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Tagungs- bericht - Sparkassenverband Baden-Württemberg

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Finanzgruppe<br />

<strong>Baden</strong>-Württemberg<br />

Handelsforum 006:<br />

Vertriebsstrategien im Handel<br />

– Trends für die Zukunft.<br />

<strong>Tagungs</strong><strong>bericht</strong><br />

10. Mai 2006 im Kongresshaus Karlsruhe<br />

Verleihung des Zukunftspreises Handel


Herausgeber<br />

SparkassenVerband<br />

<strong>Baden</strong>-Württemberg<br />

Am Hauptbahnhof 2<br />

70173 Stuttgart<br />

Juli 2006


Inhaltsverzeichnis<br />

Vorträge<br />

Begrüßung:<br />

Grundzüge einer Strategieentwicklung im Einzelhandel 6<br />

Tilmann Hesselbarth<br />

Verbandsgeschäftsführer<br />

SparkassenVerband <strong>Baden</strong>-Württemberg, Stuttgart<br />

Städte schaffen dem Handel Raum 14<br />

Beate Weber<br />

Oberbürgermeisterin der Stadt Heidelberg<br />

Zukunft findet Stadt!<br />

Wie wir morgen wohnen und leben –<br />

Abschied vom urbanen Pessimismus 23<br />

Prof. Dr. Horst W. Opaschowski<br />

Universität Hamburg<br />

Vom Kunden zum Fan<br />

Nationale Großereignisse – Impulse für den Handel? 37<br />

Erwin Staudt<br />

Präsident VfB Stuttgart<br />

Unternehmensmotto als Programm:<br />

Hier bin ich Mensch. Hier kauf ich ein. 46<br />

Prof. Götz W. Werner<br />

Geschäftsführer dm-drogerie markt<br />

Verleihung des Zukunftspreises Handel <strong>Baden</strong>-Württemberg 2006<br />

Handelsstandort <strong>Baden</strong>-Württemberg 54<br />

Ernst Pfister, MdL<br />

Wirtschaftsminister <strong>Baden</strong>-Württemberg<br />

Vorstellung der Preisträger<br />

1. Preis: Reischmann Mode + Sport 59<br />

2. Preis: Foto Wöhrstein 60<br />

3. Preis: RavensBuch GmbH 61


„Verkaufen heißt, dem Kunden behilflich<br />

sein, mit der Ware eine positive Vorstellung<br />

zu verbinden“, hat der Ökonom<br />

Helmar Nahr einmal sehr treffend gesagt.<br />

Damit sind wir bei einem Kernthema,<br />

das für alle Dienstleister heute oberste<br />

Priorität hat: die richtige Verkaufs- bzw.<br />

Vertriebsstrategie. Was nutzt die beste<br />

Ware, wenn keiner die Qualität kennt?<br />

Verkauf mit Pfiff ist gefragt. Dass es hier<br />

immer neue Wege zu beschreiten gilt, ist<br />

unbestritten.<br />

Sparkassen, Einzelhandel und Kommunen<br />

verbindet seit jeher ein gemeinsames<br />

Interesse: Das Wohlergehen der<br />

Bürgerinnen und Bürger in ihrer Stadt<br />

und ihrer Region. Die über Jahrzehnte<br />

gewachsene Partnerschaft zwischen<br />

Sparkassen und mittelständisch geprägtem<br />

Einzelhandel garantiert Stabilität<br />

und Wachstum in den Regionen. Das<br />

ist gut für die Menschen, die heimische<br />

Wirtschaft und das Land.<br />

Mit dem Handelsforum haben wir daher<br />

ein Forum für Einzelhandel, Kommunen<br />

und Sparkassen geschaffen, um gemeinsame<br />

Themen zu diskutieren. Namhafte<br />

Referenten, Pioniere und Leitfiguren<br />

aus <strong>Baden</strong>-Württemberg präsentieren<br />

ihre Erfolgsmodelle und zeigen, welche<br />

Chancen es für die Zukunft zu nutzen gilt.<br />

Der SparkassenVerband <strong>Baden</strong>-Württemberg<br />

mit seinen 56 Sparkassen und den<br />

Verbundpartnern Landesbank <strong>Baden</strong>-<br />

Württemberg, LBS <strong>Baden</strong>-Württemberg<br />

und SV SparkassenVersicherung ist nicht<br />

nur Mitveranstalter dieses Diskussionsforums,<br />

er versteht sich auch als Impulsgeber.<br />

Peter Schneider, MdL<br />

Präsident des SparkassenVerbands<br />

<strong>Baden</strong>-Württemberg


Vorträge


Begrüßung:<br />

Grundzüge einer Strategieentwicklung<br />

im Einzelhandel<br />

Meine sehr verehrten Damen und Herren,<br />

auch im Namen des mitveranstaltenden<br />

SparkassenVerbands <strong>Baden</strong>-Württemberg<br />

möchte ich Sie sehr herzlich<br />

begrüßen. Wir freuen uns, dass Sie heute<br />

unser Gast bei dieser Veranstaltung sind,<br />

die wir bereits seit mehreren Jahren sehr<br />

erfolgreich fortführen.<br />

Herzlich Willkommen!<br />

Vielleicht sollte ich den Titel des Vortrages<br />

ein bisschen revidieren, schließlich<br />

bin ich kein Einzelhändler sondern<br />

ein „Sparkassenmann“. Doch wollte ich<br />

damit bewusst Ihre Aufmerksamkeit<br />

wecken. Natürlich wage ich mich nicht<br />

in die Materie hinein, die nur Sie als<br />

Einzelhändler im täglichen Kampf und im<br />

täglichen Geschäft kennen können und<br />

beherrschen. Vielmehr geht es mir im<br />

Wesentlichen darum, Sie für das Thema<br />

Strategieentwicklung zu sensibilisieren.<br />

Wir erleben es immer wieder, entweder<br />

wird der Begriff „Strategie“ überstrapaziert<br />

für Dinge, die mit Strategie eigentlich<br />

gar nichts zu tun haben, oder aber, er<br />

wird gar nicht zur Kenntnis genommen.<br />

Ich möchte Sie daher heute anhand einiger<br />

Folien von der Notwendigkeit einer<br />

Strategieentwicklung überzeugen und<br />

Sie ein wenig mitnehmen auf die Spur,<br />

wie denn Strategieentwicklung und Strategiebeschreibung<br />

funktionieren könnte.<br />

„Als wir das Ziel aus den Augen verloren<br />

hatten, haben wir unsere Anstrengungen<br />

verdoppelt“. Das ist ein gern<br />

und vielzitierter Satz von Mark Twain und<br />

ich denke, für unsere heutige Situation<br />

in manchen Bereichen nicht verkehrt.<br />

Strategie beschreibt die Wege und damit<br />

die Themenfelder, die für die Erreichung<br />

von langfristigen Unternehmenszielen,<br />

man könnte auch von Visionen sprechen,<br />

notwendig sind. Dabei ist es völlig<br />

unerheblich, ob es sich um ein großes<br />

Unternehmen oder ein kleines, Familien<br />

geführtes Unternehmen handelt. Doch<br />

der Reihe nach. Dies sind die Punkte, die<br />

ich heute mit Ihnen abhandeln möchte:<br />

1. Gründe für strategisches Management<br />

2. Begriffsdefinition Strategie<br />

3. Zielformulierung<br />

4. Strategieentwicklung<br />

5. Strategielandkarte<br />

1. Gründe für strategisches Management<br />

Was sind die Gründe für strategisches<br />

Management? Letztendlich sind es die<br />

Faktoren, die Sie und ich tag, täglich in<br />

der gesamten Bundesrepublik von grossen<br />

bis zu kleinen Unternehmen erleben:<br />

steigender Wettbewerbsdruck<br />

immer kürzer werdende Produkt- und<br />

Produktlebenszyklen<br />

sich verändernde gesetzliche Rahmenbedingungen<br />

technologische Neuerungen<br />

Diese Faktoren wirken – ob wir es wollen<br />

oder nicht – auf unser tägliches Geschäft<br />

ein. Deshalb brauchen wir klare Visionen<br />

und damit definierbare Anforderungen<br />

für das Management, kurz: eine Strategie.<br />

Diese Strategie muss jedoch auch<br />

Tilmann Hesselbarth<br />

Verbandsgeschäftsführer<br />

SparkassenVerband<br />

<strong>Baden</strong>-Württemberg,<br />

Stuttgart


implementiert, also umgesetzt werden<br />

können, sonst nutzen weder Visionen<br />

noch Anforderungen.<br />

Ich möchte Ihnen einige Zahlen aus<br />

repräsentativen Umfragen zeigen, die<br />

aus meiner Sicht erschreckend sind:<br />

Auf die Frage: „Wie viele Mitarbeiter<br />

verstehen Ihre Firmenvision?“ D.h. wie<br />

ist es eigentlich den Inhabern oder dem<br />

Management gelungen, ihre Ideen, ihren<br />

Blick in die Zukunft, ihre Strategie in die<br />

Mitarbeiterschaft zu implementieren,<br />

die Mitarbeiter abzuholen? Sicherlich<br />

gelten diese Zahlen tendenziell eher für<br />

größere Unternehmen, aber ich denke,<br />

das können wir auch in den typischen<br />

baden-württembergischen Einzelhandelsbereich<br />

übertragen. Und Sie sehen,<br />

dass selbst bei der mittleren Führungsebene<br />

in Europa deutlich unter 50 Prozent<br />

die Firmenvision verstehen. Betrachten<br />

wir die Mitarbeiterebene, dann sehen Sie<br />

dort einstellige Zahlen. D.h. nur 7 Prozent<br />

der Mitarbeiter haben die Firmenvision<br />

verstanden!<br />

1. Gründe für strategisches Management<br />

Wie viele Mitarbeiter verstehen Ihre Firmenvision?<br />

71%<br />

59%<br />

40%<br />

40%<br />

Das zweite Schaubild ist auch nicht viel<br />

besser. Hier wird gefragt, wie hat die<br />

Implementierung, sprich die Umsetzung<br />

der Strategie eigentlich funktioniert?<br />

Und dort sehen Sie, dass zwar rund<br />

98 Prozent der deutschen Unternehmer<br />

strategische Arbeit als „wichtig“ einstufen,<br />

aber nur 50 Prozent mit dem Ergebnis<br />

ihrer Umsetzung zufrieden sind. Ich<br />

denke, das sind erschreckende Zahlen,<br />

die zeigen, wie wichtig es ist, dass wir<br />

uns im Kern mit der Strategieentwicklung<br />

in einem Unternehmen auseinandersetzen.<br />

Warum also strategisches Management“?<br />

Strategisches Management<br />

3%<br />

deshalb, weil wir zwei Dinge immer<br />

unterscheiden müssen: Strategieentwicklung<br />

bzw. Strategieumsetzung und<br />

Management. In anderen Worten gesagt:<br />

Ich muss immer dafür sorgen, dass ich<br />

das Richtige auch richtig tue. Es gibt den<br />

bösen Satz: Es ist viel schlimmer, wenn<br />

ich das Richtige falsch mache, als wenn<br />

ich das Falsche richtig mache. Deshalb<br />

muss ich in einem Strategieprozess<br />

erstens das Richtige erkennen und in<br />

einem zweiten Schritt dafür sorgen, dass<br />

ich das Richtige auch richtig tue.<br />

2. Begriffsdefinition Strategie<br />

Man kann Strategie mit drei Überschriften<br />

belegen: Strategie ist etwas<br />

Übergeordnetes, Strategie ist etwas<br />

Langfristiges und Strategie ist etwas<br />

Abstraktes. Aus diesem Grund muss<br />

man Strategien von operativen Maßnahmen,<br />

von Aktivitäten, klar abgrenzen.<br />

Nicht jede Verkaufsaktion, nicht jede<br />

Aktionswoche ist automatisch gleichzusetzen<br />

mit einer Strategie. Strategie<br />

greift weiter und betrifft Ihr<br />

Unternehmen als Ganzes,<br />

es handelt sich um etwas<br />

Übergeordnetes, das in der<br />

Regel langfristig angelegt<br />

USA<br />

Europa<br />

Obere Führungsebene Mittlere Führungsebene Mitarbeiterebene<br />

7%<br />

Quelle: Renaissance/CFO Magazine Survey<br />

Folie 1<br />

ist. Es hat auch nichts mit<br />

Strategie zu tun – erlauben<br />

Sie mir an dieser Stelle diese<br />

Randbemerkung –, wenn<br />

große Dax-Unternehmen im<br />

Jahresrhythmus ihre Vorstandsvorsitzenden<br />

auswechseln<br />

und dies gegenüber der<br />

Öffentlichkeit als „Strategiewechsel“<br />

ausgeben.<br />

Strategieentwicklung wird dort sehr<br />

häufig mit der „persönlichen Neigung“<br />

des neuen Vorstandsvorsitzenden verwechselt.<br />

Deshalb ist es gut, dass wir in<br />

Deutschland und in <strong>Baden</strong>-Württemberg<br />

einen Großteil unseres unternehmerischen<br />

Potentials in eigentümergetragenen<br />

mittelständischen Unternehmen<br />

haben, die den Aspekt der Langfristigkeit<br />

und der Nachhaltigkeit im Blickpunkt<br />

haben. Denn Sie als Unternehmer in<br />

Ihren Häusern, in Ihren Einzelhandelsunternehmen,<br />

Sie haben gar keine andere<br />

Perspektive, als Nachhaltigkeit. Sie<br />

denken Gott sei Dank nicht in 6-Jahres-<br />

Verträgen.


Daher brauchen Sie eine Strategie als<br />

etwas Übergeordnetes, als etwas Langfristiges<br />

und als etwas Abstraktes. Doch<br />

diese Strategie muss auch in der Praxis<br />

konkretisierbar sein. Ich werde mit Ihnen<br />

jetzt einen kurzen Gang durch eine Vielzahl<br />

von Begrifflichkeiten machen, die<br />

alle diesen Strategieprozess umschreiben.<br />

Lassen Sie mich beginnen mit dem<br />

Selbstverständnis. Es mag banal<br />

klingen, doch bevor Sie eine Strategie<br />

entwickeln – und ich meine, ohne diese<br />

kommen Sie heute nicht mehr aus –<br />

müssen Sie auch diesen ersten Schritt<br />

machen, nämlich klären, was Ihr Selbstverständnis<br />

ist. Niemand von Ihnen fängt<br />

bei null an und niemand bewegt sich im<br />

luftleeren Raum. Vielmehr müssen wir<br />

uns nach dem Selbstverständnis unserer<br />

Häuser fragen. Warum existieren wir?<br />

Warum existiere ich mit meinem Unternehmen,<br />

mit meinem Geschäft? Anders<br />

gefragt: Warum braucht mich der Markt?<br />

Warum brauchen mich die Kunden? Was<br />

ist es denn, was ich anbiete? Niemand<br />

ist um seiner selbst willen da. Daher<br />

muss ich etwas anbieten, ich muss etwas<br />

produzieren oder eine Dienstleistung zur<br />

Verfügung stellen, für das es auch einen<br />

Markt gibt. Also warum soll es ein Bekleidungsgeschäft<br />

in XY geben? Warum soll<br />

es eine Dienstleistungsfirma „Schnelles<br />

Essen auf flotten Rädern“ geben? Was<br />

bringe ich dem Markt? Welchen Bedarf<br />

befriedige ich?<br />

Woher kommen wir, wer sind wir?<br />

Dieses Selbstverständnis muss „langfristig<br />

stabil“ sein, was, wie ich vorhin<br />

erwähnte, in vielen Fällen, gerade in der<br />

Großindustrie, leider nicht der Fall ist.<br />

Diese Sinn- und Berechtigungsfrage<br />

sollte man aber nicht nur für sich selbst<br />

beantworten, man muss sie auch dem<br />

Markt, den Kunden, den Marktteilnehmern<br />

kommunizieren können. Die<br />

Existenzberechtigung muss nach außen<br />

wirken und kommuniziert werden und<br />

da gibt es Slogans wie zum Beispiel – ich<br />

zitiere ein Motto der Sparkassen –, „Wir<br />

handeln, damit Sie handeln können“.<br />

Die Frage, warum wir existieren, beantwortet<br />

sich für uns Sparkassen aus dem<br />

öffentlichen Auftrag. Wir sind dafür da,<br />

dass wir in der deutschen Bankenlandschaft<br />

in allen Regionen den Wettbewerb<br />

sicherstellen, dass wir über alle Kunden<br />

und alle Regionen hinweg die Menschen<br />

mit Finanzdienstleistungen versorgen.<br />

Das ist unsere Begründung im Markt.<br />

In der gleichen Weise müssen Sie sich<br />

fragen, warum braucht der Markt meine<br />

Dienstleistung. Warum braucht er meine<br />

Produkte.<br />

Die Frage nach innen: Gibt es ein Selbstverständnis<br />

im Sinne von gemeinsamer<br />

Werthaltung? Wir machen gewisse<br />

Dinge, oder wir machen gewisse Dinge<br />

nicht. Wir haben auch einen bestimmten<br />

Stil, warum wir bestimmte Dinge so<br />

anpacken und nicht anders.<br />

Selbstverständnis<br />

Sinn<br />

des Unternehmens<br />

Warum existieren wir?<br />

2 Dimensionen<br />

langfristig stabil<br />

Kultur<br />

des Unternehmens<br />

Wer sind wir?<br />

Wo kommen wir her?<br />

Folie 2<br />

Ich komme zum nächsten<br />

Begriff: Zukunftsbild oder<br />

Vision. Die erste Frage beim<br />

Selbstverständnis ist, warum<br />

braucht mich der Markt. Die<br />

zweite Frage ist die nach<br />

der Vision. Wie will ich denn<br />

aussehen, wie will ich diese<br />

Leistung, diese Dienstleistung,<br />

dieses Produkt erbringen?<br />

Und hier kann man<br />

sagen, im Gegensatz zum<br />

Selbstverständnis hat das<br />

Zukunftsbild oder die Vision<br />

eher einen Blick nach innen.<br />

Die zweite Frage nach dem Selbstverständnis<br />

richtet sich nach innen: Gibt<br />

es bei mir eine Historie? Muss ich diese<br />

Story neu entwickeln, neu erfinden?<br />

Lassen Sie mich dies an einem sehr<br />

markanten Beispiel verdeutlichen. Das<br />

weltumfassende Unternehmen Coca-Cola<br />

hat seine Vision in einem einzigen Satz


zusammengefasst, und das schon vor<br />

vielen, vielen Jahren, als noch niemand<br />

von Globalisierung sprach. Die Vision<br />

von Coca-Cola heißt frei übersetzt: „Nicht<br />

mehr als eine Armlänge bis zur nächsten<br />

Cola und das über die ganze Welt“. „Not<br />

more than a feet to the next cola all over<br />

the world“. Ich will jetzt nicht sagen,<br />

ob Cola gut ist oder schlecht. Aber<br />

jeder Coca-Cola-Mitarbeiter, egal ob in<br />

China, Argentinien, Kanada oder sogar<br />

am Nordpol, versteht, was mit dieser<br />

Vision gemeint ist. Coca-Cola möchte ein<br />

weltumspannendes Netz von Versorgung<br />

mit seinen Getränken sicherstellen. Nicht<br />

mehr als einen Meter, eine Armlänge bis<br />

zur nächsten Coca-Cola. Eine äußerst<br />

einprägsame Formulierung von Anfang<br />

an, die auch heute noch und in Zukunft<br />

ihren Wert hat, weil die Vision wahrscheinlich<br />

nie ganz greifen wird. Dies<br />

zeigt übrigens auch die Langfristigkeit<br />

einer Vision.<br />

Auf die Fragen, was sind wir (= Selbstverständnis),<br />

was wollen wir langfristig<br />

erreichen (= Vision) folgt die Strategie.<br />

Wie verbindet man Selbstverständnis<br />

und Vision mit der Realität? Die Antwort<br />

ist, man erstellt einen Plan, ein Vorgehen<br />

im Sinne einer Weg-Ziel-Beschreibung.<br />

Wie komme ich von A nach B nach C, um<br />

letztlich am Ziel anzukommen. Eine Strategie<br />

muss daher auch immer inhaltliche<br />

Aussagen aufzeigen. Mit welchen Potentialen,<br />

mit welchen Möglichkeiten und<br />

Fähigkeiten habe ich es zu tun? Dabei<br />

dürfen wir nicht aus den Augen verlieren,<br />

dass Strategie auf Langfristigkeit angelegt<br />

sein muss. Aus der Strategie heraus,<br />

ergeben sich dann im nächsten Schritt<br />

die Maßnahmen: Was ist konkret zu tun?<br />

Und hier ist häufig ein Manko festzustellen.<br />

Was nützten glitzernde Strategien<br />

in Hochglanzbroschüren, wenn sie nach<br />

kürzester Zeit wieder in den Schubladen<br />

verschwinden, weil es an Maßnahmen<br />

fehlt, weil sie sich nur in den Köpfen des<br />

Unternehmers finden, aber nicht kommuniziert<br />

werden. Was nicht kommuniziert<br />

wird, kann auch nicht mitgetragen und<br />

schließlich auch nicht praktiziert werden.<br />

Deshalb ist diese Reihenfolge zwingend:<br />

Selbstverständnis, Vision, Strategie und<br />

Maßnahmen. Die Strategieentwicklung,<br />

die Definition des Selbstverständnisses,<br />

das ist alles notwendig. Aber zum Ziel<br />

kommen wir in unseren Häusern nur,<br />

wenn wir auch konkrete Maßnahmen<br />

ergreifen.<br />

3. Zielformulierung<br />

In unserer Gesellschaft, in unseren Unternehmen,<br />

in der Unternehmensführung<br />

und in der Unternehmensforschung über<br />

„Ziele“ zu sprechen, ist immer wieder ein<br />

spannendes Thema. Wir stoßen dabei<br />

stets auf Begriffe wie Zielerreichung,<br />

Zielsetzung, Zieldefinition und ähnliche<br />

mehr. Nun kann man sehr wohl mit<br />

Zielen führen, ohne den Bereich abgearbeitet<br />

haben zu müssen, den ich Ihnen<br />

kurz angerissen habe. So kann ich für<br />

meine Mitarbeiter Ziele definieren, ohne<br />

sie in den Strategieprozess mit einzubinden,<br />

entweder weil ich keine Strategie<br />

habe, oder weil ich sie ganz einfach nicht<br />

kommunizieren will. Das ist möglich.<br />

Ob dieses Verfahren im Ergebnis jedoch<br />

effizient ist, wage ich sehr zu bezweifeln.<br />

Ich bin der festen Überzeugung, dass<br />

Menschen, dass Mitarbeiter, dass Kolleginnen<br />

und Kollegen immer dann ganz<br />

besonders intensiv mitarbeiten, wenn<br />

sie a) die Ziele kennen und b) sie auch<br />

verstanden haben, warum sie für diese<br />

Zielen arbeiten sollen.<br />

Ziele gibt es in Hierarchieform. Ein<br />

Gesamtunternehmen hat ein Gesamtunternehmensziel<br />

und dieses gilt es auf die<br />

entsprechenden Unterorganisationen<br />

(Abteilungen, Gruppen etc.) runterzubrechen.<br />

Ziele können auch unterschiedlich<br />

konkret sein. Sie müssen nur immer auf<br />

die konkrete Situation bezogen sein.<br />

Einfache, messbare Zielgrößen sind<br />

natürlich zu bevorzugen, da sie schnell<br />

und einfach zu kommunizieren und zu<br />

transportieren sind.<br />

Zielgrößen müssen zwar nicht zwingend<br />

messbare naturwissenschaftliche Größen<br />

umfassen, doch vereinfachen sie oftmals<br />

die Situation. Problematisch wird es,<br />

wenn unsinnige Kennzahlen im Raum<br />

stehen, die einfach nicht zielführend<br />

sind. Folgendes Beispiel: Sie nennen<br />

in einem Unternehmen, das stark auf<br />

Kommunikation ausgerichtet ist, eine<br />

Zielgröße wie, „wir wollen unsere Telefonkosten<br />

reduzieren, wir haben zu hohe<br />

Telefonkosten“ und sagen, „wir reduzieren<br />

die Kosten von 100 Tausend Euro<br />

auf 80 Tausend Euro“. Das ist natürlich


kontraproduktiv, weil Ihr Unternehmen<br />

auf Kommunikation ausgerichtet ist. Das<br />

Gleiche gilt auch für das häufig benutzte<br />

Beispiel Arbeitszeit zu Überstunden.<br />

Auch hier muss man immer wieder fragen,<br />

stand bei diesem Ziel die einfache<br />

Messbarkeit, oder stand wirklich eine<br />

Sinnhaftigkeit Pate.<br />

Strategieentwicklung ist immer notwendig<br />

– unabhängig von der Größe eines<br />

Unternehmens und auch unabhängig<br />

von der momentanen betriebswirtschaftlichen<br />

Situation. Auch wenn die Bilanzen<br />

hervorragend sind, muss sich das Haus<br />

schon heute Gedanken darüber machen,<br />

dass es auch morgen so bleibt. Strategieentwicklung<br />

ist ein steuerbarer Prozess,<br />

zerlegbar in drei große Schritte: nämlich<br />

in Analyse, Planung und Maßnahmen.<br />

In der Praxis läuft es in der Regel jedoch<br />

anders ab: wir machen die Analyse,<br />

ergreifen die Maßnahmen und hoffen,<br />

den Plan zu erreichen. Dabei müssen wir<br />

das Gestern berücksichtigen, das Heute<br />

beurteilen und das Morgen<br />

einkalkulieren.<br />

Die Zielformulierungen<br />

Leitsätze zur Formulierung der Ziele<br />

Die Handlungseckwerte sollen das künftige Handeln des Unternehmens beschreiben.<br />

Es sollen Zielzustände beschrieben werden.<br />

Sie sollen konkret durch Kriterien und Messgrößen messbar sein.<br />

Sie sollen auf einer generellen Ebene bleiben und keine quantitativen Aussagen enthalten.<br />

Die Ziele sollen durch konkrete Lösungen, die in weiteren Runden ausgearbeitet werden,<br />

erreicht werden.<br />

planbar<br />

messbar<br />

operational<br />

nachprüfbar<br />

widerspruchsfrei<br />

Im unteren Teil der Folie „Leitsätze zur<br />

Formulierung der Ziele“ sehen Sie aus<br />

der klassischen Betriebswirtschaftslehre<br />

heraus definierte Messgrößen<br />

für Zielerreichungen, die also planbar,<br />

messbar, operational, also auch wirklich<br />

beeinflussbar, nachprüfbar und widerspruchsfrei<br />

sind. Ziele müssen zudem<br />

eindimensional sein, sie müssen klar<br />

sein, sie müssen vermittelbar sein. Wissen<br />

Sie was zu tun ist, wenn ich Ihnen in<br />

einem Einzelhandelstextilgeschäft in Balingen<br />

auf der Friedrichstraße sage, „wir<br />

müssen besser werden“? Was macht ein<br />

Mitarbeiter, wenn der Chef sagt, wir müssen<br />

besser werden? Solche Dinge sind<br />

nicht operational, sind nicht nachprüfbar<br />

und nicht kommunizierbar. Es ist schnell<br />

gesagt, doch was kann der Mitarbeiter<br />

damit ganz konkret anfangen? Wenn<br />

wir mit Zielen arbeiten, sollten wir uns<br />

immer an diesen Leitsätzen und Kriterien<br />

orientieren.<br />

4. Strategieentwicklung<br />

Kriterien zur Formulierung der Ziele<br />

eindeutig<br />

kommunizierbar<br />

umsetzbar<br />

unmissverständlich<br />

klar<br />

Der nächste Schritt ist der<br />

Soll-Ist-Abgleich. Wo stehe<br />

ich heute im Verhältnis zu<br />

dem Ziel, das ich morgen<br />

erreichen will oder erreichen<br />

muss. Darauf folgt ein<br />

weiterer wichtiger Schritt:<br />

die Strategische Analyse,<br />

oder einfacher gesagt, die<br />

Lagebeurteilung. Bei einer<br />

strategischen Analyse geht<br />

Folie 3<br />

es darum, zu analysieren,<br />

wo stehen wir, wo haben wir<br />

Stärken und Schwächen, wohin können<br />

wir uns mit vertretbarem Ressourceneinsatz<br />

entwickeln. Dann gilt es, die<br />

Strategie selber zu definieren, sie zu<br />

beschreiben, um daraus letztlich einen<br />

Maßnahmenplan zu erstellen.<br />

Vorgehensmodell zur Strategieentwicklung<br />

Zukunftsbild<br />

entwerfen<br />

Selbstverständnis<br />

ermitteln<br />

Soll-Ist-Abgleich<br />

Strategische<br />

Analyse<br />

Strategieimplementierung<br />

Strategieformulierung<br />

Ausgangspunkt ist ein möglichst kurzes, einfaches und<br />

plakatives Bild der Zukunft.<br />

Hier gilt es den Blick nach innen zu richten und sich bewusst zu<br />

machen, welches menschliche Verhalten das Wertesystem des<br />

Unternehmens prägt.<br />

In dieser Phase soll ein Sinn für das Machbare entwickelt<br />

werden. Ggf. müssen „Zwischenstufen“ eingeplant werden.<br />

Voraussetzung für die Strategieformulierung ist die Kenntnis<br />

der Unternehmensumwelt und ihrer Entwicklung sowie die<br />

Stärken und Schwächen des Unternehmens.<br />

Aufbauend auf den Analysen entwirft das Unternehmen<br />

alternative Strategien, aus denen die zu realisierende Strategie<br />

nach einer Bewertung ausgewählt wird.<br />

Das Ziel dieser Phase ist es, die beschlossene Strategie in dem<br />

Unternehmen zur Anwendung zu bringen.<br />

„Zukunftsbilder entwerfen“ – was beinhalten<br />

Zukunftsbilder, was Visionen?<br />

Zukunftsbilder sind immer ambitioniert,<br />

sie müssen aber auch greifen. Daher<br />

müssen Sie, meine Damen und Herren,<br />

eigentlich mehr an das Übermorgen, als<br />

an das Morgen denken und Sie dürfen<br />

auf gar keinen Fall im Heute verhaftet<br />

sein. Zukunftsbilder müssen auch<br />

emotional sein. Denken Sie nur an den<br />

Spruch von Coca Cola. Sie können andere<br />

Visionen, Zukunftsbilder entwickeln, wie<br />

Folie 4<br />

10


z.B. wir sind die Nr. 1 in Balingen, wir<br />

sind der Dienstleister XY in Bad Mergentheim.<br />

Wir sind die Größten in<br />

Freiburg usw. Für alle Zukunftsbilder<br />

gilt, sie müssen gut vorstellbar, bildlich<br />

und griffig sein, damit sie von unseren<br />

Mitarbeitern „verstanden“ werden, d.h.<br />

im Klartext, es muss eine Identifikation<br />

stattfinden. Ihre Mitarbeiter müssen sich<br />

zughörig fühlen, Sie müssen „den Bauch“<br />

ansprechen. Nur dann können wir mit<br />

diesen Bildern Identität und Motivation<br />

schaffen.<br />

Wie gehe ich ran an das Thema, Zukunftsbilder<br />

entwerfen? Am besten mit<br />

der klassischen Fragetechnik. Wenn Sie<br />

die Zukunft erfinden könnten, wie würde<br />

Ihr Unternehmen dann aussehen? Wo<br />

möchten Sie in 5, in 10 Jahren stehen?<br />

Welche Wünsche haben Sie für das Unternehmen?<br />

Leiten Sie dann als nächsten<br />

Schritt aus den Antworten Ihr Selbstverständnis<br />

ab. Wo bin ich, wer braucht<br />

mich, warum braucht man mich? Welches<br />

Bewusstsein, welche Identität, welches<br />

Selbstverständnis habe ich im Inneren?<br />

Und auch hier kann man mit Fragetechniken<br />

weiter kommen. Was treibt die<br />

Mitarbeiter gemeinschaftlich an? Welche<br />

Wertvorstellungen habe ich? Welche<br />

Wertvorstellungen hat mein Unternehmen?<br />

Wie bekomme ich „Hochgefühle“<br />

in mein Unternehmen hinein?<br />

Sie als mittelständische Unternehmer<br />

haben hier eine ungeheure Chance, weil<br />

Sie an Ihren Mitarbeitern dicht dran sind.<br />

Sie haben die Möglichkeit und Sie haben<br />

den Zugang, Ihre Ziele, Ihre Visionen, Ihr<br />

Selbstverständnis, Ihr Bild, den Mitarbeitern<br />

unmittelbar mitzuteilen. Sie müssen<br />

nur zwei Dinge tun: Sie müssen Zukunftsbilder<br />

haben und Sie müssen sprechen.<br />

Sie müssen auf Ihre Mitarbeiter zugehen.<br />

Vergessen Sie dabei nicht den Soll-Ist-<br />

Vergleich. Wenn ich die Vision habe, das<br />

Selbstverständnis durchdekliniere, wie<br />

weit bin ich per heute noch von meinem<br />

Zukunftsbild entfernt? Ist es ein Weg,<br />

den ich schaffen kann? Auch hier die<br />

Frage, schaffe ich es gleich, brauche ich<br />

Zwischenschritte, wie nehme ich meine<br />

Mitarbeiter mit.<br />

Zurück zur Strategischen Analyse, zur<br />

Lagebeurteilung. Ich erinnere mich sehr<br />

gut an meine Zeit als Sparkassenvorstand<br />

und Kreditvorstand, als ich von vielen<br />

Unternehmen immer wieder zu hören<br />

bekam, das sei zu mühselig und wie<br />

mache ich das und ich komme da nicht<br />

weiter. Auch hier gibt es für Stärkenund<br />

Schwächen-Analyse eine Vielzahl<br />

von Instrumenten, die in der täglichen<br />

Arbeit schnell helfen. Denn Ihre Aufgabe<br />

kann sich nicht darauf beschränken,<br />

Strategieentwicklungen zu betreiben.<br />

Gleichwohl mein Appell, meine Bitte,<br />

stellen Sie sich, sofern Sie es nicht schon<br />

gemacht haben, diesem Thema. Hier nur<br />

exemplarisch drei Beispiele, wie man mit<br />

diesem Thema der strategischen Analyse<br />

umgehen kann.<br />

Instrumente zur strategischen Analyse<br />

Ermittlung der Unternehmensumwelt und ihrer Entwicklung sowie die<br />

Stärken und Schwächen des Unternehmen<br />

SWOT-Analyse<br />

Strategische<br />

Geschäftsfeldanalyse<br />

Kennzahlen-Check<br />

Portfolio Analyse<br />

Portfolio Analyse<br />

Instrumente<br />

Betriebswirtschaftliche<br />

Analyse<br />

Ein klassisches Instrument ist auch die<br />

Portfolio-Analyse. Sie tragen in ein<br />

solches Portfolio auf den beiden Achsen<br />

unterschiedliche Kenngrößen ein. Die<br />

idealtypische Form der Portfolio-Analyse<br />

ist bekanntermaßen die Marktattraktivität<br />

und die Wettbewerbsvorteilsmatrix.<br />

Also wie attraktiv ist eigentlich ein Markt<br />

und wo bin ich dort im Wettbewerb positioniert.<br />

Sie können die Begrifflichkeiten<br />

natürlich austauschen z.B. im Sinne<br />

Zukunftsmarkt im Verhältnis zu einem<br />

Wettbewerbsmarkt. Hat dieser Markt<br />

Zukunft, ist es ein wachsender oder ein<br />

sterbender Markt. Hier gibt es verschiedene<br />

Möglichkeiten, sich zu positionie-<br />

Martktanteilsanalyse<br />

Benchmarking<br />

Zukunftskonferenz<br />

SWOT-Analyse. Machen Sie sich einfach<br />

ein Tableau und schreiben Ihre Stärken<br />

und Schwächen, Ihre Chancen und<br />

Risiken auf. Das hilft Ihnen sehr schnell<br />

dabei, Ihre unternehmerische Situation<br />

gedanklich zu durchdringen und zu<br />

strukturieren, damit Sie im nächsten<br />

Schritt schon zu den Maßnahmen kommen.<br />

Betriebsvergleich<br />

Leitmotivanalyse<br />

Strategie-Check<br />

Search Conference<br />

Search Conference<br />

Folie 5<br />

11


en und zu erkennen, wo bewege ich<br />

mich in meinem Umfeld.<br />

Weiter gibt es die Möglichkeit der rein<br />

betriebswirtschaftlichen Analyse, in<br />

dem ich mich mit anderen Vergleiche.<br />

Hier wird sehr häufig der Begriff Benchmark<br />

verwandt, der fälschlicherweise immer<br />

mit Betriebsvergleich gleichgesetzt<br />

wird. Die ursprünglich amerikanische<br />

Überlegung war jedoch zu sagen: Ich<br />

vergleiche mich nicht einfach mit dem<br />

nächsten Einzelhändler, sondern ich konzentriere<br />

mich auf ein ganz bestimmtes<br />

Problem. Nehmen wir ein Beispiel: Es<br />

gibt ein Versandproblem. Dann halte<br />

ich Ausschau, wer dieses Problem am<br />

besten gelöst hat. Und wissen Sie, wer in<br />

Deutschland am allerbesten Versandprobleme<br />

gelöst hat? Beate Uhse. Wenn ich<br />

jetzt im Bereich meines Versandes also<br />

ein Problem habe, dann ist Beate Uhse<br />

meine Benchmark und nicht mein Kollege<br />

nebenan, denn der macht es bestenfalls<br />

gerade so schlecht wie ich. Benchmark<br />

heißt also, ich will mich am Besten<br />

messen. Deshalb muss ich schauen, wer<br />

in dieser spezifischen Problemstellung<br />

der Beste ist. Vorsicht also bei betriebswirtschaftlichen<br />

Analysen im Sinne von<br />

zwischenbetrieblichen Vergleichen. Hier<br />

vergleichen wir häufig das Gleiche mit<br />

dem Gleichen, was uns nicht wirklich<br />

weiterbringt.<br />

Aus der Stärken- und Schwächen-Analyse,<br />

aus der strategischen Analyse<br />

entwickele ich also meine Strategie.<br />

Wo will ich eigentlich hin? Was will ich<br />

tun? In welche Richtung will ich mich<br />

entwickeln? Will ich Qualitätsführer sein,<br />

Preisführer, Kommunikationsführer oder<br />

Wahrnehmungsführer? Ihre Strategie<br />

hängt natürlich von der Branche ab, in<br />

der Sie sich bewegen. Ich kann Ihnen<br />

daher keine allgemeingültige Strategie<br />

aufschreiben. Ich hatte mit meinen Kolleginnen<br />

und Kollegen eine Strategie für<br />

meine damalige Sparkasse entwickelt<br />

und ich bin heute auf der Verbandsebene<br />

dafür verantwortlich, dass unsere Sparkassen<br />

gemeinsam mit unserer Strategie<br />

weiterkommen. Genau so müssen Sie<br />

heute Ihre Strategie entwerfen, ob als<br />

Textileinzelhandelsunternehmen, als<br />

Lebensmitteleinzelhandelsunternehmen,<br />

Dienstleister oder StartUp Unternehmer.<br />

Wenn Sie Qualitätsführer sein wollen,<br />

dann leiten sich daraus ganz konkrete<br />

Maßnahmen ab. Wenn Sie sagen, „ich<br />

will Preisführer sein“ auf Grund Ihrer<br />

Analysen, Ihrer Stärken-Schwächen, Ihrer<br />

Mitwettbewerbersituation, Ihrer Vision,<br />

dann müssen Sie sich fragen, wie werde<br />

ich Preisführer. Wenn Sie Kommunikationsführer<br />

werden wollen, dann müssen<br />

Sie sich einen Kommunikationsweg, eine<br />

Kommunikationsstrategie überlegen und<br />

so weiter und so fort.<br />

Es gibt viele Instrumente der Strategieumsetzung.<br />

Z.B. Qualitätsmanagement<br />

als ständiger Verbesserungsprozess.<br />

Immer wieder nachfragen, immer wieder<br />

in einen Zyklus, in einen Kreislauf eintreten<br />

und sagen, was waren unsere Ziele,<br />

haben wir sie erreicht, sind wir noch auf<br />

unserem Strategiepfad oder müssen wir<br />

nachsteuern. Auch Projektmanagement<br />

ist ein klassischer Weg, indem ich die aus<br />

einer Strategie abgeleiteten Maßnahmen<br />

als konkrete Projekte auslege. Mit klaren<br />

Zeitplänen, mit klaren Maßnahmenplänen,<br />

mit klaren Kostenplänen.<br />

Strategieimplementierung anhand der Balanced Scorecard<br />

- Die 4 Perspektiven der Balanced Scorecard“<br />

Mitarbeiter-Perspektive<br />

Was müssen wir tun, um eine stetige<br />

Weiterentwicklung und Optimierung<br />

sicher zu stellen?<br />

Finanz-Perspektive<br />

Wie können wir die Ziele<br />

unserer Shareholder erreichen?<br />

Vision<br />

und<br />

Strategie<br />

Prozess-Perspektive<br />

Welche Geschäftsprozesse müssen wir<br />

beherrschen, um Kunden und<br />

Shareholder zufrieden zu stellen?<br />

Ein neues Instrument auf diesem Wege<br />

ist die so genannte Balanced Scorecard.<br />

Mit diesem Verfahren stelle ich die Vision<br />

und die Strategie in den Mittelpunkt<br />

und zerlege diesen komplexen Vorgang<br />

in vier verschiedene Teilaspekte („Perspektiven“):<br />

Welche Geschäftsprozesse<br />

muss ich einführen, um diese Strategie<br />

umzusetzen? Was ist aus Sicht der<br />

Mitarbeiterschaft notwendig, um eine<br />

stetige Entwicklung zu gewährleisten?<br />

Was muss im finanziellen Bereich getan<br />

werden, um die Strategie umzusetzen<br />

und – ganz wichtig! – was muss getan<br />

werden, damit beim Kunden diese<br />

Kunden-Perspektive<br />

Welche Leistung müssen wir unseren<br />

Kunden anbieten, um erfolgreich<br />

zu sein?<br />

Folie 6<br />

12


Strategieumsetzung, diese Maßnahmen<br />

auch ankommen? Dies sind alles Instrumente,<br />

die uns dabei helfen, notwendige<br />

strategische Schritte und Maßnahmen<br />

in unseren Häusern und Geschäftsbereichen<br />

umzusetzen.<br />

5. Strategielandkarte<br />

Ich komme zu meinem letzten Bild. Ich<br />

habe versucht, Ihnen zu vermitteln, dass<br />

Strategie ein strapazierter Begriff ist,<br />

der aber trotzdem seine Rechtfertigung<br />

und seine Notwendigkeit hat. Strategie<br />

ist nichts, was nur die Großen angeht.<br />

Strategie ist nichts, was nur diejenigen<br />

angeht, die es nötig haben, sondern<br />

Strategie ist eine permanente Aufgabe<br />

eines jeden – egal ob Eigentümerunternehmer<br />

oder Angestelltenunternehmer.<br />

Mit der Strategieentwicklung werden<br />

heute die Weichen für Morgen und für<br />

Übermorgen gestellt. Strategieentwicklung<br />

ist kein Hexenwerk, sondern in<br />

weiten Teilen die Mischung aus Handwerk<br />

und natürlich auch aus unternehmerischem<br />

Esprit. Sie müssen beides in<br />

diesen Prozess einbringen: Sie müssen<br />

auf der einen Seite den Prozess beherrschen<br />

– und ich hoffe, es ist mir gelungen,<br />

Ihnen Mut zu machen, dass man<br />

diesen Prozess beherrschen kann – und<br />

zum anderen müssen Sie unternehmerischen<br />

Geist, unternehmerische Motivation<br />

mitbringen. Wenn Sie diese beiden<br />

Dinge zusammenbringen, dann kommen<br />

Sie heraus aus der Situation, dass Ihre<br />

erfolgreichen Firmen, Ihre erfolgreichen<br />

Geschäfte sich ausschließlich auf Ihrem<br />

unternehmerischen Esprit gründen.<br />

Dann gelingt es Ihnen, Ihre Mitarbeiter<br />

mitzunehmen und Sie werden sehen,<br />

dass dies Ihre Häuser, Ihre Geschäfte,<br />

Ihre Firmen auch unabhängiger macht.<br />

Gehen Sie auf diesem Weg und ich<br />

denke, Frau Hagmann und der Einzelhandelsverband<br />

können Sie hierbei unterstützten.<br />

Selbstverständlich können wir<br />

auch unsere Unternehmensberatung zur<br />

Verfügung stellen. Wir beherrschen diese<br />

Prozesse und können Sie bis zu einer<br />

gewissen Stufe begleiten, den fachlichen<br />

Input freilich überlassen wir besser dem<br />

Einzelhandel. Ich wünsche Ihnen für die<br />

Zukunft alles Gute.<br />

Vielen Dank.<br />

13


Städte schaffen<br />

dem Handel Raum<br />

Ich begrüße Sie alle ganz herzlich. Schön,<br />

dass ich hier sprechen darf über die Rolle<br />

der Städte.<br />

Der Titel meines Vortrags lautet „Städte<br />

schaffen dem Handel Raum“ und es<br />

hat wirklich Freude gemacht, sich mit<br />

diesem Thema ein bisschen intensiver<br />

zu beschäftigen, weil tatsächlich Handel<br />

und Stadt geschichtlich schon sehr, sehr<br />

eng zusammengehören und manchmal<br />

gerät es ein wenig aus dem Blickwinkel,<br />

dass das eine ganz enge Verbindung ist,<br />

die über Jahrhunderte andauert und ich<br />

bedanke mich für diese Möglichkeit, sich<br />

auch selber über so ein Thema Gedanken<br />

machen zu können aus diesem Anlass.<br />

14<br />

Gliederung<br />

• Stadt und Handel sind historisch<br />

gewachsen untrennbar verbunden<br />

• Markt und Handel machen die Stadt zur<br />

Stadt<br />

• Die Stadt schafft dem Handel Raum<br />

Ich <strong>bericht</strong>e natürlich – ich hoffe, dass<br />

Sie Verständnis dafür haben – auch über<br />

einige Beispiele aus Heidelberg, und<br />

möchte meinen Vortrag gliedern in drei<br />

Bereiche:<br />

Einmal dass Stadt und Handel historisch<br />

gewachsen untrennbar miteinander<br />

verbunden sind, und dann dass Markt<br />

und Handel erst die Stadt wirklich zur<br />

Stadt machen und dass dann die Städte<br />

diesem Handel auch tatsächlich Raum<br />

schaffen.<br />

Wie haben Märkte in der Vergangenheit<br />

die Stadtentwicklung beeinflusst?<br />

Es gibt ein wunderbares Zitat aus Freiburg<br />

aus dem Jahre 1218. Da heißt es<br />

im Freiburger Stadtrudel, dem Vorgänger<br />

der Freiburger Verfassung von 1218:<br />

„Wer aber über Jahr und Tag in der Stadt<br />

gewohnt hat, ohne dass irgendein Herr<br />

ihn als seinen Leibeigenen gefordert<br />

hat, der genießt von da an sicher die<br />

Freiheit“. Das haben die Freiburger<br />

niedergeschrieben, weil sie Sorge<br />

hatten, dass die Rechte, die sie sich bei<br />

den Zähringern erworben haben, beim<br />

Herrscherwechsel an den Graf von Urach<br />

möglicherweise gefährdet werden und<br />

sie wollten ihm sehr deutlich ins Buch<br />

schreiben, dass sie das auch weiterhin so<br />

halten wollen. Die damals entstandenen<br />

Städte waren für die Menschen ersehnte<br />

Orte, wo sie beschützt waren vor unterschiedlicher<br />

Art von Unbill, einmal vor<br />

Feinden natürlich durch die Stadtmauern,<br />

aber auch mit ihren bürgerlichen<br />

Rechten. Sie konnten ihrem Handwerk<br />

und ihrem Gewerbe nachgehen, auch<br />

wenn dann manche unter den starren<br />

oder strengen Regeln dieses Gewerbes<br />

gelitten haben. Aber im Prinzip war das<br />

geschriebenes Recht, das waren Regeln,<br />

die nicht einfach willkürlich durch<br />

irgendeinen Herrscher geändert werden<br />

konnten. Die Menschen waren in den<br />

Städten dadurch sehr viel freier. Dadurch<br />

Beate Weber<br />

Oberbürgermeisterin<br />

der Stadt Heidelberg


kommt ja auch der Begriff, dass Stadtluft<br />

frei macht. Und die Städte garantierten<br />

dann die Freizügigkeit und Gerechtigkeit<br />

des Handels. Sie haben Maße und<br />

Gewichte festgelegt und freies Geleit.<br />

Insofern waren die Bürger dort deswegen<br />

auch Bürger. Citizen (engl.) kommt<br />

ja von dem Begriff der Stadt, Citoyens<br />

(frz.). Sie kennen alle diese Entwicklung.<br />

Die Bürger haben daraufhin auch die<br />

Chance gehabt, in diesen Städten selbst<br />

ihre Marktpolitik in die Hand zu nehmen<br />

und – ganz interessant und für alle, die<br />

wir über dieses Thema gerne und heiß<br />

diskutieren – die Finanzierung ihrer<br />

Dienstleistungen sind auf die Markteinkünfte<br />

begründet worden. Die Städte<br />

haben zurückgegriffen auf die Einkünfte,<br />

Standgebühren, Zölle, Gebühren für<br />

Maße und Gewichte, und die haben sie<br />

dann verwendet als Stütze ihrer kommunalen<br />

Leistungen und die Städte haben<br />

davon natürlich erheblich profitiert. Sie<br />

sehen, unsere heißen Diskussionen um<br />

die Gewerbesteuer haben historische<br />

Gründe und historische Vorläufer. Stadtentwicklung<br />

und Finanzierung durch die<br />

Wirtschaft haben immer ganz unmittelbar<br />

zusammengehört und wer das heute<br />

auflöst, verursacht dort ein gewaltiges<br />

Beben, weil das gesichert werden muss.<br />

Dieser Wunsch nach Finanzierung der<br />

Städte durch die örtliche Wirtschaft hat<br />

einen ganz tief sitzenden Hintergrund,<br />

nämlich den der direkten Beziehung<br />

zwischen den beiden Akteuren, um auch<br />

die Rahmenbedingungen, den Raum<br />

über den ich gleich rede, auch wirklich<br />

gestalten zu können. Das haben alle die<br />

anderen Finanzierungsinstrumente nicht<br />

aufgegriffen und auch nicht aufnehmen<br />

können und auch nicht bisher verändert.<br />

Insofern ist es eine ganz interessante<br />

historische Diskussion, die wir führen.<br />

Stadt und Handel gehören historisch<br />

gewachsen tatsächlich untrennbar<br />

zusammen. Der Markt, das Stadtrecht,<br />

die Mauer sind die Garanten für die sich<br />

entwickelnde blühende Wirtschaft.<br />

Nun, die Stadtmauern sind in der Regel<br />

heute gefallen, wenn nicht, dann haben<br />

wir sie einfach aufrecht erhalten, weil<br />

sie historisch sind, schön und unter<br />

Denkmalschutz stehen. Aber sie spielen<br />

nicht mehr dieselbe Rolle. Markt- und<br />

Stadtrecht sind geblieben und das Recht,<br />

Steuern zu erheben, ebenfalls. Auch<br />

das hat sich nicht geändert. Mit diesen<br />

Instrumenten verfügen die Städte auch<br />

heute noch über die Möglichkeit, Mittel<br />

zu bekommen und Raum für Handel zu<br />

schaffen und zu gestalten. Kultur und<br />

Wissenschaft, örtliche Wirtschaft, Handel<br />

und Handwerk können dann in gemeinsamer<br />

Verantwortung und in gemeinsamen<br />

Projekten in diesen Städten das<br />

örtliche Leben maßgeblich bestimmen.<br />

In Heidelberg werden wir übrigens im<br />

nächsten Jahr 650 Jahre Markt und<br />

Marktrecht auf unserem Marktplatz<br />

unmittelbar vor dem Rathaus feiern können.<br />

Vielleicht kennen Sie ihn ja auch.<br />

Markt und Handel machen die Stadt<br />

tatsächlich zur Stadt. Die Städte von<br />

heute sind Wirtschaftsstandorte, die<br />

Lebens- und Arbeitsraum, Lebensqualität<br />

für ihre Bewohner bieten. Sie schaffen<br />

die notwendige Infrastruktur und ein<br />

geeignetes Umfeld, in dem die Bürger<br />

leben und beruflich tätig sein können,<br />

die Wirtschaft sich entwickeln kann. Zusammen<br />

natürlich spielt dieser gebaute<br />

Bereich mit der Landschaft der Region, in<br />

der die Stadt gelegen ist, eine wichtige<br />

Rolle und beides zusammen gibt dann<br />

genau die Individualität, die Besonderheit,<br />

die Unverwechselbarkeit, die unsere<br />

Städte heute haben. Und überall dort,<br />

wo sich die Städte heute so entwickeln,<br />

merken Sie, es gibt ein völlig anderes<br />

Selbstbewusstsein. Wir merken es in der<br />

Europäischen Union, wenn wir in den<br />

Städtetagen miteinander diskutieren,<br />

dass die Städte im Laufe ihrer Geschichte<br />

sich unterschiedlich entwickelt haben<br />

und das Selbstbewusstsein derjenigen<br />

Städte, die sich auf diese historische<br />

Grundlage stützen, ist ein völlig anderes,<br />

als in anderen Ländern, wo die Städte<br />

keine Chance hatten, ihre Eigenständigkeit<br />

gegenüber den Herrschern in einer<br />

solchen Form aufzubauen. D.h. dass die<br />

Oberbürgermeister in einem Städtetag<br />

ziemlich vehement auftreten und häufig<br />

sogar über alle Parteigrenzen einig<br />

gegenüber der Regierung sind, hat also<br />

auch eine alte Geschichte und ist interessanter<br />

Ausdruck des Selbstbewusstseins.<br />

Aus der Mischung der Bewohnerschaft,<br />

ihrer Wirtschaftsweisen und der Lebensformen<br />

entsteht dann ein Habitus der<br />

Stadt in einer ganz besonderen Qualität.<br />

Und die Attraktivität einer Stadt hängt<br />

deswegen auch sehr stark davon ab, wie<br />

15


man mit Angeboten und Nachfragen und<br />

mit diesen unterschiedlichen Herausforderungen<br />

umgeht, ob man agiert, ob<br />

man ausschließlich reagiert u.ä. interessant<br />

ist im Augenblick eine Entwicklung,<br />

die wir weltweit sehen, bis vor wenigen<br />

Jahren war ein relativ geringer Prozentsatz<br />

der Menschen tatsächlich in Städten<br />

zuhause auf dieser Welt. In absehbarer<br />

Zeit, also schon in der Generation unserer<br />

Kinder, nicht Enkelkinder, werden<br />

ungefähr 50 Prozent der Menschheit in<br />

Städten leben. Also eine dramatische<br />

Veränderung. Und viele davon in sehr,<br />

sehr großen Städten.<br />

Urbanität<br />

Es wird 2050 25 Megastädte mit mehr<br />

als 8 Mio. Einwohnern geben. Sie können<br />

sich vorstellen, dass unter diesen Bedingungen<br />

natürlich die Einflussnahme<br />

auf Entwicklung nicht mehr leichter fällt,<br />

sondern eher schwerer. Interessant ist<br />

dabei, dass die Rolle der Städte von den<br />

großen Organisationen, wie der Europäischen<br />

Union oder auch den Vereinten<br />

Nationen bis vor wenigen Jahren gar<br />

nicht so intensiv wahrgenommen wurde,<br />

auch wegen dieser sehr unterschiedlichen<br />

Geschichte. Aber die Konferenzen<br />

von Rio de Janeiro 1992 und Johannesburg<br />

2002 haben gezeigt, dass sich das<br />

sehr verändert hat, weil auf einmal erkennbar<br />

ist, dass dieses Betreiben einer<br />

nachhaltigen Entwicklung, wo Ökonomie,<br />

Ökologe und soziale Stabilität zusammenkommen<br />

müssen, dass das nur möglich<br />

ist, wenn die Städte aktive Partner<br />

sind. Und in diesen 10 Jahren zwischen<br />

1992 und 2002 hat sich gezeigt, dass<br />

– abgesehen von den Aktivitäten der<br />

Regierungen – die Städte die treibenden<br />

Kräfte waren, um diese ganze Veränderung<br />

anzustoßen, aber auch tatsächlich<br />

durchzuführen.<br />

Seitdem unterstützen die Vereinten Nationen<br />

auch die Städte in ihren Aktivitäten,<br />

denn gutes Wirtschaften und stabiles<br />

Wirtschaften ist auch nur unter diesen<br />

Bedingungen möglich. Da gibt es eine<br />

veränderte Wahrnehmung.<br />

Nun, Heidelberg ist sich dieser Anforderung<br />

im besonderen Maße bewusst.<br />

Wir haben das Glück, über eine wunderschöne<br />

Landschaft zu verfügen. Aber<br />

vor allem natürlich eine von der Wissenschaft<br />

geprägte Wirtschaftslandschaft<br />

und ein von internationalen Besuchern,<br />

Wissenschaftlern, Studierenden ein<br />

bestimmtes Stadtbild und<br />

das alles bildet den äußeren<br />

Rahmen für den Handelsraum.<br />

Und wir sind sehr froh<br />

darüber, in unserer geo- und<br />

topographischen Lage am<br />

Rande des Odenwalds am<br />

Flussufer des Neckars mit<br />

dem Tor zur Rheinebene und<br />

dem schönen alten Stadtkern<br />

ein wunderschönes Stadtbild<br />

zu bieten: Schloss, alte<br />

Brücke, Heilig-Geist-Kirche.<br />

Sie sehen es und wahrscheinlich<br />

ist allen von Ihnen<br />

dieses Bild in irgendeiner Weise geläufig.<br />

Es sind Wahrzeichen, die unseren<br />

Ruf als romantische Stadt in die Welt<br />

tragen. Unsere Universität ist die älteste<br />

Deutschlands, nicht die älteste deutschsprachige,<br />

aber die älteste Deutschlands.<br />

Weltweit führende Forschungseinrichtungen:<br />

Krebsforschungszentrum, Max-<br />

Planck-Institute / Europäische Molekularbiologie.<br />

Wir haben im Augenblick<br />

weltweit in einem ordentlich verstandenen<br />

Benchmark weltweit Spitzenplätze<br />

in Wissenschaft und Forschung. Über<br />

30.000 Studierende, 10.000 Beschäftigte<br />

der Universität prägen das Leben<br />

in der Stadt. Die Universität ist auch<br />

unser größter Arbeitgeber, was gewerbesteuermäßig<br />

eher ein Problem ist, aber<br />

natürlich für die Stadt selber überhaupt<br />

keins. Im Gegenteil. Sie kennen vielleicht<br />

die Heidelberger Druckmaschinen und<br />

ihre Printmedia-Akademie. Der architektonische<br />

Gegenpol zum Schloss, ungefähr<br />

in gleicher Entfernung vom Zentrum.<br />

Wir haben also nicht nur wissenschaftliche<br />

Einrichtungen, sondern auch in der<br />

Region und am Ort Weltunternehmen<br />

16


und mittelständische Unternehmen.<br />

Heidelberger Druckmaschinen, HeidelbergerCement,<br />

Lamy, ProMinent Dossiertechnik,<br />

ABB, BASF, Roche Diagnostics,<br />

SAP, MLP und Wild in der Region. Und die<br />

zusammen bestimmen den Ruf natürlich<br />

nicht nur der Stadt, sondern wir sind seit<br />

kurzem ja auch europäische Metropolregion<br />

über drei Ländergrenzen hinweg,<br />

was nicht ganz unkompliziert war.<br />

Diese Unternehmen und die Wissenschaft<br />

bestimmen natürlich auch oder<br />

beeinflussen gemeinsam nicht nur als<br />

Arbeitgeber die regionale Wirtschaftsund<br />

Beschäftigungssituation. Da<br />

entsteht eine Kaufkraft, die erheblich ist,<br />

und wir sind natürlich interessiert, diese<br />

Kaufkraft in der Stadt, zumindest aber in<br />

der Region zu halten. Ganz wichtig, sie<br />

erlauben das an der Stelle auch im eigenen<br />

Interesse als Vorstandsmitglied im<br />

baden-württembergischen Sparkassenvorstand,<br />

dass ich auch für die Sparkasse<br />

rede. Denn unsere eigene Sparkasse ist<br />

durch drei Fusionen groß geworden und<br />

ist eine wichtige Stützte des Mittelstandes<br />

und damit auch des Handels in<br />

der Stadt. Sie ist, wie sie das sein soll, zuverlässige<br />

Partnerin in schwierigen Situationen,<br />

gleichzeitig wichtigster Investor<br />

in unserem sehr erfolgreichen Technologiepark<br />

und natürlich in der ganzen<br />

Kundenbreite viel gefragtes Institut für<br />

Geld- und Vermögensanlagen.<br />

Bei dieser Zusammensetzung in der<br />

Stadt wundert das natürlich nicht, dass<br />

Heidelberg in internationalen und nationalen<br />

Rankings immer wieder Spitzenpositionen<br />

einnehmen kann. Ich weiß<br />

nicht, ob Sie es alle gelesen haben, 2004<br />

hat die Prognos AG ja eine Untersuchung<br />

gemacht zur Zukunftsentwicklung aller<br />

deutschen Stadt- und Landkreise und hat<br />

uns dort auf den Rang 6 verwiesen aller<br />

439 Stadt- und Landkreise. Also keine<br />

schlechte Position. Nicht ganz Pole-Position,<br />

aber wir wollen den Münchenern<br />

und den Landkreisen um München<br />

herum auch nicht unbedingt den Rang<br />

ablaufen. Die sind einfach ein bisschen<br />

größer. Und wir sind einer der 6 unabhängigen<br />

Kreise, denen allein herausragende<br />

Zukunftsprognosen gestellt<br />

wurden. Darauf sind wir stolz. Das Land<br />

<strong>Baden</strong>-Württemberg hat mit der L-Bank<br />

eine Studie durchgeführt auf der Grundlage<br />

dieser ersten Untersuchung. In<br />

ihrem Bericht „<strong>Baden</strong>-Württemberg – Erfolg<br />

durch Wettbewerbsfähigkeit 2005“<br />

wurde Heidelberg als bester Standort<br />

<strong>Baden</strong>-Württembergs bezeichnet. Die<br />

Stadt profitiert von einem besonders<br />

hohen Anteil junger Erwachsener und<br />

hoch qualifizierter Menschen. Heidelberg<br />

ist ein besonders erfolgreiches Beispiel<br />

für die Weiterentwicklung hin zu einem<br />

modernen Wissens- und Dienstleistungsstandort.<br />

Dies hat auch immer Auswirkungen auf<br />

die Geschäftstätigkeit und die Wirtschaftstätigkeit<br />

in der Stadt und der Umgebung.<br />

Dort wo sie keine erfolgreichen<br />

Unternehmen haben, werden sie nicht<br />

die Kaufkraft haben, um den Handel zu<br />

befördern. Alle diese Dinge greifen Hand<br />

in Hand und der Spannungsraum Stadt,<br />

der die wirtschaftlichen, kulturellen und<br />

gesellschaftspolitischen Anforderungen<br />

erfüllen und die Herausforderungen<br />

annehmen muss, gewinnt natürlich<br />

durch die Globalisierung erhebliche neue<br />

Bedeutung. Die städtische Ökonomie<br />

und die Lebensformen, die sich sehr individuell<br />

entwickeln, sind gerade deshalb<br />

interessant und attraktiv, weil sie einen<br />

lokalen Markt bedienen und damit auch<br />

überschaubar und berechenbar werden.<br />

Dies bedeutet, dass man abseits der Globalisierung<br />

sich in dem eigenen Raum<br />

auf Grund von genauerer Beobachtung<br />

dessen, was sich da verändert, seine<br />

eigenen Strategien entwickeln kann.<br />

Es ist insbesondere der örtliche Handel,<br />

der diese neue Bedeutung der Städte<br />

bereits jetzt und zukünftig immer stärker<br />

spüren und mit ihr umzugehen haben<br />

wird.<br />

Aufgabe unserer Kommunen ist es daher,<br />

das zu erkennen und die sich daraus<br />

ergebenden lokalen Chancen besser zu<br />

nutzen, vor allen Dingen eigenständig<br />

zu gestalten und nicht einfach abzuwarten.<br />

Wir haben mit unserem Amt für<br />

Stadtentwicklung und Statistik, unserem<br />

städtischen Planungsamt und den<br />

städtischen Gesellschaften für Wirtschafts-<br />

und Tourismusentwicklung sehr<br />

früh angefangen, Rahmenpläne auch für<br />

die Stadtteile zu entwickeln, weil sich<br />

manchmal die Gesamtstadt vernünftig<br />

entwickelt und es trotzdem erhebliche<br />

Defizite in den einzelnen Stadtteilen gibt.<br />

17


Dort haben wir die Lage von Wohnen,<br />

Arbeit, Infrastruktur, Kultur, Soziales,<br />

Verkehr u. a. festgestellt, die zukünftigen<br />

Entwicklungsmöglichkeiten analysiert<br />

und Entscheidungen getroffen, um sie<br />

strategisch fortzuentwickeln. Weil wir<br />

so dem Handel auch in den Stadtteilen<br />

Raum zur Entwicklung geben und unseren<br />

Bewohnern eine funktionierende<br />

örtliche Nahversorgung sichern wollen,<br />

was aber unter den gegenwärtigen<br />

Bedingungen – wie Sie wissen – nicht<br />

einfach ist. Denn nicht nur in Deutschland,<br />

sondern überall in der EU spielen<br />

sich Konzentrationsprozesse im Einzelhandel<br />

ab, die nur schwer von unten zu<br />

beeinflussen bzw. zu konterkarieren sind.<br />

Das ist eine sehr schwierige Aufgabe, die<br />

kaum zu bewältigen ist.<br />

Initiativkreis Stadtmarketing<br />

• Industrie- und Handelskammer<br />

• Einzelhandelsverband<br />

• Hotel- und Gaststättenverband<br />

• PRO Heidelberg-Stadtmarketing<br />

• Gewerbevereinsvorsitzende<br />

• Einzelne Einzelhändler und Bankenvertreter<br />

• Pressevertreter<br />

• Polizei<br />

• Vertreter der Fraktionen<br />

• Städtische Ämter und Gesellschaften<br />

Vorsitz: HWE Heidelberger Wirtschaftsentwicklungsgesellschaft mbH<br />

Wir wollen uns auch nicht nur stadtteilbezogen,<br />

sondern gesamtstadtbezogen<br />

einstellen auf die Veränderung, die der<br />

demographische Wandel mit sich bringt.<br />

Auch das ist ein wichtiger Punkt, mit<br />

dem wir uns alle beschäftigen müssen.<br />

Heidelberg hat allerdings das Glück,<br />

mit wachsenden Bevölkerungszahlen<br />

rechnen zu können. Wir werden bis 2020<br />

anwachsen, anders als viele Bereiche<br />

in Deutschland. Das ist natürlich vor<br />

allem zurückzuführen auf Universität<br />

und Forschungseinrichtungen. Also eine<br />

junge Stadt, trotz alternder Bevölkerung.<br />

Darauf muss sich aber auch der örtliche<br />

Handel einstellen. D.h. es werden sich in<br />

der Nachfrage Veränderungen abspielen.<br />

Die junge Heidelberger Bevölkerung<br />

fühlt sich gut versorgt. Das Angebot<br />

für Jungsenioren – und da gehöre ich<br />

jetzt demnächst auch dazu – gilt es, in<br />

naher Zukunft zu verbessern. Und daran<br />

arbeiten wir.<br />

Also, was tun wir nun konkret als Stadt,<br />

um an dem von Wissenschaft, Wirtschaft<br />

und Tourismus geprägten internationalen<br />

Standort mit hoher Dienstleistungsqualität<br />

dem Handel Raum zu geben.<br />

Wir haben 80 Prozent Dienstleistungsarbeitsplätze<br />

in der Stadt. Insofern nicht<br />

ganz vergleichbar mit vielen anderen<br />

Städten. Wir haben 1997, unterstützt<br />

von Roland Berger, eine Perspektive für<br />

ein Stadtmarketing erarbeitet und dies<br />

in der nachfolgenden Zeit schrittweise<br />

umgesetzt, zusammen mit dem damals<br />

geschaffenen Initiativkreis Stadtmarketing,<br />

dem Verein Pro Heidelberg Stadtmarketing<br />

e.V. und den örtlichen Akteuren,<br />

Industrie- und Handelskammer,<br />

Wirtschaftsunternehmen, Handwerkskammer,<br />

Einzelhandelsverband, Hotelund<br />

Gaststättenverband, Universität,<br />

Kultur, unseren beiden Gesellschaften<br />

und der Verwaltung. Sie alle arbeiten im<br />

Initiativkreis zusammen, um den Raum<br />

für Handel erfolgreich zu gestalten. Alles<br />

was an Ideen kommt, wird in die Arbeit<br />

hineingegeben. Wir haben ein gemeinsames<br />

Ziel: die Stadt als Zentrum zum<br />

Leben, Arbeiten und Einkaufen in der<br />

Attraktivität zu steigern. Den eigenen<br />

Charakter dabei natürlich zu erhalten.<br />

Hohe Ansprüche an die eigene Leistung<br />

zu stellen, insgesamt eine Atmosphäre<br />

zu schaffen, in der sich die Menschen in<br />

diesem Spannungsraum Stadt wohlfühlen<br />

und aufhalten – das sind die Voraussetzungen<br />

dafür, dass man dann längere<br />

Zeit verweilt, um dem Handel Genüge zu<br />

tun, sprich: um etwas zu kaufen.<br />

Wir haben dafür Kommunikationsplattformen<br />

gebildet, in der sich unterschiedliche<br />

Akteure zusammenfinden. Eine<br />

Wirtschaftskonferenz ist eine regelmäßig<br />

tagende Arbeitsgruppe mit Mitgliedern<br />

aus Kammern, Arbeitgeberverband,<br />

Gewerkschaften, Arbeitsverwaltung,<br />

Universität, Wirtschaftsjunioren und<br />

den städtischen Ämtern in Regie der<br />

Heidelberger Wirtschaftsentwicklung.<br />

Das schafft Alltagsnähe zwischen den<br />

örtlichen Akteuren. Sie wissen alle, wie<br />

schwierig das ist, wenn in einer komplizierten<br />

Situation ein Problem auftaucht,<br />

und man erst suchen muss, mit wem man<br />

am Besten das Problem bespricht. Wenn<br />

man seit Jahren zusammen ist, weiß man<br />

sofort, mit wem man Kontakt aufnehmen<br />

muss, um möglichst schnell eine Lösung<br />

18


zu finden. Ich bin sehr dankbar dafür,<br />

dass wir aktuelle Probleme dort diskutieren,<br />

lokale Fragen beantworten, aber<br />

auch strategische Entscheidungen gemeinsam<br />

vorbereiten können. Wir haben<br />

im jährlichen Rhythmus stattfindende<br />

Branchentreffen, also auch eines für den<br />

Einzelhandel, wo man eher informell<br />

Gedanken austauscht, aktuelle Entwicklungen<br />

bespricht zwischen Stadtverwaltung,<br />

Politik und den Akteuren.<br />

Wir haben einen örtlichen Verein der<br />

Kommunikationsplattformen<br />

• Wirtschaftskonferenz<br />

• Branchentreffen<br />

• Initiativkreis Stadtmarketing<br />

• PRO Heidelberg-Stadtmarketing<br />

• Einzelhandelsverband<br />

Einzelhändler und Dienstleistenden, der<br />

eben auch schon aufgetaucht ist:<br />

Pro Heidelberg Stadtmarketing e.V.<br />

Der hat in bewundernswerter Arbeit<br />

Ende 2004 ein Zehn-Punkte-Programm<br />

zum Einzelhandel vorgelegt, das vom<br />

Gemeinderat auch mitgetragen wurde.<br />

Daraus haben wir dann einen Maßnahmenkatalog<br />

entwickelt, an dessen<br />

Umsetzung die Stadtverwaltung und<br />

die genannten Akteure derzeit arbeiten.<br />

Denn ich halte nichts davon, große<br />

Programme zu entwickeln, die wir dann<br />

golden einrahmen. Maßnahmen müssen<br />

daraus folgen und deswegen arbeiten wir<br />

gerade an diesen Maßnahmen.<br />

Als Erfolgsfaktoren zur Erreichung der<br />

Ziele und zur Steigerung der Qualität des<br />

Einzelhandels sehen wir folgende Punkte<br />

an, die sehr unterschiedlich sind. Man<br />

merkt dabei, dass die Definition der so<br />

genannten harten und weichen Standortfaktoren<br />

inzwischen absolut verschwimmen.<br />

Inzwischen ist es so, dass die weichen<br />

fast mehr Bedeutung bekommen<br />

als die harten Faktoren. Manchmal weiß<br />

man gar nicht genau, ob z.B. Verkehr,<br />

städtebauliche Gestaltung, oder Sicherheit<br />

zu den harten oder zu den weichen<br />

Faktoren gehören. Denn man kann sich<br />

eine gut funktionierende Stadt ohne Sicherheit<br />

kaum mehr vorstellen. Insofern<br />

ist das wahrscheinlich schon mehr ein<br />

Grenzbereich geworden.<br />

Unser großes Sorgenkind ist unsere<br />

Hauptstraße. Sie ist zwar wunderschön<br />

und meistens sehr belebt – 6.500 Passanten<br />

pro Stunde passieren die Straße,<br />

also ein unglaublicher Frequenzbringer.<br />

Nicht alle kaufen jedoch hochwertige<br />

Güter ein. Das ist sehr bedauerlich. Sie<br />

ist außerdem sehr lang, 1,3<br />

km, eng und ein bisschen<br />

wie eine Rennbahn. D.h.<br />

verweilen und bummeln und<br />

einkaufen muss noch beeinflusst<br />

werden. Wir haben<br />

ein wunderbares Potenzial<br />

an sehr schönen Gebäuden<br />

und sehr belebten Plätzen.<br />

Die Aufenthaltsqualität im<br />

Straßenraum muss verbessert<br />

werden. Die Straße ist<br />

1975 saniert worden, unter<br />

damaligen Kriterien auch<br />

sehr modern. Aber heute hat<br />

man das Gefühl, es entspricht<br />

nicht mehr dem, was man eigentlich<br />

haben möchte. Wir haben das beeinflusst<br />

durch eine Gestaltungssatzung Altstadt,<br />

durch die Regeln zur Nutzung des Straßenraums,<br />

weil wir natürlich auch nicht<br />

wollen, dass Ramsch die hochwertigen<br />

Angebote überlagert, was in vielen Städten<br />

sehr komplizierte Folgen hat.<br />

Wir sind dabei, ein Lichtkonzept zu entwickeln,<br />

mit dem wir die Raumwirkung<br />

der Straßen und der Plätze verbessern<br />

wollen und die Geltung der Nebenstraßen<br />

erhöhen und gleichzeitig die<br />

Sicherheit der Straße abends und nachts<br />

verbessern. Verkehrliche Erschließung<br />

ist in alten unzerstörten Innenstädten<br />

nicht unkompliziert. Es gibt nicht viele in<br />

dieser Größe und Bedeutung.<br />

Wir verfügen über ein ausreichendes<br />

Parkflächenangebot, aber das Parkleitsystem<br />

ist statisch. Der Wunsch unseres<br />

Handels ist es, dieses dynamisch<br />

zu machen, also elektronikgesteuert.<br />

Dessen Machbarkeit, finanzielle Erfordernisse<br />

und Auswirkungen werden<br />

gerade detailliert geprüft und wir haben<br />

den Spatenstich vor wenigen Wochen<br />

für eine Tiefgarage am Friedrich-Ebert-<br />

Platz - wer Heidelberg kennt, weiß, dass<br />

19


er in der Altstadt liegt - gemacht, um<br />

den öffentlichen Platz zu verbessern<br />

und gleichzeitig das Parkangebot. Seit<br />

einigen Jahren haben wir ein Konzept,<br />

auf das ich ganz stolz bin, weil wir immer<br />

noch die einzigen in Deutschland sind,<br />

die ein Baustellenmarketing haben, was<br />

bei großen Tiefbaumaßnahmen greift,<br />

um die Unbill etwas zu reduzieren. Dazu<br />

gehört ein eigener Unterstützungsfonds,<br />

mit dessen Hilfe besondere Härten bei<br />

Umsatzverlusten im Handel und in der<br />

Gastronomie abgefedert werden können,<br />

der unterhalb der Schwelle des gesetzlichen<br />

Eingriffs liegt. Das Gesetz greift<br />

da relativ spät, aber Tiefbaumaßnahmen<br />

können, wenn sie länger dauern, den<br />

Handel doch erheblich benachteiligen.<br />

Gleichzeitig gibt es einen Baustellenbeauftragten,<br />

der aus dem jeweiligen<br />

Stadtteil kommt und der die kleineren<br />

Probleme, die zwischen der Baustellenabwicklung<br />

und den Anliegern, vor<br />

allen Dingen natürlich den Geschäften,<br />

entstehen, sofort und unkompliziert<br />

regeln kann. Das hat sich außerordentlich<br />

bewährt. Dazu kommen natürlich<br />

sehr viel präzisere Informationen, als das<br />

normalerweise bei Tiefbaumaßnahmen<br />

den Bürgern mitgeteilt wird. In der Regel<br />

gibt es irgendwann einen Gemeinderatsbeschluss<br />

und dann entschwindet das<br />

Thema aus dem Blickwinkel der Bevölkerung<br />

und nach drei, vier Jahren fangen<br />

die Bagger an, die Straße aufzureißen.<br />

Keiner weiß mehr, was beschlossen<br />

worden ist. Und für den Handel ist das<br />

eine schlechte Situation. Da kann man<br />

praktisch helfen, die Situation durch<br />

zusätzliche Werbemaßnahmen, durch<br />

Beschilderung soweit zu verbessern,<br />

dass der Handel nicht zu sehr beeinträchtigt<br />

wird.<br />

Ich habe eben schon Sicherheit und<br />

Sauberkeit angedeutet. Auch das ist ein<br />

kritischer Punkt, weil die Bereitschaft<br />

unserer Bevölkerung sich ordentlich zu<br />

verhalten, leider rapide abnimmt.<br />

Sie wissen das. Es sind nicht nur die<br />

jungen Leute. Wir haben mit Polizei<br />

und Selbstorganisation der Anbieter<br />

im gastronomischen Bereich eigene<br />

Aktivitäten entwickelt. Die Polizei schult<br />

mit der Industrie- und Handelskammer<br />

gemeinsam Personal in der Gastronomie,<br />

um Gewaltpotenziale möglichst<br />

frühzeitig zu erkennen und abzubauen.<br />

Wir versuchen als Stadt mit einer Hotline<br />

bei Verschmutzungen und Abfällen an<br />

falscher Stelle oder auch bei Graffiti sehr<br />

schnell zu reagieren, denn wir wissen<br />

auch, ein negatives Signal in der Nachbarschaft<br />

beeinträchtigt die Attraktivität<br />

eines Standorts erheblich. Leider geht<br />

das alles immer so schnell, dass man<br />

kaum noch schnell genug darauf reagieren<br />

kann.<br />

Ich komme zur Qualität und zur Quantität<br />

des Angebots. Wichtige Akteure sind die<br />

Hauseigentümer. Sie wissen, dass durch<br />

Erbengemeinschaften, die nicht mehr in<br />

den Städten leben, die Wahrnehmung<br />

der Qualität im eigenen Bereich sehr<br />

stark nachgelassen hat. Früher haben<br />

die Hauseigentümer da gelebt, wo sie<br />

ihr Haus hatten und haben selber darauf<br />

geachtet, dass das in Ordnung gehalten<br />

wird. Wenn Sie Erbengemeinschaften<br />

haben, die durchs ganze Land verstreut<br />

sind, sinkt die Aufmerksamkeit sehr<br />

schnell und die Qualität des Angebotes<br />

leidet häufig darunter. Deswegen müssen<br />

wir als Städte darauf achten. Denn<br />

der Raum, den wir bilden für den Handel<br />

ist eben nicht nur gebauter Raum,<br />

sondern das ist auch atmosphärischer,<br />

sozialer Raum.<br />

Es geht nicht nur um Gebäude, um Kongresszentren,<br />

attraktive Gebäudekomplexe,<br />

sondern es geht auch darum, dass<br />

man sich zwischen diesen Gebäuden<br />

wohlfühlt. Die Qualität einer Stadt wird<br />

sehr häufig daran gemessen, wie gerne<br />

man sich darin zu Fuß aufhält. Eine Stadt,<br />

die nur noch aus schnellen Verkehrswegen<br />

besteht, lockt nicht dazu, stehen<br />

zu bleiben und einzukaufen. Hier gibt<br />

es eine ganz direkte Koppelung, die in<br />

Ordnung gebracht werden muss.<br />

Wir haben Ende 2005 ein Einzelhandelsstrukturgutachten<br />

in Auftrag gegeben<br />

und dieses zeigt sehr deutlich, was wir in<br />

den letzten Jahren an Kunden verloren<br />

haben, weil es keine zusätzliche Attraktivität<br />

eines größeren Einkaufszentrums<br />

gegeben hat. Wir haben gerade gestern<br />

Nachmittag im Stadtentwicklungs- und<br />

Verkehrsausschuss drei potenzielle<br />

Entwickler vorgestellt bekommen. Fünf<br />

unterschiedliche Standorte sind im<br />

Augenblick in der Diskussion. Die Entscheidung<br />

wird der Gemeinderat dann zu<br />

20


treffen haben, ob ein zusätzliches Zentrum,<br />

zwischen 12.000 und 30.000 qm,<br />

dem örtlichen Handel eigentlich schadet<br />

oder nützt. Und das wird eine spannende<br />

politische Diskussion werden. Wenn das<br />

im Zentrum gebaut wird, wird es natürlich<br />

Kaufkraftflüsse verändern. Wenn es<br />

außerhalb gebaut wird, zieht es möglicherweise<br />

wieder regionale Kunden an,<br />

verhindert aber trotzdem in der Innenstadt<br />

eine weitere positive Entwicklung.<br />

Also eine interessante Entscheidung, die<br />

da zu treffen ist.<br />

Ich komme zum Stadtraum Heidelberg.<br />

Hier wollte ich die weichen, so genannten<br />

echten weichen Faktoren noch einmal<br />

nennen. Da haben wir einen Vorteil<br />

gegenüber vielen Städten, der praktisch<br />

nicht künstlich aufzubauen ist, nämlich<br />

die Internationalität. Durch die Universität,<br />

durch den Technologiepark, durch<br />

die weltweit aktiven Unternehmen haben<br />

wir natürlich ständig einen hohen Anteil<br />

von internationalen Gästen für unterschiedliche<br />

Konferenzen, u.a. zum<br />

Beispiel ist die Stadt bekannt für ihre<br />

nachhaltige Entwicklung. Die Situation<br />

hat sich in den letzten Jahren völlig<br />

verändert. Eine hochinteressante Entwicklung,<br />

dass nämlich diejenigen, die<br />

über Nacht bleiben, heute nicht mehr die<br />

traditionellen Touristen sind, sondern<br />

aus beruflichen Gründen kommen. Das<br />

ist natürlich auch wieder für den Handel<br />

hoch interessant. Denn wer aus beruflichen<br />

Gründen zwei, drei Tage in einer<br />

Stadt ist, wird sich in anderer Weise verhalten,<br />

als jemand, der nur kurz mit dem<br />

Bus „im Schlosshof einfährt“ und dort<br />

schnell und möglichst kostengünstig<br />

irgendein Mitbringsel ersteigert, das in<br />

der Regel weder in der Stadt, der Region,<br />

noch im Land produziert ist.<br />

Wir haben kulturelle Angebote, die nicht<br />

nur Menschen aus Heidelberg und der<br />

Region anlocken, sondern aus ganz<br />

Deutschland und Europa, inzwischen<br />

Schweiz, Österreich, Großbritannien,<br />

Italien. Ob das unser Theater oder das<br />

Philharmonische Orchester ist, der<br />

Heidelberger Frühling, das Kurpfälzische<br />

Museum, derzeit den wunderbaren<br />

Stückemarkt im Theater. Durch Minister<br />

Stratthaus wird am Samstag der Literatursommer<br />

eröffnet, Schlossfestspiele<br />

folgen und anderes mehr. Alles das lockt<br />

an und es gibt besondere Ereignisse, die<br />

z.B. mit dem Einzelhandel gemeinsam<br />

entwickelt worden sind. „Heidelberg<br />

im Frühling“ mit Kultur verbunden und<br />

Kunst oder der Heidelberger Herbst, „lebendiger<br />

Neckar“, der Weihnachtsmarkt<br />

oder demnächst, nicht von Heidelberg<br />

aus organisiert, aber mitbetrieben, das<br />

Landesturnfest oder der Halbmarathon<br />

oder anderes mehr.<br />

Weltoffenheit ist sicher wichtig, denn<br />

Fremdenfeindlichkeit kann ein unerträgliches<br />

Hindernis werden für eine vernünftige<br />

Weiterentwicklung. Wenn sich<br />

in einer Stadt Menschen aus anderen<br />

Ländern aufhalten, weil sie beruflich dort<br />

hingehören und dies von einer Bevölkerung<br />

nicht akzeptiert wird, haben sie ein<br />

Problem. Weltoffenheit ist eine wichtige<br />

Voraussetzung für eine Stadt, sich auf<br />

eine gute Weise weiterentwickeln zu<br />

können. Auch für Städte, die nicht diese<br />

internationale Bedeutung haben wie<br />

Heidelberg, wird das in Zukunft zunehmen.<br />

Die demographischen Veränderungen<br />

werden zu höheren Anteilen von<br />

Wandernden, von Migranten, führen. Und<br />

das heißt, da müsste die Bevölkerung<br />

darauf eingestellt sein. Wenn das nicht<br />

funktioniert, werden sie Angsträume und<br />

Unzufriedenheit bekommen. D.h. dies ist<br />

eine ganz gravierende Voraussetzung für<br />

eine gedeihliche Weiterentwicklung auch<br />

unseres Handels.<br />

Alle diese Aktivitäten haben Menschen<br />

in der Stadt erheblich beeinflusst. Der<br />

Einkauf, das Einkaufsverhalten wird<br />

verändert durch solche Aktivitäten.<br />

Nicht immer nur positiv. Wir haben<br />

auch Schwierigkeiten. Städte sind, auch<br />

wenn ich sie als sehr stark geschildert<br />

habe, reziprok betrachtet das letzte<br />

Glied einer Kette. Wenn Sie die Konzentration<br />

im Einzelhandel ansehen, dann<br />

ist erkennbar, dass eine Stadt dem nur<br />

relativ wenig entgegensetzen kann. Ich<br />

habe gerade heute gehört, dass eine der<br />

großen Ketten in einer benachbarten<br />

Kreisstadt eine große Einrichtung plant.<br />

Dies bedeutet, dass es für die Leute nicht<br />

mehr interessant ist, in die Filiale nach<br />

Heidelberg zu fahren. Wenn man alles in<br />

jedem Ort findet, gibt es keinen Grund<br />

mehr, sich in die zentrale Stadt zu begeben,<br />

um dort dann in Verbindung mit<br />

diesem Geschäft auch noch anderes zu<br />

21


tun. Dies ist eine Entwicklung, gegen die<br />

wir relativ wenig machen können. Hier<br />

sind dann andere Akteure gefragt.<br />

Unser Ziel für den Handel ist daher<br />

auch, dass man eine Atmosphäre schafft<br />

und erhält, die es einfach angemessen<br />

erscheinen lässt, nicht einfach<br />

durchzurennen, um schnell die zwei,<br />

drei Dinge zu besorgen, die man sich<br />

vorgenommen hatte, sondern länger<br />

zu verweilen. Wir haben kürzlich eine<br />

Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen<br />

gehabt, die Ihnen ja aus einem anderen<br />

Zusammenhang bekannt ist und mit<br />

der Heidelberger Universität zusammen<br />

arbeitet. Die Umfrage hat ergeben, dass<br />

97 Prozent der Bürgerinnen und Bürger<br />

„sehr zufrieden“ und „zufrieden“ mit ihrer<br />

Stadt sind. Ich finde, das ist ein ganz<br />

gutes Ergebnis. Jetzt wünschen wir uns<br />

natürlich in allen unseren Städten, dass<br />

alle unsere Bürger sich so fühlen und vor<br />

allen Dingen, dass sie auch bereit sind,<br />

das angemessen zu entgelten und erfolgreich<br />

tätig zu sein. Und das ist sicher<br />

die Grundlage für erfolgreichen Handel<br />

in unserer Stadt.<br />

Haben Sie herzlichen Dank für Ihre<br />

Aufmerksamkeit.<br />

22


Zukunft findet Stadt!<br />

Wie wir morgen wohnen und leben –<br />

Abschied vom urbanen Pessimismus<br />

Meine Damen und Herren,<br />

ich weiß nicht: Kennen Sie das<br />

Grimm’sche Märchen vom alten Großvater<br />

und seinem Enkel?<br />

Es geht sinngemäß so: Es war einmal<br />

ein ganz alter Mann. Seine Augen<br />

waren trüb, die Ohren taub und die<br />

Knie zitterten ihm. Wenn er nun mit der<br />

gesamten Familie bei Tische saß und den<br />

Löffel kaum halten konnte, schüttete er<br />

manchmal seine Suppe auf das Tischtuch.<br />

Und deswegen musste sich der alte<br />

Großvater hinter den Ofen in die Ecke<br />

setzen. Sie gaben ihm sein Essen in ein<br />

irdenes Schüsselchen und noch dazu so<br />

wenig, dass er kaum satt werden konnte.<br />

Da sah er betrübt nach dem Tisch der<br />

anderen und seine Augen wurden ihm<br />

nass. Als einmal seine zittrigen Hände<br />

das Schüsselchen nicht festhalten<br />

konnten, fiel es zur Erde – und zerbrach.<br />

Die junge Frau tobte. Er sagte aber nichts<br />

und seufzte nur.<br />

Da kaufte sie ihm ein hölzernes Schüsselchen<br />

für ein paar Heller. Daraus musste<br />

er nun löffeln. Während sie nun alle da so<br />

saßen, trug der kleine vierjährige Enkel<br />

auf der Erde kleine Brettlein zusammen.<br />

„Was machst du da?“ fragte der Vater.<br />

„Ich mach ein Tröglein“ antwortete das<br />

Kind, „daraus sollt ihr dann essen, wenn<br />

ich einmal groß bin.“ Da sahen sich beide<br />

eine Weile betroffen an, fingen plötzlich<br />

an zu weinen, holten sofort den alten<br />

Großvater an den Tisch und ließen ihn<br />

von nun an immer mitessen. Und sie<br />

sagten auch nichts, wenn er gelegentlich<br />

ein wenig verschüttete.<br />

23<br />

Nun, meine Damen und Herren, vielleicht<br />

könnte eine moderne Version des Märchens<br />

(vgl. Ganßmann 2002, S. 285) im<br />

21. Jahrhundert aber auch so enden: Der<br />

alte Mann resignierte nicht und bekannte<br />

trotzig: „Lieber allein verhungern, als<br />

sich von seinen Kindern so behandelt<br />

sehen.“ Darauf sahen sich Mann und Frau<br />

an, kamen ins Nachdenken und fingen<br />

endlich an zu weinen: „Wer wird denn für<br />

uns sorgen, wenn wir einmal nicht mehr<br />

arbeiten können?“ In diesem Augenblick<br />

klingelte ein Versicherungsvertreter<br />

und bot ihnen einen inflationsstabilen<br />

Pensionsfonds mit garantierter hochprozentiger<br />

Rendite und allerniedrigsten<br />

Verwaltungs- und Transfergebühren an.<br />

Der Sohn und seine Frau kauften sich<br />

von dem, was sie am alten Vater sparten,<br />

in den Pensionsfonds ein und leisteten<br />

sich zudem ein Penthouse in der City,<br />

wo sie schon bald feststellen mussten,<br />

dass keiner kam und sie besuchte. Sie<br />

waren allein und kinderlos und gingen<br />

deshalb jeden Abend nachsehen, ob hinterm<br />

Zaun bei den Nachbarn genügend<br />

Kinder aufwuchsen, die im Alter für das<br />

viele schöne Geld Suppe für sie kochen<br />

könnten ...<br />

Dieses „alte“ Märchen ist insofern ganz<br />

modern, als der Generationenvertrag<br />

das Zusammenspiel zwischen drei (und<br />

nicht nur zwischen zwei) Generationen<br />

umschreibt: Die Großelterngeneration<br />

hat zeitlebens für die Elterngeneration<br />

gesorgt und möchte nun ihrerseits<br />

versorgt werden. In diesem Generationenpakt<br />

spielt die dritte, die Kinderge-<br />

Prof. Dr.<br />

Horst W. Opaschowski<br />

Universität Hamburg<br />

Gründer des B.A.T. Freizeitforschungsinstituts<br />

Zukunftswissenschaftler<br />

und Politikberater


neration eine zentrale Rolle. Sie bringt<br />

nicht nur eine moralische Dimension ins<br />

Spiel. Sie macht die Eltern auch darauf<br />

aufmerksam, was sie erwartet, wenn<br />

sie sich weiterhin so verhalten. Sieht so<br />

das Leben in der Stadtgesellschaft von<br />

morgen aus, in der die Großeltern nicht<br />

mehr präsent sind und alte und junge<br />

Menschen immer häufiger den Wohnort<br />

wechseln?<br />

Für das 21. Jahrhundert war ein „Neunomadentum“<br />

(Guggenberger 1997, S. 9 f.)<br />

vorausgesagt worden – eine neue Ortlosigkeit<br />

zwischen Überall und Nirgendwo,<br />

in der die Menschen durch ihr Leben<br />

driften und zappen wie bisher durch die<br />

Fernsehkanäle. In Wirklichkeit praktizieren<br />

die Menschen räumliche Familiennähe,<br />

wo und wie sie nur können. Sie halten<br />

wenig von amerikanischen Verhältnissen:<br />

Die Verweildauer an einem Wohnort liegt<br />

in den USA nur mehr bei fünf Jahren. Der<br />

amerikanische Traum, zu gehen, wann<br />

und wohin man will, stößt in Deutschland<br />

auf wenig Gegenliebe. Familiäre<br />

Beziehungen können nicht wachsen und<br />

intensiviert werden, wenn man – fast<br />

wurzellos – ständig umgepflanzt wird.<br />

Für gut ein Drittel der Bevölkerung sind<br />

die Eltern in wenigen Minuten erreichbar,<br />

weil sie entweder im selben Haus bzw.<br />

Haushalt oder am gleichen Ort wohnen.<br />

In diesem Zusammenhang sollten wir<br />

auch eine Legende sterben lassen: Die<br />

Großfamilie früher war eigentlich mehr<br />

Mythos als Realität. Die Versorgung mit<br />

Lebensmitteln, Wärme und Geld reichte<br />

oft nicht für die ganze Familie.<br />

Die dadurch verursachten familiären<br />

Konflikte gingen meist zu Lasten der<br />

alten Menschen. Die Zeit vor der industriellen<br />

Revolution ist alles andere als ein<br />

Goldenes Zeitalter der alten Menschen<br />

gewesen (vgl. Ehmer 1990).<br />

Die idyllische Vorstellung, nach der<br />

Großeltern, Eltern und Kinder in einer<br />

Drei-Generationen-Familie harmonisch<br />

zusammenlebten, ist nach der Familienforschung<br />

nicht mehr haltbar (vgl.<br />

Mitterauer 1990). Nur etwa sechs Prozent<br />

aller alten Menschen lebten in vorindustrieller<br />

Zeit in Drei-Generationen-Haushalten<br />

(Prahl/Schroeter 1996, S. 42 ff.);<br />

heute gibt es in Deutschland knapp ein<br />

Prozent Drei-Generationen-Haushalte.<br />

Wohin also geht die Reise? Wie werden<br />

wir in Zukunft wohnen? Und wie sieht<br />

das Leben in der Stadtgesellschaft von<br />

morgen aus?<br />

These 1:<br />

Die Zukunft ist urban: Städte schrumpfen<br />

und wachsen zugleich<br />

Weltweit zieht es immer mehr Menschen<br />

in die Stadt. Zum ersten Mal in der<br />

Geschichte der Menschheit lebt mehr als<br />

die Hälfte der Bevölkerung in Städten.<br />

2030 werden wir eine urbane Weltbevölkerung<br />

von etwa sechzig Prozent haben,<br />

was einer Verdoppelung seit den fünfziger<br />

Jahren entspricht. Und in gut dreißig<br />

Jahren werden gar drei Viertel der<br />

Weltbevölkerung Städter sein. Wie viele<br />

Menschen können die Städte dann noch<br />

(er-)tragen, ohne dass es zu massiven<br />

Problemen kommt – von der Luftverschmutzung<br />

bis zur Wohnungsnot?<br />

Ein urbanes Zeitalter („urban age“)<br />

kommt auf uns zu: Das Comeback der<br />

Metropolen und die Globalisierung der<br />

Städte. London nennt sich Europas „Global<br />

City“, weil die Stadt in den letzten<br />

dreißig Jahren durch Einwanderung über<br />

zwei Millionen Einwohner hinzugewonnen<br />

hat (von 5,0 auf 7,3 Millionen). In<br />

China, Indien, Afrika und Lateinamerika<br />

explodieren die Zahlen der Stadtbevölkerung<br />

geradezu, z.B. in Lagos von 1,9<br />

Millionen (1975) auf derzeit über 10<br />

Millionen. Shanghai, Chinas Tor zur Welt,<br />

soll bereits eine Einwohnerzahl von 15<br />

Millionen aufweisen.<br />

Die in den dreißiger Jahren von dem<br />

Architekten Le Corbusier initiierte Charta<br />

von Athen sorgte für eine folgenschwere<br />

historische Zäsur: Das Leitbild einer<br />

funktionellen Stadt, nach der die Funktionen<br />

Arbeiten, Wohnen, Freizeit und<br />

Verkehr strikt getrennt werden sollten,<br />

wurde geboren. Die Vorstellung vom<br />

organischen Stadtbau wurde aufgegeben<br />

zugunsten von Trabanten-, Satellitenund<br />

Gartenstädten: Draußen vor der<br />

Stadt.<br />

In Zukunft wird vieles anders sein:<br />

Arbeiten, Wohnen, Freizeit und Kultur<br />

wachsen wieder zusammen, ja das<br />

Leben auf dem Lande wird dem Stadtleben<br />

immer ähnlicher. Beides ist dann<br />

24


möglich: Die Verstädterung der Dörfer<br />

und die Verdörferung der Städte oder in<br />

der Sprache der Planer: Die Verdichtung<br />

und die Entdichtung. Motorisierung und<br />

Mobilität lassen zudem die Grenzen zwischen<br />

Stadt und Land immer fließender<br />

werden. Der „Stadt“-Begriff wird kaum<br />

mehr abgrenzbar sein. Im internationalen<br />

Maßstab schwanken heute schon die<br />

Mindesteinwohnerzahlen einer Stadt<br />

zwischen 200 Einwohnern in Dänemark,<br />

10.000 Einwohnern in der Schweiz und<br />

30.000 Einwohnern in Japan.<br />

Die Weltbevölkerung wandert und<br />

wächst, Deutschlands Bevölkerung<br />

hingegen altert und schrumpft. Jahr für<br />

Jahr verliert das Land drei- bis vierhunderttausend<br />

junge Menschen. Die Folge<br />

ist eine rege Schrumpfungsdebatte zur<br />

Zukunft der Städte in Deutschland. Bei<br />

der rückläufigen Bevölkerungszahl wird<br />

teilweise sogar Entvölkerung befürchtet<br />

in Verbindung mit Problemen wie Überalterung,<br />

Vereinzelung und zunehmender<br />

sozialer Ungleichheit. Von notwendigem<br />

„Rückbau“ (vor allem in Ostdeutschland)<br />

ist die Rede, was im Klartext doch nur<br />

„Abriss“ bedeutet (vgl. Keim 2001, S. 20).<br />

Auf die Städte in Deutschland kommt<br />

eine schwierige Gratwanderung zwischen<br />

Schrumpfung und Wachstum zu.<br />

Manche Regionen müssen mit massiven<br />

Bevölkerungsrückgängen rechnen,<br />

andere entwickeln sich zu regelrechten<br />

Wachstumsregionen. Und wieder andere<br />

trotzen diesen Trends, weil sich ihre<br />

Einwohnerzahl wider Erwarten stabilisiert.<br />

Im Jahr 2000 war beispielsweise<br />

von den 320.000 Wohnungen in Leipzig<br />

jede Fünfte unbewohnt. Gleichzeitig<br />

standen in den das Stadtbild prägenden<br />

Altbauten über 40.000 Wohnungen leer.<br />

Jetzt sinkt die Leerstandsquote plötzlich<br />

und die alten Stadtquartiere gewinnen<br />

wieder an Attraktivität. Stadtteile und<br />

Wohnquartiere bekommen wieder eine<br />

neue Bedeutung als Mittelpunkte des Lebens,<br />

als private Rückzugs- und zentrale<br />

Aufenthaltsorte - nicht mehr nur für den<br />

Feierabend, sondern 24 Stunden lang,<br />

Tag für Tag.<br />

Aus städtepolitischer Sicht gleicht die<br />

Entwicklung mehr dem Bild einer bipolaren<br />

Stadt, „in der Schrumpfungs- und<br />

Wachstumsprozesse parallel verlaufen<br />

und sich gegenseitig beeinflussen“ (Tiefensee<br />

2003, S. 4): Großsiedlungen am<br />

Rande der Stadt durchleben Schrumpfungsprozesse,<br />

während gleichzeitig die<br />

Alt- und Innenstadt als Stadt der kurzen<br />

Wege ihre Magnetwirkung entfaltet.<br />

Das Leben in der Stadt der Zukunft hat<br />

somit zwei Gesichter: Schrumpfenden<br />

Städten z.B. im Osten Deutschlands, im<br />

nördlichen Ruhrgebiet, im Saarland oder<br />

in Rheinland-Pfalz stehen wachsende<br />

Städte in Regionen wie z.B. München,<br />

Stuttgart oder Frankfurt gegenüber, deren<br />

Bevölkerungszahl stabil bleibt oder<br />

sogar wächst.<br />

These 2:<br />

Die Menschen wandern zum Wohlstand:<br />

Pendler kehren in die Stadt zurück<br />

Wachsende Realeinkommen ermöglichten<br />

es den Bürgern in den vergangenen<br />

Jahrzehnten, die innere Stadt zu verlassen,<br />

um ein Einfamilienhaus im Umland<br />

(„suburb“) zu kaufen. Die Randbereiche<br />

der Metropolen wuchsen zu Lasten der<br />

Kernstädte. Eine Doppelmotorisierung<br />

der privaten Haushalte („Zweitauto“) war<br />

die Folge. Gleichzeitig folgte der Einzelhandel<br />

den Bewohnern in die Vororte.<br />

Ebenfalls ließen sich neue Kultur- und<br />

Freizeiteinrichtungen dort nieder. Ein<br />

stetig steigendes Verkehrsaufkommen<br />

führte zu extremen Belastungen des<br />

Straßennetzes. Im Zuge der Suburbanisierung<br />

kam es zum Verfall innerstädtischer<br />

Quartiere.<br />

Mit dem sich jetzt abzeichnenden Ende<br />

des sich ausbreitenden Wohlstands sind<br />

jetzt auch der Massenmotorisierung<br />

wieder Grenzen gesetzt. Erfahrungsgemäß<br />

zieht es die Menschen in wirtschaftlich<br />

starke Regionen - dorthin, wo es<br />

Arbeit, Wohlstand und Wachstum gibt.<br />

Die „besten Köpfe“, also junge und gut<br />

ausgebildete Menschen, lösen starke<br />

Binnenwanderungen aus und verschärfen<br />

die Ungleichgewichte zwischen den<br />

Regionen. Von den 40 zukunftsfähigsten<br />

Kreisen sollen allein 23 in Bayern und<br />

14 in <strong>Baden</strong> Württemberg liegen.<br />

Die großen Metropolregionen um München<br />

und Stuttgart, Frankfurt/M., Berlin<br />

und Hamburg werden die Gewinner der<br />

Wanderungsbewegung zum Wohlstand<br />

sein.<br />

25


Andererseits gibt es auch eine Gegenbewegung:<br />

Die Ungleichgewichte zwischen<br />

Städten und Regionen verschärfen sich.<br />

Einige Großstädte verlieren bundesweit<br />

Bewohner und damit Steuerkraft an das<br />

benachbarte Umland. Vor allem Jugendliche<br />

und junge Familien verlassen Städte<br />

mit geringeren Arbeitsmöglichkeiten<br />

wie z.B. Kiel und Bremerhaven sowie Ballungszentren<br />

im Ruhrgebiet (z.B. Essen,<br />

Dortmund). Gleichzeitig ist in einigen<br />

Umlandregionen eine regelrechte Bevölkerungsexplosion<br />

feststellbar. So wandern<br />

beispielweise immer mehr Hamburger<br />

in den Landkreis Lüneburg ab. Das<br />

Statistische Landesamt prognostiziert<br />

für die Boomregion Lüneburg geradezu<br />

zweistellige Zuwachsraten bis zum Jahr<br />

2020. Geburtenrate, Altersdurchschnitt<br />

und Zuzugsverhalten entscheiden somit<br />

über die Zukunft einer Region.<br />

Viele Bürger haben in den letzten Jahren<br />

die Stadt als Pendler verlassen – und<br />

kehren als Stadtbewohner wieder zurück.<br />

Jahrhunderte lang wurde die Stadt mit<br />

„Spangen“, „Tangenten“ und „Ausfallstraßen“<br />

umzingelt, an deren Peripherie<br />

sich dann das Eigenheim am Stadtrand<br />

zum Symbol und Leitbild des guten Lebens<br />

entwickelte. Mit der Trennung von<br />

Arbeiten, Konsumieren, Wohnen und Erholen<br />

ging eine Verinselung der Lebensräume<br />

einher. Auf der Strecke blieb die<br />

urbane Atmosphäre. Wenn es jetzt zur<br />

Wiederbelebung innerstädtischen Wohnens<br />

kommt, dann werden steuerliche<br />

Vergünstigungen von der Eigenheimzulage<br />

bis zur Pendlerpauschale bald der<br />

Vergangenheit angehören.<br />

Es deutet sich eine Alternative zu den<br />

herkömmlichen Wohn- und Lebensstilen<br />

der vergangenen Jahrzehnte an: Reurbanisierung.<br />

Die Trennung von Arbeitszentren<br />

und Wohngebieten, die nicht<br />

selten unzureichend an den öffentlichen<br />

Nahverkehr angebunden waren, wird<br />

tendenziell wieder aufgehoben. In den<br />

Zukunftsvorstellungen der Bevölkerung<br />

kommen Lebensqualitätswünsche<br />

zum Ausdruck, die mit den Attributen<br />

„zentral“/„nah“/„kurz“ auf eine Abkehr<br />

von der Pendlergesellschaft hinweisen.<br />

Sicher: Randlagen und Satellitenstädte<br />

wird es auch in hundert Jahren noch geben,<br />

haben aber keine expansive Zukunft<br />

mehr vor sich. Wer es sich leisten kann,<br />

wohnt citynah - und spart Zeit: 12 bis 14<br />

Stunden Freizeit pro Monat verliert der<br />

Pendler im Vergleich zu seinen Kollegen,<br />

die in der Stadt wohnen. „Das entspricht<br />

sechs Kinofilmen. Oder fünf Restaurant-<br />

Besuchen. Oder vier Monopoly-Runden<br />

mit den Kindern. Oder drei langen Jogging-Runden<br />

pro Woche“ (Wellershoff<br />

2005, S. 9). Und teuer ist das Hin- und<br />

Herfahren auch noch.<br />

So gesehen wird die innerstädtische<br />

Wohnlage wieder attraktiver. Die Bequemlichkeit<br />

bei der Wahrnehmung der<br />

Einkaufs-, Kultur- und Freizeitmöglichkeiten<br />

wird als wichtiger eingeschätzt<br />

als mögliche Nachteile durch Lärm und<br />

Abgase sowie höhere Preise bei Mieten<br />

oder Eigentumserwerb. Vieles deutet<br />

darauf hin, dass sich der Trend zum<br />

innerstädtischen Wohnen in Zukunft<br />

verstärken wird. Zeitersparnis und kurze<br />

Wege zwischen Wohnung und Arbeitsplatz<br />

sowie die Vielfalt und Qualität der<br />

Angebote wirken wie ein Magnet.<br />

These 3:<br />

Immer mehr wollen in zentraler Lage<br />

wohnen:<br />

Jeder zweite Single lebt in der Stadt<br />

Der wachsende Wohnwunsch „Bezahlbare<br />

Wohnung in zentraler Lage“ gleicht<br />

einer Quadratur des Kreises. Denn Citywohnen<br />

stößt erfahrungsgemäß schnell<br />

an die Grenze der Finanzierbarkeit. In<br />

den Wunschvorstellungen der Bevölkerung<br />

gleicht die Stadt der Zukunft<br />

einem modernen „Sesam-öffne-dich“.<br />

Ganz obenan steht der Wunsch nach<br />

einem Wohnort der kurzen Wege und<br />

Wartezeiten. Das zeichnet die besondere<br />

Qualität städtischen Lebens aus. Wohnortnah<br />

arbeiten, in zentraler Lage leben<br />

und preisgünstig wohnen. Welche Stadt<br />

kann das dann bieten?<br />

Zugleich wandeln sich die Wohnwünsche:<br />

Die Wohnflächen wachsen weiter.<br />

Der Wohnflächen-Anspruch der Deutschen<br />

hat sich seit den sechziger Jahren<br />

mehr als verdoppelt – von seinerzeit<br />

gerade einmal 15 bis 20 Quadratmetern<br />

pro Kopf auf heute 39 Quadratmeter<br />

in Ost- und 42 Quadratmeter in Westdeutschland.<br />

Bis Mitte des Jahrhunderts<br />

werden die Bundesbürger mindestens<br />

26


55 Quadratmeter beanspruchen und<br />

sich damit internationalen Verhältnissen<br />

anpassen (z.B. Dänemark 51 qm,<br />

USA 68 qm). Diese prognostizierte<br />

Wohnflächennachfrage setzt allerdings<br />

Wohlstand voraus und ist von Wirtschaftsentwicklung<br />

und Kaufkraft abhängig.<br />

Andererseits bleibt der Trend zu<br />

Ein- und Zweipersonenhaushalten stabil:<br />

Immer mehr Familienhaushalte wandeln<br />

sich zu kinderlosen und älteren Haushalten,<br />

d.h. die Haushalte werden kleiner,<br />

aber die Wohnfläche pro Person größer.<br />

Zugleich steigt die Zahl der privaten<br />

Haushalte. Nach der Raumordnungsprognose<br />

des Bonner Bundesamtes für Bauwesen<br />

und Raumordnung (BBR 2006)<br />

wird es bereits im Jahr 2020 über eine<br />

Million Haushalte mehr als heute geben.<br />

Dabei steigt vor allem der Anteil der kleinen<br />

Ein- und Zweipersonenhaushalte auf<br />

über 75 Prozent. Gleichzeitig sinkt die<br />

Nachfrage nach Eigenheimen erheblich,<br />

weil es immer weniger junge Familien<br />

gibt. Die Wohneigentumsbildung verlagert<br />

sich auf den Geschosswohnungsbau<br />

in den Städten und im städtischen Umland,<br />

während Neubauten in ländlichen<br />

Regionen fast zum Erliegen kommen.<br />

Die Wohnung bekommt in Zukunft eine<br />

immer größere Bedeutung als Boxenstopp<br />

und Rückzugsnische: Hier will man<br />

zur Ruhe kommen und vor allem in Ruhe<br />

gelassen werden. Die eigenen vier Wände<br />

schirmen den Alltagsstress und Lärm<br />

von draußen ab, können aber auch zur<br />

Isolierzelle werden. Denn: Immer mehr<br />

Menschen leben und wohnen allein.<br />

Architekten und Wohnungsgestalter<br />

werden das Rückzugs- und Separierungsbedürfnis<br />

bei ihren Planungen genauso<br />

berücksichtigen müssen wie das<br />

Kontakt- und Kommunikationsbedürfnis.<br />

Die Wohnung der Zukunft wird also für<br />

die wachsende Zahl der Singles und<br />

Ein-Personen-Haushalte gleichermaßen<br />

Ankerplatz für das Ego und Kommunikationsbörse<br />

für die Nachbarn sein.<br />

Singles genießen bekanntlich einen hohen<br />

Aufmerksamkeitswert in der Öffentlichkeit.<br />

Sie gelten als die Hätschelkinder<br />

der Konsumgesellschaft, weil sie den<br />

Konsum anheizen (vgl. Pilgrim 1991): Ein<br />

Paar braucht alles nur einmal, zwei räumlich<br />

getrennte Singles aber brauchen<br />

zwei Wohnungen, zwei Fernsehgeräte,<br />

zwei Videos, zwei Stereoanlagen und<br />

zwei Telefonanschlüsse ...<br />

Single-Haushalte breiten sich in den<br />

Städten aus. Selbst an den Stadträndern<br />

werden Einfamilienhäuser zu Einpersonenhäusern.<br />

In Deutschland leben mehr<br />

als elf Millionen Menschen ohne Partner.<br />

In den Großstädten ist jeder Dritte allein.<br />

Das verändert auch das soziale Klima.<br />

Städte- und Wohnungsbau reagieren darauf<br />

teilweise zynisch: Der Designer Luigi<br />

Colani entwarf beispielsweise ein „zukunftsweisendes“<br />

(= Platz sparendes)<br />

Rotorhaus für Singles. Wie Waben eines<br />

Bienenstocks sehen hier die „Einstiege“<br />

in die Miniküche, die Schlafkoje und das<br />

Bad in der 36 Quadratmeter großen Single-Behausung<br />

eines Fertigbauunternehmens<br />

(Hanse Haus) aus. Ein Knopfdruck<br />

genügt und schon kommen Badezimmer,<br />

Bett und Küche angefahren. Wie auf einer<br />

Drehbühne des Lebens kreisen dann<br />

die drei Nischen um das Wohnzimmer.<br />

Singles leben gern in Großstädten,<br />

weil sie hier ideale Lebensbedingungen<br />

vorfinden (vgl. Hradil 1995):<br />

Kurze Wege zu Freunden und Bekannten<br />

sowie eine Vielzahl von Kultur-<br />

und Unterhaltungseinrichtungen.<br />

Singles führen kein Eremitendasein,<br />

bewegen sich vielmehr in relativ<br />

großen Kontakt-, Beziehungs- und<br />

Netzwerken. Der Personenkreis, zu<br />

dem enge gefühlsmäßige Bindungen<br />

bestehen, woher vielleicht Hilfeleistungen<br />

zu erwarten sind, ist bei Singles<br />

etwa zwei- bis dreimal so groß<br />

wie bei Personen, die in Mehrpersonenhaushalten<br />

leben (vgl. Schneider<br />

1994, S. 119).<br />

Und schließlich: Singles verfügen<br />

über die höchsten persönlichen Nettoeinkommen.<br />

Das Geschäft mit den Singles boomt. Die<br />

Singles stellen neben der 50plus-Generation<br />

die attraktivste und lukrativste<br />

Zielgruppe in einem neuen Dienstleistungsmarkt<br />

dar. Da gibt es in den Großstädten<br />

Single-Kino-Nächte inklusive<br />

Begrüßungsgetränk, Fingerfood und<br />

anregenden Gesprächen in der Lounge.<br />

Und zu den angebotenen Single-Reisen<br />

27


gesellen sich Flirt-Foren und Dating-<br />

Cafés auf der Internet-Plattform. Supermärkte<br />

wie z.B. Wal Mart veranstalten<br />

freitags von 18 bis 20 Uhr Single-Shopping.<br />

Und Tageszeitungen bringen<br />

regelmäßig Single-Beilagen heraus. Die<br />

Single-Szene hat Methode und Erfolg,<br />

weil sie steigende Umsätze garantiert.<br />

Dieser Markt der Möglichkeiten ist noch<br />

längst nicht ausgeschöpft. Die Vermarktung<br />

menschlicher Kontaktbedürfnisse<br />

lebt von der wachsenden Gruppe der<br />

Immer-, Noch-, Schon-Wieder- oder Aus-<br />

Überzeugung-Singles, die den langen<br />

Atem für geduldige Kontaktsuche verloren<br />

haben und sich von Speed-Datings<br />

und Sofort-Kontakten Problemlösungen<br />

erhoffen. Das Alleinleben entwickelt sich<br />

nicht selten – gewollt oder ungewollt<br />

– zu einer dauerhaften Lebensform.<br />

These 4:<br />

Das Eigentumsdenken verändert sich:<br />

Städter mieten Lebensstile<br />

Nach dem Jahr 2020 wird die starke<br />

Baby-Boomer-Generation in Rente<br />

gehen und ihre Vermögensbestände<br />

– wenigstens teilweise – an eine zahlenmäßig<br />

schwächere jüngere Generation<br />

zu verkaufen versuchen, um damit<br />

ihren Ruhestand bzw. Alterskonsum zu<br />

finanzieren. Dann wird mehr entspart als<br />

angespart. Weil dabei aber viele Verkäufer<br />

auf relativ wenige Käufer stoßen,<br />

könnten die Preise von Aktien, Wertpapieren<br />

und Immobilien ins Bodenlose<br />

fallen, d.h. die von der Politik heute<br />

propagierte Eigenvorsorge der Bürger für<br />

das Alter würde damit entwertet werden.<br />

Dagegen spricht allerdings, dass sich die<br />

Verrentung der Baby-Boomer-Generation<br />

nicht plötzlich, sondern über einen<br />

längeren Zeitraum von zehn bis zwanzig<br />

Jahren hinzieht.<br />

Unbestritten aber ist: Der Immobilienmarkt<br />

hat seinen Zenit überschritten.<br />

Die Zeitfenster für Immobilienverkäufe<br />

werden enger und die Chancen für einen<br />

Rückgang der Leerstandsraten immer<br />

geringer. Auf den Punkt gebracht:<br />

Sinkende Geburtenraten = fallende Immobilienpreise.<br />

Der kinderlose Städter der Zukunft verkauft<br />

sein Einfamilienhaus und zieht als<br />

Mieter in ein Penthouse mit Dachterrasse<br />

– mit Blick auf Gärten, wo andere ihren<br />

Rasen mähen müssen. Im Unterschied<br />

zu den traditionellen Mietern, die sich<br />

zwar ein eigenes Haus wünschen, es sich<br />

aber nicht leisten können, breitet sich<br />

eine nach oben mobile Gruppe aus, die<br />

Miete statt Eigentum wählt und in den<br />

USA bereits ein Drittel aller Haushalte<br />

ausmacht. Dabei handelt es sich um so<br />

genannte „Lifestyler“, die nur das Gefühl<br />

haben wollen, wie im eigenen Haus zu<br />

wohnen – ohne die lästigen Verpflichtungen,<br />

die mit Eigentum verbunden<br />

sind. Concierge, Morgenzeitung und<br />

Frühstück wollen gemietet werden.<br />

Der Anteil der Haushalte mit eigener<br />

Wohnung oder eigenem Haus liegt in<br />

Deutschland gerade einmal bei<br />

43 Prozent – und damit deutlich unter<br />

dem EU-Durchschnitt von 63 Prozent.<br />

Von den Haushalten lebt<br />

jeder Dritte in einem Einfamilienhaus,<br />

jeder Fünfte in einem Zweifamilienhaus<br />

und<br />

jeder Zweite in einem Haus mit drei<br />

und mehr Wohnungen.<br />

Weil sich das Eigentumsdenken verändert,<br />

wird das Wohnerleben neu<br />

definiert: Wohnen wie im eigenen Haus<br />

– aber sich nicht wie ein Eigentümer um<br />

alles kümmern müssen. Die Unsicherheit<br />

auf dem Arbeitsmarkt, fehlende Beschäftigungsgarantien<br />

und immer höhere<br />

Mobilitätsanforderungen führen dazu,<br />

dass sich in Zukunft mehr Menschen für<br />

die Miete als für den Kauf entscheiden.<br />

Schließlich kommen als weitere Wohnform<br />

der Zukunft Lebensabschnitts-Gemeinschaften<br />

hinzu. Dabei handelt es<br />

sich um Mietwohnangebote auf Zeit. Hier<br />

werden Zeitanteile verkauft und vermietet<br />

bzw. Immobilien verzeitlicht. Die<br />

Immobilien werden mobil: Das können<br />

Lebensabschnittshäuser oder -wohnungen<br />

oder -wohngemeinschaften sein:<br />

für Singles, Alleinerziehende oder Senioren.<br />

Lebensabschnitte und Lebensstile<br />

entscheiden somit über die Wohnform<br />

der Zukunft.<br />

Die Menschen wollen beruflich mobil und<br />

sozial disponibel bleiben. Flexibles Wohnen<br />

ist angesagt. Wer seine Arbeit oder<br />

seinen Partner wechselt, zieht woanders<br />

hin.<br />

28


Die Wohnung gilt nach der Kleidung als<br />

die dritte Haut des Menschen: Status,<br />

Selbstbild, Lebensphase – alles spiegelt<br />

sich in Stil und Ausstattung der eigenen<br />

vier Wände wider. Wohnen wird gebaute<br />

Wirklichkeit – als Nestbau oder Holzhaus,<br />

Familienhaus im Grünen oder Single-Loft<br />

in der City. Die Stadt wird zur biologischen<br />

Durchlaufstation, das Wohnhaus<br />

zum Lebensabschnittshaus.<br />

Wie in den USA werden immer mehr spezielle<br />

Wohnsiedlungen mit gemeinsamen<br />

Interessen gebaut. Für Außenstehende<br />

wird der Zugang geradezu erschwert<br />

– durch umgebende Mauern oder Zäune<br />

sowie Sicherheitsleute, die als „Torwächter“<br />

agieren. Über 30 Millionen Amerikaner<br />

wohnen derzeit in solchen Anlagen.<br />

Und jedes Jahr entstehen etwa 4.000 bis<br />

5.000 neue umfriedete Wohnsiedlungen.<br />

Hier kaufen die Menschen Lebensstile<br />

und nicht nur Wohnhäuser.<br />

Konkret: Wer neue Gleichgesinnte sucht,<br />

wählt eine Interessen-WG auf Zeit. Im 21.<br />

Jahrhundert werden also interessenbezogene<br />

Wohnanlagen besonders gefragt<br />

sein. Die Einfriedung von Wohnsiedlungen<br />

(in den USA „gating“ genannt)<br />

erweist sich als neue Vermarktungschance.<br />

Sie garantiert Sicherheit und Exklusivität,<br />

erhöht den Eigentumswert und<br />

lässt zugleich die Immobilienpreise in<br />

Nicht-Gating-Regionen fallen. Solche<br />

Interessen-Wohngemeinschaften können<br />

kommunalpolitische Folgen haben, weil<br />

es sich um weitgehend autarke Wohneinheiten<br />

handelt – vom eigenen Bussystem<br />

bis zu privaten Sicherheitsbeamten,<br />

Sicherheitskameras und Identifizierungskarten.<br />

Gibt es in Zukunft jeweils eigene Städte<br />

und Wohnquartiere für Singles, Paare,<br />

Familien, Rentner und Zuwanderer, die<br />

jeweils auf die individuellen Bedürfnisse<br />

der Zielgruppe zugeschnitten sind und in<br />

denen ein Leben unter Gleichgesinnten<br />

und Gleichgestellten („Communities“)<br />

garantiert werden kann? In solchen<br />

Gemeinsamen-Interessen-Wohnanlagen<br />

werden geradezu Lebensstile in Beton<br />

gegossen, also sowohl persönliche Freiheiten<br />

als auch soziale Verpflichtungen<br />

gleich mitgeliefert.<br />

Appartement- und Reihenhäuser werden<br />

tendenziell freistehende Einfamilienhäuser<br />

verdrängen. Im Lebenszyklus<br />

der Zukunft stellt jeder Lebensabschnitt<br />

eine eigene kleine Sinnwelt mit spezifischen<br />

Wohn- und Lebensstilen dar. In<br />

einer Gesellschaft des langen Lebens<br />

werden die Wohnformen wesentlich von<br />

wechselnden Lebensphasen bestimmt<br />

und immer weniger nur eine Frage des<br />

Milieus (soziale Herkunft, Bildung u.a.)<br />

oder des Anspruchsniveaus sein. Immer<br />

öfter stellt sich die Frage: „Welches<br />

Wohnquartier passt zu mir?“ Jede(r) hat<br />

andere Interessen. Die ideale Stadt für<br />

alle kann es gar nicht geben.<br />

These 5:<br />

Soziale Polarisierung: Städtische Unterschichten<br />

sorgen für Konflikte<br />

Das Deutsche Institut für Urbanistik<br />

(difu) befürchtet die Entstehung einer<br />

„urban underclass“, einer städtischen<br />

Unterschicht als steter Quelle von<br />

gesellschaftlichen Konflikten (Mäding<br />

2001, S. 6). Die soziale Polarisierung in<br />

den Städten verstärkt sich, weil sich dort<br />

Arme und Alte, Arbeitslose und Ausländer<br />

konzentrieren. Für die Zukunft ist zu<br />

befürchten, dass sich Parallelwelten nach<br />

eigenen Regeln bilden bzw. Inseln außerhalb<br />

des gesellschaftlichen Grundkonsenses.<br />

Damit sind vor allem Ausländer<br />

gemeint, die schon im Land leben, aber<br />

mit den geltenden Regeln von Recht und<br />

Ordnung wenig zu tun haben wollen.<br />

Die Zuwanderung bekommen in Zukunft<br />

vor allem die Großstädte und Ballungszentren<br />

zu spüren. Infolgedessen ist hier<br />

auch die Angst vor Überfremdung durch<br />

zu viele Ausländer (29%) fast dreimal<br />

so hoch wie auf dem Lande (10%). Die<br />

Wohnsituation wie auch der eigene Familienstand<br />

beeinflussen in hohem Maße<br />

die soziale Wahrnehmung, weshalb<br />

Singles und kinderlose Paare die Überfremdung<br />

am häufigsten als „Mangel an<br />

ihrem Wohnort“ nennen.<br />

Nach einer Vorausberechnung der<br />

Vereinten Nationen (UN: Replacement<br />

Migration 2000) wird der Anteil der zugewanderten<br />

Bevölkerung in Deutschland<br />

einschließlich der bereits hier lebenden<br />

Menschen ohne deutschen Pass bis zum<br />

Jahr 2050 rund ein Drittel im Bundesdurchschnitt<br />

und in den Großstädten<br />

über 50 Prozent erreichen – und trotz-<br />

29


dem wird die Bevölkerungszahl zurückgehen.<br />

Ohne Zuwanderung würde es im<br />

Jahr 2030 noch 66 Millionen (-18%), Mitte<br />

der Jahrhunderts 51 Millionen (-35%)<br />

und im Jahr 2100 nur noch 24 Millionen<br />

Menschen (-70%) geben. Eine solche<br />

Nullzuwanderung ist aber unrealistisch.<br />

Ein Großteil der künftigen Integrationsprobleme<br />

werden im Kern Generationskonflikte<br />

sein. Denn bei den Zu- und<br />

Einwanderern handelt es sich meist um<br />

„junge Männer, dynamisch, ehrgeizig,<br />

erlebnishungrig. Sie treffen auf eine<br />

einheimische Bevölkerung, die zum<br />

großen Teil aus alten Frauen besteht“<br />

(Fukuyama 2002, S. 128). Bei der Frage,<br />

was uns in Zukunft zusammenhält, muss<br />

die Integrationspolitik auch Antworten<br />

darauf geben, wie sie auf so unterschiedliche<br />

Bedürfnisse angemessen reagieren<br />

soll, ohne dass es zu einem politischen<br />

Rechtsruck im Stile von Haider, Le Pen<br />

oder Pim Fortyn kommt.<br />

Wenn es beispielsweise zur Gründung<br />

einer Deutschen Moslempartei käme,<br />

müssten die traditionellen Parteien in<br />

den Kommunen um ihre Mehrheiten<br />

bangen. Denn in Großstädten wie Berlin<br />

oder Hamburg könnten moslemische<br />

Zuwanderer so stark werden, dass sie<br />

den Einzug in Gemeinderäte und Landesparlamente<br />

schaffen. Dieser hohe<br />

Ausländeranteil könnte in Zukunft die<br />

traditionelle Parteienlandschaft vor<br />

allem in den Kommunen verändern,<br />

denn Parteien, die sich an den Interessen<br />

moslemischer Zuwanderer orientieren,<br />

wären ein wachsendes Wählerpotential.<br />

Als Zukunftsperspektive deutet sich an:<br />

In den Großstädten Deutschlands werden<br />

in den nächsten zwanzig bis dreißig<br />

Jahren Moslems in Bürgermeisterbüros<br />

einziehen.<br />

Die Chancen für die Gründung von Islamparteien<br />

sind groß, die Chancen für neue<br />

Anti-Islamparteien aber auch. Mit einer<br />

Islampartei werden sich vermutlich die<br />

meisten islamischen Wähler identifizieren.<br />

Wer – wie z.B. Hamburg – ein Leitbild<br />

„Wachsende Stadt“ propagiert, sollte<br />

realistischerweise von dem historischen<br />

Erfahrungswert ausgehen: Stadtwachstum<br />

kommt durch Zuwanderung und<br />

nur durch Zuwanderung zustande (vgl.<br />

Häußermann/Oswald 1997). Solche<br />

massierten Zuwanderungen verlaufen<br />

in der Regel nicht konfliktfrei. Selbst<br />

im Einwanderungsland USA hat es eine<br />

Reihe von Unruhen und rassistischen<br />

Auseinandersetzungen sowie Armutsund<br />

Hungeraufstände von Zuwanderern<br />

gegeben. Denn gerade Slums werden<br />

vorwiegend von Zuwanderern bewohnt.<br />

Andererseits war und ist die Stadt für<br />

viele Zuwanderer auch eine Chance für<br />

den sozialen Aufstieg.<br />

In Zukunft kann der Eindruck eines<br />

urbanen Orientalismus entstehen:<br />

Straßen in London oder Berlin bekommen<br />

orientalisches Flair. Aber gerade<br />

diese Vielfalt wird zum Merkmal urbaner<br />

Gesellschaften im 21. Jahrhundert. Denn<br />

in den Großstädten leben etwa achtzig<br />

Prozent aller Migranten. Jeder dritte bis<br />

vierte Großstädter ist heute schon ein<br />

Ausländer – z.B. 23 Prozent in München<br />

und 31 Prozent in Frankfurt/M. Allerdings<br />

konzentrieren sich die Migranten<br />

in bestimmten, meist benachteiligten<br />

Stadtteilen (vgl. Waltz 2002, S. 149), so<br />

dass dort die Ausländeranteile bei über<br />

fünfzig Prozent liegen. Diese Stadtteile<br />

weisen oft eine schlechte Bau- und<br />

Wohnsubstanz auf. Trotz der ökonomischen<br />

Benachteiligungen können<br />

diese Stadtviertel ein Gewinn für das<br />

urbane Leben sein. Denn über Familienverbände,<br />

Herkunftsnachbarschaften,<br />

Vereine, Kirchen und Moscheen sorgen<br />

die Zuwanderer für ein relativ intaktes<br />

soziales Netz, wozu auch die soziale<br />

Kontrolle gehört.<br />

In Zukunft werden Regionen, Städte und<br />

Kommunen immer mehr um junge qualifizierte<br />

und motivierte Nachwuchskräfte<br />

aus dem Ausland wetteifern. Dazu müssen<br />

sie mehr bieten als „harte“ Standortfaktoren<br />

wie z.B. hohe Einkommen und<br />

Karrieremöglichkeiten.<br />

Als neuer Standortfaktor kommt in Zukunft<br />

die örtliche Toleranz für ethnische<br />

Minderheiten hinzu. Toleranz als Ausdruck<br />

für ein soziales Klima der Offenheit<br />

spielt neben harten Standortfaktoren wie<br />

Arbeitsplätzen, Einkommenshöhen und<br />

Infrastrukturen als weicher Standortfaktor<br />

zwischen Kultur und Subkultur eine<br />

zentrale Rolle in der Stadt der Zukunft.<br />

Im Jahr 2010 wird jeder zweite unter 40-<br />

Jährige in Deutschland einen Migrationshintergrund<br />

haben.<br />

30


These 6:<br />

Wohnungsunternehmen werden zu<br />

sozialen Dienstleistern<br />

Immobilienbranche und Wohnungsunternehmen<br />

bieten in Zukunft auch ein<br />

soziales Management an, das vor allem<br />

soziale Dienste für die wachsende Zahl<br />

alter, hochaltriger und langlebiger Menschen<br />

leistet. Das soziale Wohnungsmanagement<br />

wird wie ein sozialer Kitt<br />

wirken, wozu Altenbetreuung, Mietschuldenberatung,<br />

Beschäftigungsprojekte,<br />

Nachbarschaftshilfsvereine, Tauschringe<br />

u.a. gehören. Soziales Wohnungsmanagement<br />

kann auch in ökonomischer<br />

Hinsicht erfolgreich sein. Denn die Alternative<br />

heißt nicht: Wirtschaftlichkeit oder<br />

Sozialverträglichkeit? Die Erfolgsformel<br />

lautet eher: Wirtschaftlichkeit durch<br />

Sozialverträglichkeit! Damit verbunden<br />

ist auch eine neue Qualität wohnumfeldbezogener<br />

Betreuung.<br />

Im Jahr 2030 wird die Mehrheit (53%)<br />

der über 60-Jährigen nicht verheiratet,<br />

sondern ledig, verwitwet oder geschieden<br />

sein. Die meisten leben in Ein-Personen-Haushalten<br />

und sind dann, wenn<br />

sie kinder- und enkellos bleiben, auf den<br />

Auf- und Ausbau einer professionellen<br />

Infrastruktur von Hilfe- und Pflegeleistungen<br />

angewiesen. Wer keinen Partner,<br />

keine Kinder und keine Geschwister<br />

hat, muss im Alter auf bezahlte Helfer<br />

ausweichen. Es gilt als sicher, dass mit<br />

der Zunahme der Kinderlosigkeit immer<br />

mehr Menschen im Alter allein wohnen<br />

und leben und keine familiären Unterstützungsleistungen<br />

erwarten können.<br />

Ihre Hoffnungen, sich allein auf ihre<br />

guten Freunde verlassen zu können, erfüllen<br />

sich nachweislich nicht (Vaskovics<br />

u.a. 2000, S. 12) bzw. erweisen sich als<br />

unrealistische Vorstellungen.<br />

Die 1951 mit Sitz in Lünen-Brambauer<br />

gegründete Glückauf Wohnungsbaugesellschaft<br />

hat Erfahrungen mit einer neuen<br />

Form gelebter Nachbarschaft gesammelt:<br />

Neben gezielten Freizeitangeboten<br />

wurde ein eigener Nachbarschaftshilfe<br />

e.V. gegründet. Bewohner zahlen einen<br />

einmaligen Aufnahmebetrag, bekommen<br />

dafür einen Mitgliederausweis sowie<br />

ein Bonusheft mit einem persönlichem<br />

Punktekonto. Der Verein vermittelt Hilfen<br />

zwischen den Mitgliedern, so dass auch<br />

jeder, der anderen helfen will, jemanden<br />

findet, dem er helfen kann – und umgekehrt.<br />

Damit diese Form der organisierten<br />

Nachbarschaftshilfe auch wirklich<br />

funktioniert, wurde ein Leistungskatalog<br />

entwickelt, der die wichtigsten Hilfsangebote<br />

nach einem Punktesystem bewertet.<br />

Es besteht die Möglichkeit, Punkte<br />

„anzusparen“ und dem Punktekonto<br />

„gutzuschreiben“, um dann je nach<br />

Bedarf Hilfsangebote jederzeit abrufen<br />

zu können.<br />

Die Idee der Zeitwährung geht von der<br />

Möglichkeit aus, im Laufe eines Lebens<br />

so genannte Zeitbanken einzurichten,<br />

in denen gleichsam die „sieben fetten<br />

Jahre“ eingelagert werden, um sie dann<br />

während der folgenden „sieben mageren<br />

Jahre“ wieder zu entnehmen. Zeitreiche<br />

und zeitarme Lebensphasen lösen sich<br />

ab. Was langfristig angespart wird, kann<br />

dann später je nach Bedarf abgerufen<br />

werden – ohne schlechtes Gewissen<br />

und ohne den Gedanken, auf Almosen<br />

angewiesen zu sein. In diesem Zusammenhang<br />

stellt sich für die Zukunft<br />

auch die Frage der Übertragbarkeit und<br />

Vererbbarkeit. Sollten Übertragungen<br />

nur zu Lebzeiten zugelassen werden?<br />

Oder dürfen Jüngere auch für ihre Angehörigen<br />

Ansprüche ansparen? Offene<br />

Zukunftsfragen für die Wiederbelebung<br />

einer alten Genossenschaftsidee.<br />

These 7:<br />

Nachbarschaftshilfen werden immer<br />

bedeutsamer<br />

Ein Comeback der guten Nachbarn steht<br />

bevor. Die Städter entdecken die lebendige<br />

Nachbarschaft als Netzwerk wieder.<br />

Institutionelle Hilfeleistungen durch<br />

Behörden, Vereine und Verbände haben<br />

im Alltagsleben der Bevölkerung eine<br />

viel geringere Bedeutung als die spontane<br />

Hilfsbereitschaft in den eigenen<br />

vier Wänden, vor der Haustür oder um<br />

die Ecke. Die Selbsthilfegesellschaft ist<br />

keine Utopie mehr. Es gibt sie wirklich.<br />

Sie funktioniert in Nachbarschaft und<br />

Nahmilieu. Staat und Politik bleiben<br />

dabei gefordert – aber mehr indirekt als<br />

aktivierende Förderer.<br />

Dies deckt sich mit Erkenntnissen der<br />

modernen Sozialforschung, wonach<br />

Binnensolidaritäten immer bedeutsamer<br />

31


werden – auch und gerade in Randgruppenmilieus.<br />

Solche Gruppierungen zeichnen<br />

sich durch ein kompliziertes „Netzwerk<br />

der selbstgeknüpften Nischen“<br />

(Nolte 2004, S. 71) aus. Statt nur von<br />

außen sozialpolitisch betreut zu werden,<br />

sorgen Binnensolidaritäten für Gefühle<br />

der Gemeinsamkeit und damit für den<br />

notwendigen sozialen Zusammenhalt.<br />

Der Einzelne übernimmt hierbei Verantwortung<br />

für andere – für Mitglieder der<br />

Familie, des Freundeskreises oder der<br />

Nachbarschaft, statt die Verantwortung<br />

wie einen Wanderpokal einfach an den<br />

Staat weiterzureichen.<br />

Die Bereitschaft der Bevölkerung zur<br />

Gemeinschaft auf Gegenseitigkeit ist<br />

groß und vielfältig. Die Bürger haben<br />

ganz konkrete Vorstellungen, in welchen<br />

Bereichen sie sich engagieren wollen.<br />

Im einzelnen sind dies:<br />

Betreuung von alten Menschen<br />

Betreuung von Kinderspielplätzen<br />

Sozialer Fahrdienst, z.B. Essen auf<br />

Rädern<br />

Lotsendienst, z.B. Begleitung von<br />

Patienten zu Therapien<br />

Telefondienst für Tagesmüttervereine.<br />

Und das alles auf freiwilliger Basis und<br />

ohne Zwang.<br />

These 8:<br />

Generationen unter einem Dach:<br />

Wohnen mit Wahlfamilien<br />

Mitten in der aufgeregten öffentlichen<br />

Debatte über die schulische Vermittlung<br />

traditioneller Werte meldete sich eine<br />

13-jährige Schülerin aus dem Norden<br />

Londons in der Zeitung Independent zu<br />

Wort und machte klar, wie sehr sich inzwischen<br />

familiäre Traditionen verändert<br />

haben: „Wenn die Regierung glaubt, man<br />

müsse zu den alten Werten und der traditionellen<br />

Familie zurückkehren, dann<br />

glaubt sie etwas anderes als die Leute.<br />

Ich habe zwei Mamas und zwei Papas,<br />

eine Menge Brüder und Schwestern, aber<br />

keiner von ihnen ist es eigentlich wirklich.<br />

Sie sind alle Halb-Irgendwas und<br />

Stief-Irgendwas und ein bisschen dies<br />

und ein bisschen das. Und ich liebe sie.<br />

Ich nenne sie einfach Brüder und Schwestern,<br />

weil ich sie als solche empfinde.<br />

Wenn Politiker die Liebe der Familie so<br />

betonen, dann sage ich, man sollte eben<br />

so viele Eltern haben wie physisch nur<br />

möglich. Jeder, den man zur Familie<br />

zählt, ist Familie. Auch Freunde können<br />

Familie sein“ (Handy 1998, S. 77 f.).<br />

Man mag den flexiblen Familienbegriff<br />

mögen oder nicht: In der westlichen Welt<br />

ist er längst Wirklichkeit geworden. Und<br />

meine eigene Prognose aus den 80er<br />

und 90er Jahren – „Der Freundeskreis<br />

wird in Zukunft zur ‚zweiten Familie’“ – ist<br />

von der Wirklichkeit eingeholt worden.<br />

Familien – in welcher Form auch immer<br />

– spielen eine zunehmend größere Rolle<br />

in unserem Leben, ja werden geradezu<br />

der moralische Halt des Gemeinwesens<br />

und der soziale Kitt unserer Gesellschaft.<br />

Familienmitglieder akzeptieren Regeln<br />

und Werte, ohne die sich die Gesellschaft<br />

auflösen würde. Das erweiterte Familienverständnis<br />

verändert die Wohnwünsche<br />

der Menschen.<br />

Gefragt sind in Zukunft vor allem generationsübergreifende<br />

Wohnkonzepte:<br />

Wie im Dorf und doch in der Stadt. Ganze<br />

Großfamilien – Enkel, Kinder, Eltern,<br />

Großeltern – leben so in unmittelbar<br />

räumlicher Nähe zusammen. Generationenwohnen<br />

in Baugemeinschaften und<br />

Wohngenossenschaften ist im Trend.<br />

Zwölf von hundert Bundesbürgern ab 14<br />

Jahren, was hochgerechnet rund 8 Millionen<br />

Menschen sind, nennen als persönlichen<br />

Wunsch: „Mein Zukunftstraum<br />

ist eine Wohngemeinschaft in einem<br />

Haus, in dem mehrere Generationen eine<br />

eigene Wohnung haben und jederzeit in<br />

Gemeinschaftsräumen zusammenkommen<br />

können, aber nicht müssen.“ Eine<br />

ebenso kommunikative wie individualistische<br />

Form des Wohnens, die Alleinsein<br />

ermöglicht und Verlassensein verhindern<br />

hilft. Vor dem Hintergrund einer weiter<br />

zunehmenden Lebenserwartung, zu der<br />

für viele – insbesondere für Frauen – das<br />

Alleinleben im Alter gehört, kann die<br />

Generationen-WG eine zukunftsfähige<br />

Wohn- und Lebensform sein, die Sicherheit,<br />

Gemeinsamkeit und Geborgenheit<br />

gewährt.<br />

Neue Wohnkonzepte geben konkrete<br />

Antworten auf die Folgen einer Gesellschaft<br />

des langen Lebens. Dabei geht<br />

es auch um Alternativen zu den traditionellen<br />

Pflegeheimen. Möglich sind in<br />

Zukunft neue Hausgemeinschaften für<br />

32


Senioren, bei denen ein ambulanter Pflegestandard<br />

garantiert wird und in denen<br />

Bewohner eigenständiger und selbstbestimmter<br />

als in Heimen leben können.<br />

Sie wohnen in eigenen Räumen, werden<br />

aber zugleich aktiviert durch einen<br />

Gemeinschaftsbereich, in dem gekocht,<br />

gegessen, gebügelt und geredet wird. In<br />

diese Richtung zielen auch Konzepte des<br />

Kuratoriums Deutsche Altershilfe (KDA)<br />

mit Förderung des Bundesfamilienministeriums<br />

und der Bertelsmann-Stiftung.<br />

Auch und gerade in räumlicher Hinsicht<br />

sorgt die ältere Generation für ihre<br />

Zukunft gut vor: Jeder vierte Ältere über<br />

50 Jahre wohnt im gleichen Haus bzw.<br />

mit mindestens einem der Kinder unter<br />

einem Dach. Und eine Mehrheit der über<br />

65-Jährigen und hat ihre (erwachsenen)<br />

Kinder in erreichbarer Nähe. Die Alternsforschung<br />

spricht in diesem Zusammenhang<br />

von einer „Beinahe-Koresidenz“<br />

(Kohli u.a. 2000, S. 186). Gemeint ist das<br />

Zusammenwohnen im gleichen Haus,<br />

aber in getrennten Haushalten.<br />

Bereits im 2. Jahrhundert n.Chr. hatten<br />

einzelne Adlige Angehörige eines<br />

anderen Adelsgeschlechts adoptiert, um<br />

so den Fortbestand der Familie und des<br />

Adelsgeschlechts zu sichern. Römische<br />

Kaiser von Trajan bis Mark Aurel gelangten<br />

auf dem Weg über die Adoption<br />

zur Herrschaft. Auch im 21. Jahrhundert<br />

entstehen durch Wohngemeinschaften<br />

und eine Art Adoption neue Wahlfamilien.<br />

Enkel-, Kinder- und Familienlose<br />

werden wie durch Adoption in Wahlfamilien<br />

und -verwandtschaften aufgenommen.<br />

Städte und Gemeinden müssen in<br />

Zukunft mehr als bisher offen für solche<br />

individuellen Lebenszyklusstrategien<br />

sein und dabei die sich im Laufe eines<br />

Lebens mehrfach verändernden Lebens-,<br />

Einkommens- und Vermögensverhältnisse<br />

im Blick haben. Einziehen. Ausziehen.<br />

Umziehen. Diese Unstetigkeit im<br />

Wohnverhalten gehört zum Leben wie<br />

der Wechsel des Arbeitsplatzes oder des<br />

Berufes auch.<br />

Wie in früheren Jahrhunderten lebt der<br />

Gedanke des „ganzen Hauses“ wieder<br />

auf, weil die Menschen aufeinander<br />

angewiesen bleiben und sich mehr<br />

selber helfen müssen. In wirtschaftlich<br />

und gesellschaftlich schwierigen Zeiten<br />

lebt die Genossenschaftsidee wieder<br />

auf. Gleichzeitig wird der Familienbegriff<br />

um den Gedanken des ‚ganzen Hauses’<br />

erweitert. Im ‚ganzen Haus’ haben in<br />

Zukunft wieder alle Platz und werden in<br />

die Haus- und Wohngemeinschaft aufgenommen.<br />

So könnten alle ein selbstbestimmtes<br />

Leben führen – aber nicht<br />

allein. Gemeinsam statt einsam heißt das<br />

Wohnkonzept der Zukunft: Mehr Generationenhaus<br />

und Baugemeinschaft als<br />

Heimplatz und betreutes Wohnen.<br />

Nur knapp drei Prozent der älteren<br />

Menschen ab sechzig Jahren leben heute<br />

in Gemeinschaftsunterkünften wie z.B.<br />

Senioren- und Pflegeheimen. Allerdings<br />

nimmt der Anteil mit steigendem Alter<br />

erheblich zu – mit der Tendenz zur<br />

Verdoppelung: Stationär pflegebedürftig<br />

sind z.B. nur sechs von hundert der<br />

80- bis 84-Jährigen, aber jeder vierte<br />

über 90-Jährige. Drei Viertel der über<br />

90-Jährigen leben also noch in eigenen<br />

Wohnungen bzw. Privathaushalten.<br />

Das Wohnangebot wird in Zukunft für<br />

den Zusammenhalt mehrerer Generationen<br />

sowie für nichtfamiliale Netzwerke<br />

(einschließlich Nachbarschaften)<br />

förderlich sein müssen. Lebensgemeinschaft<br />

wird neu definiert: Soziale Konvois<br />

und Wahlverwandtschaften werden als<br />

lebenslange Begleiter immer wichtiger.<br />

These 9:<br />

Altwerden mit Familie und Freunden<br />

statt Einweisung ins Heim<br />

Mit jedem Wandel einer Lebensphase ändern<br />

sich die Wohnstile. Mit der Zunahme<br />

der Lebenserwartung muss jede(r)<br />

viele und vielfältige Lebensphasen (und<br />

damit Wohnformen) durchlaufen. Idealiter<br />

müsste mit jeder neuen Lebensphase<br />

das Haus bzw. die Wohnung neu eingerichtet<br />

oder gar umgebaut werden. So<br />

gesehen hört mit dem demografischen<br />

Wandel das Einfamilienhaus auf, Idealtypus<br />

der Gesellschaft zu sein.<br />

Sozialer Zusammenhalt wird in Zukunft<br />

pragmatischer verstanden. Bis ins hohe<br />

Alter Selbstverantwortung für das eigene<br />

Befinden tragen und sich weitgehend<br />

selber helfen können, um anderen nicht<br />

zur Last zu fallen: Das wird die neue Solidarität<br />

bzw. neue soziale Verantwortung<br />

33


im 21. Jahrhundert sein. Nur sie ermöglicht<br />

Altwerden mit Familie und Freunden<br />

statt Einweisung ins Heim. Das bedeutet:<br />

In Zukunft ist eher bescheideneres<br />

Wohnen mit sozialer Lebensqualität als<br />

komfortableres Wohnen mit räumlicher<br />

Isolation gefragt. Und es heißt auch:<br />

Mehr Selbstständigkeit und soziale Geborgenheit.<br />

Wohnen wird wieder Heimat<br />

mit Nestwärme.<br />

Aktuelles Beispiel: Acht Rentner zwischen<br />

62 und 92 Jahren ziehen genervt<br />

aus einem Hamburger Altersheim aus<br />

und mieten – über einen Makler vermittelt<br />

– gemeinsam eine alte Villa am<br />

Ratzeburger See. Sie sparen dabei sogar<br />

noch Geld, haben endlich wieder etwas<br />

zu tun und schmieden gemeinsam<br />

Reisepläne. Sie haben sich im Altersheim<br />

kennen- und respektieren gelernt: Das<br />

Altersheim ist für sie zum Sprungbrett<br />

für ein neues Leben geworden.<br />

Das so genannte Vier-zwei-eins-Phänomen<br />

steht vor dem Kollaps: Auf vier<br />

Großeltern kommen zwei Eltern und ein<br />

Kind. Das kann nicht funktionieren. Eine<br />

Gesellschaft von Einzelkindern kann<br />

keinen Generationenvertrag schließen.<br />

Nicht nur aus sozialen, auch aus ökonomischen<br />

Gründen ist das Wohnkonzept<br />

„informell statt institutionell“ zukunftsweisend.<br />

Nachweislich kostet die stationäre<br />

Pflege der 600.000 Heimbewohner<br />

etwa zwölf Milliarden Euro im Jahr, was<br />

20.000 Euro pro Heimplatz entspricht.<br />

Würden nur 100.000 Heimbewohner in<br />

generationenübergreifende Wohnprojekte<br />

umziehen, entfielen Heimkosten<br />

in Höhe von zwei Milliarden Euro. Selbst<br />

wenn diese dann ambulant betreut werden<br />

müssten, könnten noch 1,1 Milliarden<br />

Euro im Jahr eingespart werden.<br />

Solche Perspektiven kommen einer<br />

Kehrtwende im Städtebau gleich. Auch<br />

und gerade vor dem Hintergrund der<br />

demografischen Entwicklung werden<br />

Umdenken und Umlenken in der Städteplanung<br />

unverzichtbar. Die neuen<br />

Senioren von heute und morgen wollen<br />

sich nicht mehr an die Stadtränder abschieben<br />

oder isolieren lassen und schon<br />

gar nicht vom Leben verabschieden. Sie<br />

wollen kommunikativ und auch helfend<br />

mit und für Generationen leben.<br />

Die positiven Erfahrungen in den<br />

skandinavischen Ländern (Schweden,<br />

Norwegen, Finnland, Dänemark) beweisen,<br />

dass ein Land fast ohne Heime<br />

auskommt: Schafft die Altersheime ab!<br />

oder So wenig Heime wie möglich – das<br />

ist auch für Deutschland eine realistische<br />

und keine utopische Zukunftsforderung.<br />

Schließlich hat es nachweislich in der<br />

gesamten Menschheitsgeschichte bis<br />

zum Beginn des 19. Jahrhunderts keine<br />

Heime gegeben, weil Arbeiten, Wohnen<br />

und das Lösen sozialer Probleme in „einer“<br />

Hausgemeinschaft bzw. im „ganzen“<br />

Haus zusammengehörten (vgl. Dörner<br />

2005, S. 202). Und das nicht nur vereinzelt<br />

in der so genannten Großfamilie,<br />

sondern in der Regel mit Unterstützung<br />

und Hilfe der Nachbarschaft.<br />

Die Wiederentdeckung und Pflege von<br />

Hausgemeinschaften und Nachbarschaftshilfen<br />

wird die große soziale<br />

Aufgabe des 21. Jahrhunderts sein.<br />

Flächendeckende Heimversorgung und<br />

„betreutes Wohnen“ (in den 70-er Jahren<br />

nur für Behinderte eingeführt) werden<br />

bald der Vergangenheit angehören, weil<br />

sie dann durch den Selbsthilfegedanken<br />

und die Nachbarschaftsmentalität abgelöst<br />

werden.<br />

These 10:<br />

Prioritäten der Stadtplanung:<br />

Die lebenswerte Stadt als Leitbild<br />

der Zukunft<br />

Wenn Städte eine Zukunft haben wollen,<br />

können sie sich nicht nur als Wirtschaftsstandort<br />

profilieren. Die Stadt der<br />

Zukunft bietet schließlich mehr als Büros<br />

und Industrieanlagen. Genauso wichtig<br />

ist es daher, durch Binnenmarketing ein<br />

positives Selbstbild der Bevölkerung<br />

zu erzeugen. Gastfreundlich. Weltoffen.<br />

Tolerant. Was im Hinblick auf die Fußball<br />

WM erst durch aufwendige Werbekampagnen<br />

auf nationaler Ebene erreicht werden<br />

konnte, ist in Städten wie München,<br />

Bremen und Köln längst Wirklichkeit.<br />

In der subjektiven Einschätzung der<br />

jeweiligen Stadtbewohner ist – im Vergleich<br />

der zehn größten Städte Deutschlands<br />

–<br />

München die gastfreundlichste Stadt,<br />

Berlin die kulturreichste Stadt,<br />

Hamburg die schönste Stadt,<br />

34


Köln die toleranteste Stadt,<br />

Stuttgart die wohlhabendste Stadt<br />

und<br />

Bremen die weltoffenste Stadt.<br />

So jedenfalls schätzen derzeit die<br />

Großstädter den Wohnwert „ihrer“ Stadt<br />

ein. Ein wenig anders sieht das Bild aus,<br />

wenn man die Bevölkerung danach fragt,<br />

in welcher Stadt oder Region sie „am<br />

liebsten wohnen“ würde. Das Ergebnis:<br />

Jeder zehnte Bundesbürger möchte gern<br />

in München wohnen (10,1%). München<br />

würde so zur 8-Millionen-Stadt werden<br />

– zumindest in der Wunschvorstellung<br />

der Bevölkerung. In der Top-Ten-Liste<br />

der beliebtesten Städte folgen Berlin,<br />

Hamburg, Köln, Dresden, Stuttgart, Freiburg,<br />

Düsseldorf, Bremen und Hannover.<br />

Daneben aber gibt es eine Ranking-Liste<br />

der beliebtesten Wohnregionen, die von<br />

Oberbayern, Bodensee und Schwarzwald<br />

angeführt wird, bevor Nordseeküste,<br />

Rheinland, Allgäu, Ostfriesland, Münsterland,<br />

Franken und Ostseeküste folgen.<br />

Der Wohnwert einer Stadt oder Region<br />

wird zur Zukunftsfrage: Aus den Wohnwünschen<br />

von heute können Wanderungen<br />

von morgen werden.<br />

Das Zeitalter des urbanen Zukunftspessimismus<br />

geht zu Ende. Noch in der Nach-<br />

68-er Zeit bis Ende der neunziger Jahre<br />

hatte man in Deutschland den Niedergang<br />

der Städte prognostiziert und über<br />

ihre Unwirtlichkeit als Anstiftung zum<br />

Unfrieden geklagt. „Rettet unsere Städte<br />

jetzt!“ lautete beispielsweise 1971 die<br />

dramatische Forderung des Deutschen<br />

Städtetages. Das alles war einmal. Jetzt<br />

zeichnet sich ein Stimmungsumschwung<br />

ab und die Leitlinie lautet eher: „Die<br />

Zukunft entscheidet sich in den Städten!“<br />

und „Ohne Städte ist kein Staat<br />

zu machen!“ Die Deutschen entdecken<br />

die Qualität des Stadtlebens wieder, die<br />

Innenstadt als lebenswerten Wohnraum,<br />

in dem sie sich wohlfühlen können.<br />

Die Stadt von morgen gleicht einem<br />

Sesam-öffne-dich-Modell zugespitzt in<br />

dem Wunsch: Zentral wohnen in dörflicher<br />

Idylle – für Singles und Senioren<br />

genauso geeignet wie für junge Familien,<br />

denen kostenlose Kindergarten- und<br />

Hortplätze angeboten werden: Ein<br />

solcher Wohnort verbindet dann alles,<br />

was man zum Leben braucht: „Zentrums-<br />

nahes Wohnen, aber bitte ohne Lärm und<br />

Stress. Ein wenig dörfliche Idylle, aber<br />

bloß nicht weg aus der Metropole. Am<br />

liebsten irgendwo nahe Messe, Flughafen,<br />

Park und Englischem Garten – natürlich<br />

mit perfekter Infrastruktur, Einkaufsmöglichkeiten<br />

und einer hervorragenden<br />

Verkehrsanbindung. Trotz alldem immer<br />

bezahlbar“ (Unterföhring-Werbeanzeige<br />

vom 23. September 2005).<br />

Mit dem Wandel von der Industrie- zur<br />

Dienstleistungsgesellschaft verändern<br />

sich auch die Prioritäten für den Einzelnen<br />

und die Gesellschaft. Immaterielle<br />

Aspekte des Lebens erfahren eine<br />

Bedeutungsaufwertung nach der Devise<br />

„Lieber glücklich als reich“ oder „Lieber<br />

gute Freunde als viel Geld haben“. Im<br />

Zuge dieses Wertewandels wächst bei<br />

den Menschen auch die Bereitschaft, an<br />

der Schaffung und Gestaltung einer lebenswerten<br />

Zukunft selbst mitzuwirken.<br />

Für die Zukunft zeichnet sich ein vielfältiges<br />

Spektrum urbaner Hilfsdienste auf<br />

freiwilliger Basis ab – auch ohne Profis<br />

und ohne Bezahlung. Die Bereitschaft in<br />

der Bevölkerung ist so groß, weil sich bei<br />

den Bürgern die Erkenntnis durchsetzt,<br />

dass weder der Staat noch die Wirtschaft<br />

die sozialen Probleme der Zukunft allein<br />

meistern können. Die Mithilfe der Bürger<br />

in einer Gesellschaft auf Gegenseitigkeit<br />

ist immer mehr gefordert.<br />

So ergeben sich neue Aufgaben für eine<br />

aktivierende Kommunalpolitik, die die<br />

dafür notwendigen Rahmenbedingungen<br />

schaffen muss, damit aus der bekundeten<br />

Hilfsbereitschaft eine tatsächliche<br />

Helfertätigkeit wird. Und auch Wohnungswirtschaft<br />

und Wohnungspolitik<br />

haben einen Paradigmenwechsel vor<br />

sich. Viel notwendiger als die Förderung<br />

von Neubauwohnungen wird die<br />

Förderung immaterieller Infrastrukturen<br />

im Wohnbereich sein – vom informellen<br />

Nachbarschaftstreff bis zur Betreuung<br />

von Kindern und alten Menschen.<br />

Ich komme zum Schluss und fasse zusammen.<br />

Im 21. Jahrhundert muss die Stadtplanung<br />

von folgenden Prioritäten ausgehen:<br />

1. Mehr Innenstadtförderung als<br />

Bauen auf der grünen Wiese<br />

2. Mehr Lebenskonzepte als Bauprojekte<br />

35


3. Mehr Lebensstilmiete als<br />

Wohnungskauf<br />

4. Mehr Nachbarschaftshilfe als<br />

Sozialamtshilfe<br />

5. Mehr ambulante Betreuung als<br />

stationäre Pflege<br />

6. Mehr Wohnen daheim als Einweisung<br />

ins Heim.<br />

Vielen Dank fürs Zuhören.<br />

Weitere Informationen unter:<br />

www.opaschowski.de<br />

36


Vom Kunden zum Fan<br />

Nationale Großereignisse –<br />

Impulse für den Handel?<br />

Vielen Dank, für die freundliche Einführung.<br />

Vor drei Jahren waren die Mitglieder<br />

des VfB Stuttgart begeistert, dass<br />

sie einen Präsidenten aus der Wirtschaft<br />

bekommen haben, weil der VfB Stuttgart<br />

damals näher an der Insolvenz stand, als<br />

an der Deutschen Meisterschaft. Und wir<br />

hatten dann auch ein paar Jahre ganz<br />

schöne Erfolge, immer so zwischen Platz<br />

2 und Platz 5, und jetzt in dieser Saison<br />

scheinen wir 7. oder 8. zu werden. Und<br />

Sie merken, wie schnell die Stimmung<br />

schwankt, speziell beim Fußball.<br />

Jetzt können Sie schon sehen, woran<br />

man wirklich gemessen wird. Nicht an<br />

den ökonomischen Faktoren, sondern<br />

der Präsident und seine Arbeit wird am<br />

Tabellenstand gemessen. Das Publikum<br />

ist unzufriedener und jetzt kommen<br />

schon die ersten Schilder „Vorstand<br />

raus“. Und sie merken, das ist in der<br />

Wirtschaft anders. Im Unterhaltungsgewerbe,<br />

wo ich jetzt zuhause bin, ist es<br />

gang und gäbe. Ich merke, dass auch in<br />

Berlin, in Leverkusen und überall, wo die<br />

Menschen mit den Ergebnissen nicht<br />

so zufrieden sind, Schuldige gesucht<br />

werden, und diese sucht man natürlich<br />

immer an der Spitze des Vereins und<br />

unterstellt verfehlte Einkaufspolitik.<br />

Aber, das darf uns nicht daran hindern,<br />

dieses Gewerbe faszinierend zu finden.<br />

Ich möchte Ihnen heute ein paar Parallelen<br />

aufzeigen unter dem Stichwort Vertriebsstrategie,<br />

was man so aus der Sicht<br />

der Wirtschaft hier im Sport vorfindet, wo<br />

man Parallelen sehen, wo wir voneinander<br />

lernen können und wo wir versuchen,<br />

neue Impulse zu entwickeln.<br />

37<br />

Ich habe versucht zunächst zu prüfen,<br />

was ist eigentlich das Phänomen Sport,<br />

Profifußball – und zwar aus Sicht eines<br />

Menschen, der 30 Jahre IT-Geschäfte<br />

gemacht hat. Und da ist nichts naheliegender,<br />

als das ganze logisch aufzubauen,<br />

in einen Regelkreis zu fassen und<br />

einmal die Zusammenhänge deutlich zu<br />

machen. Und so kann man die schönste<br />

Nebensache der Welt, Fußball, in etwa<br />

darstellen. Zunächst muss ich Ihnen<br />

unter Gesamtbetrachtungsgesichtspunkten<br />

folgendes sagen: Der Profifußball hat<br />

etwas erreicht, wovon die Industrie und<br />

die Dienstleistungsindustrie – auch die<br />

Sparkassenorganisation – nur träumen<br />

können.<br />

Ich schildere Ihnen mal Ihren Spot, der<br />

mir im Übrigen sehr gut gefällt und der<br />

fast jeden Tag in allen Kanälen auftaucht.<br />

Ein Mensch geht durch eine Stadt und<br />

fragt einen anderen Menschen, wo es<br />

zur Sparkasse geht. Dieser sagt, steigen<br />

sie mal in meinen Hubschrauber und<br />

dann fliegt der Hubschrauber los, erklärt<br />

ihm: das ist unsere Bausparkasse, das<br />

sind unsere Wertpapierfonds, hier ist<br />

unsere Versicherung und hier ist eine<br />

typische Sparkasse, eine von 20.000, die<br />

wir in Deutschland haben. Und jetzt eine<br />

Frage: haben sie ihre Zahnbürste dabei?<br />

Jetzt fliegen wir in unser internationales<br />

Geschäft. Was will der Spot denn sagen?<br />

Was ist denn die Botschaft? Die Botschaft<br />

ist ganz einfach. Die Sparkassen<br />

wollen raus aus dem Mief der Mündelsicherheit,<br />

der örtlichen Gebundenheit,<br />

des Regionalprinzips, wollen raus und<br />

ein Global Player sein. Wie alle.<br />

Senator h.c. Erwin Staudt<br />

Hauptamtlicher<br />

Präsident des VfB<br />

Stuttgart 1893 e.V.


Warum kauft die Deutsche Bank Bankers<br />

Trust? Warum kauft die Allianz Firemans<br />

Fund oder Pims? Warum holte sich Daimler<br />

Chrysler den Chrysler in Detroit und<br />

Mitsubishi in Tokio? Weil sie alle Global<br />

Player sein möchten. Die Industrieunternehmen,<br />

die Dienstleister, sie alle sind<br />

auf dem Weg, ein Global Player zu sein.<br />

Ich kenne ganz wenige, die ein Global<br />

Player sind, in ihrer ganzen Betriebsanstrengung,<br />

in ihrem ganzen Produktionsauftritt,<br />

in ihrem ganzen Markenauftritt.<br />

Nennen Sie mir einen Global Player,<br />

den Sie für typisch halten. Coca-Cola ist<br />

ein Global Player. Oder McDonald’s. Und<br />

was macht diese Global Player aus?<br />

Sie verfügen über eine Marke, die überall<br />

bekannt ist. Und Sie haben eine klare<br />

Anmutung für ihr Produkt. Wenn ich<br />

Coca-Cola sage, dann wissen Sie ganz<br />

genau, ohne dass wir sie sehen, wie die<br />

Flasche aussieht, dass dieses Getränk<br />

kalt ist, egal ob in Singapur oder in<br />

Karlsruhe oder in Rüppur, in Xiang-tan<br />

oder in Tettnang. Dieses Produkt hat eine<br />

ganz klare Anmutung. Und das ist das,<br />

wo die großen Industrieunternehmen hin<br />

wollen, was diese Marken-Comodity-Produzenten<br />

erreicht haben. Und da wollen<br />

auch die Dienstleister hin. In diesem<br />

Jahr läuft eine gigantische Global-Marketing-Maschine<br />

unter dem Stichwort:<br />

„WM 2006“.<br />

Durch unsere höchstrichterliche Entscheidung<br />

hat sie eine kleine Macke<br />

gekriegt, weil jetzt entschieden wurde,<br />

dass auch Bäcker WM-Brötchen herstellen<br />

dürfen und die Marke nicht unendlich<br />

breit geschützt werden kann. Aber<br />

das ist eine international aufgestellte<br />

Organisation, die über ein einheitliches<br />

Regelwerk verfügt, die über einheitliches<br />

Marktsystem verfügt, über eineinheitliches<br />

Sanktionssystem verfügt, das absolut<br />

akzeptiert wird und über das nicht<br />

diskutiert wird. Selbst wenn es im einen<br />

oder anderen Fall unsinnig erscheint.<br />

Das ist die Weltfußballorganisation. Bis<br />

hinunter bei uns als Bundesliga oder als<br />

deutsche Fußballliga dargestellt. Und<br />

diese Organisation erzeugt, und das<br />

ist auch wichtig für einen Global Player,<br />

ein einheitliches Produkt. Jetzt ist es<br />

sehr schwierig, im Sport, im Fußball zu<br />

beschreiben, was das Produkt ist, das<br />

die Fußballvereine produzieren. Fällt<br />

Ihnen da was ein? Freude, Spannung,<br />

Spaß. Ich mache es kurz: Emotionen,<br />

große Gefühle, sind wir uns da einig? Das<br />

ist genau das, was auf dem Sportplatz<br />

gefordert wird, deswegen gehen 40.000<br />

Menschen am Samstag Nachmittag hin.<br />

Warum gehen die Menschen so gerne<br />

zum Fußball? Nicht nur um diese großen<br />

Gefühle zu spüren, weil sie neugierig<br />

sind, wie dieses Schauspiel endet.<br />

Und es ist der Riesenunterschied zum<br />

Theater, Sie haben alle den deutschen<br />

Bildungskanon durchlaufen. Sie haben<br />

alle noch zuhause Ihre Reclam-Heftchen<br />

stehen. Sie haben alle „Kabale und<br />

Liebe“ gelesen von unserem Landsmann<br />

Friedrich Schiller, und Sie wissen alle,<br />

wie „Kabale und Liebe“ ausgeht. Sie<br />

wissen, wie der „Kaufmann von Venedig“<br />

ausgeht. Sie wissen, was am Schluss mit<br />

der „Glocke“ passiert, mit dem „Meuchelmörder,<br />

mit dem Dolch im Gewande“.<br />

Sie kennen das alles bis zum Schluss,<br />

weil Sie das durchlaufen haben. Aber Sie<br />

wissen nicht, wie der VfB am Samstag<br />

gegen Schalke 04 spielt. Sie können jetzt<br />

spekulieren, aber das ist genau die Faszination,<br />

von der ich die ganze Zeit rede.<br />

Ich habe gerade eine Statistik gelesen,<br />

wo sie die Menschen im Vorfeld der WM<br />

gefragt haben, „interessieren Sie sich<br />

für Fußball?“ Wissen Sie, wie viel von<br />

unseren 82 Millionen Bundesbürgern<br />

sich für Fußball interessieren? Jetzt zunehmend<br />

mehr. 50,1 Millionen Menschen<br />

interessieren sich für Fußball. Das kriegt<br />

keine andere Sportart hin, das kriegt<br />

keine andere Kulturkomponente hin, das<br />

kriegt kein Ereignis der Welt hin und ich<br />

komme nachher gleich noch darauf zu<br />

sprechen, was WM in Zahlen bedeutet.<br />

Aber hier sehen Sie, das Faszinosum Fußball<br />

erzeugt ein Produkt. In der Mitte gibt<br />

es eine faszinierende Grauzone. In dieser<br />

Grauzone sehen Sie genau dieses ganze<br />

Spektakel. Hier haben Sie Fans, hier haben<br />

Sie Medien, hier haben Sie die Politik,<br />

hier haben Sie Sponsoren, hier haben<br />

Sie Vermarkter, hier haben Sie Dienstleister,<br />

Merchandising-Kunden, Mitglieder,<br />

Rechtsformen, Managementstrukturen,<br />

hier spielt sich das ganze Leben rund um<br />

den Sport ab. Das ist der riesige Unterschied<br />

zu dem, was wir machen, zu dem,<br />

was Sie machen. Sie haben ein privates<br />

Gut, das Sie verwalten. Und wir haben ein<br />

38


sowohl privates als auch öffentliches Gut,<br />

bei dem alle mitreden. Bei dem Tausende,<br />

Millionen von Menschen mitreden,<br />

Anteil nehmen. Und sogar manchmal in<br />

einer Art und Weise Anteil nehmen, dass<br />

man fast meint, man hätte es hier mit<br />

einem Religionsersatz zu tun. Das geht<br />

ganz tief unter die Haut. Und ich merke<br />

das an manchen Stellungnahmen, wenn<br />

die Menschen enttäuscht sind durch<br />

Spielergebnisse. Hier werden Gefühle<br />

in einer Bandbreite freigesetzt, die man<br />

im menschlichen Leben Liebe oder Hass<br />

nennen würde. In dieser Bandbreite<br />

bewegen wir uns.<br />

Wenn die Organisation nicht funktioniert<br />

und Sie merken, dass Sie auf der Stelle<br />

treten oder zurückgehen, müssen Sie<br />

als Verantwortlicher handeln. Und beim<br />

Fußball ist es so, dass Sie nicht einen<br />

Kader von 26 hochbezahlten, mit langfristigen<br />

Verträgen ausgestatteten Spielern<br />

entlassen können, da müssen Sie das<br />

schwächste Glied im Kopf der Mannschaft<br />

suchen und das ist der Trainer.<br />

Im Prinzip ist es in der Industrie und in<br />

der freien Wirtschaft genauso.<br />

Und wir müssen uns mit dem Thema<br />

beschäftigen, da wir es hier natürlich mit<br />

einer hohen öffentlichen Anteilnahme zu<br />

tun haben. Ich konnte bei IBM machen,<br />

was ich wollte, das hat die Jungs in USA<br />

interessiert, aber meine Schwiegermutter<br />

überhaupt nicht. Heute ist das ganz<br />

anders. Heute redet meine Schwiegermutter<br />

mit, wie wir im linken Mittelfeld<br />

besetzt sind, weil sie jeden Tag auf drei<br />

Seiten Sport in allen Organen, die in<br />

Stuttgart erscheinen Informationen<br />

erhält. Wir machen aus unserem primären<br />

Produkt große Gefühle, die über<br />

die Wellen, über die Äther gehen, ins<br />

Fernsehen. Fußball ohne Fernsehen wäre<br />

nicht möglich. Das ist der größte Einzelfinanzierer<br />

in diesem Business.<br />

Über ein Drittel der Gesamteinnahmen<br />

jedes Fußballvereins kommen aus dem<br />

Fernsehgeschäft. Ein weiteres Drittel aus<br />

Sponsoring und Merchandising und nur<br />

ein Drittel aus den Zuschauereinnahmen.<br />

Jetzt fragen Sie sich natürlich – und jetzt<br />

sind wir direkt beim Vertrieb – was kann<br />

ein Fußballverein eigentlich beeinflussen?<br />

Stellschrauben. Haben Sie schon<br />

mal überlegt, welche Stellschrauben Sie<br />

haben in Ihrem Unternehmen, an dem<br />

Sie den Erfolg des ganzen Unternehmens<br />

beeinflussen können? Ich meine, das<br />

sind die landläufigen Stellschrauben.<br />

Reduzieren Sie mal Ihr Geschäft auf das<br />

Wesentliche. Also keine 120, sondern<br />

vier Kennziffern. Wenn Sie mein Geschäft<br />

beurteilen und mich nach vier Kennziffern<br />

fragen, würden Sie garantiert fragen,<br />

wie entwickelt sich dein Umsatz, wie entwickelt<br />

sich dein Profit. Wenn Sie sehen,<br />

wie sich mein Profit entwickelt, dann<br />

wissen Sie auch, wie sich meine Kosten<br />

entwickeln. Umsatz haben wir ja schon.<br />

Dann wollen Sie wissen, wie sich mein<br />

Marktanteil entwickelt. Ob ich marktanteilmäßig<br />

wachse oder ob ich schrumpfe.<br />

Und dann wollen Sie noch wissen, wie<br />

entwickelt sich Kundenzufriedenheit.<br />

Denn im Leben gibt es nichts Wichtigeres,<br />

als einen zufriedenen Kunden.<br />

Das ist auch im Fußball so, nur heißt<br />

da der Kunde Fan. Und hier wissen wir,<br />

von wem wir reden. Wenn ich diese vier<br />

Kennziffern abgefragt habe, dann habe<br />

ich genau gewusst, wo das Geschäft hier<br />

hin läuft. Ich habe versucht in so einem<br />

Leverage-Modell festzuhalten, worum es<br />

vertriebsmäßig und verwertungsmäßig<br />

eigentlich im Profisport geht. Es geht<br />

ums gleiche, wie bei Ihnen. Wir steigern<br />

die Erträge, wir wollen wachsen. Wir<br />

wollen als ein hervorragendes Unternehmen<br />

angesehen werden. Und was ist ein<br />

hervorragendes Unternehmen?<br />

Wenn wir über erfolgreiche Unternehmen<br />

reden, z.B. über SAP, was glauben Sie,<br />

weshalb es ein erfolgreiches Unternehmen<br />

ist? Weil sie wachsen, weil sie<br />

steigende Marktanteile haben, weil sie<br />

sehr stark expansiv im internationalen<br />

Geschäft sind, weil sie innovativ sind und<br />

weil sie satt im Markt liegen. Und wenn<br />

Sie Leute treffen, die von SAP kommen,<br />

dann wissen Sie, dass sie stolz auf ihr<br />

Unternehmen sind, auf ihre Produkte<br />

und das zeichnet erfolgreiche Unternehmen<br />

aus. Was wir mit unserem Verein<br />

machen wollen, ist ein erfolgreiches<br />

Unternehmen zu sein. Und was ist im<br />

Sport ein erfolgreiches Unternehmen?<br />

Ein erfolgreiches Unternehmen hat<br />

wachsende Mitgliederzahlen. Mitglied<br />

bedeutet für uns nicht 48,00 Euro im<br />

Jahr, das bedeutet für uns Power. Wir<br />

39


haben innerhalb von drei Jahren unseren<br />

Mitgliederbestand vervierfacht, sind der<br />

größte Verein in <strong>Baden</strong>-Württemberg,<br />

der fünftgrößte in Deutschland. Das ist<br />

Power. Mit 30.000 Mitgliedern stehst du<br />

anders da, als wenn du nur 7.500 hast.<br />

Das bringt den Mitgliedern und der Organisation<br />

Selbstvertrauen.<br />

Ich merke, wenn ich mit Sparkassenvorständen<br />

rede, wie stolz die Menschen auf<br />

ihre Bilanzsummen sind, auf ihren Profit,<br />

auf ihr Ranking in der Sparkassenorganisation.<br />

Ich bin die Nr. 5 in Deutschland.<br />

Das ist wichtig, das brauchen die Leute.<br />

Man arbeitet nicht nur für Geld und Zinsen.<br />

Man arbeitet auch, um stolz sein zu<br />

können, auf das, was man leistet. Wie viel<br />

Dauerkarten hat man verkauft, wie viel<br />

Zuschauer hat man im Schnitt, wie viel<br />

Merchandising-Umsatz macht man mit<br />

seinen Fans, mit seinen Fanartikeln. Wie<br />

viel Zuwachs hat man im Marketing-Bereich.<br />

Wir haben jetzt unseren Marketing-Umsatz<br />

in drei Jahren verdoppelt.<br />

Darauf sind meine Marketing-Leute<br />

stolz. Wir sind der einzige Club in ganz<br />

Deutschland, der alle Rechte selbst hält<br />

und selbst vermarktet. Schwäbisch, bodenständig,<br />

kein Outsourcing.<br />

Es gibt auch Agenturen, die sich anbieten,<br />

die zwischen 20 und 40 Prozent<br />

Provision bekommen und mir keinen<br />

einzigen Kunden, den ich nicht auch<br />

selber akquirieren könnte, bringen. Und<br />

darauf kommt es an. Wenn morgen einer<br />

kommt und sagt, ich biete dir ein paar<br />

Sponsoren an, an die du selbst nicht<br />

rankommst, dann werde ich hellhörig.<br />

Transfererlöse ist das Thema, was man<br />

im Sport natürlich auch als völlig normal<br />

sehen muss.<br />

Wir sind keine Briefmarkensammler, die<br />

Menschen sammeln und die Kader ohne<br />

Ende aufblähen. Wir leben davon, dass<br />

wir junge Leute sehr gut ausbilden, viele<br />

davon zu Lizenzspielern machen und<br />

wenn sie ihren Höhepunkt im Marktwert<br />

erreicht haben, eben auch zu einem anderen<br />

Verein transferieren. Dort können<br />

sie einen neuen Start machen, um dann<br />

das Geld in die Qualität der eigenen<br />

Mannschaft zu investieren und um<br />

wieder den Zyklus in Gang zu setzen, mit<br />

den eigenen Leuten etwas zu erreichen.<br />

Letzten Samstag sind fünf Spieler unserer<br />

Mannschaft auf dem Platz gestanden,<br />

die aus unserer eigenen A-Jugend<br />

kommen. Und das macht uns so schnell<br />

keiner nach. Sie müssen nur eins ganz<br />

klar sehen, wenn Sie mit der eigenen<br />

Jugend arbeiten, haben Sie nicht die<br />

schnellen Erfolge, wie wenn Sie fertige<br />

Spieler einkaufen. Das ist ein riesiger<br />

Unterschied. Und da braucht man schon<br />

etwas Geduld dazu und das muss man<br />

auch so akzeptieren. Deswegen werden<br />

wir jetzt nach der WM in einem großen<br />

Gebäude, das wir neben dem Stadion<br />

gebaut haben, unsere Jugendakademie<br />

in Betrieb nehmen. Dort werden Begabte<br />

im Alter von 15 Jahren internatsmäßig<br />

untergebracht, den Kindern ein qualifizierter<br />

Schulabschluss und natürlich eine<br />

optimale Förderung im Fußball zuteil.<br />

Das Carl-Benz-Center, direkt neben<br />

dem Stadion, ist eine große Dienstleistungslandschaft,<br />

die wir für unsere Fans<br />

geschaffen haben. Ein Hotel mit Gastronomie,<br />

einem großen Reha-Zentrum und<br />

dem größten Biergarten Stuttgarts. Und<br />

was ich oben gezeigt habe, das gilt auch<br />

für die Sparkassenorganisation und ihre<br />

Kunden, der Markt geht vom Tafelgeschäft<br />

hinein in die neuen Medien. Hier,<br />

ich nenn das mal VfB-Galeria. Ich komme<br />

gleich noch zu dem, was wir volumenmäßig<br />

dahinter sehen, aber das ist das<br />

Geschäft, das wir mit unseren Fans, unseren<br />

Kunden machen wollen. Dahinter<br />

steht natürlich eine Maschinerie, das ist<br />

unsere IT-Landschaft, die sich in nichts<br />

von großen Industrieunternehmen unterscheidet.<br />

Alle diese Instrumentarien<br />

habe ich auch bei IBM gehabt.<br />

Was sich dahinter verbirgt ist einfach.<br />

Bring Transparenz in dein Unternehmen,<br />

indem du die Zahlen, die normalerweise<br />

nur der Controller und sein Assistent<br />

richtig verstehen, auf die Kennziffern<br />

bringst, mit dem du dein Unternehmen<br />

steuerst. Unterleg die Zahlen farbig,<br />

damit du auf den ersten Blick erkennen<br />

kannst, ob du im grünen Bereich bist, im<br />

gelben oder im roten Bereich. Grün heißt<br />

„Go“, gelb heißt „Achtung“, rot heißt<br />

„Stopp“. Und das muss man durchziehen.<br />

Die Disziplin, die dahinter steckt,<br />

ist Balance Scorecard, verlangt von<br />

Ihnen konkrete Ziele, sonst können Sie<br />

nicht messen. Das ist ein wesentlicher<br />

Schritt. Dies verlangt von Ihnen eine<br />

klare Definition ihrer Prozesse und eine<br />

klare Definition ihres Zielerreichungspro-<br />

40


zesses. Jederzeit und zwar völlig unabhängig<br />

von Menschen, mit einer klaren<br />

Terminologie. Und durch diese Übung<br />

müssen Sie durchgehen, dann kriegen<br />

Sie Ihr Unternehmen Schritt für Schritt<br />

unter Kontrolle. Rechts Sports Planer<br />

heißt in der Industrie oder in Ihrer Wirtschaft<br />

Simulationsinstrument, Financial<br />

Simulation. Hier simulieren wir praktisch<br />

alle Einnahmeströme nach Best Case und<br />

nach Worst Case. Also fliegen wir in der<br />

ersten Pokalrunde raus, fliegen wir im<br />

UEFA-Cup raus oder qualifizieren wir uns<br />

erst gar nicht und stehen in der Tabelle<br />

ganz unten = Worst Case. Gewinnen wir<br />

das alles und kommen überall weiter =<br />

Best Case. Das können Sie am Anfang<br />

der Saison durchspielen fürs ganze Jahr.<br />

Und so nach unserer Erfahrung liegt<br />

dann die Realität als Real Case in der<br />

Mitte zwischen Best und Worst Case. Das<br />

ist das, was wir hier simulieren. Links<br />

unten, das ist das neueste, was wir eben<br />

zur Zeit in Angriff nehmen. Da zeige ich<br />

Ihnen gleich ein paar Shots draus, das ist<br />

Customer-Relationship-Management.<br />

Neue Managementinstrumente<br />

‣ Balanced Scorecard<br />

‣ CRM Microsoft<br />

‣ Sports Planner<br />

‣ KnowledgeMiner<br />

Das Problem für uns alle ist, wir haben<br />

mit den gleichen Kunden zu tun. In der<br />

Regel sind unsere Kundenbeziehungen<br />

sehr langfristig und der Kunde möchte<br />

von uns erkannt, wiedererkannt und<br />

wahrgenommen werden. Wir müssen<br />

über unser Geschäft Bescheid wissen.<br />

Und das ist genau das, was wir hier<br />

aufbauen, CAM, wir wollen die Beziehung,<br />

die wir zu unseren Kunden haben,<br />

darstellen, wir wollen jederzeit darauf<br />

zurückgreifen können und wir wollen<br />

aus dem bisherigen Konsumverhalten<br />

unserer Kunden ein antizipiertes<br />

Angebot entwickeln, und ich zeige Ihnen<br />

gleich, wie das geht. Und rechts davon,<br />

das ist ein neues Produkt, was wir gerade<br />

einführen, übrigens ein schwäbisches<br />

Softwareprodukt von USU in Ludwigsburg-Möglingen.<br />

Knowledge Miner ist nichts anderes,<br />

als ein Datenbanksystem, wo wir alles<br />

Wissen, was wir im Unternehmen haben,<br />

speichern. Da wird Wissensmanagement<br />

gespeichert, verschlagwortet und kombiniert<br />

mit dem, was wir an täglichem<br />

freien Wissen aus dem Internet bekommen<br />

können. Also, ich gehe rein in den<br />

Knowledge Miner und sage, ich habe<br />

eine ganz dringende Anfrage zum Thema<br />

„Sportwetten“; nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil<br />

dürfen Sportwetten<br />

nicht beworben werden. Da gehe ich rein<br />

und stelle auf einen Blick fest, was meine<br />

Presseabteilung zu dem Thema herausgegeben<br />

hat und was ich in meinen<br />

Reden bisher dazu gesagt habe, was sind<br />

offizielle Kommunikees und was sind<br />

z.B. Textstellen, die wir diesbezüglich<br />

gespeichert haben. Und dann kann ich<br />

noch über Internet täglich ermitteln, was<br />

zu diesem Thema die staatliche Sport-<br />

Toto, was z.B. ein privater Wettanbieter,<br />

wie Bet-and-Win veröffentlicht. Was<br />

sagt ein Liga-Konkurrent wie Bayern<br />

München oder Werder Bremen zu dem<br />

Thema. So etwas hat uns auch schon in<br />

der Industrie vorgeschwebt. Sie kennen<br />

ja alle den Spruch, wenn Siemens wüsste,<br />

was Siemens weiß. Den können Sie auf<br />

jede Sparkasse, Daimler Chrysler oder<br />

IBM anwenden. Die Unternehmen wissen<br />

viel mehr, als was sie kundtun. Und das<br />

ist das Thema. Wie kriege ich dieses<br />

Wissen in Griff und wie verhindere ich<br />

in der Außendarstellung Kakophonie?<br />

Dass jeder etwas zu dem Thema sagt und<br />

keine Koordination vorhanden ist. Das<br />

wollen wir mit diesem Instrumentarium<br />

sicherstellen.<br />

Und jetzt vielleicht zu unserem Thema,<br />

ganz wichtig, das, was wir jetzt gerade<br />

eingeführt haben. Customer Relationship<br />

Management ist nichts anderes, als<br />

das auf die Schiene zu bringen, was wir<br />

über unsere Kunden wissen. Ich benutze<br />

immer ein Beispiel, das Sie auch ganz<br />

leicht auf Ihre Erlebniswelt ummünzen<br />

können. Ich habe mein Studium mehr<br />

oder weniger an der Tankstelle meines<br />

Bruders verdient. Der hat sonntags<br />

immer jemanden gebraucht, weil er da<br />

41


freimachen wollte. Und ich habe nach ein<br />

paar Sonntagen festgestellt – Customer<br />

Relationship Management, damals habe<br />

ich den Begriff noch nicht gekannt – dass<br />

ich Relationships aufbaue. Weil am Sonntag<br />

in der Regel zu 80 Prozent immer die<br />

gleichen Leute zum Tanken kommen. Da<br />

wusste ich ganz genau, der tankt jetzt für<br />

20 Mark, dann nimmt er noch eine Bild<br />

am Sonntag mit, drei Jägermeister und<br />

zwei Peter Stuywesant. Und das hat sich<br />

jeden Sonntag wiederholt. Manchmal ist<br />

auch die Ehefrau gekommen, dann habe<br />

ich genau gewusst, jetzt fallen die Jägermeister<br />

und die Stuywesant weg, dafür<br />

nimmt sie Freundin oder Brigitte mit und<br />

vielleicht noch eine Schokolade. Ich habe<br />

im Laufe der Zeit meine Datenbank aufgebaut<br />

über das Verhalten meiner Kunden.<br />

Und genau das gleiche haben Sie in<br />

Ihren Einzelhandelsgeschäften, genau<br />

das gleiche haben Sie in Ihrer Bankfiliale,<br />

wo Sie wissen, die Frau bekommt immer<br />

eine Überweisung von ihren Kindern und<br />

die zahlt sie dann auf ihr Sparbuch ein<br />

und dann fragt sie, kann man auch den<br />

Zins nachtragen und solche Dinge. Diese<br />

Dinge wiederholen sich repetitiv. Das ist<br />

Customer Relationship Management. Ich<br />

habe ja auch damals an der Tankstelle<br />

Networking betrieben. Habe dies aber<br />

nicht gewusst. Ein Kunde hat mal gesagt,<br />

kennen Sie nicht jemand, der mir eine<br />

Karte für das und das Länderspiel besorgen<br />

kann. Dann sage ich, doch, mittags<br />

um drei kommt immer einer, der bei der<br />

Zeitung arbeitet und den frage ich. Ich<br />

habe meine Beziehung natürlich genutzt<br />

um Kundenbindung zu schaffen, um ihn<br />

mit einem anderen zusammenzubringen,<br />

um ihm – und jetzt kommt wieder ein<br />

Begriff, den ich damals nicht gekannt<br />

habe – einen Adit Value zu präsentieren,<br />

den Mehrwert.<br />

Individuelle Ansprache durch Kampagnen<br />

‣ Mehrdimensionale Selektionsabfrage<br />

• Cross-Selling am Beispiel Fan-Shop<br />

Ergebnisauflistung<br />

So, jetzt haben wir alle Begriffe zusammen.<br />

Die habe ich in meiner Tankstelle<br />

als 20-Jähriger schon erlebt, aber ich<br />

habe nicht gewusst, wie wichtig die in<br />

meinem Leben noch werden. All diese<br />

Dinge machen nämlich diesen Erfolg in<br />

jeder Betriebsorganisation aus. Und das<br />

Entscheidende ist, du musst mit diesem<br />

Instrumentarium spielend umgehen können.<br />

Hier z.B. ein Screen-Shot. So sieht<br />

das aus bei uns am Bildschirm, wenn wir<br />

in Customer Relationship reingehen.<br />

Wir können hier Abfragen starten in verschiedenen<br />

Dimensionen. Erste Dimension,<br />

ich will in meinem Datenbestand<br />

alle Mitglieder des VfB Stuttgart haben.<br />

Also alle, die einmal einen Antrag unterschrieben<br />

haben. Und dann zweitens will<br />

ich wissen, wer hat schon jemals etwas<br />

gekauft von diesen Mitgliedern, und das<br />

Dritte ist, wer von den Mitgliedern hat im<br />

letzten Jahr das Heimtrikot gekauft.<br />

Bei denen kann ich ja davon ausgehen,<br />

dass wenn wir ein neues Trikot bekommen,<br />

diese wieder ein Heimtrikot kaufen<br />

möchten.<br />

Individuelle Ansprache durch Kampagnen<br />

‣ Planung einer Kampagne<br />

Und jetzt warte ich nicht, bis die 30.000<br />

zufällig kommen, sondern schicke Ihnen<br />

das Angebot per E-Mail.<br />

Und Sie merken schon, wenn ich diese<br />

Story erzähle, weil Sie alle Markt- und<br />

Vertriebs-/Handelsorganisationsmenschen<br />

sind, wenn einer ein Trikot<br />

kauft, dann kauft er nicht nur ein Trikot.<br />

Dann will er die passende Hose dazu<br />

und den Overall, Regenschutz und wenn<br />

einer in diesem Zyklus drin ist, dann können<br />

Sie ihn auch irgendwann mal fragen,<br />

ob er zu einem internationalen Spiel<br />

mitfahren möchte. Und das ist Marketing.<br />

Das ist Marketing, dass ich alle meine<br />

42


Methoden, Mittel und Verfahren einsetze,<br />

um meine Produkte, meine Dienstleistungen<br />

marktmäßig zu verwerten. Die<br />

Relation kann ich hier locker herstellen.<br />

Das ist Customer Relationship Management.<br />

So machen es alle im Moment, die<br />

erfolgreich sind. Und dann noch eins,<br />

was natürlich von allergrößter Bedeutung<br />

ist, ist Channel Marketing. Über welchen<br />

Kanal gehe ich zum Kunden. Und<br />

da könnte ich Ihnen jetzt nochmals drei<br />

Stunden Vortrag halten, wie so etwas<br />

aussieht. Über welchen Kanal spreche<br />

ich meinen Kunden an? Das ist wichtig.<br />

Wenn Sie sagen, ich spreche meine Kunden<br />

über ein Ladenlokal an in 1A-Lauflage<br />

und die Kunden rechnen damit, dass<br />

Sie über E-Mail erreichbar sind, Sie aber<br />

kein E-Mail-Angebot oder E-Business-<br />

Angebot haben, sind Sie innerhalb kürzester<br />

Zeit tot. Und umgekehrt. Ich habe<br />

schon in meiner IT-Zeit Banker gefragt,<br />

was glauben Sie, wie in fünf Jahren Ihr<br />

Institut aussieht? Ich habe das vielleicht<br />

vor zwei, drei Jahren gefragt, wenn ich<br />

heute in meine Kreissparkassenfiliale<br />

reingehe, um irgendwas abzugeben oder<br />

irgendwelche Vordrucke zu holen, sieht<br />

das ganz anders aus. Sie sehen keine<br />

Kasse mehr, Sie sehen nicht mehr diese<br />

Panzerglasfenster, das Institut hat sich<br />

verändert. Und ich möchte mit Ihnen<br />

wetten, in fünf Jahren werden sich die<br />

Sparkassenfilialen noch weiter verändern.<br />

Die Brot-und-Butter-Geschäfte<br />

werden alle über E-Business abgewickelt<br />

werden. Und da sind wir bereit, als Verein<br />

mitzumachen.<br />

Und so sieht eine Dienstleistungslandschaft<br />

aus, wie ich sie vorhin<br />

beschrieben habe. Das ist ein 500 Meter<br />

langes Stück Straße am Neckarpark,<br />

genannt Mercedesstraße. Am oberen<br />

Ende sehen Sie das Stadion, am oberen<br />

Ende ist das Daimler Chrysler Werk<br />

Untertürkheim, wo 32.000 Menschen<br />

arbeiten. Darunter sehen Sie das Gottlieb-Daimler-Stadion,<br />

und dann kommt<br />

das Carl-Benz-Center, die Halle ist jetzt<br />

gerade vor der WM fertiggestellt worden.<br />

Vor der Porsche-Halle ist die Hanns-<br />

Martin-Schleyer-Halle. Das ist praktisch<br />

unsere Sportwelt. Auf der gegenüberliegenden<br />

Seite ist die Daimler-Welt. Da hat<br />

Daimler sein neues Museum gebaut, was<br />

ich Ihnen dringend ans Herz legen muss.<br />

Das müssen Sie sich anschauen, das ist<br />

das Allerfeinste, was Sie vom musealen,<br />

also nicht nur vom architektonischen<br />

her, sondern auch vom Ablauf her, vom<br />

Bildungsinhalt her, je gesehen haben.<br />

Der Besuch lohnt sich. Die werden<br />

in Ihrer Welt Museum, Technologiezentrum,<br />

Niederlassung, 1,2 Millionen<br />

Menschen bewegen, wir bewegen auf der<br />

linken Seite 800.000 Menschen im Jahr.<br />

Hier auf diesen 500 Metern bewegen sich<br />

im Jahr 2 Millionen Menschen. Das ist<br />

eine Frequenz, die mit in einer 1A-Kauflage<br />

mitten in der City in der Fußgängerzone<br />

vergleichbar ist.<br />

Und in diesem Bereich wird sich in Zukunft<br />

ein Teil des Kulturlebens abspielen<br />

und wir haben uns für diesen Vertriebsweg<br />

gerüstet. Sie müssen sich eins<br />

vorstellen, Sie brauchen eine Strategie<br />

für solche Dinge. Das sind ja nicht lauter<br />

Menschen, die das Daimler-Museum<br />

besuchen, die aus Stuttgart kommen. Da<br />

kommt ein Vater mit zwei Kindern aus<br />

Tettnang angereist, an einem Ferientag.<br />

Morgens um zehn ist er im Daimler-<br />

Chrysler-Museum und dann dauert<br />

statistisch gesehen ein Museumsdurchlauf<br />

zweieinhalb Stunden. Dann steht er<br />

auf der Straße, die Kinder haben Hunger,<br />

die wollen was sehen, die wollen noch<br />

was erleben, dann muss man ihnen ein<br />

Angebot machen. Oder sie steigen ins<br />

Auto und fahren wieder heim. Und genau<br />

diesem Umstand begegnen wir. Das<br />

ist ein Umstand, den wir vor drei, vier<br />

Jahren so noch nicht gesehen haben. Der<br />

aber heute klar zu unserer Vertriebsstrategie<br />

gehört, genauso wie das Internet.<br />

Wir partizipieren an dem Marketing-Ensemble,<br />

was sich hier unten entwickelt<br />

hat. Wir haben das jetzt mit diesem Carl-<br />

Benz-Center in einer 60-Millionen-Investition<br />

getätigt. Wir werden also einen<br />

großzügigen Bereich haben, in dem<br />

2.000 Menschen Platz finden. Ich hoffe<br />

nur, dass uns auch die Attraktivität einfällt,<br />

um die Menschen vor und nach den<br />

Spielen hier zu binden. Und jetzt noch<br />

ein Satz zu dem, was wir in den neuen<br />

Medien haben, damit Sie sich darauf<br />

einrichten können. Ich frage permanent<br />

unseren Shop-Bereich ab, wie hoch ist<br />

der Internetanteil? Als ich noch vor drei<br />

Jahren bei IBM war, da hatten wir so 10,<br />

15 Prozent und waren ganz stolz darauf,<br />

Tendenz stark wachsend. Hier bewegen<br />

wir uns in der Größenordnung von<br />

43


20, 30 Prozent. Wir sind jetzt im Moment<br />

gerade dabei, eine ganz neue Homepage<br />

zu gestalten, um die Verzahnung<br />

zwischen Internet und unserem Warenwirtschaftssystem<br />

noch enger zu gestalten.<br />

Und wenn ich Ihnen sage, dass wir<br />

800.000 Visits pro Monat haben, ohne<br />

dass wir ein spezielles Event, wie beispielsweise<br />

Champions League haben,<br />

bedeutet das für die Fachleute 7,5 Millionen<br />

Page Impressions haben wir im<br />

Durchschnitt jeden Monat. Da merken<br />

Sie, was für ein Potenzial dahinter ist.<br />

Diese Leute wollen nicht nur im Netz<br />

surfen, sie wollen Information, sie wollen<br />

was kaufen, sie wollen was mitnehmen,<br />

sie wollen etwas Bleibendes haben und<br />

wir müssen das bedienen. Und wir haben<br />

dadurch natürlich eine Außenwirkung,<br />

die auch für die Stadt Stuttgart von kolossaler<br />

Bedeutung ist. Die Sichtbarkeit<br />

eines Bundesligavereins wie dem VfB<br />

Stuttgart, in Verbindung mit dem, was<br />

wir in den neuen Medien erreichen, liegt<br />

nach Aussage eines Spezialinstituts für<br />

die Stadt Stuttgart bei rund 30 Millionen<br />

Euro wert im Jahr. Diesen Betrag müsste<br />

die Stadt Stuttgart, um den gleichen<br />

Bekanntheitsgrad zu erreichen, für<br />

Anzeigen oder Werbespots aufbringen.<br />

Und jetzt haben wir natürlich noch die<br />

Fußball-WM in diesem Jahr. Dass wir<br />

ein Ereignis haben, das – und jetzt ohne<br />

jegliches Pathos – seinesgleichen auf<br />

der Welt sucht. Keine Formel 1 und keine<br />

Olympischen Spiele können an die Popularität<br />

einer Fußballweltmeisterschaft<br />

heranreichen. 2002 wurde in 215 Länder<br />

übertragen, und das ist deutlich mehr als<br />

in der UNO sind.<br />

Und wir werden in diesem Jahr noch mal<br />

eine Steigerung haben. Wir werden rund<br />

30.000 Journalisten akkreditiert haben.<br />

Deutlich mehr, als bei den Olympischen<br />

Spielen in Athen. Und wir werden die<br />

höchsten TV-Einschaltquoten haben,<br />

kumuliert rechnen wir mit ungefähr<br />

30 Milliarden Zuschauern. Das ist das<br />

fünffache der Erdbevölkerung, die an<br />

diesem Geschehen teilnehmen werden.<br />

Warum, weil wir natürlich vor allem in<br />

den bevölkerungsreichsten Regionen<br />

Asien und Südamerika mit Fußball den<br />

Volkssport Nummer 1 haben. Da fällt das<br />

mangelnde Interesse in Nordamerika<br />

überhaupt nicht ins Gewicht. Aber, Sie<br />

müssen sich mal vorstellen, 30 Millionen<br />

Menschen kumuliert, bei einer Weltbevölkerung<br />

von 6 Milliarden. Und jetzt<br />

müssen Sie eines ganz klar sehen, um<br />

das Phänomen richtig zu erkennen, von<br />

diesen 6 Milliarden Weltbevölkerung haben<br />

zweidrittel noch nie in ihrem Leben<br />

einen Telefonhörer in der Hand gehabt.<br />

So ist das technische Gefälle. Aber an<br />

einen Fernseher, um Fußball zu schauen,<br />

kommt irgendwie jeder ran. In den<br />

Favellas, in den Vororten, in Feuerland, in<br />

Faroer, auf den wenig besiedelten Inseln.<br />

WM 2006 als Impulsgeber<br />

TV-Präsenz:<br />

• die WM 2002 wurde in 215 Länder übertragen<br />

(vgl. Mexiko ‘86: 166, Frankreich ‘98: 196)<br />

• rund 30.000 Journalisten werden während der WM 2006 in<br />

Deutschland anwesend sein<br />

• höchste TV-Einschaltquoten (höher als bei Olympia)<br />

1,1 Milliarden TV-Zuschauer beim Finale 2002<br />

rund 30 Milliarden Zuschauer insgesamt<br />

= 5-fache Erdbevölkerung<br />

Prognose 2006: bei 64 Spielen im Schnitt 500 Mio. Zuschauer<br />

Ich habe noch ein Bild vor Augen. Ich war,<br />

als ich in Ägypten war, in einer Lehmhütte<br />

einer Bauernfamilie. Und ich habe<br />

mir so im Stillen gedacht, die armen<br />

Menschen, wenn es da mal regnet, tropft<br />

alles durch. Bis ich in deren Hauptwohnraum<br />

gekommen bin und den neuesten<br />

Sony-Fernseher stehen sehe. Das Dach<br />

war nicht so wichtig in dieser Breitenlage,<br />

das Wichtige ist, am Weltgeschehen<br />

teilzunehmen über den Fernseher.<br />

Wir werden ungefähr 3 Millionen Zuschauer<br />

bei den 64 Spielen der FIFA-WM<br />

in den Stadien haben und davon rechnen<br />

wir ein Drittel ausländische Besucher. In<br />

Stuttgart werden wir sechs Spiele und<br />

rund 350.000 Besucher haben und wir<br />

rechnen mit rund 500.000 zusätzlichen<br />

Übernachtungen. Das ist immer das,<br />

was wir betonen. Das ist schon von der<br />

Mengenstruktur her keine Sache, die<br />

Stuttgart und die Stuttgarter Gastronomie<br />

und Hotellerie allein stemmen kann.<br />

Nie im Leben. Da spielt Karlsruhe, da<br />

spielen Tettnang, Reutlingen, Heilbronn<br />

und alle möglichen eine Rolle. Das ist ein<br />

Event, das die Region beschlagnahmt.<br />

Und entsprechend müssen wir uns auch<br />

aufstellen und entsprechend werden<br />

wir auch gefordert werden. Wenn die<br />

44


Freunde kommen, dann sind wir alle die<br />

Gastgeber. Nicht einige wenige, sondern<br />

wir als Region müssen hier hinstehen<br />

und müssen als Gastgeber fungieren.<br />

Und dann funktioniert wahrscheinlich<br />

auch das, dass wir Freude ausstrahlen,<br />

dass wir die Dynamik rüberbringen.<br />

Und ich kann Ihnen nur eins sagen, wenn<br />

es uns ernst ist mit dem Vertrieb eines<br />

positiven Images für unser Land, wenn<br />

es uns ernst ist, Produkte in diesem<br />

Land herzustellen, und da sind ja viele<br />

weltführende Produkte dabei, wenn es<br />

uns ernst ist, dann muss uns die WM<br />

ernst sein. Dann müssen wir uns mit<br />

ganzem Herzen einlassen, dass wir aus<br />

diesem Event für alle, die auf Deutschland<br />

schauen, und es werden Milliarden<br />

sein, müssen wir das Beste machen und<br />

mit dieser Botschaft möchte ich Sie gerne<br />

konfrontieren und jetzt aus meinem<br />

Speach entlassen. Ich wünsche Ihnen<br />

noch einen schönen Tag und wünsche<br />

uns eine erfolgreiche Weltmeisterschaft,<br />

vor allem hier im Wilden Süden.<br />

Vielen Dank.<br />

45


Unternehmensmotto als Programm:<br />

Hier bin ich Mensch.<br />

Hier kauf ich ein.<br />

Sehr geehrte Damen und Herren,<br />

nachdem mein Vorredner, Herr Staudt,<br />

gesprochen hat, habe ich wieder einmal<br />

gemerkt, dass es woanders immer leichter<br />

scheint, das Geschäft zu machen. Wie<br />

machen wir bei „dm-drogerie markt“<br />

denn das Geschäft? Wir sind Einzelhändler.<br />

Einzelhandel – das sagt schon<br />

der Name – ist ein Geschäft, das sehr<br />

standortbezogen ist. In Deutschland<br />

haben wir 850 Standorte und im Ausland<br />

haben wir weitere 900 Standorte. Jeder<br />

Standort, also jede dm-Filiale, hat andere<br />

Mitarbeiter, andere Kolleginnen und<br />

Kollegen, die dort arbeiten. Jede Filiale<br />

hat eine andere Wettbewerbssituation,<br />

jede Filiale hat eine andere Demographie<br />

und damit unterschiedliche Kunden um<br />

sich herum. Das zeigt: „Retail is Detail“<br />

– und es ist doch zugleich Global Business.<br />

Nun habe ich das Glück gehabt,<br />

dass ich vor 33 Jahren mit einem Laden<br />

anfangen konnte und erlebt habe, wie<br />

das Geschäft sich verwandelt, wie es<br />

durch unterschiedliche Aggregatzustände<br />

geht und dass das in einer positiven<br />

Entwicklung nur gehen kann, wenn jeder<br />

im Unternehmen sich mit entwickelt.<br />

Natürlich wird das Geschäft in der heutigen<br />

Größenordnung anders betrieben<br />

als zu der Zeit, in der es noch eine Filiale<br />

war, als es 100 Filialen oder 200 Filialen<br />

waren.<br />

Stets zu antizipieren, wie sich die Aggregatzustände<br />

in solch einem wachsenden<br />

Unternehmen verändern, habe ich für<br />

mich persönlich als die größte Herausforderung<br />

erlebt. Letzten Endes ist die<br />

46<br />

Frage: Wo ist die Henne und wo ist das<br />

Ei? Natürlich muss man sich persönlich<br />

entwickeln, um die Aufgaben zu meistern.<br />

Die Wachstumsmöglichkeiten<br />

sind also dadurch determiniert, wie sich<br />

die Gemeinschaft, erstens quantitativ<br />

und zweitens vor allem auch qualitativ<br />

entwickelt. Die Herausforderung dabei<br />

ist, wie man dem Applaus der Kunden,<br />

der das Geschäft dann treibt, nachkommt.<br />

Persönlich habe ich das so erlebt,<br />

dass ich immer den Eindruck hatte, die<br />

Sache wächst mir über den Kopf. Man ist<br />

also permanent in einer Situation, in der<br />

einem das Unternehmen über den Kopf<br />

wächst. Dieses „Über-den-Kopf-Wachsen“<br />

wird dadurch deutlich – das können<br />

Sie vielleicht in Ihren eigenen Organisationen<br />

auch erleben – dass die Komplexität<br />

stetig zunimmt. Wie schafft man es<br />

dann, den Herausforderungen gerecht zu<br />

werden?<br />

Erfolg hat Folgen. Doch, haben wir die<br />

Folgen auch im Auge? Können wir die<br />

Folgen antizipieren? Kann der Zuwachs<br />

an Bewusstsein die Komplexität, die<br />

immer wieder neue Komplexität durchdringen?<br />

Hier darf der Abstand natürlich<br />

nicht zu groß werden. Je größer der<br />

Abstand zwischen Komplexitätszuwachs<br />

und der Fähigkeit, mit dem Bewusstsein<br />

zu folgen, desto größer wird der Stress<br />

und die Überforderung. Und je größer<br />

der Stress und die Überforderung, desto<br />

größer ist die Gefahr, dass man unangemessen<br />

reagiert. Die Steigerung von<br />

Stress wäre dann Angst. Angst führt<br />

jedoch zu unangemessenen Verhaltensweisen.<br />

Das ist das große Problem.<br />

Prof. Götz W. Werner<br />

Geschäftsführer<br />

dm-drogerie markt


Je mehr der Einzelne mit seinen Fähigkeiten,<br />

mit seinem Bewusstsein, der<br />

Komplexität folgen kann, desto mutiger,<br />

vitaler und dynamischer ist eine Organisation.<br />

Das ist vereinfacht die Situation<br />

in einem wachsenden Unternehmen.<br />

Das Wachstum kommt von den Kunden.<br />

Wir müssen also alles, was wir tun daran<br />

orientieren, wie der Kunde darauf reagieren<br />

wird. Wenn man über Kunden spricht<br />

- und Kundenorientierung ist heute ein<br />

weit verbreitetes Wort - kann man das<br />

zum einen von den Phänomenen her<br />

betrachten. Zum anderen kann man es<br />

aber auch von dem, was zu den Phänomenen<br />

führt, anschauen - also von den<br />

Ursachen her. Die Frage ist dann nicht,<br />

was ist bewirkt worden, sondern was<br />

ist das Wirkende? Das kennen wir auch<br />

aus der persönlichen Gesundheit. Das,<br />

was wir mit unserem Gesundheitssinn<br />

sozusagen an uns selbst wahrnehmen,<br />

ist das eine. Aber das bewusste Erfassen<br />

der Ursachen ist etwas ganz anderes.<br />

Sie sitzen noch hier und sind noch nicht<br />

nach Hause gegangen, weil Sie erwarten,<br />

dass ich etwas sage, womit Sie<br />

etwas anfangen können. Sie rechnen<br />

mit meiner Produktivität. Als ich gefragt<br />

worden bin, ob ich hier einen Vortrag<br />

halten will, hätte ich mir genauso wie Sie<br />

vorstellen können, etwas anderes in der<br />

Zeit zu tun. Ich habe mir jedoch gesagt:<br />

In diesem Auditorium werden Menschen<br />

sein die empfänglich sind für das was ich<br />

sage. Das Verhältnis zwischen uns als<br />

Einzelhandelsunternehmen und unseren<br />

Kunden – in Deutschland kommen jeden<br />

Tag eine Million Kunden in unsere Märkte<br />

– ist das gleiche. Ich rechne mit Ihrer<br />

Empfänglichkeit, Sie rechnen mit meiner<br />

Produktivität, das ist die Grundbeziehung<br />

in einer modernen Gesellschaft:<br />

das Zueinanderkommen von Produktivität<br />

und Empfänglichkeit.<br />

Dies ist neu für unser Menschheitsbewusstsein<br />

– schauen Sie einmal in die<br />

Statistik. Im Jahr 1900, vor 106 Jahre,<br />

arbeiteten und lebten in Deutschland 40<br />

Prozent der Menschen in der Landwirtschaft<br />

- über 40 Prozent der Menschen.<br />

In der Landwirtschaft leben, was heißt<br />

das? Sich selbst versorgen und die<br />

Überschüsse zum Markt bringen. Aber<br />

in erster Linie, sich selbst zu versorgen.<br />

Heute arbeiten keine zwei Prozent mehr<br />

in der Landwirtschaft. Nur 106 Jahre später,<br />

nachdem es tausende von Jahren bis<br />

zurück zu Adam und Eva, also seit dem<br />

Rauswurf aus dem Paradies, immer so<br />

gewesen ist, leben wir in der absoluten<br />

Fremdversorgung. Es gibt niemanden<br />

mehr, der nur für sich selbst leistet. Jeder<br />

arbeitet für andere. Jeder rechnet damit,<br />

dass andere für ihn arbeiten. Jeder sollte<br />

sich auch dessen bewusst sein, dass<br />

andere mit seinen Leistungen rechnen.<br />

Das ist die moderne Form des Zusammenlebens.<br />

Dieser rasante Wandel von<br />

der Selbst- zur Fremdversorgung ist ganz<br />

neu für unser Menschheitsbewusstsein.<br />

Wir leben also faktisch in der Fremdversorgung,<br />

aber seelisch-emotional, mit<br />

unseren Herzen, sind wir noch in der<br />

Selbstversorgermentalität. Wir meinen,<br />

wir arbeiten für uns. Wir meinen,<br />

wir leben von unserem Einkommen. Es<br />

gibt sogar Menschen, die meinen, sie<br />

müssten für ihre Rente sparen, damit<br />

sie später von ihrer Rente leben können.<br />

Das ist ein gigantischer Irrtum. Auch ich<br />

werde später von den Menschen leben,<br />

die dann arbeiten. Wir leben immer von<br />

der Leistung anderer. Und wenn wir uns<br />

das nicht bewusst machen, dann können<br />

wir in Wirklichkeit gar nicht kundenorientiert<br />

sein. Unsere Tätigkeit erhält<br />

erst dadurch Sinn, indem der andere, für<br />

den wir leisten, damit etwas anfangen<br />

kann. Wenn der andere bereit ist, meine<br />

Leistung zu honorieren und mir dadurch<br />

erneut Raum gibt, diese Leistung zu<br />

erbringen. Dadurch dass der Kunde mir<br />

ein Einkommen zukommen lässt, gibt er<br />

mir die Möglichkeit, meine Leistung zu<br />

erneuern.<br />

Kundenorientierung – die Bedürfnisse<br />

des Kunden als das Maß für unser aller<br />

Tun – wirklich deutlich zu machen, das ist<br />

die Hauptaufgabe im Unternehmen. Dies<br />

müssen unsere Mitarbeiter, in Deutschland<br />

13.000 Kolleginnen und Kollegen, in<br />

den 850 Filialen und in ihrem Umfeld zur<br />

Geltung bringen. Die Kunden kommen<br />

- Gott sei Dank - jeden Tag in unsere<br />

Filialen. Im Schnitt sind es täglich etwa<br />

1.200 Menschen, die in jede einzelne Filiale<br />

kommen und die uns einerseits ihre<br />

Bedürfnisse bringen und andererseits<br />

das Geld bringen, damit wir Einkommen<br />

generieren können. Der Preis hat immer<br />

47


zwei Seiten. Der Preis definiert unsere<br />

Leistung und gleichzeitig strukturiert er<br />

die Einkommensbildung des Unternehmens.<br />

Wie schaffen wir es, dass die Kollegen<br />

sich an ihren jeweiligen Kunden orientieren?<br />

Dass sie sich nicht – und das ist das<br />

große Problem, das ich in den letzten 33<br />

Jahren erlebte – am Vorgesetzten orientieren.<br />

Wie schaffen wir es, dass wir wegkommen<br />

von dem, was tief in uns steckt:<br />

die Orientierung am Vorgesetzten. Ich<br />

nenne das „Hierarchiebewusstsein“, d.h.<br />

was will der Vorgesetzte, wie gefalle ich<br />

dem Vorgesetzten?<br />

Wie schaffe ich es nun, dass aus diesem<br />

Hierarchiebewusstsein ein Selbstbewusstsein<br />

entsteht, das den Wandel<br />

von der Vorgesetztenorientierung zur<br />

Kundenorientierung erst ermöglicht. Wir<br />

arbei-ten gesamtwirtschaftlich, geldwirtschaftlich,<br />

aber auch betriebswirtschaftlich<br />

hoch arbeitsteilig. Das heißt, jeder<br />

arbeitet immer für den Kunden – auch<br />

innerhalb des Unternehmens. Jeder ist<br />

auf die Leistung eines Vorlieferanten angewiesen.<br />

Folglich ist mein Kollege mein<br />

bester Kunde, meine Kollegin ist meine<br />

zuverlässigste Lieferantin. Das wäre<br />

Prozessbewusstsein. Ein Bewusstsein für<br />

den permanenten Leistungsaustausch.<br />

Wie kann ich dafür sorgen, dass der<br />

Lieferant sich meine Bedürfnisse zu<br />

Eigen macht und wie kann ich dafür<br />

sorgen, dass ich mir die Bedürfnisse<br />

meines Kunden zu Eigen mache? Das<br />

ist letzten Endes die Fragestellung. Je<br />

nachdem, wie gut es uns gelingt, diese<br />

Frage zu beantworten, desto mehr Erfolg<br />

werden wir haben. Desto mehr Kunden<br />

wie auch Lieferanten werden sich mit uns<br />

verbinden wollen. Auf diese Unterscheidung,<br />

zwischen binden und verbinden,<br />

kommt es mir besonders an! Wir reden<br />

oft von Kundenbindungsprogrammen.<br />

Sie kennen das. Mein Vorredner, Herr<br />

Staudt, sprach vorhin von Customer Relationship<br />

Management. Viele verstehen<br />

das als Kundenbindungsprogramme. Ich<br />

muss fragen: Wer lässt sich denn schon<br />

gerne binden? Ich lasse mich ungern<br />

binden. Mit der Bindung ist es immer<br />

problematischer geworden. Die Religionen<br />

kennen das und auch die Ehe als<br />

Bindung nimmt zunehmend ab. Selbst<br />

mit der Parteienbindung ist es nicht<br />

mehr so wie früher.<br />

Die Bindung in den Mittelpunkt zu<br />

stellen, ist ein großer Irrtum. Entscheidend<br />

ist, dass sich die Kunden mit uns<br />

verbinden. Entscheidend ist auch, dass<br />

sich die Lieferanten mit uns verbinden.<br />

Dass die Lieferanten sagen: dm ist<br />

der Kunde, den ich brauche, damit ich<br />

meine Ziele erreichen kann, und der<br />

auch mich immer wieder motiviert und<br />

herausfordert, mich im Wettbewerb zu<br />

verausgaben. Denn Wettbewerb ist die<br />

totale Verausgabung. Im Wettbewerb<br />

kann man nichts zurückhalten, man muss<br />

sich immer verausgaben. Das Gleiche gilt<br />

gegenüber den Kunden. Unsere Frage<br />

muss sein: In welcher Weise können wir<br />

mit unseren Kunden kommunizieren,<br />

dass die Kunden sich mit uns verbinden?<br />

Das heißt auch, wir müssen in unserem<br />

Geschäftsgebaren alles unterlassen, was<br />

das Geschäft „pusht“, sondern wir müssen<br />

Pull erzeugen. Wenn Sie unser Wettbewerbsverhalten<br />

im Handel anschauen,<br />

werden Sie sehen: In dieser Hinsicht<br />

unterscheiden wir uns dramatisch.<br />

Wenn Sie substantiell wachsen wollen,<br />

wenn Sie wirklich das Unternehmen so<br />

wachsen lassen wollen, dass es in Stabilität<br />

kommt, dass es auch nur die Aufgaben<br />

hat, die es leisten kann, dann vermeiden<br />

Sie alles, was pusht. Ich kann das<br />

jedem empfehlen, der in der Wirtschaft<br />

tätig ist. Jeder Push ist schädlich für ein<br />

Unternehmen und hat zur Folge, dass<br />

man in Gefahr läuft zu Hypertrophieren.<br />

Wie man auf der anderen Seite vor lauter<br />

Angst vor Hypertrophie anfängt, sich<br />

zu verfestigen. Sklerose, Herzinfarkt,<br />

Krebs, Wucherung. Das sind auch die<br />

Krankheitssymptome, die wir heute in<br />

der Gesellschaft haben. Ergo gilt es, den<br />

Ausgleich zu finden. Wie wir in unserer<br />

Lebensgestaltung die Mitte finden müssen,<br />

so auch im Unternehmen. Die Mitte<br />

zwischen Sklerose und Wucherung?<br />

Organisches Wachstum heißt natürlich,<br />

dass man nicht die eigenen Wachstumsziele<br />

in den Vordergrund stellt,<br />

sondern die Kundenpotenziale und auch<br />

die Mitarbeiterpotenziale. Organisches<br />

Wachstum ändert den Fokus, so dass das<br />

Ganze persönlicher wird. Es geht darum,<br />

den Kunden nicht als Verbraucher oder<br />

48


als Konsumenten zu sehen, sondern<br />

als Mitmenschen. Den Mitarbeiter nicht<br />

als Mitarbeiter zu sehen, sondern auch<br />

als Mitmenschen. Wir sprechen bei dm<br />

lieber von Kollegen als von Mitarbeitern<br />

und von Menschen statt Verbrauchern.<br />

Schauen Sie, auch der Kollege und die<br />

Kollegin in den Filialen müssen eine<br />

Möglichkeit haben, sich mit dem Unternehmen<br />

verbinden zu können. Unsere<br />

Bemühung darf nicht sein, die Mitarbeiter<br />

zu binden, sondern dass sich unsere<br />

Kolleginnen und Kollegen mit dem<br />

Unternehmen verbinden. Denn Kunden<br />

werden meist so behandelt, wie die<br />

Menschen im Unternehmen miteinander<br />

umgehen. Mein nächster Kollege oder<br />

meine nächste Kollegin: das ist mein<br />

wichtigster Kunde. Je besser ich diese<br />

innere Einstellung pflege, desto eher<br />

wird der Kunde, wenn er in eine dm-Filiale<br />

kommt, sagen: „Hier bin ich nicht nur<br />

Kunde, hier bin ich Mensch. Hier bin ich<br />

nicht der Verbraucher, hier bin ich nicht<br />

der Absatz, sondern hier bin ich Mensch.<br />

Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein.“<br />

Das Gleiche gilt, wenn Sie ins Unternehmen<br />

hinein schauen. Die Aussage<br />

der Mitarbeiter soll lauten: „Hier bin ich<br />

Mensch, hier steig ich ein. Hier mache<br />

ich mit.“ Denn eines dürfen wir nicht<br />

vergessen: Für die Menschen in einem<br />

Unternehmen ist das Unternehmen der<br />

Schauplatz ihrer Biographie. Man muss<br />

sich also fragen: Ist denn das Unternehmen<br />

für die Kunden da, oder die Kunden<br />

fürs Unternehmen? Sind die Mitarbeiter<br />

fürs Unternehmen da, oder ist das Unternehmen<br />

für die Mitarbeiter da? Je früher<br />

man sich diese Fragen stellt und je klarer<br />

man sie beantwortet, desto besser. Je<br />

nachdem, wie wir uns diese Frage beantworten,<br />

verändert sich die Färbung, wirkt<br />

es sich auf das Unternehmen anders aus.<br />

Lassen Sie mich als Nächstes die Einkommensbildung<br />

ansprechen. Auch das Phänomen<br />

der berühmten Anreizsysteme.<br />

Immer dann, wenn ich die Bezahlung im<br />

Unternehmen so gestalte, dass es einen<br />

fixen Anteil gibt und einen variablen Anteil,<br />

hat das zur Folge, dass der Einzelne<br />

zwangsläufig daran interessiert sein<br />

muss, die Möglichkeiten, die der variable<br />

Anteil bildet, voll auszuschöpfen.<br />

Aber: Damit werfe ich ihn in die Selbstversorgungssituation<br />

zurück. Er verliert<br />

dadurch den Blick für die Bedürfnisse<br />

des Kunden, weil sich seine eigenen<br />

Bedürfnisse vor die des Kunden schieben.<br />

Die berühmte und uralte Anekdote,<br />

in der ein Melkmaschinenverkäufer dem<br />

Bauern eine Melkmaschine verkauft und<br />

dafür dessen letzten zwei Kühe in Zahlung<br />

nimmt, kann nur dadurch passieren,<br />

dass er nicht die Bedürfnisse des Bauern<br />

im Auge hat, sondern das Erreichen<br />

seiner Umsatzprovision. Diese Einsicht<br />

zwingt dazu, radikal umzudenken. Dieses<br />

Umdenken versuche ich im Unternehmen<br />

seit zirka 15 Jahren zu kultivieren. Wenn<br />

jemand bei uns arbeitet und wenn er ein<br />

Einkommen bezieht, dann sind das zwei<br />

voneinander zu trennende Vorgänge.<br />

Denn das Einkommen dient nicht dazu,<br />

seine Arbeit zu bezahlen, sondern das<br />

Einkommen dient dazu, ihm das Arbeiten<br />

zu ermöglichen. Es ist evident, dass ohne<br />

Einkommen niemand bei uns arbeiten<br />

könnte. Ich glaube, es gibt ganz wenige,<br />

die sich das leisten wollten, denn in Wirtschaftsunternehmen<br />

finden Sie normalerweise<br />

keine Ehrenamtlichen. Dieses<br />

scheinbare Detail ist in Wirklichkeit ein<br />

Paradigmenwechsel, der die Verhältnisse<br />

gravierend verändert. Das garantiere ich<br />

Ihnen, weil ich mich inzwischen auf die<br />

Empirie stütze.<br />

Ein Unternehmen ist demnach kein<br />

Zusammenschluss von Selbstversorgern,<br />

sondern ich definiere die Unternehmensaufgabe<br />

als das „Miteinander-<br />

Füreinander-Leisten“. Unser Problem<br />

ist die Unfähigkeit zum Miteinander.<br />

Wir müssen deshalb alles unterlassen,<br />

was an die Selbstversorgungsmentalität,<br />

die noch ganz tief in uns steckt,<br />

appelliert. Nur dann wird der Blick frei<br />

für das Miteinander und nur so kommt<br />

der Kunde ins Bewusstsein. Das spüren<br />

die Kunden. In dem Moment, in dem<br />

ich Arbeit bezahle, appelliere ich an die<br />

Selbstversorgungsmentalität. Auf diese<br />

Weise gerät der Kunde aus dem Auge,<br />

er wird zum Objekt. Im Handel wird aber<br />

wunderbar deutlich, dass die Arbeit für<br />

die Mitmenschen keine Arbeit an einem<br />

Objekt ist wie in der Produktion, wie die<br />

Arbeit an Material, an Materie.<br />

Was unterscheidet aber die Produktionsarbeit,<br />

die alte Arbeit, von der<br />

neuen Arbeit, die sich unmittelbar an<br />

die Mitmenschen richtet? In der Produk-<br />

49


tionsarbeit ist es richtig, dass Produktivität<br />

herrscht – das ist auch das, was<br />

uns heute diesen ungeheuren Überfluss<br />

beschert. Sparsamer Umgang mit Zeit,<br />

also mit der Lebenszeit anderer Menschen<br />

und mit den Ressourcen der Natur.<br />

Das ist das Ziel einer jeden Produktivität,<br />

einer jeden Rationalisierung. Indem<br />

ich Geist auf Arbeit anwende, spare ich<br />

Arbeit, spare ich Ressourcen, wird die<br />

Arbeit entschwert. Was wir dadurch geschaffen<br />

haben ist, dass es heute keinen<br />

Mangel mehr gibt, sondern Überfluss.<br />

Wir haben die Welt der Maschinen und<br />

Methoden geschaffen, die uns befreit<br />

von dieser Produktionsarbeit. Die Produktivitätsentwicklung<br />

hat sich expotentiell<br />

entwickelt.<br />

Wenn einerseits die Märkte gesättigt<br />

werden und anderseits die Produktivitätsentwicklung<br />

zunimmt, dann<br />

werden wir frei von Produktionsarbeit.<br />

Aber schauen Sie bitte auf den großen<br />

Bereich, in dem es um Menschen geht.<br />

Hier herrscht Mangel. Wenn Sie in den<br />

Bereich der Kultur schauen, im Bereich<br />

des Sozialen, in den Bereich der Familienarbeit,<br />

in den Bereich der Kunst,<br />

auch insbesondere der Erziehung, der<br />

Bildung, der Altenpflege: Mangel, wo Sie<br />

hinschauen. Überall Mangel. Den Mangel<br />

können wir deswegen nicht bedienen,<br />

weil wir fixiert sind auf den alten Erwerbsarbeitsbegriff,<br />

auf weisungsgebundene,<br />

bezahlte Erwerbsarbeit. Wo gibt es<br />

das überhaupt noch? Nicht einmal mehr<br />

in der alten Arbeit.<br />

Produktivität ist in der Arbeit bei Menschen<br />

nicht gefragt. Was dort gefragt<br />

ist, ist mitmenschliche Zuwendung.<br />

Was in der alten Arbeit vorherrschend<br />

ist, ist das Prinzip der Sparsamkeit. Was<br />

in der neuen Arbeit gefragt ist, das ist<br />

Freigiebigkeit. Die alte Arbeit muss<br />

geplant werden. Dabei muss Weisung<br />

herrschen, das ist ganz klar. Aber in der<br />

neuen Arbeit braucht es eigene Initiative<br />

individuelle Spontaneität. Wenn Sie zu<br />

uns in eine Filiale kommen, was passiert<br />

denn dann? Kann ich das vorher planen?<br />

Das ist ein Moment der menschlichen<br />

Begegnung zwischen meiner Kollegin<br />

in der Filiale und Ihnen. Ich weiß weder,<br />

wann Sie kommen, noch in welcher<br />

Verfassung Sie kommen. Was in diesem<br />

Moment passiert, das macht den Unterschied.<br />

Das ist in Ihren Unternehmen<br />

letztlich nicht anders. Wir müssen uns<br />

nur darüber klar werden: Das braucht<br />

situative geistesgegenwärtige Initiative.<br />

Und diese ist nicht planbar, auch nicht<br />

mit der Balance Scorecard. Es heißt, wir<br />

müssen Rahmenbedingungen schaffen,<br />

die Initiative wecken. Innerhalb unserer<br />

Unternehmen können wir damit<br />

anfangen. Wir brauchen das volkswirtschaftlich<br />

selbstverständlich auch, aber<br />

betriebswirtschaftlich ist es absolut<br />

notwendig. Und Initiative weckende<br />

Rahmenbedingungen bedeuten: Die<br />

Mitarbeiter müssen Eigentümer ihres<br />

Prozesses werden.<br />

Subsidiarität ist daher für uns das Leitmotiv<br />

in der ganzen organisatorischen<br />

Gestaltung des Unternehmens. Die<br />

Organisation dient nicht zur Begrenzung<br />

dessen, was passiert, sondern zum<br />

Eröffnen von Gestaltungsräumen. Je<br />

mehr Menschen im Unternehmen die<br />

Bedürfnisse ihrer Kunden selbstständig<br />

wahrnehmen können, desto unternehmerischer<br />

wird das Unternehmen. Dafür<br />

ist ein Einzelhandelsunternehmen wie<br />

dm ein wunderbares Anschauungsbeispiel,<br />

weil wir lauter kleine Geschäfte<br />

machen. In den meisten Unternehmen,<br />

auch in einer Sparkasse, gibt es kleine<br />

Geschäfte, mittlere Geschäfte, große<br />

Geschäfte, und so gehen die Geschäfte<br />

auch durch die Hierarchie. Im Einzelhandel<br />

gibt es nur kleine Geschäfte. Folglich<br />

sind die kleinen Geschäfte die großen<br />

Geschäfte. Die großen Geschäfte werden<br />

bei uns gemacht von den geringfügig Beschäftigten,<br />

von den Teilzeitkräften, von<br />

den Mitarbeitern mit der größten Fluktuation,<br />

mit dem geringsten Ausbildungsstand,<br />

mit der geringste Bezahlung. So<br />

machen wir die großen Geschäfte. Wenn<br />

Sie zu uns in die Filiale kommen und<br />

ein Lehrling im zweiten Jahr kommt auf<br />

Sie zu, dann ist dieser für Sie in diesem<br />

Moment das Unternehmen. Er ist<br />

nicht nur der Lehrling im zweiten Jahr<br />

– das gleiche gilt für einen „Geringfügig<br />

Beschäftigten“ - sondern er ist in diesem<br />

Moment der Chef. Das ist die Kompetenz,<br />

die wir in diesem Moment zu bieten<br />

haben, wenn Sie zu uns in die Filiale<br />

kommen. Und das, was Sie in der Filiale<br />

erleben, das bildet die Marke. Das sind<br />

die Erfahrungen, die Sie mitnehmen. In<br />

diesem Moment entscheidet sich, ob Sie<br />

50


sagen: „Ich komme wieder“, oder ob Sie<br />

sagen: „Hier gehe ich nur noch hin, wenn<br />

ich unbedingt muss.“ Und weil wir ein<br />

sehr ubiquitäres Sortiment haben, wird<br />

deutlich, dass wir uns nicht darauf verlassen<br />

können, dass Sie zu uns kommen<br />

müssen.<br />

Diese Filigranität, die es bei uns im<br />

Geschäft gibt, die gilt es zu beachten. Sie<br />

ist charakteristisch für das, was ich als<br />

„neue Arbeit“ bezeichne. Wesentlich an<br />

der neuen Arbeit ist also, dass der Einzelne<br />

seine Arbeit als sinnstiftend erlebt.<br />

Die Frage, die ich bei dm, insbesondere<br />

in den Filialen, immer stelle ist: Haben<br />

die Kolleginnen und Kollegen bei uns<br />

einen Arbeitsplatz oder haben sie einen<br />

Einkommensplatz? Und ich kann Ihnen,<br />

in Ihren Unternehmen, auch nur empfehlen:<br />

Schauen Sie sich jeden Einzelnen<br />

an, versuchen Sie sich meditativ in ihn<br />

hinein zu versetzen und zu fragen, hat<br />

er einen Einkommensplatz oder hat er<br />

wirklich einen Arbeitsplatz. Die Führung,<br />

hat die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass<br />

möglichst viele Menschen im Unternehmen<br />

einen Arbeitsplatz haben. Einen<br />

Arbeitsplatz, der sinnstiftend ist, denn<br />

hier verbringt ein Mensch den Großteil<br />

der Zeit, die seine Biographie ausmacht.<br />

Jeder von uns ist ein Unternehmer.<br />

Unternehmer ist nicht nur eine einkommenssteuerliche<br />

Kategorie, sondern<br />

jeder ist Unternehmer. Warum? Das ist<br />

genau das, was die Menschen von den<br />

Tieren unterscheidet. Wenn wir hier alle<br />

als Giraffen geboren worden wären, dann<br />

wäre es ziemlich sicher, dass wir auch als<br />

Giraffen sterben. Aber weil wir jetzt diese<br />

Herausforderung - ich hätte fast „Glück“<br />

gesagt - haben, als Menschen geboren<br />

worden zu sein, muss sich erst noch<br />

herausstellen, als was für Menschen wir<br />

sterben werden. Denn: Mensch ist man<br />

nicht, sondern Mensch wird man.<br />

Führung ist nur dadurch legitim, dass es<br />

den anderen dazu verhilft, sich selbst zu<br />

führen. Führung muss also zur Selbstführung<br />

verhelfen. Das gelingt natürlich<br />

nicht immer. Aber, es kommt auf jeden<br />

Einzelnen an und jeder Einzelne, bei dem<br />

es gelingt, erfolgreich an dessen Entwicklungswilligkeit<br />

und -fähigkeit zu appellieren.<br />

Wenn wir das im Auge haben,<br />

dann entwickeln wir Interesse an unseren<br />

Mitmenschen und sehen ihn nicht nur als<br />

Kosten- und Leistungsfaktor, und sehen<br />

ihn auch nicht nur als Verbraucher und<br />

Kunden. Das prägt den Stil, das tangiert<br />

das Unternehmen und das wird vom<br />

Kunden wahrgenommen und bei der<br />

Verfolgung dieses Zieles dürfen wir uns<br />

nicht beirren lassen. Es gilt also, beharrlich<br />

im Bemühen und bescheiden in der<br />

Erfolgserwartung zu sein. Das heißt, dass<br />

man sich täglich überwinden muss.<br />

Die eigene Biographie zu gestalten, ist<br />

ein ganz dramatisches Unternehmen,<br />

das garantiert tödlich endet. Das, was<br />

dabei an Entwicklung stattfindet, ist irreversibel.<br />

Gerade zu den Jüngeren kann<br />

ich sagen, stellen Sie sich immer vor, wie<br />

das einmal sein wird, wenn Sie dann mit<br />

65, 70 auf Ihre Entwicklung zurückschauen.<br />

Meine Studenten habe ich einmal<br />

verblüfft, als ich in der Vorlesung sagte<br />

– es sind immer so 150, 180 Studenten<br />

im Hörsaal –: „80, 90 von Ihnen werden<br />

wahrscheinlich über 100 Jahre alt<br />

werden. Das ist doch eine ganz andere<br />

Lebensperspektive. Stellen Sie sich doch<br />

einmal vor, wenn Sie heute Anfang 20<br />

sind, dass die Wahrscheinlichkeit 100<br />

Jahre alt zu werden, dass dieses „Risiko“<br />

sehr groß ist. Leben Sie denn heute<br />

so, dass sich erwarten lässt, dass sie in<br />

einigermaßen physischer Verfassung<br />

100 Jahre alt werden? Gestalten Sie Ihr<br />

Leben so?<br />

Das ist eine Frage, die sich Jüngere im<br />

Jahre 1900 nicht stellen mussten. Damals<br />

war die Lebenserwartung irgendwo<br />

bei 40, 45 Jahren. Das muss man<br />

unseren jungen Menschen klar machen.<br />

Was jetzt verdorben wird, etwa bis zum<br />

30. Lebensjahr, was davor nicht veranlagt<br />

wird, das ist später nur noch sehr schwer<br />

einzuholen oder auszugleichen.<br />

Das gilt für ein Unternehmen in gleicher<br />

Weise. Das, was wir in unserem Unternehmen<br />

an Suboptimalem tun, das wird<br />

sich so leicht nicht mehr ausgleichen<br />

lassen. Jede Nuance ist wichtig.<br />

Also: beharrlich im Bemühen, bescheiden<br />

in der Erfolgserwartung und sich<br />

nicht bloß treiben lassen im Strom der<br />

Welt. Damit möchte ich meinen Vortrag<br />

beenden.<br />

51


Es gibt einen schönen Spruch von Goethe,<br />

der heißt:<br />

„Denn alle Kraft dringt vorwärts in die Weite,<br />

zu leben und zu wirken hier und dort.<br />

Dagegen engt und hemmt von jeder Seite<br />

der Strom der Welt und reißt uns mit sich fort.<br />

In diesem inneren Sturm und äußeren Streite<br />

vernimmt der Mensch ein schwer verstanden Wort.<br />

Von der Gewalt, die alle Wesen bindet,<br />

befreit der Mensch sich, der sich überwindet.“<br />

Vielen Dank.<br />

52


Einzelhandelsverband<br />

Finanzgruppe<br />

Verleihung des<br />

Zukunftspreises Handel<br />

<strong>Baden</strong>-Württemberg 2006<br />

Die<br />

Sparkassen-Finanzgruppe<br />

<strong>Baden</strong>-Württemberg<br />

präsentiert:<br />

Die<br />

Sparkassen-Finanzgruppe<br />

<strong>Baden</strong>-Württemberg<br />

präsentiert:<br />

Z u k u n f t s p r e i s H a n d e l B a d e n - W ü r t t e m b e r g 2 0 0 6<br />

„ V o n d e n B e s t e n l e r n e n “<br />

Z u k u n f t s p r e i s H a n d e l B a d e n - W ü r t t e m b e r g 2 0 0 6<br />

„ V o n d e n B e s t e n l e r n e n “<br />

Eine Initiative des<br />

Einzelhandelsverbandes <strong>Baden</strong>-Württemberg e.V. und des SparkassenVerbandes <strong>Baden</strong>-Württemberg<br />

unter Schirmherrschaft des Wirtschaftsministeriums des Landes<br />

Finanzgruppe<br />

Einzelhandelsverband<br />

Eine Initiative des<br />

Einzelhandelsverbandes <strong>Baden</strong>-Württemberg e.V. <strong>Baden</strong>-Württemberg e.V. und des SparkassenVerbandes <strong>Baden</strong>-Württemberg<br />

unter Schirmherrschaft des Wirtschaftsministeriums des Landes<br />

53


Handelsstandort<br />

<strong>Baden</strong>-Württemberg<br />

Verehrter Herr Präsident Vietz, Ihnen<br />

sowie Ihnen, liebe Frau Hagmann, Ihnen,<br />

verehrter Herr Hesselbarth, Ihnen<br />

meine Damen und Herren, die Sie sich<br />

dem baden-württembergischen Handel<br />

verschrieben haben, einen herzlichen<br />

Gruß. Und ich sage Ihnen, dass ich auch<br />

in diesem Jahr sehr gerne nach Karlsruhe<br />

zum Handelsforum gekommen bin.<br />

Denn klar ist, dieser Kongress hat in der<br />

Zwischenzeit nicht nur Tradition, sondern<br />

er hat vor allen Dingen auch einen guten<br />

Ruf. Einen guten Ruf als Plattform für<br />

Informationen über den Handel und für<br />

den Handel. Der Einzelhandelsverband<br />

<strong>Baden</strong>-Württemberg, der SparkassenVerband<br />

<strong>Baden</strong>-Württemberg, sie präsentieren<br />

auch in diesem Jahr renommierte<br />

Referenten zu aktuellen, hochinteressanten<br />

Themen. Dazu kann ich Sie nur<br />

beglückwünschen. Fast auch schon zur<br />

Tradition geworden ist in der Zwischenzeit<br />

die Verleihung des Zukunftspreises<br />

Handel im Rahmen dieses Forums.<br />

Dieser Wettbewerb, den der Einzelhandelsverband<br />

<strong>Baden</strong>-Württemberg und<br />

der SparkassenVerband <strong>Baden</strong>-Württemberg<br />

nun zum dritten Mal mit Erfolg<br />

durchführen, ist auch ein Instrument<br />

dafür, Vorbilder sichtbar zu machen. Ich<br />

glaube, wir brauchen solche Vorbilder<br />

mehr denn je, wir brauchen insbesondere<br />

Vorbilder, die den Menschen Mut<br />

machen. Wir brauchen Vorbilder wie die<br />

Gewinner dieses Zukunftspreises Handel<br />

<strong>Baden</strong>-Württemberg, die den Menschen<br />

Mut machen, unternehmerische Verantwortung<br />

zu übernehmen. Allein in<br />

den kommenden fünf Jahren werden es<br />

54<br />

60.000 Unternehmen sein, die in <strong>Baden</strong>-<br />

Württemberg vor der Frage stehen, wie<br />

geht es weiter? Der Seniorchef, die Seniorchefin<br />

gehen in den Ruhestand, aber<br />

noch ist nicht geklärt, wie das Unternehmen<br />

weiter geführt wird, viele Einzelhändler<br />

sind darunter. Noch vor fünf<br />

Jahren war es so, dass in 70 Prozent aller<br />

Fälle Sohnemann oder Tochter erklärt<br />

haben, ich mache weiter. Diese Zahl ist<br />

heute auf unter 50 Prozent zurückgegangen.<br />

D.h. es wird schwieriger, man wird<br />

mehr Externe gewinnen müssen.<br />

Wie auch immer, ich finde, die Politik, ja<br />

wir alle gemeinsam, haben die Aufgabe,<br />

dafür zu sorgen, dass unserer jungen<br />

Generation, unseren jungen Menschen,<br />

der Sprung in die Selbstständigkeit nicht<br />

erschwert, sondern erleichtert wird.<br />

Man muss nicht alles machen, was die<br />

Engländer tun. Aber wenn die Engländer<br />

hergegangen sind und gesagt haben,<br />

dass denjenigen Töchtern und Söhnen,<br />

die den Betrieb fortführen wollen im<br />

Erfolgsfall die Erbschaftssteuer erlassen<br />

werden soll, dann ist dies ein gutes<br />

Beispiel für das, was ich meine. Noch<br />

einmal, wir brauchen Vorbilder, dahingehend,<br />

dass wir Menschen Mut machen,<br />

insbesondere der jungen Generation<br />

Mut machen, diese unternehmerische<br />

Verantwortung zu übernehmen, und wir<br />

sollten alles tun, um den jungen Leuten<br />

diesen Schritt nicht zu erschweren,<br />

sondern zu erleichtern. Denn wir haben<br />

natürlich in dieser Frage, was Unternehmertum,<br />

Entrepreneurship, angeht, in<br />

Deutschland Nachholbedarf. Der Global-<br />

Entrepreneurship-Monitor, der jährlich<br />

Ernst Pfister, MdL<br />

Wirtschaftsminister<br />

des Landes<br />

<strong>Baden</strong>-Württemberg


das Gründungsgeschehen im weltweiten<br />

Vergleich analysiert, kommt zu dem<br />

Ergebnis, dass die Unternehmerkultur<br />

in Deutschland geringer ausgeprägt ist,<br />

als dies in jedem anderen europäischen<br />

Land der Fall ist.<br />

Nur 13 Prozent der Deutschen schätzen<br />

nach dieser Untersuchung die Chancen<br />

für eine Unternehmensgründung<br />

oder Unternehmensfortführung in ihrer<br />

Region günstig ein. Das ist so wenig, wie<br />

in keinem der anderen 34 beteiligten<br />

Länder.<br />

Und deshalb gestatten Sie mir, bevor<br />

ich nachher zusammen mit Herrn<br />

Hesselbarth die Sieger des diesjährigen<br />

Wettbewerbs auszeichnen werde, doch<br />

noch einige Bemerkungen zum Handelsstandort<br />

<strong>Baden</strong>-Württemberg zu<br />

machen. Nur einige wenige Zahlen: Rund<br />

53.000 Einzelhandelsunternehmen, die<br />

ihren Sitz in <strong>Baden</strong>-Württemberg haben,<br />

machen nach den aktuellsten Zahlen<br />

im Jahr 2004 rund 87 Milliarden Euro<br />

Umsatz. Nach einer Sondererhebung der<br />

baden-württembergischen Industrieund<br />

Handelskammer betrug die Zahl<br />

der Betriebsstätten des Einzelhandels,<br />

das sind vor allen Dingen die Ladengeschäfte,<br />

im letzten Jahr 136.000.<br />

Meine Damen und Herren, es wird Sie<br />

nicht überraschen, wenn ich Ihnen sage,<br />

dass sich der Handelsstandort <strong>Baden</strong>-<br />

Württemberg im Vergleich mit anderen<br />

Bundesländern auszeichnet durch eine<br />

überdurchschnittliche Kaufkraft. Bemerkenswerter<br />

finde ich die Tatsache, dass<br />

dieser Standortvorteil in der Zukunft<br />

trotz des demographischen Wandels<br />

noch größer werden wird. Jeder von<br />

Ihnen verbindet mit dem demographischen<br />

Wandel die Vorstellung einer<br />

schrumpfenden Bevölkerung mit entsprechenden<br />

negativen Konsequenzen<br />

für die Konsumnachfrage, auch für den<br />

Einzelhandel. Diese Vorstellung trifft für<br />

die allermeisten Bundesländer zu. Ausdrücklich<br />

nicht für <strong>Baden</strong>-Württemberg.<br />

<strong>Baden</strong>-Württemberg hat derzeit knapp<br />

10,8 Millionen Einwohner. Bis zum Jahr<br />

2025 wird die Bevölkerungszahl nach<br />

Berechnung des Statistischen Landesamtes<br />

noch um rund 4 Prozent auf etwa<br />

11,2 Millionen anwachsen. <strong>Baden</strong>-Württemberg<br />

profitiert dabei als attraktiver<br />

Wirtschafts- und Arbeitsstandort von<br />

der Zuwanderung aus dem In-, aber auch<br />

aus dem Ausland. Im Übrigen ist <strong>Baden</strong>-<br />

Württemberg das einzige Bundesland<br />

in Deutschland, das im Augenblick und<br />

auch in den nächsten Jahren noch einen<br />

Geburtenüberschuss vorweisen kann.<br />

Erst nach dem Jahre 2025 wird es in<br />

<strong>Baden</strong>-Württemberg zu einem Bevölkerungsrückgang<br />

kommen. Und erst im<br />

Jahr 2050 wird etwa wieder das heutige<br />

Niveau erreicht werden. Was bedeutet<br />

dies für den Einzelhandel? Erstens, die<br />

Zahl der Verbraucher wird in den nächsten<br />

zwei Jahrzehnten nicht abnehmen,<br />

sondern zunehmen. Und zweitens:<br />

<strong>Baden</strong>-Württemberg bleibt allein schon<br />

deshalb auch in Zukunft ein besonders<br />

attraktiver Handelsstandort.<br />

Meine Damen und Herren, während der<br />

Bevölkerungsrückgang den Handelsstandort<br />

<strong>Baden</strong>-Württemberg also erst<br />

auf sehr lange Sicht treffen wird, muss<br />

sich der Einzelhandel bereits heute auf<br />

einen nachhaltigen Wandel in der Altersstruktur<br />

unserer Bevölkerung einstellen.<br />

Der Anteil der Menschen im Alter von 60<br />

und mehr Jahren in der baden-württembergischen<br />

Bevölkerung lag im letzten<br />

Jahr bei 23 Prozent. Er wird bis zum Jahr<br />

2025 auf über 30 Prozent ansteigen und<br />

im Jahr 2050 auf etwa 36 Prozent weiter<br />

anwachsen. Diese Entwicklung ist für<br />

den Einzelhandel deshalb besonders<br />

interessant, weil diese Zielgruppe eine<br />

überdurchschnittlich große Kaufkraft<br />

besitzt. Das sind also diejenigen, die<br />

heute „Generation 50 plus“, „Best-Ager“<br />

oder „Perfect-Ager“ oder gar „Generation<br />

Gold“ genannt werden. Jedenfalls, die<br />

heutige Generation der über 50-Jährigen,<br />

die bereits mehr als 1/3 der deutschen<br />

Bevölkerung ausmacht, verfügt<br />

über 45 Prozent des frei verfügbaren<br />

Einkommens.<br />

Ich sehe in dieser Entwicklung Chancen<br />

für den mittelständischen Fachhandel<br />

und damit auch für den Handelsstandort<br />

Innenstadt. Ich schließe dies aus den<br />

Ergebnissen einer aktuellen Umfrage<br />

des Instituts für Handelsforschung an<br />

der Universität Köln, die das Institut<br />

vor kurzem bei Verbrauchern im Alter<br />

zwischen 50 und 89 Jahren durchgeführt<br />

hat.<br />

Danach zeichnet sich das Einkaufsverhalten<br />

von Senioren wie folgt aus:<br />

55


1. Durch Konsumfreude.<br />

Darauf habe ich hingewiesen.<br />

2. Durch Treue zur Einkaufsstätte.<br />

3. Durch Markenbewusstsein und<br />

4. durch den Wunsch nach besonderer<br />

Beratung und Information.<br />

Die Senioren besuchen mehr Geschäfte<br />

als jüngere, da sie kleinere und spezialisierte<br />

Geschäfte bevorzugen. Und mehr<br />

als jeder dritte Befragte lässt sich beim<br />

Einkaufen gerne beraten. Wenn ich dies<br />

zusammenfasse, sehe ich gute Chancen<br />

auch für mittelständische Unternehmen.<br />

Denn das Beispiel der Teilnehmer des<br />

Wettbewerbs Zukunftspreis Handel zeigt<br />

mir, dass eine ausgeprägte Kundenorientierung<br />

ein Markenzeichen vieler<br />

mittelständischer Einzelhändler ist.<br />

Erfreulich ist für mich auch ein Weiteres:<br />

Der Einzelhandel leistet einen wesentlichen<br />

Beitrag dazu, den jungen Menschen<br />

qualifizierte Ausbildungsplätze zur<br />

Verfügung zu stellen. Insgesamt bildet<br />

der baden-württembergische Einzelhandel<br />

mehr als 12.000 junge Menschen in<br />

den verschiedenen Einzelhandelsberufen<br />

aus. Dafür will ich Ihnen ausdrücklich<br />

meinen ganz besonderen Dank sagen.<br />

Aber, wir haben auch im Einzelhandel die<br />

etwas verrückte Situation, dass alle Welt<br />

nach zusätzlichen Ausbildungsplätzen<br />

schreit, dass aber regelmäßig zahlreiche<br />

Ausbildungsplätze gerade auch im<br />

Einzelhandel unbesetzt bleiben, obwohl<br />

jeder weiß, dass es dort attraktive Karrierechancen<br />

gibt. Das Wirtschaftsministerium<br />

fördert deshalb eine Ausbildungsoffensive<br />

des Einzelhandelsverbands,<br />

auch finanziell. Diese Ausbildungsoffensive<br />

soll die Attraktivität der Einzelhandelsberufe<br />

noch besser vermitteln. Sie<br />

umfasst ein Bündel von Maßnahmen,<br />

neben bewährten Maßnahmen auch eine<br />

innovative Internetlernplattform und die<br />

Schaffung eines Ausbildungsnetzwerkes<br />

aus Berufsberatern der Arbeitsagenturen,<br />

der Schulen und Unternehmen.<br />

Im Herbst sollen die neuen Materialien<br />

mit einer Vielzahl von Aktionen erstmals<br />

eingesetzt und erprobt werden. Ich wünsche<br />

dieser Kampagne, ich wünsche dem<br />

Einzelhandel, dass das Ziel erreicht wird,<br />

noch mehr junge Menschen für den Einzelhandel<br />

zu begeistern und damit noch<br />

mehr Ausbildungsplätze zur Verfügung<br />

stellen zu können.<br />

Meine Damen und Herren, als ich vor<br />

einem Jahr an dieser Stelle gesprochen<br />

habe, waren Stimmung und Situation im<br />

Handel eher düster. Heute - das Glas ist<br />

halb voll, nicht halb leer - kann ich mich<br />

gemeinsam mit Ihnen darüber freuen,<br />

dass sich die Geschäftserwartungen<br />

auch im Handel verbessert haben. Nach<br />

den langen Jahren der Flaute sind sie<br />

so gut wie schon seit über 5 Jahren<br />

nicht mehr. Und dies zu recht, wie auch<br />

Marktforschungsunternehmen unisono<br />

feststellen. Der Optimismus der Verbraucher<br />

ist so ausgeprägt wie zuletzt<br />

2001 vor der Einführung des Euro. Die<br />

wichtigsten Kaufanreize sind allerdings<br />

nicht Kauflustgefühle, sondern sehr<br />

rationale Überlegungen. Die von der<br />

Bundesregierung geplante Erhöhung der<br />

Mehrwertsteuer ist auch nach Einschätzung<br />

der Marktforscher ein wichtiges,<br />

wenn nicht sogar das wichtigste Motiv<br />

dafür, dass die Verbraucher teurere<br />

Anschaffungen, wie die von Möbeln,<br />

Autos, nicht länger aufschieben wollen.<br />

Wir sollten froh sein, dass der konjunkturelle<br />

Aufschwung erstmals nicht allein<br />

auf den Export zurückgeht, sondern auch<br />

ein Stück weit die Binnennachfrage eine<br />

Rolle spielt. Dies bedeutet aber auch,<br />

dass der sich endlich abzeichnende<br />

Aufschwung im Einzelhandel angesichts<br />

der angekündigten Mehrbelastungen<br />

durch die Mehrwertsteuer droht, im<br />

Sande zu verlaufen. Ich fürchte, dass wir<br />

im Jahr 2006 eine Welle haben, aber im<br />

Jahr 2007 eine Delle. Und deshalb bleibt<br />

es dabei: Die Landesregierung wird der<br />

geplanten Mehrwertsteuererhöhung<br />

nicht zustimmen.<br />

Ich setze mit Ihnen auch auf die Fußballweltmeisterschaft<br />

in diesem Jahr. Ich<br />

glaube, dass gerade für unsere ausländischen<br />

Fußballfans, und wir erwarten<br />

allein in <strong>Baden</strong>-Württemberg mehr als<br />

500.000 Gäste, dass gerade für die ausländischen<br />

Fußballfans Deutschland ein<br />

attraktives Einkaufsland ist. Wie der HDE,<br />

der Spitzenverband des Einzelhandels,<br />

feststellt, sind bei uns die Waren zum Teil<br />

bis zu 40 Prozent günstiger als in Frankreich,<br />

Spanien oder in anderen Ländern.<br />

Ein wichtiges Element der Gastfreundschaft<br />

während der Fußballweltmeisterschaft<br />

bilden für mich besucherorientierte<br />

Ladenöffnungszeiten. Sie stellen<br />

auch eine Chance für den Einzelhandel<br />

56


dar. In <strong>Baden</strong>-Württemberg sind für die<br />

Freigabe längerer Ladenöffnungszeiten<br />

während der WM, Frau Oberbürgermeisterin<br />

hat darauf hingewiesen, die Kommunen<br />

zuständig. Die Landesregierung<br />

hat den Städten und Gemeinden deshalb<br />

empfohlen, auf der Grundlage des § 23<br />

Ladenschlussgesetz die Ladenöffnungszeiten<br />

an Werktagen freizugeben und<br />

an den vier WM-Sonntagen die Öffnung<br />

der Läden von 14:00 Uhr bis 20:00 Uhr<br />

zu ermöglichen, wenn dafür vor Ort ein<br />

konkreter Bedarf besteht.<br />

Meine Damen und Herren, wenn Sie sich<br />

die Standorte der bisherigen Gewinner<br />

der Zukunftspreise Handel ansehen,<br />

dann fällt eines sofort auf: Ihre Geschäfte<br />

liegen, ebenso wie die der anderen<br />

Teilnehmer, alle in der Innenstadt. Das ist<br />

auch dieses Mal kein Deut anders. Ihre<br />

Zukunft hängt sehr eng mit der Situation<br />

ihrer Innenstadt zusammen. Ein wichtiges<br />

Instrument, um die Attraktivität<br />

der Innenstädte zu verbessern, bildet die<br />

Stadterneuerung. Das Wirtschaftsministerium<br />

stellt jährlich über 150 Mio. Euro<br />

für die Städtebauförderung bereit. Ein<br />

großer Teil davon fließt in die Innenstädte<br />

der Klein- und Mittelzentren. Das<br />

Wirtschaftsministerium und die Wüstenrot-Stiftung<br />

wollen jetzt gemeinsam eine<br />

Innenstadtstudie erarbeiten. Wir wollen<br />

unter anderem wissen:<br />

1. Welche tatsächlichen Auswirkungen<br />

hat die intensive Städtebauförderung auf<br />

die Innenstadt der kleinen und mittleren<br />

Städte?<br />

2. Wie können wir erreichen, dass die Effizienz<br />

dieser Förderung noch gesteigert<br />

werden kann?<br />

3. Wie können wir die Stadterneuerung<br />

so weiter entwickeln, dass sie<br />

den aktuellen Herausforderungen, die<br />

unsere Innenstädte bewältigen müssen,<br />

bestmöglichst gerecht wird. Dabei geht<br />

es uns nicht zuletzt auch um die Innenstadt<br />

als einem wettbewerbsfähigen<br />

Einzelhandelsstandort. Deshalb soll in<br />

der empirischen Studie auch herausgearbeitet<br />

werden, wie die gegenwärtige<br />

Förderung mit nicht investiven Initiativen,<br />

also dem Stadtmarketing oder<br />

der kommunalen Wirtschaftsförderung,<br />

wirkungsvoll verknüpft werden kann.<br />

Also deutliche Verkoppelung auch mit<br />

anderen Bereichen, wie der kommunalen<br />

Wirtschaftsförderung oder dem<br />

Stadtmarketing, weil wir uns aus dieser<br />

Verknüpfung einiges versprechen. Ein<br />

erfahrenes Planungsbüro aus Freiburg,<br />

das von der Wüstenrot-Stiftung mit der<br />

Studie beauftragt wurde, wird dazu eine<br />

Auswahl von etwa 12 kleineren und<br />

mittleren Städten genauer untersuchen.<br />

Wesentlicher Bestandteil des Projekts<br />

sind Städtebefragungen und Expertengespräche.<br />

Eine Expertenrunde, in der<br />

auch der Einzelhandelsverband und die<br />

Industrie- und Handelskammern vertreten<br />

sind, wird die Initiative begleiten. Die<br />

interessantesten Zwischenergebnisse<br />

der Studie sollen im Rahmen des Stadtmarketingtages<br />

2006 präsentiert und<br />

vorgestellt werden. Ich würde mich sehr<br />

freuen, wenn ich dazu Sie am 6. November<br />

im Haus der Wirtschaft in Stuttgart<br />

begrüßen dürfte.<br />

Die Gewinner des Zukunftspreises Handel<br />

2006 kommen aus den Branchen „B“<br />

wie Buchhandel, „F“ wie Foto und „M“ wie<br />

Mode und Sport. Ich sage dies deshalb in<br />

alphabetischer Reihenfolge, weil ich den<br />

drei Besten des diesjährigen Wettbewerbs<br />

nicht die Spannung nehmen will ,<br />

ob sie erster, zweiter oder dritter Sieger<br />

geworden sind. Die folgende Vorstellung<br />

der Preisträger soll letzten Endes auch<br />

eines zeigen: Kleine und mittlere Handelsunternehmen<br />

können sich auch<br />

in Branchen mit Erfolg behaupten, die<br />

durch einen starken Strukturwandel gekennzeichnet<br />

sind. Dies ist ein gemeinsames<br />

Merkmal der sonst doch denkbar<br />

sehr unterschiedlichen Branchen<br />

Buchhandel, Foto, Sport. Das Beispiel der<br />

Sieger zeigt, ein klares Unternehmensleitbild,<br />

eine konsequente Kundenorientierung,<br />

eine offene Mitarbeiterorientierung,<br />

dies alles sind Voraussetzungen<br />

dafür, um sich in einem hart umkämpften<br />

Markt behaupten zu können.<br />

Die Sieger und ihre Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter haben heute allen Grund<br />

zur Freude. Sie können stolz sein auf<br />

ihre Leistung. Ich möchte aber auch den<br />

anderen Bewerbern Anerkennung zollen.<br />

Auch sie haben hervorragende Beweise<br />

ihrer Leistungsfähigkeit, ihres Könnens,<br />

ihrer Mitarbeiterorientierung vorgelegt.<br />

Dank schließlich nicht zuletzt auch<br />

Ihnen, den Damen und Herren der Jury<br />

für Ihr zeitaufwändiges Engagement. Sie<br />

haben es sich auch in diesem Jahr nicht<br />

57


leicht gemacht zu entscheiden, wer unter<br />

den herausragenden Bewerbern letztlich<br />

erster, zweiter und dritter Preisträger<br />

werden soll.<br />

Wie ich mir habe sagen lassen, war diese<br />

Entscheidung in diesem Jahr auf Grund<br />

der sehr unterschiedlichen Unternehmensgröße<br />

der Besten besonders<br />

schwierig. Also, herzlichen Dank auch für<br />

Ihre Mühe.<br />

Meine Damen und Herren, ich bin jetzt<br />

selbst sehr gespannt auf die Präsentation<br />

der siegreichen Unternehmen.<br />

Nutzen wir dieses Handelsforum, nutzen<br />

wir diesen Tag für eine gute Zukunft des<br />

baden-württembergischen Einzelhandels.<br />

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.<br />

58


1. Preis<br />

Reischmann<br />

Mode + Sport<br />

„Miteinander Spaß an Mode und Sport“<br />

– formuliert das Unternehmen sein<br />

Leitbild. „Erfolg“, so die Überzeugung im<br />

Hause Reischmann, „hat man nur, wenn<br />

Spaß dabei ist. Spaß ist nicht nur das<br />

Gegenteil von Ernst. Spaß ist auch Fleiß,<br />

Ausdauer und Zielorientierung.“ Dieses<br />

Leitbild wurde bereits im Jahr 1993<br />

gemeinsam von Unternehmensleitung<br />

und Mitarbeitern als so genannte Vision<br />

entwickelt und ist heute täglich präsent<br />

und für Mitarbeiter wie Kunden erlebbar.<br />

Jeder neue Mitarbeiter erhält deshalb<br />

das Unternehmensleitbild bereits an seinem<br />

ersten Arbeitstag. Die Vision bildet<br />

die Basis für das Handeln, gilt über alle<br />

Unternehmensentscheidungen hinweg<br />

und ist zugleich Grundlage bei den regelmäßigen<br />

Mitarbeitergesprächen.<br />

Inhaber / Geschäftsführer:<br />

Roland, Wolfgang<br />

und Thomas Reischmann<br />

Gründungsjahr: 1860<br />

Zahl der Beschäftigten: 600<br />

davon Auszubildende: ca. 60 (in allen<br />

Häusern in Ravensburg, Kempten und<br />

Memmingen)<br />

Sonstiges:<br />

Gewinner des Wirtschaftspreises der<br />

Stadt Ravensburg 2005,<br />

Gewinner des Standort Oskars des<br />

Wirtschaftsforum Pro Ravensburg 2004<br />

Internet: www.reischmann.biz<br />

Reischmann<br />

Mode + Sport<br />

Bachstraße 24 – 30<br />

88213 Ravensburg<br />

Dies überzeugte auch die Jury des<br />

„Zukunftspreises Handel <strong>Baden</strong>-Württemberg“:<br />

„Die dargestellten Leistungen<br />

der Firma Reischmann erfüllen in<br />

allen drei Kategorien (klares Unternehmensprofil,<br />

konsequente Kundenorientierung<br />

und offene Mitarbeiterorientierung)<br />

die Anforderungen, die sich an<br />

einen Preisträger des „Zukunftspreises<br />

Handel“ stellen“, begründet sie die<br />

Auszeichnung. Die Vielzahl der Serviceleistungen<br />

und Angebote an Kunden<br />

und Mitarbeiter ist herausragend, die<br />

betriebswirtschaftlichen Daten unterstreichen<br />

den Erfolg der Firma.<br />

59


2. Preis<br />

Foto Wöhrstein<br />

Seit Einführung der digitalen Fotografie<br />

ist der Markt für klassische Fotogeschäfte<br />

schwieriger geworden. Foto-Wöhrstein<br />

ist dieser Entwicklung frühzeitig in zwei<br />

wesentlichen Punkten entgegengetreten:<br />

durch den besten Service „rund um das<br />

Bild“ und das oberste Ziel, den Mitbewerbern<br />

immer einen Schritt voraus zu sein.<br />

In Zusammenarbeit mit einem BWL-Studenten,<br />

dem Marktforschungsunternehmen<br />

GfK, Nürnberg, und dem Südkurier<br />

wurde eine detaillierte Marktübersicht<br />

in der Region erarbeitet und daraus<br />

die Positionierung der eigenen Firma<br />

abgeleitet bzw. erweitert. Es existieren<br />

klare und schriftlich formulierte Unternehmensgrundsätze<br />

(nach dem Schmidt-<br />

Colleg, Bayreuth).<br />

Die Jury des „Zukunftspreies Handel“<br />

findet: Die Firma Foto-Wöhrstein ist ein<br />

sehr positives Beispiel dafür, dass auch<br />

in schwierigen Zeiten und auf schwierigen<br />

Märkten der Fachhandel eine<br />

Chance hat. Das Unternehmen sei „Mutmacher“<br />

im Sinne des Motto des Preises:<br />

Von den Besten lernen.<br />

Inhaber:<br />

Reiner Wöhrstein<br />

Gründungsjahr: 1949<br />

Zahl der Beschäftigten: 8<br />

davon Auszubildende: 2<br />

Internet: www.foto-woehrstein.de<br />

Foto-Wöhrstein<br />

Ekkehardstraße 21<br />

78224 Singen<br />

Für Inhaber Reiner Wöhrstein steht der<br />

kompetente, zielorientierte und zufriedene<br />

Mitarbeiter im Mittelpunkt der<br />

Firmenphilosophie: Das gesamte Team<br />

– viele davon sind langjährige Mitarbeiter<br />

in einer von hoher Fluktuation<br />

gekennzeichneten Branche – profitiert<br />

von der Transparenz im Unternehmen<br />

und der aktiven Einbeziehung aller in<br />

Sortimentsgestaltung, Ladengestaltung,<br />

Außendarstellung und wettbewerbsgerechter<br />

Kalkulation. Reiner Wöhrstein,<br />

in der Branche als Verkaufsprofi und<br />

Motivator bekannt, schult seine Mitarbeiter<br />

im eigens entwickelten Easy-Verkaufssystem.<br />

60


3. Preis<br />

RavensBuch<br />

GmbH<br />

„Kompetenz und Service“, so die Eigentümer<br />

von RavensBuch, „sind die<br />

Eckpfeiler unserer Firmenphilosophie.“<br />

Darüber hinaus ist RavensBuch mit<br />

seiner Größe und außergewöhnlichen<br />

Sortimentstiefe das Buchhaus in Ravensburg<br />

schlechthin.<br />

Es wird nur Fachpersonal beschäftigt,<br />

das ständig geschult und weitergebildet<br />

wird. Jeder Mitarbeiter verfolgt die aktuellen<br />

Bücher-Trends, ist in ständigem<br />

Kontakt mit – auch durchaus kleineren<br />

– Verlagen und hält direkten Kontakt mit<br />

den verschiedenen Zielgruppen am Ort<br />

und in der Region. RavensBuch arbeitet<br />

damit gegen den Trend zur seelenlosen<br />

Einheitsbuchhandlung und kann auf<br />

Marktänderungen schnellstmöglich<br />

reagieren. Die Mitarbeiterzahl ist zudem<br />

großzügig bemessen, um auch in Zeiten<br />

mit Engpass (Urlaub, Krankheit) bzw.<br />

erhöhtem Kundenandrang dem eigenen<br />

Service-Anspruch ohne Stress gerecht<br />

werden zu können. „Wir wollen uns in<br />

unserer Buchhandlung wohlfühlen. Und<br />

das geht nur, wenn sich die Mitarbeiter<br />

wohlfühlen“, ist Inhaberin Margarete<br />

Riethmüller überzeugt. Deshalb werden<br />

die Mitarbeiter in alle wichtigen Entscheidungsprozesse<br />

mit einbezogen.<br />

Hervorzuheben ist das soziale Engagement<br />

von RavensBuch: Konzerte und Lesungen<br />

stehen immer wieder zugunsten<br />

der SZ-Nothilfe, zugunsten von amnesty<br />

international oder von UNICEF auf dem<br />

Programm. Auf Initiative der Buchhandlung<br />

findet seit einiger Zeit auch in<br />

Ravensburg eine Kinder-Uni statt.<br />

Inhaber:<br />

Margarete und Michael Riethmüller<br />

Gründungsjahr: 1992<br />

Zahl der Beschäftigten: 24<br />

davon Auszubildende: 4<br />

Sonstiges:<br />

Buchhandlung des Jahres 2003,<br />

Standort-Oskar Ravensburg 2005<br />

beste Kinderbuchabteilung in <strong>Baden</strong><br />

Württemberg 2006<br />

Internet: www.ravensbuch.de<br />

RavensBuch GmbH<br />

Marienplatz 34<br />

88212 Ravensburg<br />

61


präsentiert:<br />

Z u k u n f t s p r e i s H a n d e l B a d e n - W ü r t t e m b e r g 2 0 0 6<br />

„ V o n d e n B e s t e n l e r n e n “<br />

Eine Initiative des<br />

Einze l h a n d e l s ve r bandes <strong>Baden</strong>-Württemberg e.V. und des SparkassenVerbandes <strong>Baden</strong>-Württemberg<br />

u n te r Schirmherrschaft des Wirtschaftsministeriums des Landes<br />

Einzelhandelsverband<br />

<strong>Baden</strong>-Württemberg e.V.<br />

Finanzgruppe

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