25.08.2014 Aufrufe

Wirtschaftswoche Ausgabe vom 25.08.2014 (Vorschau)

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

35<br />

25.8.2014|Deutschland €5,00<br />

3 5<br />

4 1 98065 805008<br />

Gold aus dem Container<br />

Der harte Kampf um unsere Altkleider<br />

Grünstrom-Pioniere<br />

Ideen für das Netz der Zukunft<br />

DREI<br />

GLORREICHE<br />

HALUNKEN<br />

DAS RISKANTE<br />

MILLIARDEN-<br />

GESCHÄFT DER<br />

SAMWER-BRÜDER<br />

Schweiz CHF 8,20 | Österreich €5,30 | Benelux€5,30 | Griechenland€6,00 | GroßbritannienGBP 5,40 | Italien€6,00 | Polen PLN27,50 | Portugal€6,10 | Slowakei €6,10 | Spanien €6,00 | TschechischeRep.CZK 200,- | Ungarn FT 2000,-<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Einblick<br />

Pioniere brauchen Spürsinn, Durchsetzungskraft,<br />

manchmal auch Frechheit. Mancher Entrepreneur<br />

wird darüber zum Hasardeur. Von Franz W. Rother<br />

Revolver oder Schippe<br />

FOTO: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

Tuco, steckbrieflich gesucht unter<br />

anderem wegen Bankraub und<br />

Bigamie, hat sich mit einem anderen<br />

Abenteurer verbündet und ein<br />

einträgliches Geschäftsmodell entwickelt:<br />

Der wortkarge „Blonde“ mit dem scharfen<br />

Colt liefert Tuco an den nächsten Sheriff<br />

aus und kassiert die ausgesetzte Belohnung.<br />

Die Behörden fackeln nicht lange<br />

und verurteilen den mutmaßlichen Verbrecher<br />

gleich zum Tod durch Erhängen.<br />

Doch kurz bevor die Strafe vollstreckt<br />

wird, zerschießt der Blonde den Galgenstrick<br />

und befreit so seinen Komplizen. Es<br />

gibt auf dieser Welt, so doziert er dabei,<br />

zwei Kategorien von Menschen: Die einen<br />

haben den Strick um den Hals – und die<br />

anderen haben das Schießeisen.<br />

Unter dem deutschen Titel „Zwei glorreiche<br />

Halunken“ war der Italo-Western vor<br />

bald 50 Jahren ein Kinoschlager. Der satirische<br />

wie zynische Erzählstil von Starregisseur<br />

Sergio Leone, die starke Mimik von<br />

Hauptdarsteller Clint Eastwood und die<br />

mitreißende Filmmusik von Ennio Morricone<br />

ließen nicht nur bei uns die Kassen<br />

klingeln. „The Good, the Bad and the Ugly“,<br />

wie der Originaltitel des Films lautete, war<br />

auch in den USA und Asien ein großer Erfolg.<br />

Es gab immerhin jede Menge Action<br />

und jede Menge Spannung auf der Suche<br />

nach einem Goldschatz. Und lachen konnte<br />

man zwischendurch auch noch.<br />

Ob irgendwann einmal das Leben der<br />

Samwer-Brüder verfilmt wird, wissen wir<br />

nicht. Eine Biografie über das Leben der<br />

drei Unternehmer-Brüder aus Köln ist immerhin<br />

schon erschienen. Das Buch mit<br />

dem Titel „Die Paten des Internets“ schildert<br />

die Jugend von Oliver, Marc und Alexander<br />

Samwer und erzählt, wie sie den<br />

Online-Schuhhandel Zalando finanzierten<br />

und ein weltumspannendes Internet-Imperium<br />

aufbauten (siehe Seite 42).<br />

Mit dem für den Herbst geplanten Börsengang<br />

ihrer aus 1500 Einzelgesellschaften<br />

bestehenden Start-up-Fabrik Rocket<br />

Internet stehen die glorreichen Samwer-<br />

Boys jetzt vor ihrem größten Coup. Mit einer<br />

gigantischen Wette auf die Zukunft<br />

wollen die drei deutschen Online-Stars<br />

Milliarden erlösen und damit auf Augenhöhe<br />

kommen mit den Größen der US-<br />

Internet-Szene wie Marc Zuckerberg oder<br />

Jeff Bezos. Ein Team der WirtschaftsWoche<br />

und des ZDF-Magazins „Frontal21“ hat<br />

sich deshalb gemeinsam an die Fersen der<br />

Samwer-Brüder geheftet und wochenlang<br />

hinter den Kulissen ihres Internet-Konzerns<br />

recherchiert.<br />

Dabei herausgekommen ist eine hochspannende<br />

Geschichte, die Licht bringt in<br />

ein intransparentes Unternehmensgeflecht<br />

– und die zeigt, dass man nicht nur ein ausgefuchstes<br />

Geschäftsmodell braucht, um<br />

im heutigen Wilden Westen des Web zu<br />

bestehen. Man muss auch gut flunkern<br />

können, braucht starke Nerven und auch<br />

die Bereitschaft, Gegner aus dem Weg zu<br />

räumen, wenn diese die Dreistigkeit besitzen,<br />

einen Teil des Goldschatzes für sich zu<br />

reklamieren.<br />

ENTREPRENEUR ODER HASARDEUR<br />

So knallhart ging es zu bei der Besiedelung<br />

Nordamerikas, so knallhart geht es heute<br />

zu in der Pionierzeit der Digitalisierung. Jede<br />

ökonomische Entwicklung, wissen wir<br />

seit Joseph Schumpeter, baut auf dem Prozess<br />

der schöpferischen Zerstörung auf.<br />

Durch eine Neukombination von Produktionsfaktoren,<br />

durch ein Wechselspiel aus<br />

Innovation und Imitation entsteht ein<br />

dynamischer Fortschrittsprozess, der alte<br />

Strukturen verdrängt und zerstört.<br />

Die Leistung des Unternehmers besteht<br />

unter anderem darin, die Innovationen zu<br />

erkennen und die Kraft, die in ihnen steckt,<br />

zur Entfaltung zu bringen. Doch nur wenige<br />

sind tatsächlich in der Lage, sich über<br />

die Ideen der Zeit hinwegzuheben, die<br />

Schmetterlinge schon im Puppenstadium<br />

zu erkennen und sie zum Fliegen zu bringen.<br />

Hier teilt sich das Feld dann in Sieger<br />

und Verlierer, aber auch in Hasardeure und<br />

Entrepreneure.<br />

Es gibt auf dieser Welt, philosophiert jener<br />

blonde Westernheld, zwei Kategorien<br />

von Menschen: Die einen haben einen geladenen<br />

Revolver. Die anderen müssen<br />

buddeln. Und sich fügen.<br />

Wohl dem, der eine starke Waffe hat. n<br />

WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 3<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Überblick<br />

Menschen der Wirtschaft<br />

6 Seitenblick Die Welt der Kleinstaaterei<br />

8 Nürburgring: Verkauf wird zur Hängepartie<br />

9 Bahnverkehr: Interconnex droht das Aus |<br />

Sicherheit: Firmen rüsten auf<br />

10 Rewe: Amazon abhängen | Interview: BASF-<br />

Vorstand Martin Brudermüller will in Asien<br />

Milliarden investieren<br />

11 Freihandel: Geldregen für die Gegner |<br />

Energiewende: Brite will mitverdienen |<br />

Musikindustrie: Weltweite Absprachen<br />

12 Chefsessel | Start-up Sensorberg<br />

14 Chefbüro Hans-Georg Maaßen, Präsident<br />

des Bundesamtes für Verfassungsschutz<br />

Politik&Weltwirtschaft<br />

16 Altkleider Deutsche Städte steigen in das<br />

Geschäft mit gebrauchten Textilien ein<br />

21 Sachsen Ein Besuch im Erzgebirge erklärt,<br />

warum die AfD die FDP überflügelt |<br />

Ministerpräsident Stanislaw Tillich setzt auf<br />

eine absolute Mehrheit<br />

25 Interview: Fjodor Lukjanow Der Putin-<br />

Berater über eine mögliche Lösung des<br />

Ukraine-Konflikts<br />

27 China Die Regierung treibt den Verkauf von<br />

Elektroautos voran<br />

28 Pro & Contra Hans Jakob Ginsburg und<br />

Andreas Wildhagen diskutieren das Für und<br />

Wider eines bewaffneten Einsatzes im Irak<br />

29 Global Briefing | Berlin intern<br />

Der Volkswirt<br />

30 Kommentar | New Economics<br />

31 Deutschland-Konjunktur<br />

32 Nachgefragt: Vernon Smith Der Wirtschafts-Nobelpreisträger<br />

hält die Finanzkrise<br />

noch lange nicht für überwunden<br />

33 Denkfabrik Die Demoskopin Renate<br />

Köcher über die Meinung der Deutschen<br />

zum Freihandelsabkommen mit den USA<br />

Unternehmen&Märkte<br />

36 Rocket Internet Deutschlands größtes<br />

Online-Konglomerat ist ein intransparentes<br />

Geflecht und eine gigantische Wette auf<br />

die Zukunft | Zalando erhielt Subventionen<br />

wie kaum ein anderes Handelsunternehmen<br />

| Auszüge aus der Samwer-Brüder-<br />

Biografie „Die Paten des Internets“<br />

46 Karstadt Eine Schließung von 20 Filialen<br />

würde viele Innenstädte veröden lassen<br />

50 Alno Der Kauf eines Konkurrenten ist die<br />

letzte Chance für den Küchenhersteller<br />

51 Merck Die gleichnamigen Pharmakonzerne<br />

in Deutschland und den USA gehen wieder<br />

auf Kollisionskurs<br />

54 Interview: Ignaz Walter Der einstige<br />

Bauriese gibt den Banken die Schuld am<br />

Zusammenbruch seines Lebenswerks<br />

Titel Wildwest-Internet<br />

Vom Börsengang ihrer Berliner Start-up-<br />

Fabrik Rocket Internet erhoffen sich<br />

die Gründer-Brüder Marc, Oliver und<br />

Alexander Samwer Milliarden. Doch ihr<br />

Online-Konglomerat ist intransparent,<br />

verfilzt und eine riskante Wette auf<br />

die Zukunft. Seite 36<br />

Die Lumpen-Wirtschaft<br />

Die einen wollen mit dem Sammeln von Gebrauchtem öffentliche<br />

Kassen füllen, die anderen am Weltfrieden arbeiten. Ein Lehrstück<br />

über einen globalen, aber keineswegs perfekten Markt. Seite 16<br />

Berliner Geldmaschine<br />

Anleger bekommen hier oft schlechtere Preise als anderswo.<br />

Dennoch stieg Tradegate zur größten Börse für Privatanleger auf.<br />

Geholfen hat ihr ausgerechnet die Frankfurter Konkurrenz. Seite 72<br />

Aktive Alte<br />

Viele Unternehmen sorgen sich wegen<br />

der Rente mit 63. Andere zeigen, wie sie<br />

Senioren halten – etwa das Technologieunternehmen<br />

Gore, Arbeitgeber des<br />

67-jährigen Wolfgang Nocker. Seite 68<br />

TITELILLUSTRATION: TORSTEN WOLBER<br />

4 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Nr. 35, 25.8.2014<br />

FOTOS: BOB BEECHEY FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, DIETER MAYR FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, MARTIN HANGEN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE; ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS<br />

Bitte wenden<br />

Drei Jahre nach Fukushima stockt der<br />

Totalumbau der deutschen Stromversorgung.<br />

Dabei zeigen jede Menge smarter Projekte, was möglich<br />

ist. Eine Reise zu den Pionieren – wie Familie Koch. Seite 60<br />

Versteckspiel<br />

Sie führen ein Leben, das<br />

erfolgreich wirkt – bis die<br />

Fassade Risse bekommt. Der<br />

Publizist Daniel Schreiber<br />

über die Selbsttäuschung<br />

von Alkoholikern und das<br />

Trinken gegen den Stress.<br />

Seite 92<br />

Technik&Wissen<br />

60 Energiewende Eine Sommerreise zu den<br />

besten Ideen und den smartesten Machern<br />

der Energiewende<br />

67 Valley Talk<br />

Management&Erfolg<br />

68 Rente mit 63 Wie Unternehmen versuchen,<br />

erfahrene Mitarbeiter länger zu halten<br />

71 Dekra-Award In drei Kategorien sollen<br />

auch dieses Jahr vorbildliche Managementprojekte<br />

prämiert werden<br />

Geld&Börse<br />

72 Aktienhandel Wie Tradegate zur größten<br />

deutschen Privatanlegerbörse wurde<br />

78 Geldanlage Was Superreiche jetzt kaufen –<br />

wie Anleger ihre Geschäfte kopieren<br />

80 Aktien Kaufchancen an der US-Börse<br />

82 Steuern und Recht Verbrecher verstecken<br />

Geld in Scheinfirmen | Schwarzarbeit am<br />

Bau | Wie der Westen gegen Steueroasen<br />

mobil macht<br />

86 Geldwoche Kommentar: Jahrhundertaktie<br />

Google | Trend der Woche: US-Anleihekäufe |<br />

Dax-Aktien: Münchener Rück | Hitliste:<br />

Reiche und Arme in den USA | Aktien: Hamborner,<br />

Republic Services | Anleihe: BMW |<br />

Zertifikat: US-Technologiewerte | Investmentfonds:<br />

SEB Concept Biotechnology |<br />

Nachgefragt:Fondsmanager Christoph<br />

Bruns erwartet steigende Kurse<br />

Perspektiven&Debatte<br />

92 Interview: Daniel Schreiber Der Publizist<br />

über Alkoholismus, Entspannungstrinken<br />

und das Glück der Nüchternheit<br />

95 Kost-Bar<br />

Rubriken<br />

3 Einblick, 96 Leserforum,<br />

97 Firmenindex | Impressum, 98 Ausblick<br />

n Lesen Sie Ihre WirtschaftsWoche<br />

weltweit auf iPad oder iPhone:<br />

Diese Woche sehen Sie im Video,<br />

wie ein Windpark entsteht und<br />

wie Haie die Unterseekabel<br />

von Google anknabbern.<br />

Zudem gibt es<br />

einen 360-Grad-Blick ins<br />

aktuelle Chefbüro.<br />

wiwo.de/apps<br />

n Videotext Der Teletext lebt – allen<br />

digitalen Errungenschaften zum<br />

Trotz. Warum der Videotext auch<br />

2014 nicht totzukriegen ist.<br />

wiwo.de/videotext<br />

facebook.com/<br />

wirtschaftswoche<br />

twitter.com/<br />

wiwo<br />

plus.google.com/<br />

+wirtschaftswoche<br />

WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 5<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Seitenblick<br />

KLEINSTSTAATEREI<br />

Einfach mal<br />

König sein<br />

Das Gerücht verschwindet nicht: Google, so lautet<br />

es, plane Rechenzentren auf hoher See, um nationalen<br />

Regularien zu entkommen. PayPal-Gründer<br />

und Facebook-Finanzier Peter Thiel glaubt an neue<br />

Gesellschaften auf dem Meer, investierte in das<br />

Seasteading-Institute. Die Idee: bohrinselähnliche<br />

Siedlungen mit eigener Regierung. Tatsächlich<br />

existieren solche Mikronationen schon. Andere<br />

Staaten erkennen sie zwar nicht an, aber aufgeben<br />

wollen die Kleinststaatengründer nicht.<br />

Sealand | Vor der Küste von Suffolk, Großbritannien<br />

Staatsoberhaupt: Prinz Michael Bates<br />

Nachdem das Militär die Seefestung Fort Roughs verließ,<br />

besetzte Vater Paddy Roy Bates sie 1967. Gerichten<br />

zufolge ist sie völkerrechtlich nicht anerkennbar.<br />

Verkaufsversuche scheiterten 2007<br />

Conch Republik | Insel der Florida Keys, USA<br />

Staatsoberhaupt: Generalsekretär Peter Anderson<br />

Die Stadt Key West sagte sich 1982 von den USA los,<br />

als die vor den Toren Grenzkontrollen gegen Einwanderer<br />

einführten. Zurzeit leben dort 25 000 Einwohner.<br />

Marine mit zehn Schiffen, ein Flugzeug<br />

Republik Molossia | Bei Dayton, Nevada, USA<br />

Staatsoberhaupt: Präsident Kevin Baugh<br />

Für seine 5000-km 2 -Nation veröffentlichte Kevin<br />

Baugh 2012 auf der Web-Site des Weißen Hauses<br />

eine Petition zur Anerkennung. Sie scheiterte.<br />

Hat der DDR 1983 den Krieg erklärt<br />

6 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Königreich Calsahara | bei Los Angeles, USA<br />

Staatsoberhaupt: König Montague I.<br />

Der frühere US-Marinesoldat und heutige Schauspieler<br />

Travis McHenry rief das Wüsten-Königreich im November<br />

2009 aus. Seine Mikro-Nation ist 47 Hektar groß.<br />

Unbewaffnete Ein-Mann-Armee<br />

Republik Saugeais | Frankreich, Grenze zur Schweiz<br />

Staatsoberhaupt: Präs. Georgette Bertin-Pourchet<br />

1947 <strong>vom</strong> Vater, dem Hotelier Georges Pourchet, gegründet,<br />

4000 Einwohner in der 40-km 2 -Republik. Es<br />

gibt Wahlen, die Währung Sol und Grenzkontrollen.<br />

Eigene Sonderbriefmarke der französischen Post<br />

Königreich Elleore | Insel bei Roskilde, Dänemark<br />

Staatsoberhaupt: König Leo III.<br />

Eine Gruppe Lehrer kaufte die Insel 1944 als Camp,<br />

erklärte sie aus Ironie zum Königreich. Das gibt inzwischen<br />

eigene Briefmarken und eigenes Geld heraus.<br />

Eigene Zeitzone, Uhren gehen zwölf Minuten nach<br />

Kaiserreich Atlantium | New South Wales, Australien<br />

Staatsoberhaupt: Kaiser George II.<br />

George Cruickshank gründete die 0,8 km 2 große<br />

Nation 1981. Sie hat rund 2000 Staatsbürger und<br />

unterstützt eine liberal-utopische Weltanschauung.<br />

Eigene Briefmarken, Münzen und Banknoten<br />

FOTOS: AGENTUR FOCUS/PICTURETANK/LEO DELAFONTAINE (7), DDP IMAGES, GETTY IMAGES (5), ISTOCK (3)<br />

WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 7<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Menschen der Wirtschaft<br />

Hofft auf Post aus<br />

Brüssel<br />

Capricorn-Chef Wild<br />

NÜRBURGRING<br />

Warten, warten, warten<br />

Trotz Verkauf der Pleite-Rennstrecke<br />

an Capricorn fließt noch immer kein<br />

Geld an die Gläubiger. Deren Wut auf<br />

die Insolvenzverwalter wächst.<br />

Am Nürburgring wird die Krise zum Dauerzustand:<br />

Beim Verkauf an den Düsseldorfer Autozulieferer<br />

und Projektentwickler Capricorn gibt es Probleme<br />

mit der EU-Kommission. „Ich rechne nicht mit einer<br />

schnellen Entscheidung“, sagt Capricorn-Chef<br />

Robertino Wild. „Das wird sich noch über Jahre<br />

hinziehen.“ Die EU-Kommission muss dem Deal<br />

zustimmen, weil sie ermittelt, ob die millionenschweren<br />

Beihilfen des Landes Rheinland-Pfalz für<br />

den Nürburgring rechtmäßig waren. Ursprünglich<br />

sollte die Entscheidung im Juni fallen. Doch die EU-<br />

Kommission hat den Termin bereits mehrfach verschoben<br />

– obwohl die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin<br />

Malu Dreyer (SPD) am 14. Juli eigens<br />

nach Brüssel gekommen war, um EU-Wettbewerbskommissar<br />

Joaquín Almunia zu einer schnellen<br />

Entscheidung zu drängen.<br />

Capricorn hatte im März <strong>vom</strong> Gläubigerausschuss<br />

der Nürburgring GmbH für 77 Millionen Euro<br />

den Zuschlag bekommen. Die ersten 15 Millionen<br />

sollten laut Kaufvertrag in drei Raten zu je fünf<br />

Millionen Euro gezahlt werden. Die zweite Rate davon<br />

war am 31. Juli fällig. Doch Capricorn erhielt<br />

nun Aufschub bis zum 31. Oktober, weil sich die<br />

Prüfung der EU-Kommission hinzieht. Sobald eine<br />

Entscheidung vorliegt, muss Capricorn allerdings<br />

weitere 45 Millionen Euro überweisen.<br />

Das aber führt zu neuen Problemen. Denn im<br />

Gläubigerausschuss hatten die Insolvenzverwalter<br />

mitgeteilt, dass die 15 Millionen Euro auf jeden Fall<br />

auf ein Treuhandkonto flössen und nur die Zahlung<br />

der 45 Millionen Euro von einer positiven EU-Entscheidung<br />

abhinge. Sollte eine Zahlung ausfallen,<br />

hieß es damals, müsse Wild zudem 25 Millionen<br />

Euro Vertragsstrafe zahlen. Im Gläubigerausschuss<br />

regt sich nun Unmut, weil Insolvenzverwalter Jens<br />

Lieser die Zahlungsmodalitäten ohne Abstimmung<br />

geändert hat. Lieser teilte auf Nachfrage mit, eine<br />

erneute Zustimmung des Gläubigerausschusses sei<br />

nicht erforderlich gewesen.<br />

In Brüssel liegen aktuell vier Beschwerden gegen<br />

den Verkauf des Rings an Capricorn vor. Einer der<br />

Beschwerdeführer, der Brite Meyrick Cox, kündigte<br />

an, er werde erneut eine Stellungnahme nach Brüssel<br />

schicken. Denn in dem Zahlungsaufschub sieht<br />

er eine weitere unzulässige Beihilfe.<br />

An einen Rücktritt <strong>vom</strong> Kauf denkt Wild nicht,<br />

obwohl er dies laut Vertrag bis zum 20. Dezember<br />

dürfte. Er sei auf alle Eventualitäten eingestellt.<br />

Sollte Brüssel bis Ende des Jahres kein grünes Licht<br />

geben, werde die Capricorn Nürburgring GmbH<br />

den Ring als Pächter betreiben. Aber auch gegen<br />

den Pachtvertrag liegen der EU Beschwerden vor.<br />

florian.zerfass@wiwo.de, franz rother, silke wettach | Brüssel<br />

Teure Spektakel<br />

Verluste der Nürburgring<br />

GmbH durch Formel-1-<br />

Rennen<br />

2004<br />

2005<br />

2006<br />

2007<br />

2009<br />

2011<br />

Quelle: Statista<br />

11,0 Mio. €<br />

10,0 Mio. €<br />

9,9 Mio. €<br />

10,9 Mio. €<br />

10,4 Mio. €<br />

13,5 Mio. €<br />

8 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


BAHNVERKEHR<br />

Interconnex droht das Aus<br />

Seit zwölf Jahren pendelt der<br />

Interconnex zwischen Leipzig,<br />

Berlin, Rostock und Warnemünde<br />

– als erster Wettbewerber<br />

der Deutschen Bahn im<br />

Fernverkehr. Demnächst könnte<br />

Schluss sein. „Wir prüfen alle<br />

Optionen“, sagt Christian<br />

Schreyer, der neue Chef des<br />

Interconnex-Betreibers Veolia<br />

Verkehr, einer Tochter des privaten<br />

französischen Verkehrskonzerns<br />

Transdev. Möglich<br />

seien andere Haltestationen<br />

und Abfahrzeiten. „Ich schließe<br />

auch die Einstellung des<br />

Interconnex nicht aus“, sagt<br />

Schreyer. Schuld sei die neue<br />

Konkurrenz auf der Straße wie<br />

MeinFernbus, ADAC Postbus<br />

und Flixbus.<br />

Allein zwischen Leipzig und<br />

Berlin fahren die Fernbusse 16<br />

Mal am Tag, teils schon für sieben<br />

Euro pro Fahrt. Interconnex<br />

verlangt für das Ticket im<br />

Schnitt 16 Euro. Die Zahl der<br />

Passagiere sank 2013 um 16<br />

Prozent auf 335 000. Die Nachfrage<br />

habe sich inzwischen stabilisiert,<br />

aber nur weil Veolia<br />

die Preise gesenkt habe, sagt<br />

Schreyer. Profitabel fuhr der<br />

Zug nie.<br />

Die Liberalisierung des Fernbusverkehrs<br />

im Januar vergangenen<br />

Jahres trifft so schon den<br />

Maut für Fernbusse gefordert<br />

Veolia-Verkehr-Chef Schreyer<br />

zweiten Wettbewerber der<br />

Deutschen Bahn im Fernverkehr.<br />

Kürzlich erst änderte das private<br />

Kölner Bahnunternehmen<br />

Hamburg-Köln-Express seine<br />

Strategie, es klassifiziert Züge<br />

nun als Nahverkehr. Auf Teilstrecken<br />

können Kunden bald<br />

auch mit Nahverkehrstickets<br />

einsteigen.<br />

Veolia-Verkehr-Chef Schreyer<br />

fordert eine Bus-Maut. „Der<br />

Bund“, meint der Bahnmanager,<br />

„sollte die Fernbusse ebenso an<br />

den Infrastrukturkosten beteiligen,<br />

wie das auf der Schiene bereits<br />

heute über Trassengebühren<br />

der Fall ist.“<br />

christian.schlesiger@wiwo.de | Berlin<br />

Aufgeschnappt<br />

Angefressen Google leidet tierisch<br />

unter Haien. Sie knabbern<br />

die Tiefseekabel des Internet-<br />

Riesen an. Um die Glasfaserleitungen<br />

zu schützen, werden sie<br />

jetzt mit dem Kunststoff Kevlar<br />

ummantelt. Forscher vermuten,<br />

dass die Haie durch elektromagnetische<br />

Felder angelockt werden,<br />

die sich um die Kabel herum<br />

aufbauen. In Kürze beginnt<br />

Google gemeinsam mit anderen<br />

Firmen, ein Unterseekabel von<br />

den USA nach Japan zu verlegen.<br />

Kosten: 300 Millionen Dollar,<br />

Haischutz inklusive.<br />

Aufgeschreckt Wenn es in den<br />

nächsten Tagen an der Tür klingelt,<br />

erschrickt manch deutscher<br />

Rentner, der in Spanien<br />

lebt. Die Steuerfahnder dort<br />

kontrollieren jetzt verschärft<br />

Ausländer. Den Kontakt zu ihren<br />

deutschen Kollegen haben die<br />

Fahnder schon intensiviert.<br />

SICHERHEIT<br />

Unternehmen<br />

rüsten auf<br />

Die Sicherheitswirtschaft in<br />

Deutschland wächst rasant. Für<br />

dieses Jahr erwartet die Branche<br />

ein Plus von 5,6 Prozent, in<br />

den nächsten Jahren sogar eines<br />

von 6,4 Prozent, ermittelte<br />

das Brandenburgische Institut<br />

für Gesellschaft und Sicherheit<br />

in Potsdam. Für IT-Sicherheit<br />

würden die Kunden künftig sogar<br />

jährlich sieben Prozent<br />

mehr ausgeben. 64 Prozent der<br />

Aufträge kommen aus der gewerblichen<br />

Wirtschaft.<br />

60 Prozent der befragten Sicherheitsunternehmen<br />

sehen<br />

in Daten- und Netzwerksicherheit<br />

das Hauptthema der kommenden<br />

Jahre. Ein Drittel der<br />

Branche investiert derzeit in Innovationen.<br />

Auf die wachsende Internet-<br />

Kriminalität „reagieren Unternehmen<br />

und Bürger bereits<br />

jetzt mit Milliardeninvestitionen,<br />

während die Bundesregierung<br />

im Rahmen der Digitalen<br />

Agenda und des IT-Sicherheitsgesetzes<br />

29 Millionen Euro zusätzlich<br />

bereitstellt“, sagt Institutsdirektor<br />

Tim Stuchtey.<br />

„Das zeigt:Im Internet ist Sicherheit<br />

derzeit vor allem eine<br />

private Angelegenheit.“<br />

henning.krumrey@wiwo.de | Berlin<br />

FOTOS: ROBERT POORTEN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, PR, MASTERFILE/MINDEN PICTURES<br />

Trend zu kleineren Autos<br />

Die durchschnittliche Größe der Pkws im Straßenverkehr nach Hubraum 2003 2013<br />

Österreich<br />

Dänemark<br />

Frankreich<br />

Deutschland<br />

Luxemburg<br />

Niederlande<br />

EU*<br />

1300 cm 3 1400 cm 3 1500 cm 3 1600 cm 3 1700 cm 3 1800 cm 3 1900 cm 3 2000 cm 3<br />

* ohne die osteuropäischen Mitgliedsländer; Quelle: European Automobile Manufactures Association<br />

WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 9<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Menschen der Wirtschaft<br />

REWE<br />

Amazon<br />

abhängen<br />

Der Handelsriese Rewe will<br />

sein Online-Geschäft ausbauen.<br />

Schon im März hatte er<br />

sich die Mehrheit am Internet-<br />

Tierfutterhändler Zooroyal<br />

gesichert. Nun sollen unter<br />

Leitung von Rewe-Digital-<br />

Chef Jean-Jacques van Oosten<br />

weitere Web-Shops aufgebaut<br />

werden, heißt es intern. Nachgedacht<br />

werde über den Verkauf<br />

von Drogerieprodukten<br />

und Kosmetik im Netz. Auch<br />

Kinder- und Babyartikel seien<br />

eine Option.<br />

In der Branche wurde zuletzt<br />

über ein neues Wein-<br />

Portal spekuliert. Zwar ist der<br />

Konzern über den Ableger<br />

Kölner Weinkeller schon im<br />

Online-Weinmarkt aktiv, bietet<br />

hier aber vor allem höherpreisige<br />

Sorten an.<br />

Rewe wolle das „größte<br />

Online-Unternehmen<br />

im Lebensmittelbereich“ in<br />

Deutschland werden und so<br />

dem Rivalen Amazon zuvorkommen,<br />

hatte van Oosten<br />

vor Kurzem erklärt. Auch<br />

Rewe-Chef Alain Caparros<br />

hat bereits auf die Bedeutung<br />

des Online-Einkaufs für unterschiedliche<br />

Sortimente hingewiesen.<br />

„Tiernahrung, Wein,<br />

Spirituosen oder auch Drogerieartikel<br />

und Kosmetik<br />

werden zunehmend im Netz<br />

gekauft“, sagte er.<br />

Einen Klick schneller<br />

Rewe-Chef Caparros<br />

henryk.hielscher@wiwo.de<br />

INTERVIEW Martin Brudermüller<br />

»Der Chinese Dream ist<br />

wie der American Dream«<br />

Der Asien-Vorstand des Chemiekonzerns<br />

BASF will in der Region gemeinsam mit Partnern<br />

zehn Milliarden Euro investieren.<br />

Herr Brudermüller, China ist<br />

zwar der größte Wachstumsmarkt<br />

Asiens, die Wirtschaft<br />

legt aber nicht mehr so stark zu<br />

wie früher. Was nun?<br />

Ich glaube weiterhin an China.<br />

Die Wirtschaftsreformen werden<br />

durchgesetzt werden, auch<br />

wenn es dabei ab und zu holpert.<br />

Der <strong>vom</strong> Staatspräsidenten<br />

Xi Jinping verkündete<br />

Chinese Dream ist vergleichbar<br />

mit dem American Dream:<br />

Das Land ist in Bewegung und<br />

wächst weiter. Das ist in unser<br />

aller Interesse. Dass China nicht<br />

ständig zweistellig wachsen<br />

kann, ist auch klar. Schließlich<br />

ist die Basis, von der das Wachstum<br />

ausgeht, viel größer. Allein<br />

der Zuwachs 2013 entspricht<br />

dem Bruttoinlandsprodukt von<br />

Norwegen. Dementsprechend<br />

groß sind allerdings auch die<br />

Probleme: Die Verschuldung,<br />

der Schattenbankensektor und<br />

nicht zuletzt die großen Umweltschäden<br />

geben Anlass zur<br />

Sorge. Aber ich glaube, dass das<br />

Land diese Probleme in den<br />

Griff kriegen wird.<br />

Verschlechtert sich das<br />

Geschäftsumfeld, wie es in<br />

einer EU-Studie steht?<br />

Nein, was das Volumen betrifft,<br />

wachsen wir weiter. Allerdings<br />

hat sich der Preisdruck erhöht.<br />

Grund dafür sind viele Überkapazitäten<br />

im Markt. Von der<br />

Nachfrageseite her ist unser<br />

Geschäft aber sehr stabil.<br />

BASF hat sich zum Ziel gesetzt,<br />

75 Prozent all seiner in der Region<br />

Asien/Pazifik verkauften<br />

Chemieprodukte auch dort zu<br />

produzieren. Wie weit sind Sie?<br />

Das ist unser strategisches Ziel<br />

bis 2020. Wir sind jüngst etwas<br />

zurückgefallen, weil wir auf-<br />

DER FERNOST-SPEZIALIST<br />

Brudermüller, 53, ist seit 2011<br />

Vize des BASF-Vorstands und<br />

zuständig für die Region Asien-<br />

Pazifik. Zudem ist der promovierte<br />

Chemiker China-Sprecher<br />

im Asien-Pazifik-Ausschuss der<br />

deutschen Wirtschaft.<br />

grund der neuen IFRS-Bilanzierungsregeln<br />

für manche Joint<br />

Ventures den Umsatz nicht<br />

mehr ausweisen dürfen. Jetzt<br />

liegt der Anteil bei rund 60 Prozent.<br />

Wir haben also noch ein<br />

gutes Stück vor uns, aber wir<br />

sind gut positioniert und wollen<br />

in der Region zusammen mit<br />

Partnern zehn Milliarden Euro<br />

bis 2020 investieren.<br />

Wie viel Forschung betreiben<br />

Sie in China?<br />

Langfristig möchten wir 50 Prozent<br />

unserer Forschung in Europa<br />

und jeweils 25 Prozent in<br />

Nordamerika und in Asien haben.<br />

Wir wollen nichts in Europa<br />

abbauen. Dass das größte<br />

Wachstum deswegen in Asien<br />

stattfinden wird, ist damit klar.<br />

Vor allem in China wollen wir<br />

näher an unseren Kunden sein.<br />

Aber die hier gewonnenen<br />

Erkenntnisse werden auch auf<br />

anderen Märkten Anwendung<br />

finden.<br />

China flutet zwar den Markt mit<br />

neuen Patenten, deren Bedeutung<br />

ist aber meist gering. Wie<br />

innovativ ist China wirklich?<br />

Im Rahmen unserer Strategie<br />

haben wir auch evaluiert, wo<br />

sich die Forschung global hinbewegen<br />

wird. Von den 184<br />

Unternehmen, die weltweit am<br />

meisten für Forschung ausgeben,<br />

wollen die meisten ihren<br />

Anteil in Asien erhöhen. Im Jahr<br />

2025 wird China rund zwei Drittel<br />

des gesamtasiatischen Chemiemarktes<br />

ausmachen. China<br />

steht also im Mittelpunkt.<br />

Was muss China an seinem<br />

Ausbildungssystem tun?<br />

China hat in den letzten Jahren<br />

die Zahl der Universitätsabsolventen<br />

massiv erhöht. Mehr als<br />

ein Drittel davon haben einen<br />

Ingenieurabschluss. Die Qualifikationen<br />

sind aber nicht immer<br />

mit dem westlichen Niveau<br />

vergleichbar. Das chinesische<br />

Studium legt noch zu viel Wert<br />

auf Wiederholung, Fakten sammeln<br />

und Auswendiglernen.<br />

Kreativität wird noch zu wenig<br />

gefördert.<br />

Wo investiert BASF in China?<br />

Wir stellen Anfang 2015 eine<br />

große Anlage in Chongqing fertig.<br />

Erst kürzlich haben wir unser<br />

sehr erfolgreiches Joint Venture<br />

in Nanjing erweitert. Darüber<br />

hinaus entstehen Anlagen<br />

in Shanghai und Maoming.<br />

Ihre China-Zentrale steht noch<br />

immer in Hongkong. Warum in<br />

der Sonderwirtschaftszone?<br />

Natürlich brauchen wir die<br />

Nähe zum großen Wachstumsmarkt.<br />

Hongkong als Teil von<br />

China ist da eine gute Wahl.<br />

Allerdings machen wir rund<br />

50 Prozent unseres Asien-<br />

Geschäfts außerhalb Chinas.<br />

Hongkong ist der richtige Ort,<br />

um sowohl China als auch die<br />

anderen Märkte der Region zu<br />

bedienen.<br />

philipp.mattheis@wiwo.de | Shanghai<br />

FOTOS: VARIO PRESS/RAINER UNKEL, PHOTOTHEK.NET/THOMAS KOEHLER, CARO FOTOAGENTUR/FRANK SORGE, ZOONAR, GETTY IMAGES/WIREIMAGE<br />

10 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


FREIHANDEL<br />

Geldregen für<br />

die Gegner<br />

Die Kritik am geplanten transatlantischen<br />

Freihandelsabkommen<br />

TTIP beschert Protestorganisationen<br />

hohen<br />

Zuspruch – besonders in finanzieller<br />

Form. Allein die Kampagnen-Plattform<br />

Campact erhielt<br />

nach ihrem Anti-TTIP-Aufruf in<br />

diesem Jahr schon mehr als<br />

600 000 Euro an Spenden.<br />

30 000 Unterstützer haben sich<br />

bisher an der Aktion beteiligt.<br />

Die Zahl zeige, „wie wichtig vielen<br />

Menschen das Thema ist“,<br />

teilt Campact mit.<br />

Die Organisation LobbyControl<br />

nahm 2014 nach ihrem<br />

Spendenaufruf gegen das Abkommen<br />

mehr als 42 000 Euro<br />

ein. Fast ein Drittel aller Spenden<br />

für die Kölner Protestgruppe<br />

resultiert damit inzwischen<br />

aus deren Arbeit gegen TTIP.<br />

Selbst bei der Anti-Globalisierungsbewegung<br />

Attac war<br />

die Resonanz auf ein Spenden-<br />

Mailing zum Freihandelsabkommen<br />

„überdurchschnittlich<br />

hoch“, so Attac. Genaue Summen<br />

liegen zwar noch nicht vor.<br />

Aber die Zahl der Interessenten<br />

stieg im Zuge des Protests gegen<br />

das Handelsabkommen<br />

seit dem Frühjahr von 60 000<br />

auf 80 000.<br />

max.haerder@wiwo.de | Berlin<br />

MUSIKINDUSTRIE<br />

Globale<br />

Absprache<br />

25.08. Konjunktur Das ifo Institut präsentiert am Montag<br />

den Geschäftsklimaindex für August. Im Juli war er<br />

gegenüber dem Vormonat um 1,7 Punkte auf 108<br />

Punkte gefallen. Das war der dritte Rückgang in<br />

Folge und der niedrigste Stand seit Oktober.<br />

26.08. Arbeitsmarkt Das Institut für Arbeitsmarkt- und<br />

Berufsforschung (IAB) stellt am Dienstag seine<br />

Prognose für die nächsten drei Monate vor. Am<br />

Donnerstag veröffentlich die Bundesagentur für<br />

Arbeit ihre Zahlen. Im Juli erhöhte sich die Arbeitslosenrate<br />

um 0,1 Punkte auf 6,6 Prozent. Grund<br />

war die Sommerpause in vielen Unternehmen.<br />

27.08. Konsum Der Konsumforscher GfK berichtet am<br />

Mittwoch über die Laune der Verbraucher. Im Juli<br />

kletterte der Konsumklimaindex um 0,1 auf 9,0<br />

Punkte, so hoch wie zuletzt im Dezember 2006.<br />

30.08. EU-Gipfel In Brüssel wollen die Staats- und Regierungschefs<br />

der EU-Staaten am Samstag über die<br />

Besetzung der EU-Spitzenposten beraten und<br />

über die Aufgaben der neuen EU-Kommission.<br />

31.08. Landtagswahl Die Sachsen wählen am Sonntag<br />

einen neuen Landtag. 2009 kam die CDU auf 40,2<br />

Prozent, in Umfragen liegt sie bei 43 Prozent. Sie<br />

regiert das Land seit 1990, seit 2009 zusammen<br />

mit der FDP. Die Liberalen erreichten 2009 zehn<br />

Prozent, schaffen in Umfragen aber nur drei Prozent.<br />

Die SPD gewann 19,1 Prozent, liegt jetzt bei<br />

14 Prozent. Die Linke dürfte wieder auf gut 20 Prozent<br />

kommen. Die AfD<br />

sehen Umfragen bei fünf<br />

Prozent. Die Grünen<br />

hatten 6,4 Prozent und<br />

könnten jetzt sieben<br />

Prozent schaffen.<br />

Neue Töne in der<br />

Branche<br />

Popsängerin Beyoncé<br />

TOP-TERMINE VOM 25.08. BIS 31.08.<br />

Das jüngste Album von Popstar<br />

Beyoncé erschien weltweit am<br />

selben Tag, einem Freitag, und<br />

löste damit offenbar ein Umdenken<br />

in den Musikfirmen<br />

aus. Bis dahin kamen neue Platten<br />

in England montags heraus,<br />

in den USA dienstags und in<br />

Deutschland freitags. Konzerne<br />

wie Universal Music und Warner<br />

wollen nun mit den Industrieverbänden<br />

IFPI und RIAA<br />

erreichen, dass <strong>vom</strong> nächsten<br />

Sommer an neue Werke<br />

weltweit freitags um 0.01<br />

Uhr Ortszeit veröffentlicht<br />

werden. Vorbild<br />

sind die Filmstudios,<br />

die sich schon länger<br />

ein einheitliches<br />

Datum für<br />

eine Premiere wünschen.<br />

Sie wollen so die Verbreitung<br />

illegaler Kopien eindämmen.<br />

Zudem, so der<br />

Bundesverband Musikindustrie,<br />

mache es angesichts<br />

globaler Plattformen<br />

wie Twitter wenig<br />

Sinn, wenn ein Star<br />

dort eine neue Platte<br />

ankündigt, das<br />

Werk in einigen<br />

Ländern jedoch<br />

erst Tage später<br />

erscheine.<br />

peter.steinkirchner<br />

@wiwo.de<br />

ENERGIEWENDE<br />

Brite will<br />

mitverdienen<br />

Ausgerechnet ein Brite will den<br />

Deutschen sagen, woher der<br />

Wind weht. Wenn Rob Varley<br />

Anfang September zum Chef<br />

des britischen Wetterdienstes<br />

Met Office aufsteigt, will er das<br />

Prognosegeschäft internationalisieren.<br />

Dabei schielt er vor allem<br />

auf deutsche Kunden.<br />

Vom Winde gedreht<br />

Met Office hilft Windparks<br />

Allerdings geht es dem<br />

52-Jährigen nicht darum, den<br />

ausländischen Abnehmern vorherzusagen,<br />

wann in London<br />

Nebel aufzieht. Vielmehr will<br />

der Meteorologe, der seit 30<br />

Jahren für den Dienst arbeitet,<br />

von der Energiewende profitieren<br />

und Met Office als Berater<br />

und Dienstleister beim Aufbau<br />

sowie Betrieb von Windkraftanlagen<br />

etablieren.<br />

Beratung bei der Wahl des<br />

Standortes oder spezifische<br />

Wetterprognosen bietet das Unternehmen<br />

in Großbritannien<br />

seit Jahren an, neben hoheitlichen<br />

Aufgaben wie dem allgemeinen<br />

Wetter- und Warndienst.<br />

2013 setzte das Unternehmen<br />

mit kommerziellen<br />

Kunden 255 Millionen Euro um.<br />

Der Deutsche Wetterdienst<br />

erlöst aus zahlungspflichtigen<br />

Angeboten wie dem Flugwetterdienst<br />

im Jahr rund 51 Millionen<br />

Euro – die direkt in den<br />

Bundeshaushalt fließen.<br />

thomas.kuhn@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 11<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Menschen der Wirtschaft<br />

CHEFSESSEL<br />

START-UP<br />

UBER<br />

David Plouffe, 47, ehemaliger<br />

Wahlkampfhelfer und<br />

Berater des US-Präsidenten<br />

Barack Obama, 53, geht<br />

im September zum Taxidienst<br />

Uber. Das US-Unternehmen<br />

braucht dringend<br />

Hilfe. Mehrere Städte, darunter<br />

auch deutsche, wollen<br />

ihm verbieten, Fahrer<br />

zu vermitteln, die nicht die<br />

dafür nötige Erlaubnis besitzen.<br />

Plouffe scheut sich<br />

nicht vor heiklen Aufträgen.<br />

Er arbeitete auch<br />

schon für Aserbaidschans<br />

umstrittenen Staatspräsidenten<br />

Ilham Aliyev, 52.<br />

DEUTSCHE BANK<br />

Richard Shannon wechselt<br />

im Oktober von Goldman<br />

Sachs zur Deutschen Bank.<br />

Als Chief Information Officer<br />

(CIO) soll er deren IT-Systeme<br />

in den USA verbessern<br />

und sich darum kümmern,<br />

dass die US-Richtlinien eingehalten<br />

werden. Die US-Börsenaufsicht<br />

SEC hatte das Berichtswesen<br />

der Bank kritisiert.<br />

KARSTADT<br />

Kai-Uwe Weitz, 49, quittiert<br />

den Dienst beim Warenhauskonzern<br />

Karstadt. Nach dem<br />

überraschenden Abgang der<br />

Karstadt-Chefin Eva-Lotta Sjöstedt,<br />

48, im Juli hatte Weitz zusammen<br />

mit Finanzvorstand<br />

Miguel Müllenbach die Führung<br />

übernommen. Müllenbach<br />

steht nun vorerst allein an<br />

der Spitze. Mitte August hatte<br />

der österreichische Immobilien-Investor<br />

René Benko, 37,<br />

das Unternehmen übernommen<br />

(siehe Seite 46).<br />

MICROSOFT<br />

Steve Ballmer, 58, verlässt ein<br />

halbes Jahr nach seinem Abschied<br />

als Microsoft-Chef nun<br />

den Aufsichtsrat des Softwarekonzerns.<br />

Damit endet eine<br />

Ära. Gründer Bill Gates hatte<br />

seinen Studienfreund 1980 angeheuert.<br />

2000 stieg Baller zum<br />

Konzernchef auf. Er erhöhte<br />

zwar den Umsatz, schaffte es<br />

aber nicht, die PC-Dominanz<br />

von Windows auf Smartphones<br />

und Tablets zu übertragen. Ballmer,<br />

mit rund vier Prozent noch<br />

vor Gates der größte Einzelaktionär<br />

von Microsoft, will sich<br />

stärker seinem Basketball-Team<br />

LA Clippers widmen, das er für<br />

zwei Milliarden Dollar erwarb.<br />

FERNSEHEN<br />

277 Minuten<br />

schauen die Bürger in Sachsen-Anhalt täglich fern, länger als alle<br />

anderen Deutschen. Am kürzesten sitzen die Baden-Württemberger<br />

vor dem TV-Gerät: 192 Minuten. Der Bundesdurchschnitt<br />

liegt bei 221 Minuten, am höchsten war er 2011 mit 225 Minuten.<br />

Vor zehn Jahren betrug er 210 und vor 20 Jahren 167 Minuten.<br />

SENSORBERG<br />

Signalfeuer für Sparkassen<br />

Diese Technologie ist jetzt besonders angesagt: Beacons, auf<br />

deutsch Signalfeuer. Nicht nur Supermärkte und Kaufhäuser setzen<br />

große Hoffnungen auf sie. Denn via Bluetooth können die<br />

kleinen Funkchips Smartphones im Umkreis von bis zu 50 Metern<br />

orten – auch in geschlossenen Räumen, wo kein GPS-Signal empfangen<br />

wird. Unternehmen können dann Werbung und Angebote<br />

verschicken, die auf den jeweiligen Nutzer zugeschnitten sind.<br />

Alexander Oelling, Gründer des Start-ups Sensorberg, verkauft<br />

Beacons, bietet aber vor allem eine Softwareplattform zum Managen<br />

der Chips an.<br />

Das Berliner Unternehmen arbeitet an Pilotprojekten für Flughäfen,<br />

Bahnhöfe und Hotels. Größter Kunde ist das Sparkassen-<br />

Finanzportal, der Internet-Dienstleister der Sparkassen. „Wir<br />

wollen bis Jahresende mehrere Hundert Filialen mit Beacons ausrüsten“,<br />

sagt Oelling. Dort könnten die sieben Millionen Nutzer<br />

der Sparkassen-App dann per Smartphone Terminvorschläge ihres<br />

Kundenberaters erhalten oder Immobilienangebote, abgestimmt<br />

auf ihre persönlichen Wünsche. Im Schnitt kontaktiert ein<br />

Kunde seinen Berater<br />

Fakten zum Unternehmen<br />

Finanzierung von Berlin Technologie<br />

Holding 750 000 Euro<br />

Kosten Startpaket mit drei<br />

Beacons und Software 89 Euro<br />

Absatz bisher ausgeliefert<br />

mehrere 10 000 Beacons<br />

derzeit nur alle zwei Jahre.<br />

Zu wenig, meinen die<br />

Sparkassen. Etwa ein<br />

Viertel der 417 Institute<br />

habe Interesse gezeigt,<br />

sagt Oelling. Im Oktober<br />

könnte er mit den ersten<br />

Installationen beginnen.<br />

oliver.voss@wiwo.de<br />

FOTOS: LAIF/UPI, PR<br />

12 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Menschen der Wirtschaft | Chefbüro<br />

Hans-Georg Maaßen<br />

Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz<br />

Auf dem Schild neben der Tür<br />

steht kein Name, nur das Kürzel<br />

7-A-612. Wer Hans-Georg Maaßen,<br />

51, sucht, ist hier richtig.<br />

Der Präsident des Bundesamtes<br />

für Verfassungsschutz arbeitet<br />

auf der siebten Etage eines weiträumigen<br />

Gebäudekomplexes<br />

im Kölner Stadtteil Chorweiler.<br />

Sein Büro ist abhörsicher, Besucher<br />

müssen sich strengen Kontrollen<br />

unterziehen. Seit August<br />

2012 leitet der promovierte Jurist<br />

die Behörde. Rund 2770 Mitarbeiter<br />

sammeln und analysieren<br />

Informationen über terroristische<br />

oder extremistische<br />

Aktivitäten und versuchen, die<br />

Spionage ausländischer Nachrichtendienste<br />

aufzudecken.<br />

Wie es aus Regierungskreisen<br />

heißt, soll das Amt<br />

weitere Stellen erhalten.<br />

Gemeinsam mit<br />

dem Bundeskriminalamt<br />

und dem Bundesamt<br />

für Sicherheit in<br />

der Informationstechnik<br />

sollen die neuen<br />

Mitarbeiter helfen,<br />

360 Grad<br />

In unseren App-<br />

<strong>Ausgabe</strong>n finden<br />

Sie an dieser<br />

Stelle ein interaktives<br />

360°-Bild<br />

Unternehmen besser vor Cyberattacken<br />

und Wirtschaftsspionage<br />

zu schützen. „Wir sind ein<br />

Dienstleister für unsere Demokratie“,<br />

betont Maaßen, der seine<br />

Karriere im Bundesinnenministerium<br />

startete. In seinem Büro<br />

hängt ein Porträt des Bundespräsidenten<br />

Joachim Gauck. Auf<br />

dem Schreibtisch stehen vier<br />

abhörgeschützte Telefone. Der<br />

Wandschrank beherbergt<br />

neben dem<br />

Panzerschrank eine<br />

Sammlung an Geschenken,<br />

die ausländische<br />

Partnerdienste<br />

mitgebracht haben.<br />

Durch seine japanische<br />

Frau Yuko hat<br />

Maaßen eine intensive Beziehung<br />

zu Japan entwickelt. Einen<br />

besonders reizvollen Ort dort<br />

hat sein Onkel Hanns für ihn<br />

gemalt. Das Bild des Hobbykünstlers<br />

hängt in der Besprechungsecke<br />

neben der Deutschland-Fahne<br />

und zeigt die Bucht<br />

von Hiroshima. „Hier lässt es<br />

sich ungestört arbeiten“, sagt<br />

Maaßen und blickt sich in seinem<br />

Büro um. Dabei zeigt er auf<br />

den Alarmknopf unter seinem<br />

Schreibtisch und auf eine unauffällige<br />

Tür. Dahinter liegt ein<br />

Raum, in den er sich zurückziehen<br />

kann; ein Zimmer mit<br />

Schlafcouch, Duschbad – und<br />

Aufzug für den Notfall.<br />

ulrich.groothuis@wiwo.de<br />

FOTO: DOMINIK PIETSCH FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

14 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Politik&Weltwirtschaft<br />

Der Kampf um<br />

unsere Lumpen<br />

ALTKLEIDER | Die einen wollen mit dem Sammeln von<br />

Gebrauchtem öffentliche Kassen füllen, andere am Weltfrieden<br />

arbeiten oder einer effizienten Entsorgung. Am Ende<br />

landen alle Klamotten auf demselben afrikanischen Markt.<br />

Ein Lehrstück über einen nicht perfekten Markt.<br />

Man kennt die Geschichten:<br />

In Afrika werden Rohstoffe<br />

abgebaut, nach Europa<br />

exportiert und hier veredelt.<br />

Arme Afrikaner,<br />

skrupellose Europäer. Diese aber geht genau<br />

andersherum. Silvano Nyakapala,<br />

Händler auf dem Markt von Daressalam,<br />

macht in Tansania einen Rohstoff grammweise<br />

zu Geld, für dessen Abbau es in Europa<br />

nur ein paar Hundert Euro pro Tonne<br />

gibt: Altkleider. Die Minen für diesen Rohstoff<br />

stehen zum Beispiel mitten in Berlin:<br />

Hafenplatz 5–7, zwischen Landwehrkanal<br />

und Potsdamer Platz.<br />

Die einstige Mauerrandlage ist einer dieser<br />

vielen Orte in der Mitte der Hauptstadt,<br />

an denen sich wohlhabendes Publikum<br />

breitmacht. Oder, aus der Perspektive von<br />

Herrn Nyakapala gesehen: wo besonders<br />

wertvolle Rohstoffe abgebaut werden können.<br />

Doch am Hafenplatz ist eine Lücke<br />

geblieben. Zwischen den noblen Eigentumswohnungen<br />

hat sich ein stufenweise<br />

aufragender Wohnblock gehalten. Abblätternde<br />

Farbe, ein paar verrostete Schaukeln<br />

im Innenhof und Graffiti, so weit die<br />

Arme reichen. An gleich vier Seiten grenzt<br />

der Block an öffentliche Straßen – für Unternehmer<br />

wie Alaittin Nargül die perfekte<br />

Kombination.<br />

Seine Firma Altkleidervertrieb Nargül<br />

hat an der südöstlichen Ecke des Blocks einen<br />

Container aufgestellt, genauso wie das<br />

Unternehmen Berlin-Textilrecycling. Weiter<br />

nördlich steht die Haytex GmbH, am<br />

südwestlichen Eck das Deutsche Rote<br />

Kreuz mit zwei Containern. Sie alle wollen<br />

das Gleiche: die Altkleider der Nachbarn<br />

aus den netten Eigentumswohnungen.<br />

Die Berliner Traumlage für Kleidersammler<br />

ist ein ziemlich gewöhnliches<br />

Beispiel für eine Welle, die seit einigen Monaten<br />

über Deutschland schwappt. Wo<br />

gestern noch ein Vorgarten war, befindet<br />

sich heute schon ein Altkleidercontainer.<br />

Mal steht der Name eines Unternehmens<br />

drauf, mal der des städtischen Entsorgungsbetriebs,<br />

mal der einer Wohlfahrtsorganisation,<br />

manchmal gar kein Hinweis<br />

auf den Betreiber. Nur eines fehlt nie: der<br />

Verweis auf die gute Tat, die der Spender<br />

mit seiner Abgabe vollbringe.<br />

EINZIGARTIGES PANOPTIKUM<br />

Der Grund für die Verbreitung ist zunächst<br />

ein ziemlich simpler: der Preis. Laut dem<br />

Marktbericht des Branchendienstes der<br />

Entsorger „Euwid“ gibt es für eine Tonne<br />

Altkleider derzeit rund 400 Euro, auch<br />

wenn bereits vor einer bevorstehenden<br />

Abkühlung des Marktes gewarnt wird. Vor<br />

wenigen Jahren waren es 200 Euro, ein<br />

bisschen früher wurde man die Waren gar<br />

nicht kostendeckend los. Das erklärt den<br />

Boom auf oberflächliche Weise. Doch dahinter<br />

steckt eine komplexere Erzählung.<br />

Sie handelt davon, was passiert, wenn<br />

Gewinnstreben, Moral und klamme Staatskassen<br />

aufeinandertreffen. Sie zeigt, dass<br />

Märkte nicht immer zu optimalen Ergebnissen<br />

führen – sie auch gestört sein können<br />

durch asymmetrische Information, öffentliche<br />

Güter, Marktmacht und externe<br />

Effekte. Der Markt für Altkleider ist geradezu<br />

ein einzigartiges Panoptikum des ökonomischen<br />

Grauens: Alle Verzerrungen,<br />

die schon vereinzelt absurde Auswirkungen<br />

haben, hier existieren sie fröhlich nebeneinander.<br />

»<br />

FOTO: ROB BEECHEY FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

16 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Wo aus Altkleidern<br />

wertvolle Ware wird<br />

Klamottenmarkt in<br />

Tansanias Hauptstadt<br />

Daressalam<br />

1,5<br />

Milliarden gebrauchte<br />

Kleidungsstücke landen<br />

pro Jahr in den Containern<br />

300<br />

Millionen Euro<br />

werden mit den Altkleidern<br />

jährlich verdient<br />

26<br />

Millionen Tonnen<br />

könnten aus China<br />

hinzukommen<br />

17<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Politik&Weltwirtschaft<br />

I. Öffentliche Güter<br />

In Daressalam, Tansania, ist der Einkaufsbummel<br />

an diesem Mittag ein Balanceakt<br />

auf Holzbohlen, doch das stört die Menschen<br />

nicht: Kaum ist die Sonne nach dem<br />

Regenguss zurück, zwängt sich Kundschaft<br />

durch die matschige Enge des Markts von<br />

Mchikichnini. Sofort wird es laut. Unter all<br />

dem Gebrüll immer wieder dieses eine<br />

Wort: „Mitumba“, der Suaheli-Begriff für<br />

„Ballen“. Das beschreibt den Zustand, in<br />

dem die Ware ankommt, um die sich hier<br />

alles dreht. Klamotten, sauber, aber ungebügelt<br />

und verschnürt, in Paketen zu je 50<br />

Kilogramm. Mehr als 12 000 Händler bieten<br />

hier Tag für Tag ihre Waren an, es ist neben<br />

dem kenianischen Mombasa der zentrale<br />

Umschlagplatz für den kompletten<br />

ostafrikanischen Altkleidermarkt – den bedeutendsten<br />

der Welt.<br />

Während in Ostafrika die meisten<br />

Abnehmer von Altkleidern leben, ist<br />

Deutschland einer der wichtigsten Exporteure.<br />

Das liegt zwar auch daran, dass<br />

Deutschland ein wohlhabendes und<br />

leidlich großes Land ist, in erster Linie aber<br />

an der einzigartigen Kultur des Sortierens<br />

und Wiederverwertens hierzulande. In<br />

Südeuropa sind Altkleidersammlungen<br />

völlig unüblich.<br />

TRIVIALE ERFINDUNG<br />

Bei uns waren es zunächst kirchliche und<br />

wohltätige Organisationen, die in der<br />

Nachkriegszeit begannen, von Tür zu Tür<br />

zu gehen, um die Spenden zu sammeln.<br />

Die gesammelten Klamotten landeten<br />

dann in Kleiderkammern, wo Bedürftige<br />

sich versorgen konnten. Bald aber überstieg<br />

die Menge der gesammelten Kleider<br />

die Nachfrage bei Weitem, man begann,<br />

die Kleider weiterzuverkaufen.<br />

Eine ziemlich trivial erscheinende Erfindung<br />

machte Anfang der Neunzigerjahre<br />

daraus ein Geschäftsmodell: der Altkleidercontainer.<br />

Die Container standen von<br />

nun an dauerhaft an der Straße und wurden<br />

regelmäßig geleert. Für die Wohltätigkeitsorganisationen<br />

wurden die Altkleider<br />

so zur regulären Einnahmequelle. Sie<br />

schlossen Verträge mit Entsorgungsunternehmen<br />

ab, die feste Mengenpreise garantierten.<br />

Die Container passten perfekt in<br />

das Heimatland des „Kreislaufwirtschaftsgesetzes“:<br />

So wie wir leere Weinflaschen<br />

brav zum Glascontainer bringen, landen<br />

Altkleider im Container. Einfach wegwerfen?<br />

Wäre doch schade drum!<br />

Insgesamt kommen so in Deutschland<br />

pro Jahr rund 750 000 Tonnen Altkleider<br />

zusammen, das entspricht 1,5 Milliarden<br />

ordnungsgemäß entsorgten Textilien oder<br />

einem Marktvolumen von rund 300 Millionen<br />

Euro – wenn die Klamotten verkauft<br />

werden. Das hinterlässt einen ordentlichen<br />

Profit, denn in der Herstellung sind sie unschlagbar<br />

günstig: Sie kosten nichts außer<br />

dem guten Willen des Entsorgenden.<br />

Ein öffentliches Gut zeichnet sich allgemein<br />

dadurch aus, dass es in scheinbar unbegrenzter<br />

Menge verfügbar ist. So steht<br />

die Sache auch bei den Altkleidern: Was in<br />

den nie ausgeräumten Umzugskisten, unerreichbaren<br />

Regalmetern und vergessenen<br />

Schubfächern der deutschen Reihenhaussiedlungen<br />

lagert, würde genügen,<br />

um den Weltmarkt dauerhaft zu versorgen.<br />

Das macht Altkleider attraktiv, aber wie<br />

bei jedem öffentlichen Gut gibt es auch<br />

hier einen Haken. Wenn die Nutzung nicht<br />

koordiniert erfolgt, sondern exzessiv, dann<br />

verbraucht es sich. Das passiert bei Altkleidern<br />

nicht auf so klassische Weise wie bei<br />

Fischgründen, sondern über Umwege.<br />

Denn den Kampf um die Altkleider gewinnt<br />

nicht derjenige, der den besten Preis<br />

bietet oder die besten Herstellungsverfahren<br />

kennt. Sondern wer die beste Geschichte<br />

zu erzählen hat – oder sie sich ausdenkt.<br />

Bald aber prangte auf jedem Container<br />

ein glückliches Kindergesicht, und die<br />

Suche nach dem Haken begann.<br />

Bunt is beautiful<br />

Händler Silvano<br />

Nyakapala zieht<br />

asiatische Waren<br />

den grauen<br />

deutschen vor<br />

Schnell wurde man fündig: Altkleiderhandel<br />

ist böse, denn er zerstört die afrikanischen<br />

Märkte. Je mehr Menschen das<br />

glauben, desto mehr Klamotten bleiben im<br />

Keller oder landen im Hausmüll, anstatt<br />

nach Tansania verschifft zu werden.<br />

II. Externe Effekte<br />

Immer wieder gab es Versuche, das<br />

Mitumba-Geschäft zu regulieren. Julius<br />

Nyerere, Tansanias erster Präsident nach der<br />

1961 erreichten Unabhängigkeit, wollte einen<br />

sich selbst versorgenden Sozialismus<br />

aufbauen – Textilfabriken, die für den lokalen<br />

Markt produzieren, inklusive. Folgerichtig<br />

war Mitumba eines der ersten Güter, auf<br />

die er ein striktes Einfuhrverbot verhängte.<br />

Als der Sozialismus Anfang der Neunzigerjahre<br />

in Tansania zusammenbrach, fielen<br />

auch die Importhürden – und mit ihnen<br />

brach die lokale Textilindustrie fast schlagartig<br />

zusammen. Wer sucht, der findet in den<br />

Industriequartieren der Hauptstadt noch<br />

heute verfallende Fabriken oder ehemalige<br />

Angestellte, die über das Verschwinden der<br />

Textilindustrie klagen.<br />

Es waren auch, aber nicht nur die deutschen<br />

Altkleider, die den Markt kaputt gemacht<br />

haben. Die lokale Textilindustrie<br />

wäre heutzutage auch ohne Mitumba nicht<br />

wettbewerbsfähig: Moderne Hersteller<br />

müssen entweder mit viel Handarbeit<br />

12 000 Händler bieten auf dem<br />

Markt von Mchikichnini Altkleider zum Verkauf an<br />

18 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


FOTOS: ROB BEECHEY, FRANK BEER, BEIDE FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

Massenware produzieren, wie in Bangladesch<br />

– oder erlesene Premiumprodukte,<br />

die teures Equipment erfordern und am<br />

Ende viel Geld kosten. Tansania aber ist<br />

mit seinen 42 Millionen Einwohnern weder<br />

ein geeigneter Beschaffungs- noch Absatzmarkt:<br />

Es fehlt – anders als in Bangladesch<br />

– an billigen und devoten Näherinnen,<br />

an Kapital und Know-how, an einer<br />

kaufkräftigen Kundschaft.<br />

Viele einheimische Beobachter bewerten<br />

den Zustrom der Klamotten aus dem<br />

Norden gar nicht so negativ. Denn rund um<br />

Mitumba hat sich ein lukrativer Markt der<br />

Weiterverarbeitung etabliert. Da die gebrauchten<br />

Waren aus Europa so günstig<br />

wie asiatische Erstware sind, aber von viel<br />

höherer Qualität, werden sie als Ausgangsprodukt<br />

genutzt, um daraus höherwertige<br />

Modeware zu fertigen. Selbstständige<br />

Schneider oder Kleinkollektive verzieren<br />

die Klamotten mit Ornamenten oder Aufdrucken<br />

und schaffen so neue Werte.<br />

III. Marktmacht<br />

Horst Tschöke war nie in Tansania, <strong>vom</strong><br />

Textilhandel hat er keine Ahnung, aber ein<br />

bisschen mitverdienen möchte er trotzdem.<br />

Um genau zu sein, sind es 150 000<br />

Euro im Jahr, auf die er es abgesehen hat.<br />

Tschöke ist Geschäftsführer der Entsorgungsgesellschaft<br />

der Stadt Herne im<br />

nördlichen Ruhrgebiet, und für diesen<br />

Herbst hat er eine klare Mission: den örtlichen<br />

Altkleidermarkt übernehmen. „Es<br />

gibt einen Wildwuchs von Containern in<br />

Will mitverdienen<br />

Horst Tschöke,<br />

Entsorgung Herne<br />

150 000 Euro soll die Altkleidersammlung<br />

der Stadt Herne im Jahr bringen<br />

der Stadt, das stört das Stadtbild und zieht<br />

eine weitere Vermüllung nach sich“,<br />

referiert Tschöke die offizielle Erklärung.<br />

Neben den zwei karitativen Organisationen,<br />

die in Herne schon seit Urzeiten Altkleider<br />

sammeln, sind in den vergangenen<br />

Jahren immer mehr gewerbliche Sammler<br />

hinzugekommen. Die stellen ihre Container<br />

irgendwo im Stadtgebiet auf, hoffen,<br />

dass sich keiner beschwert und ein paar<br />

Menschen ihre Kleider hineinwerfen. Gerade<br />

deshalb sind Plätze wie der am Berliner<br />

Wohnsilo so beliebt. Auf Kleinanzeigenportalen<br />

im Internet werden demjenigen<br />

bis zu 500 Euro pro Jahr geboten, der<br />

sein Grundstück für einen Container zur<br />

Verfügung stellt. Die Kehrseite: Dort, wo<br />

viele Menschen wohnen, die sich untereinander<br />

kaum kennen, fühlt sich auch keiner<br />

für Sauberkeit und Ordnung an der<br />

Sammelstelle verantwortlich.<br />

„Die Container ziehen den Dreck quasi<br />

an“, sagt Tschöke. Es ist ein Phänomen, das<br />

amerikanische Soziologen einmal Broken-<br />

Window-Theorie getauft haben. Mit jeder<br />

demolierten Scheibe im Downtown-Ghetto<br />

von Detroit oder Chicago sinkt die Hemmschwelle,<br />

eine weitere einzuschmeißen.<br />

Wird aber die erste Scheibe schnell repariert,<br />

schmeißt keiner eine zweite ein. Einen<br />

ähnlichen Zusammenhang vermutet<br />

Tschöke zwischen Altkleidercontainern<br />

und den Unrathaufen daneben. Man könnte<br />

einwenden: Bei allen Problemen, Herne<br />

ist nicht die Bronx. Und Tschökes Argumente<br />

sind vielleicht nur ein Vorwand.<br />

Denn wo die Städte die Sammlung an<br />

sich reißen, bleibt kein Platz für andere. Mit<br />

ihren hoheitlichen Rechten können sie alle<br />

anderen Container entfernen lassen, weil<br />

sie entweder auf öffentlichem Grund stehen<br />

oder dieser genutzt wird, um sie zu befüllen.<br />

„Die Städte sind an den Einnahmen<br />

interessiert, das ist alles“, sagt Jörg Lacher,<br />

Geschäftsführer des Bundesverbands Sekundärrohstoffe<br />

und Entsorgung. Bis 2012<br />

war es Städten nicht erlaubt, sich in den Altkleidermarkt<br />

einzumischen. Die Unternehmen<br />

mussten entsprechende Sammlungen<br />

nur anzeigen, die Verwaltung prüfte lediglich<br />

die Zuverlässigkeit der Anbieter. Solange<br />

die Unternehmen ihre Container nicht<br />

auf öffentlichen Grund stellten, mussten<br />

die Verwaltungen es akzeptieren.<br />

Auch auf Drängen der öffentlichen Unternehmen,<br />

denen die sagenhaften Preise<br />

für die alten Kleider zu Ohren gekommen<br />

waren, öffnete der Gesetzgeber vor zwei<br />

Jahren ein Hintertürchen im Kreislaufwirtschaftsgesetz.<br />

Wenn ein „öffentliches Interesse“<br />

es rechtfertigt, dürfen die Städte den<br />

Wildwuchs an Containern beseitigen und<br />

selbst tätig werden. Sie können dann nicht<br />

nur einzelne Container entfernen, sondern<br />

die Sammlung als Ganzes übernehmen.<br />

EIN OFFENES SPIEL<br />

Die Städte machen davon extensiv Gebrauch:<br />

Mehrere Dutzend Großstädte haben<br />

inzwischen eigene Sammlungen, unter<br />

den kleineren Gemeinden sind es noch viel<br />

mehr. Den freien Unternehmen bleibt dagegen<br />

nur der Gang vor Gericht. An fast allen<br />

deutschen Verwaltungsgerichten werden<br />

inzwischen Streitigkeiten zwischen<br />

Entsorgungsunternehmen und Stadtverwaltungen<br />

ausgetragen, mal obsiegen die<br />

Städte, mal die Sammler. „Die Rechtslage ist<br />

ziemlich unübersichtlich“, sagt Verbandsvertreter<br />

Lacher. Gerade hat das Verwaltungsgericht<br />

München dem Landkreis<br />

Landsberg am Lech untersagt, die gewerblichen<br />

Entsorger aus dem Markt zu drängen.<br />

Die Unternehmen genössen Vertrauensschutz.<br />

Anderswo wird es den Städten erlaubt.<br />

Bis eine höchstrichterliche Entscheidung<br />

ergeht, wird der Gang vor Gericht ein<br />

offenes Spiel bleiben. Gerade deshalb aber<br />

scheuen sowohl Verwaltungen als auch Unternehmen<br />

den Gang durch die Instanzen:<br />

Solange alles unklar ist, können beide Seiten<br />

ihr Glück zumindest mal versuchen.<br />

Horst Tschöke hat noch eine andere Reaktion<br />

beobachtet. „Seit einige unserer<br />

Nachbarstädte begonnen haben, gegen Altkleidercontainer<br />

vorzugehen, tauchen<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 19<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Politik&Weltwirtschaft<br />

»<br />

bei uns in Herne immer mehr auf.“ Die<br />

karitativen Sammler hingegen setzen zumeist<br />

noch auf Kooperation. Immerhin haben<br />

sie das starke Argument der guten Tat.<br />

Damit gelingt es ihnen, den Städten zumindest<br />

einzelne Stellplätze oder einen Anteil<br />

an den Einnahmen abzuringen. Doch je<br />

größer die Haushaltsnot ist, desto geringer<br />

wiegen diese Argumente. Oder, wie es die<br />

Monopolkommission in ihrem aktuellen<br />

Bericht ausdrückt: „Kommunale Entsorger<br />

weiten ihre unternehmerischen Tätigkeiten<br />

in jüngster Zeit deutlich aus. Im Ergebnis<br />

werden die vorrangigen Ziele der veränderten<br />

Regelungen zu gewerblichen Sammlungen<br />

– die Stärkung des Wettbewerbs sowie<br />

eine Verbesserung der Qualität und Quantität<br />

des Recyclings – gerade nicht erreicht.“<br />

IV. Asymmetrische Information<br />

Auch wenn ihr Geschäft in Gefahr gerät, zumindest<br />

ein wenig Schadenfreude könnte<br />

den gewerblichen Sammlern am Ende bleiben.<br />

Denn die Mühlen der Verwaltung malen<br />

langsam. So vergeht zwischen der Entscheidung<br />

der Stadt Herne, in die<br />

Altkleiderentsorgung einzusteigen, und der<br />

Aufstellung des ersten Containers, mehr als<br />

ein halbes Jahr. Und damit gehört die Stadt<br />

noch zu den schnelleren. Doch während die<br />

Verwaltung prüft, genehmigt und vollzieht,<br />

stehen auch die Absatzmärkte nicht still.<br />

Die beiden Sprösslinge Frank und Wolfgang<br />

der Familie Dohmann sind Dortmunder<br />

Lumpensammler seit 1926. Einst verarbeiteten<br />

sie alte Textilien zu Rohrdichtungen<br />

für die Schwerindustrie. Doch mit dem<br />

Niedergang der Industrie geriet auch ihr<br />

Geschäftsmodell in Gefahr. Sie entdeckten,<br />

dass sie mit den Textilien deutlich mehr<br />

verdienen konnten, wenn sie die brauchbaren<br />

Teile weiterverkauften. Verträge mit<br />

den Wohltätigkeitsorganisationen der Region<br />

sichern ihnen heute einen zuverlässigen<br />

Zustrom an Waren. Ihre Aufgaben haben<br />

die beiden klar aufgeteilt: Wolfgang<br />

Dohmann kümmert sich zu Hause darum,<br />

dass die Sortieranlage stets Futter bekommt.<br />

Frank Dohmann, sein jüngerer<br />

Bruder, ist der Weltenbummler mit Kontakten<br />

zu Händlern und Häfen in Afrika<br />

und Asien. Wenn es gut läuft, reist er dafür<br />

zwei- oder dreimal im Jahr nach Daressalam.<br />

Aber gut läuft es gerade nicht, deshalb<br />

ist Dohmann fast permanent in Afrika. „In<br />

Ostafrika dominieren Südkoreaner und<br />

Chinesen den Markt“, klagt Dohmann, „die<br />

haben uns die Preise verdorben.“<br />

Was deutsche Kämmerer noch nicht ahnen:<br />

Westliche Händler drohen im Handel<br />

Wo gestern noch<br />

ein Vorgarten<br />

war, stehen heute<br />

Altkleidercontainer<br />

Mülltonne oder Goldgrube? Städtischer<br />

Altkleidercontainer in Köln<br />

mit Gebrauchtklamotten ins Hintertreffen<br />

zu geraten. Schon vor rund zehn Jahren<br />

gab es einmal einen heftigen Preiseinbruch,<br />

als die Ostafrikaner reihenweise auf<br />

importierte Neuware von chinesischen<br />

Herstellern umstellten. Die Qualität dieser<br />

Waren erwies sich jedoch als so minderwertig,<br />

dass viele Kunden wieder auf europäische<br />

Zweitware umstiegen.<br />

Nun hat die Konkurrenz dazugelernt, die<br />

günstigen Neuwaren sind besser geworden.<br />

Hinzu kommt: Allein China produziert<br />

jedes Jahr für den eigenen Markt 43<br />

Millionen Tonnen Kleidung – und jährlich<br />

landen 26 Millionen in der Tonne. Langsam<br />

beginnt man auch dort, die gebrauchten<br />

Klamotten weiterzuverwenden. Da die<br />

Transport- und Logistikkosten deutlich<br />

niedriger als in Europa liegen, kommt<br />

die getragene Ware gut 30 Prozent günstiger<br />

in Afrika an.<br />

In Daressalam lagern Dohmanns „Mitumba“-Packen<br />

aus den Malteser-Containern<br />

mit ihren rund 40 Kilogramm Gewicht<br />

direkt neben asiatischen Ballen mit<br />

dem doppelten Gewicht. Der Preis ist fast<br />

der gleiche. In einer Holzhütte mitten im<br />

Markt von Daressalam sitzt Ali Mualim<br />

Urembu. Der kahle Mittfünfziger ist am<br />

Markt von Mchikichnini einer der wichtigsten<br />

Männer, er leitet die Abteilung für<br />

Gebrauchtwaren. „Der Stückwaren-Absatz<br />

läuft gut, aber die Qualität der Waren wird<br />

immer schlechter, und die Margen sinken“,<br />

sagt der Marktmanager. „Die Großhändler<br />

drücken billige Klamotten aus China und<br />

Südkorea in den Markt“, sagt er. Wer Europas<br />

Mitumba kaufen wolle, habe schlechte<br />

Karten: „Unsere Großimporteure arbeiten<br />

fast nur noch mit Asiaten zusammen, weil<br />

auch für sie die Gewinne dabei größer<br />

sind“, erzählt Urembu.<br />

LILA FÜR DIE LADYS<br />

Ähnliches berichtet Silvano Nyakapala, der<br />

auf verschlungenen Pfaden zu seinem Verkaufsstand<br />

führt. Flink bewegt er sich<br />

durch den verwinkelten Markt aus Tausenden<br />

Blechcontainern und Holzhütten. Er<br />

springt über Pfützen, biegt links und rasch<br />

wieder rechts ab. „Ich kaufe kaum noch<br />

Ware aus Europa, weil die Größen für unsere<br />

Frauen zu groß sind“, sagt der Händler.<br />

„Außerdem tragen die Asiaten gern lila, so<br />

wie unsere afrikanischen Ladys.“<br />

Der Altkleidermarkt ist heute zwar globalisiert<br />

wie jeder andere, aber der Gang<br />

von Informationen ist hier nach wie vor ein<br />

ziemlich unübersichtlicher. Da es keine<br />

zentralen Handelsplattformen oder Börsen<br />

gibt, verbreiten sich Preise nur über informelle<br />

Wege. Mit anderen Worten: Wer keinen<br />

Kontakt in Daressalam hat, der erfährt<br />

viel zu spät, wie es um seine Absätze steht.<br />

Für Horst Tschöke könnte die ganze Geschichte<br />

daher noch zu einem großen Ärgernis<br />

werden. Er investiert gerade in Container,<br />

bald auch in Fahrzeuge und Personal.<br />

Wenn die Preise wie prophezeit sinken,<br />

würde all das die ohnehin hoch verschuldete<br />

Stadt weiter belasten.<br />

Der Berliner Hafenplatz mit seinen vielen<br />

Containern ist kein Schmuckstück in<br />

der schmucken Hauptstadt. Seinen vielversprechenden<br />

Namen hat er aus einer Zeit,<br />

als hier noch Waren umgeschlagen wurde,<br />

das einstige Hafenbecken aber ist längst<br />

zugeschüttet, ein reizloser Park und eine<br />

donnernde Hauptstraße sind an die Stelle<br />

getreten. Als Reiseziel für lernwillige Ökonomen,<br />

geläuterte Stadtkämmerer und gegängelte<br />

Unternehmer aber ist er trotzdem<br />

eine Reise wert. Ein bisschen dreckig, aber<br />

mit viel Freiheit und Profitchancen für jeden,<br />

der sich streckt. Richtig schön kapitalistisch<br />

eben.<br />

n<br />

konrad.fischer@wiwo.de, florian willershausen | Berlin<br />

FOTO: PICTURE-ALLIANCE/DPA<br />

20 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Weg nach unten<br />

FDP-Bürgermeister<br />

und Hobbyschatzsucher<br />

Haustein<br />

Des einen Abstieg<br />

PARTEIEN | In Sachsen zeichnet sich ab: Wo die FDP geht, kommt die AfD. Fehlt am Ende<br />

trotzdem eine wirtschaftsliberale Partei? Erkundungen im Erzgebirge.<br />

FOTO: AGENTUR FOCUS/JONAS WRESCH<br />

Heinz-Peter Haustein ist ein FDP-Politiker<br />

aus dem Grenzort Deutschneudorf<br />

im Erzgebirge, und er<br />

schaut nur ein bisschen verdutzt, als der<br />

Mann neben ihm beginnt, Hakenkreuze<br />

auf die Holzkiste zu sprühen, die er gleich<br />

mit sich herumtragen soll. Er kommentiert<br />

achselzuckend: „Wenn es unserer Sache<br />

dient...“ Man ist geneigt, das als Symbol dafür<br />

zu verstehen, dass der siechenden Partei<br />

inzwischen jedes Mittel recht ist, um ihr<br />

Überleben zu sichern. Doch diese Geschichte<br />

ist ein bisschen komplizierter.<br />

2009 war das mittlere Erzgebirge stärkster<br />

Wahlkreis der FDP in ganz Sachsen,<br />

14,8 Prozent der Stimmen holte die Partei<br />

hier. Bei der Europawahl im Mai reichte es<br />

nur zu 2,6 Prozent, stattdessen landete die<br />

AfD bei 11,4 Prozent – eines der besten Ergebnisse<br />

bundesweit. Können diese Zahlen<br />

lügen? In Sachsen wird am kommenden<br />

Sonntag gewählt. In Dresden sitzt die<br />

letzte Landesregierung mit FDP-Ministern,<br />

für die AfD ist es die erste Landtagswahl<br />

seit Gründung. In aktuellen Umfragen liegt<br />

die FDP bei drei, die AfD bei mindestens<br />

sechs Prozent. Ein Wachwechsel wäre wegweisend<br />

für die deutsche Parteienlandschaft.<br />

Die junge Partei, die sich als die Bewegung<br />

des „gesunden Menschenverstands“<br />

preist und mit deren Verortung<br />

sich Medien und Konkurrenten schwertun,<br />

würde das in die Mitte des Parteienspektrums<br />

bugsieren, die siechende FDP könnte<br />

es vernichten. Sollte es so kommen, in<br />

der einstigen FDP-Hochburg Erzgebirge<br />

müsste man es am deutlichsten sehen.<br />

Herr Haustein hält nicht viel von diesem<br />

Zusammenhang. Lieber spricht er über die<br />

Rechts ist die Überholspur<br />

Wahlergebnisse in Sachsen (in Prozent)<br />

FDP<br />

AfD<br />

12,3<br />

2009<br />

Landtagswahl<br />

3,1<br />

6,8<br />

2013<br />

Bundestagswahl<br />

Quelle: Statistisches Landesamt Sachsen,<br />

Bundeswahlleiter<br />

2,6<br />

10,1<br />

2014<br />

Europawahl<br />

NPD. Die Rechtsradikalen werden in diesem<br />

Jahr wohl deutlich schlechter abschneiden<br />

als 2009, da sei doch klar, woher die Zuwächse<br />

der AfD kämen. Haustein ist nicht nur<br />

Bürgermeister in seinem Heimatörtchen<br />

Deutschneudorf, er ist auch Unternehmer<br />

und anerkannter Tausendsassa in der Region.<br />

Wenn die Fußballprofis der Zweitligamannschaft<br />

Erzgebirge Aue ins Stadion laufen,<br />

prangt auf der Werbebande die Anzeige<br />

für „Haustein Aufzüge“. Einen alten Stollen<br />

im Ort hat er zum Besucherbergwerk umgebaut,<br />

es ist eine Touristenattraktion, sogar<br />

das Bernsteinzimmer vermutet er in seinem<br />

Stollen. Auf seinem Betriebsgelände im Ort<br />

hat er einen Pfosten montiert, an dem in<br />

Wegweiser-Optik Holzlatten in verschiedene<br />

Richtungen weisen. Darauf eingeritzt sind<br />

Hausteins Erfolge. „Bundestagsabgeordneter“<br />

steht da, „Schatzsucher“, „Chef Elektro“<br />

und natürlich „Bürgermeister“.<br />

Seit 1994 ist er das. „Ich denke die Leute<br />

hier honorieren, dass ich mich immer voll<br />

und ganz für das Dorf eingesetzt habe.“<br />

Haustein ist einer dieser erfolgreichen<br />

FDP-Politiker, die selten geworden sind in<br />

diesem Land. Er ist der wichtigste, der<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 21<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Politik&Weltwirtschaft<br />

Alleine stark Landeschef Volker Zastrow auf einem Plakat der FDP<br />

»<br />

einzige Arbeitgeber im Ort. Wer Haustein<br />

wählt, der wählt den Glauben daran,<br />

dass der tüchtige Unternehmer der bessere<br />

Politiker ist. Wer seinen eigenen Laden im<br />

Griff hat, der kann auch ein Land nach vorne<br />

bringen. So haben FDP-Erfolge früher<br />

oft funktioniert, in der Vor-Spaßpartei-Zeit.<br />

Da war die Partei eine der Vorbilder.<br />

EINFACHE REZEPTE<br />

In Deutschneudorf klappt das immer<br />

noch. Bei der jüngsten Bürgermeisterwahl<br />

holte Haustein 597 der 607 abgegebenen<br />

Stimmen. Dass er seinen Erfolg in die Gegenwart<br />

gerettet hat, liegt auch daran, dass<br />

er nicht gerade das ist, was man einen klassischen<br />

Liberalen nennen würde. Wenn er<br />

über Wirtschaftspolitik spricht, ist er<br />

schnell bei den ganz einfachen Rezepten.<br />

Griechenlands Probleme? „Es kann doch<br />

nicht sein, dass die da unten jeden Abend<br />

eine Party feiern und von unserem Geld die<br />

Wohnungen in Berlin kaufen.“ Lösung?<br />

„Man hätte die gleich am Anfang rausschmeißen<br />

müssen.“ Auch an der aktuellen<br />

Regierung lässt er kein gutes Haar. Die Politik<br />

in Deutschland gehe „immer mehr in<br />

Richtung Kommunismus“, sagt Haustein.<br />

Vielleicht ist das einer der großen Trugschlüsse,<br />

den die FDP noch erkennen<br />

muss. Nur weil sie sich auf dem Programmpapier<br />

eine liberale Partei nennt, heißt das<br />

nicht, dass sie auch eine Partei der Liberalen<br />

ist. Und genau das wird in diesen Tagen<br />

zum Problem. Denn in der Politküche der<br />

einfachen Rezepte ist jemand, der die Sache<br />

besser kann: die AfD.<br />

Carsten Hütter ist es, der 2014 in Hausteins<br />

Territorium jagen will. Hütter ist seit<br />

einiger Zeit stellvertretender Landesvorsitzender<br />

der AfD, im Erzgebirge ist er Spitzenkandidat.<br />

Ansonsten führt er einen Kfz-<br />

Ersatzteilhandel in Marienberg, eine halbe<br />

Autostunde von Hausteins Dorf entfernt.<br />

Auf dem marktplatzgroßen Hof stehen in<br />

langen Reihen aufgebockte Autoleichen.<br />

Aus denen bauen Hütters Leute brauchbare<br />

Ersatzteile aus, der Rest kommt in die<br />

Schrottpresse. Die Teile selbst verkauft<br />

Hütter im Internet weiter. Besitzer alter<br />

Subaru-Modelle kennen den Mann, politisch<br />

Interessierte bisher eher nicht.<br />

Doch das dürfte sich ändern, zumindest<br />

im Erzgebirge. Erreicht die Partei sieben,<br />

acht Prozent bei der Wahl, dann wird Hütter<br />

in einigen Wochen im Dresdner Landtag<br />

sitzen. Schon jetzt hat er sein Büro zum<br />

AfD-Treffpunkt umgestaltet, die Tischdekoration<br />

wird durch eine Deutschlandfahne<br />

abgerundet. Wenn er über Wirtschaftspolitik<br />

spricht, ähneln seine Sätze denen<br />

von Haustein. Die Euro-Rettung? „Wir finanzieren<br />

den Südländern, dass sie über<br />

ihren Verhältnissen leben.“ Brüssel? „Ein<br />

bürokratischer Apparat ohne ausreichende<br />

demokratische Legitimation.“ Wenn Hütter<br />

sich erst mal in Rage redet, ist er kaum<br />

Die AfD bietet<br />

ein glitzerndes<br />

Kaleidoskop der<br />

Ressentiments<br />

Schnelle Alternative AfD-Landeschefin Frauke Petry unterwegs<br />

noch zu stoppen. Dann zeigt sich ein entscheidender<br />

Unterschied zwischen der<br />

FDP, wie sie in Sachsen erfolgreich war,<br />

und der AfD. Bei der FDP war mit den einfachen<br />

Rezepten jenseits der Steuerpolitik<br />

Schluss. Die AfD aber bietet ein Kaleidoskop<br />

der Ressentiments: Egal, von welcher<br />

Seite man es betrachtet, es glitzert immer.<br />

Zum Pressegespräch hat AfD-Mann Hütter<br />

Julien Wiesemann mitgebracht. „Er ist<br />

noch ein junger Mann, aber wir wollen ihm<br />

die Chance geben, zu lernen“, sagt Hütter.<br />

Seit Juni ist Wiesemann Pressesprecher der<br />

Landespartei. In seinem Job mag er neu<br />

sein, trotzdem steht er bereits für eine ganz<br />

spezielle Art von Gratwanderung, die Erfolg<br />

und Streitbarkeit der AfD erklären.<br />

Denn Wiesemanns politische Karriere<br />

bei der AfD ist bereits seine zweite. Zuvor<br />

war er bei der Partei „Die Freiheit“, einer<br />

rechten Splittergruppe, aktiv. Auf seinem<br />

Facebook-Profil bezeichnet er sich als<br />

„rechtskonservativ wie die FPÖ“ und stellt<br />

klar: „Moschee & Islam gehört nicht zu<br />

Deutschland.“ Besonders aktiv ist Wiesemann<br />

auf den Facebook-Seiten der „Patriotischen<br />

Plattform“ einer nationalkonservativen<br />

Gruppe, die nicht direkt mit der<br />

AfD verbunden ist, aber aus Mitgliedern<br />

besteht. Per „Like-Button“ drückt Wiesemann<br />

hier seine Zustimmung zu kryptischen<br />

Statements wie „Dem Vaterland die<br />

ganze Kraft“ aus. Drei seiner Facebookund<br />

Parteifreunde luden jüngst den FPÖ-<br />

Politiker Andreas Mölzer zu einer Podiumsdiskussion<br />

ein. Der Mann steht selbst<br />

in seiner Partei am rechten Rand, die EU<br />

hat er einmal als „Negerkonglomerat“ bezeichnet.<br />

Die Stellungnahme von Wiese-<br />

FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/DPA, IPON/STEFAN BONESS<br />

22 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


mann ist typisch AfD: „Begriffe wie ‚Negerkonglomerat‘<br />

sind nicht die Wortwahl der<br />

AfD.“ Auf die Veranstaltung selbst habe<br />

man keinen Einfluss, heißt es zunächst –<br />

obwohl die Organisatoren AfD-Kandidaten<br />

sind. Als der politische Druck steigt,<br />

wird die Veranstaltung dann mit Verweis<br />

auf ein „akutes Augenleiden“ des Österreichers<br />

abgesagt.<br />

LABEL DER MEINUNGSFREIHEIT<br />

Beispiele wie diese findet man reihenweise<br />

in der AfD. Unter dem Label der Meinungsfreiheit<br />

finden radikale Gestalten ihre Öffentlichkeit<br />

in der Partei, ohne Teil dieser<br />

zu sein. So sammelt die AfD extreme Meinungen<br />

ein, ohne für die Mitte der Gesellschaft<br />

unwählbar zu werden. Das macht es<br />

so schwierig, die Wähler im politischen<br />

Spektrum zu verorten. Im Sachsen-Wahlkampf<br />

zeigt sich aber, dass es zunehmend<br />

enttäuschte Konservative sind, die sich<br />

hier sammeln. Wie der Neupolitiker Carsten<br />

Hütter war auch Uwe Wurlitzer früher<br />

in der CDU aktiv, heute ist er Generalsekretär<br />

der AfD für Sachsen. Welches Thema<br />

hat ihn zur AfD gelockt? „Ganz klar, die<br />

Ausländerpolitik!“ Es folgt ein längerer Vortrag,<br />

der bei alten CDU-Positionen anfängt<br />

und auf dem Grat endet, auf dem auch<br />

Pressesprecher Wiesemann balanciert. „Es<br />

kann doch nicht sein, dass man schon als<br />

rechts gilt, wenn man nur eine Deutschlandfahne<br />

hisst.“ Oder: „Die Polizei ist auf<br />

dem linken Auge blind.“ Er fordert mehr<br />

Beamte an den Grenzen, Volksabstimmungen<br />

über Minarette und Familienförderung<br />

statt Genderpolitik. Wer unzufrieden<br />

mit seiner eigenen Lage und der heutigen<br />

Gesellschaft insgesamt ist, der findet<br />

bei der AfD ein viel breiteres Angebot, als<br />

es die FDP je bieten konnte.<br />

Für Heinz-Peter Haustein ist das nicht<br />

mehr von Bedeutung. Seit er im Herbst<br />

sein Bundestagsmandat verloren hat, zieht<br />

er sich Schritt für Schritt aus der Politik zurück,<br />

bei der Landtagswahl tritt er nicht an.<br />

Werbung macht Haustein nur noch für sich<br />

selber, so auch mit den Hakenkreuz-Kisten.<br />

Die trägt er für das amerikanische<br />

Fernsehen durch den Stollen. Für eine<br />

Bernsteinzimmer-Dokumentation sind die<br />

Journalisten des Travel Channel ins Erzgebirge<br />

gereist, da mimt Haustein gern den<br />

Schatzsucher. Es könnte ja Touristen ins<br />

Erzgebirge bringen. Da verbleibt noch<br />

mehr Hoffnung als für seine Partei. n<br />

konrad.fischer@wiwo.de<br />

Lesen Sie weiter auf Seite 24 »<br />

WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 23<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Politik&Weltwirtschaft<br />

SACHSEN-WAHL<br />

Lieber Juniorpartner<br />

als Daueropposition<br />

Die CDU in Sachsen hofft auf eine absolute Mehrheit im Landtag. Doch<br />

die kleineren Parteien geben die Hoffnung aufs Mitregieren nicht auf.<br />

Wenn Sachsens Ministerpräsident Stanislaw<br />

Tillich (CDU) und Holger Zastrow, der<br />

Landesvorsitzende der FDP, über ihre gemeinsame<br />

Koalition sprechen, dann klingt<br />

das selbst in Wahlkampfzeiten nahezu<br />

identisch. „Es gab und gibt einen großen<br />

Unterschied zwischen der schwarz-gelben<br />

Koalition im Bund und hier“, sagt etwa der<br />

CDU-Mann. „Wir haben uns in Sachsen<br />

nicht in erster Linie mit uns selbst beschäftigt,<br />

sondern mit den Aufgaben, die<br />

zu lösen waren.“ Und Zastrow wird nicht<br />

müde darauf hinzuweisen, dass er mit der<br />

Bundes-FDP „nicht in einen Topf geschmissen“<br />

werden mag: „Im Gegensatz<br />

zur Berliner FDP haben wir unseren Koalitionsvertrag<br />

zu 100 Prozent erfüllt. Wir haben<br />

Wort gehalten.“ Entsprechend sagt<br />

Tillich mit zufriedenem Stolz, er sehe „keine<br />

Notwendigkeit“ für einen Regierungswechsel.<br />

„Die Zusammenarbeit mit der<br />

FDP war gut, ich blicke auf gute fünf Jahre<br />

für Sachsen zurück.“<br />

KOPIERTE SLOGANS<br />

Und doch ist der lobende Ministerpräsident<br />

Tillich das größte Risiko für die sächsischen<br />

Liberalen: Denn ihr bisheriger Koalitionspartner<br />

setzt voll auf die absolute<br />

Mehrheit der Mandate. Riskant ist das für<br />

die CDU nicht. Ganz offen gibt er die Parole<br />

aus: „Ich bin sehr zuversichtlich,<br />

dass wir nach der Landtagswahl eine Option<br />

für Koalitionsgespräche mit FDP,<br />

SPD und Grünen haben werden.“ Ganz<br />

nach dem Vorbild der Bundesvorsitzenden<br />

Angela Merkel kopiert Tillich die Slogans<br />

der Konkurrenz. „Für gute Arbeit“ prangt<br />

auf seinen Postern – „gute Arbeit“ hatte die<br />

SPD im Bundestagswahlkampf plakatiert.<br />

Sein großes Plus: Alle drei potenziellen<br />

Partner wären heilfroh, wenn er sie denn erwählen<br />

würde.<br />

Die Grünen-Spitzenkandidatin Antje Hermenau<br />

wartet schon lange auf ihre Chance,<br />

endlich mitzuregieren. Zwar ist sie mit diesem<br />

Kurs in den eigenen Reihen nicht mehr<br />

unumstritten, aber Juniorpartner ist besser<br />

als machtlose Daueropposition. Genauso<br />

sieht es Martin Dulig, der Vorsitzende der<br />

SPD. Für den jungenhaft wirkenden Sechsfach-Vater<br />

wäre der Posten als Vize-Regierungschef<br />

die beste, vielleicht die einzige<br />

Chance, mit Blick auf spätere Wahlen überhaupt<br />

im Land bekannt zu werden. Die Genossen<br />

sind derzeit begeistert von den Umfragen.<br />

Die verheißen, sie könnten ihr<br />

Wahlergebnis von 2009 um ein Drittel steigern.<br />

Klingt gewaltig, wäre aber eben nur<br />

ein Sprung von 10,4 auf 14 Prozent. Eine<br />

„große“ Koalition wäre Schwarz-Rot in<br />

Sachsen wahrlich nicht.<br />

Hier ist alles anders, sogar die FDP. Sie<br />

zelebriert ihren „sächsischen Weg“: konservativer,<br />

patriotischer, vor allem aber erheblich<br />

marktwirtschaftlicher als die Bundespartei<br />

und die politische Konkurrenz im<br />

Land. Als „wirtschaftsfreundlichste Regierung“<br />

Deutschlands preist Zastrow das<br />

schwarz-gelbe Bündnis. „Hier gibt es große<br />

Skepsis gegen die planwirtschaftliche<br />

Energiewende, den üblen Quotenrausch,<br />

eine staatliche Lohnfestsetzung.“ Schon<br />

bald würde in Sachsen der Fluch der Mindestlöhne<br />

spürbar werden, die Taxifahrer<br />

litten bereits darunter.<br />

Zastrow verweist mit Stolz auf die Spitzenergebnisse<br />

des Landes in Bildungsvergleichen<br />

und in der Haushaltspolitik, lobt<br />

die Investitionsquote von 18 Prozent,<br />

auch dies ein Rekord. Es komme auf die<br />

Liberalen an, denn „mit einem linken Koalitionspartner<br />

wird die CDU selber links<br />

– sieht man ja auf Bundesebene“. Und er<br />

wünscht sich die gesetzlichen Experimentierklauseln<br />

zurück, die in den ersten<br />

Nachwendejahren unbürokratischen Aufbau<br />

erlaubten. „Die Sattheit, das Wohlstandsdenken<br />

des Westens, lähmt ganz<br />

Deutschland, vor allem aber Sachsen.“<br />

FRONT GEGEN WINDRÄDER<br />

Seit Jahren streitet seine FDP in Veranstaltungen<br />

ihrer „Fortschrittsoffensive“<br />

gegen den Zeitgeist, gegen Klimawahn,<br />

Ökofimmel und Meinungsdiktate. „Ihr Auto<br />

würde uns wählen“, locken sie Staufrustrierte.<br />

Wie sonst keine Partei machte<br />

sie Front gegen Windräder, drängte den<br />

Partner CDU zu einer Bundesratsinitiative,<br />

um als Land einen Mindestabstand<br />

von Windrädern zur Wohnbebauung festlegen<br />

zu dürfen. Gerade ist der Passus<br />

mit dem EEG Gesetz geworden. Den entsprechenden<br />

Entwurf für die Umsetzung<br />

hat Wirtschafts- und Energieminister<br />

Sven Morlok (FDP) noch vorgelegt, mitten<br />

im Wahlkampf mochte die CDU den aber<br />

nicht mehr gegenzeichnen. Dafür freuen<br />

sich die Liberalen, dass nun Anti-Windkraft-Bürgerbündnisse<br />

blau-gelbe Wahlplakate<br />

aufhängen.<br />

n<br />

henning.krumrey@wiwo.de | Berlin<br />

Im Osten vorn<br />

Ostdeutsche Flächenländer im ökonomischen Vergleich<br />

Arbeitslosenquote<br />

(Juli 2014)<br />

Staatsverschuldung pro Kopf<br />

(2012)<br />

Bruttoinlandsprodukt pro Kopf<br />

(2013)<br />

Sachsen<br />

Mecklenburg-Vorpommern<br />

Brandenburg<br />

Sachsen-Anhalt<br />

Thüringen<br />

8,4 %<br />

10,4 %<br />

9,1 %<br />

10,3 %<br />

7,5 %<br />

2363 €<br />

6460 €<br />

8751 €<br />

9178 €<br />

7796 €<br />

24 226 €<br />

22 817 €<br />

23 751 €<br />

23 196 €<br />

23 168 €<br />

Quelle: BA, VGR der Länder, Haushaltssteuerung.de<br />

24 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


GLOBALER EXPERTE<br />

Lukjanow, 47, ist Chefredakteur<br />

der Moskauer<br />

Zeitschrift „Russland in der<br />

Weltpolitik“ und Präsidiumsmitglied<br />

des Russischen<br />

Rates für internationale<br />

Angelegenheiten (RIAC),<br />

einer Denkfabrik mit großem<br />

Einfluss auf den Kreml.<br />

FOTO: RIAC/YURII SERGEEV<br />

»Der Kreml kann<br />

nicht gewinnen«<br />

INTERVIEW | Fjodor Lukjanow Russlands außenpolitischer Vordenker<br />

erklärt, wie eine Lösung der Ukraine-Krise aussehen kann – und<br />

warum er sein Land weiterhin als Teil Europas ansieht.<br />

Herr Lukjanow, der Westen will Russland<br />

mit Sanktionen von der Einmischung<br />

in die Ostukraine abbringen. Warum funktioniert<br />

das nicht?<br />

Die Wirtschaftssanktionen sind zu kleinkalibrig.<br />

Und zum ersten Mal in der Geschichte<br />

will der Westen damit einen Politikwechsel<br />

in einem Land von der Größe<br />

Russlands erreichen. Eines, das auf Atomwaffen<br />

sitzt und Mitglied im Sicherheitsrat<br />

der UN ist. Vielleicht gelingt es dem Westen,<br />

Russland wirtschaftlich zu schaden.<br />

Politisch bewirken sie das Gegenteil: Die<br />

Popularität Putins steigt und steigt.<br />

Kürzlich schrieben Sie von einer neuen<br />

„Perestroika“ in der russischen Außenpolitik<br />

unter Präsident Wladimir Putin.<br />

Was meinen Sie damit?<br />

Viele Jahre hielt es Moskau für sinnvoll, sich<br />

den Regeln des Westens unterzuordnen –<br />

vorwiegend aus ökonomischen Gründen.<br />

Mit der Krim-Annexion hat Putin gezeigt,<br />

dass Russland entschiedener eigene Interessen<br />

vertritt. Im Zweifel auch gegen Verträge,<br />

die man in Russland als einseitige Regelsetzung<br />

des Westens sieht...<br />

...aber diesen Regeln hat Russland selbst<br />

zugestimmt. Etwa in Verträgen wie<br />

dem Budapester Memorandum, das die<br />

Ukraine zur Abgabe ihrer Atomwaffen<br />

verpflichtete und Russland zur Achtung<br />

der postsowjetischen Grenzen.<br />

Das Budapester Memorandum war eine<br />

Absichtserklärung, kein international bindender<br />

Vertrag, und wurde nie ratifiziert.<br />

Das Hauptziel der USA war damals nicht die<br />

territoriale Integrität der Ukraine, vielmehr<br />

wollte man den Abzug der Atomwaffen<br />

erreichen. Insofern hat niemand ernsthaft<br />

auf dessen Gültigkeit gesetzt. Erst als die<br />

Ukraine unter dem Präsidenten Viktor<br />

Juschtschenko der Nato ernsthaft beitreten<br />

wollte, kam Moskau auf dieses Memorandum<br />

zurück – als sicherheitspolitische<br />

Grundlage anstelle des Nato-Beitritts. Nur<br />

haben weder Kiew noch Washington damals<br />

das Abkommen ernst genommen.<br />

Und was Russland betrifft, so wurden Hoffnungen<br />

enttäuscht, als die Nato entgegen<br />

mündlicher Versprechen bis an die Grenzen<br />

Russlands erweitert wurde. Heute sieht man<br />

im Kreml einen Nato-Beitritt der Ukraine als<br />

existenzielle Bedrohung an. Auf der Krim<br />

geht es darum, russische Interessen und internationale<br />

Regeln neu auszutarieren. Das<br />

war ein riskantes, aber realpolitisch nachvollziehbares<br />

Manöver zur Verbesserung<br />

des Status Russlands in der Weltpolitik. Mit<br />

dem Krieg in der Ostukraine gerät diese<br />

Nachbarschaftspolitik aber außer Kontrolle:<br />

Russland ist da in einen Konflikt geraten,<br />

den der Kreml nicht gewinnen kann.<br />

Ist dem Kreml die Kontrolle über die<br />

Separatisten in der Ukraine entglitten?<br />

Es gibt einen gewissen politischen Einfluss,<br />

aber keine absolute Steuerung. Es ist<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 25<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Politik&Weltwirtschaft<br />

»<br />

ropa und die Ukraine Einfluss zu nehmen.<br />

Dass das im großen Stil funktioniert und<br />

die USA den Krieg vorantreiben, sehe ich<br />

im Moment noch nicht.<br />

Wird Russland jetzt immer wieder Regeln<br />

der internationalen Politik ignorieren?<br />

Nein, das glaube ich nicht. Die Russen sind<br />

einfach selbstbewusster. Im Kreml weiß<br />

man aber sehr genau, was die Weltgemeinschaft<br />

von Russland erwartet. Und die Kosten<br />

infolge der Krim- und Ukraine-Politik<br />

sind überaus groß, weshalb der Kreml künftig<br />

vorm Kräftemessen zurückschreckt.<br />

Sollten die Ukraine-Krise und die Sanktionspolitik<br />

aber zu einer neuen Block-Kon-<br />

„Deutschland muss vermitteln“<br />

Präsident Putin, Bundeskanzlerin Merkel<br />

»Die Russen sind<br />

einfach selbstbewusster<br />

geworden«<br />

auch eine Illusion, zu glauben, der Osten<br />

der Ukraine wäre sofort stabil, wenn<br />

sich Russland heraushalten würde. Es gab<br />

dort schon vorher alle Vorzeichen für einen<br />

sozialpolitischen Konflikt. Jetzt sehen wir<br />

einen Bürgerkrieg, den die russische Einflussnahme<br />

schlimmer macht. Aber getragen<br />

wird er vor allem von lokalen Kräften.<br />

Wird es dabei bleiben?<br />

Aus meiner Sicht wird es keinen Einmarsch<br />

russischer Truppen geben. Im Gegenteil,<br />

Moskau ist bereit, den Konflikt zu<br />

beenden. Aber das ist nicht so einfach: Es<br />

würde ja zu Hause aussehen, als ließe Putin<br />

die Freiheitskämpfer im Stich. Das wäre<br />

politisch ein Fiasko.<br />

Wie ließe sich der Konflikt denn lösen?<br />

Wir brauchen ein Paket an Abkommen<br />

zwischen der Ukraine, Russland und Europa.<br />

Erstens muss eine politische Lösung<br />

her, wie die Menschen im Osten innerhalb<br />

der Ukraine zivilisiert zusammenleben<br />

können. Das dürfte gewisse Autonomierechte<br />

erfordern. Zweitens muss ein Gas-<br />

Vertrag her – mit vernünftigen Preisen, realistischen<br />

Mengen und Transitvereinbarungen<br />

für Europa. Drittens muss die<br />

Blockfreiheit der Ukraine auf den Tisch.<br />

Viertens benötigt die Ukraine ein Programm,<br />

wie das Land ökonomisch zwischen<br />

Russland und Europa überleben<br />

kann. Alles, was in diesem Paket drin ist,<br />

wäre einzeln nur schwer zu erreichen. Aber<br />

zusammen könnte das gelingen.<br />

EU-Länder wie Polen und die Balten<br />

fürchten sich vor einer Einigung Berlins mit<br />

Moskau gegen den Willen der Ukrainer.<br />

Glauben Sie, eine zerstrittene EU wäre zum<br />

Kompromiss mit Russland fähig?<br />

Dann wird sich die EU eben zusammenreißen<br />

müssen! Eine einheitliche Einstellung<br />

wird es in Europa kaum geben. Die Menschen<br />

im Baltikum werden in Russland immer<br />

den schrecklichen Aggressor sehen.<br />

Darum müssen Länder wie Deutschland<br />

vorangehen und vermitteln. Die Alternative<br />

ist, dass der Krieg in der Ostukraine bis<br />

zur völligen Selbstzerstörung weitergeht.<br />

Was könnte Washington beitragen – oder<br />

sollten die USA sich heraushalten und auf<br />

den Irak konzentrieren?<br />

In Russland wird der Einfluss der Amerikaner<br />

auf die Ukraine systematisch überschätzt.<br />

Die USA sind weit weg, die Folgen<br />

des Konflikts treffen die Europäer. Für die<br />

USA geht es nicht um die Ukraine, sondern<br />

um Russland. Der Kreml ist aus Sicht der<br />

Amerikaner wieder zu einem Problem geworden,<br />

das man mit aller Härte anpacken<br />

will. In diesem Sinn versucht man, auf Eufrontation<br />

wie zu Zeiten des Kalten Kriegs<br />

führen, bliebe der russischen Führung<br />

nichts anderes übrig als die Suche nach<br />

neuen Partnern. Es gibt in der Welt mehr als<br />

genug Staaten, die die Weltordnung für ungerecht<br />

halten. Nur will keiner einen Widerstand<br />

gegen die Dominanz der Amerikaner<br />

in der Weltpolitik anführen. Diese Rolle<br />

könnte Russland übernehmen.<br />

Mit China will Putin die wirtschaftliche<br />

Zusammenarbeit massiv ausbauen.<br />

Entsteht da ein politischer Block gegen<br />

den Westen?<br />

Das ist kein Automatismus, aber eine Option.<br />

In Peking wird die politische Kooperation<br />

mit Moskau derzeit intensiv geprüft.<br />

Umgekehrt birgt dies für Russland aber<br />

enorme Risiken, da China größer und wirtschaftlich<br />

stärker ist.<br />

Stört es die Russen überhaupt nicht, dass<br />

sich ihr Land immer weiter <strong>vom</strong> Westen<br />

entfernt – und Asien zuwendet, einem<br />

völlig fremden Kulturraum?<br />

Ein großer Teil der russischen Gesellschaft<br />

verfolgt die Außenpolitik von Putin mit Enthusiasmus.<br />

Heute steht auch ein großer<br />

Teil jener urbanen Mittelschicht hinter Putin,<br />

die vor drei Jahren noch gegen ihn auf<br />

die Straße gegangen ist – darunter das gesamte<br />

linke und rechte Lager. Nur die Liberalen<br />

kritisieren die Politik, aber die spielen<br />

in Russland nur eine marginale Rolle.<br />

Ist Russland noch ein Teil Europas?<br />

Ich glaube nicht daran, dass Russland<br />

ernsthaft und auf Dauer in der Lage ist,<br />

sich <strong>vom</strong> Westen zu distanzieren. Schon<br />

wegen der intensiven ökonomischen Beziehungen.<br />

Optimal wäre es, wenn Russland<br />

diesen Unsinn zwar beendet – sich<br />

dabei aber innerhalb der westlichen Zivilisation<br />

die Eigenständigkeit bewahrt. So<br />

wie Brasilien: Die leugnen auch nicht ihre<br />

europäischen Wurzeln, leben aber in ihrer<br />

eigenen Welt.<br />

Was kann Europa tun, damit sich<br />

Russland uns wieder stärker annähert?<br />

Nichts. Denn genau das ist der Fehler. Der<br />

Westen sollte aufhören, Russland sein Wertemodell<br />

aufzuoktroyieren. Das westliche<br />

Demokratiemodell ist in Russland im Chaos<br />

der Neunzigerjahre gescheitert. Und<br />

zwar auch deshalb, weil viele hier geglaubt<br />

haben, dass Russland genauso werden<br />

muss wie Europa. Das wurde nichts, daran<br />

sind wir ebenso schuld wie der Westen. Wir<br />

sollten aufhören, uns Russland als ein riesiges<br />

Polen vorzustellen, das einfach nur<br />

viel länger braucht, bis es so demokratisch<br />

wird wie der Rest Europas. Europäische<br />

Werte sind doch auch kein Gesetzeswerk,<br />

einmal beschlossen und für immer gültig.<br />

Als Russland vor fast 20 Jahren dem Europarat<br />

beitrat, waren Rechte sexueller Minderheiten<br />

nicht so entscheidend wie heute.<br />

Die Europäer sollten nüchtern auf Russland<br />

blicken als ein Land, das der europäischen<br />

Kultur zwar nahesteht, aber es ist<br />

nicht Teil eines Werteraums, wie ihn die EU<br />

anstrebt.<br />

Und Putin ist ein lupenreiner Europäer?<br />

Auf jeden Fall ist Putin ein Europäer. Wie<br />

lupenrein er ist, das hängt wieder von der<br />

Sichtweise ab. Er steht dem europäischen<br />

Westen näher als Asien – allerdings einem<br />

Europa, so wie es vor einigen Jahrzehnten<br />

aussah. Ich glaube, er hätte sich großartig<br />

mit Bismarck, Churchill oder de Gaulle verstanden.<br />

Das waren Interessenpolitiker,<br />

keine Werte-Missionare wie die heutigen<br />

europäischen Politiker.<br />

n<br />

florian.willershausen@wiwo.de | Berlin<br />

FOTO: CORBIS IMAGES/ BELGA PHOTO<br />

26 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


FOTO: BLOOMBERG NEWS/BRENT LEWIN<br />

Der Luft zuliebe<br />

CHINA | Die Regierung will den Verkauf von Elektroautos fördern.<br />

Mit gutem Beispiel voran, lautet das<br />

Motto der chinesischen Regierung.<br />

Die hat sich vorgenommen,<br />

die Elektromobilität im Land zu fördern.<br />

Schon 2016 sollen 30 Prozent aller Dienstwagen<br />

der Kommunistischen Partei mit<br />

Strom angetrieben werden. Bei bisher mindestens<br />

500 000 neuen Dienstwagen pro<br />

Jahr ist das eine beachtliche Anzahl.<br />

2020 sollen laut aktuellem Fünfjahresplan<br />

fünf Millionen Elektroautos auf Chinas<br />

Straßen fahren. Ambitionierte Ziele<br />

braucht das Land, denn Chinas Städte ersticken<br />

im Smog. Die Luftverschmutzung<br />

führt zunehmend zu sozialen Unruhen.<br />

BEGEHRTE NUMMERNSCHILDER<br />

22 Millionen Fahrzeuge wurden 2013 in<br />

China verkauft. Das Auto ist für die meisten<br />

Chinesen nach wie vor das Statussymbol<br />

Nummer eins, auch wenn die wenigsten es<br />

in den dicht besiedelten Städten wirklich<br />

zur Fortbewegung nutzen können. Seit Jahren<br />

schon bezuschusst die Regierung den<br />

Kauf von Elektroautos. 50 000 Yuan, umgerechnet<br />

rund 6000 Euro, erhalten die Käufer<br />

eines E-Mobils rückerstattet. Auch eines der<br />

begehrten Nummernschilder erhalten sie<br />

sofort – wer dagegen einen Benziner kauft,<br />

muss an einer Lotterie teilnehmen und darauf<br />

hoffen, dass das Los ihm eine Zulassung<br />

beschert.<br />

Manchmal leicht entflammbar<br />

Chinesisches Elektroauto von BYD<br />

Experten sind trotzdem skeptisch, ob<br />

China das selbst gesteckte Ziel erreichen<br />

kann. Gerade einmal 17 000 E-Mobile wurden<br />

im vergangenen Jahr in China verkauft.<br />

70 000 dürften insgesamt auf Chinas<br />

Straßen unterwegs sein. Ein großes Manko<br />

der Elektroautos ist die geringe Reichweite.<br />

Die meisten Modelle schaffen es gerade<br />

mal 160 Kilometer weit. Ladestationen gibt<br />

es zu wenige. „Wer Licht, Radio und Klimaanlage<br />

laufen lässt und im Stau steht,<br />

könnte schnell ins Schwitzen kommen“,<br />

sagt Jochen Siebert von der Unternehmensberatung<br />

JSC in Shanghai.<br />

Zudem verschreckte der Hersteller BYD<br />

vor zwei Jahren viele potenzielle Käufer, als<br />

die Batterie eines Elektroautos in Flammen<br />

aufging. Die Insassen starben. Hoffnungen<br />

ruhen auf dem Denza, ein von Daimler<br />

und BYD entwickeltes Elektrofahrzeug, das<br />

dieses Jahr auf dem Markt kommen soll.<br />

Das Modell der kalifornischen Firma Tesla<br />

bringt es zwar auf 400 Kilometer Reichweite,<br />

ist aber mit rund einer Million Yuan<br />

(125 000 Euro) für die allermeisten Chinesen<br />

nicht erschwinglich. Hinzu kommen<br />

andere Probleme: Jedes Jahr gehen in China<br />

Gebäude in Flammen auf, weil Fahrer<br />

von Elektro-Bikes ihre Batterien in Häusern<br />

mit veralteter Elektrik aufladen. Das<br />

Problem dürfte sich mit Elektroautos nochmals<br />

verschärfen. Darüber hinaus fehlt ein<br />

gemeinsamer Standard für die Stecker:<br />

„Wer ein Elektroauto in Peking kauft, kann<br />

es vielleicht in Shanghai gar nicht aufladen“,<br />

sagt Siebert.<br />

DRECKIGER STROM<br />

Und um das Problem der Luftverschmutzung<br />

zu lösen, sind Elektroautos ohnehin<br />

nur bedingt hilfreich: Rund 70 Prozent von<br />

Chinas Energie kommt aus teils veralteten<br />

Kohlekraftwerken. Die aber sind der<br />

Hauptverursacher des Smogs in Chinas<br />

Städten. Saubere Autos, die mit dreckigen<br />

Strom betrieben werden, können das Luftverschmutzungsproblem<br />

nicht lösen.<br />

Und gegen den Stau helfen nur weniger<br />

Autos. Da lässt eine andere Ankündigung<br />

der Regierung hoffen: Ab sofort soll es<br />

Dienstwagen nur noch für Parteikader ab<br />

dem Rang eines Vize-Ministers geben. Alle<br />

anderen Parteifunktionäre erhalten Gutscheine,<br />

um mit Taxi, Straßenbahn oder<br />

Bus zur Arbeit zu kommen. Wenn das mal<br />

kein Fortschritt ist!<br />

n<br />

philipp.mattheis@wiwo.de | Shanghai<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Politik&Weltwirtschaft<br />

Deutsche Soldaten in den Irak?<br />

VERANTWORTUNG | Das Für und Wider eines bewaffneten Einsatzes zum Schutz religiöser<br />

Minderheiten vor dem Massenmord durch islamische Fundamentalisten diskutieren die<br />

WirtschaftsWoche-Redakteure Hans Jakob Ginsburg und Andreas Wildhagen.<br />

Schaurig ist der sogenannte Islamische<br />

Staat, der im Irak und in Syrien morden,<br />

vergewaltigen und plündern lässt. Die letzten<br />

Spuren von Ordnung verschwinden in<br />

einer Region, von der – das muss gesagt<br />

werden – die Energieversorgung der Welt<br />

immer noch abhängt. Der Kalifatstaat<br />

kennt keine Grenzen, nicht nur im Nahen<br />

Osten: Dschihad-Touristen aus Europa lassen<br />

sich dort zu Mördern ausbilden, Rückflugtickets<br />

und Anschlagspläne gibt es offenbar<br />

schon. Al-Qaida war gestern, die<br />

Bedrohung Europas durch Gefolgsleute<br />

des Kalifen Ibrahim ist noch unheimlicher.<br />

In aller Öffentlichkeit, protokolliert auch in<br />

sozialen Medien, hat der Massenmord an<br />

religiösen Minderheiten begonnen.<br />

Die Welt muss handeln, aus Mitmenschlichkeit<br />

und im eigenen Interesse. Das ist<br />

Pro<br />

Hans Jakob<br />

Ginsburg<br />

Kein moralisches<br />

Problem: Warum<br />

Deutschland die<br />

Bundeswehr in den<br />

Nordirak schicken<br />

muss<br />

kein Ukraine-Konflikt, wo Wirtschaftssanktionen das ultimative<br />

Instrument bleiben werden, keine geografisch begrenzte Angelegenheit<br />

wie der Kosovo-Konflikt vor anderthalb Jahrzehnten, das<br />

lässt sich auch nicht an den großen Immer-noch-Verbündeten in<br />

Washington delegieren.<br />

Gewiss, Amerika lässt seine Drohnen im Nordirak los und versorgt<br />

die Kurden mit Waffen. Alles aber halbherzig – Präsident<br />

Barack Obama versucht, seine Soldaten aus nahöstlichen Verwicklungen,<br />

so weit es geht, herauszuhalten. Das ökonomische und<br />

geostrategische Interesse der USA gilt jetzt Ostasien. Der Nahe Osten<br />

ist das Spielfeld der Europäer, auch wenn wir keine Lust haben,<br />

anzutreten. Und Europa – das heißt in vorderster Linie Deutschland.<br />

KEINE WAFFENEXPORTE FREI HAUS<br />

Also deutsche Waffen für die Kurdenarmee der Peschmerga? Westliche<br />

Rüstungsexporte in den Orient haben kaum je ihr Ziel erreicht:<br />

Bestenfalls konnten die Empfänger wenig damit anfangen,<br />

siehe Afghanistan, und immer wieder geriet das Material in ganz<br />

falsche Hände. Die Banden des Kalifen, schlimmstes Beispiel, sind<br />

vor allem darum so bedrohlich, weil sie die Arsenale ihrer von den<br />

USA ausgerüsteten Feinde geplündert haben. Und sollten die Peschmerga<br />

tatsächlich den bösen Feind dank westlicher Waffen<br />

schlagen, könnten sie das Kriegsmaterial anschließend in den<br />

Nachbarstaaten ausprobieren: Immerhin werden im Iran und in<br />

der Türkei Millionen Kurden diskriminiert. Waffenexporte frei<br />

Haus der Kurdenregierung in Arbil können es also nicht sein.<br />

Wenn Deutschland den Kampf gegen den Kalifatstaat mittragen<br />

will, führt darum nichts an der Entsendung von Soldaten vorbei.<br />

Das wird kein Spaß, das kann frustrierend und schlimm enden wie<br />

in Afghanistan, und ohne politischen und wirtschaftlichen Flankenschutz<br />

wäre das sogar wahrscheinlich. Aber was sonst soll die<br />

Rede von deutscher Verantwortung sonst noch bedeuten?<br />

Contra<br />

Andreas<br />

Wildhagen<br />

Kein Fall für<br />

deutsche Soldaten.<br />

Warum es keinen<br />

Grund gibt für<br />

ein militärisches<br />

Abenteuer<br />

Deutschland muss „Verantwortung übernehmen“.<br />

Bundeswehr an die nordirakische<br />

Front! Die bellizistische Forderung<br />

meines Kollegen Hans Jakob Ginsburg<br />

reiht sich ein in einen Chor von Appellen,<br />

die seit einigen Wochen eisern dazu auffordern,<br />

die Bundesrepublik müsse endlich<br />

weltpolitisches Format zeigen und<br />

sich aus der moralischen Schockstarre der<br />

Nachkriegszeit emanzipieren.<br />

Kriegerische Worte und ein gewisser<br />

Stolz, sich einzureihen in die Phalanx, der<br />

„Genug ist genug“-Menschen, die mit dem<br />

Finger am Abzug gegen Völkermord und<br />

Vergewaltigungen zu Felde ziehen wollen,<br />

gehören mittlerweile zum Grundrauschen<br />

in den Boulevardblättern und des öffentlich-rechtlichen<br />

Fernsehens. Dabei dient<br />

der Hinweis auf die deutsche Geschichte<br />

in unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Weise. Mal zur Warnung<br />

vor Kampfeinsätzen, mal zur Begründung derselben, um gegen<br />

Abscheulichkeiten in jedem Winkel der Welt zu Felde zu ziehen.<br />

Man kann dieses Argument also wegen seiner Beliebigkeit getrost<br />

weglassen und sollte es auch tun. Die aggressive Rhetorik, die vor<br />

Wochen mit der Krim-Krise begann, hat heute infolge der Verfolgung<br />

der Jesiden im Irak und des Isis-Terrors seinen aktuellen vorläufigen<br />

Höhepunkt gefunden.<br />

WAS IST DAS BÖSE?<br />

Verhandeln und Reden ist mittlerweile bei vielen Politikern verpönt.<br />

Viele Journalisten treiben das politische Berlin vor sich her.<br />

Es fing alles noch harmlos an, als Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel<br />

den Siemens-Chef Joe Kaeser attackierte, weil dieser im März<br />

den russischen Präsidenten Wladimir Putin in seiner Residenz besucht<br />

hat. Kaeser gehöre zu den „Krämerseelen“, wetterte Gabriel,<br />

Kaeser sei Materielles wichtiger als Menschenrechte. Wirtschaftspolitik<br />

mit Russland ist für Gabriel nur noch Sanktionspolitik.<br />

Fatal ist, dass die Front zwischen Feinden, Geldgebern im Hintergrund<br />

und Terroristen fließend ist. Das „Böse“ müsse bekämpft<br />

werden, forderte Ex-Außenminister Joschka Fischer kürzlich. Das<br />

„Böse“ ist aber gar nicht so böse, wenn es sich wie ein megareicher<br />

Scheich in Katar mit fünf Prozent an der Deutschen Bank beteiligt<br />

und dafür acht Milliarden Euro hinblättert. Aus Katar heraus finanzieren<br />

die Scheichs auch den Gaza-Streifen in inniger islamistischer<br />

Solidarität und unterstützen Isis-Kämpfer. Die Königshaus-Diktatur<br />

Saudi-Arabien, Handelspartner der USA und Deutschlands, ist<br />

ein Regime, das Ungläubige und Christen unterdrückt und den Terror<br />

in anderen Teil der Region finanziert. Solange niemand weiß,<br />

wo Freund und wo Feind stehen, solange der Nutzen eines möglichen<br />

Sieges über das aktuell Böse nicht klar ist, darf kein deutscher<br />

Soldat auch nur einen Schuss in den Krisenregionen abfeuern.<br />

FOTOS: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

28 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


FOTOS: CHRISTOPHER WOODS, WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, PHOTOTHEK/UTE GRABOWSKY<br />

LONDON | Großbritannien<br />

ist<br />

ein Pionier der<br />

Fortpflanzungsmedizin.<br />

Von<br />

Yvonne Esterházy<br />

Hallo,<br />

Designer-Baby?<br />

Das britische Unterhaus<br />

macht Pause, vor dem<br />

Parlament drängeln sich<br />

nur die Touristen. Ideale<br />

Zeiten, um heikle Pläne<br />

anzukündigen. So erfahren<br />

wir en passant, die Regierung wolle<br />

einen Gesetzentwurf einbringen, der erstmals<br />

den Weg für die Kreation eines Kindes<br />

mit drei biologischen Eltern – zwei<br />

Müttern und einem Vater – ebnen würde.<br />

Unheilbare Erbkrankheiten können verhindert<br />

werden, wenn man aus der unbefruchteten<br />

Eizelle einer Frau mit beschädigten<br />

Mitochondrien – dem Kraftwerk<br />

der Zelle – den Kern herauslöst und diesen<br />

in die entkernte Hülle einer gesunden<br />

Spender-Eizelle einsetzt.<br />

Kritiker warnen, das sei der erste<br />

Schritt zur Kreation von Designer-Babys.<br />

„Künftig könnte ein Gen durch ein anderes<br />

ersetzt werden, nur damit das Kind<br />

blonde Haare oder blaue Augen bekommt“,<br />

warnt die Tory-Politikerin Fiona<br />

Bruce. Doch da ist auch Sharon Bernardi,<br />

deren sieben Kinder an einer Erbkrankheit<br />

starben.<br />

Ethische Dilemma um die Fortpflanzungsmedizin<br />

sind den Briten nicht neu:<br />

Vor 18 Jahren wurde in Schottland als<br />

erstes geklontes Säugetier das Schaf Dolly<br />

geboren – was war das für eine Aufregung!<br />

Die Debatte um die Kreation künstlicher<br />

Menschen verlief ähnlich wie<br />

heute. Schon 1978 kam Louise Joy<br />

Brown, das erste Retortenbaby, in Großbritannien<br />

auf die Welt. Gegen die künstliche<br />

Befruchtung im Reagenzglas liefen<br />

damals viele Sturm. Heute ist sie schon<br />

(fast) Routine. In den nächsten Wochen<br />

eröffnet in der Londoner City die größte<br />

IVF-Klinik Europas.<br />

Yvonne Esterházy ist London-Korrespondentin<br />

der WirtschaftsWoche.<br />

BERLIN INTERN | Reisen bildet – nicht nur<br />

den Reisenden, sondern auch das Ansehen.<br />

Von Henning Krumrey<br />

Erst Kuh, dann Kühlturm<br />

Wo Killen Freude macht Ministerin<br />

Hendricks im Wunderland Kalkar<br />

Sommerzeit ist Reisezeit – ganz<br />

besonders für politische Amtsträger.<br />

In den Parlamentsferien machen<br />

sich die Minister mit Journalisten<br />

im Schlepptau auf, das Land zu<br />

erkunden, das sie regieren. Politikern auf<br />

Tour geht es vor allem um die drei „B“:<br />

Botschaft, Bilder und Bekanntheit.<br />

Für Barbara Hendricks (SPD) haben ihre<br />

Fachleute ein Kaleidoskop aller Haus-Themen<br />

zusammengestellt. Die Klimaschutzministerin<br />

lässt sich auf dem Versuchsgut<br />

Haus Riswick in ihrer Heimatstadt Kleve erklären,<br />

wie die Milchviehhaltung weniger<br />

Treibhausgas freisetzt. Erstes Ergebnis: Die<br />

Gestaltung des Stalles hat nur geringen Einfluss,<br />

auch wenn die Gülle nur selten „aufgerührt“<br />

werden sollte, wie die Fachleute<br />

sagen. (Journalisten sind es dagegen gewöhnt,<br />

Mist aufzurühren.) 80 Prozent der<br />

Umweltbelastung sind „unvermeidbare<br />

Methanbildung im Tierpansen“, erläutert<br />

Wolfgang Büscher, Professor an der Universität<br />

Bonn. Und da sich am Hinterteil der<br />

Rindviecher kein Kuhtalysator zur Abgasreinigung<br />

befestigen lässt, bleibt nur die klimafreundliche<br />

Optimierung des Futters.<br />

Gibt’s Akazientannine mit in den Trog, entweicht<br />

weniger Methan dem Darm. Die Versuche<br />

laufen noch. In einer Kläranlage lernt<br />

die SPD-Frau alles über „Pfropfenströmung“<br />

und „maschinelle Überschussschlammeindickung“.<br />

Die Ministerin für Reaktorsicherheit Hendricks<br />

führt die Journalisten ins Wunderland<br />

Kalkar. An der Stelle des Schnellen<br />

Brüters floriert nun ein Freizeitpark. Der<br />

Geschäftsführer nötigt sie zur Fahrt im Kettenkarussell<br />

im Innern des ehemaligen<br />

Kühlturms, das die Ministerin bei voller<br />

Fahrt oben über den Rand und damit auch<br />

über die atomare Vergangenheit hinausschauen<br />

lässt. „Dieses Kernkraftwerk ist<br />

wieder und wieder und wieder geprüft<br />

worden, bis der Betreiber die Lust verloren<br />

hat“, freut sich Hendricks noch heute über<br />

die Killerstrategie der Landesregierung –<br />

„als die Grünen noch nicht beteiligt waren,<br />

also rein sozialdemokratisch“. Klaus<br />

Hamann, einst Mitarbeiter der Betriebsmannschaft<br />

und heute Historienerklärer im<br />

Freizeitpark, amüsiert das nicht. „Wir legen<br />

unsere schönsten Anlagen still, und drumherum<br />

geht es weiter“, schimpft er mit<br />

Hendricks. „Gut überlegt war das nicht.“<br />

Die Bauministerin Hendricks schließlich<br />

präsentiert in der Innovation City Bottrop<br />

den Umbau von herkömmlichen Sozialwohnungen<br />

zu Energieplus-Bleiben, die mehr<br />

Energie produzieren, als sie verbrauchen.<br />

Und appelliert an private Investoren: „Sozialwohnungsbau<br />

ist für die ganz normale Mitte<br />

der Gesellschaft.“ Abends erweist sie sich als<br />

versierte und amüsante Stadtführerin, der<br />

Abend endet in ihrer Klever Stammkneipe.<br />

Besondere polit-touristische Zuwendung<br />

genießen in diesen Wochen die ostdeutschen<br />

Bundesländer. Hendricks war da vorvergangene<br />

Woche, etliche Kollegen folgten.<br />

Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel<br />

tummelte sich erst privat auf Usedom, dann<br />

bereiste er Brandenburg, Sachsen und<br />

Thüringen. War da was? Ach ja: Am kommenden<br />

Sonntag wählen die Sachsen einen<br />

neuen Landtag, zwei Wochen später sind<br />

Brandenburger und Thüringer dran.<br />

Da kann es schon mal Zufälle geben. Als<br />

Gabriel im High-Tech-Standort Jena Ergebnisse<br />

der Batterieforschung bestaunt, erscheint<br />

dazu nicht Wissenschaftsminister<br />

Christoph Matschie (SPD), sondern Sozialministerin<br />

Heike Taubert. Die ist zwar nicht<br />

zuständig, dafür aber Spitzenkandidatin<br />

der Genossen. Da bleiben von den drei „B“<br />

immerhin zwei: Eine Botschaft hat sie nicht,<br />

aber der Besuch der Berliner Prominenz<br />

reicht für Bilder und Bekanntheit allemal.<br />

WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 29<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Der Volkswirt<br />

KOMMENTAR | Der Aufschwung<br />

am Arbeitsmarkt täuscht über<br />

tiefere Probleme der USA hinweg.<br />

Von Angela Hennersdorf<br />

Tief gespalten<br />

Weil sie nicht mehr<br />

wusste, wie sie<br />

sich und ihren<br />

16-jährigen Sohn<br />

ernähren sollte, eröffnete eine<br />

Amerikanerin in den Südstaaten<br />

der USA ein Bordell im Keller ihres<br />

Wohnhauses. Hinter der Bar<br />

schenkte der Sohnemann<br />

Schnaps aus. Der Vorfall fand<br />

wohl nur deshalb den Weg an<br />

die Öffentlichkeit, weil er in Ferguson<br />

passierte. Der Vorort von<br />

St. Louis im US-Bundesstaat<br />

Missouri befindet sich seit den<br />

tödlichen Schüssen eines<br />

Polizisten auf einen schwarzen<br />

Jugendlichen im Ausnahmezustand,<br />

Demonstranten zogen<br />

plündernd durch die Straßen.<br />

Was diese mit der geschäftstüchtigen<br />

Mutter vereint: Vom<br />

moderaten konjunkturellen Aufschwung<br />

in den USA merken die<br />

meisten nichts. Kleinstädte wie<br />

St. Louis, früher einmal Eisenbahnknotenpunkt<br />

und Enklave<br />

deutscher Einwanderer, heute<br />

eine der gefährlichsten Städte in<br />

den USA, stagnieren. Die Arbeitslosigkeit<br />

liegt mit sieben<br />

Prozent über dem nationalen<br />

Durchschnitt. Die Erwerbslosenquote<br />

der überwiegend schwarzen<br />

Bevölkerung dort liegt bei<br />

mehr als zehn Prozent.<br />

GRUND ZUR VORSICHT<br />

US-Notenbank-Chefin Janet<br />

Yellen hat deshalb allen Grund,<br />

vorsichtig zu sein bei der Einschätzung<br />

der tatsächlichen<br />

Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt.<br />

Sicher, insgesamt sinken<br />

die Arbeitslosenzahlen in den<br />

USA. Derzeit liegt die durchschnittliche<br />

Erwerbslosenquote<br />

bei 6,2 Prozent. Doch die nackte<br />

Quote täuscht über schwerwiegende<br />

Probleme hinweg: Trotz<br />

sinkender Arbeitslosenzahlen<br />

und moderater Erholung steigen<br />

die mittleren Einkommen kaum.<br />

Dazu kommt: Der Anteil der<br />

Langzeitarbeitslosen liegt bei<br />

konstant 34 Prozent. Wer länger<br />

als 27 Wochen keinen Job hat,<br />

gilt in den USA als langzeitarbeitslos<br />

und bekommt danach<br />

kein Arbeitslosengeld mehr. Wer<br />

sich dann nicht aktiv um einen<br />

Job bemüht, fällt aus der Statistik<br />

raus. Hartz IV wie bei uns gibt es<br />

nicht. Auch die Zahl der Amerikaner<br />

die nur deshalb Teilzeit jobben,<br />

weil sie keine Vollzeitarbeit<br />

finden, ist unverändert hoch. Im<br />

Juli hatten 7,5 Millionen Amerikaner<br />

nur – meist schlecht bezahlte<br />

– Teilzeitjobs.<br />

Das stellt Yellen vor ein Dilemma:<br />

Einerseits bewegt sich die<br />

Zahl der gemessenen Arbeitslosen<br />

in Richtung der inflationsneutralen<br />

Arbeitslosenquote.Die<br />

Inflation liegt derzeit bei der von<br />

der Fed angepeilten Zielmarke<br />

von zwei Prozent.Nach allen Regeln<br />

der geldpolitischen Kunst<br />

müsste Yellen die Niedrigzinsphase<br />

beenden und die Leitzinsen erhöhen<br />

– obwohl die tatsächliche<br />

Lage auf dem Arbeitsmarkt nicht<br />

wirklich besser geworden ist.<br />

Doch Yellen tickt nicht nach<br />

Regeln. Sie macht ihren weiteren<br />

geldpolitischen Kurs daran fest,<br />

wie ausgelastet der Arbeitsmarkt<br />

tatsächlich ist. Aus ihrer Sicht ist<br />

das nur konsequent. Yellen bleibt<br />

damit dem doppelten Mandat der<br />

Fed treu, nicht nur für Preisstabilität,<br />

sondern auch für eine Erholung<br />

am Arbeitsmarkt zu sorgen.<br />

Vor diesem Hintergrund verhallen<br />

die immer lauter werdenden Rufe<br />

nach einer baldigen Zinserhöhung.<br />

Die Frage ist nur, wie sie<br />

das Übel der strukturellen Probleme<br />

am Arbeitsmarkt mit geldpolitischen<br />

Mitteln an der Wurzel<br />

packen will.<br />

NEW ECONOMICS<br />

Der Unternehmer-Staat<br />

Mariana Mazzucato dekonstruiert in einem neuen<br />

Buch den Mythos von genialen Garagen-Erfindern und<br />

fordert eine technologisch aktivere Rolle der Politik.<br />

Mariana<br />

Mazzucato,<br />

Das Kapital<br />

des Staates (The<br />

Entrepeneurial<br />

State). Kunstmann,<br />

22,95 Euro<br />

Es gibt einen Satz von Milton<br />

Friedman aus dem Jahre 1962,<br />

der Furore gemacht hat: „Die<br />

großen Fortschritte der Zivilisation...<br />

sind nie <strong>vom</strong> Staat ausgegangen.“<br />

Es ist ein Satz, der die<br />

Herrschaft einer Ideologie vorwegnahm,<br />

deren Anhänger<br />

bis heute behaupten, der Staat<br />

sei sklerotisch, die Politik phlegmatisch<br />

und der Beamte fantasiearm<br />

– die Privatwirtschaft<br />

hingegen risikofreudig, das Unternehmertum<br />

dynamisch,<br />

der Entrepeneur visionär.<br />

Die Ökonomin Mariana Mazzucato<br />

kommt zu dem Schluss,<br />

dass diese Annahmen nicht nur<br />

falsch, sondern auch buchstäblich<br />

kontraproduktiv seien –<br />

und man muss sagen, dass ihr<br />

mit „The Entrepeneurial State“,<br />

soeben auf Deutsch erschienen,<br />

ein beeindruckendes Buch<br />

gelungen ist. Mazzucato dekonstruiert<br />

den Mythos von genialen<br />

Garagen-Erfindern, würdigt<br />

die Kraftentfaltung öffentlich finanzierter<br />

Grundlagenforschung<br />

und demonstriert mit<br />

zahlreichen Beispielen aus Big<br />

Pharma (Medikamente) bis Big<br />

Data (Internet, Green Energy),<br />

dass allein der Staat fähig und<br />

bereit ist, das (höhere) Risiko<br />

von Anschubinvestitionen und<br />

Basisinnovationen auf sich zu<br />

nehmen, weil er anders als Privatkapital<br />

keinen – kurzfristigen<br />

– Renditeinteressen folgt.<br />

Vor allem aber stellt Mazzucato<br />

klar, dass das Erfolgsmodell<br />

des unternehmerischen<br />

Staates in den liberalen Demokratien<br />

des Westens bedroht ist,<br />

seit die Regierungen selbst – vor<br />

allem in den USA – an das Vorurteil<br />

des innovationsfeindlichen<br />

Staates glauben. Mit der<br />

paradoxen Folge, so Mazzucato,<br />

dass der Staat sich der Ressourcen<br />

beraube, an der Technologiespitze<br />

zu stehen, nur um<br />

stattdessen den Deregulierungs-<br />

und Steuersenkungsforderungen<br />

großer Konzerne zu<br />

entsprechen. Konzerne, die ohne<br />

öffentlich finanzierte Grundlagenforschung<br />

oft gar nicht<br />

über die Produkte verfügten,<br />

mit deren (Fort-)Entwicklung,<br />

Produktion und Vertrieb sie<br />

Milliarden verdienten.<br />

RUF NACH DEM STAAT<br />

Mazzucato schließt daraus,<br />

dass sich der Staat auch in<br />

Zukunft nicht auf die Rolle als<br />

Ermöglicher technologischen<br />

Fortschritts beschränken sollte,<br />

sondern im Gegenteil dazu verpflichtet<br />

sei, mit blue-sky thinking<br />

eine aktive Rolle zu spielen<br />

bei der Identifikation, Steuerung<br />

und Organisation technologischer<br />

Missionen. Der Sputnik-Schock<br />

(1957) zum Beispiel<br />

habe die USA nicht nur zur<br />

Gründung der NASA und zur<br />

Einführung des Bildungsfernsehens<br />

herausgefordert, sondern<br />

auch zu milliardenschweren Investitionen<br />

in (Rüstungs-)Technologien,<br />

aus denen schließlich<br />

das Internet hervorging.<br />

Man muss Mazzucatos Thesen<br />

<strong>vom</strong> unternehmerischen<br />

Staat nicht teilen, um ihr Buch<br />

anregend zu finden. Angesichts<br />

des Aufstiegs von Staatskapitalismen<br />

in Asien kann ihr frischer<br />

Diskussionsbeitrag über<br />

die Trag- und Zukunftsfähigkeit<br />

unserer „freien“ Marktwirtschaft<br />

jedenfalls nicht schaden.<br />

dieter.schnaas@wiwo.de | Berlin<br />

FOTOS: SASCHA PFLAEGING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, PR<br />

30 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Der Volkswirt<br />

KONJUNKTUR DEUTSCHLAND<br />

Wirtschaft wächst nur<br />

im Schneckentempo<br />

Ein kräftiger und nachhaltiger<br />

Aufschwung in Deutschland<br />

rückt in immer weitere Ferne.<br />

Nachdem das Bruttoinlandsprodukt<br />

(BIP) im zweiten Quartal<br />

des Jahres um 0,2 Prozent<br />

gegenüber dem Vorquartal geschrumpft<br />

ist, dürfte die Wirtschaft<br />

im weiteren Verlauf des<br />

Jahres zwar wieder zulegen –<br />

aber in einem sehr gemächlichen<br />

Tempo. Zwischen Juli und<br />

September dürfte es ein mageres<br />

Wachstum von 0, 2 Prozent<br />

geben, prognostiziert der <strong>vom</strong><br />

Institut für Wirtschaftsforschung<br />

in Halle (IWH) exklusiv<br />

für die WirtschaftsWoche erstellte<br />

BIP-Flash-Indikator<br />

(siehe Grafik). Im vierten Quartal<br />

sollen es dann nur noch 0,1<br />

Prozent werden. In den IWH-<br />

Indikator gehen rund 160 Einzelindikatoren<br />

ein. Fazit der<br />

Ökonomen: „Die hohe konjunkturelle<br />

Dynamik zu<br />

Jahresbeginn ist zum Erliegen<br />

gekommen.“<br />

Die Flaute sei dabei „insbesondere<br />

auf einen negativen<br />

Beitrag des Außenhandels zurückzuführen“.<br />

Hinzu kommt<br />

die anhaltende Investitionsschwäche<br />

der deutschen Wirtschaft,<br />

die laut IWH-Analyse<br />

nicht zuletzt auf die wachsenden<br />

geopolitischen Risiken zurückzuführen<br />

ist. Der Konsum<br />

laufe zwar wegen der guten Lage<br />

am Arbeitsmarkt noch ordentlich.<br />

Allerdings spiegele<br />

sich in den jüngsten Zahlen<br />

zum Konsumklima „noch nicht<br />

die erneute Eskalation in den<br />

Krisenherden im Nahen Osten<br />

und der Ostukraine wider“.<br />

Auch die Deutsche Bundesbank<br />

schlägt in ihrem aktuellen<br />

Monatsbericht pessimistischere<br />

Töne an. Wegen der „Häufung<br />

ungünstiger Nachrichten<br />

Dynamik lässt nach<br />

aus dem internationalen Umfeld“<br />

lasse die Dynamik hierzulande<br />

nach. Wie das IWH macht<br />

sich auch die Bundesbank vor<br />

allem Sorgen wegen der Investitionslücke.<br />

„Die vor einem Jahr<br />

in Gang gekommene Erholung<br />

der Investitionstätigkeit hat einen<br />

Dämpfer bekommen“,<br />

schreiben die Ökonomen.<br />

bert.losse@wiwo.de<br />

695<br />

4<br />

690<br />

3<br />

685<br />

Veränderung gegenüber<br />

2<br />

Vorquartal 3<br />

680<br />

1<br />

675<br />

0,2 0,1<br />

0<br />

670<br />

Prognose<br />

–1<br />

665<br />

BIP-Niveau 2<br />

–2<br />

Reales Bruttoinlandsprodukt in Deutschland 1<br />

660<br />

2011 2012 2013 2014<br />

1<br />

saison- und arbeitstäglich bereinigter Verlauf; 2 in Milliarden Euro; 3 in Prozent;<br />

Quelle: Statistisches Bundesamt; Prognose: IWH<br />

–3<br />

Flaute in der<br />

Euro-Zone<br />

Die Stimmung in den Unternehmen<br />

im Euro-Raum hat sich<br />

im August leicht verschlechtert.<br />

Der Einkaufsmanagerindex<br />

(PMI) für die Privatwirtschaft<br />

(Industrie und Dienstleistungen)<br />

in der Währungsunion fiel<br />

im August im Vergleich zum<br />

Vormonat um einen Punkt auf<br />

52,8 Punkte. Sowohl für das verarbeitende<br />

Gewerbe als auch<br />

für die Dienstleistungen sank<br />

der Wert, ergab die Umfrage des<br />

Londoner Forschungsinstitutes<br />

Markit bei rund 5000 Unternehmen<br />

im Euro-Raum. Seit seinem<br />

Hoch im Januar ist der Indikator<br />

damit rückläufig, auch<br />

wenn sich das Konjunkturbarometer<br />

seit 14 Monaten noch<br />

über der Marke von 50 Zählern<br />

hält, ab der es Wachstum signalisiert.<br />

Immerhin stabilisierte<br />

sich der Wert im August für<br />

Frankreich, wo die Stimmung in<br />

den vergangenen drei Monaten<br />

besonders schlecht gewesen ist.<br />

Volkswirtschaftliche<br />

Gesamtrechnung<br />

Real. Bruttoinlandsprodukt<br />

Privater Konsum<br />

Staatskonsum<br />

Ausrüstungsinvestitionen<br />

Bauinvestitionen<br />

Sonstige Anlagen<br />

Ausfuhren<br />

Einfuhren<br />

Arbeitsmarkt,<br />

Produktion und Preise<br />

Industrieproduktion 1<br />

Auftragseingänge 1<br />

Einzelhandelsumsatz 1<br />

Exporte 2<br />

ifo-Geschäftsklimaindex<br />

Einkaufsmanagerindex<br />

GfK-Konsumklimaindex<br />

Verbraucherpreise 3<br />

Erzeugerpreise 3<br />

Importpreise 3<br />

Arbeitslosenzahl 4<br />

Offene Stellen 4<br />

Beschäftigte 4, 5<br />

2012 2013<br />

Durchschnitt<br />

0,4<br />

0,8<br />

1,0<br />

–4,0<br />

–1,4<br />

3,4<br />

3,2<br />

1,4<br />

2012 2013<br />

Durchschnitt<br />

–0,9<br />

–4,2<br />

0,1<br />

4,3<br />

105,0<br />

46,7<br />

5,9<br />

2,0<br />

1,6<br />

2,1<br />

2896<br />

478<br />

29006<br />

0,1<br />

0,9<br />

0,4<br />

–2,4<br />

–0,2<br />

3,0<br />

0,9<br />

1,5<br />

–0,2<br />

2,5<br />

0,3<br />

1,0<br />

106,9<br />

50,6<br />

6,5<br />

1,5<br />

–0,1<br />

–2,5<br />

2950<br />

457<br />

29370<br />

II/13 III/13 IV/13 I/14 II/14<br />

Veränderung zum Vorquartal in Prozent<br />

0,8<br />

0,7<br />

–0,2<br />

0,5<br />

1,7<br />

1,6<br />

2,5<br />

1,5<br />

April<br />

2014<br />

–0,1<br />

3,2<br />

–0,5<br />

2,6<br />

111,2<br />

54,1<br />

8,5<br />

1,3<br />

–0,9<br />

–2,4<br />

2880<br />

477<br />

29741<br />

1 Volumen, produzierendes Gewerbe, Veränderung zum Vormonat in Prozent; 2 nominal, Veränderung zum Vormonat in<br />

Prozent; 3 Veränderung zum Vorjahr in Prozent; 4 in Tausend, saisonbereinigt; 5 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte;<br />

alle Angaben bis auf Vorjahresvergleiche saisonbereinigt; Quelle: Thomson Reuters<br />

0,3<br />

0,3<br />

0,7<br />

0,1<br />

2,1<br />

1,4<br />

–0,1<br />

0,8<br />

Mai<br />

2014<br />

–1,7<br />

–1,6<br />

–0,2<br />

–1,1<br />

110,4<br />

52,3<br />

8,5<br />

0,9<br />

–0,8<br />

–2,1<br />

2903<br />

474<br />

29761<br />

0,5<br />

–0,3<br />

–0,3<br />

1,4<br />

0,2<br />

1,2<br />

2,5<br />

1,3<br />

Juni<br />

2014<br />

0,3<br />

–3,2<br />

1,0<br />

0,9<br />

109,7<br />

52,0<br />

8,6<br />

1,0<br />

–0,8<br />

–1,2<br />

2910<br />

481<br />

–<br />

0,7<br />

0,7<br />

0,4<br />

3,3<br />

3,6<br />

–0,8<br />

0,2<br />

2,2<br />

Juli<br />

2014<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

108,0<br />

52,4<br />

8,9<br />

0,8<br />

–0,8<br />

–<br />

2898<br />

482<br />

–<br />

–0,2<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

August<br />

2014<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

52,0<br />

9,0<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

Letztes Quartal<br />

zum Vorjahr<br />

in Prozent<br />

0,8<br />

1,1<br />

0,5<br />

6,0<br />

10,2<br />

3,3<br />

5,5<br />

6,2<br />

Letzter Monat<br />

zum Vorjahr<br />

in Prozent<br />

–2,8<br />

–4,3<br />

0,1<br />

2,9<br />

1,7<br />

0,4<br />

28,6<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–1,4<br />

7,4<br />

1,5<br />

WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 31<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Der Volkswirt<br />

NACHGEFRAGT Vernon Smith<br />

»Uns droht der Overkill«<br />

Der Ökonomienobelpreisträger kritisiert die lockere Geldpolitik der Zentralbanken und die<br />

Regelungswut der Regierungen. Die Finanzkrise hält er noch lange nicht für überwunden.<br />

AUSGEZEICHNETER<br />

ÖKONOM<br />

Smith, 87, ist emeritierter<br />

Professor für Wirtschaftswissenschaften<br />

an der<br />

George Mason University<br />

in Virginia. Er gilt als einer<br />

der führenden Vertreter<br />

der experimentellen<br />

Kapitalmarktforschung.<br />

2002 erhielt der Amerikaner<br />

den Ökonomienobelpreis.<br />

Professor Smith, in der Finanzkrise<br />

hat der Ruf der Ökonomen<br />

stark gelitten. Ihnen wird<br />

vorgeworfen, die Krise nicht<br />

gesehen und davor gewarnt zu<br />

haben. Wie berechtigt sind die<br />

Vorwürfe?<br />

Die meisten Ökonomen haben<br />

die Krise nicht kommen sehen,<br />

weil sie völlig anders gelagert<br />

war als übliche Rezessionen. Sie<br />

ähnelt stark der großen Depression<br />

Anfang der Dreißigerjahre.<br />

In beiden Fällen hat das Platzen<br />

von Blasen die Vermögen von<br />

Bürgern und Banken ausradiert<br />

und eine Solvenzkrise ausgelöst.<br />

Die meisten heute lebenden<br />

Ökonomen haben die große<br />

Depression nicht erlebt, nur<br />

wenige haben sie studiert. Sie<br />

konnten sich nicht vorstellen,<br />

dass es Krisen gibt, in denen<br />

Zentralbanken und Regierungen<br />

machtlos sind.<br />

Herausragende Ökonomen und<br />

Zeitzeugen haben das Phänomen<br />

durchaus analysiert.<br />

Ja, aber ihre Arbeiten wurden<br />

<strong>vom</strong> Mainstream links liegen<br />

gelassen, weil man glaubte,<br />

dass es so etwas wie die große<br />

Depression nie wieder geben<br />

wird. Nun erleben die Arbeiten<br />

von Irving Fisher, Friedrich von<br />

Hayek und Ludwig von Mises<br />

eine Renaissance. Denn sie beschäftigten<br />

sich intensiv mit<br />

dem Kreditzyklus und Überschuldungskrisen.<br />

Immerhin haben die Zentralbanken<br />

dieses Mal einen<br />

ähnlich schlimmen Einbruch<br />

wie damals verhindert.<br />

Durch das Öffnen der Geldschleusen<br />

gelang es den Notenbanken<br />

in der Tat, einen ähnlich<br />

schweren Absturz wie<br />

damals zu verhindern. Doch<br />

damit haben sie die Krise nicht<br />

gelöst. Vielmehr haben sie<br />

die falschen Schlüsse aus der<br />

großen Depression gezogen.<br />

Friedman betrachtete die große<br />

Depression als eine Liquiditätskrise,<br />

die die Zentralbanken<br />

durch das Drucken von mehr<br />

Geld hätten vermeiden können.<br />

Daraus zog die Fed den<br />

Schluss, nach der Lehman-<br />

Pleite die Märkte mit Geld zu<br />

fluten. Das war eine folgenschwere<br />

Fehlentscheidung!<br />

Denn die große Depression<br />

war im Kern eine Überschuldungskrise.<br />

Das gilt auch für<br />

die aktuelle Finanzkrise. Solche<br />

Überschuldungskrisen sind<br />

nicht zu überwinden, indem<br />

man mehr Geld druckt.<br />

Die Finanzkrise ist also noch<br />

nicht vorbei?<br />

Schauen Sie sich die große Depression<br />

an. Es hat mehr als eine<br />

Dekade gedauert, bis die<br />

Wirtschaft wieder auf die Beine<br />

kam. Die Menschen mussten<br />

mehr sparen und weniger konsumieren,<br />

um ihre Vermögen<br />

wieder aufzubauen. Genau so<br />

ist es diesmal. Die Zentralbanken<br />

übersehen das. Die lockere<br />

Geldpolitik wird uns bei der<br />

Überwindung der Krise nicht<br />

helfen. Im Gegenteil. Sie erzeugt<br />

neue Blasen. In den USA<br />

steigen die Immobilienpreise in<br />

Relation zu den Einkommen<br />

der Bürger schon wieder. Immobilien<br />

sind im Vergleich zu<br />

anderen Gütern zu teuer. Das<br />

kann nicht gut gehen.<br />

Trotzdem drücken die Zentralbanken<br />

die Zinsen weiter nach<br />

unten...<br />

…weil sie nicht wissen, was sie<br />

sonst machen sollen. Es besteht<br />

die Gefahr, dass sich die übermäßige<br />

Liquidität in abrupt<br />

steigenden Inflationsraten entlädt.<br />

Bis jetzt ist nichts passiert.<br />

»Wir brauchen<br />

nicht mehr,<br />

sondern klügere<br />

Regulierung«<br />

Warten Sie nur! Wir befinden<br />

uns jetzt im siebten Jahr der Krise.<br />

Übertragen auf die große<br />

Depression, entspricht dies<br />

dem Jahr 1936. Es dauerte bis<br />

1940, bis die Überschuldung<br />

abgebaut war. Bei allen Unwägbarkeiten<br />

könnte es noch Jahre<br />

dauern, bis die Wirtschaft wieder<br />

normal funktioniert. Es besteht<br />

die Gefahr, dass wir die<br />

Folgen der lockeren Geldpolitik<br />

in den Güterpreisen sehen.<br />

Gilt das Prinzip des rational<br />

handelnden Menschen noch?<br />

Die meisten Menschen handeln<br />

subjektiv rational. Das führt<br />

nicht immer zu gesamtwirtschaftlich<br />

wünschenswerten<br />

Ergebnissen. Nehmen Sie den<br />

Immobilienboom in den USA.<br />

Es war rational, ein Haus zu<br />

kaufen, um von den Wertsteigerungen<br />

zu profitieren. Es gehört<br />

zum Kapitalismus, dass diejenigen,<br />

die mit solchen Geschäften<br />

auf die Nase fallen, die Verluste<br />

alleine tragen. Leider schaffen<br />

es einige Gruppen, sich in der<br />

Politik so viel Gehör zu verschaffen,<br />

dass sie auf Kosten der<br />

Allgemeinheit gerettet werden.<br />

Das hat den Kapitalismus diskreditiert…<br />

...und den Ruf nach mehr<br />

Regulierung laut werden lassen.<br />

Ja, nun droht uns der Overkill.<br />

Es ist Unsinn, alles und jeden<br />

am Finanzmarkt zu regulieren.<br />

Wir brauchen nicht mehr,<br />

sondern klügere Regulierung.<br />

Entscheidend ist, dass die Eigentumsrechte<br />

so zugeteilt werden,<br />

dass die Menschen einen<br />

Anreiz haben, sich in sozial<br />

wünschenswerter Weise zu verhalten.<br />

Verteilt man die Eigentumsrechte<br />

so, dass man andere<br />

bestehlen kann, funktioniert<br />

der Markt nicht.<br />

n<br />

malte.fischer@wiwo.de<br />

FOTO: PR<br />

32 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


DENKFABRIK | Anders als die Debatte vermuten lässt, gibt es in der Bevölkerung keine<br />

klare Mehrheit gegen das Freihandelsabkommen TTIP zwischen der EU und den USA.<br />

Allerdings wächst die Ablehnung, je mehr sich die Bürger über das Projekt informieren.<br />

Und nur noch jeder Dritte hält das Verhältnis zu Amerika für intakt. Von Renate Köcher<br />

Gestörte Beziehung<br />

FOTO: PR<br />

Die Verhandlungen<br />

über das Freihandelsabkommen<br />

(TTIP) zwischen der<br />

Europäischen Union und den<br />

USA ziehen sich hin und haben<br />

eine kontroverse öffentliche Debatte<br />

über Nutzen und Risiken<br />

eines solchen Projekts entfacht.<br />

Was ursprünglich nur als<br />

Herausforderung für die Verhandlungspartner<br />

und die sie<br />

beratenden Experten gesehen<br />

wurde, hat sich unversehens<br />

auch zu einer politischen Kommunikationsaufgabe<br />

entwickelt.<br />

Im Allgemeinen werden internationale<br />

Wirtschaftsverträge<br />

nicht Gegenstand öffentlicher<br />

Kontroversen, sondern in kleinen<br />

Zirkeln hinter geschlossenen<br />

Türen verhandelt – und das<br />

Interesse der Bürger ist im Allgemeinen<br />

gering. Diesmal ist es<br />

anders. 79 Prozent der Bürger<br />

wissen mittlerweile von den Verhandlungen,<br />

jeder Vierte verfolgt<br />

die Berichterstattung mit<br />

großer Aufmerksamkeit. Von<br />

den politisch interessierten Bevölkerungskreisen<br />

wissen sogar<br />

über 90 Prozent von dem Vorhaben;<br />

42 Prozent verfolgen<br />

den Fortgang aufmerksam.<br />

IM FRÜHSTADIUM<br />

Die Meinungsbildung der Bürger<br />

ist allerdings noch in einem<br />

frühen Stadium. 41 Prozent haben<br />

sich noch kein Urteil gebildet.<br />

28 Prozent stehen dem<br />

TTIP-Abkommen positiv gegenüber,<br />

31 Prozent ablehnend.<br />

Männer stehen dem Projekt aufgeschlossener<br />

gegenüber als<br />

Frauen. Besonders kritisch<br />

äußern sich die Anhänger der<br />

Linken und der Grünen.<br />

Das auf den ersten Blick offene<br />

Meinungsbild sieht in dem<br />

Kreis, der die Berichterstattung<br />

besonders aufmerksam verfolgt<br />

hat, jedoch völlig anders aus. Von<br />

den Bürgern, die die Berichte und<br />

Diskussionen über das Freihandelsabkommen<br />

näher verfolgen,<br />

stehen diesem 60 Prozent kritisch<br />

gegenüber, nur 29 Prozent äußern<br />

sich zustimmend. Dagegen<br />

überwiegt in den Kreisen, die die<br />

Diskussion bisher nur am Rande<br />

wahrgenommen haben, tendenziell<br />

die Zustimmung. Dies zeigt,<br />

dass die Berichterstattung und öffentliche<br />

Debatte eindeutig gegen<br />

das Abkommen laufen. Beson-<br />

Vertrauen in die EU<br />

Wo sind die Standards in<br />

Bereichen wie Landwirtschaft,<br />

Umweltschutz oder Lebensmittelqualität<br />

höher: in der EU oder in<br />

den USA?<br />

Unentschieden<br />

Gleich<br />

hoch<br />

USA<br />

12<br />

10<br />

2<br />

%<br />

Quelle: Allensbacher Archiv<br />

76<br />

EU<br />

ders negativ ist die Meinung bei<br />

Frauen, die die Diskussion ausführlicher<br />

verfolgt haben. Das gilt<br />

für knapp ein Fünftel der Frauen;<br />

von ihnen sehen 73 Prozent das<br />

Freihandelsabkommen kritisch.<br />

Die viel zitierten Chlorhühnchen<br />

haben hier besonders tiefen Eindruck<br />

gemacht.<br />

Generell ist die überwältigende<br />

Mehrheit der Bürger überzeugt,<br />

dass die EU-Standards für die<br />

landwirtschaftliche Produktion,<br />

für Lebensmittelqualität und<br />

Umweltschutz höher sind als die<br />

amerikanischen. 76 Prozent<br />

schreiben der EU höhere Stan-<br />

dards zu, ganze zwei Prozent den<br />

USA. Die höheren Bildungsschichten<br />

und politisch interessierte<br />

Bürger sind noch ausgeprägter<br />

von der Überlegenheit der<br />

europäischen Standards überzeugt.<br />

Dies gilt wiederum besonders<br />

für diejenigen, die die bisherige<br />

Diskussion über TTIP näher<br />

verfolgt haben. Von ihnen schätzen<br />

annähernd 90 Prozent die<br />

EU-Standards als höher ein.<br />

Erschwerend kommt hinzu,<br />

dass der Blick auf die USA in letzter<br />

Zeit generell kritischer geworden<br />

ist. Die Diskussionen über die<br />

Bevölkerung gespalten<br />

Halten Sie ein Freihandelsabkommen<br />

zwischen der EU und<br />

den USA für eine gute Sache?<br />

Unentschieden<br />

41<br />

%<br />

Quelle: Allensbacher Archiv<br />

31<br />

28<br />

Nein<br />

Abhörpraktiken des amerikanischen<br />

Geheimdienstes wie auch<br />

die unbefangene Nutzung persönlicher<br />

Daten durch US-Unternehmen<br />

haben Spuren hinterlassen.<br />

Die Beziehungen zwischen Europa<br />

und den USA und speziell zwischen<br />

Deutschland und den USA<br />

gelten als gestört. Nur noch jeder<br />

dritte Bürger hält das deutschamerikanische<br />

Verhältnis für intakt<br />

– das ist der niedrigste Anteil,<br />

der in den vergangenen zehn<br />

Jahren gemessen wurde. Die große<br />

Mehrheit der Bürger geht auch<br />

nicht davon aus, dass sich die<br />

Beziehungen in absehbarer Zeit<br />

Ja<br />

verbessern. Dies beeinflusst<br />

auch das Urteil über das geplante<br />

Freihandelsabkommen.<br />

Wirtschaft und Politik sind von<br />

der kontroversen gesellschaftlichen<br />

Debatte völlig überrascht<br />

worden. Insbesondere für die<br />

Wirtschaft steht der Wert eines<br />

Freihandelsabkommens außer<br />

Frage. Sie diskutiert über Details,<br />

bezweifelt aber nicht grundsätzlich<br />

seinen Nutzen für die deutsche<br />

Wirtschaft. Da sie nicht mit<br />

einer derartigen öffentlichen<br />

Kontroverse rechneten, haben<br />

es Wirtschaft und Politik versäumt,<br />

frühzeitig über den Nutzen<br />

des Abkommens aus ihrer<br />

Perspektive zu informieren. Erst<br />

in den vergangenen Wochen haben<br />

sich einzelne Unternehmer<br />

und Manager zu Wort gemeldet.<br />

DEBATTE NEU ERÖFFNEN<br />

Auch wenn sich die Meinungsbildung<br />

in weiten Bevölkerungskreisen<br />

noch in einem frühen<br />

Stadium befindet, ist es kein<br />

leichtes Unterfangen, die Debatte<br />

neu zu eröffnen und den<br />

Bürgern den Sinn und Nutzen<br />

des geplanten Abkommens nahezubringen.<br />

Diejenigen, die<br />

das Vorhaben seit Monaten mit<br />

besonderer Aufmerksamkeit<br />

verfolgen und ihm mehrheitlich<br />

kritisch gegenüberstehen, beteiligen<br />

sich weitaus intensiver<br />

an der öffentlichen Debatte als<br />

die Mehrheit der überwiegend<br />

noch unentschiedenen Bürger.<br />

Vereinzelte Stellungnahmen der<br />

Wirtschaft finden vor diesem<br />

Hintergrund nur schwer Gehör.<br />

Renate Köcher ist Geschäftsführerin<br />

des Instituts für<br />

Demoskopie Allensbach und<br />

Mitglied des Aufsichtsrates<br />

mehrerer Dax-Unternehmen.<br />

WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 33<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

Brüder, zur Sonne<br />

ROCKET INTERNET | Vom Börsengang ihrer Start-up-Fabrik erhoffen sich die Unternehmer-<br />

Brüder Marc, Oliver und Alexander Samwer Milliarden. Doch ihr Online-Konglomerat<br />

erweist sich als intransparentes Unternehmensgeflecht, das anfällig für Interessenkonflikte<br />

ist – vor allem aber als eine gigantische Wette auf die Zukunft.<br />

Rein ins Taxi. Handy in die<br />

Hand. Kurze Ansage an den<br />

Fahrer. Und Tempo bitte, in<br />

45 Minuten muss Oliver<br />

Samwer im Flieger nach London<br />

sitzen. Während der Wagen zum<br />

Flughafen Berlin Tegel startet, tippt Samwer<br />

auf seinem Smartphone rum, nestelt<br />

nebenbei den Gurt ins Schloss und macht<br />

dazu eine Miene, als wolle er das Wetter<br />

draußen beschreiben: Nieselregen.<br />

Dabei war alles ganz anders geplant.<br />

Samwer hatte zu einem Hintergrundgespräch<br />

in die Zentrale seiner Online-<br />

Holding Rocket Internet nach Berlin-<br />

Mitte geladen. Um das Geschäftsmodell<br />

der Start-up-Schmiede sollte es gehen.<br />

Stattdessen bietet er eine Hetzjagd durch<br />

die Hauptstadt.<br />

Man müsse das bitte verstehen, hat<br />

Samwers Pressesprecher noch kurz gesagt,<br />

bevor er die schwarze Rolltasche seines<br />

Chefs in den Kofferraum des Taxis<br />

wuchtete. Unvorhergesehene Ereignisse<br />

hätten den Zeitplan des Meisters über den<br />

Haufen geworfen. Irgendwo knirscht<br />

es halt immer bei Rocket Internet, dem<br />

Samwer-Reich, das sich heute über den<br />

ganzen Globus erstreckt – von Albanien<br />

bis nach Ruanda, von Chile bis Myanmar.<br />

Wo auch immer sich im weltweiten<br />

E-Commerce gerade Geld verdienen<br />

lässt, sind Oliver Samwer und seine Brüder<br />

Marc und Alexander mit Rocket Internet<br />

mit von der Partie. Sie waren früh an<br />

Netzgiganten wie Facebook, LinkedIn<br />

und Groupon beteiligt, haben den Modeversender<br />

Zalando zur größten Online-<br />

Kleiderkammer Europas gepäppelt und<br />

zig andere E-Commerce-Hoffnungen<br />

weltweit ausgerollt.<br />

Jetzt planen sie ihren größten Coup:<br />

Sowohl für Rocket Internet als auch für<br />

Zalando loten sie Börsengänge aus. Ihre<br />

Anteile dürften dabei mit insgesamt fast<br />

drei Milliarden Euro bewertet werden. Ist<br />

die Samwer-Saga <strong>vom</strong> Aufstieg dreier<br />

deutscher Internet-Jungs zu Mega-<br />

Online-Stars also eine einzige Erfolgsgeschichte?<br />

Die WirtschaftsWoche und das ZDF-<br />

Magazin „Frontal21“ haben die Geschäfte<br />

der Brüder im Detail durchleuchtet.<br />

Das Resultat:Kein zweiter deutscher Unternehmerclan<br />

hat in den vergangenen<br />

Jahren einen ähnlich steilen Aufstieg geschafft.<br />

Doch die Methoden, mit denen<br />

sich die drei Brüder ihren Weg nach oben<br />

bahnten, scheinen bisweilen weniger<br />

Managementweisheiten denn dem Plot<br />

des Italo-Westerns „Zwei glorreiche<br />

Halunken“ entsprungen zu sein, nur<br />

dass die Samwers zu dritt sind.<br />

Niemand ist erfolgreicher, niemand ist<br />

umstrittener in der europäischen Internet-Szene.<br />

Das Online-Konglomerat<br />

Rocket Internet erweist sich beim näheren<br />

Hinsehen als intransparentes Unternehmensgeflecht,<br />

anfällig für Interessenkonflikte<br />

und Einflussnahmen der Großaktionäre<br />

– kurz: als gigantische Wette<br />

auf die Zukunft.<br />

Angesichts der Firmenkonstruktion<br />

von Rocket Internet wirkt Zalando – der<br />

zweite Börsenkandidat der Samwer-<br />

Brüder – fast wie ein Hort der Stabilität<br />

und Transparenz. Innerhalb weniger<br />

Jahre ist das Unternehmen zu Europas<br />

größtem Online-Modehändler avanciert.<br />

Einziger Schönheitsfehler: Das<br />

Wachstum wurde mit üppigen Fördermitteln<br />

alimentiert.<br />

»<br />

E-Commerce-Kraftwerk<br />

Niemand ist erfolgreicher, niemand ist<br />

umstrittener in der deutschen Web-Szene als<br />

Alexander, Oliver und Marc Samwer (von links)<br />

34 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


FOTO: NICK WILSON, DIETER MAYR (M)<br />

WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 35<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

Job im Copyshop<br />

Rund 330 Mitarbeiter arbeiten in der<br />

Berliner Schaltzentrale des Firmenbeschleunigers,<br />

die meisten sind jünger als 28 Jahre<br />

»<br />

In den vergangenen Jahren wurden dem<br />

Unternehmen insgesamt 42 Millionen Euro<br />

Fördergeld <strong>vom</strong> Bund und den Ländern<br />

Thüringen, Brandenburg und Berlin bewilligt.<br />

Damit zählt der Web-Angreifer zu den<br />

Subventionskönigen im deutschen Handel<br />

(siehe Kasten Seite 43).<br />

BERLINER BLACKBOX<br />

Noch 43 Minuten bis zum Abflug. Das Taxi<br />

fädelt sich in den Verkehr auf der Berliner<br />

Friedrichstraße ein. Die erste Ampel schaltet<br />

auf Rot. Oliver Samwer schaut <strong>vom</strong><br />

Handydisplay auf, knipst sein Blendax-<br />

Lächeln an und ist plötzlich voll da: Die<br />

große Samwer-Show beginnt.<br />

Falls die Aktienmärkte mitspielen, könnte<br />

Rocket Internet schon im Herbst an die<br />

Börse preschen. Zuvor soll Rocket Internet<br />

noch von einer deutschen in eine europäische<br />

Aktiengesellschaft umgewandelt werden,<br />

heißt es in Finanzkreisen. Anschließend<br />

stünde eine Notierung am unregulierten<br />

Markt in Frankfurt an.<br />

Oliver Samwer schweigt dazu. Doch im<br />

Hintergrund läuft längst die Werbemelodie,<br />

die den Gang aufs Parkett intoniert. Als „Erfolgsgeschichte<br />

made in Germany“ preist er<br />

Rocket Internet. Ein Sammelbecken für<br />

„unternehmerisches Talent und Wissen“<br />

sei das Unternehmen, das es sich zur Aufgabe<br />

gemacht hat, Online-Geschäftsmodelle<br />

aufzuspüren, zu kopieren und global<br />

auszurollen. Ein neuer, ein digitaler Mittelständler,<br />

der mit Fleiß, Disziplin und operativem<br />

Geschick geführt werde, sei Rocket<br />

Internet. Ganz nach Art des schwäbischen<br />

Schrauben- und Montagetechnik-Milliardärs<br />

Reinhold Würth – nur halt im Netz.<br />

Das hört sich gut an. Doch der Beweis<br />

dafür, dass die Unternehmen, die Rocket<br />

Internet gründete, auch Geld verdienen<br />

wie bei soliden Mittelständlern eigentlich<br />

üblich, der fehlt bisher.<br />

Die operativen Verluste von zehn zentralen<br />

Rocket-Ablegern, darunter<br />

der Möbelhändler Home24 und<br />

die russische Zalando-Kopie<br />

Lamoda, summierten sich 2013<br />

auf rund 431 Millionen Euro (siehe<br />

Grafik Seite 37).<br />

Allerdings sind die Zahlen nur<br />

ein kleiner Ausschnitt. Wie es um<br />

das komplette Rocket-Intenet-<br />

Video<br />

In unserer App-<br />

<strong>Ausgabe</strong> zeigen<br />

wir den Trailer der<br />

ZDF-Doku über<br />

die Samwers<br />

Reich bestellt ist, lässt sich allenfalls erahnen.<br />

Insgesamt rund 1500 Einzelgesellschaften<br />

umfasst das Gebilde, teilweise untergebracht<br />

in Luxemburg und im US-Bundesstaat<br />

Delaware, jenen Hotspots der<br />

Welt, die vor allem für ihr steuermildes Klima<br />

bekannt sind – auch wenn derlei<br />

Aspekte nach Unternehmensangaben nie<br />

im Vordergrund stünden. „Das Ganze ist<br />

eine Blackbox“, sagt Jörg Funder, Professor<br />

für Unternehmensführung im Handel an<br />

der Hochschule Worms, über Rocket Internet.<br />

„Teilweise fehlen sogar die Jahresabschlüsse<br />

im Handelsregister.“<br />

Die Lage wird nicht übersichtlicher<br />

durch einen Passus in Oliver Samwers Vertrag<br />

als Vorstandschef mit Rocket Internet.<br />

Dort ist neben der Laufzeit bis 15. Juni 2019<br />

auch eine teilweise Befreiung <strong>vom</strong> Wettbewerbsverbot<br />

fixiert, das Top-Managern üblicherweise<br />

untersagt, für andere Unternehmen<br />

tätig zu sein. So darf der Rocket-<br />

Chef nebenher weiter die Geschäfte des<br />

European Founders Fund führen.<br />

Das Münchner Unternehmen,<br />

das kürzlich in Global Founders<br />

umgetauft wurde, gehört den<br />

Samwer-Brüdern privat. In dem<br />

Vehikel haben sie ihre Rocket-Aktien<br />

gebündelt ebenso wie ihre<br />

Anteile am Modeversender Zalando.<br />

Das Problem: Laut Satzung<br />

investiert Global Founders Risikokapital<br />

in junge Unternehmen teils in den<br />

gleichen Geschäftsfeldern, in denen auch<br />

Rocket Internet aktiv ist.<br />

Mögliche Interessenkonflikte mag ein<br />

Rocket-Sprecher darin nicht erkennen.<br />

Global Founders verfüge über ein eigenes<br />

Investmentteam, „Oliver Samwers Fokus<br />

liegt zu 99,9 Prozent auf Rocket Internet“,<br />

heißt es offiziell.<br />

Doch wie wird sich der Rocket-Internet-<br />

Chef entscheiden, wenn er auf das nächste<br />

große Ding im Netz stößt? Kopiert er das<br />

Geschäftsmodell im Interesse seiner Aktionäre,<br />

oder beteiligt er sich über Global<br />

Founders zum eigenen und brüderlichen<br />

Wohle? Und was machen die Brüder mit<br />

Nieten im Privat-Portfolio? Reichen sie die<br />

im Zweifel an Rocket Internet durch?<br />

Dass es sich bei solchen Fragen nicht um<br />

einen akademischen Diskurs handelt, ist<br />

seit ein paar Tagen klar. Mitte August beteiligte<br />

sich der Web-Dienstleister United Internet<br />

aus Montabaur mit 10,7 Prozent an<br />

Rocket Internet und lieferte nebenbei ein<br />

finanzakrobatisches Meisterstück ab.<br />

Auf dem Papier musste United Internet<br />

die stolze Summe von 435 Millionen Euro<br />

für das Aktienpaket berappen. Einen Teil<br />

davon – nämlich 102 Millionen Euro – zahlte<br />

das Unternehmen aber nicht bar. Stattdessen<br />

erhielt Rocket Internet allerlei Start-<br />

FOTO: IMAGETRUST/JAN ZAPPNER<br />

36 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Die Welt der Samwers<br />

Wo wichtige E-Commerce-Ableger<br />

von Rocket Internet aktiv<br />

sind und Verluste schreiben*<br />

(in Millionen Euro)<br />

–33,5<br />

Linio<br />

(Online-Kaufhaus)<br />

Mexiko,<br />

Kolumbien,<br />

Peru, Venezuela<br />

–72,9<br />

Dafiti<br />

(Schuhe und Mode)<br />

Brasilien, Argentinien,<br />

Chile, Kolumbien,<br />

Mexiko<br />

–40,2<br />

Home24<br />

(Möbel)<br />

Deutschland, Schweiz,<br />

Frankreich, Österreich,<br />

Niederlande<br />

–40,2 (Möbel)<br />

Deutschland, Italien, Brasilien, Russland,<br />

Frankreich, Spanien, Polen, Niederlande,<br />

Westwing Schweiz, Österreich, Kasachstan, Belgien<br />

–34,1<br />

Jumia<br />

(Online-Kaufhaus)<br />

Nigeria, Marokko, Ägypten,<br />

Kenia, Elfenbeinküste<br />

–10,1<br />

Namshi<br />

(Schuhe und Mode)<br />

Kuwait, Oman,<br />

Saudi Arabien,<br />

Bahrain, Katar<br />

–33,2<br />

Jabong<br />

(Schuhe und<br />

Mode) Indien<br />

–46,9<br />

Lamoda<br />

(Schuhe und Mode)<br />

Russland, Kasachstan<br />

–51,3<br />

Lazada<br />

(Online-Kaufhaus)<br />

Indonesien, Malaysia,<br />

Philippinen, Thailand,<br />

Vietnam<br />

–69,2<br />

Zalora/The Iconic<br />

(Schuhe und Mode)<br />

Singapur, Indonesien,<br />

Malaysia, Brunei,<br />

Philippinen, Thailand,<br />

Vietnam, Hongkong,<br />

Australien,<br />

Neuseeland<br />

* operatives Ergebnis 2013; Quelle: Kinnevik<br />

up-Beteiligungen. Die Anteile stammten<br />

aus einer gemeinsam geführten Gesellschaft<br />

von United Internet und Global<br />

Founders, dem Privatfonds der Samwers.<br />

Erstaunlich: In den eigenen Büchern<br />

hatte United Internet diese Anteile nicht<br />

mit 102 Millionen Euro bewertet, sondern<br />

nur mit 30 Millionen Euro. Das explosionsartige<br />

Plus erklärt ein United-Internet-<br />

Sprecher mit einer „Neubewertung“ der<br />

Beteiligungen. Davon profitierten auch die<br />

Samwers. Denn auch sie gaben ihre gemeinsam<br />

mit United Internet gehaltenen<br />

Anteile an den Start-ups im Tausch gegen<br />

zusätzliche Rocket-Internet-Aktien ab – ein<br />

klassischer Samwer-Deal.<br />

ETWAS GETRICKST<br />

Noch 35 Minuten bis zum Abflug. Der Taxifahrer<br />

steuert schweigend durch den Berliner<br />

Feierabendverkehr, vorbei an Häuserschluchten,<br />

Imbissbuden und Spielcasinos.<br />

Hier, mitten in der Hauptstadt, begann<br />

der Fabelaufstieg der drei Dotcom-Brüder.<br />

1999 startete das Trio in einer Bürogemeinschaft<br />

in Berlin-Mitte Alando. Das<br />

Unternehmen sollte den Markt für Online-<br />

Auktionen aufmischen, ein deutsches Ebay<br />

werden. Schnell kristallisierte sich die Rollenverteilung<br />

innerhalb der Bruderschaft<br />

heraus: Oliver Samwer ist Anführer der<br />

Formation, Alexander der Stratege und<br />

Marc der Diplomat. Gemeinsam ist ihnen<br />

der unbändige Siegeswille. Um mehr Angebote<br />

auf die Alando-Web-Site zu bekommen,<br />

vertickten die Brüder anfangs Teile<br />

ihres Jugendzimmerinventars samt Baseballhandschuh<br />

und Modelleisenbahn.<br />

Auch bei der Beschaffung der notwendigen<br />

Technik und der Finanzierung des Projekts<br />

waren sie nicht zimperlich. „Da mussten<br />

wir etwas tricksen“, räumte Oliver Samwer<br />

später ein. „Den Venture-Capital-Gesellschaften<br />

haben wir erzählt, die Technologie<br />

sei schon so gut wie installiert. Und<br />

die Technologiefirmen haben wir überzeugt,<br />

dass die Finanzierung schon so gut<br />

wie gesichert ist.“<br />

»Alles wird in der Samwer-Maschine<br />

unternehmerischem Erfolg<br />

untergeordnet«<br />

Samwer-Biograf Joel Kaczmarek<br />

Die Idee ging auf: Nach wenigen Monaten<br />

übernahm Ebay den Laden – und<br />

machte die Samwers zu Millionären. Das<br />

systematische Kopieren, Ausrollen und<br />

schnelle Weiterverkaufen von erprobten<br />

Online-Konzepten wurde fortan zu ihrem<br />

Geschäftsmodell. Alando gab die Blaupause<br />

ab: voller Einsatz, waghalsiges Tempo<br />

und mitunter ein paar Tricks.<br />

Wann immer sich ein neuer Trend im<br />

Netz abzeichnete, schickten die Samwers<br />

nun einen deutschen Nachbau ins Rennen.<br />

Mit Rocket Internet konstruierten<br />

sie 2007 eine Plattform, um diesen Kopierund<br />

Ausrollprozess vollends zu industrialisieren.<br />

Statt Waren laufen bei Rocket<br />

Internet-Start-ups <strong>vom</strong> Band. Unternehmen<br />

wie die Partnerbörse eDarling,<br />

der Kosmetikversender Glossybox, die<br />

Möbelhändler Home24, die Online-Bettenbörse<br />

Wimdu und der Kreditvermittler<br />

Lendico entstanden – allesamt inspiriert<br />

von Wettbewerbern. Die Kopiermasche<br />

sorgt denn auch für Empörung. Als<br />

„niedrigste Form von Müll“, beschimpfte<br />

etwa die US-Web-Koryphäe Jason Calacanis<br />

das Vorgehen der Samwers.<br />

Die sind von den Klon-Vorwürfen genervt.<br />

Ideen gebe es schließlich wie Sand<br />

am Meer, sagt Oliver Samwer. Auf die Umsetzung<br />

komme es an. Dabei macht ihm<br />

niemand etwas vor. »<br />

WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 37<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

Anschluss gefunden<br />

United-Internet-Chef Dommermuth<br />

treibt mit seinem Investment die Bewertung<br />

von Rocket Internet hoch<br />

LEBEN IM SCHMUTZ<br />

Noch 27 Minuten bis zum Abflug. Oliver<br />

Samwer, verstrubbeltes Haar, hellblaues<br />

Hemd, drahtige Figur, zeichnet auf dem<br />

Kunstlederbezug der Rückbank im Taxi mit<br />

dem Zeigefinger die Unternehmensstruktur<br />

von Rocket Internet.<br />

Als „McKinsey auf Steroiden“ soll er<br />

Rocket Internet einmal bezeichnet haben.<br />

Rund 330 Mitarbeiter arbeiten in der Schaltzentrale<br />

des Firmenbeschleunigers in der<br />

Berliner Johannisstraße. Die meisten von<br />

ihnen sind jünger als Lady Gaga, das Durchschnittsalter<br />

liegt bei unter 28 Jahren. Der<br />

42-jährige Oliver Samwer gilt als oberster<br />

Einpeitscher der Truppe. Arbeitstage von 18<br />

Stunden sind für ihn Routine. Als seinen<br />

Lieblingsfilm nannte er im „Stern“ einst das<br />

Heldenepos „Gladiator“, bei dem abgeschlagene<br />

Köpfe durch die Landschaft kegeln<br />

und Blut literweise strömt. Auch das Schottenlichtspiel<br />

„Braveheart“ gehört zu seinem<br />

cineastischen Kanon. Prädikat: Besonders<br />

lehrreich. „Schaut euch den Film ruhig an“,<br />

riet Oliver Samwer einst Studenten bei einem<br />

Vortrag. „Braveheart sah so aus, wie er<br />

lebte: im Schmutz.“ Soll wohl heißen: Auf<br />

prunkvolle Büros und ähnliches Konzernchichi<br />

sollten digitale Leistungsträger im<br />

Dienst von Dirty Olli nicht bauen.<br />

Stattdessen gibt’s markige Ansagen <strong>vom</strong><br />

Chef. Legendär ist etwa seine Motivationsmail<br />

an Führungskräfte betreff „When is it<br />

net-Manager die Samwers und ihre Statthalter<br />

an der „Grenze des Zumutbaren“.<br />

Harsche Vorwürfe gab es etwa bei Wimdu.<br />

Über die Online-Übernachtungsbörse,<br />

eine Kopie des amerikanischen Marktführers<br />

Airbnb, können private Anbieter Wohnungen<br />

an Reisende vermieten. Doch bei<br />

der Gründung von Wimdu fehlte es der<br />

Plattform an Unterkünften. Bei der Akquise<br />

von Vermietern sollen die Wimdu-Kräfte<br />

deshalb im Revier von Wettbewerbern wie<br />

»Das Ganze ist eine Blackbox. Teilweise<br />

fehlen sogar die Jahresabschlüsse<br />

im Handelsregister«<br />

Handelsexperte Jörg Funder<br />

time for blitzkrieg“. Darin forderte er von<br />

Mitarbeitern Strategiepläne, „die mit eurem<br />

Blut unterschrieben“ sind, und gab<br />

Parolen aus wie: „Ich werde sterben, um zu<br />

gewinnen.“ Später entschuldigte er sich für<br />

die Entgleisung. Es sei nur fair, nicht jedes<br />

Wort einer nächtlichen E-Mail auf die<br />

Goldwaage zu legen.<br />

Auch nonverbal sind die Raketen-Brüder<br />

für robuste Auftritte bekannt. Im Umgang<br />

mit Geschäftspartnern wie Wettbewerbern<br />

verortet ein früherer Rocket-Inter-<br />

Airbnb gewildert haben. Per E-Mail informierte<br />

Airbnb seine Geschäftspartner über<br />

die „Attacken der Klone“, die sogar vorgegaukelt<br />

hätten, im Auftrag von Airbnb zu<br />

arbeiten, in Wahrheit aber nur Vermieter<br />

abwerben wollten. Wimdu ließ eine Anfrage<br />

dazu unbeantwortet.<br />

Bei Auslandseinsätzen der Samwers geht<br />

es nicht minder stürmisch zur Sache.<br />

Wenn sich die deutschen Expeditionskorps<br />

auf den Weg machen, um ein Geschäftsmodell<br />

in die Welt zu tragen, nutzen<br />

die Rocket-Internet-Kräfte Touristen-Visa.<br />

Der Antrag für ein reguläres Geschäftsvisum<br />

dauert ihnen zu lange. Irgendwann,<br />

erzählt Oliver Samwer gern, seien in einem<br />

Auslandsbüro mal ein paar Beamte zum<br />

Kontrollbesuch aufgeschlagen. An dem<br />

Tag hätten die Rocket-Touris dann halt von<br />

zu Hause aus gearbeitet. „Man muss einfach<br />

super pragmatisch sein“, so Samwer.<br />

Was das heißt, bekamen 2012 rund 400<br />

Beschäftigte des Rocket-Standorts in der<br />

Türkei zu spüren. Weil die Zahlen nicht<br />

stimmten, wurde der Standort kurzerhand<br />

geschlossen. In Afrika verschaffte Rocket<br />

Internet seinem Online-Händler Jumia einen<br />

Vorsprung gegenüber dem wichtigsten<br />

Wettbewerber, dem nigerianischen<br />

Online-Anbieter Konga. Die Berliner sicherten<br />

sich die Konga-Web-Adressen in<br />

elf afrikanischen Ländern. „Wir beabsichtigen,<br />

unter diesem Namen ein Start-up in<br />

verschiedenen afrikanischen Ländern zu<br />

starten“, sagt ein Rocket-Sprecher dazu.<br />

Konga jedenfalls kann unter eigenem Namen<br />

dort nicht mehr antreten.<br />

Unzählige solcher Storys über das Vorgehen<br />

der Samwers – irgendwo zwischen clever<br />

und skrupellos – kursieren in der Szene.<br />

„Alles und jeder“, sagt Joel Kaczmarek, werde<br />

„in der Samwer-Maschine gänzlich dem<br />

unternehmerischen Erfolg untergeordnet“.<br />

Als Chefredakteur und Herausgeber des<br />

FOTOS: LAIF/MARKUS HINTZEN, REUTERS/TT NEWS AGENCY/MAGNUS HJALMARSON NEIDEMAN<br />

38 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Branchenmagazins „Gründerszene“ hat er<br />

den Aufstieg der Brüder hautnah miterlebt.<br />

In seiner am Donnerstag erschienenen<br />

Biografie über „Die Paten des Internets“ beschreibt<br />

Kaczmarek, wie es den Brüdern gelang,<br />

„einer ganzen Branche ihren Stempel<br />

aufzudrücken“. Die Geschichte der Samwers<br />

sei „gleichermaßen mit unglaublichen<br />

Erfolgen wie aberwitzigen Machenschaften<br />

gepflastert“, so Kaczmarek. Einen Auszug<br />

druckt die WirtschaftsWoche ab Seite 42.<br />

Vermögenswirksame Leistung<br />

Kinnevik-Großaktionärin Stenbeck will<br />

von den Börsengängen von Rocket Internet<br />

und Zalando profitieren<br />

RUF DES GOLDES<br />

Noch 20 Minuten bis zum Abflug, die Zeit<br />

wird knapp, um die Maschine zu erreichen.<br />

Das Taxi schiebt sich den Saatwinkler<br />

Damm entlang, während Oliver Samwer<br />

über den digitalen Wandel doziert. Das ist<br />

sein großes Thema.<br />

Schon Mitte Juni, bei ihrem Konsumgüterforum<br />

in Paris, hatten sich die Vertreter<br />

der europäischen Handelskonzerne im<br />

Kongresssaal unter dem Louvre versammelt,<br />

um dem Online-Hosianna des deutschen<br />

Web-Propheten zu lauschen. „Ich<br />

bin nicht hier, um Ihnen eine Freude zu<br />

machen“, ließ Oliver Samwer seine Zuhörer<br />

wissen, während er auf der Bühne auf<br />

und ab tigerte. „Einkaufshäuser sind etwas<br />

aus der Zeit um Christi Geburt. Es gibt sie<br />

nur, weil es früher kein Internet gab. Aber<br />

das bedeutet nicht, dass es ein Recht auf ihre<br />

Existenz gibt.“ Zum Abschied rät er den<br />

Top-Managern: „Verlassen Sie den Saal<br />

sehr paranoid.“<br />

Oliver Samwer spürt besser als viele andere,<br />

dass in der Handelsbranche Alarmstimmung<br />

herrscht. Weltweit fließen Milliardenbeträge<br />

von klassischen Läden in Internet-Shops<br />

und Online-Plattformen, ordern<br />

Kunden immer mehr Waren per<br />

Smartphone und Computer. Das verändert<br />

die Hackordnung im Handel von Grund<br />

auf. Der Umbruch ist gewaltig – und liefert<br />

Raketenclub<br />

Die Anteilseigner von Rocket Internet*<br />

Philippine Long Distance<br />

Telephone Company<br />

Access Industries<br />

(Leonard Blavatnik)<br />

United Internet<br />

(Ralph Dommermuth)<br />

Kinnevik<br />

(Cristina Stenbeck)<br />

10,7<br />

Global Founders<br />

(Samwer-Brüder)<br />

8,5 8,6<br />

18,5<br />

* vor dem Einstieg von Holtzbrinck Ventures;<br />

Quelle: Unternehmensangaben<br />

%<br />

53,7<br />

den Samwers das beste Verkaufsargument.<br />

Ihre Botschaft: Wer beim größten Goldrausch<br />

aller Zeiten dabei sein will, kann bei<br />

Rocket Internet die Eintrittskarte lösen.<br />

Heute werden die Claims für das Geschäft<br />

von morgen abgesteckt.<br />

In einer Mail an einen potenziellen<br />

Geldgeber klingt das dann so: „Mein Name<br />

ist Oliver Samwer, meine zwei Brüder und<br />

ich sind Serien-Gründer“. Ganz unbescheiden<br />

findet sich in der Mail ein Link zur Vermögensübersicht<br />

der Brüder beim US-<br />

Wirtschaftsmagazin „Forbes“ nebst der<br />

Anregung, doch am besten bei einem persönlichen<br />

Treffen über die vielversprechenden<br />

Geschäftschancen in den aufstrebenden<br />

Märkten zu plaudern.<br />

Wer Interesse zeigt, darf sich auf launige<br />

Präsentationen freuen – etwa über den<br />

Rocket-Ableger Foodpanda. In einem<br />

„streng vertraulichen“ Papier von 2013 wird<br />

Vermögenden die „Revolution bei Online-<br />

Essenbestellungen in Schwellenländern“<br />

schmackhaft gemacht. Das Geschäftsmodell:<br />

Restaurants und Lieferdienste stellen<br />

ihre Angebote bei Foodpanda ein. Ordert<br />

ein Kunde dann seine Pizza oder Pasta über<br />

die Seite, streicht Foodpanda eine Provision<br />

ein. Ab 2017 will das Unternehmen<br />

schwarze Zahlen schreiben. 2018 soll der<br />

Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen<br />

(Ebitda) dann schwindelerre-<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 39<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

Expedition nach Afrika<br />

Mit E-Commerce-Anbietern wie Jumia<br />

will Rocket Internet den Online-Markt in<br />

Schwellenländern erobern<br />

»<br />

gende 30 Millionen Euro und mehr erreichen.<br />

Großes Panda-Ehrenwort!<br />

Derlei Avancen scheinen zu verfangen:<br />

Superreiche und Investoren rund um<br />

den Globus sind in den vergangenen Jahren<br />

dem Samwer’schen Lockruf gefolgt<br />

und haben teils direkt in Rocket-Ableger,<br />

teils in die Holding investiert. Der indische<br />

Stahlmagnat Lakshmi Mittal und der<br />

russischstämmige US-Milliardär Leonard<br />

Blavatnik gehören zu den Finanziers.<br />

Aus Deutschland steuerten neben United-<br />

Internet-Frontmann Ralph Dommermuth<br />

die Beteiligungsunternehmen von Tengelmann-Eigner<br />

Karl-Erivan Haub und Verleger<br />

Stefan von Holtzbrinck Millionenbeträge<br />

zu.<br />

Der wichtigste Geldgeber ist jedoch der<br />

börsennotierte schwedische Medienkonzern<br />

Kinnevik. Rund 1,2 Milliarden Euro<br />

haben die Schweden in die Samwer-Sphäre<br />

gepumpt, den Großteil in Zalando. Mit<br />

36,5 Prozent der Anteile sind sie der größte<br />

Anteilseigner des Modehändlers, Kinnevik-Verwaltungsratschefin<br />

und Großaktionärin<br />

Cristina Stenbeck führt den Zalando-<br />

Aufsichtsrat. An Rocket Internet selbst hält<br />

Kinnevik 18,5 Prozent.<br />

FREIE BAHN<br />

Ankunft am Flughafen Tegel, das Taxi hält<br />

vor dem Zugang zu Flugsteig fünf. Draußen<br />

leuchtet in grellem Orange die Werbung<br />

des Autoverleihers Sixt: „Winners have a<br />

sixt sense“. Samwer reißt die Tür auf und<br />

stürmt raus. Fahrziel erreicht, Gespräch beendet,<br />

noch schnell die Tasche aus dem<br />

Kofferraum und dann zum British-Airways-Schalter.<br />

Keine Frage, Rocket Internet und die<br />

Samwers müssen sich sputen. Egal, ob<br />

Marktplätze, Möbel- oder Modeshops – die<br />

aussichtsreichsten Massenmärkte im Web<br />

sind besetzt. Hier noch neue Marktführer<br />

zu kreieren wird immer aufwendiger. Der<br />

Kopierfabrik drohen dereinst die Vorlagen<br />

auszugehen.<br />

Rocket Internet reagiert mit einer Art<br />

Konzern-Upgrade auf diese Gefahr und<br />

stampfte zuletzt eine Finanzsparte aus<br />

dem Boden. Im August stieg zudem die<br />

philippinische Telefongesellschaft Philippine<br />

Long Distance Telephone (PLDT) bei<br />

»Man muss super<br />

pragmatisch<br />

sein«<br />

Oliver Samwer<br />

den Berlinern ein. Gemeinsam wollen die<br />

Partner nun in Schwellenländern Angebote<br />

für das Bezahlen per Handy aufziehen.<br />

Wenig später folgte der United-Internet-<br />

Deal und hievte die Bewertung von Rocket<br />

Internet auf insgesamt mehr als vier Milliarden<br />

Euro. Würden die Samwers ihr<br />

54-Prozent-Paket verkaufen, könnten sie<br />

demnach mindestens 2,2 Milliarden Euro<br />

kassieren. Ihre 17-Prozent-Beteiligung an<br />

Zalando ist nach Stand der Dinge weitere<br />

660 Millionen Euro wert.<br />

Doch wollen die Samwers Kasse machen?<br />

„Die Eigentümer haben keine Pläne,<br />

ihre Anteile zu veräußern“, beteuert ein<br />

Rocket-Internet-Sprecher.<br />

Ihren Einsatz haben die Alt-Gesellschafter<br />

ohnehin gesichert. Seit 2012 kehrte<br />

Rocket Internet fast eine Milliarde Euro an<br />

Sach- und Bardividenden an die Eigentümer<br />

aus. Das lässt sich aus einem Prüfbericht<br />

zur Umwandlung des Unternehmens<br />

in eine Aktiengesellschaft im Juli<br />

ableiten. 2012 und 2013 wurden die Samwers<br />

und ihr Investorenzirkel demnach mit<br />

insgesamt 551 Millionen Euro bedacht. Für<br />

2014 gönnten sich die Anteilseigner eine<br />

sogenannte Vorabausschüttung. Knapp<br />

287 Millionen Euro flossen an die Brüder<br />

und katapultierten das Trio auf Platz sechs<br />

in die Liste der größten deutschen Dividendenempfänger<br />

(siehe Wirtschafts-<br />

Woche 33/2014). Kinnevik und die Beteiligungsgesellschaft<br />

Access Industries wurden<br />

im Gegenzug mit zusätzlichen Anteilen<br />

an Zalando-Doppelgängern rund um<br />

den Erdball bedacht. Die Schweden hätten<br />

auf mehr direkte Unternehmensanteile<br />

gedrungen, heißt es im Rocket-Internet<br />

Umfeld.<br />

Nebeneffekt: Die Auszahlungen leerten<br />

die Kasse der Rocket-Holding empfindlich.<br />

Neue Investoren und demnächst auch private<br />

Anleger sollen helfen, nachzufüllen.<br />

Dann, so die Hoffnung, wird die große<br />

Samwer-Show noch erfolgreicher, noch gewinnbringender<br />

weitergehen – fragt sich<br />

nur für wen.<br />

Die Dame <strong>vom</strong> First-Class-Schalter<br />

schüttelt freundlich lächelnd den Kopf, als<br />

Oliver Samwer ihr seinen Pass hinhält. Leider<br />

nichts zu machen, Flug BA 987 ist dicht.<br />

Eigentlich hätte Samwer jetzt Zeit. Er könnte<br />

durch Flughafen-Boutiquen schlendern<br />

und den stationären Handel inspizieren.<br />

Die nächste Maschine nach London startet<br />

erst in eineinhalb Stunden.<br />

Doch Stillstand ist keine Option für ihn,<br />

die Arbeit geht weiter. Er marschiert zu<br />

Gate fünf, legt Reisetasche und Handy auf<br />

das Band und passiert die Sicherheitsschleuse.<br />

Kein Piepen hält ihn auf, keine<br />

Security bittet ihn zur Nachkontrolle: freie<br />

Bahn für Oliver Samwer.<br />

n<br />

henryk.hielscher@wiwo.de,<br />

karin finkenzeller | Paris, michael kroker<br />

Die Frontal21-Dokumentation „Die Milliarden-Geschäfte<br />

der Zalando-Boys“ sendet<br />

das ZDF am 26. August um 21 Uhr.<br />

FOTOS: GETTY IMAGES/AFP/PIUS UTOMI EKPEI, DDP IMAGES/MAJA HITIJ<br />

40 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


ZALANDO<br />

Kleine Geschenke<br />

Der Web-Shop ist einer der größten Subventionsempfänger im Handel.<br />

Es war ein Termin nach dem Geschmack<br />

von Thüringens Wirtschaftsminister Matthias<br />

Machnig. Als im Dezember 2011 der<br />

Grundstein des neuen Zalando-Logistikzentrums<br />

in der Landeshauptstadt Erfurt<br />

gelegt wurde, jubelte der SPD-Politiker:<br />

„Die Ansiedlung zeigt erneut: Thüringen<br />

ist hochattraktiv für Investoren.“<br />

Die Attraktivität Thüringens kam nicht<br />

von ungefähr. Der Freistaat stellte für die<br />

Ansiedlung Zalandos 22,4 Millionen Euro<br />

Fördermittel bereit. Nach Recherchen<br />

der WirtschaftsWoche und des ZDF-Magazins<br />

„Frontal21“ sind die Thüringer<br />

Subventionen zwar die höchsten, aber<br />

nicht die einzigen Steuergelder für den<br />

Berliner Online-Modehändler. So genehmigte<br />

das Land Brandenburg laut Wirtschaftsministerium<br />

2,5 Millionen Euro für<br />

ein Logistikzentrum in Brieselang im Havelland.<br />

Die Hauptstadt Berlin stellte<br />

2010 bis 2013 Investitionszuschüsse<br />

und Projektförderungen von 10,6 Millionen<br />

Euro zur Verfügung. Das geht aus einer<br />

Abfrage der Berliner Zuwendungsdatenbank<br />

hervor.<br />

Fashion-Aufsteiger. Der sogenannte Sistrix-<br />

Index, der angesehenste Maßstab für die<br />

Sichtbarkeit einer Web-Seite im Internet,<br />

erreicht bei Zalando 179 Punkte. Der Online-Shop<br />

von Hennes & Mauritz (H&M)<br />

kommt dagegen nur auf zehn Punkte. Der<br />

Abstand ist gewaltig und bedeutet, dass<br />

ein Kunde, der über Suchmaschinen wie<br />

Google nach Klamotten fahndet, an Zalando<br />

kaum vorbeikommt. Ein zentraler Faktor<br />

für die Sichtbarkeit einer Web-Site bei<br />

Bloggern und Web-Seiten-Betreibern<br />

Tausende Gutscheine für den Gratis-Einkauf<br />

bei Zalando. Das geht aus einer<br />

unternehmensinternen Liste über die<br />

Gutscheingewährung hervor. Die meisten<br />

Einträge enthalten das Kürzel SEO, dienten<br />

also primär der Suchmaschinenoptimierung.<br />

Oft reichten Web-Site-Betreiber<br />

die Zalando-Gutscheine über Gewinnspiele<br />

an die Nutzer weiter. Dass es sich<br />

um Marketing-Aktionen handelte, war<br />

klar erkennbar. Zugleich lassen sich<br />

schon bei Stichproben aber Dutzende<br />

deutsche Blogger identifizieren, die es<br />

mit der Trennung von Werbung und<br />

Inhalten nicht genau nahmen. Für einige<br />

Autoren waren offenbar schon Gutscheine<br />

über 50 Euro Anlass genug, wahre<br />

GESCHÄFTE MIT LINKS<br />

Auch der Bund geizte nicht: Bis 2012<br />

wurden Zalando rund 3,3 Millionen Euro<br />

zur Wirtschaftsförderung strukturschwacher<br />

Regionen gewährt. 2013 bewilligte<br />

das Bundeswirtschaftsministerium zusätzliche<br />

Mittel von 3,2 Millionen Euro.<br />

Das Unternehmen sei 2013 „der größte<br />

Empfänger“ entsprechender Fördermittel<br />

im Versandhandel gewesen, teilt das<br />

Bundeswirtschaftsministerium mit.<br />

Auf stolze 42 Millionen Euro beläuft<br />

sich die Gesamtsumme aller bisherigen<br />

Fördermittel für Zalando. Auch wenn<br />

nach Unternehmensangaben erst 16,4<br />

Millionen Euro ausgezahlt wurden, bleibt<br />

Zalando damit einer der größten Subventionsempfänger<br />

im deutschen Handel.<br />

Führend ist Zalando auch auf ganz anderem<br />

Gebiet: bei der Optimierung des Online-Auftritts<br />

für Internet-Suchmaschinen,<br />

Branchenkürzel: SEO. Kein anderer<br />

Modeanbieter ist bei Suchanfragen im<br />

Web ähnlich präsent wie der Berliner<br />

Offline-Shopping Der Verkauf im Laden war<br />

Teil einer Marketingaktion von Zalando.<br />

Seine wahre Stärke zeigt der Händler im Netz<br />

Google ist die Verlinkung der Seite. Rund<br />

7700 Online-Seiten verweisen laut Sistrix-<br />

Daten auf Zalando.<br />

Doch wie kommen so viele Links zustande?<br />

Ein Zalando-Insider behauptet, dass<br />

ein Teil der Links von anderen Web-Sites<br />

gekauft oder gemietet wurde. Ein Unternehmenssprecher<br />

will das weder bestätigen<br />

noch dementieren.<br />

Auch Blogger soll Zalando zur Suchmaschinenoptimierung<br />

eingespannt haben.<br />

Das Motto dabei: Kleine Geschenke erhalten<br />

die Freundschaft. So spendierte der<br />

Modehändler in den vergangenen Jahren<br />

Zalando-Hymnen zu verfassen und Links<br />

auf den Shop zu setzen.<br />

„Habt ihr mal bei zalando.de geschaut??“,<br />

fragt zum Beispiel eine Netzautorin<br />

aus Niedersachsen auf ihrer Internet-Seite,<br />

um gleich selbst zu antworten:<br />

„Ich könnte in dem Online-Shop stundenlang<br />

surfen und meine Wunschliste wird<br />

lääänger und lääääänger...“ Dass sie kurz<br />

zuvor einen 50-Euro-Bon erhielt, steht<br />

nicht auf der Seite.<br />

Ein Zalando-Sprecher betont, das Unternehmen<br />

sei bestrebt, „höchstmögliche<br />

Transparenz zu gewährleisten“. Blogger<br />

würden unabhängig über den Inhalt ihrer<br />

Beiträge entscheiden.<br />

n<br />

henryk.hielscher@wiwo.de<br />

Lesen Sie weiter auf Seite 42 »<br />

WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 41<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

Mit strenger Hand<br />

SAMWER-BIOGRAFIE | Joel Kaczmarek schildert, wie aus drei Kölner Brüdern ebenso erfolgreiche wie<br />

umstrittene Unternehmer wurden. Auszüge aus seinem Buch „Die Paten des Internets“.<br />

Glaubt man Oliver Samwer, begleitete der Traum <strong>vom</strong> Unternehmertum<br />

ihn und seine Brüder bereits seit der Kindheit.<br />

Im Alter von acht Jahren begann der 1973 geborene Kölner,<br />

seinen Vater jeden Samstag in dessen Anwaltskanzlei zu begleiten,<br />

um ihn beim Öffnen der Geschäftspost zu unterstützen. Hautnah<br />

sollten der heranwachsende Junge, sein drei Jahre älterer Bruder<br />

Marc und der zwei Jahre jüngere Alexander so erfahren, was es<br />

bedeutete, selbstständig zu sein. Im Kleinformat vermittelte der<br />

freiberufliche Vater den Brüdern die Hochs und Tiefs des Unternehmertums.<br />

Regelmäßig sollte der Vater das „Handelsblatt“ mit<br />

nach Hause bringen und in seinen Söhnen eher das Interesse für<br />

Börsenkurse, denn für Micky Maus wecken. Darauf angesprochen,<br />

beschreibt Oliver Samwer seinen Vater als „einen sehr schlauen<br />

Mann mit vielen deutschen Tugenden, der stets viel in seinem<br />

Leben gearbeitet hat und Herr einer kleinen Anwaltsfirma“ sei.<br />

In Wirklichkeit handelt es sich bei Vater Sigmar-Jürgen Samwer<br />

um niemand Geringeren als einen der bekanntesten Rechtsanwälte<br />

Kölns. Ein Presse- und Wettbewerbsrechtler, der Ansehen<br />

erlangte, nachdem er Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll vor<br />

dem Bundesverfassungsgericht vertrat oder den späteren Bundespräsidenten<br />

Karl Carstens im Guillaume-Untersuchungsausschuss<br />

verteidigte. Der strebsame Familienvater mit bissigem Humor und<br />

hoher Intelligenz erzog den eigenen Nachwuchs mit strenger Hand<br />

und ausgemachtem Elitedenken konservativer Färbung. Er war es<br />

daher wohl auch, der seinen Söhnen jenen Drang nach Wettbewerb,<br />

den unbedingten Wunsch zu gewinnen, mit<br />

auf den Weg gab – eine Eigenheit, die insbesondere<br />

Oliver Samwer in einzigartiger Weise ausmacht.<br />

Vollständig erklären mag aber selbst die strenge<br />

Erziehung den Erfolgshunger der drei Samwers<br />

nicht, zumal der jüngste Bruder Alexander im Vergleich<br />

zu seinem bissigen Geschwisterkind Oliver<br />

ohnehin eher in sich ruhend und gelassen wirkt.<br />

Vor allem ist da noch Sabine Samwer, eine überfürsorgliche<br />

Mutter, die ebenfalls dem Anwaltsberuf<br />

nachging. Selbst im Erwachsenenalter soll sie<br />

Oliver noch gemahnt haben, während der gemeinsam verbrachten<br />

Urlaube nicht von einem kleinen Felsen ins Wasser zu springen.<br />

Dennoch sollte auch Sabine Samwer ihren Kindern jenes starke<br />

Elitedenken vermitteln, auf das ihr Mann so viel Wert legte.<br />

Das Elternpaar hielt sich für etwas Besonderes und wiederum<br />

war es der mittlere Bruder Oliver, der diese Einstellung in besonderer<br />

Weise übernahm. Stets war er auf besten Umgang bedacht. So<br />

ging er zu Studienzeiten eine Liaison mit einer Französin ein, deren<br />

Vater im Führungsstab von Frankreichs Staatspräsident<br />

Jacques Chirac arbeitete. In der Öffentlichkeit und gegenüber den<br />

Weggefährten der Samwers gab sich der mittlere Bruder gerne cool<br />

und locker, als Unternehmerpersönlichkeit, die sparsam lebte und<br />

auf teure Dinge nichts gab. In Wirklichkeit war an seinem Lebensstil<br />

aber nichts mehr bescheiden, nachdem er sich erst einmal<br />

einen gewissen Wohlstand erarbeitet hatte.<br />

BLAUES BLUT IN SAMWERS ADERN<br />

Auch der Familienstammbaum der Samwers ist eindrucksvoll.<br />

Karl Friedrich Lucian Samwer, der Urgroßvater der drei Brüder,<br />

war als Ehrenbürger von Gotha ausgezeichnet worden, nachdem<br />

er die Gothaer Versicherungsbank durch die Kriegswirren geführt<br />

und die Gothaer Versicherung gegründet hatte. Durch einen Zufall<br />

sollte sich die adlige Abstammung der Samwers herausstellen, als<br />

Karl Samwers Vater Carl August 1813 die älteste Tochter des Adeligen<br />

Simon Carl von Wasmer heiraten wollte. Denn Wasmer offen-<br />

1|Startschuss Alando<br />

Samwers & Friends 1999<br />

2|Ebay kauft Alando<br />

Die Samwers lecken Blut<br />

3|Nächster Coup<br />

Klingeltöne fürs Handy<br />

4|Klon City Deal<br />

An Groupon verscherbelt<br />

5|Putzkraftportal<br />

Helpling Wisch und weg<br />

1 2 3<br />

42 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


FOTOS: POP-EYE/BRIGITTE HEINRICH, LAIF/RUEDIGER NEHMZOW, PR, ANDREAS CHUDOWSKI FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, PICTURE-ALLIANCE/DPA/HANNIBAL HANSCHKE<br />

barte ihm, dass er im Begriff war, seine Halbschwester zu ehelichen,<br />

war Carl August Samwer doch sein außerehelicher Sohn.<br />

Um die Verwandtschaft zu verschleiern, war der Nachname des<br />

Adeligen von „Wasmer“ zu „Samwer“ umgestellt geworden.<br />

In den Genen der Samwer-Brüder war also ein gewisses Gründer-Gen<br />

vorhanden. Während andere Kinder Lokomotivführer<br />

oder Pilot werden wollten, war ihr Berufswunsch der des Unternehmers.<br />

Die drei Brüder schlossen während eines Segeltörns einen<br />

Pakt: Sie wollten gemeinsam ein Unternehmen gründen – da waren<br />

die drei gerade 12, 14 und 16 Jahre alt. Gemeinsam besuchte das<br />

Trio das renommierte Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Köln und<br />

verbrachte die Freizeit im Marienburger Sportclub, wo den eng verbundenen<br />

Brüdern die Bedeutung von sportlicher Rivalität, Wettbewerb<br />

und ein ausgeprägter<br />

Siegeswille nahegebracht<br />

wurde. „I will die to<br />

win“, fasste Oliver es später<br />

einmal zusammen und<br />

übertrug seine sportliche<br />

Maxime auf sein berufliches<br />

und schulisches Schaffen. Mit einem Notendurchschnitt von<br />

0,8 gelang Oliver das beste Abitur seines Jahrgangs, doch Alexander<br />

sollte ihn noch übertreffen: Er schrieb 1994 das beste Abitur Nordrhein-Westfalens<br />

und brachte es auf einen Schnitt von 0,66.<br />

Neben der Erziehung der Eltern zeichnet vor allem die Geburtenfolge<br />

der Samwers ein anschauliches Bild ihrer unterschiedlichen<br />

Charaktereigenschaften. Als Erstgeborenem war Marc ein Großteil<br />

der elterlichen Aufmerksamkeit zugekommen, ehe drei Jahre später<br />

die Geburt des Bruders Oliver möglicherweise so etwas wie eine<br />

psychologische „Entthronung“ mit sich brachte. Die oft beobachtete<br />

Reaktion, dass Erstgeborene in der Folge diesen Statusverlust<br />

durch ein besonderes Maß an Tüchtigkeit und Vernunft sowie die<br />

Übernahme von Verantwortung wieder wettmachen wollen,<br />

scheint bei Marc nicht unplausibel. Dem Zweitgeborenen kommt<br />

in diesem Konstrukt so etwas wie die Rolle als „Herausforderer“ zu.<br />

Mit zwei charismatisch-kontaktfreudigen älteren Geschwistern vor<br />

sich suchte sich Alexander, der jüngste Bruder, womöglich seine eigene<br />

Lücke und agiert seither als eine Art Stratege des Trios.<br />

DER DIPLOMAT AN DER SPITZE<br />

Marc Samwer ist ein Charismatiker, ein jovialer Mann von hohem<br />

Wuchs, der es versteht, andere für sich einzunehmen. Äußerlich<br />

ein echter Gewinnertyp, dem es quasi zufällt, dass andere ihn mögen<br />

und der sein Gegenüber beinahe genauso geschickt umgarnen<br />

kann wie sein jüngerer Bruder Oliver. Im Gegensatz zu ihm,<br />

der durch unterschiedliche sprachliche Marotten aufzufallen weiß<br />

– etwa durch seine von Kriegsmetaphern durchzogene Rhetorik<br />

oder das Beenden nahezu jedes englischen Satzes mit der Silbe<br />

„ja?“ –, bietet das Auftreten von Marc weniger Angriffsfläche. Er ist<br />

ein guter Redner, der es vermag, Sachverhalte leicht verständlich<br />

herunterzubrechen. Auch fehlt seinen öffentlichen Auftritten die<br />

subtil selbstverliebte Note des jüngeren Bruders.<br />

Doch das Gesicht, das die Öffentlichkeit von Marc Samwer sieht,<br />

hat nicht zwangsläufig etwas mit dem Auftreten zu tun, das er in<br />

seinen Unternehmen zeigt. Dem Samwer-Ältesten haftet der Ruf<br />

eines geschickten Manipulators an, der durch sein Verkäufertalent<br />

zu überzeugen weiß, aber gerne auch mal mit gespaltener Zunge<br />

spricht. Ehemalige Mitarbeiter sagen Marc eine gewisse berechnende<br />

Unaufrichtigkeit<br />

nach und beschreiben<br />

ihn als jemanden, der<br />

häufig hinter dem Rücken<br />

anders als im direkten<br />

Kontakt spricht. Dieser<br />

schlechte Ruf lässt sich<br />

zwar nicht belegen, solche Zuschreibungen ziehen sich jedoch wie<br />

ein roter Faden durch die Erzählungen über Marc Samwer.<br />

Der Jurist hatte einen merklichen Erfahrungsvorsprung, als er<br />

sich mit seinen Brüdern zusammentat und binnen eines Jahrzehnts<br />

ein eigenes Internetimperium aufbaute. Dennoch gilt Marc<br />

als der am wenigsten talentierte Unternehmer des Brüdergespanns.<br />

Zwar überragen seine Intelligenz und Umsetzungsstärke<br />

deutlich den Durchschnitt, doch seien ihm sowohl Alexander als<br />

auch Oliver in diesen Disziplinen merklich voraus. Dass es letztlich<br />

doch keinen so großen Unterschied der Talente der Brüder gibt,<br />

bewies Marc beim Coupon-Anbieter Groupon, für den er das internationale<br />

Geschäft verantwortete. Dabei überflügelte er den für<br />

Deutschland zuständigen Oliver merklich. Den Leitwolf sollte der<br />

älteste Bruder trotzdem nicht mimen. Diese Rolle fiel Oliver zu.<br />

Der zweifelhafte Ruf, ein<br />

geschickter Manipulator<br />

zu sein, hängt Bruder Marc an<br />

DER AGGRESSOR IN DER MITTE<br />

Während andere Unternehmer in Tagen oder Wochen funktionieren,<br />

arbeitet Oliver Samwer in Stunden und Minuten und setzt<br />

mehrere Aspekte parallel um. Bei all seinen Unternehmungen geht<br />

es nur um eines: schneller zu sein als die Konkurrenz. Er ist in der<br />

Lage, in rasantem Tempo stets die rational beste Entscheidung zu<br />

treffen und diese anschließend eisern, mit völliger Emotionslosigkeit<br />

umzusetzen. Auch der Umfang der Entscheidung spielt für ihn<br />

keine Rolle. Ob er ein mittleres Marketingbudget umdisponiert<br />

oder einen Unternehmensstandort mit 400 Angestellten<br />

»<br />

4 5<br />

WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 43<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

»<br />

schließt (wie dies beim Türkei-Standort der Fall war), macht für<br />

ihn keinen Unterschied. Und selbst wenn sich eine seiner Entscheidungen<br />

im Nachhinein als falsch herausstellt – und dies<br />

kommt nicht selten vor –, sichert ihm seine Geschwindigkeit, dass<br />

er eine Fehlentscheidung vor allen anderen bemerkt und revidieren<br />

kann. Hinzu kommt:Oliver Samwer verfügt über die Fähigkeit,<br />

in seinem Gegenüber Wünsche und Begehren auszumachen, und<br />

ist dann in der Lage, diese in Aussicht zu stellen, um das Verhalten<br />

zu erzielen, das er sehen möchte. Ist es in seinem Interesse, verströmt<br />

er eine inspirierende, anregende Aura, der selbst Größen<br />

der internationalen Finanzwelt verfallen. Glaubt man dem Flurfunk<br />

seiner aktuellen und ehemaligen Mitarbeiter, reicht sein<br />

emotional-psychologisches Repertoire von cholerischen Schreianfällen,<br />

während derer er Monitore <strong>vom</strong> Tisch wischt, bis hin zu<br />

sanft und säuselnd vorgetragenen Komplimenten. Mal signiert er<br />

E-Mails mit einem nahezu liebevollen »Dein Oli«, mal ruft er sieben<br />

Mal hintereinander nachts um drei an und schreit herum.<br />

Menschen, die von ihm abhängig sind, redet er ein, dass sie<br />

schlecht seien, grobe Fehler<br />

gemacht oder sein Vertrauen<br />

missbraucht hätten. In<br />

der Beziehung zu Fremden<br />

baut er auf Emotionalität,<br />

um ein Gefühl der Verbundenheit<br />

zu suggerieren.<br />

Selbst Menschen, die er<br />

kaum kennt, fährt er empört an, wie sie ihn derart enttäuschen<br />

konnten, und setzt sie einem Wechselspiel aus Aggressionen,<br />

Liebenswürdigkeit und Enttäuschung aus.<br />

Diese Fähigkeiten machen Oliver Samwer zum geborenen Anführer,<br />

der sich und seinen Mitarbeitern Unmenschliches abverlangt.<br />

Durch die Aussicht auf großen Reichtum und gigantische<br />

Lerneffekte, schafft er es, andere Menschen Dinge realisieren zu<br />

lassen, die sie selbst nicht für möglich gehalten hätten. Zu seiner<br />

Taktik zählt es, Ziele derart hoch zu stecken, dass von vornherein<br />

klar ist, dass sich diese nicht erreichen lassen. In dem Versuch,<br />

diese waghalsigen Ziele dennoch zu realisieren, gehen seine Angestellten<br />

über das, was üblich und gesund ist, deutlich hinaus.<br />

ALLES WIRD DEM ERFOLG UNTERGEORDNET<br />

Dieser auf Leistung getrimmte Führungsstil funktioniert aber nur,<br />

weil er ihn selbst lebt. Auch der dreifache Familienvater selbst ordnet<br />

alles seinem Erfolg unter. Geschichten von einem Oliver Samwer,<br />

der bereits im Taxi <strong>vom</strong> Flughafen Interviews gibt, selbst aus<br />

dem Kreißsaal noch Umsatzzahlen erfragt oder nach Reisen um<br />

den gesamten Erdball noch mehrstündige Ansprachen vor seinen<br />

Angestellten hält, gibt es genug.<br />

Seine Arbeitsweise ist auf Geschwindigkeit ausgelegt. Stets<br />

schreibt der Kölner lediglich kurze Stakkato-Mails aus einzelnen<br />

Sätzen oder Worten. Wer Teil von Oliver Samwers Führungsstil des<br />

„Management by Telephone“ ist, kann sich darauf einstellen, dass<br />

es kein „Hallo“ und kein „Auf Wiedersehen“ gibt, sondern dass es<br />

immer sofort zur Sache geht und dass der Unternehmer sein<br />

Gegenüber auch mal mitten im Satz wegdrückt.<br />

Sozial ist Oliver Samwer eher ein Exzentriker. Würde man sein<br />

Verhalten an einer Soziopathen-Checkliste überprüfen, er würde<br />

wohl viele Punkte erfüllen. Zahlreiche ehemalige Weggefährten<br />

sagen dennoch, dass es eine Ehre sei, einmal mit Oliver Samwer<br />

zusammengearbeitet zu haben. Es sei ein Ereignis, ihn und seine<br />

einzigartige Arbeitsweise zu erleben.<br />

Alexander Samwer ist ein hochbegabter Intellektueller, der seine<br />

Brüder in Sachen Intelligenz deutlich überragt. Seine Position im<br />

Trio der drei Samwers speist sich aus der ruhigen und freundlichen<br />

Art eines strategischen Feingeistes, der anderen und ihrer Arbeit<br />

aufrichtiges Interesse entgegenbringt. Er gilt als der Umgänglichste<br />

des Trios, als menschlich, höflich und zurückhaltend und<br />

genießt den Ruf, Beziehungen weniger berechnend aufzubauen.<br />

Ursächlich dafür mag Alexanders studentische Heimat an Eliteuniversitäten<br />

wie Oxford oder Harvard sein, wo der jüngste Samwer<br />

nicht nur hervorragende Abschlüsse ablegte, sondern sich<br />

auch seinen Sinn für die Gemeinschaft aneignete.<br />

Oliver Samwer kann<br />

cholerisch oder säuselnd<br />

sein, wenn er etwas will<br />

FREUNDLICHE DENKMASCHINE<br />

Alexander scheint vielmehr eine Denkmaschine, die ein Thema in<br />

einem Tempo erfasst, wie es nur wenige Menschen auf diesem Planeten<br />

vermögen. Er verfügt über die Fähigkeit, rasant herauszufinden,<br />

an welcher Stelle die Wachstumshebel einer Unternehmung<br />

liegen, in welcher Reihenfolge diese zu bedienen sind und welche<br />

Erfordernisse und Probleme<br />

auf dem Weg mit welcher<br />

Wahrscheinlichkeit<br />

auftreten werden. Seine<br />

Analytik befähigt ihn dazu,<br />

den Finger in die Wunde zu<br />

legen, wenn einer Gründung<br />

auch nur ein Teil dieser<br />

Ablaufschritte fehlt und sie damit droht ein weniger großer Erfolg<br />

zu werden. Es überrascht daher nicht, dass Weggefährten ihn<br />

als intelligent, analytisch, ruhig und freundlich charakterisieren.<br />

Als einen Mann, der im Gegensatz zu seinen Brüdern in der Lage<br />

ist, auch einmal länger als zehn Minuten einem Gespräch zu folgen.<br />

Der auch mal einen Schritt zurücktritt, um das große Ganze<br />

zu betrachten. Sein Antrieb scheint jedoch auch dieses gewisse<br />

Maß an Paranoia zu sein, von der auch seine Brüder befallen sind.<br />

Doch anders als Alexander und Oliver, die sich von dem drohenden<br />

Wettbewerber zu Tempo und Wachstum anstacheln lassen,<br />

konzentriert sich Alexander auf Details. Auch er scheint mit dem<br />

Heute nicht zufrieden, weil er angesichts seiner Weitsicht das Gefühl<br />

hat, dass er und seine Brüder bereits gejagt werden. Doch er<br />

begegnet diesem Umstand mit einem Maximum an Planung. Konsequenterweise<br />

ist er es, der die herausfordernden Gründungen<br />

der Samwers betreute. Dazu gehören etwa der E-Commerce-Riese<br />

Zalando, den er zu einem der erfolgreichsten Onlineshops Europas<br />

auszubauen half, oder das logistisch aufwendige Geschäft des<br />

Möbelshops Home24. Während die Gründungen, bei denen Oliver<br />

oder Marc federführend tätig waren, oft auf kurzfristigen Erfolg<br />

angelegt waren, konzentrierte sich Alexander auf die anspruchsvollen<br />

Aufgaben und betreute sie mit strategischer Weitsicht. Hätte<br />

es ihn nicht in die Selbstständigkeit verschlagen, könnte er auch<br />

als CEO eines Dax-Unternehmens tätig sein.<br />

n<br />

Redaktion: lin.freitag@wiwo.de<br />

Joel Kaczmarek ist der Autor von„Die Paten<br />

des Internets“ und Herausgeber der „Gründerszene“.<br />

Das Online-Magazin beschäftigt sich<br />

mit der Internet-Wirtschaft. Kaczmareks Werk<br />

ist vergangene Woche im FinanzBuch Verlag<br />

erschienen und kostet 19,99 Euro.<br />

FOTO: PR<br />

44 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

Offene Wunden<br />

KARSTADT | Rund 20 Filialen will der neue Eigentümer René Benko<br />

schließen. Bürgermeister fürchten die Verödung ihrer Innenstädte<br />

– denn so erging es vielen Städten nach der Insolvenz von Hertie.<br />

Sonja Jürgens stakst in ihren hohen<br />

Schuhen über die kleinen, grauen<br />

Glasmosaike der zerbrochenen Türe.<br />

Die Bürgermeisterin lässt ihren Blick über<br />

die ehemalige Verkaufsfläche schweifen.<br />

Fast sechs Jahre steht das ehemalige Hertie-Kaufhaus<br />

in Gronau, einer 47 000-Einwohner-Stadt<br />

in Westfalen, schon leer. Dekoration<br />

und Papierreste liegen auf dem<br />

staubigen Parkettboden, Kleiderständer<br />

Schandfleck in der Einkaufsstraße<br />

Welche Städte unter dem Rückzug<br />

der Warenhauskette leiden<br />

Lobberich<br />

Hückelhoven<br />

Gladbeck<br />

Bottrop<br />

Eschweiler<br />

Bremerhaven<br />

Delmenhorst<br />

Velbert<br />

MG-Rheydt<br />

Leerstehende Hertie-Häuser<br />

Für diese Standorte gibt es<br />

noch keinen Kaufvertrag<br />

Recklinghausen<br />

Siegen<br />

Herne<br />

Iserlohn<br />

Idar Oberstein<br />

Bedrohte Karstadt-Filialen<br />

Diese Standorte könnten bald wegfallen<br />

Höxter<br />

Neustadt a.d.W.<br />

und halbe Schaufensterpuppen stehen<br />

sinnlos mitten im Raum verteilt. Neben der<br />

ehemaligen Süßigkeitenecke hat jemand<br />

Feuerlöscher in einem Kreis aufgestellt.<br />

„Dahinter standen mal die Schreibwaren“,<br />

sagt die 36-jährige Kommunalpolitikerin.<br />

Früher kauften hier Jugendliche CDs<br />

oder Senioren eine Strickjacke. Doch 2008<br />

ging Hertie in die Insolvenz, und die Mitarbeiter<br />

in Gronau mussten die Schaufenster<br />

Schleswig<br />

Rendsburg<br />

Neumünster<br />

Hamburg-Bergedorf<br />

Hamburg-Billstedt<br />

Dessau<br />

Bayreuth<br />

Filialen von Hertie*, Kaufhof und<br />

Karstadt in Deutschland<br />

320<br />

300<br />

280<br />

260<br />

240<br />

220<br />

200<br />

180<br />

2000 2014<br />

Deggendorf<br />

* 2005 bis 2008; Quelle: CR Investment Management,<br />

Immobilien Zeitung; Gerd Hessert/Universität Leipzig<br />

Insolvenz<br />

von Hertie<br />

mit braunem Packpapier zuhängen. „Obwohl<br />

die Filiale hier schwarze Zahlen<br />

schrieb“, beteuert Jürgens, noch immer mit<br />

Empörung in der Stimme.<br />

Viele Bürgermeister in Deutschland befürchten,<br />

dass die Warenhäuser in ihren<br />

Innenstädten bald genauso verkommen<br />

wie das in Gronau. Spätestens seit dem<br />

Einstieg des österreichischen Immobilienentwicklers<br />

René Benko bei Karstadt ist<br />

klar, dass es zu tiefen Einschnitten in das<br />

Filialnetz des Essener Traditionskonzerns<br />

kommen wird. Bis zu 20 der 83 Karstadt-Filialen<br />

sollen schließen. Und falls Benko<br />

sein langfristiges Ziel für eine Fusion mit<br />

dem Erzrivalen Kaufhof erreicht, könnte<br />

ein noch drastischeres Filialsterben folgen.<br />

In den Stadträten sorgen sich die Kommunalpolitiker<br />

deshalb bereits um die Verödung<br />

ihrer Fußgängerzonen.<br />

Gronau ist nur ein Beispiel dafür, wie<br />

sehr Einzelhandel und Kommune leiden,<br />

wenn ein großes Warenhaus seine Türen<br />

schließt. Nach beinahe sechs Jahren haben<br />

die Politiker in der westfälischen Kleinstadt<br />

an der niederländischen Grenze das Warten<br />

auf einen Investor aufgegeben. Im vergangenen<br />

Oktober kaufte die Stadt die Immobilie.<br />

Die Kleiderständer, das Papier an<br />

den Schaufenstern, die Feuerlöscher, all<br />

das gehört jetzt der Kommune.<br />

„Hauptsache, es geht voran“,<br />

macht sich Bürgermeisterin Jürgens<br />

Mut. Denn das geschäftliche<br />

Leben auf dem menschenleeren<br />

Marktplatz vor dem ehemaligen<br />

Hertie-Kaufhaus ist<br />

heute völlig eingeschlafen. Mehmet<br />

Torun hofft jeden Tag, dass<br />

das rote Hertie-Logo an dem<br />

klobigen Betonbau gegenüber<br />

durch das Schild eines neuen Eigentümers<br />

ersetzt wird. Sein Geschäft<br />

für orthopädische Schuhe<br />

liegt auf der anderen Seite des<br />

Platzes, schräg gegenüber <strong>vom</strong><br />

ehemaligen Kaufhauseingang.<br />

„Die Geschäfte hier haben doch<br />

arge Probleme, weiter zu bestehen“,<br />

sagt Torun.<br />

Von Delmenhorst bis Dinslaken und von<br />

Itzehoe bis Idar-Oberstein, überall haben<br />

die Einzelhändler dieselben Schwierigkeiten,<br />

seit Hertie seine Türen schloss. „Für die<br />

umliegenden Geschäfte ist das eine Katastrophe.<br />

Da fehlt die Sogwirkung, die so ein<br />

Kaufhaus auf die Kunden hat“, sagt Gerd<br />

Hessert, Handels-Professor an der Universität<br />

Leipzig. So erging es auch Bingen am<br />

Rhein. „Hertie ist die offene Wunde in<br />

»<br />

46 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

»<br />

unserem Stadtzentrum“, sagt Bürgermeister<br />

Thomas Feser.<br />

Dabei sollte Hertie in Bingen und<br />

anderswo eigentlich der Retter der<br />

Innenstädte werden. 2005 übernahm<br />

das Traditionswarenhaus,<br />

hinter dem der britische Investor<br />

Dawnay Day stand, mehr als 70 kleinere<br />

Filialen des Konkurrenten Karstadt,<br />

als der mal wieder in der Krise<br />

steckte. Doch nur drei Jahre später<br />

rutschte Hertie in die Pleite.<br />

Jetzt droht sich die Geschichte bei<br />

zahlreichen Karstadt-Filialen zu wiederholen.<br />

Denn der anfangs als Karstadt-Retter<br />

gefeierte deutsch-amerikanische<br />

Investor Nicolas Berggruen<br />

hat bei seinem Rückzug Mitte August<br />

seinem Nachfolger Benko eine Handelsruine<br />

hinterlassen. Benko und<br />

Karstadt-Aufsichtsratschef Stephan<br />

Fanderl müssen nun Teile des Filialnetzes<br />

kappen, um das Überleben<br />

des Unternehmens zu sichern. Jede<br />

vierte Filiale steht auf dem Prüfstand.<br />

Die „Immobilien Zeitung“ hat bereits<br />

eine Rote Liste der Schließungskandidaten<br />

aufgestellt. Besonders<br />

gefährdet sind demnach Standorte in<br />

Bayreuth, Bottrop, Bremerhaven,<br />

Dessau, Hamburg, Iserlohn, Mönchengladbach,<br />

Neumünster, Recklinghausen<br />

und Siegen. Diese Filialen<br />

erwirtschaften besonders wenig Umsatz<br />

pro Quadratmeter und tauchten schon<br />

häufiger auf den Streichlisten des Warenhauskonzerns<br />

auf. Gewissheit wird es für<br />

die Beschäftigten an den Standorten erst<br />

geben, wenn der Karstadt-Aufsichtsrat das<br />

nächste Mal zusammenkommt. Doch eine<br />

für vergangene Woche angesetzte Sitzung<br />

wurde auf unbestimmte Zeit verschoben.<br />

RISIKO FÜR DIE STÄDTE<br />

Für die Ratsherren vieler Städte bedeutet<br />

das nichts Gutes. Bei Hertie waren auch<br />

drei Jahre nach der Insolvenz mehr als die<br />

Hälfte der von Dawnay Day verwalteten<br />

Häuser noch ohne Käufer. „Die Strukturen<br />

bei Hertie waren so kompliziert, wir wussten<br />

nicht mal, mit wem wir eigentlich verhandeln<br />

können“, sagt der Bingener Bürgermeister<br />

Feser. Er schloss sich mit Kollegen<br />

anderer Hertie-geschädigter Städte zusammen,<br />

um gegen den Leerstand und das<br />

fehlende Engagement der Insolvenzverwalter<br />

und des Dawnay-Day-Hauptgläubigers,<br />

der Deutschen Bank, zu protestieren.<br />

Doch 14 der ehemals 34 Bürgermeister<br />

der Runde haben heute noch immer keine<br />

»Bis hier was passiert,<br />

wird es wahrscheinlich<br />

noch etwas dauern«<br />

Sonja Jürgens, Bürgermeisterin von Gronau<br />

Gewissheit über die Zukunft ihrer Hertie-<br />

Häuser. Für diese Immobilien habe man<br />

noch keinen Kaufvertrag abschließen<br />

können, berichtet Sebastian Mogos-Lindemann<br />

<strong>vom</strong> Immobilienfinanzierer CR<br />

Investment Management in Berlin, der<br />

für die Verwertung der Gebäude zuständig<br />

ist. Ein Problem dabei waren die überzogenen<br />

Preisvorstellungen von Dawnay Day:<br />

Die Briten hatten die Immobilien in ihren<br />

Büchern viel zu hoch bewertet und verlangten<br />

deshalb lange Kaufpreise, die nur<br />

wenige Investoren zu zahlen bereit waren.<br />

Doch auch die Kommunen selbst erschwerten<br />

den Verkauf. So zog in Velbert<br />

bei Düsseldorf ein Investor sein Angebot<br />

für die Hertie-Immobilie zurück, weil die<br />

Stadt Plänen für ein Einkaufszentrum an<br />

anderer Stelle zustimmte. Bei anderen Gebäuden<br />

sind es die öffentlichen Vorschriften,<br />

die eine Weiterentwicklung der Gebäude<br />

blockieren. In der Ruhrgebietsstadt<br />

Herne wollte selbst bei der Zwangsversteigerung<br />

des ehemaligen Hertie-Gebäudes<br />

kein Investor zuschlagen. Weil die Fassade<br />

dem Denkmalschutz unterliegt, ist der<br />

Umbau des Haues unverhältnismäßig teuer.<br />

Nun ist für Oktober eine zweite<br />

Zwangsversteigerung angesetzt.<br />

Andere Städte haben das Warten<br />

satt. Nicht nur in Gronau, sondern<br />

auch in Peine und im Kölner Stadtteil<br />

Porz haben die Kommunen die<br />

einstigen Hertie-Immobilien übernommen.<br />

„Die Stadt hat damit Zugriff<br />

auf die zukünftige Entwicklung<br />

des Einzelhandels“, sagt Immobilienverwalter<br />

Mogos-Lindemann.<br />

Eine Vorahnung beschlich offenbar<br />

die Stadträte von Iserlohn. Vor<br />

einem Monat unterschrieben die<br />

Sauerländer den Kaufvertrag für ihr<br />

Karstadt-Haus. Allerdings mit der<br />

Garantie, dass Karstadt bis mindestens<br />

2021 Mieter bleibt. Nur durch<br />

Ausgleichszahlung käme Karstadt<br />

aus dem Vertrag raus. Die Stadt verschaffte<br />

sich so die Möglichkeit, das<br />

Gebäude und die umliegende Innenstadt<br />

neu zu gestalten. Für die<br />

Iserlohner könnte das schneller<br />

wichtig werden als gedacht: Auch<br />

das Warenhaus in ihrer Stadt steht<br />

auf der Roten Liste der gefährdeten<br />

Karstadt-Filialen.<br />

Doch nur wenige Städte können<br />

sich den Kauf der Immobilien leisten.<br />

„Das ist nur bei einer extrem<br />

guten Haushaltslage möglich“, sagt<br />

Joachim Stumpf, Geschäftsführer<br />

der Münchner Handelsberatung BBE. Und<br />

risikolos ist das Investment für Städte<br />

nicht. Die goldene Zeit der Warenhäuser<br />

ist Vergangenheit. In Zeiten des Online-<br />

Handels locken Karstadt, Kaufhof und Co.<br />

immer weniger Kunden an. 1993 gab es<br />

noch 375 Warenhäuser in Deutschland, in<br />

diesem Jahr sind es nur noch 191.<br />

Das weiß auch Gronaus Bürgermeisterin<br />

Jürgens. Ein wenig ratlos steht sie vor dem<br />

ehemaligen Eingang des Warenhauses<br />

rum und blickt die Straße runter. Am anderen<br />

Ende soll bald ein neues Einkaufszentrum<br />

entstehen, ein kleiner Sieg für die<br />

SPD-Politikerin. Der Entwickler des Einkaufszentrums,<br />

die Düsseldorfer ITG, interessiere<br />

sich auch für Hertie, sagt Jürgens.<br />

Doch konkrete Pläne gäbe es noch nicht.<br />

Ein Passant läuft über den großen, leeren<br />

Platz vor dem heruntergekommen Betongebäude,<br />

direkt auf die Bürgermeisterin zu.<br />

„Sie sind die Bürgermeisterin, oder? Wie<br />

sieht es aus mit Hertie, passiert bald was?“,<br />

fragt er. Jürgens knipst ihr Bürgermeisterlächeln<br />

an. „Ja“, antwortet sie, „aber das<br />

wird wahrscheinlich noch etwas dauern.“ n<br />

jacqueline.goebel@wiwo.de, henryk hielscher<br />

FOTO: DOMINIK ASBACH FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

48 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

Selbst demontiert<br />

ALNO | Bringt der Kauf des Wettbewerbers AFP nicht die erhofften<br />

Kosteneinsparungen, wird es eng für Firmenchef Max Müller.<br />

Max Müller gibt sich selbstkritisch.<br />

„Ich habe einen Fehler gemacht“,<br />

räumt der 68-Jährige ein. Der Vorstandschef<br />

des Küchenbauers Alno aus<br />

dem baden-württembergischen Pfullendorf<br />

meint seinen Einstieg in das seit Jahren<br />

kriselnde Unternehmen. Müller war im<br />

Zuge einer Kapitalerhöhung bei Alno gelandet,<br />

zu der er zusammen mit Partnern<br />

im Frühjahr 2011 rund 15 Millionen Euro<br />

beigesteuert hatte. Als der damalige Alno-<br />

Vorstandsvorsitzende Jörg Deisel das Unternehmen<br />

kurz darauf verlassen musste,<br />

ernannte der Aufsichtsrat Müller zu dessen<br />

Nachfolger.<br />

Inzwischen weiß der frühere Chef der<br />

Adler-Bekleidungsmärkte, worauf er sich<br />

eingelassen hat. Müller, mit 5,4 Prozent an<br />

Alno beteiligt, hält Aktien an einem Pennystock.<br />

Und auch die übrigen Aktionäre<br />

„hatten seit dem Börsengang 1995 sehr<br />

wenig Freude an ihrem Investment“, sagt<br />

Harald Klein von der Deutschen Schutzvereinigung<br />

für Wertpapierbesitz (DSW).<br />

Der zweitgrößte deutsche Küchenhersteller,<br />

mit seinen Marken Alno, Wellmann,<br />

Impuls und Pino in allen Preissegmenten<br />

vertreten, steckt immer noch in der Krise,<br />

ein Ende ist nicht absehbar. Der Umsatz<br />

fiel 2013 um 11,5 Prozent auf 395 Millionen<br />

Euro zurück, unter dem Strich blieb ein<br />

Verlust von 10,7 Millionen Euro. Bei jeder<br />

der insgesamt 370 000 verkauften Küchen<br />

setzte das Unternehmen im Schnitt knapp<br />

30 Euro zu.<br />

Die Probleme<br />

des früheren<br />

Branchenprimus<br />

sind hausgemacht<br />

Unter Beobachtung Alno-Chef Max Müller<br />

muss endlich Erfolge nachweisen<br />

KAUM KÄUFER FÜR KÜCHEN<br />

Alno bewegt sich in einem schwierigen<br />

Markt. 2013 stagnierte der Umsatz mit Küchen<br />

in Deutschland bei rund zehn Milliarden<br />

Euro. Im ersten Quartal 2014 registrierten<br />

die Hersteller zwar mehr Aufträge und<br />

höhere Umsätze. Zwischen April und Juni<br />

zeigte sich im Inland aber schon wieder<br />

„eine deutliche Beruhigung“, beklagt Lucas<br />

Heumann, Hauptgeschäftsführer beim<br />

Verband der Holz- und Möbelindustrie.<br />

Die Aussichten sind nicht viel besser. Bis<br />

Jahresende werde der Markt allenfalls<br />

„leicht wachsen“, warnt Jürgen Weyrich,<br />

Küchenexperte beim Nürnberger Marktforscher<br />

GfK Retail and Technology. 2015<br />

dürfte das Geschäft mit Herden und<br />

Hängeschränken voraussichtlich nur das<br />

„jetzige hohe Absatz- und Umsatzniveau“<br />

erreichen, erwartet der Branchenexperte.<br />

Auf das Umfeld kann sich Müller, der am<br />

Freitag Halbjahreszahlen für Alno präsentiert,<br />

aber nicht berufen. Mitbewerber wie<br />

Nobilia machen vor, dass Unternehmen<br />

selbst mit Mobilien, die Bundesbürger im<br />

Schnitt nur alle 17 bis 18 Jahre erneuern,<br />

wachsen können. Der Marktführer aus<br />

dem ostwestfälischen Verl hat seinen Umsatz<br />

2013 um fast drei Prozent auf 923,4<br />

Millionen Euro und den Marktanteil von<br />

29,9 auf 30,5 Prozent gesteigert.<br />

Die Probleme beim einstigen Branchenprimus,<br />

heute die Nummer zwei im deutschen<br />

Markt vor Häcker Küchen aus Rödinghausen<br />

bei Bielefeld, sind hausgemacht.<br />

„Alno hat jahrelang an der Demontage<br />

seines Rufes gearbeitet“, ätzt ein hochrangiger<br />

Manager der Branche. Ständige<br />

Wechsel im Top-Management haben das<br />

1927 <strong>vom</strong> Schreiner Albert Nothdurft („Alno“)<br />

gegründete Traditionsunternehmen<br />

fast ruiniert.<br />

In neun Jahren gaben sich in Pfullendorf<br />

fünf Vorstandschefs die Klinke in die Hand.<br />

2010 verlegte Müller-Vorgänger Jörg Deisel<br />

den Firmensitz nach Düsseldorf, ein Jahr<br />

später ging es zurück. Sanierungsprogramme<br />

blieben ohne durchschlagende Wirkung.<br />

„Ich kenne kein Unternehmen, das<br />

fünf Strategiewechsel in neun Jahren<br />

erträgt“, sagt Müller.<br />

Der Schweizer Geschäftsmann weiß<br />

aber, dass er sich darauf nicht ausruhen<br />

kann. Im Mai 2013 musste Alno Anlegern<br />

8,5 Prozent Zinsen für eine 45 Millionen<br />

Euro schwere Anleihe bieten, um den drohenden<br />

Konkurs abzuwenden. Für Müller<br />

ist es die letzte Chance, das Unternehmen<br />

und zugleich die eigene Haut zu retten.<br />

Den Befreiungsschlag soll der Kauf des<br />

Schweizer Konkurrenten AFP Küchen<br />

bringen. Der Zukauf, von Branchenkennern<br />

auf 24 bis 28 Millionen Euro geschätzt,<br />

soll den Umsatz auf 580 Millionen<br />

Euro steigern. Nach vorläufigen Zahlen für<br />

das erste Halbjahr stimmt zumindest die<br />

Richtung: Während der Umsatz der Alno<br />

AG bei rund 198 Millionen Euro im Vergleich<br />

zum Vorjahr stagnierte, brachte es<br />

die Alno-Gruppe inklusive AFP auf gut 262<br />

Millionen Euro. Unterm Strich hat Müller<br />

seinen Aktionären für 2014 ein Konzerner-<br />

FOTOS: LAIF/MICHAEL TRIPPEL, LAIF/REDUX/THE NEW YORK TIMES/MATT RAINEY, BLOOMBERG NEWS/SIMON DAWSON<br />

50 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


gebnis mit einer „schwarzen Null“ versprochen:<br />

„Das ist ambitioniert, aber erreichbar“,<br />

glaubt der Unternehmenschef. Derzeit<br />

habe der angeschlagene Küchenbauer<br />

ein Auftragspolster von „etwas über 100<br />

Millionen Euro“.<br />

Die Übernahme der Eidgenossen soll<br />

Alno vor allem helfen, die bestehenden<br />

Produktionskapazitäten besser auszulasten.<br />

Müller macht die AFP-Fabrik bei Zürich<br />

dicht, 100 Jobs in der Schweiz fallen<br />

weg. Ende August laufen die ersten AFP-<br />

Schränke im Alno-Stammwerk, das nur zu<br />

rund 70 Prozent ausgelastet ist, <strong>vom</strong> Band.<br />

Die sinkenden Fixkosten pro Küche sollen<br />

sich positiv auf das Ergebnis auswirken.<br />

Den Kaufpreis für AFP will Müller „in den<br />

nächsten drei Jahren“ verdient haben. Insgesamt<br />

erhofft er sich 12 bis 15 Millionen<br />

Euro Einsparungen von der Übernahme.<br />

Allein zwei bis drei Millionen soll der günstigere<br />

Einkauf bringen: Mit höheren Stückzahlen<br />

für Holzteile, Beschläge, Folien und<br />

Kanten will er Zulieferern Preiszugeständnisse<br />

abringen.<br />

JURISTISCHE ALTLASTEN<br />

Für Müller wird die Zeit knapp, sein Vertrag<br />

als Vorstandschef läuft zum Ende der<br />

Hauptversammlung in gut neun Monaten<br />

ab. Ein Scheitern mit AFP wäre wohl sein<br />

Aus. Schon die außerordentliche Preiserhöhung<br />

<strong>vom</strong> vorletzten Jahr um rund acht<br />

Prozent verschreckte potenzielle Kunden.<br />

„Müller hat jetzt die Chance zu zeigen, dass<br />

seine Ideen fruchten“, so DSW-Sprecher<br />

Klein, „wenn die Alno-Zahlen zum Jahresabschluss<br />

2014 nicht deutlich besser aussehen,<br />

wird es für Müller eng.“<br />

Zudem hat Alno noch Altlasten zu schultern.<br />

Bis heute müssen sich Richter mit<br />

dem Rausschmiss von Müllers Vorgänger<br />

befassen. Gleich zweimal hatte der damalige<br />

Aufsichtsrat Deisel fristlos gekündigt –<br />

erst im April und dann nochmals im Juli<br />

2011. 1,7 Millionen Euro konnte der Ex-<br />

Chef bereits 2012 vor dem Oberlandesgericht<br />

(OLG) Düsseldorf für sich erstreiten.<br />

Demnächst kann er mit weiteren 1,2 Millionen<br />

Euro plus Zinsen rechnen – für entgangene<br />

Gehälter, Tantiemen und Beiträge<br />

zur Altersvorsorge.<br />

Ausbaden müssen das womöglich die<br />

Aktionäre. Zwar hat das Unternehmen<br />

auch gegen die jüngste Entscheidung Berufung<br />

beim OLG Düsseldorf eingelegt.<br />

Rückstellungen für den Fall, dass Alno in<br />

letzter Instanz unterliegt, haben die Pfullendorfer<br />

aber nicht gebildet.<br />

n<br />

thomas glöckner | unternehmen@wiwo.de<br />

Fruchtbarer Fight<br />

MERCK | Zwischen den beiden gleichnamigen Konzernen in<br />

Deutschland und den USA lebt die alte Rivalität wieder auf.<br />

Die wenigsten Betroffenen dürften<br />

ahnen, dass sie Merck ihre Existenz<br />

verdanken. „Wir gehen davon aus,<br />

dass mithilfe unserer Produkte weltweit<br />

bisher rund zwei Millionen Babys gezeugt<br />

werden konnten“, sagt Stefan Oschmann,<br />

Mitglied der Merck-Geschäftsleitung. Mit<br />

seinen künstlichen Fruchtbarkeitshormonen,<br />

die Eizellen im Körper der Frau besser<br />

reifen lassen, gilt Merck als Lebensspender<br />

für Hunderttausende Deutsche, Spanier,<br />

Franzosen, Engländer oder Amerikaner.<br />

Doch welche Firma Merck? Der Pharmaund<br />

Chemiekonzern aus Darmstadt, mit<br />

knapp elf Milliarden Euro Umsatz und einem<br />

Börsenwert von acht Milliarden Euro<br />

Mitglied im Deutschen Aktienindex Dax?<br />

Oder der 3-mal größere und 20-mal so<br />

wertvolle US-Konzern Merck & Co.? Beide<br />

Unternehmen haben den gleichen Ursprung,<br />

gehen aber seit 1917 getrennte Wege.<br />

Manager Oschmann hat für beide Unternehmen<br />

gearbeitet und steht seit 2011<br />

in Diensten der Darmstädter.<br />

Verschwand in den vergangenen knapp<br />

100 Jahren die Rivalität mehr und mehr,<br />

flammt diese nun wieder auf, und das in einem<br />

ausgesprochenen Wachstumsmarkt.<br />

Standen die Deutschen bisher eher im<br />

Ungleiche Konkurrenten<br />

Später Einstieg ins Geschäft mit Fruchtbarkeitshormonen<br />

Merck & Co.-Chef Frazier<br />

Frotzeleien und Sticheleien gegen den<br />

US-Namensvetter Merck-Chef Kley<br />

Schatten der entfernten US-Verwandtschaft,<br />

laufen sie den Amerikanern nun bei<br />

Fruchtbarkeitsmedizin den Rang ab.<br />

Mit einem globalen Anteil von 40 Prozent<br />

sind die Hessen inzwischen Weltmarktführer<br />

und setzen mehr als 800 Millionen<br />

Euro im Jahr mit fertilitätssteigernden<br />

Mitteln um. Allein ihr Hormonpräparat<br />

Gonal-F sorgt für einen Jahresumsatz<br />

von 586 Millionen Euro. Merck & Co. in den<br />

USA kommt mit seinen Fruchtbarkeitspräparaten<br />

gerade mal auf geschätzt 20<br />

Prozent. Genaue Zahlen veröffentlichen<br />

die Amerikaner dazu nicht.<br />

WIE DIE JUNGFRAU ZUM KINDE<br />

Damit ist das Feld für Frotzeleien und<br />

Sticheleien bereitet. „Bitte, wie heißt das<br />

Unternehmen?“, fragt Merck-Chef Karl-<br />

Ludwig Kley mit ironischem Unterton,<br />

wenn ihn jemand auf den US-Namensvetter<br />

Merck & Co. anspricht. Dann referiert<br />

Kley ausgiebig darüber, dass Merck aus<br />

Darmstadt ja schließlich das Original sei<br />

und die Konkurrenz unter der Führung des<br />

Amerikaners Kenneth Frazier sich nur in<br />

Nordamerika Merck nennen darf. In allen<br />

anderen Ländern firmiert der US-Konzern<br />

unter dem Kürzel MSD.<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 51<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

Merck in Darmstadt 1892<br />

»<br />

Kley und sein Pharmamanager<br />

Oschmann haben es zum Weltmeister bei<br />

den Fruchtbarkeitspräparaten gebracht,<br />

weil sie früher als ihr Namenspendant in<br />

den USA den Trend zum späten Elternglück<br />

erkannten und konsequenter darauf<br />

setzten. Um jährlich vier Prozent soll die<br />

Nachfrage nach Mitteln wachsen, die gegen<br />

nachlassende Fruchtbarkeit mit steigendem<br />

Alter helfen.<br />

Dabei sind sowohl Merck als auch Merck<br />

& Co. zu ihren Fertilitätssparten gekommen<br />

wie die Jungfrau zum Kinde. Die Hessen<br />

übernahmen 2006 das Schweizer Biotech-Unternehmen<br />

Serono, allerdings eher<br />

aus Verlegenheit. Denn ursprünglich wollten<br />

die Darmstädter den damaligen Berliner<br />

Dax-Konzern Schering übernehmen,<br />

dort kam jedoch dann Bayer zum Zuge.<br />

Darauf schnappte sich Merck für knapp elf<br />

Milliarden Euro Serono, vor allem wegen<br />

des vielversprechenden Präparats Rebif<br />

gegen multiple Sklerose. Zudem galt Serono<br />

auch als Weltmarktführer der Reproduktionsmedizin<br />

und verfügte über aussichtsreiche<br />

Hormonpräparate wie Gonal-F,<br />

ohne das keine künstliche Befruchtung<br />

im Labor funktionieren kann.<br />

STARTVORTEIL AUSGESPIELT<br />

Merck & Co. in den USA wiederum<br />

schluckte 2009 den US-Wettbewerber<br />

Schering-Plough, vor allem wegen seiner<br />

Medikamente zur Blutverdünnung und gegen<br />

Allergien. Zu der neuen Tochter, die<br />

aus der Enteignung der Schering-US-Tochter<br />

während des Zweiten Weltkriegs hervorgegangen<br />

war, gehörte auch ein Biotech-Unternehmen<br />

namens Organon, das<br />

sich auf Verhütungsmittel und Fruchtbarkeitshormone<br />

spezialisiert hatte.<br />

Dass die Hessen in dem einst beiläufigen<br />

Geschäft heute rund doppelt so stark sind<br />

wie die Amerikaner, verdanken sie ihrem<br />

Startvorteil, den ihnen die starke Marktposition<br />

von Serono bot. Zugleich bauten sie<br />

den Vorsprung aber auch aus.<br />

Merck Building in New York 1895<br />

MERCK VERSUS MERCK<br />

EMD gegen MSD<br />

1668 In Darmstadt erwirbt Friedrich<br />

Jacob Merck die Engel-Apotheke, die<br />

Keimzelle von Merck.<br />

1887 Merck expandiert und gründet<br />

eine Niederlassung in New York, aus<br />

der 1891 die Tochtergesellschaft Merck<br />

& Co. entsteht.<br />

1917 Infolge des Ersten Weltkrieges<br />

enteignen die Amerikaner die deutschen<br />

Eigentümer von Merck & Co.<br />

Zwischen beiden Unternehmen gibt es<br />

heute keine Verflechtungen mehr.<br />

Merck aus Darmstadt tritt in den USA<br />

unter EMD (Emanuel Merck Darmstadt)<br />

auf; Merck & Co. nennt sich außerhalb<br />

der USA und Kanada MSD (Merck<br />

Sharp & Dohme).<br />

Nachdem Merck Oschmann 2011 von<br />

Merck & Co. abgeworben hatte, überlegte<br />

dieser, das Fertilitätsgeschäft zu verkaufen,<br />

besann sich aber eines Besseren: „Aufgrund<br />

der Marktaussichten haben wir uns<br />

für einen Verbleib im Portfolio entschieden.“<br />

Auf diese Weise kann sich der 57-Jährige<br />

seinem alten Arbeitgeber noch einmal<br />

beweisen. So erhielt Oschmann 2013 die<br />

Zulassung für einen Pen, eine Art Spritze,<br />

mit der sich Patientinnen – ähnlich wie Diabetiker<br />

das Insulin – Fruchtbarkeitshormone<br />

injizieren können. Mit dem Hormonpräparat<br />

Pergoveris brachte Oschmann einen<br />

weiteren Trumpf. „Das eignet sich gut bei<br />

älteren Patientinnen, deren Eierstöcke<br />

nicht mehr gut funktionieren“, sagt Jan-Steffen<br />

Krüssel, Vorstandsmitglied der Deutschen<br />

Gesellschaft für Reproduktionsmedizin<br />

und Leiter des Universitäts-Kinderwunschzentrums<br />

Düsseldorf.<br />

WENIG ENTGEGENZUSETZEN<br />

Dagegen brachte der US-Konzern Merck<br />

zuletzt eine Hormoninjektion namens<br />

Elonva heraus, die weniger häufiger gespritzt<br />

werden muss als andere klassische<br />

Präparate. Doch endgültig davongezogen<br />

ist Oschmann seinem Ex-Arbeitgeber mit<br />

dem sogenannten Eeva-Test, mit dessen<br />

Hilfe Ärzte am dritten Tag nach der künstlichen<br />

Befruchtung mithilfe von Videoaufnahmen<br />

genau bestimmen können, wie<br />

lebensfähig die Embryonen in der Laborschale<br />

sind. Dabei wertet eine spezielle<br />

Software Daten zur Vorhersage der Embryonenentwicklung<br />

aus. Eeva stammt<br />

<strong>vom</strong> kalifornischen Unternehmen Auxogyn,<br />

Oschmann hat sich die Vermarktungsrechte<br />

gesichert. Dem hat Merck &<br />

Co. erst einmal nichts entgegenzusetzen.<br />

Größter Konkurrent der Darmstädter ist<br />

dabei der skandinavische Hersteller Fertilitech,<br />

der einen vergleichbaren Test anbietet.<br />

„Welcher Test die besseren Schwangerschaftsraten<br />

bringt, ist noch nicht ausgemacht“,<br />

sagt Mediziner Krüssel, „noch fehlt<br />

es dazu an aussagefähigen Studien.“ In<br />

Deutschland soll das Verfahren im nächsten<br />

Jahr auf den Markt kommen.<br />

Bei aller Rivalität: In einem Punkt ziehen<br />

beide Mercks an einem Strang. In<br />

Deutschland sollten die gesetzlichen<br />

Krankenkassen großzügiger bei der Kostenerstattung<br />

für künstliche Befruchtungen<br />

sein, sagen die Manager beider Konzerne.<br />

Die Kassen zahlen die 1000 bis 4000<br />

Euro teure Hormonbehandlung nur zur<br />

Hälfte – aber nur für drei Versuche und nur<br />

für verheiratete Paare.<br />

„Ich glaube nicht, dass es zeitgemäß ist,<br />

unverheirateten Paaren anders als verheirateten<br />

Paaren die Kosten für künstliche<br />

Befruchtung nicht zu erstatten“, sagt<br />

Oschmann – was nicht nur im Sinne von<br />

Merck, sondern auch von Merck & Co. ist. n<br />

juergen.salz@wiwo.de<br />

FOTOS: PR (2)<br />

52 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

Späte Rache<br />

Ex-Baugroßunternehmer<br />

Walter<br />

in seiner Villa in<br />

Südfrankreich<br />

»Global-strategisches Komplott«<br />

INTERVIEW | Ignaz Walter Der einstige deutsche Bauriese hat sein Scheitern aufgearbeitet und gibt die<br />

Schuld am Zusammenbruch seines Lebenswerks 2005 der Deutschen Bank und anderen Instituten.<br />

Kopf der<br />

Deutschland AG<br />

Alfred Herrhausen<br />

war bis zur Ermordung<br />

1989 Chef der<br />

Deutschen Bank und<br />

Chefkontrolleur des<br />

2002 insolventen<br />

Bauriesen Holzmann.<br />

Herr Walter, Sie haben über die Insolvenz Ihres<br />

Baukonzerns 2005 ein dreibändiges Werk geschrieben,<br />

das Sie im Internet zum Kauf anbieten. Warum<br />

kommen Sie erst jetzt mit Ihrer Sicht der Vorgänge?<br />

Ich habe das Buch nicht geschrieben aus Rache oder<br />

Wichtigtuerei. Was man mir angetan hat, war<br />

schlimm! Andere werfen sich vor den Zug, ich nicht.<br />

Ich bin als armer Mensch auf die Welt gekommen.<br />

Mein Seelenheil ist meine Familie und mein Glaube.<br />

Mir geht es nur um die Wahrheit und um meine Ehre<br />

und Würde. Wenn ich mal nicht mehr bin, soll niemand<br />

sagen: Der Kerl hat Pleite gemacht, das muss<br />

wohl eine Mistfirma gewesen sein.<br />

Im Zentrum Ihrer Kritik steht die Deutsche Bank.<br />

Das klingt, als würden Sie die Kritik an den<br />

Geldhäusern seit der Finanzkrise 2008 als willkommenen<br />

Anlass nehmen, um Ihr eigenes Scheitern<br />

Deutschlands größtem Geldhaus unterzujubeln.<br />

Der Eindruck täuscht. Alles fing eigentlich ganz<br />

interessant an. Wir waren Ende der Achtzigerjahre<br />

unter den fünf ganz Großen am Bau in Deutschland.<br />

Eines Tages bekam ich einen Anruf, da bin ich fast<br />

<strong>vom</strong> Stuhl gefallen. Alfred Herrhausen wolle mich<br />

treffen...<br />

...der damalige Chef der Deutschen Bank,<br />

Ich kannte Herrhausen nur aus Zeitungen und<br />

Fernsehen, der machte einen tollen Eindruck. Da<br />

habe ich alle anderen Termine aus meinem Kalender<br />

rausgeschmissen und wir sind in München zum<br />

Käfer gegangen. Anfangs hat Herrhausen mich<br />

examiniert, ob ich der primitive Maurertyp bin, wie<br />

mich so mancher beschrieb, oder nicht. Er habe<br />

verfolgt, sagte er, was ich mache, und wolle wissen:<br />

ob ich ein Konzept habe und ob ich alles mit<br />

Fremdkapital finanziere oder ein Geldgeber hinter<br />

mir steht.<br />

Herrhausen war damals Aufsichtsratsvorsitzender<br />

beim Baukonzern Holzmann, einem Wettbewerber,<br />

dem es allerdings nicht besonders ging.<br />

Ja klar, er wusste, dass wir Holzmann Geschäft wegnehmen.<br />

Und ich sagte ihm auch, warum: Mein Unternehmen<br />

war straff organisiert, meine Mitarbeiter<br />

waren alle am Erfolg beteiligt – bis zum Kranführer<br />

und Hilfsarbeiter. Da musste ich nicht gucken, ob ein<br />

FOTOS: REBECCA MARSHALL FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, PHOTOTHEK/THOMAS IMO, PICTURE-ALLIANCE/DPA/SVEN HOPPE<br />

54 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


schlechter Maurer dabei war. Den haben die auf der<br />

Baustelle selbst aussortiert. Meine Leute haben teilweise<br />

das Doppelte verdient wie auf anderen Baustellen.<br />

Und trotzdem haben wir mehr verdient als<br />

jeder andere. Als Herrhausen darüber staunte, habe<br />

ich ihm versprochen, beim nächsten Treffen lege ich<br />

ihm mein Berichtswesen offen.<br />

Dem Aufsichtsratschef eines Ihrer schärfsten<br />

Konkurrenten?<br />

Der sollte sehen, der Walter haut nicht aufs Blech,<br />

das stimmt. Ich war damals schon recht selbstbewusst,<br />

vielleicht anmaßend frech. Ich habe Herrhausen<br />

gesagt: Noch sind wir kleiner als Holzmann,<br />

aber es wird nicht allzu lang dauern, da stehen wir<br />

auf Platz eins. Er hat mich nicht ausgelacht.<br />

Wieso haben Sie einem Gegner Ihre Pläne verraten?<br />

Ich bin Stratege und ein geradliniger<br />

Typ. Ich habe jedem erzählt, was ich DER BAULÖWE<br />

vorhabe – die meisten haben es bloß<br />

nie geglaubt. Ich packte die Gelegenheit<br />

beim Schopf, so langsam schalten<br />

meine Synapsen ja nicht. Ich<br />

wusste: Ich bekomme 51 Prozent des<br />

damaligen Bauunternehmens Dywidag,<br />

an dem Holzmann seinerzeit<br />

beteiligt war. Ich habe Herrhausen<br />

gesagt: Bei Holzmann ergibt Dywidag<br />

keinen Sinn. Ich kaufe mir 51<br />

Prozent, und dann kaufe ich Ihnen<br />

Ihre 25 Prozent auch noch ab.<br />

Wie hat er auf den Angriff reagiert?<br />

Er hat geschmunzelt und gesagt: Sie brauchen sich<br />

mit den anderen Anteilseignern nicht so bemühen,<br />

ich besorge Ihnen 25 Prozent, und später bekommen<br />

Sie unsere 25 Prozent. Innerhalb eines halben Jahres<br />

hatte ich ruck, zuck die 25 Prozent und hatte dann<br />

über 50 Prozent. Herrhausen hat das gesteuert.<br />

Manche haben an ihn verkauft, manche auf seine<br />

Vermittlung direkt an mich.<br />

Warum sollte Herrhausen sich derart auf Ihre Seite<br />

geschlagen haben?<br />

Herrhausen wollte für Holzmann das Beste. Das dortige<br />

Management hielt er mehrheitlich für Blender.<br />

Er wollte Holzmann und Walter Bau zusammenführen.<br />

Damals hätte das für uns durchaus Sinn ergeben.<br />

Holzmann & Walter hätte der Konzern geheißen.<br />

Aber dazu ist es nicht mehr gekommen, nachdem<br />

Herrhausen 1989 ermordet wurde. Als dann<br />

später Carl von Boehm-Bezing im Vorstand der<br />

Deutschen Bank für Holzmann zuständig wurde und<br />

auf der Arroganzwelle dahergeschwommen kam,<br />

war das eine andere Welt. Bei mir wäre der nicht mal<br />

Abteilungsleiter geworden.<br />

Was änderte sich mit Herrhausens Tod?<br />

Etwa ein halbes Jahr nachdem Herrhausen ermordet<br />

worden war, veränderte sich in der Filiale München<br />

der Deutschen Bank vieles. Plötzlich reichte denen<br />

unser vorbildliches Berichtswesen nicht mehr aus.<br />

Erst später habe ich erkannt: Da wurde etwas vorbereitet.<br />

Walter, 78, absolvierte nach<br />

der Hauptschule eine Maurerlehre,<br />

bevor er das Abitur<br />

nachholte und Bauingenieur<br />

wurde. Nach Anfängen in einem<br />

Ingenieurbüro machte er<br />

sich selbstständig, verkaufte<br />

die Firma und baute von 1970<br />

bis 2000 in Augsburg die<br />

Walter Bau AG auf, die bis zur<br />

Pleite 2005 zu den Branchenführern<br />

in Deutschland zählte.<br />

Wer war der neue Chef?<br />

Es gab mehrere. Ein wichtiger war plötzlich Dr. Gribkowsky.<br />

Gerhard Gribkowsky, der 2012 wegen Bestechlichkeit<br />

beim Verkauf der Formel-1-Anteile der<br />

BayernLB zu acht Jahren Haft verurteilt wurde?<br />

Ja, aber langsam, zur hochgradigen Wirtschaftskriminalität<br />

kommen wir erst später. Als wir bei Dywidag<br />

eingestiegen sind, wollte ich deren Pseudoberichtswesen,<br />

mit dem Verluste und Subtanzverzehr<br />

kaschiert wurden, durch unseres ersetzen. Aber der<br />

Vorstand von Dywidag hat mithilfe von Gribkowsky<br />

und Co. verhindert, dass der wahre Zustand bei Dywidag<br />

aufgedeckt wird. Viele Dywidag-Leute waren<br />

unglaublich eloquente Selbstdarsteller, man könnte<br />

auch sagen: Blender. Bei den schönsten, prestigeträchtigsten<br />

Baustellen war Dywidag<br />

dabei, hat aber Geld verloren, unendlich.<br />

Der ehemalige badenwürttembergische<br />

Ministerpräsident<br />

Lothar Späth war so empört, der hat<br />

in der Aufsichtsratssitzung dem Vorstand<br />

unterstellt, die Unwahrheit zu<br />

sagen, und den Aufsichtsrat dann ja<br />

auch verlassen.<br />

Wollen Sie behaupten, die Deutsche<br />

Bank und die anderen Dywidag-<br />

Aktionäre hatten Ihnen ein marodes<br />

Unternehmen als kerngesund<br />

untergejubelt?<br />

Wir kannten die Probleme von Dywidag.<br />

Unser Plan war klar: Wir übernehmen Dywidag,<br />

die bekommen sofort unser Berichtswesen und unser<br />

Controlling. Die Problembaustellen wollten wir<br />

in 15 bis 18 Monaten abarbeiten. Gute Niederlassungen<br />

hätten wir übernommen, schlechte geschlossen<br />

oder bei Walter Bau eingegliedert. Wir haben gewusst,<br />

dass die kein Geld verdienen und viel Verlust<br />

machten und 300 Millionen ungedeckte Pensionsverpflichtungen<br />

hatten. Wir ahnten aber nicht, dass<br />

sich der Vorstand für wichtiger empfinden würde als<br />

das Wohl der Firma und dass er dabei Hilfe von der<br />

Deutschen Bank erhalten würde.<br />

Wieso war Ihr Verhältnis zu Gribkowsky so<br />

schwierig?<br />

Ich habe ein gutes Gespür für Menschen. Ich habe<br />

meinen Leuten von Anfang an gesagt: Der ist gefährlich.<br />

Herr Gribkowsky wollte zuerst bei der Walter<br />

Bau in den Aufsichtsrat. Dann hat er es bei unserer<br />

Tochter Züblin versucht, schließlich bei Dywidag.<br />

Das konnte ich immer verhindern mit dem Hinweis,<br />

wir hätten da schon genug Banker. Plötzlich wollte er<br />

bei Dywidag den Vorstandsvorsitz übernehmen. Das<br />

hätte ich nicht ausgehalten, also habe ich das abgelehnt.<br />

Prompt kündigte die Deutsche Bank im Mai<br />

2000 die Bürgschaftslinien, die wir aber dringend benötigen,<br />

um Aufträge anzunehmen. Ohne Bankbürgschaften<br />

kann kein Bauunternehmen existieren.<br />

Gribkowsky wollte sich auf Anfrage der Wirtschafts-<br />

Woche dazu nicht äußern. Sie schieben alles auf<br />

»<br />

Drahtzieher<br />

Der ehemalige<br />

Deutsch- und<br />

BayernLB-Banker<br />

Gerhard Gribkowsky,<br />

der zurzeit eine vierjährige<br />

Haftstrafe<br />

verbüßt und als Freigänger<br />

für Strabag<br />

arbeitet, war in die<br />

tödliche Kürzung<br />

der Bürgschaften für<br />

die Walter Bau AG<br />

involviert.<br />

WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 55<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

Umstrittene Rolle<br />

In Bankenkreisen<br />

gibt es Zweifel an<br />

Ignaz Walters<br />

Schuldzuweisungen.<br />

Auslöser für die<br />

Insolvenz der Walter<br />

Bau AG soll demnach<br />

ein Rückzieher der<br />

niederländischen<br />

Bank ABN Amro<br />

gewesen sein, wodurch<br />

die Rettung<br />

der Walter Bau AG<br />

scheiterte. Der heutige<br />

Deutsche-Bank-<br />

Co-Chef Jürgen<br />

Fitschen soll sich<br />

für Walter Bau eingesetzt<br />

haben.<br />

Mordgedanken<br />

Als seine Walter Bau<br />

AG 2005 Insolvenz<br />

anmelden musste,<br />

erinnert sich Ignaz<br />

Walter, habe der<br />

Hass in ihm gesagt:<br />

„Diese Dreckschweine<br />

müssen bestraft<br />

werden. Wenn es die<br />

Justiz nicht kann,<br />

dann mach ich es<br />

eben selbst.“ Doch<br />

sein zweites Ich habe<br />

ihn davon abgehalten:<br />

„Du bist doch<br />

kein Verbrecher.“<br />

»<br />

ihn persönlich. Dabei war den Banken ihr<br />

Engagement bei den Baukonzernen schon länger<br />

unheimlich, was sich durch die Pleite von Holzmann<br />

2002 ja als richtig bestätigte. Hat Gribkowsky<br />

Ihnen in Aussicht gestellt, bei Vorteilen für sich die<br />

Bürgschaften doch noch zu verlängern?<br />

Was soll ich dazu sagen? Wenn er so ein Angebot gemacht<br />

hätte, hätte er es ja nur unter vier Augen machen<br />

können. Und wenn er es unter vier Augen gemacht<br />

hätte, könnte ich das nicht beweisen. Und<br />

weil ich es nicht beweisen kann, kann ich es jetzt<br />

auch nicht behaupten. Herr Gribkowsky ist anscheinend<br />

kein billiger.<br />

Wie meinen Sie das?<br />

Charakterlich wie finanziell. Als bei der BayernLB,<br />

die unsere Hausbank war, Alfred Lehner als Chef gehen<br />

musste, ist Gribkowsky dorthin gewechselt. Lehner<br />

kannte unsere Firma und hatte uns vertraut. Mir<br />

war sofort klar. Jetzt ist es für uns gelaufen. Und so<br />

kam es auch, und immer war Gribkowsky mit von<br />

der Partie. Er war anfangs Leiter des Bankenpools.<br />

Nachdem wir, letztlich durch die Streichung der<br />

Bürgschaftslinien, Insolvenz anmelden mussten, saß<br />

er im Gläubigerausschuss und ziemlich schnell in<br />

Gremien von Züblin, nachdem das Unternehmen an<br />

Strabag verkauft wurde. Als dann die wichtigsten gesunden<br />

Firmen von Walter Bau für lächerliche Beträge<br />

bei Strabag gelandet waren, rückte Gribkowsky<br />

dort schnell auch in wichtige Gremien auf. Und jetzt<br />

darf er schon nach einem von vier Jahren Gefängnis<br />

tagsüber als Freigänger durch München spazieren,<br />

weil ihm Strabag einen Job angeboten hat.<br />

Das klingt doch arg nach Verschwörungstheorie.<br />

Wollen Sie uns im Ernst weismachen, dass<br />

Gribkowsky allein und ausschließlich zum eigenen<br />

Vorteil Ihr ganzes Imperium zum Einsturz brachte?<br />

Nein, das glaube ich auch nicht. Gribkowsky, von<br />

Boehm-Bezing und Co. waren eine Kompanie. Ob<br />

Gribkowsky die Deutsche Bank oder diese Gribkowsky<br />

benutzt hat oder ob es von Anfang an ein globalstrategisches<br />

Komplott gab, das ergibt sich aus den<br />

Details in meinem Buch.<br />

Wieso sollte von Boehm-Bezing etwas gegen Sie<br />

gehabt haben?<br />

Es gab auch mit Boehm-Bezing Gespräche über die<br />

Bauwirtschaft. Vielleicht hatte er Gesprächsnotizen<br />

von Herrhausen gefunden. Er sagte, der Bauwirtschaft<br />

gehe es schlecht, nur Holzmann gut. Ich habe<br />

ihm vorgerechnet, dass Holzmann fast pleite ist, und<br />

habe ihm unsere Zahlen gezeigt. Da war er erstaunt.<br />

Holzmann und Walter Bau hätten zu Herrhausens<br />

Zeiten ein richtig gutes Gespann werden können, die<br />

Nummer eins in Europa und weltweit schon eine<br />

große Nummer. Nur hatte sich in der Zwischenzeit<br />

bei Holzmann alles geändert. Als von Boehm-Bezing<br />

Aufsichtsratsvorsitzender war, ging es steil bergab.<br />

Auch von Boehm-Bezing wollte eine Fusion Walter<br />

Bau mit Holzmann?<br />

Ja, aber ich habe ihm abgesagt. Daraufhin hat er<br />

mich belehrt, das war ich von ihm gewöhnt, und hat<br />

sinngemäß gesagt: Das werden Sie noch bereuen,<br />

Sie hören von mir! Das war Ende 1999. Und im Mai<br />

2000 wurden uns die Aval-Linien gekündigt.<br />

Von Boehm-Bezing lehnt es auf Anfrage der WirtschaftsWoche<br />

ab, sich dazu zu äußern. Vermuten<br />

Sie hinter dem, was dann folgte, eine Racheaktion?<br />

Es gab sicher auch persönliche Gründe. Aber aus der<br />

Sicht der Deutschen Bank und anderer Banken ergab<br />

es Sinn, Walter Bau aus dem Weg zu räumen. Die<br />

Deutsche Bank besaß ein großes Aktienpaket von<br />

Holzmann. Die Dresdner Bank hatte Aktien von Bilfinger,<br />

die Commerzbank viele Aktien von Hochtief.<br />

Wenn Walter Bau was passiert, steigt der Wert dieser<br />

Beteiligungen. Also könnten diese drei Banken<br />

schon mal an unserem Untergang interessiert sein.<br />

Auch hätte das zu den Plänen der Deutschen Bank<br />

gepasst, einen ganz großen deutschen Champion in<br />

der Baubranche zu schaffen.<br />

Wieso konnten Sie die Insolvenz nicht verhindern?<br />

Als die Deutsche und die anderen Banken uns die<br />

Bürgschaftslinien gekürzt und damit faktisch gekündigt<br />

hatten, konnten wir keine Angebote mehr abgeben.<br />

Die Banken garantieren mit Bürgschaften, dass<br />

Bauunternehmen tatsächlich Bau und Gewährleistungen<br />

erbringen, statt sich etwa mit Anzahlungen<br />

davonzustehlen. Weil die Kündigung der Bürgschaften<br />

in den Zeitungen stand, wollten Lieferanten und<br />

Subunternehmer plötzlich Vorkasse. Also mussten<br />

wir Bargeld hinterlegen und vorschießen. Dadurch<br />

waren nach zehn Monaten unsere liquiden Mittel<br />

von 1,3 Milliarden Euro weg. Nun konnten wir nicht<br />

mehr anbieten, bekamen keine Aufträge mehr.<br />

Und dann?<br />

Ich habe den Banken angeboten, Beteiligungen zu<br />

verkaufen, damit sie uns wieder Bürgschaften geben.<br />

Unsere unbelasteten Vermögenswerte beliefen sich<br />

seinerzeit umgerechnet auf rund drei Milliarden Euro.<br />

Vier Wochen hielt man uns hin, dann hieß es:<br />

Nein! Notfalls wollte ich sogar Züblin verkaufen.<br />

Wieder zweieinhalb Monate Scheinverhandlungen,<br />

wieder hieß es: Nein. Alle Werte waren ja von den<br />

Banken als Pfand genommen. Und immer Gribkowsky<br />

vorneweg. Am 1. Januar 2005 meldete der Vorstand<br />

der Walter Bau Insolvenz an. Im Februar 2005<br />

hat man die Tochtergesellschaft DSI, die bei uns mit<br />

86 Millionen in den Büchern stand, für 150 Millionen<br />

in eine Finanzgesellschaft der Banken überführt.<br />

Nach einer Schamfrist von neun Monaten ist das Unternehmen<br />

für 1,3 Milliarden Euro an eine schwedische<br />

Gruppe verkauft worden. Das war kein Verkauf,<br />

auch kein Verramschen. Das war Wirtschaftskriminalität.<br />

Und wie kamen große Teile von Walter Bau an<br />

Strabag?<br />

Ich kann nur auf Folgendes verweisen: Gribkowsky<br />

war zunächst Sprecher des Bankenpools, danach<br />

war er im Gläubigerausschuss ein wichtiger Mann.<br />

Unsere 60-prozentige Beteiligung an Züblin stand<br />

bei uns mit rund 600 Millionen in den Büchern. Die<br />

hätten wir für weit über eine Milliarde an Spanier<br />

»<br />

FOTO: PICTURE-ALLIANCE/DPA/TIM BRAKEMEIER<br />

56 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

Der Profiteur<br />

Der österreichische<br />

Baukonzern Strabag<br />

und sein Chef Hans<br />

Peter Haselsteiner<br />

haben nach der<br />

Insolvenz der Walter<br />

Bau AG binnen<br />

Kurzem die verbliebenen<br />

Perlen des<br />

Augsburger Baukonzerns<br />

erworben.<br />

Verachtung für alle<br />

aus reichem Hause<br />

Ignaz Walter sah sich<br />

in seiner Jugend<br />

„nicht durch weiches<br />

Daunenbett und<br />

teure Polstermöbel<br />

verwöhnt, nicht<br />

durch Muttis<br />

Schminkgehabe und<br />

Vatis dümmliche<br />

Selbstüberschätzung<br />

fehlprogrammiert<br />

und nicht durch<br />

Nachhilfelehrer oder<br />

Privatinternat zu<br />

grenzenloser Arroganz<br />

entwickelt“.<br />

»<br />

verkaufen können. Meines Wissens ging Züblin<br />

mit Zustimmung des Gläubigerausschusses, also<br />

auch der Banken, für unter 100 Millionen Euro an<br />

Strabag. Heute ist Züblin garantiert mehr als 1,5 Milliarden<br />

Euro wert. Unsere hoch rentable tschechische<br />

Straßenbaugesellschaft, unser profitabler<br />

Tunnel- und Ingenieurbau und weitere Spezialgesellschaften<br />

gingen nahezu alle an Strabag, und dies<br />

alles zu absoluten Schleuderpreisen.<br />

Der Insolvenzverwalter von Walter Bau, Werner<br />

Schneider, stand damals doch unter riesigem<br />

Zeitdruck, wollte er Ihre einigermaßen gesunden<br />

Töchter nicht auch noch ins Grab stoßen.<br />

Herr Schneider und Strabag-Chef Hans Peter Haselsteiner<br />

sind, da bin ich mal ganz vorsichtig, gute Bekannte.<br />

Herr Schneider stand zuvor schon einmal im<br />

Verdacht, mit Strabag etwas ausgemauschelt zu haben.<br />

Bei der Insolvenz soll er 60 Millionen Euro verdient<br />

haben. Haselsteiner hat bei dem ganzen Deal<br />

in ganz anderen Dimensionen verdient. Und da soll<br />

Gribkowksy als Dankeschön nur den Job als Freigänger<br />

bekommen haben?<br />

Wie hoch schätzen Sie den gesamten Wert Ihrer<br />

Gruppe, als es ihr noch gut ging?<br />

Als uns die Bürgschaftslinien gekündigt wurden, hatte<br />

die Gruppe ein Anlagevermögen von rund 1,5 Milliarden<br />

Euro, stille Reserven von 1,5 Milliarden und<br />

liquide Mittel von 1,3 Milliarden. Dazu käme noch<br />

die Bewertung des Geschäfts und des Gewinns.<br />

Wie viel hat Ihre Gruppe den Gläubigern gebracht?<br />

Was die Gläubiger bekommen haben, jenseits der<br />

gesicherten Werte der Banken, das weiß ich nicht.<br />

Hatten Sie gar keine Fürsprecher?<br />

Alle unsere Aufsichtsräte hatten sich bemüht. Auch<br />

der IG-Bau-Vorsitzende Klaus Wiesehügel hat sich<br />

für uns engagiert. Der hatte sich mit dem damaligen<br />

Bundeskanzler Gerhard Schröder schon kurzgeschaltet,<br />

noch bevor ich diesen angerufen hatte. Ich<br />

habe mich mit Schröder getroffen, der hat Mittelsleute<br />

eingeschaltet, die mit der Deutschen Bank verhandelten.<br />

In Bayern war Wirtschaftsminister Otto<br />

Wiesheu zunächst voll auf meiner Seite, bis ihn Gribkowsky<br />

umgedreht hat.<br />

Und wieso sind nicht andere Banken mit Bürgschaften<br />

eingesprungen, wenn Ihr Unternehmen<br />

angeblich so gesund war?<br />

Offen gesagt hat mir das niemand. Mir bleiben nur<br />

Vermutungen. Entweder haben die sich abgesprochen.<br />

Oder die hatten Angst vor der Deutschen Bank.<br />

Oder sie haben sich gesagt: Wenn die Deutsche Bank<br />

es mit dem Walter nicht mehr macht, muss es ja gefährlich<br />

sein. Wir hatten viele Dax-Vorstände in den<br />

Aufsichtsräten, die es auf ihren Kanälen bei der<br />

Deutschen Bank versuchten. Alle erklärten: Es ist unverständlich,<br />

aber es war nichts zu machen.<br />

Der längst verstorbene Medienzar Leo Kirch ging<br />

nach Äußerungen von Ex-Deutsche-Bank-Chefs<br />

Rolf Breuer 2002 pleite. Sehen Sie Parallelen?<br />

Ja, ganz klar. Da hieß es auch: Der ist zu mächtig. Ich<br />

war damals Präsident der gesamten Bauwirtschaft.<br />

Ich war Vizepräsident im BDI. Ich hatte gute Beziehungen,<br />

ich war ja kein Hanswurst oder Wichtigmacher.<br />

Die BayernLB und die HypoVereinsbank<br />

standen lange für uns. Bei der Dresdner oder Commerzbank<br />

hätte ich was bewegen können. Aber als die<br />

Deutsche Bank gegen uns vorging, war alles zu Ende.<br />

Gab es rückblickend einen entscheidenden persönlichen<br />

Fehler, der Sie Ihr Lebenswerk kostete?<br />

Ich war zu ehrlich. Ich habe 1000 Fehler gemacht,<br />

aber nie existenzielle. Ich habe die Macht der Banken,<br />

insbesondere der Deutschen Bank, unterschätzt.<br />

Die ist ein Problem. Aber das noch größere<br />

Problem ist die Macht der Banker. Der Bankier war<br />

früher selbst Unternehmer, eine seriöse Persönlichkeit<br />

und ein ehrbarer Kaufmann. Viele heutige Banker<br />

fühlen sich als große Manager. Diese Herren gehen<br />

über Leichen. Ich brauche im Hirn und in der<br />

Seele auch noch was Soziales. Die wissen nicht, was<br />

sozial ist. Das sind Söldner, die ziehen von einem Job<br />

zum anderen, sitzen aber immer am längeren Hebel.<br />

Wieso sind Sie, offenbar mit Ausnahme Herrhausens,<br />

bei den Bankern nie richtig durchgedrungen?<br />

Das stimmt nicht. Die seriösen Bankiers sahen mich<br />

immer richtig. Die Möchtegernbanker sahen mich<br />

als Parvenü, weil ich aus ganz kleinen Verhältnissen<br />

kam. Später kam bei den meisten Respekt. Bei den<br />

Flaschen in Nadelstreifen aber gab es einen Neidkomplex.<br />

Die sahen, dass ich auf derselben Ebene<br />

spielte wie sie, aber mir gehörte der Laden auch<br />

noch – und wir verdienten ein Vermögen.<br />

Nennen Sie einen Großmanager Ihren Freund?<br />

Die Freunde, die ich hatte, sind fast alle schon gestorben.<br />

Ich war ja immer der Jüngste. Aber meine richtigen<br />

alten Freunde, die sind noch da: mit denen ich<br />

Fußball gespielt hab, mit denen ich in der Volksschule<br />

aufgewachsen bin. Und dann gibt es noch vier,<br />

fünf aus der Studienzeit, vor ein paar Wochen waren<br />

wir noch zusammen. Denen könnte ich 10 000 Euro<br />

geben und würde sie immer zurückkriegen. Im Unternehmerlager<br />

habe ich wenig Freunde.<br />

Teilweise verwenden Sie in Ihrem Buch echte<br />

Namen, teilweise Pseudonyme. Gribkowsky etwa<br />

heißt „Dr. Knasti“. Auf Ihrer Internet-Seite schreiben<br />

Sie: Wer klagen wolle, müsse damit rechnen...<br />

...dass ich jeden Rechtsstreit an die Öffentlichkeit<br />

ziehe...<br />

Wollen Sie Ihre Gegner einschüchtern? Oder hoffen<br />

Sie auf einen Prozess?<br />

Ich hoffe darauf, dass sich einer traut. Ich verstecke<br />

mich nicht.<br />

Waren Sie 2005 nicht in der Position, sich zu wehren,<br />

oder haben Sie es nicht so gesehen wie heute?<br />

Ich war fast nicht mehr lebensfähig und krank, weil<br />

mein Lebenswerk mutwillig in einem Komplott zerstört<br />

wurde. Ich habe mich in Hass geflüchtet und<br />

überlegt: Jetzt gehst du und nimmst ein paar von denen<br />

mit. Aber dann habe ich mich über mich selbst<br />

erschreckt, mein Glaube und meine Familie haben<br />

mich gerettet. Jetzt bin ich fit, jetzt soll es kommen. n<br />

henning.krumrey@wiwo.de | Berlin, reinhold böhmer<br />

FOTO: PICTURE-ALLIANCE/DPA/SEBASTIAN REICH<br />

58 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Technik&Wissen<br />

Basar der Elektronen<br />

ENERGIEWENDE | Mal liefern Sonne und Wind fast den ganzen Strom, mal fast nichts. Diese<br />

Extreme zwingen zum Totalumbau des Energiesystems. Die besten Konzepte dafür<br />

haben Dieter Dürand und Andreas Menn in ganz Deutschland gesucht. Sie stießen auf<br />

rheinische Gründer, badische Querdenker und schwäbische Perfektionisten.<br />

Fußball im Fernsehen, Stau auf<br />

der Autobahn – für viele Deutsche<br />

war der 17. August ein<br />

Sonntag wie jeder andere. Für<br />

die Energiebranche aber war es<br />

ein symbolischer Tag: Am frühen Nachmittag<br />

speisten Windräder und Solarmodule,<br />

Staudämme und Biogas zusammen so viel<br />

Strom ins Netz, dass sie erstmals drei Viertel<br />

des Bedarfs deckten. Das Endziel der<br />

Energiewende, das Land vollständig aus<br />

erneuerbaren Quellen zu versorgen, soll eigentlich<br />

irgendwann nach dem Jahr 2050<br />

erreicht werden. Jetzt rückt es weit vor dieser<br />

Zeit in Sicht – zumindest wenn überall<br />

die Sonne scheint und der Wind weht.<br />

Was gut ist für den Klimaschutz, stellt unser<br />

Energiesystem vor gewaltige Probleme.<br />

Es muss mit immer stärkeren Schwankungen<br />

fertig werden: An guten Tagen decken<br />

Solar- und Windstrom fast den gesamten<br />

Bedarf, an anderen nur einen Bruchteil. Die<br />

alten fossilen Kraftwerke sind mit Tempo<br />

und Ausmaß dieser Ausschläge überfordert.<br />

Sie benötigen teilweise Stunden, um ihre<br />

Leistung anzupassen, und lassen sich nur<br />

auf die Hälfte ihrer Höchstleistung drosseln.<br />

Die Folge: Die Meiler produzieren zu viel<br />

Strom. 2013 exportierte Deutschland so<br />

viel davon wie noch nie. Obendrein drückt<br />

der Überfluss die Preise an den Energiebörsen<br />

– und macht immer mehr fossile<br />

Kraftwerke unrentabel. Erstmals seit 60<br />

Jahren schrieb der Essener Stromriese<br />

RWE 2013 Milliardenverluste, bei Konkurrent<br />

E.On brach der Gewinn ein.<br />

Beide Konzerne wollen Gaskraftwerke<br />

<strong>vom</strong> Netz nehmen – obwohl gerade die als<br />

wichtige Stütze der Energiewende gelten.<br />

Zugleich demonstrieren Tausende Bürger<br />

gegen geplante Stromtrassen, die den grünen<br />

Strom dorthin transportieren sollen,<br />

wo er gebraucht wird.<br />

Der Umbau kommt nicht voran.<br />

Dabei müsste er möglichst zügig starten<br />

– denn die Bundesregierung plant, schon<br />

in zehn Jahren den Anteil der Erneuerbaren<br />

im Strommix auf konstante 40 bis 45<br />

Prozent zu bringen (siehe Grafik Seite 62).<br />

Das Ziel ließe sich laut einer Studie der Internationalen<br />

Energieagentur in Paris sogar<br />

ohne größere Mehrkosten realisieren.<br />

KURZ VOR DEM BLACKOUT<br />

Dazu müssten Windräder, Solarkraftwerke<br />

und Co. nah bei den Verbrauchern gebaut<br />

werden, um Transportkosten zu senken.<br />

Alte, träge Meiler müssen durch reaktionsschnelle<br />

moderne Kraftwerke ersetzt werden.<br />

Das Zauberwort lautet: Flexibilität.<br />

Strom wird in Zukunft dezentral erzeugt –<br />

und je nach aktueller Marktlage ins Netz<br />

gespeist, gespeichert oder vor Ort verbraucht.<br />

Aus dem Monopol der Meiler<br />

wird ein Basar der Elektronen.<br />

Wie aber sieht das im Detail aus? WirtschaftsWoche-Redakteure<br />

haben sich auf<br />

die Reise gemacht – und Orte in Deutschland<br />

besucht, an denen Forscher und Unternehmer<br />

radikale Ideen testen: Industriebetriebe<br />

stoppen ihre Produktion,<br />

wenn Strom teuer ist;kleine Biogasanlagen<br />

werden zu virtuellen Großkraftwerken, die<br />

Energie dann liefern, wenn das Netz kurz<br />

vorm Blackout steht. Solaranlagen wiederum<br />

speichern Strom in Batterien, um ihn<br />

zur rechten Zeit bereitzustellen.<br />

Kann das alles funktionieren – und welchen<br />

Preis müssen wir dafür zahlen?<br />

dieter.duerand@wiwo.de, andreas.menn@wiwo.de<br />

SCHWABMÜNCHEN SMART GRID<br />

Abschalten und<br />

Geld verdienen<br />

Im Stromnetz von heute orientiert sich die<br />

Erzeugung am Verbrauch. In Zukunft soll<br />

es genau umgekehrt sein. Aber kann das<br />

wirklich funktionieren?<br />

Konrad, viereinhalb, und<br />

seine drei Jahre jüngere<br />

Schwester Magdalene haben<br />

viel Spaß an der Energiewende.<br />

Zum Beispiel<br />

wenn sie im elterlichen<br />

Eigenheim ihrem Vater Andreas<br />

Koch helfen dürfen, das Elektroauto,<br />

einen Renault Fluence, an die Ladestation<br />

in der Garage anzuschließen. Der Strom<br />

kommt im Idealfall von der Solaranlage auf<br />

dem Dach des zweistöckigen, gelb gestrichenen<br />

Spitzgiebelhauses.<br />

Die Kochs nehmen an einem Pilotprojekt<br />

teil, das in dieser Größenordnung bundesweit<br />

einmalig ist. Südlich von Augsburg<br />

erkunden in der Siedlung Wertachau die<br />

Stadt Schwabmünchen, der Stromkonzern<br />

RWE und der Energieversorger Lechwerke<br />

mit 115 Privathaushalten, ob es möglich ist,<br />

ein Ortsnetz intelligent zu steuern.<br />

Bisher orientiert sich die Stromerzeugung<br />

am Verbrauch. In Wertachau soll es<br />

umgekehrt laufen, der Verbrauch sich dem<br />

Angebot anpassen. Experten nennen das<br />

Lastmanagement. Das Ziel: Die Kilowattstunden,<br />

die mehr als 20 solare Dachkraftwerke<br />

in dem Weiler produzieren, vollständig<br />

in der Siedlung zu verbrauchen. Ge-<br />

»<br />

FOTO: MARTIN HANGEN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

60 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Fahren auf Ökoenergie ab<br />

Familie Koch aus Schwabmünchen<br />

bei Augsburg lädt ihr Elektroauto<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Technik&Wissen<br />

»<br />

länge es, die Beanspruchung der lokalen<br />

Netze über den Tag zu glätten, ließen sich<br />

Wind und Sonne weit billiger in das Energiesystem<br />

integrieren, meinen die Initiatoren.<br />

Denn der Grünstrom würde dann<br />

nicht mehr die übergeordneten Stromverteil-<br />

und Übertragungsnetze verstopfen.<br />

Und die Energieversorger müssten weniger<br />

Leitungen verlegen oder nachrüsten.<br />

Aber nicht nur im Privaten soll der Verbrauch<br />

dem Angebot folgen. Auch Unternehmen<br />

wollen ihren Strombedarf flexibel<br />

an die Erzeugung anpassen – und auf diese<br />

Weise sogar Geld verdienen.<br />

WASCHEN NACH SONNENSTAND<br />

Was abstrakt klingt, hat ganz praktische<br />

Konsequenzen. Zum Beispiel für Kochs<br />

Ehefrau Nadja. Ihre Waschmaschine<br />

springt erst an, wenn die Sonne kräftig<br />

scheint. Und das wäre auch der Zeitpunkt<br />

für Andreas Koch, die Akkus des Renault<br />

aufzuladen. Weil das nicht immer zeitlich<br />

passt, sammeln Batterien im Keller und ein<br />

Großspeicher am Rande der Siedlung<br />

überschüssige Energie ein. Der kann mit<br />

seiner Kapazität von 150 Kilowattstunden<br />

20 Häuser einen Tag mit Strom versorgen.<br />

Intelligente Stromzähler in den Kellern<br />

erfassen ständig Erzeugung und Verbrauch.<br />

Sie senden die Daten über Glasfaserleitungen<br />

an eine Steuerbox in der Ortsnetzstation.<br />

Dieser Smart Operator ist das<br />

Herzstück des Systems. Er bringt die Nachfrage<br />

mit dem Angebot in Einklang, indem<br />

er Geräte ausstellt oder die Batterien füllt.<br />

Experten der Internationalen Energieagentur<br />

sind sich sicher, dass sich Projekte<br />

wie das in Wertachau auszahlen. In einer<br />

Studie über die Integration der Erneuerbaren<br />

in die Strommärkte resümieren sie: „Es<br />

ist sehr wahrscheinlich, dass der Nutzen<br />

der Nachfragesteuerung bei Weitem die<br />

anfänglichen Kosten übertrifft.“<br />

Davon ist auch Heribert Hauck überzeugt.<br />

Der Leiter Energiewirtschaft beim<br />

größten deutschen Aluminiumhersteller<br />

Trimet hat eine faszinierende Idee. Er will<br />

das Metall künftig so flexibel produzieren,<br />

dass die Hütten des Konzerns im Stromnetz<br />

ähnlich wie ein Pumpspeicherkraftwerk<br />

fungieren. Ist viel Strom im Netz, fahren<br />

sie ihre Leistung hoch – mehr flüssiges<br />

Aluminium fließt in die Wannen unter den<br />

Schmelzöfen. Bei Mangel drosseln sie den<br />

Ausstoß, der Füllstand sinkt.<br />

Im Essener Stammwerk am Nordrand<br />

der Stadt erprobt Hauck das System gerade.<br />

Die 360 Öfen, die das Erz Bauxit bei 950<br />

Grad Celsius per Elektrolyse zu flüssigem<br />

Wind und Sonne boomen<br />

Anteil der erneuerbaren Energien am<br />

deutschen Stromverbrauch (in Prozent)<br />

80<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

25,4%<br />

40 bis 45%<br />

55 bis 60%<br />

1996 2013 2025* 2035* 2050<br />

* Ausbaukorridor gemäß dem Koalitionsvertrag<br />

von 2013; Quelle: BDEW<br />

Aluminium schmelzen, verbrauchen täglich<br />

so viel Strom wie der Rest der neuntgrößten<br />

deutschen Stadt. Rund 70 Megawatt<br />

(MW) könnte Trimet bereitstellen, um<br />

Netzüberlastungen auszugleichen. Diese<br />

Leistung ermöglicht es, binnen 48 Stunden<br />

fast 3,4 Millionen Kilowattstunden abzugeben<br />

– so viel, wie ein mittelgroßes Pumpspeicherkraftwerk<br />

in der gleichen Zeit liefern<br />

kann.<br />

Schon heute stellt das Unternehmen den<br />

Übertragungsnetzbetreibern sogenannte<br />

Regelenergie zur Verfügung. Sie nutzen<br />

diese, wenn die Frequenz oder Spannung<br />

in ihren Netzen gefährlich instabil wird.<br />

Wie wichtig das ist, zeigt ein Vorfall <strong>vom</strong> 4.<br />

April dieses Jahres. An diesem Tag fehlten<br />

dem Netzbetreiber Amprion, zu dessen<br />

Einzugsgebiet das Essener Trimet-Werk<br />

gehört, unerwartet gut 2000 MW Sonnenstrom<br />

aus dem Süden gegenüber der Prognose.<br />

Trimet schaltete kurzfristig einen Teil<br />

seiner Anlagen ab, bis Amprion das Netz<br />

wieder ausbalanciert hatte.<br />

Für Thomas Schulz, Vorstand beim<br />

Münchner Start-up Entelios, ist klar, dass<br />

die Idee, den Verbrauch statt die Erzeugung<br />

zu regeln, die Energiewende ökonomischer<br />

macht: „Das ist preiswerter, als<br />

wenn Reservekraftwerke einspringen.“ 400<br />

MW haben die Münchner unter Vertrag,<br />

darunter Trimet. 9000 MW, schätzt Schulz,<br />

wären möglich. Ein ziemlich großer<br />

Schutzschild gegen unvorhergesehene<br />

Schwankungen. Und ein feines Zusatzgeschäft<br />

für die beteiligten Unternehmen: Jedes<br />

MW, das sie anbieten, bringt ihnen im<br />

Jahr laut Schulz mehrere 10 000 Euro.<br />

FAZIT<br />

Die Stromnachfrage zu regeln macht<br />

die Leitungsnetze flexibler – und auch<br />

wirtschaftlicher.<br />

DÜSSELDORF GASKRAFTWERK<br />

Kampf um<br />

den Stammplatz<br />

Gaskraftwerke überbrücken Flauten von<br />

Solar- und Windstrom. Je seltener sie aber<br />

laufen, desto weniger rechnen sie sich. Wie<br />

werden die Reservisten bezahlbar?<br />

Neun Uhr morgens im Hafen<br />

von Düsseldorf. In Sicherheitsschuhen,<br />

Helm<br />

und Schutzbrille stapft<br />

Martin Giehl über die Baustelle,<br />

die sich hier einen<br />

halben Kilometer lang parallel<br />

zum Rhein entlangzieht. Für die Passanten<br />

mag hier nur eine weitere, riesige<br />

Lagerhalle aus dem Boden wachsen; für<br />

Giehl, den Technikchef der Stadtwerke,<br />

entsteht an diesem Ort ein Meilenstein der<br />

Energiewende.<br />

Denn im Innern der mehr als 30 Meter<br />

hohen Maschinenhalle wartet modernste<br />

Kraftwerkstechnik auf ihren Einsatz: eine<br />

Gas- und Dampfturbine von Siemens, die<br />

so viel Leistung bringt wie 1843 Porsche. 61<br />

Prozent der im Gas gespeicherten Energie<br />

wandelt sie in Strom um – Kohlenmeiler erreichen<br />

dagegen nur eine Ausbeute von 42<br />

Prozent. Damit soll das Kraftwerk jährlich<br />

so viel Kohlendioxid einsparen, wie<br />

350 000 Autos mit einer Fahrleistung von<br />

15 000 Kilometern ausstoßen. „Wenn die<br />

Turbine ans Netz geht“, sagt Giehl, „wird es<br />

das effizienteste Gaskraftwerk der Welt<br />

sein.“<br />

Trotz der Rekordwerte werden die Düsseldorfer<br />

kämpfen müssen, um das Kraftwerk<br />

rentabel betreiben zu können – und<br />

haben sich dazu einiges einfallen lassen.<br />

STROM WIRD ZU BILLIG<br />

Denn es gibt ein Problem: Strom aus der<br />

wachsenden Zahl von Solaranlagen und<br />

Windrädern hat qua Gesetz Vorfahrt im<br />

Leitungsnetz. Immer häufiger müssen die<br />

Betreiber darum fossile Kraftwerke drosseln.<br />

Statt bis zu 6000 Stunden laufen manche<br />

nur noch wenige Hundert Stunden im<br />

Jahr. Dadurch rechnet sich der Betrieb vieler<br />

Gaskraftwerke inzwischen nicht mehr.<br />

Zudem drücken Sonnen- und Windstrom,<br />

wenn sie kurzfristig im Überfluss<br />

vorhanden sind, die Handelspreise an der<br />

Börse so stark, dass sich auch gut ausgelastete<br />

Gaskraftwerke nicht kostendeckend<br />

betreiben lassen. Der Folge: Schmutzige<br />

62 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


en Quellen schwankt. Vor allem ab 2022,<br />

wenn die letzten Kernkraftwerke in<br />

Deutschland <strong>vom</strong> Netz gehen, besteht laut<br />

der Deutschen Energie-Agentur „ein deutlicher<br />

Investitionsbedarf in neue hocheffiziente<br />

Kraftwerke“ – damit der Strom nicht<br />

ausfällt.<br />

FOTO: DAVID KLAMMER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

Kohlekraftwerke erleben eine Renaissance.<br />

Sie erzeugen den billigsten Strom – auch<br />

weil CO 2 -Zertifikate, die zur Emission bestimmter<br />

Mengen an Kohlendioxid berechtigen,<br />

seit Jahren im Überfluss und damit<br />

billig auf dem Markt zu haben sind.<br />

„Wenn es kostspieliger würde, CO 2 auszustoßen,<br />

würden Gaskraftwerke wieder<br />

attraktiver“, sagt Nikolas Wölfing, Energieexperte<br />

beim Zentrum für Europäische<br />

Wirtschaftsforschung in Mannheim. „Die<br />

Europäische Union müsste dazu in den<br />

kommenden Jahren weniger neue Zertifikate<br />

ausgeben, als bisher geplant ist.“ Diskutiert<br />

wird auch über eine Prämie für<br />

Baut auf Erdgas<br />

Giehl, Manager der<br />

Stadtwerke Düsseldorf,<br />

auf dem Dach des neuen<br />

Kombikraftwerks<br />

Kraftwerke, die nur dann laufen, wenn<br />

plötzlich Kapazitäten im Stromnetz fehlen.<br />

Nur wie genau diese Belohnung bemessen<br />

sein soll, damit sie ihren Zweck erfüllt – darüber<br />

streiten die Experten.<br />

Eine Lösung ist dringend nötig. Denn solange<br />

Windräder und Solaranlagen nur einen<br />

Teil des Stroms erzeugen, könnte Gas<br />

die Grundversorgung sichern – und die<br />

schmutzige Kohle als Edelreservist ablösen.<br />

Ein weiterer Vorteil der Gas- und<br />

Dampfturbinen: Sie fahren binnen einer<br />

halben Stunde von null auf volle Leistung<br />

hoch und können so ausgleichen, wenn<br />

die Erzeugung von Strom aus erneuerba-<br />

WASSERTURM SPEICHERT WÄRME<br />

Ein solches High-Tech-Kraftwerk ist das im<br />

Düsseldorfer Hafen. Um den Stammplatz<br />

des Erdgases im Energiemix zu verteidigen,<br />

nutzt Stadtwerke-Technikchef Giehl<br />

fast jede technische Raffinesse, die heute<br />

zu haben ist. Er zeigt auf eine große Halle<br />

neben dem Maschinenhaus. Die Abwärme<br />

des Kraftwerks wird hier auf Wasser übertragen,<br />

das per Rohr in die Stadt gelangt –<br />

Fernwärme für Zehntausende Haushalte.<br />

Kraft-Wärme-Kopplung nennen Experten<br />

das. Die Bundesregierung will deren Anteil<br />

an der Stromerzeugung bis 2020 auf 25<br />

Prozent verdoppeln, darum erhalten die<br />

Stadtwerke Düsseldorf für jede erzeugte<br />

Kilowattstunde eine Zulage, deren Kosten<br />

die deutschen Stromverbraucher zahlen.<br />

„Indem wir die Wärme nutzen, steigern<br />

wir die Effizienz des Kraftwerks auf 85 Prozent“,<br />

sagt Giehl. Dadurch lasse sich die<br />

Anlage wirtschaftlich betreiben. Obendrein<br />

spart die Standortwahl direkt neben<br />

einem bereits bestehenden Gaskraftwerk<br />

Kosten: Gas-, Strom- und Fernwärmeleitungen<br />

sind schon vorhanden. Und statt einen<br />

Kühlturm zu bauen, temperieren die<br />

Düsseldorfer die Anlage mit Rheinwasser.<br />

„Das neue Kraftwerk“, ist Giehl sich sicher,<br />

„wird profitabel sein.“<br />

Ein Nachteil bleibt: Weil die Anlage zuverlässig<br />

Wärme produzieren muss, damit<br />

die Düsseldorfer heizen können, wird es<br />

weniger flexibel. Die Stadtwerke müssen<br />

also mitunter auch dann Strom selbst erzeugen,<br />

wenn sie ihn an der Börse billiger<br />

einkaufen könnten. Abhilfe könnte ein<br />

Wärmespeicher schaffen – für den es ebenfalls<br />

staatliche Fördergelder gibt. Der Energieversorger<br />

N-ergie hat gerade einen solchen<br />

Speicher in Nürnberg gebaut: Der 70<br />

Meter hohe Kessel hält in etwa so viel heißes<br />

Wasser bereit, wie in 13 olympische<br />

Schwimmbecken passt – das ist genug, um<br />

das angeschlossene Kraftwerk ein ganzes<br />

Wochenende lang stillzulegen.<br />

FAZIT<br />

Anfallende Wärme zu nutzen macht Gaskraftwerke<br />

effizienter. Dennoch könnten<br />

sich Reservekraftwerke bald nur noch<br />

rechnen, wenn sie Prämien erhalten.<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 63<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Technik&Wissen<br />

Vertraut der Vielfalt<br />

Next-Kraftwerke-Chef<br />

Sämisch gebietet im<br />

Handelsraum über<br />

2100 Stromanlagen<br />

Sie lassen sich sehr gut regeln, was sie<br />

zu idealen Partnern von Windrädern und<br />

Fotovoltaikdächern macht. Denn deren<br />

Angebot schwankt, was die Stromnetze<br />

mitunter vor Probleme stellt. Genau in<br />

solch kritischen Situationen springt das<br />

virtuelle Großkraftwerk in die Bresche und<br />

füllt die Lücken zwischen Bedarf und Angebot.<br />

Es kann aber auch Regelenergie liefern,<br />

die ausschließlich dazu dient, Frequenz<br />

oder Spannung im Netz stabil zu halten.<br />

Noch reicht die Kraftwerksleistung der<br />

Kölner bei Weitem nicht aus, um die Leitungen<br />

bundesweit im Gleichgewicht zu<br />

halten. Doch mit jeder neu angeschlossenen<br />

Anlage wächst das Potenzial, und das<br />

ist laut Sämisch längst nicht ausgereizt. Er<br />

würde gerne auch Blockheizkraftwerke, die<br />

etwa aus Pflanzenabfällen Elektrizität und<br />

Wärme produzieren, und Notstromaggregate<br />

in den Pool aufnehmen. „Virtuelle<br />

Kraftwerke wie unseres können bei entsprechenden<br />

Marktregeln Teile des Netzausbaus<br />

erübrigen“, sagt der Manager.<br />

KÖLN VIRTUELLE KRAFTWERKE<br />

Garanten des<br />

Gleichgewichts<br />

Einzeln sind Windräder und Solaranlagen<br />

schwer berechenbar. Doch können sie<br />

Deutschland zu 100 Prozent versorgen,<br />

wenn sie im Schwarm kooperieren?<br />

Wenn Hendrik Sämisch<br />

aus seinem Büro im vierten<br />

Stock der rot verklinkerten<br />

Firmenzentrale in<br />

Köln-Ehrenfeld schaut, erblickt<br />

der Geschäftsführer<br />

der Next Kraftwerke in der<br />

Ferne die alte Energiewirtschaft – und ihre<br />

Sünden. Dort, in Richtung Nordwesten,<br />

betreibt der Essener Energieriese RWE laut<br />

einer jüngsten EU-Statistik zwei der dreckigsten<br />

Kohlekraftwerke Europas, gemessen<br />

am Ausstoß des Klimagases Kohlendioxid<br />

(CO 2 ). Riesige Wasserdampfwolken<br />

aus den Kühltürmen verraten den Standort<br />

der 16 Blöcke, die rund 8200 Megawatt<br />

(MW) leisten, mehr als jedes andere deutsche<br />

Kraftwerk.<br />

Für Sämisch sind die mit Braunkohle befeuerten<br />

Stromgiganten eine aussterbende<br />

Spezies: zu schmutzig, zu unflexibel und<br />

am Ende auch zu teuer. Der smarte Jungunternehmer<br />

mit dem lässigen Vollbart ist<br />

vielmehr überzeugt, dass sich auch eine<br />

Industrienation wie Deutschland zu 100<br />

Prozent mit Energie aus erneuerbaren<br />

Quellen versorgen kann. Ohne sich um die<br />

Sicherheit der Versorgung und die Bezahlbarkeit<br />

sorgen zu müssen.<br />

Man muss es nur clever anstellen.<br />

Mit diesem Anspruch haben er und Mit-<br />

Geschäftsführer Jochen Schwill 2009 Next<br />

Kraftwerke initiiert – als Ausgründung aus<br />

dem renommierten Energiewirtschaftlichen<br />

Institut (EWI) an der Universität Köln.<br />

Die Wende in die saubere Energiezukunft<br />

glaubt Sämisch mit marktwirtschaftlichen<br />

Mitteln schaffen zu können. Das schuldet<br />

er seiner Herkunft aus dem EWI. Effizienz<br />

statt Subvention lautet sein Leitsatz.<br />

BIOGAS STATT BRAUNKOHLE<br />

Einige wenige Händler steuern sein – virtuelles<br />

– Kraftwerk aus einem Großraumbüro<br />

mit sechs großen Monitoren an der Wand.<br />

Sie zeigen, wie viel Erzeugungsleistung bei<br />

den Partnern gerade vorhanden ist, wie<br />

sich die Preise an den Strombörsen entwickeln<br />

und wie das Wetter werden soll.<br />

Gut, Sämisch herrscht gerade einmal<br />

über 1000 MW – ein Achtel dessen, was die<br />

nahen RWE-Blöcke produzieren können.<br />

Aber sein Strom, der aus mehr als 2100<br />

über die ganze Bundesrepublik verteilten<br />

Anlagen kommt, ist dafür sauber. Er<br />

stammt überwiegend aus Kleinkraftwerken,<br />

die Biogas oder Biomasse verbrennen.<br />

DREI MAL ZUSATZERLÖSE<br />

Der Hamburger Ökostromanbieter Lichtblick<br />

hat jüngst auf Basis eines Feldtests in<br />

der Hansestadt ausgerechnet, wie stark die<br />

Kosten sinken würden: Er kam auf 500 Millionen<br />

Euro, würden Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen<br />

mit einer Leistung von bis zu<br />

8000 MW intelligent vernetzt.<br />

Das Geschäft mit dem Schwarmstrom<br />

lohnt sich auch für die Anlagenbetreiber.<br />

Hier kommt wieder die für Sämisch wichtige<br />

Marktwirtschaft ins Spiel. Sie erzielen<br />

deutlich höhere Erlöse, als würden sie ihren<br />

Strom für die gesetzlich garantierte<br />

Einspeisevergütung weggeben. Der Grund:<br />

Die Händler von Next Kraftwerke verkaufen<br />

die Kilowatt an den Börsen gezielt<br />

dann, wenn die Einkäufer ihn besonders<br />

gut bezahlen. Zudem bringt die Vermarktung<br />

über die Börse eine Prämie. Und<br />

schließlich erhöht die Bereitstellung gut<br />

bezahlter Regelenergie die Rendite. Auf<br />

sich allein gestellt, haben Anlagenbetreiber<br />

diese Möglichkeiten nicht.<br />

Summa summarum kommen laut Sämisch<br />

bei einer Biogasanlage mit 500 Kilowatt<br />

regelbarer Leistung im Jahr Zusatzeinnahmen<br />

von gut 50 000 Euro zusammen –<br />

allein durch die Flexibilisierung des Anlagenbetriebs.<br />

Wenn das kein Ansporn ist.<br />

FAZIT<br />

Virtuelle Kraftwerke haben Potenzial, das<br />

unsichere Stromangebot von Wind und<br />

Sonne auszugleichen – ohne Subvention.<br />

FOTOS: DAVID KLAMMER, CHRISTOF MATTES, BEIDE FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

64 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


KARLSRUHE SPEICHER<br />

Solarstrom<br />

reifen lassen<br />

Reichlich Strom aus Solaranlagen gibt es<br />

heute nur, wenn die Sonne scheint. Künftig<br />

soll er dank Akkus rund um die Uhr verfügbar<br />

sein. Aber rechnet sich das auch?<br />

Wie zusammengewürfelt<br />

sieht er aus, der neue Solarpark<br />

auf dem Campus des<br />

Karlsruher Instituts für<br />

Technologie (KIT): Eine<br />

Reihe Solarmodule schaut<br />

nach Süden, eine andere<br />

gen Westen, eine steil in den Himmel, eine<br />

weitere schräg nach vorne. Dabei liefern<br />

doch in hiesigen Gefilden Solarzellen den<br />

meisten Strom, wenn sie im 30-Grad-Winkel<br />

gen Süden blicken.<br />

Aber das vermeintliche Chaos habe System,<br />

versichert Projektleiter Olaf Wollersheim,<br />

der sich an diesem heißen Sommertag<br />

lieber im Schatten aufhält, den die Solarmodule<br />

spenden: „Wir wollen herausfinden“,<br />

sagt der Energieforscher, „wie Solarstrom<br />

rund um die Uhr verfügbar wird.“<br />

Bisher produzieren Millionen von Modulen<br />

in Deutschland zur selben Zeit den<br />

meisten Strom – mittags, wenn die Sonne<br />

am intensivsten scheint. Damit treiben sie<br />

an sonnigen Tagen die Strompreise an der<br />

Börse gen null, weil mehr Leistung im Netz<br />

ist, als das Land braucht. Wollersheim fordert<br />

einen Paradigmenwechsel: Solarkraftwerke<br />

sollen nicht mehr die meisten Kilowattstunden<br />

produzieren – sondern die<br />

wertvollsten.<br />

PRIVATE AKKU-ARMADA<br />

Dafür gibt es zwei Mittel, glaubt der Energieexperte:<br />

Erstens müssen mehr Solaranlagen<br />

in West- und Ostrichtung installiert<br />

werden, um am Vormittag und am Nachmittag<br />

viel Elektrizität zu erzeugen. Zweitens<br />

will Wollersheim Solarstrom in Batterien<br />

speichern – um ihn über den Tag verteilt<br />

abzurufen. Die Netzbetreiber müssten<br />

dann nicht mehr hektisch Reservekraftwerke<br />

anfordern, sobald über Bayern ein<br />

Wolkenband hinwegzieht.<br />

Der ausbalancierte Solarstrom könnte<br />

sich auch volkswirtschaftlich rechnen. Eine<br />

Studie für den Berliner Thinktank Agora<br />

Energiewende kommt zu beeindruckenden<br />

Zahlen. Sie geht von einem massiven<br />

Ausbau von Solaranlagen auf 150 Gigawatt<br />

Holt mehr aus Solaranlagen raus<br />

Akku-Experte Wollersheim in seinem<br />

Karlsruher Solarspeicherpark<br />

und Speichern auf 40 Gigawatt Leistung bis<br />

zum Jahr 2033 aus. Dann stünden Millionen<br />

Batterien in deutschen Kellern. Die<br />

Akku-Armada könnte den Stromverbrauchern<br />

jährlich 1,5 Milliarden Euro Kosten<br />

ersparen – verglichen mit dem Plan der<br />

Bundesnetzagentur, der der Fotovoltaik<br />

nur eine kleine Rolle zugesteht.<br />

Doch dazu müssten Komplettsysteme<br />

aus Solarzelle und Batterie für ein typisches<br />

Eigenheim in den nächsten 20 Jahren<br />

um mehr als 80 Prozent billiger werden<br />

– von heute 11 000 Euro auf 2000 Euro. Das<br />

wäre ein gewaltiger Preissturz. Andererseits<br />

sind Fotovoltaikanlagen allein in den<br />

vergangenen sieben Jahren um 70 Prozent<br />

günstiger geworden.<br />

KIT-Forscher Wollersheim glaubt daran,<br />

dass Batterien schon in den nächsten Jahren<br />

erheblich preiswerter werden. Nun<br />

komme es darauf an, sie möglichst intelligent<br />

zu nutzen. „Der Flaschenhals der<br />

Energiewende ist nicht die Hardware“, sagt<br />

Wollersheim. „Es ist die Software.“ In einem<br />

Büro unweit des Solarparks entwickelt<br />

sein Team ein Programm, das darüber<br />

entscheidet, wann Solarstrom ins Netz<br />

fließen soll, wann in den lokalen Verbrauch<br />

und wann in die Batterie – abhängig etwa<br />

<strong>vom</strong> Wetter, den Strompreisen und dem<br />

prognostizierten Verbrauch vor Ort.<br />

SAISONSPEICHER ZU TEUER<br />

„80 Prozent erneuerbare Energien, davon<br />

die Hälfte Fotovoltaik – das ist technisch<br />

machbar“, ist Wollersheim überzeugt. „Erst<br />

wenn der Anteil von Grünstrom noch größer<br />

wird, werden saisonale Energiespeicher<br />

nötig.“ Das könnten Druckluft-Kavernen<br />

oder sogenannte Power-to-Gas-Anlagen<br />

sein, die Strom in Gas umwandeln,<br />

um es später in Gaskraftwerken wieder zu<br />

verstromen. Noch sind diese Techniken<br />

viel zu teuer. Aber die Forscher haben Jahrzehnte<br />

Zeit, sie zu verbessern.<br />

FAZIT<br />

Batteriespeicher können kurzfristige<br />

Energieschwankungen ausgleichen – doch<br />

sie müssen erheblich billiger werden.<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 65<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Technik&Wissen<br />

GLATTEN ENERGIEEFFIZIENZ<br />

Schaffe, schaffe,<br />

spare<br />

Alle reden von Solaranlagen und Windrädern.<br />

Aber fällt der Ausstieg aus Kohle<br />

und Atom nicht leichter, wenn Fabriken<br />

weniger Strom verschwenden?<br />

Hohe Tannen, enge Täler,<br />

sprudelnde Bäche – rund<br />

um Glatten präsentiert<br />

sich der Schwarzwald als<br />

Postkartenidyll. Alles in<br />

dem Luftkurort unweit<br />

von Freudenstadt atmet<br />

Tradition. Geschäfte führen Kuckucksuhren,<br />

ein Fachwerkhaus reiht sich ans<br />

andere, Gaststätten heißen Ochsenstüble<br />

und Sonne.<br />

Zugleich ist die 2400-Seelen-Gemeinde,<br />

in der Kult-Fußballtrainer Jürgen Klopp<br />

aufwuchs, seit mehr als 100 Jahren ein Ort<br />

der grünen Energie. Als Johannes Schmalz<br />

1910 seine Rasierklingenfabrik gründete,<br />

setzte er sie direkt neben das Flüsschen<br />

Ringen um jedes Kilowatt<br />

Die Brüder Kurt (links) und Wolfgang<br />

Schmalz nutzen selbst Bremsenergie<br />

von Transportern im Lager<br />

Glatt, das dem Dorf seinen Namen gab. Ein<br />

Wasserrad spendete die Energie für die<br />

Schleifmaschinen – kostenlos, wie Schwaben<br />

es mögen.<br />

Inzwischen stellen die heute mehr als<br />

800 Beschäftigten der J. Schmalz GmbH<br />

statt Klingen raffinierte Vakuum-Greifer für<br />

Roboter, Werkzeugmaschinen und Hebegeräte<br />

her und verkaufen sie in alle Welt.<br />

Bei allem Wandel sind die heutigen Geschäftsführer,<br />

Kurt und Wolfgang Schmalz,<br />

einem Prinzip ihres Großvaters treu geblieben:<br />

Sie gewinnen Wärme und Strom komplett<br />

aus regenerativen Quellen. Nur sind<br />

seither Windräder, Fotovoltaikmodule,<br />

Sonnenkollektoren und ein Heizwerk, das<br />

Restholz aus den umliegenden Wäldern<br />

verbrennt, dazugekommen.<br />

SPRINKLER KÜHLT SERVER<br />

„Es wurde uns in die Wiege gelegt, den<br />

ökologischen Weg einzuschlagen“, sagt<br />

Wolfgang Schmalz. Seine Augen strahlen<br />

hinter den Gläsern der randlosen Brille.<br />

Die Zufriedenheit darüber, heute sogar<br />

mehr Energie zu erzeugen. als zu verbrauchen,<br />

ist ihm anzusehen. Der Mittelständler<br />

ist einer der wenigen produzierenden<br />

Unternehmer im Land, die sich solch eines<br />

Energieüberschusses rühmen können.<br />

Doch einfach immer weitere Windmühlen<br />

aufzustellen, ist nicht der Weg der<br />

Schmalz-Brüder. Denn auch diese verschlingen<br />

Ressourcen und rauben Land.<br />

Den wahren ökologischen Ansatz sehen<br />

sie darin, alles zu unternehmen, was den<br />

Energiebedarf begrenzt. Vermeiden geht<br />

vor erzeugen, lautet ihre Grundregel. Und<br />

überall werden sie fündig.<br />

Nicht benötigte Stromkreise schalten sie<br />

nachts und am Wochenende ab. Die<br />

Kompressoren in den Werkshallen produzieren<br />

nur genauso viel Druckluft, wie tatsächlich<br />

gebraucht wird. Ihre Abwärme<br />

wird zum Heizen genutzt. Statt mit stromfressenden<br />

Ventilatoren kühlen die<br />

Schwarzwälder ihr Rechenzentrum mit<br />

dem Wasser aus der Sprinkleranlage. Und<br />

selbst die Bremsenergie der Transportschlitten,<br />

die Material im Hochregallager<br />

automatisch einsortieren, wird ins Stromnetz<br />

zurückgespeist.<br />

Die Wirkung all dieser Maßnahmen: Obwohl<br />

Schmalz seit Jahren ständig mehr<br />

produziert, sinkt der Energiebedarf tendenziell.<br />

Bares Geld für die Bilanz.<br />

Bundesweit sieht das Bild anders aus.<br />

Trotz aller Appelle der Bundesregierung<br />

zum Sparen stagniert der Stromverbrauch<br />

auf hohem Niveau. Kurt Schmalz wundert<br />

sich über das verbreitete Desinteresse vieler<br />

Unternehmenskollegen: „Wir können<br />

uns aus der Abhängigkeit von fossilen Ressourcen<br />

lösen.“<br />

WENIGER NETZE NOTWENDIG<br />

Ohne Frage hätte die konsequente und<br />

kontinuierliche Verbesserung der Energieeffizienz<br />

äußerst positive Effekte auf den<br />

deutschen Stromsektor. Das zeigt eine Studie<br />

des Marktforschungsinstituts Prognos<br />

und der RWTH Aachen. Wichtigste Erkenntnis:<br />

Würden Industrie und Verbraucher<br />

die vorhandenen Effizienzpotenziale<br />

ausschöpfen, würden nicht nur weniger<br />

konventionelle Kraftwerke als Reserve benötigt.<br />

Es müssten auch nur 4000 statt der<br />

projektierten 8500 Kilometer Stromnetze<br />

ausgebaut werden. Alles zusammen würde<br />

im Jahr 2050 Einsparungen von bis zu 28<br />

Milliarden Euro ermöglichen gegenüber<br />

einem Weiter-wie-Bisher.<br />

Die Schmalz-Brüder machen es vor.<br />

FAZIT<br />

Stromsparen ist der preiswerteste Baustein<br />

der Energiewende – wird bisher aber<br />

sträflich vernachlässigt.<br />

FOTO: MARTIN WAGENHAN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

66 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


VALLEY TALK | Wer beim Crowdfunding Erfolg hat,<br />

gerät schneller ins Visier professioneller Investoren.<br />

Trotzdem ist die Auslese hart. Von Matthias Hohensee<br />

Kleines Geld lockt großes<br />

FOTO: JEFFREY BRAVERMAN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

Vergangenes Jahr überwies ich<br />

über die Crowdfunding-Plattform<br />

Indiegogo 199 Dollar ans Startup<br />

Scanadu aus dem Silicon Valley.<br />

Mich begeisterte dessen Idee, ein einfach<br />

zu bedienendes Messgerät für Puls,<br />

Blutdruck, Körpertemperatur und Atemfrequenz<br />

entwickeln zu wollen. Kurz an die<br />

Schläfe gepresst, übermittelt das handtellergroße<br />

Gerät via Bluetooth die Ergebnisse<br />

an das Smartphone. Die werden dann<br />

gespeichert und lassen sich über einen<br />

längeren Zeitraum gesammelt auswerten.<br />

Zudem beeindruckte mich Scanadu-<br />

Gründer Walter de Brouwer, der extra von<br />

Belgien ins Silicon Valley gezogen war. Er<br />

sah hier bessere Chancen, seine Idee umsetzen<br />

zu können. Er hoffte aber auch auf<br />

eine bessere Förderung seines halbseitig<br />

gelähmten Sohns Nelson, der am neuen<br />

Wohnort in Cupertino dank des finanziell<br />

gut ausgestatteten Schuldistrikts einen persönlichen<br />

Tutor zur Seite gestellt bekam.<br />

Der heute 14-jährige Nelson hatte sich<br />

2005 bei einem Sturz schwere Kopfverletzungen<br />

zugezogen und lag wochenlang im<br />

Koma. Die einzige Verbindung zu seiner<br />

Familie waren die Kurven auf den Messgeräten,<br />

die sein Vater mithilfe von Fachliteratur<br />

entschlüsselte – jeder positive Trend<br />

ein Hoffnungsschimmer. Aus diesem Erlebnis<br />

entstand die Idee für Scout.<br />

Über Indiegogo warb de Brouwer Vorbesteller.<br />

Die Kampagne war ein voller Erfolg.<br />

Nicht nur, weil das Start-up so 1,6 Millionen<br />

Dollar einsammelte. Sondern es ein paar<br />

Monate später auch noch zusätzliche 10,5<br />

Millionen Dollar an Risikokapital erhielt.<br />

Eine aktuelle Studie der Marktforschung<br />

CB Insights belegt: De Brouwer lag richtig<br />

damit, ins ferne Kalifornien zu ziehen.<br />

Die Analysten untersuchten 443 Hardwareprojekte,<br />

die auf Indiegogo und dessen<br />

Wettbewerber Kickstarter mehr als<br />

100 000 Dollar von potenziellen Käufern<br />

eingesammelt hatten. Doch eine erfolgreiche<br />

Crowdfunding-Kampagne ist keine Garantie,<br />

auch von professionellen Investoren<br />

Geld zu bekommen. Von den betrachteten<br />

Vorhaben schaffte das nur etwa jedes zehnte.<br />

Von diesen sind knapp 80 Prozent in den<br />

USA angesiedelt, über die Hälfte davon in<br />

Kalifornien. Zusammen haben sie 321 Millionen<br />

Dollar an Wagniskapital eingesammelt,<br />

rund das Siebenfache dessen, was sie<br />

durch Crowdfunding erhalten haben.<br />

Die drei Spitzenreiter sind derzeit Misfit<br />

Wearables, Formlabs und Smartthings.<br />

Misfit, ein tragbares Messgerät für Sportler,<br />

hat 23 Millionen Dollar an Risikokapital<br />

angezogen. Formlabs, ein Hersteller von<br />

3-D-Druckern, ist mit 22,3 Millionen Dollar<br />

ausgestattet. Smartthings, Spezialist für<br />

die Heimautomatisierung, sammelte 15,5<br />

Millionen Dollar ein.<br />

DAS GEFÜHL, GUTES ZU TUN<br />

Crowdfunding ist nichts für jedermann. Wer<br />

als Vorbesteller die Firmen unterstützt,<br />

trägt zwar zu deren Erfolg bei, ist aber finanziell<br />

nicht beteiligt. So erhielten etwa<br />

die Gründer von Oculus, dem Hersteller von<br />

3-D-Datenbrillen, 2,4 Millionen Dollar über<br />

Kickstarter – und verkauften ihre Firma<br />

dann für zwei Milliarden Dollar an Facebook.<br />

Das große Geschäft machten professionelle<br />

Kapitalgeber. Smartthings wurde<br />

gerade für 250 Millionen Dollar an Samsung<br />

veräußert. Das hat einigen Unterstützern<br />

die Laune verdorben. Aber sich darüber<br />

aufzuregen ist ungefähr so, als ob ein<br />

Kunde auf Apple sauer ist, weil er sein Geld<br />

in deren Macs, iPhones und iPods gesteckt<br />

hat und nicht in die Aktie des Konzerns.<br />

Zudem müssen Interessierte Geduld mitbringen.<br />

Scanadu versprach ursprünglich,<br />

den Scout im Frühjahr 2014 zu liefern.<br />

Nach etlichen Produktionsproblemen sieht<br />

es nun eher nach Anfang 2015 aus. Aber<br />

das Gefühl, eine gute Sache voranzubringen,<br />

ist nicht monetär zu bewerten. Und<br />

wenn jemand Kasse macht, sind zumindest<br />

auch die Ideengeber dabei.<br />

Der Autor ist WirtschaftsWoche-Korrespondent<br />

im Silicon Valley und beobachtet<br />

von dort seit Jahren die Entwicklung der<br />

wichtigsten US-Technologieunternehmen.<br />

WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 67<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Management&Erfolg<br />

Tausche Schrebergarten<br />

gegen Werkbank<br />

PERSONALMANAGEMENT | Die Rente mit 63 verschärft den Fachkräftemangel. Mit pfiffigen<br />

Ideen versuchen nun einige Unternehmen, erfahrene Mitarbeiter länger zu halten.<br />

Wolfgang Nocker ist nicht alles<br />

Jacke wie Hose. Im Gegenteil.<br />

Der 67-Jährige<br />

nimmt es ganz genau mit<br />

den Kleidungsstücken.<br />

Denn Nocker ist Bekleidungsphysiologe<br />

und testet für W. L. Gore & Associates in<br />

Putzbrunn bei München Kleidung auf ihre<br />

Haltbarkeit und Funktionalität, bevor diese<br />

unter dem Label Gore-Tex in den Laden<br />

kommt oder sich als extra starker Stoff in gefährlichen<br />

Berufen bewährt.<br />

Das Objekt seiner Begutachtung ist diesmal<br />

eine Feuerwehrjacke. Ein Brandspezialist<br />

zieht die Schutzkleidung über und betritt<br />

in voller Montur samt Sauerstoffgerät einen<br />

Container, in dem ein Brand simuliert wird.<br />

Beobachtet durch eine Glasscheibe, bewegt<br />

sich der Mann wie beim Löschen vorwärts.<br />

Sensoren an seinem Körper schicken Daten<br />

über Wind und Wärme an Nockers Computer.<br />

Danach weiß er aufs Grad Celsius genau,<br />

wie viel Hitze Stoff und Nähte vertragen.<br />

Tester Nocker hat beim US-Technologieunternehmen<br />

vor 25 Jahren das bekleidungsphysiologische<br />

Labor aufgebaut. Dort<br />

hat der lebhafte Weißhaarige zum Beispiel<br />

Sicherheitsschuhe auf ihre Stabilität geprüft<br />

oder herausgefunden, welche Fasern<br />

Schweiß am besten absorbieren. Mit 60 fand<br />

der Wirtschaftsingenieur und Physiker, nun<br />

sei es genug mit dem Messen und Prüfen,<br />

ging erst in Altersteilzeit und zwei Jahre später<br />

in den Ruhestand. Doch die Bekleidungsphysiologie<br />

ließ ihn nicht los. Als Gore<br />

anrief und ihm einen 400-Euro-Job anbot,<br />

hatte er sich genug gelangweilt in der Dauerfreizeit.<br />

Nocker machte sich selbstständig<br />

und arbeitet nun schon im fünften Jahr rund<br />

40 Stunden pro Monat für seinen alten Arbeitgeber.<br />

Der Unterschied: „Ich kann mir<br />

Projekte von verschiedenen Auftraggebern<br />

aussuchen und bin nicht weisungsgebunden“,<br />

sagt er. Und: „Die Arbeit macht mir<br />

noch genauso viel Spaß wie früher.“<br />

Nocker ist nur ein Beispiel bei Gore. Von<br />

den 1500 Beschäftigten sind einige schon im<br />

Rentenalter. Und auch die Rente mit 63, für<br />

viele Betriebe Grund zur Sorge, schreckt im<br />

Beschäftigte Rentner<br />

So viele der 65- bis 69-Jährigen sind<br />

erwerbstätig (in Prozent)<br />

25<br />

20<br />

15<br />

10<br />

Großbritannien<br />

Europäische Union<br />

5 Deutschland<br />

Frankreich*<br />

0<br />

2004 2013<br />

* gesetzliches Renteneintrittsalter: 60 Jahre; ** gesetzliches<br />

Renteneintrittsalter: 66 Jahre; Quelle: Eurostat<br />

Italien**<br />

bayrischen Putzbrunn niemanden. Denn<br />

dort hat man vorgebaut.<br />

„Wir finden gemeinsam Lösungen, wenn<br />

ältere Mitarbeiter weniger arbeiten wollen“,<br />

sagt Anton Stanglmair, der bei Gore die Personalthemen<br />

verantwortet. „Denn natürlich<br />

wollen wir sie so lange wie möglich im Unternehmen<br />

halten.“ Das gelingt mit längeren<br />

Pausen, rückenschonenden Hebewerkzeugen<br />

in der Produktion, Altersteilzeit auch<br />

ohne staatlichen Zuschuss – lauter Details<br />

des Personalmanagements, die den Mitarbeitern<br />

vermitteln: Wir nehmen euch ernst.<br />

Wer wie Gore agiert, ist also gut vorbereitet<br />

auf den drohenden Fachkräftemangel,<br />

den die Bundesregierung durch ihre Rente<br />

mit 63 noch verschärft. Denn ohne die Alten<br />

geht es nicht. Schon heute arbeiten in<br />

Deutschland 900 000 Menschen über das<br />

65. Lebensjahr hinaus. Zum Teil aus finanziellen<br />

Gründen, aber auch, weil sie lieber<br />

Projekte leiten oder an der Werkbank stehen,<br />

als in der Schrebergartenidylle langsam<br />

Rost anzusetzen. Unternehmen, die<br />

sich um diese erfahrenen Mitarbeiter bislang<br />

nicht bemüht haben, bekommen jetzt<br />

und in Zukunft heftige Probleme.<br />

VERLUSTE ÜBERBLICKEN<br />

Denn das Bundesministerium für Arbeit<br />

und Soziales hat errechnet, dass durch die<br />

Neuregelung allein in diesem Jahr 240 000<br />

Personen die Rente mit 63 in Anspruch<br />

nehmen könnten. Die Zahl setzt sich zusammen<br />

aus 150 000 Personen, die ohnehin<br />

in den Ruhestand gegangen wären,<br />

aber Abschläge in Kauf genommen hätten,<br />

die ihnen nun erspart bleiben. Hinzu kommen<br />

etwa 40 000 Selbstständige und 50 000<br />

Arbeitnehmer, die sich durch das Gesetz<br />

nun tatsächlich früher <strong>vom</strong> Erwerbsleben<br />

verabschieden könnten. Wie viele dieses<br />

Angebot tatsächlich nutzen, zeigt sich erst<br />

am Jahresende. Bis jetzt sind bundesweit<br />

immerhin 85 000 dieser Rentenanträge bei<br />

den Versicherern eingegangen.<br />

Um diesen zusätzlichen Verlust an Arbeitskräften<br />

zu überblicken, reichen zum<br />

Teil simple Instrumente: Personalstruktur<br />

analysieren und berechnen. In welchen<br />

Abteilungen werden Arbeiter und Angestellte<br />

wann in Rente gehen? Und wo<br />

kommt es dadurch zu Engpässen? Die<br />

FOTO: DIETER MAYR FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

68 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Er läuft und läuft<br />

und läuft Nocker ist<br />

mit 67 noch als<br />

Textilientester aktiv<br />

Renteneintrittsregeln sind überschaubar:<br />

Mindestens 45 Beitragsjahre zur gesetzlichen<br />

Rentenversicherung müssen Beschäftigte<br />

belegen und nach Juni 1951,<br />

aber vor 1953 geboren sein. Dann kommen<br />

sie in den Genuss der abschlagsfreien Rente<br />

mit 63. Für Jüngere wird die Altersgrenze<br />

stufenweise wieder angehoben. Der Jahrgang<br />

1964 geht dann nach 45 Jahren wieder<br />

mit 65 ohne Abschläge in Rente.<br />

Darauf können Unternehmen rechtzeitig<br />

reagieren. Ausbildung und Nachfolgeplanung<br />

lauten die Stichworte, die in Konzernen<br />

wie der Allianz, BMW oder Audi die<br />

Personalentwickler beschäftigen, aber von<br />

den meisten Mittelständlern bisher vernachlässigt<br />

werden. Dabei ist es keine Frage<br />

der Größe, sich einen Überblick zu verschaffen.<br />

Fortschrittliche, international arbeitende<br />

Familienbetriebe wie das Elektrotechnikunternehmen<br />

Phoenix Contact im<br />

ostwestfälischen Blomberg, der Spezialist<br />

für Vakuumtechnologie J. Schmalz im<br />

Schwarzwald und Antriebstechniker EBM-<br />

Papst im Fränkischen, die schon wegen der<br />

abgelegenen, ländlichen Standorte mehr<br />

in Mitarbeitersuche und deren Bindung investieren,<br />

wissen genau, was auf sie zukommt.<br />

Bei EBM-Pabst könnten von fast<br />

12 000 Beschäftigten in den nächsten zwei<br />

Jahren etwa 150 die Rente einreichen.<br />

Genau das beschäftigt auch die Chefs<br />

der Verkehrsbetriebe Hamburg-Holstein<br />

(VHH). Hier rechnen die Personaler damit,<br />

dass von den gut 1600 Mitarbeitern bis<br />

2019 acht Prozent in Rente gehen. Durch<br />

das Andrea-Nahles-Gesetz verkürzt sich<br />

der Planungszeitraum um zwei Jahre. „Der<br />

Druck steigt zwar“, sagt VHH-Vorstand<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 69<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Management&Erfolg<br />

»<br />

Toralf Müller, „aber das wird für uns<br />

nicht dramatisch problematisch.“ Für 2014<br />

liegt ihm noch kein einziger zusätzlicher<br />

Rentenantrag vor. Denn Müller und seine<br />

Mannschaft haben rechtzeitig gehandelt.<br />

„Je genauer wir die Personen und ihre<br />

Berufe kennen, desto besser können wir<br />

überlegen, wie wir die Mitarbeiter halten“,<br />

sagt Müller. Der VHH-Demografietarifvertrag<br />

etwa sorgt mit Dienstplänen für Ältere<br />

und Gesundheitsbausteinen dafür, dass<br />

der Rücken, gemeinhin Schwachstelle aller<br />

Berufsfahrer, länger stabil bleibt. Den<br />

Zuschuss für Fitnesskurse und Sportvereine<br />

nehmen die Mitarbeiter gerne. Jeder<br />

zuverlässige und gesunde Fahrer, der in<br />

Rente geht, kann für 450 Euro im Monat<br />

dabeibleiben. 96 solcher Teilzeitrentner<br />

kurven derzeit durch den Osten und Westen<br />

Hamburgs bis nach Altona oder an die<br />

Alster.<br />

TRAUMJOB BUSFAHRER<br />

Die meisten haben viele Jahre hinterm<br />

Lenkrad von einem der 577 Busse des<br />

Nahverkehrsunternehmens gesessen.<br />

Aber einige sind Spätberufene. Wie Jan<br />

Hahnheiser, der nicht mehr länger bei der<br />

Versicherung oder als selbstständiger Anwalt<br />

schuften wollte und so mit 61 noch<br />

den Busführerschein machte und zwei<br />

Jahre lang in Teilzeit den dichten Verkehr<br />

Boschs Rentner leisteten vergangenes<br />

Jahr rund 50 000 Arbeitstage ab<br />

Chef der Senioren<br />

Hanser leitet die<br />

Tochter Bosch<br />

Management Support<br />

zu überlisten suchte. „Eigentlich will doch<br />

jeder Junge Lokomotivführer werden“,<br />

scherzt der Frührentner, der jetzt auf einen<br />

Minijob umgestiegen und noch drei bis<br />

fünf Tage im Monat auf Tour ist. „Ich muss<br />

finanziell nicht, will aber noch fahren.“<br />

Für andere ist nicht die Freude am Fahren,<br />

sondern der Zuverdienst Anreiz, um<br />

weiterzumachen. „Gute Fahrer, die die<br />

Speditionen jenseits der Rentengrenze<br />

halten wollen, werden besser bezahlt“, sagt<br />

Rüdiger Ostrowski, Vorstand des Verbandes<br />

Spedition und Logistik Nordrhein-<br />

Westfalen. Nun müssen die Firmen früher<br />

tiefer in die Tasche greifen, denn viele der<br />

begehrten Fahrer können mit 63 statt mit<br />

65 in Rente gehen. 10 bis 15 Prozent Zuschlag<br />

aufs Vollzeitgehalt sind keine Ausnahme.<br />

Und: Für den Fernverkehr werden<br />

die Fahrer noch knapper, weil Ältere lieber<br />

im Nahverkehr unterwegs sind.<br />

Erfahrung und Wissen halten will auch<br />

Bosch. Innerhalb der nächsten zehn Jahre<br />

könnten dort ein bis zwei Prozent der<br />

107 000 Beschäftigten zusätzlich abschlagsfrei<br />

in Rente gehen, also etwa 2000<br />

Mitarbeiter über alle deutschen Standorte.<br />

Bosch-Personalgeschäftsführer Christoph<br />

Kübel hält die Rente mit 63 für ein falsches<br />

Signal: „Die Rente mit 67 ist der richtige<br />

Weg.“ Für den Technikkonzern selbst sieht<br />

er allerdings kein Risiko. Etwa 100 Arbeitszeitmodelle,<br />

Altersteilzeit und der im Metalltarifvertrag<br />

festgelegte Anspruch auf einen<br />

flexiblen Renteneinstieg schaffen gleitende<br />

Übergänge in die dritte Lebensphase.<br />

Schon bisher gingen einige Arbeitnehmer<br />

vor dem 65. Lebensjahr in den Ruhestand.<br />

Dennoch versucht auch Bosch, mit<br />

zertifizierten Arbeitsplätzen und Gesundheitsprogrammen<br />

die Mitarbeiter in der<br />

Produktion zu halten, dank derer Erfahrung<br />

die Fließbänder niemals stillstehen.<br />

MIT DEN SENIOREN ZUFRIEDEN<br />

Und wer doch geht, kann für Projekte wiederkommen<br />

– anteilig bezahlt nach seinem<br />

letzten Gehalt. Die Tochtergesellschaft<br />

Bosch Management Support, gegründet,<br />

um auf pensionierte Führungskräfte zurückgreifen<br />

zu können, öffnet sich inzwischen<br />

auch den Werkstattmeistern. 1600<br />

Senioren haben ihre Fähigkeiten und Kontaktdaten<br />

in einer Datenbank hinterlassen.<br />

50 000 Arbeitstage leisteten die verrenteten<br />

Boschianer im Jahr 2013. 1,6 Prozent der<br />

Freiwilligen sind jenseits der 75, die meisten<br />

bis 69 Jahre aktiv. Ob es in China, Mexiko<br />

oder Deutschland in der Produktion<br />

klemmt, die sogenannten Silver Worker<br />

springen ein. Und das zur vollen Zufriedenheit<br />

der hilfsbedürftigen Bosch-Werke:<br />

90 Prozent würden wieder auf den Rat der<br />

jung gebliebenen Alten setzen.<br />

Diese Quote erklärt sich durch die Auslese.<br />

„Wir führen Gespräche, denn außer der<br />

Qualifikation und dem Wunsch, am Ball zu<br />

bleiben, ist es entscheidend, dass die Berater<br />

Sozialkompetenz mitbringen“, sagt Robert<br />

Hanser, der seit Juli Senioren-Geschäftsführer<br />

und selbst mit 60 Jahren in<br />

Pension gegangen ist.<br />

Das ist nicht ungewöhnlich, steht die 60<br />

doch bei vielen Führungskräften als Ausstiegsalter<br />

im Vertrag. Da diese sich jedoch<br />

oftmals noch zu jung für den Ruhestand<br />

fühlen, betreuen sie regelmäßig Projekte.<br />

Wobei Bosch darauf achtet, dass keine<br />

Dauerarbeitsverhältnisse entstehen.<br />

Denn obwohl viele der Teilzeitrentner<br />

ihr Wissen gerne an die nächste Generation<br />

weitergeben und weiterhin Verantwortung<br />

im Unternehmen übernehmen wollen,<br />

sollte auch etwas Zeit für den wohlverdienten<br />

Ruhestand bleiben.<br />

Wie bei Bekleidungsphysiologe Nocker<br />

von Gore. Sein Hobby ist die Jagd. Praktisch<br />

daran: Weil Jäger meist früh morgens<br />

oder in der Abenddämmerung unterwegs<br />

sind, lässt sich diese Leidenschaft bestens<br />

mit seinem Job vereinbaren.<br />

n<br />

ruth lemmer | management@wiwo.de<br />

FOTO: CHRIS GLOAG FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

70 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Management&Erfolg<br />

Pionierarbeit Das VW-Werk in Emden<br />

ist das erste, in dem die neue modulare<br />

Baukasten-Produktion zum Einsatz kommt<br />

Das intelligente, zukunftsweisende Konzept<br />

begeistert nicht nur Produktionsexperten<br />

und Logistikspezialisten, sondern<br />

überzeugte im vergangenen Jahr auch die<br />

hochkarätig besetzte Jury, die über die Vergabe<br />

des Dekra-Awards zu entscheiden<br />

hatte: Das Projekt mach18.Factory von<br />

Volkswagen setzte sich im Herbst 2013 gegen<br />

ein Dutzend Mitbewerber in der Kategorie<br />

„Sicherheit“ durch, in der erfolgreiches<br />

Projektmanagement ausgezeichnet<br />

wurde.<br />

FOTOS: PR<br />

Aus dem Baukasten<br />

DEKRA-AWARD | Zukunftsweisende Managementprojekte wie bei<br />

VW sollen auch dieses Jahr prämiert werden. In drei Kategorien.<br />

Am 25. August beginnt für das VW-<br />

Werk Emden eine neue Ära. Nicht<br />

nur, weil an diesem Tag an der Emsmündung<br />

die Fertigung des neuen Mittelklassemodells<br />

Passat beginnt – sechs Wochen<br />

vor der Publikumspremiere auf dem<br />

Pariser Autosalon. Die achte Modellgeneration<br />

des erfolgreichsten Volkswagen-<br />

Produkts – mit einer Jahresproduktion von<br />

über einer Million Einheiten – wird von Beginn<br />

an sowohl als Limousine wie auch als<br />

Kombi angeboten. Sie wiegt aufgrund innovativer<br />

Ansätze im Karosseriebau 80 Kilogramm<br />

weniger als das Vorgängermodell<br />

und wird zu einem späteren Zeitpunkt<br />

auch mit einem besonders sparsamen Hybridantrieb<br />

zu haben sein.<br />

Doch Werkleiter Frank Fischer fiebert<br />

dem SOP, dem „Start of production“, noch<br />

aus einem ganz anderen Grund entgegen:<br />

Zusammen mit dem Passat <strong>vom</strong> Typ B8<br />

geht in Emden auch der neue modulare<br />

Produktions-Baukasten (MPB) von Volkswagen<br />

an den Start. Das hochkomplexe<br />

Fertigungssystem soll dem Konzern helfen,<br />

den Planungs- und Konstruktionsaufwand<br />

zu verringern und Anlaufkurven bei neuen<br />

Modellen drastisch zu verkürzen. Es soll<br />

Prozesse im Presswerk und im neuen Karosseriebau,<br />

in der Lackiererei wie in der<br />

Montage mithilfe standardisierter und erprobter<br />

Module in der Produktion stabilisieren<br />

und die Qualitätssicherung vereinfachen<br />

– und die Werke letztlich auch befähigen,<br />

mit geringem Aufwand eine hohe<br />

Produktvielfalt herzustellen. Unter dem<br />

Schlagwort mach18.Factory wird das System<br />

in den kommenden Jahren nach und<br />

nach über alle 106 Fertigungsstätten des<br />

Volkswagen-Konzerns ausgerollt<br />

– Emden leistet hierfür<br />

wichtige Pionierarbeit.<br />

„Der modulare Produktions-<br />

Baukasten ist die Basis für unsere<br />

neuen Standardfabriken,<br />

die uns sehr viel Zeit und Geld<br />

sparen werden“, sagt Audi-Produktionsvorstand<br />

Hubert<br />

Waltl, der die Systematik zusammen<br />

mit der Technischen<br />

Universität München entwickelt<br />

hat. Horst Wildemann,<br />

Professor für Betriebswirtschaftslehre<br />

an der TU und<br />

Waltls wissenschaftlicher Sparringspartner,<br />

spricht von<br />

„langfristigen“ Produktivitätssteigerungen<br />

in einer Größenordnung zwischen 35 und<br />

40 Prozent: „Das Baukasten-System entkoppelt<br />

immerhin Skaleneffekte von der<br />

Stückzahl“. Soll heißen: Schon eine Kleinserienproduktion<br />

rechnet sich damit.<br />

Dekra-Award<br />

Interessenten<br />

können sich bis zum<br />

30. September um<br />

den Preis bewerben<br />

STRATEGIEN GEGEN STRESS<br />

Ähnliche Erfolgsmethoden und unternehmerische<br />

Spitzenleistungen werden nun<br />

auch für den Dekra-Award des Jahres 2014<br />

gesucht, den die Prüf- und Sachverständigenorganisation<br />

zusammen mit der WirtschaftsWoche<br />

ausschreibt. In der Kategorie<br />

Sicherheit geht es erneut um Produktionssicherheit,<br />

aber diesmal im Bezug auf Mitarbeiterintegration:<br />

Gesucht werden Unternehmen,<br />

die mit gezielten Maßnahmen<br />

ausländische Arbeitnehmer vorbildlich integrieren,<br />

sie sprachlich, fachlich und kulturell<br />

fit machen für den High-Tech-Standort<br />

Deutschland.<br />

In der zweiten Kategorie Umwelt sucht<br />

die WirtschaftsWoche diesmal Unternehmen,<br />

die das Design, den Einkauf und die<br />

Fertigung ihrer Produkte so ausgerichtet<br />

haben, dass sie in puncto Umwelt- und<br />

Verbraucherschutz zukunftsweisend<br />

sind. Und die dritte<br />

Preiskategorie steht wie in den<br />

Vorjahren unter dem Thema<br />

Gesundheit: Welche Maßnahmen<br />

haben sich Unternehmen<br />

einfallen lassen, um den Stress<br />

ihrer Mitarbeiter zu mindern,<br />

sie vor der E-Mail-Flut in den<br />

Ferien zu schützen oder ihnen<br />

Auszeiten zu verordnen, um<br />

Burn-out und Suchterkrankungen<br />

vorzubeugen.<br />

Die Bewerbung ist denkbar<br />

einfach – Interessenten finden<br />

alle nötigen Detailinformationen<br />

im Internet unter<br />

www.dekra-award.de. Einsendeschluss ist<br />

der 30. September 2014. Die diesjährige<br />

Preisverleihung findet am Dienstag, 11.<br />

November 2014 im Stuttgarter Mercedes-<br />

Museum statt.<br />

n<br />

franz.rother@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 71<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Geld&Börse<br />

»Der Markt sind wir«<br />

AKTIENHANDEL | Auf Tradegate bekommen Anleger nicht immer die besten Preise.<br />

Dennoch stieg die Berliner Plattform zur größten Börse für Privatanleger auf.<br />

Tradegate-Chef Holger Timm nutzt EU-Regeln geschickt, um Aufträge an sich zu<br />

ziehen. Zum Erfolg verhilft ihm ausgerechnet auch die Deutsche Börse.<br />

Die Männer wirken erstarrt: Einer<br />

ist mit verschränkten Armen<br />

im Stuhl versunken, der<br />

andere hat sich hinter acht<br />

Monitoren verschanzt. Regungslos<br />

starren sie auf ihre Schirme. Drei<br />

Stühle weiter hockt ein Leidensgenosse,<br />

die Hände gefaltet. Allein: Beten hilft Hessens<br />

Maklern auf dem Börsenparkett nicht<br />

– es mangelt an Kundenaufträgen.<br />

Die Ursache dieser Tristesse suchen<br />

Frankfurts Händler in Berlin: Dort, an der<br />

Börse Tradegate, hat der Bulle den Bären<br />

längst erlegt. Die Skulptur im Besucherraum<br />

signalisiert: Hier steigen Kurse,<br />

Tradegate ist auf der Gewinnerseite. Genau<br />

genommen ist es Gründer Holger Timm.<br />

Dem 57-Jährigen gehört die Mehrheit<br />

der Bank Tradegate AG, die an der Börse<br />

Tradegate Exchange mit Aktien handelt.<br />

Gegen den Trend im Börsenhandel ist sein<br />

Umsatz massiv gewachsen. Der Aufsteiger<br />

hat sogar das altehrwürdige Frankfurter<br />

Parkett überholt: 2013 setzte er 41,2 Milliarden<br />

Euro mit Aktien um – 31 Prozent<br />

mehr als im Jahr zuvor. Frankfurt schaffte<br />

nur 25 Milliarden Euro. „Den Neid muss<br />

man sich erarbeiten“, sagt Timm.<br />

Nun hat er einen großen Plan: Mithilfe<br />

seines Partners Deutsche Börse will der<br />

grauhaarige Mann Europa erobern. „Ich<br />

möchte die Tradegate Exchange als führende<br />

europäische Börse für Privatanleger<br />

weiterentwickeln“, sagt er und lupft seine<br />

Hornbrille. Sein „Baby“ Tradegate ist bereits<br />

führend bei deutschen Privatanlegern<br />

und brüstet sich, dass der Marktanteil am<br />

Aktienhandel im Vergleich zu den sieben<br />

Wettbewerbsbörsen 2013 auf „bis zu 58<br />

Prozent gestiegen“ sei. Nicht drin in der<br />

Was Anleger<br />

wissen müssen<br />

ä Stopps sparsam setzen<br />

Morgens und abends weitet Tradegate<br />

die Spanne zwischen An- und Verkaufspreis<br />

aus – die Gefahr steigt, dass<br />

Stop-Loss-Limits, bei denen Aktien automatisch<br />

verkauft werden, ausgelöst<br />

werden. Der Kurs geht kurz nach unten,<br />

die Aktien sind dann weg.<br />

ä Nur mit Limit kaufen<br />

Wer dem Makler keinen Kauf- oder<br />

Verkaufspreis per Limit vorgibt, läuft<br />

Gefahr, dass Tradegate die Order<br />

zu einem ungünstigen Preis ausführt.<br />

ä Nicht abends handeln<br />

Wenn die Handelsplattform Xetra<br />

geschlossen ist (vor 9 und nach<br />

17.30 Uhr), steigt das Risiko, einen ungünstigen<br />

Kurs zu bekommen. Denn<br />

dann gibt es keinen liquiden Markt mehr.<br />

Rechnung ist das elektronische Handelssystem<br />

Xetra, auf dem sich Profis tummeln.<br />

Timms Geschichte ist ein Lehrstück, ein<br />

Musterbeispiel dafür, wie ein findiger Geschäftsmann<br />

von der gut gemeinten, aber<br />

realitätsfernen Regulierung der Europäischen<br />

Union (EU) profitiert. Betroffen sind<br />

Kunden fast aller Banken – von Sparkassen<br />

und Volksbanken bis hin zur Postbank.<br />

Wer wissen will, warum Timm an Privatanlegern<br />

verdient, muss zurückschauen.<br />

Weil die EU Anleger schützen wollte, dokterte<br />

sie jahrelang an vermeintlich strengen<br />

Regeln für die Finanzmärkte herum –<br />

heraus kam die Regulierung Mifid. Die EU<br />

verdonnerte Banken dazu, Kundenaufträge<br />

(„Orders“) zu den „bestmöglichen“ Konditionen<br />

auszuführen. Gibt der Kunde<br />

nicht vor, wo er handeln will – bei Volksund<br />

Raiffeisenbanken ist das bei jedem<br />

dritten Auftrag so – entscheidet die Bank.<br />

NUR THEORETISCH BESTER PREIS<br />

Timm profitiert von den Schwächen der<br />

Vorschrift: So müssen Banken nur sicherstellen,<br />

dass ein Auftrag zum theoretisch<br />

besten Preis ausgeführt wird. Laut Vorgabe<br />

sei es „nicht entscheidend“, welchen Preis<br />

ein einzelner Auftrag erziele, sondern „ob<br />

das Verfahren typischerweise zum bestmöglichen<br />

Ergebnis“ führe, sagt Thomas<br />

Dierkes, Vorstand der Börse Düsseldorf. Jedes<br />

Mal zu prüfen, wo es in der Minute den<br />

besten Preis gibt, ist teuer und aufwendig.<br />

Banken machen daher Stichproben: Wo<br />

ist der Preis am günstigsten, wie hoch sind<br />

Gebühren, wie schnell wird eine Order abgewickelt?<br />

Auf Basis der Tests wird eine<br />

Rangliste erstellt. Die Börse, die oben steht,<br />

kriegt alle Aufträge – oft ist es Tradegate.<br />

Doch die EU-Vorgabe lässt Spielraum.<br />

n Preise sind nicht verbindlich. Börsenmakler<br />

müssen zwar permanent veröffentlichen,<br />

zu welchen Preisen sie bereit wären,<br />

Aktien anzukaufen und zu verkaufen –<br />

zum Handel aber kommt es nicht ständig.<br />

Fließt kein echtes Geld, kann man sich<br />

nach außen besser darstellen, als man ist:<br />

Preise (Taxen) sind nicht verbindlich, können<br />

aber in die Rankings einfließen.<br />

n Banken nicht neutral. Die Institute können<br />

Ranking-Kriterien so gewichten, dass<br />

der Handelsplatz gewinnt, der ihnen<br />

»<br />

ILLUSTRATION: MARTIN HAAKE<br />

72 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


80 Prozent<br />

der Aktien handelt Tradegate<br />

zunächst auf<br />

eigene Rechnung<br />

58 Prozent<br />

Marktanteil hat<br />

Tradegate, mehr als die<br />

sieben Regionalbörsen<br />

zusammen<br />

41 Milliarden<br />

Euro im Jahr setzte Tradegate<br />

zuletzt mit Aktien um, vor allem<br />

aus Orders von Privaten<br />

WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 73<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Geld&Börse<br />

»<br />

selber Vorteile bringt. Timms Tradegate<br />

verrechnet abends alle Orders, die von einer<br />

Bank gekommen sind – so, als ob es nur<br />

einen Auftrag pro Aktie gegeben hätte. Die<br />

Kosten der Banken, sagt Timm, konnte er<br />

so um bis zu 80 Prozent reduzieren. „Banken<br />

haben damit einen Anreiz, ihr Ranking<br />

so aufzustellen, dass die Orders ihrer privaten<br />

Kunden an den für die Bank billigsten<br />

Handelsplatz gehen“, sagt Uto Baader, Chef<br />

der Baader Bank. Der für die Bank billigste<br />

Platz aber muss keineswegs der für Kunden<br />

günstigste sein.<br />

KOSTENLOS, NICHT UMSONST<br />

Wer im Ranking Handelskosten hoch gewichtet,<br />

könnte Tradegate Orders zuleiten<br />

– denn Tradegate nimmt von Anlegern keine<br />

Gebühren. Die DZ Bank, die Orders aus<br />

Volks- und Raiffeisenbanken weiterleitet,<br />

gewichtet Kosten mit 40 Prozent. Tradegate<br />

bekommt dort alle Orders inländischer<br />

Aktien und die der 50 größten europäischen.<br />

Die Deutsche WertpapierService<br />

Bank (dwp), die Orders für fast alle Sparkassen,<br />

Postbank und die Hälfte der Privatbanken<br />

routet, gewichtet Kosten gar mit 50<br />

Prozent. Sie gibt Orders für Dax-Aktien bis<br />

5000 Euro an Tradegate. Die Bank betont,<br />

dass sie auf das für Anleger „günstigste Ergebnis“<br />

abstelle. Das System sei „neutral“.<br />

Kosten hoch zu gewichten ist aber unlogisch,<br />

sie machen nur Bruchteile der Anlegerrechnung<br />

aus. Wer etwa in München<br />

Dax-Papiere im Wert von 5000 Euro ordert,<br />

zahlt zwei Euro an die Börse. Ein um ein<br />

Prozent schlechterer Kurs würde dagegen<br />

mit 50 Euro zu Buche schlagen.<br />

Dass Tradegate Anleger gratis handeln<br />

lässt, schiebt Tradegate in den Rankings<br />

nach vorne und bringt Aufträge.<br />

Gefährliche Kettenreaktion<br />

Siemens-Aktie am 07.08.2014 (in Euro)<br />

Tradegate<br />

Angebot: wie viele Aktien<br />

Stuttgart ankaufen würde<br />

Wer abends Aktien handelt, muss<br />

mit schlechteren Preisen rechnen<br />

Allein: Der Handel kostet Geld, Händler<br />

brauchen moderne Technik, Mitarbeiter<br />

Gehalt. Die Tradegate AG verdient an der<br />

Spanne zwischen dem Preis, zu dem sie<br />

Aktien kauft, und dem, zu dem sie verkauft.<br />

„Der Handel ist die wesentliche Einnahmequelle<br />

der Tradegate AG“, sagt Timm.<br />

Solange das Handelssystem Xetra der<br />

Deutschen Börse offen hat, läuft alles weitgehend<br />

fair. Auf Xetra handeln von 9 bis<br />

17.30 Uhr vor allem institutionelle Anleger<br />

mit großen Orders, der Platz ist die liquideste<br />

Börse. Dann orientieren sich Makler<br />

anderer Plätze an diesen Kursen, Xetra ist<br />

der Referenzmarkt – auch für Tradegate.<br />

Tradegate drückt den Kurs der Siemens-Aktie, vermutlich löst das Stop-Loss-Limits* aus.<br />

Im Vergleich zu Stuttgart verkauften Anleger Siemens auf Tradegate billig**<br />

* beim Stop-Loss-Limit dürfen Aktien verkauft werden, wenn der Kurs eine definierte Marke durchbricht; ** geschätzt 80 Prozent<br />

der Aktien handelt Tradegate im Schnitt selber – Gewinne aus billig angekauften Aktien gehören so Tradegate; Quelle: Bloomberg<br />

5137<br />

Zahl der gehandelten<br />

Aktien auf Tradegate<br />

Exchange<br />

Stuttgart<br />

Zahl der gehandelten<br />

Aktien in Stuttgart<br />

1024 1456<br />

500 521<br />

300<br />

500<br />

560<br />

400 466<br />

712 292<br />

10<br />

146 50<br />

21:09 21:18 21:19 21:22 21:22 21:22 21:22 21:23 21:23 21:23 21:23 21:23 21:25 21:25 21:26<br />

19 Sek. 16 Sek. 49 Sek. 31 Sek. 39 Sek. 45 Sek. 53 Sek. 8 Sek. 17 Sek. 23 Sek. 26 Sek. 34 Sek. 48 Sek. 51 Sek. 12 Sek.<br />

89,0<br />

88,5<br />

88,0<br />

87,5<br />

87,0<br />

Wehe aber, Xetra hat zu. „Dann sinkt die<br />

Qualität der Preise massiv“, sagt ein Banker,<br />

in dessen Haus Tradegate auf der Rangliste<br />

über Jahre vorn stand. Das Problem: Viele<br />

Anleger beschäftigen sich erst abends mit<br />

ihrem Depot, bei dwp trudeln viele Orders<br />

abends ein, wenn Xetra zu ist. Dann ist<br />

Tradegate die liquideste Börse, der Platz hat<br />

von 8 bis 22 Uhr geöffnet. Bei den von dwp<br />

vertretenen Banken geben bis zu 60 Prozent<br />

der Anleger keinen Handelsplatz an.<br />

15 Prozent dieser „weisungslosen Orders“<br />

laufen außerhalb der Xetra-Zeiten auf.<br />

29 MILLIONEN EURO ERHANDELT<br />

Dann, sagen Insider, verdiene Tradegate<br />

Geld. „Abends sind wir der Markt“, sagt<br />

Timm. 2013 erlöste seine Bank, die auch<br />

Makler an den Börsen Frankfurt und Berlin<br />

hat, netto gut 29 Millionen Euro im Handel.<br />

Kritiker werfen ihr vor, Anleger mit fragwürdigen<br />

Methoden abzukassieren. „Wir<br />

haben geprüft, ob wir Orders abends weiterleiten<br />

müssen“, sagt ein Banker. Er muss,<br />

und das „unverzüglich“, so will es die EU.<br />

In Köln sitzt Volker Müller* vor sieben<br />

Bildschirmen. Der 43-Jährige handelt privat,<br />

aber in Vollzeit. Müller zeigt auf den<br />

Schirm unten in der Mitte. „Das ist mein<br />

wichtigster Monitor“, sagt er, über den<br />

Schirm handelt er, dort wird das Geld verdient<br />

– vorausgesetzt, Tradegate lässt ihn.<br />

* Name von der Redaktion geändert<br />

74 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


ILLUSTRATION: MARTIN HAAKE; FOTOS: PR<br />

Der Blondschopf denkt nach. Es ist kurz<br />

nach 19 Uhr, Xetra hat zu, Müller will aber<br />

jetzt Osram-Aktien kaufen. Um Tradegate<br />

zu testen, tut er, was er sonst „niemals“ tun<br />

würde: Er gibt eine Order ohne Limit auf,<br />

bei der der Makler ihm Aktien zum nächstmöglichen<br />

Preis verkaufen darf. Müller will<br />

doppelt so viele Papiere kaufen, wie Tradegate<br />

zu dem Preis aktuell handeln würde.<br />

Wohl ist ihm nicht dabei, ein Profi würde<br />

dem Makler nie so einen Freibrief geben.<br />

Er macht eine Ausnahme und bekommt<br />

die ersten 300 Aktien tatsächlich zum von<br />

Tradegate vorab signalisierten Preis.<br />

Elf Sekunden später erhält er die nächsten<br />

300 – aber 0,85 Prozent teurer. Der Profi<br />

lehnt sich zurück und zieht die Augenbrauen<br />

hoch: „Ein guter Aufschlag“, sagt er ernüchtert.<br />

91 Euro mehr hat ihn die zweite<br />

Ausführung gekostet. Wegen solcher Summen<br />

beschwert sich kein Anleger – bei<br />

Tradegate aber können sie sich läppern.<br />

Geldfluss<br />

(in Prozent)<br />

Beteiligung<br />

(in Prozent)<br />

BNP<br />

Paribas*<br />

Cortal-Consors-<br />

Deutschland-Chef<br />

Kai Friedrich<br />

Handelsplatz Tradegate<br />

voreingestellt<br />

Wer sät, der erntet nicht<br />

KAMPF HINTER DEN KULISSEN<br />

Tradegate hat den höheren Preis in derselben<br />

Sekunde angezeigt, in der die zweite<br />

Tranche des Auftrags ausgeführt wurde.<br />

Müller sitzt direkt vor dem Schirm, hatte<br />

aber keine Chance, den Auftrag zu löschen.<br />

Die EU-Richtlinie verlangt, dass Makler<br />

die Preise publizieren, zu denen sie bereit<br />

sind, zu handeln. Händler veröffentlichen<br />

auch die Zahl der Aktien, die sie handeln<br />

würden. Anleger sollen wissen, welcher<br />

Preis sie erwartet. Wie lange der angezeigt<br />

werden muss, ehe gehandelt wird, sagt die<br />

EU nicht – vorgeschrieben sind lediglich<br />

„angemessene“ Bedingungen.<br />

Was „angemessen“ ist, ist strittig. Aufsicht<br />

über den Börsenhandel ist Sache der<br />

Länder. Die Berliner Aufsicht toleriert das<br />

Handelsgebaren, das in anderen Ländern<br />

undenkbar scheint: Hessens Aufsicht etwa<br />

schreibt vor, dass ein Anleger ohne „elektronische<br />

Hilfsmittel“ in der Lage sein<br />

müsse, auf einen geänderten Preis zu reagieren.<br />

Es gibt zwar keine feste Frist, „fünf<br />

bis zehn Sekunden“ solle der Händler aber<br />

warten, bis er eine Order ausführe. „Der<br />

Kunde muss die Chance haben, eine Order<br />

zu löschen, wenn sich der Preis verschlechtert.<br />

Die angemessene Zeit dafür<br />

liegt bei rund 30 Sekunden“, sagt Norbert<br />

Betz, Chef der Börsen-Handelsüberwachung<br />

in München. Und auch an der klassischen<br />

Börse Berlin muss ein Makler,<br />

wenn er zum ungünstigeren Preis abschließen<br />

will, „ zunächst etwas warten, bis<br />

er die Order ausführt – schließlich soll der<br />

Kunde noch auf den veränderten Preis reagieren<br />

können“, sagt Chef Jörg Walter. Der<br />

Fall Osram wäre in Hessen, Bayern und anderswo<br />

also zum Fall für die Aufsicht geworden<br />

– nicht so in Berlin.<br />

Hinter den Kulissen tobt daher der Krieg<br />

der Makler. Mittendrin: die Bank Close<br />

Brothers Seydler. Deren Makler handeln in<br />

Hessen – und dürfen nicht, was Tradegate<br />

erlaubt ist. Close Brothers hat sich deshalb<br />

in einem Brief an die Berliner Aufsicht beschwert.<br />

Der Vorwurf: Tradegate halte sich<br />

nicht an EU-Regeln, mache neue Preise<br />

und führe Orders in dem Moment aus, in<br />

dem der geänderte Preis angezeigt wird.<br />

Stichproben deuten darauf hin, dass Anleger<br />

schlechtere Kurse bekommen, wenn<br />

Tradegate neue Preise in der gleichen Sekunde<br />

anzeigt und Orders ausführt (siehe<br />

Seite 74 und 76). Timm rechtfertigt, ausführbare<br />

Orders würden „sofort automatisch<br />

<strong>vom</strong> elektronischen Handelssystem<br />

ausgeführt“. Sofern kein Referenzmarkt geöffnet<br />

sei, könne „die Preisfindung ausschließlich<br />

aufgrund der Orderbuchlage<br />

erfolgen“. Sein Computer berechnet den<br />

Preis anhand der vorliegenden Orders.<br />

Das zeigt, wie gefährlich es ist, eine Order<br />

ohne Preislimit aufzugeben. Wer es tut,<br />

muss damit rechnen, dass Tradegate sie als<br />

„ausführbare Order“ betrachtet – liegt der<br />

nächste Preis tiefer, ist es Pech für Anleger.<br />

Timm, der sich zum Gespräch mit der<br />

Redaktion ganz in Schwarz gekleidet hat,<br />

legt die Hand auf den Tisch: „Ich habe nie<br />

behauptet, dass wir immer die besten<br />

sind.“ Sagt’s und zuckt mit den Schultern.<br />

„Das Börsengesetz lässt den einzelnen<br />

Börsen einen gewissen Spielraum bei der<br />

Ausgestaltung ihres Börsensystems“, sagt Renate<br />

Hinsken, Chefin der Börsenaufsicht<br />

Die Deutsche Börse investiert, andere sammeln das Geld ein<br />

2013 erlöste die<br />

Tradegate AG über<br />

29 Millionen Euro**<br />

netto im Handel<br />

Tradegate-Gründer<br />

Holger Timm<br />

19,6 Tradegate AG 5<br />

19,6<br />

81<br />

Berliner Effektengesellschaft<br />

Finanzholding<br />

71<br />

Wertpapierhandelsbank<br />

Jahresüberschuss 2013:<br />

4,13 Millionen Euro<br />

Makler der AG<br />

handeln Aktien<br />

auf der Plattform<br />

der Exchange<br />

Tradegate Exchange<br />

Börsenbetreiber<br />

Jahresüberschuss 2013: 0,26 Millionen Euro<br />

* Tochter ist der Online-Broker Cortal Consors; ** die Tradegate AG hat auch Makler an den Börsen Frankfurt und Berlin;<br />

Quelle: Berliner Effektengesellschaft, Tradegate AG, eigene Recherche; Zahlen gerundet<br />

25<br />

71<br />

81<br />

5<br />

Deutsche<br />

Börse<br />

Deutsche-<br />

Börse-Chef<br />

Reto Francioni<br />

75<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 75<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Geld&Börse<br />

»<br />

in Berlin. Und „ob die Preise auf einer<br />

Handelsplattform wirtschaftlich für den Anleger<br />

Sinn machen, ist nicht unsere Frage“.<br />

Indem Tradegate Orders schon in der<br />

Sekunde ausführt, in der der geänderte<br />

Preis angezeigt wird, hält die Börse Arbitrageure<br />

fern. Deren Computer suchen permanent<br />

nach Preisunterschieden zwischen<br />

Börsen. Ein steigender Preis an der<br />

einen Börse zum Beispiel lockt Arbitrageure<br />

an, die den Anstieg mit Verkäufen stoppen.<br />

Tradegate verhindert das, denn wenn<br />

die Computer einen veränderten Preis registrieren,<br />

ist das Geschäft längst gelaufen.<br />

ALLES UNTER KONTROLLE<br />

Andere Börsen, die daran verdienen, Käufer<br />

und Verkäufer zusammenzubringen, sehen<br />

Arbitrageure als nützlich an – helfen sie<br />

doch, die Spanne zwischen Ankaufs- und<br />

Verkaufspreis (Spread) zu drücken, sodass<br />

Anleger günstiger kaufen können. Nimmt<br />

die Börse keine Gebühren, steigt die Gefahr,<br />

dass sie nicht nur Käufe und Verkäufe<br />

von Anlegern gegeneinander ausführt, sondern<br />

Aktien erst mal selbst auf das eigene<br />

Buch nimmt und teurer wieder abgibt. „Jeder<br />

Makler will das Geschäft machen“, sagt<br />

Timm. Geschätzt handelt Tradegate 80 Prozent<br />

der Aktien selbst, statt Kundenorders<br />

zusammenzuführen. Den Spread vereinnahmt<br />

Timms Tradegate AG.<br />

Mysteriöser Kursverfall<br />

Hinsken von der Aufsicht soll Tradegate<br />

kontrollieren – doch in ihrer Behörde hat<br />

sie keinen Zugang zu Handelsdaten. Sie ist<br />

auf die Zusammenarbeit mit der Tradegate-Handelsüberwachung<br />

angewiesen.<br />

Doch die steht unter dem Einfluss von<br />

Timm. Er ist Vorsitzender des Börsenrats<br />

der Tradegate Exchange. Ein Interessenkonflikt:Ihm<br />

gehört nicht nur die Mehrheit<br />

an der Tradegate AG, deren Händler an der<br />

Exchange Geld verdienen – Geld für Timm.<br />

Er ist auch Geschäftsführer der AG, die Anteile<br />

an der Exchange hält. Als Chef des<br />

Börsenrates gibt er die großzügigen Bedingungen<br />

mit vor, zu denen seine Leute die<br />

Orders filetieren. Aufgabe des Rates ist es<br />

überdies, die Börsenordnung zu erlassen,<br />

Händler zuzulassen, Geschäftsführer zu<br />

bestellen und abzuberufen, sie zu überwachen.<br />

Timm meint, es sei normal, dass Vertreter<br />

der Makler im Börsenrat sitzen.<br />

Timms Schwester Kerstin Timm verantwortet<br />

im Vorstand der AG den Handel. So<br />

aber hat der Bruder alles unter Kontrolle.<br />

Im Handelsraum der futuristisch angehauchten<br />

Tradegate-Zentrale am Ku’damm<br />

ist nur das leise Surren der Klimaanlage zu<br />

hören. „Hier wird nicht mehr geschrien<br />

und gebrüllt wie früher an der Parkettbörse“,<br />

sagt Timm. Seine Makler sitzen in einem<br />

Rondell an 40 kuchenstückförmigen<br />

Arbeitsplätzen. Auf ihren Rechnern blinkt<br />

Wie Tradegate vor dem Start des Xetra-Handels der Deutschen Börse Anleger ausbootet<br />

Daimler-Aktie am 23.05.2013 (in Euro)<br />

Tradegate* signalisiert<br />

einen Ankaufspreis<br />

von 47,30 €<br />

pro Aktie und handelt<br />

1559 Aktien zu<br />

diesem Kurs<br />

47,30<br />

1559<br />

26 Sekunden später<br />

senkt Tradegate den<br />

angezeigten Preis um<br />

1,80 € auf 45,50 €<br />

(für einen Dax-Wert<br />

ungewöhnliche minus<br />

3,8 %). In der gleichen<br />

Sekunde werden<br />

15 786 Aktien<br />

gehandelt und...<br />

15786<br />

45,50<br />

...17 Sekunden<br />

später erneut<br />

47 030 Aktien<br />

47030<br />

Der umsatzstarke Xetra-<br />

Handel hat eröffnet, der<br />

Preis auf Tradegate liegt<br />

wieder bei 47,60 Euro<br />

47,60<br />

Die Abrechnung: Anleger haben 62 816 Aktien zu 45,50 € verkauft, der Erlös ist 113069 Euro niedriger,<br />

als 43 Sekunden zuvor bei 47,30 € drin gewesen wären. Die Börse hat den Preis nicht korrigiert, aber der<br />

Makler Tradegate AG hat einige Verkäufer besser gestellt, weil die sich beschwert hatten.<br />

* gehandelt werden Aktien auf der Börsenplattform Tradegate Exchange, allerdings von Maklern der Tradegate AG;<br />

Quelle: Bloomberg, Tradegate, eigene Recherche<br />

Den ganzen Tag über liegt<br />

der tiefste Kurs an den<br />

Börsen Frankfurt, Xetra,<br />

Stuttgart und München<br />

nie unter 47,12 €<br />

es fortwährend: rot (Kurs fällt), gelb (unverändert),<br />

grün (steigt). Eine Ampel auf dem<br />

Monitor zeigt den Händlern, ob die Aktien,<br />

die sie überwachen, handelbar sind. Die<br />

Makler greifen ein, wenn der Computer<br />

hakt. Sie überwachen, ob er zu viele Aktien<br />

kauft. Falls ja, wird verkauft. Ihr Handelssystem<br />

wurde im eigenen Haus programmiert.<br />

Wie aber verdienen sie ihr Geld?<br />

n Preis nach oben schrauben. Der Computer<br />

macht Kurse – und hält angezeigte Preise<br />

nicht immer ein. Als ein Anleger kürzlich<br />

nach 18 Uhr Aktien eines Nebenwertes kaufen<br />

wollte, verteuerte Tradegate mehrfach<br />

den Preis, statt die Order auszuführen.<br />

Stunden später musste der Käufer 40 Cent<br />

oder zwei Prozent mehr pro Aktie zahlen,<br />

als der ursprüngliche Preis signalisierte.<br />

Anleger können daraus lernen: Der Käufer<br />

wollte dreimal so viele Aktien kaufen,<br />

wie Tradegate anbot. Gerade in Randzeiten<br />

sollten Anleger maximal so viel ordern,<br />

wie ein Platz anzeigt. Sonst läuft er Gefahr,<br />

dass ein Makler mit Einblick ins Orderbuch<br />

sein Wissen nutzt – und der Preis für Käufer<br />

steigt. Wer offline handelt, sollte ab 9 Uhr,<br />

wenn Xetra öffnet, beim Banker anrufen,<br />

die Kurse der Börsen abfragen und dann<br />

den günstigsten Platz auswählen.<br />

n Immer einen Schritt vor dem Kunden.<br />

Anleger Müller will im Späthandel Commerzbank-Aktien<br />

kaufen. Er will Tradegate<br />

überbieten. Verkäufer sollen von ihm nun<br />

mehr Geld bekommen als von Tradegate.<br />

Eigentlich, denn kaum hat er die Order abgeschickt,<br />

zuckt es auf seinem Schirm –<br />

Tradegate hat jetzt ihn überboten. Prompt<br />

verkauft ein anderer Marktteilnehmer 170<br />

Aktien über die Börse. „Hätte Tradegate<br />

meinen Preis nicht überboten, hätte ich die<br />

bekommen“, sagt Müller. Sein Blick<br />

schweift über seinen Garten, doch selbst<br />

die bunten Blumen können ihn nicht beruhigen.<br />

„So geht das jeden Tag“, sagt er. Immer<br />

wenn sein Angebot besser ist als der<br />

Tradegate-Preis, überbietet die Maschine<br />

ihn um einen Zehntelcent. „Tradegate will<br />

das Geschäft selbst machen“, sagt er. Timm<br />

kontert, dass sein Computer die Preisqualität<br />

im Sinne privater Anleger verbessere.<br />

Jetzt zettelt Müller einen Kleinkrieg an:<br />

Immer, wenn Tradegate ihn übertrumpft,<br />

drückt er „Beat“ – überbieten. Müller und<br />

die Börse schaukeln den Ankaufspreis<br />

hoch, bis der nahezu dem Verkaufspreis<br />

entspricht. Er hat genug, löscht die Order.<br />

Sofort zieht Tradegate die Spanne breiter,<br />

senkt den Ankaufspreis. „Das ist nicht<br />

Zweck einer Börse, die Käufer und Verkäufer<br />

zusammenbringen soll“, sagt Müller.<br />

76 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


ILLUSTRATION: MARTIN HAAKE<br />

Auf Tradegate, so scheint es, macht der<br />

Makler das Geschäft. Basta.<br />

n Stop-Limits als leichte Beute. Diese Limits<br />

sollen vor Verlusten schützen. Fällt die<br />

Aktie unter das <strong>vom</strong> Anleger gesetzte Limit,<br />

soll der Makler Aktien automatisch verkaufen.<br />

Auf Tradegate aber kann ein Limit ausgelöst<br />

werden, wenn der Makler nur eine<br />

Taxe eingibt, die nicht verbindlich ist. Es<br />

kann zur Kettenreaktion kommen: Außerhalb<br />

der Xetra-Zeit sinkt die Liquidität, das<br />

Risiko für Tradegate steigt. Dies lässt sich<br />

der Händler bezahlen, indem er seine Anund<br />

Verkaufspreise auseinanderzieht: Anleger<br />

kriegen schlechtere Preise.<br />

Werden durch die breite Spanne Stops<br />

ausgelöst, werden Aktien verkauft. Der<br />

Kurs sinkt, weil Tradegate den nächsten<br />

Preis tiefer ansetzt. Im schlimmsten Fall<br />

werden weitere Stops gerissen, der Preis<br />

sinkt – wie am 7. August. Da purzelte der<br />

Siemens-Kurs im Späthandel – obwohl das<br />

Angebot in Stuttgart besser war (siehe Seite<br />

74). Timm kontert: Die Preise seien „nach<br />

Orderbuchlage“ gemacht und „nicht zu beanstanden“.<br />

Die Aktien der Anleger aber<br />

waren raus aus dem Depot.<br />

n Spanne verschieben. Es ist ein Trick unter<br />

Maklern, die Kundenaufträge sehen<br />

können. Liegen viele Kauforders vor, setzt<br />

der Makler beide Preise hoch – den, zu<br />

dem er kaufen, und den, zu dem er verkaufen<br />

würde. Das fällt kaum auf: Die Spanne<br />

zwischen An- und Verkauf, auf die viele gucken,<br />

bleibt genauso breit wie auf Xetra.<br />

So geschehen am 2. Juli. Gegen 11.15<br />

Uhr wickelte Tradegate sechs Geschäfte in<br />

Aktien der Deutschen Bank ab. Fünf Mal<br />

wurden Käufer im Vergleich zu Xetra einen<br />

halben Cent schlechter bedient. Für Anleger<br />

entscheidet ein halber Cent zwar nicht<br />

über den Anlageerfolg – für Tradegate aber<br />

macht Kleinvieh den Tag über viel Mist. Da<br />

Tradegate in Dax-Aktien für 50 000 Euro<br />

Volumen „Wort halte“, könne es zu geringen<br />

Abweichungen kommen, sagt Timm.<br />

STARKE VERBÜNDETE<br />

Viel Geschäft holt Timm auch von Online-<br />

Brokern. Die stellen auf ihren Ordermasken<br />

eine Börse vorab ein. Will der Anleger<br />

dort nicht handeln, muss er aktiv eine neue<br />

Börse anklicken. Bei Cortal Consors etwa<br />

erscheint Tradegate als erster Börsenplatz.<br />

Das verwundert nicht:Die Consors-Mutter<br />

BNP Paribas ist an Timms Tradegate AG<br />

beteiligt und kassiert Dividende.<br />

Timms zweiter Aktionär ist die Deutsche<br />

Börse. Die müsste den Aufsteiger eigentlich<br />

kleinhalten, arbeitet aber tatkräftig<br />

Gibt der Anleger keine Börse vor,<br />

landet die Order oft bei Tradegate<br />

mit, Orders zu Tradegate zu schaufeln. Der<br />

heutige Deutsche-Börse-Chef Reto Francioni<br />

war im Mai 2000 Co-Vorstandschef<br />

der Consors AG. Die übernahm damals 53<br />

Prozent an der Tradegate-Mutter Berliner<br />

Effektengesellschaft. Timm jubelt bis heute:<br />

„Consors war der erste große Kunde der<br />

damaligen Handelsplattform Tradegate,<br />

da konnte ich testen, was Anleger wollen.“<br />

Die Presse jubelte mit: Consors wolle dem<br />

Platzhirsch Deutsche Börse Konkurrenz<br />

machen. Endlich.<br />

Später holte sich Timm sein Baby teils<br />

zurück, sodass die Berliner Effekten wieder<br />

mehrheitlich ihm gehört (siehe Grafik Seite<br />

75). Francioni wurde 2005 Chef der Deutschen<br />

Börse und kaufte Anfang 2010 fünf<br />

Prozent an Timms Tradegate AG und 75<br />

Prozent an der Tradegate Exchange.<br />

Umgekehrt wäre besser gewesen: Die<br />

Exchange macht kaum Gewinn, weil Anleger<br />

gratis handeln, das dicke Geld machen<br />

Timms Makler, die aber zur Tradegate AG<br />

gehören. Francioni scheint das nicht zu<br />

stören. Seit Jahren entsenden die Frankfurter<br />

eine Führungskraft in die Geschäftsführung<br />

der Exchange. Aufgabe: Marketing,<br />

neue Kunden an die Plattform anbinden.<br />

Die Deutsche Börse arbeitet daran, dem eigenen<br />

Handelsplatz Marktanteile abzujagen.<br />

Vor allem Xetra soll Orders an Tradegate<br />

verloren haben. Francioni hat sich die<br />

Option gesichert, die Beteiligung an der AG<br />

auf 20 Prozent aufstocken zu können. So<br />

könnte er stärker an Gewinnen teilhaben.<br />

Allein: Warum nutzt er die Option nicht?<br />

Fragen dazu wollten weder Francioni<br />

noch sein verantwortlicher Manager Martin<br />

Reck beantworten. Ob die Vorwürfe gegen<br />

Tradegate eine Rolle spielen? Im Bilde<br />

ist Reck. Der Redaktion liegt ein Schreiben<br />

vor, in dem Manager seiner Börse auf die<br />

Handelspraktiken bei ihrer Berliner Tochter<br />

hingewiesen werden.<br />

In Frankfurt hat Reck die Makler zur Räson<br />

gerufen: Die Börse gibt Anlegern seit<br />

November eine „Qualitätsgarantie“. Reck<br />

hat versprochen, dass Anleger Aktien bis<br />

zu 7500 Euro zu Preisen wie am jeweiligen<br />

Referenzmarkt oder besser handeln können.<br />

Weichen Kurse ab, müssen Makler die<br />

Differenz erstatten.<br />

Für Tradegate gilt die Garantie nicht. n<br />

annina.reimann@wiwo.de | Frankfurt<br />

WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 77<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Geld&Börse<br />

Ganz schön reich<br />

GELDANLAGE | Vermögen über Generationen bewahren wollen<br />

sie alle, aber wie macht man das? Ein Blick auf die Strategie der<br />

verschwiegenen Family Offices.<br />

Offices (so heißen die Vermögensverwalter<br />

der Superreichen), dass „der Vermögenserhalt<br />

und nicht die schnelle Vermögensmehrung<br />

an erster Stelle“ stehe. So formuliert<br />

es Michael Riemenschneider, Chef des<br />

Reimann Investors Advisory, in dem einige<br />

Mitglieder der Familie Reimann ihre Geldgeschäfte<br />

regeln. Die Familie hat ihre Anteile<br />

am Putzmittelriesen Reckitt Benckiser<br />

(Sagrotan) verkauft. Seit 2012 betreibt sie<br />

mit der Deutsche Kontor Privatbank eine<br />

eigene Bank.<br />

„Im aktuellen Umfeld vieler Krisenherde<br />

ist der Kapitalerhalt perspektivisch wichtiger<br />

als die Kapitalrendite“, sagt auch Andreas<br />

Rhein, Vorstand beim Focam Family<br />

Office, das Mitglieder der Familien Oetker,<br />

Schwarzkopf, Jacobs und Schwartau-Fabrikant<br />

Werner Holm über Beiräte an sich<br />

bindet und auf Wunsch auch deren Geldverwaltung<br />

übernimmt.<br />

Komplett abgeschottet sind die Family Offices<br />

nicht mehr. Einige verkaufen ihr Wissen<br />

auch an Privatanleger:Focam, die Deutsche<br />

Kontor Privatbank und auch Lange Assets<br />

& Consulting, bei denen die Verleger-<br />

Erben Axel Sven Springer und John Jahr zu<br />

den Gesellschaftern gehören, bieten heute<br />

Vermögensverwaltung oder Fonds an.<br />

Aus dem Rahmen des Üblichen Von Opel<br />

stieg mit drei Prozent bei Bilfinger ein<br />

Viele reden davon, dass sie nach einem<br />

Kursrutsch Aktien kaufen wollen.<br />

Milliardär Georg von Opel hat es<br />

getan, beim Ingenieurkonzern Bilfinger.<br />

Dessen Aktie verlor nach zwei Gewinnwarnungen<br />

rund 30 Prozent. Von Opel kaufte<br />

über seine Schweizer Beteiligungsgesellschaft<br />

Hansa drei Prozent an dem Unternehmen,<br />

für knapp 80 Millionen Euro. Der<br />

48-jährige Nachkomme der Rüsselsheimer<br />

Autodynastie hat zudem ein Faible für Betongold:<br />

Er baut derzeit für rund 100 Millionen<br />

Euro im Frankfurter Westen den Büroturm<br />

St Martins Tower. Ein mutiges Projekt:<br />

Etwa 13 Prozent der Büroflächen im<br />

Stadtgebiet von Frankfurt stehen leer. Sein<br />

beherzter Einstieg bei Bilfinger könnte von<br />

Opel schneller Geld bringen.<br />

Aber um schnelles Geld geht es vielen<br />

Superreichen derzeit gar nicht. Gebetsmühlenartig<br />

predigen Manager der Family<br />

ÄCKER UND WÄLDER<br />

Bei Focam reicht das Anlageuniversum<br />

von Aktien über Immobilien und Gold bis<br />

hin zu Infrastrukturinvestitionen. Aus dem<br />

Know-how, das Focam über Jahre bei<br />

Forst- und Agrarinvestments gesammelt<br />

hat, ist jetzt ein Fonds entstanden, der in<br />

Forst- und Agraraktien investiert. „Der Anleger<br />

muss in Kauf nehmen, dass sein Vermögen<br />

nicht mehr so liquide ist wie in früheren<br />

Zeiten, als die Bundesanleihen noch<br />

Rendite abwarfen“, sagt Focam-Anlagestratege<br />

Rhein. Eine Bundesanleihe ist eben<br />

schneller zu verkaufen als eine Waldbeteiligung.<br />

Die in unserer Tabelle aufgeführten<br />

Fonds sind aber täglich handelbar.<br />

Eines der bekanntesten Family Offices ist<br />

Spudy in Hamburg. Hier sind Ex-Arbeitgeberpräsident<br />

Klaus Murmann und die Familie<br />

von Dieter Ammer (Tchibo, Beiersdorf)als<br />

Gesellschafter mit im Boot. Spudy<br />

legt so an, dass eine Hälfte des Kapitals im<br />

Notfall kurzfristig liquidierbar wäre. Die<br />

andere Hälfte ist langfristig investiert, etwa<br />

in Immobilien, Wäldern oder neuseeländischen<br />

Milchfarmen. Sieben bis acht Prozent<br />

Gold gehören zum liquiden Teil des<br />

Vermögens. „Die Anlageverteilung ist sehr<br />

langfristig ausgerichtet, einzelne Eingriffe<br />

gab es in den vergangenen Wochen etwa<br />

FOTOS: 13 PHOTO/HELMUT WACHTER, A.F.A. ALLSTAR FILM ARCHIVE<br />

78 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


dadurch, dass wir Fondspositionen durch<br />

Derivate auf den Index Euro Stoxx abgesichert<br />

haben“, sagt Jens Spudy.<br />

„Wir sehen die derzeitige Lage nicht als<br />

Krise“, sagt Min Sun, Partner und Chefanleger<br />

der Bad Homburger Vermögensverwaltung<br />

Taunus Trust. Das Unternehmen ist<br />

mit elf Partnern vor einem Jahr gestartet<br />

und betreut Kunden, die mindestens zehn<br />

Millionen Euro Vermögen anlegen können.<br />

Wie Sun waren viele der Partner zuvor<br />

bei Feri, der früheren Vermögensverwaltung<br />

der BMW-Eignerfamilie Quandt.<br />

WETTE AUF DAX-ERHOLUNG<br />

Nach der enttäuschenden Kursentwicklung<br />

in Europa sieht Sun hier schon wieder<br />

Chancen. Bei 9000 Punkten im Dax hat<br />

Taunus Trust in einigen Kundendepots<br />

„vorsichtig“ mit börsengehandelten Indexfonds<br />

auf eine Erholung beim Dax und den<br />

50 größten Aktien des Euro-Raums im Euro<br />

Stoxx 50 gesetzt. Im Gesamtbestand der<br />

Kunden mache der deutsche Aktienmarkt<br />

aber nur 3,5 bis 5,0 Prozent aus. Die Begeisterung<br />

des Opel-Erben für Bilfinger teilt<br />

Sun nicht. „Das Geschäftsmodell hängt<br />

stark an der Energiewende, das fassen wir<br />

derzeit nicht an.“<br />

Auch Riemenschneider <strong>vom</strong> Reimann<br />

Family Office sieht keinen Börsenabschwung,<br />

hat vorsichtshalber aber den Aktienanteil<br />

im Deutsche Kontor Vermögensmandat-Fonds<br />

auf 47 Prozent reduziert.<br />

Mitte Juli waren es noch 60 Prozent.<br />

Der Rest verteilt sich vor allem auf Staatsanleihen<br />

aus Industrieländern. Schwellenländer<br />

stehen auf der Watchlist. Der<br />

Anleihebestand sowie eine teilweise Absicherung<br />

des Aktienbestands über Derivate<br />

sorgten dafür, dass der Fonds in diesem<br />

Jahr noch sein Plus verteidigt. „Es ist nicht<br />

ausgeschlossen, dass sich die Krise ausweitet“,<br />

sagt Riemenschneider. Ein Grund<br />

für den „hohen Gesamtanspannungsgrad“<br />

sei die Aussicht auf Zinserhöhungen<br />

in den USA. Die Ukraine und Russland<br />

seien ökonomisch für Europa nicht von<br />

besonderer Bedeutung. „Aber eine Eskalation<br />

würde zu einer Destabilisierung<br />

führen.“<br />

Kern der Vermögensanlage der Reimanns<br />

ist der Aktienindex MSCI All Countries<br />

World. „Mit 2500 Einzelaktien im Korb<br />

ist er eines der stabilsten Aktieninstrumente<br />

und bietet zudem noch eine vernünftige<br />

Rendite“, sagt Riemenschneider. Durch<br />

den rund 45-prozentigen US-Anteil im Index<br />

profitierten Euro-Land-Anleger auch<br />

von einem steigenden Dollar. „In Krisen ist<br />

Bauknecht finanziert, was Film-Fans<br />

wünschen Kidman in „Grace of Monaco“<br />

der Dollar stets eine Fluchtwährung“, sagt<br />

Riemenschneider.<br />

Rund um das Kerninvestment platziert<br />

er Satelliten: Indexfonds für China und Indien<br />

und für Gesundheit, Energie und Immobilien.<br />

Verkauft hat Riemenschneider<br />

spanische, italienische und portugiesische<br />

Aktien. Bei Anleihen bleibt er der Euro-Peripherie<br />

treu, zu verlockend ist deren Renditeplus<br />

gegenüber Bundesanleihen.<br />

Einig sind sich Focam, Taunus Trust,<br />

Deutsche Kontor und Spudy, dass sie Banken<br />

wieder trauen und kein Zusammenbruch<br />

des Systems drohe. Sehr große Guthaben<br />

werden dennoch als geschütztes<br />

Sondervermögen in Geldmarktfonds angelegt,<br />

letztlich also in kurz laufenden<br />

Staatsanleihen bester Bonität. Deren Ertrag<br />

liegt allerdings nur knapp über der<br />

Nulllinie.<br />

Zu wenig für Gero Bauknecht: „Mit der<br />

Strategie des Bewahrens kann man in großen<br />

Krisen leicht zu den Verlierern gehören.<br />

Ich betätige mich da lieber unternehmerisch,“<br />

sagt er und verweist auf seinen Großvater:<br />

„Er hat durch Schaffenskraft viele Krisen<br />

gemeistert. Dabei war der Blick nach<br />

vorn wichtiger als die Frage, ob eine Bank<br />

sicher genug ist.“ Die Familie des 47-Jährigen<br />

profitierte <strong>vom</strong> Verkauf ihres Hausgeräteherstellers.<br />

Gero Bauknecht finanziert<br />

heute Filme. Der von ihm mitlancierte Silver<br />

Reel Entertainment Mezzanine Fund<br />

war etwa an der Finanzierung von „Grace of<br />

Monaco“ mit Nicole Kidman beteiligt.<br />

Mit dem in Verruf geratenen Steuersparmodell<br />

Filmfonds könne man Silver Reel<br />

nicht in einen Topf werfen, sagt Bauknecht.<br />

Der Fonds stellt Produktionsgesellschaften<br />

Kapital zur Verfügung und refinanziert sich<br />

über frühzeitige Verkäufe an Distributoren,<br />

die die Rechte weiter vermarkten. „Acht bis<br />

zehn Prozent Rendite pro Jahr bringt der<br />

Fonds mindestens“, sagt Bauknecht.<br />

„Wenn ein Film großen Erfolg an der Kinokasse<br />

hat, ist mehr drin.“ Und der Unterhaltungssektor<br />

korreliere nicht mit dem Kapitalmarkt<br />

und folge auch nicht den Aktienindizes,<br />

sagt er. Für Kleinanleger ist der<br />

Fonds aber nichts: Mindestanlagesumme<br />

ist eine Million Dollar.<br />

n<br />

heike.schwerdtfeger@wiwo.de | Frankfurt<br />

Agrar-, Immobilien- und Versorgeraktien plus Schwellenländer-Bonds<br />

Aktiv gemanagte Fonds und Indexprodukte, auf die reiche Familien setzen<br />

Fonds<br />

Deutsche Kontor Vermögensmandat I<br />

Hier managt die Reimann Investors AdvisoryGelder des Reimann-Clans; nur bei der Dt. Kontor Privatbank erhältlich<br />

Global Family Strategy II Equity<br />

Fonds des Focam Family Office, in deren Gremien Vertreter der Familien Oetker, Jacobs und Schwarzkopf sitzen<br />

Global Family Strategy II Agro & Forest<br />

Focam-Fonds mit Aktien und Anleihen von Agrar- und Forstunternehmen; nur als Beimischung geeignet<br />

db x-trackers MSCI All Countries World ETF<br />

Reimann Family Office investiert in den breit gestreuten ETF, der die 2500 größten Aktien weltweit enthält<br />

Pimco Emerging Markets Bond Fund E<br />

Enthält nur Schwellenländer-Anleihen; nach deren Kursverlusten schlug das Reimann Family Office zu<br />

iShares Stoxx Europe 600 Real Estate<br />

25 größte europäische Immobilienaktien; profitieren laut Reimann Family Office von den niedrigen Euro-Zinsen<br />

iShares global Healthcare ETF<br />

Gesundheitsaktien weltweit, zu gut 60 Prozent US-Papiere (zum Beispiel Johnson & Johnson und Novartis)<br />

iShares Stoxx Europe 600 Utilities<br />

Aktien der 26 größten europäischen Versorger (zum Beispiel National Grid und GDF Suez)<br />

ISIN<br />

LU0559921001<br />

LU0327615422<br />

LU0972651276<br />

IE00BGHQ0G80<br />

IE00B0MD9S72<br />

DE000A0Q4R44<br />

US4642873255<br />

DE000A0Q4R02<br />

Quelle: Morningstar, Bloomberg, eigene Recherchen; Stand: 20.08.2014.<br />

Fondsart<br />

Mischfonds<br />

Aktienfonds<br />

Mischfonds<br />

Aktien-Indexfonds<br />

Anleihefonds<br />

Aktien-Indexfonds<br />

Aktien-Indexfonds<br />

Aktien-Indexfonds<br />

Wertentwicklung in<br />

1 Jahr<br />

9,7<br />

– 4,3<br />

neu<br />

neu<br />

9,8<br />

22,1<br />

25,9<br />

25,6<br />

3 Jahre<br />

neu<br />

7,4<br />

neu<br />

neu<br />

5,7<br />

16,7<br />

28,7<br />

13,8<br />

WirtschaftsWoche 25.8.2014 Nr. 35 79<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Geld&Börse | Barron’s<br />

Sommer-Angebote<br />

US-AKTIEN | Aktien sind derzeit allgemein nicht billig. Doch einige<br />

Papiere sind nach der jüngsten Korrektur nun attraktiv.<br />

Ukraine, Irak, Palästina und Konjunktursorgen:<br />

In den vergangenen<br />

Wochen haben auch Aktien<br />

guter Qualität Federn gelassen.<br />

Zwar liegt der marktbreite US-Index S&P<br />

500 noch rund fünf Prozent über seinem<br />

Niveau <strong>vom</strong> Jahresbeginn. Doch in einigen<br />

Teilsegmenten gab es heftige Verkäufe: Vor<br />

allem die Papiere kleinerer Unternehmen<br />

und von Banken litten, Bauaktien haben<br />

sechs Prozent verloren, Papiere der Ölund<br />

Gasbranche sogar zehn Prozent.<br />

Trotzdem sind Aktien insgesamt nicht<br />

billig. Einer aktuellen Studie von Barclays<br />

zufolge trieben zuletzt niedrigere Steuern<br />

auf Unternehmensgewinne, Aktienrückkäufe<br />

sowie Fusionen und Übernahmen<br />

die Aktienbewertungen; Umsatzwachstum<br />

war hingegen generell Mangelware. Derzeit<br />

liegt das Umsatzwachstum quer über<br />

alle Branchen in den USA im Schnitt bei<br />

drei Prozent. Das mittlere Kurs-Umsatz-<br />

Verhältnis im S&P 500 liegt bei 1,6; der Mittelwert<br />

seit 1976 ist 0,9.<br />

Barclays prognostiziert für dieses und<br />

nächstes Jahr Kurssteigerungen nur noch<br />

im einstelligen Prozentbereich und empfiehlt<br />

Finanzwerte und Energieaktien sowie<br />

Aktien von Technologie- und Industrieunternehmen.<br />

Doch es gibt nach den<br />

jüngsten Kursverlusten Schnäppchen in<br />

fast allen Branchen, man muss sie nur suchen:<br />

Die Aktie der Modekette Michael<br />

Kors etwa verlor binnen Kurzem zwölf Prozent.<br />

Das Unternehmen ist seit zehn Quartalen<br />

an der Börse und übertraf bisher in<br />

allen zehn Perioden die Gewinnprognosen<br />

der Wall Street. Ausgelöst wurde die Verkaufswelle<br />

bei Kors durch den ersten Rückgang<br />

der Gewinnmarge seit 2009,<br />

Unten einsammeln<br />

Welche US-Aktien nach der Korrektur billig sind<br />

Unternehmen/Branche<br />

BB&T/Bank<br />

ConocoPhillips/Öl<br />

Juniper/Netzausrüst.<br />

United T./Mischk.<br />

ISIN<br />

US0549371070<br />

US20825C1045<br />

US48203R1041<br />

US9130171096<br />

Kurs 1<br />

27,75<br />

60,17<br />

17,63<br />

81,77<br />

1 in Euro, 21.8.2014; 2 Kurs-Gewinn-Verhältnis, 2014,<br />

geschätzt, Quelle: Barron's, Bloomberg<br />

Die beste<br />

Geschichte aus<br />

der aktuellen<br />

<strong>Ausgabe</strong> von<br />

dem führenden<br />

amerikanischen<br />

Magazin für<br />

Geldanleger.<br />

KGV 2<br />

12,1<br />

12,2<br />

13,3<br />

14,5<br />

was ein Indiz für einen zunehmend<br />

überfüllten Handtaschenmarkt<br />

sein könnte.<br />

Noch attraktiver sind die Aktien<br />

des Mischkonzerns United<br />

Technologies (UT). Das Unternehmen<br />

produziert unter anderem<br />

Heiz- und Kühlsysteme,<br />

Fahrstühle, Rolltreppen und Helikopter.<br />

Die Aktien haben im<br />

laufenden Quartal 8,5 Prozent verloren;<br />

das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) auf Basis<br />

des prognostizierten Gewinns für das<br />

laufende Geschäftsjahr ist von 17 zu Jahresbeginn<br />

auf 14 gefallen. Im letzten Quartal<br />

übertraf UT sowohl die Gewinn- als<br />

auch die Umsatzprognosen. Das Management<br />

hat die Gewinnprognose für das Gesamtjahr<br />

sogar angehoben. Was die Anleger<br />

verschreckte, war die schwache Auftragslage<br />

bei Heiz- und Kühlsystemen.<br />

Ebenfalls günstig erscheinen die Papiere<br />

von Juniper Networks. Der Netzausrüster<br />

übertraf die Gewinnprognosen für das<br />

zweite Quartal, nahm aber die Gewinnerwartung<br />

für das dritte Quartal zurück. Dies<br />

ließ die Aktie fallen. Juniper liefert Netzwerklösungen<br />

für Internet-Anbieter; die<br />

Auftragslage des Unternehmens könnte unter<br />

der geplanten 45-Milliarden-Dollar-Fusion<br />

von Time Warner Cable und Comcast<br />

leiden. In diesem Jahr erwartet die Wall<br />

Street für Juniper nur 3,5 Prozent Umsatzwachstum.<br />

2015 sollten es wieder mindestens<br />

4,2 Prozent und 2016 6,0 Prozent werden<br />

– im Gleichschritt mit dem Anziehen<br />

der Investitionen in der Branche. Kostensenkungen<br />

und Aktienrückkäufe dürften<br />

den Gewinn je Aktie in diesem Jahr um 17<br />

Prozent und im kommenden Jahr um 24<br />

Prozent steigen lassen. Derzeit notiert die<br />

Aktie zum 13,3-Fachen des Gewinns.<br />

REGIONALBANKEN UND ÖL<br />

Einen zweiten Blick wert sind die Aktien der<br />

Regionalbank BB&T. Anfang August empfohlen<br />

die Analysten von Wells Fargo die<br />

Aktie zum Kauf; sie verwiesen auf den stetigen<br />

Anstieg des Gewinns je Aktie.<br />

Derzeit notiert sie mit einem KGV<br />

von zwölf; das ist rund 14 Prozent<br />

günstiger als der Durchschnittswert<br />

der vergangenen fünf Jahre.<br />

Keine andere US-Regionalbank<br />

notiert mit einem Abschlag in<br />

dieser Größenordnung an der<br />

Börse. Und noch eine: Die Aktie<br />

des Ölmultis ConocoPhillips hat<br />

in den vergangenen Wochen<br />

sechs Prozent verloren, liegt jedoch noch<br />

14 Prozent über dem Wert <strong>vom</strong> Jahresbeginn.<br />

Die Analysten von Barclays sehen ein<br />

Kurspotenzial von gut 30 Prozent, da der<br />

Konzern den Abstand zu den Vergleichsunternehmen<br />

zunehmend aufhole und die<br />

Früchte des investierten Kapitals zu ernten<br />

beginne. Die Wall Street erwartet in diesem<br />

Jahr einen Anstieg des Gewinns je Aktie um<br />

16 Prozent – verglichen mit nur sechs Prozent<br />

bei ExxonMobil und einem Rückgang<br />

bei Chevron. Die Aktien von Conoco-<br />

Phillips notieren aktuell zum 12,2-Fachen<br />

des erwarteten Gewinns und werfen 3,6<br />

Prozent Dividende ab.<br />

n<br />

jack hough | geld@wiwo.de<br />

ILLUSTRATION: TOM MACKINGER<br />

80 Nr. 35 25.8.14 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Geld&Börse | Steuern und Recht<br />

eigener tauchte nirgends auf.<br />

Ein Trick, der ohne den Zufallsfund<br />

der Zöllner wohl niemals<br />

aufgeflogen wäre.<br />

Der Fall zeigt:Große Fische<br />

unter Schwarzgeld-Anlegern<br />

setzen nicht auf simple Bankkonten.<br />

Sie verschleiern ihr Vermögen<br />

– genau wie Potentaten,<br />

Drogenbosse und andere Kriminelle<br />

–mithilfe anonymer<br />

Briefkastenfirmen und schalten<br />

teilweise ganze Ketten solcher<br />

Vehikel hintereinander.<br />

STEUERFAHNDUNG<br />

»Milliarden ins Ausland«<br />

Steuerbetrüger und Verbrecher setzen auf Scheinfirmen, um Vermögen zu<br />

verstecken. Jetzt schlagen Politik und Fahnder zurück.<br />

Die Zollbeamten am Düsseldorfer<br />

Flughafen staunten nicht<br />

schlecht. Als sie bei einer Stichprobe<br />

einen Architekten aus<br />

Aachen durchsuchten, entdeckten<br />

sie gleich zwei Reisepässe.<br />

Im ersten stand ein deutscher<br />

Name, im anderen – ausgestellt<br />

in Panama – ein spanisch klingender.<br />

Doch die Fotos beider<br />

Pässe zeigten zweifelsfrei dieselbe<br />

Person, nämlich den Architekten.<br />

Es dauerte Monate, bis Kriminalbeamte<br />

und Steuerfahnder<br />

herausfanden, was es damit auf<br />

sich hatte: Der Architekt, der<br />

aus einer Unternehmerfamilie<br />

stammt, hatte ein beträchtliches<br />

Vermögen in der Schweiz<br />

geerbt. Um das Geld noch<br />

besser vor Datendieben und<br />

Steuerfahndern zu schützen,<br />

gründete er einen „Trust“ in<br />

Panama.<br />

Diese Vehikel sind vergleichbar<br />

mit Schweizer oder Liechtensteiner<br />

Stiftungen – Firmen<br />

in Rechtsformen, die unter<br />

Steuerhinterziehern vor allem<br />

deshalb beliebt sind, weil kaum<br />

Veröffentlichungspflichten bestehen.<br />

Aber das reichte dem<br />

Architekten nicht. Er wollte die<br />

totale Sicherheit.<br />

Deshalb besorgte er sich einen<br />

gefälschten Pass, was in<br />

Panama nach Aussage seines<br />

Anwalts für „zehn- bis fünfzehntausend<br />

Dollar“ möglich<br />

sei. Das Dokument legte er bei<br />

der Gründung des Trusts vor,<br />

im Handelsregister stand deshalb<br />

nun der Name seines erfundenen<br />

Doppelgängers. Sein<br />

BRIEFKASTENFIRMEN<br />

IM VISIER DER POLITIK<br />

Da in der Regel Strohmänner<br />

oder – wie im Fall des Aacheners<br />

– Scheinidentitäten als<br />

offizielle Eigentümer im Handelsregister<br />

stehen, haben<br />

Fahnder oft keine Chance.<br />

Denn selbst das weltweit bröckelnde<br />

Bankgeheimnis bringt<br />

in solchen Fällen nichts: Wenn<br />

Ermittler herausfinden, welcher<br />

Firma ein Konto gehört,<br />

wissen sie schließlich noch<br />

immer nicht, wer sich dahinter<br />

verbirgt.<br />

Besonders fleißig haben<br />

deutsche Hinterzieher von 2008<br />

an Tarnfirmen gegründet. Aufgeschreckt<br />

wurden viele, als<br />

die Finanzbehörden begannen,<br />

CDs mit Namenslisten anzukaufen.<br />

Berater würden zum<br />

Beispiel „Liechtensteiner Rettungsanker“<br />

– also Stiftungen<br />

im Fürstentum – empfehlen,<br />

berichteten Steuerfahnder<br />

bereits 2012. Auch „Offshore-<br />

Gesellschaften“ in Singapur,<br />

FATF | Mächtige Task Force<br />

Steueroasen kontrollieren Firmen<br />

strenger. Sie wollen vermeiden,<br />

auf der schwarzen Liste der<br />

Industriestaaten zu landen.<br />

Geldwäsche-Experten. Die globale<br />

Speerspitze im Kampf gegen<br />

Geldwäsche ist die Financial<br />

Action Task Force (FATF), ein Zusammenschluss<br />

der 34 führenden<br />

Staaten. Das Gremium macht<br />

Vorgaben für nationale Gesetze.<br />

So müssen Staaten etwa dafür<br />

sorgen, dass ihre Behörden auf<br />

Anfrage ausländischer Ermittler<br />

„zeitnah“ Informationen über den<br />

wahren Inhaber einer Firma liefern<br />

können. Zudem prüfen die Geldwäsche-Experten,<br />

ob dies funktioniert.<br />

180 Staaten. Die FATF prüft nicht<br />

nur in den 34 Mitgliedstaaten, zu<br />

denen auch Finanzzentren wie die<br />

Schweiz und Singapur gehören,<br />

sondern auch in rund 150 weiteren<br />

Ländern, die sich zu den FATF-<br />

Regeln bekannt haben. Der Grund<br />

für die hohe Zahl: Wer sich verweigert<br />

oder die Vorgaben zögerlich<br />

umsetzt, muss einen Platz auf der<br />

schwarzen Liste fürchten. Ein<br />

Makel, der erhebliche ökonomische<br />

Folgen hat, weil Banken<br />

in aller Welt bei Transaktionen<br />

mit gelisteten Ländern Vorsicht<br />

walten lassen.<br />

Fortschritte verzeichnet. Kritik<br />

der Geldwäsche-Aufseher bleibt<br />

deshalb selten folgenlos, auch<br />

Steueroasen verschärfen ihre Gesetze.<br />

So habe etwa die Schweiz<br />

„große Fortschritte“ gemacht,<br />

etwa durch neue Vorgaben bei der<br />

Registrierung von Firmen, lobt<br />

CMS-Anwalt Joachim Kaetzler.<br />

Allerdings geht ihm die aktuelle<br />

Liste, auf der Nordkorea, Iran,<br />

Algerien, Ecuador, Myanmar und<br />

Indonesien stehen, nicht weit genug.<br />

„Da fehlen einige Staaten mit<br />

laxen Vorschriften, etwa in Mittelamerika<br />

und Fernost“, sagt er.<br />

Es sei deshalb richtig, dass die EU<br />

nun eine eigene Liste plant.<br />

FOTOS: REUTERS/ALEX GRIMM, REUTERS/ARND WIEGMANN<br />

82 Nr. 35 25.8.2014 WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Panama oder der Karibik seien<br />

beliebt.<br />

Allerdings steigt inzwischen<br />

auch bei solchen Vehikeln das<br />

Entdeckungsrisiko. So zeigte<br />

2013 der „Offshore-Leaks“-<br />

Skandal, dass bei Dienstleistern<br />

in Steueroasen, die Scheinfirmen<br />

gründen, ebenfalls Kundendaten<br />

abhandenkommen<br />

können. Hacker hatten dort 2,5<br />

Millionen Dokumente gestohlen;<br />

Journalisten und Ermittler<br />

in aller Welt durchforsten seither<br />

die Daten.<br />

Doch Finanzpolitiker und<br />

Fahnder wollen sich nicht auf<br />

Datendiebe verlassen. Sie<br />

haben mehrere Initiativen angeschoben;<br />

nach dem Bankgeheimnis<br />

soll es auch Briefkastenfirmen<br />

an den Kragen gehen.<br />

Wird es nun auch für die großen<br />

Fische eng?<br />

Große Hoffnungen setzen Experten<br />

auf das neue Firmenregister,<br />

für das sich das EU-Parlament<br />

im März ausgesprochen<br />

hat. Die 4. EU-Geldwäscherichtlinie<br />

sieht vor, dass künftig die<br />

„wirtschaftlich Berechtigten“<br />

jedes Unternehmens ins Register<br />

eingetragen werden müssen<br />

– also die Personen, denen es<br />

wirklich gehört.<br />

Bislang ist das vielerorts nicht<br />

der Fall. Auch im deutschen<br />

Handelsregister ist häufig lediglich<br />

ein anderes Unternehmen<br />

als „Inhaber“ eingetragen.<br />

„Wenn diese Firma ihren Sitz in<br />

einer Steueroase hat, ist es oft<br />

unmöglich, Informationen über<br />

den wahren Eigentümer zu<br />

bekommen“, sagt ein Fahnder.<br />

Die Bundesregierung hat sich<br />

bereits im Koalitionsvertrag zu<br />

dem Vorhaben bekannt. Um die<br />

Details gibt es jedoch Streit:<br />

Einige Mitgliedstaaten wollen<br />

in den – vermutlich im September<br />

beginnenden – „Trilog“-Verhandlungen<br />

mit Kommission<br />

und Parlament durchsetzen,<br />

Andreas Hübers hält das für<br />

falsch. „Es ist wichtig, dass alle<br />

Bürger übers Netz auf die Daten<br />

zugreifen können“, sagt der<br />

Geldwäsche-Experte der Non-<br />

Profit-Organisation ONE, die<br />

Armut in Afrika bekämpft.<br />

Dann könnten auch Aktivisten<br />

und Journalisten Hintermänner<br />

verdächtiger Firmen ermitteln.<br />

In Afrika seien anonyme Vehikel<br />

ein besonderes Problem,<br />

weil „Diktatoren und korrupte<br />

Politiker auf diese Weise riesige<br />

Summen außer Landes schleusen“.<br />

Pro Jahr verliere der Kontinent<br />

dadurch einen zweistelligen<br />

Milliardenbetrag.<br />

TREUHÄNDER GERATEN<br />

UNTER DRUCK<br />

Unabhängig von der Debatte<br />

über den Zugriff ist jedoch die<br />

große Frage: Stehen künftig die<br />

echten „wirtschaftlich Berechtigten“<br />

im Register, nur weil die<br />

weiter Strohmänner – also etwa<br />

Anwälte oder Steuerberater, die<br />

als Treuhänder fungieren?<br />

Hübers ist zuversichtlich.<br />

„Wenn laut Gesetz der echte<br />

wirtschaftlich Berechtigte im<br />

Register stehen muss, machen<br />

sich Treuhänder, die sich wahrheitswidrig<br />

als Eigentümer registrieren<br />

lassen, strafbar“, sagt<br />

er. Das, so die Hoffnung, dürfte<br />

manchen abschrecken. Wichtig<br />

sei jedoch, dass bei Verstößen<br />

strenge Strafen drohen.<br />

Auch Joachim Kaetzler, Partner<br />

der Kanzlei CMS Hasche<br />

Sigle, glaubt an einen Abschreckungseffekt.<br />

Er fordert aber,<br />

dass Registerbeamte künftig<br />

prüfen müssen, ob die Angaben<br />

stimmen. „Jede Bank ist vor der<br />

Eröffnung eines Kontos verpflichtet,<br />

den wirtschaftlich<br />

Berechtigten zu ermitteln“, sagt<br />

er. „Das kann man dann auch<br />

von staatlichen Institutionen<br />

dass nur staatliche Behörden EU das so will? Oder finden Hinterzieher<br />

und andere Kriminelle warten.“<br />

wie einem Registergericht er-<br />

das Register einsehen können. »<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Geld&Börse | Steuern und Recht<br />

Oh, wie schön ist Panama Erste Adresse für Scheinfirmen<br />

»<br />

Ein weiteres Problem: „Viele<br />

besonders aktive Treuhänder<br />

operieren in Steueroasen wie<br />

der Schweiz oder Singapur“,<br />

sagt Michael Weber-Blank,<br />

Steuerstrafrechtler und Partner<br />

bei Brandi Rechtsanwälte in<br />

Hannover. Sie müssen das<br />

EU-Register deshalb nicht<br />

fürchten.<br />

Zwar gelten auch in Offshore-<br />

Finanzzentren zunehmend<br />

strenge Regeln für Firmenregister,<br />

weil die Financial Action<br />

Task Force der Staatengemeinschaft<br />

zunehmend Druck<br />

macht (siehe Kasten Seite 82).<br />

Vielerorts gehe es aber nur<br />

langsam voran, kritisiert ONE-<br />

Experte Hübers.<br />

Klar ist:Durch die Initiativen<br />

von EU und FATF wird die Luft<br />

für dubiose Treuhänder zwar<br />

dünner, aber nicht zu dünn.<br />

„Ich vermute, dass viele weitermachen<br />

wie bisher“, sagt Weber-Blank.<br />

Steuerfahnder verlassen sich<br />

deshalb nicht auf die Politik,<br />

sondern rüsten auch selbst kräftig<br />

auf – und versuchen verstärkt,<br />

besonders aktive Treuhänder<br />

aus dem Verkehr zu ziehen.<br />

Bank-CDs und die Selbstanzeige-Welle<br />

hätten „zahlreiche<br />

Firmenvehikel und die Namen<br />

der formal Berechtigten“ zutage<br />

gefördert, berichtet ein Ermittler.<br />

Und diese Informationen<br />

sammelt die Informationszentrale<br />

für steuerliche Auslandsbeziehungen<br />

(IZA) beim Bundeszentralamt<br />

für Steuern,<br />

einer Art Verwaltungszentrale<br />

der Steuerfahndung, in einer<br />

zentralen Datenbank.<br />

Dort werden dann, wie es<br />

heißt, die Namen von Personen<br />

herausgefiltert, die bei besonders<br />

vielen Firmen als Treuhänder<br />

auftauchen – und auf die<br />

Fahndungsliste gesetzt. Sollten<br />

sie nach Deutschland reisen,<br />

droht ihnen die Verhaftung.<br />

Für eine Verurteilung reiche<br />

es aber nur, wenn sie „aktiv an<br />

Delikten ihrer Mandanten beteiligt<br />

sind und beispielsweise<br />

wissen, dass deren Vermögen<br />

unversteuert ist und es sich um<br />

Schwarzgeld handelt“, sagt<br />

Weber-Blank. Das sei oft schwer<br />

nachzuweisen. Und wenn es<br />

den Beamten darum geht,<br />

Namen von Mandanten zu erfahren,<br />

berufen sich viele Treuhänder<br />

auf ihre Schweigepflicht.<br />

IDEALE PLATTFORM FÜR<br />

KRIMINELLE?<br />

Die Bemühungen von Politikern<br />

und Fahndern bleiben in<br />

der Szene nicht unbemerkt,<br />

mancher große Fisch dürfte auf<br />

diskretere Strukturen ausweichen<br />

– etwa Modelle, bei denen<br />

er gar nicht wirtschaftlich Berechtigter<br />

ist. Sondern nur Kreditgeber.<br />

„Auf diese Weise kann<br />

man Unternehmen faktisch<br />

ebenso kontrollieren“, warnt<br />

CMS-Anwalt Kaetzler.<br />

Ein weiteres Schlupfloch bleiben<br />

Scheinidentitäten – wie im<br />

Fall des Aachener Architekten.<br />

Und paradoxerweise könnte<br />

die EU diese sogar erleichtern.<br />

Denn während sie einerseits<br />

anonyme Firmenstrukturen<br />

bekämpfen will, schlägt die<br />

Kommission in einem aktuellen<br />

Richtlinienentwurf eine neue<br />

unbürokratische Rechtsform<br />

vor: die Einpersonengesellschaft<br />

(Societas Unius Personae,<br />

SUP). Für deren Gründung<br />

soll eine Online-Registrierung<br />

samt eingescannter Kopie des<br />

Personalausweises reichen. Der<br />

Bundesrat hat das im Juli scharf<br />

kritisiert:Die SUP werde sich zu<br />

einer „idealen Plattform kriminellen<br />

Handelns“ entwickeln,<br />

etwa für banden- und gewerbsmäßigen<br />

Betrug, Geldwäsche,<br />

Steuerhinterziehung.<br />

Auch der Bamberger Notar<br />

Jens Eue sieht das Vorhaben<br />

äußerst kritisch. „Laut Entwurf<br />

sollen Gründer alle Dokumente<br />

elektronisch vorlegen dürfen,<br />

ohne persönlich erscheinen zu<br />

müssen“, sagt er. Somit könnten<br />

Personen aus der gesamten<br />

EU in Deutschland bequem<br />

und nahezu kostenlos eine SUP<br />

gründen.<br />

Für eine detaillierte Prüfung<br />

der Unterlagen bliebe aber<br />

kaum Zeit: „Die SUP müsste<br />

dem Vorschlag zufolge innerhalb<br />

von drei Tagen im Handelsregister<br />

eingetragen werden“,<br />

sagte Eue. Dadurch bestehe in<br />

der Tat die Gefahr, „dass Kriminelle<br />

die neue Rechtsform für<br />

ihre Zwecke nutzen“.<br />

daniel schönwitz | geld@wiwo.de<br />

BAUBRANCHE | Schwarzarbeit<br />

Wie Kriminelle versuchen, mithilfe<br />

von eigens aufgebauten<br />

Tarnfirmen Schwarzarbeit zu<br />

verschleiern.<br />

Strohmänner. Es müssen nicht<br />

immer professionelle Treuhänder<br />

sein, die als offizielle Eigentümer<br />

einer Gesellschaft fungieren. Gerade<br />

Kriminelle setzen gern auf<br />

arglose Zeitgenossen, die für kleines<br />

Geld ihren Namen hergeben,<br />

aber nicht genau nachfragen, was<br />

damit eigentlich geplant ist. Sind<br />

ausländische Betrüger am Werk,<br />

heuern diese gern auch Strohleute<br />

aus ihrem Heimatland an. So berichten<br />

Fahnder, dass Banden, die<br />

Schwarzarbeit auf Baustellen organisieren,<br />

oft Personen aus ihrer<br />

Heimat einfliegen, die Deutschland<br />

nach der Firmengründung sofort<br />

wieder verlassen.<br />

Scheinrechnungen. Über die selbst<br />

gezimmerte Firma stellen die Kriminellen<br />

dann Rechnungen aus, mit<br />

denen ein Bauunternehmer vorgaukeln<br />

kann, dass er für schwarz<br />

ausgeführte Maurer- oder Verputzerarbeiten<br />

einen offiziellen<br />

Sub-Unternehmer engagiert hat.<br />

Der Clou: Der Unternehmer zahlt<br />

die Rechnung der Scheinfirma<br />

tatsächlich, bekommt das Geld<br />

aber abzüglich einer Provision<br />

zurück. Und zwar in bar, sodass er<br />

die Schwarzarbeiter bezahlen<br />

kann.<br />

Kettenbetrug. Für Fahnder sind<br />

solche Konstrukte schwer zu knacken,<br />

weil die von der Scheinfirma<br />

ausgestellten Rechnungen meist<br />

täuschend echt aussehen. Und<br />

wenn sie doch einmal einer Firma<br />

auf die Schliche kommen, führt<br />

die Spur oft zu einem Strohmann<br />

im Ausland, der für sie nicht<br />

greifbar ist. Zudem belassen es<br />

die Kriminellen in aller Re