Tagungs- bericht - Sparkassenverband Baden-Württemberg
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Finanzgruppe<br />
<strong>Baden</strong>-Württemberg<br />
Handelsforum 006:<br />
Vertriebsstrategien im Handel<br />
– Trends für die Zukunft.<br />
<strong>Tagungs</strong><strong>bericht</strong><br />
10. Mai 2006 im Kongresshaus Karlsruhe<br />
Verleihung des Zukunftspreises Handel
Herausgeber<br />
SparkassenVerband<br />
<strong>Baden</strong>-Württemberg<br />
Am Hauptbahnhof 2<br />
70173 Stuttgart<br />
Juli 2006
Inhaltsverzeichnis<br />
Vorträge<br />
Begrüßung:<br />
Grundzüge einer Strategieentwicklung im Einzelhandel 6<br />
Tilmann Hesselbarth<br />
Verbandsgeschäftsführer<br />
SparkassenVerband <strong>Baden</strong>-Württemberg, Stuttgart<br />
Städte schaffen dem Handel Raum 14<br />
Beate Weber<br />
Oberbürgermeisterin der Stadt Heidelberg<br />
Zukunft findet Stadt!<br />
Wie wir morgen wohnen und leben –<br />
Abschied vom urbanen Pessimismus 23<br />
Prof. Dr. Horst W. Opaschowski<br />
Universität Hamburg<br />
Vom Kunden zum Fan<br />
Nationale Großereignisse – Impulse für den Handel? 37<br />
Erwin Staudt<br />
Präsident VfB Stuttgart<br />
Unternehmensmotto als Programm:<br />
Hier bin ich Mensch. Hier kauf ich ein. 46<br />
Prof. Götz W. Werner<br />
Geschäftsführer dm-drogerie markt<br />
Verleihung des Zukunftspreises Handel <strong>Baden</strong>-Württemberg 2006<br />
Handelsstandort <strong>Baden</strong>-Württemberg 54<br />
Ernst Pfister, MdL<br />
Wirtschaftsminister <strong>Baden</strong>-Württemberg<br />
Vorstellung der Preisträger<br />
1. Preis: Reischmann Mode + Sport 59<br />
2. Preis: Foto Wöhrstein 60<br />
3. Preis: RavensBuch GmbH 61
„Verkaufen heißt, dem Kunden behilflich<br />
sein, mit der Ware eine positive Vorstellung<br />
zu verbinden“, hat der Ökonom<br />
Helmar Nahr einmal sehr treffend gesagt.<br />
Damit sind wir bei einem Kernthema,<br />
das für alle Dienstleister heute oberste<br />
Priorität hat: die richtige Verkaufs- bzw.<br />
Vertriebsstrategie. Was nutzt die beste<br />
Ware, wenn keiner die Qualität kennt?<br />
Verkauf mit Pfiff ist gefragt. Dass es hier<br />
immer neue Wege zu beschreiten gilt, ist<br />
unbestritten.<br />
Sparkassen, Einzelhandel und Kommunen<br />
verbindet seit jeher ein gemeinsames<br />
Interesse: Das Wohlergehen der<br />
Bürgerinnen und Bürger in ihrer Stadt<br />
und ihrer Region. Die über Jahrzehnte<br />
gewachsene Partnerschaft zwischen<br />
Sparkassen und mittelständisch geprägtem<br />
Einzelhandel garantiert Stabilität<br />
und Wachstum in den Regionen. Das<br />
ist gut für die Menschen, die heimische<br />
Wirtschaft und das Land.<br />
Mit dem Handelsforum haben wir daher<br />
ein Forum für Einzelhandel, Kommunen<br />
und Sparkassen geschaffen, um gemeinsame<br />
Themen zu diskutieren. Namhafte<br />
Referenten, Pioniere und Leitfiguren<br />
aus <strong>Baden</strong>-Württemberg präsentieren<br />
ihre Erfolgsmodelle und zeigen, welche<br />
Chancen es für die Zukunft zu nutzen gilt.<br />
Der SparkassenVerband <strong>Baden</strong>-Württemberg<br />
mit seinen 56 Sparkassen und den<br />
Verbundpartnern Landesbank <strong>Baden</strong>-<br />
Württemberg, LBS <strong>Baden</strong>-Württemberg<br />
und SV SparkassenVersicherung ist nicht<br />
nur Mitveranstalter dieses Diskussionsforums,<br />
er versteht sich auch als Impulsgeber.<br />
Peter Schneider, MdL<br />
Präsident des SparkassenVerbands<br />
<strong>Baden</strong>-Württemberg
Vorträge
Begrüßung:<br />
Grundzüge einer Strategieentwicklung<br />
im Einzelhandel<br />
Meine sehr verehrten Damen und Herren,<br />
auch im Namen des mitveranstaltenden<br />
SparkassenVerbands <strong>Baden</strong>-Württemberg<br />
möchte ich Sie sehr herzlich<br />
begrüßen. Wir freuen uns, dass Sie heute<br />
unser Gast bei dieser Veranstaltung sind,<br />
die wir bereits seit mehreren Jahren sehr<br />
erfolgreich fortführen.<br />
Herzlich Willkommen!<br />
Vielleicht sollte ich den Titel des Vortrages<br />
ein bisschen revidieren, schließlich<br />
bin ich kein Einzelhändler sondern<br />
ein „Sparkassenmann“. Doch wollte ich<br />
damit bewusst Ihre Aufmerksamkeit<br />
wecken. Natürlich wage ich mich nicht<br />
in die Materie hinein, die nur Sie als<br />
Einzelhändler im täglichen Kampf und im<br />
täglichen Geschäft kennen können und<br />
beherrschen. Vielmehr geht es mir im<br />
Wesentlichen darum, Sie für das Thema<br />
Strategieentwicklung zu sensibilisieren.<br />
Wir erleben es immer wieder, entweder<br />
wird der Begriff „Strategie“ überstrapaziert<br />
für Dinge, die mit Strategie eigentlich<br />
gar nichts zu tun haben, oder aber, er<br />
wird gar nicht zur Kenntnis genommen.<br />
Ich möchte Sie daher heute anhand einiger<br />
Folien von der Notwendigkeit einer<br />
Strategieentwicklung überzeugen und<br />
Sie ein wenig mitnehmen auf die Spur,<br />
wie denn Strategieentwicklung und Strategiebeschreibung<br />
funktionieren könnte.<br />
„Als wir das Ziel aus den Augen verloren<br />
hatten, haben wir unsere Anstrengungen<br />
verdoppelt“. Das ist ein gern<br />
und vielzitierter Satz von Mark Twain und<br />
ich denke, für unsere heutige Situation<br />
in manchen Bereichen nicht verkehrt.<br />
Strategie beschreibt die Wege und damit<br />
die Themenfelder, die für die Erreichung<br />
von langfristigen Unternehmenszielen,<br />
man könnte auch von Visionen sprechen,<br />
notwendig sind. Dabei ist es völlig<br />
unerheblich, ob es sich um ein großes<br />
Unternehmen oder ein kleines, Familien<br />
geführtes Unternehmen handelt. Doch<br />
der Reihe nach. Dies sind die Punkte, die<br />
ich heute mit Ihnen abhandeln möchte:<br />
1. Gründe für strategisches Management<br />
2. Begriffsdefinition Strategie<br />
3. Zielformulierung<br />
4. Strategieentwicklung<br />
5. Strategielandkarte<br />
1. Gründe für strategisches Management<br />
Was sind die Gründe für strategisches<br />
Management? Letztendlich sind es die<br />
Faktoren, die Sie und ich tag, täglich in<br />
der gesamten Bundesrepublik von grossen<br />
bis zu kleinen Unternehmen erleben:<br />
steigender Wettbewerbsdruck<br />
immer kürzer werdende Produkt- und<br />
Produktlebenszyklen<br />
sich verändernde gesetzliche Rahmenbedingungen<br />
technologische Neuerungen<br />
Diese Faktoren wirken – ob wir es wollen<br />
oder nicht – auf unser tägliches Geschäft<br />
ein. Deshalb brauchen wir klare Visionen<br />
und damit definierbare Anforderungen<br />
für das Management, kurz: eine Strategie.<br />
Diese Strategie muss jedoch auch<br />
Tilmann Hesselbarth<br />
Verbandsgeschäftsführer<br />
SparkassenVerband<br />
<strong>Baden</strong>-Württemberg,<br />
Stuttgart
implementiert, also umgesetzt werden<br />
können, sonst nutzen weder Visionen<br />
noch Anforderungen.<br />
Ich möchte Ihnen einige Zahlen aus<br />
repräsentativen Umfragen zeigen, die<br />
aus meiner Sicht erschreckend sind:<br />
Auf die Frage: „Wie viele Mitarbeiter<br />
verstehen Ihre Firmenvision?“ D.h. wie<br />
ist es eigentlich den Inhabern oder dem<br />
Management gelungen, ihre Ideen, ihren<br />
Blick in die Zukunft, ihre Strategie in die<br />
Mitarbeiterschaft zu implementieren,<br />
die Mitarbeiter abzuholen? Sicherlich<br />
gelten diese Zahlen tendenziell eher für<br />
größere Unternehmen, aber ich denke,<br />
das können wir auch in den typischen<br />
baden-württembergischen Einzelhandelsbereich<br />
übertragen. Und Sie sehen,<br />
dass selbst bei der mittleren Führungsebene<br />
in Europa deutlich unter 50 Prozent<br />
die Firmenvision verstehen. Betrachten<br />
wir die Mitarbeiterebene, dann sehen Sie<br />
dort einstellige Zahlen. D.h. nur 7 Prozent<br />
der Mitarbeiter haben die Firmenvision<br />
verstanden!<br />
1. Gründe für strategisches Management<br />
Wie viele Mitarbeiter verstehen Ihre Firmenvision?<br />
71%<br />
59%<br />
40%<br />
40%<br />
Das zweite Schaubild ist auch nicht viel<br />
besser. Hier wird gefragt, wie hat die<br />
Implementierung, sprich die Umsetzung<br />
der Strategie eigentlich funktioniert?<br />
Und dort sehen Sie, dass zwar rund<br />
98 Prozent der deutschen Unternehmer<br />
strategische Arbeit als „wichtig“ einstufen,<br />
aber nur 50 Prozent mit dem Ergebnis<br />
ihrer Umsetzung zufrieden sind. Ich<br />
denke, das sind erschreckende Zahlen,<br />
die zeigen, wie wichtig es ist, dass wir<br />
uns im Kern mit der Strategieentwicklung<br />
in einem Unternehmen auseinandersetzen.<br />
Warum also strategisches Management“?<br />
Strategisches Management<br />
3%<br />
deshalb, weil wir zwei Dinge immer<br />
unterscheiden müssen: Strategieentwicklung<br />
bzw. Strategieumsetzung und<br />
Management. In anderen Worten gesagt:<br />
Ich muss immer dafür sorgen, dass ich<br />
das Richtige auch richtig tue. Es gibt den<br />
bösen Satz: Es ist viel schlimmer, wenn<br />
ich das Richtige falsch mache, als wenn<br />
ich das Falsche richtig mache. Deshalb<br />
muss ich in einem Strategieprozess<br />
erstens das Richtige erkennen und in<br />
einem zweiten Schritt dafür sorgen, dass<br />
ich das Richtige auch richtig tue.<br />
2. Begriffsdefinition Strategie<br />
Man kann Strategie mit drei Überschriften<br />
belegen: Strategie ist etwas<br />
Übergeordnetes, Strategie ist etwas<br />
Langfristiges und Strategie ist etwas<br />
Abstraktes. Aus diesem Grund muss<br />
man Strategien von operativen Maßnahmen,<br />
von Aktivitäten, klar abgrenzen.<br />
Nicht jede Verkaufsaktion, nicht jede<br />
Aktionswoche ist automatisch gleichzusetzen<br />
mit einer Strategie. Strategie<br />
greift weiter und betrifft Ihr<br />
Unternehmen als Ganzes,<br />
es handelt sich um etwas<br />
Übergeordnetes, das in der<br />
Regel langfristig angelegt<br />
USA<br />
Europa<br />
Obere Führungsebene Mittlere Führungsebene Mitarbeiterebene<br />
7%<br />
Quelle: Renaissance/CFO Magazine Survey<br />
Folie 1<br />
ist. Es hat auch nichts mit<br />
Strategie zu tun – erlauben<br />
Sie mir an dieser Stelle diese<br />
Randbemerkung –, wenn<br />
große Dax-Unternehmen im<br />
Jahresrhythmus ihre Vorstandsvorsitzenden<br />
auswechseln<br />
und dies gegenüber der<br />
Öffentlichkeit als „Strategiewechsel“<br />
ausgeben.<br />
Strategieentwicklung wird dort sehr<br />
häufig mit der „persönlichen Neigung“<br />
des neuen Vorstandsvorsitzenden verwechselt.<br />
Deshalb ist es gut, dass wir in<br />
Deutschland und in <strong>Baden</strong>-Württemberg<br />
einen Großteil unseres unternehmerischen<br />
Potentials in eigentümergetragenen<br />
mittelständischen Unternehmen<br />
haben, die den Aspekt der Langfristigkeit<br />
und der Nachhaltigkeit im Blickpunkt<br />
haben. Denn Sie als Unternehmer in<br />
Ihren Häusern, in Ihren Einzelhandelsunternehmen,<br />
Sie haben gar keine andere<br />
Perspektive, als Nachhaltigkeit. Sie<br />
denken Gott sei Dank nicht in 6-Jahres-<br />
Verträgen.
Daher brauchen Sie eine Strategie als<br />
etwas Übergeordnetes, als etwas Langfristiges<br />
und als etwas Abstraktes. Doch<br />
diese Strategie muss auch in der Praxis<br />
konkretisierbar sein. Ich werde mit Ihnen<br />
jetzt einen kurzen Gang durch eine Vielzahl<br />
von Begrifflichkeiten machen, die<br />
alle diesen Strategieprozess umschreiben.<br />
Lassen Sie mich beginnen mit dem<br />
Selbstverständnis. Es mag banal<br />
klingen, doch bevor Sie eine Strategie<br />
entwickeln – und ich meine, ohne diese<br />
kommen Sie heute nicht mehr aus –<br />
müssen Sie auch diesen ersten Schritt<br />
machen, nämlich klären, was Ihr Selbstverständnis<br />
ist. Niemand von Ihnen fängt<br />
bei null an und niemand bewegt sich im<br />
luftleeren Raum. Vielmehr müssen wir<br />
uns nach dem Selbstverständnis unserer<br />
Häuser fragen. Warum existieren wir?<br />
Warum existiere ich mit meinem Unternehmen,<br />
mit meinem Geschäft? Anders<br />
gefragt: Warum braucht mich der Markt?<br />
Warum brauchen mich die Kunden? Was<br />
ist es denn, was ich anbiete? Niemand<br />
ist um seiner selbst willen da. Daher<br />
muss ich etwas anbieten, ich muss etwas<br />
produzieren oder eine Dienstleistung zur<br />
Verfügung stellen, für das es auch einen<br />
Markt gibt. Also warum soll es ein Bekleidungsgeschäft<br />
in XY geben? Warum soll<br />
es eine Dienstleistungsfirma „Schnelles<br />
Essen auf flotten Rädern“ geben? Was<br />
bringe ich dem Markt? Welchen Bedarf<br />
befriedige ich?<br />
Woher kommen wir, wer sind wir?<br />
Dieses Selbstverständnis muss „langfristig<br />
stabil“ sein, was, wie ich vorhin<br />
erwähnte, in vielen Fällen, gerade in der<br />
Großindustrie, leider nicht der Fall ist.<br />
Diese Sinn- und Berechtigungsfrage<br />
sollte man aber nicht nur für sich selbst<br />
beantworten, man muss sie auch dem<br />
Markt, den Kunden, den Marktteilnehmern<br />
kommunizieren können. Die<br />
Existenzberechtigung muss nach außen<br />
wirken und kommuniziert werden und<br />
da gibt es Slogans wie zum Beispiel – ich<br />
zitiere ein Motto der Sparkassen –, „Wir<br />
handeln, damit Sie handeln können“.<br />
Die Frage, warum wir existieren, beantwortet<br />
sich für uns Sparkassen aus dem<br />
öffentlichen Auftrag. Wir sind dafür da,<br />
dass wir in der deutschen Bankenlandschaft<br />
in allen Regionen den Wettbewerb<br />
sicherstellen, dass wir über alle Kunden<br />
und alle Regionen hinweg die Menschen<br />
mit Finanzdienstleistungen versorgen.<br />
Das ist unsere Begründung im Markt.<br />
In der gleichen Weise müssen Sie sich<br />
fragen, warum braucht der Markt meine<br />
Dienstleistung. Warum braucht er meine<br />
Produkte.<br />
Die Frage nach innen: Gibt es ein Selbstverständnis<br />
im Sinne von gemeinsamer<br />
Werthaltung? Wir machen gewisse<br />
Dinge, oder wir machen gewisse Dinge<br />
nicht. Wir haben auch einen bestimmten<br />
Stil, warum wir bestimmte Dinge so<br />
anpacken und nicht anders.<br />
Selbstverständnis<br />
Sinn<br />
des Unternehmens<br />
Warum existieren wir?<br />
2 Dimensionen<br />
langfristig stabil<br />
Kultur<br />
des Unternehmens<br />
Wer sind wir?<br />
Wo kommen wir her?<br />
Folie 2<br />
Ich komme zum nächsten<br />
Begriff: Zukunftsbild oder<br />
Vision. Die erste Frage beim<br />
Selbstverständnis ist, warum<br />
braucht mich der Markt. Die<br />
zweite Frage ist die nach<br />
der Vision. Wie will ich denn<br />
aussehen, wie will ich diese<br />
Leistung, diese Dienstleistung,<br />
dieses Produkt erbringen?<br />
Und hier kann man<br />
sagen, im Gegensatz zum<br />
Selbstverständnis hat das<br />
Zukunftsbild oder die Vision<br />
eher einen Blick nach innen.<br />
Die zweite Frage nach dem Selbstverständnis<br />
richtet sich nach innen: Gibt<br />
es bei mir eine Historie? Muss ich diese<br />
Story neu entwickeln, neu erfinden?<br />
Lassen Sie mich dies an einem sehr<br />
markanten Beispiel verdeutlichen. Das<br />
weltumfassende Unternehmen Coca-Cola<br />
hat seine Vision in einem einzigen Satz
zusammengefasst, und das schon vor<br />
vielen, vielen Jahren, als noch niemand<br />
von Globalisierung sprach. Die Vision<br />
von Coca-Cola heißt frei übersetzt: „Nicht<br />
mehr als eine Armlänge bis zur nächsten<br />
Cola und das über die ganze Welt“. „Not<br />
more than a feet to the next cola all over<br />
the world“. Ich will jetzt nicht sagen,<br />
ob Cola gut ist oder schlecht. Aber<br />
jeder Coca-Cola-Mitarbeiter, egal ob in<br />
China, Argentinien, Kanada oder sogar<br />
am Nordpol, versteht, was mit dieser<br />
Vision gemeint ist. Coca-Cola möchte ein<br />
weltumspannendes Netz von Versorgung<br />
mit seinen Getränken sicherstellen. Nicht<br />
mehr als einen Meter, eine Armlänge bis<br />
zur nächsten Coca-Cola. Eine äußerst<br />
einprägsame Formulierung von Anfang<br />
an, die auch heute noch und in Zukunft<br />
ihren Wert hat, weil die Vision wahrscheinlich<br />
nie ganz greifen wird. Dies<br />
zeigt übrigens auch die Langfristigkeit<br />
einer Vision.<br />
Auf die Fragen, was sind wir (= Selbstverständnis),<br />
was wollen wir langfristig<br />
erreichen (= Vision) folgt die Strategie.<br />
Wie verbindet man Selbstverständnis<br />
und Vision mit der Realität? Die Antwort<br />
ist, man erstellt einen Plan, ein Vorgehen<br />
im Sinne einer Weg-Ziel-Beschreibung.<br />
Wie komme ich von A nach B nach C, um<br />
letztlich am Ziel anzukommen. Eine Strategie<br />
muss daher auch immer inhaltliche<br />
Aussagen aufzeigen. Mit welchen Potentialen,<br />
mit welchen Möglichkeiten und<br />
Fähigkeiten habe ich es zu tun? Dabei<br />
dürfen wir nicht aus den Augen verlieren,<br />
dass Strategie auf Langfristigkeit angelegt<br />
sein muss. Aus der Strategie heraus,<br />
ergeben sich dann im nächsten Schritt<br />
die Maßnahmen: Was ist konkret zu tun?<br />
Und hier ist häufig ein Manko festzustellen.<br />
Was nützten glitzernde Strategien<br />
in Hochglanzbroschüren, wenn sie nach<br />
kürzester Zeit wieder in den Schubladen<br />
verschwinden, weil es an Maßnahmen<br />
fehlt, weil sie sich nur in den Köpfen des<br />
Unternehmers finden, aber nicht kommuniziert<br />
werden. Was nicht kommuniziert<br />
wird, kann auch nicht mitgetragen und<br />
schließlich auch nicht praktiziert werden.<br />
Deshalb ist diese Reihenfolge zwingend:<br />
Selbstverständnis, Vision, Strategie und<br />
Maßnahmen. Die Strategieentwicklung,<br />
die Definition des Selbstverständnisses,<br />
das ist alles notwendig. Aber zum Ziel<br />
kommen wir in unseren Häusern nur,<br />
wenn wir auch konkrete Maßnahmen<br />
ergreifen.<br />
3. Zielformulierung<br />
In unserer Gesellschaft, in unseren Unternehmen,<br />
in der Unternehmensführung<br />
und in der Unternehmensforschung über<br />
„Ziele“ zu sprechen, ist immer wieder ein<br />
spannendes Thema. Wir stoßen dabei<br />
stets auf Begriffe wie Zielerreichung,<br />
Zielsetzung, Zieldefinition und ähnliche<br />
mehr. Nun kann man sehr wohl mit<br />
Zielen führen, ohne den Bereich abgearbeitet<br />
haben zu müssen, den ich Ihnen<br />
kurz angerissen habe. So kann ich für<br />
meine Mitarbeiter Ziele definieren, ohne<br />
sie in den Strategieprozess mit einzubinden,<br />
entweder weil ich keine Strategie<br />
habe, oder weil ich sie ganz einfach nicht<br />
kommunizieren will. Das ist möglich.<br />
Ob dieses Verfahren im Ergebnis jedoch<br />
effizient ist, wage ich sehr zu bezweifeln.<br />
Ich bin der festen Überzeugung, dass<br />
Menschen, dass Mitarbeiter, dass Kolleginnen<br />
und Kollegen immer dann ganz<br />
besonders intensiv mitarbeiten, wenn<br />
sie a) die Ziele kennen und b) sie auch<br />
verstanden haben, warum sie für diese<br />
Zielen arbeiten sollen.<br />
Ziele gibt es in Hierarchieform. Ein<br />
Gesamtunternehmen hat ein Gesamtunternehmensziel<br />
und dieses gilt es auf die<br />
entsprechenden Unterorganisationen<br />
(Abteilungen, Gruppen etc.) runterzubrechen.<br />
Ziele können auch unterschiedlich<br />
konkret sein. Sie müssen nur immer auf<br />
die konkrete Situation bezogen sein.<br />
Einfache, messbare Zielgrößen sind<br />
natürlich zu bevorzugen, da sie schnell<br />
und einfach zu kommunizieren und zu<br />
transportieren sind.<br />
Zielgrößen müssen zwar nicht zwingend<br />
messbare naturwissenschaftliche Größen<br />
umfassen, doch vereinfachen sie oftmals<br />
die Situation. Problematisch wird es,<br />
wenn unsinnige Kennzahlen im Raum<br />
stehen, die einfach nicht zielführend<br />
sind. Folgendes Beispiel: Sie nennen<br />
in einem Unternehmen, das stark auf<br />
Kommunikation ausgerichtet ist, eine<br />
Zielgröße wie, „wir wollen unsere Telefonkosten<br />
reduzieren, wir haben zu hohe<br />
Telefonkosten“ und sagen, „wir reduzieren<br />
die Kosten von 100 Tausend Euro<br />
auf 80 Tausend Euro“. Das ist natürlich
kontraproduktiv, weil Ihr Unternehmen<br />
auf Kommunikation ausgerichtet ist. Das<br />
Gleiche gilt auch für das häufig benutzte<br />
Beispiel Arbeitszeit zu Überstunden.<br />
Auch hier muss man immer wieder fragen,<br />
stand bei diesem Ziel die einfache<br />
Messbarkeit, oder stand wirklich eine<br />
Sinnhaftigkeit Pate.<br />
Strategieentwicklung ist immer notwendig<br />
– unabhängig von der Größe eines<br />
Unternehmens und auch unabhängig<br />
von der momentanen betriebswirtschaftlichen<br />
Situation. Auch wenn die Bilanzen<br />
hervorragend sind, muss sich das Haus<br />
schon heute Gedanken darüber machen,<br />
dass es auch morgen so bleibt. Strategieentwicklung<br />
ist ein steuerbarer Prozess,<br />
zerlegbar in drei große Schritte: nämlich<br />
in Analyse, Planung und Maßnahmen.<br />
In der Praxis läuft es in der Regel jedoch<br />
anders ab: wir machen die Analyse,<br />
ergreifen die Maßnahmen und hoffen,<br />
den Plan zu erreichen. Dabei müssen wir<br />
das Gestern berücksichtigen, das Heute<br />
beurteilen und das Morgen<br />
einkalkulieren.<br />
Die Zielformulierungen<br />
Leitsätze zur Formulierung der Ziele<br />
Die Handlungseckwerte sollen das künftige Handeln des Unternehmens beschreiben.<br />
Es sollen Zielzustände beschrieben werden.<br />
Sie sollen konkret durch Kriterien und Messgrößen messbar sein.<br />
Sie sollen auf einer generellen Ebene bleiben und keine quantitativen Aussagen enthalten.<br />
Die Ziele sollen durch konkrete Lösungen, die in weiteren Runden ausgearbeitet werden,<br />
erreicht werden.<br />
planbar<br />
messbar<br />
operational<br />
nachprüfbar<br />
widerspruchsfrei<br />
Im unteren Teil der Folie „Leitsätze zur<br />
Formulierung der Ziele“ sehen Sie aus<br />
der klassischen Betriebswirtschaftslehre<br />
heraus definierte Messgrößen<br />
für Zielerreichungen, die also planbar,<br />
messbar, operational, also auch wirklich<br />
beeinflussbar, nachprüfbar und widerspruchsfrei<br />
sind. Ziele müssen zudem<br />
eindimensional sein, sie müssen klar<br />
sein, sie müssen vermittelbar sein. Wissen<br />
Sie was zu tun ist, wenn ich Ihnen in<br />
einem Einzelhandelstextilgeschäft in Balingen<br />
auf der Friedrichstraße sage, „wir<br />
müssen besser werden“? Was macht ein<br />
Mitarbeiter, wenn der Chef sagt, wir müssen<br />
besser werden? Solche Dinge sind<br />
nicht operational, sind nicht nachprüfbar<br />
und nicht kommunizierbar. Es ist schnell<br />
gesagt, doch was kann der Mitarbeiter<br />
damit ganz konkret anfangen? Wenn<br />
wir mit Zielen arbeiten, sollten wir uns<br />
immer an diesen Leitsätzen und Kriterien<br />
orientieren.<br />
4. Strategieentwicklung<br />
Kriterien zur Formulierung der Ziele<br />
eindeutig<br />
kommunizierbar<br />
umsetzbar<br />
unmissverständlich<br />
klar<br />
Der nächste Schritt ist der<br />
Soll-Ist-Abgleich. Wo stehe<br />
ich heute im Verhältnis zu<br />
dem Ziel, das ich morgen<br />
erreichen will oder erreichen<br />
muss. Darauf folgt ein<br />
weiterer wichtiger Schritt:<br />
die Strategische Analyse,<br />
oder einfacher gesagt, die<br />
Lagebeurteilung. Bei einer<br />
strategischen Analyse geht<br />
Folie 3<br />
es darum, zu analysieren,<br />
wo stehen wir, wo haben wir<br />
Stärken und Schwächen, wohin können<br />
wir uns mit vertretbarem Ressourceneinsatz<br />
entwickeln. Dann gilt es, die<br />
Strategie selber zu definieren, sie zu<br />
beschreiben, um daraus letztlich einen<br />
Maßnahmenplan zu erstellen.<br />
Vorgehensmodell zur Strategieentwicklung<br />
Zukunftsbild<br />
entwerfen<br />
Selbstverständnis<br />
ermitteln<br />
Soll-Ist-Abgleich<br />
Strategische<br />
Analyse<br />
Strategieimplementierung<br />
Strategieformulierung<br />
Ausgangspunkt ist ein möglichst kurzes, einfaches und<br />
plakatives Bild der Zukunft.<br />
Hier gilt es den Blick nach innen zu richten und sich bewusst zu<br />
machen, welches menschliche Verhalten das Wertesystem des<br />
Unternehmens prägt.<br />
In dieser Phase soll ein Sinn für das Machbare entwickelt<br />
werden. Ggf. müssen „Zwischenstufen“ eingeplant werden.<br />
Voraussetzung für die Strategieformulierung ist die Kenntnis<br />
der Unternehmensumwelt und ihrer Entwicklung sowie die<br />
Stärken und Schwächen des Unternehmens.<br />
Aufbauend auf den Analysen entwirft das Unternehmen<br />
alternative Strategien, aus denen die zu realisierende Strategie<br />
nach einer Bewertung ausgewählt wird.<br />
Das Ziel dieser Phase ist es, die beschlossene Strategie in dem<br />
Unternehmen zur Anwendung zu bringen.<br />
„Zukunftsbilder entwerfen“ – was beinhalten<br />
Zukunftsbilder, was Visionen?<br />
Zukunftsbilder sind immer ambitioniert,<br />
sie müssen aber auch greifen. Daher<br />
müssen Sie, meine Damen und Herren,<br />
eigentlich mehr an das Übermorgen, als<br />
an das Morgen denken und Sie dürfen<br />
auf gar keinen Fall im Heute verhaftet<br />
sein. Zukunftsbilder müssen auch<br />
emotional sein. Denken Sie nur an den<br />
Spruch von Coca Cola. Sie können andere<br />
Visionen, Zukunftsbilder entwickeln, wie<br />
Folie 4<br />
10
z.B. wir sind die Nr. 1 in Balingen, wir<br />
sind der Dienstleister XY in Bad Mergentheim.<br />
Wir sind die Größten in<br />
Freiburg usw. Für alle Zukunftsbilder<br />
gilt, sie müssen gut vorstellbar, bildlich<br />
und griffig sein, damit sie von unseren<br />
Mitarbeitern „verstanden“ werden, d.h.<br />
im Klartext, es muss eine Identifikation<br />
stattfinden. Ihre Mitarbeiter müssen sich<br />
zughörig fühlen, Sie müssen „den Bauch“<br />
ansprechen. Nur dann können wir mit<br />
diesen Bildern Identität und Motivation<br />
schaffen.<br />
Wie gehe ich ran an das Thema, Zukunftsbilder<br />
entwerfen? Am besten mit<br />
der klassischen Fragetechnik. Wenn Sie<br />
die Zukunft erfinden könnten, wie würde<br />
Ihr Unternehmen dann aussehen? Wo<br />
möchten Sie in 5, in 10 Jahren stehen?<br />
Welche Wünsche haben Sie für das Unternehmen?<br />
Leiten Sie dann als nächsten<br />
Schritt aus den Antworten Ihr Selbstverständnis<br />
ab. Wo bin ich, wer braucht<br />
mich, warum braucht man mich? Welches<br />
Bewusstsein, welche Identität, welches<br />
Selbstverständnis habe ich im Inneren?<br />
Und auch hier kann man mit Fragetechniken<br />
weiter kommen. Was treibt die<br />
Mitarbeiter gemeinschaftlich an? Welche<br />
Wertvorstellungen habe ich? Welche<br />
Wertvorstellungen hat mein Unternehmen?<br />
Wie bekomme ich „Hochgefühle“<br />
in mein Unternehmen hinein?<br />
Sie als mittelständische Unternehmer<br />
haben hier eine ungeheure Chance, weil<br />
Sie an Ihren Mitarbeitern dicht dran sind.<br />
Sie haben die Möglichkeit und Sie haben<br />
den Zugang, Ihre Ziele, Ihre Visionen, Ihr<br />
Selbstverständnis, Ihr Bild, den Mitarbeitern<br />
unmittelbar mitzuteilen. Sie müssen<br />
nur zwei Dinge tun: Sie müssen Zukunftsbilder<br />
haben und Sie müssen sprechen.<br />
Sie müssen auf Ihre Mitarbeiter zugehen.<br />
Vergessen Sie dabei nicht den Soll-Ist-<br />
Vergleich. Wenn ich die Vision habe, das<br />
Selbstverständnis durchdekliniere, wie<br />
weit bin ich per heute noch von meinem<br />
Zukunftsbild entfernt? Ist es ein Weg,<br />
den ich schaffen kann? Auch hier die<br />
Frage, schaffe ich es gleich, brauche ich<br />
Zwischenschritte, wie nehme ich meine<br />
Mitarbeiter mit.<br />
Zurück zur Strategischen Analyse, zur<br />
Lagebeurteilung. Ich erinnere mich sehr<br />
gut an meine Zeit als Sparkassenvorstand<br />
und Kreditvorstand, als ich von vielen<br />
Unternehmen immer wieder zu hören<br />
bekam, das sei zu mühselig und wie<br />
mache ich das und ich komme da nicht<br />
weiter. Auch hier gibt es für Stärkenund<br />
Schwächen-Analyse eine Vielzahl<br />
von Instrumenten, die in der täglichen<br />
Arbeit schnell helfen. Denn Ihre Aufgabe<br />
kann sich nicht darauf beschränken,<br />
Strategieentwicklungen zu betreiben.<br />
Gleichwohl mein Appell, meine Bitte,<br />
stellen Sie sich, sofern Sie es nicht schon<br />
gemacht haben, diesem Thema. Hier nur<br />
exemplarisch drei Beispiele, wie man mit<br />
diesem Thema der strategischen Analyse<br />
umgehen kann.<br />
Instrumente zur strategischen Analyse<br />
Ermittlung der Unternehmensumwelt und ihrer Entwicklung sowie die<br />
Stärken und Schwächen des Unternehmen<br />
SWOT-Analyse<br />
Strategische<br />
Geschäftsfeldanalyse<br />
Kennzahlen-Check<br />
Portfolio Analyse<br />
Portfolio Analyse<br />
Instrumente<br />
Betriebswirtschaftliche<br />
Analyse<br />
Ein klassisches Instrument ist auch die<br />
Portfolio-Analyse. Sie tragen in ein<br />
solches Portfolio auf den beiden Achsen<br />
unterschiedliche Kenngrößen ein. Die<br />
idealtypische Form der Portfolio-Analyse<br />
ist bekanntermaßen die Marktattraktivität<br />
und die Wettbewerbsvorteilsmatrix.<br />
Also wie attraktiv ist eigentlich ein Markt<br />
und wo bin ich dort im Wettbewerb positioniert.<br />
Sie können die Begrifflichkeiten<br />
natürlich austauschen z.B. im Sinne<br />
Zukunftsmarkt im Verhältnis zu einem<br />
Wettbewerbsmarkt. Hat dieser Markt<br />
Zukunft, ist es ein wachsender oder ein<br />
sterbender Markt. Hier gibt es verschiedene<br />
Möglichkeiten, sich zu positionie-<br />
Martktanteilsanalyse<br />
Benchmarking<br />
Zukunftskonferenz<br />
SWOT-Analyse. Machen Sie sich einfach<br />
ein Tableau und schreiben Ihre Stärken<br />
und Schwächen, Ihre Chancen und<br />
Risiken auf. Das hilft Ihnen sehr schnell<br />
dabei, Ihre unternehmerische Situation<br />
gedanklich zu durchdringen und zu<br />
strukturieren, damit Sie im nächsten<br />
Schritt schon zu den Maßnahmen kommen.<br />
Betriebsvergleich<br />
Leitmotivanalyse<br />
Strategie-Check<br />
Search Conference<br />
Search Conference<br />
Folie 5<br />
11
en und zu erkennen, wo bewege ich<br />
mich in meinem Umfeld.<br />
Weiter gibt es die Möglichkeit der rein<br />
betriebswirtschaftlichen Analyse, in<br />
dem ich mich mit anderen Vergleiche.<br />
Hier wird sehr häufig der Begriff Benchmark<br />
verwandt, der fälschlicherweise immer<br />
mit Betriebsvergleich gleichgesetzt<br />
wird. Die ursprünglich amerikanische<br />
Überlegung war jedoch zu sagen: Ich<br />
vergleiche mich nicht einfach mit dem<br />
nächsten Einzelhändler, sondern ich konzentriere<br />
mich auf ein ganz bestimmtes<br />
Problem. Nehmen wir ein Beispiel: Es<br />
gibt ein Versandproblem. Dann halte<br />
ich Ausschau, wer dieses Problem am<br />
besten gelöst hat. Und wissen Sie, wer in<br />
Deutschland am allerbesten Versandprobleme<br />
gelöst hat? Beate Uhse. Wenn ich<br />
jetzt im Bereich meines Versandes also<br />
ein Problem habe, dann ist Beate Uhse<br />
meine Benchmark und nicht mein Kollege<br />
nebenan, denn der macht es bestenfalls<br />
gerade so schlecht wie ich. Benchmark<br />
heißt also, ich will mich am Besten<br />
messen. Deshalb muss ich schauen, wer<br />
in dieser spezifischen Problemstellung<br />
der Beste ist. Vorsicht also bei betriebswirtschaftlichen<br />
Analysen im Sinne von<br />
zwischenbetrieblichen Vergleichen. Hier<br />
vergleichen wir häufig das Gleiche mit<br />
dem Gleichen, was uns nicht wirklich<br />
weiterbringt.<br />
Aus der Stärken- und Schwächen-Analyse,<br />
aus der strategischen Analyse<br />
entwickele ich also meine Strategie.<br />
Wo will ich eigentlich hin? Was will ich<br />
tun? In welche Richtung will ich mich<br />
entwickeln? Will ich Qualitätsführer sein,<br />
Preisführer, Kommunikationsführer oder<br />
Wahrnehmungsführer? Ihre Strategie<br />
hängt natürlich von der Branche ab, in<br />
der Sie sich bewegen. Ich kann Ihnen<br />
daher keine allgemeingültige Strategie<br />
aufschreiben. Ich hatte mit meinen Kolleginnen<br />
und Kollegen eine Strategie für<br />
meine damalige Sparkasse entwickelt<br />
und ich bin heute auf der Verbandsebene<br />
dafür verantwortlich, dass unsere Sparkassen<br />
gemeinsam mit unserer Strategie<br />
weiterkommen. Genau so müssen Sie<br />
heute Ihre Strategie entwerfen, ob als<br />
Textileinzelhandelsunternehmen, als<br />
Lebensmitteleinzelhandelsunternehmen,<br />
Dienstleister oder StartUp Unternehmer.<br />
Wenn Sie Qualitätsführer sein wollen,<br />
dann leiten sich daraus ganz konkrete<br />
Maßnahmen ab. Wenn Sie sagen, „ich<br />
will Preisführer sein“ auf Grund Ihrer<br />
Analysen, Ihrer Stärken-Schwächen, Ihrer<br />
Mitwettbewerbersituation, Ihrer Vision,<br />
dann müssen Sie sich fragen, wie werde<br />
ich Preisführer. Wenn Sie Kommunikationsführer<br />
werden wollen, dann müssen<br />
Sie sich einen Kommunikationsweg, eine<br />
Kommunikationsstrategie überlegen und<br />
so weiter und so fort.<br />
Es gibt viele Instrumente der Strategieumsetzung.<br />
Z.B. Qualitätsmanagement<br />
als ständiger Verbesserungsprozess.<br />
Immer wieder nachfragen, immer wieder<br />
in einen Zyklus, in einen Kreislauf eintreten<br />
und sagen, was waren unsere Ziele,<br />
haben wir sie erreicht, sind wir noch auf<br />
unserem Strategiepfad oder müssen wir<br />
nachsteuern. Auch Projektmanagement<br />
ist ein klassischer Weg, indem ich die aus<br />
einer Strategie abgeleiteten Maßnahmen<br />
als konkrete Projekte auslege. Mit klaren<br />
Zeitplänen, mit klaren Maßnahmenplänen,<br />
mit klaren Kostenplänen.<br />
Strategieimplementierung anhand der Balanced Scorecard<br />
- Die 4 Perspektiven der Balanced Scorecard“<br />
Mitarbeiter-Perspektive<br />
Was müssen wir tun, um eine stetige<br />
Weiterentwicklung und Optimierung<br />
sicher zu stellen?<br />
Finanz-Perspektive<br />
Wie können wir die Ziele<br />
unserer Shareholder erreichen?<br />
Vision<br />
und<br />
Strategie<br />
Prozess-Perspektive<br />
Welche Geschäftsprozesse müssen wir<br />
beherrschen, um Kunden und<br />
Shareholder zufrieden zu stellen?<br />
Ein neues Instrument auf diesem Wege<br />
ist die so genannte Balanced Scorecard.<br />
Mit diesem Verfahren stelle ich die Vision<br />
und die Strategie in den Mittelpunkt<br />
und zerlege diesen komplexen Vorgang<br />
in vier verschiedene Teilaspekte („Perspektiven“):<br />
Welche Geschäftsprozesse<br />
muss ich einführen, um diese Strategie<br />
umzusetzen? Was ist aus Sicht der<br />
Mitarbeiterschaft notwendig, um eine<br />
stetige Entwicklung zu gewährleisten?<br />
Was muss im finanziellen Bereich getan<br />
werden, um die Strategie umzusetzen<br />
und – ganz wichtig! – was muss getan<br />
werden, damit beim Kunden diese<br />
Kunden-Perspektive<br />
Welche Leistung müssen wir unseren<br />
Kunden anbieten, um erfolgreich<br />
zu sein?<br />
Folie 6<br />
12
Strategieumsetzung, diese Maßnahmen<br />
auch ankommen? Dies sind alles Instrumente,<br />
die uns dabei helfen, notwendige<br />
strategische Schritte und Maßnahmen<br />
in unseren Häusern und Geschäftsbereichen<br />
umzusetzen.<br />
5. Strategielandkarte<br />
Ich komme zu meinem letzten Bild. Ich<br />
habe versucht, Ihnen zu vermitteln, dass<br />
Strategie ein strapazierter Begriff ist,<br />
der aber trotzdem seine Rechtfertigung<br />
und seine Notwendigkeit hat. Strategie<br />
ist nichts, was nur die Großen angeht.<br />
Strategie ist nichts, was nur diejenigen<br />
angeht, die es nötig haben, sondern<br />
Strategie ist eine permanente Aufgabe<br />
eines jeden – egal ob Eigentümerunternehmer<br />
oder Angestelltenunternehmer.<br />
Mit der Strategieentwicklung werden<br />
heute die Weichen für Morgen und für<br />
Übermorgen gestellt. Strategieentwicklung<br />
ist kein Hexenwerk, sondern in<br />
weiten Teilen die Mischung aus Handwerk<br />
und natürlich auch aus unternehmerischem<br />
Esprit. Sie müssen beides in<br />
diesen Prozess einbringen: Sie müssen<br />
auf der einen Seite den Prozess beherrschen<br />
– und ich hoffe, es ist mir gelungen,<br />
Ihnen Mut zu machen, dass man<br />
diesen Prozess beherrschen kann – und<br />
zum anderen müssen Sie unternehmerischen<br />
Geist, unternehmerische Motivation<br />
mitbringen. Wenn Sie diese beiden<br />
Dinge zusammenbringen, dann kommen<br />
Sie heraus aus der Situation, dass Ihre<br />
erfolgreichen Firmen, Ihre erfolgreichen<br />
Geschäfte sich ausschließlich auf Ihrem<br />
unternehmerischen Esprit gründen.<br />
Dann gelingt es Ihnen, Ihre Mitarbeiter<br />
mitzunehmen und Sie werden sehen,<br />
dass dies Ihre Häuser, Ihre Geschäfte,<br />
Ihre Firmen auch unabhängiger macht.<br />
Gehen Sie auf diesem Weg und ich<br />
denke, Frau Hagmann und der Einzelhandelsverband<br />
können Sie hierbei unterstützten.<br />
Selbstverständlich können wir<br />
auch unsere Unternehmensberatung zur<br />
Verfügung stellen. Wir beherrschen diese<br />
Prozesse und können Sie bis zu einer<br />
gewissen Stufe begleiten, den fachlichen<br />
Input freilich überlassen wir besser dem<br />
Einzelhandel. Ich wünsche Ihnen für die<br />
Zukunft alles Gute.<br />
Vielen Dank.<br />
13
Städte schaffen<br />
dem Handel Raum<br />
Ich begrüße Sie alle ganz herzlich. Schön,<br />
dass ich hier sprechen darf über die Rolle<br />
der Städte.<br />
Der Titel meines Vortrags lautet „Städte<br />
schaffen dem Handel Raum“ und es<br />
hat wirklich Freude gemacht, sich mit<br />
diesem Thema ein bisschen intensiver<br />
zu beschäftigen, weil tatsächlich Handel<br />
und Stadt geschichtlich schon sehr, sehr<br />
eng zusammengehören und manchmal<br />
gerät es ein wenig aus dem Blickwinkel,<br />
dass das eine ganz enge Verbindung ist,<br />
die über Jahrhunderte andauert und ich<br />
bedanke mich für diese Möglichkeit, sich<br />
auch selber über so ein Thema Gedanken<br />
machen zu können aus diesem Anlass.<br />
14<br />
Gliederung<br />
• Stadt und Handel sind historisch<br />
gewachsen untrennbar verbunden<br />
• Markt und Handel machen die Stadt zur<br />
Stadt<br />
• Die Stadt schafft dem Handel Raum<br />
Ich <strong>bericht</strong>e natürlich – ich hoffe, dass<br />
Sie Verständnis dafür haben – auch über<br />
einige Beispiele aus Heidelberg, und<br />
möchte meinen Vortrag gliedern in drei<br />
Bereiche:<br />
Einmal dass Stadt und Handel historisch<br />
gewachsen untrennbar miteinander<br />
verbunden sind, und dann dass Markt<br />
und Handel erst die Stadt wirklich zur<br />
Stadt machen und dass dann die Städte<br />
diesem Handel auch tatsächlich Raum<br />
schaffen.<br />
Wie haben Märkte in der Vergangenheit<br />
die Stadtentwicklung beeinflusst?<br />
Es gibt ein wunderbares Zitat aus Freiburg<br />
aus dem Jahre 1218. Da heißt es<br />
im Freiburger Stadtrudel, dem Vorgänger<br />
der Freiburger Verfassung von 1218:<br />
„Wer aber über Jahr und Tag in der Stadt<br />
gewohnt hat, ohne dass irgendein Herr<br />
ihn als seinen Leibeigenen gefordert<br />
hat, der genießt von da an sicher die<br />
Freiheit“. Das haben die Freiburger<br />
niedergeschrieben, weil sie Sorge<br />
hatten, dass die Rechte, die sie sich bei<br />
den Zähringern erworben haben, beim<br />
Herrscherwechsel an den Graf von Urach<br />
möglicherweise gefährdet werden und<br />
sie wollten ihm sehr deutlich ins Buch<br />
schreiben, dass sie das auch weiterhin so<br />
halten wollen. Die damals entstandenen<br />
Städte waren für die Menschen ersehnte<br />
Orte, wo sie beschützt waren vor unterschiedlicher<br />
Art von Unbill, einmal vor<br />
Feinden natürlich durch die Stadtmauern,<br />
aber auch mit ihren bürgerlichen<br />
Rechten. Sie konnten ihrem Handwerk<br />
und ihrem Gewerbe nachgehen, auch<br />
wenn dann manche unter den starren<br />
oder strengen Regeln dieses Gewerbes<br />
gelitten haben. Aber im Prinzip war das<br />
geschriebenes Recht, das waren Regeln,<br />
die nicht einfach willkürlich durch<br />
irgendeinen Herrscher geändert werden<br />
konnten. Die Menschen waren in den<br />
Städten dadurch sehr viel freier. Dadurch<br />
Beate Weber<br />
Oberbürgermeisterin<br />
der Stadt Heidelberg
kommt ja auch der Begriff, dass Stadtluft<br />
frei macht. Und die Städte garantierten<br />
dann die Freizügigkeit und Gerechtigkeit<br />
des Handels. Sie haben Maße und<br />
Gewichte festgelegt und freies Geleit.<br />
Insofern waren die Bürger dort deswegen<br />
auch Bürger. Citizen (engl.) kommt<br />
ja von dem Begriff der Stadt, Citoyens<br />
(frz.). Sie kennen alle diese Entwicklung.<br />
Die Bürger haben daraufhin auch die<br />
Chance gehabt, in diesen Städten selbst<br />
ihre Marktpolitik in die Hand zu nehmen<br />
und – ganz interessant und für alle, die<br />
wir über dieses Thema gerne und heiß<br />
diskutieren – die Finanzierung ihrer<br />
Dienstleistungen sind auf die Markteinkünfte<br />
begründet worden. Die Städte<br />
haben zurückgegriffen auf die Einkünfte,<br />
Standgebühren, Zölle, Gebühren für<br />
Maße und Gewichte, und die haben sie<br />
dann verwendet als Stütze ihrer kommunalen<br />
Leistungen und die Städte haben<br />
davon natürlich erheblich profitiert. Sie<br />
sehen, unsere heißen Diskussionen um<br />
die Gewerbesteuer haben historische<br />
Gründe und historische Vorläufer. Stadtentwicklung<br />
und Finanzierung durch die<br />
Wirtschaft haben immer ganz unmittelbar<br />
zusammengehört und wer das heute<br />
auflöst, verursacht dort ein gewaltiges<br />
Beben, weil das gesichert werden muss.<br />
Dieser Wunsch nach Finanzierung der<br />
Städte durch die örtliche Wirtschaft hat<br />
einen ganz tief sitzenden Hintergrund,<br />
nämlich den der direkten Beziehung<br />
zwischen den beiden Akteuren, um auch<br />
die Rahmenbedingungen, den Raum<br />
über den ich gleich rede, auch wirklich<br />
gestalten zu können. Das haben alle die<br />
anderen Finanzierungsinstrumente nicht<br />
aufgegriffen und auch nicht aufnehmen<br />
können und auch nicht bisher verändert.<br />
Insofern ist es eine ganz interessante<br />
historische Diskussion, die wir führen.<br />
Stadt und Handel gehören historisch<br />
gewachsen tatsächlich untrennbar<br />
zusammen. Der Markt, das Stadtrecht,<br />
die Mauer sind die Garanten für die sich<br />
entwickelnde blühende Wirtschaft.<br />
Nun, die Stadtmauern sind in der Regel<br />
heute gefallen, wenn nicht, dann haben<br />
wir sie einfach aufrecht erhalten, weil<br />
sie historisch sind, schön und unter<br />
Denkmalschutz stehen. Aber sie spielen<br />
nicht mehr dieselbe Rolle. Markt- und<br />
Stadtrecht sind geblieben und das Recht,<br />
Steuern zu erheben, ebenfalls. Auch<br />
das hat sich nicht geändert. Mit diesen<br />
Instrumenten verfügen die Städte auch<br />
heute noch über die Möglichkeit, Mittel<br />
zu bekommen und Raum für Handel zu<br />
schaffen und zu gestalten. Kultur und<br />
Wissenschaft, örtliche Wirtschaft, Handel<br />
und Handwerk können dann in gemeinsamer<br />
Verantwortung und in gemeinsamen<br />
Projekten in diesen Städten das<br />
örtliche Leben maßgeblich bestimmen.<br />
In Heidelberg werden wir übrigens im<br />
nächsten Jahr 650 Jahre Markt und<br />
Marktrecht auf unserem Marktplatz<br />
unmittelbar vor dem Rathaus feiern können.<br />
Vielleicht kennen Sie ihn ja auch.<br />
Markt und Handel machen die Stadt<br />
tatsächlich zur Stadt. Die Städte von<br />
heute sind Wirtschaftsstandorte, die<br />
Lebens- und Arbeitsraum, Lebensqualität<br />
für ihre Bewohner bieten. Sie schaffen<br />
die notwendige Infrastruktur und ein<br />
geeignetes Umfeld, in dem die Bürger<br />
leben und beruflich tätig sein können,<br />
die Wirtschaft sich entwickeln kann. Zusammen<br />
natürlich spielt dieser gebaute<br />
Bereich mit der Landschaft der Region, in<br />
der die Stadt gelegen ist, eine wichtige<br />
Rolle und beides zusammen gibt dann<br />
genau die Individualität, die Besonderheit,<br />
die Unverwechselbarkeit, die unsere<br />
Städte heute haben. Und überall dort,<br />
wo sich die Städte heute so entwickeln,<br />
merken Sie, es gibt ein völlig anderes<br />
Selbstbewusstsein. Wir merken es in der<br />
Europäischen Union, wenn wir in den<br />
Städtetagen miteinander diskutieren,<br />
dass die Städte im Laufe ihrer Geschichte<br />
sich unterschiedlich entwickelt haben<br />
und das Selbstbewusstsein derjenigen<br />
Städte, die sich auf diese historische<br />
Grundlage stützen, ist ein völlig anderes,<br />
als in anderen Ländern, wo die Städte<br />
keine Chance hatten, ihre Eigenständigkeit<br />
gegenüber den Herrschern in einer<br />
solchen Form aufzubauen. D.h. dass die<br />
Oberbürgermeister in einem Städtetag<br />
ziemlich vehement auftreten und häufig<br />
sogar über alle Parteigrenzen einig<br />
gegenüber der Regierung sind, hat also<br />
auch eine alte Geschichte und ist interessanter<br />
Ausdruck des Selbstbewusstseins.<br />
Aus der Mischung der Bewohnerschaft,<br />
ihrer Wirtschaftsweisen und der Lebensformen<br />
entsteht dann ein Habitus der<br />
Stadt in einer ganz besonderen Qualität.<br />
Und die Attraktivität einer Stadt hängt<br />
deswegen auch sehr stark davon ab, wie<br />
15
man mit Angeboten und Nachfragen und<br />
mit diesen unterschiedlichen Herausforderungen<br />
umgeht, ob man agiert, ob<br />
man ausschließlich reagiert u.ä. interessant<br />
ist im Augenblick eine Entwicklung,<br />
die wir weltweit sehen, bis vor wenigen<br />
Jahren war ein relativ geringer Prozentsatz<br />
der Menschen tatsächlich in Städten<br />
zuhause auf dieser Welt. In absehbarer<br />
Zeit, also schon in der Generation unserer<br />
Kinder, nicht Enkelkinder, werden<br />
ungefähr 50 Prozent der Menschheit in<br />
Städten leben. Also eine dramatische<br />
Veränderung. Und viele davon in sehr,<br />
sehr großen Städten.<br />
Urbanität<br />
Es wird 2050 25 Megastädte mit mehr<br />
als 8 Mio. Einwohnern geben. Sie können<br />
sich vorstellen, dass unter diesen Bedingungen<br />
natürlich die Einflussnahme<br />
auf Entwicklung nicht mehr leichter fällt,<br />
sondern eher schwerer. Interessant ist<br />
dabei, dass die Rolle der Städte von den<br />
großen Organisationen, wie der Europäischen<br />
Union oder auch den Vereinten<br />
Nationen bis vor wenigen Jahren gar<br />
nicht so intensiv wahrgenommen wurde,<br />
auch wegen dieser sehr unterschiedlichen<br />
Geschichte. Aber die Konferenzen<br />
von Rio de Janeiro 1992 und Johannesburg<br />
2002 haben gezeigt, dass sich das<br />
sehr verändert hat, weil auf einmal erkennbar<br />
ist, dass dieses Betreiben einer<br />
nachhaltigen Entwicklung, wo Ökonomie,<br />
Ökologe und soziale Stabilität zusammenkommen<br />
müssen, dass das nur möglich<br />
ist, wenn die Städte aktive Partner<br />
sind. Und in diesen 10 Jahren zwischen<br />
1992 und 2002 hat sich gezeigt, dass<br />
– abgesehen von den Aktivitäten der<br />
Regierungen – die Städte die treibenden<br />
Kräfte waren, um diese ganze Veränderung<br />
anzustoßen, aber auch tatsächlich<br />
durchzuführen.<br />
Seitdem unterstützen die Vereinten Nationen<br />
auch die Städte in ihren Aktivitäten,<br />
denn gutes Wirtschaften und stabiles<br />
Wirtschaften ist auch nur unter diesen<br />
Bedingungen möglich. Da gibt es eine<br />
veränderte Wahrnehmung.<br />
Nun, Heidelberg ist sich dieser Anforderung<br />
im besonderen Maße bewusst.<br />
Wir haben das Glück, über eine wunderschöne<br />
Landschaft zu verfügen. Aber<br />
vor allem natürlich eine von der Wissenschaft<br />
geprägte Wirtschaftslandschaft<br />
und ein von internationalen Besuchern,<br />
Wissenschaftlern, Studierenden ein<br />
bestimmtes Stadtbild und<br />
das alles bildet den äußeren<br />
Rahmen für den Handelsraum.<br />
Und wir sind sehr froh<br />
darüber, in unserer geo- und<br />
topographischen Lage am<br />
Rande des Odenwalds am<br />
Flussufer des Neckars mit<br />
dem Tor zur Rheinebene und<br />
dem schönen alten Stadtkern<br />
ein wunderschönes Stadtbild<br />
zu bieten: Schloss, alte<br />
Brücke, Heilig-Geist-Kirche.<br />
Sie sehen es und wahrscheinlich<br />
ist allen von Ihnen<br />
dieses Bild in irgendeiner Weise geläufig.<br />
Es sind Wahrzeichen, die unseren<br />
Ruf als romantische Stadt in die Welt<br />
tragen. Unsere Universität ist die älteste<br />
Deutschlands, nicht die älteste deutschsprachige,<br />
aber die älteste Deutschlands.<br />
Weltweit führende Forschungseinrichtungen:<br />
Krebsforschungszentrum, Max-<br />
Planck-Institute / Europäische Molekularbiologie.<br />
Wir haben im Augenblick<br />
weltweit in einem ordentlich verstandenen<br />
Benchmark weltweit Spitzenplätze<br />
in Wissenschaft und Forschung. Über<br />
30.000 Studierende, 10.000 Beschäftigte<br />
der Universität prägen das Leben<br />
in der Stadt. Die Universität ist auch<br />
unser größter Arbeitgeber, was gewerbesteuermäßig<br />
eher ein Problem ist, aber<br />
natürlich für die Stadt selber überhaupt<br />
keins. Im Gegenteil. Sie kennen vielleicht<br />
die Heidelberger Druckmaschinen und<br />
ihre Printmedia-Akademie. Der architektonische<br />
Gegenpol zum Schloss, ungefähr<br />
in gleicher Entfernung vom Zentrum.<br />
Wir haben also nicht nur wissenschaftliche<br />
Einrichtungen, sondern auch in der<br />
Region und am Ort Weltunternehmen<br />
16
und mittelständische Unternehmen.<br />
Heidelberger Druckmaschinen, HeidelbergerCement,<br />
Lamy, ProMinent Dossiertechnik,<br />
ABB, BASF, Roche Diagnostics,<br />
SAP, MLP und Wild in der Region. Und die<br />
zusammen bestimmen den Ruf natürlich<br />
nicht nur der Stadt, sondern wir sind seit<br />
kurzem ja auch europäische Metropolregion<br />
über drei Ländergrenzen hinweg,<br />
was nicht ganz unkompliziert war.<br />
Diese Unternehmen und die Wissenschaft<br />
bestimmen natürlich auch oder<br />
beeinflussen gemeinsam nicht nur als<br />
Arbeitgeber die regionale Wirtschaftsund<br />
Beschäftigungssituation. Da<br />
entsteht eine Kaufkraft, die erheblich ist,<br />
und wir sind natürlich interessiert, diese<br />
Kaufkraft in der Stadt, zumindest aber in<br />
der Region zu halten. Ganz wichtig, sie<br />
erlauben das an der Stelle auch im eigenen<br />
Interesse als Vorstandsmitglied im<br />
baden-württembergischen Sparkassenvorstand,<br />
dass ich auch für die Sparkasse<br />
rede. Denn unsere eigene Sparkasse ist<br />
durch drei Fusionen groß geworden und<br />
ist eine wichtige Stützte des Mittelstandes<br />
und damit auch des Handels in<br />
der Stadt. Sie ist, wie sie das sein soll, zuverlässige<br />
Partnerin in schwierigen Situationen,<br />
gleichzeitig wichtigster Investor<br />
in unserem sehr erfolgreichen Technologiepark<br />
und natürlich in der ganzen<br />
Kundenbreite viel gefragtes Institut für<br />
Geld- und Vermögensanlagen.<br />
Bei dieser Zusammensetzung in der<br />
Stadt wundert das natürlich nicht, dass<br />
Heidelberg in internationalen und nationalen<br />
Rankings immer wieder Spitzenpositionen<br />
einnehmen kann. Ich weiß<br />
nicht, ob Sie es alle gelesen haben, 2004<br />
hat die Prognos AG ja eine Untersuchung<br />
gemacht zur Zukunftsentwicklung aller<br />
deutschen Stadt- und Landkreise und hat<br />
uns dort auf den Rang 6 verwiesen aller<br />
439 Stadt- und Landkreise. Also keine<br />
schlechte Position. Nicht ganz Pole-Position,<br />
aber wir wollen den Münchenern<br />
und den Landkreisen um München<br />
herum auch nicht unbedingt den Rang<br />
ablaufen. Die sind einfach ein bisschen<br />
größer. Und wir sind einer der 6 unabhängigen<br />
Kreise, denen allein herausragende<br />
Zukunftsprognosen gestellt<br />
wurden. Darauf sind wir stolz. Das Land<br />
<strong>Baden</strong>-Württemberg hat mit der L-Bank<br />
eine Studie durchgeführt auf der Grundlage<br />
dieser ersten Untersuchung. In<br />
ihrem Bericht „<strong>Baden</strong>-Württemberg – Erfolg<br />
durch Wettbewerbsfähigkeit 2005“<br />
wurde Heidelberg als bester Standort<br />
<strong>Baden</strong>-Württembergs bezeichnet. Die<br />
Stadt profitiert von einem besonders<br />
hohen Anteil junger Erwachsener und<br />
hoch qualifizierter Menschen. Heidelberg<br />
ist ein besonders erfolgreiches Beispiel<br />
für die Weiterentwicklung hin zu einem<br />
modernen Wissens- und Dienstleistungsstandort.<br />
Dies hat auch immer Auswirkungen auf<br />
die Geschäftstätigkeit und die Wirtschaftstätigkeit<br />
in der Stadt und der Umgebung.<br />
Dort wo sie keine erfolgreichen<br />
Unternehmen haben, werden sie nicht<br />
die Kaufkraft haben, um den Handel zu<br />
befördern. Alle diese Dinge greifen Hand<br />
in Hand und der Spannungsraum Stadt,<br />
der die wirtschaftlichen, kulturellen und<br />
gesellschaftspolitischen Anforderungen<br />
erfüllen und die Herausforderungen<br />
annehmen muss, gewinnt natürlich<br />
durch die Globalisierung erhebliche neue<br />
Bedeutung. Die städtische Ökonomie<br />
und die Lebensformen, die sich sehr individuell<br />
entwickeln, sind gerade deshalb<br />
interessant und attraktiv, weil sie einen<br />
lokalen Markt bedienen und damit auch<br />
überschaubar und berechenbar werden.<br />
Dies bedeutet, dass man abseits der Globalisierung<br />
sich in dem eigenen Raum<br />
auf Grund von genauerer Beobachtung<br />
dessen, was sich da verändert, seine<br />
eigenen Strategien entwickeln kann.<br />
Es ist insbesondere der örtliche Handel,<br />
der diese neue Bedeutung der Städte<br />
bereits jetzt und zukünftig immer stärker<br />
spüren und mit ihr umzugehen haben<br />
wird.<br />
Aufgabe unserer Kommunen ist es daher,<br />
das zu erkennen und die sich daraus<br />
ergebenden lokalen Chancen besser zu<br />
nutzen, vor allen Dingen eigenständig<br />
zu gestalten und nicht einfach abzuwarten.<br />
Wir haben mit unserem Amt für<br />
Stadtentwicklung und Statistik, unserem<br />
städtischen Planungsamt und den<br />
städtischen Gesellschaften für Wirtschafts-<br />
und Tourismusentwicklung sehr<br />
früh angefangen, Rahmenpläne auch für<br />
die Stadtteile zu entwickeln, weil sich<br />
manchmal die Gesamtstadt vernünftig<br />
entwickelt und es trotzdem erhebliche<br />
Defizite in den einzelnen Stadtteilen gibt.<br />
17
Dort haben wir die Lage von Wohnen,<br />
Arbeit, Infrastruktur, Kultur, Soziales,<br />
Verkehr u. a. festgestellt, die zukünftigen<br />
Entwicklungsmöglichkeiten analysiert<br />
und Entscheidungen getroffen, um sie<br />
strategisch fortzuentwickeln. Weil wir<br />
so dem Handel auch in den Stadtteilen<br />
Raum zur Entwicklung geben und unseren<br />
Bewohnern eine funktionierende<br />
örtliche Nahversorgung sichern wollen,<br />
was aber unter den gegenwärtigen<br />
Bedingungen – wie Sie wissen – nicht<br />
einfach ist. Denn nicht nur in Deutschland,<br />
sondern überall in der EU spielen<br />
sich Konzentrationsprozesse im Einzelhandel<br />
ab, die nur schwer von unten zu<br />
beeinflussen bzw. zu konterkarieren sind.<br />
Das ist eine sehr schwierige Aufgabe, die<br />
kaum zu bewältigen ist.<br />
Initiativkreis Stadtmarketing<br />
• Industrie- und Handelskammer<br />
• Einzelhandelsverband<br />
• Hotel- und Gaststättenverband<br />
• PRO Heidelberg-Stadtmarketing<br />
• Gewerbevereinsvorsitzende<br />
• Einzelne Einzelhändler und Bankenvertreter<br />
• Pressevertreter<br />
• Polizei<br />
• Vertreter der Fraktionen<br />
• Städtische Ämter und Gesellschaften<br />
Vorsitz: HWE Heidelberger Wirtschaftsentwicklungsgesellschaft mbH<br />
Wir wollen uns auch nicht nur stadtteilbezogen,<br />
sondern gesamtstadtbezogen<br />
einstellen auf die Veränderung, die der<br />
demographische Wandel mit sich bringt.<br />
Auch das ist ein wichtiger Punkt, mit<br />
dem wir uns alle beschäftigen müssen.<br />
Heidelberg hat allerdings das Glück,<br />
mit wachsenden Bevölkerungszahlen<br />
rechnen zu können. Wir werden bis 2020<br />
anwachsen, anders als viele Bereiche<br />
in Deutschland. Das ist natürlich vor<br />
allem zurückzuführen auf Universität<br />
und Forschungseinrichtungen. Also eine<br />
junge Stadt, trotz alternder Bevölkerung.<br />
Darauf muss sich aber auch der örtliche<br />
Handel einstellen. D.h. es werden sich in<br />
der Nachfrage Veränderungen abspielen.<br />
Die junge Heidelberger Bevölkerung<br />
fühlt sich gut versorgt. Das Angebot<br />
für Jungsenioren – und da gehöre ich<br />
jetzt demnächst auch dazu – gilt es, in<br />
naher Zukunft zu verbessern. Und daran<br />
arbeiten wir.<br />
Also, was tun wir nun konkret als Stadt,<br />
um an dem von Wissenschaft, Wirtschaft<br />
und Tourismus geprägten internationalen<br />
Standort mit hoher Dienstleistungsqualität<br />
dem Handel Raum zu geben.<br />
Wir haben 80 Prozent Dienstleistungsarbeitsplätze<br />
in der Stadt. Insofern nicht<br />
ganz vergleichbar mit vielen anderen<br />
Städten. Wir haben 1997, unterstützt<br />
von Roland Berger, eine Perspektive für<br />
ein Stadtmarketing erarbeitet und dies<br />
in der nachfolgenden Zeit schrittweise<br />
umgesetzt, zusammen mit dem damals<br />
geschaffenen Initiativkreis Stadtmarketing,<br />
dem Verein Pro Heidelberg Stadtmarketing<br />
e.V. und den örtlichen Akteuren,<br />
Industrie- und Handelskammer,<br />
Wirtschaftsunternehmen, Handwerkskammer,<br />
Einzelhandelsverband, Hotelund<br />
Gaststättenverband, Universität,<br />
Kultur, unseren beiden Gesellschaften<br />
und der Verwaltung. Sie alle arbeiten im<br />
Initiativkreis zusammen, um den Raum<br />
für Handel erfolgreich zu gestalten. Alles<br />
was an Ideen kommt, wird in die Arbeit<br />
hineingegeben. Wir haben ein gemeinsames<br />
Ziel: die Stadt als Zentrum zum<br />
Leben, Arbeiten und Einkaufen in der<br />
Attraktivität zu steigern. Den eigenen<br />
Charakter dabei natürlich zu erhalten.<br />
Hohe Ansprüche an die eigene Leistung<br />
zu stellen, insgesamt eine Atmosphäre<br />
zu schaffen, in der sich die Menschen in<br />
diesem Spannungsraum Stadt wohlfühlen<br />
und aufhalten – das sind die Voraussetzungen<br />
dafür, dass man dann längere<br />
Zeit verweilt, um dem Handel Genüge zu<br />
tun, sprich: um etwas zu kaufen.<br />
Wir haben dafür Kommunikationsplattformen<br />
gebildet, in der sich unterschiedliche<br />
Akteure zusammenfinden. Eine<br />
Wirtschaftskonferenz ist eine regelmäßig<br />
tagende Arbeitsgruppe mit Mitgliedern<br />
aus Kammern, Arbeitgeberverband,<br />
Gewerkschaften, Arbeitsverwaltung,<br />
Universität, Wirtschaftsjunioren und<br />
den städtischen Ämtern in Regie der<br />
Heidelberger Wirtschaftsentwicklung.<br />
Das schafft Alltagsnähe zwischen den<br />
örtlichen Akteuren. Sie wissen alle, wie<br />
schwierig das ist, wenn in einer komplizierten<br />
Situation ein Problem auftaucht,<br />
und man erst suchen muss, mit wem man<br />
am Besten das Problem bespricht. Wenn<br />
man seit Jahren zusammen ist, weiß man<br />
sofort, mit wem man Kontakt aufnehmen<br />
muss, um möglichst schnell eine Lösung<br />
18
zu finden. Ich bin sehr dankbar dafür,<br />
dass wir aktuelle Probleme dort diskutieren,<br />
lokale Fragen beantworten, aber<br />
auch strategische Entscheidungen gemeinsam<br />
vorbereiten können. Wir haben<br />
im jährlichen Rhythmus stattfindende<br />
Branchentreffen, also auch eines für den<br />
Einzelhandel, wo man eher informell<br />
Gedanken austauscht, aktuelle Entwicklungen<br />
bespricht zwischen Stadtverwaltung,<br />
Politik und den Akteuren.<br />
Wir haben einen örtlichen Verein der<br />
Kommunikationsplattformen<br />
• Wirtschaftskonferenz<br />
• Branchentreffen<br />
• Initiativkreis Stadtmarketing<br />
• PRO Heidelberg-Stadtmarketing<br />
• Einzelhandelsverband<br />
Einzelhändler und Dienstleistenden, der<br />
eben auch schon aufgetaucht ist:<br />
Pro Heidelberg Stadtmarketing e.V.<br />
Der hat in bewundernswerter Arbeit<br />
Ende 2004 ein Zehn-Punkte-Programm<br />
zum Einzelhandel vorgelegt, das vom<br />
Gemeinderat auch mitgetragen wurde.<br />
Daraus haben wir dann einen Maßnahmenkatalog<br />
entwickelt, an dessen<br />
Umsetzung die Stadtverwaltung und<br />
die genannten Akteure derzeit arbeiten.<br />
Denn ich halte nichts davon, große<br />
Programme zu entwickeln, die wir dann<br />
golden einrahmen. Maßnahmen müssen<br />
daraus folgen und deswegen arbeiten wir<br />
gerade an diesen Maßnahmen.<br />
Als Erfolgsfaktoren zur Erreichung der<br />
Ziele und zur Steigerung der Qualität des<br />
Einzelhandels sehen wir folgende Punkte<br />
an, die sehr unterschiedlich sind. Man<br />
merkt dabei, dass die Definition der so<br />
genannten harten und weichen Standortfaktoren<br />
inzwischen absolut verschwimmen.<br />
Inzwischen ist es so, dass die weichen<br />
fast mehr Bedeutung bekommen<br />
als die harten Faktoren. Manchmal weiß<br />
man gar nicht genau, ob z.B. Verkehr,<br />
städtebauliche Gestaltung, oder Sicherheit<br />
zu den harten oder zu den weichen<br />
Faktoren gehören. Denn man kann sich<br />
eine gut funktionierende Stadt ohne Sicherheit<br />
kaum mehr vorstellen. Insofern<br />
ist das wahrscheinlich schon mehr ein<br />
Grenzbereich geworden.<br />
Unser großes Sorgenkind ist unsere<br />
Hauptstraße. Sie ist zwar wunderschön<br />
und meistens sehr belebt – 6.500 Passanten<br />
pro Stunde passieren die Straße,<br />
also ein unglaublicher Frequenzbringer.<br />
Nicht alle kaufen jedoch hochwertige<br />
Güter ein. Das ist sehr bedauerlich. Sie<br />
ist außerdem sehr lang, 1,3<br />
km, eng und ein bisschen<br />
wie eine Rennbahn. D.h.<br />
verweilen und bummeln und<br />
einkaufen muss noch beeinflusst<br />
werden. Wir haben<br />
ein wunderbares Potenzial<br />
an sehr schönen Gebäuden<br />
und sehr belebten Plätzen.<br />
Die Aufenthaltsqualität im<br />
Straßenraum muss verbessert<br />
werden. Die Straße ist<br />
1975 saniert worden, unter<br />
damaligen Kriterien auch<br />
sehr modern. Aber heute hat<br />
man das Gefühl, es entspricht<br />
nicht mehr dem, was man eigentlich<br />
haben möchte. Wir haben das beeinflusst<br />
durch eine Gestaltungssatzung Altstadt,<br />
durch die Regeln zur Nutzung des Straßenraums,<br />
weil wir natürlich auch nicht<br />
wollen, dass Ramsch die hochwertigen<br />
Angebote überlagert, was in vielen Städten<br />
sehr komplizierte Folgen hat.<br />
Wir sind dabei, ein Lichtkonzept zu entwickeln,<br />
mit dem wir die Raumwirkung<br />
der Straßen und der Plätze verbessern<br />
wollen und die Geltung der Nebenstraßen<br />
erhöhen und gleichzeitig die<br />
Sicherheit der Straße abends und nachts<br />
verbessern. Verkehrliche Erschließung<br />
ist in alten unzerstörten Innenstädten<br />
nicht unkompliziert. Es gibt nicht viele in<br />
dieser Größe und Bedeutung.<br />
Wir verfügen über ein ausreichendes<br />
Parkflächenangebot, aber das Parkleitsystem<br />
ist statisch. Der Wunsch unseres<br />
Handels ist es, dieses dynamisch<br />
zu machen, also elektronikgesteuert.<br />
Dessen Machbarkeit, finanzielle Erfordernisse<br />
und Auswirkungen werden<br />
gerade detailliert geprüft und wir haben<br />
den Spatenstich vor wenigen Wochen<br />
für eine Tiefgarage am Friedrich-Ebert-<br />
Platz - wer Heidelberg kennt, weiß, dass<br />
19
er in der Altstadt liegt - gemacht, um<br />
den öffentlichen Platz zu verbessern<br />
und gleichzeitig das Parkangebot. Seit<br />
einigen Jahren haben wir ein Konzept,<br />
auf das ich ganz stolz bin, weil wir immer<br />
noch die einzigen in Deutschland sind,<br />
die ein Baustellenmarketing haben, was<br />
bei großen Tiefbaumaßnahmen greift,<br />
um die Unbill etwas zu reduzieren. Dazu<br />
gehört ein eigener Unterstützungsfonds,<br />
mit dessen Hilfe besondere Härten bei<br />
Umsatzverlusten im Handel und in der<br />
Gastronomie abgefedert werden können,<br />
der unterhalb der Schwelle des gesetzlichen<br />
Eingriffs liegt. Das Gesetz greift<br />
da relativ spät, aber Tiefbaumaßnahmen<br />
können, wenn sie länger dauern, den<br />
Handel doch erheblich benachteiligen.<br />
Gleichzeitig gibt es einen Baustellenbeauftragten,<br />
der aus dem jeweiligen<br />
Stadtteil kommt und der die kleineren<br />
Probleme, die zwischen der Baustellenabwicklung<br />
und den Anliegern, vor<br />
allen Dingen natürlich den Geschäften,<br />
entstehen, sofort und unkompliziert<br />
regeln kann. Das hat sich außerordentlich<br />
bewährt. Dazu kommen natürlich<br />
sehr viel präzisere Informationen, als das<br />
normalerweise bei Tiefbaumaßnahmen<br />
den Bürgern mitgeteilt wird. In der Regel<br />
gibt es irgendwann einen Gemeinderatsbeschluss<br />
und dann entschwindet das<br />
Thema aus dem Blickwinkel der Bevölkerung<br />
und nach drei, vier Jahren fangen<br />
die Bagger an, die Straße aufzureißen.<br />
Keiner weiß mehr, was beschlossen<br />
worden ist. Und für den Handel ist das<br />
eine schlechte Situation. Da kann man<br />
praktisch helfen, die Situation durch<br />
zusätzliche Werbemaßnahmen, durch<br />
Beschilderung soweit zu verbessern,<br />
dass der Handel nicht zu sehr beeinträchtigt<br />
wird.<br />
Ich habe eben schon Sicherheit und<br />
Sauberkeit angedeutet. Auch das ist ein<br />
kritischer Punkt, weil die Bereitschaft<br />
unserer Bevölkerung sich ordentlich zu<br />
verhalten, leider rapide abnimmt.<br />
Sie wissen das. Es sind nicht nur die<br />
jungen Leute. Wir haben mit Polizei<br />
und Selbstorganisation der Anbieter<br />
im gastronomischen Bereich eigene<br />
Aktivitäten entwickelt. Die Polizei schult<br />
mit der Industrie- und Handelskammer<br />
gemeinsam Personal in der Gastronomie,<br />
um Gewaltpotenziale möglichst<br />
frühzeitig zu erkennen und abzubauen.<br />
Wir versuchen als Stadt mit einer Hotline<br />
bei Verschmutzungen und Abfällen an<br />
falscher Stelle oder auch bei Graffiti sehr<br />
schnell zu reagieren, denn wir wissen<br />
auch, ein negatives Signal in der Nachbarschaft<br />
beeinträchtigt die Attraktivität<br />
eines Standorts erheblich. Leider geht<br />
das alles immer so schnell, dass man<br />
kaum noch schnell genug darauf reagieren<br />
kann.<br />
Ich komme zur Qualität und zur Quantität<br />
des Angebots. Wichtige Akteure sind die<br />
Hauseigentümer. Sie wissen, dass durch<br />
Erbengemeinschaften, die nicht mehr in<br />
den Städten leben, die Wahrnehmung<br />
der Qualität im eigenen Bereich sehr<br />
stark nachgelassen hat. Früher haben<br />
die Hauseigentümer da gelebt, wo sie<br />
ihr Haus hatten und haben selber darauf<br />
geachtet, dass das in Ordnung gehalten<br />
wird. Wenn Sie Erbengemeinschaften<br />
haben, die durchs ganze Land verstreut<br />
sind, sinkt die Aufmerksamkeit sehr<br />
schnell und die Qualität des Angebotes<br />
leidet häufig darunter. Deswegen müssen<br />
wir als Städte darauf achten. Denn<br />
der Raum, den wir bilden für den Handel<br />
ist eben nicht nur gebauter Raum,<br />
sondern das ist auch atmosphärischer,<br />
sozialer Raum.<br />
Es geht nicht nur um Gebäude, um Kongresszentren,<br />
attraktive Gebäudekomplexe,<br />
sondern es geht auch darum, dass<br />
man sich zwischen diesen Gebäuden<br />
wohlfühlt. Die Qualität einer Stadt wird<br />
sehr häufig daran gemessen, wie gerne<br />
man sich darin zu Fuß aufhält. Eine Stadt,<br />
die nur noch aus schnellen Verkehrswegen<br />
besteht, lockt nicht dazu, stehen<br />
zu bleiben und einzukaufen. Hier gibt<br />
es eine ganz direkte Koppelung, die in<br />
Ordnung gebracht werden muss.<br />
Wir haben Ende 2005 ein Einzelhandelsstrukturgutachten<br />
in Auftrag gegeben<br />
und dieses zeigt sehr deutlich, was wir in<br />
den letzten Jahren an Kunden verloren<br />
haben, weil es keine zusätzliche Attraktivität<br />
eines größeren Einkaufszentrums<br />
gegeben hat. Wir haben gerade gestern<br />
Nachmittag im Stadtentwicklungs- und<br />
Verkehrsausschuss drei potenzielle<br />
Entwickler vorgestellt bekommen. Fünf<br />
unterschiedliche Standorte sind im<br />
Augenblick in der Diskussion. Die Entscheidung<br />
wird der Gemeinderat dann zu<br />
20
treffen haben, ob ein zusätzliches Zentrum,<br />
zwischen 12.000 und 30.000 qm,<br />
dem örtlichen Handel eigentlich schadet<br />
oder nützt. Und das wird eine spannende<br />
politische Diskussion werden. Wenn das<br />
im Zentrum gebaut wird, wird es natürlich<br />
Kaufkraftflüsse verändern. Wenn es<br />
außerhalb gebaut wird, zieht es möglicherweise<br />
wieder regionale Kunden an,<br />
verhindert aber trotzdem in der Innenstadt<br />
eine weitere positive Entwicklung.<br />
Also eine interessante Entscheidung, die<br />
da zu treffen ist.<br />
Ich komme zum Stadtraum Heidelberg.<br />
Hier wollte ich die weichen, so genannten<br />
echten weichen Faktoren noch einmal<br />
nennen. Da haben wir einen Vorteil<br />
gegenüber vielen Städten, der praktisch<br />
nicht künstlich aufzubauen ist, nämlich<br />
die Internationalität. Durch die Universität,<br />
durch den Technologiepark, durch<br />
die weltweit aktiven Unternehmen haben<br />
wir natürlich ständig einen hohen Anteil<br />
von internationalen Gästen für unterschiedliche<br />
Konferenzen, u.a. zum<br />
Beispiel ist die Stadt bekannt für ihre<br />
nachhaltige Entwicklung. Die Situation<br />
hat sich in den letzten Jahren völlig<br />
verändert. Eine hochinteressante Entwicklung,<br />
dass nämlich diejenigen, die<br />
über Nacht bleiben, heute nicht mehr die<br />
traditionellen Touristen sind, sondern<br />
aus beruflichen Gründen kommen. Das<br />
ist natürlich auch wieder für den Handel<br />
hoch interessant. Denn wer aus beruflichen<br />
Gründen zwei, drei Tage in einer<br />
Stadt ist, wird sich in anderer Weise verhalten,<br />
als jemand, der nur kurz mit dem<br />
Bus „im Schlosshof einfährt“ und dort<br />
schnell und möglichst kostengünstig<br />
irgendein Mitbringsel ersteigert, das in<br />
der Regel weder in der Stadt, der Region,<br />
noch im Land produziert ist.<br />
Wir haben kulturelle Angebote, die nicht<br />
nur Menschen aus Heidelberg und der<br />
Region anlocken, sondern aus ganz<br />
Deutschland und Europa, inzwischen<br />
Schweiz, Österreich, Großbritannien,<br />
Italien. Ob das unser Theater oder das<br />
Philharmonische Orchester ist, der<br />
Heidelberger Frühling, das Kurpfälzische<br />
Museum, derzeit den wunderbaren<br />
Stückemarkt im Theater. Durch Minister<br />
Stratthaus wird am Samstag der Literatursommer<br />
eröffnet, Schlossfestspiele<br />
folgen und anderes mehr. Alles das lockt<br />
an und es gibt besondere Ereignisse, die<br />
z.B. mit dem Einzelhandel gemeinsam<br />
entwickelt worden sind. „Heidelberg<br />
im Frühling“ mit Kultur verbunden und<br />
Kunst oder der Heidelberger Herbst, „lebendiger<br />
Neckar“, der Weihnachtsmarkt<br />
oder demnächst, nicht von Heidelberg<br />
aus organisiert, aber mitbetrieben, das<br />
Landesturnfest oder der Halbmarathon<br />
oder anderes mehr.<br />
Weltoffenheit ist sicher wichtig, denn<br />
Fremdenfeindlichkeit kann ein unerträgliches<br />
Hindernis werden für eine vernünftige<br />
Weiterentwicklung. Wenn sich<br />
in einer Stadt Menschen aus anderen<br />
Ländern aufhalten, weil sie beruflich dort<br />
hingehören und dies von einer Bevölkerung<br />
nicht akzeptiert wird, haben sie ein<br />
Problem. Weltoffenheit ist eine wichtige<br />
Voraussetzung für eine Stadt, sich auf<br />
eine gute Weise weiterentwickeln zu<br />
können. Auch für Städte, die nicht diese<br />
internationale Bedeutung haben wie<br />
Heidelberg, wird das in Zukunft zunehmen.<br />
Die demographischen Veränderungen<br />
werden zu höheren Anteilen von<br />
Wandernden, von Migranten, führen. Und<br />
das heißt, da müsste die Bevölkerung<br />
darauf eingestellt sein. Wenn das nicht<br />
funktioniert, werden sie Angsträume und<br />
Unzufriedenheit bekommen. D.h. dies ist<br />
eine ganz gravierende Voraussetzung für<br />
eine gedeihliche Weiterentwicklung auch<br />
unseres Handels.<br />
Alle diese Aktivitäten haben Menschen<br />
in der Stadt erheblich beeinflusst. Der<br />
Einkauf, das Einkaufsverhalten wird<br />
verändert durch solche Aktivitäten.<br />
Nicht immer nur positiv. Wir haben<br />
auch Schwierigkeiten. Städte sind, auch<br />
wenn ich sie als sehr stark geschildert<br />
habe, reziprok betrachtet das letzte<br />
Glied einer Kette. Wenn Sie die Konzentration<br />
im Einzelhandel ansehen, dann<br />
ist erkennbar, dass eine Stadt dem nur<br />
relativ wenig entgegensetzen kann. Ich<br />
habe gerade heute gehört, dass eine der<br />
großen Ketten in einer benachbarten<br />
Kreisstadt eine große Einrichtung plant.<br />
Dies bedeutet, dass es für die Leute nicht<br />
mehr interessant ist, in die Filiale nach<br />
Heidelberg zu fahren. Wenn man alles in<br />
jedem Ort findet, gibt es keinen Grund<br />
mehr, sich in die zentrale Stadt zu begeben,<br />
um dort dann in Verbindung mit<br />
diesem Geschäft auch noch anderes zu<br />
21
tun. Dies ist eine Entwicklung, gegen die<br />
wir relativ wenig machen können. Hier<br />
sind dann andere Akteure gefragt.<br />
Unser Ziel für den Handel ist daher<br />
auch, dass man eine Atmosphäre schafft<br />
und erhält, die es einfach angemessen<br />
erscheinen lässt, nicht einfach<br />
durchzurennen, um schnell die zwei,<br />
drei Dinge zu besorgen, die man sich<br />
vorgenommen hatte, sondern länger<br />
zu verweilen. Wir haben kürzlich eine<br />
Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen<br />
gehabt, die Ihnen ja aus einem anderen<br />
Zusammenhang bekannt ist und mit<br />
der Heidelberger Universität zusammen<br />
arbeitet. Die Umfrage hat ergeben, dass<br />
97 Prozent der Bürgerinnen und Bürger<br />
„sehr zufrieden“ und „zufrieden“ mit ihrer<br />
Stadt sind. Ich finde, das ist ein ganz<br />
gutes Ergebnis. Jetzt wünschen wir uns<br />
natürlich in allen unseren Städten, dass<br />
alle unsere Bürger sich so fühlen und vor<br />
allen Dingen, dass sie auch bereit sind,<br />
das angemessen zu entgelten und erfolgreich<br />
tätig zu sein. Und das ist sicher<br />
die Grundlage für erfolgreichen Handel<br />
in unserer Stadt.<br />
Haben Sie herzlichen Dank für Ihre<br />
Aufmerksamkeit.<br />
22
Zukunft findet Stadt!<br />
Wie wir morgen wohnen und leben –<br />
Abschied vom urbanen Pessimismus<br />
Meine Damen und Herren,<br />
ich weiß nicht: Kennen Sie das<br />
Grimm’sche Märchen vom alten Großvater<br />
und seinem Enkel?<br />
Es geht sinngemäß so: Es war einmal<br />
ein ganz alter Mann. Seine Augen<br />
waren trüb, die Ohren taub und die<br />
Knie zitterten ihm. Wenn er nun mit der<br />
gesamten Familie bei Tische saß und den<br />
Löffel kaum halten konnte, schüttete er<br />
manchmal seine Suppe auf das Tischtuch.<br />
Und deswegen musste sich der alte<br />
Großvater hinter den Ofen in die Ecke<br />
setzen. Sie gaben ihm sein Essen in ein<br />
irdenes Schüsselchen und noch dazu so<br />
wenig, dass er kaum satt werden konnte.<br />
Da sah er betrübt nach dem Tisch der<br />
anderen und seine Augen wurden ihm<br />
nass. Als einmal seine zittrigen Hände<br />
das Schüsselchen nicht festhalten<br />
konnten, fiel es zur Erde – und zerbrach.<br />
Die junge Frau tobte. Er sagte aber nichts<br />
und seufzte nur.<br />
Da kaufte sie ihm ein hölzernes Schüsselchen<br />
für ein paar Heller. Daraus musste<br />
er nun löffeln. Während sie nun alle da so<br />
saßen, trug der kleine vierjährige Enkel<br />
auf der Erde kleine Brettlein zusammen.<br />
„Was machst du da?“ fragte der Vater.<br />
„Ich mach ein Tröglein“ antwortete das<br />
Kind, „daraus sollt ihr dann essen, wenn<br />
ich einmal groß bin.“ Da sahen sich beide<br />
eine Weile betroffen an, fingen plötzlich<br />
an zu weinen, holten sofort den alten<br />
Großvater an den Tisch und ließen ihn<br />
von nun an immer mitessen. Und sie<br />
sagten auch nichts, wenn er gelegentlich<br />
ein wenig verschüttete.<br />
23<br />
Nun, meine Damen und Herren, vielleicht<br />
könnte eine moderne Version des Märchens<br />
(vgl. Ganßmann 2002, S. 285) im<br />
21. Jahrhundert aber auch so enden: Der<br />
alte Mann resignierte nicht und bekannte<br />
trotzig: „Lieber allein verhungern, als<br />
sich von seinen Kindern so behandelt<br />
sehen.“ Darauf sahen sich Mann und Frau<br />
an, kamen ins Nachdenken und fingen<br />
endlich an zu weinen: „Wer wird denn für<br />
uns sorgen, wenn wir einmal nicht mehr<br />
arbeiten können?“ In diesem Augenblick<br />
klingelte ein Versicherungsvertreter<br />
und bot ihnen einen inflationsstabilen<br />
Pensionsfonds mit garantierter hochprozentiger<br />
Rendite und allerniedrigsten<br />
Verwaltungs- und Transfergebühren an.<br />
Der Sohn und seine Frau kauften sich<br />
von dem, was sie am alten Vater sparten,<br />
in den Pensionsfonds ein und leisteten<br />
sich zudem ein Penthouse in der City,<br />
wo sie schon bald feststellen mussten,<br />
dass keiner kam und sie besuchte. Sie<br />
waren allein und kinderlos und gingen<br />
deshalb jeden Abend nachsehen, ob hinterm<br />
Zaun bei den Nachbarn genügend<br />
Kinder aufwuchsen, die im Alter für das<br />
viele schöne Geld Suppe für sie kochen<br />
könnten ...<br />
Dieses „alte“ Märchen ist insofern ganz<br />
modern, als der Generationenvertrag<br />
das Zusammenspiel zwischen drei (und<br />
nicht nur zwischen zwei) Generationen<br />
umschreibt: Die Großelterngeneration<br />
hat zeitlebens für die Elterngeneration<br />
gesorgt und möchte nun ihrerseits<br />
versorgt werden. In diesem Generationenpakt<br />
spielt die dritte, die Kinderge-<br />
Prof. Dr.<br />
Horst W. Opaschowski<br />
Universität Hamburg<br />
Gründer des B.A.T. Freizeitforschungsinstituts<br />
Zukunftswissenschaftler<br />
und Politikberater
neration eine zentrale Rolle. Sie bringt<br />
nicht nur eine moralische Dimension ins<br />
Spiel. Sie macht die Eltern auch darauf<br />
aufmerksam, was sie erwartet, wenn<br />
sie sich weiterhin so verhalten. Sieht so<br />
das Leben in der Stadtgesellschaft von<br />
morgen aus, in der die Großeltern nicht<br />
mehr präsent sind und alte und junge<br />
Menschen immer häufiger den Wohnort<br />
wechseln?<br />
Für das 21. Jahrhundert war ein „Neunomadentum“<br />
(Guggenberger 1997, S. 9 f.)<br />
vorausgesagt worden – eine neue Ortlosigkeit<br />
zwischen Überall und Nirgendwo,<br />
in der die Menschen durch ihr Leben<br />
driften und zappen wie bisher durch die<br />
Fernsehkanäle. In Wirklichkeit praktizieren<br />
die Menschen räumliche Familiennähe,<br />
wo und wie sie nur können. Sie halten<br />
wenig von amerikanischen Verhältnissen:<br />
Die Verweildauer an einem Wohnort liegt<br />
in den USA nur mehr bei fünf Jahren. Der<br />
amerikanische Traum, zu gehen, wann<br />
und wohin man will, stößt in Deutschland<br />
auf wenig Gegenliebe. Familiäre<br />
Beziehungen können nicht wachsen und<br />
intensiviert werden, wenn man – fast<br />
wurzellos – ständig umgepflanzt wird.<br />
Für gut ein Drittel der Bevölkerung sind<br />
die Eltern in wenigen Minuten erreichbar,<br />
weil sie entweder im selben Haus bzw.<br />
Haushalt oder am gleichen Ort wohnen.<br />
In diesem Zusammenhang sollten wir<br />
auch eine Legende sterben lassen: Die<br />
Großfamilie früher war eigentlich mehr<br />
Mythos als Realität. Die Versorgung mit<br />
Lebensmitteln, Wärme und Geld reichte<br />
oft nicht für die ganze Familie.<br />
Die dadurch verursachten familiären<br />
Konflikte gingen meist zu Lasten der<br />
alten Menschen. Die Zeit vor der industriellen<br />
Revolution ist alles andere als ein<br />
Goldenes Zeitalter der alten Menschen<br />
gewesen (vgl. Ehmer 1990).<br />
Die idyllische Vorstellung, nach der<br />
Großeltern, Eltern und Kinder in einer<br />
Drei-Generationen-Familie harmonisch<br />
zusammenlebten, ist nach der Familienforschung<br />
nicht mehr haltbar (vgl.<br />
Mitterauer 1990). Nur etwa sechs Prozent<br />
aller alten Menschen lebten in vorindustrieller<br />
Zeit in Drei-Generationen-Haushalten<br />
(Prahl/Schroeter 1996, S. 42 ff.);<br />
heute gibt es in Deutschland knapp ein<br />
Prozent Drei-Generationen-Haushalte.<br />
Wohin also geht die Reise? Wie werden<br />
wir in Zukunft wohnen? Und wie sieht<br />
das Leben in der Stadtgesellschaft von<br />
morgen aus?<br />
These 1:<br />
Die Zukunft ist urban: Städte schrumpfen<br />
und wachsen zugleich<br />
Weltweit zieht es immer mehr Menschen<br />
in die Stadt. Zum ersten Mal in der<br />
Geschichte der Menschheit lebt mehr als<br />
die Hälfte der Bevölkerung in Städten.<br />
2030 werden wir eine urbane Weltbevölkerung<br />
von etwa sechzig Prozent haben,<br />
was einer Verdoppelung seit den fünfziger<br />
Jahren entspricht. Und in gut dreißig<br />
Jahren werden gar drei Viertel der<br />
Weltbevölkerung Städter sein. Wie viele<br />
Menschen können die Städte dann noch<br />
(er-)tragen, ohne dass es zu massiven<br />
Problemen kommt – von der Luftverschmutzung<br />
bis zur Wohnungsnot?<br />
Ein urbanes Zeitalter („urban age“)<br />
kommt auf uns zu: Das Comeback der<br />
Metropolen und die Globalisierung der<br />
Städte. London nennt sich Europas „Global<br />
City“, weil die Stadt in den letzten<br />
dreißig Jahren durch Einwanderung über<br />
zwei Millionen Einwohner hinzugewonnen<br />
hat (von 5,0 auf 7,3 Millionen). In<br />
China, Indien, Afrika und Lateinamerika<br />
explodieren die Zahlen der Stadtbevölkerung<br />
geradezu, z.B. in Lagos von 1,9<br />
Millionen (1975) auf derzeit über 10<br />
Millionen. Shanghai, Chinas Tor zur Welt,<br />
soll bereits eine Einwohnerzahl von 15<br />
Millionen aufweisen.<br />
Die in den dreißiger Jahren von dem<br />
Architekten Le Corbusier initiierte Charta<br />
von Athen sorgte für eine folgenschwere<br />
historische Zäsur: Das Leitbild einer<br />
funktionellen Stadt, nach der die Funktionen<br />
Arbeiten, Wohnen, Freizeit und<br />
Verkehr strikt getrennt werden sollten,<br />
wurde geboren. Die Vorstellung vom<br />
organischen Stadtbau wurde aufgegeben<br />
zugunsten von Trabanten-, Satellitenund<br />
Gartenstädten: Draußen vor der<br />
Stadt.<br />
In Zukunft wird vieles anders sein:<br />
Arbeiten, Wohnen, Freizeit und Kultur<br />
wachsen wieder zusammen, ja das<br />
Leben auf dem Lande wird dem Stadtleben<br />
immer ähnlicher. Beides ist dann<br />
24
möglich: Die Verstädterung der Dörfer<br />
und die Verdörferung der Städte oder in<br />
der Sprache der Planer: Die Verdichtung<br />
und die Entdichtung. Motorisierung und<br />
Mobilität lassen zudem die Grenzen zwischen<br />
Stadt und Land immer fließender<br />
werden. Der „Stadt“-Begriff wird kaum<br />
mehr abgrenzbar sein. Im internationalen<br />
Maßstab schwanken heute schon die<br />
Mindesteinwohnerzahlen einer Stadt<br />
zwischen 200 Einwohnern in Dänemark,<br />
10.000 Einwohnern in der Schweiz und<br />
30.000 Einwohnern in Japan.<br />
Die Weltbevölkerung wandert und<br />
wächst, Deutschlands Bevölkerung<br />
hingegen altert und schrumpft. Jahr für<br />
Jahr verliert das Land drei- bis vierhunderttausend<br />
junge Menschen. Die Folge<br />
ist eine rege Schrumpfungsdebatte zur<br />
Zukunft der Städte in Deutschland. Bei<br />
der rückläufigen Bevölkerungszahl wird<br />
teilweise sogar Entvölkerung befürchtet<br />
in Verbindung mit Problemen wie Überalterung,<br />
Vereinzelung und zunehmender<br />
sozialer Ungleichheit. Von notwendigem<br />
„Rückbau“ (vor allem in Ostdeutschland)<br />
ist die Rede, was im Klartext doch nur<br />
„Abriss“ bedeutet (vgl. Keim 2001, S. 20).<br />
Auf die Städte in Deutschland kommt<br />
eine schwierige Gratwanderung zwischen<br />
Schrumpfung und Wachstum zu.<br />
Manche Regionen müssen mit massiven<br />
Bevölkerungsrückgängen rechnen,<br />
andere entwickeln sich zu regelrechten<br />
Wachstumsregionen. Und wieder andere<br />
trotzen diesen Trends, weil sich ihre<br />
Einwohnerzahl wider Erwarten stabilisiert.<br />
Im Jahr 2000 war beispielsweise<br />
von den 320.000 Wohnungen in Leipzig<br />
jede Fünfte unbewohnt. Gleichzeitig<br />
standen in den das Stadtbild prägenden<br />
Altbauten über 40.000 Wohnungen leer.<br />
Jetzt sinkt die Leerstandsquote plötzlich<br />
und die alten Stadtquartiere gewinnen<br />
wieder an Attraktivität. Stadtteile und<br />
Wohnquartiere bekommen wieder eine<br />
neue Bedeutung als Mittelpunkte des Lebens,<br />
als private Rückzugs- und zentrale<br />
Aufenthaltsorte - nicht mehr nur für den<br />
Feierabend, sondern 24 Stunden lang,<br />
Tag für Tag.<br />
Aus städtepolitischer Sicht gleicht die<br />
Entwicklung mehr dem Bild einer bipolaren<br />
Stadt, „in der Schrumpfungs- und<br />
Wachstumsprozesse parallel verlaufen<br />
und sich gegenseitig beeinflussen“ (Tiefensee<br />
2003, S. 4): Großsiedlungen am<br />
Rande der Stadt durchleben Schrumpfungsprozesse,<br />
während gleichzeitig die<br />
Alt- und Innenstadt als Stadt der kurzen<br />
Wege ihre Magnetwirkung entfaltet.<br />
Das Leben in der Stadt der Zukunft hat<br />
somit zwei Gesichter: Schrumpfenden<br />
Städten z.B. im Osten Deutschlands, im<br />
nördlichen Ruhrgebiet, im Saarland oder<br />
in Rheinland-Pfalz stehen wachsende<br />
Städte in Regionen wie z.B. München,<br />
Stuttgart oder Frankfurt gegenüber, deren<br />
Bevölkerungszahl stabil bleibt oder<br />
sogar wächst.<br />
These 2:<br />
Die Menschen wandern zum Wohlstand:<br />
Pendler kehren in die Stadt zurück<br />
Wachsende Realeinkommen ermöglichten<br />
es den Bürgern in den vergangenen<br />
Jahrzehnten, die innere Stadt zu verlassen,<br />
um ein Einfamilienhaus im Umland<br />
(„suburb“) zu kaufen. Die Randbereiche<br />
der Metropolen wuchsen zu Lasten der<br />
Kernstädte. Eine Doppelmotorisierung<br />
der privaten Haushalte („Zweitauto“) war<br />
die Folge. Gleichzeitig folgte der Einzelhandel<br />
den Bewohnern in die Vororte.<br />
Ebenfalls ließen sich neue Kultur- und<br />
Freizeiteinrichtungen dort nieder. Ein<br />
stetig steigendes Verkehrsaufkommen<br />
führte zu extremen Belastungen des<br />
Straßennetzes. Im Zuge der Suburbanisierung<br />
kam es zum Verfall innerstädtischer<br />
Quartiere.<br />
Mit dem sich jetzt abzeichnenden Ende<br />
des sich ausbreitenden Wohlstands sind<br />
jetzt auch der Massenmotorisierung<br />
wieder Grenzen gesetzt. Erfahrungsgemäß<br />
zieht es die Menschen in wirtschaftlich<br />
starke Regionen - dorthin, wo es<br />
Arbeit, Wohlstand und Wachstum gibt.<br />
Die „besten Köpfe“, also junge und gut<br />
ausgebildete Menschen, lösen starke<br />
Binnenwanderungen aus und verschärfen<br />
die Ungleichgewichte zwischen den<br />
Regionen. Von den 40 zukunftsfähigsten<br />
Kreisen sollen allein 23 in Bayern und<br />
14 in <strong>Baden</strong> Württemberg liegen.<br />
Die großen Metropolregionen um München<br />
und Stuttgart, Frankfurt/M., Berlin<br />
und Hamburg werden die Gewinner der<br />
Wanderungsbewegung zum Wohlstand<br />
sein.<br />
25
Andererseits gibt es auch eine Gegenbewegung:<br />
Die Ungleichgewichte zwischen<br />
Städten und Regionen verschärfen sich.<br />
Einige Großstädte verlieren bundesweit<br />
Bewohner und damit Steuerkraft an das<br />
benachbarte Umland. Vor allem Jugendliche<br />
und junge Familien verlassen Städte<br />
mit geringeren Arbeitsmöglichkeiten<br />
wie z.B. Kiel und Bremerhaven sowie Ballungszentren<br />
im Ruhrgebiet (z.B. Essen,<br />
Dortmund). Gleichzeitig ist in einigen<br />
Umlandregionen eine regelrechte Bevölkerungsexplosion<br />
feststellbar. So wandern<br />
beispielweise immer mehr Hamburger<br />
in den Landkreis Lüneburg ab. Das<br />
Statistische Landesamt prognostiziert<br />
für die Boomregion Lüneburg geradezu<br />
zweistellige Zuwachsraten bis zum Jahr<br />
2020. Geburtenrate, Altersdurchschnitt<br />
und Zuzugsverhalten entscheiden somit<br />
über die Zukunft einer Region.<br />
Viele Bürger haben in den letzten Jahren<br />
die Stadt als Pendler verlassen – und<br />
kehren als Stadtbewohner wieder zurück.<br />
Jahrhunderte lang wurde die Stadt mit<br />
„Spangen“, „Tangenten“ und „Ausfallstraßen“<br />
umzingelt, an deren Peripherie<br />
sich dann das Eigenheim am Stadtrand<br />
zum Symbol und Leitbild des guten Lebens<br />
entwickelte. Mit der Trennung von<br />
Arbeiten, Konsumieren, Wohnen und Erholen<br />
ging eine Verinselung der Lebensräume<br />
einher. Auf der Strecke blieb die<br />
urbane Atmosphäre. Wenn es jetzt zur<br />
Wiederbelebung innerstädtischen Wohnens<br />
kommt, dann werden steuerliche<br />
Vergünstigungen von der Eigenheimzulage<br />
bis zur Pendlerpauschale bald der<br />
Vergangenheit angehören.<br />
Es deutet sich eine Alternative zu den<br />
herkömmlichen Wohn- und Lebensstilen<br />
der vergangenen Jahrzehnte an: Reurbanisierung.<br />
Die Trennung von Arbeitszentren<br />
und Wohngebieten, die nicht<br />
selten unzureichend an den öffentlichen<br />
Nahverkehr angebunden waren, wird<br />
tendenziell wieder aufgehoben. In den<br />
Zukunftsvorstellungen der Bevölkerung<br />
kommen Lebensqualitätswünsche<br />
zum Ausdruck, die mit den Attributen<br />
„zentral“/„nah“/„kurz“ auf eine Abkehr<br />
von der Pendlergesellschaft hinweisen.<br />
Sicher: Randlagen und Satellitenstädte<br />
wird es auch in hundert Jahren noch geben,<br />
haben aber keine expansive Zukunft<br />
mehr vor sich. Wer es sich leisten kann,<br />
wohnt citynah - und spart Zeit: 12 bis 14<br />
Stunden Freizeit pro Monat verliert der<br />
Pendler im Vergleich zu seinen Kollegen,<br />
die in der Stadt wohnen. „Das entspricht<br />
sechs Kinofilmen. Oder fünf Restaurant-<br />
Besuchen. Oder vier Monopoly-Runden<br />
mit den Kindern. Oder drei langen Jogging-Runden<br />
pro Woche“ (Wellershoff<br />
2005, S. 9). Und teuer ist das Hin- und<br />
Herfahren auch noch.<br />
So gesehen wird die innerstädtische<br />
Wohnlage wieder attraktiver. Die Bequemlichkeit<br />
bei der Wahrnehmung der<br />
Einkaufs-, Kultur- und Freizeitmöglichkeiten<br />
wird als wichtiger eingeschätzt<br />
als mögliche Nachteile durch Lärm und<br />
Abgase sowie höhere Preise bei Mieten<br />
oder Eigentumserwerb. Vieles deutet<br />
darauf hin, dass sich der Trend zum<br />
innerstädtischen Wohnen in Zukunft<br />
verstärken wird. Zeitersparnis und kurze<br />
Wege zwischen Wohnung und Arbeitsplatz<br />
sowie die Vielfalt und Qualität der<br />
Angebote wirken wie ein Magnet.<br />
These 3:<br />
Immer mehr wollen in zentraler Lage<br />
wohnen:<br />
Jeder zweite Single lebt in der Stadt<br />
Der wachsende Wohnwunsch „Bezahlbare<br />
Wohnung in zentraler Lage“ gleicht<br />
einer Quadratur des Kreises. Denn Citywohnen<br />
stößt erfahrungsgemäß schnell<br />
an die Grenze der Finanzierbarkeit. In<br />
den Wunschvorstellungen der Bevölkerung<br />
gleicht die Stadt der Zukunft<br />
einem modernen „Sesam-öffne-dich“.<br />
Ganz obenan steht der Wunsch nach<br />
einem Wohnort der kurzen Wege und<br />
Wartezeiten. Das zeichnet die besondere<br />
Qualität städtischen Lebens aus. Wohnortnah<br />
arbeiten, in zentraler Lage leben<br />
und preisgünstig wohnen. Welche Stadt<br />
kann das dann bieten?<br />
Zugleich wandeln sich die Wohnwünsche:<br />
Die Wohnflächen wachsen weiter.<br />
Der Wohnflächen-Anspruch der Deutschen<br />
hat sich seit den sechziger Jahren<br />
mehr als verdoppelt – von seinerzeit<br />
gerade einmal 15 bis 20 Quadratmetern<br />
pro Kopf auf heute 39 Quadratmeter<br />
in Ost- und 42 Quadratmeter in Westdeutschland.<br />
Bis Mitte des Jahrhunderts<br />
werden die Bundesbürger mindestens<br />
26
55 Quadratmeter beanspruchen und<br />
sich damit internationalen Verhältnissen<br />
anpassen (z.B. Dänemark 51 qm,<br />
USA 68 qm). Diese prognostizierte<br />
Wohnflächennachfrage setzt allerdings<br />
Wohlstand voraus und ist von Wirtschaftsentwicklung<br />
und Kaufkraft abhängig.<br />
Andererseits bleibt der Trend zu<br />
Ein- und Zweipersonenhaushalten stabil:<br />
Immer mehr Familienhaushalte wandeln<br />
sich zu kinderlosen und älteren Haushalten,<br />
d.h. die Haushalte werden kleiner,<br />
aber die Wohnfläche pro Person größer.<br />
Zugleich steigt die Zahl der privaten<br />
Haushalte. Nach der Raumordnungsprognose<br />
des Bonner Bundesamtes für Bauwesen<br />
und Raumordnung (BBR 2006)<br />
wird es bereits im Jahr 2020 über eine<br />
Million Haushalte mehr als heute geben.<br />
Dabei steigt vor allem der Anteil der kleinen<br />
Ein- und Zweipersonenhaushalte auf<br />
über 75 Prozent. Gleichzeitig sinkt die<br />
Nachfrage nach Eigenheimen erheblich,<br />
weil es immer weniger junge Familien<br />
gibt. Die Wohneigentumsbildung verlagert<br />
sich auf den Geschosswohnungsbau<br />
in den Städten und im städtischen Umland,<br />
während Neubauten in ländlichen<br />
Regionen fast zum Erliegen kommen.<br />
Die Wohnung bekommt in Zukunft eine<br />
immer größere Bedeutung als Boxenstopp<br />
und Rückzugsnische: Hier will man<br />
zur Ruhe kommen und vor allem in Ruhe<br />
gelassen werden. Die eigenen vier Wände<br />
schirmen den Alltagsstress und Lärm<br />
von draußen ab, können aber auch zur<br />
Isolierzelle werden. Denn: Immer mehr<br />
Menschen leben und wohnen allein.<br />
Architekten und Wohnungsgestalter<br />
werden das Rückzugs- und Separierungsbedürfnis<br />
bei ihren Planungen genauso<br />
berücksichtigen müssen wie das<br />
Kontakt- und Kommunikationsbedürfnis.<br />
Die Wohnung der Zukunft wird also für<br />
die wachsende Zahl der Singles und<br />
Ein-Personen-Haushalte gleichermaßen<br />
Ankerplatz für das Ego und Kommunikationsbörse<br />
für die Nachbarn sein.<br />
Singles genießen bekanntlich einen hohen<br />
Aufmerksamkeitswert in der Öffentlichkeit.<br />
Sie gelten als die Hätschelkinder<br />
der Konsumgesellschaft, weil sie den<br />
Konsum anheizen (vgl. Pilgrim 1991): Ein<br />
Paar braucht alles nur einmal, zwei räumlich<br />
getrennte Singles aber brauchen<br />
zwei Wohnungen, zwei Fernsehgeräte,<br />
zwei Videos, zwei Stereoanlagen und<br />
zwei Telefonanschlüsse ...<br />
Single-Haushalte breiten sich in den<br />
Städten aus. Selbst an den Stadträndern<br />
werden Einfamilienhäuser zu Einpersonenhäusern.<br />
In Deutschland leben mehr<br />
als elf Millionen Menschen ohne Partner.<br />
In den Großstädten ist jeder Dritte allein.<br />
Das verändert auch das soziale Klima.<br />
Städte- und Wohnungsbau reagieren darauf<br />
teilweise zynisch: Der Designer Luigi<br />
Colani entwarf beispielsweise ein „zukunftsweisendes“<br />
(= Platz sparendes)<br />
Rotorhaus für Singles. Wie Waben eines<br />
Bienenstocks sehen hier die „Einstiege“<br />
in die Miniküche, die Schlafkoje und das<br />
Bad in der 36 Quadratmeter großen Single-Behausung<br />
eines Fertigbauunternehmens<br />
(Hanse Haus) aus. Ein Knopfdruck<br />
genügt und schon kommen Badezimmer,<br />
Bett und Küche angefahren. Wie auf einer<br />
Drehbühne des Lebens kreisen dann<br />
die drei Nischen um das Wohnzimmer.<br />
Singles leben gern in Großstädten,<br />
weil sie hier ideale Lebensbedingungen<br />
vorfinden (vgl. Hradil 1995):<br />
Kurze Wege zu Freunden und Bekannten<br />
sowie eine Vielzahl von Kultur-<br />
und Unterhaltungseinrichtungen.<br />
Singles führen kein Eremitendasein,<br />
bewegen sich vielmehr in relativ<br />
großen Kontakt-, Beziehungs- und<br />
Netzwerken. Der Personenkreis, zu<br />
dem enge gefühlsmäßige Bindungen<br />
bestehen, woher vielleicht Hilfeleistungen<br />
zu erwarten sind, ist bei Singles<br />
etwa zwei- bis dreimal so groß<br />
wie bei Personen, die in Mehrpersonenhaushalten<br />
leben (vgl. Schneider<br />
1994, S. 119).<br />
Und schließlich: Singles verfügen<br />
über die höchsten persönlichen Nettoeinkommen.<br />
Das Geschäft mit den Singles boomt. Die<br />
Singles stellen neben der 50plus-Generation<br />
die attraktivste und lukrativste<br />
Zielgruppe in einem neuen Dienstleistungsmarkt<br />
dar. Da gibt es in den Großstädten<br />
Single-Kino-Nächte inklusive<br />
Begrüßungsgetränk, Fingerfood und<br />
anregenden Gesprächen in der Lounge.<br />
Und zu den angebotenen Single-Reisen<br />
27
gesellen sich Flirt-Foren und Dating-<br />
Cafés auf der Internet-Plattform. Supermärkte<br />
wie z.B. Wal Mart veranstalten<br />
freitags von 18 bis 20 Uhr Single-Shopping.<br />
Und Tageszeitungen bringen<br />
regelmäßig Single-Beilagen heraus. Die<br />
Single-Szene hat Methode und Erfolg,<br />
weil sie steigende Umsätze garantiert.<br />
Dieser Markt der Möglichkeiten ist noch<br />
längst nicht ausgeschöpft. Die Vermarktung<br />
menschlicher Kontaktbedürfnisse<br />
lebt von der wachsenden Gruppe der<br />
Immer-, Noch-, Schon-Wieder- oder Aus-<br />
Überzeugung-Singles, die den langen<br />
Atem für geduldige Kontaktsuche verloren<br />
haben und sich von Speed-Datings<br />
und Sofort-Kontakten Problemlösungen<br />
erhoffen. Das Alleinleben entwickelt sich<br />
nicht selten – gewollt oder ungewollt<br />
– zu einer dauerhaften Lebensform.<br />
These 4:<br />
Das Eigentumsdenken verändert sich:<br />
Städter mieten Lebensstile<br />
Nach dem Jahr 2020 wird die starke<br />
Baby-Boomer-Generation in Rente<br />
gehen und ihre Vermögensbestände<br />
– wenigstens teilweise – an eine zahlenmäßig<br />
schwächere jüngere Generation<br />
zu verkaufen versuchen, um damit<br />
ihren Ruhestand bzw. Alterskonsum zu<br />
finanzieren. Dann wird mehr entspart als<br />
angespart. Weil dabei aber viele Verkäufer<br />
auf relativ wenige Käufer stoßen,<br />
könnten die Preise von Aktien, Wertpapieren<br />
und Immobilien ins Bodenlose<br />
fallen, d.h. die von der Politik heute<br />
propagierte Eigenvorsorge der Bürger für<br />
das Alter würde damit entwertet werden.<br />
Dagegen spricht allerdings, dass sich die<br />
Verrentung der Baby-Boomer-Generation<br />
nicht plötzlich, sondern über einen<br />
längeren Zeitraum von zehn bis zwanzig<br />
Jahren hinzieht.<br />
Unbestritten aber ist: Der Immobilienmarkt<br />
hat seinen Zenit überschritten.<br />
Die Zeitfenster für Immobilienverkäufe<br />
werden enger und die Chancen für einen<br />
Rückgang der Leerstandsraten immer<br />
geringer. Auf den Punkt gebracht:<br />
Sinkende Geburtenraten = fallende Immobilienpreise.<br />
Der kinderlose Städter der Zukunft verkauft<br />
sein Einfamilienhaus und zieht als<br />
Mieter in ein Penthouse mit Dachterrasse<br />
– mit Blick auf Gärten, wo andere ihren<br />
Rasen mähen müssen. Im Unterschied<br />
zu den traditionellen Mietern, die sich<br />
zwar ein eigenes Haus wünschen, es sich<br />
aber nicht leisten können, breitet sich<br />
eine nach oben mobile Gruppe aus, die<br />
Miete statt Eigentum wählt und in den<br />
USA bereits ein Drittel aller Haushalte<br />
ausmacht. Dabei handelt es sich um so<br />
genannte „Lifestyler“, die nur das Gefühl<br />
haben wollen, wie im eigenen Haus zu<br />
wohnen – ohne die lästigen Verpflichtungen,<br />
die mit Eigentum verbunden<br />
sind. Concierge, Morgenzeitung und<br />
Frühstück wollen gemietet werden.<br />
Der Anteil der Haushalte mit eigener<br />
Wohnung oder eigenem Haus liegt in<br />
Deutschland gerade einmal bei<br />
43 Prozent – und damit deutlich unter<br />
dem EU-Durchschnitt von 63 Prozent.<br />
Von den Haushalten lebt<br />
jeder Dritte in einem Einfamilienhaus,<br />
jeder Fünfte in einem Zweifamilienhaus<br />
und<br />
jeder Zweite in einem Haus mit drei<br />
und mehr Wohnungen.<br />
Weil sich das Eigentumsdenken verändert,<br />
wird das Wohnerleben neu<br />
definiert: Wohnen wie im eigenen Haus<br />
– aber sich nicht wie ein Eigentümer um<br />
alles kümmern müssen. Die Unsicherheit<br />
auf dem Arbeitsmarkt, fehlende Beschäftigungsgarantien<br />
und immer höhere<br />
Mobilitätsanforderungen führen dazu,<br />
dass sich in Zukunft mehr Menschen für<br />
die Miete als für den Kauf entscheiden.<br />
Schließlich kommen als weitere Wohnform<br />
der Zukunft Lebensabschnitts-Gemeinschaften<br />
hinzu. Dabei handelt es<br />
sich um Mietwohnangebote auf Zeit. Hier<br />
werden Zeitanteile verkauft und vermietet<br />
bzw. Immobilien verzeitlicht. Die<br />
Immobilien werden mobil: Das können<br />
Lebensabschnittshäuser oder -wohnungen<br />
oder -wohngemeinschaften sein:<br />
für Singles, Alleinerziehende oder Senioren.<br />
Lebensabschnitte und Lebensstile<br />
entscheiden somit über die Wohnform<br />
der Zukunft.<br />
Die Menschen wollen beruflich mobil und<br />
sozial disponibel bleiben. Flexibles Wohnen<br />
ist angesagt. Wer seine Arbeit oder<br />
seinen Partner wechselt, zieht woanders<br />
hin.<br />
28
Die Wohnung gilt nach der Kleidung als<br />
die dritte Haut des Menschen: Status,<br />
Selbstbild, Lebensphase – alles spiegelt<br />
sich in Stil und Ausstattung der eigenen<br />
vier Wände wider. Wohnen wird gebaute<br />
Wirklichkeit – als Nestbau oder Holzhaus,<br />
Familienhaus im Grünen oder Single-Loft<br />
in der City. Die Stadt wird zur biologischen<br />
Durchlaufstation, das Wohnhaus<br />
zum Lebensabschnittshaus.<br />
Wie in den USA werden immer mehr spezielle<br />
Wohnsiedlungen mit gemeinsamen<br />
Interessen gebaut. Für Außenstehende<br />
wird der Zugang geradezu erschwert<br />
– durch umgebende Mauern oder Zäune<br />
sowie Sicherheitsleute, die als „Torwächter“<br />
agieren. Über 30 Millionen Amerikaner<br />
wohnen derzeit in solchen Anlagen.<br />
Und jedes Jahr entstehen etwa 4.000 bis<br />
5.000 neue umfriedete Wohnsiedlungen.<br />
Hier kaufen die Menschen Lebensstile<br />
und nicht nur Wohnhäuser.<br />
Konkret: Wer neue Gleichgesinnte sucht,<br />
wählt eine Interessen-WG auf Zeit. Im 21.<br />
Jahrhundert werden also interessenbezogene<br />
Wohnanlagen besonders gefragt<br />
sein. Die Einfriedung von Wohnsiedlungen<br />
(in den USA „gating“ genannt)<br />
erweist sich als neue Vermarktungschance.<br />
Sie garantiert Sicherheit und Exklusivität,<br />
erhöht den Eigentumswert und<br />
lässt zugleich die Immobilienpreise in<br />
Nicht-Gating-Regionen fallen. Solche<br />
Interessen-Wohngemeinschaften können<br />
kommunalpolitische Folgen haben, weil<br />
es sich um weitgehend autarke Wohneinheiten<br />
handelt – vom eigenen Bussystem<br />
bis zu privaten Sicherheitsbeamten,<br />
Sicherheitskameras und Identifizierungskarten.<br />
Gibt es in Zukunft jeweils eigene Städte<br />
und Wohnquartiere für Singles, Paare,<br />
Familien, Rentner und Zuwanderer, die<br />
jeweils auf die individuellen Bedürfnisse<br />
der Zielgruppe zugeschnitten sind und in<br />
denen ein Leben unter Gleichgesinnten<br />
und Gleichgestellten („Communities“)<br />
garantiert werden kann? In solchen<br />
Gemeinsamen-Interessen-Wohnanlagen<br />
werden geradezu Lebensstile in Beton<br />
gegossen, also sowohl persönliche Freiheiten<br />
als auch soziale Verpflichtungen<br />
gleich mitgeliefert.<br />
Appartement- und Reihenhäuser werden<br />
tendenziell freistehende Einfamilienhäuser<br />
verdrängen. Im Lebenszyklus<br />
der Zukunft stellt jeder Lebensabschnitt<br />
eine eigene kleine Sinnwelt mit spezifischen<br />
Wohn- und Lebensstilen dar. In<br />
einer Gesellschaft des langen Lebens<br />
werden die Wohnformen wesentlich von<br />
wechselnden Lebensphasen bestimmt<br />
und immer weniger nur eine Frage des<br />
Milieus (soziale Herkunft, Bildung u.a.)<br />
oder des Anspruchsniveaus sein. Immer<br />
öfter stellt sich die Frage: „Welches<br />
Wohnquartier passt zu mir?“ Jede(r) hat<br />
andere Interessen. Die ideale Stadt für<br />
alle kann es gar nicht geben.<br />
These 5:<br />
Soziale Polarisierung: Städtische Unterschichten<br />
sorgen für Konflikte<br />
Das Deutsche Institut für Urbanistik<br />
(difu) befürchtet die Entstehung einer<br />
„urban underclass“, einer städtischen<br />
Unterschicht als steter Quelle von<br />
gesellschaftlichen Konflikten (Mäding<br />
2001, S. 6). Die soziale Polarisierung in<br />
den Städten verstärkt sich, weil sich dort<br />
Arme und Alte, Arbeitslose und Ausländer<br />
konzentrieren. Für die Zukunft ist zu<br />
befürchten, dass sich Parallelwelten nach<br />
eigenen Regeln bilden bzw. Inseln außerhalb<br />
des gesellschaftlichen Grundkonsenses.<br />
Damit sind vor allem Ausländer<br />
gemeint, die schon im Land leben, aber<br />
mit den geltenden Regeln von Recht und<br />
Ordnung wenig zu tun haben wollen.<br />
Die Zuwanderung bekommen in Zukunft<br />
vor allem die Großstädte und Ballungszentren<br />
zu spüren. Infolgedessen ist hier<br />
auch die Angst vor Überfremdung durch<br />
zu viele Ausländer (29%) fast dreimal<br />
so hoch wie auf dem Lande (10%). Die<br />
Wohnsituation wie auch der eigene Familienstand<br />
beeinflussen in hohem Maße<br />
die soziale Wahrnehmung, weshalb<br />
Singles und kinderlose Paare die Überfremdung<br />
am häufigsten als „Mangel an<br />
ihrem Wohnort“ nennen.<br />
Nach einer Vorausberechnung der<br />
Vereinten Nationen (UN: Replacement<br />
Migration 2000) wird der Anteil der zugewanderten<br />
Bevölkerung in Deutschland<br />
einschließlich der bereits hier lebenden<br />
Menschen ohne deutschen Pass bis zum<br />
Jahr 2050 rund ein Drittel im Bundesdurchschnitt<br />
und in den Großstädten<br />
über 50 Prozent erreichen – und trotz-<br />
29
dem wird die Bevölkerungszahl zurückgehen.<br />
Ohne Zuwanderung würde es im<br />
Jahr 2030 noch 66 Millionen (-18%), Mitte<br />
der Jahrhunderts 51 Millionen (-35%)<br />
und im Jahr 2100 nur noch 24 Millionen<br />
Menschen (-70%) geben. Eine solche<br />
Nullzuwanderung ist aber unrealistisch.<br />
Ein Großteil der künftigen Integrationsprobleme<br />
werden im Kern Generationskonflikte<br />
sein. Denn bei den Zu- und<br />
Einwanderern handelt es sich meist um<br />
„junge Männer, dynamisch, ehrgeizig,<br />
erlebnishungrig. Sie treffen auf eine<br />
einheimische Bevölkerung, die zum<br />
großen Teil aus alten Frauen besteht“<br />
(Fukuyama 2002, S. 128). Bei der Frage,<br />
was uns in Zukunft zusammenhält, muss<br />
die Integrationspolitik auch Antworten<br />
darauf geben, wie sie auf so unterschiedliche<br />
Bedürfnisse angemessen reagieren<br />
soll, ohne dass es zu einem politischen<br />
Rechtsruck im Stile von Haider, Le Pen<br />
oder Pim Fortyn kommt.<br />
Wenn es beispielsweise zur Gründung<br />
einer Deutschen Moslempartei käme,<br />
müssten die traditionellen Parteien in<br />
den Kommunen um ihre Mehrheiten<br />
bangen. Denn in Großstädten wie Berlin<br />
oder Hamburg könnten moslemische<br />
Zuwanderer so stark werden, dass sie<br />
den Einzug in Gemeinderäte und Landesparlamente<br />
schaffen. Dieser hohe<br />
Ausländeranteil könnte in Zukunft die<br />
traditionelle Parteienlandschaft vor<br />
allem in den Kommunen verändern,<br />
denn Parteien, die sich an den Interessen<br />
moslemischer Zuwanderer orientieren,<br />
wären ein wachsendes Wählerpotential.<br />
Als Zukunftsperspektive deutet sich an:<br />
In den Großstädten Deutschlands werden<br />
in den nächsten zwanzig bis dreißig<br />
Jahren Moslems in Bürgermeisterbüros<br />
einziehen.<br />
Die Chancen für die Gründung von Islamparteien<br />
sind groß, die Chancen für neue<br />
Anti-Islamparteien aber auch. Mit einer<br />
Islampartei werden sich vermutlich die<br />
meisten islamischen Wähler identifizieren.<br />
Wer – wie z.B. Hamburg – ein Leitbild<br />
„Wachsende Stadt“ propagiert, sollte<br />
realistischerweise von dem historischen<br />
Erfahrungswert ausgehen: Stadtwachstum<br />
kommt durch Zuwanderung und<br />
nur durch Zuwanderung zustande (vgl.<br />
Häußermann/Oswald 1997). Solche<br />
massierten Zuwanderungen verlaufen<br />
in der Regel nicht konfliktfrei. Selbst<br />
im Einwanderungsland USA hat es eine<br />
Reihe von Unruhen und rassistischen<br />
Auseinandersetzungen sowie Armutsund<br />
Hungeraufstände von Zuwanderern<br />
gegeben. Denn gerade Slums werden<br />
vorwiegend von Zuwanderern bewohnt.<br />
Andererseits war und ist die Stadt für<br />
viele Zuwanderer auch eine Chance für<br />
den sozialen Aufstieg.<br />
In Zukunft kann der Eindruck eines<br />
urbanen Orientalismus entstehen:<br />
Straßen in London oder Berlin bekommen<br />
orientalisches Flair. Aber gerade<br />
diese Vielfalt wird zum Merkmal urbaner<br />
Gesellschaften im 21. Jahrhundert. Denn<br />
in den Großstädten leben etwa achtzig<br />
Prozent aller Migranten. Jeder dritte bis<br />
vierte Großstädter ist heute schon ein<br />
Ausländer – z.B. 23 Prozent in München<br />
und 31 Prozent in Frankfurt/M. Allerdings<br />
konzentrieren sich die Migranten<br />
in bestimmten, meist benachteiligten<br />
Stadtteilen (vgl. Waltz 2002, S. 149), so<br />
dass dort die Ausländeranteile bei über<br />
fünfzig Prozent liegen. Diese Stadtteile<br />
weisen oft eine schlechte Bau- und<br />
Wohnsubstanz auf. Trotz der ökonomischen<br />
Benachteiligungen können<br />
diese Stadtviertel ein Gewinn für das<br />
urbane Leben sein. Denn über Familienverbände,<br />
Herkunftsnachbarschaften,<br />
Vereine, Kirchen und Moscheen sorgen<br />
die Zuwanderer für ein relativ intaktes<br />
soziales Netz, wozu auch die soziale<br />
Kontrolle gehört.<br />
In Zukunft werden Regionen, Städte und<br />
Kommunen immer mehr um junge qualifizierte<br />
und motivierte Nachwuchskräfte<br />
aus dem Ausland wetteifern. Dazu müssen<br />
sie mehr bieten als „harte“ Standortfaktoren<br />
wie z.B. hohe Einkommen und<br />
Karrieremöglichkeiten.<br />
Als neuer Standortfaktor kommt in Zukunft<br />
die örtliche Toleranz für ethnische<br />
Minderheiten hinzu. Toleranz als Ausdruck<br />
für ein soziales Klima der Offenheit<br />
spielt neben harten Standortfaktoren wie<br />
Arbeitsplätzen, Einkommenshöhen und<br />
Infrastrukturen als weicher Standortfaktor<br />
zwischen Kultur und Subkultur eine<br />
zentrale Rolle in der Stadt der Zukunft.<br />
Im Jahr 2010 wird jeder zweite unter 40-<br />
Jährige in Deutschland einen Migrationshintergrund<br />
haben.<br />
30
These 6:<br />
Wohnungsunternehmen werden zu<br />
sozialen Dienstleistern<br />
Immobilienbranche und Wohnungsunternehmen<br />
bieten in Zukunft auch ein<br />
soziales Management an, das vor allem<br />
soziale Dienste für die wachsende Zahl<br />
alter, hochaltriger und langlebiger Menschen<br />
leistet. Das soziale Wohnungsmanagement<br />
wird wie ein sozialer Kitt<br />
wirken, wozu Altenbetreuung, Mietschuldenberatung,<br />
Beschäftigungsprojekte,<br />
Nachbarschaftshilfsvereine, Tauschringe<br />
u.a. gehören. Soziales Wohnungsmanagement<br />
kann auch in ökonomischer<br />
Hinsicht erfolgreich sein. Denn die Alternative<br />
heißt nicht: Wirtschaftlichkeit oder<br />
Sozialverträglichkeit? Die Erfolgsformel<br />
lautet eher: Wirtschaftlichkeit durch<br />
Sozialverträglichkeit! Damit verbunden<br />
ist auch eine neue Qualität wohnumfeldbezogener<br />
Betreuung.<br />
Im Jahr 2030 wird die Mehrheit (53%)<br />
der über 60-Jährigen nicht verheiratet,<br />
sondern ledig, verwitwet oder geschieden<br />
sein. Die meisten leben in Ein-Personen-Haushalten<br />
und sind dann, wenn<br />
sie kinder- und enkellos bleiben, auf den<br />
Auf- und Ausbau einer professionellen<br />
Infrastruktur von Hilfe- und Pflegeleistungen<br />
angewiesen. Wer keinen Partner,<br />
keine Kinder und keine Geschwister<br />
hat, muss im Alter auf bezahlte Helfer<br />
ausweichen. Es gilt als sicher, dass mit<br />
der Zunahme der Kinderlosigkeit immer<br />
mehr Menschen im Alter allein wohnen<br />
und leben und keine familiären Unterstützungsleistungen<br />
erwarten können.<br />
Ihre Hoffnungen, sich allein auf ihre<br />
guten Freunde verlassen zu können, erfüllen<br />
sich nachweislich nicht (Vaskovics<br />
u.a. 2000, S. 12) bzw. erweisen sich als<br />
unrealistische Vorstellungen.<br />
Die 1951 mit Sitz in Lünen-Brambauer<br />
gegründete Glückauf Wohnungsbaugesellschaft<br />
hat Erfahrungen mit einer neuen<br />
Form gelebter Nachbarschaft gesammelt:<br />
Neben gezielten Freizeitangeboten<br />
wurde ein eigener Nachbarschaftshilfe<br />
e.V. gegründet. Bewohner zahlen einen<br />
einmaligen Aufnahmebetrag, bekommen<br />
dafür einen Mitgliederausweis sowie<br />
ein Bonusheft mit einem persönlichem<br />
Punktekonto. Der Verein vermittelt Hilfen<br />
zwischen den Mitgliedern, so dass auch<br />
jeder, der anderen helfen will, jemanden<br />
findet, dem er helfen kann – und umgekehrt.<br />
Damit diese Form der organisierten<br />
Nachbarschaftshilfe auch wirklich<br />
funktioniert, wurde ein Leistungskatalog<br />
entwickelt, der die wichtigsten Hilfsangebote<br />
nach einem Punktesystem bewertet.<br />
Es besteht die Möglichkeit, Punkte<br />
„anzusparen“ und dem Punktekonto<br />
„gutzuschreiben“, um dann je nach<br />
Bedarf Hilfsangebote jederzeit abrufen<br />
zu können.<br />
Die Idee der Zeitwährung geht von der<br />
Möglichkeit aus, im Laufe eines Lebens<br />
so genannte Zeitbanken einzurichten,<br />
in denen gleichsam die „sieben fetten<br />
Jahre“ eingelagert werden, um sie dann<br />
während der folgenden „sieben mageren<br />
Jahre“ wieder zu entnehmen. Zeitreiche<br />
und zeitarme Lebensphasen lösen sich<br />
ab. Was langfristig angespart wird, kann<br />
dann später je nach Bedarf abgerufen<br />
werden – ohne schlechtes Gewissen<br />
und ohne den Gedanken, auf Almosen<br />
angewiesen zu sein. In diesem Zusammenhang<br />
stellt sich für die Zukunft<br />
auch die Frage der Übertragbarkeit und<br />
Vererbbarkeit. Sollten Übertragungen<br />
nur zu Lebzeiten zugelassen werden?<br />
Oder dürfen Jüngere auch für ihre Angehörigen<br />
Ansprüche ansparen? Offene<br />
Zukunftsfragen für die Wiederbelebung<br />
einer alten Genossenschaftsidee.<br />
These 7:<br />
Nachbarschaftshilfen werden immer<br />
bedeutsamer<br />
Ein Comeback der guten Nachbarn steht<br />
bevor. Die Städter entdecken die lebendige<br />
Nachbarschaft als Netzwerk wieder.<br />
Institutionelle Hilfeleistungen durch<br />
Behörden, Vereine und Verbände haben<br />
im Alltagsleben der Bevölkerung eine<br />
viel geringere Bedeutung als die spontane<br />
Hilfsbereitschaft in den eigenen<br />
vier Wänden, vor der Haustür oder um<br />
die Ecke. Die Selbsthilfegesellschaft ist<br />
keine Utopie mehr. Es gibt sie wirklich.<br />
Sie funktioniert in Nachbarschaft und<br />
Nahmilieu. Staat und Politik bleiben<br />
dabei gefordert – aber mehr indirekt als<br />
aktivierende Förderer.<br />
Dies deckt sich mit Erkenntnissen der<br />
modernen Sozialforschung, wonach<br />
Binnensolidaritäten immer bedeutsamer<br />
31
werden – auch und gerade in Randgruppenmilieus.<br />
Solche Gruppierungen zeichnen<br />
sich durch ein kompliziertes „Netzwerk<br />
der selbstgeknüpften Nischen“<br />
(Nolte 2004, S. 71) aus. Statt nur von<br />
außen sozialpolitisch betreut zu werden,<br />
sorgen Binnensolidaritäten für Gefühle<br />
der Gemeinsamkeit und damit für den<br />
notwendigen sozialen Zusammenhalt.<br />
Der Einzelne übernimmt hierbei Verantwortung<br />
für andere – für Mitglieder der<br />
Familie, des Freundeskreises oder der<br />
Nachbarschaft, statt die Verantwortung<br />
wie einen Wanderpokal einfach an den<br />
Staat weiterzureichen.<br />
Die Bereitschaft der Bevölkerung zur<br />
Gemeinschaft auf Gegenseitigkeit ist<br />
groß und vielfältig. Die Bürger haben<br />
ganz konkrete Vorstellungen, in welchen<br />
Bereichen sie sich engagieren wollen.<br />
Im einzelnen sind dies:<br />
Betreuung von alten Menschen<br />
Betreuung von Kinderspielplätzen<br />
Sozialer Fahrdienst, z.B. Essen auf<br />
Rädern<br />
Lotsendienst, z.B. Begleitung von<br />
Patienten zu Therapien<br />
Telefondienst für Tagesmüttervereine.<br />
Und das alles auf freiwilliger Basis und<br />
ohne Zwang.<br />
These 8:<br />
Generationen unter einem Dach:<br />
Wohnen mit Wahlfamilien<br />
Mitten in der aufgeregten öffentlichen<br />
Debatte über die schulische Vermittlung<br />
traditioneller Werte meldete sich eine<br />
13-jährige Schülerin aus dem Norden<br />
Londons in der Zeitung Independent zu<br />
Wort und machte klar, wie sehr sich inzwischen<br />
familiäre Traditionen verändert<br />
haben: „Wenn die Regierung glaubt, man<br />
müsse zu den alten Werten und der traditionellen<br />
Familie zurückkehren, dann<br />
glaubt sie etwas anderes als die Leute.<br />
Ich habe zwei Mamas und zwei Papas,<br />
eine Menge Brüder und Schwestern, aber<br />
keiner von ihnen ist es eigentlich wirklich.<br />
Sie sind alle Halb-Irgendwas und<br />
Stief-Irgendwas und ein bisschen dies<br />
und ein bisschen das. Und ich liebe sie.<br />
Ich nenne sie einfach Brüder und Schwestern,<br />
weil ich sie als solche empfinde.<br />
Wenn Politiker die Liebe der Familie so<br />
betonen, dann sage ich, man sollte eben<br />
so viele Eltern haben wie physisch nur<br />
möglich. Jeder, den man zur Familie<br />
zählt, ist Familie. Auch Freunde können<br />
Familie sein“ (Handy 1998, S. 77 f.).<br />
Man mag den flexiblen Familienbegriff<br />
mögen oder nicht: In der westlichen Welt<br />
ist er längst Wirklichkeit geworden. Und<br />
meine eigene Prognose aus den 80er<br />
und 90er Jahren – „Der Freundeskreis<br />
wird in Zukunft zur ‚zweiten Familie’“ – ist<br />
von der Wirklichkeit eingeholt worden.<br />
Familien – in welcher Form auch immer<br />
– spielen eine zunehmend größere Rolle<br />
in unserem Leben, ja werden geradezu<br />
der moralische Halt des Gemeinwesens<br />
und der soziale Kitt unserer Gesellschaft.<br />
Familienmitglieder akzeptieren Regeln<br />
und Werte, ohne die sich die Gesellschaft<br />
auflösen würde. Das erweiterte Familienverständnis<br />
verändert die Wohnwünsche<br />
der Menschen.<br />
Gefragt sind in Zukunft vor allem generationsübergreifende<br />
Wohnkonzepte:<br />
Wie im Dorf und doch in der Stadt. Ganze<br />
Großfamilien – Enkel, Kinder, Eltern,<br />
Großeltern – leben so in unmittelbar<br />
räumlicher Nähe zusammen. Generationenwohnen<br />
in Baugemeinschaften und<br />
Wohngenossenschaften ist im Trend.<br />
Zwölf von hundert Bundesbürgern ab 14<br />
Jahren, was hochgerechnet rund 8 Millionen<br />
Menschen sind, nennen als persönlichen<br />
Wunsch: „Mein Zukunftstraum<br />
ist eine Wohngemeinschaft in einem<br />
Haus, in dem mehrere Generationen eine<br />
eigene Wohnung haben und jederzeit in<br />
Gemeinschaftsräumen zusammenkommen<br />
können, aber nicht müssen.“ Eine<br />
ebenso kommunikative wie individualistische<br />
Form des Wohnens, die Alleinsein<br />
ermöglicht und Verlassensein verhindern<br />
hilft. Vor dem Hintergrund einer weiter<br />
zunehmenden Lebenserwartung, zu der<br />
für viele – insbesondere für Frauen – das<br />
Alleinleben im Alter gehört, kann die<br />
Generationen-WG eine zukunftsfähige<br />
Wohn- und Lebensform sein, die Sicherheit,<br />
Gemeinsamkeit und Geborgenheit<br />
gewährt.<br />
Neue Wohnkonzepte geben konkrete<br />
Antworten auf die Folgen einer Gesellschaft<br />
des langen Lebens. Dabei geht<br />
es auch um Alternativen zu den traditionellen<br />
Pflegeheimen. Möglich sind in<br />
Zukunft neue Hausgemeinschaften für<br />
32
Senioren, bei denen ein ambulanter Pflegestandard<br />
garantiert wird und in denen<br />
Bewohner eigenständiger und selbstbestimmter<br />
als in Heimen leben können.<br />
Sie wohnen in eigenen Räumen, werden<br />
aber zugleich aktiviert durch einen<br />
Gemeinschaftsbereich, in dem gekocht,<br />
gegessen, gebügelt und geredet wird. In<br />
diese Richtung zielen auch Konzepte des<br />
Kuratoriums Deutsche Altershilfe (KDA)<br />
mit Förderung des Bundesfamilienministeriums<br />
und der Bertelsmann-Stiftung.<br />
Auch und gerade in räumlicher Hinsicht<br />
sorgt die ältere Generation für ihre<br />
Zukunft gut vor: Jeder vierte Ältere über<br />
50 Jahre wohnt im gleichen Haus bzw.<br />
mit mindestens einem der Kinder unter<br />
einem Dach. Und eine Mehrheit der über<br />
65-Jährigen und hat ihre (erwachsenen)<br />
Kinder in erreichbarer Nähe. Die Alternsforschung<br />
spricht in diesem Zusammenhang<br />
von einer „Beinahe-Koresidenz“<br />
(Kohli u.a. 2000, S. 186). Gemeint ist das<br />
Zusammenwohnen im gleichen Haus,<br />
aber in getrennten Haushalten.<br />
Bereits im 2. Jahrhundert n.Chr. hatten<br />
einzelne Adlige Angehörige eines<br />
anderen Adelsgeschlechts adoptiert, um<br />
so den Fortbestand der Familie und des<br />
Adelsgeschlechts zu sichern. Römische<br />
Kaiser von Trajan bis Mark Aurel gelangten<br />
auf dem Weg über die Adoption<br />
zur Herrschaft. Auch im 21. Jahrhundert<br />
entstehen durch Wohngemeinschaften<br />
und eine Art Adoption neue Wahlfamilien.<br />
Enkel-, Kinder- und Familienlose<br />
werden wie durch Adoption in Wahlfamilien<br />
und -verwandtschaften aufgenommen.<br />
Städte und Gemeinden müssen in<br />
Zukunft mehr als bisher offen für solche<br />
individuellen Lebenszyklusstrategien<br />
sein und dabei die sich im Laufe eines<br />
Lebens mehrfach verändernden Lebens-,<br />
Einkommens- und Vermögensverhältnisse<br />
im Blick haben. Einziehen. Ausziehen.<br />
Umziehen. Diese Unstetigkeit im<br />
Wohnverhalten gehört zum Leben wie<br />
der Wechsel des Arbeitsplatzes oder des<br />
Berufes auch.<br />
Wie in früheren Jahrhunderten lebt der<br />
Gedanke des „ganzen Hauses“ wieder<br />
auf, weil die Menschen aufeinander<br />
angewiesen bleiben und sich mehr<br />
selber helfen müssen. In wirtschaftlich<br />
und gesellschaftlich schwierigen Zeiten<br />
lebt die Genossenschaftsidee wieder<br />
auf. Gleichzeitig wird der Familienbegriff<br />
um den Gedanken des ‚ganzen Hauses’<br />
erweitert. Im ‚ganzen Haus’ haben in<br />
Zukunft wieder alle Platz und werden in<br />
die Haus- und Wohngemeinschaft aufgenommen.<br />
So könnten alle ein selbstbestimmtes<br />
Leben führen – aber nicht<br />
allein. Gemeinsam statt einsam heißt das<br />
Wohnkonzept der Zukunft: Mehr Generationenhaus<br />
und Baugemeinschaft als<br />
Heimplatz und betreutes Wohnen.<br />
Nur knapp drei Prozent der älteren<br />
Menschen ab sechzig Jahren leben heute<br />
in Gemeinschaftsunterkünften wie z.B.<br />
Senioren- und Pflegeheimen. Allerdings<br />
nimmt der Anteil mit steigendem Alter<br />
erheblich zu – mit der Tendenz zur<br />
Verdoppelung: Stationär pflegebedürftig<br />
sind z.B. nur sechs von hundert der<br />
80- bis 84-Jährigen, aber jeder vierte<br />
über 90-Jährige. Drei Viertel der über<br />
90-Jährigen leben also noch in eigenen<br />
Wohnungen bzw. Privathaushalten.<br />
Das Wohnangebot wird in Zukunft für<br />
den Zusammenhalt mehrerer Generationen<br />
sowie für nichtfamiliale Netzwerke<br />
(einschließlich Nachbarschaften)<br />
förderlich sein müssen. Lebensgemeinschaft<br />
wird neu definiert: Soziale Konvois<br />
und Wahlverwandtschaften werden als<br />
lebenslange Begleiter immer wichtiger.<br />
These 9:<br />
Altwerden mit Familie und Freunden<br />
statt Einweisung ins Heim<br />
Mit jedem Wandel einer Lebensphase ändern<br />
sich die Wohnstile. Mit der Zunahme<br />
der Lebenserwartung muss jede(r)<br />
viele und vielfältige Lebensphasen (und<br />
damit Wohnformen) durchlaufen. Idealiter<br />
müsste mit jeder neuen Lebensphase<br />
das Haus bzw. die Wohnung neu eingerichtet<br />
oder gar umgebaut werden. So<br />
gesehen hört mit dem demografischen<br />
Wandel das Einfamilienhaus auf, Idealtypus<br />
der Gesellschaft zu sein.<br />
Sozialer Zusammenhalt wird in Zukunft<br />
pragmatischer verstanden. Bis ins hohe<br />
Alter Selbstverantwortung für das eigene<br />
Befinden tragen und sich weitgehend<br />
selber helfen können, um anderen nicht<br />
zur Last zu fallen: Das wird die neue Solidarität<br />
bzw. neue soziale Verantwortung<br />
33
im 21. Jahrhundert sein. Nur sie ermöglicht<br />
Altwerden mit Familie und Freunden<br />
statt Einweisung ins Heim. Das bedeutet:<br />
In Zukunft ist eher bescheideneres<br />
Wohnen mit sozialer Lebensqualität als<br />
komfortableres Wohnen mit räumlicher<br />
Isolation gefragt. Und es heißt auch:<br />
Mehr Selbstständigkeit und soziale Geborgenheit.<br />
Wohnen wird wieder Heimat<br />
mit Nestwärme.<br />
Aktuelles Beispiel: Acht Rentner zwischen<br />
62 und 92 Jahren ziehen genervt<br />
aus einem Hamburger Altersheim aus<br />
und mieten – über einen Makler vermittelt<br />
– gemeinsam eine alte Villa am<br />
Ratzeburger See. Sie sparen dabei sogar<br />
noch Geld, haben endlich wieder etwas<br />
zu tun und schmieden gemeinsam<br />
Reisepläne. Sie haben sich im Altersheim<br />
kennen- und respektieren gelernt: Das<br />
Altersheim ist für sie zum Sprungbrett<br />
für ein neues Leben geworden.<br />
Das so genannte Vier-zwei-eins-Phänomen<br />
steht vor dem Kollaps: Auf vier<br />
Großeltern kommen zwei Eltern und ein<br />
Kind. Das kann nicht funktionieren. Eine<br />
Gesellschaft von Einzelkindern kann<br />
keinen Generationenvertrag schließen.<br />
Nicht nur aus sozialen, auch aus ökonomischen<br />
Gründen ist das Wohnkonzept<br />
„informell statt institutionell“ zukunftsweisend.<br />
Nachweislich kostet die stationäre<br />
Pflege der 600.000 Heimbewohner<br />
etwa zwölf Milliarden Euro im Jahr, was<br />
20.000 Euro pro Heimplatz entspricht.<br />
Würden nur 100.000 Heimbewohner in<br />
generationenübergreifende Wohnprojekte<br />
umziehen, entfielen Heimkosten<br />
in Höhe von zwei Milliarden Euro. Selbst<br />
wenn diese dann ambulant betreut werden<br />
müssten, könnten noch 1,1 Milliarden<br />
Euro im Jahr eingespart werden.<br />
Solche Perspektiven kommen einer<br />
Kehrtwende im Städtebau gleich. Auch<br />
und gerade vor dem Hintergrund der<br />
demografischen Entwicklung werden<br />
Umdenken und Umlenken in der Städteplanung<br />
unverzichtbar. Die neuen<br />
Senioren von heute und morgen wollen<br />
sich nicht mehr an die Stadtränder abschieben<br />
oder isolieren lassen und schon<br />
gar nicht vom Leben verabschieden. Sie<br />
wollen kommunikativ und auch helfend<br />
mit und für Generationen leben.<br />
Die positiven Erfahrungen in den<br />
skandinavischen Ländern (Schweden,<br />
Norwegen, Finnland, Dänemark) beweisen,<br />
dass ein Land fast ohne Heime<br />
auskommt: Schafft die Altersheime ab!<br />
oder So wenig Heime wie möglich – das<br />
ist auch für Deutschland eine realistische<br />
und keine utopische Zukunftsforderung.<br />
Schließlich hat es nachweislich in der<br />
gesamten Menschheitsgeschichte bis<br />
zum Beginn des 19. Jahrhunderts keine<br />
Heime gegeben, weil Arbeiten, Wohnen<br />
und das Lösen sozialer Probleme in „einer“<br />
Hausgemeinschaft bzw. im „ganzen“<br />
Haus zusammengehörten (vgl. Dörner<br />
2005, S. 202). Und das nicht nur vereinzelt<br />
in der so genannten Großfamilie,<br />
sondern in der Regel mit Unterstützung<br />
und Hilfe der Nachbarschaft.<br />
Die Wiederentdeckung und Pflege von<br />
Hausgemeinschaften und Nachbarschaftshilfen<br />
wird die große soziale<br />
Aufgabe des 21. Jahrhunderts sein.<br />
Flächendeckende Heimversorgung und<br />
„betreutes Wohnen“ (in den 70-er Jahren<br />
nur für Behinderte eingeführt) werden<br />
bald der Vergangenheit angehören, weil<br />
sie dann durch den Selbsthilfegedanken<br />
und die Nachbarschaftsmentalität abgelöst<br />
werden.<br />
These 10:<br />
Prioritäten der Stadtplanung:<br />
Die lebenswerte Stadt als Leitbild<br />
der Zukunft<br />
Wenn Städte eine Zukunft haben wollen,<br />
können sie sich nicht nur als Wirtschaftsstandort<br />
profilieren. Die Stadt der<br />
Zukunft bietet schließlich mehr als Büros<br />
und Industrieanlagen. Genauso wichtig<br />
ist es daher, durch Binnenmarketing ein<br />
positives Selbstbild der Bevölkerung<br />
zu erzeugen. Gastfreundlich. Weltoffen.<br />
Tolerant. Was im Hinblick auf die Fußball<br />
WM erst durch aufwendige Werbekampagnen<br />
auf nationaler Ebene erreicht werden<br />
konnte, ist in Städten wie München,<br />
Bremen und Köln längst Wirklichkeit.<br />
In der subjektiven Einschätzung der<br />
jeweiligen Stadtbewohner ist – im Vergleich<br />
der zehn größten Städte Deutschlands<br />
–<br />
München die gastfreundlichste Stadt,<br />
Berlin die kulturreichste Stadt,<br />
Hamburg die schönste Stadt,<br />
34
Köln die toleranteste Stadt,<br />
Stuttgart die wohlhabendste Stadt<br />
und<br />
Bremen die weltoffenste Stadt.<br />
So jedenfalls schätzen derzeit die<br />
Großstädter den Wohnwert „ihrer“ Stadt<br />
ein. Ein wenig anders sieht das Bild aus,<br />
wenn man die Bevölkerung danach fragt,<br />
in welcher Stadt oder Region sie „am<br />
liebsten wohnen“ würde. Das Ergebnis:<br />
Jeder zehnte Bundesbürger möchte gern<br />
in München wohnen (10,1%). München<br />
würde so zur 8-Millionen-Stadt werden<br />
– zumindest in der Wunschvorstellung<br />
der Bevölkerung. In der Top-Ten-Liste<br />
der beliebtesten Städte folgen Berlin,<br />
Hamburg, Köln, Dresden, Stuttgart, Freiburg,<br />
Düsseldorf, Bremen und Hannover.<br />
Daneben aber gibt es eine Ranking-Liste<br />
der beliebtesten Wohnregionen, die von<br />
Oberbayern, Bodensee und Schwarzwald<br />
angeführt wird, bevor Nordseeküste,<br />
Rheinland, Allgäu, Ostfriesland, Münsterland,<br />
Franken und Ostseeküste folgen.<br />
Der Wohnwert einer Stadt oder Region<br />
wird zur Zukunftsfrage: Aus den Wohnwünschen<br />
von heute können Wanderungen<br />
von morgen werden.<br />
Das Zeitalter des urbanen Zukunftspessimismus<br />
geht zu Ende. Noch in der Nach-<br />
68-er Zeit bis Ende der neunziger Jahre<br />
hatte man in Deutschland den Niedergang<br />
der Städte prognostiziert und über<br />
ihre Unwirtlichkeit als Anstiftung zum<br />
Unfrieden geklagt. „Rettet unsere Städte<br />
jetzt!“ lautete beispielsweise 1971 die<br />
dramatische Forderung des Deutschen<br />
Städtetages. Das alles war einmal. Jetzt<br />
zeichnet sich ein Stimmungsumschwung<br />
ab und die Leitlinie lautet eher: „Die<br />
Zukunft entscheidet sich in den Städten!“<br />
und „Ohne Städte ist kein Staat<br />
zu machen!“ Die Deutschen entdecken<br />
die Qualität des Stadtlebens wieder, die<br />
Innenstadt als lebenswerten Wohnraum,<br />
in dem sie sich wohlfühlen können.<br />
Die Stadt von morgen gleicht einem<br />
Sesam-öffne-dich-Modell zugespitzt in<br />
dem Wunsch: Zentral wohnen in dörflicher<br />
Idylle – für Singles und Senioren<br />
genauso geeignet wie für junge Familien,<br />
denen kostenlose Kindergarten- und<br />
Hortplätze angeboten werden: Ein<br />
solcher Wohnort verbindet dann alles,<br />
was man zum Leben braucht: „Zentrums-<br />
nahes Wohnen, aber bitte ohne Lärm und<br />
Stress. Ein wenig dörfliche Idylle, aber<br />
bloß nicht weg aus der Metropole. Am<br />
liebsten irgendwo nahe Messe, Flughafen,<br />
Park und Englischem Garten – natürlich<br />
mit perfekter Infrastruktur, Einkaufsmöglichkeiten<br />
und einer hervorragenden<br />
Verkehrsanbindung. Trotz alldem immer<br />
bezahlbar“ (Unterföhring-Werbeanzeige<br />
vom 23. September 2005).<br />
Mit dem Wandel von der Industrie- zur<br />
Dienstleistungsgesellschaft verändern<br />
sich auch die Prioritäten für den Einzelnen<br />
und die Gesellschaft. Immaterielle<br />
Aspekte des Lebens erfahren eine<br />
Bedeutungsaufwertung nach der Devise<br />
„Lieber glücklich als reich“ oder „Lieber<br />
gute Freunde als viel Geld haben“. Im<br />
Zuge dieses Wertewandels wächst bei<br />
den Menschen auch die Bereitschaft, an<br />
der Schaffung und Gestaltung einer lebenswerten<br />
Zukunft selbst mitzuwirken.<br />
Für die Zukunft zeichnet sich ein vielfältiges<br />
Spektrum urbaner Hilfsdienste auf<br />
freiwilliger Basis ab – auch ohne Profis<br />
und ohne Bezahlung. Die Bereitschaft in<br />
der Bevölkerung ist so groß, weil sich bei<br />
den Bürgern die Erkenntnis durchsetzt,<br />
dass weder der Staat noch die Wirtschaft<br />
die sozialen Probleme der Zukunft allein<br />
meistern können. Die Mithilfe der Bürger<br />
in einer Gesellschaft auf Gegenseitigkeit<br />
ist immer mehr gefordert.<br />
So ergeben sich neue Aufgaben für eine<br />
aktivierende Kommunalpolitik, die die<br />
dafür notwendigen Rahmenbedingungen<br />
schaffen muss, damit aus der bekundeten<br />
Hilfsbereitschaft eine tatsächliche<br />
Helfertätigkeit wird. Und auch Wohnungswirtschaft<br />
und Wohnungspolitik<br />
haben einen Paradigmenwechsel vor<br />
sich. Viel notwendiger als die Förderung<br />
von Neubauwohnungen wird die<br />
Förderung immaterieller Infrastrukturen<br />
im Wohnbereich sein – vom informellen<br />
Nachbarschaftstreff bis zur Betreuung<br />
von Kindern und alten Menschen.<br />
Ich komme zum Schluss und fasse zusammen.<br />
Im 21. Jahrhundert muss die Stadtplanung<br />
von folgenden Prioritäten ausgehen:<br />
1. Mehr Innenstadtförderung als<br />
Bauen auf der grünen Wiese<br />
2. Mehr Lebenskonzepte als Bauprojekte<br />
35
3. Mehr Lebensstilmiete als<br />
Wohnungskauf<br />
4. Mehr Nachbarschaftshilfe als<br />
Sozialamtshilfe<br />
5. Mehr ambulante Betreuung als<br />
stationäre Pflege<br />
6. Mehr Wohnen daheim als Einweisung<br />
ins Heim.<br />
Vielen Dank fürs Zuhören.<br />
Weitere Informationen unter:<br />
www.opaschowski.de<br />
36
Vom Kunden zum Fan<br />
Nationale Großereignisse –<br />
Impulse für den Handel?<br />
Vielen Dank, für die freundliche Einführung.<br />
Vor drei Jahren waren die Mitglieder<br />
des VfB Stuttgart begeistert, dass<br />
sie einen Präsidenten aus der Wirtschaft<br />
bekommen haben, weil der VfB Stuttgart<br />
damals näher an der Insolvenz stand, als<br />
an der Deutschen Meisterschaft. Und wir<br />
hatten dann auch ein paar Jahre ganz<br />
schöne Erfolge, immer so zwischen Platz<br />
2 und Platz 5, und jetzt in dieser Saison<br />
scheinen wir 7. oder 8. zu werden. Und<br />
Sie merken, wie schnell die Stimmung<br />
schwankt, speziell beim Fußball.<br />
Jetzt können Sie schon sehen, woran<br />
man wirklich gemessen wird. Nicht an<br />
den ökonomischen Faktoren, sondern<br />
der Präsident und seine Arbeit wird am<br />
Tabellenstand gemessen. Das Publikum<br />
ist unzufriedener und jetzt kommen<br />
schon die ersten Schilder „Vorstand<br />
raus“. Und sie merken, das ist in der<br />
Wirtschaft anders. Im Unterhaltungsgewerbe,<br />
wo ich jetzt zuhause bin, ist es<br />
gang und gäbe. Ich merke, dass auch in<br />
Berlin, in Leverkusen und überall, wo die<br />
Menschen mit den Ergebnissen nicht<br />
so zufrieden sind, Schuldige gesucht<br />
werden, und diese sucht man natürlich<br />
immer an der Spitze des Vereins und<br />
unterstellt verfehlte Einkaufspolitik.<br />
Aber, das darf uns nicht daran hindern,<br />
dieses Gewerbe faszinierend zu finden.<br />
Ich möchte Ihnen heute ein paar Parallelen<br />
aufzeigen unter dem Stichwort Vertriebsstrategie,<br />
was man so aus der Sicht<br />
der Wirtschaft hier im Sport vorfindet, wo<br />
man Parallelen sehen, wo wir voneinander<br />
lernen können und wo wir versuchen,<br />
neue Impulse zu entwickeln.<br />
37<br />
Ich habe versucht zunächst zu prüfen,<br />
was ist eigentlich das Phänomen Sport,<br />
Profifußball – und zwar aus Sicht eines<br />
Menschen, der 30 Jahre IT-Geschäfte<br />
gemacht hat. Und da ist nichts naheliegender,<br />
als das ganze logisch aufzubauen,<br />
in einen Regelkreis zu fassen und<br />
einmal die Zusammenhänge deutlich zu<br />
machen. Und so kann man die schönste<br />
Nebensache der Welt, Fußball, in etwa<br />
darstellen. Zunächst muss ich Ihnen<br />
unter Gesamtbetrachtungsgesichtspunkten<br />
folgendes sagen: Der Profifußball hat<br />
etwas erreicht, wovon die Industrie und<br />
die Dienstleistungsindustrie – auch die<br />
Sparkassenorganisation – nur träumen<br />
können.<br />
Ich schildere Ihnen mal Ihren Spot, der<br />
mir im Übrigen sehr gut gefällt und der<br />
fast jeden Tag in allen Kanälen auftaucht.<br />
Ein Mensch geht durch eine Stadt und<br />
fragt einen anderen Menschen, wo es<br />
zur Sparkasse geht. Dieser sagt, steigen<br />
sie mal in meinen Hubschrauber und<br />
dann fliegt der Hubschrauber los, erklärt<br />
ihm: das ist unsere Bausparkasse, das<br />
sind unsere Wertpapierfonds, hier ist<br />
unsere Versicherung und hier ist eine<br />
typische Sparkasse, eine von 20.000, die<br />
wir in Deutschland haben. Und jetzt eine<br />
Frage: haben sie ihre Zahnbürste dabei?<br />
Jetzt fliegen wir in unser internationales<br />
Geschäft. Was will der Spot denn sagen?<br />
Was ist denn die Botschaft? Die Botschaft<br />
ist ganz einfach. Die Sparkassen<br />
wollen raus aus dem Mief der Mündelsicherheit,<br />
der örtlichen Gebundenheit,<br />
des Regionalprinzips, wollen raus und<br />
ein Global Player sein. Wie alle.<br />
Senator h.c. Erwin Staudt<br />
Hauptamtlicher<br />
Präsident des VfB<br />
Stuttgart 1893 e.V.
Warum kauft die Deutsche Bank Bankers<br />
Trust? Warum kauft die Allianz Firemans<br />
Fund oder Pims? Warum holte sich Daimler<br />
Chrysler den Chrysler in Detroit und<br />
Mitsubishi in Tokio? Weil sie alle Global<br />
Player sein möchten. Die Industrieunternehmen,<br />
die Dienstleister, sie alle sind<br />
auf dem Weg, ein Global Player zu sein.<br />
Ich kenne ganz wenige, die ein Global<br />
Player sind, in ihrer ganzen Betriebsanstrengung,<br />
in ihrem ganzen Produktionsauftritt,<br />
in ihrem ganzen Markenauftritt.<br />
Nennen Sie mir einen Global Player,<br />
den Sie für typisch halten. Coca-Cola ist<br />
ein Global Player. Oder McDonald’s. Und<br />
was macht diese Global Player aus?<br />
Sie verfügen über eine Marke, die überall<br />
bekannt ist. Und Sie haben eine klare<br />
Anmutung für ihr Produkt. Wenn ich<br />
Coca-Cola sage, dann wissen Sie ganz<br />
genau, ohne dass wir sie sehen, wie die<br />
Flasche aussieht, dass dieses Getränk<br />
kalt ist, egal ob in Singapur oder in<br />
Karlsruhe oder in Rüppur, in Xiang-tan<br />
oder in Tettnang. Dieses Produkt hat eine<br />
ganz klare Anmutung. Und das ist das,<br />
wo die großen Industrieunternehmen hin<br />
wollen, was diese Marken-Comodity-Produzenten<br />
erreicht haben. Und da wollen<br />
auch die Dienstleister hin. In diesem<br />
Jahr läuft eine gigantische Global-Marketing-Maschine<br />
unter dem Stichwort:<br />
„WM 2006“.<br />
Durch unsere höchstrichterliche Entscheidung<br />
hat sie eine kleine Macke<br />
gekriegt, weil jetzt entschieden wurde,<br />
dass auch Bäcker WM-Brötchen herstellen<br />
dürfen und die Marke nicht unendlich<br />
breit geschützt werden kann. Aber<br />
das ist eine international aufgestellte<br />
Organisation, die über ein einheitliches<br />
Regelwerk verfügt, die über einheitliches<br />
Marktsystem verfügt, über eineinheitliches<br />
Sanktionssystem verfügt, das absolut<br />
akzeptiert wird und über das nicht<br />
diskutiert wird. Selbst wenn es im einen<br />
oder anderen Fall unsinnig erscheint.<br />
Das ist die Weltfußballorganisation. Bis<br />
hinunter bei uns als Bundesliga oder als<br />
deutsche Fußballliga dargestellt. Und<br />
diese Organisation erzeugt, und das<br />
ist auch wichtig für einen Global Player,<br />
ein einheitliches Produkt. Jetzt ist es<br />
sehr schwierig, im Sport, im Fußball zu<br />
beschreiben, was das Produkt ist, das<br />
die Fußballvereine produzieren. Fällt<br />
Ihnen da was ein? Freude, Spannung,<br />
Spaß. Ich mache es kurz: Emotionen,<br />
große Gefühle, sind wir uns da einig? Das<br />
ist genau das, was auf dem Sportplatz<br />
gefordert wird, deswegen gehen 40.000<br />
Menschen am Samstag Nachmittag hin.<br />
Warum gehen die Menschen so gerne<br />
zum Fußball? Nicht nur um diese großen<br />
Gefühle zu spüren, weil sie neugierig<br />
sind, wie dieses Schauspiel endet.<br />
Und es ist der Riesenunterschied zum<br />
Theater, Sie haben alle den deutschen<br />
Bildungskanon durchlaufen. Sie haben<br />
alle noch zuhause Ihre Reclam-Heftchen<br />
stehen. Sie haben alle „Kabale und<br />
Liebe“ gelesen von unserem Landsmann<br />
Friedrich Schiller, und Sie wissen alle,<br />
wie „Kabale und Liebe“ ausgeht. Sie<br />
wissen, wie der „Kaufmann von Venedig“<br />
ausgeht. Sie wissen, was am Schluss mit<br />
der „Glocke“ passiert, mit dem „Meuchelmörder,<br />
mit dem Dolch im Gewande“.<br />
Sie kennen das alles bis zum Schluss,<br />
weil Sie das durchlaufen haben. Aber Sie<br />
wissen nicht, wie der VfB am Samstag<br />
gegen Schalke 04 spielt. Sie können jetzt<br />
spekulieren, aber das ist genau die Faszination,<br />
von der ich die ganze Zeit rede.<br />
Ich habe gerade eine Statistik gelesen,<br />
wo sie die Menschen im Vorfeld der WM<br />
gefragt haben, „interessieren Sie sich<br />
für Fußball?“ Wissen Sie, wie viel von<br />
unseren 82 Millionen Bundesbürgern<br />
sich für Fußball interessieren? Jetzt zunehmend<br />
mehr. 50,1 Millionen Menschen<br />
interessieren sich für Fußball. Das kriegt<br />
keine andere Sportart hin, das kriegt<br />
keine andere Kulturkomponente hin, das<br />
kriegt kein Ereignis der Welt hin und ich<br />
komme nachher gleich noch darauf zu<br />
sprechen, was WM in Zahlen bedeutet.<br />
Aber hier sehen Sie, das Faszinosum Fußball<br />
erzeugt ein Produkt. In der Mitte gibt<br />
es eine faszinierende Grauzone. In dieser<br />
Grauzone sehen Sie genau dieses ganze<br />
Spektakel. Hier haben Sie Fans, hier haben<br />
Sie Medien, hier haben Sie die Politik,<br />
hier haben Sie Sponsoren, hier haben<br />
Sie Vermarkter, hier haben Sie Dienstleister,<br />
Merchandising-Kunden, Mitglieder,<br />
Rechtsformen, Managementstrukturen,<br />
hier spielt sich das ganze Leben rund um<br />
den Sport ab. Das ist der riesige Unterschied<br />
zu dem, was wir machen, zu dem,<br />
was Sie machen. Sie haben ein privates<br />
Gut, das Sie verwalten. Und wir haben ein<br />
38
sowohl privates als auch öffentliches Gut,<br />
bei dem alle mitreden. Bei dem Tausende,<br />
Millionen von Menschen mitreden,<br />
Anteil nehmen. Und sogar manchmal in<br />
einer Art und Weise Anteil nehmen, dass<br />
man fast meint, man hätte es hier mit<br />
einem Religionsersatz zu tun. Das geht<br />
ganz tief unter die Haut. Und ich merke<br />
das an manchen Stellungnahmen, wenn<br />
die Menschen enttäuscht sind durch<br />
Spielergebnisse. Hier werden Gefühle<br />
in einer Bandbreite freigesetzt, die man<br />
im menschlichen Leben Liebe oder Hass<br />
nennen würde. In dieser Bandbreite<br />
bewegen wir uns.<br />
Wenn die Organisation nicht funktioniert<br />
und Sie merken, dass Sie auf der Stelle<br />
treten oder zurückgehen, müssen Sie<br />
als Verantwortlicher handeln. Und beim<br />
Fußball ist es so, dass Sie nicht einen<br />
Kader von 26 hochbezahlten, mit langfristigen<br />
Verträgen ausgestatteten Spielern<br />
entlassen können, da müssen Sie das<br />
schwächste Glied im Kopf der Mannschaft<br />
suchen und das ist der Trainer.<br />
Im Prinzip ist es in der Industrie und in<br />
der freien Wirtschaft genauso.<br />
Und wir müssen uns mit dem Thema<br />
beschäftigen, da wir es hier natürlich mit<br />
einer hohen öffentlichen Anteilnahme zu<br />
tun haben. Ich konnte bei IBM machen,<br />
was ich wollte, das hat die Jungs in USA<br />
interessiert, aber meine Schwiegermutter<br />
überhaupt nicht. Heute ist das ganz<br />
anders. Heute redet meine Schwiegermutter<br />
mit, wie wir im linken Mittelfeld<br />
besetzt sind, weil sie jeden Tag auf drei<br />
Seiten Sport in allen Organen, die in<br />
Stuttgart erscheinen Informationen<br />
erhält. Wir machen aus unserem primären<br />
Produkt große Gefühle, die über<br />
die Wellen, über die Äther gehen, ins<br />
Fernsehen. Fußball ohne Fernsehen wäre<br />
nicht möglich. Das ist der größte Einzelfinanzierer<br />
in diesem Business.<br />
Über ein Drittel der Gesamteinnahmen<br />
jedes Fußballvereins kommen aus dem<br />
Fernsehgeschäft. Ein weiteres Drittel aus<br />
Sponsoring und Merchandising und nur<br />
ein Drittel aus den Zuschauereinnahmen.<br />
Jetzt fragen Sie sich natürlich – und jetzt<br />
sind wir direkt beim Vertrieb – was kann<br />
ein Fußballverein eigentlich beeinflussen?<br />
Stellschrauben. Haben Sie schon<br />
mal überlegt, welche Stellschrauben Sie<br />
haben in Ihrem Unternehmen, an dem<br />
Sie den Erfolg des ganzen Unternehmens<br />
beeinflussen können? Ich meine, das<br />
sind die landläufigen Stellschrauben.<br />
Reduzieren Sie mal Ihr Geschäft auf das<br />
Wesentliche. Also keine 120, sondern<br />
vier Kennziffern. Wenn Sie mein Geschäft<br />
beurteilen und mich nach vier Kennziffern<br />
fragen, würden Sie garantiert fragen,<br />
wie entwickelt sich dein Umsatz, wie entwickelt<br />
sich dein Profit. Wenn Sie sehen,<br />
wie sich mein Profit entwickelt, dann<br />
wissen Sie auch, wie sich meine Kosten<br />
entwickeln. Umsatz haben wir ja schon.<br />
Dann wollen Sie wissen, wie sich mein<br />
Marktanteil entwickelt. Ob ich marktanteilmäßig<br />
wachse oder ob ich schrumpfe.<br />
Und dann wollen Sie noch wissen, wie<br />
entwickelt sich Kundenzufriedenheit.<br />
Denn im Leben gibt es nichts Wichtigeres,<br />
als einen zufriedenen Kunden.<br />
Das ist auch im Fußball so, nur heißt<br />
da der Kunde Fan. Und hier wissen wir,<br />
von wem wir reden. Wenn ich diese vier<br />
Kennziffern abgefragt habe, dann habe<br />
ich genau gewusst, wo das Geschäft hier<br />
hin läuft. Ich habe versucht in so einem<br />
Leverage-Modell festzuhalten, worum es<br />
vertriebsmäßig und verwertungsmäßig<br />
eigentlich im Profisport geht. Es geht<br />
ums gleiche, wie bei Ihnen. Wir steigern<br />
die Erträge, wir wollen wachsen. Wir<br />
wollen als ein hervorragendes Unternehmen<br />
angesehen werden. Und was ist ein<br />
hervorragendes Unternehmen?<br />
Wenn wir über erfolgreiche Unternehmen<br />
reden, z.B. über SAP, was glauben Sie,<br />
weshalb es ein erfolgreiches Unternehmen<br />
ist? Weil sie wachsen, weil sie<br />
steigende Marktanteile haben, weil sie<br />
sehr stark expansiv im internationalen<br />
Geschäft sind, weil sie innovativ sind und<br />
weil sie satt im Markt liegen. Und wenn<br />
Sie Leute treffen, die von SAP kommen,<br />
dann wissen Sie, dass sie stolz auf ihr<br />
Unternehmen sind, auf ihre Produkte<br />
und das zeichnet erfolgreiche Unternehmen<br />
aus. Was wir mit unserem Verein<br />
machen wollen, ist ein erfolgreiches<br />
Unternehmen zu sein. Und was ist im<br />
Sport ein erfolgreiches Unternehmen?<br />
Ein erfolgreiches Unternehmen hat<br />
wachsende Mitgliederzahlen. Mitglied<br />
bedeutet für uns nicht 48,00 Euro im<br />
Jahr, das bedeutet für uns Power. Wir<br />
39
haben innerhalb von drei Jahren unseren<br />
Mitgliederbestand vervierfacht, sind der<br />
größte Verein in <strong>Baden</strong>-Württemberg,<br />
der fünftgrößte in Deutschland. Das ist<br />
Power. Mit 30.000 Mitgliedern stehst du<br />
anders da, als wenn du nur 7.500 hast.<br />
Das bringt den Mitgliedern und der Organisation<br />
Selbstvertrauen.<br />
Ich merke, wenn ich mit Sparkassenvorständen<br />
rede, wie stolz die Menschen auf<br />
ihre Bilanzsummen sind, auf ihren Profit,<br />
auf ihr Ranking in der Sparkassenorganisation.<br />
Ich bin die Nr. 5 in Deutschland.<br />
Das ist wichtig, das brauchen die Leute.<br />
Man arbeitet nicht nur für Geld und Zinsen.<br />
Man arbeitet auch, um stolz sein zu<br />
können, auf das, was man leistet. Wie viel<br />
Dauerkarten hat man verkauft, wie viel<br />
Zuschauer hat man im Schnitt, wie viel<br />
Merchandising-Umsatz macht man mit<br />
seinen Fans, mit seinen Fanartikeln. Wie<br />
viel Zuwachs hat man im Marketing-Bereich.<br />
Wir haben jetzt unseren Marketing-Umsatz<br />
in drei Jahren verdoppelt.<br />
Darauf sind meine Marketing-Leute<br />
stolz. Wir sind der einzige Club in ganz<br />
Deutschland, der alle Rechte selbst hält<br />
und selbst vermarktet. Schwäbisch, bodenständig,<br />
kein Outsourcing.<br />
Es gibt auch Agenturen, die sich anbieten,<br />
die zwischen 20 und 40 Prozent<br />
Provision bekommen und mir keinen<br />
einzigen Kunden, den ich nicht auch<br />
selber akquirieren könnte, bringen. Und<br />
darauf kommt es an. Wenn morgen einer<br />
kommt und sagt, ich biete dir ein paar<br />
Sponsoren an, an die du selbst nicht<br />
rankommst, dann werde ich hellhörig.<br />
Transfererlöse ist das Thema, was man<br />
im Sport natürlich auch als völlig normal<br />
sehen muss.<br />
Wir sind keine Briefmarkensammler, die<br />
Menschen sammeln und die Kader ohne<br />
Ende aufblähen. Wir leben davon, dass<br />
wir junge Leute sehr gut ausbilden, viele<br />
davon zu Lizenzspielern machen und<br />
wenn sie ihren Höhepunkt im Marktwert<br />
erreicht haben, eben auch zu einem anderen<br />
Verein transferieren. Dort können<br />
sie einen neuen Start machen, um dann<br />
das Geld in die Qualität der eigenen<br />
Mannschaft zu investieren und um<br />
wieder den Zyklus in Gang zu setzen, mit<br />
den eigenen Leuten etwas zu erreichen.<br />
Letzten Samstag sind fünf Spieler unserer<br />
Mannschaft auf dem Platz gestanden,<br />
die aus unserer eigenen A-Jugend<br />
kommen. Und das macht uns so schnell<br />
keiner nach. Sie müssen nur eins ganz<br />
klar sehen, wenn Sie mit der eigenen<br />
Jugend arbeiten, haben Sie nicht die<br />
schnellen Erfolge, wie wenn Sie fertige<br />
Spieler einkaufen. Das ist ein riesiger<br />
Unterschied. Und da braucht man schon<br />
etwas Geduld dazu und das muss man<br />
auch so akzeptieren. Deswegen werden<br />
wir jetzt nach der WM in einem großen<br />
Gebäude, das wir neben dem Stadion<br />
gebaut haben, unsere Jugendakademie<br />
in Betrieb nehmen. Dort werden Begabte<br />
im Alter von 15 Jahren internatsmäßig<br />
untergebracht, den Kindern ein qualifizierter<br />
Schulabschluss und natürlich eine<br />
optimale Förderung im Fußball zuteil.<br />
Das Carl-Benz-Center, direkt neben<br />
dem Stadion, ist eine große Dienstleistungslandschaft,<br />
die wir für unsere Fans<br />
geschaffen haben. Ein Hotel mit Gastronomie,<br />
einem großen Reha-Zentrum und<br />
dem größten Biergarten Stuttgarts. Und<br />
was ich oben gezeigt habe, das gilt auch<br />
für die Sparkassenorganisation und ihre<br />
Kunden, der Markt geht vom Tafelgeschäft<br />
hinein in die neuen Medien. Hier,<br />
ich nenn das mal VfB-Galeria. Ich komme<br />
gleich noch zu dem, was wir volumenmäßig<br />
dahinter sehen, aber das ist das<br />
Geschäft, das wir mit unseren Fans, unseren<br />
Kunden machen wollen. Dahinter<br />
steht natürlich eine Maschinerie, das ist<br />
unsere IT-Landschaft, die sich in nichts<br />
von großen Industrieunternehmen unterscheidet.<br />
Alle diese Instrumentarien<br />
habe ich auch bei IBM gehabt.<br />
Was sich dahinter verbirgt ist einfach.<br />
Bring Transparenz in dein Unternehmen,<br />
indem du die Zahlen, die normalerweise<br />
nur der Controller und sein Assistent<br />
richtig verstehen, auf die Kennziffern<br />
bringst, mit dem du dein Unternehmen<br />
steuerst. Unterleg die Zahlen farbig,<br />
damit du auf den ersten Blick erkennen<br />
kannst, ob du im grünen Bereich bist, im<br />
gelben oder im roten Bereich. Grün heißt<br />
„Go“, gelb heißt „Achtung“, rot heißt<br />
„Stopp“. Und das muss man durchziehen.<br />
Die Disziplin, die dahinter steckt,<br />
ist Balance Scorecard, verlangt von<br />
Ihnen konkrete Ziele, sonst können Sie<br />
nicht messen. Das ist ein wesentlicher<br />
Schritt. Dies verlangt von Ihnen eine<br />
klare Definition ihrer Prozesse und eine<br />
klare Definition ihres Zielerreichungspro-<br />
40
zesses. Jederzeit und zwar völlig unabhängig<br />
von Menschen, mit einer klaren<br />
Terminologie. Und durch diese Übung<br />
müssen Sie durchgehen, dann kriegen<br />
Sie Ihr Unternehmen Schritt für Schritt<br />
unter Kontrolle. Rechts Sports Planer<br />
heißt in der Industrie oder in Ihrer Wirtschaft<br />
Simulationsinstrument, Financial<br />
Simulation. Hier simulieren wir praktisch<br />
alle Einnahmeströme nach Best Case und<br />
nach Worst Case. Also fliegen wir in der<br />
ersten Pokalrunde raus, fliegen wir im<br />
UEFA-Cup raus oder qualifizieren wir uns<br />
erst gar nicht und stehen in der Tabelle<br />
ganz unten = Worst Case. Gewinnen wir<br />
das alles und kommen überall weiter =<br />
Best Case. Das können Sie am Anfang<br />
der Saison durchspielen fürs ganze Jahr.<br />
Und so nach unserer Erfahrung liegt<br />
dann die Realität als Real Case in der<br />
Mitte zwischen Best und Worst Case. Das<br />
ist das, was wir hier simulieren. Links<br />
unten, das ist das neueste, was wir eben<br />
zur Zeit in Angriff nehmen. Da zeige ich<br />
Ihnen gleich ein paar Shots draus, das ist<br />
Customer-Relationship-Management.<br />
Neue Managementinstrumente<br />
‣ Balanced Scorecard<br />
‣ CRM Microsoft<br />
‣ Sports Planner<br />
‣ KnowledgeMiner<br />
Das Problem für uns alle ist, wir haben<br />
mit den gleichen Kunden zu tun. In der<br />
Regel sind unsere Kundenbeziehungen<br />
sehr langfristig und der Kunde möchte<br />
von uns erkannt, wiedererkannt und<br />
wahrgenommen werden. Wir müssen<br />
über unser Geschäft Bescheid wissen.<br />
Und das ist genau das, was wir hier<br />
aufbauen, CAM, wir wollen die Beziehung,<br />
die wir zu unseren Kunden haben,<br />
darstellen, wir wollen jederzeit darauf<br />
zurückgreifen können und wir wollen<br />
aus dem bisherigen Konsumverhalten<br />
unserer Kunden ein antizipiertes<br />
Angebot entwickeln, und ich zeige Ihnen<br />
gleich, wie das geht. Und rechts davon,<br />
das ist ein neues Produkt, was wir gerade<br />
einführen, übrigens ein schwäbisches<br />
Softwareprodukt von USU in Ludwigsburg-Möglingen.<br />
Knowledge Miner ist nichts anderes,<br />
als ein Datenbanksystem, wo wir alles<br />
Wissen, was wir im Unternehmen haben,<br />
speichern. Da wird Wissensmanagement<br />
gespeichert, verschlagwortet und kombiniert<br />
mit dem, was wir an täglichem<br />
freien Wissen aus dem Internet bekommen<br />
können. Also, ich gehe rein in den<br />
Knowledge Miner und sage, ich habe<br />
eine ganz dringende Anfrage zum Thema<br />
„Sportwetten“; nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil<br />
dürfen Sportwetten<br />
nicht beworben werden. Da gehe ich rein<br />
und stelle auf einen Blick fest, was meine<br />
Presseabteilung zu dem Thema herausgegeben<br />
hat und was ich in meinen<br />
Reden bisher dazu gesagt habe, was sind<br />
offizielle Kommunikees und was sind<br />
z.B. Textstellen, die wir diesbezüglich<br />
gespeichert haben. Und dann kann ich<br />
noch über Internet täglich ermitteln, was<br />
zu diesem Thema die staatliche Sport-<br />
Toto, was z.B. ein privater Wettanbieter,<br />
wie Bet-and-Win veröffentlicht. Was<br />
sagt ein Liga-Konkurrent wie Bayern<br />
München oder Werder Bremen zu dem<br />
Thema. So etwas hat uns auch schon in<br />
der Industrie vorgeschwebt. Sie kennen<br />
ja alle den Spruch, wenn Siemens wüsste,<br />
was Siemens weiß. Den können Sie auf<br />
jede Sparkasse, Daimler Chrysler oder<br />
IBM anwenden. Die Unternehmen wissen<br />
viel mehr, als was sie kundtun. Und das<br />
ist das Thema. Wie kriege ich dieses<br />
Wissen in Griff und wie verhindere ich<br />
in der Außendarstellung Kakophonie?<br />
Dass jeder etwas zu dem Thema sagt und<br />
keine Koordination vorhanden ist. Das<br />
wollen wir mit diesem Instrumentarium<br />
sicherstellen.<br />
Und jetzt vielleicht zu unserem Thema,<br />
ganz wichtig, das, was wir jetzt gerade<br />
eingeführt haben. Customer Relationship<br />
Management ist nichts anderes, als<br />
das auf die Schiene zu bringen, was wir<br />
über unsere Kunden wissen. Ich benutze<br />
immer ein Beispiel, das Sie auch ganz<br />
leicht auf Ihre Erlebniswelt ummünzen<br />
können. Ich habe mein Studium mehr<br />
oder weniger an der Tankstelle meines<br />
Bruders verdient. Der hat sonntags<br />
immer jemanden gebraucht, weil er da<br />
41
freimachen wollte. Und ich habe nach ein<br />
paar Sonntagen festgestellt – Customer<br />
Relationship Management, damals habe<br />
ich den Begriff noch nicht gekannt – dass<br />
ich Relationships aufbaue. Weil am Sonntag<br />
in der Regel zu 80 Prozent immer die<br />
gleichen Leute zum Tanken kommen. Da<br />
wusste ich ganz genau, der tankt jetzt für<br />
20 Mark, dann nimmt er noch eine Bild<br />
am Sonntag mit, drei Jägermeister und<br />
zwei Peter Stuywesant. Und das hat sich<br />
jeden Sonntag wiederholt. Manchmal ist<br />
auch die Ehefrau gekommen, dann habe<br />
ich genau gewusst, jetzt fallen die Jägermeister<br />
und die Stuywesant weg, dafür<br />
nimmt sie Freundin oder Brigitte mit und<br />
vielleicht noch eine Schokolade. Ich habe<br />
im Laufe der Zeit meine Datenbank aufgebaut<br />
über das Verhalten meiner Kunden.<br />
Und genau das gleiche haben Sie in<br />
Ihren Einzelhandelsgeschäften, genau<br />
das gleiche haben Sie in Ihrer Bankfiliale,<br />
wo Sie wissen, die Frau bekommt immer<br />
eine Überweisung von ihren Kindern und<br />
die zahlt sie dann auf ihr Sparbuch ein<br />
und dann fragt sie, kann man auch den<br />
Zins nachtragen und solche Dinge. Diese<br />
Dinge wiederholen sich repetitiv. Das ist<br />
Customer Relationship Management. Ich<br />
habe ja auch damals an der Tankstelle<br />
Networking betrieben. Habe dies aber<br />
nicht gewusst. Ein Kunde hat mal gesagt,<br />
kennen Sie nicht jemand, der mir eine<br />
Karte für das und das Länderspiel besorgen<br />
kann. Dann sage ich, doch, mittags<br />
um drei kommt immer einer, der bei der<br />
Zeitung arbeitet und den frage ich. Ich<br />
habe meine Beziehung natürlich genutzt<br />
um Kundenbindung zu schaffen, um ihn<br />
mit einem anderen zusammenzubringen,<br />
um ihm – und jetzt kommt wieder ein<br />
Begriff, den ich damals nicht gekannt<br />
habe – einen Adit Value zu präsentieren,<br />
den Mehrwert.<br />
Individuelle Ansprache durch Kampagnen<br />
‣ Mehrdimensionale Selektionsabfrage<br />
• Cross-Selling am Beispiel Fan-Shop<br />
Ergebnisauflistung<br />
So, jetzt haben wir alle Begriffe zusammen.<br />
Die habe ich in meiner Tankstelle<br />
als 20-Jähriger schon erlebt, aber ich<br />
habe nicht gewusst, wie wichtig die in<br />
meinem Leben noch werden. All diese<br />
Dinge machen nämlich diesen Erfolg in<br />
jeder Betriebsorganisation aus. Und das<br />
Entscheidende ist, du musst mit diesem<br />
Instrumentarium spielend umgehen können.<br />
Hier z.B. ein Screen-Shot. So sieht<br />
das aus bei uns am Bildschirm, wenn wir<br />
in Customer Relationship reingehen.<br />
Wir können hier Abfragen starten in verschiedenen<br />
Dimensionen. Erste Dimension,<br />
ich will in meinem Datenbestand<br />
alle Mitglieder des VfB Stuttgart haben.<br />
Also alle, die einmal einen Antrag unterschrieben<br />
haben. Und dann zweitens will<br />
ich wissen, wer hat schon jemals etwas<br />
gekauft von diesen Mitgliedern, und das<br />
Dritte ist, wer von den Mitgliedern hat im<br />
letzten Jahr das Heimtrikot gekauft.<br />
Bei denen kann ich ja davon ausgehen,<br />
dass wenn wir ein neues Trikot bekommen,<br />
diese wieder ein Heimtrikot kaufen<br />
möchten.<br />
Individuelle Ansprache durch Kampagnen<br />
‣ Planung einer Kampagne<br />
Und jetzt warte ich nicht, bis die 30.000<br />
zufällig kommen, sondern schicke Ihnen<br />
das Angebot per E-Mail.<br />
Und Sie merken schon, wenn ich diese<br />
Story erzähle, weil Sie alle Markt- und<br />
Vertriebs-/Handelsorganisationsmenschen<br />
sind, wenn einer ein Trikot<br />
kauft, dann kauft er nicht nur ein Trikot.<br />
Dann will er die passende Hose dazu<br />
und den Overall, Regenschutz und wenn<br />
einer in diesem Zyklus drin ist, dann können<br />
Sie ihn auch irgendwann mal fragen,<br />
ob er zu einem internationalen Spiel<br />
mitfahren möchte. Und das ist Marketing.<br />
Das ist Marketing, dass ich alle meine<br />
42
Methoden, Mittel und Verfahren einsetze,<br />
um meine Produkte, meine Dienstleistungen<br />
marktmäßig zu verwerten. Die<br />
Relation kann ich hier locker herstellen.<br />
Das ist Customer Relationship Management.<br />
So machen es alle im Moment, die<br />
erfolgreich sind. Und dann noch eins,<br />
was natürlich von allergrößter Bedeutung<br />
ist, ist Channel Marketing. Über welchen<br />
Kanal gehe ich zum Kunden. Und<br />
da könnte ich Ihnen jetzt nochmals drei<br />
Stunden Vortrag halten, wie so etwas<br />
aussieht. Über welchen Kanal spreche<br />
ich meinen Kunden an? Das ist wichtig.<br />
Wenn Sie sagen, ich spreche meine Kunden<br />
über ein Ladenlokal an in 1A-Lauflage<br />
und die Kunden rechnen damit, dass<br />
Sie über E-Mail erreichbar sind, Sie aber<br />
kein E-Mail-Angebot oder E-Business-<br />
Angebot haben, sind Sie innerhalb kürzester<br />
Zeit tot. Und umgekehrt. Ich habe<br />
schon in meiner IT-Zeit Banker gefragt,<br />
was glauben Sie, wie in fünf Jahren Ihr<br />
Institut aussieht? Ich habe das vielleicht<br />
vor zwei, drei Jahren gefragt, wenn ich<br />
heute in meine Kreissparkassenfiliale<br />
reingehe, um irgendwas abzugeben oder<br />
irgendwelche Vordrucke zu holen, sieht<br />
das ganz anders aus. Sie sehen keine<br />
Kasse mehr, Sie sehen nicht mehr diese<br />
Panzerglasfenster, das Institut hat sich<br />
verändert. Und ich möchte mit Ihnen<br />
wetten, in fünf Jahren werden sich die<br />
Sparkassenfilialen noch weiter verändern.<br />
Die Brot-und-Butter-Geschäfte<br />
werden alle über E-Business abgewickelt<br />
werden. Und da sind wir bereit, als Verein<br />
mitzumachen.<br />
Und so sieht eine Dienstleistungslandschaft<br />
aus, wie ich sie vorhin<br />
beschrieben habe. Das ist ein 500 Meter<br />
langes Stück Straße am Neckarpark,<br />
genannt Mercedesstraße. Am oberen<br />
Ende sehen Sie das Stadion, am oberen<br />
Ende ist das Daimler Chrysler Werk<br />
Untertürkheim, wo 32.000 Menschen<br />
arbeiten. Darunter sehen Sie das Gottlieb-Daimler-Stadion,<br />
und dann kommt<br />
das Carl-Benz-Center, die Halle ist jetzt<br />
gerade vor der WM fertiggestellt worden.<br />
Vor der Porsche-Halle ist die Hanns-<br />
Martin-Schleyer-Halle. Das ist praktisch<br />
unsere Sportwelt. Auf der gegenüberliegenden<br />
Seite ist die Daimler-Welt. Da hat<br />
Daimler sein neues Museum gebaut, was<br />
ich Ihnen dringend ans Herz legen muss.<br />
Das müssen Sie sich anschauen, das ist<br />
das Allerfeinste, was Sie vom musealen,<br />
also nicht nur vom architektonischen<br />
her, sondern auch vom Ablauf her, vom<br />
Bildungsinhalt her, je gesehen haben.<br />
Der Besuch lohnt sich. Die werden<br />
in Ihrer Welt Museum, Technologiezentrum,<br />
Niederlassung, 1,2 Millionen<br />
Menschen bewegen, wir bewegen auf der<br />
linken Seite 800.000 Menschen im Jahr.<br />
Hier auf diesen 500 Metern bewegen sich<br />
im Jahr 2 Millionen Menschen. Das ist<br />
eine Frequenz, die mit in einer 1A-Kauflage<br />
mitten in der City in der Fußgängerzone<br />
vergleichbar ist.<br />
Und in diesem Bereich wird sich in Zukunft<br />
ein Teil des Kulturlebens abspielen<br />
und wir haben uns für diesen Vertriebsweg<br />
gerüstet. Sie müssen sich eins<br />
vorstellen, Sie brauchen eine Strategie<br />
für solche Dinge. Das sind ja nicht lauter<br />
Menschen, die das Daimler-Museum<br />
besuchen, die aus Stuttgart kommen. Da<br />
kommt ein Vater mit zwei Kindern aus<br />
Tettnang angereist, an einem Ferientag.<br />
Morgens um zehn ist er im Daimler-<br />
Chrysler-Museum und dann dauert<br />
statistisch gesehen ein Museumsdurchlauf<br />
zweieinhalb Stunden. Dann steht er<br />
auf der Straße, die Kinder haben Hunger,<br />
die wollen was sehen, die wollen noch<br />
was erleben, dann muss man ihnen ein<br />
Angebot machen. Oder sie steigen ins<br />
Auto und fahren wieder heim. Und genau<br />
diesem Umstand begegnen wir. Das<br />
ist ein Umstand, den wir vor drei, vier<br />
Jahren so noch nicht gesehen haben. Der<br />
aber heute klar zu unserer Vertriebsstrategie<br />
gehört, genauso wie das Internet.<br />
Wir partizipieren an dem Marketing-Ensemble,<br />
was sich hier unten entwickelt<br />
hat. Wir haben das jetzt mit diesem Carl-<br />
Benz-Center in einer 60-Millionen-Investition<br />
getätigt. Wir werden also einen<br />
großzügigen Bereich haben, in dem<br />
2.000 Menschen Platz finden. Ich hoffe<br />
nur, dass uns auch die Attraktivität einfällt,<br />
um die Menschen vor und nach den<br />
Spielen hier zu binden. Und jetzt noch<br />
ein Satz zu dem, was wir in den neuen<br />
Medien haben, damit Sie sich darauf<br />
einrichten können. Ich frage permanent<br />
unseren Shop-Bereich ab, wie hoch ist<br />
der Internetanteil? Als ich noch vor drei<br />
Jahren bei IBM war, da hatten wir so 10,<br />
15 Prozent und waren ganz stolz darauf,<br />
Tendenz stark wachsend. Hier bewegen<br />
wir uns in der Größenordnung von<br />
43
20, 30 Prozent. Wir sind jetzt im Moment<br />
gerade dabei, eine ganz neue Homepage<br />
zu gestalten, um die Verzahnung<br />
zwischen Internet und unserem Warenwirtschaftssystem<br />
noch enger zu gestalten.<br />
Und wenn ich Ihnen sage, dass wir<br />
800.000 Visits pro Monat haben, ohne<br />
dass wir ein spezielles Event, wie beispielsweise<br />
Champions League haben,<br />
bedeutet das für die Fachleute 7,5 Millionen<br />
Page Impressions haben wir im<br />
Durchschnitt jeden Monat. Da merken<br />
Sie, was für ein Potenzial dahinter ist.<br />
Diese Leute wollen nicht nur im Netz<br />
surfen, sie wollen Information, sie wollen<br />
was kaufen, sie wollen was mitnehmen,<br />
sie wollen etwas Bleibendes haben und<br />
wir müssen das bedienen. Und wir haben<br />
dadurch natürlich eine Außenwirkung,<br />
die auch für die Stadt Stuttgart von kolossaler<br />
Bedeutung ist. Die Sichtbarkeit<br />
eines Bundesligavereins wie dem VfB<br />
Stuttgart, in Verbindung mit dem, was<br />
wir in den neuen Medien erreichen, liegt<br />
nach Aussage eines Spezialinstituts für<br />
die Stadt Stuttgart bei rund 30 Millionen<br />
Euro wert im Jahr. Diesen Betrag müsste<br />
die Stadt Stuttgart, um den gleichen<br />
Bekanntheitsgrad zu erreichen, für<br />
Anzeigen oder Werbespots aufbringen.<br />
Und jetzt haben wir natürlich noch die<br />
Fußball-WM in diesem Jahr. Dass wir<br />
ein Ereignis haben, das – und jetzt ohne<br />
jegliches Pathos – seinesgleichen auf<br />
der Welt sucht. Keine Formel 1 und keine<br />
Olympischen Spiele können an die Popularität<br />
einer Fußballweltmeisterschaft<br />
heranreichen. 2002 wurde in 215 Länder<br />
übertragen, und das ist deutlich mehr als<br />
in der UNO sind.<br />
Und wir werden in diesem Jahr noch mal<br />
eine Steigerung haben. Wir werden rund<br />
30.000 Journalisten akkreditiert haben.<br />
Deutlich mehr, als bei den Olympischen<br />
Spielen in Athen. Und wir werden die<br />
höchsten TV-Einschaltquoten haben,<br />
kumuliert rechnen wir mit ungefähr<br />
30 Milliarden Zuschauern. Das ist das<br />
fünffache der Erdbevölkerung, die an<br />
diesem Geschehen teilnehmen werden.<br />
Warum, weil wir natürlich vor allem in<br />
den bevölkerungsreichsten Regionen<br />
Asien und Südamerika mit Fußball den<br />
Volkssport Nummer 1 haben. Da fällt das<br />
mangelnde Interesse in Nordamerika<br />
überhaupt nicht ins Gewicht. Aber, Sie<br />
müssen sich mal vorstellen, 30 Millionen<br />
Menschen kumuliert, bei einer Weltbevölkerung<br />
von 6 Milliarden. Und jetzt<br />
müssen Sie eines ganz klar sehen, um<br />
das Phänomen richtig zu erkennen, von<br />
diesen 6 Milliarden Weltbevölkerung haben<br />
zweidrittel noch nie in ihrem Leben<br />
einen Telefonhörer in der Hand gehabt.<br />
So ist das technische Gefälle. Aber an<br />
einen Fernseher, um Fußball zu schauen,<br />
kommt irgendwie jeder ran. In den<br />
Favellas, in den Vororten, in Feuerland, in<br />
Faroer, auf den wenig besiedelten Inseln.<br />
WM 2006 als Impulsgeber<br />
TV-Präsenz:<br />
• die WM 2002 wurde in 215 Länder übertragen<br />
(vgl. Mexiko ‘86: 166, Frankreich ‘98: 196)<br />
• rund 30.000 Journalisten werden während der WM 2006 in<br />
Deutschland anwesend sein<br />
• höchste TV-Einschaltquoten (höher als bei Olympia)<br />
1,1 Milliarden TV-Zuschauer beim Finale 2002<br />
rund 30 Milliarden Zuschauer insgesamt<br />
= 5-fache Erdbevölkerung<br />
Prognose 2006: bei 64 Spielen im Schnitt 500 Mio. Zuschauer<br />
Ich habe noch ein Bild vor Augen. Ich war,<br />
als ich in Ägypten war, in einer Lehmhütte<br />
einer Bauernfamilie. Und ich habe<br />
mir so im Stillen gedacht, die armen<br />
Menschen, wenn es da mal regnet, tropft<br />
alles durch. Bis ich in deren Hauptwohnraum<br />
gekommen bin und den neuesten<br />
Sony-Fernseher stehen sehe. Das Dach<br />
war nicht so wichtig in dieser Breitenlage,<br />
das Wichtige ist, am Weltgeschehen<br />
teilzunehmen über den Fernseher.<br />
Wir werden ungefähr 3 Millionen Zuschauer<br />
bei den 64 Spielen der FIFA-WM<br />
in den Stadien haben und davon rechnen<br />
wir ein Drittel ausländische Besucher. In<br />
Stuttgart werden wir sechs Spiele und<br />
rund 350.000 Besucher haben und wir<br />
rechnen mit rund 500.000 zusätzlichen<br />
Übernachtungen. Das ist immer das,<br />
was wir betonen. Das ist schon von der<br />
Mengenstruktur her keine Sache, die<br />
Stuttgart und die Stuttgarter Gastronomie<br />
und Hotellerie allein stemmen kann.<br />
Nie im Leben. Da spielt Karlsruhe, da<br />
spielen Tettnang, Reutlingen, Heilbronn<br />
und alle möglichen eine Rolle. Das ist ein<br />
Event, das die Region beschlagnahmt.<br />
Und entsprechend müssen wir uns auch<br />
aufstellen und entsprechend werden<br />
wir auch gefordert werden. Wenn die<br />
44
Freunde kommen, dann sind wir alle die<br />
Gastgeber. Nicht einige wenige, sondern<br />
wir als Region müssen hier hinstehen<br />
und müssen als Gastgeber fungieren.<br />
Und dann funktioniert wahrscheinlich<br />
auch das, dass wir Freude ausstrahlen,<br />
dass wir die Dynamik rüberbringen.<br />
Und ich kann Ihnen nur eins sagen, wenn<br />
es uns ernst ist mit dem Vertrieb eines<br />
positiven Images für unser Land, wenn<br />
es uns ernst ist, Produkte in diesem<br />
Land herzustellen, und da sind ja viele<br />
weltführende Produkte dabei, wenn es<br />
uns ernst ist, dann muss uns die WM<br />
ernst sein. Dann müssen wir uns mit<br />
ganzem Herzen einlassen, dass wir aus<br />
diesem Event für alle, die auf Deutschland<br />
schauen, und es werden Milliarden<br />
sein, müssen wir das Beste machen und<br />
mit dieser Botschaft möchte ich Sie gerne<br />
konfrontieren und jetzt aus meinem<br />
Speach entlassen. Ich wünsche Ihnen<br />
noch einen schönen Tag und wünsche<br />
uns eine erfolgreiche Weltmeisterschaft,<br />
vor allem hier im Wilden Süden.<br />
Vielen Dank.<br />
45
Unternehmensmotto als Programm:<br />
Hier bin ich Mensch.<br />
Hier kauf ich ein.<br />
Sehr geehrte Damen und Herren,<br />
nachdem mein Vorredner, Herr Staudt,<br />
gesprochen hat, habe ich wieder einmal<br />
gemerkt, dass es woanders immer leichter<br />
scheint, das Geschäft zu machen. Wie<br />
machen wir bei „dm-drogerie markt“<br />
denn das Geschäft? Wir sind Einzelhändler.<br />
Einzelhandel – das sagt schon<br />
der Name – ist ein Geschäft, das sehr<br />
standortbezogen ist. In Deutschland<br />
haben wir 850 Standorte und im Ausland<br />
haben wir weitere 900 Standorte. Jeder<br />
Standort, also jede dm-Filiale, hat andere<br />
Mitarbeiter, andere Kolleginnen und<br />
Kollegen, die dort arbeiten. Jede Filiale<br />
hat eine andere Wettbewerbssituation,<br />
jede Filiale hat eine andere Demographie<br />
und damit unterschiedliche Kunden um<br />
sich herum. Das zeigt: „Retail is Detail“<br />
– und es ist doch zugleich Global Business.<br />
Nun habe ich das Glück gehabt,<br />
dass ich vor 33 Jahren mit einem Laden<br />
anfangen konnte und erlebt habe, wie<br />
das Geschäft sich verwandelt, wie es<br />
durch unterschiedliche Aggregatzustände<br />
geht und dass das in einer positiven<br />
Entwicklung nur gehen kann, wenn jeder<br />
im Unternehmen sich mit entwickelt.<br />
Natürlich wird das Geschäft in der heutigen<br />
Größenordnung anders betrieben<br />
als zu der Zeit, in der es noch eine Filiale<br />
war, als es 100 Filialen oder 200 Filialen<br />
waren.<br />
Stets zu antizipieren, wie sich die Aggregatzustände<br />
in solch einem wachsenden<br />
Unternehmen verändern, habe ich für<br />
mich persönlich als die größte Herausforderung<br />
erlebt. Letzten Endes ist die<br />
46<br />
Frage: Wo ist die Henne und wo ist das<br />
Ei? Natürlich muss man sich persönlich<br />
entwickeln, um die Aufgaben zu meistern.<br />
Die Wachstumsmöglichkeiten<br />
sind also dadurch determiniert, wie sich<br />
die Gemeinschaft, erstens quantitativ<br />
und zweitens vor allem auch qualitativ<br />
entwickelt. Die Herausforderung dabei<br />
ist, wie man dem Applaus der Kunden,<br />
der das Geschäft dann treibt, nachkommt.<br />
Persönlich habe ich das so erlebt,<br />
dass ich immer den Eindruck hatte, die<br />
Sache wächst mir über den Kopf. Man ist<br />
also permanent in einer Situation, in der<br />
einem das Unternehmen über den Kopf<br />
wächst. Dieses „Über-den-Kopf-Wachsen“<br />
wird dadurch deutlich – das können<br />
Sie vielleicht in Ihren eigenen Organisationen<br />
auch erleben – dass die Komplexität<br />
stetig zunimmt. Wie schafft man es<br />
dann, den Herausforderungen gerecht zu<br />
werden?<br />
Erfolg hat Folgen. Doch, haben wir die<br />
Folgen auch im Auge? Können wir die<br />
Folgen antizipieren? Kann der Zuwachs<br />
an Bewusstsein die Komplexität, die<br />
immer wieder neue Komplexität durchdringen?<br />
Hier darf der Abstand natürlich<br />
nicht zu groß werden. Je größer der<br />
Abstand zwischen Komplexitätszuwachs<br />
und der Fähigkeit, mit dem Bewusstsein<br />
zu folgen, desto größer wird der Stress<br />
und die Überforderung. Und je größer<br />
der Stress und die Überforderung, desto<br />
größer ist die Gefahr, dass man unangemessen<br />
reagiert. Die Steigerung von<br />
Stress wäre dann Angst. Angst führt<br />
jedoch zu unangemessenen Verhaltensweisen.<br />
Das ist das große Problem.<br />
Prof. Götz W. Werner<br />
Geschäftsführer<br />
dm-drogerie markt
Je mehr der Einzelne mit seinen Fähigkeiten,<br />
mit seinem Bewusstsein, der<br />
Komplexität folgen kann, desto mutiger,<br />
vitaler und dynamischer ist eine Organisation.<br />
Das ist vereinfacht die Situation<br />
in einem wachsenden Unternehmen.<br />
Das Wachstum kommt von den Kunden.<br />
Wir müssen also alles, was wir tun daran<br />
orientieren, wie der Kunde darauf reagieren<br />
wird. Wenn man über Kunden spricht<br />
- und Kundenorientierung ist heute ein<br />
weit verbreitetes Wort - kann man das<br />
zum einen von den Phänomenen her<br />
betrachten. Zum anderen kann man es<br />
aber auch von dem, was zu den Phänomenen<br />
führt, anschauen - also von den<br />
Ursachen her. Die Frage ist dann nicht,<br />
was ist bewirkt worden, sondern was<br />
ist das Wirkende? Das kennen wir auch<br />
aus der persönlichen Gesundheit. Das,<br />
was wir mit unserem Gesundheitssinn<br />
sozusagen an uns selbst wahrnehmen,<br />
ist das eine. Aber das bewusste Erfassen<br />
der Ursachen ist etwas ganz anderes.<br />
Sie sitzen noch hier und sind noch nicht<br />
nach Hause gegangen, weil Sie erwarten,<br />
dass ich etwas sage, womit Sie<br />
etwas anfangen können. Sie rechnen<br />
mit meiner Produktivität. Als ich gefragt<br />
worden bin, ob ich hier einen Vortrag<br />
halten will, hätte ich mir genauso wie Sie<br />
vorstellen können, etwas anderes in der<br />
Zeit zu tun. Ich habe mir jedoch gesagt:<br />
In diesem Auditorium werden Menschen<br />
sein die empfänglich sind für das was ich<br />
sage. Das Verhältnis zwischen uns als<br />
Einzelhandelsunternehmen und unseren<br />
Kunden – in Deutschland kommen jeden<br />
Tag eine Million Kunden in unsere Märkte<br />
– ist das gleiche. Ich rechne mit Ihrer<br />
Empfänglichkeit, Sie rechnen mit meiner<br />
Produktivität, das ist die Grundbeziehung<br />
in einer modernen Gesellschaft:<br />
das Zueinanderkommen von Produktivität<br />
und Empfänglichkeit.<br />
Dies ist neu für unser Menschheitsbewusstsein<br />
– schauen Sie einmal in die<br />
Statistik. Im Jahr 1900, vor 106 Jahre,<br />
arbeiteten und lebten in Deutschland 40<br />
Prozent der Menschen in der Landwirtschaft<br />
- über 40 Prozent der Menschen.<br />
In der Landwirtschaft leben, was heißt<br />
das? Sich selbst versorgen und die<br />
Überschüsse zum Markt bringen. Aber<br />
in erster Linie, sich selbst zu versorgen.<br />
Heute arbeiten keine zwei Prozent mehr<br />
in der Landwirtschaft. Nur 106 Jahre später,<br />
nachdem es tausende von Jahren bis<br />
zurück zu Adam und Eva, also seit dem<br />
Rauswurf aus dem Paradies, immer so<br />
gewesen ist, leben wir in der absoluten<br />
Fremdversorgung. Es gibt niemanden<br />
mehr, der nur für sich selbst leistet. Jeder<br />
arbeitet für andere. Jeder rechnet damit,<br />
dass andere für ihn arbeiten. Jeder sollte<br />
sich auch dessen bewusst sein, dass<br />
andere mit seinen Leistungen rechnen.<br />
Das ist die moderne Form des Zusammenlebens.<br />
Dieser rasante Wandel von<br />
der Selbst- zur Fremdversorgung ist ganz<br />
neu für unser Menschheitsbewusstsein.<br />
Wir leben also faktisch in der Fremdversorgung,<br />
aber seelisch-emotional, mit<br />
unseren Herzen, sind wir noch in der<br />
Selbstversorgermentalität. Wir meinen,<br />
wir arbeiten für uns. Wir meinen,<br />
wir leben von unserem Einkommen. Es<br />
gibt sogar Menschen, die meinen, sie<br />
müssten für ihre Rente sparen, damit<br />
sie später von ihrer Rente leben können.<br />
Das ist ein gigantischer Irrtum. Auch ich<br />
werde später von den Menschen leben,<br />
die dann arbeiten. Wir leben immer von<br />
der Leistung anderer. Und wenn wir uns<br />
das nicht bewusst machen, dann können<br />
wir in Wirklichkeit gar nicht kundenorientiert<br />
sein. Unsere Tätigkeit erhält<br />
erst dadurch Sinn, indem der andere, für<br />
den wir leisten, damit etwas anfangen<br />
kann. Wenn der andere bereit ist, meine<br />
Leistung zu honorieren und mir dadurch<br />
erneut Raum gibt, diese Leistung zu<br />
erbringen. Dadurch dass der Kunde mir<br />
ein Einkommen zukommen lässt, gibt er<br />
mir die Möglichkeit, meine Leistung zu<br />
erneuern.<br />
Kundenorientierung – die Bedürfnisse<br />
des Kunden als das Maß für unser aller<br />
Tun – wirklich deutlich zu machen, das ist<br />
die Hauptaufgabe im Unternehmen. Dies<br />
müssen unsere Mitarbeiter, in Deutschland<br />
13.000 Kolleginnen und Kollegen, in<br />
den 850 Filialen und in ihrem Umfeld zur<br />
Geltung bringen. Die Kunden kommen<br />
- Gott sei Dank - jeden Tag in unsere<br />
Filialen. Im Schnitt sind es täglich etwa<br />
1.200 Menschen, die in jede einzelne Filiale<br />
kommen und die uns einerseits ihre<br />
Bedürfnisse bringen und andererseits<br />
das Geld bringen, damit wir Einkommen<br />
generieren können. Der Preis hat immer<br />
47
zwei Seiten. Der Preis definiert unsere<br />
Leistung und gleichzeitig strukturiert er<br />
die Einkommensbildung des Unternehmens.<br />
Wie schaffen wir es, dass die Kollegen<br />
sich an ihren jeweiligen Kunden orientieren?<br />
Dass sie sich nicht – und das ist das<br />
große Problem, das ich in den letzten 33<br />
Jahren erlebte – am Vorgesetzten orientieren.<br />
Wie schaffen wir es, dass wir wegkommen<br />
von dem, was tief in uns steckt:<br />
die Orientierung am Vorgesetzten. Ich<br />
nenne das „Hierarchiebewusstsein“, d.h.<br />
was will der Vorgesetzte, wie gefalle ich<br />
dem Vorgesetzten?<br />
Wie schaffe ich es nun, dass aus diesem<br />
Hierarchiebewusstsein ein Selbstbewusstsein<br />
entsteht, das den Wandel<br />
von der Vorgesetztenorientierung zur<br />
Kundenorientierung erst ermöglicht. Wir<br />
arbei-ten gesamtwirtschaftlich, geldwirtschaftlich,<br />
aber auch betriebswirtschaftlich<br />
hoch arbeitsteilig. Das heißt, jeder<br />
arbeitet immer für den Kunden – auch<br />
innerhalb des Unternehmens. Jeder ist<br />
auf die Leistung eines Vorlieferanten angewiesen.<br />
Folglich ist mein Kollege mein<br />
bester Kunde, meine Kollegin ist meine<br />
zuverlässigste Lieferantin. Das wäre<br />
Prozessbewusstsein. Ein Bewusstsein für<br />
den permanenten Leistungsaustausch.<br />
Wie kann ich dafür sorgen, dass der<br />
Lieferant sich meine Bedürfnisse zu<br />
Eigen macht und wie kann ich dafür<br />
sorgen, dass ich mir die Bedürfnisse<br />
meines Kunden zu Eigen mache? Das<br />
ist letzten Endes die Fragestellung. Je<br />
nachdem, wie gut es uns gelingt, diese<br />
Frage zu beantworten, desto mehr Erfolg<br />
werden wir haben. Desto mehr Kunden<br />
wie auch Lieferanten werden sich mit uns<br />
verbinden wollen. Auf diese Unterscheidung,<br />
zwischen binden und verbinden,<br />
kommt es mir besonders an! Wir reden<br />
oft von Kundenbindungsprogrammen.<br />
Sie kennen das. Mein Vorredner, Herr<br />
Staudt, sprach vorhin von Customer Relationship<br />
Management. Viele verstehen<br />
das als Kundenbindungsprogramme. Ich<br />
muss fragen: Wer lässt sich denn schon<br />
gerne binden? Ich lasse mich ungern<br />
binden. Mit der Bindung ist es immer<br />
problematischer geworden. Die Religionen<br />
kennen das und auch die Ehe als<br />
Bindung nimmt zunehmend ab. Selbst<br />
mit der Parteienbindung ist es nicht<br />
mehr so wie früher.<br />
Die Bindung in den Mittelpunkt zu<br />
stellen, ist ein großer Irrtum. Entscheidend<br />
ist, dass sich die Kunden mit uns<br />
verbinden. Entscheidend ist auch, dass<br />
sich die Lieferanten mit uns verbinden.<br />
Dass die Lieferanten sagen: dm ist<br />
der Kunde, den ich brauche, damit ich<br />
meine Ziele erreichen kann, und der<br />
auch mich immer wieder motiviert und<br />
herausfordert, mich im Wettbewerb zu<br />
verausgaben. Denn Wettbewerb ist die<br />
totale Verausgabung. Im Wettbewerb<br />
kann man nichts zurückhalten, man muss<br />
sich immer verausgaben. Das Gleiche gilt<br />
gegenüber den Kunden. Unsere Frage<br />
muss sein: In welcher Weise können wir<br />
mit unseren Kunden kommunizieren,<br />
dass die Kunden sich mit uns verbinden?<br />
Das heißt auch, wir müssen in unserem<br />
Geschäftsgebaren alles unterlassen, was<br />
das Geschäft „pusht“, sondern wir müssen<br />
Pull erzeugen. Wenn Sie unser Wettbewerbsverhalten<br />
im Handel anschauen,<br />
werden Sie sehen: In dieser Hinsicht<br />
unterscheiden wir uns dramatisch.<br />
Wenn Sie substantiell wachsen wollen,<br />
wenn Sie wirklich das Unternehmen so<br />
wachsen lassen wollen, dass es in Stabilität<br />
kommt, dass es auch nur die Aufgaben<br />
hat, die es leisten kann, dann vermeiden<br />
Sie alles, was pusht. Ich kann das<br />
jedem empfehlen, der in der Wirtschaft<br />
tätig ist. Jeder Push ist schädlich für ein<br />
Unternehmen und hat zur Folge, dass<br />
man in Gefahr läuft zu Hypertrophieren.<br />
Wie man auf der anderen Seite vor lauter<br />
Angst vor Hypertrophie anfängt, sich<br />
zu verfestigen. Sklerose, Herzinfarkt,<br />
Krebs, Wucherung. Das sind auch die<br />
Krankheitssymptome, die wir heute in<br />
der Gesellschaft haben. Ergo gilt es, den<br />
Ausgleich zu finden. Wie wir in unserer<br />
Lebensgestaltung die Mitte finden müssen,<br />
so auch im Unternehmen. Die Mitte<br />
zwischen Sklerose und Wucherung?<br />
Organisches Wachstum heißt natürlich,<br />
dass man nicht die eigenen Wachstumsziele<br />
in den Vordergrund stellt,<br />
sondern die Kundenpotenziale und auch<br />
die Mitarbeiterpotenziale. Organisches<br />
Wachstum ändert den Fokus, so dass das<br />
Ganze persönlicher wird. Es geht darum,<br />
den Kunden nicht als Verbraucher oder<br />
48
als Konsumenten zu sehen, sondern<br />
als Mitmenschen. Den Mitarbeiter nicht<br />
als Mitarbeiter zu sehen, sondern auch<br />
als Mitmenschen. Wir sprechen bei dm<br />
lieber von Kollegen als von Mitarbeitern<br />
und von Menschen statt Verbrauchern.<br />
Schauen Sie, auch der Kollege und die<br />
Kollegin in den Filialen müssen eine<br />
Möglichkeit haben, sich mit dem Unternehmen<br />
verbinden zu können. Unsere<br />
Bemühung darf nicht sein, die Mitarbeiter<br />
zu binden, sondern dass sich unsere<br />
Kolleginnen und Kollegen mit dem<br />
Unternehmen verbinden. Denn Kunden<br />
werden meist so behandelt, wie die<br />
Menschen im Unternehmen miteinander<br />
umgehen. Mein nächster Kollege oder<br />
meine nächste Kollegin: das ist mein<br />
wichtigster Kunde. Je besser ich diese<br />
innere Einstellung pflege, desto eher<br />
wird der Kunde, wenn er in eine dm-Filiale<br />
kommt, sagen: „Hier bin ich nicht nur<br />
Kunde, hier bin ich Mensch. Hier bin ich<br />
nicht der Verbraucher, hier bin ich nicht<br />
der Absatz, sondern hier bin ich Mensch.<br />
Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein.“<br />
Das Gleiche gilt, wenn Sie ins Unternehmen<br />
hinein schauen. Die Aussage<br />
der Mitarbeiter soll lauten: „Hier bin ich<br />
Mensch, hier steig ich ein. Hier mache<br />
ich mit.“ Denn eines dürfen wir nicht<br />
vergessen: Für die Menschen in einem<br />
Unternehmen ist das Unternehmen der<br />
Schauplatz ihrer Biographie. Man muss<br />
sich also fragen: Ist denn das Unternehmen<br />
für die Kunden da, oder die Kunden<br />
fürs Unternehmen? Sind die Mitarbeiter<br />
fürs Unternehmen da, oder ist das Unternehmen<br />
für die Mitarbeiter da? Je früher<br />
man sich diese Fragen stellt und je klarer<br />
man sie beantwortet, desto besser. Je<br />
nachdem, wie wir uns diese Frage beantworten,<br />
verändert sich die Färbung, wirkt<br />
es sich auf das Unternehmen anders aus.<br />
Lassen Sie mich als Nächstes die Einkommensbildung<br />
ansprechen. Auch das Phänomen<br />
der berühmten Anreizsysteme.<br />
Immer dann, wenn ich die Bezahlung im<br />
Unternehmen so gestalte, dass es einen<br />
fixen Anteil gibt und einen variablen Anteil,<br />
hat das zur Folge, dass der Einzelne<br />
zwangsläufig daran interessiert sein<br />
muss, die Möglichkeiten, die der variable<br />
Anteil bildet, voll auszuschöpfen.<br />
Aber: Damit werfe ich ihn in die Selbstversorgungssituation<br />
zurück. Er verliert<br />
dadurch den Blick für die Bedürfnisse<br />
des Kunden, weil sich seine eigenen<br />
Bedürfnisse vor die des Kunden schieben.<br />
Die berühmte und uralte Anekdote,<br />
in der ein Melkmaschinenverkäufer dem<br />
Bauern eine Melkmaschine verkauft und<br />
dafür dessen letzten zwei Kühe in Zahlung<br />
nimmt, kann nur dadurch passieren,<br />
dass er nicht die Bedürfnisse des Bauern<br />
im Auge hat, sondern das Erreichen<br />
seiner Umsatzprovision. Diese Einsicht<br />
zwingt dazu, radikal umzudenken. Dieses<br />
Umdenken versuche ich im Unternehmen<br />
seit zirka 15 Jahren zu kultivieren. Wenn<br />
jemand bei uns arbeitet und wenn er ein<br />
Einkommen bezieht, dann sind das zwei<br />
voneinander zu trennende Vorgänge.<br />
Denn das Einkommen dient nicht dazu,<br />
seine Arbeit zu bezahlen, sondern das<br />
Einkommen dient dazu, ihm das Arbeiten<br />
zu ermöglichen. Es ist evident, dass ohne<br />
Einkommen niemand bei uns arbeiten<br />
könnte. Ich glaube, es gibt ganz wenige,<br />
die sich das leisten wollten, denn in Wirtschaftsunternehmen<br />
finden Sie normalerweise<br />
keine Ehrenamtlichen. Dieses<br />
scheinbare Detail ist in Wirklichkeit ein<br />
Paradigmenwechsel, der die Verhältnisse<br />
gravierend verändert. Das garantiere ich<br />
Ihnen, weil ich mich inzwischen auf die<br />
Empirie stütze.<br />
Ein Unternehmen ist demnach kein<br />
Zusammenschluss von Selbstversorgern,<br />
sondern ich definiere die Unternehmensaufgabe<br />
als das „Miteinander-<br />
Füreinander-Leisten“. Unser Problem<br />
ist die Unfähigkeit zum Miteinander.<br />
Wir müssen deshalb alles unterlassen,<br />
was an die Selbstversorgungsmentalität,<br />
die noch ganz tief in uns steckt,<br />
appelliert. Nur dann wird der Blick frei<br />
für das Miteinander und nur so kommt<br />
der Kunde ins Bewusstsein. Das spüren<br />
die Kunden. In dem Moment, in dem<br />
ich Arbeit bezahle, appelliere ich an die<br />
Selbstversorgungsmentalität. Auf diese<br />
Weise gerät der Kunde aus dem Auge,<br />
er wird zum Objekt. Im Handel wird aber<br />
wunderbar deutlich, dass die Arbeit für<br />
die Mitmenschen keine Arbeit an einem<br />
Objekt ist wie in der Produktion, wie die<br />
Arbeit an Material, an Materie.<br />
Was unterscheidet aber die Produktionsarbeit,<br />
die alte Arbeit, von der<br />
neuen Arbeit, die sich unmittelbar an<br />
die Mitmenschen richtet? In der Produk-<br />
49
tionsarbeit ist es richtig, dass Produktivität<br />
herrscht – das ist auch das, was<br />
uns heute diesen ungeheuren Überfluss<br />
beschert. Sparsamer Umgang mit Zeit,<br />
also mit der Lebenszeit anderer Menschen<br />
und mit den Ressourcen der Natur.<br />
Das ist das Ziel einer jeden Produktivität,<br />
einer jeden Rationalisierung. Indem<br />
ich Geist auf Arbeit anwende, spare ich<br />
Arbeit, spare ich Ressourcen, wird die<br />
Arbeit entschwert. Was wir dadurch geschaffen<br />
haben ist, dass es heute keinen<br />
Mangel mehr gibt, sondern Überfluss.<br />
Wir haben die Welt der Maschinen und<br />
Methoden geschaffen, die uns befreit<br />
von dieser Produktionsarbeit. Die Produktivitätsentwicklung<br />
hat sich expotentiell<br />
entwickelt.<br />
Wenn einerseits die Märkte gesättigt<br />
werden und anderseits die Produktivitätsentwicklung<br />
zunimmt, dann<br />
werden wir frei von Produktionsarbeit.<br />
Aber schauen Sie bitte auf den großen<br />
Bereich, in dem es um Menschen geht.<br />
Hier herrscht Mangel. Wenn Sie in den<br />
Bereich der Kultur schauen, im Bereich<br />
des Sozialen, in den Bereich der Familienarbeit,<br />
in den Bereich der Kunst,<br />
auch insbesondere der Erziehung, der<br />
Bildung, der Altenpflege: Mangel, wo Sie<br />
hinschauen. Überall Mangel. Den Mangel<br />
können wir deswegen nicht bedienen,<br />
weil wir fixiert sind auf den alten Erwerbsarbeitsbegriff,<br />
auf weisungsgebundene,<br />
bezahlte Erwerbsarbeit. Wo gibt es<br />
das überhaupt noch? Nicht einmal mehr<br />
in der alten Arbeit.<br />
Produktivität ist in der Arbeit bei Menschen<br />
nicht gefragt. Was dort gefragt<br />
ist, ist mitmenschliche Zuwendung.<br />
Was in der alten Arbeit vorherrschend<br />
ist, ist das Prinzip der Sparsamkeit. Was<br />
in der neuen Arbeit gefragt ist, das ist<br />
Freigiebigkeit. Die alte Arbeit muss<br />
geplant werden. Dabei muss Weisung<br />
herrschen, das ist ganz klar. Aber in der<br />
neuen Arbeit braucht es eigene Initiative<br />
individuelle Spontaneität. Wenn Sie zu<br />
uns in eine Filiale kommen, was passiert<br />
denn dann? Kann ich das vorher planen?<br />
Das ist ein Moment der menschlichen<br />
Begegnung zwischen meiner Kollegin<br />
in der Filiale und Ihnen. Ich weiß weder,<br />
wann Sie kommen, noch in welcher<br />
Verfassung Sie kommen. Was in diesem<br />
Moment passiert, das macht den Unterschied.<br />
Das ist in Ihren Unternehmen<br />
letztlich nicht anders. Wir müssen uns<br />
nur darüber klar werden: Das braucht<br />
situative geistesgegenwärtige Initiative.<br />
Und diese ist nicht planbar, auch nicht<br />
mit der Balance Scorecard. Es heißt, wir<br />
müssen Rahmenbedingungen schaffen,<br />
die Initiative wecken. Innerhalb unserer<br />
Unternehmen können wir damit<br />
anfangen. Wir brauchen das volkswirtschaftlich<br />
selbstverständlich auch, aber<br />
betriebswirtschaftlich ist es absolut<br />
notwendig. Und Initiative weckende<br />
Rahmenbedingungen bedeuten: Die<br />
Mitarbeiter müssen Eigentümer ihres<br />
Prozesses werden.<br />
Subsidiarität ist daher für uns das Leitmotiv<br />
in der ganzen organisatorischen<br />
Gestaltung des Unternehmens. Die<br />
Organisation dient nicht zur Begrenzung<br />
dessen, was passiert, sondern zum<br />
Eröffnen von Gestaltungsräumen. Je<br />
mehr Menschen im Unternehmen die<br />
Bedürfnisse ihrer Kunden selbstständig<br />
wahrnehmen können, desto unternehmerischer<br />
wird das Unternehmen. Dafür<br />
ist ein Einzelhandelsunternehmen wie<br />
dm ein wunderbares Anschauungsbeispiel,<br />
weil wir lauter kleine Geschäfte<br />
machen. In den meisten Unternehmen,<br />
auch in einer Sparkasse, gibt es kleine<br />
Geschäfte, mittlere Geschäfte, große<br />
Geschäfte, und so gehen die Geschäfte<br />
auch durch die Hierarchie. Im Einzelhandel<br />
gibt es nur kleine Geschäfte. Folglich<br />
sind die kleinen Geschäfte die großen<br />
Geschäfte. Die großen Geschäfte werden<br />
bei uns gemacht von den geringfügig Beschäftigten,<br />
von den Teilzeitkräften, von<br />
den Mitarbeitern mit der größten Fluktuation,<br />
mit dem geringsten Ausbildungsstand,<br />
mit der geringste Bezahlung. So<br />
machen wir die großen Geschäfte. Wenn<br />
Sie zu uns in die Filiale kommen und<br />
ein Lehrling im zweiten Jahr kommt auf<br />
Sie zu, dann ist dieser für Sie in diesem<br />
Moment das Unternehmen. Er ist<br />
nicht nur der Lehrling im zweiten Jahr<br />
– das gleiche gilt für einen „Geringfügig<br />
Beschäftigten“ - sondern er ist in diesem<br />
Moment der Chef. Das ist die Kompetenz,<br />
die wir in diesem Moment zu bieten<br />
haben, wenn Sie zu uns in die Filiale<br />
kommen. Und das, was Sie in der Filiale<br />
erleben, das bildet die Marke. Das sind<br />
die Erfahrungen, die Sie mitnehmen. In<br />
diesem Moment entscheidet sich, ob Sie<br />
50
sagen: „Ich komme wieder“, oder ob Sie<br />
sagen: „Hier gehe ich nur noch hin, wenn<br />
ich unbedingt muss.“ Und weil wir ein<br />
sehr ubiquitäres Sortiment haben, wird<br />
deutlich, dass wir uns nicht darauf verlassen<br />
können, dass Sie zu uns kommen<br />
müssen.<br />
Diese Filigranität, die es bei uns im<br />
Geschäft gibt, die gilt es zu beachten. Sie<br />
ist charakteristisch für das, was ich als<br />
„neue Arbeit“ bezeichne. Wesentlich an<br />
der neuen Arbeit ist also, dass der Einzelne<br />
seine Arbeit als sinnstiftend erlebt.<br />
Die Frage, die ich bei dm, insbesondere<br />
in den Filialen, immer stelle ist: Haben<br />
die Kolleginnen und Kollegen bei uns<br />
einen Arbeitsplatz oder haben sie einen<br />
Einkommensplatz? Und ich kann Ihnen,<br />
in Ihren Unternehmen, auch nur empfehlen:<br />
Schauen Sie sich jeden Einzelnen<br />
an, versuchen Sie sich meditativ in ihn<br />
hinein zu versetzen und zu fragen, hat<br />
er einen Einkommensplatz oder hat er<br />
wirklich einen Arbeitsplatz. Die Führung,<br />
hat die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass<br />
möglichst viele Menschen im Unternehmen<br />
einen Arbeitsplatz haben. Einen<br />
Arbeitsplatz, der sinnstiftend ist, denn<br />
hier verbringt ein Mensch den Großteil<br />
der Zeit, die seine Biographie ausmacht.<br />
Jeder von uns ist ein Unternehmer.<br />
Unternehmer ist nicht nur eine einkommenssteuerliche<br />
Kategorie, sondern<br />
jeder ist Unternehmer. Warum? Das ist<br />
genau das, was die Menschen von den<br />
Tieren unterscheidet. Wenn wir hier alle<br />
als Giraffen geboren worden wären, dann<br />
wäre es ziemlich sicher, dass wir auch als<br />
Giraffen sterben. Aber weil wir jetzt diese<br />
Herausforderung - ich hätte fast „Glück“<br />
gesagt - haben, als Menschen geboren<br />
worden zu sein, muss sich erst noch<br />
herausstellen, als was für Menschen wir<br />
sterben werden. Denn: Mensch ist man<br />
nicht, sondern Mensch wird man.<br />
Führung ist nur dadurch legitim, dass es<br />
den anderen dazu verhilft, sich selbst zu<br />
führen. Führung muss also zur Selbstführung<br />
verhelfen. Das gelingt natürlich<br />
nicht immer. Aber, es kommt auf jeden<br />
Einzelnen an und jeder Einzelne, bei dem<br />
es gelingt, erfolgreich an dessen Entwicklungswilligkeit<br />
und -fähigkeit zu appellieren.<br />
Wenn wir das im Auge haben,<br />
dann entwickeln wir Interesse an unseren<br />
Mitmenschen und sehen ihn nicht nur als<br />
Kosten- und Leistungsfaktor, und sehen<br />
ihn auch nicht nur als Verbraucher und<br />
Kunden. Das prägt den Stil, das tangiert<br />
das Unternehmen und das wird vom<br />
Kunden wahrgenommen und bei der<br />
Verfolgung dieses Zieles dürfen wir uns<br />
nicht beirren lassen. Es gilt also, beharrlich<br />
im Bemühen und bescheiden in der<br />
Erfolgserwartung zu sein. Das heißt, dass<br />
man sich täglich überwinden muss.<br />
Die eigene Biographie zu gestalten, ist<br />
ein ganz dramatisches Unternehmen,<br />
das garantiert tödlich endet. Das, was<br />
dabei an Entwicklung stattfindet, ist irreversibel.<br />
Gerade zu den Jüngeren kann<br />
ich sagen, stellen Sie sich immer vor, wie<br />
das einmal sein wird, wenn Sie dann mit<br />
65, 70 auf Ihre Entwicklung zurückschauen.<br />
Meine Studenten habe ich einmal<br />
verblüfft, als ich in der Vorlesung sagte<br />
– es sind immer so 150, 180 Studenten<br />
im Hörsaal –: „80, 90 von Ihnen werden<br />
wahrscheinlich über 100 Jahre alt<br />
werden. Das ist doch eine ganz andere<br />
Lebensperspektive. Stellen Sie sich doch<br />
einmal vor, wenn Sie heute Anfang 20<br />
sind, dass die Wahrscheinlichkeit 100<br />
Jahre alt zu werden, dass dieses „Risiko“<br />
sehr groß ist. Leben Sie denn heute<br />
so, dass sich erwarten lässt, dass sie in<br />
einigermaßen physischer Verfassung<br />
100 Jahre alt werden? Gestalten Sie Ihr<br />
Leben so?<br />
Das ist eine Frage, die sich Jüngere im<br />
Jahre 1900 nicht stellen mussten. Damals<br />
war die Lebenserwartung irgendwo<br />
bei 40, 45 Jahren. Das muss man<br />
unseren jungen Menschen klar machen.<br />
Was jetzt verdorben wird, etwa bis zum<br />
30. Lebensjahr, was davor nicht veranlagt<br />
wird, das ist später nur noch sehr schwer<br />
einzuholen oder auszugleichen.<br />
Das gilt für ein Unternehmen in gleicher<br />
Weise. Das, was wir in unserem Unternehmen<br />
an Suboptimalem tun, das wird<br />
sich so leicht nicht mehr ausgleichen<br />
lassen. Jede Nuance ist wichtig.<br />
Also: beharrlich im Bemühen, bescheiden<br />
in der Erfolgserwartung und sich<br />
nicht bloß treiben lassen im Strom der<br />
Welt. Damit möchte ich meinen Vortrag<br />
beenden.<br />
51
Es gibt einen schönen Spruch von Goethe,<br />
der heißt:<br />
„Denn alle Kraft dringt vorwärts in die Weite,<br />
zu leben und zu wirken hier und dort.<br />
Dagegen engt und hemmt von jeder Seite<br />
der Strom der Welt und reißt uns mit sich fort.<br />
In diesem inneren Sturm und äußeren Streite<br />
vernimmt der Mensch ein schwer verstanden Wort.<br />
Von der Gewalt, die alle Wesen bindet,<br />
befreit der Mensch sich, der sich überwindet.“<br />
Vielen Dank.<br />
52
Einzelhandelsverband<br />
Finanzgruppe<br />
Verleihung des<br />
Zukunftspreises Handel<br />
<strong>Baden</strong>-Württemberg 2006<br />
Die<br />
Sparkassen-Finanzgruppe<br />
<strong>Baden</strong>-Württemberg<br />
präsentiert:<br />
Die<br />
Sparkassen-Finanzgruppe<br />
<strong>Baden</strong>-Württemberg<br />
präsentiert:<br />
Z u k u n f t s p r e i s H a n d e l B a d e n - W ü r t t e m b e r g 2 0 0 6<br />
„ V o n d e n B e s t e n l e r n e n “<br />
Z u k u n f t s p r e i s H a n d e l B a d e n - W ü r t t e m b e r g 2 0 0 6<br />
„ V o n d e n B e s t e n l e r n e n “<br />
Eine Initiative des<br />
Einzelhandelsverbandes <strong>Baden</strong>-Württemberg e.V. und des SparkassenVerbandes <strong>Baden</strong>-Württemberg<br />
unter Schirmherrschaft des Wirtschaftsministeriums des Landes<br />
Finanzgruppe<br />
Einzelhandelsverband<br />
Eine Initiative des<br />
Einzelhandelsverbandes <strong>Baden</strong>-Württemberg e.V. <strong>Baden</strong>-Württemberg e.V. und des SparkassenVerbandes <strong>Baden</strong>-Württemberg<br />
unter Schirmherrschaft des Wirtschaftsministeriums des Landes<br />
53
Handelsstandort<br />
<strong>Baden</strong>-Württemberg<br />
Verehrter Herr Präsident Vietz, Ihnen<br />
sowie Ihnen, liebe Frau Hagmann, Ihnen,<br />
verehrter Herr Hesselbarth, Ihnen<br />
meine Damen und Herren, die Sie sich<br />
dem baden-württembergischen Handel<br />
verschrieben haben, einen herzlichen<br />
Gruß. Und ich sage Ihnen, dass ich auch<br />
in diesem Jahr sehr gerne nach Karlsruhe<br />
zum Handelsforum gekommen bin.<br />
Denn klar ist, dieser Kongress hat in der<br />
Zwischenzeit nicht nur Tradition, sondern<br />
er hat vor allen Dingen auch einen guten<br />
Ruf. Einen guten Ruf als Plattform für<br />
Informationen über den Handel und für<br />
den Handel. Der Einzelhandelsverband<br />
<strong>Baden</strong>-Württemberg, der SparkassenVerband<br />
<strong>Baden</strong>-Württemberg, sie präsentieren<br />
auch in diesem Jahr renommierte<br />
Referenten zu aktuellen, hochinteressanten<br />
Themen. Dazu kann ich Sie nur<br />
beglückwünschen. Fast auch schon zur<br />
Tradition geworden ist in der Zwischenzeit<br />
die Verleihung des Zukunftspreises<br />
Handel im Rahmen dieses Forums.<br />
Dieser Wettbewerb, den der Einzelhandelsverband<br />
<strong>Baden</strong>-Württemberg und<br />
der SparkassenVerband <strong>Baden</strong>-Württemberg<br />
nun zum dritten Mal mit Erfolg<br />
durchführen, ist auch ein Instrument<br />
dafür, Vorbilder sichtbar zu machen. Ich<br />
glaube, wir brauchen solche Vorbilder<br />
mehr denn je, wir brauchen insbesondere<br />
Vorbilder, die den Menschen Mut<br />
machen. Wir brauchen Vorbilder wie die<br />
Gewinner dieses Zukunftspreises Handel<br />
<strong>Baden</strong>-Württemberg, die den Menschen<br />
Mut machen, unternehmerische Verantwortung<br />
zu übernehmen. Allein in<br />
den kommenden fünf Jahren werden es<br />
54<br />
60.000 Unternehmen sein, die in <strong>Baden</strong>-<br />
Württemberg vor der Frage stehen, wie<br />
geht es weiter? Der Seniorchef, die Seniorchefin<br />
gehen in den Ruhestand, aber<br />
noch ist nicht geklärt, wie das Unternehmen<br />
weiter geführt wird, viele Einzelhändler<br />
sind darunter. Noch vor fünf<br />
Jahren war es so, dass in 70 Prozent aller<br />
Fälle Sohnemann oder Tochter erklärt<br />
haben, ich mache weiter. Diese Zahl ist<br />
heute auf unter 50 Prozent zurückgegangen.<br />
D.h. es wird schwieriger, man wird<br />
mehr Externe gewinnen müssen.<br />
Wie auch immer, ich finde, die Politik, ja<br />
wir alle gemeinsam, haben die Aufgabe,<br />
dafür zu sorgen, dass unserer jungen<br />
Generation, unseren jungen Menschen,<br />
der Sprung in die Selbstständigkeit nicht<br />
erschwert, sondern erleichtert wird.<br />
Man muss nicht alles machen, was die<br />
Engländer tun. Aber wenn die Engländer<br />
hergegangen sind und gesagt haben,<br />
dass denjenigen Töchtern und Söhnen,<br />
die den Betrieb fortführen wollen im<br />
Erfolgsfall die Erbschaftssteuer erlassen<br />
werden soll, dann ist dies ein gutes<br />
Beispiel für das, was ich meine. Noch<br />
einmal, wir brauchen Vorbilder, dahingehend,<br />
dass wir Menschen Mut machen,<br />
insbesondere der jungen Generation<br />
Mut machen, diese unternehmerische<br />
Verantwortung zu übernehmen, und wir<br />
sollten alles tun, um den jungen Leuten<br />
diesen Schritt nicht zu erschweren,<br />
sondern zu erleichtern. Denn wir haben<br />
natürlich in dieser Frage, was Unternehmertum,<br />
Entrepreneurship, angeht, in<br />
Deutschland Nachholbedarf. Der Global-<br />
Entrepreneurship-Monitor, der jährlich<br />
Ernst Pfister, MdL<br />
Wirtschaftsminister<br />
des Landes<br />
<strong>Baden</strong>-Württemberg
das Gründungsgeschehen im weltweiten<br />
Vergleich analysiert, kommt zu dem<br />
Ergebnis, dass die Unternehmerkultur<br />
in Deutschland geringer ausgeprägt ist,<br />
als dies in jedem anderen europäischen<br />
Land der Fall ist.<br />
Nur 13 Prozent der Deutschen schätzen<br />
nach dieser Untersuchung die Chancen<br />
für eine Unternehmensgründung<br />
oder Unternehmensfortführung in ihrer<br />
Region günstig ein. Das ist so wenig, wie<br />
in keinem der anderen 34 beteiligten<br />
Länder.<br />
Und deshalb gestatten Sie mir, bevor<br />
ich nachher zusammen mit Herrn<br />
Hesselbarth die Sieger des diesjährigen<br />
Wettbewerbs auszeichnen werde, doch<br />
noch einige Bemerkungen zum Handelsstandort<br />
<strong>Baden</strong>-Württemberg zu<br />
machen. Nur einige wenige Zahlen: Rund<br />
53.000 Einzelhandelsunternehmen, die<br />
ihren Sitz in <strong>Baden</strong>-Württemberg haben,<br />
machen nach den aktuellsten Zahlen<br />
im Jahr 2004 rund 87 Milliarden Euro<br />
Umsatz. Nach einer Sondererhebung der<br />
baden-württembergischen Industrieund<br />
Handelskammer betrug die Zahl<br />
der Betriebsstätten des Einzelhandels,<br />
das sind vor allen Dingen die Ladengeschäfte,<br />
im letzten Jahr 136.000.<br />
Meine Damen und Herren, es wird Sie<br />
nicht überraschen, wenn ich Ihnen sage,<br />
dass sich der Handelsstandort <strong>Baden</strong>-<br />
Württemberg im Vergleich mit anderen<br />
Bundesländern auszeichnet durch eine<br />
überdurchschnittliche Kaufkraft. Bemerkenswerter<br />
finde ich die Tatsache, dass<br />
dieser Standortvorteil in der Zukunft<br />
trotz des demographischen Wandels<br />
noch größer werden wird. Jeder von<br />
Ihnen verbindet mit dem demographischen<br />
Wandel die Vorstellung einer<br />
schrumpfenden Bevölkerung mit entsprechenden<br />
negativen Konsequenzen<br />
für die Konsumnachfrage, auch für den<br />
Einzelhandel. Diese Vorstellung trifft für<br />
die allermeisten Bundesländer zu. Ausdrücklich<br />
nicht für <strong>Baden</strong>-Württemberg.<br />
<strong>Baden</strong>-Württemberg hat derzeit knapp<br />
10,8 Millionen Einwohner. Bis zum Jahr<br />
2025 wird die Bevölkerungszahl nach<br />
Berechnung des Statistischen Landesamtes<br />
noch um rund 4 Prozent auf etwa<br />
11,2 Millionen anwachsen. <strong>Baden</strong>-Württemberg<br />
profitiert dabei als attraktiver<br />
Wirtschafts- und Arbeitsstandort von<br />
der Zuwanderung aus dem In-, aber auch<br />
aus dem Ausland. Im Übrigen ist <strong>Baden</strong>-<br />
Württemberg das einzige Bundesland<br />
in Deutschland, das im Augenblick und<br />
auch in den nächsten Jahren noch einen<br />
Geburtenüberschuss vorweisen kann.<br />
Erst nach dem Jahre 2025 wird es in<br />
<strong>Baden</strong>-Württemberg zu einem Bevölkerungsrückgang<br />
kommen. Und erst im<br />
Jahr 2050 wird etwa wieder das heutige<br />
Niveau erreicht werden. Was bedeutet<br />
dies für den Einzelhandel? Erstens, die<br />
Zahl der Verbraucher wird in den nächsten<br />
zwei Jahrzehnten nicht abnehmen,<br />
sondern zunehmen. Und zweitens:<br />
<strong>Baden</strong>-Württemberg bleibt allein schon<br />
deshalb auch in Zukunft ein besonders<br />
attraktiver Handelsstandort.<br />
Meine Damen und Herren, während der<br />
Bevölkerungsrückgang den Handelsstandort<br />
<strong>Baden</strong>-Württemberg also erst<br />
auf sehr lange Sicht treffen wird, muss<br />
sich der Einzelhandel bereits heute auf<br />
einen nachhaltigen Wandel in der Altersstruktur<br />
unserer Bevölkerung einstellen.<br />
Der Anteil der Menschen im Alter von 60<br />
und mehr Jahren in der baden-württembergischen<br />
Bevölkerung lag im letzten<br />
Jahr bei 23 Prozent. Er wird bis zum Jahr<br />
2025 auf über 30 Prozent ansteigen und<br />
im Jahr 2050 auf etwa 36 Prozent weiter<br />
anwachsen. Diese Entwicklung ist für<br />
den Einzelhandel deshalb besonders<br />
interessant, weil diese Zielgruppe eine<br />
überdurchschnittlich große Kaufkraft<br />
besitzt. Das sind also diejenigen, die<br />
heute „Generation 50 plus“, „Best-Ager“<br />
oder „Perfect-Ager“ oder gar „Generation<br />
Gold“ genannt werden. Jedenfalls, die<br />
heutige Generation der über 50-Jährigen,<br />
die bereits mehr als 1/3 der deutschen<br />
Bevölkerung ausmacht, verfügt<br />
über 45 Prozent des frei verfügbaren<br />
Einkommens.<br />
Ich sehe in dieser Entwicklung Chancen<br />
für den mittelständischen Fachhandel<br />
und damit auch für den Handelsstandort<br />
Innenstadt. Ich schließe dies aus den<br />
Ergebnissen einer aktuellen Umfrage<br />
des Instituts für Handelsforschung an<br />
der Universität Köln, die das Institut<br />
vor kurzem bei Verbrauchern im Alter<br />
zwischen 50 und 89 Jahren durchgeführt<br />
hat.<br />
Danach zeichnet sich das Einkaufsverhalten<br />
von Senioren wie folgt aus:<br />
55
1. Durch Konsumfreude.<br />
Darauf habe ich hingewiesen.<br />
2. Durch Treue zur Einkaufsstätte.<br />
3. Durch Markenbewusstsein und<br />
4. durch den Wunsch nach besonderer<br />
Beratung und Information.<br />
Die Senioren besuchen mehr Geschäfte<br />
als jüngere, da sie kleinere und spezialisierte<br />
Geschäfte bevorzugen. Und mehr<br />
als jeder dritte Befragte lässt sich beim<br />
Einkaufen gerne beraten. Wenn ich dies<br />
zusammenfasse, sehe ich gute Chancen<br />
auch für mittelständische Unternehmen.<br />
Denn das Beispiel der Teilnehmer des<br />
Wettbewerbs Zukunftspreis Handel zeigt<br />
mir, dass eine ausgeprägte Kundenorientierung<br />
ein Markenzeichen vieler<br />
mittelständischer Einzelhändler ist.<br />
Erfreulich ist für mich auch ein Weiteres:<br />
Der Einzelhandel leistet einen wesentlichen<br />
Beitrag dazu, den jungen Menschen<br />
qualifizierte Ausbildungsplätze zur<br />
Verfügung zu stellen. Insgesamt bildet<br />
der baden-württembergische Einzelhandel<br />
mehr als 12.000 junge Menschen in<br />
den verschiedenen Einzelhandelsberufen<br />
aus. Dafür will ich Ihnen ausdrücklich<br />
meinen ganz besonderen Dank sagen.<br />
Aber, wir haben auch im Einzelhandel die<br />
etwas verrückte Situation, dass alle Welt<br />
nach zusätzlichen Ausbildungsplätzen<br />
schreit, dass aber regelmäßig zahlreiche<br />
Ausbildungsplätze gerade auch im<br />
Einzelhandel unbesetzt bleiben, obwohl<br />
jeder weiß, dass es dort attraktive Karrierechancen<br />
gibt. Das Wirtschaftsministerium<br />
fördert deshalb eine Ausbildungsoffensive<br />
des Einzelhandelsverbands,<br />
auch finanziell. Diese Ausbildungsoffensive<br />
soll die Attraktivität der Einzelhandelsberufe<br />
noch besser vermitteln. Sie<br />
umfasst ein Bündel von Maßnahmen,<br />
neben bewährten Maßnahmen auch eine<br />
innovative Internetlernplattform und die<br />
Schaffung eines Ausbildungsnetzwerkes<br />
aus Berufsberatern der Arbeitsagenturen,<br />
der Schulen und Unternehmen.<br />
Im Herbst sollen die neuen Materialien<br />
mit einer Vielzahl von Aktionen erstmals<br />
eingesetzt und erprobt werden. Ich wünsche<br />
dieser Kampagne, ich wünsche dem<br />
Einzelhandel, dass das Ziel erreicht wird,<br />
noch mehr junge Menschen für den Einzelhandel<br />
zu begeistern und damit noch<br />
mehr Ausbildungsplätze zur Verfügung<br />
stellen zu können.<br />
Meine Damen und Herren, als ich vor<br />
einem Jahr an dieser Stelle gesprochen<br />
habe, waren Stimmung und Situation im<br />
Handel eher düster. Heute - das Glas ist<br />
halb voll, nicht halb leer - kann ich mich<br />
gemeinsam mit Ihnen darüber freuen,<br />
dass sich die Geschäftserwartungen<br />
auch im Handel verbessert haben. Nach<br />
den langen Jahren der Flaute sind sie<br />
so gut wie schon seit über 5 Jahren<br />
nicht mehr. Und dies zu recht, wie auch<br />
Marktforschungsunternehmen unisono<br />
feststellen. Der Optimismus der Verbraucher<br />
ist so ausgeprägt wie zuletzt<br />
2001 vor der Einführung des Euro. Die<br />
wichtigsten Kaufanreize sind allerdings<br />
nicht Kauflustgefühle, sondern sehr<br />
rationale Überlegungen. Die von der<br />
Bundesregierung geplante Erhöhung der<br />
Mehrwertsteuer ist auch nach Einschätzung<br />
der Marktforscher ein wichtiges,<br />
wenn nicht sogar das wichtigste Motiv<br />
dafür, dass die Verbraucher teurere<br />
Anschaffungen, wie die von Möbeln,<br />
Autos, nicht länger aufschieben wollen.<br />
Wir sollten froh sein, dass der konjunkturelle<br />
Aufschwung erstmals nicht allein<br />
auf den Export zurückgeht, sondern auch<br />
ein Stück weit die Binnennachfrage eine<br />
Rolle spielt. Dies bedeutet aber auch,<br />
dass der sich endlich abzeichnende<br />
Aufschwung im Einzelhandel angesichts<br />
der angekündigten Mehrbelastungen<br />
durch die Mehrwertsteuer droht, im<br />
Sande zu verlaufen. Ich fürchte, dass wir<br />
im Jahr 2006 eine Welle haben, aber im<br />
Jahr 2007 eine Delle. Und deshalb bleibt<br />
es dabei: Die Landesregierung wird der<br />
geplanten Mehrwertsteuererhöhung<br />
nicht zustimmen.<br />
Ich setze mit Ihnen auch auf die Fußballweltmeisterschaft<br />
in diesem Jahr. Ich<br />
glaube, dass gerade für unsere ausländischen<br />
Fußballfans, und wir erwarten<br />
allein in <strong>Baden</strong>-Württemberg mehr als<br />
500.000 Gäste, dass gerade für die ausländischen<br />
Fußballfans Deutschland ein<br />
attraktives Einkaufsland ist. Wie der HDE,<br />
der Spitzenverband des Einzelhandels,<br />
feststellt, sind bei uns die Waren zum Teil<br />
bis zu 40 Prozent günstiger als in Frankreich,<br />
Spanien oder in anderen Ländern.<br />
Ein wichtiges Element der Gastfreundschaft<br />
während der Fußballweltmeisterschaft<br />
bilden für mich besucherorientierte<br />
Ladenöffnungszeiten. Sie stellen<br />
auch eine Chance für den Einzelhandel<br />
56
dar. In <strong>Baden</strong>-Württemberg sind für die<br />
Freigabe längerer Ladenöffnungszeiten<br />
während der WM, Frau Oberbürgermeisterin<br />
hat darauf hingewiesen, die Kommunen<br />
zuständig. Die Landesregierung<br />
hat den Städten und Gemeinden deshalb<br />
empfohlen, auf der Grundlage des § 23<br />
Ladenschlussgesetz die Ladenöffnungszeiten<br />
an Werktagen freizugeben und<br />
an den vier WM-Sonntagen die Öffnung<br />
der Läden von 14:00 Uhr bis 20:00 Uhr<br />
zu ermöglichen, wenn dafür vor Ort ein<br />
konkreter Bedarf besteht.<br />
Meine Damen und Herren, wenn Sie sich<br />
die Standorte der bisherigen Gewinner<br />
der Zukunftspreise Handel ansehen,<br />
dann fällt eines sofort auf: Ihre Geschäfte<br />
liegen, ebenso wie die der anderen<br />
Teilnehmer, alle in der Innenstadt. Das ist<br />
auch dieses Mal kein Deut anders. Ihre<br />
Zukunft hängt sehr eng mit der Situation<br />
ihrer Innenstadt zusammen. Ein wichtiges<br />
Instrument, um die Attraktivität<br />
der Innenstädte zu verbessern, bildet die<br />
Stadterneuerung. Das Wirtschaftsministerium<br />
stellt jährlich über 150 Mio. Euro<br />
für die Städtebauförderung bereit. Ein<br />
großer Teil davon fließt in die Innenstädte<br />
der Klein- und Mittelzentren. Das<br />
Wirtschaftsministerium und die Wüstenrot-Stiftung<br />
wollen jetzt gemeinsam eine<br />
Innenstadtstudie erarbeiten. Wir wollen<br />
unter anderem wissen:<br />
1. Welche tatsächlichen Auswirkungen<br />
hat die intensive Städtebauförderung auf<br />
die Innenstadt der kleinen und mittleren<br />
Städte?<br />
2. Wie können wir erreichen, dass die Effizienz<br />
dieser Förderung noch gesteigert<br />
werden kann?<br />
3. Wie können wir die Stadterneuerung<br />
so weiter entwickeln, dass sie<br />
den aktuellen Herausforderungen, die<br />
unsere Innenstädte bewältigen müssen,<br />
bestmöglichst gerecht wird. Dabei geht<br />
es uns nicht zuletzt auch um die Innenstadt<br />
als einem wettbewerbsfähigen<br />
Einzelhandelsstandort. Deshalb soll in<br />
der empirischen Studie auch herausgearbeitet<br />
werden, wie die gegenwärtige<br />
Förderung mit nicht investiven Initiativen,<br />
also dem Stadtmarketing oder<br />
der kommunalen Wirtschaftsförderung,<br />
wirkungsvoll verknüpft werden kann.<br />
Also deutliche Verkoppelung auch mit<br />
anderen Bereichen, wie der kommunalen<br />
Wirtschaftsförderung oder dem<br />
Stadtmarketing, weil wir uns aus dieser<br />
Verknüpfung einiges versprechen. Ein<br />
erfahrenes Planungsbüro aus Freiburg,<br />
das von der Wüstenrot-Stiftung mit der<br />
Studie beauftragt wurde, wird dazu eine<br />
Auswahl von etwa 12 kleineren und<br />
mittleren Städten genauer untersuchen.<br />
Wesentlicher Bestandteil des Projekts<br />
sind Städtebefragungen und Expertengespräche.<br />
Eine Expertenrunde, in der<br />
auch der Einzelhandelsverband und die<br />
Industrie- und Handelskammern vertreten<br />
sind, wird die Initiative begleiten. Die<br />
interessantesten Zwischenergebnisse<br />
der Studie sollen im Rahmen des Stadtmarketingtages<br />
2006 präsentiert und<br />
vorgestellt werden. Ich würde mich sehr<br />
freuen, wenn ich dazu Sie am 6. November<br />
im Haus der Wirtschaft in Stuttgart<br />
begrüßen dürfte.<br />
Die Gewinner des Zukunftspreises Handel<br />
2006 kommen aus den Branchen „B“<br />
wie Buchhandel, „F“ wie Foto und „M“ wie<br />
Mode und Sport. Ich sage dies deshalb in<br />
alphabetischer Reihenfolge, weil ich den<br />
drei Besten des diesjährigen Wettbewerbs<br />
nicht die Spannung nehmen will ,<br />
ob sie erster, zweiter oder dritter Sieger<br />
geworden sind. Die folgende Vorstellung<br />
der Preisträger soll letzten Endes auch<br />
eines zeigen: Kleine und mittlere Handelsunternehmen<br />
können sich auch<br />
in Branchen mit Erfolg behaupten, die<br />
durch einen starken Strukturwandel gekennzeichnet<br />
sind. Dies ist ein gemeinsames<br />
Merkmal der sonst doch denkbar<br />
sehr unterschiedlichen Branchen<br />
Buchhandel, Foto, Sport. Das Beispiel der<br />
Sieger zeigt, ein klares Unternehmensleitbild,<br />
eine konsequente Kundenorientierung,<br />
eine offene Mitarbeiterorientierung,<br />
dies alles sind Voraussetzungen<br />
dafür, um sich in einem hart umkämpften<br />
Markt behaupten zu können.<br />
Die Sieger und ihre Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter haben heute allen Grund<br />
zur Freude. Sie können stolz sein auf<br />
ihre Leistung. Ich möchte aber auch den<br />
anderen Bewerbern Anerkennung zollen.<br />
Auch sie haben hervorragende Beweise<br />
ihrer Leistungsfähigkeit, ihres Könnens,<br />
ihrer Mitarbeiterorientierung vorgelegt.<br />
Dank schließlich nicht zuletzt auch<br />
Ihnen, den Damen und Herren der Jury<br />
für Ihr zeitaufwändiges Engagement. Sie<br />
haben es sich auch in diesem Jahr nicht<br />
57
leicht gemacht zu entscheiden, wer unter<br />
den herausragenden Bewerbern letztlich<br />
erster, zweiter und dritter Preisträger<br />
werden soll.<br />
Wie ich mir habe sagen lassen, war diese<br />
Entscheidung in diesem Jahr auf Grund<br />
der sehr unterschiedlichen Unternehmensgröße<br />
der Besten besonders<br />
schwierig. Also, herzlichen Dank auch für<br />
Ihre Mühe.<br />
Meine Damen und Herren, ich bin jetzt<br />
selbst sehr gespannt auf die Präsentation<br />
der siegreichen Unternehmen.<br />
Nutzen wir dieses Handelsforum, nutzen<br />
wir diesen Tag für eine gute Zukunft des<br />
baden-württembergischen Einzelhandels.<br />
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.<br />
58
1. Preis<br />
Reischmann<br />
Mode + Sport<br />
„Miteinander Spaß an Mode und Sport“<br />
– formuliert das Unternehmen sein<br />
Leitbild. „Erfolg“, so die Überzeugung im<br />
Hause Reischmann, „hat man nur, wenn<br />
Spaß dabei ist. Spaß ist nicht nur das<br />
Gegenteil von Ernst. Spaß ist auch Fleiß,<br />
Ausdauer und Zielorientierung.“ Dieses<br />
Leitbild wurde bereits im Jahr 1993<br />
gemeinsam von Unternehmensleitung<br />
und Mitarbeitern als so genannte Vision<br />
entwickelt und ist heute täglich präsent<br />
und für Mitarbeiter wie Kunden erlebbar.<br />
Jeder neue Mitarbeiter erhält deshalb<br />
das Unternehmensleitbild bereits an seinem<br />
ersten Arbeitstag. Die Vision bildet<br />
die Basis für das Handeln, gilt über alle<br />
Unternehmensentscheidungen hinweg<br />
und ist zugleich Grundlage bei den regelmäßigen<br />
Mitarbeitergesprächen.<br />
Inhaber / Geschäftsführer:<br />
Roland, Wolfgang<br />
und Thomas Reischmann<br />
Gründungsjahr: 1860<br />
Zahl der Beschäftigten: 600<br />
davon Auszubildende: ca. 60 (in allen<br />
Häusern in Ravensburg, Kempten und<br />
Memmingen)<br />
Sonstiges:<br />
Gewinner des Wirtschaftspreises der<br />
Stadt Ravensburg 2005,<br />
Gewinner des Standort Oskars des<br />
Wirtschaftsforum Pro Ravensburg 2004<br />
Internet: www.reischmann.biz<br />
Reischmann<br />
Mode + Sport<br />
Bachstraße 24 – 30<br />
88213 Ravensburg<br />
Dies überzeugte auch die Jury des<br />
„Zukunftspreises Handel <strong>Baden</strong>-Württemberg“:<br />
„Die dargestellten Leistungen<br />
der Firma Reischmann erfüllen in<br />
allen drei Kategorien (klares Unternehmensprofil,<br />
konsequente Kundenorientierung<br />
und offene Mitarbeiterorientierung)<br />
die Anforderungen, die sich an<br />
einen Preisträger des „Zukunftspreises<br />
Handel“ stellen“, begründet sie die<br />
Auszeichnung. Die Vielzahl der Serviceleistungen<br />
und Angebote an Kunden<br />
und Mitarbeiter ist herausragend, die<br />
betriebswirtschaftlichen Daten unterstreichen<br />
den Erfolg der Firma.<br />
59
2. Preis<br />
Foto Wöhrstein<br />
Seit Einführung der digitalen Fotografie<br />
ist der Markt für klassische Fotogeschäfte<br />
schwieriger geworden. Foto-Wöhrstein<br />
ist dieser Entwicklung frühzeitig in zwei<br />
wesentlichen Punkten entgegengetreten:<br />
durch den besten Service „rund um das<br />
Bild“ und das oberste Ziel, den Mitbewerbern<br />
immer einen Schritt voraus zu sein.<br />
In Zusammenarbeit mit einem BWL-Studenten,<br />
dem Marktforschungsunternehmen<br />
GfK, Nürnberg, und dem Südkurier<br />
wurde eine detaillierte Marktübersicht<br />
in der Region erarbeitet und daraus<br />
die Positionierung der eigenen Firma<br />
abgeleitet bzw. erweitert. Es existieren<br />
klare und schriftlich formulierte Unternehmensgrundsätze<br />
(nach dem Schmidt-<br />
Colleg, Bayreuth).<br />
Die Jury des „Zukunftspreies Handel“<br />
findet: Die Firma Foto-Wöhrstein ist ein<br />
sehr positives Beispiel dafür, dass auch<br />
in schwierigen Zeiten und auf schwierigen<br />
Märkten der Fachhandel eine<br />
Chance hat. Das Unternehmen sei „Mutmacher“<br />
im Sinne des Motto des Preises:<br />
Von den Besten lernen.<br />
Inhaber:<br />
Reiner Wöhrstein<br />
Gründungsjahr: 1949<br />
Zahl der Beschäftigten: 8<br />
davon Auszubildende: 2<br />
Internet: www.foto-woehrstein.de<br />
Foto-Wöhrstein<br />
Ekkehardstraße 21<br />
78224 Singen<br />
Für Inhaber Reiner Wöhrstein steht der<br />
kompetente, zielorientierte und zufriedene<br />
Mitarbeiter im Mittelpunkt der<br />
Firmenphilosophie: Das gesamte Team<br />
– viele davon sind langjährige Mitarbeiter<br />
in einer von hoher Fluktuation<br />
gekennzeichneten Branche – profitiert<br />
von der Transparenz im Unternehmen<br />
und der aktiven Einbeziehung aller in<br />
Sortimentsgestaltung, Ladengestaltung,<br />
Außendarstellung und wettbewerbsgerechter<br />
Kalkulation. Reiner Wöhrstein,<br />
in der Branche als Verkaufsprofi und<br />
Motivator bekannt, schult seine Mitarbeiter<br />
im eigens entwickelten Easy-Verkaufssystem.<br />
60
3. Preis<br />
RavensBuch<br />
GmbH<br />
„Kompetenz und Service“, so die Eigentümer<br />
von RavensBuch, „sind die<br />
Eckpfeiler unserer Firmenphilosophie.“<br />
Darüber hinaus ist RavensBuch mit<br />
seiner Größe und außergewöhnlichen<br />
Sortimentstiefe das Buchhaus in Ravensburg<br />
schlechthin.<br />
Es wird nur Fachpersonal beschäftigt,<br />
das ständig geschult und weitergebildet<br />
wird. Jeder Mitarbeiter verfolgt die aktuellen<br />
Bücher-Trends, ist in ständigem<br />
Kontakt mit – auch durchaus kleineren<br />
– Verlagen und hält direkten Kontakt mit<br />
den verschiedenen Zielgruppen am Ort<br />
und in der Region. RavensBuch arbeitet<br />
damit gegen den Trend zur seelenlosen<br />
Einheitsbuchhandlung und kann auf<br />
Marktänderungen schnellstmöglich<br />
reagieren. Die Mitarbeiterzahl ist zudem<br />
großzügig bemessen, um auch in Zeiten<br />
mit Engpass (Urlaub, Krankheit) bzw.<br />
erhöhtem Kundenandrang dem eigenen<br />
Service-Anspruch ohne Stress gerecht<br />
werden zu können. „Wir wollen uns in<br />
unserer Buchhandlung wohlfühlen. Und<br />
das geht nur, wenn sich die Mitarbeiter<br />
wohlfühlen“, ist Inhaberin Margarete<br />
Riethmüller überzeugt. Deshalb werden<br />
die Mitarbeiter in alle wichtigen Entscheidungsprozesse<br />
mit einbezogen.<br />
Hervorzuheben ist das soziale Engagement<br />
von RavensBuch: Konzerte und Lesungen<br />
stehen immer wieder zugunsten<br />
der SZ-Nothilfe, zugunsten von amnesty<br />
international oder von UNICEF auf dem<br />
Programm. Auf Initiative der Buchhandlung<br />
findet seit einiger Zeit auch in<br />
Ravensburg eine Kinder-Uni statt.<br />
Inhaber:<br />
Margarete und Michael Riethmüller<br />
Gründungsjahr: 1992<br />
Zahl der Beschäftigten: 24<br />
davon Auszubildende: 4<br />
Sonstiges:<br />
Buchhandlung des Jahres 2003,<br />
Standort-Oskar Ravensburg 2005<br />
beste Kinderbuchabteilung in <strong>Baden</strong><br />
Württemberg 2006<br />
Internet: www.ravensbuch.de<br />
RavensBuch GmbH<br />
Marienplatz 34<br />
88212 Ravensburg<br />
61
präsentiert:<br />
Z u k u n f t s p r e i s H a n d e l B a d e n - W ü r t t e m b e r g 2 0 0 6<br />
„ V o n d e n B e s t e n l e r n e n “<br />
Eine Initiative des<br />
Einze l h a n d e l s ve r bandes <strong>Baden</strong>-Württemberg e.V. und des SparkassenVerbandes <strong>Baden</strong>-Württemberg<br />
u n te r Schirmherrschaft des Wirtschaftsministeriums des Landes<br />
Einzelhandelsverband<br />
<strong>Baden</strong>-Württemberg e.V.<br />
Finanzgruppe