Liebeslieder & L’Amour-Hatscher Die Programmzusammenstellung des heutigen Late-Night-Konzerts des ensemble recherche im Festival rainy days 2013 nahm ihren Ausgang bei einer Bitte des <strong>Philharmonie</strong>-Dramaturgen: Ob es möglich sei – ausgehend von Lieblingsstücken aus dem wachsenden «Liebeslieder»-Repertoire des Ensembles und bereichert um berühmte ‹Schmachtfetzen› der Musikgeschichte – einen Abend lang einmal deutlich tiefer in die Kitsch-Kiste zu greifen als man das sich sonst bei Neue- Musik-Festivals gestattet? Denn schließlich dürfe bei einem Festival mit dem Titel «take your time» ja auf keinen Fall jener Bereich fehlen, der im Wiener Dialekt unter dem unnachahmlichen Begriff «L’Amour-Hatscher» zusammengefasst wird – langsame Liebeslieder zum Engtanzen, Kuscheln und sich die Brille beschlagen lassen. Denn schon lange, bevor die Popmusik sich in die Tabuzone zwischen «Kuschelrock», «Sie spielen unser Lied» und «Was Sie schon immer über Sex wissen wollten» begab, watete die klassische Musik mit nichts als «einem durchsichtigen Gewand unsäglichen mysteriösen Wohllauts» (Liszt) bekleidet in einem «Meer unendlicher Liebeswonne» (Wagner). Nach leidenschaftlicher Recherche zu den verführerischsten Arrangements präsentiert das ensemble recherche nun ein Programm, das die Musik von einer ihrer ältesten langsamen Seiten zeigt. (Bernhard Günther) Richard Wagner: Tristan und Isolde: Einleitung und Liebestod Prinz Tristan wird als Kind «in fremde Länder» geschickt, damit er deren Sprachen lernt. Als junger Mann reist er nach Irland, um dort für seinen Onkel, König Marke von Cornwall, die Hand der schönen Prinzessin Isolde zu erbitten. Auf der Rückreise trinken Tristan und Isolde – versehentlich oder mit Absicht? – von dem Liebestrank, der eigentlich für Isolde und Marke bestimmt war. So nimmt das Schicksal seinen Lauf: Die beiden verlieben sich unsterblich ineinander und müssen, da die Hochzeit mit dem König nicht mehr zu verhindern ist, in einer heimlichen, ehebrecherischen Beziehung leben. Tristan wird nach vielen Abenteuern und Intrigen gezwungen, England zu verlassen. Nach einem letzten vergeblichen Versuch, sich mit Isolde zu vereinen, stirbt er in der Fremde – je nach Version in Frankreich oder Deutschland. Wenn das tragische Paar Tristan und Isolde die Leser und Hörer aller Zeiten und Länder faszinierte, dann liegt das zweifellos daran, dass ihre Geschichte ein universelles Thema auf den Punkt bringt: den Konflikt zwischen Loyalität und Leidenschaft. Die Liebe als Elementarmacht, die sich nicht von Gesetz und Moral einschränken lässt. Ganz persönliche Erfahrungen damit waren es wohl, die den Komponisten zur Beschäftigung mit dem Stoff anregten. Richard Wagner lebte 1857, als er die Arbeit an seinem Tristan begann, in einem Landhaus auf dem Grundstück des Zürcher Industriellen Otto Wesendonck. In der Villa seines Wohltäters ging er ein und aus, und Wesendoncks junge Gattin Mathilde wurde seine Muse, womöglich seine Geliebte. Im folgenden Jahr kam es zum Eklat; Wagner trennte sich von seiner Frau Minna und flüchtete nach Venedig, wo er den zweiten Akt des Tristan komponierte. In seiner Adaption des Stoffs bezog er sich vor allem auf den um 1210 entstandenen Versroman Gottfrieds von Straßburg, doch dessen überreiche äußere Handlung reduzierte er radikal. Im Grunde geht es nur noch um das Gefühlsleben der beiden Hauptpersonen – es geht, in Wagners Worten, um «die Liebe als furchtbare Qual», um Sehnsucht, die unerfüllt bleibt und deshalb zur Todessehnsucht wird. Uraufgeführt wurde das vollständige, viereinhalb Stunden dauernde Musikdrama erst 1865 in München. Das Vorspiel dagegen stellte Wagner bereits am 12. März 1859 in Prag der Öffentlichkeit vor. Und bei einem St. Petersburger Konzert am 26. Februar 1863 begründete er die Tradition, das Vorspiel mit einer instrumentalen Fassung der Schlussszene zu koppeln. Aufgrund der dichten Struktur des Orchestersatzes ist es ohne Weiteres möglich, die Gesangsstimme in Isoldes Liebestod wegzulassen, ohne dass die Musik ihren Sinn verliert. Zwar sind Vorspiel und Liebestod 125
126