilnehmen und darauf<br />
hoffen, dass das Los ihm eine Zulassung<br />
beschert.<br />
Manchmal leicht entflammbar<br />
Chinesisches Elektroauto von BYD<br />
Experten sind trotzdem skeptisch, ob<br />
China das selbst gesteckte Ziel erreichen<br />
kann. Gerade einmal 17 000 E-Mobile wurden<br />
im vergangenen Jahr in China verkauft.<br />
70 000 dürften insgesamt auf Chinas<br />
Straßen unterwegs sein. Ein großes Manko<br />
der Elektroautos ist die geringe Reichweite.<br />
Die meisten Modelle schaffen es gerade<br />
mal 160 Kilometer weit. Ladestationen gibt<br />
es zu wenige. „Wer Licht, Radio und Klimaanlage<br />
laufen lässt und im Stau steht,<br />
könnte schnell ins Schwitzen kommen“,<br />
sagt Jochen Siebert von der Unternehmensberatung<br />
JSC in Shanghai.<br />
Zudem verschreckte der Hersteller BYD<br />
vor zwei Jahren viele potenzielle Käufer, als<br />
die Batterie eines Elektroautos in Flammen<br />
aufging. Die Insassen starben. Hoffnungen<br />
ruhen auf dem Denza, ein von Daimler<br />
und BYD entwickeltes Elektrofahrzeug, das<br />
dieses Jahr auf dem Markt kommen soll.<br />
Das Modell der kalifornischen Firma Tesla<br />
bringt es zwar auf 400 Kilometer Reichweite,<br />
ist aber mit rund einer Million Yuan<br />
(125 000 Euro) für die allermeisten Chinesen<br />
nicht erschwinglich. Hinzu kommen<br />
andere Probleme: Jedes Jahr gehen in China<br />
Gebäude in Flammen auf, weil Fahrer<br />
von Elektro-Bikes ihre Batterien in Häusern<br />
mit veralteter Elektrik aufladen. Das<br />
Problem dürfte sich mit Elektroautos nochmals<br />
verschärfen. Darüber hinaus fehlt ein<br />
gemeinsamer Standard für die Stecker:<br />
„Wer ein Elektroauto in Peking kauft, kann<br />
es vielleicht in Shanghai gar nicht aufladen“,<br />
sagt Siebert.<br />
DRECKIGER STROM<br />
Und um das Problem der Luftverschmutzung<br />
zu lösen, sind Elektroautos ohnehin<br />
nur bedingt hilfreich: Rund 70 Prozent von<br />
Chinas Energie kommt aus teils veralteten<br />
Kohlekraftwerken. Die aber sind der<br />
Hauptverursacher des Smogs in Chinas<br />
Städten. Saubere Autos, die mit dreckigen<br />
Strom betrieben werden, können das Luftverschmutzungsproblem<br />
nicht lösen.<br />
Und gegen den Stau helfen nur weniger<br />
Autos. Da lässt eine andere Ankündigung<br />
der Regierung hoffen: Ab sofort soll es<br />
Dienstwagen nur noch für Parteikader ab<br />
dem Rang eines Vize-Ministers geben. Alle<br />
anderen Parteifunktionäre erhalten Gutscheine,<br />
um mit Taxi, Straßenbahn oder<br />
Bus zur Arbeit zu kommen. Wenn das mal<br />
kein Fortschritt ist!<br />
n<br />
philipp.mattheis@wiwo.de | Shanghai<br />
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Politik&Weltwirtschaft<br />
Deutsche Soldaten in den Irak?<br />
VERANTWORTUNG | Das Für und Wider eines bewaffneten Einsatzes zum Schutz religiöser<br />
Minderheiten vor dem Massenmord durch islamische Fundamentalisten diskutieren die<br />
WirtschaftsWoche-Redakteure Hans Jakob Ginsburg und Andreas Wildhagen.<br />
Schaurig ist der sogenannte Islamische<br />
Staat, der im Irak und in Syrien morden,<br />
vergewaltigen und plündern lässt. Die letzten<br />
Spuren von Ordnung verschwinden in<br />
einer Region, von der – das muss gesagt<br />
werden – die Energieversorgung der Welt<br />
immer noch abhängt. Der Kalifatstaat<br />
kennt keine Grenzen, nicht nur im Nahen<br />
Osten: Dschihad-Touristen aus Europa lassen<br />
sich dort zu Mördern ausbilden, Rückflugtickets<br />
und Anschlagspläne gibt es offenbar<br />
schon. Al-Qaida war gestern, die<br />
Bedrohung Europas durch Gefolgsleute<br />
des Kalifen Ibrahim ist noch unheimlicher.<br />
In aller Öffentlichkeit, protokolliert auch in<br />
sozialen Medien, hat der Massenmord an<br />
religiösen Minderheiten begonnen.<br />
Die Welt muss handeln, aus Mitmenschlichkeit<br />
und im eigenen Interesse. Das ist<br />
Pro<br />
Hans Jakob<br />
Ginsburg<br />
Kein moralisches<br />
Problem: Warum<br />
Deutschland die<br />
Bundeswehr in den<br />
Nordirak schicken<br />
muss<br />
kein Ukraine-Konflikt, wo Wirtschaftssanktionen das ultimative<br />
Instrument bleiben werden, keine geografisch begrenzte Angelegenheit<br />
wie der Kosovo-Konflikt vor anderthalb Jahrzehnten, das<br />
lässt sich auch nicht an den großen Immer-noch-Verbündeten in<br />
Washington delegieren.<br />
Gewiss, Amerika lässt seine Drohnen im Nordirak los und versorgt<br />
die Kurden mit Waffen. Alles aber halbherzig – Präsident<br />
Barack Obama versucht, seine Soldaten aus nahöstlichen Verwicklungen,<br />
so weit es geht, herauszuhalten. Das ökonomische und<br />
geostrategische Interesse der USA gilt jetzt Ostasien. Der Nahe Osten<br />
ist das Spielfeld der Europäer, auch wenn wir keine Lust haben,<br />
anzutreten. Und Europa – das heißt in vorderster Linie Deutschland.<br />
KEINE WAFFENEXPORTE FREI HAUS<br />
Also deutsche Waffen für die Kurdenarmee der Peschmerga? Westliche<br />
Rüstungsexporte in den Orient haben kaum je ihr Ziel erreicht:<br />
Bestenfalls konnten die Empfänger wenig damit anfangen,<br />
siehe Afghanistan, und immer wieder geriet das Material in ganz<br />
falsche Hände. Die Banden des Kalifen, schlimmstes Beispiel, sind<br />
vor allem darum so bedrohlich, weil sie die Arsenale ihrer von den<br />
USA ausgerüsteten Feinde geplündert haben. Und sollten die Peschmerga<br />
tatsächlich den bösen Feind dank westlicher Waffen<br />
schlagen, könnten sie das Kriegsmaterial anschließend in den<br />
Nachbarstaaten ausprobieren: Immerhin werden im Iran und in<br />
der Türkei Millionen Kurden diskriminiert. Waffenexporte frei<br />
Haus der Kurdenregierung in Arbil können es also nicht sein.<br />
Wenn Deutschland den Kampf gegen den Kalifatstaat mittragen<br />
will, führt darum nichts an der Entsendung von Soldaten vorbei.<br />
Das wird kein Spaß, das kann frustrierend und schlimm enden wie<br />
in Afghanistan, und ohne politischen und wirtschaftlichen Flankenschutz<br />
wäre das sogar wahrscheinlich. Aber was sonst soll die<br />
Rede von deutscher Verantwortung sonst noch bedeuten?<br />
Contra<br />
Andreas<br />
Wildhagen<br />
Kein Fall für<br />
deutsche Soldaten.<br />
Warum es keinen<br />
Grund gibt für<br />
ein militärisches<br />
Abenteuer<br />
Deutschland muss „Verantwortung übernehmen“.<br />
Bundeswehr an die nordirakische<br />
Front! Die bellizistische Forderung<br />
meines Kollegen Hans Jakob Ginsburg<br />
reiht sich ein in einen Chor von Appellen,<br />
die seit einigen Wochen eisern dazu auffordern,<br />
die Bundesrepublik müsse endlich<br />
weltpolitisches Format zeigen und<br />
sich aus der moralischen Schockstarre der<br />
Nachkriegszeit emanzipieren.<br />
Kriegerische Worte und ein gewisser<br />
Stolz, sich einzureihen in die Phalanx, der<br />
„Genug ist genug“-Menschen, die mit dem<br />
Finger am Abzug gegen Völkermord und<br />
Vergewaltigungen zu Felde ziehen wollen,<br />
gehören mittlerweile zum Grundrauschen<br />
in den Boulevardblättern und des öffentlich-rechtlichen<br />
Fernsehens. Dabei dient<br />
der Hinweis auf die deutsche Geschichte<br />
in unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Weise. Mal zur Warnung<br />
vor Kampfeinsätzen, mal zur Begründung derselben, um gegen<br />
Abscheulichkeiten in jedem Winkel der Welt zu Felde zu ziehen.<br />
Man kann dieses Argument also wegen seiner Beliebigkeit getrost<br />
weglassen und sollte es auch tun. Die aggressive Rhetorik, die vor<br />
Wochen mit der Krim-Krise begann, hat heute infolge der Verfolgung<br />
der Jesiden im Irak und des Isis-Terrors seinen aktuellen vorläufigen<br />
Höhepunkt gefunden.<br />
WAS IST DAS BÖSE?<br />
Verhandeln und Reden ist mittlerweile bei vielen Politikern verpönt.<br />
Viele Journalisten treiben das politische Berlin vor sich her.<br />
Es fing alles noch harmlos an, als Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel<br />
den Siemens-Chef Joe Kaeser attackierte, weil dieser im März<br />
den russischen Präsidenten Wladimir Putin in seiner Residenz besucht<br />
hat. Kaeser gehöre zu den „Krämerseelen“, wetterte Gabriel,<br />
Kaeser sei Materielles wichtiger als Menschenrechte. Wirtschaftspolitik<br />
mit Russland ist für Gabriel nur noch Sanktionspolitik.<br />
Fatal ist, dass die Front zwischen Feinden, Geldgebern im Hintergrund<br />
und Terroristen fließend ist. Das „Böse“ müsse bekämpft<br />
werden, forderte Ex-Außenminister Joschka Fischer kürzlich. Das<br />
„Böse“ ist aber gar nicht so böse, wenn es sich wie ein megareicher<br />
Scheich in Katar mit fünf Prozent an der Deutschen Bank beteiligt<br />
und dafür acht Milliarden Euro hinblättert. Aus Katar heraus finanzieren<br />
die Scheichs auch den Gaza-Streifen in inniger islamistischer<br />
Solidarität und unterstützen Isis-Kämpfer. Die Königshaus-Diktatur<br />
Saudi-Arabien, Handelspartner der USA und Deutschlands, ist<br />
ein Regime, das Ungläubige und Christen unterdrückt und den Terror<br />
in anderen Teil der Region finanziert. Solange niemand weiß,<br />
wo Freund und wo Feind stehen, solange der Nutzen eines möglichen<br />
Sieges über das aktuell Böse nicht klar ist, darf kein deutscher<br />
Soldat auch nur einen Schuss in den Krisenregionen abfeuern.<br />
FOTOS: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
28 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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FOTOS: CHRISTOPHER WOODS, WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, PHOTOTHEK/UTE GRABOWSKY<br />
LONDON | Großbritannien<br />
ist<br />
ein Pionier der<br />
Fortpflanzungsmedizin.<br />
Von<br />
Yvonne Esterházy<br />
Hallo,<br />
Designer-Baby?<br />
Das britische Unterhaus<br />
macht Pause, vor dem<br />
Parlament drängeln sich<br />
nur die Touristen. Ideale<br />
Zeiten, um heikle Pläne<br />
anzukündigen. So erfahren<br />
wir en passant, die Regierung wolle<br />
einen Gesetzentwurf einbringen, der erstmals<br />
den Weg für die Kreation eines Kindes<br />
mit drei biologischen Eltern – zwei<br />
Müttern und einem Vater – ebnen würde.<br />
Unheilbare Erbkrankheiten können verhindert<br />
werden, wenn man aus der unbefruchteten<br />
Eizelle einer Frau mit beschädigten<br />
Mitochondrien – dem Kraftwerk<br />
der Zelle – den Kern herauslöst und diesen<br />
in die entkernte Hülle einer gesunden<br />
Spender-Eizelle einsetzt.<br />
Kritiker warnen, das sei der erste<br />
Schritt zur Kreation von Designer-Babys.<br />
„Künftig könnte ein Gen durch ein anderes<br />
ersetzt werden, nur damit das Kind<br />
blonde Haare oder blaue Augen bekommt“,<br />
warnt die Tory-Politikerin Fiona<br />
Bruce. Doch da ist auch Sharon Bernardi,<br />
deren sieben Kinder an einer Erbkrankheit<br />
starben.<br />
Ethische Dilemma um die Fortpflanzungsmedizin<br />
sind den Briten nicht neu:<br />
Vor 18 Jahren wurde in Schottland als<br />
erstes geklontes Säugetier das Schaf Dolly<br />
geboren – was war das für eine Aufregung!<br />
Die Debatte um die Kreation künstlicher<br />
Menschen verlief ähnlich wie<br />
heute. Schon 1978 kam Louise Joy<br />
Brown, das erste Retortenbaby, in Großbritannien<br />
auf die Welt. Gegen die künstliche<br />
Befruchtung im Reagenzglas liefen<br />
damals viele Sturm. Heute ist sie schon<br />
(fast) Routine. In den nächsten Wochen<br />
eröffnet in der Londoner City die größte<br />
IVF-Klinik Europas.<br />
Yvonne Esterházy ist London-Korrespondentin<br />
der WirtschaftsWoche.<br />
BERLIN INTERN | Reisen bildet – nicht nur<br />
den Reisenden, sondern auch das Ansehen.<br />
Von Henning Krumrey<br />
Erst Kuh, dann Kühlturm<br />
Wo Killen Freude macht Ministerin<br />
Hendricks im Wunderland Kalkar<br />
Sommerzeit ist Reisezeit – ganz<br />
besonders für politische Amtsträger.<br />
In den Parlamentsferien machen<br />
sich die Minister mit Journalisten<br />
im Schlepptau auf, das Land zu<br />
erkunden, das sie regieren. Politikern auf<br />
Tour geht es vor allem um die drei „B“:<br />
Botschaft, Bilder und Bekanntheit.<br />
Für Barbara Hendricks (SPD) haben ihre<br />
Fachleute ein Kaleidoskop aller Haus-Themen<br />
zusammengestellt. Die Klimaschutzministerin<br />
lässt sich auf dem Versuchsgut<br />
Haus Riswick in ihrer Heimatstadt Kleve erklären,<br />
wie die Milchviehhaltung weniger<br />
Treibhausgas freisetzt. Erstes Ergebnis: Die<br />
Gestaltung des Stalles hat nur geringen Einfluss,<br />
auch wenn die Gülle nur selten „aufgerührt“<br />
werden sollte, wie die Fachleute<br />
sagen. (Journalisten sind es dagegen gewöhnt,<br />
Mist aufzurühren.) 80 Prozent der<br />
Umweltbelastung sind „unvermeidbare<br />
Methanbildung im Tierpansen“, erläutert<br />
Wolfgang Büscher, Professor an der Universität<br />
Bonn. Und da sich am Hinterteil der<br />
Rindviecher kein Kuhtalysator zur Abgasreinigung<br />
befestigen lässt, bleibt nur die klimafreundliche<br />
Optimierung des Futters.<br />
Gibt’s Akazientannine mit in den Trog, entweicht<br />
weniger Methan dem Darm. Die Versuche<br />
laufen noch. In einer Kläranlage lernt<br />
die SPD-Frau alles über „Pfropfenströmung“<br />
und „maschinelle Überschussschlammeindickung“.<br />
Die Ministerin für Reaktorsicherheit Hendricks<br />
führt die Journalisten ins Wunderland<br />
Kalkar. An der Stelle des Schnellen<br />
Brüters floriert nun ein Freizeitpark. Der<br />
Geschäftsführer nötigt sie zur Fahrt im Kettenkarussell<br />
im Innern des ehemaligen<br />
Kühlturms, das die Ministerin bei voller<br />
Fahrt oben über den Rand und damit auch<br />
über die atomare Vergangenheit hinausschauen<br />
lässt. „Dieses Kernkraftwerk ist<br />
wieder und wieder und wieder geprüft<br />
worden, bis der Betreiber die Lust verloren<br />
hat“, freut sich Hendricks noch heute über<br />
die Killerstrategie der Landesregierung –<br />
„als die Grünen noch nicht beteiligt waren,<br />
also rein sozialdemokratisch“. Klaus<br />
Hamann, einst Mitarbeiter der Betriebsmannschaft<br />
und heute Historienerklärer im<br />
Freizeitpark, amüsiert das nicht. „Wir legen<br />
unsere schönsten Anlagen still, und drumherum<br />
geht es weiter“, schimpft er mit<br />
Hendricks. „Gut überlegt war das nicht.“<br />
Die Bauministerin Hendricks schließlich<br />
präsentiert in der Innovation City Bottrop<br />
den Umbau von herkömmlichen Sozialwohnungen<br />
zu Energieplus-Bleiben, die mehr<br />
Energie produzieren, als sie verbrauchen.<br />
Und appelliert an private Investoren: „Sozialwohnungsbau<br />
ist für die ganz normale Mitte<br />
der Gesellschaft.“ Abends erweist sie sich als<br />
versierte und amüsante Stadtführerin, der<br />
Abend endet in ihrer Klever Stammkneipe.<br />
Besondere polit-touristische Zuwendung<br />
genießen in diesen Wochen die ostdeutschen<br />
Bundesländer. Hendricks war da vorvergangene<br />
Woche, etliche Kollegen folgten.<br />
Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel<br />
tummelte sich erst privat auf Usedom, dann<br />
bereiste er Brandenburg, Sachsen und<br />
Thüringen. War da was? Ach ja: Am kommenden<br />
Sonntag wählen die Sachsen einen<br />
neuen Landtag, zwei Wochen später sind<br />
Brandenburger und Thüringer dran.<br />
Da kann es schon mal Zufälle geben. Als<br />
Gabriel im High-Tech-Standort Jena Ergebnisse<br />
der Batterieforschung bestaunt, erscheint<br />
dazu nicht Wissenschaftsminister<br />
Christoph Matschie (SPD), sondern Sozialministerin<br />
Heike Taubert. Die ist zwar nicht<br />
zuständig, dafür aber Spitzenkandidatin<br />
der Genossen. Da bleiben von den drei „B“<br />
immerhin zwei: Eine Botschaft hat sie nicht,<br />
aber der Besuch der Berliner Prominenz<br />
reicht für Bilder und Bekanntheit allemal.<br />
WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 29<br />
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Der Volkswirt<br />
KOMMENTAR | Der Aufschwung<br />
am Arbeitsmarkt täuscht über<br />
tiefere Probleme der USA hinweg.<br />
Von Angela Hennersdorf<br />
Tief gespalten<br />
Weil sie nicht mehr<br />
wusste, wie sie<br />
sich und ihren<br />
16-jährigen Sohn<br />
ernähren sollte, eröffnete eine<br />
Amerikanerin in den Südstaaten<br />
der USA ein Bordell im Keller ihres<br />
Wohnhauses. Hinter der Bar<br />
schenkte der Sohnemann<br />
Schnaps aus. Der Vorfall fand<br />
wohl nur deshalb den Weg an<br />
die Öffentlichkeit, weil er in Ferguson<br />
passierte. Der Vorort von<br />
St. Louis im US-Bundesstaat<br />
Missouri befindet sich seit den<br />
tödlichen Schüssen eines<br />
Polizisten auf einen schwarzen<br />
Jugendlichen im Ausnahmezustand,<br />
Demonstranten zogen<br />
plündernd durch die Straßen.<br />
Was diese mit der geschäftstüchtigen<br />
Mutter vereint: Vom<br />
moderaten konjunkturellen Aufschwung<br />
in den USA merken die<br />
meisten nichts. Kleinstädte wie<br />
St. Louis, früher einmal Eisenbahnknotenpunkt<br />
und Enklave<br />
deutscher Einwanderer, heute<br />
eine der gefährlichsten Städte in<br />
den USA, stagnieren. Die Arbeitslosigkeit<br />
liegt mit sieben<br />
Prozent über dem nationalen<br />
Durchschnitt. Die Erwerbslosenquote<br />
der überwiegend schwarzen<br />
Bevölkerung dort liegt bei<br />
mehr als zehn Prozent.<br />
GRUND ZUR VORSICHT<br />
US-Notenbank-Chefin Janet<br />
Yellen hat deshalb allen Grund,<br />
vorsichtig zu sein bei der Einschätzung<br />
der tatsächlichen<br />
Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt.<br />
Sicher, insgesamt sinken<br />
die Arbeitslosenzahlen in den<br />
USA. Derzeit liegt die durchschnittliche<br />
Erwerbslosenquote<br />
bei 6,2 Prozent. Doch die nackte<br />
Quote täuscht über schwerwiegende<br />
Probleme hinweg: Trotz<br />
sinkender Arbeitslosenzahlen<br />
und moderater Erholung steigen<br />
die mittleren Einkommen kaum.<br />
Dazu kommt: Der Anteil der<br />
Langzeitarbeitslosen liegt bei<br />
konstant 34 Prozent. Wer länger<br />
als 27 Wochen keinen Job hat,<br />
gilt in den USA als langzeitarbeitslos<br />
und bekommt danach<br />
kein Arbeitslosengeld mehr. Wer<br />
sich dann nicht aktiv um einen<br />
Job bemüht, fällt aus der Statistik<br />
raus. Hartz IV wie bei uns gibt es<br />
nicht. Auch die Zahl der Amerikaner<br />
die nur deshalb Teilzeit jobben,<br />
weil sie keine Vollzeitarbeit<br />
finden, ist unverändert hoch. Im<br />
Juli hatten 7,5 Millionen Amerikaner<br />
nur – meist schlecht bezahlte<br />
– Teilzeitjobs.<br />
Das stellt Yellen vor ein Dilemma:<br />
Einerseits bewegt sich die<br />
Zahl der gemessenen Arbeitslosen<br />
in Richtung der inflationsneutralen<br />
Arbeitslosenquote.Die<br />
Inflation liegt derzeit bei der von<br />
der Fed angepeilten Zielmarke<br />
von zwei Prozent.Nach allen Regeln<br />
der geldpolitischen Kunst<br />
müsste Yellen die Niedrigzinsphase<br />
beenden und die Leitzinsen erhöhen<br />
– obwohl die tatsächliche<br />
Lage auf dem Arbeitsmarkt nicht<br />
wirklich besser geworden ist.<br />
Doch Yellen tickt nicht nach<br />
Regeln. Sie macht ihren weiteren<br />
geldpolitischen Kurs daran fest,<br />
wie ausgelastet der Arbeitsmarkt<br />
tatsächlich ist. Aus ihrer Sicht ist<br />
das nur konsequent. Yellen bleibt<br />
damit dem doppelten Mandat der<br />
Fed treu, nicht nur für Preisstabilität,<br />
sondern auch für eine Erholung<br />
am Arbeitsmarkt zu sorgen.<br />
Vor diesem Hintergrund verhallen<br />
die immer lauter werdenden Rufe<br />
nach einer baldigen Zinserhöhung.<br />
Die Frage ist nur, wie sie<br />
das Übel der strukturellen Probleme<br />
am Arbeitsmarkt mit geldpolitischen<br />
Mitteln an der Wurzel<br />
packen will.<br />
NEW ECONOMICS<br />
Der Unternehmer-Staat<br />
Mariana Mazzucato dekonstruiert in einem neuen<br />
Buch den Mythos von genialen Garagen-Erfindern und<br />
fordert eine technologisch aktivere Rolle der Politik.<br />
Mariana<br />
Mazzucato,<br />
Das Kapital<br />
des Staates (The<br />
Entrepeneurial<br />
State). Kunstmann,<br />
22,95 Euro<br />
Es gibt einen Satz von Milton<br />
Friedman aus dem Jahre 1962,<br />
der Furore gemacht hat: „Die<br />
großen Fortschritte der Zivilisation...<br />
sind nie <strong>vom</strong> Staat ausgegangen.“<br />
Es ist ein Satz, der die<br />
Herrschaft einer Ideologie vorwegnahm,<br />
deren Anhänger<br />
bis heute behaupten, der Staat<br />
sei sklerotisch, die Politik phlegmatisch<br />
und der Beamte fantasiearm<br />
– die Privatwirtschaft<br />
hingegen risikofreudig, das Unternehmertum<br />
dynamisch,<br />
der Entrepeneur visionär.<br />
Die Ökonomin Mariana Mazzucato<br />
kommt zu dem Schluss,<br />
dass diese Annahmen nicht nur<br />
falsch, sondern auch buchstäblich<br />
kontraproduktiv seien –<br />
und man muss sagen, dass ihr<br />
mit „The Entrepeneurial State“,<br />
soeben auf Deutsch erschienen,<br />
ein beeindruckendes Buch<br />
gelungen ist. Mazzucato dekonstruiert<br />
den Mythos von genialen<br />
Garagen-Erfindern, würdigt<br />
die Kraftentfaltung öffentlich finanzierter<br />
Grundlagenforschung<br />
und demonstriert mit<br />
zahlreichen Beispielen aus Big<br />
Pharma (Medikamente) bis Big<br />
Data (Internet, Green Energy),<br />
dass allein der Staat fähig und<br />
bereit ist, das (höhere) Risiko<br />
von Anschubinvestitionen und<br />
Basisinnovationen auf sich zu<br />
nehmen, weil er anders als Privatkapital<br />
keinen – kurzfristigen<br />
– Renditeinteressen folgt.<br />
Vor allem aber stellt Mazzucato<br />
klar, dass das Erfolgsmodell<br />
des unternehmerischen<br />
Staates in den liberalen Demokratien<br />
des Westens bedroht ist,<br />
seit die Regierungen selbst – vor<br />
allem in den USA – an das Vorurteil<br />
des innovationsfeindlichen<br />
Staates glauben. Mit der<br />
paradoxen Folge, so Mazzucato,<br />
dass der Staat sich der Ressourcen<br />
beraube, an der Technologiespitze<br />
zu stehen, nur um<br />
stattdessen den Deregulierungs-<br />
und Steuersenkungsforderungen<br />
großer Konzerne zu<br />
entsprechen. Konzerne, die ohne<br />
öffentlich finanzierte Grundlagenforschung<br />
oft gar nicht<br />
über die Produkte verfügten,<br />
mit deren (Fort-)Entwicklung,<br />
Produktion und Vertrieb sie<br />
Milliarden verdienten.<br />
RUF NACH DEM STAAT<br />
Mazzucato schließt daraus,<br />
dass sich der Staat auch in<br />
Zukunft nicht auf die Rolle als<br />
Ermöglicher technologischen<br />
Fortschritts beschränken sollte,<br />
sondern im Gegenteil dazu verpflichtet<br />
sei, mit blue-sky thinking<br />
eine aktive Rolle zu spielen<br />
bei der Identifikation, Steuerung<br />
und Organisation technologischer<br />
Missionen. Der Sputnik-Schock<br />
(1957) zum Beispiel<br />
habe die USA nicht nur zur<br />
Gründung der NASA und zur<br />
Einführung des Bildungsfernsehens<br />
herausgefordert, sondern<br />
auch zu milliardenschweren Investitionen<br />
in (Rüstungs-)Technologien,<br />
aus denen schließlich<br />
das Internet hervorging.<br />
Man muss Mazzucatos Thesen<br />
<strong>vom</strong> unternehmerischen<br />
Staat nicht teilen, um ihr Buch<br />
anregend zu finden. Angesichts<br />
des Aufstiegs von Staatskapitalismen<br />
in Asien kann ihr frischer<br />
Diskussionsbeitrag über<br />
die Trag- und Zukunftsfähigkeit<br />
unserer „freien“ Marktwirtschaft<br />
jedenfalls nicht schaden.<br />
dieter.schnaas@wiwo.de | Berlin<br />
FOTOS: SASCHA PFLAEGING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, PR<br />
30 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Der Volkswirt<br />
KONJUNKTUR DEUTSCHLAND<br />
Wirtschaft wächst nur<br />
im Schneckentempo<br />
Ein kräftiger und nachhaltiger<br />
Aufschwung in Deutschland<br />
rückt in immer weitere Ferne.<br />
Nachdem das Bruttoinlandsprodukt<br />
(BIP) im zweiten Quartal<br />
des Jahres um 0,2 Prozent<br />
gegenüber dem Vorquartal geschrumpft<br />
ist, dürfte die Wirtschaft<br />
im weiteren Verlauf des<br />
Jahres zwar wieder zulegen –<br />
aber in einem sehr gemächlichen<br />
Tempo. Zwischen Juli und<br />
September dürfte es ein mageres<br />
Wachstum von 0, 2 Prozent<br />
geben, prognostiziert der <strong>vom</strong><br />
Institut für Wirtschaftsforschung<br />
in Halle (IWH) exklusiv<br />
für die WirtschaftsWoche erstellte<br />
BIP-Flash-Indikator<br />
(siehe Grafik). Im vierten Quartal<br />
sollen es dann nur noch 0,1<br />
Prozent werden. In den IWH-<br />
Indikator gehen rund 160 Einzelindikatoren<br />
ein. Fazit der<br />
Ökonomen: „Die hohe konjunkturelle<br />
Dynamik zu<br />
Jahresbeginn ist zum Erliegen<br />
gekommen.“<br />
Die Flaute sei dabei „insbesondere<br />
auf einen negativen<br />
Beitrag des Außenhandels zurückzuführen“.<br />
Hinzu kommt<br />
die anhaltende Investitionsschwäche<br />
der deutschen Wirtschaft,<br />
die laut IWH-Analyse<br />
nicht zuletzt auf die wachsenden<br />
geopolitischen Risiken zurückzuführen<br />
ist. Der Konsum<br />
laufe zwar wegen der guten Lage<br />
am Arbeitsmarkt noch ordentlich.<br />
Allerdings spiegele<br />
sich in den jüngsten Zahlen<br />
zum Konsumklima „noch nicht<br />
die erneute Eskalation in den<br />
Krisenherden im Nahen Osten<br />
und der Ostukraine wider“.<br />
Auch die Deutsche Bundesbank<br />
schlägt in ihrem aktuellen<br />
Monatsbericht pessimistischere<br />
Töne an. Wegen der „Häufung<br />
ungünstiger Nachrichten<br />
Dynamik lässt nach<br />
aus dem internationalen Umfeld“<br />
lasse die Dynamik hierzulande<br />
nach. Wie das IWH macht<br />
sich auch die Bundesbank vor<br />
allem Sorgen wegen der Investitionslücke.<br />
„Die vor einem Jahr<br />
in Gang gekommene Erholung<br />
der Investitionstätigkeit hat einen<br />
Dämpfer bekommen“,<br />
schreiben die Ökonomen.<br />
bert.losse@wiwo.de<br />
695<br />
4<br />
690<br />
3<br />
685<br />
Veränderung gegenüber<br />
2<br />
Vorquartal 3<br />
680<br />
1<br />
675<br />
0,2 0,1<br />
0<br />
670<br />
Prognose<br />
–1<br />
665<br />
BIP-Niveau 2<br />
–2<br />
Reales Bruttoinlandsprodukt in Deutschland 1<br />
660<br />
2011 2012 2013 2014<br />
1<br />
saison- und arbeitstäglich bereinigter Verlauf; 2 in Milliarden Euro; 3 in Prozent;<br />
Quelle: Statistisches Bundesamt; Prognose: IWH<br />
–3<br />
Flaute in der<br />
Euro-Zone<br />
Die Stimmung in den Unternehmen<br />
im Euro-Raum hat sich<br />
im August leicht verschlechtert.<br />
Der Einkaufsmanagerindex<br />
(PMI) für die Privatwirtschaft<br />
(Industrie und Dienstleistungen)<br />
in der Währungsunion fiel<br />
im August im Vergleich zum<br />
Vormonat um einen Punkt auf<br />
52,8 Punkte. Sowohl für das verarbeitende<br />
Gewerbe als auch<br />
für die Dienstleistungen sank<br />
der Wert, ergab die Umfrage des<br />
Londoner Forschungsinstitutes<br />
Markit bei rund 5000 Unternehmen<br />
im Euro-Raum. Seit seinem<br />
Hoch im Januar ist der Indikator<br />
damit rückläufig, auch<br />
wenn sich das Konjunkturbarometer<br />
seit 14 Monaten noch<br />
über der Marke von 50 Zählern<br />
hält, ab der es Wachstum signalisiert.<br />
Immerhin stabilisierte<br />
sich der Wert im August für<br />
Frankreich, wo die Stimmung in<br />
den vergangenen drei Monaten<br />
besonders schlecht gewesen ist.<br />
Volkswirtschaftliche<br />
Gesamtrechnung<br />
Real. Bruttoinlandsprodukt<br />
Privater Konsum<br />
Staatskonsum<br />
Ausrüstungsinvestitionen<br />
Bauinvestitionen<br />
Sonstige Anlagen<br />
Ausfuhren<br />
Einfuhren<br />
Arbeitsmarkt,<br />
Produktion und Preise<br />
Industrieproduktion 1<br />
Auftragseingänge 1<br />
Einzelhandelsumsatz 1<br />
Exporte 2<br />
ifo-Geschäftsklimaindex<br />
Einkaufsmanagerindex<br />
GfK-Konsumklimaindex<br />
Verbraucherpreise 3<br />
Erzeugerpreise 3<br />
Importpreise 3<br />
Arbeitslosenzahl 4<br />
Offene Stellen 4<br />
Beschäftigte 4, 5<br />
2012 2013<br />
Durchschnitt<br />
0,4<br />
0,8<br />
1,0<br />
–4,0<br />
–1,4<br />
3,4<br />
3,2<br />
1,4<br />
2012 2013<br />
Durchschnitt<br />
–0,9<br />
–4,2<br />
0,1<br />
4,3<br />
105,0<br />
46,7<br />
5,9<br />
2,0<br />
1,6<br />
2,1<br />
2896<br />
478<br />
29006<br />
0,1<br />
0,9<br />
0,4<br />
–2,4<br />
–0,2<br />
3,0<br />
0,9<br />
1,5<br />
–0,2<br />
2,5<br />
0,3<br />
1,0<br />
106,9<br />
50,6<br />
6,5<br />
1,5<br />
–0,1<br />
–2,5<br />
2950<br />
457<br />
29370<br />
II/13 III/13 IV/13 I/14 II/14<br />
Veränderung zum Vorquartal in Prozent<br />
0,8<br />
0,7<br />
–0,2<br />
0,5<br />
1,7<br />
1,6<br />
2,5<br />
1,5<br />
April<br />
2014<br />
–0,1<br />
3,2<br />
–0,5<br />
2,6<br />
111,2<br />
54,1<br />
8,5<br />
1,3<br />
–0,9<br />
–2,4<br />
2880<br />
477<br />
29741<br />
1 Volumen, produzierendes Gewerbe, Veränderung zum Vormonat in Prozent; 2 nominal, Veränderung zum Vormonat in<br />
Prozent; 3 Veränderung zum Vorjahr in Prozent; 4 in Tausend, saisonbereinigt; 5 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte;<br />
alle Angaben bis auf Vorjahresvergleiche saisonbereinigt; Quelle: Thomson Reuters<br />
0,3<br />
0,3<br />
0,7<br />
0,1<br />
2,1<br />
1,4<br />
–0,1<br />
0,8<br />
Mai<br />
2014<br />
–1,7<br />
–1,6<br />
–0,2<br />
–1,1<br />
110,4<br />
52,3<br />
8,5<br />
0,9<br />
–0,8<br />
–2,1<br />
2903<br />
474<br />
29761<br />
0,5<br />
–0,3<br />
–0,3<br />
1,4<br />
0,2<br />
1,2<br />
2,5<br />
1,3<br />
Juni<br />
2014<br />
0,3<br />
–3,2<br />
1,0<br />
0,9<br />
109,7<br />
52,0<br />
8,6<br />
1,0<br />
–0,8<br />
–1,2<br />
2910<br />
481<br />
–<br />
0,7<br />
0,7<br />
0,4<br />
3,3<br />
3,6<br />
–0,8<br />
0,2<br />
2,2<br />
Juli<br />
2014<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
108,0<br />
52,4<br />
8,9<br />
0,8<br />
–0,8<br />
–<br />
2898<br />
482<br />
–<br />
–0,2<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
August<br />
2014<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
52,0<br />
9,0<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
Letztes Quartal<br />
zum Vorjahr<br />
in Prozent<br />
0,8<br />
1,1<br />
0,5<br />
6,0<br />
10,2<br />
3,3<br />
5,5<br />
6,2<br />
Letzter Monat<br />
zum Vorjahr<br />
in Prozent<br />
–2,8<br />
–4,3<br />
0,1<br />
2,9<br />
1,7<br />
0,4<br />
28,6<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–1,4<br />
7,4<br />
1,5<br />
WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 31<br />
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Der Volkswirt<br />
NACHGEFRAGT Vernon Smith<br />
»Uns droht der Overkill«<br />
Der Ökonomienobelpreisträger kritisiert die lockere Geldpolitik der Zentralbanken und die<br />
Regelungswut der Regierungen. Die Finanzkrise hält er noch lange nicht für überwunden.<br />
AUSGEZEICHNETER<br />
ÖKONOM<br />
Smith, 87, ist emeritierter<br />
Professor für Wirtschaftswissenschaften<br />
an der<br />
George Mason University<br />
in Virginia. Er gilt als einer<br />
der führenden Vertreter<br />
der experimentellen<br />
Kapitalmarktforschung.<br />
2002 erhielt der Amerikaner<br />
den Ökonomienobelpreis.<br />
Professor Smith, in der Finanzkrise<br />
hat der Ruf der Ökonomen<br />
stark gelitten. Ihnen wird<br />
vorgeworfen, die Krise nicht<br />
gesehen und davor gewarnt zu<br />
haben. Wie berechtigt sind die<br />
Vorwürfe?<br />
Die meisten Ökonomen haben<br />
die Krise nicht kommen sehen,<br />
weil sie völlig anders gelagert<br />
war als übliche Rezessionen. Sie<br />
ähnelt stark der großen Depression<br />
Anfang der Dreißigerjahre.<br />
In beiden Fällen hat das Platzen<br />
von Blasen die Vermögen von<br />
Bürgern und Banken ausradiert<br />
und eine Solvenzkrise ausgelöst.<br />
Die meisten heute lebenden<br />
Ökonomen haben die große<br />
Depression nicht erlebt, nur<br />
wenige haben sie studiert. Sie<br />
konnten sich nicht vorstellen,<br />
dass es Krisen gibt, in denen<br />
Zentralbanken und Regierungen<br />
machtlos sind.<br />
Herausragende Ökonomen und<br />
Zeitzeugen haben das Phänomen<br />
durchaus analysiert.<br />
Ja, aber ihre Arbeiten wurden<br />
<strong>vom</strong> Mainstream links liegen<br />
gelassen, weil man glaubte,<br />
dass es so etwas wie die große<br />
Depression nie wieder geben<br />
wird. Nun erleben die Arbeiten<br />
von Irving Fisher, Friedrich von<br />
Hayek und Ludwig von Mises<br />
eine Renaissance. Denn sie beschäftigten<br />
sich intensiv mit<br />
dem Kreditzyklus und Überschuldungskrisen.<br />
Immerhin haben die Zentralbanken<br />
dieses Mal einen<br />
ähnlich schlimmen Einbruch<br />
wie damals verhindert.<br />
Durch das Öffnen der Geldschleusen<br />
gelang es den Notenbanken<br />
in der Tat, einen ähnlich<br />
schweren Absturz wie<br />
damals zu verhindern. Doch<br />
damit haben sie die Krise nicht<br />
gelöst. Vielmehr haben sie<br />
die falschen Schlüsse aus der<br />
großen Depression gezogen.<br />
Friedman betrachtete die große<br />
Depression als eine Liquiditätskrise,<br />
die die Zentralbanken<br />
durch das Drucken von mehr<br />
Geld hätten vermeiden können.<br />
Daraus zog die Fed den<br />
Schluss, nach der Lehman-<br />
Pleite die Märkte mit Geld zu<br />
fluten. Das war eine folgenschwere<br />
Fehlentscheidung!<br />
Denn die große Depression<br />
war im Kern eine Überschuldungskrise.<br />
Das gilt auch für<br />
die aktuelle Finanzkrise. Solche<br />
Überschuldungskrisen sind<br />
nicht zu überwinden, indem<br />
man mehr Geld druckt.<br />
Die Finanzkrise ist also noch<br />
nicht vorbei?<br />
Schauen Sie sich die große Depression<br />
an. Es hat mehr als eine<br />
Dekade gedauert, bis die<br />
Wirtschaft wieder auf die Beine<br />
kam. Die Menschen mussten<br />
mehr sparen und weniger konsumieren,<br />
um ihre Vermögen<br />
wieder aufzubauen. Genau so<br />
ist es diesmal. Die Zentralbanken<br />
übersehen das. Die lockere<br />
Geldpolitik wird uns bei der<br />
Überwindung der Krise nicht<br />
helfen. Im Gegenteil. Sie erzeugt<br />
neue Blasen. In den USA<br />
steigen die Immobilienpreise in<br />
Relation zu den Einkommen<br />
der Bürger schon wieder. Immobilien<br />
sind im Vergleich zu<br />
anderen Gütern zu teuer. Das<br />
kann nicht gut gehen.<br />
Trotzdem drücken die Zentralbanken<br />
die Zinsen weiter nach<br />
unten...<br />
…weil sie nicht wissen, was sie<br />
sonst machen sollen. Es besteht<br />
die Gefahr, dass sich die übermäßige<br />
Liquidität in abrupt<br />
steigenden Inflationsraten entlädt.<br />
Bis jetzt ist nichts passiert.<br />
»Wir brauchen<br />
nicht mehr,<br />
sondern klügere<br />
Regulierung«<br />
Warten Sie nur! Wir befinden<br />
uns jetzt im siebten Jahr der Krise.<br />
Übertragen auf die große<br />
Depression, entspricht dies<br />
dem Jahr 1936. Es dauerte bis<br />
1940, bis die Überschuldung<br />
abgebaut war. Bei allen Unwägbarkeiten<br />
könnte es noch Jahre<br />
dauern, bis die Wirtschaft wieder<br />
normal funktioniert. Es besteht<br />
die Gefahr, dass wir die<br />
Folgen der lockeren Geldpolitik<br />
in den Güterpreisen sehen.<br />
Gilt das Prinzip des rational<br />
handelnden Menschen noch?<br />
Die meisten Menschen handeln<br />
subjektiv rational. Das führt<br />
nicht immer zu gesamtwirtschaftlich<br />
wünschenswerten<br />
Ergebnissen. Nehmen Sie den<br />
Immobilienboom in den USA.<br />
Es war rational, ein Haus zu<br />
kaufen, um von den Wertsteigerungen<br />
zu profitieren. Es gehört<br />
zum Kapitalismus, dass diejenigen,<br />
die mit solchen Geschäften<br />
auf die Nase fallen, die Verluste<br />
alleine tragen. Leider schaffen<br />
es einige Gruppen, sich in der<br />
Politik so viel Gehör zu verschaffen,<br />
dass sie auf Kosten der<br />
Allgemeinheit gerettet werden.<br />
Das hat den Kapitalismus diskreditiert…<br />
...und den Ruf nach mehr<br />
Regulierung laut werden lassen.<br />
Ja, nun droht uns der Overkill.<br />
Es ist Unsinn, alles und jeden<br />
am Finanzmarkt zu regulieren.<br />
Wir brauchen nicht mehr,<br />
sondern klügere Regulierung.<br />
Entscheidend ist, dass die Eigentumsrechte<br />
so zugeteilt werden,<br />
dass die Menschen einen<br />
Anreiz haben, sich in sozial<br />
wünschenswerter Weise zu verhalten.<br />
Verteilt man die Eigentumsrechte<br />
so, dass man andere<br />
bestehlen kann, funktioniert<br />
der Markt nicht.<br />
n<br />
malte.fischer@wiwo.de<br />
FOTO: PR<br />
32 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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DENKFABRIK | Anders als die Debatte vermuten lässt, gibt es in der Bevölkerung keine<br />
klare Mehrheit gegen das Freihandelsabkommen TTIP zwischen der EU und den USA.<br />
Allerdings wächst die Ablehnung, je mehr sich die Bürger über das Projekt informieren.<br />
Und nur noch jeder Dritte hält das Verhältnis zu Amerika für intakt. Von Renate Köcher<br />
Gestörte Beziehung<br />
FOTO: PR<br />
Die Verhandlungen<br />
über das Freihandelsabkommen<br />
(TTIP) zwischen der<br />
Europäischen Union und den<br />
USA ziehen sich hin und haben<br />
eine kontroverse öffentliche Debatte<br />
über Nutzen und Risiken<br />
eines solchen Projekts entfacht.<br />
Was ursprünglich nur als<br />
Herausforderung für die Verhandlungspartner<br />
und die sie<br />
beratenden Experten gesehen<br />
wurde, hat sich unversehens<br />
auch zu einer politischen Kommunikationsaufgabe<br />
entwickelt.<br />
Im Allgemeinen werden internationale<br />
Wirtschaftsverträge<br />
nicht Gegenstand öffentlicher<br />
Kontroversen, sondern in kleinen<br />
Zirkeln hinter geschlossenen<br />
Türen verhandelt – und das<br />
Interesse der Bürger ist im Allgemeinen<br />
gering. Diesmal ist es<br />
anders. 79 Prozent der Bürger<br />
wissen mittlerweile von den Verhandlungen,<br />
jeder Vierte verfolgt<br />
die Berichterstattung mit<br />
großer Aufmerksamkeit. Von<br />
den politisch interessierten Bevölkerungskreisen<br />
wissen sogar<br />
über 90 Prozent von dem Vorhaben;<br />
42 Prozent verfolgen<br />
den Fortgang aufmerksam.<br />
IM FRÜHSTADIUM<br />
Die Meinungsbildung der Bürger<br />
ist allerdings noch in einem<br />
frühen Stadium. 41 Prozent haben<br />
sich noch kein Urteil gebildet.<br />
28 Prozent stehen dem<br />
TTIP-Abkommen positiv gegenüber,<br />
31 Prozent ablehnend.<br />
Männer stehen dem Projekt aufgeschlossener<br />
gegenüber als<br />
Frauen. Besonders kritisch<br />
äußern sich die Anhänger der<br />
Linken und der Grünen.<br />
Das auf den ersten Blick offene<br />
Meinungsbild sieht in dem<br />
Kreis, der die Berichterstattung<br />
besonders aufmerksam verfolgt<br />
hat, jedoch völlig anders aus. Von<br />
den Bürgern, die die Berichte und<br />
Diskussionen über das Freihandelsabkommen<br />
näher verfolgen,<br />
stehen diesem 60 Prozent kritisch<br />
gegenüber, nur 29 Prozent äußern<br />
sich zustimmend. Dagegen<br />
überwiegt in den Kreisen, die die<br />
Diskussion bisher nur am Rande<br />
wahrgenommen haben, tendenziell<br />
die Zustimmung. Dies zeigt,<br />
dass die Berichterstattung und öffentliche<br />
Debatte eindeutig gegen<br />
das Abkommen laufen. Beson-<br />
Vertrauen in die EU<br />
Wo sind die Standards in<br />
Bereichen wie Landwirtschaft,<br />
Umweltschutz oder Lebensmittelqualität<br />
höher: in der EU oder in<br />
den USA?<br />
Unentschieden<br />
Gleich<br />
hoch<br />
USA<br />
12<br />
10<br />
2<br />
%<br />
Quelle: Allensbacher Archiv<br />
76<br />
EU<br />
ders negativ ist die Meinung bei<br />
Frauen, die die Diskussion ausführlicher<br />
verfolgt haben. Das gilt<br />
für knapp ein Fünftel der Frauen;<br />
von ihnen sehen 73 Prozent das<br />
Freihandelsabkommen kritisch.<br />
Die viel zitierten Chlorhühnchen<br />
haben hier besonders tiefen Eindruck<br />
gemacht.<br />
Generell ist die überwältigende<br />
Mehrheit der Bürger überzeugt,<br />
dass die EU-Standards für die<br />
landwirtschaftliche Produktion,<br />
für Lebensmittelqualität und<br />
Umweltschutz höher sind als die<br />
amerikanischen. 76 Prozent<br />
schreiben der EU höhere Stan-<br />
dards zu, ganze zwei Prozent den<br />
USA. Die höheren Bildungsschichten<br />
und politisch interessierte<br />
Bürger sind noch ausgeprägter<br />
von der Überlegenheit der<br />
europäischen Standards überzeugt.<br />
Dies gilt wiederum besonders<br />
für diejenigen, die die bisherige<br />
Diskussion über TTIP näher<br />
verfolgt haben. Von ihnen schätzen<br />
annähernd 90 Prozent die<br />
EU-Standards als höher ein.<br />
Erschwerend kommt hinzu,<br />
dass der Blick auf die USA in letzter<br />
Zeit generell kritischer geworden<br />
ist. Die Diskussionen über die<br />
Bevölkerung gespalten<br />
Halten Sie ein Freihandelsabkommen<br />
zwischen der EU und<br />
den USA für eine gute Sache?<br />
Unentschieden<br />
41<br />
%<br />
Quelle: Allensbacher Archiv<br />
31<br />
28<br />
Nein<br />
Abhörpraktiken des amerikanischen<br />
Geheimdienstes wie auch<br />
die unbefangene Nutzung persönlicher<br />
Daten durch US-Unternehmen<br />
haben Spuren hinterlassen.<br />
Die Beziehungen zwischen Europa<br />
und den USA und speziell zwischen<br />
Deutschland und den USA<br />
gelten als gestört. Nur noch jeder<br />
dritte Bürger hält das deutschamerikanische<br />
Verhältnis für intakt<br />
– das ist der niedrigste Anteil,<br />
der in den vergangenen zehn<br />
Jahren gemessen wurde. Die große<br />
Mehrheit der Bürger geht auch<br />
nicht davon aus, dass sich die<br />
Beziehungen in absehbarer Zeit<br />
Ja<br />
verbessern. Dies beeinflusst<br />
auch das Urteil über das geplante<br />
Freihandelsabkommen.<br />
Wirtschaft und Politik sind von<br />
der kontroversen gesellschaftlichen<br />
Debatte völlig überrascht<br />
worden. Insbesondere für die<br />
Wirtschaft steht der Wert eines<br />
Freihandelsabkommens außer<br />
Frage. Sie diskutiert über Details,<br />
bezweifelt aber nicht grundsätzlich<br />
seinen Nutzen für die deutsche<br />
Wirtschaft. Da sie nicht mit<br />
einer derartigen öffentlichen<br />
Kontroverse rechneten, haben<br />
es Wirtschaft und Politik versäumt,<br />
frühzeitig über den Nutzen<br />
des Abkommens aus ihrer<br />
Perspektive zu informieren. Erst<br />
in den vergangenen Wochen haben<br />
sich einzelne Unternehmer<br />
und Manager zu Wort gemeldet.<br />
DEBATTE NEU ERÖFFNEN<br />
Auch wenn sich die Meinungsbildung<br />
in weiten Bevölkerungskreisen<br />
noch in einem frühen<br />
Stadium befindet, ist es kein<br />
leichtes Unterfangen, die Debatte<br />
neu zu eröffnen und den<br />
Bürgern den Sinn und Nutzen<br />
des geplanten Abkommens nahezubringen.<br />
Diejenigen, die<br />
das Vorhaben seit Monaten mit<br />
besonderer Aufmerksamkeit<br />
verfolgen und ihm mehrheitlich<br />
kritisch gegenüberstehen, beteiligen<br />
sich weitaus intensiver<br />
an der öffentlichen Debatte als<br />
die Mehrheit der überwiegend<br />
noch unentschiedenen Bürger.<br />
Vereinzelte Stellungnahmen der<br />
Wirtschaft finden vor diesem<br />
Hintergrund nur schwer Gehör.<br />
Renate Köcher ist Geschäftsführerin<br />
des Instituts für<br />
Demoskopie Allensbach und<br />
Mitglied des Aufsichtsrates<br />
mehrerer Dax-Unternehmen.<br />
WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 33<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Brüder, zur Sonne<br />
ROCKET INTERNET | Vom Börsengang ihrer Start-up-Fabrik erhoffen sich die Unternehmer-<br />
Brüder Marc, Oliver und Alexander Samwer Milliarden. Doch ihr Online-Konglomerat<br />
erweist sich als intransparentes Unternehmensgeflecht, das anfällig für Interessenkonflikte<br />
ist – vor allem aber als eine gigantische Wette auf die Zukunft.<br />
Rein ins Taxi. Handy in die<br />
Hand. Kurze Ansage an den<br />
Fahrer. Und Tempo bitte, in<br />
45 Minuten muss Oliver<br />
Samwer im Flieger nach London<br />
sitzen. Während der Wagen zum<br />
Flughafen Berlin Tegel startet, tippt Samwer<br />
auf seinem Smartphone rum, nestelt<br />
nebenbei den Gurt ins Schloss und macht<br />
dazu eine Miene, als wolle er das Wetter<br />
draußen beschreiben: Nieselregen.<br />
Dabei war alles ganz anders geplant.<br />
Samwer hatte zu einem Hintergrundgespräch<br />
in die Zentrale seiner Online-<br />
Holding Rocket Internet nach Berlin-<br />
Mitte geladen. Um das Geschäftsmodell<br />
der Start-up-Schmiede sollte es gehen.<br />
Stattdessen bietet er eine Hetzjagd durch<br />
die Hauptstadt.<br />
Man müsse das bitte verstehen, hat<br />
Samwers Pressesprecher noch kurz gesagt,<br />
bevor er die schwarze Rolltasche seines<br />
Chefs in den Kofferraum des Taxis<br />
wuchtete. Unvorhergesehene Ereignisse<br />
hätten den Zeitplan des Meisters über den<br />
Haufen geworfen. Irgendwo knirscht<br />
es halt immer bei Rocket Internet, dem<br />
Samwer-Reich, das sich heute über den<br />
ganzen Globus erstreckt – von Albanien<br />
bis nach Ruanda, von Chile bis Myanmar.<br />
Wo auch immer sich im weltweiten<br />
E-Commerce gerade Geld verdienen<br />
lässt, sind Oliver Samwer und seine Brüder<br />
Marc und Alexander mit Rocket Internet<br />
mit von der Partie. Sie waren früh an<br />
Netzgiganten wie Facebook, LinkedIn<br />
und Groupon beteiligt, haben den Modeversender<br />
Zalando zur größten Online-<br />
Kleiderkammer Europas gepäppelt und<br />
zig andere E-Commerce-Hoffnungen<br />
weltweit ausgerollt.<br />
Jetzt planen sie ihren größten Coup:<br />
Sowohl für Rocket Internet als auch für<br />
Zalando loten sie Börsengänge aus. Ihre<br />
Anteile dürften dabei mit insgesamt fast<br />
drei Milliarden Euro bewertet werden. Ist<br />
die Samwer-Saga <strong>vom</strong> Aufstieg dreier<br />
deutscher Internet-Jungs zu Mega-<br />
Online-Stars also eine einzige Erfolgsgeschichte?<br />
Die WirtschaftsWoche und das ZDF-<br />
Magazin „Frontal21“ haben die Geschäfte<br />
der Brüder im Detail durchleuchtet.<br />
Das Resultat:Kein zweiter deutscher Unternehmerclan<br />
hat in den vergangenen<br />
Jahren einen ähnlich steilen Aufstieg geschafft.<br />
Doch die Methoden, mit denen<br />
sich die drei Brüder ihren Weg nach oben<br />
bahnten, scheinen bisweilen weniger<br />
Managementweisheiten denn dem Plot<br />
des Italo-Westerns „Zwei glorreiche<br />
Halunken“ entsprungen zu sein, nur<br />
dass die Samwers zu dritt sind.<br />
Niemand ist erfolgreicher, niemand ist<br />
umstrittener in der europäischen Internet-Szene.<br />
Das Online-Konglomerat<br />
Rocket Internet erweist sich beim näheren<br />
Hinsehen als intransparentes Unternehmensgeflecht,<br />
anfällig für Interessenkonflikte<br />
und Einflussnahmen der Großaktionäre<br />
– kurz: als gigantische Wette<br />
auf die Zukunft.<br />
Angesichts der Firmenkonstruktion<br />
von Rocket Internet wirkt Zalando – der<br />
zweite Börsenkandidat der Samwer-<br />
Brüder – fast wie ein Hort der Stabilität<br />
und Transparenz. Innerhalb weniger<br />
Jahre ist das Unternehmen zu Europas<br />
größtem Online-Modehändler avanciert.<br />
Einziger Schönheitsfehler: Das<br />
Wachstum wurde mit üppigen Fördermitteln<br />
alimentiert.<br />
»<br />
E-Commerce-Kraftwerk<br />
Niemand ist erfolgreicher, niemand ist<br />
umstrittener in der deutschen Web-Szene als<br />
Alexander, Oliver und Marc Samwer (von links)<br />
34 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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FOTO: NICK WILSON, DIETER MAYR (M)<br />
WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 35<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Job im Copyshop<br />
Rund 330 Mitarbeiter arbeiten in der<br />
Berliner Schaltzentrale des Firmenbeschleunigers,<br />
die meisten sind jünger als 28 Jahre<br />
»<br />
In den vergangenen Jahren wurden dem<br />
Unternehmen insgesamt 42 Millionen Euro<br />
Fördergeld <strong>vom</strong> Bund und den Ländern<br />
Thüringen, Brandenburg und Berlin bewilligt.<br />
Damit zählt der Web-Angreifer zu den<br />
Subventionskönigen im deutschen Handel<br />
(siehe Kasten Seite 43).<br />
BERLINER BLACKBOX<br />
Noch 43 Minuten bis zum Abflug. Das Taxi<br />
fädelt sich in den Verkehr auf der Berliner<br />
Friedrichstraße ein. Die erste Ampel schaltet<br />
auf Rot. Oliver Samwer schaut <strong>vom</strong><br />
Handydisplay auf, knipst sein Blendax-<br />
Lächeln an und ist plötzlich voll da: Die<br />
große Samwer-Show beginnt.<br />
Falls die Aktienmärkte mitspielen, könnte<br />
Rocket Internet schon im Herbst an die<br />
Börse preschen. Zuvor soll Rocket Internet<br />
noch von einer deutschen in eine europäische<br />
Aktiengesellschaft umgewandelt werden,<br />
heißt es in Finanzkreisen. Anschließend<br />
stünde eine Notierung am unregulierten<br />
Markt in Frankfurt an.<br />
Oliver Samwer schweigt dazu. Doch im<br />
Hintergrund läuft längst die Werbemelodie,<br />
die den Gang aufs Parkett intoniert. Als „Erfolgsgeschichte<br />
made in Germany“ preist er<br />
Rocket Internet. Ein Sammelbecken für<br />
„unternehmerisches Talent und Wissen“<br />
sei das Unternehmen, das es sich zur Aufgabe<br />
gemacht hat, Online-Geschäftsmodelle<br />
aufzuspüren, zu kopieren und global<br />
auszurollen. Ein neuer, ein digitaler Mittelständler,<br />
der mit Fleiß, Disziplin und operativem<br />
Geschick geführt werde, sei Rocket<br />
Internet. Ganz nach Art des schwäbischen<br />
Schrauben- und Montagetechnik-Milliardärs<br />
Reinhold Würth – nur halt im Netz.<br />
Das hört sich gut an. Doch der Beweis<br />
dafür, dass die Unternehmen, die Rocket<br />
Internet gründete, auch Geld verdienen<br />
wie bei soliden Mittelständlern eigentlich<br />
üblich, der fehlt bisher.<br />
Die operativen Verluste von zehn zentralen<br />
Rocket-Ablegern, darunter<br />
der Möbelhändler Home24 und<br />
die russische Zalando-Kopie<br />
Lamoda, summierten sich 2013<br />
auf rund 431 Millionen Euro (siehe<br />
Grafik Seite 37).<br />
Allerdings sind die Zahlen nur<br />
ein kleiner Ausschnitt. Wie es um<br />
das komplette Rocket-Intenet-<br />
Video<br />
In unserer App-<br />
<strong>Ausgabe</strong> zeigen<br />
wir den Trailer der<br />
ZDF-Doku über<br />
die Samwers<br />
Reich bestellt ist, lässt sich allenfalls erahnen.<br />
Insgesamt rund 1500 Einzelgesellschaften<br />
umfasst das Gebilde, teilweise untergebracht<br />
in Luxemburg und im US-Bundesstaat<br />
Delaware, jenen Hotspots der<br />
Welt, die vor allem für ihr steuermildes Klima<br />
bekannt sind – auch wenn derlei<br />
Aspekte nach Unternehmensangaben nie<br />
im Vordergrund stünden. „Das Ganze ist<br />
eine Blackbox“, sagt Jörg Funder, Professor<br />
für Unternehmensführung im Handel an<br />
der Hochschule Worms, über Rocket Internet.<br />
„Teilweise fehlen sogar die Jahresabschlüsse<br />
im Handelsregister.“<br />
Die Lage wird nicht übersichtlicher<br />
durch einen Passus in Oliver Samwers Vertrag<br />
als Vorstandschef mit Rocket Internet.<br />
Dort ist neben der Laufzeit bis 15. Juni 2019<br />
auch eine teilweise Befreiung <strong>vom</strong> Wettbewerbsverbot<br />
fixiert, das Top-Managern üblicherweise<br />
untersagt, für andere Unternehmen<br />
tätig zu sein. So darf der Rocket-<br />
Chef nebenher weiter die Geschäfte des<br />
European Founders Fund führen.<br />
Das Münchner Unternehmen,<br />
das kürzlich in Global Founders<br />
umgetauft wurde, gehört den<br />
Samwer-Brüdern privat. In dem<br />
Vehikel haben sie ihre Rocket-Aktien<br />
gebündelt ebenso wie ihre<br />
Anteile am Modeversender Zalando.<br />
Das Problem: Laut Satzung<br />
investiert Global Founders Risikokapital<br />
in junge Unternehmen teils in den<br />
gleichen Geschäftsfeldern, in denen auch<br />
Rocket Internet aktiv ist.<br />
Mögliche Interessenkonflikte mag ein<br />
Rocket-Sprecher darin nicht erkennen.<br />
Global Founders verfüge über ein eigenes<br />
Investmentteam, „Oliver Samwers Fokus<br />
liegt zu 99,9 Prozent auf Rocket Internet“,<br />
heißt es offiziell.<br />
Doch wie wird sich der Rocket-Internet-<br />
Chef entscheiden, wenn er auf das nächste<br />
große Ding im Netz stößt? Kopiert er das<br />
Geschäftsmodell im Interesse seiner Aktionäre,<br />
oder beteiligt er sich über Global<br />
Founders zum eigenen und brüderlichen<br />
Wohle? Und was machen die Brüder mit<br />
Nieten im Privat-Portfolio? Reichen sie die<br />
im Zweifel an Rocket Internet durch?<br />
Dass es sich bei solchen Fragen nicht um<br />
einen akademischen Diskurs handelt, ist<br />
seit ein paar Tagen klar. Mitte August beteiligte<br />
sich der Web-Dienstleister United Internet<br />
aus Montabaur mit 10,7 Prozent an<br />
Rocket Internet und lieferte nebenbei ein<br />
finanzakrobatisches Meisterstück ab.<br />
Auf dem Papier musste United Internet<br />
die stolze Summe von 435 Millionen Euro<br />
für das Aktienpaket berappen. Einen Teil<br />
davon – nämlich 102 Millionen Euro – zahlte<br />
das Unternehmen aber nicht bar. Stattdessen<br />
erhielt Rocket Internet allerlei Start-<br />
FOTO: IMAGETRUST/JAN ZAPPNER<br />
36 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Die Welt der Samwers<br />
Wo wichtige E-Commerce-Ableger<br />
von Rocket Internet aktiv<br />
sind und Verluste schreiben*<br />
(in Millionen Euro)<br />
–33,5<br />
Linio<br />
(Online-Kaufhaus)<br />
Mexiko,<br />
Kolumbien,<br />
Peru, Venezuela<br />
–72,9<br />
Dafiti<br />
(Schuhe und Mode)<br />
Brasilien, Argentinien,<br />
Chile, Kolumbien,<br />
Mexiko<br />
–40,2<br />
Home24<br />
(Möbel)<br />
Deutschland, Schweiz,<br />
Frankreich, Österreich,<br />
Niederlande<br />
–40,2 (Möbel)<br />
Deutschland, Italien, Brasilien, Russland,<br />
Frankreich, Spanien, Polen, Niederlande,<br />
Westwing Schweiz, Österreich, Kasachstan, Belgien<br />
–34,1<br />
Jumia<br />
(Online-Kaufhaus)<br />
Nigeria, Marokko, Ägypten,<br />
Kenia, Elfenbeinküste<br />
–10,1<br />
Namshi<br />
(Schuhe und Mode)<br />
Kuwait, Oman,<br />
Saudi Arabien,<br />
Bahrain, Katar<br />
–33,2<br />
Jabong<br />
(Schuhe und<br />
Mode) Indien<br />
–46,9<br />
Lamoda<br />
(Schuhe und Mode)<br />
Russland, Kasachstan<br />
–51,3<br />
Lazada<br />
(Online-Kaufhaus)<br />
Indonesien, Malaysia,<br />
Philippinen, Thailand,<br />
Vietnam<br />
–69,2<br />
Zalora/The Iconic<br />
(Schuhe und Mode)<br />
Singapur, Indonesien,<br />
Malaysia, Brunei,<br />
Philippinen, Thailand,<br />
Vietnam, Hongkong,<br />
Australien,<br />
Neuseeland<br />
* operatives Ergebnis 2013; Quelle: Kinnevik<br />
up-Beteiligungen. Die Anteile stammten<br />
aus einer gemeinsam geführten Gesellschaft<br />
von United Internet und Global<br />
Founders, dem Privatfonds der Samwers.<br />
Erstaunlich: In den eigenen Büchern<br />
hatte United Internet diese Anteile nicht<br />
mit 102 Millionen Euro bewertet, sondern<br />
nur mit 30 Millionen Euro. Das explosionsartige<br />
Plus erklärt ein United-Internet-<br />
Sprecher mit einer „Neubewertung“ der<br />
Beteiligungen. Davon profitierten auch die<br />
Samwers. Denn auch sie gaben ihre gemeinsam<br />
mit United Internet gehaltenen<br />
Anteile an den Start-ups im Tausch gegen<br />
zusätzliche Rocket-Internet-Aktien ab – ein<br />
klassischer Samwer-Deal.<br />
ETWAS GETRICKST<br />
Noch 35 Minuten bis zum Abflug. Der Taxifahrer<br />
steuert schweigend durch den Berliner<br />
Feierabendverkehr, vorbei an Häuserschluchten,<br />
Imbissbuden und Spielcasinos.<br />
Hier, mitten in der Hauptstadt, begann<br />
der Fabelaufstieg der drei Dotcom-Brüder.<br />
1999 startete das Trio in einer Bürogemeinschaft<br />
in Berlin-Mitte Alando. Das<br />
Unternehmen sollte den Markt für Online-<br />
Auktionen aufmischen, ein deutsches Ebay<br />
werden. Schnell kristallisierte sich die Rollenverteilung<br />
innerhalb der Bruderschaft<br />
heraus: Oliver Samwer ist Anführer der<br />
Formation, Alexander der Stratege und<br />
Marc der Diplomat. Gemeinsam ist ihnen<br />
der unbändige Siegeswille. Um mehr Angebote<br />
auf die Alando-Web-Site zu bekommen,<br />
vertickten die Brüder anfangs Teile<br />
ihres Jugendzimmerinventars samt Baseballhandschuh<br />
und Modelleisenbahn.<br />
Auch bei der Beschaffung der notwendigen<br />
Technik und der Finanzierung des Projekts<br />
waren sie nicht zimperlich. „Da mussten<br />
wir etwas tricksen“, räumte Oliver Samwer<br />
später ein. „Den Venture-Capital-Gesellschaften<br />
haben wir erzählt, die Technologie<br />
sei schon so gut wie installiert. Und<br />
die Technologiefirmen haben wir überzeugt,<br />
dass die Finanzierung schon so gut<br />
wie gesichert ist.“<br />
»Alles wird in der Samwer-Maschine<br />
unternehmerischem Erfolg<br />
untergeordnet«<br />
Samwer-Biograf Joel Kaczmarek<br />
Die Idee ging auf: Nach wenigen Monaten<br />
übernahm Ebay den Laden – und<br />
machte die Samwers zu Millionären. Das<br />
systematische Kopieren, Ausrollen und<br />
schnelle Weiterverkaufen von erprobten<br />
Online-Konzepten wurde fortan zu ihrem<br />
Geschäftsmodell. Alando gab die Blaupause<br />
ab: voller Einsatz, waghalsiges Tempo<br />
und mitunter ein paar Tricks.<br />
Wann immer sich ein neuer Trend im<br />
Netz abzeichnete, schickten die Samwers<br />
nun einen deutschen Nachbau ins Rennen.<br />
Mit Rocket Internet konstruierten<br />
sie 2007 eine Plattform, um diesen Kopierund<br />
Ausrollprozess vollends zu industrialisieren.<br />
Statt Waren laufen bei Rocket<br />
Internet-Start-ups <strong>vom</strong> Band. Unternehmen<br />
wie die Partnerbörse eDarling,<br />
der Kosmetikversender Glossybox, die<br />
Möbelhändler Home24, die Online-Bettenbörse<br />
Wimdu und der Kreditvermittler<br />
Lendico entstanden – allesamt inspiriert<br />
von Wettbewerbern. Die Kopiermasche<br />
sorgt denn auch für Empörung. Als<br />
„niedrigste Form von Müll“, beschimpfte<br />
etwa die US-Web-Koryphäe Jason Calacanis<br />
das Vorgehen der Samwers.<br />
Die sind von den Klon-Vorwürfen genervt.<br />
Ideen gebe es schließlich wie Sand<br />
am Meer, sagt Oliver Samwer. Auf die Umsetzung<br />
komme es an. Dabei macht ihm<br />
niemand etwas vor. »<br />
WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 37<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Anschluss gefunden<br />
United-Internet-Chef Dommermuth<br />
treibt mit seinem Investment die Bewertung<br />
von Rocket Internet hoch<br />
LEBEN IM SCHMUTZ<br />
Noch 27 Minuten bis zum Abflug. Oliver<br />
Samwer, verstrubbeltes Haar, hellblaues<br />
Hemd, drahtige Figur, zeichnet auf dem<br />
Kunstlederbezug der Rückbank im Taxi mit<br />
dem Zeigefinger die Unternehmensstruktur<br />
von Rocket Internet.<br />
Als „McKinsey auf Steroiden“ soll er<br />
Rocket Internet einmal bezeichnet haben.<br />
Rund 330 Mitarbeiter arbeiten in der Schaltzentrale<br />
des Firmenbeschleunigers in der<br />
Berliner Johannisstraße. Die meisten von<br />
ihnen sind jünger als Lady Gaga, das Durchschnittsalter<br />
liegt bei unter 28 Jahren. Der<br />
42-jährige Oliver Samwer gilt als oberster<br />
Einpeitscher der Truppe. Arbeitstage von 18<br />
Stunden sind für ihn Routine. Als seinen<br />
Lieblingsfilm nannte er im „Stern“ einst das<br />
Heldenepos „Gladiator“, bei dem abgeschlagene<br />
Köpfe durch die Landschaft kegeln<br />
und Blut literweise strömt. Auch das Schottenlichtspiel<br />
„Braveheart“ gehört zu seinem<br />
cineastischen Kanon. Prädikat: Besonders<br />
lehrreich. „Schaut euch den Film ruhig an“,<br />
riet Oliver Samwer einst Studenten bei einem<br />
Vortrag. „Braveheart sah so aus, wie er<br />
lebte: im Schmutz.“ Soll wohl heißen: Auf<br />
prunkvolle Büros und ähnliches Konzernchichi<br />
sollten digitale Leistungsträger im<br />
Dienst von Dirty Olli nicht bauen.<br />
Stattdessen gibt’s markige Ansagen <strong>vom</strong><br />
Chef. Legendär ist etwa seine Motivationsmail<br />
an Führungskräfte betreff „When is it<br />
net-Manager die Samwers und ihre Statthalter<br />
an der „Grenze des Zumutbaren“.<br />
Harsche Vorwürfe gab es etwa bei Wimdu.<br />
Über die Online-Übernachtungsbörse,<br />
eine Kopie des amerikanischen Marktführers<br />
Airbnb, können private Anbieter Wohnungen<br />
an Reisende vermieten. Doch bei<br />
der Gründung von Wimdu fehlte es der<br />
Plattform an Unterkünften. Bei der Akquise<br />
von Vermietern sollen die Wimdu-Kräfte<br />
deshalb im Revier von Wettbewerbern wie<br />
»Das Ganze ist eine Blackbox. Teilweise<br />
fehlen sogar die Jahresabschlüsse<br />
im Handelsregister«<br />
Handelsexperte Jörg Funder<br />
time for blitzkrieg“. Darin forderte er von<br />
Mitarbeitern Strategiepläne, „die mit eurem<br />
Blut unterschrieben“ sind, und gab<br />
Parolen aus wie: „Ich werde sterben, um zu<br />
gewinnen.“ Später entschuldigte er sich für<br />
die Entgleisung. Es sei nur fair, nicht jedes<br />
Wort einer nächtlichen E-Mail auf die<br />
Goldwaage zu legen.<br />
Auch nonverbal sind die Raketen-Brüder<br />
für robuste Auftritte bekannt. Im Umgang<br />
mit Geschäftspartnern wie Wettbewerbern<br />
verortet ein früherer Rocket-Inter-<br />
Airbnb gewildert haben. Per E-Mail informierte<br />
Airbnb seine Geschäftspartner über<br />
die „Attacken der Klone“, die sogar vorgegaukelt<br />
hätten, im Auftrag von Airbnb zu<br />
arbeiten, in Wahrheit aber nur Vermieter<br />
abwerben wollten. Wimdu ließ eine Anfrage<br />
dazu unbeantwortet.<br />
Bei Auslandseinsätzen der Samwers geht<br />
es nicht minder stürmisch zur Sache.<br />
Wenn sich die deutschen Expeditionskorps<br />
auf den Weg machen, um ein Geschäftsmodell<br />
in die Welt zu tragen, nutzen<br />
die Rocket-Internet-Kräfte Touristen-Visa.<br />
Der Antrag für ein reguläres Geschäftsvisum<br />
dauert ihnen zu lange. Irgendwann,<br />
erzählt Oliver Samwer gern, seien in einem<br />
Auslandsbüro mal ein paar Beamte zum<br />
Kontrollbesuch aufgeschlagen. An dem<br />
Tag hätten die Rocket-Touris dann halt von<br />
zu Hause aus gearbeitet. „Man muss einfach<br />
super pragmatisch sein“, so Samwer.<br />
Was das heißt, bekamen 2012 rund 400<br />
Beschäftigte des Rocket-Standorts in der<br />
Türkei zu spüren. Weil die Zahlen nicht<br />
stimmten, wurde der Standort kurzerhand<br />
geschlossen. In Afrika verschaffte Rocket<br />
Internet seinem Online-Händler Jumia einen<br />
Vorsprung gegenüber dem wichtigsten<br />
Wettbewerber, dem nigerianischen<br />
Online-Anbieter Konga. Die Berliner sicherten<br />
sich die Konga-Web-Adressen in<br />
elf afrikanischen Ländern. „Wir beabsichtigen,<br />
unter diesem Namen ein Start-up in<br />
verschiedenen afrikanischen Ländern zu<br />
starten“, sagt ein Rocket-Sprecher dazu.<br />
Konga jedenfalls kann unter eigenem Namen<br />
dort nicht mehr antreten.<br />
Unzählige solcher Storys über das Vorgehen<br />
der Samwers – irgendwo zwischen clever<br />
und skrupellos – kursieren in der Szene.<br />
„Alles und jeder“, sagt Joel Kaczmarek, werde<br />
„in der Samwer-Maschine gänzlich dem<br />
unternehmerischen Erfolg untergeordnet“.<br />
Als Chefredakteur und Herausgeber des<br />
FOTOS: LAIF/MARKUS HINTZEN, REUTERS/TT NEWS AGENCY/MAGNUS HJALMARSON NEIDEMAN<br />
38 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Branchenmagazins „Gründerszene“ hat er<br />
den Aufstieg der Brüder hautnah miterlebt.<br />
In seiner am Donnerstag erschienenen<br />
Biografie über „Die Paten des Internets“ beschreibt<br />
Kaczmarek, wie es den Brüdern gelang,<br />
„einer ganzen Branche ihren Stempel<br />
aufzudrücken“. Die Geschichte der Samwers<br />
sei „gleichermaßen mit unglaublichen<br />
Erfolgen wie aberwitzigen Machenschaften<br />
gepflastert“, so Kaczmarek. Einen Auszug<br />
druckt die WirtschaftsWoche ab Seite 42.<br />
Vermögenswirksame Leistung<br />
Kinnevik-Großaktionärin Stenbeck will<br />
von den Börsengängen von Rocket Internet<br />
und Zalando profitieren<br />
RUF DES GOLDES<br />
Noch 20 Minuten bis zum Abflug, die Zeit<br />
wird knapp, um die Maschine zu erreichen.<br />
Das Taxi schiebt sich den Saatwinkler<br />
Damm entlang, während Oliver Samwer<br />
über den digitalen Wandel doziert. Das ist<br />
sein großes Thema.<br />
Schon Mitte Juni, bei ihrem Konsumgüterforum<br />
in Paris, hatten sich die Vertreter<br />
der europäischen Handelskonzerne im<br />
Kongresssaal unter dem Louvre versammelt,<br />
um dem Online-Hosianna des deutschen<br />
Web-Propheten zu lauschen. „Ich<br />
bin nicht hier, um Ihnen eine Freude zu<br />
machen“, ließ Oliver Samwer seine Zuhörer<br />
wissen, während er auf der Bühne auf<br />
und ab tigerte. „Einkaufshäuser sind etwas<br />
aus der Zeit um Christi Geburt. Es gibt sie<br />
nur, weil es früher kein Internet gab. Aber<br />
das bedeutet nicht, dass es ein Recht auf ihre<br />
Existenz gibt.“ Zum Abschied rät er den<br />
Top-Managern: „Verlassen Sie den Saal<br />
sehr paranoid.“<br />
Oliver Samwer spürt besser als viele andere,<br />
dass in der Handelsbranche Alarmstimmung<br />
herrscht. Weltweit fließen Milliardenbeträge<br />
von klassischen Läden in Internet-Shops<br />
und Online-Plattformen, ordern<br />
Kunden immer mehr Waren per<br />
Smartphone und Computer. Das verändert<br />
die Hackordnung im Handel von Grund<br />
auf. Der Umbruch ist gewaltig – und liefert<br />
Raketenclub<br />
Die Anteilseigner von Rocket Internet*<br />
Philippine Long Distance<br />
Telephone Company<br />
Access Industries<br />
(Leonard Blavatnik)<br />
United Internet<br />
(Ralph Dommermuth)<br />
Kinnevik<br />
(Cristina Stenbeck)<br />
10,7<br />
Global Founders<br />
(Samwer-Brüder)<br />
8,5 8,6<br />
18,5<br />
* vor dem Einstieg von Holtzbrinck Ventures;<br />
Quelle: Unternehmensangaben<br />
%<br />
53,7<br />
den Samwers das beste Verkaufsargument.<br />
Ihre Botschaft: Wer beim größten Goldrausch<br />
aller Zeiten dabei sein will, kann bei<br />
Rocket Internet die Eintrittskarte lösen.<br />
Heute werden die Claims für das Geschäft<br />
von morgen abgesteckt.<br />
In einer Mail an einen potenziellen<br />
Geldgeber klingt das dann so: „Mein Name<br />
ist Oliver Samwer, meine zwei Brüder und<br />
ich sind Serien-Gründer“. Ganz unbescheiden<br />
findet sich in der Mail ein Link zur Vermögensübersicht<br />
der Brüder beim US-<br />
Wirtschaftsmagazin „Forbes“ nebst der<br />
Anregung, doch am besten bei einem persönlichen<br />
Treffen über die vielversprechenden<br />
Geschäftschancen in den aufstrebenden<br />
Märkten zu plaudern.<br />
Wer Interesse zeigt, darf sich auf launige<br />
Präsentationen freuen – etwa über den<br />
Rocket-Ableger Foodpanda. In einem<br />
„streng vertraulichen“ Papier von 2013 wird<br />
Vermögenden die „Revolution bei Online-<br />
Essenbestellungen in Schwellenländern“<br />
schmackhaft gemacht. Das Geschäftsmodell:<br />
Restaurants und Lieferdienste stellen<br />
ihre Angebote bei Foodpanda ein. Ordert<br />
ein Kunde dann seine Pizza oder Pasta über<br />
die Seite, streicht Foodpanda eine Provision<br />
ein. Ab 2017 will das Unternehmen<br />
schwarze Zahlen schreiben. 2018 soll der<br />
Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen<br />
(Ebitda) dann schwindelerre-<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 39<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Expedition nach Afrika<br />
Mit E-Commerce-Anbietern wie Jumia<br />
will Rocket Internet den Online-Markt in<br />
Schwellenländern erobern<br />
»<br />
gende 30 Millionen Euro und mehr erreichen.<br />
Großes Panda-Ehrenwort!<br />
Derlei Avancen scheinen zu verfangen:<br />
Superreiche und Investoren rund um<br />
den Globus sind in den vergangenen Jahren<br />
dem Samwer’schen Lockruf gefolgt<br />
und haben teils direkt in Rocket-Ableger,<br />
teils in die Holding investiert. Der indische<br />
Stahlmagnat Lakshmi Mittal und der<br />
russischstämmige US-Milliardär Leonard<br />
Blavatnik gehören zu den Finanziers.<br />
Aus Deutschland steuerten neben United-<br />
Internet-Frontmann Ralph Dommermuth<br />
die Beteiligungsunternehmen von Tengelmann-Eigner<br />
Karl-Erivan Haub und Verleger<br />
Stefan von Holtzbrinck Millionenbeträge<br />
zu.<br />
Der wichtigste Geldgeber ist jedoch der<br />
börsennotierte schwedische Medienkonzern<br />
Kinnevik. Rund 1,2 Milliarden Euro<br />
haben die Schweden in die Samwer-Sphäre<br />
gepumpt, den Großteil in Zalando. Mit<br />
36,5 Prozent der Anteile sind sie der größte<br />
Anteilseigner des Modehändlers, Kinnevik-Verwaltungsratschefin<br />
und Großaktionärin<br />
Cristina Stenbeck führt den Zalando-<br />
Aufsichtsrat. An Rocket Internet selbst hält<br />
Kinnevik 18,5 Prozent.<br />
FREIE BAHN<br />
Ankunft am Flughafen Tegel, das Taxi hält<br />
vor dem Zugang zu Flugsteig fünf. Draußen<br />
leuchtet in grellem Orange die Werbung<br />
des Autoverleihers Sixt: „Winners have a<br />
sixt sense“. Samwer reißt die Tür auf und<br />
stürmt raus. Fahrziel erreicht, Gespräch beendet,<br />
noch schnell die Tasche aus dem<br />
Kofferraum und dann zum British-Airways-Schalter.<br />
Keine Frage, Rocket Internet und die<br />
Samwers müssen sich sputen. Egal, ob<br />
Marktplätze, Möbel- oder Modeshops – die<br />
aussichtsreichsten Massenmärkte im Web<br />
sind besetzt. Hier noch neue Marktführer<br />
zu kreieren wird immer aufwendiger. Der<br />
Kopierfabrik drohen dereinst die Vorlagen<br />
auszugehen.<br />
Rocket Internet reagiert mit einer Art<br />
Konzern-Upgrade auf diese Gefahr und<br />
stampfte zuletzt eine Finanzsparte aus<br />
dem Boden. Im August stieg zudem die<br />
philippinische Telefongesellschaft Philippine<br />
Long Distance Telephone (PLDT) bei<br />
»Man muss super<br />
pragmatisch<br />
sein«<br />
Oliver Samwer<br />
den Berlinern ein. Gemeinsam wollen die<br />
Partner nun in Schwellenländern Angebote<br />
für das Bezahlen per Handy aufziehen.<br />
Wenig später folgte der United-Internet-<br />
Deal und hievte die Bewertung von Rocket<br />
Internet auf insgesamt mehr als vier Milliarden<br />
Euro. Würden die Samwers ihr<br />
54-Prozent-Paket verkaufen, könnten sie<br />
demnach mindestens 2,2 Milliarden Euro<br />
kassieren. Ihre 17-Prozent-Beteiligung an<br />
Zalando ist nach Stand der Dinge weitere<br />
660 Millionen Euro wert.<br />
Doch wollen die Samwers Kasse machen?<br />
„Die Eigentümer haben keine Pläne,<br />
ihre Anteile zu veräußern“, beteuert ein<br />
Rocket-Internet-Sprecher.<br />
Ihren Einsatz haben die Alt-Gesellschafter<br />
ohnehin gesichert. Seit 2012 kehrte<br />
Rocket Internet fast eine Milliarde Euro an<br />
Sach- und Bardividenden an die Eigentümer<br />
aus. Das lässt sich aus einem Prüfbericht<br />
zur Umwandlung des Unternehmens<br />
in eine Aktiengesellschaft im Juli<br />
ableiten. 2012 und 2013 wurden die Samwers<br />
und ihr Investorenzirkel demnach mit<br />
insgesamt 551 Millionen Euro bedacht. Für<br />
2014 gönnten sich die Anteilseigner eine<br />
sogenannte Vorabausschüttung. Knapp<br />
287 Millionen Euro flossen an die Brüder<br />
und katapultierten das Trio auf Platz sechs<br />
in die Liste der größten deutschen Dividendenempfänger<br />
(siehe Wirtschafts-<br />
Woche 33/2014). Kinnevik und die Beteiligungsgesellschaft<br />
Access Industries wurden<br />
im Gegenzug mit zusätzlichen Anteilen<br />
an Zalando-Doppelgängern rund um<br />
den Erdball bedacht. Die Schweden hätten<br />
auf mehr direkte Unternehmensanteile<br />
gedrungen, heißt es im Rocket-Internet<br />
Umfeld.<br />
Nebeneffekt: Die Auszahlungen leerten<br />
die Kasse der Rocket-Holding empfindlich.<br />
Neue Investoren und demnächst auch private<br />
Anleger sollen helfen, nachzufüllen.<br />
Dann, so die Hoffnung, wird die große<br />
Samwer-Show noch erfolgreicher, noch gewinnbringender<br />
weitergehen – fragt sich<br />
nur für wen.<br />
Die Dame <strong>vom</strong> First-Class-Schalter<br />
schüttelt freundlich lächelnd den Kopf, als<br />
Oliver Samwer ihr seinen Pass hinhält. Leider<br />
nichts zu machen, Flug BA 987 ist dicht.<br />
Eigentlich hätte Samwer jetzt Zeit. Er könnte<br />
durch Flughafen-Boutiquen schlendern<br />
und den stationären Handel inspizieren.<br />
Die nächste Maschine nach London startet<br />
erst in eineinhalb Stunden.<br />
Doch Stillstand ist keine Option für ihn,<br />
die Arbeit geht weiter. Er marschiert zu<br />
Gate fünf, legt Reisetasche und Handy auf<br />
das Band und passiert die Sicherheitsschleuse.<br />
Kein Piepen hält ihn auf, keine<br />
Security bittet ihn zur Nachkontrolle: freie<br />
Bahn für Oliver Samwer.<br />
n<br />
henryk.hielscher@wiwo.de,<br />
karin finkenzeller | Paris, michael kroker<br />
Die Frontal21-Dokumentation „Die Milliarden-Geschäfte<br />
der Zalando-Boys“ sendet<br />
das ZDF am 26. August um 21 Uhr.<br />
FOTOS: GETTY IMAGES/AFP/PIUS UTOMI EKPEI, DDP IMAGES/MAJA HITIJ<br />
40 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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ZALANDO<br />
Kleine Geschenke<br />
Der Web-Shop ist einer der größten Subventionsempfänger im Handel.<br />
Es war ein Termin nach dem Geschmack<br />
von Thüringens Wirtschaftsminister Matthias<br />
Machnig. Als im Dezember 2011 der<br />
Grundstein des neuen Zalando-Logistikzentrums<br />
in der Landeshauptstadt Erfurt<br />
gelegt wurde, jubelte der SPD-Politiker:<br />
„Die Ansiedlung zeigt erneut: Thüringen<br />
ist hochattraktiv für Investoren.“<br />
Die Attraktivität Thüringens kam nicht<br />
von ungefähr. Der Freistaat stellte für die<br />
Ansiedlung Zalandos 22,4 Millionen Euro<br />
Fördermittel bereit. Nach Recherchen<br />
der WirtschaftsWoche und des ZDF-Magazins<br />
„Frontal21“ sind die Thüringer<br />
Subventionen zwar die höchsten, aber<br />
nicht die einzigen Steuergelder für den<br />
Berliner Online-Modehändler. So genehmigte<br />
das Land Brandenburg laut Wirtschaftsministerium<br />
2,5 Millionen Euro für<br />
ein Logistikzentrum in Brieselang im Havelland.<br />
Die Hauptstadt Berlin stellte<br />
2010 bis 2013 Investitionszuschüsse<br />
und Projektförderungen von 10,6 Millionen<br />
Euro zur Verfügung. Das geht aus einer<br />
Abfrage der Berliner Zuwendungsdatenbank<br />
hervor.<br />
Fashion-Aufsteiger. Der sogenannte Sistrix-<br />
Index, der angesehenste Maßstab für die<br />
Sichtbarkeit einer Web-Seite im Internet,<br />
erreicht bei Zalando 179 Punkte. Der Online-Shop<br />
von Hennes & Mauritz (H&M)<br />
kommt dagegen nur auf zehn Punkte. Der<br />
Abstand ist gewaltig und bedeutet, dass<br />
ein Kunde, der über Suchmaschinen wie<br />
Google nach Klamotten fahndet, an Zalando<br />
kaum vorbeikommt. Ein zentraler Faktor<br />
für die Sichtbarkeit einer Web-Site bei<br />
Bloggern und Web-Seiten-Betreibern<br />
Tausende Gutscheine für den Gratis-Einkauf<br />
bei Zalando. Das geht aus einer<br />
unternehmensinternen Liste über die<br />
Gutscheingewährung hervor. Die meisten<br />
Einträge enthalten das Kürzel SEO, dienten<br />
also primär der Suchmaschinenoptimierung.<br />
Oft reichten Web-Site-Betreiber<br />
die Zalando-Gutscheine über Gewinnspiele<br />
an die Nutzer weiter. Dass es sich<br />
um Marketing-Aktionen handelte, war<br />
klar erkennbar. Zugleich lassen sich<br />
schon bei Stichproben aber Dutzende<br />
deutsche Blogger identifizieren, die es<br />
mit der Trennung von Werbung und<br />
Inhalten nicht genau nahmen. Für einige<br />
Autoren waren offenbar schon Gutscheine<br />
über 50 Euro Anlass genug, wahre<br />
GESCHÄFTE MIT LINKS<br />
Auch der Bund geizte nicht: Bis 2012<br />
wurden Zalando rund 3,3 Millionen Euro<br />
zur Wirtschaftsförderung strukturschwacher<br />
Regionen gewährt. 2013 bewilligte<br />
das Bundeswirtschaftsministerium zusätzliche<br />
Mittel von 3,2 Millionen Euro.<br />
Das Unternehmen sei 2013 „der größte<br />
Empfänger“ entsprechender Fördermittel<br />
im Versandhandel gewesen, teilt das<br />
Bundeswirtschaftsministerium mit.<br />
Auf stolze 42 Millionen Euro beläuft<br />
sich die Gesamtsumme aller bisherigen<br />
Fördermittel für Zalando. Auch wenn<br />
nach Unternehmensangaben erst 16,4<br />
Millionen Euro ausgezahlt wurden, bleibt<br />
Zalando damit einer der größten Subventionsempfänger<br />
im deutschen Handel.<br />
Führend ist Zalando auch auf ganz anderem<br />
Gebiet: bei der Optimierung des Online-Auftritts<br />
für Internet-Suchmaschinen,<br />
Branchenkürzel: SEO. Kein anderer<br />
Modeanbieter ist bei Suchanfragen im<br />
Web ähnlich präsent wie der Berliner<br />
Offline-Shopping Der Verkauf im Laden war<br />
Teil einer Marketingaktion von Zalando.<br />
Seine wahre Stärke zeigt der Händler im Netz<br />
Google ist die Verlinkung der Seite. Rund<br />
7700 Online-Seiten verweisen laut Sistrix-<br />
Daten auf Zalando.<br />
Doch wie kommen so viele Links zustande?<br />
Ein Zalando-Insider behauptet, dass<br />
ein Teil der Links von anderen Web-Sites<br />
gekauft oder gemietet wurde. Ein Unternehmenssprecher<br />
will das weder bestätigen<br />
noch dementieren.<br />
Auch Blogger soll Zalando zur Suchmaschinenoptimierung<br />
eingespannt haben.<br />
Das Motto dabei: Kleine Geschenke erhalten<br />
die Freundschaft. So spendierte der<br />
Modehändler in den vergangenen Jahren<br />
Zalando-Hymnen zu verfassen und Links<br />
auf den Shop zu setzen.<br />
„Habt ihr mal bei zalando.de geschaut??“,<br />
fragt zum Beispiel eine Netzautorin<br />
aus Niedersachsen auf ihrer Internet-Seite,<br />
um gleich selbst zu antworten:<br />
„Ich könnte in dem Online-Shop stundenlang<br />
surfen und meine Wunschliste wird<br />
lääänger und lääääänger...“ Dass sie kurz<br />
zuvor einen 50-Euro-Bon erhielt, steht<br />
nicht auf der Seite.<br />
Ein Zalando-Sprecher betont, das Unternehmen<br />
sei bestrebt, „höchstmögliche<br />
Transparenz zu gewährleisten“. Blogger<br />
würden unabhängig über den Inhalt ihrer<br />
Beiträge entscheiden.<br />
n<br />
henryk.hielscher@wiwo.de<br />
Lesen Sie weiter auf Seite 42 »<br />
WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 41<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Mit strenger Hand<br />
SAMWER-BIOGRAFIE | Joel Kaczmarek schildert, wie aus drei Kölner Brüdern ebenso erfolgreiche wie<br />
umstrittene Unternehmer wurden. Auszüge aus seinem Buch „Die Paten des Internets“.<br />
Glaubt man Oliver Samwer, begleitete der Traum <strong>vom</strong> Unternehmertum<br />
ihn und seine Brüder bereits seit der Kindheit.<br />
Im Alter von acht Jahren begann der 1973 geborene Kölner,<br />
seinen Vater jeden Samstag in dessen Anwaltskanzlei zu begleiten,<br />
um ihn beim Öffnen der Geschäftspost zu unterstützen. Hautnah<br />
sollten der heranwachsende Junge, sein drei Jahre älterer Bruder<br />
Marc und der zwei Jahre jüngere Alexander so erfahren, was es<br />
bedeutete, selbstständig zu sein. Im Kleinformat vermittelte der<br />
freiberufliche Vater den Brüdern die Hochs und Tiefs des Unternehmertums.<br />
Regelmäßig sollte der Vater das „Handelsblatt“ mit<br />
nach Hause bringen und in seinen Söhnen eher das Interesse für<br />
Börsenkurse, denn für Micky Maus wecken. Darauf angesprochen,<br />
beschreibt Oliver Samwer seinen Vater als „einen sehr schlauen<br />
Mann mit vielen deutschen Tugenden, der stets viel in seinem<br />
Leben gearbeitet hat und Herr einer kleinen Anwaltsfirma“ sei.<br />
In Wirklichkeit handelt es sich bei Vater Sigmar-Jürgen Samwer<br />
um niemand Geringeren als einen der bekanntesten Rechtsanwälte<br />
Kölns. Ein Presse- und Wettbewerbsrechtler, der Ansehen<br />
erlangte, nachdem er Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll vor<br />
dem Bundesverfassungsgericht vertrat oder den späteren Bundespräsidenten<br />
Karl Carstens im Guillaume-Untersuchungsausschuss<br />
verteidigte. Der strebsame Familienvater mit bissigem Humor und<br />
hoher Intelligenz erzog den eigenen Nachwuchs mit strenger Hand<br />
und ausgemachtem Elitedenken konservativer Färbung. Er war es<br />
daher wohl auch, der seinen Söhnen jenen Drang nach Wettbewerb,<br />
den unbedingten Wunsch zu gewinnen, mit<br />
auf den Weg gab – eine Eigenheit, die insbesondere<br />
Oliver Samwer in einzigartiger Weise ausmacht.<br />
Vollständig erklären mag aber selbst die strenge<br />
Erziehung den Erfolgshunger der drei Samwers<br />
nicht, zumal der jüngste Bruder Alexander im Vergleich<br />
zu seinem bissigen Geschwisterkind Oliver<br />
ohnehin eher in sich ruhend und gelassen wirkt.<br />
Vor allem ist da noch Sabine Samwer, eine überfürsorgliche<br />
Mutter, die ebenfalls dem Anwaltsberuf<br />
nachging. Selbst im Erwachsenenalter soll sie<br />
Oliver noch gemahnt haben, während der gemeinsam verbrachten<br />
Urlaube nicht von einem kleinen Felsen ins Wasser zu springen.<br />
Dennoch sollte auch Sabine Samwer ihren Kindern jenes starke<br />
Elitedenken vermitteln, auf das ihr Mann so viel Wert legte.<br />
Das Elternpaar hielt sich für etwas Besonderes und wiederum<br />
war es der mittlere Bruder Oliver, der diese Einstellung in besonderer<br />
Weise übernahm. Stets war er auf besten Umgang bedacht. So<br />
ging er zu Studienzeiten eine Liaison mit einer Französin ein, deren<br />
Vater im Führungsstab von Frankreichs Staatspräsident<br />
Jacques Chirac arbeitete. In der Öffentlichkeit und gegenüber den<br />
Weggefährten der Samwers gab sich der mittlere Bruder gerne cool<br />
und locker, als Unternehmerpersönlichkeit, die sparsam lebte und<br />
auf teure Dinge nichts gab. In Wirklichkeit war an seinem Lebensstil<br />
aber nichts mehr bescheiden, nachdem er sich erst einmal<br />
einen gewissen Wohlstand erarbeitet hatte.<br />
BLAUES BLUT IN SAMWERS ADERN<br />
Auch der Familienstammbaum der Samwers ist eindrucksvoll.<br />
Karl Friedrich Lucian Samwer, der Urgroßvater der drei Brüder,<br />
war als Ehrenbürger von Gotha ausgezeichnet worden, nachdem<br />
er die Gothaer Versicherungsbank durch die Kriegswirren geführt<br />
und die Gothaer Versicherung gegründet hatte. Durch einen Zufall<br />
sollte sich die adlige Abstammung der Samwers herausstellen, als<br />
Karl Samwers Vater Carl August 1813 die älteste Tochter des Adeligen<br />
Simon Carl von Wasmer heiraten wollte. Denn Wasmer offen-<br />
1|Startschuss Alando<br />
Samwers & Friends 1999<br />
2|Ebay kauft Alando<br />
Die Samwers lecken Blut<br />
3|Nächster Coup<br />
Klingeltöne fürs Handy<br />
4|Klon City Deal<br />
An Groupon verscherbelt<br />
5|Putzkraftportal<br />
Helpling Wisch und weg<br />
1 2 3<br />
42 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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FOTOS: POP-EYE/BRIGITTE HEINRICH, LAIF/RUEDIGER NEHMZOW, PR, ANDREAS CHUDOWSKI FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, PICTURE-ALLIANCE/DPA/HANNIBAL HANSCHKE<br />
barte ihm, dass er im Begriff war, seine Halbschwester zu ehelichen,<br />
war Carl August Samwer doch sein außerehelicher Sohn.<br />
Um die Verwandtschaft zu verschleiern, war der Nachname des<br />
Adeligen von „Wasmer“ zu „Samwer“ umgestellt geworden.<br />
In den Genen der Samwer-Brüder war also ein gewisses Gründer-Gen<br />
vorhanden. Während andere Kinder Lokomotivführer<br />
oder Pilot werden wollten, war ihr Berufswunsch der des Unternehmers.<br />
Die drei Brüder schlossen während eines Segeltörns einen<br />
Pakt: Sie wollten gemeinsam ein Unternehmen gründen – da waren<br />
die drei gerade 12, 14 und 16 Jahre alt. Gemeinsam besuchte das<br />
Trio das renommierte Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Köln und<br />
verbrachte die Freizeit im Marienburger Sportclub, wo den eng verbundenen<br />
Brüdern die Bedeutung von sportlicher Rivalität, Wettbewerb<br />
und ein ausgeprägter<br />
Siegeswille nahegebracht<br />
wurde. „I will die to<br />
win“, fasste Oliver es später<br />
einmal zusammen und<br />
übertrug seine sportliche<br />
Maxime auf sein berufliches<br />
und schulisches Schaffen. Mit einem Notendurchschnitt von<br />
0,8 gelang Oliver das beste Abitur seines Jahrgangs, doch Alexander<br />
sollte ihn noch übertreffen: Er schrieb 1994 das beste Abitur Nordrhein-Westfalens<br />
und brachte es auf einen Schnitt von 0,66.<br />
Neben der Erziehung der Eltern zeichnet vor allem die Geburtenfolge<br />
der Samwers ein anschauliches Bild ihrer unterschiedlichen<br />
Charaktereigenschaften. Als Erstgeborenem war Marc ein Großteil<br />
der elterlichen Aufmerksamkeit zugekommen, ehe drei Jahre später<br />
die Geburt des Bruders Oliver möglicherweise so etwas wie eine<br />
psychologische „Entthronung“ mit sich brachte. Die oft beobachtete<br />
Reaktion, dass Erstgeborene in der Folge diesen Statusverlust<br />
durch ein besonderes Maß an Tüchtigkeit und Vernunft sowie die<br />
Übernahme von Verantwortung wieder wettmachen wollen,<br />
scheint bei Marc nicht unplausibel. Dem Zweitgeborenen kommt<br />
in diesem Konstrukt so etwas wie die Rolle als „Herausforderer“ zu.<br />
Mit zwei charismatisch-kontaktfreudigen älteren Geschwistern vor<br />
sich suchte sich Alexander, der jüngste Bruder, womöglich seine eigene<br />
Lücke und agiert seither als eine Art Stratege des Trios.<br />
DER DIPLOMAT AN DER SPITZE<br />
Marc Samwer ist ein Charismatiker, ein jovialer Mann von hohem<br />
Wuchs, der es versteht, andere für sich einzunehmen. Äußerlich<br />
ein echter Gewinnertyp, dem es quasi zufällt, dass andere ihn mögen<br />
und der sein Gegenüber beinahe genauso geschickt umgarnen<br />
kann wie sein jüngerer Bruder Oliver. Im Gegensatz zu ihm,<br />
der durch unterschiedliche sprachliche Marotten aufzufallen weiß<br />
– etwa durch seine von Kriegsmetaphern durchzogene Rhetorik<br />
oder das Beenden nahezu jedes englischen Satzes mit der Silbe<br />
„ja?“ –, bietet das Auftreten von Marc weniger Angriffsfläche. Er ist<br />
ein guter Redner, der es vermag, Sachverhalte leicht verständlich<br />
herunterzubrechen. Auch fehlt seinen öffentlichen Auftritten die<br />
subtil selbstverliebte Note des jüngeren Bruders.<br />
Doch das Gesicht, das die Öffentlichkeit von Marc Samwer sieht,<br />
hat nicht zwangsläufig etwas mit dem Auftreten zu tun, das er in<br />
seinen Unternehmen zeigt. Dem Samwer-Ältesten haftet der Ruf<br />
eines geschickten Manipulators an, der durch sein Verkäufertalent<br />
zu überzeugen weiß, aber gerne auch mal mit gespaltener Zunge<br />
spricht. Ehemalige Mitarbeiter sagen Marc eine gewisse berechnende<br />
Unaufrichtigkeit<br />
nach und beschreiben<br />
ihn als jemanden, der<br />
häufig hinter dem Rücken<br />
anders als im direkten<br />
Kontakt spricht. Dieser<br />
schlechte Ruf lässt sich<br />
zwar nicht belegen, solche Zuschreibungen ziehen sich jedoch wie<br />
ein roter Faden durch die Erzählungen über Marc Samwer.<br />
Der Jurist hatte einen merklichen Erfahrungsvorsprung, als er<br />
sich mit seinen Brüdern zusammentat und binnen eines Jahrzehnts<br />
ein eigenes Internetimperium aufbaute. Dennoch gilt Marc<br />
als der am wenigsten talentierte Unternehmer des Brüdergespanns.<br />
Zwar überragen seine Intelligenz und Umsetzungsstärke<br />
deutlich den Durchschnitt, doch seien ihm sowohl Alexander als<br />
auch Oliver in diesen Disziplinen merklich voraus. Dass es letztlich<br />
doch keinen so großen Unterschied der Talente der Brüder gibt,<br />
bewies Marc beim Coupon-Anbieter Groupon, für den er das internationale<br />
Geschäft verantwortete. Dabei überflügelte er den für<br />
Deutschland zuständigen Oliver merklich. Den Leitwolf sollte der<br />
älteste Bruder trotzdem nicht mimen. Diese Rolle fiel Oliver zu.<br />
Der zweifelhafte Ruf, ein<br />
geschickter Manipulator<br />
zu sein, hängt Bruder Marc an<br />
DER AGGRESSOR IN DER MITTE<br />
Während andere Unternehmer in Tagen oder Wochen funktionieren,<br />
arbeitet Oliver Samwer in Stunden und Minuten und setzt<br />
mehrere Aspekte parallel um. Bei all seinen Unternehmungen geht<br />
es nur um eines: schneller zu sein als die Konkurrenz. Er ist in der<br />
Lage, in rasantem Tempo stets die rational beste Entscheidung zu<br />
treffen und diese anschließend eisern, mit völliger Emotionslosigkeit<br />
umzusetzen. Auch der Umfang der Entscheidung spielt für ihn<br />
keine Rolle. Ob er ein mittleres Marketingbudget umdisponiert<br />
oder einen Unternehmensstandort mit 400 Angestellten<br />
»<br />
4 5<br />
WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 43<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
»<br />
schließt (wie dies beim Türkei-Standort der Fall war), macht für<br />
ihn keinen Unterschied. Und selbst wenn sich eine seiner Entscheidungen<br />
im Nachhinein als falsch herausstellt – und dies<br />
kommt nicht selten vor –, sichert ihm seine Geschwindigkeit, dass<br />
er eine Fehlentscheidung vor allen anderen bemerkt und revidieren<br />
kann. Hinzu kommt:Oliver Samwer verfügt über die Fähigkeit,<br />
in seinem Gegenüber Wünsche und Begehren auszumachen, und<br />
ist dann in der Lage, diese in Aussicht zu stellen, um das Verhalten<br />
zu erzielen, das er sehen möchte. Ist es in seinem Interesse, verströmt<br />
er eine inspirierende, anregende Aura, der selbst Größen<br />
der internationalen Finanzwelt verfallen. Glaubt man dem Flurfunk<br />
seiner aktuellen und ehemaligen Mitarbeiter, reicht sein<br />
emotional-psychologisches Repertoire von cholerischen Schreianfällen,<br />
während derer er Monitore <strong>vom</strong> Tisch wischt, bis hin zu<br />
sanft und säuselnd vorgetragenen Komplimenten. Mal signiert er<br />
E-Mails mit einem nahezu liebevollen »Dein Oli«, mal ruft er sieben<br />
Mal hintereinander nachts um drei an und schreit herum.<br />
Menschen, die von ihm abhängig sind, redet er ein, dass sie<br />
schlecht seien, grobe Fehler<br />
gemacht oder sein Vertrauen<br />
missbraucht hätten. In<br />
der Beziehung zu Fremden<br />
baut er auf Emotionalität,<br />
um ein Gefühl der Verbundenheit<br />
zu suggerieren.<br />
Selbst Menschen, die er<br />
kaum kennt, fährt er empört an, wie sie ihn derart enttäuschen<br />
konnten, und setzt sie einem Wechselspiel aus Aggressionen,<br />
Liebenswürdigkeit und Enttäuschung aus.<br />
Diese Fähigkeiten machen Oliver Samwer zum geborenen Anführer,<br />
der sich und seinen Mitarbeitern Unmenschliches abverlangt.<br />
Durch die Aussicht auf großen Reichtum und gigantische<br />
Lerneffekte, schafft er es, andere Menschen Dinge realisieren zu<br />
lassen, die sie selbst nicht für möglich gehalten hätten. Zu seiner<br />
Taktik zählt es, Ziele derart hoch zu stecken, dass von vornherein<br />
klar ist, dass sich diese nicht erreichen lassen. In dem Versuch,<br />
diese waghalsigen Ziele dennoch zu realisieren, gehen seine Angestellten<br />
über das, was üblich und gesund ist, deutlich hinaus.<br />
ALLES WIRD DEM ERFOLG UNTERGEORDNET<br />
Dieser auf Leistung getrimmte Führungsstil funktioniert aber nur,<br />
weil er ihn selbst lebt. Auch der dreifache Familienvater selbst ordnet<br />
alles seinem Erfolg unter. Geschichten von einem Oliver Samwer,<br />
der bereits im Taxi <strong>vom</strong> Flughafen Interviews gibt, selbst aus<br />
dem Kreißsaal noch Umsatzzahlen erfragt oder nach Reisen um<br />
den gesamten Erdball noch mehrstündige Ansprachen vor seinen<br />
Angestellten hält, gibt es genug.<br />
Seine Arbeitsweise ist auf Geschwindigkeit ausgelegt. Stets<br />
schreibt der Kölner lediglich kurze Stakkato-Mails aus einzelnen<br />
Sätzen oder Worten. Wer Teil von Oliver Samwers Führungsstil des<br />
„Management by Telephone“ ist, kann sich darauf einstellen, dass<br />
es kein „Hallo“ und kein „Auf Wiedersehen“ gibt, sondern dass es<br />
immer sofort zur Sache geht und dass der Unternehmer sein<br />
Gegenüber auch mal mitten im Satz wegdrückt.<br />
Sozial ist Oliver Samwer eher ein Exzentriker. Würde man sein<br />
Verhalten an einer Soziopathen-Checkliste überprüfen, er würde<br />
wohl viele Punkte erfüllen. Zahlreiche ehemalige Weggefährten<br />
sagen dennoch, dass es eine Ehre sei, einmal mit Oliver Samwer<br />
zusammengearbeitet zu haben. Es sei ein Ereignis, ihn und seine<br />
einzigartige Arbeitsweise zu erleben.<br />
Alexander Samwer ist ein hochbegabter Intellektueller, der seine<br />
Brüder in Sachen Intelligenz deutlich überragt. Seine Position im<br />
Trio der drei Samwers speist sich aus der ruhigen und freundlichen<br />
Art eines strategischen Feingeistes, der anderen und ihrer Arbeit<br />
aufrichtiges Interesse entgegenbringt. Er gilt als der Umgänglichste<br />
des Trios, als menschlich, höflich und zurückhaltend und<br />
genießt den Ruf, Beziehungen weniger berechnend aufzubauen.<br />
Ursächlich dafür mag Alexanders studentische Heimat an Eliteuniversitäten<br />
wie Oxford oder Harvard sein, wo der jüngste Samwer<br />
nicht nur hervorragende Abschlüsse ablegte, sondern sich<br />
auch seinen Sinn für die Gemeinschaft aneignete.<br />
Oliver Samwer kann<br />
cholerisch oder säuselnd<br />
sein, wenn er etwas will<br />
FREUNDLICHE DENKMASCHINE<br />
Alexander scheint vielmehr eine Denkmaschine, die ein Thema in<br />
einem Tempo erfasst, wie es nur wenige Menschen auf diesem Planeten<br />
vermögen. Er verfügt über die Fähigkeit, rasant herauszufinden,<br />
an welcher Stelle die Wachstumshebel einer Unternehmung<br />
liegen, in welcher Reihenfolge diese zu bedienen sind und welche<br />
Erfordernisse und Probleme<br />
auf dem Weg mit welcher<br />
Wahrscheinlichkeit<br />
auftreten werden. Seine<br />
Analytik befähigt ihn dazu,<br />
den Finger in die Wunde zu<br />
legen, wenn einer Gründung<br />
auch nur ein Teil dieser<br />
Ablaufschritte fehlt und sie damit droht ein weniger großer Erfolg<br />
zu werden. Es überrascht daher nicht, dass Weggefährten ihn<br />
als intelligent, analytisch, ruhig und freundlich charakterisieren.<br />
Als einen Mann, der im Gegensatz zu seinen Brüdern in der Lage<br />
ist, auch einmal länger als zehn Minuten einem Gespräch zu folgen.<br />
Der auch mal einen Schritt zurücktritt, um das große Ganze<br />
zu betrachten. Sein Antrieb scheint jedoch auch dieses gewisse<br />
Maß an Paranoia zu sein, von der auch seine Brüder befallen sind.<br />
Doch anders als Alexander und Oliver, die sich von dem drohenden<br />
Wettbewerber zu Tempo und Wachstum anstacheln lassen,<br />
konzentriert sich Alexander auf Details. Auch er scheint mit dem<br />
Heute nicht zufrieden, weil er angesichts seiner Weitsicht das Gefühl<br />
hat, dass er und seine Brüder bereits gejagt werden. Doch er<br />
begegnet diesem Umstand mit einem Maximum an Planung. Konsequenterweise<br />
ist er es, der die herausfordernden Gründungen<br />
der Samwers betreute. Dazu gehören etwa der E-Commerce-Riese<br />
Zalando, den er zu einem der erfolgreichsten Onlineshops Europas<br />
auszubauen half, oder das logistisch aufwendige Geschäft des<br />
Möbelshops Home24. Während die Gründungen, bei denen Oliver<br />
oder Marc federführend tätig waren, oft auf kurzfristigen Erfolg<br />
angelegt waren, konzentrierte sich Alexander auf die anspruchsvollen<br />
Aufgaben und betreute sie mit strategischer Weitsicht. Hätte<br />
es ihn nicht in die Selbstständigkeit verschlagen, könnte er auch<br />
als CEO eines Dax-Unternehmens tätig sein.<br />
n<br />
Redaktion: lin.freitag@wiwo.de<br />
Joel Kaczmarek ist der Autor von„Die Paten<br />
des Internets“ und Herausgeber der „Gründerszene“.<br />
Das Online-Magazin beschäftigt sich<br />
mit der Internet-Wirtschaft. Kaczmareks Werk<br />
ist vergangene Woche im FinanzBuch Verlag<br />
erschienen und kostet 19,99 Euro.<br />
FOTO: PR<br />
44 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Offene Wunden<br />
KARSTADT | Rund 20 Filialen will der neue Eigentümer René Benko<br />
schließen. Bürgermeister fürchten die Verödung ihrer Innenstädte<br />
– denn so erging es vielen Städten nach der Insolvenz von Hertie.<br />
Sonja Jürgens stakst in ihren hohen<br />
Schuhen über die kleinen, grauen<br />
Glasmosaike der zerbrochenen Türe.<br />
Die Bürgermeisterin lässt ihren Blick über<br />
die ehemalige Verkaufsfläche schweifen.<br />
Fast sechs Jahre steht das ehemalige Hertie-Kaufhaus<br />
in Gronau, einer 47 000-Einwohner-Stadt<br />
in Westfalen, schon leer. Dekoration<br />
und Papierreste liegen auf dem<br />
staubigen Parkettboden, Kleiderständer<br />
Schandfleck in der Einkaufsstraße<br />
Welche Städte unter dem Rückzug<br />
der Warenhauskette leiden<br />
Lobberich<br />
Hückelhoven<br />
Gladbeck<br />
Bottrop<br />
Eschweiler<br />
Bremerhaven<br />
Delmenhorst<br />
Velbert<br />
MG-Rheydt<br />
Leerstehende Hertie-Häuser<br />
Für diese Standorte gibt es<br />
noch keinen Kaufvertrag<br />
Recklinghausen<br />
Siegen<br />
Herne<br />
Iserlohn<br />
Idar Oberstein<br />
Bedrohte Karstadt-Filialen<br />
Diese Standorte könnten bald wegfallen<br />
Höxter<br />
Neustadt a.d.W.<br />
und halbe Schaufensterpuppen stehen<br />
sinnlos mitten im Raum verteilt. Neben der<br />
ehemaligen Süßigkeitenecke hat jemand<br />
Feuerlöscher in einem Kreis aufgestellt.<br />
„Dahinter standen mal die Schreibwaren“,<br />
sagt die 36-jährige Kommunalpolitikerin.<br />
Früher kauften hier Jugendliche CDs<br />
oder Senioren eine Strickjacke. Doch 2008<br />
ging Hertie in die Insolvenz, und die Mitarbeiter<br />
in Gronau mussten die Schaufenster<br />
Schleswig<br />
Rendsburg<br />
Neumünster<br />
Hamburg-Bergedorf<br />
Hamburg-Billstedt<br />
Dessau<br />
Bayreuth<br />
Filialen von Hertie*, Kaufhof und<br />
Karstadt in Deutschland<br />
320<br />
300<br />
280<br />
260<br />
240<br />
220<br />
200<br />
180<br />
2000 2014<br />
Deggendorf<br />
* 2005 bis 2008; Quelle: CR Investment Management,<br />
Immobilien Zeitung; Gerd Hessert/Universität Leipzig<br />
Insolvenz<br />
von Hertie<br />
mit braunem Packpapier zuhängen. „Obwohl<br />
die Filiale hier schwarze Zahlen<br />
schrieb“, beteuert Jürgens, noch immer mit<br />
Empörung in der Stimme.<br />
Viele Bürgermeister in Deutschland befürchten,<br />
dass die Warenhäuser in ihren<br />
Innenstädten bald genauso verkommen<br />
wie das in Gronau. Spätestens seit dem<br />
Einstieg des österreichischen Immobilienentwicklers<br />
René Benko bei Karstadt ist<br />
klar, dass es zu tiefen Einschnitten in das<br />
Filialnetz des Essener Traditionskonzerns<br />
kommen wird. Bis zu 20 der 83 Karstadt-Filialen<br />
sollen schließen. Und falls Benko<br />
sein langfristiges Ziel für eine Fusion mit<br />
dem Erzrivalen Kaufhof erreicht, könnte<br />
ein noch drastischeres Filialsterben folgen.<br />
In den Stadträten sorgen sich die Kommunalpolitiker<br />
deshalb bereits um die Verödung<br />
ihrer Fußgängerzonen.<br />
Gronau ist nur ein Beispiel dafür, wie<br />
sehr Einzelhandel und Kommune leiden,<br />
wenn ein großes Warenhaus seine Türen<br />
schließt. Nach beinahe sechs Jahren haben<br />
die Politiker in der westfälischen Kleinstadt<br />
an der niederländischen Grenze das Warten<br />
auf einen Investor aufgegeben. Im vergangenen<br />
Oktober kaufte die Stadt die Immobilie.<br />
Die Kleiderständer, das Papier an<br />
den Schaufenstern, die Feuerlöscher, all<br />
das gehört jetzt der Kommune.<br />
„Hauptsache, es geht voran“,<br />
macht sich Bürgermeisterin Jürgens<br />
Mut. Denn das geschäftliche<br />
Leben auf dem menschenleeren<br />
Marktplatz vor dem ehemaligen<br />
Hertie-Kaufhaus ist<br />
heute völlig eingeschlafen. Mehmet<br />
Torun hofft jeden Tag, dass<br />
das rote Hertie-Logo an dem<br />
klobigen Betonbau gegenüber<br />
durch das Schild eines neuen Eigentümers<br />
ersetzt wird. Sein Geschäft<br />
für orthopädische Schuhe<br />
liegt auf der anderen Seite des<br />
Platzes, schräg gegenüber <strong>vom</strong><br />
ehemaligen Kaufhauseingang.<br />
„Die Geschäfte hier haben doch<br />
arge Probleme, weiter zu bestehen“,<br />
sagt Torun.<br />
Von Delmenhorst bis Dinslaken und von<br />
Itzehoe bis Idar-Oberstein, überall haben<br />
die Einzelhändler dieselben Schwierigkeiten,<br />
seit Hertie seine Türen schloss. „Für die<br />
umliegenden Geschäfte ist das eine Katastrophe.<br />
Da fehlt die Sogwirkung, die so ein<br />
Kaufhaus auf die Kunden hat“, sagt Gerd<br />
Hessert, Handels-Professor an der Universität<br />
Leipzig. So erging es auch Bingen am<br />
Rhein. „Hertie ist die offene Wunde in<br />
»<br />
46 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
»<br />
unserem Stadtzentrum“, sagt Bürgermeister<br />
Thomas Feser.<br />
Dabei sollte Hertie in Bingen und<br />
anderswo eigentlich der Retter der<br />
Innenstädte werden. 2005 übernahm<br />
das Traditionswarenhaus,<br />
hinter dem der britische Investor<br />
Dawnay Day stand, mehr als 70 kleinere<br />
Filialen des Konkurrenten Karstadt,<br />
als der mal wieder in der Krise<br />
steckte. Doch nur drei Jahre später<br />
rutschte Hertie in die Pleite.<br />
Jetzt droht sich die Geschichte bei<br />
zahlreichen Karstadt-Filialen zu wiederholen.<br />
Denn der anfangs als Karstadt-Retter<br />
gefeierte deutsch-amerikanische<br />
Investor Nicolas Berggruen<br />
hat bei seinem Rückzug Mitte August<br />
seinem Nachfolger Benko eine Handelsruine<br />
hinterlassen. Benko und<br />
Karstadt-Aufsichtsratschef Stephan<br />
Fanderl müssen nun Teile des Filialnetzes<br />
kappen, um das Überleben<br />
des Unternehmens zu sichern. Jede<br />
vierte Filiale steht auf dem Prüfstand.<br />
Die „Immobilien Zeitung“ hat bereits<br />
eine Rote Liste der Schließungskandidaten<br />
aufgestellt. Besonders<br />
gefährdet sind demnach Standorte in<br />
Bayreuth, Bottrop, Bremerhaven,<br />
Dessau, Hamburg, Iserlohn, Mönchengladbach,<br />
Neumünster, Recklinghausen<br />
und Siegen. Diese Filialen<br />
erwirtschaften besonders wenig Umsatz<br />
pro Quadratmeter und tauchten schon<br />
häufiger auf den Streichlisten des Warenhauskonzerns<br />
auf. Gewissheit wird es für<br />
die Beschäftigten an den Standorten erst<br />
geben, wenn der Karstadt-Aufsichtsrat das<br />
nächste Mal zusammenkommt. Doch eine<br />
für vergangene Woche angesetzte Sitzung<br />
wurde auf unbestimmte Zeit verschoben.<br />
RISIKO FÜR DIE STÄDTE<br />
Für die Ratsherren vieler Städte bedeutet<br />
das nichts Gutes. Bei Hertie waren auch<br />
drei Jahre nach der Insolvenz mehr als die<br />
Hälfte der von Dawnay Day verwalteten<br />
Häuser noch ohne Käufer. „Die Strukturen<br />
bei Hertie waren so kompliziert, wir wussten<br />
nicht mal, mit wem wir eigentlich verhandeln<br />
können“, sagt der Bingener Bürgermeister<br />
Feser. Er schloss sich mit Kollegen<br />
anderer Hertie-geschädigter Städte zusammen,<br />
um gegen den Leerstand und das<br />
fehlende Engagement der Insolvenzverwalter<br />
und des Dawnay-Day-Hauptgläubigers,<br />
der Deutschen Bank, zu protestieren.<br />
Doch 14 der ehemals 34 Bürgermeister<br />
der Runde haben heute noch immer keine<br />
»Bis hier was passiert,<br />
wird es wahrscheinlich<br />
noch etwas dauern«<br />
Sonja Jürgens, Bürgermeisterin von Gronau<br />
Gewissheit über die Zukunft ihrer Hertie-<br />
Häuser. Für diese Immobilien habe man<br />
noch keinen Kaufvertrag abschließen<br />
können, berichtet Sebastian Mogos-Lindemann<br />
<strong>vom</strong> Immobilienfinanzierer CR<br />
Investment Management in Berlin, der<br />
für die Verwertung der Gebäude zuständig<br />
ist. Ein Problem dabei waren die überzogenen<br />
Preisvorstellungen von Dawnay Day:<br />
Die Briten hatten die Immobilien in ihren<br />
Büchern viel zu hoch bewertet und verlangten<br />
deshalb lange Kaufpreise, die nur<br />
wenige Investoren zu zahlen bereit waren.<br />
Doch auch die Kommunen selbst erschwerten<br />
den Verkauf. So zog in Velbert<br />
bei Düsseldorf ein Investor sein Angebot<br />
für die Hertie-Immobilie zurück, weil die<br />
Stadt Plänen für ein Einkaufszentrum an<br />
anderer Stelle zustimmte. Bei anderen Gebäuden<br />
sind es die öffentlichen Vorschriften,<br />
die eine Weiterentwicklung der Gebäude<br />
blockieren. In der Ruhrgebietsstadt<br />
Herne wollte selbst bei der Zwangsversteigerung<br />
des ehemaligen Hertie-Gebäudes<br />
kein Investor zuschlagen. Weil die Fassade<br />
dem Denkmalschutz unterliegt, ist der<br />
Umbau des Haues unverhältnismäßig teuer.<br />
Nun ist für Oktober eine zweite<br />
Zwangsversteigerung angesetzt.<br />
Andere Städte haben das Warten<br />
satt. Nicht nur in Gronau, sondern<br />
auch in Peine und im Kölner Stadtteil<br />
Porz haben die Kommunen die<br />
einstigen Hertie-Immobilien übernommen.<br />
„Die Stadt hat damit Zugriff<br />
auf die zukünftige Entwicklung<br />
des Einzelhandels“, sagt Immobilienverwalter<br />
Mogos-Lindemann.<br />
Eine Vorahnung beschlich offenbar<br />
die Stadträte von Iserlohn. Vor<br />
einem Monat unterschrieben die<br />
Sauerländer den Kaufvertrag für ihr<br />
Karstadt-Haus. Allerdings mit der<br />
Garantie, dass Karstadt bis mindestens<br />
2021 Mieter bleibt. Nur durch<br />
Ausgleichszahlung käme Karstadt<br />
aus dem Vertrag raus. Die Stadt verschaffte<br />
sich so die Möglichkeit, das<br />
Gebäude und die umliegende Innenstadt<br />
neu zu gestalten. Für die<br />
Iserlohner könnte das schneller<br />
wichtig werden als gedacht: Auch<br />
das Warenhaus in ihrer Stadt steht<br />
auf der Roten Liste der gefährdeten<br />
Karstadt-Filialen.<br />
Doch nur wenige Städte können<br />
sich den Kauf der Immobilien leisten.<br />
„Das ist nur bei einer extrem<br />
guten Haushaltslage möglich“, sagt<br />
Joachim Stumpf, Geschäftsführer<br />
der Münchner Handelsberatung BBE. Und<br />
risikolos ist das Investment für Städte<br />
nicht. Die goldene Zeit der Warenhäuser<br />
ist Vergangenheit. In Zeiten des Online-<br />
Handels locken Karstadt, Kaufhof und Co.<br />
immer weniger Kunden an. 1993 gab es<br />
noch 375 Warenhäuser in Deutschland, in<br />
diesem Jahr sind es nur noch 191.<br />
Das weiß auch Gronaus Bürgermeisterin<br />
Jürgens. Ein wenig ratlos steht sie vor dem<br />
ehemaligen Eingang des Warenhauses<br />
rum und blickt die Straße runter. Am anderen<br />
Ende soll bald ein neues Einkaufszentrum<br />
entstehen, ein kleiner Sieg für die<br />
SPD-Politikerin. Der Entwickler des Einkaufszentrums,<br />
die Düsseldorfer ITG, interessiere<br />
sich auch für Hertie, sagt Jürgens.<br />
Doch konkrete Pläne gäbe es noch nicht.<br />
Ein Passant läuft über den großen, leeren<br />
Platz vor dem heruntergekommen Betongebäude,<br />
direkt auf die Bürgermeisterin zu.<br />
„Sie sind die Bürgermeisterin, oder? Wie<br />
sieht es aus mit Hertie, passiert bald was?“,<br />
fragt er. Jürgens knipst ihr Bürgermeisterlächeln<br />
an. „Ja“, antwortet sie, „aber das<br />
wird wahrscheinlich noch etwas dauern.“ n<br />
jacqueline.goebel@wiwo.de, henryk hielscher<br />
FOTO: DOMINIK ASBACH FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
48 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Selbst demontiert<br />
ALNO | Bringt der Kauf des Wettbewerbers AFP nicht die erhofften<br />
Kosteneinsparungen, wird es eng für Firmenchef Max Müller.<br />
Max Müller gibt sich selbstkritisch.<br />
„Ich habe einen Fehler gemacht“,<br />
räumt der 68-Jährige ein. Der Vorstandschef<br />
des Küchenbauers Alno aus<br />
dem baden-württembergischen Pfullendorf<br />
meint seinen Einstieg in das seit Jahren<br />
kriselnde Unternehmen. Müller war im<br />
Zuge einer Kapitalerhöhung bei Alno gelandet,<br />
zu der er zusammen mit Partnern<br />
im Frühjahr 2011 rund 15 Millionen Euro<br />
beigesteuert hatte. Als der damalige Alno-<br />
Vorstandsvorsitzende Jörg Deisel das Unternehmen<br />
kurz darauf verlassen musste,<br />
ernannte der Aufsichtsrat Müller zu dessen<br />
Nachfolger.<br />
Inzwischen weiß der frühere Chef der<br />
Adler-Bekleidungsmärkte, worauf er sich<br />
eingelassen hat. Müller, mit 5,4 Prozent an<br />
Alno beteiligt, hält Aktien an einem Pennystock.<br />
Und auch die übrigen Aktionäre<br />
„hatten seit dem Börsengang 1995 sehr<br />
wenig Freude an ihrem Investment“, sagt<br />
Harald Klein von der Deutschen Schutzvereinigung<br />
für Wertpapierbesitz (DSW).<br />
Der zweitgrößte deutsche Küchenhersteller,<br />
mit seinen Marken Alno, Wellmann,<br />
Impuls und Pino in allen Preissegmenten<br />
vertreten, steckt immer noch in der Krise,<br />
ein Ende ist nicht absehbar. Der Umsatz<br />
fiel 2013 um 11,5 Prozent auf 395 Millionen<br />
Euro zurück, unter dem Strich blieb ein<br />
Verlust von 10,7 Millionen Euro. Bei jeder<br />
der insgesamt 370 000 verkauften Küchen<br />
setzte das Unternehmen im Schnitt knapp<br />
30 Euro zu.<br />
Die Probleme<br />
des früheren<br />
Branchenprimus<br />
sind hausgemacht<br />
Unter Beobachtung Alno-Chef Max Müller<br />
muss endlich Erfolge nachweisen<br />
KAUM KÄUFER FÜR KÜCHEN<br />
Alno bewegt sich in einem schwierigen<br />
Markt. 2013 stagnierte der Umsatz mit Küchen<br />
in Deutschland bei rund zehn Milliarden<br />
Euro. Im ersten Quartal 2014 registrierten<br />
die Hersteller zwar mehr Aufträge und<br />
höhere Umsätze. Zwischen April und Juni<br />
zeigte sich im Inland aber schon wieder<br />
„eine deutliche Beruhigung“, beklagt Lucas<br />
Heumann, Hauptgeschäftsführer beim<br />
Verband der Holz- und Möbelindustrie.<br />
Die Aussichten sind nicht viel besser. Bis<br />
Jahresende werde der Markt allenfalls<br />
„leicht wachsen“, warnt Jürgen Weyrich,<br />
Küchenexperte beim Nürnberger Marktforscher<br />
GfK Retail and Technology. 2015<br />
dürfte das Geschäft mit Herden und<br />
Hängeschränken voraussichtlich nur das<br />
„jetzige hohe Absatz- und Umsatzniveau“<br />
erreichen, erwartet der Branchenexperte.<br />
Auf das Umfeld kann sich Müller, der am<br />
Freitag Halbjahreszahlen für Alno präsentiert,<br />
aber nicht berufen. Mitbewerber wie<br />
Nobilia machen vor, dass Unternehmen<br />
selbst mit Mobilien, die Bundesbürger im<br />
Schnitt nur alle 17 bis 18 Jahre erneuern,<br />
wachsen können. Der Marktführer aus<br />
dem ostwestfälischen Verl hat seinen Umsatz<br />
2013 um fast drei Prozent auf 923,4<br />
Millionen Euro und den Marktanteil von<br />
29,9 auf 30,5 Prozent gesteigert.<br />
Die Probleme beim einstigen Branchenprimus,<br />
heute die Nummer zwei im deutschen<br />
Markt vor Häcker Küchen aus Rödinghausen<br />
bei Bielefeld, sind hausgemacht.<br />
„Alno hat jahrelang an der Demontage<br />
seines Rufes gearbeitet“, ätzt ein hochrangiger<br />
Manager der Branche. Ständige<br />
Wechsel im Top-Management haben das<br />
1927 <strong>vom</strong> Schreiner Albert Nothdurft („Alno“)<br />
gegründete Traditionsunternehmen<br />
fast ruiniert.<br />
In neun Jahren gaben sich in Pfullendorf<br />
fünf Vorstandschefs die Klinke in die Hand.<br />
2010 verlegte Müller-Vorgänger Jörg Deisel<br />
den Firmensitz nach Düsseldorf, ein Jahr<br />
später ging es zurück. Sanierungsprogramme<br />
blieben ohne durchschlagende Wirkung.<br />
„Ich kenne kein Unternehmen, das<br />
fünf Strategiewechsel in neun Jahren<br />
erträgt“, sagt Müller.<br />
Der Schweizer Geschäftsmann weiß<br />
aber, dass er sich darauf nicht ausruhen<br />
kann. Im Mai 2013 musste Alno Anlegern<br />
8,5 Prozent Zinsen für eine 45 Millionen<br />
Euro schwere Anleihe bieten, um den drohenden<br />
Konkurs abzuwenden. Für Müller<br />
ist es die letzte Chance, das Unternehmen<br />
und zugleich die eigene Haut zu retten.<br />
Den Befreiungsschlag soll der Kauf des<br />
Schweizer Konkurrenten AFP Küchen<br />
bringen. Der Zukauf, von Branchenkennern<br />
auf 24 bis 28 Millionen Euro geschätzt,<br />
soll den Umsatz auf 580 Millionen<br />
Euro steigern. Nach vorläufigen Zahlen für<br />
das erste Halbjahr stimmt zumindest die<br />
Richtung: Während der Umsatz der Alno<br />
AG bei rund 198 Millionen Euro im Vergleich<br />
zum Vorjahr stagnierte, brachte es<br />
die Alno-Gruppe inklusive AFP auf gut 262<br />
Millionen Euro. Unterm Strich hat Müller<br />
seinen Aktionären für 2014 ein Konzerner-<br />
FOTOS: LAIF/MICHAEL TRIPPEL, LAIF/REDUX/THE NEW YORK TIMES/MATT RAINEY, BLOOMBERG NEWS/SIMON DAWSON<br />
50 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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gebnis mit einer „schwarzen Null“ versprochen:<br />
„Das ist ambitioniert, aber erreichbar“,<br />
glaubt der Unternehmenschef. Derzeit<br />
habe der angeschlagene Küchenbauer<br />
ein Auftragspolster von „etwas über 100<br />
Millionen Euro“.<br />
Die Übernahme der Eidgenossen soll<br />
Alno vor allem helfen, die bestehenden<br />
Produktionskapazitäten besser auszulasten.<br />
Müller macht die AFP-Fabrik bei Zürich<br />
dicht, 100 Jobs in der Schweiz fallen<br />
weg. Ende August laufen die ersten AFP-<br />
Schränke im Alno-Stammwerk, das nur zu<br />
rund 70 Prozent ausgelastet ist, <strong>vom</strong> Band.<br />
Die sinkenden Fixkosten pro Küche sollen<br />
sich positiv auf das Ergebnis auswirken.<br />
Den Kaufpreis für AFP will Müller „in den<br />
nächsten drei Jahren“ verdient haben. Insgesamt<br />
erhofft er sich 12 bis 15 Millionen<br />
Euro Einsparungen von der Übernahme.<br />
Allein zwei bis drei Millionen soll der günstigere<br />
Einkauf bringen: Mit höheren Stückzahlen<br />
für Holzteile, Beschläge, Folien und<br />
Kanten will er Zulieferern Preiszugeständnisse<br />
abringen.<br />
JURISTISCHE ALTLASTEN<br />
Für Müller wird die Zeit knapp, sein Vertrag<br />
als Vorstandschef läuft zum Ende der<br />
Hauptversammlung in gut neun Monaten<br />
ab. Ein Scheitern mit AFP wäre wohl sein<br />
Aus. Schon die außerordentliche Preiserhöhung<br />
<strong>vom</strong> vorletzten Jahr um rund acht<br />
Prozent verschreckte potenzielle Kunden.<br />
„Müller hat jetzt die Chance zu zeigen, dass<br />
seine Ideen fruchten“, so DSW-Sprecher<br />
Klein, „wenn die Alno-Zahlen zum Jahresabschluss<br />
2014 nicht deutlich besser aussehen,<br />
wird es für Müller eng.“<br />
Zudem hat Alno noch Altlasten zu schultern.<br />
Bis heute müssen sich Richter mit<br />
dem Rausschmiss von Müllers Vorgänger<br />
befassen. Gleich zweimal hatte der damalige<br />
Aufsichtsrat Deisel fristlos gekündigt –<br />
erst im April und dann nochmals im Juli<br />
2011. 1,7 Millionen Euro konnte der Ex-<br />
Chef bereits 2012 vor dem Oberlandesgericht<br />
(OLG) Düsseldorf für sich erstreiten.<br />
Demnächst kann er mit weiteren 1,2 Millionen<br />
Euro plus Zinsen rechnen – für entgangene<br />
Gehälter, Tantiemen und Beiträge<br />
zur Altersvorsorge.<br />
Ausbaden müssen das womöglich die<br />
Aktionäre. Zwar hat das Unternehmen<br />
auch gegen die jüngste Entscheidung Berufung<br />
beim OLG Düsseldorf eingelegt.<br />
Rückstellungen für den Fall, dass Alno in<br />
letzter Instanz unterliegt, haben die Pfullendorfer<br />
aber nicht gebildet.<br />
n<br />
thomas glöckner | unternehmen@wiwo.de<br />
Fruchtbarer Fight<br />
MERCK | Zwischen den beiden gleichnamigen Konzernen in<br />
Deutschland und den USA lebt die alte Rivalität wieder auf.<br />
Die wenigsten Betroffenen dürften<br />
ahnen, dass sie Merck ihre Existenz<br />
verdanken. „Wir gehen davon aus,<br />
dass mithilfe unserer Produkte weltweit<br />
bisher rund zwei Millionen Babys gezeugt<br />
werden konnten“, sagt Stefan Oschmann,<br />
Mitglied der Merck-Geschäftsleitung. Mit<br />
seinen künstlichen Fruchtbarkeitshormonen,<br />
die Eizellen im Körper der Frau besser<br />
reifen lassen, gilt Merck als Lebensspender<br />
für Hunderttausende Deutsche, Spanier,<br />
Franzosen, Engländer oder Amerikaner.<br />
Doch welche Firma Merck? Der Pharmaund<br />
Chemiekonzern aus Darmstadt, mit<br />
knapp elf Milliarden Euro Umsatz und einem<br />
Börsenwert von acht Milliarden Euro<br />
Mitglied im Deutschen Aktienindex Dax?<br />
Oder der 3-mal größere und 20-mal so<br />
wertvolle US-Konzern Merck & Co.? Beide<br />
Unternehmen haben den gleichen Ursprung,<br />
gehen aber seit 1917 getrennte Wege.<br />
Manager Oschmann hat für beide Unternehmen<br />
gearbeitet und steht seit 2011<br />
in Diensten der Darmstädter.<br />
Verschwand in den vergangenen knapp<br />
100 Jahren die Rivalität mehr und mehr,<br />
flammt diese nun wieder auf, und das in einem<br />
ausgesprochenen Wachstumsmarkt.<br />
Standen die Deutschen bisher eher im<br />
Ungleiche Konkurrenten<br />
Später Einstieg ins Geschäft mit Fruchtbarkeitshormonen<br />
Merck & Co.-Chef Frazier<br />
Frotzeleien und Sticheleien gegen den<br />
US-Namensvetter Merck-Chef Kley<br />
Schatten der entfernten US-Verwandtschaft,<br />
laufen sie den Amerikanern nun bei<br />
Fruchtbarkeitsmedizin den Rang ab.<br />
Mit einem globalen Anteil von 40 Prozent<br />
sind die Hessen inzwischen Weltmarktführer<br />
und setzen mehr als 800 Millionen<br />
Euro im Jahr mit fertilitätssteigernden<br />
Mitteln um. Allein ihr Hormonpräparat<br />
Gonal-F sorgt für einen Jahresumsatz<br />
von 586 Millionen Euro. Merck & Co. in den<br />
USA kommt mit seinen Fruchtbarkeitspräparaten<br />
gerade mal auf geschätzt 20<br />
Prozent. Genaue Zahlen veröffentlichen<br />
die Amerikaner dazu nicht.<br />
WIE DIE JUNGFRAU ZUM KINDE<br />
Damit ist das Feld für Frotzeleien und<br />
Sticheleien bereitet. „Bitte, wie heißt das<br />
Unternehmen?“, fragt Merck-Chef Karl-<br />
Ludwig Kley mit ironischem Unterton,<br />
wenn ihn jemand auf den US-Namensvetter<br />
Merck & Co. anspricht. Dann referiert<br />
Kley ausgiebig darüber, dass Merck aus<br />
Darmstadt ja schließlich das Original sei<br />
und die Konkurrenz unter der Führung des<br />
Amerikaners Kenneth Frazier sich nur in<br />
Nordamerika Merck nennen darf. In allen<br />
anderen Ländern firmiert der US-Konzern<br />
unter dem Kürzel MSD.<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 51<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Merck in Darmstadt 1892<br />
»<br />
Kley und sein Pharmamanager<br />
Oschmann haben es zum Weltmeister bei<br />
den Fruchtbarkeitspräparaten gebracht,<br />
weil sie früher als ihr Namenspendant in<br />
den USA den Trend zum späten Elternglück<br />
erkannten und konsequenter darauf<br />
setzten. Um jährlich vier Prozent soll die<br />
Nachfrage nach Mitteln wachsen, die gegen<br />
nachlassende Fruchtbarkeit mit steigendem<br />
Alter helfen.<br />
Dabei sind sowohl Merck als auch Merck<br />
& Co. zu ihren Fertilitätssparten gekommen<br />
wie die Jungfrau zum Kinde. Die Hessen<br />
übernahmen 2006 das Schweizer Biotech-Unternehmen<br />
Serono, allerdings eher<br />
aus Verlegenheit. Denn ursprünglich wollten<br />
die Darmstädter den damaligen Berliner<br />
Dax-Konzern Schering übernehmen,<br />
dort kam jedoch dann Bayer zum Zuge.<br />
Darauf schnappte sich Merck für knapp elf<br />
Milliarden Euro Serono, vor allem wegen<br />
des vielversprechenden Präparats Rebif<br />
gegen multiple Sklerose. Zudem galt Serono<br />
auch als Weltmarktführer der Reproduktionsmedizin<br />
und verfügte über aussichtsreiche<br />
Hormonpräparate wie Gonal-F,<br />
ohne das keine künstliche Befruchtung<br />
im Labor funktionieren kann.<br />
STARTVORTEIL AUSGESPIELT<br />
Merck & Co. in den USA wiederum<br />
schluckte 2009 den US-Wettbewerber<br />
Schering-Plough, vor allem wegen seiner<br />
Medikamente zur Blutverdünnung und gegen<br />
Allergien. Zu der neuen Tochter, die<br />
aus der Enteignung der Schering-US-Tochter<br />
während des Zweiten Weltkriegs hervorgegangen<br />
war, gehörte auch ein Biotech-Unternehmen<br />
namens Organon, das<br />
sich auf Verhütungsmittel und Fruchtbarkeitshormone<br />
spezialisiert hatte.<br />
Dass die Hessen in dem einst beiläufigen<br />
Geschäft heute rund doppelt so stark sind<br />
wie die Amerikaner, verdanken sie ihrem<br />
Startvorteil, den ihnen die starke Marktposition<br />
von Serono bot. Zugleich bauten sie<br />
den Vorsprung aber auch aus.<br />
Merck Building in New York 1895<br />
MERCK VERSUS MERCK<br />
EMD gegen MSD<br />
1668 In Darmstadt erwirbt Friedrich<br />
Jacob Merck die Engel-Apotheke, die<br />
Keimzelle von Merck.<br />
1887 Merck expandiert und gründet<br />
eine Niederlassung in New York, aus<br />
der 1891 die Tochtergesellschaft Merck<br />
& Co. entsteht.<br />
1917 Infolge des Ersten Weltkrieges<br />
enteignen die Amerikaner die deutschen<br />
Eigentümer von Merck & Co.<br />
Zwischen beiden Unternehmen gibt es<br />
heute keine Verflechtungen mehr.<br />
Merck aus Darmstadt tritt in den USA<br />
unter EMD (Emanuel Merck Darmstadt)<br />
auf; Merck & Co. nennt sich außerhalb<br />
der USA und Kanada MSD (Merck<br />
Sharp & Dohme).<br />
Nachdem Merck Oschmann 2011 von<br />
Merck & Co. abgeworben hatte, überlegte<br />
dieser, das Fertilitätsgeschäft zu verkaufen,<br />
besann sich aber eines Besseren: „Aufgrund<br />
der Marktaussichten haben wir uns<br />
für einen Verbleib im Portfolio entschieden.“<br />
Auf diese Weise kann sich der 57-Jährige<br />
seinem alten Arbeitgeber noch einmal<br />
beweisen. So erhielt Oschmann 2013 die<br />
Zulassung für einen Pen, eine Art Spritze,<br />
mit der sich Patientinnen – ähnlich wie Diabetiker<br />
das Insulin – Fruchtbarkeitshormone<br />
injizieren können. Mit dem Hormonpräparat<br />
Pergoveris brachte Oschmann einen<br />
weiteren Trumpf. „Das eignet sich gut bei<br />
älteren Patientinnen, deren Eierstöcke<br />
nicht mehr gut funktionieren“, sagt Jan-Steffen<br />
Krüssel, Vorstandsmitglied der Deutschen<br />
Gesellschaft für Reproduktionsmedizin<br />
und Leiter des Universitäts-Kinderwunschzentrums<br />
Düsseldorf.<br />
WENIG ENTGEGENZUSETZEN<br />
Dagegen brachte der US-Konzern Merck<br />
zuletzt eine Hormoninjektion namens<br />
Elonva heraus, die weniger häufiger gespritzt<br />
werden muss als andere klassische<br />
Präparate. Doch endgültig davongezogen<br />
ist Oschmann seinem Ex-Arbeitgeber mit<br />
dem sogenannten Eeva-Test, mit dessen<br />
Hilfe Ärzte am dritten Tag nach der künstlichen<br />
Befruchtung mithilfe von Videoaufnahmen<br />
genau bestimmen können, wie<br />
lebensfähig die Embryonen in der Laborschale<br />
sind. Dabei wertet eine spezielle<br />
Software Daten zur Vorhersage der Embryonenentwicklung<br />
aus. Eeva stammt<br />
<strong>vom</strong> kalifornischen Unternehmen Auxogyn,<br />
Oschmann hat sich die Vermarktungsrechte<br />
gesichert. Dem hat Merck &<br />
Co. erst einmal nichts entgegenzusetzen.<br />
Größter Konkurrent der Darmstädter ist<br />
dabei der skandinavische Hersteller Fertilitech,<br />
der einen vergleichbaren Test anbietet.<br />
„Welcher Test die besseren Schwangerschaftsraten<br />
bringt, ist noch nicht ausgemacht“,<br />
sagt Mediziner Krüssel, „noch fehlt<br />
es dazu an aussagefähigen Studien.“ In<br />
Deutschland soll das Verfahren im nächsten<br />
Jahr auf den Markt kommen.<br />
Bei aller Rivalität: In einem Punkt ziehen<br />
beide Mercks an einem Strang. In<br />
Deutschland sollten die gesetzlichen<br />
Krankenkassen großzügiger bei der Kostenerstattung<br />
für künstliche Befruchtungen<br />
sein, sagen die Manager beider Konzerne.<br />
Die Kassen zahlen die 1000 bis 4000<br />
Euro teure Hormonbehandlung nur zur<br />
Hälfte – aber nur für drei Versuche und nur<br />
für verheiratete Paare.<br />
„Ich glaube nicht, dass es zeitgemäß ist,<br />
unverheirateten Paaren anders als verheirateten<br />
Paaren die Kosten für künstliche<br />
Befruchtung nicht zu erstatten“, sagt<br />
Oschmann – was nicht nur im Sinne von<br />
Merck, sondern auch von Merck & Co. ist. n<br />
juergen.salz@wiwo.de<br />
FOTOS: PR (2)<br />
52 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Späte Rache<br />
Ex-Baugroßunternehmer<br />
Walter<br />
in seiner Villa in<br />
Südfrankreich<br />
»Global-strategisches Komplott«<br />
INTERVIEW | Ignaz Walter Der einstige deutsche Bauriese hat sein Scheitern aufgearbeitet und gibt die<br />
Schuld am Zusammenbruch seines Lebenswerks 2005 der Deutschen Bank und anderen Instituten.<br />
Kopf der<br />
Deutschland AG<br />
Alfred Herrhausen<br />
war bis zur Ermordung<br />
1989 Chef der<br />
Deutschen Bank und<br />
Chefkontrolleur des<br />
2002 insolventen<br />
Bauriesen Holzmann.<br />
Herr Walter, Sie haben über die Insolvenz Ihres<br />
Baukonzerns 2005 ein dreibändiges Werk geschrieben,<br />
das Sie im Internet zum Kauf anbieten. Warum<br />
kommen Sie erst jetzt mit Ihrer Sicht der Vorgänge?<br />
Ich habe das Buch nicht geschrieben aus Rache oder<br />
Wichtigtuerei. Was man mir angetan hat, war<br />
schlimm! Andere werfen sich vor den Zug, ich nicht.<br />
Ich bin als armer Mensch auf die Welt gekommen.<br />
Mein Seelenheil ist meine Familie und mein Glaube.<br />
Mir geht es nur um die Wahrheit und um meine Ehre<br />
und Würde. Wenn ich mal nicht mehr bin, soll niemand<br />
sagen: Der Kerl hat Pleite gemacht, das muss<br />
wohl eine Mistfirma gewesen sein.<br />
Im Zentrum Ihrer Kritik steht die Deutsche Bank.<br />
Das klingt, als würden Sie die Kritik an den<br />
Geldhäusern seit der Finanzkrise 2008 als willkommenen<br />
Anlass nehmen, um Ihr eigenes Scheitern<br />
Deutschlands größtem Geldhaus unterzujubeln.<br />
Der Eindruck täuscht. Alles fing eigentlich ganz<br />
interessant an. Wir waren Ende der Achtzigerjahre<br />
unter den fünf ganz Großen am Bau in Deutschland.<br />
Eines Tages bekam ich einen Anruf, da bin ich fast<br />
<strong>vom</strong> Stuhl gefallen. Alfred Herrhausen wolle mich<br />
treffen...<br />
...der damalige Chef der Deutschen Bank,<br />
Ich kannte Herrhausen nur aus Zeitungen und<br />
Fernsehen, der machte einen tollen Eindruck. Da<br />
habe ich alle anderen Termine aus meinem Kalender<br />
rausgeschmissen und wir sind in München zum<br />
Käfer gegangen. Anfangs hat Herrhausen mich<br />
examiniert, ob ich der primitive Maurertyp bin, wie<br />
mich so mancher beschrieb, oder nicht. Er habe<br />
verfolgt, sagte er, was ich mache, und wolle wissen:<br />
ob ich ein Konzept habe und ob ich alles mit<br />
Fremdkapital finanziere oder ein Geldgeber hinter<br />
mir steht.<br />
Herrhausen war damals Aufsichtsratsvorsitzender<br />
beim Baukonzern Holzmann, einem Wettbewerber,<br />
dem es allerdings nicht besonders ging.<br />
Ja klar, er wusste, dass wir Holzmann Geschäft wegnehmen.<br />
Und ich sagte ihm auch, warum: Mein Unternehmen<br />
war straff organisiert, meine Mitarbeiter<br />
waren alle am Erfolg beteiligt – bis zum Kranführer<br />
und Hilfsarbeiter. Da musste ich nicht gucken, ob ein<br />
FOTOS: REBECCA MARSHALL FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, PHOTOTHEK/THOMAS IMO, PICTURE-ALLIANCE/DPA/SVEN HOPPE<br />
54 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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schlechter Maurer dabei war. Den haben die auf der<br />
Baustelle selbst aussortiert. Meine Leute haben teilweise<br />
das Doppelte verdient wie auf anderen Baustellen.<br />
Und trotzdem haben wir mehr verdient als<br />
jeder andere. Als Herrhausen darüber staunte, habe<br />
ich ihm versprochen, beim nächsten Treffen lege ich<br />
ihm mein Berichtswesen offen.<br />
Dem Aufsichtsratschef eines Ihrer schärfsten<br />
Konkurrenten?<br />
Der sollte sehen, der Walter haut nicht aufs Blech,<br />
das stimmt. Ich war damals schon recht selbstbewusst,<br />
vielleicht anmaßend frech. Ich habe Herrhausen<br />
gesagt: Noch sind wir kleiner als Holzmann,<br />
aber es wird nicht allzu lang dauern, da stehen wir<br />
auf Platz eins. Er hat mich nicht ausgelacht.<br />
Wieso haben Sie einem Gegner Ihre Pläne verraten?<br />
Ich bin Stratege und ein geradliniger<br />
Typ. Ich habe jedem erzählt, was ich DER BAULÖWE<br />
vorhabe – die meisten haben es bloß<br />
nie geglaubt. Ich packte die Gelegenheit<br />
beim Schopf, so langsam schalten<br />
meine Synapsen ja nicht. Ich<br />
wusste: Ich bekomme 51 Prozent des<br />
damaligen Bauunternehmens Dywidag,<br />
an dem Holzmann seinerzeit<br />
beteiligt war. Ich habe Herrhausen<br />
gesagt: Bei Holzmann ergibt Dywidag<br />
keinen Sinn. Ich kaufe mir 51<br />
Prozent, und dann kaufe ich Ihnen<br />
Ihre 25 Prozent auch noch ab.<br />
Wie hat er auf den Angriff reagiert?<br />
Er hat geschmunzelt und gesagt: Sie brauchen sich<br />
mit den anderen Anteilseignern nicht so bemühen,<br />
ich besorge Ihnen 25 Prozent, und später bekommen<br />
Sie unsere 25 Prozent. Innerhalb eines halben Jahres<br />
hatte ich ruck, zuck die 25 Prozent und hatte dann<br />
über 50 Prozent. Herrhausen hat das gesteuert.<br />
Manche haben an ihn verkauft, manche auf seine<br />
Vermittlung direkt an mich.<br />
Warum sollte Herrhausen sich derart auf Ihre Seite<br />
geschlagen haben?<br />
Herrhausen wollte für Holzmann das Beste. Das dortige<br />
Management hielt er mehrheitlich für Blender.<br />
Er wollte Holzmann und Walter Bau zusammenführen.<br />
Damals hätte das für uns durchaus Sinn ergeben.<br />
Holzmann & Walter hätte der Konzern geheißen.<br />
Aber dazu ist es nicht mehr gekommen, nachdem<br />
Herrhausen 1989 ermordet wurde. Als dann<br />
später Carl von Boehm-Bezing im Vorstand der<br />
Deutschen Bank für Holzmann zuständig wurde und<br />
auf der Arroganzwelle dahergeschwommen kam,<br />
war das eine andere Welt. Bei mir wäre der nicht mal<br />
Abteilungsleiter geworden.<br />
Was änderte sich mit Herrhausens Tod?<br />
Etwa ein halbes Jahr nachdem Herrhausen ermordet<br />
worden war, veränderte sich in der Filiale München<br />
der Deutschen Bank vieles. Plötzlich reichte denen<br />
unser vorbildliches Berichtswesen nicht mehr aus.<br />
Erst später habe ich erkannt: Da wurde etwas vorbereitet.<br />
Walter, 78, absolvierte nach<br />
der Hauptschule eine Maurerlehre,<br />
bevor er das Abitur<br />
nachholte und Bauingenieur<br />
wurde. Nach Anfängen in einem<br />
Ingenieurbüro machte er<br />
sich selbstständig, verkaufte<br />
die Firma und baute von 1970<br />
bis 2000 in Augsburg die<br />
Walter Bau AG auf, die bis zur<br />
Pleite 2005 zu den Branchenführern<br />
in Deutschland zählte.<br />
Wer war der neue Chef?<br />
Es gab mehrere. Ein wichtiger war plötzlich Dr. Gribkowsky.<br />
Gerhard Gribkowsky, der 2012 wegen Bestechlichkeit<br />
beim Verkauf der Formel-1-Anteile der<br />
BayernLB zu acht Jahren Haft verurteilt wurde?<br />
Ja, aber langsam, zur hochgradigen Wirtschaftskriminalität<br />
kommen wir erst später. Als wir bei Dywidag<br />
eingestiegen sind, wollte ich deren Pseudoberichtswesen,<br />
mit dem Verluste und Subtanzverzehr<br />
kaschiert wurden, durch unseres ersetzen. Aber der<br />
Vorstand von Dywidag hat mithilfe von Gribkowsky<br />
und Co. verhindert, dass der wahre Zustand bei Dywidag<br />
aufgedeckt wird. Viele Dywidag-Leute waren<br />
unglaublich eloquente Selbstdarsteller, man könnte<br />
auch sagen: Blender. Bei den schönsten, prestigeträchtigsten<br />
Baustellen war Dywidag<br />
dabei, hat aber Geld verloren, unendlich.<br />
Der ehemalige badenwürttembergische<br />
Ministerpräsident<br />
Lothar Späth war so empört, der hat<br />
in der Aufsichtsratssitzung dem Vorstand<br />
unterstellt, die Unwahrheit zu<br />
sagen, und den Aufsichtsrat dann ja<br />
auch verlassen.<br />
Wollen Sie behaupten, die Deutsche<br />
Bank und die anderen Dywidag-<br />
Aktionäre hatten Ihnen ein marodes<br />
Unternehmen als kerngesund<br />
untergejubelt?<br />
Wir kannten die Probleme von Dywidag.<br />
Unser Plan war klar: Wir übernehmen Dywidag,<br />
die bekommen sofort unser Berichtswesen und unser<br />
Controlling. Die Problembaustellen wollten wir<br />
in 15 bis 18 Monaten abarbeiten. Gute Niederlassungen<br />
hätten wir übernommen, schlechte geschlossen<br />
oder bei Walter Bau eingegliedert. Wir haben gewusst,<br />
dass die kein Geld verdienen und viel Verlust<br />
machten und 300 Millionen ungedeckte Pensionsverpflichtungen<br />
hatten. Wir ahnten aber nicht, dass<br />
sich der Vorstand für wichtiger empfinden würde als<br />
das Wohl der Firma und dass er dabei Hilfe von der<br />
Deutschen Bank erhalten würde.<br />
Wieso war Ihr Verhältnis zu Gribkowsky so<br />
schwierig?<br />
Ich habe ein gutes Gespür für Menschen. Ich habe<br />
meinen Leuten von Anfang an gesagt: Der ist gefährlich.<br />
Herr Gribkowsky wollte zuerst bei der Walter<br />
Bau in den Aufsichtsrat. Dann hat er es bei unserer<br />
Tochter Züblin versucht, schließlich bei Dywidag.<br />
Das konnte ich immer verhindern mit dem Hinweis,<br />
wir hätten da schon genug Banker. Plötzlich wollte er<br />
bei Dywidag den Vorstandsvorsitz übernehmen. Das<br />
hätte ich nicht ausgehalten, also habe ich das abgelehnt.<br />
Prompt kündigte die Deutsche Bank im Mai<br />
2000 die Bürgschaftslinien, die wir aber dringend benötigen,<br />
um Aufträge anzunehmen. Ohne Bankbürgschaften<br />
kann kein Bauunternehmen existieren.<br />
Gribkowsky wollte sich auf Anfrage der Wirtschafts-<br />
Woche dazu nicht äußern. Sie schieben alles auf<br />
»<br />
Drahtzieher<br />
Der ehemalige<br />
Deutsch- und<br />
BayernLB-Banker<br />
Gerhard Gribkowsky,<br />
der zurzeit eine vierjährige<br />
Haftstrafe<br />
verbüßt und als Freigänger<br />
für Strabag<br />
arbeitet, war in die<br />
tödliche Kürzung<br />
der Bürgschaften für<br />
die Walter Bau AG<br />
involviert.<br />
WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 55<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Umstrittene Rolle<br />
In Bankenkreisen<br />
gibt es Zweifel an<br />
Ignaz Walters<br />
Schuldzuweisungen.<br />
Auslöser für die<br />
Insolvenz der Walter<br />
Bau AG soll demnach<br />
ein Rückzieher der<br />
niederländischen<br />
Bank ABN Amro<br />
gewesen sein, wodurch<br />
die Rettung<br />
der Walter Bau AG<br />
scheiterte. Der heutige<br />
Deutsche-Bank-<br />
Co-Chef Jürgen<br />
Fitschen soll sich<br />
für Walter Bau eingesetzt<br />
haben.<br />
Mordgedanken<br />
Als seine Walter Bau<br />
AG 2005 Insolvenz<br />
anmelden musste,<br />
erinnert sich Ignaz<br />
Walter, habe der<br />
Hass in ihm gesagt:<br />
„Diese Dreckschweine<br />
müssen bestraft<br />
werden. Wenn es die<br />
Justiz nicht kann,<br />
dann mach ich es<br />
eben selbst.“ Doch<br />
sein zweites Ich habe<br />
ihn davon abgehalten:<br />
„Du bist doch<br />
kein Verbrecher.“<br />
»<br />
ihn persönlich. Dabei war den Banken ihr<br />
Engagement bei den Baukonzernen schon länger<br />
unheimlich, was sich durch die Pleite von Holzmann<br />
2002 ja als richtig bestätigte. Hat Gribkowsky<br />
Ihnen in Aussicht gestellt, bei Vorteilen für sich die<br />
Bürgschaften doch noch zu verlängern?<br />
Was soll ich dazu sagen? Wenn er so ein Angebot gemacht<br />
hätte, hätte er es ja nur unter vier Augen machen<br />
können. Und wenn er es unter vier Augen gemacht<br />
hätte, könnte ich das nicht beweisen. Und<br />
weil ich es nicht beweisen kann, kann ich es jetzt<br />
auch nicht behaupten. Herr Gribkowsky ist anscheinend<br />
kein billiger.<br />
Wie meinen Sie das?<br />
Charakterlich wie finanziell. Als bei der BayernLB,<br />
die unsere Hausbank war, Alfred Lehner als Chef gehen<br />
musste, ist Gribkowsky dorthin gewechselt. Lehner<br />
kannte unsere Firma und hatte uns vertraut. Mir<br />
war sofort klar. Jetzt ist es für uns gelaufen. Und so<br />
kam es auch, und immer war Gribkowsky mit von<br />
der Partie. Er war anfangs Leiter des Bankenpools.<br />
Nachdem wir, letztlich durch die Streichung der<br />
Bürgschaftslinien, Insolvenz anmelden mussten, saß<br />
er im Gläubigerausschuss und ziemlich schnell in<br />
Gremien von Züblin, nachdem das Unternehmen an<br />
Strabag verkauft wurde. Als dann die wichtigsten gesunden<br />
Firmen von Walter Bau für lächerliche Beträge<br />
bei Strabag gelandet waren, rückte Gribkowsky<br />
dort schnell auch in wichtige Gremien auf. Und jetzt<br />
darf er schon nach einem von vier Jahren Gefängnis<br />
tagsüber als Freigänger durch München spazieren,<br />
weil ihm Strabag einen Job angeboten hat.<br />
Das klingt doch arg nach Verschwörungstheorie.<br />
Wollen Sie uns im Ernst weismachen, dass<br />
Gribkowsky allein und ausschließlich zum eigenen<br />
Vorteil Ihr ganzes Imperium zum Einsturz brachte?<br />
Nein, das glaube ich auch nicht. Gribkowsky, von<br />
Boehm-Bezing und Co. waren eine Kompanie. Ob<br />
Gribkowsky die Deutsche Bank oder diese Gribkowsky<br />
benutzt hat oder ob es von Anfang an ein globalstrategisches<br />
Komplott gab, das ergibt sich aus den<br />
Details in meinem Buch.<br />
Wieso sollte von Boehm-Bezing etwas gegen Sie<br />
gehabt haben?<br />
Es gab auch mit Boehm-Bezing Gespräche über die<br />
Bauwirtschaft. Vielleicht hatte er Gesprächsnotizen<br />
von Herrhausen gefunden. Er sagte, der Bauwirtschaft<br />
gehe es schlecht, nur Holzmann gut. Ich habe<br />
ihm vorgerechnet, dass Holzmann fast pleite ist, und<br />
habe ihm unsere Zahlen gezeigt. Da war er erstaunt.<br />
Holzmann und Walter Bau hätten zu Herrhausens<br />
Zeiten ein richtig gutes Gespann werden können, die<br />
Nummer eins in Europa und weltweit schon eine<br />
große Nummer. Nur hatte sich in der Zwischenzeit<br />
bei Holzmann alles geändert. Als von Boehm-Bezing<br />
Aufsichtsratsvorsitzender war, ging es steil bergab.<br />
Auch von Boehm-Bezing wollte eine Fusion Walter<br />
Bau mit Holzmann?<br />
Ja, aber ich habe ihm abgesagt. Daraufhin hat er<br />
mich belehrt, das war ich von ihm gewöhnt, und hat<br />
sinngemäß gesagt: Das werden Sie noch bereuen,<br />
Sie hören von mir! Das war Ende 1999. Und im Mai<br />
2000 wurden uns die Aval-Linien gekündigt.<br />
Von Boehm-Bezing lehnt es auf Anfrage der WirtschaftsWoche<br />
ab, sich dazu zu äußern. Vermuten<br />
Sie hinter dem, was dann folgte, eine Racheaktion?<br />
Es gab sicher auch persönliche Gründe. Aber aus der<br />
Sicht der Deutschen Bank und anderer Banken ergab<br />
es Sinn, Walter Bau aus dem Weg zu räumen. Die<br />
Deutsche Bank besaß ein großes Aktienpaket von<br />
Holzmann. Die Dresdner Bank hatte Aktien von Bilfinger,<br />
die Commerzbank viele Aktien von Hochtief.<br />
Wenn Walter Bau was passiert, steigt der Wert dieser<br />
Beteiligungen. Also könnten diese drei Banken<br />
schon mal an unserem Untergang interessiert sein.<br />
Auch hätte das zu den Plänen der Deutschen Bank<br />
gepasst, einen ganz großen deutschen Champion in<br />
der Baubranche zu schaffen.<br />
Wieso konnten Sie die Insolvenz nicht verhindern?<br />
Als die Deutsche und die anderen Banken uns die<br />
Bürgschaftslinien gekürzt und damit faktisch gekündigt<br />
hatten, konnten wir keine Angebote mehr abgeben.<br />
Die Banken garantieren mit Bürgschaften, dass<br />
Bauunternehmen tatsächlich Bau und Gewährleistungen<br />
erbringen, statt sich etwa mit Anzahlungen<br />
davonzustehlen. Weil die Kündigung der Bürgschaften<br />
in den Zeitungen stand, wollten Lieferanten und<br />
Subunternehmer plötzlich Vorkasse. Also mussten<br />
wir Bargeld hinterlegen und vorschießen. Dadurch<br />
waren nach zehn Monaten unsere liquiden Mittel<br />
von 1,3 Milliarden Euro weg. Nun konnten wir nicht<br />
mehr anbieten, bekamen keine Aufträge mehr.<br />
Und dann?<br />
Ich habe den Banken angeboten, Beteiligungen zu<br />
verkaufen, damit sie uns wieder Bürgschaften geben.<br />
Unsere unbelasteten Vermögenswerte beliefen sich<br />
seinerzeit umgerechnet auf rund drei Milliarden Euro.<br />
Vier Wochen hielt man uns hin, dann hieß es:<br />
Nein! Notfalls wollte ich sogar Züblin verkaufen.<br />
Wieder zweieinhalb Monate Scheinverhandlungen,<br />
wieder hieß es: Nein. Alle Werte waren ja von den<br />
Banken als Pfand genommen. Und immer Gribkowsky<br />
vorneweg. Am 1. Januar 2005 meldete der Vorstand<br />
der Walter Bau Insolvenz an. Im Februar 2005<br />
hat man die Tochtergesellschaft DSI, die bei uns mit<br />
86 Millionen in den Büchern stand, für 150 Millionen<br />
in eine Finanzgesellschaft der Banken überführt.<br />
Nach einer Schamfrist von neun Monaten ist das Unternehmen<br />
für 1,3 Milliarden Euro an eine schwedische<br />
Gruppe verkauft worden. Das war kein Verkauf,<br />
auch kein Verramschen. Das war Wirtschaftskriminalität.<br />
Und wie kamen große Teile von Walter Bau an<br />
Strabag?<br />
Ich kann nur auf Folgendes verweisen: Gribkowsky<br />
war zunächst Sprecher des Bankenpools, danach<br />
war er im Gläubigerausschuss ein wichtiger Mann.<br />
Unsere 60-prozentige Beteiligung an Züblin stand<br />
bei uns mit rund 600 Millionen in den Büchern. Die<br />
hätten wir für weit über eine Milliarde an Spanier<br />
»<br />
FOTO: PICTURE-ALLIANCE/DPA/TIM BRAKEMEIER<br />
56 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Der Profiteur<br />
Der österreichische<br />
Baukonzern Strabag<br />
und sein Chef Hans<br />
Peter Haselsteiner<br />
haben nach der<br />
Insolvenz der Walter<br />
Bau AG binnen<br />
Kurzem die verbliebenen<br />
Perlen des<br />
Augsburger Baukonzerns<br />
erworben.<br />
Verachtung für alle<br />
aus reichem Hause<br />
Ignaz Walter sah sich<br />
in seiner Jugend<br />
„nicht durch weiches<br />
Daunenbett und<br />
teure Polstermöbel<br />
verwöhnt, nicht<br />
durch Muttis<br />
Schminkgehabe und<br />
Vatis dümmliche<br />
Selbstüberschätzung<br />
fehlprogrammiert<br />
und nicht durch<br />
Nachhilfelehrer oder<br />
Privatinternat zu<br />
grenzenloser Arroganz<br />
entwickelt“.<br />
»<br />
verkaufen können. Meines Wissens ging Züblin<br />
mit Zustimmung des Gläubigerausschusses, also<br />
auch der Banken, für unter 100 Millionen Euro an<br />
Strabag. Heute ist Züblin garantiert mehr als 1,5 Milliarden<br />
Euro wert. Unsere hoch rentable tschechische<br />
Straßenbaugesellschaft, unser profitabler<br />
Tunnel- und Ingenieurbau und weitere Spezialgesellschaften<br />
gingen nahezu alle an Strabag, und dies<br />
alles zu absoluten Schleuderpreisen.<br />
Der Insolvenzverwalter von Walter Bau, Werner<br />
Schneider, stand damals doch unter riesigem<br />
Zeitdruck, wollte er Ihre einigermaßen gesunden<br />
Töchter nicht auch noch ins Grab stoßen.<br />
Herr Schneider und Strabag-Chef Hans Peter Haselsteiner<br />
sind, da bin ich mal ganz vorsichtig, gute Bekannte.<br />
Herr Schneider stand zuvor schon einmal im<br />
Verdacht, mit Strabag etwas ausgemauschelt zu haben.<br />
Bei der Insolvenz soll er 60 Millionen Euro verdient<br />
haben. Haselsteiner hat bei dem ganzen Deal<br />
in ganz anderen Dimensionen verdient. Und da soll<br />
Gribkowksy als Dankeschön nur den Job als Freigänger<br />
bekommen haben?<br />
Wie hoch schätzen Sie den gesamten Wert Ihrer<br />
Gruppe, als es ihr noch gut ging?<br />
Als uns die Bürgschaftslinien gekündigt wurden, hatte<br />
die Gruppe ein Anlagevermögen von rund 1,5 Milliarden<br />
Euro, stille Reserven von 1,5 Milliarden und<br />
liquide Mittel von 1,3 Milliarden. Dazu käme noch<br />
die Bewertung des Geschäfts und des Gewinns.<br />
Wie viel hat Ihre Gruppe den Gläubigern gebracht?<br />
Was die Gläubiger bekommen haben, jenseits der<br />
gesicherten Werte der Banken, das weiß ich nicht.<br />
Hatten Sie gar keine Fürsprecher?<br />
Alle unsere Aufsichtsräte hatten sich bemüht. Auch<br />
der IG-Bau-Vorsitzende Klaus Wiesehügel hat sich<br />
für uns engagiert. Der hatte sich mit dem damaligen<br />
Bundeskanzler Gerhard Schröder schon kurzgeschaltet,<br />
noch bevor ich diesen angerufen hatte. Ich<br />
habe mich mit Schröder getroffen, der hat Mittelsleute<br />
eingeschaltet, die mit der Deutschen Bank verhandelten.<br />
In Bayern war Wirtschaftsminister Otto<br />
Wiesheu zunächst voll auf meiner Seite, bis ihn Gribkowsky<br />
umgedreht hat.<br />
Und wieso sind nicht andere Banken mit Bürgschaften<br />
eingesprungen, wenn Ihr Unternehmen<br />
angeblich so gesund war?<br />
Offen gesagt hat mir das niemand. Mir bleiben nur<br />
Vermutungen. Entweder haben die sich abgesprochen.<br />
Oder die hatten Angst vor der Deutschen Bank.<br />
Oder sie haben sich gesagt: Wenn die Deutsche Bank<br />
es mit dem Walter nicht mehr macht, muss es ja gefährlich<br />
sein. Wir hatten viele Dax-Vorstände in den<br />
Aufsichtsräten, die es auf ihren Kanälen bei der<br />
Deutschen Bank versuchten. Alle erklärten: Es ist unverständlich,<br />
aber es war nichts zu machen.<br />
Der längst verstorbene Medienzar Leo Kirch ging<br />
nach Äußerungen von Ex-Deutsche-Bank-Chefs<br />
Rolf Breuer 2002 pleite. Sehen Sie Parallelen?<br />
Ja, ganz klar. Da hieß es auch: Der ist zu mächtig. Ich<br />
war damals Präsident der gesamten Bauwirtschaft.<br />
Ich war Vizepräsident im BDI. Ich hatte gute Beziehungen,<br />
ich war ja kein Hanswurst oder Wichtigmacher.<br />
Die BayernLB und die HypoVereinsbank<br />
standen lange für uns. Bei der Dresdner oder Commerzbank<br />
hätte ich was bewegen können. Aber als die<br />
Deutsche Bank gegen uns vorging, war alles zu Ende.<br />
Gab es rückblickend einen entscheidenden persönlichen<br />
Fehler, der Sie Ihr Lebenswerk kostete?<br />
Ich war zu ehrlich. Ich habe 1000 Fehler gemacht,<br />
aber nie existenzielle. Ich habe die Macht der Banken,<br />
insbesondere der Deutschen Bank, unterschätzt.<br />
Die ist ein Problem. Aber das noch größere<br />
Problem ist die Macht der Banker. Der Bankier war<br />
früher selbst Unternehmer, eine seriöse Persönlichkeit<br />
und ein ehrbarer Kaufmann. Viele heutige Banker<br />
fühlen sich als große Manager. Diese Herren gehen<br />
über Leichen. Ich brauche im Hirn und in der<br />
Seele auch noch was Soziales. Die wissen nicht, was<br />
sozial ist. Das sind Söldner, die ziehen von einem Job<br />
zum anderen, sitzen aber immer am längeren Hebel.<br />
Wieso sind Sie, offenbar mit Ausnahme Herrhausens,<br />
bei den Bankern nie richtig durchgedrungen?<br />
Das stimmt nicht. Die seriösen Bankiers sahen mich<br />
immer richtig. Die Möchtegernbanker sahen mich<br />
als Parvenü, weil ich aus ganz kleinen Verhältnissen<br />
kam. Später kam bei den meisten Respekt. Bei den<br />
Flaschen in Nadelstreifen aber gab es einen Neidkomplex.<br />
Die sahen, dass ich auf derselben Ebene<br />
spielte wie sie, aber mir gehörte der Laden auch<br />
noch – und wir verdienten ein Vermögen.<br />
Nennen Sie einen Großmanager Ihren Freund?<br />
Die Freunde, die ich hatte, sind fast alle schon gestorben.<br />
Ich war ja immer der Jüngste. Aber meine richtigen<br />
alten Freunde, die sind noch da: mit denen ich<br />
Fußball gespielt hab, mit denen ich in der Volksschule<br />
aufgewachsen bin. Und dann gibt es noch vier,<br />
fünf aus der Studienzeit, vor ein paar Wochen waren<br />
wir noch zusammen. Denen könnte ich 10 000 Euro<br />
geben und würde sie immer zurückkriegen. Im Unternehmerlager<br />
habe ich wenig Freunde.<br />
Teilweise verwenden Sie in Ihrem Buch echte<br />
Namen, teilweise Pseudonyme. Gribkowsky etwa<br />
heißt „Dr. Knasti“. Auf Ihrer Internet-Seite schreiben<br />
Sie: Wer klagen wolle, müsse damit rechnen...<br />
...dass ich jeden Rechtsstreit an die Öffentlichkeit<br />
ziehe...<br />
Wollen Sie Ihre Gegner einschüchtern? Oder hoffen<br />
Sie auf einen Prozess?<br />
Ich hoffe darauf, dass sich einer traut. Ich verstecke<br />
mich nicht.<br />
Waren Sie 2005 nicht in der Position, sich zu wehren,<br />
oder haben Sie es nicht so gesehen wie heute?<br />
Ich war fast nicht mehr lebensfähig und krank, weil<br />
mein Lebenswerk mutwillig in einem Komplott zerstört<br />
wurde. Ich habe mich in Hass geflüchtet und<br />
überlegt: Jetzt gehst du und nimmst ein paar von denen<br />
mit. Aber dann habe ich mich über mich selbst<br />
erschreckt, mein Glaube und meine Familie haben<br />
mich gerettet. Jetzt bin ich fit, jetzt soll es kommen. n<br />
henning.krumrey@wiwo.de | Berlin, reinhold böhmer<br />
FOTO: PICTURE-ALLIANCE/DPA/SEBASTIAN REICH<br />
58 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Technik&Wissen<br />
Basar der Elektronen<br />
ENERGIEWENDE | Mal liefern Sonne und Wind fast den ganzen Strom, mal fast nichts. Diese<br />
Extreme zwingen zum Totalumbau des Energiesystems. Die besten Konzepte dafür<br />
haben Dieter Dürand und Andreas Menn in ganz Deutschland gesucht. Sie stießen auf<br />
rheinische Gründer, badische Querdenker und schwäbische Perfektionisten.<br />
Fußball im Fernsehen, Stau auf<br />
der Autobahn – für viele Deutsche<br />
war der 17. August ein<br />
Sonntag wie jeder andere. Für<br />
die Energiebranche aber war es<br />
ein symbolischer Tag: Am frühen Nachmittag<br />
speisten Windräder und Solarmodule,<br />
Staudämme und Biogas zusammen so viel<br />
Strom ins Netz, dass sie erstmals drei Viertel<br />
des Bedarfs deckten. Das Endziel der<br />
Energiewende, das Land vollständig aus<br />
erneuerbaren Quellen zu versorgen, soll eigentlich<br />
irgendwann nach dem Jahr 2050<br />
erreicht werden. Jetzt rückt es weit vor dieser<br />
Zeit in Sicht – zumindest wenn überall<br />
die Sonne scheint und der Wind weht.<br />
Was gut ist für den Klimaschutz, stellt unser<br />
Energiesystem vor gewaltige Probleme.<br />
Es muss mit immer stärkeren Schwankungen<br />
fertig werden: An guten Tagen decken<br />
Solar- und Windstrom fast den gesamten<br />
Bedarf, an anderen nur einen Bruchteil. Die<br />
alten fossilen Kraftwerke sind mit Tempo<br />
und Ausmaß dieser Ausschläge überfordert.<br />
Sie benötigen teilweise Stunden, um ihre<br />
Leistung anzupassen, und lassen sich nur<br />
auf die Hälfte ihrer Höchstleistung drosseln.<br />
Die Folge: Die Meiler produzieren zu viel<br />
Strom. 2013 exportierte Deutschland so<br />
viel davon wie noch nie. Obendrein drückt<br />
der Überfluss die Preise an den Energiebörsen<br />
– und macht immer mehr fossile<br />
Kraftwerke unrentabel. Erstmals seit 60<br />
Jahren schrieb der Essener Stromriese<br />
RWE 2013 Milliardenverluste, bei Konkurrent<br />
E.On brach der Gewinn ein.<br />
Beide Konzerne wollen Gaskraftwerke<br />
<strong>vom</strong> Netz nehmen – obwohl gerade die als<br />
wichtige Stütze der Energiewende gelten.<br />
Zugleich demonstrieren Tausende Bürger<br />
gegen geplante Stromtrassen, die den grünen<br />
Strom dorthin transportieren sollen,<br />
wo er gebraucht wird.<br />
Der Umbau kommt nicht voran.<br />
Dabei müsste er möglichst zügig starten<br />
– denn die Bundesregierung plant, schon<br />
in zehn Jahren den Anteil der Erneuerbaren<br />
im Strommix auf konstante 40 bis 45<br />
Prozent zu bringen (siehe Grafik Seite 62).<br />
Das Ziel ließe sich laut einer Studie der Internationalen<br />
Energieagentur in Paris sogar<br />
ohne größere Mehrkosten realisieren.<br />
KURZ VOR DEM BLACKOUT<br />
Dazu müssten Windräder, Solarkraftwerke<br />
und Co. nah bei den Verbrauchern gebaut<br />
werden, um Transportkosten zu senken.<br />
Alte, träge Meiler müssen durch reaktionsschnelle<br />
moderne Kraftwerke ersetzt werden.<br />
Das Zauberwort lautet: Flexibilität.<br />
Strom wird in Zukunft dezentral erzeugt –<br />
und je nach aktueller Marktlage ins Netz<br />
gespeist, gespeichert oder vor Ort verbraucht.<br />
Aus dem Monopol der Meiler<br />
wird ein Basar der Elektronen.<br />
Wie aber sieht das im Detail aus? WirtschaftsWoche-Redakteure<br />
haben sich auf<br />
die Reise gemacht – und Orte in Deutschland<br />
besucht, an denen Forscher und Unternehmer<br />
radikale Ideen testen: Industriebetriebe<br />
stoppen ihre Produktion,<br />
wenn Strom teuer ist;kleine Biogasanlagen<br />
werden zu virtuellen Großkraftwerken, die<br />
Energie dann liefern, wenn das Netz kurz<br />
vorm Blackout steht. Solaranlagen wiederum<br />
speichern Strom in Batterien, um ihn<br />
zur rechten Zeit bereitzustellen.<br />
Kann das alles funktionieren – und welchen<br />
Preis müssen wir dafür zahlen?<br />
dieter.duerand@wiwo.de, andreas.menn@wiwo.de<br />
SCHWABMÜNCHEN SMART GRID<br />
Abschalten und<br />
Geld verdienen<br />
Im Stromnetz von heute orientiert sich die<br />
Erzeugung am Verbrauch. In Zukunft soll<br />
es genau umgekehrt sein. Aber kann das<br />
wirklich funktionieren?<br />
Konrad, viereinhalb, und<br />
seine drei Jahre jüngere<br />
Schwester Magdalene haben<br />
viel Spaß an der Energiewende.<br />
Zum Beispiel<br />
wenn sie im elterlichen<br />
Eigenheim ihrem Vater Andreas<br />
Koch helfen dürfen, das Elektroauto,<br />
einen Renault Fluence, an die Ladestation<br />
in der Garage anzuschließen. Der Strom<br />
kommt im Idealfall von der Solaranlage auf<br />
dem Dach des zweistöckigen, gelb gestrichenen<br />
Spitzgiebelhauses.<br />
Die Kochs nehmen an einem Pilotprojekt<br />
teil, das in dieser Größenordnung bundesweit<br />
einmalig ist. Südlich von Augsburg<br />
erkunden in der Siedlung Wertachau die<br />
Stadt Schwabmünchen, der Stromkonzern<br />
RWE und der Energieversorger Lechwerke<br />
mit 115 Privathaushalten, ob es möglich ist,<br />
ein Ortsnetz intelligent zu steuern.<br />
Bisher orientiert sich die Stromerzeugung<br />
am Verbrauch. In Wertachau soll es<br />
umgekehrt laufen, der Verbrauch sich dem<br />
Angebot anpassen. Experten nennen das<br />
Lastmanagement. Das Ziel: Die Kilowattstunden,<br />
die mehr als 20 solare Dachkraftwerke<br />
in dem Weiler produzieren, vollständig<br />
in der Siedlung zu verbrauchen. Ge-<br />
»<br />
FOTO: MARTIN HANGEN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
60 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Fahren auf Ökoenergie ab<br />
Familie Koch aus Schwabmünchen<br />
bei Augsburg lädt ihr Elektroauto<br />
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Technik&Wissen<br />
»<br />
länge es, die Beanspruchung der lokalen<br />
Netze über den Tag zu glätten, ließen sich<br />
Wind und Sonne weit billiger in das Energiesystem<br />
integrieren, meinen die Initiatoren.<br />
Denn der Grünstrom würde dann<br />
nicht mehr die übergeordneten Stromverteil-<br />
und Übertragungsnetze verstopfen.<br />
Und die Energieversorger müssten weniger<br />
Leitungen verlegen oder nachrüsten.<br />
Aber nicht nur im Privaten soll der Verbrauch<br />
dem Angebot folgen. Auch Unternehmen<br />
wollen ihren Strombedarf flexibel<br />
an die Erzeugung anpassen – und auf diese<br />
Weise sogar Geld verdienen.<br />
WASCHEN NACH SONNENSTAND<br />
Was abstrakt klingt, hat ganz praktische<br />
Konsequenzen. Zum Beispiel für Kochs<br />
Ehefrau Nadja. Ihre Waschmaschine<br />
springt erst an, wenn die Sonne kräftig<br />
scheint. Und das wäre auch der Zeitpunkt<br />
für Andreas Koch, die Akkus des Renault<br />
aufzuladen. Weil das nicht immer zeitlich<br />
passt, sammeln Batterien im Keller und ein<br />
Großspeicher am Rande der Siedlung<br />
überschüssige Energie ein. Der kann mit<br />
seiner Kapazität von 150 Kilowattstunden<br />
20 Häuser einen Tag mit Strom versorgen.<br />
Intelligente Stromzähler in den Kellern<br />
erfassen ständig Erzeugung und Verbrauch.<br />
Sie senden die Daten über Glasfaserleitungen<br />
an eine Steuerbox in der Ortsnetzstation.<br />
Dieser Smart Operator ist das<br />
Herzstück des Systems. Er bringt die Nachfrage<br />
mit dem Angebot in Einklang, indem<br />
er Geräte ausstellt oder die Batterien füllt.<br />
Experten der Internationalen Energieagentur<br />
sind sich sicher, dass sich Projekte<br />
wie das in Wertachau auszahlen. In einer<br />
Studie über die Integration der Erneuerbaren<br />
in die Strommärkte resümieren sie: „Es<br />
ist sehr wahrscheinlich, dass der Nutzen<br />
der Nachfragesteuerung bei Weitem die<br />
anfänglichen Kosten übertrifft.“<br />
Davon ist auch Heribert Hauck überzeugt.<br />
Der Leiter Energiewirtschaft beim<br />
größten deutschen Aluminiumhersteller<br />
Trimet hat eine faszinierende Idee. Er will<br />
das Metall künftig so flexibel produzieren,<br />
dass die Hütten des Konzerns im Stromnetz<br />
ähnlich wie ein Pumpspeicherkraftwerk<br />
fungieren. Ist viel Strom im Netz, fahren<br />
sie ihre Leistung hoch – mehr flüssiges<br />
Aluminium fließt in die Wannen unter den<br />
Schmelzöfen. Bei Mangel drosseln sie den<br />
Ausstoß, der Füllstand sinkt.<br />
Im Essener Stammwerk am Nordrand<br />
der Stadt erprobt Hauck das System gerade.<br />
Die 360 Öfen, die das Erz Bauxit bei 950<br />
Grad Celsius per Elektrolyse zu flüssigem<br />
Wind und Sonne boomen<br />
Anteil der erneuerbaren Energien am<br />
deutschen Stromverbrauch (in Prozent)<br />
80<br />
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
25,4%<br />
40 bis 45%<br />
55 bis 60%<br />
1996 2013 2025* 2035* 2050<br />
* Ausbaukorridor gemäß dem Koalitionsvertrag<br />
von 2013; Quelle: BDEW<br />
Aluminium schmelzen, verbrauchen täglich<br />
so viel Strom wie der Rest der neuntgrößten<br />
deutschen Stadt. Rund 70 Megawatt<br />
(MW) könnte Trimet bereitstellen, um<br />
Netzüberlastungen auszugleichen. Diese<br />
Leistung ermöglicht es, binnen 48 Stunden<br />
fast 3,4 Millionen Kilowattstunden abzugeben<br />
– so viel, wie ein mittelgroßes Pumpspeicherkraftwerk<br />
in der gleichen Zeit liefern<br />
kann.<br />
Schon heute stellt das Unternehmen den<br />
Übertragungsnetzbetreibern sogenannte<br />
Regelenergie zur Verfügung. Sie nutzen<br />
diese, wenn die Frequenz oder Spannung<br />
in ihren Netzen gefährlich instabil wird.<br />
Wie wichtig das ist, zeigt ein Vorfall <strong>vom</strong> 4.<br />
April dieses Jahres. An diesem Tag fehlten<br />
dem Netzbetreiber Amprion, zu dessen<br />
Einzugsgebiet das Essener Trimet-Werk<br />
gehört, unerwartet gut 2000 MW Sonnenstrom<br />
aus dem Süden gegenüber der Prognose.<br />
Trimet schaltete kurzfristig einen Teil<br />
seiner Anlagen ab, bis Amprion das Netz<br />
wieder ausbalanciert hatte.<br />
Für Thomas Schulz, Vorstand beim<br />
Münchner Start-up Entelios, ist klar, dass<br />
die Idee, den Verbrauch statt die Erzeugung<br />
zu regeln, die Energiewende ökonomischer<br />
macht: „Das ist preiswerter, als<br />
wenn Reservekraftwerke einspringen.“ 400<br />
MW haben die Münchner unter Vertrag,<br />
darunter Trimet. 9000 MW, schätzt Schulz,<br />
wären möglich. Ein ziemlich großer<br />
Schutzschild gegen unvorhergesehene<br />
Schwankungen. Und ein feines Zusatzgeschäft<br />
für die beteiligten Unternehmen: Jedes<br />
MW, das sie anbieten, bringt ihnen im<br />
Jahr laut Schulz mehrere 10 000 Euro.<br />
FAZIT<br />
Die Stromnachfrage zu regeln macht<br />
die Leitungsnetze flexibler – und auch<br />
wirtschaftlicher.<br />
DÜSSELDORF GASKRAFTWERK<br />
Kampf um<br />
den Stammplatz<br />
Gaskraftwerke überbrücken Flauten von<br />
Solar- und Windstrom. Je seltener sie aber<br />
laufen, desto weniger rechnen sie sich. Wie<br />
werden die Reservisten bezahlbar?<br />
Neun Uhr morgens im Hafen<br />
von Düsseldorf. In Sicherheitsschuhen,<br />
Helm<br />
und Schutzbrille stapft<br />
Martin Giehl über die Baustelle,<br />
die sich hier einen<br />
halben Kilometer lang parallel<br />
zum Rhein entlangzieht. Für die Passanten<br />
mag hier nur eine weitere, riesige<br />
Lagerhalle aus dem Boden wachsen; für<br />
Giehl, den Technikchef der Stadtwerke,<br />
entsteht an diesem Ort ein Meilenstein der<br />
Energiewende.<br />
Denn im Innern der mehr als 30 Meter<br />
hohen Maschinenhalle wartet modernste<br />
Kraftwerkstechnik auf ihren Einsatz: eine<br />
Gas- und Dampfturbine von Siemens, die<br />
so viel Leistung bringt wie 1843 Porsche. 61<br />
Prozent der im Gas gespeicherten Energie<br />
wandelt sie in Strom um – Kohlenmeiler erreichen<br />
dagegen nur eine Ausbeute von 42<br />
Prozent. Damit soll das Kraftwerk jährlich<br />
so viel Kohlendioxid einsparen, wie<br />
350 000 Autos mit einer Fahrleistung von<br />
15 000 Kilometern ausstoßen. „Wenn die<br />
Turbine ans Netz geht“, sagt Giehl, „wird es<br />
das effizienteste Gaskraftwerk der Welt<br />
sein.“<br />
Trotz der Rekordwerte werden die Düsseldorfer<br />
kämpfen müssen, um das Kraftwerk<br />
rentabel betreiben zu können – und<br />
haben sich dazu einiges einfallen lassen.<br />
STROM WIRD ZU BILLIG<br />
Denn es gibt ein Problem: Strom aus der<br />
wachsenden Zahl von Solaranlagen und<br />
Windrädern hat qua Gesetz Vorfahrt im<br />
Leitungsnetz. Immer häufiger müssen die<br />
Betreiber darum fossile Kraftwerke drosseln.<br />
Statt bis zu 6000 Stunden laufen manche<br />
nur noch wenige Hundert Stunden im<br />
Jahr. Dadurch rechnet sich der Betrieb vieler<br />
Gaskraftwerke inzwischen nicht mehr.<br />
Zudem drücken Sonnen- und Windstrom,<br />
wenn sie kurzfristig im Überfluss<br />
vorhanden sind, die Handelspreise an der<br />
Börse so stark, dass sich auch gut ausgelastete<br />
Gaskraftwerke nicht kostendeckend<br />
betreiben lassen. Der Folge: Schmutzige<br />
62 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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en Quellen schwankt. Vor allem ab 2022,<br />
wenn die letzten Kernkraftwerke in<br />
Deutschland <strong>vom</strong> Netz gehen, besteht laut<br />
der Deutschen Energie-Agentur „ein deutlicher<br />
Investitionsbedarf in neue hocheffiziente<br />
Kraftwerke“ – damit der Strom nicht<br />
ausfällt.<br />
FOTO: DAVID KLAMMER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
Kohlekraftwerke erleben eine Renaissance.<br />
Sie erzeugen den billigsten Strom – auch<br />
weil CO 2 -Zertifikate, die zur Emission bestimmter<br />
Mengen an Kohlendioxid berechtigen,<br />
seit Jahren im Überfluss und damit<br />
billig auf dem Markt zu haben sind.<br />
„Wenn es kostspieliger würde, CO 2 auszustoßen,<br />
würden Gaskraftwerke wieder<br />
attraktiver“, sagt Nikolas Wölfing, Energieexperte<br />
beim Zentrum für Europäische<br />
Wirtschaftsforschung in Mannheim. „Die<br />
Europäische Union müsste dazu in den<br />
kommenden Jahren weniger neue Zertifikate<br />
ausgeben, als bisher geplant ist.“ Diskutiert<br />
wird auch über eine Prämie für<br />
Baut auf Erdgas<br />
Giehl, Manager der<br />
Stadtwerke Düsseldorf,<br />
auf dem Dach des neuen<br />
Kombikraftwerks<br />
Kraftwerke, die nur dann laufen, wenn<br />
plötzlich Kapazitäten im Stromnetz fehlen.<br />
Nur wie genau diese Belohnung bemessen<br />
sein soll, damit sie ihren Zweck erfüllt – darüber<br />
streiten die Experten.<br />
Eine Lösung ist dringend nötig. Denn solange<br />
Windräder und Solaranlagen nur einen<br />
Teil des Stroms erzeugen, könnte Gas<br />
die Grundversorgung sichern – und die<br />
schmutzige Kohle als Edelreservist ablösen.<br />
Ein weiterer Vorteil der Gas- und<br />
Dampfturbinen: Sie fahren binnen einer<br />
halben Stunde von null auf volle Leistung<br />
hoch und können so ausgleichen, wenn<br />
die Erzeugung von Strom aus erneuerba-<br />
WASSERTURM SPEICHERT WÄRME<br />
Ein solches High-Tech-Kraftwerk ist das im<br />
Düsseldorfer Hafen. Um den Stammplatz<br />
des Erdgases im Energiemix zu verteidigen,<br />
nutzt Stadtwerke-Technikchef Giehl<br />
fast jede technische Raffinesse, die heute<br />
zu haben ist. Er zeigt auf eine große Halle<br />
neben dem Maschinenhaus. Die Abwärme<br />
des Kraftwerks wird hier auf Wasser übertragen,<br />
das per Rohr in die Stadt gelangt –<br />
Fernwärme für Zehntausende Haushalte.<br />
Kraft-Wärme-Kopplung nennen Experten<br />
das. Die Bundesregierung will deren Anteil<br />
an der Stromerzeugung bis 2020 auf 25<br />
Prozent verdoppeln, darum erhalten die<br />
Stadtwerke Düsseldorf für jede erzeugte<br />
Kilowattstunde eine Zulage, deren Kosten<br />
die deutschen Stromverbraucher zahlen.<br />
„Indem wir die Wärme nutzen, steigern<br />
wir die Effizienz des Kraftwerks auf 85 Prozent“,<br />
sagt Giehl. Dadurch lasse sich die<br />
Anlage wirtschaftlich betreiben. Obendrein<br />
spart die Standortwahl direkt neben<br />
einem bereits bestehenden Gaskraftwerk<br />
Kosten: Gas-, Strom- und Fernwärmeleitungen<br />
sind schon vorhanden. Und statt einen<br />
Kühlturm zu bauen, temperieren die<br />
Düsseldorfer die Anlage mit Rheinwasser.<br />
„Das neue Kraftwerk“, ist Giehl sich sicher,<br />
„wird profitabel sein.“<br />
Ein Nachteil bleibt: Weil die Anlage zuverlässig<br />
Wärme produzieren muss, damit<br />
die Düsseldorfer heizen können, wird es<br />
weniger flexibel. Die Stadtwerke müssen<br />
also mitunter auch dann Strom selbst erzeugen,<br />
wenn sie ihn an der Börse billiger<br />
einkaufen könnten. Abhilfe könnte ein<br />
Wärmespeicher schaffen – für den es ebenfalls<br />
staatliche Fördergelder gibt. Der Energieversorger<br />
N-ergie hat gerade einen solchen<br />
Speicher in Nürnberg gebaut: Der 70<br />
Meter hohe Kessel hält in etwa so viel heißes<br />
Wasser bereit, wie in 13 olympische<br />
Schwimmbecken passt – das ist genug, um<br />
das angeschlossene Kraftwerk ein ganzes<br />
Wochenende lang stillzulegen.<br />
FAZIT<br />
Anfallende Wärme zu nutzen macht Gaskraftwerke<br />
effizienter. Dennoch könnten<br />
sich Reservekraftwerke bald nur noch<br />
rechnen, wenn sie Prämien erhalten.<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 63<br />
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Technik&Wissen<br />
Vertraut der Vielfalt<br />
Next-Kraftwerke-Chef<br />
Sämisch gebietet im<br />
Handelsraum über<br />
2100 Stromanlagen<br />
Sie lassen sich sehr gut regeln, was sie<br />
zu idealen Partnern von Windrädern und<br />
Fotovoltaikdächern macht. Denn deren<br />
Angebot schwankt, was die Stromnetze<br />
mitunter vor Probleme stellt. Genau in<br />
solch kritischen Situationen springt das<br />
virtuelle Großkraftwerk in die Bresche und<br />
füllt die Lücken zwischen Bedarf und Angebot.<br />
Es kann aber auch Regelenergie liefern,<br />
die ausschließlich dazu dient, Frequenz<br />
oder Spannung im Netz stabil zu halten.<br />
Noch reicht die Kraftwerksleistung der<br />
Kölner bei Weitem nicht aus, um die Leitungen<br />
bundesweit im Gleichgewicht zu<br />
halten. Doch mit jeder neu angeschlossenen<br />
Anlage wächst das Potenzial, und das<br />
ist laut Sämisch längst nicht ausgereizt. Er<br />
würde gerne auch Blockheizkraftwerke, die<br />
etwa aus Pflanzenabfällen Elektrizität und<br />
Wärme produzieren, und Notstromaggregate<br />
in den Pool aufnehmen. „Virtuelle<br />
Kraftwerke wie unseres können bei entsprechenden<br />
Marktregeln Teile des Netzausbaus<br />
erübrigen“, sagt der Manager.<br />
KÖLN VIRTUELLE KRAFTWERKE<br />
Garanten des<br />
Gleichgewichts<br />
Einzeln sind Windräder und Solaranlagen<br />
schwer berechenbar. Doch können sie<br />
Deutschland zu 100 Prozent versorgen,<br />
wenn sie im Schwarm kooperieren?<br />
Wenn Hendrik Sämisch<br />
aus seinem Büro im vierten<br />
Stock der rot verklinkerten<br />
Firmenzentrale in<br />
Köln-Ehrenfeld schaut, erblickt<br />
der Geschäftsführer<br />
der Next Kraftwerke in der<br />
Ferne die alte Energiewirtschaft – und ihre<br />
Sünden. Dort, in Richtung Nordwesten,<br />
betreibt der Essener Energieriese RWE laut<br />
einer jüngsten EU-Statistik zwei der dreckigsten<br />
Kohlekraftwerke Europas, gemessen<br />
am Ausstoß des Klimagases Kohlendioxid<br />
(CO 2 ). Riesige Wasserdampfwolken<br />
aus den Kühltürmen verraten den Standort<br />
der 16 Blöcke, die rund 8200 Megawatt<br />
(MW) leisten, mehr als jedes andere deutsche<br />
Kraftwerk.<br />
Für Sämisch sind die mit Braunkohle befeuerten<br />
Stromgiganten eine aussterbende<br />
Spezies: zu schmutzig, zu unflexibel und<br />
am Ende auch zu teuer. Der smarte Jungunternehmer<br />
mit dem lässigen Vollbart ist<br />
vielmehr überzeugt, dass sich auch eine<br />
Industrienation wie Deutschland zu 100<br />
Prozent mit Energie aus erneuerbaren<br />
Quellen versorgen kann. Ohne sich um die<br />
Sicherheit der Versorgung und die Bezahlbarkeit<br />
sorgen zu müssen.<br />
Man muss es nur clever anstellen.<br />
Mit diesem Anspruch haben er und Mit-<br />
Geschäftsführer Jochen Schwill 2009 Next<br />
Kraftwerke initiiert – als Ausgründung aus<br />
dem renommierten Energiewirtschaftlichen<br />
Institut (EWI) an der Universität Köln.<br />
Die Wende in die saubere Energiezukunft<br />
glaubt Sämisch mit marktwirtschaftlichen<br />
Mitteln schaffen zu können. Das schuldet<br />
er seiner Herkunft aus dem EWI. Effizienz<br />
statt Subvention lautet sein Leitsatz.<br />
BIOGAS STATT BRAUNKOHLE<br />
Einige wenige Händler steuern sein – virtuelles<br />
– Kraftwerk aus einem Großraumbüro<br />
mit sechs großen Monitoren an der Wand.<br />
Sie zeigen, wie viel Erzeugungsleistung bei<br />
den Partnern gerade vorhanden ist, wie<br />
sich die Preise an den Strombörsen entwickeln<br />
und wie das Wetter werden soll.<br />
Gut, Sämisch herrscht gerade einmal<br />
über 1000 MW – ein Achtel dessen, was die<br />
nahen RWE-Blöcke produzieren können.<br />
Aber sein Strom, der aus mehr als 2100<br />
über die ganze Bundesrepublik verteilten<br />
Anlagen kommt, ist dafür sauber. Er<br />
stammt überwiegend aus Kleinkraftwerken,<br />
die Biogas oder Biomasse verbrennen.<br />
DREI MAL ZUSATZERLÖSE<br />
Der Hamburger Ökostromanbieter Lichtblick<br />
hat jüngst auf Basis eines Feldtests in<br />
der Hansestadt ausgerechnet, wie stark die<br />
Kosten sinken würden: Er kam auf 500 Millionen<br />
Euro, würden Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen<br />
mit einer Leistung von bis zu<br />
8000 MW intelligent vernetzt.<br />
Das Geschäft mit dem Schwarmstrom<br />
lohnt sich auch für die Anlagenbetreiber.<br />
Hier kommt wieder die für Sämisch wichtige<br />
Marktwirtschaft ins Spiel. Sie erzielen<br />
deutlich höhere Erlöse, als würden sie ihren<br />
Strom für die gesetzlich garantierte<br />
Einspeisevergütung weggeben. Der Grund:<br />
Die Händler von Next Kraftwerke verkaufen<br />
die Kilowatt an den Börsen gezielt<br />
dann, wenn die Einkäufer ihn besonders<br />
gut bezahlen. Zudem bringt die Vermarktung<br />
über die Börse eine Prämie. Und<br />
schließlich erhöht die Bereitstellung gut<br />
bezahlter Regelenergie die Rendite. Auf<br />
sich allein gestellt, haben Anlagenbetreiber<br />
diese Möglichkeiten nicht.<br />
Summa summarum kommen laut Sämisch<br />
bei einer Biogasanlage mit 500 Kilowatt<br />
regelbarer Leistung im Jahr Zusatzeinnahmen<br />
von gut 50 000 Euro zusammen –<br />
allein durch die Flexibilisierung des Anlagenbetriebs.<br />
Wenn das kein Ansporn ist.<br />
FAZIT<br />
Virtuelle Kraftwerke haben Potenzial, das<br />
unsichere Stromangebot von Wind und<br />
Sonne auszugleichen – ohne Subvention.<br />
FOTOS: DAVID KLAMMER, CHRISTOF MATTES, BEIDE FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
64 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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KARLSRUHE SPEICHER<br />
Solarstrom<br />
reifen lassen<br />
Reichlich Strom aus Solaranlagen gibt es<br />
heute nur, wenn die Sonne scheint. Künftig<br />
soll er dank Akkus rund um die Uhr verfügbar<br />
sein. Aber rechnet sich das auch?<br />
Wie zusammengewürfelt<br />
sieht er aus, der neue Solarpark<br />
auf dem Campus des<br />
Karlsruher Instituts für<br />
Technologie (KIT): Eine<br />
Reihe Solarmodule schaut<br />
nach Süden, eine andere<br />
gen Westen, eine steil in den Himmel, eine<br />
weitere schräg nach vorne. Dabei liefern<br />
doch in hiesigen Gefilden Solarzellen den<br />
meisten Strom, wenn sie im 30-Grad-Winkel<br />
gen Süden blicken.<br />
Aber das vermeintliche Chaos habe System,<br />
versichert Projektleiter Olaf Wollersheim,<br />
der sich an diesem heißen Sommertag<br />
lieber im Schatten aufhält, den die Solarmodule<br />
spenden: „Wir wollen herausfinden“,<br />
sagt der Energieforscher, „wie Solarstrom<br />
rund um die Uhr verfügbar wird.“<br />
Bisher produzieren Millionen von Modulen<br />
in Deutschland zur selben Zeit den<br />
meisten Strom – mittags, wenn die Sonne<br />
am intensivsten scheint. Damit treiben sie<br />
an sonnigen Tagen die Strompreise an der<br />
Börse gen null, weil mehr Leistung im Netz<br />
ist, als das Land braucht. Wollersheim fordert<br />
einen Paradigmenwechsel: Solarkraftwerke<br />
sollen nicht mehr die meisten Kilowattstunden<br />
produzieren – sondern die<br />
wertvollsten.<br />
PRIVATE AKKU-ARMADA<br />
Dafür gibt es zwei Mittel, glaubt der Energieexperte:<br />
Erstens müssen mehr Solaranlagen<br />
in West- und Ostrichtung installiert<br />
werden, um am Vormittag und am Nachmittag<br />
viel Elektrizität zu erzeugen. Zweitens<br />
will Wollersheim Solarstrom in Batterien<br />
speichern – um ihn über den Tag verteilt<br />
abzurufen. Die Netzbetreiber müssten<br />
dann nicht mehr hektisch Reservekraftwerke<br />
anfordern, sobald über Bayern ein<br />
Wolkenband hinwegzieht.<br />
Der ausbalancierte Solarstrom könnte<br />
sich auch volkswirtschaftlich rechnen. Eine<br />
Studie für den Berliner Thinktank Agora<br />
Energiewende kommt zu beeindruckenden<br />
Zahlen. Sie geht von einem massiven<br />
Ausbau von Solaranlagen auf 150 Gigawatt<br />
Holt mehr aus Solaranlagen raus<br />
Akku-Experte Wollersheim in seinem<br />
Karlsruher Solarspeicherpark<br />
und Speichern auf 40 Gigawatt Leistung bis<br />
zum Jahr 2033 aus. Dann stünden Millionen<br />
Batterien in deutschen Kellern. Die<br />
Akku-Armada könnte den Stromverbrauchern<br />
jährlich 1,5 Milliarden Euro Kosten<br />
ersparen – verglichen mit dem Plan der<br />
Bundesnetzagentur, der der Fotovoltaik<br />
nur eine kleine Rolle zugesteht.<br />
Doch dazu müssten Komplettsysteme<br />
aus Solarzelle und Batterie für ein typisches<br />
Eigenheim in den nächsten 20 Jahren<br />
um mehr als 80 Prozent billiger werden<br />
– von heute 11 000 Euro auf 2000 Euro. Das<br />
wäre ein gewaltiger Preissturz. Andererseits<br />
sind Fotovoltaikanlagen allein in den<br />
vergangenen sieben Jahren um 70 Prozent<br />
günstiger geworden.<br />
KIT-Forscher Wollersheim glaubt daran,<br />
dass Batterien schon in den nächsten Jahren<br />
erheblich preiswerter werden. Nun<br />
komme es darauf an, sie möglichst intelligent<br />
zu nutzen. „Der Flaschenhals der<br />
Energiewende ist nicht die Hardware“, sagt<br />
Wollersheim. „Es ist die Software.“ In einem<br />
Büro unweit des Solarparks entwickelt<br />
sein Team ein Programm, das darüber<br />
entscheidet, wann Solarstrom ins Netz<br />
fließen soll, wann in den lokalen Verbrauch<br />
und wann in die Batterie – abhängig etwa<br />
<strong>vom</strong> Wetter, den Strompreisen und dem<br />
prognostizierten Verbrauch vor Ort.<br />
SAISONSPEICHER ZU TEUER<br />
„80 Prozent erneuerbare Energien, davon<br />
die Hälfte Fotovoltaik – das ist technisch<br />
machbar“, ist Wollersheim überzeugt. „Erst<br />
wenn der Anteil von Grünstrom noch größer<br />
wird, werden saisonale Energiespeicher<br />
nötig.“ Das könnten Druckluft-Kavernen<br />
oder sogenannte Power-to-Gas-Anlagen<br />
sein, die Strom in Gas umwandeln,<br />
um es später in Gaskraftwerken wieder zu<br />
verstromen. Noch sind diese Techniken<br />
viel zu teuer. Aber die Forscher haben Jahrzehnte<br />
Zeit, sie zu verbessern.<br />
FAZIT<br />
Batteriespeicher können kurzfristige<br />
Energieschwankungen ausgleichen – doch<br />
sie müssen erheblich billiger werden.<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 65<br />
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Technik&Wissen<br />
GLATTEN ENERGIEEFFIZIENZ<br />
Schaffe, schaffe,<br />
spare<br />
Alle reden von Solaranlagen und Windrädern.<br />
Aber fällt der Ausstieg aus Kohle<br />
und Atom nicht leichter, wenn Fabriken<br />
weniger Strom verschwenden?<br />
Hohe Tannen, enge Täler,<br />
sprudelnde Bäche – rund<br />
um Glatten präsentiert<br />
sich der Schwarzwald als<br />
Postkartenidyll. Alles in<br />
dem Luftkurort unweit<br />
von Freudenstadt atmet<br />
Tradition. Geschäfte führen Kuckucksuhren,<br />
ein Fachwerkhaus reiht sich ans<br />
andere, Gaststätten heißen Ochsenstüble<br />
und Sonne.<br />
Zugleich ist die 2400-Seelen-Gemeinde,<br />
in der Kult-Fußballtrainer Jürgen Klopp<br />
aufwuchs, seit mehr als 100 Jahren ein Ort<br />
der grünen Energie. Als Johannes Schmalz<br />
1910 seine Rasierklingenfabrik gründete,<br />
setzte er sie direkt neben das Flüsschen<br />
Ringen um jedes Kilowatt<br />
Die Brüder Kurt (links) und Wolfgang<br />
Schmalz nutzen selbst Bremsenergie<br />
von Transportern im Lager<br />
Glatt, das dem Dorf seinen Namen gab. Ein<br />
Wasserrad spendete die Energie für die<br />
Schleifmaschinen – kostenlos, wie Schwaben<br />
es mögen.<br />
Inzwischen stellen die heute mehr als<br />
800 Beschäftigten der J. Schmalz GmbH<br />
statt Klingen raffinierte Vakuum-Greifer für<br />
Roboter, Werkzeugmaschinen und Hebegeräte<br />
her und verkaufen sie in alle Welt.<br />
Bei allem Wandel sind die heutigen Geschäftsführer,<br />
Kurt und Wolfgang Schmalz,<br />
einem Prinzip ihres Großvaters treu geblieben:<br />
Sie gewinnen Wärme und Strom komplett<br />
aus regenerativen Quellen. Nur sind<br />
seither Windräder, Fotovoltaikmodule,<br />
Sonnenkollektoren und ein Heizwerk, das<br />
Restholz aus den umliegenden Wäldern<br />
verbrennt, dazugekommen.<br />
SPRINKLER KÜHLT SERVER<br />
„Es wurde uns in die Wiege gelegt, den<br />
ökologischen Weg einzuschlagen“, sagt<br />
Wolfgang Schmalz. Seine Augen strahlen<br />
hinter den Gläsern der randlosen Brille.<br />
Die Zufriedenheit darüber, heute sogar<br />
mehr Energie zu erzeugen. als zu verbrauchen,<br />
ist ihm anzusehen. Der Mittelständler<br />
ist einer der wenigen produzierenden<br />
Unternehmer im Land, die sich solch eines<br />
Energieüberschusses rühmen können.<br />
Doch einfach immer weitere Windmühlen<br />
aufzustellen, ist nicht der Weg der<br />
Schmalz-Brüder. Denn auch diese verschlingen<br />
Ressourcen und rauben Land.<br />
Den wahren ökologischen Ansatz sehen<br />
sie darin, alles zu unternehmen, was den<br />
Energiebedarf begrenzt. Vermeiden geht<br />
vor erzeugen, lautet ihre Grundregel. Und<br />
überall werden sie fündig.<br />
Nicht benötigte Stromkreise schalten sie<br />
nachts und am Wochenende ab. Die<br />
Kompressoren in den Werkshallen produzieren<br />
nur genauso viel Druckluft, wie tatsächlich<br />
gebraucht wird. Ihre Abwärme<br />
wird zum Heizen genutzt. Statt mit stromfressenden<br />
Ventilatoren kühlen die<br />
Schwarzwälder ihr Rechenzentrum mit<br />
dem Wasser aus der Sprinkleranlage. Und<br />
selbst die Bremsenergie der Transportschlitten,<br />
die Material im Hochregallager<br />
automatisch einsortieren, wird ins Stromnetz<br />
zurückgespeist.<br />
Die Wirkung all dieser Maßnahmen: Obwohl<br />
Schmalz seit Jahren ständig mehr<br />
produziert, sinkt der Energiebedarf tendenziell.<br />
Bares Geld für die Bilanz.<br />
Bundesweit sieht das Bild anders aus.<br />
Trotz aller Appelle der Bundesregierung<br />
zum Sparen stagniert der Stromverbrauch<br />
auf hohem Niveau. Kurt Schmalz wundert<br />
sich über das verbreitete Desinteresse vieler<br />
Unternehmenskollegen: „Wir können<br />
uns aus der Abhängigkeit von fossilen Ressourcen<br />
lösen.“<br />
WENIGER NETZE NOTWENDIG<br />
Ohne Frage hätte die konsequente und<br />
kontinuierliche Verbesserung der Energieeffizienz<br />
äußerst positive Effekte auf den<br />
deutschen Stromsektor. Das zeigt eine Studie<br />
des Marktforschungsinstituts Prognos<br />
und der RWTH Aachen. Wichtigste Erkenntnis:<br />
Würden Industrie und Verbraucher<br />
die vorhandenen Effizienzpotenziale<br />
ausschöpfen, würden nicht nur weniger<br />
konventionelle Kraftwerke als Reserve benötigt.<br />
Es müssten auch nur 4000 statt der<br />
projektierten 8500 Kilometer Stromnetze<br />
ausgebaut werden. Alles zusammen würde<br />
im Jahr 2050 Einsparungen von bis zu 28<br />
Milliarden Euro ermöglichen gegenüber<br />
einem Weiter-wie-Bisher.<br />
Die Schmalz-Brüder machen es vor.<br />
FAZIT<br />
Stromsparen ist der preiswerteste Baustein<br />
der Energiewende – wird bisher aber<br />
sträflich vernachlässigt.<br />
FOTO: MARTIN WAGENHAN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
66 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
VALLEY TALK | Wer beim Crowdfunding Erfolg hat,<br />
gerät schneller ins Visier professioneller Investoren.<br />
Trotzdem ist die Auslese hart. Von Matthias Hohensee<br />
Kleines Geld lockt großes<br />
FOTO: JEFFREY BRAVERMAN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
Vergangenes Jahr überwies ich<br />
über die Crowdfunding-Plattform<br />
Indiegogo 199 Dollar ans Startup<br />
Scanadu aus dem Silicon Valley.<br />
Mich begeisterte dessen Idee, ein einfach<br />
zu bedienendes Messgerät für Puls,<br />
Blutdruck, Körpertemperatur und Atemfrequenz<br />
entwickeln zu wollen. Kurz an die<br />
Schläfe gepresst, übermittelt das handtellergroße<br />
Gerät via Bluetooth die Ergebnisse<br />
an das Smartphone. Die werden dann<br />
gespeichert und lassen sich über einen<br />
längeren Zeitraum gesammelt auswerten.<br />
Zudem beeindruckte mich Scanadu-<br />
Gründer Walter de Brouwer, der extra von<br />
Belgien ins Silicon Valley gezogen war. Er<br />
sah hier bessere Chancen, seine Idee umsetzen<br />
zu können. Er hoffte aber auch auf<br />
eine bessere Förderung seines halbseitig<br />
gelähmten Sohns Nelson, der am neuen<br />
Wohnort in Cupertino dank des finanziell<br />
gut ausgestatteten Schuldistrikts einen persönlichen<br />
Tutor zur Seite gestellt bekam.<br />
Der heute 14-jährige Nelson hatte sich<br />
2005 bei einem Sturz schwere Kopfverletzungen<br />
zugezogen und lag wochenlang im<br />
Koma. Die einzige Verbindung zu seiner<br />
Familie waren die Kurven auf den Messgeräten,<br />
die sein Vater mithilfe von Fachliteratur<br />
entschlüsselte – jeder positive Trend<br />
ein Hoffnungsschimmer. Aus diesem Erlebnis<br />
entstand die Idee für Scout.<br />
Über Indiegogo warb de Brouwer Vorbesteller.<br />
Die Kampagne war ein voller Erfolg.<br />
Nicht nur, weil das Start-up so 1,6 Millionen<br />
Dollar einsammelte. Sondern es ein paar<br />
Monate später auch noch zusätzliche 10,5<br />
Millionen Dollar an Risikokapital erhielt.<br />
Eine aktuelle Studie der Marktforschung<br />
CB Insights belegt: De Brouwer lag richtig<br />
damit, ins ferne Kalifornien zu ziehen.<br />
Die Analysten untersuchten 443 Hardwareprojekte,<br />
die auf Indiegogo und dessen<br />
Wettbewerber Kickstarter mehr als<br />
100 000 Dollar von potenziellen Käufern<br />
eingesammelt hatten. Doch eine erfolgreiche<br />
Crowdfunding-Kampagne ist keine Garantie,<br />
auch von professionellen Investoren<br />
Geld zu bekommen. Von den betrachteten<br />
Vorhaben schaffte das nur etwa jedes zehnte.<br />
Von diesen sind knapp 80 Prozent in den<br />
USA angesiedelt, über die Hälfte davon in<br />
Kalifornien. Zusammen haben sie 321 Millionen<br />
Dollar an Wagniskapital eingesammelt,<br />
rund das Siebenfache dessen, was sie<br />
durch Crowdfunding erhalten haben.<br />
Die drei Spitzenreiter sind derzeit Misfit<br />
Wearables, Formlabs und Smartthings.<br />
Misfit, ein tragbares Messgerät für Sportler,<br />
hat 23 Millionen Dollar an Risikokapital<br />
angezogen. Formlabs, ein Hersteller von<br />
3-D-Druckern, ist mit 22,3 Millionen Dollar<br />
ausgestattet. Smartthings, Spezialist für<br />
die Heimautomatisierung, sammelte 15,5<br />
Millionen Dollar ein.<br />
DAS GEFÜHL, GUTES ZU TUN<br />
Crowdfunding ist nichts für jedermann. Wer<br />
als Vorbesteller die Firmen unterstützt,<br />
trägt zwar zu deren Erfolg bei, ist aber finanziell<br />
nicht beteiligt. So erhielten etwa<br />
die Gründer von Oculus, dem Hersteller von<br />
3-D-Datenbrillen, 2,4 Millionen Dollar über<br />
Kickstarter – und verkauften ihre Firma<br />
dann für zwei Milliarden Dollar an Facebook.<br />
Das große Geschäft machten professionelle<br />
Kapitalgeber. Smartthings wurde<br />
gerade für 250 Millionen Dollar an Samsung<br />
veräußert. Das hat einigen Unterstützern<br />
die Laune verdorben. Aber sich darüber<br />
aufzuregen ist ungefähr so, als ob ein<br />
Kunde auf Apple sauer ist, weil er sein Geld<br />
in deren Macs, iPhones und iPods gesteckt<br />
hat und nicht in die Aktie des Konzerns.<br />
Zudem müssen Interessierte Geduld mitbringen.<br />
Scanadu versprach ursprünglich,<br />
den Scout im Frühjahr 2014 zu liefern.<br />
Nach etlichen Produktionsproblemen sieht<br />
es nun eher nach Anfang 2015 aus. Aber<br />
das Gefühl, eine gute Sache voranzubringen,<br />
ist nicht monetär zu bewerten. Und<br />
wenn jemand Kasse macht, sind zumindest<br />
auch die Ideengeber dabei.<br />
Der Autor ist WirtschaftsWoche-Korrespondent<br />
im Silicon Valley und beobachtet<br />
von dort seit Jahren die Entwicklung der<br />
wichtigsten US-Technologieunternehmen.<br />
WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 67<br />
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Management&Erfolg<br />
Tausche Schrebergarten<br />
gegen Werkbank<br />
PERSONALMANAGEMENT | Die Rente mit 63 verschärft den Fachkräftemangel. Mit pfiffigen<br />
Ideen versuchen nun einige Unternehmen, erfahrene Mitarbeiter länger zu halten.<br />
Wolfgang Nocker ist nicht alles<br />
Jacke wie Hose. Im Gegenteil.<br />
Der 67-Jährige<br />
nimmt es ganz genau mit<br />
den Kleidungsstücken.<br />
Denn Nocker ist Bekleidungsphysiologe<br />
und testet für W. L. Gore & Associates in<br />
Putzbrunn bei München Kleidung auf ihre<br />
Haltbarkeit und Funktionalität, bevor diese<br />
unter dem Label Gore-Tex in den Laden<br />
kommt oder sich als extra starker Stoff in gefährlichen<br />
Berufen bewährt.<br />
Das Objekt seiner Begutachtung ist diesmal<br />
eine Feuerwehrjacke. Ein Brandspezialist<br />
zieht die Schutzkleidung über und betritt<br />
in voller Montur samt Sauerstoffgerät einen<br />
Container, in dem ein Brand simuliert wird.<br />
Beobachtet durch eine Glasscheibe, bewegt<br />
sich der Mann wie beim Löschen vorwärts.<br />
Sensoren an seinem Körper schicken Daten<br />
über Wind und Wärme an Nockers Computer.<br />
Danach weiß er aufs Grad Celsius genau,<br />
wie viel Hitze Stoff und Nähte vertragen.<br />
Tester Nocker hat beim US-Technologieunternehmen<br />
vor 25 Jahren das bekleidungsphysiologische<br />
Labor aufgebaut. Dort<br />
hat der lebhafte Weißhaarige zum Beispiel<br />
Sicherheitsschuhe auf ihre Stabilität geprüft<br />
oder herausgefunden, welche Fasern<br />
Schweiß am besten absorbieren. Mit 60 fand<br />
der Wirtschaftsingenieur und Physiker, nun<br />
sei es genug mit dem Messen und Prüfen,<br />
ging erst in Altersteilzeit und zwei Jahre später<br />
in den Ruhestand. Doch die Bekleidungsphysiologie<br />
ließ ihn nicht los. Als Gore<br />
anrief und ihm einen 400-Euro-Job anbot,<br />
hatte er sich genug gelangweilt in der Dauerfreizeit.<br />
Nocker machte sich selbstständig<br />
und arbeitet nun schon im fünften Jahr rund<br />
40 Stunden pro Monat für seinen alten Arbeitgeber.<br />
Der Unterschied: „Ich kann mir<br />
Projekte von verschiedenen Auftraggebern<br />
aussuchen und bin nicht weisungsgebunden“,<br />
sagt er. Und: „Die Arbeit macht mir<br />
noch genauso viel Spaß wie früher.“<br />
Nocker ist nur ein Beispiel bei Gore. Von<br />
den 1500 Beschäftigten sind einige schon im<br />
Rentenalter. Und auch die Rente mit 63, für<br />
viele Betriebe Grund zur Sorge, schreckt im<br />
Beschäftigte Rentner<br />
So viele der 65- bis 69-Jährigen sind<br />
erwerbstätig (in Prozent)<br />
25<br />
20<br />
15<br />
10<br />
Großbritannien<br />
Europäische Union<br />
5 Deutschland<br />
Frankreich*<br />
0<br />
2004 2013<br />
* gesetzliches Renteneintrittsalter: 60 Jahre; ** gesetzliches<br />
Renteneintrittsalter: 66 Jahre; Quelle: Eurostat<br />
Italien**<br />
bayrischen Putzbrunn niemanden. Denn<br />
dort hat man vorgebaut.<br />
„Wir finden gemeinsam Lösungen, wenn<br />
ältere Mitarbeiter weniger arbeiten wollen“,<br />
sagt Anton Stanglmair, der bei Gore die Personalthemen<br />
verantwortet. „Denn natürlich<br />
wollen wir sie so lange wie möglich im Unternehmen<br />
halten.“ Das gelingt mit längeren<br />
Pausen, rückenschonenden Hebewerkzeugen<br />
in der Produktion, Altersteilzeit auch<br />
ohne staatlichen Zuschuss – lauter Details<br />
des Personalmanagements, die den Mitarbeitern<br />
vermitteln: Wir nehmen euch ernst.<br />
Wer wie Gore agiert, ist also gut vorbereitet<br />
auf den drohenden Fachkräftemangel,<br />
den die Bundesregierung durch ihre Rente<br />
mit 63 noch verschärft. Denn ohne die Alten<br />
geht es nicht. Schon heute arbeiten in<br />
Deutschland 900 000 Menschen über das<br />
65. Lebensjahr hinaus. Zum Teil aus finanziellen<br />
Gründen, aber auch, weil sie lieber<br />
Projekte leiten oder an der Werkbank stehen,<br />
als in der Schrebergartenidylle langsam<br />
Rost anzusetzen. Unternehmen, die<br />
sich um diese erfahrenen Mitarbeiter bislang<br />
nicht bemüht haben, bekommen jetzt<br />
und in Zukunft heftige Probleme.<br />
VERLUSTE ÜBERBLICKEN<br />
Denn das Bundesministerium für Arbeit<br />
und Soziales hat errechnet, dass durch die<br />
Neuregelung allein in diesem Jahr 240 000<br />
Personen die Rente mit 63 in Anspruch<br />
nehmen könnten. Die Zahl setzt sich zusammen<br />
aus 150 000 Personen, die ohnehin<br />
in den Ruhestand gegangen wären,<br />
aber Abschläge in Kauf genommen hätten,<br />
die ihnen nun erspart bleiben. Hinzu kommen<br />
etwa 40 000 Selbstständige und 50 000<br />
Arbeitnehmer, die sich durch das Gesetz<br />
nun tatsächlich früher <strong>vom</strong> Erwerbsleben<br />
verabschieden könnten. Wie viele dieses<br />
Angebot tatsächlich nutzen, zeigt sich erst<br />
am Jahresende. Bis jetzt sind bundesweit<br />
immerhin 85 000 dieser Rentenanträge bei<br />
den Versicherern eingegangen.<br />
Um diesen zusätzlichen Verlust an Arbeitskräften<br />
zu überblicken, reichen zum<br />
Teil simple Instrumente: Personalstruktur<br />
analysieren und berechnen. In welchen<br />
Abteilungen werden Arbeiter und Angestellte<br />
wann in Rente gehen? Und wo<br />
kommt es dadurch zu Engpässen? Die<br />
FOTO: DIETER MAYR FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
68 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Er läuft und läuft<br />
und läuft Nocker ist<br />
mit 67 noch als<br />
Textilientester aktiv<br />
Renteneintrittsregeln sind überschaubar:<br />
Mindestens 45 Beitragsjahre zur gesetzlichen<br />
Rentenversicherung müssen Beschäftigte<br />
belegen und nach Juni 1951,<br />
aber vor 1953 geboren sein. Dann kommen<br />
sie in den Genuss der abschlagsfreien Rente<br />
mit 63. Für Jüngere wird die Altersgrenze<br />
stufenweise wieder angehoben. Der Jahrgang<br />
1964 geht dann nach 45 Jahren wieder<br />
mit 65 ohne Abschläge in Rente.<br />
Darauf können Unternehmen rechtzeitig<br />
reagieren. Ausbildung und Nachfolgeplanung<br />
lauten die Stichworte, die in Konzernen<br />
wie der Allianz, BMW oder Audi die<br />
Personalentwickler beschäftigen, aber von<br />
den meisten Mittelständlern bisher vernachlässigt<br />
werden. Dabei ist es keine Frage<br />
der Größe, sich einen Überblick zu verschaffen.<br />
Fortschrittliche, international arbeitende<br />
Familienbetriebe wie das Elektrotechnikunternehmen<br />
Phoenix Contact im<br />
ostwestfälischen Blomberg, der Spezialist<br />
für Vakuumtechnologie J. Schmalz im<br />
Schwarzwald und Antriebstechniker EBM-<br />
Papst im Fränkischen, die schon wegen der<br />
abgelegenen, ländlichen Standorte mehr<br />
in Mitarbeitersuche und deren Bindung investieren,<br />
wissen genau, was auf sie zukommt.<br />
Bei EBM-Pabst könnten von fast<br />
12 000 Beschäftigten in den nächsten zwei<br />
Jahren etwa 150 die Rente einreichen.<br />
Genau das beschäftigt auch die Chefs<br />
der Verkehrsbetriebe Hamburg-Holstein<br />
(VHH). Hier rechnen die Personaler damit,<br />
dass von den gut 1600 Mitarbeitern bis<br />
2019 acht Prozent in Rente gehen. Durch<br />
das Andrea-Nahles-Gesetz verkürzt sich<br />
der Planungszeitraum um zwei Jahre. „Der<br />
Druck steigt zwar“, sagt VHH-Vorstand<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 69<br />
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Management&Erfolg<br />
»<br />
Toralf Müller, „aber das wird für uns<br />
nicht dramatisch problematisch.“ Für 2014<br />
liegt ihm noch kein einziger zusätzlicher<br />
Rentenantrag vor. Denn Müller und seine<br />
Mannschaft haben rechtzeitig gehandelt.<br />
„Je genauer wir die Personen und ihre<br />
Berufe kennen, desto besser können wir<br />
überlegen, wie wir die Mitarbeiter halten“,<br />
sagt Müller. Der VHH-Demografietarifvertrag<br />
etwa sorgt mit Dienstplänen für Ältere<br />
und Gesundheitsbausteinen dafür, dass<br />
der Rücken, gemeinhin Schwachstelle aller<br />
Berufsfahrer, länger stabil bleibt. Den<br />
Zuschuss für Fitnesskurse und Sportvereine<br />
nehmen die Mitarbeiter gerne. Jeder<br />
zuverlässige und gesunde Fahrer, der in<br />
Rente geht, kann für 450 Euro im Monat<br />
dabeibleiben. 96 solcher Teilzeitrentner<br />
kurven derzeit durch den Osten und Westen<br />
Hamburgs bis nach Altona oder an die<br />
Alster.<br />
TRAUMJOB BUSFAHRER<br />
Die meisten haben viele Jahre hinterm<br />
Lenkrad von einem der 577 Busse des<br />
Nahverkehrsunternehmens gesessen.<br />
Aber einige sind Spätberufene. Wie Jan<br />
Hahnheiser, der nicht mehr länger bei der<br />
Versicherung oder als selbstständiger Anwalt<br />
schuften wollte und so mit 61 noch<br />
den Busführerschein machte und zwei<br />
Jahre lang in Teilzeit den dichten Verkehr<br />
Boschs Rentner leisteten vergangenes<br />
Jahr rund 50 000 Arbeitstage ab<br />
Chef der Senioren<br />
Hanser leitet die<br />
Tochter Bosch<br />
Management Support<br />
zu überlisten suchte. „Eigentlich will doch<br />
jeder Junge Lokomotivführer werden“,<br />
scherzt der Frührentner, der jetzt auf einen<br />
Minijob umgestiegen und noch drei bis<br />
fünf Tage im Monat auf Tour ist. „Ich muss<br />
finanziell nicht, will aber noch fahren.“<br />
Für andere ist nicht die Freude am Fahren,<br />
sondern der Zuverdienst Anreiz, um<br />
weiterzumachen. „Gute Fahrer, die die<br />
Speditionen jenseits der Rentengrenze<br />
halten wollen, werden besser bezahlt“, sagt<br />
Rüdiger Ostrowski, Vorstand des Verbandes<br />
Spedition und Logistik Nordrhein-<br />
Westfalen. Nun müssen die Firmen früher<br />
tiefer in die Tasche greifen, denn viele der<br />
begehrten Fahrer können mit 63 statt mit<br />
65 in Rente gehen. 10 bis 15 Prozent Zuschlag<br />
aufs Vollzeitgehalt sind keine Ausnahme.<br />
Und: Für den Fernverkehr werden<br />
die Fahrer noch knapper, weil Ältere lieber<br />
im Nahverkehr unterwegs sind.<br />
Erfahrung und Wissen halten will auch<br />
Bosch. Innerhalb der nächsten zehn Jahre<br />
könnten dort ein bis zwei Prozent der<br />
107 000 Beschäftigten zusätzlich abschlagsfrei<br />
in Rente gehen, also etwa 2000<br />
Mitarbeiter über alle deutschen Standorte.<br />
Bosch-Personalgeschäftsführer Christoph<br />
Kübel hält die Rente mit 63 für ein falsches<br />
Signal: „Die Rente mit 67 ist der richtige<br />
Weg.“ Für den Technikkonzern selbst sieht<br />
er allerdings kein Risiko. Etwa 100 Arbeitszeitmodelle,<br />
Altersteilzeit und der im Metalltarifvertrag<br />
festgelegte Anspruch auf einen<br />
flexiblen Renteneinstieg schaffen gleitende<br />
Übergänge in die dritte Lebensphase.<br />
Schon bisher gingen einige Arbeitnehmer<br />
vor dem 65. Lebensjahr in den Ruhestand.<br />
Dennoch versucht auch Bosch, mit<br />
zertifizierten Arbeitsplätzen und Gesundheitsprogrammen<br />
die Mitarbeiter in der<br />
Produktion zu halten, dank derer Erfahrung<br />
die Fließbänder niemals stillstehen.<br />
MIT DEN SENIOREN ZUFRIEDEN<br />
Und wer doch geht, kann für Projekte wiederkommen<br />
– anteilig bezahlt nach seinem<br />
letzten Gehalt. Die Tochtergesellschaft<br />
Bosch Management Support, gegründet,<br />
um auf pensionierte Führungskräfte zurückgreifen<br />
zu können, öffnet sich inzwischen<br />
auch den Werkstattmeistern. 1600<br />
Senioren haben ihre Fähigkeiten und Kontaktdaten<br />
in einer Datenbank hinterlassen.<br />
50 000 Arbeitstage leisteten die verrenteten<br />
Boschianer im Jahr 2013. 1,6 Prozent der<br />
Freiwilligen sind jenseits der 75, die meisten<br />
bis 69 Jahre aktiv. Ob es in China, Mexiko<br />
oder Deutschland in der Produktion<br />
klemmt, die sogenannten Silver Worker<br />
springen ein. Und das zur vollen Zufriedenheit<br />
der hilfsbedürftigen Bosch-Werke:<br />
90 Prozent würden wieder auf den Rat der<br />
jung gebliebenen Alten setzen.<br />
Diese Quote erklärt sich durch die Auslese.<br />
„Wir führen Gespräche, denn außer der<br />
Qualifikation und dem Wunsch, am Ball zu<br />
bleiben, ist es entscheidend, dass die Berater<br />
Sozialkompetenz mitbringen“, sagt Robert<br />
Hanser, der seit Juli Senioren-Geschäftsführer<br />
und selbst mit 60 Jahren in<br />
Pension gegangen ist.<br />
Das ist nicht ungewöhnlich, steht die 60<br />
doch bei vielen Führungskräften als Ausstiegsalter<br />
im Vertrag. Da diese sich jedoch<br />
oftmals noch zu jung für den Ruhestand<br />
fühlen, betreuen sie regelmäßig Projekte.<br />
Wobei Bosch darauf achtet, dass keine<br />
Dauerarbeitsverhältnisse entstehen.<br />
Denn obwohl viele der Teilzeitrentner<br />
ihr Wissen gerne an die nächste Generation<br />
weitergeben und weiterhin Verantwortung<br />
im Unternehmen übernehmen wollen,<br />
sollte auch etwas Zeit für den wohlverdienten<br />
Ruhestand bleiben.<br />
Wie bei Bekleidungsphysiologe Nocker<br />
von Gore. Sein Hobby ist die Jagd. Praktisch<br />
daran: Weil Jäger meist früh morgens<br />
oder in der Abenddämmerung unterwegs<br />
sind, lässt sich diese Leidenschaft bestens<br />
mit seinem Job vereinbaren.<br />
n<br />
ruth lemmer | management@wiwo.de<br />
FOTO: CHRIS GLOAG FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
70 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Management&Erfolg<br />
Pionierarbeit Das VW-Werk in Emden<br />
ist das erste, in dem die neue modulare<br />
Baukasten-Produktion zum Einsatz kommt<br />
Das intelligente, zukunftsweisende Konzept<br />
begeistert nicht nur Produktionsexperten<br />
und Logistikspezialisten, sondern<br />
überzeugte im vergangenen Jahr auch die<br />
hochkarätig besetzte Jury, die über die Vergabe<br />
des Dekra-Awards zu entscheiden<br />
hatte: Das Projekt mach18.Factory von<br />
Volkswagen setzte sich im Herbst 2013 gegen<br />
ein Dutzend Mitbewerber in der Kategorie<br />
„Sicherheit“ durch, in der erfolgreiches<br />
Projektmanagement ausgezeichnet<br />
wurde.<br />
FOTOS: PR<br />
Aus dem Baukasten<br />
DEKRA-AWARD | Zukunftsweisende Managementprojekte wie bei<br />
VW sollen auch dieses Jahr prämiert werden. In drei Kategorien.<br />
Am 25. August beginnt für das VW-<br />
Werk Emden eine neue Ära. Nicht<br />
nur, weil an diesem Tag an der Emsmündung<br />
die Fertigung des neuen Mittelklassemodells<br />
Passat beginnt – sechs Wochen<br />
vor der Publikumspremiere auf dem<br />
Pariser Autosalon. Die achte Modellgeneration<br />
des erfolgreichsten Volkswagen-<br />
Produkts – mit einer Jahresproduktion von<br />
über einer Million Einheiten – wird von Beginn<br />
an sowohl als Limousine wie auch als<br />
Kombi angeboten. Sie wiegt aufgrund innovativer<br />
Ansätze im Karosseriebau 80 Kilogramm<br />
weniger als das Vorgängermodell<br />
und wird zu einem späteren Zeitpunkt<br />
auch mit einem besonders sparsamen Hybridantrieb<br />
zu haben sein.<br />
Doch Werkleiter Frank Fischer fiebert<br />
dem SOP, dem „Start of production“, noch<br />
aus einem ganz anderen Grund entgegen:<br />
Zusammen mit dem Passat <strong>vom</strong> Typ B8<br />
geht in Emden auch der neue modulare<br />
Produktions-Baukasten (MPB) von Volkswagen<br />
an den Start. Das hochkomplexe<br />
Fertigungssystem soll dem Konzern helfen,<br />
den Planungs- und Konstruktionsaufwand<br />
zu verringern und Anlaufkurven bei neuen<br />
Modellen drastisch zu verkürzen. Es soll<br />
Prozesse im Presswerk und im neuen Karosseriebau,<br />
in der Lackiererei wie in der<br />
Montage mithilfe standardisierter und erprobter<br />
Module in der Produktion stabilisieren<br />
und die Qualitätssicherung vereinfachen<br />
– und die Werke letztlich auch befähigen,<br />
mit geringem Aufwand eine hohe<br />
Produktvielfalt herzustellen. Unter dem<br />
Schlagwort mach18.Factory wird das System<br />
in den kommenden Jahren nach und<br />
nach über alle 106 Fertigungsstätten des<br />
Volkswagen-Konzerns ausgerollt<br />
– Emden leistet hierfür<br />
wichtige Pionierarbeit.<br />
„Der modulare Produktions-<br />
Baukasten ist die Basis für unsere<br />
neuen Standardfabriken,<br />
die uns sehr viel Zeit und Geld<br />
sparen werden“, sagt Audi-Produktionsvorstand<br />
Hubert<br />
Waltl, der die Systematik zusammen<br />
mit der Technischen<br />
Universität München entwickelt<br />
hat. Horst Wildemann,<br />
Professor für Betriebswirtschaftslehre<br />
an der TU und<br />
Waltls wissenschaftlicher Sparringspartner,<br />
spricht von<br />
„langfristigen“ Produktivitätssteigerungen<br />
in einer Größenordnung zwischen 35 und<br />
40 Prozent: „Das Baukasten-System entkoppelt<br />
immerhin Skaleneffekte von der<br />
Stückzahl“. Soll heißen: Schon eine Kleinserienproduktion<br />
rechnet sich damit.<br />
Dekra-Award<br />
Interessenten<br />
können sich bis zum<br />
30. September um<br />
den Preis bewerben<br />
STRATEGIEN GEGEN STRESS<br />
Ähnliche Erfolgsmethoden und unternehmerische<br />
Spitzenleistungen werden nun<br />
auch für den Dekra-Award des Jahres 2014<br />
gesucht, den die Prüf- und Sachverständigenorganisation<br />
zusammen mit der WirtschaftsWoche<br />
ausschreibt. In der Kategorie<br />
Sicherheit geht es erneut um Produktionssicherheit,<br />
aber diesmal im Bezug auf Mitarbeiterintegration:<br />
Gesucht werden Unternehmen,<br />
die mit gezielten Maßnahmen<br />
ausländische Arbeitnehmer vorbildlich integrieren,<br />
sie sprachlich, fachlich und kulturell<br />
fit machen für den High-Tech-Standort<br />
Deutschland.<br />
In der zweiten Kategorie Umwelt sucht<br />
die WirtschaftsWoche diesmal Unternehmen,<br />
die das Design, den Einkauf und die<br />
Fertigung ihrer Produkte so ausgerichtet<br />
haben, dass sie in puncto Umwelt- und<br />
Verbraucherschutz zukunftsweisend<br />
sind. Und die dritte<br />
Preiskategorie steht wie in den<br />
Vorjahren unter dem Thema<br />
Gesundheit: Welche Maßnahmen<br />
haben sich Unternehmen<br />
einfallen lassen, um den Stress<br />
ihrer Mitarbeiter zu mindern,<br />
sie vor der E-Mail-Flut in den<br />
Ferien zu schützen oder ihnen<br />
Auszeiten zu verordnen, um<br />
Burn-out und Suchterkrankungen<br />
vorzubeugen.<br />
Die Bewerbung ist denkbar<br />
einfach – Interessenten finden<br />
alle nötigen Detailinformationen<br />
im Internet unter<br />
www.dekra-award.de. Einsendeschluss ist<br />
der 30. September 2014. Die diesjährige<br />
Preisverleihung findet am Dienstag, 11.<br />
November 2014 im Stuttgarter Mercedes-<br />
Museum statt.<br />
n<br />
franz.rother@wiwo.de<br />
WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 71<br />
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Geld&Börse<br />
»Der Markt sind wir«<br />
AKTIENHANDEL | Auf Tradegate bekommen Anleger nicht immer die besten Preise.<br />
Dennoch stieg die Berliner Plattform zur größten Börse für Privatanleger auf.<br />
Tradegate-Chef Holger Timm nutzt EU-Regeln geschickt, um Aufträge an sich zu<br />
ziehen. Zum Erfolg verhilft ihm ausgerechnet auch die Deutsche Börse.<br />
Die Männer wirken erstarrt: Einer<br />
ist mit verschränkten Armen<br />
im Stuhl versunken, der<br />
andere hat sich hinter acht<br />
Monitoren verschanzt. Regungslos<br />
starren sie auf ihre Schirme. Drei<br />
Stühle weiter hockt ein Leidensgenosse,<br />
die Hände gefaltet. Allein: Beten hilft Hessens<br />
Maklern auf dem Börsenparkett nicht<br />
– es mangelt an Kundenaufträgen.<br />
Die Ursache dieser Tristesse suchen<br />
Frankfurts Händler in Berlin: Dort, an der<br />
Börse Tradegate, hat der Bulle den Bären<br />
längst erlegt. Die Skulptur im Besucherraum<br />
signalisiert: Hier steigen Kurse,<br />
Tradegate ist auf der Gewinnerseite. Genau<br />
genommen ist es Gründer Holger Timm.<br />
Dem 57-Jährigen gehört die Mehrheit<br />
der Bank Tradegate AG, die an der Börse<br />
Tradegate Exchange mit Aktien handelt.<br />
Gegen den Trend im Börsenhandel ist sein<br />
Umsatz massiv gewachsen. Der Aufsteiger<br />
hat sogar das altehrwürdige Frankfurter<br />
Parkett überholt: 2013 setzte er 41,2 Milliarden<br />
Euro mit Aktien um – 31 Prozent<br />
mehr als im Jahr zuvor. Frankfurt schaffte<br />
nur 25 Milliarden Euro. „Den Neid muss<br />
man sich erarbeiten“, sagt Timm.<br />
Nun hat er einen großen Plan: Mithilfe<br />
seines Partners Deutsche Börse will der<br />
grauhaarige Mann Europa erobern. „Ich<br />
möchte die Tradegate Exchange als führende<br />
europäische Börse für Privatanleger<br />
weiterentwickeln“, sagt er und lupft seine<br />
Hornbrille. Sein „Baby“ Tradegate ist bereits<br />
führend bei deutschen Privatanlegern<br />
und brüstet sich, dass der Marktanteil am<br />
Aktienhandel im Vergleich zu den sieben<br />
Wettbewerbsbörsen 2013 auf „bis zu 58<br />
Prozent gestiegen“ sei. Nicht drin in der<br />
Was Anleger<br />
wissen müssen<br />
ä Stopps sparsam setzen<br />
Morgens und abends weitet Tradegate<br />
die Spanne zwischen An- und Verkaufspreis<br />
aus – die Gefahr steigt, dass<br />
Stop-Loss-Limits, bei denen Aktien automatisch<br />
verkauft werden, ausgelöst<br />
werden. Der Kurs geht kurz nach unten,<br />
die Aktien sind dann weg.<br />
ä Nur mit Limit kaufen<br />
Wer dem Makler keinen Kauf- oder<br />
Verkaufspreis per Limit vorgibt, läuft<br />
Gefahr, dass Tradegate die Order<br />
zu einem ungünstigen Preis ausführt.<br />
ä Nicht abends handeln<br />
Wenn die Handelsplattform Xetra<br />
geschlossen ist (vor 9 und nach<br />
17.30 Uhr), steigt das Risiko, einen ungünstigen<br />
Kurs zu bekommen. Denn<br />
dann gibt es keinen liquiden Markt mehr.<br />
Rechnung ist das elektronische Handelssystem<br />
Xetra, auf dem sich Profis tummeln.<br />
Timms Geschichte ist ein Lehrstück, ein<br />
Musterbeispiel dafür, wie ein findiger Geschäftsmann<br />
von der gut gemeinten, aber<br />
realitätsfernen Regulierung der Europäischen<br />
Union (EU) profitiert. Betroffen sind<br />
Kunden fast aller Banken – von Sparkassen<br />
und Volksbanken bis hin zur Postbank.<br />
Wer wissen will, warum Timm an Privatanlegern<br />
verdient, muss zurückschauen.<br />
Weil die EU Anleger schützen wollte, dokterte<br />
sie jahrelang an vermeintlich strengen<br />
Regeln für die Finanzmärkte herum –<br />
heraus kam die Regulierung Mifid. Die EU<br />
verdonnerte Banken dazu, Kundenaufträge<br />
(„Orders“) zu den „bestmöglichen“ Konditionen<br />
auszuführen. Gibt der Kunde<br />
nicht vor, wo er handeln will – bei Volksund<br />
Raiffeisenbanken ist das bei jedem<br />
dritten Auftrag so – entscheidet die Bank.<br />
NUR THEORETISCH BESTER PREIS<br />
Timm profitiert von den Schwächen der<br />
Vorschrift: So müssen Banken nur sicherstellen,<br />
dass ein Auftrag zum theoretisch<br />
besten Preis ausgeführt wird. Laut Vorgabe<br />
sei es „nicht entscheidend“, welchen Preis<br />
ein einzelner Auftrag erziele, sondern „ob<br />
das Verfahren typischerweise zum bestmöglichen<br />
Ergebnis“ führe, sagt Thomas<br />
Dierkes, Vorstand der Börse Düsseldorf. Jedes<br />
Mal zu prüfen, wo es in der Minute den<br />
besten Preis gibt, ist teuer und aufwendig.<br />
Banken machen daher Stichproben: Wo<br />
ist der Preis am günstigsten, wie hoch sind<br />
Gebühren, wie schnell wird eine Order abgewickelt?<br />
Auf Basis der Tests wird eine<br />
Rangliste erstellt. Die Börse, die oben steht,<br />
kriegt alle Aufträge – oft ist es Tradegate.<br />
Doch die EU-Vorgabe lässt Spielraum.<br />
n Preise sind nicht verbindlich. Börsenmakler<br />
müssen zwar permanent veröffentlichen,<br />
zu welchen Preisen sie bereit wären,<br />
Aktien anzukaufen und zu verkaufen –<br />
zum Handel aber kommt es nicht ständig.<br />
Fließt kein echtes Geld, kann man sich<br />
nach außen besser darstellen, als man ist:<br />
Preise (Taxen) sind nicht verbindlich, können<br />
aber in die Rankings einfließen.<br />
n Banken nicht neutral. Die Institute können<br />
Ranking-Kriterien so gewichten, dass<br />
der Handelsplatz gewinnt, der ihnen<br />
»<br />
ILLUSTRATION: MARTIN HAAKE<br />
72 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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80 Prozent<br />
der Aktien handelt Tradegate<br />
zunächst auf<br />
eigene Rechnung<br />
58 Prozent<br />
Marktanteil hat<br />
Tradegate, mehr als die<br />
sieben Regionalbörsen<br />
zusammen<br />
41 Milliarden<br />
Euro im Jahr setzte Tradegate<br />
zuletzt mit Aktien um, vor allem<br />
aus Orders von Privaten<br />
WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 73<br />
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Geld&Börse<br />
»<br />
selber Vorteile bringt. Timms Tradegate<br />
verrechnet abends alle Orders, die von einer<br />
Bank gekommen sind – so, als ob es nur<br />
einen Auftrag pro Aktie gegeben hätte. Die<br />
Kosten der Banken, sagt Timm, konnte er<br />
so um bis zu 80 Prozent reduzieren. „Banken<br />
haben damit einen Anreiz, ihr Ranking<br />
so aufzustellen, dass die Orders ihrer privaten<br />
Kunden an den für die Bank billigsten<br />
Handelsplatz gehen“, sagt Uto Baader, Chef<br />
der Baader Bank. Der für die Bank billigste<br />
Platz aber muss keineswegs der für Kunden<br />
günstigste sein.<br />
KOSTENLOS, NICHT UMSONST<br />
Wer im Ranking Handelskosten hoch gewichtet,<br />
könnte Tradegate Orders zuleiten<br />
– denn Tradegate nimmt von Anlegern keine<br />
Gebühren. Die DZ Bank, die Orders aus<br />
Volks- und Raiffeisenbanken weiterleitet,<br />
gewichtet Kosten mit 40 Prozent. Tradegate<br />
bekommt dort alle Orders inländischer<br />
Aktien und die der 50 größten europäischen.<br />
Die Deutsche WertpapierService<br />
Bank (dwp), die Orders für fast alle Sparkassen,<br />
Postbank und die Hälfte der Privatbanken<br />
routet, gewichtet Kosten gar mit 50<br />
Prozent. Sie gibt Orders für Dax-Aktien bis<br />
5000 Euro an Tradegate. Die Bank betont,<br />
dass sie auf das für Anleger „günstigste Ergebnis“<br />
abstelle. Das System sei „neutral“.<br />
Kosten hoch zu gewichten ist aber unlogisch,<br />
sie machen nur Bruchteile der Anlegerrechnung<br />
aus. Wer etwa in München<br />
Dax-Papiere im Wert von 5000 Euro ordert,<br />
zahlt zwei Euro an die Börse. Ein um ein<br />
Prozent schlechterer Kurs würde dagegen<br />
mit 50 Euro zu Buche schlagen.<br />
Dass Tradegate Anleger gratis handeln<br />
lässt, schiebt Tradegate in den Rankings<br />
nach vorne und bringt Aufträge.<br />
Gefährliche Kettenreaktion<br />
Siemens-Aktie am 07.08.2014 (in Euro)<br />
Tradegate<br />
Angebot: wie viele Aktien<br />
Stuttgart ankaufen würde<br />
Wer abends Aktien handelt, muss<br />
mit schlechteren Preisen rechnen<br />
Allein: Der Handel kostet Geld, Händler<br />
brauchen moderne Technik, Mitarbeiter<br />
Gehalt. Die Tradegate AG verdient an der<br />
Spanne zwischen dem Preis, zu dem sie<br />
Aktien kauft, und dem, zu dem sie verkauft.<br />
„Der Handel ist die wesentliche Einnahmequelle<br />
der Tradegate AG“, sagt Timm.<br />
Solange das Handelssystem Xetra der<br />
Deutschen Börse offen hat, läuft alles weitgehend<br />
fair. Auf Xetra handeln von 9 bis<br />
17.30 Uhr vor allem institutionelle Anleger<br />
mit großen Orders, der Platz ist die liquideste<br />
Börse. Dann orientieren sich Makler<br />
anderer Plätze an diesen Kursen, Xetra ist<br />
der Referenzmarkt – auch für Tradegate.<br />
Tradegate drückt den Kurs der Siemens-Aktie, vermutlich löst das Stop-Loss-Limits* aus.<br />
Im Vergleich zu Stuttgart verkauften Anleger Siemens auf Tradegate billig**<br />
* beim Stop-Loss-Limit dürfen Aktien verkauft werden, wenn der Kurs eine definierte Marke durchbricht; ** geschätzt 80 Prozent<br />
der Aktien handelt Tradegate im Schnitt selber – Gewinne aus billig angekauften Aktien gehören so Tradegate; Quelle: Bloomberg<br />
5137<br />
Zahl der gehandelten<br />
Aktien auf Tradegate<br />
Exchange<br />
Stuttgart<br />
Zahl der gehandelten<br />
Aktien in Stuttgart<br />
1024 1456<br />
500 521<br />
300<br />
500<br />
560<br />
400 466<br />
712 292<br />
10<br />
146 50<br />
21:09 21:18 21:19 21:22 21:22 21:22 21:22 21:23 21:23 21:23 21:23 21:23 21:25 21:25 21:26<br />
19 Sek. 16 Sek. 49 Sek. 31 Sek. 39 Sek. 45 Sek. 53 Sek. 8 Sek. 17 Sek. 23 Sek. 26 Sek. 34 Sek. 48 Sek. 51 Sek. 12 Sek.<br />
89,0<br />
88,5<br />
88,0<br />
87,5<br />
87,0<br />
Wehe aber, Xetra hat zu. „Dann sinkt die<br />
Qualität der Preise massiv“, sagt ein Banker,<br />
in dessen Haus Tradegate auf der Rangliste<br />
über Jahre vorn stand. Das Problem: Viele<br />
Anleger beschäftigen sich erst abends mit<br />
ihrem Depot, bei dwp trudeln viele Orders<br />
abends ein, wenn Xetra zu ist. Dann ist<br />
Tradegate die liquideste Börse, der Platz hat<br />
von 8 bis 22 Uhr geöffnet. Bei den von dwp<br />
vertretenen Banken geben bis zu 60 Prozent<br />
der Anleger keinen Handelsplatz an.<br />
15 Prozent dieser „weisungslosen Orders“<br />
laufen außerhalb der Xetra-Zeiten auf.<br />
29 MILLIONEN EURO ERHANDELT<br />
Dann, sagen Insider, verdiene Tradegate<br />
Geld. „Abends sind wir der Markt“, sagt<br />
Timm. 2013 erlöste seine Bank, die auch<br />
Makler an den Börsen Frankfurt und Berlin<br />
hat, netto gut 29 Millionen Euro im Handel.<br />
Kritiker werfen ihr vor, Anleger mit fragwürdigen<br />
Methoden abzukassieren. „Wir<br />
haben geprüft, ob wir Orders abends weiterleiten<br />
müssen“, sagt ein Banker. Er muss,<br />
und das „unverzüglich“, so will es die EU.<br />
In Köln sitzt Volker Müller* vor sieben<br />
Bildschirmen. Der 43-Jährige handelt privat,<br />
aber in Vollzeit. Müller zeigt auf den<br />
Schirm unten in der Mitte. „Das ist mein<br />
wichtigster Monitor“, sagt er, über den<br />
Schirm handelt er, dort wird das Geld verdient<br />
– vorausgesetzt, Tradegate lässt ihn.<br />
* Name von der Redaktion geändert<br />
74 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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ILLUSTRATION: MARTIN HAAKE; FOTOS: PR<br />
Der Blondschopf denkt nach. Es ist kurz<br />
nach 19 Uhr, Xetra hat zu, Müller will aber<br />
jetzt Osram-Aktien kaufen. Um Tradegate<br />
zu testen, tut er, was er sonst „niemals“ tun<br />
würde: Er gibt eine Order ohne Limit auf,<br />
bei der der Makler ihm Aktien zum nächstmöglichen<br />
Preis verkaufen darf. Müller will<br />
doppelt so viele Papiere kaufen, wie Tradegate<br />
zu dem Preis aktuell handeln würde.<br />
Wohl ist ihm nicht dabei, ein Profi würde<br />
dem Makler nie so einen Freibrief geben.<br />
Er macht eine Ausnahme und bekommt<br />
die ersten 300 Aktien tatsächlich zum von<br />
Tradegate vorab signalisierten Preis.<br />
Elf Sekunden später erhält er die nächsten<br />
300 – aber 0,85 Prozent teurer. Der Profi<br />
lehnt sich zurück und zieht die Augenbrauen<br />
hoch: „Ein guter Aufschlag“, sagt er ernüchtert.<br />
91 Euro mehr hat ihn die zweite<br />
Ausführung gekostet. Wegen solcher Summen<br />
beschwert sich kein Anleger – bei<br />
Tradegate aber können sie sich läppern.<br />
Geldfluss<br />
(in Prozent)<br />
Beteiligung<br />
(in Prozent)<br />
BNP<br />
Paribas*<br />
Cortal-Consors-<br />
Deutschland-Chef<br />
Kai Friedrich<br />
Handelsplatz Tradegate<br />
voreingestellt<br />
Wer sät, der erntet nicht<br />
KAMPF HINTER DEN KULISSEN<br />
Tradegate hat den höheren Preis in derselben<br />
Sekunde angezeigt, in der die zweite<br />
Tranche des Auftrags ausgeführt wurde.<br />
Müller sitzt direkt vor dem Schirm, hatte<br />
aber keine Chance, den Auftrag zu löschen.<br />
Die EU-Richtlinie verlangt, dass Makler<br />
die Preise publizieren, zu denen sie bereit<br />
sind, zu handeln. Händler veröffentlichen<br />
auch die Zahl der Aktien, die sie handeln<br />
würden. Anleger sollen wissen, welcher<br />
Preis sie erwartet. Wie lange der angezeigt<br />
werden muss, ehe gehandelt wird, sagt die<br />
EU nicht – vorgeschrieben sind lediglich<br />
„angemessene“ Bedingungen.<br />
Was „angemessen“ ist, ist strittig. Aufsicht<br />
über den Börsenhandel ist Sache der<br />
Länder. Die Berliner Aufsicht toleriert das<br />
Handelsgebaren, das in anderen Ländern<br />
undenkbar scheint: Hessens Aufsicht etwa<br />
schreibt vor, dass ein Anleger ohne „elektronische<br />
Hilfsmittel“ in der Lage sein<br />
müsse, auf einen geänderten Preis zu reagieren.<br />
Es gibt zwar keine feste Frist, „fünf<br />
bis zehn Sekunden“ solle der Händler aber<br />
warten, bis er eine Order ausführe. „Der<br />
Kunde muss die Chance haben, eine Order<br />
zu löschen, wenn sich der Preis verschlechtert.<br />
Die angemessene Zeit dafür<br />
liegt bei rund 30 Sekunden“, sagt Norbert<br />
Betz, Chef der Börsen-Handelsüberwachung<br />
in München. Und auch an der klassischen<br />
Börse Berlin muss ein Makler,<br />
wenn er zum ungünstigeren Preis abschließen<br />
will, „ zunächst etwas warten, bis<br />
er die Order ausführt – schließlich soll der<br />
Kunde noch auf den veränderten Preis reagieren<br />
können“, sagt Chef Jörg Walter. Der<br />
Fall Osram wäre in Hessen, Bayern und anderswo<br />
also zum Fall für die Aufsicht geworden<br />
– nicht so in Berlin.<br />
Hinter den Kulissen tobt daher der Krieg<br />
der Makler. Mittendrin: die Bank Close<br />
Brothers Seydler. Deren Makler handeln in<br />
Hessen – und dürfen nicht, was Tradegate<br />
erlaubt ist. Close Brothers hat sich deshalb<br />
in einem Brief an die Berliner Aufsicht beschwert.<br />
Der Vorwurf: Tradegate halte sich<br />
nicht an EU-Regeln, mache neue Preise<br />
und führe Orders in dem Moment aus, in<br />
dem der geänderte Preis angezeigt wird.<br />
Stichproben deuten darauf hin, dass Anleger<br />
schlechtere Kurse bekommen, wenn<br />
Tradegate neue Preise in der gleichen Sekunde<br />
anzeigt und Orders ausführt (siehe<br />
Seite 74 und 76). Timm rechtfertigt, ausführbare<br />
Orders würden „sofort automatisch<br />
<strong>vom</strong> elektronischen Handelssystem<br />
ausgeführt“. Sofern kein Referenzmarkt geöffnet<br />
sei, könne „die Preisfindung ausschließlich<br />
aufgrund der Orderbuchlage<br />
erfolgen“. Sein Computer berechnet den<br />
Preis anhand der vorliegenden Orders.<br />
Das zeigt, wie gefährlich es ist, eine Order<br />
ohne Preislimit aufzugeben. Wer es tut,<br />
muss damit rechnen, dass Tradegate sie als<br />
„ausführbare Order“ betrachtet – liegt der<br />
nächste Preis tiefer, ist es Pech für Anleger.<br />
Timm, der sich zum Gespräch mit der<br />
Redaktion ganz in Schwarz gekleidet hat,<br />
legt die Hand auf den Tisch: „Ich habe nie<br />
behauptet, dass wir immer die besten<br />
sind.“ Sagt’s und zuckt mit den Schultern.<br />
„Das Börsengesetz lässt den einzelnen<br />
Börsen einen gewissen Spielraum bei der<br />
Ausgestaltung ihres Börsensystems“, sagt Renate<br />
Hinsken, Chefin der Börsenaufsicht<br />
Die Deutsche Börse investiert, andere sammeln das Geld ein<br />
2013 erlöste die<br />
Tradegate AG über<br />
29 Millionen Euro**<br />
netto im Handel<br />
Tradegate-Gründer<br />
Holger Timm<br />
19,6 Tradegate AG 5<br />
19,6<br />
81<br />
Berliner Effektengesellschaft<br />
Finanzholding<br />
71<br />
Wertpapierhandelsbank<br />
Jahresüberschuss 2013:<br />
4,13 Millionen Euro<br />
Makler der AG<br />
handeln Aktien<br />
auf der Plattform<br />
der Exchange<br />
Tradegate Exchange<br />
Börsenbetreiber<br />
Jahresüberschuss 2013: 0,26 Millionen Euro<br />
* Tochter ist der Online-Broker Cortal Consors; ** die Tradegate AG hat auch Makler an den Börsen Frankfurt und Berlin;<br />
Quelle: Berliner Effektengesellschaft, Tradegate AG, eigene Recherche; Zahlen gerundet<br />
25<br />
71<br />
81<br />
5<br />
Deutsche<br />
Börse<br />
Deutsche-<br />
Börse-Chef<br />
Reto Francioni<br />
75<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 75<br />
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Geld&Börse<br />
»<br />
in Berlin. Und „ob die Preise auf einer<br />
Handelsplattform wirtschaftlich für den Anleger<br />
Sinn machen, ist nicht unsere Frage“.<br />
Indem Tradegate Orders schon in der<br />
Sekunde ausführt, in der der geänderte<br />
Preis angezeigt wird, hält die Börse Arbitrageure<br />
fern. Deren Computer suchen permanent<br />
nach Preisunterschieden zwischen<br />
Börsen. Ein steigender Preis an der<br />
einen Börse zum Beispiel lockt Arbitrageure<br />
an, die den Anstieg mit Verkäufen stoppen.<br />
Tradegate verhindert das, denn wenn<br />
die Computer einen veränderten Preis registrieren,<br />
ist das Geschäft längst gelaufen.<br />
ALLES UNTER KONTROLLE<br />
Andere Börsen, die daran verdienen, Käufer<br />
und Verkäufer zusammenzubringen, sehen<br />
Arbitrageure als nützlich an – helfen sie<br />
doch, die Spanne zwischen Ankaufs- und<br />
Verkaufspreis (Spread) zu drücken, sodass<br />
Anleger günstiger kaufen können. Nimmt<br />
die Börse keine Gebühren, steigt die Gefahr,<br />
dass sie nicht nur Käufe und Verkäufe<br />
von Anlegern gegeneinander ausführt, sondern<br />
Aktien erst mal selbst auf das eigene<br />
Buch nimmt und teurer wieder abgibt. „Jeder<br />
Makler will das Geschäft machen“, sagt<br />
Timm. Geschätzt handelt Tradegate 80 Prozent<br />
der Aktien selbst, statt Kundenorders<br />
zusammenzuführen. Den Spread vereinnahmt<br />
Timms Tradegate AG.<br />
Mysteriöser Kursverfall<br />
Hinsken von der Aufsicht soll Tradegate<br />
kontrollieren – doch in ihrer Behörde hat<br />
sie keinen Zugang zu Handelsdaten. Sie ist<br />
auf die Zusammenarbeit mit der Tradegate-Handelsüberwachung<br />
angewiesen.<br />
Doch die steht unter dem Einfluss von<br />
Timm. Er ist Vorsitzender des Börsenrats<br />
der Tradegate Exchange. Ein Interessenkonflikt:Ihm<br />
gehört nicht nur die Mehrheit<br />
an der Tradegate AG, deren Händler an der<br />
Exchange Geld verdienen – Geld für Timm.<br />
Er ist auch Geschäftsführer der AG, die Anteile<br />
an der Exchange hält. Als Chef des<br />
Börsenrates gibt er die großzügigen Bedingungen<br />
mit vor, zu denen seine Leute die<br />
Orders filetieren. Aufgabe des Rates ist es<br />
überdies, die Börsenordnung zu erlassen,<br />
Händler zuzulassen, Geschäftsführer zu<br />
bestellen und abzuberufen, sie zu überwachen.<br />
Timm meint, es sei normal, dass Vertreter<br />
der Makler im Börsenrat sitzen.<br />
Timms Schwester Kerstin Timm verantwortet<br />
im Vorstand der AG den Handel. So<br />
aber hat der Bruder alles unter Kontrolle.<br />
Im Handelsraum der futuristisch angehauchten<br />
Tradegate-Zentrale am Ku’damm<br />
ist nur das leise Surren der Klimaanlage zu<br />
hören. „Hier wird nicht mehr geschrien<br />
und gebrüllt wie früher an der Parkettbörse“,<br />
sagt Timm. Seine Makler sitzen in einem<br />
Rondell an 40 kuchenstückförmigen<br />
Arbeitsplätzen. Auf ihren Rechnern blinkt<br />
Wie Tradegate vor dem Start des Xetra-Handels der Deutschen Börse Anleger ausbootet<br />
Daimler-Aktie am 23.05.2013 (in Euro)<br />
Tradegate* signalisiert<br />
einen Ankaufspreis<br />
von 47,30 €<br />
pro Aktie und handelt<br />
1559 Aktien zu<br />
diesem Kurs<br />
47,30<br />
1559<br />
26 Sekunden später<br />
senkt Tradegate den<br />
angezeigten Preis um<br />
1,80 € auf 45,50 €<br />
(für einen Dax-Wert<br />
ungewöhnliche minus<br />
3,8 %). In der gleichen<br />
Sekunde werden<br />
15 786 Aktien<br />
gehandelt und...<br />
15786<br />
45,50<br />
...17 Sekunden<br />
später erneut<br />
47 030 Aktien<br />
47030<br />
Der umsatzstarke Xetra-<br />
Handel hat eröffnet, der<br />
Preis auf Tradegate liegt<br />
wieder bei 47,60 Euro<br />
47,60<br />
Die Abrechnung: Anleger haben 62 816 Aktien zu 45,50 € verkauft, der Erlös ist 113069 Euro niedriger,<br />
als 43 Sekunden zuvor bei 47,30 € drin gewesen wären. Die Börse hat den Preis nicht korrigiert, aber der<br />
Makler Tradegate AG hat einige Verkäufer besser gestellt, weil die sich beschwert hatten.<br />
* gehandelt werden Aktien auf der Börsenplattform Tradegate Exchange, allerdings von Maklern der Tradegate AG;<br />
Quelle: Bloomberg, Tradegate, eigene Recherche<br />
Den ganzen Tag über liegt<br />
der tiefste Kurs an den<br />
Börsen Frankfurt, Xetra,<br />
Stuttgart und München<br />
nie unter 47,12 €<br />
es fortwährend: rot (Kurs fällt), gelb (unverändert),<br />
grün (steigt). Eine Ampel auf dem<br />
Monitor zeigt den Händlern, ob die Aktien,<br />
die sie überwachen, handelbar sind. Die<br />
Makler greifen ein, wenn der Computer<br />
hakt. Sie überwachen, ob er zu viele Aktien<br />
kauft. Falls ja, wird verkauft. Ihr Handelssystem<br />
wurde im eigenen Haus programmiert.<br />
Wie aber verdienen sie ihr Geld?<br />
n Preis nach oben schrauben. Der Computer<br />
macht Kurse – und hält angezeigte Preise<br />
nicht immer ein. Als ein Anleger kürzlich<br />
nach 18 Uhr Aktien eines Nebenwertes kaufen<br />
wollte, verteuerte Tradegate mehrfach<br />
den Preis, statt die Order auszuführen.<br />
Stunden später musste der Käufer 40 Cent<br />
oder zwei Prozent mehr pro Aktie zahlen,<br />
als der ursprüngliche Preis signalisierte.<br />
Anleger können daraus lernen: Der Käufer<br />
wollte dreimal so viele Aktien kaufen,<br />
wie Tradegate anbot. Gerade in Randzeiten<br />
sollten Anleger maximal so viel ordern,<br />
wie ein Platz anzeigt. Sonst läuft er Gefahr,<br />
dass ein Makler mit Einblick ins Orderbuch<br />
sein Wissen nutzt – und der Preis für Käufer<br />
steigt. Wer offline handelt, sollte ab 9 Uhr,<br />
wenn Xetra öffnet, beim Banker anrufen,<br />
die Kurse der Börsen abfragen und dann<br />
den günstigsten Platz auswählen.<br />
n Immer einen Schritt vor dem Kunden.<br />
Anleger Müller will im Späthandel Commerzbank-Aktien<br />
kaufen. Er will Tradegate<br />
überbieten. Verkäufer sollen von ihm nun<br />
mehr Geld bekommen als von Tradegate.<br />
Eigentlich, denn kaum hat er die Order abgeschickt,<br />
zuckt es auf seinem Schirm –<br />
Tradegate hat jetzt ihn überboten. Prompt<br />
verkauft ein anderer Marktteilnehmer 170<br />
Aktien über die Börse. „Hätte Tradegate<br />
meinen Preis nicht überboten, hätte ich die<br />
bekommen“, sagt Müller. Sein Blick<br />
schweift über seinen Garten, doch selbst<br />
die bunten Blumen können ihn nicht beruhigen.<br />
„So geht das jeden Tag“, sagt er. Immer<br />
wenn sein Angebot besser ist als der<br />
Tradegate-Preis, überbietet die Maschine<br />
ihn um einen Zehntelcent. „Tradegate will<br />
das Geschäft selbst machen“, sagt er. Timm<br />
kontert, dass sein Computer die Preisqualität<br />
im Sinne privater Anleger verbessere.<br />
Jetzt zettelt Müller einen Kleinkrieg an:<br />
Immer, wenn Tradegate ihn übertrumpft,<br />
drückt er „Beat“ – überbieten. Müller und<br />
die Börse schaukeln den Ankaufspreis<br />
hoch, bis der nahezu dem Verkaufspreis<br />
entspricht. Er hat genug, löscht die Order.<br />
Sofort zieht Tradegate die Spanne breiter,<br />
senkt den Ankaufspreis. „Das ist nicht<br />
Zweck einer Börse, die Käufer und Verkäufer<br />
zusammenbringen soll“, sagt Müller.<br />
76 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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ILLUSTRATION: MARTIN HAAKE<br />
Auf Tradegate, so scheint es, macht der<br />
Makler das Geschäft. Basta.<br />
n Stop-Limits als leichte Beute. Diese Limits<br />
sollen vor Verlusten schützen. Fällt die<br />
Aktie unter das <strong>vom</strong> Anleger gesetzte Limit,<br />
soll der Makler Aktien automatisch verkaufen.<br />
Auf Tradegate aber kann ein Limit ausgelöst<br />
werden, wenn der Makler nur eine<br />
Taxe eingibt, die nicht verbindlich ist. Es<br />
kann zur Kettenreaktion kommen: Außerhalb<br />
der Xetra-Zeit sinkt die Liquidität, das<br />
Risiko für Tradegate steigt. Dies lässt sich<br />
der Händler bezahlen, indem er seine Anund<br />
Verkaufspreise auseinanderzieht: Anleger<br />
kriegen schlechtere Preise.<br />
Werden durch die breite Spanne Stops<br />
ausgelöst, werden Aktien verkauft. Der<br />
Kurs sinkt, weil Tradegate den nächsten<br />
Preis tiefer ansetzt. Im schlimmsten Fall<br />
werden weitere Stops gerissen, der Preis<br />
sinkt – wie am 7. August. Da purzelte der<br />
Siemens-Kurs im Späthandel – obwohl das<br />
Angebot in Stuttgart besser war (siehe Seite<br />
74). Timm kontert: Die Preise seien „nach<br />
Orderbuchlage“ gemacht und „nicht zu beanstanden“.<br />
Die Aktien der Anleger aber<br />
waren raus aus dem Depot.<br />
n Spanne verschieben. Es ist ein Trick unter<br />
Maklern, die Kundenaufträge sehen<br />
können. Liegen viele Kauforders vor, setzt<br />
der Makler beide Preise hoch – den, zu<br />
dem er kaufen, und den, zu dem er verkaufen<br />
würde. Das fällt kaum auf: Die Spanne<br />
zwischen An- und Verkauf, auf die viele gucken,<br />
bleibt genauso breit wie auf Xetra.<br />
So geschehen am 2. Juli. Gegen 11.15<br />
Uhr wickelte Tradegate sechs Geschäfte in<br />
Aktien der Deutschen Bank ab. Fünf Mal<br />
wurden Käufer im Vergleich zu Xetra einen<br />
halben Cent schlechter bedient. Für Anleger<br />
entscheidet ein halber Cent zwar nicht<br />
über den Anlageerfolg – für Tradegate aber<br />
macht Kleinvieh den Tag über viel Mist. Da<br />
Tradegate in Dax-Aktien für 50 000 Euro<br />
Volumen „Wort halte“, könne es zu geringen<br />
Abweichungen kommen, sagt Timm.<br />
STARKE VERBÜNDETE<br />
Viel Geschäft holt Timm auch von Online-<br />
Brokern. Die stellen auf ihren Ordermasken<br />
eine Börse vorab ein. Will der Anleger<br />
dort nicht handeln, muss er aktiv eine neue<br />
Börse anklicken. Bei Cortal Consors etwa<br />
erscheint Tradegate als erster Börsenplatz.<br />
Das verwundert nicht:Die Consors-Mutter<br />
BNP Paribas ist an Timms Tradegate AG<br />
beteiligt und kassiert Dividende.<br />
Timms zweiter Aktionär ist die Deutsche<br />
Börse. Die müsste den Aufsteiger eigentlich<br />
kleinhalten, arbeitet aber tatkräftig<br />
Gibt der Anleger keine Börse vor,<br />
landet die Order oft bei Tradegate<br />
mit, Orders zu Tradegate zu schaufeln. Der<br />
heutige Deutsche-Börse-Chef Reto Francioni<br />
war im Mai 2000 Co-Vorstandschef<br />
der Consors AG. Die übernahm damals 53<br />
Prozent an der Tradegate-Mutter Berliner<br />
Effektengesellschaft. Timm jubelt bis heute:<br />
„Consors war der erste große Kunde der<br />
damaligen Handelsplattform Tradegate,<br />
da konnte ich testen, was Anleger wollen.“<br />
Die Presse jubelte mit: Consors wolle dem<br />
Platzhirsch Deutsche Börse Konkurrenz<br />
machen. Endlich.<br />
Später holte sich Timm sein Baby teils<br />
zurück, sodass die Berliner Effekten wieder<br />
mehrheitlich ihm gehört (siehe Grafik Seite<br />
75). Francioni wurde 2005 Chef der Deutschen<br />
Börse und kaufte Anfang 2010 fünf<br />
Prozent an Timms Tradegate AG und 75<br />
Prozent an der Tradegate Exchange.<br />
Umgekehrt wäre besser gewesen: Die<br />
Exchange macht kaum Gewinn, weil Anleger<br />
gratis handeln, das dicke Geld machen<br />
Timms Makler, die aber zur Tradegate AG<br />
gehören. Francioni scheint das nicht zu<br />
stören. Seit Jahren entsenden die Frankfurter<br />
eine Führungskraft in die Geschäftsführung<br />
der Exchange. Aufgabe: Marketing,<br />
neue Kunden an die Plattform anbinden.<br />
Die Deutsche Börse arbeitet daran, dem eigenen<br />
Handelsplatz Marktanteile abzujagen.<br />
Vor allem Xetra soll Orders an Tradegate<br />
verloren haben. Francioni hat sich die<br />
Option gesichert, die Beteiligung an der AG<br />
auf 20 Prozent aufstocken zu können. So<br />
könnte er stärker an Gewinnen teilhaben.<br />
Allein: Warum nutzt er die Option nicht?<br />
Fragen dazu wollten weder Francioni<br />
noch sein verantwortlicher Manager Martin<br />
Reck beantworten. Ob die Vorwürfe gegen<br />
Tradegate eine Rolle spielen? Im Bilde<br />
ist Reck. Der Redaktion liegt ein Schreiben<br />
vor, in dem Manager seiner Börse auf die<br />
Handelspraktiken bei ihrer Berliner Tochter<br />
hingewiesen werden.<br />
In Frankfurt hat Reck die Makler zur Räson<br />
gerufen: Die Börse gibt Anlegern seit<br />
November eine „Qualitätsgarantie“. Reck<br />
hat versprochen, dass Anleger Aktien bis<br />
zu 7500 Euro zu Preisen wie am jeweiligen<br />
Referenzmarkt oder besser handeln können.<br />
Weichen Kurse ab, müssen Makler die<br />
Differenz erstatten.<br />
Für Tradegate gilt die Garantie nicht. n<br />
annina.reimann@wiwo.de | Frankfurt<br />
WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 77<br />
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Geld&Börse<br />
Ganz schön reich<br />
GELDANLAGE | Vermögen über Generationen bewahren wollen<br />
sie alle, aber wie macht man das? Ein Blick auf die Strategie der<br />
verschwiegenen Family Offices.<br />
Offices (so heißen die Vermögensverwalter<br />
der Superreichen), dass „der Vermögenserhalt<br />
und nicht die schnelle Vermögensmehrung<br />
an erster Stelle“ stehe. So formuliert<br />
es Michael Riemenschneider, Chef des<br />
Reimann Investors Advisory, in dem einige<br />
Mitglieder der Familie Reimann ihre Geldgeschäfte<br />
regeln. Die Familie hat ihre Anteile<br />
am Putzmittelriesen Reckitt Benckiser<br />
(Sagrotan) verkauft. Seit 2012 betreibt sie<br />
mit der Deutsche Kontor Privatbank eine<br />
eigene Bank.<br />
„Im aktuellen Umfeld vieler Krisenherde<br />
ist der Kapitalerhalt perspektivisch wichtiger<br />
als die Kapitalrendite“, sagt auch Andreas<br />
Rhein, Vorstand beim Focam Family<br />
Office, das Mitglieder der Familien Oetker,<br />
Schwarzkopf, Jacobs und Schwartau-Fabrikant<br />
Werner Holm über Beiräte an sich<br />
bindet und auf Wunsch auch deren Geldverwaltung<br />
übernimmt.<br />
Komplett abgeschottet sind die Family Offices<br />
nicht mehr. Einige verkaufen ihr Wissen<br />
auch an Privatanleger:Focam, die Deutsche<br />
Kontor Privatbank und auch Lange Assets<br />
& Consulting, bei denen die Verleger-<br />
Erben Axel Sven Springer und John Jahr zu<br />
den Gesellschaftern gehören, bieten heute<br />
Vermögensverwaltung oder Fonds an.<br />
Aus dem Rahmen des Üblichen Von Opel<br />
stieg mit drei Prozent bei Bilfinger ein<br />
Viele reden davon, dass sie nach einem<br />
Kursrutsch Aktien kaufen wollen.<br />
Milliardär Georg von Opel hat es<br />
getan, beim Ingenieurkonzern Bilfinger.<br />
Dessen Aktie verlor nach zwei Gewinnwarnungen<br />
rund 30 Prozent. Von Opel kaufte<br />
über seine Schweizer Beteiligungsgesellschaft<br />
Hansa drei Prozent an dem Unternehmen,<br />
für knapp 80 Millionen Euro. Der<br />
48-jährige Nachkomme der Rüsselsheimer<br />
Autodynastie hat zudem ein Faible für Betongold:<br />
Er baut derzeit für rund 100 Millionen<br />
Euro im Frankfurter Westen den Büroturm<br />
St Martins Tower. Ein mutiges Projekt:<br />
Etwa 13 Prozent der Büroflächen im<br />
Stadtgebiet von Frankfurt stehen leer. Sein<br />
beherzter Einstieg bei Bilfinger könnte von<br />
Opel schneller Geld bringen.<br />
Aber um schnelles Geld geht es vielen<br />
Superreichen derzeit gar nicht. Gebetsmühlenartig<br />
predigen Manager der Family<br />
ÄCKER UND WÄLDER<br />
Bei Focam reicht das Anlageuniversum<br />
von Aktien über Immobilien und Gold bis<br />
hin zu Infrastrukturinvestitionen. Aus dem<br />
Know-how, das Focam über Jahre bei<br />
Forst- und Agrarinvestments gesammelt<br />
hat, ist jetzt ein Fonds entstanden, der in<br />
Forst- und Agraraktien investiert. „Der Anleger<br />
muss in Kauf nehmen, dass sein Vermögen<br />
nicht mehr so liquide ist wie in früheren<br />
Zeiten, als die Bundesanleihen noch<br />
Rendite abwarfen“, sagt Focam-Anlagestratege<br />
Rhein. Eine Bundesanleihe ist eben<br />
schneller zu verkaufen als eine Waldbeteiligung.<br />
Die in unserer Tabelle aufgeführten<br />
Fonds sind aber täglich handelbar.<br />
Eines der bekanntesten Family Offices ist<br />
Spudy in Hamburg. Hier sind Ex-Arbeitgeberpräsident<br />
Klaus Murmann und die Familie<br />
von Dieter Ammer (Tchibo, Beiersdorf)als<br />
Gesellschafter mit im Boot. Spudy<br />
legt so an, dass eine Hälfte des Kapitals im<br />
Notfall kurzfristig liquidierbar wäre. Die<br />
andere Hälfte ist langfristig investiert, etwa<br />
in Immobilien, Wäldern oder neuseeländischen<br />
Milchfarmen. Sieben bis acht Prozent<br />
Gold gehören zum liquiden Teil des<br />
Vermögens. „Die Anlageverteilung ist sehr<br />
langfristig ausgerichtet, einzelne Eingriffe<br />
gab es in den vergangenen Wochen etwa<br />
FOTOS: 13 PHOTO/HELMUT WACHTER, A.F.A. ALLSTAR FILM ARCHIVE<br />
78 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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dadurch, dass wir Fondspositionen durch<br />
Derivate auf den Index Euro Stoxx abgesichert<br />
haben“, sagt Jens Spudy.<br />
„Wir sehen die derzeitige Lage nicht als<br />
Krise“, sagt Min Sun, Partner und Chefanleger<br />
der Bad Homburger Vermögensverwaltung<br />
Taunus Trust. Das Unternehmen ist<br />
mit elf Partnern vor einem Jahr gestartet<br />
und betreut Kunden, die mindestens zehn<br />
Millionen Euro Vermögen anlegen können.<br />
Wie Sun waren viele der Partner zuvor<br />
bei Feri, der früheren Vermögensverwaltung<br />
der BMW-Eignerfamilie Quandt.<br />
WETTE AUF DAX-ERHOLUNG<br />
Nach der enttäuschenden Kursentwicklung<br />
in Europa sieht Sun hier schon wieder<br />
Chancen. Bei 9000 Punkten im Dax hat<br />
Taunus Trust in einigen Kundendepots<br />
„vorsichtig“ mit börsengehandelten Indexfonds<br />
auf eine Erholung beim Dax und den<br />
50 größten Aktien des Euro-Raums im Euro<br />
Stoxx 50 gesetzt. Im Gesamtbestand der<br />
Kunden mache der deutsche Aktienmarkt<br />
aber nur 3,5 bis 5,0 Prozent aus. Die Begeisterung<br />
des Opel-Erben für Bilfinger teilt<br />
Sun nicht. „Das Geschäftsmodell hängt<br />
stark an der Energiewende, das fassen wir<br />
derzeit nicht an.“<br />
Auch Riemenschneider <strong>vom</strong> Reimann<br />
Family Office sieht keinen Börsenabschwung,<br />
hat vorsichtshalber aber den Aktienanteil<br />
im Deutsche Kontor Vermögensmandat-Fonds<br />
auf 47 Prozent reduziert.<br />
Mitte Juli waren es noch 60 Prozent.<br />
Der Rest verteilt sich vor allem auf Staatsanleihen<br />
aus Industrieländern. Schwellenländer<br />
stehen auf der Watchlist. Der<br />
Anleihebestand sowie eine teilweise Absicherung<br />
des Aktienbestands über Derivate<br />
sorgten dafür, dass der Fonds in diesem<br />
Jahr noch sein Plus verteidigt. „Es ist nicht<br />
ausgeschlossen, dass sich die Krise ausweitet“,<br />
sagt Riemenschneider. Ein Grund<br />
für den „hohen Gesamtanspannungsgrad“<br />
sei die Aussicht auf Zinserhöhungen<br />
in den USA. Die Ukraine und Russland<br />
seien ökonomisch für Europa nicht von<br />
besonderer Bedeutung. „Aber eine Eskalation<br />
würde zu einer Destabilisierung<br />
führen.“<br />
Kern der Vermögensanlage der Reimanns<br />
ist der Aktienindex MSCI All Countries<br />
World. „Mit 2500 Einzelaktien im Korb<br />
ist er eines der stabilsten Aktieninstrumente<br />
und bietet zudem noch eine vernünftige<br />
Rendite“, sagt Riemenschneider. Durch<br />
den rund 45-prozentigen US-Anteil im Index<br />
profitierten Euro-Land-Anleger auch<br />
von einem steigenden Dollar. „In Krisen ist<br />
Bauknecht finanziert, was Film-Fans<br />
wünschen Kidman in „Grace of Monaco“<br />
der Dollar stets eine Fluchtwährung“, sagt<br />
Riemenschneider.<br />
Rund um das Kerninvestment platziert<br />
er Satelliten: Indexfonds für China und Indien<br />
und für Gesundheit, Energie und Immobilien.<br />
Verkauft hat Riemenschneider<br />
spanische, italienische und portugiesische<br />
Aktien. Bei Anleihen bleibt er der Euro-Peripherie<br />
treu, zu verlockend ist deren Renditeplus<br />
gegenüber Bundesanleihen.<br />
Einig sind sich Focam, Taunus Trust,<br />
Deutsche Kontor und Spudy, dass sie Banken<br />
wieder trauen und kein Zusammenbruch<br />
des Systems drohe. Sehr große Guthaben<br />
werden dennoch als geschütztes<br />
Sondervermögen in Geldmarktfonds angelegt,<br />
letztlich also in kurz laufenden<br />
Staatsanleihen bester Bonität. Deren Ertrag<br />
liegt allerdings nur knapp über der<br />
Nulllinie.<br />
Zu wenig für Gero Bauknecht: „Mit der<br />
Strategie des Bewahrens kann man in großen<br />
Krisen leicht zu den Verlierern gehören.<br />
Ich betätige mich da lieber unternehmerisch,“<br />
sagt er und verweist auf seinen Großvater:<br />
„Er hat durch Schaffenskraft viele Krisen<br />
gemeistert. Dabei war der Blick nach<br />
vorn wichtiger als die Frage, ob eine Bank<br />
sicher genug ist.“ Die Familie des 47-Jährigen<br />
profitierte <strong>vom</strong> Verkauf ihres Hausgeräteherstellers.<br />
Gero Bauknecht finanziert<br />
heute Filme. Der von ihm mitlancierte Silver<br />
Reel Entertainment Mezzanine Fund<br />
war etwa an der Finanzierung von „Grace of<br />
Monaco“ mit Nicole Kidman beteiligt.<br />
Mit dem in Verruf geratenen Steuersparmodell<br />
Filmfonds könne man Silver Reel<br />
nicht in einen Topf werfen, sagt Bauknecht.<br />
Der Fonds stellt Produktionsgesellschaften<br />
Kapital zur Verfügung und refinanziert sich<br />
über frühzeitige Verkäufe an Distributoren,<br />
die die Rechte weiter vermarkten. „Acht bis<br />
zehn Prozent Rendite pro Jahr bringt der<br />
Fonds mindestens“, sagt Bauknecht.<br />
„Wenn ein Film großen Erfolg an der Kinokasse<br />
hat, ist mehr drin.“ Und der Unterhaltungssektor<br />
korreliere nicht mit dem Kapitalmarkt<br />
und folge auch nicht den Aktienindizes,<br />
sagt er. Für Kleinanleger ist der<br />
Fonds aber nichts: Mindestanlagesumme<br />
ist eine Million Dollar.<br />
n<br />
heike.schwerdtfeger@wiwo.de | Frankfurt<br />
Agrar-, Immobilien- und Versorgeraktien plus Schwellenländer-Bonds<br />
Aktiv gemanagte Fonds und Indexprodukte, auf die reiche Familien setzen<br />
Fonds<br />
Deutsche Kontor Vermögensmandat I<br />
Hier managt die Reimann Investors AdvisoryGelder des Reimann-Clans; nur bei der Dt. Kontor Privatbank erhältlich<br />
Global Family Strategy II Equity<br />
Fonds des Focam Family Office, in deren Gremien Vertreter der Familien Oetker, Jacobs und Schwarzkopf sitzen<br />
Global Family Strategy II Agro & Forest<br />
Focam-Fonds mit Aktien und Anleihen von Agrar- und Forstunternehmen; nur als Beimischung geeignet<br />
db x-trackers MSCI All Countries World ETF<br />
Reimann Family Office investiert in den breit gestreuten ETF, der die 2500 größten Aktien weltweit enthält<br />
Pimco Emerging Markets Bond Fund E<br />
Enthält nur Schwellenländer-Anleihen; nach deren Kursverlusten schlug das Reimann Family Office zu<br />
iShares Stoxx Europe 600 Real Estate<br />
25 größte europäische Immobilienaktien; profitieren laut Reimann Family Office von den niedrigen Euro-Zinsen<br />
iShares global Healthcare ETF<br />
Gesundheitsaktien weltweit, zu gut 60 Prozent US-Papiere (zum Beispiel Johnson & Johnson und Novartis)<br />
iShares Stoxx Europe 600 Utilities<br />
Aktien der 26 größten europäischen Versorger (zum Beispiel National Grid und GDF Suez)<br />
ISIN<br />
LU0559921001<br />
LU0327615422<br />
LU0972651276<br />
IE00BGHQ0G80<br />
IE00B0MD9S72<br />
DE000A0Q4R44<br />
US4642873255<br />
DE000A0Q4R02<br />
Quelle: Morningstar, Bloomberg, eigene Recherchen; Stand: 20.08.2014.<br />
Fondsart<br />
Mischfonds<br />
Aktienfonds<br />
Mischfonds<br />
Aktien-Indexfonds<br />
Anleihefonds<br />
Aktien-Indexfonds<br />
Aktien-Indexfonds<br />
Aktien-Indexfonds<br />
Wertentwicklung in<br />
1 Jahr<br />
9,7<br />
– 4,3<br />
neu<br />
neu<br />
9,8<br />
22,1<br />
25,9<br />
25,6<br />
3 Jahre<br />
neu<br />
7,4<br />
neu<br />
neu<br />
5,7<br />
16,7<br />
28,7<br />
13,8<br />
WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 79<br />
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Geld&Börse | Barron’s<br />
Sommer-Angebote<br />
US-AKTIEN | Aktien sind derzeit allgemein nicht billig. Doch einige<br />
Papiere sind nach der jüngsten Korrektur nun attraktiv.<br />
Ukraine, Irak, Palästina und Konjunktursorgen:<br />
In den vergangenen<br />
Wochen haben auch Aktien<br />
guter Qualität Federn gelassen.<br />
Zwar liegt der marktbreite US-Index S&P<br />
500 noch rund fünf Prozent über seinem<br />
Niveau <strong>vom</strong> Jahresbeginn. Doch in einigen<br />
Teilsegmenten gab es heftige Verkäufe: Vor<br />
allem die Papiere kleinerer Unternehmen<br />
und von Banken litten, Bauaktien haben<br />
sechs Prozent verloren, Papiere der Ölund<br />
Gasbranche sogar zehn Prozent.<br />
Trotzdem sind Aktien insgesamt nicht<br />
billig. Einer aktuellen Studie von Barclays<br />
zufolge trieben zuletzt niedrigere Steuern<br />
auf Unternehmensgewinne, Aktienrückkäufe<br />
sowie Fusionen und Übernahmen<br />
die Aktienbewertungen; Umsatzwachstum<br />
war hingegen generell Mangelware. Derzeit<br />
liegt das Umsatzwachstum quer über<br />
alle Branchen in den USA im Schnitt bei<br />
drei Prozent. Das mittlere Kurs-Umsatz-<br />
Verhältnis im S&P 500 liegt bei 1,6; der Mittelwert<br />
seit 1976 ist 0,9.<br />
Barclays prognostiziert für dieses und<br />
nächstes Jahr Kurssteigerungen nur noch<br />
im einstelligen Prozentbereich und empfiehlt<br />
Finanzwerte und Energieaktien sowie<br />
Aktien von Technologie- und Industrieunternehmen.<br />
Doch es gibt nach den<br />
jüngsten Kursverlusten Schnäppchen in<br />
fast allen Branchen, man muss sie nur suchen:<br />
Die Aktie der Modekette Michael<br />
Kors etwa verlor binnen Kurzem zwölf Prozent.<br />
Das Unternehmen ist seit zehn Quartalen<br />
an der Börse und übertraf bisher in<br />
allen zehn Perioden die Gewinnprognosen<br />
der Wall Street. Ausgelöst wurde die Verkaufswelle<br />
bei Kors durch den ersten Rückgang<br />
der Gewinnmarge seit 2009,<br />
Unten einsammeln<br />
Welche US-Aktien nach der Korrektur billig sind<br />
Unternehmen/Branche<br />
BB&T/Bank<br />
ConocoPhillips/Öl<br />
Juniper/Netzausrüst.<br />
United T./Mischk.<br />
ISIN<br />
US0549371070<br />
US20825C1045<br />
US48203R1041<br />
US9130171096<br />
Kurs 1<br />
27,75<br />
60,17<br />
17,63<br />
81,77<br />
1 in Euro, 21.8.2014; 2 Kurs-Gewinn-Verhältnis, 2014,<br />
geschätzt, Quelle: Barron's, Bloomberg<br />
Die beste<br />
Geschichte aus<br />
der aktuellen<br />
<strong>Ausgabe</strong> von<br />
dem führenden<br />
amerikanischen<br />
Magazin für<br />
Geldanleger.<br />
KGV 2<br />
12,1<br />
12,2<br />
13,3<br />
14,5<br />
was ein Indiz für einen zunehmend<br />
überfüllten Handtaschenmarkt<br />
sein könnte.<br />
Noch attraktiver sind die Aktien<br />
des Mischkonzerns United<br />
Technologies (UT). Das Unternehmen<br />
produziert unter anderem<br />
Heiz- und Kühlsysteme,<br />
Fahrstühle, Rolltreppen und Helikopter.<br />
Die Aktien haben im<br />
laufenden Quartal 8,5 Prozent verloren;<br />
das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) auf Basis<br />
des prognostizierten Gewinns für das<br />
laufende Geschäftsjahr ist von 17 zu Jahresbeginn<br />
auf 14 gefallen. Im letzten Quartal<br />
übertraf UT sowohl die Gewinn- als<br />
auch die Umsatzprognosen. Das Management<br />
hat die Gewinnprognose für das Gesamtjahr<br />
sogar angehoben. Was die Anleger<br />
verschreckte, war die schwache Auftragslage<br />
bei Heiz- und Kühlsystemen.<br />
Ebenfalls günstig erscheinen die Papiere<br />
von Juniper Networks. Der Netzausrüster<br />
übertraf die Gewinnprognosen für das<br />
zweite Quartal, nahm aber die Gewinnerwartung<br />
für das dritte Quartal zurück. Dies<br />
ließ die Aktie fallen. Juniper liefert Netzwerklösungen<br />
für Internet-Anbieter; die<br />
Auftragslage des Unternehmens könnte unter<br />
der geplanten 45-Milliarden-Dollar-Fusion<br />
von Time Warner Cable und Comcast<br />
leiden. In diesem Jahr erwartet die Wall<br />
Street für Juniper nur 3,5 Prozent Umsatzwachstum.<br />
2015 sollten es wieder mindestens<br />
4,2 Prozent und 2016 6,0 Prozent werden<br />
– im Gleichschritt mit dem Anziehen<br />
der Investitionen in der Branche. Kostensenkungen<br />
und Aktienrückkäufe dürften<br />
den Gewinn je Aktie in diesem Jahr um 17<br />
Prozent und im kommenden Jahr um 24<br />
Prozent steigen lassen. Derzeit notiert die<br />
Aktie zum 13,3-Fachen des Gewinns.<br />
REGIONALBANKEN UND ÖL<br />
Einen zweiten Blick wert sind die Aktien der<br />
Regionalbank BB&T. Anfang August empfohlen<br />
die Analysten von Wells Fargo die<br />
Aktie zum Kauf; sie verwiesen auf den stetigen<br />
Anstieg des Gewinns je Aktie.<br />
Derzeit notiert sie mit einem KGV<br />
von zwölf; das ist rund 14 Prozent<br />
günstiger als der Durchschnittswert<br />
der vergangenen fünf Jahre.<br />
Keine andere US-Regionalbank<br />
notiert mit einem Abschlag in<br />
dieser Größenordnung an der<br />
Börse. Und noch eine: Die Aktie<br />
des Ölmultis ConocoPhillips hat<br />
in den vergangenen Wochen<br />
sechs Prozent verloren, liegt jedoch noch<br />
14 Prozent über dem Wert <strong>vom</strong> Jahresbeginn.<br />
Die Analysten von Barclays sehen ein<br />
Kurspotenzial von gut 30 Prozent, da der<br />
Konzern den Abstand zu den Vergleichsunternehmen<br />
zunehmend aufhole und die<br />
Früchte des investierten Kapitals zu ernten<br />
beginne. Die Wall Street erwartet in diesem<br />
Jahr einen Anstieg des Gewinns je Aktie um<br />
16 Prozent – verglichen mit nur sechs Prozent<br />
bei ExxonMobil und einem Rückgang<br />
bei Chevron. Die Aktien von Conoco-<br />
Phillips notieren aktuell zum 12,2-Fachen<br />
des erwarteten Gewinns und werfen 3,6<br />
Prozent Dividende ab.<br />
n<br />
jack hough | geld@wiwo.de<br />
ILLUSTRATION: TOM MACKINGER<br />
80 Nr. 35 25.8.14 WirtschaftsWoche<br />
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Geld&Börse | Steuern und Recht<br />
eigener tauchte nirgends auf.<br />
Ein Trick, der ohne den Zufallsfund<br />
der Zöllner wohl niemals<br />
aufgeflogen wäre.<br />
Der Fall zeigt:Große Fische<br />
unter Schwarzgeld-Anlegern<br />
setzen nicht auf simple Bankkonten.<br />
Sie verschleiern ihr Vermögen<br />
– genau wie Potentaten,<br />
Drogenbosse und andere Kriminelle<br />
–mithilfe anonymer<br />
Briefkastenfirmen und schalten<br />
teilweise ganze Ketten solcher<br />
Vehikel hintereinander.<br />
STEUERFAHNDUNG<br />
»Milliarden ins Ausland«<br />
Steuerbetrüger und Verbrecher setzen auf Scheinfirmen, um Vermögen zu<br />
verstecken. Jetzt schlagen Politik und Fahnder zurück.<br />
Die Zollbeamten am Düsseldorfer<br />
Flughafen staunten nicht<br />
schlecht. Als sie bei einer Stichprobe<br />
einen Architekten aus<br />
Aachen durchsuchten, entdeckten<br />
sie gleich zwei Reisepässe.<br />
Im ersten stand ein deutscher<br />
Name, im anderen – ausgestellt<br />
in Panama – ein spanisch klingender.<br />
Doch die Fotos beider<br />
Pässe zeigten zweifelsfrei dieselbe<br />
Person, nämlich den Architekten.<br />
Es dauerte Monate, bis Kriminalbeamte<br />
und Steuerfahnder<br />
herausfanden, was es damit auf<br />
sich hatte: Der Architekt, der<br />
aus einer Unternehmerfamilie<br />
stammt, hatte ein beträchtliches<br />
Vermögen in der Schweiz<br />
geerbt. Um das Geld noch<br />
besser vor Datendieben und<br />
Steuerfahndern zu schützen,<br />
gründete er einen „Trust“ in<br />
Panama.<br />
Diese Vehikel sind vergleichbar<br />
mit Schweizer oder Liechtensteiner<br />
Stiftungen – Firmen<br />
in Rechtsformen, die unter<br />
Steuerhinterziehern vor allem<br />
deshalb beliebt sind, weil kaum<br />
Veröffentlichungspflichten bestehen.<br />
Aber das reichte dem<br />
Architekten nicht. Er wollte die<br />
totale Sicherheit.<br />
Deshalb besorgte er sich einen<br />
gefälschten Pass, was in<br />
Panama nach Aussage seines<br />
Anwalts für „zehn- bis fünfzehntausend<br />
Dollar“ möglich<br />
sei. Das Dokument legte er bei<br />
der Gründung des Trusts vor,<br />
im Handelsregister stand deshalb<br />
nun der Name seines erfundenen<br />
Doppelgängers. Sein<br />
BRIEFKASTENFIRMEN<br />
IM VISIER DER POLITIK<br />
Da in der Regel Strohmänner<br />
oder – wie im Fall des Aacheners<br />
– Scheinidentitäten als<br />
offizielle Eigentümer im Handelsregister<br />
stehen, haben<br />
Fahnder oft keine Chance.<br />
Denn selbst das weltweit bröckelnde<br />
Bankgeheimnis bringt<br />
in solchen Fällen nichts: Wenn<br />
Ermittler herausfinden, welcher<br />
Firma ein Konto gehört,<br />
wissen sie schließlich noch<br />
immer nicht, wer sich dahinter<br />
verbirgt.<br />
Besonders fleißig haben<br />
deutsche Hinterzieher von 2008<br />
an Tarnfirmen gegründet. Aufgeschreckt<br />
wurden viele, als<br />
die Finanzbehörden begannen,<br />
CDs mit Namenslisten anzukaufen.<br />
Berater würden zum<br />
Beispiel „Liechtensteiner Rettungsanker“<br />
– also Stiftungen<br />
im Fürstentum – empfehlen,<br />
berichteten Steuerfahnder<br />
bereits 2012. Auch „Offshore-<br />
Gesellschaften“ in Singapur,<br />
FATF | Mächtige Task Force<br />
Steueroasen kontrollieren Firmen<br />
strenger. Sie wollen vermeiden,<br />
auf der schwarzen Liste der<br />
Industriestaaten zu landen.<br />
Geldwäsche-Experten. Die globale<br />
Speerspitze im Kampf gegen<br />
Geldwäsche ist die Financial<br />
Action Task Force (FATF), ein Zusammenschluss<br />
der 34 führenden<br />
Staaten. Das Gremium macht<br />
Vorgaben für nationale Gesetze.<br />
So müssen Staaten etwa dafür<br />
sorgen, dass ihre Behörden auf<br />
Anfrage ausländischer Ermittler<br />
„zeitnah“ Informationen über den<br />
wahren Inhaber einer Firma liefern<br />
können. Zudem prüfen die Geldwäsche-Experten,<br />
ob dies funktioniert.<br />
180 Staaten. Die FATF prüft nicht<br />
nur in den 34 Mitgliedstaaten, zu<br />
denen auch Finanzzentren wie die<br />
Schweiz und Singapur gehören,<br />
sondern auch in rund 150 weiteren<br />
Ländern, die sich zu den FATF-<br />
Regeln bekannt haben. Der Grund<br />
für die hohe Zahl: Wer sich verweigert<br />
oder die Vorgaben zögerlich<br />
umsetzt, muss einen Platz auf der<br />
schwarzen Liste fürchten. Ein<br />
Makel, der erhebliche ökonomische<br />
Folgen hat, weil Banken<br />
in aller Welt bei Transaktionen<br />
mit gelisteten Ländern Vorsicht<br />
walten lassen.<br />
Fortschritte verzeichnet. Kritik<br />
der Geldwäsche-Aufseher bleibt<br />
deshalb selten folgenlos, auch<br />
Steueroasen verschärfen ihre Gesetze.<br />
So habe etwa die Schweiz<br />
„große Fortschritte“ gemacht,<br />
etwa durch neue Vorgaben bei der<br />
Registrierung von Firmen, lobt<br />
CMS-Anwalt Joachim Kaetzler.<br />
Allerdings geht ihm die aktuelle<br />
Liste, auf der Nordkorea, Iran,<br />
Algerien, Ecuador, Myanmar und<br />
Indonesien stehen, nicht weit genug.<br />
„Da fehlen einige Staaten mit<br />
laxen Vorschriften, etwa in Mittelamerika<br />
und Fernost“, sagt er.<br />
Es sei deshalb richtig, dass die EU<br />
nun eine eigene Liste plant.<br />
FOTOS: REUTERS/ALEX GRIMM, REUTERS/ARND WIEGMANN<br />
82 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Panama oder der Karibik seien<br />
beliebt.<br />
Allerdings steigt inzwischen<br />
auch bei solchen Vehikeln das<br />
Entdeckungsrisiko. So zeigte<br />
2013 der „Offshore-Leaks“-<br />
Skandal, dass bei Dienstleistern<br />
in Steueroasen, die Scheinfirmen<br />
gründen, ebenfalls Kundendaten<br />
abhandenkommen<br />
können. Hacker hatten dort 2,5<br />
Millionen Dokumente gestohlen;<br />
Journalisten und Ermittler<br />
in aller Welt durchforsten seither<br />
die Daten.<br />
Doch Finanzpolitiker und<br />
Fahnder wollen sich nicht auf<br />
Datendiebe verlassen. Sie<br />
haben mehrere Initiativen angeschoben;<br />
nach dem Bankgeheimnis<br />
soll es auch Briefkastenfirmen<br />
an den Kragen gehen.<br />
Wird es nun auch für die großen<br />
Fische eng?<br />
Große Hoffnungen setzen Experten<br />
auf das neue Firmenregister,<br />
für das sich das EU-Parlament<br />
im März ausgesprochen<br />
hat. Die 4. EU-Geldwäscherichtlinie<br />
sieht vor, dass künftig die<br />
„wirtschaftlich Berechtigten“<br />
jedes Unternehmens ins Register<br />
eingetragen werden müssen<br />
– also die Personen, denen es<br />
wirklich gehört.<br />
Bislang ist das vielerorts nicht<br />
der Fall. Auch im deutschen<br />
Handelsregister ist häufig lediglich<br />
ein anderes Unternehmen<br />
als „Inhaber“ eingetragen.<br />
„Wenn diese Firma ihren Sitz in<br />
einer Steueroase hat, ist es oft<br />
unmöglich, Informationen über<br />
den wahren Eigentümer zu<br />
bekommen“, sagt ein Fahnder.<br />
Die Bundesregierung hat sich<br />
bereits im Koalitionsvertrag zu<br />
dem Vorhaben bekannt. Um die<br />
Details gibt es jedoch Streit:<br />
Einige Mitgliedstaaten wollen<br />
in den – vermutlich im September<br />
beginnenden – „Trilog“-Verhandlungen<br />
mit Kommission<br />
und Parlament durchsetzen,<br />
Andreas Hübers hält das für<br />
falsch. „Es ist wichtig, dass alle<br />
Bürger übers Netz auf die Daten<br />
zugreifen können“, sagt der<br />
Geldwäsche-Experte der Non-<br />
Profit-Organisation ONE, die<br />
Armut in Afrika bekämpft.<br />
Dann könnten auch Aktivisten<br />
und Journalisten Hintermänner<br />
verdächtiger Firmen ermitteln.<br />
In Afrika seien anonyme Vehikel<br />
ein besonderes Problem,<br />
weil „Diktatoren und korrupte<br />
Politiker auf diese Weise riesige<br />
Summen außer Landes schleusen“.<br />
Pro Jahr verliere der Kontinent<br />
dadurch einen zweistelligen<br />
Milliardenbetrag.<br />
TREUHÄNDER GERATEN<br />
UNTER DRUCK<br />
Unabhängig von der Debatte<br />
über den Zugriff ist jedoch die<br />
große Frage: Stehen künftig die<br />
echten „wirtschaftlich Berechtigten“<br />
im Register, nur weil die<br />
weiter Strohmänner – also etwa<br />
Anwälte oder Steuerberater, die<br />
als Treuhänder fungieren?<br />
Hübers ist zuversichtlich.<br />
„Wenn laut Gesetz der echte<br />
wirtschaftlich Berechtigte im<br />
Register stehen muss, machen<br />
sich Treuhänder, die sich wahrheitswidrig<br />
als Eigentümer registrieren<br />
lassen, strafbar“, sagt<br />
er. Das, so die Hoffnung, dürfte<br />
manchen abschrecken. Wichtig<br />
sei jedoch, dass bei Verstößen<br />
strenge Strafen drohen.<br />
Auch Joachim Kaetzler, Partner<br />
der Kanzlei CMS Hasche<br />
Sigle, glaubt an einen Abschreckungseffekt.<br />
Er fordert aber,<br />
dass Registerbeamte künftig<br />
prüfen müssen, ob die Angaben<br />
stimmen. „Jede Bank ist vor der<br />
Eröffnung eines Kontos verpflichtet,<br />
den wirtschaftlich<br />
Berechtigten zu ermitteln“, sagt<br />
er. „Das kann man dann auch<br />
von staatlichen Institutionen<br />
dass nur staatliche Behörden EU das so will? Oder finden Hinterzieher<br />
und andere Kriminelle warten.“<br />
wie einem Registergericht er-<br />
das Register einsehen können. »<br />
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Geld&Börse | Steuern und Recht<br />
Oh, wie schön ist Panama Erste Adresse für Scheinfirmen<br />
»<br />
Ein weiteres Problem: „Viele<br />
besonders aktive Treuhänder<br />
operieren in Steueroasen wie<br />
der Schweiz oder Singapur“,<br />
sagt Michael Weber-Blank,<br />
Steuerstrafrechtler und Partner<br />
bei Brandi Rechtsanwälte in<br />
Hannover. Sie müssen das<br />
EU-Register deshalb nicht<br />
fürchten.<br />
Zwar gelten auch in Offshore-<br />
Finanzzentren zunehmend<br />
strenge Regeln für Firmenregister,<br />
weil die Financial Action<br />
Task Force der Staatengemeinschaft<br />
zunehmend Druck<br />
macht (siehe Kasten Seite 82).<br />
Vielerorts gehe es aber nur<br />
langsam voran, kritisiert ONE-<br />
Experte Hübers.<br />
Klar ist:Durch die Initiativen<br />
von EU und FATF wird die Luft<br />
für dubiose Treuhänder zwar<br />
dünner, aber nicht zu dünn.<br />
„Ich vermute, dass viele weitermachen<br />
wie bisher“, sagt Weber-Blank.<br />
Steuerfahnder verlassen sich<br />
deshalb nicht auf die Politik,<br />
sondern rüsten auch selbst kräftig<br />
auf – und versuchen verstärkt,<br />
besonders aktive Treuhänder<br />
aus dem Verkehr zu ziehen.<br />
Bank-CDs und die Selbstanzeige-Welle<br />
hätten „zahlreiche<br />
Firmenvehikel und die Namen<br />
der formal Berechtigten“ zutage<br />
gefördert, berichtet ein Ermittler.<br />
Und diese Informationen<br />
sammelt die Informationszentrale<br />
für steuerliche Auslandsbeziehungen<br />
(IZA) beim Bundeszentralamt<br />
für Steuern,<br />
einer Art Verwaltungszentrale<br />
der Steuerfahndung, in einer<br />
zentralen Datenbank.<br />
Dort werden dann, wie es<br />
heißt, die Namen von Personen<br />
herausgefiltert, die bei besonders<br />
vielen Firmen als Treuhänder<br />
auftauchen – und auf die<br />
Fahndungsliste gesetzt. Sollten<br />
sie nach Deutschland reisen,<br />
droht ihnen die Verhaftung.<br />
Für eine Verurteilung reiche<br />
es aber nur, wenn sie „aktiv an<br />
Delikten ihrer Mandanten beteiligt<br />
sind und beispielsweise<br />
wissen, dass deren Vermögen<br />
unversteuert ist und es sich um<br />
Schwarzgeld handelt“, sagt<br />
Weber-Blank. Das sei oft schwer<br />
nachzuweisen. Und wenn es<br />
den Beamten darum geht,<br />
Namen von Mandanten zu erfahren,<br />
berufen sich viele Treuhänder<br />
auf ihre Schweigepflicht.<br />
IDEALE PLATTFORM FÜR<br />
KRIMINELLE?<br />
Die Bemühungen von Politikern<br />
und Fahndern bleiben in<br />
der Szene nicht unbemerkt,<br />
mancher große Fisch dürfte auf<br />
diskretere Strukturen ausweichen<br />
– etwa Modelle, bei denen<br />
er gar nicht wirtschaftlich Berechtigter<br />
ist. Sondern nur Kreditgeber.<br />
„Auf diese Weise kann<br />
man Unternehmen faktisch<br />
ebenso kontrollieren“, warnt<br />
CMS-Anwalt Kaetzler.<br />
Ein weiteres Schlupfloch bleiben<br />
Scheinidentitäten – wie im<br />
Fall des Aachener Architekten.<br />
Und paradoxerweise könnte<br />
die EU diese sogar erleichtern.<br />
Denn während sie einerseits<br />
anonyme Firmenstrukturen<br />
bekämpfen will, schlägt die<br />
Kommission in einem aktuellen<br />
Richtlinienentwurf eine neue<br />
unbürokratische Rechtsform<br />
vor: die Einpersonengesellschaft<br />
(Societas Unius Personae,<br />
SUP). Für deren Gründung<br />
soll eine Online-Registrierung<br />
samt eingescannter Kopie des<br />
Personalausweises reichen. Der<br />
Bundesrat hat das im Juli scharf<br />
kritisiert:Die SUP werde sich zu<br />
einer „idealen Plattform kriminellen<br />
Handelns“ entwickeln,<br />
etwa für banden- und gewerbsmäßigen<br />
Betrug, Geldwäsche,<br />
Steuerhinterziehung.<br />
Auch der Bamberger Notar<br />
Jens Eue sieht das Vorhaben<br />
äußerst kritisch. „Laut Entwurf<br />
sollen Gründer alle Dokumente<br />
elektronisch vorlegen dürfen,<br />
ohne persönlich erscheinen zu<br />
müssen“, sagt er. Somit könnten<br />
Personen aus der gesamten<br />
EU in Deutschland bequem<br />
und nahezu kostenlos eine SUP<br />
gründen.<br />
Für eine detaillierte Prüfung<br />
der Unterlagen bliebe aber<br />
kaum Zeit: „Die SUP müsste<br />
dem Vorschlag zufolge innerhalb<br />
von drei Tagen im Handelsregister<br />
eingetragen werden“,<br />
sagte Eue. Dadurch bestehe in<br />
der Tat die Gefahr, „dass Kriminelle<br />
die neue Rechtsform für<br />
ihre Zwecke nutzen“.<br />
daniel schönwitz | geld@wiwo.de<br />
BAUBRANCHE | Schwarzarbeit<br />
Wie Kriminelle versuchen, mithilfe<br />
von eigens aufgebauten<br />
Tarnfirmen Schwarzarbeit zu<br />
verschleiern.<br />
Strohmänner. Es müssen nicht<br />
immer professionelle Treuhänder<br />
sein, die als offizielle Eigentümer<br />
einer Gesellschaft fungieren. Gerade<br />
Kriminelle setzen gern auf<br />
arglose Zeitgenossen, die für kleines<br />
Geld ihren Namen hergeben,<br />
aber nicht genau nachfragen, was<br />
damit eigentlich geplant ist. Sind<br />
ausländische Betrüger am Werk,<br />
heuern diese gern auch Strohleute<br />
aus ihrem Heimatland an. So berichten<br />
Fahnder, dass Banden, die<br />
Schwarzarbeit auf Baustellen organisieren,<br />
oft Personen aus ihrer<br />
Heimat einfliegen, die Deutschland<br />
nach der Firmengründung sofort<br />
wieder verlassen.<br />
Scheinrechnungen. Über die selbst<br />
gezimmerte Firma stellen die Kriminellen<br />
dann Rechnungen aus, mit<br />
denen ein Bauunternehmer vorgaukeln<br />
kann, dass er für schwarz<br />
ausgeführte Maurer- oder Verputzerarbeiten<br />
einen offiziellen<br />
Sub-Unternehmer engagiert hat.<br />
Der Clou: Der Unternehmer zahlt<br />
die Rechnung der Scheinfirma<br />
tatsächlich, bekommt das Geld<br />
aber abzüglich einer Provision<br />
zurück. Und zwar in bar, sodass er<br />
die Schwarzarbeiter bezahlen<br />
kann.<br />
Kettenbetrug. Für Fahnder sind<br />
solche Konstrukte schwer zu knacken,<br />
weil die von der Scheinfirma<br />
ausgestellten Rechnungen meist<br />
täuschend echt aussehen. Und<br />
wenn sie doch einmal einer Firma<br />
auf die Schliche kommen, führt<br />
die Spur oft zu einem Strohmann<br />
im Ausland, der für sie nicht<br />
greifbar ist. Zudem belassen es<br />
die Kriminellen in aller Re