Wirtschaftswoche Ausgabe vom 08.09.2014 (Vorschau)
37 8.9.2014|Deutschland €5,00 3 7 4 1 98065 805008 Der 200-Milliarden-Euro-Bluff Dax-Konzerne im Stresstest Alibaba und die Räuber Chinas Megakonzerne greifen an iDoc Apple und Google krempeln das Geschäft mit unserer Gesundheit um. Die Folgen für Patienten, Ärzte und Versicherer Schweiz CHF 8,20 | Österreich €5,30 | Benelux€5,30 | Griechenland€6,00 | GroßbritannienGBP 5,40 | Italien€6,00 | Polen PLN27,50 | Portugal€6,10 | Slowakei €6,10 | Spanien€6,00 | Tschechische Rep. CZK200,- | Ungarn FT 2140,- © Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
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37<br />
8.9.2014|Deutschland €5,00<br />
3 7<br />
4 1 98065 805008<br />
Der 200-Milliarden-Euro-Bluff<br />
Dax-Konzerne im Stresstest<br />
Alibaba und die Räuber<br />
Chinas Megakonzerne greifen an<br />
iDoc<br />
Apple und Google krempeln<br />
das Geschäft mit unserer<br />
Gesundheit um.<br />
Die Folgen für Patienten,<br />
Ärzte und Versicherer<br />
Schweiz CHF 8,20 | Österreich €5,30 | Benelux€5,30 | Griechenland€6,00 | GroßbritannienGBP 5,40 | Italien€6,00 | Polen PLN27,50 | Portugal€6,10 | Slowakei €6,10 | Spanien€6,00 | Tschechische Rep. CZK200,- | Ungarn FT 2140,-<br />
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Einblick<br />
Im Gesundheitswesen bahnt sich eine digitale<br />
Revolution an. Deutschland hinkt der Entwicklung<br />
mal wieder hinterher. Von Franz W. Rother<br />
Vom Heilen und Teilen<br />
FOTO: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
Bislang ist es nur ein Spiel. Der<br />
Fitness-Tracker am Handgelenk<br />
misst, wie viele Schritte ich im<br />
Laufe des Tages zurücklege und<br />
wie oft mein Herz dabei schlägt, wann ich<br />
wach bin und wann ich ruhe. Das angeschlossene<br />
Smartphone kann per Barcode-Scanner<br />
errechnen, wie viele Kalorien<br />
die Lebensmittel haben, die ich zu<br />
mir nehme – und wie viele davon im Laufe<br />
des Tages verbrannt werden.<br />
Die Selbstvermessung des Menschen ist<br />
in vollem Gange. Das neue iPhone von<br />
Apple eröffnet mit seiner Healthbook-App<br />
noch einmal andere Möglichkeiten: Das<br />
Programm verknüpft die Informationen<br />
von Schrittzähler, Pulsmesser sowie weiteren<br />
Sensoren mit Ergebnissen von Labortests<br />
und anderen medizinischen Daten zu<br />
einer digitalen Patientenakte, die im<br />
Handy oder in der Cloud eines Dienstleisters<br />
gespeichert wird. Damit könnte, wie<br />
wir in der Titelgeschichte schildern (siehe<br />
Seite 86) eine neue Ära in der Gesundheitsvorsorge<br />
anbrechen. Wohin die Entwicklung<br />
gehen könnte, hat US-Autor Dave Eggers<br />
in seinem Roman „The Circle“<br />
aufgezeigt: Nano-Sensoren, die mit einem<br />
Glas Wasser geschluckt werden, sammeln<br />
im Körper Daten über Cholesterinwerte,<br />
Verdauungseffizienz, die Anzahl der roten<br />
Blutkörperchen und die Konzentration von<br />
Schadstoffen. Ein Computerprogramm –<br />
oder ein Arzt, der auf die Daten zugreift –<br />
analysiert die Werte, errechnet daraus Risiken<br />
für bestimmte Krankheiten und leitet<br />
prophylaktische Maßnahmen ein.<br />
„Um zu heilen, müssen wir wissen. Um<br />
zu wissen, müssen wir teilen“, lautet der<br />
Leitspruch der Ärzte in jenem Thriller, das<br />
den Alltag in einem Circle genannten Internet-Konzern<br />
im Silicon Valley schildert.<br />
Ein Schelm, wer dabei an Apple, Google<br />
und Facebook denkt. Was wie eine Utopie<br />
erscheint, könnte schon bald Realität sein.<br />
In den USA ist Telemedizin bereits Alltag,<br />
wird der Fernzugriff auf die Healthbook-<br />
Daten von Ärzten erprobt. Auch hierzulande<br />
schwärmen Gesundheitspolitiker schon<br />
von der Möglichkeit, mithilfe von „Digital<br />
Health“ und Big-Data-Technologien das<br />
Gesundheitssystem zu reformieren: Die<br />
Kosten könnten deutlich gesenkt und<br />
gleichzeitig könnte die Effektivität ärztlicher<br />
Behandlungen erheblich erhöht werden.<br />
Tatsächlich ist die Vorstellung verlockend,<br />
dass sich unsere Gesundheit künftig<br />
mithilfe von Smartphone und Sensorik<br />
so einfach checken lässt wie die Uhrzeit.<br />
Wegen der fortschreitenden Überalterung<br />
der Gesellschaft und der steigenden Lebenserwartung<br />
der Menschen werden uns<br />
schon bald die Beiträge für die Krankenkasse<br />
um die Ohren fliegen. Aber Gesundheitsdaten<br />
sind nun einmal sensibler als<br />
Fitnessdaten oder die Bilder aus dem Familienleben,<br />
die heute bedenkenlos in der<br />
Cloud im Internet gespeichert werden.<br />
Auch müsste zuerst geklärt werden, wem<br />
die Daten gehören und wie sich ein kommerzieller<br />
Handel damit verhindern lässt.<br />
SCHRECKGESPENST FÜR ÄRZTE<br />
Es ist also noch einiges zu klären, bis der<br />
iDoc massentauglich wird. Vor allem aber<br />
sollte die Transparenz nicht nur für die Patienten,<br />
sondern muss für alle anderen Akteure<br />
im Gesundheitswesen gelten – für<br />
Ärzte und Krankenhäuser ebenso wie für<br />
Versicherer und Pharmakonzerne. Seit<br />
bald fünf Jahren gibt es in Deutschland die<br />
elektronische Gesundheitskarte, auf der<br />
bis heute aber nur Versichertendaten und<br />
Tarifinformationen gespeichert sind.<br />
Leicht könnten hier auch Krankengeschichten<br />
und Befunde, Röntgenbilder<br />
und Informationen über verabreichte Medikamente<br />
abgelegt werden. Doppelbehandlungen<br />
ließen sich so verhindern, Behandlungsfehler<br />
ebenso leicht nachweisen<br />
wie die ausbleibende Wirkung teurer Medikamente.<br />
Doch obwohl Sicherheitsexperten<br />
jeden Aspekt der Karte penibel geprüft<br />
haben, sperren sich viele Ärzte und<br />
Kliniken bis heute mit zum Teil aberwitzigen<br />
Argumenten gegen die Digitalisierung.<br />
Klar: Ihre Arbeit würde transparent. Also<br />
wird unter dem Vorwand des Datenschutzes<br />
gemauert und seit Jahren Front gegen<br />
die Karte gemacht.<br />
Vielleicht ist es wirklich an der Zeit, dass<br />
sich Apple der Thematik annimmt. n<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 3<br />
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Überblick<br />
Menschen der Wirtschaft<br />
6 Seitenblick Wertvolle Abfälle am Cern<br />
8 Deutsche Autobauer: Offensive in Thailand<br />
9 EU: Mehr Industrie in Europa | Fleischbranche:<br />
Doch kein Friede bei Tönnies |<br />
Audi: Luxus-Carsharing geplant<br />
10 Interview: Amazon-Cloud-Deutschland-<br />
Chef Martin Geier über Datenschutz |<br />
Germania: Angriff von der Schweiz aus<br />
12 GFT: Verkauf geprüft | VW: Vorkaufsrecht<br />
beim XL1 | Outdoor: Aufwind für Mammut<br />
14 Chefsessel | Start-up einfachlotto<br />
16 Chefbüro Dieter Kempf, Vorstandsvorsitzender<br />
des IT-Dienstleisters Datev<br />
Politik&Weltwirtschaft<br />
20 Bundeshaushalt Mit welchen Tricks<br />
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble<br />
seinen Haushalt schönrechnet<br />
25 Brandenburg Wo der Mensch geht, wo die<br />
Dörfer langsam sterben<br />
28 Parteien Warum es die Liberalen in<br />
Deutschland so schwer haben<br />
34 Ukraine In Slowjansk stehen die Menschen<br />
so loyal zu Kiew wie nie<br />
37 Global Briefing | Berlin intern<br />
Der Volkswirt<br />
40 Kommentar | Nachgefragt<br />
41 Konjunktur Deutschland<br />
42 Rohstoffradar<br />
44 Warum eigentlich... denkt die EZB über<br />
neue Wertpapiergeschäfte nach?<br />
45 Denkfabrik Ökonom Jörg Krämer über den<br />
Kurswechsel der EZB bei der Kontrolle von<br />
Vermögenspreisen<br />
Unternehmen&Märkte<br />
48 China Alibabas Börsengang ist der Startschuss<br />
für weitere Firmen aus dem Reich der<br />
Mitte zum Angriff auf Westkonzerne | Der<br />
Aufstieg des PC-Weltmarktführers Lenovo |<br />
Interview: Lenovo-Chef Yang Yuanqing will<br />
auch Erster bei Handys werden<br />
56 SGL Zweifel am Wunderstoff Carbon<br />
58 Fernbusse Deutsche Anbieter lehren jetzt<br />
auch ausländische Bahnen das Fürchten<br />
60 Elektroautos Mit dem Stromer unterwegs<br />
im E-Mobil-Paradies Norwegen<br />
64 Taxis Antworten auf die wichtigsten Fragen<br />
zum Verbot des Fahrdienstes Uber<br />
66 Interview: Arundhati Bhattacharya<br />
Die Chefin der größten indischen Bank<br />
sucht deutsche Mittelständler für ihr Land<br />
68 Drillisch So wurde der Discounter zu<br />
Deutschlands viertem Mobilfunkbetreiber<br />
72 Spezial Mittelstand Was gegen den Fachkräftemangel<br />
in China hilft | Investieren in<br />
Südostasien | Ein deutscher Maschinenbauer<br />
profitiert von Chinas Pharmaboom<br />
84 Serie: Fit For Future (II) Private-Equity-<br />
Häuser helfen Mittelständlern bei Zukäufen<br />
Titel Visite <strong>vom</strong> iDoc<br />
Tech-Giganten wie Apple und Google<br />
erobern die Medizin. Das traditionelle<br />
Geschäftsmodell der Ärzte, Versicherer<br />
und Pharmahersteller ist in Gefahr –<br />
auch in Deutschland. Seite 86<br />
Glaubt mir<br />
Der Meinungsforscher<br />
Lew Gudkow erklärt,<br />
warum die Russsen<br />
hinter Wladimir Putin<br />
stehen. Seite 124<br />
Angriffslustige Drachen<br />
E-Commerce-Gigant Alibaba ist nicht der einzige chinesische<br />
Konzern, der an die Weltspitze will. Samsung, Amazon und Microsoft,<br />
aber auch deutsche Autobauer müssen sich hüten. Seite 48<br />
TITELILLUSTRATION: DMITRI BROIDO; TITELFOTO: FOTOLIA<br />
4 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Nr. 37, 8.9.2014<br />
Technik&Wissen<br />
86 Medizin Apple und Google wollen uns<br />
helfen, gesünder zu leben und Krankheiten<br />
zu besiegen. Stehen wir am Beginn eines<br />
neuen Zeitalters in der Medizin?<br />
97 Valley Talk<br />
Management&Erfolg<br />
98 Digitale Markenführung Wer seine Kunden<br />
für sich einspannt, ist erfolgreich<br />
FOTOS: TRUNK ARCHIVE/PLATON; ILLUSTRATION: STEFFEN MACKERT, OLIVIER BLAISE, PR<br />
Ganz schön viel Luft<br />
In den Bilanzen der 30 Dax-Unternehmen hat sich eine Blase<br />
aufgebaut. Aktionären drohen deshalb massive Gewinneinbrüche<br />
und erhebliche Verluste an Eigenkapital. Seite 104<br />
Dein Konsument und Helfer<br />
Wer bei der digitalen Markenführung erfolgreich sein will, muss die<br />
Kunden für sich nutzen – als Berater, Entwickler oder Botschafter.<br />
Eine exklusive Studie zeigt, welche Konzerne das schaffen. Seite 98<br />
n Zu Besuch bei Milliardären Ein Jahr lang<br />
machte sich der Autor Dennis Gastmann auf die<br />
Suche nach Reichtum. In Marbella und Monaco,<br />
in Cannes und auf Sylt, in London und Katar. Nun<br />
hat er ein Buch über seine Besuche bei Millionären<br />
und Milliardären geschrieben. Ein Interview<br />
mit Gastmann lesen Sie unter wiwo.de/reichtum<br />
Abenteuer Asien<br />
Für deutsche Mittelständler in<br />
China werden Fachkräftemangel<br />
und steigende Kosten zur wachsenden<br />
Belastung. Doch die richtige<br />
Personalpolitik und Töchter in<br />
anderen Ländern Südostasiens<br />
mildern die Folgen. Seite 72<br />
facebook.com/<br />
wirtschaftswoche<br />
twitter.com/<br />
wiwo<br />
plus.google.com/<br />
+wirtschaftswoche<br />
Geld&Börse<br />
104 Aktien Der 200-Milliarden-Bluff der Dax-<br />
Unternehmen<br />
116 Steuern und Recht Streaming | Eigentümergemeinschaft<br />
| Auslandsrente<br />
118 Geldwoche Kommentar: Sachwert Aktie |<br />
Trend der Woche: Öl | Dax-Aktien: Beiersdorf<br />
| Hitliste: S&P 500 | Aktien: Jenoptik,<br />
YPF | Anleihe: GlaxoSmithKline | Zertifikate:<br />
Allianz | Investmentfonds: Charlemagne<br />
Magna Mena | Chartsignal: Goldminen |<br />
Relative Stärke: BB Biotech<br />
Perspektiven&Debatte<br />
124 Interview Lew Gudkow Russlands<br />
wichtigster Meinungsforscher erklärt,<br />
warum das Volk hinter Putin steht<br />
126 Kost-Bar<br />
Rubriken<br />
3 Einblick, 128 Leserforum,<br />
129 Firmenindex | Impressum, 130 Ausblick<br />
n Lesen Sie Ihre WirtschaftsWoche<br />
weltweit auf iPad oder iPhone:<br />
Diesmal unter anderem mit<br />
einem Videobericht unseres<br />
internationalen Chefkorrespondenten<br />
Florian<br />
Willershausen aus dem<br />
Kriegsgebiet in der Ostukraine.<br />
wiwo.de/apps<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 5<br />
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Seitenblick<br />
FORSCHUNG<br />
Nah am Urknall<br />
Vor genau 60 Jahren wurde bei Genf eines der<br />
weltweit größten Forschungszentren eröffnet: Cern.<br />
Es soll ergründen, wie die Welt entstand und was sie<br />
zusammenhält. Jetzt rüstet Cern auf.<br />
33Milliarden Euro hat das weltgrößte Forschungszentrum<br />
für Teilchenphysik binnen 60 Jahren<br />
ausgegeben. Seit 1954 versuchen Wissenschaftler aus<br />
85 Nationen bei Cern (Conseil Européen pour la<br />
Recherche Nucléaire) herauszufinden, woraus Materie<br />
besteht. Dazu werden nördlich von Genf Teilchen<br />
nahezu auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und<br />
zur Kollision gebracht. Durch den Aufprall entstehen<br />
neue, noch kleinere Teilchen, aus deren Eigenschaften<br />
und Flugbahnen die Forscher Rückschlüsse über<br />
die Zusammensetzung des Universums ziehen.<br />
100Meter unter der Erde erstreckt sich<br />
auf einer Länge von 27 Kilometern ein ringförmiger<br />
Teilchenbeschleuniger. Hier versuchen mehr als<br />
10 000 Wissenschaftler, das Universum so nachzustellen,<br />
wie es kurz nach dem Urknall war. Jetzt wollen sie<br />
die sogenannte dunkle, die unsichtbare Materie ergründen.<br />
Nur 20 Prozent der Materie, die uns umgibt,<br />
ist sichtbar. Der Rest ist unbekannt. Um ihn zu erforschen,<br />
ist ein noch größerer Beschleuniger geplant.<br />
180Millionen Euro überweist allein die<br />
Bundesregierung jedes Jahr an Cern. 2014 verfügt<br />
Cern über einen Etat von insgesamt 900 Millionen<br />
Euro. Bei den Experimenten entstehen nebenbei Produkte,<br />
die aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken<br />
sind: Das World Wide Web hat seinen Ursprung im<br />
Cern oder die Touchscreen-Technologie. Miniteilchenbeschleuniger<br />
setzen Krankenhäuser heute<br />
im Kampf gegen Tumore ein.<br />
franz hubik | mdw@wiwo.de<br />
FOTO: LAIF/KEYSTONE SCHWEIZ<br />
6 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Teilchendetektor-Fassade<br />
Auf der Fassade des Cern-Zentrums ist der<br />
Teilchendetektor abgebildet. Nur die<br />
Bürofenster der Forscher lassen erkennen,<br />
dass dies nicht die echte Maschine ist<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 7<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
Genehmigung auf<br />
dem Weg Thailands<br />
Staatschef Prayuth<br />
AUTOINDUSTRIE<br />
Lockruf des Panthers<br />
Deutschlands Autobauer planen<br />
von Thailand aus eine Großoffensive<br />
in Südostasien. Dafür stocken sie<br />
die Produktion dort massiv auf.<br />
Im China-Rausch hatten Deutschlands Autobauer<br />
die Region Südostasien mit aufstrebenden Märkten<br />
wie Indonesien, Thailand und Malaysia fast aus<br />
dem Blick verloren. Dabei locken in den Pantherstaaten<br />
Schätzungen zufolge 600 Millionen potenzielle<br />
neue Kunden. Schon 2018 soll der südostasiatische<br />
Länderbund, zu dem auch Vietnam,<br />
Singapur, Kambodscha, Brunei, Laos, Singapur und<br />
die Philippinen gehören, vier bis fünf Millionen<br />
Neuwagen schwer sein. Damit steigt die Region<br />
zum sechstgrößten Automarkt der Welt auf.<br />
Während Japans Hersteller dort schon eigene<br />
Werke betreiben, gehen jetzt endlich auch die deutschen<br />
Autobauer in die Offensive. Am kommenden<br />
Dienstag wollen Thailands Premier und Militärjunta-Chef<br />
Chan-ocha Prayuth sowie die Spitzen der<br />
thailändischen Investitionsbehörde BOI den Bau<br />
einer schon länger geplanten Fabrik des Volkswagen-Konzerns<br />
in Thailand offiziell genehmigen. Es<br />
hätten noch einige Unterlagen aus Wolfsburg gefehlt,<br />
doch die lägen nun vor, und man könne grünes<br />
Licht geben, heißt es beim BOI. Der VW-Konzern<br />
bestätigte, dass er einen Antrag eingereicht<br />
hat, wollte aber keine Details nennen.<br />
Etwa anderthalb Autostunden südlich der thailändischen<br />
Hauptstadt Bangkok will VW nach Informationen<br />
der WirtschaftsWoche spätestens 2019<br />
eine Kleinwagenproduktion starten. Geplant ist die<br />
Fertigung eines Pkws mit Benzinmotor und einem<br />
Hubraum von 1,4 Litern. In den Bau der Fabrik wollen<br />
die Deutschen rund eine Milliarde Euro investieren.<br />
Bei voller Kapazität könnte das Werk 300 000<br />
Autos im Jahr fertigen, auch für den Export in andere<br />
Länder der Region. Der Wagen der Polo-Klasse<br />
soll maximal 4,2 Liter auf 100 Kilometer verbrauchen,<br />
damit kommt er etwa in Thailand in den Genuss<br />
einer staatlichen Förderung für Ökoautos und<br />
ist sechs Jahre steuerbefreit.<br />
Auch andere deutsche Hersteller stocken in Thailand<br />
auf. Daimler will die Fertigungskapazitäten in<br />
Bangkok von gut 5000 auf mehr als 10 000 Fahrzeuge<br />
verdoppeln. 2013 mussten die Stuttgarter mehr<br />
als die Hälfte der rund 10 000 in Thailand verkauften<br />
Autos importieren. In den ersten sechs Monaten<br />
dieses Jahres stieg der Mercedes-Absatz in Thailand<br />
im Vergleich zum Vorjahr um weitere 13<br />
Prozent. Ähnlich sieht es bei BMW aus. Die Münchner<br />
wollen ihr Werk südlich von Bangkok in den<br />
nächsten Monaten erweitern. Statt 8800 können<br />
dort dann 12 500 Autos im Jahr gebaut werden.<br />
BMW fertigt in Thailand, anders als Mercedes, vor<br />
allem für den Export in andere Länder der Region.<br />
Aber auch in Thailand steigen die BMW-Verkäufe.<br />
matthias.kamp@wiwo.de<br />
Auf und davon<br />
Wie viele Fahrzeuge<br />
deutsche Autobauer im<br />
In- und wie viele sie im<br />
Ausland fertigen (in Mio.)<br />
Deutschland<br />
5,44<br />
8,64<br />
2013 2014*<br />
* Prognose; Quelle: VDA<br />
Übrige Welt<br />
5,65<br />
(+4 %)<br />
9,15<br />
(+ 8 %)<br />
FOTO: REUTERS/ATHIT PERAWONGMETHA<br />
8 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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NEUES ZIEL<br />
EU will Industrie stärken<br />
In dieser Woche will der künftige<br />
EU-Kommissionspräsident<br />
Jean-Claude Juncker die Ressort-Verteilung<br />
seines Teams<br />
vorstellen. Inhaltlich hat er sich<br />
schon festgelegt: „Wir müssen<br />
den Anteil der Industrie am<br />
Bruttoinlandsprodukt der EU,<br />
der heute nur knapp 16 Prozent<br />
beträgt, bis 2020 auf 20 Prozent<br />
steigern.“ Der europäische Unternehmensverband<br />
Business<br />
Europe klatscht Beifall, aber<br />
Ökonomen verzweifeln. „Historische<br />
Daten zeigen, dass dieses<br />
Ziel wohl nicht erreicht werden<br />
kann“, sagt Guntram Wolff, Direktor<br />
des Thinktanks Bruegel.<br />
Er weist darauf hin, dass der Anteil<br />
der Industrie an der Wirtschaftsleistung<br />
in den letzten 30<br />
Jahren weltweit gesunken ist.<br />
„Dies ist kein Anlass zur Sorge,<br />
denn das Produktivitätswachstum<br />
war in der Industrie stärker<br />
als in den anderen Sektoren.“<br />
Der sinkende Anteil beweise also<br />
die Stärke des Sektors. Ähnlich<br />
sei es der Landwirtschaft ergangen.<br />
„Und wir haben immer<br />
noch ausreichend zu essen.“<br />
silke.wettach@wiwo.de | Brüssel<br />
FLEISCHINDUSTRIE<br />
Doch kein Friede bei Tönnies<br />
Im Familienstreit um Deutschlands<br />
größten Fleischkonzern<br />
Tönnies deutete sich vor einer<br />
Woche eine Wende an. Mark<br />
Binz, Anwalt von Robert<br />
Tönnies, kündigte an: „Ich<br />
rechne noch in diesem Jahr mit<br />
einer Einigung.“ Postwendet widersprach<br />
Thomas Pfaff, der<br />
Sprecher von Robert Tönnies:<br />
Es habe sich um eine sehr persönliche<br />
und nicht abgestimmte<br />
Aussage gehandelt. Robert<br />
Tönnies hält wie sein Onkel Clemens<br />
Tönnies 50 Prozent am<br />
Konzern, fühlt sich von ihm<br />
aber benachteiligt. Aus dem<br />
Umfeld von Clemens Tönnies<br />
heißt es, er habe ein Einigungsangebot<br />
vorgelegt. Dazu habe<br />
sich die Gegenseite nicht geäußert.<br />
Binz hält dagegen: „Clemens<br />
Tönnies möchte von einer<br />
Gleichberechtigung der beiden<br />
Familienstämme nichts wissen,<br />
die für uns Grundbedingung jeder<br />
weiteren Zusammenarbeit<br />
ist.“ Am 10. November treffen<br />
sich beide Parteien vor Gericht.<br />
mario.brueck@wiwo.de<br />
Aufgeschnappt<br />
Fischlift Treppen sind für Fische<br />
längst kein Hindernis mehr. Im<br />
Gegenteil: Wo Stauwerke den<br />
Wasserspiegel ansteigen lassen,<br />
wurden mitunter eigens Fischtreppen<br />
angelegt, damit die Tiere<br />
auf- oder absteigen können.<br />
Doch Treppensteigen ist mühsam<br />
– auch für Fische. Darum<br />
hat das österreichische Start-up<br />
Hydroconnect einen Fischlift<br />
entwickelt, den es jetzt vermarkten<br />
will. Erfinder Walter Albrecht<br />
sucht zwar noch Investoren, ist<br />
aber zuversichtlich. Denn die EU<br />
hilft ihm. Ihre Wasserrichtlinie<br />
schreibt vor, dass bis zum Jahr<br />
2027 alle Flüsse so gestaltet<br />
sein müssen, dass Fische sie<br />
durchgängig passieren können.<br />
Überschall-U-Boot In knapp<br />
zwei Stunden von Shanghai<br />
nach San Francisco – das chinesische<br />
Harbin Institute of<br />
Technology tüftelt an einem<br />
U-Boot, das auf 5800 km/h<br />
beschleunigt. Ob und wann es<br />
kommt, ist noch unklar.<br />
AUDI<br />
Carsharing<br />
de Luxe<br />
Audi arbeitet an einem neuen<br />
Carsharing-Konzept für Luxusautos.<br />
Über eine Online-Community<br />
können sich drei Nutzer<br />
den Super-Sportwagen Audi R8<br />
ein Jahr lang teilen. In der Coupé-Version<br />
kostet er sonst mindestens<br />
117 000 Euro, als Cabrio<br />
128 000 Euro. Das Konzept könne<br />
auf andere Fahrzeuge des<br />
Luxussegments ausgeweitet<br />
werden, deutete Audi-Chef<br />
Rupert Stadler an: „So generieren<br />
wir komplett neue Zielgruppen<br />
für bestimmte Produktgattungen.“<br />
Das Projekt steckt in der Testphase.<br />
Ein Massengeschäft im<br />
Carsharing wie es Daimler und<br />
BMW betreiben, sehe man<br />
nicht als kompatibel mit Audis<br />
Premiumphilosophie, so Stadler.<br />
Details will der Audi-Chef<br />
Ende des Jahres nennen.<br />
rebecca.eisert@wiwo.de<br />
Ein Sportwagen, drei Nutzer<br />
Audi-Modell R8<br />
Neue Kollegen auf dem Vormarsch<br />
Anzahl der Roboter je 10000 Arbeiter in der Industrie<br />
396<br />
332<br />
273<br />
141<br />
Weltweit:<br />
58<br />
FOTOS: FOTOLIA, PR<br />
Quelle: International Federation of Robotics<br />
Südkorea Japan Deutschland USA China<br />
23<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 9<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
GERMANIA<br />
Tochter für<br />
die Schweiz<br />
Nach Großbritannien will die<br />
deutsche Airline Germania<br />
die Schweiz aufrollen. In Opfikon<br />
im Kanton Zürich hat sie<br />
eine Tochtergesellschaft gegründet:<br />
Germania Flug. Als<br />
Direktor wird der Schweizer<br />
Ex-Air-Berlin-Mann Tobias<br />
Somandin im Gründungspapier<br />
aufgeführt, die Firma<br />
sitzt im Gebäude des Touristikunternehmens<br />
Hotelplan,<br />
einer Tochter der Handelskette<br />
Migros.<br />
Das Domizil ist kein Zufall:<br />
Die Schweizer Germania soll<br />
von der Sommersaison 2015<br />
an für die Kunden von Hotelplan<br />
fliegen. Ein zweites<br />
Flugzeug will Germania auf<br />
Balkan-Routen einsetzen.<br />
„Einmal Ferienflug und einmal<br />
Balkan – auf diesen Mix<br />
wird es hinauslaufen“, bestätigt<br />
Germania-Chef Andreas<br />
Wobig dem Schweizer Wirtschaftsmagazin<br />
„Bilanz“, Partner<br />
der WirtschaftsWoche.<br />
Um als Schweizer Airline<br />
abheben zu können, fehlt Germania<br />
noch das Zertifikat <strong>vom</strong><br />
Bundesamt für Zivilluftfahrt<br />
BAZL. „Bis Ende August haben<br />
wir von Germania noch<br />
keine Dokumente erhalten“,<br />
sagt BAZL-Sprecher Urs Holderegger.<br />
Die Prüfung kann<br />
sich hinziehen: „Bei einer bestehenden<br />
und gut dokumentierten<br />
Airline dauert das in<br />
etwa ein halbes Jahr.“<br />
Bilanz | mdw@wiwo.de<br />
Unterschlupf beim Reisekonzern<br />
Germania-Chef Wobig<br />
INTERVIEW Martin Geier<br />
»Viele standen wie der<br />
Ochs vorm Berg«<br />
Der Deutschland-Chef von Amazons Cloud-<br />
Computing-Sparte über neue Rechenzentren,<br />
Datenschutz und Arbeiter, die alles stehen lassen.<br />
Herr Geier, Amazon, der weltweit<br />
größte Anbieter von Cloud<br />
Computing, will in Deutschland<br />
ein eigenes Rechenzentrum<br />
eröffnen. Wann und wo?<br />
Wir hören gewöhnlich auf unsere<br />
Kunden. So haben wir in den<br />
vergangenen zwei Jahren zwei<br />
neue Rechenzentren eröffnet,<br />
eines in Sydney und eines in<br />
China. Und sie können davon<br />
ausgehen, dass wir unseren geografischen<br />
Fußabdruck erweitern<br />
werden. Wir kommunizieren<br />
aus Sicherheitsgründen<br />
nicht, wo es genau steht. Aber<br />
<strong>vom</strong> Gesetz her müssen manche<br />
Daten in der EU und andere<br />
in Deutschland gespeichert<br />
werden. Und wir bemühen uns,<br />
diese Märkte alle nach und<br />
nach zu bedienen.<br />
Vertrauen deutsche Unternehmen<br />
nach der NSA-Affäre<br />
ihre Daten überhaupt noch<br />
einem amerikanischem Unternehmen<br />
wie Amazon an?<br />
Deutsche Unternehmen sind<br />
traditionell sehr sicherheitsbewusst<br />
– das war auch schon vor<br />
den NSA-Gerüchten so. Natürlich<br />
sind sie jetzt aufmerksamer<br />
denn je. Ich kann aber nicht erkennen,<br />
dass es unserem Geschäft<br />
ernsthaft geschadet hat,<br />
die Nachfrage war nie besser.<br />
Wie schützt Amazon die Daten<br />
europäischer Unternehmen vor<br />
dem Zugriff amerikanischer<br />
Behörden?<br />
Unsere Kunden können sich auf<br />
unserer Infrastruktur selbst<br />
schützen. Sie können gezielt<br />
Rechenzentren in der EU wählen.<br />
Amazon selbst bewegt keine<br />
Daten. Sie haben zudem die<br />
Möglichkeit, Informationen<br />
selbst zu verschlüsseln. Insofern<br />
bleiben sie Herr der Lage.<br />
DER WOLKENSCHIEBER<br />
Geier, 44, leitet seit 18 Monaten<br />
das Deutschland-Geschäft von<br />
Amazon Web Services, der<br />
Cloud-Computing-Tochter von<br />
Amazon. Bevor er zur Cloud-<br />
Tochter des Internet-Händlers<br />
wechselte, arbeitete er für unterschiedliche<br />
IT-Konzerne, darunter<br />
IBM, HP, Silicon Graphics<br />
und zuletzt BMC Software.<br />
Wir haben hierzulande inzwischen<br />
Kunden aller Größen,<br />
Start-ups wie Soundcloud, Mittelständler<br />
wie Kärcher und<br />
Riesen wie SAP.<br />
Wie entwickelt sich der<br />
deutsche Markt für Cloud<br />
Computing?<br />
Inspiriert von Start-ups etwa in<br />
Berlin, ist der deutsche Mittelstand<br />
gerade dabei, seine Kerngeschäfte<br />
unter dem Begriff In-<br />
»Natürlich<br />
sind sie jetzt<br />
aufmerksamer<br />
denn je«<br />
dustrie 4.0 zu innovieren. Vor 18<br />
Monaten war das noch nicht so.<br />
Viele standen wie der Ochs<br />
vorm Berg und fragten sich:<br />
Cloud Computing, was mache<br />
ich damit? Inzwischen haben<br />
sie Cloud-Kompetenz-Center<br />
gebildet. Siemens etwa nutzt<br />
unsere Plattform, um im Gesundheitswesen<br />
patientenbezogene<br />
Simulationen durchzuführen.<br />
Bekannt wurde Amazon<br />
durch den Internet-Handel mit<br />
Büchern. Was trägt der<br />
Handelsbereich zum Cloud<br />
Computing bei?<br />
Wir ziehen viel aus unserer<br />
Händler-DNA. Es gibt kaum IT-<br />
Anbieter, die ihre Preise senken.<br />
Wir haben das, seit wir 2006<br />
gestartet sind, 45 Mal getan.<br />
Für mehr Kunden brauchen<br />
wir mehr Infrastruktur. Mehr<br />
Infrastruktur bedeutet mehr<br />
Skalenvorteile bei Einkauf und<br />
Betrieb. Und Skalenvorteile<br />
machen wiederum niedrigere<br />
Preise möglich, was mehr Kunden<br />
bedeutet. Als wir 2006 gestartet<br />
sind, hat ein Gigabyte<br />
Speicher bei uns 15 US-Cent<br />
gekostet, heute sind es drei<br />
US-Cent.<br />
Was ziehen Sie noch aus dieser<br />
Händler-DNA?<br />
Unsere Mitarbeiter sollen nicht<br />
in eingefahrenen Schemata<br />
denken, sondern sich überlegen,<br />
was wäre, wenn heute Tag<br />
eins wäre. Damit überwinden<br />
wir Betriebsblindheit. Unser<br />
wichtigstes Führungsprinzip<br />
heißt zudem Customer Obsession.<br />
Jeder Mitarbeiter hat das<br />
Recht, alles stehen und liegen<br />
zu lassen, wenn ein Kunden<br />
Hilfe braucht. Ein weiteres Prinzip<br />
ist Sparsamkeit. Wir versuchen,<br />
kein Geld auszugeben,<br />
das dem Kunden nicht dient.<br />
Das führt manchmal bei neuen<br />
Mitarbeitern zu Stirnrunzeln,<br />
weil sie es gewöhnt sind, einen<br />
dicken Dienstwagen zu fahren.<br />
Das gibt es bei Amazon nicht.<br />
Wie fahren Sie?<br />
Ich fahre U-Bahn oder Fahrrad,<br />
manchmal mein Privatauto.<br />
thomas.stoelzel@wiwo.de<br />
FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/DPA, PR<br />
10 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
IT-DIENSTLEISTER<br />
GFT prüft<br />
Abspaltung<br />
Der Stuttgarter IT-Dienstleister<br />
GFT Technologies prüft einen<br />
Verkauf seines Geschäftsbereichs<br />
emagine, heißt es aus unternehmensnahen<br />
Kreisen. Danach<br />
hat GFT sogar schon eine<br />
auf Transaktionen spezialisierte<br />
Gesellschaft beauftragt, eine<br />
Trennung zu untersuchen.<br />
Schon länger wird spekuliert,<br />
dass sich GFT auf das Kerngeschäft<br />
konzentriert:die Beratung<br />
von Banken in IT-Angelegenheiten.<br />
Denn während das<br />
Beratungsgeschäft eine Umsatzrendite<br />
von 11,2 Prozent<br />
erzielt, kommt emagine mit<br />
der Vermittlung freiberuflicher<br />
IT-Berater nur auf rund ein<br />
Prozent.<br />
GFT-Gründer und Vorstandschef<br />
Ulrich Dietz will sich zu<br />
einem möglichen Verkauf nicht<br />
äußern. „Unsere rund 110 emagine-Mitarbeiter<br />
arbeiten sehr<br />
gut“, sagt er, räumt allerdings<br />
auf Anfrage ein, dass der Bereich<br />
seine wirtschaftlichen<br />
Ziele in nächster Zeit verbessern<br />
müsse.<br />
Ein Verkauf von emagine<br />
könnte die Schulden des Unternehmens<br />
deutlich reduzieren<br />
und den Aktienkurs steigen<br />
lassen.<br />
maximilian nowroth | mdw@wiwo.de<br />
OUTDOOR<br />
Talsohle<br />
verlassen<br />
08.09. Export Das Statistische Bundesamt berichtet am<br />
Montag über die Ausfuhren im Juli. Im Juni hatten<br />
sie gegenüber dem Vorjahr um 1,1 Prozent zugelegt,<br />
gegenüber dem Vormonat um 0,9 Prozent.<br />
09.09. Bundeshaushalt Der Bundestag berät am<br />
Dienstag in erster Lesung über den Haushalt für<br />
das kommende Jahr. 2015 will der Bund keine<br />
neuen Kredite mehr aufnehmen.<br />
Ritter Sport Das Oberlandesgericht München<br />
verhandelt den Streit zwischen dem<br />
Schokoladenhersteller und der Stiftung<br />
Warentest. Sie hatte die Vollnuss-Schokolade<br />
von Ritter Sport mit<br />
„mangelhaft“ bewertet.<br />
10.09. Ryanair Die Lufthansa wirft dem Flughafen Hahn<br />
vor, er verlange von der irischen Billiglinie zu niedrige<br />
Entgelte. Da der Flughafen den Ländern Hessen<br />
und Rheinland-Pfalz gehöre, komme dies einer<br />
Beihilfe für Ryanair gleich. Darüber verhandelt<br />
am Mittwoch das Oberlandesgericht Koblenz.<br />
Kreditkarten Der Europäische Gerichtshof (EuGH)<br />
entscheidet über das Gebührenmodell von Mastercard.<br />
Bei einer Niederlage drohen der Kreditkartenorganisation<br />
Schadensersatzforderungen.<br />
14.09. Landtagswahlen Die Bürger in Thüringen und<br />
Brandenburg wählen am Sonntag einen neuen<br />
Landtag. Im CDU/SPD-regierten Thüringen kommt<br />
die CDU in der jüngsten Umfrage auf 34 Prozent<br />
und die SPD auf 19. Die Linke schafft demnach 26<br />
Prozent, die Grünen 6 und die AfD 5. Die FDP wäre<br />
mit 4 Prozent nicht mehr im Landtag. In Brandenburg,<br />
von SPD und Linke regiert, schneidet die<br />
SPD in Umfragen am besten ab: 34 Prozent. Die<br />
CDU erhält 23, die Linke 22, Grüne und AfD jeweils<br />
6 und die FDP nur 3 Prozent.<br />
Der Schweizer Rolf Schmid<br />
klettert gern auf hohe Berge, er<br />
ist ein Stratege und Planer, der<br />
Schritt für Schritt vorgeht. Jetzt<br />
zahlt sich die Weitsicht des<br />
Chefs des Outdoor-Ausrüsters<br />
Mammut aus: Vor allem dank<br />
der höheren Nachfrage nach<br />
Berg- und Wanderschuhen<br />
wuchs das Schweizer Unternehmen<br />
im ersten Halbjahr um<br />
3,4 Prozent und setzte umgerechnet<br />
86 Millionen Euro um.<br />
Den Grundstein dafür legte<br />
Schmid mit der Übernahme des<br />
Schuhspezialisten Raichle.<br />
Nach Boomjahren herrschte<br />
in den vergangenen beiden Jahren<br />
Ernüchterung in der Branche.<br />
Die Zeichen stehen seitdem<br />
vor allem in Europa auf<br />
Verdrängung. Insbesondere das<br />
US-Unternehmen VF macht<br />
hier Druck:Der Textilkonzern,<br />
zu dem unter anderem die Outdoor-Marke<br />
The North Face<br />
TOP-TERMINE VOM 08.09. BIS 14.08.<br />
gehört, meldete für sein Outdoor-Segment<br />
zuletzt einen<br />
Quartalsumsatz von 1,3 Milliarden<br />
Dollar, ein Plus von 16 Prozent<br />
gegenüber dem Vorjahr.<br />
Auch Adidas’ Outdoor-Sparte<br />
wächst, getrieben durch steigende<br />
Umsätze in China und<br />
Nordamerika. Schöffel legt<br />
ebenfalls zu. Bei der jüngsten<br />
Orderrunde des Handels habe<br />
besonders das Geschäft mit<br />
Outdoor-Artikeln einen Trend<br />
nach oben gezeigt, so die Einkaufsgemeinschaft<br />
Intersport.<br />
peter.steinkirchner@wiwo.de<br />
VOLKSWAGEN XL1<br />
Begehrtes<br />
Exemplar für<br />
Sammler<br />
Der VW XL1 ist kein Auto wie<br />
jedes andere. Der kleine Flügeltürer<br />
kommt zumindest theoretisch<br />
mit einem Liter Diesel 100<br />
Kilometer weit. Der technische<br />
Aufwand dafür ist so groß, dass<br />
Volkswagen den Basispreis auf<br />
111 000 Euro festgesetzt hat. Zugleich<br />
ist die Produktion auf 200<br />
Exemplare begrenzt. Der XL1<br />
wurde darüber zum begehrten<br />
Blackbox an Bord<br />
Volkswagen XL1 fast ausverkauft<br />
Sammlerstück: Inzwischen ist<br />
fast die gesamte Produktion<br />
vergriffen.<br />
Zu den Käufern zählt auch<br />
Wolfgang Grupp. Der 72-jährige<br />
Eigentümer des T-Shirt-Herstellers<br />
Trigema im schwäbischen<br />
Burladingen kaufte sogar zwei<br />
Exemplare: ein weißes für Sohn<br />
Wolfgang, 23, und ein rotes für<br />
Tochter Bonita, 24. Das gelang<br />
ihm, indem er VW-Vertriebsvorstand<br />
Christian Klingler in der<br />
Sache direkt anschrieb.<br />
Wie alle Erwerber musste<br />
sich Grupp verpflichten, die<br />
Autos VW zum Rückkauf anzubieten,<br />
wenn er das Interesse<br />
an dem Modell verlieren sollte.<br />
Der Konzern will auf diese Weise<br />
von den Erfahrungen der<br />
Erstbesitzer profitieren: An<br />
Bord des XL1 ist eine Blackbox,<br />
die wie in der Formel 1 Daten<br />
über das Fahrzeug sammelt<br />
und diese zur Auswertung ins<br />
VW-Werk funkt.<br />
reinhold.boehmer@wiwo.de, franz rother<br />
FOTOS: PR<br />
12 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
CHEFSESSEL<br />
START-UP<br />
VFS<br />
Ludger Wößmann, 41,<br />
und Carl Christian von<br />
Weizsäcker, 76, sind die<br />
diesjährigen Preisträger des<br />
Vereins für Socialpolitik<br />
(VfS), der größten Ökonomenvereinigung<br />
im deutschsprachigen<br />
Raum. Wößmann,<br />
Bildungsökonom<br />
beim Münchner ifo Institut,<br />
erhält den Gossen-Preis, mit<br />
dem der VfS Wirtschaftswissenschaftler<br />
unter 45 Jahren<br />
ehrt, die durch Veröffentlichungen<br />
in internationalen<br />
Fachzeitschriften besonderes<br />
Ansehen erworben haben.<br />
Mit dem Gustav-Stolper-Preis<br />
würdigt die<br />
Ökonomenzunft von Weizsäcker,<br />
emeritierter Volkswirtschaftsprofessor<br />
und bis<br />
2003 Direktor des Energiewirtschaftlichen<br />
Instituts an<br />
der Universität Köln, für seine<br />
Anstöße zu wirtschaftswissenschaftlichen<br />
Debatten.<br />
Der Stolper-Preis ist<br />
nach dem österreichischen<br />
Publizisten Gustav Stolper<br />
benannt, der 1926 in Berlin<br />
die Zeitschrift „Der Deutsche<br />
Volkswirt“ gegründet<br />
hat, aus der die Wirtschafts-<br />
Woche hervorgegangen ist.<br />
MALLORCA<br />
102 Euro<br />
gab jeder deutsche Urlauber auf Mallorca<br />
im Juli täglich aus. Am spendabelsten waren<br />
die Skandinavier und Schweizer mit durchschnittlich<br />
je 140 Euro, gefolgt von den<br />
Spaniern mit 112 und den Briten mit 104<br />
Euro, so eine jetzt veröffentlichte Umfrage<br />
des spanischen Tourismusministeriums.<br />
COMMA SOFT<br />
Jörg Asma, 44, bis zum vergangenen<br />
Jahr Partner der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft<br />
KPMG, baut bei dem Bonner IT-<br />
Beratungs- und Softwareunternehmen<br />
Comma Soft einen<br />
neuen Geschäftsbereich für Cybersicherheit<br />
auf. Asma war<br />
schon bei KPMG für die Sparte<br />
Security-Consulting verantwortlich<br />
und gilt als Experte für<br />
sogenannte Resilience-Projekte.<br />
Dabei geht es nicht nur um<br />
die Absicherung der IT-Systeme<br />
von Unternehmen, sondern vor<br />
allem darum, Cyber-Attacken<br />
schnell zu bemerken. „98 Prozent<br />
aller Angriffe werden heute<br />
gar nicht erkannt“, sagt Asma.<br />
RENAULT<br />
Bruno Ancelin, 56, ist an die<br />
Spitze der Produktentwicklung<br />
von Renault katapultiert worden.<br />
Der klein gewachsene wie<br />
selbstbewusste Ingenieur, der<br />
zusammen mit Konzernchef<br />
Carlos Ghosn, 60, in Paris<br />
studiert hat und als Experte für<br />
die Lösung größerer Probleme<br />
gilt, stand bis zur vergangenen<br />
Woche an der Spitze von<br />
Renault Russland. Der überraschende<br />
Wechsel in die Konzernzentrale<br />
ist eine Kettenreaktion,<br />
ausgelöst durch den<br />
Wechsel von Nissan-Chefplaner<br />
Andy Palmer, 51, zu<br />
Aston Martin. Ersetzt wurde<br />
Palmer durch den bisheriger<br />
Produktentwickler Philippe<br />
Klein, 57.<br />
EINFACHLOTTO<br />
Der Klick zum Glück<br />
Eigentlich wollte Mirko Dieseler Lehrer werden, Sport und<br />
Geschichte unterrichten. Vielleicht hätte er die Schüler dann auch<br />
vor Glücksspielen gewarnt. Jetzt verdient er damit sein Geld. Gemeinsam<br />
mit vier ehemaligen Bertelsmann-Managern gründete<br />
er Ende 2011 das Unternehmen EDM Einfach Direkt Media und<br />
entwickelte die Online-Plattform einfachlotto. Seit 3. Juli 2013 ist<br />
sie online. „An dem Tag haben wir die staatliche Genehmigung<br />
erhalten“, sagt Dieseler, der sich in dem Metier auskennt. Nach seinem<br />
Studium hat er für die staatliche Lottogesellschaft Bayerns<br />
gearbeitet und für den Wettanbieter Oddset.<br />
„Der Umsatz ist noch überschaubar“, sagt der 45-Jährige. Zahlen<br />
will er nicht nennen. Aber sein Konzept hat schon weitere Investoren<br />
angezogen, darunter Media Ventures, eine Gesellschaft des<br />
Kölner Plakatwerbers Dirk Ströer. „Auf unserer Seite gibt es keine<br />
Bilder und keine Werbung“, grenzt sich Dieseler von der Konkurrenz<br />
ab. Das Start-up lebt von den 6,5 bis 10 Prozent Provision, die<br />
es pro Tipp bekommt – so viel wie die Lotto-Kioske. 90 000 Kunden<br />
spielen schon mit. Ende September startet er eine Plakataktion,<br />
zudem sponsert er die<br />
Fakten zum Unternehmen<br />
Eigner Dieseler 20 Prozent,<br />
Netzpiloten 12, Media Ventures<br />
37,6, zwölf Privatpersonen gepoolt<br />
15, drei Mitarbeiter 15,4<br />
Investment 1,8 Millionen Euro<br />
Gewinn erstmals im Januar 2016<br />
Fußballclubs Düsseldorf<br />
und Bielefeld. Rund 2,0<br />
bis 2,5 Millionen Euro<br />
gibt er dafür allein in diesem<br />
Jahr aus. Darin inbegriffen<br />
ist auch Lothar<br />
Matthäus – „das Gesicht<br />
von einfachlotto“.<br />
hermann.olbermann@wiwo.de<br />
FOTOS: PR, PICTURE-ALLIANCE/DPA, YVES SUCKSDORFF FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, FOTOLIA<br />
14 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Menschen der Wirtschaft | Chefbüro<br />
Dieter Kempf<br />
Vorstandsvorsitzender des IT-Dienstleisters Datev<br />
In dem großen Wandschrank<br />
versteckt Dieter Kempf, 61,<br />
„alle möglichen Sachen, auch<br />
einen Satz Golfbälle“, verrät der<br />
Vorstandsvorsitzende von<br />
Datev. Seit Juli 1996 leitet der<br />
Diplom-Kaufmann den Nürnberger<br />
IT-Dienstleister, zu dessen<br />
Klientel vor allem Steuerberater,<br />
Wirtschaftsprüfer und<br />
Rechtsanwälte zählen. 1966<br />
wurde das Unternehmen als<br />
Genossenschaft gegründet,<br />
inzwischen beschäftigt es rund<br />
6700 Mitarbeiter und erwirtschaftete<br />
2013 einen Umsatz<br />
803 Millionen Euro. Zudem ist<br />
Kempf seit 2011 Präsident des<br />
Branchenverbandes Bitkom,<br />
der mehr als 2100 Unternehmen<br />
der Informations- und<br />
Telekommunikationsbranche<br />
vertritt. Ans<br />
Pendeln zwischen<br />
der Berliner Bitkom-<br />
Zentrale und dem<br />
Datev-Sitz in Nürnberg<br />
hat sich der<br />
Manager längst gewöhnt.<br />
Wenn es zu<br />
360 Grad<br />
In unseren App-<br />
<strong>Ausgabe</strong>n finden<br />
Sie an dieser<br />
Stelle ein interaktives<br />
360°-Bild<br />
arg kommt, greift er in seinen<br />
„Frustbehälter“; so nennt<br />
Kempf die kleine Dose mit<br />
Gummibärchen, die auf der<br />
schweren Granitplatte seines<br />
Schreibtischs in Nürnberg<br />
steht. Daneben liegen Post,<br />
Akten, Unterschriftenmappe<br />
und Fotos mit seiner Familie<br />
einschließlich der Hündin Susi.<br />
In der Besprechungsecke und<br />
über einem Sideboard<br />
hängen Werke<br />
der Münchner Malerin<br />
Valeska. Und da<br />
ist noch der Kasper,<br />
der Kempf provozierend<br />
die Zunge<br />
herausstreckt. Die<br />
Metallskulptur dient<br />
als Stehpult und entstand in<br />
der Werkstatt der beiden oberfränkischen<br />
Künstler Guido<br />
und Johannes Häfner. Statt mit<br />
Bits und Bytes begann Kempfs<br />
Karriere mit Buletten. Parallel<br />
zu seinem Studium an der<br />
Ludwig-Maximilians-Universit<br />
ät in München arbeitete er bei<br />
McDonald’s und brachte es<br />
dort innerhalb von fünf Jahren<br />
zum Filialleiter. Vor seinem<br />
Wechsel zu Datev 1991 war er<br />
beim Wirtschaftsprüfer Ernst &<br />
Young. In seiner Freizeit spielt<br />
Kempf nicht nur Golf, er fährt<br />
auch Oldtimer und Motorrad.<br />
Einen Helm hat er in seinem<br />
Schrank aber nicht versteckt.<br />
ulrich.groothuis@wiwo.de<br />
FOTO: DIETER MAYR FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
16 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Die rote Null<br />
SCHULDEN | Die Bundesregierung lässt sich für den ersten ausgeglichenen Etat seit<br />
45 Jahren feiern. Ein kritisches Studium des Haushaltsentwurfs aber zeigt: Es ist bloß<br />
ein trickreiches Rechenexempel auf den Schultern zukünftiger Generationen.<br />
Der Finanzminister ist unverkennbar<br />
von sich und seinem<br />
Kurs überzeugt. „Wir werden<br />
erstmals seit Jahrzehnten einen<br />
Haushalt ohne neue<br />
Schulden haben“, verkündet er unter dem<br />
Jubel seiner Fraktion. Begeistert bezieht er<br />
das ganze Land in seine Anerkennung mit<br />
ein: „Warum dieser Kurs? Während er im<br />
vorigen Jahr noch umstritten war, habe ich<br />
den Eindruck, dass er inzwischen allgemeine<br />
Anerkennung gefunden hat.“ Ja, es<br />
ist die historische Verantwortung, die ihn<br />
antreibt: „Wir wollen aus der Schuldenfalle<br />
zuerst und vor allem deswegen heraus,<br />
weil wir künftigen Generationen nicht die<br />
<strong>Ausgabe</strong>n, die wir getätigt haben, als<br />
Schulden hinterlassen können.“<br />
Diese Worte klingen vertaut und aktuell,<br />
doch sie stammen nicht aus dem Sommer<br />
2014, sondern aus dem September 2000<br />
und aus dem Mund von Hans Eichel (SPD).<br />
Drei Jahre später verantwortete er den<br />
Haushalt mit der bis dahin höchsten Defizitquote<br />
der Nachkriegsgeschichte. Geschichte<br />
wiederholt sich nicht, aber Eichels<br />
Schicksal ist Grund genug, nachzuhaken:<br />
Wie viel ist der Ausgleich der Staatsfinanzen<br />
wert, den sein Nachfolger Wolfgang<br />
Schäuble (CDU) am Dienstag präsentiert?<br />
EINMALIGER RÜCKFALL<br />
Seit Eichel sind zwei Regierungswechsel<br />
und eine Finanzkrise vergangen, die<br />
Traumwelt an der Berliner Wilhelmstraße,<br />
wo das Finanzministerium residiert, ist die<br />
gleiche geblieben: Der Minister will in Erinnerung<br />
bleiben als derjenige, der die<br />
Rückkehr zur soliden Haushaltsführung<br />
geschafft hat. Den bis dato letzten ausgeglichenen<br />
Haushalt verantwortete Franz Josef<br />
Strauß (CSU) im Jahr 1969, schon das aber<br />
war ein einmaliger Rückfall in gute Zeiten,<br />
in den Jahren davor war der Haushalt tief<br />
im Minus gewesen. Nachhaltig ausgeglichen<br />
war der Haushalt nur in den Fünfzigerjahren<br />
unter Finanzminister Fritz<br />
Schäffer (ebenfalls CSU).<br />
2015 aber soll genau da anknüpfen. So<br />
nah wie Wolfgang Schäuble ist keiner der<br />
Strauß-Nachfolger mehr dem großen Ziel<br />
gekommen, und mit so viel Hingabe hat<br />
seitdem wohl auch keiner dieses Ziel verfolgt.<br />
Die ersten paar Defizit-Jahrzehnte<br />
waren Schulden schlichtweg en vogue, die<br />
Sanierungsversuche der Neunziger- und<br />
Nullerjahre scheiterten dann jeweils mit<br />
jahrelangem Vorlauf. Für Schäuble hingegen<br />
ist das Ziel nur noch ein gutes Jahr entfernt,<br />
auf dem Papier steht die Null bereits.<br />
„Schäuble hat noch immer trickreich einen<br />
Weg gefunden, zumindest auf dem Papier<br />
seine Ziele durchzusetzen“, sagt Sven-<br />
Christian Kindler, haushaltspolitischer<br />
Sprecher der Grünen im Bundestag.<br />
Doch hält die Null wirklich, was der<br />
„Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung<br />
des Bundeshaushaltsplans für das<br />
Haushaltsjahr 2015“ verspricht? Eine Analyse<br />
der 2866 Seiten Haushaltsentwurf<br />
zeigt, dass unter der einen schwarzen Zahl<br />
viele rote verborgen liegen. Wer den<br />
vermeintlichen Wunderhaushalt im Detail<br />
studiert, findet mühsam kaschierte Zusatzausgaben,<br />
teure Lastenverschiebungen in<br />
die Zukunft und Einmaleffekte, die als<br />
Konsolidierung verkauft werden. Von<br />
seinem Sanierungskurs, den Schäuble<br />
noch vor zwei, drei Jahren ernsthaft verfolgte,<br />
ist nichts geblieben außer den ange-<br />
nehmen Begleitumständen. Von der formalen<br />
Zielmarke auf dem langen Weg<br />
der Sanierung der Staatsfinanzen ist die<br />
Ziffer zum Selbstzweck geworden. Eine<br />
Beweisführung in fünf Schritten.<br />
I. Es geht uns geradezu<br />
unverschämt gut<br />
Erwartete Steuereinnahmen des Bundes<br />
für das Jahr 2014<br />
Quelle: BMF<br />
250,3<br />
Mrd. €<br />
2010<br />
268,2<br />
Mrd. €<br />
2014<br />
plus 17,9<br />
Mrd. €<br />
2010, als Schäubles Kurs in Richtung<br />
„schwarze Null“ konkret wurde, ließ er errechnen,<br />
mit welchen Steuermitteln im<br />
Verlauf der Jahre zu rechnen sei. Trotz Euro-Krise<br />
sahen die Perspektiven recht rosig<br />
aus. „Für den mittelfristigen Schätzzeitraum<br />
wird eine Fortsetzung der wirtschaftlichen<br />
Erholung erwartet“, hieß es, bis 2014<br />
würden die Steuereinnahmen auf 250,3<br />
Milliarden Euro steigen. Jetzt ist das Jahr<br />
gekommen, in dem damals die Prognose<br />
endete – und aus der Erholung ist ein<br />
Boom geworden.<br />
Nicht 250 Milliarden sondern 268,2 Milliarden<br />
Euro wird Schäuble 2014 laut<br />
»<br />
FOTO: LAIF/DOMINIK BUTZMANN<br />
20 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Das Ziel vor Augen<br />
Wolfgang Schäuble<br />
peilt 2015 den Haushaltsausgleich<br />
an<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
DREI, DIE DEN HAUSHALTSAUSGLEICH SCHAFFTEN<br />
Turm gebaut Fritz Schäffer legte Geld für<br />
den Aufbau der Bundeswehr zurück<br />
Reserven geplündert Franz Etzel brauchte<br />
von 1957 bis 1961 die Überschüsse auf<br />
Der letzte Schwarze Franz Josef Strauß<br />
gelang zu Amtsende 1969 die schwarze Null<br />
»<br />
Frühjahrs-Schätzung einnehmen, 18<br />
Milliarden Euro mehr als einst geplant. Im<br />
kommenden Jahr sollen es noch einmal<br />
zehn Milliarden Euro mehr werden. Ganz<br />
zurückhaltend geschätzt, bedeutet das: Finanzminister<br />
Schäuble stehen mindestens<br />
20 Milliarden Euro mehr zur Verfügung, als<br />
er 2010 annahm. Und die Liste der guten<br />
Rahmenbedingungen ist damit längst<br />
nicht zu Ende erzählt.<br />
Vor einigen Wochen hat die Deutsche<br />
Bundesbank die astronomische Summe<br />
von 120 Milliarden Euro errechnet, die der<br />
Bund seit 2007 an Zinsausgaben eingespart<br />
habe. Das ist eine große Zahl, doch diese<br />
kleinere ist aussagekräftiger: Statt 37 Milliarden<br />
Euro (wie 2010) muss der Bund 2014<br />
nur 27 Milliarden Euro für Zinszahlungen<br />
ausgeben, trotz des inzwischen höheren<br />
Schuldenstandes. Das sind weitere zehn<br />
Milliarden Euro, die locker reichen, um ein,<br />
zwei Minister glücklich zu machen.<br />
Doch das neuere deutsche Wirtschaftswunder<br />
macht nicht nur Schulden billig<br />
und Steuerzahler ergiebiger, es brachte<br />
auch Arbeitslose in Arbeit. 2010 gab der<br />
Bund für den Posten Arbeitslosenhilfe 38,3<br />
Milliarden Euro aus. Vergleichswert 2015:<br />
19,2 Milliarden Euro. Da wirken die Zusatzausgaben<br />
wie Peanuts: Um die Kommunen<br />
zu entlasten, hat Berlin <strong>Ausgabe</strong>n für<br />
Unterkunft und Heizung (4,6 Milliarden<br />
Euro) und Grundsicherung im Alter (5,9<br />
Milliarden Euro) übernommen. Selbst<br />
wenn man all das abzieht, bleibt eine effektive<br />
Ersparnis von 8,6 Milliarden Euro.<br />
Schäuble stehen für den Haushaltsausgleich<br />
2015 also rund 40 Milliarden Euro<br />
mehr zur Verfügung, als er 2010, bei Verkündung<br />
des damals ambitionierten Pla-<br />
nes, annehmen konnte. Damals plante er<br />
für 2014 mit 24 Milliarden Euro neuen<br />
Schulden. Auf heutige Bedingungen umgerechnet,<br />
wäre das ein Überschuss, und<br />
zwar von mindestens 15 Milliarden Euro.<br />
Ein entsprechend harsches Urteil fällt der<br />
Freiburger Ökonom Bernd Raffelhüschen<br />
über die Leistung des Finanzministers:<br />
„Die Freude über die schwarze Null ist<br />
ziemlich lächerlich. Schäuble kann froh<br />
sein, dass er gerade Finanzminister ist. Was<br />
hier zusammenkommt, sind nicht viel<br />
mehr als ein paar glückliche Fügungen.“<br />
Wer dem Finanzminister besonders geneigt<br />
ist, kann hier entgegnen, all den netten<br />
Konjunktureffekten stünden wachsende<br />
<strong>Ausgabe</strong>posten, etwa für Pensionen,<br />
entgegen. Doch diese Kosten waren absehbar<br />
und damit eingeplant. Und dort, wo<br />
böse Überraschungen möglich gewesen<br />
wären, sind sie ausgeblieben. So erhöhte<br />
die Bundesbank – deren Bilanz unter den<br />
Niedrigzinsen leidet – ihren Gewinn 2013<br />
auf 4,6 Milliarden Euro, 2010 waren es nur<br />
2,2 Milliarden. Wo es Sonderlasten gab,<br />
laufen sie pünktlich zum Haushaltsausgleich<br />
aus: Die letzte Zahlung für das<br />
Grundkapital des Euro-Rettungsfonds<br />
ESM von 4,3 Milliarden Euro wird 2014 fällig.<br />
Der Fonds für die Folgen der Flut an Elbe<br />
und Donau wurde komplett im Jahr<br />
2013 verbucht. Sogar einige Altlasten im<br />
Haushalt schrumpfen: Zahlungen im Zusammenhang<br />
mit der deutschen Einheit,<br />
2009: 730 Millionen Euro, 2015: 330 Millionen<br />
Euro. 400 Millionen gespart. Soziale<br />
Leistungen für Folgen von Krieg und politischen<br />
Ereignissen, zum Beispiel Kriegsopferfürsorge,<br />
2010: 2,8 Milliarden, 2015: 2,1<br />
Milliarden. Kling, noch mal 700 Millionen!<br />
Das sind keine großen Beträge. Doch die<br />
alte Finanzministerklage, von Jahr zu Jahr<br />
würden die Altlasten größer, ist nur die halbe<br />
Wahrheit. Nie war es so einfach, mit<br />
dem Geld auszukommen.<br />
2. Die Null 2015 ist mit<br />
höheren Risiken in der<br />
Zukunft erkauft<br />
Investitionen in Europa und Investitionslücke<br />
in Deutschland (in Prozent <strong>vom</strong> BIP)<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
Bruttoanlageinvestitionen<br />
im Euro-Raum*<br />
1999 2003<br />
* ohne Deutschland; Quelle: DIW<br />
Kumulierte Investitionslücke<br />
für Deutschland<br />
Bruttoanlageinvestitionen<br />
in Deutschland<br />
2007 2012<br />
In Berlins westlichstem Stadtteil Spandau<br />
steht eine mächtige Wehranlage, rundum<br />
von einem Seitenarm der Havel umflossen,<br />
in ihrer geometrischen Form von den Ideen<br />
des Festungsbauers Vauban inspiriert. Über<br />
die Mauern ragt nur der kreisrunde Juliusturm,<br />
von der Spitze hat man eine nette<br />
Fernsicht. Einst lagerte hier die Kriegskasse<br />
des deutschen Reichs. Kein besonderes<br />
Bauwerk, doch mit einer besonderen Bedeutung.<br />
Fritz Schäffer, erster Finanzminister<br />
der Bundesrepublik, wirtschaftete in den<br />
Fünfzigerjahren einige Zeit so sparsam,<br />
dass er Geld zurücklegen konnte. Die Kasse<br />
22 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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FOTOS: INTERFOTO/MILLER, BPK/BENNO WUNDSHAMMER, PICTURE-ALLIANCE/DPA<br />
erhielt den Beinamen Juliusturm; Parteifreunde<br />
und Opposition versuchten alles,<br />
um den Turm zu schleifen. Schäffer widersetzte<br />
sich und schuf so den Inbegriff verantwortlichen<br />
Haushaltens: Nachhaltig ist<br />
nicht, was heute gut aussieht, sondern was<br />
für die Probleme der Zukunft vorsorgt.<br />
Die Geschichte ist fast vergessen, auch die<br />
Prinzipien gelten längst nicht mehr. Offensichtliches<br />
Beispiel im Null-Haushalt ist das<br />
Missverhältnis zwischen notwendigen und<br />
tatsächlichen Investitionen. Im vergangenen<br />
Jahr hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung<br />
(DIW) ausgerechnet, was<br />
der Staat in seine Straßen, Brücken und<br />
Schienen investiert – und wie viel es sein<br />
müsste, um den Wert der Infrastruktur zu erhalten.<br />
„Es ist ganz offensichtlich, dass in den<br />
vergangenen Jahren ein massiver Wertverzehr<br />
stattfindet“, fasst DIW-Verkehrsexpertin<br />
Katharina Link zusammen. Mehrere Milliarden<br />
Euro fehlen pro Jahr, allein um den Wertverfall<br />
aufzuhalten. In Zahlen: Während der<br />
Bund in den Neunzigerjahren umgerechnet<br />
jährlich zwischen 11 und 14 Milliarden Euro<br />
für den Erhalt von Straßen und Brücken ausgab,<br />
waren es zuletzt nur 9,6 Milliarden, Steigerungen<br />
nicht vorgesehen. Dabei wächst<br />
der Bedarf. „Die Spannbetonbrücken im<br />
Westen Deutschlands sind innerhalb eines<br />
Jahrzehnts erbaut worden“, mahnt CDU-<br />
Haushälter Norbert Brackmann, „deshalb<br />
müssen sie jetzt alle zur gleichen Zeit repariert<br />
werden.“ Gerade werden auf der A 45<br />
zwischen Siegen und Dortmund die Brücken<br />
geflickt, 31 Bauwerke sind betroffen.<br />
Ein Jahrhundertprojekt? Nur der Auftakt.<br />
Dieses Muster setzt sich fort. So ist es eine<br />
kurze, aber bewährte Tradition, dass die<br />
Bundesanstalt für Arbeit in guten Jahren<br />
Reserven aufbaut, um auf Krisen reagieren<br />
zu können. Als 2008 die Finanzkrise begann,<br />
konnte sie mit ihren angesparten<br />
16,7 Milliarden Euro einiges abfedern, dabei<br />
lag der historische Höchststand der Arbeitslosigkeit<br />
da gerade drei Jahre zurück.<br />
Heute, wo die Arbeitslosenquote nach fünf<br />
Jahren Aufschwung so niedrig ist wie seit<br />
Jahrzehnten nicht, sind die Reserven mit<br />
drei Milliarden Euro ziemlich dünn. Ein<br />
Versäumnis der Bundesregierung. Als die<br />
beschloss, der Agentur die Zuschüsse für<br />
die Arbeitsförderung zu streichen und dafür<br />
auf den Eingliederungsbeitrag zu verzichten,<br />
klang das nach einem Tauschgeschäft.<br />
Von wegen: Zuletzt zahlte die Bundesagentur<br />
3,8 Milliarden Euro Eingliederungsbeitrag,<br />
die Zuschüsse betrugen 7,2<br />
Milliarden Euro. Tatsächlich fehlen der<br />
Bundesagentur 3,4 Milliarden im Jahr.<br />
Wenn alles gut läuft, mag der finanzpolitische<br />
Kurs bis zum nächsten Regierungswechsel<br />
halten – die nächste<br />
Konjunkturkrise überdauert er mit Sicherheit<br />
nicht.<br />
3. Kosten werden<br />
verschoben, Einmaleffekte<br />
genutzt<br />
Gesamtverpflichtungen und jährliche<br />
<strong>Ausgabe</strong>n für öffentlich-private Partnerschaften<br />
(in Milliarden Euro)<br />
Jahresausgaben<br />
2011<br />
Quelle: BMF<br />
Restverpflichtungen<br />
11,6 12,1 12,7<br />
1,65 1,6 1,45 0,99<br />
14,2<br />
2012 2013 2014<br />
Ob in Finanzministerium oder Konzern,<br />
wer seine Bilanz aufhübschen will, der beachte:<br />
Timing ist alles. Daran denkt der<br />
Vorstandschef, wenn er nach Amtsantritt<br />
eine verheerende Bilanz vorlegt – umso<br />
besser sieht die nächste aus. Dieses Timing<br />
bewies auch Wolfgang Schäuble gleich<br />
mehrfach. Als er den Ausgangspunkt für<br />
seinen Sparkurs gleich ins Jahr 2010 mit<br />
besonders hohen Schulden und besonders<br />
guter Perspektive legte. Oder 2013, als ein<br />
Hochwasser an Donau und Elbe Milliardenschäden<br />
hinterließ, legte der Bund einen<br />
Sonderfonds auf und befüllte ihn mit<br />
acht Milliarden Euro. Im Gegenzug verpflichteten<br />
sich die Länder, dem Bund bis<br />
2033 mehr Umsatzsteuern zu überlassen.<br />
202 Millionen Euro fließen seitdem pro<br />
Jahr zusätzlich in die Bundeskasse.<br />
Auch öffentlich-private Partnerschaften<br />
bieten Chancen für solche Spielchen. Dabei<br />
lagert der Staat die Projektfinanzierung<br />
an Private aus, im Gegenzug erhalten sie<br />
langfristig Gebühren. Wie die aber über die<br />
Jahre verteilt werden – eine Frage des Timings.<br />
So zahlte der Bund 2011 gut 1,6 Milliarden<br />
Euro für solche Projekte, weitere<br />
Verpflichtungen über 12,3 Milliarden standen<br />
aus. 2014 zahlt der Bund nur 994 Millionen<br />
Euro – zugleich stehen deutlich höhere<br />
Verpflichtungen über 14,2 Milliarden<br />
aus. Auch wenn es schwierig ist, die Kalkulation<br />
einzelner Projekte zu überprüfen,<br />
warnt Haushaltsexperte Brackmann:<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 23<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
DREI, DIE AM MEISTEN SCHULDEN MACHTEN<br />
Verlierer der Einheit Theo Waigel unterschätzte<br />
die Kosten des Wiederaufbaus<br />
Hart gelandet Hans Eichel trat mit Sparschwein<br />
an und mit Rekorddefizit ab<br />
Teurer Crash Peer Steinbrücks Pläne<br />
durchkreuzte die Finanzkrise<br />
»<br />
„Wir dürfen uns nicht dazu hinreißen<br />
lassen, öffentlich-private Partnerschaften<br />
angesichts knapper Kassen als reines Finanzierungsinstrument<br />
zu missbrauchen.“<br />
Denn all die Spielereien haben einen entscheidenden<br />
Haken: An den tatsächlichen<br />
Kosten ändert sich nichts. Und je intensiver<br />
man Kosten in der Gegenwart vermeidet,<br />
desto heftiger fällt die spätere Korrektur aus.<br />
4. Der Bund zapft<br />
Mittel an, die<br />
den Bürgern zustehen<br />
Verringerung der Zuweisungen des Bundes<br />
an den Gesundheitsfonds<br />
Quelle: BMF<br />
2013<br />
–2,5<br />
Mrd. €<br />
2014 2015<br />
–3,5<br />
Mrd. €<br />
–2,5<br />
Mrd. €<br />
Als Fritz Schäffer 1956 einen Vortrag vor<br />
dem Hamburger Übersee-Club hielt, hofften<br />
die Kaufmänner, dass er seinen Juliusturm<br />
endlich öffnen und die Steuern senken<br />
würde. Der servierte ihnen stattdessen<br />
bis heute lesenswerte Grundsätze über<br />
sein Amtsverständnis. „Der Finanzminister<br />
muss, um das Vertrauen nicht zu verlieren,<br />
in erster Linie wahr sein allen gegenüber.<br />
Und wahr sein und gefällig sein, lässt<br />
sich leider nicht miteinander vereinbaren.“<br />
Ein Jahr später verlor Schäffer sein Amt,<br />
weil er sich weigerte, die Reserven freizugeben.<br />
Der Juliusturm wurde aufgelöst für<br />
das erste große Wahlgeschenk der Nachkriegszeit:<br />
die Anpassung der Rentenentwicklung<br />
an die Löhne, es war der Einstieg<br />
in die große Staatsverschuldung.<br />
Sein Nachfahre Schäuble hat solches<br />
Drängen ebenfalls erlebt, anders als Schäffer<br />
hat er ihm nicht standhalten können<br />
und die Gefälligkeiten verteilt. Hauptsache,<br />
die Null steht – auf dem Papier. Bezahlt<br />
werden muss leider trotzdem.<br />
2012 wird für das folgende Jahr die „einmalige“<br />
Absenkung des Bundeszuschusses<br />
für den Gesundheitsfonds um 2,5 Milliarden<br />
Euro angekündigt, so leiste auch dieser<br />
Bereich seinen „Sanierungsbeitrag“. Doch<br />
mit der Einmaligkeit ist es nicht weit. 2014<br />
werden dem Fonds gleich 3,5 Milliarden Euro<br />
entzogen, 2015 sollen es noch einmal 2,5<br />
Milliarden sein. Dass dies überhaupt möglich<br />
ist, liegt an einem Konstruktionsfehler<br />
des Fonds. Ebenso wie die Rentenversicherung<br />
hält der sich einen Liquiditätspuffer,<br />
der je nach Finanzlage steigt oder sinkt. Mit<br />
einem Unterschied: Bei der Rentenversicherung<br />
ist eine Höchstsumme festgelegt,<br />
wenn die erreicht ist, müssen die Beiträge<br />
gesenkt werden. Beim Gesundheitsfonds<br />
fehlt diese Grenze. So kann sich der Bund<br />
sogar noch rühmen, durch seinen Zuschuss<br />
die Beiträge für die Bürger stabil zu halten,<br />
obwohl er es ist, der Geld einbehält, dass<br />
den Bürgern versprochen war. Auch bei der<br />
Rente ist es trotz des eingebauten Automatismus<br />
nicht besser. Denn die koalitionsvereinbarte<br />
Mütterrente wurde nicht aus Bundesmitteln<br />
bezahlt, sondern den anspruchsberechtigten<br />
Frauen in Form zusätzlicher<br />
Rentenpunkte zugesprochen und<br />
aus der Rücklage finanziert. Dadurch entstehen<br />
zwar keine neuen Kosten, die 2013 in<br />
Aussicht gestellte Beitragsabsenkung von<br />
18,9 auf 18,3 Prozent aber fällt schlicht aus.<br />
Im Ergebnis bedeuten beide Schritte für<br />
Arbeitnehmer das Gleiche: Ihnen steht weniger<br />
Geld zur Verfügung. Der Weg dahin<br />
allerdings unterscheidet sich in dem Maße,<br />
in dem es auch dem Frosch nicht egal ist,<br />
ob sich das Wasser um ihn langsam erhitzt<br />
oder er in kochendes springen soll. Nur<br />
Letzteres nämlich tut weh.<br />
5. Die guten Zeiten<br />
werden einfach<br />
fortgeschrieben<br />
Wirtschaftswachstum in Deutschland<br />
(in Prozent <strong>vom</strong> BIP)<br />
2,0%<br />
2. Quartal 2014<br />
–0,2%<br />
* laut Haushaltsplan; Quelle: BMF, Destatis<br />
Prognose 2015*<br />
Die außergewöhnlich gute Konjunkturlage<br />
hat Schäubles Mannschaft offensichtlich<br />
dazu verleitet, auch bei ihren Schätzungen<br />
besonders optimistisch zu sein. Das zeigt<br />
sich zum einen bei der Erwartung des Wirt-<br />
FOTOS: EASTBLOCKWORLD.COM, ACTION PRESS/HENNING SCHACHT, LAIF/MICHAEL TRIPPEL<br />
24 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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FOTO: WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
schaftswachstums selbst. 1,8 Prozent erwartet<br />
die Bundesregierung für das laufende<br />
Jahr, 2,0 Prozent für das kommende.<br />
Dass die Wirtschaftsleistung im zweiten<br />
Quartal 2014 sogar gesunken ist und die<br />
Frühindikatoren gerade reihenweise abdrehen,<br />
findet vorerst keine Beachtung.<br />
Dabei ist die Bundesregierung zuletzt regelmäßig<br />
durch übermäßigen Optimismus<br />
aufgefallen. 2012 musste die Regierung<br />
ihre Prognose aus dem Vorjahr (1,8<br />
Prozent) um 1,1 Punkte nach unten korrigieren,<br />
2013 noch mal um 1,2 Punkte. In<br />
den Jahren direkt nach der Finanzkrise unterschätzte<br />
der Bund das Wachstum zunächst,<br />
die folgende Korrektur aber ging<br />
dann offenbar ein Stück zu weit.<br />
Dabei sind Fehler hier besonders fatal,<br />
da sie eine ganze Reihe falscher Prognosen<br />
nach sich ziehen: Entsprechend ihrer<br />
Rechnung, unterstellt die Bundesregierung<br />
bei den <strong>Ausgabe</strong>n für die Arbeitslosigkeit<br />
konstante Werte, die Zinskosten sollen sogar<br />
noch einmal sinken – es wäre das achte<br />
Jahr in Folge. Diese optimistische Grundstimmung<br />
zieht sich weiter durch den<br />
Haushalt. So geht das Finanzministerium<br />
davon aus, dass die Bahn im kommenden<br />
Jahr einen Überschuss von 706 Millionen<br />
Euro erzielt. Zum Vergleich: Im laufenden<br />
Jahr sind es nur 106 Millionen, auch in den<br />
vergangenen Jahren lag der Überschuss<br />
immer unter 300 Millionen. Auch der Energie-<br />
und Klimafonds soll 2015 aus dem<br />
Handel mit Emissionszertifikaten 900 Millionen<br />
Euro Einnahmen generieren. Zum<br />
Vergleich: 2013 sollten sogar zwei Milliarden<br />
Euro zusammenkommen, am Ende<br />
waren es nur 770 Millionen.<br />
Dennoch spricht viel dafür, dass die Null<br />
unter dem Haushalt 2015 am Ende tatsächlich<br />
steht. Zu sehr hat sich Schäuble<br />
auf diese Zahl festgelegt, zu wichtig ist sie<br />
für sein Selbstverständnis und das seiner<br />
gesamten Partei. Als er Anfang Juli erstmals<br />
den Kabinettsentwurf für den Haushalt<br />
2015 präsentierte, wurde er gefragt,<br />
warum ihm diese eine Zahl so wichtig sei.<br />
„Weil es in der Wirtschaft immer auch um<br />
Psychologie geht“, setzte Schäuble an, „ist<br />
die Null nicht nur irgendeine Zahl, sondern<br />
sie hat eine darüber hinausgehende<br />
Bedeutung: Sie schafft Vertrauen.“ Hier<br />
aber irrt der Herr Minister: Vertrauen gewinnt<br />
man nicht mit einer großen, runden<br />
Zahl, sondern dann, wenn all die kleinen<br />
Zahlen sich zu einem runden Ganzen zusammenfügen.<br />
Spätestens Schäubles<br />
Nachfolger wird das bitter bemerken. n<br />
konrad.fischer@wiwo.de, max haerder | Berlin<br />
Wolferwartungsland<br />
BRANDENBURG | Durch kein Bundesland geht so ein tiefer Riss:<br />
Während der Gürtel um Berlin erblüht, kämpfen ganze Regionen<br />
um den Anschluss. Was bedeutet das vor Ort?<br />
Still ruht Templin<br />
Bürgermeister Detlef<br />
Tabbert sucht nach<br />
neuen Bürgern<br />
Inder Not nimmt Detlef Tabbert Granit,<br />
Granitbänder, so viel Präzision muss<br />
sein. In Templin wird gerade eine Straße<br />
grundsaniert, und für den Gehweg hatte<br />
Bürgermeister Tabbert die Auswahl zwischen<br />
einem neuen hübschen Kopfsteinpflaster,<br />
das so gut hierher gepasst hätte –<br />
oder eben diesen großen, grauen Granitplatten.<br />
Nur hatte er das wirklich, eine Wahl?<br />
Tabbert schaltet im Gesicht ein Grinsen<br />
ein und erzählt, dass er jetzt selber gern erzählen<br />
würde, warum er das nur wegen<br />
der vielen jungen Frauen mit ihren hohen<br />
Hacken gemacht habe, aber... Als er entschied,<br />
hatte er in Wahrheit eben doch die<br />
vielen Senioren vor Augen, die mit den flachen<br />
Schuhen und den wackligen Beinen.<br />
„Bei uns“, sagt er, „ist der demografische<br />
Wandel schon da. Wir können uns nicht<br />
erst damit beschäftigen, wenn der Rollator<br />
Pflicht ist.“<br />
»Wir können<br />
nicht warten,<br />
bis der Rollator<br />
Pflicht ist«<br />
Detlef Tabbert, Bürgermeister von Templin<br />
EIN PENSIONSPARADIES<br />
Aus seiner Not spinnt Templins Bürgermeister<br />
nicht nur eine launige Geschichte,<br />
er macht daraus so etwas wie eine Geschäftsidee.<br />
Tabbert hat ein Parteibuch der<br />
Linken, aber er war 20 Jahre lang Unternehmer<br />
mit einer Leasingfirma, die landwirtschaftliches<br />
Gerät vermittelt hat. Das<br />
prägt. Das Konzept für seine Heimatstadt<br />
ist ein Ruhestandsrefugium, ein Pensionsparadies,<br />
überschaubar, aufgeräumt, idyllisch,<br />
mit Krankenhaus, Sole-Therme und<br />
Pflegeheim, Alleinstellungsmerkmal: aufregungsarm<br />
und stolperfrei. Dass die Geburtenrate<br />
auch hier nach unten geht, dass<br />
die Jungen weggehen, wenn die Schule fertig<br />
ist, all das kann Tabbert kaum verhindern.<br />
„Aber der Zuzug der Generation Ü<br />
60, der macht mir Freude.“<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 25<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
»<br />
Wenn das also seine Kunden sind, dann<br />
richtet er sich eben nach ihnen. Viele gebürtige<br />
Templiner sind unter den Rückkehrern,<br />
Menschen, die mit der Rente wieder<br />
zurück zu ihren Wurzeln wollen, aber auch<br />
zahlreiche Berliner, die hier die Gemächlichkeit,<br />
die Natur und die günstigen Mieten<br />
schätzen – und ab und an den Bahn-<br />
Stundentakt zum Abstecher in die große<br />
Hauptstadt.<br />
Eine Strategie für die Ewigkeit, das weiß<br />
Tabbert selbst, ist das nicht, aber immerhin<br />
ist es eine. Die Uckermark im Nordosten<br />
Brandenburgs, in der Templin liegt wie ein<br />
kleines, bescheidenes Schmuckstückchen,<br />
hat schließlich auch mit fast 15 Prozent die<br />
höchste Arbeitslosenrate der Republik,<br />
und die Stadt selbst macht da keine rühmliche<br />
Ausnahme. Die meisten hier sind<br />
langzeitarbeitslos, manche seit wenigen<br />
Jahren, andere haben schon seit der Wende<br />
keinen richtigen Job mehr gehabt. Die<br />
Unterstützung kostet eine Menge Geld, das<br />
für andere Dinge fehlt, und was die Sache<br />
am Schlimmsten macht: Hoffnung auf<br />
Besserung ist kaum in Sicht.<br />
Wie einen Mühlstein schleppt die ganze<br />
Region dieses Problem mit sich herum.<br />
Herausforderungen, so steht es in bemerkenswerter<br />
Offenheit im Leitbild der Stadt,<br />
stellten sich in Templin „noch zwingender,<br />
härter und zugespitzter als anderswo“. Man<br />
kann es nicht klarer formulieren.<br />
SCHRUMPFEN OHNE SCHMERZEN<br />
Man dürfe sich deshalb keinen falschen Illusionen<br />
hingeben, sagt Tabbert. „Wir<br />
müssen gnadenlose preußische Sparsamkeit<br />
an den Tag legen, anders werden wir<br />
nicht über die Runden kommen.“ Gewerbesteuern<br />
fließen eher spärlich, und für die<br />
knapp 16 000 Einwohner erreichen die Gemeinde<br />
auch nur recht überschaubare<br />
Schlüsselzuweisungen. Es gibt immerhin<br />
eine traditionsreiche und zugleich innovative<br />
Holzindustrie, aber die anderen großen<br />
Arbeitgeber sind das Krankenhaus<br />
und ein Pflegeheim. Wachsen, das ahnt<br />
wohl auch der Bürgermeister, wird Templin<br />
nicht mehr. Wenn es gelingt, das<br />
Schrumpfen zu verlangsamen, und das ohne<br />
zu große Schmerzen, dann wäre schon<br />
viel gewonnen.<br />
Umso mehr muss man zeigen, was man<br />
hat, gerade weil es nicht so viel ist. Es gibt<br />
zum Beispiel eine kleine Broschüre über<br />
„Kunst & kreatives Schaffen“ in Templin,<br />
auf die man im Rathaus sehr stolz ist. Rund<br />
40 Maler, Grafiker, Bildhauer und Fotografen<br />
leben hier – „Interesse erwünscht“<br />
Der Funke springt nicht über Unternehmer<br />
Holger Pleske sucht Azubis<br />
»Eine 2 oder 3<br />
im Zeugnis ist<br />
mir bei Azubis<br />
nicht so wichtig«<br />
Holger Pleske, Geschäftsführer MAP<br />
steht gleich auf dem Cover. Auch deshalb<br />
wurde gerade mehr als eine Million Euro in<br />
die Sanierung des Hauses der Jugend und<br />
der Kunst am Altstadtrand gesteckt. Mit der<br />
Universität Potsdam hat sich Tabbert außerdem<br />
ein Schnupperprogramm ausgedacht:<br />
Lehramtsstudenten, die sich für ihr<br />
Schulpraktikum drei Monate in den Brandenburger<br />
Norden trauen, können im<br />
größten Hotel des Ortes umsonst wohnen.<br />
„Zwei Frauen“, freut er sich, „machen jetzt<br />
hier ihr Referendariat.“ Zwei Lichtblicke gegen<br />
den großen dunklen Trend.<br />
Nichts beschreibt die Misere in der Brandenburger<br />
Peripherie so treffend wie ein<br />
einziges Wort, das hier zum stehenden Begriff<br />
geworden ist: Wolferwartungsland.<br />
Wo der Mensch geht, wo die Dörfer langsam<br />
sterben, da übernehmen die Tiere.<br />
So klingt die bittere Wahrheit, allerdings<br />
nur ein gewisser Teil von ihr. Denn neben<br />
der darbenden Provinz gibt es im märkischen<br />
Land auch erblühende Flecken, voller<br />
Aufbruch und Zuversicht. Sie liegen fast<br />
alle wie ein pulsierender Ring um Berlin.<br />
Wer in diesem Speckgürtel Bauland für ein<br />
Häuschen kaufen möchte, muss mittlerweile<br />
96 Euro pro Quadratmeter bezahlen,<br />
2012 waren es noch 79 Euro. Viel weiter<br />
draußen ist der Grund hingegen schon für<br />
36 Euro zu bekommen. Es sind ein paar der<br />
offenkundigen Spuren eines Risses, der<br />
dieses Land prägt.<br />
„Die Wachstumskerne Brandenburgs<br />
verteilen sich um die Hauptstadt herum“,<br />
bilanziert Axel Lindner, Ökonom am Institut<br />
für Wirtschaftsforschung Halle. „Sie haben<br />
sich in den vergangenen Jahren wesentlich<br />
besser entwickelt als das flache<br />
Land.“ Aufstieg und Abstieg vollziehen sich<br />
gleichzeitig. Das Ergebnis: „Die Unterschiede<br />
zwischen den Regionen sind im<br />
Osten massiv, und in Brandenburg sieht<br />
man dies besonders deutlich“, sagt Lindner.<br />
Die Politiker, die für die Landtagswahl<br />
am 14. September um Stimmen werben,<br />
verschleiern diesen Zustand lieber. Auf<br />
den Veranstaltungen des SPD-Ministerpräsidenten<br />
Dietmar Woidke etwa werden<br />
kleine Einspielfilmchen gezeigt, darunter<br />
einer, in dem es heißt: „Wir wollen gut leben,<br />
überall in unserem Land.“ So wenig<br />
Realitätssinn muss an Wählerzumutung<br />
reichen. Im Wahlprogramm der CDU, die<br />
gerne anstelle der Linken wieder mitregieren<br />
würde, steht der Satz: „Wir erwarten<br />
vor allem, dass sich die grundlegenden Lebensbedingungen<br />
in den Regionen fernab<br />
der Hauptstadt nicht verschlechtern.“ Nur<br />
wie das auch in Zukunft ganz konkret ge-<br />
FOTO: WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
26 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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lingen soll, mit – Tendenz sinkend – 2,5<br />
Millionen Einwohnern auf einer Fläche,<br />
die fast so groß ist wie ganz Belgien, darüber<br />
wird geflissentlich geschwiegen, und<br />
zwar bei allen Parteien.<br />
Es könnten bescheidene, aber tatkräftige<br />
Brandenburger wie Holger Pleske und<br />
seine mehr als 270 Mitarbeiter sein, die einen<br />
gehörigen Anteil dazu beitragen,<br />
wenn dieser Wandel glimpflich ablaufen<br />
soll. Pleske ist Geschäftsführer der MAP<br />
Maschinen- & Apparatebau Produktions<br />
GmbH in Rathenow. Hier, im Havelland<br />
westlich von Berlin, werden einige der<br />
kleineren und größeren Erfolgsgeschichten<br />
geschrieben, die ihren Ausdruck dann<br />
in hübschen Statistiken finden, die man<br />
schon eher in den Reden und Broschüren<br />
der wahlkämpfenden Parteien findet.<br />
Aber Erfolge sind es durchaus: Im vergangenen<br />
Jahr stieg die Zahl der sozialversicherungspflichtigen<br />
Jobs im Havelland<br />
so stark wie nirgendwo sonst in Brandenburg<br />
– um 4,6 Prozent. Beim Abbau der Arbeitslosigkeit<br />
liegt das Bundesland auch<br />
dank solcher Zahlen im nationalen Vergleich<br />
schon seit Längerem vorne (was<br />
Brandenburg im Bundesländer-Dynamikranking<br />
der WirtschaftsWoche regelmäßig<br />
Spitzenplätze einbrachte – trotz Uckermark).<br />
Bei Holger Pleske lässt sich dieser Aufschwung<br />
an der Pinnwand seines nüchternen<br />
Büros besichtigen. Dort hängt ein ausgerissener<br />
Artikel aus der Lokalzeitung,<br />
mit dem großen Foto eines gewaltigen<br />
Containerschiffes. MAP fertigt unter anderem<br />
Motorengehäuse für Siemens, die in<br />
genau diesen Giganten benötigt werden.<br />
Ein bisschen Rathenow schippert also mit<br />
auf den Routen der Globalisierung zwischen<br />
Rotterdam, Singapur und Hongkong.<br />
Draußen vor den Werkshallen stehen<br />
zwei Flugzeugattrappen mit Flügel<br />
und Turbine aus Stahl, die auf Knopfdruck<br />
in Flammen gesetzt werden können. Flughafen-Feuerwehren<br />
proben an ihnen den<br />
Ernstfall, diese beiden warten auf den<br />
Transport nach Italien.<br />
SCHWERE SUCHE<br />
„Gut schweißen“, sagt Pleske, „können<br />
sehr viele Unternehmen. Auch die mechanische<br />
Bearbeitung großer Bauteile machen<br />
einige. Aber beides zusammen, das<br />
beherrschen dann doch nur wenige.“ 2004<br />
wurde MAP aus der Insolvenzmasse dreier<br />
Vorgängerbetriebe gegründet, 2007<br />
folgte die Übernahme durch eine westdeutsche<br />
Maschinenbaugruppe. Damals<br />
hatte MAP rund 200 Mitarbeiter, mittlerweile<br />
sind rund 70 mehr im Unternehmen,<br />
auch dank Investitionen von rund 15<br />
Millionen Euro. „Heute haben wir alle Bedingungen,<br />
um produktiv arbeiten zu<br />
können“, sagt Pleske. „Die Entwicklung<br />
war hervorragend.“<br />
Neben der Brillenkette Fielmann, die in<br />
Rathenow ein Produktions- und Logistikzentrum<br />
aufgebaut hat, ist MAP einer der<br />
größten Arbeitgeber im 22 000-Einwohner-Städtchen.<br />
20 Azubis bildet die Firma<br />
gerade aus, nicht wenig. Aber die Suche<br />
nach geeigneten Kandidaten fällt immer<br />
schwerer. Zum einen, weil es einfach immer<br />
weniger Bewerber werden, zum anderen<br />
sinkt das Niveau. „Wir müssen über<br />
Ausbildung einen Großteil unseres Bedarfs<br />
an guten Mitarbeitern decken“, sagt<br />
Pleske. „Eine 2 oder 3 im Zeugnis ist mir da<br />
nicht so wichtig, technikverliebt müssen<br />
sie sein.“ Es klingt schon nicht mehr ganz<br />
so optimistisch.<br />
Viele Mitarbeiter kommen morgens auf<br />
dem Fahrrad in den Betrieb, für die Suche<br />
nach Azubis reicht ein solcher Radius<br />
längst nicht mehr aus. Aus mehr als 50 Kilometer<br />
Entfernung kommen mittlerweile<br />
Bewerber. MAP ist offensichtlich attraktiv<br />
genug, aber es ist doch ein Symptom der<br />
Schwäche, dass selbst im boomenden Havelland<br />
schon sehr bald Grenzen erreicht<br />
sein könnten.<br />
LOCKEN UND HOFFEN<br />
Geschäftsführer Pleske merkt das ja, bei<br />
sich ganz persönlich. Er selbst ist in Rathenow<br />
mehr als heimisch, aber wenn er darüber<br />
spricht, wie Kneipennächte wegen<br />
Lärms verhindert werden, dann merkt<br />
man, wie er zweifelt. Weil es an Kinos fehlt<br />
und an Discos. Weil die Bundesgartenschau,<br />
die 2015 in Rathenow stattfinden<br />
wird, die Kids nun wirklich nicht <strong>vom</strong> Hocker<br />
reist. Ende September wird Pleske alle<br />
Mitarbeiter zum zehnjährigen Firmenjubiläum<br />
auf das Gelände einladen, es soll ein<br />
Familienfest werden, mit Musik und einer<br />
Hüpfburg für die Kinder. Für die etwas Älteren<br />
soll es Entdeckungstouren durch die<br />
Werkshallen geben – neugierig machen, locken.<br />
Vielleicht, hofft er, kann man jemand<br />
begeistern<br />
Pleske hat selbst zwei Kinder. Ein Sohn<br />
von ihm studiert in Dresden. Ob der jemals<br />
dorthin zurückkehren wird, wo er aufgewachsen<br />
ist? „Soll ich ihm raten, hier zu<br />
bleiben?“, fragt der Vater.<br />
Sein Schweigen ist die Antwort. n<br />
max.haerder@wiwo.de | Berlin<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 27<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Große Idee, kleines Karo<br />
FDP | Christian Lindner muss seine Partei darauf einschwören, Freiheit konsequent zu denken.<br />
Tut er es nicht: Gute Reise! Sechs Thesen zu Krise und Rettung des Liberalismus in Deutschland.<br />
Essind mal wieder keine guten Wochen für den organisierten<br />
Liberalismus in Deutschland. Die FDP flog in Sachsen aus<br />
dem Parlament. Sie ist an keiner Regierung mehr beteiligt,<br />
nicht im Bundestag vertreten, nicht in den Landtagen von Bayern<br />
und Rheinland-Pfalz, und nach den Landtagswahlen nächste Woche<br />
in Thüringen und Brandenburg werden die Ost-Parlamente<br />
FDP-frei sein. Abgemeldet ist die FDP in den Medien. Kein<br />
Mensch weiß mehr, wie ein Liberaler zu Ukraine und Putin steht,<br />
zu Waffenlieferungen in den Irak, zur EZB-Politik oder zum Mindestlohn.<br />
Oder besser gesagt: Kein Mensch will es mehr wissen.<br />
Wenn aber die FDP tatsächlich am Ende ist, personell ausgehöhlt,<br />
medial verachtet, institutionell marginalisiert und programmatisch<br />
zersplittert – was wird dann aus der schönen Tradition des<br />
Liberalismus? Hat das Ideal der individuellen Freiheit in Deutschland<br />
noch eine Zukunft? Eine Antwort in sechs Thesen:<br />
1. DER LIBERALISMUS STECKT IMMER IN DER KRISE<br />
Stellen wir uns einen Marktplatz vor, auf dem drei Händler – der<br />
Konservative, der Sozialdemokrat und der Liberale – um Aufmerksamkeit<br />
wetteifern. Wir sehen, wie der Konservative mit politischem<br />
Gemüse handelt, der Sozialdemokrat politisches Obst feilbietet<br />
– und wie der Liberale das große Nichts anpreist. Er weist<br />
nur auf die gähnende Leere vor sich hin und ruft: „Euren Hunger<br />
müsst ihr schon selber stillen.“ Kein Wunder also, dass die meisten<br />
Kunden sich <strong>vom</strong> Liberalismus abwenden. Im Unterschied zu den<br />
beiden anderen traditionellen politischen Stilrichtungen hat er<br />
den Menschen nichts Bejahbares anzubieten. Die Konservativen<br />
schöpfen aus dem reichen Reservoir der (nationalen) Kultur und<br />
Geschichte. Sie bauen auf Bewährtes und hüten die Tradition. Sie<br />
hegen überlieferte Ordnungen und vertrauen auf die zivilisierende<br />
Kraft gewachsener Institutionen. Die Sozialdemokraten wiederum<br />
haben immer die Zukunft, den Fortschritt und das große Ganze im<br />
Blick, die Gesellschaft, den Staat und den Weltfrieden. Sie erheben<br />
Utopia zum Menschheitsziel und dienen sich uns als Navigatoren<br />
auf dem Weg dorthin an, angetrieben von der erneuerbarsten aller<br />
politischer Energien, der „sozialen Gerechtigkeit“. Allein der Liberalismus,<br />
der lässt uns im Stich. Der hält uns hinein in die Welt, wie<br />
sie ist – und gibt uns einen Stups. Der erteilt uns keine Ratschläge<br />
und weist uns keine Richtung, kennt weder Herkunft, Weg noch<br />
Ziel. Der Liberalismus ist eine einzige Zumutung. Er zwingt uns die<br />
Freiheit auf, irgendwas aus ihr zu machen. Als politisches Angebot<br />
– kalt, leer und höchst anspruchsvoll zugleich – steckt er daher immer<br />
in der Krise.<br />
IN DER FDP WEISS NIEMAND EINEN AUSWEG<br />
Der bullige Mann schüttelt ratlos den Kopf. Auch einige Tage<br />
nach dem Ausscheiden aus dem Dresdner Landtag kann<br />
Holger Zastrow das Scheitern nicht verstehen. „Wir haben<br />
gekämpft wie die Löwen, wir haben alles versucht, haben<br />
alle unsere Versprechen gehalten.“ Die Begründungen<br />
sprudeln nur so hervor, warum die Liberalen noch dabei sein<br />
müssten. Eigentlich. „Wir haben den besten Wahlkampf<br />
gemacht, den Respekt haben uns selbst die Gegner gezollt.<br />
Und trotzdem hat es nicht gereicht.“ Pause. „Dieses Ergebnis<br />
ist so ungerecht. Leistung lohnt sich nicht – das gilt<br />
auch hier.“<br />
Ratlosigkeit auch im Thomas-Dehler-Haus, der Berliner<br />
Parteizentrale. Man hat nun alles versucht: sanfte Wahlkämpfe,<br />
damit die FDP wieder „gemocht“ werden sollte, wie<br />
der Ex-Parteichef Philipp Rösler einmal sagte: für Lohnuntergrenzen,<br />
die man Mindestlohn nicht nennen mochte; für<br />
eine nur leicht modifizierte Energiewende; und keine Steuersenkungen.<br />
Man hat klare Kante probiert wie in Sachsen:<br />
gegen Windräder, gegen Ökosubventionen, gegen jeden<br />
Mindestlohn; für Steuerentlastungen trotz Sparpolitik. Das<br />
Ergebnis war stets dasselbe: FDP unterm Strich.<br />
»<br />
Mag schon sein, aber:<br />
Was ist mit der stolzen<br />
Tradition des Liberalismus?<br />
Hat das Ideal der<br />
individuellen Freiheit in<br />
Deutschland noch eine<br />
Zukunft? Und wenn ja:<br />
welche? Bezeichnend,<br />
dass die FDP darauf<br />
nur rückwärtsgewandte<br />
Antworten weiß.<br />
FOTO: BERLINPRESSPHOTO/HENNING SCHACHT<br />
28 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
»<br />
Früher, wenn die Partei dahinsiechte, gab es immer<br />
innerparteiliche und außenstehende Besserwisser, die zumindest<br />
eine Idee hatten, was die Liberalen anders machen<br />
könnten. Heute hat niemand eine Idee. Nur etwas Stolz<br />
ist Zastrow geblieben: „Die CDU hat eine Zweitstimmenkampagne<br />
gemacht, wir nicht. Wir haben nicht um Mitleid<br />
gebettelt.“<br />
2. FREIHEIT IST UNTEILBAR<br />
Von Wirtschaftsnobelpreisträger Milton Friedman stammt<br />
ein Satz, der den Wirtschaftsliberalismus alter Schule quintessentiell<br />
zusammenfasst: „The business of business is business.“ Der<br />
Unternehmer hat sein Unternehmen zu führen, so Friedman, und<br />
wenn er das erfolgreich tut, dann füllt er damit nicht nur sein<br />
Portemonnaie, sondern auch die Konten seiner Mitarbeiter (Löhne)<br />
und Miteigentümer (durch die Steigerung des Profits). Er füllt<br />
mit seinen Produkten die Regale (zum Wohle der Kunden) – und<br />
erfüllt damit seine gesellschaftliche Aufgabe. Aber stimmt das<br />
überhaupt? Kann man nach der ungeheuren Konzentration von<br />
Macht und Vermögen in der Hand von Privatpersonen, Banken<br />
und (Daten-)Konzernen und nach dem Aufstieg von autoritären<br />
Staatskapitalismen in China oder Russland noch daran glauben,<br />
dass das Geschäft des Geschäfts nichts anderes als das<br />
Geschäft zu sein hat? Offenbar nicht. Aber warum stimmt die<br />
Rede <strong>vom</strong> demokratischen Wandel nicht mehr, der mit dem<br />
Handel einhergeht?<br />
Nun, eine Antwort wüsste ausgerechnet Friedman. Er hatte 1976<br />
kein Problem, Chiles Militärjunta „technischen wirtschaftlichen<br />
Rat zu geben“ – und damit nicht nur die materielle Not vieler<br />
Chilenen gelindert, sondern auch die Idee der unteilbaren Freiheit<br />
verraten. Seither sind wirtschaftliche und politische Freiheit keine<br />
Zwillinge mehr. Seither neigen Liberale dazu, „der Wirtschaft“<br />
Vorfahrt vor „der Politik“ zu gewähren. Echte Liberale wie Ralf<br />
Dahrendorf oder Karl-Hermann Flach hätten sich für solche<br />
Vereinseitigungen der Freiheitsidee geschämt. Ihr Liberalismus<br />
meinte den „Freiheitsdrang der Menschen“. Und ihr Wirtschaftsliberalismus<br />
meinte leistungsfördernden Wettbewerb innerhalb<br />
eines staatlichen Ordnungsrahmens – und keinen Businessclass-<br />
Liberalismus, der die Marktmacht von globalen Konzernen protegiert,<br />
die liberale Demokratie als Fessel des Marktes schmäht und<br />
sich vor autoritativen Staaten ihrer „wirtschaftlichen Freiheit“<br />
wegen verneigt.<br />
DIE FLÜGEL DER FDP STREBEN AUSEINANDER<br />
Mitglieder der „Libertären Plattform“ in der FDP halten das<br />
Verbot von Flatrate-Sex für einen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht<br />
der Hure und die Möglichkeit des Zigarettenkonsums<br />
in Russlands Gaststätten für einen Ausdruck<br />
von Wladimir Putins Freiheitswillen. Etliche Freidenker haben<br />
die Partei schon wegen des Widerspruchs verlassen,<br />
gleichzeitig Verfechterin der wirtschaftlichen Vernunft und<br />
des Rechtsstaats zu sein – und trotzdem für die Euro-Rettung.<br />
In der „Liberalen Vereinigung“ sammeln sich ehemalige<br />
FDP-Anhänger aller Schattierungen. Die Hamburger Landesvorsitzende<br />
Sylvia Canel, auch sie Gegnerin der Euro-<br />
Rettungspolitik, ist vergangenen Montag aus der FDP ausgetreten,<br />
um mit 35 gleichgesinnten Hanseaten eine neue<br />
Partei zu gründen, eine sozialliberale.<br />
3. FREIHEIT UND SICHERHEIT SIND VEREINBAR<br />
Liberale neigen dazu, den modernen Sozialstaat zu verunglimpfen,<br />
weil sie hinter jedem Zuwachs staatlicher Fürsorge eine Freiheitsberaubung<br />
wittern und hinter jeder sozialpolitischen Maßnahme<br />
eine Gleichmacherei, die die Spannkraft ihrer Nutznießer<br />
lähmt. Denkt man diesen Gedanken zu Ende, wäre der Erfolg der<br />
Bundesrepublik eine einzige Dekadenzgeschichte. Das aber ist,<br />
mit Verlaub, Unsinn. Denn natürlich hat der Zuwachs an sozialer<br />
Sicherheit die Freiheit der Menschen nicht nur gelähmt, sondern<br />
auch gestärkt und Deutschland noch dazu innerlich befriedet.<br />
Vielleicht liegt die Krise des Liberalismus ja exakt darin begründet:<br />
dass uns seine Vertreter seit 150 Jahren in endlosen Reprisen<br />
einen „Mangel an Reife zur Freiheit“ attestieren – und uns dem<br />
immer gleichen Vorwurf aussetzen, wir seien sicherheitsverliebte<br />
Herdentiere, die nur darauf warten, sich von einem fürsorglich-paternalistischen<br />
Staat auf sattgrüne Weiden führen zu lassen.<br />
Tatsache ist, dass die Sache der Freiheit in den westlichen Wohlfahrtsstaaten<br />
weder gewonnen hat noch verloren ist. Allein ihre<br />
Ambivalenz hat stetig zugenommen. Der wissenschaftlich-technische<br />
Fortschritt, die Ausdifferenzierung der Gesellschaft und das<br />
wirtschaftliche Wachstum haben uns einerseits schier unendliche<br />
Spielräume eröffnet: „Nie zuvor hatten so viele Menschen so große<br />
Lebenschancen wie heute“ (Ralf Dahrendorf)– doch nie zuvor waren<br />
wir zugleich von so vielen anonymisierten Prozessen, systemischen<br />
Logiken, unternehmerischen Zwängen und politischen<br />
Alternativlosigkeiten bedrängt. Der klassische Liberalismus hat<br />
»<br />
Konkurrenz I<br />
Die CDU schöpft<br />
aus dem reichen<br />
Reservoir der Kultur<br />
und Geschichte,<br />
baut auf überlieferte<br />
Ordnungen und<br />
hütet die Tradition.<br />
Und Angela Merkel<br />
selbst? Ist vielleicht<br />
nicht konservativ.<br />
Aber sie personifiziert<br />
das Bewährte.<br />
Konkurrenz II<br />
Die Sozialdemokraten<br />
haben die<br />
Zukunft, den Fortschritt<br />
und den<br />
Weltfrieden im<br />
Blick. Und Sigmar<br />
Gabriel? Ist immer<br />
angetrieben von der<br />
erneuerbarsten aller<br />
politischen Energien:<br />
der „sozialen<br />
Gerechtigkeit“.<br />
FOTOS: LAIF/DOMINIK BUTZMANN<br />
30 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
»<br />
aus dieser Ambivalenz seine Kraft bezogen und die zentralen<br />
Fragen der Neuzeit aufgeworfen: In welchem Verhältnis stehen<br />
Gleichheit und Freiheit zueinander, Sicherheit und Eigenverantwortung,<br />
Individuum und Staat? Damals, im 18. Jahrhundert, war<br />
er ein avantgardistisches Programm, das auf die Begrenzung der<br />
absoluten Königs- und Fürstenmacht abzielte. Heute, nach all den<br />
großen Siegen der Freiheit und all ihren kleinen Niederlagen, weiß<br />
die FDP auf diese Fragen nur steinalte Antworten.<br />
4. EIN NEUER EIGENTUMS- UND FREIHEITSBEGRIFF<br />
Der Eigentumsbegriff der Liberalen basiert auf einer groben Verkürzung.<br />
Er geht bekanntlich auf den englischen Philosophen John<br />
Locke zurück, der vor 300 Jahren sinngemäß meinte, dass ein freier<br />
Mensch alles, was er der Natur durch seiner Hände Arbeit abringt,<br />
auch sein Eigen nennen darf. Was viele Vulgärliberale dabei gerne<br />
vergessen, ist Lockes Nachsatz: solange „ebenso gutes den anderen<br />
gemeinsam verbleibt“. Anders gesagt: Lockes Eigentumsbegriff will<br />
zwar dem Reichtum keine Grenzen setzen, wohl aber der Armut. Er<br />
erzählt – im 17. Jahrhundert – noch nichts von einer lohnabhängigen<br />
Arbeiterklasse, die – im 19. Jahrhundert – kein Eigentum am Ertrag<br />
ihrer Arbeit hat und von schottischen Moralphilosophen dafür<br />
schulterzuckend bedauert wird, bei der „great lottery of life“ eine<br />
Niete gezogen zu haben. Auch rechtfertigt Locke gewiss nicht die<br />
möglichst steuerfreie Vererbung von Eigentum. Vor allem aber geht<br />
Locke – 160 Jahre bevor die „frontier“ in der Neuen Welt den Mississippi<br />
erreicht – noch von unbegrenzten Ressourcen aus. Davon<br />
kann heute erkennbar keine Rede mehr sein – und der Wirtschaftsliberalismus<br />
hat lange Zeit nicht mal ansatzweise durchblicken lassen,<br />
dass er auf die Frage der Nutzung von endlichen oder gefährdeten<br />
Gemeingütern (Wald, Klima, Wasser, Öl) eine Antwort wüsste.<br />
JETZT MAL WIEDER KLARE KANTE STATT SÄUSELN<br />
Weil gerade mal ein Prozent der Wähler bei der FDP Kompetenz<br />
für die Zukunft sieht, so die Allensbacher Meinungsforscher,<br />
kann der Parteichef getrost neue Parolen ausgeben.<br />
Einen Vorwurf, der ihm ob einstiger Absetzbewegungen <strong>vom</strong><br />
kühlen Steuersenkungskurs gemacht wurde, nutzt er nun<br />
zur Abgrenzung von seinem Vorgänger: „Was wir in der Bundesregierung<br />
abgeliefert haben, das war Säuselliberalismus<br />
und teilweise anti-liberal.“ Ende 2011 hatte er sich aus der<br />
Bundespolitik zurückgezogen – aus Protest gegen Philipp<br />
Röslers Art und Leise. „Eine Energiewende mit horrenden<br />
Subventionen und planwirtschaftlicher Steuerung hat mit<br />
Liberalismus und Marktwirtschaft nichts zu tun.“<br />
Nun predigt Lindner seiner Partei „eine radikalere und<br />
konsequentere Ausrichtung“, und das heißt vor allem: „Wir<br />
wollen wieder klar als Partei der Marktwirtschaft erkennbar<br />
sein, das war in der Zeit der schwarz-gelben Koalition nicht<br />
der Fall. Wir wollen die kalte Progression abschaffen, wir<br />
sind gegen die zur Klima-Religion erhobene Energiewende.<br />
Wir sagen ja zum Freihandel.“ Dass die Bürger dem Freihandelsabkommen<br />
TTIP misstrauen, soll die Liberalen nicht anfechten.<br />
Inhaltlich trennt Lindner nichts <strong>vom</strong> Sachsen Zastrow.<br />
Doch der Ostdeutsche aus der früheren Bürgerbewegung<br />
fühlt anders: „Freiheit ist für mich ein emotionales Erlebnis.<br />
Die FDP ist interessengeleitet und hat eine Funktion.“<br />
Der frühere CDU-Innenminister Manfred Kanther spottete<br />
gern: „Liberale sind Konservative, denen der Porsche noch<br />
nicht geklaut wurde.“ Lindner versucht die Gratwanderung,<br />
wie der Staat Freiheitsbedrohungen zu wehren habe. „Wir<br />
wollen einen Staat, der die Grundrechte und die bürgerlichen<br />
Freiheitsrechte achtet, der aber auch das Recht<br />
durchsetzt, wo es bedroht wird, beispielsweise durch Kriminalität.“<br />
Einen ganz ähnlichen Doppelklang intoniert er für<br />
Schulen und Hochschulen: „Wir wollen ein faires und aufstiegsorientiertes<br />
Bildungssystem, aber wir verlangen Leistung<br />
und schaffen nicht die Schulnoten ab.“<br />
Auch der Freiheitsbegriff der Liberalen benötigte eine Auffrischung.<br />
Seine klassische Definition stammt von John Stuart Mill, der<br />
– ähnlich wie Locke – „Schädigung anderer“ zur Grenze der Freiheit<br />
erhebt. Es ist bekannt, dass die übrigen Politikanbieter dazu neigen,<br />
diese Grenze immer weiter hinein ins Reich der individuellen Freiheit<br />
zu treiben: Ein neues Kohlekraftwerk in der Kamtschatka, so lässt<br />
sich argumentieren, schädigt die Lebensgrundlagen meines nicht<br />
geborenen Enkels, also gehört sein Bau verboten. Viele FDP-Liberale<br />
wiederum antworten auf die Ausweitung der Sorgenzone noch immer<br />
mit einer allzu einfachen Formel: Freiheit bedeutet, hier und<br />
heute tun zu können, was man will. Mein Porsche gehört mir!<br />
Der anspruchsvollen und gleichsam öffentlichen Aufgabe, eine<br />
qualitative Bestimmung von Freiheit vorzunehmen: Welche Freiheiten<br />
schaden? Welche wollen wir dennoch dulden? Welche sollen<br />
unantastbar sein? – dieser Aufgabe weichen die FDP-Liberalen seit<br />
Jahren aus – mit der Folge, dass der Diskurs an der FDP vorbei stattfindet.<br />
Denkfaule Liberale missverstehen Mills „individuelle“<br />
»<br />
FOTOS: DDP IMAGES/UNITED ARCHIVES, AKG/GLASSHOUSE IMAGES<br />
Tradition I<br />
Von John Locke<br />
(1632–1704)<br />
stammt die liberale<br />
Definition des Eigentums.<br />
Was die FDP<br />
bis heute nicht verstehen<br />
will: Der<br />
englische Philosoph<br />
wollte zwar dem<br />
Reichtum keine<br />
Grenzen setzen,<br />
wohl aber der Armut.<br />
Tradition II<br />
Von John Stuart Mill<br />
(1806–1873)<br />
stammt die liberale<br />
Definition der Freiheit.<br />
Was die FDP<br />
bis heute nicht verstehen<br />
will: Der<br />
englische Philosoph<br />
stellte dem Egoismus<br />
von Hier-und-<br />
Jetzt-Ichlingen keinen<br />
Freibrief aus.<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 31<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
»<br />
Freiheit immer noch als Hier-und-Jetzt-Freibrief für Ichlinge –<br />
und nicht als eine Praxis steuernder Kontrolle über das eigene<br />
Leben, als Fähigkeit, die wir mit Blick auf andere zu verwirklichen<br />
haben. Freiheit im Sinne von Mill ist:Wahlfreiheit. Sie besteht nicht<br />
in der Abwesenheit äußerer Hindernisse, sondern darin, dass wir<br />
bestimmten Zielen größere Bedeutung beimessen als anderen.<br />
5. WIDER DIE UNFREIHEIT!<br />
Was Liberale gern vergessen: Die Erschließung von Räumen der Freiheit<br />
geht ihrer Nutzung voran. Liberalismus bezeichnet also eine Impulsbewegung,<br />
die auf die Abschaffung der Unfreiheit zielt.<br />
Der Vormarsch der Islamisten in Syrien und im Irak, die Missachtung<br />
der Menschenrechte in China, die russische Offensive gegen die<br />
Ukraine – es gibt in diesen Wochen viele Beispiele, die verdeutlichen,<br />
dass der Liberalismus von einer elementaren Definition dessen bestimmt<br />
werden sollte, was Unfreiheit bedeutet: in der Macht eines<br />
anderen zu stehen. Der nicht geringste Vorzug eines solchen „Liberalismus<br />
der Furcht“ (so die amerikanische Politologin Judith Shklar)<br />
besteht darin, dass er die politische Universalvokabel der „Gerechtigkeit“<br />
ausklammert, um sich die Wachsamkeit dafür zu erhalten, was<br />
ungerecht ist:Repression, Hunger, Ausbeutung. Zweitens aber ist ein<br />
solcher Liberalismus darum bemüht, alle Formen von Macht als Bedrohung<br />
der Freiheit zu identifizieren, also nicht nur staatliche<br />
Macht, sondern zum Beispiel auch Macht, die Wirtschaftsunternehmen<br />
auf sich vereinen.<br />
Anders gesagt: Der Blick eines solchen Liberalismus fällt nicht nur<br />
mit Wohlgefallen auf die „wirtschaftliche Freiheit“ in Singapur, sondern<br />
immer auch kritisch auf die politische Unfreiheit dort. Er hat seinen<br />
Ausgangspunkt nicht (nur) in den Handelsräumen der Wall<br />
Street, sondern auch in den Fabriken von Bangladesch. Sein Maßstab<br />
ist nicht nur die Freiheit des Arbeitgebers, seine Angestellten zu behandeln,<br />
wie es ihm dünkt, sondern auch die Freiheit des Angestellten,<br />
vor Drohungen und schlecht bezahlter Rumschubserei sicher zu<br />
sein. Alles in allem ist es ein Liberalismus, der die „Gewissheiten“ des<br />
Liberalismus der FDP-Liberalen in den vergangenen 20 Jahren auf<br />
den Kopf stellt: Frei ist, wer nicht erniedrigt, verletzt und gedemütigt<br />
werden kann.<br />
GLAUBWÜRDIGKEIT LÄSST SICH NICHT BEWEISEN<br />
Ja, im Bundestag fehlt eine marktwirtschaftliche Partei. Aber<br />
das war in den vier Jahren zuvor auch schon der Fall. Dass sie<br />
künftig ihre Versprechen halten würde, kann die FDP nicht<br />
beweisen. Sie regiert nirgends mehr. Die höchstrangigen Liberalen<br />
sind der Wehrbeauftragte und der Präsident des Kartellamts<br />
– beide zu parteipolitischer Neutralität verpflichtet.<br />
„Wir müssen jetzt in der 2. Liga bis zum Saisonende durchspielen“,<br />
ist Lindner realistisch. „Wenn der Aufstieg in den<br />
Bundestag gelingt, sind wir als ‚Comeback-Kids‘ wieder für<br />
die Medien interessant.“ Freilich: Der Letzte der FDP-Boygroup<br />
zählt aus Sicht klassischer liberaler Triple-A-Wähler –<br />
Ärzte, Anwälte, Apotheker – immer noch zu den: „Kids“<br />
Sachsen-Wahlkämpfer Zastrow möchte nun aus der Jugend<br />
eine Tugend machen. Wenn man schon eine so junge<br />
Führungsriege hat, dann „müssen wir jetzt außerhalb des<br />
Parlaments eine Bewegung für die jüngere Generation werden.<br />
Wir haben mit Christian Lindner einen jungen Repräsentanten.“<br />
Die aktuelle Regierung ruiniere die Basis für die<br />
Zukunft. „Was ist für junge Leute heute einfacher als früher?<br />
Nichts. Wieso muss die nächste Generation vier Jahre länger<br />
arbeiten als die, die heute mit 63 aufhören darf?“<br />
6. DIE LIBERALEN ALS TUGENDWÄCHTER<br />
Die Liberalen müssten heute als Kämpfer gegen jede Form von elementarer<br />
Unfreiheit auftreten – und als ehrliche Makler einer qualitativ<br />
bestimmten Freiheit. Liberale sorgen sich nicht (nur) um die<br />
Geschäfts- und Gemütslage Russlands, sondern (vor allem) um die<br />
Informations- und Meinungsfreiheit der russischen Bürger. Sie fördern<br />
nicht durch ordnungspolitische Passivität einen staatlich lizenzierten<br />
Bankensektor, der seine Risiken systematisch auslagert und<br />
alle Haftung beim Steuerzahler ablädt, sondern sie unterstützen ein<br />
Wirtschafts- und Währungssystem, das auf Sparsamkeit, Solidität<br />
und den breiten Aufbau von Eigentum setzt. Liberale stellen den sozialdemokratischen<br />
Umverteilungswillen ebenso infrage wie die<br />
Steuersenkungssubventionen der Angebotsfanatiker. Ihnen ist eine<br />
Denunziation von Reichtum genauso zuwider wie ein Reichtum, der<br />
sich faulen Quellen verdankt. Über den Faulpelz, der auf Alimentation<br />
<strong>vom</strong> Staat hofft, kann er sich genauso echauffieren wie über den<br />
Steuerflüchtling, der den Staat prellt. Kurzum: Nimmt der politisch<br />
organisierte Liberalismus Freiheit und Unfreiheit endlich beim<br />
Wort, stehen ihm in Deutschland alle Türen offen. Verengt er Freiheit<br />
und Unfreiheit weiter auf das, was Libertäre, Wirtschafts-, Nationalund<br />
Sozialliberale sich jeweils darunter vorstellen, kann man ihm<br />
nur weiterhin eine „gute Reise“ wünschen: Richtung Abgrund. n<br />
dieter.schnaas@wiwo.de | Berlin, henning krumrey | Berlin<br />
Der Bourgois<br />
Wirtschaftsnobelpreisträger<br />
Milton<br />
Friedman hat die<br />
Idee der unteilbaren<br />
Freiheit verraten.<br />
Seit seiner Unterstützung<br />
der chilenischen<br />
Militärjunta<br />
sind wirtschaftliche<br />
und politische Freiheit<br />
keine zweieiigen<br />
Zwillinge mehr.<br />
Der Citoyen<br />
Der Soziologe Ralf<br />
Dahrendorf hat<br />
stets vor Vereinseitigungen<br />
der Freiheitsidee<br />
gewarnt.<br />
Sein Liberalismus<br />
adressierte die<br />
Freiheit der Menschen<br />
– und keine<br />
Businessclass, die<br />
den autoritativen<br />
Kapitalismus stärkt.<br />
FOTOS: CORBIS/ROGER RESSMEYER, DDP IMAGES/INTERTOPICS<br />
32 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Frust und Frieden<br />
UKRAINE | In der befreiten Rebellenhochburg Slowjansk stehen die<br />
Menschen so loyal zu Kiew wie nie. Doch die Fabriken sind zerstört,<br />
das Geld zum Wiederaufbau fehlt – und es droht Anarchie.<br />
Es ist die Ruhe nach dem Sturm Zerstörte Industrieanlage in Slowjansk<br />
Verfall fraß sich schon lange durch die<br />
Fabrik, als eines helllichten Tages die<br />
maskierten Männer kamen und alles<br />
noch viel schlimmer machten. Im Isolatorenwerk<br />
Slowjansk tüftelten nur noch 150<br />
Mitarbeiter in 5 der 29 Hallen an Metallteilen,<br />
die in Strommasten verbaut werden<br />
sollen. Bis am 6. Mai prorussische Separatisten<br />
einfielen und das Werk mit ihren Gewehren<br />
zum Eigentum der Volksrepublik<br />
Donezk erklärten. Der Manager Wladimir<br />
Krawtschenko kann es auch heute noch<br />
nicht fassen: „Sie stahlen Material und<br />
fertige Produkte, sogar Stanzen und<br />
Drehmaschinen!“ Alles hätten sie bei<br />
irgendwelchen Verschrottern zu flottem<br />
Geld machen wollen. Wie soll er jetzt weiter<br />
produzieren?<br />
Glasscherben platzen unter den Sohlen,<br />
als Krawtschenko in seinem ausgewaschenen<br />
Hemd über das riesige Gelände trottet,<br />
überall liegen Patronenhülsen. Die Fenster<br />
aller Hallen sind zerschossen, <strong>vom</strong> Granatbeschuss<br />
klaffen Krater in Dächern, aus einer<br />
Leitung leckt Öl. Auf dem Gehweg liegt<br />
eine Kiste, darin abgelaufene Spritzen mit<br />
der Morphin-Ersatzdroge Promedol. Drogenabhängige,<br />
Kriminelle und Arbeitslose<br />
gebe es unter den angeblichen Freiheitskämpfern,<br />
sagt Krawtschenko. Zwei Monate<br />
hätten sie in seinen Hallen campiert, im<br />
»Von hier haben<br />
sie in die Wohngebiete<br />
geschossen«<br />
Zentrum der Stadt. „Hier standen Geschütze,<br />
mit denen sie einmal am Tag in die<br />
Wohngebiete schossen“, sagt er. So ließ sich<br />
der Verdacht auf die Kiewer Armee lenken<br />
– Russlands Propaganda behauptet<br />
schließlich, die Ukrainer führten einen<br />
Krieg gegen die eigene Bevölkerung.<br />
Es seien nicht nur lokale Leute gewesen,<br />
behauptet Krawtschenko. Im Gebäude nah<br />
des Haupttors hätten russische Soldaten<br />
und Freiwillige Quartier bezogen. „Die erkannte<br />
ich am Akzent und an ihren Uniformen“,<br />
sagt er. „Sie kamen Mitte Mai in neuen<br />
Kamaz-Lastwagen, es wurden immer<br />
mehr.“ Täglich sei er in die Fabrik gekommen,<br />
um an die Vernunft der Besatzer zu<br />
appellieren. Es könne nicht deren Interesse<br />
sein, dass seine Leute ihre Arbeit verlören.<br />
Das Zureden war vergebens. Am 16. Juni,<br />
erzählt Krawtschenko, sei er dann doch geflohen<br />
– über den Zaun. Ein Arbeiter habe<br />
ihm gesteckt, dass ihn Separatisten am Tor<br />
mit Gewehren erwarteten. Nach der Rückeroberung<br />
der Stadt, sagt er, habe man den<br />
Exekutionsbefehl für ihn in der Stadtverwaltung<br />
gefunden.<br />
SOWJETISCHE STRUKTUREN<br />
Derweil sich der Welt immer mehr offenbart,<br />
wie aktiv Moskau den Krieg im Osten<br />
der Ukraine mit eigenen Soldaten anheizt,<br />
ist die Stimmung in Slowjansk erstaunlich<br />
eindeutig: Separatisten haben mithilfe der<br />
Russen Leid und Chaos über die Stadt und<br />
ihre einst 120 000 Einwohner gebracht. In<br />
der befreiten Rebellenhochburg, wo man<br />
sich einst wirtschaftliche Vorteile im Schoße<br />
von Mütterchen Russland erträumte,<br />
stehen die meisten Menschen so loyal zu<br />
Kiew wie nie zuvor.<br />
Doch mit dem Einfall der Separatisten<br />
ging der endgültige Niedergang der Wirtschaft<br />
einher. Dass der ukrainische Pleite-<br />
Staat den Wiederaufbau stemmen kann,<br />
bezweifeln die Menschen hier. Kaum ist<br />
der Albtraum zu Ende, ist schon wieder<br />
dieser Frust spürbar, der die arg sowjetisch<br />
strukturierte Industrieregion Donbass seit<br />
Ende der Planwirtschaft vor über zwei Jahrzehnten<br />
beherrscht. Wie zu Sowjetzeiten<br />
fühlen sich die Menschen mit einem gewissen<br />
Stolz als Speerspitze der Industrie,<br />
obwohl die Anlagen verrotten und die<br />
meisten Betriebe nicht wettbewerbsfähig<br />
sind. Geblieben ist nur das Selbstverständnis<br />
von damals.<br />
Weiter geht es zum östlichen Ortsausgang<br />
von Slowjansk, die Sonne brennt wieder<br />
gnadenlos an diesem Donnerstag.<br />
Dort, wo die „Straße der Moderne“ auf die<br />
FOTO: IGOR CHEKACHKOV FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
34 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Landstraße Richtung Donezk mündet,<br />
steht der Kiosk von Irina Sakinskaja – oder<br />
was davon übrig ist: Ein stählernes Korsett<br />
in hellblauer Farbe, Glasscherben stecken<br />
da, wo einmal die Fenster waren. Der Kühlschrank<br />
steht derangiert auf dem Platz vor<br />
dem Ortsschild, als wolle er den Vorbeifahrenden<br />
mahnend seine Einschusslöcher<br />
präsentieren. Sakinskaja trägt ein verschwitztes<br />
Kopftuch und kehrt die Scherben<br />
<strong>vom</strong> Boden. „Es ging schon mal besser“,<br />
kommentiert sie ihre Lage lächelnd,<br />
nur um Sekunden später in Tränen auszubrechen.<br />
20 Jahre besserte die heute 57-jährige<br />
Frührentnerin ihre spärliche Rente auf, indem<br />
sie Cola und Zigaretten am Kiosk ver-<br />
Kühlschrank kostet neu an die 800 Dollar.<br />
Sie weiß, dass die Regierung pleite ist und<br />
ihr nicht helfen kann. Trotzdem ist sie froh,<br />
dass der Spuk vorbei ist. „In Slowjansk hatten<br />
wir alle den Eindruck, dass es in Russland<br />
irgendwie besser sei“, sagt die Rentnerin.<br />
„Jetzt bin ich plötzlich stolz, Ukrainerin<br />
zu sein.“<br />
„SUCH DIR EINEN SPONSOR!“<br />
Die Kämpfe im Frühjahr haben die Stadt<br />
schwer gezeichnet. Grob geschätzt wurden<br />
1000 Häuser in Slowjansk beschädigt. Fünf<br />
Tage kämpften die ukrainischen Streitkräfte<br />
vor allem in den Vororten, ehe die Rebellen<br />
im Juli aus der Stadt flohen. Im Zentrum<br />
trafen Granaten nur das Heim der<br />
Sponsor, habe man ihr bei der Stadtverwaltung<br />
geraten, als sie einen Antrag auf<br />
Kompensation stellte. Dann bricht sie in<br />
Tränen aus.<br />
Natürlich sieht das Andrej Krischenko<br />
ganz anders. Er kommt aus Horliwka nördlich<br />
der Gebietshauptstadt Donezk, in deren<br />
Nähe mutmaßlich Separatisten im Juli<br />
die Boeing der Malaysia Airlines abgeschossen<br />
haben. Nun ist der korpulente<br />
Mann Ende 30 so etwas wie der Bezirksbürgermeister,<br />
der im Auftrag der Kiewer Präsidialverwaltung<br />
in Slowjansk den Wiederaufbau<br />
organisieren soll. „Wir haben die<br />
Strom- und Gasversorgung wiederhergestellt<br />
und die Renten für drei Monate auf einen<br />
Schlag ausgezahlt“, sagt er. So will Kiew<br />
tickte. Bis „diese russischen Jungs“ kamen<br />
und am 1. Mai einen Kontrollposten errichteten.<br />
Sie meint, es seien russische<br />
Söldner gewesen. „Einer erzählte, er verdiene<br />
sich Geld für die Behandlung seiner<br />
krebskranken Mutter“, sagt Sakinskaja. Sie<br />
hätten sogar ihr Bier bezahlt, das sie im<br />
Gras neben dem Kiosk tranken. Allerdings<br />
sah sie das Unheil kommen, als „die Jungs“<br />
ihre Haubitzen in der Siedlung aufstellten:<br />
„Wenn ihr von hier schießt“, warnte sie,<br />
„dann schießt die ukrainische Armee zurück<br />
und legt alles in Schutt und Asche.“ Sie<br />
behielt recht.<br />
Auf der Straße wackeln ein paar Labrador-Welpen<br />
hinter ihrer Mutter her. Der<br />
Frieden ist zurück in Slowjansk, Sakinskaja<br />
ist auf sich allein gestellt. Umgerechnet keine<br />
80 Euro an Rente bekommt die Frau mit<br />
der schrillen Stimme; allein der zersiebte<br />
Rentnerin Antonia, die ihren Familiennamen<br />
nicht verraten will. „Wer das Haus<br />
bombardiert hat, weiß niemand in der<br />
Nachbarschaft“, und sie selbst sei nicht zu<br />
Hause gewesen. Es war Anfang Juni, der<br />
Sturm auf die Stadt hatte noch nicht begonnen.<br />
Nicht ausgeschlossen, dass in der<br />
Isolatorenfabrik jemand aufs Knöpfchen<br />
gedrückt hat.<br />
Nun steht die Rentnerin in ihrer Wohnung<br />
im vierten Stock. Die Detonation hat<br />
die Fassade komplett abgerissen, zerborstene<br />
Pressholzmöbel, Mörtel und Tapetenreste<br />
säumen den Boden, das Dach<br />
ist weg. „Was soll bloß werden, wenn der<br />
Regen kommt?“, fragt die Frau, die sich<br />
keine neue Wohnung leisten kann und bei<br />
einer Freundin wohnt. Von der Regierung<br />
in Kiew erwartet auch sie keine Hilfe. „Es ist<br />
Krieg, die haben kein Geld.“ Such dir einen<br />
den Menschen zeigen, was gute staatliche<br />
Ordnung im Unterschied zum Chaos der<br />
Separatisten bedeutet. Die Rekonstruktion<br />
der zerstörten Gebäude sei allerdings eine<br />
„schwierige und komplexe Sache“. Vor Ort<br />
gebe es kein Geld, in Kiew müsse es erst bewilligt<br />
werden. Es sei möglich, dass für die<br />
Bewohner der unbewohnbaren Häuser eine<br />
Cottage-Siedlung am Stadtrand gebaut<br />
werde. Woher die Mittel dafür kommen<br />
sollen, weiß er nicht.<br />
Bisweilen wirkt es, als hätten die Behörden<br />
andere Prioritäten. In Slowjansk ist die Jagd<br />
auf Kollaborateure der Separatisten im<br />
Gange. Abgeordnete des lokalen Parlaments<br />
und Beamte stehen unter<br />
Beobachtung des Staatsanwalts. Manch<br />
einer befürchtet die politische Säuberung:<br />
Die Lokalpolitiker von Slowjansk gehören<br />
alle der Partei des im Februar gestürzten »<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 35<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Reste einer modernen Produktion Aufräumarbeiten in der Keramikfabrik Zeus<br />
»<br />
Präsidenten Wiktor Janukowitsch an.<br />
Dessen Gegner, die einst auf dem Maidan<br />
gekämpft haben, sind jetzt in Kiew an der<br />
Macht – und die Leute <strong>vom</strong> rechten Rand<br />
stellen sogar den Generalstaatsanwalt.<br />
„Bist du in Slowjansk geblieben, halten sie<br />
dich in Kiew für einen Separatisten“,<br />
erzählt ein Abgeordneter, „warst du aber<br />
geflüchtet, sehen dich die Wähler als Verräter<br />
an.“<br />
GELOBTES LAND<br />
Angesichts der Hetzjagd und dem Klein-<br />
Klein der Kompensationen gerät ganz aus<br />
dem Blick, wieso ausgerechnet Slowjansk<br />
zur Hochburg prorussischer Separatisten<br />
werden konnte: Viele Menschen leben in<br />
Gedanken noch in der Sowjetunion, die sie<br />
glorifizieren. Russland galt für sie daher als<br />
gelobtes Land – und die geglückte Annexion<br />
der Krim weckte Hoffnungen in der<br />
Stadt mit hoher Arbeitslosigkeit. Seit Kiew<br />
wieder das Sagen hat, hat sich in Slowjansk<br />
nichts zum Besseren<br />
gewendet, auch nach<br />
Video<br />
In unserer App-<br />
<strong>Ausgabe</strong> berichtet<br />
Autor Florian<br />
Willershausen über<br />
seine Recherche<br />
der Befreiung muss<br />
sich die Zentralregierung<br />
ihr Vertrauen erst<br />
erarbeiten.<br />
So sieht das jedenfalls<br />
Oleksandr Bogoslavsky,<br />
der hier groß<br />
geworden ist: „Die<br />
Leute hier sind fast alle über 50 und erinnern<br />
sich daran, wie bequem sie es zu Sowjetzeiten<br />
hatten.“ Diese Illusion begründe<br />
die anfängliche Unterstützung für die Separatisten.<br />
Der 42-jährige Kaufmann hat<br />
nur Verachtung für die Freischärler übrig.<br />
„Wegen dieser Idioten steht unsere Fertigung<br />
mitten in der Hauptsaison für fünf<br />
Monate still“, sagt er beim Rundgang über<br />
den Hof. Arbeiter schaufeln zerbrochene<br />
Fliesen weg, Maler verputzen sein ausgebranntes<br />
Bürogebäude, die Einschusslöcher<br />
im Wellblech der grauen Fabrikhalle<br />
lassen sich gar nicht zählen.<br />
Als Generaldirektor von Zeus Ceramica<br />
leitet Bogoslavsky die modernste Produktionsstätte<br />
in ganz Slowjansk. Hochwertige<br />
Keramikfliesen liefert das Unternehmen in<br />
die USA und nach Kanada. Doch das Werk,<br />
das 2005 unter Beteiligung der italienischen<br />
Emilceramica gebaut wurde, lag mitten<br />
auf der Frontlinie während der Kämpfe<br />
um die Stadt: „Armee und Rebellen schossen<br />
über unser Werk hinweg“, sagt der Manager,<br />
„die Schäden müssen wir immer<br />
noch schätzen.“ Im Juli haben seine Leute<br />
mit Reparaturen angefangen und sind<br />
noch nicht fertig: Separatisten, berichtet er,<br />
haben Teile der teuren Anlagen zerstört. In<br />
Die Krisenregion<br />
Odessa<br />
Kiew<br />
UKRAINE<br />
Schwarzes<br />
Meer<br />
Charkiw<br />
Slowjansk<br />
Flughafen<br />
Kramatorsk<br />
Luhansk<br />
Horliwka<br />
Donezk umkämpfte<br />
Gebiete<br />
Mariupol<br />
KRIM<br />
(von Russland<br />
annektiert)<br />
RUSSLAND<br />
150 km<br />
der Halle sind Kreissägen zu hören, es<br />
riecht nach Farbe. Wenigstens ist der 180<br />
Meter lange Keramikbrenner noch heil.<br />
Mit etwas Glück will Bogoslavsky noch im<br />
September den Ofen wieder anwerfen. 200<br />
seiner 250 Mitarbeiter haben sich bereits<br />
zur Arbeit gemeldet. Allerdings droht dem<br />
Unternehmen weiteres Ungemach: „Wegen<br />
der Krise bricht uns Russland als Absatzmarkt<br />
weg“, sagt der Manager – ein Problem,<br />
das viele ukrainische Unternehmen trifft.<br />
Außerdem sei der Gaspreis dieses Jahr<br />
um die Hälfte gestiegen. Zwar bezieht die<br />
Keramikfabrik ihre Energie von Shell und<br />
nicht von Gazprom – und der westeuropäische<br />
Konzern ist nicht auf Pipeline-Gas angewiesen,<br />
sondern pumpt Gas aus ukrainischen<br />
Speichern. Doch diese Vorräte<br />
könnte der Staat für sich beanspruchen,<br />
sollte Russland das Gas abdrehen.<br />
Rückkehr ins Stadtzentrum zu Metallbauer<br />
Krawtschenko: Der sitzt auf solchen<br />
Sorgen, dass die fragliche Gasversorgung<br />
im Winter für ihn ein vergleichsweise geringes<br />
Übel ist. Knapp die Hälfte seiner Arbeiter<br />
ist wieder erschienen, gemeinsam<br />
versuchen sie die teildemontierten Fräsen<br />
und Drehbänke zu funktionsfähigen Maschinen<br />
zusammenzubauen. Krawtschenko<br />
hofft, dass es nach dem Krieg für ihn zu<br />
tun gibt: „Viele Stromleitungen und Bahnstrecken<br />
sind zerstört, beim Wiederaufbau<br />
werden sie Isolatoren brauchen.“ Bis dahin<br />
müssen die Anlagen laufen – und das Kapital<br />
muss reichen.<br />
KORRUPTE WEGELAGERER<br />
Doch so recht traut er dem Frieden nicht.<br />
Erst vor ein paar Jahren hat Krawtschenko<br />
zusammen mit anderen Managern die 140<br />
Jahre alte marode Metallfabrik gekauft und<br />
vor der Schließung bewahrt. Jetzt übernachtet<br />
er im Wechsel mit anderen Teilhabern<br />
im Werk. „Sonst laufen wir Gefahr, die<br />
Kontrolle zu verlieren“, sagt er.<br />
Denn nach der Befreiung kam die<br />
Anarchie nach Slowjansk: Bewaffnete in<br />
Polizeiuniformen, erzählt er, hätten vergangene<br />
Woche einen Kleinlaster mit Metallschrott<br />
gestoppt, den der Unternehmer<br />
zu Geld machen wollte. Sie forderten 1500<br />
Euro Wegezoll und bei jeder weiteren Lieferung<br />
eine Beteiligung in Höhe von 20<br />
Prozent des Werts. Krawtschenko bat eine<br />
Militäreinheit aus Charkow, Druck auf die<br />
örtliche Polizei auszuüben. Kaum ist der<br />
Terror der Separatisten vorüber, geht der<br />
Terror der korrupten Wegelagerer weiter –<br />
so als wäre nie etwas anders gewesen. n<br />
florian.willershausen@wiwo.de<br />
FOTO: IGOR CHEKACHKOV FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
36 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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FOTOS: JOHANN SEBASTIAN KOPP, WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, MAURITIUS/ALAMY<br />
BRÜSSEL | Belgier<br />
vermeiden Kritik.<br />
Das funktioniert<br />
prima – bis Deutsche<br />
kommen. Von<br />
Silke Wettach<br />
Beschweren<br />
zwecklos<br />
Der Ratschlag steht in<br />
jedem Asien-Reiseführer:<br />
Bitte nicht laut beschweren.<br />
Das entspreche weder<br />
den örtlichen Sitten,<br />
noch führe es zum gewünschten<br />
Ergebnis. In Belgien-Reiseführern<br />
fehlt der Tipp. Dabei gilt hier dasselbe.<br />
Belgier quittieren Fehlleistungen jeder<br />
Art mit unendlich viel Verständnis.Meiner<br />
Freundin Anne ist es immer noch peinlich,<br />
den Friseur gewechselt zu haben.Erst seit<br />
er ihr die Haare orange färbte, frequentiert<br />
sie einen anderen Salon.Der Mann litt an<br />
Depressionen, führt sie heute noch zu dessen<br />
Verteidigung an.Ein böses Wort fiel nie.<br />
Auch nach mehr als zehn Jahren Belgien<br />
kommt bei mir die andersartige Sozialisation<br />
durch. Wenn der Briefträger etwa<br />
systematisch fremde Post einwirft,<br />
suche ich nach Abhilfe. Die höchst<br />
freundliche Antwort der Post: Bei einem<br />
Wohnhaus mit mehr als drei Parteien sei<br />
es nicht Aufgabe des Briefträgers, die<br />
Post zu sortieren. Die Strategie hat funktioniert.<br />
Ich habe sofort eingesehen, dass<br />
dieses Gespräch zwecklos war.<br />
Ein Freund riet mir von einer Einzugsermächtigung<br />
für den Stromanbieter ab,<br />
dann könne der nicht falsch abbuchen.<br />
Das kritikfreie Zusammenleben funktioniert<br />
erstaunlich gut, weil Belgier zumeist<br />
höfliche Menschen sind. Erst Ausländer<br />
bringen das System aus dem Lot. Meine<br />
neuen Nachbarn ramponierten beim Einzug<br />
das Treppenhaus und grüßen bis<br />
heute nicht. Dafür fotografieren sie jedes<br />
Auto, das auch nur ansatzweise in ihre<br />
Garageneinfahrt hineinragt. Die anderen<br />
im Haus zucken mit den Achseln. Ich habe<br />
mich aufs Fremdschämen verlegt. Das<br />
Paar kommt aus Deutschland.<br />
Silke Wettach ist Brüssel-Korrespondentin<br />
der WirtschaftsWoche.<br />
BERLIN INTERN | Bundesregierung und Nato<br />
setzen ein Vierteljahrhundert nach Ende des Kalten<br />
Krieges wieder auf militärische Abschreckung. Sehr<br />
glaubwürdig ist das nicht. Von Henning Krumrey<br />
Furcht und Schnecken<br />
Was ist da im Baltikum? Rüstet<br />
die Nato auf, oder rüstet sie<br />
nach, wie einst mit ihren<br />
Pershings gegen die russischen<br />
SS20? Sechs Eurofighter verlegt sie<br />
an die Ostgrenze des Bündnisgebiets. Im<br />
Mittelmeer patrouilliert ein deutsches<br />
U-Boot, gemeinsam mit Kriegsschiffen der<br />
Verbündeten. Dem russischen Autokraten<br />
Wladimir Putin will das Bündnis signalisieren:<br />
Der Westen steht auch zu den<br />
kleinsten, sich am stärksten bedroht fühlenden<br />
Mitgliedstaaten.<br />
Rettungsschirm Mit Eurofighter-Patrouillen<br />
will die Nato Stärke demonstrieren<br />
Die Hilflosigkeit, die den Westen ob der<br />
überraschenden russischen Aggression<br />
gegen die Ukraine befallen hat, soll nun<br />
mit bewährten Mitteln der Vergangenheit<br />
bekämpft werden. Im ersten Kalten Krieg<br />
hatten sich Ost und West mit gegenseitiger<br />
Bedrohung in Schach gehalten. Das „Gleichgewicht<br />
des Schreckens“ verhinderte, dass<br />
eine Seite übermütig wurde. Am Ende des<br />
Wettrüstens stand nicht die militärische,<br />
wohl aber die politische und ökonomische<br />
Kapitulation der Sowjetunion.<br />
Innerhalb weniger Monate wurde zerstört,<br />
was im vergangenen Vierteljahrhundert<br />
an Vertrauen gewachsen war:<br />
Regierungskonsultationen, EU-Russland-<br />
Gipfel, die Öffnung der Gruppe der sieben<br />
westlichen Industrienationen zu Russland,<br />
zur G8.<br />
Die Bundesregierung sieht kaum Möglichkeiten,<br />
den Weg in den Kalten Krieg zu<br />
bremsen. Die Argumentation geht so: Die<br />
Ukraine war für Putin leichte Beute, da der<br />
Westen keinerlei Garantien für den früheren<br />
Teilstaat der Sowjetunion abgegeben<br />
hatte. Und das war vor allem so, weil auch<br />
Putin wusste, dass es so war.<br />
Deshalb bemüht die Nato nun ihre interne<br />
Beistandsverpflichtung, um dem ehemaligen<br />
Partner im Osten zu signalisieren:<br />
Vor allem die drei baltischen Staaten, aber<br />
auch Polen stehen unter dem Schutz des<br />
Bündnisses. Denn verständlich ist die Analyse<br />
der Bürger und Regierungen von Estland,<br />
Lettland und Litauen: Sie sind wirtschaftlich<br />
attraktiv, sie liegen vor Moskaus<br />
Haustür, sie behindern den Zugang nach<br />
Königsberg – und sie beherbergen jeweils<br />
eine bedeutende russische Minderheit. Das<br />
könnte Begehrlichkeiten bei Putin wecken.<br />
Das Dumme ist nur: Das Bündnis kommt<br />
im Ernstfall nur im Schneckentempo voran,<br />
die Beistandsverpflichtung des Nato-Vertrages<br />
ist wenig belastbar. In Artikel 5 heißt<br />
es zwar, dass „ein bewaffneter Angriff“ gegen<br />
eine Nation von den übrigen als „ein<br />
Angriff gegen sie alle“ angesehen werde.<br />
Und sie versprechen, dass jede im Ernstfall<br />
„die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung<br />
von Waffengewalt, trifft, die sie für<br />
erforderlich erachtet“, um die Sicherheit<br />
wiederherzustellen. Der Köln-Bonner Politikprofessor<br />
Karl Kaiser, als Berater von<br />
Bundeskanzler Helmut Schmidt einst<br />
Miterfinder des Nato-Doppelbeschlusses,<br />
pflegte zu sagen, jenes „erforderlich“ reiche<br />
„<strong>vom</strong> Beileidstelegramm bis zum<br />
Atomschlag“.<br />
Das Dilemma des Westens: Wie kann<br />
man glaubhaft machen, dass man russische<br />
Truppen angreifen würde, wenn Panzer ins<br />
Baltikum rollen – ohne einen solchen Angriff<br />
auch zu starten? Die Sicherheitsexperten<br />
der Koalition sagen hinter vorgehaltener<br />
Hand, dass Russland leidensfähiger sei als<br />
westliche Demokratien.<br />
Für die Ukraine sieht man in der Bundesregierung<br />
übrigens schwarz. Der westliche<br />
Teil würde wohl selbstständig bleiben<br />
können, weil die Bevölkerung prowestlich<br />
sei. Aber der östliche Teil, von Putin als<br />
„Novorossia“ beansprucht, sei faktisch verloren.<br />
Der macht bis zu einem Drittel des<br />
heutigen ukrainischen Staatsgebietes aus.<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 37<br />
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Der Volkswirt<br />
KOMMENTAR | Die EZB öffnet die<br />
Geldschleusen erneut – und führt<br />
Europa in die monetäre Planwirtschaft.<br />
Von Malte Fischer<br />
Zauberer Draghi<br />
Wow! Die Überraschung<br />
ist Mario<br />
Draghi gelungen.<br />
Am Donnerstag<br />
vergangener Woche zog der<br />
Präsident der Europäischen<br />
Zentralbank (EZB) ein geldpolitisches<br />
Kaninchen aus dem<br />
Zauberhut, mit dem niemand<br />
gerechnet hatte. Nachdem Europas<br />
oberster Währungshüter<br />
bereits vor drei Monaten die<br />
Märkte überraschte, indem er<br />
die Leitzinsen senkte und den<br />
Banken großzügige Geldleihgeschäfte<br />
in Aussicht stellte, feuerte<br />
er vergangene Woche das<br />
nächste geldpolitische Feuerwerk<br />
ab. Gegen den Widerstand<br />
der Stabilitätspolitiker um Bundesbank-Chef<br />
Jens Weidmann<br />
hat der Rat der EZB die Leitzinsen<br />
um jeweils zehn Basispunkte<br />
gesenkt. Der Hauptrefinanzierungssatz<br />
ist mit nunmehr<br />
0,05 Prozent kaum noch von<br />
null zu unterscheiden. Zudem<br />
kündigte Draghi an, die EZB<br />
werde ab Oktober in großem<br />
Umfang Kreditverbriefungen<br />
(ABS) und Pfandbriefe kaufen,<br />
um die Kreditvergabe anzukurbeln<br />
(siehe Seite 44).<br />
VERZWEIFLUNGSTAT<br />
Ziel des erneuten hastigen Griffs<br />
zur Notenpresse ist es, die darbende<br />
Konjunktur in der Euro-<br />
Zone zu stützen und die Inflation<br />
von derzeit 0,3 Prozent auf den<br />
Zielwert der EZB von knapp zwei<br />
Prozent zu hieven.<br />
Doch es ist eine Verzweiflungstat.<br />
Ebenso wie die Notenbanker<br />
in den USA, Japan und<br />
Großbritannien wollen die Euro-<br />
Hüter nicht erkennen, dass die<br />
jüngste Krise ihren Kern nicht in<br />
einem Mangel an Liquidität,<br />
sondern in einem Überschuss<br />
an Schulden hat, die durch zu<br />
billige Kredite entstanden sind.<br />
Derartige Solvenzkrisen lassen<br />
sich nicht mit milliardenschweren<br />
Geldspritzen beheben. Studien<br />
zeigen, dass es Jahre, wenn<br />
nicht gar Jahrzehnte dauert, bis<br />
Bürger, Unternehmen und Regierungen<br />
ihre Schulden auf ein<br />
tragfähiges Niveau abgebaut haben.<br />
In dieser Phase wächst die<br />
Wirtschaft kaum, Löhne und<br />
Preise müssen sinken, um die<br />
vorangegangenen inflationären<br />
Übertreibungen zu korrigieren.<br />
Das treibt die Schuldenlast der<br />
Staaten in die Höhe.<br />
GROSSES DESASTER<br />
Die EZB, längst zum Dienstleister<br />
der Finanzminister degradiert,<br />
stemmt sich mit aller<br />
Macht gegen die notwendige<br />
Anpassung. Die Kollateralschäden,<br />
die ihre Abwehrschlacht<br />
verursacht, sind ein volkswirtschaftliches<br />
Desaster. Die Mikrozinsen<br />
setzen Investitionen in<br />
Gang, die sich unter normalen<br />
Umständen nicht lohnen. Sie<br />
lenken Anleger in risikoreiche<br />
Vermögensklassen und pumpen<br />
dort gefährliche Preisblasen auf.<br />
Zudem zerstören sie die Sparanreize,<br />
schmälern die Kapitalbildung<br />
und zersetzen das Wachstumspotenzial<br />
der Wirtschaft.<br />
Die angekündigten ABS-Käufe<br />
mehren den Schaden noch. Sie<br />
lenken die Kreditvergabe der<br />
Banken in von der EZB vorgedachte<br />
Bahnen. Kapital wird<br />
dorthin geschleust, wo es gar<br />
nicht hin will – nach Südeuropa.<br />
Die Ausfallrisiken, die sich durch<br />
die ABS-Käufe in der Bilanz der<br />
EZB auftürmen, trägt der Steuerzahler.<br />
So treibt die EZB Europa<br />
in den Schuldensozialismus und<br />
die monetäre Planwirtschaft.<br />
Nach der Finanzkrise droht uns<br />
die (Geld-)Systemkrise.<br />
NACHGEFRAGT Mark Haefele<br />
»Der Aufschwung wird<br />
sich fortsetzen«<br />
Der Chef-Anlagestratege von UBS setzt auf die USA.<br />
Herr Haefele, würgen die Konflikte<br />
in der Ukraine und in<br />
Nahost die Weltwirtschaft ab?<br />
Die geopolitischen Konflikte<br />
haben die Unsicherheit erhöht.<br />
Allerdings haben sie die Energiepreise<br />
bisher nicht in die Höhe<br />
getrieben. Im Gegenteil: Der<br />
Ölpreis ist dieses Jahr gefallen.<br />
Ich rechne daher nicht damit,<br />
dass die Konflikte die Weltkonjunktur<br />
nachhaltig beeinträchtigen.<br />
Der Aufschwung wird<br />
sich im späteren Jahresverlauf<br />
fortsetzen.<br />
In Europa tritt die Wirtschaft<br />
auf der Stelle. Hängen die<br />
USA Europa konjunkturell mal<br />
wieder ab?<br />
Im zweiten Quartal sind die drei<br />
größten Volkswirtschaften der<br />
Euro-Zone nicht mehr gewachsen.<br />
Zudem haben nur 55 Prozent<br />
der Unternehmen in Europa<br />
die Gewinnerwartungen der<br />
Analysten in diesem Zeitraum<br />
übertroffen. Dagegen festigt<br />
sich die Konjunktur in den USA,<br />
wo 70 Prozent der Unternehmen<br />
die Gewinnerwartungen<br />
übertroffen haben. Dazu<br />
kommt, dass die US-Notenbank<br />
Fed im Fall des Falles eher bereit<br />
ist als die Europäische Zentralbank,<br />
der Wirtschaft unter<br />
die Arme zu greifen. Wir haben<br />
in unserem Portfolio Aktien<br />
und hochverzinsliche Unternehmensanleihen<br />
aus den USA<br />
daher übergewichtet, europäische<br />
Aktien hingegen auf neutral<br />
herabgestuft.<br />
Derzeit dreht sich die Diskussion<br />
in den USA darum, wann die<br />
Fed die Zinsen erhöht.<br />
Einige Kommentare von US-<br />
Notenbankern haben die Erwartung<br />
geweckt, die Fed werde<br />
die Zinsen rasch anheben. Das<br />
halte ich für unwahrscheinlich.<br />
Die Fed wird die Zinsen erst erhöhen,<br />
wenn sie sich sicher ist,<br />
DER GELDANLEGER<br />
Haefele, 43, ist Chef-Anlagestratege<br />
der Vermögensverwaltung<br />
der Schweizer Bank UBS. Dort<br />
verantwortet der an den US-<br />
Eliteunis Princeton und Harvard<br />
ausgebildete Ökonom die Anlage<br />
von zwei Billionen US-Dollar.<br />
dass die Konjunktur wieder festen<br />
Boden unter den Füßen hat.<br />
Ich rechne damit erst für Mitte<br />
nächsten Jahres.<br />
Die Renditen für Staatsanleihen<br />
in Europa und den USA befinden<br />
sich auf Talfahrt. Was ist<br />
der Grund dafür?<br />
Darin spiegelt sich vor allem die<br />
Flucht in die Sicherheit als Reaktion<br />
auf die Ukraine- und die<br />
Nahost-Krise wider. Sollten sich<br />
diese Krisen nicht weiter verschärfen,<br />
dürften die Renditen<br />
in den nächsten sechs Monaten<br />
wieder etwas steigen. In den<br />
USA könnten sie von derzeit 2,4<br />
auf etwa 2,8 Prozent für zehnjährige<br />
Staatsanleihen klettern.<br />
Wird es den Euro in fünf Jahren<br />
noch geben?<br />
Die Euro-Krise hat gezeigt, dass<br />
die Politiker und Notenbanker<br />
alles tun werden, um den Euro<br />
zu erhalten. Daher ist es möglich,<br />
dass die Bedeutung des Euro als<br />
Reservewährung sogar wächst.<br />
malte.fischer@wiwo.de<br />
FOTOS: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, PR<br />
40 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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KONJUNKTUR DEUTSCHLAND<br />
Der schwache Euro<br />
schiebt die Konjunktur<br />
Die nachlassende Dynamik in<br />
den Schwellenländern, die Stagnation<br />
in der Euro-Zone sowie<br />
die kriegerischen Auseinandersetzungen<br />
in der Ukraine und<br />
im Nahen Osten trüben die<br />
Aussichten für die deutschen<br />
Exporteure ein. Der Klimaindikator<br />
für die Ausfuhrwirtschaft,<br />
den das Münchner ifo Institut<br />
monatlich exklusiv für die WirtschaftsWoche<br />
ermittelt, ging im<br />
Juli auf 0,35 Punkte zurück. In<br />
den beiden Monaten zuvor lag<br />
der Index noch bei 0,4 Punkten.<br />
Ausschlaggebend für den<br />
Rückgang war das verschlechterte<br />
Unternehmens- und<br />
Verbrauchervertrauen im Ausland.<br />
Das trifft vor allem auf<br />
Europa zu, wo die Stimmung in<br />
Großbritannien und Österreich<br />
überdurchschnittlich<br />
sank. Auch in Belgien, Frankreich,<br />
Spanien und Italien ließ<br />
die Laune der Unternehmen<br />
und Verbraucher zu wünschen<br />
übrig.<br />
Dagegen hat sich die Stimmung<br />
der Betriebe in den USA<br />
kräftig aufgehellt. Der Einkaufsmanagerindex<br />
für die US-Industrie<br />
kletterte im August auf<br />
59,0 Punkte, den höchsten<br />
Stand seit Anfang 2011. Positiv<br />
auf das Exportklima wirkte sich<br />
die Abwertung des Euro aus, die<br />
die preisliche Wettbewerbsfähigkeit<br />
der deutschen Unternehmen<br />
verbesserte.<br />
Mitte vergangener Woche<br />
kostete ein Euro 1,31 Dollar, Anfang<br />
Mai waren es noch mehr<br />
als 1,39 Dollar gewesen. Die<br />
Schwäche des Euro ließ auch<br />
den Earlybird-Frühindikator für<br />
die deutsche Konjunktur, den<br />
die Commerzbank exklusiv für<br />
die WirtschaftsWoche ermittelt,<br />
im August gegen den Trend der<br />
meisten anderen Frühsignale<br />
Schlechtere Lage...<br />
Exportklima und Ausfuhren<br />
0,25<br />
0,20<br />
0,15<br />
0,10<br />
0,05<br />
0<br />
–0,05<br />
–0,10<br />
–0,15<br />
–0,20<br />
–0,25<br />
Exportklimaindikator<br />
1<br />
Exporte (real,<br />
saisonbereinigt,<br />
Veränderung zum<br />
Vorjahr in Prozent)<br />
08 09 10 11 12 13 14<br />
1 Geschäfts- und Konsumklima auf den<br />
wichtigsten Absatzmärkten sowie realer<br />
Außenwert des Euro (Indexpunkte);<br />
Quelle: ifo<br />
1,5<br />
1,0<br />
0,5<br />
0<br />
–0,5<br />
–1,0<br />
–1,5<br />
–2,0<br />
–2,5<br />
–3,0<br />
–3,5<br />
auf 0,45 Punkte steigen. Da der<br />
Earlybird einen deutlichen Vorlauf<br />
vor den anderen Frühindikatoren<br />
hat, rechnen die Ökonomen<br />
der Commerzbank<br />
damit, dass diese erst zur Jahreswende<br />
2014/15 wieder nach<br />
oben drehen und damit für<br />
2015 auf ein etwas höheres<br />
Wachstumstempo deuten.<br />
malte.fischer@wiwo.de<br />
...aber bessere Aussichten<br />
Bruttoinlandsprodukt und<br />
Earlybird-Konjunkturbarometer<br />
4,0<br />
2,0<br />
0<br />
–2,0<br />
–4,0<br />
Bruttoinlandsprodukt 1<br />
09<br />
Earlybird 2<br />
10 11 12 13 14<br />
1,0<br />
0,5<br />
0<br />
–0,0<br />
–1,0<br />
1<br />
zum Vorquartal (in Prozent); 2 gewichtete Summe<br />
aus kurzfristigem realem Zins, effektivem realem<br />
Außenwert des Euro und Einkaufsmanagerindizes;<br />
Quelle: Commerzbank<br />
Sorge um die<br />
Investitionen<br />
Vor wenigen Monaten hatten<br />
die Konjunkturanalysten noch<br />
frohlockt, die Schwäche der Investitionen<br />
sei überwunden. In<br />
den Winterquartalen 2013/14<br />
hatten die Unternehmen jeweils<br />
rund zwei Prozent mehr<br />
für neue Maschinen und Anlagen<br />
ausgegeben als im Vorquartal.<br />
Doch mittlerweile sind die<br />
Optimisten verstummt. Nicht<br />
ohne Grund: Im zweiten Quartal<br />
sanken die Investitionen der<br />
Firmen in Ausrüstungen schon<br />
wieder um 0,4 Prozent. Noch<br />
hoffen die Experten, dass es<br />
sich um eine vorübergehende<br />
Schwäche handelt, die durch<br />
die geopolitischen Spannungen<br />
ausgelöst wurde. Doch je länger<br />
diese andauern und je zäher<br />
sich die Konjunktur in der Euro-<br />
Zone berappelt, desto größer ist<br />
das Risiko, dass der Aufschwung<br />
der Investitionen<br />
schon wieder vorbei ist, bevor<br />
er richtig begonnen hat.<br />
Volkswirtschaftliche<br />
Gesamtrechnung<br />
Real. Bruttoinlandsprodukt<br />
Privater Konsum<br />
Staatskonsum<br />
Ausrüstungsinvestitionen<br />
Bauinvestitionen<br />
Sonstige Anlagen<br />
Ausfuhren<br />
Einfuhren<br />
Arbeitsmarkt,<br />
Produktion und Preise<br />
Industrieproduktion 1<br />
Auftragseingänge 1<br />
Einzelhandelsumsatz 1<br />
Exporte 2<br />
ifo-Geschäftsklimaindex<br />
Einkaufsmanagerindex<br />
GfK-Konsumklimaindex<br />
Verbraucherpreise 3<br />
Erzeugerpreise 3<br />
Importpreise 3<br />
Arbeitslosenzahl 4<br />
Offene Stellen 4<br />
Beschäftigte 4, 5<br />
2012 2013<br />
Durchschnitt<br />
0,4<br />
0,8<br />
1,0<br />
–4,0<br />
–1,4<br />
3,4<br />
3,2<br />
1,4<br />
2012 2013<br />
Durchschnitt<br />
–0,9<br />
-4,2<br />
0,1<br />
4,3<br />
105,0<br />
58,3<br />
5,9<br />
2,0<br />
1,6<br />
2,1<br />
2897<br />
478<br />
27488<br />
0,1<br />
0,9<br />
0,4<br />
–2,4<br />
–0,2<br />
3,0<br />
0,9<br />
1,5<br />
–0,2<br />
2,5<br />
0,3<br />
1,0<br />
106,9<br />
50,6<br />
6,5<br />
1,5<br />
–0,1<br />
–2,5<br />
2950<br />
457<br />
27778<br />
II/13 III/13 IV/13 I/14 II/14<br />
Veränderung zum Vorquartal in Prozent<br />
0,8<br />
0,7<br />
–0,2<br />
0,5<br />
1,7<br />
1,6<br />
2,5<br />
1,5<br />
Mai<br />
2014<br />
–1,7<br />
–1,7<br />
–0,2<br />
–1,1<br />
110,4<br />
52,3<br />
8,5<br />
0,9<br />
–0,8<br />
–2,1<br />
2904<br />
475<br />
29761<br />
1 Volumen, produzierendes Gewerbe, Veränderung zum Vormonat in Prozent; 2 nominal, Veränderung zum Vormonat in<br />
Prozent; 3 Veränderung zum Vorjahr in Prozent; 4 in Tausend, saisonbereinigt; 5 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte;<br />
alle Angaben bis auf Vorjahresvergleiche saisonbereinigt; Quelle: Thomson Reuters<br />
0,3<br />
0,3<br />
0,7<br />
0,1<br />
2,1<br />
1,4<br />
–0,1<br />
0,8<br />
Juni<br />
2014<br />
0,3<br />
–2,7<br />
1,0<br />
1,0<br />
109,7<br />
52,0<br />
8,6<br />
1,0<br />
–0,8<br />
–1,2<br />
2911<br />
483<br />
30234<br />
0,4<br />
–0,3<br />
–0,3<br />
1,4<br />
0,2<br />
1,2<br />
2,5<br />
1,3<br />
Juli<br />
2014<br />
–<br />
4,6<br />
–1,4<br />
–<br />
108,0<br />
52,4<br />
8,9<br />
0,9<br />
–0,8<br />
–1,7<br />
2900<br />
484<br />
–<br />
0,7<br />
0,7<br />
0,4<br />
3,3<br />
3,6<br />
-0,8<br />
0,2<br />
2,2<br />
Aug.<br />
2014<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
106,3<br />
51,4<br />
8,9<br />
0,9<br />
2901<br />
495<br />
–<br />
–0,2<br />
0,1<br />
0,1<br />
–0,4<br />
–4,2<br />
0,1<br />
0,9<br />
1,6<br />
Sept.<br />
2014<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
8,6<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
Letztes Quartal<br />
zum Vorjahr<br />
in Prozent<br />
0,8<br />
1,1<br />
0,5<br />
6,0<br />
10,2<br />
3,3<br />
5,5<br />
6,2<br />
Letzter Monat<br />
zum Vorjahr<br />
in Prozent<br />
–2,8<br />
5,0<br />
0,7<br />
1,7<br />
–1,4<br />
–0,8<br />
22,9<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–1,5<br />
9,5<br />
1,9<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 41<br />
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Der Volkswirt<br />
ROHSTOFFRADAR<br />
Politik? Egal!<br />
Die Rohstoffpreise bleiben von den aktuellen Kriegen<br />
und Krisen in der Welt unbeeinflusst – Händler und<br />
Investoren schauen stattdessen auf die Finanzmärkte.<br />
Die Krise im Osten der<br />
Ukraine ist zum Krieg<br />
ausgewachsen, die IS-<br />
Terroristen erobern weite Teile<br />
Syriens und des Erdöllands Irak<br />
– und für die Preise der wichtigsten<br />
Grundstoffe der Weltwirtschaft<br />
hat das keine Bedeutung.<br />
Warum?<br />
„Die politischen Ereignisse<br />
werden derzeit von den Rohstoffmärkten<br />
ignoriert“, beobachtet<br />
Daniel Briesemann,<br />
Rohstoffexperte der Commerzbank<br />
in Frankfurt. Viele Preise<br />
sinken, und wo die Preise steigen,<br />
liegt das nicht an den großen<br />
Krisen.<br />
Aber auch Veränderungen<br />
von Angebot und Nachfrage<br />
in der Realwirtschaft<br />
sind nur in Einzelfällen<br />
ausschlaggebend.<br />
Beim Kakao etwa: Der<br />
steigt im Preis, weil<br />
die Ebola-Seuche<br />
auf wichtige Anbaugebiete<br />
in Westafrika<br />
überzugreifen<br />
droht. Von solchen<br />
Ausnahmen abgesehen,<br />
entwickeln sich<br />
die Rohstoffmärkte<br />
derzeit ganz im Schatten<br />
der Ereignisse und<br />
Erwartungen an den<br />
Finanzmärkten.<br />
Und das bedeutet tendenziell<br />
sinkende Rohstoffpreise.<br />
Weil die Aktienkurse an den<br />
meisten wichtigen Weltbörsen –<br />
allen voran in New York – gestiegen<br />
sind, haben große Investoren<br />
derzeit relativ wenig<br />
Interesse an Alternativen zur<br />
Geldanlage in Aktien. In die<br />
gleiche Richtung wirkt der im<br />
Vergleich zum Euro wieder erstarkte<br />
Dollar, sagt Commerzbank-Analyst<br />
Briesemann. Für<br />
Energie<br />
Erdöl<br />
(Brent)<br />
Diesel<br />
Rohstoffabnehmer hierzulande<br />
ist das natürlich positiv, auch<br />
wenn der tendenziell sinkende<br />
Außenwert des Euro den Effekt<br />
der Preissenkung aus deutscher<br />
Sicht reduziert.<br />
Beim für die Konjunktur<br />
wichtigsten Rohstoffpreis gibt<br />
es aber auch realwirtschaftliche<br />
Gründe für sinkende Preise: Die<br />
internationale Nachfrage nach<br />
Rohöl ist konjunkturbedingt<br />
Zucker<br />
Weizen<br />
Gasöl<br />
Raps<br />
Kohle<br />
Landwirtschaftsprodukte<br />
Mais<br />
Volatilitäten im Zeitraum<br />
<strong>vom</strong> 1.9.2013 bis 31.8.2014<br />
24,7<br />
Strom<br />
Kakao<br />
Baumwolle<br />
Flugbenzin<br />
Emissionsrechte<br />
Vergleichswerte<br />
27,6<br />
13,5 14,9<br />
53,2<br />
Palladium<br />
in<br />
%<br />
100<br />
50<br />
30<br />
20<br />
10<br />
5,1<br />
30<br />
50<br />
100<br />
verhalten, das Angebot dagegen<br />
wächst. Das liegt an der Produktionssteigerung<br />
in mehreren<br />
Opec-Staaten. Der Irak exportiert<br />
sein Öl, als gäbe es keinen<br />
Krieg im nördlichen Landesteil.<br />
In Libyen funktionieren trotz<br />
der bürgerkriegsartigen Wirren<br />
die Ölhäfen wieder. Und das<br />
große Ölförderland Saudi-<br />
Arabien baut trotz der relativ<br />
schwachen Nachfrage seine<br />
Produktion weiter aus. Die Saudis<br />
haben ihre alte Politik aufgegeben,<br />
bei sinkender Nachfrage<br />
regelmäßig ihre Förderung zu<br />
drosseln, um so den Preis stabil<br />
zu halten.<br />
Zu diesem Abwärtstrend der<br />
Preise kommt eine deutliche<br />
Abnahme der Volatilität in den<br />
vergangenen Monaten. Inso-<br />
Euro-/<br />
Dollar-<br />
Kurs<br />
n Der Rohstoffradar misst die Volatilität ausgewählter Preise<br />
und ist damit ein wichtiger Indikator für Unternehmen und Anleger.<br />
Er stellt die durchschnittliche prozentuale Abweichung <strong>vom</strong> Mittelwert<br />
der vergangenen zwölf Monate grafisch dar. Hohe Schwankungsbreiten<br />
signalisieren steigende Preis- und Planungsrisiken. Der Rohstoffradar<br />
erscheint dreimal jährlich exklusiv in der WirtschaftsWoche.<br />
Silber<br />
21,9<br />
Zinsen<br />
16,3<br />
15,6<br />
17,6<br />
14,4<br />
13,3<br />
15,2<br />
13,9 0<br />
15,7<br />
15,9<br />
14,9<br />
10 15,8<br />
20,7 18,5 16,1 14,7 17,0<br />
20<br />
22,5 23,2<br />
Platin<br />
23,3<br />
Eisenfeinerz<br />
Edelmetalle<br />
Quelle:<br />
Commerzbank<br />
Gold<br />
Blei<br />
Aluminium<br />
Zinn<br />
Kupfer<br />
Nickel<br />
Zink<br />
Was steigt, was fällt<br />
Preisentwicklung ausgewählter<br />
Rohstoffe seit Jahresbeginn<br />
fern verbindet sich mit dem aktuellen<br />
Rohstoffradar, den die<br />
Commerzbank exklusiv für die<br />
WirtschaftsWoche erstellt hat<br />
(siehe Grafik), eine gute Nachricht<br />
für Unternehmen, die Planungssicherheit<br />
für ihre <strong>Ausgabe</strong>n<br />
erstreben.<br />
Es gibt aber Ausnahmen von<br />
diesem erfreulichen Trend:<br />
Nickel und Aluminium haben<br />
sich dieses Jahr dramatisch<br />
verteuert – weil<br />
das wichtige Exportland<br />
Indonesien die<br />
Ausfuhr blockierte.<br />
Die Regierung in Jakarta<br />
will nicht länger<br />
dulden, dass indonesisches<br />
Erz im Rohzustand<br />
an ausländische<br />
Schmelzen und Raffinerien<br />
geliefert wird<br />
und die einheimische<br />
Wirtschaft an der einträglichen<br />
Weiterverarbeitung<br />
nichts verdient. Weil es aber<br />
entsprechende Anlagen in Indonesien<br />
noch nicht gibt, drohte<br />
weltweit der für die Stahlveredelung<br />
notwendige Rohstoff<br />
Nickel knapp zu werden.<br />
Inzwischen hat Indonesien<br />
seine Pläne revidiert, und der<br />
Nickelpreis hat sich etwas beruhigt.<br />
Der ganze Vorgang zeigt<br />
aber, wie abhängig die Rohstoffmärkte<br />
von der Politik sein können<br />
– nach wie vor.<br />
n<br />
Industriemetalle<br />
Nickel<br />
Palladium<br />
Aluminium<br />
Kakao<br />
Gold<br />
–3<br />
–5<br />
–6<br />
–7<br />
–8<br />
7<br />
Rohöl (WTI)<br />
Kupfer<br />
Zucker<br />
Quelle: Commerzbank;<br />
Stand 1.9.2014<br />
Weizen (CBOT)<br />
Diesel<br />
17<br />
17<br />
in Prozent<br />
27<br />
35<br />
hansjakob.ginsburg@wiwo.de<br />
42 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Der Volkswirt<br />
WARUM EIGENTLICH...<br />
...will die EZB den Markt für<br />
Kreditverbriefungen wiederbeleben?<br />
Experten eilen zu Hilfe US-Vermögensverwalter Blackrock<br />
Als Giftpapiere gelten Kreditverbriefungen<br />
seit der<br />
Finanzkrise von 2008.<br />
Mitauslöser der Krise waren die<br />
Papiere, mit deren Hilfe Banken<br />
bestimmte Forderungen gebündelt<br />
an Investoren auf dem<br />
Kapitalmarkt weiterreichten:<br />
mit privaten Wohnimmobilien<br />
besicherte Hypothekenkredite.<br />
Die Papiere steckten allerdings<br />
voller Forderungen mit<br />
schlechter Bonität. Als die Immobilienblase<br />
in den USA<br />
platzte, war ein Gros der von<br />
Ratingagenturen mit guten Noten<br />
bewerteten Anleihen über<br />
Nacht wertlos. Investoren weltweit<br />
verloren Milliarden. Seitdem<br />
ist der Markt für forderungsbesicherte<br />
Wertpapiere<br />
(Asset Backed Securities, kurz:<br />
ABS) verbrannt. Das Volumen<br />
dieser Anleihen sank in Europa<br />
von rund 700 Milliarden Euro in<br />
2008 auf rund 180 Milliarden<br />
Euro in 2013.<br />
In den ersten sechs Monaten<br />
dieses Jahres sind nach Zahlen<br />
der DZ Bank Verbriefungen für<br />
rund 85 Milliarden Euro in Europa<br />
emittiert worden. Anders<br />
in den USA – dort läuft das Geschäft<br />
mit Verbriefungen längst<br />
wieder auf Hochtouren.<br />
Das Paradoxe daran: In Europa<br />
waren die Ausfallraten von<br />
ABS-Anleihen im Zeitraum<br />
2007 bis 2013 mit 1,4 Prozent relativ<br />
gering, wie die Ratingagentur<br />
Standard & Poor’s analysiert<br />
hat. In den USA dagegen lag die<br />
Ausfallrate dieser Papiere im<br />
selben Zeitraum mit 17,4 Prozent<br />
um ein Vielfaches höher.<br />
Nun will ausgerechnet die<br />
Europäische Zentralbank (EZB)<br />
den Markt für Kreditverbriefungen<br />
ankurbeln. Ein gut funktionierender<br />
ABS-Markt sei die Voraussetzung<br />
dafür, dass Europas<br />
Kreditmärkte wieder in Schwung<br />
kommen, so EZB-Präsident Mario<br />
Draghi.<br />
BAD BANK EZB?<br />
Seit Wochen arbeiten deswegen<br />
die Experten der EZB an einem<br />
Programm, mit dem der ABS-<br />
Markt wiederbelebt werden<br />
könnte. Die Idee dahinter:<br />
Kauft die EZB diese Verbriefungen<br />
auf, werden die Banken den<br />
entsprechenden Teil ihrer Kreditrisiken<br />
in der Bilanz los. Das<br />
frei gewordene Kapital können<br />
sie nutzen, um neue Kredite an<br />
Unternehmen zu vergeben.<br />
Diese wiederum investieren in<br />
neue Geschäfte, Produkte oder<br />
Anlagen – und dies belebt die<br />
Konjunktur.<br />
Die Notenbank würde so im<br />
Prinzip als Investor in das Geschäft<br />
mit Verbriefungen einsteigen.<br />
Mutiert sie damit zum<br />
Schrottplatz für risikoreiche<br />
Kredite der Banken und zu einer<br />
europäischen Bad Bank,<br />
wie Kritiker behaupten? Ganz<br />
so einfach ist es nicht.<br />
Tatsächlich sind Verbriefungen<br />
von Forderungen eine gute<br />
Möglichkeit zur Refinanzierung,<br />
wenn sie transparent<br />
strukturiert und die Risiken für<br />
Investoren kalkulierbar sind.<br />
Genau das aber ist das Problem.<br />
Das Geschäft mit Verbriefungen<br />
ist hochkomplex und für Banken<br />
wie Investoren aufwendig.<br />
Das Risiko der in Tranchen und<br />
unterschiedliche Güteklassen<br />
aufgeteilten Papiere ist oft<br />
schwer zu erkennen.<br />
Gerade deshalb haben die<br />
Aufsichtsbehörden nach der Finanzkrise<br />
striktere Regeln für<br />
ABS-Anleihen aufgestellt. So<br />
müssen die Papiere etwa mit<br />
sieben Prozent Eigenkapital unterlegt<br />
werden. Bei den Banken<br />
heißt es deswegen, die hohen<br />
regulatorischen Anforderungen<br />
und die Unsicherheit, welche<br />
weiteren Vorschriften für Kreditverbriefungen<br />
geplant sind,<br />
seien der Grund dafür, dass der<br />
Markt nicht in Gang käme.<br />
Die EZB kündigte auf ihrer<br />
Zinssitzung in der vergangenen<br />
Woche an, einfache und transparente<br />
Kreditverbriefungen<br />
zu kaufen – und zwar nur<br />
„Senior Tranchen“, also den Teil<br />
der Verbriefungen mit geringem<br />
Ausfallrisiko und guter<br />
Bewertung. Kaufen will sie mittelständische<br />
Anleihen und<br />
Verbriefungen von privaten<br />
Wohnkrediten, von Banken wie<br />
auch von Investoren. Für gut<br />
bewertete Anleihen aber ist die<br />
Nachfrage von Investoren jetzt<br />
schon hoch. Der Markt sei dreifach<br />
überzeichnet, stellen die<br />
Analysten der DZ Bank fest.<br />
Wenn die Nachfrage aber jetzt<br />
schon das Angebot in diesem<br />
Segment übersteigt, welche<br />
Wirkung soll dann ein Kaufprogramm<br />
der EZB auf die Kreditvergabe<br />
der Banken haben?<br />
Und wie will die EZB sicherstellen,<br />
dass mehr Geld für private<br />
Investitionen in den Euro-Peripherieländern<br />
bereitsteht?<br />
ZU RISKANT<br />
Eine Möglichkeit wäre, ABS von<br />
geringerer Qualität mit Staatsgarantien<br />
zu versehen, wie dies<br />
EZB-Direktor Benoît Cœuré<br />
kürzlich vorgeschlagen hat.<br />
Doch das gilt als zu riskant. Nun<br />
soll der größte Vermögensverwalter<br />
der Welt, das US-Finanzinstitut<br />
Blackrock, der EZB bei<br />
der Entwicklung ihres ABS-<br />
Kauprogramms helfen. Erfahren<br />
sind die Amerikaner in diesem<br />
Geschäft. Die Firma half<br />
schon der US-Regierung und<br />
der Fed, faule Kredite zu bewerten<br />
– und verkaufte die Papiere<br />
dann auch an die eigene Kundschaft.<br />
Schon in den USA rief<br />
dies Kritiker auf den Plan. Das<br />
Spiel wiederholt sich jetzt in Europa.<br />
Unterstützung bekommt<br />
die EZB auch von der EU-Kommission.<br />
Die EU-Finanzminister<br />
beraten am kommenden<br />
Wochenende bei ihrem Treffen<br />
in Mailand, wie sich der Verbriefungsmarkt<br />
ankurbeln lässt.<br />
Bis Anfang 2015 will die EU-<br />
Kommission entscheiden, ob<br />
die strikten Regeln für<br />
ABS entschärft werden sollen,<br />
um den Markt zu beleben.<br />
angela.hennersdorf@wiwo.de | Frankfurt<br />
FOTO: BLOOMBERG NEWS/SCOTT EELLS<br />
44 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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DENKFABRIK | Die Europäische Zentralbank will spekulative Übertreibungen an den<br />
Finanz- und Immobilienmärkten nicht mehr durch höhere Leitzinsen bekämpfen,<br />
sondern durch aufsichtsrechtliche Maßnahmen. Die geldpolitische Kehrtwende treibt<br />
die Vermögenspreise und ist gefährlich. Von Jörg Krämer<br />
Draghis Kehrtwende<br />
FOTOS: PR, LAIF/REA/ERIC TSCHAEN<br />
An den Finanzmärkten<br />
drohen wieder spekulative<br />
Übertreibungen.<br />
So liegt die<br />
Rendite der zehnjährigen Bundesanleihe<br />
unter einem Prozent,<br />
die Risikoaufschläge von<br />
Unternehmensanleihen sind<br />
wieder fast so niedrig wie vor<br />
Ausbruch der Finanzkrise, und<br />
die Sorglosigkeit an den Devisenmärkten<br />
ist, gemessen an<br />
den Optionspreisen, sogar<br />
niedriger als damals. Das Platzen<br />
solcher Blasen kann ganze<br />
Volkswirtschaften ins Verderben<br />
stürzen. Deshalb drängt die<br />
Bank für Internationalen Zahlungsausgleich<br />
(BIZ), die Zentralbank<br />
der Zentralbanken, ihre<br />
Mitglieder gegenzusteuern.<br />
Die Europäische Zentralbank<br />
(EZB) und die US-Notenbank<br />
sollten die Leitzinsen anheben,<br />
um so den Risiken für die<br />
Finanzmarktstabilität zu begegnen,<br />
auch wenn eine niedrige<br />
Inflation und eine schwache<br />
Konjunktur, wie im Euro-Raum,<br />
für sich genommen eine Nullzinspolitik<br />
nahelegen.<br />
ANTIZYKLISCHE PUFFER<br />
Noch vor vier Jahren war die<br />
EZB derselben Meinung wie die<br />
BIZ. In ihrem Monatsbericht<br />
<strong>vom</strong> November 2010 schrieb<br />
sie, „dass ein Gegensteuern bei<br />
Vermögenspreisblasen erwogen<br />
werden sollte, wenn Zinsbeschlüsse<br />
getroffen werden“.<br />
Die Notenbank müsse verhindern,<br />
dass das Entstehen einer<br />
„Vermögenspreisblase durch<br />
eine zu expansive Geldpolitik<br />
unterstützt“ werde.<br />
Vor zwei Monaten vollzog EZB-<br />
Präsident Mario Draghi allerdings<br />
eine Kehrtwende. Er verkündete,<br />
die EZB wolle die stark<br />
gestiegenen Vermögenspreise<br />
nicht durch das Naheliegende eindämmen,<br />
nämlich durch eine etwas<br />
straffere Geldpolitik, wie es die<br />
BIZ fordert. Stattdessen setze die<br />
EZB jetzt auf sogenannte makroprudentielle<br />
Maßnahmen. Ein typisches<br />
Beispiel für solche aufsichtsrechtlichen<br />
Maßnahmen sind<br />
antizyklische Kapitalpuffer: Wenn<br />
Banken über einen längeren Zeitraum<br />
zu viele Kredite vergeben,<br />
kann die Bankenaufsicht fordern,<br />
dass die Institute zusätzliches Kapital<br />
bilden. Das verteuert und<br />
begrenzt die Kreditvergabe und<br />
»Die lockere<br />
Geldpolitik der<br />
Frankfurter<br />
Währungshüter<br />
facht die<br />
Vermögenspreise<br />
an«<br />
macht die Banken widerstandsfähiger,<br />
falls Kreditnehmer ausfallen<br />
und es zu Abschreibungen kommt.<br />
Die Schweizerische Nationalbank<br />
hat solche Kapitalpuffer vorgeschrieben,<br />
um auf die stark steigenden<br />
Hypothekenkredite und<br />
Immobilienpreise zu reagieren. Ein<br />
weiteres Beispiel für makroprudentielle<br />
Maßnahmen sind Vorschriften,<br />
nach denen Banken<br />
mehr Liquidität vorhalten müssen,<br />
wenn sich Übertreibungen an den<br />
Finanzmärkten abzeichnen. Die<br />
Liste solcher aufsichtsrechtlicher<br />
Maßnahmen ist lang.<br />
Mit dem Rückgriff auf makroprudentielle<br />
Maßnahmen suggeriert<br />
die EZB, sie könne die<br />
massiven Nebenwirkungen ihrer<br />
lockeren Geldpolitik durch chirurgische<br />
Eingriffe ihrer Bankenaufseher<br />
neutralisieren. Dieser Strategiewechsel<br />
lässt sich kaum mit rein<br />
ökonomischen Argumenten erklären.<br />
Denn ein erfolgreicher chirurgischer<br />
Eingriff setzt voraus, dass<br />
bekannt ist, wo genau die nächste<br />
Vermögenspreisblase droht. Weil<br />
dies schwer vorherzusehen ist, ist<br />
ein geldpolitisches Gegensteuern<br />
mit dem Leitzins erfolgversprechender.<br />
Denn dies reduziert die<br />
allgemeine Risikoneigung. Der<br />
wahre Grund für die Kehrtwende<br />
der EZB dürfte schlicht sein, dass<br />
sie die Zinsen nicht erhöhen will,<br />
weil sie Rücksicht nimmt auf die<br />
hoch verschuldeten Staaten und<br />
ihre Banken, die auf Geheiß der Finanzminister<br />
viele Staatsanleihen<br />
gekauft haben.<br />
Drohende spekulative Blasen<br />
nicht durch eine etwas straffere<br />
Geldpolitik, sondern vor allem<br />
durch makroprudentielle Maßnahmen<br />
zu bekämpfen ist gerade<br />
im Fall der EZB risikoreich. Denn<br />
die lockere Geldpolitik der Frankfurter<br />
Währungshüter facht ohne<br />
Zweifel die Vermögenspreise an.<br />
Anleger sind wegen der Niedrigzinsen<br />
faktisch gezwungen, auf<br />
risikoreichere Anlagen auszuwei-<br />
chen. Das treibt deren Preise<br />
und Kurse nach oben. Makroprudentielle<br />
Maßnahmen sind<br />
schlichtweg überfordert, die<br />
Wucht der Nullzinspolitik zu<br />
neutralisieren. Die Bankenaufsicht<br />
ist nicht allwissend und<br />
kann nicht alle Löcher mit dem<br />
Aufsichtsrecht stopfen.<br />
GEMISCHTE ERFAHRUNG<br />
So ist es den antizyklischen<br />
Kapitalpuffern in der Schweiz<br />
bisher nicht gelungen, die von<br />
der lockeren Geldpolitik der<br />
Schweizerischen Nationalbank<br />
angefachte Hypothekenkreditvergabe<br />
einzudämmen, die<br />
Häuserpreise steigen weiter. In<br />
Ungarn konnte die Bankenaufsicht<br />
nicht verhindern, dass viele<br />
Bürger ihre Hauskäufe mit<br />
scheinbar günstigen Fremdwährungsdarlehen<br />
finanziert<br />
hatten, die sie nach der Abwertung<br />
des Forint kaum noch bedienen<br />
konnten. Alles in allem<br />
sind die Erfahrungen mit makroprudentiellen<br />
Maßnahmen gemischt.<br />
Der Chefvolkswirt der<br />
BIZ, Claudio Borio, vergleicht<br />
die lockere Geldpolitik zu Recht<br />
mit Wasser, das sich seinen<br />
Weg vorbei an allen Sperren<br />
sucht. Hält die EZB trotz aller<br />
Warnungen an ihrer lockeren<br />
Geldpolitik fest, wofür alles<br />
spricht, dürften die Vermögenspreise<br />
in den kommenden Jahren<br />
weiter steigen. Das Risiko ist<br />
beträchtlich, dass dies in einer<br />
spekulativen Blase endet.<br />
Jörg Krämer ist Chefvolkswirt<br />
der Commerzbank. Zuvor hat<br />
der in Kiel promovierte Volkswirt<br />
unter anderem am Institut<br />
für Weltwirtschaft in Kiel und<br />
für die Investmentbank Merrill<br />
Lynch gearbeitet.<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 45<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Vor dem großen Sprung<br />
CHINA | Der E-Commerce-Gigant und Börsenkandidat Alibaba ist nicht<br />
der einzige Konzern aus dem Reich der Mitte, der an die Weltspitze will.<br />
Auch der PC-Riese Lenovo strebt ein weiteres Mal nach der<br />
Poleposition, diesmal mit Smartphones. Samsung, Amazon<br />
und Microsoft, aber auch deutsche Autobauer müssen<br />
sich hüten vor den angriffslustigen Drachen aus Fernost.<br />
Samsung<br />
Umsatz: 327 Mrd. $<br />
Gewinn: 20 Mrd. $<br />
z.B. VW<br />
Fernziel ist der Wettbewerb mit<br />
den weltweiten Premiumanbietern<br />
aus Europa, Asien und den USA<br />
Apple<br />
Umsatz: 178,1 Mrd. $<br />
Gewinn: 38,5 Mrd. $<br />
XIAOMI Smartphones<br />
Umsatz/Gewinn (1. Hj. 2014): 5,3Mrd .$/k.A.<br />
Marktanteile: 14% in China<br />
Position in China: Senkrechtstarter,26 Mio. verkaufte Handys 1. Hj. 2014<br />
Story: Handys kosten nur 100 $, aktiv in Südostasien,<br />
Expansion nach Russland und in andere Schwellenländer,<br />
fast nur Online-Verkäufe, hauchdünne Margen<br />
QOROS Autos<br />
Umsatz/Gewinn: k.A./255Mio.$Verlust<br />
UNIONPAY bargeldlose Zahlung<br />
Marktanteile/Marktkapitalisierung:vernachlässigbar/nicht börsennotiert<br />
Position<br />
in China: erste weltmarktfähigeLimousine<br />
Story: Produktion läuftan,2015rund300000 Fahrzeuge geplant,<br />
Expansion<br />
in Schwellenländer und Osteuropa, gegen Premiumhersteller<br />
Umsatz/Gewinn(2011): 1 Mrd. $/k.A.<br />
3,5 Mrd. Kreditkarten in China<br />
Marktanteile:<br />
k.A.<br />
Marktkapitalisierung:<br />
Position<br />
in China: Nr. 1, nur fünf Prozent<br />
Auslandsumsatz<br />
Umsatz/Gewinn: 10 Mrd. $/2,5 Mrd. $<br />
TENCE N T<br />
in China, 100 Millionen außerhalb<br />
Position in China: Messenger WeChat<br />
Marktführer<br />
400 Mio. Nutzer<br />
Marktkapitalisierung: 150 Mrd.<br />
von US Computerspieleherstellern<br />
Story: weltweite Expansion, Übernahme<br />
Soziale Netzwerke<br />
nach Visa<br />
Story: zweitgrößtes Bezahlnetzwerk<br />
Visa<br />
Umsatz: 11,8 Mrd. $<br />
Gewinn: 4,9 Mrd. $<br />
Facebook<br />
Umsatz: 7,9 Mrd. $<br />
Gewinn: 1,5 Mrd. $<br />
Wenn nicht anders erwähnt, Umsatz/Gewinn 2013; Quelle Unternehmensangaben<br />
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BAIDU<br />
Google<br />
Umsatz: 59,8 Mrd. $<br />
Gewinn: 12,9 Mrd. $<br />
Samsung<br />
Umsatz: 327 Mrd. $<br />
Gewinn: 20 Mrd. $<br />
Apple<br />
Umsatz: 178,1 Mrd. $<br />
Gewinn: 38,5 Mrd. $<br />
Umsatz/Gewinn:5,2 Mrd. $/1,7 Mrd. $<br />
Internet-Suchmaschine<br />
Marktanteile:ca.65% in China<br />
Marktkapitalisierung: 74 Mrd. $<br />
Position in China: Marktführer<br />
Story: Größter Auslandsmarkt Brasilien, Expansion<br />
im arabischen Raum, zensiert<br />
Inhalte in China<br />
Expansion, Europa-Zentrale in Düsseldorf<br />
Story: Nähe zum chinesischen Militär, globale<br />
Marktanteile: k.A.<br />
Position in China: Marktführer und in 140 Ländern<br />
Marktkapitalisierung: privates Unternehmen<br />
aktiv<br />
Umsatz/Gewinn: 40 Mrd.$/3,5 Mrd. $<br />
HUAWEI Telekommunikationsausrüstung<br />
Position in China: Nr.1|Warenumsatz: 248 Mrd. $<br />
LENOVO<br />
Umsatz/Gewinn: 8 Mrd. $/3,6 Mrd. $<br />
Online-Handel<br />
ALIBABA<br />
Marktkapitalisierung:<br />
zu 200 Mrd. $<br />
Schätzungen bis<br />
Story: geht demnächst an die Börse, expandiert<br />
mit<br />
Umsatz/Gewinn: 34 Mrd. $/1 Mrd. $<br />
PC, Smartphones, Tablets<br />
Marktanteile weltweit/China: 18,6 %/40 %<br />
Umsatz in China: 70 %, mit Motorola stark in den USA<br />
Markkapitalisierung:11,4 Mrd. $<br />
auch bei Smartphones die Nr. 1 zu werden<br />
seinem Flaggschiff Taobao in Südostasien,<br />
übernimmt in den USA Wettbewerber<br />
Story: setzt auf Masse und versucht, nach den PCs nun<br />
HP<br />
Umsatz: 112 Mrd. $<br />
Gewinn: 5,1 Mrd. $<br />
Cisco<br />
Umsatz: 47,1 Mrd. $<br />
Gewinn: 7,8 Mrd. $<br />
Ebay<br />
Umsatz: 16 Mrd. $<br />
Gewinn: 2,8 Mrd. $<br />
Amazon<br />
Umsatz: 81,7 Mrd. $<br />
Gewinn: 0,18 Mrd. $<br />
ILLUSTRATION: STEFFEN MACKERT<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 49<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Sie zählen 49 Jahre, sind Charismatiker<br />
und haben Aufregendes<br />
mitzuteilen. YY nennt sich<br />
der eine, für Yang Yuanqing. Er<br />
hat den chinesischen Konzern<br />
Lenovo zum größten PC-Hersteller der<br />
Welt gemacht. Sein Pendant heißt Jack Ma<br />
und regiert Alibaba.<br />
Ma, aufgestiegen <strong>vom</strong> Englisch-Lehrer<br />
zum Internet-Star, will den chinesischen<br />
E-Commerce-Giganten in der zweiten<br />
Septemberhälfte an die Börse bringen. Das<br />
dürfte dem Unternehmen nach Schätzungen<br />
von Analysten einen Börsenwert von<br />
200 Milliarden US-Dollar bescheren.<br />
Prompt haute er vorige Woche auf<br />
die Pauke und verkündete zwei<br />
Milliarden US-Dollar Gewinn im<br />
ersten Quartal des Geschäftsjahrs<br />
bei 2,5 Milliarden Umsatz – glatt<br />
die doppelte Marge von Apple.<br />
Yang dagegen ließ am vorigen<br />
Donnerstag in Chicago einen<br />
Schleier lüften – für eine neue Generation<br />
Smartphones der Marke<br />
Motorola, die Lenovo von Google übernahm,<br />
sowie für ein neues digitales Armbandgerät<br />
namens Moto 360 Smartwatch –<br />
alles gezielt ein paar Tage bevor Apple das<br />
neue iPhone vorstellt.<br />
„Unsere Philosophie ist“, tönt Lenovo-<br />
Chef Yang im Interview mit der WirtschaftsWoche<br />
(siehe Seite 54): „ Wenn man<br />
nicht die Nummer eins werden will,<br />
braucht man gar nicht erst antreten.“ Und<br />
zuvor hatte Börsenaspirant Ma geprustet:<br />
„Wenn Alibaba nicht so wichtig wird wie<br />
Microsoft oder Wal-Mart, werde ich das für<br />
den Rest meines Lebens bedauern.“<br />
Mit ihrem Weltherrschaftsanspruch sind<br />
Yang und Ma in China nicht mehr allein.<br />
Auch andere Konzernlenker im Reich der<br />
Mitte, deren Unternehmen in den vergangenen<br />
Jahren dank des bevölkerungsreichsten<br />
Binnenmarktes der Welt erstarkt<br />
sind, starten zum Angriff auf derzeit globale<br />
Champions im Ausland.<br />
Die Schar der Angreifer ist bunt. Sie reichen<br />
<strong>vom</strong> Messaging-Dienst und sozialen<br />
Netzwerk Tencent über die Internet-Suchmaschine<br />
Baidu bis zum Kreditkarten- und<br />
Bezahlkonzern Unionpay. Mit Qoros hat<br />
sich sogar ein Autobauer aufgemacht, um<br />
die Konkurrenz aus den reifen Industrieländern<br />
einmal mit Qualitätsautos made in<br />
China anzugreifen. Deutschlands Anbieter<br />
etwa aus dem VW-Konzern sind genauso<br />
gewarnt wie Kreditkartengesellschaften<br />
<strong>vom</strong> Typ Visa oder der Handybauer Samsung,<br />
aber auch IT- und Internet-Stars aus<br />
»Wenn Alibaba nicht<br />
so wichtig wird wie<br />
Microsoft und<br />
Wal-Mart, werde ich<br />
das bedauern«<br />
Alibaba-Chef Jack Ma<br />
den USA von Google über Facebook bis zu<br />
Microsoft.<br />
Die Gründe, sich über die Landesgrenzen<br />
hinaus auszudehnen, sind vielfältig.<br />
Kein Zweifel, wichtige Schützenhilfe erhielten<br />
die chinesischen Konzerne von ihrer<br />
Regierung. Besonders deutlich zeigt<br />
sich das im Internet. Facebook, Google,<br />
YouTube, Twitter – die westlichen Erfolgsunternehmen<br />
des Web 2.0 sind in China<br />
gesperrt. Denn sie beugen sich nicht der<br />
staatlichen Zensur. Google verließ den Riesenmarkt<br />
deshalb 2010. Facebook und<br />
Twitter durften gar nicht erst antreten.<br />
So konnte etwa der chinesische Internet-<br />
Suchmaschinenanbieter Baidu in China<br />
groß werden. Heute kontrolliert Baidu 65<br />
Prozent des Marktes. Der börsennotierte<br />
Konzern kommt den chinesischen Zensurvorgaben<br />
mit vorauseilendem Gehorsam<br />
entgegen: Web-Sites, die den Vorgaben der<br />
Regierung widersprechen, tauchen bei<br />
Baidu gar nicht erst auf.<br />
Der chinesische Konzern Tencent wiederum<br />
hat davon profitiert, dass die Web-<br />
Seiten Facebook und Twitter in China gesperrt<br />
sind. WeChat, auf Chinesisch Weixin,<br />
ein Klon der Facebook-Tochter Whats-<br />
App, ist heute das beliebteste Kommunikationsmedium<br />
der Chinesen. 400 Millionen<br />
User schicken sich damit Nachrichten. Der<br />
Instant-Messenger QQ hat gar 800 Millionen<br />
Nutzer. Videos schauen Chinesen<br />
nicht auf YouTube sondern auf Youku.<br />
Das Web ist nicht das einzige Feld der digitalen<br />
Welt, in dem Chinas Unternehmen<br />
aktiver und aggressiver gegen westliche<br />
Konkurrenten auftreten. Der Senkrechtstarter<br />
der vergangenen Monate heißt Xiaomi,<br />
was so viel wie „kleiner Reis“ bedeutet.<br />
Auch Xiaomi folgt dem Modell: kopieren<br />
und verbessern. Zwar kann der Handyhersteller<br />
etwa Apple nicht das Wasser reichen,<br />
doch mit umgerechnet 100 US-Dollar<br />
sind die Telefone im Preis unschlagbar.<br />
Der chinesische Staat hilft, wo er kann,<br />
den eigenen Unternehmen, im Kampf gegen<br />
Platzhirsche jenseits der Grenzen anzugreifen.<br />
So hat die Regierung in Peking<br />
vor wenigen Tagen angekündigt, das Betriebssystem<br />
Windows des US-Softwarekonzerns<br />
Microsoft auf den Computern im<br />
Reich der Mitte durch eine eigene Kreation<br />
zu ersetzen. Schon im Herbst soll das ambitionierte<br />
Vorhaben starten.<br />
Und das ist erst der Anfang. Da immer<br />
mehr Menschen Smartphones und Tablets<br />
nutzen, auf denen Windows unter „ferner<br />
liefen“ rangiert, will die Regierung auch ein<br />
chinesisches Betriebssystem für drahtlose<br />
Geräte in Auftrag geben. „In drei bis fünf<br />
Jahren“, so die Ankündigung, soll es eine<br />
chinesische Alternative zu Android von<br />
Google und iOS von Apple geben, komplett<br />
mit der nötigen Infrastruktur für<br />
Smartphone-Apps und Web-Dienste.<br />
SCHUTZPATRON STAAT<br />
Größenwahn? Reaktion auf US-Cyber-<br />
Schnüffeleien? Taktische Drohgebärde?<br />
Gegen Microsoft läuft derzeit in China eine<br />
Untersuchung wegen Machtmissbrauchs.<br />
Windows 8 auf den Computern chinesischer<br />
Behörden ist seit Mai untersagt. Microsoft<br />
ist alarmiert. Offiziell will sich der<br />
Konzern wegen des laufenden Verfahrens<br />
nicht äußern. Der neue Microsoft-Chef<br />
Satya Nadella plant eine Reise nach China<br />
noch in diesem Monat, um sich persönlich<br />
vor Ort über die Lage zu informieren.<br />
Dass einige Chinesen, die nun Amazon,<br />
Samsung und Co. angreifen, enge Beziehungen<br />
zur Kommunistischen Partei pflegen<br />
oder selbst Mitglieder sind, ist ein offenes<br />
Geheimnis. Sie haben den Staat als<br />
Schutzpatron hinter sich. „Von westlichen<br />
Konkurrenten kopieren und sie dann an<br />
FOTOS: IMAGO/CHINA FOTO PRESS, BULLS PRESS/NEWS INTERNATIONAL<br />
50 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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der Expansion in China zu hindern oder<br />
wie bei Facebook oder Twitter ihnen dies<br />
gleich ganz zu verwehren“, sagt der US-<br />
Technologiestratege Mark Anderson, das<br />
sei das „chinesische Geschäftsmodell“.<br />
Vor allem der Telekommunikationsausrüster<br />
Huawei sieht sich immer wieder<br />
Spionage-Vorwürfen ausgesetzt. Dessen<br />
Gründer Ren Zhengfei, ein ehemaliger Soldat<br />
der Volksbefreiungsarmee, werden enge<br />
Kontakte zum chinesischen Militär<br />
nachgesagt. Doch seit dem NSA-Skandal<br />
haben die Vorwürfe von US-Seite an Überzeugungskraft<br />
verloren. Huawei bezieht<br />
demnächst in Düsseldorf seine neue Europa-Zentrale.<br />
Der Bürokomplex namens Silizium<br />
im Stadtteil Oberkassel soll 900 Mitarbeiter<br />
beherbergen. Zu den Kunden zählen<br />
die Deutsche Telekom und Vodafone.<br />
GEFÜLLTE KRIEGSKASSEN<br />
Gleichwohl ist es den Angreifern in den<br />
vergangenen Jahren auffällig gelungen,<br />
sich zu professionalisieren und zu internationalisieren.<br />
Die Produkte haben sich verbessert.<br />
Lenovo mit zugekauften Marken<br />
wie Medion in Deutschland, Huawei oder<br />
der Haushaltsgerätehersteller Haier sind<br />
im Westen bekannte Marken.<br />
Mit ihren gefüllten Kriegskassen stoßen<br />
die Angreifer bevorzugt in Schwellenländer<br />
vor. Brasilien etwa ist für Baidu schon der<br />
zweitwichtigste Markt. Die Internet-Suchmaschine<br />
will bis Ende der Dekade die Hälfte<br />
ihres Umsatzes im Ausland erwirtschaften.<br />
300 Millionen Dollar lässt das Unternehmen<br />
für den Aufbau eines Forschungszentrums<br />
im Silicon Valley springen. Amazon-Konkurrent<br />
Alibaba kauft sich derweil<br />
mit dreistelligen Millionensummen in US-<br />
Internet-Unternehmen wie Tango, Lyft,<br />
Fanatics oder Shoprunner ein. Facebook-<br />
Wettbewerber Tencent übernahm an der<br />
US-Westküste Spielehersteller wie Riot<br />
Games und ist bereits in 140 Ländern aktiv.<br />
Ganz am Anfang steht der Autohersteller<br />
Qoros, dem es als erstem chinesischen Unternehmen<br />
gelang, eine international wettbewerbsfähige<br />
Limousine zu bauen. Schon<br />
bald soll die Produktion auf 300 000 Fahrzeuge<br />
im Jahr steigen.<br />
Alibaba soll mit dem Börsengang eine<br />
Art Startschuss setzen für die forcierte weltweite<br />
Expansion chinesischer Konzerne,<br />
wie dies im 20. Jahrhundert die USA, Japan<br />
und Westeuropa vorgemacht haben – und<br />
wie dies Lenovo-Chef Yang nun mit den<br />
Smartphones wiederholen will.<br />
n<br />
philipp.mattheis@wiwo.de | Shanghai,<br />
matthias hohensee | Silicon Valley<br />
Ein Schritt vorwärts,<br />
zwei zurück<br />
Lenovo-Chef Yang<br />
gilt als chinesischer<br />
Top-Manager mit<br />
der ausgeprägtesten<br />
West-Orientierung<br />
Mann mit drei Leben<br />
LENOVO | Der größte PC-Hersteller der Welt ist eines der wenigen<br />
chinesischen Unternehmen, denen der Aufbau einer internationalen<br />
Marke gelungen ist. Das ist vor allem der Verdienst von YY.<br />
Der Saal ist dunkel, das Publikum<br />
mucksmäuschenstill. Nur die Stimme<br />
einer Moderatorin hallt durch<br />
den großen Ballsaal des Hilton Hotels im<br />
zentralchinesischen Wuhan. „Er ist hier“,<br />
sagt die bekannte TV-Moderatorin. „Gleich<br />
spricht YY zu uns!“ Das Kürzel genügt – jeder<br />
hier weiß, wer „YY“ ist. Dann ertönt eine<br />
Fanfare, Scheinwerfer leuchten auf, als<br />
ein schlanker, hochgewachsener Mann die<br />
Bühne betritt, junge Frauen im Publikum<br />
können vor Aufregung nicht mehr still sitzen<br />
und kreischen.<br />
YY, ausgesprochen „Waiwai“, das ist Yang<br />
Yuanqing, der Boss von Lenovo. Der Konzern<br />
aus China, der sich unter anderem die<br />
PC-Sparte des US-Konzerns IBM und den<br />
deutschen Computerbauer Medion einverleibte,<br />
ist nicht nur der größte seiner<br />
Branche und will noch weiter wachsen,<br />
weshalb Yang hier in Wuhan die Belegschaft<br />
auf die verstärkte Expansion nach<br />
Europa und in die USA einschwört.<br />
Der 49-Jährige hat sich noch mehr vorgenommen:<br />
Lenovo soll auch weltgrößter<br />
Smartphone-Hersteller werden. In China<br />
hat er den globalen Spitzenreiter Samsung<br />
schon überholt. Weltweit liegt Lenovo<br />
mit knapp 16 Millionen verkauften Smartphones<br />
im vergangenen Quartal zwar erst<br />
auf Platz vier hinter Samsung, Apple und<br />
Huawei, ebenfalls aus China. Doch der<br />
Schalter ist umgelegt: Googles Handysparte<br />
Motorola kommt vorbehaltlich des<br />
Segens der Kartellbehörden unter das<br />
Lenovo-Dach.<br />
Nur wenige Autominuten entfernt <strong>vom</strong><br />
Hilton, in dem Yang seine weiblichen<br />
Landsleute betört, hat er umgerechnet 800<br />
Millionen US-Dollar in eine gigantische<br />
Fabrik gesteckt, die jährlich bis zu 40 Millionen<br />
hochgezüchtete Mobiltelefone ausspucken<br />
soll. Um weltweit für Aufmerksamkeit<br />
zu sorgen, spannt Yang seit Oktober<br />
2013 den US-Schauspieler Ashton Kutcher<br />
als „Product Manager“ ein.<br />
Yangs neue Masche und das teure Investment<br />
sind eine riskante Wette auf die<br />
Zukunft: Gute Telefone gibt es viele – doch<br />
reicht die Bekanntheit der Marke Lenovo,<br />
um auch im Milliardenmarkt Smartphones<br />
mehr als ein Wörtchen mitzureden?<br />
Wenn Experten es einem chinesischen<br />
Unternehmer zutrauen, zum Inhaber einer<br />
weiteren weltbekannten Marke aufzusteigen,<br />
dann ist das Yang und Lenovo. Der<br />
einst namenlose Elektronikfertiger aus<br />
Peking bringt Voraussetzungen mit, die<br />
kaum ein anderes chinesisches Unternehmen<br />
bieten kann. Yang ist heute in mehr<br />
als 60 Ländern aktiv, seine Produkte werden<br />
in 160 Ländern verkauft, der Konzern<br />
mit 46 000 Mitarbeitern machte im Geschäftsjahr<br />
2013/14 bei 38,7 Milliarden<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 51<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
»<br />
US-Dollar Umsatz 817 Millionen Gewinn.<br />
Selbst 30 Prozent der Deutschen<br />
kennen die Marke bereits, so viele wie bei<br />
keiner anderen chinesischen Firma.<br />
Dabei ist Lenovo erst 30 Jahre alt. 1984<br />
gründete eine Gruppe junger Computerwissenschaftler<br />
um den heute 70-jährigen<br />
Informatiker Liu Chuanzhi ein Unternehmen<br />
namens Legend, um PCs zu fertigen.<br />
Die Beteiligten sind Mitglieder der Chinese<br />
Academy of Sciences (CASS), einem<br />
Thinktank der Regierung in Peking. 25 000<br />
Dollar soll das Startkapital damals betragen<br />
haben. CASS hält bis heute ein Drittel<br />
an der Legend Holding und die wiederum<br />
ein Drittel an Lenovo.<br />
Yang ist beim Start nicht dabei,<br />
sondern heuert 1989 im Alter<br />
von 24 Jahren an. Er wächst<br />
auf in Armut während der Kulturrevolution,<br />
als Intellektuelle<br />
zu körperlicher Arbeit aufs<br />
Land umgesiedelt werden.<br />
Yang studiert Informatik und<br />
arbeitet bei Legend zunächst<br />
im Vertrieb für kärgliche 30 US-Dollar im<br />
Monat. Yang fällt Legend-Mitgründer Liu<br />
als Denker und Stratege auf. Vier Jahre später<br />
macht der ihn zum Chef der PC-Sparte.<br />
Erstes Leben –<br />
Coups in der PC-Sparte<br />
Made by Lenovo<br />
Die drei wichtigsten künftigen<br />
Standbeine des chinesischen PCund<br />
Smartphone-Herstellers.<br />
Tablet-Rechner<br />
Mit einem Preis von rund 160 Euro soll<br />
das Yoga Tablet den Durchbruch bringen<br />
und dem iPad Konkurrenz machen<br />
Weltmarktanteil: k. A.<br />
Laptop-Computer<br />
Übernommene Marken wie Medion aus<br />
Deutschland trugen dazu bei, dass Lenovo<br />
Marktführer bei PCs wurde<br />
Weltmarktanteil: 19,2 %<br />
Mobiltelefone<br />
Im Handygeschäft sollen<br />
Zukäufe bekannter<br />
Marken wie Motorola und<br />
Modelle wie das RAZR D3<br />
den Durchbruch bringen<br />
Weltmarktanteil:<br />
2,5 %<br />
Quelle: Gartner<br />
Der neue Herr über die Computer nutzt<br />
den Job für seine zweite Kulturrevolution.<br />
Bei Lenovo arbeiten die Angestellten noch<br />
nach dem einstigen Motto am chinesischen<br />
Hof: „Abwarten, bis man erkennen<br />
kann, was der Kaiser wünscht.“ Eigenverantwortung<br />
und Engagement sind vielen<br />
Mitarbeitern fremd. Das ändert Yang. Er<br />
schafft Titel ab und ermutigt die Mitarbeiter,<br />
sich mit Vornamen anzureden. Bis heute,<br />
sagt Yang, wolle er drei Eigenschaften<br />
seiner Mitarbeiter fördern: Eigenverantwortung,<br />
Pioniergeist und Verbindlichkeit.<br />
1994 geht Legend an die Börse in Hongkong<br />
und sammelt 30 Millionen Dollar ein.<br />
Yang strukturiert den Vertrieb um und setzt<br />
auf gut geschulte Verkäufer. Um diese auszubilden,<br />
holt er Experten des US-Softwareriesen<br />
Microsoft und dessen US-Chiplieferanten<br />
Intel ins Unternehmen. Zudem<br />
sichert er jedem Lenovo-Händler in China<br />
ein exklusives Einzuggebiet zu, in dem dieser<br />
keine Konkurrenz von seinesgleichen<br />
fürchten muss. Das macht die Händler zu<br />
loyalen Markenbotschaftern.<br />
Gleichzeitig baut Yang das Vertriebsnetz<br />
aus und legt so den Grundstein für die starke<br />
Expansion der folgenden Jahren. Heute<br />
ist es das erklärte Ziel des Konzerns, im riesigen<br />
China nirgends weiter als 50 Kilometer<br />
von einem Kunden entfernt zu sein.<br />
Yangs Sprung an die Lenovo-Spitze erscheint<br />
in dieser Phase nur eine Frage der<br />
Zeit. Doch was ihm dann widerfährt, wirkt<br />
aus heutiger Sicht wie ein Schritt vorwärts<br />
und zwei Schritte zurück.<br />
Gründer Liu macht nach dem Rückzug<br />
aus dem operativen Geschäft 2001 Yang<br />
tatsächlich im Alter von 36 Jahren zum Vorstandschef.<br />
Der Umsatz liegt bereits bei 2,7<br />
Milliarden Dollar, doch das reicht Yang<br />
nicht. Um auf internationale Märkte vorzustoßen,<br />
benennt er 2003 Legend in Lenovo<br />
um, einen Kunstnamen, der einzigartig<br />
und dank „novo“ nach neu klingen soll.<br />
2005 schafft Yang den Durchbruch. Er<br />
schließt mit dem US-Softwareriesen Microsoft,<br />
der unter den vielen Raubkopien<br />
im Reich der Mitte leidet, eine Allianz. Microsoft-Gründer<br />
Bill Gates und sein damaliger<br />
Vorstandschef Steve Ballmer überlassen<br />
ihr Betriebssystem Windows zum Vorzugspreis,<br />
dafür verkauft Lenovo seine<br />
Computer etwas teurer, aber mit Original-<br />
Windows. Im Gegenzug unterstützt Microsoft<br />
Lenovo beim Marketing. Yang erwartet,<br />
dass die Regierung auch auf andere PC-<br />
Hersteller Druck ausübt und diese dem<br />
Beispiel von Lenovo folgen. Das Kalkül<br />
geht auf. Der damalige Microsoft-Chef<br />
Ballmer sagt dazu später: „Yang gab den<br />
Ausschlag. Er riskierte etwas.“<br />
Ebenfalls 2005 gelingt dem Chinesen<br />
sein zweiter Coup, die Übernahme der PC-<br />
Sparte der US-IT-Ikone IBM für 1,75 Milliarden<br />
Dollar. Yang nutzt den Kauf nicht,<br />
um die Amerikaner zu sinisieren, sondern<br />
um Lenovo zu internationalisieren, und<br />
geht mit gutem Beispiel voran. Er siedelt<br />
mit Familie nach Amerika über und verpasst<br />
Lenovo zwei Firmensitze: einen in<br />
Peking und einen in Morrisville bei Raleigh,<br />
im US-Bundesstaat North Carolina.<br />
Yang scheint auf bestem Weg, sich an der<br />
Lenovo-Spitze unersetzlich zu machen. Er<br />
paukt mühevoll Englisch und ernennt es<br />
zur offiziellen Konzernsprache. Gleichzeitig<br />
öffnet er den Konzern, sodass heute unter<br />
den 100 Top-Managern 18 Nationalitäten<br />
vertreten sind.<br />
Doch dann kommt der große Rückschritt.<br />
Unternehmensgründer Liu zieht<br />
Yang von der Konzernspitze ab und macht<br />
ihn zum Aufsichtsratsvorsitzenden. Alle<br />
Mühen, so Lius Eindruck, reichen noch<br />
nicht, Yang versteht zu wenig <strong>vom</strong> globalen<br />
Geschäft und muss dieses erst noch lernen.<br />
Zweites Leben –<br />
Rückkehr und Expansion<br />
Dass ihn ein kapitaler Fehler seines Nachfolgers<br />
William Amelio bald wieder in den<br />
Chefsessel zurückkatapultieren sollte, war<br />
für Yang zunächst nicht abzusehen. Der<br />
Ex-Asien-Chef des amerikanischen Konkurrenten<br />
Dell will sich bei Lenovo als entscheidungsstarker<br />
Manager einführen und<br />
verkauft 2008 die noch junge Smartphone-<br />
Sparte von Lenovo für 100 Millionen US-<br />
Dollar, um sich ganz auf das durchhängende<br />
PC-Geschäft zu konzentrieren. Doch<br />
»<br />
FOTOS: PR (3)<br />
52 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
schon ein Jahr später bringt Apple das<br />
iPhone auf den Markt, das den Handymarkt<br />
revolutionieren und Unternehmen<br />
wie den damaligen Branchenführer Nokia<br />
dem Untergang weihen sollte. Lenovo<br />
bleibt nur, dem Aufstieg von Apple und im<br />
Gefolge von Samsung tatenlos zuzusehen.<br />
Erst als die weltweite Finanzkrise 2009<br />
auch Lenovo in rote Zahlen stürzt und den<br />
Umsatz von 16,4 auf 14,9 Milliarden Dollar<br />
dezimiert, ist Yangs Zeit wieder gekommen.<br />
Amelios Vertrag wird wegen der Verluste<br />
nicht verlängert, Yang wieder Chef.<br />
Was Lenovo heute darstellt, geht zurück<br />
auf Yangs Leistung in den zurückliegenden<br />
drei Jahren. 2011 übernimmt<br />
Lenovo für 738<br />
Millionen Dollar den<br />
deutschen Aldi-Zulieferer<br />
Medion. Im selben<br />
Jahr geht Lenovo ein<br />
Joint Venture mit dem<br />
japanischen NEC-Konzern<br />
ein und schluckt für<br />
148 Millionen Dollar<br />
den brasilianischen Hersteller CCE. 2013<br />
zieht Lenovo mit einem Marktanteil von<br />
18,6 Prozent an HP, Acer und Dell vorbei<br />
und wird weltgrößter PC-Hersteller.<br />
Doch vermeintlich auf dem Gipfel des<br />
Erfolgs hat sich Yang mit der Spitzenposition<br />
im PC-Markt eine Hypothek eingehandelt.<br />
Denn Smartphones und Tablets setzen<br />
klassischen Laptops und Desktop-<br />
Rechnern immer mehr zu, auch für 2014<br />
erwarten die Analysten des US-Marktforschers<br />
IDC weiter sinkende PC-Verkäufe.<br />
Drittes Leben –<br />
Der Angriff bei Handys<br />
Damit steht Yangs Karriere ein weiteres<br />
Mal an einem Wendepunkt. Denn Lenovo<br />
ist zu stark <strong>vom</strong> PC abhängig. 84 Prozent<br />
des Umsatzes stammen von diesem Geschäft.<br />
Zudem ist China mit 70 Prozent Lenovos<br />
größter Markt und schrumpft ebenfalls.<br />
Zwar ist der Konzern in vielen Ländern<br />
präsent, in den meisten aber macht er<br />
keinen Gewinn, weil Yang zuerst auf Expansion<br />
setzt und erst ab zehn Prozent<br />
Marktanteil die Profitschraube anzieht.<br />
Der Endvierziger hat sich deshalb für eine<br />
Mehrfachstrategie entschieden. Zum einen<br />
heizt er den Verdrängungswettbewerb<br />
im PC-Geschäft an. „Lenovo ist der einzige<br />
Wettbewerber, der in dem schrumpfenden<br />
Markt noch zweistellig wachsen kann“, sagt<br />
James Wang <strong>vom</strong> Analystenhaus Catalys in<br />
Shanghai. „Es bleibt ein wichtiger Bereich.“<br />
Zum andern versucht Yang, die PC-Geschäfte<br />
zu stärken. So setzt er auf ein Konzept<br />
namens PC+, das Tablets, Laptops<br />
und Desktops in einem Gerät vereint. Das<br />
Tablet Yoga etwa wird mit einem Handgriff<br />
zum Laptop, ist mit 160 Euro deutlich<br />
preiswerter als das iPad und läuft mit dem<br />
Betriebssystem Android von Google. Zudem<br />
hat Yang Anfang 2014 für 2,3 Milliarden<br />
Dollar die einfachen Server von IBM<br />
übernommen, um künftig auch mit Firmenkunden<br />
ins Geschäft zu kommen.<br />
Schließlich weiß Yang, dass er nur dann<br />
als der Größte in die Lenovo-Geschichte<br />
eingehen kann, wenn er das Unternehmen<br />
in eine neue Ära führt. Das soll die<br />
Smartphone-Sparte von Motorola bringen.<br />
Die erwarb Yang im Februar für 2,9 Milliarden<br />
Dollar von Google, nachdem er 2009<br />
die einst verkaufte Handyproduktion für<br />
200 Millionen Dollar zurückgekauft hatte.<br />
Auf dem Heimatmarkt in China ist Lenovo<br />
mit seinen ausgereiften, aber günstigen<br />
Geräten gut positioniert. Yang hat das<br />
Smartphone-Geschäft aufgespalten: Eine<br />
Lenovo Business Group soll den Massenmarkt<br />
mit Telefonen zum Preis von 150 bis<br />
300 Dollar bedienen und eine Think Business<br />
Group teurere Geräte für Premiumkunden<br />
anbieten, die bisher zum Beispiel<br />
MacBooks von Apple kaufen.<br />
Generell setzt Yang auf Masse: „Wenn<br />
wir in einen Markt vorstoßen, wollen wir<br />
schnell einen zweistelligen Marktanteil haben.“<br />
Gelungen ist ihm dies bereits in Indien,<br />
Indonesien und Malaysia, wo Lenovo-Smartphones<br />
rund zehn Prozent des<br />
Marktes ausmachen. Den Angriff auf die<br />
USA fährt Yang mit der Marke Motorola,<br />
die dort noch auf zweistellige Marktanteile<br />
kommt. Dabei schielt der Lenovo-Chef<br />
auch auf die 2000 Patente, die er mit Motorola<br />
erhielt. Denn in entwickelten Märkten<br />
muss Lenovo bis zu 25 Prozent der Einnahmen<br />
an Patentgebühren abgeben. Das entfällt<br />
mit den erworbenen Patenten.<br />
Schwerer dürfte sich Yang in Europa tun,<br />
wo Händler wenig Interesse an einem weiteren<br />
Smartphone-Label haben. Experten<br />
glauben daher, dass Lenovo Übernahmen<br />
plant: „Helfen könnte der Kauf von Nokia<br />
von Microsoft“, sagt Analyst Wang.<br />
Geschäftlich ist für Yang der Auftritt des<br />
US-Schauspielers Kutcher in den Diensten<br />
von Lenovo die Krönung seiner Markenbildung.<br />
Auf die Frage, warum er sich für Lenovo<br />
engagiere, antwortete der Mime beim<br />
Start des Yoga Tablets: „Weil sie eine globale<br />
Unternehmenskultur haben.“<br />
n<br />
philipp.mattheis@wiwo.de | Shanghai<br />
INTERVIEW Yang Yuanqing<br />
»Wir wollen<br />
überall<br />
größer<br />
werden«<br />
Der Lenovo-Chef will den<br />
Konzern auch bei Mobiltelefonen<br />
weltweit an die Spitze führen.<br />
Herr Yang, können Sie sich an Ihre erste<br />
Computer-Erfahrung erinnern?<br />
Ein Freund meiner Eltern hat mich darauf<br />
gebracht, er meinte: Computer werden<br />
das große Ding. Ich habe ihm das<br />
geglaubt und daher in Shanghai und Peking<br />
Computerwissenschaften studiert.<br />
Lenovo ist heute eine der wenigen<br />
chinesischen Marken, die international<br />
bekannt sind. Was haben Sie anders<br />
gemacht als die Konkurrenz?<br />
Unser Ziel war immer, ein globales<br />
Unternehmen zu werden. Lenovo ist<br />
hartnäckig und hat immer von seinen<br />
Mitbewerbern gelernt. Wir haben die<br />
PC-Sparte von IBM in den USA und<br />
Medion in Deutschland gekauft, sind mit<br />
NEC in Japan ein Joint Venture eingegangen<br />
– von all diesen Unternehmen haben<br />
wir gelernt. Wir haben deren Stärken<br />
genutzt und uns einverleibt. Deswegen<br />
sind wir heute ein diversifiziertes, internationales<br />
Unternehmen.<br />
Was hat Lenovo denn von IBM gelernt?<br />
Zum Beispiel haben bei Meetings unsere<br />
amerikanischen Kollegen immer geredet,<br />
die Chinesen aber geschwiegen. In<br />
unserer Kultur redet man nur, wenn der<br />
Chef einen explizit nach seiner Meinung<br />
fragt. Wenn man schweigt, muss das<br />
nicht unbedingt bedeuten, dass man<br />
derselben Meinung ist. Das gab anfangs<br />
viele Probleme. Der Leiter der Meetings<br />
dachte, okay, wir sind alle derselben<br />
Meinung. Später war er erstaunt, als sich<br />
herausstellte, dass dem nicht so war.<br />
Beide Kulturen haben ihre Vorteile. Nur<br />
wenn man die Unterschiede nicht versteht,<br />
hat man Probleme. Heute ermutigen<br />
wir alle unsere Mitarbeiter, ihre Meinung<br />
zu sagen.<br />
54 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Das Klischee sagt, Chinesen scheuen sich<br />
vor Eigenverantwortung. Ist das so?<br />
Mehr Verantwortung wollen alle, auch die<br />
chinesischen Mitarbeiter. Aber in der<br />
westlichen Kultur nimmt sie sich jeder<br />
proaktiv. In China warten die Leute, bis<br />
der Chef ihnen Verantwortung zuteilt.<br />
Lenovo ist heute der weltgrößte PC-<br />
Hersteller. Ihre Marktanteile wachsen<br />
sogar noch weiter – nur schrumpft der<br />
Markt. Wie gehen Sie damit um?<br />
Das ist noch immer eine 200-Milliarden-<br />
Dollar-Industrie, in der es sich lohnt, die<br />
Nummer eins zu sein. Gerade außerhalb<br />
Chinas können wir noch wachsen.<br />
Wo genau?<br />
In Europa und den USA, aber auch in<br />
Ländern wie Indonesien oder Indien.<br />
Noch immer macht das PC-Geschäft 84<br />
Prozent Ihres Umsatzes aus. Wie wollen<br />
Sie diese Abhängigkeit reduzieren?<br />
Nachdem der Kauf von Motorola abgeschlossen<br />
ist, wird sich das ausbalancieren.<br />
Mobiltelefone und Tablets werden damit<br />
mittelfristig rund 30 Prozent unserer<br />
Umsätze ausmachen. Mit dem Motorola-<br />
Deal haben wir den Grundstein dafür gelegt,<br />
auch im Mobilbereich die Nummer<br />
eins zu werden. Das ist kein einfaches Ziel,<br />
das wir in ein oder zwei Jahren erreichen<br />
werden. Das wird länger dauern.<br />
Wie lange denn? Fünf Jahre?<br />
Ich kann keine Zahl nennen. Wenn Lenovo<br />
einmal ein Ziel formuliert, dann erreichen<br />
wir es auch. Das ist aber noch zu<br />
früh. Wird der Motorola-Deal genehmigt,<br />
rechnen wir damit, 100 Millionen mobile<br />
Endgeräte im Jahr zu verkaufen.<br />
Motorola ist praktisch nur noch in den<br />
USA vertreten und spielt in Europa kaum<br />
eine Rolle. Wie wollen Sie hierzulande<br />
vorgehen – eher mit Lenovo-Smartphones<br />
oder Motorola-Geräten?<br />
Motorola hat auch in Europa einen guten<br />
Ruf, auch wenn die verkauften Stückzahlen<br />
gering sind. Der Erwerb wird uns auf<br />
Märkten helfen, in denen wir Smartphone-<br />
Business noch nicht gestartet haben. Wir<br />
möchten mit Lenovo und Moto eine Zwei-<br />
Marken-Strategie fahren und jeweils<br />
die Marke positionieren, die sich auf dem<br />
jeweiligen Markt besser eignet.<br />
Wollen Sie die Marke Motorola mittelfristig<br />
beibehalten, oder tragen irgendwann<br />
alle Geräte ein Lenovo-Label?<br />
Unsere Markenstrategie steht noch<br />
nicht abschließend fest. Auf jeden<br />
Fall aber ist die Marke Moto legendär,<br />
besonders bei mobilen<br />
Endgeräten. Wir werden die<br />
Marke schützen und ausbauen<br />
– ähnlich wie wir das bei<br />
PCs mit „Think“ getan haben.<br />
Warum ist Ihnen so wichtig,<br />
die Nummer eins zu<br />
sein? Apple etwa hat mit<br />
seinen iPhones eine sehr<br />
profitable Position.<br />
Unsere Philosophie ist:<br />
DER PC-KÖNIG<br />
Yang, 49, steht seit 2009 zum zweiten<br />
Mal an der Spitze des Lenovo-<br />
Konzerns. Der studierte Computertechniker<br />
startete dort 1989 und<br />
machte das Unternehmen zum<br />
weltgrößten PC-Hersteller.<br />
Wenn man nicht die Nummer eins<br />
werden will, braucht man gar nicht erst<br />
antreten.<br />
Wie wollen Sie auf dem Weg zur Spitze<br />
bei mobilen Geräten die innovativsten<br />
Unternehmen der Welt schlagen?<br />
Wir sind nicht weniger innovativ als<br />
Samsung oder Apple. Sie werden von Lenovo<br />
PCs, Smartphones und sogar ganz<br />
neue Produkte sehen. Einige stellen wir<br />
schon auf dem Mobile World Congress<br />
im Februar 2015 in Barcelona vor.<br />
Im Gegensatz zu Ihren Konkurrenten<br />
fertigen Sie einen Großteil Ihrer Komponenten<br />
selbst. Welchen Vorteil hat das?<br />
Der Anteil der In-Haus-Fertigung liegt<br />
bei etwa 50 Prozent. Dadurch haben wir<br />
mehr Einsicht in die Kostenstruktur und<br />
wissen besser, welche Preise man verlangen<br />
kann. Das macht uns flexibler, die<br />
Kundenwünsche zu erfüllen. Steigt die<br />
Nachfrage schnell, können wir ohne große<br />
Probleme die Produktion erhöhen.<br />
Der Mix ermöglicht uns, selbst innovativer<br />
zu sein, und bietet die Kontaktkanäle,<br />
um mit Zulieferern enger zusammenzuarbeiten.<br />
Und wir können Erfindungen<br />
leichter vor Kopien schützen. Deshalb<br />
möchten wir das so beibehalten.<br />
In China steigen die Löhne jedes Jahr<br />
um fast zehn Prozent. Verlagern Sie Ihre<br />
Produktion bald in billigere Länder?<br />
China ist immer noch billig. Aber Lohnkosten<br />
sind nicht das Einzige. Man<br />
braucht geeignete Arbeitskräfte und die<br />
Infrastruktur. Das sehe ich in anderen<br />
Ländern so nicht.<br />
Ein Teil Ihres Erfolgs in China liegt an<br />
Ihrem Händlernetzwerk. Dort ist kein<br />
Kunde weiter als 50 Kilometer <strong>vom</strong><br />
nächsten Lenovo-Händler entfernt. Wird<br />
es das so auch in anderen Märkte geben?<br />
Als wir das Vertriebsnetz in China aufgebaut<br />
haben, war das Pionierarbeit. In<br />
jeder Provinz konnten wir so von Anfang<br />
an gewährleisten, immer die Stärksten<br />
zu sein. Das ist ein großer Vorteil bis<br />
heute. Wir können das auf westliche<br />
Märkte nicht übertragen. Aber es geht<br />
zum Beispiel in Indien oder Indonesien.<br />
Dort wollen wir das wiederholen.<br />
Wie wichtig sind Sie selbst für Lenovo?<br />
Lenovo war mein erster Job und mein<br />
einziger. Das Unternehmen ist mein Zuhause<br />
und meine Familie. Ich hoffe, ich<br />
kann die Mitarbeiter inspirieren. Das ist<br />
das wichtigste Element von Führung. n<br />
philipp.mattheis@wiwo.de | Shanghai<br />
FOTO: EGILL BJARKI FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
55<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Leicht und teuer<br />
SGL | Die Sanierung des angeschlagenen Wiesbadener<br />
Technologiekonzerns rückt in weitere Ferne. Denn inzwischen<br />
mehren sich die Zweifel am superleichten Wunderstoff Carbon.<br />
Das Comeback währte nur kurz. Erst<br />
Ende 2013 war der Grafitkonzern<br />
SGL <strong>vom</strong> kleineren Börsensegment<br />
SDax wieder in den MDax aufgestiegen,<br />
den Index für die mittelgroßen Unternehmen.<br />
Seither jagt eine Hiobsbotschaft die<br />
andere. Das Geschäftsjahr 2013 schloss<br />
SGL mit fast 400 Millionen Euro Verlust ab<br />
– bei einem Umsatz von 1,5 Milliarden Euro.<br />
Die Zahlen für das erste Halbjahr 2014<br />
fielen miserabel aus (siehe Grafik). Und<br />
vor wenigen Tagen stufte die Ratingagentur<br />
Moody’s die Kreditwürdigkeit von SGL<br />
weiter auf „hochspekulativ“ (B2) zurück –<br />
vor allem wegen der Probleme im Hauptgeschäft<br />
Grafitelektroden, die zum<br />
Schmelzen von Schrott zu Stahl benötigt<br />
werden. Die Aktie stürzte weiter ab (siehe<br />
Chart).<br />
Am Mittwochabend vergangener Woche<br />
beschloss die Deutsche Börse dann,<br />
das havarierte Unternehmen wieder in<br />
den SDax zu verbannen. Beim Börsenumsatz<br />
und beim Börsenwert des Streubesitzes<br />
schafften die Wiesbadener die erforderlichen<br />
Kriterien nicht mehr. Dazu trug<br />
bei, dass der SGL-Streubesitz in den vergangenen<br />
Jahren von über 70 auf 38 Prozent<br />
gefallen ist, seit sich bekannte Investoren<br />
Pakete gesichert haben: Susanne<br />
Klatten aus der Quandt-Dynastie (26,9<br />
Prozent), die Autokonzerne BMW (15,7<br />
Prozent) und VW (knapp zehn Prozent)<br />
sowie der schwäbische Maschinenbauer<br />
Voith (neun Prozent). Die prominenten Eigentümer<br />
brauchen freilich für ihr Investment<br />
noch viel Geduld.<br />
Denn dass SGL in absehbarer Zeit noch<br />
einmal die Wende schafft, ist derzeit zweifelhaft.<br />
Der größte Hoffnungsträger im<br />
SGL-Portfolio – der Werkstoff Carbon, der<br />
hart wie Stahl, aber etwa nur halb so<br />
schwer, zum Beispiel im BMW-Elektroauto<br />
i3 zum Einsatz kommt – wird mehr und<br />
mehr entzaubert. Der neue Vorstandschef<br />
Jürgen Köhler, seit 1. Januar im Amt,<br />
spricht von einem „anhaltend“ unbefriedigenden<br />
Preisniveau für Carbon. Da gleichzeitig<br />
auch das Stammgeschäft mit den<br />
Grafitelektroden weiter abschmiert, sind<br />
die Aussichten für den bröckelnden Grafitkonzern<br />
eher mau.<br />
VORTEIL FÜR STAHL UND ALU<br />
Die Eigentümer – allen voran Großaktionärin<br />
und Aufsichtsratschefin Klatten, die zugleich<br />
etwa 13 Prozent an BMW hält – haben<br />
vor allem wegen des vermeintlichen<br />
Wunderstoffs Carbon in SGL investiert.<br />
Doch ihre Hoffnungen haben vor wenigen<br />
Tagen einen weiteren Dämpfer bekommen:<br />
ThyssenKrupp-Manager Herbert Eichelkraut<br />
deutete auf einer Veranstaltung<br />
der Wirtschaftsvereinigung Stahl in Duisburg<br />
an, dass im nächsten i3-Modell wieder<br />
mehr Stahl verwendet werden könnte<br />
statt der Leichtbaustoffe Carbon und Aluminium.<br />
BMW äußert sich dazu nicht, bei<br />
SGL kann man Äußerungen Eichelkrauts<br />
nicht nachvollziehen.<br />
Die große Carbon-Euphorie ist erst einmal<br />
vorbei. Weil die Nachfrage nach dem<br />
Der Stoff, aus dem<br />
die Träume sind<br />
Carbon-Fertigung<br />
des BMW i3 in<br />
Leipzig<br />
Rote Zahlen bei Carbon<br />
Umsatz- und operative Gewinnentwicklung<br />
bei SGL (in Millionen Euro)*<br />
Konzern insgesamt<br />
2013<br />
2014<br />
Umsatz<br />
–5,9<br />
–18,6<br />
Gewinn**<br />
Verlust<br />
655,2<br />
747,8<br />
Grafitelektroden<br />
2013<br />
54,1<br />
2014<br />
2,5<br />
273,9<br />
420,1<br />
Grafitspezialitäten<br />
(z.B. für die Halbleiter- und Solarindustrie)<br />
2013<br />
2014<br />
5,2<br />
21,9<br />
151,7<br />
182,9<br />
Carbon<br />
2013<br />
2014<br />
114,1<br />
–49,4<br />
142,3<br />
–12,8<br />
* erstes Halbjahr 2014 gg. Vorjahreszeitraum;<br />
** Ebit; Quelle: Unternehmen<br />
FOTO: PICTURE-ALLIANCE/DPA<br />
56 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Schwer gebeutelt<br />
Entwicklung der SGL-Aktie seit dem Amtsantritt<br />
von Vorstandschef Jürgen Köhler<br />
110<br />
105<br />
100<br />
95<br />
90<br />
85<br />
80<br />
75 Januar August<br />
Quelle: Thomson Reuters<br />
SGL<br />
Index 1.1.2014 = 100<br />
MDax<br />
Leichtbau-Werkstoff zwar weltweit steigt,<br />
aber unter den hochfliegenden Plänen<br />
bleibt, gibt es Überkapazitäten am Markt.<br />
Die Absatzchancen für Europas größten<br />
Carbonhersteller SGL sind daher limitiert.<br />
Denn außer BMW hat sich bisher noch<br />
kein Autobauer näher auf das Abenteuer<br />
Carbon eingelassen. Daimler hat sich gerade<br />
aus einem Joint Venture mit dem japanischen<br />
Unternehmen Toray zurückgezogen,<br />
Audi setzt auf Aluminium, auch Tesla<br />
kommt weitgehend ohne Carbon aus. Die<br />
Pkw-Hersteller stören sich vor allem an<br />
den hohen Kosten des leichten Werkstoffs.<br />
ZWEIFELHAFTE RECHNUNG<br />
„Carbon ist sechs- bis achtmal teurer als<br />
Stahl. Und verglichen mit dem ebenfalls<br />
leichten Aluminium, bringt Carbon zwar etwas<br />
mehr zusätzliche Gewichtsreduktion,<br />
allerdings sind die Kosten immer noch dreimal<br />
höher“, sagt Ralph Lässig, Partner bei<br />
der Beratung Roland Berger in München.<br />
Zwar geht SGL weiter davon aus, dass die<br />
Kosten für die Produktion des Leichtgewichts<br />
Carbon in den kommenden Jahren<br />
um 90 Prozent sinken werden, dank zunehmender<br />
Automatisierung in der Fertigung.<br />
Einen genauen Zeitrahmen nennt<br />
SGL freilich nicht. „Solch eine Kostenreduktion<br />
ist in Einzelfällen möglich, erscheint<br />
mir aber generell sehr hoch gegriffen“,<br />
warnt jedoch Berger-Berater Lässig.<br />
Einstweilen investieren BMW und SGL<br />
weiter in ihre gemeinsame Carbonproduktion.<br />
Im Werk Moses Lake im US-Staat Washington<br />
haben die beiden Partner im<br />
Frühjahr rund 200 Millionen Dollar investiert,<br />
um die Kapazitäten auf 9000 Tonnen<br />
pro Jahr zu verdreifachen. Auch ihre gemeinsamen<br />
Produktionskapazitäten im<br />
oberpfälzischen Wackersdorf haben SGL<br />
und BMW erweitert.<br />
Doch die Wette auf den Wunderstoff<br />
bleibt riskant. Das doppelte Problem von<br />
SGL-Chef Köhler: Während Carbon unter<br />
den Erwartungen bleibt, erodiert gleichzeitig<br />
das Stammgeschäft mit Grafitelektroden,<br />
mit deren Hilfe Stahl- und Aluminiumschrott<br />
geschmolzen wird. Doch weil<br />
die Stahlpreise weltweit am Boden liegen,<br />
lohnt sich das Schrottrecycling kaum noch.<br />
Für das Gesamtjahr 2014 geht Köhler denn<br />
auch von roten Zahlen aus.<br />
MILLIONEN FÜR DEN FC AUGSBURG<br />
Der promovierte Verfahrensingenieur –<br />
Nachfolger des langjährigen Unternehmenspatriarchen<br />
Robert Koehler, der SGL<br />
zwei Jahrzehnte lang nach Gutsherrenart<br />
geführt hatte – unternimmt zwar alles, was<br />
in seiner Macht steht, um den Niedergang<br />
aufzuhalten: Köhler streicht 300 der weltweit<br />
6000 Arbeitsplätze, schließt Werke im<br />
Ausland, verkauft Randaktivitäten und legt<br />
ein Sparprogramm in Höhe von 150 Millionen<br />
Euro auf, das wahrscheinlich noch<br />
einmal erweitert wird.<br />
Den Vorstand hat er von fünf auf drei<br />
Mitglieder verkleinert. Finanzvorstand Jürgen<br />
Muth musste im Frühjahr gehen, er<br />
galt als zu konfliktscheu. Nachfolger Michael<br />
Majerus hat sich bereits bei der Umstrukturierung<br />
des Mannheimer Pharmagroßhändlers<br />
Phoenix bewährt.<br />
Doch trotz all der Maßnahmen konnte<br />
Köhler den Absturz der SGL-Aktie bisher<br />
nicht aufhalten. Seinen wichtigsten Problemen<br />
– Preisdruck und Nachfrageschwäche<br />
bei Grafitelektroden und Carbon –<br />
kann Köhler mit seinen Kostensenkungsprogrammen<br />
nur bedingt beikommen.<br />
Und das Geschäftsfeld Carbon komplett zu<br />
verkaufen ist auch keine Lösung: Zu viel<br />
hat SGL bereits investiert, zu groß sind die<br />
Hoffnungen noch. Erst im Herbst will sich<br />
Köhler öffentlich zu seiner künftigen Strategie<br />
äußern.<br />
Immerhin steht fest, dass Fußballbundesligist<br />
FC Augsburg <strong>vom</strong> Sparprogramm<br />
ausgenommen ist. SGL, das in der Nähe<br />
von Augsburg ein größeres Werk betreibt,<br />
hält für mehrere Millionen Euro die Namensrechte<br />
an der SGL-Arena bis zur Saison<br />
2018/19. Aber auch dieses Investment<br />
kommt derzeit eher trist daher: Denn<br />
Augsburg belegt nach zwei Spieltagen mit<br />
null Punkten den letzten Tabellenplatz. Die<br />
Fußballmannschaft dürfte allerdings weitaus<br />
bessere Chancen haben als SGL,<br />
schnell wieder aus der Abstiegszone herauszukommen.<br />
n<br />
juergen.salz@wiwo.de<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 57<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Niederlande<br />
Norwegen<br />
Amsterdam<br />
Schweden<br />
Oslo<br />
Belgien<br />
Brüssel,<br />
Antwerpen<br />
Großbritannien<br />
London<br />
Luxemburg<br />
Luxemburg<br />
Rotterdam<br />
Groningen<br />
Tschechien<br />
Prag<br />
Dänemark<br />
Kopenhagen,<br />
Aarhus<br />
Stockholm,<br />
Göteborg<br />
Malmö<br />
Polen<br />
Krakau,<br />
Kattowitz,<br />
Breslau<br />
Expansion in neue Märkte<br />
Die wichtigsten Ziele deutscher<br />
Fernbuslinien ins Ausland*<br />
Slowakei<br />
Bratislava<br />
Ungarn<br />
MeinFernbus<br />
Flixbus<br />
IC Bus/Berlinlinienbus**<br />
ADAC Postbus<br />
Frankreich<br />
Straßburg<br />
Paris<br />
Schweiz<br />
Zürich<br />
Basel,<br />
St. Gallen<br />
Italien<br />
Mailand<br />
Kroatien<br />
Slowenien<br />
Österreich<br />
Budapest<br />
Bulgarien<br />
Triest Zagreb<br />
Ljubljana<br />
Sofia<br />
* der vier größten Anbieter; ** Deutsche Bahn Quelle: Unternehmen<br />
Wien<br />
Salzburg,<br />
Innsbruck<br />
Schöpferische<br />
Kollateralschäden<br />
FERNBUSSE | Die Konkurrenz kostet die Deutsche Bahn Millionen<br />
und lässt nun auch deren Wettbewerber im Ausland erzittern.<br />
Andreas Meyer hat wohl nicht gedacht,<br />
dass ihn die deutsche Verkehrspolitik<br />
einmal einholt. Knapp<br />
zehn Jahre stand der gebürtige Baseler im<br />
Dienst der Deutschen Bahn, wo er die Bustochter<br />
DB Stadtverkehr leitete. 2007 wechselte<br />
er dann als Chef zu den Schweizer<br />
Bundesbahnen (SBB). Doch jetzt spürt<br />
Meyer unerwartet Gegenwind – aus seiner<br />
zeitweiligen Wahlheimat. Fernbusse von<br />
dort verbinden auf einmal Schweizer Städte<br />
mit süddeutschen Metropolen. „Ich beobachte<br />
diese Entwicklung und Dynamik<br />
im Fernbusbereich mit Sorge“, sagt Meyer.<br />
Der seit Anfang 2013 entfesselte Fernbusmarkt<br />
in Deutschland erreicht die<br />
Nachbarländer und deren staatliche Bahngesellschaften.<br />
Auch in Österreich, Polen,<br />
Frankreich und den Beneluxländern werden<br />
die Eisenbahnmanager nervös. Denn<br />
Fernbusse auf den internationalen Strecken<br />
sind nicht nur preiswerter als ICE,<br />
Thalys, TGV oder EC. Die Wettbewerber<br />
auf dem Asphalt sind vielfach auch bequemer<br />
und manchmal sogar schneller.<br />
Damit zeitigt die schöpferische Zerstörung<br />
im deutschen Verkehrsmarkt nun<br />
auch Kollateralschäden in Ländern, für die<br />
die Liberalisierung gar nicht gedacht war.<br />
„Die Internationalisierung steht erst am<br />
Anfang“, prophezeit Jochen Engert, Gründer<br />
und Chef der Münchner Fernbusfirma<br />
Flixbus. Die Bahngesellschaften im Ausland<br />
„können sich warm anziehen“.<br />
100 ZUSÄTZLICHE BUSSE<br />
Allein Flixbus plant bis Mitte 2015 zehn<br />
Mal mehr Verbindungen ins Ausland, als<br />
das Unternehmen aktuell im Angebot hat.<br />
Zurzeit fahren die Bayern Ziele wie Zürich,<br />
Wien und Groningen in den Niederlanden<br />
an. Bald kämen Fahrten nach Prag, Amsterdam,<br />
Paris, Brüssel und zusätzliche Strecken<br />
nach Skandinavien hinzu. „In den<br />
nächsten zwölf Monaten“, kündigt Engert<br />
an, „setzen wir mehr als 100 zusätzliche<br />
Busse ein, um deutsche Metropolen mit<br />
spannenden Zielen im Ausland zu verbinden.“<br />
Auch Marktführer MeinFernbus mit<br />
Sitz in Berlin, der schon heute ein Dutzend<br />
Städte in Polen, Österreich, der Schweiz,<br />
Frankreich und den Beneluxstaaten verbindet,<br />
plant weitere Auslandsverbindungen.<br />
ADAC Postbus prüft noch.<br />
SBB-Chef Meyer versucht nun, die Wettbewerber<br />
aus dem Norden mithilfe des Gesetzes<br />
von eidgenössischen Straßen fernzuhalten.<br />
Denn in der Schweiz gilt wie bis<br />
vor Kurzem in Deutschland, dass Fernbuslinien<br />
nicht in Konkurrenz zu Angeboten<br />
auf der Schiene treten dürfen. Trotzdem<br />
registrieren die SBB-Manager, dass die Anzahl<br />
der Anträge für grenzüberschreitenden<br />
Busfernverkehr „signifikant angestiegen“<br />
sei, „insbesondere durch deutsche<br />
Busunternehmen“. Die SBB habe daher die<br />
Schweizer Behörden auf das geltende<br />
Recht in der Alpenrepublik hingewiesen.<br />
Doch dabei will es die Schweizer Staatsbahn<br />
möglicherweise nicht belassen. „Angesichts<br />
der aktuell hohen Dynamik wird<br />
die SBB in den kommenden Monaten weitere<br />
Schritte prüfen.“ Juristische Klagen<br />
nicht ausgeschlossen.<br />
Bahnkonzerne in anderen Ländern nehmen<br />
den Angriff deutscher Fernbuslinien<br />
noch sportlich. Die Österreichischen Bundesbahnen<br />
(ÖBB) etwa setzen darauf, mit<br />
ihren Zügen ein attraktives Alternativangebot<br />
zu haben. „Nichtsdestotrotz“, heißt es<br />
58 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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aus Wien, „wo es Sinn macht, bieten wir<br />
selbst bereits Fernverkehrsbusse an“, etwa<br />
von Klagenfurt nach Venedig und Graz.<br />
Jetzt rächt sich im Eisenbahnverkehr,<br />
dass die staatlichen Anbieter ihren Verbindungen<br />
über die Grenze bisher nur wenig<br />
Beachtung schenkten: teils weil sie sich<br />
sorgten, den ausländischen Staatsbahnen<br />
die Tür auf den eigenen Markt zu öffnen,<br />
teils weil sie dazu keinen Anlass sahen. Die<br />
Folge ist ein eher dürftiges Angebot.<br />
OHNE UMSTIEG ÜBER DIE GRENZE<br />
In diese Lücke stößt die Straßenkonkurrenz.<br />
„Mit unseren Fernbussen können wir<br />
flexibel reagieren“, sagt Flixbus-Chef Engert.<br />
„Außerdem bieten wir oft umsteigefreie<br />
Verbindungen an, die die Bahnen<br />
nicht im Angebot haben.“ Zudem erlaubt<br />
EU-Recht, Strecken innerhalb der Länder<br />
anzubieten. „Solche innerausländischen<br />
Linien prüfen wir derzeit ebenfalls.“<br />
Welche Gefahr den Staatsbahnen dadurch<br />
droht, zeigt die Deutsche Bahn. Der<br />
Schienenriese verliert in diesem Jahr an die<br />
neue Konkurrenz auf der Straße wohl bis<br />
zu 50 Millionen Euro Gewinn, heißt es aus<br />
dem Konzern. Das Unternehmen habe<br />
50 Millionen Euro<br />
kostet die Fernbuskonkurrenz<br />
die Deutsche<br />
Bahn dieses Jahr<br />
„die Geschwindigkeit der Entwicklung unterschätzt“,<br />
sagt Personenverkehrsvorstand<br />
Ulrich Homburg.<br />
Um dem Schwund zu begegnen, beginnt<br />
die Bahn, die ihrerseits Fernbusse auf die<br />
Straße schickt, den Schienenfernverkehr<br />
neu auszurichten. Eine Antwort auf Flixbus<br />
und Co. könnte Interregio Express (IRE)<br />
heißen. Seit vier Monaten pendelt der Zug<br />
zwischen Berlin und Hamburg zu einem<br />
Festpreis von 20 Euro für die einfache Fahrt<br />
und hält unterwegs in Kleinstädten wie<br />
Stendal, Uelzen und Lüneburg. „Wir sind<br />
<strong>vom</strong> Erfolg überrascht“, sagt Joachim Trettin,<br />
Chef der Konzerntochter DB Regio<br />
Nordost, die den Betrieb organisiert. Im<br />
Schnitt sei der Zug mit 200 Passagieren zu<br />
fast 50 Prozent ausgelastet, am Wochenende<br />
müssten Reisende teilweise stehen. Die<br />
Bahn setzt nun ein zweiten Zug auf die<br />
Spur. Nicht ausgeschlossen, dass es solche<br />
Zugangebote bald deutschlandweit gibt.<br />
Wo es nicht anders geht, reduziert die<br />
Deutsche Bahn sogar die Ticketpreise.<br />
„13-Euro-Ticket“ heißt etwa ein neues Angebot<br />
der Regio-Tochter in Sachsen, um<br />
die Zielgruppe des „preisbewussten Gelegenheitsfahrers“<br />
zu erschließen, „die man<br />
nicht allein dem Fernbus überlassen<br />
möchte“. Preisreaktionen der deutschen<br />
Staatsbahn auf Wettbewerber hat es bisher<br />
noch nie gegeben.<br />
Das nächste Opfer der Fernbusse ist<br />
schon in Sicht: die Nachtzüge. Die Deutsche<br />
Bahn leidet notorisch unter deren<br />
hohen Kosten – und stellt einige Verbindungen<br />
ab Dezember ein. In die Lücken drängen<br />
die Fernbusanbieter vor. MeinFernbus<br />
hat bereits ein dichtes Nachtliniennetz gesponnen,<br />
mit Fahrten zwischen Berlin,<br />
Ruhrgebiet, Stuttgart und München. Außerdem<br />
geht es ins Ausland, etwa von Mailand<br />
nach Zürich – eine Verbindung, auf der der<br />
Bus sogar schneller ist als der Zug. n<br />
christian.schlesiger@wiwo.de | Berlin<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Öko, chic und preiswert<br />
ELEKTROAUTOS | Zittern bis zur Ladestelle, auf freier Spur durch die Rushhour, lautlos in sechs<br />
Sekunden auf Tempo 100 – mit dem Stromer unterwegs im Elektromobil-Paradies Norwegen.<br />
Viereinhalb Stunden Strecke liegen<br />
vor Kjersti Myro. Die 24-jährige<br />
Mutter zweier Kinder aus dem kleinen<br />
norwegischen Ort Ål, rund 200 Kilometer<br />
nördlich von Oslo, muss in die kleine<br />
Hafenstadt Porsgrunn im Süden des<br />
Landes. Ihr Mann hat dort eine neue Stelle<br />
als Lehrer gefunden und will die Familie<br />
bald nachkommen lassen. Deshalb<br />
möchte sie heute eine Wohnung in Porsgrunn<br />
besichtigen.<br />
Myro fährt nicht mit dem Zug und auch<br />
nicht mit einem normalen Auto. Myro fährt<br />
mit einem Elektroauto, einem Nissan Leaf.<br />
Und das ist nicht ganz so einfach. Denn<br />
Myro muss Dinge beachten, die bei einem<br />
Benziner oder Diesel zweitrangig sind. Das<br />
Wichtigste ist der Blick auf die Batterieanzeige,<br />
und zwar vor dem Start. Wer losfährt,<br />
ohne genau zu wissen, wie viel Saft der Akku<br />
noch gespeichert hat, braucht möglicherweise<br />
schnell einen Abschleppwagen.<br />
Myro ist ein wenig beunruhigt. 160 Kilometer<br />
weit, weiß sie, kommt sie im Sommer<br />
mit einer Akkuladung. Das Display ihres<br />
Nissan Leaf zeigt allerdings nur noch eine<br />
Reichweite von 80 Kilometern. Denn<br />
Myro musste am Morgen in die Nachbarstadt<br />
fahren und danach die Kinder <strong>vom</strong><br />
Kindergarten abholen.<br />
Jetzt heißt es rechnen und schätzen.<br />
Denn Strom lädt man nicht so einfach, wie<br />
man Benzin oder Diesel in den Tank kippt.<br />
Fürs Aufladen an der Steckdose zu Hause<br />
reicht die Zeit nicht mehr, denn das dauert<br />
Ökofamilie mit Ferrrarisound<br />
Wenn Elektroautos Fußgänger bald mit<br />
Geräuschen auf sich aufmerksam machen<br />
müssen, möchte Ole Jacob dem E-Mobil<br />
seiner Frau Kjersti Myro einen Sportwagensound<br />
verpassen<br />
viel länger als an einer der öffentlichen<br />
Schnellladestationen. Wo sich die nächste<br />
auf ihrer Strecke befindet, erfährt Myro<br />
<strong>vom</strong> ihrem Navi: im Örtchen Flå, 71 Kilometer<br />
von ihrer Wohnung entfernt.<br />
Die Stromtankstelle in Flå ist eine von 21<br />
Schnellladestationen, die das norwegische<br />
Unternehmen Grønn Kontakt, zu Deutsch:<br />
Grüner Kontakt, im Land der Fjorde betreibt.<br />
An ihnen können Besitzer ihr E-Auto<br />
dank einer höheren Stromstärke als an der<br />
heimischen Steckdose innerhalb von 45<br />
Minuten aufladen. Für zehn Ladungen<br />
zahlt Myro 500 Kronen, rund 60 Euro, für<br />
rechnerisch 1600 Kilometer, je nach Fahrzeug<br />
bis zu zwei Drittel weniger als bei einem<br />
herkömmlichen Benziner.<br />
Myro muss rechnen. 71 Kilometer Entfernung<br />
bei einer theoretischen Reichweite<br />
von 80 Kilometer, soll sie es wagen? Vorsichtshalber<br />
fährt sie langsamer als die gesetzlich<br />
erlaubten 80 Kilometer pro Stunde<br />
FOTOS: KIMM SAATVEDT<br />
60 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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über die Landstraße, bremst wenig, tritt<br />
vorsichtig aufs Pedal: „Beschleunigungsvorgänge<br />
ziehen ganz schön viel Strom.“<br />
Doch je länger Myro über den Asphalt<br />
schleicht, desto nervöser wird sie. Ein paar<br />
Kilometer vor Flå wird es ernst. Die Batterieanzeige<br />
piepst und meldet „nur noch<br />
wenig Batterieladung“. Reicht es noch bis<br />
zur nächsten Schnellladestation? Und vor<br />
allem, wird sie funktionieren? Auf einer<br />
früheren Fahrt gen Süden hatte Myro Pech:<br />
Die Station war defekt, und ihre Batterieladung<br />
reichte nicht mal für die Fahrt in den<br />
nächsten Ort. Da half nur noch der Anruf<br />
beim Abschleppdienst. „Zum Glück bietet<br />
Nissan den im ersten Jahr nach dem Kauf<br />
kostenlos an“, sagt Myro.<br />
Heute hat die Norwegerin Glück. Die<br />
Schnellladestation funktioniert und ist frei.<br />
Myro hält eine Plastikmünze mit Chip an<br />
die Anzeige, entnimmt das dicke Ladekabel<br />
und schließt ihren Nissan an. Der Rahmen,<br />
der die Steckdose in der Karosserie<br />
umgibt, blinkt Sekunden später blau auf.<br />
Das heißt, die Batterie zieht Strom.<br />
45 Minuten muss Myro nun warten.<br />
Würde sie die Batterie nur zu 80 Prozent<br />
laden, könnte sie in knapp 20 Minuten weiterfahren.<br />
Also geht sie zu einem Schnellimbiss<br />
und gönnt sich einen Burger mit<br />
Pommes. „Ich lege gerne ein paar Pausen<br />
auf langen Strecken ein“, sagt sie. Nach einer<br />
knappen Dreiviertelstunde ist die Batterie<br />
voll. Die Fahrt kann weitergehen.<br />
Die Verwaltungsangestellte ist eine von<br />
32 000 E-Autobesitzern im Land. Das<br />
Kennzeichen ihres silbernen Nissan Leaf<br />
beginnt, wie bei allen Stromern im Land,<br />
mit den Buchstaben „EL“ – für Elektroauto.<br />
E-HYPE AM FJORD<br />
Mit einem Verkauf von über 4600 Exemplaren<br />
stand der Nissan Leaf 2013 in der norwegischen<br />
Zulassungsstatistik ganz oben –<br />
nur der konventionell angetriebene VW<br />
Golf verkaufte sich noch besser. Auch in<br />
diesem Jahr zählen Elektromobile zu den<br />
Top-Sellern in Norwegen. Mit 12 449 Neuzulassungen<br />
liegt ihr Marktanteil bereits bei<br />
knapp 13 Prozent. Fast 40 Prozent davon<br />
entfallen auf den Volkswagen-Konzern.<br />
In Deutschland wurden 2013 etwas<br />
mehr als 6000 Elektroautos neu zugelassen<br />
– bei immerhin 2,95 Millionen Pkw-Neuzulassungen<br />
und 16-mal so viel Einwohnern<br />
wie in Norwegen. Vom ehrgeizigen Ziel, bis<br />
2020 rund eine Million Elektroautos auf<br />
deutsche Straßen zu bringen, beginnen<br />
sich immer mehr Automanager und Politiker<br />
innerlich zu verabschieden.<br />
In zehn Minuten 41 E-Mobile verkauft<br />
Die Nachfrage überraschte Autoverkäufer wie<br />
Kristin Stundal und Sindre Morstad<br />
In Norwegen hingegen herrscht ein<br />
E-Mobil-Hype. Im Westen von Oslo, direkt<br />
am Fjord, liegt eines der größten Autohäuser<br />
namens Møller Bil Asker og Bærum, einer<br />
von 67 Volkswagen-Händlern, die E-Autos<br />
verkaufen. Gefragt sind dort vor allem der<br />
Kleinwagen Up und sein großer Bruder Golf.<br />
Vor allem die Nachfrage nach dem<br />
e-Golf übertrifft alle Erwartungen. Als Ende<br />
Februar der Verkauf begann, gingen innerhalb<br />
der ersten zehn Minuten 41 Bestellungen<br />
ein. „So etwas haben wir in Norwegen<br />
noch nie erlebt“, erinnern sich Kristin<br />
Stundal und Sindre Morstad, Verkäufer bei<br />
Møller Bil Asker og Bærum. In gut 200 Minuten<br />
kamen insgesamt 1200 Bestellungen<br />
für den e-Golf zusammen.<br />
Grund für die große Nachfrage: Mit einem<br />
Basispreis von umgerechnet 29 933<br />
Euro kostet der e-Golf nur etwa 60 Euro<br />
mehr als das 85 PS starke Schwestermodell<br />
mit konventionellem Antrieb. Und weil für<br />
Elektroautos in Norwegen weder Mehrwert-<br />
noch Neuwagensteuer fällig werden,<br />
kommt der Käufer eines VW e-Golf unter<br />
dem Strich rund 12000 Euro billiger weg<br />
als bei der Bestellung eines Benziner-Golfs.<br />
Noch größer sind die Vorteile bei einer Mittelklasse-Limousine:<br />
Je größer das Auto,<br />
desto höher die steuerliche Belastung.<br />
Bei Møller Bil Asker og Bærum ist heute<br />
besonders viel Betrieb. Ein 45-jähriger<br />
Kunde nimmt für seine Gattin einen<br />
VW-e-Up in Empfang. Oslo ist für E-Auto-<br />
Besitzer ein Paradies. Seine Frau darf mit<br />
dem Strom-Auto künftig die Busspuren benutzen.<br />
Das spart ihr auf dem Weg zur Arbeit<br />
eine halbe Stunde Zeit, weil sie sich<br />
nicht in die Blechkolonnen einreihen muss,<br />
die sich aus den Vororten in die Innenstadt<br />
drängeln. Auch die City-Maut muss sie<br />
nicht zahlen – E-Autos sind von der Abgabe<br />
befreit. Außerdem kann sie im Zentrum auf<br />
einem der vielen „EL“-Parkplätze umsonst<br />
parken. Auch für den Ladestrom muss sie<br />
dort nichts zahlen. Der größte Platz mit 50<br />
Ladestationen und Parkplätzen befindet<br />
sich direkt im Zentrum an der Aker Brygge<br />
direkt am Oslo-Fjord.<br />
STROMER STATT SMOG<br />
In Norwegen erstreckt sich die Küste über<br />
25 000 Kilometer. Von Oslo im Süden bis<br />
nach Hammerfest nördlich des Polarkreises<br />
sind es knapp 2000 Kilometer – weiter<br />
als von Frankfurt nach Madrid. Viele Regionen<br />
sind extrem dünn besiedelt. Zudem<br />
verfügt das Land vor der Küste über riesige<br />
Ölvorkommen, die es den Norwegern ermöglichen<br />
würden, ihre Autos mit preiswert<br />
selbst produziertem Sprit zu betanken.<br />
Warum unterstützt so ein Land seine<br />
Bürger mit fünfstelligen Summen und Privilegien,<br />
damit sie ein E-Auto kaufen?<br />
Der Grund liegt in der Luft – nämlich der<br />
600 000-Einwohner-Stadt Oslo. Das Klima<br />
in der Hauptstadt ist durch den starken<br />
Verkehr und ihre Kessellage extrem belastet.<br />
Im Winter hängen oft tagelang Smog-<br />
Wolken über Oslo. Deshalb hat die Regierung<br />
beschlossen, bis 2020 die Kohlendioxid-Emissionen<br />
des Transportsektors um<br />
2,5 bis 4,0 Millionen Tonnen pro Jahr zu reduzieren.<br />
E-Autos sind ein wichtiger Baustein.<br />
Da Norwegen sauberen Strom mit<br />
Wind- und Wasserkraft günstig erzeugen<br />
kann, verschenkt die Regierung diesen an<br />
den öffentlichen Stromtankstellen – die allerdings<br />
keine Schnellladung anbieten.<br />
Durch die vielen Vergünstigungen hat es<br />
Norwegen inzwischen geschafft, zum Land<br />
mit der höchsten Zahl von Elektroautos<br />
pro Kopf aufzusteigen. Einer, der viel dazu<br />
beigetragen hat, ist Frederic Hauge, Chef<br />
der internationalen Umweltorganisation<br />
Bellona mit Sitz in Oslo – und Europas erster<br />
Elektroautofahrer.<br />
Der stets leger gekleidete Umweltaktivist<br />
ist eine Art Galionsfigur der E-Mobilität.<br />
1988 importierte der heute 49-Jährige das<br />
erste Elektroauto. Mit öffentlichkeitswirksamen<br />
Aktionen machte er immer wieder<br />
von sich und seinem Auto reden. „Wir ha-<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 61<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
»<br />
ben keine Maut bezahlt und bekamen<br />
Strafen, die wir nicht bezahlt haben. Daraufhin<br />
wurde unser Auto konfisziert und versteigert,<br />
aber keiner wollte es haben. Wir haben<br />
es dann zurückgekauft. Das war günstiger<br />
als die Strafe. Das Ganze ist etwa 15-mal<br />
passiert“, erzählt Hauge.<br />
Ein Vierteljahrhundert später ist das Elektroauto<br />
hier so üblich wie Lachs zum Mittagessen.<br />
Insbesondere die Marke Tesla des US-<br />
Multitalents Elon Musk hat viele von der<br />
Elektromobilität überzeugt.<br />
GRATIS TANKEN<br />
IT-Projektmanager Ering Henningstad aus<br />
Skedsmos etwa wohnt mit Tochter Hannah<br />
Emilie und Sohn Nils rund 23 Kilometer vor<br />
Oslo und hat vor einem Jahr den SUV <strong>vom</strong><br />
Typ BMW X3 gegen ein Model S von Tesla<br />
getauscht. „Ich habe ein Faible für schnelle<br />
Autos“, sagt Henningstad. Der Tesla schafft<br />
Tempo 200, beschleunigt in weniger als<br />
sechs Sekunden auf Tempo 100 – und<br />
kommt in der Version S 85 mit einer Akkuladung<br />
und bei zurückhaltender Fahrweise<br />
bis zu 500 Kilometer weit.<br />
In Deutschland kostet ein Tesla Model S<br />
85 rund 75000 Euro, einen BMW X5 mit Dieselmotor<br />
gibt es schon ab 52000 Euro. In<br />
Norwegen ist das fast umgekehrt:„Der Tesla<br />
hier ist günstig, ein BMW doppelt so teuer“,<br />
sagt Henningstad. Der Tesla Model S kostet<br />
hier umgerechnet 62200 Euro; für einen<br />
BMW X5 müssen Norweger fast 94 000 Euro<br />
hinblättern. Bei großen und schnellen Modellen<br />
verteuere die Steuer das Auto sehr,<br />
rechnet Henningstad vor. Außerdem habe er<br />
jeden Tag 15 Euro Maut gezahlt und jeden<br />
Monat 400 Euro Sprit.<br />
„Jetzt gibt es den Strom umsonst“, freut<br />
sich Henningstad. Denn der ist für Tesla-<br />
Schnellstromer statt SUV<br />
IT-Manager Ering Henningstad (rechts),<br />
Tochter Emilie und Sohn Nils (links mit<br />
Freundin Lene Marie Brynildsen) ersetzten<br />
den BMW X3 durch einen Tesla und fahren<br />
mit einer Akkuladung 300 Kilometer<br />
Fahrer während der Lebenszeit des Autos im<br />
Kaufpreis enthalten. „Vergangene Woche<br />
bin ich von Oslo nach Göteborg und zurück<br />
insgesamt 600 Kilometer gefahren“, sagt<br />
Henningstad. „Über Nacht habe ich mein<br />
Auto im Hotel geladen.“<br />
Bei so viel Begeisterung ist es kein Wunder,<br />
dass Norwegen die E-Infrastruktur massiv<br />
ausbaut. An mehr als 150 der insgesamt<br />
knapp 1500 Ladestationen können Fahrer<br />
von eUps, Nissan Leafs, Teslas oder auch der<br />
neuen i3-Modelle von BMW ihre Wagen in<br />
einer Stunde aufladen. 71 weitere Schnellladestationen<br />
wollen Unternehmen wie Fortum,<br />
Grønn Kontakt und Salto errichten.<br />
Das staatliche Unternehmen Transnova<br />
schießt pro Ladestation 30 Prozent der Kosten<br />
zu, wenn Elektroautos aller Marken an<br />
den Ladestationen geladen werden können.<br />
Mehr als sieben Millionen Euro Fördermittel<br />
stehen zum Ausbau der Ladeinfrastruktur<br />
zur Verfügung.<br />
Die Unternehmen im Land der Fjorde tun<br />
das Ihrige dazu. Eine Möbelkette plant, in allen<br />
ihren Parkhäusern Schnellladestationen<br />
zu bauen, einige McDonald’s-Filialen locken<br />
bereits mit diesem Service Kunden an.<br />
Konventionelle Ladestationen finden sich<br />
inzwischen auf den meisten Parkplätzen<br />
von Supermarktketten und großen Einkaufshäusern.<br />
Aber auch auf dem flachen<br />
Norwegen – Superstar der Elektromobilität<br />
Nirgends ist die Nachfrage nach E-Autos<br />
so groß wie im Land der Fjorde...<br />
Nachfragestärke<br />
(Index, Maximalwert 5 = größte Nachfrage)<br />
Norwegen USA Japan Portugal<br />
Großbrit. Dänemark Frankreich Italien<br />
China Niederlande Deutschland Südkorea<br />
...und obwohl es dort keine E-Autos aus<br />
heimischer Produktion gibt...<br />
Modellpalette inländischer Hersteller<br />
(Maximalwert 5 = Angebot in allen Fahrzeugklassen)<br />
0 1 2 3 4 5<br />
Deutschland<br />
Frankreich<br />
Japan<br />
USA<br />
China<br />
Italien<br />
Südkorea<br />
Niederlande<br />
Großbritannien<br />
.<br />
Norwegen<br />
Quelle: McKinsey Quelle: Enerdata, IEA, McKinsey Quelle: IHS, McKinsey<br />
0<br />
...rollen auf den Straßen mehr davon als<br />
in Deutschland<br />
Neuzulassungen<br />
(in Tausend, 1. Quartal 2009 bis 1. Quartal 2014)<br />
200<br />
195 USA<br />
180<br />
150<br />
90<br />
60<br />
30<br />
0<br />
2010<br />
84 Japan<br />
33 Frankreich<br />
33 Niederlande<br />
22 Norwegen<br />
2011 2012 2013<br />
19 Deutschland<br />
13 China<br />
14<br />
FOTO: KIMM SAATVEDT<br />
62 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Land wächst die Zahl der schnellen Ladestationen<br />
rasant.<br />
Doch nicht überall stoßen die Elektroautos<br />
auf uneingeschränkte Zustimmung.<br />
Denn je mehr von ihnen auf die Straße kommen,<br />
desto mehr Reibereien gibt es mit anderen<br />
Verkehrsteilnehmern.<br />
KAMPF UM DIE BUSSPUR<br />
Oslo, Hauptverkehrszeit, Hauptstraßen-<br />
Kampfzeit. Da die E-Autos die Busspuren<br />
benutzen dürfen, müssen sich die Busfahrer<br />
im chaotischen Berufsverkehr auch noch<br />
damit arrangieren. „Das Problem sind die<br />
östlichen Routen auf den zweispurigen<br />
Highways. Ich bin in der Rushhour immer zu<br />
spät“, klagt Busfahrer Ali Awad.<br />
Der Norweger fährt für das Busunternehmen<br />
Nobina die Route 31 aus den östlichen<br />
Vororten durch die City Richtung Westen.<br />
„Auf den Busspuren wird man manchmal<br />
auch von den schnelleren E-Autos angeblinkt“,<br />
sagt er. Nobina-Manager Jon Skaale<br />
beschwichtigt: „Eigentlich beschweren sich<br />
unsere Fahrer wenig.“<br />
Dennoch ist das Murren bei der Regierung<br />
angekommen. Deshalb überlegt diese<br />
bereits, das Privileg der E-Autos auf Busspuren<br />
zurückzunehmen. Allerdings geht Nobina-Manager<br />
Skaale davon aus, dass das<br />
noch dauern wird: „Die Regierung hat die<br />
Befreiung der Auto- und Mehrwertsteuer bis<br />
2017 garantiert, und sonstige Privilegien wie<br />
die Nutzung der Busspur werden höchstwahrscheinlich<br />
erst zu diesem Zeitpunkt<br />
nochmals bewertet.“<br />
Elektrofahrerin Myro kümmert das nicht.<br />
Sie hat den Feierabendverkehr im Großraum<br />
Oslo längst hinter sich gelassen. In<br />
Drammen, rund 20 Kilometer westlich von<br />
Oslo, lädt sie ihr Auto noch einmal 20 Minuten<br />
lang und fährt dann weiter in Richtung<br />
Porsgrunn zur Wohnungsbesichtigung. Ob<br />
es dort eine Garage gibt, in der sie ihr E-Auto<br />
laden kann, weiß sie noch nicht. Vorsichtshalber<br />
legt sie kurz vor dem Ziel noch einen<br />
kleinen Ladestopp ein. Dann genießt sie die<br />
leise Fahrt, kein Motor röhrt beim Beschleunigen,<br />
kein Brummen stört auf langen<br />
Strecken, nur ein Sirren und Surren und hier<br />
und da der Wind.<br />
Das könnte sich ändern. Die EU will, dass<br />
E-Autos künftig zum Schutz der Fußgänger<br />
Geräusche von sich geben. Zwar ist Norwegen<br />
kein EU-Land, würde als Mitglied des<br />
Europäischen Wirtschaftsraums die Regel<br />
wohl übernehmen. „Mein Mann Ole Jacob<br />
hätte dann gerne einen Ferrari-Sound“, sagt<br />
Myro, und ihr E-Mobil surrt leise weiter. n<br />
nele hansen | unternehmen@wiwo.de<br />
EVI<br />
Von wegen<br />
Norwegen<br />
Frankreich überholt Japan als<br />
drittgrößte E-Autonation. Norwegen<br />
überdenkt seine Subventionen.<br />
Norwegen ist das gelobte Land der Elektroautos.<br />
22 000 neue Stromer wurden<br />
hier seit 2009 zugelassen, in Deutschland<br />
sind nach der Statistik des Kraftfahrtbundesamtes<br />
aktuell rund 19 000 batterieelektrische<br />
Fahrzeug unterwegs. Schon<br />
jeder 20. Neuwagen im ersten Quartal<br />
2014 fährt in Norwegen elektrisch, in<br />
Deutschland liegt der Anteil noch bei unter<br />
einem Prozent. Doch für das Siegertreppchen<br />
im exklusiven Electro Vehicle<br />
Index EVI von WirtschaftsWoche und der<br />
Unternehmensberatung McKinsey reicht<br />
es für die Skandinavier lange nicht. Hier<br />
ist zwar die Nachfrage riesig – doch das<br />
Angebot an E-Fahrzeugen gleich null: Im<br />
Land der Fjorde gibt es seit der Pleite von<br />
Think Global im Jahr 2011 keinen einzigen<br />
Autobauer mehr. So reicht es im EVI,<br />
der Angebot und Nachfrage gleichermaßen<br />
erfasst, für Norwegen nur für Rang<br />
fünf (siehe Grafik).<br />
NICHT BEGEHRENSWERT<br />
Auf der Poleposition halten sich weiter<br />
die USA. Das zweite Quartal 2014 brachte<br />
mit 32 000 Neuzulassungen – dank<br />
der weiter starken Nachfrage nach Nissan<br />
Leaf und Tesla Model S sowie einem<br />
Absatz von rund 1000 BMW i3 – einen<br />
neuen Rekord. Auch in Deutschland zog<br />
der Verkauf mit 3600 neuen Stromern bis<br />
Juni merklich an – Zugmaschinen waren<br />
auch hier BMW i3 (1539 Zulassungen bis<br />
Ende Juli) und Tesla Model S (472 Neuzulassungen).<br />
Insgesamt bleibt die<br />
Nachfrage hierzulande aber weiterhin<br />
überschaubar. „Elektroautos werden sich<br />
erst dann durchsetzen, wenn die Menschen<br />
sie als begehrenswertes Premiumprodukt<br />
wahrnehmen“, erklärt Christian<br />
Malorny, Autoexperte bei McKinsey.<br />
Bundesverkehrsminister Sigmar Gabriel<br />
möchte die Deutschen neuerdings zusätzlich<br />
mit Gratisparkplätzen und freier<br />
Fahrt auf Busspuren zum Kauf eines Elektroautos<br />
verführen. Er hat die Rechnung<br />
allerdings ohne die Kommunen gemacht.<br />
Von Berlin bis München, keiner mag sich<br />
für Autos begeistern, die vergleichsweise<br />
teuer sind, einen stark eingeschränkten<br />
Aktionsradius besitzen und keinerlei finanzielle<br />
Förderung erfahren. So wird<br />
Deutschland seinen zweiten Rang im EVI<br />
allein dadurch behaupten, der weltweit<br />
größte Produzent von Elektroautos sein.<br />
Bis 2019 sollen 440 000 batterieelektrische<br />
Stromer von deutschen Bändern rollen:<br />
Dank e-Up und e-Golf kommt Volkswagen<br />
auf dem hoch subventionierten<br />
norwegischen Elektroautomarkt bereits<br />
auf einen Anteil von 49,3 Prozent.<br />
Aber wie lange noch werden die europäischen<br />
Nachbarn den Absatz deutscher<br />
E-Autos mit ihren Staatsgelder ankurbeln?<br />
„Wir geraten in die Situation,<br />
dass der französische Staat indirekt die<br />
Frankreich holt auf<br />
Electric Vehicle Index* (in Prozent)<br />
60<br />
55<br />
50<br />
45<br />
40<br />
35<br />
30<br />
25<br />
20<br />
15<br />
2011 2012 2013 2014<br />
USA<br />
Deutschland<br />
Frankreich<br />
Japan<br />
Norwegen<br />
Italien<br />
China<br />
Niederlande<br />
Südkorea<br />
Großbritannien<br />
* der Electric Vehicle Index (EVI) gibt an, zu wie viel Prozent<br />
ein Land die Elektromobilität erreicht, die Experten<br />
für 2020 voraussagen. Der Index misst die Nachfrage<br />
und die Produktion von Elektroautos. Erfasst werden rein<br />
batteriebetriebene Elektroautos und Elektroautos mit zusätzlichem<br />
Verbrennungsmotor (Plug-in-Hybride, Range<br />
Extender); Quelle: McKinsey, IHS Automotive<br />
deutsche Autoindustrie subventioniert“,<br />
so Malorny. Bisher dominiert der Renault<br />
Zoe auf den Straßen zwischen Lille und<br />
Marseille. Renault hat die Produktion der<br />
Batterie-Flitzer so angekurbelt, dass<br />
Frankreich inzwischen Japan den Titel als<br />
drittgrößte E-Auto-Nation abgeluchst hat.<br />
Norwegen will derweil die Förderung ab<br />
der 50 000. Neuzulassung kappen. Das<br />
könnte schon Anfang 2015 greifen. Ob<br />
dann niederländische Verhältnisse einkehren?<br />
Dort brachen nach dem Ende der<br />
Steuervergünstigungen zum Jahreswechsel<br />
die Zulassungen ein.<br />
rebecca.eisert@wiwo.de<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 63<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Posse der Geschichte<br />
TAXIMARKT | Daimler schluckt MyTaxi, der US-Fahrdienst UberPop wird einstweilig verboten –<br />
wie geht es jetzt weiter in der umkämpften Branche?<br />
Die vergangene Woche war turbulent<br />
wie selten im deutschen Taxigewerbe:<br />
Erst verbot das Landgericht<br />
Frankfurt in einer einstweiligen Verfügung<br />
auf Antrag von Taxi Deutschland – ein Zusammenschluss<br />
hiesiger Taxizentralen –<br />
den Fahrdienst Uber bundesweit. Laut Gericht<br />
verstößt die App UberPop zur Vermittlung<br />
von Fahrgästen an private Fahrer<br />
gegen das Personenbeförderungsgesetz,<br />
da die von Uber vermittelten Fahrer keinen<br />
Personenbeförderungsschein besäßen.<br />
Tags darauf sorgte Autoriese Daimler für<br />
einen Paukenschlag: Die Tochter Moovel<br />
schluckt den populären Buchungsdienst<br />
MyTaxi komplett. Zuvor hielt Daimler rund<br />
20 Prozent. Mit MyTaxi können Fahrgäste<br />
ein Taxi per Smartphone direkt beim Fahrer<br />
ordern statt über die Zentrale.<br />
Die WirtschaftsWoche beantwortet die<br />
wichtigsten Fragen zu den Umwälzungen<br />
im bisher stark regulierten Taxigewerbe.<br />
Welche Folgen hat Daimlers<br />
Übernahme von MyTaxi?<br />
Daimler will „im Schulterschluss mit dem<br />
Taxigewerbe“ die Internationalisierung des<br />
Dienstes vorantreiben: „Wir glauben, dass<br />
es einen großen Bedarf an einem sicheren<br />
wie hochqualitativen Personentransport<br />
gibt“, sagt Marcus Spickermann, Geschäftsführer<br />
der Daimler-Tochter Moovel. MyTaxi<br />
solle in Moovel integriert werden, erläutert<br />
Spickermann, dabei aber die Gesetze<br />
einhalten – ein Seitenhieb auf den umstrittenen<br />
Fahrdienst Uber: „Ein regulierter<br />
Markt hat durchaus seine Stärken.“<br />
Mit zehn Millionen Downloads der App<br />
und 35 000 Fahrern in Deutschland, Österreich,<br />
der Schweiz, Spanien, Polen und den<br />
USA sieht sich MyTaxi derzeit als Marktführer.<br />
Reisende kommen mithilfe der App<br />
binnen zwei Minuten an ein Taxi, Taxifahrer<br />
schneller an neue Kunden. Sie zahlen<br />
dafür eine Provision zwischen 3 und 15<br />
Prozent. Die Höhe kann der Fahrer selbst<br />
bestimmen: Je höher die Provision, desto<br />
schneller kommt der nächste Auftrag rein.<br />
MyTaxi hatte ursprünglich vor, Taxizentralen<br />
überflüssig zu machen. Inzwischen<br />
versteht man sich eher als Dienstleister:<br />
„Wir wollen die Zentralen mit unserem<br />
Dienst eher stärken als schwächen“, sagt<br />
Moovel-Geschäftsführer Spickermann. So<br />
ist daran gedacht, den Gesellschaften Daten<br />
über Nutzerverhalten und Fahrzeiten<br />
zur Verfügung zu stellen, die die Auslastung<br />
der Fahrzeuge verbessern und die<br />
Planung der Einsätze erleichtern könnten.<br />
Was ist Daimlers Ziel?<br />
Die Plattform Moovel verfolgt das Ziel, Mobilitätsangebote<br />
intelligent miteinander zu<br />
vernetzen – Taxen, Leihwagen, auch Busse,<br />
Bahnen und private Mitfahrgelegenheiten.<br />
Moovel soll langfristig eine Art „Amazon<br />
der Mobilität“ werden, wie Chef Spickermann<br />
sagt. Das Carsharing-System Car2go<br />
sei ebenso ein Baustein wie das Pilotprojekt<br />
Park2gether, das Parkplatzbesitzer und<br />
-suchende per Online-Börse zusammenbringt,<br />
sowie jetzt MyTaxi. Über Moovel gewinnt<br />
Daimler eine Unmenge von Informationen.<br />
Die können etwa die Entwicklung<br />
von Elektroautos oder die Auslastung<br />
von Taxiflotten oder Parkhäusern optimieren.<br />
Zudem ist das Taxigewerbe einer der<br />
wichtigsten Märkte für Mercedes-Pkw.<br />
Bleibt UberPop verboten?<br />
Anwalt Herwig Kollar, der für Taxi<br />
Deutschland die einstweilige Verfügung<br />
gegen Uber erwirkt hat, ist zuversichtlich,<br />
dass diese <strong>vom</strong> Gericht bestätigt wird. Uber<br />
hatte am 20. August mit einer 200 Seiten<br />
starken Schutzschrift seine Argumente<br />
präsentiert. Dennoch untersagten die<br />
Richter mit sofortiger Wirkung und ohne<br />
mündliche Verhandlung die Anwendung<br />
der App UberPop. Uber droht nun für jede<br />
Fahrt eine Strafe von bis zu 250 000 Euro.<br />
„Das Urteil muss Bestand haben“, sagt<br />
auch der Münchner Anwalt Michael Bauer.<br />
Er hält die Regulierung zum Schutz der<br />
Fahrgäste für sinnvoll: „Die Behörden sorgen<br />
dafür, dass keine völlig gestörten Existenzen<br />
auf die Fahrgäste losgelassen werden.“<br />
So werden für den für maximal fünf<br />
Jahre ausgestellten Personenbeförderungsschein<br />
Seh-, Hör- und Urintests verlangt.<br />
Bei der Verlängerung fahndet die zuständige<br />
Behörde zudem im Bundeszentralregister<br />
nach Auffälligkeiten etwa beim<br />
Alkohol- und Drogenkonsum sowie aggressivem<br />
Verhalten. Wird sie fündig, muss<br />
der Fahrer zur medizinisch-psychologischen<br />
Untersuchung. Wer zu viele Punkte<br />
in Flensburg hat, bekommt den Schein<br />
nicht für fünf, sondern nur für ein oder<br />
zwei Jahre verlängert. „Das alles ist bei<br />
Uber-Fahrern nicht der Fall“, sagt Bauer.<br />
Wie argumentiert Uber?<br />
Das Uber-Management stilisiert sich als<br />
David im Kampf gegen Goliath. „Die Wahlmöglichkeiten<br />
der Bevölkerung einzuschränken<br />
war noch nie eine gute Idee.<br />
Genau darauf zielte aber die einstweilige<br />
FOTO: IMAGO/CHRISTIAN MANG<br />
64 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Verfügung ab“, sagt Fabien Nestmann,<br />
Sprecher von Uber in Deutschland. „Innovation<br />
und Wettbewerb ist gut für alle. Es ist<br />
ein Gewinn für Fahrer und Mitfahrer. Fortschritt<br />
lässt sich nicht ausbremsen.“<br />
Uber betreibt seinen Dienst UberPop<br />
bisher trotz des Verbots einfach weiter.<br />
„Das Landgericht hat die einstweilige Verfügung<br />
zu Unrecht erlassen“, sagt Nestmann.<br />
„Uber wird, falls erforderlich, alle<br />
Rechtsmittel ausschöpfen.“ Die finanzielle<br />
Power dazu haben die Amerikaner dank einer<br />
Kapitalausstattung von rund 1,2 Milliarden<br />
Dollar.<br />
Wie wird das Uber-Verbot<br />
kontrolliert und sanktioniert?<br />
Da es sich bei dem Verfahren zwischen Taxi<br />
Deutschland und Uber um ein Parteiverfahren<br />
im Zivilrecht handelt, verfolgt das<br />
Landgericht Frankfurt die Einhaltung des<br />
Urteils nicht selbst. „Wir sind nicht die<br />
Staatsanwaltschaft“, sagt Gerichtssprecher<br />
Arne Hasse. Bei Verstößen müsste Taxi<br />
Deutschland einen Ordnungsmittelantrag<br />
stellen, dann würde das Gericht aktiv. Die<br />
Höhe des Ordnungsgelds richte sich nach<br />
den Umständen des konkreten Falls wie etwa<br />
der Zahl der Verstöße oder ob es ein<br />
Erstverstoß sei. Bisher sei aber noch kein<br />
entsprechender Antrag eingegangen.<br />
Sind Fahrten mit Uber nun<br />
nicht mehr versichert?<br />
Uber beteuert, dass nicht nur Fahrer, sondern<br />
auch Fahrgäste immer voll versichert<br />
seien. Bei UberPop greife in einem Schadensfall<br />
zusätzlich zur Kfz-Haftpflicht des<br />
Fahrers eine Zusatzversicherung von Uber<br />
Streng reguliert<br />
Aggressive Start-ups<br />
wollen das bisher stark<br />
abgeschottete Taxigewerbe<br />
aufmischen<br />
mit einer Haftung von bis zu 3,7 Millionen<br />
Euro pro Schadensfall. „Diese deckt nicht<br />
nur den Fahrgast und Dritte voll ab, sondern<br />
greift auch, falls der Versicherungsschutz<br />
des Fahrers nicht ausreichen sollte“,<br />
sagt Sprecher Nestmann. Diese Police werde<br />
von einer international tätigen Versicherungsgesellschaft<br />
gedeckt.<br />
Ob das Frankfurter Urteil den Versicherungsschutz<br />
beschneidet, wollte Uber<br />
nicht kommentieren. So oder so gilt: Fahrgäste<br />
von Uber sind versichert. „Ein Ge-<br />
schädigter hat immer einen Anspruch gegen<br />
die gesetzlich vorgeschriebene Kfz-<br />
Haftpflichtversicherung“, sagt Fabian<br />
Herdter, Experte für Versicherungsrecht<br />
bei der Düsseldorfer Kanzlei Wilhelm.<br />
Ein Uber-Fahrer ist allerdings in einer<br />
heiklen Position: „Der Haftpflichtversicherer<br />
könnte mit Hinweis auf eine gewerbliche<br />
Nutzung des Fahrzeugs versuchen, einen<br />
Schaden <strong>vom</strong> Fahrer erstatten zu lassen“,<br />
so Herdter. „Dann soll die Versicherung<br />
von Uber greifen.“ Ungeklärt sei aber,<br />
ob diese auch Vollkaskoschäden abdecke.<br />
Gibt es weitere Konkurrenten?<br />
Neben der verbotenen App UberPop betreiben<br />
die Amerikaner einen Limousinen-<br />
Service namens UberBlack. Der ist von<br />
dem Urteil nicht betroffen, denn die Fahrer<br />
sind professionelle Limousinen-Chauffeure<br />
mit Personenbeförderungsschein.<br />
Seit Anfang 2013 mischt auch Autovermieter<br />
Sixt mit dem Chauffeurdienst My-<br />
Driver den Markt auf. Auch MyDriver bekam<br />
Gegenwind von den Taxizentralen.<br />
Weil MyDriver auf angestellte Fahrer mit<br />
Personenbeförderungsschein und eigene<br />
Fahrzeuge zurückgreift, liefen die rechtlichen<br />
Vorstöße bisher aber meist ins Leere.<br />
Was plant die Politik?<br />
In Berlin sieht man aktuell keinen Anlass für<br />
eine Gesetzesänderung: „Durch die Genehmigungspraxis<br />
nach Personenbeförderungsgesetz<br />
werden Sicherheit und Qualität<br />
der Personenbeförderung gewährleistet“,<br />
heißt es aus dem Bundesverkehrsministerium<br />
auf Anfrage. „Derzeit sind keine Änderungen<br />
der Vorschriften vorgesehen.“ Hinter<br />
vorgehaltener Hand räumt man freilich<br />
auch dort ein, dass man sich „langfristig des<br />
Themas annehmen“ müsse.<br />
Wie wird der Taximarkt der<br />
Zukunft aussehen?<br />
Mittelfristig dürfte der Druck auf die Politik<br />
deutlich steigen, die Vorschriften zu lockern.<br />
„Viele der Regulierungsbestandteile<br />
haben im digitalen Zeitalter keine volkswirtschaftliche<br />
Rechtfertigung mehr“, sagt<br />
Klemens Skibicki, Professor an der Cologne<br />
Business School in Köln und Experte<br />
für digitalen Strukturwandel. „Man wird<br />
die heutige Regulierung in einigen Jahren<br />
als Posse der Geschichte belächeln.“ n<br />
michael.kroker@wiwo.de, thomas glöckner,<br />
franz rother, christian schlesiger | Berlin<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 65<br />
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»Lebenslang<br />
überschuldet«<br />
INTERVIEW | Arundhati Bhattacharya Die Chefin von Indiens größter<br />
Bank will Kleinunternehmer von Kredithaien erlösen und sieht<br />
deutsche Mittelständler als Helfer für eine modernere Industrie.<br />
Frau Bhattacharya, Sie leiten Indiens<br />
größte Bank, andererseits grassiert im<br />
Land Gewalt gegen Frauen und Mädchen.<br />
Muss der Staat die Gleichberechtigung<br />
fördern und Frauen besser schützen?<br />
Wir müssen die Wurzel dieses Übels bekämpfen.<br />
Sie liegt im rasanten Zuzug der<br />
Landbevölkerung in die Städte, wobei viele<br />
auf der Strecke bleiben und in die Kriminalität<br />
rutschen. So entsteht ein großes Problem<br />
für die öffentliche Sicherheit, das sich<br />
nicht nur mit mehr Polizei lösen lässt. Die<br />
Regierung muss dafür sorgen, dass die<br />
ländlichen Zuwanderer produktive<br />
Mitglieder der Gesellschaft<br />
werden und insbesondere<br />
Jugendliche ihre hohen<br />
Erwartungen an das Leben<br />
besser erfüllen können.<br />
Was tut Ihre Bank, um<br />
Frauen zu fördern?<br />
Unsere Mitarbeiter erhalten<br />
zwei Jahre unbezahlte Freistellung<br />
für die Erziehung<br />
von Kindern und die Pflege<br />
DIE KOSMOPOLITIN<br />
Bhattacharya, 58, stammt<br />
aus der Wirtschaftsmetropole<br />
Kalkutta und ist seit<br />
2013 Chefin der staatlichen<br />
State Bank of India.<br />
Sie hat das internationale<br />
Geschäft bei Indiens<br />
größtem Kreditinstitut<br />
ausgebaut und eine bis<br />
zu zweijährige Auszeit für<br />
Mütter eingeführt.<br />
von Familienangehörigen.<br />
Das gilt auch für alleinstehende<br />
Männer. In indischen Familien sind<br />
Mütter hauptverantwortlich für Erziehung,<br />
Haushalt und Pflege älterer Angehöriger,<br />
das wird sich so schnell nicht ändern. Zudem<br />
stehen sie nach der Grundschulzeit<br />
der Kinder unter Druck, eine gute Oberschule<br />
zu organisieren, da das indische Bildungssystem<br />
stark von Wettbewerb geprägt<br />
ist. Für diese Aufgaben brauchen<br />
Frauen Zeit, die der Arbeitgeber ihnen gewähren<br />
sollte.<br />
Auf der neuen indischen Regierung unter<br />
Narendra Modi lasten hohe Erwartungen<br />
für Wachstum und Reformen. Kann der<br />
Premierminister diese erfüllen?<br />
Er wird es schaffen. Die Öffentlichkeit will<br />
schnelle Ergebnisse, aber wir dürfen keinen<br />
großen Knall erwarten, sondern viele<br />
kleine Schritte. In Indien nehmen die 29<br />
Einzelstaaten starken Einfluss auf die Politik,<br />
sodass die Zentralregierung viele Kompromisse<br />
eingehen muss. Die neue Regierung<br />
ist für fünf Jahre gewählt, und so lange<br />
sollten wir ihr auch Zeit geben.<br />
Funktioniert die Demokratie im<br />
zersplitterten Indien überhaupt?<br />
Ja. Die jüngsten Wahlen haben gezeigt,<br />
dass die Bevölkerung gut informiert ist und<br />
ihre Wahlentscheidung an den Erfordernissen<br />
des gesamten Landes ausrichtet<br />
statt nur an regionalen Interessen. So haben<br />
ländliche sowie städtische Wähler für<br />
die gleiche politische Richtung votiert.<br />
Was sind nun die aus<br />
Ihrer Sicht dringendsten<br />
Maßnahmen?<br />
Damit die großen Infrastrukturprojekte<br />
endlich ins<br />
Laufen kommen, brauchen<br />
die beteiligten Unternehmen<br />
zur Anschubfinanzierung<br />
genug Eigenkapital,<br />
um alles Weitere dann mit<br />
Krediten zu finanzieren.<br />
Entscheidend ist zudem,<br />
dass die Menschen für die<br />
Nutzung von neuen Straßen,<br />
Energie und Kommunikationsdiensten<br />
bezahlen, damit die Unternehmen<br />
ihre Kredite zurückzahlen können. So<br />
brauchen wir nicht nur funktionierende<br />
Mautstellen und Stromnetze, sondern<br />
zum Beispiel auch ein verlässliches Tarifsystem,<br />
um die Energieerzeuger zu entlohnen.<br />
Oft wird Strom illegal abgezapft,<br />
ohne zu zahlen.<br />
Welche Rolle spielen Banken bei der<br />
Förderung von Infrastrukturprojekten?<br />
Kredite von Geschäftsbanken spielen eine<br />
große Rolle, aber der Markt für Unternehmensanleihen<br />
ist in Indien unterentwickelt.<br />
Damit sich das ändert, brauchen wir<br />
ein besseres Gesetz für Insolvenzen, sodass<br />
Anleihegläubiger dabei nicht leer ausgehen.<br />
Zudem spielen Pensions- und Versicherungsfonds<br />
als Investoren eine zu geringe<br />
Rolle, obwohl Inder wegen der fehlenden<br />
staatlichen Absicherung dort viel<br />
Geld anlegen. Aber die Fonds kaufen wegen<br />
zu strenger Regulierung kaum langfristige<br />
Unternehmensanleihen.<br />
Ein Problem bei Infrastrukturprojekten ist<br />
aber auch die grassierende Korruption.<br />
Dieses Problem gibt es, aber es wird in den<br />
Medien oft stark übertrieben. Wenn die Regierung<br />
und die Einzelstaaten dafür sorgen,<br />
dass sich alle an die Regeln halten,<br />
können wir der Korruption Herr werden.<br />
Die indischen Aktienmärkte haben sich<br />
rasant entwickelt, sehen Sie eine Blase?<br />
Nein, ich sehe das eher als eine Erholung<br />
<strong>vom</strong> Abschwung. Dieser wurde ausgelöst<br />
durch die Probleme der Weltwirtschaft<br />
nach der Finanzkrise, aber auch durch<br />
Fehler der indischen Wirtschaftspolitik –<br />
etwa bei der Förderung von öffentlichprivaten<br />
Partnerschaften für den Ausbau<br />
der Infrastruktur oder einer zu schnellen<br />
Privatisierung von natürlichen Ressourcen.<br />
So wurden Telekommunikationslizenzen<br />
oder Abbaurechte für Rohstoffe zu billig<br />
verkauft. Und Banken haben zu viele Kredite<br />
vergeben für große Projekte, die nicht abgeschlossen<br />
wurden. Ich bezeichne das als<br />
Indiens Wachstumsschmerzen. Aus diesen<br />
Fehlern hat die Politik aber gelernt.<br />
Wie sind die Aussichten für das weitere<br />
Wirtschaftswachstum in Indien?<br />
Gut, denn die demografische Entwicklung<br />
arbeitet für unsere Volkswirtschaft. Die Experten<br />
unserer Bank erwarten für 2014<br />
mehr als fünf Prozent Wachstum. Jedes<br />
Jahr strömen zehn bis zwölf Millionen junge<br />
Leute auf den Arbeitsmarkt – alles potenzielle<br />
Konsumenten. Auch die Telekommunikationsbranche<br />
erholt sich dank<br />
neu und besser verteilter Funklizenzen.<br />
Viele Inder leben allerdings noch in<br />
Armut. Die Regierung will helfen, etwa mit<br />
Bankkonten für alle. Funktioniert das?<br />
Ja, denn wer keinen Zugang zu Bankdiensten<br />
hat, muss sich in Indien bei Kredithaien<br />
auf dem Schwarzmarkt Geld leihen und<br />
ist danach meist lebenslang überschuldet.<br />
Für die Banken ist das Projekt der Regierung<br />
eine große Chance, neue Kundengruppen<br />
zu erschließen. Allerdings muss<br />
dafür gesorgt werden, dass dann auch<br />
staatliche Transfers direkt auf diesen Konten<br />
landen. Zu oft versickern solche Zahlungen<br />
noch auf dem Weg zum Empfänger<br />
in der Bürokratie. Wir haben eine Technik<br />
entwickelt, bei der sich Kunden mit einem<br />
elektronischen Fingerabdruck bei der<br />
Bank registrieren und sofort vor Ort ein<br />
Konto eröffnen können. Ihre Bankkarte<br />
können sie gleich mitnehmen.<br />
FOTO: CHRISTOF MATTES FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
66 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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»Die großen<br />
Infrastrukturprojekte<br />
müssen<br />
ins Laufen<br />
kommen«<br />
Müssen Sie dafür neue und teure Filialen<br />
auf dem Land aufbauen?<br />
Nein, die Technik funktioniert unabhängig<br />
von Filialen, für den Datentransfer reicht<br />
eine Mobilfunkverbindung. Dabei kooperieren<br />
wir mit Supermärkten oder Einkaufszentren<br />
und eröffnen Camps in besonders<br />
strukturschwachen Gegenden, wo<br />
wir potenzielle Kunden über die Vorteile<br />
eines neuen Kontos informieren.<br />
Das Beispiel zeigt, wie stark Digitaltechnik<br />
die Banken verändert. Wie reagieren<br />
Sie im computeraffinen Indien darauf?<br />
Die State Bank of India hat sieben Pilotfilialen<br />
eröffnet, die nicht mit klassischen<br />
Schaltern, sondern Rechnern und Bildschirmen<br />
ausgestattet sind. Kunden können<br />
sich dort multimedial zum Beispiel<br />
über Autokredite informieren oder sogar<br />
ein Konto eröffnen. Dort steht auch eine digitale<br />
Finanzplanung zur Verfügung, die<br />
den Leuten ausrechnet, wie viel sie wann<br />
sparen müssen, wenn sie sich für den Ruhestand<br />
absichern oder den Nachwuchs<br />
auf die Schule schicken wollen.<br />
Braucht Indien bei seinem wirtschaftlichen<br />
Aufholprozess Investitionen aus<br />
Europa und Deutschland?<br />
Wir brauchen alle Investitionen, die wir<br />
kriegen können. Vor allem kleinen und<br />
mittelständischen Unternehmen fehlt Kapital<br />
für Forschung und Entwicklung. Ihnen<br />
kann die Kooperation mit deutschen<br />
Mittelständlern helfen. Deutsche Unternehmen<br />
sind auch wegen ihrer industriellen<br />
Stärke gern in Indien gesehen. Für sie<br />
wiederum ist der große indische Markt attraktiv.<br />
Unsere Wirtschaft ist bisher immer<br />
noch sehr stark auf Dienstleistungen und<br />
deren Export konzentriert, etwa mit Software<br />
oder internationalen Callcentern.<br />
Indiens mühsame Aufholjagd<br />
Pro-Kopf-Einkommen (in Dollar)<br />
1412<br />
2010<br />
Wirtschaftswachstum (in Prozent)<br />
10,3<br />
Einwohner (in Milliarden)<br />
1,21<br />
1487<br />
1537<br />
1595<br />
2010 2011 2012 2013<br />
1661<br />
* Prognose; Quelle: IHS, Weltbank, eigene Berechnung<br />
1745<br />
2011 2012 2013 2014* 2015*<br />
6,6<br />
1,22 1,24<br />
4,7 5,0<br />
1,25<br />
5,4<br />
1,27<br />
6,3<br />
2010 2011 2012 2013 2014* 2015*<br />
1,28<br />
2014* 2015*<br />
In Europa unterzieht die Zentralbank die<br />
Branche gerade einem großen Stresstest.<br />
Warten Sie das Ergebnis ab, um über<br />
die Zusammenarbeit mit europäischen<br />
Banken zu entscheiden?<br />
Wir machen natürlich bereits Geschäfte<br />
mit europäischen Banken. Wie stark dieses<br />
Geschäft wächst, hängt nicht nur <strong>vom</strong><br />
Stresstest ab, sondern auch von den strenger<br />
werdenden Regulierungsauflagen in<br />
Indien. Wir brauchen einen großen Teil<br />
unseres Kapitals für den Heimatmarkt.<br />
Wird die Europäische Zentralbank<br />
als neuer Finanzaufseher das weltweite<br />
Finanzsystem sicherer machen?<br />
Ich hoffe es, aber wir müssen abwarten.<br />
Derzeit können uns auch die europäischen<br />
Banken, mit denen wir Geschäfte machen,<br />
nicht sagen, ob Indien von der neuen Aufsicht<br />
als sicheres Land aufgefasst wird. Ich<br />
habe auch die Hoffnung, dass die internationalen<br />
Finanzaufseher und die Ratingagenturen<br />
berücksichtigen, dass Indien<br />
den tiefsten Punkt seines Wirtschaftszyklus<br />
hinter sich gelassen hat.<br />
Welche Rolle wird Indien in fünf Jahren<br />
für die Weltwirtschaft spielen?<br />
Wir werden ein ganz anderes Indien sehen.<br />
Die Grundlagen für mehr weltwirtschaftlichen<br />
Einfluss sind da, diese Stärken müssen<br />
wir aber richtig einsetzen.<br />
n<br />
mark.fehr@wiwo.de | Frankfurt,<br />
florian.willershausen@wiwo.de | Berlin<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 67<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Später Ritterschlag<br />
DRILLISCH | Der kleine Discount-Anbieter steigt zum vierten Mobilfunkbetreiber in Deutschland auf.<br />
Wie haben die beiden Gründer das geschafft?<br />
Die Brüder Paschalis und Vlasios<br />
Choulidis schauen manchmal etwas<br />
neidisch auf die glanzvollen Karrieren<br />
einiger Weggefährten. Vor mehr als 20<br />
Jahren, in der Gründerphase des Mobilfunks,<br />
gehörten auch Kai-Uwe Ricke und<br />
René Obermann dem Club der Chefs kleiner<br />
Telefonfirmen an, die ihr erstes Geld<br />
mit dem Verkauf von Handys und Mobilfunkverträgen<br />
verdienten. Für Ricke und<br />
Obermann war das aber nur eine Durchgangsstation<br />
auf dem Weg nach ganz oben.<br />
Die beiden wechselten zur Telekom,<br />
machten gemeinsam Riesensprünge auf<br />
der Karriereleiter und schafften nacheinander<br />
innerhalb weniger Jahre den<br />
Sprung an die Spitze des Magenta-Riesen.<br />
Die Choulidis-Brüder, wie sie in der<br />
Branche gerne genannt werden, blieben<br />
dagegen, was sie immer waren: Vorstände<br />
und Gesellschafter des wenig bekannten<br />
Mobilfunkhändlers Drillisch – einem winzigen<br />
Discounter, dem nie der große<br />
Durchbruch gelang. Im Haifischbecken<br />
der Mobilfunker ist Drillisch nur ein kleiner<br />
Fisch: Mit 356 Mitarbeitern und rund<br />
290 Millionen Euro Umsatz kommt das Unternehmen<br />
lediglich auf einen Marktanteil<br />
von 1,2 Prozent (siehe Grafik Seite 69).<br />
STICHELEIEN DER KONKURRENZ<br />
Ehemalige Weggefährten senkten deshalb<br />
bis vor Kurzem etwas hochnäsig den Daumen.<br />
Das Unternehmen sei „viel zu klein<br />
und unbedeutend“, setze auf das „falsche<br />
Geschäftsmodell“, besitze „nicht den<br />
Hauch einer Überlebenschance“ und werde<br />
deshalb „ganz schnell wieder <strong>vom</strong><br />
Markt verschwinden“.<br />
An diese Sticheleien hatten sich Vorstandssprecher<br />
Paschalis und sein für Marketing<br />
und Vertrieb verantwortlicher Bruder<br />
Vlasios Choulidis fast schon gewöhnt:<br />
„Wir sind die ewig Totgesagten“, frotzeln sie<br />
heute und fügen hinzu: „Und die leben bekanntlich<br />
länger.“<br />
Noch vor wenigen Monaten hätte sich<br />
keiner der beiden getraut, mit solch kecken<br />
Unterschätzte Brüder Die Drillisch-Vorstände<br />
Paschalis und Vlasios Choulidis (links) sollen<br />
Preissteigerungen im Mobilfunk verhindern<br />
FOTO: ANGELIKA ZINZOW FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
68 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Sprüchen die Konkurrenz zu provozieren.<br />
Bei der Suche nach den besten Einkaufskonditionen<br />
waren die Choulidis-Brüder<br />
auch <strong>vom</strong> Wohlwollen der Netzbetreiber<br />
abhängig. Da hält man sich lieber zurück.<br />
Jetzt aber sitzt das Brüderpaar in der<br />
Drillisch-Zentrale im hessischen Maintal<br />
und strotzt nur so vor Selbstvertrauen. Sie<br />
haben jetzt den Durchbruch erkämpft:<br />
„Wir sind der vierte Mobilfunkbetreiber in<br />
Deutschland“, sagt Paschalis Choulidis und<br />
strahlt. „Wir erhalten alle Freiheiten und<br />
können unsere Produkte und Tarife künftig<br />
so gestalten, wie wir wollen.“<br />
Winzling Drillisch<br />
Marktanteile der Mobilfunkanbieter in<br />
Deutschland (in Prozent)<br />
E-Plus<br />
Telefónica O2<br />
Freenet<br />
12,0<br />
12,4<br />
14,3<br />
Quelle: Dialog Consult/VATM<br />
1&1 2,0 1,2 Drillisch<br />
Gesamt:<br />
25,1<br />
Mrd. €<br />
28,3<br />
29,8<br />
Vodafone<br />
Telekom<br />
PREISE DRÜCKEN<br />
Fast aussichtslos gingen die im politischen<br />
Lobbying relativ unerfahrenen Brüder ins<br />
Rennen, als Telefónica (Marke: O2) vor gut<br />
einem Jahr ein Übernahmeangebot in Höhe<br />
von 8,7 Milliarden Euro für den Konkurrenten<br />
E-Plus vorlegte. Die beiden wussten<br />
nur, dass sich eine einmalige Chance auftut:<br />
Der neue Mobilfunkriese mit insgesamt<br />
45 Millionen Kunden bekommt den<br />
Segen der Brüsseler Wettbewerbshüter nur<br />
unter harten Auflagen. Drei etwa gleich<br />
starke Telekomkonzerne – Deutsche Telekom,<br />
Vodafone und Telefónica/E-Plus –<br />
hätten sonst ihre Marktmacht ausgespielt<br />
und ihre Preiskämpfe eingestellt.<br />
Ausgerechnet dem kleinsten Mobilfunker<br />
vertraut Brüssel jetzt die große Aufgabe<br />
an, den Wettbewerb auf dem deutschen<br />
Markt zu beleben. Nach langen Verhandlungen,<br />
so heißt es, habe Drillisch die verbindlicheren<br />
Zusagen gemacht. EU-Wettbewerbskommissar<br />
Joaquín Almunia setzte<br />
am 29. August seine Unterschrift unter<br />
einen Vertrag, mit dem Drillisch Zugriff auf<br />
ein Viertel der Netzkapazitäten der fusionierten<br />
Telefónica-/E-Plus-Gruppe bekommt<br />
und sich aus einem Korb von 600<br />
O2-/E-Plus-Shops die besten aussuchen<br />
darf. Das alles gibt es zu „hervorragenden<br />
Einkaufskonditionen“, damit Drillisch die<br />
Rolle des Preisbrechers übernehmen kann.<br />
Die gleiche Statur, die gleichen Gesichtszüge,<br />
die gleiche Frisur, das gleiche Lachen<br />
– die Choulidis-Brüder könnten Zwillinge<br />
sein. Bei genauerem Hinsehen fallen die<br />
kleinen Unterschiede auf. Paschalis, Jahrgang<br />
1963, ist fünf Jahre jünger als Vlasios,<br />
ein paar Zentimeter größer und bringt ein<br />
paar Kilo mehr auf die Waage.<br />
Die Finanzmärkte trauen den beiden offenbar<br />
zu, in der Top-Liga der Mobilfunker<br />
zu bestehen: Die Drillisch-Aktie notiert bei<br />
29 Euro, 37 Prozent höher als zu Jahresbeginn.<br />
„Wir sehen gute Chancen, dass Drillisch<br />
in eine neue Dimension vorstößt“,<br />
lobt Wolfgang Specht, Analyst beim Bankhaus<br />
Lampe in Düsseldorf.<br />
Für die Choulidis-Brüder ist das wie ein<br />
verspäteter Ritterschlag. Klein hatten sie<br />
»<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
»<br />
in Deutschland angefangen. Die Eltern<br />
waren aus Griechenland ausgewandert:<br />
„Am 15. August 1970 kamen wir mit dem<br />
Zug im Münchner Hauptbahnhof an.“<br />
HEISSE VERHANDLUNGEN<br />
Sie ließen sich in Hanau nieder, weil dort<br />
bereits ein Teil der Familie lebte. „In der<br />
Schule fühlten wir uns in den naturwissenschaftlichen<br />
Fächern besonders wohl“, erinnern<br />
sie sich. An dieser Vorliebe hat sich<br />
bis heute nichts geändert. „Die blättern Bilanzen<br />
im Schnelltempo durch und finden<br />
auf Anhieb die Schwachpunkte“, berichtet<br />
ein Manager, der lange an der Seite der<br />
Choulidis-Brüder gearbeitet hat.<br />
Vielleicht ist das einer der Gründe, warum<br />
sich Drillisch gegenüber den viel größeren<br />
Konkurrenten United Internet und<br />
Immer auf den vorderen Plätzen<br />
Wie in jeder Familie lodert auch mal<br />
Streit zwischen den Brüdern auf. Aber endlose<br />
Auseinandersetzungen, die das Unternehmen<br />
lähmen, gibt es bei Drillisch nicht.<br />
„Die beiden sind einfach gut“, sagt Horst<br />
Lennertz, langjähriger Technik-Chef bei<br />
E-Plus und Aufsichtsrat bei Drillisch. „Ich<br />
kenne kaum jemanden, der die verschiedenen<br />
Geschäftsmodelle im Mobilfunk so<br />
verinnerlicht hat.“<br />
Im Verhandlungsmarathon mit Telefónica<br />
gaben die Choulidis-Brüder offenbar die<br />
besseren Abnahmegarantien ab. Auch<br />
United Internet und Freenet hätten gern<br />
ein Viertel der Netzkapazitäten der<br />
O2-/E-Plus-Gruppe abgenommen. Sie<br />
wollten aber auch Klauseln im Vertrag aufnehmen,<br />
die einen Teil der damit verbundenen<br />
wirtschaftlichen Risiken abfedern.<br />
Die günstigsten Allnet-Flatrates für Telefonieren in alle Netze und Internet-Nutzung<br />
bis zu einem Datenvolumen von 500 Megabyte<br />
Marke Anbieter Preis pro Monat (in Euro) Netz<br />
1. Smartmobil<br />
2. Simply<br />
3. 1&1<br />
4. DeutschlandSIM<br />
5. hellomobil<br />
6. winSIM<br />
7. simfinity<br />
8. Fonic<br />
9. Tele2<br />
10. Freenet<br />
Drillisch<br />
Drillisch<br />
1&1<br />
Drillisch<br />
Drillisch<br />
Drillisch<br />
Sat.1<br />
O2<br />
Tele2<br />
Freenet<br />
Stand: 1. September 2014; Quelle: Tariftip.de<br />
14,95<br />
14,95<br />
14,99<br />
16,95<br />
16,95<br />
16,95<br />
19,90<br />
19,95<br />
19,95<br />
20,95<br />
Freenet durchsetzen konnte. Die EU-Kommission<br />
hatte Telefónica den Auftrag erteilt,<br />
einen geeigneten Abnehmer für die<br />
Netzkapazitäten und die Shops zu finden.<br />
Ende Juni, in den dramatischen Stunden<br />
vor der Vertragsunterzeichnung mit Telefónica,<br />
deutete vieles darauf hin, das einer<br />
der Großen den Zuschlag bekommt. Doch<br />
die Brüder, die persönlich die Verhandlungen<br />
führten, machten das Rennen. Details<br />
aus der heißen Endphase wollen sie nicht<br />
verraten, nur so viel lassen sie durchblicken:<br />
„Wir haben die Chance schnell erkannt<br />
und wurden uns schnell einig“, sagen<br />
die beiden und lächeln spitzbübisch.<br />
Insider bestätigen das: „Wenn es darauf<br />
ankommt, laufen die beiden zur Hochform<br />
auf.“ Geschäftspläne kalkulieren und komplexe<br />
Verträge hart aushandeln, darin seien<br />
sie „wahre Meister“.<br />
O2<br />
O2<br />
E-Plus<br />
O2<br />
O2<br />
O2<br />
E-Plus<br />
O2<br />
E-Plus<br />
Deutsche Telekom<br />
Denn wie bei jedem Prozentwert hängt<br />
die tatsächliche Höhe der von O2/E-Plus<br />
abzugebenden Übertragungskapazitäten<br />
von den künftigen Netzausbauplänen ab.<br />
„Wenn Telefónica stärker investiert und die<br />
Netzkapazitäten erweitert, müsste der<br />
neue Partner auch mehr abnehmen“, berichtet<br />
ein Teilnehmer aus den Verhandlungen.<br />
Und da habe Drillisch offenbar die<br />
verbindlicheren Zusagen gemacht.<br />
Ausgerechnet Drillisch. Seit Jahren verlassen<br />
sich die Choulidis-Brüder allein darauf,<br />
dass preisbewusste Kunden im Internet<br />
den günstigsten Flatrate-Tarif finden<br />
und dann zu ihnen wechseln. Zwölf der<br />
rund 50 in Deutschland aktiven Discount-<br />
Marken haben die beiden aufgelegt. Die<br />
meisten tragen skurril anmutende Namen<br />
wie Maxxim, Discotel, hellomobil, McSim,<br />
Phonex oder DeutschlandSIM.<br />
„Wichtig ist“, erzählen sie freimütig, „die<br />
Präsenz unserer Marken im Internet und<br />
dass wir in den Ranglisten der Vergleichsportale<br />
die Top-Positionen mit unseren<br />
Marken besetzen.“ Da die Konkurrenz oft<br />
nur mit einem Produkt auf den hinteren<br />
Plätzen vertreten ist, stehen die Drillisch-<br />
Marken als günstigste Anbieter da (siehe<br />
Tabelle): „Dann ist die Wahrscheinlichkeit<br />
groß, dass die Interessenten ein Produkt<br />
von uns kaufen.“<br />
Mit dieser Masche gewinnt Drillisch<br />
rund 50 000 Neukunden pro Quartal. Die<br />
derzeit erfolgreichsten Discounter Alditalk,<br />
blau.de und Congstar glänzen allerdings<br />
mit weit höheren Zuwachsraten. Die Folge:<br />
Selbst gemeinsam kommen alle zwölf Drillisch-Marken<br />
nur auf 1,8 Millionen Kunden.<br />
Congstar, die Discount-Tochter der<br />
Telekom, zählt alleine 3,4 Millionen Nutzer.<br />
Quasi über Nacht müssen die Choulidis-<br />
Brüder jetzt beweisen, dass sie schneller<br />
Marktanteile gewinnen können. Mit dem<br />
Zugriff auf bis zu 30 Prozent der Netzkapazitäten<br />
ließen sich gut zehn Millionen Mobilfunkkunden<br />
bedienen. Rund acht Millionen<br />
Kunden muss Drillisch also in den<br />
nächsten Jahren hinzugewinnen.<br />
Denn richtig profitabel ist der Deal mit<br />
Telefónica erst, wenn die zur Verfügung gestellten<br />
Kapazitäten voll ausgelastet werden.<br />
Binnen weniger Jahre den Kundenbestand<br />
verfünffachen, das ist in einem mit<br />
mehr als 116 Millionen aktiven Mobilgeräten<br />
(1,4 pro Einwohner) fast schon gesättigten<br />
Markt ein ehrgeiziges Unterfangen.<br />
STRATEGIE AUF DEN KOPF STELLEN<br />
Möglich ist das nur, wenn die Choulidis-<br />
Brüder ihre Strategie auf den Kopf stellen.<br />
Bisher verzichten sie auf alles, was Geld<br />
kostet. Kein eigenes Netz, keine Shops, keine<br />
Werbung – das war die in Stein gemeißelte<br />
Firmenphilosophie.<br />
Die gilt jetzt nicht mehr. Die ersten<br />
Shops sollen Anfang 2015 öffnen, kündigt<br />
Vlasios Choulidis an. Unter welcher Marke<br />
sie firmieren, ist noch offen. Auch die Produktpalette<br />
wird überarbeitet. Eine eigene<br />
Premiummarke soll künftig auch in den<br />
Kampf um die Smartphones und Tablets<br />
viel surfender Geschäftskunden eingreifen.<br />
Auch die ganz auf die Choulidis-Brüder<br />
ausgerichtete Führungsstruktur von Drillisch<br />
steht auf dem Prüfstand. Mit dem<br />
Aufstieg in die Beletage des deutschen Mobilfunks<br />
finde auch die traute Zweisamkeit<br />
im Vorstand, so heißt es aus dem Drillisch-<br />
Umfeld, ein baldiges Ende.<br />
n<br />
juergen.berke@wiwo.de<br />
70 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Spezial | Mittelstand<br />
Chronische Knappheit<br />
CHINA | Trotz des schwächelnden Wachstums streben immer mehr deutsche Mittelständler<br />
ins Land der großen geschäftlichen Verheißungen. Doch das Finden und Binden<br />
qualifizierter Mitarbeiter wird immer schwieriger. Was Unternehmen tun können.<br />
Wenn Dominic Sturm über<br />
sein Geschäft in China<br />
spricht, gerät er erst ins<br />
Schwärmen, aber dann<br />
folgt bald ein größeres<br />
Stöhnen. Sicher, die Verkaufszahlen zeigen<br />
nur nach oben, seit Stihl – der Hersteller<br />
von Kettensägen, Heckenscheren und<br />
Rasentrimmern aus dem schwäbischen<br />
Waiblingen – vor acht Jahren seine erste<br />
Fabrik in der nordostchinesischen Stadt<br />
Qingdao eröffnete. Das Unternehmen, das<br />
weltweit fast 14 000 Mitarbeiter beschäftigt<br />
und zuletzt 2,8 Milliarden Euro umsetzte,<br />
wächst im Reich der Mitte jedes Jahr mit<br />
zweistelligen Raten. Denn immer mehr<br />
Chinesen können sich inzwischen ein<br />
Spezial | Mittelstand<br />
72 China Was tun gegen den Fachkräftemangel<br />
im Reich der Mitte?<br />
78 Standorte in Asien Die Vorteile<br />
von Vietnam, Indonesien und Co.<br />
82 Maschinenbau So profitiert ein<br />
Mittelständler aus dem Allgäu <strong>vom</strong><br />
Pharmaboom in China<br />
Haus mit eigenem Garten leisten – und der<br />
will natürlich auch gepflegt werden.<br />
Doch Sturm, Ausbildungsleiter bei Stihl<br />
in China, muss dafür sorgen, dass die<br />
Schwaben auch immer ausreichend Mitarbeiter<br />
haben, um das Wachstum im nach<br />
wie vor boomenden Riesenreich stemmen<br />
zu können. Etwa 750 Arbeiter beschäftigt<br />
Stihl zurzeit in den Fabriken in der früheren<br />
deutschen Kolonie in Ostchina; jedes<br />
Jahr müssen unter dem Strich 100 dazukommen.<br />
Um das zu erreichen, muss Sturm pro<br />
Jahr rund 200 neue Leute einstellen. Bisweilen<br />
keine leichte Aufgabe: „Vor allem<br />
bei ungelernten Arbeitskräften ist die Fluktuation<br />
mit 20 Prozent enorm hoch“, sagt<br />
der Deutsche.<br />
So geht es fast allen deutschen Unternehmen<br />
im Land. In den einschlägigen<br />
Umfragen der Deutschen Auslandshandelskammer<br />
(AHK) in Shanghai nennen »<br />
Reise ohne Wiederkehr<br />
Wanderarbeiter kehren nach dem Neujahrsfest<br />
oft nicht an ihre Arbeitsstelle zurück<br />
FOTO: LAIF/SZ PHOTO/KEVIN LEE<br />
72 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Spezial | Mittelstand<br />
Auch wenn Chinas Wirtschaft sich zuletzt<br />
abgeschwächt hat: Bei 7,5 Prozent<br />
Wachstum sind die Aussichten für deutsche<br />
Unternehmen immer noch mehr<br />
als verlockend. Das gilt besonders für Maschinenbauer,<br />
Pharmaunternehmen oder<br />
Elektrotechnikanbieter. Sie haben – anders<br />
als die ausländische Konkurrenz – genau<br />
die Produkte im Angebot, die China auf<br />
seinem Weg in die Moderne dringend<br />
braucht.<br />
»<br />
sie regelmäßig die Suche nach geeigneten<br />
Mitarbeitern als größtes Problem.<br />
Wer mehr als einen Winter in China verbracht<br />
hat, weiß, dass beispielsweise nach<br />
dem Neujahrsfest immer ein paar Mitarbeiter<br />
einfach nicht mehr auftauchen.<br />
Denn in der chinesischen Ferienwoche,<br />
die mal in den Januar, mal in den Februar<br />
fällt, besuchen Wanderarbeiter traditionell<br />
ihre Familien auf dem Land.<br />
Manche entschließen sich kurzerhand,<br />
dort zu bleiben, andere hören von einem<br />
Bekannten, anderswo gebe es ein paar Yuan<br />
mehr zu verdienen, und wechseln kurzerhand.<br />
So kann es passieren, dass von<br />
500 Arbeitern am Ende der Ferienwoche<br />
nur noch 200 zurückkommen – keine Kündigung,<br />
kein Anruf, nicht einmal eine<br />
E-Mail.<br />
KEINE LOYALITÄT<br />
Nicht viel besser ist die Lage bei Fach- und<br />
Bürokräften. Es fehlt an guten Kaufleuten,<br />
Ingenieuren, Betriebswirten – eigentlich<br />
an allen Berufsgruppen.<br />
Der rechtliche Rahmen macht den Chinesen<br />
das Jobhopping leicht. Wasserdichte<br />
Gesetze mit Kündigungsfristen gibt es im<br />
Boommarkt China nicht. Das Problem haben<br />
damit vor allem die Arbeitgeber: Wer<br />
seinen Job verliert, findet angesichts der<br />
chronischen Knappheit an Arbeitskräften<br />
schnell einen neuen.<br />
Lockmittel deutscher Gesellenbrief<br />
Chinesischer Facharbeiter beim Kettensägenkönig<br />
Stihl<br />
Loyalität zu einem Arbeitgeber kennen<br />
viele Chinesen nicht. Für 100 Yuan, umgerechnet<br />
gerade mal rund zwölf Euro, mehr<br />
im Monat oder auch nur einen kürzeren<br />
Anfahrtsweg zum Job wechseln viele das<br />
Unternehmen. Bei rund 19 Prozent lag die<br />
Mitarbeiterfluktuation in China im Jahr<br />
2012. Das bedeutet, dass innerhalb von<br />
fünf Jahren einmal die Belegschaft komplett<br />
ausgewechselt wird. In manchen<br />
Branchen liegt die Wechselrate sogar bei 30<br />
Prozent.<br />
Trotz solcher Hemmnisse ist der China-<br />
Sog ungebrochen. Rund 5000 Unternehmen<br />
aus Deutschland haben dort inzwischen<br />
Niederlassungen, der größte Teil von<br />
ihnen sind Mittelständler. Und es kommen<br />
fast jeden Tag neue hinzu.<br />
19 Prozent aller<br />
Mitarbeiter in China verlassen<br />
ihren Arbeitgeber<br />
im Schnitt pro Jahr<br />
VIELE BEWERBUNGSGESPRÄCHE<br />
Mit einem Handelsvolumen von 140 Milliarden<br />
Euro ist Deutschland derzeit Chinas<br />
größter Handelspartner in Europa.<br />
Deutschlands Unternehmer sind dabei<br />
immer noch optimistisch, so eine AHK-<br />
Umfrage in China. So erwarten beispielsweise<br />
drei Viertel der befragten deutschen<br />
Unternehmen, die in China in der Automobilbranche<br />
aktiv sind, weiter ein stabiles<br />
Geschäft.<br />
Eines des Unternehmen, das <strong>vom</strong> stetigen<br />
Aufstieg Chinas kräftig profitiert, ist<br />
auch Delo Industrie Klebstoffe. Das Familienunternehmen<br />
mit Sitz in Windach westlich<br />
von München stellt mit 420 Mitarbeitern<br />
Spezialkleber her, wie sie beispielsweise<br />
in Smartphones, Laptops sowie Spielkonsolen,<br />
aber auch in der Autoindustrie<br />
zum Einsatz kommen. 2013 entschied sich<br />
Inhaberin Sabine Herold, eine Tochtergesellschaft<br />
in Shanghai zu gründen. Zu<br />
schnell war der Absatz in China in den Jahren<br />
zuvor gewachsen. Da reichte es aus ihrer<br />
Sicht nicht mehr, nur aus Deutschland<br />
zu exportieren.<br />
Um das sensible Know-how zu schützen,<br />
fertigt Delo seine Klebstoffe zwar immer<br />
noch in Deutschland. Doch in Shanghai<br />
kümmern sich nunmehr bereits zehn Mitarbeiter<br />
um den Vertrieb in China. Das Geschäft<br />
dort wächst jedes Jahr um 15 bis 20<br />
Prozent und trägt mittlerweile fast ein<br />
Fünftel zum Jahresumsatz der Bayern von<br />
zuletzt fast 60 Millionen Euro bei.<br />
Eine erfreuliche Entwicklung, wäre da<br />
nicht das Problem mit der Mitarbeitersuche.<br />
„Die gestaltet sich schwierig“, sagt<br />
Herold. Zwar werde viel über die angeblich<br />
riesige Zahl von verfügbaren Fachkräften<br />
in China geredet, sagt die Delo-Chefin.<br />
„Aber deren technisches Verständnis entspricht<br />
oft nicht unseren Anforderungen.“<br />
Aus den Zeugnissen ist dies aber fast nie<br />
ersichtlich.<br />
Die Folge: Will Delo in China einen neuen<br />
Mitarbeiter einstellen, muss das Management<br />
ungewöhnlich viele Bewer-<br />
FOTO: STIHL/KD BUSCH<br />
74 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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ungsgespräche führen. Kann Herold<br />
nicht selbst vor Ort sein, lässt sie sich per<br />
Videokonferenz zuschalten.<br />
Zwar spuckt das chinesische Bildungssystem<br />
mittlerweile jedes Jahr sieben Millionen<br />
Universitätsabsolventen aus, viermal<br />
so viele wie noch vor zehn Jahren. Das<br />
liest sich allerdings auf dem Papier besser,<br />
als es in der Realität ist. Der Ausbildungsgrad<br />
der Absolventen ist nicht mit dem in<br />
Europa zu vergleichen. Nicht nur einmal<br />
hat Herold in China erlebt, dass ein Bewerber<br />
eine technische Zeichnung mehrfach<br />
gedreht hat, weil er nicht so recht wusste,<br />
wo oben und unten ist. „Ein guter deutscher<br />
Geselle ist einem chinesischen Ingenieur<br />
oftmals voraus“, hat die Delo-Chefin<br />
festgestellt.<br />
Mehr Masse als Klasse<br />
Hochschulabsolventen in China<br />
(in Millionen)<br />
1,0 1,8 3,0 4,5 5,8 6,1 7,0<br />
2000 2003 2005 2007 2009 2011 2013<br />
Quelle: China Statistical Yearbook<br />
DEFIZITE IN DER BILDUNG<br />
Ähnliche Erfahrungen hat auch Stihl-Ausbildungsleiter<br />
Sturm gemacht. Auf eine<br />
Facharbeiterstelle bewerben sich bei ihm<br />
zwar in der Regel 100 Kandidaten. Allerdings<br />
erfülle dabei fast keiner die erforderlichen<br />
Voraussetzungen, berichtet Sturm.<br />
Den jungen Hochschulabsolventen fehle<br />
es vor allem an der Fähigkeit zur Problemlösung,<br />
außerdem hätten sie meist kaum<br />
praktische Erfahrung.<br />
Delo-Inhaberin Herold kritisiert den noch<br />
immer viel zu hohen Stellenwert des Auswendiglernens<br />
in chinesischen Schulen und<br />
Hochschulen: Das Verstehen, Kombinieren<br />
und kritische Hinterfragen komme darüber<br />
zu kurz, „dabei braucht man gerade diese<br />
Fähigkeiten für eine Innovationskultur“.<br />
Weil gute Leute aber knapp sind, steigen<br />
die Löhne in China trotzdem jedes Jahr<br />
quer durch alle Branchen um durchschnittlich<br />
zehn Prozent. Bei Stihl in Qingdao verdient<br />
ein ungelernter Arbeiter, der neu einsteigt,<br />
umgerechnet rund 250 Euro. Vor<br />
zehn Jahren wäre es lediglich halb so viel<br />
gewesen.<br />
Die Arbeitsproduktivität kann allerdings<br />
mit diesen Gehaltszuwächsen oft nicht<br />
mithalten: Während die Gehälter zwischen<br />
1999 und 2010 um 258 Prozent stiegen, legte<br />
die Produktivität in dieser Zeit nur um<br />
167 Prozent zu.<br />
Wegen der chronischen Knappheit an<br />
qualifiziertem Personal müssen deutsche<br />
Unternehmen in China ungewöhnlich<br />
viel Aufwand bei der Rekrutierung betreiben.<br />
Schon ab einem relativ niedrigen<br />
Qualifikationsniveau der gesuchten Mitarbeiter<br />
arbeiten viele Personalabteilungen<br />
darum notgedrungen mit Headhuntern zusammen.<br />
„Wir müssen hier Spezialisten aktiv suchen<br />
– in Europa geschieht das eigentlich<br />
erst auf den höheren Führungsebenen“,<br />
sagt Joachim Wehrle von der Personalberatung<br />
wpb in Shanghai. Auch Stihl und<br />
Delo beschäftigen in China Headhunter.<br />
Darüber hinaus präsentiert sich Stihl auf<br />
Jobbörsen und bei den Hochschulen,<br />
»<br />
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Spezial | Mittelstand<br />
»<br />
um den Nachwuchs direkt auf dem<br />
Campus zu rekrutieren.<br />
Mit dem erfolgreichen Rekrutieren ist es<br />
allerdings in der Regel noch nicht getan.<br />
Einmal gefunden, müssen die Unternehmen<br />
die Neulinge in aufwendigen Schulungen<br />
aus- und weiterbilden, manchmal<br />
sogar am Stammsitz in Deutschland. Bei<br />
Delo etwa bekommen Neueinsteiger eine<br />
zwei- bis dreimonatige Schulung in der<br />
Zentrale in Bayern.<br />
Um die fachlichen Defizite bei den jungen,<br />
meist ehrgeizigen und fleißigen Chinesen<br />
auszugleichen, hat die deutsche<br />
Wirtschaft unter Federführung der AHK in<br />
Shanghai vor Kurzem damit begonnen, in<br />
China das duale Ausbildungssystem einzuführen,<br />
vor allem für handwerkliche Berufe<br />
wie Mechatroniker. Beim theoretischen<br />
Teil arbeiten die Deutschen eng mit<br />
den Hochschulen zusammen. Den praktischen<br />
Teil erledigen die beteiligten deutschen<br />
Betriebe.<br />
Die kostet die Ausbildung eines chinesischen<br />
Lehrlings im Schnitt rund 250 Euro<br />
im Monat. Der Auszubildende muss sich<br />
verpflichten, nach dem Abschluss mindestens<br />
zwei Jahre in dem Betrieb zu arbeiten.<br />
Geht er früher, muss er die Ausbildungskosten<br />
zurückzahlen.<br />
In der Praxis verhindert das allerdings<br />
nicht, dass hin und wieder doch ein Absolvent<br />
vorzeitig ausscheidet, wenn etwa bei<br />
der Konkurrenz ein höheres Gehalt winkt.<br />
Das unterentwickelte Rechtssystem<br />
kommt den jungen Leuten dabei entgegen:<br />
Auch wenn es in den vergangenen Jahren<br />
einige Verbesserungen gegeben hat, stehen<br />
die Chancen deutscher Unternehmen,<br />
die gegen Chinesen klagen, vor Gericht oft<br />
schlecht.<br />
MEHR ALS GUTE BEZAHLUNG<br />
Gerade haben die ersten 50 chinesischen<br />
Azubis ihre deutsche Lehre abgeschlossen.<br />
So hat Stihl sechs Leute zum Industriemechaniker<br />
ausgebildet. In der Größenordnung<br />
soll es auch in Zukunft weitergehen.<br />
Die Hälfte der Ausbildungsplätze<br />
bietet das Unternehmen vielversprechenden<br />
jungen Leuten an, die heute schon bei<br />
Stihl arbeiten.<br />
»Ein deutscher<br />
Geselle ist chinesischen<br />
Ingenieuren<br />
oft voraus«<br />
Sabine Herold, Inhaberin Delo Klebstoffe<br />
Der Ansturm im ersten Jahrgang war gewaltig:<br />
Für die drei Plätze haben sich 30<br />
Mitarbeiter beworben. Die übrigen Lehrstellen<br />
besetzt Stihl mit geeigneten Schülern,<br />
die mindestens die mittlere Reife sowie<br />
den bestandenen Aufnahmetest für die<br />
Fachhochschule in Jinan bei Qingdao mitbringen<br />
müssen.<br />
Mit den Bewerbern führt das Unternehmen<br />
noch einen Einstellungstest und ein<br />
längeres Gespräch durch. Dort fragen die<br />
Personaler Allgemeinwissen, aber auch<br />
technisches und logisches Verständnis ab,<br />
und testen die Soft Skills der Bewerber.<br />
Wer in China seine wirklich guten Leute<br />
– egal, ob in der Produktion oder im Büro –<br />
258 Prozent Gehaltszuwachs gab es in China<br />
seit 1999. Die Produktivität stieg um 167 Prozent<br />
langfristig an sich binden will, muss mehr<br />
bieten als gute Bezahlung. Diese ist eine<br />
notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung,<br />
um Mitarbeiter zu halten. Ebenso<br />
wichtig sind eine gute Arbeitsatmosphäre<br />
und Perspektiven.<br />
„Man muss ein gutes Arbeitsumfeld bieten,<br />
mit einem aufgeschlossenen und respektvollen<br />
Team, interessante Aufgaben,<br />
Entwicklungs- und vor allem Weiterbildungsmöglichkeiten“,<br />
sagt Delo-Inhaberin<br />
Herold.<br />
PRÄMIENSYSTEME FÜR ARBEITER<br />
Von guten Erfahrungen berichten auch<br />
Unternehmen, die ihren Arbeitern eine<br />
Krankenversicherung bieten. Bisher gibt es<br />
in China nur ein rudimentäres Versicherungssystem,<br />
das bestenfalls kleine Erkrankungen<br />
abdeckt.<br />
Andere haben ihren Mitarbeitern Kredite<br />
gegeben, um eine Wohnung zu kaufen –<br />
vor allem für männliche Chinesen eine<br />
wichtige Anschaffung, um eine Ehefrau zu<br />
finden. Die Immobilie ist für den Arbeitgeber<br />
zugleich eine implizite Garantie, dass<br />
der Mitarbeiter in naher Zukunft im Ort<br />
bleiben wird.<br />
Andere Unternehmen arbeiten in der<br />
Fertigung mit Prämiensystemen: Läuft die<br />
Produktion schneller, zahlen sie den Arbeitern<br />
am Ende des Monats einen Bonus.<br />
Darüber hinaus schaffen Betriebsausflüge<br />
und Tage der offenen Tür für Familien ein<br />
Gemeinschaftsgefühl. Die Unternehmensberatung<br />
Roland Berger empfiehlt außerdem,<br />
Gespräche zur Leistungsbewertung<br />
der Mitarbeiter in kürzeren Zeitabständen<br />
stattfinden zu lassen – am besten alle drei<br />
Monate.<br />
An manchen Standorten machen sich<br />
zumindest die deutschen Unternehmen<br />
nicht noch gegenseitig das Leben schwer.<br />
So gilt unter den 200 Mittelständlern in Taicang,<br />
einer Stadt 50 Kilometer nordwestlich<br />
von Shanghai, ein „Gentlemen’s<br />
Agreement“ – keiner wirbt dem anderen<br />
Mitarbeiter ab.<br />
Doch bei allen noch so aufwendigen Bemühungen<br />
ums Personal müssen die Unternehmen<br />
sich am Ende damit abfinden,<br />
wenn etwas nicht zu ändern ist: In allen Fabriken,<br />
wo Arbeiter für wenig Geld nur einfache<br />
Tätigkeiten verrichten, ist eine Bindung<br />
an den Betrieb eben nur schwer herzustellen.<br />
n<br />
matthias.kamp@wiwo.de | München,<br />
philipp mattheis | Shanghai<br />
Lesen Sie weiter auf Seite 78 »<br />
FOTO: DELO/JENS SCHWARZ<br />
76 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Spezial | Mittelstand<br />
Erfolg mit Hochdruck Für den Vertrieb<br />
seiner Reinigungsgeräte hat Kärcher eine<br />
Tochtergesellschaft in Indonesien gegründet<br />
Feinmotorische<br />
Fähigkeiten<br />
SÜDOSTASIEN | Niedrigere Kosten als in China, kräftiges Wirtschaftswachstum,<br />
doch vor allem der Beginn des Binnenmarktes<br />
im kommenden Jahr locken den Mittelstand in die Region.<br />
Denkt Christian von Daniels über die<br />
Anfänge der Aktivitäten seines Unternehmens<br />
in Vietnam nach, fällt<br />
ihm als Erstes China ein. „Dort zeichnete<br />
sich damals, Anfang der Neunzigerjahre,<br />
eine echte Knappheit an Arbeitskräften ab“,<br />
erinnert sich der Chef des Hemdenherstellers<br />
van Laack. Außerdem sei das Interesse<br />
von staatlicher Seite an dem mittelständischen<br />
Textilhersteller aus Mönchengladbach<br />
mit einem Jahresumsatz von fast 55<br />
Millionen Euro in Vietnam viel größer gewesen<br />
als in China. Die Behörden rollten<br />
van Laack den roten Teppich aus und halfen<br />
unter anderem bei der Grundstückssuche<br />
für die neue Fabrik in Asien.<br />
Statt wie so viele deutsche Textilhersteller<br />
irgendwo in einem der Industrieparks<br />
im Süden Chinas ein Werk hochzuziehen,<br />
pflanzte van Laack seine Fabrik 1993 also<br />
in einen Vorort der vietnamesischen<br />
Hauptstadt Hanoi. Bei der Grundsteinlegung<br />
war der damalige Bundeskanzler<br />
Gerhard Schröder dabei. Mit 90 Näherinnen<br />
haben die Deutschen damals angefangen,<br />
heute sitzen an den Tischreihen der<br />
Fabrik mehr als 500. Die Hälfte seiner gesamten<br />
Jahresproduktion fertigt van Laack<br />
inzwischen in Vietnam. Zwei weitere Fabriken<br />
betreibt das Unternehmen in Tunesien<br />
und am Stammsitz in Mönchengladbach.<br />
An Vietnam schätzt von Daniels unter<br />
anderem Fleiß und Fertigkeiten der Näherinnen:<br />
„Sie haben sehr gute feinmotorische<br />
Fähigkeiten“, sagt der van-Laack-Chef,<br />
„weil die Beschäftigung mit hochwertiger<br />
textiler Fertigung in den Familien gepflegt<br />
wird.“ Zudem ist der gesetzliche Mindestlohn<br />
mit umgerechnet rund 120 Dollar nur<br />
etwa halb so hoch wie in China. Van Laack<br />
zahlt den Näherinnen bis zu 50 Prozent<br />
mehr und hat trotzdem noch niedrigere<br />
Lohnkosten als beim großen Nachbarn im<br />
Norden. Und die Fluktuation ist viel geringer:<br />
Im Schnitt bleiben die vietnamesischen<br />
Mitarbeiter sieben Jahre bei van<br />
Laack – in China undenkbar.<br />
REFORMEN IN INDONESIEN<br />
Nicht nur Vietnam mit seinen fast 90 Millionen<br />
Einwohnern zieht wieder mehr Interesse<br />
deutscher Unternehmen auf sich.<br />
Diese blicken nach einiger Zurückhaltung<br />
während der Finanzkrise jetzt verstärkt auf<br />
Länder wie Indonesien, das zuletzt mit<br />
mehr als sechs Prozent Wachstum glänzte,<br />
nach Singapur, das vor allem beim Urheberrechtsschutz<br />
als sicherer Hafen gilt, und<br />
sogar nach Thailand, wo nach heftigen politischen<br />
Turbulenzen allmählich Ruhe<br />
einkehrt. Gut 600 deutsche Mittelständler<br />
haben inzwischen Niederlassungen in<br />
Thailand. In Vietnam sind es 280, in Indonesien<br />
300 und in Singapur 1400.<br />
„Nicht nur das stabile Wachstum sorgt<br />
dafür, dass Unternehmen aus Deutschland<br />
wieder stärker Südostasien ins Visier nehmen“,<br />
sagt Jochen Sautter. Der Unternehmensberater<br />
aus Schwaben lebt seit fast 18<br />
Jahren in Indonesiens Hauptstadt Jakarta.<br />
Ende der Neunzigerjahre baute er dort für<br />
die L-Bank aus Baden-Württemberg das<br />
German Centre auf, das deutschen Mittelständlern<br />
den Markteinstieg im viertgrößten<br />
Land der Erde erleichtern soll. Heute<br />
berät Sautter mit seiner Prime Consultancy<br />
deutsche und europäische Unternehmen<br />
bei ihren Indonesien-Aktivitäten.<br />
Die steigenden Kosten in China, sagt er,<br />
vor allem aber der Abbau von Zoll-<br />
»<br />
FOTO: KÄRCHER<br />
78 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Spezial | Mittelstand<br />
»<br />
schranken in den zehn Ländern der Vereinigung<br />
Südostasiatischer Länder (Asean)<br />
sorge für steigendes Interesse an der Region.<br />
2015 werden alle Asean-Mitglieder ihre<br />
Zölle für fast alle Produktgruppen abgeschafft<br />
haben. Es entsteht ein einheitlicher<br />
Wirtschaftsraum mit rund 500 Millionen<br />
Konsumenten. Doch auch zwischen Südostasien<br />
und Europa werden die Zollhürden<br />
allmählich fallen: Die EU und Asean verhandeln<br />
über ein Freihandelsabkommen.<br />
Vom Abbau der Handelsschranken und<br />
rasch wachsendem Wohlstand profitiert<br />
auch Kärcher. Der Hersteller hochwertiger<br />
Reinigungsgeräte aus dem baden-württembergischen<br />
Winnenden mit 2013 gut<br />
zwei Milliarden Euro Umsatz hat seit 2013<br />
eine eigene Niederlassung in Indonesien,<br />
der größten Volkswirtschaft Südostasiens.<br />
Bauen lässt Kärcher seine Reinigungsgeräte<br />
weiter in China. „Zwischen Indonesien<br />
und China gibt es Zollvorteile wegen eines<br />
bilateralen Handelsabkommens“, sagt Kärchers<br />
Indonesien-Chef Roland Stähler. „Da<br />
lohnt sich der Transport.“<br />
VIELE NEUE SHOPPINGMALLS<br />
Stähler baut für den Weltmarktführer aus<br />
Schwaben das Indonesien-Geschäft auf.<br />
Momentan beschäftigt er 25 Mitarbeiter,<br />
Ende des Jahres sollen es 40 sein, denn der<br />
Absatz wächst zweistellig. Allein in Jakarta<br />
gibt es 180 große Shoppingmalls, im Monatstakt<br />
kommen neue dazu. „Die müssen<br />
gereinigt werden“, sagt Stähler und lacht.<br />
Das Lachen vergeht dem Deutschen allerdings,<br />
wenn er an den Vertrieb denkt.<br />
„Logistik ist in Indonesien wegen der Defizite<br />
bei der Infrastruktur teurer als in anderen<br />
Ländern“, sagt Stähler. So gibt es in der<br />
25-Millionen-Einwohner-Stadt Jakarta<br />
Hochwertige Arbeit in Familientradition<br />
Van-Laack-Chef Daniels schätzt die Erfahrung<br />
seiner Hemdennäherinnen in Vietnam<br />
trotz jahrelanger Planungen immer noch<br />
keine U-Bahn; der Dauerstau ist Normalzustand.<br />
Zwischen der Hauptstadt und der<br />
zweitgrößten Stadt des Landes, Surabaya,<br />
müsste dringend eine Autobahn gebaut<br />
werden. Auf der jetzigen Straße liegt die<br />
Durchschnittsgeschwindigkeit bei 30 Stundenkilometern.<br />
Doch trotz solcher Ärgernisse<br />
ist der Markt zu wichtig, als dass<br />
Kärcher darauf verzichten würde, seine<br />
Produkte in Indonesien zu verkaufen.<br />
Zudem ist Besserung in Sicht. Bei den<br />
Präsidentschaftswahlen im Juli trug der erklärte<br />
Reformer Joko Widodo den Sieg davon.<br />
Bislang war er Gouverneur der Hauptstadt<br />
und hat dort trotz nach wie vor bestehender<br />
Engpässe einiges ins Rollen gebracht.<br />
So hat der charismatische Politiker,<br />
der sich wohltuend abhebt von der alten<br />
Garde der Apparatschiks aus der Suharto-<br />
Ära, den Hafen der Stadt ausbauen lassen.<br />
Wieder auf Wachstumskurs<br />
Bruttoinlandsprodukt der Vereinigung Südostasiatischer<br />
Staaten 1 (Veränderung gegenüber<br />
Vorjahr in Prozent)<br />
8<br />
6<br />
4<br />
2<br />
0<br />
2009 2010 2011 2012 2013 2014<br />
2<br />
2015 3<br />
1 Asean; 2 Prognose; 3 Schätzung;<br />
Quelle: Asian Development Bank<br />
Auch sorgte Widodo dafür, dass das Terminal<br />
3 am Flughafen fertiggestellt wurde.<br />
Indonesien-Experte Sautter ist sich sicher,<br />
dass Widodo mit seiner größeren Autorität<br />
als Präsident bei den Reformen aufs<br />
Tempo drücken wird. Neben einer Verbesserung<br />
der Infrastruktur müsste er dringend<br />
die hohen Subventionen für Benzin<br />
kürzen. „Damit bekäme er finanziellen<br />
Spielraum für eine aktive Wirtschaftspolitik“,<br />
sagt Sautter. Der Staat verbilligt den<br />
Benzinpreis bisher um rund die Hälfte.<br />
Kärcher-Landeschef Stähler wünscht<br />
sich vor allem Reformen in der Bildung. Da<br />
hinkt Indonesien etwa Vietnam deutlich<br />
hinterher. Dort lobt Van-Laack-Chef von<br />
Daniels die gute Schul- und Allgemeinbildung<br />
der jungen Leute sowie die hohe<br />
Lernbereitschaft und Auffassungsgabe.<br />
FORSCHUNG IN VIETNAM<br />
Der deutsche Autozulieferer Bosch, der in<br />
Vietnam bis heute 160 Millionen Euro investiert<br />
hat, betreibt dort sogar ein Forschungszentrum<br />
mit 600 Mitarbeitern – in<br />
Indonesien aus Mangel an Fachkräften unvorstellbar.<br />
Die Ingenieure entwickeln dort<br />
Software für den konzerninternen Gebrauch,<br />
ähnlich wie im indischen Bangalore,<br />
wo Bosch 13 000 Programmierer beschäftigt.<br />
Insgesamt arbeiten in Vietnam<br />
1700 Menschen für Bosch. Von dort aus beliefern<br />
die Deutschen Autohersteller in<br />
ganz Asien mit Getriebeteilen. Bis 2020 will<br />
Bosch noch einmal 100 Millionen Euro in<br />
dem aufstrebenden Land investieren.<br />
Von solchen internationalen Lieferketten<br />
profitiert Thomas Halliday. Er steuert<br />
aus Singapur die Asienaktivitäten des mittelständischen<br />
Softwarehauses AEB aus<br />
Stuttgart. Das vor 35 Jahren gegründete<br />
Unternehmen setzt mit weltweit fast 400<br />
Mitarbeitern gut 30 Millionen Euro um und<br />
bietet Unternehmen, die Waren über lange<br />
Strecken transportieren, Spezialsoftware<br />
für Logistik und Zollabwicklung an. Rund<br />
6000 Kunden hat AEB heute. „Viele davon<br />
sind in Asien aktiv“, sagt Halliday, darunter<br />
etwa der deutsche Maschinenbauer Gea.<br />
Neben den gut ausgebildeten Mitarbeitern,<br />
schätzt Halliday das zuverlässige<br />
Rechtssystem, etwa beim Urheberrechtsschutz.<br />
Doch der tropische Stadtstaat hat<br />
einen weiteren Standortvorteil: „Die Lebensqualität<br />
ist unvergleichlich“, schwärmt<br />
Halliday und denkt vor allem an den Freizeitwert<br />
und die gute Küche.<br />
n<br />
matthias.kamp@wiwo.de | München<br />
Lesen Sie weiter auf Seite 82 »<br />
FOTO: VAN LAACK GMBH<br />
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Gut verpackt<br />
MASCHINENBAU | Der Pharmamarkt im Reich der Mitte boomt.<br />
Wie der mittelständische Anlagenbauer Pac Automation aus dem<br />
Allgäu davon profitiert.<br />
Die Maschinen, die Pester Pac Automation<br />
in China baut, sind etwa so<br />
groß wie ein Wandschrank. Am hinteren<br />
offenen Ende stecken mehrere Dutzend<br />
Kabel, vorne sind Rollen, Gewinde<br />
und Spindeln aus Edelstahl zu sehen.<br />
Wenn die Maschine fertig ist, wird sie Medikamente<br />
in Plastik verpacken, immer<br />
zehn Packungen zu einem Bündel, ein<br />
Bündel pro Sekunde, 60 in der Minute.<br />
Drei Monate brauchen die Pester-Leute<br />
<strong>vom</strong> Auftrag bis zur Auslieferung, um eine<br />
solche Maschine zu bauen. „Damit sind<br />
wir doppelt so schnell wie unsere Konkurrenten“,<br />
sagt Werksleiter Kevin Butler. Kundennähe<br />
und Tempo waren die Gründe für<br />
das Familienunternehmen aus dem Dorf<br />
Wolfertschwenden im Allgäu, einen Teil<br />
der Produktion nach China zu verlagern.<br />
Auf diese Weise profitiert der Mittelständler<br />
mit weltweit 450 Mitarbeitern davon,<br />
dass Chinas Markt für Medikamente<br />
boomt wie kaum ein anderer. Seit Jahren<br />
wächst die Branche mit 20 bis 25 Prozent<br />
im Jahr. Pesters Kunden im Reich der Mitte<br />
sind Pharmakonzerne wie Bayer, Pfizer<br />
Boom bei Gesundheit<br />
Umsatz der Pharmaindustrie in China<br />
(in Milliarden Dollar)<br />
140<br />
120<br />
100<br />
80<br />
60<br />
40<br />
20<br />
ab 2014 Prognose; Quelle: KPMG<br />
Gute Besserung<br />
Chinas Gesundheitssektor<br />
soll bis 2020<br />
auf eine Billion<br />
Dollar wachsen<br />
0<br />
2008 2010 2012 2014 2016<br />
oder Novartis, aber auch chinesische Arzneimittelhersteller.<br />
Seit über einem Jahr sitzt der 1888 gegründete<br />
Maschinenbauer mit 18 Leuten<br />
im Songjiang-Industriepark, etwa eine Autostunde<br />
<strong>vom</strong> Zentrum Shanghais entfernt<br />
– wenn kein Stau ist. So wie Automobilzulieferer<br />
die Nähe zu ihren Kunden suchen,<br />
folgte auch Pester seinen Abnehmern nach<br />
Fernost. Kundennähe ist für rund die Hälfte<br />
der deutschen Unternehmen der Hauptgrund,<br />
in China zu investieren.<br />
„Anfangs haben wir nur exportiert“, erzählt<br />
Thomas Pester, der das Unternehmen<br />
in vierter Generation führt. „2004 gründeten<br />
wir dann ein Vertriebsbüro. Damit<br />
wollten wir unseren Kunden zeigen: Wir<br />
sind hier vor Ort, wir kümmern uns und gehen<br />
auf die Bedürfnisse ein.“ Noch macht<br />
China nur fünf Prozent des Gesamtumsatzes<br />
von knapp 200 Millionen Euro im Jahr<br />
aus. Aber der Anteil soll zunehmen.<br />
BESSER ALS BARFUSS-DOKTOREN<br />
Denn die Chancen stehen gut, dass die<br />
Chinesen noch mehr Geld für Arzneimittel,<br />
Pillen und Medikamente ausgeben.<br />
„Die chinesischen <strong>Ausgabe</strong>n für Pharmazeutika<br />
werden bis 2015 zwischen 18 und<br />
20 Prozent wachsen“, prognostiziert Norbert<br />
Meyring, Partner und Pharma-Chef<br />
Asien bei der Beratung und Wirtschaftsprüfung<br />
KPMG in Shanghai.<br />
Zum einen wächst die Zahl der Menschen,<br />
die sich Arzneien leisten können.<br />
Großzügig geschätzt zählen bereits 700<br />
Millionen Menschen zur neuen Mittelschicht:<br />
Sie haben mehr Geld zur Verfügung,<br />
als sie zur Deckung ihrer Grundbedürfnisse<br />
benötigen.<br />
Nach der Mao-Ära, in der die Krankenversorgung<br />
für alle kostenlos war, aber oft<br />
eben auch nur den Besuch eines Barfuß-<br />
Doktors umfasste, litten in den Neunzigerjahren<br />
viele Chinesen unter den neuen<br />
marktwirtschaftlichen Bedingungen. Sie<br />
konnten sich keine Gesundheitsversorgung<br />
mehr leisten. Nach der Reform 2009<br />
haben immerhin 95 Prozent der Chinesen<br />
eine – wenn auch rudimentäre – Krankenversicherung,<br />
die etwa die Hälfte der Kosten<br />
übernimmt.<br />
Hinzu kommt: Schon heute sind 185<br />
Millionen Chinesen über 60 Jahre alt.<br />
Dem Land steht eine massive Überalterung<br />
bevor: 2010 kamen auf 100 Erwerbstätige<br />
elf alte Menschen, 2050 werden es<br />
42 sein, so eine Studie der Vereinten Nationen.<br />
Die Überalterung ist Folge der Ein-<br />
Kind-Politik.<br />
FOTO: REUTERS/CORBIS/DAVID GRAY<br />
82 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Zudem leben immer mehr Chinesen in<br />
Städten, momentan etwa 600 Millionen<br />
Menschen. Bis 2020 sollen es mehr als eine<br />
Milliarde sein. Sie bewegen sich oft weniger<br />
und ernähren sich ungesünder. Zivilisationskrankheiten<br />
nehmen zu. An Diabetes,<br />
einer Krankheit, die vor 30 Jahren in<br />
China quasi nicht existierte, leiden mehr<br />
als 90 Millionen Menschen. Bei der Beratung<br />
McKinsey geht man davon aus, dass<br />
die <strong>Ausgabe</strong>n für Gesundheit bis 2020 auf<br />
eine Billion Dollar anwachsen, das wären<br />
sieben Prozent der Wirtschaftsleistung.<br />
In absoluten Zahlen ist der Markt schon<br />
heute der größte der Welt mit Gesundheitsausgaben<br />
in Höhe von 385 Milliarden<br />
Dollar 2011. Und er wird weiter wachsen,<br />
denn die Pro-Kopf-<strong>Ausgabe</strong>n für Medikamente<br />
sind mit 35 Dollar im Jahr (Stand<br />
2009) noch immer sehr gering.<br />
Pester steht so für viele deutsche Mittelständler,<br />
die von Boombranchen in China<br />
profitieren. Von den rund 5000 dort ansässigen<br />
deutschen Unternehmen zählen<br />
rund 60 Prozent zum Mittelstand. Mit ihren<br />
Maschinen modernisieren sie die Wirtschaft.<br />
Menschliche Arbeitskräfte werden<br />
teurer und lohnen sich nicht mehr – in<br />
Shanghai stiegen die Löhne im vergangenen<br />
Jahr um elf Prozent. Immer mehr chinesische<br />
Unternehmen automatisieren<br />
deswegen ihre Produktion. Gleichzeitig<br />
werden die Qualitätsstandards strenger.<br />
Die Verpackungsindustrie ist traditionell<br />
stark in Schweden, Deutschland und Italien.<br />
Die chinesischen Mitbewerber holen<br />
zwar auf. „Aber unsere Qualität ist einfach<br />
besser“, sagt Werksleiter Butler. „60 Verpackungen<br />
kann eine Pester-Maschine in der<br />
Minute bündeln. „Unsere lokalen Konkurrenten<br />
schaffen höchstens 25.“<br />
GLOBAL PLAYER GESUCHT<br />
Butler ist seit 15 Jahren in China und in der<br />
Branche ein Veteran. Der gebürtige Brite<br />
hält hohe Qualität für den größten Wettbewerbsvorteil.<br />
„Über den Preis kann kaum<br />
ein ausländisches Unternehmen mit einheimischen<br />
konkurrieren.“ Um den Vorteil<br />
zu halten, importieren die Allgäuer Schlüsselkomponenten<br />
aus Deutschland. Denn,<br />
so Butler: „Wer nach China geht, muss damit<br />
rechnen, kopiert zu werden.“<br />
Momentan spielt die Marktstruktur dem<br />
Mittelständler in die Hände. Chinas Pharmabranche<br />
ist mit mehr als 5000 Anbietern<br />
extrem fragmentiert. Die Regierung will<br />
das ändern: Wie in der Autoindustrie hätte<br />
Peking lieber einige wenige Global Player.<br />
Über neue Regularien, den „Goods Manufacturing<br />
Standards“, kurz GMS, will die<br />
Regierung zwar in erster Hinsicht die Qualität<br />
der Produkte erhöhen. Sie haben aber<br />
den Nebeneffekt, dass kleinere Mitbewerber<br />
aus dem Markt gedrängt werden.<br />
So hat Peking 2013 ein Track-and-Trace-<br />
System für Medikamente vorgeschrieben,<br />
das die Herkunft jeder Charge nachweisen<br />
kann. Viele chinesische Mitbewerber können<br />
da nicht mithalten. „Unsere Maschinen<br />
sind darauf eingestellt“, sagt Butler und<br />
geht hinüber in die Lagerhalle.<br />
Eine gelbe Linie auf dem Boden teilt den<br />
Raum. Rechts stehen Pester-Maschinen,<br />
links die eines anderen Herstellers. Pester<br />
teilt sich die Fabrikhalle mit Multivac, einem<br />
Verpackungsmaschinenbauer für die<br />
Lebensmittelindustrie. Konkurrenten sind<br />
die Unternehmen also nicht, sondern beide<br />
sparen so Kosten. Zusammengefunden<br />
haben sie im fernen China nach dem Motto<br />
„Die Welt ist klein“: Beide kommen aus<br />
demselben Dorf im Allgäu.<br />
n<br />
philipp.mattheis@wiwo.de | Shanghai<br />
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Expansion mit<br />
Finanzinvestoren<br />
Internetstores verkauft<br />
Fahrräder und<br />
Campingartikel<br />
Kapital plus Köpfchen<br />
Private-Equity-Häuser können Mittelständlern bei der Finanzierung von Übernahmen helfen.<br />
Wie das funktioniert, beschreibt die zweite Folge einer sechsteiligen Serie der WirtschaftsWoche in<br />
Kooperation mit der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft Deloitte.<br />
René Marius Köhler hat geschafft, wovon viele<br />
Mittelständler träumen: Er hat das elterliche<br />
Unternehmen in das digitale Zeitalter geführt.<br />
Aus einem traditionellen Fahrradhandel in Stuttgart<br />
machte er einen florierenden Internet-Anbieter. Auf<br />
Online-Plattformen wie fahrrad.de, Bruegelmann.de<br />
oder Campz.de vertreibt Köhlers Unternehmen Internetstores<br />
nicht nur Fahrräder und Ersatzteile, sondern<br />
auch Outdoor-Kleidung und Campingzubehör<br />
an Kunden in ganz Europa. Für dieses Jahr erwartet<br />
Köhler einen Umsatz von knapp 130 Millionen Euro.<br />
Als der damals 20-Jährige 2003 anfing, das Sortiment<br />
seiner Eltern online anzubieten, lag der Jahresumsatz<br />
des Stuttgarter Geschäfts bei gerade mal 1,5<br />
Millionen Euro. Seine Eltern seien skeptisch gewesen,<br />
erinnert sich Köhler, zumal er allein für den Kauf der<br />
Internet-Domain fahrrad.de mehr als 40 000 Euro<br />
zahlen musste: „Für meine Eltern war es abwegig, so<br />
viel Geld in den Online-Handel zu investieren.“ Eine<br />
Million allerhöchstens werde er damit langfristig umsetzen,<br />
so die pessimistische Prognose des Seniors.<br />
Dass die Kalkulation von Köhler junior aufging,<br />
liegt nicht zuletzt daran, dass sich private Kapitalgeber<br />
an seinem Unternehmen beteiligten: die deutschen<br />
Internet-Unternehmer Marc, Oliver und Alexander<br />
Samwer mit ihrer Holding Rocket Internet<br />
übernahmen 2008 einen Anteil von 20 Prozent an In-<br />
SERIE<br />
Mittelstand<br />
Fit for Future<br />
Fusionen & Übernahmen<br />
Der richtige Partner (I)<br />
Finanzinvestoren (II)<br />
Finanzierung (III)<br />
Osteuropa/Asien (IV)<br />
Integration (V)<br />
Interview (VI)<br />
ternetstores. Vier Jahre später verkauften sie ihren<br />
Anteil an die schwedische Private-Equity-Gesellschaft<br />
EQT. Mit deren Unterstützung hat Köhler den<br />
schwedischen Outdoor-Händler Addnature übernommen<br />
– für umgerechnet rund 25 Millionen Euro.<br />
Anteile am eigenen Unternehmen an eine Beteiligungsgesellschaft<br />
verkaufen, um mit frischem Kapital<br />
eine andere Firma zu übernehmen? Was auf den ersten<br />
Blick paradox anmuten mag, ist für Karsten Hollasch<br />
völlig normal. Hollasch ist Partner Transaction<br />
Advisory Services beim Prüfungs- und Beratungsunternehmen<br />
Deloitte, mit deren finanzieller Unterstützung<br />
die WirtschaftsWoche eine Serie über Fusionen<br />
und Übernahmen im Mittelstand veröffentlicht.<br />
„Private-Equity-Gesellschaften sind gute Partner,<br />
um Übernahmen zu tätigen, weil sie aufgrund ihrer<br />
Erfahrungen in verschiedensten Industrien mehr als<br />
nur Kapital zur Verfügung stellen können“, sagt Hollasch.<br />
„Sie bieten auch Know-how und können so<br />
den meisten Mittelständlern bei der Suche nach geeigneten<br />
Übernahmekandidaten helfen.“<br />
So lief es auch bei Internetstores. Den Plan für die<br />
Expansion haben EQT und Internetstores gemeinsam<br />
ausgetüftelt. „EQT hat anschließend seine Netzwerke<br />
in Schweden genutzt und den Kontakt zur Firma<br />
Addnature hergestellt“, sagt Michael Föcking, der<br />
bei EQT für die Beteiligung an Internetstores verant-<br />
FOTOS: LAIF/BERTHOLD STEINHILBER, PR; ILLUSTRATION: KRISTINA DÜLLMANN<br />
84 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Mit Unterstützung von Deloitte*<br />
wortlich ist. Außerdem hat die Private-Equity-Gesellschaft<br />
zusätzliche Millionen investiert, um die Übernahme<br />
von Addnature zu finanzieren.<br />
Doch Kapital und Köpfchen gibt es nicht zum Nulltarif.<br />
Während stille Teilhaber damit zufrieden sind,<br />
wenn regelmäßig Gewinnanteile ausgeschüttet werden,<br />
nehmen klassische Private-Equity-Gesellschaften<br />
direkten Einfluss auf die Führung des Unternehmens.<br />
Das zu akzeptieren fällt gerade mittelständischen<br />
Unternehmen nicht immer leicht. „Viele Mittelständler,<br />
die etwas ,mit eigener Hand‘ aufgebaut<br />
haben, befürchten, dass ihr Unternehmen nach der<br />
Übernahme eine negative Entwicklung nehmen<br />
könnte“, sagt Hollasch.<br />
Auch Köhler kann bei Internetstores nicht mehr<br />
komplett frei walten und schalten. Er muss etwa für<br />
jedes Geschäftsjahr einen Budgetplan vorlegen, den<br />
der Beirat des Unternehmens genehmigen muss.<br />
„Das Budget gibt vor, wie viel für konkrete Themen<br />
ausgegeben werden darf“, sagt Investmentmanager<br />
Föcking, der im Beirat die EQT-Interessen vertritt.<br />
Köhler kann damit leben: „Mit Private-Equity-Partnern<br />
kann in kurzer Zeit sehr viel bewegt werden.“<br />
Diese pragmatische Einstellung zu Investmentgesellschaften,<br />
die in der Öffentlichkeit noch immer<br />
häufig als Heuschrecken gescholten werden, teilt der<br />
31-Jährige mit vielen anderen Familienunternehmern.<br />
Der Grund: Sie haben häufig keine andere<br />
Wahl. Soll die von den Eltern übernommene Firma<br />
überleben, muss sie wachsen und braucht dazu mangels<br />
eigener Masse das Geld von Investoren. Das gilt<br />
vor allem beim Schritt in die digitale Zukunft.<br />
„Private Kapitalgeber sind für Internet-Unternehmen<br />
häufig unverzichtbar, weil der normale Kapitalmarkt<br />
nicht in gewohnter Weise zur Verfügung steht“,<br />
sagt Tobias Kollmann, Professor für E-Business und<br />
E-Entrepreneurship an der Universität Duisburg-<br />
Essen. Das Geschäftsmodell von Firmen wie Internetstores<br />
sei klassischen Banken, die Geld in der Regel<br />
nur gegen klassische Sicherheiten wie Immobilien<br />
oder Inventar verleihen, immer noch schwer vermittelbar.<br />
„Das liegt zum Beispiel daran, dass es viele<br />
immaterielle Vermögenswerte gibt, wie etwa Markenbekanntheit<br />
oder Reichweite“, sagt Kollmann. Die<br />
traditionellen Risikoberechnungen der Banker funktionierten<br />
im Internet-Zeitalter nicht mehr.<br />
STÄRKERE VERHANDLUNGSPOSITION<br />
Zudem sind viele Banken nach der Finanzkrise vorsichtiger<br />
bei der Kreditvergabe geworden. Nach dem<br />
Mittelstandspanel der staatlichen deutschen Förderbank<br />
KfW sind die durch Fremdkapital finanzierten<br />
Investitionen deutscher Mittelständler zwischen 2009<br />
und 2012 nur um 3,5 Prozent gestiegen. Für 2013 liegen<br />
noch keine genauen Zahlen vor, die KfW-Marktforscher<br />
rechnen jedoch mit einem leichten Rückgang.<br />
Für Online-Unternehmer wie Fahrradhändler<br />
Köhler ist schnelles Wachstum aber existenziell,<br />
wenn sie möglichst als Erster neue ausländische<br />
Online-<br />
Händler<br />
brauchen<br />
schnelles<br />
Geld für ihr<br />
Wachstum<br />
Private-Equity-Freund<br />
Deloitte-Berater<br />
Hollasch hilft bei der<br />
Suche nach Partnern<br />
Wachsen mit<br />
Heuschrecken<br />
Umsatzentwicklung<br />
von Internetstores<br />
(in Millionen Euro)<br />
150<br />
120<br />
90<br />
60<br />
30<br />
2008 2014<br />
Quelle: Unternehmensangaben<br />
Märkte erobern wollen. Dafür brauchen sie schnell<br />
Geld. Die Private-Equity-Investitionen in den<br />
deutschen Mittelstand haben sich darum im selben<br />
Zeitraum mehr als verdoppelt.<br />
Der starke Einfluss der Private-Equity-Investoren<br />
hat für Mittelständler eine weitere positive Nebenwirkung:<br />
Er stärkt ihre Verhandlungsposition. „Im<br />
Moment ist der M&A-Markt ein Verkäufermarkt“, sagt<br />
Deloitte-Berater Hollasch. Zum Vorteil der Verkäufer:<br />
„Für ein vernünftiges Zielunternehmen wird sich<br />
stets mehr als ein Investor interessieren.“<br />
Die Gefahr, dass Mittelständler Unternehmensanteile<br />
unter Wert verscherbeln müssen, ist deshalb<br />
derzeit gering. Das dürfte nach Hollaschs Überzeugung<br />
auch noch einige Zeit so bleiben. „Die Private-<br />
Equity-Branche und ein hohes Maß an verfügbarem<br />
Beteiligungskapital ist einer der Treiber des<br />
M&A-Marktes“, sagt der Deloitte-Berater. In Zeiten<br />
niedriger Zinsen hätten Renten- und Pensionsfonds<br />
viele Milliarden in die Beteiligungsgesellschaften<br />
investiert. „Auch deswegen ist zu erwarten, dass<br />
die Zahl der Transaktionen in diesem Jahr weiter<br />
steigen wird.“<br />
WEITERE AUSLANDSEXPANSION GEPLANT<br />
Erfolgreich werden die allerdings nur dann, wenn die<br />
verkaufsbereiten Unternehmer an den richtigen Private-Equity-Partner<br />
geraten. Das wichtigste Kriterium:<br />
Der Investor muss Ahnung von der jeweiligen<br />
Branche haben, denn nur dann kann das Unternehmen<br />
<strong>vom</strong> Know-how des Kapitalgebers profitieren.<br />
In aller Regel haben die verkaufswilligen Unternehmer<br />
es mit ausgebufften Profis zu tun, häufig noch<br />
verstärkt durch Berater. Mittelständler, die sich nur<br />
auf die eigene Erfahrung verlassen, können dann<br />
leicht ins Hintertreffen geraten. „Es reicht nicht, nur<br />
mit dem langjährigen Steuerberater in solche Verhandlungen<br />
zu gehen, besser ist es, zusätzlich einen<br />
erfahrenen Transaktionsberater einzuschalten“, rät<br />
Deloitte-Partner Hollasch. Der könne zum Beispiel<br />
dabei helfen, Regeln zu formulieren, bei denen der<br />
Mittelständler nicht über den Tisch gezogen wird.<br />
Auch Köhler hatte 2012 die Wahl zwischen mehreren<br />
Interessenten, die bei Internetstores einsteigen<br />
wollten. Ausschlaggebend für die Partnerwahl waren<br />
nicht nur finanzielle Kriterien. „Wir haben uns nicht<br />
für den Investor entschieden, der das Unternehmen<br />
am höchsten bewertet hat, auch die Chemie sollte<br />
stimmen“, erinnert sich Köhler. „Ich wollte nicht, dass<br />
da Revolverhelden am Tisch sitzen.“<br />
Bereut hat der Stuttgarter seine Entscheidung<br />
nicht. Der Online-Handel habe noch riesige Zuwachsraten,<br />
auch das Fahrrad- und Outdoor-Geschäft<br />
sieht Köhler langfristig positiv. Darum will er<br />
weiter in das europäische Ausland expandieren. n<br />
benedikt müller | unternehmen@wiwo.de<br />
* Die Inhalte auf diesen Seiten wurden von der<br />
WirtschaftsWoche redaktionell unabhängig erstellt.<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 85<br />
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Technik&Wissen<br />
iPhone auf Rezept<br />
MEDIZIN | Apple, Google und Co. greifen Ärzte, Pharmakonzerne und Versicherer<br />
an. Sie wollen uns helfen, gesünder zu leben und Krankheiten zu besiegen. Leeres<br />
Versprechen oder Aufbruch in eine neue Dimension des Heilens?<br />
Jetzt ist es wieder so weit: Zum Beginn<br />
des Schuljahrs marschieren<br />
aufgeregte Erstklässler an der<br />
Hand ihrer Eltern in die Lehranstalten<br />
– riesige Tüten voller Süßigkeiten<br />
und Spielzeug stolz an sich gepresst.<br />
Unter den quirligen Sechsjährigen<br />
findet sich in fast jeder Klasse einer, der ein<br />
buntes Pflaster auf einem Auge trägt. Dem<br />
Gesunden wohlgemerkt, denn das andere,<br />
schwächere soll trainiert werden.<br />
Kein Kind mag so ein Pflaster. Damit die<br />
Jungen und Mädchen es schneller loswerden,<br />
können sie jetzt das tun, was sie eh<br />
schon allzu gerne machen: mit dem<br />
Smartphone ihrer Eltern spielen. Möglich<br />
macht das eine neue App, ein digitales Memory,<br />
bei dem sie Paare von Löwen oder<br />
Krokodilen finden müssen. Nur der Hintergrund<br />
sieht anders aus als gewohnt: Die<br />
grau-schwarzen Farbübergänge wirken<br />
unruhig, irritierend.<br />
Das ist Absicht: „Das Muster regt die Augen<br />
an“, erklärt Markus Müschenich. Der<br />
gelernte Kinderarzt hat das Berliner Startup<br />
Caterna Vision mitfinanziert, das die<br />
App entwickelt hat. „Das ist Software als<br />
Medizin“, sagt er begeistert. Die App gibt es<br />
seit Kurzem sogar auf Rezept, die Krankenkasse<br />
Barmer GEK übernimmt die<br />
Kosten.<br />
Für die Kinder, die mit dem Programm<br />
spielen, wird etwas ganz normal sein, was<br />
für die meisten Erwachsenen heute noch<br />
unvorstellbar ist: Ein Smartphone hilft ihnen,<br />
gesund zu werden. Geht es nach dem<br />
Willen von Apple-Chef Tim Cook, wird das<br />
künftig Alltag sein. Er will das neue iPhone<br />
6, das er voraussichtlich am kommenden<br />
Dienstag vorstellen wird (siehe Kasten Seite<br />
Durchbruch zur Cybermedizin<br />
So schnell soll der Markt für digitale<br />
Gesundheit wachsen (in Milliarden Dollar)<br />
250<br />
200<br />
150<br />
100<br />
50<br />
0<br />
61<br />
136<br />
233<br />
2013 2017 2020<br />
Quelle: Unternehmensberatung Arthur D. Little<br />
Tragbare Sensoren<br />
(Wearables)<br />
Elektronische<br />
Gesundheitsakte<br />
Mobile Anwendungen<br />
(Apps)<br />
Telemedizin<br />
(Fernbehandlung)<br />
Andere Bereiche<br />
Videos<br />
In unserer App-<br />
<strong>Ausgabe</strong> finden<br />
Sie Links und<br />
Videos zur<br />
digitalen Medizin<br />
90), zur Schaltzentrale einer neuen,<br />
digitalen Medizin machen,<br />
zum iDoc. Auf dem Gerät ist die<br />
App Healthbook vorinstalliert, so<br />
wie bald auch auf all den anderen<br />
Abermillionen Telefonen und<br />
iPads, die der Konzern verkauft.<br />
Wie eine digitale Patientenakte<br />
bündelt das Programm die Daten<br />
elektronischer Schrittzähler, Pulsmesser<br />
und anderer tragbarer Sensoren, den Wearables,<br />
mit denen heute immer mehr Menschen<br />
ihre Fitness und ihren Gesundheitszustand<br />
überwachen. Zusammen mit Infos<br />
zur Ernährung, Ergebnissen von Labortests<br />
bis hin zu Röntgenbildern entsteht ein so<br />
detailliertes Bild <strong>vom</strong> Menschen wie nie zuvor<br />
in der Geschichte der Medizin.<br />
Apple ist nicht allein. Google und die anderen<br />
Tech-Giganten schicken sich gemeinsam<br />
mit Hunderten frechen, ideenreichen<br />
Start-ups ebenfalls an, den<br />
Medizinmarkt von Grund auf umzukrempeln.<br />
So wie es zuvor der<br />
Musikbranche, den Medien, dem<br />
Filmgeschäft ergangen ist. Gemeinsam<br />
ist allen digitalen Praxisstürmern,<br />
dass sie das Smartphone<br />
zum Hausarzt in der Hosentasche<br />
machen wollen. Einen allgegenwärtigen<br />
Gesundheitsberater, der uns<br />
von der Wiege bis ins hohe Alter begleitet<br />
(siehe Bilderstrecke ab Seite 88). Der uns<br />
mithilfe eines funkenden Sensorpflasters<br />
etwa vor dem drohenden Herzinfarkt<br />
warnt;der per Kontaktlinse den Blutzuckerspiegel<br />
bestimmt und die Pumpe steuert,<br />
die Diabetiker mit Insulin versorgt; oder der<br />
mit der Handykamera Hautkrebs aufspürt.<br />
DER PATIENT WIRD MÜNDIG<br />
Wirklich wertvoll aber werden all die Informationen<br />
erst, wenn sie in die Daten-<br />
Cloud wandern. Super-Rechner wie der<br />
Watson von IBM oder die Hana-Hochleistungssysteme<br />
von SAP werten die Messwerte<br />
in bester Big-Data-Manier aus. Sie<br />
vergleichen die Informationen nahezu in<br />
Echtzeit mit den aktuellsten Forschungsergebnissen<br />
aus allen Winkeln der Erde und<br />
liefern so fundierte Diagnosevorschläge,<br />
wie das nie zuvor möglich war. Kein Arzt<br />
kann so viel Wissen überblicken.<br />
Wir werden gerade Augenzeuge, wie ein<br />
neuer Milliardenmarkt der digitalen Medizin<br />
entsteht, von dem Apple, Google und<br />
Co. einen möglichst großen Teil haben<br />
wollen. Die Pharmabranche, die Medizintechnikkonzerne<br />
und nicht zuletzt die Ärzte<br />
müssen sich auf die Zerstörung ihrer traditionellen<br />
Geschäftsmodelle einstellen<br />
»<br />
ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS<br />
86 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 87<br />
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Technik&Wissen<br />
1<br />
»<br />
iSprung<br />
Apps berechnen anhand der<br />
Körpertemperatur den richtigen<br />
Moment, um schwanger zu werden.<br />
– auch in Deutschland, wo es trotz aller<br />
verkrusteten Strukturen bereits eine bunte<br />
Start-up-Szene gibt.<br />
Nicht mehr die Halbgötter in Weiß sammeln<br />
und verwalten die Informationen<br />
über unsere Gesundheit, so wie es die vergangenen<br />
Jahrhunderte der Fall war. Immer<br />
häufiger werden die Mediziner es mit<br />
hervorragend informierten Patienten zu<br />
tun haben. Die im Extremfall mit einer fertigen<br />
Diagnose aus dem Internet in die Praxis<br />
kommen und sich nur noch das passende<br />
Medikament verschreiben lassen wollen.<br />
Der Arzt wird weniger der Heiler sein<br />
als Berater, der seinen – gelegentlich auch<br />
überforderten – Patienten hilft, im Wust<br />
der Körperdaten und Diagnosen den Überblick<br />
zu behalten (siehe Interview Seite 94).<br />
ANGRIFF DER TECH-GIGANTEN<br />
Ein Hotspot der Entwicklung ist – natürlich<br />
– das Silicon Valley, die produktivste IT-<br />
Schmiede der Welt. Mitten drin sitzt Apple.<br />
Das Motiv von Konzernchef Cook ist, in die<br />
Medizinbranche einzusteigen: Er will seine<br />
Kunden noch enger an sich binden. Wer all<br />
seine Gesundheitsdaten auf dem iPhone<br />
gespeichert hat, wem das Gerät geholfen<br />
hat, fitter, schlanker oder gesünder zu werden,<br />
der wird nicht zur Konkurrenz abwandern,<br />
so die Idee. Und Cook will sich natürlich<br />
den Zugang zu einem Megamarkt sichern,<br />
bei all den neuen Apps mitverdie-<br />
DOPPELGÄNGER IM DIGITALEN<br />
In Europa ist der SAP-Konzern einer der<br />
Pioniere, sonst eher für Unternehmenssoftware<br />
bekannt. Die Walldorfer haben<br />
mit ihrer Hana-Technologie eine Plattform<br />
entwickelt, große Datenbanken effizient<br />
und enorm schnell zu durchforsten. Forciert<br />
von Mitgründer und Aufsichtsratschef<br />
Hasso Plattner, übertragen sie dieses<br />
Know-how nun auf die Medizin. Eines der<br />
ehrgeizigsten Projekte haben die SAP-Entwickler<br />
zusammen mit dem Genomforscher<br />
Hans Lehrach <strong>vom</strong> Berliner Max-<br />
Planck-Institut für molekulare Genetik gestartet.<br />
Sie analysieren detailliert die Genaktivität<br />
von Zellen einzelner Patienten<br />
und entwerfen so einen digitalen Doppelgänger.<br />
An ihm testen sie – mithilfe aufnen.<br />
Bis 2020 soll sich das Geschäft mit<br />
–der digitalen Medizin von 60 auf 233 Milliarden<br />
Dollar fast vervierfachen, schätzt die<br />
Beratung Arthur D. Little (siehe Grafik<br />
Seite 86).<br />
Diese Wachstumsraten locken auch die<br />
Finanzinvestoren. Der aus Deutschland<br />
stammende Wagniskapitalgeber Peter<br />
Thiel, spätestens seit seiner Beteiligung an<br />
Facebook eine Legende im Silicon Valley,<br />
hat zum Beispiel mit seinem Unternehmen<br />
Founders Fund Millionen in mehr als zehn<br />
Medizin-Start-ups gesteckt, darunter die<br />
Gesundheits-App Azumio und den Arzttermin-Service<br />
ZocDoc. Insgesamt zwei<br />
Milliarden Dollar sammelte die Branche<br />
2013 in den USA ein, berichtet der amerikanische<br />
Wagniskapitalgeber Rock Health.<br />
Viele der so finanzierten Start-ups erhoffen<br />
sich durch Apples Einstieg zusätzlichen<br />
Schub. Denn der Konzern hat schon mehrmals<br />
mit seinen benutzerfreundlichen<br />
Apps und Geräten ganze Branchen ins digitale<br />
Zeitalter katapultiert. Die Vision der<br />
Macher in Cupertino: Bald sollen wir unsere<br />
Gesundheit so einfach checken wie die<br />
Uhrzeit. Am besten mit der sagenumwobenen<br />
iWatch. Über die Fähigkeiten dieser<br />
Computeruhr als Fitness-Tracker und Medizin-Sensor<br />
hat die Tech-Szene während<br />
der vergangenen Monate heftig spekuliert.<br />
Sicher ist: Apple arbeitet bereits mit verschiedenen<br />
Krankenhäusern in den USA<br />
zusammen, darunter den renommierten<br />
Mayo-Kliniken. Künftig, so der Plan, sollen<br />
Ärzte über das Healthbook Fernzugriff auf<br />
ausgewählte Daten bekommen, die Wearables<br />
wie die iWatch liefern. „Mithilfe der<br />
App können Ärzte ungewöhnliche Messwerte<br />
früh erkennen“, sagt John Wald, medizinischer<br />
Direktor von Mayo Clinic, dem<br />
Betreiber der Kliniken.<br />
Wo Apple sich engagiert, ist Google nicht<br />
weit. Das Konkurrenzprodukt zum Healthbook<br />
hat der Suchmaschinenriese bereits<br />
vorgestellt. Google Fit soll die Medizinzentrale<br />
der Android-Handys werden. Um die<br />
Super-Rechner<br />
haben mehr<br />
medizinisches<br />
Wissen parat<br />
als jeder Arzt<br />
2 Baby-Fon<br />
Das Handy speichert Ultraschallbilder;<br />
ein Funk-Diaphragma meldet,<br />
wenn eine Frühgeburt droht.<br />
Messwerte der tragbaren Körpersensoren<br />
besser interpretieren zu könnten, betreibt<br />
der Konzern sogar medizinische Grundlagenforschung:<br />
Im Rahmen seines Projekts<br />
Baseline untersuchen Ärzte jeden Winkel<br />
der Körper von mehreren Hundert Freiwilligen,<br />
später sollen es sogar Tausende werden.<br />
Die Experten vermessen Organe, analysieren<br />
Gene, bestimmen Blutwerte. Der<br />
Ozean von Daten hilft Google, präziser zu<br />
entscheiden, welche Werte normal und<br />
welche ein Warnzeichen sind. Die Analyse<br />
riesiger Mengen von Bits und Bytes ist<br />
schließlich die Stärke des Konzerns.<br />
ILLUSTRATIONEN: THOMAS FUCHS<br />
88 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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3<br />
Pollen-Prüfer<br />
Blutgruppe, Allergien, Infektionen –<br />
das Handy speichert alle Daten, es<br />
meldet Pollenflug und Impftermine.<br />
wendiger Computersimulationen – verschiedene<br />
Krebsmedikamente, um das am<br />
besten wirkende Mittel zu finden. Für Tumorpatienten<br />
kann das eine Frage über Leben<br />
oder Tod sein. Bis es so weit ist, werden<br />
aber noch etliche Jahre vergehen.<br />
Deutlich schneller könnte es mit einem<br />
Medizinprojekt gehen, dessen Vorbild ausgerechnet<br />
aus der Science-Fiction-Serie<br />
„Star Trek“ stammt: dem Tricorder. Mit<br />
dem Gerät konnte Mannschaftsarzt Leonard<br />
McCoy – Spitzname Pille – auf dem<br />
Raumschiff Enterprise Kranke abscannen<br />
und so herausfinden, woran sie litten.<br />
Solch eine Technik soll es bereits in weniger<br />
als zwei Jahren als erste Prototypen auf<br />
der Erde geben. Das jedenfalls ist das Ziel<br />
eines Wettbewerbs, den die gemeinnützige<br />
X-Prize-Stiftung in den USA ausgelobt hat.<br />
Zehn Teams sind in der engeren Auswahl<br />
und wetteifern um Preisgelder von insgesamt<br />
zehn Millionen Dollar.<br />
Um zu gewinnen, müssen die Kontrahenten<br />
ein tragbares Minilabor bauen, das<br />
15 Krankheiten erkennt, darunter Diabetes,<br />
Hepatitis A, Tuberkulose oder einen<br />
Schlaganfall. Die meisten von ihnen lassen<br />
sich heute nur durch professionelle Untersuchungen<br />
des Bluts, der Haut oder der<br />
Lungen nachweisen. Künftig soll das mit<br />
Teststreifen, Infrarot-Thermometer, Kamera,<br />
Spektrometer und anderen Sensoren<br />
des Tricorders jedermann selbst können.<br />
Die Technik, so sie denn eines Tages<br />
funktioniert, soll unzählige überflüssige<br />
Praxisbesuche vermeiden, hoffen die<br />
X-Prize-Ausrichter. Statt wie heute bei Fieber<br />
zum Arzt gehen zu müssen, liefert<br />
künftig eine kleine Box, verbunden etwa<br />
mit dem iPhone, die Diagnose – das es<br />
dann womöglich auf Rezept gibt. Es entscheidet,<br />
was der Erkrankte tun soll. Niemand<br />
muss dann mehr stundenlang mit<br />
anderen Patienten im Wartezimmer sitzen.<br />
Besorgte Eltern können sich und ihren<br />
kränkelnden Kindern den Weg zum Kinderarzt<br />
sparen, wenn der Tricorder die Erkältung<br />
des Sprößlings als harmlos eingestuft<br />
hat – und es erst einmal mit Hausmitteln<br />
versuchen.<br />
Dieser High-Tech-Angriff von Apple,<br />
Google und Co. auf den Gesundheitsmarkt<br />
könnte eine heilsame Nebenwirkung haben:<br />
Er könnte die verkrusteten und hochregulierten<br />
Strukturen sprengen. Mit denen<br />
nicht nur viele Patienten höchst unzufrieden<br />
sind, sondern auch viele der Ärzte.<br />
Es wäre an der Zeit. Denn bisher blockte<br />
die Gesundheitslobby jeden Versuch ab,<br />
die allumfassende Weisheit der Mediziner<br />
infrage zu stellen. Gerade in Deutschland<br />
waren die Verbandsfürsten als Hüter des<br />
Traditionalismus damit sehr erfolgreich.<br />
TELEMEDIZIN STATT ÄRZTEMANGEL<br />
Die Folge: Was die Nutzung von E-Health,<br />
wie die digitale Medizin auch genannt<br />
wird, durch Allgemeinmediziner angeht,<br />
liegt Deutschland heute gerade im hinteren<br />
Mittelfeld, so eine Studie der Europäischen<br />
Union. Um genau zu sein auf Rang<br />
18, weit abgeschlagen hinter Vorreitern wie<br />
Dänemark, Spanien oder Estland.<br />
Dabei könnten telemedizinische Behandlungen<br />
in Deutschland den Ärztemangel<br />
lindern, der zu langen Wartelisten<br />
für Operationen und zu überfüllten Arztpraxen<br />
führt. Sie könnten chronisch Kranken<br />
den mühsamen Weg zum Arzt ersparen.<br />
Auch daher will Gesundheitsminister<br />
Bald checken<br />
wir unsere<br />
Gesundheit<br />
so einfach wie<br />
die Uhrzeit<br />
4 Fress-Feind<br />
Das Handy registriert Gewicht, Ernährung,<br />
Schlaf, Bewegungen und<br />
gibt persönliche Verhaltenstipps.<br />
Hermann Gröhe (CDU) spätestens bis Ende<br />
dieses Jahres ein passendes Gesetz auf<br />
den Weg bringen – nachdem sich in der vor<br />
Kurzem mit viel Getöse verkündeten Digitalen<br />
Agenda der Bundesregierung nur wenig<br />
zum Thema E-Health fand. In der Szene<br />
ist aber die Angst groß, dass von den<br />
Maßnahmen wie bei der elektronischen<br />
Gesundheitskarte, die vor acht Jahren an<br />
den Start ging, nicht viel übrig bleibt.<br />
Die Karte sollte ein Vorzeigeprojekt werden.<br />
Mit ihr sollten Ärzte und Patienten<br />
einfacher auf Bluttests oder Verschreibungen<br />
zugreifen können. Doppeluntersuchungen<br />
und Todesfälle, weil Patienten<br />
nicht zueinander passende Pillen eingenommen<br />
haben, wären passé gewesen.<br />
Doch es kam ganz anders, „weil immer<br />
irgendjemand ein Problem sah“, erinnert<br />
sich Medizin-Investor Müschenich, damals<br />
noch Vorstandsmitglied eines großen<br />
deutschen Krankenhauskonzerns. Neben<br />
Sorgen um den Datenschutz war es vor allem<br />
die Transparenz, die Mediziner, Kassen<br />
und Kliniken fürchteten. Denn durch<br />
die Karte wären ihre Leistungen kontrollierbar<br />
und vergleichbar geworden. Doch<br />
das deutsche Gesundheitswesen sollte Angebote<br />
und Technik in der 2005 eigens gegründeten<br />
Gesellschaft für Telematikanwendungen<br />
der Gesundheitskarte (Gematik)<br />
im Konsensverfahren selbst organisieren.<br />
So schafften es die Beteiligten, quasi<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 89<br />
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Technik&Wissen<br />
5 Fitness-Coach<br />
Sensoren und Apps im Handy<br />
vermessen jede Trainingseinheit und<br />
ersetzen den persönlichen Trainer.<br />
»<br />
alle medizinisch wichtigen und zukunftweisenden<br />
Ideen auszubremsen.<br />
Dabei hat allein die Gematik nach Angaben<br />
der Kassen bis heute rund eine Milliarde<br />
Euro verschlungen. Hinzu kommen<br />
Millionen an Investitionen, die Medizintechnikkonzerne<br />
wie Siemens oder Philips<br />
in das einst so ehrgeizige Projekt gesteckt<br />
haben – bisher ohne großen Erfolg. Mittlerweile<br />
hat Siemens sogar den Verkauf seiner<br />
Sparte für Krankenhaus-IT angekündigt.<br />
Die Konzerne ziehen sich zurück aus dem<br />
unsteten Geschäftsfeld. Letztlich sind nur<br />
Insellösungen entstanden.<br />
AUFBRUCH IN DEUTSCHLAND<br />
Müschenich erkannte damals, dass er<br />
selbst als Krankenhausvorstand wenig bewegen<br />
kann. Anfang 2012 kündigte er seinen<br />
alten Job. Er gründete die Start-up-Manufaktur<br />
Flying Health und nebenher den<br />
Bundesverband Internetmedizin. Die Zeit<br />
war reif: „Das deutsche Gesundheitswesen<br />
hat die Wünsche seiner Kunden über Jahre<br />
ignoriert“, sagt Müschenich, „und den<br />
Markt bereitet für junge Unternehmen mit<br />
geradezu respektlosen Ideen.“ Ganz gleich,<br />
ob Arztbewertungsportale, Videosprechstunden<br />
oder Übersetzungsservice für unverständliche<br />
Arztbriefe – die Start-ups geben<br />
den Menschen Werkzeuge in die<br />
Hand, um endlich als mündige Patienten<br />
ihren Ärzten gegenüberzutreten.<br />
»<br />
APPLE<br />
Tricorder am<br />
Handgelenk<br />
Zeigt Konzernchef Tim Cook endlich<br />
die iWatch? Sie gilt als entscheidendes<br />
Element seiner Medizinoffensive.<br />
Den 9. September haben sich zahllose<br />
Technikfans im Kalender markiert. Denn<br />
an diesem Dienstag stellt Apple im heimischen<br />
Cupertino seine neuesten Produkte<br />
vor. Dann wird Konzernchef Tim Cook, so<br />
sich denn die Gerüchte bewahrheiten,<br />
nicht nur mit dem iPhone 6 die jüngste<br />
Smartphone-Generation präsentieren –<br />
sondern auch eine Computeruhr. Der US-<br />
Blog , den die im Silicon Valley<br />
bestens verdrahtete Technikjournalistin<br />
Kara Swisher führt, ist sicher: „Apple wird<br />
ein neues tragbares Gerät zeigen.“<br />
Eine smarte Uhr an sich wäre nichts<br />
Neues. Schließlich haben Samsung, LG<br />
und Co. längst eine Armada solcher Geräte<br />
auf den Markt gebracht, auf denen ihre<br />
Nutzer SMS oder Routeninfos ablesen.<br />
Um Aufsehen zu erregen, müsste Apple<br />
schon eine revolutionäre Uhr erfinden, eine<br />
Zeitmaschine, die uns in eine Science-<br />
Fiction-Welt katapultiert.<br />
Und so halten sich die Gerüchte, dass<br />
Apple an nicht weniger als einem Gesundheitsscanner<br />
fürs Handgelenk arbeitet,<br />
ähnlich wie dem Tricorder aus der Fernsehserie<br />
„Star Trek“. Er soll die Schritte<br />
seines Besitzers zählen, Laufstrecken aufzeichnen<br />
und den Schlaf protokollieren.<br />
Dazu dürfte sich das Gerät per Funk mit<br />
So und doch anders Idee eines US-Designers,<br />
wie Apples Uhr aussehen könnte<br />
dem Smartphone koppeln und Daten in<br />
die App Healthbook speisen, mit der Apple<br />
das Handy zur digitalen Patientenakte<br />
und zum Gesundheits-Coach macht.<br />
Vermutlich entwickelt Apple aber noch<br />
weit ausgefeiltere Sensoren, die sogar<br />
Krankheiten erkennen. Denn der Konzern<br />
hat Medizintechnikexperten angeheuert,<br />
darunter Ueyn Block. Er war Chefingenieur<br />
des gescheiterten Start-ups C8<br />
MediSensors. Dort hatte er einen Sensor<br />
mitentwickelt, der per Lichtstrahl durch<br />
die Haut den Blutzuckerspiegel misst.<br />
Diabetiker, die sich bisher mehrmals am<br />
Tag in den Finger piksen, um ihr Blut zu<br />
untersuchen, könnten mit der neuen Methode<br />
ihre Glucosewerte rund um die Uhr<br />
beobachten und genauer das Insulin dosieren,<br />
das sie sich regelmäßig spritzen<br />
müssen. Das hilft, schwere Folgeschäden<br />
zu vermeiden. Wird schon die erste Version<br />
der iWatch einen solchen revolutionären<br />
Blutscanner haben? Derzeit scheint<br />
das eher unwahrscheinlich.<br />
UHR ÖFFNET HAUSTÜR<br />
Dennoch erwartet die US-Bank Morgan<br />
Stanley, dass Apple in den ersten zwölf<br />
Monaten nach Verkaufsstart 30 bis 60<br />
Millionen Exemplare seiner iWatch verkaufen<br />
könnte. Nicht nur weil sie medizinische<br />
Daten liefert, sondern so etwas<br />
wie die Fernbedienung des Alltags werden<br />
soll: Der Nutzer kann vermutlich<br />
Textnachrichten diktieren, die Stereoanlage<br />
fernsteuern und sogar Lampen, Türschlösser<br />
oder Thermostate bedienen.<br />
Die nötige Software dazu bringt Apple im<br />
Herbst heraus: Die App HomeKit soll<br />
iPhone und iPad zu Schaltzentralen für<br />
Smart-Home-Geräte machen. Vielleicht<br />
wird die iWatch auch als virtuelle Geldbörse<br />
dienen. Mithilfe eines Funkchips<br />
soll der Nutzer bald an vielen Supermarktkassen<br />
zahlen können.<br />
Was bringt der Dienstag noch? Natürlich<br />
das neue iPhone 6. Analysten der kanadischen<br />
Investmentbank RBC Capital<br />
Markets rechnen mit bis zu 75 Millionen<br />
verkauften Geräten im ersten Quartal –<br />
26 Millionen mehr als im Vorjahreszeitraum.<br />
Beobachter erwarten einen schnelleren<br />
Prozessor, ein größeres Display und<br />
einen besseren Akku. Das alles sind Fortschritte<br />
– aber keine Revolution. Wenn<br />
sie kommt, dann wohl in Form eines Armbands<br />
(mehr auf wiwo.de/apple).<br />
andreas.menn@wiwo.de<br />
FOTO: MARK BELL/BELM DESIGNS; ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS<br />
90 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Technik&Wissen<br />
6 Haus-Arzt<br />
Zur Sprechstunde lädt der Arzt<br />
künftig per Videoanruf – und schaltet<br />
bei Bedarf Fachkollegen dazu.<br />
»<br />
So wie der untersetzte 30-Jährige, der<br />
mit einer schmerzenden Schulter und<br />
ziemlich verwirrt zu Anja Bittner gekommen<br />
ist. Drei Wochen nach einem Sturz<br />
war er zur Kernspintomografie im Krankenhaus<br />
gewesen und erhielt einen zehn<br />
Zeilen langen Befund – voller Rätsel. Von<br />
„blutigen Imbibierungen“ und von „corticalen<br />
Defektbildungen“ ist die Rede. Der<br />
Patient verstand kein Wort. Zeile für Zeile<br />
geht die Medizinerin Bittner daher in ihrem<br />
Büro den Bericht durch und übersetzt<br />
jeden Fachbegriff. Bis aus den zehn Sätzen<br />
medizinischen Formeln auf sechs Seiten<br />
verständliches Deutsch geworden ist. Das<br />
Ergebnis: Die Schulter ist ausgekugelt.<br />
SPIELERISCH ABNEHMEN<br />
Bittner ist Gründerin des gemeinnützigen<br />
Dresdner Internet-Portals Washabich.de.<br />
Jede Woche laufen auf der Seite rund 150<br />
Krankheitsberichte, Röntgenbefunde oder<br />
Entlassungsbriefe aus dem Krankenhaus<br />
ein. Die Patienten laden die Dokumente<br />
hoch, und die mehr als 1000 freiwilligen<br />
Ärzte und Medizinstudenten ab dem achten<br />
Semester übersetzen die Dokumente –<br />
kostenlos. „Die Menschen verändern sich“,<br />
sagt Bittner. „Vor 40 Jahren hätte noch kein<br />
Patient seinen Arzt gefragt, warum er denn<br />
diese Pillen überhaupt nehmen soll. Heute<br />
fordern sie mehr Infos – und wollen mehr<br />
selbst entscheiden.“<br />
Der Umbruch hat Deutschland endlich<br />
erreicht, trotz aller Hindernisse. Wo große<br />
Medizintechnikkonzerne und auch die Politik<br />
noch auf einen Startschuss zu warten<br />
scheinen, haben sich Start-ups und Patienten<br />
bereits auf den Weg begeben. Junge<br />
Unternehmer wie Bittner arbeiten hierzulande<br />
an einer besseren Kommunikation<br />
zwischen Arzt und Patient, an einer besseren<br />
Versorgung für chronisch Kranke und<br />
an innovativen Behandlungsmethoden.<br />
Das lockt wie in den USA auch hierzulande<br />
die Geldgeber an. Allein im vergangenen<br />
Jahr haben sich mehrere Risikokapitalfirmen<br />
gebildet, die ihren Fokus ganz auf<br />
die Gesundheit richten: etwa der Berliner<br />
Fonds XL Health, der innerhalb der nächsten<br />
drei Jahre 50 Millionen Euro investieren<br />
will. Das Geld kommt von Frank Gotthardt,<br />
Gründer und Vorstandschef der Koblenzer<br />
CompuGroup Medical, einem<br />
Softwareanbieter für Ärzte.<br />
Entwicklungen wie Healthbook treiben<br />
die Start-ups weiter an. „Apple nimmt uns<br />
Arbeit ab“, freut sich Sebastian Gaede, ein<br />
smarter Ökonom Anfang 30. Der IT-Riese<br />
kümmere sich etwa um die Anbindung der<br />
Wearables und schaffe Standards, damit<br />
die Patienten problemlos ihren Blutdruck<br />
oder ihre Insulinwerte an Apps senden<br />
könnten, „wir können uns dann voll auf<br />
das Nutzererlebnis konzentrieren“. Gaede<br />
hat in München gemeinsam mit Philipp<br />
Legge und Julian Weddige, einst Kollegen<br />
in einer Beratung, das Start-up SmartPatient<br />
gegründet. Ihre App MyTheraphy unterstützt<br />
chronisch Kranke bei ihrem täglichen<br />
Kampf gegen die Krankheit. Sie erinnert<br />
daran, Medikamente einzunehmen,<br />
und zeigt den Patienten in hübschen, zartblauen<br />
Grafiken jeden Tag, wie nah sie ihren<br />
Zielen schon gekommen sind.<br />
Das ist wichtig, denn Patienten weichen<br />
allzu oft von der verordneten Therapie ab –<br />
etwa weil Medikamente unangenehme<br />
Nebenwirkungen haben, sie die Anweisungen<br />
ihres Arztes vergessen oder nicht<br />
Therapie-Apps<br />
ersparen chronisch<br />
Kranken<br />
den mühsamen<br />
Weg zum Arzt<br />
7<br />
Pillen-Prüfer<br />
Arzneidosen mit Funkchip und Tabletten-Tagebücher<br />
als App erinnern<br />
Patienten an die nächste Einnahme.<br />
richtig verstanden haben. Was jährlich in<br />
Deutschland einen Schaden von bis zu 75<br />
Milliarden Euro verursacht, so eine Studie<br />
der Bertelsmann Stiftung.<br />
Das Smartphone könne da zur „helfenden<br />
Hand“ werden, die klar strukturierte<br />
Etappenziele vorgebe, erklärt der Münchner<br />
Berater Michael Mücke von Mücke,<br />
Sturm & Company. Gamification heißt das<br />
Schlagwort, das die Menschheit gesünder<br />
machen soll. Natürlich weiß jeder Übergewichtige<br />
auch ohne digitale Hilfe, dass es<br />
besser wäre, weniger zu essen und sich<br />
mehr zu bewegen. Gesundheit, Sport und<br />
Abnehmen macht aber auf einmal mehr<br />
Spaß, weil wir uns per Apps und Internet<br />
täglich mit anderen messen oder unseren<br />
eigenen Fortschritt beobachten können.<br />
VERSICHERER ZAHLEN<br />
Mittlerweile haben die ersten Krankenkassen<br />
entdeckt, dass die Ideen der Start-ups<br />
durchaus Potenzial haben. So kooperiert<br />
das Online-Portal Medexo.de, dessen Experten<br />
eine medizinische Zweitmeinung<br />
als Gutachten geben, bereits mit mehr als<br />
zehn Kassen, darunter auch die AOK.<br />
Und seit wenigen Monaten gibt es auch<br />
die ersten Apps auf Rezept: Die Barmer<br />
GEK überschritt als Erste die unsichtbare<br />
Linie, indem sie die Spiele von Caterna für<br />
ihre Patienten mit Sehstörungen anerkannte.<br />
Und bei der Deutschen BKK kön-<br />
ILLUSTRATIONEN: THOMAS FUCHS<br />
92 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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8 9<br />
Patienten-Kladde<br />
Chirurgen sehen alle Befunde und<br />
Bilder des Patienten auf dem Display<br />
von Handy oder Datenbrille.<br />
nen sich Patienten, die sich von einem<br />
Schlaganfall erholen, die Kosten für das<br />
Gehirntraining-Programm des Berliner<br />
Start-ups Synaptikon erstatten lassen.<br />
Der Kölner AXA-Konzern kooperiert<br />
ebenfalls mit einem Web-Dienstleister. So<br />
arbeitet der Versicherer mit dem niedersächsischen<br />
Unternehmen Novego zusammen,<br />
das Burn-out-Gefährdeten und Menschen<br />
mit depressiven Symptomen übers<br />
Netz Begleitung durch geschultes Personal<br />
anbietet. Betroffene können Zugangsdaten<br />
für den Dienst erhalten, dessen Kosten Axa<br />
bei einer Kranken-Vollversicherung übernimmt.<br />
„Die Möglichkeit, auf digitalem<br />
Wege zu jeder Tages- und Nachtzeit durch<br />
einen Psychologen beraten zu werden, ist<br />
natürlich kein Ersatz für eine vollwertige<br />
Therapie“, räumt Wolfgang Hanssmann,<br />
Vorstand der AXA Krankenversicherung<br />
ein, „aber ein schnelles, leicht verfügbares<br />
Angebot, um sofort Hilfe zur Selbsthilfe zu<br />
erhalten und beispielsweise die Zeit bis<br />
zum Beginn einer psychologischen Behandlung<br />
zu überbrücken.“<br />
Doch noch sind das punktuelle Projekte.<br />
In der deutschen Versicherungswirtschaft<br />
dominiert noch Unsicherheit über die angemessene<br />
Strategie zur Digitalisierung<br />
des Gesundheitssektors. „Natürlich fragt<br />
sich die ganze Branche, ob Google künftig<br />
auch Versicherungsdienste anbietet“, sagt<br />
etwa der Stratege eines Versicherers.<br />
„Doch eine schlüssige Strategie hat bisher<br />
niemand.“ Und bei den Spitzenverbänden<br />
der Versicherungsbranche herrscht ebenfalls<br />
Ratlosigkeit ob des digitalen Wandels:<br />
„Uns ist nicht bekannt, ob oder wer sich<br />
von unseren Mitgliedern mit dem Thema<br />
befasst“, heißt es unisono.<br />
Auch die Pharmabranche tut sich<br />
schwer mit der digitalen Transformation.<br />
Nur einige Firmen haben bisher eigene,<br />
aufwendigere Apps auf den Markt gebracht,<br />
wie Janssen Cilag, das zum US-<br />
Konzern Johnson & Johnson gehört, oder<br />
MSD Sharp & Dohme, eine Tochter des<br />
amerikanischen Pharmariesen Merck &<br />
Co. Sie fungieren etwa als Gesundheitstagebücher<br />
oder erinnern daran, Medikamente<br />
einzunehmen. Eher ausgefallen ist<br />
da die WC-Finder-App von MSD für darmgeplagte<br />
Patienten, die dringend eine öffentliche<br />
Toilette benötigen. Aber: Die<br />
meisten der Angebote können kaum mit<br />
den oft wesentlich nutzerfreundlichen Produkten<br />
der Start-ups mithalten.<br />
Überwacht die<br />
Krankenkasse<br />
bald via Handy,<br />
wie viel Sport<br />
ich treibe?<br />
Geh-Hilfe<br />
Sensor-Schuhe und Apps überwachen<br />
die Fortschritte bei<br />
Rehabilitationsprogrammen.<br />
OFFENE FRAGEN<br />
Und dann gibt es die Ideen, die vielen Ärzten<br />
zu weit gehen. Die ihnen Angst einjagen,<br />
aus Sorge um eine Medizin, in der der<br />
persönliche Kontakt nichts mehr wert ist –<br />
oder aus Sorge um das eigene Geschäft.<br />
Eine dieser Ideen ist die Hautarzt-App<br />
Klara, ehemals Goderma. Dahinter stehen<br />
zwei beste Freunde: Simon Lorenz, zerzauste<br />
Frisur und ein rundes, freundliches<br />
Gesicht, ist der Visinär im Duo. Und Simon<br />
Bolz, kurze Stoppeln am Kinn und auch auf<br />
dem kurz geschorenen Kopf, der Stratege.<br />
Ihre Idee ist einfach, aber umstritten: Patienten<br />
können Muttermale, Ausschläge<br />
und andere Hautprobleme mit dem Handy<br />
fotografieren und an Klara schicken. Ein<br />
Hautarzt guckt sich die Bilder an und gibt<br />
eine erste Einschätzung. Preis: 29 Euro.<br />
Lorenz und Bolz zogen damit den<br />
Missmut der Berliner Ärztekammer auf<br />
sich. Denn laut der ärztlichen Berufsordnung<br />
dürfen Ärzte keine Diagnose stellen,<br />
ohne die Patienten zu sehen. Klara gebe nur<br />
eine erste Einschätzung, verteidigen die<br />
Gründer ihr Produkt. Doch neben einer Vermutung<br />
zur Diagnose sind in den Gutachten<br />
auch Empfehlungen zur Linderung und<br />
zur üblichen Behandlung des Leidens enthalten.<br />
Die Berliner Ärztekammer horchte<br />
daher bei den für Klara aktiven Ärzten nach<br />
– ohne aber den Dienst zu verbieten.<br />
Doch die Patienten haben sich längst<br />
entschieden, Klara zu nutzen. 125 000<br />
Downloads in 100 Ländern verzeichnet die<br />
App. Vor allem Fotos von Ausschlägen oder<br />
Hautveränderungen durch sexuell übertragbare<br />
Krankheiten landen bei den Ärzten,<br />
die für ihr Gutachten einen Großteil<br />
der Gebühr erhalten. Klara expandiert nun<br />
in die USA: In New York hat das deutsche<br />
Start-up gerade ein Büro eröffnet.<br />
Bei all den neuen Angeboten ist es für die<br />
Patienten nicht leicht, die für sie richtigen<br />
zu finden. 379 000 Apps, davon allein<br />
43 000 bei iTunes, hat Oliver Scheel, Pharmaexperte<br />
bei der Unternehmensberatung<br />
A.T. Kearney, gezählt und gibt zu bedenken:<br />
„Viele Anwendungen sind zweifelhaft,<br />
da sie oft nur wie Gimmicks oder nicht zu<br />
Ende gedacht sind.“ Anders als Ärzte haben<br />
die Manager von IT-Firmen keinen hippokratischen<br />
Eid geschworen, der sie verpflichtet,<br />
Patienten nicht zu schaden. Sollten<br />
die Gesundheitsbehörden daher »<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 93<br />
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Technik&Wissen<br />
10 Leib-Wächter<br />
Senioren leben dank Ferndiagnose<br />
per Handy länger daheim. Sensoren<br />
alarmieren bei Stürzen Helfer.<br />
»<br />
Apps prüfen und zulassen? Erhält derjenige,<br />
der Sport treibt, sich gesund ernährt<br />
und sich dabei per App überwachen lässt,<br />
günstigere Versicherungskonditionen?<br />
Was ist mit Menschen, die sich trotz allem<br />
nicht selbst mit Wearables vermessen wollen?<br />
Müssen sie höhere Prämien zahlen?<br />
Wer die digitalen Gesundheitshelfer<br />
nutzt, emanzipiert sich zwar von den klassischen<br />
Medizinern. Aber er begibt sich in<br />
neue Abhängigkeiten. Man muss nicht so<br />
weit gehen, wie der Berliner Philosoph<br />
Byung-Chul Han, der Menschen, die Selftracking<br />
betreiben, für „Zombies“ hält: „Sie<br />
sind Puppen, die von unbekannten Gewalten<br />
am Draht gezogen werden.“ Doch die<br />
Macht über die Gesundheitsdaten von Millionen<br />
Menschen ist eine große Verlockung<br />
für dubiose Geschäfte. Bei Apple scheint<br />
das Bewusstsein für die Gefahr zu wachsen.<br />
Der Konzern hat gerade die Regeln für<br />
Entwickler von Gesundheits-Apps verschärft<br />
und explizit verboten, Kundeninfos<br />
weiterzuverkaufen oder auch nur im Speicherdienst<br />
iCloud zu sichern. Ob das genügt,<br />
bleibt abzuwarten.<br />
Klar ist: Verspielt die IT-Branche durch<br />
Datenlecks und Bespitzelung das Vertrauen<br />
der Kunden, ist das Geschäft mit der Gesundheit<br />
schneller am Ende, als es begonnen<br />
hat.<br />
n<br />
jacqueline.goebel@wiwo.de, lothar kuhn, thomas kuhn,<br />
susanne kutter, andreas menn, jürgen salz<br />
INTERVIEW Franz Porzsolt<br />
»Unglaublicher Datensalat«<br />
Warum der Ulmer Gesundheitsökonom mehr Probleme als Chancen<br />
sieht, wenn Apple und Co. in die Internet-Medizin einsteigen.<br />
Professor Porzsolt, über die Zukunft der<br />
Medizin scheinen nicht mehr die Ärzte,<br />
sondern die IT-Konzerne zu bestimmen.<br />
Können wir deren Versprechen trauen,<br />
uns gesünder machen zu wollen?<br />
Apple, Google und viele andere haben<br />
jedenfalls erkannt, dass sie mit Gesundheit<br />
gute Geschäfte machen können.<br />
Das ist nicht der beste Ansatz – jedenfalls<br />
nicht für unser Wohlergehen. Ich sehe<br />
eine Menge Probleme auf uns zukommen,<br />
aber auch einige Chancen.<br />
Was ist das Hauptproblem?<br />
Die meisten Nutzer werden viele der angebotenen<br />
Leistungen – die sie aus eigener<br />
Tasche zahlen – nicht verstehen und<br />
allen möglichen Fehlinterpretationen<br />
aufsitzen, die sie verunsichern. Etwa<br />
dem Irrglauben, Früherkennungstests<br />
führten zu längerem Leben. Im Zweifelsfall<br />
wissen die Patienten nur länger, dass<br />
sie krank sind. Machen sie ohne jeden<br />
Anfangsverdacht wahllos alle möglichen<br />
Tests, verlängert das nicht ihre Lebens-,<br />
sondern ihre Leidenszeit.<br />
Aber auch Ärzte raten doch laufend zu<br />
Früherkennungsuntersuchungen?<br />
Tatsächlich ist der 300 Jahre alte Glaubenssatz<br />
kaum auszurotten, wir könnten<br />
eine Krankheit umso besser heilen, je<br />
eher wir sie entdecken.<br />
Doch große Studien zu<br />
Brust- und Darmkrebs haben<br />
gezeigt, dass dies nicht<br />
stimmt.<br />
Das ist aber kein<br />
spezifisches Problem<br />
der Internet-Medizin.<br />
Nein, aber hier wird es gravierende<br />
Folgen haben.<br />
Eben weil viel mehr Menschen<br />
diese attraktiven<br />
Apps nutzen werden als<br />
klassische Untersuchungen.<br />
Doch die Diagnosen,<br />
welche die Programme<br />
liefern, werfen weitere Fragen<br />
auf. Das zieht Folgeuntersuchungen<br />
nach sich –<br />
und treibt die Kosten im<br />
DER SKEPTIKER<br />
Porzsolt, 68, leitet die<br />
Versorgungsforschung<br />
der Ulmer Universitätsklinik.<br />
Er ist ein Pionier der<br />
Klinischen Ökonomik, die<br />
viele etablierte Therapien<br />
kritisch bewertet.<br />
Gesundheitswesen, ohne einen großen<br />
Nutzen zu stiften.<br />
Die Ärzte sind mehr gefordert als zuvor?<br />
Im Zweifelsfall ja – einfach um die Ergebnisse<br />
einzuordnen. So weiß kaum ein<br />
Laie, ob ein Test sensitiv oder spezifisch<br />
ist. Der sensitive Test ist sehr empfindlich<br />
und meldet alles, was nur den geringsten<br />
Verdacht erregt. Damit ist aber<br />
die Rate der Fehlalarme sehr hoch. Andererseits<br />
kann ich sehr sicher sein, gesund<br />
zu sein, wenn der Test nicht anschlägt.<br />
Der spezifische Test ist dagegen<br />
eher darauf ausgerichtet, ganz sicher alle<br />
Gesunden zu finden. Da ist die Rate der<br />
nicht entdeckten Erkrankungen höher.<br />
Das muss ich wissen, um ein Testergebnis<br />
richtig einschätzen zu können.<br />
Ist das auch allen Medizinern klar?<br />
Sie sollten es wissen. Tatsächlich vertrauen<br />
die Menschen den Ärzten immer<br />
weniger und erhoffen sich stattdessen<br />
klare Antworten aus dem Netz. Dabei geben<br />
sie sehr private Informationen preis,<br />
die sicher nicht nur Versicherungen und<br />
Arbeitgeber interessieren dürften.<br />
Sind die Daten bei Apple und Co. sicher?<br />
Ich glaube nicht. Ich hoffe aber, dass wir<br />
bald sichere Lösungen finden. Denn es<br />
könnte die Forschung wirklich voranbringen,<br />
wenn Patienten<br />
etwa Rückmeldungen über<br />
die Wirksamkeit eines Arzneimittels<br />
geben könnten.<br />
So ließe sich der Nutzen einer<br />
Therapie wesentlich<br />
fundierter bewerten. Aus<br />
dem bisher gesammelten<br />
unglaublichen Datensalat<br />
Wissen ziehen zu wollen<br />
halte ich dagegen für vermessen.<br />
Wo nutzt E-Health schon<br />
heute?<br />
Wenn Apps Menschen tatsächlich<br />
motivieren würden,<br />
mehr Sport zu treiben,<br />
wäre das ein immenser gesundheitlicher<br />
Gewinn.<br />
susanne.kutter@wiwo.de<br />
FOTO: PR; ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS<br />
94 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Technik&Wissen<br />
VALLEY TALK | Ein Start-up aus San Francisco nutzt<br />
die Schwächen der Online-Riesen aus und formt<br />
aus deren Angeboten kreative neue Internet-Dienste.<br />
Von Matthias Hohensee<br />
Rosinen picken im Netz<br />
FOTO: JEFFREY BRAVERMAN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
Geht es um Industriedesign, ist<br />
Ideo aus Palo Alto eine der prominentesten<br />
Adressen der Welt.<br />
Wer hier einen der begehrten<br />
Jobs ergattert, ist besonders talentiert. So<br />
wie der Ingenieur Linden Tibbets. Trotzdem<br />
kündigte er Anfang 2011 seine Stelle<br />
bei der Designschmiede, um Unternehmer<br />
zu werden.<br />
Mit seinem Bruder Alexander hatte er die<br />
simple, aber mächtige Idee, eine zentrale<br />
Schaltstelle im Netz zu schaffen, über die<br />
Onliner verschiedenste Internet-Angebote<br />
zu neuen persönlichen Web-Diensten verknüpfen<br />
können. Etwa jedes neue Foto auf<br />
dem iPhone automatisch zum Speicherdienst<br />
Dropbox hochladen zu lassen oder<br />
sich <strong>vom</strong> E-Mail-Dienst Warnnachrichten<br />
aufs Handy schicken zu lassen, falls der<br />
Wetterdienst Regen vorhersagt. Nach den<br />
dafür nötigen Regeln – „wenn dies passiert,<br />
soll jenes geschehen“– nannten die Brüder<br />
ihr Ende 2010 in San Francisco gegründetes<br />
Start-up IFTTT, für „If This Then That“.<br />
Heute sind auf der Plattform jede Menge<br />
populäre Web-Angebote verzeichnet, die<br />
sich verknüpfen lassen, wie Facebook,<br />
LinkedIn, Ebay, Flickr und Evernote. Die<br />
„Channels“, Kanäle, genannten Dienste<br />
wählt der Nutzer aus und sieht dort, welche<br />
automatisierten Abläufe, genannt „Recipes“,<br />
es bereits gibt. Mit einem Klick wählt<br />
er einen aus, mit einigen mehr pickt er sich<br />
aus den digitalen Rosinen im Netz ein persönliches<br />
Recipe zusammen. Heute verzeichnet<br />
die Plattform 125 solcher Kanäle<br />
und etwa 14 Millionen genutzte Abläufe.<br />
Einige Millionen Nutzer dürfte IFTTT<br />
schon haben – mich inklusive. Denn der<br />
Dienst ist überaus nützlich: Da mein Auto<br />
keinen Bordcomputer hat, nutze ich einen<br />
Auswertungs-Chip <strong>vom</strong> Start-up Automatic<br />
Labs aus San Francisco. Das Gerät steckt<br />
am Diagnoseanschluss meines Wagens und<br />
funkt nach der Fahrt die Daten zu Fahrtstrecke,<br />
-zeit und Benzinverbrauch via<br />
Bluetooth an eine App in meinem Handy.<br />
Das war im Grunde ideal, wenn man geschäftliche<br />
Fahrten protokollieren will. Nur<br />
hatte die App lange eine entscheidende<br />
Schwäche: Die Daten automatisch in ein<br />
Dokument oder eine Tabellenkalkulation zu<br />
laden stellte die Programmierer von Automatic<br />
Labs vor Probleme. Als sich immer<br />
mehr Nutzer darüber beschwerten, banden<br />
sie ihren Dienst bei IFTTT ein und ermöglichen<br />
es nun auf diesem Weg, Fahrten automatisch<br />
online zu speichern.<br />
AUTO ALS LICHTSCHALTER<br />
Was als Übergang gedacht war, funktioniert<br />
so gut, dass Automatic Labs gemeinsam<br />
mit IFTTT an weiteren automatischen Routinen<br />
arbeitet. Dass also beispielsweise im<br />
Haus das Licht angeht, sobald man mit<br />
dem Auto in die Einfahrt steuert. Das<br />
klappt, weil auch Hersteller von Heimautomatisierungstechnik<br />
wie Belkin oder Philips<br />
Kanäle auf der Plattform anbieten.<br />
Solche Funktionen mögen nicht für alle<br />
hilfreich sein, manchen sogar nerven. Der<br />
Vorteil ist aber, dass sich jeder seinen Lieblingsdienst<br />
via Internet zusammenstellen<br />
kann, statt sich mit überfrachteten Programmen<br />
mit Dutzenden Bedienoptionen<br />
herumschlagen zu müssen.<br />
Mehr noch, als unabhängige Plattform<br />
kann IFTTT sogar Dienste verschiedenster<br />
Anbieter miteinander verknüpfen – auch<br />
über Betriebssystemgrenzen hinweg. Und<br />
das gilt nicht nur für reine Web-Dienste,<br />
sondern auch für jede Menge realer, mit<br />
dem Internet vernetzter Geräte.<br />
All das macht die Plattform hoch attraktiv<br />
– und die Wagnisfinanzierer wetten auf<br />
den langfristigen Erfolg. Linden und Alexander<br />
Tibbets haben gerade 30 Millionen<br />
Dollar von prominenten Silicon-Valley-Investoren<br />
wie Andreessen Horowitz sowie<br />
Norwest Venture Partners eingesammelt –<br />
nach 8,5 Millionen aus früheren Runden.<br />
So viel Kapital soll nun ein möglichst profitables<br />
Geschäft nach sich ziehen – diesen<br />
Automatismus aber müssen die Gründer<br />
erst noch programmieren.<br />
Der Autor ist WirtschaftsWoche-Korrespondent<br />
im Silicon Valley und beobachtet<br />
von dort seit Jahren die Entwicklung der<br />
wichtigsten US-Technologieunternehmen.<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 97<br />
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Management&Erfolg<br />
Kollege Kunde<br />
DIGITALE MARKENFÜHRUNG | Bewertungen schreiben, Inhalte verbreiten, Produkte<br />
entwickeln: Vor allem Unternehmen, die ihre Kunden für sich einspannen,<br />
sind im Internet erfolgreich. Eine exklusive Studie zeigt, an welchen Konzernen sich<br />
andere ein Beispiel nehmen sollten.<br />
Quietschende Reifen, dröhnende<br />
Motoren – fünf rote BMW<br />
schießen in den dreispurigen<br />
Kreisverkehr. Vollbremsung.<br />
Stille. Passanten bleiben verdutzt<br />
stehen, fotografieren das Spektakel.<br />
An den Lenkrädern sitzen professionelle<br />
Stuntfahrer, die eineinhalb Minuten ihr<br />
Können zeigen. Mit einem Tritt aufs Gaspedal<br />
beginnt die perfekt abgestimmte<br />
Choreografie: Die Wagen schleudern umher,<br />
rutschen parallel zueinander um die<br />
Kurve, rasen aufeinander zu, driften im<br />
vollen Tempo aneinander vorbei.<br />
„Nur mit solchen, überraschenden Aktionen<br />
können wir uns von der Masse abheben“,<br />
sagt Marketingchef Steven Althaus.<br />
Außerdem passe der Inhalt perfekt<br />
zu den Werten der Marke – Fahrfreude<br />
und Dynamik. „Die Zielgruppe identifiziert<br />
sich gerne mit professionellen Piloten.“<br />
Die Zahlen geben dem 46-jährigen Marketingmanager<br />
recht: Weit mehr als 13<br />
Millionen Mal haben Internet-Nutzer das<br />
eigens fürs Netz produzierte Video Driftmob<br />
auf YouTube seit dem Start Ende Juli<br />
angesehen, auf Facebook hatte es nach<br />
vier Wochen mehr als 60 000 Gefällt-mir-<br />
Angaben eingesammelt. Und knapp 1500<br />
BMW-Fans haben den Spot und das zugehörige<br />
Making-of-Material mit Freunden<br />
und Bekannten geteilt.<br />
Sechs Monate hat der Autobauer an<br />
dem Video getüftelt – der Aufwand hat sich<br />
gelohnt. „Internet-Videos erreichen vielleicht<br />
nicht die Massen wie klassische<br />
Fernsehspots, die direkt vor der Tagesschau<br />
laufen“, sagt Marketingprofessor<br />
Thorsten Hennig-Thurau von der Westfälischen<br />
Wilhelms-Universität<br />
Münster. „Aber es ist ein gravierender<br />
Unterschied, ob ich als<br />
Konsument passiv und mit ganz<br />
anderen Absichten vor dem<br />
Fernseher sitze oder selbst initiiert<br />
und ganz und gar freiwillig das Video<br />
anklicke, um es bewusst zu sehen.“<br />
Natürlich: Nicht jedes YouTube-Video<br />
wird zum Hit. Laut einer Studie der Social-<br />
Media-Beratung SocialFlow rufen 99 Prozent<br />
aller Einträge in den sozialen Netz-<br />
Erst mal ins Internet<br />
So informieren sich Kunden vor einer<br />
Kaufentscheidung<br />
Informationen im<br />
Geschäft<br />
Öffentliche<br />
Werbung<br />
Empfehlung<br />
von Freunden<br />
und Familie<br />
5,0<br />
20,2<br />
Direktmarketing 5,0<br />
18,4<br />
11,6<br />
6,9<br />
6,2<br />
18,5<br />
5,0 Fernsehen<br />
3,2 Radio<br />
Zeitungen und<br />
Zeitschriften<br />
Bei diesen Produkten schauen die Käufer<br />
besonders häufig ins Netz (in Prozent)<br />
62<br />
61<br />
61<br />
53<br />
48<br />
%<br />
Reisen<br />
Soziale<br />
Medien<br />
Internet<br />
Beratung durch<br />
einen Verkäufer<br />
Unterhaltungselektronik<br />
Energieversorger<br />
Telekommunikation<br />
Automobil<br />
Quelle: German Digitalization Consumer Report 2014<br />
werken überhaupt keine Reaktion<br />
hervor. Umso wertvoller sind<br />
Fotos und kurze Filmchen, die<br />
den Nerv der Netzgemeinde treffen<br />
und sich wie ein digitales<br />
Lauffeuer verbreiten.<br />
„Aktive Markenfans sind unbezahlbar“,<br />
sagt Alexander Kiock, Geschäftsführer der<br />
Berliner Strategieagentur diffferent.<br />
„Denn die Nutzer wirken nicht nur als<br />
Multiplikatoren, sie geben ihre Empfehlung<br />
auch noch freiwillig ab. Das ist viel<br />
authentischer und schafft mehr Kundennähe,<br />
als würde ein Unternehmen sich<br />
plump selbst anpreisen.“<br />
WILDWUCHS BESEITIGT<br />
Viele der BMW-Fans teilen nicht nur die<br />
Inhalte des Autobauers, sondern präsentieren<br />
auf den sozialen Kanälen von BMW<br />
auch selbst produziertes Material: zum<br />
Beispiel Fotos von ihren Kindern, die auf<br />
dem Fahrersitz hocken, mit ihren kurzen<br />
Beinchen aber längst nicht bis zum Gaspedal<br />
kommen. Oder einen mit Blumen geschmückten<br />
Hochzeits-BMW. Ebenso<br />
können die Internet-Nutzer über das sogenannte<br />
Co-Creation Lab Ideen zur Verbesserung<br />
der Wagen einbringen – 4758 Freizeitentwickler<br />
sind schon angemeldet.<br />
Gründe genug für diffferent, BMW bei<br />
der diesjährigen Auswertung der Studie<br />
Digital Brand Champion zum Sieger zu küren.<br />
Insgesamt hat die Agentur 125 Marken<br />
aus 22 Branchen anhand von vier Kategorien<br />
und 16 dazugehörigen Kriterien untersucht<br />
(siehe Methode Seite 103).<br />
Das Ergebnis: Im Gesamtranking verwies<br />
der Münchner Autobauer Vorjahressieger<br />
Audi auf Rang zwei – die Ingolstädter<br />
FOTOS: BMW<br />
98 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Gas gegeben Das BMW-Online-Video Driftmob<br />
schaffte mehr als 13 Millionen Klicks<br />
tun sich vor allem durch ihre informativen<br />
und unterhaltsamen Inhalte hervor. Sportartikelhersteller<br />
Adidas landete auf dem<br />
dritten Platz, überzeugte die Studienautoren<br />
besonders mit seinen innovativen Marketinginstrumenten:<br />
Adidas bietet den<br />
Konsumenten etwa die Möglichkeit, Sportschuhe<br />
oder Trainingsjacken in den persönlichen<br />
Lieblingsfarben zu gestalten, und<br />
nutzt neue soziale Kanäle wie das Fotonetzwerk<br />
Instagram oder die Blogging-<br />
Plattform Tumblr.<br />
„Die Markenführung im Netz hat sich<br />
insgesamt stark professionalisiert, der<br />
Wildwuchs ist auf breiter Front verschwunden“,<br />
sagt Markenberater Kiock. Und auch<br />
die Marketingbudgets wandern zunehmend<br />
Richtung Internet: Laut Marktforschungsinstitut<br />
Nielsen lagen die Bruttowerbeausgaben<br />
für den Online-Bereich im<br />
ersten Halbjahr 2014 bei 1,6 Milliarden Euro,<br />
rund sieben Prozent mehr als im Vorjahr.<br />
Besonderen Anteil daran hat die mobile<br />
Werbung – kein Wunder, nutzt heute<br />
doch fast jeder zweite Deutsche ein<br />
Smartphone. Der Rechner für die Hosentasche<br />
verleiht den Botschaften der Markenartikler<br />
Omnipräsenz.<br />
„Die Unternehmen dürfen ihre Kunden<br />
aber nicht zum Abnehmer ihrer Werbe-<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 99<br />
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Management&Erfolg<br />
Was Kunden wollen Tickets für die RTL-Show „Rising Star“ verlost Handyhersteller HTC<br />
gezielt via Facebook. Auf Google+ würde ein solches Gewinnspiel nicht funktionieren<br />
»<br />
botschaft degradieren“, sagt Marketingprofessor<br />
Hennig-Thurau. „Die Konsumenten<br />
sind durch die digitalen Kanäle<br />
längst Partner der Unternehmen geworden<br />
– bei der Verbreitung der Markenwerte,<br />
aber nicht selten auch bei deren inhaltlicher<br />
Entwicklung.“<br />
Habe Marketing früher einer Bowlingbahn<br />
geglichen, auf der die Konsumenten<br />
als Kegel galten, die nur auf den Einschlag<br />
der Markenbotschaft warteten, seien sie<br />
heute eher Teil eines Flipperspiels: „Durch<br />
ihre digitalen Werkzeuge können die Kunden<br />
Werbebotschaften stoppen, beschleunigen<br />
oder auch in eine völlig neue Richtung<br />
lenken“, sagt Hennig-Thurau.<br />
Eine Machtverschiebung, die kein Unternehmen<br />
mehr ignorieren sollte. Auch,<br />
weil das Internet längst unverzichtbare Informationsquelle<br />
geworden ist. Der Blog<br />
allfacebook.com registrierte im Januar<br />
Digitale Disziplinen<br />
2014 deutschlandweit mehr als 27 Millionen<br />
aktive Nutzer auf Facebook. Laut dem<br />
German Digitalization Consumer Report<br />
der Universität Münster und der Beratung<br />
Roland Berger sind die digitalen Kanäle<br />
mittlerweile die wichtigste Quelle<br />
für Verbraucher, um ihre Kaufentscheidung<br />
im Vorfeld abzusichern.<br />
Fast ein Viertel der Konsumenten<br />
recherchieren die besten<br />
Angebote, Preisvergleiche<br />
oder Erfahrungsberichte im Netz<br />
und in den sozialen Netzwerken<br />
(siehe Grafik Seite 98). Selbst die<br />
Empfehlungen von Freunden<br />
und der Familie in der realen Welt ist nur<br />
für etwa 20 Prozent für die Kaufentscheidung<br />
ausschlaggebend.<br />
„Unternehmen müssen sich diesem radikalen<br />
Wandel stellen“, sagt diffferent-<br />
Markenexperte Kiock. „Das Internet ist<br />
Welche Marken in den verschiedenen Kategorien führen (maximal 40 Punkte)<br />
Wer besitzt die schlüssigste<br />
Markenbotschaft im Netz?<br />
HTC<br />
Panasonic<br />
L’Oréal<br />
Acer<br />
C&A<br />
Quelle: diffferent<br />
32,9<br />
32,5<br />
32,4<br />
32,1<br />
32,1<br />
Wer kommuniziert am<br />
besten mit den Kunden?<br />
BMW<br />
Amazon<br />
O2<br />
Audi<br />
Zalando<br />
36,6<br />
33,3<br />
31,4<br />
31,3<br />
31,0<br />
Wer bietet den meisten<br />
Nutzwert?<br />
Deutsche Bahn<br />
Commerzbank<br />
Audi<br />
BMW<br />
Mercedes-Benz<br />
36,0<br />
35,9<br />
35,2<br />
34,4<br />
33,6<br />
Wer liegt bei Online-<br />
Trends vorne?<br />
Sony<br />
Nike<br />
Adidas<br />
Mercedes-Benz<br />
Volkswagen<br />
Mehr<br />
In unserer App-<br />
<strong>Ausgabe</strong> finden<br />
Sie die Rankings<br />
zu allen 22 untersuchten<br />
Branchen<br />
34,0<br />
33,8<br />
33,5<br />
33,3<br />
32,7<br />
nicht nur digitales Schaufenster, in dem<br />
man seine Produkte hübsch drapiert – es<br />
ist Verkaufsraum, Infostand und Servicehotline<br />
in einem. Nur wer auf allen Gebieten<br />
eine gute Figur macht, schafft beim<br />
Kunden ein positives Markenerlebnis.“<br />
Das hat auch die Deutsche Bahn begriffen.<br />
Der Konzern, der im Internet oftmals<br />
als Prügelknabe herhalten muss, weil Züge<br />
oder Klimaanlagen ausfallen, ist seit 2011<br />
auf Facebook und Twitter aktiv. Hauptmotiv<br />
für den digitalen Start vor drei Jahren:<br />
meckernden Kunden kompetent Antwort<br />
geben. Das Social-Media-Team erklärt etwa,<br />
warum es zur beanstandeten Verspätung<br />
kommt, in welchem Bereich bestimmte<br />
Tickets gültig und welche Verbindungen<br />
die beste Alternative für ausgefallene Züge<br />
sind. Die Antworten lassen in der Regel nur<br />
ein paar Minuten auf sich warten.<br />
LIEBESBRIEF VON DER BAHN<br />
Dass sich mit gelungenen Antworten aber<br />
nicht nur zufriedene Kunden, sondern<br />
auch Klicks generieren lassen, zeigte der<br />
Konzern im vergangenen Jahr, als sich eine<br />
junge Frau ihren Bahn-Frust von der Seele<br />
schrieb – in Form eines Liebesbriefs. „Meine<br />
liebste Deutsche Bahn, seit vielen Jahren<br />
führen wir nun eine abenteuerliche Beziehung“,<br />
beginnt der Eintrag auf der Facebook-Seite<br />
der Bahn. „Dass du<br />
mich jetzt bei klirrender Kälte<br />
fast 45 Minuten warten lässt, ohne<br />
Bescheid zu sagen, und dann<br />
gar nicht auftauchst, das geht<br />
nun wirklich zu weit.“ Und weiter:<br />
„Ich brauche jemanden an<br />
meiner Seite, der zuverlässig ist,<br />
nicht nur mein Geld will und<br />
auch bereit ist, auf meine Bedürfnisse<br />
einzugehen. Und ich habe so jemanden<br />
kennengelernt. Er nennt sich Opel.“<br />
Darauf hin gab die Bahn den reumütigen<br />
Verehrer: „Ich weiß, dass ich in der Vergangenheit<br />
viele Fehler gemacht habe und<br />
nicht immer pünktlich bei unseren Treffen<br />
war. Vielleicht gibst du mir aber noch einmal<br />
die Möglichkeit, dir zu zeigen, wie viel<br />
du mir bedeutest.“ Auch Opel schaltete<br />
sich in die Konversation ein. Tausende<br />
Likes und Hunderte Kommentare folgten.<br />
Lohn der Mühe: Unter den deutschen<br />
Digital Brand Champions bietet die Bahn<br />
die ansprechendsten Inhalte für die Konsumenten.<br />
Auch die Web-Site ist beliebt<br />
und laut Studie sehr benutzerfreundlich,<br />
alle wichtigen Infos seien leicht zu finden.<br />
„Wir analysieren das Nutzerverhalten genau<br />
und orientieren uns daran“, sagt Bir-<br />
»<br />
100 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Management&Erfolg<br />
» git Bohle, Vertriebschefin für den Personenverkehr<br />
der Deutschen Bahn.<br />
So hatte die Bahn etwa festgestellt, dass<br />
Autoproduzenten liegen vorn<br />
Die 20 besten Marken im Internet<br />
viele potenzielle Kunden beim Kauf eines<br />
Online-Tickets aussteigen, sobald es ans<br />
Bezahlen geht. Um diesen Schritt zu vereinfachen,<br />
akzeptiert die Bahn nun auch<br />
Direktüberweisungen und PayPal.<br />
Rang*<br />
1<br />
2<br />
3<br />
Marke<br />
BMW<br />
Audi<br />
Adidas<br />
Punkte von<br />
maximal 160<br />
132<br />
126<br />
116<br />
Manchmal nutzt die Bahn ihre Kunden<br />
4 Sony<br />
116<br />
auch als Versuchskaninchen. Ihr Europaticket<br />
etwa bewirbt die Bahn auf ihrer<br />
5 Volkswagen<br />
115<br />
6 Mercedes-Benz<br />
115<br />
Homepage mit verschiedenen Motiven.<br />
Während der eine Kunde den Eiffelturm zu<br />
Gesicht bekommt, erscheint auf dem Bildschirm<br />
des nächsten der Big Ben. So weiß<br />
das Unternehmen recht schnell, welche<br />
Fotos ziehen und welche nicht.<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
O2<br />
HTC<br />
Vodafone<br />
Nike<br />
Ford<br />
114<br />
113<br />
113<br />
112<br />
111<br />
FACEBOOK-FANS TICKEN ANDERS<br />
Worauf die User stehen, hat auch der<br />
Handyhersteller HTC herausgefunden.<br />
Der taiwanische Konzern steckt mittlerweile<br />
40 Prozent seines Marketingbudgets<br />
ins Netz. Das passt zu seinen Kunden, die<br />
mehrheitlich zwischen 18 und 39 Jahre alt<br />
sind und sich regelmäßig auf digitalen<br />
Plattformen tummeln – von YouTube über<br />
Twitter bis zum Fotonetzwerk Pinterest.<br />
Und genau dort von HTC angesprochen<br />
werden – mit Inhalten, die bewusst auf den<br />
jeweiligen Kanal ausgerichtet sind.<br />
„Wir haben gemerkt, dass unsere Fangemeinde<br />
auf Google+ deutlich technikaffiner<br />
ist als unsere Fans auf Facebook“, sagt<br />
Nadine Deisenroth, Marketingchefin von<br />
HTC Deutschland.<br />
Karten für die RTL-Talentshow „Rising<br />
Star“ etwa verlost HTC deshalb gezielt auf<br />
Facebook und Twitter, aber nicht auf dem<br />
sozialen Netzwerk der Suchmaschine.<br />
Zu seinen regelmäßigen Fotoaktionen<br />
ruft HTC allerdings auf allen Kanälen auf:<br />
Dabei sollen Nutzer zu vorgegebenen The-<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
Deutsche Bahn<br />
Panasonic<br />
Otto<br />
Samsung<br />
Toyota<br />
Telekom<br />
Opel<br />
H&M<br />
L’Oréal<br />
111<br />
111<br />
110<br />
109<br />
109<br />
108<br />
108<br />
107<br />
106<br />
* unterschiedlicher Rang bei gleicher Punktzahl ergibt<br />
sich aus den Nachkommastellen; Quelle: diffferent<br />
men Fotos posten, die sie mit ihrem<br />
Smartphone geschossen haben – derzeit<br />
sind originelle Selfies gefragt. Der Einsender<br />
des Fotos mit den meisten Stimmen gewinnt<br />
ein neues Smartphone.<br />
Und direkt auf seiner Homepage lässt<br />
der Smartphone-Hersteller die eigenen<br />
Geräte bewerten. „Dass wir unsere Produkte<br />
toll finden, ist klar“, sagt Managerin Deisenroth.<br />
„Dem Interessenten hilft es aber<br />
viel mehr, wenn unabhängige Käufer ihre<br />
Meinung sagen.“<br />
Und selbst von schlechten Bewertungen<br />
profitiert HTC: kontaktiert Nörgler, um ihnen<br />
bei der Lösung ihres Problems zu helfen.<br />
Und versucht so, sie <strong>vom</strong> Kritiker zum<br />
Fan zu machen.<br />
KUNDEN ALS ENTWICKLER<br />
Auch die Ideen der Kunden wissen viele<br />
Unternehmen zu schätzen. Der Elektronikkonzern<br />
Sony etwa bietet für seine Spielkonsole<br />
Playstation einen Blog an, in dem<br />
Nutzer ihre Verbesserungsvorschläge publizieren<br />
und bewerten lassen können. So<br />
bekommt Sony ein Gefühl dafür, was seine<br />
Kunden wollen und was eher eine Einzelmeinung<br />
ist.<br />
Knapp 2000 Playstation-Spieler unterstützten<br />
etwa die Idee <strong>vom</strong> Nutzer Tomy<br />
Sakazaki. Er machte sich im Sony-Blog dafür<br />
stark, auf der tragbaren Playstation-<br />
Version Vita mehr als 100 Apps speichern<br />
zu können. Denn das war bislang die absolute<br />
Obergrenze – und für viele Nutzer<br />
deutlich zu wenig. Sony erhörte seine<br />
Kunden und erhöhte die Zahl der speicherbaren<br />
Anwendungen im vergangenen<br />
März auf 500.<br />
Auf seiner Homepage stellt der Konzern<br />
außerdem Diskussionsforen zu verschiedenen<br />
Produkten, wie E-Readern, Fernsehern<br />
oder Laptops, bereit. So hatte ein<br />
Kunde etwa das Problem, dass der Aufsteckblitz<br />
für seine Kamera ständig überhitzte.<br />
Drei andere Hobbyfotografen schalteten<br />
sich ein, berichteten über ihre Erfahrungen,<br />
diskutierten, wie das Problem zu<br />
lösen sei. Als Übeltäter identifizierte die<br />
Runde schließlich den Akku des Aufsteckblitzes<br />
und empfahl einen anderen.<br />
Weiß die Internet-Gemeinde mal keinen<br />
Rat, leiten die Diskussionsteilnehmer die<br />
Anfrage an den Kundendienst weiter –<br />
wenn sich zu diesem Zeitpunkt nicht<br />
»<br />
Für die Sinne Mit rund 50 Motiv- und Duftkarten können Commerzbank-Kunden ihre Kreditkarten individuell gestalten<br />
102 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Management&Erfolg<br />
»<br />
längst ein Sony-Mitarbeiter in die Unterhaltung<br />
eingeklinkt haben sollte.<br />
Damit Kunden ihre Fragen bequem<br />
auch von unterwegs loswerden und Fans<br />
ihre Ratschläge mobil kundtun können,<br />
passt sich das Layout der Seite automatisch<br />
an die Bildschirmgröße des jeweils genutzten<br />
Geräts an. Außerdem können sich<br />
Smartphone-Besitzer auf der mobilen<br />
Web-Site die Sony-Händler in ihrer Umgebung<br />
anzeigen lassen.<br />
Die Commerzbank wiederum setzt auf<br />
die Individualität ihrer Kunden: Die können<br />
auf dem neu gestalteten Internet-Auftritt<br />
des Geldhauses aus 45 Motiven für ihre<br />
Kreditkarte wählen – <strong>vom</strong> tropischen<br />
Strand über süße Hundewelpen bis hin zur<br />
Erde aus Weltraumperspektive. „Schon mit<br />
solch kleinen Gimmicks können Unternehmen<br />
den Verbrauchern große Freude<br />
machen“, sagt diffferent-Geschäftsführer<br />
Kiock. „Wir leben schließlich in einer Gesellschaft,<br />
in der das Abheben von der<br />
Masse eine enorme Bedeutung hat.“<br />
Selbst das Angebot der Commerzbank,<br />
zwischen vier verschiedenen Duftkarten –<br />
Kirsche, Orange, Zimt oder Rose – zu wählen,<br />
hält Kiock für mehr als eine nette Spielerei:<br />
„Multisensorisches Marketing wird<br />
das nächste große Ding.“<br />
Das belegt etwa eine Studie des Marktforschungsinstituts<br />
Millward Brown: Demnach<br />
steigt die Treue zu einer Marke von<br />
durchschnittlich 28 Prozent auf 43 Prozent,<br />
sobald statt einem zwei oder drei Sinne angesprochen<br />
werden. Behält der Konsument<br />
gar vier oder fünf Sinneseindrücke<br />
positiv in Erinnerung, liegt die Markenloyalität<br />
bei fast 60 Prozent.<br />
WAS AUF DIE OHREN<br />
Deshalb gibt es von L’Oréal Paris nicht nur<br />
was fürs Auge, sondern neuerdings auch<br />
was auf die Ohren. Seit Anfang des Jahres<br />
ist der Kosmetikkonzern im sozialen Netzwerk<br />
Soundcloud vertreten. Über die Web-<br />
Site lassen sich Musikdateien verbreiten<br />
und austauschen.<br />
„Als Marktführer in der Kosmetikbranche<br />
ist es unser Anspruch, neue Internet-<br />
Trends zu identifizieren und zu nutzen“,<br />
sagt Nicole Gillenberg, Digitalchefin von<br />
L’Oréal Paris.<br />
Schon seit den Achtzigerjahren spielt Musik<br />
im Marketing des Konzerns eine große<br />
Rolle – etwa in den Spots der Produktlinie<br />
Studio Line. Um auch heute junge Zielgruppen<br />
anzusprechen, hat der französische<br />
Konzern das DJ-Duo Trickski aus Berlin beauftragt,<br />
die Werbemelodien von damals<br />
Aufgebrezelt Der französische Kosmetikkonzern L’Oréal bespielt viele innovative<br />
Digitalkanäle, darunter seit Mai auch die Blogging-Plattform Tumblr<br />
zeitgemäß zu interpretieren. Das Ergebnis:<br />
Sechs unterschiedliche Elektrosounds. Die<br />
Musiker selbst haben auf der Plattform<br />
Soundcloud schon mehr als 300 000 Fans,<br />
die der Kosmetikkonzern durch die Kooperation<br />
auf sich aufmerksam macht.<br />
Seit Mai ist L’Oréal außerdem auf der<br />
Blogging-Plattform Tumblr vertreten. Auf<br />
der digitalen Pinnwand sammelt das Unternehmen<br />
Stylingtipps der Kollegen aus<br />
anderen Ländern, bindet YouTube-Videos<br />
ein und präsentiert Fotos und Animationen<br />
der neuesten Produkte.<br />
„Die Unternehmen müssen entscheiden,<br />
welche Kanäle zu ihrer Marke passen“,<br />
sagt Kiock. „Was soll eine Bank schon Interessantes<br />
auf der Fotopinnwand Pinterest<br />
zeigen?“<br />
Diese Strategie der Selektion verfolgt<br />
auch BMW. Zwar nutzt der Konzern<br />
Tumblr. Aber andere neue Digitalkanäle<br />
wie Soundcloud, Spotify oder die Video-<br />
App Vine lässt der Autobauer außen vor.<br />
„Internet-Communitys lassen sich recht<br />
schnell aufbauen – sie zu pflegen ist viel<br />
schwieriger“, sagt Althaus von BMW. „Wer<br />
sich auf unseren Kanälen langweilt, ist so<br />
schnell weg, wie er gekommen ist.“ n<br />
kristin.schmidt@wiwo.de<br />
AUF DER DMEXCO<br />
Die Studie Digital Brand Champion wird<br />
am 11. September auf der Digitalmesse<br />
Dmexco in Köln vorgestellt. Mit dabei:<br />
diffferent-Geschäftsführer Jan Pechmann,<br />
BMW-Marketingchef Steven Althaus<br />
und WirtschaftsWoche-Chefredakteur<br />
Roland Tichy.<br />
METHODE<br />
Vier Disziplinen<br />
So hat diffferent die Digital Brand<br />
Champions ermittelt.<br />
Die Strategieagentur diffferent untersuchte<br />
im Auftrag der WirtschaftsWoche<br />
125 Marken aus 22 verschiedenen<br />
Branchen. Zunächst wählten 2000 Befragte<br />
aus jedem Bereich die bekanntesten<br />
Marken aus. Bei Branchen mit<br />
großer Bekanntheit – etwa Automobil<br />
oder Banken – untersuchten die Autoren<br />
je zehn Marken. Weniger präsente<br />
Industrien wie Baumärkte oder Getränke<br />
stellten je fünf Marken für die Studie.<br />
Wie gut die digitale Markenführung<br />
dieser Unternehmen ist, analysierte<br />
diffferent anhand von vier Kategorien:<br />
Integration Schaffen die Marken einen<br />
hohen Wiedererkennungswert? Verlinken<br />
sie die verschiedenen Online-Plattformen<br />
miteinander?<br />
Inhalte Bieten die Unternehmen Information<br />
und Unterhaltung? Ist die<br />
Web-Site benutzerfreundlich gestaltet?<br />
Kommunikation Wie schnell antworten<br />
die Unternehmen auf Fragen der<br />
Nutzer? Wie groß ist die digitale<br />
Fangemeinde der Marke?<br />
Innovationsfreude Wer ist auch via<br />
Smartphone gut zu erreichen? Binden<br />
die Unternehmen Kunden in die<br />
Entwicklung von Produkten ein?<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 103<br />
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Geld&Börse<br />
Völlig losgelöst<br />
DAX | In den Bilanzen der 30 Dax-Unternehmen hat sich eine Riesenblase aufgebaut.<br />
Seit nunmehr zehn Jahren schieben die Finanzchefs Abschreibungen auf.<br />
Aktionären drohen deshalb massive Gewinneinbrüche und ein erheblicher Verlust<br />
an Eigenkapital: Es geht um 217 Milliarden Euro.<br />
Wahre Gemeinheiten spielen<br />
sich immer im Hintergrund<br />
ab. So ist es wohl kaum einem<br />
Aktionär der Deutschen<br />
Lufthansa aufgefallen,<br />
dass sich das Eigenkapital seines Unternehmens<br />
mit einem Federstrich um gleich<br />
2,3 Milliarden Euro reduzierte. Erkennbar<br />
wurde dieser Einbruch nur für diejenigen,<br />
die kontinuierlich die Berichte der Kölner<br />
Fluggesellschaft verfolgen und gleichzeitig<br />
ein bisschen Bilanzregelkunde mitbringen.<br />
Jahrelang durften Unternehmen ziemlich<br />
lax mit den Rückstellungen in der Bilanz für<br />
ihre aktuellen und künftigen Pensionäre<br />
umgehen. Seit 2013 ist damit Schluss, seither<br />
müssen börsennotierte Aktiengesellschaften<br />
realitätsnäher die Ansprüche für die Altersvorsorge<br />
bilanzieren (WirtschaftsWoche<br />
32/2013). Die Effekte sind – wie erwartet –<br />
teils dramatisch. Bei der Lufthansa wanderte<br />
fast ein Drittel des Eigenkapitals weg von<br />
den Aktionären hin in die Taschen der Pensionäre.<br />
Die Eigenkapitalquote rutschte zum<br />
Anpassungszeitpunkt von erträglichen 28,6<br />
auf recht magere 20,4 Prozent.<br />
Das Beispiel des Dax-Konzerns zeigt:Ein<br />
Blick, der über die aufgehübschten und oft<br />
verdrehten Gewinnmitteilungen ihrer Unternehmen<br />
hinausgeht, lohnt für alle Anleger.<br />
„Wer nicht auch einmal einen kritischen<br />
Blick auf die Bilanz seines Unternehmens<br />
wirft, der verpasst oft substanzielle<br />
Veränderungen“, sagt Peter Leibfried, Professor<br />
für Rechnungslegung und Wirtschaftsprüfung<br />
an der Universität St. Gallen.<br />
Nicht erkannt haben viele Investoren<br />
schon viele Gefahren, die in den Bilanzen<br />
der Unternehmen schlummern. So durften<br />
und dürfen etwa Banken einen Großteil ihrer<br />
Vermögenspositionen selbst schätzen.<br />
Der Effekt ist bekannt: Billionen an dem<br />
Anschein nach wertvollen Vermögen bilanzierten<br />
die Geldinstitute. Und – naive<br />
Investoren zogen lange Zeit mit: Sie jazzten<br />
die Papiere der Banken angesichts vermeintlich<br />
blendender Bilanzen so hoch,<br />
Gekauft, zerlegt, bewertet<br />
Wie der Goodwill (Firmenwert) nach einer<br />
Übernahme entsteht*<br />
A<br />
Unternehmen A kauft Unternehmen B für<br />
zehn Milliarden Euro<br />
Das Vermögen von B wird in seine<br />
Einzelteile zerlegt und einzeln neu bewertet<br />
Fuhrpark?<br />
Markennamen?<br />
Kundenstamm?<br />
B<br />
In der Addition ergeben alle neu bewerteten<br />
Vermögensteile von B einen Wert von<br />
sechs Milliarden Euro<br />
Die Differenz aus dem Kaufpreis und dem neu<br />
bewerteten Vermögen von B ergibt den<br />
Goodwill von vier Milliarden Euro,<br />
der als eigenständige Vermögensposition in die<br />
Bilanz gebucht wird<br />
* Beispiel; Quelle: WirtschaftsWoche<br />
B<br />
Immobilien?<br />
Lizenzen?<br />
Patente?<br />
dass der Sektor vor Beginn der Finanzkrise<br />
beispielsweise mehr als 22 Prozent der Gesamtkapitalisierung<br />
des breiten S&P-500-<br />
Index ausmachte. Das Ergebnis der Luftbuchungen<br />
ist bekannt. Pleiten und Rekapitalisierungen<br />
sind bis heute die Folge; mit<br />
Beginn der Krise im Sommer 2007 verloren<br />
S&P-500-Bankpapiere binnen 18 Monaten<br />
77 Prozent an Wert; der Kurs der Deutschen<br />
Bank liegt heute, fünf Jahre nachdem<br />
die Blase in den Bilanzen platzte, immer<br />
noch drei Viertel unter seinem Hoch.<br />
Auch jetzt sind viele Bilanzen nicht sauber,<br />
lassen sich in den Zahlenwerken der<br />
Unternehmen Milliardenbeträge an fehlgebuchtem<br />
Kapital finden, bildet sich eine<br />
neue gigantische Blase, die von vielen Investoren<br />
und Analysten ignoriert wird.<br />
ZU VIEL GELD HINGEBLÄTTERT<br />
Der Bilanzposten, der derzeit die größte<br />
Gefahr für das Vermögen der Aktionäre an<br />
ihrem Unternehmen in sich birgt, heißt<br />
Goodwill, im Deutschen auch Firmenwert<br />
genannt. „Hier gibt es ein enormes Abschreibungspotenzial,<br />
das zu erheblichen<br />
Gewinneinbrüchen führen kann“, sagt Gerrit<br />
Brösel, Professor für Betriebswirtschaftslehre,<br />
insbesondere Wirtschaftsprüfung,<br />
an der Fernuniversität Hagen.<br />
Ein Firmenwert oder eben Goodwill<br />
taucht immer dann in der Bilanz als eine<br />
Vermögensposition auf, wenn Unternehmen<br />
bei Übernahmen zu viel Geld auf den<br />
Tisch gelegt haben; wenn sie mehr bezahlten,<br />
als das im Nachgang der Übernahme<br />
ermittelte Vermögen der neuen Tochter<br />
wirklich wert ist (siehe Grafik). Skurril, aber<br />
wahr: Dann erlauben die Bilanzregeln, diese<br />
Prämie auf die neu eingekaufte Toch-<br />
»<br />
FOTO: OLIVIER BLAISE<br />
104 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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173 Prozent mehr Scheinvermögen als 2000 türmen die Dax-Unternehmen auf<br />
35 Prozent<br />
des Eigenkapitals sind bedroht<br />
Nur1,2 Prozent<br />
wurden<br />
zuletzt abgewertet<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 105<br />
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Geld&Börse<br />
»<br />
ter als Zusatzvermögen in die Bilanz zu<br />
buchen, eben als sogenannten Goodwill<br />
oder Firmenwert. Noch hübscher für die<br />
Finanzchefs der Unternehmen: Früher<br />
mussten sie dieses Zusatzvermögen, die<br />
Übernahmeprämie also, regelmäßig abschreiben,<br />
über 10 bis 15 Jahre. Investoren<br />
hatten also die Gewissheit, dass heiße Luft<br />
nach Übernahmen sukzessive aus der Bilanz<br />
genommen wurde. Seit zehn Jahren<br />
jedoch dürfen die Unternehmensvorstände<br />
nach einer dramatischen Änderung der<br />
Bilanzregeln mehr oder weniger nach Lust<br />
und Laune abwerten oder nicht.<br />
Keine Überraschung: Sie tun es seither<br />
so gut wie nicht mehr oder nur dann, wenn<br />
sich überbewertetes Vermögen nicht mehr<br />
vertuschen lässt.<br />
KAPITALERHÖHUNG DROHT<br />
Letzteres kommt regelmäßig bei Verkäufen<br />
von Tochtergesellschaften vor. Bei der<br />
Deutschen Telekom etwa radierten Abschreibungen<br />
auf den Goodwill vor drei<br />
Jahren 3,1 Milliarden Euro aus. Als wieder<br />
mal die Tochter T-Mobile USA verkauft werden<br />
sollte, mussten die Bonner den wahren<br />
Wert ihrer Tochter offenlegen und einräumen,<br />
dass der Buchwert in der Bilanz massiv<br />
höher als der wirkliche Gegenwert war.<br />
Solche Abschreibungen bei der Telekom<br />
sind schon Legende. Einst machte die<br />
Goodwill-Position enorme 40,6 Milliarden<br />
Euro aus. Bis heute sind davon noch 14,6<br />
Milliarden Euro übrig. Obwohl die Telekom<br />
bei Zukäufen auch munter Goodwill wieder<br />
zubuchte. So stockte 2013 der Erwerb<br />
des regionalen US-Mobilfunkanbieters<br />
MetroPCS für sich betrachtet den Goodwill<br />
um 955 Millionen Euro auf. Alles in allem<br />
summieren sich die Abschreibungen auf<br />
nicht fassbares Vermögen in der Telekom-<br />
Bilanz – neben dem Goodwill sind das zum<br />
Beispiel Mobilfunklizenzen – allein in den<br />
Jahren 2011 bis 2013 auf fast 23 Milliarden<br />
Euro. Effekt:Kumuliert schrieb die Telekom<br />
binnen drei Jahren vier Milliarden Euro<br />
Verlust; und die Eigenkapitalquote sackt<br />
immer weiter ab – auf nur noch 27,1 Prozent.<br />
Eine Kapitalerhöhung ist da nicht<br />
mehr fern, legt sich die Telekom doch selbst<br />
als untere Marke 25 Prozent.<br />
Das drückt auf den Kurs: Während der<br />
Dax in den vergangenen zehn Jahren um<br />
80 Prozent zulegte, liegen T-Aktionäre im<br />
Minus. Kein Wunder, dass bei Schreckenszahlen<br />
Unternehmen wie die Telekom versuchen,<br />
Anlegern lieber Gewinndaten zu<br />
verkaufen, für die es keine Vorgaben gibt<br />
(siehe Kasten Seite 108). Insgesamt geht es<br />
Konstant hoch<br />
Wie sich der Anteil des Goodwill am Eigenkapital<br />
der Dax-Unternehmen entwickelt hat<br />
(in Prozent)<br />
40<br />
35<br />
30<br />
Überlastet Bei der Deutschen Post liegt<br />
der Goodwill höher als das Eigenkapital<br />
nicht nur bei der Telekom, sondern bei vielen<br />
Unternehmen um große Zahlen und<br />
viel Aktionärskapital: 217 Milliarden Euro<br />
Goodwill haben allein die 30 Unternehmen<br />
aus dem Deutschen Aktienindex inzwischen<br />
aufgetürmt – 173 Prozent mehr<br />
als zum Ende des Jahres 2000 (siehe Chart<br />
Seite 109). Das entspricht 35 Prozent des<br />
gesamten Eigenkapitals der Dax-Unternehmen<br />
(siehe Chart) oder rund 20 Prozent<br />
ihres aktuellen Börsenwerts. Bei einer<br />
Komplettabwertung müssten die Dax-Unternehmen<br />
ihr Eigenkapital um gut die<br />
Hälfte erhöhen, um auf den alten Stand zu<br />
kommen. Auch ohne prophetische Gaben<br />
kann jeder voraussagen, dass dies die Kurse<br />
massiv unter Druck bringen würde.<br />
Goodwill/Eigenkapital<br />
25<br />
00 02 04 06 08 10 12<br />
Quelle: Universität St. Gallen<br />
Bei der Mehrzahl der Dax-Unternehmen<br />
drohen Gefahren, weil der Goodwill entweder<br />
eine große Rolle in der Bilanz spielt<br />
oder nie vernünftig abgewertet worden ist.<br />
Wo die Finanzchefs aggressiv vorgehen<br />
und hohe Abschreibungen möglich sind,<br />
das hat die Universität St. Gallen exklusiv<br />
für die WirtschaftsWoche analysiert. Die<br />
Bilanzexperten durchforsten für die WirtschaftsWoche<br />
Jahr für Jahr die Geschäftsberichte<br />
der Dax-30-Unternehmen. Das<br />
Ergebnis der neuesten Untersuchung: „Die<br />
Milliardenrisiken aus Übernahmen steigen<br />
beinahe unaufhaltsam“, so Leibfried.<br />
ALARMSTIMMUNG BEI EXPERTEN<br />
Inzwischen sind deshalb alle ernst zu nehmenden<br />
Bilanzexperten alarmiert: Da die<br />
Manager selbst den Goodwill bestimmen<br />
und dessen Werthaltigkeit nach selbst vorgegebenen<br />
Parametern testen, sehen Wissenschaftler<br />
jede Menge Spielraum, um die<br />
Zahlenwerke zu schönen, bis an den Rand<br />
der Manipulation. Und die Deutsche Prüfstelle<br />
für Rechnungslegung in Berlin<br />
(DPR), die regelmäßig Geschäfts- und<br />
Quartalsberichte an deutschen Börsen notierter<br />
Unternehmen unter die Lupe<br />
nimmt, äußert einen schlimmen Verdacht:<br />
Erst die dramatische Bilanzregeländerung<br />
im Jahr 2004 könnte viele Vorstände dazu<br />
gebracht haben, riskante Übernahmen anzugehen.<br />
Grund: Da der Goodwill nicht<br />
mehr regelmäßig abgeschrieben wird, gibt<br />
es keinen negativen Einfluss auf den Gewinn<br />
mehr. „Der vorsichtige Kaufmann<br />
schreibt ab, doch seit die Bilanzregeln kei-<br />
106 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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RWE über Freenet bis hin zu Sky. Ergebnis:<br />
Das gesamte Eigenkapital der Unternehmen<br />
lag Ende 2012 bei 64 Milliarden Euro.<br />
Bereinigt um planmäßige Abschreibungen<br />
auf den Goodwill jedoch, läge das Kapital<br />
bei nur 14,6 Milliarden Euro. „Das sind stille<br />
Lasten von knapp 50 Milliarden Euro<br />
oder 77 Prozent des bilanziellen Eigenkapitals“,<br />
so Möhlmann-Mahlau.<br />
FOTOS: REUTERS/TOBIAS SCHWARZ, THORSTEN MARTIN, GETTY IMAGES/FLICKR RF<br />
Überdreht Lanxess schrieb erst nach<br />
dem Vorstandswechsel Vermögen ab<br />
ne regelmäßig Abwertung mehr fordern,<br />
passiert kaum noch etwas“, so Leibfried.<br />
Die Vorstände können so Fehlgriffe bei<br />
Übernahmen lange Zeit vor der Öffentlichkeit<br />
kaschieren, sie kassieren deshalb regelmäßig<br />
mehr variables, von Gewinnen<br />
abhängiges Gehalt oder Boni als ihnen eigentlich<br />
zustünde.<br />
ABWERTUNGEN NAHE NULL<br />
Im Durchschnitt unterstellten die Dax-Unternehmen<br />
früher eine Nutzungsdauer für<br />
ihre Firmenwerte von knapp neun Jahren –<br />
sie schrieben jährlich 11,7 Prozent auf ihren<br />
Goodwill ab, so die Analyse der Universität<br />
St. Gallen. Im Jahr 2002 schrieben die<br />
30 Dax-Finanzchefs angesichts taumelnder<br />
Börsen und schwacher Konjunktur sogar<br />
jeden sechsten Euro ab. Die damals<br />
noch strengen Bilanzregeln zeigten also<br />
Wirkung – zum Schutz der Aktionäre. 2013<br />
kamen gerade einmal 2,6 Milliarden Euro<br />
oder 1,2 Prozent an Abschreibungen zusammen.<br />
Dabei liegt etwa der Dax-Kursindex<br />
immer noch knapp 20 Prozent unter<br />
seinem Hoch (siehe Chart Seite 115). Übersetzt:<br />
Während die Unternehmen seit einem<br />
Jahrzehnt offenbar nur solche Töchter<br />
gekauft haben, deren Wert von keiner Konjunktur-,<br />
Finanz- oder geopolitischen Krise<br />
tangiert wird, gestehen Investoren vielen<br />
Unternehmen weniger Wert zu als vor 14<br />
Jahren, als der Dax-Kursindex sein letztes<br />
Hoch erreichte. Der Dax-Kursindex spiegelt<br />
die echte Wertentwicklung der 30 Dax-<br />
Aktien wider; im bekannten Dax selbst<br />
werden Dividenden noch dazugerechnet.<br />
„Nach den aktuellen Bilanzierungsregeln<br />
lässt sich ohne Übertreibung von einer<br />
Goodwill-Blase sprechen, die stetig<br />
wächst“, so Thomas Möhlmann-Mahlau,<br />
Professor für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere<br />
Rechnungslegung und Steuern,<br />
an der Hochschule Bremen. „Dass es sich<br />
um eine Blase handelt, ist nicht auszuschließen<br />
und ist weder von Analysten<br />
noch von Anlegern erkennbar“, sagt Bilanzexperte<br />
Brösel von der Fernuni Hagen.<br />
Möhlmann-Mahlau hat jüngst gemeinsam<br />
mit Frank Sündermann, Leiter Kreditanalyse<br />
der KBC Bank, und Tobias Gundel,<br />
Berater bei Boege Rohde Luebbehuesen in<br />
Hamburg, 18 bekannte deutsche börsennotierte<br />
Unternehmen abgeklopft, von<br />
»Ganz ohne<br />
Übertreibung<br />
lässt sich von<br />
einer Blase<br />
sprechen«<br />
Thomas Möhlmann-Mahlau,<br />
Uni Bremen<br />
NEUER VORSTAND KEHRT AUS<br />
Einer der Gründe: Selbst während der Finanzkrise,<br />
als sich die Kurse der Dax-Unternehmen<br />
im Durchschnitt mehr als halbierten,<br />
ebenso wie mehrheitlich die anderer<br />
europäischer Unternehmen, waren höhere<br />
Goodwill-Abschreibungen „wider Erwarten<br />
überwiegend ausgeblieben“. Das ist<br />
die Quintessenz einer Studie, die Silvia<br />
Rogler, Professorin für Rechnungswesen<br />
und Controlling an der TU Bergakademie<br />
Freiberg, vergangenes Jahr vorstellte (WirtschaftsWoche<br />
32/2013). Nach der Durchsicht<br />
von 640 Bilanzen von 160 deutschen<br />
börsennotierten Unternehmen zogen Rogler<br />
und ihr Team ein erschreckendes Fazit:<br />
Größere Abschreibungen auf die Wackelposition<br />
Goodwill gab es fast nur, wenn<br />
Vorstände ausgetauscht wurden. Neue Manager<br />
räumen offenbar die Bilanzen<br />
schnell auf, damit ihnen milliardenschwere<br />
Fehlinvestitionen ihrer Vorgänger nicht<br />
irgendwann vor die Füße fallen. Ein neuer<br />
Finanzvorstand hält dann gleich 39 Prozent<br />
der Goodwill-Position für nicht mehr<br />
tragbar, Vorstandschefs veranlassen eine<br />
ebenfalls noch dramatische Abwertung<br />
um im Durchschnitt 31 Prozent, so das Ergebnis<br />
der Uni Freiberg.<br />
Siemens etwa begann erst nach einem<br />
Chefwechsel auf dem Posten des Diagnostik-Vorstands<br />
vor gut vier Jahren seine für<br />
elf Milliarden Euro zusammengekaufte Diagnostik-Sparte<br />
abzuwerten. Nur vier Monate<br />
nachdem seinerzeit Michael Reitermann<br />
dort den Chefposten übernommen<br />
hatte, vermiesten Abwertungen über 1,4<br />
Milliarden Euro erstmals das Konzernergebnis.<br />
Auch der im vergangenen Jahr neu<br />
angetretene Puma-Chef Björn Gulden<br />
kündigte kurz nach seinem Amtsantritt Ende<br />
2013 erst einmal Firmenwertabschreibungen<br />
und einen Gewinneinbruch an.<br />
Jüngstes Beispiel im Dax ist der Chemiker<br />
Lanxess, der just zum Zeitpunkt des<br />
Stabwechsels auf dem Posten des Vorstandschefs<br />
Ende Februar dieses Jahres<br />
den Goodwill abwertete und gleichzeitig<br />
die Dividende um die Hälfte strich. Grund<br />
war nach offizieller Lesart nicht die mög-<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 107<br />
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Geld&Börse<br />
KENNZAHLEN<br />
Wortreich<br />
angepasst<br />
An welchen Gewinnziffern sich<br />
Anleger noch orientieren können.<br />
Die International Financial Reporting<br />
Standards (IFRS) sind ein internationaler<br />
Bilanzstandard, der in rund 120 Ländern<br />
angewendet wird. Seit 2005 sind die<br />
IFRS in Deutschland Pflicht für den Konzernabschluss<br />
aller Unternehmen, die<br />
Anleihen oder Aktien öffentlich notiert<br />
haben. Allerdings sind viele Unternehmenschefs<br />
nicht einverstanden mit der<br />
üblichen Gewinn-und-Verlust-Rechnung<br />
und präsentieren Anlegern deshalb eine<br />
Vielzahl von Ertragszahlen, die nichts mit<br />
den IFRS zu tun haben. Regelmäßig sind<br />
diese Gewinnzahlen bereinigt, adjusted<br />
oder angepasst, wie es dann wortreich<br />
heißt. Fällt unterm Strich in Wahrheit ein<br />
Wasser auf die Mühle Das nachhaltige<br />
Nettoergebnis von RWE ist kein Maßstab<br />
Verlust an, hantieren die Vorstände naturgemäß<br />
lieber mit schwarzen Zahlen; statt<br />
eines müden Jahresüberschusses zeigen<br />
sie lieber eine tolle Gewinnsteigerung.<br />
Alles machbar, da es für die Präsentation<br />
der Ertragssituation keine Regeln, keine<br />
Regulierung und keine Sanktion gibt.<br />
GEWINN-JO-JO<br />
Die Deutsche Telekom etwa verkauft aktuell<br />
ihren Aktionären ein „bereinigtes<br />
Ebitda“ (Ergebnis vor Steuern, Zinsen, regelmäßigen<br />
Abschreibungen und Sonderabschreibungen<br />
auf aufgekaufte Unternehmen<br />
([Firmenwerte/Goodwill]) als<br />
Kernkennzahl. RWE-Aktionäre sollen sich<br />
mit einem „nachhaltigen Nettoergebnis“<br />
anfreunden, bei E.On geht es um den<br />
„nachhaltigen Konzernüberschuss“ bei<br />
Konkurrent EnBW um den „adjusted Konzernüberschuss<br />
ohne neutralen Konzernfehlbetrag“,<br />
Linde stellt ein „operatives<br />
Konzernergebnis“ in den Vordergrund,<br />
das ein „Ebitda inklusive des anteiligen<br />
Ergebnisses aus assoziierten Unternehmen<br />
und Joint Ventures“ ist. Durchschaubar<br />
ist das nicht. Regelmäßig ändern viele<br />
Unternehmen auch die Gewinnkennzahlen,<br />
an denen sie gemessen werden wollen.<br />
Diese sind also schon von Jahr zu<br />
Jahr bei demselben Unternehmen möglicherweise<br />
schwer vergleichbar, von Unternehmen<br />
zu Unternehmen in der Regel<br />
ohnehin oft nicht mehr.<br />
SCHÖNWETTERKENNZAHL<br />
Doch welche Kennzahlen sind wie einzuordnen?<br />
Eine Übersicht:<br />
Ebitda ist eine Schönwetterkennzahl, die<br />
keinem Bilanzstandard unterliegt. Sie<br />
kann von Unternehmen zu Unternehmen<br />
unterschiedlich errechnet sein. Eine Aussagekraft<br />
hat die Kennzahl im Verhältnis<br />
zum Schuldenstand (je geringer die Relation<br />
zwischen Ebitda zu Schulden, desto<br />
besser steht das Unternehmen bei seinen<br />
Verbindlichkeiten da).<br />
Ebita Ergebnis vor Steuern, Zinsen, regelmäßigen<br />
Abschreibungen. Ebenfalls eine<br />
wenig taugliche Schönwetterkennzahl.<br />
Ebit Ergebnis vor Steuern und Zinsen.<br />
Kann als operatives Ergebnis (Betriebsergebnis)<br />
herhalten, falls keine außerordentlichen<br />
Zinsausgaben oder -einnahmen<br />
anfallen. Ist Letzteres nicht der Fall,<br />
zählen folgende Größen:<br />
Ebt Ergebnis vor Steuern sowie der<br />
Nettogewinn (Jahresüberschuss) als<br />
Kernkennzahl für den Aktionär. Aus dem<br />
Jahresüberschuss errechnet sich der<br />
Gewinn je Aktie, wenn der Nettogewinn<br />
durch die Anzahl der ausgegebenen Aktien<br />
geteilt wird. Der aktuelle Aktienkurs<br />
geteilt durch den Gewinn je Aktie ergibt<br />
dann das KGV (Kurs-Gewinn-Verhältnis).<br />
Da heutzutage allerdings einige Unternehmen<br />
eben mit bereinigten Nettoergebnissen<br />
rechnen, und diese von vielen<br />
Analysten kritiklos übernommen werden,<br />
sind selbst Ergebnisse je Aktie und damit<br />
die KGVs nicht miteinander vergleichbar.<br />
Anleger finden die wahren Nettozahlen<br />
aber in den Quartals- und Geschäftsberichten.<br />
»<br />
licherweise längst fällige Beseitigung<br />
von Altlasten, sondern angeblich „Veränderungen<br />
im Wettbewerbsumfeld“. So oder<br />
so tickerten die Nachrichtenagenturen<br />
„Schock für Aktionäre“, nachdem der Lanxess-Kurs<br />
binnen Sekunden um sechs Prozent<br />
abgerutscht war.<br />
Aktuell dürften sich Bilfinger-Aktionäre<br />
fragen, ob nach Vorstandswechsel und drei<br />
dramatischen Prognosekürzungen binnen<br />
weniger Monate die knapp 1,9 Milliarden<br />
Euro Goodwill in der Bilanz des Baudienstleisters<br />
noch zu rechtfertigen sind.<br />
NOTORISCHER ÜBEROPTIMISMUS<br />
Was vielen entgeht, das hat die europäische<br />
Wertpapierbehörde ESMA in einer<br />
umfangreichen Studie in den Bilanzen von<br />
235 europäischen Konzernen aus 23 Ländern<br />
ermittelt: Eine Verschleierung von<br />
Zahlen sei nicht die Ausnahme, sondern<br />
die Regel, heißt es da. Die Prüfer aus Paris<br />
ermittelten auch, dass nahezu alle Unternehmen<br />
von sehr optimistischen Wachstumsraten<br />
ihrer Töchter ausgingen. Grund:<br />
Wer die Zukunft rosarot malt, der muss<br />
heute auf den Goodwill nicht abwerten<br />
und bleibt in seiner Gewinnrechnung in<br />
den schwarzen Zahlen.<br />
Einer neuen Analyse von Inge Wulf, Professorin<br />
am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre,<br />
insbesondere Unternehmensrechnung,<br />
an der TU Clausthal, zufolge,<br />
finden Anleger in den Zahlenwerken<br />
der Unternehmen sogar häufig nicht einmal<br />
Zukunftserwartungen, die sie infrage<br />
stellen könnten. So fehlten im Krisenjahr<br />
2008 bei gleich 8 der 30 Dax-Unternehmen<br />
quantitative Angaben zum Wachstum im<br />
Geschäftsbericht, darunter die Deutsche<br />
Telekom oder SAP. Drei Jahre später drückten<br />
sich im Dax BMW, Daimler und ThyssenKrupp<br />
vor solchen eigentlich zwingenden<br />
Angaben. Ein weiteres Ergebnis der<br />
Studie der TU Clausthal: Während der Finanzkrise<br />
haben die Dax-Unternehmen<br />
„vermutlich“ interne Zinssätze so angepasst,<br />
um bei den Milliarden an Goodwill<br />
„keine“ oder nur „eine geringere Wertminderung<br />
zu buchen, jedoch kann keine<br />
Plausibilitätsprüfung vorgenommen werden,<br />
da Detailangaben fehlen“, so Wulf.<br />
In einer seiner letzten großen Studien<br />
widmete sich auch der im Januar dieses<br />
Jahres verstorbene Karlheinz Küting dem<br />
Thema Goodwill. Der wohl bekannteste<br />
deutsche Bilanzexperte leitete lange Jahre<br />
das Centrum für Bilanzierung und Prüfung<br />
an der Universität des Saarlandes. Er untersuchte<br />
134 deutsche börsennotierte Ge-<br />
108 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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FOTOS: GREGOR SCHLÄGER, PR<br />
Willkommen im Datendschungel Wertkorrekturen<br />
sind bei der Telekom die Regel<br />
sellschaften aus Dax, MDax, SDax und<br />
TecDax. Der Studie zufolge unterstellen die<br />
Unternehmen, dass sie aus den gezahlten<br />
Übernahmeprämien für neue Töchter 204<br />
Jahre lang Nutzen ziehen werden. Je nach<br />
Statistik und Datenbasis liegt die Lebensdauer<br />
von Unternehmen aber heutzutage<br />
im Durchschnitt bei 12 bis maximal 20 Jahren;<br />
bei 204 Jahren jedenfalls hat sie nie gelegen.<br />
„Die Firmenchefs setzen offenbar<br />
beim Goodwill im Durchschnitt eine nahezu<br />
unbegrenzte Nutzungsdauer an“, sagt<br />
Thorsten Sellhorn, Inhaber des Lehrstuhls<br />
für Rechnungswesen und Wirtschaftsprüfung<br />
an der Ludwig-Maximilians-Universität<br />
München, „sonst wäre ein Mehr an Abschreibungen<br />
zu beobachten.“ Dabei sehen<br />
die Bilanzregeln vor, dass der Zeitraum,<br />
über den ein Goodwill nutzbar ist,<br />
zwar unbestimmt, aber eben keinesfalls<br />
unbegrenzt ist. „Der einst eingebuchte<br />
Goodwill sollte also wieder bei null landen.<br />
Die Frage ist hierbei nicht, ob, sondern nur<br />
wann“, so Sellhorn.<br />
Anleger tun gut daran, mögliche Abwertungen<br />
des Goodwill in Betracht zu ziehen.<br />
Denn die Zahl derer, die für die Rückkehr<br />
zur alten Regelung regelmäßiger Abschreibung<br />
plädieren, steigt seit Jahren.<br />
Aufsehen erregt, dass es seit einem Jahr<br />
in den USA nicht börsennotierten Unternehmen<br />
wieder erlaubt ist, ihre Firmenwerte<br />
regelmäßig abzuschreiben, und es<br />
Überlegungen gibt, dies auch wieder für an<br />
den Börsen gehandelte Unternehmen einzuführen.<br />
Die Analysten der unabhängigen<br />
Schweizer Independent Credit View (ICV)<br />
haben aktuell ermittelt, dass Europas Banken<br />
1044 Milliarden Euro an Kapital benötigen.<br />
Diese Megasumme kommt unter anderem<br />
deshalb zustande, weil die ICV-Analysten<br />
keinen Euro an Goodwill für werthaltig<br />
halten. Und in Japan haben die Bilanzregulatoren<br />
erst Ende Juli ein neues<br />
Papier zum Bilanzrecht vorgelegt: Goodwill,<br />
so heißt es unter anderem darin, sollte<br />
regelmäßig linear abgeschrieben werden,<br />
„maximal über 20 Jahre“.<br />
Tokio ist nur scheinbar weit. Bei den Finanzmanagern<br />
in Paris, München oder<br />
Mailand löst aktuell die European Financial<br />
Reporting Advisory Group (Efrag) große<br />
Schere läuft auseinander<br />
Wie sich die als Vermögen bilanzierten Übernahmeprämien<br />
der Dax-30-Unternehmen<br />
entwickelt haben und wie viel sie darauf abgeschrieben<br />
haben (in Millionen Euro)<br />
250000<br />
200000<br />
150000<br />
100000<br />
50000<br />
Übernahmeprämien<br />
(Goodwill)<br />
Abschreibung<br />
0<br />
00 02 04 06 08 10 12<br />
Quelle: Universität St. Gallen<br />
22000<br />
17000<br />
12000<br />
7000<br />
2000<br />
Aufregung aus. „Dieses für die Übernahme<br />
der Bilanzregeln IFRS in Europa entscheidende<br />
Gremium hat sich nun auch öffentlich<br />
klar dafür ausgesprochen, wieder zu<br />
regelmäßigen Goodwill-Abschreibungen<br />
zurückzukehren“, so Leibfried. Zu den wesentlichen<br />
Aufgaben der Efrag gehört die<br />
Beratung der EU-Kommission im Rahmen<br />
der Umsetzung von Bilanzregeln in der Europäischen<br />
Union. Gemeinsam mit dem<br />
Accounting Standards Board Japan und<br />
der Organismo Italiano di Contabilità hat<br />
sie ein gut 50-seitiges Pamphlet verfasst<br />
mit dem provakanten Titel: Sollte Goodwill<br />
nicht getilgt werden? (Should Goodwill still<br />
not be amortised?) Noch bis Ende nächster<br />
Woche haben Investoren, Wirtschaftsprüfer<br />
und Unternehmen Zeit, dazu Stellung<br />
zu beziehen.<br />
Solange eine regelmäßige Tilgung der<br />
Firmenwerte noch nicht obligat ist, so lange<br />
legt die Berliner DPR, vulgo Bilanzpolizei,<br />
ihr Hauptaugenmerk auf den Bilanzposten<br />
Goodwill. Zu Recht. Denn dort fanden die<br />
Prüfer seit Gründung der DPR im Juli 2005<br />
bisher die meisten Falschbilanzierungen.<br />
DRUCK DER BILANZWÄCHTER<br />
Spektakulär ist unter anderem Adidas. Binnen<br />
zwei Jahren kassierte der Sportartikelkonzern<br />
jeweils eine Rüge von der DPR.<br />
Adidas hatte den Werthaltigkeitstest des<br />
Goodwill zunächst unerlaubterweise für<br />
Einheiten durchgeführt, die größer waren<br />
als die ansonsten in der Bilanz gezeigten<br />
Segmente. Später mussten die Herzogenauracher<br />
einräumen, dass 2011 in der<br />
Summe mehrerer Fehlbilanzierungen der<br />
Gewinn je Aktie um 27 Cent zu hoch ausgewiesen<br />
war. 2012 rang sich Adidas erstmals<br />
zu Wertberichtigungen durch, vor allem<br />
auf die 2005 für 3,8 Milliarden Dollar übernommene<br />
US-Tochter Reebok – nicht besonders<br />
wagemutig ist der Verdacht, dass<br />
dies auf Druck der Bilanzwächter geschah.<br />
Der Effekt der Abschreibungen über 265<br />
Millionen Euro war ein nicht erwarteter<br />
Gewinneinbruch. Und auch für das laufende<br />
Geschäftsjahr könnte eine Abwertung<br />
drohen, nachdem Adidas im Sommer vor<br />
schwachen Geschäften unter anderem in<br />
Russland und in der Golfsparte warnte.<br />
Nach wie vor weist Adidas 1,2 Milliarden<br />
Euro Goodwill aus.<br />
Kein Wunder, dass sich auch dieses Jahr<br />
die Berliner Prüfstelle auf den Goodwill<br />
Impairment Test, den Werthaltigkeitstest,<br />
konzentriert. Beim Impairment Test werden<br />
einzelne Geschäftseinheiten unter die<br />
Lupe genommen. Zeigt sich bei einer<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 109<br />
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Geld&Börse<br />
senius Medical Care (FMC). Die Hessen<br />
schlossen im Jahr 2006 den Kauf der US-<br />
Dialysetochter Renal Care ab. Vom Gesamtkaufpreis<br />
über 4,16 Milliarden Dollar<br />
entfielen gleich 3,39 Milliarden oder 81,5<br />
Prozent auf die Position Goodwill, gerade<br />
einmal 770 Millionen Dollar an echtem<br />
Vermögen wurden identifiziert. FMC zahlte<br />
also eine irrsinnig anmutende Prämie<br />
von 440 Prozent auf die Renal-Werte. Auch<br />
heute noch steht diese Prämie vollständig<br />
als Vermögen in der Bilanz. Dabei lahmten<br />
zuletzt die Geschäfte: 2013 konnte FMC<br />
den Mittelzufluss aus dem laufenden Geschäft<br />
gerade mal stabil halten. Grund sind<br />
Sparpläne im US-Gesundheitswesen, die<br />
Erstattungen für die Dialyse betreffen.<br />
»<br />
Geschäftseinheit, dass die ursprünglich<br />
angesetzten Annahmen über Ertrag, Cash-<br />
Flow oder Kapitalkosten zu optimistisch<br />
waren, muss eine Abwertung erfolgen – in<br />
der Theorie. Die Konsistenz und Verlässlichkeit<br />
der Cash-Flow-Prognosen, die Ableitung<br />
von Wachstumsraten und von Zinssätzen<br />
sowie „wesentliche Bewertungsprämissen“<br />
stehen bei der DPR auf dem Prüfstand.<br />
„Vorsichtig gesagt, werten die Unternehmen<br />
seit der Pflichtumstellung auf internationale<br />
Rechnungslegungsvorschriften<br />
im Jahr 2005 den Goodwill zurückhaltend<br />
ab“, sagt Bettina Thormann, Vizepräsidentin<br />
der DPR.<br />
ABSICHTLICH KLEINGERECHNET<br />
Die frühere Professorin für Betriebliche<br />
Steuerlehre und Unternehmensprüfung an<br />
der Fachhochschule Bielefeld beobachtet,<br />
dass die „Kaufpreise bei Unternehmenszusammenschlüssen<br />
aufgrund der positiven<br />
Zukunftserwartungen an Synergien und<br />
zukünftige Mittelzuflüsse oftmals ein Vielfaches<br />
des aktuellen Vermögens der Kaufobjekte<br />
betragen“. Wachstum, so Thormann,<br />
finde „bei einigen Unternehmen<br />
nicht mehr vorrangig organisch statt, sondern<br />
durch regelmäßige Unternehmenskäufe“.<br />
Ein Motiv könnte sein, dass der Jahresgewinn<br />
der Unternehmen „nicht durch<br />
planmäßige Abschreibungen des Goodwill<br />
belastet wird“. Ein harscher Vorwurf: Statt<br />
mühevoll und (zunächst) zulasten des<br />
Viel Kies HeidelbergCement zahlte für<br />
Konkurrent Hanson massiven Aufschlag<br />
Gewinns ihr Unternehmen weiterzuentwickeln,<br />
wird wegen laxer Bilanzvorschriften<br />
auf Teufel komm raus akquiriert. Zudem, so<br />
der Verdacht, rechnen Unternehmen das<br />
Vermögen ihrer neuen Töchter absichtlich<br />
klein, und den Goodwill hoch. Grund:<br />
Lizenzen, Patente oder Gebäude müssen<br />
regelmäßig abgeschrieben werden; Goodwill<br />
eben nicht. „Dort gibt es eben nur<br />
butterweiche Bewertungsparameter“, sagt<br />
Leibfried von der Uni St. Gallen.<br />
Deshalb ziehen viele Unternehmen ihre<br />
einst gezahlten Übernahmeprämien durch<br />
die Bilanz, komme was wolle. Beispiel Fre-<br />
»Für den<br />
Goodwill gibt es<br />
nur butterweiche<br />
Bewertungsparameter«<br />
Peter Leibfried,<br />
Uni St. Gallen<br />
SORGLOSE ZUKÄUFE<br />
Kein großes Interesse an Abschreibungen<br />
zeigt auch ein anderer Konzern, der viele<br />
Geschäfte mit Krankheiten betreibt. Der<br />
Bayer-Konzern hatte 2006 den Konkurrenten<br />
Schering für rund 17 Milliarden Euro<br />
übernommen. Effekt: Die Firmenwerte<br />
sprangen im selben Jahr von 2,6 auf 8,2 Milliarden<br />
Euro. Abwertung seither: null Euro.<br />
Grund: Jahr für Jahr „erachtet“ der Bayer-<br />
Vorstand die „vorgenommenen Schätzungen“<br />
für „angemessen“, wie es im Geschäftsbericht<br />
2013 zu den Firmenwerten heißt.<br />
Und die Aufsichtsräte nicken diese Schätzungen<br />
munter ab. Wer über Jahre nach<br />
Übernahmen kein Haar in der Suppe findet,<br />
der kleckert nicht. Obwohl der Bayer-Goodwill<br />
schon zuletzt bei knapp zehn Milliarden<br />
Euro oder annähernd 50 Prozent des<br />
Eigenkapitals lag, trauen sich die Leverkusener,<br />
noch eins draufzupacken. Zumindest<br />
ist es äußerst unwahrscheinlich, dass Bayer<br />
nach seiner jüngst annoncierten Übernahme<br />
des Geschäfts mit rezeptfreien Medikamenten<br />
von der amerikanischen Merck &<br />
Co. über 14,2 Milliarden Dollar nicht erneut<br />
Milliarden an Goodwill kreiert. Für Produkte<br />
etwa zur Fußpflege zahlt Bayer einen<br />
frappierend hohen Preis: gleich das<br />
21-Fache des Gewinns vor Steuern, Zinsen,<br />
Abschreibungen und Amortisation<br />
(Ebitda). Schon Preise um das Zehnfache<br />
Ebitda gelten gemeinhin als teuer. Je höher<br />
der Preis, gemessen am Gewinn des Kaufobjektes,<br />
desto höher der Goodwill, so ist<br />
es meist die Regel.<br />
Bayer ist nicht allein. 2006 schaufelte<br />
BASF rund 50 Prozent des Kaufpreises von<br />
3,8 Milliarden Euro nach dem Kauf des Katalysatorenherstellers<br />
Engelhard als Goodwill<br />
in die Bilanz. Continental packte ein<br />
Jahr später knapp sechs Milliarden Euro<br />
»<br />
FOTOS: BLOOMBERG NEWS/CHRIS RATCLIFFE, GETTY IMAGES/FLICKR RF<br />
110 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Geld&Börse<br />
Stille Lasten<br />
Viele Dax-Unternehmen ziehen seit Jahren Übernahmeprämien durch die Bilanz<br />
und schreiben diese kaum noch ab<br />
Unternehmen<br />
Adidas<br />
Allianz<br />
BASF<br />
BMW<br />
Bayer<br />
Beiersdorf<br />
Commerzbank<br />
Continental<br />
Daimler<br />
Deutsche Bank<br />
Deutsche Börse<br />
Deutsche Post<br />
Deutsche Telekom<br />
E.On<br />
Fresenius<br />
Fresenius Med. Care<br />
HeidelbergCement<br />
Henkel<br />
Infineon<br />
K + S<br />
Lanxess<br />
Linde<br />
Lufthansa<br />
Merck<br />
Münchener Rück<br />
RWE<br />
SAP<br />
Siemens<br />
ThyssenKrupp<br />
Volkswagen<br />
bilanzierte<br />
Übernahmeprämien<br />
(Goodwill)<br />
in Millionen<br />
Euro (2013)<br />
1204<br />
11 544<br />
6 872<br />
369<br />
9 862<br />
63<br />
2080<br />
5 521<br />
681<br />
9 074<br />
2043<br />
10 667<br />
14 562<br />
12 797<br />
14 826<br />
8 453<br />
10 055<br />
6 353<br />
21<br />
606<br />
147<br />
10 395<br />
616<br />
4 583<br />
3292<br />
11 374<br />
13 688<br />
17 883<br />
3 493<br />
23 730<br />
Goodwill<br />
in Prozent<br />
des Eigenkapitals<br />
per Ende<br />
2013<br />
22,0<br />
21,8<br />
24,7<br />
1,0<br />
47,4<br />
1,9<br />
7,7<br />
59,2<br />
1,6<br />
16,5<br />
62,5<br />
106,2<br />
45,4<br />
35,2<br />
111,8<br />
122,9<br />
79,9<br />
66,8<br />
0,6<br />
17, 8<br />
7,7<br />
76,5<br />
10,1<br />
41,4<br />
12,6<br />
93,7<br />
85,3<br />
63,6<br />
139,1<br />
26,4<br />
1 seit Dax-Aufnahme 2012; 2 2003 und 2004; Quelle: Universität St. Gallen, Institut für Accounting, Controlling<br />
und Auditing; eigene Berechnungen; Zahlen gerundet<br />
Der Goodwill gehört zu den sehr wenigen<br />
Vermögenspositionen in der Bilanz, die<br />
Unternehmen nicht für sich genommen<br />
veräußern können – im Gegensatz etwa<br />
zu einer Maschine oder einer Lizenz. Der<br />
Wert dieses Postens entsteht wie folgt:<br />
Erwirbt ein Unternehmen eine neue Tochter,<br />
ist das Management verpflichtet, das<br />
gekaufte Vermögen buchhalterisch in<br />
Einzelteile zu zerlegen. Fällt der Kaufpreis<br />
für die neue Tochter höher aus als das<br />
Abschreibung heute<br />
durchschnittliche<br />
jährliche<br />
Abschreibung<br />
2005–2013<br />
in Millionen<br />
Euro<br />
35<br />
98<br />
57<br />
0<br />
0<br />
24<br />
79<br />
293<br />
3<br />
234<br />
1<br />
117<br />
1328<br />
556<br />
0<br />
0<br />
120<br />
6<br />
3<br />
0<br />
6 1<br />
0<br />
33<br />
7<br />
68<br />
247<br />
0<br />
224<br />
62<br />
1<br />
Durchschnitt<br />
2005–2013:<br />
Abschreibung<br />
relativ zum<br />
durchschnittlich<br />
bilanzierten<br />
Goodwill (Prozent)<br />
2,7<br />
0,8<br />
1,1<br />
0,0<br />
0,0<br />
23,6<br />
5,0<br />
5,9<br />
0,4<br />
2,8<br />
0,1<br />
1,1<br />
7,1<br />
3,7<br />
0,0<br />
0,0<br />
1,4<br />
0,1<br />
2,8<br />
0,0<br />
3,4 1<br />
0,0<br />
5,5<br />
0,2<br />
2,0<br />
2,0<br />
0,0<br />
1,6<br />
1,7<br />
0,0<br />
Abschreibung früher<br />
durchschnittliche<br />
jährliche<br />
Abschreibung<br />
2000–2004<br />
in Millionen<br />
Euro<br />
43<br />
964<br />
227<br />
kein Goodwill<br />
197<br />
8<br />
191<br />
48<br />
101<br />
360<br />
43<br />
291<br />
4603<br />
674<br />
0<br />
65<br />
200<br />
265<br />
35<br />
1<br />
50 2<br />
124<br />
321<br />
121<br />
355<br />
518<br />
19<br />
571<br />
158<br />
106<br />
Durchschnitt<br />
2000–2004:<br />
Abschreibung<br />
relativ zum<br />
durchschnittlich<br />
bilanzierten<br />
Goodwill (Prozent)<br />
7,2<br />
8,5<br />
9,7<br />
kein Goodwill<br />
11,7<br />
40,2<br />
19,0<br />
3,3<br />
3,9<br />
4,3<br />
5,9<br />
11,1<br />
15,2<br />
8,0<br />
0,0<br />
2,9<br />
8,3<br />
12,8<br />
16,1<br />
26,8<br />
33,7 2<br />
4,0<br />
37,6<br />
7,3<br />
9,6<br />
6,0<br />
15,4<br />
9,5<br />
4,2<br />
27,7<br />
neu bewertete Vermögen, wird diese<br />
Übernahmeprämie als Goodwill in die<br />
Bilanz gebucht. Seit zehn Jahren wird in<br />
einem komplexen Verfahren geprüft, ob der<br />
Goodwill noch werthaltig ist. Seither fallen<br />
neu erworbene Töchter nur noch auffällig<br />
selten durch. Deshalb fordern Experten,<br />
den Goodwill wieder wie bis 2004 regelmäßig<br />
abzuschreiben. Das würde das<br />
Eigenkapital vieler Unternehmen enorm<br />
belasten – teilweise wäre es ganz futsch.<br />
»<br />
Goodwill in die Bilanz, nachdem die<br />
Niedersachsen Siemens die Tochter VDO<br />
Automotive für elf Milliarden Euro abgekauft<br />
hatten. HeidelbergCement ermittelte<br />
gleich 8,9 Milliarden Euro als Übernahmeprämie<br />
auf das Vermögen des Konkurrenten<br />
Hanson; bezahlt hatte Heidelberg-<br />
Cement mit zwölf Milliarden Euro kaum<br />
mehr. Sellhorn von der Uni München stellte<br />
für 18 Dax-Transaktionen im Jahr 2012<br />
fest, dass fast die Hälfte aller gezahlten<br />
Kaufpreise für neue Töchter als Goodwill in<br />
der Bilanz auftauchte. Nicht einmal ein<br />
Drittel der Kaufpreise war wirklich „hartes<br />
Vermögen“, so Sellhorn.<br />
Sorglosigkeit signalisiert nicht nur der<br />
hohe Kaufpreis, den Bayer bereit ist, zu<br />
zahlen. Im ersten Halbjahr 2014 kündigten<br />
Unternehmen nach Daten von Thomson<br />
Reuters Fusionen über fast 1800 Milliarden<br />
Dollar an – knapp drei Viertel mehr als vor<br />
Jahresfrist. Das ist das höchste Volumen<br />
seit dem ersten Halbjahr 2007, kurz bevor<br />
der Finanzcrash begann. Ein Großteil der<br />
damaligen Übernahmen hatten den Goodwill<br />
weiter aufgepumpt, so wird es auch<br />
diesmal sein. Dafür sprechen die enormen<br />
einzelnen Summen, die annonciert sind.<br />
Der US-Telekomkonzern AT&T will den<br />
Satellitenfernseh-Betreiber DirecTV inklusive<br />
Schulden für 67 Milliarden Dollar kaufen;<br />
der Medienriesen Comcast will sich<br />
den Kabelanbieter Time Warner Cable für<br />
45 Milliarden Dollar einverleiben; das<br />
Überwachungsnetzwerk Facebook hat den<br />
Kurzmitteilungsanbieter WhatsApp für<br />
rund 19 Milliarden Dollar erworben. Auch<br />
das in Deutschland per Ende Juli annoncierte<br />
Übernahmevolumen liegt mit knapp<br />
64 Milliarden Dollar auf dem höchsten<br />
Stand seit sechs Jahren.<br />
KURS PASST SICH NACH UNTEN AN<br />
Anleger dürften über kurz oder lang vor allem<br />
bei Unternehmen bluten, bei denen der<br />
Goodwill einen hohen Anteil am Eigenkapital<br />
ausmacht oder absolut betrachtet sehr<br />
hoch ist (siehe Tabelle links). Denn wenn<br />
das Eigenkapital über Gebühr belastet wird,<br />
drohen Kapitalerhöhungen. Die Konzerngewinne<br />
verteilen sich dann auf mehr Aktien,<br />
das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) steigt<br />
entweder, oder der Kurs passt sich nach unten<br />
an. Die KGVs steigen auch kräftig in die<br />
Höhe, wenn Anleger regelmäßige Abschreibungen<br />
auf den Goodwill unterstellen.<br />
In den vergangenen beide