08.09.2014 Aufrufe

Wirtschaftswoche Ausgabe vom 08.09.2014 (Vorschau)

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37<br />

8.9.2014|Deutschland €5,00<br />

3 7<br />

4 1 98065 805008<br />

Der 200-Milliarden-Euro-Bluff<br />

Dax-Konzerne im Stresstest<br />

Alibaba und die Räuber<br />

Chinas Megakonzerne greifen an<br />

iDoc<br />

Apple und Google krempeln<br />

das Geschäft mit unserer<br />

Gesundheit um.<br />

Die Folgen für Patienten,<br />

Ärzte und Versicherer<br />

Schweiz CHF 8,20 | Österreich €5,30 | Benelux€5,30 | Griechenland€6,00 | GroßbritannienGBP 5,40 | Italien€6,00 | Polen PLN27,50 | Portugal€6,10 | Slowakei €6,10 | Spanien€6,00 | Tschechische Rep. CZK200,- | Ungarn FT 2140,-<br />

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Einblick<br />

Im Gesundheitswesen bahnt sich eine digitale<br />

Revolution an. Deutschland hinkt der Entwicklung<br />

mal wieder hinterher. Von Franz W. Rother<br />

Vom Heilen und Teilen<br />

FOTO: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

Bislang ist es nur ein Spiel. Der<br />

Fitness-Tracker am Handgelenk<br />

misst, wie viele Schritte ich im<br />

Laufe des Tages zurücklege und<br />

wie oft mein Herz dabei schlägt, wann ich<br />

wach bin und wann ich ruhe. Das angeschlossene<br />

Smartphone kann per Barcode-Scanner<br />

errechnen, wie viele Kalorien<br />

die Lebensmittel haben, die ich zu<br />

mir nehme – und wie viele davon im Laufe<br />

des Tages verbrannt werden.<br />

Die Selbstvermessung des Menschen ist<br />

in vollem Gange. Das neue iPhone von<br />

Apple eröffnet mit seiner Healthbook-App<br />

noch einmal andere Möglichkeiten: Das<br />

Programm verknüpft die Informationen<br />

von Schrittzähler, Pulsmesser sowie weiteren<br />

Sensoren mit Ergebnissen von Labortests<br />

und anderen medizinischen Daten zu<br />

einer digitalen Patientenakte, die im<br />

Handy oder in der Cloud eines Dienstleisters<br />

gespeichert wird. Damit könnte, wie<br />

wir in der Titelgeschichte schildern (siehe<br />

Seite 86) eine neue Ära in der Gesundheitsvorsorge<br />

anbrechen. Wohin die Entwicklung<br />

gehen könnte, hat US-Autor Dave Eggers<br />

in seinem Roman „The Circle“<br />

aufgezeigt: Nano-Sensoren, die mit einem<br />

Glas Wasser geschluckt werden, sammeln<br />

im Körper Daten über Cholesterinwerte,<br />

Verdauungseffizienz, die Anzahl der roten<br />

Blutkörperchen und die Konzentration von<br />

Schadstoffen. Ein Computerprogramm –<br />

oder ein Arzt, der auf die Daten zugreift –<br />

analysiert die Werte, errechnet daraus Risiken<br />

für bestimmte Krankheiten und leitet<br />

prophylaktische Maßnahmen ein.<br />

„Um zu heilen, müssen wir wissen. Um<br />

zu wissen, müssen wir teilen“, lautet der<br />

Leitspruch der Ärzte in jenem Thriller, das<br />

den Alltag in einem Circle genannten Internet-Konzern<br />

im Silicon Valley schildert.<br />

Ein Schelm, wer dabei an Apple, Google<br />

und Facebook denkt. Was wie eine Utopie<br />

erscheint, könnte schon bald Realität sein.<br />

In den USA ist Telemedizin bereits Alltag,<br />

wird der Fernzugriff auf die Healthbook-<br />

Daten von Ärzten erprobt. Auch hierzulande<br />

schwärmen Gesundheitspolitiker schon<br />

von der Möglichkeit, mithilfe von „Digital<br />

Health“ und Big-Data-Technologien das<br />

Gesundheitssystem zu reformieren: Die<br />

Kosten könnten deutlich gesenkt und<br />

gleichzeitig könnte die Effektivität ärztlicher<br />

Behandlungen erheblich erhöht werden.<br />

Tatsächlich ist die Vorstellung verlockend,<br />

dass sich unsere Gesundheit künftig<br />

mithilfe von Smartphone und Sensorik<br />

so einfach checken lässt wie die Uhrzeit.<br />

Wegen der fortschreitenden Überalterung<br />

der Gesellschaft und der steigenden Lebenserwartung<br />

der Menschen werden uns<br />

schon bald die Beiträge für die Krankenkasse<br />

um die Ohren fliegen. Aber Gesundheitsdaten<br />

sind nun einmal sensibler als<br />

Fitnessdaten oder die Bilder aus dem Familienleben,<br />

die heute bedenkenlos in der<br />

Cloud im Internet gespeichert werden.<br />

Auch müsste zuerst geklärt werden, wem<br />

die Daten gehören und wie sich ein kommerzieller<br />

Handel damit verhindern lässt.<br />

SCHRECKGESPENST FÜR ÄRZTE<br />

Es ist also noch einiges zu klären, bis der<br />

iDoc massentauglich wird. Vor allem aber<br />

sollte die Transparenz nicht nur für die Patienten,<br />

sondern muss für alle anderen Akteure<br />

im Gesundheitswesen gelten – für<br />

Ärzte und Krankenhäuser ebenso wie für<br />

Versicherer und Pharmakonzerne. Seit<br />

bald fünf Jahren gibt es in Deutschland die<br />

elektronische Gesundheitskarte, auf der<br />

bis heute aber nur Versichertendaten und<br />

Tarifinformationen gespeichert sind.<br />

Leicht könnten hier auch Krankengeschichten<br />

und Befunde, Röntgenbilder<br />

und Informationen über verabreichte Medikamente<br />

abgelegt werden. Doppelbehandlungen<br />

ließen sich so verhindern, Behandlungsfehler<br />

ebenso leicht nachweisen<br />

wie die ausbleibende Wirkung teurer Medikamente.<br />

Doch obwohl Sicherheitsexperten<br />

jeden Aspekt der Karte penibel geprüft<br />

haben, sperren sich viele Ärzte und<br />

Kliniken bis heute mit zum Teil aberwitzigen<br />

Argumenten gegen die Digitalisierung.<br />

Klar: Ihre Arbeit würde transparent. Also<br />

wird unter dem Vorwand des Datenschutzes<br />

gemauert und seit Jahren Front gegen<br />

die Karte gemacht.<br />

Vielleicht ist es wirklich an der Zeit, dass<br />

sich Apple der Thematik annimmt. n<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 3<br />

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Überblick<br />

Menschen der Wirtschaft<br />

6 Seitenblick Wertvolle Abfälle am Cern<br />

8 Deutsche Autobauer: Offensive in Thailand<br />

9 EU: Mehr Industrie in Europa | Fleischbranche:<br />

Doch kein Friede bei Tönnies |<br />

Audi: Luxus-Carsharing geplant<br />

10 Interview: Amazon-Cloud-Deutschland-<br />

Chef Martin Geier über Datenschutz |<br />

Germania: Angriff von der Schweiz aus<br />

12 GFT: Verkauf geprüft | VW: Vorkaufsrecht<br />

beim XL1 | Outdoor: Aufwind für Mammut<br />

14 Chefsessel | Start-up einfachlotto<br />

16 Chefbüro Dieter Kempf, Vorstandsvorsitzender<br />

des IT-Dienstleisters Datev<br />

Politik&Weltwirtschaft<br />

20 Bundeshaushalt Mit welchen Tricks<br />

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble<br />

seinen Haushalt schönrechnet<br />

25 Brandenburg Wo der Mensch geht, wo die<br />

Dörfer langsam sterben<br />

28 Parteien Warum es die Liberalen in<br />

Deutschland so schwer haben<br />

34 Ukraine In Slowjansk stehen die Menschen<br />

so loyal zu Kiew wie nie<br />

37 Global Briefing | Berlin intern<br />

Der Volkswirt<br />

40 Kommentar | Nachgefragt<br />

41 Konjunktur Deutschland<br />

42 Rohstoffradar<br />

44 Warum eigentlich... denkt die EZB über<br />

neue Wertpapiergeschäfte nach?<br />

45 Denkfabrik Ökonom Jörg Krämer über den<br />

Kurswechsel der EZB bei der Kontrolle von<br />

Vermögenspreisen<br />

Unternehmen&Märkte<br />

48 China Alibabas Börsengang ist der Startschuss<br />

für weitere Firmen aus dem Reich der<br />

Mitte zum Angriff auf Westkonzerne | Der<br />

Aufstieg des PC-Weltmarktführers Lenovo |<br />

Interview: Lenovo-Chef Yang Yuanqing will<br />

auch Erster bei Handys werden<br />

56 SGL Zweifel am Wunderstoff Carbon<br />

58 Fernbusse Deutsche Anbieter lehren jetzt<br />

auch ausländische Bahnen das Fürchten<br />

60 Elektroautos Mit dem Stromer unterwegs<br />

im E-Mobil-Paradies Norwegen<br />

64 Taxis Antworten auf die wichtigsten Fragen<br />

zum Verbot des Fahrdienstes Uber<br />

66 Interview: Arundhati Bhattacharya<br />

Die Chefin der größten indischen Bank<br />

sucht deutsche Mittelständler für ihr Land<br />

68 Drillisch So wurde der Discounter zu<br />

Deutschlands viertem Mobilfunkbetreiber<br />

72 Spezial Mittelstand Was gegen den Fachkräftemangel<br />

in China hilft | Investieren in<br />

Südostasien | Ein deutscher Maschinenbauer<br />

profitiert von Chinas Pharmaboom<br />

84 Serie: Fit For Future (II) Private-Equity-<br />

Häuser helfen Mittelständlern bei Zukäufen<br />

Titel Visite <strong>vom</strong> iDoc<br />

Tech-Giganten wie Apple und Google<br />

erobern die Medizin. Das traditionelle<br />

Geschäftsmodell der Ärzte, Versicherer<br />

und Pharmahersteller ist in Gefahr –<br />

auch in Deutschland. Seite 86<br />

Glaubt mir<br />

Der Meinungsforscher<br />

Lew Gudkow erklärt,<br />

warum die Russsen<br />

hinter Wladimir Putin<br />

stehen. Seite 124<br />

Angriffslustige Drachen<br />

E-Commerce-Gigant Alibaba ist nicht der einzige chinesische<br />

Konzern, der an die Weltspitze will. Samsung, Amazon und Microsoft,<br />

aber auch deutsche Autobauer müssen sich hüten. Seite 48<br />

TITELILLUSTRATION: DMITRI BROIDO; TITELFOTO: FOTOLIA<br />

4 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Nr. 37, 8.9.2014<br />

Technik&Wissen<br />

86 Medizin Apple und Google wollen uns<br />

helfen, gesünder zu leben und Krankheiten<br />

zu besiegen. Stehen wir am Beginn eines<br />

neuen Zeitalters in der Medizin?<br />

97 Valley Talk<br />

Management&Erfolg<br />

98 Digitale Markenführung Wer seine Kunden<br />

für sich einspannt, ist erfolgreich<br />

FOTOS: TRUNK ARCHIVE/PLATON; ILLUSTRATION: STEFFEN MACKERT, OLIVIER BLAISE, PR<br />

Ganz schön viel Luft<br />

In den Bilanzen der 30 Dax-Unternehmen hat sich eine Blase<br />

aufgebaut. Aktionären drohen deshalb massive Gewinneinbrüche<br />

und erhebliche Verluste an Eigenkapital. Seite 104<br />

Dein Konsument und Helfer<br />

Wer bei der digitalen Markenführung erfolgreich sein will, muss die<br />

Kunden für sich nutzen – als Berater, Entwickler oder Botschafter.<br />

Eine exklusive Studie zeigt, welche Konzerne das schaffen. Seite 98<br />

n Zu Besuch bei Milliardären Ein Jahr lang<br />

machte sich der Autor Dennis Gastmann auf die<br />

Suche nach Reichtum. In Marbella und Monaco,<br />

in Cannes und auf Sylt, in London und Katar. Nun<br />

hat er ein Buch über seine Besuche bei Millionären<br />

und Milliardären geschrieben. Ein Interview<br />

mit Gastmann lesen Sie unter wiwo.de/reichtum<br />

Abenteuer Asien<br />

Für deutsche Mittelständler in<br />

China werden Fachkräftemangel<br />

und steigende Kosten zur wachsenden<br />

Belastung. Doch die richtige<br />

Personalpolitik und Töchter in<br />

anderen Ländern Südostasiens<br />

mildern die Folgen. Seite 72<br />

facebook.com/<br />

wirtschaftswoche<br />

twitter.com/<br />

wiwo<br />

plus.google.com/<br />

+wirtschaftswoche<br />

Geld&Börse<br />

104 Aktien Der 200-Milliarden-Bluff der Dax-<br />

Unternehmen<br />

116 Steuern und Recht Streaming | Eigentümergemeinschaft<br />

| Auslandsrente<br />

118 Geldwoche Kommentar: Sachwert Aktie |<br />

Trend der Woche: Öl | Dax-Aktien: Beiersdorf<br />

| Hitliste: S&P 500 | Aktien: Jenoptik,<br />

YPF | Anleihe: GlaxoSmithKline | Zertifikate:<br />

Allianz | Investmentfonds: Charlemagne<br />

Magna Mena | Chartsignal: Goldminen |<br />

Relative Stärke: BB Biotech<br />

Perspektiven&Debatte<br />

124 Interview Lew Gudkow Russlands<br />

wichtigster Meinungsforscher erklärt,<br />

warum das Volk hinter Putin steht<br />

126 Kost-Bar<br />

Rubriken<br />

3 Einblick, 128 Leserforum,<br />

129 Firmenindex | Impressum, 130 Ausblick<br />

n Lesen Sie Ihre WirtschaftsWoche<br />

weltweit auf iPad oder iPhone:<br />

Diesmal unter anderem mit<br />

einem Videobericht unseres<br />

internationalen Chefkorrespondenten<br />

Florian<br />

Willershausen aus dem<br />

Kriegsgebiet in der Ostukraine.<br />

wiwo.de/apps<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 5<br />

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Seitenblick<br />

FORSCHUNG<br />

Nah am Urknall<br />

Vor genau 60 Jahren wurde bei Genf eines der<br />

weltweit größten Forschungszentren eröffnet: Cern.<br />

Es soll ergründen, wie die Welt entstand und was sie<br />

zusammenhält. Jetzt rüstet Cern auf.<br />

33Milliarden Euro hat das weltgrößte Forschungszentrum<br />

für Teilchenphysik binnen 60 Jahren<br />

ausgegeben. Seit 1954 versuchen Wissenschaftler aus<br />

85 Nationen bei Cern (Conseil Européen pour la<br />

Recherche Nucléaire) herauszufinden, woraus Materie<br />

besteht. Dazu werden nördlich von Genf Teilchen<br />

nahezu auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und<br />

zur Kollision gebracht. Durch den Aufprall entstehen<br />

neue, noch kleinere Teilchen, aus deren Eigenschaften<br />

und Flugbahnen die Forscher Rückschlüsse über<br />

die Zusammensetzung des Universums ziehen.<br />

100Meter unter der Erde erstreckt sich<br />

auf einer Länge von 27 Kilometern ein ringförmiger<br />

Teilchenbeschleuniger. Hier versuchen mehr als<br />

10 000 Wissenschaftler, das Universum so nachzustellen,<br />

wie es kurz nach dem Urknall war. Jetzt wollen sie<br />

die sogenannte dunkle, die unsichtbare Materie ergründen.<br />

Nur 20 Prozent der Materie, die uns umgibt,<br />

ist sichtbar. Der Rest ist unbekannt. Um ihn zu erforschen,<br />

ist ein noch größerer Beschleuniger geplant.<br />

180Millionen Euro überweist allein die<br />

Bundesregierung jedes Jahr an Cern. 2014 verfügt<br />

Cern über einen Etat von insgesamt 900 Millionen<br />

Euro. Bei den Experimenten entstehen nebenbei Produkte,<br />

die aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken<br />

sind: Das World Wide Web hat seinen Ursprung im<br />

Cern oder die Touchscreen-Technologie. Miniteilchenbeschleuniger<br />

setzen Krankenhäuser heute<br />

im Kampf gegen Tumore ein.<br />

franz hubik | mdw@wiwo.de<br />

FOTO: LAIF/KEYSTONE SCHWEIZ<br />

6 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Teilchendetektor-Fassade<br />

Auf der Fassade des Cern-Zentrums ist der<br />

Teilchendetektor abgebildet. Nur die<br />

Bürofenster der Forscher lassen erkennen,<br />

dass dies nicht die echte Maschine ist<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 7<br />

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Menschen der Wirtschaft<br />

Genehmigung auf<br />

dem Weg Thailands<br />

Staatschef Prayuth<br />

AUTOINDUSTRIE<br />

Lockruf des Panthers<br />

Deutschlands Autobauer planen<br />

von Thailand aus eine Großoffensive<br />

in Südostasien. Dafür stocken sie<br />

die Produktion dort massiv auf.<br />

Im China-Rausch hatten Deutschlands Autobauer<br />

die Region Südostasien mit aufstrebenden Märkten<br />

wie Indonesien, Thailand und Malaysia fast aus<br />

dem Blick verloren. Dabei locken in den Pantherstaaten<br />

Schätzungen zufolge 600 Millionen potenzielle<br />

neue Kunden. Schon 2018 soll der südostasiatische<br />

Länderbund, zu dem auch Vietnam,<br />

Singapur, Kambodscha, Brunei, Laos, Singapur und<br />

die Philippinen gehören, vier bis fünf Millionen<br />

Neuwagen schwer sein. Damit steigt die Region<br />

zum sechstgrößten Automarkt der Welt auf.<br />

Während Japans Hersteller dort schon eigene<br />

Werke betreiben, gehen jetzt endlich auch die deutschen<br />

Autobauer in die Offensive. Am kommenden<br />

Dienstag wollen Thailands Premier und Militärjunta-Chef<br />

Chan-ocha Prayuth sowie die Spitzen der<br />

thailändischen Investitionsbehörde BOI den Bau<br />

einer schon länger geplanten Fabrik des Volkswagen-Konzerns<br />

in Thailand offiziell genehmigen. Es<br />

hätten noch einige Unterlagen aus Wolfsburg gefehlt,<br />

doch die lägen nun vor, und man könne grünes<br />

Licht geben, heißt es beim BOI. Der VW-Konzern<br />

bestätigte, dass er einen Antrag eingereicht<br />

hat, wollte aber keine Details nennen.<br />

Etwa anderthalb Autostunden südlich der thailändischen<br />

Hauptstadt Bangkok will VW nach Informationen<br />

der WirtschaftsWoche spätestens 2019<br />

eine Kleinwagenproduktion starten. Geplant ist die<br />

Fertigung eines Pkws mit Benzinmotor und einem<br />

Hubraum von 1,4 Litern. In den Bau der Fabrik wollen<br />

die Deutschen rund eine Milliarde Euro investieren.<br />

Bei voller Kapazität könnte das Werk 300 000<br />

Autos im Jahr fertigen, auch für den Export in andere<br />

Länder der Region. Der Wagen der Polo-Klasse<br />

soll maximal 4,2 Liter auf 100 Kilometer verbrauchen,<br />

damit kommt er etwa in Thailand in den Genuss<br />

einer staatlichen Förderung für Ökoautos und<br />

ist sechs Jahre steuerbefreit.<br />

Auch andere deutsche Hersteller stocken in Thailand<br />

auf. Daimler will die Fertigungskapazitäten in<br />

Bangkok von gut 5000 auf mehr als 10 000 Fahrzeuge<br />

verdoppeln. 2013 mussten die Stuttgarter mehr<br />

als die Hälfte der rund 10 000 in Thailand verkauften<br />

Autos importieren. In den ersten sechs Monaten<br />

dieses Jahres stieg der Mercedes-Absatz in Thailand<br />

im Vergleich zum Vorjahr um weitere 13<br />

Prozent. Ähnlich sieht es bei BMW aus. Die Münchner<br />

wollen ihr Werk südlich von Bangkok in den<br />

nächsten Monaten erweitern. Statt 8800 können<br />

dort dann 12 500 Autos im Jahr gebaut werden.<br />

BMW fertigt in Thailand, anders als Mercedes, vor<br />

allem für den Export in andere Länder der Region.<br />

Aber auch in Thailand steigen die BMW-Verkäufe.<br />

matthias.kamp@wiwo.de<br />

Auf und davon<br />

Wie viele Fahrzeuge<br />

deutsche Autobauer im<br />

In- und wie viele sie im<br />

Ausland fertigen (in Mio.)<br />

Deutschland<br />

5,44<br />

8,64<br />

2013 2014*<br />

* Prognose; Quelle: VDA<br />

Übrige Welt<br />

5,65<br />

(+4 %)<br />

9,15<br />

(+ 8 %)<br />

FOTO: REUTERS/ATHIT PERAWONGMETHA<br />

8 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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NEUES ZIEL<br />

EU will Industrie stärken<br />

In dieser Woche will der künftige<br />

EU-Kommissionspräsident<br />

Jean-Claude Juncker die Ressort-Verteilung<br />

seines Teams<br />

vorstellen. Inhaltlich hat er sich<br />

schon festgelegt: „Wir müssen<br />

den Anteil der Industrie am<br />

Bruttoinlandsprodukt der EU,<br />

der heute nur knapp 16 Prozent<br />

beträgt, bis 2020 auf 20 Prozent<br />

steigern.“ Der europäische Unternehmensverband<br />

Business<br />

Europe klatscht Beifall, aber<br />

Ökonomen verzweifeln. „Historische<br />

Daten zeigen, dass dieses<br />

Ziel wohl nicht erreicht werden<br />

kann“, sagt Guntram Wolff, Direktor<br />

des Thinktanks Bruegel.<br />

Er weist darauf hin, dass der Anteil<br />

der Industrie an der Wirtschaftsleistung<br />

in den letzten 30<br />

Jahren weltweit gesunken ist.<br />

„Dies ist kein Anlass zur Sorge,<br />

denn das Produktivitätswachstum<br />

war in der Industrie stärker<br />

als in den anderen Sektoren.“<br />

Der sinkende Anteil beweise also<br />

die Stärke des Sektors. Ähnlich<br />

sei es der Landwirtschaft ergangen.<br />

„Und wir haben immer<br />

noch ausreichend zu essen.“<br />

silke.wettach@wiwo.de | Brüssel<br />

FLEISCHINDUSTRIE<br />

Doch kein Friede bei Tönnies<br />

Im Familienstreit um Deutschlands<br />

größten Fleischkonzern<br />

Tönnies deutete sich vor einer<br />

Woche eine Wende an. Mark<br />

Binz, Anwalt von Robert<br />

Tönnies, kündigte an: „Ich<br />

rechne noch in diesem Jahr mit<br />

einer Einigung.“ Postwendet widersprach<br />

Thomas Pfaff, der<br />

Sprecher von Robert Tönnies:<br />

Es habe sich um eine sehr persönliche<br />

und nicht abgestimmte<br />

Aussage gehandelt. Robert<br />

Tönnies hält wie sein Onkel Clemens<br />

Tönnies 50 Prozent am<br />

Konzern, fühlt sich von ihm<br />

aber benachteiligt. Aus dem<br />

Umfeld von Clemens Tönnies<br />

heißt es, er habe ein Einigungsangebot<br />

vorgelegt. Dazu habe<br />

sich die Gegenseite nicht geäußert.<br />

Binz hält dagegen: „Clemens<br />

Tönnies möchte von einer<br />

Gleichberechtigung der beiden<br />

Familienstämme nichts wissen,<br />

die für uns Grundbedingung jeder<br />

weiteren Zusammenarbeit<br />

ist.“ Am 10. November treffen<br />

sich beide Parteien vor Gericht.<br />

mario.brueck@wiwo.de<br />

Aufgeschnappt<br />

Fischlift Treppen sind für Fische<br />

längst kein Hindernis mehr. Im<br />

Gegenteil: Wo Stauwerke den<br />

Wasserspiegel ansteigen lassen,<br />

wurden mitunter eigens Fischtreppen<br />

angelegt, damit die Tiere<br />

auf- oder absteigen können.<br />

Doch Treppensteigen ist mühsam<br />

– auch für Fische. Darum<br />

hat das österreichische Start-up<br />

Hydroconnect einen Fischlift<br />

entwickelt, den es jetzt vermarkten<br />

will. Erfinder Walter Albrecht<br />

sucht zwar noch Investoren, ist<br />

aber zuversichtlich. Denn die EU<br />

hilft ihm. Ihre Wasserrichtlinie<br />

schreibt vor, dass bis zum Jahr<br />

2027 alle Flüsse so gestaltet<br />

sein müssen, dass Fische sie<br />

durchgängig passieren können.<br />

Überschall-U-Boot In knapp<br />

zwei Stunden von Shanghai<br />

nach San Francisco – das chinesische<br />

Harbin Institute of<br />

Technology tüftelt an einem<br />

U-Boot, das auf 5800 km/h<br />

beschleunigt. Ob und wann es<br />

kommt, ist noch unklar.<br />

AUDI<br />

Carsharing<br />

de Luxe<br />

Audi arbeitet an einem neuen<br />

Carsharing-Konzept für Luxusautos.<br />

Über eine Online-Community<br />

können sich drei Nutzer<br />

den Super-Sportwagen Audi R8<br />

ein Jahr lang teilen. In der Coupé-Version<br />

kostet er sonst mindestens<br />

117 000 Euro, als Cabrio<br />

128 000 Euro. Das Konzept könne<br />

auf andere Fahrzeuge des<br />

Luxussegments ausgeweitet<br />

werden, deutete Audi-Chef<br />

Rupert Stadler an: „So generieren<br />

wir komplett neue Zielgruppen<br />

für bestimmte Produktgattungen.“<br />

Das Projekt steckt in der Testphase.<br />

Ein Massengeschäft im<br />

Carsharing wie es Daimler und<br />

BMW betreiben, sehe man<br />

nicht als kompatibel mit Audis<br />

Premiumphilosophie, so Stadler.<br />

Details will der Audi-Chef<br />

Ende des Jahres nennen.<br />

rebecca.eisert@wiwo.de<br />

Ein Sportwagen, drei Nutzer<br />

Audi-Modell R8<br />

Neue Kollegen auf dem Vormarsch<br />

Anzahl der Roboter je 10000 Arbeiter in der Industrie<br />

396<br />

332<br />

273<br />

141<br />

Weltweit:<br />

58<br />

FOTOS: FOTOLIA, PR<br />

Quelle: International Federation of Robotics<br />

Südkorea Japan Deutschland USA China<br />

23<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 9<br />

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Menschen der Wirtschaft<br />

GERMANIA<br />

Tochter für<br />

die Schweiz<br />

Nach Großbritannien will die<br />

deutsche Airline Germania<br />

die Schweiz aufrollen. In Opfikon<br />

im Kanton Zürich hat sie<br />

eine Tochtergesellschaft gegründet:<br />

Germania Flug. Als<br />

Direktor wird der Schweizer<br />

Ex-Air-Berlin-Mann Tobias<br />

Somandin im Gründungspapier<br />

aufgeführt, die Firma<br />

sitzt im Gebäude des Touristikunternehmens<br />

Hotelplan,<br />

einer Tochter der Handelskette<br />

Migros.<br />

Das Domizil ist kein Zufall:<br />

Die Schweizer Germania soll<br />

von der Sommersaison 2015<br />

an für die Kunden von Hotelplan<br />

fliegen. Ein zweites<br />

Flugzeug will Germania auf<br />

Balkan-Routen einsetzen.<br />

„Einmal Ferienflug und einmal<br />

Balkan – auf diesen Mix<br />

wird es hinauslaufen“, bestätigt<br />

Germania-Chef Andreas<br />

Wobig dem Schweizer Wirtschaftsmagazin<br />

„Bilanz“, Partner<br />

der WirtschaftsWoche.<br />

Um als Schweizer Airline<br />

abheben zu können, fehlt Germania<br />

noch das Zertifikat <strong>vom</strong><br />

Bundesamt für Zivilluftfahrt<br />

BAZL. „Bis Ende August haben<br />

wir von Germania noch<br />

keine Dokumente erhalten“,<br />

sagt BAZL-Sprecher Urs Holderegger.<br />

Die Prüfung kann<br />

sich hinziehen: „Bei einer bestehenden<br />

und gut dokumentierten<br />

Airline dauert das in<br />

etwa ein halbes Jahr.“<br />

Bilanz | mdw@wiwo.de<br />

Unterschlupf beim Reisekonzern<br />

Germania-Chef Wobig<br />

INTERVIEW Martin Geier<br />

»Viele standen wie der<br />

Ochs vorm Berg«<br />

Der Deutschland-Chef von Amazons Cloud-<br />

Computing-Sparte über neue Rechenzentren,<br />

Datenschutz und Arbeiter, die alles stehen lassen.<br />

Herr Geier, Amazon, der weltweit<br />

größte Anbieter von Cloud<br />

Computing, will in Deutschland<br />

ein eigenes Rechenzentrum<br />

eröffnen. Wann und wo?<br />

Wir hören gewöhnlich auf unsere<br />

Kunden. So haben wir in den<br />

vergangenen zwei Jahren zwei<br />

neue Rechenzentren eröffnet,<br />

eines in Sydney und eines in<br />

China. Und sie können davon<br />

ausgehen, dass wir unseren geografischen<br />

Fußabdruck erweitern<br />

werden. Wir kommunizieren<br />

aus Sicherheitsgründen<br />

nicht, wo es genau steht. Aber<br />

<strong>vom</strong> Gesetz her müssen manche<br />

Daten in der EU und andere<br />

in Deutschland gespeichert<br />

werden. Und wir bemühen uns,<br />

diese Märkte alle nach und<br />

nach zu bedienen.<br />

Vertrauen deutsche Unternehmen<br />

nach der NSA-Affäre<br />

ihre Daten überhaupt noch<br />

einem amerikanischem Unternehmen<br />

wie Amazon an?<br />

Deutsche Unternehmen sind<br />

traditionell sehr sicherheitsbewusst<br />

– das war auch schon vor<br />

den NSA-Gerüchten so. Natürlich<br />

sind sie jetzt aufmerksamer<br />

denn je. Ich kann aber nicht erkennen,<br />

dass es unserem Geschäft<br />

ernsthaft geschadet hat,<br />

die Nachfrage war nie besser.<br />

Wie schützt Amazon die Daten<br />

europäischer Unternehmen vor<br />

dem Zugriff amerikanischer<br />

Behörden?<br />

Unsere Kunden können sich auf<br />

unserer Infrastruktur selbst<br />

schützen. Sie können gezielt<br />

Rechenzentren in der EU wählen.<br />

Amazon selbst bewegt keine<br />

Daten. Sie haben zudem die<br />

Möglichkeit, Informationen<br />

selbst zu verschlüsseln. Insofern<br />

bleiben sie Herr der Lage.<br />

DER WOLKENSCHIEBER<br />

Geier, 44, leitet seit 18 Monaten<br />

das Deutschland-Geschäft von<br />

Amazon Web Services, der<br />

Cloud-Computing-Tochter von<br />

Amazon. Bevor er zur Cloud-<br />

Tochter des Internet-Händlers<br />

wechselte, arbeitete er für unterschiedliche<br />

IT-Konzerne, darunter<br />

IBM, HP, Silicon Graphics<br />

und zuletzt BMC Software.<br />

Wir haben hierzulande inzwischen<br />

Kunden aller Größen,<br />

Start-ups wie Soundcloud, Mittelständler<br />

wie Kärcher und<br />

Riesen wie SAP.<br />

Wie entwickelt sich der<br />

deutsche Markt für Cloud<br />

Computing?<br />

Inspiriert von Start-ups etwa in<br />

Berlin, ist der deutsche Mittelstand<br />

gerade dabei, seine Kerngeschäfte<br />

unter dem Begriff In-<br />

»Natürlich<br />

sind sie jetzt<br />

aufmerksamer<br />

denn je«<br />

dustrie 4.0 zu innovieren. Vor 18<br />

Monaten war das noch nicht so.<br />

Viele standen wie der Ochs<br />

vorm Berg und fragten sich:<br />

Cloud Computing, was mache<br />

ich damit? Inzwischen haben<br />

sie Cloud-Kompetenz-Center<br />

gebildet. Siemens etwa nutzt<br />

unsere Plattform, um im Gesundheitswesen<br />

patientenbezogene<br />

Simulationen durchzuführen.<br />

Bekannt wurde Amazon<br />

durch den Internet-Handel mit<br />

Büchern. Was trägt der<br />

Handelsbereich zum Cloud<br />

Computing bei?<br />

Wir ziehen viel aus unserer<br />

Händler-DNA. Es gibt kaum IT-<br />

Anbieter, die ihre Preise senken.<br />

Wir haben das, seit wir 2006<br />

gestartet sind, 45 Mal getan.<br />

Für mehr Kunden brauchen<br />

wir mehr Infrastruktur. Mehr<br />

Infrastruktur bedeutet mehr<br />

Skalenvorteile bei Einkauf und<br />

Betrieb. Und Skalenvorteile<br />

machen wiederum niedrigere<br />

Preise möglich, was mehr Kunden<br />

bedeutet. Als wir 2006 gestartet<br />

sind, hat ein Gigabyte<br />

Speicher bei uns 15 US-Cent<br />

gekostet, heute sind es drei<br />

US-Cent.<br />

Was ziehen Sie noch aus dieser<br />

Händler-DNA?<br />

Unsere Mitarbeiter sollen nicht<br />

in eingefahrenen Schemata<br />

denken, sondern sich überlegen,<br />

was wäre, wenn heute Tag<br />

eins wäre. Damit überwinden<br />

wir Betriebsblindheit. Unser<br />

wichtigstes Führungsprinzip<br />

heißt zudem Customer Obsession.<br />

Jeder Mitarbeiter hat das<br />

Recht, alles stehen und liegen<br />

zu lassen, wenn ein Kunden<br />

Hilfe braucht. Ein weiteres Prinzip<br />

ist Sparsamkeit. Wir versuchen,<br />

kein Geld auszugeben,<br />

das dem Kunden nicht dient.<br />

Das führt manchmal bei neuen<br />

Mitarbeitern zu Stirnrunzeln,<br />

weil sie es gewöhnt sind, einen<br />

dicken Dienstwagen zu fahren.<br />

Das gibt es bei Amazon nicht.<br />

Wie fahren Sie?<br />

Ich fahre U-Bahn oder Fahrrad,<br />

manchmal mein Privatauto.<br />

thomas.stoelzel@wiwo.de<br />

FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/DPA, PR<br />

10 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Menschen der Wirtschaft<br />

IT-DIENSTLEISTER<br />

GFT prüft<br />

Abspaltung<br />

Der Stuttgarter IT-Dienstleister<br />

GFT Technologies prüft einen<br />

Verkauf seines Geschäftsbereichs<br />

emagine, heißt es aus unternehmensnahen<br />

Kreisen. Danach<br />

hat GFT sogar schon eine<br />

auf Transaktionen spezialisierte<br />

Gesellschaft beauftragt, eine<br />

Trennung zu untersuchen.<br />

Schon länger wird spekuliert,<br />

dass sich GFT auf das Kerngeschäft<br />

konzentriert:die Beratung<br />

von Banken in IT-Angelegenheiten.<br />

Denn während das<br />

Beratungsgeschäft eine Umsatzrendite<br />

von 11,2 Prozent<br />

erzielt, kommt emagine mit<br />

der Vermittlung freiberuflicher<br />

IT-Berater nur auf rund ein<br />

Prozent.<br />

GFT-Gründer und Vorstandschef<br />

Ulrich Dietz will sich zu<br />

einem möglichen Verkauf nicht<br />

äußern. „Unsere rund 110 emagine-Mitarbeiter<br />

arbeiten sehr<br />

gut“, sagt er, räumt allerdings<br />

auf Anfrage ein, dass der Bereich<br />

seine wirtschaftlichen<br />

Ziele in nächster Zeit verbessern<br />

müsse.<br />

Ein Verkauf von emagine<br />

könnte die Schulden des Unternehmens<br />

deutlich reduzieren<br />

und den Aktienkurs steigen<br />

lassen.<br />

maximilian nowroth | mdw@wiwo.de<br />

OUTDOOR<br />

Talsohle<br />

verlassen<br />

08.09. Export Das Statistische Bundesamt berichtet am<br />

Montag über die Ausfuhren im Juli. Im Juni hatten<br />

sie gegenüber dem Vorjahr um 1,1 Prozent zugelegt,<br />

gegenüber dem Vormonat um 0,9 Prozent.<br />

09.09. Bundeshaushalt Der Bundestag berät am<br />

Dienstag in erster Lesung über den Haushalt für<br />

das kommende Jahr. 2015 will der Bund keine<br />

neuen Kredite mehr aufnehmen.<br />

Ritter Sport Das Oberlandesgericht München<br />

verhandelt den Streit zwischen dem<br />

Schokoladenhersteller und der Stiftung<br />

Warentest. Sie hatte die Vollnuss-Schokolade<br />

von Ritter Sport mit<br />

„mangelhaft“ bewertet.<br />

10.09. Ryanair Die Lufthansa wirft dem Flughafen Hahn<br />

vor, er verlange von der irischen Billiglinie zu niedrige<br />

Entgelte. Da der Flughafen den Ländern Hessen<br />

und Rheinland-Pfalz gehöre, komme dies einer<br />

Beihilfe für Ryanair gleich. Darüber verhandelt<br />

am Mittwoch das Oberlandesgericht Koblenz.<br />

Kreditkarten Der Europäische Gerichtshof (EuGH)<br />

entscheidet über das Gebührenmodell von Mastercard.<br />

Bei einer Niederlage drohen der Kreditkartenorganisation<br />

Schadensersatzforderungen.<br />

14.09. Landtagswahlen Die Bürger in Thüringen und<br />

Brandenburg wählen am Sonntag einen neuen<br />

Landtag. Im CDU/SPD-regierten Thüringen kommt<br />

die CDU in der jüngsten Umfrage auf 34 Prozent<br />

und die SPD auf 19. Die Linke schafft demnach 26<br />

Prozent, die Grünen 6 und die AfD 5. Die FDP wäre<br />

mit 4 Prozent nicht mehr im Landtag. In Brandenburg,<br />

von SPD und Linke regiert, schneidet die<br />

SPD in Umfragen am besten ab: 34 Prozent. Die<br />

CDU erhält 23, die Linke 22, Grüne und AfD jeweils<br />

6 und die FDP nur 3 Prozent.<br />

Der Schweizer Rolf Schmid<br />

klettert gern auf hohe Berge, er<br />

ist ein Stratege und Planer, der<br />

Schritt für Schritt vorgeht. Jetzt<br />

zahlt sich die Weitsicht des<br />

Chefs des Outdoor-Ausrüsters<br />

Mammut aus: Vor allem dank<br />

der höheren Nachfrage nach<br />

Berg- und Wanderschuhen<br />

wuchs das Schweizer Unternehmen<br />

im ersten Halbjahr um<br />

3,4 Prozent und setzte umgerechnet<br />

86 Millionen Euro um.<br />

Den Grundstein dafür legte<br />

Schmid mit der Übernahme des<br />

Schuhspezialisten Raichle.<br />

Nach Boomjahren herrschte<br />

in den vergangenen beiden Jahren<br />

Ernüchterung in der Branche.<br />

Die Zeichen stehen seitdem<br />

vor allem in Europa auf<br />

Verdrängung. Insbesondere das<br />

US-Unternehmen VF macht<br />

hier Druck:Der Textilkonzern,<br />

zu dem unter anderem die Outdoor-Marke<br />

The North Face<br />

TOP-TERMINE VOM 08.09. BIS 14.08.<br />

gehört, meldete für sein Outdoor-Segment<br />

zuletzt einen<br />

Quartalsumsatz von 1,3 Milliarden<br />

Dollar, ein Plus von 16 Prozent<br />

gegenüber dem Vorjahr.<br />

Auch Adidas’ Outdoor-Sparte<br />

wächst, getrieben durch steigende<br />

Umsätze in China und<br />

Nordamerika. Schöffel legt<br />

ebenfalls zu. Bei der jüngsten<br />

Orderrunde des Handels habe<br />

besonders das Geschäft mit<br />

Outdoor-Artikeln einen Trend<br />

nach oben gezeigt, so die Einkaufsgemeinschaft<br />

Intersport.<br />

peter.steinkirchner@wiwo.de<br />

VOLKSWAGEN XL1<br />

Begehrtes<br />

Exemplar für<br />

Sammler<br />

Der VW XL1 ist kein Auto wie<br />

jedes andere. Der kleine Flügeltürer<br />

kommt zumindest theoretisch<br />

mit einem Liter Diesel 100<br />

Kilometer weit. Der technische<br />

Aufwand dafür ist so groß, dass<br />

Volkswagen den Basispreis auf<br />

111 000 Euro festgesetzt hat. Zugleich<br />

ist die Produktion auf 200<br />

Exemplare begrenzt. Der XL1<br />

wurde darüber zum begehrten<br />

Blackbox an Bord<br />

Volkswagen XL1 fast ausverkauft<br />

Sammlerstück: Inzwischen ist<br />

fast die gesamte Produktion<br />

vergriffen.<br />

Zu den Käufern zählt auch<br />

Wolfgang Grupp. Der 72-jährige<br />

Eigentümer des T-Shirt-Herstellers<br />

Trigema im schwäbischen<br />

Burladingen kaufte sogar zwei<br />

Exemplare: ein weißes für Sohn<br />

Wolfgang, 23, und ein rotes für<br />

Tochter Bonita, 24. Das gelang<br />

ihm, indem er VW-Vertriebsvorstand<br />

Christian Klingler in der<br />

Sache direkt anschrieb.<br />

Wie alle Erwerber musste<br />

sich Grupp verpflichten, die<br />

Autos VW zum Rückkauf anzubieten,<br />

wenn er das Interesse<br />

an dem Modell verlieren sollte.<br />

Der Konzern will auf diese Weise<br />

von den Erfahrungen der<br />

Erstbesitzer profitieren: An<br />

Bord des XL1 ist eine Blackbox,<br />

die wie in der Formel 1 Daten<br />

über das Fahrzeug sammelt<br />

und diese zur Auswertung ins<br />

VW-Werk funkt.<br />

reinhold.boehmer@wiwo.de, franz rother<br />

FOTOS: PR<br />

12 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Menschen der Wirtschaft<br />

CHEFSESSEL<br />

START-UP<br />

VFS<br />

Ludger Wößmann, 41,<br />

und Carl Christian von<br />

Weizsäcker, 76, sind die<br />

diesjährigen Preisträger des<br />

Vereins für Socialpolitik<br />

(VfS), der größten Ökonomenvereinigung<br />

im deutschsprachigen<br />

Raum. Wößmann,<br />

Bildungsökonom<br />

beim Münchner ifo Institut,<br />

erhält den Gossen-Preis, mit<br />

dem der VfS Wirtschaftswissenschaftler<br />

unter 45 Jahren<br />

ehrt, die durch Veröffentlichungen<br />

in internationalen<br />

Fachzeitschriften besonderes<br />

Ansehen erworben haben.<br />

Mit dem Gustav-Stolper-Preis<br />

würdigt die<br />

Ökonomenzunft von Weizsäcker,<br />

emeritierter Volkswirtschaftsprofessor<br />

und bis<br />

2003 Direktor des Energiewirtschaftlichen<br />

Instituts an<br />

der Universität Köln, für seine<br />

Anstöße zu wirtschaftswissenschaftlichen<br />

Debatten.<br />

Der Stolper-Preis ist<br />

nach dem österreichischen<br />

Publizisten Gustav Stolper<br />

benannt, der 1926 in Berlin<br />

die Zeitschrift „Der Deutsche<br />

Volkswirt“ gegründet<br />

hat, aus der die Wirtschafts-<br />

Woche hervorgegangen ist.<br />

MALLORCA<br />

102 Euro<br />

gab jeder deutsche Urlauber auf Mallorca<br />

im Juli täglich aus. Am spendabelsten waren<br />

die Skandinavier und Schweizer mit durchschnittlich<br />

je 140 Euro, gefolgt von den<br />

Spaniern mit 112 und den Briten mit 104<br />

Euro, so eine jetzt veröffentlichte Umfrage<br />

des spanischen Tourismusministeriums.<br />

COMMA SOFT<br />

Jörg Asma, 44, bis zum vergangenen<br />

Jahr Partner der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft<br />

KPMG, baut bei dem Bonner IT-<br />

Beratungs- und Softwareunternehmen<br />

Comma Soft einen<br />

neuen Geschäftsbereich für Cybersicherheit<br />

auf. Asma war<br />

schon bei KPMG für die Sparte<br />

Security-Consulting verantwortlich<br />

und gilt als Experte für<br />

sogenannte Resilience-Projekte.<br />

Dabei geht es nicht nur um<br />

die Absicherung der IT-Systeme<br />

von Unternehmen, sondern vor<br />

allem darum, Cyber-Attacken<br />

schnell zu bemerken. „98 Prozent<br />

aller Angriffe werden heute<br />

gar nicht erkannt“, sagt Asma.<br />

RENAULT<br />

Bruno Ancelin, 56, ist an die<br />

Spitze der Produktentwicklung<br />

von Renault katapultiert worden.<br />

Der klein gewachsene wie<br />

selbstbewusste Ingenieur, der<br />

zusammen mit Konzernchef<br />

Carlos Ghosn, 60, in Paris<br />

studiert hat und als Experte für<br />

die Lösung größerer Probleme<br />

gilt, stand bis zur vergangenen<br />

Woche an der Spitze von<br />

Renault Russland. Der überraschende<br />

Wechsel in die Konzernzentrale<br />

ist eine Kettenreaktion,<br />

ausgelöst durch den<br />

Wechsel von Nissan-Chefplaner<br />

Andy Palmer, 51, zu<br />

Aston Martin. Ersetzt wurde<br />

Palmer durch den bisheriger<br />

Produktentwickler Philippe<br />

Klein, 57.<br />

EINFACHLOTTO<br />

Der Klick zum Glück<br />

Eigentlich wollte Mirko Dieseler Lehrer werden, Sport und<br />

Geschichte unterrichten. Vielleicht hätte er die Schüler dann auch<br />

vor Glücksspielen gewarnt. Jetzt verdient er damit sein Geld. Gemeinsam<br />

mit vier ehemaligen Bertelsmann-Managern gründete<br />

er Ende 2011 das Unternehmen EDM Einfach Direkt Media und<br />

entwickelte die Online-Plattform einfachlotto. Seit 3. Juli 2013 ist<br />

sie online. „An dem Tag haben wir die staatliche Genehmigung<br />

erhalten“, sagt Dieseler, der sich in dem Metier auskennt. Nach seinem<br />

Studium hat er für die staatliche Lottogesellschaft Bayerns<br />

gearbeitet und für den Wettanbieter Oddset.<br />

„Der Umsatz ist noch überschaubar“, sagt der 45-Jährige. Zahlen<br />

will er nicht nennen. Aber sein Konzept hat schon weitere Investoren<br />

angezogen, darunter Media Ventures, eine Gesellschaft des<br />

Kölner Plakatwerbers Dirk Ströer. „Auf unserer Seite gibt es keine<br />

Bilder und keine Werbung“, grenzt sich Dieseler von der Konkurrenz<br />

ab. Das Start-up lebt von den 6,5 bis 10 Prozent Provision, die<br />

es pro Tipp bekommt – so viel wie die Lotto-Kioske. 90 000 Kunden<br />

spielen schon mit. Ende September startet er eine Plakataktion,<br />

zudem sponsert er die<br />

Fakten zum Unternehmen<br />

Eigner Dieseler 20 Prozent,<br />

Netzpiloten 12, Media Ventures<br />

37,6, zwölf Privatpersonen gepoolt<br />

15, drei Mitarbeiter 15,4<br />

Investment 1,8 Millionen Euro<br />

Gewinn erstmals im Januar 2016<br />

Fußballclubs Düsseldorf<br />

und Bielefeld. Rund 2,0<br />

bis 2,5 Millionen Euro<br />

gibt er dafür allein in diesem<br />

Jahr aus. Darin inbegriffen<br />

ist auch Lothar<br />

Matthäus – „das Gesicht<br />

von einfachlotto“.<br />

hermann.olbermann@wiwo.de<br />

FOTOS: PR, PICTURE-ALLIANCE/DPA, YVES SUCKSDORFF FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, FOTOLIA<br />

14 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Menschen der Wirtschaft | Chefbüro<br />

Dieter Kempf<br />

Vorstandsvorsitzender des IT-Dienstleisters Datev<br />

In dem großen Wandschrank<br />

versteckt Dieter Kempf, 61,<br />

„alle möglichen Sachen, auch<br />

einen Satz Golfbälle“, verrät der<br />

Vorstandsvorsitzende von<br />

Datev. Seit Juli 1996 leitet der<br />

Diplom-Kaufmann den Nürnberger<br />

IT-Dienstleister, zu dessen<br />

Klientel vor allem Steuerberater,<br />

Wirtschaftsprüfer und<br />

Rechtsanwälte zählen. 1966<br />

wurde das Unternehmen als<br />

Genossenschaft gegründet,<br />

inzwischen beschäftigt es rund<br />

6700 Mitarbeiter und erwirtschaftete<br />

2013 einen Umsatz<br />

803 Millionen Euro. Zudem ist<br />

Kempf seit 2011 Präsident des<br />

Branchenverbandes Bitkom,<br />

der mehr als 2100 Unternehmen<br />

der Informations- und<br />

Telekommunikationsbranche<br />

vertritt. Ans<br />

Pendeln zwischen<br />

der Berliner Bitkom-<br />

Zentrale und dem<br />

Datev-Sitz in Nürnberg<br />

hat sich der<br />

Manager längst gewöhnt.<br />

Wenn es zu<br />

360 Grad<br />

In unseren App-<br />

<strong>Ausgabe</strong>n finden<br />

Sie an dieser<br />

Stelle ein interaktives<br />

360°-Bild<br />

arg kommt, greift er in seinen<br />

„Frustbehälter“; so nennt<br />

Kempf die kleine Dose mit<br />

Gummibärchen, die auf der<br />

schweren Granitplatte seines<br />

Schreibtischs in Nürnberg<br />

steht. Daneben liegen Post,<br />

Akten, Unterschriftenmappe<br />

und Fotos mit seiner Familie<br />

einschließlich der Hündin Susi.<br />

In der Besprechungsecke und<br />

über einem Sideboard<br />

hängen Werke<br />

der Münchner Malerin<br />

Valeska. Und da<br />

ist noch der Kasper,<br />

der Kempf provozierend<br />

die Zunge<br />

herausstreckt. Die<br />

Metallskulptur dient<br />

als Stehpult und entstand in<br />

der Werkstatt der beiden oberfränkischen<br />

Künstler Guido<br />

und Johannes Häfner. Statt mit<br />

Bits und Bytes begann Kempfs<br />

Karriere mit Buletten. Parallel<br />

zu seinem Studium an der<br />

Ludwig-Maximilians-Universit<br />

ät in München arbeitete er bei<br />

McDonald’s und brachte es<br />

dort innerhalb von fünf Jahren<br />

zum Filialleiter. Vor seinem<br />

Wechsel zu Datev 1991 war er<br />

beim Wirtschaftsprüfer Ernst &<br />

Young. In seiner Freizeit spielt<br />

Kempf nicht nur Golf, er fährt<br />

auch Oldtimer und Motorrad.<br />

Einen Helm hat er in seinem<br />

Schrank aber nicht versteckt.<br />

ulrich.groothuis@wiwo.de<br />

FOTO: DIETER MAYR FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

16 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

Die rote Null<br />

SCHULDEN | Die Bundesregierung lässt sich für den ersten ausgeglichenen Etat seit<br />

45 Jahren feiern. Ein kritisches Studium des Haushaltsentwurfs aber zeigt: Es ist bloß<br />

ein trickreiches Rechenexempel auf den Schultern zukünftiger Generationen.<br />

Der Finanzminister ist unverkennbar<br />

von sich und seinem<br />

Kurs überzeugt. „Wir werden<br />

erstmals seit Jahrzehnten einen<br />

Haushalt ohne neue<br />

Schulden haben“, verkündet er unter dem<br />

Jubel seiner Fraktion. Begeistert bezieht er<br />

das ganze Land in seine Anerkennung mit<br />

ein: „Warum dieser Kurs? Während er im<br />

vorigen Jahr noch umstritten war, habe ich<br />

den Eindruck, dass er inzwischen allgemeine<br />

Anerkennung gefunden hat.“ Ja, es<br />

ist die historische Verantwortung, die ihn<br />

antreibt: „Wir wollen aus der Schuldenfalle<br />

zuerst und vor allem deswegen heraus,<br />

weil wir künftigen Generationen nicht die<br />

<strong>Ausgabe</strong>n, die wir getätigt haben, als<br />

Schulden hinterlassen können.“<br />

Diese Worte klingen vertaut und aktuell,<br />

doch sie stammen nicht aus dem Sommer<br />

2014, sondern aus dem September 2000<br />

und aus dem Mund von Hans Eichel (SPD).<br />

Drei Jahre später verantwortete er den<br />

Haushalt mit der bis dahin höchsten Defizitquote<br />

der Nachkriegsgeschichte. Geschichte<br />

wiederholt sich nicht, aber Eichels<br />

Schicksal ist Grund genug, nachzuhaken:<br />

Wie viel ist der Ausgleich der Staatsfinanzen<br />

wert, den sein Nachfolger Wolfgang<br />

Schäuble (CDU) am Dienstag präsentiert?<br />

EINMALIGER RÜCKFALL<br />

Seit Eichel sind zwei Regierungswechsel<br />

und eine Finanzkrise vergangen, die<br />

Traumwelt an der Berliner Wilhelmstraße,<br />

wo das Finanzministerium residiert, ist die<br />

gleiche geblieben: Der Minister will in Erinnerung<br />

bleiben als derjenige, der die<br />

Rückkehr zur soliden Haushaltsführung<br />

geschafft hat. Den bis dato letzten ausgeglichenen<br />

Haushalt verantwortete Franz Josef<br />

Strauß (CSU) im Jahr 1969, schon das aber<br />

war ein einmaliger Rückfall in gute Zeiten,<br />

in den Jahren davor war der Haushalt tief<br />

im Minus gewesen. Nachhaltig ausgeglichen<br />

war der Haushalt nur in den Fünfzigerjahren<br />

unter Finanzminister Fritz<br />

Schäffer (ebenfalls CSU).<br />

2015 aber soll genau da anknüpfen. So<br />

nah wie Wolfgang Schäuble ist keiner der<br />

Strauß-Nachfolger mehr dem großen Ziel<br />

gekommen, und mit so viel Hingabe hat<br />

seitdem wohl auch keiner dieses Ziel verfolgt.<br />

Die ersten paar Defizit-Jahrzehnte<br />

waren Schulden schlichtweg en vogue, die<br />

Sanierungsversuche der Neunziger- und<br />

Nullerjahre scheiterten dann jeweils mit<br />

jahrelangem Vorlauf. Für Schäuble hingegen<br />

ist das Ziel nur noch ein gutes Jahr entfernt,<br />

auf dem Papier steht die Null bereits.<br />

„Schäuble hat noch immer trickreich einen<br />

Weg gefunden, zumindest auf dem Papier<br />

seine Ziele durchzusetzen“, sagt Sven-<br />

Christian Kindler, haushaltspolitischer<br />

Sprecher der Grünen im Bundestag.<br />

Doch hält die Null wirklich, was der<br />

„Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung<br />

des Bundeshaushaltsplans für das<br />

Haushaltsjahr 2015“ verspricht? Eine Analyse<br />

der 2866 Seiten Haushaltsentwurf<br />

zeigt, dass unter der einen schwarzen Zahl<br />

viele rote verborgen liegen. Wer den<br />

vermeintlichen Wunderhaushalt im Detail<br />

studiert, findet mühsam kaschierte Zusatzausgaben,<br />

teure Lastenverschiebungen in<br />

die Zukunft und Einmaleffekte, die als<br />

Konsolidierung verkauft werden. Von<br />

seinem Sanierungskurs, den Schäuble<br />

noch vor zwei, drei Jahren ernsthaft verfolgte,<br />

ist nichts geblieben außer den ange-<br />

nehmen Begleitumständen. Von der formalen<br />

Zielmarke auf dem langen Weg<br />

der Sanierung der Staatsfinanzen ist die<br />

Ziffer zum Selbstzweck geworden. Eine<br />

Beweisführung in fünf Schritten.<br />

I. Es geht uns geradezu<br />

unverschämt gut<br />

Erwartete Steuereinnahmen des Bundes<br />

für das Jahr 2014<br />

Quelle: BMF<br />

250,3<br />

Mrd. €<br />

2010<br />

268,2<br />

Mrd. €<br />

2014<br />

plus 17,9<br />

Mrd. €<br />

2010, als Schäubles Kurs in Richtung<br />

„schwarze Null“ konkret wurde, ließ er errechnen,<br />

mit welchen Steuermitteln im<br />

Verlauf der Jahre zu rechnen sei. Trotz Euro-Krise<br />

sahen die Perspektiven recht rosig<br />

aus. „Für den mittelfristigen Schätzzeitraum<br />

wird eine Fortsetzung der wirtschaftlichen<br />

Erholung erwartet“, hieß es, bis 2014<br />

würden die Steuereinnahmen auf 250,3<br />

Milliarden Euro steigen. Jetzt ist das Jahr<br />

gekommen, in dem damals die Prognose<br />

endete – und aus der Erholung ist ein<br />

Boom geworden.<br />

Nicht 250 Milliarden sondern 268,2 Milliarden<br />

Euro wird Schäuble 2014 laut<br />

»<br />

FOTO: LAIF/DOMINIK BUTZMANN<br />

20 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Das Ziel vor Augen<br />

Wolfgang Schäuble<br />

peilt 2015 den Haushaltsausgleich<br />

an<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

DREI, DIE DEN HAUSHALTSAUSGLEICH SCHAFFTEN<br />

Turm gebaut Fritz Schäffer legte Geld für<br />

den Aufbau der Bundeswehr zurück<br />

Reserven geplündert Franz Etzel brauchte<br />

von 1957 bis 1961 die Überschüsse auf<br />

Der letzte Schwarze Franz Josef Strauß<br />

gelang zu Amtsende 1969 die schwarze Null<br />

»<br />

Frühjahrs-Schätzung einnehmen, 18<br />

Milliarden Euro mehr als einst geplant. Im<br />

kommenden Jahr sollen es noch einmal<br />

zehn Milliarden Euro mehr werden. Ganz<br />

zurückhaltend geschätzt, bedeutet das: Finanzminister<br />

Schäuble stehen mindestens<br />

20 Milliarden Euro mehr zur Verfügung, als<br />

er 2010 annahm. Und die Liste der guten<br />

Rahmenbedingungen ist damit längst<br />

nicht zu Ende erzählt.<br />

Vor einigen Wochen hat die Deutsche<br />

Bundesbank die astronomische Summe<br />

von 120 Milliarden Euro errechnet, die der<br />

Bund seit 2007 an Zinsausgaben eingespart<br />

habe. Das ist eine große Zahl, doch diese<br />

kleinere ist aussagekräftiger: Statt 37 Milliarden<br />

Euro (wie 2010) muss der Bund 2014<br />

nur 27 Milliarden Euro für Zinszahlungen<br />

ausgeben, trotz des inzwischen höheren<br />

Schuldenstandes. Das sind weitere zehn<br />

Milliarden Euro, die locker reichen, um ein,<br />

zwei Minister glücklich zu machen.<br />

Doch das neuere deutsche Wirtschaftswunder<br />

macht nicht nur Schulden billig<br />

und Steuerzahler ergiebiger, es brachte<br />

auch Arbeitslose in Arbeit. 2010 gab der<br />

Bund für den Posten Arbeitslosenhilfe 38,3<br />

Milliarden Euro aus. Vergleichswert 2015:<br />

19,2 Milliarden Euro. Da wirken die Zusatzausgaben<br />

wie Peanuts: Um die Kommunen<br />

zu entlasten, hat Berlin <strong>Ausgabe</strong>n für<br />

Unterkunft und Heizung (4,6 Milliarden<br />

Euro) und Grundsicherung im Alter (5,9<br />

Milliarden Euro) übernommen. Selbst<br />

wenn man all das abzieht, bleibt eine effektive<br />

Ersparnis von 8,6 Milliarden Euro.<br />

Schäuble stehen für den Haushaltsausgleich<br />

2015 also rund 40 Milliarden Euro<br />

mehr zur Verfügung, als er 2010, bei Verkündung<br />

des damals ambitionierten Pla-<br />

nes, annehmen konnte. Damals plante er<br />

für 2014 mit 24 Milliarden Euro neuen<br />

Schulden. Auf heutige Bedingungen umgerechnet,<br />

wäre das ein Überschuss, und<br />

zwar von mindestens 15 Milliarden Euro.<br />

Ein entsprechend harsches Urteil fällt der<br />

Freiburger Ökonom Bernd Raffelhüschen<br />

über die Leistung des Finanzministers:<br />

„Die Freude über die schwarze Null ist<br />

ziemlich lächerlich. Schäuble kann froh<br />

sein, dass er gerade Finanzminister ist. Was<br />

hier zusammenkommt, sind nicht viel<br />

mehr als ein paar glückliche Fügungen.“<br />

Wer dem Finanzminister besonders geneigt<br />

ist, kann hier entgegnen, all den netten<br />

Konjunktureffekten stünden wachsende<br />

<strong>Ausgabe</strong>posten, etwa für Pensionen,<br />

entgegen. Doch diese Kosten waren absehbar<br />

und damit eingeplant. Und dort, wo<br />

böse Überraschungen möglich gewesen<br />

wären, sind sie ausgeblieben. So erhöhte<br />

die Bundesbank – deren Bilanz unter den<br />

Niedrigzinsen leidet – ihren Gewinn 2013<br />

auf 4,6 Milliarden Euro, 2010 waren es nur<br />

2,2 Milliarden. Wo es Sonderlasten gab,<br />

laufen sie pünktlich zum Haushaltsausgleich<br />

aus: Die letzte Zahlung für das<br />

Grundkapital des Euro-Rettungsfonds<br />

ESM von 4,3 Milliarden Euro wird 2014 fällig.<br />

Der Fonds für die Folgen der Flut an Elbe<br />

und Donau wurde komplett im Jahr<br />

2013 verbucht. Sogar einige Altlasten im<br />

Haushalt schrumpfen: Zahlungen im Zusammenhang<br />

mit der deutschen Einheit,<br />

2009: 730 Millionen Euro, 2015: 330 Millionen<br />

Euro. 400 Millionen gespart. Soziale<br />

Leistungen für Folgen von Krieg und politischen<br />

Ereignissen, zum Beispiel Kriegsopferfürsorge,<br />

2010: 2,8 Milliarden, 2015: 2,1<br />

Milliarden. Kling, noch mal 700 Millionen!<br />

Das sind keine großen Beträge. Doch die<br />

alte Finanzministerklage, von Jahr zu Jahr<br />

würden die Altlasten größer, ist nur die halbe<br />

Wahrheit. Nie war es so einfach, mit<br />

dem Geld auszukommen.<br />

2. Die Null 2015 ist mit<br />

höheren Risiken in der<br />

Zukunft erkauft<br />

Investitionen in Europa und Investitionslücke<br />

in Deutschland (in Prozent <strong>vom</strong> BIP)<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

Bruttoanlageinvestitionen<br />

im Euro-Raum*<br />

1999 2003<br />

* ohne Deutschland; Quelle: DIW<br />

Kumulierte Investitionslücke<br />

für Deutschland<br />

Bruttoanlageinvestitionen<br />

in Deutschland<br />

2007 2012<br />

In Berlins westlichstem Stadtteil Spandau<br />

steht eine mächtige Wehranlage, rundum<br />

von einem Seitenarm der Havel umflossen,<br />

in ihrer geometrischen Form von den Ideen<br />

des Festungsbauers Vauban inspiriert. Über<br />

die Mauern ragt nur der kreisrunde Juliusturm,<br />

von der Spitze hat man eine nette<br />

Fernsicht. Einst lagerte hier die Kriegskasse<br />

des deutschen Reichs. Kein besonderes<br />

Bauwerk, doch mit einer besonderen Bedeutung.<br />

Fritz Schäffer, erster Finanzminister<br />

der Bundesrepublik, wirtschaftete in den<br />

Fünfzigerjahren einige Zeit so sparsam,<br />

dass er Geld zurücklegen konnte. Die Kasse<br />

22 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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FOTOS: INTERFOTO/MILLER, BPK/BENNO WUNDSHAMMER, PICTURE-ALLIANCE/DPA<br />

erhielt den Beinamen Juliusturm; Parteifreunde<br />

und Opposition versuchten alles,<br />

um den Turm zu schleifen. Schäffer widersetzte<br />

sich und schuf so den Inbegriff verantwortlichen<br />

Haushaltens: Nachhaltig ist<br />

nicht, was heute gut aussieht, sondern was<br />

für die Probleme der Zukunft vorsorgt.<br />

Die Geschichte ist fast vergessen, auch die<br />

Prinzipien gelten längst nicht mehr. Offensichtliches<br />

Beispiel im Null-Haushalt ist das<br />

Missverhältnis zwischen notwendigen und<br />

tatsächlichen Investitionen. Im vergangenen<br />

Jahr hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung<br />

(DIW) ausgerechnet, was<br />

der Staat in seine Straßen, Brücken und<br />

Schienen investiert – und wie viel es sein<br />

müsste, um den Wert der Infrastruktur zu erhalten.<br />

„Es ist ganz offensichtlich, dass in den<br />

vergangenen Jahren ein massiver Wertverzehr<br />

stattfindet“, fasst DIW-Verkehrsexpertin<br />

Katharina Link zusammen. Mehrere Milliarden<br />

Euro fehlen pro Jahr, allein um den Wertverfall<br />

aufzuhalten. In Zahlen: Während der<br />

Bund in den Neunzigerjahren umgerechnet<br />

jährlich zwischen 11 und 14 Milliarden Euro<br />

für den Erhalt von Straßen und Brücken ausgab,<br />

waren es zuletzt nur 9,6 Milliarden, Steigerungen<br />

nicht vorgesehen. Dabei wächst<br />

der Bedarf. „Die Spannbetonbrücken im<br />

Westen Deutschlands sind innerhalb eines<br />

Jahrzehnts erbaut worden“, mahnt CDU-<br />

Haushälter Norbert Brackmann, „deshalb<br />

müssen sie jetzt alle zur gleichen Zeit repariert<br />

werden.“ Gerade werden auf der A 45<br />

zwischen Siegen und Dortmund die Brücken<br />

geflickt, 31 Bauwerke sind betroffen.<br />

Ein Jahrhundertprojekt? Nur der Auftakt.<br />

Dieses Muster setzt sich fort. So ist es eine<br />

kurze, aber bewährte Tradition, dass die<br />

Bundesanstalt für Arbeit in guten Jahren<br />

Reserven aufbaut, um auf Krisen reagieren<br />

zu können. Als 2008 die Finanzkrise begann,<br />

konnte sie mit ihren angesparten<br />

16,7 Milliarden Euro einiges abfedern, dabei<br />

lag der historische Höchststand der Arbeitslosigkeit<br />

da gerade drei Jahre zurück.<br />

Heute, wo die Arbeitslosenquote nach fünf<br />

Jahren Aufschwung so niedrig ist wie seit<br />

Jahrzehnten nicht, sind die Reserven mit<br />

drei Milliarden Euro ziemlich dünn. Ein<br />

Versäumnis der Bundesregierung. Als die<br />

beschloss, der Agentur die Zuschüsse für<br />

die Arbeitsförderung zu streichen und dafür<br />

auf den Eingliederungsbeitrag zu verzichten,<br />

klang das nach einem Tauschgeschäft.<br />

Von wegen: Zuletzt zahlte die Bundesagentur<br />

3,8 Milliarden Euro Eingliederungsbeitrag,<br />

die Zuschüsse betrugen 7,2<br />

Milliarden Euro. Tatsächlich fehlen der<br />

Bundesagentur 3,4 Milliarden im Jahr.<br />

Wenn alles gut läuft, mag der finanzpolitische<br />

Kurs bis zum nächsten Regierungswechsel<br />

halten – die nächste<br />

Konjunkturkrise überdauert er mit Sicherheit<br />

nicht.<br />

3. Kosten werden<br />

verschoben, Einmaleffekte<br />

genutzt<br />

Gesamtverpflichtungen und jährliche<br />

<strong>Ausgabe</strong>n für öffentlich-private Partnerschaften<br />

(in Milliarden Euro)<br />

Jahresausgaben<br />

2011<br />

Quelle: BMF<br />

Restverpflichtungen<br />

11,6 12,1 12,7<br />

1,65 1,6 1,45 0,99<br />

14,2<br />

2012 2013 2014<br />

Ob in Finanzministerium oder Konzern,<br />

wer seine Bilanz aufhübschen will, der beachte:<br />

Timing ist alles. Daran denkt der<br />

Vorstandschef, wenn er nach Amtsantritt<br />

eine verheerende Bilanz vorlegt – umso<br />

besser sieht die nächste aus. Dieses Timing<br />

bewies auch Wolfgang Schäuble gleich<br />

mehrfach. Als er den Ausgangspunkt für<br />

seinen Sparkurs gleich ins Jahr 2010 mit<br />

besonders hohen Schulden und besonders<br />

guter Perspektive legte. Oder 2013, als ein<br />

Hochwasser an Donau und Elbe Milliardenschäden<br />

hinterließ, legte der Bund einen<br />

Sonderfonds auf und befüllte ihn mit<br />

acht Milliarden Euro. Im Gegenzug verpflichteten<br />

sich die Länder, dem Bund bis<br />

2033 mehr Umsatzsteuern zu überlassen.<br />

202 Millionen Euro fließen seitdem pro<br />

Jahr zusätzlich in die Bundeskasse.<br />

Auch öffentlich-private Partnerschaften<br />

bieten Chancen für solche Spielchen. Dabei<br />

lagert der Staat die Projektfinanzierung<br />

an Private aus, im Gegenzug erhalten sie<br />

langfristig Gebühren. Wie die aber über die<br />

Jahre verteilt werden – eine Frage des Timings.<br />

So zahlte der Bund 2011 gut 1,6 Milliarden<br />

Euro für solche Projekte, weitere<br />

Verpflichtungen über 12,3 Milliarden standen<br />

aus. 2014 zahlt der Bund nur 994 Millionen<br />

Euro – zugleich stehen deutlich höhere<br />

Verpflichtungen über 14,2 Milliarden<br />

aus. Auch wenn es schwierig ist, die Kalkulation<br />

einzelner Projekte zu überprüfen,<br />

warnt Haushaltsexperte Brackmann:<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 23<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

DREI, DIE AM MEISTEN SCHULDEN MACHTEN<br />

Verlierer der Einheit Theo Waigel unterschätzte<br />

die Kosten des Wiederaufbaus<br />

Hart gelandet Hans Eichel trat mit Sparschwein<br />

an und mit Rekorddefizit ab<br />

Teurer Crash Peer Steinbrücks Pläne<br />

durchkreuzte die Finanzkrise<br />

»<br />

„Wir dürfen uns nicht dazu hinreißen<br />

lassen, öffentlich-private Partnerschaften<br />

angesichts knapper Kassen als reines Finanzierungsinstrument<br />

zu missbrauchen.“<br />

Denn all die Spielereien haben einen entscheidenden<br />

Haken: An den tatsächlichen<br />

Kosten ändert sich nichts. Und je intensiver<br />

man Kosten in der Gegenwart vermeidet,<br />

desto heftiger fällt die spätere Korrektur aus.<br />

4. Der Bund zapft<br />

Mittel an, die<br />

den Bürgern zustehen<br />

Verringerung der Zuweisungen des Bundes<br />

an den Gesundheitsfonds<br />

Quelle: BMF<br />

2013<br />

–2,5<br />

Mrd. €<br />

2014 2015<br />

–3,5<br />

Mrd. €<br />

–2,5<br />

Mrd. €<br />

Als Fritz Schäffer 1956 einen Vortrag vor<br />

dem Hamburger Übersee-Club hielt, hofften<br />

die Kaufmänner, dass er seinen Juliusturm<br />

endlich öffnen und die Steuern senken<br />

würde. Der servierte ihnen stattdessen<br />

bis heute lesenswerte Grundsätze über<br />

sein Amtsverständnis. „Der Finanzminister<br />

muss, um das Vertrauen nicht zu verlieren,<br />

in erster Linie wahr sein allen gegenüber.<br />

Und wahr sein und gefällig sein, lässt<br />

sich leider nicht miteinander vereinbaren.“<br />

Ein Jahr später verlor Schäffer sein Amt,<br />

weil er sich weigerte, die Reserven freizugeben.<br />

Der Juliusturm wurde aufgelöst für<br />

das erste große Wahlgeschenk der Nachkriegszeit:<br />

die Anpassung der Rentenentwicklung<br />

an die Löhne, es war der Einstieg<br />

in die große Staatsverschuldung.<br />

Sein Nachfahre Schäuble hat solches<br />

Drängen ebenfalls erlebt, anders als Schäffer<br />

hat er ihm nicht standhalten können<br />

und die Gefälligkeiten verteilt. Hauptsache,<br />

die Null steht – auf dem Papier. Bezahlt<br />

werden muss leider trotzdem.<br />

2012 wird für das folgende Jahr die „einmalige“<br />

Absenkung des Bundeszuschusses<br />

für den Gesundheitsfonds um 2,5 Milliarden<br />

Euro angekündigt, so leiste auch dieser<br />

Bereich seinen „Sanierungsbeitrag“. Doch<br />

mit der Einmaligkeit ist es nicht weit. 2014<br />

werden dem Fonds gleich 3,5 Milliarden Euro<br />

entzogen, 2015 sollen es noch einmal 2,5<br />

Milliarden sein. Dass dies überhaupt möglich<br />

ist, liegt an einem Konstruktionsfehler<br />

des Fonds. Ebenso wie die Rentenversicherung<br />

hält der sich einen Liquiditätspuffer,<br />

der je nach Finanzlage steigt oder sinkt. Mit<br />

einem Unterschied: Bei der Rentenversicherung<br />

ist eine Höchstsumme festgelegt,<br />

wenn die erreicht ist, müssen die Beiträge<br />

gesenkt werden. Beim Gesundheitsfonds<br />

fehlt diese Grenze. So kann sich der Bund<br />

sogar noch rühmen, durch seinen Zuschuss<br />

die Beiträge für die Bürger stabil zu halten,<br />

obwohl er es ist, der Geld einbehält, dass<br />

den Bürgern versprochen war. Auch bei der<br />

Rente ist es trotz des eingebauten Automatismus<br />

nicht besser. Denn die koalitionsvereinbarte<br />

Mütterrente wurde nicht aus Bundesmitteln<br />

bezahlt, sondern den anspruchsberechtigten<br />

Frauen in Form zusätzlicher<br />

Rentenpunkte zugesprochen und<br />

aus der Rücklage finanziert. Dadurch entstehen<br />

zwar keine neuen Kosten, die 2013 in<br />

Aussicht gestellte Beitragsabsenkung von<br />

18,9 auf 18,3 Prozent aber fällt schlicht aus.<br />

Im Ergebnis bedeuten beide Schritte für<br />

Arbeitnehmer das Gleiche: Ihnen steht weniger<br />

Geld zur Verfügung. Der Weg dahin<br />

allerdings unterscheidet sich in dem Maße,<br />

in dem es auch dem Frosch nicht egal ist,<br />

ob sich das Wasser um ihn langsam erhitzt<br />

oder er in kochendes springen soll. Nur<br />

Letzteres nämlich tut weh.<br />

5. Die guten Zeiten<br />

werden einfach<br />

fortgeschrieben<br />

Wirtschaftswachstum in Deutschland<br />

(in Prozent <strong>vom</strong> BIP)<br />

2,0%<br />

2. Quartal 2014<br />

–0,2%<br />

* laut Haushaltsplan; Quelle: BMF, Destatis<br />

Prognose 2015*<br />

Die außergewöhnlich gute Konjunkturlage<br />

hat Schäubles Mannschaft offensichtlich<br />

dazu verleitet, auch bei ihren Schätzungen<br />

besonders optimistisch zu sein. Das zeigt<br />

sich zum einen bei der Erwartung des Wirt-<br />

FOTOS: EASTBLOCKWORLD.COM, ACTION PRESS/HENNING SCHACHT, LAIF/MICHAEL TRIPPEL<br />

24 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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FOTO: WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

schaftswachstums selbst. 1,8 Prozent erwartet<br />

die Bundesregierung für das laufende<br />

Jahr, 2,0 Prozent für das kommende.<br />

Dass die Wirtschaftsleistung im zweiten<br />

Quartal 2014 sogar gesunken ist und die<br />

Frühindikatoren gerade reihenweise abdrehen,<br />

findet vorerst keine Beachtung.<br />

Dabei ist die Bundesregierung zuletzt regelmäßig<br />

durch übermäßigen Optimismus<br />

aufgefallen. 2012 musste die Regierung<br />

ihre Prognose aus dem Vorjahr (1,8<br />

Prozent) um 1,1 Punkte nach unten korrigieren,<br />

2013 noch mal um 1,2 Punkte. In<br />

den Jahren direkt nach der Finanzkrise unterschätzte<br />

der Bund das Wachstum zunächst,<br />

die folgende Korrektur aber ging<br />

dann offenbar ein Stück zu weit.<br />

Dabei sind Fehler hier besonders fatal,<br />

da sie eine ganze Reihe falscher Prognosen<br />

nach sich ziehen: Entsprechend ihrer<br />

Rechnung, unterstellt die Bundesregierung<br />

bei den <strong>Ausgabe</strong>n für die Arbeitslosigkeit<br />

konstante Werte, die Zinskosten sollen sogar<br />

noch einmal sinken – es wäre das achte<br />

Jahr in Folge. Diese optimistische Grundstimmung<br />

zieht sich weiter durch den<br />

Haushalt. So geht das Finanzministerium<br />

davon aus, dass die Bahn im kommenden<br />

Jahr einen Überschuss von 706 Millionen<br />

Euro erzielt. Zum Vergleich: Im laufenden<br />

Jahr sind es nur 106 Millionen, auch in den<br />

vergangenen Jahren lag der Überschuss<br />

immer unter 300 Millionen. Auch der Energie-<br />

und Klimafonds soll 2015 aus dem<br />

Handel mit Emissionszertifikaten 900 Millionen<br />

Euro Einnahmen generieren. Zum<br />

Vergleich: 2013 sollten sogar zwei Milliarden<br />

Euro zusammenkommen, am Ende<br />

waren es nur 770 Millionen.<br />

Dennoch spricht viel dafür, dass die Null<br />

unter dem Haushalt 2015 am Ende tatsächlich<br />

steht. Zu sehr hat sich Schäuble<br />

auf diese Zahl festgelegt, zu wichtig ist sie<br />

für sein Selbstverständnis und das seiner<br />

gesamten Partei. Als er Anfang Juli erstmals<br />

den Kabinettsentwurf für den Haushalt<br />

2015 präsentierte, wurde er gefragt,<br />

warum ihm diese eine Zahl so wichtig sei.<br />

„Weil es in der Wirtschaft immer auch um<br />

Psychologie geht“, setzte Schäuble an, „ist<br />

die Null nicht nur irgendeine Zahl, sondern<br />

sie hat eine darüber hinausgehende<br />

Bedeutung: Sie schafft Vertrauen.“ Hier<br />

aber irrt der Herr Minister: Vertrauen gewinnt<br />

man nicht mit einer großen, runden<br />

Zahl, sondern dann, wenn all die kleinen<br />

Zahlen sich zu einem runden Ganzen zusammenfügen.<br />

Spätestens Schäubles<br />

Nachfolger wird das bitter bemerken. n<br />

konrad.fischer@wiwo.de, max haerder | Berlin<br />

Wolferwartungsland<br />

BRANDENBURG | Durch kein Bundesland geht so ein tiefer Riss:<br />

Während der Gürtel um Berlin erblüht, kämpfen ganze Regionen<br />

um den Anschluss. Was bedeutet das vor Ort?<br />

Still ruht Templin<br />

Bürgermeister Detlef<br />

Tabbert sucht nach<br />

neuen Bürgern<br />

Inder Not nimmt Detlef Tabbert Granit,<br />

Granitbänder, so viel Präzision muss<br />

sein. In Templin wird gerade eine Straße<br />

grundsaniert, und für den Gehweg hatte<br />

Bürgermeister Tabbert die Auswahl zwischen<br />

einem neuen hübschen Kopfsteinpflaster,<br />

das so gut hierher gepasst hätte –<br />

oder eben diesen großen, grauen Granitplatten.<br />

Nur hatte er das wirklich, eine Wahl?<br />

Tabbert schaltet im Gesicht ein Grinsen<br />

ein und erzählt, dass er jetzt selber gern erzählen<br />

würde, warum er das nur wegen<br />

der vielen jungen Frauen mit ihren hohen<br />

Hacken gemacht habe, aber... Als er entschied,<br />

hatte er in Wahrheit eben doch die<br />

vielen Senioren vor Augen, die mit den flachen<br />

Schuhen und den wackligen Beinen.<br />

„Bei uns“, sagt er, „ist der demografische<br />

Wandel schon da. Wir können uns nicht<br />

erst damit beschäftigen, wenn der Rollator<br />

Pflicht ist.“<br />

»Wir können<br />

nicht warten,<br />

bis der Rollator<br />

Pflicht ist«<br />

Detlef Tabbert, Bürgermeister von Templin<br />

EIN PENSIONSPARADIES<br />

Aus seiner Not spinnt Templins Bürgermeister<br />

nicht nur eine launige Geschichte,<br />

er macht daraus so etwas wie eine Geschäftsidee.<br />

Tabbert hat ein Parteibuch der<br />

Linken, aber er war 20 Jahre lang Unternehmer<br />

mit einer Leasingfirma, die landwirtschaftliches<br />

Gerät vermittelt hat. Das<br />

prägt. Das Konzept für seine Heimatstadt<br />

ist ein Ruhestandsrefugium, ein Pensionsparadies,<br />

überschaubar, aufgeräumt, idyllisch,<br />

mit Krankenhaus, Sole-Therme und<br />

Pflegeheim, Alleinstellungsmerkmal: aufregungsarm<br />

und stolperfrei. Dass die Geburtenrate<br />

auch hier nach unten geht, dass<br />

die Jungen weggehen, wenn die Schule fertig<br />

ist, all das kann Tabbert kaum verhindern.<br />

„Aber der Zuzug der Generation Ü<br />

60, der macht mir Freude.“<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 25<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

»<br />

Wenn das also seine Kunden sind, dann<br />

richtet er sich eben nach ihnen. Viele gebürtige<br />

Templiner sind unter den Rückkehrern,<br />

Menschen, die mit der Rente wieder<br />

zurück zu ihren Wurzeln wollen, aber auch<br />

zahlreiche Berliner, die hier die Gemächlichkeit,<br />

die Natur und die günstigen Mieten<br />

schätzen – und ab und an den Bahn-<br />

Stundentakt zum Abstecher in die große<br />

Hauptstadt.<br />

Eine Strategie für die Ewigkeit, das weiß<br />

Tabbert selbst, ist das nicht, aber immerhin<br />

ist es eine. Die Uckermark im Nordosten<br />

Brandenburgs, in der Templin liegt wie ein<br />

kleines, bescheidenes Schmuckstückchen,<br />

hat schließlich auch mit fast 15 Prozent die<br />

höchste Arbeitslosenrate der Republik,<br />

und die Stadt selbst macht da keine rühmliche<br />

Ausnahme. Die meisten hier sind<br />

langzeitarbeitslos, manche seit wenigen<br />

Jahren, andere haben schon seit der Wende<br />

keinen richtigen Job mehr gehabt. Die<br />

Unterstützung kostet eine Menge Geld, das<br />

für andere Dinge fehlt, und was die Sache<br />

am Schlimmsten macht: Hoffnung auf<br />

Besserung ist kaum in Sicht.<br />

Wie einen Mühlstein schleppt die ganze<br />

Region dieses Problem mit sich herum.<br />

Herausforderungen, so steht es in bemerkenswerter<br />

Offenheit im Leitbild der Stadt,<br />

stellten sich in Templin „noch zwingender,<br />

härter und zugespitzter als anderswo“. Man<br />

kann es nicht klarer formulieren.<br />

SCHRUMPFEN OHNE SCHMERZEN<br />

Man dürfe sich deshalb keinen falschen Illusionen<br />

hingeben, sagt Tabbert. „Wir<br />

müssen gnadenlose preußische Sparsamkeit<br />

an den Tag legen, anders werden wir<br />

nicht über die Runden kommen.“ Gewerbesteuern<br />

fließen eher spärlich, und für die<br />

knapp 16 000 Einwohner erreichen die Gemeinde<br />

auch nur recht überschaubare<br />

Schlüsselzuweisungen. Es gibt immerhin<br />

eine traditionsreiche und zugleich innovative<br />

Holzindustrie, aber die anderen großen<br />

Arbeitgeber sind das Krankenhaus<br />

und ein Pflegeheim. Wachsen, das ahnt<br />

wohl auch der Bürgermeister, wird Templin<br />

nicht mehr. Wenn es gelingt, das<br />

Schrumpfen zu verlangsamen, und das ohne<br />

zu große Schmerzen, dann wäre schon<br />

viel gewonnen.<br />

Umso mehr muss man zeigen, was man<br />

hat, gerade weil es nicht so viel ist. Es gibt<br />

zum Beispiel eine kleine Broschüre über<br />

„Kunst & kreatives Schaffen“ in Templin,<br />

auf die man im Rathaus sehr stolz ist. Rund<br />

40 Maler, Grafiker, Bildhauer und Fotografen<br />

leben hier – „Interesse erwünscht“<br />

Der Funke springt nicht über Unternehmer<br />

Holger Pleske sucht Azubis<br />

»Eine 2 oder 3<br />

im Zeugnis ist<br />

mir bei Azubis<br />

nicht so wichtig«<br />

Holger Pleske, Geschäftsführer MAP<br />

steht gleich auf dem Cover. Auch deshalb<br />

wurde gerade mehr als eine Million Euro in<br />

die Sanierung des Hauses der Jugend und<br />

der Kunst am Altstadtrand gesteckt. Mit der<br />

Universität Potsdam hat sich Tabbert außerdem<br />

ein Schnupperprogramm ausgedacht:<br />

Lehramtsstudenten, die sich für ihr<br />

Schulpraktikum drei Monate in den Brandenburger<br />

Norden trauen, können im<br />

größten Hotel des Ortes umsonst wohnen.<br />

„Zwei Frauen“, freut er sich, „machen jetzt<br />

hier ihr Referendariat.“ Zwei Lichtblicke gegen<br />

den großen dunklen Trend.<br />

Nichts beschreibt die Misere in der Brandenburger<br />

Peripherie so treffend wie ein<br />

einziges Wort, das hier zum stehenden Begriff<br />

geworden ist: Wolferwartungsland.<br />

Wo der Mensch geht, wo die Dörfer langsam<br />

sterben, da übernehmen die Tiere.<br />

So klingt die bittere Wahrheit, allerdings<br />

nur ein gewisser Teil von ihr. Denn neben<br />

der darbenden Provinz gibt es im märkischen<br />

Land auch erblühende Flecken, voller<br />

Aufbruch und Zuversicht. Sie liegen fast<br />

alle wie ein pulsierender Ring um Berlin.<br />

Wer in diesem Speckgürtel Bauland für ein<br />

Häuschen kaufen möchte, muss mittlerweile<br />

96 Euro pro Quadratmeter bezahlen,<br />

2012 waren es noch 79 Euro. Viel weiter<br />

draußen ist der Grund hingegen schon für<br />

36 Euro zu bekommen. Es sind ein paar der<br />

offenkundigen Spuren eines Risses, der<br />

dieses Land prägt.<br />

„Die Wachstumskerne Brandenburgs<br />

verteilen sich um die Hauptstadt herum“,<br />

bilanziert Axel Lindner, Ökonom am Institut<br />

für Wirtschaftsforschung Halle. „Sie haben<br />

sich in den vergangenen Jahren wesentlich<br />

besser entwickelt als das flache<br />

Land.“ Aufstieg und Abstieg vollziehen sich<br />

gleichzeitig. Das Ergebnis: „Die Unterschiede<br />

zwischen den Regionen sind im<br />

Osten massiv, und in Brandenburg sieht<br />

man dies besonders deutlich“, sagt Lindner.<br />

Die Politiker, die für die Landtagswahl<br />

am 14. September um Stimmen werben,<br />

verschleiern diesen Zustand lieber. Auf<br />

den Veranstaltungen des SPD-Ministerpräsidenten<br />

Dietmar Woidke etwa werden<br />

kleine Einspielfilmchen gezeigt, darunter<br />

einer, in dem es heißt: „Wir wollen gut leben,<br />

überall in unserem Land.“ So wenig<br />

Realitätssinn muss an Wählerzumutung<br />

reichen. Im Wahlprogramm der CDU, die<br />

gerne anstelle der Linken wieder mitregieren<br />

würde, steht der Satz: „Wir erwarten<br />

vor allem, dass sich die grundlegenden Lebensbedingungen<br />

in den Regionen fernab<br />

der Hauptstadt nicht verschlechtern.“ Nur<br />

wie das auch in Zukunft ganz konkret ge-<br />

FOTO: WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

26 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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lingen soll, mit – Tendenz sinkend – 2,5<br />

Millionen Einwohnern auf einer Fläche,<br />

die fast so groß ist wie ganz Belgien, darüber<br />

wird geflissentlich geschwiegen, und<br />

zwar bei allen Parteien.<br />

Es könnten bescheidene, aber tatkräftige<br />

Brandenburger wie Holger Pleske und<br />

seine mehr als 270 Mitarbeiter sein, die einen<br />

gehörigen Anteil dazu beitragen,<br />

wenn dieser Wandel glimpflich ablaufen<br />

soll. Pleske ist Geschäftsführer der MAP<br />

Maschinen- & Apparatebau Produktions<br />

GmbH in Rathenow. Hier, im Havelland<br />

westlich von Berlin, werden einige der<br />

kleineren und größeren Erfolgsgeschichten<br />

geschrieben, die ihren Ausdruck dann<br />

in hübschen Statistiken finden, die man<br />

schon eher in den Reden und Broschüren<br />

der wahlkämpfenden Parteien findet.<br />

Aber Erfolge sind es durchaus: Im vergangenen<br />

Jahr stieg die Zahl der sozialversicherungspflichtigen<br />

Jobs im Havelland<br />

so stark wie nirgendwo sonst in Brandenburg<br />

– um 4,6 Prozent. Beim Abbau der Arbeitslosigkeit<br />

liegt das Bundesland auch<br />

dank solcher Zahlen im nationalen Vergleich<br />

schon seit Längerem vorne (was<br />

Brandenburg im Bundesländer-Dynamikranking<br />

der WirtschaftsWoche regelmäßig<br />

Spitzenplätze einbrachte – trotz Uckermark).<br />

Bei Holger Pleske lässt sich dieser Aufschwung<br />

an der Pinnwand seines nüchternen<br />

Büros besichtigen. Dort hängt ein ausgerissener<br />

Artikel aus der Lokalzeitung,<br />

mit dem großen Foto eines gewaltigen<br />

Containerschiffes. MAP fertigt unter anderem<br />

Motorengehäuse für Siemens, die in<br />

genau diesen Giganten benötigt werden.<br />

Ein bisschen Rathenow schippert also mit<br />

auf den Routen der Globalisierung zwischen<br />

Rotterdam, Singapur und Hongkong.<br />

Draußen vor den Werkshallen stehen<br />

zwei Flugzeugattrappen mit Flügel<br />

und Turbine aus Stahl, die auf Knopfdruck<br />

in Flammen gesetzt werden können. Flughafen-Feuerwehren<br />

proben an ihnen den<br />

Ernstfall, diese beiden warten auf den<br />

Transport nach Italien.<br />

SCHWERE SUCHE<br />

„Gut schweißen“, sagt Pleske, „können<br />

sehr viele Unternehmen. Auch die mechanische<br />

Bearbeitung großer Bauteile machen<br />

einige. Aber beides zusammen, das<br />

beherrschen dann doch nur wenige.“ 2004<br />

wurde MAP aus der Insolvenzmasse dreier<br />

Vorgängerbetriebe gegründet, 2007<br />

folgte die Übernahme durch eine westdeutsche<br />

Maschinenbaugruppe. Damals<br />

hatte MAP rund 200 Mitarbeiter, mittlerweile<br />

sind rund 70 mehr im Unternehmen,<br />

auch dank Investitionen von rund 15<br />

Millionen Euro. „Heute haben wir alle Bedingungen,<br />

um produktiv arbeiten zu<br />

können“, sagt Pleske. „Die Entwicklung<br />

war hervorragend.“<br />

Neben der Brillenkette Fielmann, die in<br />

Rathenow ein Produktions- und Logistikzentrum<br />

aufgebaut hat, ist MAP einer der<br />

größten Arbeitgeber im 22 000-Einwohner-Städtchen.<br />

20 Azubis bildet die Firma<br />

gerade aus, nicht wenig. Aber die Suche<br />

nach geeigneten Kandidaten fällt immer<br />

schwerer. Zum einen, weil es einfach immer<br />

weniger Bewerber werden, zum anderen<br />

sinkt das Niveau. „Wir müssen über<br />

Ausbildung einen Großteil unseres Bedarfs<br />

an guten Mitarbeitern decken“, sagt<br />

Pleske. „Eine 2 oder 3 im Zeugnis ist mir da<br />

nicht so wichtig, technikverliebt müssen<br />

sie sein.“ Es klingt schon nicht mehr ganz<br />

so optimistisch.<br />

Viele Mitarbeiter kommen morgens auf<br />

dem Fahrrad in den Betrieb, für die Suche<br />

nach Azubis reicht ein solcher Radius<br />

längst nicht mehr aus. Aus mehr als 50 Kilometer<br />

Entfernung kommen mittlerweile<br />

Bewerber. MAP ist offensichtlich attraktiv<br />

genug, aber es ist doch ein Symptom der<br />

Schwäche, dass selbst im boomenden Havelland<br />

schon sehr bald Grenzen erreicht<br />

sein könnten.<br />

LOCKEN UND HOFFEN<br />

Geschäftsführer Pleske merkt das ja, bei<br />

sich ganz persönlich. Er selbst ist in Rathenow<br />

mehr als heimisch, aber wenn er darüber<br />

spricht, wie Kneipennächte wegen<br />

Lärms verhindert werden, dann merkt<br />

man, wie er zweifelt. Weil es an Kinos fehlt<br />

und an Discos. Weil die Bundesgartenschau,<br />

die 2015 in Rathenow stattfinden<br />

wird, die Kids nun wirklich nicht <strong>vom</strong> Hocker<br />

reist. Ende September wird Pleske alle<br />

Mitarbeiter zum zehnjährigen Firmenjubiläum<br />

auf das Gelände einladen, es soll ein<br />

Familienfest werden, mit Musik und einer<br />

Hüpfburg für die Kinder. Für die etwas Älteren<br />

soll es Entdeckungstouren durch die<br />

Werkshallen geben – neugierig machen, locken.<br />

Vielleicht, hofft er, kann man jemand<br />

begeistern<br />

Pleske hat selbst zwei Kinder. Ein Sohn<br />

von ihm studiert in Dresden. Ob der jemals<br />

dorthin zurückkehren wird, wo er aufgewachsen<br />

ist? „Soll ich ihm raten, hier zu<br />

bleiben?“, fragt der Vater.<br />

Sein Schweigen ist die Antwort. n<br />

max.haerder@wiwo.de | Berlin<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 27<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

Große Idee, kleines Karo<br />

FDP | Christian Lindner muss seine Partei darauf einschwören, Freiheit konsequent zu denken.<br />

Tut er es nicht: Gute Reise! Sechs Thesen zu Krise und Rettung des Liberalismus in Deutschland.<br />

Essind mal wieder keine guten Wochen für den organisierten<br />

Liberalismus in Deutschland. Die FDP flog in Sachsen aus<br />

dem Parlament. Sie ist an keiner Regierung mehr beteiligt,<br />

nicht im Bundestag vertreten, nicht in den Landtagen von Bayern<br />

und Rheinland-Pfalz, und nach den Landtagswahlen nächste Woche<br />

in Thüringen und Brandenburg werden die Ost-Parlamente<br />

FDP-frei sein. Abgemeldet ist die FDP in den Medien. Kein<br />

Mensch weiß mehr, wie ein Liberaler zu Ukraine und Putin steht,<br />

zu Waffenlieferungen in den Irak, zur EZB-Politik oder zum Mindestlohn.<br />

Oder besser gesagt: Kein Mensch will es mehr wissen.<br />

Wenn aber die FDP tatsächlich am Ende ist, personell ausgehöhlt,<br />

medial verachtet, institutionell marginalisiert und programmatisch<br />

zersplittert – was wird dann aus der schönen Tradition des<br />

Liberalismus? Hat das Ideal der individuellen Freiheit in Deutschland<br />

noch eine Zukunft? Eine Antwort in sechs Thesen:<br />

1. DER LIBERALISMUS STECKT IMMER IN DER KRISE<br />

Stellen wir uns einen Marktplatz vor, auf dem drei Händler – der<br />

Konservative, der Sozialdemokrat und der Liberale – um Aufmerksamkeit<br />

wetteifern. Wir sehen, wie der Konservative mit politischem<br />

Gemüse handelt, der Sozialdemokrat politisches Obst feilbietet<br />

– und wie der Liberale das große Nichts anpreist. Er weist<br />

nur auf die gähnende Leere vor sich hin und ruft: „Euren Hunger<br />

müsst ihr schon selber stillen.“ Kein Wunder also, dass die meisten<br />

Kunden sich <strong>vom</strong> Liberalismus abwenden. Im Unterschied zu den<br />

beiden anderen traditionellen politischen Stilrichtungen hat er<br />

den Menschen nichts Bejahbares anzubieten. Die Konservativen<br />

schöpfen aus dem reichen Reservoir der (nationalen) Kultur und<br />

Geschichte. Sie bauen auf Bewährtes und hüten die Tradition. Sie<br />

hegen überlieferte Ordnungen und vertrauen auf die zivilisierende<br />

Kraft gewachsener Institutionen. Die Sozialdemokraten wiederum<br />

haben immer die Zukunft, den Fortschritt und das große Ganze im<br />

Blick, die Gesellschaft, den Staat und den Weltfrieden. Sie erheben<br />

Utopia zum Menschheitsziel und dienen sich uns als Navigatoren<br />

auf dem Weg dorthin an, angetrieben von der erneuerbarsten aller<br />

politischer Energien, der „sozialen Gerechtigkeit“. Allein der Liberalismus,<br />

der lässt uns im Stich. Der hält uns hinein in die Welt, wie<br />

sie ist – und gibt uns einen Stups. Der erteilt uns keine Ratschläge<br />

und weist uns keine Richtung, kennt weder Herkunft, Weg noch<br />

Ziel. Der Liberalismus ist eine einzige Zumutung. Er zwingt uns die<br />

Freiheit auf, irgendwas aus ihr zu machen. Als politisches Angebot<br />

– kalt, leer und höchst anspruchsvoll zugleich – steckt er daher immer<br />

in der Krise.<br />

IN DER FDP WEISS NIEMAND EINEN AUSWEG<br />

Der bullige Mann schüttelt ratlos den Kopf. Auch einige Tage<br />

nach dem Ausscheiden aus dem Dresdner Landtag kann<br />

Holger Zastrow das Scheitern nicht verstehen. „Wir haben<br />

gekämpft wie die Löwen, wir haben alles versucht, haben<br />

alle unsere Versprechen gehalten.“ Die Begründungen<br />

sprudeln nur so hervor, warum die Liberalen noch dabei sein<br />

müssten. Eigentlich. „Wir haben den besten Wahlkampf<br />

gemacht, den Respekt haben uns selbst die Gegner gezollt.<br />

Und trotzdem hat es nicht gereicht.“ Pause. „Dieses Ergebnis<br />

ist so ungerecht. Leistung lohnt sich nicht – das gilt<br />

auch hier.“<br />

Ratlosigkeit auch im Thomas-Dehler-Haus, der Berliner<br />

Parteizentrale. Man hat nun alles versucht: sanfte Wahlkämpfe,<br />

damit die FDP wieder „gemocht“ werden sollte, wie<br />

der Ex-Parteichef Philipp Rösler einmal sagte: für Lohnuntergrenzen,<br />

die man Mindestlohn nicht nennen mochte; für<br />

eine nur leicht modifizierte Energiewende; und keine Steuersenkungen.<br />

Man hat klare Kante probiert wie in Sachsen:<br />

gegen Windräder, gegen Ökosubventionen, gegen jeden<br />

Mindestlohn; für Steuerentlastungen trotz Sparpolitik. Das<br />

Ergebnis war stets dasselbe: FDP unterm Strich.<br />

»<br />

Mag schon sein, aber:<br />

Was ist mit der stolzen<br />

Tradition des Liberalismus?<br />

Hat das Ideal der<br />

individuellen Freiheit in<br />

Deutschland noch eine<br />

Zukunft? Und wenn ja:<br />

welche? Bezeichnend,<br />

dass die FDP darauf<br />

nur rückwärtsgewandte<br />

Antworten weiß.<br />

FOTO: BERLINPRESSPHOTO/HENNING SCHACHT<br />

28 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

»<br />

Früher, wenn die Partei dahinsiechte, gab es immer<br />

innerparteiliche und außenstehende Besserwisser, die zumindest<br />

eine Idee hatten, was die Liberalen anders machen<br />

könnten. Heute hat niemand eine Idee. Nur etwas Stolz<br />

ist Zastrow geblieben: „Die CDU hat eine Zweitstimmenkampagne<br />

gemacht, wir nicht. Wir haben nicht um Mitleid<br />

gebettelt.“<br />

2. FREIHEIT IST UNTEILBAR<br />

Von Wirtschaftsnobelpreisträger Milton Friedman stammt<br />

ein Satz, der den Wirtschaftsliberalismus alter Schule quintessentiell<br />

zusammenfasst: „The business of business is business.“ Der<br />

Unternehmer hat sein Unternehmen zu führen, so Friedman, und<br />

wenn er das erfolgreich tut, dann füllt er damit nicht nur sein<br />

Portemonnaie, sondern auch die Konten seiner Mitarbeiter (Löhne)<br />

und Miteigentümer (durch die Steigerung des Profits). Er füllt<br />

mit seinen Produkten die Regale (zum Wohle der Kunden) – und<br />

erfüllt damit seine gesellschaftliche Aufgabe. Aber stimmt das<br />

überhaupt? Kann man nach der ungeheuren Konzentration von<br />

Macht und Vermögen in der Hand von Privatpersonen, Banken<br />

und (Daten-)Konzernen und nach dem Aufstieg von autoritären<br />

Staatskapitalismen in China oder Russland noch daran glauben,<br />

dass das Geschäft des Geschäfts nichts anderes als das<br />

Geschäft zu sein hat? Offenbar nicht. Aber warum stimmt die<br />

Rede <strong>vom</strong> demokratischen Wandel nicht mehr, der mit dem<br />

Handel einhergeht?<br />

Nun, eine Antwort wüsste ausgerechnet Friedman. Er hatte 1976<br />

kein Problem, Chiles Militärjunta „technischen wirtschaftlichen<br />

Rat zu geben“ – und damit nicht nur die materielle Not vieler<br />

Chilenen gelindert, sondern auch die Idee der unteilbaren Freiheit<br />

verraten. Seither sind wirtschaftliche und politische Freiheit keine<br />

Zwillinge mehr. Seither neigen Liberale dazu, „der Wirtschaft“<br />

Vorfahrt vor „der Politik“ zu gewähren. Echte Liberale wie Ralf<br />

Dahrendorf oder Karl-Hermann Flach hätten sich für solche<br />

Vereinseitigungen der Freiheitsidee geschämt. Ihr Liberalismus<br />

meinte den „Freiheitsdrang der Menschen“. Und ihr Wirtschaftsliberalismus<br />

meinte leistungsfördernden Wettbewerb innerhalb<br />

eines staatlichen Ordnungsrahmens – und keinen Businessclass-<br />

Liberalismus, der die Marktmacht von globalen Konzernen protegiert,<br />

die liberale Demokratie als Fessel des Marktes schmäht und<br />

sich vor autoritativen Staaten ihrer „wirtschaftlichen Freiheit“<br />

wegen verneigt.<br />

DIE FLÜGEL DER FDP STREBEN AUSEINANDER<br />

Mitglieder der „Libertären Plattform“ in der FDP halten das<br />

Verbot von Flatrate-Sex für einen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht<br />

der Hure und die Möglichkeit des Zigarettenkonsums<br />

in Russlands Gaststätten für einen Ausdruck<br />

von Wladimir Putins Freiheitswillen. Etliche Freidenker haben<br />

die Partei schon wegen des Widerspruchs verlassen,<br />

gleichzeitig Verfechterin der wirtschaftlichen Vernunft und<br />

des Rechtsstaats zu sein – und trotzdem für die Euro-Rettung.<br />

In der „Liberalen Vereinigung“ sammeln sich ehemalige<br />

FDP-Anhänger aller Schattierungen. Die Hamburger Landesvorsitzende<br />

Sylvia Canel, auch sie Gegnerin der Euro-<br />

Rettungspolitik, ist vergangenen Montag aus der FDP ausgetreten,<br />

um mit 35 gleichgesinnten Hanseaten eine neue<br />

Partei zu gründen, eine sozialliberale.<br />

3. FREIHEIT UND SICHERHEIT SIND VEREINBAR<br />

Liberale neigen dazu, den modernen Sozialstaat zu verunglimpfen,<br />

weil sie hinter jedem Zuwachs staatlicher Fürsorge eine Freiheitsberaubung<br />

wittern und hinter jeder sozialpolitischen Maßnahme<br />

eine Gleichmacherei, die die Spannkraft ihrer Nutznießer<br />

lähmt. Denkt man diesen Gedanken zu Ende, wäre der Erfolg der<br />

Bundesrepublik eine einzige Dekadenzgeschichte. Das aber ist,<br />

mit Verlaub, Unsinn. Denn natürlich hat der Zuwachs an sozialer<br />

Sicherheit die Freiheit der Menschen nicht nur gelähmt, sondern<br />

auch gestärkt und Deutschland noch dazu innerlich befriedet.<br />

Vielleicht liegt die Krise des Liberalismus ja exakt darin begründet:<br />

dass uns seine Vertreter seit 150 Jahren in endlosen Reprisen<br />

einen „Mangel an Reife zur Freiheit“ attestieren – und uns dem<br />

immer gleichen Vorwurf aussetzen, wir seien sicherheitsverliebte<br />

Herdentiere, die nur darauf warten, sich von einem fürsorglich-paternalistischen<br />

Staat auf sattgrüne Weiden führen zu lassen.<br />

Tatsache ist, dass die Sache der Freiheit in den westlichen Wohlfahrtsstaaten<br />

weder gewonnen hat noch verloren ist. Allein ihre<br />

Ambivalenz hat stetig zugenommen. Der wissenschaftlich-technische<br />

Fortschritt, die Ausdifferenzierung der Gesellschaft und das<br />

wirtschaftliche Wachstum haben uns einerseits schier unendliche<br />

Spielräume eröffnet: „Nie zuvor hatten so viele Menschen so große<br />

Lebenschancen wie heute“ (Ralf Dahrendorf)– doch nie zuvor waren<br />

wir zugleich von so vielen anonymisierten Prozessen, systemischen<br />

Logiken, unternehmerischen Zwängen und politischen<br />

Alternativlosigkeiten bedrängt. Der klassische Liberalismus hat<br />

»<br />

Konkurrenz I<br />

Die CDU schöpft<br />

aus dem reichen<br />

Reservoir der Kultur<br />

und Geschichte,<br />

baut auf überlieferte<br />

Ordnungen und<br />

hütet die Tradition.<br />

Und Angela Merkel<br />

selbst? Ist vielleicht<br />

nicht konservativ.<br />

Aber sie personifiziert<br />

das Bewährte.<br />

Konkurrenz II<br />

Die Sozialdemokraten<br />

haben die<br />

Zukunft, den Fortschritt<br />

und den<br />

Weltfrieden im<br />

Blick. Und Sigmar<br />

Gabriel? Ist immer<br />

angetrieben von der<br />

erneuerbarsten aller<br />

politischen Energien:<br />

der „sozialen<br />

Gerechtigkeit“.<br />

FOTOS: LAIF/DOMINIK BUTZMANN<br />

30 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

»<br />

aus dieser Ambivalenz seine Kraft bezogen und die zentralen<br />

Fragen der Neuzeit aufgeworfen: In welchem Verhältnis stehen<br />

Gleichheit und Freiheit zueinander, Sicherheit und Eigenverantwortung,<br />

Individuum und Staat? Damals, im 18. Jahrhundert, war<br />

er ein avantgardistisches Programm, das auf die Begrenzung der<br />

absoluten Königs- und Fürstenmacht abzielte. Heute, nach all den<br />

großen Siegen der Freiheit und all ihren kleinen Niederlagen, weiß<br />

die FDP auf diese Fragen nur steinalte Antworten.<br />

4. EIN NEUER EIGENTUMS- UND FREIHEITSBEGRIFF<br />

Der Eigentumsbegriff der Liberalen basiert auf einer groben Verkürzung.<br />

Er geht bekanntlich auf den englischen Philosophen John<br />

Locke zurück, der vor 300 Jahren sinngemäß meinte, dass ein freier<br />

Mensch alles, was er der Natur durch seiner Hände Arbeit abringt,<br />

auch sein Eigen nennen darf. Was viele Vulgärliberale dabei gerne<br />

vergessen, ist Lockes Nachsatz: solange „ebenso gutes den anderen<br />

gemeinsam verbleibt“. Anders gesagt: Lockes Eigentumsbegriff will<br />

zwar dem Reichtum keine Grenzen setzen, wohl aber der Armut. Er<br />

erzählt – im 17. Jahrhundert – noch nichts von einer lohnabhängigen<br />

Arbeiterklasse, die – im 19. Jahrhundert – kein Eigentum am Ertrag<br />

ihrer Arbeit hat und von schottischen Moralphilosophen dafür<br />

schulterzuckend bedauert wird, bei der „great lottery of life“ eine<br />

Niete gezogen zu haben. Auch rechtfertigt Locke gewiss nicht die<br />

möglichst steuerfreie Vererbung von Eigentum. Vor allem aber geht<br />

Locke – 160 Jahre bevor die „frontier“ in der Neuen Welt den Mississippi<br />

erreicht – noch von unbegrenzten Ressourcen aus. Davon<br />

kann heute erkennbar keine Rede mehr sein – und der Wirtschaftsliberalismus<br />

hat lange Zeit nicht mal ansatzweise durchblicken lassen,<br />

dass er auf die Frage der Nutzung von endlichen oder gefährdeten<br />

Gemeingütern (Wald, Klima, Wasser, Öl) eine Antwort wüsste.<br />

JETZT MAL WIEDER KLARE KANTE STATT SÄUSELN<br />

Weil gerade mal ein Prozent der Wähler bei der FDP Kompetenz<br />

für die Zukunft sieht, so die Allensbacher Meinungsforscher,<br />

kann der Parteichef getrost neue Parolen ausgeben.<br />

Einen Vorwurf, der ihm ob einstiger Absetzbewegungen <strong>vom</strong><br />

kühlen Steuersenkungskurs gemacht wurde, nutzt er nun<br />

zur Abgrenzung von seinem Vorgänger: „Was wir in der Bundesregierung<br />

abgeliefert haben, das war Säuselliberalismus<br />

und teilweise anti-liberal.“ Ende 2011 hatte er sich aus der<br />

Bundespolitik zurückgezogen – aus Protest gegen Philipp<br />

Röslers Art und Leise. „Eine Energiewende mit horrenden<br />

Subventionen und planwirtschaftlicher Steuerung hat mit<br />

Liberalismus und Marktwirtschaft nichts zu tun.“<br />

Nun predigt Lindner seiner Partei „eine radikalere und<br />

konsequentere Ausrichtung“, und das heißt vor allem: „Wir<br />

wollen wieder klar als Partei der Marktwirtschaft erkennbar<br />

sein, das war in der Zeit der schwarz-gelben Koalition nicht<br />

der Fall. Wir wollen die kalte Progression abschaffen, wir<br />

sind gegen die zur Klima-Religion erhobene Energiewende.<br />

Wir sagen ja zum Freihandel.“ Dass die Bürger dem Freihandelsabkommen<br />

TTIP misstrauen, soll die Liberalen nicht anfechten.<br />

Inhaltlich trennt Lindner nichts <strong>vom</strong> Sachsen Zastrow.<br />

Doch der Ostdeutsche aus der früheren Bürgerbewegung<br />

fühlt anders: „Freiheit ist für mich ein emotionales Erlebnis.<br />

Die FDP ist interessengeleitet und hat eine Funktion.“<br />

Der frühere CDU-Innenminister Manfred Kanther spottete<br />

gern: „Liberale sind Konservative, denen der Porsche noch<br />

nicht geklaut wurde.“ Lindner versucht die Gratwanderung,<br />

wie der Staat Freiheitsbedrohungen zu wehren habe. „Wir<br />

wollen einen Staat, der die Grundrechte und die bürgerlichen<br />

Freiheitsrechte achtet, der aber auch das Recht<br />

durchsetzt, wo es bedroht wird, beispielsweise durch Kriminalität.“<br />

Einen ganz ähnlichen Doppelklang intoniert er für<br />

Schulen und Hochschulen: „Wir wollen ein faires und aufstiegsorientiertes<br />

Bildungssystem, aber wir verlangen Leistung<br />

und schaffen nicht die Schulnoten ab.“<br />

Auch der Freiheitsbegriff der Liberalen benötigte eine Auffrischung.<br />

Seine klassische Definition stammt von John Stuart Mill, der<br />

– ähnlich wie Locke – „Schädigung anderer“ zur Grenze der Freiheit<br />

erhebt. Es ist bekannt, dass die übrigen Politikanbieter dazu neigen,<br />

diese Grenze immer weiter hinein ins Reich der individuellen Freiheit<br />

zu treiben: Ein neues Kohlekraftwerk in der Kamtschatka, so lässt<br />

sich argumentieren, schädigt die Lebensgrundlagen meines nicht<br />

geborenen Enkels, also gehört sein Bau verboten. Viele FDP-Liberale<br />

wiederum antworten auf die Ausweitung der Sorgenzone noch immer<br />

mit einer allzu einfachen Formel: Freiheit bedeutet, hier und<br />

heute tun zu können, was man will. Mein Porsche gehört mir!<br />

Der anspruchsvollen und gleichsam öffentlichen Aufgabe, eine<br />

qualitative Bestimmung von Freiheit vorzunehmen: Welche Freiheiten<br />

schaden? Welche wollen wir dennoch dulden? Welche sollen<br />

unantastbar sein? – dieser Aufgabe weichen die FDP-Liberalen seit<br />

Jahren aus – mit der Folge, dass der Diskurs an der FDP vorbei stattfindet.<br />

Denkfaule Liberale missverstehen Mills „individuelle“<br />

»<br />

FOTOS: DDP IMAGES/UNITED ARCHIVES, AKG/GLASSHOUSE IMAGES<br />

Tradition I<br />

Von John Locke<br />

(1632–1704)<br />

stammt die liberale<br />

Definition des Eigentums.<br />

Was die FDP<br />

bis heute nicht verstehen<br />

will: Der<br />

englische Philosoph<br />

wollte zwar dem<br />

Reichtum keine<br />

Grenzen setzen,<br />

wohl aber der Armut.<br />

Tradition II<br />

Von John Stuart Mill<br />

(1806–1873)<br />

stammt die liberale<br />

Definition der Freiheit.<br />

Was die FDP<br />

bis heute nicht verstehen<br />

will: Der<br />

englische Philosoph<br />

stellte dem Egoismus<br />

von Hier-und-<br />

Jetzt-Ichlingen keinen<br />

Freibrief aus.<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 31<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

»<br />

Freiheit immer noch als Hier-und-Jetzt-Freibrief für Ichlinge –<br />

und nicht als eine Praxis steuernder Kontrolle über das eigene<br />

Leben, als Fähigkeit, die wir mit Blick auf andere zu verwirklichen<br />

haben. Freiheit im Sinne von Mill ist:Wahlfreiheit. Sie besteht nicht<br />

in der Abwesenheit äußerer Hindernisse, sondern darin, dass wir<br />

bestimmten Zielen größere Bedeutung beimessen als anderen.<br />

5. WIDER DIE UNFREIHEIT!<br />

Was Liberale gern vergessen: Die Erschließung von Räumen der Freiheit<br />

geht ihrer Nutzung voran. Liberalismus bezeichnet also eine Impulsbewegung,<br />

die auf die Abschaffung der Unfreiheit zielt.<br />

Der Vormarsch der Islamisten in Syrien und im Irak, die Missachtung<br />

der Menschenrechte in China, die russische Offensive gegen die<br />

Ukraine – es gibt in diesen Wochen viele Beispiele, die verdeutlichen,<br />

dass der Liberalismus von einer elementaren Definition dessen bestimmt<br />

werden sollte, was Unfreiheit bedeutet: in der Macht eines<br />

anderen zu stehen. Der nicht geringste Vorzug eines solchen „Liberalismus<br />

der Furcht“ (so die amerikanische Politologin Judith Shklar)<br />

besteht darin, dass er die politische Universalvokabel der „Gerechtigkeit“<br />

ausklammert, um sich die Wachsamkeit dafür zu erhalten, was<br />

ungerecht ist:Repression, Hunger, Ausbeutung. Zweitens aber ist ein<br />

solcher Liberalismus darum bemüht, alle Formen von Macht als Bedrohung<br />

der Freiheit zu identifizieren, also nicht nur staatliche<br />

Macht, sondern zum Beispiel auch Macht, die Wirtschaftsunternehmen<br />

auf sich vereinen.<br />

Anders gesagt: Der Blick eines solchen Liberalismus fällt nicht nur<br />

mit Wohlgefallen auf die „wirtschaftliche Freiheit“ in Singapur, sondern<br />

immer auch kritisch auf die politische Unfreiheit dort. Er hat seinen<br />

Ausgangspunkt nicht (nur) in den Handelsräumen der Wall<br />

Street, sondern auch in den Fabriken von Bangladesch. Sein Maßstab<br />

ist nicht nur die Freiheit des Arbeitgebers, seine Angestellten zu behandeln,<br />

wie es ihm dünkt, sondern auch die Freiheit des Angestellten,<br />

vor Drohungen und schlecht bezahlter Rumschubserei sicher zu<br />

sein. Alles in allem ist es ein Liberalismus, der die „Gewissheiten“ des<br />

Liberalismus der FDP-Liberalen in den vergangenen 20 Jahren auf<br />

den Kopf stellt: Frei ist, wer nicht erniedrigt, verletzt und gedemütigt<br />

werden kann.<br />

GLAUBWÜRDIGKEIT LÄSST SICH NICHT BEWEISEN<br />

Ja, im Bundestag fehlt eine marktwirtschaftliche Partei. Aber<br />

das war in den vier Jahren zuvor auch schon der Fall. Dass sie<br />

künftig ihre Versprechen halten würde, kann die FDP nicht<br />

beweisen. Sie regiert nirgends mehr. Die höchstrangigen Liberalen<br />

sind der Wehrbeauftragte und der Präsident des Kartellamts<br />

– beide zu parteipolitischer Neutralität verpflichtet.<br />

„Wir müssen jetzt in der 2. Liga bis zum Saisonende durchspielen“,<br />

ist Lindner realistisch. „Wenn der Aufstieg in den<br />

Bundestag gelingt, sind wir als ‚Comeback-Kids‘ wieder für<br />

die Medien interessant.“ Freilich: Der Letzte der FDP-Boygroup<br />

zählt aus Sicht klassischer liberaler Triple-A-Wähler –<br />

Ärzte, Anwälte, Apotheker – immer noch zu den: „Kids“<br />

Sachsen-Wahlkämpfer Zastrow möchte nun aus der Jugend<br />

eine Tugend machen. Wenn man schon eine so junge<br />

Führungsriege hat, dann „müssen wir jetzt außerhalb des<br />

Parlaments eine Bewegung für die jüngere Generation werden.<br />

Wir haben mit Christian Lindner einen jungen Repräsentanten.“<br />

Die aktuelle Regierung ruiniere die Basis für die<br />

Zukunft. „Was ist für junge Leute heute einfacher als früher?<br />

Nichts. Wieso muss die nächste Generation vier Jahre länger<br />

arbeiten als die, die heute mit 63 aufhören darf?“<br />

6. DIE LIBERALEN ALS TUGENDWÄCHTER<br />

Die Liberalen müssten heute als Kämpfer gegen jede Form von elementarer<br />

Unfreiheit auftreten – und als ehrliche Makler einer qualitativ<br />

bestimmten Freiheit. Liberale sorgen sich nicht (nur) um die<br />

Geschäfts- und Gemütslage Russlands, sondern (vor allem) um die<br />

Informations- und Meinungsfreiheit der russischen Bürger. Sie fördern<br />

nicht durch ordnungspolitische Passivität einen staatlich lizenzierten<br />

Bankensektor, der seine Risiken systematisch auslagert und<br />

alle Haftung beim Steuerzahler ablädt, sondern sie unterstützen ein<br />

Wirtschafts- und Währungssystem, das auf Sparsamkeit, Solidität<br />

und den breiten Aufbau von Eigentum setzt. Liberale stellen den sozialdemokratischen<br />

Umverteilungswillen ebenso infrage wie die<br />

Steuersenkungssubventionen der Angebotsfanatiker. Ihnen ist eine<br />

Denunziation von Reichtum genauso zuwider wie ein Reichtum, der<br />

sich faulen Quellen verdankt. Über den Faulpelz, der auf Alimentation<br />

<strong>vom</strong> Staat hofft, kann er sich genauso echauffieren wie über den<br />

Steuerflüchtling, der den Staat prellt. Kurzum: Nimmt der politisch<br />

organisierte Liberalismus Freiheit und Unfreiheit endlich beim<br />

Wort, stehen ihm in Deutschland alle Türen offen. Verengt er Freiheit<br />

und Unfreiheit weiter auf das, was Libertäre, Wirtschafts-, Nationalund<br />

Sozialliberale sich jeweils darunter vorstellen, kann man ihm<br />

nur weiterhin eine „gute Reise“ wünschen: Richtung Abgrund. n<br />

dieter.schnaas@wiwo.de | Berlin, henning krumrey | Berlin<br />

Der Bourgois<br />

Wirtschaftsnobelpreisträger<br />

Milton<br />

Friedman hat die<br />

Idee der unteilbaren<br />

Freiheit verraten.<br />

Seit seiner Unterstützung<br />

der chilenischen<br />

Militärjunta<br />

sind wirtschaftliche<br />

und politische Freiheit<br />

keine zweieiigen<br />

Zwillinge mehr.<br />

Der Citoyen<br />

Der Soziologe Ralf<br />

Dahrendorf hat<br />

stets vor Vereinseitigungen<br />

der Freiheitsidee<br />

gewarnt.<br />

Sein Liberalismus<br />

adressierte die<br />

Freiheit der Menschen<br />

– und keine<br />

Businessclass, die<br />

den autoritativen<br />

Kapitalismus stärkt.<br />

FOTOS: CORBIS/ROGER RESSMEYER, DDP IMAGES/INTERTOPICS<br />

32 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

Frust und Frieden<br />

UKRAINE | In der befreiten Rebellenhochburg Slowjansk stehen die<br />

Menschen so loyal zu Kiew wie nie. Doch die Fabriken sind zerstört,<br />

das Geld zum Wiederaufbau fehlt – und es droht Anarchie.<br />

Es ist die Ruhe nach dem Sturm Zerstörte Industrieanlage in Slowjansk<br />

Verfall fraß sich schon lange durch die<br />

Fabrik, als eines helllichten Tages die<br />

maskierten Männer kamen und alles<br />

noch viel schlimmer machten. Im Isolatorenwerk<br />

Slowjansk tüftelten nur noch 150<br />

Mitarbeiter in 5 der 29 Hallen an Metallteilen,<br />

die in Strommasten verbaut werden<br />

sollen. Bis am 6. Mai prorussische Separatisten<br />

einfielen und das Werk mit ihren Gewehren<br />

zum Eigentum der Volksrepublik<br />

Donezk erklärten. Der Manager Wladimir<br />

Krawtschenko kann es auch heute noch<br />

nicht fassen: „Sie stahlen Material und<br />

fertige Produkte, sogar Stanzen und<br />

Drehmaschinen!“ Alles hätten sie bei<br />

irgendwelchen Verschrottern zu flottem<br />

Geld machen wollen. Wie soll er jetzt weiter<br />

produzieren?<br />

Glasscherben platzen unter den Sohlen,<br />

als Krawtschenko in seinem ausgewaschenen<br />

Hemd über das riesige Gelände trottet,<br />

überall liegen Patronenhülsen. Die Fenster<br />

aller Hallen sind zerschossen, <strong>vom</strong> Granatbeschuss<br />

klaffen Krater in Dächern, aus einer<br />

Leitung leckt Öl. Auf dem Gehweg liegt<br />

eine Kiste, darin abgelaufene Spritzen mit<br />

der Morphin-Ersatzdroge Promedol. Drogenabhängige,<br />

Kriminelle und Arbeitslose<br />

gebe es unter den angeblichen Freiheitskämpfern,<br />

sagt Krawtschenko. Zwei Monate<br />

hätten sie in seinen Hallen campiert, im<br />

»Von hier haben<br />

sie in die Wohngebiete<br />

geschossen«<br />

Zentrum der Stadt. „Hier standen Geschütze,<br />

mit denen sie einmal am Tag in die<br />

Wohngebiete schossen“, sagt er. So ließ sich<br />

der Verdacht auf die Kiewer Armee lenken<br />

– Russlands Propaganda behauptet<br />

schließlich, die Ukrainer führten einen<br />

Krieg gegen die eigene Bevölkerung.<br />

Es seien nicht nur lokale Leute gewesen,<br />

behauptet Krawtschenko. Im Gebäude nah<br />

des Haupttors hätten russische Soldaten<br />

und Freiwillige Quartier bezogen. „Die erkannte<br />

ich am Akzent und an ihren Uniformen“,<br />

sagt er. „Sie kamen Mitte Mai in neuen<br />

Kamaz-Lastwagen, es wurden immer<br />

mehr.“ Täglich sei er in die Fabrik gekommen,<br />

um an die Vernunft der Besatzer zu<br />

appellieren. Es könne nicht deren Interesse<br />

sein, dass seine Leute ihre Arbeit verlören.<br />

Das Zureden war vergebens. Am 16. Juni,<br />

erzählt Krawtschenko, sei er dann doch geflohen<br />

– über den Zaun. Ein Arbeiter habe<br />

ihm gesteckt, dass ihn Separatisten am Tor<br />

mit Gewehren erwarteten. Nach der Rückeroberung<br />

der Stadt, sagt er, habe man den<br />

Exekutionsbefehl für ihn in der Stadtverwaltung<br />

gefunden.<br />

SOWJETISCHE STRUKTUREN<br />

Derweil sich der Welt immer mehr offenbart,<br />

wie aktiv Moskau den Krieg im Osten<br />

der Ukraine mit eigenen Soldaten anheizt,<br />

ist die Stimmung in Slowjansk erstaunlich<br />

eindeutig: Separatisten haben mithilfe der<br />

Russen Leid und Chaos über die Stadt und<br />

ihre einst 120 000 Einwohner gebracht. In<br />

der befreiten Rebellenhochburg, wo man<br />

sich einst wirtschaftliche Vorteile im Schoße<br />

von Mütterchen Russland erträumte,<br />

stehen die meisten Menschen so loyal zu<br />

Kiew wie nie zuvor.<br />

Doch mit dem Einfall der Separatisten<br />

ging der endgültige Niedergang der Wirtschaft<br />

einher. Dass der ukrainische Pleite-<br />

Staat den Wiederaufbau stemmen kann,<br />

bezweifeln die Menschen hier. Kaum ist<br />

der Albtraum zu Ende, ist schon wieder<br />

dieser Frust spürbar, der die arg sowjetisch<br />

strukturierte Industrieregion Donbass seit<br />

Ende der Planwirtschaft vor über zwei Jahrzehnten<br />

beherrscht. Wie zu Sowjetzeiten<br />

fühlen sich die Menschen mit einem gewissen<br />

Stolz als Speerspitze der Industrie,<br />

obwohl die Anlagen verrotten und die<br />

meisten Betriebe nicht wettbewerbsfähig<br />

sind. Geblieben ist nur das Selbstverständnis<br />

von damals.<br />

Weiter geht es zum östlichen Ortsausgang<br />

von Slowjansk, die Sonne brennt wieder<br />

gnadenlos an diesem Donnerstag.<br />

Dort, wo die „Straße der Moderne“ auf die<br />

FOTO: IGOR CHEKACHKOV FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

34 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Landstraße Richtung Donezk mündet,<br />

steht der Kiosk von Irina Sakinskaja – oder<br />

was davon übrig ist: Ein stählernes Korsett<br />

in hellblauer Farbe, Glasscherben stecken<br />

da, wo einmal die Fenster waren. Der Kühlschrank<br />

steht derangiert auf dem Platz vor<br />

dem Ortsschild, als wolle er den Vorbeifahrenden<br />

mahnend seine Einschusslöcher<br />

präsentieren. Sakinskaja trägt ein verschwitztes<br />

Kopftuch und kehrt die Scherben<br />

<strong>vom</strong> Boden. „Es ging schon mal besser“,<br />

kommentiert sie ihre Lage lächelnd,<br />

nur um Sekunden später in Tränen auszubrechen.<br />

20 Jahre besserte die heute 57-jährige<br />

Frührentnerin ihre spärliche Rente auf, indem<br />

sie Cola und Zigaretten am Kiosk ver-<br />

Kühlschrank kostet neu an die 800 Dollar.<br />

Sie weiß, dass die Regierung pleite ist und<br />

ihr nicht helfen kann. Trotzdem ist sie froh,<br />

dass der Spuk vorbei ist. „In Slowjansk hatten<br />

wir alle den Eindruck, dass es in Russland<br />

irgendwie besser sei“, sagt die Rentnerin.<br />

„Jetzt bin ich plötzlich stolz, Ukrainerin<br />

zu sein.“<br />

„SUCH DIR EINEN SPONSOR!“<br />

Die Kämpfe im Frühjahr haben die Stadt<br />

schwer gezeichnet. Grob geschätzt wurden<br />

1000 Häuser in Slowjansk beschädigt. Fünf<br />

Tage kämpften die ukrainischen Streitkräfte<br />

vor allem in den Vororten, ehe die Rebellen<br />

im Juli aus der Stadt flohen. Im Zentrum<br />

trafen Granaten nur das Heim der<br />

Sponsor, habe man ihr bei der Stadtverwaltung<br />

geraten, als sie einen Antrag auf<br />

Kompensation stellte. Dann bricht sie in<br />

Tränen aus.<br />

Natürlich sieht das Andrej Krischenko<br />

ganz anders. Er kommt aus Horliwka nördlich<br />

der Gebietshauptstadt Donezk, in deren<br />

Nähe mutmaßlich Separatisten im Juli<br />

die Boeing der Malaysia Airlines abgeschossen<br />

haben. Nun ist der korpulente<br />

Mann Ende 30 so etwas wie der Bezirksbürgermeister,<br />

der im Auftrag der Kiewer Präsidialverwaltung<br />

in Slowjansk den Wiederaufbau<br />

organisieren soll. „Wir haben die<br />

Strom- und Gasversorgung wiederhergestellt<br />

und die Renten für drei Monate auf einen<br />

Schlag ausgezahlt“, sagt er. So will Kiew<br />

tickte. Bis „diese russischen Jungs“ kamen<br />

und am 1. Mai einen Kontrollposten errichteten.<br />

Sie meint, es seien russische<br />

Söldner gewesen. „Einer erzählte, er verdiene<br />

sich Geld für die Behandlung seiner<br />

krebskranken Mutter“, sagt Sakinskaja. Sie<br />

hätten sogar ihr Bier bezahlt, das sie im<br />

Gras neben dem Kiosk tranken. Allerdings<br />

sah sie das Unheil kommen, als „die Jungs“<br />

ihre Haubitzen in der Siedlung aufstellten:<br />

„Wenn ihr von hier schießt“, warnte sie,<br />

„dann schießt die ukrainische Armee zurück<br />

und legt alles in Schutt und Asche.“ Sie<br />

behielt recht.<br />

Auf der Straße wackeln ein paar Labrador-Welpen<br />

hinter ihrer Mutter her. Der<br />

Frieden ist zurück in Slowjansk, Sakinskaja<br />

ist auf sich allein gestellt. Umgerechnet keine<br />

80 Euro an Rente bekommt die Frau mit<br />

der schrillen Stimme; allein der zersiebte<br />

Rentnerin Antonia, die ihren Familiennamen<br />

nicht verraten will. „Wer das Haus<br />

bombardiert hat, weiß niemand in der<br />

Nachbarschaft“, und sie selbst sei nicht zu<br />

Hause gewesen. Es war Anfang Juni, der<br />

Sturm auf die Stadt hatte noch nicht begonnen.<br />

Nicht ausgeschlossen, dass in der<br />

Isolatorenfabrik jemand aufs Knöpfchen<br />

gedrückt hat.<br />

Nun steht die Rentnerin in ihrer Wohnung<br />

im vierten Stock. Die Detonation hat<br />

die Fassade komplett abgerissen, zerborstene<br />

Pressholzmöbel, Mörtel und Tapetenreste<br />

säumen den Boden, das Dach<br />

ist weg. „Was soll bloß werden, wenn der<br />

Regen kommt?“, fragt die Frau, die sich<br />

keine neue Wohnung leisten kann und bei<br />

einer Freundin wohnt. Von der Regierung<br />

in Kiew erwartet auch sie keine Hilfe. „Es ist<br />

Krieg, die haben kein Geld.“ Such dir einen<br />

den Menschen zeigen, was gute staatliche<br />

Ordnung im Unterschied zum Chaos der<br />

Separatisten bedeutet. Die Rekonstruktion<br />

der zerstörten Gebäude sei allerdings eine<br />

„schwierige und komplexe Sache“. Vor Ort<br />

gebe es kein Geld, in Kiew müsse es erst bewilligt<br />

werden. Es sei möglich, dass für die<br />

Bewohner der unbewohnbaren Häuser eine<br />

Cottage-Siedlung am Stadtrand gebaut<br />

werde. Woher die Mittel dafür kommen<br />

sollen, weiß er nicht.<br />

Bisweilen wirkt es, als hätten die Behörden<br />

andere Prioritäten. In Slowjansk ist die Jagd<br />

auf Kollaborateure der Separatisten im<br />

Gange. Abgeordnete des lokalen Parlaments<br />

und Beamte stehen unter<br />

Beobachtung des Staatsanwalts. Manch<br />

einer befürchtet die politische Säuberung:<br />

Die Lokalpolitiker von Slowjansk gehören<br />

alle der Partei des im Februar gestürzten »<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 35<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

Reste einer modernen Produktion Aufräumarbeiten in der Keramikfabrik Zeus<br />

»<br />

Präsidenten Wiktor Janukowitsch an.<br />

Dessen Gegner, die einst auf dem Maidan<br />

gekämpft haben, sind jetzt in Kiew an der<br />

Macht – und die Leute <strong>vom</strong> rechten Rand<br />

stellen sogar den Generalstaatsanwalt.<br />

„Bist du in Slowjansk geblieben, halten sie<br />

dich in Kiew für einen Separatisten“,<br />

erzählt ein Abgeordneter, „warst du aber<br />

geflüchtet, sehen dich die Wähler als Verräter<br />

an.“<br />

GELOBTES LAND<br />

Angesichts der Hetzjagd und dem Klein-<br />

Klein der Kompensationen gerät ganz aus<br />

dem Blick, wieso ausgerechnet Slowjansk<br />

zur Hochburg prorussischer Separatisten<br />

werden konnte: Viele Menschen leben in<br />

Gedanken noch in der Sowjetunion, die sie<br />

glorifizieren. Russland galt für sie daher als<br />

gelobtes Land – und die geglückte Annexion<br />

der Krim weckte Hoffnungen in der<br />

Stadt mit hoher Arbeitslosigkeit. Seit Kiew<br />

wieder das Sagen hat, hat sich in Slowjansk<br />

nichts zum Besseren<br />

gewendet, auch nach<br />

Video<br />

In unserer App-<br />

<strong>Ausgabe</strong> berichtet<br />

Autor Florian<br />

Willershausen über<br />

seine Recherche<br />

der Befreiung muss<br />

sich die Zentralregierung<br />

ihr Vertrauen erst<br />

erarbeiten.<br />

So sieht das jedenfalls<br />

Oleksandr Bogoslavsky,<br />

der hier groß<br />

geworden ist: „Die<br />

Leute hier sind fast alle über 50 und erinnern<br />

sich daran, wie bequem sie es zu Sowjetzeiten<br />

hatten.“ Diese Illusion begründe<br />

die anfängliche Unterstützung für die Separatisten.<br />

Der 42-jährige Kaufmann hat<br />

nur Verachtung für die Freischärler übrig.<br />

„Wegen dieser Idioten steht unsere Fertigung<br />

mitten in der Hauptsaison für fünf<br />

Monate still“, sagt er beim Rundgang über<br />

den Hof. Arbeiter schaufeln zerbrochene<br />

Fliesen weg, Maler verputzen sein ausgebranntes<br />

Bürogebäude, die Einschusslöcher<br />

im Wellblech der grauen Fabrikhalle<br />

lassen sich gar nicht zählen.<br />

Als Generaldirektor von Zeus Ceramica<br />

leitet Bogoslavsky die modernste Produktionsstätte<br />

in ganz Slowjansk. Hochwertige<br />

Keramikfliesen liefert das Unternehmen in<br />

die USA und nach Kanada. Doch das Werk,<br />

das 2005 unter Beteiligung der italienischen<br />

Emilceramica gebaut wurde, lag mitten<br />

auf der Frontlinie während der Kämpfe<br />

um die Stadt: „Armee und Rebellen schossen<br />

über unser Werk hinweg“, sagt der Manager,<br />

„die Schäden müssen wir immer<br />

noch schätzen.“ Im Juli haben seine Leute<br />

mit Reparaturen angefangen und sind<br />

noch nicht fertig: Separatisten, berichtet er,<br />

haben Teile der teuren Anlagen zerstört. In<br />

Die Krisenregion<br />

Odessa<br />

Kiew<br />

UKRAINE<br />

Schwarzes<br />

Meer<br />

Charkiw<br />

Slowjansk<br />

Flughafen<br />

Kramatorsk<br />

Luhansk<br />

Horliwka<br />

Donezk umkämpfte<br />

Gebiete<br />

Mariupol<br />

KRIM<br />

(von Russland<br />

annektiert)<br />

RUSSLAND<br />

150 km<br />

der Halle sind Kreissägen zu hören, es<br />

riecht nach Farbe. Wenigstens ist der 180<br />

Meter lange Keramikbrenner noch heil.<br />

Mit etwas Glück will Bogoslavsky noch im<br />

September den Ofen wieder anwerfen. 200<br />

seiner 250 Mitarbeiter haben sich bereits<br />

zur Arbeit gemeldet. Allerdings droht dem<br />

Unternehmen weiteres Ungemach: „Wegen<br />

der Krise bricht uns Russland als Absatzmarkt<br />

weg“, sagt der Manager – ein Problem,<br />

das viele ukrainische Unternehmen trifft.<br />

Außerdem sei der Gaspreis dieses Jahr<br />

um die Hälfte gestiegen. Zwar bezieht die<br />

Keramikfabrik ihre Energie von Shell und<br />

nicht von Gazprom – und der westeuropäische<br />

Konzern ist nicht auf Pipeline-Gas angewiesen,<br />

sondern pumpt Gas aus ukrainischen<br />

Speichern. Doch diese Vorräte<br />

könnte der Staat für sich beanspruchen,<br />

sollte Russland das Gas abdrehen.<br />

Rückkehr ins Stadtzentrum zu Metallbauer<br />

Krawtschenko: Der sitzt auf solchen<br />

Sorgen, dass die fragliche Gasversorgung<br />

im Winter für ihn ein vergleichsweise geringes<br />

Übel ist. Knapp die Hälfte seiner Arbeiter<br />

ist wieder erschienen, gemeinsam<br />

versuchen sie die teildemontierten Fräsen<br />

und Drehbänke zu funktionsfähigen Maschinen<br />

zusammenzubauen. Krawtschenko<br />

hofft, dass es nach dem Krieg für ihn zu<br />

tun gibt: „Viele Stromleitungen und Bahnstrecken<br />

sind zerstört, beim Wiederaufbau<br />

werden sie Isolatoren brauchen.“ Bis dahin<br />

müssen die Anlagen laufen – und das Kapital<br />

muss reichen.<br />

KORRUPTE WEGELAGERER<br />

Doch so recht traut er dem Frieden nicht.<br />

Erst vor ein paar Jahren hat Krawtschenko<br />

zusammen mit anderen Managern die 140<br />

Jahre alte marode Metallfabrik gekauft und<br />

vor der Schließung bewahrt. Jetzt übernachtet<br />

er im Wechsel mit anderen Teilhabern<br />

im Werk. „Sonst laufen wir Gefahr, die<br />

Kontrolle zu verlieren“, sagt er.<br />

Denn nach der Befreiung kam die<br />

Anarchie nach Slowjansk: Bewaffnete in<br />

Polizeiuniformen, erzählt er, hätten vergangene<br />

Woche einen Kleinlaster mit Metallschrott<br />

gestoppt, den der Unternehmer<br />

zu Geld machen wollte. Sie forderten 1500<br />

Euro Wegezoll und bei jeder weiteren Lieferung<br />

eine Beteiligung in Höhe von 20<br />

Prozent des Werts. Krawtschenko bat eine<br />

Militäreinheit aus Charkow, Druck auf die<br />

örtliche Polizei auszuüben. Kaum ist der<br />

Terror der Separatisten vorüber, geht der<br />

Terror der korrupten Wegelagerer weiter –<br />

so als wäre nie etwas anders gewesen. n<br />

florian.willershausen@wiwo.de<br />

FOTO: IGOR CHEKACHKOV FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

36 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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FOTOS: JOHANN SEBASTIAN KOPP, WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, MAURITIUS/ALAMY<br />

BRÜSSEL | Belgier<br />

vermeiden Kritik.<br />

Das funktioniert<br />

prima – bis Deutsche<br />

kommen. Von<br />

Silke Wettach<br />

Beschweren<br />

zwecklos<br />

Der Ratschlag steht in<br />

jedem Asien-Reiseführer:<br />

Bitte nicht laut beschweren.<br />

Das entspreche weder<br />

den örtlichen Sitten,<br />

noch führe es zum gewünschten<br />

Ergebnis. In Belgien-Reiseführern<br />

fehlt der Tipp. Dabei gilt hier dasselbe.<br />

Belgier quittieren Fehlleistungen jeder<br />

Art mit unendlich viel Verständnis.Meiner<br />

Freundin Anne ist es immer noch peinlich,<br />

den Friseur gewechselt zu haben.Erst seit<br />

er ihr die Haare orange färbte, frequentiert<br />

sie einen anderen Salon.Der Mann litt an<br />

Depressionen, führt sie heute noch zu dessen<br />

Verteidigung an.Ein böses Wort fiel nie.<br />

Auch nach mehr als zehn Jahren Belgien<br />

kommt bei mir die andersartige Sozialisation<br />

durch. Wenn der Briefträger etwa<br />

systematisch fremde Post einwirft,<br />

suche ich nach Abhilfe. Die höchst<br />

freundliche Antwort der Post: Bei einem<br />

Wohnhaus mit mehr als drei Parteien sei<br />

es nicht Aufgabe des Briefträgers, die<br />

Post zu sortieren. Die Strategie hat funktioniert.<br />

Ich habe sofort eingesehen, dass<br />

dieses Gespräch zwecklos war.<br />

Ein Freund riet mir von einer Einzugsermächtigung<br />

für den Stromanbieter ab,<br />

dann könne der nicht falsch abbuchen.<br />

Das kritikfreie Zusammenleben funktioniert<br />

erstaunlich gut, weil Belgier zumeist<br />

höfliche Menschen sind. Erst Ausländer<br />

bringen das System aus dem Lot. Meine<br />

neuen Nachbarn ramponierten beim Einzug<br />

das Treppenhaus und grüßen bis<br />

heute nicht. Dafür fotografieren sie jedes<br />

Auto, das auch nur ansatzweise in ihre<br />

Garageneinfahrt hineinragt. Die anderen<br />

im Haus zucken mit den Achseln. Ich habe<br />

mich aufs Fremdschämen verlegt. Das<br />

Paar kommt aus Deutschland.<br />

Silke Wettach ist Brüssel-Korrespondentin<br />

der WirtschaftsWoche.<br />

BERLIN INTERN | Bundesregierung und Nato<br />

setzen ein Vierteljahrhundert nach Ende des Kalten<br />

Krieges wieder auf militärische Abschreckung. Sehr<br />

glaubwürdig ist das nicht. Von Henning Krumrey<br />

Furcht und Schnecken<br />

Was ist da im Baltikum? Rüstet<br />

die Nato auf, oder rüstet sie<br />

nach, wie einst mit ihren<br />

Pershings gegen die russischen<br />

SS20? Sechs Eurofighter verlegt sie<br />

an die Ostgrenze des Bündnisgebiets. Im<br />

Mittelmeer patrouilliert ein deutsches<br />

U-Boot, gemeinsam mit Kriegsschiffen der<br />

Verbündeten. Dem russischen Autokraten<br />

Wladimir Putin will das Bündnis signalisieren:<br />

Der Westen steht auch zu den<br />

kleinsten, sich am stärksten bedroht fühlenden<br />

Mitgliedstaaten.<br />

Rettungsschirm Mit Eurofighter-Patrouillen<br />

will die Nato Stärke demonstrieren<br />

Die Hilflosigkeit, die den Westen ob der<br />

überraschenden russischen Aggression<br />

gegen die Ukraine befallen hat, soll nun<br />

mit bewährten Mitteln der Vergangenheit<br />

bekämpft werden. Im ersten Kalten Krieg<br />

hatten sich Ost und West mit gegenseitiger<br />

Bedrohung in Schach gehalten. Das „Gleichgewicht<br />

des Schreckens“ verhinderte, dass<br />

eine Seite übermütig wurde. Am Ende des<br />

Wettrüstens stand nicht die militärische,<br />

wohl aber die politische und ökonomische<br />

Kapitulation der Sowjetunion.<br />

Innerhalb weniger Monate wurde zerstört,<br />

was im vergangenen Vierteljahrhundert<br />

an Vertrauen gewachsen war:<br />

Regierungskonsultationen, EU-Russland-<br />

Gipfel, die Öffnung der Gruppe der sieben<br />

westlichen Industrienationen zu Russland,<br />

zur G8.<br />

Die Bundesregierung sieht kaum Möglichkeiten,<br />

den Weg in den Kalten Krieg zu<br />

bremsen. Die Argumentation geht so: Die<br />

Ukraine war für Putin leichte Beute, da der<br />

Westen keinerlei Garantien für den früheren<br />

Teilstaat der Sowjetunion abgegeben<br />

hatte. Und das war vor allem so, weil auch<br />

Putin wusste, dass es so war.<br />

Deshalb bemüht die Nato nun ihre interne<br />

Beistandsverpflichtung, um dem ehemaligen<br />

Partner im Osten zu signalisieren:<br />

Vor allem die drei baltischen Staaten, aber<br />

auch Polen stehen unter dem Schutz des<br />

Bündnisses. Denn verständlich ist die Analyse<br />

der Bürger und Regierungen von Estland,<br />

Lettland und Litauen: Sie sind wirtschaftlich<br />

attraktiv, sie liegen vor Moskaus<br />

Haustür, sie behindern den Zugang nach<br />

Königsberg – und sie beherbergen jeweils<br />

eine bedeutende russische Minderheit. Das<br />

könnte Begehrlichkeiten bei Putin wecken.<br />

Das Dumme ist nur: Das Bündnis kommt<br />

im Ernstfall nur im Schneckentempo voran,<br />

die Beistandsverpflichtung des Nato-Vertrages<br />

ist wenig belastbar. In Artikel 5 heißt<br />

es zwar, dass „ein bewaffneter Angriff“ gegen<br />

eine Nation von den übrigen als „ein<br />

Angriff gegen sie alle“ angesehen werde.<br />

Und sie versprechen, dass jede im Ernstfall<br />

„die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung<br />

von Waffengewalt, trifft, die sie für<br />

erforderlich erachtet“, um die Sicherheit<br />

wiederherzustellen. Der Köln-Bonner Politikprofessor<br />

Karl Kaiser, als Berater von<br />

Bundeskanzler Helmut Schmidt einst<br />

Miterfinder des Nato-Doppelbeschlusses,<br />

pflegte zu sagen, jenes „erforderlich“ reiche<br />

„<strong>vom</strong> Beileidstelegramm bis zum<br />

Atomschlag“.<br />

Das Dilemma des Westens: Wie kann<br />

man glaubhaft machen, dass man russische<br />

Truppen angreifen würde, wenn Panzer ins<br />

Baltikum rollen – ohne einen solchen Angriff<br />

auch zu starten? Die Sicherheitsexperten<br />

der Koalition sagen hinter vorgehaltener<br />

Hand, dass Russland leidensfähiger sei als<br />

westliche Demokratien.<br />

Für die Ukraine sieht man in der Bundesregierung<br />

übrigens schwarz. Der westliche<br />

Teil würde wohl selbstständig bleiben<br />

können, weil die Bevölkerung prowestlich<br />

sei. Aber der östliche Teil, von Putin als<br />

„Novorossia“ beansprucht, sei faktisch verloren.<br />

Der macht bis zu einem Drittel des<br />

heutigen ukrainischen Staatsgebietes aus.<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 37<br />

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Der Volkswirt<br />

KOMMENTAR | Die EZB öffnet die<br />

Geldschleusen erneut – und führt<br />

Europa in die monetäre Planwirtschaft.<br />

Von Malte Fischer<br />

Zauberer Draghi<br />

Wow! Die Überraschung<br />

ist Mario<br />

Draghi gelungen.<br />

Am Donnerstag<br />

vergangener Woche zog der<br />

Präsident der Europäischen<br />

Zentralbank (EZB) ein geldpolitisches<br />

Kaninchen aus dem<br />

Zauberhut, mit dem niemand<br />

gerechnet hatte. Nachdem Europas<br />

oberster Währungshüter<br />

bereits vor drei Monaten die<br />

Märkte überraschte, indem er<br />

die Leitzinsen senkte und den<br />

Banken großzügige Geldleihgeschäfte<br />

in Aussicht stellte, feuerte<br />

er vergangene Woche das<br />

nächste geldpolitische Feuerwerk<br />

ab. Gegen den Widerstand<br />

der Stabilitätspolitiker um Bundesbank-Chef<br />

Jens Weidmann<br />

hat der Rat der EZB die Leitzinsen<br />

um jeweils zehn Basispunkte<br />

gesenkt. Der Hauptrefinanzierungssatz<br />

ist mit nunmehr<br />

0,05 Prozent kaum noch von<br />

null zu unterscheiden. Zudem<br />

kündigte Draghi an, die EZB<br />

werde ab Oktober in großem<br />

Umfang Kreditverbriefungen<br />

(ABS) und Pfandbriefe kaufen,<br />

um die Kreditvergabe anzukurbeln<br />

(siehe Seite 44).<br />

VERZWEIFLUNGSTAT<br />

Ziel des erneuten hastigen Griffs<br />

zur Notenpresse ist es, die darbende<br />

Konjunktur in der Euro-<br />

Zone zu stützen und die Inflation<br />

von derzeit 0,3 Prozent auf den<br />

Zielwert der EZB von knapp zwei<br />

Prozent zu hieven.<br />

Doch es ist eine Verzweiflungstat.<br />

Ebenso wie die Notenbanker<br />

in den USA, Japan und<br />

Großbritannien wollen die Euro-<br />

Hüter nicht erkennen, dass die<br />

jüngste Krise ihren Kern nicht in<br />

einem Mangel an Liquidität,<br />

sondern in einem Überschuss<br />

an Schulden hat, die durch zu<br />

billige Kredite entstanden sind.<br />

Derartige Solvenzkrisen lassen<br />

sich nicht mit milliardenschweren<br />

Geldspritzen beheben. Studien<br />

zeigen, dass es Jahre, wenn<br />

nicht gar Jahrzehnte dauert, bis<br />

Bürger, Unternehmen und Regierungen<br />

ihre Schulden auf ein<br />

tragfähiges Niveau abgebaut haben.<br />

In dieser Phase wächst die<br />

Wirtschaft kaum, Löhne und<br />

Preise müssen sinken, um die<br />

vorangegangenen inflationären<br />

Übertreibungen zu korrigieren.<br />

Das treibt die Schuldenlast der<br />

Staaten in die Höhe.<br />

GROSSES DESASTER<br />

Die EZB, längst zum Dienstleister<br />

der Finanzminister degradiert,<br />

stemmt sich mit aller<br />

Macht gegen die notwendige<br />

Anpassung. Die Kollateralschäden,<br />

die ihre Abwehrschlacht<br />

verursacht, sind ein volkswirtschaftliches<br />

Desaster. Die Mikrozinsen<br />

setzen Investitionen in<br />

Gang, die sich unter normalen<br />

Umständen nicht lohnen. Sie<br />

lenken Anleger in risikoreiche<br />

Vermögensklassen und pumpen<br />

dort gefährliche Preisblasen auf.<br />

Zudem zerstören sie die Sparanreize,<br />

schmälern die Kapitalbildung<br />

und zersetzen das Wachstumspotenzial<br />

der Wirtschaft.<br />

Die angekündigten ABS-Käufe<br />

mehren den Schaden noch. Sie<br />

lenken die Kreditvergabe der<br />

Banken in von der EZB vorgedachte<br />

Bahnen. Kapital wird<br />

dorthin geschleust, wo es gar<br />

nicht hin will – nach Südeuropa.<br />

Die Ausfallrisiken, die sich durch<br />

die ABS-Käufe in der Bilanz der<br />

EZB auftürmen, trägt der Steuerzahler.<br />

So treibt die EZB Europa<br />

in den Schuldensozialismus und<br />

die monetäre Planwirtschaft.<br />

Nach der Finanzkrise droht uns<br />

die (Geld-)Systemkrise.<br />

NACHGEFRAGT Mark Haefele<br />

»Der Aufschwung wird<br />

sich fortsetzen«<br />

Der Chef-Anlagestratege von UBS setzt auf die USA.<br />

Herr Haefele, würgen die Konflikte<br />

in der Ukraine und in<br />

Nahost die Weltwirtschaft ab?<br />

Die geopolitischen Konflikte<br />

haben die Unsicherheit erhöht.<br />

Allerdings haben sie die Energiepreise<br />

bisher nicht in die Höhe<br />

getrieben. Im Gegenteil: Der<br />

Ölpreis ist dieses Jahr gefallen.<br />

Ich rechne daher nicht damit,<br />

dass die Konflikte die Weltkonjunktur<br />

nachhaltig beeinträchtigen.<br />

Der Aufschwung wird<br />

sich im späteren Jahresverlauf<br />

fortsetzen.<br />

In Europa tritt die Wirtschaft<br />

auf der Stelle. Hängen die<br />

USA Europa konjunkturell mal<br />

wieder ab?<br />

Im zweiten Quartal sind die drei<br />

größten Volkswirtschaften der<br />

Euro-Zone nicht mehr gewachsen.<br />

Zudem haben nur 55 Prozent<br />

der Unternehmen in Europa<br />

die Gewinnerwartungen der<br />

Analysten in diesem Zeitraum<br />

übertroffen. Dagegen festigt<br />

sich die Konjunktur in den USA,<br />

wo 70 Prozent der Unternehmen<br />

die Gewinnerwartungen<br />

übertroffen haben. Dazu<br />

kommt, dass die US-Notenbank<br />

Fed im Fall des Falles eher bereit<br />

ist als die Europäische Zentralbank,<br />

der Wirtschaft unter<br />

die Arme zu greifen. Wir haben<br />

in unserem Portfolio Aktien<br />

und hochverzinsliche Unternehmensanleihen<br />

aus den USA<br />

daher übergewichtet, europäische<br />

Aktien hingegen auf neutral<br />

herabgestuft.<br />

Derzeit dreht sich die Diskussion<br />

in den USA darum, wann die<br />

Fed die Zinsen erhöht.<br />

Einige Kommentare von US-<br />

Notenbankern haben die Erwartung<br />

geweckt, die Fed werde<br />

die Zinsen rasch anheben. Das<br />

halte ich für unwahrscheinlich.<br />

Die Fed wird die Zinsen erst erhöhen,<br />

wenn sie sich sicher ist,<br />

DER GELDANLEGER<br />

Haefele, 43, ist Chef-Anlagestratege<br />

der Vermögensverwaltung<br />

der Schweizer Bank UBS. Dort<br />

verantwortet der an den US-<br />

Eliteunis Princeton und Harvard<br />

ausgebildete Ökonom die Anlage<br />

von zwei Billionen US-Dollar.<br />

dass die Konjunktur wieder festen<br />

Boden unter den Füßen hat.<br />

Ich rechne damit erst für Mitte<br />

nächsten Jahres.<br />

Die Renditen für Staatsanleihen<br />

in Europa und den USA befinden<br />

sich auf Talfahrt. Was ist<br />

der Grund dafür?<br />

Darin spiegelt sich vor allem die<br />

Flucht in die Sicherheit als Reaktion<br />

auf die Ukraine- und die<br />

Nahost-Krise wider. Sollten sich<br />

diese Krisen nicht weiter verschärfen,<br />

dürften die Renditen<br />

in den nächsten sechs Monaten<br />

wieder etwas steigen. In den<br />

USA könnten sie von derzeit 2,4<br />

auf etwa 2,8 Prozent für zehnjährige<br />

Staatsanleihen klettern.<br />

Wird es den Euro in fünf Jahren<br />

noch geben?<br />

Die Euro-Krise hat gezeigt, dass<br />

die Politiker und Notenbanker<br />

alles tun werden, um den Euro<br />

zu erhalten. Daher ist es möglich,<br />

dass die Bedeutung des Euro als<br />

Reservewährung sogar wächst.<br />

malte.fischer@wiwo.de<br />

FOTOS: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, PR<br />

40 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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KONJUNKTUR DEUTSCHLAND<br />

Der schwache Euro<br />

schiebt die Konjunktur<br />

Die nachlassende Dynamik in<br />

den Schwellenländern, die Stagnation<br />

in der Euro-Zone sowie<br />

die kriegerischen Auseinandersetzungen<br />

in der Ukraine und<br />

im Nahen Osten trüben die<br />

Aussichten für die deutschen<br />

Exporteure ein. Der Klimaindikator<br />

für die Ausfuhrwirtschaft,<br />

den das Münchner ifo Institut<br />

monatlich exklusiv für die WirtschaftsWoche<br />

ermittelt, ging im<br />

Juli auf 0,35 Punkte zurück. In<br />

den beiden Monaten zuvor lag<br />

der Index noch bei 0,4 Punkten.<br />

Ausschlaggebend für den<br />

Rückgang war das verschlechterte<br />

Unternehmens- und<br />

Verbrauchervertrauen im Ausland.<br />

Das trifft vor allem auf<br />

Europa zu, wo die Stimmung in<br />

Großbritannien und Österreich<br />

überdurchschnittlich<br />

sank. Auch in Belgien, Frankreich,<br />

Spanien und Italien ließ<br />

die Laune der Unternehmen<br />

und Verbraucher zu wünschen<br />

übrig.<br />

Dagegen hat sich die Stimmung<br />

der Betriebe in den USA<br />

kräftig aufgehellt. Der Einkaufsmanagerindex<br />

für die US-Industrie<br />

kletterte im August auf<br />

59,0 Punkte, den höchsten<br />

Stand seit Anfang 2011. Positiv<br />

auf das Exportklima wirkte sich<br />

die Abwertung des Euro aus, die<br />

die preisliche Wettbewerbsfähigkeit<br />

der deutschen Unternehmen<br />

verbesserte.<br />

Mitte vergangener Woche<br />

kostete ein Euro 1,31 Dollar, Anfang<br />

Mai waren es noch mehr<br />

als 1,39 Dollar gewesen. Die<br />

Schwäche des Euro ließ auch<br />

den Earlybird-Frühindikator für<br />

die deutsche Konjunktur, den<br />

die Commerzbank exklusiv für<br />

die WirtschaftsWoche ermittelt,<br />

im August gegen den Trend der<br />

meisten anderen Frühsignale<br />

Schlechtere Lage...<br />

Exportklima und Ausfuhren<br />

0,25<br />

0,20<br />

0,15<br />

0,10<br />

0,05<br />

0<br />

–0,05<br />

–0,10<br />

–0,15<br />

–0,20<br />

–0,25<br />

Exportklimaindikator<br />

1<br />

Exporte (real,<br />

saisonbereinigt,<br />

Veränderung zum<br />

Vorjahr in Prozent)<br />

08 09 10 11 12 13 14<br />

1 Geschäfts- und Konsumklima auf den<br />

wichtigsten Absatzmärkten sowie realer<br />

Außenwert des Euro (Indexpunkte);<br />

Quelle: ifo<br />

1,5<br />

1,0<br />

0,5<br />

0<br />

–0,5<br />

–1,0<br />

–1,5<br />

–2,0<br />

–2,5<br />

–3,0<br />

–3,5<br />

auf 0,45 Punkte steigen. Da der<br />

Earlybird einen deutlichen Vorlauf<br />

vor den anderen Frühindikatoren<br />

hat, rechnen die Ökonomen<br />

der Commerzbank<br />

damit, dass diese erst zur Jahreswende<br />

2014/15 wieder nach<br />

oben drehen und damit für<br />

2015 auf ein etwas höheres<br />

Wachstumstempo deuten.<br />

malte.fischer@wiwo.de<br />

...aber bessere Aussichten<br />

Bruttoinlandsprodukt und<br />

Earlybird-Konjunkturbarometer<br />

4,0<br />

2,0<br />

0<br />

–2,0<br />

–4,0<br />

Bruttoinlandsprodukt 1<br />

09<br />

Earlybird 2<br />

10 11 12 13 14<br />

1,0<br />

0,5<br />

0<br />

–0,0<br />

–1,0<br />

1<br />

zum Vorquartal (in Prozent); 2 gewichtete Summe<br />

aus kurzfristigem realem Zins, effektivem realem<br />

Außenwert des Euro und Einkaufsmanagerindizes;<br />

Quelle: Commerzbank<br />

Sorge um die<br />

Investitionen<br />

Vor wenigen Monaten hatten<br />

die Konjunkturanalysten noch<br />

frohlockt, die Schwäche der Investitionen<br />

sei überwunden. In<br />

den Winterquartalen 2013/14<br />

hatten die Unternehmen jeweils<br />

rund zwei Prozent mehr<br />

für neue Maschinen und Anlagen<br />

ausgegeben als im Vorquartal.<br />

Doch mittlerweile sind die<br />

Optimisten verstummt. Nicht<br />

ohne Grund: Im zweiten Quartal<br />

sanken die Investitionen der<br />

Firmen in Ausrüstungen schon<br />

wieder um 0,4 Prozent. Noch<br />

hoffen die Experten, dass es<br />

sich um eine vorübergehende<br />

Schwäche handelt, die durch<br />

die geopolitischen Spannungen<br />

ausgelöst wurde. Doch je länger<br />

diese andauern und je zäher<br />

sich die Konjunktur in der Euro-<br />

Zone berappelt, desto größer ist<br />

das Risiko, dass der Aufschwung<br />

der Investitionen<br />

schon wieder vorbei ist, bevor<br />

er richtig begonnen hat.<br />

Volkswirtschaftliche<br />

Gesamtrechnung<br />

Real. Bruttoinlandsprodukt<br />

Privater Konsum<br />

Staatskonsum<br />

Ausrüstungsinvestitionen<br />

Bauinvestitionen<br />

Sonstige Anlagen<br />

Ausfuhren<br />

Einfuhren<br />

Arbeitsmarkt,<br />

Produktion und Preise<br />

Industrieproduktion 1<br />

Auftragseingänge 1<br />

Einzelhandelsumsatz 1<br />

Exporte 2<br />

ifo-Geschäftsklimaindex<br />

Einkaufsmanagerindex<br />

GfK-Konsumklimaindex<br />

Verbraucherpreise 3<br />

Erzeugerpreise 3<br />

Importpreise 3<br />

Arbeitslosenzahl 4<br />

Offene Stellen 4<br />

Beschäftigte 4, 5<br />

2012 2013<br />

Durchschnitt<br />

0,4<br />

0,8<br />

1,0<br />

–4,0<br />

–1,4<br />

3,4<br />

3,2<br />

1,4<br />

2012 2013<br />

Durchschnitt<br />

–0,9<br />

-4,2<br />

0,1<br />

4,3<br />

105,0<br />

58,3<br />

5,9<br />

2,0<br />

1,6<br />

2,1<br />

2897<br />

478<br />

27488<br />

0,1<br />

0,9<br />

0,4<br />

–2,4<br />

–0,2<br />

3,0<br />

0,9<br />

1,5<br />

–0,2<br />

2,5<br />

0,3<br />

1,0<br />

106,9<br />

50,6<br />

6,5<br />

1,5<br />

–0,1<br />

–2,5<br />

2950<br />

457<br />

27778<br />

II/13 III/13 IV/13 I/14 II/14<br />

Veränderung zum Vorquartal in Prozent<br />

0,8<br />

0,7<br />

–0,2<br />

0,5<br />

1,7<br />

1,6<br />

2,5<br />

1,5<br />

Mai<br />

2014<br />

–1,7<br />

–1,7<br />

–0,2<br />

–1,1<br />

110,4<br />

52,3<br />

8,5<br />

0,9<br />

–0,8<br />

–2,1<br />

2904<br />

475<br />

29761<br />

1 Volumen, produzierendes Gewerbe, Veränderung zum Vormonat in Prozent; 2 nominal, Veränderung zum Vormonat in<br />

Prozent; 3 Veränderung zum Vorjahr in Prozent; 4 in Tausend, saisonbereinigt; 5 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte;<br />

alle Angaben bis auf Vorjahresvergleiche saisonbereinigt; Quelle: Thomson Reuters<br />

0,3<br />

0,3<br />

0,7<br />

0,1<br />

2,1<br />

1,4<br />

–0,1<br />

0,8<br />

Juni<br />

2014<br />

0,3<br />

–2,7<br />

1,0<br />

1,0<br />

109,7<br />

52,0<br />

8,6<br />

1,0<br />

–0,8<br />

–1,2<br />

2911<br />

483<br />

30234<br />

0,4<br />

–0,3<br />

–0,3<br />

1,4<br />

0,2<br />

1,2<br />

2,5<br />

1,3<br />

Juli<br />

2014<br />

–<br />

4,6<br />

–1,4<br />

–<br />

108,0<br />

52,4<br />

8,9<br />

0,9<br />

–0,8<br />

–1,7<br />

2900<br />

484<br />

–<br />

0,7<br />

0,7<br />

0,4<br />

3,3<br />

3,6<br />

-0,8<br />

0,2<br />

2,2<br />

Aug.<br />

2014<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

106,3<br />

51,4<br />

8,9<br />

0,9<br />

2901<br />

495<br />

–<br />

–0,2<br />

0,1<br />

0,1<br />

–0,4<br />

–4,2<br />

0,1<br />

0,9<br />

1,6<br />

Sept.<br />

2014<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

8,6<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

Letztes Quartal<br />

zum Vorjahr<br />

in Prozent<br />

0,8<br />

1,1<br />

0,5<br />

6,0<br />

10,2<br />

3,3<br />

5,5<br />

6,2<br />

Letzter Monat<br />

zum Vorjahr<br />

in Prozent<br />

–2,8<br />

5,0<br />

0,7<br />

1,7<br />

–1,4<br />

–0,8<br />

22,9<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–1,5<br />

9,5<br />

1,9<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 41<br />

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Der Volkswirt<br />

ROHSTOFFRADAR<br />

Politik? Egal!<br />

Die Rohstoffpreise bleiben von den aktuellen Kriegen<br />

und Krisen in der Welt unbeeinflusst – Händler und<br />

Investoren schauen stattdessen auf die Finanzmärkte.<br />

Die Krise im Osten der<br />

Ukraine ist zum Krieg<br />

ausgewachsen, die IS-<br />

Terroristen erobern weite Teile<br />

Syriens und des Erdöllands Irak<br />

– und für die Preise der wichtigsten<br />

Grundstoffe der Weltwirtschaft<br />

hat das keine Bedeutung.<br />

Warum?<br />

„Die politischen Ereignisse<br />

werden derzeit von den Rohstoffmärkten<br />

ignoriert“, beobachtet<br />

Daniel Briesemann,<br />

Rohstoffexperte der Commerzbank<br />

in Frankfurt. Viele Preise<br />

sinken, und wo die Preise steigen,<br />

liegt das nicht an den großen<br />

Krisen.<br />

Aber auch Veränderungen<br />

von Angebot und Nachfrage<br />

in der Realwirtschaft<br />

sind nur in Einzelfällen<br />

ausschlaggebend.<br />

Beim Kakao etwa: Der<br />

steigt im Preis, weil<br />

die Ebola-Seuche<br />

auf wichtige Anbaugebiete<br />

in Westafrika<br />

überzugreifen<br />

droht. Von solchen<br />

Ausnahmen abgesehen,<br />

entwickeln sich<br />

die Rohstoffmärkte<br />

derzeit ganz im Schatten<br />

der Ereignisse und<br />

Erwartungen an den<br />

Finanzmärkten.<br />

Und das bedeutet tendenziell<br />

sinkende Rohstoffpreise.<br />

Weil die Aktienkurse an den<br />

meisten wichtigen Weltbörsen –<br />

allen voran in New York – gestiegen<br />

sind, haben große Investoren<br />

derzeit relativ wenig<br />

Interesse an Alternativen zur<br />

Geldanlage in Aktien. In die<br />

gleiche Richtung wirkt der im<br />

Vergleich zum Euro wieder erstarkte<br />

Dollar, sagt Commerzbank-Analyst<br />

Briesemann. Für<br />

Energie<br />

Erdöl<br />

(Brent)<br />

Diesel<br />

Rohstoffabnehmer hierzulande<br />

ist das natürlich positiv, auch<br />

wenn der tendenziell sinkende<br />

Außenwert des Euro den Effekt<br />

der Preissenkung aus deutscher<br />

Sicht reduziert.<br />

Beim für die Konjunktur<br />

wichtigsten Rohstoffpreis gibt<br />

es aber auch realwirtschaftliche<br />

Gründe für sinkende Preise: Die<br />

internationale Nachfrage nach<br />

Rohöl ist konjunkturbedingt<br />

Zucker<br />

Weizen<br />

Gasöl<br />

Raps<br />

Kohle<br />

Landwirtschaftsprodukte<br />

Mais<br />

Volatilitäten im Zeitraum<br />

<strong>vom</strong> 1.9.2013 bis 31.8.2014<br />

24,7<br />

Strom<br />

Kakao<br />

Baumwolle<br />

Flugbenzin<br />

Emissionsrechte<br />

Vergleichswerte<br />

27,6<br />

13,5 14,9<br />

53,2<br />

Palladium<br />

in<br />

%<br />

100<br />

50<br />

30<br />

20<br />

10<br />

5,1<br />

30<br />

50<br />

100<br />

verhalten, das Angebot dagegen<br />

wächst. Das liegt an der Produktionssteigerung<br />

in mehreren<br />

Opec-Staaten. Der Irak exportiert<br />

sein Öl, als gäbe es keinen<br />

Krieg im nördlichen Landesteil.<br />

In Libyen funktionieren trotz<br />

der bürgerkriegsartigen Wirren<br />

die Ölhäfen wieder. Und das<br />

große Ölförderland Saudi-<br />

Arabien baut trotz der relativ<br />

schwachen Nachfrage seine<br />

Produktion weiter aus. Die Saudis<br />

haben ihre alte Politik aufgegeben,<br />

bei sinkender Nachfrage<br />

regelmäßig ihre Förderung zu<br />

drosseln, um so den Preis stabil<br />

zu halten.<br />

Zu diesem Abwärtstrend der<br />

Preise kommt eine deutliche<br />

Abnahme der Volatilität in den<br />

vergangenen Monaten. Inso-<br />

Euro-/<br />

Dollar-<br />

Kurs<br />

n Der Rohstoffradar misst die Volatilität ausgewählter Preise<br />

und ist damit ein wichtiger Indikator für Unternehmen und Anleger.<br />

Er stellt die durchschnittliche prozentuale Abweichung <strong>vom</strong> Mittelwert<br />

der vergangenen zwölf Monate grafisch dar. Hohe Schwankungsbreiten<br />

signalisieren steigende Preis- und Planungsrisiken. Der Rohstoffradar<br />

erscheint dreimal jährlich exklusiv in der WirtschaftsWoche.<br />

Silber<br />

21,9<br />

Zinsen<br />

16,3<br />

15,6<br />

17,6<br />

14,4<br />

13,3<br />

15,2<br />

13,9 0<br />

15,7<br />

15,9<br />

14,9<br />

10 15,8<br />

20,7 18,5 16,1 14,7 17,0<br />

20<br />

22,5 23,2<br />

Platin<br />

23,3<br />

Eisenfeinerz<br />

Edelmetalle<br />

Quelle:<br />

Commerzbank<br />

Gold<br />

Blei<br />

Aluminium<br />

Zinn<br />

Kupfer<br />

Nickel<br />

Zink<br />

Was steigt, was fällt<br />

Preisentwicklung ausgewählter<br />

Rohstoffe seit Jahresbeginn<br />

fern verbindet sich mit dem aktuellen<br />

Rohstoffradar, den die<br />

Commerzbank exklusiv für die<br />

WirtschaftsWoche erstellt hat<br />

(siehe Grafik), eine gute Nachricht<br />

für Unternehmen, die Planungssicherheit<br />

für ihre <strong>Ausgabe</strong>n<br />

erstreben.<br />

Es gibt aber Ausnahmen von<br />

diesem erfreulichen Trend:<br />

Nickel und Aluminium haben<br />

sich dieses Jahr dramatisch<br />

verteuert – weil<br />

das wichtige Exportland<br />

Indonesien die<br />

Ausfuhr blockierte.<br />

Die Regierung in Jakarta<br />

will nicht länger<br />

dulden, dass indonesisches<br />

Erz im Rohzustand<br />

an ausländische<br />

Schmelzen und Raffinerien<br />

geliefert wird<br />

und die einheimische<br />

Wirtschaft an der einträglichen<br />

Weiterverarbeitung<br />

nichts verdient. Weil es aber<br />

entsprechende Anlagen in Indonesien<br />

noch nicht gibt, drohte<br />

weltweit der für die Stahlveredelung<br />

notwendige Rohstoff<br />

Nickel knapp zu werden.<br />

Inzwischen hat Indonesien<br />

seine Pläne revidiert, und der<br />

Nickelpreis hat sich etwas beruhigt.<br />

Der ganze Vorgang zeigt<br />

aber, wie abhängig die Rohstoffmärkte<br />

von der Politik sein können<br />

– nach wie vor.<br />

n<br />

Industriemetalle<br />

Nickel<br />

Palladium<br />

Aluminium<br />

Kakao<br />

Gold<br />

–3<br />

–5<br />

–6<br />

–7<br />

–8<br />

7<br />

Rohöl (WTI)<br />

Kupfer<br />

Zucker<br />

Quelle: Commerzbank;<br />

Stand 1.9.2014<br />

Weizen (CBOT)<br />

Diesel<br />

17<br />

17<br />

in Prozent<br />

27<br />

35<br />

hansjakob.ginsburg@wiwo.de<br />

42 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Der Volkswirt<br />

WARUM EIGENTLICH...<br />

...will die EZB den Markt für<br />

Kreditverbriefungen wiederbeleben?<br />

Experten eilen zu Hilfe US-Vermögensverwalter Blackrock<br />

Als Giftpapiere gelten Kreditverbriefungen<br />

seit der<br />

Finanzkrise von 2008.<br />

Mitauslöser der Krise waren die<br />

Papiere, mit deren Hilfe Banken<br />

bestimmte Forderungen gebündelt<br />

an Investoren auf dem<br />

Kapitalmarkt weiterreichten:<br />

mit privaten Wohnimmobilien<br />

besicherte Hypothekenkredite.<br />

Die Papiere steckten allerdings<br />

voller Forderungen mit<br />

schlechter Bonität. Als die Immobilienblase<br />

in den USA<br />

platzte, war ein Gros der von<br />

Ratingagenturen mit guten Noten<br />

bewerteten Anleihen über<br />

Nacht wertlos. Investoren weltweit<br />

verloren Milliarden. Seitdem<br />

ist der Markt für forderungsbesicherte<br />

Wertpapiere<br />

(Asset Backed Securities, kurz:<br />

ABS) verbrannt. Das Volumen<br />

dieser Anleihen sank in Europa<br />

von rund 700 Milliarden Euro in<br />

2008 auf rund 180 Milliarden<br />

Euro in 2013.<br />

In den ersten sechs Monaten<br />

dieses Jahres sind nach Zahlen<br />

der DZ Bank Verbriefungen für<br />

rund 85 Milliarden Euro in Europa<br />

emittiert worden. Anders<br />

in den USA – dort läuft das Geschäft<br />

mit Verbriefungen längst<br />

wieder auf Hochtouren.<br />

Das Paradoxe daran: In Europa<br />

waren die Ausfallraten von<br />

ABS-Anleihen im Zeitraum<br />

2007 bis 2013 mit 1,4 Prozent relativ<br />

gering, wie die Ratingagentur<br />

Standard & Poor’s analysiert<br />

hat. In den USA dagegen lag die<br />

Ausfallrate dieser Papiere im<br />

selben Zeitraum mit 17,4 Prozent<br />

um ein Vielfaches höher.<br />

Nun will ausgerechnet die<br />

Europäische Zentralbank (EZB)<br />

den Markt für Kreditverbriefungen<br />

ankurbeln. Ein gut funktionierender<br />

ABS-Markt sei die Voraussetzung<br />

dafür, dass Europas<br />

Kreditmärkte wieder in Schwung<br />

kommen, so EZB-Präsident Mario<br />

Draghi.<br />

BAD BANK EZB?<br />

Seit Wochen arbeiten deswegen<br />

die Experten der EZB an einem<br />

Programm, mit dem der ABS-<br />

Markt wiederbelebt werden<br />

könnte. Die Idee dahinter:<br />

Kauft die EZB diese Verbriefungen<br />

auf, werden die Banken den<br />

entsprechenden Teil ihrer Kreditrisiken<br />

in der Bilanz los. Das<br />

frei gewordene Kapital können<br />

sie nutzen, um neue Kredite an<br />

Unternehmen zu vergeben.<br />

Diese wiederum investieren in<br />

neue Geschäfte, Produkte oder<br />

Anlagen – und dies belebt die<br />

Konjunktur.<br />

Die Notenbank würde so im<br />

Prinzip als Investor in das Geschäft<br />

mit Verbriefungen einsteigen.<br />

Mutiert sie damit zum<br />

Schrottplatz für risikoreiche<br />

Kredite der Banken und zu einer<br />

europäischen Bad Bank,<br />

wie Kritiker behaupten? Ganz<br />

so einfach ist es nicht.<br />

Tatsächlich sind Verbriefungen<br />

von Forderungen eine gute<br />

Möglichkeit zur Refinanzierung,<br />

wenn sie transparent<br />

strukturiert und die Risiken für<br />

Investoren kalkulierbar sind.<br />

Genau das aber ist das Problem.<br />

Das Geschäft mit Verbriefungen<br />

ist hochkomplex und für Banken<br />

wie Investoren aufwendig.<br />

Das Risiko der in Tranchen und<br />

unterschiedliche Güteklassen<br />

aufgeteilten Papiere ist oft<br />

schwer zu erkennen.<br />

Gerade deshalb haben die<br />

Aufsichtsbehörden nach der Finanzkrise<br />

striktere Regeln für<br />

ABS-Anleihen aufgestellt. So<br />

müssen die Papiere etwa mit<br />

sieben Prozent Eigenkapital unterlegt<br />

werden. Bei den Banken<br />

heißt es deswegen, die hohen<br />

regulatorischen Anforderungen<br />

und die Unsicherheit, welche<br />

weiteren Vorschriften für Kreditverbriefungen<br />

geplant sind,<br />

seien der Grund dafür, dass der<br />

Markt nicht in Gang käme.<br />

Die EZB kündigte auf ihrer<br />

Zinssitzung in der vergangenen<br />

Woche an, einfache und transparente<br />

Kreditverbriefungen<br />

zu kaufen – und zwar nur<br />

„Senior Tranchen“, also den Teil<br />

der Verbriefungen mit geringem<br />

Ausfallrisiko und guter<br />

Bewertung. Kaufen will sie mittelständische<br />

Anleihen und<br />

Verbriefungen von privaten<br />

Wohnkrediten, von Banken wie<br />

auch von Investoren. Für gut<br />

bewertete Anleihen aber ist die<br />

Nachfrage von Investoren jetzt<br />

schon hoch. Der Markt sei dreifach<br />

überzeichnet, stellen die<br />

Analysten der DZ Bank fest.<br />

Wenn die Nachfrage aber jetzt<br />

schon das Angebot in diesem<br />

Segment übersteigt, welche<br />

Wirkung soll dann ein Kaufprogramm<br />

der EZB auf die Kreditvergabe<br />

der Banken haben?<br />

Und wie will die EZB sicherstellen,<br />

dass mehr Geld für private<br />

Investitionen in den Euro-Peripherieländern<br />

bereitsteht?<br />

ZU RISKANT<br />

Eine Möglichkeit wäre, ABS von<br />

geringerer Qualität mit Staatsgarantien<br />

zu versehen, wie dies<br />

EZB-Direktor Benoît Cœuré<br />

kürzlich vorgeschlagen hat.<br />

Doch das gilt als zu riskant. Nun<br />

soll der größte Vermögensverwalter<br />

der Welt, das US-Finanzinstitut<br />

Blackrock, der EZB bei<br />

der Entwicklung ihres ABS-<br />

Kauprogramms helfen. Erfahren<br />

sind die Amerikaner in diesem<br />

Geschäft. Die Firma half<br />

schon der US-Regierung und<br />

der Fed, faule Kredite zu bewerten<br />

– und verkaufte die Papiere<br />

dann auch an die eigene Kundschaft.<br />

Schon in den USA rief<br />

dies Kritiker auf den Plan. Das<br />

Spiel wiederholt sich jetzt in Europa.<br />

Unterstützung bekommt<br />

die EZB auch von der EU-Kommission.<br />

Die EU-Finanzminister<br />

beraten am kommenden<br />

Wochenende bei ihrem Treffen<br />

in Mailand, wie sich der Verbriefungsmarkt<br />

ankurbeln lässt.<br />

Bis Anfang 2015 will die EU-<br />

Kommission entscheiden, ob<br />

die strikten Regeln für<br />

ABS entschärft werden sollen,<br />

um den Markt zu beleben.<br />

angela.hennersdorf@wiwo.de | Frankfurt<br />

FOTO: BLOOMBERG NEWS/SCOTT EELLS<br />

44 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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DENKFABRIK | Die Europäische Zentralbank will spekulative Übertreibungen an den<br />

Finanz- und Immobilienmärkten nicht mehr durch höhere Leitzinsen bekämpfen,<br />

sondern durch aufsichtsrechtliche Maßnahmen. Die geldpolitische Kehrtwende treibt<br />

die Vermögenspreise und ist gefährlich. Von Jörg Krämer<br />

Draghis Kehrtwende<br />

FOTOS: PR, LAIF/REA/ERIC TSCHAEN<br />

An den Finanzmärkten<br />

drohen wieder spekulative<br />

Übertreibungen.<br />

So liegt die<br />

Rendite der zehnjährigen Bundesanleihe<br />

unter einem Prozent,<br />

die Risikoaufschläge von<br />

Unternehmensanleihen sind<br />

wieder fast so niedrig wie vor<br />

Ausbruch der Finanzkrise, und<br />

die Sorglosigkeit an den Devisenmärkten<br />

ist, gemessen an<br />

den Optionspreisen, sogar<br />

niedriger als damals. Das Platzen<br />

solcher Blasen kann ganze<br />

Volkswirtschaften ins Verderben<br />

stürzen. Deshalb drängt die<br />

Bank für Internationalen Zahlungsausgleich<br />

(BIZ), die Zentralbank<br />

der Zentralbanken, ihre<br />

Mitglieder gegenzusteuern.<br />

Die Europäische Zentralbank<br />

(EZB) und die US-Notenbank<br />

sollten die Leitzinsen anheben,<br />

um so den Risiken für die<br />

Finanzmarktstabilität zu begegnen,<br />

auch wenn eine niedrige<br />

Inflation und eine schwache<br />

Konjunktur, wie im Euro-Raum,<br />

für sich genommen eine Nullzinspolitik<br />

nahelegen.<br />

ANTIZYKLISCHE PUFFER<br />

Noch vor vier Jahren war die<br />

EZB derselben Meinung wie die<br />

BIZ. In ihrem Monatsbericht<br />

<strong>vom</strong> November 2010 schrieb<br />

sie, „dass ein Gegensteuern bei<br />

Vermögenspreisblasen erwogen<br />

werden sollte, wenn Zinsbeschlüsse<br />

getroffen werden“.<br />

Die Notenbank müsse verhindern,<br />

dass das Entstehen einer<br />

„Vermögenspreisblase durch<br />

eine zu expansive Geldpolitik<br />

unterstützt“ werde.<br />

Vor zwei Monaten vollzog EZB-<br />

Präsident Mario Draghi allerdings<br />

eine Kehrtwende. Er verkündete,<br />

die EZB wolle die stark<br />

gestiegenen Vermögenspreise<br />

nicht durch das Naheliegende eindämmen,<br />

nämlich durch eine etwas<br />

straffere Geldpolitik, wie es die<br />

BIZ fordert. Stattdessen setze die<br />

EZB jetzt auf sogenannte makroprudentielle<br />

Maßnahmen. Ein typisches<br />

Beispiel für solche aufsichtsrechtlichen<br />

Maßnahmen sind<br />

antizyklische Kapitalpuffer: Wenn<br />

Banken über einen längeren Zeitraum<br />

zu viele Kredite vergeben,<br />

kann die Bankenaufsicht fordern,<br />

dass die Institute zusätzliches Kapital<br />

bilden. Das verteuert und<br />

begrenzt die Kreditvergabe und<br />

»Die lockere<br />

Geldpolitik der<br />

Frankfurter<br />

Währungshüter<br />

facht die<br />

Vermögenspreise<br />

an«<br />

macht die Banken widerstandsfähiger,<br />

falls Kreditnehmer ausfallen<br />

und es zu Abschreibungen kommt.<br />

Die Schweizerische Nationalbank<br />

hat solche Kapitalpuffer vorgeschrieben,<br />

um auf die stark steigenden<br />

Hypothekenkredite und<br />

Immobilienpreise zu reagieren. Ein<br />

weiteres Beispiel für makroprudentielle<br />

Maßnahmen sind Vorschriften,<br />

nach denen Banken<br />

mehr Liquidität vorhalten müssen,<br />

wenn sich Übertreibungen an den<br />

Finanzmärkten abzeichnen. Die<br />

Liste solcher aufsichtsrechtlicher<br />

Maßnahmen ist lang.<br />

Mit dem Rückgriff auf makroprudentielle<br />

Maßnahmen suggeriert<br />

die EZB, sie könne die<br />

massiven Nebenwirkungen ihrer<br />

lockeren Geldpolitik durch chirurgische<br />

Eingriffe ihrer Bankenaufseher<br />

neutralisieren. Dieser Strategiewechsel<br />

lässt sich kaum mit rein<br />

ökonomischen Argumenten erklären.<br />

Denn ein erfolgreicher chirurgischer<br />

Eingriff setzt voraus, dass<br />

bekannt ist, wo genau die nächste<br />

Vermögenspreisblase droht. Weil<br />

dies schwer vorherzusehen ist, ist<br />

ein geldpolitisches Gegensteuern<br />

mit dem Leitzins erfolgversprechender.<br />

Denn dies reduziert die<br />

allgemeine Risikoneigung. Der<br />

wahre Grund für die Kehrtwende<br />

der EZB dürfte schlicht sein, dass<br />

sie die Zinsen nicht erhöhen will,<br />

weil sie Rücksicht nimmt auf die<br />

hoch verschuldeten Staaten und<br />

ihre Banken, die auf Geheiß der Finanzminister<br />

viele Staatsanleihen<br />

gekauft haben.<br />

Drohende spekulative Blasen<br />

nicht durch eine etwas straffere<br />

Geldpolitik, sondern vor allem<br />

durch makroprudentielle Maßnahmen<br />

zu bekämpfen ist gerade<br />

im Fall der EZB risikoreich. Denn<br />

die lockere Geldpolitik der Frankfurter<br />

Währungshüter facht ohne<br />

Zweifel die Vermögenspreise an.<br />

Anleger sind wegen der Niedrigzinsen<br />

faktisch gezwungen, auf<br />

risikoreichere Anlagen auszuwei-<br />

chen. Das treibt deren Preise<br />

und Kurse nach oben. Makroprudentielle<br />

Maßnahmen sind<br />

schlichtweg überfordert, die<br />

Wucht der Nullzinspolitik zu<br />

neutralisieren. Die Bankenaufsicht<br />

ist nicht allwissend und<br />

kann nicht alle Löcher mit dem<br />

Aufsichtsrecht stopfen.<br />

GEMISCHTE ERFAHRUNG<br />

So ist es den antizyklischen<br />

Kapitalpuffern in der Schweiz<br />

bisher nicht gelungen, die von<br />

der lockeren Geldpolitik der<br />

Schweizerischen Nationalbank<br />

angefachte Hypothekenkreditvergabe<br />

einzudämmen, die<br />

Häuserpreise steigen weiter. In<br />

Ungarn konnte die Bankenaufsicht<br />

nicht verhindern, dass viele<br />

Bürger ihre Hauskäufe mit<br />

scheinbar günstigen Fremdwährungsdarlehen<br />

finanziert<br />

hatten, die sie nach der Abwertung<br />

des Forint kaum noch bedienen<br />

konnten. Alles in allem<br />

sind die Erfahrungen mit makroprudentiellen<br />

Maßnahmen gemischt.<br />

Der Chefvolkswirt der<br />

BIZ, Claudio Borio, vergleicht<br />

die lockere Geldpolitik zu Recht<br />

mit Wasser, das sich seinen<br />

Weg vorbei an allen Sperren<br />

sucht. Hält die EZB trotz aller<br />

Warnungen an ihrer lockeren<br />

Geldpolitik fest, wofür alles<br />

spricht, dürften die Vermögenspreise<br />

in den kommenden Jahren<br />

weiter steigen. Das Risiko ist<br />

beträchtlich, dass dies in einer<br />

spekulativen Blase endet.<br />

Jörg Krämer ist Chefvolkswirt<br />

der Commerzbank. Zuvor hat<br />

der in Kiel promovierte Volkswirt<br />

unter anderem am Institut<br />

für Weltwirtschaft in Kiel und<br />

für die Investmentbank Merrill<br />

Lynch gearbeitet.<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 45<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Vor dem großen Sprung<br />

CHINA | Der E-Commerce-Gigant und Börsenkandidat Alibaba ist nicht<br />

der einzige Konzern aus dem Reich der Mitte, der an die Weltspitze will.<br />

Auch der PC-Riese Lenovo strebt ein weiteres Mal nach der<br />

Poleposition, diesmal mit Smartphones. Samsung, Amazon<br />

und Microsoft, aber auch deutsche Autobauer müssen<br />

sich hüten vor den angriffslustigen Drachen aus Fernost.<br />

Samsung<br />

Umsatz: 327 Mrd. $<br />

Gewinn: 20 Mrd. $<br />

z.B. VW<br />

Fernziel ist der Wettbewerb mit<br />

den weltweiten Premiumanbietern<br />

aus Europa, Asien und den USA<br />

Apple<br />

Umsatz: 178,1 Mrd. $<br />

Gewinn: 38,5 Mrd. $<br />

XIAOMI Smartphones<br />

Umsatz/Gewinn (1. Hj. 2014): 5,3Mrd .$/k.A.<br />

Marktanteile: 14% in China<br />

Position in China: Senkrechtstarter,26 Mio. verkaufte Handys 1. Hj. 2014<br />

Story: Handys kosten nur 100 $, aktiv in Südostasien,<br />

Expansion nach Russland und in andere Schwellenländer,<br />

fast nur Online-Verkäufe, hauchdünne Margen<br />

QOROS Autos<br />

Umsatz/Gewinn: k.A./255Mio.$Verlust<br />

UNIONPAY bargeldlose Zahlung<br />

Marktanteile/Marktkapitalisierung:vernachlässigbar/nicht börsennotiert<br />

Position<br />

in China: erste weltmarktfähigeLimousine<br />

Story: Produktion läuftan,2015rund300000 Fahrzeuge geplant,<br />

Expansion<br />

in Schwellenländer und Osteuropa, gegen Premiumhersteller<br />

Umsatz/Gewinn(2011): 1 Mrd. $/k.A.<br />

3,5 Mrd. Kreditkarten in China<br />

Marktanteile:<br />

k.A.<br />

Marktkapitalisierung:<br />

Position<br />

in China: Nr. 1, nur fünf Prozent<br />

Auslandsumsatz<br />

Umsatz/Gewinn: 10 Mrd. $/2,5 Mrd. $<br />

TENCE N T<br />

in China, 100 Millionen außerhalb<br />

Position in China: Messenger WeChat<br />

Marktführer<br />

400 Mio. Nutzer<br />

Marktkapitalisierung: 150 Mrd.<br />

von US Computerspieleherstellern<br />

Story: weltweite Expansion, Übernahme<br />

Soziale Netzwerke<br />

nach Visa<br />

Story: zweitgrößtes Bezahlnetzwerk<br />

Visa<br />

Umsatz: 11,8 Mrd. $<br />

Gewinn: 4,9 Mrd. $<br />

Facebook<br />

Umsatz: 7,9 Mrd. $<br />

Gewinn: 1,5 Mrd. $<br />

Wenn nicht anders erwähnt, Umsatz/Gewinn 2013; Quelle Unternehmensangaben<br />

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BAIDU<br />

Google<br />

Umsatz: 59,8 Mrd. $<br />

Gewinn: 12,9 Mrd. $<br />

Samsung<br />

Umsatz: 327 Mrd. $<br />

Gewinn: 20 Mrd. $<br />

Apple<br />

Umsatz: 178,1 Mrd. $<br />

Gewinn: 38,5 Mrd. $<br />

Umsatz/Gewinn:5,2 Mrd. $/1,7 Mrd. $<br />

Internet-Suchmaschine<br />

Marktanteile:ca.65% in China<br />

Marktkapitalisierung: 74 Mrd. $<br />

Position in China: Marktführer<br />

Story: Größter Auslandsmarkt Brasilien, Expansion<br />

im arabischen Raum, zensiert<br />

Inhalte in China<br />

Expansion, Europa-Zentrale in Düsseldorf<br />

Story: Nähe zum chinesischen Militär, globale<br />

Marktanteile: k.A.<br />

Position in China: Marktführer und in 140 Ländern<br />

Marktkapitalisierung: privates Unternehmen<br />

aktiv<br />

Umsatz/Gewinn: 40 Mrd.$/3,5 Mrd. $<br />

HUAWEI Telekommunikationsausrüstung<br />

Position in China: Nr.1|Warenumsatz: 248 Mrd. $<br />

LENOVO<br />

Umsatz/Gewinn: 8 Mrd. $/3,6 Mrd. $<br />

Online-Handel<br />

ALIBABA<br />

Marktkapitalisierung:<br />

zu 200 Mrd. $<br />

Schätzungen bis<br />

Story: geht demnächst an die Börse, expandiert<br />

mit<br />

Umsatz/Gewinn: 34 Mrd. $/1 Mrd. $<br />

PC, Smartphones, Tablets<br />

Marktanteile weltweit/China: 18,6 %/40 %<br />

Umsatz in China: 70 %, mit Motorola stark in den USA<br />

Markkapitalisierung:11,4 Mrd. $<br />

auch bei Smartphones die Nr. 1 zu werden<br />

seinem Flaggschiff Taobao in Südostasien,<br />

übernimmt in den USA Wettbewerber<br />

Story: setzt auf Masse und versucht, nach den PCs nun<br />

HP<br />

Umsatz: 112 Mrd. $<br />

Gewinn: 5,1 Mrd. $<br />

Cisco<br />

Umsatz: 47,1 Mrd. $<br />

Gewinn: 7,8 Mrd. $<br />

Ebay<br />

Umsatz: 16 Mrd. $<br />

Gewinn: 2,8 Mrd. $<br />

Amazon<br />

Umsatz: 81,7 Mrd. $<br />

Gewinn: 0,18 Mrd. $<br />

ILLUSTRATION: STEFFEN MACKERT<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 49<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Sie zählen 49 Jahre, sind Charismatiker<br />

und haben Aufregendes<br />

mitzuteilen. YY nennt sich<br />

der eine, für Yang Yuanqing. Er<br />

hat den chinesischen Konzern<br />

Lenovo zum größten PC-Hersteller der<br />

Welt gemacht. Sein Pendant heißt Jack Ma<br />

und regiert Alibaba.<br />

Ma, aufgestiegen <strong>vom</strong> Englisch-Lehrer<br />

zum Internet-Star, will den chinesischen<br />

E-Commerce-Giganten in der zweiten<br />

Septemberhälfte an die Börse bringen. Das<br />

dürfte dem Unternehmen nach Schätzungen<br />

von Analysten einen Börsenwert von<br />

200 Milliarden US-Dollar bescheren.<br />

Prompt haute er vorige Woche auf<br />

die Pauke und verkündete zwei<br />

Milliarden US-Dollar Gewinn im<br />

ersten Quartal des Geschäftsjahrs<br />

bei 2,5 Milliarden Umsatz – glatt<br />

die doppelte Marge von Apple.<br />

Yang dagegen ließ am vorigen<br />

Donnerstag in Chicago einen<br />

Schleier lüften – für eine neue Generation<br />

Smartphones der Marke<br />

Motorola, die Lenovo von Google übernahm,<br />

sowie für ein neues digitales Armbandgerät<br />

namens Moto 360 Smartwatch –<br />

alles gezielt ein paar Tage bevor Apple das<br />

neue iPhone vorstellt.<br />

„Unsere Philosophie ist“, tönt Lenovo-<br />

Chef Yang im Interview mit der WirtschaftsWoche<br />

(siehe Seite 54): „ Wenn man<br />

nicht die Nummer eins werden will,<br />

braucht man gar nicht erst antreten.“ Und<br />

zuvor hatte Börsenaspirant Ma geprustet:<br />

„Wenn Alibaba nicht so wichtig wird wie<br />

Microsoft oder Wal-Mart, werde ich das für<br />

den Rest meines Lebens bedauern.“<br />

Mit ihrem Weltherrschaftsanspruch sind<br />

Yang und Ma in China nicht mehr allein.<br />

Auch andere Konzernlenker im Reich der<br />

Mitte, deren Unternehmen in den vergangenen<br />

Jahren dank des bevölkerungsreichsten<br />

Binnenmarktes der Welt erstarkt<br />

sind, starten zum Angriff auf derzeit globale<br />

Champions im Ausland.<br />

Die Schar der Angreifer ist bunt. Sie reichen<br />

<strong>vom</strong> Messaging-Dienst und sozialen<br />

Netzwerk Tencent über die Internet-Suchmaschine<br />

Baidu bis zum Kreditkarten- und<br />

Bezahlkonzern Unionpay. Mit Qoros hat<br />

sich sogar ein Autobauer aufgemacht, um<br />

die Konkurrenz aus den reifen Industrieländern<br />

einmal mit Qualitätsautos made in<br />

China anzugreifen. Deutschlands Anbieter<br />

etwa aus dem VW-Konzern sind genauso<br />

gewarnt wie Kreditkartengesellschaften<br />

<strong>vom</strong> Typ Visa oder der Handybauer Samsung,<br />

aber auch IT- und Internet-Stars aus<br />

»Wenn Alibaba nicht<br />

so wichtig wird wie<br />

Microsoft und<br />

Wal-Mart, werde ich<br />

das bedauern«<br />

Alibaba-Chef Jack Ma<br />

den USA von Google über Facebook bis zu<br />

Microsoft.<br />

Die Gründe, sich über die Landesgrenzen<br />

hinaus auszudehnen, sind vielfältig.<br />

Kein Zweifel, wichtige Schützenhilfe erhielten<br />

die chinesischen Konzerne von ihrer<br />

Regierung. Besonders deutlich zeigt<br />

sich das im Internet. Facebook, Google,<br />

YouTube, Twitter – die westlichen Erfolgsunternehmen<br />

des Web 2.0 sind in China<br />

gesperrt. Denn sie beugen sich nicht der<br />

staatlichen Zensur. Google verließ den Riesenmarkt<br />

deshalb 2010. Facebook und<br />

Twitter durften gar nicht erst antreten.<br />

So konnte etwa der chinesische Internet-<br />

Suchmaschinenanbieter Baidu in China<br />

groß werden. Heute kontrolliert Baidu 65<br />

Prozent des Marktes. Der börsennotierte<br />

Konzern kommt den chinesischen Zensurvorgaben<br />

mit vorauseilendem Gehorsam<br />

entgegen: Web-Sites, die den Vorgaben der<br />

Regierung widersprechen, tauchen bei<br />

Baidu gar nicht erst auf.<br />

Der chinesische Konzern Tencent wiederum<br />

hat davon profitiert, dass die Web-<br />

Seiten Facebook und Twitter in China gesperrt<br />

sind. WeChat, auf Chinesisch Weixin,<br />

ein Klon der Facebook-Tochter Whats-<br />

App, ist heute das beliebteste Kommunikationsmedium<br />

der Chinesen. 400 Millionen<br />

User schicken sich damit Nachrichten. Der<br />

Instant-Messenger QQ hat gar 800 Millionen<br />

Nutzer. Videos schauen Chinesen<br />

nicht auf YouTube sondern auf Youku.<br />

Das Web ist nicht das einzige Feld der digitalen<br />

Welt, in dem Chinas Unternehmen<br />

aktiver und aggressiver gegen westliche<br />

Konkurrenten auftreten. Der Senkrechtstarter<br />

der vergangenen Monate heißt Xiaomi,<br />

was so viel wie „kleiner Reis“ bedeutet.<br />

Auch Xiaomi folgt dem Modell: kopieren<br />

und verbessern. Zwar kann der Handyhersteller<br />

etwa Apple nicht das Wasser reichen,<br />

doch mit umgerechnet 100 US-Dollar<br />

sind die Telefone im Preis unschlagbar.<br />

Der chinesische Staat hilft, wo er kann,<br />

den eigenen Unternehmen, im Kampf gegen<br />

Platzhirsche jenseits der Grenzen anzugreifen.<br />

So hat die Regierung in Peking<br />

vor wenigen Tagen angekündigt, das Betriebssystem<br />

Windows des US-Softwarekonzerns<br />

Microsoft auf den Computern im<br />

Reich der Mitte durch eine eigene Kreation<br />

zu ersetzen. Schon im Herbst soll das ambitionierte<br />

Vorhaben starten.<br />

Und das ist erst der Anfang. Da immer<br />

mehr Menschen Smartphones und Tablets<br />

nutzen, auf denen Windows unter „ferner<br />

liefen“ rangiert, will die Regierung auch ein<br />

chinesisches Betriebssystem für drahtlose<br />

Geräte in Auftrag geben. „In drei bis fünf<br />

Jahren“, so die Ankündigung, soll es eine<br />

chinesische Alternative zu Android von<br />

Google und iOS von Apple geben, komplett<br />

mit der nötigen Infrastruktur für<br />

Smartphone-Apps und Web-Dienste.<br />

SCHUTZPATRON STAAT<br />

Größenwahn? Reaktion auf US-Cyber-<br />

Schnüffeleien? Taktische Drohgebärde?<br />

Gegen Microsoft läuft derzeit in China eine<br />

Untersuchung wegen Machtmissbrauchs.<br />

Windows 8 auf den Computern chinesischer<br />

Behörden ist seit Mai untersagt. Microsoft<br />

ist alarmiert. Offiziell will sich der<br />

Konzern wegen des laufenden Verfahrens<br />

nicht äußern. Der neue Microsoft-Chef<br />

Satya Nadella plant eine Reise nach China<br />

noch in diesem Monat, um sich persönlich<br />

vor Ort über die Lage zu informieren.<br />

Dass einige Chinesen, die nun Amazon,<br />

Samsung und Co. angreifen, enge Beziehungen<br />

zur Kommunistischen Partei pflegen<br />

oder selbst Mitglieder sind, ist ein offenes<br />

Geheimnis. Sie haben den Staat als<br />

Schutzpatron hinter sich. „Von westlichen<br />

Konkurrenten kopieren und sie dann an<br />

FOTOS: IMAGO/CHINA FOTO PRESS, BULLS PRESS/NEWS INTERNATIONAL<br />

50 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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der Expansion in China zu hindern oder<br />

wie bei Facebook oder Twitter ihnen dies<br />

gleich ganz zu verwehren“, sagt der US-<br />

Technologiestratege Mark Anderson, das<br />

sei das „chinesische Geschäftsmodell“.<br />

Vor allem der Telekommunikationsausrüster<br />

Huawei sieht sich immer wieder<br />

Spionage-Vorwürfen ausgesetzt. Dessen<br />

Gründer Ren Zhengfei, ein ehemaliger Soldat<br />

der Volksbefreiungsarmee, werden enge<br />

Kontakte zum chinesischen Militär<br />

nachgesagt. Doch seit dem NSA-Skandal<br />

haben die Vorwürfe von US-Seite an Überzeugungskraft<br />

verloren. Huawei bezieht<br />

demnächst in Düsseldorf seine neue Europa-Zentrale.<br />

Der Bürokomplex namens Silizium<br />

im Stadtteil Oberkassel soll 900 Mitarbeiter<br />

beherbergen. Zu den Kunden zählen<br />

die Deutsche Telekom und Vodafone.<br />

GEFÜLLTE KRIEGSKASSEN<br />

Gleichwohl ist es den Angreifern in den<br />

vergangenen Jahren auffällig gelungen,<br />

sich zu professionalisieren und zu internationalisieren.<br />

Die Produkte haben sich verbessert.<br />

Lenovo mit zugekauften Marken<br />

wie Medion in Deutschland, Huawei oder<br />

der Haushaltsgerätehersteller Haier sind<br />

im Westen bekannte Marken.<br />

Mit ihren gefüllten Kriegskassen stoßen<br />

die Angreifer bevorzugt in Schwellenländer<br />

vor. Brasilien etwa ist für Baidu schon der<br />

zweitwichtigste Markt. Die Internet-Suchmaschine<br />

will bis Ende der Dekade die Hälfte<br />

ihres Umsatzes im Ausland erwirtschaften.<br />

300 Millionen Dollar lässt das Unternehmen<br />

für den Aufbau eines Forschungszentrums<br />

im Silicon Valley springen. Amazon-Konkurrent<br />

Alibaba kauft sich derweil<br />

mit dreistelligen Millionensummen in US-<br />

Internet-Unternehmen wie Tango, Lyft,<br />

Fanatics oder Shoprunner ein. Facebook-<br />

Wettbewerber Tencent übernahm an der<br />

US-Westküste Spielehersteller wie Riot<br />

Games und ist bereits in 140 Ländern aktiv.<br />

Ganz am Anfang steht der Autohersteller<br />

Qoros, dem es als erstem chinesischen Unternehmen<br />

gelang, eine international wettbewerbsfähige<br />

Limousine zu bauen. Schon<br />

bald soll die Produktion auf 300 000 Fahrzeuge<br />

im Jahr steigen.<br />

Alibaba soll mit dem Börsengang eine<br />

Art Startschuss setzen für die forcierte weltweite<br />

Expansion chinesischer Konzerne,<br />

wie dies im 20. Jahrhundert die USA, Japan<br />

und Westeuropa vorgemacht haben – und<br />

wie dies Lenovo-Chef Yang nun mit den<br />

Smartphones wiederholen will.<br />

n<br />

philipp.mattheis@wiwo.de | Shanghai,<br />

matthias hohensee | Silicon Valley<br />

Ein Schritt vorwärts,<br />

zwei zurück<br />

Lenovo-Chef Yang<br />

gilt als chinesischer<br />

Top-Manager mit<br />

der ausgeprägtesten<br />

West-Orientierung<br />

Mann mit drei Leben<br />

LENOVO | Der größte PC-Hersteller der Welt ist eines der wenigen<br />

chinesischen Unternehmen, denen der Aufbau einer internationalen<br />

Marke gelungen ist. Das ist vor allem der Verdienst von YY.<br />

Der Saal ist dunkel, das Publikum<br />

mucksmäuschenstill. Nur die Stimme<br />

einer Moderatorin hallt durch<br />

den großen Ballsaal des Hilton Hotels im<br />

zentralchinesischen Wuhan. „Er ist hier“,<br />

sagt die bekannte TV-Moderatorin. „Gleich<br />

spricht YY zu uns!“ Das Kürzel genügt – jeder<br />

hier weiß, wer „YY“ ist. Dann ertönt eine<br />

Fanfare, Scheinwerfer leuchten auf, als<br />

ein schlanker, hochgewachsener Mann die<br />

Bühne betritt, junge Frauen im Publikum<br />

können vor Aufregung nicht mehr still sitzen<br />

und kreischen.<br />

YY, ausgesprochen „Waiwai“, das ist Yang<br />

Yuanqing, der Boss von Lenovo. Der Konzern<br />

aus China, der sich unter anderem die<br />

PC-Sparte des US-Konzerns IBM und den<br />

deutschen Computerbauer Medion einverleibte,<br />

ist nicht nur der größte seiner<br />

Branche und will noch weiter wachsen,<br />

weshalb Yang hier in Wuhan die Belegschaft<br />

auf die verstärkte Expansion nach<br />

Europa und in die USA einschwört.<br />

Der 49-Jährige hat sich noch mehr vorgenommen:<br />

Lenovo soll auch weltgrößter<br />

Smartphone-Hersteller werden. In China<br />

hat er den globalen Spitzenreiter Samsung<br />

schon überholt. Weltweit liegt Lenovo<br />

mit knapp 16 Millionen verkauften Smartphones<br />

im vergangenen Quartal zwar erst<br />

auf Platz vier hinter Samsung, Apple und<br />

Huawei, ebenfalls aus China. Doch der<br />

Schalter ist umgelegt: Googles Handysparte<br />

Motorola kommt vorbehaltlich des<br />

Segens der Kartellbehörden unter das<br />

Lenovo-Dach.<br />

Nur wenige Autominuten entfernt <strong>vom</strong><br />

Hilton, in dem Yang seine weiblichen<br />

Landsleute betört, hat er umgerechnet 800<br />

Millionen US-Dollar in eine gigantische<br />

Fabrik gesteckt, die jährlich bis zu 40 Millionen<br />

hochgezüchtete Mobiltelefone ausspucken<br />

soll. Um weltweit für Aufmerksamkeit<br />

zu sorgen, spannt Yang seit Oktober<br />

2013 den US-Schauspieler Ashton Kutcher<br />

als „Product Manager“ ein.<br />

Yangs neue Masche und das teure Investment<br />

sind eine riskante Wette auf die<br />

Zukunft: Gute Telefone gibt es viele – doch<br />

reicht die Bekanntheit der Marke Lenovo,<br />

um auch im Milliardenmarkt Smartphones<br />

mehr als ein Wörtchen mitzureden?<br />

Wenn Experten es einem chinesischen<br />

Unternehmer zutrauen, zum Inhaber einer<br />

weiteren weltbekannten Marke aufzusteigen,<br />

dann ist das Yang und Lenovo. Der<br />

einst namenlose Elektronikfertiger aus<br />

Peking bringt Voraussetzungen mit, die<br />

kaum ein anderes chinesisches Unternehmen<br />

bieten kann. Yang ist heute in mehr<br />

als 60 Ländern aktiv, seine Produkte werden<br />

in 160 Ländern verkauft, der Konzern<br />

mit 46 000 Mitarbeitern machte im Geschäftsjahr<br />

2013/14 bei 38,7 Milliarden<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 51<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

»<br />

US-Dollar Umsatz 817 Millionen Gewinn.<br />

Selbst 30 Prozent der Deutschen<br />

kennen die Marke bereits, so viele wie bei<br />

keiner anderen chinesischen Firma.<br />

Dabei ist Lenovo erst 30 Jahre alt. 1984<br />

gründete eine Gruppe junger Computerwissenschaftler<br />

um den heute 70-jährigen<br />

Informatiker Liu Chuanzhi ein Unternehmen<br />

namens Legend, um PCs zu fertigen.<br />

Die Beteiligten sind Mitglieder der Chinese<br />

Academy of Sciences (CASS), einem<br />

Thinktank der Regierung in Peking. 25 000<br />

Dollar soll das Startkapital damals betragen<br />

haben. CASS hält bis heute ein Drittel<br />

an der Legend Holding und die wiederum<br />

ein Drittel an Lenovo.<br />

Yang ist beim Start nicht dabei,<br />

sondern heuert 1989 im Alter<br />

von 24 Jahren an. Er wächst<br />

auf in Armut während der Kulturrevolution,<br />

als Intellektuelle<br />

zu körperlicher Arbeit aufs<br />

Land umgesiedelt werden.<br />

Yang studiert Informatik und<br />

arbeitet bei Legend zunächst<br />

im Vertrieb für kärgliche 30 US-Dollar im<br />

Monat. Yang fällt Legend-Mitgründer Liu<br />

als Denker und Stratege auf. Vier Jahre später<br />

macht der ihn zum Chef der PC-Sparte.<br />

Erstes Leben –<br />

Coups in der PC-Sparte<br />

Made by Lenovo<br />

Die drei wichtigsten künftigen<br />

Standbeine des chinesischen PCund<br />

Smartphone-Herstellers.<br />

Tablet-Rechner<br />

Mit einem Preis von rund 160 Euro soll<br />

das Yoga Tablet den Durchbruch bringen<br />

und dem iPad Konkurrenz machen<br />

Weltmarktanteil: k. A.<br />

Laptop-Computer<br />

Übernommene Marken wie Medion aus<br />

Deutschland trugen dazu bei, dass Lenovo<br />

Marktführer bei PCs wurde<br />

Weltmarktanteil: 19,2 %<br />

Mobiltelefone<br />

Im Handygeschäft sollen<br />

Zukäufe bekannter<br />

Marken wie Motorola und<br />

Modelle wie das RAZR D3<br />

den Durchbruch bringen<br />

Weltmarktanteil:<br />

2,5 %<br />

Quelle: Gartner<br />

Der neue Herr über die Computer nutzt<br />

den Job für seine zweite Kulturrevolution.<br />

Bei Lenovo arbeiten die Angestellten noch<br />

nach dem einstigen Motto am chinesischen<br />

Hof: „Abwarten, bis man erkennen<br />

kann, was der Kaiser wünscht.“ Eigenverantwortung<br />

und Engagement sind vielen<br />

Mitarbeitern fremd. Das ändert Yang. Er<br />

schafft Titel ab und ermutigt die Mitarbeiter,<br />

sich mit Vornamen anzureden. Bis heute,<br />

sagt Yang, wolle er drei Eigenschaften<br />

seiner Mitarbeiter fördern: Eigenverantwortung,<br />

Pioniergeist und Verbindlichkeit.<br />

1994 geht Legend an die Börse in Hongkong<br />

und sammelt 30 Millionen Dollar ein.<br />

Yang strukturiert den Vertrieb um und setzt<br />

auf gut geschulte Verkäufer. Um diese auszubilden,<br />

holt er Experten des US-Softwareriesen<br />

Microsoft und dessen US-Chiplieferanten<br />

Intel ins Unternehmen. Zudem<br />

sichert er jedem Lenovo-Händler in China<br />

ein exklusives Einzuggebiet zu, in dem dieser<br />

keine Konkurrenz von seinesgleichen<br />

fürchten muss. Das macht die Händler zu<br />

loyalen Markenbotschaftern.<br />

Gleichzeitig baut Yang das Vertriebsnetz<br />

aus und legt so den Grundstein für die starke<br />

Expansion der folgenden Jahren. Heute<br />

ist es das erklärte Ziel des Konzerns, im riesigen<br />

China nirgends weiter als 50 Kilometer<br />

von einem Kunden entfernt zu sein.<br />

Yangs Sprung an die Lenovo-Spitze erscheint<br />

in dieser Phase nur eine Frage der<br />

Zeit. Doch was ihm dann widerfährt, wirkt<br />

aus heutiger Sicht wie ein Schritt vorwärts<br />

und zwei Schritte zurück.<br />

Gründer Liu macht nach dem Rückzug<br />

aus dem operativen Geschäft 2001 Yang<br />

tatsächlich im Alter von 36 Jahren zum Vorstandschef.<br />

Der Umsatz liegt bereits bei 2,7<br />

Milliarden Dollar, doch das reicht Yang<br />

nicht. Um auf internationale Märkte vorzustoßen,<br />

benennt er 2003 Legend in Lenovo<br />

um, einen Kunstnamen, der einzigartig<br />

und dank „novo“ nach neu klingen soll.<br />

2005 schafft Yang den Durchbruch. Er<br />

schließt mit dem US-Softwareriesen Microsoft,<br />

der unter den vielen Raubkopien<br />

im Reich der Mitte leidet, eine Allianz. Microsoft-Gründer<br />

Bill Gates und sein damaliger<br />

Vorstandschef Steve Ballmer überlassen<br />

ihr Betriebssystem Windows zum Vorzugspreis,<br />

dafür verkauft Lenovo seine<br />

Computer etwas teurer, aber mit Original-<br />

Windows. Im Gegenzug unterstützt Microsoft<br />

Lenovo beim Marketing. Yang erwartet,<br />

dass die Regierung auch auf andere PC-<br />

Hersteller Druck ausübt und diese dem<br />

Beispiel von Lenovo folgen. Das Kalkül<br />

geht auf. Der damalige Microsoft-Chef<br />

Ballmer sagt dazu später: „Yang gab den<br />

Ausschlag. Er riskierte etwas.“<br />

Ebenfalls 2005 gelingt dem Chinesen<br />

sein zweiter Coup, die Übernahme der PC-<br />

Sparte der US-IT-Ikone IBM für 1,75 Milliarden<br />

Dollar. Yang nutzt den Kauf nicht,<br />

um die Amerikaner zu sinisieren, sondern<br />

um Lenovo zu internationalisieren, und<br />

geht mit gutem Beispiel voran. Er siedelt<br />

mit Familie nach Amerika über und verpasst<br />

Lenovo zwei Firmensitze: einen in<br />

Peking und einen in Morrisville bei Raleigh,<br />

im US-Bundesstaat North Carolina.<br />

Yang scheint auf bestem Weg, sich an der<br />

Lenovo-Spitze unersetzlich zu machen. Er<br />

paukt mühevoll Englisch und ernennt es<br />

zur offiziellen Konzernsprache. Gleichzeitig<br />

öffnet er den Konzern, sodass heute unter<br />

den 100 Top-Managern 18 Nationalitäten<br />

vertreten sind.<br />

Doch dann kommt der große Rückschritt.<br />

Unternehmensgründer Liu zieht<br />

Yang von der Konzernspitze ab und macht<br />

ihn zum Aufsichtsratsvorsitzenden. Alle<br />

Mühen, so Lius Eindruck, reichen noch<br />

nicht, Yang versteht zu wenig <strong>vom</strong> globalen<br />

Geschäft und muss dieses erst noch lernen.<br />

Zweites Leben –<br />

Rückkehr und Expansion<br />

Dass ihn ein kapitaler Fehler seines Nachfolgers<br />

William Amelio bald wieder in den<br />

Chefsessel zurückkatapultieren sollte, war<br />

für Yang zunächst nicht abzusehen. Der<br />

Ex-Asien-Chef des amerikanischen Konkurrenten<br />

Dell will sich bei Lenovo als entscheidungsstarker<br />

Manager einführen und<br />

verkauft 2008 die noch junge Smartphone-<br />

Sparte von Lenovo für 100 Millionen US-<br />

Dollar, um sich ganz auf das durchhängende<br />

PC-Geschäft zu konzentrieren. Doch<br />

»<br />

FOTOS: PR (3)<br />

52 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

schon ein Jahr später bringt Apple das<br />

iPhone auf den Markt, das den Handymarkt<br />

revolutionieren und Unternehmen<br />

wie den damaligen Branchenführer Nokia<br />

dem Untergang weihen sollte. Lenovo<br />

bleibt nur, dem Aufstieg von Apple und im<br />

Gefolge von Samsung tatenlos zuzusehen.<br />

Erst als die weltweite Finanzkrise 2009<br />

auch Lenovo in rote Zahlen stürzt und den<br />

Umsatz von 16,4 auf 14,9 Milliarden Dollar<br />

dezimiert, ist Yangs Zeit wieder gekommen.<br />

Amelios Vertrag wird wegen der Verluste<br />

nicht verlängert, Yang wieder Chef.<br />

Was Lenovo heute darstellt, geht zurück<br />

auf Yangs Leistung in den zurückliegenden<br />

drei Jahren. 2011 übernimmt<br />

Lenovo für 738<br />

Millionen Dollar den<br />

deutschen Aldi-Zulieferer<br />

Medion. Im selben<br />

Jahr geht Lenovo ein<br />

Joint Venture mit dem<br />

japanischen NEC-Konzern<br />

ein und schluckt für<br />

148 Millionen Dollar<br />

den brasilianischen Hersteller CCE. 2013<br />

zieht Lenovo mit einem Marktanteil von<br />

18,6 Prozent an HP, Acer und Dell vorbei<br />

und wird weltgrößter PC-Hersteller.<br />

Doch vermeintlich auf dem Gipfel des<br />

Erfolgs hat sich Yang mit der Spitzenposition<br />

im PC-Markt eine Hypothek eingehandelt.<br />

Denn Smartphones und Tablets setzen<br />

klassischen Laptops und Desktop-<br />

Rechnern immer mehr zu, auch für 2014<br />

erwarten die Analysten des US-Marktforschers<br />

IDC weiter sinkende PC-Verkäufe.<br />

Drittes Leben –<br />

Der Angriff bei Handys<br />

Damit steht Yangs Karriere ein weiteres<br />

Mal an einem Wendepunkt. Denn Lenovo<br />

ist zu stark <strong>vom</strong> PC abhängig. 84 Prozent<br />

des Umsatzes stammen von diesem Geschäft.<br />

Zudem ist China mit 70 Prozent Lenovos<br />

größter Markt und schrumpft ebenfalls.<br />

Zwar ist der Konzern in vielen Ländern<br />

präsent, in den meisten aber macht er<br />

keinen Gewinn, weil Yang zuerst auf Expansion<br />

setzt und erst ab zehn Prozent<br />

Marktanteil die Profitschraube anzieht.<br />

Der Endvierziger hat sich deshalb für eine<br />

Mehrfachstrategie entschieden. Zum einen<br />

heizt er den Verdrängungswettbewerb<br />

im PC-Geschäft an. „Lenovo ist der einzige<br />

Wettbewerber, der in dem schrumpfenden<br />

Markt noch zweistellig wachsen kann“, sagt<br />

James Wang <strong>vom</strong> Analystenhaus Catalys in<br />

Shanghai. „Es bleibt ein wichtiger Bereich.“<br />

Zum andern versucht Yang, die PC-Geschäfte<br />

zu stärken. So setzt er auf ein Konzept<br />

namens PC+, das Tablets, Laptops<br />

und Desktops in einem Gerät vereint. Das<br />

Tablet Yoga etwa wird mit einem Handgriff<br />

zum Laptop, ist mit 160 Euro deutlich<br />

preiswerter als das iPad und läuft mit dem<br />

Betriebssystem Android von Google. Zudem<br />

hat Yang Anfang 2014 für 2,3 Milliarden<br />

Dollar die einfachen Server von IBM<br />

übernommen, um künftig auch mit Firmenkunden<br />

ins Geschäft zu kommen.<br />

Schließlich weiß Yang, dass er nur dann<br />

als der Größte in die Lenovo-Geschichte<br />

eingehen kann, wenn er das Unternehmen<br />

in eine neue Ära führt. Das soll die<br />

Smartphone-Sparte von Motorola bringen.<br />

Die erwarb Yang im Februar für 2,9 Milliarden<br />

Dollar von Google, nachdem er 2009<br />

die einst verkaufte Handyproduktion für<br />

200 Millionen Dollar zurückgekauft hatte.<br />

Auf dem Heimatmarkt in China ist Lenovo<br />

mit seinen ausgereiften, aber günstigen<br />

Geräten gut positioniert. Yang hat das<br />

Smartphone-Geschäft aufgespalten: Eine<br />

Lenovo Business Group soll den Massenmarkt<br />

mit Telefonen zum Preis von 150 bis<br />

300 Dollar bedienen und eine Think Business<br />

Group teurere Geräte für Premiumkunden<br />

anbieten, die bisher zum Beispiel<br />

MacBooks von Apple kaufen.<br />

Generell setzt Yang auf Masse: „Wenn<br />

wir in einen Markt vorstoßen, wollen wir<br />

schnell einen zweistelligen Marktanteil haben.“<br />

Gelungen ist ihm dies bereits in Indien,<br />

Indonesien und Malaysia, wo Lenovo-Smartphones<br />

rund zehn Prozent des<br />

Marktes ausmachen. Den Angriff auf die<br />

USA fährt Yang mit der Marke Motorola,<br />

die dort noch auf zweistellige Marktanteile<br />

kommt. Dabei schielt der Lenovo-Chef<br />

auch auf die 2000 Patente, die er mit Motorola<br />

erhielt. Denn in entwickelten Märkten<br />

muss Lenovo bis zu 25 Prozent der Einnahmen<br />

an Patentgebühren abgeben. Das entfällt<br />

mit den erworbenen Patenten.<br />

Schwerer dürfte sich Yang in Europa tun,<br />

wo Händler wenig Interesse an einem weiteren<br />

Smartphone-Label haben. Experten<br />

glauben daher, dass Lenovo Übernahmen<br />

plant: „Helfen könnte der Kauf von Nokia<br />

von Microsoft“, sagt Analyst Wang.<br />

Geschäftlich ist für Yang der Auftritt des<br />

US-Schauspielers Kutcher in den Diensten<br />

von Lenovo die Krönung seiner Markenbildung.<br />

Auf die Frage, warum er sich für Lenovo<br />

engagiere, antwortete der Mime beim<br />

Start des Yoga Tablets: „Weil sie eine globale<br />

Unternehmenskultur haben.“<br />

n<br />

philipp.mattheis@wiwo.de | Shanghai<br />

INTERVIEW Yang Yuanqing<br />

»Wir wollen<br />

überall<br />

größer<br />

werden«<br />

Der Lenovo-Chef will den<br />

Konzern auch bei Mobiltelefonen<br />

weltweit an die Spitze führen.<br />

Herr Yang, können Sie sich an Ihre erste<br />

Computer-Erfahrung erinnern?<br />

Ein Freund meiner Eltern hat mich darauf<br />

gebracht, er meinte: Computer werden<br />

das große Ding. Ich habe ihm das<br />

geglaubt und daher in Shanghai und Peking<br />

Computerwissenschaften studiert.<br />

Lenovo ist heute eine der wenigen<br />

chinesischen Marken, die international<br />

bekannt sind. Was haben Sie anders<br />

gemacht als die Konkurrenz?<br />

Unser Ziel war immer, ein globales<br />

Unternehmen zu werden. Lenovo ist<br />

hartnäckig und hat immer von seinen<br />

Mitbewerbern gelernt. Wir haben die<br />

PC-Sparte von IBM in den USA und<br />

Medion in Deutschland gekauft, sind mit<br />

NEC in Japan ein Joint Venture eingegangen<br />

– von all diesen Unternehmen haben<br />

wir gelernt. Wir haben deren Stärken<br />

genutzt und uns einverleibt. Deswegen<br />

sind wir heute ein diversifiziertes, internationales<br />

Unternehmen.<br />

Was hat Lenovo denn von IBM gelernt?<br />

Zum Beispiel haben bei Meetings unsere<br />

amerikanischen Kollegen immer geredet,<br />

die Chinesen aber geschwiegen. In<br />

unserer Kultur redet man nur, wenn der<br />

Chef einen explizit nach seiner Meinung<br />

fragt. Wenn man schweigt, muss das<br />

nicht unbedingt bedeuten, dass man<br />

derselben Meinung ist. Das gab anfangs<br />

viele Probleme. Der Leiter der Meetings<br />

dachte, okay, wir sind alle derselben<br />

Meinung. Später war er erstaunt, als sich<br />

herausstellte, dass dem nicht so war.<br />

Beide Kulturen haben ihre Vorteile. Nur<br />

wenn man die Unterschiede nicht versteht,<br />

hat man Probleme. Heute ermutigen<br />

wir alle unsere Mitarbeiter, ihre Meinung<br />

zu sagen.<br />

54 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Das Klischee sagt, Chinesen scheuen sich<br />

vor Eigenverantwortung. Ist das so?<br />

Mehr Verantwortung wollen alle, auch die<br />

chinesischen Mitarbeiter. Aber in der<br />

westlichen Kultur nimmt sie sich jeder<br />

proaktiv. In China warten die Leute, bis<br />

der Chef ihnen Verantwortung zuteilt.<br />

Lenovo ist heute der weltgrößte PC-<br />

Hersteller. Ihre Marktanteile wachsen<br />

sogar noch weiter – nur schrumpft der<br />

Markt. Wie gehen Sie damit um?<br />

Das ist noch immer eine 200-Milliarden-<br />

Dollar-Industrie, in der es sich lohnt, die<br />

Nummer eins zu sein. Gerade außerhalb<br />

Chinas können wir noch wachsen.<br />

Wo genau?<br />

In Europa und den USA, aber auch in<br />

Ländern wie Indonesien oder Indien.<br />

Noch immer macht das PC-Geschäft 84<br />

Prozent Ihres Umsatzes aus. Wie wollen<br />

Sie diese Abhängigkeit reduzieren?<br />

Nachdem der Kauf von Motorola abgeschlossen<br />

ist, wird sich das ausbalancieren.<br />

Mobiltelefone und Tablets werden damit<br />

mittelfristig rund 30 Prozent unserer<br />

Umsätze ausmachen. Mit dem Motorola-<br />

Deal haben wir den Grundstein dafür gelegt,<br />

auch im Mobilbereich die Nummer<br />

eins zu werden. Das ist kein einfaches Ziel,<br />

das wir in ein oder zwei Jahren erreichen<br />

werden. Das wird länger dauern.<br />

Wie lange denn? Fünf Jahre?<br />

Ich kann keine Zahl nennen. Wenn Lenovo<br />

einmal ein Ziel formuliert, dann erreichen<br />

wir es auch. Das ist aber noch zu<br />

früh. Wird der Motorola-Deal genehmigt,<br />

rechnen wir damit, 100 Millionen mobile<br />

Endgeräte im Jahr zu verkaufen.<br />

Motorola ist praktisch nur noch in den<br />

USA vertreten und spielt in Europa kaum<br />

eine Rolle. Wie wollen Sie hierzulande<br />

vorgehen – eher mit Lenovo-Smartphones<br />

oder Motorola-Geräten?<br />

Motorola hat auch in Europa einen guten<br />

Ruf, auch wenn die verkauften Stückzahlen<br />

gering sind. Der Erwerb wird uns auf<br />

Märkten helfen, in denen wir Smartphone-<br />

Business noch nicht gestartet haben. Wir<br />

möchten mit Lenovo und Moto eine Zwei-<br />

Marken-Strategie fahren und jeweils<br />

die Marke positionieren, die sich auf dem<br />

jeweiligen Markt besser eignet.<br />

Wollen Sie die Marke Motorola mittelfristig<br />

beibehalten, oder tragen irgendwann<br />

alle Geräte ein Lenovo-Label?<br />

Unsere Markenstrategie steht noch<br />

nicht abschließend fest. Auf jeden<br />

Fall aber ist die Marke Moto legendär,<br />

besonders bei mobilen<br />

Endgeräten. Wir werden die<br />

Marke schützen und ausbauen<br />

– ähnlich wie wir das bei<br />

PCs mit „Think“ getan haben.<br />

Warum ist Ihnen so wichtig,<br />

die Nummer eins zu<br />

sein? Apple etwa hat mit<br />

seinen iPhones eine sehr<br />

profitable Position.<br />

Unsere Philosophie ist:<br />

DER PC-KÖNIG<br />

Yang, 49, steht seit 2009 zum zweiten<br />

Mal an der Spitze des Lenovo-<br />

Konzerns. Der studierte Computertechniker<br />

startete dort 1989 und<br />

machte das Unternehmen zum<br />

weltgrößten PC-Hersteller.<br />

Wenn man nicht die Nummer eins<br />

werden will, braucht man gar nicht erst<br />

antreten.<br />

Wie wollen Sie auf dem Weg zur Spitze<br />

bei mobilen Geräten die innovativsten<br />

Unternehmen der Welt schlagen?<br />

Wir sind nicht weniger innovativ als<br />

Samsung oder Apple. Sie werden von Lenovo<br />

PCs, Smartphones und sogar ganz<br />

neue Produkte sehen. Einige stellen wir<br />

schon auf dem Mobile World Congress<br />

im Februar 2015 in Barcelona vor.<br />

Im Gegensatz zu Ihren Konkurrenten<br />

fertigen Sie einen Großteil Ihrer Komponenten<br />

selbst. Welchen Vorteil hat das?<br />

Der Anteil der In-Haus-Fertigung liegt<br />

bei etwa 50 Prozent. Dadurch haben wir<br />

mehr Einsicht in die Kostenstruktur und<br />

wissen besser, welche Preise man verlangen<br />

kann. Das macht uns flexibler, die<br />

Kundenwünsche zu erfüllen. Steigt die<br />

Nachfrage schnell, können wir ohne große<br />

Probleme die Produktion erhöhen.<br />

Der Mix ermöglicht uns, selbst innovativer<br />

zu sein, und bietet die Kontaktkanäle,<br />

um mit Zulieferern enger zusammenzuarbeiten.<br />

Und wir können Erfindungen<br />

leichter vor Kopien schützen. Deshalb<br />

möchten wir das so beibehalten.<br />

In China steigen die Löhne jedes Jahr<br />

um fast zehn Prozent. Verlagern Sie Ihre<br />

Produktion bald in billigere Länder?<br />

China ist immer noch billig. Aber Lohnkosten<br />

sind nicht das Einzige. Man<br />

braucht geeignete Arbeitskräfte und die<br />

Infrastruktur. Das sehe ich in anderen<br />

Ländern so nicht.<br />

Ein Teil Ihres Erfolgs in China liegt an<br />

Ihrem Händlernetzwerk. Dort ist kein<br />

Kunde weiter als 50 Kilometer <strong>vom</strong><br />

nächsten Lenovo-Händler entfernt. Wird<br />

es das so auch in anderen Märkte geben?<br />

Als wir das Vertriebsnetz in China aufgebaut<br />

haben, war das Pionierarbeit. In<br />

jeder Provinz konnten wir so von Anfang<br />

an gewährleisten, immer die Stärksten<br />

zu sein. Das ist ein großer Vorteil bis<br />

heute. Wir können das auf westliche<br />

Märkte nicht übertragen. Aber es geht<br />

zum Beispiel in Indien oder Indonesien.<br />

Dort wollen wir das wiederholen.<br />

Wie wichtig sind Sie selbst für Lenovo?<br />

Lenovo war mein erster Job und mein<br />

einziger. Das Unternehmen ist mein Zuhause<br />

und meine Familie. Ich hoffe, ich<br />

kann die Mitarbeiter inspirieren. Das ist<br />

das wichtigste Element von Führung. n<br />

philipp.mattheis@wiwo.de | Shanghai<br />

FOTO: EGILL BJARKI FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

55<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Leicht und teuer<br />

SGL | Die Sanierung des angeschlagenen Wiesbadener<br />

Technologiekonzerns rückt in weitere Ferne. Denn inzwischen<br />

mehren sich die Zweifel am superleichten Wunderstoff Carbon.<br />

Das Comeback währte nur kurz. Erst<br />

Ende 2013 war der Grafitkonzern<br />

SGL <strong>vom</strong> kleineren Börsensegment<br />

SDax wieder in den MDax aufgestiegen,<br />

den Index für die mittelgroßen Unternehmen.<br />

Seither jagt eine Hiobsbotschaft die<br />

andere. Das Geschäftsjahr 2013 schloss<br />

SGL mit fast 400 Millionen Euro Verlust ab<br />

– bei einem Umsatz von 1,5 Milliarden Euro.<br />

Die Zahlen für das erste Halbjahr 2014<br />

fielen miserabel aus (siehe Grafik). Und<br />

vor wenigen Tagen stufte die Ratingagentur<br />

Moody’s die Kreditwürdigkeit von SGL<br />

weiter auf „hochspekulativ“ (B2) zurück –<br />

vor allem wegen der Probleme im Hauptgeschäft<br />

Grafitelektroden, die zum<br />

Schmelzen von Schrott zu Stahl benötigt<br />

werden. Die Aktie stürzte weiter ab (siehe<br />

Chart).<br />

Am Mittwochabend vergangener Woche<br />

beschloss die Deutsche Börse dann,<br />

das havarierte Unternehmen wieder in<br />

den SDax zu verbannen. Beim Börsenumsatz<br />

und beim Börsenwert des Streubesitzes<br />

schafften die Wiesbadener die erforderlichen<br />

Kriterien nicht mehr. Dazu trug<br />

bei, dass der SGL-Streubesitz in den vergangenen<br />

Jahren von über 70 auf 38 Prozent<br />

gefallen ist, seit sich bekannte Investoren<br />

Pakete gesichert haben: Susanne<br />

Klatten aus der Quandt-Dynastie (26,9<br />

Prozent), die Autokonzerne BMW (15,7<br />

Prozent) und VW (knapp zehn Prozent)<br />

sowie der schwäbische Maschinenbauer<br />

Voith (neun Prozent). Die prominenten Eigentümer<br />

brauchen freilich für ihr Investment<br />

noch viel Geduld.<br />

Denn dass SGL in absehbarer Zeit noch<br />

einmal die Wende schafft, ist derzeit zweifelhaft.<br />

Der größte Hoffnungsträger im<br />

SGL-Portfolio – der Werkstoff Carbon, der<br />

hart wie Stahl, aber etwa nur halb so<br />

schwer, zum Beispiel im BMW-Elektroauto<br />

i3 zum Einsatz kommt – wird mehr und<br />

mehr entzaubert. Der neue Vorstandschef<br />

Jürgen Köhler, seit 1. Januar im Amt,<br />

spricht von einem „anhaltend“ unbefriedigenden<br />

Preisniveau für Carbon. Da gleichzeitig<br />

auch das Stammgeschäft mit den<br />

Grafitelektroden weiter abschmiert, sind<br />

die Aussichten für den bröckelnden Grafitkonzern<br />

eher mau.<br />

VORTEIL FÜR STAHL UND ALU<br />

Die Eigentümer – allen voran Großaktionärin<br />

und Aufsichtsratschefin Klatten, die zugleich<br />

etwa 13 Prozent an BMW hält – haben<br />

vor allem wegen des vermeintlichen<br />

Wunderstoffs Carbon in SGL investiert.<br />

Doch ihre Hoffnungen haben vor wenigen<br />

Tagen einen weiteren Dämpfer bekommen:<br />

ThyssenKrupp-Manager Herbert Eichelkraut<br />

deutete auf einer Veranstaltung<br />

der Wirtschaftsvereinigung Stahl in Duisburg<br />

an, dass im nächsten i3-Modell wieder<br />

mehr Stahl verwendet werden könnte<br />

statt der Leichtbaustoffe Carbon und Aluminium.<br />

BMW äußert sich dazu nicht, bei<br />

SGL kann man Äußerungen Eichelkrauts<br />

nicht nachvollziehen.<br />

Die große Carbon-Euphorie ist erst einmal<br />

vorbei. Weil die Nachfrage nach dem<br />

Der Stoff, aus dem<br />

die Träume sind<br />

Carbon-Fertigung<br />

des BMW i3 in<br />

Leipzig<br />

Rote Zahlen bei Carbon<br />

Umsatz- und operative Gewinnentwicklung<br />

bei SGL (in Millionen Euro)*<br />

Konzern insgesamt<br />

2013<br />

2014<br />

Umsatz<br />

–5,9<br />

–18,6<br />

Gewinn**<br />

Verlust<br />

655,2<br />

747,8<br />

Grafitelektroden<br />

2013<br />

54,1<br />

2014<br />

2,5<br />

273,9<br />

420,1<br />

Grafitspezialitäten<br />

(z.B. für die Halbleiter- und Solarindustrie)<br />

2013<br />

2014<br />

5,2<br />

21,9<br />

151,7<br />

182,9<br />

Carbon<br />

2013<br />

2014<br />

114,1<br />

–49,4<br />

142,3<br />

–12,8<br />

* erstes Halbjahr 2014 gg. Vorjahreszeitraum;<br />

** Ebit; Quelle: Unternehmen<br />

FOTO: PICTURE-ALLIANCE/DPA<br />

56 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Schwer gebeutelt<br />

Entwicklung der SGL-Aktie seit dem Amtsantritt<br />

von Vorstandschef Jürgen Köhler<br />

110<br />

105<br />

100<br />

95<br />

90<br />

85<br />

80<br />

75 Januar August<br />

Quelle: Thomson Reuters<br />

SGL<br />

Index 1.1.2014 = 100<br />

MDax<br />

Leichtbau-Werkstoff zwar weltweit steigt,<br />

aber unter den hochfliegenden Plänen<br />

bleibt, gibt es Überkapazitäten am Markt.<br />

Die Absatzchancen für Europas größten<br />

Carbonhersteller SGL sind daher limitiert.<br />

Denn außer BMW hat sich bisher noch<br />

kein Autobauer näher auf das Abenteuer<br />

Carbon eingelassen. Daimler hat sich gerade<br />

aus einem Joint Venture mit dem japanischen<br />

Unternehmen Toray zurückgezogen,<br />

Audi setzt auf Aluminium, auch Tesla<br />

kommt weitgehend ohne Carbon aus. Die<br />

Pkw-Hersteller stören sich vor allem an<br />

den hohen Kosten des leichten Werkstoffs.<br />

ZWEIFELHAFTE RECHNUNG<br />

„Carbon ist sechs- bis achtmal teurer als<br />

Stahl. Und verglichen mit dem ebenfalls<br />

leichten Aluminium, bringt Carbon zwar etwas<br />

mehr zusätzliche Gewichtsreduktion,<br />

allerdings sind die Kosten immer noch dreimal<br />

höher“, sagt Ralph Lässig, Partner bei<br />

der Beratung Roland Berger in München.<br />

Zwar geht SGL weiter davon aus, dass die<br />

Kosten für die Produktion des Leichtgewichts<br />

Carbon in den kommenden Jahren<br />

um 90 Prozent sinken werden, dank zunehmender<br />

Automatisierung in der Fertigung.<br />

Einen genauen Zeitrahmen nennt<br />

SGL freilich nicht. „Solch eine Kostenreduktion<br />

ist in Einzelfällen möglich, erscheint<br />

mir aber generell sehr hoch gegriffen“,<br />

warnt jedoch Berger-Berater Lässig.<br />

Einstweilen investieren BMW und SGL<br />

weiter in ihre gemeinsame Carbonproduktion.<br />

Im Werk Moses Lake im US-Staat Washington<br />

haben die beiden Partner im<br />

Frühjahr rund 200 Millionen Dollar investiert,<br />

um die Kapazitäten auf 9000 Tonnen<br />

pro Jahr zu verdreifachen. Auch ihre gemeinsamen<br />

Produktionskapazitäten im<br />

oberpfälzischen Wackersdorf haben SGL<br />

und BMW erweitert.<br />

Doch die Wette auf den Wunderstoff<br />

bleibt riskant. Das doppelte Problem von<br />

SGL-Chef Köhler: Während Carbon unter<br />

den Erwartungen bleibt, erodiert gleichzeitig<br />

das Stammgeschäft mit Grafitelektroden,<br />

mit deren Hilfe Stahl- und Aluminiumschrott<br />

geschmolzen wird. Doch weil<br />

die Stahlpreise weltweit am Boden liegen,<br />

lohnt sich das Schrottrecycling kaum noch.<br />

Für das Gesamtjahr 2014 geht Köhler denn<br />

auch von roten Zahlen aus.<br />

MILLIONEN FÜR DEN FC AUGSBURG<br />

Der promovierte Verfahrensingenieur –<br />

Nachfolger des langjährigen Unternehmenspatriarchen<br />

Robert Koehler, der SGL<br />

zwei Jahrzehnte lang nach Gutsherrenart<br />

geführt hatte – unternimmt zwar alles, was<br />

in seiner Macht steht, um den Niedergang<br />

aufzuhalten: Köhler streicht 300 der weltweit<br />

6000 Arbeitsplätze, schließt Werke im<br />

Ausland, verkauft Randaktivitäten und legt<br />

ein Sparprogramm in Höhe von 150 Millionen<br />

Euro auf, das wahrscheinlich noch<br />

einmal erweitert wird.<br />

Den Vorstand hat er von fünf auf drei<br />

Mitglieder verkleinert. Finanzvorstand Jürgen<br />

Muth musste im Frühjahr gehen, er<br />

galt als zu konfliktscheu. Nachfolger Michael<br />

Majerus hat sich bereits bei der Umstrukturierung<br />

des Mannheimer Pharmagroßhändlers<br />

Phoenix bewährt.<br />

Doch trotz all der Maßnahmen konnte<br />

Köhler den Absturz der SGL-Aktie bisher<br />

nicht aufhalten. Seinen wichtigsten Problemen<br />

– Preisdruck und Nachfrageschwäche<br />

bei Grafitelektroden und Carbon –<br />

kann Köhler mit seinen Kostensenkungsprogrammen<br />

nur bedingt beikommen.<br />

Und das Geschäftsfeld Carbon komplett zu<br />

verkaufen ist auch keine Lösung: Zu viel<br />

hat SGL bereits investiert, zu groß sind die<br />

Hoffnungen noch. Erst im Herbst will sich<br />

Köhler öffentlich zu seiner künftigen Strategie<br />

äußern.<br />

Immerhin steht fest, dass Fußballbundesligist<br />

FC Augsburg <strong>vom</strong> Sparprogramm<br />

ausgenommen ist. SGL, das in der Nähe<br />

von Augsburg ein größeres Werk betreibt,<br />

hält für mehrere Millionen Euro die Namensrechte<br />

an der SGL-Arena bis zur Saison<br />

2018/19. Aber auch dieses Investment<br />

kommt derzeit eher trist daher: Denn<br />

Augsburg belegt nach zwei Spieltagen mit<br />

null Punkten den letzten Tabellenplatz. Die<br />

Fußballmannschaft dürfte allerdings weitaus<br />

bessere Chancen haben als SGL,<br />

schnell wieder aus der Abstiegszone herauszukommen.<br />

n<br />

juergen.salz@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 57<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Niederlande<br />

Norwegen<br />

Amsterdam<br />

Schweden<br />

Oslo<br />

Belgien<br />

Brüssel,<br />

Antwerpen<br />

Großbritannien<br />

London<br />

Luxemburg<br />

Luxemburg<br />

Rotterdam<br />

Groningen<br />

Tschechien<br />

Prag<br />

Dänemark<br />

Kopenhagen,<br />

Aarhus<br />

Stockholm,<br />

Göteborg<br />

Malmö<br />

Polen<br />

Krakau,<br />

Kattowitz,<br />

Breslau<br />

Expansion in neue Märkte<br />

Die wichtigsten Ziele deutscher<br />

Fernbuslinien ins Ausland*<br />

Slowakei<br />

Bratislava<br />

Ungarn<br />

MeinFernbus<br />

Flixbus<br />

IC Bus/Berlinlinienbus**<br />

ADAC Postbus<br />

Frankreich<br />

Straßburg<br />

Paris<br />

Schweiz<br />

Zürich<br />

Basel,<br />

St. Gallen<br />

Italien<br />

Mailand<br />

Kroatien<br />

Slowenien<br />

Österreich<br />

Budapest<br />

Bulgarien<br />

Triest Zagreb<br />

Ljubljana<br />

Sofia<br />

* der vier größten Anbieter; ** Deutsche Bahn Quelle: Unternehmen<br />

Wien<br />

Salzburg,<br />

Innsbruck<br />

Schöpferische<br />

Kollateralschäden<br />

FERNBUSSE | Die Konkurrenz kostet die Deutsche Bahn Millionen<br />

und lässt nun auch deren Wettbewerber im Ausland erzittern.<br />

Andreas Meyer hat wohl nicht gedacht,<br />

dass ihn die deutsche Verkehrspolitik<br />

einmal einholt. Knapp<br />

zehn Jahre stand der gebürtige Baseler im<br />

Dienst der Deutschen Bahn, wo er die Bustochter<br />

DB Stadtverkehr leitete. 2007 wechselte<br />

er dann als Chef zu den Schweizer<br />

Bundesbahnen (SBB). Doch jetzt spürt<br />

Meyer unerwartet Gegenwind – aus seiner<br />

zeitweiligen Wahlheimat. Fernbusse von<br />

dort verbinden auf einmal Schweizer Städte<br />

mit süddeutschen Metropolen. „Ich beobachte<br />

diese Entwicklung und Dynamik<br />

im Fernbusbereich mit Sorge“, sagt Meyer.<br />

Der seit Anfang 2013 entfesselte Fernbusmarkt<br />

in Deutschland erreicht die<br />

Nachbarländer und deren staatliche Bahngesellschaften.<br />

Auch in Österreich, Polen,<br />

Frankreich und den Beneluxländern werden<br />

die Eisenbahnmanager nervös. Denn<br />

Fernbusse auf den internationalen Strecken<br />

sind nicht nur preiswerter als ICE,<br />

Thalys, TGV oder EC. Die Wettbewerber<br />

auf dem Asphalt sind vielfach auch bequemer<br />

und manchmal sogar schneller.<br />

Damit zeitigt die schöpferische Zerstörung<br />

im deutschen Verkehrsmarkt nun<br />

auch Kollateralschäden in Ländern, für die<br />

die Liberalisierung gar nicht gedacht war.<br />

„Die Internationalisierung steht erst am<br />

Anfang“, prophezeit Jochen Engert, Gründer<br />

und Chef der Münchner Fernbusfirma<br />

Flixbus. Die Bahngesellschaften im Ausland<br />

„können sich warm anziehen“.<br />

100 ZUSÄTZLICHE BUSSE<br />

Allein Flixbus plant bis Mitte 2015 zehn<br />

Mal mehr Verbindungen ins Ausland, als<br />

das Unternehmen aktuell im Angebot hat.<br />

Zurzeit fahren die Bayern Ziele wie Zürich,<br />

Wien und Groningen in den Niederlanden<br />

an. Bald kämen Fahrten nach Prag, Amsterdam,<br />

Paris, Brüssel und zusätzliche Strecken<br />

nach Skandinavien hinzu. „In den<br />

nächsten zwölf Monaten“, kündigt Engert<br />

an, „setzen wir mehr als 100 zusätzliche<br />

Busse ein, um deutsche Metropolen mit<br />

spannenden Zielen im Ausland zu verbinden.“<br />

Auch Marktführer MeinFernbus mit<br />

Sitz in Berlin, der schon heute ein Dutzend<br />

Städte in Polen, Österreich, der Schweiz,<br />

Frankreich und den Beneluxstaaten verbindet,<br />

plant weitere Auslandsverbindungen.<br />

ADAC Postbus prüft noch.<br />

SBB-Chef Meyer versucht nun, die Wettbewerber<br />

aus dem Norden mithilfe des Gesetzes<br />

von eidgenössischen Straßen fernzuhalten.<br />

Denn in der Schweiz gilt wie bis<br />

vor Kurzem in Deutschland, dass Fernbuslinien<br />

nicht in Konkurrenz zu Angeboten<br />

auf der Schiene treten dürfen. Trotzdem<br />

registrieren die SBB-Manager, dass die Anzahl<br />

der Anträge für grenzüberschreitenden<br />

Busfernverkehr „signifikant angestiegen“<br />

sei, „insbesondere durch deutsche<br />

Busunternehmen“. Die SBB habe daher die<br />

Schweizer Behörden auf das geltende<br />

Recht in der Alpenrepublik hingewiesen.<br />

Doch dabei will es die Schweizer Staatsbahn<br />

möglicherweise nicht belassen. „Angesichts<br />

der aktuell hohen Dynamik wird<br />

die SBB in den kommenden Monaten weitere<br />

Schritte prüfen.“ Juristische Klagen<br />

nicht ausgeschlossen.<br />

Bahnkonzerne in anderen Ländern nehmen<br />

den Angriff deutscher Fernbuslinien<br />

noch sportlich. Die Österreichischen Bundesbahnen<br />

(ÖBB) etwa setzen darauf, mit<br />

ihren Zügen ein attraktives Alternativangebot<br />

zu haben. „Nichtsdestotrotz“, heißt es<br />

58 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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aus Wien, „wo es Sinn macht, bieten wir<br />

selbst bereits Fernverkehrsbusse an“, etwa<br />

von Klagenfurt nach Venedig und Graz.<br />

Jetzt rächt sich im Eisenbahnverkehr,<br />

dass die staatlichen Anbieter ihren Verbindungen<br />

über die Grenze bisher nur wenig<br />

Beachtung schenkten: teils weil sie sich<br />

sorgten, den ausländischen Staatsbahnen<br />

die Tür auf den eigenen Markt zu öffnen,<br />

teils weil sie dazu keinen Anlass sahen. Die<br />

Folge ist ein eher dürftiges Angebot.<br />

OHNE UMSTIEG ÜBER DIE GRENZE<br />

In diese Lücke stößt die Straßenkonkurrenz.<br />

„Mit unseren Fernbussen können wir<br />

flexibel reagieren“, sagt Flixbus-Chef Engert.<br />

„Außerdem bieten wir oft umsteigefreie<br />

Verbindungen an, die die Bahnen<br />

nicht im Angebot haben.“ Zudem erlaubt<br />

EU-Recht, Strecken innerhalb der Länder<br />

anzubieten. „Solche innerausländischen<br />

Linien prüfen wir derzeit ebenfalls.“<br />

Welche Gefahr den Staatsbahnen dadurch<br />

droht, zeigt die Deutsche Bahn. Der<br />

Schienenriese verliert in diesem Jahr an die<br />

neue Konkurrenz auf der Straße wohl bis<br />

zu 50 Millionen Euro Gewinn, heißt es aus<br />

dem Konzern. Das Unternehmen habe<br />

50 Millionen Euro<br />

kostet die Fernbuskonkurrenz<br />

die Deutsche<br />

Bahn dieses Jahr<br />

„die Geschwindigkeit der Entwicklung unterschätzt“,<br />

sagt Personenverkehrsvorstand<br />

Ulrich Homburg.<br />

Um dem Schwund zu begegnen, beginnt<br />

die Bahn, die ihrerseits Fernbusse auf die<br />

Straße schickt, den Schienenfernverkehr<br />

neu auszurichten. Eine Antwort auf Flixbus<br />

und Co. könnte Interregio Express (IRE)<br />

heißen. Seit vier Monaten pendelt der Zug<br />

zwischen Berlin und Hamburg zu einem<br />

Festpreis von 20 Euro für die einfache Fahrt<br />

und hält unterwegs in Kleinstädten wie<br />

Stendal, Uelzen und Lüneburg. „Wir sind<br />

<strong>vom</strong> Erfolg überrascht“, sagt Joachim Trettin,<br />

Chef der Konzerntochter DB Regio<br />

Nordost, die den Betrieb organisiert. Im<br />

Schnitt sei der Zug mit 200 Passagieren zu<br />

fast 50 Prozent ausgelastet, am Wochenende<br />

müssten Reisende teilweise stehen. Die<br />

Bahn setzt nun ein zweiten Zug auf die<br />

Spur. Nicht ausgeschlossen, dass es solche<br />

Zugangebote bald deutschlandweit gibt.<br />

Wo es nicht anders geht, reduziert die<br />

Deutsche Bahn sogar die Ticketpreise.<br />

„13-Euro-Ticket“ heißt etwa ein neues Angebot<br />

der Regio-Tochter in Sachsen, um<br />

die Zielgruppe des „preisbewussten Gelegenheitsfahrers“<br />

zu erschließen, „die man<br />

nicht allein dem Fernbus überlassen<br />

möchte“. Preisreaktionen der deutschen<br />

Staatsbahn auf Wettbewerber hat es bisher<br />

noch nie gegeben.<br />

Das nächste Opfer der Fernbusse ist<br />

schon in Sicht: die Nachtzüge. Die Deutsche<br />

Bahn leidet notorisch unter deren<br />

hohen Kosten – und stellt einige Verbindungen<br />

ab Dezember ein. In die Lücken drängen<br />

die Fernbusanbieter vor. MeinFernbus<br />

hat bereits ein dichtes Nachtliniennetz gesponnen,<br />

mit Fahrten zwischen Berlin,<br />

Ruhrgebiet, Stuttgart und München. Außerdem<br />

geht es ins Ausland, etwa von Mailand<br />

nach Zürich – eine Verbindung, auf der der<br />

Bus sogar schneller ist als der Zug. n<br />

christian.schlesiger@wiwo.de | Berlin<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Öko, chic und preiswert<br />

ELEKTROAUTOS | Zittern bis zur Ladestelle, auf freier Spur durch die Rushhour, lautlos in sechs<br />

Sekunden auf Tempo 100 – mit dem Stromer unterwegs im Elektromobil-Paradies Norwegen.<br />

Viereinhalb Stunden Strecke liegen<br />

vor Kjersti Myro. Die 24-jährige<br />

Mutter zweier Kinder aus dem kleinen<br />

norwegischen Ort Ål, rund 200 Kilometer<br />

nördlich von Oslo, muss in die kleine<br />

Hafenstadt Porsgrunn im Süden des<br />

Landes. Ihr Mann hat dort eine neue Stelle<br />

als Lehrer gefunden und will die Familie<br />

bald nachkommen lassen. Deshalb<br />

möchte sie heute eine Wohnung in Porsgrunn<br />

besichtigen.<br />

Myro fährt nicht mit dem Zug und auch<br />

nicht mit einem normalen Auto. Myro fährt<br />

mit einem Elektroauto, einem Nissan Leaf.<br />

Und das ist nicht ganz so einfach. Denn<br />

Myro muss Dinge beachten, die bei einem<br />

Benziner oder Diesel zweitrangig sind. Das<br />

Wichtigste ist der Blick auf die Batterieanzeige,<br />

und zwar vor dem Start. Wer losfährt,<br />

ohne genau zu wissen, wie viel Saft der Akku<br />

noch gespeichert hat, braucht möglicherweise<br />

schnell einen Abschleppwagen.<br />

Myro ist ein wenig beunruhigt. 160 Kilometer<br />

weit, weiß sie, kommt sie im Sommer<br />

mit einer Akkuladung. Das Display ihres<br />

Nissan Leaf zeigt allerdings nur noch eine<br />

Reichweite von 80 Kilometern. Denn<br />

Myro musste am Morgen in die Nachbarstadt<br />

fahren und danach die Kinder <strong>vom</strong><br />

Kindergarten abholen.<br />

Jetzt heißt es rechnen und schätzen.<br />

Denn Strom lädt man nicht so einfach, wie<br />

man Benzin oder Diesel in den Tank kippt.<br />

Fürs Aufladen an der Steckdose zu Hause<br />

reicht die Zeit nicht mehr, denn das dauert<br />

Ökofamilie mit Ferrrarisound<br />

Wenn Elektroautos Fußgänger bald mit<br />

Geräuschen auf sich aufmerksam machen<br />

müssen, möchte Ole Jacob dem E-Mobil<br />

seiner Frau Kjersti Myro einen Sportwagensound<br />

verpassen<br />

viel länger als an einer der öffentlichen<br />

Schnellladestationen. Wo sich die nächste<br />

auf ihrer Strecke befindet, erfährt Myro<br />

<strong>vom</strong> ihrem Navi: im Örtchen Flå, 71 Kilometer<br />

von ihrer Wohnung entfernt.<br />

Die Stromtankstelle in Flå ist eine von 21<br />

Schnellladestationen, die das norwegische<br />

Unternehmen Grønn Kontakt, zu Deutsch:<br />

Grüner Kontakt, im Land der Fjorde betreibt.<br />

An ihnen können Besitzer ihr E-Auto<br />

dank einer höheren Stromstärke als an der<br />

heimischen Steckdose innerhalb von 45<br />

Minuten aufladen. Für zehn Ladungen<br />

zahlt Myro 500 Kronen, rund 60 Euro, für<br />

rechnerisch 1600 Kilometer, je nach Fahrzeug<br />

bis zu zwei Drittel weniger als bei einem<br />

herkömmlichen Benziner.<br />

Myro muss rechnen. 71 Kilometer Entfernung<br />

bei einer theoretischen Reichweite<br />

von 80 Kilometer, soll sie es wagen? Vorsichtshalber<br />

fährt sie langsamer als die gesetzlich<br />

erlaubten 80 Kilometer pro Stunde<br />

FOTOS: KIMM SAATVEDT<br />

60 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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über die Landstraße, bremst wenig, tritt<br />

vorsichtig aufs Pedal: „Beschleunigungsvorgänge<br />

ziehen ganz schön viel Strom.“<br />

Doch je länger Myro über den Asphalt<br />

schleicht, desto nervöser wird sie. Ein paar<br />

Kilometer vor Flå wird es ernst. Die Batterieanzeige<br />

piepst und meldet „nur noch<br />

wenig Batterieladung“. Reicht es noch bis<br />

zur nächsten Schnellladestation? Und vor<br />

allem, wird sie funktionieren? Auf einer<br />

früheren Fahrt gen Süden hatte Myro Pech:<br />

Die Station war defekt, und ihre Batterieladung<br />

reichte nicht mal für die Fahrt in den<br />

nächsten Ort. Da half nur noch der Anruf<br />

beim Abschleppdienst. „Zum Glück bietet<br />

Nissan den im ersten Jahr nach dem Kauf<br />

kostenlos an“, sagt Myro.<br />

Heute hat die Norwegerin Glück. Die<br />

Schnellladestation funktioniert und ist frei.<br />

Myro hält eine Plastikmünze mit Chip an<br />

die Anzeige, entnimmt das dicke Ladekabel<br />

und schließt ihren Nissan an. Der Rahmen,<br />

der die Steckdose in der Karosserie<br />

umgibt, blinkt Sekunden später blau auf.<br />

Das heißt, die Batterie zieht Strom.<br />

45 Minuten muss Myro nun warten.<br />

Würde sie die Batterie nur zu 80 Prozent<br />

laden, könnte sie in knapp 20 Minuten weiterfahren.<br />

Also geht sie zu einem Schnellimbiss<br />

und gönnt sich einen Burger mit<br />

Pommes. „Ich lege gerne ein paar Pausen<br />

auf langen Strecken ein“, sagt sie. Nach einer<br />

knappen Dreiviertelstunde ist die Batterie<br />

voll. Die Fahrt kann weitergehen.<br />

Die Verwaltungsangestellte ist eine von<br />

32 000 E-Autobesitzern im Land. Das<br />

Kennzeichen ihres silbernen Nissan Leaf<br />

beginnt, wie bei allen Stromern im Land,<br />

mit den Buchstaben „EL“ – für Elektroauto.<br />

E-HYPE AM FJORD<br />

Mit einem Verkauf von über 4600 Exemplaren<br />

stand der Nissan Leaf 2013 in der norwegischen<br />

Zulassungsstatistik ganz oben –<br />

nur der konventionell angetriebene VW<br />

Golf verkaufte sich noch besser. Auch in<br />

diesem Jahr zählen Elektromobile zu den<br />

Top-Sellern in Norwegen. Mit 12 449 Neuzulassungen<br />

liegt ihr Marktanteil bereits bei<br />

knapp 13 Prozent. Fast 40 Prozent davon<br />

entfallen auf den Volkswagen-Konzern.<br />

In Deutschland wurden 2013 etwas<br />

mehr als 6000 Elektroautos neu zugelassen<br />

– bei immerhin 2,95 Millionen Pkw-Neuzulassungen<br />

und 16-mal so viel Einwohnern<br />

wie in Norwegen. Vom ehrgeizigen Ziel, bis<br />

2020 rund eine Million Elektroautos auf<br />

deutsche Straßen zu bringen, beginnen<br />

sich immer mehr Automanager und Politiker<br />

innerlich zu verabschieden.<br />

In zehn Minuten 41 E-Mobile verkauft<br />

Die Nachfrage überraschte Autoverkäufer wie<br />

Kristin Stundal und Sindre Morstad<br />

In Norwegen hingegen herrscht ein<br />

E-Mobil-Hype. Im Westen von Oslo, direkt<br />

am Fjord, liegt eines der größten Autohäuser<br />

namens Møller Bil Asker og Bærum, einer<br />

von 67 Volkswagen-Händlern, die E-Autos<br />

verkaufen. Gefragt sind dort vor allem der<br />

Kleinwagen Up und sein großer Bruder Golf.<br />

Vor allem die Nachfrage nach dem<br />

e-Golf übertrifft alle Erwartungen. Als Ende<br />

Februar der Verkauf begann, gingen innerhalb<br />

der ersten zehn Minuten 41 Bestellungen<br />

ein. „So etwas haben wir in Norwegen<br />

noch nie erlebt“, erinnern sich Kristin<br />

Stundal und Sindre Morstad, Verkäufer bei<br />

Møller Bil Asker og Bærum. In gut 200 Minuten<br />

kamen insgesamt 1200 Bestellungen<br />

für den e-Golf zusammen.<br />

Grund für die große Nachfrage: Mit einem<br />

Basispreis von umgerechnet 29 933<br />

Euro kostet der e-Golf nur etwa 60 Euro<br />

mehr als das 85 PS starke Schwestermodell<br />

mit konventionellem Antrieb. Und weil für<br />

Elektroautos in Norwegen weder Mehrwert-<br />

noch Neuwagensteuer fällig werden,<br />

kommt der Käufer eines VW e-Golf unter<br />

dem Strich rund 12000 Euro billiger weg<br />

als bei der Bestellung eines Benziner-Golfs.<br />

Noch größer sind die Vorteile bei einer Mittelklasse-Limousine:<br />

Je größer das Auto,<br />

desto höher die steuerliche Belastung.<br />

Bei Møller Bil Asker og Bærum ist heute<br />

besonders viel Betrieb. Ein 45-jähriger<br />

Kunde nimmt für seine Gattin einen<br />

VW-e-Up in Empfang. Oslo ist für E-Auto-<br />

Besitzer ein Paradies. Seine Frau darf mit<br />

dem Strom-Auto künftig die Busspuren benutzen.<br />

Das spart ihr auf dem Weg zur Arbeit<br />

eine halbe Stunde Zeit, weil sie sich<br />

nicht in die Blechkolonnen einreihen muss,<br />

die sich aus den Vororten in die Innenstadt<br />

drängeln. Auch die City-Maut muss sie<br />

nicht zahlen – E-Autos sind von der Abgabe<br />

befreit. Außerdem kann sie im Zentrum auf<br />

einem der vielen „EL“-Parkplätze umsonst<br />

parken. Auch für den Ladestrom muss sie<br />

dort nichts zahlen. Der größte Platz mit 50<br />

Ladestationen und Parkplätzen befindet<br />

sich direkt im Zentrum an der Aker Brygge<br />

direkt am Oslo-Fjord.<br />

STROMER STATT SMOG<br />

In Norwegen erstreckt sich die Küste über<br />

25 000 Kilometer. Von Oslo im Süden bis<br />

nach Hammerfest nördlich des Polarkreises<br />

sind es knapp 2000 Kilometer – weiter<br />

als von Frankfurt nach Madrid. Viele Regionen<br />

sind extrem dünn besiedelt. Zudem<br />

verfügt das Land vor der Küste über riesige<br />

Ölvorkommen, die es den Norwegern ermöglichen<br />

würden, ihre Autos mit preiswert<br />

selbst produziertem Sprit zu betanken.<br />

Warum unterstützt so ein Land seine<br />

Bürger mit fünfstelligen Summen und Privilegien,<br />

damit sie ein E-Auto kaufen?<br />

Der Grund liegt in der Luft – nämlich der<br />

600 000-Einwohner-Stadt Oslo. Das Klima<br />

in der Hauptstadt ist durch den starken<br />

Verkehr und ihre Kessellage extrem belastet.<br />

Im Winter hängen oft tagelang Smog-<br />

Wolken über Oslo. Deshalb hat die Regierung<br />

beschlossen, bis 2020 die Kohlendioxid-Emissionen<br />

des Transportsektors um<br />

2,5 bis 4,0 Millionen Tonnen pro Jahr zu reduzieren.<br />

E-Autos sind ein wichtiger Baustein.<br />

Da Norwegen sauberen Strom mit<br />

Wind- und Wasserkraft günstig erzeugen<br />

kann, verschenkt die Regierung diesen an<br />

den öffentlichen Stromtankstellen – die allerdings<br />

keine Schnellladung anbieten.<br />

Durch die vielen Vergünstigungen hat es<br />

Norwegen inzwischen geschafft, zum Land<br />

mit der höchsten Zahl von Elektroautos<br />

pro Kopf aufzusteigen. Einer, der viel dazu<br />

beigetragen hat, ist Frederic Hauge, Chef<br />

der internationalen Umweltorganisation<br />

Bellona mit Sitz in Oslo – und Europas erster<br />

Elektroautofahrer.<br />

Der stets leger gekleidete Umweltaktivist<br />

ist eine Art Galionsfigur der E-Mobilität.<br />

1988 importierte der heute 49-Jährige das<br />

erste Elektroauto. Mit öffentlichkeitswirksamen<br />

Aktionen machte er immer wieder<br />

von sich und seinem Auto reden. „Wir ha-<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 61<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

»<br />

ben keine Maut bezahlt und bekamen<br />

Strafen, die wir nicht bezahlt haben. Daraufhin<br />

wurde unser Auto konfisziert und versteigert,<br />

aber keiner wollte es haben. Wir haben<br />

es dann zurückgekauft. Das war günstiger<br />

als die Strafe. Das Ganze ist etwa 15-mal<br />

passiert“, erzählt Hauge.<br />

Ein Vierteljahrhundert später ist das Elektroauto<br />

hier so üblich wie Lachs zum Mittagessen.<br />

Insbesondere die Marke Tesla des US-<br />

Multitalents Elon Musk hat viele von der<br />

Elektromobilität überzeugt.<br />

GRATIS TANKEN<br />

IT-Projektmanager Ering Henningstad aus<br />

Skedsmos etwa wohnt mit Tochter Hannah<br />

Emilie und Sohn Nils rund 23 Kilometer vor<br />

Oslo und hat vor einem Jahr den SUV <strong>vom</strong><br />

Typ BMW X3 gegen ein Model S von Tesla<br />

getauscht. „Ich habe ein Faible für schnelle<br />

Autos“, sagt Henningstad. Der Tesla schafft<br />

Tempo 200, beschleunigt in weniger als<br />

sechs Sekunden auf Tempo 100 – und<br />

kommt in der Version S 85 mit einer Akkuladung<br />

und bei zurückhaltender Fahrweise<br />

bis zu 500 Kilometer weit.<br />

In Deutschland kostet ein Tesla Model S<br />

85 rund 75000 Euro, einen BMW X5 mit Dieselmotor<br />

gibt es schon ab 52000 Euro. In<br />

Norwegen ist das fast umgekehrt:„Der Tesla<br />

hier ist günstig, ein BMW doppelt so teuer“,<br />

sagt Henningstad. Der Tesla Model S kostet<br />

hier umgerechnet 62200 Euro; für einen<br />

BMW X5 müssen Norweger fast 94 000 Euro<br />

hinblättern. Bei großen und schnellen Modellen<br />

verteuere die Steuer das Auto sehr,<br />

rechnet Henningstad vor. Außerdem habe er<br />

jeden Tag 15 Euro Maut gezahlt und jeden<br />

Monat 400 Euro Sprit.<br />

„Jetzt gibt es den Strom umsonst“, freut<br />

sich Henningstad. Denn der ist für Tesla-<br />

Schnellstromer statt SUV<br />

IT-Manager Ering Henningstad (rechts),<br />

Tochter Emilie und Sohn Nils (links mit<br />

Freundin Lene Marie Brynildsen) ersetzten<br />

den BMW X3 durch einen Tesla und fahren<br />

mit einer Akkuladung 300 Kilometer<br />

Fahrer während der Lebenszeit des Autos im<br />

Kaufpreis enthalten. „Vergangene Woche<br />

bin ich von Oslo nach Göteborg und zurück<br />

insgesamt 600 Kilometer gefahren“, sagt<br />

Henningstad. „Über Nacht habe ich mein<br />

Auto im Hotel geladen.“<br />

Bei so viel Begeisterung ist es kein Wunder,<br />

dass Norwegen die E-Infrastruktur massiv<br />

ausbaut. An mehr als 150 der insgesamt<br />

knapp 1500 Ladestationen können Fahrer<br />

von eUps, Nissan Leafs, Teslas oder auch der<br />

neuen i3-Modelle von BMW ihre Wagen in<br />

einer Stunde aufladen. 71 weitere Schnellladestationen<br />

wollen Unternehmen wie Fortum,<br />

Grønn Kontakt und Salto errichten.<br />

Das staatliche Unternehmen Transnova<br />

schießt pro Ladestation 30 Prozent der Kosten<br />

zu, wenn Elektroautos aller Marken an<br />

den Ladestationen geladen werden können.<br />

Mehr als sieben Millionen Euro Fördermittel<br />

stehen zum Ausbau der Ladeinfrastruktur<br />

zur Verfügung.<br />

Die Unternehmen im Land der Fjorde tun<br />

das Ihrige dazu. Eine Möbelkette plant, in allen<br />

ihren Parkhäusern Schnellladestationen<br />

zu bauen, einige McDonald’s-Filialen locken<br />

bereits mit diesem Service Kunden an.<br />

Konventionelle Ladestationen finden sich<br />

inzwischen auf den meisten Parkplätzen<br />

von Supermarktketten und großen Einkaufshäusern.<br />

Aber auch auf dem flachen<br />

Norwegen – Superstar der Elektromobilität<br />

Nirgends ist die Nachfrage nach E-Autos<br />

so groß wie im Land der Fjorde...<br />

Nachfragestärke<br />

(Index, Maximalwert 5 = größte Nachfrage)<br />

Norwegen USA Japan Portugal<br />

Großbrit. Dänemark Frankreich Italien<br />

China Niederlande Deutschland Südkorea<br />

...und obwohl es dort keine E-Autos aus<br />

heimischer Produktion gibt...<br />

Modellpalette inländischer Hersteller<br />

(Maximalwert 5 = Angebot in allen Fahrzeugklassen)<br />

0 1 2 3 4 5<br />

Deutschland<br />

Frankreich<br />

Japan<br />

USA<br />

China<br />

Italien<br />

Südkorea<br />

Niederlande<br />

Großbritannien<br />

.<br />

Norwegen<br />

Quelle: McKinsey Quelle: Enerdata, IEA, McKinsey Quelle: IHS, McKinsey<br />

0<br />

...rollen auf den Straßen mehr davon als<br />

in Deutschland<br />

Neuzulassungen<br />

(in Tausend, 1. Quartal 2009 bis 1. Quartal 2014)<br />

200<br />

195 USA<br />

180<br />

150<br />

90<br />

60<br />

30<br />

0<br />

2010<br />

84 Japan<br />

33 Frankreich<br />

33 Niederlande<br />

22 Norwegen<br />

2011 2012 2013<br />

19 Deutschland<br />

13 China<br />

14<br />

FOTO: KIMM SAATVEDT<br />

62 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Land wächst die Zahl der schnellen Ladestationen<br />

rasant.<br />

Doch nicht überall stoßen die Elektroautos<br />

auf uneingeschränkte Zustimmung.<br />

Denn je mehr von ihnen auf die Straße kommen,<br />

desto mehr Reibereien gibt es mit anderen<br />

Verkehrsteilnehmern.<br />

KAMPF UM DIE BUSSPUR<br />

Oslo, Hauptverkehrszeit, Hauptstraßen-<br />

Kampfzeit. Da die E-Autos die Busspuren<br />

benutzen dürfen, müssen sich die Busfahrer<br />

im chaotischen Berufsverkehr auch noch<br />

damit arrangieren. „Das Problem sind die<br />

östlichen Routen auf den zweispurigen<br />

Highways. Ich bin in der Rushhour immer zu<br />

spät“, klagt Busfahrer Ali Awad.<br />

Der Norweger fährt für das Busunternehmen<br />

Nobina die Route 31 aus den östlichen<br />

Vororten durch die City Richtung Westen.<br />

„Auf den Busspuren wird man manchmal<br />

auch von den schnelleren E-Autos angeblinkt“,<br />

sagt er. Nobina-Manager Jon Skaale<br />

beschwichtigt: „Eigentlich beschweren sich<br />

unsere Fahrer wenig.“<br />

Dennoch ist das Murren bei der Regierung<br />

angekommen. Deshalb überlegt diese<br />

bereits, das Privileg der E-Autos auf Busspuren<br />

zurückzunehmen. Allerdings geht Nobina-Manager<br />

Skaale davon aus, dass das<br />

noch dauern wird: „Die Regierung hat die<br />

Befreiung der Auto- und Mehrwertsteuer bis<br />

2017 garantiert, und sonstige Privilegien wie<br />

die Nutzung der Busspur werden höchstwahrscheinlich<br />

erst zu diesem Zeitpunkt<br />

nochmals bewertet.“<br />

Elektrofahrerin Myro kümmert das nicht.<br />

Sie hat den Feierabendverkehr im Großraum<br />

Oslo längst hinter sich gelassen. In<br />

Drammen, rund 20 Kilometer westlich von<br />

Oslo, lädt sie ihr Auto noch einmal 20 Minuten<br />

lang und fährt dann weiter in Richtung<br />

Porsgrunn zur Wohnungsbesichtigung. Ob<br />

es dort eine Garage gibt, in der sie ihr E-Auto<br />

laden kann, weiß sie noch nicht. Vorsichtshalber<br />

legt sie kurz vor dem Ziel noch einen<br />

kleinen Ladestopp ein. Dann genießt sie die<br />

leise Fahrt, kein Motor röhrt beim Beschleunigen,<br />

kein Brummen stört auf langen<br />

Strecken, nur ein Sirren und Surren und hier<br />

und da der Wind.<br />

Das könnte sich ändern. Die EU will, dass<br />

E-Autos künftig zum Schutz der Fußgänger<br />

Geräusche von sich geben. Zwar ist Norwegen<br />

kein EU-Land, würde als Mitglied des<br />

Europäischen Wirtschaftsraums die Regel<br />

wohl übernehmen. „Mein Mann Ole Jacob<br />

hätte dann gerne einen Ferrari-Sound“, sagt<br />

Myro, und ihr E-Mobil surrt leise weiter. n<br />

nele hansen | unternehmen@wiwo.de<br />

EVI<br />

Von wegen<br />

Norwegen<br />

Frankreich überholt Japan als<br />

drittgrößte E-Autonation. Norwegen<br />

überdenkt seine Subventionen.<br />

Norwegen ist das gelobte Land der Elektroautos.<br />

22 000 neue Stromer wurden<br />

hier seit 2009 zugelassen, in Deutschland<br />

sind nach der Statistik des Kraftfahrtbundesamtes<br />

aktuell rund 19 000 batterieelektrische<br />

Fahrzeug unterwegs. Schon<br />

jeder 20. Neuwagen im ersten Quartal<br />

2014 fährt in Norwegen elektrisch, in<br />

Deutschland liegt der Anteil noch bei unter<br />

einem Prozent. Doch für das Siegertreppchen<br />

im exklusiven Electro Vehicle<br />

Index EVI von WirtschaftsWoche und der<br />

Unternehmensberatung McKinsey reicht<br />

es für die Skandinavier lange nicht. Hier<br />

ist zwar die Nachfrage riesig – doch das<br />

Angebot an E-Fahrzeugen gleich null: Im<br />

Land der Fjorde gibt es seit der Pleite von<br />

Think Global im Jahr 2011 keinen einzigen<br />

Autobauer mehr. So reicht es im EVI,<br />

der Angebot und Nachfrage gleichermaßen<br />

erfasst, für Norwegen nur für Rang<br />

fünf (siehe Grafik).<br />

NICHT BEGEHRENSWERT<br />

Auf der Poleposition halten sich weiter<br />

die USA. Das zweite Quartal 2014 brachte<br />

mit 32 000 Neuzulassungen – dank<br />

der weiter starken Nachfrage nach Nissan<br />

Leaf und Tesla Model S sowie einem<br />

Absatz von rund 1000 BMW i3 – einen<br />

neuen Rekord. Auch in Deutschland zog<br />

der Verkauf mit 3600 neuen Stromern bis<br />

Juni merklich an – Zugmaschinen waren<br />

auch hier BMW i3 (1539 Zulassungen bis<br />

Ende Juli) und Tesla Model S (472 Neuzulassungen).<br />

Insgesamt bleibt die<br />

Nachfrage hierzulande aber weiterhin<br />

überschaubar. „Elektroautos werden sich<br />

erst dann durchsetzen, wenn die Menschen<br />

sie als begehrenswertes Premiumprodukt<br />

wahrnehmen“, erklärt Christian<br />

Malorny, Autoexperte bei McKinsey.<br />

Bundesverkehrsminister Sigmar Gabriel<br />

möchte die Deutschen neuerdings zusätzlich<br />

mit Gratisparkplätzen und freier<br />

Fahrt auf Busspuren zum Kauf eines Elektroautos<br />

verführen. Er hat die Rechnung<br />

allerdings ohne die Kommunen gemacht.<br />

Von Berlin bis München, keiner mag sich<br />

für Autos begeistern, die vergleichsweise<br />

teuer sind, einen stark eingeschränkten<br />

Aktionsradius besitzen und keinerlei finanzielle<br />

Förderung erfahren. So wird<br />

Deutschland seinen zweiten Rang im EVI<br />

allein dadurch behaupten, der weltweit<br />

größte Produzent von Elektroautos sein.<br />

Bis 2019 sollen 440 000 batterieelektrische<br />

Stromer von deutschen Bändern rollen:<br />

Dank e-Up und e-Golf kommt Volkswagen<br />

auf dem hoch subventionierten<br />

norwegischen Elektroautomarkt bereits<br />

auf einen Anteil von 49,3 Prozent.<br />

Aber wie lange noch werden die europäischen<br />

Nachbarn den Absatz deutscher<br />

E-Autos mit ihren Staatsgelder ankurbeln?<br />

„Wir geraten in die Situation,<br />

dass der französische Staat indirekt die<br />

Frankreich holt auf<br />

Electric Vehicle Index* (in Prozent)<br />

60<br />

55<br />

50<br />

45<br />

40<br />

35<br />

30<br />

25<br />

20<br />

15<br />

2011 2012 2013 2014<br />

USA<br />

Deutschland<br />

Frankreich<br />

Japan<br />

Norwegen<br />

Italien<br />

China<br />

Niederlande<br />

Südkorea<br />

Großbritannien<br />

* der Electric Vehicle Index (EVI) gibt an, zu wie viel Prozent<br />

ein Land die Elektromobilität erreicht, die Experten<br />

für 2020 voraussagen. Der Index misst die Nachfrage<br />

und die Produktion von Elektroautos. Erfasst werden rein<br />

batteriebetriebene Elektroautos und Elektroautos mit zusätzlichem<br />

Verbrennungsmotor (Plug-in-Hybride, Range<br />

Extender); Quelle: McKinsey, IHS Automotive<br />

deutsche Autoindustrie subventioniert“,<br />

so Malorny. Bisher dominiert der Renault<br />

Zoe auf den Straßen zwischen Lille und<br />

Marseille. Renault hat die Produktion der<br />

Batterie-Flitzer so angekurbelt, dass<br />

Frankreich inzwischen Japan den Titel als<br />

drittgrößte E-Auto-Nation abgeluchst hat.<br />

Norwegen will derweil die Förderung ab<br />

der 50 000. Neuzulassung kappen. Das<br />

könnte schon Anfang 2015 greifen. Ob<br />

dann niederländische Verhältnisse einkehren?<br />

Dort brachen nach dem Ende der<br />

Steuervergünstigungen zum Jahreswechsel<br />

die Zulassungen ein.<br />

rebecca.eisert@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 63<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Posse der Geschichte<br />

TAXIMARKT | Daimler schluckt MyTaxi, der US-Fahrdienst UberPop wird einstweilig verboten –<br />

wie geht es jetzt weiter in der umkämpften Branche?<br />

Die vergangene Woche war turbulent<br />

wie selten im deutschen Taxigewerbe:<br />

Erst verbot das Landgericht<br />

Frankfurt in einer einstweiligen Verfügung<br />

auf Antrag von Taxi Deutschland – ein Zusammenschluss<br />

hiesiger Taxizentralen –<br />

den Fahrdienst Uber bundesweit. Laut Gericht<br />

verstößt die App UberPop zur Vermittlung<br />

von Fahrgästen an private Fahrer<br />

gegen das Personenbeförderungsgesetz,<br />

da die von Uber vermittelten Fahrer keinen<br />

Personenbeförderungsschein besäßen.<br />

Tags darauf sorgte Autoriese Daimler für<br />

einen Paukenschlag: Die Tochter Moovel<br />

schluckt den populären Buchungsdienst<br />

MyTaxi komplett. Zuvor hielt Daimler rund<br />

20 Prozent. Mit MyTaxi können Fahrgäste<br />

ein Taxi per Smartphone direkt beim Fahrer<br />

ordern statt über die Zentrale.<br />

Die WirtschaftsWoche beantwortet die<br />

wichtigsten Fragen zu den Umwälzungen<br />

im bisher stark regulierten Taxigewerbe.<br />

Welche Folgen hat Daimlers<br />

Übernahme von MyTaxi?<br />

Daimler will „im Schulterschluss mit dem<br />

Taxigewerbe“ die Internationalisierung des<br />

Dienstes vorantreiben: „Wir glauben, dass<br />

es einen großen Bedarf an einem sicheren<br />

wie hochqualitativen Personentransport<br />

gibt“, sagt Marcus Spickermann, Geschäftsführer<br />

der Daimler-Tochter Moovel. MyTaxi<br />

solle in Moovel integriert werden, erläutert<br />

Spickermann, dabei aber die Gesetze<br />

einhalten – ein Seitenhieb auf den umstrittenen<br />

Fahrdienst Uber: „Ein regulierter<br />

Markt hat durchaus seine Stärken.“<br />

Mit zehn Millionen Downloads der App<br />

und 35 000 Fahrern in Deutschland, Österreich,<br />

der Schweiz, Spanien, Polen und den<br />

USA sieht sich MyTaxi derzeit als Marktführer.<br />

Reisende kommen mithilfe der App<br />

binnen zwei Minuten an ein Taxi, Taxifahrer<br />

schneller an neue Kunden. Sie zahlen<br />

dafür eine Provision zwischen 3 und 15<br />

Prozent. Die Höhe kann der Fahrer selbst<br />

bestimmen: Je höher die Provision, desto<br />

schneller kommt der nächste Auftrag rein.<br />

MyTaxi hatte ursprünglich vor, Taxizentralen<br />

überflüssig zu machen. Inzwischen<br />

versteht man sich eher als Dienstleister:<br />

„Wir wollen die Zentralen mit unserem<br />

Dienst eher stärken als schwächen“, sagt<br />

Moovel-Geschäftsführer Spickermann. So<br />

ist daran gedacht, den Gesellschaften Daten<br />

über Nutzerverhalten und Fahrzeiten<br />

zur Verfügung zu stellen, die die Auslastung<br />

der Fahrzeuge verbessern und die<br />

Planung der Einsätze erleichtern könnten.<br />

Was ist Daimlers Ziel?<br />

Die Plattform Moovel verfolgt das Ziel, Mobilitätsangebote<br />

intelligent miteinander zu<br />

vernetzen – Taxen, Leihwagen, auch Busse,<br />

Bahnen und private Mitfahrgelegenheiten.<br />

Moovel soll langfristig eine Art „Amazon<br />

der Mobilität“ werden, wie Chef Spickermann<br />

sagt. Das Carsharing-System Car2go<br />

sei ebenso ein Baustein wie das Pilotprojekt<br />

Park2gether, das Parkplatzbesitzer und<br />

-suchende per Online-Börse zusammenbringt,<br />

sowie jetzt MyTaxi. Über Moovel gewinnt<br />

Daimler eine Unmenge von Informationen.<br />

Die können etwa die Entwicklung<br />

von Elektroautos oder die Auslastung<br />

von Taxiflotten oder Parkhäusern optimieren.<br />

Zudem ist das Taxigewerbe einer der<br />

wichtigsten Märkte für Mercedes-Pkw.<br />

Bleibt UberPop verboten?<br />

Anwalt Herwig Kollar, der für Taxi<br />

Deutschland die einstweilige Verfügung<br />

gegen Uber erwirkt hat, ist zuversichtlich,<br />

dass diese <strong>vom</strong> Gericht bestätigt wird. Uber<br />

hatte am 20. August mit einer 200 Seiten<br />

starken Schutzschrift seine Argumente<br />

präsentiert. Dennoch untersagten die<br />

Richter mit sofortiger Wirkung und ohne<br />

mündliche Verhandlung die Anwendung<br />

der App UberPop. Uber droht nun für jede<br />

Fahrt eine Strafe von bis zu 250 000 Euro.<br />

„Das Urteil muss Bestand haben“, sagt<br />

auch der Münchner Anwalt Michael Bauer.<br />

Er hält die Regulierung zum Schutz der<br />

Fahrgäste für sinnvoll: „Die Behörden sorgen<br />

dafür, dass keine völlig gestörten Existenzen<br />

auf die Fahrgäste losgelassen werden.“<br />

So werden für den für maximal fünf<br />

Jahre ausgestellten Personenbeförderungsschein<br />

Seh-, Hör- und Urintests verlangt.<br />

Bei der Verlängerung fahndet die zuständige<br />

Behörde zudem im Bundeszentralregister<br />

nach Auffälligkeiten etwa beim<br />

Alkohol- und Drogenkonsum sowie aggressivem<br />

Verhalten. Wird sie fündig, muss<br />

der Fahrer zur medizinisch-psychologischen<br />

Untersuchung. Wer zu viele Punkte<br />

in Flensburg hat, bekommt den Schein<br />

nicht für fünf, sondern nur für ein oder<br />

zwei Jahre verlängert. „Das alles ist bei<br />

Uber-Fahrern nicht der Fall“, sagt Bauer.<br />

Wie argumentiert Uber?<br />

Das Uber-Management stilisiert sich als<br />

David im Kampf gegen Goliath. „Die Wahlmöglichkeiten<br />

der Bevölkerung einzuschränken<br />

war noch nie eine gute Idee.<br />

Genau darauf zielte aber die einstweilige<br />

FOTO: IMAGO/CHRISTIAN MANG<br />

64 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Verfügung ab“, sagt Fabien Nestmann,<br />

Sprecher von Uber in Deutschland. „Innovation<br />

und Wettbewerb ist gut für alle. Es ist<br />

ein Gewinn für Fahrer und Mitfahrer. Fortschritt<br />

lässt sich nicht ausbremsen.“<br />

Uber betreibt seinen Dienst UberPop<br />

bisher trotz des Verbots einfach weiter.<br />

„Das Landgericht hat die einstweilige Verfügung<br />

zu Unrecht erlassen“, sagt Nestmann.<br />

„Uber wird, falls erforderlich, alle<br />

Rechtsmittel ausschöpfen.“ Die finanzielle<br />

Power dazu haben die Amerikaner dank einer<br />

Kapitalausstattung von rund 1,2 Milliarden<br />

Dollar.<br />

Wie wird das Uber-Verbot<br />

kontrolliert und sanktioniert?<br />

Da es sich bei dem Verfahren zwischen Taxi<br />

Deutschland und Uber um ein Parteiverfahren<br />

im Zivilrecht handelt, verfolgt das<br />

Landgericht Frankfurt die Einhaltung des<br />

Urteils nicht selbst. „Wir sind nicht die<br />

Staatsanwaltschaft“, sagt Gerichtssprecher<br />

Arne Hasse. Bei Verstößen müsste Taxi<br />

Deutschland einen Ordnungsmittelantrag<br />

stellen, dann würde das Gericht aktiv. Die<br />

Höhe des Ordnungsgelds richte sich nach<br />

den Umständen des konkreten Falls wie etwa<br />

der Zahl der Verstöße oder ob es ein<br />

Erstverstoß sei. Bisher sei aber noch kein<br />

entsprechender Antrag eingegangen.<br />

Sind Fahrten mit Uber nun<br />

nicht mehr versichert?<br />

Uber beteuert, dass nicht nur Fahrer, sondern<br />

auch Fahrgäste immer voll versichert<br />

seien. Bei UberPop greife in einem Schadensfall<br />

zusätzlich zur Kfz-Haftpflicht des<br />

Fahrers eine Zusatzversicherung von Uber<br />

Streng reguliert<br />

Aggressive Start-ups<br />

wollen das bisher stark<br />

abgeschottete Taxigewerbe<br />

aufmischen<br />

mit einer Haftung von bis zu 3,7 Millionen<br />

Euro pro Schadensfall. „Diese deckt nicht<br />

nur den Fahrgast und Dritte voll ab, sondern<br />

greift auch, falls der Versicherungsschutz<br />

des Fahrers nicht ausreichen sollte“,<br />

sagt Sprecher Nestmann. Diese Police werde<br />

von einer international tätigen Versicherungsgesellschaft<br />

gedeckt.<br />

Ob das Frankfurter Urteil den Versicherungsschutz<br />

beschneidet, wollte Uber<br />

nicht kommentieren. So oder so gilt: Fahrgäste<br />

von Uber sind versichert. „Ein Ge-<br />

schädigter hat immer einen Anspruch gegen<br />

die gesetzlich vorgeschriebene Kfz-<br />

Haftpflichtversicherung“, sagt Fabian<br />

Herdter, Experte für Versicherungsrecht<br />

bei der Düsseldorfer Kanzlei Wilhelm.<br />

Ein Uber-Fahrer ist allerdings in einer<br />

heiklen Position: „Der Haftpflichtversicherer<br />

könnte mit Hinweis auf eine gewerbliche<br />

Nutzung des Fahrzeugs versuchen, einen<br />

Schaden <strong>vom</strong> Fahrer erstatten zu lassen“,<br />

so Herdter. „Dann soll die Versicherung<br />

von Uber greifen.“ Ungeklärt sei aber,<br />

ob diese auch Vollkaskoschäden abdecke.<br />

Gibt es weitere Konkurrenten?<br />

Neben der verbotenen App UberPop betreiben<br />

die Amerikaner einen Limousinen-<br />

Service namens UberBlack. Der ist von<br />

dem Urteil nicht betroffen, denn die Fahrer<br />

sind professionelle Limousinen-Chauffeure<br />

mit Personenbeförderungsschein.<br />

Seit Anfang 2013 mischt auch Autovermieter<br />

Sixt mit dem Chauffeurdienst My-<br />

Driver den Markt auf. Auch MyDriver bekam<br />

Gegenwind von den Taxizentralen.<br />

Weil MyDriver auf angestellte Fahrer mit<br />

Personenbeförderungsschein und eigene<br />

Fahrzeuge zurückgreift, liefen die rechtlichen<br />

Vorstöße bisher aber meist ins Leere.<br />

Was plant die Politik?<br />

In Berlin sieht man aktuell keinen Anlass für<br />

eine Gesetzesänderung: „Durch die Genehmigungspraxis<br />

nach Personenbeförderungsgesetz<br />

werden Sicherheit und Qualität<br />

der Personenbeförderung gewährleistet“,<br />

heißt es aus dem Bundesverkehrsministerium<br />

auf Anfrage. „Derzeit sind keine Änderungen<br />

der Vorschriften vorgesehen.“ Hinter<br />

vorgehaltener Hand räumt man freilich<br />

auch dort ein, dass man sich „langfristig des<br />

Themas annehmen“ müsse.<br />

Wie wird der Taximarkt der<br />

Zukunft aussehen?<br />

Mittelfristig dürfte der Druck auf die Politik<br />

deutlich steigen, die Vorschriften zu lockern.<br />

„Viele der Regulierungsbestandteile<br />

haben im digitalen Zeitalter keine volkswirtschaftliche<br />

Rechtfertigung mehr“, sagt<br />

Klemens Skibicki, Professor an der Cologne<br />

Business School in Köln und Experte<br />

für digitalen Strukturwandel. „Man wird<br />

die heutige Regulierung in einigen Jahren<br />

als Posse der Geschichte belächeln.“ n<br />

michael.kroker@wiwo.de, thomas glöckner,<br />

franz rother, christian schlesiger | Berlin<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 65<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

»Lebenslang<br />

überschuldet«<br />

INTERVIEW | Arundhati Bhattacharya Die Chefin von Indiens größter<br />

Bank will Kleinunternehmer von Kredithaien erlösen und sieht<br />

deutsche Mittelständler als Helfer für eine modernere Industrie.<br />

Frau Bhattacharya, Sie leiten Indiens<br />

größte Bank, andererseits grassiert im<br />

Land Gewalt gegen Frauen und Mädchen.<br />

Muss der Staat die Gleichberechtigung<br />

fördern und Frauen besser schützen?<br />

Wir müssen die Wurzel dieses Übels bekämpfen.<br />

Sie liegt im rasanten Zuzug der<br />

Landbevölkerung in die Städte, wobei viele<br />

auf der Strecke bleiben und in die Kriminalität<br />

rutschen. So entsteht ein großes Problem<br />

für die öffentliche Sicherheit, das sich<br />

nicht nur mit mehr Polizei lösen lässt. Die<br />

Regierung muss dafür sorgen, dass die<br />

ländlichen Zuwanderer produktive<br />

Mitglieder der Gesellschaft<br />

werden und insbesondere<br />

Jugendliche ihre hohen<br />

Erwartungen an das Leben<br />

besser erfüllen können.<br />

Was tut Ihre Bank, um<br />

Frauen zu fördern?<br />

Unsere Mitarbeiter erhalten<br />

zwei Jahre unbezahlte Freistellung<br />

für die Erziehung<br />

von Kindern und die Pflege<br />

DIE KOSMOPOLITIN<br />

Bhattacharya, 58, stammt<br />

aus der Wirtschaftsmetropole<br />

Kalkutta und ist seit<br />

2013 Chefin der staatlichen<br />

State Bank of India.<br />

Sie hat das internationale<br />

Geschäft bei Indiens<br />

größtem Kreditinstitut<br />

ausgebaut und eine bis<br />

zu zweijährige Auszeit für<br />

Mütter eingeführt.<br />

von Familienangehörigen.<br />

Das gilt auch für alleinstehende<br />

Männer. In indischen Familien sind<br />

Mütter hauptverantwortlich für Erziehung,<br />

Haushalt und Pflege älterer Angehöriger,<br />

das wird sich so schnell nicht ändern. Zudem<br />

stehen sie nach der Grundschulzeit<br />

der Kinder unter Druck, eine gute Oberschule<br />

zu organisieren, da das indische Bildungssystem<br />

stark von Wettbewerb geprägt<br />

ist. Für diese Aufgaben brauchen<br />

Frauen Zeit, die der Arbeitgeber ihnen gewähren<br />

sollte.<br />

Auf der neuen indischen Regierung unter<br />

Narendra Modi lasten hohe Erwartungen<br />

für Wachstum und Reformen. Kann der<br />

Premierminister diese erfüllen?<br />

Er wird es schaffen. Die Öffentlichkeit will<br />

schnelle Ergebnisse, aber wir dürfen keinen<br />

großen Knall erwarten, sondern viele<br />

kleine Schritte. In Indien nehmen die 29<br />

Einzelstaaten starken Einfluss auf die Politik,<br />

sodass die Zentralregierung viele Kompromisse<br />

eingehen muss. Die neue Regierung<br />

ist für fünf Jahre gewählt, und so lange<br />

sollten wir ihr auch Zeit geben.<br />

Funktioniert die Demokratie im<br />

zersplitterten Indien überhaupt?<br />

Ja. Die jüngsten Wahlen haben gezeigt,<br />

dass die Bevölkerung gut informiert ist und<br />

ihre Wahlentscheidung an den Erfordernissen<br />

des gesamten Landes ausrichtet<br />

statt nur an regionalen Interessen. So haben<br />

ländliche sowie städtische Wähler für<br />

die gleiche politische Richtung votiert.<br />

Was sind nun die aus<br />

Ihrer Sicht dringendsten<br />

Maßnahmen?<br />

Damit die großen Infrastrukturprojekte<br />

endlich ins<br />

Laufen kommen, brauchen<br />

die beteiligten Unternehmen<br />

zur Anschubfinanzierung<br />

genug Eigenkapital,<br />

um alles Weitere dann mit<br />

Krediten zu finanzieren.<br />

Entscheidend ist zudem,<br />

dass die Menschen für die<br />

Nutzung von neuen Straßen,<br />

Energie und Kommunikationsdiensten<br />

bezahlen, damit die Unternehmen<br />

ihre Kredite zurückzahlen können. So<br />

brauchen wir nicht nur funktionierende<br />

Mautstellen und Stromnetze, sondern<br />

zum Beispiel auch ein verlässliches Tarifsystem,<br />

um die Energieerzeuger zu entlohnen.<br />

Oft wird Strom illegal abgezapft,<br />

ohne zu zahlen.<br />

Welche Rolle spielen Banken bei der<br />

Förderung von Infrastrukturprojekten?<br />

Kredite von Geschäftsbanken spielen eine<br />

große Rolle, aber der Markt für Unternehmensanleihen<br />

ist in Indien unterentwickelt.<br />

Damit sich das ändert, brauchen wir<br />

ein besseres Gesetz für Insolvenzen, sodass<br />

Anleihegläubiger dabei nicht leer ausgehen.<br />

Zudem spielen Pensions- und Versicherungsfonds<br />

als Investoren eine zu geringe<br />

Rolle, obwohl Inder wegen der fehlenden<br />

staatlichen Absicherung dort viel<br />

Geld anlegen. Aber die Fonds kaufen wegen<br />

zu strenger Regulierung kaum langfristige<br />

Unternehmensanleihen.<br />

Ein Problem bei Infrastrukturprojekten ist<br />

aber auch die grassierende Korruption.<br />

Dieses Problem gibt es, aber es wird in den<br />

Medien oft stark übertrieben. Wenn die Regierung<br />

und die Einzelstaaten dafür sorgen,<br />

dass sich alle an die Regeln halten,<br />

können wir der Korruption Herr werden.<br />

Die indischen Aktienmärkte haben sich<br />

rasant entwickelt, sehen Sie eine Blase?<br />

Nein, ich sehe das eher als eine Erholung<br />

<strong>vom</strong> Abschwung. Dieser wurde ausgelöst<br />

durch die Probleme der Weltwirtschaft<br />

nach der Finanzkrise, aber auch durch<br />

Fehler der indischen Wirtschaftspolitik –<br />

etwa bei der Förderung von öffentlichprivaten<br />

Partnerschaften für den Ausbau<br />

der Infrastruktur oder einer zu schnellen<br />

Privatisierung von natürlichen Ressourcen.<br />

So wurden Telekommunikationslizenzen<br />

oder Abbaurechte für Rohstoffe zu billig<br />

verkauft. Und Banken haben zu viele Kredite<br />

vergeben für große Projekte, die nicht abgeschlossen<br />

wurden. Ich bezeichne das als<br />

Indiens Wachstumsschmerzen. Aus diesen<br />

Fehlern hat die Politik aber gelernt.<br />

Wie sind die Aussichten für das weitere<br />

Wirtschaftswachstum in Indien?<br />

Gut, denn die demografische Entwicklung<br />

arbeitet für unsere Volkswirtschaft. Die Experten<br />

unserer Bank erwarten für 2014<br />

mehr als fünf Prozent Wachstum. Jedes<br />

Jahr strömen zehn bis zwölf Millionen junge<br />

Leute auf den Arbeitsmarkt – alles potenzielle<br />

Konsumenten. Auch die Telekommunikationsbranche<br />

erholt sich dank<br />

neu und besser verteilter Funklizenzen.<br />

Viele Inder leben allerdings noch in<br />

Armut. Die Regierung will helfen, etwa mit<br />

Bankkonten für alle. Funktioniert das?<br />

Ja, denn wer keinen Zugang zu Bankdiensten<br />

hat, muss sich in Indien bei Kredithaien<br />

auf dem Schwarzmarkt Geld leihen und<br />

ist danach meist lebenslang überschuldet.<br />

Für die Banken ist das Projekt der Regierung<br />

eine große Chance, neue Kundengruppen<br />

zu erschließen. Allerdings muss<br />

dafür gesorgt werden, dass dann auch<br />

staatliche Transfers direkt auf diesen Konten<br />

landen. Zu oft versickern solche Zahlungen<br />

noch auf dem Weg zum Empfänger<br />

in der Bürokratie. Wir haben eine Technik<br />

entwickelt, bei der sich Kunden mit einem<br />

elektronischen Fingerabdruck bei der<br />

Bank registrieren und sofort vor Ort ein<br />

Konto eröffnen können. Ihre Bankkarte<br />

können sie gleich mitnehmen.<br />

FOTO: CHRISTOF MATTES FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

66 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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»Die großen<br />

Infrastrukturprojekte<br />

müssen<br />

ins Laufen<br />

kommen«<br />

Müssen Sie dafür neue und teure Filialen<br />

auf dem Land aufbauen?<br />

Nein, die Technik funktioniert unabhängig<br />

von Filialen, für den Datentransfer reicht<br />

eine Mobilfunkverbindung. Dabei kooperieren<br />

wir mit Supermärkten oder Einkaufszentren<br />

und eröffnen Camps in besonders<br />

strukturschwachen Gegenden, wo<br />

wir potenzielle Kunden über die Vorteile<br />

eines neuen Kontos informieren.<br />

Das Beispiel zeigt, wie stark Digitaltechnik<br />

die Banken verändert. Wie reagieren<br />

Sie im computeraffinen Indien darauf?<br />

Die State Bank of India hat sieben Pilotfilialen<br />

eröffnet, die nicht mit klassischen<br />

Schaltern, sondern Rechnern und Bildschirmen<br />

ausgestattet sind. Kunden können<br />

sich dort multimedial zum Beispiel<br />

über Autokredite informieren oder sogar<br />

ein Konto eröffnen. Dort steht auch eine digitale<br />

Finanzplanung zur Verfügung, die<br />

den Leuten ausrechnet, wie viel sie wann<br />

sparen müssen, wenn sie sich für den Ruhestand<br />

absichern oder den Nachwuchs<br />

auf die Schule schicken wollen.<br />

Braucht Indien bei seinem wirtschaftlichen<br />

Aufholprozess Investitionen aus<br />

Europa und Deutschland?<br />

Wir brauchen alle Investitionen, die wir<br />

kriegen können. Vor allem kleinen und<br />

mittelständischen Unternehmen fehlt Kapital<br />

für Forschung und Entwicklung. Ihnen<br />

kann die Kooperation mit deutschen<br />

Mittelständlern helfen. Deutsche Unternehmen<br />

sind auch wegen ihrer industriellen<br />

Stärke gern in Indien gesehen. Für sie<br />

wiederum ist der große indische Markt attraktiv.<br />

Unsere Wirtschaft ist bisher immer<br />

noch sehr stark auf Dienstleistungen und<br />

deren Export konzentriert, etwa mit Software<br />

oder internationalen Callcentern.<br />

Indiens mühsame Aufholjagd<br />

Pro-Kopf-Einkommen (in Dollar)<br />

1412<br />

2010<br />

Wirtschaftswachstum (in Prozent)<br />

10,3<br />

Einwohner (in Milliarden)<br />

1,21<br />

1487<br />

1537<br />

1595<br />

2010 2011 2012 2013<br />

1661<br />

* Prognose; Quelle: IHS, Weltbank, eigene Berechnung<br />

1745<br />

2011 2012 2013 2014* 2015*<br />

6,6<br />

1,22 1,24<br />

4,7 5,0<br />

1,25<br />

5,4<br />

1,27<br />

6,3<br />

2010 2011 2012 2013 2014* 2015*<br />

1,28<br />

2014* 2015*<br />

In Europa unterzieht die Zentralbank die<br />

Branche gerade einem großen Stresstest.<br />

Warten Sie das Ergebnis ab, um über<br />

die Zusammenarbeit mit europäischen<br />

Banken zu entscheiden?<br />

Wir machen natürlich bereits Geschäfte<br />

mit europäischen Banken. Wie stark dieses<br />

Geschäft wächst, hängt nicht nur <strong>vom</strong><br />

Stresstest ab, sondern auch von den strenger<br />

werdenden Regulierungsauflagen in<br />

Indien. Wir brauchen einen großen Teil<br />

unseres Kapitals für den Heimatmarkt.<br />

Wird die Europäische Zentralbank<br />

als neuer Finanzaufseher das weltweite<br />

Finanzsystem sicherer machen?<br />

Ich hoffe es, aber wir müssen abwarten.<br />

Derzeit können uns auch die europäischen<br />

Banken, mit denen wir Geschäfte machen,<br />

nicht sagen, ob Indien von der neuen Aufsicht<br />

als sicheres Land aufgefasst wird. Ich<br />

habe auch die Hoffnung, dass die internationalen<br />

Finanzaufseher und die Ratingagenturen<br />

berücksichtigen, dass Indien<br />

den tiefsten Punkt seines Wirtschaftszyklus<br />

hinter sich gelassen hat.<br />

Welche Rolle wird Indien in fünf Jahren<br />

für die Weltwirtschaft spielen?<br />

Wir werden ein ganz anderes Indien sehen.<br />

Die Grundlagen für mehr weltwirtschaftlichen<br />

Einfluss sind da, diese Stärken müssen<br />

wir aber richtig einsetzen.<br />

n<br />

mark.fehr@wiwo.de | Frankfurt,<br />

florian.willershausen@wiwo.de | Berlin<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 67<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Später Ritterschlag<br />

DRILLISCH | Der kleine Discount-Anbieter steigt zum vierten Mobilfunkbetreiber in Deutschland auf.<br />

Wie haben die beiden Gründer das geschafft?<br />

Die Brüder Paschalis und Vlasios<br />

Choulidis schauen manchmal etwas<br />

neidisch auf die glanzvollen Karrieren<br />

einiger Weggefährten. Vor mehr als 20<br />

Jahren, in der Gründerphase des Mobilfunks,<br />

gehörten auch Kai-Uwe Ricke und<br />

René Obermann dem Club der Chefs kleiner<br />

Telefonfirmen an, die ihr erstes Geld<br />

mit dem Verkauf von Handys und Mobilfunkverträgen<br />

verdienten. Für Ricke und<br />

Obermann war das aber nur eine Durchgangsstation<br />

auf dem Weg nach ganz oben.<br />

Die beiden wechselten zur Telekom,<br />

machten gemeinsam Riesensprünge auf<br />

der Karriereleiter und schafften nacheinander<br />

innerhalb weniger Jahre den<br />

Sprung an die Spitze des Magenta-Riesen.<br />

Die Choulidis-Brüder, wie sie in der<br />

Branche gerne genannt werden, blieben<br />

dagegen, was sie immer waren: Vorstände<br />

und Gesellschafter des wenig bekannten<br />

Mobilfunkhändlers Drillisch – einem winzigen<br />

Discounter, dem nie der große<br />

Durchbruch gelang. Im Haifischbecken<br />

der Mobilfunker ist Drillisch nur ein kleiner<br />

Fisch: Mit 356 Mitarbeitern und rund<br />

290 Millionen Euro Umsatz kommt das Unternehmen<br />

lediglich auf einen Marktanteil<br />

von 1,2 Prozent (siehe Grafik Seite 69).<br />

STICHELEIEN DER KONKURRENZ<br />

Ehemalige Weggefährten senkten deshalb<br />

bis vor Kurzem etwas hochnäsig den Daumen.<br />

Das Unternehmen sei „viel zu klein<br />

und unbedeutend“, setze auf das „falsche<br />

Geschäftsmodell“, besitze „nicht den<br />

Hauch einer Überlebenschance“ und werde<br />

deshalb „ganz schnell wieder <strong>vom</strong><br />

Markt verschwinden“.<br />

An diese Sticheleien hatten sich Vorstandssprecher<br />

Paschalis und sein für Marketing<br />

und Vertrieb verantwortlicher Bruder<br />

Vlasios Choulidis fast schon gewöhnt:<br />

„Wir sind die ewig Totgesagten“, frotzeln sie<br />

heute und fügen hinzu: „Und die leben bekanntlich<br />

länger.“<br />

Noch vor wenigen Monaten hätte sich<br />

keiner der beiden getraut, mit solch kecken<br />

Unterschätzte Brüder Die Drillisch-Vorstände<br />

Paschalis und Vlasios Choulidis (links) sollen<br />

Preissteigerungen im Mobilfunk verhindern<br />

FOTO: ANGELIKA ZINZOW FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

68 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Sprüchen die Konkurrenz zu provozieren.<br />

Bei der Suche nach den besten Einkaufskonditionen<br />

waren die Choulidis-Brüder<br />

auch <strong>vom</strong> Wohlwollen der Netzbetreiber<br />

abhängig. Da hält man sich lieber zurück.<br />

Jetzt aber sitzt das Brüderpaar in der<br />

Drillisch-Zentrale im hessischen Maintal<br />

und strotzt nur so vor Selbstvertrauen. Sie<br />

haben jetzt den Durchbruch erkämpft:<br />

„Wir sind der vierte Mobilfunkbetreiber in<br />

Deutschland“, sagt Paschalis Choulidis und<br />

strahlt. „Wir erhalten alle Freiheiten und<br />

können unsere Produkte und Tarife künftig<br />

so gestalten, wie wir wollen.“<br />

Winzling Drillisch<br />

Marktanteile der Mobilfunkanbieter in<br />

Deutschland (in Prozent)<br />

E-Plus<br />

Telefónica O2<br />

Freenet<br />

12,0<br />

12,4<br />

14,3<br />

Quelle: Dialog Consult/VATM<br />

1&1 2,0 1,2 Drillisch<br />

Gesamt:<br />

25,1<br />

Mrd. €<br />

28,3<br />

29,8<br />

Vodafone<br />

Telekom<br />

PREISE DRÜCKEN<br />

Fast aussichtslos gingen die im politischen<br />

Lobbying relativ unerfahrenen Brüder ins<br />

Rennen, als Telefónica (Marke: O2) vor gut<br />

einem Jahr ein Übernahmeangebot in Höhe<br />

von 8,7 Milliarden Euro für den Konkurrenten<br />

E-Plus vorlegte. Die beiden wussten<br />

nur, dass sich eine einmalige Chance auftut:<br />

Der neue Mobilfunkriese mit insgesamt<br />

45 Millionen Kunden bekommt den<br />

Segen der Brüsseler Wettbewerbshüter nur<br />

unter harten Auflagen. Drei etwa gleich<br />

starke Telekomkonzerne – Deutsche Telekom,<br />

Vodafone und Telefónica/E-Plus –<br />

hätten sonst ihre Marktmacht ausgespielt<br />

und ihre Preiskämpfe eingestellt.<br />

Ausgerechnet dem kleinsten Mobilfunker<br />

vertraut Brüssel jetzt die große Aufgabe<br />

an, den Wettbewerb auf dem deutschen<br />

Markt zu beleben. Nach langen Verhandlungen,<br />

so heißt es, habe Drillisch die verbindlicheren<br />

Zusagen gemacht. EU-Wettbewerbskommissar<br />

Joaquín Almunia setzte<br />

am 29. August seine Unterschrift unter<br />

einen Vertrag, mit dem Drillisch Zugriff auf<br />

ein Viertel der Netzkapazitäten der fusionierten<br />

Telefónica-/E-Plus-Gruppe bekommt<br />

und sich aus einem Korb von 600<br />

O2-/E-Plus-Shops die besten aussuchen<br />

darf. Das alles gibt es zu „hervorragenden<br />

Einkaufskonditionen“, damit Drillisch die<br />

Rolle des Preisbrechers übernehmen kann.<br />

Die gleiche Statur, die gleichen Gesichtszüge,<br />

die gleiche Frisur, das gleiche Lachen<br />

– die Choulidis-Brüder könnten Zwillinge<br />

sein. Bei genauerem Hinsehen fallen die<br />

kleinen Unterschiede auf. Paschalis, Jahrgang<br />

1963, ist fünf Jahre jünger als Vlasios,<br />

ein paar Zentimeter größer und bringt ein<br />

paar Kilo mehr auf die Waage.<br />

Die Finanzmärkte trauen den beiden offenbar<br />

zu, in der Top-Liga der Mobilfunker<br />

zu bestehen: Die Drillisch-Aktie notiert bei<br />

29 Euro, 37 Prozent höher als zu Jahresbeginn.<br />

„Wir sehen gute Chancen, dass Drillisch<br />

in eine neue Dimension vorstößt“,<br />

lobt Wolfgang Specht, Analyst beim Bankhaus<br />

Lampe in Düsseldorf.<br />

Für die Choulidis-Brüder ist das wie ein<br />

verspäteter Ritterschlag. Klein hatten sie<br />

»<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

»<br />

in Deutschland angefangen. Die Eltern<br />

waren aus Griechenland ausgewandert:<br />

„Am 15. August 1970 kamen wir mit dem<br />

Zug im Münchner Hauptbahnhof an.“<br />

HEISSE VERHANDLUNGEN<br />

Sie ließen sich in Hanau nieder, weil dort<br />

bereits ein Teil der Familie lebte. „In der<br />

Schule fühlten wir uns in den naturwissenschaftlichen<br />

Fächern besonders wohl“, erinnern<br />

sie sich. An dieser Vorliebe hat sich<br />

bis heute nichts geändert. „Die blättern Bilanzen<br />

im Schnelltempo durch und finden<br />

auf Anhieb die Schwachpunkte“, berichtet<br />

ein Manager, der lange an der Seite der<br />

Choulidis-Brüder gearbeitet hat.<br />

Vielleicht ist das einer der Gründe, warum<br />

sich Drillisch gegenüber den viel größeren<br />

Konkurrenten United Internet und<br />

Immer auf den vorderen Plätzen<br />

Wie in jeder Familie lodert auch mal<br />

Streit zwischen den Brüdern auf. Aber endlose<br />

Auseinandersetzungen, die das Unternehmen<br />

lähmen, gibt es bei Drillisch nicht.<br />

„Die beiden sind einfach gut“, sagt Horst<br />

Lennertz, langjähriger Technik-Chef bei<br />

E-Plus und Aufsichtsrat bei Drillisch. „Ich<br />

kenne kaum jemanden, der die verschiedenen<br />

Geschäftsmodelle im Mobilfunk so<br />

verinnerlicht hat.“<br />

Im Verhandlungsmarathon mit Telefónica<br />

gaben die Choulidis-Brüder offenbar die<br />

besseren Abnahmegarantien ab. Auch<br />

United Internet und Freenet hätten gern<br />

ein Viertel der Netzkapazitäten der<br />

O2-/E-Plus-Gruppe abgenommen. Sie<br />

wollten aber auch Klauseln im Vertrag aufnehmen,<br />

die einen Teil der damit verbundenen<br />

wirtschaftlichen Risiken abfedern.<br />

Die günstigsten Allnet-Flatrates für Telefonieren in alle Netze und Internet-Nutzung<br />

bis zu einem Datenvolumen von 500 Megabyte<br />

Marke Anbieter Preis pro Monat (in Euro) Netz<br />

1. Smartmobil<br />

2. Simply<br />

3. 1&1<br />

4. DeutschlandSIM<br />

5. hellomobil<br />

6. winSIM<br />

7. simfinity<br />

8. Fonic<br />

9. Tele2<br />

10. Freenet<br />

Drillisch<br />

Drillisch<br />

1&1<br />

Drillisch<br />

Drillisch<br />

Drillisch<br />

Sat.1<br />

O2<br />

Tele2<br />

Freenet<br />

Stand: 1. September 2014; Quelle: Tariftip.de<br />

14,95<br />

14,95<br />

14,99<br />

16,95<br />

16,95<br />

16,95<br />

19,90<br />

19,95<br />

19,95<br />

20,95<br />

Freenet durchsetzen konnte. Die EU-Kommission<br />

hatte Telefónica den Auftrag erteilt,<br />

einen geeigneten Abnehmer für die<br />

Netzkapazitäten und die Shops zu finden.<br />

Ende Juni, in den dramatischen Stunden<br />

vor der Vertragsunterzeichnung mit Telefónica,<br />

deutete vieles darauf hin, das einer<br />

der Großen den Zuschlag bekommt. Doch<br />

die Brüder, die persönlich die Verhandlungen<br />

führten, machten das Rennen. Details<br />

aus der heißen Endphase wollen sie nicht<br />

verraten, nur so viel lassen sie durchblicken:<br />

„Wir haben die Chance schnell erkannt<br />

und wurden uns schnell einig“, sagen<br />

die beiden und lächeln spitzbübisch.<br />

Insider bestätigen das: „Wenn es darauf<br />

ankommt, laufen die beiden zur Hochform<br />

auf.“ Geschäftspläne kalkulieren und komplexe<br />

Verträge hart aushandeln, darin seien<br />

sie „wahre Meister“.<br />

O2<br />

O2<br />

E-Plus<br />

O2<br />

O2<br />

O2<br />

E-Plus<br />

O2<br />

E-Plus<br />

Deutsche Telekom<br />

Denn wie bei jedem Prozentwert hängt<br />

die tatsächliche Höhe der von O2/E-Plus<br />

abzugebenden Übertragungskapazitäten<br />

von den künftigen Netzausbauplänen ab.<br />

„Wenn Telefónica stärker investiert und die<br />

Netzkapazitäten erweitert, müsste der<br />

neue Partner auch mehr abnehmen“, berichtet<br />

ein Teilnehmer aus den Verhandlungen.<br />

Und da habe Drillisch offenbar die<br />

verbindlicheren Zusagen gemacht.<br />

Ausgerechnet Drillisch. Seit Jahren verlassen<br />

sich die Choulidis-Brüder allein darauf,<br />

dass preisbewusste Kunden im Internet<br />

den günstigsten Flatrate-Tarif finden<br />

und dann zu ihnen wechseln. Zwölf der<br />

rund 50 in Deutschland aktiven Discount-<br />

Marken haben die beiden aufgelegt. Die<br />

meisten tragen skurril anmutende Namen<br />

wie Maxxim, Discotel, hellomobil, McSim,<br />

Phonex oder DeutschlandSIM.<br />

„Wichtig ist“, erzählen sie freimütig, „die<br />

Präsenz unserer Marken im Internet und<br />

dass wir in den Ranglisten der Vergleichsportale<br />

die Top-Positionen mit unseren<br />

Marken besetzen.“ Da die Konkurrenz oft<br />

nur mit einem Produkt auf den hinteren<br />

Plätzen vertreten ist, stehen die Drillisch-<br />

Marken als günstigste Anbieter da (siehe<br />

Tabelle): „Dann ist die Wahrscheinlichkeit<br />

groß, dass die Interessenten ein Produkt<br />

von uns kaufen.“<br />

Mit dieser Masche gewinnt Drillisch<br />

rund 50 000 Neukunden pro Quartal. Die<br />

derzeit erfolgreichsten Discounter Alditalk,<br />

blau.de und Congstar glänzen allerdings<br />

mit weit höheren Zuwachsraten. Die Folge:<br />

Selbst gemeinsam kommen alle zwölf Drillisch-Marken<br />

nur auf 1,8 Millionen Kunden.<br />

Congstar, die Discount-Tochter der<br />

Telekom, zählt alleine 3,4 Millionen Nutzer.<br />

Quasi über Nacht müssen die Choulidis-<br />

Brüder jetzt beweisen, dass sie schneller<br />

Marktanteile gewinnen können. Mit dem<br />

Zugriff auf bis zu 30 Prozent der Netzkapazitäten<br />

ließen sich gut zehn Millionen Mobilfunkkunden<br />

bedienen. Rund acht Millionen<br />

Kunden muss Drillisch also in den<br />

nächsten Jahren hinzugewinnen.<br />

Denn richtig profitabel ist der Deal mit<br />

Telefónica erst, wenn die zur Verfügung gestellten<br />

Kapazitäten voll ausgelastet werden.<br />

Binnen weniger Jahre den Kundenbestand<br />

verfünffachen, das ist in einem mit<br />

mehr als 116 Millionen aktiven Mobilgeräten<br />

(1,4 pro Einwohner) fast schon gesättigten<br />

Markt ein ehrgeiziges Unterfangen.<br />

STRATEGIE AUF DEN KOPF STELLEN<br />

Möglich ist das nur, wenn die Choulidis-<br />

Brüder ihre Strategie auf den Kopf stellen.<br />

Bisher verzichten sie auf alles, was Geld<br />

kostet. Kein eigenes Netz, keine Shops, keine<br />

Werbung – das war die in Stein gemeißelte<br />

Firmenphilosophie.<br />

Die gilt jetzt nicht mehr. Die ersten<br />

Shops sollen Anfang 2015 öffnen, kündigt<br />

Vlasios Choulidis an. Unter welcher Marke<br />

sie firmieren, ist noch offen. Auch die Produktpalette<br />

wird überarbeitet. Eine eigene<br />

Premiummarke soll künftig auch in den<br />

Kampf um die Smartphones und Tablets<br />

viel surfender Geschäftskunden eingreifen.<br />

Auch die ganz auf die Choulidis-Brüder<br />

ausgerichtete Führungsstruktur von Drillisch<br />

steht auf dem Prüfstand. Mit dem<br />

Aufstieg in die Beletage des deutschen Mobilfunks<br />

finde auch die traute Zweisamkeit<br />

im Vorstand, so heißt es aus dem Drillisch-<br />

Umfeld, ein baldiges Ende.<br />

n<br />

juergen.berke@wiwo.de<br />

70 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Spezial | Mittelstand<br />

Chronische Knappheit<br />

CHINA | Trotz des schwächelnden Wachstums streben immer mehr deutsche Mittelständler<br />

ins Land der großen geschäftlichen Verheißungen. Doch das Finden und Binden<br />

qualifizierter Mitarbeiter wird immer schwieriger. Was Unternehmen tun können.<br />

Wenn Dominic Sturm über<br />

sein Geschäft in China<br />

spricht, gerät er erst ins<br />

Schwärmen, aber dann<br />

folgt bald ein größeres<br />

Stöhnen. Sicher, die Verkaufszahlen zeigen<br />

nur nach oben, seit Stihl – der Hersteller<br />

von Kettensägen, Heckenscheren und<br />

Rasentrimmern aus dem schwäbischen<br />

Waiblingen – vor acht Jahren seine erste<br />

Fabrik in der nordostchinesischen Stadt<br />

Qingdao eröffnete. Das Unternehmen, das<br />

weltweit fast 14 000 Mitarbeiter beschäftigt<br />

und zuletzt 2,8 Milliarden Euro umsetzte,<br />

wächst im Reich der Mitte jedes Jahr mit<br />

zweistelligen Raten. Denn immer mehr<br />

Chinesen können sich inzwischen ein<br />

Spezial | Mittelstand<br />

72 China Was tun gegen den Fachkräftemangel<br />

im Reich der Mitte?<br />

78 Standorte in Asien Die Vorteile<br />

von Vietnam, Indonesien und Co.<br />

82 Maschinenbau So profitiert ein<br />

Mittelständler aus dem Allgäu <strong>vom</strong><br />

Pharmaboom in China<br />

Haus mit eigenem Garten leisten – und der<br />

will natürlich auch gepflegt werden.<br />

Doch Sturm, Ausbildungsleiter bei Stihl<br />

in China, muss dafür sorgen, dass die<br />

Schwaben auch immer ausreichend Mitarbeiter<br />

haben, um das Wachstum im nach<br />

wie vor boomenden Riesenreich stemmen<br />

zu können. Etwa 750 Arbeiter beschäftigt<br />

Stihl zurzeit in den Fabriken in der früheren<br />

deutschen Kolonie in Ostchina; jedes<br />

Jahr müssen unter dem Strich 100 dazukommen.<br />

Um das zu erreichen, muss Sturm pro<br />

Jahr rund 200 neue Leute einstellen. Bisweilen<br />

keine leichte Aufgabe: „Vor allem<br />

bei ungelernten Arbeitskräften ist die Fluktuation<br />

mit 20 Prozent enorm hoch“, sagt<br />

der Deutsche.<br />

So geht es fast allen deutschen Unternehmen<br />

im Land. In den einschlägigen<br />

Umfragen der Deutschen Auslandshandelskammer<br />

(AHK) in Shanghai nennen »<br />

Reise ohne Wiederkehr<br />

Wanderarbeiter kehren nach dem Neujahrsfest<br />

oft nicht an ihre Arbeitsstelle zurück<br />

FOTO: LAIF/SZ PHOTO/KEVIN LEE<br />

72 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Spezial | Mittelstand<br />

Auch wenn Chinas Wirtschaft sich zuletzt<br />

abgeschwächt hat: Bei 7,5 Prozent<br />

Wachstum sind die Aussichten für deutsche<br />

Unternehmen immer noch mehr<br />

als verlockend. Das gilt besonders für Maschinenbauer,<br />

Pharmaunternehmen oder<br />

Elektrotechnikanbieter. Sie haben – anders<br />

als die ausländische Konkurrenz – genau<br />

die Produkte im Angebot, die China auf<br />

seinem Weg in die Moderne dringend<br />

braucht.<br />

»<br />

sie regelmäßig die Suche nach geeigneten<br />

Mitarbeitern als größtes Problem.<br />

Wer mehr als einen Winter in China verbracht<br />

hat, weiß, dass beispielsweise nach<br />

dem Neujahrsfest immer ein paar Mitarbeiter<br />

einfach nicht mehr auftauchen.<br />

Denn in der chinesischen Ferienwoche,<br />

die mal in den Januar, mal in den Februar<br />

fällt, besuchen Wanderarbeiter traditionell<br />

ihre Familien auf dem Land.<br />

Manche entschließen sich kurzerhand,<br />

dort zu bleiben, andere hören von einem<br />

Bekannten, anderswo gebe es ein paar Yuan<br />

mehr zu verdienen, und wechseln kurzerhand.<br />

So kann es passieren, dass von<br />

500 Arbeitern am Ende der Ferienwoche<br />

nur noch 200 zurückkommen – keine Kündigung,<br />

kein Anruf, nicht einmal eine<br />

E-Mail.<br />

KEINE LOYALITÄT<br />

Nicht viel besser ist die Lage bei Fach- und<br />

Bürokräften. Es fehlt an guten Kaufleuten,<br />

Ingenieuren, Betriebswirten – eigentlich<br />

an allen Berufsgruppen.<br />

Der rechtliche Rahmen macht den Chinesen<br />

das Jobhopping leicht. Wasserdichte<br />

Gesetze mit Kündigungsfristen gibt es im<br />

Boommarkt China nicht. Das Problem haben<br />

damit vor allem die Arbeitgeber: Wer<br />

seinen Job verliert, findet angesichts der<br />

chronischen Knappheit an Arbeitskräften<br />

schnell einen neuen.<br />

Lockmittel deutscher Gesellenbrief<br />

Chinesischer Facharbeiter beim Kettensägenkönig<br />

Stihl<br />

Loyalität zu einem Arbeitgeber kennen<br />

viele Chinesen nicht. Für 100 Yuan, umgerechnet<br />

gerade mal rund zwölf Euro, mehr<br />

im Monat oder auch nur einen kürzeren<br />

Anfahrtsweg zum Job wechseln viele das<br />

Unternehmen. Bei rund 19 Prozent lag die<br />

Mitarbeiterfluktuation in China im Jahr<br />

2012. Das bedeutet, dass innerhalb von<br />

fünf Jahren einmal die Belegschaft komplett<br />

ausgewechselt wird. In manchen<br />

Branchen liegt die Wechselrate sogar bei 30<br />

Prozent.<br />

Trotz solcher Hemmnisse ist der China-<br />

Sog ungebrochen. Rund 5000 Unternehmen<br />

aus Deutschland haben dort inzwischen<br />

Niederlassungen, der größte Teil von<br />

ihnen sind Mittelständler. Und es kommen<br />

fast jeden Tag neue hinzu.<br />

19 Prozent aller<br />

Mitarbeiter in China verlassen<br />

ihren Arbeitgeber<br />

im Schnitt pro Jahr<br />

VIELE BEWERBUNGSGESPRÄCHE<br />

Mit einem Handelsvolumen von 140 Milliarden<br />

Euro ist Deutschland derzeit Chinas<br />

größter Handelspartner in Europa.<br />

Deutschlands Unternehmer sind dabei<br />

immer noch optimistisch, so eine AHK-<br />

Umfrage in China. So erwarten beispielsweise<br />

drei Viertel der befragten deutschen<br />

Unternehmen, die in China in der Automobilbranche<br />

aktiv sind, weiter ein stabiles<br />

Geschäft.<br />

Eines des Unternehmen, das <strong>vom</strong> stetigen<br />

Aufstieg Chinas kräftig profitiert, ist<br />

auch Delo Industrie Klebstoffe. Das Familienunternehmen<br />

mit Sitz in Windach westlich<br />

von München stellt mit 420 Mitarbeitern<br />

Spezialkleber her, wie sie beispielsweise<br />

in Smartphones, Laptops sowie Spielkonsolen,<br />

aber auch in der Autoindustrie<br />

zum Einsatz kommen. 2013 entschied sich<br />

Inhaberin Sabine Herold, eine Tochtergesellschaft<br />

in Shanghai zu gründen. Zu<br />

schnell war der Absatz in China in den Jahren<br />

zuvor gewachsen. Da reichte es aus ihrer<br />

Sicht nicht mehr, nur aus Deutschland<br />

zu exportieren.<br />

Um das sensible Know-how zu schützen,<br />

fertigt Delo seine Klebstoffe zwar immer<br />

noch in Deutschland. Doch in Shanghai<br />

kümmern sich nunmehr bereits zehn Mitarbeiter<br />

um den Vertrieb in China. Das Geschäft<br />

dort wächst jedes Jahr um 15 bis 20<br />

Prozent und trägt mittlerweile fast ein<br />

Fünftel zum Jahresumsatz der Bayern von<br />

zuletzt fast 60 Millionen Euro bei.<br />

Eine erfreuliche Entwicklung, wäre da<br />

nicht das Problem mit der Mitarbeitersuche.<br />

„Die gestaltet sich schwierig“, sagt<br />

Herold. Zwar werde viel über die angeblich<br />

riesige Zahl von verfügbaren Fachkräften<br />

in China geredet, sagt die Delo-Chefin.<br />

„Aber deren technisches Verständnis entspricht<br />

oft nicht unseren Anforderungen.“<br />

Aus den Zeugnissen ist dies aber fast nie<br />

ersichtlich.<br />

Die Folge: Will Delo in China einen neuen<br />

Mitarbeiter einstellen, muss das Management<br />

ungewöhnlich viele Bewer-<br />

FOTO: STIHL/KD BUSCH<br />

74 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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ungsgespräche führen. Kann Herold<br />

nicht selbst vor Ort sein, lässt sie sich per<br />

Videokonferenz zuschalten.<br />

Zwar spuckt das chinesische Bildungssystem<br />

mittlerweile jedes Jahr sieben Millionen<br />

Universitätsabsolventen aus, viermal<br />

so viele wie noch vor zehn Jahren. Das<br />

liest sich allerdings auf dem Papier besser,<br />

als es in der Realität ist. Der Ausbildungsgrad<br />

der Absolventen ist nicht mit dem in<br />

Europa zu vergleichen. Nicht nur einmal<br />

hat Herold in China erlebt, dass ein Bewerber<br />

eine technische Zeichnung mehrfach<br />

gedreht hat, weil er nicht so recht wusste,<br />

wo oben und unten ist. „Ein guter deutscher<br />

Geselle ist einem chinesischen Ingenieur<br />

oftmals voraus“, hat die Delo-Chefin<br />

festgestellt.<br />

Mehr Masse als Klasse<br />

Hochschulabsolventen in China<br />

(in Millionen)<br />

1,0 1,8 3,0 4,5 5,8 6,1 7,0<br />

2000 2003 2005 2007 2009 2011 2013<br />

Quelle: China Statistical Yearbook<br />

DEFIZITE IN DER BILDUNG<br />

Ähnliche Erfahrungen hat auch Stihl-Ausbildungsleiter<br />

Sturm gemacht. Auf eine<br />

Facharbeiterstelle bewerben sich bei ihm<br />

zwar in der Regel 100 Kandidaten. Allerdings<br />

erfülle dabei fast keiner die erforderlichen<br />

Voraussetzungen, berichtet Sturm.<br />

Den jungen Hochschulabsolventen fehle<br />

es vor allem an der Fähigkeit zur Problemlösung,<br />

außerdem hätten sie meist kaum<br />

praktische Erfahrung.<br />

Delo-Inhaberin Herold kritisiert den noch<br />

immer viel zu hohen Stellenwert des Auswendiglernens<br />

in chinesischen Schulen und<br />

Hochschulen: Das Verstehen, Kombinieren<br />

und kritische Hinterfragen komme darüber<br />

zu kurz, „dabei braucht man gerade diese<br />

Fähigkeiten für eine Innovationskultur“.<br />

Weil gute Leute aber knapp sind, steigen<br />

die Löhne in China trotzdem jedes Jahr<br />

quer durch alle Branchen um durchschnittlich<br />

zehn Prozent. Bei Stihl in Qingdao verdient<br />

ein ungelernter Arbeiter, der neu einsteigt,<br />

umgerechnet rund 250 Euro. Vor<br />

zehn Jahren wäre es lediglich halb so viel<br />

gewesen.<br />

Die Arbeitsproduktivität kann allerdings<br />

mit diesen Gehaltszuwächsen oft nicht<br />

mithalten: Während die Gehälter zwischen<br />

1999 und 2010 um 258 Prozent stiegen, legte<br />

die Produktivität in dieser Zeit nur um<br />

167 Prozent zu.<br />

Wegen der chronischen Knappheit an<br />

qualifiziertem Personal müssen deutsche<br />

Unternehmen in China ungewöhnlich<br />

viel Aufwand bei der Rekrutierung betreiben.<br />

Schon ab einem relativ niedrigen<br />

Qualifikationsniveau der gesuchten Mitarbeiter<br />

arbeiten viele Personalabteilungen<br />

darum notgedrungen mit Headhuntern zusammen.<br />

„Wir müssen hier Spezialisten aktiv suchen<br />

– in Europa geschieht das eigentlich<br />

erst auf den höheren Führungsebenen“,<br />

sagt Joachim Wehrle von der Personalberatung<br />

wpb in Shanghai. Auch Stihl und<br />

Delo beschäftigen in China Headhunter.<br />

Darüber hinaus präsentiert sich Stihl auf<br />

Jobbörsen und bei den Hochschulen,<br />

»<br />

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Spezial | Mittelstand<br />

»<br />

um den Nachwuchs direkt auf dem<br />

Campus zu rekrutieren.<br />

Mit dem erfolgreichen Rekrutieren ist es<br />

allerdings in der Regel noch nicht getan.<br />

Einmal gefunden, müssen die Unternehmen<br />

die Neulinge in aufwendigen Schulungen<br />

aus- und weiterbilden, manchmal<br />

sogar am Stammsitz in Deutschland. Bei<br />

Delo etwa bekommen Neueinsteiger eine<br />

zwei- bis dreimonatige Schulung in der<br />

Zentrale in Bayern.<br />

Um die fachlichen Defizite bei den jungen,<br />

meist ehrgeizigen und fleißigen Chinesen<br />

auszugleichen, hat die deutsche<br />

Wirtschaft unter Federführung der AHK in<br />

Shanghai vor Kurzem damit begonnen, in<br />

China das duale Ausbildungssystem einzuführen,<br />

vor allem für handwerkliche Berufe<br />

wie Mechatroniker. Beim theoretischen<br />

Teil arbeiten die Deutschen eng mit<br />

den Hochschulen zusammen. Den praktischen<br />

Teil erledigen die beteiligten deutschen<br />

Betriebe.<br />

Die kostet die Ausbildung eines chinesischen<br />

Lehrlings im Schnitt rund 250 Euro<br />

im Monat. Der Auszubildende muss sich<br />

verpflichten, nach dem Abschluss mindestens<br />

zwei Jahre in dem Betrieb zu arbeiten.<br />

Geht er früher, muss er die Ausbildungskosten<br />

zurückzahlen.<br />

In der Praxis verhindert das allerdings<br />

nicht, dass hin und wieder doch ein Absolvent<br />

vorzeitig ausscheidet, wenn etwa bei<br />

der Konkurrenz ein höheres Gehalt winkt.<br />

Das unterentwickelte Rechtssystem<br />

kommt den jungen Leuten dabei entgegen:<br />

Auch wenn es in den vergangenen Jahren<br />

einige Verbesserungen gegeben hat, stehen<br />

die Chancen deutscher Unternehmen,<br />

die gegen Chinesen klagen, vor Gericht oft<br />

schlecht.<br />

MEHR ALS GUTE BEZAHLUNG<br />

Gerade haben die ersten 50 chinesischen<br />

Azubis ihre deutsche Lehre abgeschlossen.<br />

So hat Stihl sechs Leute zum Industriemechaniker<br />

ausgebildet. In der Größenordnung<br />

soll es auch in Zukunft weitergehen.<br />

Die Hälfte der Ausbildungsplätze<br />

bietet das Unternehmen vielversprechenden<br />

jungen Leuten an, die heute schon bei<br />

Stihl arbeiten.<br />

»Ein deutscher<br />

Geselle ist chinesischen<br />

Ingenieuren<br />

oft voraus«<br />

Sabine Herold, Inhaberin Delo Klebstoffe<br />

Der Ansturm im ersten Jahrgang war gewaltig:<br />

Für die drei Plätze haben sich 30<br />

Mitarbeiter beworben. Die übrigen Lehrstellen<br />

besetzt Stihl mit geeigneten Schülern,<br />

die mindestens die mittlere Reife sowie<br />

den bestandenen Aufnahmetest für die<br />

Fachhochschule in Jinan bei Qingdao mitbringen<br />

müssen.<br />

Mit den Bewerbern führt das Unternehmen<br />

noch einen Einstellungstest und ein<br />

längeres Gespräch durch. Dort fragen die<br />

Personaler Allgemeinwissen, aber auch<br />

technisches und logisches Verständnis ab,<br />

und testen die Soft Skills der Bewerber.<br />

Wer in China seine wirklich guten Leute<br />

– egal, ob in der Produktion oder im Büro –<br />

258 Prozent Gehaltszuwachs gab es in China<br />

seit 1999. Die Produktivität stieg um 167 Prozent<br />

langfristig an sich binden will, muss mehr<br />

bieten als gute Bezahlung. Diese ist eine<br />

notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung,<br />

um Mitarbeiter zu halten. Ebenso<br />

wichtig sind eine gute Arbeitsatmosphäre<br />

und Perspektiven.<br />

„Man muss ein gutes Arbeitsumfeld bieten,<br />

mit einem aufgeschlossenen und respektvollen<br />

Team, interessante Aufgaben,<br />

Entwicklungs- und vor allem Weiterbildungsmöglichkeiten“,<br />

sagt Delo-Inhaberin<br />

Herold.<br />

PRÄMIENSYSTEME FÜR ARBEITER<br />

Von guten Erfahrungen berichten auch<br />

Unternehmen, die ihren Arbeitern eine<br />

Krankenversicherung bieten. Bisher gibt es<br />

in China nur ein rudimentäres Versicherungssystem,<br />

das bestenfalls kleine Erkrankungen<br />

abdeckt.<br />

Andere haben ihren Mitarbeitern Kredite<br />

gegeben, um eine Wohnung zu kaufen –<br />

vor allem für männliche Chinesen eine<br />

wichtige Anschaffung, um eine Ehefrau zu<br />

finden. Die Immobilie ist für den Arbeitgeber<br />

zugleich eine implizite Garantie, dass<br />

der Mitarbeiter in naher Zukunft im Ort<br />

bleiben wird.<br />

Andere Unternehmen arbeiten in der<br />

Fertigung mit Prämiensystemen: Läuft die<br />

Produktion schneller, zahlen sie den Arbeitern<br />

am Ende des Monats einen Bonus.<br />

Darüber hinaus schaffen Betriebsausflüge<br />

und Tage der offenen Tür für Familien ein<br />

Gemeinschaftsgefühl. Die Unternehmensberatung<br />

Roland Berger empfiehlt außerdem,<br />

Gespräche zur Leistungsbewertung<br />

der Mitarbeiter in kürzeren Zeitabständen<br />

stattfinden zu lassen – am besten alle drei<br />

Monate.<br />

An manchen Standorten machen sich<br />

zumindest die deutschen Unternehmen<br />

nicht noch gegenseitig das Leben schwer.<br />

So gilt unter den 200 Mittelständlern in Taicang,<br />

einer Stadt 50 Kilometer nordwestlich<br />

von Shanghai, ein „Gentlemen’s<br />

Agreement“ – keiner wirbt dem anderen<br />

Mitarbeiter ab.<br />

Doch bei allen noch so aufwendigen Bemühungen<br />

ums Personal müssen die Unternehmen<br />

sich am Ende damit abfinden,<br />

wenn etwas nicht zu ändern ist: In allen Fabriken,<br />

wo Arbeiter für wenig Geld nur einfache<br />

Tätigkeiten verrichten, ist eine Bindung<br />

an den Betrieb eben nur schwer herzustellen.<br />

n<br />

matthias.kamp@wiwo.de | München,<br />

philipp mattheis | Shanghai<br />

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FOTO: DELO/JENS SCHWARZ<br />

76 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Spezial | Mittelstand<br />

Erfolg mit Hochdruck Für den Vertrieb<br />

seiner Reinigungsgeräte hat Kärcher eine<br />

Tochtergesellschaft in Indonesien gegründet<br />

Feinmotorische<br />

Fähigkeiten<br />

SÜDOSTASIEN | Niedrigere Kosten als in China, kräftiges Wirtschaftswachstum,<br />

doch vor allem der Beginn des Binnenmarktes<br />

im kommenden Jahr locken den Mittelstand in die Region.<br />

Denkt Christian von Daniels über die<br />

Anfänge der Aktivitäten seines Unternehmens<br />

in Vietnam nach, fällt<br />

ihm als Erstes China ein. „Dort zeichnete<br />

sich damals, Anfang der Neunzigerjahre,<br />

eine echte Knappheit an Arbeitskräften ab“,<br />

erinnert sich der Chef des Hemdenherstellers<br />

van Laack. Außerdem sei das Interesse<br />

von staatlicher Seite an dem mittelständischen<br />

Textilhersteller aus Mönchengladbach<br />

mit einem Jahresumsatz von fast 55<br />

Millionen Euro in Vietnam viel größer gewesen<br />

als in China. Die Behörden rollten<br />

van Laack den roten Teppich aus und halfen<br />

unter anderem bei der Grundstückssuche<br />

für die neue Fabrik in Asien.<br />

Statt wie so viele deutsche Textilhersteller<br />

irgendwo in einem der Industrieparks<br />

im Süden Chinas ein Werk hochzuziehen,<br />

pflanzte van Laack seine Fabrik 1993 also<br />

in einen Vorort der vietnamesischen<br />

Hauptstadt Hanoi. Bei der Grundsteinlegung<br />

war der damalige Bundeskanzler<br />

Gerhard Schröder dabei. Mit 90 Näherinnen<br />

haben die Deutschen damals angefangen,<br />

heute sitzen an den Tischreihen der<br />

Fabrik mehr als 500. Die Hälfte seiner gesamten<br />

Jahresproduktion fertigt van Laack<br />

inzwischen in Vietnam. Zwei weitere Fabriken<br />

betreibt das Unternehmen in Tunesien<br />

und am Stammsitz in Mönchengladbach.<br />

An Vietnam schätzt von Daniels unter<br />

anderem Fleiß und Fertigkeiten der Näherinnen:<br />

„Sie haben sehr gute feinmotorische<br />

Fähigkeiten“, sagt der van-Laack-Chef,<br />

„weil die Beschäftigung mit hochwertiger<br />

textiler Fertigung in den Familien gepflegt<br />

wird.“ Zudem ist der gesetzliche Mindestlohn<br />

mit umgerechnet rund 120 Dollar nur<br />

etwa halb so hoch wie in China. Van Laack<br />

zahlt den Näherinnen bis zu 50 Prozent<br />

mehr und hat trotzdem noch niedrigere<br />

Lohnkosten als beim großen Nachbarn im<br />

Norden. Und die Fluktuation ist viel geringer:<br />

Im Schnitt bleiben die vietnamesischen<br />

Mitarbeiter sieben Jahre bei van<br />

Laack – in China undenkbar.<br />

REFORMEN IN INDONESIEN<br />

Nicht nur Vietnam mit seinen fast 90 Millionen<br />

Einwohnern zieht wieder mehr Interesse<br />

deutscher Unternehmen auf sich.<br />

Diese blicken nach einiger Zurückhaltung<br />

während der Finanzkrise jetzt verstärkt auf<br />

Länder wie Indonesien, das zuletzt mit<br />

mehr als sechs Prozent Wachstum glänzte,<br />

nach Singapur, das vor allem beim Urheberrechtsschutz<br />

als sicherer Hafen gilt, und<br />

sogar nach Thailand, wo nach heftigen politischen<br />

Turbulenzen allmählich Ruhe<br />

einkehrt. Gut 600 deutsche Mittelständler<br />

haben inzwischen Niederlassungen in<br />

Thailand. In Vietnam sind es 280, in Indonesien<br />

300 und in Singapur 1400.<br />

„Nicht nur das stabile Wachstum sorgt<br />

dafür, dass Unternehmen aus Deutschland<br />

wieder stärker Südostasien ins Visier nehmen“,<br />

sagt Jochen Sautter. Der Unternehmensberater<br />

aus Schwaben lebt seit fast 18<br />

Jahren in Indonesiens Hauptstadt Jakarta.<br />

Ende der Neunzigerjahre baute er dort für<br />

die L-Bank aus Baden-Württemberg das<br />

German Centre auf, das deutschen Mittelständlern<br />

den Markteinstieg im viertgrößten<br />

Land der Erde erleichtern soll. Heute<br />

berät Sautter mit seiner Prime Consultancy<br />

deutsche und europäische Unternehmen<br />

bei ihren Indonesien-Aktivitäten.<br />

Die steigenden Kosten in China, sagt er,<br />

vor allem aber der Abbau von Zoll-<br />

»<br />

FOTO: KÄRCHER<br />

78 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Spezial | Mittelstand<br />

»<br />

schranken in den zehn Ländern der Vereinigung<br />

Südostasiatischer Länder (Asean)<br />

sorge für steigendes Interesse an der Region.<br />

2015 werden alle Asean-Mitglieder ihre<br />

Zölle für fast alle Produktgruppen abgeschafft<br />

haben. Es entsteht ein einheitlicher<br />

Wirtschaftsraum mit rund 500 Millionen<br />

Konsumenten. Doch auch zwischen Südostasien<br />

und Europa werden die Zollhürden<br />

allmählich fallen: Die EU und Asean verhandeln<br />

über ein Freihandelsabkommen.<br />

Vom Abbau der Handelsschranken und<br />

rasch wachsendem Wohlstand profitiert<br />

auch Kärcher. Der Hersteller hochwertiger<br />

Reinigungsgeräte aus dem baden-württembergischen<br />

Winnenden mit 2013 gut<br />

zwei Milliarden Euro Umsatz hat seit 2013<br />

eine eigene Niederlassung in Indonesien,<br />

der größten Volkswirtschaft Südostasiens.<br />

Bauen lässt Kärcher seine Reinigungsgeräte<br />

weiter in China. „Zwischen Indonesien<br />

und China gibt es Zollvorteile wegen eines<br />

bilateralen Handelsabkommens“, sagt Kärchers<br />

Indonesien-Chef Roland Stähler. „Da<br />

lohnt sich der Transport.“<br />

VIELE NEUE SHOPPINGMALLS<br />

Stähler baut für den Weltmarktführer aus<br />

Schwaben das Indonesien-Geschäft auf.<br />

Momentan beschäftigt er 25 Mitarbeiter,<br />

Ende des Jahres sollen es 40 sein, denn der<br />

Absatz wächst zweistellig. Allein in Jakarta<br />

gibt es 180 große Shoppingmalls, im Monatstakt<br />

kommen neue dazu. „Die müssen<br />

gereinigt werden“, sagt Stähler und lacht.<br />

Das Lachen vergeht dem Deutschen allerdings,<br />

wenn er an den Vertrieb denkt.<br />

„Logistik ist in Indonesien wegen der Defizite<br />

bei der Infrastruktur teurer als in anderen<br />

Ländern“, sagt Stähler. So gibt es in der<br />

25-Millionen-Einwohner-Stadt Jakarta<br />

Hochwertige Arbeit in Familientradition<br />

Van-Laack-Chef Daniels schätzt die Erfahrung<br />

seiner Hemdennäherinnen in Vietnam<br />

trotz jahrelanger Planungen immer noch<br />

keine U-Bahn; der Dauerstau ist Normalzustand.<br />

Zwischen der Hauptstadt und der<br />

zweitgrößten Stadt des Landes, Surabaya,<br />

müsste dringend eine Autobahn gebaut<br />

werden. Auf der jetzigen Straße liegt die<br />

Durchschnittsgeschwindigkeit bei 30 Stundenkilometern.<br />

Doch trotz solcher Ärgernisse<br />

ist der Markt zu wichtig, als dass<br />

Kärcher darauf verzichten würde, seine<br />

Produkte in Indonesien zu verkaufen.<br />

Zudem ist Besserung in Sicht. Bei den<br />

Präsidentschaftswahlen im Juli trug der erklärte<br />

Reformer Joko Widodo den Sieg davon.<br />

Bislang war er Gouverneur der Hauptstadt<br />

und hat dort trotz nach wie vor bestehender<br />

Engpässe einiges ins Rollen gebracht.<br />

So hat der charismatische Politiker,<br />

der sich wohltuend abhebt von der alten<br />

Garde der Apparatschiks aus der Suharto-<br />

Ära, den Hafen der Stadt ausbauen lassen.<br />

Wieder auf Wachstumskurs<br />

Bruttoinlandsprodukt der Vereinigung Südostasiatischer<br />

Staaten 1 (Veränderung gegenüber<br />

Vorjahr in Prozent)<br />

8<br />

6<br />

4<br />

2<br />

0<br />

2009 2010 2011 2012 2013 2014<br />

2<br />

2015 3<br />

1 Asean; 2 Prognose; 3 Schätzung;<br />

Quelle: Asian Development Bank<br />

Auch sorgte Widodo dafür, dass das Terminal<br />

3 am Flughafen fertiggestellt wurde.<br />

Indonesien-Experte Sautter ist sich sicher,<br />

dass Widodo mit seiner größeren Autorität<br />

als Präsident bei den Reformen aufs<br />

Tempo drücken wird. Neben einer Verbesserung<br />

der Infrastruktur müsste er dringend<br />

die hohen Subventionen für Benzin<br />

kürzen. „Damit bekäme er finanziellen<br />

Spielraum für eine aktive Wirtschaftspolitik“,<br />

sagt Sautter. Der Staat verbilligt den<br />

Benzinpreis bisher um rund die Hälfte.<br />

Kärcher-Landeschef Stähler wünscht<br />

sich vor allem Reformen in der Bildung. Da<br />

hinkt Indonesien etwa Vietnam deutlich<br />

hinterher. Dort lobt Van-Laack-Chef von<br />

Daniels die gute Schul- und Allgemeinbildung<br />

der jungen Leute sowie die hohe<br />

Lernbereitschaft und Auffassungsgabe.<br />

FORSCHUNG IN VIETNAM<br />

Der deutsche Autozulieferer Bosch, der in<br />

Vietnam bis heute 160 Millionen Euro investiert<br />

hat, betreibt dort sogar ein Forschungszentrum<br />

mit 600 Mitarbeitern – in<br />

Indonesien aus Mangel an Fachkräften unvorstellbar.<br />

Die Ingenieure entwickeln dort<br />

Software für den konzerninternen Gebrauch,<br />

ähnlich wie im indischen Bangalore,<br />

wo Bosch 13 000 Programmierer beschäftigt.<br />

Insgesamt arbeiten in Vietnam<br />

1700 Menschen für Bosch. Von dort aus beliefern<br />

die Deutschen Autohersteller in<br />

ganz Asien mit Getriebeteilen. Bis 2020 will<br />

Bosch noch einmal 100 Millionen Euro in<br />

dem aufstrebenden Land investieren.<br />

Von solchen internationalen Lieferketten<br />

profitiert Thomas Halliday. Er steuert<br />

aus Singapur die Asienaktivitäten des mittelständischen<br />

Softwarehauses AEB aus<br />

Stuttgart. Das vor 35 Jahren gegründete<br />

Unternehmen setzt mit weltweit fast 400<br />

Mitarbeitern gut 30 Millionen Euro um und<br />

bietet Unternehmen, die Waren über lange<br />

Strecken transportieren, Spezialsoftware<br />

für Logistik und Zollabwicklung an. Rund<br />

6000 Kunden hat AEB heute. „Viele davon<br />

sind in Asien aktiv“, sagt Halliday, darunter<br />

etwa der deutsche Maschinenbauer Gea.<br />

Neben den gut ausgebildeten Mitarbeitern,<br />

schätzt Halliday das zuverlässige<br />

Rechtssystem, etwa beim Urheberrechtsschutz.<br />

Doch der tropische Stadtstaat hat<br />

einen weiteren Standortvorteil: „Die Lebensqualität<br />

ist unvergleichlich“, schwärmt<br />

Halliday und denkt vor allem an den Freizeitwert<br />

und die gute Küche.<br />

n<br />

matthias.kamp@wiwo.de | München<br />

Lesen Sie weiter auf Seite 82 »<br />

FOTO: VAN LAACK GMBH<br />

80 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Spezial | Mittelstand<br />

Gut verpackt<br />

MASCHINENBAU | Der Pharmamarkt im Reich der Mitte boomt.<br />

Wie der mittelständische Anlagenbauer Pac Automation aus dem<br />

Allgäu davon profitiert.<br />

Die Maschinen, die Pester Pac Automation<br />

in China baut, sind etwa so<br />

groß wie ein Wandschrank. Am hinteren<br />

offenen Ende stecken mehrere Dutzend<br />

Kabel, vorne sind Rollen, Gewinde<br />

und Spindeln aus Edelstahl zu sehen.<br />

Wenn die Maschine fertig ist, wird sie Medikamente<br />

in Plastik verpacken, immer<br />

zehn Packungen zu einem Bündel, ein<br />

Bündel pro Sekunde, 60 in der Minute.<br />

Drei Monate brauchen die Pester-Leute<br />

<strong>vom</strong> Auftrag bis zur Auslieferung, um eine<br />

solche Maschine zu bauen. „Damit sind<br />

wir doppelt so schnell wie unsere Konkurrenten“,<br />

sagt Werksleiter Kevin Butler. Kundennähe<br />

und Tempo waren die Gründe für<br />

das Familienunternehmen aus dem Dorf<br />

Wolfertschwenden im Allgäu, einen Teil<br />

der Produktion nach China zu verlagern.<br />

Auf diese Weise profitiert der Mittelständler<br />

mit weltweit 450 Mitarbeitern davon,<br />

dass Chinas Markt für Medikamente<br />

boomt wie kaum ein anderer. Seit Jahren<br />

wächst die Branche mit 20 bis 25 Prozent<br />

im Jahr. Pesters Kunden im Reich der Mitte<br />

sind Pharmakonzerne wie Bayer, Pfizer<br />

Boom bei Gesundheit<br />

Umsatz der Pharmaindustrie in China<br />

(in Milliarden Dollar)<br />

140<br />

120<br />

100<br />

80<br />

60<br />

40<br />

20<br />

ab 2014 Prognose; Quelle: KPMG<br />

Gute Besserung<br />

Chinas Gesundheitssektor<br />

soll bis 2020<br />

auf eine Billion<br />

Dollar wachsen<br />

0<br />

2008 2010 2012 2014 2016<br />

oder Novartis, aber auch chinesische Arzneimittelhersteller.<br />

Seit über einem Jahr sitzt der 1888 gegründete<br />

Maschinenbauer mit 18 Leuten<br />

im Songjiang-Industriepark, etwa eine Autostunde<br />

<strong>vom</strong> Zentrum Shanghais entfernt<br />

– wenn kein Stau ist. So wie Automobilzulieferer<br />

die Nähe zu ihren Kunden suchen,<br />

folgte auch Pester seinen Abnehmern nach<br />

Fernost. Kundennähe ist für rund die Hälfte<br />

der deutschen Unternehmen der Hauptgrund,<br />

in China zu investieren.<br />

„Anfangs haben wir nur exportiert“, erzählt<br />

Thomas Pester, der das Unternehmen<br />

in vierter Generation führt. „2004 gründeten<br />

wir dann ein Vertriebsbüro. Damit<br />

wollten wir unseren Kunden zeigen: Wir<br />

sind hier vor Ort, wir kümmern uns und gehen<br />

auf die Bedürfnisse ein.“ Noch macht<br />

China nur fünf Prozent des Gesamtumsatzes<br />

von knapp 200 Millionen Euro im Jahr<br />

aus. Aber der Anteil soll zunehmen.<br />

BESSER ALS BARFUSS-DOKTOREN<br />

Denn die Chancen stehen gut, dass die<br />

Chinesen noch mehr Geld für Arzneimittel,<br />

Pillen und Medikamente ausgeben.<br />

„Die chinesischen <strong>Ausgabe</strong>n für Pharmazeutika<br />

werden bis 2015 zwischen 18 und<br />

20 Prozent wachsen“, prognostiziert Norbert<br />

Meyring, Partner und Pharma-Chef<br />

Asien bei der Beratung und Wirtschaftsprüfung<br />

KPMG in Shanghai.<br />

Zum einen wächst die Zahl der Menschen,<br />

die sich Arzneien leisten können.<br />

Großzügig geschätzt zählen bereits 700<br />

Millionen Menschen zur neuen Mittelschicht:<br />

Sie haben mehr Geld zur Verfügung,<br />

als sie zur Deckung ihrer Grundbedürfnisse<br />

benötigen.<br />

Nach der Mao-Ära, in der die Krankenversorgung<br />

für alle kostenlos war, aber oft<br />

eben auch nur den Besuch eines Barfuß-<br />

Doktors umfasste, litten in den Neunzigerjahren<br />

viele Chinesen unter den neuen<br />

marktwirtschaftlichen Bedingungen. Sie<br />

konnten sich keine Gesundheitsversorgung<br />

mehr leisten. Nach der Reform 2009<br />

haben immerhin 95 Prozent der Chinesen<br />

eine – wenn auch rudimentäre – Krankenversicherung,<br />

die etwa die Hälfte der Kosten<br />

übernimmt.<br />

Hinzu kommt: Schon heute sind 185<br />

Millionen Chinesen über 60 Jahre alt.<br />

Dem Land steht eine massive Überalterung<br />

bevor: 2010 kamen auf 100 Erwerbstätige<br />

elf alte Menschen, 2050 werden es<br />

42 sein, so eine Studie der Vereinten Nationen.<br />

Die Überalterung ist Folge der Ein-<br />

Kind-Politik.<br />

FOTO: REUTERS/CORBIS/DAVID GRAY<br />

82 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Zudem leben immer mehr Chinesen in<br />

Städten, momentan etwa 600 Millionen<br />

Menschen. Bis 2020 sollen es mehr als eine<br />

Milliarde sein. Sie bewegen sich oft weniger<br />

und ernähren sich ungesünder. Zivilisationskrankheiten<br />

nehmen zu. An Diabetes,<br />

einer Krankheit, die vor 30 Jahren in<br />

China quasi nicht existierte, leiden mehr<br />

als 90 Millionen Menschen. Bei der Beratung<br />

McKinsey geht man davon aus, dass<br />

die <strong>Ausgabe</strong>n für Gesundheit bis 2020 auf<br />

eine Billion Dollar anwachsen, das wären<br />

sieben Prozent der Wirtschaftsleistung.<br />

In absoluten Zahlen ist der Markt schon<br />

heute der größte der Welt mit Gesundheitsausgaben<br />

in Höhe von 385 Milliarden<br />

Dollar 2011. Und er wird weiter wachsen,<br />

denn die Pro-Kopf-<strong>Ausgabe</strong>n für Medikamente<br />

sind mit 35 Dollar im Jahr (Stand<br />

2009) noch immer sehr gering.<br />

Pester steht so für viele deutsche Mittelständler,<br />

die von Boombranchen in China<br />

profitieren. Von den rund 5000 dort ansässigen<br />

deutschen Unternehmen zählen<br />

rund 60 Prozent zum Mittelstand. Mit ihren<br />

Maschinen modernisieren sie die Wirtschaft.<br />

Menschliche Arbeitskräfte werden<br />

teurer und lohnen sich nicht mehr – in<br />

Shanghai stiegen die Löhne im vergangenen<br />

Jahr um elf Prozent. Immer mehr chinesische<br />

Unternehmen automatisieren<br />

deswegen ihre Produktion. Gleichzeitig<br />

werden die Qualitätsstandards strenger.<br />

Die Verpackungsindustrie ist traditionell<br />

stark in Schweden, Deutschland und Italien.<br />

Die chinesischen Mitbewerber holen<br />

zwar auf. „Aber unsere Qualität ist einfach<br />

besser“, sagt Werksleiter Butler. „60 Verpackungen<br />

kann eine Pester-Maschine in der<br />

Minute bündeln. „Unsere lokalen Konkurrenten<br />

schaffen höchstens 25.“<br />

GLOBAL PLAYER GESUCHT<br />

Butler ist seit 15 Jahren in China und in der<br />

Branche ein Veteran. Der gebürtige Brite<br />

hält hohe Qualität für den größten Wettbewerbsvorteil.<br />

„Über den Preis kann kaum<br />

ein ausländisches Unternehmen mit einheimischen<br />

konkurrieren.“ Um den Vorteil<br />

zu halten, importieren die Allgäuer Schlüsselkomponenten<br />

aus Deutschland. Denn,<br />

so Butler: „Wer nach China geht, muss damit<br />

rechnen, kopiert zu werden.“<br />

Momentan spielt die Marktstruktur dem<br />

Mittelständler in die Hände. Chinas Pharmabranche<br />

ist mit mehr als 5000 Anbietern<br />

extrem fragmentiert. Die Regierung will<br />

das ändern: Wie in der Autoindustrie hätte<br />

Peking lieber einige wenige Global Player.<br />

Über neue Regularien, den „Goods Manufacturing<br />

Standards“, kurz GMS, will die<br />

Regierung zwar in erster Hinsicht die Qualität<br />

der Produkte erhöhen. Sie haben aber<br />

den Nebeneffekt, dass kleinere Mitbewerber<br />

aus dem Markt gedrängt werden.<br />

So hat Peking 2013 ein Track-and-Trace-<br />

System für Medikamente vorgeschrieben,<br />

das die Herkunft jeder Charge nachweisen<br />

kann. Viele chinesische Mitbewerber können<br />

da nicht mithalten. „Unsere Maschinen<br />

sind darauf eingestellt“, sagt Butler und<br />

geht hinüber in die Lagerhalle.<br />

Eine gelbe Linie auf dem Boden teilt den<br />

Raum. Rechts stehen Pester-Maschinen,<br />

links die eines anderen Herstellers. Pester<br />

teilt sich die Fabrikhalle mit Multivac, einem<br />

Verpackungsmaschinenbauer für die<br />

Lebensmittelindustrie. Konkurrenten sind<br />

die Unternehmen also nicht, sondern beide<br />

sparen so Kosten. Zusammengefunden<br />

haben sie im fernen China nach dem Motto<br />

„Die Welt ist klein“: Beide kommen aus<br />

demselben Dorf im Allgäu.<br />

n<br />

philipp.mattheis@wiwo.de | Shanghai<br />

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Expansion mit<br />

Finanzinvestoren<br />

Internetstores verkauft<br />

Fahrräder und<br />

Campingartikel<br />

Kapital plus Köpfchen<br />

Private-Equity-Häuser können Mittelständlern bei der Finanzierung von Übernahmen helfen.<br />

Wie das funktioniert, beschreibt die zweite Folge einer sechsteiligen Serie der WirtschaftsWoche in<br />

Kooperation mit der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft Deloitte.<br />

René Marius Köhler hat geschafft, wovon viele<br />

Mittelständler träumen: Er hat das elterliche<br />

Unternehmen in das digitale Zeitalter geführt.<br />

Aus einem traditionellen Fahrradhandel in Stuttgart<br />

machte er einen florierenden Internet-Anbieter. Auf<br />

Online-Plattformen wie fahrrad.de, Bruegelmann.de<br />

oder Campz.de vertreibt Köhlers Unternehmen Internetstores<br />

nicht nur Fahrräder und Ersatzteile, sondern<br />

auch Outdoor-Kleidung und Campingzubehör<br />

an Kunden in ganz Europa. Für dieses Jahr erwartet<br />

Köhler einen Umsatz von knapp 130 Millionen Euro.<br />

Als der damals 20-Jährige 2003 anfing, das Sortiment<br />

seiner Eltern online anzubieten, lag der Jahresumsatz<br />

des Stuttgarter Geschäfts bei gerade mal 1,5<br />

Millionen Euro. Seine Eltern seien skeptisch gewesen,<br />

erinnert sich Köhler, zumal er allein für den Kauf der<br />

Internet-Domain fahrrad.de mehr als 40 000 Euro<br />

zahlen musste: „Für meine Eltern war es abwegig, so<br />

viel Geld in den Online-Handel zu investieren.“ Eine<br />

Million allerhöchstens werde er damit langfristig umsetzen,<br />

so die pessimistische Prognose des Seniors.<br />

Dass die Kalkulation von Köhler junior aufging,<br />

liegt nicht zuletzt daran, dass sich private Kapitalgeber<br />

an seinem Unternehmen beteiligten: die deutschen<br />

Internet-Unternehmer Marc, Oliver und Alexander<br />

Samwer mit ihrer Holding Rocket Internet<br />

übernahmen 2008 einen Anteil von 20 Prozent an In-<br />

SERIE<br />

Mittelstand<br />

Fit for Future<br />

Fusionen & Übernahmen<br />

Der richtige Partner (I)<br />

Finanzinvestoren (II)<br />

Finanzierung (III)<br />

Osteuropa/Asien (IV)<br />

Integration (V)<br />

Interview (VI)<br />

ternetstores. Vier Jahre später verkauften sie ihren<br />

Anteil an die schwedische Private-Equity-Gesellschaft<br />

EQT. Mit deren Unterstützung hat Köhler den<br />

schwedischen Outdoor-Händler Addnature übernommen<br />

– für umgerechnet rund 25 Millionen Euro.<br />

Anteile am eigenen Unternehmen an eine Beteiligungsgesellschaft<br />

verkaufen, um mit frischem Kapital<br />

eine andere Firma zu übernehmen? Was auf den ersten<br />

Blick paradox anmuten mag, ist für Karsten Hollasch<br />

völlig normal. Hollasch ist Partner Transaction<br />

Advisory Services beim Prüfungs- und Beratungsunternehmen<br />

Deloitte, mit deren finanzieller Unterstützung<br />

die WirtschaftsWoche eine Serie über Fusionen<br />

und Übernahmen im Mittelstand veröffentlicht.<br />

„Private-Equity-Gesellschaften sind gute Partner,<br />

um Übernahmen zu tätigen, weil sie aufgrund ihrer<br />

Erfahrungen in verschiedensten Industrien mehr als<br />

nur Kapital zur Verfügung stellen können“, sagt Hollasch.<br />

„Sie bieten auch Know-how und können so<br />

den meisten Mittelständlern bei der Suche nach geeigneten<br />

Übernahmekandidaten helfen.“<br />

So lief es auch bei Internetstores. Den Plan für die<br />

Expansion haben EQT und Internetstores gemeinsam<br />

ausgetüftelt. „EQT hat anschließend seine Netzwerke<br />

in Schweden genutzt und den Kontakt zur Firma<br />

Addnature hergestellt“, sagt Michael Föcking, der<br />

bei EQT für die Beteiligung an Internetstores verant-<br />

FOTOS: LAIF/BERTHOLD STEINHILBER, PR; ILLUSTRATION: KRISTINA DÜLLMANN<br />

84 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Mit Unterstützung von Deloitte*<br />

wortlich ist. Außerdem hat die Private-Equity-Gesellschaft<br />

zusätzliche Millionen investiert, um die Übernahme<br />

von Addnature zu finanzieren.<br />

Doch Kapital und Köpfchen gibt es nicht zum Nulltarif.<br />

Während stille Teilhaber damit zufrieden sind,<br />

wenn regelmäßig Gewinnanteile ausgeschüttet werden,<br />

nehmen klassische Private-Equity-Gesellschaften<br />

direkten Einfluss auf die Führung des Unternehmens.<br />

Das zu akzeptieren fällt gerade mittelständischen<br />

Unternehmen nicht immer leicht. „Viele Mittelständler,<br />

die etwas ,mit eigener Hand‘ aufgebaut<br />

haben, befürchten, dass ihr Unternehmen nach der<br />

Übernahme eine negative Entwicklung nehmen<br />

könnte“, sagt Hollasch.<br />

Auch Köhler kann bei Internetstores nicht mehr<br />

komplett frei walten und schalten. Er muss etwa für<br />

jedes Geschäftsjahr einen Budgetplan vorlegen, den<br />

der Beirat des Unternehmens genehmigen muss.<br />

„Das Budget gibt vor, wie viel für konkrete Themen<br />

ausgegeben werden darf“, sagt Investmentmanager<br />

Föcking, der im Beirat die EQT-Interessen vertritt.<br />

Köhler kann damit leben: „Mit Private-Equity-Partnern<br />

kann in kurzer Zeit sehr viel bewegt werden.“<br />

Diese pragmatische Einstellung zu Investmentgesellschaften,<br />

die in der Öffentlichkeit noch immer<br />

häufig als Heuschrecken gescholten werden, teilt der<br />

31-Jährige mit vielen anderen Familienunternehmern.<br />

Der Grund: Sie haben häufig keine andere<br />

Wahl. Soll die von den Eltern übernommene Firma<br />

überleben, muss sie wachsen und braucht dazu mangels<br />

eigener Masse das Geld von Investoren. Das gilt<br />

vor allem beim Schritt in die digitale Zukunft.<br />

„Private Kapitalgeber sind für Internet-Unternehmen<br />

häufig unverzichtbar, weil der normale Kapitalmarkt<br />

nicht in gewohnter Weise zur Verfügung steht“,<br />

sagt Tobias Kollmann, Professor für E-Business und<br />

E-Entrepreneurship an der Universität Duisburg-<br />

Essen. Das Geschäftsmodell von Firmen wie Internetstores<br />

sei klassischen Banken, die Geld in der Regel<br />

nur gegen klassische Sicherheiten wie Immobilien<br />

oder Inventar verleihen, immer noch schwer vermittelbar.<br />

„Das liegt zum Beispiel daran, dass es viele<br />

immaterielle Vermögenswerte gibt, wie etwa Markenbekanntheit<br />

oder Reichweite“, sagt Kollmann. Die<br />

traditionellen Risikoberechnungen der Banker funktionierten<br />

im Internet-Zeitalter nicht mehr.<br />

STÄRKERE VERHANDLUNGSPOSITION<br />

Zudem sind viele Banken nach der Finanzkrise vorsichtiger<br />

bei der Kreditvergabe geworden. Nach dem<br />

Mittelstandspanel der staatlichen deutschen Förderbank<br />

KfW sind die durch Fremdkapital finanzierten<br />

Investitionen deutscher Mittelständler zwischen 2009<br />

und 2012 nur um 3,5 Prozent gestiegen. Für 2013 liegen<br />

noch keine genauen Zahlen vor, die KfW-Marktforscher<br />

rechnen jedoch mit einem leichten Rückgang.<br />

Für Online-Unternehmer wie Fahrradhändler<br />

Köhler ist schnelles Wachstum aber existenziell,<br />

wenn sie möglichst als Erster neue ausländische<br />

Online-<br />

Händler<br />

brauchen<br />

schnelles<br />

Geld für ihr<br />

Wachstum<br />

Private-Equity-Freund<br />

Deloitte-Berater<br />

Hollasch hilft bei der<br />

Suche nach Partnern<br />

Wachsen mit<br />

Heuschrecken<br />

Umsatzentwicklung<br />

von Internetstores<br />

(in Millionen Euro)<br />

150<br />

120<br />

90<br />

60<br />

30<br />

2008 2014<br />

Quelle: Unternehmensangaben<br />

Märkte erobern wollen. Dafür brauchen sie schnell<br />

Geld. Die Private-Equity-Investitionen in den<br />

deutschen Mittelstand haben sich darum im selben<br />

Zeitraum mehr als verdoppelt.<br />

Der starke Einfluss der Private-Equity-Investoren<br />

hat für Mittelständler eine weitere positive Nebenwirkung:<br />

Er stärkt ihre Verhandlungsposition. „Im<br />

Moment ist der M&A-Markt ein Verkäufermarkt“, sagt<br />

Deloitte-Berater Hollasch. Zum Vorteil der Verkäufer:<br />

„Für ein vernünftiges Zielunternehmen wird sich<br />

stets mehr als ein Investor interessieren.“<br />

Die Gefahr, dass Mittelständler Unternehmensanteile<br />

unter Wert verscherbeln müssen, ist deshalb<br />

derzeit gering. Das dürfte nach Hollaschs Überzeugung<br />

auch noch einige Zeit so bleiben. „Die Private-<br />

Equity-Branche und ein hohes Maß an verfügbarem<br />

Beteiligungskapital ist einer der Treiber des<br />

M&A-Marktes“, sagt der Deloitte-Berater. In Zeiten<br />

niedriger Zinsen hätten Renten- und Pensionsfonds<br />

viele Milliarden in die Beteiligungsgesellschaften<br />

investiert. „Auch deswegen ist zu erwarten, dass<br />

die Zahl der Transaktionen in diesem Jahr weiter<br />

steigen wird.“<br />

WEITERE AUSLANDSEXPANSION GEPLANT<br />

Erfolgreich werden die allerdings nur dann, wenn die<br />

verkaufsbereiten Unternehmer an den richtigen Private-Equity-Partner<br />

geraten. Das wichtigste Kriterium:<br />

Der Investor muss Ahnung von der jeweiligen<br />

Branche haben, denn nur dann kann das Unternehmen<br />

<strong>vom</strong> Know-how des Kapitalgebers profitieren.<br />

In aller Regel haben die verkaufswilligen Unternehmer<br />

es mit ausgebufften Profis zu tun, häufig noch<br />

verstärkt durch Berater. Mittelständler, die sich nur<br />

auf die eigene Erfahrung verlassen, können dann<br />

leicht ins Hintertreffen geraten. „Es reicht nicht, nur<br />

mit dem langjährigen Steuerberater in solche Verhandlungen<br />

zu gehen, besser ist es, zusätzlich einen<br />

erfahrenen Transaktionsberater einzuschalten“, rät<br />

Deloitte-Partner Hollasch. Der könne zum Beispiel<br />

dabei helfen, Regeln zu formulieren, bei denen der<br />

Mittelständler nicht über den Tisch gezogen wird.<br />

Auch Köhler hatte 2012 die Wahl zwischen mehreren<br />

Interessenten, die bei Internetstores einsteigen<br />

wollten. Ausschlaggebend für die Partnerwahl waren<br />

nicht nur finanzielle Kriterien. „Wir haben uns nicht<br />

für den Investor entschieden, der das Unternehmen<br />

am höchsten bewertet hat, auch die Chemie sollte<br />

stimmen“, erinnert sich Köhler. „Ich wollte nicht, dass<br />

da Revolverhelden am Tisch sitzen.“<br />

Bereut hat der Stuttgarter seine Entscheidung<br />

nicht. Der Online-Handel habe noch riesige Zuwachsraten,<br />

auch das Fahrrad- und Outdoor-Geschäft<br />

sieht Köhler langfristig positiv. Darum will er<br />

weiter in das europäische Ausland expandieren. n<br />

benedikt müller | unternehmen@wiwo.de<br />

* Die Inhalte auf diesen Seiten wurden von der<br />

WirtschaftsWoche redaktionell unabhängig erstellt.<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 85<br />

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Technik&Wissen<br />

iPhone auf Rezept<br />

MEDIZIN | Apple, Google und Co. greifen Ärzte, Pharmakonzerne und Versicherer<br />

an. Sie wollen uns helfen, gesünder zu leben und Krankheiten zu besiegen. Leeres<br />

Versprechen oder Aufbruch in eine neue Dimension des Heilens?<br />

Jetzt ist es wieder so weit: Zum Beginn<br />

des Schuljahrs marschieren<br />

aufgeregte Erstklässler an der<br />

Hand ihrer Eltern in die Lehranstalten<br />

– riesige Tüten voller Süßigkeiten<br />

und Spielzeug stolz an sich gepresst.<br />

Unter den quirligen Sechsjährigen<br />

findet sich in fast jeder Klasse einer, der ein<br />

buntes Pflaster auf einem Auge trägt. Dem<br />

Gesunden wohlgemerkt, denn das andere,<br />

schwächere soll trainiert werden.<br />

Kein Kind mag so ein Pflaster. Damit die<br />

Jungen und Mädchen es schneller loswerden,<br />

können sie jetzt das tun, was sie eh<br />

schon allzu gerne machen: mit dem<br />

Smartphone ihrer Eltern spielen. Möglich<br />

macht das eine neue App, ein digitales Memory,<br />

bei dem sie Paare von Löwen oder<br />

Krokodilen finden müssen. Nur der Hintergrund<br />

sieht anders aus als gewohnt: Die<br />

grau-schwarzen Farbübergänge wirken<br />

unruhig, irritierend.<br />

Das ist Absicht: „Das Muster regt die Augen<br />

an“, erklärt Markus Müschenich. Der<br />

gelernte Kinderarzt hat das Berliner Startup<br />

Caterna Vision mitfinanziert, das die<br />

App entwickelt hat. „Das ist Software als<br />

Medizin“, sagt er begeistert. Die App gibt es<br />

seit Kurzem sogar auf Rezept, die Krankenkasse<br />

Barmer GEK übernimmt die<br />

Kosten.<br />

Für die Kinder, die mit dem Programm<br />

spielen, wird etwas ganz normal sein, was<br />

für die meisten Erwachsenen heute noch<br />

unvorstellbar ist: Ein Smartphone hilft ihnen,<br />

gesund zu werden. Geht es nach dem<br />

Willen von Apple-Chef Tim Cook, wird das<br />

künftig Alltag sein. Er will das neue iPhone<br />

6, das er voraussichtlich am kommenden<br />

Dienstag vorstellen wird (siehe Kasten Seite<br />

Durchbruch zur Cybermedizin<br />

So schnell soll der Markt für digitale<br />

Gesundheit wachsen (in Milliarden Dollar)<br />

250<br />

200<br />

150<br />

100<br />

50<br />

0<br />

61<br />

136<br />

233<br />

2013 2017 2020<br />

Quelle: Unternehmensberatung Arthur D. Little<br />

Tragbare Sensoren<br />

(Wearables)<br />

Elektronische<br />

Gesundheitsakte<br />

Mobile Anwendungen<br />

(Apps)<br />

Telemedizin<br />

(Fernbehandlung)<br />

Andere Bereiche<br />

Videos<br />

In unserer App-<br />

<strong>Ausgabe</strong> finden<br />

Sie Links und<br />

Videos zur<br />

digitalen Medizin<br />

90), zur Schaltzentrale einer neuen,<br />

digitalen Medizin machen,<br />

zum iDoc. Auf dem Gerät ist die<br />

App Healthbook vorinstalliert, so<br />

wie bald auch auf all den anderen<br />

Abermillionen Telefonen und<br />

iPads, die der Konzern verkauft.<br />

Wie eine digitale Patientenakte<br />

bündelt das Programm die Daten<br />

elektronischer Schrittzähler, Pulsmesser<br />

und anderer tragbarer Sensoren, den Wearables,<br />

mit denen heute immer mehr Menschen<br />

ihre Fitness und ihren Gesundheitszustand<br />

überwachen. Zusammen mit Infos<br />

zur Ernährung, Ergebnissen von Labortests<br />

bis hin zu Röntgenbildern entsteht ein so<br />

detailliertes Bild <strong>vom</strong> Menschen wie nie zuvor<br />

in der Geschichte der Medizin.<br />

Apple ist nicht allein. Google und die anderen<br />

Tech-Giganten schicken sich gemeinsam<br />

mit Hunderten frechen, ideenreichen<br />

Start-ups ebenfalls an, den<br />

Medizinmarkt von Grund auf umzukrempeln.<br />

So wie es zuvor der<br />

Musikbranche, den Medien, dem<br />

Filmgeschäft ergangen ist. Gemeinsam<br />

ist allen digitalen Praxisstürmern,<br />

dass sie das Smartphone<br />

zum Hausarzt in der Hosentasche<br />

machen wollen. Einen allgegenwärtigen<br />

Gesundheitsberater, der uns<br />

von der Wiege bis ins hohe Alter begleitet<br />

(siehe Bilderstrecke ab Seite 88). Der uns<br />

mithilfe eines funkenden Sensorpflasters<br />

etwa vor dem drohenden Herzinfarkt<br />

warnt;der per Kontaktlinse den Blutzuckerspiegel<br />

bestimmt und die Pumpe steuert,<br />

die Diabetiker mit Insulin versorgt; oder der<br />

mit der Handykamera Hautkrebs aufspürt.<br />

DER PATIENT WIRD MÜNDIG<br />

Wirklich wertvoll aber werden all die Informationen<br />

erst, wenn sie in die Daten-<br />

Cloud wandern. Super-Rechner wie der<br />

Watson von IBM oder die Hana-Hochleistungssysteme<br />

von SAP werten die Messwerte<br />

in bester Big-Data-Manier aus. Sie<br />

vergleichen die Informationen nahezu in<br />

Echtzeit mit den aktuellsten Forschungsergebnissen<br />

aus allen Winkeln der Erde und<br />

liefern so fundierte Diagnosevorschläge,<br />

wie das nie zuvor möglich war. Kein Arzt<br />

kann so viel Wissen überblicken.<br />

Wir werden gerade Augenzeuge, wie ein<br />

neuer Milliardenmarkt der digitalen Medizin<br />

entsteht, von dem Apple, Google und<br />

Co. einen möglichst großen Teil haben<br />

wollen. Die Pharmabranche, die Medizintechnikkonzerne<br />

und nicht zuletzt die Ärzte<br />

müssen sich auf die Zerstörung ihrer traditionellen<br />

Geschäftsmodelle einstellen<br />

»<br />

ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS<br />

86 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 87<br />

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Technik&Wissen<br />

1<br />

»<br />

iSprung<br />

Apps berechnen anhand der<br />

Körpertemperatur den richtigen<br />

Moment, um schwanger zu werden.<br />

– auch in Deutschland, wo es trotz aller<br />

verkrusteten Strukturen bereits eine bunte<br />

Start-up-Szene gibt.<br />

Nicht mehr die Halbgötter in Weiß sammeln<br />

und verwalten die Informationen<br />

über unsere Gesundheit, so wie es die vergangenen<br />

Jahrhunderte der Fall war. Immer<br />

häufiger werden die Mediziner es mit<br />

hervorragend informierten Patienten zu<br />

tun haben. Die im Extremfall mit einer fertigen<br />

Diagnose aus dem Internet in die Praxis<br />

kommen und sich nur noch das passende<br />

Medikament verschreiben lassen wollen.<br />

Der Arzt wird weniger der Heiler sein<br />

als Berater, der seinen – gelegentlich auch<br />

überforderten – Patienten hilft, im Wust<br />

der Körperdaten und Diagnosen den Überblick<br />

zu behalten (siehe Interview Seite 94).<br />

ANGRIFF DER TECH-GIGANTEN<br />

Ein Hotspot der Entwicklung ist – natürlich<br />

– das Silicon Valley, die produktivste IT-<br />

Schmiede der Welt. Mitten drin sitzt Apple.<br />

Das Motiv von Konzernchef Cook ist, in die<br />

Medizinbranche einzusteigen: Er will seine<br />

Kunden noch enger an sich binden. Wer all<br />

seine Gesundheitsdaten auf dem iPhone<br />

gespeichert hat, wem das Gerät geholfen<br />

hat, fitter, schlanker oder gesünder zu werden,<br />

der wird nicht zur Konkurrenz abwandern,<br />

so die Idee. Und Cook will sich natürlich<br />

den Zugang zu einem Megamarkt sichern,<br />

bei all den neuen Apps mitverdie-<br />

DOPPELGÄNGER IM DIGITALEN<br />

In Europa ist der SAP-Konzern einer der<br />

Pioniere, sonst eher für Unternehmenssoftware<br />

bekannt. Die Walldorfer haben<br />

mit ihrer Hana-Technologie eine Plattform<br />

entwickelt, große Datenbanken effizient<br />

und enorm schnell zu durchforsten. Forciert<br />

von Mitgründer und Aufsichtsratschef<br />

Hasso Plattner, übertragen sie dieses<br />

Know-how nun auf die Medizin. Eines der<br />

ehrgeizigsten Projekte haben die SAP-Entwickler<br />

zusammen mit dem Genomforscher<br />

Hans Lehrach <strong>vom</strong> Berliner Max-<br />

Planck-Institut für molekulare Genetik gestartet.<br />

Sie analysieren detailliert die Genaktivität<br />

von Zellen einzelner Patienten<br />

und entwerfen so einen digitalen Doppelgänger.<br />

An ihm testen sie – mithilfe aufnen.<br />

Bis 2020 soll sich das Geschäft mit<br />

–der digitalen Medizin von 60 auf 233 Milliarden<br />

Dollar fast vervierfachen, schätzt die<br />

Beratung Arthur D. Little (siehe Grafik<br />

Seite 86).<br />

Diese Wachstumsraten locken auch die<br />

Finanzinvestoren. Der aus Deutschland<br />

stammende Wagniskapitalgeber Peter<br />

Thiel, spätestens seit seiner Beteiligung an<br />

Facebook eine Legende im Silicon Valley,<br />

hat zum Beispiel mit seinem Unternehmen<br />

Founders Fund Millionen in mehr als zehn<br />

Medizin-Start-ups gesteckt, darunter die<br />

Gesundheits-App Azumio und den Arzttermin-Service<br />

ZocDoc. Insgesamt zwei<br />

Milliarden Dollar sammelte die Branche<br />

2013 in den USA ein, berichtet der amerikanische<br />

Wagniskapitalgeber Rock Health.<br />

Viele der so finanzierten Start-ups erhoffen<br />

sich durch Apples Einstieg zusätzlichen<br />

Schub. Denn der Konzern hat schon mehrmals<br />

mit seinen benutzerfreundlichen<br />

Apps und Geräten ganze Branchen ins digitale<br />

Zeitalter katapultiert. Die Vision der<br />

Macher in Cupertino: Bald sollen wir unsere<br />

Gesundheit so einfach checken wie die<br />

Uhrzeit. Am besten mit der sagenumwobenen<br />

iWatch. Über die Fähigkeiten dieser<br />

Computeruhr als Fitness-Tracker und Medizin-Sensor<br />

hat die Tech-Szene während<br />

der vergangenen Monate heftig spekuliert.<br />

Sicher ist: Apple arbeitet bereits mit verschiedenen<br />

Krankenhäusern in den USA<br />

zusammen, darunter den renommierten<br />

Mayo-Kliniken. Künftig, so der Plan, sollen<br />

Ärzte über das Healthbook Fernzugriff auf<br />

ausgewählte Daten bekommen, die Wearables<br />

wie die iWatch liefern. „Mithilfe der<br />

App können Ärzte ungewöhnliche Messwerte<br />

früh erkennen“, sagt John Wald, medizinischer<br />

Direktor von Mayo Clinic, dem<br />

Betreiber der Kliniken.<br />

Wo Apple sich engagiert, ist Google nicht<br />

weit. Das Konkurrenzprodukt zum Healthbook<br />

hat der Suchmaschinenriese bereits<br />

vorgestellt. Google Fit soll die Medizinzentrale<br />

der Android-Handys werden. Um die<br />

Super-Rechner<br />

haben mehr<br />

medizinisches<br />

Wissen parat<br />

als jeder Arzt<br />

2 Baby-Fon<br />

Das Handy speichert Ultraschallbilder;<br />

ein Funk-Diaphragma meldet,<br />

wenn eine Frühgeburt droht.<br />

Messwerte der tragbaren Körpersensoren<br />

besser interpretieren zu könnten, betreibt<br />

der Konzern sogar medizinische Grundlagenforschung:<br />

Im Rahmen seines Projekts<br />

Baseline untersuchen Ärzte jeden Winkel<br />

der Körper von mehreren Hundert Freiwilligen,<br />

später sollen es sogar Tausende werden.<br />

Die Experten vermessen Organe, analysieren<br />

Gene, bestimmen Blutwerte. Der<br />

Ozean von Daten hilft Google, präziser zu<br />

entscheiden, welche Werte normal und<br />

welche ein Warnzeichen sind. Die Analyse<br />

riesiger Mengen von Bits und Bytes ist<br />

schließlich die Stärke des Konzerns.<br />

ILLUSTRATIONEN: THOMAS FUCHS<br />

88 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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3<br />

Pollen-Prüfer<br />

Blutgruppe, Allergien, Infektionen –<br />

das Handy speichert alle Daten, es<br />

meldet Pollenflug und Impftermine.<br />

wendiger Computersimulationen – verschiedene<br />

Krebsmedikamente, um das am<br />

besten wirkende Mittel zu finden. Für Tumorpatienten<br />

kann das eine Frage über Leben<br />

oder Tod sein. Bis es so weit ist, werden<br />

aber noch etliche Jahre vergehen.<br />

Deutlich schneller könnte es mit einem<br />

Medizinprojekt gehen, dessen Vorbild ausgerechnet<br />

aus der Science-Fiction-Serie<br />

„Star Trek“ stammt: dem Tricorder. Mit<br />

dem Gerät konnte Mannschaftsarzt Leonard<br />

McCoy – Spitzname Pille – auf dem<br />

Raumschiff Enterprise Kranke abscannen<br />

und so herausfinden, woran sie litten.<br />

Solch eine Technik soll es bereits in weniger<br />

als zwei Jahren als erste Prototypen auf<br />

der Erde geben. Das jedenfalls ist das Ziel<br />

eines Wettbewerbs, den die gemeinnützige<br />

X-Prize-Stiftung in den USA ausgelobt hat.<br />

Zehn Teams sind in der engeren Auswahl<br />

und wetteifern um Preisgelder von insgesamt<br />

zehn Millionen Dollar.<br />

Um zu gewinnen, müssen die Kontrahenten<br />

ein tragbares Minilabor bauen, das<br />

15 Krankheiten erkennt, darunter Diabetes,<br />

Hepatitis A, Tuberkulose oder einen<br />

Schlaganfall. Die meisten von ihnen lassen<br />

sich heute nur durch professionelle Untersuchungen<br />

des Bluts, der Haut oder der<br />

Lungen nachweisen. Künftig soll das mit<br />

Teststreifen, Infrarot-Thermometer, Kamera,<br />

Spektrometer und anderen Sensoren<br />

des Tricorders jedermann selbst können.<br />

Die Technik, so sie denn eines Tages<br />

funktioniert, soll unzählige überflüssige<br />

Praxisbesuche vermeiden, hoffen die<br />

X-Prize-Ausrichter. Statt wie heute bei Fieber<br />

zum Arzt gehen zu müssen, liefert<br />

künftig eine kleine Box, verbunden etwa<br />

mit dem iPhone, die Diagnose – das es<br />

dann womöglich auf Rezept gibt. Es entscheidet,<br />

was der Erkrankte tun soll. Niemand<br />

muss dann mehr stundenlang mit<br />

anderen Patienten im Wartezimmer sitzen.<br />

Besorgte Eltern können sich und ihren<br />

kränkelnden Kindern den Weg zum Kinderarzt<br />

sparen, wenn der Tricorder die Erkältung<br />

des Sprößlings als harmlos eingestuft<br />

hat – und es erst einmal mit Hausmitteln<br />

versuchen.<br />

Dieser High-Tech-Angriff von Apple,<br />

Google und Co. auf den Gesundheitsmarkt<br />

könnte eine heilsame Nebenwirkung haben:<br />

Er könnte die verkrusteten und hochregulierten<br />

Strukturen sprengen. Mit denen<br />

nicht nur viele Patienten höchst unzufrieden<br />

sind, sondern auch viele der Ärzte.<br />

Es wäre an der Zeit. Denn bisher blockte<br />

die Gesundheitslobby jeden Versuch ab,<br />

die allumfassende Weisheit der Mediziner<br />

infrage zu stellen. Gerade in Deutschland<br />

waren die Verbandsfürsten als Hüter des<br />

Traditionalismus damit sehr erfolgreich.<br />

TELEMEDIZIN STATT ÄRZTEMANGEL<br />

Die Folge: Was die Nutzung von E-Health,<br />

wie die digitale Medizin auch genannt<br />

wird, durch Allgemeinmediziner angeht,<br />

liegt Deutschland heute gerade im hinteren<br />

Mittelfeld, so eine Studie der Europäischen<br />

Union. Um genau zu sein auf Rang<br />

18, weit abgeschlagen hinter Vorreitern wie<br />

Dänemark, Spanien oder Estland.<br />

Dabei könnten telemedizinische Behandlungen<br />

in Deutschland den Ärztemangel<br />

lindern, der zu langen Wartelisten<br />

für Operationen und zu überfüllten Arztpraxen<br />

führt. Sie könnten chronisch Kranken<br />

den mühsamen Weg zum Arzt ersparen.<br />

Auch daher will Gesundheitsminister<br />

Bald checken<br />

wir unsere<br />

Gesundheit<br />

so einfach wie<br />

die Uhrzeit<br />

4 Fress-Feind<br />

Das Handy registriert Gewicht, Ernährung,<br />

Schlaf, Bewegungen und<br />

gibt persönliche Verhaltenstipps.<br />

Hermann Gröhe (CDU) spätestens bis Ende<br />

dieses Jahres ein passendes Gesetz auf<br />

den Weg bringen – nachdem sich in der vor<br />

Kurzem mit viel Getöse verkündeten Digitalen<br />

Agenda der Bundesregierung nur wenig<br />

zum Thema E-Health fand. In der Szene<br />

ist aber die Angst groß, dass von den<br />

Maßnahmen wie bei der elektronischen<br />

Gesundheitskarte, die vor acht Jahren an<br />

den Start ging, nicht viel übrig bleibt.<br />

Die Karte sollte ein Vorzeigeprojekt werden.<br />

Mit ihr sollten Ärzte und Patienten<br />

einfacher auf Bluttests oder Verschreibungen<br />

zugreifen können. Doppeluntersuchungen<br />

und Todesfälle, weil Patienten<br />

nicht zueinander passende Pillen eingenommen<br />

haben, wären passé gewesen.<br />

Doch es kam ganz anders, „weil immer<br />

irgendjemand ein Problem sah“, erinnert<br />

sich Medizin-Investor Müschenich, damals<br />

noch Vorstandsmitglied eines großen<br />

deutschen Krankenhauskonzerns. Neben<br />

Sorgen um den Datenschutz war es vor allem<br />

die Transparenz, die Mediziner, Kassen<br />

und Kliniken fürchteten. Denn durch<br />

die Karte wären ihre Leistungen kontrollierbar<br />

und vergleichbar geworden. Doch<br />

das deutsche Gesundheitswesen sollte Angebote<br />

und Technik in der 2005 eigens gegründeten<br />

Gesellschaft für Telematikanwendungen<br />

der Gesundheitskarte (Gematik)<br />

im Konsensverfahren selbst organisieren.<br />

So schafften es die Beteiligten, quasi<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 89<br />

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Technik&Wissen<br />

5 Fitness-Coach<br />

Sensoren und Apps im Handy<br />

vermessen jede Trainingseinheit und<br />

ersetzen den persönlichen Trainer.<br />

»<br />

alle medizinisch wichtigen und zukunftweisenden<br />

Ideen auszubremsen.<br />

Dabei hat allein die Gematik nach Angaben<br />

der Kassen bis heute rund eine Milliarde<br />

Euro verschlungen. Hinzu kommen<br />

Millionen an Investitionen, die Medizintechnikkonzerne<br />

wie Siemens oder Philips<br />

in das einst so ehrgeizige Projekt gesteckt<br />

haben – bisher ohne großen Erfolg. Mittlerweile<br />

hat Siemens sogar den Verkauf seiner<br />

Sparte für Krankenhaus-IT angekündigt.<br />

Die Konzerne ziehen sich zurück aus dem<br />

unsteten Geschäftsfeld. Letztlich sind nur<br />

Insellösungen entstanden.<br />

AUFBRUCH IN DEUTSCHLAND<br />

Müschenich erkannte damals, dass er<br />

selbst als Krankenhausvorstand wenig bewegen<br />

kann. Anfang 2012 kündigte er seinen<br />

alten Job. Er gründete die Start-up-Manufaktur<br />

Flying Health und nebenher den<br />

Bundesverband Internetmedizin. Die Zeit<br />

war reif: „Das deutsche Gesundheitswesen<br />

hat die Wünsche seiner Kunden über Jahre<br />

ignoriert“, sagt Müschenich, „und den<br />

Markt bereitet für junge Unternehmen mit<br />

geradezu respektlosen Ideen.“ Ganz gleich,<br />

ob Arztbewertungsportale, Videosprechstunden<br />

oder Übersetzungsservice für unverständliche<br />

Arztbriefe – die Start-ups geben<br />

den Menschen Werkzeuge in die<br />

Hand, um endlich als mündige Patienten<br />

ihren Ärzten gegenüberzutreten.<br />

»<br />

APPLE<br />

Tricorder am<br />

Handgelenk<br />

Zeigt Konzernchef Tim Cook endlich<br />

die iWatch? Sie gilt als entscheidendes<br />

Element seiner Medizinoffensive.<br />

Den 9. September haben sich zahllose<br />

Technikfans im Kalender markiert. Denn<br />

an diesem Dienstag stellt Apple im heimischen<br />

Cupertino seine neuesten Produkte<br />

vor. Dann wird Konzernchef Tim Cook, so<br />

sich denn die Gerüchte bewahrheiten,<br />

nicht nur mit dem iPhone 6 die jüngste<br />

Smartphone-Generation präsentieren –<br />

sondern auch eine Computeruhr. Der US-<br />

Blog , den die im Silicon Valley<br />

bestens verdrahtete Technikjournalistin<br />

Kara Swisher führt, ist sicher: „Apple wird<br />

ein neues tragbares Gerät zeigen.“<br />

Eine smarte Uhr an sich wäre nichts<br />

Neues. Schließlich haben Samsung, LG<br />

und Co. längst eine Armada solcher Geräte<br />

auf den Markt gebracht, auf denen ihre<br />

Nutzer SMS oder Routeninfos ablesen.<br />

Um Aufsehen zu erregen, müsste Apple<br />

schon eine revolutionäre Uhr erfinden, eine<br />

Zeitmaschine, die uns in eine Science-<br />

Fiction-Welt katapultiert.<br />

Und so halten sich die Gerüchte, dass<br />

Apple an nicht weniger als einem Gesundheitsscanner<br />

fürs Handgelenk arbeitet,<br />

ähnlich wie dem Tricorder aus der Fernsehserie<br />

„Star Trek“. Er soll die Schritte<br />

seines Besitzers zählen, Laufstrecken aufzeichnen<br />

und den Schlaf protokollieren.<br />

Dazu dürfte sich das Gerät per Funk mit<br />

So und doch anders Idee eines US-Designers,<br />

wie Apples Uhr aussehen könnte<br />

dem Smartphone koppeln und Daten in<br />

die App Healthbook speisen, mit der Apple<br />

das Handy zur digitalen Patientenakte<br />

und zum Gesundheits-Coach macht.<br />

Vermutlich entwickelt Apple aber noch<br />

weit ausgefeiltere Sensoren, die sogar<br />

Krankheiten erkennen. Denn der Konzern<br />

hat Medizintechnikexperten angeheuert,<br />

darunter Ueyn Block. Er war Chefingenieur<br />

des gescheiterten Start-ups C8<br />

MediSensors. Dort hatte er einen Sensor<br />

mitentwickelt, der per Lichtstrahl durch<br />

die Haut den Blutzuckerspiegel misst.<br />

Diabetiker, die sich bisher mehrmals am<br />

Tag in den Finger piksen, um ihr Blut zu<br />

untersuchen, könnten mit der neuen Methode<br />

ihre Glucosewerte rund um die Uhr<br />

beobachten und genauer das Insulin dosieren,<br />

das sie sich regelmäßig spritzen<br />

müssen. Das hilft, schwere Folgeschäden<br />

zu vermeiden. Wird schon die erste Version<br />

der iWatch einen solchen revolutionären<br />

Blutscanner haben? Derzeit scheint<br />

das eher unwahrscheinlich.<br />

UHR ÖFFNET HAUSTÜR<br />

Dennoch erwartet die US-Bank Morgan<br />

Stanley, dass Apple in den ersten zwölf<br />

Monaten nach Verkaufsstart 30 bis 60<br />

Millionen Exemplare seiner iWatch verkaufen<br />

könnte. Nicht nur weil sie medizinische<br />

Daten liefert, sondern so etwas<br />

wie die Fernbedienung des Alltags werden<br />

soll: Der Nutzer kann vermutlich<br />

Textnachrichten diktieren, die Stereoanlage<br />

fernsteuern und sogar Lampen, Türschlösser<br />

oder Thermostate bedienen.<br />

Die nötige Software dazu bringt Apple im<br />

Herbst heraus: Die App HomeKit soll<br />

iPhone und iPad zu Schaltzentralen für<br />

Smart-Home-Geräte machen. Vielleicht<br />

wird die iWatch auch als virtuelle Geldbörse<br />

dienen. Mithilfe eines Funkchips<br />

soll der Nutzer bald an vielen Supermarktkassen<br />

zahlen können.<br />

Was bringt der Dienstag noch? Natürlich<br />

das neue iPhone 6. Analysten der kanadischen<br />

Investmentbank RBC Capital<br />

Markets rechnen mit bis zu 75 Millionen<br />

verkauften Geräten im ersten Quartal –<br />

26 Millionen mehr als im Vorjahreszeitraum.<br />

Beobachter erwarten einen schnelleren<br />

Prozessor, ein größeres Display und<br />

einen besseren Akku. Das alles sind Fortschritte<br />

– aber keine Revolution. Wenn<br />

sie kommt, dann wohl in Form eines Armbands<br />

(mehr auf wiwo.de/apple).<br />

andreas.menn@wiwo.de<br />

FOTO: MARK BELL/BELM DESIGNS; ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS<br />

90 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Technik&Wissen<br />

6 Haus-Arzt<br />

Zur Sprechstunde lädt der Arzt<br />

künftig per Videoanruf – und schaltet<br />

bei Bedarf Fachkollegen dazu.<br />

»<br />

So wie der untersetzte 30-Jährige, der<br />

mit einer schmerzenden Schulter und<br />

ziemlich verwirrt zu Anja Bittner gekommen<br />

ist. Drei Wochen nach einem Sturz<br />

war er zur Kernspintomografie im Krankenhaus<br />

gewesen und erhielt einen zehn<br />

Zeilen langen Befund – voller Rätsel. Von<br />

„blutigen Imbibierungen“ und von „corticalen<br />

Defektbildungen“ ist die Rede. Der<br />

Patient verstand kein Wort. Zeile für Zeile<br />

geht die Medizinerin Bittner daher in ihrem<br />

Büro den Bericht durch und übersetzt<br />

jeden Fachbegriff. Bis aus den zehn Sätzen<br />

medizinischen Formeln auf sechs Seiten<br />

verständliches Deutsch geworden ist. Das<br />

Ergebnis: Die Schulter ist ausgekugelt.<br />

SPIELERISCH ABNEHMEN<br />

Bittner ist Gründerin des gemeinnützigen<br />

Dresdner Internet-Portals Washabich.de.<br />

Jede Woche laufen auf der Seite rund 150<br />

Krankheitsberichte, Röntgenbefunde oder<br />

Entlassungsbriefe aus dem Krankenhaus<br />

ein. Die Patienten laden die Dokumente<br />

hoch, und die mehr als 1000 freiwilligen<br />

Ärzte und Medizinstudenten ab dem achten<br />

Semester übersetzen die Dokumente –<br />

kostenlos. „Die Menschen verändern sich“,<br />

sagt Bittner. „Vor 40 Jahren hätte noch kein<br />

Patient seinen Arzt gefragt, warum er denn<br />

diese Pillen überhaupt nehmen soll. Heute<br />

fordern sie mehr Infos – und wollen mehr<br />

selbst entscheiden.“<br />

Der Umbruch hat Deutschland endlich<br />

erreicht, trotz aller Hindernisse. Wo große<br />

Medizintechnikkonzerne und auch die Politik<br />

noch auf einen Startschuss zu warten<br />

scheinen, haben sich Start-ups und Patienten<br />

bereits auf den Weg begeben. Junge<br />

Unternehmer wie Bittner arbeiten hierzulande<br />

an einer besseren Kommunikation<br />

zwischen Arzt und Patient, an einer besseren<br />

Versorgung für chronisch Kranke und<br />

an innovativen Behandlungsmethoden.<br />

Das lockt wie in den USA auch hierzulande<br />

die Geldgeber an. Allein im vergangenen<br />

Jahr haben sich mehrere Risikokapitalfirmen<br />

gebildet, die ihren Fokus ganz auf<br />

die Gesundheit richten: etwa der Berliner<br />

Fonds XL Health, der innerhalb der nächsten<br />

drei Jahre 50 Millionen Euro investieren<br />

will. Das Geld kommt von Frank Gotthardt,<br />

Gründer und Vorstandschef der Koblenzer<br />

CompuGroup Medical, einem<br />

Softwareanbieter für Ärzte.<br />

Entwicklungen wie Healthbook treiben<br />

die Start-ups weiter an. „Apple nimmt uns<br />

Arbeit ab“, freut sich Sebastian Gaede, ein<br />

smarter Ökonom Anfang 30. Der IT-Riese<br />

kümmere sich etwa um die Anbindung der<br />

Wearables und schaffe Standards, damit<br />

die Patienten problemlos ihren Blutdruck<br />

oder ihre Insulinwerte an Apps senden<br />

könnten, „wir können uns dann voll auf<br />

das Nutzererlebnis konzentrieren“. Gaede<br />

hat in München gemeinsam mit Philipp<br />

Legge und Julian Weddige, einst Kollegen<br />

in einer Beratung, das Start-up SmartPatient<br />

gegründet. Ihre App MyTheraphy unterstützt<br />

chronisch Kranke bei ihrem täglichen<br />

Kampf gegen die Krankheit. Sie erinnert<br />

daran, Medikamente einzunehmen,<br />

und zeigt den Patienten in hübschen, zartblauen<br />

Grafiken jeden Tag, wie nah sie ihren<br />

Zielen schon gekommen sind.<br />

Das ist wichtig, denn Patienten weichen<br />

allzu oft von der verordneten Therapie ab –<br />

etwa weil Medikamente unangenehme<br />

Nebenwirkungen haben, sie die Anweisungen<br />

ihres Arztes vergessen oder nicht<br />

Therapie-Apps<br />

ersparen chronisch<br />

Kranken<br />

den mühsamen<br />

Weg zum Arzt<br />

7<br />

Pillen-Prüfer<br />

Arzneidosen mit Funkchip und Tabletten-Tagebücher<br />

als App erinnern<br />

Patienten an die nächste Einnahme.<br />

richtig verstanden haben. Was jährlich in<br />

Deutschland einen Schaden von bis zu 75<br />

Milliarden Euro verursacht, so eine Studie<br />

der Bertelsmann Stiftung.<br />

Das Smartphone könne da zur „helfenden<br />

Hand“ werden, die klar strukturierte<br />

Etappenziele vorgebe, erklärt der Münchner<br />

Berater Michael Mücke von Mücke,<br />

Sturm & Company. Gamification heißt das<br />

Schlagwort, das die Menschheit gesünder<br />

machen soll. Natürlich weiß jeder Übergewichtige<br />

auch ohne digitale Hilfe, dass es<br />

besser wäre, weniger zu essen und sich<br />

mehr zu bewegen. Gesundheit, Sport und<br />

Abnehmen macht aber auf einmal mehr<br />

Spaß, weil wir uns per Apps und Internet<br />

täglich mit anderen messen oder unseren<br />

eigenen Fortschritt beobachten können.<br />

VERSICHERER ZAHLEN<br />

Mittlerweile haben die ersten Krankenkassen<br />

entdeckt, dass die Ideen der Start-ups<br />

durchaus Potenzial haben. So kooperiert<br />

das Online-Portal Medexo.de, dessen Experten<br />

eine medizinische Zweitmeinung<br />

als Gutachten geben, bereits mit mehr als<br />

zehn Kassen, darunter auch die AOK.<br />

Und seit wenigen Monaten gibt es auch<br />

die ersten Apps auf Rezept: Die Barmer<br />

GEK überschritt als Erste die unsichtbare<br />

Linie, indem sie die Spiele von Caterna für<br />

ihre Patienten mit Sehstörungen anerkannte.<br />

Und bei der Deutschen BKK kön-<br />

ILLUSTRATIONEN: THOMAS FUCHS<br />

92 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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8 9<br />

Patienten-Kladde<br />

Chirurgen sehen alle Befunde und<br />

Bilder des Patienten auf dem Display<br />

von Handy oder Datenbrille.<br />

nen sich Patienten, die sich von einem<br />

Schlaganfall erholen, die Kosten für das<br />

Gehirntraining-Programm des Berliner<br />

Start-ups Synaptikon erstatten lassen.<br />

Der Kölner AXA-Konzern kooperiert<br />

ebenfalls mit einem Web-Dienstleister. So<br />

arbeitet der Versicherer mit dem niedersächsischen<br />

Unternehmen Novego zusammen,<br />

das Burn-out-Gefährdeten und Menschen<br />

mit depressiven Symptomen übers<br />

Netz Begleitung durch geschultes Personal<br />

anbietet. Betroffene können Zugangsdaten<br />

für den Dienst erhalten, dessen Kosten Axa<br />

bei einer Kranken-Vollversicherung übernimmt.<br />

„Die Möglichkeit, auf digitalem<br />

Wege zu jeder Tages- und Nachtzeit durch<br />

einen Psychologen beraten zu werden, ist<br />

natürlich kein Ersatz für eine vollwertige<br />

Therapie“, räumt Wolfgang Hanssmann,<br />

Vorstand der AXA Krankenversicherung<br />

ein, „aber ein schnelles, leicht verfügbares<br />

Angebot, um sofort Hilfe zur Selbsthilfe zu<br />

erhalten und beispielsweise die Zeit bis<br />

zum Beginn einer psychologischen Behandlung<br />

zu überbrücken.“<br />

Doch noch sind das punktuelle Projekte.<br />

In der deutschen Versicherungswirtschaft<br />

dominiert noch Unsicherheit über die angemessene<br />

Strategie zur Digitalisierung<br />

des Gesundheitssektors. „Natürlich fragt<br />

sich die ganze Branche, ob Google künftig<br />

auch Versicherungsdienste anbietet“, sagt<br />

etwa der Stratege eines Versicherers.<br />

„Doch eine schlüssige Strategie hat bisher<br />

niemand.“ Und bei den Spitzenverbänden<br />

der Versicherungsbranche herrscht ebenfalls<br />

Ratlosigkeit ob des digitalen Wandels:<br />

„Uns ist nicht bekannt, ob oder wer sich<br />

von unseren Mitgliedern mit dem Thema<br />

befasst“, heißt es unisono.<br />

Auch die Pharmabranche tut sich<br />

schwer mit der digitalen Transformation.<br />

Nur einige Firmen haben bisher eigene,<br />

aufwendigere Apps auf den Markt gebracht,<br />

wie Janssen Cilag, das zum US-<br />

Konzern Johnson & Johnson gehört, oder<br />

MSD Sharp & Dohme, eine Tochter des<br />

amerikanischen Pharmariesen Merck &<br />

Co. Sie fungieren etwa als Gesundheitstagebücher<br />

oder erinnern daran, Medikamente<br />

einzunehmen. Eher ausgefallen ist<br />

da die WC-Finder-App von MSD für darmgeplagte<br />

Patienten, die dringend eine öffentliche<br />

Toilette benötigen. Aber: Die<br />

meisten der Angebote können kaum mit<br />

den oft wesentlich nutzerfreundlichen Produkten<br />

der Start-ups mithalten.<br />

Überwacht die<br />

Krankenkasse<br />

bald via Handy,<br />

wie viel Sport<br />

ich treibe?<br />

Geh-Hilfe<br />

Sensor-Schuhe und Apps überwachen<br />

die Fortschritte bei<br />

Rehabilitationsprogrammen.<br />

OFFENE FRAGEN<br />

Und dann gibt es die Ideen, die vielen Ärzten<br />

zu weit gehen. Die ihnen Angst einjagen,<br />

aus Sorge um eine Medizin, in der der<br />

persönliche Kontakt nichts mehr wert ist –<br />

oder aus Sorge um das eigene Geschäft.<br />

Eine dieser Ideen ist die Hautarzt-App<br />

Klara, ehemals Goderma. Dahinter stehen<br />

zwei beste Freunde: Simon Lorenz, zerzauste<br />

Frisur und ein rundes, freundliches<br />

Gesicht, ist der Visinär im Duo. Und Simon<br />

Bolz, kurze Stoppeln am Kinn und auch auf<br />

dem kurz geschorenen Kopf, der Stratege.<br />

Ihre Idee ist einfach, aber umstritten: Patienten<br />

können Muttermale, Ausschläge<br />

und andere Hautprobleme mit dem Handy<br />

fotografieren und an Klara schicken. Ein<br />

Hautarzt guckt sich die Bilder an und gibt<br />

eine erste Einschätzung. Preis: 29 Euro.<br />

Lorenz und Bolz zogen damit den<br />

Missmut der Berliner Ärztekammer auf<br />

sich. Denn laut der ärztlichen Berufsordnung<br />

dürfen Ärzte keine Diagnose stellen,<br />

ohne die Patienten zu sehen. Klara gebe nur<br />

eine erste Einschätzung, verteidigen die<br />

Gründer ihr Produkt. Doch neben einer Vermutung<br />

zur Diagnose sind in den Gutachten<br />

auch Empfehlungen zur Linderung und<br />

zur üblichen Behandlung des Leidens enthalten.<br />

Die Berliner Ärztekammer horchte<br />

daher bei den für Klara aktiven Ärzten nach<br />

– ohne aber den Dienst zu verbieten.<br />

Doch die Patienten haben sich längst<br />

entschieden, Klara zu nutzen. 125 000<br />

Downloads in 100 Ländern verzeichnet die<br />

App. Vor allem Fotos von Ausschlägen oder<br />

Hautveränderungen durch sexuell übertragbare<br />

Krankheiten landen bei den Ärzten,<br />

die für ihr Gutachten einen Großteil<br />

der Gebühr erhalten. Klara expandiert nun<br />

in die USA: In New York hat das deutsche<br />

Start-up gerade ein Büro eröffnet.<br />

Bei all den neuen Angeboten ist es für die<br />

Patienten nicht leicht, die für sie richtigen<br />

zu finden. 379 000 Apps, davon allein<br />

43 000 bei iTunes, hat Oliver Scheel, Pharmaexperte<br />

bei der Unternehmensberatung<br />

A.T. Kearney, gezählt und gibt zu bedenken:<br />

„Viele Anwendungen sind zweifelhaft,<br />

da sie oft nur wie Gimmicks oder nicht zu<br />

Ende gedacht sind.“ Anders als Ärzte haben<br />

die Manager von IT-Firmen keinen hippokratischen<br />

Eid geschworen, der sie verpflichtet,<br />

Patienten nicht zu schaden. Sollten<br />

die Gesundheitsbehörden daher »<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 93<br />

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Technik&Wissen<br />

10 Leib-Wächter<br />

Senioren leben dank Ferndiagnose<br />

per Handy länger daheim. Sensoren<br />

alarmieren bei Stürzen Helfer.<br />

»<br />

Apps prüfen und zulassen? Erhält derjenige,<br />

der Sport treibt, sich gesund ernährt<br />

und sich dabei per App überwachen lässt,<br />

günstigere Versicherungskonditionen?<br />

Was ist mit Menschen, die sich trotz allem<br />

nicht selbst mit Wearables vermessen wollen?<br />

Müssen sie höhere Prämien zahlen?<br />

Wer die digitalen Gesundheitshelfer<br />

nutzt, emanzipiert sich zwar von den klassischen<br />

Medizinern. Aber er begibt sich in<br />

neue Abhängigkeiten. Man muss nicht so<br />

weit gehen, wie der Berliner Philosoph<br />

Byung-Chul Han, der Menschen, die Selftracking<br />

betreiben, für „Zombies“ hält: „Sie<br />

sind Puppen, die von unbekannten Gewalten<br />

am Draht gezogen werden.“ Doch die<br />

Macht über die Gesundheitsdaten von Millionen<br />

Menschen ist eine große Verlockung<br />

für dubiose Geschäfte. Bei Apple scheint<br />

das Bewusstsein für die Gefahr zu wachsen.<br />

Der Konzern hat gerade die Regeln für<br />

Entwickler von Gesundheits-Apps verschärft<br />

und explizit verboten, Kundeninfos<br />

weiterzuverkaufen oder auch nur im Speicherdienst<br />

iCloud zu sichern. Ob das genügt,<br />

bleibt abzuwarten.<br />

Klar ist: Verspielt die IT-Branche durch<br />

Datenlecks und Bespitzelung das Vertrauen<br />

der Kunden, ist das Geschäft mit der Gesundheit<br />

schneller am Ende, als es begonnen<br />

hat.<br />

n<br />

jacqueline.goebel@wiwo.de, lothar kuhn, thomas kuhn,<br />

susanne kutter, andreas menn, jürgen salz<br />

INTERVIEW Franz Porzsolt<br />

»Unglaublicher Datensalat«<br />

Warum der Ulmer Gesundheitsökonom mehr Probleme als Chancen<br />

sieht, wenn Apple und Co. in die Internet-Medizin einsteigen.<br />

Professor Porzsolt, über die Zukunft der<br />

Medizin scheinen nicht mehr die Ärzte,<br />

sondern die IT-Konzerne zu bestimmen.<br />

Können wir deren Versprechen trauen,<br />

uns gesünder machen zu wollen?<br />

Apple, Google und viele andere haben<br />

jedenfalls erkannt, dass sie mit Gesundheit<br />

gute Geschäfte machen können.<br />

Das ist nicht der beste Ansatz – jedenfalls<br />

nicht für unser Wohlergehen. Ich sehe<br />

eine Menge Probleme auf uns zukommen,<br />

aber auch einige Chancen.<br />

Was ist das Hauptproblem?<br />

Die meisten Nutzer werden viele der angebotenen<br />

Leistungen – die sie aus eigener<br />

Tasche zahlen – nicht verstehen und<br />

allen möglichen Fehlinterpretationen<br />

aufsitzen, die sie verunsichern. Etwa<br />

dem Irrglauben, Früherkennungstests<br />

führten zu längerem Leben. Im Zweifelsfall<br />

wissen die Patienten nur länger, dass<br />

sie krank sind. Machen sie ohne jeden<br />

Anfangsverdacht wahllos alle möglichen<br />

Tests, verlängert das nicht ihre Lebens-,<br />

sondern ihre Leidenszeit.<br />

Aber auch Ärzte raten doch laufend zu<br />

Früherkennungsuntersuchungen?<br />

Tatsächlich ist der 300 Jahre alte Glaubenssatz<br />

kaum auszurotten, wir könnten<br />

eine Krankheit umso besser heilen, je<br />

eher wir sie entdecken.<br />

Doch große Studien zu<br />

Brust- und Darmkrebs haben<br />

gezeigt, dass dies nicht<br />

stimmt.<br />

Das ist aber kein<br />

spezifisches Problem<br />

der Internet-Medizin.<br />

Nein, aber hier wird es gravierende<br />

Folgen haben.<br />

Eben weil viel mehr Menschen<br />

diese attraktiven<br />

Apps nutzen werden als<br />

klassische Untersuchungen.<br />

Doch die Diagnosen,<br />

welche die Programme<br />

liefern, werfen weitere Fragen<br />

auf. Das zieht Folgeuntersuchungen<br />

nach sich –<br />

und treibt die Kosten im<br />

DER SKEPTIKER<br />

Porzsolt, 68, leitet die<br />

Versorgungsforschung<br />

der Ulmer Universitätsklinik.<br />

Er ist ein Pionier der<br />

Klinischen Ökonomik, die<br />

viele etablierte Therapien<br />

kritisch bewertet.<br />

Gesundheitswesen, ohne einen großen<br />

Nutzen zu stiften.<br />

Die Ärzte sind mehr gefordert als zuvor?<br />

Im Zweifelsfall ja – einfach um die Ergebnisse<br />

einzuordnen. So weiß kaum ein<br />

Laie, ob ein Test sensitiv oder spezifisch<br />

ist. Der sensitive Test ist sehr empfindlich<br />

und meldet alles, was nur den geringsten<br />

Verdacht erregt. Damit ist aber<br />

die Rate der Fehlalarme sehr hoch. Andererseits<br />

kann ich sehr sicher sein, gesund<br />

zu sein, wenn der Test nicht anschlägt.<br />

Der spezifische Test ist dagegen<br />

eher darauf ausgerichtet, ganz sicher alle<br />

Gesunden zu finden. Da ist die Rate der<br />

nicht entdeckten Erkrankungen höher.<br />

Das muss ich wissen, um ein Testergebnis<br />

richtig einschätzen zu können.<br />

Ist das auch allen Medizinern klar?<br />

Sie sollten es wissen. Tatsächlich vertrauen<br />

die Menschen den Ärzten immer<br />

weniger und erhoffen sich stattdessen<br />

klare Antworten aus dem Netz. Dabei geben<br />

sie sehr private Informationen preis,<br />

die sicher nicht nur Versicherungen und<br />

Arbeitgeber interessieren dürften.<br />

Sind die Daten bei Apple und Co. sicher?<br />

Ich glaube nicht. Ich hoffe aber, dass wir<br />

bald sichere Lösungen finden. Denn es<br />

könnte die Forschung wirklich voranbringen,<br />

wenn Patienten<br />

etwa Rückmeldungen über<br />

die Wirksamkeit eines Arzneimittels<br />

geben könnten.<br />

So ließe sich der Nutzen einer<br />

Therapie wesentlich<br />

fundierter bewerten. Aus<br />

dem bisher gesammelten<br />

unglaublichen Datensalat<br />

Wissen ziehen zu wollen<br />

halte ich dagegen für vermessen.<br />

Wo nutzt E-Health schon<br />

heute?<br />

Wenn Apps Menschen tatsächlich<br />

motivieren würden,<br />

mehr Sport zu treiben,<br />

wäre das ein immenser gesundheitlicher<br />

Gewinn.<br />

susanne.kutter@wiwo.de<br />

FOTO: PR; ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS<br />

94 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Technik&Wissen<br />

VALLEY TALK | Ein Start-up aus San Francisco nutzt<br />

die Schwächen der Online-Riesen aus und formt<br />

aus deren Angeboten kreative neue Internet-Dienste.<br />

Von Matthias Hohensee<br />

Rosinen picken im Netz<br />

FOTO: JEFFREY BRAVERMAN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

Geht es um Industriedesign, ist<br />

Ideo aus Palo Alto eine der prominentesten<br />

Adressen der Welt.<br />

Wer hier einen der begehrten<br />

Jobs ergattert, ist besonders talentiert. So<br />

wie der Ingenieur Linden Tibbets. Trotzdem<br />

kündigte er Anfang 2011 seine Stelle<br />

bei der Designschmiede, um Unternehmer<br />

zu werden.<br />

Mit seinem Bruder Alexander hatte er die<br />

simple, aber mächtige Idee, eine zentrale<br />

Schaltstelle im Netz zu schaffen, über die<br />

Onliner verschiedenste Internet-Angebote<br />

zu neuen persönlichen Web-Diensten verknüpfen<br />

können. Etwa jedes neue Foto auf<br />

dem iPhone automatisch zum Speicherdienst<br />

Dropbox hochladen zu lassen oder<br />

sich <strong>vom</strong> E-Mail-Dienst Warnnachrichten<br />

aufs Handy schicken zu lassen, falls der<br />

Wetterdienst Regen vorhersagt. Nach den<br />

dafür nötigen Regeln – „wenn dies passiert,<br />

soll jenes geschehen“– nannten die Brüder<br />

ihr Ende 2010 in San Francisco gegründetes<br />

Start-up IFTTT, für „If This Then That“.<br />

Heute sind auf der Plattform jede Menge<br />

populäre Web-Angebote verzeichnet, die<br />

sich verknüpfen lassen, wie Facebook,<br />

LinkedIn, Ebay, Flickr und Evernote. Die<br />

„Channels“, Kanäle, genannten Dienste<br />

wählt der Nutzer aus und sieht dort, welche<br />

automatisierten Abläufe, genannt „Recipes“,<br />

es bereits gibt. Mit einem Klick wählt<br />

er einen aus, mit einigen mehr pickt er sich<br />

aus den digitalen Rosinen im Netz ein persönliches<br />

Recipe zusammen. Heute verzeichnet<br />

die Plattform 125 solcher Kanäle<br />

und etwa 14 Millionen genutzte Abläufe.<br />

Einige Millionen Nutzer dürfte IFTTT<br />

schon haben – mich inklusive. Denn der<br />

Dienst ist überaus nützlich: Da mein Auto<br />

keinen Bordcomputer hat, nutze ich einen<br />

Auswertungs-Chip <strong>vom</strong> Start-up Automatic<br />

Labs aus San Francisco. Das Gerät steckt<br />

am Diagnoseanschluss meines Wagens und<br />

funkt nach der Fahrt die Daten zu Fahrtstrecke,<br />

-zeit und Benzinverbrauch via<br />

Bluetooth an eine App in meinem Handy.<br />

Das war im Grunde ideal, wenn man geschäftliche<br />

Fahrten protokollieren will. Nur<br />

hatte die App lange eine entscheidende<br />

Schwäche: Die Daten automatisch in ein<br />

Dokument oder eine Tabellenkalkulation zu<br />

laden stellte die Programmierer von Automatic<br />

Labs vor Probleme. Als sich immer<br />

mehr Nutzer darüber beschwerten, banden<br />

sie ihren Dienst bei IFTTT ein und ermöglichen<br />

es nun auf diesem Weg, Fahrten automatisch<br />

online zu speichern.<br />

AUTO ALS LICHTSCHALTER<br />

Was als Übergang gedacht war, funktioniert<br />

so gut, dass Automatic Labs gemeinsam<br />

mit IFTTT an weiteren automatischen Routinen<br />

arbeitet. Dass also beispielsweise im<br />

Haus das Licht angeht, sobald man mit<br />

dem Auto in die Einfahrt steuert. Das<br />

klappt, weil auch Hersteller von Heimautomatisierungstechnik<br />

wie Belkin oder Philips<br />

Kanäle auf der Plattform anbieten.<br />

Solche Funktionen mögen nicht für alle<br />

hilfreich sein, manchen sogar nerven. Der<br />

Vorteil ist aber, dass sich jeder seinen Lieblingsdienst<br />

via Internet zusammenstellen<br />

kann, statt sich mit überfrachteten Programmen<br />

mit Dutzenden Bedienoptionen<br />

herumschlagen zu müssen.<br />

Mehr noch, als unabhängige Plattform<br />

kann IFTTT sogar Dienste verschiedenster<br />

Anbieter miteinander verknüpfen – auch<br />

über Betriebssystemgrenzen hinweg. Und<br />

das gilt nicht nur für reine Web-Dienste,<br />

sondern auch für jede Menge realer, mit<br />

dem Internet vernetzter Geräte.<br />

All das macht die Plattform hoch attraktiv<br />

– und die Wagnisfinanzierer wetten auf<br />

den langfristigen Erfolg. Linden und Alexander<br />

Tibbets haben gerade 30 Millionen<br />

Dollar von prominenten Silicon-Valley-Investoren<br />

wie Andreessen Horowitz sowie<br />

Norwest Venture Partners eingesammelt –<br />

nach 8,5 Millionen aus früheren Runden.<br />

So viel Kapital soll nun ein möglichst profitables<br />

Geschäft nach sich ziehen – diesen<br />

Automatismus aber müssen die Gründer<br />

erst noch programmieren.<br />

Der Autor ist WirtschaftsWoche-Korrespondent<br />

im Silicon Valley und beobachtet<br />

von dort seit Jahren die Entwicklung der<br />

wichtigsten US-Technologieunternehmen.<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 97<br />

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Management&Erfolg<br />

Kollege Kunde<br />

DIGITALE MARKENFÜHRUNG | Bewertungen schreiben, Inhalte verbreiten, Produkte<br />

entwickeln: Vor allem Unternehmen, die ihre Kunden für sich einspannen,<br />

sind im Internet erfolgreich. Eine exklusive Studie zeigt, an welchen Konzernen sich<br />

andere ein Beispiel nehmen sollten.<br />

Quietschende Reifen, dröhnende<br />

Motoren – fünf rote BMW<br />

schießen in den dreispurigen<br />

Kreisverkehr. Vollbremsung.<br />

Stille. Passanten bleiben verdutzt<br />

stehen, fotografieren das Spektakel.<br />

An den Lenkrädern sitzen professionelle<br />

Stuntfahrer, die eineinhalb Minuten ihr<br />

Können zeigen. Mit einem Tritt aufs Gaspedal<br />

beginnt die perfekt abgestimmte<br />

Choreografie: Die Wagen schleudern umher,<br />

rutschen parallel zueinander um die<br />

Kurve, rasen aufeinander zu, driften im<br />

vollen Tempo aneinander vorbei.<br />

„Nur mit solchen, überraschenden Aktionen<br />

können wir uns von der Masse abheben“,<br />

sagt Marketingchef Steven Althaus.<br />

Außerdem passe der Inhalt perfekt<br />

zu den Werten der Marke – Fahrfreude<br />

und Dynamik. „Die Zielgruppe identifiziert<br />

sich gerne mit professionellen Piloten.“<br />

Die Zahlen geben dem 46-jährigen Marketingmanager<br />

recht: Weit mehr als 13<br />

Millionen Mal haben Internet-Nutzer das<br />

eigens fürs Netz produzierte Video Driftmob<br />

auf YouTube seit dem Start Ende Juli<br />

angesehen, auf Facebook hatte es nach<br />

vier Wochen mehr als 60 000 Gefällt-mir-<br />

Angaben eingesammelt. Und knapp 1500<br />

BMW-Fans haben den Spot und das zugehörige<br />

Making-of-Material mit Freunden<br />

und Bekannten geteilt.<br />

Sechs Monate hat der Autobauer an<br />

dem Video getüftelt – der Aufwand hat sich<br />

gelohnt. „Internet-Videos erreichen vielleicht<br />

nicht die Massen wie klassische<br />

Fernsehspots, die direkt vor der Tagesschau<br />

laufen“, sagt Marketingprofessor<br />

Thorsten Hennig-Thurau von der Westfälischen<br />

Wilhelms-Universität<br />

Münster. „Aber es ist ein gravierender<br />

Unterschied, ob ich als<br />

Konsument passiv und mit ganz<br />

anderen Absichten vor dem<br />

Fernseher sitze oder selbst initiiert<br />

und ganz und gar freiwillig das Video<br />

anklicke, um es bewusst zu sehen.“<br />

Natürlich: Nicht jedes YouTube-Video<br />

wird zum Hit. Laut einer Studie der Social-<br />

Media-Beratung SocialFlow rufen 99 Prozent<br />

aller Einträge in den sozialen Netz-<br />

Erst mal ins Internet<br />

So informieren sich Kunden vor einer<br />

Kaufentscheidung<br />

Informationen im<br />

Geschäft<br />

Öffentliche<br />

Werbung<br />

Empfehlung<br />

von Freunden<br />

und Familie<br />

5,0<br />

20,2<br />

Direktmarketing 5,0<br />

18,4<br />

11,6<br />

6,9<br />

6,2<br />

18,5<br />

5,0 Fernsehen<br />

3,2 Radio<br />

Zeitungen und<br />

Zeitschriften<br />

Bei diesen Produkten schauen die Käufer<br />

besonders häufig ins Netz (in Prozent)<br />

62<br />

61<br />

61<br />

53<br />

48<br />

%<br />

Reisen<br />

Soziale<br />

Medien<br />

Internet<br />

Beratung durch<br />

einen Verkäufer<br />

Unterhaltungselektronik<br />

Energieversorger<br />

Telekommunikation<br />

Automobil<br />

Quelle: German Digitalization Consumer Report 2014<br />

werken überhaupt keine Reaktion<br />

hervor. Umso wertvoller sind<br />

Fotos und kurze Filmchen, die<br />

den Nerv der Netzgemeinde treffen<br />

und sich wie ein digitales<br />

Lauffeuer verbreiten.<br />

„Aktive Markenfans sind unbezahlbar“,<br />

sagt Alexander Kiock, Geschäftsführer der<br />

Berliner Strategieagentur diffferent.<br />

„Denn die Nutzer wirken nicht nur als<br />

Multiplikatoren, sie geben ihre Empfehlung<br />

auch noch freiwillig ab. Das ist viel<br />

authentischer und schafft mehr Kundennähe,<br />

als würde ein Unternehmen sich<br />

plump selbst anpreisen.“<br />

WILDWUCHS BESEITIGT<br />

Viele der BMW-Fans teilen nicht nur die<br />

Inhalte des Autobauers, sondern präsentieren<br />

auf den sozialen Kanälen von BMW<br />

auch selbst produziertes Material: zum<br />

Beispiel Fotos von ihren Kindern, die auf<br />

dem Fahrersitz hocken, mit ihren kurzen<br />

Beinchen aber längst nicht bis zum Gaspedal<br />

kommen. Oder einen mit Blumen geschmückten<br />

Hochzeits-BMW. Ebenso<br />

können die Internet-Nutzer über das sogenannte<br />

Co-Creation Lab Ideen zur Verbesserung<br />

der Wagen einbringen – 4758 Freizeitentwickler<br />

sind schon angemeldet.<br />

Gründe genug für diffferent, BMW bei<br />

der diesjährigen Auswertung der Studie<br />

Digital Brand Champion zum Sieger zu küren.<br />

Insgesamt hat die Agentur 125 Marken<br />

aus 22 Branchen anhand von vier Kategorien<br />

und 16 dazugehörigen Kriterien untersucht<br />

(siehe Methode Seite 103).<br />

Das Ergebnis: Im Gesamtranking verwies<br />

der Münchner Autobauer Vorjahressieger<br />

Audi auf Rang zwei – die Ingolstädter<br />

FOTOS: BMW<br />

98 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Gas gegeben Das BMW-Online-Video Driftmob<br />

schaffte mehr als 13 Millionen Klicks<br />

tun sich vor allem durch ihre informativen<br />

und unterhaltsamen Inhalte hervor. Sportartikelhersteller<br />

Adidas landete auf dem<br />

dritten Platz, überzeugte die Studienautoren<br />

besonders mit seinen innovativen Marketinginstrumenten:<br />

Adidas bietet den<br />

Konsumenten etwa die Möglichkeit, Sportschuhe<br />

oder Trainingsjacken in den persönlichen<br />

Lieblingsfarben zu gestalten, und<br />

nutzt neue soziale Kanäle wie das Fotonetzwerk<br />

Instagram oder die Blogging-<br />

Plattform Tumblr.<br />

„Die Markenführung im Netz hat sich<br />

insgesamt stark professionalisiert, der<br />

Wildwuchs ist auf breiter Front verschwunden“,<br />

sagt Markenberater Kiock. Und auch<br />

die Marketingbudgets wandern zunehmend<br />

Richtung Internet: Laut Marktforschungsinstitut<br />

Nielsen lagen die Bruttowerbeausgaben<br />

für den Online-Bereich im<br />

ersten Halbjahr 2014 bei 1,6 Milliarden Euro,<br />

rund sieben Prozent mehr als im Vorjahr.<br />

Besonderen Anteil daran hat die mobile<br />

Werbung – kein Wunder, nutzt heute<br />

doch fast jeder zweite Deutsche ein<br />

Smartphone. Der Rechner für die Hosentasche<br />

verleiht den Botschaften der Markenartikler<br />

Omnipräsenz.<br />

„Die Unternehmen dürfen ihre Kunden<br />

aber nicht zum Abnehmer ihrer Werbe-<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 99<br />

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Management&Erfolg<br />

Was Kunden wollen Tickets für die RTL-Show „Rising Star“ verlost Handyhersteller HTC<br />

gezielt via Facebook. Auf Google+ würde ein solches Gewinnspiel nicht funktionieren<br />

»<br />

botschaft degradieren“, sagt Marketingprofessor<br />

Hennig-Thurau. „Die Konsumenten<br />

sind durch die digitalen Kanäle<br />

längst Partner der Unternehmen geworden<br />

– bei der Verbreitung der Markenwerte,<br />

aber nicht selten auch bei deren inhaltlicher<br />

Entwicklung.“<br />

Habe Marketing früher einer Bowlingbahn<br />

geglichen, auf der die Konsumenten<br />

als Kegel galten, die nur auf den Einschlag<br />

der Markenbotschaft warteten, seien sie<br />

heute eher Teil eines Flipperspiels: „Durch<br />

ihre digitalen Werkzeuge können die Kunden<br />

Werbebotschaften stoppen, beschleunigen<br />

oder auch in eine völlig neue Richtung<br />

lenken“, sagt Hennig-Thurau.<br />

Eine Machtverschiebung, die kein Unternehmen<br />

mehr ignorieren sollte. Auch,<br />

weil das Internet längst unverzichtbare Informationsquelle<br />

geworden ist. Der Blog<br />

allfacebook.com registrierte im Januar<br />

Digitale Disziplinen<br />

2014 deutschlandweit mehr als 27 Millionen<br />

aktive Nutzer auf Facebook. Laut dem<br />

German Digitalization Consumer Report<br />

der Universität Münster und der Beratung<br />

Roland Berger sind die digitalen Kanäle<br />

mittlerweile die wichtigste Quelle<br />

für Verbraucher, um ihre Kaufentscheidung<br />

im Vorfeld abzusichern.<br />

Fast ein Viertel der Konsumenten<br />

recherchieren die besten<br />

Angebote, Preisvergleiche<br />

oder Erfahrungsberichte im Netz<br />

und in den sozialen Netzwerken<br />

(siehe Grafik Seite 98). Selbst die<br />

Empfehlungen von Freunden<br />

und der Familie in der realen Welt ist nur<br />

für etwa 20 Prozent für die Kaufentscheidung<br />

ausschlaggebend.<br />

„Unternehmen müssen sich diesem radikalen<br />

Wandel stellen“, sagt diffferent-<br />

Markenexperte Kiock. „Das Internet ist<br />

Welche Marken in den verschiedenen Kategorien führen (maximal 40 Punkte)<br />

Wer besitzt die schlüssigste<br />

Markenbotschaft im Netz?<br />

HTC<br />

Panasonic<br />

L’Oréal<br />

Acer<br />

C&A<br />

Quelle: diffferent<br />

32,9<br />

32,5<br />

32,4<br />

32,1<br />

32,1<br />

Wer kommuniziert am<br />

besten mit den Kunden?<br />

BMW<br />

Amazon<br />

O2<br />

Audi<br />

Zalando<br />

36,6<br />

33,3<br />

31,4<br />

31,3<br />

31,0<br />

Wer bietet den meisten<br />

Nutzwert?<br />

Deutsche Bahn<br />

Commerzbank<br />

Audi<br />

BMW<br />

Mercedes-Benz<br />

36,0<br />

35,9<br />

35,2<br />

34,4<br />

33,6<br />

Wer liegt bei Online-<br />

Trends vorne?<br />

Sony<br />

Nike<br />

Adidas<br />

Mercedes-Benz<br />

Volkswagen<br />

Mehr<br />

In unserer App-<br />

<strong>Ausgabe</strong> finden<br />

Sie die Rankings<br />

zu allen 22 untersuchten<br />

Branchen<br />

34,0<br />

33,8<br />

33,5<br />

33,3<br />

32,7<br />

nicht nur digitales Schaufenster, in dem<br />

man seine Produkte hübsch drapiert – es<br />

ist Verkaufsraum, Infostand und Servicehotline<br />

in einem. Nur wer auf allen Gebieten<br />

eine gute Figur macht, schafft beim<br />

Kunden ein positives Markenerlebnis.“<br />

Das hat auch die Deutsche Bahn begriffen.<br />

Der Konzern, der im Internet oftmals<br />

als Prügelknabe herhalten muss, weil Züge<br />

oder Klimaanlagen ausfallen, ist seit 2011<br />

auf Facebook und Twitter aktiv. Hauptmotiv<br />

für den digitalen Start vor drei Jahren:<br />

meckernden Kunden kompetent Antwort<br />

geben. Das Social-Media-Team erklärt etwa,<br />

warum es zur beanstandeten Verspätung<br />

kommt, in welchem Bereich bestimmte<br />

Tickets gültig und welche Verbindungen<br />

die beste Alternative für ausgefallene Züge<br />

sind. Die Antworten lassen in der Regel nur<br />

ein paar Minuten auf sich warten.<br />

LIEBESBRIEF VON DER BAHN<br />

Dass sich mit gelungenen Antworten aber<br />

nicht nur zufriedene Kunden, sondern<br />

auch Klicks generieren lassen, zeigte der<br />

Konzern im vergangenen Jahr, als sich eine<br />

junge Frau ihren Bahn-Frust von der Seele<br />

schrieb – in Form eines Liebesbriefs. „Meine<br />

liebste Deutsche Bahn, seit vielen Jahren<br />

führen wir nun eine abenteuerliche Beziehung“,<br />

beginnt der Eintrag auf der Facebook-Seite<br />

der Bahn. „Dass du<br />

mich jetzt bei klirrender Kälte<br />

fast 45 Minuten warten lässt, ohne<br />

Bescheid zu sagen, und dann<br />

gar nicht auftauchst, das geht<br />

nun wirklich zu weit.“ Und weiter:<br />

„Ich brauche jemanden an<br />

meiner Seite, der zuverlässig ist,<br />

nicht nur mein Geld will und<br />

auch bereit ist, auf meine Bedürfnisse<br />

einzugehen. Und ich habe so jemanden<br />

kennengelernt. Er nennt sich Opel.“<br />

Darauf hin gab die Bahn den reumütigen<br />

Verehrer: „Ich weiß, dass ich in der Vergangenheit<br />

viele Fehler gemacht habe und<br />

nicht immer pünktlich bei unseren Treffen<br />

war. Vielleicht gibst du mir aber noch einmal<br />

die Möglichkeit, dir zu zeigen, wie viel<br />

du mir bedeutest.“ Auch Opel schaltete<br />

sich in die Konversation ein. Tausende<br />

Likes und Hunderte Kommentare folgten.<br />

Lohn der Mühe: Unter den deutschen<br />

Digital Brand Champions bietet die Bahn<br />

die ansprechendsten Inhalte für die Konsumenten.<br />

Auch die Web-Site ist beliebt<br />

und laut Studie sehr benutzerfreundlich,<br />

alle wichtigen Infos seien leicht zu finden.<br />

„Wir analysieren das Nutzerverhalten genau<br />

und orientieren uns daran“, sagt Bir-<br />

»<br />

100 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Management&Erfolg<br />

» git Bohle, Vertriebschefin für den Personenverkehr<br />

der Deutschen Bahn.<br />

So hatte die Bahn etwa festgestellt, dass<br />

Autoproduzenten liegen vorn<br />

Die 20 besten Marken im Internet<br />

viele potenzielle Kunden beim Kauf eines<br />

Online-Tickets aussteigen, sobald es ans<br />

Bezahlen geht. Um diesen Schritt zu vereinfachen,<br />

akzeptiert die Bahn nun auch<br />

Direktüberweisungen und PayPal.<br />

Rang*<br />

1<br />

2<br />

3<br />

Marke<br />

BMW<br />

Audi<br />

Adidas<br />

Punkte von<br />

maximal 160<br />

132<br />

126<br />

116<br />

Manchmal nutzt die Bahn ihre Kunden<br />

4 Sony<br />

116<br />

auch als Versuchskaninchen. Ihr Europaticket<br />

etwa bewirbt die Bahn auf ihrer<br />

5 Volkswagen<br />

115<br />

6 Mercedes-Benz<br />

115<br />

Homepage mit verschiedenen Motiven.<br />

Während der eine Kunde den Eiffelturm zu<br />

Gesicht bekommt, erscheint auf dem Bildschirm<br />

des nächsten der Big Ben. So weiß<br />

das Unternehmen recht schnell, welche<br />

Fotos ziehen und welche nicht.<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

O2<br />

HTC<br />

Vodafone<br />

Nike<br />

Ford<br />

114<br />

113<br />

113<br />

112<br />

111<br />

FACEBOOK-FANS TICKEN ANDERS<br />

Worauf die User stehen, hat auch der<br />

Handyhersteller HTC herausgefunden.<br />

Der taiwanische Konzern steckt mittlerweile<br />

40 Prozent seines Marketingbudgets<br />

ins Netz. Das passt zu seinen Kunden, die<br />

mehrheitlich zwischen 18 und 39 Jahre alt<br />

sind und sich regelmäßig auf digitalen<br />

Plattformen tummeln – von YouTube über<br />

Twitter bis zum Fotonetzwerk Pinterest.<br />

Und genau dort von HTC angesprochen<br />

werden – mit Inhalten, die bewusst auf den<br />

jeweiligen Kanal ausgerichtet sind.<br />

„Wir haben gemerkt, dass unsere Fangemeinde<br />

auf Google+ deutlich technikaffiner<br />

ist als unsere Fans auf Facebook“, sagt<br />

Nadine Deisenroth, Marketingchefin von<br />

HTC Deutschland.<br />

Karten für die RTL-Talentshow „Rising<br />

Star“ etwa verlost HTC deshalb gezielt auf<br />

Facebook und Twitter, aber nicht auf dem<br />

sozialen Netzwerk der Suchmaschine.<br />

Zu seinen regelmäßigen Fotoaktionen<br />

ruft HTC allerdings auf allen Kanälen auf:<br />

Dabei sollen Nutzer zu vorgegebenen The-<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

Deutsche Bahn<br />

Panasonic<br />

Otto<br />

Samsung<br />

Toyota<br />

Telekom<br />

Opel<br />

H&M<br />

L’Oréal<br />

111<br />

111<br />

110<br />

109<br />

109<br />

108<br />

108<br />

107<br />

106<br />

* unterschiedlicher Rang bei gleicher Punktzahl ergibt<br />

sich aus den Nachkommastellen; Quelle: diffferent<br />

men Fotos posten, die sie mit ihrem<br />

Smartphone geschossen haben – derzeit<br />

sind originelle Selfies gefragt. Der Einsender<br />

des Fotos mit den meisten Stimmen gewinnt<br />

ein neues Smartphone.<br />

Und direkt auf seiner Homepage lässt<br />

der Smartphone-Hersteller die eigenen<br />

Geräte bewerten. „Dass wir unsere Produkte<br />

toll finden, ist klar“, sagt Managerin Deisenroth.<br />

„Dem Interessenten hilft es aber<br />

viel mehr, wenn unabhängige Käufer ihre<br />

Meinung sagen.“<br />

Und selbst von schlechten Bewertungen<br />

profitiert HTC: kontaktiert Nörgler, um ihnen<br />

bei der Lösung ihres Problems zu helfen.<br />

Und versucht so, sie <strong>vom</strong> Kritiker zum<br />

Fan zu machen.<br />

KUNDEN ALS ENTWICKLER<br />

Auch die Ideen der Kunden wissen viele<br />

Unternehmen zu schätzen. Der Elektronikkonzern<br />

Sony etwa bietet für seine Spielkonsole<br />

Playstation einen Blog an, in dem<br />

Nutzer ihre Verbesserungsvorschläge publizieren<br />

und bewerten lassen können. So<br />

bekommt Sony ein Gefühl dafür, was seine<br />

Kunden wollen und was eher eine Einzelmeinung<br />

ist.<br />

Knapp 2000 Playstation-Spieler unterstützten<br />

etwa die Idee <strong>vom</strong> Nutzer Tomy<br />

Sakazaki. Er machte sich im Sony-Blog dafür<br />

stark, auf der tragbaren Playstation-<br />

Version Vita mehr als 100 Apps speichern<br />

zu können. Denn das war bislang die absolute<br />

Obergrenze – und für viele Nutzer<br />

deutlich zu wenig. Sony erhörte seine<br />

Kunden und erhöhte die Zahl der speicherbaren<br />

Anwendungen im vergangenen<br />

März auf 500.<br />

Auf seiner Homepage stellt der Konzern<br />

außerdem Diskussionsforen zu verschiedenen<br />

Produkten, wie E-Readern, Fernsehern<br />

oder Laptops, bereit. So hatte ein<br />

Kunde etwa das Problem, dass der Aufsteckblitz<br />

für seine Kamera ständig überhitzte.<br />

Drei andere Hobbyfotografen schalteten<br />

sich ein, berichteten über ihre Erfahrungen,<br />

diskutierten, wie das Problem zu<br />

lösen sei. Als Übeltäter identifizierte die<br />

Runde schließlich den Akku des Aufsteckblitzes<br />

und empfahl einen anderen.<br />

Weiß die Internet-Gemeinde mal keinen<br />

Rat, leiten die Diskussionsteilnehmer die<br />

Anfrage an den Kundendienst weiter –<br />

wenn sich zu diesem Zeitpunkt nicht<br />

»<br />

Für die Sinne Mit rund 50 Motiv- und Duftkarten können Commerzbank-Kunden ihre Kreditkarten individuell gestalten<br />

102 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Management&Erfolg<br />

»<br />

längst ein Sony-Mitarbeiter in die Unterhaltung<br />

eingeklinkt haben sollte.<br />

Damit Kunden ihre Fragen bequem<br />

auch von unterwegs loswerden und Fans<br />

ihre Ratschläge mobil kundtun können,<br />

passt sich das Layout der Seite automatisch<br />

an die Bildschirmgröße des jeweils genutzten<br />

Geräts an. Außerdem können sich<br />

Smartphone-Besitzer auf der mobilen<br />

Web-Site die Sony-Händler in ihrer Umgebung<br />

anzeigen lassen.<br />

Die Commerzbank wiederum setzt auf<br />

die Individualität ihrer Kunden: Die können<br />

auf dem neu gestalteten Internet-Auftritt<br />

des Geldhauses aus 45 Motiven für ihre<br />

Kreditkarte wählen – <strong>vom</strong> tropischen<br />

Strand über süße Hundewelpen bis hin zur<br />

Erde aus Weltraumperspektive. „Schon mit<br />

solch kleinen Gimmicks können Unternehmen<br />

den Verbrauchern große Freude<br />

machen“, sagt diffferent-Geschäftsführer<br />

Kiock. „Wir leben schließlich in einer Gesellschaft,<br />

in der das Abheben von der<br />

Masse eine enorme Bedeutung hat.“<br />

Selbst das Angebot der Commerzbank,<br />

zwischen vier verschiedenen Duftkarten –<br />

Kirsche, Orange, Zimt oder Rose – zu wählen,<br />

hält Kiock für mehr als eine nette Spielerei:<br />

„Multisensorisches Marketing wird<br />

das nächste große Ding.“<br />

Das belegt etwa eine Studie des Marktforschungsinstituts<br />

Millward Brown: Demnach<br />

steigt die Treue zu einer Marke von<br />

durchschnittlich 28 Prozent auf 43 Prozent,<br />

sobald statt einem zwei oder drei Sinne angesprochen<br />

werden. Behält der Konsument<br />

gar vier oder fünf Sinneseindrücke<br />

positiv in Erinnerung, liegt die Markenloyalität<br />

bei fast 60 Prozent.<br />

WAS AUF DIE OHREN<br />

Deshalb gibt es von L’Oréal Paris nicht nur<br />

was fürs Auge, sondern neuerdings auch<br />

was auf die Ohren. Seit Anfang des Jahres<br />

ist der Kosmetikkonzern im sozialen Netzwerk<br />

Soundcloud vertreten. Über die Web-<br />

Site lassen sich Musikdateien verbreiten<br />

und austauschen.<br />

„Als Marktführer in der Kosmetikbranche<br />

ist es unser Anspruch, neue Internet-<br />

Trends zu identifizieren und zu nutzen“,<br />

sagt Nicole Gillenberg, Digitalchefin von<br />

L’Oréal Paris.<br />

Schon seit den Achtzigerjahren spielt Musik<br />

im Marketing des Konzerns eine große<br />

Rolle – etwa in den Spots der Produktlinie<br />

Studio Line. Um auch heute junge Zielgruppen<br />

anzusprechen, hat der französische<br />

Konzern das DJ-Duo Trickski aus Berlin beauftragt,<br />

die Werbemelodien von damals<br />

Aufgebrezelt Der französische Kosmetikkonzern L’Oréal bespielt viele innovative<br />

Digitalkanäle, darunter seit Mai auch die Blogging-Plattform Tumblr<br />

zeitgemäß zu interpretieren. Das Ergebnis:<br />

Sechs unterschiedliche Elektrosounds. Die<br />

Musiker selbst haben auf der Plattform<br />

Soundcloud schon mehr als 300 000 Fans,<br />

die der Kosmetikkonzern durch die Kooperation<br />

auf sich aufmerksam macht.<br />

Seit Mai ist L’Oréal außerdem auf der<br />

Blogging-Plattform Tumblr vertreten. Auf<br />

der digitalen Pinnwand sammelt das Unternehmen<br />

Stylingtipps der Kollegen aus<br />

anderen Ländern, bindet YouTube-Videos<br />

ein und präsentiert Fotos und Animationen<br />

der neuesten Produkte.<br />

„Die Unternehmen müssen entscheiden,<br />

welche Kanäle zu ihrer Marke passen“,<br />

sagt Kiock. „Was soll eine Bank schon Interessantes<br />

auf der Fotopinnwand Pinterest<br />

zeigen?“<br />

Diese Strategie der Selektion verfolgt<br />

auch BMW. Zwar nutzt der Konzern<br />

Tumblr. Aber andere neue Digitalkanäle<br />

wie Soundcloud, Spotify oder die Video-<br />

App Vine lässt der Autobauer außen vor.<br />

„Internet-Communitys lassen sich recht<br />

schnell aufbauen – sie zu pflegen ist viel<br />

schwieriger“, sagt Althaus von BMW. „Wer<br />

sich auf unseren Kanälen langweilt, ist so<br />

schnell weg, wie er gekommen ist.“ n<br />

kristin.schmidt@wiwo.de<br />

AUF DER DMEXCO<br />

Die Studie Digital Brand Champion wird<br />

am 11. September auf der Digitalmesse<br />

Dmexco in Köln vorgestellt. Mit dabei:<br />

diffferent-Geschäftsführer Jan Pechmann,<br />

BMW-Marketingchef Steven Althaus<br />

und WirtschaftsWoche-Chefredakteur<br />

Roland Tichy.<br />

METHODE<br />

Vier Disziplinen<br />

So hat diffferent die Digital Brand<br />

Champions ermittelt.<br />

Die Strategieagentur diffferent untersuchte<br />

im Auftrag der WirtschaftsWoche<br />

125 Marken aus 22 verschiedenen<br />

Branchen. Zunächst wählten 2000 Befragte<br />

aus jedem Bereich die bekanntesten<br />

Marken aus. Bei Branchen mit<br />

großer Bekanntheit – etwa Automobil<br />

oder Banken – untersuchten die Autoren<br />

je zehn Marken. Weniger präsente<br />

Industrien wie Baumärkte oder Getränke<br />

stellten je fünf Marken für die Studie.<br />

Wie gut die digitale Markenführung<br />

dieser Unternehmen ist, analysierte<br />

diffferent anhand von vier Kategorien:<br />

Integration Schaffen die Marken einen<br />

hohen Wiedererkennungswert? Verlinken<br />

sie die verschiedenen Online-Plattformen<br />

miteinander?<br />

Inhalte Bieten die Unternehmen Information<br />

und Unterhaltung? Ist die<br />

Web-Site benutzerfreundlich gestaltet?<br />

Kommunikation Wie schnell antworten<br />

die Unternehmen auf Fragen der<br />

Nutzer? Wie groß ist die digitale<br />

Fangemeinde der Marke?<br />

Innovationsfreude Wer ist auch via<br />

Smartphone gut zu erreichen? Binden<br />

die Unternehmen Kunden in die<br />

Entwicklung von Produkten ein?<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 103<br />

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Geld&Börse<br />

Völlig losgelöst<br />

DAX | In den Bilanzen der 30 Dax-Unternehmen hat sich eine Riesenblase aufgebaut.<br />

Seit nunmehr zehn Jahren schieben die Finanzchefs Abschreibungen auf.<br />

Aktionären drohen deshalb massive Gewinneinbrüche und ein erheblicher Verlust<br />

an Eigenkapital: Es geht um 217 Milliarden Euro.<br />

Wahre Gemeinheiten spielen<br />

sich immer im Hintergrund<br />

ab. So ist es wohl kaum einem<br />

Aktionär der Deutschen<br />

Lufthansa aufgefallen,<br />

dass sich das Eigenkapital seines Unternehmens<br />

mit einem Federstrich um gleich<br />

2,3 Milliarden Euro reduzierte. Erkennbar<br />

wurde dieser Einbruch nur für diejenigen,<br />

die kontinuierlich die Berichte der Kölner<br />

Fluggesellschaft verfolgen und gleichzeitig<br />

ein bisschen Bilanzregelkunde mitbringen.<br />

Jahrelang durften Unternehmen ziemlich<br />

lax mit den Rückstellungen in der Bilanz für<br />

ihre aktuellen und künftigen Pensionäre<br />

umgehen. Seit 2013 ist damit Schluss, seither<br />

müssen börsennotierte Aktiengesellschaften<br />

realitätsnäher die Ansprüche für die Altersvorsorge<br />

bilanzieren (WirtschaftsWoche<br />

32/2013). Die Effekte sind – wie erwartet –<br />

teils dramatisch. Bei der Lufthansa wanderte<br />

fast ein Drittel des Eigenkapitals weg von<br />

den Aktionären hin in die Taschen der Pensionäre.<br />

Die Eigenkapitalquote rutschte zum<br />

Anpassungszeitpunkt von erträglichen 28,6<br />

auf recht magere 20,4 Prozent.<br />

Das Beispiel des Dax-Konzerns zeigt:Ein<br />

Blick, der über die aufgehübschten und oft<br />

verdrehten Gewinnmitteilungen ihrer Unternehmen<br />

hinausgeht, lohnt für alle Anleger.<br />

„Wer nicht auch einmal einen kritischen<br />

Blick auf die Bilanz seines Unternehmens<br />

wirft, der verpasst oft substanzielle<br />

Veränderungen“, sagt Peter Leibfried, Professor<br />

für Rechnungslegung und Wirtschaftsprüfung<br />

an der Universität St. Gallen.<br />

Nicht erkannt haben viele Investoren<br />

schon viele Gefahren, die in den Bilanzen<br />

der Unternehmen schlummern. So durften<br />

und dürfen etwa Banken einen Großteil ihrer<br />

Vermögenspositionen selbst schätzen.<br />

Der Effekt ist bekannt: Billionen an dem<br />

Anschein nach wertvollen Vermögen bilanzierten<br />

die Geldinstitute. Und – naive<br />

Investoren zogen lange Zeit mit: Sie jazzten<br />

die Papiere der Banken angesichts vermeintlich<br />

blendender Bilanzen so hoch,<br />

Gekauft, zerlegt, bewertet<br />

Wie der Goodwill (Firmenwert) nach einer<br />

Übernahme entsteht*<br />

A<br />

Unternehmen A kauft Unternehmen B für<br />

zehn Milliarden Euro<br />

Das Vermögen von B wird in seine<br />

Einzelteile zerlegt und einzeln neu bewertet<br />

Fuhrpark?<br />

Markennamen?<br />

Kundenstamm?<br />

B<br />

In der Addition ergeben alle neu bewerteten<br />

Vermögensteile von B einen Wert von<br />

sechs Milliarden Euro<br />

Die Differenz aus dem Kaufpreis und dem neu<br />

bewerteten Vermögen von B ergibt den<br />

Goodwill von vier Milliarden Euro,<br />

der als eigenständige Vermögensposition in die<br />

Bilanz gebucht wird<br />

* Beispiel; Quelle: WirtschaftsWoche<br />

B<br />

Immobilien?<br />

Lizenzen?<br />

Patente?<br />

dass der Sektor vor Beginn der Finanzkrise<br />

beispielsweise mehr als 22 Prozent der Gesamtkapitalisierung<br />

des breiten S&P-500-<br />

Index ausmachte. Das Ergebnis der Luftbuchungen<br />

ist bekannt. Pleiten und Rekapitalisierungen<br />

sind bis heute die Folge; mit<br />

Beginn der Krise im Sommer 2007 verloren<br />

S&P-500-Bankpapiere binnen 18 Monaten<br />

77 Prozent an Wert; der Kurs der Deutschen<br />

Bank liegt heute, fünf Jahre nachdem<br />

die Blase in den Bilanzen platzte, immer<br />

noch drei Viertel unter seinem Hoch.<br />

Auch jetzt sind viele Bilanzen nicht sauber,<br />

lassen sich in den Zahlenwerken der<br />

Unternehmen Milliardenbeträge an fehlgebuchtem<br />

Kapital finden, bildet sich eine<br />

neue gigantische Blase, die von vielen Investoren<br />

und Analysten ignoriert wird.<br />

ZU VIEL GELD HINGEBLÄTTERT<br />

Der Bilanzposten, der derzeit die größte<br />

Gefahr für das Vermögen der Aktionäre an<br />

ihrem Unternehmen in sich birgt, heißt<br />

Goodwill, im Deutschen auch Firmenwert<br />

genannt. „Hier gibt es ein enormes Abschreibungspotenzial,<br />

das zu erheblichen<br />

Gewinneinbrüchen führen kann“, sagt Gerrit<br />

Brösel, Professor für Betriebswirtschaftslehre,<br />

insbesondere Wirtschaftsprüfung,<br />

an der Fernuniversität Hagen.<br />

Ein Firmenwert oder eben Goodwill<br />

taucht immer dann in der Bilanz als eine<br />

Vermögensposition auf, wenn Unternehmen<br />

bei Übernahmen zu viel Geld auf den<br />

Tisch gelegt haben; wenn sie mehr bezahlten,<br />

als das im Nachgang der Übernahme<br />

ermittelte Vermögen der neuen Tochter<br />

wirklich wert ist (siehe Grafik). Skurril, aber<br />

wahr: Dann erlauben die Bilanzregeln, diese<br />

Prämie auf die neu eingekaufte Toch-<br />

»<br />

FOTO: OLIVIER BLAISE<br />

104 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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173 Prozent mehr Scheinvermögen als 2000 türmen die Dax-Unternehmen auf<br />

35 Prozent<br />

des Eigenkapitals sind bedroht<br />

Nur1,2 Prozent<br />

wurden<br />

zuletzt abgewertet<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 105<br />

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Geld&Börse<br />

»<br />

ter als Zusatzvermögen in die Bilanz zu<br />

buchen, eben als sogenannten Goodwill<br />

oder Firmenwert. Noch hübscher für die<br />

Finanzchefs der Unternehmen: Früher<br />

mussten sie dieses Zusatzvermögen, die<br />

Übernahmeprämie also, regelmäßig abschreiben,<br />

über 10 bis 15 Jahre. Investoren<br />

hatten also die Gewissheit, dass heiße Luft<br />

nach Übernahmen sukzessive aus der Bilanz<br />

genommen wurde. Seit zehn Jahren<br />

jedoch dürfen die Unternehmensvorstände<br />

nach einer dramatischen Änderung der<br />

Bilanzregeln mehr oder weniger nach Lust<br />

und Laune abwerten oder nicht.<br />

Keine Überraschung: Sie tun es seither<br />

so gut wie nicht mehr oder nur dann, wenn<br />

sich überbewertetes Vermögen nicht mehr<br />

vertuschen lässt.<br />

KAPITALERHÖHUNG DROHT<br />

Letzteres kommt regelmäßig bei Verkäufen<br />

von Tochtergesellschaften vor. Bei der<br />

Deutschen Telekom etwa radierten Abschreibungen<br />

auf den Goodwill vor drei<br />

Jahren 3,1 Milliarden Euro aus. Als wieder<br />

mal die Tochter T-Mobile USA verkauft werden<br />

sollte, mussten die Bonner den wahren<br />

Wert ihrer Tochter offenlegen und einräumen,<br />

dass der Buchwert in der Bilanz massiv<br />

höher als der wirkliche Gegenwert war.<br />

Solche Abschreibungen bei der Telekom<br />

sind schon Legende. Einst machte die<br />

Goodwill-Position enorme 40,6 Milliarden<br />

Euro aus. Bis heute sind davon noch 14,6<br />

Milliarden Euro übrig. Obwohl die Telekom<br />

bei Zukäufen auch munter Goodwill wieder<br />

zubuchte. So stockte 2013 der Erwerb<br />

des regionalen US-Mobilfunkanbieters<br />

MetroPCS für sich betrachtet den Goodwill<br />

um 955 Millionen Euro auf. Alles in allem<br />

summieren sich die Abschreibungen auf<br />

nicht fassbares Vermögen in der Telekom-<br />

Bilanz – neben dem Goodwill sind das zum<br />

Beispiel Mobilfunklizenzen – allein in den<br />

Jahren 2011 bis 2013 auf fast 23 Milliarden<br />

Euro. Effekt:Kumuliert schrieb die Telekom<br />

binnen drei Jahren vier Milliarden Euro<br />

Verlust; und die Eigenkapitalquote sackt<br />

immer weiter ab – auf nur noch 27,1 Prozent.<br />

Eine Kapitalerhöhung ist da nicht<br />

mehr fern, legt sich die Telekom doch selbst<br />

als untere Marke 25 Prozent.<br />

Das drückt auf den Kurs: Während der<br />

Dax in den vergangenen zehn Jahren um<br />

80 Prozent zulegte, liegen T-Aktionäre im<br />

Minus. Kein Wunder, dass bei Schreckenszahlen<br />

Unternehmen wie die Telekom versuchen,<br />

Anlegern lieber Gewinndaten zu<br />

verkaufen, für die es keine Vorgaben gibt<br />

(siehe Kasten Seite 108). Insgesamt geht es<br />

Konstant hoch<br />

Wie sich der Anteil des Goodwill am Eigenkapital<br />

der Dax-Unternehmen entwickelt hat<br />

(in Prozent)<br />

40<br />

35<br />

30<br />

Überlastet Bei der Deutschen Post liegt<br />

der Goodwill höher als das Eigenkapital<br />

nicht nur bei der Telekom, sondern bei vielen<br />

Unternehmen um große Zahlen und<br />

viel Aktionärskapital: 217 Milliarden Euro<br />

Goodwill haben allein die 30 Unternehmen<br />

aus dem Deutschen Aktienindex inzwischen<br />

aufgetürmt – 173 Prozent mehr<br />

als zum Ende des Jahres 2000 (siehe Chart<br />

Seite 109). Das entspricht 35 Prozent des<br />

gesamten Eigenkapitals der Dax-Unternehmen<br />

(siehe Chart) oder rund 20 Prozent<br />

ihres aktuellen Börsenwerts. Bei einer<br />

Komplettabwertung müssten die Dax-Unternehmen<br />

ihr Eigenkapital um gut die<br />

Hälfte erhöhen, um auf den alten Stand zu<br />

kommen. Auch ohne prophetische Gaben<br />

kann jeder voraussagen, dass dies die Kurse<br />

massiv unter Druck bringen würde.<br />

Goodwill/Eigenkapital<br />

25<br />

00 02 04 06 08 10 12<br />

Quelle: Universität St. Gallen<br />

Bei der Mehrzahl der Dax-Unternehmen<br />

drohen Gefahren, weil der Goodwill entweder<br />

eine große Rolle in der Bilanz spielt<br />

oder nie vernünftig abgewertet worden ist.<br />

Wo die Finanzchefs aggressiv vorgehen<br />

und hohe Abschreibungen möglich sind,<br />

das hat die Universität St. Gallen exklusiv<br />

für die WirtschaftsWoche analysiert. Die<br />

Bilanzexperten durchforsten für die WirtschaftsWoche<br />

Jahr für Jahr die Geschäftsberichte<br />

der Dax-30-Unternehmen. Das<br />

Ergebnis der neuesten Untersuchung: „Die<br />

Milliardenrisiken aus Übernahmen steigen<br />

beinahe unaufhaltsam“, so Leibfried.<br />

ALARMSTIMMUNG BEI EXPERTEN<br />

Inzwischen sind deshalb alle ernst zu nehmenden<br />

Bilanzexperten alarmiert: Da die<br />

Manager selbst den Goodwill bestimmen<br />

und dessen Werthaltigkeit nach selbst vorgegebenen<br />

Parametern testen, sehen Wissenschaftler<br />

jede Menge Spielraum, um die<br />

Zahlenwerke zu schönen, bis an den Rand<br />

der Manipulation. Und die Deutsche Prüfstelle<br />

für Rechnungslegung in Berlin<br />

(DPR), die regelmäßig Geschäfts- und<br />

Quartalsberichte an deutschen Börsen notierter<br />

Unternehmen unter die Lupe<br />

nimmt, äußert einen schlimmen Verdacht:<br />

Erst die dramatische Bilanzregeländerung<br />

im Jahr 2004 könnte viele Vorstände dazu<br />

gebracht haben, riskante Übernahmen anzugehen.<br />

Grund: Da der Goodwill nicht<br />

mehr regelmäßig abgeschrieben wird, gibt<br />

es keinen negativen Einfluss auf den Gewinn<br />

mehr. „Der vorsichtige Kaufmann<br />

schreibt ab, doch seit die Bilanzregeln kei-<br />

106 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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RWE über Freenet bis hin zu Sky. Ergebnis:<br />

Das gesamte Eigenkapital der Unternehmen<br />

lag Ende 2012 bei 64 Milliarden Euro.<br />

Bereinigt um planmäßige Abschreibungen<br />

auf den Goodwill jedoch, läge das Kapital<br />

bei nur 14,6 Milliarden Euro. „Das sind stille<br />

Lasten von knapp 50 Milliarden Euro<br />

oder 77 Prozent des bilanziellen Eigenkapitals“,<br />

so Möhlmann-Mahlau.<br />

FOTOS: REUTERS/TOBIAS SCHWARZ, THORSTEN MARTIN, GETTY IMAGES/FLICKR RF<br />

Überdreht Lanxess schrieb erst nach<br />

dem Vorstandswechsel Vermögen ab<br />

ne regelmäßig Abwertung mehr fordern,<br />

passiert kaum noch etwas“, so Leibfried.<br />

Die Vorstände können so Fehlgriffe bei<br />

Übernahmen lange Zeit vor der Öffentlichkeit<br />

kaschieren, sie kassieren deshalb regelmäßig<br />

mehr variables, von Gewinnen<br />

abhängiges Gehalt oder Boni als ihnen eigentlich<br />

zustünde.<br />

ABWERTUNGEN NAHE NULL<br />

Im Durchschnitt unterstellten die Dax-Unternehmen<br />

früher eine Nutzungsdauer für<br />

ihre Firmenwerte von knapp neun Jahren –<br />

sie schrieben jährlich 11,7 Prozent auf ihren<br />

Goodwill ab, so die Analyse der Universität<br />

St. Gallen. Im Jahr 2002 schrieben die<br />

30 Dax-Finanzchefs angesichts taumelnder<br />

Börsen und schwacher Konjunktur sogar<br />

jeden sechsten Euro ab. Die damals<br />

noch strengen Bilanzregeln zeigten also<br />

Wirkung – zum Schutz der Aktionäre. 2013<br />

kamen gerade einmal 2,6 Milliarden Euro<br />

oder 1,2 Prozent an Abschreibungen zusammen.<br />

Dabei liegt etwa der Dax-Kursindex<br />

immer noch knapp 20 Prozent unter<br />

seinem Hoch (siehe Chart Seite 115). Übersetzt:<br />

Während die Unternehmen seit einem<br />

Jahrzehnt offenbar nur solche Töchter<br />

gekauft haben, deren Wert von keiner Konjunktur-,<br />

Finanz- oder geopolitischen Krise<br />

tangiert wird, gestehen Investoren vielen<br />

Unternehmen weniger Wert zu als vor 14<br />

Jahren, als der Dax-Kursindex sein letztes<br />

Hoch erreichte. Der Dax-Kursindex spiegelt<br />

die echte Wertentwicklung der 30 Dax-<br />

Aktien wider; im bekannten Dax selbst<br />

werden Dividenden noch dazugerechnet.<br />

„Nach den aktuellen Bilanzierungsregeln<br />

lässt sich ohne Übertreibung von einer<br />

Goodwill-Blase sprechen, die stetig<br />

wächst“, so Thomas Möhlmann-Mahlau,<br />

Professor für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere<br />

Rechnungslegung und Steuern,<br />

an der Hochschule Bremen. „Dass es sich<br />

um eine Blase handelt, ist nicht auszuschließen<br />

und ist weder von Analysten<br />

noch von Anlegern erkennbar“, sagt Bilanzexperte<br />

Brösel von der Fernuni Hagen.<br />

Möhlmann-Mahlau hat jüngst gemeinsam<br />

mit Frank Sündermann, Leiter Kreditanalyse<br />

der KBC Bank, und Tobias Gundel,<br />

Berater bei Boege Rohde Luebbehuesen in<br />

Hamburg, 18 bekannte deutsche börsennotierte<br />

Unternehmen abgeklopft, von<br />

»Ganz ohne<br />

Übertreibung<br />

lässt sich von<br />

einer Blase<br />

sprechen«<br />

Thomas Möhlmann-Mahlau,<br />

Uni Bremen<br />

NEUER VORSTAND KEHRT AUS<br />

Einer der Gründe: Selbst während der Finanzkrise,<br />

als sich die Kurse der Dax-Unternehmen<br />

im Durchschnitt mehr als halbierten,<br />

ebenso wie mehrheitlich die anderer<br />

europäischer Unternehmen, waren höhere<br />

Goodwill-Abschreibungen „wider Erwarten<br />

überwiegend ausgeblieben“. Das ist<br />

die Quintessenz einer Studie, die Silvia<br />

Rogler, Professorin für Rechnungswesen<br />

und Controlling an der TU Bergakademie<br />

Freiberg, vergangenes Jahr vorstellte (WirtschaftsWoche<br />

32/2013). Nach der Durchsicht<br />

von 640 Bilanzen von 160 deutschen<br />

börsennotierten Unternehmen zogen Rogler<br />

und ihr Team ein erschreckendes Fazit:<br />

Größere Abschreibungen auf die Wackelposition<br />

Goodwill gab es fast nur, wenn<br />

Vorstände ausgetauscht wurden. Neue Manager<br />

räumen offenbar die Bilanzen<br />

schnell auf, damit ihnen milliardenschwere<br />

Fehlinvestitionen ihrer Vorgänger nicht<br />

irgendwann vor die Füße fallen. Ein neuer<br />

Finanzvorstand hält dann gleich 39 Prozent<br />

der Goodwill-Position für nicht mehr<br />

tragbar, Vorstandschefs veranlassen eine<br />

ebenfalls noch dramatische Abwertung<br />

um im Durchschnitt 31 Prozent, so das Ergebnis<br />

der Uni Freiberg.<br />

Siemens etwa begann erst nach einem<br />

Chefwechsel auf dem Posten des Diagnostik-Vorstands<br />

vor gut vier Jahren seine für<br />

elf Milliarden Euro zusammengekaufte Diagnostik-Sparte<br />

abzuwerten. Nur vier Monate<br />

nachdem seinerzeit Michael Reitermann<br />

dort den Chefposten übernommen<br />

hatte, vermiesten Abwertungen über 1,4<br />

Milliarden Euro erstmals das Konzernergebnis.<br />

Auch der im vergangenen Jahr neu<br />

angetretene Puma-Chef Björn Gulden<br />

kündigte kurz nach seinem Amtsantritt Ende<br />

2013 erst einmal Firmenwertabschreibungen<br />

und einen Gewinneinbruch an.<br />

Jüngstes Beispiel im Dax ist der Chemiker<br />

Lanxess, der just zum Zeitpunkt des<br />

Stabwechsels auf dem Posten des Vorstandschefs<br />

Ende Februar dieses Jahres<br />

den Goodwill abwertete und gleichzeitig<br />

die Dividende um die Hälfte strich. Grund<br />

war nach offizieller Lesart nicht die mög-<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 107<br />

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Geld&Börse<br />

KENNZAHLEN<br />

Wortreich<br />

angepasst<br />

An welchen Gewinnziffern sich<br />

Anleger noch orientieren können.<br />

Die International Financial Reporting<br />

Standards (IFRS) sind ein internationaler<br />

Bilanzstandard, der in rund 120 Ländern<br />

angewendet wird. Seit 2005 sind die<br />

IFRS in Deutschland Pflicht für den Konzernabschluss<br />

aller Unternehmen, die<br />

Anleihen oder Aktien öffentlich notiert<br />

haben. Allerdings sind viele Unternehmenschefs<br />

nicht einverstanden mit der<br />

üblichen Gewinn-und-Verlust-Rechnung<br />

und präsentieren Anlegern deshalb eine<br />

Vielzahl von Ertragszahlen, die nichts mit<br />

den IFRS zu tun haben. Regelmäßig sind<br />

diese Gewinnzahlen bereinigt, adjusted<br />

oder angepasst, wie es dann wortreich<br />

heißt. Fällt unterm Strich in Wahrheit ein<br />

Wasser auf die Mühle Das nachhaltige<br />

Nettoergebnis von RWE ist kein Maßstab<br />

Verlust an, hantieren die Vorstände naturgemäß<br />

lieber mit schwarzen Zahlen; statt<br />

eines müden Jahresüberschusses zeigen<br />

sie lieber eine tolle Gewinnsteigerung.<br />

Alles machbar, da es für die Präsentation<br />

der Ertragssituation keine Regeln, keine<br />

Regulierung und keine Sanktion gibt.<br />

GEWINN-JO-JO<br />

Die Deutsche Telekom etwa verkauft aktuell<br />

ihren Aktionären ein „bereinigtes<br />

Ebitda“ (Ergebnis vor Steuern, Zinsen, regelmäßigen<br />

Abschreibungen und Sonderabschreibungen<br />

auf aufgekaufte Unternehmen<br />

([Firmenwerte/Goodwill]) als<br />

Kernkennzahl. RWE-Aktionäre sollen sich<br />

mit einem „nachhaltigen Nettoergebnis“<br />

anfreunden, bei E.On geht es um den<br />

„nachhaltigen Konzernüberschuss“ bei<br />

Konkurrent EnBW um den „adjusted Konzernüberschuss<br />

ohne neutralen Konzernfehlbetrag“,<br />

Linde stellt ein „operatives<br />

Konzernergebnis“ in den Vordergrund,<br />

das ein „Ebitda inklusive des anteiligen<br />

Ergebnisses aus assoziierten Unternehmen<br />

und Joint Ventures“ ist. Durchschaubar<br />

ist das nicht. Regelmäßig ändern viele<br />

Unternehmen auch die Gewinnkennzahlen,<br />

an denen sie gemessen werden wollen.<br />

Diese sind also schon von Jahr zu<br />

Jahr bei demselben Unternehmen möglicherweise<br />

schwer vergleichbar, von Unternehmen<br />

zu Unternehmen in der Regel<br />

ohnehin oft nicht mehr.<br />

SCHÖNWETTERKENNZAHL<br />

Doch welche Kennzahlen sind wie einzuordnen?<br />

Eine Übersicht:<br />

Ebitda ist eine Schönwetterkennzahl, die<br />

keinem Bilanzstandard unterliegt. Sie<br />

kann von Unternehmen zu Unternehmen<br />

unterschiedlich errechnet sein. Eine Aussagekraft<br />

hat die Kennzahl im Verhältnis<br />

zum Schuldenstand (je geringer die Relation<br />

zwischen Ebitda zu Schulden, desto<br />

besser steht das Unternehmen bei seinen<br />

Verbindlichkeiten da).<br />

Ebita Ergebnis vor Steuern, Zinsen, regelmäßigen<br />

Abschreibungen. Ebenfalls eine<br />

wenig taugliche Schönwetterkennzahl.<br />

Ebit Ergebnis vor Steuern und Zinsen.<br />

Kann als operatives Ergebnis (Betriebsergebnis)<br />

herhalten, falls keine außerordentlichen<br />

Zinsausgaben oder -einnahmen<br />

anfallen. Ist Letzteres nicht der Fall,<br />

zählen folgende Größen:<br />

Ebt Ergebnis vor Steuern sowie der<br />

Nettogewinn (Jahresüberschuss) als<br />

Kernkennzahl für den Aktionär. Aus dem<br />

Jahresüberschuss errechnet sich der<br />

Gewinn je Aktie, wenn der Nettogewinn<br />

durch die Anzahl der ausgegebenen Aktien<br />

geteilt wird. Der aktuelle Aktienkurs<br />

geteilt durch den Gewinn je Aktie ergibt<br />

dann das KGV (Kurs-Gewinn-Verhältnis).<br />

Da heutzutage allerdings einige Unternehmen<br />

eben mit bereinigten Nettoergebnissen<br />

rechnen, und diese von vielen<br />

Analysten kritiklos übernommen werden,<br />

sind selbst Ergebnisse je Aktie und damit<br />

die KGVs nicht miteinander vergleichbar.<br />

Anleger finden die wahren Nettozahlen<br />

aber in den Quartals- und Geschäftsberichten.<br />

»<br />

licherweise längst fällige Beseitigung<br />

von Altlasten, sondern angeblich „Veränderungen<br />

im Wettbewerbsumfeld“. So oder<br />

so tickerten die Nachrichtenagenturen<br />

„Schock für Aktionäre“, nachdem der Lanxess-Kurs<br />

binnen Sekunden um sechs Prozent<br />

abgerutscht war.<br />

Aktuell dürften sich Bilfinger-Aktionäre<br />

fragen, ob nach Vorstandswechsel und drei<br />

dramatischen Prognosekürzungen binnen<br />

weniger Monate die knapp 1,9 Milliarden<br />

Euro Goodwill in der Bilanz des Baudienstleisters<br />

noch zu rechtfertigen sind.<br />

NOTORISCHER ÜBEROPTIMISMUS<br />

Was vielen entgeht, das hat die europäische<br />

Wertpapierbehörde ESMA in einer<br />

umfangreichen Studie in den Bilanzen von<br />

235 europäischen Konzernen aus 23 Ländern<br />

ermittelt: Eine Verschleierung von<br />

Zahlen sei nicht die Ausnahme, sondern<br />

die Regel, heißt es da. Die Prüfer aus Paris<br />

ermittelten auch, dass nahezu alle Unternehmen<br />

von sehr optimistischen Wachstumsraten<br />

ihrer Töchter ausgingen. Grund:<br />

Wer die Zukunft rosarot malt, der muss<br />

heute auf den Goodwill nicht abwerten<br />

und bleibt in seiner Gewinnrechnung in<br />

den schwarzen Zahlen.<br />

Einer neuen Analyse von Inge Wulf, Professorin<br />

am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre,<br />

insbesondere Unternehmensrechnung,<br />

an der TU Clausthal, zufolge,<br />

finden Anleger in den Zahlenwerken<br />

der Unternehmen sogar häufig nicht einmal<br />

Zukunftserwartungen, die sie infrage<br />

stellen könnten. So fehlten im Krisenjahr<br />

2008 bei gleich 8 der 30 Dax-Unternehmen<br />

quantitative Angaben zum Wachstum im<br />

Geschäftsbericht, darunter die Deutsche<br />

Telekom oder SAP. Drei Jahre später drückten<br />

sich im Dax BMW, Daimler und ThyssenKrupp<br />

vor solchen eigentlich zwingenden<br />

Angaben. Ein weiteres Ergebnis der<br />

Studie der TU Clausthal: Während der Finanzkrise<br />

haben die Dax-Unternehmen<br />

„vermutlich“ interne Zinssätze so angepasst,<br />

um bei den Milliarden an Goodwill<br />

„keine“ oder nur „eine geringere Wertminderung<br />

zu buchen, jedoch kann keine<br />

Plausibilitätsprüfung vorgenommen werden,<br />

da Detailangaben fehlen“, so Wulf.<br />

In einer seiner letzten großen Studien<br />

widmete sich auch der im Januar dieses<br />

Jahres verstorbene Karlheinz Küting dem<br />

Thema Goodwill. Der wohl bekannteste<br />

deutsche Bilanzexperte leitete lange Jahre<br />

das Centrum für Bilanzierung und Prüfung<br />

an der Universität des Saarlandes. Er untersuchte<br />

134 deutsche börsennotierte Ge-<br />

108 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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FOTOS: GREGOR SCHLÄGER, PR<br />

Willkommen im Datendschungel Wertkorrekturen<br />

sind bei der Telekom die Regel<br />

sellschaften aus Dax, MDax, SDax und<br />

TecDax. Der Studie zufolge unterstellen die<br />

Unternehmen, dass sie aus den gezahlten<br />

Übernahmeprämien für neue Töchter 204<br />

Jahre lang Nutzen ziehen werden. Je nach<br />

Statistik und Datenbasis liegt die Lebensdauer<br />

von Unternehmen aber heutzutage<br />

im Durchschnitt bei 12 bis maximal 20 Jahren;<br />

bei 204 Jahren jedenfalls hat sie nie gelegen.<br />

„Die Firmenchefs setzen offenbar<br />

beim Goodwill im Durchschnitt eine nahezu<br />

unbegrenzte Nutzungsdauer an“, sagt<br />

Thorsten Sellhorn, Inhaber des Lehrstuhls<br />

für Rechnungswesen und Wirtschaftsprüfung<br />

an der Ludwig-Maximilians-Universität<br />

München, „sonst wäre ein Mehr an Abschreibungen<br />

zu beobachten.“ Dabei sehen<br />

die Bilanzregeln vor, dass der Zeitraum,<br />

über den ein Goodwill nutzbar ist,<br />

zwar unbestimmt, aber eben keinesfalls<br />

unbegrenzt ist. „Der einst eingebuchte<br />

Goodwill sollte also wieder bei null landen.<br />

Die Frage ist hierbei nicht, ob, sondern nur<br />

wann“, so Sellhorn.<br />

Anleger tun gut daran, mögliche Abwertungen<br />

des Goodwill in Betracht zu ziehen.<br />

Denn die Zahl derer, die für die Rückkehr<br />

zur alten Regelung regelmäßiger Abschreibung<br />

plädieren, steigt seit Jahren.<br />

Aufsehen erregt, dass es seit einem Jahr<br />

in den USA nicht börsennotierten Unternehmen<br />

wieder erlaubt ist, ihre Firmenwerte<br />

regelmäßig abzuschreiben, und es<br />

Überlegungen gibt, dies auch wieder für an<br />

den Börsen gehandelte Unternehmen einzuführen.<br />

Die Analysten der unabhängigen<br />

Schweizer Independent Credit View (ICV)<br />

haben aktuell ermittelt, dass Europas Banken<br />

1044 Milliarden Euro an Kapital benötigen.<br />

Diese Megasumme kommt unter anderem<br />

deshalb zustande, weil die ICV-Analysten<br />

keinen Euro an Goodwill für werthaltig<br />

halten. Und in Japan haben die Bilanzregulatoren<br />

erst Ende Juli ein neues<br />

Papier zum Bilanzrecht vorgelegt: Goodwill,<br />

so heißt es unter anderem darin, sollte<br />

regelmäßig linear abgeschrieben werden,<br />

„maximal über 20 Jahre“.<br />

Tokio ist nur scheinbar weit. Bei den Finanzmanagern<br />

in Paris, München oder<br />

Mailand löst aktuell die European Financial<br />

Reporting Advisory Group (Efrag) große<br />

Schere läuft auseinander<br />

Wie sich die als Vermögen bilanzierten Übernahmeprämien<br />

der Dax-30-Unternehmen<br />

entwickelt haben und wie viel sie darauf abgeschrieben<br />

haben (in Millionen Euro)<br />

250000<br />

200000<br />

150000<br />

100000<br />

50000<br />

Übernahmeprämien<br />

(Goodwill)<br />

Abschreibung<br />

0<br />

00 02 04 06 08 10 12<br />

Quelle: Universität St. Gallen<br />

22000<br />

17000<br />

12000<br />

7000<br />

2000<br />

Aufregung aus. „Dieses für die Übernahme<br />

der Bilanzregeln IFRS in Europa entscheidende<br />

Gremium hat sich nun auch öffentlich<br />

klar dafür ausgesprochen, wieder zu<br />

regelmäßigen Goodwill-Abschreibungen<br />

zurückzukehren“, so Leibfried. Zu den wesentlichen<br />

Aufgaben der Efrag gehört die<br />

Beratung der EU-Kommission im Rahmen<br />

der Umsetzung von Bilanzregeln in der Europäischen<br />

Union. Gemeinsam mit dem<br />

Accounting Standards Board Japan und<br />

der Organismo Italiano di Contabilità hat<br />

sie ein gut 50-seitiges Pamphlet verfasst<br />

mit dem provakanten Titel: Sollte Goodwill<br />

nicht getilgt werden? (Should Goodwill still<br />

not be amortised?) Noch bis Ende nächster<br />

Woche haben Investoren, Wirtschaftsprüfer<br />

und Unternehmen Zeit, dazu Stellung<br />

zu beziehen.<br />

Solange eine regelmäßige Tilgung der<br />

Firmenwerte noch nicht obligat ist, so lange<br />

legt die Berliner DPR, vulgo Bilanzpolizei,<br />

ihr Hauptaugenmerk auf den Bilanzposten<br />

Goodwill. Zu Recht. Denn dort fanden die<br />

Prüfer seit Gründung der DPR im Juli 2005<br />

bisher die meisten Falschbilanzierungen.<br />

DRUCK DER BILANZWÄCHTER<br />

Spektakulär ist unter anderem Adidas. Binnen<br />

zwei Jahren kassierte der Sportartikelkonzern<br />

jeweils eine Rüge von der DPR.<br />

Adidas hatte den Werthaltigkeitstest des<br />

Goodwill zunächst unerlaubterweise für<br />

Einheiten durchgeführt, die größer waren<br />

als die ansonsten in der Bilanz gezeigten<br />

Segmente. Später mussten die Herzogenauracher<br />

einräumen, dass 2011 in der<br />

Summe mehrerer Fehlbilanzierungen der<br />

Gewinn je Aktie um 27 Cent zu hoch ausgewiesen<br />

war. 2012 rang sich Adidas erstmals<br />

zu Wertberichtigungen durch, vor allem<br />

auf die 2005 für 3,8 Milliarden Dollar übernommene<br />

US-Tochter Reebok – nicht besonders<br />

wagemutig ist der Verdacht, dass<br />

dies auf Druck der Bilanzwächter geschah.<br />

Der Effekt der Abschreibungen über 265<br />

Millionen Euro war ein nicht erwarteter<br />

Gewinneinbruch. Und auch für das laufende<br />

Geschäftsjahr könnte eine Abwertung<br />

drohen, nachdem Adidas im Sommer vor<br />

schwachen Geschäften unter anderem in<br />

Russland und in der Golfsparte warnte.<br />

Nach wie vor weist Adidas 1,2 Milliarden<br />

Euro Goodwill aus.<br />

Kein Wunder, dass sich auch dieses Jahr<br />

die Berliner Prüfstelle auf den Goodwill<br />

Impairment Test, den Werthaltigkeitstest,<br />

konzentriert. Beim Impairment Test werden<br />

einzelne Geschäftseinheiten unter die<br />

Lupe genommen. Zeigt sich bei einer<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 109<br />

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Geld&Börse<br />

senius Medical Care (FMC). Die Hessen<br />

schlossen im Jahr 2006 den Kauf der US-<br />

Dialysetochter Renal Care ab. Vom Gesamtkaufpreis<br />

über 4,16 Milliarden Dollar<br />

entfielen gleich 3,39 Milliarden oder 81,5<br />

Prozent auf die Position Goodwill, gerade<br />

einmal 770 Millionen Dollar an echtem<br />

Vermögen wurden identifiziert. FMC zahlte<br />

also eine irrsinnig anmutende Prämie<br />

von 440 Prozent auf die Renal-Werte. Auch<br />

heute noch steht diese Prämie vollständig<br />

als Vermögen in der Bilanz. Dabei lahmten<br />

zuletzt die Geschäfte: 2013 konnte FMC<br />

den Mittelzufluss aus dem laufenden Geschäft<br />

gerade mal stabil halten. Grund sind<br />

Sparpläne im US-Gesundheitswesen, die<br />

Erstattungen für die Dialyse betreffen.<br />

»<br />

Geschäftseinheit, dass die ursprünglich<br />

angesetzten Annahmen über Ertrag, Cash-<br />

Flow oder Kapitalkosten zu optimistisch<br />

waren, muss eine Abwertung erfolgen – in<br />

der Theorie. Die Konsistenz und Verlässlichkeit<br />

der Cash-Flow-Prognosen, die Ableitung<br />

von Wachstumsraten und von Zinssätzen<br />

sowie „wesentliche Bewertungsprämissen“<br />

stehen bei der DPR auf dem Prüfstand.<br />

„Vorsichtig gesagt, werten die Unternehmen<br />

seit der Pflichtumstellung auf internationale<br />

Rechnungslegungsvorschriften<br />

im Jahr 2005 den Goodwill zurückhaltend<br />

ab“, sagt Bettina Thormann, Vizepräsidentin<br />

der DPR.<br />

ABSICHTLICH KLEINGERECHNET<br />

Die frühere Professorin für Betriebliche<br />

Steuerlehre und Unternehmensprüfung an<br />

der Fachhochschule Bielefeld beobachtet,<br />

dass die „Kaufpreise bei Unternehmenszusammenschlüssen<br />

aufgrund der positiven<br />

Zukunftserwartungen an Synergien und<br />

zukünftige Mittelzuflüsse oftmals ein Vielfaches<br />

des aktuellen Vermögens der Kaufobjekte<br />

betragen“. Wachstum, so Thormann,<br />

finde „bei einigen Unternehmen<br />

nicht mehr vorrangig organisch statt, sondern<br />

durch regelmäßige Unternehmenskäufe“.<br />

Ein Motiv könnte sein, dass der Jahresgewinn<br />

der Unternehmen „nicht durch<br />

planmäßige Abschreibungen des Goodwill<br />

belastet wird“. Ein harscher Vorwurf: Statt<br />

mühevoll und (zunächst) zulasten des<br />

Viel Kies HeidelbergCement zahlte für<br />

Konkurrent Hanson massiven Aufschlag<br />

Gewinns ihr Unternehmen weiterzuentwickeln,<br />

wird wegen laxer Bilanzvorschriften<br />

auf Teufel komm raus akquiriert. Zudem, so<br />

der Verdacht, rechnen Unternehmen das<br />

Vermögen ihrer neuen Töchter absichtlich<br />

klein, und den Goodwill hoch. Grund:<br />

Lizenzen, Patente oder Gebäude müssen<br />

regelmäßig abgeschrieben werden; Goodwill<br />

eben nicht. „Dort gibt es eben nur<br />

butterweiche Bewertungsparameter“, sagt<br />

Leibfried von der Uni St. Gallen.<br />

Deshalb ziehen viele Unternehmen ihre<br />

einst gezahlten Übernahmeprämien durch<br />

die Bilanz, komme was wolle. Beispiel Fre-<br />

»Für den<br />

Goodwill gibt es<br />

nur butterweiche<br />

Bewertungsparameter«<br />

Peter Leibfried,<br />

Uni St. Gallen<br />

SORGLOSE ZUKÄUFE<br />

Kein großes Interesse an Abschreibungen<br />

zeigt auch ein anderer Konzern, der viele<br />

Geschäfte mit Krankheiten betreibt. Der<br />

Bayer-Konzern hatte 2006 den Konkurrenten<br />

Schering für rund 17 Milliarden Euro<br />

übernommen. Effekt: Die Firmenwerte<br />

sprangen im selben Jahr von 2,6 auf 8,2 Milliarden<br />

Euro. Abwertung seither: null Euro.<br />

Grund: Jahr für Jahr „erachtet“ der Bayer-<br />

Vorstand die „vorgenommenen Schätzungen“<br />

für „angemessen“, wie es im Geschäftsbericht<br />

2013 zu den Firmenwerten heißt.<br />

Und die Aufsichtsräte nicken diese Schätzungen<br />

munter ab. Wer über Jahre nach<br />

Übernahmen kein Haar in der Suppe findet,<br />

der kleckert nicht. Obwohl der Bayer-Goodwill<br />

schon zuletzt bei knapp zehn Milliarden<br />

Euro oder annähernd 50 Prozent des<br />

Eigenkapitals lag, trauen sich die Leverkusener,<br />

noch eins draufzupacken. Zumindest<br />

ist es äußerst unwahrscheinlich, dass Bayer<br />

nach seiner jüngst annoncierten Übernahme<br />

des Geschäfts mit rezeptfreien Medikamenten<br />

von der amerikanischen Merck &<br />

Co. über 14,2 Milliarden Dollar nicht erneut<br />

Milliarden an Goodwill kreiert. Für Produkte<br />

etwa zur Fußpflege zahlt Bayer einen<br />

frappierend hohen Preis: gleich das<br />

21-Fache des Gewinns vor Steuern, Zinsen,<br />

Abschreibungen und Amortisation<br />

(Ebitda). Schon Preise um das Zehnfache<br />

Ebitda gelten gemeinhin als teuer. Je höher<br />

der Preis, gemessen am Gewinn des Kaufobjektes,<br />

desto höher der Goodwill, so ist<br />

es meist die Regel.<br />

Bayer ist nicht allein. 2006 schaufelte<br />

BASF rund 50 Prozent des Kaufpreises von<br />

3,8 Milliarden Euro nach dem Kauf des Katalysatorenherstellers<br />

Engelhard als Goodwill<br />

in die Bilanz. Continental packte ein<br />

Jahr später knapp sechs Milliarden Euro<br />

»<br />

FOTOS: BLOOMBERG NEWS/CHRIS RATCLIFFE, GETTY IMAGES/FLICKR RF<br />

110 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Geld&Börse<br />

Stille Lasten<br />

Viele Dax-Unternehmen ziehen seit Jahren Übernahmeprämien durch die Bilanz<br />

und schreiben diese kaum noch ab<br />

Unternehmen<br />

Adidas<br />

Allianz<br />

BASF<br />

BMW<br />

Bayer<br />

Beiersdorf<br />

Commerzbank<br />

Continental<br />

Daimler<br />

Deutsche Bank<br />

Deutsche Börse<br />

Deutsche Post<br />

Deutsche Telekom<br />

E.On<br />

Fresenius<br />

Fresenius Med. Care<br />

HeidelbergCement<br />

Henkel<br />

Infineon<br />

K + S<br />

Lanxess<br />

Linde<br />

Lufthansa<br />

Merck<br />

Münchener Rück<br />

RWE<br />

SAP<br />

Siemens<br />

ThyssenKrupp<br />

Volkswagen<br />

bilanzierte<br />

Übernahmeprämien<br />

(Goodwill)<br />

in Millionen<br />

Euro (2013)<br />

1204<br />

11 544<br />

6 872<br />

369<br />

9 862<br />

63<br />

2080<br />

5 521<br />

681<br />

9 074<br />

2043<br />

10 667<br />

14 562<br />

12 797<br />

14 826<br />

8 453<br />

10 055<br />

6 353<br />

21<br />

606<br />

147<br />

10 395<br />

616<br />

4 583<br />

3292<br />

11 374<br />

13 688<br />

17 883<br />

3 493<br />

23 730<br />

Goodwill<br />

in Prozent<br />

des Eigenkapitals<br />

per Ende<br />

2013<br />

22,0<br />

21,8<br />

24,7<br />

1,0<br />

47,4<br />

1,9<br />

7,7<br />

59,2<br />

1,6<br />

16,5<br />

62,5<br />

106,2<br />

45,4<br />

35,2<br />

111,8<br />

122,9<br />

79,9<br />

66,8<br />

0,6<br />

17, 8<br />

7,7<br />

76,5<br />

10,1<br />

41,4<br />

12,6<br />

93,7<br />

85,3<br />

63,6<br />

139,1<br />

26,4<br />

1 seit Dax-Aufnahme 2012; 2 2003 und 2004; Quelle: Universität St. Gallen, Institut für Accounting, Controlling<br />

und Auditing; eigene Berechnungen; Zahlen gerundet<br />

Der Goodwill gehört zu den sehr wenigen<br />

Vermögenspositionen in der Bilanz, die<br />

Unternehmen nicht für sich genommen<br />

veräußern können – im Gegensatz etwa<br />

zu einer Maschine oder einer Lizenz. Der<br />

Wert dieses Postens entsteht wie folgt:<br />

Erwirbt ein Unternehmen eine neue Tochter,<br />

ist das Management verpflichtet, das<br />

gekaufte Vermögen buchhalterisch in<br />

Einzelteile zu zerlegen. Fällt der Kaufpreis<br />

für die neue Tochter höher aus als das<br />

Abschreibung heute<br />

durchschnittliche<br />

jährliche<br />

Abschreibung<br />

2005–2013<br />

in Millionen<br />

Euro<br />

35<br />

98<br />

57<br />

0<br />

0<br />

24<br />

79<br />

293<br />

3<br />

234<br />

1<br />

117<br />

1328<br />

556<br />

0<br />

0<br />

120<br />

6<br />

3<br />

0<br />

6 1<br />

0<br />

33<br />

7<br />

68<br />

247<br />

0<br />

224<br />

62<br />

1<br />

Durchschnitt<br />

2005–2013:<br />

Abschreibung<br />

relativ zum<br />

durchschnittlich<br />

bilanzierten<br />

Goodwill (Prozent)<br />

2,7<br />

0,8<br />

1,1<br />

0,0<br />

0,0<br />

23,6<br />

5,0<br />

5,9<br />

0,4<br />

2,8<br />

0,1<br />

1,1<br />

7,1<br />

3,7<br />

0,0<br />

0,0<br />

1,4<br />

0,1<br />

2,8<br />

0,0<br />

3,4 1<br />

0,0<br />

5,5<br />

0,2<br />

2,0<br />

2,0<br />

0,0<br />

1,6<br />

1,7<br />

0,0<br />

Abschreibung früher<br />

durchschnittliche<br />

jährliche<br />

Abschreibung<br />

2000–2004<br />

in Millionen<br />

Euro<br />

43<br />

964<br />

227<br />

kein Goodwill<br />

197<br />

8<br />

191<br />

48<br />

101<br />

360<br />

43<br />

291<br />

4603<br />

674<br />

0<br />

65<br />

200<br />

265<br />

35<br />

1<br />

50 2<br />

124<br />

321<br />

121<br />

355<br />

518<br />

19<br />

571<br />

158<br />

106<br />

Durchschnitt<br />

2000–2004:<br />

Abschreibung<br />

relativ zum<br />

durchschnittlich<br />

bilanzierten<br />

Goodwill (Prozent)<br />

7,2<br />

8,5<br />

9,7<br />

kein Goodwill<br />

11,7<br />

40,2<br />

19,0<br />

3,3<br />

3,9<br />

4,3<br />

5,9<br />

11,1<br />

15,2<br />

8,0<br />

0,0<br />

2,9<br />

8,3<br />

12,8<br />

16,1<br />

26,8<br />

33,7 2<br />

4,0<br />

37,6<br />

7,3<br />

9,6<br />

6,0<br />

15,4<br />

9,5<br />

4,2<br />

27,7<br />

neu bewertete Vermögen, wird diese<br />

Übernahmeprämie als Goodwill in die<br />

Bilanz gebucht. Seit zehn Jahren wird in<br />

einem komplexen Verfahren geprüft, ob der<br />

Goodwill noch werthaltig ist. Seither fallen<br />

neu erworbene Töchter nur noch auffällig<br />

selten durch. Deshalb fordern Experten,<br />

den Goodwill wieder wie bis 2004 regelmäßig<br />

abzuschreiben. Das würde das<br />

Eigenkapital vieler Unternehmen enorm<br />

belasten – teilweise wäre es ganz futsch.<br />

»<br />

Goodwill in die Bilanz, nachdem die<br />

Niedersachsen Siemens die Tochter VDO<br />

Automotive für elf Milliarden Euro abgekauft<br />

hatten. HeidelbergCement ermittelte<br />

gleich 8,9 Milliarden Euro als Übernahmeprämie<br />

auf das Vermögen des Konkurrenten<br />

Hanson; bezahlt hatte Heidelberg-<br />

Cement mit zwölf Milliarden Euro kaum<br />

mehr. Sellhorn von der Uni München stellte<br />

für 18 Dax-Transaktionen im Jahr 2012<br />

fest, dass fast die Hälfte aller gezahlten<br />

Kaufpreise für neue Töchter als Goodwill in<br />

der Bilanz auftauchte. Nicht einmal ein<br />

Drittel der Kaufpreise war wirklich „hartes<br />

Vermögen“, so Sellhorn.<br />

Sorglosigkeit signalisiert nicht nur der<br />

hohe Kaufpreis, den Bayer bereit ist, zu<br />

zahlen. Im ersten Halbjahr 2014 kündigten<br />

Unternehmen nach Daten von Thomson<br />

Reuters Fusionen über fast 1800 Milliarden<br />

Dollar an – knapp drei Viertel mehr als vor<br />

Jahresfrist. Das ist das höchste Volumen<br />

seit dem ersten Halbjahr 2007, kurz bevor<br />

der Finanzcrash begann. Ein Großteil der<br />

damaligen Übernahmen hatten den Goodwill<br />

weiter aufgepumpt, so wird es auch<br />

diesmal sein. Dafür sprechen die enormen<br />

einzelnen Summen, die annonciert sind.<br />

Der US-Telekomkonzern AT&T will den<br />

Satellitenfernseh-Betreiber DirecTV inklusive<br />

Schulden für 67 Milliarden Dollar kaufen;<br />

der Medienriesen Comcast will sich<br />

den Kabelanbieter Time Warner Cable für<br />

45 Milliarden Dollar einverleiben; das<br />

Überwachungsnetzwerk Facebook hat den<br />

Kurzmitteilungsanbieter WhatsApp für<br />

rund 19 Milliarden Dollar erworben. Auch<br />

das in Deutschland per Ende Juli annoncierte<br />

Übernahmevolumen liegt mit knapp<br />

64 Milliarden Dollar auf dem höchsten<br />

Stand seit sechs Jahren.<br />

KURS PASST SICH NACH UNTEN AN<br />

Anleger dürften über kurz oder lang vor allem<br />

bei Unternehmen bluten, bei denen der<br />

Goodwill einen hohen Anteil am Eigenkapital<br />

ausmacht oder absolut betrachtet sehr<br />

hoch ist (siehe Tabelle links). Denn wenn<br />

das Eigenkapital über Gebühr belastet wird,<br />

drohen Kapitalerhöhungen. Die Konzerngewinne<br />

verteilen sich dann auf mehr Aktien,<br />

das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) steigt<br />

entweder, oder der Kurs passt sich nach unten<br />

an. Die KGVs steigen auch kräftig in die<br />

Höhe, wenn Anleger regelmäßige Abschreibungen<br />

auf den Goodwill unterstellen.<br />

In den vergangenen beiden Jahren, in einer<br />

Phase guter Konjunktur also, verdienten<br />

die 30 Dax-Unternehmen zusammen<br />

jeweils gut 60 Milliarden Euro. Sollten<br />

»<br />

112 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Geld&Börse<br />

Die meisten deutlich teurer<br />

Wie hoch die Kurs-Gewinn-Verhältnisse der Dax-Aktien stiegen, wenn Goodwill wieder<br />

ordentlich abgeschrieben würde 1<br />

Aktie<br />

Adidas<br />

Allianz<br />

BASF<br />

Bayer<br />

Beiersdorf<br />

BMW<br />

Commerzbank<br />

Continental<br />

Daimler<br />

Deutsche Bank<br />

Deutsche Börse<br />

Deutsche Post<br />

Deutsche Telekom<br />

E.On<br />

Fresenius<br />

Fresenius Medical Care<br />

HeidelbergCement<br />

Henkel Vz.<br />

Infineon<br />

K+S<br />

Lanxess<br />

Linde<br />

Lufthansa<br />

Merck<br />

Münchener Rück<br />

RWE<br />

SAP<br />

Siemens<br />

ThyssenKrupp<br />

Volkswagen Vz.<br />

Börsenwert<br />

(in Millionen<br />

Euro)<br />

12212<br />

60440<br />

72936<br />

86292<br />

17438<br />

57699<br />

13531<br />

32911<br />

67271<br />

36812<br />

10767<br />

30423<br />

52862<br />

28384<br />

20358<br />

16786<br />

10845<br />

33723<br />

10216<br />

4624<br />

4308<br />

28287<br />

6245<br />

29204<br />

26832<br />

18650<br />

72113<br />

85598<br />

12088<br />

82547<br />

geschätzter<br />

Nettogewinn<br />

2014<br />

(in Millionen<br />

Euro)<br />

698<br />

6162<br />

5024<br />

3940<br />

566<br />

5883<br />

595<br />

2508<br />

7079<br />

1734<br />

694<br />

2087<br />

2541<br />

1619<br />

1063<br />

813<br />

747<br />

1793<br />

492<br />

307<br />

134<br />

1385<br />

500<br />

1325<br />

3061<br />

1727<br />

3364<br />

5316<br />

350<br />

10528<br />

geschätztes<br />

Kurs-Gewinn-<br />

Verhältnis<br />

2014<br />

1 lineare Goodwill-Abschreibung über zehn Jahre unterstellt; Quelle: Bloomberg, eigene Berechnungen; Stand: 3.9.2014<br />

17,5<br />

9,8<br />

14,5<br />

21,9<br />

30,8<br />

9,8<br />

22,7<br />

13,1<br />

9,5<br />

21,2<br />

15,5<br />

14,6<br />

20,8<br />

17,5<br />

19,2<br />

20,6<br />

14,5<br />

18,8<br />

20,8<br />

15,1<br />

32,2<br />

20,4<br />

12,5<br />

22,0<br />

8,8<br />

10,8<br />

21,4<br />

16,1<br />

34,5<br />

7,8<br />

um Goodwill-<br />

Abschreibungen<br />

bereinigter<br />

Nettogewinn<br />

(in Millionen Euro)<br />

578<br />

5008<br />

4337<br />

2954<br />

560<br />

5879<br />

387<br />

1956<br />

7011<br />

827<br />

490<br />

1020<br />

1085<br />

339<br />

Verlust<br />

Verlust<br />

Verlust<br />

1158<br />

490<br />

246<br />

119<br />

345<br />

438<br />

867<br />

2732<br />

590<br />

1995<br />

3528<br />

1<br />

8155<br />

bereinigtes<br />

Kurs-Gewinn-<br />

Verhältnis<br />

2014<br />

21,1<br />

12,1<br />

16,8<br />

29,2<br />

31,1<br />

9,8<br />

35,0<br />

16,8<br />

9,6<br />

44,5<br />

22,0<br />

29,8<br />

48,7<br />

83,7<br />

negativ<br />

negativ<br />

negativ<br />

29,1<br />

20,8<br />

18,8<br />

36,2<br />

82,0<br />

14,3<br />

33,7<br />

9,8<br />

31,6<br />

36,1<br />

24,3<br />

12 088,0<br />

10,1<br />

»Selbst für<br />

Experten sind<br />

Manipulationen<br />

›nicht zu<br />

erkennen‹«<br />

Thorsten Sellhorn,<br />

Uni München<br />

»<br />

auch in diesem und im kommenden<br />

Jahr die ausgewiesenen Gewinne stagnieren,<br />

wofür einiges spricht, dann würde eine<br />

regelmäßige Abwertung des Goodwill ein<br />

Drittel dieser Gewinne ausradieren. Etwa<br />

40 Milliarden Euro Jahresüberschuss im<br />

Dax würden bei einem derzeitigen Dax von<br />

aktuell 9650 Punkten ein KGV von 24 ergeben<br />

– enorm teuer. Um das – geschätzte –<br />

KGV, die Kernkennzahl für die Aktienbewertung,<br />

zu ermitteln, dividieren Investoren<br />

den aktuellen Börsenwert eines Unternehmens<br />

durch den letztjährigen oder den<br />

erwarteten Jahresüberschuss des Unternehmens.<br />

Bei Bayer, der Deutschen Bank<br />

oder E.On etwa ginge jeweils das KGV<br />

deutlich nach oben und könnte von Käufen<br />

der Aktie abschrecken. Ganz zu schweigen<br />

von Unternehmen wie FMC oder HeidelbergCement<br />

die plötzlich rote Zahlen<br />

schreiben würden (siehe Tabelle).<br />

AKTIENPRÄMIEN STEIGEN<br />

Neben dem KGV spielt das Kurs-Buch-Verhältnis<br />

(KBV) die zweite wichtige Geige bei<br />

der Fundamentalanalyse der Märkte.<br />

Dieser Buchwert ist der rechnerische Vermögensanteil<br />

des Aktionärs an seinem Unternehmen.<br />

Aktuell gestehen Investoren<br />

allen Dax-Unternehmen im Durchschnitt<br />

schon eine 70-prozentige Prämie auf den<br />

Vermögenswert zu. Das Kurs-Buchwert-<br />

Verhältnis liegt deshalb bei 1,7. Eine Komplettabwertung<br />

des Goodwill ließe das<br />

KBV um zwei Drittel auf den enormen Faktor<br />

von 2,8 steigen. Solche Prämien gestehen<br />

Anleger bestenfalls stark wachsenden<br />

Technologieunternehmen zu, aber nicht<br />

den vielen trägen Dax-Konzernen. „Diese<br />

erhebliche Veränderungen, so hat man<br />

den Eindruck, haben viele Investoren nicht<br />

auf dem Radar“, sagt Leibfried.<br />

Weil bis auf wenige Ausnahmen Vermögensverwalter<br />

und Fondsmanager in erster<br />

Linie schematisch Zahlen durchforsten,<br />

ohne deren Qualität zu prüfen, oder,<br />

schlimmer noch, Computer-Programme<br />

über Aktienkäufe entscheiden lassen, ist es<br />

für Vorstände ein Leichtes, Anleger über<br />

den Impairment Test zu täuschen, um so<br />

höhere Gewinne und ein höheres Eigenkapital<br />

auszuweisen. Fehlerhafte Bilanzierung<br />

erfasst keines der von Großinvestoren<br />

eingesetzten Terminals und schon gar<br />

nicht irgendein Algorithmus.<br />

Denn viele Unternehmen greifen in die<br />

Trickkiste, sobald eine Einheit Abschreibungsbedarf<br />

hat. Ein Weg ist, den Zeitraum,<br />

der die Basis für die im Test verwendeten<br />

Planzahlen bildet, zu strecken. Gasehersteller<br />

Linde etwa verschob im<br />

schwierigen Jahr 2009 den Planungszeitraum<br />

einfach um ein Jahr auf 2014. Beliebt<br />

ist auch der Dreh, schwach laufende Geschäfte<br />

in der einen Einheit mit gut laufenden<br />

in einer anderen neu zusammenzufassen:<br />

In diesem Jahr böte sich an,<br />

schlechtere Verkäufe in Russland mit dem<br />

besser laufenden Geschäft in der Türkei<br />

oder das mies laufende Rüstungs- mit<br />

dem besseren Automotivegeschäft zu verknüpfen.<br />

So änderte beispielsweise die<br />

114 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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FOTOS: GETTY IMAGES/FLICKR RF, CORBIS/SCIENCE FACTION/PETER GINTER<br />

Deutsche Telekom im Jahr 2012 die Zuordnung<br />

ihrer Geschäftseinheiten. Ob damit<br />

eine noch höhere Goodwill-Abschreibung<br />

vermieden werden sollte, ist jedoch<br />

selbst für Fachleute wie Sellhorn „nicht zu<br />

erkennen“. „Keine Chance“, deshalb Manipulationen<br />

zu enttarnen, sieht auch Bilanzexperte<br />

Brösel. „Ganz generell ist eine<br />

Änderung der Strukturen bei den Geschäftseinheiten“<br />

aber ein Grund, „genau<br />

hinzuschauen“, sagt DPR-Vizepräsidentin<br />

Thormann.<br />

Getäuscht würden damit nicht nur Aktionäre,<br />

sondern auch Gläubiger. So können<br />

Abschreibungen auf den Goodwill dazu<br />

führen, dass Unternehmen Vereinbarungen<br />

brechen, die sie Kreditgebern oder<br />

Eigentümern von Anleihen gegeben haben.<br />

Beim Stahlzulieferer SKW Stahl-Metallurgie<br />

etwa fiel vor Monatsfrist nicht nur<br />

der Aktienkurs binnen eines Tages um<br />

gleich 60 Prozent. Impairment Tests zum<br />

30. Juni 2014 hatten „außerordentliche<br />

Wertberichtigungen in voraussichtlicher<br />

Höhe von 84 Millionen Euro“ ergeben, was<br />

auch einen Bruch von Kreditbedingungen<br />

mit Banken auslöste; die Geldinstitute<br />

stellten dem bayrischen Unternehmen<br />

trotz eigentlich nicht mehr haltbarer Finanzkennzahlen<br />

die Darlehen aber noch<br />

nicht fällig, sondern gewährten eine Gnadenfrist<br />

bis zum 30. September.<br />

ANALYSTEN REAGIEREN ZU SPÄT<br />

Eine Gnadenfrist könnte auch bei jenen<br />

Vorständen beginnen, die mit jeder Abschreibung<br />

einräumen müssen, Aktionärsvermögen<br />

verschleudert zu haben. „Eine<br />

Goodwill-Abschreibung birgt immer auch<br />

die Gefahr eines Reputationsverlustes für<br />

das Unternehmen und das Management“,<br />

so Sellhorn, „daher wird oft versucht, sie<br />

dem Kapitalmarkt als Neuanfang zu<br />

verkaufen und den Eindruck einer gescheiterten<br />

Akquisition zu vermeiden.“<br />

Wenn hohe Abschreibungen nicht mehr<br />

aufgeschoben werden können, weil etwa<br />

selbst den meist gefügigen oder wenig<br />

kenntnisreichen Aufsichtsräten langsam<br />

mulmig wird, dann wird es für Anleger oft<br />

bitter. So rutschte im vergangenen Dezember<br />

der Kurs der Peugeot-Aktie um zehn<br />

Prozent, als der französische Autokonzern<br />

eine Goodwill-Abschreibung über 1,1 Milliarden<br />

Euro meldete. Zu spät reagieren<br />

dann oft auch Analysten. Erst als Reaktion<br />

auf die Abwertung stufte etwa Standard &<br />

Poor’s (S&P) die Aktie auf verkaufen. Das<br />

Schuldenrating setzte S&P nur kurze Zeit<br />

später in die schwache Kategorie B+.<br />

Drehende Pillen Einkaufstour von Bayer<br />

könnte wackeliges Vermögen erhöhen<br />

Mächtig Gegenwind droht auch bei der<br />

französischen Société Générale. Trotz des<br />

Kriegs in der Ukraine setzt die französische<br />

Großbank weiter auf Russland. Bank-Chef<br />

Frédéric Oudéa bekräftigte dieses Jahr das<br />

langfristige Engagement seines Hauses in<br />

Russland, obwohl er im ersten Quartal seinen<br />

Aktionären bereits eine Goodwill-Abschreibung<br />

in Höhe von 525 Millionen Euro<br />

auf das dortige Geschäft bescherte.<br />

Im Dax erwischte es zuletzt RWE, die in<br />

ihrer Jahresbilanz 1,4 Milliarden Euro an<br />

Goodwill abwertete. Aus der zweiten Reihe<br />

räumte beispielsweise der Pharmahändler<br />

Celesio Anfang Juli bei Firmenwerten auf,<br />

die aus Zukäufen in Brasilien stammten.<br />

Die Aktie des Nürnberger Marktforschers<br />

Billiger als vor 14 Jahren<br />

An der Börse werden die Dax-Unternehmen<br />

niedriger bewertet als zur Jahrtausendwende<br />

(Dax-Kursindex in Punkten)<br />

6000<br />

5000<br />

4000<br />

3000<br />

2000<br />

00 02 04 06 08 10 12 14<br />

Quelle: Bloomberg<br />

GfK steht seit vergangenem Dezember unter<br />

Druck, nachdem der Konzern für 2013<br />

wegen unerwarteter Firmenwertabschreibungen<br />

erstmals seit seinem Börsengang<br />

1999 einen Verlust angekündigt hatte.<br />

Beim Berliner Entsorger Alba stürzte 2013<br />

nach Firmenwertabschreibungen ebenfalls<br />

das Ergebnis. Vor Steuern rutschten<br />

die Berliner mit 67 Millionen Euro in die<br />

Miesen. Mit solchen kleinen Zahlen gibt<br />

sich naturgemäß die Bankenbranche nicht<br />

ab. Innerhalb von fünf Jahren wertete etwa<br />

die italienische UniCredit unter anderem<br />

auf den Goodwill 75 Milliarden Euro ab.<br />

TEST IM DRITTEN QUARTAL<br />

Extrem ist das Beispiel Banesto. Die spanische<br />

Großbank hatte, wie die DPR feststellte,<br />

in ihrer Bilanz unter der Verwendung eines<br />

eigenen Modells für ihre Anteile an der<br />

Immobiliengesellschaft Metrovacesa einen<br />

Wert von 24,40 Euro je Aktie ermittelt,<br />

obwohl der relevante Börsenkurs bei nur<br />

5,59 Euro lag, also drei Viertel niedriger.<br />

Ein solches Extrem hat die DPR bei einem<br />

Dax-Unternehmen noch nicht festgestellt.<br />

Der Druck, Goodwill endlich auch<br />

mal abzuschreiben, wird aber immer größer.<br />

So würde es nicht verwundern, wenn<br />

Unternehmen Aktionären noch bis zum<br />

Jahresende so manche böse Überraschung<br />

bescherten. Denn erst im laufenden dritten<br />

und kommenden vierten Quartal steht<br />

bei den meisten turnusmäßig der Goodwill<br />

auf dem Prüfstand. Einige Milliarden davon<br />

vielleicht schon zum letzten Mal. n<br />

christof.schuermann@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 115<br />

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Geld&Börse | Steuern und Recht<br />

STREAMING<br />

Kostenlos, aber rechtswidrig<br />

Das bloße Anschauen von Medien im Internet kann nach wie vor illegal sein.<br />

Im Juni dieses Jahres entschied der Europäische<br />

Gerichtshof, dass das bloße Anschauen von Medieninhalten<br />

im Internet (Streaming) Urheberrechte<br />

nicht verletzt (C-360/13). „Das Urteil ist<br />

allerdings kein Freibrief für Streaming über illegale<br />

Internet-Plattformen“, sagt Ralph Oliver<br />

Graef, Hamburger Fachanwalt für Medienrecht.<br />

Soweit für die Nutzer erkennbar sei, dass es sich<br />

bei der Quelle im Internet um eine illegale Plattform<br />

handele, die rechtswidrig Medien zum<br />

Streaming bereitstelle, verletzten sie Urheberrechte.<br />

Wenn eine illegale Plattform beispielsweise<br />

Spielfilme ins Netz stelle, die zu dem Zeitpunkt<br />

legal nur im Kino liefen, dann könne sich<br />

der Nutzer nicht damit herausreden, er habe<br />

nicht gewusst, dass er etwas Verbotenes tue.<br />

RECHT EINFACH | Fitnessstudio<br />

Sportstudios haben Konjunktur.<br />

Was ist jedoch, wenn ein Kunde<br />

krankheitsbedingt ausfällt? Oft<br />

entscheiden die Gerichte.<br />

§<br />

Attest. Ein Mann schloss<br />

bei einem Fitnessstudio einen<br />

langfristigen Vertrag<br />

ab. Nach einiger Zeit diagnostizierte<br />

sein Arzt, dass er nicht<br />

mehr länger Kraftsport betreiben<br />

dürfe. Der Ex-Sportler wollte nun<br />

den Fitness-Vertrag mit sofortiger<br />

Wirkung kündigen. Der Betreiber<br />

des Clubs legte sich quer: Laut<br />

Vertrag müsse die Erkrankung „genau<br />

und nachvollziehbar“ offengelegt<br />

werden. Der Kunde zog vor<br />

Gericht – und gewann. Nach Meinung<br />

der Juristen reiche es für eine<br />

außerordentliche Kündigung aus,<br />

dass ein Arzt die Sportunfähigkeit<br />

bestätige (Bundesgerichtshof, XII<br />

ZR 42/10).<br />

Platzangst. Ein Freiburger trainierte<br />

mehrere Jahre in einem Sportclub.<br />

Plötzlich entwickelte er klaustrophobische<br />

Symptome. In engen,<br />

voll gestellten Räumen wie in dem<br />

Gleiches gelte für ein Live-Spiel der Fußballbundesliga,<br />

das ausschließlich kostenpflichtig<br />

im Pay-TV übertragen werde. Wer beim illegalen<br />

Streaming erwischt werde, müsse mit einer Abmahnung<br />

und Schadensersatzforderungen<br />

rechnen, so Graef. Als Schadensersatz kommen<br />

fiktive Lizenzgebühren sowie Anwaltskosten des<br />

Inhabers der Urheberrechte infrage. Die fiktiven<br />

Lizenzgebühren entsprechen dem, was der Nutzer<br />

hätte zahlen müssen, wenn er sich beispielsweise<br />

einen Film legal angeschaut hätte. Zwar ist<br />

ein Abmahnverfahren bei einmaligem Streaming<br />

wegen des geringen Schadens unwirtschaftlich,<br />

die Musik- und Filmindustrie könnte<br />

jedoch bei Mehrfachtätern einschreiten, um<br />

Nachahmer abzuschrecken.<br />

Fitnesscenter hielt er es nicht mehr<br />

aus. Der Betreiber lehnte eine<br />

Kündigung wegen „psychischer<br />

Erkrankung“ ab. Das sah der zuständige<br />

Richter anders. Seelische<br />

Probleme könnten sehr wohl ein<br />

Grund für eine sofortige Vertragsauflösung<br />

sein (Amtsgericht Freiburg,<br />

55 C 3255/08).<br />

FALSCHBERATUNG<br />

Mahnung war<br />

rechtzeitig<br />

Ein Ehepaar kaufte im April<br />

2007 bei einer Bank 600 Bonuszertifikate<br />

auf den Index Euro<br />

Stoxx 50. Später wurden sie mit<br />

Verlust verkauft. 2009 verlangten<br />

die Anleger Schadensersatz<br />

von der Bank, weil sie sie falsch<br />

beraten habe. Weil dies nicht<br />

fruchtete, beantragten die<br />

Anleger am 7. Juni 2010 einen<br />

Mahnbescheid gegen die Bank<br />

in Höhe von 30 738 Euro. Am 14.<br />

Juni ging der Mahnbescheid bei<br />

der Bank ein. Das Oberlandesgericht<br />

Frankfurt wies die<br />

Ansprüche der Anleger auf<br />

Schadensersatz zurück, weil sie<br />

bereits am 6. Juni 2010 verjährt<br />

gewesen seien. Mehr Glück hatten<br />

die Anleger beim Bundesgerichtshof<br />

(XI ZR 172/13). Der 6.<br />

Juni 2010 sei ein Sonntag, also<br />

kein Arbeitstag gewesen, daher<br />

könne die Verjährung erst am<br />

darauf folgenden Montag, 7. Juni,<br />

eingetreten sein, so die Richter.<br />

Da aber der Anleger just an<br />

diesem Tag seinen Mahnbescheid<br />

eingereicht habe, wurde<br />

die Verjährung noch rechtzeitig<br />

gehemmt. Demnach könnte<br />

nach wie vor ein Anspruch auf<br />

Schadensersatz bestehen. Nun<br />

muss erneut das OLG Frankfurt<br />

entscheiden, auch um den<br />

Grund festzustellen, warum die<br />

Bank gegebenenfalls haften<br />

muss.<br />

Kaputte Gelenke. Ein junger<br />

Münchner unterschrieb einen<br />

24-Monats-Vertrag in einem Fitnessstudio,<br />

obwohl er wusste,<br />

dass er lädierte Gelenke hatte.<br />

Schon kurz nach Trainingsbeginn<br />

bekam er heftige Schmerzen. Vorzeitig<br />

kündigen durfte er jedoch<br />

nicht. Da der Kunde schon vor<br />

Vertragsabschluss von seiner Erkrankung<br />

gewusst habe, sei ihm<br />

zuzumuten, den Vertrag bis zu<br />

dessen regulären Ende fortzusetzen,<br />

so die Richter (Amtsgericht<br />

München, 213 C 22567/11).<br />

FOTOS: CORBIS/CULTURA/STEVE PREZANT, GETTY IMAGES/JOHNER IMAGES, PR<br />

116 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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EIGENTÜMERGEMEINSCHAFT<br />

Terrassenbau im Alleingang nicht erlaubt<br />

Eigentümergemeinschaften in<br />

Wohnanlagen streiten sich häufig.<br />

Meist geht es dabei um bauliche<br />

Veränderungen. Zwar<br />

regeln Verträge und die Beschlüsse<br />

der Eigentümerversammlung,<br />

was erlaubt ist und<br />

was nicht, aber nicht jeder ist<br />

gewillt, sich an die Regeln zu<br />

halten. Ein Eigentümer einer<br />

Wohnanlage in Nordrhein-<br />

Westfalen wollte vor seiner Eigentumswohnung<br />

im Erdgeschoss<br />

eine Terrasse bauen.<br />

Seine Nachbarn waren dagegen.<br />

Dennoch ließ der Eigentümer<br />

2005 ein Betonfundament<br />

für die Terrasse gießen. Fertig<br />

gebaut wurde sie jedoch nicht.<br />

2009 beschlossen die übrigen<br />

Eigentümer auf einer Versammlung,<br />

dass das Fundament zu<br />

entfernen sei. Die Kosten habe<br />

der Bauherr zu tragen. Ferner<br />

verlangten die Eigentümer, dass<br />

die Verwalterin den Abriss<br />

schriftlich einfordern sollte. Der<br />

Terrassenbauherr weigerte sich<br />

jedoch, das Fundament zu entfernen,<br />

schließlich seien die gesetzlichen<br />

Ansprüche bereits<br />

2008 verjährt. Bereits 2005 habe<br />

die Verwalterin von seinem<br />

Bauvorhaben gewusst, dieses<br />

Wissen müssten sich die anderen<br />

Eigentümer zurechnen lassen.<br />

Der Bundesgerichtshof<br />

dagegen ließ diese Argumente<br />

MANAGER-BETRIEBSRENTE<br />

Keine Zahlung, keine Steuer<br />

Eine GmbH sagte ihrem neuen<br />

Geschäftsführer eine Betriebsrente<br />

zu. Zu diesem Zeitpunkt<br />

war der Manager 58 Jahre alt.<br />

Die Führungskraft sollte erst<br />

nach zehn Jahren Betriebszugehörigkeit<br />

diese Rente ausbezahlt<br />

bekommen, dann wäre er<br />

68 Jahre alt gewesen. Stattdessen<br />

verließ er bereits nach fünf<br />

Jahren mit 63 das Unternehmen<br />

und ging leer aus. Die Rückstellungen<br />

für die Betriebsrente des<br />

Geschäftsführers setzte die<br />

GmbH in der Steuererklärung<br />

SCHNELLGERICHT<br />

50 000 EURO WEGEN ÄRZTEPFUSCH<br />

§<br />

Eine Frau wurde 2005 an der linken Schulter operiert.<br />

Seit dem Eingriff kann sie den linken Arm<br />

nicht mehr bewegen. Ein Sachverständiger stellte<br />

fest, dass die Operation grob fehlerhaft durchgeführt<br />

wurde. Das Oberlandesgericht Hamm sprach dem<br />

Opfer des Ärztepfuschs 50 000 Euro Schmerzensgeld<br />

zu (26 U 4/13).<br />

gewinnmindernd an. Das Finanzamt<br />

lehnte dies ab.<br />

Schließlich seien die Rückstellungen<br />

für die nicht gezahlte<br />

Betriebsrente eine verdeckte<br />

Gewinnausschüttung und damit<br />

steuerpflichtig. Das Unternehmen<br />

klagte gegen den Steuerbescheid<br />

– ohne Erfolg. Der<br />

Bundesfinanzhof entschied,<br />

dass sich Rückstellungen nur<br />

dann gewinnmindernd ansetzen<br />

ließen, wenn tatsächlich ein<br />

Anspruch auf Betriebsrente bestehe<br />

(I R 76/13).<br />

nicht gelten (V ZR 183/13). So<br />

müssten sich die Eigentümer<br />

nicht das Wissen der Verwalterin<br />

zurechnen lassen, weil sie<br />

die mit der Beseitigung der Terrasse<br />

verbundenen Rechte<br />

nicht auf die Verwalterin übertragen<br />

hätten. Weil sie diese<br />

Rechte nicht übertragen hätten,<br />

beginne die Verjährung nicht<br />

2005 als die Verwalterin <strong>vom</strong><br />

Bau des Fundaments wusste,<br />

sondern erst 2009 mit dem Beschluss<br />

der Eigentümerversammlung.<br />

Die Vorinstanz, das<br />

Landesgericht Dortmund, muss<br />

nun klären, ob alle Eigentümer<br />

bereits 2005 <strong>vom</strong> Bau der Terrasse<br />

wussten.<br />

EINKOMMENSTEUER<br />

Im Einzelfall<br />

weniger<br />

Steuerzahler können den Erwerbsaufwand<br />

<strong>vom</strong> Einkommen<br />

abziehen. Oberhalb von<br />

einer Million Euro Einkommen<br />

werden 40 Prozent der positiven<br />

Einkünfte besteuert,<br />

unabhängig davon, ob weitere<br />

Verluste noch nicht mit Einkommen<br />

verrechnet wurden<br />

(Mindestbesteuerung). Dieses<br />

Verfahren kann im Einzelfall<br />

verfassungswidrig sein<br />

(Bundesfinanzhof, I R 59/12).<br />

WEITERVERKAUF VON E-BOOKS UNTERSAGT<br />

§<br />

Wer E-Books, also elektronische Bücher, kauft,<br />

darf die Dateien nicht ohne Zustimmung des Verlages<br />

weiterverkaufen. Ein Urteil des Oberlandesgerichtes<br />

Hamm (22 U 60/13) ist rechtskräftig, weil die<br />

Klägerin, der Bundesverband der Verbraucherzentralen,<br />

seinen Einspruch gegen das OLG-Urteil beim<br />

Bundesgerichtshof (I-ZR 120/14) zurückgezogen hat.<br />

REISEPORTAL MUSS ALLE KOSTEN NENNEN<br />

§<br />

Der Internet-Reisevermittler Opodo darf seine<br />

Kunden nicht mit unseriösen Warnhinweisen vor<br />

hohen Stornokosten zum Abschluss von Reiseversicherungen<br />

drängen. Kunden, die keine Versicherungen<br />

wollten, müssten darauf ausdrücklich verzichten,<br />

wenn sie bei Opodo buchen und zusätzlich erklären,<br />

dass sie im Notfall alle Kosten selbst zahlen, bemängelte<br />

das Landgericht Berlin (15 O 413/13). Opodo<br />

müsse – anders als bisher – die Servicepauschale für<br />

bestimmte Zahlungsverfahren in die Flugpreise einberechnen,<br />

so die Richter.<br />

STEUER IM AUSLAND<br />

EUGEN STRAUB<br />

ist Partner bei<br />

KPMG in<br />

München und<br />

Chef des Bereiches<br />

Lohnsteuer<br />

Service.<br />

n Herr Straub, können<br />

Rentner, die dauerhaft ins<br />

Ausland ziehen, dem deutschen<br />

Fiskus entkommen?<br />

Wer wegzieht, bleibt mit seiner<br />

Rente in Deutschland<br />

steuerpflichtig. Eine Ausnahme<br />

gilt, wenn Deutschland ein<br />

Doppelbesteuerungsabkommen<br />

abgeschlossen hat, denn<br />

dann wird die Rente in der<br />

Regel im Ausland versteuert.<br />

Es kann aber sein, dass der<br />

deutsche Staat einen Teil der<br />

Rente besteuern darf. Das ist<br />

auch bei neueren Abkommen<br />

der Fall, etwa mit der Türkei.<br />

n Worauf sollten Bürger<br />

achten, die wegziehen?<br />

Deutsche, die im Ausland leben,<br />

müssen auf steuerliche<br />

Vergünstigungen wie den<br />

Grundfreibetrag von 8354 Euro<br />

verzichten. Außerdem kann<br />

man mit seinen gesamten<br />

Einkünften, also nicht nur der<br />

Rente, bis zu elf Jahre in<br />

Deutschland steuerpflichtig<br />

bleiben, wenn der Steuersatz<br />

im Ausland sehr niedrig ist.<br />

n Welches Land mit Abkommen<br />

hat günstige Steuern?<br />

Zypern besteuert Renten<br />

vergleichsweise niedrig.<br />

n Wie ist es mit der Erbschaftsteuer<br />

geregelt?<br />

Die Höhe der zu zahlenden<br />

Steuer orientiert sich am<br />

Wohnsitz von Erbe und Erblasser.<br />

Stirbt ein Deutscher in<br />

Österreich, erhebt das Land<br />

die Steuer nicht, Deutsche<br />

müssen aber fünf Jahre dort<br />

wohnen, um in den Genuss des<br />

Vorteils zu kommen. Wohnt der<br />

Deutsche kürzer in Österreich,<br />

müssen die Erben in Deutschland<br />

Steuern zahlen.<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 Redaktion: martin.gerth@wiwo.de, annina reimann | Frankfurt, heike schwerdtfeger | Frankfurt<br />

117<br />

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Geld&Börse | Geldwoche<br />

KOMMENTAR | Staaten verspielen<br />

ihr Vertrauen beim Anleger. Aktien<br />

bleiben als Sachwerte alternativlos.<br />

Von Martin Gerth<br />

Cristinas Tricks<br />

Heiße Quelle Ölförderung aus<br />

Schiefergestein in Wyoming<br />

Krise? Welche Krise?<br />

Argentiniens Aktienmarkt<br />

brummt. Plus<br />

53 Prozent für den<br />

Aktienindex Merval in diesem<br />

Jahr – in Dollar gerechnet.<br />

Argentiniens Anleger haben<br />

mehr Vertrauen in heimische<br />

Unternehmen als in die abgewirtschaftete<br />

Regierung von<br />

Cristina Fernández de Kirchner<br />

(siehe auch Seite 120). Während<br />

ihnen Buenos Aires eine<br />

hohe Inflation und damit mehr<br />

wertloseres Papiergeld beschert,<br />

zahlen ihnen die Unternehmen<br />

Dividenden. Kursgewinne<br />

gibt es noch oben drauf.<br />

Der Run auf Aktien hat allerdings<br />

noch einen weiteren<br />

Grund. Anleger kaufen mit dem<br />

weichen Peso heimische Aktien<br />

und verkaufen sie gegen harte<br />

Dollar an internationalen Börsen.<br />

So umgehen sie die staatlichen<br />

Limits für Devisengeschäfte.<br />

Bei der letzten Staatspleite<br />

vor 13 Jahren haben vermögende<br />

Argentinier ihr Geld massenhaft<br />

in Dollar umgetauscht, was<br />

die heimische Währung noch<br />

weiter in den Keller trieb. Dieses<br />

Mal wollte die argentinische Regierung<br />

cleverer sein und regulierte<br />

den Dollar-Einkauf. Buenos<br />

Aires hat sich verrechnet,<br />

die Anleger haben einen anderen<br />

Weg gefunden, den ungeliebten<br />

Peso loszuwerden.<br />

Statt Reformen anzupacken,<br />

versucht Kirchner, sich mit allen<br />

Tricks vor Zahlungsverpflichtungen<br />

zu drücken. So will sie Argentiniens<br />

Schulden künftig<br />

über den Finanzplatz Buenos Aires<br />

abwickeln. Damit umgeht sie<br />

den Beschluss eines US-Gerichts,<br />

dass Zahlungen an Gläubiger<br />

nur erlaubt, wenn auch<br />

Forderungen von Hedgefonds,<br />

die argentinische Staatsanleihen<br />

halten, bedient werden.<br />

Auch wenn die International Capital<br />

Association (ICMA), ein<br />

Verband von Börsenhändlern<br />

und Anlegern, neue Regeln für<br />

den Fall einer Staatspleite beschlossen<br />

hat, ist dies kein<br />

Schutz vor der Willkür von Regierungen.<br />

Laut ICMA sollen die<br />

Gläubiger künftig mit einem<br />

Mehrheitsentscheid einen<br />

Schuldenschnitt oder eine Laufzeitverlängerung<br />

bei Anleihen<br />

beschließen können. Bis die Regeln<br />

greifen, können noch Jahre<br />

vergehen. Viel schlimmer ist jedoch,<br />

dass sich Regierungen<br />

nicht an die Regeln halten müssen.<br />

Argentinien und andere<br />

Schulden-Staaten können weiterhin<br />

auf Zeit spielen und renitente<br />

Gläubiger austricksen.<br />

WOHLFEILE KRITIK<br />

Anders als bei Unternehmen,<br />

die den Unmut von Anlegern direkt<br />

am Börsenkurs spüren,<br />

können Wähler ihre Regierungen<br />

in der Regel nur alle vier bis<br />

fünf Jahre abwählen. Es bleibt<br />

den Politikern genügend Zeit,<br />

weiteres Unheil anzurichten.<br />

Dass Finanzminister Wolfgang<br />

Schäuble Argentinien als „Muster<br />

an Unsolidität“ bezeichnet,<br />

ist wohlfeil. Ähnlich klare Worte<br />

gegenüber den Schuldenmachern<br />

aus Italien und Frankreich<br />

blieben bisher aus.<br />

Staatsanleihen sind alles andere<br />

als ein sicherer Hort. Dass<br />

französische Anleihen selbst bei<br />

Restlaufzeiten von 20 Jahren<br />

nicht mehr als zwei Prozent Rendite<br />

bringen, ist kein Zeichen<br />

von Vertrauen, sondern von einem<br />

Mangel an Alternativen auf<br />

dem Zinsmarkt. Auf das Gesamtportfolio<br />

heruntergebrochen,<br />

bleiben Aktien als Sachwerte<br />

nach wie vor alternativlos.<br />

TREND DER WOCHE<br />

Fracking gegen Putin<br />

Weil die USA ein großes Förderland geworden sind,<br />

ist der Ölpreis als politische Waffe stumpf.<br />

Rohöl ist so billig wie seit eineinhalb<br />

Jahren nicht mehr, trotz<br />

der Kriege in der Ukraine und<br />

im Nahen Osten. Der Grund:<br />

Auf dem Weltmarkt kam es<br />

nicht zu einer Verknappung,<br />

sondern zu einer Ölschwemme.<br />

Vor allem in Russland geht wegen<br />

der abschmierenden Konjunktur<br />

der Ölverbrauch zurück,<br />

die Förderung aber läuft<br />

auf vollen Touren. In Europa<br />

und China ist die Nachfrage von<br />

unsicheren Konjunkturaussichten<br />

belastet. Als politische Waffe<br />

jedenfalls ist der Ölpreis derzeit<br />

ziemlich stumpf.<br />

Angebahnt hat sich die Ölpreis-Schwäche<br />

schon vor den<br />

aktuellen Kriegen. Seit Beginn<br />

der Ölgewinnung aus Schiefergestein<br />

(Fracking) in den USA<br />

im Jahre 2008 hat sich das Fördervolumen<br />

mehr als verdoppelt.<br />

Seitdem tritt Amerika immer<br />

weniger als Käufer auf den<br />

internationalen Ölmärkten auf.<br />

Und sollte in den USA eines Tages<br />

das aus den Siebzigerjahren<br />

stammende Ölexportverbot fallen,<br />

käme noch mehr billiges Öl<br />

auf den Weltmarkt.<br />

Spätestens dann jedoch dürfte<br />

die Opec ihre derzeit hohe<br />

Produktion etwas zurückfahren.<br />

Die Organisation der Förderländer<br />

hat zwar an Bedeutung<br />

verloren; dennoch ist sie<br />

mit rund 40 Prozent der Weltproduktion<br />

und drei Vierteln<br />

der Reserven kein Papiertiger.<br />

Gut möglich, dass ein Fass Öl<br />

der Sorte Brent bald weniger als<br />

100 Dollar kostet. Weit unter 90<br />

Dollar jedoch dürfte es auf absehbare<br />

Zeit auch nicht fallen.<br />

Trends der Woche<br />

Entwicklung der wichtigsten Finanzmarkt-Indikatoren<br />

Stand: 4.9.2014 / 18.00 Uhr aktuell seit einer Woche 1 seit einem Jahr 1<br />

Dax 30 9724,26 +2,8 +18,6<br />

MDax 16338,71 +1,5 +12,6<br />

Euro Stoxx 50 3277,25 +3,6 +18,8<br />

S&P 500 2006,84 +0,5 +21,4<br />

Euro in Dollar 1,3015 –1,2 –1,2<br />

Bund-Rendite (10 Jahre) 1 0,95 +0,07 2 –0,97 2<br />

US-Rendite (10 Jahre) 1 2,43 +0,09 2 –0,43 2<br />

Rohöl (Brent) 3 102,45 –0,1 –11,1<br />

Gold 4 1271,50 –1,6 –8,5<br />

Kupfer 5 6967,00 –0,9 –2,2<br />

1<br />

in Prozent; 2 in Prozentpunkten; 3 in Dollar pro Barrel; 4 in Dollar pro Feinunze,<br />

umgerechnet 977,48 Euro; 5 in Dollar pro Tonne; Quelle: vwd group<br />

FOTOS: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, MAURITIUS IMAGES/ALAMY, PHOTOSHOT<br />

118 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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DAX-AKTIEN<br />

Genug abgeschmiert<br />

Das stabile Konsumgeschäft, steigende Margen und<br />

der schwache Euro beflügeln Beiersdorf.<br />

HITLISTE<br />

Weil die Expansion in Asien<br />

nur zäh vorankommt, liefen<br />

Beiersdorf-Aktien in diesem<br />

Jahr schlechter als der Dax.<br />

Nun aber, nach bis zu 15 Prozent<br />

Kursverlust, startet der<br />

Nivea-Produzent eine Aufholjagd.<br />

Auf seinem Kernmarkt<br />

Westeuropa legt der Konsumchemiker<br />

solide zu, das Geschäft<br />

mit Pflegeprodukten<br />

wächst derzeit um zwei Prozent.<br />

In Russland steigt – unbeeindruckt<br />

von Krisen – der<br />

Absatz. Beiersdorf erzielt hier<br />

vier Prozent seiner Kosmetikumsätze,<br />

bei steigenden Marktanteilen.<br />

Sogar auf dem schwierigen<br />

chinesischen Markt<br />

könnten die Zahlen im zweiten<br />

Halbjahr besser ausfallen, da<br />

sie zuletzt durch Konzernumbaumaßnahmen<br />

einmalig gedrückt<br />

wurden. Im ersten Halbjahr<br />

kletterte die Nettorendite<br />

(Reingewinn <strong>vom</strong> Umsatz) von<br />

9,1 Prozent auf 9,7 Prozent – ein<br />

gutes Zeichen. Und nachdem<br />

der Euro nun an Stärke verloren<br />

hat, werden sich für Exporteur<br />

Beiersdorf auch die Währungsbelastungen<br />

verringern.<br />

Überziehungskredit<br />

An Wall Street werden viele<br />

Aktien auf Pump gekauft<br />

US-BÖRSE<br />

Mustergültiger Anstieg<br />

Immer mehr Anleger an Wall Street haben ihre<br />

Wertpapierdepots beliehen, um Aktien zu kaufen.<br />

Dax<br />

Kurs Kursent- Gewinn KGV Börsen- Dividen-<br />

(€) wicklung pro Aktie (€) wert den-<br />

1 Woche 1 Jahr 2014 2015 2015<br />

(Mio. €) rendite<br />

(%) 1<br />

Dax 9724,26 +2,8 +18,6<br />

Aktie<br />

Stand: 4.9.2014 / 18.00 Uhr<br />

Adidas 59,22 +3,1 –25,7 3,10 3,65 16 12390 2,53<br />

Allianz 133,65 +3,2 +20,8 13,82 14,08 9 60938 3,97<br />

BASF NA 78,89 +1,0 +16,2 5,79 6,28 13 72459 3,42<br />

Bayer NA 105,65 +4,4 +24,4 6,04 6,97 15 87367 1,99<br />

Beiersdorf 69,60 +3,4 +6,9 2,49 2,76 25 17539 1,01<br />

BMW St 91,54 +2,5 +26,1 9,00 9,44 10 59071 2,84<br />

Commerzbank 12,47 +9,0 +42,4 0,56 0,98 13 14191 -<br />

Continental 166,50 +1,8 +39,8 12,80 14,27 12 33301 1,50<br />

Daimler 64,14 +3,2 +20,3 6,19 6,85 9 68593 3,51<br />

Deutsche Bank 27,00 +3,4 –15,5 2,27 3,31 8 27524 2,78<br />

Deutsche Börse 55,39 +1,7 +2,3 3,66 4,02 14 10690 3,79<br />

Deutsche Post 25,68 +2,8 +12,8 1,72 1,85 14 31047 3,12<br />

Deutsche Telekom 11,68 +2,2 +19,2 0,62 0,67 17 51990 4,28<br />

E.ON 14,34 +4,1 +18,7 0,94 0,97 15 28694 4,18<br />

Fresenius Med.C. St 54,00 +1,3 +9,0 3,53 3,95 14 16608 1,43<br />

Fresenius SE&Co 37,46 +1,0 +24,6 2,03 2,35 16 8453 3,34<br />

Heidelberg Cement St 58,36 +1,4 +10,6 3,95 4,98 12 10943 1,03<br />

Henkel Vz 81,95 +1,9 +11,5 4,29 4,68 18 33927 1,49<br />

Infineon 8,99 +1,8 +25,5 0,44 0,53 17 9719 1,33<br />

K+S NA 24,20 +1,3 +27,4 1,58 1,62 15 4632 1,03<br />

Lanxess 46,77 –0,6 –8,1 2,07 3,23 14 3891 1,07<br />

Linde 152,15 +1,4 +3,8 7,80 8,83 17 28246 1,97<br />

Lufthansa 13,60 +1,8 +5,2 1,23 2,37 6 6255 -<br />

Merck 66,93 +1,3 +17,5 4,64 4,85 14 4325 2,84<br />

Münchener Rückv. 154,10 +1,7 +13,8 17,59 17,57 9 27636 4,70<br />

RWE St 31,26 +5,6 +48,3 2,21 2,30 14 18944 3,20<br />

SAP 59,99 +1,4 +10,7 3,40 3,72 16 73698 1,83<br />

Siemens 98,59 +3,5 +19,9 6,45 7,36 13 86858 3,04<br />

ThyssenKrupp 21,89 +3,4 +39,0 0,54 1,20 18 11262 -<br />

Volkswagen Vz. 177,35 +3,1 +4,3 21,55 24,02 7 82495 2,29<br />

1<br />

berechnet mit der zuletzt gezahlten Dividende<br />

Das jeweilige Ende der beiden<br />

letzten Haussen an Wall Street<br />

kündigte sich in einer rasch<br />

steigenden Spekulationsneigung<br />

der Anleger an. Abzulesen<br />

war das an der Entwicklung<br />

der für den Kauf von<br />

Aktien beliehenen Wertpapierdepots.<br />

Auch die laufende<br />

Hausse ist nun bedroht:An<br />

der New York Stock Exchange<br />

(Nyse) erreichten die Wertpapierkredite<br />

schon im Februar<br />

dieses Jahres ein Rekordhoch<br />

von 466 Milliarden Dollar. Der<br />

steile Anstieg startete im August<br />

2012, als noch erst knapp<br />

280 Milliarden Dollar an Krediten<br />

gezeichnet waren. Zwar<br />

ging der Börse zwischenzeitlich<br />

etwas Treibstoff verloren<br />

– die Wertpapierkredite reduzierten<br />

sich bis Ende April auf<br />

437 Milliarden Dollar. Anschließend<br />

legten sie nach neuesten<br />

verfügbaren Daten aber wieder<br />

zu, auf 460 Milliarden Dollar<br />

Ende Juli. In der Vergangenheit<br />

folgte einem Gipfel bei den<br />

Wertpapierkrediten mit etwas<br />

zeitlichem Abstand ein zyklisches<br />

Hoch des S&P 500. Der<br />

wichtigste Börsenindex der<br />

Welt stieg gerade mustergültig<br />

in der vergangenen Woche auf<br />

den Rekordstand von 2009,28<br />

Punkten. Das muss nicht das<br />

Ende sein: Sollten die Aktienkäufe<br />

auf Pump im August ein<br />

neues Rekordvolumen erreicht<br />

haben, dann wird die Hausse<br />

wohl noch etwas weiter laufen –<br />

sich allerdings dann auch noch<br />

schneller ihrem Ende nähern.<br />

Wie sich die ausstehenden Wertpapierkredite an der New York Stock<br />

Exchange (Nyse) und der S&P 500 in den jüngsten Börsenzyklen entwickelt<br />

haben<br />

Wertpapierkredite an der<br />

New York Stock Exchange (Nyse)<br />

Hoch/Tief<br />

erreicht in<br />

Monat/Jahr…<br />

3/2000<br />

9/2002<br />

7/2007<br />

2/2009<br />

2/2014<br />

…bei Kreditvolumen<br />

(in<br />

Milliarden Dollar)<br />

278,5<br />

130,3<br />

381,4<br />

173,3<br />

465,7<br />

vorherige<br />

Entwicklung<br />

(in Prozent)<br />

Quelle: Bloomberg, Nyse; Stand: 3. September 2014<br />

–<br />

–53,2<br />

+192,6<br />

–54,6<br />

+168,7<br />

Hoch/Tief<br />

erreicht am…<br />

24.3.2000<br />

10.10.2002<br />

11.10.2007<br />

6.3.2009<br />

3.9.2014<br />

S&P 500<br />

...bei<br />

Indexstand<br />

1552,87<br />

768,63<br />

1576,09<br />

666,79<br />

2009,28<br />

vorherige<br />

Entwicklung<br />

(in Prozent)<br />

–<br />

–50,5<br />

+105,1<br />

–57,7<br />

+201,3<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 119<br />

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Geld&Börse | Geldwoche<br />

AKTIE Jenoptik<br />

Wieder Wende-<br />

Hoffnung in Thüringen<br />

Ohr am Markt Laser- und<br />

Materialbearbeitung in Jena<br />

Der TecDax-Wert Jenoptik<br />

schraubt seine Jahresziele herunter<br />

– und der Aktienkurs<br />

reagiert darauf mit einem<br />

Sturz. Dass Großaktionär<br />

Ergo, Erstversicherungsableger<br />

der Münchener Rück,<br />

bereits im Frühjahr zu höheren<br />

Kursen ausgestiegen war,<br />

mag Anlegern auch nicht<br />

geschmeckt haben. Dazu<br />

kommt ein echter Nachteil für<br />

das Thüringer Unternehmen:<br />

die Exportrestriktionen wegen<br />

des Kriegs in der Ukraine.<br />

Zulieferungen für die Rüstungsindustrie<br />

(etwa optische<br />

Stabilisierungssysteme für<br />

Panzerkanonen) sind für Jenoptik<br />

ein wichtiges Geschäft.<br />

Dennoch, auch wenn sich<br />

Jenoptik-Aktien erst wieder<br />

stabilisieren müssen, sind sie<br />

ein vielversprechendes High-<br />

Tech-Investment.<br />

Den wichtigen Kundenbranchen<br />

von Jenoptik geht<br />

es nicht schlecht:Die Halbleiterindustrie<br />

profitiert <strong>vom</strong><br />

Boom der mobilen Kommunikation;<br />

in der Luftfahrt<br />

steigt der Bedarf an neuen<br />

Maschinen; in der Autoindustrie<br />

sind in diesem Jahr drei<br />

bis vier Prozent Wachstum<br />

möglich; in der Verkehrstechnik<br />

werden zunehmend optische<br />

Überwachungssysteme<br />

eingesetzt. Und ob der Bedarf<br />

an Sicherheits- und Wehrtechnik<br />

angesichts der aktuellen<br />

Krisenherde tatsächlich<br />

rückläufig ist, dürfte zweifelhaft<br />

sein. Insgesamt rechnet der<br />

Branchenverband der optischen<br />

Technologien Spectaris<br />

in diesem Jahr mit sieben Prozent<br />

Wachstum.<br />

Ähnlich könnte auch Jenoptik<br />

zulegen. Im ersten Halbjahr<br />

kamen für 315 Millionen Euro<br />

neue Aufträge herein; elf Prozent<br />

mehr als im gleichen Zeitraum<br />

des Vorjahres. Der Auftragsbestand<br />

liegt mit 438<br />

Millionen Euro sieben Prozent<br />

über Jahresanfang. Nach 600<br />

Millionen Euro Umsatz 2013<br />

kann Jenoptik in diesem Jahr an<br />

die 640 Millionen erzielen.<br />

Die Gewinne sind stabil. Im<br />

ersten Halbjahr zog die Nettomarge<br />

(Reingewinn <strong>vom</strong> Umsatz)<br />

leicht an. Selbst wenn sie<br />

im Jahresverlauf gleich bleibt,<br />

ergäbe das an die 50 Millionen<br />

Euro Nettogewinn. Je Aktie wären<br />

das mehr als 80 Cent.<br />

Jenoptik-Aktien haben damit<br />

eine gute Chance, sich bei Kursen<br />

zwischen 8 und 10 Euro zu<br />

stabilisieren. Dass Jenoptik mit<br />

einer Eigenkapitalquote von 56<br />

Prozent solide finanziert ist,<br />

macht die Aktie erst recht zu<br />

einem Wende-Wert.<br />

Jenoptik<br />

ISIN: DE0006229107<br />

14<br />

12<br />

10<br />

8<br />

6<br />

4<br />

200-Tage-Linie<br />

2<br />

2005 2010 14<br />

Kurs/Stoppkurs (in Euro): 10,05/7,85<br />

KGV 2014/2015: 13,4/11,3<br />

Chance<br />

Risiko<br />

Niedrig<br />

Quelle: Thomson Reuters<br />

Hoch<br />

AKTIE YPF<br />

Soros wittert ein neues<br />

Eldorado in Patagonien<br />

Noch vor gut zwei Jahren<br />

nahm die argentinische<br />

Staatspräsidentin Cristina<br />

Fernández de Kirchner dem<br />

spanischen Ölkonzern Repsol<br />

per Federstrich mal eben dessen<br />

argentinische Tochter<br />

YPF weg. Die Enteignung<br />

könnte in der Rückschau der<br />

Höhepunkt einer fehlgeleiteten<br />

ausländer- und unternehmerfeindlichen<br />

Wirtschaftspolitik<br />

in Argentinien<br />

gewesen sein. Auch wenn es<br />

bei den hinter den Kulissen<br />

laufenden Reparaturarbeiten<br />

zur Verbesserung der Beziehungen<br />

zu internationalen Investoren<br />

knirscht, läuft die<br />

Börse Buenos Aires (siehe Seite<br />

118). Das liegt auch daran,<br />

dass großen ausländischen<br />

Ölkonzernen bereits seit 2013<br />

Steueranreize gewährt werden<br />

bei Investitionen von<br />

mehr als einer Milliarde Dollar.<br />

Der US-Konzern Chevron<br />

schloss unmittelbar nach<br />

dem Beschluss ein Joint Venture<br />

mit YPF. Aufhorchen ließ<br />

unlängst George Soros. Die<br />

Investmentfirma des milliardenschweren<br />

Superinvestors<br />

kaufte im zweiten Quartal<br />

8,47 Millionen YPF-Aktien.<br />

Soros Anteil am argentinischen<br />

Ölkonzern verdoppelte<br />

Spieglein,<br />

Spieglein<br />

Soros setzt<br />

auf YPF<br />

sich damit auf 3,5 Prozent. Aktueller<br />

Marktwert des Pakets:<br />

450 Millionen Dollar. Ihre Positionen<br />

bei YPF ebenfalls aufgestockt<br />

haben die Hedgefonds<br />

Perry Capital (auf 1,9 Prozent)<br />

und Third Point (auf 1,6 Prozent).<br />

Die Investoren wittern in<br />

Argentinien ein neues Eldorado.<br />

Das Land verfügt über gigantische<br />

Vorkommen von Öl<br />

und Gas in seinen Schiefergesteinsformationen.<br />

Als technisch<br />

abbaubar gelten derzeit<br />

27 Milliarden Barrel Öl und 802<br />

Billionen Kubikfuß Erdgas. Das<br />

meiste davon lagert im Vaca-<br />

Muerta-Becken in Patagonien.<br />

YPF<br />

ISIN: US9842451000<br />

70<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

8<br />

50-Tage-Linie<br />

200-Tage-Linie<br />

2005 2010 14<br />

Kurs/Stoppkurs (in Dollar): 35,68/28,60<br />

KGV 2014/2015: 13,1/10,3<br />

Dividendenrendite (in Prozent): 0,31<br />

Chance<br />

Risiko<br />

Niedrig<br />

Quelle: Thomson Reuters<br />

Hoch<br />

FOTOS: PR, BLOOMBERG NEWS/AKOS STILLER, CARO FOTOAGENTUR/ANDREAS FROESE, DDP/EYEVINE/CHARLIE FORGHAM-BAILEY<br />

120 Redaktion: Geldwoche+Zertifikate: Frank Doll, Anton Riedl<br />

Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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ZERTIFIKATE Allianz<br />

Rentable Basis für neue<br />

Finanzgeschäfte<br />

Lichtblick Netto mehr als<br />

sechs Milliarden Euro in Sicht<br />

Aktie mit Teilkasko<br />

Mit 3,6 Milliarden Euro Nettogewinn<br />

lief das erste Halbjahr<br />

für die Allianz so gut, dass die<br />

Prognosen für 2014 heraufgesetzt<br />

werden. Bis zu 10,5 Milliarden<br />

Euro operativen Gewinn<br />

erwartet Konzernchef<br />

Michael Diekmann für dieses<br />

Jahr; vier Prozent mehr als in<br />

der ohnehin guten Saison<br />

2013. Netto dürften das dann<br />

leicht mehr als sechs Milliarden<br />

Euro werden, je Aktie gerechnet,<br />

an die 14 Euro. Mit einer<br />

Gewinnbewertung (KGV<br />

2014) von weniger als zehn<br />

und der Aussicht auf eine höhere<br />

Dividende ist die Allianz<br />

eine der günstigsten und rentabelsten<br />

Aktien im Dax.<br />

Die weiteren Geschäftsaussichten<br />

sind gut. In der Schaden-<br />

und Unfallversicherung<br />

profitiert die Allianz davon,<br />

dass die Versicherungszahlungen<br />

für Naturkatastrophen<br />

rückläufig sind. Die Sparte Lebens-<br />

und Krankenversicherungen<br />

wird durch den guten Verkauf<br />

neuer Finanzprodukte<br />

beflügelt – etwa Policen gegen<br />

Einmalbeitrag. In der Vermögensverwaltung<br />

muss die amerikanische<br />

Tochtergesellschaft<br />

Pimco zwar weitere Mittelabflüsse<br />

hinnehmen. Der Rückgang<br />

der operativen Gewinne<br />

jedoch hat sich mittlerweile verlangsamt.<br />

Und der kleinere Vermögensableger<br />

Allianz Global<br />

Investors gewinnt derzeit sogar<br />

neue Kundengelder.<br />

Die Geschäftsaussichten und<br />

der stabile Kursverlauf machen<br />

die Allianz zu einem interessanten<br />

Basiswert für Zertifikate.<br />

Wer vorsichtig ist, kann mit Discountzertifikaten<br />

auch im Seitwärtstrend<br />

zweistellige Renditen<br />

einfahren. Für Optimisten<br />

kommen eher Bonuszertifikate<br />

infrage. Mit ihnen sind Anleger<br />

beim Kursanstieg dabei, und es<br />

gibt zusätzlich eine Teilabsicherung<br />

gegen Kursrückschläge.<br />

Zertifikate auf die Allianz-Aktie (Kurs 131,20 Euro)<br />

Kurs (Euro)<br />

Stoppkurs (Euro)<br />

Funktion<br />

Kauf-Verkaufs-<br />

Spanne (Prozent)<br />

Emittentin<br />

(Ausfallprämie)<br />

ISIN<br />

Chance/Risiko<br />

Discount für Defensive<br />

119,20<br />

101,30<br />

Quelle: Banken, Thomson Reuters<br />

Ist 9,1 Prozent billiger als die Aktie,<br />

bietet dafür maximal (bis zum Cap<br />

bei 132,00 Euro) 10,7 Prozent<br />

Gewinn. Aktienkurse unter 132,00<br />

Euro schmälern den Gewinn, Verluste<br />

entstehen bei Aktienkursen<br />

unter 119,20 Euro; Laufzeit bis<br />

17. Dezember 2015<br />

0,01<br />

Commerzbank (0,8 Prozent = mittleres<br />

Risiko)<br />

DE000CZ91T30<br />

5/4<br />

Bonus für Optimisten<br />

130,85<br />

111,20<br />

Bietet 7,0 Prozent Gewinn (bis zur<br />

oberen Bonusschwelle bei 140,00<br />

Euro), solange Aktie bis zur Fälligkeit<br />

(18. Dezember 2015) über<br />

110,00 Euro bleibt; keine Gewinngrenze<br />

bei Aktienanstieg über<br />

140,00 Euro; sinkt Allianz auf<br />

110,00 Euro oder tiefer, läuft Zertifikat<br />

wie Aktienkurs<br />

0,02<br />

Deutsche Bank (0,7 Prozent =<br />

mittleres Risiko)<br />

DE000DT2CHT0<br />

6/5<br />

ANLEIHE GlaxoSmithKline<br />

In Dollar<br />

geimpft<br />

Aller Voraussicht nach wird<br />

GlaxoSmithKline in wenigen<br />

Wochen mit der klinischen<br />

Erprobung eines Impfstoffes<br />

gegen den Ebola-Virus beginnen.<br />

Mit 13 Prozent Umsatzanteil<br />

sind Impfstoffe für Glaxo<br />

ein Kerngeschäft. Bis 2015<br />

wird der britische Pharmakonzern<br />

voraussichtlich das Impfstoffgeschäft<br />

von Novartis<br />

übernehmen. Im Gegenzug<br />

gehen große Teile des Geschäfts<br />

mit Medikamenten gegen<br />

Krebs an die Schweizer.<br />

Die Sparte rezeptfreie Medikamente<br />

wird unter britischer<br />

Federführung in einem Gemeinschaftsunternehmen<br />

mit<br />

Novartis ausgebaut.<br />

Glaxo ist derzeit auf gutem<br />

Weg, sein Medikamentenportfolio<br />

zu erneuern. Das senkt<br />

die Anfälligkeit gegen günstige<br />

Nachahmerprodukte (Generika).<br />

So gehen zwar die Umsätze<br />

des Blockbusters Advair<br />

(gegen Asthma) zurück, doch<br />

neue Medikamente wie Breo<br />

oder Anoro legen langsam zu.<br />

Insgesamt stecken in der Forschungspipeline<br />

derzeit mehr<br />

als 40 neue Wirkstoffe oder<br />

Anwendungen in fortgeschrittener<br />

klinischer Entwicklung.<br />

Vergleichsweise stabil ist die<br />

Sparte allgemeinverkäufliche<br />

Pflegemittel, die ein Fünftel<br />

zum Umsatz beisteuert. Glaxo<br />

hat Bestseller wie Odol-Mundwasser<br />

oder Sensodyne-Zahncreme<br />

im Programm.<br />

Währungsnachteile durch<br />

das starke Pfund Sterling und<br />

der Verkauf von Randgeschäftsbereichen<br />

dürften dazu<br />

führen, dass Glaxo in diesem<br />

Jahr mit knapp 24 Milliarden<br />

Pfund Umsatz etwa zehn<br />

Prozent unter Vorjahresniveau<br />

landet. Von 2015 an sollten<br />

dann steigende Verkäufe neuer<br />

Medikamente sowie die<br />

Luft für mehr Atemwegsinhalatoren<br />

von Glaxo<br />

Rochade mit Novartis wieder zu<br />

rund 25 Milliarden Pfund (31,6<br />

Milliarden Euro) Umsatz führen.<br />

Vor Zinsen, Steuern, Abschreibungen<br />

und Amortisation könnten<br />

nach dem schwächeren<br />

zweiten Quartal 2014 insgesamt<br />

rund 7,5 Milliarden Pfund bleiben;<br />

im nächsten Jahr sind bei<br />

stabilen Margen an die acht Milliarden<br />

Pfund möglich. Daran<br />

gemessen sollten die Nettoschulden<br />

(14,4 Milliarden<br />

Pfund) weniger als das Doppelte<br />

ausmachen. Die Eigenkapitalquote<br />

ist mit 18 Prozent zwar<br />

mager, dürfte aber durch stabile<br />

Einnahmen aus dem laufenden<br />

Geschäft (in diesem Jahr rund<br />

3,5 Milliarden Pfund) aufgebessert<br />

werden.<br />

Die Ratingagentur Moody’s<br />

bewertet Anleihen von Glaxo<br />

mit A1, das ist stabiler Investmentbereich.<br />

In Dollar notierte<br />

Papiere mit Laufzeit bis 2022<br />

bringen derzeit 2,9 Prozent Jahresrendite.<br />

Bei einem gesamten<br />

Nennwert von zwei Milliarden<br />

Dollar handelt es sich hier um<br />

einen großen Unternehmensbond.<br />

An deutschen Börsen<br />

handelbar ist er ab einer Mindeststückelung<br />

von 2000 Dollar.<br />

Kurs (Prozent) 99,49<br />

Kupon (Prozent) 2,85<br />

Rendite (Prozent) 2,95<br />

Laufzeit bis 8. Mai 2022<br />

Währung<br />

Dollar<br />

ISIN<br />

US377373AD71<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 121<br />

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Geld&Börse | Geldwoche<br />

FONDS Charlemagne Magna Mena<br />

Nahost-Aktien trotzen<br />

den Kriegen<br />

Fernab <strong>vom</strong> Sturm Megahotel<br />

Burj al Arab in Dubai<br />

Die Terrormiliz Islamischer<br />

Staat (IS) enthauptet Journalisten<br />

im Irak, im benachbarten<br />

Syrien tobt der Bürgerkrieg,<br />

und in Gaza schwelt der<br />

Konflikt zwischen Israel und<br />

der Hamas. Doch die Kriege<br />

lassen die Aktienmärkte in<br />

der Region weitgehend kalt.<br />

Der S&P Pan Arab Composite,<br />

der elf Börsen der Region umfasst,<br />

legte seit Jahresbeginn<br />

um rund ein Viertel zu. Nahezu<br />

doppelt so stark wie sein<br />

Vergleichsindex stieg der<br />

Aktienfonds Magna Mena<br />

(Middle East and North Africa)<br />

der britischen Fondsgesellschaft<br />

Charlemagne.<br />

Fondsmanager Akhilesh<br />

Baveja schaffte mit seiner Aktienauswahl<br />

46 Prozent plus.<br />

Er konzentriert sich auf Titel<br />

aus den ölreichen Golfstaaten.<br />

Etwa 90 Prozent des rund<br />

40 Millionen Euro schweren<br />

Fondsvolumens sind in Saudi-Arabien,<br />

Katar und den<br />

Vereinigten Arabischen Emiraten<br />

(VAE) angelegt. „Diese<br />

Staaten sind gegen eine Ansteckung<br />

durch die Konflikte<br />

weitgehend immun“, glaubt<br />

Baveja. Das liege einerseits an<br />

den strengen Einwanderungsgesetzen.<br />

Andererseits<br />

verstünden es die Herrscherfamilien,<br />

durch soziale Wohltaten<br />

die Bevölkerung bei<br />

Laune zu halten. Zu den größten<br />

Fondspositionen zählen<br />

die Immobilienentwickler<br />

Emaar Properties und Damac<br />

Properties, die in Dubai Luxusbauten<br />

hochziehen.<br />

Ein risikoreiches Geschäft:<br />

Erst im Juni hatte beim Immobilienkonzern<br />

Arabtec ein staatlicher<br />

Investor Anteile auf den<br />

Markt geworfen. Das setzte den<br />

Kurs der Aktie und die gesamte<br />

Börse Dubai unter Druck. Auch<br />

die beiden Fondspositionen litten<br />

deutlich. Inzwischen haben<br />

sich die Kurse wieder erholt.<br />

Die Probleme der Vergangenheit<br />

seien überwunden, meint<br />

Baveja. So hat Dubai etwa die<br />

Grunderwerbsteuer auf vier<br />

Prozent verdoppelt, um spekulative<br />

Immobilienblasen zu verhindern.<br />

Das Platzen einer solchen<br />

Blase hatte 2008 noch zu<br />

großen Turbulenzen geführt.<br />

Außerhalb der Golfstaaten<br />

kaufte Baveja an der Börse Kairo<br />

jüngst Aktien von Arabian<br />

Cement (ACC). Der ägyptische<br />

Zementkonzern sollte <strong>vom</strong> geplanten<br />

Bau einer zweiten Wasserstraße<br />

entlang des Suezkanals<br />

profitieren. Wichtigster<br />

Vorteil von ACC: Der Konzern<br />

kann seine Zementwerke mit<br />

Kohle betreiben. Und die sei<br />

günstiger als Gas.<br />

Charlemagne Magna Mena<br />

ISIN: IE00B3NMJY03<br />

200<br />

180<br />

160<br />

140<br />

120<br />

100<br />

S&P Pan Arab Composite<br />

80<br />

2012 2013<br />

2014<br />

Chance<br />

Risiko<br />

Niedrig<br />

auf 100 umbasiert<br />

Quelle: Thomson Reuters<br />

Hoch<br />

Die besten Afrika- und Orient-Fonds<br />

Wie die erfolgreichsten Portfolio-Manager abgeschnitten haben<br />

Fondsname<br />

Afrika und Mittlerer Osten<br />

Charlemagne Magna Mena<br />

Concord Egypt EUR Shares<br />

Invest AD SICAV GCC Focus<br />

Franklin Mena Acc €<br />

Amundi Eq. Mena<br />

Schroder ISF Middle East EUR<br />

Meridio GCC & Mena Opp.<br />

Baring Mena<br />

T. Rowe Price Mid East & Africa Eq.<br />

iShares MSCI GCC ex-Saudi Arabia<br />

FT EmergingArabia (EUR)<br />

Silk Arab Falcons<br />

Mashreq-Al-Islami Arab Tigers<br />

JPM Emerging Middle East Eq.<br />

Lyxor FTSE Coast Kuwait40<br />

Silk - Road Frontiers R EUR<br />

Afrika<br />

db x-trackers MSCI EFM Afrika Top 50<br />

RBS Emerging & Frt. Africa<br />

Bellevue(Lux) BB African Opport.<br />

Charlemagne Magna Africa<br />

Lyxor ETF Pan Africa<br />

JPM Africa Equity<br />

Coronation All Africa<br />

Silk - African Lions<br />

Robeco Afrika Fonds<br />

JB Africa Focus-EUR<br />

Invest AD SICAV Emerging Africa<br />

Nordea-1 African Equity<br />

Investec GSF Africa Opportunities<br />

Renaissance Sub-Saharan<br />

Templeton Africa<br />

Deutsche Invest Africa<br />

Türkei<br />

UBAM Turkish Equity<br />

RBS Market Access DJ Turkey Titans<br />

Lyxor ETF Turkey (DJ Turkey Tit. 20)<br />

JPM Turkey Equity<br />

DJ Turkey Titans 20 Easy<br />

UBS ETF MSCI Turkey<br />

HSBC MSCI Turkey ETF<br />

Istanbul Equity Fund<br />

Turkisfund Equities<br />

Charlemagne Magna Turkey<br />

KBC Equity Turkey<br />

Espa Stock Istanbul<br />

Akbank Turkish Equities<br />

Jyske Invest Turkish Equities<br />

iShares MSCI Turkey<br />

Candriam Eq. Turkey<br />

ISIN<br />

IE00B3NMJY03<br />

IE0031971363<br />

LU0708208896<br />

LU0352132285<br />

LU0569690554<br />

LU0316459139<br />

LU0269579586<br />

IE00B63QVC53<br />

LU0310187579<br />

IE00B3F81623<br />

LU0317905148<br />

LU0389403501<br />

IE00B29MW600<br />

LU0401356422<br />

FR0010614834<br />

LU0523945037<br />

LU0592217524<br />

LU0667622384<br />

LU0433847596<br />

IE00B0TB5201<br />

FR0010636464<br />

LU0355584979<br />

IE00B2RGH034<br />

LU0389403337<br />

NL0006238131<br />

LU0303756455<br />

LU0708207575<br />

LU0390856663<br />

LU0518403992<br />

LU0545678558<br />

LU0727123662<br />

LU0329759764<br />

LU0500237457<br />

LU0269999362<br />

FR0010326256<br />

LU0117839455<br />

FR0010636555<br />

LU0629459404<br />

IE00B5BRQB73<br />

LU0093368008<br />

LU0085872058<br />

IE00B04R3968<br />

BE0946058170<br />

AT0000704333<br />

LU0366551272<br />

DK0060009835<br />

IE00B1FZS574<br />

LU0344048284<br />

Wertentwicklung<br />

in Prozent<br />

seit 3<br />

Jahren 1<br />

34,1<br />

13,1<br />

1 jährlicher Durchschnitt (in Euro gerechnet); 2 je höher die Jahresvolatilität<br />

(Schwankungsintensität) in den vergangenen drei Jahren, desto riskanter der Fonds;<br />

Quelle: Morningstar; Stand: 1. September 2014<br />

–<br />

26,8<br />

28,9<br />

28,0<br />

16,9<br />

27,7<br />

23,3<br />

21,8<br />

20,5<br />

15,9<br />

24,5<br />

18,4<br />

7,1<br />

8,6<br />

15,6<br />

–<br />

16,0<br />

10,1<br />

–1,2<br />

13,5<br />

19,5<br />

9,8<br />

14,3<br />

2,0<br />

–<br />

10,1<br />

7,2<br />

18,1<br />

–<br />

1,2<br />

15,9<br />

12,2<br />

11,9<br />

9,1<br />

11,5<br />

11,9<br />

12,0<br />

2,1<br />

11,0<br />

11,3<br />

11,8<br />

10,1<br />

9,1<br />

12,6<br />

12,2<br />

9,1<br />

seit 1<br />

Jahr<br />

64,3<br />

50,4<br />

49,3<br />

48,8<br />

43,3<br />

40,4<br />

37,6<br />

37,5<br />

35,5<br />

35,5<br />

34,9<br />

34,8<br />

34,4<br />

33,6<br />

12,6<br />

11,5<br />

31,2<br />

24,5<br />

24,5<br />

23,8<br />

22,8<br />

21,5<br />

21,1<br />

20,3<br />

20,2<br />

20,1<br />

19,4<br />

17,6<br />

16,8<br />

14,1<br />

13,4<br />

10,2<br />

31,3<br />

22,5<br />

22,0<br />

21,6<br />

21,6<br />

21,4<br />

21,4<br />

19,5<br />

18,9<br />

18,2<br />

18,2<br />

17,9<br />

17,7<br />

17,6<br />

16,5<br />

16,4<br />

Volatilität<br />

2<br />

in<br />

Prozent<br />

13,7<br />

15,6<br />

–<br />

11,8<br />

12,5<br />

14,6<br />

18,3<br />

10,8<br />

10,2<br />

15,4<br />

10,9<br />

11,3<br />

11,5<br />

15,3<br />

10,3<br />

9,4<br />

15,0<br />

–<br />

13,5<br />

12,8<br />

15,7<br />

13,3<br />

12,3<br />

10,9<br />

12,3<br />

15,6<br />

–<br />

12,1<br />

10,6<br />

12,2<br />

–<br />

17,1<br />

28,2<br />

28,7<br />

28,8<br />

26,1<br />

28,9<br />

28,9<br />

29,3<br />

30,1<br />

27,9<br />

28,8<br />

28,7<br />

30,4<br />

27,9<br />

28,4<br />

29,4<br />

29,3<br />

FOTO: BILDAGENTUR-ONLINE/DESIGNPICS<br />

122 Redaktion Fonds: Heike Schwerdtfeger<br />

Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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CHARTSIGNAL<br />

Boden eingezogen<br />

Goldminenaktien stehen vor einem neuen langfristigen<br />

Aufwärtstrend. Der Goldpreis wird folgen.<br />

Der rund acht Milliarden<br />

Dollar schwere Indexfonds<br />

Market Vectors Gold Miners<br />

ETF (GDX) bildet die Wertentwicklung<br />

der 18 im NYSE Arca<br />

Gold Miners Index enthaltenen<br />

Goldminenaktien ab. Seit<br />

Dezember 2013 bildet der<br />

Chart des GDX einen Boden<br />

aus. Schon der Kurseinbruch<br />

auf das Tief von 20,24 Dollar<br />

(1) vollzog sich unter einem<br />

geringeren Abgabedruck – fallende<br />

Börsenumsätze bei sinkenden<br />

Kursen – als der vorherige<br />

Kurssturz im Juni 2013<br />

auf 22,21 Dollar (2). Mit dem<br />

Ausbruch über die Trendlinie<br />

T1 im Januar 2014 (3) hat sich<br />

die Wahrscheinlichkeit für ein<br />

Ende des langfristigen Abwärtstrends<br />

weiter erhöht.<br />

Dem Ausbruch folgte eine<br />

trendlose Phase – mal oberhalb,<br />

mal unterhalb der noch<br />

fallenden 200-Tage-Linie.<br />

Diese langfristige Trendlinie<br />

hat inzwischen nach oben<br />

gedreht. Gelingt jetzt der Ausbruch<br />

über 28 Dollar, steht bei<br />

30 Dollar nur noch ein Widerstand<br />

einer dynamischen<br />

Aufwärtsbewegung im Weg.<br />

Der nächste größere Widerstand<br />

folgte dann erst bei 45<br />

Dollar.<br />

Goldaktien weisen damit ein<br />

gutes Verhältnis von Chance<br />

und Risiko auf. Der GDX hielt<br />

sich zuletzt auffallend lange<br />

dicht unter einem wichtigen<br />

Widerstand. Das ist erstaunlich,<br />

weil der Dollar gleichzeitig<br />

Stärke zeigte. Üblicherweise<br />

tendieren Goldaktien zusammen<br />

mit der Alternativwährung<br />

Gold zur Schwäche, wenn die<br />

Weltleitwährung aufwertet.<br />

Diese Robustheit erhöht die<br />

Wahrscheinlichkeit für einen<br />

baldigen Sprung des GDX über<br />

die Widerstandszone zwischen<br />

28 und 30 Dollar. Der Goldpreis<br />

selbst sollte den Minen dann<br />

folgen. Bei wichtigen Weichenstellungen<br />

an den Edelmetallmärkten<br />

eilen die Goldaktien<br />

dem Goldpreis meistens voraus.<br />

Gold und Goldaktien sind<br />

nahezu von den Radarschirmen<br />

der Investoren verschwunden<br />

– nicht die schlechteste<br />

Ausgangslage für hohe Kursgewinne.<br />

Zurück auf dem Radarschirm<br />

Goldaktien weisen ein gutes Verhältnis von Chance und Risiko auf<br />

55<br />

50<br />

45<br />

40<br />

35<br />

30<br />

25<br />

20<br />

Market Vectors<br />

Gold Miners ETF*<br />

2012<br />

* in Dollar; Quelle: Thomson Reuters<br />

T1<br />

2<br />

2013<br />

200-Tage-Linie<br />

1<br />

3<br />

nächster großer Widerstand<br />

2. Widerstand<br />

1. Widerstand<br />

2014<br />

RELATIVE STÄRKE<br />

Einladung zum Kauf<br />

Der Boom neuer Medikamente treibt die Aktien von<br />

BB Biotech. 26 Prozent Rabatt gibt’s zusätzlich.<br />

Am 2. September verkaufte<br />

Klaus Strein, Aufsichtsratsmitglied<br />

von BB Biotech, BB-<br />

Aktien im Wert von 704 000<br />

Schweizer Franken. Ist die<br />

Aktie der Beteiligungsgesellschaft<br />

jetzt ein Verkauf?<br />

Kaum, denn die Branche<br />

boomt. Führende Unternehmen<br />

wie Celgene, Actelion<br />

oder Gilead (alles Schwerpunktbeteiligungen<br />

von BB)<br />

melden wichtige Entwicklungserfolge<br />

bei Medikamenten. Allein<br />

in den USA dürften in diesem<br />

Jahr mehr als 50 neue<br />

Wirkstoffe zugelassen werden,<br />

die meisten davon biotechnologisch<br />

hergestellt. Und dass BB-<br />

Aktien mit 26 Prozent Abschlag<br />

auf den Wert seiner Beteiligungen<br />

gehandelt wird, spiegelt eine<br />

Skepsis wider, die geradezu<br />

einlädt zum Kauf.<br />

Wer schlägt den Index?<br />

Die innerhalb der vergangenen drei Monate am stärksten<br />

gestiegenen und gefallenen Aktien 1<br />

Rang Aktie Index Kurs 2 Kursentwicklung Relative Trend 3<br />

(€) (in Prozent) Stärke<br />

3 Monate 1 Jahr<br />

(in Prozent)<br />

Gewinner<br />

1 BB Biotech (CH) TecDax 145,50 +16,59 +46,90 17,3<br />

2 Glencore Plc (JE) Stoxx50 372,10 +14,77 +18,00 17,0 4<br />

3 Nemetschek TecDax 82,00 +16,28 +80,42 17,0<br />

4 Gagfah (LU) MDax 14,84 +15,80 +59,19 16,5<br />

5 Fresenius Med.C. St Dax 53,92 +13,61 +8,82 14,3<br />

6 Stratec Biomed TecDax 41,00 +12,62 +36,28 13,3<br />

7 KUKA MDax 47,51 +12,53 +49,61 13,2 4<br />

8 Carl-Zeiss Meditec TecDax 23,67 +10,35 +0,64 11,0<br />

9 LEG Immobilien MDax 56,65 +9,77 +35,12 10,4<br />

10 Novartis (CH) Stoxx50 86,95 +7,74 +24,30 9,0 4<br />

11 National Grid (GB) Stoxx50 907,50 +9,21 +23,13 8,9<br />

12 Allianz Dax 133,15 +7,47 +20,33 8,1 4<br />

13 Gerresheimer MDax 55,78 +7,02 +21,39 7,7 5<br />

14 Sanofi S.A. (FR) Stoxx50 84,90 +6,97 +17,12 7,6 4<br />

15 Dt. Wohnen Inhaber MDax 17,26 +6,77 +31,50 7,4<br />

16 Ericsson LMB (SE) Stoxx50 88,45 +6,76 +5,80 7,4<br />

17 Qiagen (NL) TecDax 18,43 +6,50 +18,30 7,2 5<br />

18 Vodafone (GB) Stoxx50 209,50 +5,07 -13,62 7,2 4<br />

19 SAP Dax 59,09 +6,14 +9,02 6,8<br />

20 Axa (FR) Stoxx50 19,34 +5,71 +14,17 6,4 4<br />

21 Drillisch TecDax 29,23 +5,68 +75,21 6,4 4<br />

22 Rio Tinto (GB) Stoxx50 3230,50 +2,34 +4,89 6,3 4<br />

23 HSBC (GB) Stoxx50 655,30 +5,54 -5,23 6,2<br />

24 Zurich Insur. Grp (CH) Stoxx50 279,10 +4,45 +19,53 5,4<br />

Verlierer<br />

152 Bilfinger MDax 53,01 -38,14 -27,57 -37,5<br />

151 Software TecDax 20,05 -26,44 -14,47 -25,8<br />

150 Adidas Dax 58,30 -25,61 -26,90 -24,9<br />

149 QSC TecDax 2,44 -25,12 -33,03 -24,4<br />

148 Leoni MDax 46,63 -23,10 +9,23 -22,4<br />

147 Tesco (GB) Stoxx50 229,77 -22,11 -37,23 -20,7 5<br />

146 Jenoptik TecDax 9,97 -21,08 -4,13 -20,4<br />

145 Lufthansa Dax 13,52 -19,82 +4,56 -19,1 4<br />

144 PSI NA TecDax 11,50 -19,64 -14,24 -19,0<br />

1<br />

aus Dax, MDax, TecDax und Stoxx Europe 50 im Vergleich zum Stoxx Europe 600;<br />

2<br />

bei GB in Pence, bei CH in Franken; 3 Änderung um mindestens fünf Ränge; 4.9.2014,<br />

13:00 Uhr<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 123<br />

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Perspektiven&Debatte<br />

»Absoluter Mangel an<br />

kritischem Denken«<br />

INTERVIEW | Lew Gudkow Der Moskauer Meinungsforscher und Soziologe erklärt, wie<br />

Putin von der Ukraine-Krise profitiert und wieso die russische Bevölkerung ihm glaubt.<br />

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FOTOS: TRUNK ARCHIVE/PLATON, IMAGO/ITAR-TASS<br />

Herr Gudkow, Russlands Wirtschaft<br />

wächst kaum noch, der Kreml befördert<br />

offensichtlich den Krieg in der Ostukraine,<br />

der Westen setzt Moskau mit<br />

Sanktionen unter Druck. Stehen die<br />

Russen noch hinter ihrem Präsidenten<br />

Wladimir Putin?<br />

Absolut. Laut unseren Umfragen sind momentan<br />

81 Prozent der Russen mit der Arbeit<br />

des Präsidenten zufrieden. Eine solch<br />

hohe Unterstützung für Wladimir Putin<br />

würde überhaupt nur einmal übertroffen:<br />

während des Südossetien-Kriegs im August<br />

2008, als Putin vorübergehend Regierungschef<br />

war. Allerdings ist die Beliebtheit<br />

des Kremlchefs anschließend fast kontinuierlich<br />

gesunken – bis zu den Olympischen<br />

Winterspielen im Februar dieses Jahres, als<br />

kaum mehr als ein Viertel der Russen hinter<br />

dem Präsidenten stand.<br />

Also führt die Ukraine-Krise dazu, dass<br />

die Russen fest hinter ihrem Präsidenten<br />

stehen. Können Sie das erklären?<br />

Die Zustimmungsraten steigen nicht direkt<br />

wegen der Ukraine-Krise – sondern infolge<br />

der patriotischen Propaganda, die diese<br />

begleitet. Selbst zu Sowjetzeiten hat es<br />

nach meinem Erinnerungsvermögen nie<br />

eine so massive Propagandakampagne<br />

gegeben wie jene gegen die Ukraine: Man<br />

schafft mit selektiven Informationen, Teilwahrheiten,<br />

Emotionalisierungen, Lügen<br />

und Inszenierungen eine parallele Realität,<br />

wonach in der Ukraine <strong>vom</strong> Westen gesteuerte<br />

Faschisten am Werk sind, die einen<br />

Krieg gegen die eigene Bevölkerung führen<br />

und den Untergang Russlands wollen.<br />

Das funktioniert fantastisch effektiv und<br />

begründet mitunter die hohen Umfragewerte<br />

für Putin.<br />

Wie ist das möglich?<br />

In den vergangenen Jahren hat der russische<br />

Machtapparat die meisten Quellen alternativer<br />

Informationen dichtgemacht.<br />

Kritische Chefredakteure von Magazinen<br />

wie „Kommersant Wlast“ mussten gehen,<br />

die Nachrichtenagentur RIA Novosti bekam<br />

ein Kreml-Sprachrohr als Chef. Vor allem<br />

stehen sämtliche Fernsehkanäle entweder<br />

unter direkter staatlicher Kontrolle –<br />

oder ihre Besitzer sind staatstreue Oligarchen.<br />

Unabhängige Medien findet man<br />

allenfalls noch im Internet. Aber nur 20<br />

Prozent der Russen beziehen ihre Informationen<br />

über die Ukraine-Krise aus dem<br />

Netz, 94 Prozent hingegen bekommen sie<br />

aus dem Fernsehen.<br />

Können diese Augen lügen? Die Mehrheit<br />

der Russen steht hinter Wladimir Putin<br />

»Mit Lügen und<br />

Inszenierungen<br />

wird eine<br />

parallele Realität<br />

erschaffen«<br />

mus weckt. Denn das Fernsehen berieselt<br />

die Russen nicht nur mit tendenziösen<br />

Nachrichten, sondern sendet rund um die<br />

Uhr Dokumentationen etwa zur angeblichen<br />

Kollaboration der Ukrainer mit den<br />

Nazis. So werden Erinnerungen an den<br />

Kampf gegen den Faschismus wach, der<br />

für die Identität der Russen immer besonders<br />

wichtig war.<br />

Wie unterscheidet sich diese Propaganda<br />

von jener der Sowjetunion?<br />

Sie ist professioneller und effektiver. Denn<br />

heute kommt hinzu, dass die Russen ein<br />

DER RUSSLAND-ERKLÄRER<br />

Gudkow, 67, ist<br />

Direktor des<br />

Moskauer Lewada-<br />

Zentrums, des<br />

führenden unabhängigen<br />

Meinungsforschungsinstituts<br />

in Russland.<br />

Der Soziologe<br />

gilt als international<br />

renommierter<br />

Russland-Erklärer.<br />

Sind die Russen so leicht manipulierbar?<br />

In den meisten Ländern der ehemaligen<br />

Sowjetunion sind freiheitlich-demokratische<br />

Werte nicht weit verbreitet. Es<br />

herrscht ein absoluter Mangel an kritischem<br />

Denken. Was auch daran liegt, dass<br />

die meisten Russen ihre Heimat nie verlassen<br />

haben: Nur 18 Prozent besitzen einen<br />

Reisepass, weniger als zehn Prozent waren<br />

schon einmal im Westen. Davon ging es für<br />

die meisten nur in den Urlaub nach Ägypten<br />

oder in die Türkei. Die absolute Masse<br />

lebt unter depressiven Bedingungen in<br />

tristen Industriestädten oder abgelegenen<br />

Dörfern. Wenn man diesen Menschen erzählt,<br />

dass der Westen der Feind ist, dann<br />

glauben sie das. Zumal die aktuelle Propaganda<br />

auf uralte Mythen aus Sowjetzeiten<br />

trifft, sozusagen Ängste vor dem Faschisschwerer<br />

Minderwertigkeitskomplex plagt.<br />

Den Untergang der Sowjetunion haben<br />

viele nicht als Befreiung, sondern als nationale<br />

Demütigung erlebt – zumal die folgenden<br />

„demokratischen“ Jahre mit Chaos<br />

und dem wirtschaftlichen Abstieg verbunden<br />

waren. Wladimir Putin gibt den Russen<br />

ihr Selbstwertgefühl zurück...<br />

...und spielt dabei den Rambo der<br />

internationalen Politik, der sich an keine<br />

Regeln hält.<br />

Rowdytum kommt in Russland gut an,<br />

denn es steht für Russlands neue Stärke. Es<br />

gibt in Russland kein Verständnis für internationale<br />

Regeln. Intuitiv wertet man das<br />

Völkerrecht als selektiv angewandtes Instrument<br />

des Westens. Die einzig gültige<br />

Kategorie für die Russen ist Stärke. Das ist<br />

ein ernsthaftes Problem, das man auch im<br />

Westen noch nicht verstanden hat: Die<br />

Bevölkerung kann mit ihren Erwartungen<br />

die Politik vor sich hertreiben.<br />

Hilft diese Stimmung Putin, sich auf<br />

Dauer an der Macht zu halten?<br />

Lange Zeit basierte die Unterstützung des<br />

Putin-Regimes auf dessen ökonomischen<br />

Erfolgen. Bis 2008 herrschte hohes Wirtschaftswachstum,<br />

was mit steigenden Zustimmungsraten<br />

einherging. Seither hat<br />

sich das Wachstum deutlich abgeschwächt,<br />

die russische Wirtschaft stagniert<br />

und hilft Putin kaum mehr, seine<br />

Macht zu zementieren. Darum bedient<br />

sich das Regime jetzt der Sowjetmythen<br />

und unterdrückt möglichen Widerspruch<br />

mit repressiven Gesetzen. Aber irgendwann<br />

wird es nicht mehr ausreichen,<br />

niedriges Wachstum mit Patriotismus und<br />

Propagandaillusionen zu kaschieren. Die<br />

Zustimmungsraten für Putin können ebenso<br />

schnell wieder sinken, wie sie seit<br />

Februar gestiegen sind.<br />

Könnten die Sanktionen des Westens<br />

dazu beitragen?<br />

Paradoxerweise ist die Angst vor Sanktionen<br />

im August niedriger, als sie im Mai<br />

dieses Jahres war. Die Russen haben bislang<br />

keine direkten Auswirkungen gespürt.<br />

Das könnte sich allerdings ändern,<br />

wenn der Sommer vorbei ist und die<br />

Regale in den Geschäften wirklich leer<br />

werden. Aber selbst das Embargo gegen<br />

westliche Lebensmittel trifft allenfalls die<br />

Mittelschicht in den Städten – die Leute<br />

in Sibiriens Dörfern versorgen sich selbst.<br />

In der breiten Masse ist die Bevölkerung<br />

erst betroffen, wenn die Inflation steigt<br />

und es mit der Wirtschaft weiter bergab<br />

geht.<br />

n<br />

florian.willershausen@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 125<br />

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Perspektiven&Debatte | Kost-Bar<br />

ALLES ODER NICHTS?<br />

WOLFGANG OTTO<br />

Mitgründer und -inhaber<br />

des Fleischversandhandels<br />

Otto Gourmet<br />

Aktien oder Gold?<br />

Aktien nur <strong>vom</strong> eigenen<br />

Unternehmen.<br />

Cabrio oder SUV?<br />

Cabrio – wenn Autofahren,<br />

dann mit Freiheitsgefühl.<br />

Apartment oder Villa?<br />

Villa – je großzügiger, desto<br />

besser.<br />

Fitnessstudio oder<br />

Waldlauf?<br />

Weder noch – gehe lieber auf<br />

dem Golfplatz spazieren.<br />

Paris oder London?<br />

London – kulinarisch gesehen<br />

gibt es keine besser Stadt.<br />

Nass oder trocken rasieren?<br />

Trocken mit Rückständen –<br />

mindestens drei Millimeter<br />

bleiben stehen.<br />

Maßschuhe oder Sneakers?<br />

Sneakers passen zum Anzug<br />

und bringen Farbe in den<br />

Alltag.<br />

Rotwein oder Weißwein?<br />

Egal, Hauptsache der<br />

Wein ist gut und von einem<br />

befreundeten Winzer.<br />

Mountainbike oder<br />

Rennrad?<br />

Mountainbike – Berge sind<br />

besser als Straßen, und der<br />

Hintern tut nicht ganz so weh.<br />

Tee oder Kaffee?<br />

Die erste Tasse am Morgen<br />

ist Tee, danach ist Kaffee<br />

einfacher zu beschaffen.<br />

WIKINGER IN BERLIN<br />

Frühe Globalisierer<br />

So haben wir uns die Wikinger immer vorgestellt: als Schwerter zückende Schreckensmänner.<br />

Dabei zeigen die im 12. Jahrhundert aus Walrosszahn geschnitzten<br />

Schachfiguren (Bild), dass die Krieger aus dem hohen Norden auch geschickte<br />

Handwerker waren. Die Ausstellung des Berliner Museums für Vor- und Frühgeschichte<br />

präsentiert die Wikinger <strong>vom</strong> 10. September an als globale Seefahrer, die<br />

auf ihren Expeditionen Richtung Westen den Atlantik überquerten und im Osten<br />

Handel trieben mit Städten wie Byzanz. Neben Waffen, Werkzeug und Schmuck<br />

wird im Lichthof des Martin-Gropius-Baus erstmals das mit 37 Meter Länge größte<br />

erhaltene Wikingerschiff zu sehen sein: die 1996 entdeckte und bis 2012 restaurierte<br />

Roskilde 6, die einst 78 Ruderern Platz bot. museumsportal-berlin.de<br />

MUSIK IN FRANKFURT<br />

Aufbrüche<br />

Gleich zweimal ist Beethovens<br />

Streichquartett opus 131 beim<br />

Musikfest der Alten Oper zu<br />

hören: in der Interpretation des<br />

Hagen- und des Amaryllis<br />

Quartetts. Das Schlüsselwerk,<br />

ein Zeugnis für das Neue in der<br />

Musik, steht im Zentrum des<br />

Festivals, das sich <strong>vom</strong> 21. 9. bis<br />

5. 10. Aufbrüchen in der Kunst<br />

widmet. So spielt das Frankfurter<br />

Opernorchester Hans Rotts<br />

selten aufgeführte 1. Sinfonie,<br />

und Igor Levit präsentiert<br />

neben Beethovens „Hammerklaviersonate“<br />

die „Thälmann<br />

Variations“ des Briten Cornelius<br />

Cardew. alteoper.de<br />

THE NEW YORKER<br />

„Can I put this on your bulletin board?<br />

The one in the hall is totally crazy.“<br />

FOTO: HELGE KIRCHBERGER PHOTOGRAPHY/GERALD RIHAR; SCHACHFIGUREN „SCHILDBEISSER“, 1150–1175 N. CHR., WALROSSZAHN. ISLE OF LEWIS, ÄUSSERE HEBRIDEN, SCHOTTLAND. MUSEUM, LONDON;<br />

CARTOON: P.C. VEY/CONDÉ NAST PUBLICATIONS/WWW.CARTOONBANK.COM<br />

126 Redaktion: thorsten.firlus@wiwo.de<br />

Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Leserforum<br />

Deutschland beliefen sich 2013<br />

auf 812 Milliarden Euro. Für<br />

2020 rechnet man mit einer Billion.<br />

Was, wenn Deutschland so<br />

unproduktiv und so ineffizient<br />

verwaltet wird wie Griechenland?<br />

Also: Was machen die<br />

anderen ohne ein zahlendes<br />

Deutschland?<br />

Wolfram Wiesel, via E-Mail<br />

Rösrath (Nordrhein-Westfalen)<br />

lando und Co., indem sie ihnen<br />

im krassen Gegensatz zu kleinen<br />

Boutiquen und herkömmlichen<br />

Einzelhändlern üppige<br />

Subventionen gewährt. Weswegen<br />

vor allem Wirtschaftsminister<br />

Gabriel hier in der Pflicht<br />

steht, eine Kehrtwende zugunsten<br />

des Mittelstandes und damit<br />

einer echten sozialen<br />

Marktwirtschaft einzuleiten.<br />

Abwehrbereit Peschmerga-Soldat am Maschinengewehr<br />

Politik&Weltwirtschaft<br />

Über das Für und Wider eines<br />

bewaffneten Einsatzes im Irak.<br />

Heft 35/2014<br />

Aufwachen<br />

Wenn unschuldige Männer<br />

durch mordlustige Psychopathen<br />

nach Lust und Laune abgeschlachtet<br />

werden, Frauen<br />

und Kinder systematisch vergewaltigt<br />

und verstümmelt werden<br />

und die Freiheit durch eine<br />

krankhafte Ideologie ersetzt<br />

wird, dann können wir uns eine<br />

realitätsfremde Debatte um<br />

Pro und Contra nicht mehr leisten.<br />

Es gibt in dieser Situation<br />

nur eine einzige Aufgabe: sofortige<br />

Verteidigung der in Not<br />

geratenen Bevölkerung und<br />

Vernichtung der Aggressoren.<br />

Niemand sollte so naiv sein und<br />

glauben, dass sich die ISIS-Terroristen<br />

nur auf den Irak und<br />

Syrien beschränken werden. Es<br />

wird Zeit, dass Europa endlich<br />

aufwacht und der massiven Bedrohung<br />

mutig und entschlossen<br />

entgegentritt.<br />

Stephan Lanhenke, via E-Mail<br />

Erwitte (Nordrhein-Westfalen)<br />

Einblick<br />

Henning Krumrey über die europäische<br />

Finanzpolitik und ihren Irrweg.<br />

Heft 36/2014<br />

Doppelmoral<br />

Ein treffender Beitrag, dem wenig<br />

hinzuzufügen ist. Eins<br />

möchte ich allerdings verdeutlichen:<br />

Zulasten Dritter lässt sich<br />

bequem leben – Europäer hin<br />

oder her. Und Deutschland<br />

wird größter Verlierer sein! Wer<br />

bloß des Geldes wegen oder um<br />

der Sozialisierung der Schulden<br />

willen das europäische Signal<br />

schwingt, wird aus meiner Sicht<br />

von einer Doppelmoral geleitet.<br />

Bei näherer Betrachtung behindert<br />

der Dissens der nationalen<br />

Egoismen das Europa aus einem<br />

Guss – jenseits monetärer<br />

Sichtweisen. Ich bin überzeugter<br />

Europäer.<br />

Karl Heinz Schmehr, via E-Mail<br />

Lampertheim (Hessen)<br />

Der Volkswirt<br />

ifo-Präsident Hans-Werner Sinn über<br />

die Folgen der Ein-Kind-Politik in<br />

China. Heft 36/2014<br />

Mehr Verantwortung<br />

Besten Dank für den interessanten<br />

Vergleich der Geburtenrate<br />

zwischen China und Deutschland.<br />

Es zeigt sich erneut, dass<br />

„Sozialisierung“ eben auch dazu<br />

führt, dass man sich entzieht<br />

beziehungsweise entziehen<br />

kann. Die Zahl der Geburten in<br />

Deutschland hat sich seit 1964<br />

halbiert. Von Deutschland<br />

wird aber in Zukunft erwartet,<br />

dass es mehr Verantwortung<br />

übernimmt. Sprich: mehr<br />

zahlen soll. Nur, wie soll es gehen?<br />

Die Sozialausgaben in<br />

Der Volkswirt<br />

Mariana Mazzucato zerstört<br />

den Mythos <strong>vom</strong> Garagen-Erfinder.<br />

Heft 35/2014<br />

Höhere Steuer<br />

Politiker ändern kurzfristig die<br />

Spielregeln, siehe Energiewende.<br />

Nur deshalb folgt das Kapital<br />

kurzfristigen Renditeinteressen.<br />

Langfristig stabile und verlässliche<br />

Rahmenbedingungen lassen<br />

Unternehmer auch wieder<br />

etwas wagen. Der Staat müsste<br />

für Schäden durch Regeländerung<br />

haften. Verzicht auf jegliche<br />

Unternehmenssteuern<br />

würde Investitionen wieder<br />

sprudeln lassen. Steuern sind<br />

Kosten, die über die Preise immer<br />

beim Verbraucher landen.<br />

Eine höhere Mehrwertsteuer ist<br />

da transparenter und ehrlicher.<br />

Wilfried Doberstein, via E-Mail<br />

Bremen<br />

Märkte&Unternehmen<br />

Rocket Internet: Deutschlands<br />

größtes Online-Konglomerat ist eine<br />

Wette auf die Zukunft. Heft 35/2014<br />

Kehrtwende<br />

Die Kritik an den Samwer-Brüdern<br />

greift meines Erachtens zu<br />

kurz, auch wenn das Klonen<br />

von bereits erfolgreichen Geschäftsmodellen,<br />

wie Sie es in<br />

Ihrem Artikel beschreiben,<br />

sicherlich keine intellektuelle<br />

Leistung bedeutet, auf die man<br />

stolz sein kann. Denn erstens<br />

entspricht das Dagobert-Duck-<br />

Denken ohne immaterielle<br />

Werte nur dem, was man immer<br />

noch an den meisten Business<br />

Schools lernt. Und zweitens<br />

trägt die öffentliche Hand<br />

eine erhebliche Mitverantwortung<br />

für den Siegeszug von Za-<br />

Rasmus Ph. Helt, via E-Mail<br />

Hamburg<br />

Gratulation<br />

Nichts ist spannender als Wirtschaft<br />

– und wenig unterhaltsamer<br />

durch die Kombination<br />

von sachlicher Substanz und<br />

sprachlicher Brillanz. Wie dieses<br />

Mal in Ihrer Samwer-Titelstory.<br />

Die WirtschaftsWoche<br />

lässt Zusammenhänge erkennen<br />

und deckt dadurch Widersprüchlichkeit<br />

auf. Höchst instruktiv<br />

ist die Auflistung der<br />

Zalando-Subventionen. Gratulation<br />

zu dieser Geschichte.<br />

Wolfgang Reeder, via E-Mail<br />

Neuwied (Rheinland-Pfalz)<br />

Geld&Börse<br />

Die Unterhaltungsbranche wandelt<br />

sich. Anleger sollten sich früh positionieren.<br />

Heft 34/2014<br />

Treffend<br />

Einen Artikel wie „Kampf ums<br />

Ohr“ habe ich schon länger erwartet,<br />

denn es findet ein gewaltiger<br />

Wandel in der Branche<br />

statt. Umfassend recherchiert<br />

und alle wichtigen Facetten<br />

ausleuchtend, beschreiben Sie<br />

den digitalen Umbruch in der<br />

Musik- und vermutlich, mit Verzögerung<br />

folgend, in allen Medienbranchen.<br />

Andreas Wisbauer, via E-Mail<br />

Berlin<br />

Leserbriefe geben die Meinung des<br />

Schreibers wieder, die nicht mit der<br />

Redaktionsmeinung übereinstimmen<br />

muss. Die Redaktion behält sich vor,<br />

Leserbriefe gekürzt zu veröffentlichen.<br />

WirtschaftsWoche<br />

Postfach 10 54 65<br />

40045 Düsseldorf<br />

E-Mail: leserforum@wiwo.de<br />

Bei Zuschriften per E-Mail bitten<br />

wir um Angabe Ihrer Postadresse.<br />

FOTO: GETTY IMAGES/LIGHT ROCKET/PACIFIC PRESS<br />

128 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Paris Karin Finkenzeller*, 21 Boulevard de la Chapelle,<br />

75010 Paris, Fon (0033) 695929240<br />

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São Paulo Alexander Busch*, R. Otavio de Moraes<br />

Dantas, N.° 15, apto. 04 – Vila Marina, CEP 04012–110<br />

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Shanghai Philipp Mattheis*, 100 Changshu Lu, No 2/App. 105,<br />

200040 Shanghai,<br />

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Silicon Valley Matthias Hohensee*, 809 B Cuesta Drive # 147,<br />

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Tokio Martin Fritz*, c/o Foreign Correspondents’ Club of Japan<br />

Yurakucho Denki North Building 20F, Yurakucho 1–7–1, Chiyoda-ku,<br />

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ONLINE<br />

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Redaktion Stephan Happel, Kathrin Grannemann, Ferdinand Knauß,<br />

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für Handelsvermittlung und Vertrieb e.V.; Young Professionals<br />

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e.V., b.b.h. – Bundesverband selbstständiger Buchhalter und Bilanzbuchhalter;<br />

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Die Angaben bezeichnen den<br />

Anfang des jeweiligen Artikels<br />

A<br />

A.T. Kearney.............................................................................. 86<br />

Acer..........................................................................................51<br />

Actelion.................................................................................. 123<br />

ADAC Postbus........................................................................... 58<br />

Adidas.........................................................................12, 98, 104<br />

AEB.......................................................................................... 78<br />

Aldi...........................................................................................68<br />

Alibaba..................................................................................4, 48<br />

Allianz.....................................................................................121<br />

Amazon.........................................................................10, 48, 64<br />

Andreessen Horowitz.................................................................97<br />

AOK.......................................................................................... 86<br />

Apple...........................................................48, 51, 54, 86, 90, 94<br />

Aston Martin............................................................................. 14<br />

AT&T....................................................................................... 104<br />

Audi................................................................................ 9, 56, 98<br />

Automatic Labs......................................................................... 97<br />

Axa........................................................................................... 86<br />

Azumio......................................................................................86<br />

B<br />

Baidu........................................................................................ 48<br />

Banesto.................................................................................. 104<br />

Barmer GEK...............................................................................86<br />

BASF.......................................................................................104<br />

Bayer................................................................................ 82, 104<br />

BB Biotech..............................................................................123<br />

Beiersdorf...............................................................................119<br />

Belkin....................................................................................... 97<br />

Roland Berger...................................................................... 56, 98<br />

Bertelsmann..............................................................................14<br />

BMW....................................................... 8, 9, 56, 60, 63, 98, 104<br />

Bosch....................................................................................... 78<br />

C<br />

Catalys......................................................................................51<br />

Caterna Vision........................................................................... 86<br />

CCE...........................................................................................51<br />

Celesio....................................................................................104<br />

Celgene...................................................................................123<br />

Comcast..................................................................................104<br />

comma soft............................................................................... 14<br />

Commerzbank........................................................................... 98<br />

CompuGroup Medical................................................................ 86<br />

Congstar................................................................................... 68<br />

D<br />

Daimler................................................................8, 9, 56, 64, 104<br />

Datev.................................................................................... 4, 16<br />

DB Regio Nordost...................................................................... 58<br />

Dell...........................................................................................51<br />

Delo..........................................................................................72<br />

Deutsche Bahn....................................................................58, 98<br />

Deutsche Bank........................................................................104<br />

Deutsche BKK........................................................................... 86<br />

Deutsche Börse.........................................................................56<br />

Deutsche Lufthansa...........................................................12, 104<br />

Deutsche Telekom.............................................................68, 104<br />

diffferent...................................................................................98<br />

DirecTV................................................................................... 104<br />

Drillisch.....................................................................................68<br />

Dropbox.................................................................................... 97<br />

E<br />

Ebay..........................................................................................97<br />

EDM Einfach Direkt Media..........................................................14<br />

einfachlotto...............................................................................14<br />

emagine....................................................................................12<br />

Engelhard................................................................................104<br />

E-Plus....................................................................................... 68<br />

Ernst & Young............................................................................16<br />

Evernote....................................................................................97<br />

F<br />

Facebook.....................................................................48, 98, 104<br />

Fanatics.................................................................................... 48<br />

Flickr.........................................................................................97<br />

Flixbus...................................................................................... 58<br />

Flying Health............................................................................. 86<br />

Freenet................................................................................... 104<br />

Fresenius Medical Care............................................................104<br />

G<br />

Gea...........................................................................................78<br />

Gematik.................................................................................... 86<br />

Germania.................................................................................. 10<br />

GfK......................................................................................... 104<br />

GFT Technologies...................................................................... 12<br />

Gilead..................................................................................... 123<br />

GlaxoSmithKline...................................................................... 121<br />

Google...............................................................48, 51, 86, 94, 98<br />

H<br />

Haier.........................................................................................48<br />

Hanson................................................................................... 104<br />

HeidelbergCement...................................................................104<br />

Hewlett-Packard........................................................................51<br />

Hotelplan.................................................................................. 10<br />

HTC.......................................................................................... 98<br />

Huawei................................................................................48, 51<br />

Hydroconnect..............................................................................9<br />

I<br />

IBM...............................................................................51, 54, 86<br />

IFTTT........................................................................................ 97<br />

Instagram..................................................................................98<br />

Intel.......................................................................................... 51<br />

Intersport..................................................................................12<br />

J<br />

Janssen Cilag.............................................................................86<br />

Jenoptik..................................................................................120<br />

Johnson & Johnson....................................................................86<br />

K<br />

Kärcher............................................................................... 10, 78<br />

Klara.........................................................................................86<br />

KPMG..................................................................................14, 82<br />

L<br />

L’Oréal......................................................................................98<br />

Lanxess...................................................................................104<br />

L-Bank...................................................................................... 78<br />

Legend Holding......................................................................... 51<br />

Lenovo.......................................................................... 48, 51, 54<br />

LG.............................................................................................90<br />

Linde...................................................................................... 104<br />

Linkedin....................................................................................97<br />

Lyft........................................................................................... 48<br />

M<br />

Mammut................................................................................... 12<br />

Mastercard................................................................................12<br />

Mayo Clinic................................................................................86<br />

McKinsey............................................................................ 63, 82<br />

Medexo.de................................................................................ 86<br />

Medion..........................................................................48, 51, 54<br />

Meinfernbus..............................................................................58<br />

Mercedes....................................................................................8<br />

Merck & Co....................................................................... 86, 104<br />

MetroPCS................................................................................104<br />

Metrovacesa........................................................................... 104<br />

Microsoft.............................................................................48, 51<br />

Migros.......................................................................................10<br />

Millward Brown..........................................................................98<br />

Moody’s.................................................................................... 56<br />

Moovel......................................................................................64<br />

Motorola............................................................................. 48, 54<br />

MSD Sharp & Dohme................................................................. 86<br />

Mücke, Sturm & Company..........................................................86<br />

Multivac....................................................................................82<br />

Münchener Rück..................................................................... 120<br />

MyDriver................................................................................... 64<br />

MyTaxi.......................................................................................64<br />

N<br />

NEC.................................................................................... 51, 54<br />

Nielsen......................................................................................98<br />

Nissan.................................................................................60, 63<br />

Nobina...................................................................................... 60<br />

Nokia........................................................................................ 51<br />

Norwest Venture Partners..........................................................97<br />

Novartis............................................................................ 82, 121<br />

O<br />

Oddset...................................................................................... 14<br />

Opel..........................................................................................98<br />

P<br />

PayPal.......................................................................................98<br />

Pester Pac Automation.............................................................. 82<br />

Peugeot.................................................................................. 104<br />

Pfizer........................................................................................ 82<br />

Philips.................................................................................86, 97<br />

Phoenix.....................................................................................56<br />

Pinterest................................................................................... 98<br />

Prime Consultancy.....................................................................78<br />

Puma...................................................................................... 104<br />

Q<br />

Qoros........................................................................................48<br />

QQ............................................................................................ 48<br />

R<br />

Raichle......................................................................................12<br />

Renal Care.............................................................................. 104<br />

Renault............................................................................... 14, 63<br />

Riot Games................................................................................48<br />

Ritter Sport............................................................................... 12<br />

Rock Health...............................................................................86<br />

RWE........................................................................................104<br />

Ryanair..................................................................................... 12<br />

S<br />

Samsung................................................................. 48, 51, 54, 90<br />

SAP.............................................................................10, 86, 104<br />

SBB.......................................................................................... 58<br />

Schöffel.................................................................................... 12<br />

SGL...........................................................................................56<br />

Shoprunner............................................................................... 48<br />

Siemens...................................................................... 10, 86, 104<br />

Sixt........................................................................................... 64<br />

SKW Stahl-Metallurgie............................................................. 104<br />

Sky......................................................................................... 104<br />

SmartPatient.............................................................................86<br />

SocialFlow.................................................................................98<br />

Sony......................................................................................... 98<br />

Soundcloud.........................................................................10, 98<br />

Spotify...................................................................................... 98<br />

Stihl..........................................................................................72<br />

T<br />

Tango........................................................................................48<br />

Telefónica................................................................................. 68<br />

Tencent.....................................................................................48<br />

Tesla............................................................................. 56, 60, 63<br />

The North Face..........................................................................12<br />

ThyssenKrupp................................................................... 56, 104<br />

Time Warner Cable.................................................................. 104<br />

Tönnies....................................................................................... 9<br />

Toray.........................................................................................56<br />

Transnova................................................................................. 60<br />

Trigema.....................................................................................12<br />

Tumblr...................................................................................... 98<br />

Twitter.................................................................................48, 98<br />

U<br />

Uber..........................................................................................64<br />

UniCredit.................................................................................104<br />

Unionpay...................................................................................48<br />

V<br />

van Laack..................................................................................78<br />

VDO Automative...................................................................... 104<br />

VF.............................................................................................12<br />

Vine.......................................................................................... 98<br />

Visa...........................................................................................48<br />

Vodafone...................................................................................68<br />

Voith......................................................................................... 56<br />

Volkswagen....................................................8, 12, 48, 56, 60, 63<br />

W<br />

Wal-Mart...................................................................................48<br />

Washabich.de............................................................................86<br />

WeChat..................................................................................... 48<br />

Weixin.......................................................................................48<br />

WhatsApp......................................................................... 48, 104<br />

wpb.......................................................................................... 72<br />

X<br />

Xiaomi.......................................................................................48<br />

XL Health.................................................................................. 86<br />

Y<br />

Youku........................................................................................48<br />

Youtube...............................................................................48, 98<br />

YPF.........................................................................................120<br />

Z<br />

ZocDoc..................................................................................... 86<br />

WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 129<br />

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Ausblick<br />

„Rosneft und andere russische<br />

Unternehmen werden sich<br />

streng an ihre Lieferverträge<br />

halten. Sanktionen sind eine Art<br />

von Krieg. So wird Hass gesät.“<br />

Igor Setschin<br />

Chef des russischen Ölkonzerns<br />

Rosneft<br />

„Autobahnabschnitte durch<br />

Privatinvestoren bauen<br />

zu lassen darf kein Tabu sein.“<br />

Marcel Fratzscher<br />

Präsident des Deutschen Instituts<br />

für Wirtschaftsforschung (DIW),<br />

über Alternativen zur Pkw-Maut<br />

„Heute kämpft die Ukraine<br />

einen Krieg im<br />

Namen ganz Europas.“<br />

Dalia Grybauskaitė<br />

Präsidentin von Litauen<br />

„One apple a day<br />

keeps Putin away.“<br />

Christian Schmidt<br />

Bundesagrarminister (CSU), über<br />

das russische Agrarembargo<br />

und die Angst deutscher Bauern, auf<br />

ihrer Ernte sitzen zu bleiben<br />

„Da werden Haltungsnoten<br />

verteilt wie beim Sport.<br />

Jeder wirft von der Außenlinie<br />

Kommentare rein.“<br />

Hartmut Mehdorn<br />

Chef des neuen Berliner Flughafens<br />

BER, über die Einmischung von<br />

Politikern beim Bau des Projekts<br />

„I will polish my English.“<br />

Donald Tusk<br />

Polens scheidender Regierungschef<br />

und neuer Ratspräsident der EU,<br />

zur Kritik an seinen mangelnden<br />

Englischkenntnissen<br />

„Ich freue mich über immer<br />

mehr mächtige Männer,<br />

die inzwischen ohne Scheu<br />

ihre weiche Seite zeigen.“<br />

Ursula von der Leyen<br />

Bundesverteidigungsministerin (CDU)<br />

„Sein Alter kann man<br />

nicht ändern.“<br />

Federica Mogherini<br />

Italiens scheidende Außenministerin,<br />

41, und neue Außenbeauftragte<br />

der EU, zur Kritik an ihrer geringen<br />

internationalen Erfahrung<br />

„Anfang des Jahres dachten wir,<br />

es geht nur noch aufwärts.<br />

Das ist jetzt vorbei. Deutschland<br />

ist kein Schlaraffenland,<br />

wo uns die gebratenen Tauben<br />

einfach so in den Mund fliegen.<br />

Wir müssen wirklich etwas tun.“<br />

Eric Schweitzer<br />

Präsident des Deutschen Industrieund<br />

Handelskammertags (DIHK)<br />

„Ich bin jetzt in einer Situation,<br />

in der ich kluge Ratschläge<br />

geben kann. Und das mache<br />

ich jetzt auch.“<br />

Klaus Wowereit<br />

Regierender Bürgermeister von<br />

Berlin, nach seiner Rücktrittserklärung<br />

zur Olympiabewerbung<br />

der Stadt<br />

„Wir können nicht nur<br />

der Betriebsrat der Nation sein.<br />

Wir müssen auch die Frage<br />

beantworten, wie Deutschlands<br />

Wirtschaft in der Weltspitze<br />

bleiben kann.“<br />

Sigmar Gabriel<br />

Bundeswirtschaftsminister und<br />

SPD-Vorsitzender, über die Aufgaben<br />

seiner Partei<br />

„Es gibt derzeit in<br />

Europa einen Flickenteppich.<br />

Es sollte eine einheitliche<br />

europäische Maut geben. Das<br />

Geld müsste dann beim jeweiligen<br />

Nationalstaat bleiben.“<br />

Volker Kauder<br />

Vorsitzender der<br />

CDU/CSU-Bundestagsfraktion<br />

»Niemand muss fürchten, dass<br />

in diesem Winter seine<br />

Wohnung kalt bleibt. Daran hat Putin<br />

überhaupt kein Interesse.«<br />

Johannes Teyssen<br />

Vorstandsvorsitzender des Energiekonzerns E.On, über die Angst vor einem<br />

Stopp von Gaslieferungen aus Russland aufgrund der Ukraine-Krise<br />

„Ich habe alles Geld,<br />

das ich verdient habe, sofort<br />

wieder reinvestiert.<br />

Hätte ich es auf der Bank<br />

gelassen, wäre es emotional<br />

weniger wert als das, was<br />

ich daraus gemacht habe.“<br />

Reinhold Messner<br />

Bergsteiger<br />

„Wenn ich samstags<br />

nachmittags um 16 Uhr<br />

manchmal sage, dass ich jetzt<br />

gehen will, sagen meine<br />

Mitarbeiter, dass ich zum<br />

nächsten Termin müsste.<br />

Nein, ich muss auch mal<br />

nach Hause!“<br />

Angela Merkel<br />

Bundeskanzlerin (CDU)<br />

ILLUSTRATION: JAN PHILIPP SCHWARZ<br />

130 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />

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