januar 2014 - Strandgut
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LITERATUR<br />
Krimi-Kolumne: BLUTIGE ERNTE von Alf Mayer<br />
Der Kriminalroman als Sozialgeschichte<br />
Dennis Lehanes Gangstersaga »In der Nacht«<br />
Mit seinen Füßen in einem Zementblock,<br />
zwölf bewaffnete Kerle<br />
um ihn herum, auf die richtige<br />
Stelle wartend, um ihn über Bord<br />
zu werfen und im Golf von Mexiko<br />
versenken zu können, treffen wir<br />
Joe Coughlin, den Helden von Dennis<br />
Lehanes Roman »In der Nacht«,<br />
gleich im ersten Absatz an. Ein starkes<br />
Bild also, filmisch dazu – als Kinogänger<br />
wissen wir: Jetzt kommt<br />
eine Rückblende.<br />
Einer Frau ist er begegnet, die ihn<br />
letztlich hierher brachte, auf dieses<br />
Boot, seine Füße in Zement gegossen.<br />
Sie hieß Emma Gould, er war<br />
mit ein paar Kumpels dabei, eine<br />
Spielhölle in South Boston auszurauben,<br />
als sie sich in die Augen<br />
schauten. Damals im Jahr 1926 war<br />
er ein Springinsfeld, ein Nichtsnutz,<br />
der jüngste Sohn eines Polizisten,<br />
und auf dem Weg, ein Verbrecher<br />
zu werden. Eine Affäre wurde daraus,<br />
allen Gefahren zum Trotz, denn<br />
die quecksilbrige Emma war mit<br />
einem gefährlichen Gangsterboss<br />
liiert. Joe wurde immer wagemutiger,<br />
bis der Vater ihn greifen und<br />
zusammenschlagen, mit einer<br />
vergleichsweise milden Strafe ins<br />
Gefängnis bringen ließ. Dort ging<br />
die Karriere erst richtig los, Joe fand<br />
seinen Mentor, und draußen vor<br />
dem Gefängnistor eine weite, wilde<br />
Welt.<br />
Es ist die Zeit der amerikanischen<br />
Prohibition (1919 bis 1933), in die<br />
Dennis Lehane uns transportiert,<br />
in der Saubermänner und -frauen<br />
den Alkoholgenuss verboten und so<br />
erst recht dem Verbrechen und dem<br />
großen Geschäftemachen Auftrieb<br />
gaben. Da sind wir mitten drin, mitten<br />
in einer packend erzählten, großen<br />
Geschichte, in der im Namen<br />
des Geldes viel Blut vergossen und<br />
manch eine Träne geweint wird.<br />
Der Stoff, aus dem die Gangster-<br />
Sagas sind, die ja immer auch die<br />
Rückseite des Dollars, die dunkle<br />
Seiten unserer Wirtschaft abbilden.<br />
Lehane führt uns von Boston nach<br />
Florida, in die kubanisch-spanischitalienische<br />
Stadt Ybor nahe Tampa<br />
und nach Kuba selbst, sein Joe<br />
Coughlin vergleicht gegen Ende<br />
des Romans sein Streben mit dem<br />
der USA, eben beständig den eigenen<br />
Einflussbereich zu erweitern.<br />
Joe ist, sagt ihm sein Mentor, kein<br />
Gangster. »Du bist ein Gesetzloser,<br />
ein Bandit im schicken Anzug.«<br />
Das Sympathische an Joe sind seine<br />
Skrupel, ist seine Fähigkeit zur Liebe.<br />
Aber »In der Nacht« (Originaltitel:<br />
Live by Night) ist klar die dunklere<br />
Geschichte als »Im Aufruhr jener<br />
Tage« (The Given Day) von 2008, der<br />
erste der auf drei Bände angelegten<br />
Boston-Trilogie von Dennis Lehane,<br />
in dem Joes älterer Bruder Danny,<br />
ein idealistischer Polizist im Mittelpunkt<br />
stand. »World Gone By« wird<br />
im August <strong>2014</strong> erscheinen.<br />
Der 1966 in Dorchester, Massachusetts,<br />
in ärmlichen Verhältnissen<br />
aufgewachsene Lehane ist einer<br />
der besten 40 Krimiautoren der<br />
Welt, und er ist einer der heißesten<br />
Autoren in Hollywood. Drei seiner<br />
Romane kamen bisher auf die Leinwand.<br />
Clint Eastwoods Verfilmung<br />
von »Mystic River« erhielt mehrere<br />
Oscars, Martin Scorsese führte<br />
Regie bei »Shutter Island« und Ben<br />
Afflecks »Gone Baby Gone« war<br />
eine auf den i-Punkt genaue Verfilmung<br />
des gleichnamigen Romans.<br />
Affleck wird auch bei »In der Nacht«<br />
Regie führen, Leonardo di Caprio<br />
will Joe sein Gesicht geben. Demnächst<br />
kommt »Animal Rescue« in<br />
die Kinos, Lehanes eigene Adaption<br />
seiner Kurzgeschichte »Running<br />
Out of Dog« (enthalten in dem<br />
Story-Band »Coronado«): »A crimedrama<br />
centered around a lost pit<br />
bull, a wannabe scam artist, and<br />
a killing.« Tom Hardy und Noomi<br />
Rapace standen vor der Kamera,<br />
Regie führte der Belgier Michaël R.<br />
Roskam, der 2011 mit »Bullhead«<br />
auffiel und für den Auslands-<br />
Oscar nominiert war. Ebenfalls für<br />
DiCaprio kinoreif machte Lehane<br />
»The Deep Blue Good-by« (dt. als:<br />
Tausend blaue Tränen / Abschied<br />
in Dunkelblau) von John D. MacDonald<br />
aus dem Jahr 1964, der Film<br />
um eine sehr beliebte Krimiserienfigur<br />
soll ganz simpel »Travis McGee«<br />
heißen. Lehanes Feder anvertraut<br />
wurde auch Sonys englischsprachiges<br />
Remake von Jacques Audiards<br />
Gefängnisthriller »Un prophète«.<br />
Doch zurück zum aktuellen Lehane:<br />
»In der Nacht« gewann den »Florida<br />
Book Award«, so sehr überzeugte<br />
sein Porträt der Stadt Ybor, und den<br />
»Edgar« als bester Kriminalroman<br />
des Jahres. Für seine deutschen<br />
Leser gibt es eine extra gute Nachricht.<br />
Nach einigen Wanderungen<br />
ist Lehane nun – endlich, muss ich<br />
sagen – beim Diogenes Verlag angekommen,<br />
also im Verlag von Dashiell<br />
Hammett, Raymond Chandler<br />
und Ross Macdonald, und erscheint<br />
als Hardcover. Im Frühjahr kommt<br />
Lehane auf Lesereise nach Deutschland<br />
– auch dies ein Anlass, wieder<br />
mehr von ihm zu lesen, darunter<br />
unbedingt alle sechs Abenteuer von<br />
Patrick Kenzie und Angela Gennaro.<br />
Und dann ist da noch Martin Cruz<br />
Smith. Gleich im Doppelpack.<br />
Anlässlich seines achten Arkadi-<br />
Renko-Romans »Tatjana« hat der<br />
Verlag C. Bertelsmann jetzt auch<br />
den Klassiker »Gorki Park« wieder<br />
aufgelegt. Wer wissen will, wie es<br />
sich im modernen Russland lebt<br />
und überlebt, findet in diesen ungeschminkt<br />
harten Thrillern eine<br />
typisch russische Mischung aus<br />
Frustrationen und Absurditäten des<br />
Lebens in diesem Land.<br />
Die Bücher von Dennis Lehane<br />
Die Patrick Kenzie und<br />
Angela Gennaro Serie:<br />
Streng vertraulich (1994, A Drink Before<br />
the War)<br />
Absender unbekannt (1996, Darkness, Take<br />
My Hand)<br />
In tiefer Trauer (1997, Sacred)<br />
Kein Kinderspiel (1998, Gone, Baby, Gone)<br />
(Deutscher Krimi-Preis)<br />
Regenzauber (1999, Praying for Rain) (Deutscher<br />
Krimi-Preis)<br />
Moonlight Mile (2010, dtsch. 2011)<br />
Spur der Wölfe (2001, Mystic River) (Deutscher<br />
Krimi-Preis)<br />
Shutter Island (2003)<br />
Coronado (2006)<br />
Im Aufruhr jener Tage (2008, The Given<br />
Day)<br />
In der Nacht (2012, Live By Night)<br />
Dennis Lehane: In der Nacht<br />
(Live By Night),Zürich: Diogenes Verlag,<br />
2013. 586 Seiten, 22,90 Euro<br />
Martin Cruz-Smith: Tatjana. München:<br />
C. Bertelsmann Verlag, 2013. 320 Seiten,<br />
14.99 Euro.<br />
Martin Cruz-Smith: Gorki Park. München:<br />
C. Bertelsmann Verlag, 2013 416 Seiten,<br />
14.99 Euro<br />
© Special Collections-University of Arkansas Libraries<br />
William Stoner wurde 1891 auf<br />
einer kleinen Farm in Missouri geboren.<br />
Seine Eltern schuften, um<br />
zu überleben. »Mit dreißig wirkte<br />
sein Vater wie fünfzig und blickte,<br />
von der Arbeit gebeugt, ohne Hoffnung<br />
über den Flecken Land, der<br />
seine Familie ernährte. Die Mutter<br />
nahm ihr Leben so geduldig hin,<br />
als wäre es nur eine kurze Spanne,<br />
die sie durchzustehen hatte …<br />
Abends saßen die drei beim Licht<br />
der Petroleumlampe und starrten<br />
in die gelbe Flamme.« Schon in<br />
den ersten Sätzen ist der Grundton<br />
angeschlagen. Leben heißt Leiden.<br />
Seltene Glücksmomente gehen<br />
schnell vorbei. Nüchtern, schlicht<br />
wird davon berichtet.<br />
Seinen Eltern zuliebe studiert William<br />
Agrarwissenschaften, doch<br />
seine Liebe, das merkt er bald,<br />
gehört der englischen Literatur.<br />
Er kehrt nicht, wie es seine Eltern<br />
erhoffen, auf die Farm zurück, sondern<br />
wird Assistenzprofessor für<br />
englische Geschichte, verliebt sich<br />
in eine blasse Bankierstochter und<br />
heiratet. Beim ›Vollzug der Ehe‹<br />
hapert es. Edith reagiert hysterisch.<br />
»Nach einem Monat wusste er, dass<br />
seine Ehe scheitern würde, nach<br />
einem Jahr hoffte er nicht mehr<br />
darauf, dass es je besser werden<br />
würde.« Edith ist eine zänkische, oft<br />
kränkelnde Frau. Nach drei Jahren<br />
verlangt sie plötzlich ein Kind, auch<br />
hier verhält sie sich gespenstisch.<br />
Eines Abends »fuhren ihre Hände<br />
wie Klauen auf ihn zu, sodass er fast<br />
zurückgeschreckt wäre, aber sie<br />
suchten nur seine Kleider, griffen<br />
danach, zerrten daran und zogen<br />
ihn neben sich aufs Bett.« Nach der<br />
Geburt ist Edith an dem Mädchen<br />
nicht interessiert. Sie zieht sich ins<br />
Bett zurück oder wohnt monatelang<br />
bei ihrer Mutter. Stoner kümmert<br />
sich liebevoll um das Kind,<br />
zieht sie fast alleine auf. Ohne ersichtlichen<br />
Grund, Grace ist inzwi-<br />
30 | <strong>Strandgut</strong> 01/<strong>2014</strong>