Wirtschaftswoche Ausgabe vom 08.09.2014 (Vorschau)
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37<br />
8.9.2014|Deutschland €5,00<br />
3 7<br />
4 1 98065 805008<br />
Der 200-Milliarden-Euro-Bluff<br />
Dax-Konzerne im Stresstest<br />
Alibaba und die Räuber<br />
Chinas Megakonzerne greifen an<br />
iDoc<br />
Apple und Google krempeln<br />
das Geschäft mit unserer<br />
Gesundheit um.<br />
Die Folgen für Patienten,<br />
Ärzte und Versicherer<br />
Schweiz CHF 8,20 | Österreich €5,30 | Benelux€5,30 | Griechenland€6,00 | GroßbritannienGBP 5,40 | Italien€6,00 | Polen PLN27,50 | Portugal€6,10 | Slowakei €6,10 | Spanien€6,00 | Tschechische Rep. CZK200,- | Ungarn FT 2140,-<br />
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Einblick<br />
Im Gesundheitswesen bahnt sich eine digitale<br />
Revolution an. Deutschland hinkt der Entwicklung<br />
mal wieder hinterher. Von Franz W. Rother<br />
Vom Heilen und Teilen<br />
FOTO: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
Bislang ist es nur ein Spiel. Der<br />
Fitness-Tracker am Handgelenk<br />
misst, wie viele Schritte ich im<br />
Laufe des Tages zurücklege und<br />
wie oft mein Herz dabei schlägt, wann ich<br />
wach bin und wann ich ruhe. Das angeschlossene<br />
Smartphone kann per Barcode-Scanner<br />
errechnen, wie viele Kalorien<br />
die Lebensmittel haben, die ich zu<br />
mir nehme – und wie viele davon im Laufe<br />
des Tages verbrannt werden.<br />
Die Selbstvermessung des Menschen ist<br />
in vollem Gange. Das neue iPhone von<br />
Apple eröffnet mit seiner Healthbook-App<br />
noch einmal andere Möglichkeiten: Das<br />
Programm verknüpft die Informationen<br />
von Schrittzähler, Pulsmesser sowie weiteren<br />
Sensoren mit Ergebnissen von Labortests<br />
und anderen medizinischen Daten zu<br />
einer digitalen Patientenakte, die im<br />
Handy oder in der Cloud eines Dienstleisters<br />
gespeichert wird. Damit könnte, wie<br />
wir in der Titelgeschichte schildern (siehe<br />
Seite 86) eine neue Ära in der Gesundheitsvorsorge<br />
anbrechen. Wohin die Entwicklung<br />
gehen könnte, hat US-Autor Dave Eggers<br />
in seinem Roman „The Circle“<br />
aufgezeigt: Nano-Sensoren, die mit einem<br />
Glas Wasser geschluckt werden, sammeln<br />
im Körper Daten über Cholesterinwerte,<br />
Verdauungseffizienz, die Anzahl der roten<br />
Blutkörperchen und die Konzentration von<br />
Schadstoffen. Ein Computerprogramm –<br />
oder ein Arzt, der auf die Daten zugreift –<br />
analysiert die Werte, errechnet daraus Risiken<br />
für bestimmte Krankheiten und leitet<br />
prophylaktische Maßnahmen ein.<br />
„Um zu heilen, müssen wir wissen. Um<br />
zu wissen, müssen wir teilen“, lautet der<br />
Leitspruch der Ärzte in jenem Thriller, das<br />
den Alltag in einem Circle genannten Internet-Konzern<br />
im Silicon Valley schildert.<br />
Ein Schelm, wer dabei an Apple, Google<br />
und Facebook denkt. Was wie eine Utopie<br />
erscheint, könnte schon bald Realität sein.<br />
In den USA ist Telemedizin bereits Alltag,<br />
wird der Fernzugriff auf die Healthbook-<br />
Daten von Ärzten erprobt. Auch hierzulande<br />
schwärmen Gesundheitspolitiker schon<br />
von der Möglichkeit, mithilfe von „Digital<br />
Health“ und Big-Data-Technologien das<br />
Gesundheitssystem zu reformieren: Die<br />
Kosten könnten deutlich gesenkt und<br />
gleichzeitig könnte die Effektivität ärztlicher<br />
Behandlungen erheblich erhöht werden.<br />
Tatsächlich ist die Vorstellung verlockend,<br />
dass sich unsere Gesundheit künftig<br />
mithilfe von Smartphone und Sensorik<br />
so einfach checken lässt wie die Uhrzeit.<br />
Wegen der fortschreitenden Überalterung<br />
der Gesellschaft und der steigenden Lebenserwartung<br />
der Menschen werden uns<br />
schon bald die Beiträge für die Krankenkasse<br />
um die Ohren fliegen. Aber Gesundheitsdaten<br />
sind nun einmal sensibler als<br />
Fitnessdaten oder die Bilder aus dem Familienleben,<br />
die heute bedenkenlos in der<br />
Cloud im Internet gespeichert werden.<br />
Auch müsste zuerst geklärt werden, wem<br />
die Daten gehören und wie sich ein kommerzieller<br />
Handel damit verhindern lässt.<br />
SCHRECKGESPENST FÜR ÄRZTE<br />
Es ist also noch einiges zu klären, bis der<br />
iDoc massentauglich wird. Vor allem aber<br />
sollte die Transparenz nicht nur für die Patienten,<br />
sondern muss für alle anderen Akteure<br />
im Gesundheitswesen gelten – für<br />
Ärzte und Krankenhäuser ebenso wie für<br />
Versicherer und Pharmakonzerne. Seit<br />
bald fünf Jahren gibt es in Deutschland die<br />
elektronische Gesundheitskarte, auf der<br />
bis heute aber nur Versichertendaten und<br />
Tarifinformationen gespeichert sind.<br />
Leicht könnten hier auch Krankengeschichten<br />
und Befunde, Röntgenbilder<br />
und Informationen über verabreichte Medikamente<br />
abgelegt werden. Doppelbehandlungen<br />
ließen sich so verhindern, Behandlungsfehler<br />
ebenso leicht nachweisen<br />
wie die ausbleibende Wirkung teurer Medikamente.<br />
Doch obwohl Sicherheitsexperten<br />
jeden Aspekt der Karte penibel geprüft<br />
haben, sperren sich viele Ärzte und<br />
Kliniken bis heute mit zum Teil aberwitzigen<br />
Argumenten gegen die Digitalisierung.<br />
Klar: Ihre Arbeit würde transparent. Also<br />
wird unter dem Vorwand des Datenschutzes<br />
gemauert und seit Jahren Front gegen<br />
die Karte gemacht.<br />
Vielleicht ist es wirklich an der Zeit, dass<br />
sich Apple der Thematik annimmt. n<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 3<br />
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Überblick<br />
Menschen der Wirtschaft<br />
6 Seitenblick Wertvolle Abfälle am Cern<br />
8 Deutsche Autobauer: Offensive in Thailand<br />
9 EU: Mehr Industrie in Europa | Fleischbranche:<br />
Doch kein Friede bei Tönnies |<br />
Audi: Luxus-Carsharing geplant<br />
10 Interview: Amazon-Cloud-Deutschland-<br />
Chef Martin Geier über Datenschutz |<br />
Germania: Angriff von der Schweiz aus<br />
12 GFT: Verkauf geprüft | VW: Vorkaufsrecht<br />
beim XL1 | Outdoor: Aufwind für Mammut<br />
14 Chefsessel | Start-up einfachlotto<br />
16 Chefbüro Dieter Kempf, Vorstandsvorsitzender<br />
des IT-Dienstleisters Datev<br />
Politik&Weltwirtschaft<br />
20 Bundeshaushalt Mit welchen Tricks<br />
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble<br />
seinen Haushalt schönrechnet<br />
25 Brandenburg Wo der Mensch geht, wo die<br />
Dörfer langsam sterben<br />
28 Parteien Warum es die Liberalen in<br />
Deutschland so schwer haben<br />
34 Ukraine In Slowjansk stehen die Menschen<br />
so loyal zu Kiew wie nie<br />
37 Global Briefing | Berlin intern<br />
Der Volkswirt<br />
40 Kommentar | Nachgefragt<br />
41 Konjunktur Deutschland<br />
42 Rohstoffradar<br />
44 Warum eigentlich... denkt die EZB über<br />
neue Wertpapiergeschäfte nach?<br />
45 Denkfabrik Ökonom Jörg Krämer über den<br />
Kurswechsel der EZB bei der Kontrolle von<br />
Vermögenspreisen<br />
Unternehmen&Märkte<br />
48 China Alibabas Börsengang ist der Startschuss<br />
für weitere Firmen aus dem Reich der<br />
Mitte zum Angriff auf Westkonzerne | Der<br />
Aufstieg des PC-Weltmarktführers Lenovo |<br />
Interview: Lenovo-Chef Yang Yuanqing will<br />
auch Erster bei Handys werden<br />
56 SGL Zweifel am Wunderstoff Carbon<br />
58 Fernbusse Deutsche Anbieter lehren jetzt<br />
auch ausländische Bahnen das Fürchten<br />
60 Elektroautos Mit dem Stromer unterwegs<br />
im E-Mobil-Paradies Norwegen<br />
64 Taxis Antworten auf die wichtigsten Fragen<br />
zum Verbot des Fahrdienstes Uber<br />
66 Interview: Arundhati Bhattacharya<br />
Die Chefin der größten indischen Bank<br />
sucht deutsche Mittelständler für ihr Land<br />
68 Drillisch So wurde der Discounter zu<br />
Deutschlands viertem Mobilfunkbetreiber<br />
72 Spezial Mittelstand Was gegen den Fachkräftemangel<br />
in China hilft | Investieren in<br />
Südostasien | Ein deutscher Maschinenbauer<br />
profitiert von Chinas Pharmaboom<br />
84 Serie: Fit For Future (II) Private-Equity-<br />
Häuser helfen Mittelständlern bei Zukäufen<br />
Titel Visite <strong>vom</strong> iDoc<br />
Tech-Giganten wie Apple und Google<br />
erobern die Medizin. Das traditionelle<br />
Geschäftsmodell der Ärzte, Versicherer<br />
und Pharmahersteller ist in Gefahr –<br />
auch in Deutschland. Seite 86<br />
Glaubt mir<br />
Der Meinungsforscher<br />
Lew Gudkow erklärt,<br />
warum die Russsen<br />
hinter Wladimir Putin<br />
stehen. Seite 124<br />
Angriffslustige Drachen<br />
E-Commerce-Gigant Alibaba ist nicht der einzige chinesische<br />
Konzern, der an die Weltspitze will. Samsung, Amazon und Microsoft,<br />
aber auch deutsche Autobauer müssen sich hüten. Seite 48<br />
TITELILLUSTRATION: DMITRI BROIDO; TITELFOTO: FOTOLIA<br />
4 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Nr. 37, 8.9.2014<br />
Technik&Wissen<br />
86 Medizin Apple und Google wollen uns<br />
helfen, gesünder zu leben und Krankheiten<br />
zu besiegen. Stehen wir am Beginn eines<br />
neuen Zeitalters in der Medizin?<br />
97 Valley Talk<br />
Management&Erfolg<br />
98 Digitale Markenführung Wer seine Kunden<br />
für sich einspannt, ist erfolgreich<br />
FOTOS: TRUNK ARCHIVE/PLATON; ILLUSTRATION: STEFFEN MACKERT, OLIVIER BLAISE, PR<br />
Ganz schön viel Luft<br />
In den Bilanzen der 30 Dax-Unternehmen hat sich eine Blase<br />
aufgebaut. Aktionären drohen deshalb massive Gewinneinbrüche<br />
und erhebliche Verluste an Eigenkapital. Seite 104<br />
Dein Konsument und Helfer<br />
Wer bei der digitalen Markenführung erfolgreich sein will, muss die<br />
Kunden für sich nutzen – als Berater, Entwickler oder Botschafter.<br />
Eine exklusive Studie zeigt, welche Konzerne das schaffen. Seite 98<br />
n Zu Besuch bei Milliardären Ein Jahr lang<br />
machte sich der Autor Dennis Gastmann auf die<br />
Suche nach Reichtum. In Marbella und Monaco,<br />
in Cannes und auf Sylt, in London und Katar. Nun<br />
hat er ein Buch über seine Besuche bei Millionären<br />
und Milliardären geschrieben. Ein Interview<br />
mit Gastmann lesen Sie unter wiwo.de/reichtum<br />
Abenteuer Asien<br />
Für deutsche Mittelständler in<br />
China werden Fachkräftemangel<br />
und steigende Kosten zur wachsenden<br />
Belastung. Doch die richtige<br />
Personalpolitik und Töchter in<br />
anderen Ländern Südostasiens<br />
mildern die Folgen. Seite 72<br />
facebook.com/<br />
wirtschaftswoche<br />
twitter.com/<br />
wiwo<br />
plus.google.com/<br />
+wirtschaftswoche<br />
Geld&Börse<br />
104 Aktien Der 200-Milliarden-Bluff der Dax-<br />
Unternehmen<br />
116 Steuern und Recht Streaming | Eigentümergemeinschaft<br />
| Auslandsrente<br />
118 Geldwoche Kommentar: Sachwert Aktie |<br />
Trend der Woche: Öl | Dax-Aktien: Beiersdorf<br />
| Hitliste: S&P 500 | Aktien: Jenoptik,<br />
YPF | Anleihe: GlaxoSmithKline | Zertifikate:<br />
Allianz | Investmentfonds: Charlemagne<br />
Magna Mena | Chartsignal: Goldminen |<br />
Relative Stärke: BB Biotech<br />
Perspektiven&Debatte<br />
124 Interview Lew Gudkow Russlands<br />
wichtigster Meinungsforscher erklärt,<br />
warum das Volk hinter Putin steht<br />
126 Kost-Bar<br />
Rubriken<br />
3 Einblick, 128 Leserforum,<br />
129 Firmenindex | Impressum, 130 Ausblick<br />
n Lesen Sie Ihre WirtschaftsWoche<br />
weltweit auf iPad oder iPhone:<br />
Diesmal unter anderem mit<br />
einem Videobericht unseres<br />
internationalen Chefkorrespondenten<br />
Florian<br />
Willershausen aus dem<br />
Kriegsgebiet in der Ostukraine.<br />
wiwo.de/apps<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 5<br />
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Seitenblick<br />
FORSCHUNG<br />
Nah am Urknall<br />
Vor genau 60 Jahren wurde bei Genf eines der<br />
weltweit größten Forschungszentren eröffnet: Cern.<br />
Es soll ergründen, wie die Welt entstand und was sie<br />
zusammenhält. Jetzt rüstet Cern auf.<br />
33Milliarden Euro hat das weltgrößte Forschungszentrum<br />
für Teilchenphysik binnen 60 Jahren<br />
ausgegeben. Seit 1954 versuchen Wissenschaftler aus<br />
85 Nationen bei Cern (Conseil Européen pour la<br />
Recherche Nucléaire) herauszufinden, woraus Materie<br />
besteht. Dazu werden nördlich von Genf Teilchen<br />
nahezu auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und<br />
zur Kollision gebracht. Durch den Aufprall entstehen<br />
neue, noch kleinere Teilchen, aus deren Eigenschaften<br />
und Flugbahnen die Forscher Rückschlüsse über<br />
die Zusammensetzung des Universums ziehen.<br />
100Meter unter der Erde erstreckt sich<br />
auf einer Länge von 27 Kilometern ein ringförmiger<br />
Teilchenbeschleuniger. Hier versuchen mehr als<br />
10 000 Wissenschaftler, das Universum so nachzustellen,<br />
wie es kurz nach dem Urknall war. Jetzt wollen sie<br />
die sogenannte dunkle, die unsichtbare Materie ergründen.<br />
Nur 20 Prozent der Materie, die uns umgibt,<br />
ist sichtbar. Der Rest ist unbekannt. Um ihn zu erforschen,<br />
ist ein noch größerer Beschleuniger geplant.<br />
180Millionen Euro überweist allein die<br />
Bundesregierung jedes Jahr an Cern. 2014 verfügt<br />
Cern über einen Etat von insgesamt 900 Millionen<br />
Euro. Bei den Experimenten entstehen nebenbei Produkte,<br />
die aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken<br />
sind: Das World Wide Web hat seinen Ursprung im<br />
Cern oder die Touchscreen-Technologie. Miniteilchenbeschleuniger<br />
setzen Krankenhäuser heute<br />
im Kampf gegen Tumore ein.<br />
franz hubik | mdw@wiwo.de<br />
FOTO: LAIF/KEYSTONE SCHWEIZ<br />
6 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Teilchendetektor-Fassade<br />
Auf der Fassade des Cern-Zentrums ist der<br />
Teilchendetektor abgebildet. Nur die<br />
Bürofenster der Forscher lassen erkennen,<br />
dass dies nicht die echte Maschine ist<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 7<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
Genehmigung auf<br />
dem Weg Thailands<br />
Staatschef Prayuth<br />
AUTOINDUSTRIE<br />
Lockruf des Panthers<br />
Deutschlands Autobauer planen<br />
von Thailand aus eine Großoffensive<br />
in Südostasien. Dafür stocken sie<br />
die Produktion dort massiv auf.<br />
Im China-Rausch hatten Deutschlands Autobauer<br />
die Region Südostasien mit aufstrebenden Märkten<br />
wie Indonesien, Thailand und Malaysia fast aus<br />
dem Blick verloren. Dabei locken in den Pantherstaaten<br />
Schätzungen zufolge 600 Millionen potenzielle<br />
neue Kunden. Schon 2018 soll der südostasiatische<br />
Länderbund, zu dem auch Vietnam,<br />
Singapur, Kambodscha, Brunei, Laos, Singapur und<br />
die Philippinen gehören, vier bis fünf Millionen<br />
Neuwagen schwer sein. Damit steigt die Region<br />
zum sechstgrößten Automarkt der Welt auf.<br />
Während Japans Hersteller dort schon eigene<br />
Werke betreiben, gehen jetzt endlich auch die deutschen<br />
Autobauer in die Offensive. Am kommenden<br />
Dienstag wollen Thailands Premier und Militärjunta-Chef<br />
Chan-ocha Prayuth sowie die Spitzen der<br />
thailändischen Investitionsbehörde BOI den Bau<br />
einer schon länger geplanten Fabrik des Volkswagen-Konzerns<br />
in Thailand offiziell genehmigen. Es<br />
hätten noch einige Unterlagen aus Wolfsburg gefehlt,<br />
doch die lägen nun vor, und man könne grünes<br />
Licht geben, heißt es beim BOI. Der VW-Konzern<br />
bestätigte, dass er einen Antrag eingereicht<br />
hat, wollte aber keine Details nennen.<br />
Etwa anderthalb Autostunden südlich der thailändischen<br />
Hauptstadt Bangkok will VW nach Informationen<br />
der WirtschaftsWoche spätestens 2019<br />
eine Kleinwagenproduktion starten. Geplant ist die<br />
Fertigung eines Pkws mit Benzinmotor und einem<br />
Hubraum von 1,4 Litern. In den Bau der Fabrik wollen<br />
die Deutschen rund eine Milliarde Euro investieren.<br />
Bei voller Kapazität könnte das Werk 300 000<br />
Autos im Jahr fertigen, auch für den Export in andere<br />
Länder der Region. Der Wagen der Polo-Klasse<br />
soll maximal 4,2 Liter auf 100 Kilometer verbrauchen,<br />
damit kommt er etwa in Thailand in den Genuss<br />
einer staatlichen Förderung für Ökoautos und<br />
ist sechs Jahre steuerbefreit.<br />
Auch andere deutsche Hersteller stocken in Thailand<br />
auf. Daimler will die Fertigungskapazitäten in<br />
Bangkok von gut 5000 auf mehr als 10 000 Fahrzeuge<br />
verdoppeln. 2013 mussten die Stuttgarter mehr<br />
als die Hälfte der rund 10 000 in Thailand verkauften<br />
Autos importieren. In den ersten sechs Monaten<br />
dieses Jahres stieg der Mercedes-Absatz in Thailand<br />
im Vergleich zum Vorjahr um weitere 13<br />
Prozent. Ähnlich sieht es bei BMW aus. Die Münchner<br />
wollen ihr Werk südlich von Bangkok in den<br />
nächsten Monaten erweitern. Statt 8800 können<br />
dort dann 12 500 Autos im Jahr gebaut werden.<br />
BMW fertigt in Thailand, anders als Mercedes, vor<br />
allem für den Export in andere Länder der Region.<br />
Aber auch in Thailand steigen die BMW-Verkäufe.<br />
matthias.kamp@wiwo.de<br />
Auf und davon<br />
Wie viele Fahrzeuge<br />
deutsche Autobauer im<br />
In- und wie viele sie im<br />
Ausland fertigen (in Mio.)<br />
Deutschland<br />
5,44<br />
8,64<br />
2013 2014*<br />
* Prognose; Quelle: VDA<br />
Übrige Welt<br />
5,65<br />
(+4 %)<br />
9,15<br />
(+ 8 %)<br />
FOTO: REUTERS/ATHIT PERAWONGMETHA<br />
8 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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NEUES ZIEL<br />
EU will Industrie stärken<br />
In dieser Woche will der künftige<br />
EU-Kommissionspräsident<br />
Jean-Claude Juncker die Ressort-Verteilung<br />
seines Teams<br />
vorstellen. Inhaltlich hat er sich<br />
schon festgelegt: „Wir müssen<br />
den Anteil der Industrie am<br />
Bruttoinlandsprodukt der EU,<br />
der heute nur knapp 16 Prozent<br />
beträgt, bis 2020 auf 20 Prozent<br />
steigern.“ Der europäische Unternehmensverband<br />
Business<br />
Europe klatscht Beifall, aber<br />
Ökonomen verzweifeln. „Historische<br />
Daten zeigen, dass dieses<br />
Ziel wohl nicht erreicht werden<br />
kann“, sagt Guntram Wolff, Direktor<br />
des Thinktanks Bruegel.<br />
Er weist darauf hin, dass der Anteil<br />
der Industrie an der Wirtschaftsleistung<br />
in den letzten 30<br />
Jahren weltweit gesunken ist.<br />
„Dies ist kein Anlass zur Sorge,<br />
denn das Produktivitätswachstum<br />
war in der Industrie stärker<br />
als in den anderen Sektoren.“<br />
Der sinkende Anteil beweise also<br />
die Stärke des Sektors. Ähnlich<br />
sei es der Landwirtschaft ergangen.<br />
„Und wir haben immer<br />
noch ausreichend zu essen.“<br />
silke.wettach@wiwo.de | Brüssel<br />
FLEISCHINDUSTRIE<br />
Doch kein Friede bei Tönnies<br />
Im Familienstreit um Deutschlands<br />
größten Fleischkonzern<br />
Tönnies deutete sich vor einer<br />
Woche eine Wende an. Mark<br />
Binz, Anwalt von Robert<br />
Tönnies, kündigte an: „Ich<br />
rechne noch in diesem Jahr mit<br />
einer Einigung.“ Postwendet widersprach<br />
Thomas Pfaff, der<br />
Sprecher von Robert Tönnies:<br />
Es habe sich um eine sehr persönliche<br />
und nicht abgestimmte<br />
Aussage gehandelt. Robert<br />
Tönnies hält wie sein Onkel Clemens<br />
Tönnies 50 Prozent am<br />
Konzern, fühlt sich von ihm<br />
aber benachteiligt. Aus dem<br />
Umfeld von Clemens Tönnies<br />
heißt es, er habe ein Einigungsangebot<br />
vorgelegt. Dazu habe<br />
sich die Gegenseite nicht geäußert.<br />
Binz hält dagegen: „Clemens<br />
Tönnies möchte von einer<br />
Gleichberechtigung der beiden<br />
Familienstämme nichts wissen,<br />
die für uns Grundbedingung jeder<br />
weiteren Zusammenarbeit<br />
ist.“ Am 10. November treffen<br />
sich beide Parteien vor Gericht.<br />
mario.brueck@wiwo.de<br />
Aufgeschnappt<br />
Fischlift Treppen sind für Fische<br />
längst kein Hindernis mehr. Im<br />
Gegenteil: Wo Stauwerke den<br />
Wasserspiegel ansteigen lassen,<br />
wurden mitunter eigens Fischtreppen<br />
angelegt, damit die Tiere<br />
auf- oder absteigen können.<br />
Doch Treppensteigen ist mühsam<br />
– auch für Fische. Darum<br />
hat das österreichische Start-up<br />
Hydroconnect einen Fischlift<br />
entwickelt, den es jetzt vermarkten<br />
will. Erfinder Walter Albrecht<br />
sucht zwar noch Investoren, ist<br />
aber zuversichtlich. Denn die EU<br />
hilft ihm. Ihre Wasserrichtlinie<br />
schreibt vor, dass bis zum Jahr<br />
2027 alle Flüsse so gestaltet<br />
sein müssen, dass Fische sie<br />
durchgängig passieren können.<br />
Überschall-U-Boot In knapp<br />
zwei Stunden von Shanghai<br />
nach San Francisco – das chinesische<br />
Harbin Institute of<br />
Technology tüftelt an einem<br />
U-Boot, das auf 5800 km/h<br />
beschleunigt. Ob und wann es<br />
kommt, ist noch unklar.<br />
AUDI<br />
Carsharing<br />
de Luxe<br />
Audi arbeitet an einem neuen<br />
Carsharing-Konzept für Luxusautos.<br />
Über eine Online-Community<br />
können sich drei Nutzer<br />
den Super-Sportwagen Audi R8<br />
ein Jahr lang teilen. In der Coupé-Version<br />
kostet er sonst mindestens<br />
117 000 Euro, als Cabrio<br />
128 000 Euro. Das Konzept könne<br />
auf andere Fahrzeuge des<br />
Luxussegments ausgeweitet<br />
werden, deutete Audi-Chef<br />
Rupert Stadler an: „So generieren<br />
wir komplett neue Zielgruppen<br />
für bestimmte Produktgattungen.“<br />
Das Projekt steckt in der Testphase.<br />
Ein Massengeschäft im<br />
Carsharing wie es Daimler und<br />
BMW betreiben, sehe man<br />
nicht als kompatibel mit Audis<br />
Premiumphilosophie, so Stadler.<br />
Details will der Audi-Chef<br />
Ende des Jahres nennen.<br />
rebecca.eisert@wiwo.de<br />
Ein Sportwagen, drei Nutzer<br />
Audi-Modell R8<br />
Neue Kollegen auf dem Vormarsch<br />
Anzahl der Roboter je 10000 Arbeiter in der Industrie<br />
396<br />
332<br />
273<br />
141<br />
Weltweit:<br />
58<br />
FOTOS: FOTOLIA, PR<br />
Quelle: International Federation of Robotics<br />
Südkorea Japan Deutschland USA China<br />
23<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 9<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
GERMANIA<br />
Tochter für<br />
die Schweiz<br />
Nach Großbritannien will die<br />
deutsche Airline Germania<br />
die Schweiz aufrollen. In Opfikon<br />
im Kanton Zürich hat sie<br />
eine Tochtergesellschaft gegründet:<br />
Germania Flug. Als<br />
Direktor wird der Schweizer<br />
Ex-Air-Berlin-Mann Tobias<br />
Somandin im Gründungspapier<br />
aufgeführt, die Firma<br />
sitzt im Gebäude des Touristikunternehmens<br />
Hotelplan,<br />
einer Tochter der Handelskette<br />
Migros.<br />
Das Domizil ist kein Zufall:<br />
Die Schweizer Germania soll<br />
von der Sommersaison 2015<br />
an für die Kunden von Hotelplan<br />
fliegen. Ein zweites<br />
Flugzeug will Germania auf<br />
Balkan-Routen einsetzen.<br />
„Einmal Ferienflug und einmal<br />
Balkan – auf diesen Mix<br />
wird es hinauslaufen“, bestätigt<br />
Germania-Chef Andreas<br />
Wobig dem Schweizer Wirtschaftsmagazin<br />
„Bilanz“, Partner<br />
der WirtschaftsWoche.<br />
Um als Schweizer Airline<br />
abheben zu können, fehlt Germania<br />
noch das Zertifikat <strong>vom</strong><br />
Bundesamt für Zivilluftfahrt<br />
BAZL. „Bis Ende August haben<br />
wir von Germania noch<br />
keine Dokumente erhalten“,<br />
sagt BAZL-Sprecher Urs Holderegger.<br />
Die Prüfung kann<br />
sich hinziehen: „Bei einer bestehenden<br />
und gut dokumentierten<br />
Airline dauert das in<br />
etwa ein halbes Jahr.“<br />
Bilanz | mdw@wiwo.de<br />
Unterschlupf beim Reisekonzern<br />
Germania-Chef Wobig<br />
INTERVIEW Martin Geier<br />
»Viele standen wie der<br />
Ochs vorm Berg«<br />
Der Deutschland-Chef von Amazons Cloud-<br />
Computing-Sparte über neue Rechenzentren,<br />
Datenschutz und Arbeiter, die alles stehen lassen.<br />
Herr Geier, Amazon, der weltweit<br />
größte Anbieter von Cloud<br />
Computing, will in Deutschland<br />
ein eigenes Rechenzentrum<br />
eröffnen. Wann und wo?<br />
Wir hören gewöhnlich auf unsere<br />
Kunden. So haben wir in den<br />
vergangenen zwei Jahren zwei<br />
neue Rechenzentren eröffnet,<br />
eines in Sydney und eines in<br />
China. Und sie können davon<br />
ausgehen, dass wir unseren geografischen<br />
Fußabdruck erweitern<br />
werden. Wir kommunizieren<br />
aus Sicherheitsgründen<br />
nicht, wo es genau steht. Aber<br />
<strong>vom</strong> Gesetz her müssen manche<br />
Daten in der EU und andere<br />
in Deutschland gespeichert<br />
werden. Und wir bemühen uns,<br />
diese Märkte alle nach und<br />
nach zu bedienen.<br />
Vertrauen deutsche Unternehmen<br />
nach der NSA-Affäre<br />
ihre Daten überhaupt noch<br />
einem amerikanischem Unternehmen<br />
wie Amazon an?<br />
Deutsche Unternehmen sind<br />
traditionell sehr sicherheitsbewusst<br />
– das war auch schon vor<br />
den NSA-Gerüchten so. Natürlich<br />
sind sie jetzt aufmerksamer<br />
denn je. Ich kann aber nicht erkennen,<br />
dass es unserem Geschäft<br />
ernsthaft geschadet hat,<br />
die Nachfrage war nie besser.<br />
Wie schützt Amazon die Daten<br />
europäischer Unternehmen vor<br />
dem Zugriff amerikanischer<br />
Behörden?<br />
Unsere Kunden können sich auf<br />
unserer Infrastruktur selbst<br />
schützen. Sie können gezielt<br />
Rechenzentren in der EU wählen.<br />
Amazon selbst bewegt keine<br />
Daten. Sie haben zudem die<br />
Möglichkeit, Informationen<br />
selbst zu verschlüsseln. Insofern<br />
bleiben sie Herr der Lage.<br />
DER WOLKENSCHIEBER<br />
Geier, 44, leitet seit 18 Monaten<br />
das Deutschland-Geschäft von<br />
Amazon Web Services, der<br />
Cloud-Computing-Tochter von<br />
Amazon. Bevor er zur Cloud-<br />
Tochter des Internet-Händlers<br />
wechselte, arbeitete er für unterschiedliche<br />
IT-Konzerne, darunter<br />
IBM, HP, Silicon Graphics<br />
und zuletzt BMC Software.<br />
Wir haben hierzulande inzwischen<br />
Kunden aller Größen,<br />
Start-ups wie Soundcloud, Mittelständler<br />
wie Kärcher und<br />
Riesen wie SAP.<br />
Wie entwickelt sich der<br />
deutsche Markt für Cloud<br />
Computing?<br />
Inspiriert von Start-ups etwa in<br />
Berlin, ist der deutsche Mittelstand<br />
gerade dabei, seine Kerngeschäfte<br />
unter dem Begriff In-<br />
»Natürlich<br />
sind sie jetzt<br />
aufmerksamer<br />
denn je«<br />
dustrie 4.0 zu innovieren. Vor 18<br />
Monaten war das noch nicht so.<br />
Viele standen wie der Ochs<br />
vorm Berg und fragten sich:<br />
Cloud Computing, was mache<br />
ich damit? Inzwischen haben<br />
sie Cloud-Kompetenz-Center<br />
gebildet. Siemens etwa nutzt<br />
unsere Plattform, um im Gesundheitswesen<br />
patientenbezogene<br />
Simulationen durchzuführen.<br />
Bekannt wurde Amazon<br />
durch den Internet-Handel mit<br />
Büchern. Was trägt der<br />
Handelsbereich zum Cloud<br />
Computing bei?<br />
Wir ziehen viel aus unserer<br />
Händler-DNA. Es gibt kaum IT-<br />
Anbieter, die ihre Preise senken.<br />
Wir haben das, seit wir 2006<br />
gestartet sind, 45 Mal getan.<br />
Für mehr Kunden brauchen<br />
wir mehr Infrastruktur. Mehr<br />
Infrastruktur bedeutet mehr<br />
Skalenvorteile bei Einkauf und<br />
Betrieb. Und Skalenvorteile<br />
machen wiederum niedrigere<br />
Preise möglich, was mehr Kunden<br />
bedeutet. Als wir 2006 gestartet<br />
sind, hat ein Gigabyte<br />
Speicher bei uns 15 US-Cent<br />
gekostet, heute sind es drei<br />
US-Cent.<br />
Was ziehen Sie noch aus dieser<br />
Händler-DNA?<br />
Unsere Mitarbeiter sollen nicht<br />
in eingefahrenen Schemata<br />
denken, sondern sich überlegen,<br />
was wäre, wenn heute Tag<br />
eins wäre. Damit überwinden<br />
wir Betriebsblindheit. Unser<br />
wichtigstes Führungsprinzip<br />
heißt zudem Customer Obsession.<br />
Jeder Mitarbeiter hat das<br />
Recht, alles stehen und liegen<br />
zu lassen, wenn ein Kunden<br />
Hilfe braucht. Ein weiteres Prinzip<br />
ist Sparsamkeit. Wir versuchen,<br />
kein Geld auszugeben,<br />
das dem Kunden nicht dient.<br />
Das führt manchmal bei neuen<br />
Mitarbeitern zu Stirnrunzeln,<br />
weil sie es gewöhnt sind, einen<br />
dicken Dienstwagen zu fahren.<br />
Das gibt es bei Amazon nicht.<br />
Wie fahren Sie?<br />
Ich fahre U-Bahn oder Fahrrad,<br />
manchmal mein Privatauto.<br />
thomas.stoelzel@wiwo.de<br />
FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/DPA, PR<br />
10 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
IT-DIENSTLEISTER<br />
GFT prüft<br />
Abspaltung<br />
Der Stuttgarter IT-Dienstleister<br />
GFT Technologies prüft einen<br />
Verkauf seines Geschäftsbereichs<br />
emagine, heißt es aus unternehmensnahen<br />
Kreisen. Danach<br />
hat GFT sogar schon eine<br />
auf Transaktionen spezialisierte<br />
Gesellschaft beauftragt, eine<br />
Trennung zu untersuchen.<br />
Schon länger wird spekuliert,<br />
dass sich GFT auf das Kerngeschäft<br />
konzentriert:die Beratung<br />
von Banken in IT-Angelegenheiten.<br />
Denn während das<br />
Beratungsgeschäft eine Umsatzrendite<br />
von 11,2 Prozent<br />
erzielt, kommt emagine mit<br />
der Vermittlung freiberuflicher<br />
IT-Berater nur auf rund ein<br />
Prozent.<br />
GFT-Gründer und Vorstandschef<br />
Ulrich Dietz will sich zu<br />
einem möglichen Verkauf nicht<br />
äußern. „Unsere rund 110 emagine-Mitarbeiter<br />
arbeiten sehr<br />
gut“, sagt er, räumt allerdings<br />
auf Anfrage ein, dass der Bereich<br />
seine wirtschaftlichen<br />
Ziele in nächster Zeit verbessern<br />
müsse.<br />
Ein Verkauf von emagine<br />
könnte die Schulden des Unternehmens<br />
deutlich reduzieren<br />
und den Aktienkurs steigen<br />
lassen.<br />
maximilian nowroth | mdw@wiwo.de<br />
OUTDOOR<br />
Talsohle<br />
verlassen<br />
08.09. Export Das Statistische Bundesamt berichtet am<br />
Montag über die Ausfuhren im Juli. Im Juni hatten<br />
sie gegenüber dem Vorjahr um 1,1 Prozent zugelegt,<br />
gegenüber dem Vormonat um 0,9 Prozent.<br />
09.09. Bundeshaushalt Der Bundestag berät am<br />
Dienstag in erster Lesung über den Haushalt für<br />
das kommende Jahr. 2015 will der Bund keine<br />
neuen Kredite mehr aufnehmen.<br />
Ritter Sport Das Oberlandesgericht München<br />
verhandelt den Streit zwischen dem<br />
Schokoladenhersteller und der Stiftung<br />
Warentest. Sie hatte die Vollnuss-Schokolade<br />
von Ritter Sport mit<br />
„mangelhaft“ bewertet.<br />
10.09. Ryanair Die Lufthansa wirft dem Flughafen Hahn<br />
vor, er verlange von der irischen Billiglinie zu niedrige<br />
Entgelte. Da der Flughafen den Ländern Hessen<br />
und Rheinland-Pfalz gehöre, komme dies einer<br />
Beihilfe für Ryanair gleich. Darüber verhandelt<br />
am Mittwoch das Oberlandesgericht Koblenz.<br />
Kreditkarten Der Europäische Gerichtshof (EuGH)<br />
entscheidet über das Gebührenmodell von Mastercard.<br />
Bei einer Niederlage drohen der Kreditkartenorganisation<br />
Schadensersatzforderungen.<br />
14.09. Landtagswahlen Die Bürger in Thüringen und<br />
Brandenburg wählen am Sonntag einen neuen<br />
Landtag. Im CDU/SPD-regierten Thüringen kommt<br />
die CDU in der jüngsten Umfrage auf 34 Prozent<br />
und die SPD auf 19. Die Linke schafft demnach 26<br />
Prozent, die Grünen 6 und die AfD 5. Die FDP wäre<br />
mit 4 Prozent nicht mehr im Landtag. In Brandenburg,<br />
von SPD und Linke regiert, schneidet die<br />
SPD in Umfragen am besten ab: 34 Prozent. Die<br />
CDU erhält 23, die Linke 22, Grüne und AfD jeweils<br />
6 und die FDP nur 3 Prozent.<br />
Der Schweizer Rolf Schmid<br />
klettert gern auf hohe Berge, er<br />
ist ein Stratege und Planer, der<br />
Schritt für Schritt vorgeht. Jetzt<br />
zahlt sich die Weitsicht des<br />
Chefs des Outdoor-Ausrüsters<br />
Mammut aus: Vor allem dank<br />
der höheren Nachfrage nach<br />
Berg- und Wanderschuhen<br />
wuchs das Schweizer Unternehmen<br />
im ersten Halbjahr um<br />
3,4 Prozent und setzte umgerechnet<br />
86 Millionen Euro um.<br />
Den Grundstein dafür legte<br />
Schmid mit der Übernahme des<br />
Schuhspezialisten Raichle.<br />
Nach Boomjahren herrschte<br />
in den vergangenen beiden Jahren<br />
Ernüchterung in der Branche.<br />
Die Zeichen stehen seitdem<br />
vor allem in Europa auf<br />
Verdrängung. Insbesondere das<br />
US-Unternehmen VF macht<br />
hier Druck:Der Textilkonzern,<br />
zu dem unter anderem die Outdoor-Marke<br />
The North Face<br />
TOP-TERMINE VOM 08.09. BIS 14.08.<br />
gehört, meldete für sein Outdoor-Segment<br />
zuletzt einen<br />
Quartalsumsatz von 1,3 Milliarden<br />
Dollar, ein Plus von 16 Prozent<br />
gegenüber dem Vorjahr.<br />
Auch Adidas’ Outdoor-Sparte<br />
wächst, getrieben durch steigende<br />
Umsätze in China und<br />
Nordamerika. Schöffel legt<br />
ebenfalls zu. Bei der jüngsten<br />
Orderrunde des Handels habe<br />
besonders das Geschäft mit<br />
Outdoor-Artikeln einen Trend<br />
nach oben gezeigt, so die Einkaufsgemeinschaft<br />
Intersport.<br />
peter.steinkirchner@wiwo.de<br />
VOLKSWAGEN XL1<br />
Begehrtes<br />
Exemplar für<br />
Sammler<br />
Der VW XL1 ist kein Auto wie<br />
jedes andere. Der kleine Flügeltürer<br />
kommt zumindest theoretisch<br />
mit einem Liter Diesel 100<br />
Kilometer weit. Der technische<br />
Aufwand dafür ist so groß, dass<br />
Volkswagen den Basispreis auf<br />
111 000 Euro festgesetzt hat. Zugleich<br />
ist die Produktion auf 200<br />
Exemplare begrenzt. Der XL1<br />
wurde darüber zum begehrten<br />
Blackbox an Bord<br />
Volkswagen XL1 fast ausverkauft<br />
Sammlerstück: Inzwischen ist<br />
fast die gesamte Produktion<br />
vergriffen.<br />
Zu den Käufern zählt auch<br />
Wolfgang Grupp. Der 72-jährige<br />
Eigentümer des T-Shirt-Herstellers<br />
Trigema im schwäbischen<br />
Burladingen kaufte sogar zwei<br />
Exemplare: ein weißes für Sohn<br />
Wolfgang, 23, und ein rotes für<br />
Tochter Bonita, 24. Das gelang<br />
ihm, indem er VW-Vertriebsvorstand<br />
Christian Klingler in der<br />
Sache direkt anschrieb.<br />
Wie alle Erwerber musste<br />
sich Grupp verpflichten, die<br />
Autos VW zum Rückkauf anzubieten,<br />
wenn er das Interesse<br />
an dem Modell verlieren sollte.<br />
Der Konzern will auf diese Weise<br />
von den Erfahrungen der<br />
Erstbesitzer profitieren: An<br />
Bord des XL1 ist eine Blackbox,<br />
die wie in der Formel 1 Daten<br />
über das Fahrzeug sammelt<br />
und diese zur Auswertung ins<br />
VW-Werk funkt.<br />
reinhold.boehmer@wiwo.de, franz rother<br />
FOTOS: PR<br />
12 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
CHEFSESSEL<br />
START-UP<br />
VFS<br />
Ludger Wößmann, 41,<br />
und Carl Christian von<br />
Weizsäcker, 76, sind die<br />
diesjährigen Preisträger des<br />
Vereins für Socialpolitik<br />
(VfS), der größten Ökonomenvereinigung<br />
im deutschsprachigen<br />
Raum. Wößmann,<br />
Bildungsökonom<br />
beim Münchner ifo Institut,<br />
erhält den Gossen-Preis, mit<br />
dem der VfS Wirtschaftswissenschaftler<br />
unter 45 Jahren<br />
ehrt, die durch Veröffentlichungen<br />
in internationalen<br />
Fachzeitschriften besonderes<br />
Ansehen erworben haben.<br />
Mit dem Gustav-Stolper-Preis<br />
würdigt die<br />
Ökonomenzunft von Weizsäcker,<br />
emeritierter Volkswirtschaftsprofessor<br />
und bis<br />
2003 Direktor des Energiewirtschaftlichen<br />
Instituts an<br />
der Universität Köln, für seine<br />
Anstöße zu wirtschaftswissenschaftlichen<br />
Debatten.<br />
Der Stolper-Preis ist<br />
nach dem österreichischen<br />
Publizisten Gustav Stolper<br />
benannt, der 1926 in Berlin<br />
die Zeitschrift „Der Deutsche<br />
Volkswirt“ gegründet<br />
hat, aus der die Wirtschafts-<br />
Woche hervorgegangen ist.<br />
MALLORCA<br />
102 Euro<br />
gab jeder deutsche Urlauber auf Mallorca<br />
im Juli täglich aus. Am spendabelsten waren<br />
die Skandinavier und Schweizer mit durchschnittlich<br />
je 140 Euro, gefolgt von den<br />
Spaniern mit 112 und den Briten mit 104<br />
Euro, so eine jetzt veröffentlichte Umfrage<br />
des spanischen Tourismusministeriums.<br />
COMMA SOFT<br />
Jörg Asma, 44, bis zum vergangenen<br />
Jahr Partner der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft<br />
KPMG, baut bei dem Bonner IT-<br />
Beratungs- und Softwareunternehmen<br />
Comma Soft einen<br />
neuen Geschäftsbereich für Cybersicherheit<br />
auf. Asma war<br />
schon bei KPMG für die Sparte<br />
Security-Consulting verantwortlich<br />
und gilt als Experte für<br />
sogenannte Resilience-Projekte.<br />
Dabei geht es nicht nur um<br />
die Absicherung der IT-Systeme<br />
von Unternehmen, sondern vor<br />
allem darum, Cyber-Attacken<br />
schnell zu bemerken. „98 Prozent<br />
aller Angriffe werden heute<br />
gar nicht erkannt“, sagt Asma.<br />
RENAULT<br />
Bruno Ancelin, 56, ist an die<br />
Spitze der Produktentwicklung<br />
von Renault katapultiert worden.<br />
Der klein gewachsene wie<br />
selbstbewusste Ingenieur, der<br />
zusammen mit Konzernchef<br />
Carlos Ghosn, 60, in Paris<br />
studiert hat und als Experte für<br />
die Lösung größerer Probleme<br />
gilt, stand bis zur vergangenen<br />
Woche an der Spitze von<br />
Renault Russland. Der überraschende<br />
Wechsel in die Konzernzentrale<br />
ist eine Kettenreaktion,<br />
ausgelöst durch den<br />
Wechsel von Nissan-Chefplaner<br />
Andy Palmer, 51, zu<br />
Aston Martin. Ersetzt wurde<br />
Palmer durch den bisheriger<br />
Produktentwickler Philippe<br />
Klein, 57.<br />
EINFACHLOTTO<br />
Der Klick zum Glück<br />
Eigentlich wollte Mirko Dieseler Lehrer werden, Sport und<br />
Geschichte unterrichten. Vielleicht hätte er die Schüler dann auch<br />
vor Glücksspielen gewarnt. Jetzt verdient er damit sein Geld. Gemeinsam<br />
mit vier ehemaligen Bertelsmann-Managern gründete<br />
er Ende 2011 das Unternehmen EDM Einfach Direkt Media und<br />
entwickelte die Online-Plattform einfachlotto. Seit 3. Juli 2013 ist<br />
sie online. „An dem Tag haben wir die staatliche Genehmigung<br />
erhalten“, sagt Dieseler, der sich in dem Metier auskennt. Nach seinem<br />
Studium hat er für die staatliche Lottogesellschaft Bayerns<br />
gearbeitet und für den Wettanbieter Oddset.<br />
„Der Umsatz ist noch überschaubar“, sagt der 45-Jährige. Zahlen<br />
will er nicht nennen. Aber sein Konzept hat schon weitere Investoren<br />
angezogen, darunter Media Ventures, eine Gesellschaft des<br />
Kölner Plakatwerbers Dirk Ströer. „Auf unserer Seite gibt es keine<br />
Bilder und keine Werbung“, grenzt sich Dieseler von der Konkurrenz<br />
ab. Das Start-up lebt von den 6,5 bis 10 Prozent Provision, die<br />
es pro Tipp bekommt – so viel wie die Lotto-Kioske. 90 000 Kunden<br />
spielen schon mit. Ende September startet er eine Plakataktion,<br />
zudem sponsert er die<br />
Fakten zum Unternehmen<br />
Eigner Dieseler 20 Prozent,<br />
Netzpiloten 12, Media Ventures<br />
37,6, zwölf Privatpersonen gepoolt<br />
15, drei Mitarbeiter 15,4<br />
Investment 1,8 Millionen Euro<br />
Gewinn erstmals im Januar 2016<br />
Fußballclubs Düsseldorf<br />
und Bielefeld. Rund 2,0<br />
bis 2,5 Millionen Euro<br />
gibt er dafür allein in diesem<br />
Jahr aus. Darin inbegriffen<br />
ist auch Lothar<br />
Matthäus – „das Gesicht<br />
von einfachlotto“.<br />
hermann.olbermann@wiwo.de<br />
FOTOS: PR, PICTURE-ALLIANCE/DPA, YVES SUCKSDORFF FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, FOTOLIA<br />
14 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Menschen der Wirtschaft | Chefbüro<br />
Dieter Kempf<br />
Vorstandsvorsitzender des IT-Dienstleisters Datev<br />
In dem großen Wandschrank<br />
versteckt Dieter Kempf, 61,<br />
„alle möglichen Sachen, auch<br />
einen Satz Golfbälle“, verrät der<br />
Vorstandsvorsitzende von<br />
Datev. Seit Juli 1996 leitet der<br />
Diplom-Kaufmann den Nürnberger<br />
IT-Dienstleister, zu dessen<br />
Klientel vor allem Steuerberater,<br />
Wirtschaftsprüfer und<br />
Rechtsanwälte zählen. 1966<br />
wurde das Unternehmen als<br />
Genossenschaft gegründet,<br />
inzwischen beschäftigt es rund<br />
6700 Mitarbeiter und erwirtschaftete<br />
2013 einen Umsatz<br />
803 Millionen Euro. Zudem ist<br />
Kempf seit 2011 Präsident des<br />
Branchenverbandes Bitkom,<br />
der mehr als 2100 Unternehmen<br />
der Informations- und<br />
Telekommunikationsbranche<br />
vertritt. Ans<br />
Pendeln zwischen<br />
der Berliner Bitkom-<br />
Zentrale und dem<br />
Datev-Sitz in Nürnberg<br />
hat sich der<br />
Manager längst gewöhnt.<br />
Wenn es zu<br />
360 Grad<br />
In unseren App-<br />
<strong>Ausgabe</strong>n finden<br />
Sie an dieser<br />
Stelle ein interaktives<br />
360°-Bild<br />
arg kommt, greift er in seinen<br />
„Frustbehälter“; so nennt<br />
Kempf die kleine Dose mit<br />
Gummibärchen, die auf der<br />
schweren Granitplatte seines<br />
Schreibtischs in Nürnberg<br />
steht. Daneben liegen Post,<br />
Akten, Unterschriftenmappe<br />
und Fotos mit seiner Familie<br />
einschließlich der Hündin Susi.<br />
In der Besprechungsecke und<br />
über einem Sideboard<br />
hängen Werke<br />
der Münchner Malerin<br />
Valeska. Und da<br />
ist noch der Kasper,<br />
der Kempf provozierend<br />
die Zunge<br />
herausstreckt. Die<br />
Metallskulptur dient<br />
als Stehpult und entstand in<br />
der Werkstatt der beiden oberfränkischen<br />
Künstler Guido<br />
und Johannes Häfner. Statt mit<br />
Bits und Bytes begann Kempfs<br />
Karriere mit Buletten. Parallel<br />
zu seinem Studium an der<br />
Ludwig-Maximilians-Universit<br />
ät in München arbeitete er bei<br />
McDonald’s und brachte es<br />
dort innerhalb von fünf Jahren<br />
zum Filialleiter. Vor seinem<br />
Wechsel zu Datev 1991 war er<br />
beim Wirtschaftsprüfer Ernst &<br />
Young. In seiner Freizeit spielt<br />
Kempf nicht nur Golf, er fährt<br />
auch Oldtimer und Motorrad.<br />
Einen Helm hat er in seinem<br />
Schrank aber nicht versteckt.<br />
ulrich.groothuis@wiwo.de<br />
FOTO: DIETER MAYR FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
16 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Die rote Null<br />
SCHULDEN | Die Bundesregierung lässt sich für den ersten ausgeglichenen Etat seit<br />
45 Jahren feiern. Ein kritisches Studium des Haushaltsentwurfs aber zeigt: Es ist bloß<br />
ein trickreiches Rechenexempel auf den Schultern zukünftiger Generationen.<br />
Der Finanzminister ist unverkennbar<br />
von sich und seinem<br />
Kurs überzeugt. „Wir werden<br />
erstmals seit Jahrzehnten einen<br />
Haushalt ohne neue<br />
Schulden haben“, verkündet er unter dem<br />
Jubel seiner Fraktion. Begeistert bezieht er<br />
das ganze Land in seine Anerkennung mit<br />
ein: „Warum dieser Kurs? Während er im<br />
vorigen Jahr noch umstritten war, habe ich<br />
den Eindruck, dass er inzwischen allgemeine<br />
Anerkennung gefunden hat.“ Ja, es<br />
ist die historische Verantwortung, die ihn<br />
antreibt: „Wir wollen aus der Schuldenfalle<br />
zuerst und vor allem deswegen heraus,<br />
weil wir künftigen Generationen nicht die<br />
<strong>Ausgabe</strong>n, die wir getätigt haben, als<br />
Schulden hinterlassen können.“<br />
Diese Worte klingen vertaut und aktuell,<br />
doch sie stammen nicht aus dem Sommer<br />
2014, sondern aus dem September 2000<br />
und aus dem Mund von Hans Eichel (SPD).<br />
Drei Jahre später verantwortete er den<br />
Haushalt mit der bis dahin höchsten Defizitquote<br />
der Nachkriegsgeschichte. Geschichte<br />
wiederholt sich nicht, aber Eichels<br />
Schicksal ist Grund genug, nachzuhaken:<br />
Wie viel ist der Ausgleich der Staatsfinanzen<br />
wert, den sein Nachfolger Wolfgang<br />
Schäuble (CDU) am Dienstag präsentiert?<br />
EINMALIGER RÜCKFALL<br />
Seit Eichel sind zwei Regierungswechsel<br />
und eine Finanzkrise vergangen, die<br />
Traumwelt an der Berliner Wilhelmstraße,<br />
wo das Finanzministerium residiert, ist die<br />
gleiche geblieben: Der Minister will in Erinnerung<br />
bleiben als derjenige, der die<br />
Rückkehr zur soliden Haushaltsführung<br />
geschafft hat. Den bis dato letzten ausgeglichenen<br />
Haushalt verantwortete Franz Josef<br />
Strauß (CSU) im Jahr 1969, schon das aber<br />
war ein einmaliger Rückfall in gute Zeiten,<br />
in den Jahren davor war der Haushalt tief<br />
im Minus gewesen. Nachhaltig ausgeglichen<br />
war der Haushalt nur in den Fünfzigerjahren<br />
unter Finanzminister Fritz<br />
Schäffer (ebenfalls CSU).<br />
2015 aber soll genau da anknüpfen. So<br />
nah wie Wolfgang Schäuble ist keiner der<br />
Strauß-Nachfolger mehr dem großen Ziel<br />
gekommen, und mit so viel Hingabe hat<br />
seitdem wohl auch keiner dieses Ziel verfolgt.<br />
Die ersten paar Defizit-Jahrzehnte<br />
waren Schulden schlichtweg en vogue, die<br />
Sanierungsversuche der Neunziger- und<br />
Nullerjahre scheiterten dann jeweils mit<br />
jahrelangem Vorlauf. Für Schäuble hingegen<br />
ist das Ziel nur noch ein gutes Jahr entfernt,<br />
auf dem Papier steht die Null bereits.<br />
„Schäuble hat noch immer trickreich einen<br />
Weg gefunden, zumindest auf dem Papier<br />
seine Ziele durchzusetzen“, sagt Sven-<br />
Christian Kindler, haushaltspolitischer<br />
Sprecher der Grünen im Bundestag.<br />
Doch hält die Null wirklich, was der<br />
„Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung<br />
des Bundeshaushaltsplans für das<br />
Haushaltsjahr 2015“ verspricht? Eine Analyse<br />
der 2866 Seiten Haushaltsentwurf<br />
zeigt, dass unter der einen schwarzen Zahl<br />
viele rote verborgen liegen. Wer den<br />
vermeintlichen Wunderhaushalt im Detail<br />
studiert, findet mühsam kaschierte Zusatzausgaben,<br />
teure Lastenverschiebungen in<br />
die Zukunft und Einmaleffekte, die als<br />
Konsolidierung verkauft werden. Von<br />
seinem Sanierungskurs, den Schäuble<br />
noch vor zwei, drei Jahren ernsthaft verfolgte,<br />
ist nichts geblieben außer den ange-<br />
nehmen Begleitumständen. Von der formalen<br />
Zielmarke auf dem langen Weg<br />
der Sanierung der Staatsfinanzen ist die<br />
Ziffer zum Selbstzweck geworden. Eine<br />
Beweisführung in fünf Schritten.<br />
I. Es geht uns geradezu<br />
unverschämt gut<br />
Erwartete Steuereinnahmen des Bundes<br />
für das Jahr 2014<br />
Quelle: BMF<br />
250,3<br />
Mrd. €<br />
2010<br />
268,2<br />
Mrd. €<br />
2014<br />
plus 17,9<br />
Mrd. €<br />
2010, als Schäubles Kurs in Richtung<br />
„schwarze Null“ konkret wurde, ließ er errechnen,<br />
mit welchen Steuermitteln im<br />
Verlauf der Jahre zu rechnen sei. Trotz Euro-Krise<br />
sahen die Perspektiven recht rosig<br />
aus. „Für den mittelfristigen Schätzzeitraum<br />
wird eine Fortsetzung der wirtschaftlichen<br />
Erholung erwartet“, hieß es, bis 2014<br />
würden die Steuereinnahmen auf 250,3<br />
Milliarden Euro steigen. Jetzt ist das Jahr<br />
gekommen, in dem damals die Prognose<br />
endete – und aus der Erholung ist ein<br />
Boom geworden.<br />
Nicht 250 Milliarden sondern 268,2 Milliarden<br />
Euro wird Schäuble 2014 laut<br />
»<br />
FOTO: LAIF/DOMINIK BUTZMANN<br />
20 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Das Ziel vor Augen<br />
Wolfgang Schäuble<br />
peilt 2015 den Haushaltsausgleich<br />
an<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
DREI, DIE DEN HAUSHALTSAUSGLEICH SCHAFFTEN<br />
Turm gebaut Fritz Schäffer legte Geld für<br />
den Aufbau der Bundeswehr zurück<br />
Reserven geplündert Franz Etzel brauchte<br />
von 1957 bis 1961 die Überschüsse auf<br />
Der letzte Schwarze Franz Josef Strauß<br />
gelang zu Amtsende 1969 die schwarze Null<br />
»<br />
Frühjahrs-Schätzung einnehmen, 18<br />
Milliarden Euro mehr als einst geplant. Im<br />
kommenden Jahr sollen es noch einmal<br />
zehn Milliarden Euro mehr werden. Ganz<br />
zurückhaltend geschätzt, bedeutet das: Finanzminister<br />
Schäuble stehen mindestens<br />
20 Milliarden Euro mehr zur Verfügung, als<br />
er 2010 annahm. Und die Liste der guten<br />
Rahmenbedingungen ist damit längst<br />
nicht zu Ende erzählt.<br />
Vor einigen Wochen hat die Deutsche<br />
Bundesbank die astronomische Summe<br />
von 120 Milliarden Euro errechnet, die der<br />
Bund seit 2007 an Zinsausgaben eingespart<br />
habe. Das ist eine große Zahl, doch diese<br />
kleinere ist aussagekräftiger: Statt 37 Milliarden<br />
Euro (wie 2010) muss der Bund 2014<br />
nur 27 Milliarden Euro für Zinszahlungen<br />
ausgeben, trotz des inzwischen höheren<br />
Schuldenstandes. Das sind weitere zehn<br />
Milliarden Euro, die locker reichen, um ein,<br />
zwei Minister glücklich zu machen.<br />
Doch das neuere deutsche Wirtschaftswunder<br />
macht nicht nur Schulden billig<br />
und Steuerzahler ergiebiger, es brachte<br />
auch Arbeitslose in Arbeit. 2010 gab der<br />
Bund für den Posten Arbeitslosenhilfe 38,3<br />
Milliarden Euro aus. Vergleichswert 2015:<br />
19,2 Milliarden Euro. Da wirken die Zusatzausgaben<br />
wie Peanuts: Um die Kommunen<br />
zu entlasten, hat Berlin <strong>Ausgabe</strong>n für<br />
Unterkunft und Heizung (4,6 Milliarden<br />
Euro) und Grundsicherung im Alter (5,9<br />
Milliarden Euro) übernommen. Selbst<br />
wenn man all das abzieht, bleibt eine effektive<br />
Ersparnis von 8,6 Milliarden Euro.<br />
Schäuble stehen für den Haushaltsausgleich<br />
2015 also rund 40 Milliarden Euro<br />
mehr zur Verfügung, als er 2010, bei Verkündung<br />
des damals ambitionierten Pla-<br />
nes, annehmen konnte. Damals plante er<br />
für 2014 mit 24 Milliarden Euro neuen<br />
Schulden. Auf heutige Bedingungen umgerechnet,<br />
wäre das ein Überschuss, und<br />
zwar von mindestens 15 Milliarden Euro.<br />
Ein entsprechend harsches Urteil fällt der<br />
Freiburger Ökonom Bernd Raffelhüschen<br />
über die Leistung des Finanzministers:<br />
„Die Freude über die schwarze Null ist<br />
ziemlich lächerlich. Schäuble kann froh<br />
sein, dass er gerade Finanzminister ist. Was<br />
hier zusammenkommt, sind nicht viel<br />
mehr als ein paar glückliche Fügungen.“<br />
Wer dem Finanzminister besonders geneigt<br />
ist, kann hier entgegnen, all den netten<br />
Konjunktureffekten stünden wachsende<br />
<strong>Ausgabe</strong>posten, etwa für Pensionen,<br />
entgegen. Doch diese Kosten waren absehbar<br />
und damit eingeplant. Und dort, wo<br />
böse Überraschungen möglich gewesen<br />
wären, sind sie ausgeblieben. So erhöhte<br />
die Bundesbank – deren Bilanz unter den<br />
Niedrigzinsen leidet – ihren Gewinn 2013<br />
auf 4,6 Milliarden Euro, 2010 waren es nur<br />
2,2 Milliarden. Wo es Sonderlasten gab,<br />
laufen sie pünktlich zum Haushaltsausgleich<br />
aus: Die letzte Zahlung für das<br />
Grundkapital des Euro-Rettungsfonds<br />
ESM von 4,3 Milliarden Euro wird 2014 fällig.<br />
Der Fonds für die Folgen der Flut an Elbe<br />
und Donau wurde komplett im Jahr<br />
2013 verbucht. Sogar einige Altlasten im<br />
Haushalt schrumpfen: Zahlungen im Zusammenhang<br />
mit der deutschen Einheit,<br />
2009: 730 Millionen Euro, 2015: 330 Millionen<br />
Euro. 400 Millionen gespart. Soziale<br />
Leistungen für Folgen von Krieg und politischen<br />
Ereignissen, zum Beispiel Kriegsopferfürsorge,<br />
2010: 2,8 Milliarden, 2015: 2,1<br />
Milliarden. Kling, noch mal 700 Millionen!<br />
Das sind keine großen Beträge. Doch die<br />
alte Finanzministerklage, von Jahr zu Jahr<br />
würden die Altlasten größer, ist nur die halbe<br />
Wahrheit. Nie war es so einfach, mit<br />
dem Geld auszukommen.<br />
2. Die Null 2015 ist mit<br />
höheren Risiken in der<br />
Zukunft erkauft<br />
Investitionen in Europa und Investitionslücke<br />
in Deutschland (in Prozent <strong>vom</strong> BIP)<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
Bruttoanlageinvestitionen<br />
im Euro-Raum*<br />
1999 2003<br />
* ohne Deutschland; Quelle: DIW<br />
Kumulierte Investitionslücke<br />
für Deutschland<br />
Bruttoanlageinvestitionen<br />
in Deutschland<br />
2007 2012<br />
In Berlins westlichstem Stadtteil Spandau<br />
steht eine mächtige Wehranlage, rundum<br />
von einem Seitenarm der Havel umflossen,<br />
in ihrer geometrischen Form von den Ideen<br />
des Festungsbauers Vauban inspiriert. Über<br />
die Mauern ragt nur der kreisrunde Juliusturm,<br />
von der Spitze hat man eine nette<br />
Fernsicht. Einst lagerte hier die Kriegskasse<br />
des deutschen Reichs. Kein besonderes<br />
Bauwerk, doch mit einer besonderen Bedeutung.<br />
Fritz Schäffer, erster Finanzminister<br />
der Bundesrepublik, wirtschaftete in den<br />
Fünfzigerjahren einige Zeit so sparsam,<br />
dass er Geld zurücklegen konnte. Die Kasse<br />
22 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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erhielt den Beinamen Juliusturm; Parteifreunde<br />
und Opposition versuchten alles,<br />
um den Turm zu schleifen. Schäffer widersetzte<br />
sich und schuf so den Inbegriff verantwortlichen<br />
Haushaltens: Nachhaltig ist<br />
nicht, was heute gut aussieht, sondern was<br />
für die Probleme der Zukunft vorsorgt.<br />
Die Geschichte ist fast vergessen, auch die<br />
Prinzipien gelten längst nicht mehr. Offensichtliches<br />
Beispiel im Null-Haushalt ist das<br />
Missverhältnis zwischen notwendigen und<br />
tatsächlichen Investitionen. Im vergangenen<br />
Jahr hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung<br />
(DIW) ausgerechnet, was<br />
der Staat in seine Straßen, Brücken und<br />
Schienen investiert – und wie viel es sein<br />
müsste, um den Wert der Infrastruktur zu erhalten.<br />
„Es ist ganz offensichtlich, dass in den<br />
vergangenen Jahren ein massiver Wertverzehr<br />
stattfindet“, fasst DIW-Verkehrsexpertin<br />
Katharina Link zusammen. Mehrere Milliarden<br />
Euro fehlen pro Jahr, allein um den Wertverfall<br />
aufzuhalten. In Zahlen: Während der<br />
Bund in den Neunzigerjahren umgerechnet<br />
jährlich zwischen 11 und 14 Milliarden Euro<br />
für den Erhalt von Straßen und Brücken ausgab,<br />
waren es zuletzt nur 9,6 Milliarden, Steigerungen<br />
nicht vorgesehen. Dabei wächst<br />
der Bedarf. „Die Spannbetonbrücken im<br />
Westen Deutschlands sind innerhalb eines<br />
Jahrzehnts erbaut worden“, mahnt CDU-<br />
Haushälter Norbert Brackmann, „deshalb<br />
müssen sie jetzt alle zur gleichen Zeit repariert<br />
werden.“ Gerade werden auf der A 45<br />
zwischen Siegen und Dortmund die Brücken<br />
geflickt, 31 Bauwerke sind betroffen.<br />
Ein Jahrhundertprojekt? Nur der Auftakt.<br />
Dieses Muster setzt sich fort. So ist es eine<br />
kurze, aber bewährte Tradition, dass die<br />
Bundesanstalt für Arbeit in guten Jahren<br />
Reserven aufbaut, um auf Krisen reagieren<br />
zu können. Als 2008 die Finanzkrise begann,<br />
konnte sie mit ihren angesparten<br />
16,7 Milliarden Euro einiges abfedern, dabei<br />
lag der historische Höchststand der Arbeitslosigkeit<br />
da gerade drei Jahre zurück.<br />
Heute, wo die Arbeitslosenquote nach fünf<br />
Jahren Aufschwung so niedrig ist wie seit<br />
Jahrzehnten nicht, sind die Reserven mit<br />
drei Milliarden Euro ziemlich dünn. Ein<br />
Versäumnis der Bundesregierung. Als die<br />
beschloss, der Agentur die Zuschüsse für<br />
die Arbeitsförderung zu streichen und dafür<br />
auf den Eingliederungsbeitrag zu verzichten,<br />
klang das nach einem Tauschgeschäft.<br />
Von wegen: Zuletzt zahlte die Bundesagentur<br />
3,8 Milliarden Euro Eingliederungsbeitrag,<br />
die Zuschüsse betrugen 7,2<br />
Milliarden Euro. Tatsächlich fehlen der<br />
Bundesagentur 3,4 Milliarden im Jahr.<br />
Wenn alles gut läuft, mag der finanzpolitische<br />
Kurs bis zum nächsten Regierungswechsel<br />
halten – die nächste<br />
Konjunkturkrise überdauert er mit Sicherheit<br />
nicht.<br />
3. Kosten werden<br />
verschoben, Einmaleffekte<br />
genutzt<br />
Gesamtverpflichtungen und jährliche<br />
<strong>Ausgabe</strong>n für öffentlich-private Partnerschaften<br />
(in Milliarden Euro)<br />
Jahresausgaben<br />
2011<br />
Quelle: BMF<br />
Restverpflichtungen<br />
11,6 12,1 12,7<br />
1,65 1,6 1,45 0,99<br />
14,2<br />
2012 2013 2014<br />
Ob in Finanzministerium oder Konzern,<br />
wer seine Bilanz aufhübschen will, der beachte:<br />
Timing ist alles. Daran denkt der<br />
Vorstandschef, wenn er nach Amtsantritt<br />
eine verheerende Bilanz vorlegt – umso<br />
besser sieht die nächste aus. Dieses Timing<br />
bewies auch Wolfgang Schäuble gleich<br />
mehrfach. Als er den Ausgangspunkt für<br />
seinen Sparkurs gleich ins Jahr 2010 mit<br />
besonders hohen Schulden und besonders<br />
guter Perspektive legte. Oder 2013, als ein<br />
Hochwasser an Donau und Elbe Milliardenschäden<br />
hinterließ, legte der Bund einen<br />
Sonderfonds auf und befüllte ihn mit<br />
acht Milliarden Euro. Im Gegenzug verpflichteten<br />
sich die Länder, dem Bund bis<br />
2033 mehr Umsatzsteuern zu überlassen.<br />
202 Millionen Euro fließen seitdem pro<br />
Jahr zusätzlich in die Bundeskasse.<br />
Auch öffentlich-private Partnerschaften<br />
bieten Chancen für solche Spielchen. Dabei<br />
lagert der Staat die Projektfinanzierung<br />
an Private aus, im Gegenzug erhalten sie<br />
langfristig Gebühren. Wie die aber über die<br />
Jahre verteilt werden – eine Frage des Timings.<br />
So zahlte der Bund 2011 gut 1,6 Milliarden<br />
Euro für solche Projekte, weitere<br />
Verpflichtungen über 12,3 Milliarden standen<br />
aus. 2014 zahlt der Bund nur 994 Millionen<br />
Euro – zugleich stehen deutlich höhere<br />
Verpflichtungen über 14,2 Milliarden<br />
aus. Auch wenn es schwierig ist, die Kalkulation<br />
einzelner Projekte zu überprüfen,<br />
warnt Haushaltsexperte Brackmann:<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 23<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
DREI, DIE AM MEISTEN SCHULDEN MACHTEN<br />
Verlierer der Einheit Theo Waigel unterschätzte<br />
die Kosten des Wiederaufbaus<br />
Hart gelandet Hans Eichel trat mit Sparschwein<br />
an und mit Rekorddefizit ab<br />
Teurer Crash Peer Steinbrücks Pläne<br />
durchkreuzte die Finanzkrise<br />
»<br />
„Wir dürfen uns nicht dazu hinreißen<br />
lassen, öffentlich-private Partnerschaften<br />
angesichts knapper Kassen als reines Finanzierungsinstrument<br />
zu missbrauchen.“<br />
Denn all die Spielereien haben einen entscheidenden<br />
Haken: An den tatsächlichen<br />
Kosten ändert sich nichts. Und je intensiver<br />
man Kosten in der Gegenwart vermeidet,<br />
desto heftiger fällt die spätere Korrektur aus.<br />
4. Der Bund zapft<br />
Mittel an, die<br />
den Bürgern zustehen<br />
Verringerung der Zuweisungen des Bundes<br />
an den Gesundheitsfonds<br />
Quelle: BMF<br />
2013<br />
–2,5<br />
Mrd. €<br />
2014 2015<br />
–3,5<br />
Mrd. €<br />
–2,5<br />
Mrd. €<br />
Als Fritz Schäffer 1956 einen Vortrag vor<br />
dem Hamburger Übersee-Club hielt, hofften<br />
die Kaufmänner, dass er seinen Juliusturm<br />
endlich öffnen und die Steuern senken<br />
würde. Der servierte ihnen stattdessen<br />
bis heute lesenswerte Grundsätze über<br />
sein Amtsverständnis. „Der Finanzminister<br />
muss, um das Vertrauen nicht zu verlieren,<br />
in erster Linie wahr sein allen gegenüber.<br />
Und wahr sein und gefällig sein, lässt<br />
sich leider nicht miteinander vereinbaren.“<br />
Ein Jahr später verlor Schäffer sein Amt,<br />
weil er sich weigerte, die Reserven freizugeben.<br />
Der Juliusturm wurde aufgelöst für<br />
das erste große Wahlgeschenk der Nachkriegszeit:<br />
die Anpassung der Rentenentwicklung<br />
an die Löhne, es war der Einstieg<br />
in die große Staatsverschuldung.<br />
Sein Nachfahre Schäuble hat solches<br />
Drängen ebenfalls erlebt, anders als Schäffer<br />
hat er ihm nicht standhalten können<br />
und die Gefälligkeiten verteilt. Hauptsache,<br />
die Null steht – auf dem Papier. Bezahlt<br />
werden muss leider trotzdem.<br />
2012 wird für das folgende Jahr die „einmalige“<br />
Absenkung des Bundeszuschusses<br />
für den Gesundheitsfonds um 2,5 Milliarden<br />
Euro angekündigt, so leiste auch dieser<br />
Bereich seinen „Sanierungsbeitrag“. Doch<br />
mit der Einmaligkeit ist es nicht weit. 2014<br />
werden dem Fonds gleich 3,5 Milliarden Euro<br />
entzogen, 2015 sollen es noch einmal 2,5<br />
Milliarden sein. Dass dies überhaupt möglich<br />
ist, liegt an einem Konstruktionsfehler<br />
des Fonds. Ebenso wie die Rentenversicherung<br />
hält der sich einen Liquiditätspuffer,<br />
der je nach Finanzlage steigt oder sinkt. Mit<br />
einem Unterschied: Bei der Rentenversicherung<br />
ist eine Höchstsumme festgelegt,<br />
wenn die erreicht ist, müssen die Beiträge<br />
gesenkt werden. Beim Gesundheitsfonds<br />
fehlt diese Grenze. So kann sich der Bund<br />
sogar noch rühmen, durch seinen Zuschuss<br />
die Beiträge für die Bürger stabil zu halten,<br />
obwohl er es ist, der Geld einbehält, dass<br />
den Bürgern versprochen war. Auch bei der<br />
Rente ist es trotz des eingebauten Automatismus<br />
nicht besser. Denn die koalitionsvereinbarte<br />
Mütterrente wurde nicht aus Bundesmitteln<br />
bezahlt, sondern den anspruchsberechtigten<br />
Frauen in Form zusätzlicher<br />
Rentenpunkte zugesprochen und<br />
aus der Rücklage finanziert. Dadurch entstehen<br />
zwar keine neuen Kosten, die 2013 in<br />
Aussicht gestellte Beitragsabsenkung von<br />
18,9 auf 18,3 Prozent aber fällt schlicht aus.<br />
Im Ergebnis bedeuten beide Schritte für<br />
Arbeitnehmer das Gleiche: Ihnen steht weniger<br />
Geld zur Verfügung. Der Weg dahin<br />
allerdings unterscheidet sich in dem Maße,<br />
in dem es auch dem Frosch nicht egal ist,<br />
ob sich das Wasser um ihn langsam erhitzt<br />
oder er in kochendes springen soll. Nur<br />
Letzteres nämlich tut weh.<br />
5. Die guten Zeiten<br />
werden einfach<br />
fortgeschrieben<br />
Wirtschaftswachstum in Deutschland<br />
(in Prozent <strong>vom</strong> BIP)<br />
2,0%<br />
2. Quartal 2014<br />
–0,2%<br />
* laut Haushaltsplan; Quelle: BMF, Destatis<br />
Prognose 2015*<br />
Die außergewöhnlich gute Konjunkturlage<br />
hat Schäubles Mannschaft offensichtlich<br />
dazu verleitet, auch bei ihren Schätzungen<br />
besonders optimistisch zu sein. Das zeigt<br />
sich zum einen bei der Erwartung des Wirt-<br />
FOTOS: EASTBLOCKWORLD.COM, ACTION PRESS/HENNING SCHACHT, LAIF/MICHAEL TRIPPEL<br />
24 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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FOTO: WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
schaftswachstums selbst. 1,8 Prozent erwartet<br />
die Bundesregierung für das laufende<br />
Jahr, 2,0 Prozent für das kommende.<br />
Dass die Wirtschaftsleistung im zweiten<br />
Quartal 2014 sogar gesunken ist und die<br />
Frühindikatoren gerade reihenweise abdrehen,<br />
findet vorerst keine Beachtung.<br />
Dabei ist die Bundesregierung zuletzt regelmäßig<br />
durch übermäßigen Optimismus<br />
aufgefallen. 2012 musste die Regierung<br />
ihre Prognose aus dem Vorjahr (1,8<br />
Prozent) um 1,1 Punkte nach unten korrigieren,<br />
2013 noch mal um 1,2 Punkte. In<br />
den Jahren direkt nach der Finanzkrise unterschätzte<br />
der Bund das Wachstum zunächst,<br />
die folgende Korrektur aber ging<br />
dann offenbar ein Stück zu weit.<br />
Dabei sind Fehler hier besonders fatal,<br />
da sie eine ganze Reihe falscher Prognosen<br />
nach sich ziehen: Entsprechend ihrer<br />
Rechnung, unterstellt die Bundesregierung<br />
bei den <strong>Ausgabe</strong>n für die Arbeitslosigkeit<br />
konstante Werte, die Zinskosten sollen sogar<br />
noch einmal sinken – es wäre das achte<br />
Jahr in Folge. Diese optimistische Grundstimmung<br />
zieht sich weiter durch den<br />
Haushalt. So geht das Finanzministerium<br />
davon aus, dass die Bahn im kommenden<br />
Jahr einen Überschuss von 706 Millionen<br />
Euro erzielt. Zum Vergleich: Im laufenden<br />
Jahr sind es nur 106 Millionen, auch in den<br />
vergangenen Jahren lag der Überschuss<br />
immer unter 300 Millionen. Auch der Energie-<br />
und Klimafonds soll 2015 aus dem<br />
Handel mit Emissionszertifikaten 900 Millionen<br />
Euro Einnahmen generieren. Zum<br />
Vergleich: 2013 sollten sogar zwei Milliarden<br />
Euro zusammenkommen, am Ende<br />
waren es nur 770 Millionen.<br />
Dennoch spricht viel dafür, dass die Null<br />
unter dem Haushalt 2015 am Ende tatsächlich<br />
steht. Zu sehr hat sich Schäuble<br />
auf diese Zahl festgelegt, zu wichtig ist sie<br />
für sein Selbstverständnis und das seiner<br />
gesamten Partei. Als er Anfang Juli erstmals<br />
den Kabinettsentwurf für den Haushalt<br />
2015 präsentierte, wurde er gefragt,<br />
warum ihm diese eine Zahl so wichtig sei.<br />
„Weil es in der Wirtschaft immer auch um<br />
Psychologie geht“, setzte Schäuble an, „ist<br />
die Null nicht nur irgendeine Zahl, sondern<br />
sie hat eine darüber hinausgehende<br />
Bedeutung: Sie schafft Vertrauen.“ Hier<br />
aber irrt der Herr Minister: Vertrauen gewinnt<br />
man nicht mit einer großen, runden<br />
Zahl, sondern dann, wenn all die kleinen<br />
Zahlen sich zu einem runden Ganzen zusammenfügen.<br />
Spätestens Schäubles<br />
Nachfolger wird das bitter bemerken. n<br />
konrad.fischer@wiwo.de, max haerder | Berlin<br />
Wolferwartungsland<br />
BRANDENBURG | Durch kein Bundesland geht so ein tiefer Riss:<br />
Während der Gürtel um Berlin erblüht, kämpfen ganze Regionen<br />
um den Anschluss. Was bedeutet das vor Ort?<br />
Still ruht Templin<br />
Bürgermeister Detlef<br />
Tabbert sucht nach<br />
neuen Bürgern<br />
Inder Not nimmt Detlef Tabbert Granit,<br />
Granitbänder, so viel Präzision muss<br />
sein. In Templin wird gerade eine Straße<br />
grundsaniert, und für den Gehweg hatte<br />
Bürgermeister Tabbert die Auswahl zwischen<br />
einem neuen hübschen Kopfsteinpflaster,<br />
das so gut hierher gepasst hätte –<br />
oder eben diesen großen, grauen Granitplatten.<br />
Nur hatte er das wirklich, eine Wahl?<br />
Tabbert schaltet im Gesicht ein Grinsen<br />
ein und erzählt, dass er jetzt selber gern erzählen<br />
würde, warum er das nur wegen<br />
der vielen jungen Frauen mit ihren hohen<br />
Hacken gemacht habe, aber... Als er entschied,<br />
hatte er in Wahrheit eben doch die<br />
vielen Senioren vor Augen, die mit den flachen<br />
Schuhen und den wackligen Beinen.<br />
„Bei uns“, sagt er, „ist der demografische<br />
Wandel schon da. Wir können uns nicht<br />
erst damit beschäftigen, wenn der Rollator<br />
Pflicht ist.“<br />
»Wir können<br />
nicht warten,<br />
bis der Rollator<br />
Pflicht ist«<br />
Detlef Tabbert, Bürgermeister von Templin<br />
EIN PENSIONSPARADIES<br />
Aus seiner Not spinnt Templins Bürgermeister<br />
nicht nur eine launige Geschichte,<br />
er macht daraus so etwas wie eine Geschäftsidee.<br />
Tabbert hat ein Parteibuch der<br />
Linken, aber er war 20 Jahre lang Unternehmer<br />
mit einer Leasingfirma, die landwirtschaftliches<br />
Gerät vermittelt hat. Das<br />
prägt. Das Konzept für seine Heimatstadt<br />
ist ein Ruhestandsrefugium, ein Pensionsparadies,<br />
überschaubar, aufgeräumt, idyllisch,<br />
mit Krankenhaus, Sole-Therme und<br />
Pflegeheim, Alleinstellungsmerkmal: aufregungsarm<br />
und stolperfrei. Dass die Geburtenrate<br />
auch hier nach unten geht, dass<br />
die Jungen weggehen, wenn die Schule fertig<br />
ist, all das kann Tabbert kaum verhindern.<br />
„Aber der Zuzug der Generation Ü<br />
60, der macht mir Freude.“<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 25<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
»<br />
Wenn das also seine Kunden sind, dann<br />
richtet er sich eben nach ihnen. Viele gebürtige<br />
Templiner sind unter den Rückkehrern,<br />
Menschen, die mit der Rente wieder<br />
zurück zu ihren Wurzeln wollen, aber auch<br />
zahlreiche Berliner, die hier die Gemächlichkeit,<br />
die Natur und die günstigen Mieten<br />
schätzen – und ab und an den Bahn-<br />
Stundentakt zum Abstecher in die große<br />
Hauptstadt.<br />
Eine Strategie für die Ewigkeit, das weiß<br />
Tabbert selbst, ist das nicht, aber immerhin<br />
ist es eine. Die Uckermark im Nordosten<br />
Brandenburgs, in der Templin liegt wie ein<br />
kleines, bescheidenes Schmuckstückchen,<br />
hat schließlich auch mit fast 15 Prozent die<br />
höchste Arbeitslosenrate der Republik,<br />
und die Stadt selbst macht da keine rühmliche<br />
Ausnahme. Die meisten hier sind<br />
langzeitarbeitslos, manche seit wenigen<br />
Jahren, andere haben schon seit der Wende<br />
keinen richtigen Job mehr gehabt. Die<br />
Unterstützung kostet eine Menge Geld, das<br />
für andere Dinge fehlt, und was die Sache<br />
am Schlimmsten macht: Hoffnung auf<br />
Besserung ist kaum in Sicht.<br />
Wie einen Mühlstein schleppt die ganze<br />
Region dieses Problem mit sich herum.<br />
Herausforderungen, so steht es in bemerkenswerter<br />
Offenheit im Leitbild der Stadt,<br />
stellten sich in Templin „noch zwingender,<br />
härter und zugespitzter als anderswo“. Man<br />
kann es nicht klarer formulieren.<br />
SCHRUMPFEN OHNE SCHMERZEN<br />
Man dürfe sich deshalb keinen falschen Illusionen<br />
hingeben, sagt Tabbert. „Wir<br />
müssen gnadenlose preußische Sparsamkeit<br />
an den Tag legen, anders werden wir<br />
nicht über die Runden kommen.“ Gewerbesteuern<br />
fließen eher spärlich, und für die<br />
knapp 16 000 Einwohner erreichen die Gemeinde<br />
auch nur recht überschaubare<br />
Schlüsselzuweisungen. Es gibt immerhin<br />
eine traditionsreiche und zugleich innovative<br />
Holzindustrie, aber die anderen großen<br />
Arbeitgeber sind das Krankenhaus<br />
und ein Pflegeheim. Wachsen, das ahnt<br />
wohl auch der Bürgermeister, wird Templin<br />
nicht mehr. Wenn es gelingt, das<br />
Schrumpfen zu verlangsamen, und das ohne<br />
zu große Schmerzen, dann wäre schon<br />
viel gewonnen.<br />
Umso mehr muss man zeigen, was man<br />
hat, gerade weil es nicht so viel ist. Es gibt<br />
zum Beispiel eine kleine Broschüre über<br />
„Kunst & kreatives Schaffen“ in Templin,<br />
auf die man im Rathaus sehr stolz ist. Rund<br />
40 Maler, Grafiker, Bildhauer und Fotografen<br />
leben hier – „Interesse erwünscht“<br />
Der Funke springt nicht über Unternehmer<br />
Holger Pleske sucht Azubis<br />
»Eine 2 oder 3<br />
im Zeugnis ist<br />
mir bei Azubis<br />
nicht so wichtig«<br />
Holger Pleske, Geschäftsführer MAP<br />
steht gleich auf dem Cover. Auch deshalb<br />
wurde gerade mehr als eine Million Euro in<br />
die Sanierung des Hauses der Jugend und<br />
der Kunst am Altstadtrand gesteckt. Mit der<br />
Universität Potsdam hat sich Tabbert außerdem<br />
ein Schnupperprogramm ausgedacht:<br />
Lehramtsstudenten, die sich für ihr<br />
Schulpraktikum drei Monate in den Brandenburger<br />
Norden trauen, können im<br />
größten Hotel des Ortes umsonst wohnen.<br />
„Zwei Frauen“, freut er sich, „machen jetzt<br />
hier ihr Referendariat.“ Zwei Lichtblicke gegen<br />
den großen dunklen Trend.<br />
Nichts beschreibt die Misere in der Brandenburger<br />
Peripherie so treffend wie ein<br />
einziges Wort, das hier zum stehenden Begriff<br />
geworden ist: Wolferwartungsland.<br />
Wo der Mensch geht, wo die Dörfer langsam<br />
sterben, da übernehmen die Tiere.<br />
So klingt die bittere Wahrheit, allerdings<br />
nur ein gewisser Teil von ihr. Denn neben<br />
der darbenden Provinz gibt es im märkischen<br />
Land auch erblühende Flecken, voller<br />
Aufbruch und Zuversicht. Sie liegen fast<br />
alle wie ein pulsierender Ring um Berlin.<br />
Wer in diesem Speckgürtel Bauland für ein<br />
Häuschen kaufen möchte, muss mittlerweile<br />
96 Euro pro Quadratmeter bezahlen,<br />
2012 waren es noch 79 Euro. Viel weiter<br />
draußen ist der Grund hingegen schon für<br />
36 Euro zu bekommen. Es sind ein paar der<br />
offenkundigen Spuren eines Risses, der<br />
dieses Land prägt.<br />
„Die Wachstumskerne Brandenburgs<br />
verteilen sich um die Hauptstadt herum“,<br />
bilanziert Axel Lindner, Ökonom am Institut<br />
für Wirtschaftsforschung Halle. „Sie haben<br />
sich in den vergangenen Jahren wesentlich<br />
besser entwickelt als das flache<br />
Land.“ Aufstieg und Abstieg vollziehen sich<br />
gleichzeitig. Das Ergebnis: „Die Unterschiede<br />
zwischen den Regionen sind im<br />
Osten massiv, und in Brandenburg sieht<br />
man dies besonders deutlich“, sagt Lindner.<br />
Die Politiker, die für die Landtagswahl<br />
am 14. September um Stimmen werben,<br />
verschleiern diesen Zustand lieber. Auf<br />
den Veranstaltungen des SPD-Ministerpräsidenten<br />
Dietmar Woidke etwa werden<br />
kleine Einspielfilmchen gezeigt, darunter<br />
einer, in dem es heißt: „Wir wollen gut leben,<br />
überall in unserem Land.“ So wenig<br />
Realitätssinn muss an Wählerzumutung<br />
reichen. Im Wahlprogramm der CDU, die<br />
gerne anstelle der Linken wieder mitregieren<br />
würde, steht der Satz: „Wir erwarten<br />
vor allem, dass sich die grundlegenden Lebensbedingungen<br />
in den Regionen fernab<br />
der Hauptstadt nicht verschlechtern.“ Nur<br />
wie das auch in Zukunft ganz konkret ge-<br />
FOTO: WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
26 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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lingen soll, mit – Tendenz sinkend – 2,5<br />
Millionen Einwohnern auf einer Fläche,<br />
die fast so groß ist wie ganz Belgien, darüber<br />
wird geflissentlich geschwiegen, und<br />
zwar bei allen Parteien.<br />
Es könnten bescheidene, aber tatkräftige<br />
Brandenburger wie Holger Pleske und<br />
seine mehr als 270 Mitarbeiter sein, die einen<br />
gehörigen Anteil dazu beitragen,<br />
wenn dieser Wandel glimpflich ablaufen<br />
soll. Pleske ist Geschäftsführer der MAP<br />
Maschinen- & Apparatebau Produktions<br />
GmbH in Rathenow. Hier, im Havelland<br />
westlich von Berlin, werden einige der<br />
kleineren und größeren Erfolgsgeschichten<br />
geschrieben, die ihren Ausdruck dann<br />
in hübschen Statistiken finden, die man<br />
schon eher in den Reden und Broschüren<br />
der wahlkämpfenden Parteien findet.<br />
Aber Erfolge sind es durchaus: Im vergangenen<br />
Jahr stieg die Zahl der sozialversicherungspflichtigen<br />
Jobs im Havelland<br />
so stark wie nirgendwo sonst in Brandenburg<br />
– um 4,6 Prozent. Beim Abbau der Arbeitslosigkeit<br />
liegt das Bundesland auch<br />
dank solcher Zahlen im nationalen Vergleich<br />
schon seit Längerem vorne (was<br />
Brandenburg im Bundesländer-Dynamikranking<br />
der WirtschaftsWoche regelmäßig<br />
Spitzenplätze einbrachte – trotz Uckermark).<br />
Bei Holger Pleske lässt sich dieser Aufschwung<br />
an der Pinnwand seines nüchternen<br />
Büros besichtigen. Dort hängt ein ausgerissener<br />
Artikel aus der Lokalzeitung,<br />
mit dem großen Foto eines gewaltigen<br />
Containerschiffes. MAP fertigt unter anderem<br />
Motorengehäuse für Siemens, die in<br />
genau diesen Giganten benötigt werden.<br />
Ein bisschen Rathenow schippert also mit<br />
auf den Routen der Globalisierung zwischen<br />
Rotterdam, Singapur und Hongkong.<br />
Draußen vor den Werkshallen stehen<br />
zwei Flugzeugattrappen mit Flügel<br />
und Turbine aus Stahl, die auf Knopfdruck<br />
in Flammen gesetzt werden können. Flughafen-Feuerwehren<br />
proben an ihnen den<br />
Ernstfall, diese beiden warten auf den<br />
Transport nach Italien.<br />
SCHWERE SUCHE<br />
„Gut schweißen“, sagt Pleske, „können<br />
sehr viele Unternehmen. Auch die mechanische<br />
Bearbeitung großer Bauteile machen<br />
einige. Aber beides zusammen, das<br />
beherrschen dann doch nur wenige.“ 2004<br />
wurde MAP aus der Insolvenzmasse dreier<br />
Vorgängerbetriebe gegründet, 2007<br />
folgte die Übernahme durch eine westdeutsche<br />
Maschinenbaugruppe. Damals<br />
hatte MAP rund 200 Mitarbeiter, mittlerweile<br />
sind rund 70 mehr im Unternehmen,<br />
auch dank Investitionen von rund 15<br />
Millionen Euro. „Heute haben wir alle Bedingungen,<br />
um produktiv arbeiten zu<br />
können“, sagt Pleske. „Die Entwicklung<br />
war hervorragend.“<br />
Neben der Brillenkette Fielmann, die in<br />
Rathenow ein Produktions- und Logistikzentrum<br />
aufgebaut hat, ist MAP einer der<br />
größten Arbeitgeber im 22 000-Einwohner-Städtchen.<br />
20 Azubis bildet die Firma<br />
gerade aus, nicht wenig. Aber die Suche<br />
nach geeigneten Kandidaten fällt immer<br />
schwerer. Zum einen, weil es einfach immer<br />
weniger Bewerber werden, zum anderen<br />
sinkt das Niveau. „Wir müssen über<br />
Ausbildung einen Großteil unseres Bedarfs<br />
an guten Mitarbeitern decken“, sagt<br />
Pleske. „Eine 2 oder 3 im Zeugnis ist mir da<br />
nicht so wichtig, technikverliebt müssen<br />
sie sein.“ Es klingt schon nicht mehr ganz<br />
so optimistisch.<br />
Viele Mitarbeiter kommen morgens auf<br />
dem Fahrrad in den Betrieb, für die Suche<br />
nach Azubis reicht ein solcher Radius<br />
längst nicht mehr aus. Aus mehr als 50 Kilometer<br />
Entfernung kommen mittlerweile<br />
Bewerber. MAP ist offensichtlich attraktiv<br />
genug, aber es ist doch ein Symptom der<br />
Schwäche, dass selbst im boomenden Havelland<br />
schon sehr bald Grenzen erreicht<br />
sein könnten.<br />
LOCKEN UND HOFFEN<br />
Geschäftsführer Pleske merkt das ja, bei<br />
sich ganz persönlich. Er selbst ist in Rathenow<br />
mehr als heimisch, aber wenn er darüber<br />
spricht, wie Kneipennächte wegen<br />
Lärms verhindert werden, dann merkt<br />
man, wie er zweifelt. Weil es an Kinos fehlt<br />
und an Discos. Weil die Bundesgartenschau,<br />
die 2015 in Rathenow stattfinden<br />
wird, die Kids nun wirklich nicht <strong>vom</strong> Hocker<br />
reist. Ende September wird Pleske alle<br />
Mitarbeiter zum zehnjährigen Firmenjubiläum<br />
auf das Gelände einladen, es soll ein<br />
Familienfest werden, mit Musik und einer<br />
Hüpfburg für die Kinder. Für die etwas Älteren<br />
soll es Entdeckungstouren durch die<br />
Werkshallen geben – neugierig machen, locken.<br />
Vielleicht, hofft er, kann man jemand<br />
begeistern<br />
Pleske hat selbst zwei Kinder. Ein Sohn<br />
von ihm studiert in Dresden. Ob der jemals<br />
dorthin zurückkehren wird, wo er aufgewachsen<br />
ist? „Soll ich ihm raten, hier zu<br />
bleiben?“, fragt der Vater.<br />
Sein Schweigen ist die Antwort. n<br />
max.haerder@wiwo.de | Berlin<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 27<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Große Idee, kleines Karo<br />
FDP | Christian Lindner muss seine Partei darauf einschwören, Freiheit konsequent zu denken.<br />
Tut er es nicht: Gute Reise! Sechs Thesen zu Krise und Rettung des Liberalismus in Deutschland.<br />
Essind mal wieder keine guten Wochen für den organisierten<br />
Liberalismus in Deutschland. Die FDP flog in Sachsen aus<br />
dem Parlament. Sie ist an keiner Regierung mehr beteiligt,<br />
nicht im Bundestag vertreten, nicht in den Landtagen von Bayern<br />
und Rheinland-Pfalz, und nach den Landtagswahlen nächste Woche<br />
in Thüringen und Brandenburg werden die Ost-Parlamente<br />
FDP-frei sein. Abgemeldet ist die FDP in den Medien. Kein<br />
Mensch weiß mehr, wie ein Liberaler zu Ukraine und Putin steht,<br />
zu Waffenlieferungen in den Irak, zur EZB-Politik oder zum Mindestlohn.<br />
Oder besser gesagt: Kein Mensch will es mehr wissen.<br />
Wenn aber die FDP tatsächlich am Ende ist, personell ausgehöhlt,<br />
medial verachtet, institutionell marginalisiert und programmatisch<br />
zersplittert – was wird dann aus der schönen Tradition des<br />
Liberalismus? Hat das Ideal der individuellen Freiheit in Deutschland<br />
noch eine Zukunft? Eine Antwort in sechs Thesen:<br />
1. DER LIBERALISMUS STECKT IMMER IN DER KRISE<br />
Stellen wir uns einen Marktplatz vor, auf dem drei Händler – der<br />
Konservative, der Sozialdemokrat und der Liberale – um Aufmerksamkeit<br />
wetteifern. Wir sehen, wie der Konservative mit politischem<br />
Gemüse handelt, der Sozialdemokrat politisches Obst feilbietet<br />
– und wie der Liberale das große Nichts anpreist. Er weist<br />
nur auf die gähnende Leere vor sich hin und ruft: „Euren Hunger<br />
müsst ihr schon selber stillen.“ Kein Wunder also, dass die meisten<br />
Kunden sich <strong>vom</strong> Liberalismus abwenden. Im Unterschied zu den<br />
beiden anderen traditionellen politischen Stilrichtungen hat er<br />
den Menschen nichts Bejahbares anzubieten. Die Konservativen<br />
schöpfen aus dem reichen Reservoir der (nationalen) Kultur und<br />
Geschichte. Sie bauen auf Bewährtes und hüten die Tradition. Sie<br />
hegen überlieferte Ordnungen und vertrauen auf die zivilisierende<br />
Kraft gewachsener Institutionen. Die Sozialdemokraten wiederum<br />
haben immer die Zukunft, den Fortschritt und das große Ganze im<br />
Blick, die Gesellschaft, den Staat und den Weltfrieden. Sie erheben<br />
Utopia zum Menschheitsziel und dienen sich uns als Navigatoren<br />
auf dem Weg dorthin an, angetrieben von der erneuerbarsten aller<br />
politischer Energien, der „sozialen Gerechtigkeit“. Allein der Liberalismus,<br />
der lässt uns im Stich. Der hält uns hinein in die Welt, wie<br />
sie ist – und gibt uns einen Stups. Der erteilt uns keine Ratschläge<br />
und weist uns keine Richtung, kennt weder Herkunft, Weg noch<br />
Ziel. Der Liberalismus ist eine einzige Zumutung. Er zwingt uns die<br />
Freiheit auf, irgendwas aus ihr zu machen. Als politisches Angebot<br />
– kalt, leer und höchst anspruchsvoll zugleich – steckt er daher immer<br />
in der Krise.<br />
IN DER FDP WEISS NIEMAND EINEN AUSWEG<br />
Der bullige Mann schüttelt ratlos den Kopf. Auch einige Tage<br />
nach dem Ausscheiden aus dem Dresdner Landtag kann<br />
Holger Zastrow das Scheitern nicht verstehen. „Wir haben<br />
gekämpft wie die Löwen, wir haben alles versucht, haben<br />
alle unsere Versprechen gehalten.“ Die Begründungen<br />
sprudeln nur so hervor, warum die Liberalen noch dabei sein<br />
müssten. Eigentlich. „Wir haben den besten Wahlkampf<br />
gemacht, den Respekt haben uns selbst die Gegner gezollt.<br />
Und trotzdem hat es nicht gereicht.“ Pause. „Dieses Ergebnis<br />
ist so ungerecht. Leistung lohnt sich nicht – das gilt<br />
auch hier.“<br />
Ratlosigkeit auch im Thomas-Dehler-Haus, der Berliner<br />
Parteizentrale. Man hat nun alles versucht: sanfte Wahlkämpfe,<br />
damit die FDP wieder „gemocht“ werden sollte, wie<br />
der Ex-Parteichef Philipp Rösler einmal sagte: für Lohnuntergrenzen,<br />
die man Mindestlohn nicht nennen mochte; für<br />
eine nur leicht modifizierte Energiewende; und keine Steuersenkungen.<br />
Man hat klare Kante probiert wie in Sachsen:<br />
gegen Windräder, gegen Ökosubventionen, gegen jeden<br />
Mindestlohn; für Steuerentlastungen trotz Sparpolitik. Das<br />
Ergebnis war stets dasselbe: FDP unterm Strich.<br />
»<br />
Mag schon sein, aber:<br />
Was ist mit der stolzen<br />
Tradition des Liberalismus?<br />
Hat das Ideal der<br />
individuellen Freiheit in<br />
Deutschland noch eine<br />
Zukunft? Und wenn ja:<br />
welche? Bezeichnend,<br />
dass die FDP darauf<br />
nur rückwärtsgewandte<br />
Antworten weiß.<br />
FOTO: BERLINPRESSPHOTO/HENNING SCHACHT<br />
28 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
»<br />
Früher, wenn die Partei dahinsiechte, gab es immer<br />
innerparteiliche und außenstehende Besserwisser, die zumindest<br />
eine Idee hatten, was die Liberalen anders machen<br />
könnten. Heute hat niemand eine Idee. Nur etwas Stolz<br />
ist Zastrow geblieben: „Die CDU hat eine Zweitstimmenkampagne<br />
gemacht, wir nicht. Wir haben nicht um Mitleid<br />
gebettelt.“<br />
2. FREIHEIT IST UNTEILBAR<br />
Von Wirtschaftsnobelpreisträger Milton Friedman stammt<br />
ein Satz, der den Wirtschaftsliberalismus alter Schule quintessentiell<br />
zusammenfasst: „The business of business is business.“ Der<br />
Unternehmer hat sein Unternehmen zu führen, so Friedman, und<br />
wenn er das erfolgreich tut, dann füllt er damit nicht nur sein<br />
Portemonnaie, sondern auch die Konten seiner Mitarbeiter (Löhne)<br />
und Miteigentümer (durch die Steigerung des Profits). Er füllt<br />
mit seinen Produkten die Regale (zum Wohle der Kunden) – und<br />
erfüllt damit seine gesellschaftliche Aufgabe. Aber stimmt das<br />
überhaupt? Kann man nach der ungeheuren Konzentration von<br />
Macht und Vermögen in der Hand von Privatpersonen, Banken<br />
und (Daten-)Konzernen und nach dem Aufstieg von autoritären<br />
Staatskapitalismen in China oder Russland noch daran glauben,<br />
dass das Geschäft des Geschäfts nichts anderes als das<br />
Geschäft zu sein hat? Offenbar nicht. Aber warum stimmt die<br />
Rede <strong>vom</strong> demokratischen Wandel nicht mehr, der mit dem<br />
Handel einhergeht?<br />
Nun, eine Antwort wüsste ausgerechnet Friedman. Er hatte 1976<br />
kein Problem, Chiles Militärjunta „technischen wirtschaftlichen<br />
Rat zu geben“ – und damit nicht nur die materielle Not vieler<br />
Chilenen gelindert, sondern auch die Idee der unteilbaren Freiheit<br />
verraten. Seither sind wirtschaftliche und politische Freiheit keine<br />
Zwillinge mehr. Seither neigen Liberale dazu, „der Wirtschaft“<br />
Vorfahrt vor „der Politik“ zu gewähren. Echte Liberale wie Ralf<br />
Dahrendorf oder Karl-Hermann Flach hätten sich für solche<br />
Vereinseitigungen der Freiheitsidee geschämt. Ihr Liberalismus<br />
meinte den „Freiheitsdrang der Menschen“. Und ihr Wirtschaftsliberalismus<br />
meinte leistungsfördernden Wettbewerb innerhalb<br />
eines staatlichen Ordnungsrahmens – und keinen Businessclass-<br />
Liberalismus, der die Marktmacht von globalen Konzernen protegiert,<br />
die liberale Demokratie als Fessel des Marktes schmäht und<br />
sich vor autoritativen Staaten ihrer „wirtschaftlichen Freiheit“<br />
wegen verneigt.<br />
DIE FLÜGEL DER FDP STREBEN AUSEINANDER<br />
Mitglieder der „Libertären Plattform“ in der FDP halten das<br />
Verbot von Flatrate-Sex für einen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht<br />
der Hure und die Möglichkeit des Zigarettenkonsums<br />
in Russlands Gaststätten für einen Ausdruck<br />
von Wladimir Putins Freiheitswillen. Etliche Freidenker haben<br />
die Partei schon wegen des Widerspruchs verlassen,<br />
gleichzeitig Verfechterin der wirtschaftlichen Vernunft und<br />
des Rechtsstaats zu sein – und trotzdem für die Euro-Rettung.<br />
In der „Liberalen Vereinigung“ sammeln sich ehemalige<br />
FDP-Anhänger aller Schattierungen. Die Hamburger Landesvorsitzende<br />
Sylvia Canel, auch sie Gegnerin der Euro-<br />
Rettungspolitik, ist vergangenen Montag aus der FDP ausgetreten,<br />
um mit 35 gleichgesinnten Hanseaten eine neue<br />
Partei zu gründen, eine sozialliberale.<br />
3. FREIHEIT UND SICHERHEIT SIND VEREINBAR<br />
Liberale neigen dazu, den modernen Sozialstaat zu verunglimpfen,<br />
weil sie hinter jedem Zuwachs staatlicher Fürsorge eine Freiheitsberaubung<br />
wittern und hinter jeder sozialpolitischen Maßnahme<br />
eine Gleichmacherei, die die Spannkraft ihrer Nutznießer<br />
lähmt. Denkt man diesen Gedanken zu Ende, wäre der Erfolg der<br />
Bundesrepublik eine einzige Dekadenzgeschichte. Das aber ist,<br />
mit Verlaub, Unsinn. Denn natürlich hat der Zuwachs an sozialer<br />
Sicherheit die Freiheit der Menschen nicht nur gelähmt, sondern<br />
auch gestärkt und Deutschland noch dazu innerlich befriedet.<br />
Vielleicht liegt die Krise des Liberalismus ja exakt darin begründet:<br />
dass uns seine Vertreter seit 150 Jahren in endlosen Reprisen<br />
einen „Mangel an Reife zur Freiheit“ attestieren – und uns dem<br />
immer gleichen Vorwurf aussetzen, wir seien sicherheitsverliebte<br />
Herdentiere, die nur darauf warten, sich von einem fürsorglich-paternalistischen<br />
Staat auf sattgrüne Weiden führen zu lassen.<br />
Tatsache ist, dass die Sache der Freiheit in den westlichen Wohlfahrtsstaaten<br />
weder gewonnen hat noch verloren ist. Allein ihre<br />
Ambivalenz hat stetig zugenommen. Der wissenschaftlich-technische<br />
Fortschritt, die Ausdifferenzierung der Gesellschaft und das<br />
wirtschaftliche Wachstum haben uns einerseits schier unendliche<br />
Spielräume eröffnet: „Nie zuvor hatten so viele Menschen so große<br />
Lebenschancen wie heute“ (Ralf Dahrendorf)– doch nie zuvor waren<br />
wir zugleich von so vielen anonymisierten Prozessen, systemischen<br />
Logiken, unternehmerischen Zwängen und politischen<br />
Alternativlosigkeiten bedrängt. Der klassische Liberalismus hat<br />
»<br />
Konkurrenz I<br />
Die CDU schöpft<br />
aus dem reichen<br />
Reservoir der Kultur<br />
und Geschichte,<br />
baut auf überlieferte<br />
Ordnungen und<br />
hütet die Tradition.<br />
Und Angela Merkel<br />
selbst? Ist vielleicht<br />
nicht konservativ.<br />
Aber sie personifiziert<br />
das Bewährte.<br />
Konkurrenz II<br />
Die Sozialdemokraten<br />
haben die<br />
Zukunft, den Fortschritt<br />
und den<br />
Weltfrieden im<br />
Blick. Und Sigmar<br />
Gabriel? Ist immer<br />
angetrieben von der<br />
erneuerbarsten aller<br />
politischen Energien:<br />
der „sozialen<br />
Gerechtigkeit“.<br />
FOTOS: LAIF/DOMINIK BUTZMANN<br />
30 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
»<br />
aus dieser Ambivalenz seine Kraft bezogen und die zentralen<br />
Fragen der Neuzeit aufgeworfen: In welchem Verhältnis stehen<br />
Gleichheit und Freiheit zueinander, Sicherheit und Eigenverantwortung,<br />
Individuum und Staat? Damals, im 18. Jahrhundert, war<br />
er ein avantgardistisches Programm, das auf die Begrenzung der<br />
absoluten Königs- und Fürstenmacht abzielte. Heute, nach all den<br />
großen Siegen der Freiheit und all ihren kleinen Niederlagen, weiß<br />
die FDP auf diese Fragen nur steinalte Antworten.<br />
4. EIN NEUER EIGENTUMS- UND FREIHEITSBEGRIFF<br />
Der Eigentumsbegriff der Liberalen basiert auf einer groben Verkürzung.<br />
Er geht bekanntlich auf den englischen Philosophen John<br />
Locke zurück, der vor 300 Jahren sinngemäß meinte, dass ein freier<br />
Mensch alles, was er der Natur durch seiner Hände Arbeit abringt,<br />
auch sein Eigen nennen darf. Was viele Vulgärliberale dabei gerne<br />
vergessen, ist Lockes Nachsatz: solange „ebenso gutes den anderen<br />
gemeinsam verbleibt“. Anders gesagt: Lockes Eigentumsbegriff will<br />
zwar dem Reichtum keine Grenzen setzen, wohl aber der Armut. Er<br />
erzählt – im 17. Jahrhundert – noch nichts von einer lohnabhängigen<br />
Arbeiterklasse, die – im 19. Jahrhundert – kein Eigentum am Ertrag<br />
ihrer Arbeit hat und von schottischen Moralphilosophen dafür<br />
schulterzuckend bedauert wird, bei der „great lottery of life“ eine<br />
Niete gezogen zu haben. Auch rechtfertigt Locke gewiss nicht die<br />
möglichst steuerfreie Vererbung von Eigentum. Vor allem aber geht<br />
Locke – 160 Jahre bevor die „frontier“ in der Neuen Welt den Mississippi<br />
erreicht – noch von unbegrenzten Ressourcen aus. Davon<br />
kann heute erkennbar keine Rede mehr sein – und der Wirtschaftsliberalismus<br />
hat lange Zeit nicht mal ansatzweise durchblicken lassen,<br />
dass er auf die Frage der Nutzung von endlichen oder gefährdeten<br />
Gemeingütern (Wald, Klima, Wasser, Öl) eine Antwort wüsste.<br />
JETZT MAL WIEDER KLARE KANTE STATT SÄUSELN<br />
Weil gerade mal ein Prozent der Wähler bei der FDP Kompetenz<br />
für die Zukunft sieht, so die Allensbacher Meinungsforscher,<br />
kann der Parteichef getrost neue Parolen ausgeben.<br />
Einen Vorwurf, der ihm ob einstiger Absetzbewegungen <strong>vom</strong><br />
kühlen Steuersenkungskurs gemacht wurde, nutzt er nun<br />
zur Abgrenzung von seinem Vorgänger: „Was wir in der Bundesregierung<br />
abgeliefert haben, das war Säuselliberalismus<br />
und teilweise anti-liberal.“ Ende 2011 hatte er sich aus der<br />
Bundespolitik zurückgezogen – aus Protest gegen Philipp<br />
Röslers Art und Leise. „Eine Energiewende mit horrenden<br />
Subventionen und planwirtschaftlicher Steuerung hat mit<br />
Liberalismus und Marktwirtschaft nichts zu tun.“<br />
Nun predigt Lindner seiner Partei „eine radikalere und<br />
konsequentere Ausrichtung“, und das heißt vor allem: „Wir<br />
wollen wieder klar als Partei der Marktwirtschaft erkennbar<br />
sein, das war in der Zeit der schwarz-gelben Koalition nicht<br />
der Fall. Wir wollen die kalte Progression abschaffen, wir<br />
sind gegen die zur Klima-Religion erhobene Energiewende.<br />
Wir sagen ja zum Freihandel.“ Dass die Bürger dem Freihandelsabkommen<br />
TTIP misstrauen, soll die Liberalen nicht anfechten.<br />
Inhaltlich trennt Lindner nichts <strong>vom</strong> Sachsen Zastrow.<br />
Doch der Ostdeutsche aus der früheren Bürgerbewegung<br />
fühlt anders: „Freiheit ist für mich ein emotionales Erlebnis.<br />
Die FDP ist interessengeleitet und hat eine Funktion.“<br />
Der frühere CDU-Innenminister Manfred Kanther spottete<br />
gern: „Liberale sind Konservative, denen der Porsche noch<br />
nicht geklaut wurde.“ Lindner versucht die Gratwanderung,<br />
wie der Staat Freiheitsbedrohungen zu wehren habe. „Wir<br />
wollen einen Staat, der die Grundrechte und die bürgerlichen<br />
Freiheitsrechte achtet, der aber auch das Recht<br />
durchsetzt, wo es bedroht wird, beispielsweise durch Kriminalität.“<br />
Einen ganz ähnlichen Doppelklang intoniert er für<br />
Schulen und Hochschulen: „Wir wollen ein faires und aufstiegsorientiertes<br />
Bildungssystem, aber wir verlangen Leistung<br />
und schaffen nicht die Schulnoten ab.“<br />
Auch der Freiheitsbegriff der Liberalen benötigte eine Auffrischung.<br />
Seine klassische Definition stammt von John Stuart Mill, der<br />
– ähnlich wie Locke – „Schädigung anderer“ zur Grenze der Freiheit<br />
erhebt. Es ist bekannt, dass die übrigen Politikanbieter dazu neigen,<br />
diese Grenze immer weiter hinein ins Reich der individuellen Freiheit<br />
zu treiben: Ein neues Kohlekraftwerk in der Kamtschatka, so lässt<br />
sich argumentieren, schädigt die Lebensgrundlagen meines nicht<br />
geborenen Enkels, also gehört sein Bau verboten. Viele FDP-Liberale<br />
wiederum antworten auf die Ausweitung der Sorgenzone noch immer<br />
mit einer allzu einfachen Formel: Freiheit bedeutet, hier und<br />
heute tun zu können, was man will. Mein Porsche gehört mir!<br />
Der anspruchsvollen und gleichsam öffentlichen Aufgabe, eine<br />
qualitative Bestimmung von Freiheit vorzunehmen: Welche Freiheiten<br />
schaden? Welche wollen wir dennoch dulden? Welche sollen<br />
unantastbar sein? – dieser Aufgabe weichen die FDP-Liberalen seit<br />
Jahren aus – mit der Folge, dass der Diskurs an der FDP vorbei stattfindet.<br />
Denkfaule Liberale missverstehen Mills „individuelle“<br />
»<br />
FOTOS: DDP IMAGES/UNITED ARCHIVES, AKG/GLASSHOUSE IMAGES<br />
Tradition I<br />
Von John Locke<br />
(1632–1704)<br />
stammt die liberale<br />
Definition des Eigentums.<br />
Was die FDP<br />
bis heute nicht verstehen<br />
will: Der<br />
englische Philosoph<br />
wollte zwar dem<br />
Reichtum keine<br />
Grenzen setzen,<br />
wohl aber der Armut.<br />
Tradition II<br />
Von John Stuart Mill<br />
(1806–1873)<br />
stammt die liberale<br />
Definition der Freiheit.<br />
Was die FDP<br />
bis heute nicht verstehen<br />
will: Der<br />
englische Philosoph<br />
stellte dem Egoismus<br />
von Hier-und-<br />
Jetzt-Ichlingen keinen<br />
Freibrief aus.<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 31<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
»<br />
Freiheit immer noch als Hier-und-Jetzt-Freibrief für Ichlinge –<br />
und nicht als eine Praxis steuernder Kontrolle über das eigene<br />
Leben, als Fähigkeit, die wir mit Blick auf andere zu verwirklichen<br />
haben. Freiheit im Sinne von Mill ist:Wahlfreiheit. Sie besteht nicht<br />
in der Abwesenheit äußerer Hindernisse, sondern darin, dass wir<br />
bestimmten Zielen größere Bedeutung beimessen als anderen.<br />
5. WIDER DIE UNFREIHEIT!<br />
Was Liberale gern vergessen: Die Erschließung von Räumen der Freiheit<br />
geht ihrer Nutzung voran. Liberalismus bezeichnet also eine Impulsbewegung,<br />
die auf die Abschaffung der Unfreiheit zielt.<br />
Der Vormarsch der Islamisten in Syrien und im Irak, die Missachtung<br />
der Menschenrechte in China, die russische Offensive gegen die<br />
Ukraine – es gibt in diesen Wochen viele Beispiele, die verdeutlichen,<br />
dass der Liberalismus von einer elementaren Definition dessen bestimmt<br />
werden sollte, was Unfreiheit bedeutet: in der Macht eines<br />
anderen zu stehen. Der nicht geringste Vorzug eines solchen „Liberalismus<br />
der Furcht“ (so die amerikanische Politologin Judith Shklar)<br />
besteht darin, dass er die politische Universalvokabel der „Gerechtigkeit“<br />
ausklammert, um sich die Wachsamkeit dafür zu erhalten, was<br />
ungerecht ist:Repression, Hunger, Ausbeutung. Zweitens aber ist ein<br />
solcher Liberalismus darum bemüht, alle Formen von Macht als Bedrohung<br />
der Freiheit zu identifizieren, also nicht nur staatliche<br />
Macht, sondern zum Beispiel auch Macht, die Wirtschaftsunternehmen<br />
auf sich vereinen.<br />
Anders gesagt: Der Blick eines solchen Liberalismus fällt nicht nur<br />
mit Wohlgefallen auf die „wirtschaftliche Freiheit“ in Singapur, sondern<br />
immer auch kritisch auf die politische Unfreiheit dort. Er hat seinen<br />
Ausgangspunkt nicht (nur) in den Handelsräumen der Wall<br />
Street, sondern auch in den Fabriken von Bangladesch. Sein Maßstab<br />
ist nicht nur die Freiheit des Arbeitgebers, seine Angestellten zu behandeln,<br />
wie es ihm dünkt, sondern auch die Freiheit des Angestellten,<br />
vor Drohungen und schlecht bezahlter Rumschubserei sicher zu<br />
sein. Alles in allem ist es ein Liberalismus, der die „Gewissheiten“ des<br />
Liberalismus der FDP-Liberalen in den vergangenen 20 Jahren auf<br />
den Kopf stellt: Frei ist, wer nicht erniedrigt, verletzt und gedemütigt<br />
werden kann.<br />
GLAUBWÜRDIGKEIT LÄSST SICH NICHT BEWEISEN<br />
Ja, im Bundestag fehlt eine marktwirtschaftliche Partei. Aber<br />
das war in den vier Jahren zuvor auch schon der Fall. Dass sie<br />
künftig ihre Versprechen halten würde, kann die FDP nicht<br />
beweisen. Sie regiert nirgends mehr. Die höchstrangigen Liberalen<br />
sind der Wehrbeauftragte und der Präsident des Kartellamts<br />
– beide zu parteipolitischer Neutralität verpflichtet.<br />
„Wir müssen jetzt in der 2. Liga bis zum Saisonende durchspielen“,<br />
ist Lindner realistisch. „Wenn der Aufstieg in den<br />
Bundestag gelingt, sind wir als ‚Comeback-Kids‘ wieder für<br />
die Medien interessant.“ Freilich: Der Letzte der FDP-Boygroup<br />
zählt aus Sicht klassischer liberaler Triple-A-Wähler –<br />
Ärzte, Anwälte, Apotheker – immer noch zu den: „Kids“<br />
Sachsen-Wahlkämpfer Zastrow möchte nun aus der Jugend<br />
eine Tugend machen. Wenn man schon eine so junge<br />
Führungsriege hat, dann „müssen wir jetzt außerhalb des<br />
Parlaments eine Bewegung für die jüngere Generation werden.<br />
Wir haben mit Christian Lindner einen jungen Repräsentanten.“<br />
Die aktuelle Regierung ruiniere die Basis für die<br />
Zukunft. „Was ist für junge Leute heute einfacher als früher?<br />
Nichts. Wieso muss die nächste Generation vier Jahre länger<br />
arbeiten als die, die heute mit 63 aufhören darf?“<br />
6. DIE LIBERALEN ALS TUGENDWÄCHTER<br />
Die Liberalen müssten heute als Kämpfer gegen jede Form von elementarer<br />
Unfreiheit auftreten – und als ehrliche Makler einer qualitativ<br />
bestimmten Freiheit. Liberale sorgen sich nicht (nur) um die<br />
Geschäfts- und Gemütslage Russlands, sondern (vor allem) um die<br />
Informations- und Meinungsfreiheit der russischen Bürger. Sie fördern<br />
nicht durch ordnungspolitische Passivität einen staatlich lizenzierten<br />
Bankensektor, der seine Risiken systematisch auslagert und<br />
alle Haftung beim Steuerzahler ablädt, sondern sie unterstützen ein<br />
Wirtschafts- und Währungssystem, das auf Sparsamkeit, Solidität<br />
und den breiten Aufbau von Eigentum setzt. Liberale stellen den sozialdemokratischen<br />
Umverteilungswillen ebenso infrage wie die<br />
Steuersenkungssubventionen der Angebotsfanatiker. Ihnen ist eine<br />
Denunziation von Reichtum genauso zuwider wie ein Reichtum, der<br />
sich faulen Quellen verdankt. Über den Faulpelz, der auf Alimentation<br />
<strong>vom</strong> Staat hofft, kann er sich genauso echauffieren wie über den<br />
Steuerflüchtling, der den Staat prellt. Kurzum: Nimmt der politisch<br />
organisierte Liberalismus Freiheit und Unfreiheit endlich beim<br />
Wort, stehen ihm in Deutschland alle Türen offen. Verengt er Freiheit<br />
und Unfreiheit weiter auf das, was Libertäre, Wirtschafts-, Nationalund<br />
Sozialliberale sich jeweils darunter vorstellen, kann man ihm<br />
nur weiterhin eine „gute Reise“ wünschen: Richtung Abgrund. n<br />
dieter.schnaas@wiwo.de | Berlin, henning krumrey | Berlin<br />
Der Bourgois<br />
Wirtschaftsnobelpreisträger<br />
Milton<br />
Friedman hat die<br />
Idee der unteilbaren<br />
Freiheit verraten.<br />
Seit seiner Unterstützung<br />
der chilenischen<br />
Militärjunta<br />
sind wirtschaftliche<br />
und politische Freiheit<br />
keine zweieiigen<br />
Zwillinge mehr.<br />
Der Citoyen<br />
Der Soziologe Ralf<br />
Dahrendorf hat<br />
stets vor Vereinseitigungen<br />
der Freiheitsidee<br />
gewarnt.<br />
Sein Liberalismus<br />
adressierte die<br />
Freiheit der Menschen<br />
– und keine<br />
Businessclass, die<br />
den autoritativen<br />
Kapitalismus stärkt.<br />
FOTOS: CORBIS/ROGER RESSMEYER, DDP IMAGES/INTERTOPICS<br />
32 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Frust und Frieden<br />
UKRAINE | In der befreiten Rebellenhochburg Slowjansk stehen die<br />
Menschen so loyal zu Kiew wie nie. Doch die Fabriken sind zerstört,<br />
das Geld zum Wiederaufbau fehlt – und es droht Anarchie.<br />
Es ist die Ruhe nach dem Sturm Zerstörte Industrieanlage in Slowjansk<br />
Verfall fraß sich schon lange durch die<br />
Fabrik, als eines helllichten Tages die<br />
maskierten Männer kamen und alles<br />
noch viel schlimmer machten. Im Isolatorenwerk<br />
Slowjansk tüftelten nur noch 150<br />
Mitarbeiter in 5 der 29 Hallen an Metallteilen,<br />
die in Strommasten verbaut werden<br />
sollen. Bis am 6. Mai prorussische Separatisten<br />
einfielen und das Werk mit ihren Gewehren<br />
zum Eigentum der Volksrepublik<br />
Donezk erklärten. Der Manager Wladimir<br />
Krawtschenko kann es auch heute noch<br />
nicht fassen: „Sie stahlen Material und<br />
fertige Produkte, sogar Stanzen und<br />
Drehmaschinen!“ Alles hätten sie bei<br />
irgendwelchen Verschrottern zu flottem<br />
Geld machen wollen. Wie soll er jetzt weiter<br />
produzieren?<br />
Glasscherben platzen unter den Sohlen,<br />
als Krawtschenko in seinem ausgewaschenen<br />
Hemd über das riesige Gelände trottet,<br />
überall liegen Patronenhülsen. Die Fenster<br />
aller Hallen sind zerschossen, <strong>vom</strong> Granatbeschuss<br />
klaffen Krater in Dächern, aus einer<br />
Leitung leckt Öl. Auf dem Gehweg liegt<br />
eine Kiste, darin abgelaufene Spritzen mit<br />
der Morphin-Ersatzdroge Promedol. Drogenabhängige,<br />
Kriminelle und Arbeitslose<br />
gebe es unter den angeblichen Freiheitskämpfern,<br />
sagt Krawtschenko. Zwei Monate<br />
hätten sie in seinen Hallen campiert, im<br />
»Von hier haben<br />
sie in die Wohngebiete<br />
geschossen«<br />
Zentrum der Stadt. „Hier standen Geschütze,<br />
mit denen sie einmal am Tag in die<br />
Wohngebiete schossen“, sagt er. So ließ sich<br />
der Verdacht auf die Kiewer Armee lenken<br />
– Russlands Propaganda behauptet<br />
schließlich, die Ukrainer führten einen<br />
Krieg gegen die eigene Bevölkerung.<br />
Es seien nicht nur lokale Leute gewesen,<br />
behauptet Krawtschenko. Im Gebäude nah<br />
des Haupttors hätten russische Soldaten<br />
und Freiwillige Quartier bezogen. „Die erkannte<br />
ich am Akzent und an ihren Uniformen“,<br />
sagt er. „Sie kamen Mitte Mai in neuen<br />
Kamaz-Lastwagen, es wurden immer<br />
mehr.“ Täglich sei er in die Fabrik gekommen,<br />
um an die Vernunft der Besatzer zu<br />
appellieren. Es könne nicht deren Interesse<br />
sein, dass seine Leute ihre Arbeit verlören.<br />
Das Zureden war vergebens. Am 16. Juni,<br />
erzählt Krawtschenko, sei er dann doch geflohen<br />
– über den Zaun. Ein Arbeiter habe<br />
ihm gesteckt, dass ihn Separatisten am Tor<br />
mit Gewehren erwarteten. Nach der Rückeroberung<br />
der Stadt, sagt er, habe man den<br />
Exekutionsbefehl für ihn in der Stadtverwaltung<br />
gefunden.<br />
SOWJETISCHE STRUKTUREN<br />
Derweil sich der Welt immer mehr offenbart,<br />
wie aktiv Moskau den Krieg im Osten<br />
der Ukraine mit eigenen Soldaten anheizt,<br />
ist die Stimmung in Slowjansk erstaunlich<br />
eindeutig: Separatisten haben mithilfe der<br />
Russen Leid und Chaos über die Stadt und<br />
ihre einst 120 000 Einwohner gebracht. In<br />
der befreiten Rebellenhochburg, wo man<br />
sich einst wirtschaftliche Vorteile im Schoße<br />
von Mütterchen Russland erträumte,<br />
stehen die meisten Menschen so loyal zu<br />
Kiew wie nie zuvor.<br />
Doch mit dem Einfall der Separatisten<br />
ging der endgültige Niedergang der Wirtschaft<br />
einher. Dass der ukrainische Pleite-<br />
Staat den Wiederaufbau stemmen kann,<br />
bezweifeln die Menschen hier. Kaum ist<br />
der Albtraum zu Ende, ist schon wieder<br />
dieser Frust spürbar, der die arg sowjetisch<br />
strukturierte Industrieregion Donbass seit<br />
Ende der Planwirtschaft vor über zwei Jahrzehnten<br />
beherrscht. Wie zu Sowjetzeiten<br />
fühlen sich die Menschen mit einem gewissen<br />
Stolz als Speerspitze der Industrie,<br />
obwohl die Anlagen verrotten und die<br />
meisten Betriebe nicht wettbewerbsfähig<br />
sind. Geblieben ist nur das Selbstverständnis<br />
von damals.<br />
Weiter geht es zum östlichen Ortsausgang<br />
von Slowjansk, die Sonne brennt wieder<br />
gnadenlos an diesem Donnerstag.<br />
Dort, wo die „Straße der Moderne“ auf die<br />
FOTO: IGOR CHEKACHKOV FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
34 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Landstraße Richtung Donezk mündet,<br />
steht der Kiosk von Irina Sakinskaja – oder<br />
was davon übrig ist: Ein stählernes Korsett<br />
in hellblauer Farbe, Glasscherben stecken<br />
da, wo einmal die Fenster waren. Der Kühlschrank<br />
steht derangiert auf dem Platz vor<br />
dem Ortsschild, als wolle er den Vorbeifahrenden<br />
mahnend seine Einschusslöcher<br />
präsentieren. Sakinskaja trägt ein verschwitztes<br />
Kopftuch und kehrt die Scherben<br />
<strong>vom</strong> Boden. „Es ging schon mal besser“,<br />
kommentiert sie ihre Lage lächelnd,<br />
nur um Sekunden später in Tränen auszubrechen.<br />
20 Jahre besserte die heute 57-jährige<br />
Frührentnerin ihre spärliche Rente auf, indem<br />
sie Cola und Zigaretten am Kiosk ver-<br />
Kühlschrank kostet neu an die 800 Dollar.<br />
Sie weiß, dass die Regierung pleite ist und<br />
ihr nicht helfen kann. Trotzdem ist sie froh,<br />
dass der Spuk vorbei ist. „In Slowjansk hatten<br />
wir alle den Eindruck, dass es in Russland<br />
irgendwie besser sei“, sagt die Rentnerin.<br />
„Jetzt bin ich plötzlich stolz, Ukrainerin<br />
zu sein.“<br />
„SUCH DIR EINEN SPONSOR!“<br />
Die Kämpfe im Frühjahr haben die Stadt<br />
schwer gezeichnet. Grob geschätzt wurden<br />
1000 Häuser in Slowjansk beschädigt. Fünf<br />
Tage kämpften die ukrainischen Streitkräfte<br />
vor allem in den Vororten, ehe die Rebellen<br />
im Juli aus der Stadt flohen. Im Zentrum<br />
trafen Granaten nur das Heim der<br />
Sponsor, habe man ihr bei der Stadtverwaltung<br />
geraten, als sie einen Antrag auf<br />
Kompensation stellte. Dann bricht sie in<br />
Tränen aus.<br />
Natürlich sieht das Andrej Krischenko<br />
ganz anders. Er kommt aus Horliwka nördlich<br />
der Gebietshauptstadt Donezk, in deren<br />
Nähe mutmaßlich Separatisten im Juli<br />
die Boeing der Malaysia Airlines abgeschossen<br />
haben. Nun ist der korpulente<br />
Mann Ende 30 so etwas wie der Bezirksbürgermeister,<br />
der im Auftrag der Kiewer Präsidialverwaltung<br />
in Slowjansk den Wiederaufbau<br />
organisieren soll. „Wir haben die<br />
Strom- und Gasversorgung wiederhergestellt<br />
und die Renten für drei Monate auf einen<br />
Schlag ausgezahlt“, sagt er. So will Kiew<br />
tickte. Bis „diese russischen Jungs“ kamen<br />
und am 1. Mai einen Kontrollposten errichteten.<br />
Sie meint, es seien russische<br />
Söldner gewesen. „Einer erzählte, er verdiene<br />
sich Geld für die Behandlung seiner<br />
krebskranken Mutter“, sagt Sakinskaja. Sie<br />
hätten sogar ihr Bier bezahlt, das sie im<br />
Gras neben dem Kiosk tranken. Allerdings<br />
sah sie das Unheil kommen, als „die Jungs“<br />
ihre Haubitzen in der Siedlung aufstellten:<br />
„Wenn ihr von hier schießt“, warnte sie,<br />
„dann schießt die ukrainische Armee zurück<br />
und legt alles in Schutt und Asche.“ Sie<br />
behielt recht.<br />
Auf der Straße wackeln ein paar Labrador-Welpen<br />
hinter ihrer Mutter her. Der<br />
Frieden ist zurück in Slowjansk, Sakinskaja<br />
ist auf sich allein gestellt. Umgerechnet keine<br />
80 Euro an Rente bekommt die Frau mit<br />
der schrillen Stimme; allein der zersiebte<br />
Rentnerin Antonia, die ihren Familiennamen<br />
nicht verraten will. „Wer das Haus<br />
bombardiert hat, weiß niemand in der<br />
Nachbarschaft“, und sie selbst sei nicht zu<br />
Hause gewesen. Es war Anfang Juni, der<br />
Sturm auf die Stadt hatte noch nicht begonnen.<br />
Nicht ausgeschlossen, dass in der<br />
Isolatorenfabrik jemand aufs Knöpfchen<br />
gedrückt hat.<br />
Nun steht die Rentnerin in ihrer Wohnung<br />
im vierten Stock. Die Detonation hat<br />
die Fassade komplett abgerissen, zerborstene<br />
Pressholzmöbel, Mörtel und Tapetenreste<br />
säumen den Boden, das Dach<br />
ist weg. „Was soll bloß werden, wenn der<br />
Regen kommt?“, fragt die Frau, die sich<br />
keine neue Wohnung leisten kann und bei<br />
einer Freundin wohnt. Von der Regierung<br />
in Kiew erwartet auch sie keine Hilfe. „Es ist<br />
Krieg, die haben kein Geld.“ Such dir einen<br />
den Menschen zeigen, was gute staatliche<br />
Ordnung im Unterschied zum Chaos der<br />
Separatisten bedeutet. Die Rekonstruktion<br />
der zerstörten Gebäude sei allerdings eine<br />
„schwierige und komplexe Sache“. Vor Ort<br />
gebe es kein Geld, in Kiew müsse es erst bewilligt<br />
werden. Es sei möglich, dass für die<br />
Bewohner der unbewohnbaren Häuser eine<br />
Cottage-Siedlung am Stadtrand gebaut<br />
werde. Woher die Mittel dafür kommen<br />
sollen, weiß er nicht.<br />
Bisweilen wirkt es, als hätten die Behörden<br />
andere Prioritäten. In Slowjansk ist die Jagd<br />
auf Kollaborateure der Separatisten im<br />
Gange. Abgeordnete des lokalen Parlaments<br />
und Beamte stehen unter<br />
Beobachtung des Staatsanwalts. Manch<br />
einer befürchtet die politische Säuberung:<br />
Die Lokalpolitiker von Slowjansk gehören<br />
alle der Partei des im Februar gestürzten »<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 35<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Reste einer modernen Produktion Aufräumarbeiten in der Keramikfabrik Zeus<br />
»<br />
Präsidenten Wiktor Janukowitsch an.<br />
Dessen Gegner, die einst auf dem Maidan<br />
gekämpft haben, sind jetzt in Kiew an der<br />
Macht – und die Leute <strong>vom</strong> rechten Rand<br />
stellen sogar den Generalstaatsanwalt.<br />
„Bist du in Slowjansk geblieben, halten sie<br />
dich in Kiew für einen Separatisten“,<br />
erzählt ein Abgeordneter, „warst du aber<br />
geflüchtet, sehen dich die Wähler als Verräter<br />
an.“<br />
GELOBTES LAND<br />
Angesichts der Hetzjagd und dem Klein-<br />
Klein der Kompensationen gerät ganz aus<br />
dem Blick, wieso ausgerechnet Slowjansk<br />
zur Hochburg prorussischer Separatisten<br />
werden konnte: Viele Menschen leben in<br />
Gedanken noch in der Sowjetunion, die sie<br />
glorifizieren. Russland galt für sie daher als<br />
gelobtes Land – und die geglückte Annexion<br />
der Krim weckte Hoffnungen in der<br />
Stadt mit hoher Arbeitslosigkeit. Seit Kiew<br />
wieder das Sagen hat, hat sich in Slowjansk<br />
nichts zum Besseren<br />
gewendet, auch nach<br />
Video<br />
In unserer App-<br />
<strong>Ausgabe</strong> berichtet<br />
Autor Florian<br />
Willershausen über<br />
seine Recherche<br />
der Befreiung muss<br />
sich die Zentralregierung<br />
ihr Vertrauen erst<br />
erarbeiten.<br />
So sieht das jedenfalls<br />
Oleksandr Bogoslavsky,<br />
der hier groß<br />
geworden ist: „Die<br />
Leute hier sind fast alle über 50 und erinnern<br />
sich daran, wie bequem sie es zu Sowjetzeiten<br />
hatten.“ Diese Illusion begründe<br />
die anfängliche Unterstützung für die Separatisten.<br />
Der 42-jährige Kaufmann hat<br />
nur Verachtung für die Freischärler übrig.<br />
„Wegen dieser Idioten steht unsere Fertigung<br />
mitten in der Hauptsaison für fünf<br />
Monate still“, sagt er beim Rundgang über<br />
den Hof. Arbeiter schaufeln zerbrochene<br />
Fliesen weg, Maler verputzen sein ausgebranntes<br />
Bürogebäude, die Einschusslöcher<br />
im Wellblech der grauen Fabrikhalle<br />
lassen sich gar nicht zählen.<br />
Als Generaldirektor von Zeus Ceramica<br />
leitet Bogoslavsky die modernste Produktionsstätte<br />
in ganz Slowjansk. Hochwertige<br />
Keramikfliesen liefert das Unternehmen in<br />
die USA und nach Kanada. Doch das Werk,<br />
das 2005 unter Beteiligung der italienischen<br />
Emilceramica gebaut wurde, lag mitten<br />
auf der Frontlinie während der Kämpfe<br />
um die Stadt: „Armee und Rebellen schossen<br />
über unser Werk hinweg“, sagt der Manager,<br />
„die Schäden müssen wir immer<br />
noch schätzen.“ Im Juli haben seine Leute<br />
mit Reparaturen angefangen und sind<br />
noch nicht fertig: Separatisten, berichtet er,<br />
haben Teile der teuren Anlagen zerstört. In<br />
Die Krisenregion<br />
Odessa<br />
Kiew<br />
UKRAINE<br />
Schwarzes<br />
Meer<br />
Charkiw<br />
Slowjansk<br />
Flughafen<br />
Kramatorsk<br />
Luhansk<br />
Horliwka<br />
Donezk umkämpfte<br />
Gebiete<br />
Mariupol<br />
KRIM<br />
(von Russland<br />
annektiert)<br />
RUSSLAND<br />
150 km<br />
der Halle sind Kreissägen zu hören, es<br />
riecht nach Farbe. Wenigstens ist der 180<br />
Meter lange Keramikbrenner noch heil.<br />
Mit etwas Glück will Bogoslavsky noch im<br />
September den Ofen wieder anwerfen. 200<br />
seiner 250 Mitarbeiter haben sich bereits<br />
zur Arbeit gemeldet. Allerdings droht dem<br />
Unternehmen weiteres Ungemach: „Wegen<br />
der Krise bricht uns Russland als Absatzmarkt<br />
weg“, sagt der Manager – ein Problem,<br />
das viele ukrainische Unternehmen trifft.<br />
Außerdem sei der Gaspreis dieses Jahr<br />
um die Hälfte gestiegen. Zwar bezieht die<br />
Keramikfabrik ihre Energie von Shell und<br />
nicht von Gazprom – und der westeuropäische<br />
Konzern ist nicht auf Pipeline-Gas angewiesen,<br />
sondern pumpt Gas aus ukrainischen<br />
Speichern. Doch diese Vorräte<br />
könnte der Staat für sich beanspruchen,<br />
sollte Russland das Gas abdrehen.<br />
Rückkehr ins Stadtzentrum zu Metallbauer<br />
Krawtschenko: Der sitzt auf solchen<br />
Sorgen, dass die fragliche Gasversorgung<br />
im Winter für ihn ein vergleichsweise geringes<br />
Übel ist. Knapp die Hälfte seiner Arbeiter<br />
ist wieder erschienen, gemeinsam<br />
versuchen sie die teildemontierten Fräsen<br />
und Drehbänke zu funktionsfähigen Maschinen<br />
zusammenzubauen. Krawtschenko<br />
hofft, dass es nach dem Krieg für ihn zu<br />
tun gibt: „Viele Stromleitungen und Bahnstrecken<br />
sind zerstört, beim Wiederaufbau<br />
werden sie Isolatoren brauchen.“ Bis dahin<br />
müssen die Anlagen laufen – und das Kapital<br />
muss reichen.<br />
KORRUPTE WEGELAGERER<br />
Doch so recht traut er dem Frieden nicht.<br />
Erst vor ein paar Jahren hat Krawtschenko<br />
zusammen mit anderen Managern die 140<br />
Jahre alte marode Metallfabrik gekauft und<br />
vor der Schließung bewahrt. Jetzt übernachtet<br />
er im Wechsel mit anderen Teilhabern<br />
im Werk. „Sonst laufen wir Gefahr, die<br />
Kontrolle zu verlieren“, sagt er.<br />
Denn nach der Befreiung kam die<br />
Anarchie nach Slowjansk: Bewaffnete in<br />
Polizeiuniformen, erzählt er, hätten vergangene<br />
Woche einen Kleinlaster mit Metallschrott<br />
gestoppt, den der Unternehmer<br />
zu Geld machen wollte. Sie forderten 1500<br />
Euro Wegezoll und bei jeder weiteren Lieferung<br />
eine Beteiligung in Höhe von 20<br />
Prozent des Werts. Krawtschenko bat eine<br />
Militäreinheit aus Charkow, Druck auf die<br />
örtliche Polizei auszuüben. Kaum ist der<br />
Terror der Separatisten vorüber, geht der<br />
Terror der korrupten Wegelagerer weiter –<br />
so als wäre nie etwas anders gewesen. n<br />
florian.willershausen@wiwo.de<br />
FOTO: IGOR CHEKACHKOV FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
36 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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FOTOS: JOHANN SEBASTIAN KOPP, WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, MAURITIUS/ALAMY<br />
BRÜSSEL | Belgier<br />
vermeiden Kritik.<br />
Das funktioniert<br />
prima – bis Deutsche<br />
kommen. Von<br />
Silke Wettach<br />
Beschweren<br />
zwecklos<br />
Der Ratschlag steht in<br />
jedem Asien-Reiseführer:<br />
Bitte nicht laut beschweren.<br />
Das entspreche weder<br />
den örtlichen Sitten,<br />
noch führe es zum gewünschten<br />
Ergebnis. In Belgien-Reiseführern<br />
fehlt der Tipp. Dabei gilt hier dasselbe.<br />
Belgier quittieren Fehlleistungen jeder<br />
Art mit unendlich viel Verständnis.Meiner<br />
Freundin Anne ist es immer noch peinlich,<br />
den Friseur gewechselt zu haben.Erst seit<br />
er ihr die Haare orange färbte, frequentiert<br />
sie einen anderen Salon.Der Mann litt an<br />
Depressionen, führt sie heute noch zu dessen<br />
Verteidigung an.Ein böses Wort fiel nie.<br />
Auch nach mehr als zehn Jahren Belgien<br />
kommt bei mir die andersartige Sozialisation<br />
durch. Wenn der Briefträger etwa<br />
systematisch fremde Post einwirft,<br />
suche ich nach Abhilfe. Die höchst<br />
freundliche Antwort der Post: Bei einem<br />
Wohnhaus mit mehr als drei Parteien sei<br />
es nicht Aufgabe des Briefträgers, die<br />
Post zu sortieren. Die Strategie hat funktioniert.<br />
Ich habe sofort eingesehen, dass<br />
dieses Gespräch zwecklos war.<br />
Ein Freund riet mir von einer Einzugsermächtigung<br />
für den Stromanbieter ab,<br />
dann könne der nicht falsch abbuchen.<br />
Das kritikfreie Zusammenleben funktioniert<br />
erstaunlich gut, weil Belgier zumeist<br />
höfliche Menschen sind. Erst Ausländer<br />
bringen das System aus dem Lot. Meine<br />
neuen Nachbarn ramponierten beim Einzug<br />
das Treppenhaus und grüßen bis<br />
heute nicht. Dafür fotografieren sie jedes<br />
Auto, das auch nur ansatzweise in ihre<br />
Garageneinfahrt hineinragt. Die anderen<br />
im Haus zucken mit den Achseln. Ich habe<br />
mich aufs Fremdschämen verlegt. Das<br />
Paar kommt aus Deutschland.<br />
Silke Wettach ist Brüssel-Korrespondentin<br />
der WirtschaftsWoche.<br />
BERLIN INTERN | Bundesregierung und Nato<br />
setzen ein Vierteljahrhundert nach Ende des Kalten<br />
Krieges wieder auf militärische Abschreckung. Sehr<br />
glaubwürdig ist das nicht. Von Henning Krumrey<br />
Furcht und Schnecken<br />
Was ist da im Baltikum? Rüstet<br />
die Nato auf, oder rüstet sie<br />
nach, wie einst mit ihren<br />
Pershings gegen die russischen<br />
SS20? Sechs Eurofighter verlegt sie<br />
an die Ostgrenze des Bündnisgebiets. Im<br />
Mittelmeer patrouilliert ein deutsches<br />
U-Boot, gemeinsam mit Kriegsschiffen der<br />
Verbündeten. Dem russischen Autokraten<br />
Wladimir Putin will das Bündnis signalisieren:<br />
Der Westen steht auch zu den<br />
kleinsten, sich am stärksten bedroht fühlenden<br />
Mitgliedstaaten.<br />
Rettungsschirm Mit Eurofighter-Patrouillen<br />
will die Nato Stärke demonstrieren<br />
Die Hilflosigkeit, die den Westen ob der<br />
überraschenden russischen Aggression<br />
gegen die Ukraine befallen hat, soll nun<br />
mit bewährten Mitteln der Vergangenheit<br />
bekämpft werden. Im ersten Kalten Krieg<br />
hatten sich Ost und West mit gegenseitiger<br />
Bedrohung in Schach gehalten. Das „Gleichgewicht<br />
des Schreckens“ verhinderte, dass<br />
eine Seite übermütig wurde. Am Ende des<br />
Wettrüstens stand nicht die militärische,<br />
wohl aber die politische und ökonomische<br />
Kapitulation der Sowjetunion.<br />
Innerhalb weniger Monate wurde zerstört,<br />
was im vergangenen Vierteljahrhundert<br />
an Vertrauen gewachsen war:<br />
Regierungskonsultationen, EU-Russland-<br />
Gipfel, die Öffnung der Gruppe der sieben<br />
westlichen Industrienationen zu Russland,<br />
zur G8.<br />
Die Bundesregierung sieht kaum Möglichkeiten,<br />
den Weg in den Kalten Krieg zu<br />
bremsen. Die Argumentation geht so: Die<br />
Ukraine war für Putin leichte Beute, da der<br />
Westen keinerlei Garantien für den früheren<br />
Teilstaat der Sowjetunion abgegeben<br />
hatte. Und das war vor allem so, weil auch<br />
Putin wusste, dass es so war.<br />
Deshalb bemüht die Nato nun ihre interne<br />
Beistandsverpflichtung, um dem ehemaligen<br />
Partner im Osten zu signalisieren:<br />
Vor allem die drei baltischen Staaten, aber<br />
auch Polen stehen unter dem Schutz des<br />
Bündnisses. Denn verständlich ist die Analyse<br />
der Bürger und Regierungen von Estland,<br />
Lettland und Litauen: Sie sind wirtschaftlich<br />
attraktiv, sie liegen vor Moskaus<br />
Haustür, sie behindern den Zugang nach<br />
Königsberg – und sie beherbergen jeweils<br />
eine bedeutende russische Minderheit. Das<br />
könnte Begehrlichkeiten bei Putin wecken.<br />
Das Dumme ist nur: Das Bündnis kommt<br />
im Ernstfall nur im Schneckentempo voran,<br />
die Beistandsverpflichtung des Nato-Vertrages<br />
ist wenig belastbar. In Artikel 5 heißt<br />
es zwar, dass „ein bewaffneter Angriff“ gegen<br />
eine Nation von den übrigen als „ein<br />
Angriff gegen sie alle“ angesehen werde.<br />
Und sie versprechen, dass jede im Ernstfall<br />
„die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung<br />
von Waffengewalt, trifft, die sie für<br />
erforderlich erachtet“, um die Sicherheit<br />
wiederherzustellen. Der Köln-Bonner Politikprofessor<br />
Karl Kaiser, als Berater von<br />
Bundeskanzler Helmut Schmidt einst<br />
Miterfinder des Nato-Doppelbeschlusses,<br />
pflegte zu sagen, jenes „erforderlich“ reiche<br />
„<strong>vom</strong> Beileidstelegramm bis zum<br />
Atomschlag“.<br />
Das Dilemma des Westens: Wie kann<br />
man glaubhaft machen, dass man russische<br />
Truppen angreifen würde, wenn Panzer ins<br />
Baltikum rollen – ohne einen solchen Angriff<br />
auch zu starten? Die Sicherheitsexperten<br />
der Koalition sagen hinter vorgehaltener<br />
Hand, dass Russland leidensfähiger sei als<br />
westliche Demokratien.<br />
Für die Ukraine sieht man in der Bundesregierung<br />
übrigens schwarz. Der westliche<br />
Teil würde wohl selbstständig bleiben<br />
können, weil die Bevölkerung prowestlich<br />
sei. Aber der östliche Teil, von Putin als<br />
„Novorossia“ beansprucht, sei faktisch verloren.<br />
Der macht bis zu einem Drittel des<br />
heutigen ukrainischen Staatsgebietes aus.<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 37<br />
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Der Volkswirt<br />
KOMMENTAR | Die EZB öffnet die<br />
Geldschleusen erneut – und führt<br />
Europa in die monetäre Planwirtschaft.<br />
Von Malte Fischer<br />
Zauberer Draghi<br />
Wow! Die Überraschung<br />
ist Mario<br />
Draghi gelungen.<br />
Am Donnerstag<br />
vergangener Woche zog der<br />
Präsident der Europäischen<br />
Zentralbank (EZB) ein geldpolitisches<br />
Kaninchen aus dem<br />
Zauberhut, mit dem niemand<br />
gerechnet hatte. Nachdem Europas<br />
oberster Währungshüter<br />
bereits vor drei Monaten die<br />
Märkte überraschte, indem er<br />
die Leitzinsen senkte und den<br />
Banken großzügige Geldleihgeschäfte<br />
in Aussicht stellte, feuerte<br />
er vergangene Woche das<br />
nächste geldpolitische Feuerwerk<br />
ab. Gegen den Widerstand<br />
der Stabilitätspolitiker um Bundesbank-Chef<br />
Jens Weidmann<br />
hat der Rat der EZB die Leitzinsen<br />
um jeweils zehn Basispunkte<br />
gesenkt. Der Hauptrefinanzierungssatz<br />
ist mit nunmehr<br />
0,05 Prozent kaum noch von<br />
null zu unterscheiden. Zudem<br />
kündigte Draghi an, die EZB<br />
werde ab Oktober in großem<br />
Umfang Kreditverbriefungen<br />
(ABS) und Pfandbriefe kaufen,<br />
um die Kreditvergabe anzukurbeln<br />
(siehe Seite 44).<br />
VERZWEIFLUNGSTAT<br />
Ziel des erneuten hastigen Griffs<br />
zur Notenpresse ist es, die darbende<br />
Konjunktur in der Euro-<br />
Zone zu stützen und die Inflation<br />
von derzeit 0,3 Prozent auf den<br />
Zielwert der EZB von knapp zwei<br />
Prozent zu hieven.<br />
Doch es ist eine Verzweiflungstat.<br />
Ebenso wie die Notenbanker<br />
in den USA, Japan und<br />
Großbritannien wollen die Euro-<br />
Hüter nicht erkennen, dass die<br />
jüngste Krise ihren Kern nicht in<br />
einem Mangel an Liquidität,<br />
sondern in einem Überschuss<br />
an Schulden hat, die durch zu<br />
billige Kredite entstanden sind.<br />
Derartige Solvenzkrisen lassen<br />
sich nicht mit milliardenschweren<br />
Geldspritzen beheben. Studien<br />
zeigen, dass es Jahre, wenn<br />
nicht gar Jahrzehnte dauert, bis<br />
Bürger, Unternehmen und Regierungen<br />
ihre Schulden auf ein<br />
tragfähiges Niveau abgebaut haben.<br />
In dieser Phase wächst die<br />
Wirtschaft kaum, Löhne und<br />
Preise müssen sinken, um die<br />
vorangegangenen inflationären<br />
Übertreibungen zu korrigieren.<br />
Das treibt die Schuldenlast der<br />
Staaten in die Höhe.<br />
GROSSES DESASTER<br />
Die EZB, längst zum Dienstleister<br />
der Finanzminister degradiert,<br />
stemmt sich mit aller<br />
Macht gegen die notwendige<br />
Anpassung. Die Kollateralschäden,<br />
die ihre Abwehrschlacht<br />
verursacht, sind ein volkswirtschaftliches<br />
Desaster. Die Mikrozinsen<br />
setzen Investitionen in<br />
Gang, die sich unter normalen<br />
Umständen nicht lohnen. Sie<br />
lenken Anleger in risikoreiche<br />
Vermögensklassen und pumpen<br />
dort gefährliche Preisblasen auf.<br />
Zudem zerstören sie die Sparanreize,<br />
schmälern die Kapitalbildung<br />
und zersetzen das Wachstumspotenzial<br />
der Wirtschaft.<br />
Die angekündigten ABS-Käufe<br />
mehren den Schaden noch. Sie<br />
lenken die Kreditvergabe der<br />
Banken in von der EZB vorgedachte<br />
Bahnen. Kapital wird<br />
dorthin geschleust, wo es gar<br />
nicht hin will – nach Südeuropa.<br />
Die Ausfallrisiken, die sich durch<br />
die ABS-Käufe in der Bilanz der<br />
EZB auftürmen, trägt der Steuerzahler.<br />
So treibt die EZB Europa<br />
in den Schuldensozialismus und<br />
die monetäre Planwirtschaft.<br />
Nach der Finanzkrise droht uns<br />
die (Geld-)Systemkrise.<br />
NACHGEFRAGT Mark Haefele<br />
»Der Aufschwung wird<br />
sich fortsetzen«<br />
Der Chef-Anlagestratege von UBS setzt auf die USA.<br />
Herr Haefele, würgen die Konflikte<br />
in der Ukraine und in<br />
Nahost die Weltwirtschaft ab?<br />
Die geopolitischen Konflikte<br />
haben die Unsicherheit erhöht.<br />
Allerdings haben sie die Energiepreise<br />
bisher nicht in die Höhe<br />
getrieben. Im Gegenteil: Der<br />
Ölpreis ist dieses Jahr gefallen.<br />
Ich rechne daher nicht damit,<br />
dass die Konflikte die Weltkonjunktur<br />
nachhaltig beeinträchtigen.<br />
Der Aufschwung wird<br />
sich im späteren Jahresverlauf<br />
fortsetzen.<br />
In Europa tritt die Wirtschaft<br />
auf der Stelle. Hängen die<br />
USA Europa konjunkturell mal<br />
wieder ab?<br />
Im zweiten Quartal sind die drei<br />
größten Volkswirtschaften der<br />
Euro-Zone nicht mehr gewachsen.<br />
Zudem haben nur 55 Prozent<br />
der Unternehmen in Europa<br />
die Gewinnerwartungen der<br />
Analysten in diesem Zeitraum<br />
übertroffen. Dagegen festigt<br />
sich die Konjunktur in den USA,<br />
wo 70 Prozent der Unternehmen<br />
die Gewinnerwartungen<br />
übertroffen haben. Dazu<br />
kommt, dass die US-Notenbank<br />
Fed im Fall des Falles eher bereit<br />
ist als die Europäische Zentralbank,<br />
der Wirtschaft unter<br />
die Arme zu greifen. Wir haben<br />
in unserem Portfolio Aktien<br />
und hochverzinsliche Unternehmensanleihen<br />
aus den USA<br />
daher übergewichtet, europäische<br />
Aktien hingegen auf neutral<br />
herabgestuft.<br />
Derzeit dreht sich die Diskussion<br />
in den USA darum, wann die<br />
Fed die Zinsen erhöht.<br />
Einige Kommentare von US-<br />
Notenbankern haben die Erwartung<br />
geweckt, die Fed werde<br />
die Zinsen rasch anheben. Das<br />
halte ich für unwahrscheinlich.<br />
Die Fed wird die Zinsen erst erhöhen,<br />
wenn sie sich sicher ist,<br />
DER GELDANLEGER<br />
Haefele, 43, ist Chef-Anlagestratege<br />
der Vermögensverwaltung<br />
der Schweizer Bank UBS. Dort<br />
verantwortet der an den US-<br />
Eliteunis Princeton und Harvard<br />
ausgebildete Ökonom die Anlage<br />
von zwei Billionen US-Dollar.<br />
dass die Konjunktur wieder festen<br />
Boden unter den Füßen hat.<br />
Ich rechne damit erst für Mitte<br />
nächsten Jahres.<br />
Die Renditen für Staatsanleihen<br />
in Europa und den USA befinden<br />
sich auf Talfahrt. Was ist<br />
der Grund dafür?<br />
Darin spiegelt sich vor allem die<br />
Flucht in die Sicherheit als Reaktion<br />
auf die Ukraine- und die<br />
Nahost-Krise wider. Sollten sich<br />
diese Krisen nicht weiter verschärfen,<br />
dürften die Renditen<br />
in den nächsten sechs Monaten<br />
wieder etwas steigen. In den<br />
USA könnten sie von derzeit 2,4<br />
auf etwa 2,8 Prozent für zehnjährige<br />
Staatsanleihen klettern.<br />
Wird es den Euro in fünf Jahren<br />
noch geben?<br />
Die Euro-Krise hat gezeigt, dass<br />
die Politiker und Notenbanker<br />
alles tun werden, um den Euro<br />
zu erhalten. Daher ist es möglich,<br />
dass die Bedeutung des Euro als<br />
Reservewährung sogar wächst.<br />
malte.fischer@wiwo.de<br />
FOTOS: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, PR<br />
40 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
KONJUNKTUR DEUTSCHLAND<br />
Der schwache Euro<br />
schiebt die Konjunktur<br />
Die nachlassende Dynamik in<br />
den Schwellenländern, die Stagnation<br />
in der Euro-Zone sowie<br />
die kriegerischen Auseinandersetzungen<br />
in der Ukraine und<br />
im Nahen Osten trüben die<br />
Aussichten für die deutschen<br />
Exporteure ein. Der Klimaindikator<br />
für die Ausfuhrwirtschaft,<br />
den das Münchner ifo Institut<br />
monatlich exklusiv für die WirtschaftsWoche<br />
ermittelt, ging im<br />
Juli auf 0,35 Punkte zurück. In<br />
den beiden Monaten zuvor lag<br />
der Index noch bei 0,4 Punkten.<br />
Ausschlaggebend für den<br />
Rückgang war das verschlechterte<br />
Unternehmens- und<br />
Verbrauchervertrauen im Ausland.<br />
Das trifft vor allem auf<br />
Europa zu, wo die Stimmung in<br />
Großbritannien und Österreich<br />
überdurchschnittlich<br />
sank. Auch in Belgien, Frankreich,<br />
Spanien und Italien ließ<br />
die Laune der Unternehmen<br />
und Verbraucher zu wünschen<br />
übrig.<br />
Dagegen hat sich die Stimmung<br />
der Betriebe in den USA<br />
kräftig aufgehellt. Der Einkaufsmanagerindex<br />
für die US-Industrie<br />
kletterte im August auf<br />
59,0 Punkte, den höchsten<br />
Stand seit Anfang 2011. Positiv<br />
auf das Exportklima wirkte sich<br />
die Abwertung des Euro aus, die<br />
die preisliche Wettbewerbsfähigkeit<br />
der deutschen Unternehmen<br />
verbesserte.<br />
Mitte vergangener Woche<br />
kostete ein Euro 1,31 Dollar, Anfang<br />
Mai waren es noch mehr<br />
als 1,39 Dollar gewesen. Die<br />
Schwäche des Euro ließ auch<br />
den Earlybird-Frühindikator für<br />
die deutsche Konjunktur, den<br />
die Commerzbank exklusiv für<br />
die WirtschaftsWoche ermittelt,<br />
im August gegen den Trend der<br />
meisten anderen Frühsignale<br />
Schlechtere Lage...<br />
Exportklima und Ausfuhren<br />
0,25<br />
0,20<br />
0,15<br />
0,10<br />
0,05<br />
0<br />
–0,05<br />
–0,10<br />
–0,15<br />
–0,20<br />
–0,25<br />
Exportklimaindikator<br />
1<br />
Exporte (real,<br />
saisonbereinigt,<br />
Veränderung zum<br />
Vorjahr in Prozent)<br />
08 09 10 11 12 13 14<br />
1 Geschäfts- und Konsumklima auf den<br />
wichtigsten Absatzmärkten sowie realer<br />
Außenwert des Euro (Indexpunkte);<br />
Quelle: ifo<br />
1,5<br />
1,0<br />
0,5<br />
0<br />
–0,5<br />
–1,0<br />
–1,5<br />
–2,0<br />
–2,5<br />
–3,0<br />
–3,5<br />
auf 0,45 Punkte steigen. Da der<br />
Earlybird einen deutlichen Vorlauf<br />
vor den anderen Frühindikatoren<br />
hat, rechnen die Ökonomen<br />
der Commerzbank<br />
damit, dass diese erst zur Jahreswende<br />
2014/15 wieder nach<br />
oben drehen und damit für<br />
2015 auf ein etwas höheres<br />
Wachstumstempo deuten.<br />
malte.fischer@wiwo.de<br />
...aber bessere Aussichten<br />
Bruttoinlandsprodukt und<br />
Earlybird-Konjunkturbarometer<br />
4,0<br />
2,0<br />
0<br />
–2,0<br />
–4,0<br />
Bruttoinlandsprodukt 1<br />
09<br />
Earlybird 2<br />
10 11 12 13 14<br />
1,0<br />
0,5<br />
0<br />
–0,0<br />
–1,0<br />
1<br />
zum Vorquartal (in Prozent); 2 gewichtete Summe<br />
aus kurzfristigem realem Zins, effektivem realem<br />
Außenwert des Euro und Einkaufsmanagerindizes;<br />
Quelle: Commerzbank<br />
Sorge um die<br />
Investitionen<br />
Vor wenigen Monaten hatten<br />
die Konjunkturanalysten noch<br />
frohlockt, die Schwäche der Investitionen<br />
sei überwunden. In<br />
den Winterquartalen 2013/14<br />
hatten die Unternehmen jeweils<br />
rund zwei Prozent mehr<br />
für neue Maschinen und Anlagen<br />
ausgegeben als im Vorquartal.<br />
Doch mittlerweile sind die<br />
Optimisten verstummt. Nicht<br />
ohne Grund: Im zweiten Quartal<br />
sanken die Investitionen der<br />
Firmen in Ausrüstungen schon<br />
wieder um 0,4 Prozent. Noch<br />
hoffen die Experten, dass es<br />
sich um eine vorübergehende<br />
Schwäche handelt, die durch<br />
die geopolitischen Spannungen<br />
ausgelöst wurde. Doch je länger<br />
diese andauern und je zäher<br />
sich die Konjunktur in der Euro-<br />
Zone berappelt, desto größer ist<br />
das Risiko, dass der Aufschwung<br />
der Investitionen<br />
schon wieder vorbei ist, bevor<br />
er richtig begonnen hat.<br />
Volkswirtschaftliche<br />
Gesamtrechnung<br />
Real. Bruttoinlandsprodukt<br />
Privater Konsum<br />
Staatskonsum<br />
Ausrüstungsinvestitionen<br />
Bauinvestitionen<br />
Sonstige Anlagen<br />
Ausfuhren<br />
Einfuhren<br />
Arbeitsmarkt,<br />
Produktion und Preise<br />
Industrieproduktion 1<br />
Auftragseingänge 1<br />
Einzelhandelsumsatz 1<br />
Exporte 2<br />
ifo-Geschäftsklimaindex<br />
Einkaufsmanagerindex<br />
GfK-Konsumklimaindex<br />
Verbraucherpreise 3<br />
Erzeugerpreise 3<br />
Importpreise 3<br />
Arbeitslosenzahl 4<br />
Offene Stellen 4<br />
Beschäftigte 4, 5<br />
2012 2013<br />
Durchschnitt<br />
0,4<br />
0,8<br />
1,0<br />
–4,0<br />
–1,4<br />
3,4<br />
3,2<br />
1,4<br />
2012 2013<br />
Durchschnitt<br />
–0,9<br />
-4,2<br />
0,1<br />
4,3<br />
105,0<br />
58,3<br />
5,9<br />
2,0<br />
1,6<br />
2,1<br />
2897<br />
478<br />
27488<br />
0,1<br />
0,9<br />
0,4<br />
–2,4<br />
–0,2<br />
3,0<br />
0,9<br />
1,5<br />
–0,2<br />
2,5<br />
0,3<br />
1,0<br />
106,9<br />
50,6<br />
6,5<br />
1,5<br />
–0,1<br />
–2,5<br />
2950<br />
457<br />
27778<br />
II/13 III/13 IV/13 I/14 II/14<br />
Veränderung zum Vorquartal in Prozent<br />
0,8<br />
0,7<br />
–0,2<br />
0,5<br />
1,7<br />
1,6<br />
2,5<br />
1,5<br />
Mai<br />
2014<br />
–1,7<br />
–1,7<br />
–0,2<br />
–1,1<br />
110,4<br />
52,3<br />
8,5<br />
0,9<br />
–0,8<br />
–2,1<br />
2904<br />
475<br />
29761<br />
1 Volumen, produzierendes Gewerbe, Veränderung zum Vormonat in Prozent; 2 nominal, Veränderung zum Vormonat in<br />
Prozent; 3 Veränderung zum Vorjahr in Prozent; 4 in Tausend, saisonbereinigt; 5 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte;<br />
alle Angaben bis auf Vorjahresvergleiche saisonbereinigt; Quelle: Thomson Reuters<br />
0,3<br />
0,3<br />
0,7<br />
0,1<br />
2,1<br />
1,4<br />
–0,1<br />
0,8<br />
Juni<br />
2014<br />
0,3<br />
–2,7<br />
1,0<br />
1,0<br />
109,7<br />
52,0<br />
8,6<br />
1,0<br />
–0,8<br />
–1,2<br />
2911<br />
483<br />
30234<br />
0,4<br />
–0,3<br />
–0,3<br />
1,4<br />
0,2<br />
1,2<br />
2,5<br />
1,3<br />
Juli<br />
2014<br />
–<br />
4,6<br />
–1,4<br />
–<br />
108,0<br />
52,4<br />
8,9<br />
0,9<br />
–0,8<br />
–1,7<br />
2900<br />
484<br />
–<br />
0,7<br />
0,7<br />
0,4<br />
3,3<br />
3,6<br />
-0,8<br />
0,2<br />
2,2<br />
Aug.<br />
2014<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
106,3<br />
51,4<br />
8,9<br />
0,9<br />
2901<br />
495<br />
–<br />
–0,2<br />
0,1<br />
0,1<br />
–0,4<br />
–4,2<br />
0,1<br />
0,9<br />
1,6<br />
Sept.<br />
2014<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
8,6<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
Letztes Quartal<br />
zum Vorjahr<br />
in Prozent<br />
0,8<br />
1,1<br />
0,5<br />
6,0<br />
10,2<br />
3,3<br />
5,5<br />
6,2<br />
Letzter Monat<br />
zum Vorjahr<br />
in Prozent<br />
–2,8<br />
5,0<br />
0,7<br />
1,7<br />
–1,4<br />
–0,8<br />
22,9<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–1,5<br />
9,5<br />
1,9<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 41<br />
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Der Volkswirt<br />
ROHSTOFFRADAR<br />
Politik? Egal!<br />
Die Rohstoffpreise bleiben von den aktuellen Kriegen<br />
und Krisen in der Welt unbeeinflusst – Händler und<br />
Investoren schauen stattdessen auf die Finanzmärkte.<br />
Die Krise im Osten der<br />
Ukraine ist zum Krieg<br />
ausgewachsen, die IS-<br />
Terroristen erobern weite Teile<br />
Syriens und des Erdöllands Irak<br />
– und für die Preise der wichtigsten<br />
Grundstoffe der Weltwirtschaft<br />
hat das keine Bedeutung.<br />
Warum?<br />
„Die politischen Ereignisse<br />
werden derzeit von den Rohstoffmärkten<br />
ignoriert“, beobachtet<br />
Daniel Briesemann,<br />
Rohstoffexperte der Commerzbank<br />
in Frankfurt. Viele Preise<br />
sinken, und wo die Preise steigen,<br />
liegt das nicht an den großen<br />
Krisen.<br />
Aber auch Veränderungen<br />
von Angebot und Nachfrage<br />
in der Realwirtschaft<br />
sind nur in Einzelfällen<br />
ausschlaggebend.<br />
Beim Kakao etwa: Der<br />
steigt im Preis, weil<br />
die Ebola-Seuche<br />
auf wichtige Anbaugebiete<br />
in Westafrika<br />
überzugreifen<br />
droht. Von solchen<br />
Ausnahmen abgesehen,<br />
entwickeln sich<br />
die Rohstoffmärkte<br />
derzeit ganz im Schatten<br />
der Ereignisse und<br />
Erwartungen an den<br />
Finanzmärkten.<br />
Und das bedeutet tendenziell<br />
sinkende Rohstoffpreise.<br />
Weil die Aktienkurse an den<br />
meisten wichtigen Weltbörsen –<br />
allen voran in New York – gestiegen<br />
sind, haben große Investoren<br />
derzeit relativ wenig<br />
Interesse an Alternativen zur<br />
Geldanlage in Aktien. In die<br />
gleiche Richtung wirkt der im<br />
Vergleich zum Euro wieder erstarkte<br />
Dollar, sagt Commerzbank-Analyst<br />
Briesemann. Für<br />
Energie<br />
Erdöl<br />
(Brent)<br />
Diesel<br />
Rohstoffabnehmer hierzulande<br />
ist das natürlich positiv, auch<br />
wenn der tendenziell sinkende<br />
Außenwert des Euro den Effekt<br />
der Preissenkung aus deutscher<br />
Sicht reduziert.<br />
Beim für die Konjunktur<br />
wichtigsten Rohstoffpreis gibt<br />
es aber auch realwirtschaftliche<br />
Gründe für sinkende Preise: Die<br />
internationale Nachfrage nach<br />
Rohöl ist konjunkturbedingt<br />
Zucker<br />
Weizen<br />
Gasöl<br />
Raps<br />
Kohle<br />
Landwirtschaftsprodukte<br />
Mais<br />
Volatilitäten im Zeitraum<br />
<strong>vom</strong> 1.9.2013 bis 31.8.2014<br />
24,7<br />
Strom<br />
Kakao<br />
Baumwolle<br />
Flugbenzin<br />
Emissionsrechte<br />
Vergleichswerte<br />
27,6<br />
13,5 14,9<br />
53,2<br />
Palladium<br />
in<br />
%<br />
100<br />
50<br />
30<br />
20<br />
10<br />
5,1<br />
30<br />
50<br />
100<br />
verhalten, das Angebot dagegen<br />
wächst. Das liegt an der Produktionssteigerung<br />
in mehreren<br />
Opec-Staaten. Der Irak exportiert<br />
sein Öl, als gäbe es keinen<br />
Krieg im nördlichen Landesteil.<br />
In Libyen funktionieren trotz<br />
der bürgerkriegsartigen Wirren<br />
die Ölhäfen wieder. Und das<br />
große Ölförderland Saudi-<br />
Arabien baut trotz der relativ<br />
schwachen Nachfrage seine<br />
Produktion weiter aus. Die Saudis<br />
haben ihre alte Politik aufgegeben,<br />
bei sinkender Nachfrage<br />
regelmäßig ihre Förderung zu<br />
drosseln, um so den Preis stabil<br />
zu halten.<br />
Zu diesem Abwärtstrend der<br />
Preise kommt eine deutliche<br />
Abnahme der Volatilität in den<br />
vergangenen Monaten. Inso-<br />
Euro-/<br />
Dollar-<br />
Kurs<br />
n Der Rohstoffradar misst die Volatilität ausgewählter Preise<br />
und ist damit ein wichtiger Indikator für Unternehmen und Anleger.<br />
Er stellt die durchschnittliche prozentuale Abweichung <strong>vom</strong> Mittelwert<br />
der vergangenen zwölf Monate grafisch dar. Hohe Schwankungsbreiten<br />
signalisieren steigende Preis- und Planungsrisiken. Der Rohstoffradar<br />
erscheint dreimal jährlich exklusiv in der WirtschaftsWoche.<br />
Silber<br />
21,9<br />
Zinsen<br />
16,3<br />
15,6<br />
17,6<br />
14,4<br />
13,3<br />
15,2<br />
13,9 0<br />
15,7<br />
15,9<br />
14,9<br />
10 15,8<br />
20,7 18,5 16,1 14,7 17,0<br />
20<br />
22,5 23,2<br />
Platin<br />
23,3<br />
Eisenfeinerz<br />
Edelmetalle<br />
Quelle:<br />
Commerzbank<br />
Gold<br />
Blei<br />
Aluminium<br />
Zinn<br />
Kupfer<br />
Nickel<br />
Zink<br />
Was steigt, was fällt<br />
Preisentwicklung ausgewählter<br />
Rohstoffe seit Jahresbeginn<br />
fern verbindet sich mit dem aktuellen<br />
Rohstoffradar, den die<br />
Commerzbank exklusiv für die<br />
WirtschaftsWoche erstellt hat<br />
(siehe Grafik), eine gute Nachricht<br />
für Unternehmen, die Planungssicherheit<br />
für ihre <strong>Ausgabe</strong>n<br />
erstreben.<br />
Es gibt aber Ausnahmen von<br />
diesem erfreulichen Trend:<br />
Nickel und Aluminium haben<br />
sich dieses Jahr dramatisch<br />
verteuert – weil<br />
das wichtige Exportland<br />
Indonesien die<br />
Ausfuhr blockierte.<br />
Die Regierung in Jakarta<br />
will nicht länger<br />
dulden, dass indonesisches<br />
Erz im Rohzustand<br />
an ausländische<br />
Schmelzen und Raffinerien<br />
geliefert wird<br />
und die einheimische<br />
Wirtschaft an der einträglichen<br />
Weiterverarbeitung<br />
nichts verdient. Weil es aber<br />
entsprechende Anlagen in Indonesien<br />
noch nicht gibt, drohte<br />
weltweit der für die Stahlveredelung<br />
notwendige Rohstoff<br />
Nickel knapp zu werden.<br />
Inzwischen hat Indonesien<br />
seine Pläne revidiert, und der<br />
Nickelpreis hat sich etwas beruhigt.<br />
Der ganze Vorgang zeigt<br />
aber, wie abhängig die Rohstoffmärkte<br />
von der Politik sein können<br />
– nach wie vor.<br />
n<br />
Industriemetalle<br />
Nickel<br />
Palladium<br />
Aluminium<br />
Kakao<br />
Gold<br />
–3<br />
–5<br />
–6<br />
–7<br />
–8<br />
7<br />
Rohöl (WTI)<br />
Kupfer<br />
Zucker<br />
Quelle: Commerzbank;<br />
Stand 1.9.2014<br />
Weizen (CBOT)<br />
Diesel<br />
17<br />
17<br />
in Prozent<br />
27<br />
35<br />
hansjakob.ginsburg@wiwo.de<br />
42 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Der Volkswirt<br />
WARUM EIGENTLICH...<br />
...will die EZB den Markt für<br />
Kreditverbriefungen wiederbeleben?<br />
Experten eilen zu Hilfe US-Vermögensverwalter Blackrock<br />
Als Giftpapiere gelten Kreditverbriefungen<br />
seit der<br />
Finanzkrise von 2008.<br />
Mitauslöser der Krise waren die<br />
Papiere, mit deren Hilfe Banken<br />
bestimmte Forderungen gebündelt<br />
an Investoren auf dem<br />
Kapitalmarkt weiterreichten:<br />
mit privaten Wohnimmobilien<br />
besicherte Hypothekenkredite.<br />
Die Papiere steckten allerdings<br />
voller Forderungen mit<br />
schlechter Bonität. Als die Immobilienblase<br />
in den USA<br />
platzte, war ein Gros der von<br />
Ratingagenturen mit guten Noten<br />
bewerteten Anleihen über<br />
Nacht wertlos. Investoren weltweit<br />
verloren Milliarden. Seitdem<br />
ist der Markt für forderungsbesicherte<br />
Wertpapiere<br />
(Asset Backed Securities, kurz:<br />
ABS) verbrannt. Das Volumen<br />
dieser Anleihen sank in Europa<br />
von rund 700 Milliarden Euro in<br />
2008 auf rund 180 Milliarden<br />
Euro in 2013.<br />
In den ersten sechs Monaten<br />
dieses Jahres sind nach Zahlen<br />
der DZ Bank Verbriefungen für<br />
rund 85 Milliarden Euro in Europa<br />
emittiert worden. Anders<br />
in den USA – dort läuft das Geschäft<br />
mit Verbriefungen längst<br />
wieder auf Hochtouren.<br />
Das Paradoxe daran: In Europa<br />
waren die Ausfallraten von<br />
ABS-Anleihen im Zeitraum<br />
2007 bis 2013 mit 1,4 Prozent relativ<br />
gering, wie die Ratingagentur<br />
Standard & Poor’s analysiert<br />
hat. In den USA dagegen lag die<br />
Ausfallrate dieser Papiere im<br />
selben Zeitraum mit 17,4 Prozent<br />
um ein Vielfaches höher.<br />
Nun will ausgerechnet die<br />
Europäische Zentralbank (EZB)<br />
den Markt für Kreditverbriefungen<br />
ankurbeln. Ein gut funktionierender<br />
ABS-Markt sei die Voraussetzung<br />
dafür, dass Europas<br />
Kreditmärkte wieder in Schwung<br />
kommen, so EZB-Präsident Mario<br />
Draghi.<br />
BAD BANK EZB?<br />
Seit Wochen arbeiten deswegen<br />
die Experten der EZB an einem<br />
Programm, mit dem der ABS-<br />
Markt wiederbelebt werden<br />
könnte. Die Idee dahinter:<br />
Kauft die EZB diese Verbriefungen<br />
auf, werden die Banken den<br />
entsprechenden Teil ihrer Kreditrisiken<br />
in der Bilanz los. Das<br />
frei gewordene Kapital können<br />
sie nutzen, um neue Kredite an<br />
Unternehmen zu vergeben.<br />
Diese wiederum investieren in<br />
neue Geschäfte, Produkte oder<br />
Anlagen – und dies belebt die<br />
Konjunktur.<br />
Die Notenbank würde so im<br />
Prinzip als Investor in das Geschäft<br />
mit Verbriefungen einsteigen.<br />
Mutiert sie damit zum<br />
Schrottplatz für risikoreiche<br />
Kredite der Banken und zu einer<br />
europäischen Bad Bank,<br />
wie Kritiker behaupten? Ganz<br />
so einfach ist es nicht.<br />
Tatsächlich sind Verbriefungen<br />
von Forderungen eine gute<br />
Möglichkeit zur Refinanzierung,<br />
wenn sie transparent<br />
strukturiert und die Risiken für<br />
Investoren kalkulierbar sind.<br />
Genau das aber ist das Problem.<br />
Das Geschäft mit Verbriefungen<br />
ist hochkomplex und für Banken<br />
wie Investoren aufwendig.<br />
Das Risiko der in Tranchen und<br />
unterschiedliche Güteklassen<br />
aufgeteilten Papiere ist oft<br />
schwer zu erkennen.<br />
Gerade deshalb haben die<br />
Aufsichtsbehörden nach der Finanzkrise<br />
striktere Regeln für<br />
ABS-Anleihen aufgestellt. So<br />
müssen die Papiere etwa mit<br />
sieben Prozent Eigenkapital unterlegt<br />
werden. Bei den Banken<br />
heißt es deswegen, die hohen<br />
regulatorischen Anforderungen<br />
und die Unsicherheit, welche<br />
weiteren Vorschriften für Kreditverbriefungen<br />
geplant sind,<br />
seien der Grund dafür, dass der<br />
Markt nicht in Gang käme.<br />
Die EZB kündigte auf ihrer<br />
Zinssitzung in der vergangenen<br />
Woche an, einfache und transparente<br />
Kreditverbriefungen<br />
zu kaufen – und zwar nur<br />
„Senior Tranchen“, also den Teil<br />
der Verbriefungen mit geringem<br />
Ausfallrisiko und guter<br />
Bewertung. Kaufen will sie mittelständische<br />
Anleihen und<br />
Verbriefungen von privaten<br />
Wohnkrediten, von Banken wie<br />
auch von Investoren. Für gut<br />
bewertete Anleihen aber ist die<br />
Nachfrage von Investoren jetzt<br />
schon hoch. Der Markt sei dreifach<br />
überzeichnet, stellen die<br />
Analysten der DZ Bank fest.<br />
Wenn die Nachfrage aber jetzt<br />
schon das Angebot in diesem<br />
Segment übersteigt, welche<br />
Wirkung soll dann ein Kaufprogramm<br />
der EZB auf die Kreditvergabe<br />
der Banken haben?<br />
Und wie will die EZB sicherstellen,<br />
dass mehr Geld für private<br />
Investitionen in den Euro-Peripherieländern<br />
bereitsteht?<br />
ZU RISKANT<br />
Eine Möglichkeit wäre, ABS von<br />
geringerer Qualität mit Staatsgarantien<br />
zu versehen, wie dies<br />
EZB-Direktor Benoît Cœuré<br />
kürzlich vorgeschlagen hat.<br />
Doch das gilt als zu riskant. Nun<br />
soll der größte Vermögensverwalter<br />
der Welt, das US-Finanzinstitut<br />
Blackrock, der EZB bei<br />
der Entwicklung ihres ABS-<br />
Kauprogramms helfen. Erfahren<br />
sind die Amerikaner in diesem<br />
Geschäft. Die Firma half<br />
schon der US-Regierung und<br />
der Fed, faule Kredite zu bewerten<br />
– und verkaufte die Papiere<br />
dann auch an die eigene Kundschaft.<br />
Schon in den USA rief<br />
dies Kritiker auf den Plan. Das<br />
Spiel wiederholt sich jetzt in Europa.<br />
Unterstützung bekommt<br />
die EZB auch von der EU-Kommission.<br />
Die EU-Finanzminister<br />
beraten am kommenden<br />
Wochenende bei ihrem Treffen<br />
in Mailand, wie sich der Verbriefungsmarkt<br />
ankurbeln lässt.<br />
Bis Anfang 2015 will die EU-<br />
Kommission entscheiden, ob<br />
die strikten Regeln für<br />
ABS entschärft werden sollen,<br />
um den Markt zu beleben.<br />
angela.hennersdorf@wiwo.de | Frankfurt<br />
FOTO: BLOOMBERG NEWS/SCOTT EELLS<br />
44 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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DENKFABRIK | Die Europäische Zentralbank will spekulative Übertreibungen an den<br />
Finanz- und Immobilienmärkten nicht mehr durch höhere Leitzinsen bekämpfen,<br />
sondern durch aufsichtsrechtliche Maßnahmen. Die geldpolitische Kehrtwende treibt<br />
die Vermögenspreise und ist gefährlich. Von Jörg Krämer<br />
Draghis Kehrtwende<br />
FOTOS: PR, LAIF/REA/ERIC TSCHAEN<br />
An den Finanzmärkten<br />
drohen wieder spekulative<br />
Übertreibungen.<br />
So liegt die<br />
Rendite der zehnjährigen Bundesanleihe<br />
unter einem Prozent,<br />
die Risikoaufschläge von<br />
Unternehmensanleihen sind<br />
wieder fast so niedrig wie vor<br />
Ausbruch der Finanzkrise, und<br />
die Sorglosigkeit an den Devisenmärkten<br />
ist, gemessen an<br />
den Optionspreisen, sogar<br />
niedriger als damals. Das Platzen<br />
solcher Blasen kann ganze<br />
Volkswirtschaften ins Verderben<br />
stürzen. Deshalb drängt die<br />
Bank für Internationalen Zahlungsausgleich<br />
(BIZ), die Zentralbank<br />
der Zentralbanken, ihre<br />
Mitglieder gegenzusteuern.<br />
Die Europäische Zentralbank<br />
(EZB) und die US-Notenbank<br />
sollten die Leitzinsen anheben,<br />
um so den Risiken für die<br />
Finanzmarktstabilität zu begegnen,<br />
auch wenn eine niedrige<br />
Inflation und eine schwache<br />
Konjunktur, wie im Euro-Raum,<br />
für sich genommen eine Nullzinspolitik<br />
nahelegen.<br />
ANTIZYKLISCHE PUFFER<br />
Noch vor vier Jahren war die<br />
EZB derselben Meinung wie die<br />
BIZ. In ihrem Monatsbericht<br />
<strong>vom</strong> November 2010 schrieb<br />
sie, „dass ein Gegensteuern bei<br />
Vermögenspreisblasen erwogen<br />
werden sollte, wenn Zinsbeschlüsse<br />
getroffen werden“.<br />
Die Notenbank müsse verhindern,<br />
dass das Entstehen einer<br />
„Vermögenspreisblase durch<br />
eine zu expansive Geldpolitik<br />
unterstützt“ werde.<br />
Vor zwei Monaten vollzog EZB-<br />
Präsident Mario Draghi allerdings<br />
eine Kehrtwende. Er verkündete,<br />
die EZB wolle die stark<br />
gestiegenen Vermögenspreise<br />
nicht durch das Naheliegende eindämmen,<br />
nämlich durch eine etwas<br />
straffere Geldpolitik, wie es die<br />
BIZ fordert. Stattdessen setze die<br />
EZB jetzt auf sogenannte makroprudentielle<br />
Maßnahmen. Ein typisches<br />
Beispiel für solche aufsichtsrechtlichen<br />
Maßnahmen sind<br />
antizyklische Kapitalpuffer: Wenn<br />
Banken über einen längeren Zeitraum<br />
zu viele Kredite vergeben,<br />
kann die Bankenaufsicht fordern,<br />
dass die Institute zusätzliches Kapital<br />
bilden. Das verteuert und<br />
begrenzt die Kreditvergabe und<br />
»Die lockere<br />
Geldpolitik der<br />
Frankfurter<br />
Währungshüter<br />
facht die<br />
Vermögenspreise<br />
an«<br />
macht die Banken widerstandsfähiger,<br />
falls Kreditnehmer ausfallen<br />
und es zu Abschreibungen kommt.<br />
Die Schweizerische Nationalbank<br />
hat solche Kapitalpuffer vorgeschrieben,<br />
um auf die stark steigenden<br />
Hypothekenkredite und<br />
Immobilienpreise zu reagieren. Ein<br />
weiteres Beispiel für makroprudentielle<br />
Maßnahmen sind Vorschriften,<br />
nach denen Banken<br />
mehr Liquidität vorhalten müssen,<br />
wenn sich Übertreibungen an den<br />
Finanzmärkten abzeichnen. Die<br />
Liste solcher aufsichtsrechtlicher<br />
Maßnahmen ist lang.<br />
Mit dem Rückgriff auf makroprudentielle<br />
Maßnahmen suggeriert<br />
die EZB, sie könne die<br />
massiven Nebenwirkungen ihrer<br />
lockeren Geldpolitik durch chirurgische<br />
Eingriffe ihrer Bankenaufseher<br />
neutralisieren. Dieser Strategiewechsel<br />
lässt sich kaum mit rein<br />
ökonomischen Argumenten erklären.<br />
Denn ein erfolgreicher chirurgischer<br />
Eingriff setzt voraus, dass<br />
bekannt ist, wo genau die nächste<br />
Vermögenspreisblase droht. Weil<br />
dies schwer vorherzusehen ist, ist<br />
ein geldpolitisches Gegensteuern<br />
mit dem Leitzins erfolgversprechender.<br />
Denn dies reduziert die<br />
allgemeine Risikoneigung. Der<br />
wahre Grund für die Kehrtwende<br />
der EZB dürfte schlicht sein, dass<br />
sie die Zinsen nicht erhöhen will,<br />
weil sie Rücksicht nimmt auf die<br />
hoch verschuldeten Staaten und<br />
ihre Banken, die auf Geheiß der Finanzminister<br />
viele Staatsanleihen<br />
gekauft haben.<br />
Drohende spekulative Blasen<br />
nicht durch eine etwas straffere<br />
Geldpolitik, sondern vor allem<br />
durch makroprudentielle Maßnahmen<br />
zu bekämpfen ist gerade<br />
im Fall der EZB risikoreich. Denn<br />
die lockere Geldpolitik der Frankfurter<br />
Währungshüter facht ohne<br />
Zweifel die Vermögenspreise an.<br />
Anleger sind wegen der Niedrigzinsen<br />
faktisch gezwungen, auf<br />
risikoreichere Anlagen auszuwei-<br />
chen. Das treibt deren Preise<br />
und Kurse nach oben. Makroprudentielle<br />
Maßnahmen sind<br />
schlichtweg überfordert, die<br />
Wucht der Nullzinspolitik zu<br />
neutralisieren. Die Bankenaufsicht<br />
ist nicht allwissend und<br />
kann nicht alle Löcher mit dem<br />
Aufsichtsrecht stopfen.<br />
GEMISCHTE ERFAHRUNG<br />
So ist es den antizyklischen<br />
Kapitalpuffern in der Schweiz<br />
bisher nicht gelungen, die von<br />
der lockeren Geldpolitik der<br />
Schweizerischen Nationalbank<br />
angefachte Hypothekenkreditvergabe<br />
einzudämmen, die<br />
Häuserpreise steigen weiter. In<br />
Ungarn konnte die Bankenaufsicht<br />
nicht verhindern, dass viele<br />
Bürger ihre Hauskäufe mit<br />
scheinbar günstigen Fremdwährungsdarlehen<br />
finanziert<br />
hatten, die sie nach der Abwertung<br />
des Forint kaum noch bedienen<br />
konnten. Alles in allem<br />
sind die Erfahrungen mit makroprudentiellen<br />
Maßnahmen gemischt.<br />
Der Chefvolkswirt der<br />
BIZ, Claudio Borio, vergleicht<br />
die lockere Geldpolitik zu Recht<br />
mit Wasser, das sich seinen<br />
Weg vorbei an allen Sperren<br />
sucht. Hält die EZB trotz aller<br />
Warnungen an ihrer lockeren<br />
Geldpolitik fest, wofür alles<br />
spricht, dürften die Vermögenspreise<br />
in den kommenden Jahren<br />
weiter steigen. Das Risiko ist<br />
beträchtlich, dass dies in einer<br />
spekulativen Blase endet.<br />
Jörg Krämer ist Chefvolkswirt<br />
der Commerzbank. Zuvor hat<br />
der in Kiel promovierte Volkswirt<br />
unter anderem am Institut<br />
für Weltwirtschaft in Kiel und<br />
für die Investmentbank Merrill<br />
Lynch gearbeitet.<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 45<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Vor dem großen Sprung<br />
CHINA | Der E-Commerce-Gigant und Börsenkandidat Alibaba ist nicht<br />
der einzige Konzern aus dem Reich der Mitte, der an die Weltspitze will.<br />
Auch der PC-Riese Lenovo strebt ein weiteres Mal nach der<br />
Poleposition, diesmal mit Smartphones. Samsung, Amazon<br />
und Microsoft, aber auch deutsche Autobauer müssen<br />
sich hüten vor den angriffslustigen Drachen aus Fernost.<br />
Samsung<br />
Umsatz: 327 Mrd. $<br />
Gewinn: 20 Mrd. $<br />
z.B. VW<br />
Fernziel ist der Wettbewerb mit<br />
den weltweiten Premiumanbietern<br />
aus Europa, Asien und den USA<br />
Apple<br />
Umsatz: 178,1 Mrd. $<br />
Gewinn: 38,5 Mrd. $<br />
XIAOMI Smartphones<br />
Umsatz/Gewinn (1. Hj. 2014): 5,3Mrd .$/k.A.<br />
Marktanteile: 14% in China<br />
Position in China: Senkrechtstarter,26 Mio. verkaufte Handys 1. Hj. 2014<br />
Story: Handys kosten nur 100 $, aktiv in Südostasien,<br />
Expansion nach Russland und in andere Schwellenländer,<br />
fast nur Online-Verkäufe, hauchdünne Margen<br />
QOROS Autos<br />
Umsatz/Gewinn: k.A./255Mio.$Verlust<br />
UNIONPAY bargeldlose Zahlung<br />
Marktanteile/Marktkapitalisierung:vernachlässigbar/nicht börsennotiert<br />
Position<br />
in China: erste weltmarktfähigeLimousine<br />
Story: Produktion läuftan,2015rund300000 Fahrzeuge geplant,<br />
Expansion<br />
in Schwellenländer und Osteuropa, gegen Premiumhersteller<br />
Umsatz/Gewinn(2011): 1 Mrd. $/k.A.<br />
3,5 Mrd. Kreditkarten in China<br />
Marktanteile:<br />
k.A.<br />
Marktkapitalisierung:<br />
Position<br />
in China: Nr. 1, nur fünf Prozent<br />
Auslandsumsatz<br />
Umsatz/Gewinn: 10 Mrd. $/2,5 Mrd. $<br />
TENCE N T<br />
in China, 100 Millionen außerhalb<br />
Position in China: Messenger WeChat<br />
Marktführer<br />
400 Mio. Nutzer<br />
Marktkapitalisierung: 150 Mrd.<br />
von US Computerspieleherstellern<br />
Story: weltweite Expansion, Übernahme<br />
Soziale Netzwerke<br />
nach Visa<br />
Story: zweitgrößtes Bezahlnetzwerk<br />
Visa<br />
Umsatz: 11,8 Mrd. $<br />
Gewinn: 4,9 Mrd. $<br />
Facebook<br />
Umsatz: 7,9 Mrd. $<br />
Gewinn: 1,5 Mrd. $<br />
Wenn nicht anders erwähnt, Umsatz/Gewinn 2013; Quelle Unternehmensangaben<br />
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BAIDU<br />
Google<br />
Umsatz: 59,8 Mrd. $<br />
Gewinn: 12,9 Mrd. $<br />
Samsung<br />
Umsatz: 327 Mrd. $<br />
Gewinn: 20 Mrd. $<br />
Apple<br />
Umsatz: 178,1 Mrd. $<br />
Gewinn: 38,5 Mrd. $<br />
Umsatz/Gewinn:5,2 Mrd. $/1,7 Mrd. $<br />
Internet-Suchmaschine<br />
Marktanteile:ca.65% in China<br />
Marktkapitalisierung: 74 Mrd. $<br />
Position in China: Marktführer<br />
Story: Größter Auslandsmarkt Brasilien, Expansion<br />
im arabischen Raum, zensiert<br />
Inhalte in China<br />
Expansion, Europa-Zentrale in Düsseldorf<br />
Story: Nähe zum chinesischen Militär, globale<br />
Marktanteile: k.A.<br />
Position in China: Marktführer und in 140 Ländern<br />
Marktkapitalisierung: privates Unternehmen<br />
aktiv<br />
Umsatz/Gewinn: 40 Mrd.$/3,5 Mrd. $<br />
HUAWEI Telekommunikationsausrüstung<br />
Position in China: Nr.1|Warenumsatz: 248 Mrd. $<br />
LENOVO<br />
Umsatz/Gewinn: 8 Mrd. $/3,6 Mrd. $<br />
Online-Handel<br />
ALIBABA<br />
Marktkapitalisierung:<br />
zu 200 Mrd. $<br />
Schätzungen bis<br />
Story: geht demnächst an die Börse, expandiert<br />
mit<br />
Umsatz/Gewinn: 34 Mrd. $/1 Mrd. $<br />
PC, Smartphones, Tablets<br />
Marktanteile weltweit/China: 18,6 %/40 %<br />
Umsatz in China: 70 %, mit Motorola stark in den USA<br />
Markkapitalisierung:11,4 Mrd. $<br />
auch bei Smartphones die Nr. 1 zu werden<br />
seinem Flaggschiff Taobao in Südostasien,<br />
übernimmt in den USA Wettbewerber<br />
Story: setzt auf Masse und versucht, nach den PCs nun<br />
HP<br />
Umsatz: 112 Mrd. $<br />
Gewinn: 5,1 Mrd. $<br />
Cisco<br />
Umsatz: 47,1 Mrd. $<br />
Gewinn: 7,8 Mrd. $<br />
Ebay<br />
Umsatz: 16 Mrd. $<br />
Gewinn: 2,8 Mrd. $<br />
Amazon<br />
Umsatz: 81,7 Mrd. $<br />
Gewinn: 0,18 Mrd. $<br />
ILLUSTRATION: STEFFEN MACKERT<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 49<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Sie zählen 49 Jahre, sind Charismatiker<br />
und haben Aufregendes<br />
mitzuteilen. YY nennt sich<br />
der eine, für Yang Yuanqing. Er<br />
hat den chinesischen Konzern<br />
Lenovo zum größten PC-Hersteller der<br />
Welt gemacht. Sein Pendant heißt Jack Ma<br />
und regiert Alibaba.<br />
Ma, aufgestiegen <strong>vom</strong> Englisch-Lehrer<br />
zum Internet-Star, will den chinesischen<br />
E-Commerce-Giganten in der zweiten<br />
Septemberhälfte an die Börse bringen. Das<br />
dürfte dem Unternehmen nach Schätzungen<br />
von Analysten einen Börsenwert von<br />
200 Milliarden US-Dollar bescheren.<br />
Prompt haute er vorige Woche auf<br />
die Pauke und verkündete zwei<br />
Milliarden US-Dollar Gewinn im<br />
ersten Quartal des Geschäftsjahrs<br />
bei 2,5 Milliarden Umsatz – glatt<br />
die doppelte Marge von Apple.<br />
Yang dagegen ließ am vorigen<br />
Donnerstag in Chicago einen<br />
Schleier lüften – für eine neue Generation<br />
Smartphones der Marke<br />
Motorola, die Lenovo von Google übernahm,<br />
sowie für ein neues digitales Armbandgerät<br />
namens Moto 360 Smartwatch –<br />
alles gezielt ein paar Tage bevor Apple das<br />
neue iPhone vorstellt.<br />
„Unsere Philosophie ist“, tönt Lenovo-<br />
Chef Yang im Interview mit der WirtschaftsWoche<br />
(siehe Seite 54): „ Wenn man<br />
nicht die Nummer eins werden will,<br />
braucht man gar nicht erst antreten.“ Und<br />
zuvor hatte Börsenaspirant Ma geprustet:<br />
„Wenn Alibaba nicht so wichtig wird wie<br />
Microsoft oder Wal-Mart, werde ich das für<br />
den Rest meines Lebens bedauern.“<br />
Mit ihrem Weltherrschaftsanspruch sind<br />
Yang und Ma in China nicht mehr allein.<br />
Auch andere Konzernlenker im Reich der<br />
Mitte, deren Unternehmen in den vergangenen<br />
Jahren dank des bevölkerungsreichsten<br />
Binnenmarktes der Welt erstarkt<br />
sind, starten zum Angriff auf derzeit globale<br />
Champions im Ausland.<br />
Die Schar der Angreifer ist bunt. Sie reichen<br />
<strong>vom</strong> Messaging-Dienst und sozialen<br />
Netzwerk Tencent über die Internet-Suchmaschine<br />
Baidu bis zum Kreditkarten- und<br />
Bezahlkonzern Unionpay. Mit Qoros hat<br />
sich sogar ein Autobauer aufgemacht, um<br />
die Konkurrenz aus den reifen Industrieländern<br />
einmal mit Qualitätsautos made in<br />
China anzugreifen. Deutschlands Anbieter<br />
etwa aus dem VW-Konzern sind genauso<br />
gewarnt wie Kreditkartengesellschaften<br />
<strong>vom</strong> Typ Visa oder der Handybauer Samsung,<br />
aber auch IT- und Internet-Stars aus<br />
»Wenn Alibaba nicht<br />
so wichtig wird wie<br />
Microsoft und<br />
Wal-Mart, werde ich<br />
das bedauern«<br />
Alibaba-Chef Jack Ma<br />
den USA von Google über Facebook bis zu<br />
Microsoft.<br />
Die Gründe, sich über die Landesgrenzen<br />
hinaus auszudehnen, sind vielfältig.<br />
Kein Zweifel, wichtige Schützenhilfe erhielten<br />
die chinesischen Konzerne von ihrer<br />
Regierung. Besonders deutlich zeigt<br />
sich das im Internet. Facebook, Google,<br />
YouTube, Twitter – die westlichen Erfolgsunternehmen<br />
des Web 2.0 sind in China<br />
gesperrt. Denn sie beugen sich nicht der<br />
staatlichen Zensur. Google verließ den Riesenmarkt<br />
deshalb 2010. Facebook und<br />
Twitter durften gar nicht erst antreten.<br />
So konnte etwa der chinesische Internet-<br />
Suchmaschinenanbieter Baidu in China<br />
groß werden. Heute kontrolliert Baidu 65<br />
Prozent des Marktes. Der börsennotierte<br />
Konzern kommt den chinesischen Zensurvorgaben<br />
mit vorauseilendem Gehorsam<br />
entgegen: Web-Sites, die den Vorgaben der<br />
Regierung widersprechen, tauchen bei<br />
Baidu gar nicht erst auf.<br />
Der chinesische Konzern Tencent wiederum<br />
hat davon profitiert, dass die Web-<br />
Seiten Facebook und Twitter in China gesperrt<br />
sind. WeChat, auf Chinesisch Weixin,<br />
ein Klon der Facebook-Tochter Whats-<br />
App, ist heute das beliebteste Kommunikationsmedium<br />
der Chinesen. 400 Millionen<br />
User schicken sich damit Nachrichten. Der<br />
Instant-Messenger QQ hat gar 800 Millionen<br />
Nutzer. Videos schauen Chinesen<br />
nicht auf YouTube sondern auf Youku.<br />
Das Web ist nicht das einzige Feld der digitalen<br />
Welt, in dem Chinas Unternehmen<br />
aktiver und aggressiver gegen westliche<br />
Konkurrenten auftreten. Der Senkrechtstarter<br />
der vergangenen Monate heißt Xiaomi,<br />
was so viel wie „kleiner Reis“ bedeutet.<br />
Auch Xiaomi folgt dem Modell: kopieren<br />
und verbessern. Zwar kann der Handyhersteller<br />
etwa Apple nicht das Wasser reichen,<br />
doch mit umgerechnet 100 US-Dollar<br />
sind die Telefone im Preis unschlagbar.<br />
Der chinesische Staat hilft, wo er kann,<br />
den eigenen Unternehmen, im Kampf gegen<br />
Platzhirsche jenseits der Grenzen anzugreifen.<br />
So hat die Regierung in Peking<br />
vor wenigen Tagen angekündigt, das Betriebssystem<br />
Windows des US-Softwarekonzerns<br />
Microsoft auf den Computern im<br />
Reich der Mitte durch eine eigene Kreation<br />
zu ersetzen. Schon im Herbst soll das ambitionierte<br />
Vorhaben starten.<br />
Und das ist erst der Anfang. Da immer<br />
mehr Menschen Smartphones und Tablets<br />
nutzen, auf denen Windows unter „ferner<br />
liefen“ rangiert, will die Regierung auch ein<br />
chinesisches Betriebssystem für drahtlose<br />
Geräte in Auftrag geben. „In drei bis fünf<br />
Jahren“, so die Ankündigung, soll es eine<br />
chinesische Alternative zu Android von<br />
Google und iOS von Apple geben, komplett<br />
mit der nötigen Infrastruktur für<br />
Smartphone-Apps und Web-Dienste.<br />
SCHUTZPATRON STAAT<br />
Größenwahn? Reaktion auf US-Cyber-<br />
Schnüffeleien? Taktische Drohgebärde?<br />
Gegen Microsoft läuft derzeit in China eine<br />
Untersuchung wegen Machtmissbrauchs.<br />
Windows 8 auf den Computern chinesischer<br />
Behörden ist seit Mai untersagt. Microsoft<br />
ist alarmiert. Offiziell will sich der<br />
Konzern wegen des laufenden Verfahrens<br />
nicht äußern. Der neue Microsoft-Chef<br />
Satya Nadella plant eine Reise nach China<br />
noch in diesem Monat, um sich persönlich<br />
vor Ort über die Lage zu informieren.<br />
Dass einige Chinesen, die nun Amazon,<br />
Samsung und Co. angreifen, enge Beziehungen<br />
zur Kommunistischen Partei pflegen<br />
oder selbst Mitglieder sind, ist ein offenes<br />
Geheimnis. Sie haben den Staat als<br />
Schutzpatron hinter sich. „Von westlichen<br />
Konkurrenten kopieren und sie dann an<br />
FOTOS: IMAGO/CHINA FOTO PRESS, BULLS PRESS/NEWS INTERNATIONAL<br />
50 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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der Expansion in China zu hindern oder<br />
wie bei Facebook oder Twitter ihnen dies<br />
gleich ganz zu verwehren“, sagt der US-<br />
Technologiestratege Mark Anderson, das<br />
sei das „chinesische Geschäftsmodell“.<br />
Vor allem der Telekommunikationsausrüster<br />
Huawei sieht sich immer wieder<br />
Spionage-Vorwürfen ausgesetzt. Dessen<br />
Gründer Ren Zhengfei, ein ehemaliger Soldat<br />
der Volksbefreiungsarmee, werden enge<br />
Kontakte zum chinesischen Militär<br />
nachgesagt. Doch seit dem NSA-Skandal<br />
haben die Vorwürfe von US-Seite an Überzeugungskraft<br />
verloren. Huawei bezieht<br />
demnächst in Düsseldorf seine neue Europa-Zentrale.<br />
Der Bürokomplex namens Silizium<br />
im Stadtteil Oberkassel soll 900 Mitarbeiter<br />
beherbergen. Zu den Kunden zählen<br />
die Deutsche Telekom und Vodafone.<br />
GEFÜLLTE KRIEGSKASSEN<br />
Gleichwohl ist es den Angreifern in den<br />
vergangenen Jahren auffällig gelungen,<br />
sich zu professionalisieren und zu internationalisieren.<br />
Die Produkte haben sich verbessert.<br />
Lenovo mit zugekauften Marken<br />
wie Medion in Deutschland, Huawei oder<br />
der Haushaltsgerätehersteller Haier sind<br />
im Westen bekannte Marken.<br />
Mit ihren gefüllten Kriegskassen stoßen<br />
die Angreifer bevorzugt in Schwellenländer<br />
vor. Brasilien etwa ist für Baidu schon der<br />
zweitwichtigste Markt. Die Internet-Suchmaschine<br />
will bis Ende der Dekade die Hälfte<br />
ihres Umsatzes im Ausland erwirtschaften.<br />
300 Millionen Dollar lässt das Unternehmen<br />
für den Aufbau eines Forschungszentrums<br />
im Silicon Valley springen. Amazon-Konkurrent<br />
Alibaba kauft sich derweil<br />
mit dreistelligen Millionensummen in US-<br />
Internet-Unternehmen wie Tango, Lyft,<br />
Fanatics oder Shoprunner ein. Facebook-<br />
Wettbewerber Tencent übernahm an der<br />
US-Westküste Spielehersteller wie Riot<br />
Games und ist bereits in 140 Ländern aktiv.<br />
Ganz am Anfang steht der Autohersteller<br />
Qoros, dem es als erstem chinesischen Unternehmen<br />
gelang, eine international wettbewerbsfähige<br />
Limousine zu bauen. Schon<br />
bald soll die Produktion auf 300 000 Fahrzeuge<br />
im Jahr steigen.<br />
Alibaba soll mit dem Börsengang eine<br />
Art Startschuss setzen für die forcierte weltweite<br />
Expansion chinesischer Konzerne,<br />
wie dies im 20. Jahrhundert die USA, Japan<br />
und Westeuropa vorgemacht haben – und<br />
wie dies Lenovo-Chef Yang nun mit den<br />
Smartphones wiederholen will.<br />
n<br />
philipp.mattheis@wiwo.de | Shanghai,<br />
matthias hohensee | Silicon Valley<br />
Ein Schritt vorwärts,<br />
zwei zurück<br />
Lenovo-Chef Yang<br />
gilt als chinesischer<br />
Top-Manager mit<br />
der ausgeprägtesten<br />
West-Orientierung<br />
Mann mit drei Leben<br />
LENOVO | Der größte PC-Hersteller der Welt ist eines der wenigen<br />
chinesischen Unternehmen, denen der Aufbau einer internationalen<br />
Marke gelungen ist. Das ist vor allem der Verdienst von YY.<br />
Der Saal ist dunkel, das Publikum<br />
mucksmäuschenstill. Nur die Stimme<br />
einer Moderatorin hallt durch<br />
den großen Ballsaal des Hilton Hotels im<br />
zentralchinesischen Wuhan. „Er ist hier“,<br />
sagt die bekannte TV-Moderatorin. „Gleich<br />
spricht YY zu uns!“ Das Kürzel genügt – jeder<br />
hier weiß, wer „YY“ ist. Dann ertönt eine<br />
Fanfare, Scheinwerfer leuchten auf, als<br />
ein schlanker, hochgewachsener Mann die<br />
Bühne betritt, junge Frauen im Publikum<br />
können vor Aufregung nicht mehr still sitzen<br />
und kreischen.<br />
YY, ausgesprochen „Waiwai“, das ist Yang<br />
Yuanqing, der Boss von Lenovo. Der Konzern<br />
aus China, der sich unter anderem die<br />
PC-Sparte des US-Konzerns IBM und den<br />
deutschen Computerbauer Medion einverleibte,<br />
ist nicht nur der größte seiner<br />
Branche und will noch weiter wachsen,<br />
weshalb Yang hier in Wuhan die Belegschaft<br />
auf die verstärkte Expansion nach<br />
Europa und in die USA einschwört.<br />
Der 49-Jährige hat sich noch mehr vorgenommen:<br />
Lenovo soll auch weltgrößter<br />
Smartphone-Hersteller werden. In China<br />
hat er den globalen Spitzenreiter Samsung<br />
schon überholt. Weltweit liegt Lenovo<br />
mit knapp 16 Millionen verkauften Smartphones<br />
im vergangenen Quartal zwar erst<br />
auf Platz vier hinter Samsung, Apple und<br />
Huawei, ebenfalls aus China. Doch der<br />
Schalter ist umgelegt: Googles Handysparte<br />
Motorola kommt vorbehaltlich des<br />
Segens der Kartellbehörden unter das<br />
Lenovo-Dach.<br />
Nur wenige Autominuten entfernt <strong>vom</strong><br />
Hilton, in dem Yang seine weiblichen<br />
Landsleute betört, hat er umgerechnet 800<br />
Millionen US-Dollar in eine gigantische<br />
Fabrik gesteckt, die jährlich bis zu 40 Millionen<br />
hochgezüchtete Mobiltelefone ausspucken<br />
soll. Um weltweit für Aufmerksamkeit<br />
zu sorgen, spannt Yang seit Oktober<br />
2013 den US-Schauspieler Ashton Kutcher<br />
als „Product Manager“ ein.<br />
Yangs neue Masche und das teure Investment<br />
sind eine riskante Wette auf die<br />
Zukunft: Gute Telefone gibt es viele – doch<br />
reicht die Bekanntheit der Marke Lenovo,<br />
um auch im Milliardenmarkt Smartphones<br />
mehr als ein Wörtchen mitzureden?<br />
Wenn Experten es einem chinesischen<br />
Unternehmer zutrauen, zum Inhaber einer<br />
weiteren weltbekannten Marke aufzusteigen,<br />
dann ist das Yang und Lenovo. Der<br />
einst namenlose Elektronikfertiger aus<br />
Peking bringt Voraussetzungen mit, die<br />
kaum ein anderes chinesisches Unternehmen<br />
bieten kann. Yang ist heute in mehr<br />
als 60 Ländern aktiv, seine Produkte werden<br />
in 160 Ländern verkauft, der Konzern<br />
mit 46 000 Mitarbeitern machte im Geschäftsjahr<br />
2013/14 bei 38,7 Milliarden<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 51<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
»<br />
US-Dollar Umsatz 817 Millionen Gewinn.<br />
Selbst 30 Prozent der Deutschen<br />
kennen die Marke bereits, so viele wie bei<br />
keiner anderen chinesischen Firma.<br />
Dabei ist Lenovo erst 30 Jahre alt. 1984<br />
gründete eine Gruppe junger Computerwissenschaftler<br />
um den heute 70-jährigen<br />
Informatiker Liu Chuanzhi ein Unternehmen<br />
namens Legend, um PCs zu fertigen.<br />
Die Beteiligten sind Mitglieder der Chinese<br />
Academy of Sciences (CASS), einem<br />
Thinktank der Regierung in Peking. 25 000<br />
Dollar soll das Startkapital damals betragen<br />
haben. CASS hält bis heute ein Drittel<br />
an der Legend Holding und die wiederum<br />
ein Drittel an Lenovo.<br />
Yang ist beim Start nicht dabei,<br />
sondern heuert 1989 im Alter<br />
von 24 Jahren an. Er wächst<br />
auf in Armut während der Kulturrevolution,<br />
als Intellektuelle<br />
zu körperlicher Arbeit aufs<br />
Land umgesiedelt werden.<br />
Yang studiert Informatik und<br />
arbeitet bei Legend zunächst<br />
im Vertrieb für kärgliche 30 US-Dollar im<br />
Monat. Yang fällt Legend-Mitgründer Liu<br />
als Denker und Stratege auf. Vier Jahre später<br />
macht der ihn zum Chef der PC-Sparte.<br />
Erstes Leben –<br />
Coups in der PC-Sparte<br />
Made by Lenovo<br />
Die drei wichtigsten künftigen<br />
Standbeine des chinesischen PCund<br />
Smartphone-Herstellers.<br />
Tablet-Rechner<br />
Mit einem Preis von rund 160 Euro soll<br />
das Yoga Tablet den Durchbruch bringen<br />
und dem iPad Konkurrenz machen<br />
Weltmarktanteil: k. A.<br />
Laptop-Computer<br />
Übernommene Marken wie Medion aus<br />
Deutschland trugen dazu bei, dass Lenovo<br />
Marktführer bei PCs wurde<br />
Weltmarktanteil: 19,2 %<br />
Mobiltelefone<br />
Im Handygeschäft sollen<br />
Zukäufe bekannter<br />
Marken wie Motorola und<br />
Modelle wie das RAZR D3<br />
den Durchbruch bringen<br />
Weltmarktanteil:<br />
2,5 %<br />
Quelle: Gartner<br />
Der neue Herr über die Computer nutzt<br />
den Job für seine zweite Kulturrevolution.<br />
Bei Lenovo arbeiten die Angestellten noch<br />
nach dem einstigen Motto am chinesischen<br />
Hof: „Abwarten, bis man erkennen<br />
kann, was der Kaiser wünscht.“ Eigenverantwortung<br />
und Engagement sind vielen<br />
Mitarbeitern fremd. Das ändert Yang. Er<br />
schafft Titel ab und ermutigt die Mitarbeiter,<br />
sich mit Vornamen anzureden. Bis heute,<br />
sagt Yang, wolle er drei Eigenschaften<br />
seiner Mitarbeiter fördern: Eigenverantwortung,<br />
Pioniergeist und Verbindlichkeit.<br />
1994 geht Legend an die Börse in Hongkong<br />
und sammelt 30 Millionen Dollar ein.<br />
Yang strukturiert den Vertrieb um und setzt<br />
auf gut geschulte Verkäufer. Um diese auszubilden,<br />
holt er Experten des US-Softwareriesen<br />
Microsoft und dessen US-Chiplieferanten<br />
Intel ins Unternehmen. Zudem<br />
sichert er jedem Lenovo-Händler in China<br />
ein exklusives Einzuggebiet zu, in dem dieser<br />
keine Konkurrenz von seinesgleichen<br />
fürchten muss. Das macht die Händler zu<br />
loyalen Markenbotschaftern.<br />
Gleichzeitig baut Yang das Vertriebsnetz<br />
aus und legt so den Grundstein für die starke<br />
Expansion der folgenden Jahren. Heute<br />
ist es das erklärte Ziel des Konzerns, im riesigen<br />
China nirgends weiter als 50 Kilometer<br />
von einem Kunden entfernt zu sein.<br />
Yangs Sprung an die Lenovo-Spitze erscheint<br />
in dieser Phase nur eine Frage der<br />
Zeit. Doch was ihm dann widerfährt, wirkt<br />
aus heutiger Sicht wie ein Schritt vorwärts<br />
und zwei Schritte zurück.<br />
Gründer Liu macht nach dem Rückzug<br />
aus dem operativen Geschäft 2001 Yang<br />
tatsächlich im Alter von 36 Jahren zum Vorstandschef.<br />
Der Umsatz liegt bereits bei 2,7<br />
Milliarden Dollar, doch das reicht Yang<br />
nicht. Um auf internationale Märkte vorzustoßen,<br />
benennt er 2003 Legend in Lenovo<br />
um, einen Kunstnamen, der einzigartig<br />
und dank „novo“ nach neu klingen soll.<br />
2005 schafft Yang den Durchbruch. Er<br />
schließt mit dem US-Softwareriesen Microsoft,<br />
der unter den vielen Raubkopien<br />
im Reich der Mitte leidet, eine Allianz. Microsoft-Gründer<br />
Bill Gates und sein damaliger<br />
Vorstandschef Steve Ballmer überlassen<br />
ihr Betriebssystem Windows zum Vorzugspreis,<br />
dafür verkauft Lenovo seine<br />
Computer etwas teurer, aber mit Original-<br />
Windows. Im Gegenzug unterstützt Microsoft<br />
Lenovo beim Marketing. Yang erwartet,<br />
dass die Regierung auch auf andere PC-<br />
Hersteller Druck ausübt und diese dem<br />
Beispiel von Lenovo folgen. Das Kalkül<br />
geht auf. Der damalige Microsoft-Chef<br />
Ballmer sagt dazu später: „Yang gab den<br />
Ausschlag. Er riskierte etwas.“<br />
Ebenfalls 2005 gelingt dem Chinesen<br />
sein zweiter Coup, die Übernahme der PC-<br />
Sparte der US-IT-Ikone IBM für 1,75 Milliarden<br />
Dollar. Yang nutzt den Kauf nicht,<br />
um die Amerikaner zu sinisieren, sondern<br />
um Lenovo zu internationalisieren, und<br />
geht mit gutem Beispiel voran. Er siedelt<br />
mit Familie nach Amerika über und verpasst<br />
Lenovo zwei Firmensitze: einen in<br />
Peking und einen in Morrisville bei Raleigh,<br />
im US-Bundesstaat North Carolina.<br />
Yang scheint auf bestem Weg, sich an der<br />
Lenovo-Spitze unersetzlich zu machen. Er<br />
paukt mühevoll Englisch und ernennt es<br />
zur offiziellen Konzernsprache. Gleichzeitig<br />
öffnet er den Konzern, sodass heute unter<br />
den 100 Top-Managern 18 Nationalitäten<br />
vertreten sind.<br />
Doch dann kommt der große Rückschritt.<br />
Unternehmensgründer Liu zieht<br />
Yang von der Konzernspitze ab und macht<br />
ihn zum Aufsichtsratsvorsitzenden. Alle<br />
Mühen, so Lius Eindruck, reichen noch<br />
nicht, Yang versteht zu wenig <strong>vom</strong> globalen<br />
Geschäft und muss dieses erst noch lernen.<br />
Zweites Leben –<br />
Rückkehr und Expansion<br />
Dass ihn ein kapitaler Fehler seines Nachfolgers<br />
William Amelio bald wieder in den<br />
Chefsessel zurückkatapultieren sollte, war<br />
für Yang zunächst nicht abzusehen. Der<br />
Ex-Asien-Chef des amerikanischen Konkurrenten<br />
Dell will sich bei Lenovo als entscheidungsstarker<br />
Manager einführen und<br />
verkauft 2008 die noch junge Smartphone-<br />
Sparte von Lenovo für 100 Millionen US-<br />
Dollar, um sich ganz auf das durchhängende<br />
PC-Geschäft zu konzentrieren. Doch<br />
»<br />
FOTOS: PR (3)<br />
52 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
schon ein Jahr später bringt Apple das<br />
iPhone auf den Markt, das den Handymarkt<br />
revolutionieren und Unternehmen<br />
wie den damaligen Branchenführer Nokia<br />
dem Untergang weihen sollte. Lenovo<br />
bleibt nur, dem Aufstieg von Apple und im<br />
Gefolge von Samsung tatenlos zuzusehen.<br />
Erst als die weltweite Finanzkrise 2009<br />
auch Lenovo in rote Zahlen stürzt und den<br />
Umsatz von 16,4 auf 14,9 Milliarden Dollar<br />
dezimiert, ist Yangs Zeit wieder gekommen.<br />
Amelios Vertrag wird wegen der Verluste<br />
nicht verlängert, Yang wieder Chef.<br />
Was Lenovo heute darstellt, geht zurück<br />
auf Yangs Leistung in den zurückliegenden<br />
drei Jahren. 2011 übernimmt<br />
Lenovo für 738<br />
Millionen Dollar den<br />
deutschen Aldi-Zulieferer<br />
Medion. Im selben<br />
Jahr geht Lenovo ein<br />
Joint Venture mit dem<br />
japanischen NEC-Konzern<br />
ein und schluckt für<br />
148 Millionen Dollar<br />
den brasilianischen Hersteller CCE. 2013<br />
zieht Lenovo mit einem Marktanteil von<br />
18,6 Prozent an HP, Acer und Dell vorbei<br />
und wird weltgrößter PC-Hersteller.<br />
Doch vermeintlich auf dem Gipfel des<br />
Erfolgs hat sich Yang mit der Spitzenposition<br />
im PC-Markt eine Hypothek eingehandelt.<br />
Denn Smartphones und Tablets setzen<br />
klassischen Laptops und Desktop-<br />
Rechnern immer mehr zu, auch für 2014<br />
erwarten die Analysten des US-Marktforschers<br />
IDC weiter sinkende PC-Verkäufe.<br />
Drittes Leben –<br />
Der Angriff bei Handys<br />
Damit steht Yangs Karriere ein weiteres<br />
Mal an einem Wendepunkt. Denn Lenovo<br />
ist zu stark <strong>vom</strong> PC abhängig. 84 Prozent<br />
des Umsatzes stammen von diesem Geschäft.<br />
Zudem ist China mit 70 Prozent Lenovos<br />
größter Markt und schrumpft ebenfalls.<br />
Zwar ist der Konzern in vielen Ländern<br />
präsent, in den meisten aber macht er<br />
keinen Gewinn, weil Yang zuerst auf Expansion<br />
setzt und erst ab zehn Prozent<br />
Marktanteil die Profitschraube anzieht.<br />
Der Endvierziger hat sich deshalb für eine<br />
Mehrfachstrategie entschieden. Zum einen<br />
heizt er den Verdrängungswettbewerb<br />
im PC-Geschäft an. „Lenovo ist der einzige<br />
Wettbewerber, der in dem schrumpfenden<br />
Markt noch zweistellig wachsen kann“, sagt<br />
James Wang <strong>vom</strong> Analystenhaus Catalys in<br />
Shanghai. „Es bleibt ein wichtiger Bereich.“<br />
Zum andern versucht Yang, die PC-Geschäfte<br />
zu stärken. So setzt er auf ein Konzept<br />
namens PC+, das Tablets, Laptops<br />
und Desktops in einem Gerät vereint. Das<br />
Tablet Yoga etwa wird mit einem Handgriff<br />
zum Laptop, ist mit 160 Euro deutlich<br />
preiswerter als das iPad und läuft mit dem<br />
Betriebssystem Android von Google. Zudem<br />
hat Yang Anfang 2014 für 2,3 Milliarden<br />
Dollar die einfachen Server von IBM<br />
übernommen, um künftig auch mit Firmenkunden<br />
ins Geschäft zu kommen.<br />
Schließlich weiß Yang, dass er nur dann<br />
als der Größte in die Lenovo-Geschichte<br />
eingehen kann, wenn er das Unternehmen<br />
in eine neue Ära führt. Das soll die<br />
Smartphone-Sparte von Motorola bringen.<br />
Die erwarb Yang im Februar für 2,9 Milliarden<br />
Dollar von Google, nachdem er 2009<br />
die einst verkaufte Handyproduktion für<br />
200 Millionen Dollar zurückgekauft hatte.<br />
Auf dem Heimatmarkt in China ist Lenovo<br />
mit seinen ausgereiften, aber günstigen<br />
Geräten gut positioniert. Yang hat das<br />
Smartphone-Geschäft aufgespalten: Eine<br />
Lenovo Business Group soll den Massenmarkt<br />
mit Telefonen zum Preis von 150 bis<br />
300 Dollar bedienen und eine Think Business<br />
Group teurere Geräte für Premiumkunden<br />
anbieten, die bisher zum Beispiel<br />
MacBooks von Apple kaufen.<br />
Generell setzt Yang auf Masse: „Wenn<br />
wir in einen Markt vorstoßen, wollen wir<br />
schnell einen zweistelligen Marktanteil haben.“<br />
Gelungen ist ihm dies bereits in Indien,<br />
Indonesien und Malaysia, wo Lenovo-Smartphones<br />
rund zehn Prozent des<br />
Marktes ausmachen. Den Angriff auf die<br />
USA fährt Yang mit der Marke Motorola,<br />
die dort noch auf zweistellige Marktanteile<br />
kommt. Dabei schielt der Lenovo-Chef<br />
auch auf die 2000 Patente, die er mit Motorola<br />
erhielt. Denn in entwickelten Märkten<br />
muss Lenovo bis zu 25 Prozent der Einnahmen<br />
an Patentgebühren abgeben. Das entfällt<br />
mit den erworbenen Patenten.<br />
Schwerer dürfte sich Yang in Europa tun,<br />
wo Händler wenig Interesse an einem weiteren<br />
Smartphone-Label haben. Experten<br />
glauben daher, dass Lenovo Übernahmen<br />
plant: „Helfen könnte der Kauf von Nokia<br />
von Microsoft“, sagt Analyst Wang.<br />
Geschäftlich ist für Yang der Auftritt des<br />
US-Schauspielers Kutcher in den Diensten<br />
von Lenovo die Krönung seiner Markenbildung.<br />
Auf die Frage, warum er sich für Lenovo<br />
engagiere, antwortete der Mime beim<br />
Start des Yoga Tablets: „Weil sie eine globale<br />
Unternehmenskultur haben.“<br />
n<br />
philipp.mattheis@wiwo.de | Shanghai<br />
INTERVIEW Yang Yuanqing<br />
»Wir wollen<br />
überall<br />
größer<br />
werden«<br />
Der Lenovo-Chef will den<br />
Konzern auch bei Mobiltelefonen<br />
weltweit an die Spitze führen.<br />
Herr Yang, können Sie sich an Ihre erste<br />
Computer-Erfahrung erinnern?<br />
Ein Freund meiner Eltern hat mich darauf<br />
gebracht, er meinte: Computer werden<br />
das große Ding. Ich habe ihm das<br />
geglaubt und daher in Shanghai und Peking<br />
Computerwissenschaften studiert.<br />
Lenovo ist heute eine der wenigen<br />
chinesischen Marken, die international<br />
bekannt sind. Was haben Sie anders<br />
gemacht als die Konkurrenz?<br />
Unser Ziel war immer, ein globales<br />
Unternehmen zu werden. Lenovo ist<br />
hartnäckig und hat immer von seinen<br />
Mitbewerbern gelernt. Wir haben die<br />
PC-Sparte von IBM in den USA und<br />
Medion in Deutschland gekauft, sind mit<br />
NEC in Japan ein Joint Venture eingegangen<br />
– von all diesen Unternehmen haben<br />
wir gelernt. Wir haben deren Stärken<br />
genutzt und uns einverleibt. Deswegen<br />
sind wir heute ein diversifiziertes, internationales<br />
Unternehmen.<br />
Was hat Lenovo denn von IBM gelernt?<br />
Zum Beispiel haben bei Meetings unsere<br />
amerikanischen Kollegen immer geredet,<br />
die Chinesen aber geschwiegen. In<br />
unserer Kultur redet man nur, wenn der<br />
Chef einen explizit nach seiner Meinung<br />
fragt. Wenn man schweigt, muss das<br />
nicht unbedingt bedeuten, dass man<br />
derselben Meinung ist. Das gab anfangs<br />
viele Probleme. Der Leiter der Meetings<br />
dachte, okay, wir sind alle derselben<br />
Meinung. Später war er erstaunt, als sich<br />
herausstellte, dass dem nicht so war.<br />
Beide Kulturen haben ihre Vorteile. Nur<br />
wenn man die Unterschiede nicht versteht,<br />
hat man Probleme. Heute ermutigen<br />
wir alle unsere Mitarbeiter, ihre Meinung<br />
zu sagen.<br />
54 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Das Klischee sagt, Chinesen scheuen sich<br />
vor Eigenverantwortung. Ist das so?<br />
Mehr Verantwortung wollen alle, auch die<br />
chinesischen Mitarbeiter. Aber in der<br />
westlichen Kultur nimmt sie sich jeder<br />
proaktiv. In China warten die Leute, bis<br />
der Chef ihnen Verantwortung zuteilt.<br />
Lenovo ist heute der weltgrößte PC-<br />
Hersteller. Ihre Marktanteile wachsen<br />
sogar noch weiter – nur schrumpft der<br />
Markt. Wie gehen Sie damit um?<br />
Das ist noch immer eine 200-Milliarden-<br />
Dollar-Industrie, in der es sich lohnt, die<br />
Nummer eins zu sein. Gerade außerhalb<br />
Chinas können wir noch wachsen.<br />
Wo genau?<br />
In Europa und den USA, aber auch in<br />
Ländern wie Indonesien oder Indien.<br />
Noch immer macht das PC-Geschäft 84<br />
Prozent Ihres Umsatzes aus. Wie wollen<br />
Sie diese Abhängigkeit reduzieren?<br />
Nachdem der Kauf von Motorola abgeschlossen<br />
ist, wird sich das ausbalancieren.<br />
Mobiltelefone und Tablets werden damit<br />
mittelfristig rund 30 Prozent unserer<br />
Umsätze ausmachen. Mit dem Motorola-<br />
Deal haben wir den Grundstein dafür gelegt,<br />
auch im Mobilbereich die Nummer<br />
eins zu werden. Das ist kein einfaches Ziel,<br />
das wir in ein oder zwei Jahren erreichen<br />
werden. Das wird länger dauern.<br />
Wie lange denn? Fünf Jahre?<br />
Ich kann keine Zahl nennen. Wenn Lenovo<br />
einmal ein Ziel formuliert, dann erreichen<br />
wir es auch. Das ist aber noch zu<br />
früh. Wird der Motorola-Deal genehmigt,<br />
rechnen wir damit, 100 Millionen mobile<br />
Endgeräte im Jahr zu verkaufen.<br />
Motorola ist praktisch nur noch in den<br />
USA vertreten und spielt in Europa kaum<br />
eine Rolle. Wie wollen Sie hierzulande<br />
vorgehen – eher mit Lenovo-Smartphones<br />
oder Motorola-Geräten?<br />
Motorola hat auch in Europa einen guten<br />
Ruf, auch wenn die verkauften Stückzahlen<br />
gering sind. Der Erwerb wird uns auf<br />
Märkten helfen, in denen wir Smartphone-<br />
Business noch nicht gestartet haben. Wir<br />
möchten mit Lenovo und Moto eine Zwei-<br />
Marken-Strategie fahren und jeweils<br />
die Marke positionieren, die sich auf dem<br />
jeweiligen Markt besser eignet.<br />
Wollen Sie die Marke Motorola mittelfristig<br />
beibehalten, oder tragen irgendwann<br />
alle Geräte ein Lenovo-Label?<br />
Unsere Markenstrategie steht noch<br />
nicht abschließend fest. Auf jeden<br />
Fall aber ist die Marke Moto legendär,<br />
besonders bei mobilen<br />
Endgeräten. Wir werden die<br />
Marke schützen und ausbauen<br />
– ähnlich wie wir das bei<br />
PCs mit „Think“ getan haben.<br />
Warum ist Ihnen so wichtig,<br />
die Nummer eins zu<br />
sein? Apple etwa hat mit<br />
seinen iPhones eine sehr<br />
profitable Position.<br />
Unsere Philosophie ist:<br />
DER PC-KÖNIG<br />
Yang, 49, steht seit 2009 zum zweiten<br />
Mal an der Spitze des Lenovo-<br />
Konzerns. Der studierte Computertechniker<br />
startete dort 1989 und<br />
machte das Unternehmen zum<br />
weltgrößten PC-Hersteller.<br />
Wenn man nicht die Nummer eins<br />
werden will, braucht man gar nicht erst<br />
antreten.<br />
Wie wollen Sie auf dem Weg zur Spitze<br />
bei mobilen Geräten die innovativsten<br />
Unternehmen der Welt schlagen?<br />
Wir sind nicht weniger innovativ als<br />
Samsung oder Apple. Sie werden von Lenovo<br />
PCs, Smartphones und sogar ganz<br />
neue Produkte sehen. Einige stellen wir<br />
schon auf dem Mobile World Congress<br />
im Februar 2015 in Barcelona vor.<br />
Im Gegensatz zu Ihren Konkurrenten<br />
fertigen Sie einen Großteil Ihrer Komponenten<br />
selbst. Welchen Vorteil hat das?<br />
Der Anteil der In-Haus-Fertigung liegt<br />
bei etwa 50 Prozent. Dadurch haben wir<br />
mehr Einsicht in die Kostenstruktur und<br />
wissen besser, welche Preise man verlangen<br />
kann. Das macht uns flexibler, die<br />
Kundenwünsche zu erfüllen. Steigt die<br />
Nachfrage schnell, können wir ohne große<br />
Probleme die Produktion erhöhen.<br />
Der Mix ermöglicht uns, selbst innovativer<br />
zu sein, und bietet die Kontaktkanäle,<br />
um mit Zulieferern enger zusammenzuarbeiten.<br />
Und wir können Erfindungen<br />
leichter vor Kopien schützen. Deshalb<br />
möchten wir das so beibehalten.<br />
In China steigen die Löhne jedes Jahr<br />
um fast zehn Prozent. Verlagern Sie Ihre<br />
Produktion bald in billigere Länder?<br />
China ist immer noch billig. Aber Lohnkosten<br />
sind nicht das Einzige. Man<br />
braucht geeignete Arbeitskräfte und die<br />
Infrastruktur. Das sehe ich in anderen<br />
Ländern so nicht.<br />
Ein Teil Ihres Erfolgs in China liegt an<br />
Ihrem Händlernetzwerk. Dort ist kein<br />
Kunde weiter als 50 Kilometer <strong>vom</strong><br />
nächsten Lenovo-Händler entfernt. Wird<br />
es das so auch in anderen Märkte geben?<br />
Als wir das Vertriebsnetz in China aufgebaut<br />
haben, war das Pionierarbeit. In<br />
jeder Provinz konnten wir so von Anfang<br />
an gewährleisten, immer die Stärksten<br />
zu sein. Das ist ein großer Vorteil bis<br />
heute. Wir können das auf westliche<br />
Märkte nicht übertragen. Aber es geht<br />
zum Beispiel in Indien oder Indonesien.<br />
Dort wollen wir das wiederholen.<br />
Wie wichtig sind Sie selbst für Lenovo?<br />
Lenovo war mein erster Job und mein<br />
einziger. Das Unternehmen ist mein Zuhause<br />
und meine Familie. Ich hoffe, ich<br />
kann die Mitarbeiter inspirieren. Das ist<br />
das wichtigste Element von Führung. n<br />
philipp.mattheis@wiwo.de | Shanghai<br />
FOTO: EGILL BJARKI FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
55<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Leicht und teuer<br />
SGL | Die Sanierung des angeschlagenen Wiesbadener<br />
Technologiekonzerns rückt in weitere Ferne. Denn inzwischen<br />
mehren sich die Zweifel am superleichten Wunderstoff Carbon.<br />
Das Comeback währte nur kurz. Erst<br />
Ende 2013 war der Grafitkonzern<br />
SGL <strong>vom</strong> kleineren Börsensegment<br />
SDax wieder in den MDax aufgestiegen,<br />
den Index für die mittelgroßen Unternehmen.<br />
Seither jagt eine Hiobsbotschaft die<br />
andere. Das Geschäftsjahr 2013 schloss<br />
SGL mit fast 400 Millionen Euro Verlust ab<br />
– bei einem Umsatz von 1,5 Milliarden Euro.<br />
Die Zahlen für das erste Halbjahr 2014<br />
fielen miserabel aus (siehe Grafik). Und<br />
vor wenigen Tagen stufte die Ratingagentur<br />
Moody’s die Kreditwürdigkeit von SGL<br />
weiter auf „hochspekulativ“ (B2) zurück –<br />
vor allem wegen der Probleme im Hauptgeschäft<br />
Grafitelektroden, die zum<br />
Schmelzen von Schrott zu Stahl benötigt<br />
werden. Die Aktie stürzte weiter ab (siehe<br />
Chart).<br />
Am Mittwochabend vergangener Woche<br />
beschloss die Deutsche Börse dann,<br />
das havarierte Unternehmen wieder in<br />
den SDax zu verbannen. Beim Börsenumsatz<br />
und beim Börsenwert des Streubesitzes<br />
schafften die Wiesbadener die erforderlichen<br />
Kriterien nicht mehr. Dazu trug<br />
bei, dass der SGL-Streubesitz in den vergangenen<br />
Jahren von über 70 auf 38 Prozent<br />
gefallen ist, seit sich bekannte Investoren<br />
Pakete gesichert haben: Susanne<br />
Klatten aus der Quandt-Dynastie (26,9<br />
Prozent), die Autokonzerne BMW (15,7<br />
Prozent) und VW (knapp zehn Prozent)<br />
sowie der schwäbische Maschinenbauer<br />
Voith (neun Prozent). Die prominenten Eigentümer<br />
brauchen freilich für ihr Investment<br />
noch viel Geduld.<br />
Denn dass SGL in absehbarer Zeit noch<br />
einmal die Wende schafft, ist derzeit zweifelhaft.<br />
Der größte Hoffnungsträger im<br />
SGL-Portfolio – der Werkstoff Carbon, der<br />
hart wie Stahl, aber etwa nur halb so<br />
schwer, zum Beispiel im BMW-Elektroauto<br />
i3 zum Einsatz kommt – wird mehr und<br />
mehr entzaubert. Der neue Vorstandschef<br />
Jürgen Köhler, seit 1. Januar im Amt,<br />
spricht von einem „anhaltend“ unbefriedigenden<br />
Preisniveau für Carbon. Da gleichzeitig<br />
auch das Stammgeschäft mit den<br />
Grafitelektroden weiter abschmiert, sind<br />
die Aussichten für den bröckelnden Grafitkonzern<br />
eher mau.<br />
VORTEIL FÜR STAHL UND ALU<br />
Die Eigentümer – allen voran Großaktionärin<br />
und Aufsichtsratschefin Klatten, die zugleich<br />
etwa 13 Prozent an BMW hält – haben<br />
vor allem wegen des vermeintlichen<br />
Wunderstoffs Carbon in SGL investiert.<br />
Doch ihre Hoffnungen haben vor wenigen<br />
Tagen einen weiteren Dämpfer bekommen:<br />
ThyssenKrupp-Manager Herbert Eichelkraut<br />
deutete auf einer Veranstaltung<br />
der Wirtschaftsvereinigung Stahl in Duisburg<br />
an, dass im nächsten i3-Modell wieder<br />
mehr Stahl verwendet werden könnte<br />
statt der Leichtbaustoffe Carbon und Aluminium.<br />
BMW äußert sich dazu nicht, bei<br />
SGL kann man Äußerungen Eichelkrauts<br />
nicht nachvollziehen.<br />
Die große Carbon-Euphorie ist erst einmal<br />
vorbei. Weil die Nachfrage nach dem<br />
Der Stoff, aus dem<br />
die Träume sind<br />
Carbon-Fertigung<br />
des BMW i3 in<br />
Leipzig<br />
Rote Zahlen bei Carbon<br />
Umsatz- und operative Gewinnentwicklung<br />
bei SGL (in Millionen Euro)*<br />
Konzern insgesamt<br />
2013<br />
2014<br />
Umsatz<br />
–5,9<br />
–18,6<br />
Gewinn**<br />
Verlust<br />
655,2<br />
747,8<br />
Grafitelektroden<br />
2013<br />
54,1<br />
2014<br />
2,5<br />
273,9<br />
420,1<br />
Grafitspezialitäten<br />
(z.B. für die Halbleiter- und Solarindustrie)<br />
2013<br />
2014<br />
5,2<br />
21,9<br />
151,7<br />
182,9<br />
Carbon<br />
2013<br />
2014<br />
114,1<br />
–49,4<br />
142,3<br />
–12,8<br />
* erstes Halbjahr 2014 gg. Vorjahreszeitraum;<br />
** Ebit; Quelle: Unternehmen<br />
FOTO: PICTURE-ALLIANCE/DPA<br />
56 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Schwer gebeutelt<br />
Entwicklung der SGL-Aktie seit dem Amtsantritt<br />
von Vorstandschef Jürgen Köhler<br />
110<br />
105<br />
100<br />
95<br />
90<br />
85<br />
80<br />
75 Januar August<br />
Quelle: Thomson Reuters<br />
SGL<br />
Index 1.1.2014 = 100<br />
MDax<br />
Leichtbau-Werkstoff zwar weltweit steigt,<br />
aber unter den hochfliegenden Plänen<br />
bleibt, gibt es Überkapazitäten am Markt.<br />
Die Absatzchancen für Europas größten<br />
Carbonhersteller SGL sind daher limitiert.<br />
Denn außer BMW hat sich bisher noch<br />
kein Autobauer näher auf das Abenteuer<br />
Carbon eingelassen. Daimler hat sich gerade<br />
aus einem Joint Venture mit dem japanischen<br />
Unternehmen Toray zurückgezogen,<br />
Audi setzt auf Aluminium, auch Tesla<br />
kommt weitgehend ohne Carbon aus. Die<br />
Pkw-Hersteller stören sich vor allem an<br />
den hohen Kosten des leichten Werkstoffs.<br />
ZWEIFELHAFTE RECHNUNG<br />
„Carbon ist sechs- bis achtmal teurer als<br />
Stahl. Und verglichen mit dem ebenfalls<br />
leichten Aluminium, bringt Carbon zwar etwas<br />
mehr zusätzliche Gewichtsreduktion,<br />
allerdings sind die Kosten immer noch dreimal<br />
höher“, sagt Ralph Lässig, Partner bei<br />
der Beratung Roland Berger in München.<br />
Zwar geht SGL weiter davon aus, dass die<br />
Kosten für die Produktion des Leichtgewichts<br />
Carbon in den kommenden Jahren<br />
um 90 Prozent sinken werden, dank zunehmender<br />
Automatisierung in der Fertigung.<br />
Einen genauen Zeitrahmen nennt<br />
SGL freilich nicht. „Solch eine Kostenreduktion<br />
ist in Einzelfällen möglich, erscheint<br />
mir aber generell sehr hoch gegriffen“,<br />
warnt jedoch Berger-Berater Lässig.<br />
Einstweilen investieren BMW und SGL<br />
weiter in ihre gemeinsame Carbonproduktion.<br />
Im Werk Moses Lake im US-Staat Washington<br />
haben die beiden Partner im<br />
Frühjahr rund 200 Millionen Dollar investiert,<br />
um die Kapazitäten auf 9000 Tonnen<br />
pro Jahr zu verdreifachen. Auch ihre gemeinsamen<br />
Produktionskapazitäten im<br />
oberpfälzischen Wackersdorf haben SGL<br />
und BMW erweitert.<br />
Doch die Wette auf den Wunderstoff<br />
bleibt riskant. Das doppelte Problem von<br />
SGL-Chef Köhler: Während Carbon unter<br />
den Erwartungen bleibt, erodiert gleichzeitig<br />
das Stammgeschäft mit Grafitelektroden,<br />
mit deren Hilfe Stahl- und Aluminiumschrott<br />
geschmolzen wird. Doch weil<br />
die Stahlpreise weltweit am Boden liegen,<br />
lohnt sich das Schrottrecycling kaum noch.<br />
Für das Gesamtjahr 2014 geht Köhler denn<br />
auch von roten Zahlen aus.<br />
MILLIONEN FÜR DEN FC AUGSBURG<br />
Der promovierte Verfahrensingenieur –<br />
Nachfolger des langjährigen Unternehmenspatriarchen<br />
Robert Koehler, der SGL<br />
zwei Jahrzehnte lang nach Gutsherrenart<br />
geführt hatte – unternimmt zwar alles, was<br />
in seiner Macht steht, um den Niedergang<br />
aufzuhalten: Köhler streicht 300 der weltweit<br />
6000 Arbeitsplätze, schließt Werke im<br />
Ausland, verkauft Randaktivitäten und legt<br />
ein Sparprogramm in Höhe von 150 Millionen<br />
Euro auf, das wahrscheinlich noch<br />
einmal erweitert wird.<br />
Den Vorstand hat er von fünf auf drei<br />
Mitglieder verkleinert. Finanzvorstand Jürgen<br />
Muth musste im Frühjahr gehen, er<br />
galt als zu konfliktscheu. Nachfolger Michael<br />
Majerus hat sich bereits bei der Umstrukturierung<br />
des Mannheimer Pharmagroßhändlers<br />
Phoenix bewährt.<br />
Doch trotz all der Maßnahmen konnte<br />
Köhler den Absturz der SGL-Aktie bisher<br />
nicht aufhalten. Seinen wichtigsten Problemen<br />
– Preisdruck und Nachfrageschwäche<br />
bei Grafitelektroden und Carbon –<br />
kann Köhler mit seinen Kostensenkungsprogrammen<br />
nur bedingt beikommen.<br />
Und das Geschäftsfeld Carbon komplett zu<br />
verkaufen ist auch keine Lösung: Zu viel<br />
hat SGL bereits investiert, zu groß sind die<br />
Hoffnungen noch. Erst im Herbst will sich<br />
Köhler öffentlich zu seiner künftigen Strategie<br />
äußern.<br />
Immerhin steht fest, dass Fußballbundesligist<br />
FC Augsburg <strong>vom</strong> Sparprogramm<br />
ausgenommen ist. SGL, das in der Nähe<br />
von Augsburg ein größeres Werk betreibt,<br />
hält für mehrere Millionen Euro die Namensrechte<br />
an der SGL-Arena bis zur Saison<br />
2018/19. Aber auch dieses Investment<br />
kommt derzeit eher trist daher: Denn<br />
Augsburg belegt nach zwei Spieltagen mit<br />
null Punkten den letzten Tabellenplatz. Die<br />
Fußballmannschaft dürfte allerdings weitaus<br />
bessere Chancen haben als SGL,<br />
schnell wieder aus der Abstiegszone herauszukommen.<br />
n<br />
juergen.salz@wiwo.de<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 57<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Niederlande<br />
Norwegen<br />
Amsterdam<br />
Schweden<br />
Oslo<br />
Belgien<br />
Brüssel,<br />
Antwerpen<br />
Großbritannien<br />
London<br />
Luxemburg<br />
Luxemburg<br />
Rotterdam<br />
Groningen<br />
Tschechien<br />
Prag<br />
Dänemark<br />
Kopenhagen,<br />
Aarhus<br />
Stockholm,<br />
Göteborg<br />
Malmö<br />
Polen<br />
Krakau,<br />
Kattowitz,<br />
Breslau<br />
Expansion in neue Märkte<br />
Die wichtigsten Ziele deutscher<br />
Fernbuslinien ins Ausland*<br />
Slowakei<br />
Bratislava<br />
Ungarn<br />
MeinFernbus<br />
Flixbus<br />
IC Bus/Berlinlinienbus**<br />
ADAC Postbus<br />
Frankreich<br />
Straßburg<br />
Paris<br />
Schweiz<br />
Zürich<br />
Basel,<br />
St. Gallen<br />
Italien<br />
Mailand<br />
Kroatien<br />
Slowenien<br />
Österreich<br />
Budapest<br />
Bulgarien<br />
Triest Zagreb<br />
Ljubljana<br />
Sofia<br />
* der vier größten Anbieter; ** Deutsche Bahn Quelle: Unternehmen<br />
Wien<br />
Salzburg,<br />
Innsbruck<br />
Schöpferische<br />
Kollateralschäden<br />
FERNBUSSE | Die Konkurrenz kostet die Deutsche Bahn Millionen<br />
und lässt nun auch deren Wettbewerber im Ausland erzittern.<br />
Andreas Meyer hat wohl nicht gedacht,<br />
dass ihn die deutsche Verkehrspolitik<br />
einmal einholt. Knapp<br />
zehn Jahre stand der gebürtige Baseler im<br />
Dienst der Deutschen Bahn, wo er die Bustochter<br />
DB Stadtverkehr leitete. 2007 wechselte<br />
er dann als Chef zu den Schweizer<br />
Bundesbahnen (SBB). Doch jetzt spürt<br />
Meyer unerwartet Gegenwind – aus seiner<br />
zeitweiligen Wahlheimat. Fernbusse von<br />
dort verbinden auf einmal Schweizer Städte<br />
mit süddeutschen Metropolen. „Ich beobachte<br />
diese Entwicklung und Dynamik<br />
im Fernbusbereich mit Sorge“, sagt Meyer.<br />
Der seit Anfang 2013 entfesselte Fernbusmarkt<br />
in Deutschland erreicht die<br />
Nachbarländer und deren staatliche Bahngesellschaften.<br />
Auch in Österreich, Polen,<br />
Frankreich und den Beneluxländern werden<br />
die Eisenbahnmanager nervös. Denn<br />
Fernbusse auf den internationalen Strecken<br />
sind nicht nur preiswerter als ICE,<br />
Thalys, TGV oder EC. Die Wettbewerber<br />
auf dem Asphalt sind vielfach auch bequemer<br />
und manchmal sogar schneller.<br />
Damit zeitigt die schöpferische Zerstörung<br />
im deutschen Verkehrsmarkt nun<br />
auch Kollateralschäden in Ländern, für die<br />
die Liberalisierung gar nicht gedacht war.<br />
„Die Internationalisierung steht erst am<br />
Anfang“, prophezeit Jochen Engert, Gründer<br />
und Chef der Münchner Fernbusfirma<br />
Flixbus. Die Bahngesellschaften im Ausland<br />
„können sich warm anziehen“.<br />
100 ZUSÄTZLICHE BUSSE<br />
Allein Flixbus plant bis Mitte 2015 zehn<br />
Mal mehr Verbindungen ins Ausland, als<br />
das Unternehmen aktuell im Angebot hat.<br />
Zurzeit fahren die Bayern Ziele wie Zürich,<br />
Wien und Groningen in den Niederlanden<br />
an. Bald kämen Fahrten nach Prag, Amsterdam,<br />
Paris, Brüssel und zusätzliche Strecken<br />
nach Skandinavien hinzu. „In den<br />
nächsten zwölf Monaten“, kündigt Engert<br />
an, „setzen wir mehr als 100 zusätzliche<br />
Busse ein, um deutsche Metropolen mit<br />
spannenden Zielen im Ausland zu verbinden.“<br />
Auch Marktführer MeinFernbus mit<br />
Sitz in Berlin, der schon heute ein Dutzend<br />
Städte in Polen, Österreich, der Schweiz,<br />
Frankreich und den Beneluxstaaten verbindet,<br />
plant weitere Auslandsverbindungen.<br />
ADAC Postbus prüft noch.<br />
SBB-Chef Meyer versucht nun, die Wettbewerber<br />
aus dem Norden mithilfe des Gesetzes<br />
von eidgenössischen Straßen fernzuhalten.<br />
Denn in der Schweiz gilt wie bis<br />
vor Kurzem in Deutschland, dass Fernbuslinien<br />
nicht in Konkurrenz zu Angeboten<br />
auf der Schiene treten dürfen. Trotzdem<br />
registrieren die SBB-Manager, dass die Anzahl<br />
der Anträge für grenzüberschreitenden<br />
Busfernverkehr „signifikant angestiegen“<br />
sei, „insbesondere durch deutsche<br />
Busunternehmen“. Die SBB habe daher die<br />
Schweizer Behörden auf das geltende<br />
Recht in der Alpenrepublik hingewiesen.<br />
Doch dabei will es die Schweizer Staatsbahn<br />
möglicherweise nicht belassen. „Angesichts<br />
der aktuell hohen Dynamik wird<br />
die SBB in den kommenden Monaten weitere<br />
Schritte prüfen.“ Juristische Klagen<br />
nicht ausgeschlossen.<br />
Bahnkonzerne in anderen Ländern nehmen<br />
den Angriff deutscher Fernbuslinien<br />
noch sportlich. Die Österreichischen Bundesbahnen<br />
(ÖBB) etwa setzen darauf, mit<br />
ihren Zügen ein attraktives Alternativangebot<br />
zu haben. „Nichtsdestotrotz“, heißt es<br />
58 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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aus Wien, „wo es Sinn macht, bieten wir<br />
selbst bereits Fernverkehrsbusse an“, etwa<br />
von Klagenfurt nach Venedig und Graz.<br />
Jetzt rächt sich im Eisenbahnverkehr,<br />
dass die staatlichen Anbieter ihren Verbindungen<br />
über die Grenze bisher nur wenig<br />
Beachtung schenkten: teils weil sie sich<br />
sorgten, den ausländischen Staatsbahnen<br />
die Tür auf den eigenen Markt zu öffnen,<br />
teils weil sie dazu keinen Anlass sahen. Die<br />
Folge ist ein eher dürftiges Angebot.<br />
OHNE UMSTIEG ÜBER DIE GRENZE<br />
In diese Lücke stößt die Straßenkonkurrenz.<br />
„Mit unseren Fernbussen können wir<br />
flexibel reagieren“, sagt Flixbus-Chef Engert.<br />
„Außerdem bieten wir oft umsteigefreie<br />
Verbindungen an, die die Bahnen<br />
nicht im Angebot haben.“ Zudem erlaubt<br />
EU-Recht, Strecken innerhalb der Länder<br />
anzubieten. „Solche innerausländischen<br />
Linien prüfen wir derzeit ebenfalls.“<br />
Welche Gefahr den Staatsbahnen dadurch<br />
droht, zeigt die Deutsche Bahn. Der<br />
Schienenriese verliert in diesem Jahr an die<br />
neue Konkurrenz auf der Straße wohl bis<br />
zu 50 Millionen Euro Gewinn, heißt es aus<br />
dem Konzern. Das Unternehmen habe<br />
50 Millionen Euro<br />
kostet die Fernbuskonkurrenz<br />
die Deutsche<br />
Bahn dieses Jahr<br />
„die Geschwindigkeit der Entwicklung unterschätzt“,<br />
sagt Personenverkehrsvorstand<br />
Ulrich Homburg.<br />
Um dem Schwund zu begegnen, beginnt<br />
die Bahn, die ihrerseits Fernbusse auf die<br />
Straße schickt, den Schienenfernverkehr<br />
neu auszurichten. Eine Antwort auf Flixbus<br />
und Co. könnte Interregio Express (IRE)<br />
heißen. Seit vier Monaten pendelt der Zug<br />
zwischen Berlin und Hamburg zu einem<br />
Festpreis von 20 Euro für die einfache Fahrt<br />
und hält unterwegs in Kleinstädten wie<br />
Stendal, Uelzen und Lüneburg. „Wir sind<br />
<strong>vom</strong> Erfolg überrascht“, sagt Joachim Trettin,<br />
Chef der Konzerntochter DB Regio<br />
Nordost, die den Betrieb organisiert. Im<br />
Schnitt sei der Zug mit 200 Passagieren zu<br />
fast 50 Prozent ausgelastet, am Wochenende<br />
müssten Reisende teilweise stehen. Die<br />
Bahn setzt nun ein zweiten Zug auf die<br />
Spur. Nicht ausgeschlossen, dass es solche<br />
Zugangebote bald deutschlandweit gibt.<br />
Wo es nicht anders geht, reduziert die<br />
Deutsche Bahn sogar die Ticketpreise.<br />
„13-Euro-Ticket“ heißt etwa ein neues Angebot<br />
der Regio-Tochter in Sachsen, um<br />
die Zielgruppe des „preisbewussten Gelegenheitsfahrers“<br />
zu erschließen, „die man<br />
nicht allein dem Fernbus überlassen<br />
möchte“. Preisreaktionen der deutschen<br />
Staatsbahn auf Wettbewerber hat es bisher<br />
noch nie gegeben.<br />
Das nächste Opfer der Fernbusse ist<br />
schon in Sicht: die Nachtzüge. Die Deutsche<br />
Bahn leidet notorisch unter deren<br />
hohen Kosten – und stellt einige Verbindungen<br />
ab Dezember ein. In die Lücken drängen<br />
die Fernbusanbieter vor. MeinFernbus<br />
hat bereits ein dichtes Nachtliniennetz gesponnen,<br />
mit Fahrten zwischen Berlin,<br />
Ruhrgebiet, Stuttgart und München. Außerdem<br />
geht es ins Ausland, etwa von Mailand<br />
nach Zürich – eine Verbindung, auf der der<br />
Bus sogar schneller ist als der Zug. n<br />
christian.schlesiger@wiwo.de | Berlin<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Öko, chic und preiswert<br />
ELEKTROAUTOS | Zittern bis zur Ladestelle, auf freier Spur durch die Rushhour, lautlos in sechs<br />
Sekunden auf Tempo 100 – mit dem Stromer unterwegs im Elektromobil-Paradies Norwegen.<br />
Viereinhalb Stunden Strecke liegen<br />
vor Kjersti Myro. Die 24-jährige<br />
Mutter zweier Kinder aus dem kleinen<br />
norwegischen Ort Ål, rund 200 Kilometer<br />
nördlich von Oslo, muss in die kleine<br />
Hafenstadt Porsgrunn im Süden des<br />
Landes. Ihr Mann hat dort eine neue Stelle<br />
als Lehrer gefunden und will die Familie<br />
bald nachkommen lassen. Deshalb<br />
möchte sie heute eine Wohnung in Porsgrunn<br />
besichtigen.<br />
Myro fährt nicht mit dem Zug und auch<br />
nicht mit einem normalen Auto. Myro fährt<br />
mit einem Elektroauto, einem Nissan Leaf.<br />
Und das ist nicht ganz so einfach. Denn<br />
Myro muss Dinge beachten, die bei einem<br />
Benziner oder Diesel zweitrangig sind. Das<br />
Wichtigste ist der Blick auf die Batterieanzeige,<br />
und zwar vor dem Start. Wer losfährt,<br />
ohne genau zu wissen, wie viel Saft der Akku<br />
noch gespeichert hat, braucht möglicherweise<br />
schnell einen Abschleppwagen.<br />
Myro ist ein wenig beunruhigt. 160 Kilometer<br />
weit, weiß sie, kommt sie im Sommer<br />
mit einer Akkuladung. Das Display ihres<br />
Nissan Leaf zeigt allerdings nur noch eine<br />
Reichweite von 80 Kilometern. Denn<br />
Myro musste am Morgen in die Nachbarstadt<br />
fahren und danach die Kinder <strong>vom</strong><br />
Kindergarten abholen.<br />
Jetzt heißt es rechnen und schätzen.<br />
Denn Strom lädt man nicht so einfach, wie<br />
man Benzin oder Diesel in den Tank kippt.<br />
Fürs Aufladen an der Steckdose zu Hause<br />
reicht die Zeit nicht mehr, denn das dauert<br />
Ökofamilie mit Ferrrarisound<br />
Wenn Elektroautos Fußgänger bald mit<br />
Geräuschen auf sich aufmerksam machen<br />
müssen, möchte Ole Jacob dem E-Mobil<br />
seiner Frau Kjersti Myro einen Sportwagensound<br />
verpassen<br />
viel länger als an einer der öffentlichen<br />
Schnellladestationen. Wo sich die nächste<br />
auf ihrer Strecke befindet, erfährt Myro<br />
<strong>vom</strong> ihrem Navi: im Örtchen Flå, 71 Kilometer<br />
von ihrer Wohnung entfernt.<br />
Die Stromtankstelle in Flå ist eine von 21<br />
Schnellladestationen, die das norwegische<br />
Unternehmen Grønn Kontakt, zu Deutsch:<br />
Grüner Kontakt, im Land der Fjorde betreibt.<br />
An ihnen können Besitzer ihr E-Auto<br />
dank einer höheren Stromstärke als an der<br />
heimischen Steckdose innerhalb von 45<br />
Minuten aufladen. Für zehn Ladungen<br />
zahlt Myro 500 Kronen, rund 60 Euro, für<br />
rechnerisch 1600 Kilometer, je nach Fahrzeug<br />
bis zu zwei Drittel weniger als bei einem<br />
herkömmlichen Benziner.<br />
Myro muss rechnen. 71 Kilometer Entfernung<br />
bei einer theoretischen Reichweite<br />
von 80 Kilometer, soll sie es wagen? Vorsichtshalber<br />
fährt sie langsamer als die gesetzlich<br />
erlaubten 80 Kilometer pro Stunde<br />
FOTOS: KIMM SAATVEDT<br />
60 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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über die Landstraße, bremst wenig, tritt<br />
vorsichtig aufs Pedal: „Beschleunigungsvorgänge<br />
ziehen ganz schön viel Strom.“<br />
Doch je länger Myro über den Asphalt<br />
schleicht, desto nervöser wird sie. Ein paar<br />
Kilometer vor Flå wird es ernst. Die Batterieanzeige<br />
piepst und meldet „nur noch<br />
wenig Batterieladung“. Reicht es noch bis<br />
zur nächsten Schnellladestation? Und vor<br />
allem, wird sie funktionieren? Auf einer<br />
früheren Fahrt gen Süden hatte Myro Pech:<br />
Die Station war defekt, und ihre Batterieladung<br />
reichte nicht mal für die Fahrt in den<br />
nächsten Ort. Da half nur noch der Anruf<br />
beim Abschleppdienst. „Zum Glück bietet<br />
Nissan den im ersten Jahr nach dem Kauf<br />
kostenlos an“, sagt Myro.<br />
Heute hat die Norwegerin Glück. Die<br />
Schnellladestation funktioniert und ist frei.<br />
Myro hält eine Plastikmünze mit Chip an<br />
die Anzeige, entnimmt das dicke Ladekabel<br />
und schließt ihren Nissan an. Der Rahmen,<br />
der die Steckdose in der Karosserie<br />
umgibt, blinkt Sekunden später blau auf.<br />
Das heißt, die Batterie zieht Strom.<br />
45 Minuten muss Myro nun warten.<br />
Würde sie die Batterie nur zu 80 Prozent<br />
laden, könnte sie in knapp 20 Minuten weiterfahren.<br />
Also geht sie zu einem Schnellimbiss<br />
und gönnt sich einen Burger mit<br />
Pommes. „Ich lege gerne ein paar Pausen<br />
auf langen Strecken ein“, sagt sie. Nach einer<br />
knappen Dreiviertelstunde ist die Batterie<br />
voll. Die Fahrt kann weitergehen.<br />
Die Verwaltungsangestellte ist eine von<br />
32 000 E-Autobesitzern im Land. Das<br />
Kennzeichen ihres silbernen Nissan Leaf<br />
beginnt, wie bei allen Stromern im Land,<br />
mit den Buchstaben „EL“ – für Elektroauto.<br />
E-HYPE AM FJORD<br />
Mit einem Verkauf von über 4600 Exemplaren<br />
stand der Nissan Leaf 2013 in der norwegischen<br />
Zulassungsstatistik ganz oben –<br />
nur der konventionell angetriebene VW<br />
Golf verkaufte sich noch besser. Auch in<br />
diesem Jahr zählen Elektromobile zu den<br />
Top-Sellern in Norwegen. Mit 12 449 Neuzulassungen<br />
liegt ihr Marktanteil bereits bei<br />
knapp 13 Prozent. Fast 40 Prozent davon<br />
entfallen auf den Volkswagen-Konzern.<br />
In Deutschland wurden 2013 etwas<br />
mehr als 6000 Elektroautos neu zugelassen<br />
– bei immerhin 2,95 Millionen Pkw-Neuzulassungen<br />
und 16-mal so viel Einwohnern<br />
wie in Norwegen. Vom ehrgeizigen Ziel, bis<br />
2020 rund eine Million Elektroautos auf<br />
deutsche Straßen zu bringen, beginnen<br />
sich immer mehr Automanager und Politiker<br />
innerlich zu verabschieden.<br />
In zehn Minuten 41 E-Mobile verkauft<br />
Die Nachfrage überraschte Autoverkäufer wie<br />
Kristin Stundal und Sindre Morstad<br />
In Norwegen hingegen herrscht ein<br />
E-Mobil-Hype. Im Westen von Oslo, direkt<br />
am Fjord, liegt eines der größten Autohäuser<br />
namens Møller Bil Asker og Bærum, einer<br />
von 67 Volkswagen-Händlern, die E-Autos<br />
verkaufen. Gefragt sind dort vor allem der<br />
Kleinwagen Up und sein großer Bruder Golf.<br />
Vor allem die Nachfrage nach dem<br />
e-Golf übertrifft alle Erwartungen. Als Ende<br />
Februar der Verkauf begann, gingen innerhalb<br />
der ersten zehn Minuten 41 Bestellungen<br />
ein. „So etwas haben wir in Norwegen<br />
noch nie erlebt“, erinnern sich Kristin<br />
Stundal und Sindre Morstad, Verkäufer bei<br />
Møller Bil Asker og Bærum. In gut 200 Minuten<br />
kamen insgesamt 1200 Bestellungen<br />
für den e-Golf zusammen.<br />
Grund für die große Nachfrage: Mit einem<br />
Basispreis von umgerechnet 29 933<br />
Euro kostet der e-Golf nur etwa 60 Euro<br />
mehr als das 85 PS starke Schwestermodell<br />
mit konventionellem Antrieb. Und weil für<br />
Elektroautos in Norwegen weder Mehrwert-<br />
noch Neuwagensteuer fällig werden,<br />
kommt der Käufer eines VW e-Golf unter<br />
dem Strich rund 12000 Euro billiger weg<br />
als bei der Bestellung eines Benziner-Golfs.<br />
Noch größer sind die Vorteile bei einer Mittelklasse-Limousine:<br />
Je größer das Auto,<br />
desto höher die steuerliche Belastung.<br />
Bei Møller Bil Asker og Bærum ist heute<br />
besonders viel Betrieb. Ein 45-jähriger<br />
Kunde nimmt für seine Gattin einen<br />
VW-e-Up in Empfang. Oslo ist für E-Auto-<br />
Besitzer ein Paradies. Seine Frau darf mit<br />
dem Strom-Auto künftig die Busspuren benutzen.<br />
Das spart ihr auf dem Weg zur Arbeit<br />
eine halbe Stunde Zeit, weil sie sich<br />
nicht in die Blechkolonnen einreihen muss,<br />
die sich aus den Vororten in die Innenstadt<br />
drängeln. Auch die City-Maut muss sie<br />
nicht zahlen – E-Autos sind von der Abgabe<br />
befreit. Außerdem kann sie im Zentrum auf<br />
einem der vielen „EL“-Parkplätze umsonst<br />
parken. Auch für den Ladestrom muss sie<br />
dort nichts zahlen. Der größte Platz mit 50<br />
Ladestationen und Parkplätzen befindet<br />
sich direkt im Zentrum an der Aker Brygge<br />
direkt am Oslo-Fjord.<br />
STROMER STATT SMOG<br />
In Norwegen erstreckt sich die Küste über<br />
25 000 Kilometer. Von Oslo im Süden bis<br />
nach Hammerfest nördlich des Polarkreises<br />
sind es knapp 2000 Kilometer – weiter<br />
als von Frankfurt nach Madrid. Viele Regionen<br />
sind extrem dünn besiedelt. Zudem<br />
verfügt das Land vor der Küste über riesige<br />
Ölvorkommen, die es den Norwegern ermöglichen<br />
würden, ihre Autos mit preiswert<br />
selbst produziertem Sprit zu betanken.<br />
Warum unterstützt so ein Land seine<br />
Bürger mit fünfstelligen Summen und Privilegien,<br />
damit sie ein E-Auto kaufen?<br />
Der Grund liegt in der Luft – nämlich der<br />
600 000-Einwohner-Stadt Oslo. Das Klima<br />
in der Hauptstadt ist durch den starken<br />
Verkehr und ihre Kessellage extrem belastet.<br />
Im Winter hängen oft tagelang Smog-<br />
Wolken über Oslo. Deshalb hat die Regierung<br />
beschlossen, bis 2020 die Kohlendioxid-Emissionen<br />
des Transportsektors um<br />
2,5 bis 4,0 Millionen Tonnen pro Jahr zu reduzieren.<br />
E-Autos sind ein wichtiger Baustein.<br />
Da Norwegen sauberen Strom mit<br />
Wind- und Wasserkraft günstig erzeugen<br />
kann, verschenkt die Regierung diesen an<br />
den öffentlichen Stromtankstellen – die allerdings<br />
keine Schnellladung anbieten.<br />
Durch die vielen Vergünstigungen hat es<br />
Norwegen inzwischen geschafft, zum Land<br />
mit der höchsten Zahl von Elektroautos<br />
pro Kopf aufzusteigen. Einer, der viel dazu<br />
beigetragen hat, ist Frederic Hauge, Chef<br />
der internationalen Umweltorganisation<br />
Bellona mit Sitz in Oslo – und Europas erster<br />
Elektroautofahrer.<br />
Der stets leger gekleidete Umweltaktivist<br />
ist eine Art Galionsfigur der E-Mobilität.<br />
1988 importierte der heute 49-Jährige das<br />
erste Elektroauto. Mit öffentlichkeitswirksamen<br />
Aktionen machte er immer wieder<br />
von sich und seinem Auto reden. „Wir ha-<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 61<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
»<br />
ben keine Maut bezahlt und bekamen<br />
Strafen, die wir nicht bezahlt haben. Daraufhin<br />
wurde unser Auto konfisziert und versteigert,<br />
aber keiner wollte es haben. Wir haben<br />
es dann zurückgekauft. Das war günstiger<br />
als die Strafe. Das Ganze ist etwa 15-mal<br />
passiert“, erzählt Hauge.<br />
Ein Vierteljahrhundert später ist das Elektroauto<br />
hier so üblich wie Lachs zum Mittagessen.<br />
Insbesondere die Marke Tesla des US-<br />
Multitalents Elon Musk hat viele von der<br />
Elektromobilität überzeugt.<br />
GRATIS TANKEN<br />
IT-Projektmanager Ering Henningstad aus<br />
Skedsmos etwa wohnt mit Tochter Hannah<br />
Emilie und Sohn Nils rund 23 Kilometer vor<br />
Oslo und hat vor einem Jahr den SUV <strong>vom</strong><br />
Typ BMW X3 gegen ein Model S von Tesla<br />
getauscht. „Ich habe ein Faible für schnelle<br />
Autos“, sagt Henningstad. Der Tesla schafft<br />
Tempo 200, beschleunigt in weniger als<br />
sechs Sekunden auf Tempo 100 – und<br />
kommt in der Version S 85 mit einer Akkuladung<br />
und bei zurückhaltender Fahrweise<br />
bis zu 500 Kilometer weit.<br />
In Deutschland kostet ein Tesla Model S<br />
85 rund 75000 Euro, einen BMW X5 mit Dieselmotor<br />
gibt es schon ab 52000 Euro. In<br />
Norwegen ist das fast umgekehrt:„Der Tesla<br />
hier ist günstig, ein BMW doppelt so teuer“,<br />
sagt Henningstad. Der Tesla Model S kostet<br />
hier umgerechnet 62200 Euro; für einen<br />
BMW X5 müssen Norweger fast 94 000 Euro<br />
hinblättern. Bei großen und schnellen Modellen<br />
verteuere die Steuer das Auto sehr,<br />
rechnet Henningstad vor. Außerdem habe er<br />
jeden Tag 15 Euro Maut gezahlt und jeden<br />
Monat 400 Euro Sprit.<br />
„Jetzt gibt es den Strom umsonst“, freut<br />
sich Henningstad. Denn der ist für Tesla-<br />
Schnellstromer statt SUV<br />
IT-Manager Ering Henningstad (rechts),<br />
Tochter Emilie und Sohn Nils (links mit<br />
Freundin Lene Marie Brynildsen) ersetzten<br />
den BMW X3 durch einen Tesla und fahren<br />
mit einer Akkuladung 300 Kilometer<br />
Fahrer während der Lebenszeit des Autos im<br />
Kaufpreis enthalten. „Vergangene Woche<br />
bin ich von Oslo nach Göteborg und zurück<br />
insgesamt 600 Kilometer gefahren“, sagt<br />
Henningstad. „Über Nacht habe ich mein<br />
Auto im Hotel geladen.“<br />
Bei so viel Begeisterung ist es kein Wunder,<br />
dass Norwegen die E-Infrastruktur massiv<br />
ausbaut. An mehr als 150 der insgesamt<br />
knapp 1500 Ladestationen können Fahrer<br />
von eUps, Nissan Leafs, Teslas oder auch der<br />
neuen i3-Modelle von BMW ihre Wagen in<br />
einer Stunde aufladen. 71 weitere Schnellladestationen<br />
wollen Unternehmen wie Fortum,<br />
Grønn Kontakt und Salto errichten.<br />
Das staatliche Unternehmen Transnova<br />
schießt pro Ladestation 30 Prozent der Kosten<br />
zu, wenn Elektroautos aller Marken an<br />
den Ladestationen geladen werden können.<br />
Mehr als sieben Millionen Euro Fördermittel<br />
stehen zum Ausbau der Ladeinfrastruktur<br />
zur Verfügung.<br />
Die Unternehmen im Land der Fjorde tun<br />
das Ihrige dazu. Eine Möbelkette plant, in allen<br />
ihren Parkhäusern Schnellladestationen<br />
zu bauen, einige McDonald’s-Filialen locken<br />
bereits mit diesem Service Kunden an.<br />
Konventionelle Ladestationen finden sich<br />
inzwischen auf den meisten Parkplätzen<br />
von Supermarktketten und großen Einkaufshäusern.<br />
Aber auch auf dem flachen<br />
Norwegen – Superstar der Elektromobilität<br />
Nirgends ist die Nachfrage nach E-Autos<br />
so groß wie im Land der Fjorde...<br />
Nachfragestärke<br />
(Index, Maximalwert 5 = größte Nachfrage)<br />
Norwegen USA Japan Portugal<br />
Großbrit. Dänemark Frankreich Italien<br />
China Niederlande Deutschland Südkorea<br />
...und obwohl es dort keine E-Autos aus<br />
heimischer Produktion gibt...<br />
Modellpalette inländischer Hersteller<br />
(Maximalwert 5 = Angebot in allen Fahrzeugklassen)<br />
0 1 2 3 4 5<br />
Deutschland<br />
Frankreich<br />
Japan<br />
USA<br />
China<br />
Italien<br />
Südkorea<br />
Niederlande<br />
Großbritannien<br />
.<br />
Norwegen<br />
Quelle: McKinsey Quelle: Enerdata, IEA, McKinsey Quelle: IHS, McKinsey<br />
0<br />
...rollen auf den Straßen mehr davon als<br />
in Deutschland<br />
Neuzulassungen<br />
(in Tausend, 1. Quartal 2009 bis 1. Quartal 2014)<br />
200<br />
195 USA<br />
180<br />
150<br />
90<br />
60<br />
30<br />
0<br />
2010<br />
84 Japan<br />
33 Frankreich<br />
33 Niederlande<br />
22 Norwegen<br />
2011 2012 2013<br />
19 Deutschland<br />
13 China<br />
14<br />
FOTO: KIMM SAATVEDT<br />
62 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Land wächst die Zahl der schnellen Ladestationen<br />
rasant.<br />
Doch nicht überall stoßen die Elektroautos<br />
auf uneingeschränkte Zustimmung.<br />
Denn je mehr von ihnen auf die Straße kommen,<br />
desto mehr Reibereien gibt es mit anderen<br />
Verkehrsteilnehmern.<br />
KAMPF UM DIE BUSSPUR<br />
Oslo, Hauptverkehrszeit, Hauptstraßen-<br />
Kampfzeit. Da die E-Autos die Busspuren<br />
benutzen dürfen, müssen sich die Busfahrer<br />
im chaotischen Berufsverkehr auch noch<br />
damit arrangieren. „Das Problem sind die<br />
östlichen Routen auf den zweispurigen<br />
Highways. Ich bin in der Rushhour immer zu<br />
spät“, klagt Busfahrer Ali Awad.<br />
Der Norweger fährt für das Busunternehmen<br />
Nobina die Route 31 aus den östlichen<br />
Vororten durch die City Richtung Westen.<br />
„Auf den Busspuren wird man manchmal<br />
auch von den schnelleren E-Autos angeblinkt“,<br />
sagt er. Nobina-Manager Jon Skaale<br />
beschwichtigt: „Eigentlich beschweren sich<br />
unsere Fahrer wenig.“<br />
Dennoch ist das Murren bei der Regierung<br />
angekommen. Deshalb überlegt diese<br />
bereits, das Privileg der E-Autos auf Busspuren<br />
zurückzunehmen. Allerdings geht Nobina-Manager<br />
Skaale davon aus, dass das<br />
noch dauern wird: „Die Regierung hat die<br />
Befreiung der Auto- und Mehrwertsteuer bis<br />
2017 garantiert, und sonstige Privilegien wie<br />
die Nutzung der Busspur werden höchstwahrscheinlich<br />
erst zu diesem Zeitpunkt<br />
nochmals bewertet.“<br />
Elektrofahrerin Myro kümmert das nicht.<br />
Sie hat den Feierabendverkehr im Großraum<br />
Oslo längst hinter sich gelassen. In<br />
Drammen, rund 20 Kilometer westlich von<br />
Oslo, lädt sie ihr Auto noch einmal 20 Minuten<br />
lang und fährt dann weiter in Richtung<br />
Porsgrunn zur Wohnungsbesichtigung. Ob<br />
es dort eine Garage gibt, in der sie ihr E-Auto<br />
laden kann, weiß sie noch nicht. Vorsichtshalber<br />
legt sie kurz vor dem Ziel noch einen<br />
kleinen Ladestopp ein. Dann genießt sie die<br />
leise Fahrt, kein Motor röhrt beim Beschleunigen,<br />
kein Brummen stört auf langen<br />
Strecken, nur ein Sirren und Surren und hier<br />
und da der Wind.<br />
Das könnte sich ändern. Die EU will, dass<br />
E-Autos künftig zum Schutz der Fußgänger<br />
Geräusche von sich geben. Zwar ist Norwegen<br />
kein EU-Land, würde als Mitglied des<br />
Europäischen Wirtschaftsraums die Regel<br />
wohl übernehmen. „Mein Mann Ole Jacob<br />
hätte dann gerne einen Ferrari-Sound“, sagt<br />
Myro, und ihr E-Mobil surrt leise weiter. n<br />
nele hansen | unternehmen@wiwo.de<br />
EVI<br />
Von wegen<br />
Norwegen<br />
Frankreich überholt Japan als<br />
drittgrößte E-Autonation. Norwegen<br />
überdenkt seine Subventionen.<br />
Norwegen ist das gelobte Land der Elektroautos.<br />
22 000 neue Stromer wurden<br />
hier seit 2009 zugelassen, in Deutschland<br />
sind nach der Statistik des Kraftfahrtbundesamtes<br />
aktuell rund 19 000 batterieelektrische<br />
Fahrzeug unterwegs. Schon<br />
jeder 20. Neuwagen im ersten Quartal<br />
2014 fährt in Norwegen elektrisch, in<br />
Deutschland liegt der Anteil noch bei unter<br />
einem Prozent. Doch für das Siegertreppchen<br />
im exklusiven Electro Vehicle<br />
Index EVI von WirtschaftsWoche und der<br />
Unternehmensberatung McKinsey reicht<br />
es für die Skandinavier lange nicht. Hier<br />
ist zwar die Nachfrage riesig – doch das<br />
Angebot an E-Fahrzeugen gleich null: Im<br />
Land der Fjorde gibt es seit der Pleite von<br />
Think Global im Jahr 2011 keinen einzigen<br />
Autobauer mehr. So reicht es im EVI,<br />
der Angebot und Nachfrage gleichermaßen<br />
erfasst, für Norwegen nur für Rang<br />
fünf (siehe Grafik).<br />
NICHT BEGEHRENSWERT<br />
Auf der Poleposition halten sich weiter<br />
die USA. Das zweite Quartal 2014 brachte<br />
mit 32 000 Neuzulassungen – dank<br />
der weiter starken Nachfrage nach Nissan<br />
Leaf und Tesla Model S sowie einem<br />
Absatz von rund 1000 BMW i3 – einen<br />
neuen Rekord. Auch in Deutschland zog<br />
der Verkauf mit 3600 neuen Stromern bis<br />
Juni merklich an – Zugmaschinen waren<br />
auch hier BMW i3 (1539 Zulassungen bis<br />
Ende Juli) und Tesla Model S (472 Neuzulassungen).<br />
Insgesamt bleibt die<br />
Nachfrage hierzulande aber weiterhin<br />
überschaubar. „Elektroautos werden sich<br />
erst dann durchsetzen, wenn die Menschen<br />
sie als begehrenswertes Premiumprodukt<br />
wahrnehmen“, erklärt Christian<br />
Malorny, Autoexperte bei McKinsey.<br />
Bundesverkehrsminister Sigmar Gabriel<br />
möchte die Deutschen neuerdings zusätzlich<br />
mit Gratisparkplätzen und freier<br />
Fahrt auf Busspuren zum Kauf eines Elektroautos<br />
verführen. Er hat die Rechnung<br />
allerdings ohne die Kommunen gemacht.<br />
Von Berlin bis München, keiner mag sich<br />
für Autos begeistern, die vergleichsweise<br />
teuer sind, einen stark eingeschränkten<br />
Aktionsradius besitzen und keinerlei finanzielle<br />
Förderung erfahren. So wird<br />
Deutschland seinen zweiten Rang im EVI<br />
allein dadurch behaupten, der weltweit<br />
größte Produzent von Elektroautos sein.<br />
Bis 2019 sollen 440 000 batterieelektrische<br />
Stromer von deutschen Bändern rollen:<br />
Dank e-Up und e-Golf kommt Volkswagen<br />
auf dem hoch subventionierten<br />
norwegischen Elektroautomarkt bereits<br />
auf einen Anteil von 49,3 Prozent.<br />
Aber wie lange noch werden die europäischen<br />
Nachbarn den Absatz deutscher<br />
E-Autos mit ihren Staatsgelder ankurbeln?<br />
„Wir geraten in die Situation,<br />
dass der französische Staat indirekt die<br />
Frankreich holt auf<br />
Electric Vehicle Index* (in Prozent)<br />
60<br />
55<br />
50<br />
45<br />
40<br />
35<br />
30<br />
25<br />
20<br />
15<br />
2011 2012 2013 2014<br />
USA<br />
Deutschland<br />
Frankreich<br />
Japan<br />
Norwegen<br />
Italien<br />
China<br />
Niederlande<br />
Südkorea<br />
Großbritannien<br />
* der Electric Vehicle Index (EVI) gibt an, zu wie viel Prozent<br />
ein Land die Elektromobilität erreicht, die Experten<br />
für 2020 voraussagen. Der Index misst die Nachfrage<br />
und die Produktion von Elektroautos. Erfasst werden rein<br />
batteriebetriebene Elektroautos und Elektroautos mit zusätzlichem<br />
Verbrennungsmotor (Plug-in-Hybride, Range<br />
Extender); Quelle: McKinsey, IHS Automotive<br />
deutsche Autoindustrie subventioniert“,<br />
so Malorny. Bisher dominiert der Renault<br />
Zoe auf den Straßen zwischen Lille und<br />
Marseille. Renault hat die Produktion der<br />
Batterie-Flitzer so angekurbelt, dass<br />
Frankreich inzwischen Japan den Titel als<br />
drittgrößte E-Auto-Nation abgeluchst hat.<br />
Norwegen will derweil die Förderung ab<br />
der 50 000. Neuzulassung kappen. Das<br />
könnte schon Anfang 2015 greifen. Ob<br />
dann niederländische Verhältnisse einkehren?<br />
Dort brachen nach dem Ende der<br />
Steuervergünstigungen zum Jahreswechsel<br />
die Zulassungen ein.<br />
rebecca.eisert@wiwo.de<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 63<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Posse der Geschichte<br />
TAXIMARKT | Daimler schluckt MyTaxi, der US-Fahrdienst UberPop wird einstweilig verboten –<br />
wie geht es jetzt weiter in der umkämpften Branche?<br />
Die vergangene Woche war turbulent<br />
wie selten im deutschen Taxigewerbe:<br />
Erst verbot das Landgericht<br />
Frankfurt in einer einstweiligen Verfügung<br />
auf Antrag von Taxi Deutschland – ein Zusammenschluss<br />
hiesiger Taxizentralen –<br />
den Fahrdienst Uber bundesweit. Laut Gericht<br />
verstößt die App UberPop zur Vermittlung<br />
von Fahrgästen an private Fahrer<br />
gegen das Personenbeförderungsgesetz,<br />
da die von Uber vermittelten Fahrer keinen<br />
Personenbeförderungsschein besäßen.<br />
Tags darauf sorgte Autoriese Daimler für<br />
einen Paukenschlag: Die Tochter Moovel<br />
schluckt den populären Buchungsdienst<br />
MyTaxi komplett. Zuvor hielt Daimler rund<br />
20 Prozent. Mit MyTaxi können Fahrgäste<br />
ein Taxi per Smartphone direkt beim Fahrer<br />
ordern statt über die Zentrale.<br />
Die WirtschaftsWoche beantwortet die<br />
wichtigsten Fragen zu den Umwälzungen<br />
im bisher stark regulierten Taxigewerbe.<br />
Welche Folgen hat Daimlers<br />
Übernahme von MyTaxi?<br />
Daimler will „im Schulterschluss mit dem<br />
Taxigewerbe“ die Internationalisierung des<br />
Dienstes vorantreiben: „Wir glauben, dass<br />
es einen großen Bedarf an einem sicheren<br />
wie hochqualitativen Personentransport<br />
gibt“, sagt Marcus Spickermann, Geschäftsführer<br />
der Daimler-Tochter Moovel. MyTaxi<br />
solle in Moovel integriert werden, erläutert<br />
Spickermann, dabei aber die Gesetze<br />
einhalten – ein Seitenhieb auf den umstrittenen<br />
Fahrdienst Uber: „Ein regulierter<br />
Markt hat durchaus seine Stärken.“<br />
Mit zehn Millionen Downloads der App<br />
und 35 000 Fahrern in Deutschland, Österreich,<br />
der Schweiz, Spanien, Polen und den<br />
USA sieht sich MyTaxi derzeit als Marktführer.<br />
Reisende kommen mithilfe der App<br />
binnen zwei Minuten an ein Taxi, Taxifahrer<br />
schneller an neue Kunden. Sie zahlen<br />
dafür eine Provision zwischen 3 und 15<br />
Prozent. Die Höhe kann der Fahrer selbst<br />
bestimmen: Je höher die Provision, desto<br />
schneller kommt der nächste Auftrag rein.<br />
MyTaxi hatte ursprünglich vor, Taxizentralen<br />
überflüssig zu machen. Inzwischen<br />
versteht man sich eher als Dienstleister:<br />
„Wir wollen die Zentralen mit unserem<br />
Dienst eher stärken als schwächen“, sagt<br />
Moovel-Geschäftsführer Spickermann. So<br />
ist daran gedacht, den Gesellschaften Daten<br />
über Nutzerverhalten und Fahrzeiten<br />
zur Verfügung zu stellen, die die Auslastung<br />
der Fahrzeuge verbessern und die<br />
Planung der Einsätze erleichtern könnten.<br />
Was ist Daimlers Ziel?<br />
Die Plattform Moovel verfolgt das Ziel, Mobilitätsangebote<br />
intelligent miteinander zu<br />
vernetzen – Taxen, Leihwagen, auch Busse,<br />
Bahnen und private Mitfahrgelegenheiten.<br />
Moovel soll langfristig eine Art „Amazon<br />
der Mobilität“ werden, wie Chef Spickermann<br />
sagt. Das Carsharing-System Car2go<br />
sei ebenso ein Baustein wie das Pilotprojekt<br />
Park2gether, das Parkplatzbesitzer und<br />
-suchende per Online-Börse zusammenbringt,<br />
sowie jetzt MyTaxi. Über Moovel gewinnt<br />
Daimler eine Unmenge von Informationen.<br />
Die können etwa die Entwicklung<br />
von Elektroautos oder die Auslastung<br />
von Taxiflotten oder Parkhäusern optimieren.<br />
Zudem ist das Taxigewerbe einer der<br />
wichtigsten Märkte für Mercedes-Pkw.<br />
Bleibt UberPop verboten?<br />
Anwalt Herwig Kollar, der für Taxi<br />
Deutschland die einstweilige Verfügung<br />
gegen Uber erwirkt hat, ist zuversichtlich,<br />
dass diese <strong>vom</strong> Gericht bestätigt wird. Uber<br />
hatte am 20. August mit einer 200 Seiten<br />
starken Schutzschrift seine Argumente<br />
präsentiert. Dennoch untersagten die<br />
Richter mit sofortiger Wirkung und ohne<br />
mündliche Verhandlung die Anwendung<br />
der App UberPop. Uber droht nun für jede<br />
Fahrt eine Strafe von bis zu 250 000 Euro.<br />
„Das Urteil muss Bestand haben“, sagt<br />
auch der Münchner Anwalt Michael Bauer.<br />
Er hält die Regulierung zum Schutz der<br />
Fahrgäste für sinnvoll: „Die Behörden sorgen<br />
dafür, dass keine völlig gestörten Existenzen<br />
auf die Fahrgäste losgelassen werden.“<br />
So werden für den für maximal fünf<br />
Jahre ausgestellten Personenbeförderungsschein<br />
Seh-, Hör- und Urintests verlangt.<br />
Bei der Verlängerung fahndet die zuständige<br />
Behörde zudem im Bundeszentralregister<br />
nach Auffälligkeiten etwa beim<br />
Alkohol- und Drogenkonsum sowie aggressivem<br />
Verhalten. Wird sie fündig, muss<br />
der Fahrer zur medizinisch-psychologischen<br />
Untersuchung. Wer zu viele Punkte<br />
in Flensburg hat, bekommt den Schein<br />
nicht für fünf, sondern nur für ein oder<br />
zwei Jahre verlängert. „Das alles ist bei<br />
Uber-Fahrern nicht der Fall“, sagt Bauer.<br />
Wie argumentiert Uber?<br />
Das Uber-Management stilisiert sich als<br />
David im Kampf gegen Goliath. „Die Wahlmöglichkeiten<br />
der Bevölkerung einzuschränken<br />
war noch nie eine gute Idee.<br />
Genau darauf zielte aber die einstweilige<br />
FOTO: IMAGO/CHRISTIAN MANG<br />
64 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Verfügung ab“, sagt Fabien Nestmann,<br />
Sprecher von Uber in Deutschland. „Innovation<br />
und Wettbewerb ist gut für alle. Es ist<br />
ein Gewinn für Fahrer und Mitfahrer. Fortschritt<br />
lässt sich nicht ausbremsen.“<br />
Uber betreibt seinen Dienst UberPop<br />
bisher trotz des Verbots einfach weiter.<br />
„Das Landgericht hat die einstweilige Verfügung<br />
zu Unrecht erlassen“, sagt Nestmann.<br />
„Uber wird, falls erforderlich, alle<br />
Rechtsmittel ausschöpfen.“ Die finanzielle<br />
Power dazu haben die Amerikaner dank einer<br />
Kapitalausstattung von rund 1,2 Milliarden<br />
Dollar.<br />
Wie wird das Uber-Verbot<br />
kontrolliert und sanktioniert?<br />
Da es sich bei dem Verfahren zwischen Taxi<br />
Deutschland und Uber um ein Parteiverfahren<br />
im Zivilrecht handelt, verfolgt das<br />
Landgericht Frankfurt die Einhaltung des<br />
Urteils nicht selbst. „Wir sind nicht die<br />
Staatsanwaltschaft“, sagt Gerichtssprecher<br />
Arne Hasse. Bei Verstößen müsste Taxi<br />
Deutschland einen Ordnungsmittelantrag<br />
stellen, dann würde das Gericht aktiv. Die<br />
Höhe des Ordnungsgelds richte sich nach<br />
den Umständen des konkreten Falls wie etwa<br />
der Zahl der Verstöße oder ob es ein<br />
Erstverstoß sei. Bisher sei aber noch kein<br />
entsprechender Antrag eingegangen.<br />
Sind Fahrten mit Uber nun<br />
nicht mehr versichert?<br />
Uber beteuert, dass nicht nur Fahrer, sondern<br />
auch Fahrgäste immer voll versichert<br />
seien. Bei UberPop greife in einem Schadensfall<br />
zusätzlich zur Kfz-Haftpflicht des<br />
Fahrers eine Zusatzversicherung von Uber<br />
Streng reguliert<br />
Aggressive Start-ups<br />
wollen das bisher stark<br />
abgeschottete Taxigewerbe<br />
aufmischen<br />
mit einer Haftung von bis zu 3,7 Millionen<br />
Euro pro Schadensfall. „Diese deckt nicht<br />
nur den Fahrgast und Dritte voll ab, sondern<br />
greift auch, falls der Versicherungsschutz<br />
des Fahrers nicht ausreichen sollte“,<br />
sagt Sprecher Nestmann. Diese Police werde<br />
von einer international tätigen Versicherungsgesellschaft<br />
gedeckt.<br />
Ob das Frankfurter Urteil den Versicherungsschutz<br />
beschneidet, wollte Uber<br />
nicht kommentieren. So oder so gilt: Fahrgäste<br />
von Uber sind versichert. „Ein Ge-<br />
schädigter hat immer einen Anspruch gegen<br />
die gesetzlich vorgeschriebene Kfz-<br />
Haftpflichtversicherung“, sagt Fabian<br />
Herdter, Experte für Versicherungsrecht<br />
bei der Düsseldorfer Kanzlei Wilhelm.<br />
Ein Uber-Fahrer ist allerdings in einer<br />
heiklen Position: „Der Haftpflichtversicherer<br />
könnte mit Hinweis auf eine gewerbliche<br />
Nutzung des Fahrzeugs versuchen, einen<br />
Schaden <strong>vom</strong> Fahrer erstatten zu lassen“,<br />
so Herdter. „Dann soll die Versicherung<br />
von Uber greifen.“ Ungeklärt sei aber,<br />
ob diese auch Vollkaskoschäden abdecke.<br />
Gibt es weitere Konkurrenten?<br />
Neben der verbotenen App UberPop betreiben<br />
die Amerikaner einen Limousinen-<br />
Service namens UberBlack. Der ist von<br />
dem Urteil nicht betroffen, denn die Fahrer<br />
sind professionelle Limousinen-Chauffeure<br />
mit Personenbeförderungsschein.<br />
Seit Anfang 2013 mischt auch Autovermieter<br />
Sixt mit dem Chauffeurdienst My-<br />
Driver den Markt auf. Auch MyDriver bekam<br />
Gegenwind von den Taxizentralen.<br />
Weil MyDriver auf angestellte Fahrer mit<br />
Personenbeförderungsschein und eigene<br />
Fahrzeuge zurückgreift, liefen die rechtlichen<br />
Vorstöße bisher aber meist ins Leere.<br />
Was plant die Politik?<br />
In Berlin sieht man aktuell keinen Anlass für<br />
eine Gesetzesänderung: „Durch die Genehmigungspraxis<br />
nach Personenbeförderungsgesetz<br />
werden Sicherheit und Qualität<br />
der Personenbeförderung gewährleistet“,<br />
heißt es aus dem Bundesverkehrsministerium<br />
auf Anfrage. „Derzeit sind keine Änderungen<br />
der Vorschriften vorgesehen.“ Hinter<br />
vorgehaltener Hand räumt man freilich<br />
auch dort ein, dass man sich „langfristig des<br />
Themas annehmen“ müsse.<br />
Wie wird der Taximarkt der<br />
Zukunft aussehen?<br />
Mittelfristig dürfte der Druck auf die Politik<br />
deutlich steigen, die Vorschriften zu lockern.<br />
„Viele der Regulierungsbestandteile<br />
haben im digitalen Zeitalter keine volkswirtschaftliche<br />
Rechtfertigung mehr“, sagt<br />
Klemens Skibicki, Professor an der Cologne<br />
Business School in Köln und Experte<br />
für digitalen Strukturwandel. „Man wird<br />
die heutige Regulierung in einigen Jahren<br />
als Posse der Geschichte belächeln.“ n<br />
michael.kroker@wiwo.de, thomas glöckner,<br />
franz rother, christian schlesiger | Berlin<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 65<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
»Lebenslang<br />
überschuldet«<br />
INTERVIEW | Arundhati Bhattacharya Die Chefin von Indiens größter<br />
Bank will Kleinunternehmer von Kredithaien erlösen und sieht<br />
deutsche Mittelständler als Helfer für eine modernere Industrie.<br />
Frau Bhattacharya, Sie leiten Indiens<br />
größte Bank, andererseits grassiert im<br />
Land Gewalt gegen Frauen und Mädchen.<br />
Muss der Staat die Gleichberechtigung<br />
fördern und Frauen besser schützen?<br />
Wir müssen die Wurzel dieses Übels bekämpfen.<br />
Sie liegt im rasanten Zuzug der<br />
Landbevölkerung in die Städte, wobei viele<br />
auf der Strecke bleiben und in die Kriminalität<br />
rutschen. So entsteht ein großes Problem<br />
für die öffentliche Sicherheit, das sich<br />
nicht nur mit mehr Polizei lösen lässt. Die<br />
Regierung muss dafür sorgen, dass die<br />
ländlichen Zuwanderer produktive<br />
Mitglieder der Gesellschaft<br />
werden und insbesondere<br />
Jugendliche ihre hohen<br />
Erwartungen an das Leben<br />
besser erfüllen können.<br />
Was tut Ihre Bank, um<br />
Frauen zu fördern?<br />
Unsere Mitarbeiter erhalten<br />
zwei Jahre unbezahlte Freistellung<br />
für die Erziehung<br />
von Kindern und die Pflege<br />
DIE KOSMOPOLITIN<br />
Bhattacharya, 58, stammt<br />
aus der Wirtschaftsmetropole<br />
Kalkutta und ist seit<br />
2013 Chefin der staatlichen<br />
State Bank of India.<br />
Sie hat das internationale<br />
Geschäft bei Indiens<br />
größtem Kreditinstitut<br />
ausgebaut und eine bis<br />
zu zweijährige Auszeit für<br />
Mütter eingeführt.<br />
von Familienangehörigen.<br />
Das gilt auch für alleinstehende<br />
Männer. In indischen Familien sind<br />
Mütter hauptverantwortlich für Erziehung,<br />
Haushalt und Pflege älterer Angehöriger,<br />
das wird sich so schnell nicht ändern. Zudem<br />
stehen sie nach der Grundschulzeit<br />
der Kinder unter Druck, eine gute Oberschule<br />
zu organisieren, da das indische Bildungssystem<br />
stark von Wettbewerb geprägt<br />
ist. Für diese Aufgaben brauchen<br />
Frauen Zeit, die der Arbeitgeber ihnen gewähren<br />
sollte.<br />
Auf der neuen indischen Regierung unter<br />
Narendra Modi lasten hohe Erwartungen<br />
für Wachstum und Reformen. Kann der<br />
Premierminister diese erfüllen?<br />
Er wird es schaffen. Die Öffentlichkeit will<br />
schnelle Ergebnisse, aber wir dürfen keinen<br />
großen Knall erwarten, sondern viele<br />
kleine Schritte. In Indien nehmen die 29<br />
Einzelstaaten starken Einfluss auf die Politik,<br />
sodass die Zentralregierung viele Kompromisse<br />
eingehen muss. Die neue Regierung<br />
ist für fünf Jahre gewählt, und so lange<br />
sollten wir ihr auch Zeit geben.<br />
Funktioniert die Demokratie im<br />
zersplitterten Indien überhaupt?<br />
Ja. Die jüngsten Wahlen haben gezeigt,<br />
dass die Bevölkerung gut informiert ist und<br />
ihre Wahlentscheidung an den Erfordernissen<br />
des gesamten Landes ausrichtet<br />
statt nur an regionalen Interessen. So haben<br />
ländliche sowie städtische Wähler für<br />
die gleiche politische Richtung votiert.<br />
Was sind nun die aus<br />
Ihrer Sicht dringendsten<br />
Maßnahmen?<br />
Damit die großen Infrastrukturprojekte<br />
endlich ins<br />
Laufen kommen, brauchen<br />
die beteiligten Unternehmen<br />
zur Anschubfinanzierung<br />
genug Eigenkapital,<br />
um alles Weitere dann mit<br />
Krediten zu finanzieren.<br />
Entscheidend ist zudem,<br />
dass die Menschen für die<br />
Nutzung von neuen Straßen,<br />
Energie und Kommunikationsdiensten<br />
bezahlen, damit die Unternehmen<br />
ihre Kredite zurückzahlen können. So<br />
brauchen wir nicht nur funktionierende<br />
Mautstellen und Stromnetze, sondern<br />
zum Beispiel auch ein verlässliches Tarifsystem,<br />
um die Energieerzeuger zu entlohnen.<br />
Oft wird Strom illegal abgezapft,<br />
ohne zu zahlen.<br />
Welche Rolle spielen Banken bei der<br />
Förderung von Infrastrukturprojekten?<br />
Kredite von Geschäftsbanken spielen eine<br />
große Rolle, aber der Markt für Unternehmensanleihen<br />
ist in Indien unterentwickelt.<br />
Damit sich das ändert, brauchen wir<br />
ein besseres Gesetz für Insolvenzen, sodass<br />
Anleihegläubiger dabei nicht leer ausgehen.<br />
Zudem spielen Pensions- und Versicherungsfonds<br />
als Investoren eine zu geringe<br />
Rolle, obwohl Inder wegen der fehlenden<br />
staatlichen Absicherung dort viel<br />
Geld anlegen. Aber die Fonds kaufen wegen<br />
zu strenger Regulierung kaum langfristige<br />
Unternehmensanleihen.<br />
Ein Problem bei Infrastrukturprojekten ist<br />
aber auch die grassierende Korruption.<br />
Dieses Problem gibt es, aber es wird in den<br />
Medien oft stark übertrieben. Wenn die Regierung<br />
und die Einzelstaaten dafür sorgen,<br />
dass sich alle an die Regeln halten,<br />
können wir der Korruption Herr werden.<br />
Die indischen Aktienmärkte haben sich<br />
rasant entwickelt, sehen Sie eine Blase?<br />
Nein, ich sehe das eher als eine Erholung<br />
<strong>vom</strong> Abschwung. Dieser wurde ausgelöst<br />
durch die Probleme der Weltwirtschaft<br />
nach der Finanzkrise, aber auch durch<br />
Fehler der indischen Wirtschaftspolitik –<br />
etwa bei der Förderung von öffentlichprivaten<br />
Partnerschaften für den Ausbau<br />
der Infrastruktur oder einer zu schnellen<br />
Privatisierung von natürlichen Ressourcen.<br />
So wurden Telekommunikationslizenzen<br />
oder Abbaurechte für Rohstoffe zu billig<br />
verkauft. Und Banken haben zu viele Kredite<br />
vergeben für große Projekte, die nicht abgeschlossen<br />
wurden. Ich bezeichne das als<br />
Indiens Wachstumsschmerzen. Aus diesen<br />
Fehlern hat die Politik aber gelernt.<br />
Wie sind die Aussichten für das weitere<br />
Wirtschaftswachstum in Indien?<br />
Gut, denn die demografische Entwicklung<br />
arbeitet für unsere Volkswirtschaft. Die Experten<br />
unserer Bank erwarten für 2014<br />
mehr als fünf Prozent Wachstum. Jedes<br />
Jahr strömen zehn bis zwölf Millionen junge<br />
Leute auf den Arbeitsmarkt – alles potenzielle<br />
Konsumenten. Auch die Telekommunikationsbranche<br />
erholt sich dank<br />
neu und besser verteilter Funklizenzen.<br />
Viele Inder leben allerdings noch in<br />
Armut. Die Regierung will helfen, etwa mit<br />
Bankkonten für alle. Funktioniert das?<br />
Ja, denn wer keinen Zugang zu Bankdiensten<br />
hat, muss sich in Indien bei Kredithaien<br />
auf dem Schwarzmarkt Geld leihen und<br />
ist danach meist lebenslang überschuldet.<br />
Für die Banken ist das Projekt der Regierung<br />
eine große Chance, neue Kundengruppen<br />
zu erschließen. Allerdings muss<br />
dafür gesorgt werden, dass dann auch<br />
staatliche Transfers direkt auf diesen Konten<br />
landen. Zu oft versickern solche Zahlungen<br />
noch auf dem Weg zum Empfänger<br />
in der Bürokratie. Wir haben eine Technik<br />
entwickelt, bei der sich Kunden mit einem<br />
elektronischen Fingerabdruck bei der<br />
Bank registrieren und sofort vor Ort ein<br />
Konto eröffnen können. Ihre Bankkarte<br />
können sie gleich mitnehmen.<br />
FOTO: CHRISTOF MATTES FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
66 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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»Die großen<br />
Infrastrukturprojekte<br />
müssen<br />
ins Laufen<br />
kommen«<br />
Müssen Sie dafür neue und teure Filialen<br />
auf dem Land aufbauen?<br />
Nein, die Technik funktioniert unabhängig<br />
von Filialen, für den Datentransfer reicht<br />
eine Mobilfunkverbindung. Dabei kooperieren<br />
wir mit Supermärkten oder Einkaufszentren<br />
und eröffnen Camps in besonders<br />
strukturschwachen Gegenden, wo<br />
wir potenzielle Kunden über die Vorteile<br />
eines neuen Kontos informieren.<br />
Das Beispiel zeigt, wie stark Digitaltechnik<br />
die Banken verändert. Wie reagieren<br />
Sie im computeraffinen Indien darauf?<br />
Die State Bank of India hat sieben Pilotfilialen<br />
eröffnet, die nicht mit klassischen<br />
Schaltern, sondern Rechnern und Bildschirmen<br />
ausgestattet sind. Kunden können<br />
sich dort multimedial zum Beispiel<br />
über Autokredite informieren oder sogar<br />
ein Konto eröffnen. Dort steht auch eine digitale<br />
Finanzplanung zur Verfügung, die<br />
den Leuten ausrechnet, wie viel sie wann<br />
sparen müssen, wenn sie sich für den Ruhestand<br />
absichern oder den Nachwuchs<br />
auf die Schule schicken wollen.<br />
Braucht Indien bei seinem wirtschaftlichen<br />
Aufholprozess Investitionen aus<br />
Europa und Deutschland?<br />
Wir brauchen alle Investitionen, die wir<br />
kriegen können. Vor allem kleinen und<br />
mittelständischen Unternehmen fehlt Kapital<br />
für Forschung und Entwicklung. Ihnen<br />
kann die Kooperation mit deutschen<br />
Mittelständlern helfen. Deutsche Unternehmen<br />
sind auch wegen ihrer industriellen<br />
Stärke gern in Indien gesehen. Für sie<br />
wiederum ist der große indische Markt attraktiv.<br />
Unsere Wirtschaft ist bisher immer<br />
noch sehr stark auf Dienstleistungen und<br />
deren Export konzentriert, etwa mit Software<br />
oder internationalen Callcentern.<br />
Indiens mühsame Aufholjagd<br />
Pro-Kopf-Einkommen (in Dollar)<br />
1412<br />
2010<br />
Wirtschaftswachstum (in Prozent)<br />
10,3<br />
Einwohner (in Milliarden)<br />
1,21<br />
1487<br />
1537<br />
1595<br />
2010 2011 2012 2013<br />
1661<br />
* Prognose; Quelle: IHS, Weltbank, eigene Berechnung<br />
1745<br />
2011 2012 2013 2014* 2015*<br />
6,6<br />
1,22 1,24<br />
4,7 5,0<br />
1,25<br />
5,4<br />
1,27<br />
6,3<br />
2010 2011 2012 2013 2014* 2015*<br />
1,28<br />
2014* 2015*<br />
In Europa unterzieht die Zentralbank die<br />
Branche gerade einem großen Stresstest.<br />
Warten Sie das Ergebnis ab, um über<br />
die Zusammenarbeit mit europäischen<br />
Banken zu entscheiden?<br />
Wir machen natürlich bereits Geschäfte<br />
mit europäischen Banken. Wie stark dieses<br />
Geschäft wächst, hängt nicht nur <strong>vom</strong><br />
Stresstest ab, sondern auch von den strenger<br />
werdenden Regulierungsauflagen in<br />
Indien. Wir brauchen einen großen Teil<br />
unseres Kapitals für den Heimatmarkt.<br />
Wird die Europäische Zentralbank<br />
als neuer Finanzaufseher das weltweite<br />
Finanzsystem sicherer machen?<br />
Ich hoffe es, aber wir müssen abwarten.<br />
Derzeit können uns auch die europäischen<br />
Banken, mit denen wir Geschäfte machen,<br />
nicht sagen, ob Indien von der neuen Aufsicht<br />
als sicheres Land aufgefasst wird. Ich<br />
habe auch die Hoffnung, dass die internationalen<br />
Finanzaufseher und die Ratingagenturen<br />
berücksichtigen, dass Indien<br />
den tiefsten Punkt seines Wirtschaftszyklus<br />
hinter sich gelassen hat.<br />
Welche Rolle wird Indien in fünf Jahren<br />
für die Weltwirtschaft spielen?<br />
Wir werden ein ganz anderes Indien sehen.<br />
Die Grundlagen für mehr weltwirtschaftlichen<br />
Einfluss sind da, diese Stärken müssen<br />
wir aber richtig einsetzen.<br />
n<br />
mark.fehr@wiwo.de | Frankfurt,<br />
florian.willershausen@wiwo.de | Berlin<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 67<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Später Ritterschlag<br />
DRILLISCH | Der kleine Discount-Anbieter steigt zum vierten Mobilfunkbetreiber in Deutschland auf.<br />
Wie haben die beiden Gründer das geschafft?<br />
Die Brüder Paschalis und Vlasios<br />
Choulidis schauen manchmal etwas<br />
neidisch auf die glanzvollen Karrieren<br />
einiger Weggefährten. Vor mehr als 20<br />
Jahren, in der Gründerphase des Mobilfunks,<br />
gehörten auch Kai-Uwe Ricke und<br />
René Obermann dem Club der Chefs kleiner<br />
Telefonfirmen an, die ihr erstes Geld<br />
mit dem Verkauf von Handys und Mobilfunkverträgen<br />
verdienten. Für Ricke und<br />
Obermann war das aber nur eine Durchgangsstation<br />
auf dem Weg nach ganz oben.<br />
Die beiden wechselten zur Telekom,<br />
machten gemeinsam Riesensprünge auf<br />
der Karriereleiter und schafften nacheinander<br />
innerhalb weniger Jahre den<br />
Sprung an die Spitze des Magenta-Riesen.<br />
Die Choulidis-Brüder, wie sie in der<br />
Branche gerne genannt werden, blieben<br />
dagegen, was sie immer waren: Vorstände<br />
und Gesellschafter des wenig bekannten<br />
Mobilfunkhändlers Drillisch – einem winzigen<br />
Discounter, dem nie der große<br />
Durchbruch gelang. Im Haifischbecken<br />
der Mobilfunker ist Drillisch nur ein kleiner<br />
Fisch: Mit 356 Mitarbeitern und rund<br />
290 Millionen Euro Umsatz kommt das Unternehmen<br />
lediglich auf einen Marktanteil<br />
von 1,2 Prozent (siehe Grafik Seite 69).<br />
STICHELEIEN DER KONKURRENZ<br />
Ehemalige Weggefährten senkten deshalb<br />
bis vor Kurzem etwas hochnäsig den Daumen.<br />
Das Unternehmen sei „viel zu klein<br />
und unbedeutend“, setze auf das „falsche<br />
Geschäftsmodell“, besitze „nicht den<br />
Hauch einer Überlebenschance“ und werde<br />
deshalb „ganz schnell wieder <strong>vom</strong><br />
Markt verschwinden“.<br />
An diese Sticheleien hatten sich Vorstandssprecher<br />
Paschalis und sein für Marketing<br />
und Vertrieb verantwortlicher Bruder<br />
Vlasios Choulidis fast schon gewöhnt:<br />
„Wir sind die ewig Totgesagten“, frotzeln sie<br />
heute und fügen hinzu: „Und die leben bekanntlich<br />
länger.“<br />
Noch vor wenigen Monaten hätte sich<br />
keiner der beiden getraut, mit solch kecken<br />
Unterschätzte Brüder Die Drillisch-Vorstände<br />
Paschalis und Vlasios Choulidis (links) sollen<br />
Preissteigerungen im Mobilfunk verhindern<br />
FOTO: ANGELIKA ZINZOW FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
68 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Sprüchen die Konkurrenz zu provozieren.<br />
Bei der Suche nach den besten Einkaufskonditionen<br />
waren die Choulidis-Brüder<br />
auch <strong>vom</strong> Wohlwollen der Netzbetreiber<br />
abhängig. Da hält man sich lieber zurück.<br />
Jetzt aber sitzt das Brüderpaar in der<br />
Drillisch-Zentrale im hessischen Maintal<br />
und strotzt nur so vor Selbstvertrauen. Sie<br />
haben jetzt den Durchbruch erkämpft:<br />
„Wir sind der vierte Mobilfunkbetreiber in<br />
Deutschland“, sagt Paschalis Choulidis und<br />
strahlt. „Wir erhalten alle Freiheiten und<br />
können unsere Produkte und Tarife künftig<br />
so gestalten, wie wir wollen.“<br />
Winzling Drillisch<br />
Marktanteile der Mobilfunkanbieter in<br />
Deutschland (in Prozent)<br />
E-Plus<br />
Telefónica O2<br />
Freenet<br />
12,0<br />
12,4<br />
14,3<br />
Quelle: Dialog Consult/VATM<br />
1&1 2,0 1,2 Drillisch<br />
Gesamt:<br />
25,1<br />
Mrd. €<br />
28,3<br />
29,8<br />
Vodafone<br />
Telekom<br />
PREISE DRÜCKEN<br />
Fast aussichtslos gingen die im politischen<br />
Lobbying relativ unerfahrenen Brüder ins<br />
Rennen, als Telefónica (Marke: O2) vor gut<br />
einem Jahr ein Übernahmeangebot in Höhe<br />
von 8,7 Milliarden Euro für den Konkurrenten<br />
E-Plus vorlegte. Die beiden wussten<br />
nur, dass sich eine einmalige Chance auftut:<br />
Der neue Mobilfunkriese mit insgesamt<br />
45 Millionen Kunden bekommt den<br />
Segen der Brüsseler Wettbewerbshüter nur<br />
unter harten Auflagen. Drei etwa gleich<br />
starke Telekomkonzerne – Deutsche Telekom,<br />
Vodafone und Telefónica/E-Plus –<br />
hätten sonst ihre Marktmacht ausgespielt<br />
und ihre Preiskämpfe eingestellt.<br />
Ausgerechnet dem kleinsten Mobilfunker<br />
vertraut Brüssel jetzt die große Aufgabe<br />
an, den Wettbewerb auf dem deutschen<br />
Markt zu beleben. Nach langen Verhandlungen,<br />
so heißt es, habe Drillisch die verbindlicheren<br />
Zusagen gemacht. EU-Wettbewerbskommissar<br />
Joaquín Almunia setzte<br />
am 29. August seine Unterschrift unter<br />
einen Vertrag, mit dem Drillisch Zugriff auf<br />
ein Viertel der Netzkapazitäten der fusionierten<br />
Telefónica-/E-Plus-Gruppe bekommt<br />
und sich aus einem Korb von 600<br />
O2-/E-Plus-Shops die besten aussuchen<br />
darf. Das alles gibt es zu „hervorragenden<br />
Einkaufskonditionen“, damit Drillisch die<br />
Rolle des Preisbrechers übernehmen kann.<br />
Die gleiche Statur, die gleichen Gesichtszüge,<br />
die gleiche Frisur, das gleiche Lachen<br />
– die Choulidis-Brüder könnten Zwillinge<br />
sein. Bei genauerem Hinsehen fallen die<br />
kleinen Unterschiede auf. Paschalis, Jahrgang<br />
1963, ist fünf Jahre jünger als Vlasios,<br />
ein paar Zentimeter größer und bringt ein<br />
paar Kilo mehr auf die Waage.<br />
Die Finanzmärkte trauen den beiden offenbar<br />
zu, in der Top-Liga der Mobilfunker<br />
zu bestehen: Die Drillisch-Aktie notiert bei<br />
29 Euro, 37 Prozent höher als zu Jahresbeginn.<br />
„Wir sehen gute Chancen, dass Drillisch<br />
in eine neue Dimension vorstößt“,<br />
lobt Wolfgang Specht, Analyst beim Bankhaus<br />
Lampe in Düsseldorf.<br />
Für die Choulidis-Brüder ist das wie ein<br />
verspäteter Ritterschlag. Klein hatten sie<br />
»<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
»<br />
in Deutschland angefangen. Die Eltern<br />
waren aus Griechenland ausgewandert:<br />
„Am 15. August 1970 kamen wir mit dem<br />
Zug im Münchner Hauptbahnhof an.“<br />
HEISSE VERHANDLUNGEN<br />
Sie ließen sich in Hanau nieder, weil dort<br />
bereits ein Teil der Familie lebte. „In der<br />
Schule fühlten wir uns in den naturwissenschaftlichen<br />
Fächern besonders wohl“, erinnern<br />
sie sich. An dieser Vorliebe hat sich<br />
bis heute nichts geändert. „Die blättern Bilanzen<br />
im Schnelltempo durch und finden<br />
auf Anhieb die Schwachpunkte“, berichtet<br />
ein Manager, der lange an der Seite der<br />
Choulidis-Brüder gearbeitet hat.<br />
Vielleicht ist das einer der Gründe, warum<br />
sich Drillisch gegenüber den viel größeren<br />
Konkurrenten United Internet und<br />
Immer auf den vorderen Plätzen<br />
Wie in jeder Familie lodert auch mal<br />
Streit zwischen den Brüdern auf. Aber endlose<br />
Auseinandersetzungen, die das Unternehmen<br />
lähmen, gibt es bei Drillisch nicht.<br />
„Die beiden sind einfach gut“, sagt Horst<br />
Lennertz, langjähriger Technik-Chef bei<br />
E-Plus und Aufsichtsrat bei Drillisch. „Ich<br />
kenne kaum jemanden, der die verschiedenen<br />
Geschäftsmodelle im Mobilfunk so<br />
verinnerlicht hat.“<br />
Im Verhandlungsmarathon mit Telefónica<br />
gaben die Choulidis-Brüder offenbar die<br />
besseren Abnahmegarantien ab. Auch<br />
United Internet und Freenet hätten gern<br />
ein Viertel der Netzkapazitäten der<br />
O2-/E-Plus-Gruppe abgenommen. Sie<br />
wollten aber auch Klauseln im Vertrag aufnehmen,<br />
die einen Teil der damit verbundenen<br />
wirtschaftlichen Risiken abfedern.<br />
Die günstigsten Allnet-Flatrates für Telefonieren in alle Netze und Internet-Nutzung<br />
bis zu einem Datenvolumen von 500 Megabyte<br />
Marke Anbieter Preis pro Monat (in Euro) Netz<br />
1. Smartmobil<br />
2. Simply<br />
3. 1&1<br />
4. DeutschlandSIM<br />
5. hellomobil<br />
6. winSIM<br />
7. simfinity<br />
8. Fonic<br />
9. Tele2<br />
10. Freenet<br />
Drillisch<br />
Drillisch<br />
1&1<br />
Drillisch<br />
Drillisch<br />
Drillisch<br />
Sat.1<br />
O2<br />
Tele2<br />
Freenet<br />
Stand: 1. September 2014; Quelle: Tariftip.de<br />
14,95<br />
14,95<br />
14,99<br />
16,95<br />
16,95<br />
16,95<br />
19,90<br />
19,95<br />
19,95<br />
20,95<br />
Freenet durchsetzen konnte. Die EU-Kommission<br />
hatte Telefónica den Auftrag erteilt,<br />
einen geeigneten Abnehmer für die<br />
Netzkapazitäten und die Shops zu finden.<br />
Ende Juni, in den dramatischen Stunden<br />
vor der Vertragsunterzeichnung mit Telefónica,<br />
deutete vieles darauf hin, das einer<br />
der Großen den Zuschlag bekommt. Doch<br />
die Brüder, die persönlich die Verhandlungen<br />
führten, machten das Rennen. Details<br />
aus der heißen Endphase wollen sie nicht<br />
verraten, nur so viel lassen sie durchblicken:<br />
„Wir haben die Chance schnell erkannt<br />
und wurden uns schnell einig“, sagen<br />
die beiden und lächeln spitzbübisch.<br />
Insider bestätigen das: „Wenn es darauf<br />
ankommt, laufen die beiden zur Hochform<br />
auf.“ Geschäftspläne kalkulieren und komplexe<br />
Verträge hart aushandeln, darin seien<br />
sie „wahre Meister“.<br />
O2<br />
O2<br />
E-Plus<br />
O2<br />
O2<br />
O2<br />
E-Plus<br />
O2<br />
E-Plus<br />
Deutsche Telekom<br />
Denn wie bei jedem Prozentwert hängt<br />
die tatsächliche Höhe der von O2/E-Plus<br />
abzugebenden Übertragungskapazitäten<br />
von den künftigen Netzausbauplänen ab.<br />
„Wenn Telefónica stärker investiert und die<br />
Netzkapazitäten erweitert, müsste der<br />
neue Partner auch mehr abnehmen“, berichtet<br />
ein Teilnehmer aus den Verhandlungen.<br />
Und da habe Drillisch offenbar die<br />
verbindlicheren Zusagen gemacht.<br />
Ausgerechnet Drillisch. Seit Jahren verlassen<br />
sich die Choulidis-Brüder allein darauf,<br />
dass preisbewusste Kunden im Internet<br />
den günstigsten Flatrate-Tarif finden<br />
und dann zu ihnen wechseln. Zwölf der<br />
rund 50 in Deutschland aktiven Discount-<br />
Marken haben die beiden aufgelegt. Die<br />
meisten tragen skurril anmutende Namen<br />
wie Maxxim, Discotel, hellomobil, McSim,<br />
Phonex oder DeutschlandSIM.<br />
„Wichtig ist“, erzählen sie freimütig, „die<br />
Präsenz unserer Marken im Internet und<br />
dass wir in den Ranglisten der Vergleichsportale<br />
die Top-Positionen mit unseren<br />
Marken besetzen.“ Da die Konkurrenz oft<br />
nur mit einem Produkt auf den hinteren<br />
Plätzen vertreten ist, stehen die Drillisch-<br />
Marken als günstigste Anbieter da (siehe<br />
Tabelle): „Dann ist die Wahrscheinlichkeit<br />
groß, dass die Interessenten ein Produkt<br />
von uns kaufen.“<br />
Mit dieser Masche gewinnt Drillisch<br />
rund 50 000 Neukunden pro Quartal. Die<br />
derzeit erfolgreichsten Discounter Alditalk,<br />
blau.de und Congstar glänzen allerdings<br />
mit weit höheren Zuwachsraten. Die Folge:<br />
Selbst gemeinsam kommen alle zwölf Drillisch-Marken<br />
nur auf 1,8 Millionen Kunden.<br />
Congstar, die Discount-Tochter der<br />
Telekom, zählt alleine 3,4 Millionen Nutzer.<br />
Quasi über Nacht müssen die Choulidis-<br />
Brüder jetzt beweisen, dass sie schneller<br />
Marktanteile gewinnen können. Mit dem<br />
Zugriff auf bis zu 30 Prozent der Netzkapazitäten<br />
ließen sich gut zehn Millionen Mobilfunkkunden<br />
bedienen. Rund acht Millionen<br />
Kunden muss Drillisch also in den<br />
nächsten Jahren hinzugewinnen.<br />
Denn richtig profitabel ist der Deal mit<br />
Telefónica erst, wenn die zur Verfügung gestellten<br />
Kapazitäten voll ausgelastet werden.<br />
Binnen weniger Jahre den Kundenbestand<br />
verfünffachen, das ist in einem mit<br />
mehr als 116 Millionen aktiven Mobilgeräten<br />
(1,4 pro Einwohner) fast schon gesättigten<br />
Markt ein ehrgeiziges Unterfangen.<br />
STRATEGIE AUF DEN KOPF STELLEN<br />
Möglich ist das nur, wenn die Choulidis-<br />
Brüder ihre Strategie auf den Kopf stellen.<br />
Bisher verzichten sie auf alles, was Geld<br />
kostet. Kein eigenes Netz, keine Shops, keine<br />
Werbung – das war die in Stein gemeißelte<br />
Firmenphilosophie.<br />
Die gilt jetzt nicht mehr. Die ersten<br />
Shops sollen Anfang 2015 öffnen, kündigt<br />
Vlasios Choulidis an. Unter welcher Marke<br />
sie firmieren, ist noch offen. Auch die Produktpalette<br />
wird überarbeitet. Eine eigene<br />
Premiummarke soll künftig auch in den<br />
Kampf um die Smartphones und Tablets<br />
viel surfender Geschäftskunden eingreifen.<br />
Auch die ganz auf die Choulidis-Brüder<br />
ausgerichtete Führungsstruktur von Drillisch<br />
steht auf dem Prüfstand. Mit dem<br />
Aufstieg in die Beletage des deutschen Mobilfunks<br />
finde auch die traute Zweisamkeit<br />
im Vorstand, so heißt es aus dem Drillisch-<br />
Umfeld, ein baldiges Ende.<br />
n<br />
juergen.berke@wiwo.de<br />
70 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Spezial | Mittelstand<br />
Chronische Knappheit<br />
CHINA | Trotz des schwächelnden Wachstums streben immer mehr deutsche Mittelständler<br />
ins Land der großen geschäftlichen Verheißungen. Doch das Finden und Binden<br />
qualifizierter Mitarbeiter wird immer schwieriger. Was Unternehmen tun können.<br />
Wenn Dominic Sturm über<br />
sein Geschäft in China<br />
spricht, gerät er erst ins<br />
Schwärmen, aber dann<br />
folgt bald ein größeres<br />
Stöhnen. Sicher, die Verkaufszahlen zeigen<br />
nur nach oben, seit Stihl – der Hersteller<br />
von Kettensägen, Heckenscheren und<br />
Rasentrimmern aus dem schwäbischen<br />
Waiblingen – vor acht Jahren seine erste<br />
Fabrik in der nordostchinesischen Stadt<br />
Qingdao eröffnete. Das Unternehmen, das<br />
weltweit fast 14 000 Mitarbeiter beschäftigt<br />
und zuletzt 2,8 Milliarden Euro umsetzte,<br />
wächst im Reich der Mitte jedes Jahr mit<br />
zweistelligen Raten. Denn immer mehr<br />
Chinesen können sich inzwischen ein<br />
Spezial | Mittelstand<br />
72 China Was tun gegen den Fachkräftemangel<br />
im Reich der Mitte?<br />
78 Standorte in Asien Die Vorteile<br />
von Vietnam, Indonesien und Co.<br />
82 Maschinenbau So profitiert ein<br />
Mittelständler aus dem Allgäu <strong>vom</strong><br />
Pharmaboom in China<br />
Haus mit eigenem Garten leisten – und der<br />
will natürlich auch gepflegt werden.<br />
Doch Sturm, Ausbildungsleiter bei Stihl<br />
in China, muss dafür sorgen, dass die<br />
Schwaben auch immer ausreichend Mitarbeiter<br />
haben, um das Wachstum im nach<br />
wie vor boomenden Riesenreich stemmen<br />
zu können. Etwa 750 Arbeiter beschäftigt<br />
Stihl zurzeit in den Fabriken in der früheren<br />
deutschen Kolonie in Ostchina; jedes<br />
Jahr müssen unter dem Strich 100 dazukommen.<br />
Um das zu erreichen, muss Sturm pro<br />
Jahr rund 200 neue Leute einstellen. Bisweilen<br />
keine leichte Aufgabe: „Vor allem<br />
bei ungelernten Arbeitskräften ist die Fluktuation<br />
mit 20 Prozent enorm hoch“, sagt<br />
der Deutsche.<br />
So geht es fast allen deutschen Unternehmen<br />
im Land. In den einschlägigen<br />
Umfragen der Deutschen Auslandshandelskammer<br />
(AHK) in Shanghai nennen »<br />
Reise ohne Wiederkehr<br />
Wanderarbeiter kehren nach dem Neujahrsfest<br />
oft nicht an ihre Arbeitsstelle zurück<br />
FOTO: LAIF/SZ PHOTO/KEVIN LEE<br />
72 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Spezial | Mittelstand<br />
Auch wenn Chinas Wirtschaft sich zuletzt<br />
abgeschwächt hat: Bei 7,5 Prozent<br />
Wachstum sind die Aussichten für deutsche<br />
Unternehmen immer noch mehr<br />
als verlockend. Das gilt besonders für Maschinenbauer,<br />
Pharmaunternehmen oder<br />
Elektrotechnikanbieter. Sie haben – anders<br />
als die ausländische Konkurrenz – genau<br />
die Produkte im Angebot, die China auf<br />
seinem Weg in die Moderne dringend<br />
braucht.<br />
»<br />
sie regelmäßig die Suche nach geeigneten<br />
Mitarbeitern als größtes Problem.<br />
Wer mehr als einen Winter in China verbracht<br />
hat, weiß, dass beispielsweise nach<br />
dem Neujahrsfest immer ein paar Mitarbeiter<br />
einfach nicht mehr auftauchen.<br />
Denn in der chinesischen Ferienwoche,<br />
die mal in den Januar, mal in den Februar<br />
fällt, besuchen Wanderarbeiter traditionell<br />
ihre Familien auf dem Land.<br />
Manche entschließen sich kurzerhand,<br />
dort zu bleiben, andere hören von einem<br />
Bekannten, anderswo gebe es ein paar Yuan<br />
mehr zu verdienen, und wechseln kurzerhand.<br />
So kann es passieren, dass von<br />
500 Arbeitern am Ende der Ferienwoche<br />
nur noch 200 zurückkommen – keine Kündigung,<br />
kein Anruf, nicht einmal eine<br />
E-Mail.<br />
KEINE LOYALITÄT<br />
Nicht viel besser ist die Lage bei Fach- und<br />
Bürokräften. Es fehlt an guten Kaufleuten,<br />
Ingenieuren, Betriebswirten – eigentlich<br />
an allen Berufsgruppen.<br />
Der rechtliche Rahmen macht den Chinesen<br />
das Jobhopping leicht. Wasserdichte<br />
Gesetze mit Kündigungsfristen gibt es im<br />
Boommarkt China nicht. Das Problem haben<br />
damit vor allem die Arbeitgeber: Wer<br />
seinen Job verliert, findet angesichts der<br />
chronischen Knappheit an Arbeitskräften<br />
schnell einen neuen.<br />
Lockmittel deutscher Gesellenbrief<br />
Chinesischer Facharbeiter beim Kettensägenkönig<br />
Stihl<br />
Loyalität zu einem Arbeitgeber kennen<br />
viele Chinesen nicht. Für 100 Yuan, umgerechnet<br />
gerade mal rund zwölf Euro, mehr<br />
im Monat oder auch nur einen kürzeren<br />
Anfahrtsweg zum Job wechseln viele das<br />
Unternehmen. Bei rund 19 Prozent lag die<br />
Mitarbeiterfluktuation in China im Jahr<br />
2012. Das bedeutet, dass innerhalb von<br />
fünf Jahren einmal die Belegschaft komplett<br />
ausgewechselt wird. In manchen<br />
Branchen liegt die Wechselrate sogar bei 30<br />
Prozent.<br />
Trotz solcher Hemmnisse ist der China-<br />
Sog ungebrochen. Rund 5000 Unternehmen<br />
aus Deutschland haben dort inzwischen<br />
Niederlassungen, der größte Teil von<br />
ihnen sind Mittelständler. Und es kommen<br />
fast jeden Tag neue hinzu.<br />
19 Prozent aller<br />
Mitarbeiter in China verlassen<br />
ihren Arbeitgeber<br />
im Schnitt pro Jahr<br />
VIELE BEWERBUNGSGESPRÄCHE<br />
Mit einem Handelsvolumen von 140 Milliarden<br />
Euro ist Deutschland derzeit Chinas<br />
größter Handelspartner in Europa.<br />
Deutschlands Unternehmer sind dabei<br />
immer noch optimistisch, so eine AHK-<br />
Umfrage in China. So erwarten beispielsweise<br />
drei Viertel der befragten deutschen<br />
Unternehmen, die in China in der Automobilbranche<br />
aktiv sind, weiter ein stabiles<br />
Geschäft.<br />
Eines des Unternehmen, das <strong>vom</strong> stetigen<br />
Aufstieg Chinas kräftig profitiert, ist<br />
auch Delo Industrie Klebstoffe. Das Familienunternehmen<br />
mit Sitz in Windach westlich<br />
von München stellt mit 420 Mitarbeitern<br />
Spezialkleber her, wie sie beispielsweise<br />
in Smartphones, Laptops sowie Spielkonsolen,<br />
aber auch in der Autoindustrie<br />
zum Einsatz kommen. 2013 entschied sich<br />
Inhaberin Sabine Herold, eine Tochtergesellschaft<br />
in Shanghai zu gründen. Zu<br />
schnell war der Absatz in China in den Jahren<br />
zuvor gewachsen. Da reichte es aus ihrer<br />
Sicht nicht mehr, nur aus Deutschland<br />
zu exportieren.<br />
Um das sensible Know-how zu schützen,<br />
fertigt Delo seine Klebstoffe zwar immer<br />
noch in Deutschland. Doch in Shanghai<br />
kümmern sich nunmehr bereits zehn Mitarbeiter<br />
um den Vertrieb in China. Das Geschäft<br />
dort wächst jedes Jahr um 15 bis 20<br />
Prozent und trägt mittlerweile fast ein<br />
Fünftel zum Jahresumsatz der Bayern von<br />
zuletzt fast 60 Millionen Euro bei.<br />
Eine erfreuliche Entwicklung, wäre da<br />
nicht das Problem mit der Mitarbeitersuche.<br />
„Die gestaltet sich schwierig“, sagt<br />
Herold. Zwar werde viel über die angeblich<br />
riesige Zahl von verfügbaren Fachkräften<br />
in China geredet, sagt die Delo-Chefin.<br />
„Aber deren technisches Verständnis entspricht<br />
oft nicht unseren Anforderungen.“<br />
Aus den Zeugnissen ist dies aber fast nie<br />
ersichtlich.<br />
Die Folge: Will Delo in China einen neuen<br />
Mitarbeiter einstellen, muss das Management<br />
ungewöhnlich viele Bewer-<br />
FOTO: STIHL/KD BUSCH<br />
74 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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ungsgespräche führen. Kann Herold<br />
nicht selbst vor Ort sein, lässt sie sich per<br />
Videokonferenz zuschalten.<br />
Zwar spuckt das chinesische Bildungssystem<br />
mittlerweile jedes Jahr sieben Millionen<br />
Universitätsabsolventen aus, viermal<br />
so viele wie noch vor zehn Jahren. Das<br />
liest sich allerdings auf dem Papier besser,<br />
als es in der Realität ist. Der Ausbildungsgrad<br />
der Absolventen ist nicht mit dem in<br />
Europa zu vergleichen. Nicht nur einmal<br />
hat Herold in China erlebt, dass ein Bewerber<br />
eine technische Zeichnung mehrfach<br />
gedreht hat, weil er nicht so recht wusste,<br />
wo oben und unten ist. „Ein guter deutscher<br />
Geselle ist einem chinesischen Ingenieur<br />
oftmals voraus“, hat die Delo-Chefin<br />
festgestellt.<br />
Mehr Masse als Klasse<br />
Hochschulabsolventen in China<br />
(in Millionen)<br />
1,0 1,8 3,0 4,5 5,8 6,1 7,0<br />
2000 2003 2005 2007 2009 2011 2013<br />
Quelle: China Statistical Yearbook<br />
DEFIZITE IN DER BILDUNG<br />
Ähnliche Erfahrungen hat auch Stihl-Ausbildungsleiter<br />
Sturm gemacht. Auf eine<br />
Facharbeiterstelle bewerben sich bei ihm<br />
zwar in der Regel 100 Kandidaten. Allerdings<br />
erfülle dabei fast keiner die erforderlichen<br />
Voraussetzungen, berichtet Sturm.<br />
Den jungen Hochschulabsolventen fehle<br />
es vor allem an der Fähigkeit zur Problemlösung,<br />
außerdem hätten sie meist kaum<br />
praktische Erfahrung.<br />
Delo-Inhaberin Herold kritisiert den noch<br />
immer viel zu hohen Stellenwert des Auswendiglernens<br />
in chinesischen Schulen und<br />
Hochschulen: Das Verstehen, Kombinieren<br />
und kritische Hinterfragen komme darüber<br />
zu kurz, „dabei braucht man gerade diese<br />
Fähigkeiten für eine Innovationskultur“.<br />
Weil gute Leute aber knapp sind, steigen<br />
die Löhne in China trotzdem jedes Jahr<br />
quer durch alle Branchen um durchschnittlich<br />
zehn Prozent. Bei Stihl in Qingdao verdient<br />
ein ungelernter Arbeiter, der neu einsteigt,<br />
umgerechnet rund 250 Euro. Vor<br />
zehn Jahren wäre es lediglich halb so viel<br />
gewesen.<br />
Die Arbeitsproduktivität kann allerdings<br />
mit diesen Gehaltszuwächsen oft nicht<br />
mithalten: Während die Gehälter zwischen<br />
1999 und 2010 um 258 Prozent stiegen, legte<br />
die Produktivität in dieser Zeit nur um<br />
167 Prozent zu.<br />
Wegen der chronischen Knappheit an<br />
qualifiziertem Personal müssen deutsche<br />
Unternehmen in China ungewöhnlich<br />
viel Aufwand bei der Rekrutierung betreiben.<br />
Schon ab einem relativ niedrigen<br />
Qualifikationsniveau der gesuchten Mitarbeiter<br />
arbeiten viele Personalabteilungen<br />
darum notgedrungen mit Headhuntern zusammen.<br />
„Wir müssen hier Spezialisten aktiv suchen<br />
– in Europa geschieht das eigentlich<br />
erst auf den höheren Führungsebenen“,<br />
sagt Joachim Wehrle von der Personalberatung<br />
wpb in Shanghai. Auch Stihl und<br />
Delo beschäftigen in China Headhunter.<br />
Darüber hinaus präsentiert sich Stihl auf<br />
Jobbörsen und bei den Hochschulen,<br />
»<br />
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Spezial | Mittelstand<br />
»<br />
um den Nachwuchs direkt auf dem<br />
Campus zu rekrutieren.<br />
Mit dem erfolgreichen Rekrutieren ist es<br />
allerdings in der Regel noch nicht getan.<br />
Einmal gefunden, müssen die Unternehmen<br />
die Neulinge in aufwendigen Schulungen<br />
aus- und weiterbilden, manchmal<br />
sogar am Stammsitz in Deutschland. Bei<br />
Delo etwa bekommen Neueinsteiger eine<br />
zwei- bis dreimonatige Schulung in der<br />
Zentrale in Bayern.<br />
Um die fachlichen Defizite bei den jungen,<br />
meist ehrgeizigen und fleißigen Chinesen<br />
auszugleichen, hat die deutsche<br />
Wirtschaft unter Federführung der AHK in<br />
Shanghai vor Kurzem damit begonnen, in<br />
China das duale Ausbildungssystem einzuführen,<br />
vor allem für handwerkliche Berufe<br />
wie Mechatroniker. Beim theoretischen<br />
Teil arbeiten die Deutschen eng mit<br />
den Hochschulen zusammen. Den praktischen<br />
Teil erledigen die beteiligten deutschen<br />
Betriebe.<br />
Die kostet die Ausbildung eines chinesischen<br />
Lehrlings im Schnitt rund 250 Euro<br />
im Monat. Der Auszubildende muss sich<br />
verpflichten, nach dem Abschluss mindestens<br />
zwei Jahre in dem Betrieb zu arbeiten.<br />
Geht er früher, muss er die Ausbildungskosten<br />
zurückzahlen.<br />
In der Praxis verhindert das allerdings<br />
nicht, dass hin und wieder doch ein Absolvent<br />
vorzeitig ausscheidet, wenn etwa bei<br />
der Konkurrenz ein höheres Gehalt winkt.<br />
Das unterentwickelte Rechtssystem<br />
kommt den jungen Leuten dabei entgegen:<br />
Auch wenn es in den vergangenen Jahren<br />
einige Verbesserungen gegeben hat, stehen<br />
die Chancen deutscher Unternehmen,<br />
die gegen Chinesen klagen, vor Gericht oft<br />
schlecht.<br />
MEHR ALS GUTE BEZAHLUNG<br />
Gerade haben die ersten 50 chinesischen<br />
Azubis ihre deutsche Lehre abgeschlossen.<br />
So hat Stihl sechs Leute zum Industriemechaniker<br />
ausgebildet. In der Größenordnung<br />
soll es auch in Zukunft weitergehen.<br />
Die Hälfte der Ausbildungsplätze<br />
bietet das Unternehmen vielversprechenden<br />
jungen Leuten an, die heute schon bei<br />
Stihl arbeiten.<br />
»Ein deutscher<br />
Geselle ist chinesischen<br />
Ingenieuren<br />
oft voraus«<br />
Sabine Herold, Inhaberin Delo Klebstoffe<br />
Der Ansturm im ersten Jahrgang war gewaltig:<br />
Für die drei Plätze haben sich 30<br />
Mitarbeiter beworben. Die übrigen Lehrstellen<br />
besetzt Stihl mit geeigneten Schülern,<br />
die mindestens die mittlere Reife sowie<br />
den bestandenen Aufnahmetest für die<br />
Fachhochschule in Jinan bei Qingdao mitbringen<br />
müssen.<br />
Mit den Bewerbern führt das Unternehmen<br />
noch einen Einstellungstest und ein<br />
längeres Gespräch durch. Dort fragen die<br />
Personaler Allgemeinwissen, aber auch<br />
technisches und logisches Verständnis ab,<br />
und testen die Soft Skills der Bewerber.<br />
Wer in China seine wirklich guten Leute<br />
– egal, ob in der Produktion oder im Büro –<br />
258 Prozent Gehaltszuwachs gab es in China<br />
seit 1999. Die Produktivität stieg um 167 Prozent<br />
langfristig an sich binden will, muss mehr<br />
bieten als gute Bezahlung. Diese ist eine<br />
notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung,<br />
um Mitarbeiter zu halten. Ebenso<br />
wichtig sind eine gute Arbeitsatmosphäre<br />
und Perspektiven.<br />
„Man muss ein gutes Arbeitsumfeld bieten,<br />
mit einem aufgeschlossenen und respektvollen<br />
Team, interessante Aufgaben,<br />
Entwicklungs- und vor allem Weiterbildungsmöglichkeiten“,<br />
sagt Delo-Inhaberin<br />
Herold.<br />
PRÄMIENSYSTEME FÜR ARBEITER<br />
Von guten Erfahrungen berichten auch<br />
Unternehmen, die ihren Arbeitern eine<br />
Krankenversicherung bieten. Bisher gibt es<br />
in China nur ein rudimentäres Versicherungssystem,<br />
das bestenfalls kleine Erkrankungen<br />
abdeckt.<br />
Andere haben ihren Mitarbeitern Kredite<br />
gegeben, um eine Wohnung zu kaufen –<br />
vor allem für männliche Chinesen eine<br />
wichtige Anschaffung, um eine Ehefrau zu<br />
finden. Die Immobilie ist für den Arbeitgeber<br />
zugleich eine implizite Garantie, dass<br />
der Mitarbeiter in naher Zukunft im Ort<br />
bleiben wird.<br />
Andere Unternehmen arbeiten in der<br />
Fertigung mit Prämiensystemen: Läuft die<br />
Produktion schneller, zahlen sie den Arbeitern<br />
am Ende des Monats einen Bonus.<br />
Darüber hinaus schaffen Betriebsausflüge<br />
und Tage der offenen Tür für Familien ein<br />
Gemeinschaftsgefühl. Die Unternehmensberatung<br />
Roland Berger empfiehlt außerdem,<br />
Gespräche zur Leistungsbewertung<br />
der Mitarbeiter in kürzeren Zeitabständen<br />
stattfinden zu lassen – am besten alle drei<br />
Monate.<br />
An manchen Standorten machen sich<br />
zumindest die deutschen Unternehmen<br />
nicht noch gegenseitig das Leben schwer.<br />
So gilt unter den 200 Mittelständlern in Taicang,<br />
einer Stadt 50 Kilometer nordwestlich<br />
von Shanghai, ein „Gentlemen’s<br />
Agreement“ – keiner wirbt dem anderen<br />
Mitarbeiter ab.<br />
Doch bei allen noch so aufwendigen Bemühungen<br />
ums Personal müssen die Unternehmen<br />
sich am Ende damit abfinden,<br />
wenn etwas nicht zu ändern ist: In allen Fabriken,<br />
wo Arbeiter für wenig Geld nur einfache<br />
Tätigkeiten verrichten, ist eine Bindung<br />
an den Betrieb eben nur schwer herzustellen.<br />
n<br />
matthias.kamp@wiwo.de | München,<br />
philipp mattheis | Shanghai<br />
Lesen Sie weiter auf Seite 78 »<br />
FOTO: DELO/JENS SCHWARZ<br />
76 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Spezial | Mittelstand<br />
Erfolg mit Hochdruck Für den Vertrieb<br />
seiner Reinigungsgeräte hat Kärcher eine<br />
Tochtergesellschaft in Indonesien gegründet<br />
Feinmotorische<br />
Fähigkeiten<br />
SÜDOSTASIEN | Niedrigere Kosten als in China, kräftiges Wirtschaftswachstum,<br />
doch vor allem der Beginn des Binnenmarktes<br />
im kommenden Jahr locken den Mittelstand in die Region.<br />
Denkt Christian von Daniels über die<br />
Anfänge der Aktivitäten seines Unternehmens<br />
in Vietnam nach, fällt<br />
ihm als Erstes China ein. „Dort zeichnete<br />
sich damals, Anfang der Neunzigerjahre,<br />
eine echte Knappheit an Arbeitskräften ab“,<br />
erinnert sich der Chef des Hemdenherstellers<br />
van Laack. Außerdem sei das Interesse<br />
von staatlicher Seite an dem mittelständischen<br />
Textilhersteller aus Mönchengladbach<br />
mit einem Jahresumsatz von fast 55<br />
Millionen Euro in Vietnam viel größer gewesen<br />
als in China. Die Behörden rollten<br />
van Laack den roten Teppich aus und halfen<br />
unter anderem bei der Grundstückssuche<br />
für die neue Fabrik in Asien.<br />
Statt wie so viele deutsche Textilhersteller<br />
irgendwo in einem der Industrieparks<br />
im Süden Chinas ein Werk hochzuziehen,<br />
pflanzte van Laack seine Fabrik 1993 also<br />
in einen Vorort der vietnamesischen<br />
Hauptstadt Hanoi. Bei der Grundsteinlegung<br />
war der damalige Bundeskanzler<br />
Gerhard Schröder dabei. Mit 90 Näherinnen<br />
haben die Deutschen damals angefangen,<br />
heute sitzen an den Tischreihen der<br />
Fabrik mehr als 500. Die Hälfte seiner gesamten<br />
Jahresproduktion fertigt van Laack<br />
inzwischen in Vietnam. Zwei weitere Fabriken<br />
betreibt das Unternehmen in Tunesien<br />
und am Stammsitz in Mönchengladbach.<br />
An Vietnam schätzt von Daniels unter<br />
anderem Fleiß und Fertigkeiten der Näherinnen:<br />
„Sie haben sehr gute feinmotorische<br />
Fähigkeiten“, sagt der van-Laack-Chef,<br />
„weil die Beschäftigung mit hochwertiger<br />
textiler Fertigung in den Familien gepflegt<br />
wird.“ Zudem ist der gesetzliche Mindestlohn<br />
mit umgerechnet rund 120 Dollar nur<br />
etwa halb so hoch wie in China. Van Laack<br />
zahlt den Näherinnen bis zu 50 Prozent<br />
mehr und hat trotzdem noch niedrigere<br />
Lohnkosten als beim großen Nachbarn im<br />
Norden. Und die Fluktuation ist viel geringer:<br />
Im Schnitt bleiben die vietnamesischen<br />
Mitarbeiter sieben Jahre bei van<br />
Laack – in China undenkbar.<br />
REFORMEN IN INDONESIEN<br />
Nicht nur Vietnam mit seinen fast 90 Millionen<br />
Einwohnern zieht wieder mehr Interesse<br />
deutscher Unternehmen auf sich.<br />
Diese blicken nach einiger Zurückhaltung<br />
während der Finanzkrise jetzt verstärkt auf<br />
Länder wie Indonesien, das zuletzt mit<br />
mehr als sechs Prozent Wachstum glänzte,<br />
nach Singapur, das vor allem beim Urheberrechtsschutz<br />
als sicherer Hafen gilt, und<br />
sogar nach Thailand, wo nach heftigen politischen<br />
Turbulenzen allmählich Ruhe<br />
einkehrt. Gut 600 deutsche Mittelständler<br />
haben inzwischen Niederlassungen in<br />
Thailand. In Vietnam sind es 280, in Indonesien<br />
300 und in Singapur 1400.<br />
„Nicht nur das stabile Wachstum sorgt<br />
dafür, dass Unternehmen aus Deutschland<br />
wieder stärker Südostasien ins Visier nehmen“,<br />
sagt Jochen Sautter. Der Unternehmensberater<br />
aus Schwaben lebt seit fast 18<br />
Jahren in Indonesiens Hauptstadt Jakarta.<br />
Ende der Neunzigerjahre baute er dort für<br />
die L-Bank aus Baden-Württemberg das<br />
German Centre auf, das deutschen Mittelständlern<br />
den Markteinstieg im viertgrößten<br />
Land der Erde erleichtern soll. Heute<br />
berät Sautter mit seiner Prime Consultancy<br />
deutsche und europäische Unternehmen<br />
bei ihren Indonesien-Aktivitäten.<br />
Die steigenden Kosten in China, sagt er,<br />
vor allem aber der Abbau von Zoll-<br />
»<br />
FOTO: KÄRCHER<br />
78 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Spezial | Mittelstand<br />
»<br />
schranken in den zehn Ländern der Vereinigung<br />
Südostasiatischer Länder (Asean)<br />
sorge für steigendes Interesse an der Region.<br />
2015 werden alle Asean-Mitglieder ihre<br />
Zölle für fast alle Produktgruppen abgeschafft<br />
haben. Es entsteht ein einheitlicher<br />
Wirtschaftsraum mit rund 500 Millionen<br />
Konsumenten. Doch auch zwischen Südostasien<br />
und Europa werden die Zollhürden<br />
allmählich fallen: Die EU und Asean verhandeln<br />
über ein Freihandelsabkommen.<br />
Vom Abbau der Handelsschranken und<br />
rasch wachsendem Wohlstand profitiert<br />
auch Kärcher. Der Hersteller hochwertiger<br />
Reinigungsgeräte aus dem baden-württembergischen<br />
Winnenden mit 2013 gut<br />
zwei Milliarden Euro Umsatz hat seit 2013<br />
eine eigene Niederlassung in Indonesien,<br />
der größten Volkswirtschaft Südostasiens.<br />
Bauen lässt Kärcher seine Reinigungsgeräte<br />
weiter in China. „Zwischen Indonesien<br />
und China gibt es Zollvorteile wegen eines<br />
bilateralen Handelsabkommens“, sagt Kärchers<br />
Indonesien-Chef Roland Stähler. „Da<br />
lohnt sich der Transport.“<br />
VIELE NEUE SHOPPINGMALLS<br />
Stähler baut für den Weltmarktführer aus<br />
Schwaben das Indonesien-Geschäft auf.<br />
Momentan beschäftigt er 25 Mitarbeiter,<br />
Ende des Jahres sollen es 40 sein, denn der<br />
Absatz wächst zweistellig. Allein in Jakarta<br />
gibt es 180 große Shoppingmalls, im Monatstakt<br />
kommen neue dazu. „Die müssen<br />
gereinigt werden“, sagt Stähler und lacht.<br />
Das Lachen vergeht dem Deutschen allerdings,<br />
wenn er an den Vertrieb denkt.<br />
„Logistik ist in Indonesien wegen der Defizite<br />
bei der Infrastruktur teurer als in anderen<br />
Ländern“, sagt Stähler. So gibt es in der<br />
25-Millionen-Einwohner-Stadt Jakarta<br />
Hochwertige Arbeit in Familientradition<br />
Van-Laack-Chef Daniels schätzt die Erfahrung<br />
seiner Hemdennäherinnen in Vietnam<br />
trotz jahrelanger Planungen immer noch<br />
keine U-Bahn; der Dauerstau ist Normalzustand.<br />
Zwischen der Hauptstadt und der<br />
zweitgrößten Stadt des Landes, Surabaya,<br />
müsste dringend eine Autobahn gebaut<br />
werden. Auf der jetzigen Straße liegt die<br />
Durchschnittsgeschwindigkeit bei 30 Stundenkilometern.<br />
Doch trotz solcher Ärgernisse<br />
ist der Markt zu wichtig, als dass<br />
Kärcher darauf verzichten würde, seine<br />
Produkte in Indonesien zu verkaufen.<br />
Zudem ist Besserung in Sicht. Bei den<br />
Präsidentschaftswahlen im Juli trug der erklärte<br />
Reformer Joko Widodo den Sieg davon.<br />
Bislang war er Gouverneur der Hauptstadt<br />
und hat dort trotz nach wie vor bestehender<br />
Engpässe einiges ins Rollen gebracht.<br />
So hat der charismatische Politiker,<br />
der sich wohltuend abhebt von der alten<br />
Garde der Apparatschiks aus der Suharto-<br />
Ära, den Hafen der Stadt ausbauen lassen.<br />
Wieder auf Wachstumskurs<br />
Bruttoinlandsprodukt der Vereinigung Südostasiatischer<br />
Staaten 1 (Veränderung gegenüber<br />
Vorjahr in Prozent)<br />
8<br />
6<br />
4<br />
2<br />
0<br />
2009 2010 2011 2012 2013 2014<br />
2<br />
2015 3<br />
1 Asean; 2 Prognose; 3 Schätzung;<br />
Quelle: Asian Development Bank<br />
Auch sorgte Widodo dafür, dass das Terminal<br />
3 am Flughafen fertiggestellt wurde.<br />
Indonesien-Experte Sautter ist sich sicher,<br />
dass Widodo mit seiner größeren Autorität<br />
als Präsident bei den Reformen aufs<br />
Tempo drücken wird. Neben einer Verbesserung<br />
der Infrastruktur müsste er dringend<br />
die hohen Subventionen für Benzin<br />
kürzen. „Damit bekäme er finanziellen<br />
Spielraum für eine aktive Wirtschaftspolitik“,<br />
sagt Sautter. Der Staat verbilligt den<br />
Benzinpreis bisher um rund die Hälfte.<br />
Kärcher-Landeschef Stähler wünscht<br />
sich vor allem Reformen in der Bildung. Da<br />
hinkt Indonesien etwa Vietnam deutlich<br />
hinterher. Dort lobt Van-Laack-Chef von<br />
Daniels die gute Schul- und Allgemeinbildung<br />
der jungen Leute sowie die hohe<br />
Lernbereitschaft und Auffassungsgabe.<br />
FORSCHUNG IN VIETNAM<br />
Der deutsche Autozulieferer Bosch, der in<br />
Vietnam bis heute 160 Millionen Euro investiert<br />
hat, betreibt dort sogar ein Forschungszentrum<br />
mit 600 Mitarbeitern – in<br />
Indonesien aus Mangel an Fachkräften unvorstellbar.<br />
Die Ingenieure entwickeln dort<br />
Software für den konzerninternen Gebrauch,<br />
ähnlich wie im indischen Bangalore,<br />
wo Bosch 13 000 Programmierer beschäftigt.<br />
Insgesamt arbeiten in Vietnam<br />
1700 Menschen für Bosch. Von dort aus beliefern<br />
die Deutschen Autohersteller in<br />
ganz Asien mit Getriebeteilen. Bis 2020 will<br />
Bosch noch einmal 100 Millionen Euro in<br />
dem aufstrebenden Land investieren.<br />
Von solchen internationalen Lieferketten<br />
profitiert Thomas Halliday. Er steuert<br />
aus Singapur die Asienaktivitäten des mittelständischen<br />
Softwarehauses AEB aus<br />
Stuttgart. Das vor 35 Jahren gegründete<br />
Unternehmen setzt mit weltweit fast 400<br />
Mitarbeitern gut 30 Millionen Euro um und<br />
bietet Unternehmen, die Waren über lange<br />
Strecken transportieren, Spezialsoftware<br />
für Logistik und Zollabwicklung an. Rund<br />
6000 Kunden hat AEB heute. „Viele davon<br />
sind in Asien aktiv“, sagt Halliday, darunter<br />
etwa der deutsche Maschinenbauer Gea.<br />
Neben den gut ausgebildeten Mitarbeitern,<br />
schätzt Halliday das zuverlässige<br />
Rechtssystem, etwa beim Urheberrechtsschutz.<br />
Doch der tropische Stadtstaat hat<br />
einen weiteren Standortvorteil: „Die Lebensqualität<br />
ist unvergleichlich“, schwärmt<br />
Halliday und denkt vor allem an den Freizeitwert<br />
und die gute Küche.<br />
n<br />
matthias.kamp@wiwo.de | München<br />
Lesen Sie weiter auf Seite 82 »<br />
FOTO: VAN LAACK GMBH<br />
80 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Spezial | Mittelstand<br />
Gut verpackt<br />
MASCHINENBAU | Der Pharmamarkt im Reich der Mitte boomt.<br />
Wie der mittelständische Anlagenbauer Pac Automation aus dem<br />
Allgäu davon profitiert.<br />
Die Maschinen, die Pester Pac Automation<br />
in China baut, sind etwa so<br />
groß wie ein Wandschrank. Am hinteren<br />
offenen Ende stecken mehrere Dutzend<br />
Kabel, vorne sind Rollen, Gewinde<br />
und Spindeln aus Edelstahl zu sehen.<br />
Wenn die Maschine fertig ist, wird sie Medikamente<br />
in Plastik verpacken, immer<br />
zehn Packungen zu einem Bündel, ein<br />
Bündel pro Sekunde, 60 in der Minute.<br />
Drei Monate brauchen die Pester-Leute<br />
<strong>vom</strong> Auftrag bis zur Auslieferung, um eine<br />
solche Maschine zu bauen. „Damit sind<br />
wir doppelt so schnell wie unsere Konkurrenten“,<br />
sagt Werksleiter Kevin Butler. Kundennähe<br />
und Tempo waren die Gründe für<br />
das Familienunternehmen aus dem Dorf<br />
Wolfertschwenden im Allgäu, einen Teil<br />
der Produktion nach China zu verlagern.<br />
Auf diese Weise profitiert der Mittelständler<br />
mit weltweit 450 Mitarbeitern davon,<br />
dass Chinas Markt für Medikamente<br />
boomt wie kaum ein anderer. Seit Jahren<br />
wächst die Branche mit 20 bis 25 Prozent<br />
im Jahr. Pesters Kunden im Reich der Mitte<br />
sind Pharmakonzerne wie Bayer, Pfizer<br />
Boom bei Gesundheit<br />
Umsatz der Pharmaindustrie in China<br />
(in Milliarden Dollar)<br />
140<br />
120<br />
100<br />
80<br />
60<br />
40<br />
20<br />
ab 2014 Prognose; Quelle: KPMG<br />
Gute Besserung<br />
Chinas Gesundheitssektor<br />
soll bis 2020<br />
auf eine Billion<br />
Dollar wachsen<br />
0<br />
2008 2010 2012 2014 2016<br />
oder Novartis, aber auch chinesische Arzneimittelhersteller.<br />
Seit über einem Jahr sitzt der 1888 gegründete<br />
Maschinenbauer mit 18 Leuten<br />
im Songjiang-Industriepark, etwa eine Autostunde<br />
<strong>vom</strong> Zentrum Shanghais entfernt<br />
– wenn kein Stau ist. So wie Automobilzulieferer<br />
die Nähe zu ihren Kunden suchen,<br />
folgte auch Pester seinen Abnehmern nach<br />
Fernost. Kundennähe ist für rund die Hälfte<br />
der deutschen Unternehmen der Hauptgrund,<br />
in China zu investieren.<br />
„Anfangs haben wir nur exportiert“, erzählt<br />
Thomas Pester, der das Unternehmen<br />
in vierter Generation führt. „2004 gründeten<br />
wir dann ein Vertriebsbüro. Damit<br />
wollten wir unseren Kunden zeigen: Wir<br />
sind hier vor Ort, wir kümmern uns und gehen<br />
auf die Bedürfnisse ein.“ Noch macht<br />
China nur fünf Prozent des Gesamtumsatzes<br />
von knapp 200 Millionen Euro im Jahr<br />
aus. Aber der Anteil soll zunehmen.<br />
BESSER ALS BARFUSS-DOKTOREN<br />
Denn die Chancen stehen gut, dass die<br />
Chinesen noch mehr Geld für Arzneimittel,<br />
Pillen und Medikamente ausgeben.<br />
„Die chinesischen <strong>Ausgabe</strong>n für Pharmazeutika<br />
werden bis 2015 zwischen 18 und<br />
20 Prozent wachsen“, prognostiziert Norbert<br />
Meyring, Partner und Pharma-Chef<br />
Asien bei der Beratung und Wirtschaftsprüfung<br />
KPMG in Shanghai.<br />
Zum einen wächst die Zahl der Menschen,<br />
die sich Arzneien leisten können.<br />
Großzügig geschätzt zählen bereits 700<br />
Millionen Menschen zur neuen Mittelschicht:<br />
Sie haben mehr Geld zur Verfügung,<br />
als sie zur Deckung ihrer Grundbedürfnisse<br />
benötigen.<br />
Nach der Mao-Ära, in der die Krankenversorgung<br />
für alle kostenlos war, aber oft<br />
eben auch nur den Besuch eines Barfuß-<br />
Doktors umfasste, litten in den Neunzigerjahren<br />
viele Chinesen unter den neuen<br />
marktwirtschaftlichen Bedingungen. Sie<br />
konnten sich keine Gesundheitsversorgung<br />
mehr leisten. Nach der Reform 2009<br />
haben immerhin 95 Prozent der Chinesen<br />
eine – wenn auch rudimentäre – Krankenversicherung,<br />
die etwa die Hälfte der Kosten<br />
übernimmt.<br />
Hinzu kommt: Schon heute sind 185<br />
Millionen Chinesen über 60 Jahre alt.<br />
Dem Land steht eine massive Überalterung<br />
bevor: 2010 kamen auf 100 Erwerbstätige<br />
elf alte Menschen, 2050 werden es<br />
42 sein, so eine Studie der Vereinten Nationen.<br />
Die Überalterung ist Folge der Ein-<br />
Kind-Politik.<br />
FOTO: REUTERS/CORBIS/DAVID GRAY<br />
82 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Zudem leben immer mehr Chinesen in<br />
Städten, momentan etwa 600 Millionen<br />
Menschen. Bis 2020 sollen es mehr als eine<br />
Milliarde sein. Sie bewegen sich oft weniger<br />
und ernähren sich ungesünder. Zivilisationskrankheiten<br />
nehmen zu. An Diabetes,<br />
einer Krankheit, die vor 30 Jahren in<br />
China quasi nicht existierte, leiden mehr<br />
als 90 Millionen Menschen. Bei der Beratung<br />
McKinsey geht man davon aus, dass<br />
die <strong>Ausgabe</strong>n für Gesundheit bis 2020 auf<br />
eine Billion Dollar anwachsen, das wären<br />
sieben Prozent der Wirtschaftsleistung.<br />
In absoluten Zahlen ist der Markt schon<br />
heute der größte der Welt mit Gesundheitsausgaben<br />
in Höhe von 385 Milliarden<br />
Dollar 2011. Und er wird weiter wachsen,<br />
denn die Pro-Kopf-<strong>Ausgabe</strong>n für Medikamente<br />
sind mit 35 Dollar im Jahr (Stand<br />
2009) noch immer sehr gering.<br />
Pester steht so für viele deutsche Mittelständler,<br />
die von Boombranchen in China<br />
profitieren. Von den rund 5000 dort ansässigen<br />
deutschen Unternehmen zählen<br />
rund 60 Prozent zum Mittelstand. Mit ihren<br />
Maschinen modernisieren sie die Wirtschaft.<br />
Menschliche Arbeitskräfte werden<br />
teurer und lohnen sich nicht mehr – in<br />
Shanghai stiegen die Löhne im vergangenen<br />
Jahr um elf Prozent. Immer mehr chinesische<br />
Unternehmen automatisieren<br />
deswegen ihre Produktion. Gleichzeitig<br />
werden die Qualitätsstandards strenger.<br />
Die Verpackungsindustrie ist traditionell<br />
stark in Schweden, Deutschland und Italien.<br />
Die chinesischen Mitbewerber holen<br />
zwar auf. „Aber unsere Qualität ist einfach<br />
besser“, sagt Werksleiter Butler. „60 Verpackungen<br />
kann eine Pester-Maschine in der<br />
Minute bündeln. „Unsere lokalen Konkurrenten<br />
schaffen höchstens 25.“<br />
GLOBAL PLAYER GESUCHT<br />
Butler ist seit 15 Jahren in China und in der<br />
Branche ein Veteran. Der gebürtige Brite<br />
hält hohe Qualität für den größten Wettbewerbsvorteil.<br />
„Über den Preis kann kaum<br />
ein ausländisches Unternehmen mit einheimischen<br />
konkurrieren.“ Um den Vorteil<br />
zu halten, importieren die Allgäuer Schlüsselkomponenten<br />
aus Deutschland. Denn,<br />
so Butler: „Wer nach China geht, muss damit<br />
rechnen, kopiert zu werden.“<br />
Momentan spielt die Marktstruktur dem<br />
Mittelständler in die Hände. Chinas Pharmabranche<br />
ist mit mehr als 5000 Anbietern<br />
extrem fragmentiert. Die Regierung will<br />
das ändern: Wie in der Autoindustrie hätte<br />
Peking lieber einige wenige Global Player.<br />
Über neue Regularien, den „Goods Manufacturing<br />
Standards“, kurz GMS, will die<br />
Regierung zwar in erster Hinsicht die Qualität<br />
der Produkte erhöhen. Sie haben aber<br />
den Nebeneffekt, dass kleinere Mitbewerber<br />
aus dem Markt gedrängt werden.<br />
So hat Peking 2013 ein Track-and-Trace-<br />
System für Medikamente vorgeschrieben,<br />
das die Herkunft jeder Charge nachweisen<br />
kann. Viele chinesische Mitbewerber können<br />
da nicht mithalten. „Unsere Maschinen<br />
sind darauf eingestellt“, sagt Butler und<br />
geht hinüber in die Lagerhalle.<br />
Eine gelbe Linie auf dem Boden teilt den<br />
Raum. Rechts stehen Pester-Maschinen,<br />
links die eines anderen Herstellers. Pester<br />
teilt sich die Fabrikhalle mit Multivac, einem<br />
Verpackungsmaschinenbauer für die<br />
Lebensmittelindustrie. Konkurrenten sind<br />
die Unternehmen also nicht, sondern beide<br />
sparen so Kosten. Zusammengefunden<br />
haben sie im fernen China nach dem Motto<br />
„Die Welt ist klein“: Beide kommen aus<br />
demselben Dorf im Allgäu.<br />
n<br />
philipp.mattheis@wiwo.de | Shanghai<br />
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Expansion mit<br />
Finanzinvestoren<br />
Internetstores verkauft<br />
Fahrräder und<br />
Campingartikel<br />
Kapital plus Köpfchen<br />
Private-Equity-Häuser können Mittelständlern bei der Finanzierung von Übernahmen helfen.<br />
Wie das funktioniert, beschreibt die zweite Folge einer sechsteiligen Serie der WirtschaftsWoche in<br />
Kooperation mit der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft Deloitte.<br />
René Marius Köhler hat geschafft, wovon viele<br />
Mittelständler träumen: Er hat das elterliche<br />
Unternehmen in das digitale Zeitalter geführt.<br />
Aus einem traditionellen Fahrradhandel in Stuttgart<br />
machte er einen florierenden Internet-Anbieter. Auf<br />
Online-Plattformen wie fahrrad.de, Bruegelmann.de<br />
oder Campz.de vertreibt Köhlers Unternehmen Internetstores<br />
nicht nur Fahrräder und Ersatzteile, sondern<br />
auch Outdoor-Kleidung und Campingzubehör<br />
an Kunden in ganz Europa. Für dieses Jahr erwartet<br />
Köhler einen Umsatz von knapp 130 Millionen Euro.<br />
Als der damals 20-Jährige 2003 anfing, das Sortiment<br />
seiner Eltern online anzubieten, lag der Jahresumsatz<br />
des Stuttgarter Geschäfts bei gerade mal 1,5<br />
Millionen Euro. Seine Eltern seien skeptisch gewesen,<br />
erinnert sich Köhler, zumal er allein für den Kauf der<br />
Internet-Domain fahrrad.de mehr als 40 000 Euro<br />
zahlen musste: „Für meine Eltern war es abwegig, so<br />
viel Geld in den Online-Handel zu investieren.“ Eine<br />
Million allerhöchstens werde er damit langfristig umsetzen,<br />
so die pessimistische Prognose des Seniors.<br />
Dass die Kalkulation von Köhler junior aufging,<br />
liegt nicht zuletzt daran, dass sich private Kapitalgeber<br />
an seinem Unternehmen beteiligten: die deutschen<br />
Internet-Unternehmer Marc, Oliver und Alexander<br />
Samwer mit ihrer Holding Rocket Internet<br />
übernahmen 2008 einen Anteil von 20 Prozent an In-<br />
SERIE<br />
Mittelstand<br />
Fit for Future<br />
Fusionen & Übernahmen<br />
Der richtige Partner (I)<br />
Finanzinvestoren (II)<br />
Finanzierung (III)<br />
Osteuropa/Asien (IV)<br />
Integration (V)<br />
Interview (VI)<br />
ternetstores. Vier Jahre später verkauften sie ihren<br />
Anteil an die schwedische Private-Equity-Gesellschaft<br />
EQT. Mit deren Unterstützung hat Köhler den<br />
schwedischen Outdoor-Händler Addnature übernommen<br />
– für umgerechnet rund 25 Millionen Euro.<br />
Anteile am eigenen Unternehmen an eine Beteiligungsgesellschaft<br />
verkaufen, um mit frischem Kapital<br />
eine andere Firma zu übernehmen? Was auf den ersten<br />
Blick paradox anmuten mag, ist für Karsten Hollasch<br />
völlig normal. Hollasch ist Partner Transaction<br />
Advisory Services beim Prüfungs- und Beratungsunternehmen<br />
Deloitte, mit deren finanzieller Unterstützung<br />
die WirtschaftsWoche eine Serie über Fusionen<br />
und Übernahmen im Mittelstand veröffentlicht.<br />
„Private-Equity-Gesellschaften sind gute Partner,<br />
um Übernahmen zu tätigen, weil sie aufgrund ihrer<br />
Erfahrungen in verschiedensten Industrien mehr als<br />
nur Kapital zur Verfügung stellen können“, sagt Hollasch.<br />
„Sie bieten auch Know-how und können so<br />
den meisten Mittelständlern bei der Suche nach geeigneten<br />
Übernahmekandidaten helfen.“<br />
So lief es auch bei Internetstores. Den Plan für die<br />
Expansion haben EQT und Internetstores gemeinsam<br />
ausgetüftelt. „EQT hat anschließend seine Netzwerke<br />
in Schweden genutzt und den Kontakt zur Firma<br />
Addnature hergestellt“, sagt Michael Föcking, der<br />
bei EQT für die Beteiligung an Internetstores verant-<br />
FOTOS: LAIF/BERTHOLD STEINHILBER, PR; ILLUSTRATION: KRISTINA DÜLLMANN<br />
84 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Mit Unterstützung von Deloitte*<br />
wortlich ist. Außerdem hat die Private-Equity-Gesellschaft<br />
zusätzliche Millionen investiert, um die Übernahme<br />
von Addnature zu finanzieren.<br />
Doch Kapital und Köpfchen gibt es nicht zum Nulltarif.<br />
Während stille Teilhaber damit zufrieden sind,<br />
wenn regelmäßig Gewinnanteile ausgeschüttet werden,<br />
nehmen klassische Private-Equity-Gesellschaften<br />
direkten Einfluss auf die Führung des Unternehmens.<br />
Das zu akzeptieren fällt gerade mittelständischen<br />
Unternehmen nicht immer leicht. „Viele Mittelständler,<br />
die etwas ,mit eigener Hand‘ aufgebaut<br />
haben, befürchten, dass ihr Unternehmen nach der<br />
Übernahme eine negative Entwicklung nehmen<br />
könnte“, sagt Hollasch.<br />
Auch Köhler kann bei Internetstores nicht mehr<br />
komplett frei walten und schalten. Er muss etwa für<br />
jedes Geschäftsjahr einen Budgetplan vorlegen, den<br />
der Beirat des Unternehmens genehmigen muss.<br />
„Das Budget gibt vor, wie viel für konkrete Themen<br />
ausgegeben werden darf“, sagt Investmentmanager<br />
Föcking, der im Beirat die EQT-Interessen vertritt.<br />
Köhler kann damit leben: „Mit Private-Equity-Partnern<br />
kann in kurzer Zeit sehr viel bewegt werden.“<br />
Diese pragmatische Einstellung zu Investmentgesellschaften,<br />
die in der Öffentlichkeit noch immer<br />
häufig als Heuschrecken gescholten werden, teilt der<br />
31-Jährige mit vielen anderen Familienunternehmern.<br />
Der Grund: Sie haben häufig keine andere<br />
Wahl. Soll die von den Eltern übernommene Firma<br />
überleben, muss sie wachsen und braucht dazu mangels<br />
eigener Masse das Geld von Investoren. Das gilt<br />
vor allem beim Schritt in die digitale Zukunft.<br />
„Private Kapitalgeber sind für Internet-Unternehmen<br />
häufig unverzichtbar, weil der normale Kapitalmarkt<br />
nicht in gewohnter Weise zur Verfügung steht“,<br />
sagt Tobias Kollmann, Professor für E-Business und<br />
E-Entrepreneurship an der Universität Duisburg-<br />
Essen. Das Geschäftsmodell von Firmen wie Internetstores<br />
sei klassischen Banken, die Geld in der Regel<br />
nur gegen klassische Sicherheiten wie Immobilien<br />
oder Inventar verleihen, immer noch schwer vermittelbar.<br />
„Das liegt zum Beispiel daran, dass es viele<br />
immaterielle Vermögenswerte gibt, wie etwa Markenbekanntheit<br />
oder Reichweite“, sagt Kollmann. Die<br />
traditionellen Risikoberechnungen der Banker funktionierten<br />
im Internet-Zeitalter nicht mehr.<br />
STÄRKERE VERHANDLUNGSPOSITION<br />
Zudem sind viele Banken nach der Finanzkrise vorsichtiger<br />
bei der Kreditvergabe geworden. Nach dem<br />
Mittelstandspanel der staatlichen deutschen Förderbank<br />
KfW sind die durch Fremdkapital finanzierten<br />
Investitionen deutscher Mittelständler zwischen 2009<br />
und 2012 nur um 3,5 Prozent gestiegen. Für 2013 liegen<br />
noch keine genauen Zahlen vor, die KfW-Marktforscher<br />
rechnen jedoch mit einem leichten Rückgang.<br />
Für Online-Unternehmer wie Fahrradhändler<br />
Köhler ist schnelles Wachstum aber existenziell,<br />
wenn sie möglichst als Erster neue ausländische<br />
Online-<br />
Händler<br />
brauchen<br />
schnelles<br />
Geld für ihr<br />
Wachstum<br />
Private-Equity-Freund<br />
Deloitte-Berater<br />
Hollasch hilft bei der<br />
Suche nach Partnern<br />
Wachsen mit<br />
Heuschrecken<br />
Umsatzentwicklung<br />
von Internetstores<br />
(in Millionen Euro)<br />
150<br />
120<br />
90<br />
60<br />
30<br />
2008 2014<br />
Quelle: Unternehmensangaben<br />
Märkte erobern wollen. Dafür brauchen sie schnell<br />
Geld. Die Private-Equity-Investitionen in den<br />
deutschen Mittelstand haben sich darum im selben<br />
Zeitraum mehr als verdoppelt.<br />
Der starke Einfluss der Private-Equity-Investoren<br />
hat für Mittelständler eine weitere positive Nebenwirkung:<br />
Er stärkt ihre Verhandlungsposition. „Im<br />
Moment ist der M&A-Markt ein Verkäufermarkt“, sagt<br />
Deloitte-Berater Hollasch. Zum Vorteil der Verkäufer:<br />
„Für ein vernünftiges Zielunternehmen wird sich<br />
stets mehr als ein Investor interessieren.“<br />
Die Gefahr, dass Mittelständler Unternehmensanteile<br />
unter Wert verscherbeln müssen, ist deshalb<br />
derzeit gering. Das dürfte nach Hollaschs Überzeugung<br />
auch noch einige Zeit so bleiben. „Die Private-<br />
Equity-Branche und ein hohes Maß an verfügbarem<br />
Beteiligungskapital ist einer der Treiber des<br />
M&A-Marktes“, sagt der Deloitte-Berater. In Zeiten<br />
niedriger Zinsen hätten Renten- und Pensionsfonds<br />
viele Milliarden in die Beteiligungsgesellschaften<br />
investiert. „Auch deswegen ist zu erwarten, dass<br />
die Zahl der Transaktionen in diesem Jahr weiter<br />
steigen wird.“<br />
WEITERE AUSLANDSEXPANSION GEPLANT<br />
Erfolgreich werden die allerdings nur dann, wenn die<br />
verkaufsbereiten Unternehmer an den richtigen Private-Equity-Partner<br />
geraten. Das wichtigste Kriterium:<br />
Der Investor muss Ahnung von der jeweiligen<br />
Branche haben, denn nur dann kann das Unternehmen<br />
<strong>vom</strong> Know-how des Kapitalgebers profitieren.<br />
In aller Regel haben die verkaufswilligen Unternehmer<br />
es mit ausgebufften Profis zu tun, häufig noch<br />
verstärkt durch Berater. Mittelständler, die sich nur<br />
auf die eigene Erfahrung verlassen, können dann<br />
leicht ins Hintertreffen geraten. „Es reicht nicht, nur<br />
mit dem langjährigen Steuerberater in solche Verhandlungen<br />
zu gehen, besser ist es, zusätzlich einen<br />
erfahrenen Transaktionsberater einzuschalten“, rät<br />
Deloitte-Partner Hollasch. Der könne zum Beispiel<br />
dabei helfen, Regeln zu formulieren, bei denen der<br />
Mittelständler nicht über den Tisch gezogen wird.<br />
Auch Köhler hatte 2012 die Wahl zwischen mehreren<br />
Interessenten, die bei Internetstores einsteigen<br />
wollten. Ausschlaggebend für die Partnerwahl waren<br />
nicht nur finanzielle Kriterien. „Wir haben uns nicht<br />
für den Investor entschieden, der das Unternehmen<br />
am höchsten bewertet hat, auch die Chemie sollte<br />
stimmen“, erinnert sich Köhler. „Ich wollte nicht, dass<br />
da Revolverhelden am Tisch sitzen.“<br />
Bereut hat der Stuttgarter seine Entscheidung<br />
nicht. Der Online-Handel habe noch riesige Zuwachsraten,<br />
auch das Fahrrad- und Outdoor-Geschäft<br />
sieht Köhler langfristig positiv. Darum will er<br />
weiter in das europäische Ausland expandieren. n<br />
benedikt müller | unternehmen@wiwo.de<br />
* Die Inhalte auf diesen Seiten wurden von der<br />
WirtschaftsWoche redaktionell unabhängig erstellt.<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 85<br />
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Technik&Wissen<br />
iPhone auf Rezept<br />
MEDIZIN | Apple, Google und Co. greifen Ärzte, Pharmakonzerne und Versicherer<br />
an. Sie wollen uns helfen, gesünder zu leben und Krankheiten zu besiegen. Leeres<br />
Versprechen oder Aufbruch in eine neue Dimension des Heilens?<br />
Jetzt ist es wieder so weit: Zum Beginn<br />
des Schuljahrs marschieren<br />
aufgeregte Erstklässler an der<br />
Hand ihrer Eltern in die Lehranstalten<br />
– riesige Tüten voller Süßigkeiten<br />
und Spielzeug stolz an sich gepresst.<br />
Unter den quirligen Sechsjährigen<br />
findet sich in fast jeder Klasse einer, der ein<br />
buntes Pflaster auf einem Auge trägt. Dem<br />
Gesunden wohlgemerkt, denn das andere,<br />
schwächere soll trainiert werden.<br />
Kein Kind mag so ein Pflaster. Damit die<br />
Jungen und Mädchen es schneller loswerden,<br />
können sie jetzt das tun, was sie eh<br />
schon allzu gerne machen: mit dem<br />
Smartphone ihrer Eltern spielen. Möglich<br />
macht das eine neue App, ein digitales Memory,<br />
bei dem sie Paare von Löwen oder<br />
Krokodilen finden müssen. Nur der Hintergrund<br />
sieht anders aus als gewohnt: Die<br />
grau-schwarzen Farbübergänge wirken<br />
unruhig, irritierend.<br />
Das ist Absicht: „Das Muster regt die Augen<br />
an“, erklärt Markus Müschenich. Der<br />
gelernte Kinderarzt hat das Berliner Startup<br />
Caterna Vision mitfinanziert, das die<br />
App entwickelt hat. „Das ist Software als<br />
Medizin“, sagt er begeistert. Die App gibt es<br />
seit Kurzem sogar auf Rezept, die Krankenkasse<br />
Barmer GEK übernimmt die<br />
Kosten.<br />
Für die Kinder, die mit dem Programm<br />
spielen, wird etwas ganz normal sein, was<br />
für die meisten Erwachsenen heute noch<br />
unvorstellbar ist: Ein Smartphone hilft ihnen,<br />
gesund zu werden. Geht es nach dem<br />
Willen von Apple-Chef Tim Cook, wird das<br />
künftig Alltag sein. Er will das neue iPhone<br />
6, das er voraussichtlich am kommenden<br />
Dienstag vorstellen wird (siehe Kasten Seite<br />
Durchbruch zur Cybermedizin<br />
So schnell soll der Markt für digitale<br />
Gesundheit wachsen (in Milliarden Dollar)<br />
250<br />
200<br />
150<br />
100<br />
50<br />
0<br />
61<br />
136<br />
233<br />
2013 2017 2020<br />
Quelle: Unternehmensberatung Arthur D. Little<br />
Tragbare Sensoren<br />
(Wearables)<br />
Elektronische<br />
Gesundheitsakte<br />
Mobile Anwendungen<br />
(Apps)<br />
Telemedizin<br />
(Fernbehandlung)<br />
Andere Bereiche<br />
Videos<br />
In unserer App-<br />
<strong>Ausgabe</strong> finden<br />
Sie Links und<br />
Videos zur<br />
digitalen Medizin<br />
90), zur Schaltzentrale einer neuen,<br />
digitalen Medizin machen,<br />
zum iDoc. Auf dem Gerät ist die<br />
App Healthbook vorinstalliert, so<br />
wie bald auch auf all den anderen<br />
Abermillionen Telefonen und<br />
iPads, die der Konzern verkauft.<br />
Wie eine digitale Patientenakte<br />
bündelt das Programm die Daten<br />
elektronischer Schrittzähler, Pulsmesser<br />
und anderer tragbarer Sensoren, den Wearables,<br />
mit denen heute immer mehr Menschen<br />
ihre Fitness und ihren Gesundheitszustand<br />
überwachen. Zusammen mit Infos<br />
zur Ernährung, Ergebnissen von Labortests<br />
bis hin zu Röntgenbildern entsteht ein so<br />
detailliertes Bild <strong>vom</strong> Menschen wie nie zuvor<br />
in der Geschichte der Medizin.<br />
Apple ist nicht allein. Google und die anderen<br />
Tech-Giganten schicken sich gemeinsam<br />
mit Hunderten frechen, ideenreichen<br />
Start-ups ebenfalls an, den<br />
Medizinmarkt von Grund auf umzukrempeln.<br />
So wie es zuvor der<br />
Musikbranche, den Medien, dem<br />
Filmgeschäft ergangen ist. Gemeinsam<br />
ist allen digitalen Praxisstürmern,<br />
dass sie das Smartphone<br />
zum Hausarzt in der Hosentasche<br />
machen wollen. Einen allgegenwärtigen<br />
Gesundheitsberater, der uns<br />
von der Wiege bis ins hohe Alter begleitet<br />
(siehe Bilderstrecke ab Seite 88). Der uns<br />
mithilfe eines funkenden Sensorpflasters<br />
etwa vor dem drohenden Herzinfarkt<br />
warnt;der per Kontaktlinse den Blutzuckerspiegel<br />
bestimmt und die Pumpe steuert,<br />
die Diabetiker mit Insulin versorgt; oder der<br />
mit der Handykamera Hautkrebs aufspürt.<br />
DER PATIENT WIRD MÜNDIG<br />
Wirklich wertvoll aber werden all die Informationen<br />
erst, wenn sie in die Daten-<br />
Cloud wandern. Super-Rechner wie der<br />
Watson von IBM oder die Hana-Hochleistungssysteme<br />
von SAP werten die Messwerte<br />
in bester Big-Data-Manier aus. Sie<br />
vergleichen die Informationen nahezu in<br />
Echtzeit mit den aktuellsten Forschungsergebnissen<br />
aus allen Winkeln der Erde und<br />
liefern so fundierte Diagnosevorschläge,<br />
wie das nie zuvor möglich war. Kein Arzt<br />
kann so viel Wissen überblicken.<br />
Wir werden gerade Augenzeuge, wie ein<br />
neuer Milliardenmarkt der digitalen Medizin<br />
entsteht, von dem Apple, Google und<br />
Co. einen möglichst großen Teil haben<br />
wollen. Die Pharmabranche, die Medizintechnikkonzerne<br />
und nicht zuletzt die Ärzte<br />
müssen sich auf die Zerstörung ihrer traditionellen<br />
Geschäftsmodelle einstellen<br />
»<br />
ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS<br />
86 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 87<br />
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Technik&Wissen<br />
1<br />
»<br />
iSprung<br />
Apps berechnen anhand der<br />
Körpertemperatur den richtigen<br />
Moment, um schwanger zu werden.<br />
– auch in Deutschland, wo es trotz aller<br />
verkrusteten Strukturen bereits eine bunte<br />
Start-up-Szene gibt.<br />
Nicht mehr die Halbgötter in Weiß sammeln<br />
und verwalten die Informationen<br />
über unsere Gesundheit, so wie es die vergangenen<br />
Jahrhunderte der Fall war. Immer<br />
häufiger werden die Mediziner es mit<br />
hervorragend informierten Patienten zu<br />
tun haben. Die im Extremfall mit einer fertigen<br />
Diagnose aus dem Internet in die Praxis<br />
kommen und sich nur noch das passende<br />
Medikament verschreiben lassen wollen.<br />
Der Arzt wird weniger der Heiler sein<br />
als Berater, der seinen – gelegentlich auch<br />
überforderten – Patienten hilft, im Wust<br />
der Körperdaten und Diagnosen den Überblick<br />
zu behalten (siehe Interview Seite 94).<br />
ANGRIFF DER TECH-GIGANTEN<br />
Ein Hotspot der Entwicklung ist – natürlich<br />
– das Silicon Valley, die produktivste IT-<br />
Schmiede der Welt. Mitten drin sitzt Apple.<br />
Das Motiv von Konzernchef Cook ist, in die<br />
Medizinbranche einzusteigen: Er will seine<br />
Kunden noch enger an sich binden. Wer all<br />
seine Gesundheitsdaten auf dem iPhone<br />
gespeichert hat, wem das Gerät geholfen<br />
hat, fitter, schlanker oder gesünder zu werden,<br />
der wird nicht zur Konkurrenz abwandern,<br />
so die Idee. Und Cook will sich natürlich<br />
den Zugang zu einem Megamarkt sichern,<br />
bei all den neuen Apps mitverdie-<br />
DOPPELGÄNGER IM DIGITALEN<br />
In Europa ist der SAP-Konzern einer der<br />
Pioniere, sonst eher für Unternehmenssoftware<br />
bekannt. Die Walldorfer haben<br />
mit ihrer Hana-Technologie eine Plattform<br />
entwickelt, große Datenbanken effizient<br />
und enorm schnell zu durchforsten. Forciert<br />
von Mitgründer und Aufsichtsratschef<br />
Hasso Plattner, übertragen sie dieses<br />
Know-how nun auf die Medizin. Eines der<br />
ehrgeizigsten Projekte haben die SAP-Entwickler<br />
zusammen mit dem Genomforscher<br />
Hans Lehrach <strong>vom</strong> Berliner Max-<br />
Planck-Institut für molekulare Genetik gestartet.<br />
Sie analysieren detailliert die Genaktivität<br />
von Zellen einzelner Patienten<br />
und entwerfen so einen digitalen Doppelgänger.<br />
An ihm testen sie – mithilfe aufnen.<br />
Bis 2020 soll sich das Geschäft mit<br />
–der digitalen Medizin von 60 auf 233 Milliarden<br />
Dollar fast vervierfachen, schätzt die<br />
Beratung Arthur D. Little (siehe Grafik<br />
Seite 86).<br />
Diese Wachstumsraten locken auch die<br />
Finanzinvestoren. Der aus Deutschland<br />
stammende Wagniskapitalgeber Peter<br />
Thiel, spätestens seit seiner Beteiligung an<br />
Facebook eine Legende im Silicon Valley,<br />
hat zum Beispiel mit seinem Unternehmen<br />
Founders Fund Millionen in mehr als zehn<br />
Medizin-Start-ups gesteckt, darunter die<br />
Gesundheits-App Azumio und den Arzttermin-Service<br />
ZocDoc. Insgesamt zwei<br />
Milliarden Dollar sammelte die Branche<br />
2013 in den USA ein, berichtet der amerikanische<br />
Wagniskapitalgeber Rock Health.<br />
Viele der so finanzierten Start-ups erhoffen<br />
sich durch Apples Einstieg zusätzlichen<br />
Schub. Denn der Konzern hat schon mehrmals<br />
mit seinen benutzerfreundlichen<br />
Apps und Geräten ganze Branchen ins digitale<br />
Zeitalter katapultiert. Die Vision der<br />
Macher in Cupertino: Bald sollen wir unsere<br />
Gesundheit so einfach checken wie die<br />
Uhrzeit. Am besten mit der sagenumwobenen<br />
iWatch. Über die Fähigkeiten dieser<br />
Computeruhr als Fitness-Tracker und Medizin-Sensor<br />
hat die Tech-Szene während<br />
der vergangenen Monate heftig spekuliert.<br />
Sicher ist: Apple arbeitet bereits mit verschiedenen<br />
Krankenhäusern in den USA<br />
zusammen, darunter den renommierten<br />
Mayo-Kliniken. Künftig, so der Plan, sollen<br />
Ärzte über das Healthbook Fernzugriff auf<br />
ausgewählte Daten bekommen, die Wearables<br />
wie die iWatch liefern. „Mithilfe der<br />
App können Ärzte ungewöhnliche Messwerte<br />
früh erkennen“, sagt John Wald, medizinischer<br />
Direktor von Mayo Clinic, dem<br />
Betreiber der Kliniken.<br />
Wo Apple sich engagiert, ist Google nicht<br />
weit. Das Konkurrenzprodukt zum Healthbook<br />
hat der Suchmaschinenriese bereits<br />
vorgestellt. Google Fit soll die Medizinzentrale<br />
der Android-Handys werden. Um die<br />
Super-Rechner<br />
haben mehr<br />
medizinisches<br />
Wissen parat<br />
als jeder Arzt<br />
2 Baby-Fon<br />
Das Handy speichert Ultraschallbilder;<br />
ein Funk-Diaphragma meldet,<br />
wenn eine Frühgeburt droht.<br />
Messwerte der tragbaren Körpersensoren<br />
besser interpretieren zu könnten, betreibt<br />
der Konzern sogar medizinische Grundlagenforschung:<br />
Im Rahmen seines Projekts<br />
Baseline untersuchen Ärzte jeden Winkel<br />
der Körper von mehreren Hundert Freiwilligen,<br />
später sollen es sogar Tausende werden.<br />
Die Experten vermessen Organe, analysieren<br />
Gene, bestimmen Blutwerte. Der<br />
Ozean von Daten hilft Google, präziser zu<br />
entscheiden, welche Werte normal und<br />
welche ein Warnzeichen sind. Die Analyse<br />
riesiger Mengen von Bits und Bytes ist<br />
schließlich die Stärke des Konzerns.<br />
ILLUSTRATIONEN: THOMAS FUCHS<br />
88 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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3<br />
Pollen-Prüfer<br />
Blutgruppe, Allergien, Infektionen –<br />
das Handy speichert alle Daten, es<br />
meldet Pollenflug und Impftermine.<br />
wendiger Computersimulationen – verschiedene<br />
Krebsmedikamente, um das am<br />
besten wirkende Mittel zu finden. Für Tumorpatienten<br />
kann das eine Frage über Leben<br />
oder Tod sein. Bis es so weit ist, werden<br />
aber noch etliche Jahre vergehen.<br />
Deutlich schneller könnte es mit einem<br />
Medizinprojekt gehen, dessen Vorbild ausgerechnet<br />
aus der Science-Fiction-Serie<br />
„Star Trek“ stammt: dem Tricorder. Mit<br />
dem Gerät konnte Mannschaftsarzt Leonard<br />
McCoy – Spitzname Pille – auf dem<br />
Raumschiff Enterprise Kranke abscannen<br />
und so herausfinden, woran sie litten.<br />
Solch eine Technik soll es bereits in weniger<br />
als zwei Jahren als erste Prototypen auf<br />
der Erde geben. Das jedenfalls ist das Ziel<br />
eines Wettbewerbs, den die gemeinnützige<br />
X-Prize-Stiftung in den USA ausgelobt hat.<br />
Zehn Teams sind in der engeren Auswahl<br />
und wetteifern um Preisgelder von insgesamt<br />
zehn Millionen Dollar.<br />
Um zu gewinnen, müssen die Kontrahenten<br />
ein tragbares Minilabor bauen, das<br />
15 Krankheiten erkennt, darunter Diabetes,<br />
Hepatitis A, Tuberkulose oder einen<br />
Schlaganfall. Die meisten von ihnen lassen<br />
sich heute nur durch professionelle Untersuchungen<br />
des Bluts, der Haut oder der<br />
Lungen nachweisen. Künftig soll das mit<br />
Teststreifen, Infrarot-Thermometer, Kamera,<br />
Spektrometer und anderen Sensoren<br />
des Tricorders jedermann selbst können.<br />
Die Technik, so sie denn eines Tages<br />
funktioniert, soll unzählige überflüssige<br />
Praxisbesuche vermeiden, hoffen die<br />
X-Prize-Ausrichter. Statt wie heute bei Fieber<br />
zum Arzt gehen zu müssen, liefert<br />
künftig eine kleine Box, verbunden etwa<br />
mit dem iPhone, die Diagnose – das es<br />
dann womöglich auf Rezept gibt. Es entscheidet,<br />
was der Erkrankte tun soll. Niemand<br />
muss dann mehr stundenlang mit<br />
anderen Patienten im Wartezimmer sitzen.<br />
Besorgte Eltern können sich und ihren<br />
kränkelnden Kindern den Weg zum Kinderarzt<br />
sparen, wenn der Tricorder die Erkältung<br />
des Sprößlings als harmlos eingestuft<br />
hat – und es erst einmal mit Hausmitteln<br />
versuchen.<br />
Dieser High-Tech-Angriff von Apple,<br />
Google und Co. auf den Gesundheitsmarkt<br />
könnte eine heilsame Nebenwirkung haben:<br />
Er könnte die verkrusteten und hochregulierten<br />
Strukturen sprengen. Mit denen<br />
nicht nur viele Patienten höchst unzufrieden<br />
sind, sondern auch viele der Ärzte.<br />
Es wäre an der Zeit. Denn bisher blockte<br />
die Gesundheitslobby jeden Versuch ab,<br />
die allumfassende Weisheit der Mediziner<br />
infrage zu stellen. Gerade in Deutschland<br />
waren die Verbandsfürsten als Hüter des<br />
Traditionalismus damit sehr erfolgreich.<br />
TELEMEDIZIN STATT ÄRZTEMANGEL<br />
Die Folge: Was die Nutzung von E-Health,<br />
wie die digitale Medizin auch genannt<br />
wird, durch Allgemeinmediziner angeht,<br />
liegt Deutschland heute gerade im hinteren<br />
Mittelfeld, so eine Studie der Europäischen<br />
Union. Um genau zu sein auf Rang<br />
18, weit abgeschlagen hinter Vorreitern wie<br />
Dänemark, Spanien oder Estland.<br />
Dabei könnten telemedizinische Behandlungen<br />
in Deutschland den Ärztemangel<br />
lindern, der zu langen Wartelisten<br />
für Operationen und zu überfüllten Arztpraxen<br />
führt. Sie könnten chronisch Kranken<br />
den mühsamen Weg zum Arzt ersparen.<br />
Auch daher will Gesundheitsminister<br />
Bald checken<br />
wir unsere<br />
Gesundheit<br />
so einfach wie<br />
die Uhrzeit<br />
4 Fress-Feind<br />
Das Handy registriert Gewicht, Ernährung,<br />
Schlaf, Bewegungen und<br />
gibt persönliche Verhaltenstipps.<br />
Hermann Gröhe (CDU) spätestens bis Ende<br />
dieses Jahres ein passendes Gesetz auf<br />
den Weg bringen – nachdem sich in der vor<br />
Kurzem mit viel Getöse verkündeten Digitalen<br />
Agenda der Bundesregierung nur wenig<br />
zum Thema E-Health fand. In der Szene<br />
ist aber die Angst groß, dass von den<br />
Maßnahmen wie bei der elektronischen<br />
Gesundheitskarte, die vor acht Jahren an<br />
den Start ging, nicht viel übrig bleibt.<br />
Die Karte sollte ein Vorzeigeprojekt werden.<br />
Mit ihr sollten Ärzte und Patienten<br />
einfacher auf Bluttests oder Verschreibungen<br />
zugreifen können. Doppeluntersuchungen<br />
und Todesfälle, weil Patienten<br />
nicht zueinander passende Pillen eingenommen<br />
haben, wären passé gewesen.<br />
Doch es kam ganz anders, „weil immer<br />
irgendjemand ein Problem sah“, erinnert<br />
sich Medizin-Investor Müschenich, damals<br />
noch Vorstandsmitglied eines großen<br />
deutschen Krankenhauskonzerns. Neben<br />
Sorgen um den Datenschutz war es vor allem<br />
die Transparenz, die Mediziner, Kassen<br />
und Kliniken fürchteten. Denn durch<br />
die Karte wären ihre Leistungen kontrollierbar<br />
und vergleichbar geworden. Doch<br />
das deutsche Gesundheitswesen sollte Angebote<br />
und Technik in der 2005 eigens gegründeten<br />
Gesellschaft für Telematikanwendungen<br />
der Gesundheitskarte (Gematik)<br />
im Konsensverfahren selbst organisieren.<br />
So schafften es die Beteiligten, quasi<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 89<br />
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Technik&Wissen<br />
5 Fitness-Coach<br />
Sensoren und Apps im Handy<br />
vermessen jede Trainingseinheit und<br />
ersetzen den persönlichen Trainer.<br />
»<br />
alle medizinisch wichtigen und zukunftweisenden<br />
Ideen auszubremsen.<br />
Dabei hat allein die Gematik nach Angaben<br />
der Kassen bis heute rund eine Milliarde<br />
Euro verschlungen. Hinzu kommen<br />
Millionen an Investitionen, die Medizintechnikkonzerne<br />
wie Siemens oder Philips<br />
in das einst so ehrgeizige Projekt gesteckt<br />
haben – bisher ohne großen Erfolg. Mittlerweile<br />
hat Siemens sogar den Verkauf seiner<br />
Sparte für Krankenhaus-IT angekündigt.<br />
Die Konzerne ziehen sich zurück aus dem<br />
unsteten Geschäftsfeld. Letztlich sind nur<br />
Insellösungen entstanden.<br />
AUFBRUCH IN DEUTSCHLAND<br />
Müschenich erkannte damals, dass er<br />
selbst als Krankenhausvorstand wenig bewegen<br />
kann. Anfang 2012 kündigte er seinen<br />
alten Job. Er gründete die Start-up-Manufaktur<br />
Flying Health und nebenher den<br />
Bundesverband Internetmedizin. Die Zeit<br />
war reif: „Das deutsche Gesundheitswesen<br />
hat die Wünsche seiner Kunden über Jahre<br />
ignoriert“, sagt Müschenich, „und den<br />
Markt bereitet für junge Unternehmen mit<br />
geradezu respektlosen Ideen.“ Ganz gleich,<br />
ob Arztbewertungsportale, Videosprechstunden<br />
oder Übersetzungsservice für unverständliche<br />
Arztbriefe – die Start-ups geben<br />
den Menschen Werkzeuge in die<br />
Hand, um endlich als mündige Patienten<br />
ihren Ärzten gegenüberzutreten.<br />
»<br />
APPLE<br />
Tricorder am<br />
Handgelenk<br />
Zeigt Konzernchef Tim Cook endlich<br />
die iWatch? Sie gilt als entscheidendes<br />
Element seiner Medizinoffensive.<br />
Den 9. September haben sich zahllose<br />
Technikfans im Kalender markiert. Denn<br />
an diesem Dienstag stellt Apple im heimischen<br />
Cupertino seine neuesten Produkte<br />
vor. Dann wird Konzernchef Tim Cook, so<br />
sich denn die Gerüchte bewahrheiten,<br />
nicht nur mit dem iPhone 6 die jüngste<br />
Smartphone-Generation präsentieren –<br />
sondern auch eine Computeruhr. Der US-<br />
Blog , den die im Silicon Valley<br />
bestens verdrahtete Technikjournalistin<br />
Kara Swisher führt, ist sicher: „Apple wird<br />
ein neues tragbares Gerät zeigen.“<br />
Eine smarte Uhr an sich wäre nichts<br />
Neues. Schließlich haben Samsung, LG<br />
und Co. längst eine Armada solcher Geräte<br />
auf den Markt gebracht, auf denen ihre<br />
Nutzer SMS oder Routeninfos ablesen.<br />
Um Aufsehen zu erregen, müsste Apple<br />
schon eine revolutionäre Uhr erfinden, eine<br />
Zeitmaschine, die uns in eine Science-<br />
Fiction-Welt katapultiert.<br />
Und so halten sich die Gerüchte, dass<br />
Apple an nicht weniger als einem Gesundheitsscanner<br />
fürs Handgelenk arbeitet,<br />
ähnlich wie dem Tricorder aus der Fernsehserie<br />
„Star Trek“. Er soll die Schritte<br />
seines Besitzers zählen, Laufstrecken aufzeichnen<br />
und den Schlaf protokollieren.<br />
Dazu dürfte sich das Gerät per Funk mit<br />
So und doch anders Idee eines US-Designers,<br />
wie Apples Uhr aussehen könnte<br />
dem Smartphone koppeln und Daten in<br />
die App Healthbook speisen, mit der Apple<br />
das Handy zur digitalen Patientenakte<br />
und zum Gesundheits-Coach macht.<br />
Vermutlich entwickelt Apple aber noch<br />
weit ausgefeiltere Sensoren, die sogar<br />
Krankheiten erkennen. Denn der Konzern<br />
hat Medizintechnikexperten angeheuert,<br />
darunter Ueyn Block. Er war Chefingenieur<br />
des gescheiterten Start-ups C8<br />
MediSensors. Dort hatte er einen Sensor<br />
mitentwickelt, der per Lichtstrahl durch<br />
die Haut den Blutzuckerspiegel misst.<br />
Diabetiker, die sich bisher mehrmals am<br />
Tag in den Finger piksen, um ihr Blut zu<br />
untersuchen, könnten mit der neuen Methode<br />
ihre Glucosewerte rund um die Uhr<br />
beobachten und genauer das Insulin dosieren,<br />
das sie sich regelmäßig spritzen<br />
müssen. Das hilft, schwere Folgeschäden<br />
zu vermeiden. Wird schon die erste Version<br />
der iWatch einen solchen revolutionären<br />
Blutscanner haben? Derzeit scheint<br />
das eher unwahrscheinlich.<br />
UHR ÖFFNET HAUSTÜR<br />
Dennoch erwartet die US-Bank Morgan<br />
Stanley, dass Apple in den ersten zwölf<br />
Monaten nach Verkaufsstart 30 bis 60<br />
Millionen Exemplare seiner iWatch verkaufen<br />
könnte. Nicht nur weil sie medizinische<br />
Daten liefert, sondern so etwas<br />
wie die Fernbedienung des Alltags werden<br />
soll: Der Nutzer kann vermutlich<br />
Textnachrichten diktieren, die Stereoanlage<br />
fernsteuern und sogar Lampen, Türschlösser<br />
oder Thermostate bedienen.<br />
Die nötige Software dazu bringt Apple im<br />
Herbst heraus: Die App HomeKit soll<br />
iPhone und iPad zu Schaltzentralen für<br />
Smart-Home-Geräte machen. Vielleicht<br />
wird die iWatch auch als virtuelle Geldbörse<br />
dienen. Mithilfe eines Funkchips<br />
soll der Nutzer bald an vielen Supermarktkassen<br />
zahlen können.<br />
Was bringt der Dienstag noch? Natürlich<br />
das neue iPhone 6. Analysten der kanadischen<br />
Investmentbank RBC Capital<br />
Markets rechnen mit bis zu 75 Millionen<br />
verkauften Geräten im ersten Quartal –<br />
26 Millionen mehr als im Vorjahreszeitraum.<br />
Beobachter erwarten einen schnelleren<br />
Prozessor, ein größeres Display und<br />
einen besseren Akku. Das alles sind Fortschritte<br />
– aber keine Revolution. Wenn<br />
sie kommt, dann wohl in Form eines Armbands<br />
(mehr auf wiwo.de/apple).<br />
andreas.menn@wiwo.de<br />
FOTO: MARK BELL/BELM DESIGNS; ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS<br />
90 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Technik&Wissen<br />
6 Haus-Arzt<br />
Zur Sprechstunde lädt der Arzt<br />
künftig per Videoanruf – und schaltet<br />
bei Bedarf Fachkollegen dazu.<br />
»<br />
So wie der untersetzte 30-Jährige, der<br />
mit einer schmerzenden Schulter und<br />
ziemlich verwirrt zu Anja Bittner gekommen<br />
ist. Drei Wochen nach einem Sturz<br />
war er zur Kernspintomografie im Krankenhaus<br />
gewesen und erhielt einen zehn<br />
Zeilen langen Befund – voller Rätsel. Von<br />
„blutigen Imbibierungen“ und von „corticalen<br />
Defektbildungen“ ist die Rede. Der<br />
Patient verstand kein Wort. Zeile für Zeile<br />
geht die Medizinerin Bittner daher in ihrem<br />
Büro den Bericht durch und übersetzt<br />
jeden Fachbegriff. Bis aus den zehn Sätzen<br />
medizinischen Formeln auf sechs Seiten<br />
verständliches Deutsch geworden ist. Das<br />
Ergebnis: Die Schulter ist ausgekugelt.<br />
SPIELERISCH ABNEHMEN<br />
Bittner ist Gründerin des gemeinnützigen<br />
Dresdner Internet-Portals Washabich.de.<br />
Jede Woche laufen auf der Seite rund 150<br />
Krankheitsberichte, Röntgenbefunde oder<br />
Entlassungsbriefe aus dem Krankenhaus<br />
ein. Die Patienten laden die Dokumente<br />
hoch, und die mehr als 1000 freiwilligen<br />
Ärzte und Medizinstudenten ab dem achten<br />
Semester übersetzen die Dokumente –<br />
kostenlos. „Die Menschen verändern sich“,<br />
sagt Bittner. „Vor 40 Jahren hätte noch kein<br />
Patient seinen Arzt gefragt, warum er denn<br />
diese Pillen überhaupt nehmen soll. Heute<br />
fordern sie mehr Infos – und wollen mehr<br />
selbst entscheiden.“<br />
Der Umbruch hat Deutschland endlich<br />
erreicht, trotz aller Hindernisse. Wo große<br />
Medizintechnikkonzerne und auch die Politik<br />
noch auf einen Startschuss zu warten<br />
scheinen, haben sich Start-ups und Patienten<br />
bereits auf den Weg begeben. Junge<br />
Unternehmer wie Bittner arbeiten hierzulande<br />
an einer besseren Kommunikation<br />
zwischen Arzt und Patient, an einer besseren<br />
Versorgung für chronisch Kranke und<br />
an innovativen Behandlungsmethoden.<br />
Das lockt wie in den USA auch hierzulande<br />
die Geldgeber an. Allein im vergangenen<br />
Jahr haben sich mehrere Risikokapitalfirmen<br />
gebildet, die ihren Fokus ganz auf<br />
die Gesundheit richten: etwa der Berliner<br />
Fonds XL Health, der innerhalb der nächsten<br />
drei Jahre 50 Millionen Euro investieren<br />
will. Das Geld kommt von Frank Gotthardt,<br />
Gründer und Vorstandschef der Koblenzer<br />
CompuGroup Medical, einem<br />
Softwareanbieter für Ärzte.<br />
Entwicklungen wie Healthbook treiben<br />
die Start-ups weiter an. „Apple nimmt uns<br />
Arbeit ab“, freut sich Sebastian Gaede, ein<br />
smarter Ökonom Anfang 30. Der IT-Riese<br />
kümmere sich etwa um die Anbindung der<br />
Wearables und schaffe Standards, damit<br />
die Patienten problemlos ihren Blutdruck<br />
oder ihre Insulinwerte an Apps senden<br />
könnten, „wir können uns dann voll auf<br />
das Nutzererlebnis konzentrieren“. Gaede<br />
hat in München gemeinsam mit Philipp<br />
Legge und Julian Weddige, einst Kollegen<br />
in einer Beratung, das Start-up SmartPatient<br />
gegründet. Ihre App MyTheraphy unterstützt<br />
chronisch Kranke bei ihrem täglichen<br />
Kampf gegen die Krankheit. Sie erinnert<br />
daran, Medikamente einzunehmen,<br />
und zeigt den Patienten in hübschen, zartblauen<br />
Grafiken jeden Tag, wie nah sie ihren<br />
Zielen schon gekommen sind.<br />
Das ist wichtig, denn Patienten weichen<br />
allzu oft von der verordneten Therapie ab –<br />
etwa weil Medikamente unangenehme<br />
Nebenwirkungen haben, sie die Anweisungen<br />
ihres Arztes vergessen oder nicht<br />
Therapie-Apps<br />
ersparen chronisch<br />
Kranken<br />
den mühsamen<br />
Weg zum Arzt<br />
7<br />
Pillen-Prüfer<br />
Arzneidosen mit Funkchip und Tabletten-Tagebücher<br />
als App erinnern<br />
Patienten an die nächste Einnahme.<br />
richtig verstanden haben. Was jährlich in<br />
Deutschland einen Schaden von bis zu 75<br />
Milliarden Euro verursacht, so eine Studie<br />
der Bertelsmann Stiftung.<br />
Das Smartphone könne da zur „helfenden<br />
Hand“ werden, die klar strukturierte<br />
Etappenziele vorgebe, erklärt der Münchner<br />
Berater Michael Mücke von Mücke,<br />
Sturm & Company. Gamification heißt das<br />
Schlagwort, das die Menschheit gesünder<br />
machen soll. Natürlich weiß jeder Übergewichtige<br />
auch ohne digitale Hilfe, dass es<br />
besser wäre, weniger zu essen und sich<br />
mehr zu bewegen. Gesundheit, Sport und<br />
Abnehmen macht aber auf einmal mehr<br />
Spaß, weil wir uns per Apps und Internet<br />
täglich mit anderen messen oder unseren<br />
eigenen Fortschritt beobachten können.<br />
VERSICHERER ZAHLEN<br />
Mittlerweile haben die ersten Krankenkassen<br />
entdeckt, dass die Ideen der Start-ups<br />
durchaus Potenzial haben. So kooperiert<br />
das Online-Portal Medexo.de, dessen Experten<br />
eine medizinische Zweitmeinung<br />
als Gutachten geben, bereits mit mehr als<br />
zehn Kassen, darunter auch die AOK.<br />
Und seit wenigen Monaten gibt es auch<br />
die ersten Apps auf Rezept: Die Barmer<br />
GEK überschritt als Erste die unsichtbare<br />
Linie, indem sie die Spiele von Caterna für<br />
ihre Patienten mit Sehstörungen anerkannte.<br />
Und bei der Deutschen BKK kön-<br />
ILLUSTRATIONEN: THOMAS FUCHS<br />
92 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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8 9<br />
Patienten-Kladde<br />
Chirurgen sehen alle Befunde und<br />
Bilder des Patienten auf dem Display<br />
von Handy oder Datenbrille.<br />
nen sich Patienten, die sich von einem<br />
Schlaganfall erholen, die Kosten für das<br />
Gehirntraining-Programm des Berliner<br />
Start-ups Synaptikon erstatten lassen.<br />
Der Kölner AXA-Konzern kooperiert<br />
ebenfalls mit einem Web-Dienstleister. So<br />
arbeitet der Versicherer mit dem niedersächsischen<br />
Unternehmen Novego zusammen,<br />
das Burn-out-Gefährdeten und Menschen<br />
mit depressiven Symptomen übers<br />
Netz Begleitung durch geschultes Personal<br />
anbietet. Betroffene können Zugangsdaten<br />
für den Dienst erhalten, dessen Kosten Axa<br />
bei einer Kranken-Vollversicherung übernimmt.<br />
„Die Möglichkeit, auf digitalem<br />
Wege zu jeder Tages- und Nachtzeit durch<br />
einen Psychologen beraten zu werden, ist<br />
natürlich kein Ersatz für eine vollwertige<br />
Therapie“, räumt Wolfgang Hanssmann,<br />
Vorstand der AXA Krankenversicherung<br />
ein, „aber ein schnelles, leicht verfügbares<br />
Angebot, um sofort Hilfe zur Selbsthilfe zu<br />
erhalten und beispielsweise die Zeit bis<br />
zum Beginn einer psychologischen Behandlung<br />
zu überbrücken.“<br />
Doch noch sind das punktuelle Projekte.<br />
In der deutschen Versicherungswirtschaft<br />
dominiert noch Unsicherheit über die angemessene<br />
Strategie zur Digitalisierung<br />
des Gesundheitssektors. „Natürlich fragt<br />
sich die ganze Branche, ob Google künftig<br />
auch Versicherungsdienste anbietet“, sagt<br />
etwa der Stratege eines Versicherers.<br />
„Doch eine schlüssige Strategie hat bisher<br />
niemand.“ Und bei den Spitzenverbänden<br />
der Versicherungsbranche herrscht ebenfalls<br />
Ratlosigkeit ob des digitalen Wandels:<br />
„Uns ist nicht bekannt, ob oder wer sich<br />
von unseren Mitgliedern mit dem Thema<br />
befasst“, heißt es unisono.<br />
Auch die Pharmabranche tut sich<br />
schwer mit der digitalen Transformation.<br />
Nur einige Firmen haben bisher eigene,<br />
aufwendigere Apps auf den Markt gebracht,<br />
wie Janssen Cilag, das zum US-<br />
Konzern Johnson & Johnson gehört, oder<br />
MSD Sharp & Dohme, eine Tochter des<br />
amerikanischen Pharmariesen Merck &<br />
Co. Sie fungieren etwa als Gesundheitstagebücher<br />
oder erinnern daran, Medikamente<br />
einzunehmen. Eher ausgefallen ist<br />
da die WC-Finder-App von MSD für darmgeplagte<br />
Patienten, die dringend eine öffentliche<br />
Toilette benötigen. Aber: Die<br />
meisten der Angebote können kaum mit<br />
den oft wesentlich nutzerfreundlichen Produkten<br />
der Start-ups mithalten.<br />
Überwacht die<br />
Krankenkasse<br />
bald via Handy,<br />
wie viel Sport<br />
ich treibe?<br />
Geh-Hilfe<br />
Sensor-Schuhe und Apps überwachen<br />
die Fortschritte bei<br />
Rehabilitationsprogrammen.<br />
OFFENE FRAGEN<br />
Und dann gibt es die Ideen, die vielen Ärzten<br />
zu weit gehen. Die ihnen Angst einjagen,<br />
aus Sorge um eine Medizin, in der der<br />
persönliche Kontakt nichts mehr wert ist –<br />
oder aus Sorge um das eigene Geschäft.<br />
Eine dieser Ideen ist die Hautarzt-App<br />
Klara, ehemals Goderma. Dahinter stehen<br />
zwei beste Freunde: Simon Lorenz, zerzauste<br />
Frisur und ein rundes, freundliches<br />
Gesicht, ist der Visinär im Duo. Und Simon<br />
Bolz, kurze Stoppeln am Kinn und auch auf<br />
dem kurz geschorenen Kopf, der Stratege.<br />
Ihre Idee ist einfach, aber umstritten: Patienten<br />
können Muttermale, Ausschläge<br />
und andere Hautprobleme mit dem Handy<br />
fotografieren und an Klara schicken. Ein<br />
Hautarzt guckt sich die Bilder an und gibt<br />
eine erste Einschätzung. Preis: 29 Euro.<br />
Lorenz und Bolz zogen damit den<br />
Missmut der Berliner Ärztekammer auf<br />
sich. Denn laut der ärztlichen Berufsordnung<br />
dürfen Ärzte keine Diagnose stellen,<br />
ohne die Patienten zu sehen. Klara gebe nur<br />
eine erste Einschätzung, verteidigen die<br />
Gründer ihr Produkt. Doch neben einer Vermutung<br />
zur Diagnose sind in den Gutachten<br />
auch Empfehlungen zur Linderung und<br />
zur üblichen Behandlung des Leidens enthalten.<br />
Die Berliner Ärztekammer horchte<br />
daher bei den für Klara aktiven Ärzten nach<br />
– ohne aber den Dienst zu verbieten.<br />
Doch die Patienten haben sich längst<br />
entschieden, Klara zu nutzen. 125 000<br />
Downloads in 100 Ländern verzeichnet die<br />
App. Vor allem Fotos von Ausschlägen oder<br />
Hautveränderungen durch sexuell übertragbare<br />
Krankheiten landen bei den Ärzten,<br />
die für ihr Gutachten einen Großteil<br />
der Gebühr erhalten. Klara expandiert nun<br />
in die USA: In New York hat das deutsche<br />
Start-up gerade ein Büro eröffnet.<br />
Bei all den neuen Angeboten ist es für die<br />
Patienten nicht leicht, die für sie richtigen<br />
zu finden. 379 000 Apps, davon allein<br />
43 000 bei iTunes, hat Oliver Scheel, Pharmaexperte<br />
bei der Unternehmensberatung<br />
A.T. Kearney, gezählt und gibt zu bedenken:<br />
„Viele Anwendungen sind zweifelhaft,<br />
da sie oft nur wie Gimmicks oder nicht zu<br />
Ende gedacht sind.“ Anders als Ärzte haben<br />
die Manager von IT-Firmen keinen hippokratischen<br />
Eid geschworen, der sie verpflichtet,<br />
Patienten nicht zu schaden. Sollten<br />
die Gesundheitsbehörden daher »<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 93<br />
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Technik&Wissen<br />
10 Leib-Wächter<br />
Senioren leben dank Ferndiagnose<br />
per Handy länger daheim. Sensoren<br />
alarmieren bei Stürzen Helfer.<br />
»<br />
Apps prüfen und zulassen? Erhält derjenige,<br />
der Sport treibt, sich gesund ernährt<br />
und sich dabei per App überwachen lässt,<br />
günstigere Versicherungskonditionen?<br />
Was ist mit Menschen, die sich trotz allem<br />
nicht selbst mit Wearables vermessen wollen?<br />
Müssen sie höhere Prämien zahlen?<br />
Wer die digitalen Gesundheitshelfer<br />
nutzt, emanzipiert sich zwar von den klassischen<br />
Medizinern. Aber er begibt sich in<br />
neue Abhängigkeiten. Man muss nicht so<br />
weit gehen, wie der Berliner Philosoph<br />
Byung-Chul Han, der Menschen, die Selftracking<br />
betreiben, für „Zombies“ hält: „Sie<br />
sind Puppen, die von unbekannten Gewalten<br />
am Draht gezogen werden.“ Doch die<br />
Macht über die Gesundheitsdaten von Millionen<br />
Menschen ist eine große Verlockung<br />
für dubiose Geschäfte. Bei Apple scheint<br />
das Bewusstsein für die Gefahr zu wachsen.<br />
Der Konzern hat gerade die Regeln für<br />
Entwickler von Gesundheits-Apps verschärft<br />
und explizit verboten, Kundeninfos<br />
weiterzuverkaufen oder auch nur im Speicherdienst<br />
iCloud zu sichern. Ob das genügt,<br />
bleibt abzuwarten.<br />
Klar ist: Verspielt die IT-Branche durch<br />
Datenlecks und Bespitzelung das Vertrauen<br />
der Kunden, ist das Geschäft mit der Gesundheit<br />
schneller am Ende, als es begonnen<br />
hat.<br />
n<br />
jacqueline.goebel@wiwo.de, lothar kuhn, thomas kuhn,<br />
susanne kutter, andreas menn, jürgen salz<br />
INTERVIEW Franz Porzsolt<br />
»Unglaublicher Datensalat«<br />
Warum der Ulmer Gesundheitsökonom mehr Probleme als Chancen<br />
sieht, wenn Apple und Co. in die Internet-Medizin einsteigen.<br />
Professor Porzsolt, über die Zukunft der<br />
Medizin scheinen nicht mehr die Ärzte,<br />
sondern die IT-Konzerne zu bestimmen.<br />
Können wir deren Versprechen trauen,<br />
uns gesünder machen zu wollen?<br />
Apple, Google und viele andere haben<br />
jedenfalls erkannt, dass sie mit Gesundheit<br />
gute Geschäfte machen können.<br />
Das ist nicht der beste Ansatz – jedenfalls<br />
nicht für unser Wohlergehen. Ich sehe<br />
eine Menge Probleme auf uns zukommen,<br />
aber auch einige Chancen.<br />
Was ist das Hauptproblem?<br />
Die meisten Nutzer werden viele der angebotenen<br />
Leistungen – die sie aus eigener<br />
Tasche zahlen – nicht verstehen und<br />
allen möglichen Fehlinterpretationen<br />
aufsitzen, die sie verunsichern. Etwa<br />
dem Irrglauben, Früherkennungstests<br />
führten zu längerem Leben. Im Zweifelsfall<br />
wissen die Patienten nur länger, dass<br />
sie krank sind. Machen sie ohne jeden<br />
Anfangsverdacht wahllos alle möglichen<br />
Tests, verlängert das nicht ihre Lebens-,<br />
sondern ihre Leidenszeit.<br />
Aber auch Ärzte raten doch laufend zu<br />
Früherkennungsuntersuchungen?<br />
Tatsächlich ist der 300 Jahre alte Glaubenssatz<br />
kaum auszurotten, wir könnten<br />
eine Krankheit umso besser heilen, je<br />
eher wir sie entdecken.<br />
Doch große Studien zu<br />
Brust- und Darmkrebs haben<br />
gezeigt, dass dies nicht<br />
stimmt.<br />
Das ist aber kein<br />
spezifisches Problem<br />
der Internet-Medizin.<br />
Nein, aber hier wird es gravierende<br />
Folgen haben.<br />
Eben weil viel mehr Menschen<br />
diese attraktiven<br />
Apps nutzen werden als<br />
klassische Untersuchungen.<br />
Doch die Diagnosen,<br />
welche die Programme<br />
liefern, werfen weitere Fragen<br />
auf. Das zieht Folgeuntersuchungen<br />
nach sich –<br />
und treibt die Kosten im<br />
DER SKEPTIKER<br />
Porzsolt, 68, leitet die<br />
Versorgungsforschung<br />
der Ulmer Universitätsklinik.<br />
Er ist ein Pionier der<br />
Klinischen Ökonomik, die<br />
viele etablierte Therapien<br />
kritisch bewertet.<br />
Gesundheitswesen, ohne einen großen<br />
Nutzen zu stiften.<br />
Die Ärzte sind mehr gefordert als zuvor?<br />
Im Zweifelsfall ja – einfach um die Ergebnisse<br />
einzuordnen. So weiß kaum ein<br />
Laie, ob ein Test sensitiv oder spezifisch<br />
ist. Der sensitive Test ist sehr empfindlich<br />
und meldet alles, was nur den geringsten<br />
Verdacht erregt. Damit ist aber<br />
die Rate der Fehlalarme sehr hoch. Andererseits<br />
kann ich sehr sicher sein, gesund<br />
zu sein, wenn der Test nicht anschlägt.<br />
Der spezifische Test ist dagegen<br />
eher darauf ausgerichtet, ganz sicher alle<br />
Gesunden zu finden. Da ist die Rate der<br />
nicht entdeckten Erkrankungen höher.<br />
Das muss ich wissen, um ein Testergebnis<br />
richtig einschätzen zu können.<br />
Ist das auch allen Medizinern klar?<br />
Sie sollten es wissen. Tatsächlich vertrauen<br />
die Menschen den Ärzten immer<br />
weniger und erhoffen sich stattdessen<br />
klare Antworten aus dem Netz. Dabei geben<br />
sie sehr private Informationen preis,<br />
die sicher nicht nur Versicherungen und<br />
Arbeitgeber interessieren dürften.<br />
Sind die Daten bei Apple und Co. sicher?<br />
Ich glaube nicht. Ich hoffe aber, dass wir<br />
bald sichere Lösungen finden. Denn es<br />
könnte die Forschung wirklich voranbringen,<br />
wenn Patienten<br />
etwa Rückmeldungen über<br />
die Wirksamkeit eines Arzneimittels<br />
geben könnten.<br />
So ließe sich der Nutzen einer<br />
Therapie wesentlich<br />
fundierter bewerten. Aus<br />
dem bisher gesammelten<br />
unglaublichen Datensalat<br />
Wissen ziehen zu wollen<br />
halte ich dagegen für vermessen.<br />
Wo nutzt E-Health schon<br />
heute?<br />
Wenn Apps Menschen tatsächlich<br />
motivieren würden,<br />
mehr Sport zu treiben,<br />
wäre das ein immenser gesundheitlicher<br />
Gewinn.<br />
susanne.kutter@wiwo.de<br />
FOTO: PR; ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS<br />
94 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Technik&Wissen<br />
VALLEY TALK | Ein Start-up aus San Francisco nutzt<br />
die Schwächen der Online-Riesen aus und formt<br />
aus deren Angeboten kreative neue Internet-Dienste.<br />
Von Matthias Hohensee<br />
Rosinen picken im Netz<br />
FOTO: JEFFREY BRAVERMAN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
Geht es um Industriedesign, ist<br />
Ideo aus Palo Alto eine der prominentesten<br />
Adressen der Welt.<br />
Wer hier einen der begehrten<br />
Jobs ergattert, ist besonders talentiert. So<br />
wie der Ingenieur Linden Tibbets. Trotzdem<br />
kündigte er Anfang 2011 seine Stelle<br />
bei der Designschmiede, um Unternehmer<br />
zu werden.<br />
Mit seinem Bruder Alexander hatte er die<br />
simple, aber mächtige Idee, eine zentrale<br />
Schaltstelle im Netz zu schaffen, über die<br />
Onliner verschiedenste Internet-Angebote<br />
zu neuen persönlichen Web-Diensten verknüpfen<br />
können. Etwa jedes neue Foto auf<br />
dem iPhone automatisch zum Speicherdienst<br />
Dropbox hochladen zu lassen oder<br />
sich <strong>vom</strong> E-Mail-Dienst Warnnachrichten<br />
aufs Handy schicken zu lassen, falls der<br />
Wetterdienst Regen vorhersagt. Nach den<br />
dafür nötigen Regeln – „wenn dies passiert,<br />
soll jenes geschehen“– nannten die Brüder<br />
ihr Ende 2010 in San Francisco gegründetes<br />
Start-up IFTTT, für „If This Then That“.<br />
Heute sind auf der Plattform jede Menge<br />
populäre Web-Angebote verzeichnet, die<br />
sich verknüpfen lassen, wie Facebook,<br />
LinkedIn, Ebay, Flickr und Evernote. Die<br />
„Channels“, Kanäle, genannten Dienste<br />
wählt der Nutzer aus und sieht dort, welche<br />
automatisierten Abläufe, genannt „Recipes“,<br />
es bereits gibt. Mit einem Klick wählt<br />
er einen aus, mit einigen mehr pickt er sich<br />
aus den digitalen Rosinen im Netz ein persönliches<br />
Recipe zusammen. Heute verzeichnet<br />
die Plattform 125 solcher Kanäle<br />
und etwa 14 Millionen genutzte Abläufe.<br />
Einige Millionen Nutzer dürfte IFTTT<br />
schon haben – mich inklusive. Denn der<br />
Dienst ist überaus nützlich: Da mein Auto<br />
keinen Bordcomputer hat, nutze ich einen<br />
Auswertungs-Chip <strong>vom</strong> Start-up Automatic<br />
Labs aus San Francisco. Das Gerät steckt<br />
am Diagnoseanschluss meines Wagens und<br />
funkt nach der Fahrt die Daten zu Fahrtstrecke,<br />
-zeit und Benzinverbrauch via<br />
Bluetooth an eine App in meinem Handy.<br />
Das war im Grunde ideal, wenn man geschäftliche<br />
Fahrten protokollieren will. Nur<br />
hatte die App lange eine entscheidende<br />
Schwäche: Die Daten automatisch in ein<br />
Dokument oder eine Tabellenkalkulation zu<br />
laden stellte die Programmierer von Automatic<br />
Labs vor Probleme. Als sich immer<br />
mehr Nutzer darüber beschwerten, banden<br />
sie ihren Dienst bei IFTTT ein und ermöglichen<br />
es nun auf diesem Weg, Fahrten automatisch<br />
online zu speichern.<br />
AUTO ALS LICHTSCHALTER<br />
Was als Übergang gedacht war, funktioniert<br />
so gut, dass Automatic Labs gemeinsam<br />
mit IFTTT an weiteren automatischen Routinen<br />
arbeitet. Dass also beispielsweise im<br />
Haus das Licht angeht, sobald man mit<br />
dem Auto in die Einfahrt steuert. Das<br />
klappt, weil auch Hersteller von Heimautomatisierungstechnik<br />
wie Belkin oder Philips<br />
Kanäle auf der Plattform anbieten.<br />
Solche Funktionen mögen nicht für alle<br />
hilfreich sein, manchen sogar nerven. Der<br />
Vorteil ist aber, dass sich jeder seinen Lieblingsdienst<br />
via Internet zusammenstellen<br />
kann, statt sich mit überfrachteten Programmen<br />
mit Dutzenden Bedienoptionen<br />
herumschlagen zu müssen.<br />
Mehr noch, als unabhängige Plattform<br />
kann IFTTT sogar Dienste verschiedenster<br />
Anbieter miteinander verknüpfen – auch<br />
über Betriebssystemgrenzen hinweg. Und<br />
das gilt nicht nur für reine Web-Dienste,<br />
sondern auch für jede Menge realer, mit<br />
dem Internet vernetzter Geräte.<br />
All das macht die Plattform hoch attraktiv<br />
– und die Wagnisfinanzierer wetten auf<br />
den langfristigen Erfolg. Linden und Alexander<br />
Tibbets haben gerade 30 Millionen<br />
Dollar von prominenten Silicon-Valley-Investoren<br />
wie Andreessen Horowitz sowie<br />
Norwest Venture Partners eingesammelt –<br />
nach 8,5 Millionen aus früheren Runden.<br />
So viel Kapital soll nun ein möglichst profitables<br />
Geschäft nach sich ziehen – diesen<br />
Automatismus aber müssen die Gründer<br />
erst noch programmieren.<br />
Der Autor ist WirtschaftsWoche-Korrespondent<br />
im Silicon Valley und beobachtet<br />
von dort seit Jahren die Entwicklung der<br />
wichtigsten US-Technologieunternehmen.<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 97<br />
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Management&Erfolg<br />
Kollege Kunde<br />
DIGITALE MARKENFÜHRUNG | Bewertungen schreiben, Inhalte verbreiten, Produkte<br />
entwickeln: Vor allem Unternehmen, die ihre Kunden für sich einspannen,<br />
sind im Internet erfolgreich. Eine exklusive Studie zeigt, an welchen Konzernen sich<br />
andere ein Beispiel nehmen sollten.<br />
Quietschende Reifen, dröhnende<br />
Motoren – fünf rote BMW<br />
schießen in den dreispurigen<br />
Kreisverkehr. Vollbremsung.<br />
Stille. Passanten bleiben verdutzt<br />
stehen, fotografieren das Spektakel.<br />
An den Lenkrädern sitzen professionelle<br />
Stuntfahrer, die eineinhalb Minuten ihr<br />
Können zeigen. Mit einem Tritt aufs Gaspedal<br />
beginnt die perfekt abgestimmte<br />
Choreografie: Die Wagen schleudern umher,<br />
rutschen parallel zueinander um die<br />
Kurve, rasen aufeinander zu, driften im<br />
vollen Tempo aneinander vorbei.<br />
„Nur mit solchen, überraschenden Aktionen<br />
können wir uns von der Masse abheben“,<br />
sagt Marketingchef Steven Althaus.<br />
Außerdem passe der Inhalt perfekt<br />
zu den Werten der Marke – Fahrfreude<br />
und Dynamik. „Die Zielgruppe identifiziert<br />
sich gerne mit professionellen Piloten.“<br />
Die Zahlen geben dem 46-jährigen Marketingmanager<br />
recht: Weit mehr als 13<br />
Millionen Mal haben Internet-Nutzer das<br />
eigens fürs Netz produzierte Video Driftmob<br />
auf YouTube seit dem Start Ende Juli<br />
angesehen, auf Facebook hatte es nach<br />
vier Wochen mehr als 60 000 Gefällt-mir-<br />
Angaben eingesammelt. Und knapp 1500<br />
BMW-Fans haben den Spot und das zugehörige<br />
Making-of-Material mit Freunden<br />
und Bekannten geteilt.<br />
Sechs Monate hat der Autobauer an<br />
dem Video getüftelt – der Aufwand hat sich<br />
gelohnt. „Internet-Videos erreichen vielleicht<br />
nicht die Massen wie klassische<br />
Fernsehspots, die direkt vor der Tagesschau<br />
laufen“, sagt Marketingprofessor<br />
Thorsten Hennig-Thurau von der Westfälischen<br />
Wilhelms-Universität<br />
Münster. „Aber es ist ein gravierender<br />
Unterschied, ob ich als<br />
Konsument passiv und mit ganz<br />
anderen Absichten vor dem<br />
Fernseher sitze oder selbst initiiert<br />
und ganz und gar freiwillig das Video<br />
anklicke, um es bewusst zu sehen.“<br />
Natürlich: Nicht jedes YouTube-Video<br />
wird zum Hit. Laut einer Studie der Social-<br />
Media-Beratung SocialFlow rufen 99 Prozent<br />
aller Einträge in den sozialen Netz-<br />
Erst mal ins Internet<br />
So informieren sich Kunden vor einer<br />
Kaufentscheidung<br />
Informationen im<br />
Geschäft<br />
Öffentliche<br />
Werbung<br />
Empfehlung<br />
von Freunden<br />
und Familie<br />
5,0<br />
20,2<br />
Direktmarketing 5,0<br />
18,4<br />
11,6<br />
6,9<br />
6,2<br />
18,5<br />
5,0 Fernsehen<br />
3,2 Radio<br />
Zeitungen und<br />
Zeitschriften<br />
Bei diesen Produkten schauen die Käufer<br />
besonders häufig ins Netz (in Prozent)<br />
62<br />
61<br />
61<br />
53<br />
48<br />
%<br />
Reisen<br />
Soziale<br />
Medien<br />
Internet<br />
Beratung durch<br />
einen Verkäufer<br />
Unterhaltungselektronik<br />
Energieversorger<br />
Telekommunikation<br />
Automobil<br />
Quelle: German Digitalization Consumer Report 2014<br />
werken überhaupt keine Reaktion<br />
hervor. Umso wertvoller sind<br />
Fotos und kurze Filmchen, die<br />
den Nerv der Netzgemeinde treffen<br />
und sich wie ein digitales<br />
Lauffeuer verbreiten.<br />
„Aktive Markenfans sind unbezahlbar“,<br />
sagt Alexander Kiock, Geschäftsführer der<br />
Berliner Strategieagentur diffferent.<br />
„Denn die Nutzer wirken nicht nur als<br />
Multiplikatoren, sie geben ihre Empfehlung<br />
auch noch freiwillig ab. Das ist viel<br />
authentischer und schafft mehr Kundennähe,<br />
als würde ein Unternehmen sich<br />
plump selbst anpreisen.“<br />
WILDWUCHS BESEITIGT<br />
Viele der BMW-Fans teilen nicht nur die<br />
Inhalte des Autobauers, sondern präsentieren<br />
auf den sozialen Kanälen von BMW<br />
auch selbst produziertes Material: zum<br />
Beispiel Fotos von ihren Kindern, die auf<br />
dem Fahrersitz hocken, mit ihren kurzen<br />
Beinchen aber längst nicht bis zum Gaspedal<br />
kommen. Oder einen mit Blumen geschmückten<br />
Hochzeits-BMW. Ebenso<br />
können die Internet-Nutzer über das sogenannte<br />
Co-Creation Lab Ideen zur Verbesserung<br />
der Wagen einbringen – 4758 Freizeitentwickler<br />
sind schon angemeldet.<br />
Gründe genug für diffferent, BMW bei<br />
der diesjährigen Auswertung der Studie<br />
Digital Brand Champion zum Sieger zu küren.<br />
Insgesamt hat die Agentur 125 Marken<br />
aus 22 Branchen anhand von vier Kategorien<br />
und 16 dazugehörigen Kriterien untersucht<br />
(siehe Methode Seite 103).<br />
Das Ergebnis: Im Gesamtranking verwies<br />
der Münchner Autobauer Vorjahressieger<br />
Audi auf Rang zwei – die Ingolstädter<br />
FOTOS: BMW<br />
98 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Gas gegeben Das BMW-Online-Video Driftmob<br />
schaffte mehr als 13 Millionen Klicks<br />
tun sich vor allem durch ihre informativen<br />
und unterhaltsamen Inhalte hervor. Sportartikelhersteller<br />
Adidas landete auf dem<br />
dritten Platz, überzeugte die Studienautoren<br />
besonders mit seinen innovativen Marketinginstrumenten:<br />
Adidas bietet den<br />
Konsumenten etwa die Möglichkeit, Sportschuhe<br />
oder Trainingsjacken in den persönlichen<br />
Lieblingsfarben zu gestalten, und<br />
nutzt neue soziale Kanäle wie das Fotonetzwerk<br />
Instagram oder die Blogging-<br />
Plattform Tumblr.<br />
„Die Markenführung im Netz hat sich<br />
insgesamt stark professionalisiert, der<br />
Wildwuchs ist auf breiter Front verschwunden“,<br />
sagt Markenberater Kiock. Und auch<br />
die Marketingbudgets wandern zunehmend<br />
Richtung Internet: Laut Marktforschungsinstitut<br />
Nielsen lagen die Bruttowerbeausgaben<br />
für den Online-Bereich im<br />
ersten Halbjahr 2014 bei 1,6 Milliarden Euro,<br />
rund sieben Prozent mehr als im Vorjahr.<br />
Besonderen Anteil daran hat die mobile<br />
Werbung – kein Wunder, nutzt heute<br />
doch fast jeder zweite Deutsche ein<br />
Smartphone. Der Rechner für die Hosentasche<br />
verleiht den Botschaften der Markenartikler<br />
Omnipräsenz.<br />
„Die Unternehmen dürfen ihre Kunden<br />
aber nicht zum Abnehmer ihrer Werbe-<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 99<br />
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Management&Erfolg<br />
Was Kunden wollen Tickets für die RTL-Show „Rising Star“ verlost Handyhersteller HTC<br />
gezielt via Facebook. Auf Google+ würde ein solches Gewinnspiel nicht funktionieren<br />
»<br />
botschaft degradieren“, sagt Marketingprofessor<br />
Hennig-Thurau. „Die Konsumenten<br />
sind durch die digitalen Kanäle<br />
längst Partner der Unternehmen geworden<br />
– bei der Verbreitung der Markenwerte,<br />
aber nicht selten auch bei deren inhaltlicher<br />
Entwicklung.“<br />
Habe Marketing früher einer Bowlingbahn<br />
geglichen, auf der die Konsumenten<br />
als Kegel galten, die nur auf den Einschlag<br />
der Markenbotschaft warteten, seien sie<br />
heute eher Teil eines Flipperspiels: „Durch<br />
ihre digitalen Werkzeuge können die Kunden<br />
Werbebotschaften stoppen, beschleunigen<br />
oder auch in eine völlig neue Richtung<br />
lenken“, sagt Hennig-Thurau.<br />
Eine Machtverschiebung, die kein Unternehmen<br />
mehr ignorieren sollte. Auch,<br />
weil das Internet längst unverzichtbare Informationsquelle<br />
geworden ist. Der Blog<br />
allfacebook.com registrierte im Januar<br />
Digitale Disziplinen<br />
2014 deutschlandweit mehr als 27 Millionen<br />
aktive Nutzer auf Facebook. Laut dem<br />
German Digitalization Consumer Report<br />
der Universität Münster und der Beratung<br />
Roland Berger sind die digitalen Kanäle<br />
mittlerweile die wichtigste Quelle<br />
für Verbraucher, um ihre Kaufentscheidung<br />
im Vorfeld abzusichern.<br />
Fast ein Viertel der Konsumenten<br />
recherchieren die besten<br />
Angebote, Preisvergleiche<br />
oder Erfahrungsberichte im Netz<br />
und in den sozialen Netzwerken<br />
(siehe Grafik Seite 98). Selbst die<br />
Empfehlungen von Freunden<br />
und der Familie in der realen Welt ist nur<br />
für etwa 20 Prozent für die Kaufentscheidung<br />
ausschlaggebend.<br />
„Unternehmen müssen sich diesem radikalen<br />
Wandel stellen“, sagt diffferent-<br />
Markenexperte Kiock. „Das Internet ist<br />
Welche Marken in den verschiedenen Kategorien führen (maximal 40 Punkte)<br />
Wer besitzt die schlüssigste<br />
Markenbotschaft im Netz?<br />
HTC<br />
Panasonic<br />
L’Oréal<br />
Acer<br />
C&A<br />
Quelle: diffferent<br />
32,9<br />
32,5<br />
32,4<br />
32,1<br />
32,1<br />
Wer kommuniziert am<br />
besten mit den Kunden?<br />
BMW<br />
Amazon<br />
O2<br />
Audi<br />
Zalando<br />
36,6<br />
33,3<br />
31,4<br />
31,3<br />
31,0<br />
Wer bietet den meisten<br />
Nutzwert?<br />
Deutsche Bahn<br />
Commerzbank<br />
Audi<br />
BMW<br />
Mercedes-Benz<br />
36,0<br />
35,9<br />
35,2<br />
34,4<br />
33,6<br />
Wer liegt bei Online-<br />
Trends vorne?<br />
Sony<br />
Nike<br />
Adidas<br />
Mercedes-Benz<br />
Volkswagen<br />
Mehr<br />
In unserer App-<br />
<strong>Ausgabe</strong> finden<br />
Sie die Rankings<br />
zu allen 22 untersuchten<br />
Branchen<br />
34,0<br />
33,8<br />
33,5<br />
33,3<br />
32,7<br />
nicht nur digitales Schaufenster, in dem<br />
man seine Produkte hübsch drapiert – es<br />
ist Verkaufsraum, Infostand und Servicehotline<br />
in einem. Nur wer auf allen Gebieten<br />
eine gute Figur macht, schafft beim<br />
Kunden ein positives Markenerlebnis.“<br />
Das hat auch die Deutsche Bahn begriffen.<br />
Der Konzern, der im Internet oftmals<br />
als Prügelknabe herhalten muss, weil Züge<br />
oder Klimaanlagen ausfallen, ist seit 2011<br />
auf Facebook und Twitter aktiv. Hauptmotiv<br />
für den digitalen Start vor drei Jahren:<br />
meckernden Kunden kompetent Antwort<br />
geben. Das Social-Media-Team erklärt etwa,<br />
warum es zur beanstandeten Verspätung<br />
kommt, in welchem Bereich bestimmte<br />
Tickets gültig und welche Verbindungen<br />
die beste Alternative für ausgefallene Züge<br />
sind. Die Antworten lassen in der Regel nur<br />
ein paar Minuten auf sich warten.<br />
LIEBESBRIEF VON DER BAHN<br />
Dass sich mit gelungenen Antworten aber<br />
nicht nur zufriedene Kunden, sondern<br />
auch Klicks generieren lassen, zeigte der<br />
Konzern im vergangenen Jahr, als sich eine<br />
junge Frau ihren Bahn-Frust von der Seele<br />
schrieb – in Form eines Liebesbriefs. „Meine<br />
liebste Deutsche Bahn, seit vielen Jahren<br />
führen wir nun eine abenteuerliche Beziehung“,<br />
beginnt der Eintrag auf der Facebook-Seite<br />
der Bahn. „Dass du<br />
mich jetzt bei klirrender Kälte<br />
fast 45 Minuten warten lässt, ohne<br />
Bescheid zu sagen, und dann<br />
gar nicht auftauchst, das geht<br />
nun wirklich zu weit.“ Und weiter:<br />
„Ich brauche jemanden an<br />
meiner Seite, der zuverlässig ist,<br />
nicht nur mein Geld will und<br />
auch bereit ist, auf meine Bedürfnisse<br />
einzugehen. Und ich habe so jemanden<br />
kennengelernt. Er nennt sich Opel.“<br />
Darauf hin gab die Bahn den reumütigen<br />
Verehrer: „Ich weiß, dass ich in der Vergangenheit<br />
viele Fehler gemacht habe und<br />
nicht immer pünktlich bei unseren Treffen<br />
war. Vielleicht gibst du mir aber noch einmal<br />
die Möglichkeit, dir zu zeigen, wie viel<br />
du mir bedeutest.“ Auch Opel schaltete<br />
sich in die Konversation ein. Tausende<br />
Likes und Hunderte Kommentare folgten.<br />
Lohn der Mühe: Unter den deutschen<br />
Digital Brand Champions bietet die Bahn<br />
die ansprechendsten Inhalte für die Konsumenten.<br />
Auch die Web-Site ist beliebt<br />
und laut Studie sehr benutzerfreundlich,<br />
alle wichtigen Infos seien leicht zu finden.<br />
„Wir analysieren das Nutzerverhalten genau<br />
und orientieren uns daran“, sagt Bir-<br />
»<br />
100 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Management&Erfolg<br />
» git Bohle, Vertriebschefin für den Personenverkehr<br />
der Deutschen Bahn.<br />
So hatte die Bahn etwa festgestellt, dass<br />
Autoproduzenten liegen vorn<br />
Die 20 besten Marken im Internet<br />
viele potenzielle Kunden beim Kauf eines<br />
Online-Tickets aussteigen, sobald es ans<br />
Bezahlen geht. Um diesen Schritt zu vereinfachen,<br />
akzeptiert die Bahn nun auch<br />
Direktüberweisungen und PayPal.<br />
Rang*<br />
1<br />
2<br />
3<br />
Marke<br />
BMW<br />
Audi<br />
Adidas<br />
Punkte von<br />
maximal 160<br />
132<br />
126<br />
116<br />
Manchmal nutzt die Bahn ihre Kunden<br />
4 Sony<br />
116<br />
auch als Versuchskaninchen. Ihr Europaticket<br />
etwa bewirbt die Bahn auf ihrer<br />
5 Volkswagen<br />
115<br />
6 Mercedes-Benz<br />
115<br />
Homepage mit verschiedenen Motiven.<br />
Während der eine Kunde den Eiffelturm zu<br />
Gesicht bekommt, erscheint auf dem Bildschirm<br />
des nächsten der Big Ben. So weiß<br />
das Unternehmen recht schnell, welche<br />
Fotos ziehen und welche nicht.<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
O2<br />
HTC<br />
Vodafone<br />
Nike<br />
Ford<br />
114<br />
113<br />
113<br />
112<br />
111<br />
FACEBOOK-FANS TICKEN ANDERS<br />
Worauf die User stehen, hat auch der<br />
Handyhersteller HTC herausgefunden.<br />
Der taiwanische Konzern steckt mittlerweile<br />
40 Prozent seines Marketingbudgets<br />
ins Netz. Das passt zu seinen Kunden, die<br />
mehrheitlich zwischen 18 und 39 Jahre alt<br />
sind und sich regelmäßig auf digitalen<br />
Plattformen tummeln – von YouTube über<br />
Twitter bis zum Fotonetzwerk Pinterest.<br />
Und genau dort von HTC angesprochen<br />
werden – mit Inhalten, die bewusst auf den<br />
jeweiligen Kanal ausgerichtet sind.<br />
„Wir haben gemerkt, dass unsere Fangemeinde<br />
auf Google+ deutlich technikaffiner<br />
ist als unsere Fans auf Facebook“, sagt<br />
Nadine Deisenroth, Marketingchefin von<br />
HTC Deutschland.<br />
Karten für die RTL-Talentshow „Rising<br />
Star“ etwa verlost HTC deshalb gezielt auf<br />
Facebook und Twitter, aber nicht auf dem<br />
sozialen Netzwerk der Suchmaschine.<br />
Zu seinen regelmäßigen Fotoaktionen<br />
ruft HTC allerdings auf allen Kanälen auf:<br />
Dabei sollen Nutzer zu vorgegebenen The-<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
19<br />
20<br />
Deutsche Bahn<br />
Panasonic<br />
Otto<br />
Samsung<br />
Toyota<br />
Telekom<br />
Opel<br />
H&M<br />
L’Oréal<br />
111<br />
111<br />
110<br />
109<br />
109<br />
108<br />
108<br />
107<br />
106<br />
* unterschiedlicher Rang bei gleicher Punktzahl ergibt<br />
sich aus den Nachkommastellen; Quelle: diffferent<br />
men Fotos posten, die sie mit ihrem<br />
Smartphone geschossen haben – derzeit<br />
sind originelle Selfies gefragt. Der Einsender<br />
des Fotos mit den meisten Stimmen gewinnt<br />
ein neues Smartphone.<br />
Und direkt auf seiner Homepage lässt<br />
der Smartphone-Hersteller die eigenen<br />
Geräte bewerten. „Dass wir unsere Produkte<br />
toll finden, ist klar“, sagt Managerin Deisenroth.<br />
„Dem Interessenten hilft es aber<br />
viel mehr, wenn unabhängige Käufer ihre<br />
Meinung sagen.“<br />
Und selbst von schlechten Bewertungen<br />
profitiert HTC: kontaktiert Nörgler, um ihnen<br />
bei der Lösung ihres Problems zu helfen.<br />
Und versucht so, sie <strong>vom</strong> Kritiker zum<br />
Fan zu machen.<br />
KUNDEN ALS ENTWICKLER<br />
Auch die Ideen der Kunden wissen viele<br />
Unternehmen zu schätzen. Der Elektronikkonzern<br />
Sony etwa bietet für seine Spielkonsole<br />
Playstation einen Blog an, in dem<br />
Nutzer ihre Verbesserungsvorschläge publizieren<br />
und bewerten lassen können. So<br />
bekommt Sony ein Gefühl dafür, was seine<br />
Kunden wollen und was eher eine Einzelmeinung<br />
ist.<br />
Knapp 2000 Playstation-Spieler unterstützten<br />
etwa die Idee <strong>vom</strong> Nutzer Tomy<br />
Sakazaki. Er machte sich im Sony-Blog dafür<br />
stark, auf der tragbaren Playstation-<br />
Version Vita mehr als 100 Apps speichern<br />
zu können. Denn das war bislang die absolute<br />
Obergrenze – und für viele Nutzer<br />
deutlich zu wenig. Sony erhörte seine<br />
Kunden und erhöhte die Zahl der speicherbaren<br />
Anwendungen im vergangenen<br />
März auf 500.<br />
Auf seiner Homepage stellt der Konzern<br />
außerdem Diskussionsforen zu verschiedenen<br />
Produkten, wie E-Readern, Fernsehern<br />
oder Laptops, bereit. So hatte ein<br />
Kunde etwa das Problem, dass der Aufsteckblitz<br />
für seine Kamera ständig überhitzte.<br />
Drei andere Hobbyfotografen schalteten<br />
sich ein, berichteten über ihre Erfahrungen,<br />
diskutierten, wie das Problem zu<br />
lösen sei. Als Übeltäter identifizierte die<br />
Runde schließlich den Akku des Aufsteckblitzes<br />
und empfahl einen anderen.<br />
Weiß die Internet-Gemeinde mal keinen<br />
Rat, leiten die Diskussionsteilnehmer die<br />
Anfrage an den Kundendienst weiter –<br />
wenn sich zu diesem Zeitpunkt nicht<br />
»<br />
Für die Sinne Mit rund 50 Motiv- und Duftkarten können Commerzbank-Kunden ihre Kreditkarten individuell gestalten<br />
102 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Management&Erfolg<br />
»<br />
längst ein Sony-Mitarbeiter in die Unterhaltung<br />
eingeklinkt haben sollte.<br />
Damit Kunden ihre Fragen bequem<br />
auch von unterwegs loswerden und Fans<br />
ihre Ratschläge mobil kundtun können,<br />
passt sich das Layout der Seite automatisch<br />
an die Bildschirmgröße des jeweils genutzten<br />
Geräts an. Außerdem können sich<br />
Smartphone-Besitzer auf der mobilen<br />
Web-Site die Sony-Händler in ihrer Umgebung<br />
anzeigen lassen.<br />
Die Commerzbank wiederum setzt auf<br />
die Individualität ihrer Kunden: Die können<br />
auf dem neu gestalteten Internet-Auftritt<br />
des Geldhauses aus 45 Motiven für ihre<br />
Kreditkarte wählen – <strong>vom</strong> tropischen<br />
Strand über süße Hundewelpen bis hin zur<br />
Erde aus Weltraumperspektive. „Schon mit<br />
solch kleinen Gimmicks können Unternehmen<br />
den Verbrauchern große Freude<br />
machen“, sagt diffferent-Geschäftsführer<br />
Kiock. „Wir leben schließlich in einer Gesellschaft,<br />
in der das Abheben von der<br />
Masse eine enorme Bedeutung hat.“<br />
Selbst das Angebot der Commerzbank,<br />
zwischen vier verschiedenen Duftkarten –<br />
Kirsche, Orange, Zimt oder Rose – zu wählen,<br />
hält Kiock für mehr als eine nette Spielerei:<br />
„Multisensorisches Marketing wird<br />
das nächste große Ding.“<br />
Das belegt etwa eine Studie des Marktforschungsinstituts<br />
Millward Brown: Demnach<br />
steigt die Treue zu einer Marke von<br />
durchschnittlich 28 Prozent auf 43 Prozent,<br />
sobald statt einem zwei oder drei Sinne angesprochen<br />
werden. Behält der Konsument<br />
gar vier oder fünf Sinneseindrücke<br />
positiv in Erinnerung, liegt die Markenloyalität<br />
bei fast 60 Prozent.<br />
WAS AUF DIE OHREN<br />
Deshalb gibt es von L’Oréal Paris nicht nur<br />
was fürs Auge, sondern neuerdings auch<br />
was auf die Ohren. Seit Anfang des Jahres<br />
ist der Kosmetikkonzern im sozialen Netzwerk<br />
Soundcloud vertreten. Über die Web-<br />
Site lassen sich Musikdateien verbreiten<br />
und austauschen.<br />
„Als Marktführer in der Kosmetikbranche<br />
ist es unser Anspruch, neue Internet-<br />
Trends zu identifizieren und zu nutzen“,<br />
sagt Nicole Gillenberg, Digitalchefin von<br />
L’Oréal Paris.<br />
Schon seit den Achtzigerjahren spielt Musik<br />
im Marketing des Konzerns eine große<br />
Rolle – etwa in den Spots der Produktlinie<br />
Studio Line. Um auch heute junge Zielgruppen<br />
anzusprechen, hat der französische<br />
Konzern das DJ-Duo Trickski aus Berlin beauftragt,<br />
die Werbemelodien von damals<br />
Aufgebrezelt Der französische Kosmetikkonzern L’Oréal bespielt viele innovative<br />
Digitalkanäle, darunter seit Mai auch die Blogging-Plattform Tumblr<br />
zeitgemäß zu interpretieren. Das Ergebnis:<br />
Sechs unterschiedliche Elektrosounds. Die<br />
Musiker selbst haben auf der Plattform<br />
Soundcloud schon mehr als 300 000 Fans,<br />
die der Kosmetikkonzern durch die Kooperation<br />
auf sich aufmerksam macht.<br />
Seit Mai ist L’Oréal außerdem auf der<br />
Blogging-Plattform Tumblr vertreten. Auf<br />
der digitalen Pinnwand sammelt das Unternehmen<br />
Stylingtipps der Kollegen aus<br />
anderen Ländern, bindet YouTube-Videos<br />
ein und präsentiert Fotos und Animationen<br />
der neuesten Produkte.<br />
„Die Unternehmen müssen entscheiden,<br />
welche Kanäle zu ihrer Marke passen“,<br />
sagt Kiock. „Was soll eine Bank schon Interessantes<br />
auf der Fotopinnwand Pinterest<br />
zeigen?“<br />
Diese Strategie der Selektion verfolgt<br />
auch BMW. Zwar nutzt der Konzern<br />
Tumblr. Aber andere neue Digitalkanäle<br />
wie Soundcloud, Spotify oder die Video-<br />
App Vine lässt der Autobauer außen vor.<br />
„Internet-Communitys lassen sich recht<br />
schnell aufbauen – sie zu pflegen ist viel<br />
schwieriger“, sagt Althaus von BMW. „Wer<br />
sich auf unseren Kanälen langweilt, ist so<br />
schnell weg, wie er gekommen ist.“ n<br />
kristin.schmidt@wiwo.de<br />
AUF DER DMEXCO<br />
Die Studie Digital Brand Champion wird<br />
am 11. September auf der Digitalmesse<br />
Dmexco in Köln vorgestellt. Mit dabei:<br />
diffferent-Geschäftsführer Jan Pechmann,<br />
BMW-Marketingchef Steven Althaus<br />
und WirtschaftsWoche-Chefredakteur<br />
Roland Tichy.<br />
METHODE<br />
Vier Disziplinen<br />
So hat diffferent die Digital Brand<br />
Champions ermittelt.<br />
Die Strategieagentur diffferent untersuchte<br />
im Auftrag der WirtschaftsWoche<br />
125 Marken aus 22 verschiedenen<br />
Branchen. Zunächst wählten 2000 Befragte<br />
aus jedem Bereich die bekanntesten<br />
Marken aus. Bei Branchen mit<br />
großer Bekanntheit – etwa Automobil<br />
oder Banken – untersuchten die Autoren<br />
je zehn Marken. Weniger präsente<br />
Industrien wie Baumärkte oder Getränke<br />
stellten je fünf Marken für die Studie.<br />
Wie gut die digitale Markenführung<br />
dieser Unternehmen ist, analysierte<br />
diffferent anhand von vier Kategorien:<br />
Integration Schaffen die Marken einen<br />
hohen Wiedererkennungswert? Verlinken<br />
sie die verschiedenen Online-Plattformen<br />
miteinander?<br />
Inhalte Bieten die Unternehmen Information<br />
und Unterhaltung? Ist die<br />
Web-Site benutzerfreundlich gestaltet?<br />
Kommunikation Wie schnell antworten<br />
die Unternehmen auf Fragen der<br />
Nutzer? Wie groß ist die digitale<br />
Fangemeinde der Marke?<br />
Innovationsfreude Wer ist auch via<br />
Smartphone gut zu erreichen? Binden<br />
die Unternehmen Kunden in die<br />
Entwicklung von Produkten ein?<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 103<br />
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Geld&Börse<br />
Völlig losgelöst<br />
DAX | In den Bilanzen der 30 Dax-Unternehmen hat sich eine Riesenblase aufgebaut.<br />
Seit nunmehr zehn Jahren schieben die Finanzchefs Abschreibungen auf.<br />
Aktionären drohen deshalb massive Gewinneinbrüche und ein erheblicher Verlust<br />
an Eigenkapital: Es geht um 217 Milliarden Euro.<br />
Wahre Gemeinheiten spielen<br />
sich immer im Hintergrund<br />
ab. So ist es wohl kaum einem<br />
Aktionär der Deutschen<br />
Lufthansa aufgefallen,<br />
dass sich das Eigenkapital seines Unternehmens<br />
mit einem Federstrich um gleich<br />
2,3 Milliarden Euro reduzierte. Erkennbar<br />
wurde dieser Einbruch nur für diejenigen,<br />
die kontinuierlich die Berichte der Kölner<br />
Fluggesellschaft verfolgen und gleichzeitig<br />
ein bisschen Bilanzregelkunde mitbringen.<br />
Jahrelang durften Unternehmen ziemlich<br />
lax mit den Rückstellungen in der Bilanz für<br />
ihre aktuellen und künftigen Pensionäre<br />
umgehen. Seit 2013 ist damit Schluss, seither<br />
müssen börsennotierte Aktiengesellschaften<br />
realitätsnäher die Ansprüche für die Altersvorsorge<br />
bilanzieren (WirtschaftsWoche<br />
32/2013). Die Effekte sind – wie erwartet –<br />
teils dramatisch. Bei der Lufthansa wanderte<br />
fast ein Drittel des Eigenkapitals weg von<br />
den Aktionären hin in die Taschen der Pensionäre.<br />
Die Eigenkapitalquote rutschte zum<br />
Anpassungszeitpunkt von erträglichen 28,6<br />
auf recht magere 20,4 Prozent.<br />
Das Beispiel des Dax-Konzerns zeigt:Ein<br />
Blick, der über die aufgehübschten und oft<br />
verdrehten Gewinnmitteilungen ihrer Unternehmen<br />
hinausgeht, lohnt für alle Anleger.<br />
„Wer nicht auch einmal einen kritischen<br />
Blick auf die Bilanz seines Unternehmens<br />
wirft, der verpasst oft substanzielle<br />
Veränderungen“, sagt Peter Leibfried, Professor<br />
für Rechnungslegung und Wirtschaftsprüfung<br />
an der Universität St. Gallen.<br />
Nicht erkannt haben viele Investoren<br />
schon viele Gefahren, die in den Bilanzen<br />
der Unternehmen schlummern. So durften<br />
und dürfen etwa Banken einen Großteil ihrer<br />
Vermögenspositionen selbst schätzen.<br />
Der Effekt ist bekannt: Billionen an dem<br />
Anschein nach wertvollen Vermögen bilanzierten<br />
die Geldinstitute. Und – naive<br />
Investoren zogen lange Zeit mit: Sie jazzten<br />
die Papiere der Banken angesichts vermeintlich<br />
blendender Bilanzen so hoch,<br />
Gekauft, zerlegt, bewertet<br />
Wie der Goodwill (Firmenwert) nach einer<br />
Übernahme entsteht*<br />
A<br />
Unternehmen A kauft Unternehmen B für<br />
zehn Milliarden Euro<br />
Das Vermögen von B wird in seine<br />
Einzelteile zerlegt und einzeln neu bewertet<br />
Fuhrpark?<br />
Markennamen?<br />
Kundenstamm?<br />
B<br />
In der Addition ergeben alle neu bewerteten<br />
Vermögensteile von B einen Wert von<br />
sechs Milliarden Euro<br />
Die Differenz aus dem Kaufpreis und dem neu<br />
bewerteten Vermögen von B ergibt den<br />
Goodwill von vier Milliarden Euro,<br />
der als eigenständige Vermögensposition in die<br />
Bilanz gebucht wird<br />
* Beispiel; Quelle: WirtschaftsWoche<br />
B<br />
Immobilien?<br />
Lizenzen?<br />
Patente?<br />
dass der Sektor vor Beginn der Finanzkrise<br />
beispielsweise mehr als 22 Prozent der Gesamtkapitalisierung<br />
des breiten S&P-500-<br />
Index ausmachte. Das Ergebnis der Luftbuchungen<br />
ist bekannt. Pleiten und Rekapitalisierungen<br />
sind bis heute die Folge; mit<br />
Beginn der Krise im Sommer 2007 verloren<br />
S&P-500-Bankpapiere binnen 18 Monaten<br />
77 Prozent an Wert; der Kurs der Deutschen<br />
Bank liegt heute, fünf Jahre nachdem<br />
die Blase in den Bilanzen platzte, immer<br />
noch drei Viertel unter seinem Hoch.<br />
Auch jetzt sind viele Bilanzen nicht sauber,<br />
lassen sich in den Zahlenwerken der<br />
Unternehmen Milliardenbeträge an fehlgebuchtem<br />
Kapital finden, bildet sich eine<br />
neue gigantische Blase, die von vielen Investoren<br />
und Analysten ignoriert wird.<br />
ZU VIEL GELD HINGEBLÄTTERT<br />
Der Bilanzposten, der derzeit die größte<br />
Gefahr für das Vermögen der Aktionäre an<br />
ihrem Unternehmen in sich birgt, heißt<br />
Goodwill, im Deutschen auch Firmenwert<br />
genannt. „Hier gibt es ein enormes Abschreibungspotenzial,<br />
das zu erheblichen<br />
Gewinneinbrüchen führen kann“, sagt Gerrit<br />
Brösel, Professor für Betriebswirtschaftslehre,<br />
insbesondere Wirtschaftsprüfung,<br />
an der Fernuniversität Hagen.<br />
Ein Firmenwert oder eben Goodwill<br />
taucht immer dann in der Bilanz als eine<br />
Vermögensposition auf, wenn Unternehmen<br />
bei Übernahmen zu viel Geld auf den<br />
Tisch gelegt haben; wenn sie mehr bezahlten,<br />
als das im Nachgang der Übernahme<br />
ermittelte Vermögen der neuen Tochter<br />
wirklich wert ist (siehe Grafik). Skurril, aber<br />
wahr: Dann erlauben die Bilanzregeln, diese<br />
Prämie auf die neu eingekaufte Toch-<br />
»<br />
FOTO: OLIVIER BLAISE<br />
104 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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173 Prozent mehr Scheinvermögen als 2000 türmen die Dax-Unternehmen auf<br />
35 Prozent<br />
des Eigenkapitals sind bedroht<br />
Nur1,2 Prozent<br />
wurden<br />
zuletzt abgewertet<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 105<br />
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Geld&Börse<br />
»<br />
ter als Zusatzvermögen in die Bilanz zu<br />
buchen, eben als sogenannten Goodwill<br />
oder Firmenwert. Noch hübscher für die<br />
Finanzchefs der Unternehmen: Früher<br />
mussten sie dieses Zusatzvermögen, die<br />
Übernahmeprämie also, regelmäßig abschreiben,<br />
über 10 bis 15 Jahre. Investoren<br />
hatten also die Gewissheit, dass heiße Luft<br />
nach Übernahmen sukzessive aus der Bilanz<br />
genommen wurde. Seit zehn Jahren<br />
jedoch dürfen die Unternehmensvorstände<br />
nach einer dramatischen Änderung der<br />
Bilanzregeln mehr oder weniger nach Lust<br />
und Laune abwerten oder nicht.<br />
Keine Überraschung: Sie tun es seither<br />
so gut wie nicht mehr oder nur dann, wenn<br />
sich überbewertetes Vermögen nicht mehr<br />
vertuschen lässt.<br />
KAPITALERHÖHUNG DROHT<br />
Letzteres kommt regelmäßig bei Verkäufen<br />
von Tochtergesellschaften vor. Bei der<br />
Deutschen Telekom etwa radierten Abschreibungen<br />
auf den Goodwill vor drei<br />
Jahren 3,1 Milliarden Euro aus. Als wieder<br />
mal die Tochter T-Mobile USA verkauft werden<br />
sollte, mussten die Bonner den wahren<br />
Wert ihrer Tochter offenlegen und einräumen,<br />
dass der Buchwert in der Bilanz massiv<br />
höher als der wirkliche Gegenwert war.<br />
Solche Abschreibungen bei der Telekom<br />
sind schon Legende. Einst machte die<br />
Goodwill-Position enorme 40,6 Milliarden<br />
Euro aus. Bis heute sind davon noch 14,6<br />
Milliarden Euro übrig. Obwohl die Telekom<br />
bei Zukäufen auch munter Goodwill wieder<br />
zubuchte. So stockte 2013 der Erwerb<br />
des regionalen US-Mobilfunkanbieters<br />
MetroPCS für sich betrachtet den Goodwill<br />
um 955 Millionen Euro auf. Alles in allem<br />
summieren sich die Abschreibungen auf<br />
nicht fassbares Vermögen in der Telekom-<br />
Bilanz – neben dem Goodwill sind das zum<br />
Beispiel Mobilfunklizenzen – allein in den<br />
Jahren 2011 bis 2013 auf fast 23 Milliarden<br />
Euro. Effekt:Kumuliert schrieb die Telekom<br />
binnen drei Jahren vier Milliarden Euro<br />
Verlust; und die Eigenkapitalquote sackt<br />
immer weiter ab – auf nur noch 27,1 Prozent.<br />
Eine Kapitalerhöhung ist da nicht<br />
mehr fern, legt sich die Telekom doch selbst<br />
als untere Marke 25 Prozent.<br />
Das drückt auf den Kurs: Während der<br />
Dax in den vergangenen zehn Jahren um<br />
80 Prozent zulegte, liegen T-Aktionäre im<br />
Minus. Kein Wunder, dass bei Schreckenszahlen<br />
Unternehmen wie die Telekom versuchen,<br />
Anlegern lieber Gewinndaten zu<br />
verkaufen, für die es keine Vorgaben gibt<br />
(siehe Kasten Seite 108). Insgesamt geht es<br />
Konstant hoch<br />
Wie sich der Anteil des Goodwill am Eigenkapital<br />
der Dax-Unternehmen entwickelt hat<br />
(in Prozent)<br />
40<br />
35<br />
30<br />
Überlastet Bei der Deutschen Post liegt<br />
der Goodwill höher als das Eigenkapital<br />
nicht nur bei der Telekom, sondern bei vielen<br />
Unternehmen um große Zahlen und<br />
viel Aktionärskapital: 217 Milliarden Euro<br />
Goodwill haben allein die 30 Unternehmen<br />
aus dem Deutschen Aktienindex inzwischen<br />
aufgetürmt – 173 Prozent mehr<br />
als zum Ende des Jahres 2000 (siehe Chart<br />
Seite 109). Das entspricht 35 Prozent des<br />
gesamten Eigenkapitals der Dax-Unternehmen<br />
(siehe Chart) oder rund 20 Prozent<br />
ihres aktuellen Börsenwerts. Bei einer<br />
Komplettabwertung müssten die Dax-Unternehmen<br />
ihr Eigenkapital um gut die<br />
Hälfte erhöhen, um auf den alten Stand zu<br />
kommen. Auch ohne prophetische Gaben<br />
kann jeder voraussagen, dass dies die Kurse<br />
massiv unter Druck bringen würde.<br />
Goodwill/Eigenkapital<br />
25<br />
00 02 04 06 08 10 12<br />
Quelle: Universität St. Gallen<br />
Bei der Mehrzahl der Dax-Unternehmen<br />
drohen Gefahren, weil der Goodwill entweder<br />
eine große Rolle in der Bilanz spielt<br />
oder nie vernünftig abgewertet worden ist.<br />
Wo die Finanzchefs aggressiv vorgehen<br />
und hohe Abschreibungen möglich sind,<br />
das hat die Universität St. Gallen exklusiv<br />
für die WirtschaftsWoche analysiert. Die<br />
Bilanzexperten durchforsten für die WirtschaftsWoche<br />
Jahr für Jahr die Geschäftsberichte<br />
der Dax-30-Unternehmen. Das<br />
Ergebnis der neuesten Untersuchung: „Die<br />
Milliardenrisiken aus Übernahmen steigen<br />
beinahe unaufhaltsam“, so Leibfried.<br />
ALARMSTIMMUNG BEI EXPERTEN<br />
Inzwischen sind deshalb alle ernst zu nehmenden<br />
Bilanzexperten alarmiert: Da die<br />
Manager selbst den Goodwill bestimmen<br />
und dessen Werthaltigkeit nach selbst vorgegebenen<br />
Parametern testen, sehen Wissenschaftler<br />
jede Menge Spielraum, um die<br />
Zahlenwerke zu schönen, bis an den Rand<br />
der Manipulation. Und die Deutsche Prüfstelle<br />
für Rechnungslegung in Berlin<br />
(DPR), die regelmäßig Geschäfts- und<br />
Quartalsberichte an deutschen Börsen notierter<br />
Unternehmen unter die Lupe<br />
nimmt, äußert einen schlimmen Verdacht:<br />
Erst die dramatische Bilanzregeländerung<br />
im Jahr 2004 könnte viele Vorstände dazu<br />
gebracht haben, riskante Übernahmen anzugehen.<br />
Grund: Da der Goodwill nicht<br />
mehr regelmäßig abgeschrieben wird, gibt<br />
es keinen negativen Einfluss auf den Gewinn<br />
mehr. „Der vorsichtige Kaufmann<br />
schreibt ab, doch seit die Bilanzregeln kei-<br />
106 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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RWE über Freenet bis hin zu Sky. Ergebnis:<br />
Das gesamte Eigenkapital der Unternehmen<br />
lag Ende 2012 bei 64 Milliarden Euro.<br />
Bereinigt um planmäßige Abschreibungen<br />
auf den Goodwill jedoch, läge das Kapital<br />
bei nur 14,6 Milliarden Euro. „Das sind stille<br />
Lasten von knapp 50 Milliarden Euro<br />
oder 77 Prozent des bilanziellen Eigenkapitals“,<br />
so Möhlmann-Mahlau.<br />
FOTOS: REUTERS/TOBIAS SCHWARZ, THORSTEN MARTIN, GETTY IMAGES/FLICKR RF<br />
Überdreht Lanxess schrieb erst nach<br />
dem Vorstandswechsel Vermögen ab<br />
ne regelmäßig Abwertung mehr fordern,<br />
passiert kaum noch etwas“, so Leibfried.<br />
Die Vorstände können so Fehlgriffe bei<br />
Übernahmen lange Zeit vor der Öffentlichkeit<br />
kaschieren, sie kassieren deshalb regelmäßig<br />
mehr variables, von Gewinnen<br />
abhängiges Gehalt oder Boni als ihnen eigentlich<br />
zustünde.<br />
ABWERTUNGEN NAHE NULL<br />
Im Durchschnitt unterstellten die Dax-Unternehmen<br />
früher eine Nutzungsdauer für<br />
ihre Firmenwerte von knapp neun Jahren –<br />
sie schrieben jährlich 11,7 Prozent auf ihren<br />
Goodwill ab, so die Analyse der Universität<br />
St. Gallen. Im Jahr 2002 schrieben die<br />
30 Dax-Finanzchefs angesichts taumelnder<br />
Börsen und schwacher Konjunktur sogar<br />
jeden sechsten Euro ab. Die damals<br />
noch strengen Bilanzregeln zeigten also<br />
Wirkung – zum Schutz der Aktionäre. 2013<br />
kamen gerade einmal 2,6 Milliarden Euro<br />
oder 1,2 Prozent an Abschreibungen zusammen.<br />
Dabei liegt etwa der Dax-Kursindex<br />
immer noch knapp 20 Prozent unter<br />
seinem Hoch (siehe Chart Seite 115). Übersetzt:<br />
Während die Unternehmen seit einem<br />
Jahrzehnt offenbar nur solche Töchter<br />
gekauft haben, deren Wert von keiner Konjunktur-,<br />
Finanz- oder geopolitischen Krise<br />
tangiert wird, gestehen Investoren vielen<br />
Unternehmen weniger Wert zu als vor 14<br />
Jahren, als der Dax-Kursindex sein letztes<br />
Hoch erreichte. Der Dax-Kursindex spiegelt<br />
die echte Wertentwicklung der 30 Dax-<br />
Aktien wider; im bekannten Dax selbst<br />
werden Dividenden noch dazugerechnet.<br />
„Nach den aktuellen Bilanzierungsregeln<br />
lässt sich ohne Übertreibung von einer<br />
Goodwill-Blase sprechen, die stetig<br />
wächst“, so Thomas Möhlmann-Mahlau,<br />
Professor für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere<br />
Rechnungslegung und Steuern,<br />
an der Hochschule Bremen. „Dass es sich<br />
um eine Blase handelt, ist nicht auszuschließen<br />
und ist weder von Analysten<br />
noch von Anlegern erkennbar“, sagt Bilanzexperte<br />
Brösel von der Fernuni Hagen.<br />
Möhlmann-Mahlau hat jüngst gemeinsam<br />
mit Frank Sündermann, Leiter Kreditanalyse<br />
der KBC Bank, und Tobias Gundel,<br />
Berater bei Boege Rohde Luebbehuesen in<br />
Hamburg, 18 bekannte deutsche börsennotierte<br />
Unternehmen abgeklopft, von<br />
»Ganz ohne<br />
Übertreibung<br />
lässt sich von<br />
einer Blase<br />
sprechen«<br />
Thomas Möhlmann-Mahlau,<br />
Uni Bremen<br />
NEUER VORSTAND KEHRT AUS<br />
Einer der Gründe: Selbst während der Finanzkrise,<br />
als sich die Kurse der Dax-Unternehmen<br />
im Durchschnitt mehr als halbierten,<br />
ebenso wie mehrheitlich die anderer<br />
europäischer Unternehmen, waren höhere<br />
Goodwill-Abschreibungen „wider Erwarten<br />
überwiegend ausgeblieben“. Das ist<br />
die Quintessenz einer Studie, die Silvia<br />
Rogler, Professorin für Rechnungswesen<br />
und Controlling an der TU Bergakademie<br />
Freiberg, vergangenes Jahr vorstellte (WirtschaftsWoche<br />
32/2013). Nach der Durchsicht<br />
von 640 Bilanzen von 160 deutschen<br />
börsennotierten Unternehmen zogen Rogler<br />
und ihr Team ein erschreckendes Fazit:<br />
Größere Abschreibungen auf die Wackelposition<br />
Goodwill gab es fast nur, wenn<br />
Vorstände ausgetauscht wurden. Neue Manager<br />
räumen offenbar die Bilanzen<br />
schnell auf, damit ihnen milliardenschwere<br />
Fehlinvestitionen ihrer Vorgänger nicht<br />
irgendwann vor die Füße fallen. Ein neuer<br />
Finanzvorstand hält dann gleich 39 Prozent<br />
der Goodwill-Position für nicht mehr<br />
tragbar, Vorstandschefs veranlassen eine<br />
ebenfalls noch dramatische Abwertung<br />
um im Durchschnitt 31 Prozent, so das Ergebnis<br />
der Uni Freiberg.<br />
Siemens etwa begann erst nach einem<br />
Chefwechsel auf dem Posten des Diagnostik-Vorstands<br />
vor gut vier Jahren seine für<br />
elf Milliarden Euro zusammengekaufte Diagnostik-Sparte<br />
abzuwerten. Nur vier Monate<br />
nachdem seinerzeit Michael Reitermann<br />
dort den Chefposten übernommen<br />
hatte, vermiesten Abwertungen über 1,4<br />
Milliarden Euro erstmals das Konzernergebnis.<br />
Auch der im vergangenen Jahr neu<br />
angetretene Puma-Chef Björn Gulden<br />
kündigte kurz nach seinem Amtsantritt Ende<br />
2013 erst einmal Firmenwertabschreibungen<br />
und einen Gewinneinbruch an.<br />
Jüngstes Beispiel im Dax ist der Chemiker<br />
Lanxess, der just zum Zeitpunkt des<br />
Stabwechsels auf dem Posten des Vorstandschefs<br />
Ende Februar dieses Jahres<br />
den Goodwill abwertete und gleichzeitig<br />
die Dividende um die Hälfte strich. Grund<br />
war nach offizieller Lesart nicht die mög-<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 107<br />
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Geld&Börse<br />
KENNZAHLEN<br />
Wortreich<br />
angepasst<br />
An welchen Gewinnziffern sich<br />
Anleger noch orientieren können.<br />
Die International Financial Reporting<br />
Standards (IFRS) sind ein internationaler<br />
Bilanzstandard, der in rund 120 Ländern<br />
angewendet wird. Seit 2005 sind die<br />
IFRS in Deutschland Pflicht für den Konzernabschluss<br />
aller Unternehmen, die<br />
Anleihen oder Aktien öffentlich notiert<br />
haben. Allerdings sind viele Unternehmenschefs<br />
nicht einverstanden mit der<br />
üblichen Gewinn-und-Verlust-Rechnung<br />
und präsentieren Anlegern deshalb eine<br />
Vielzahl von Ertragszahlen, die nichts mit<br />
den IFRS zu tun haben. Regelmäßig sind<br />
diese Gewinnzahlen bereinigt, adjusted<br />
oder angepasst, wie es dann wortreich<br />
heißt. Fällt unterm Strich in Wahrheit ein<br />
Wasser auf die Mühle Das nachhaltige<br />
Nettoergebnis von RWE ist kein Maßstab<br />
Verlust an, hantieren die Vorstände naturgemäß<br />
lieber mit schwarzen Zahlen; statt<br />
eines müden Jahresüberschusses zeigen<br />
sie lieber eine tolle Gewinnsteigerung.<br />
Alles machbar, da es für die Präsentation<br />
der Ertragssituation keine Regeln, keine<br />
Regulierung und keine Sanktion gibt.<br />
GEWINN-JO-JO<br />
Die Deutsche Telekom etwa verkauft aktuell<br />
ihren Aktionären ein „bereinigtes<br />
Ebitda“ (Ergebnis vor Steuern, Zinsen, regelmäßigen<br />
Abschreibungen und Sonderabschreibungen<br />
auf aufgekaufte Unternehmen<br />
([Firmenwerte/Goodwill]) als<br />
Kernkennzahl. RWE-Aktionäre sollen sich<br />
mit einem „nachhaltigen Nettoergebnis“<br />
anfreunden, bei E.On geht es um den<br />
„nachhaltigen Konzernüberschuss“ bei<br />
Konkurrent EnBW um den „adjusted Konzernüberschuss<br />
ohne neutralen Konzernfehlbetrag“,<br />
Linde stellt ein „operatives<br />
Konzernergebnis“ in den Vordergrund,<br />
das ein „Ebitda inklusive des anteiligen<br />
Ergebnisses aus assoziierten Unternehmen<br />
und Joint Ventures“ ist. Durchschaubar<br />
ist das nicht. Regelmäßig ändern viele<br />
Unternehmen auch die Gewinnkennzahlen,<br />
an denen sie gemessen werden wollen.<br />
Diese sind also schon von Jahr zu<br />
Jahr bei demselben Unternehmen möglicherweise<br />
schwer vergleichbar, von Unternehmen<br />
zu Unternehmen in der Regel<br />
ohnehin oft nicht mehr.<br />
SCHÖNWETTERKENNZAHL<br />
Doch welche Kennzahlen sind wie einzuordnen?<br />
Eine Übersicht:<br />
Ebitda ist eine Schönwetterkennzahl, die<br />
keinem Bilanzstandard unterliegt. Sie<br />
kann von Unternehmen zu Unternehmen<br />
unterschiedlich errechnet sein. Eine Aussagekraft<br />
hat die Kennzahl im Verhältnis<br />
zum Schuldenstand (je geringer die Relation<br />
zwischen Ebitda zu Schulden, desto<br />
besser steht das Unternehmen bei seinen<br />
Verbindlichkeiten da).<br />
Ebita Ergebnis vor Steuern, Zinsen, regelmäßigen<br />
Abschreibungen. Ebenfalls eine<br />
wenig taugliche Schönwetterkennzahl.<br />
Ebit Ergebnis vor Steuern und Zinsen.<br />
Kann als operatives Ergebnis (Betriebsergebnis)<br />
herhalten, falls keine außerordentlichen<br />
Zinsausgaben oder -einnahmen<br />
anfallen. Ist Letzteres nicht der Fall,<br />
zählen folgende Größen:<br />
Ebt Ergebnis vor Steuern sowie der<br />
Nettogewinn (Jahresüberschuss) als<br />
Kernkennzahl für den Aktionär. Aus dem<br />
Jahresüberschuss errechnet sich der<br />
Gewinn je Aktie, wenn der Nettogewinn<br />
durch die Anzahl der ausgegebenen Aktien<br />
geteilt wird. Der aktuelle Aktienkurs<br />
geteilt durch den Gewinn je Aktie ergibt<br />
dann das KGV (Kurs-Gewinn-Verhältnis).<br />
Da heutzutage allerdings einige Unternehmen<br />
eben mit bereinigten Nettoergebnissen<br />
rechnen, und diese von vielen<br />
Analysten kritiklos übernommen werden,<br />
sind selbst Ergebnisse je Aktie und damit<br />
die KGVs nicht miteinander vergleichbar.<br />
Anleger finden die wahren Nettozahlen<br />
aber in den Quartals- und Geschäftsberichten.<br />
»<br />
licherweise längst fällige Beseitigung<br />
von Altlasten, sondern angeblich „Veränderungen<br />
im Wettbewerbsumfeld“. So oder<br />
so tickerten die Nachrichtenagenturen<br />
„Schock für Aktionäre“, nachdem der Lanxess-Kurs<br />
binnen Sekunden um sechs Prozent<br />
abgerutscht war.<br />
Aktuell dürften sich Bilfinger-Aktionäre<br />
fragen, ob nach Vorstandswechsel und drei<br />
dramatischen Prognosekürzungen binnen<br />
weniger Monate die knapp 1,9 Milliarden<br />
Euro Goodwill in der Bilanz des Baudienstleisters<br />
noch zu rechtfertigen sind.<br />
NOTORISCHER ÜBEROPTIMISMUS<br />
Was vielen entgeht, das hat die europäische<br />
Wertpapierbehörde ESMA in einer<br />
umfangreichen Studie in den Bilanzen von<br />
235 europäischen Konzernen aus 23 Ländern<br />
ermittelt: Eine Verschleierung von<br />
Zahlen sei nicht die Ausnahme, sondern<br />
die Regel, heißt es da. Die Prüfer aus Paris<br />
ermittelten auch, dass nahezu alle Unternehmen<br />
von sehr optimistischen Wachstumsraten<br />
ihrer Töchter ausgingen. Grund:<br />
Wer die Zukunft rosarot malt, der muss<br />
heute auf den Goodwill nicht abwerten<br />
und bleibt in seiner Gewinnrechnung in<br />
den schwarzen Zahlen.<br />
Einer neuen Analyse von Inge Wulf, Professorin<br />
am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre,<br />
insbesondere Unternehmensrechnung,<br />
an der TU Clausthal, zufolge,<br />
finden Anleger in den Zahlenwerken<br />
der Unternehmen sogar häufig nicht einmal<br />
Zukunftserwartungen, die sie infrage<br />
stellen könnten. So fehlten im Krisenjahr<br />
2008 bei gleich 8 der 30 Dax-Unternehmen<br />
quantitative Angaben zum Wachstum im<br />
Geschäftsbericht, darunter die Deutsche<br />
Telekom oder SAP. Drei Jahre später drückten<br />
sich im Dax BMW, Daimler und ThyssenKrupp<br />
vor solchen eigentlich zwingenden<br />
Angaben. Ein weiteres Ergebnis der<br />
Studie der TU Clausthal: Während der Finanzkrise<br />
haben die Dax-Unternehmen<br />
„vermutlich“ interne Zinssätze so angepasst,<br />
um bei den Milliarden an Goodwill<br />
„keine“ oder nur „eine geringere Wertminderung<br />
zu buchen, jedoch kann keine<br />
Plausibilitätsprüfung vorgenommen werden,<br />
da Detailangaben fehlen“, so Wulf.<br />
In einer seiner letzten großen Studien<br />
widmete sich auch der im Januar dieses<br />
Jahres verstorbene Karlheinz Küting dem<br />
Thema Goodwill. Der wohl bekannteste<br />
deutsche Bilanzexperte leitete lange Jahre<br />
das Centrum für Bilanzierung und Prüfung<br />
an der Universität des Saarlandes. Er untersuchte<br />
134 deutsche börsennotierte Ge-<br />
108 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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FOTOS: GREGOR SCHLÄGER, PR<br />
Willkommen im Datendschungel Wertkorrekturen<br />
sind bei der Telekom die Regel<br />
sellschaften aus Dax, MDax, SDax und<br />
TecDax. Der Studie zufolge unterstellen die<br />
Unternehmen, dass sie aus den gezahlten<br />
Übernahmeprämien für neue Töchter 204<br />
Jahre lang Nutzen ziehen werden. Je nach<br />
Statistik und Datenbasis liegt die Lebensdauer<br />
von Unternehmen aber heutzutage<br />
im Durchschnitt bei 12 bis maximal 20 Jahren;<br />
bei 204 Jahren jedenfalls hat sie nie gelegen.<br />
„Die Firmenchefs setzen offenbar<br />
beim Goodwill im Durchschnitt eine nahezu<br />
unbegrenzte Nutzungsdauer an“, sagt<br />
Thorsten Sellhorn, Inhaber des Lehrstuhls<br />
für Rechnungswesen und Wirtschaftsprüfung<br />
an der Ludwig-Maximilians-Universität<br />
München, „sonst wäre ein Mehr an Abschreibungen<br />
zu beobachten.“ Dabei sehen<br />
die Bilanzregeln vor, dass der Zeitraum,<br />
über den ein Goodwill nutzbar ist,<br />
zwar unbestimmt, aber eben keinesfalls<br />
unbegrenzt ist. „Der einst eingebuchte<br />
Goodwill sollte also wieder bei null landen.<br />
Die Frage ist hierbei nicht, ob, sondern nur<br />
wann“, so Sellhorn.<br />
Anleger tun gut daran, mögliche Abwertungen<br />
des Goodwill in Betracht zu ziehen.<br />
Denn die Zahl derer, die für die Rückkehr<br />
zur alten Regelung regelmäßiger Abschreibung<br />
plädieren, steigt seit Jahren.<br />
Aufsehen erregt, dass es seit einem Jahr<br />
in den USA nicht börsennotierten Unternehmen<br />
wieder erlaubt ist, ihre Firmenwerte<br />
regelmäßig abzuschreiben, und es<br />
Überlegungen gibt, dies auch wieder für an<br />
den Börsen gehandelte Unternehmen einzuführen.<br />
Die Analysten der unabhängigen<br />
Schweizer Independent Credit View (ICV)<br />
haben aktuell ermittelt, dass Europas Banken<br />
1044 Milliarden Euro an Kapital benötigen.<br />
Diese Megasumme kommt unter anderem<br />
deshalb zustande, weil die ICV-Analysten<br />
keinen Euro an Goodwill für werthaltig<br />
halten. Und in Japan haben die Bilanzregulatoren<br />
erst Ende Juli ein neues<br />
Papier zum Bilanzrecht vorgelegt: Goodwill,<br />
so heißt es unter anderem darin, sollte<br />
regelmäßig linear abgeschrieben werden,<br />
„maximal über 20 Jahre“.<br />
Tokio ist nur scheinbar weit. Bei den Finanzmanagern<br />
in Paris, München oder<br />
Mailand löst aktuell die European Financial<br />
Reporting Advisory Group (Efrag) große<br />
Schere läuft auseinander<br />
Wie sich die als Vermögen bilanzierten Übernahmeprämien<br />
der Dax-30-Unternehmen<br />
entwickelt haben und wie viel sie darauf abgeschrieben<br />
haben (in Millionen Euro)<br />
250000<br />
200000<br />
150000<br />
100000<br />
50000<br />
Übernahmeprämien<br />
(Goodwill)<br />
Abschreibung<br />
0<br />
00 02 04 06 08 10 12<br />
Quelle: Universität St. Gallen<br />
22000<br />
17000<br />
12000<br />
7000<br />
2000<br />
Aufregung aus. „Dieses für die Übernahme<br />
der Bilanzregeln IFRS in Europa entscheidende<br />
Gremium hat sich nun auch öffentlich<br />
klar dafür ausgesprochen, wieder zu<br />
regelmäßigen Goodwill-Abschreibungen<br />
zurückzukehren“, so Leibfried. Zu den wesentlichen<br />
Aufgaben der Efrag gehört die<br />
Beratung der EU-Kommission im Rahmen<br />
der Umsetzung von Bilanzregeln in der Europäischen<br />
Union. Gemeinsam mit dem<br />
Accounting Standards Board Japan und<br />
der Organismo Italiano di Contabilità hat<br />
sie ein gut 50-seitiges Pamphlet verfasst<br />
mit dem provakanten Titel: Sollte Goodwill<br />
nicht getilgt werden? (Should Goodwill still<br />
not be amortised?) Noch bis Ende nächster<br />
Woche haben Investoren, Wirtschaftsprüfer<br />
und Unternehmen Zeit, dazu Stellung<br />
zu beziehen.<br />
Solange eine regelmäßige Tilgung der<br />
Firmenwerte noch nicht obligat ist, so lange<br />
legt die Berliner DPR, vulgo Bilanzpolizei,<br />
ihr Hauptaugenmerk auf den Bilanzposten<br />
Goodwill. Zu Recht. Denn dort fanden die<br />
Prüfer seit Gründung der DPR im Juli 2005<br />
bisher die meisten Falschbilanzierungen.<br />
DRUCK DER BILANZWÄCHTER<br />
Spektakulär ist unter anderem Adidas. Binnen<br />
zwei Jahren kassierte der Sportartikelkonzern<br />
jeweils eine Rüge von der DPR.<br />
Adidas hatte den Werthaltigkeitstest des<br />
Goodwill zunächst unerlaubterweise für<br />
Einheiten durchgeführt, die größer waren<br />
als die ansonsten in der Bilanz gezeigten<br />
Segmente. Später mussten die Herzogenauracher<br />
einräumen, dass 2011 in der<br />
Summe mehrerer Fehlbilanzierungen der<br />
Gewinn je Aktie um 27 Cent zu hoch ausgewiesen<br />
war. 2012 rang sich Adidas erstmals<br />
zu Wertberichtigungen durch, vor allem<br />
auf die 2005 für 3,8 Milliarden Dollar übernommene<br />
US-Tochter Reebok – nicht besonders<br />
wagemutig ist der Verdacht, dass<br />
dies auf Druck der Bilanzwächter geschah.<br />
Der Effekt der Abschreibungen über 265<br />
Millionen Euro war ein nicht erwarteter<br />
Gewinneinbruch. Und auch für das laufende<br />
Geschäftsjahr könnte eine Abwertung<br />
drohen, nachdem Adidas im Sommer vor<br />
schwachen Geschäften unter anderem in<br />
Russland und in der Golfsparte warnte.<br />
Nach wie vor weist Adidas 1,2 Milliarden<br />
Euro Goodwill aus.<br />
Kein Wunder, dass sich auch dieses Jahr<br />
die Berliner Prüfstelle auf den Goodwill<br />
Impairment Test, den Werthaltigkeitstest,<br />
konzentriert. Beim Impairment Test werden<br />
einzelne Geschäftseinheiten unter die<br />
Lupe genommen. Zeigt sich bei einer<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 109<br />
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Geld&Börse<br />
senius Medical Care (FMC). Die Hessen<br />
schlossen im Jahr 2006 den Kauf der US-<br />
Dialysetochter Renal Care ab. Vom Gesamtkaufpreis<br />
über 4,16 Milliarden Dollar<br />
entfielen gleich 3,39 Milliarden oder 81,5<br />
Prozent auf die Position Goodwill, gerade<br />
einmal 770 Millionen Dollar an echtem<br />
Vermögen wurden identifiziert. FMC zahlte<br />
also eine irrsinnig anmutende Prämie<br />
von 440 Prozent auf die Renal-Werte. Auch<br />
heute noch steht diese Prämie vollständig<br />
als Vermögen in der Bilanz. Dabei lahmten<br />
zuletzt die Geschäfte: 2013 konnte FMC<br />
den Mittelzufluss aus dem laufenden Geschäft<br />
gerade mal stabil halten. Grund sind<br />
Sparpläne im US-Gesundheitswesen, die<br />
Erstattungen für die Dialyse betreffen.<br />
»<br />
Geschäftseinheit, dass die ursprünglich<br />
angesetzten Annahmen über Ertrag, Cash-<br />
Flow oder Kapitalkosten zu optimistisch<br />
waren, muss eine Abwertung erfolgen – in<br />
der Theorie. Die Konsistenz und Verlässlichkeit<br />
der Cash-Flow-Prognosen, die Ableitung<br />
von Wachstumsraten und von Zinssätzen<br />
sowie „wesentliche Bewertungsprämissen“<br />
stehen bei der DPR auf dem Prüfstand.<br />
„Vorsichtig gesagt, werten die Unternehmen<br />
seit der Pflichtumstellung auf internationale<br />
Rechnungslegungsvorschriften<br />
im Jahr 2005 den Goodwill zurückhaltend<br />
ab“, sagt Bettina Thormann, Vizepräsidentin<br />
der DPR.<br />
ABSICHTLICH KLEINGERECHNET<br />
Die frühere Professorin für Betriebliche<br />
Steuerlehre und Unternehmensprüfung an<br />
der Fachhochschule Bielefeld beobachtet,<br />
dass die „Kaufpreise bei Unternehmenszusammenschlüssen<br />
aufgrund der positiven<br />
Zukunftserwartungen an Synergien und<br />
zukünftige Mittelzuflüsse oftmals ein Vielfaches<br />
des aktuellen Vermögens der Kaufobjekte<br />
betragen“. Wachstum, so Thormann,<br />
finde „bei einigen Unternehmen<br />
nicht mehr vorrangig organisch statt, sondern<br />
durch regelmäßige Unternehmenskäufe“.<br />
Ein Motiv könnte sein, dass der Jahresgewinn<br />
der Unternehmen „nicht durch<br />
planmäßige Abschreibungen des Goodwill<br />
belastet wird“. Ein harscher Vorwurf: Statt<br />
mühevoll und (zunächst) zulasten des<br />
Viel Kies HeidelbergCement zahlte für<br />
Konkurrent Hanson massiven Aufschlag<br />
Gewinns ihr Unternehmen weiterzuentwickeln,<br />
wird wegen laxer Bilanzvorschriften<br />
auf Teufel komm raus akquiriert. Zudem, so<br />
der Verdacht, rechnen Unternehmen das<br />
Vermögen ihrer neuen Töchter absichtlich<br />
klein, und den Goodwill hoch. Grund:<br />
Lizenzen, Patente oder Gebäude müssen<br />
regelmäßig abgeschrieben werden; Goodwill<br />
eben nicht. „Dort gibt es eben nur<br />
butterweiche Bewertungsparameter“, sagt<br />
Leibfried von der Uni St. Gallen.<br />
Deshalb ziehen viele Unternehmen ihre<br />
einst gezahlten Übernahmeprämien durch<br />
die Bilanz, komme was wolle. Beispiel Fre-<br />
»Für den<br />
Goodwill gibt es<br />
nur butterweiche<br />
Bewertungsparameter«<br />
Peter Leibfried,<br />
Uni St. Gallen<br />
SORGLOSE ZUKÄUFE<br />
Kein großes Interesse an Abschreibungen<br />
zeigt auch ein anderer Konzern, der viele<br />
Geschäfte mit Krankheiten betreibt. Der<br />
Bayer-Konzern hatte 2006 den Konkurrenten<br />
Schering für rund 17 Milliarden Euro<br />
übernommen. Effekt: Die Firmenwerte<br />
sprangen im selben Jahr von 2,6 auf 8,2 Milliarden<br />
Euro. Abwertung seither: null Euro.<br />
Grund: Jahr für Jahr „erachtet“ der Bayer-<br />
Vorstand die „vorgenommenen Schätzungen“<br />
für „angemessen“, wie es im Geschäftsbericht<br />
2013 zu den Firmenwerten heißt.<br />
Und die Aufsichtsräte nicken diese Schätzungen<br />
munter ab. Wer über Jahre nach<br />
Übernahmen kein Haar in der Suppe findet,<br />
der kleckert nicht. Obwohl der Bayer-Goodwill<br />
schon zuletzt bei knapp zehn Milliarden<br />
Euro oder annähernd 50 Prozent des<br />
Eigenkapitals lag, trauen sich die Leverkusener,<br />
noch eins draufzupacken. Zumindest<br />
ist es äußerst unwahrscheinlich, dass Bayer<br />
nach seiner jüngst annoncierten Übernahme<br />
des Geschäfts mit rezeptfreien Medikamenten<br />
von der amerikanischen Merck &<br />
Co. über 14,2 Milliarden Dollar nicht erneut<br />
Milliarden an Goodwill kreiert. Für Produkte<br />
etwa zur Fußpflege zahlt Bayer einen<br />
frappierend hohen Preis: gleich das<br />
21-Fache des Gewinns vor Steuern, Zinsen,<br />
Abschreibungen und Amortisation<br />
(Ebitda). Schon Preise um das Zehnfache<br />
Ebitda gelten gemeinhin als teuer. Je höher<br />
der Preis, gemessen am Gewinn des Kaufobjektes,<br />
desto höher der Goodwill, so ist<br />
es meist die Regel.<br />
Bayer ist nicht allein. 2006 schaufelte<br />
BASF rund 50 Prozent des Kaufpreises von<br />
3,8 Milliarden Euro nach dem Kauf des Katalysatorenherstellers<br />
Engelhard als Goodwill<br />
in die Bilanz. Continental packte ein<br />
Jahr später knapp sechs Milliarden Euro<br />
»<br />
FOTOS: BLOOMBERG NEWS/CHRIS RATCLIFFE, GETTY IMAGES/FLICKR RF<br />
110 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Geld&Börse<br />
Stille Lasten<br />
Viele Dax-Unternehmen ziehen seit Jahren Übernahmeprämien durch die Bilanz<br />
und schreiben diese kaum noch ab<br />
Unternehmen<br />
Adidas<br />
Allianz<br />
BASF<br />
BMW<br />
Bayer<br />
Beiersdorf<br />
Commerzbank<br />
Continental<br />
Daimler<br />
Deutsche Bank<br />
Deutsche Börse<br />
Deutsche Post<br />
Deutsche Telekom<br />
E.On<br />
Fresenius<br />
Fresenius Med. Care<br />
HeidelbergCement<br />
Henkel<br />
Infineon<br />
K + S<br />
Lanxess<br />
Linde<br />
Lufthansa<br />
Merck<br />
Münchener Rück<br />
RWE<br />
SAP<br />
Siemens<br />
ThyssenKrupp<br />
Volkswagen<br />
bilanzierte<br />
Übernahmeprämien<br />
(Goodwill)<br />
in Millionen<br />
Euro (2013)<br />
1204<br />
11 544<br />
6 872<br />
369<br />
9 862<br />
63<br />
2080<br />
5 521<br />
681<br />
9 074<br />
2043<br />
10 667<br />
14 562<br />
12 797<br />
14 826<br />
8 453<br />
10 055<br />
6 353<br />
21<br />
606<br />
147<br />
10 395<br />
616<br />
4 583<br />
3292<br />
11 374<br />
13 688<br />
17 883<br />
3 493<br />
23 730<br />
Goodwill<br />
in Prozent<br />
des Eigenkapitals<br />
per Ende<br />
2013<br />
22,0<br />
21,8<br />
24,7<br />
1,0<br />
47,4<br />
1,9<br />
7,7<br />
59,2<br />
1,6<br />
16,5<br />
62,5<br />
106,2<br />
45,4<br />
35,2<br />
111,8<br />
122,9<br />
79,9<br />
66,8<br />
0,6<br />
17, 8<br />
7,7<br />
76,5<br />
10,1<br />
41,4<br />
12,6<br />
93,7<br />
85,3<br />
63,6<br />
139,1<br />
26,4<br />
1 seit Dax-Aufnahme 2012; 2 2003 und 2004; Quelle: Universität St. Gallen, Institut für Accounting, Controlling<br />
und Auditing; eigene Berechnungen; Zahlen gerundet<br />
Der Goodwill gehört zu den sehr wenigen<br />
Vermögenspositionen in der Bilanz, die<br />
Unternehmen nicht für sich genommen<br />
veräußern können – im Gegensatz etwa<br />
zu einer Maschine oder einer Lizenz. Der<br />
Wert dieses Postens entsteht wie folgt:<br />
Erwirbt ein Unternehmen eine neue Tochter,<br />
ist das Management verpflichtet, das<br />
gekaufte Vermögen buchhalterisch in<br />
Einzelteile zu zerlegen. Fällt der Kaufpreis<br />
für die neue Tochter höher aus als das<br />
Abschreibung heute<br />
durchschnittliche<br />
jährliche<br />
Abschreibung<br />
2005–2013<br />
in Millionen<br />
Euro<br />
35<br />
98<br />
57<br />
0<br />
0<br />
24<br />
79<br />
293<br />
3<br />
234<br />
1<br />
117<br />
1328<br />
556<br />
0<br />
0<br />
120<br />
6<br />
3<br />
0<br />
6 1<br />
0<br />
33<br />
7<br />
68<br />
247<br />
0<br />
224<br />
62<br />
1<br />
Durchschnitt<br />
2005–2013:<br />
Abschreibung<br />
relativ zum<br />
durchschnittlich<br />
bilanzierten<br />
Goodwill (Prozent)<br />
2,7<br />
0,8<br />
1,1<br />
0,0<br />
0,0<br />
23,6<br />
5,0<br />
5,9<br />
0,4<br />
2,8<br />
0,1<br />
1,1<br />
7,1<br />
3,7<br />
0,0<br />
0,0<br />
1,4<br />
0,1<br />
2,8<br />
0,0<br />
3,4 1<br />
0,0<br />
5,5<br />
0,2<br />
2,0<br />
2,0<br />
0,0<br />
1,6<br />
1,7<br />
0,0<br />
Abschreibung früher<br />
durchschnittliche<br />
jährliche<br />
Abschreibung<br />
2000–2004<br />
in Millionen<br />
Euro<br />
43<br />
964<br />
227<br />
kein Goodwill<br />
197<br />
8<br />
191<br />
48<br />
101<br />
360<br />
43<br />
291<br />
4603<br />
674<br />
0<br />
65<br />
200<br />
265<br />
35<br />
1<br />
50 2<br />
124<br />
321<br />
121<br />
355<br />
518<br />
19<br />
571<br />
158<br />
106<br />
Durchschnitt<br />
2000–2004:<br />
Abschreibung<br />
relativ zum<br />
durchschnittlich<br />
bilanzierten<br />
Goodwill (Prozent)<br />
7,2<br />
8,5<br />
9,7<br />
kein Goodwill<br />
11,7<br />
40,2<br />
19,0<br />
3,3<br />
3,9<br />
4,3<br />
5,9<br />
11,1<br />
15,2<br />
8,0<br />
0,0<br />
2,9<br />
8,3<br />
12,8<br />
16,1<br />
26,8<br />
33,7 2<br />
4,0<br />
37,6<br />
7,3<br />
9,6<br />
6,0<br />
15,4<br />
9,5<br />
4,2<br />
27,7<br />
neu bewertete Vermögen, wird diese<br />
Übernahmeprämie als Goodwill in die<br />
Bilanz gebucht. Seit zehn Jahren wird in<br />
einem komplexen Verfahren geprüft, ob der<br />
Goodwill noch werthaltig ist. Seither fallen<br />
neu erworbene Töchter nur noch auffällig<br />
selten durch. Deshalb fordern Experten,<br />
den Goodwill wieder wie bis 2004 regelmäßig<br />
abzuschreiben. Das würde das<br />
Eigenkapital vieler Unternehmen enorm<br />
belasten – teilweise wäre es ganz futsch.<br />
»<br />
Goodwill in die Bilanz, nachdem die<br />
Niedersachsen Siemens die Tochter VDO<br />
Automotive für elf Milliarden Euro abgekauft<br />
hatten. HeidelbergCement ermittelte<br />
gleich 8,9 Milliarden Euro als Übernahmeprämie<br />
auf das Vermögen des Konkurrenten<br />
Hanson; bezahlt hatte Heidelberg-<br />
Cement mit zwölf Milliarden Euro kaum<br />
mehr. Sellhorn von der Uni München stellte<br />
für 18 Dax-Transaktionen im Jahr 2012<br />
fest, dass fast die Hälfte aller gezahlten<br />
Kaufpreise für neue Töchter als Goodwill in<br />
der Bilanz auftauchte. Nicht einmal ein<br />
Drittel der Kaufpreise war wirklich „hartes<br />
Vermögen“, so Sellhorn.<br />
Sorglosigkeit signalisiert nicht nur der<br />
hohe Kaufpreis, den Bayer bereit ist, zu<br />
zahlen. Im ersten Halbjahr 2014 kündigten<br />
Unternehmen nach Daten von Thomson<br />
Reuters Fusionen über fast 1800 Milliarden<br />
Dollar an – knapp drei Viertel mehr als vor<br />
Jahresfrist. Das ist das höchste Volumen<br />
seit dem ersten Halbjahr 2007, kurz bevor<br />
der Finanzcrash begann. Ein Großteil der<br />
damaligen Übernahmen hatten den Goodwill<br />
weiter aufgepumpt, so wird es auch<br />
diesmal sein. Dafür sprechen die enormen<br />
einzelnen Summen, die annonciert sind.<br />
Der US-Telekomkonzern AT&T will den<br />
Satellitenfernseh-Betreiber DirecTV inklusive<br />
Schulden für 67 Milliarden Dollar kaufen;<br />
der Medienriesen Comcast will sich<br />
den Kabelanbieter Time Warner Cable für<br />
45 Milliarden Dollar einverleiben; das<br />
Überwachungsnetzwerk Facebook hat den<br />
Kurzmitteilungsanbieter WhatsApp für<br />
rund 19 Milliarden Dollar erworben. Auch<br />
das in Deutschland per Ende Juli annoncierte<br />
Übernahmevolumen liegt mit knapp<br />
64 Milliarden Dollar auf dem höchsten<br />
Stand seit sechs Jahren.<br />
KURS PASST SICH NACH UNTEN AN<br />
Anleger dürften über kurz oder lang vor allem<br />
bei Unternehmen bluten, bei denen der<br />
Goodwill einen hohen Anteil am Eigenkapital<br />
ausmacht oder absolut betrachtet sehr<br />
hoch ist (siehe Tabelle links). Denn wenn<br />
das Eigenkapital über Gebühr belastet wird,<br />
drohen Kapitalerhöhungen. Die Konzerngewinne<br />
verteilen sich dann auf mehr Aktien,<br />
das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) steigt<br />
entweder, oder der Kurs passt sich nach unten<br />
an. Die KGVs steigen auch kräftig in die<br />
Höhe, wenn Anleger regelmäßige Abschreibungen<br />
auf den Goodwill unterstellen.<br />
In den vergangenen beiden Jahren, in einer<br />
Phase guter Konjunktur also, verdienten<br />
die 30 Dax-Unternehmen zusammen<br />
jeweils gut 60 Milliarden Euro. Sollten<br />
»<br />
112 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Geld&Börse<br />
Die meisten deutlich teurer<br />
Wie hoch die Kurs-Gewinn-Verhältnisse der Dax-Aktien stiegen, wenn Goodwill wieder<br />
ordentlich abgeschrieben würde 1<br />
Aktie<br />
Adidas<br />
Allianz<br />
BASF<br />
Bayer<br />
Beiersdorf<br />
BMW<br />
Commerzbank<br />
Continental<br />
Daimler<br />
Deutsche Bank<br />
Deutsche Börse<br />
Deutsche Post<br />
Deutsche Telekom<br />
E.On<br />
Fresenius<br />
Fresenius Medical Care<br />
HeidelbergCement<br />
Henkel Vz.<br />
Infineon<br />
K+S<br />
Lanxess<br />
Linde<br />
Lufthansa<br />
Merck<br />
Münchener Rück<br />
RWE<br />
SAP<br />
Siemens<br />
ThyssenKrupp<br />
Volkswagen Vz.<br />
Börsenwert<br />
(in Millionen<br />
Euro)<br />
12212<br />
60440<br />
72936<br />
86292<br />
17438<br />
57699<br />
13531<br />
32911<br />
67271<br />
36812<br />
10767<br />
30423<br />
52862<br />
28384<br />
20358<br />
16786<br />
10845<br />
33723<br />
10216<br />
4624<br />
4308<br />
28287<br />
6245<br />
29204<br />
26832<br />
18650<br />
72113<br />
85598<br />
12088<br />
82547<br />
geschätzter<br />
Nettogewinn<br />
2014<br />
(in Millionen<br />
Euro)<br />
698<br />
6162<br />
5024<br />
3940<br />
566<br />
5883<br />
595<br />
2508<br />
7079<br />
1734<br />
694<br />
2087<br />
2541<br />
1619<br />
1063<br />
813<br />
747<br />
1793<br />
492<br />
307<br />
134<br />
1385<br />
500<br />
1325<br />
3061<br />
1727<br />
3364<br />
5316<br />
350<br />
10528<br />
geschätztes<br />
Kurs-Gewinn-<br />
Verhältnis<br />
2014<br />
1 lineare Goodwill-Abschreibung über zehn Jahre unterstellt; Quelle: Bloomberg, eigene Berechnungen; Stand: 3.9.2014<br />
17,5<br />
9,8<br />
14,5<br />
21,9<br />
30,8<br />
9,8<br />
22,7<br />
13,1<br />
9,5<br />
21,2<br />
15,5<br />
14,6<br />
20,8<br />
17,5<br />
19,2<br />
20,6<br />
14,5<br />
18,8<br />
20,8<br />
15,1<br />
32,2<br />
20,4<br />
12,5<br />
22,0<br />
8,8<br />
10,8<br />
21,4<br />
16,1<br />
34,5<br />
7,8<br />
um Goodwill-<br />
Abschreibungen<br />
bereinigter<br />
Nettogewinn<br />
(in Millionen Euro)<br />
578<br />
5008<br />
4337<br />
2954<br />
560<br />
5879<br />
387<br />
1956<br />
7011<br />
827<br />
490<br />
1020<br />
1085<br />
339<br />
Verlust<br />
Verlust<br />
Verlust<br />
1158<br />
490<br />
246<br />
119<br />
345<br />
438<br />
867<br />
2732<br />
590<br />
1995<br />
3528<br />
1<br />
8155<br />
bereinigtes<br />
Kurs-Gewinn-<br />
Verhältnis<br />
2014<br />
21,1<br />
12,1<br />
16,8<br />
29,2<br />
31,1<br />
9,8<br />
35,0<br />
16,8<br />
9,6<br />
44,5<br />
22,0<br />
29,8<br />
48,7<br />
83,7<br />
negativ<br />
negativ<br />
negativ<br />
29,1<br />
20,8<br />
18,8<br />
36,2<br />
82,0<br />
14,3<br />
33,7<br />
9,8<br />
31,6<br />
36,1<br />
24,3<br />
12 088,0<br />
10,1<br />
»Selbst für<br />
Experten sind<br />
Manipulationen<br />
›nicht zu<br />
erkennen‹«<br />
Thorsten Sellhorn,<br />
Uni München<br />
»<br />
auch in diesem und im kommenden<br />
Jahr die ausgewiesenen Gewinne stagnieren,<br />
wofür einiges spricht, dann würde eine<br />
regelmäßige Abwertung des Goodwill ein<br />
Drittel dieser Gewinne ausradieren. Etwa<br />
40 Milliarden Euro Jahresüberschuss im<br />
Dax würden bei einem derzeitigen Dax von<br />
aktuell 9650 Punkten ein KGV von 24 ergeben<br />
– enorm teuer. Um das – geschätzte –<br />
KGV, die Kernkennzahl für die Aktienbewertung,<br />
zu ermitteln, dividieren Investoren<br />
den aktuellen Börsenwert eines Unternehmens<br />
durch den letztjährigen oder den<br />
erwarteten Jahresüberschuss des Unternehmens.<br />
Bei Bayer, der Deutschen Bank<br />
oder E.On etwa ginge jeweils das KGV<br />
deutlich nach oben und könnte von Käufen<br />
der Aktie abschrecken. Ganz zu schweigen<br />
von Unternehmen wie FMC oder HeidelbergCement<br />
die plötzlich rote Zahlen<br />
schreiben würden (siehe Tabelle).<br />
AKTIENPRÄMIEN STEIGEN<br />
Neben dem KGV spielt das Kurs-Buch-Verhältnis<br />
(KBV) die zweite wichtige Geige bei<br />
der Fundamentalanalyse der Märkte.<br />
Dieser Buchwert ist der rechnerische Vermögensanteil<br />
des Aktionärs an seinem Unternehmen.<br />
Aktuell gestehen Investoren<br />
allen Dax-Unternehmen im Durchschnitt<br />
schon eine 70-prozentige Prämie auf den<br />
Vermögenswert zu. Das Kurs-Buchwert-<br />
Verhältnis liegt deshalb bei 1,7. Eine Komplettabwertung<br />
des Goodwill ließe das<br />
KBV um zwei Drittel auf den enormen Faktor<br />
von 2,8 steigen. Solche Prämien gestehen<br />
Anleger bestenfalls stark wachsenden<br />
Technologieunternehmen zu, aber nicht<br />
den vielen trägen Dax-Konzernen. „Diese<br />
erhebliche Veränderungen, so hat man<br />
den Eindruck, haben viele Investoren nicht<br />
auf dem Radar“, sagt Leibfried.<br />
Weil bis auf wenige Ausnahmen Vermögensverwalter<br />
und Fondsmanager in erster<br />
Linie schematisch Zahlen durchforsten,<br />
ohne deren Qualität zu prüfen, oder,<br />
schlimmer noch, Computer-Programme<br />
über Aktienkäufe entscheiden lassen, ist es<br />
für Vorstände ein Leichtes, Anleger über<br />
den Impairment Test zu täuschen, um so<br />
höhere Gewinne und ein höheres Eigenkapital<br />
auszuweisen. Fehlerhafte Bilanzierung<br />
erfasst keines der von Großinvestoren<br />
eingesetzten Terminals und schon gar<br />
nicht irgendein Algorithmus.<br />
Denn viele Unternehmen greifen in die<br />
Trickkiste, sobald eine Einheit Abschreibungsbedarf<br />
hat. Ein Weg ist, den Zeitraum,<br />
der die Basis für die im Test verwendeten<br />
Planzahlen bildet, zu strecken. Gasehersteller<br />
Linde etwa verschob im<br />
schwierigen Jahr 2009 den Planungszeitraum<br />
einfach um ein Jahr auf 2014. Beliebt<br />
ist auch der Dreh, schwach laufende Geschäfte<br />
in der einen Einheit mit gut laufenden<br />
in einer anderen neu zusammenzufassen:<br />
In diesem Jahr böte sich an,<br />
schlechtere Verkäufe in Russland mit dem<br />
besser laufenden Geschäft in der Türkei<br />
oder das mies laufende Rüstungs- mit<br />
dem besseren Automotivegeschäft zu verknüpfen.<br />
So änderte beispielsweise die<br />
114 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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FOTOS: GETTY IMAGES/FLICKR RF, CORBIS/SCIENCE FACTION/PETER GINTER<br />
Deutsche Telekom im Jahr 2012 die Zuordnung<br />
ihrer Geschäftseinheiten. Ob damit<br />
eine noch höhere Goodwill-Abschreibung<br />
vermieden werden sollte, ist jedoch<br />
selbst für Fachleute wie Sellhorn „nicht zu<br />
erkennen“. „Keine Chance“, deshalb Manipulationen<br />
zu enttarnen, sieht auch Bilanzexperte<br />
Brösel. „Ganz generell ist eine<br />
Änderung der Strukturen bei den Geschäftseinheiten“<br />
aber ein Grund, „genau<br />
hinzuschauen“, sagt DPR-Vizepräsidentin<br />
Thormann.<br />
Getäuscht würden damit nicht nur Aktionäre,<br />
sondern auch Gläubiger. So können<br />
Abschreibungen auf den Goodwill dazu<br />
führen, dass Unternehmen Vereinbarungen<br />
brechen, die sie Kreditgebern oder<br />
Eigentümern von Anleihen gegeben haben.<br />
Beim Stahlzulieferer SKW Stahl-Metallurgie<br />
etwa fiel vor Monatsfrist nicht nur<br />
der Aktienkurs binnen eines Tages um<br />
gleich 60 Prozent. Impairment Tests zum<br />
30. Juni 2014 hatten „außerordentliche<br />
Wertberichtigungen in voraussichtlicher<br />
Höhe von 84 Millionen Euro“ ergeben, was<br />
auch einen Bruch von Kreditbedingungen<br />
mit Banken auslöste; die Geldinstitute<br />
stellten dem bayrischen Unternehmen<br />
trotz eigentlich nicht mehr haltbarer Finanzkennzahlen<br />
die Darlehen aber noch<br />
nicht fällig, sondern gewährten eine Gnadenfrist<br />
bis zum 30. September.<br />
ANALYSTEN REAGIEREN ZU SPÄT<br />
Eine Gnadenfrist könnte auch bei jenen<br />
Vorständen beginnen, die mit jeder Abschreibung<br />
einräumen müssen, Aktionärsvermögen<br />
verschleudert zu haben. „Eine<br />
Goodwill-Abschreibung birgt immer auch<br />
die Gefahr eines Reputationsverlustes für<br />
das Unternehmen und das Management“,<br />
so Sellhorn, „daher wird oft versucht, sie<br />
dem Kapitalmarkt als Neuanfang zu<br />
verkaufen und den Eindruck einer gescheiterten<br />
Akquisition zu vermeiden.“<br />
Wenn hohe Abschreibungen nicht mehr<br />
aufgeschoben werden können, weil etwa<br />
selbst den meist gefügigen oder wenig<br />
kenntnisreichen Aufsichtsräten langsam<br />
mulmig wird, dann wird es für Anleger oft<br />
bitter. So rutschte im vergangenen Dezember<br />
der Kurs der Peugeot-Aktie um zehn<br />
Prozent, als der französische Autokonzern<br />
eine Goodwill-Abschreibung über 1,1 Milliarden<br />
Euro meldete. Zu spät reagieren<br />
dann oft auch Analysten. Erst als Reaktion<br />
auf die Abwertung stufte etwa Standard &<br />
Poor’s (S&P) die Aktie auf verkaufen. Das<br />
Schuldenrating setzte S&P nur kurze Zeit<br />
später in die schwache Kategorie B+.<br />
Drehende Pillen Einkaufstour von Bayer<br />
könnte wackeliges Vermögen erhöhen<br />
Mächtig Gegenwind droht auch bei der<br />
französischen Société Générale. Trotz des<br />
Kriegs in der Ukraine setzt die französische<br />
Großbank weiter auf Russland. Bank-Chef<br />
Frédéric Oudéa bekräftigte dieses Jahr das<br />
langfristige Engagement seines Hauses in<br />
Russland, obwohl er im ersten Quartal seinen<br />
Aktionären bereits eine Goodwill-Abschreibung<br />
in Höhe von 525 Millionen Euro<br />
auf das dortige Geschäft bescherte.<br />
Im Dax erwischte es zuletzt RWE, die in<br />
ihrer Jahresbilanz 1,4 Milliarden Euro an<br />
Goodwill abwertete. Aus der zweiten Reihe<br />
räumte beispielsweise der Pharmahändler<br />
Celesio Anfang Juli bei Firmenwerten auf,<br />
die aus Zukäufen in Brasilien stammten.<br />
Die Aktie des Nürnberger Marktforschers<br />
Billiger als vor 14 Jahren<br />
An der Börse werden die Dax-Unternehmen<br />
niedriger bewertet als zur Jahrtausendwende<br />
(Dax-Kursindex in Punkten)<br />
6000<br />
5000<br />
4000<br />
3000<br />
2000<br />
00 02 04 06 08 10 12 14<br />
Quelle: Bloomberg<br />
GfK steht seit vergangenem Dezember unter<br />
Druck, nachdem der Konzern für 2013<br />
wegen unerwarteter Firmenwertabschreibungen<br />
erstmals seit seinem Börsengang<br />
1999 einen Verlust angekündigt hatte.<br />
Beim Berliner Entsorger Alba stürzte 2013<br />
nach Firmenwertabschreibungen ebenfalls<br />
das Ergebnis. Vor Steuern rutschten<br />
die Berliner mit 67 Millionen Euro in die<br />
Miesen. Mit solchen kleinen Zahlen gibt<br />
sich naturgemäß die Bankenbranche nicht<br />
ab. Innerhalb von fünf Jahren wertete etwa<br />
die italienische UniCredit unter anderem<br />
auf den Goodwill 75 Milliarden Euro ab.<br />
TEST IM DRITTEN QUARTAL<br />
Extrem ist das Beispiel Banesto. Die spanische<br />
Großbank hatte, wie die DPR feststellte,<br />
in ihrer Bilanz unter der Verwendung eines<br />
eigenen Modells für ihre Anteile an der<br />
Immobiliengesellschaft Metrovacesa einen<br />
Wert von 24,40 Euro je Aktie ermittelt,<br />
obwohl der relevante Börsenkurs bei nur<br />
5,59 Euro lag, also drei Viertel niedriger.<br />
Ein solches Extrem hat die DPR bei einem<br />
Dax-Unternehmen noch nicht festgestellt.<br />
Der Druck, Goodwill endlich auch<br />
mal abzuschreiben, wird aber immer größer.<br />
So würde es nicht verwundern, wenn<br />
Unternehmen Aktionären noch bis zum<br />
Jahresende so manche böse Überraschung<br />
bescherten. Denn erst im laufenden dritten<br />
und kommenden vierten Quartal steht<br />
bei den meisten turnusmäßig der Goodwill<br />
auf dem Prüfstand. Einige Milliarden davon<br />
vielleicht schon zum letzten Mal. n<br />
christof.schuermann@wiwo.de<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 115<br />
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Geld&Börse | Steuern und Recht<br />
STREAMING<br />
Kostenlos, aber rechtswidrig<br />
Das bloße Anschauen von Medien im Internet kann nach wie vor illegal sein.<br />
Im Juni dieses Jahres entschied der Europäische<br />
Gerichtshof, dass das bloße Anschauen von Medieninhalten<br />
im Internet (Streaming) Urheberrechte<br />
nicht verletzt (C-360/13). „Das Urteil ist<br />
allerdings kein Freibrief für Streaming über illegale<br />
Internet-Plattformen“, sagt Ralph Oliver<br />
Graef, Hamburger Fachanwalt für Medienrecht.<br />
Soweit für die Nutzer erkennbar sei, dass es sich<br />
bei der Quelle im Internet um eine illegale Plattform<br />
handele, die rechtswidrig Medien zum<br />
Streaming bereitstelle, verletzten sie Urheberrechte.<br />
Wenn eine illegale Plattform beispielsweise<br />
Spielfilme ins Netz stelle, die zu dem Zeitpunkt<br />
legal nur im Kino liefen, dann könne sich<br />
der Nutzer nicht damit herausreden, er habe<br />
nicht gewusst, dass er etwas Verbotenes tue.<br />
RECHT EINFACH | Fitnessstudio<br />
Sportstudios haben Konjunktur.<br />
Was ist jedoch, wenn ein Kunde<br />
krankheitsbedingt ausfällt? Oft<br />
entscheiden die Gerichte.<br />
§<br />
Attest. Ein Mann schloss<br />
bei einem Fitnessstudio einen<br />
langfristigen Vertrag<br />
ab. Nach einiger Zeit diagnostizierte<br />
sein Arzt, dass er nicht<br />
mehr länger Kraftsport betreiben<br />
dürfe. Der Ex-Sportler wollte nun<br />
den Fitness-Vertrag mit sofortiger<br />
Wirkung kündigen. Der Betreiber<br />
des Clubs legte sich quer: Laut<br />
Vertrag müsse die Erkrankung „genau<br />
und nachvollziehbar“ offengelegt<br />
werden. Der Kunde zog vor<br />
Gericht – und gewann. Nach Meinung<br />
der Juristen reiche es für eine<br />
außerordentliche Kündigung aus,<br />
dass ein Arzt die Sportunfähigkeit<br />
bestätige (Bundesgerichtshof, XII<br />
ZR 42/10).<br />
Platzangst. Ein Freiburger trainierte<br />
mehrere Jahre in einem Sportclub.<br />
Plötzlich entwickelte er klaustrophobische<br />
Symptome. In engen,<br />
voll gestellten Räumen wie in dem<br />
Gleiches gelte für ein Live-Spiel der Fußballbundesliga,<br />
das ausschließlich kostenpflichtig<br />
im Pay-TV übertragen werde. Wer beim illegalen<br />
Streaming erwischt werde, müsse mit einer Abmahnung<br />
und Schadensersatzforderungen<br />
rechnen, so Graef. Als Schadensersatz kommen<br />
fiktive Lizenzgebühren sowie Anwaltskosten des<br />
Inhabers der Urheberrechte infrage. Die fiktiven<br />
Lizenzgebühren entsprechen dem, was der Nutzer<br />
hätte zahlen müssen, wenn er sich beispielsweise<br />
einen Film legal angeschaut hätte. Zwar ist<br />
ein Abmahnverfahren bei einmaligem Streaming<br />
wegen des geringen Schadens unwirtschaftlich,<br />
die Musik- und Filmindustrie könnte<br />
jedoch bei Mehrfachtätern einschreiten, um<br />
Nachahmer abzuschrecken.<br />
Fitnesscenter hielt er es nicht mehr<br />
aus. Der Betreiber lehnte eine<br />
Kündigung wegen „psychischer<br />
Erkrankung“ ab. Das sah der zuständige<br />
Richter anders. Seelische<br />
Probleme könnten sehr wohl ein<br />
Grund für eine sofortige Vertragsauflösung<br />
sein (Amtsgericht Freiburg,<br />
55 C 3255/08).<br />
FALSCHBERATUNG<br />
Mahnung war<br />
rechtzeitig<br />
Ein Ehepaar kaufte im April<br />
2007 bei einer Bank 600 Bonuszertifikate<br />
auf den Index Euro<br />
Stoxx 50. Später wurden sie mit<br />
Verlust verkauft. 2009 verlangten<br />
die Anleger Schadensersatz<br />
von der Bank, weil sie sie falsch<br />
beraten habe. Weil dies nicht<br />
fruchtete, beantragten die<br />
Anleger am 7. Juni 2010 einen<br />
Mahnbescheid gegen die Bank<br />
in Höhe von 30 738 Euro. Am 14.<br />
Juni ging der Mahnbescheid bei<br />
der Bank ein. Das Oberlandesgericht<br />
Frankfurt wies die<br />
Ansprüche der Anleger auf<br />
Schadensersatz zurück, weil sie<br />
bereits am 6. Juni 2010 verjährt<br />
gewesen seien. Mehr Glück hatten<br />
die Anleger beim Bundesgerichtshof<br />
(XI ZR 172/13). Der 6.<br />
Juni 2010 sei ein Sonntag, also<br />
kein Arbeitstag gewesen, daher<br />
könne die Verjährung erst am<br />
darauf folgenden Montag, 7. Juni,<br />
eingetreten sein, so die Richter.<br />
Da aber der Anleger just an<br />
diesem Tag seinen Mahnbescheid<br />
eingereicht habe, wurde<br />
die Verjährung noch rechtzeitig<br />
gehemmt. Demnach könnte<br />
nach wie vor ein Anspruch auf<br />
Schadensersatz bestehen. Nun<br />
muss erneut das OLG Frankfurt<br />
entscheiden, auch um den<br />
Grund festzustellen, warum die<br />
Bank gegebenenfalls haften<br />
muss.<br />
Kaputte Gelenke. Ein junger<br />
Münchner unterschrieb einen<br />
24-Monats-Vertrag in einem Fitnessstudio,<br />
obwohl er wusste,<br />
dass er lädierte Gelenke hatte.<br />
Schon kurz nach Trainingsbeginn<br />
bekam er heftige Schmerzen. Vorzeitig<br />
kündigen durfte er jedoch<br />
nicht. Da der Kunde schon vor<br />
Vertragsabschluss von seiner Erkrankung<br />
gewusst habe, sei ihm<br />
zuzumuten, den Vertrag bis zu<br />
dessen regulären Ende fortzusetzen,<br />
so die Richter (Amtsgericht<br />
München, 213 C 22567/11).<br />
FOTOS: CORBIS/CULTURA/STEVE PREZANT, GETTY IMAGES/JOHNER IMAGES, PR<br />
116 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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EIGENTÜMERGEMEINSCHAFT<br />
Terrassenbau im Alleingang nicht erlaubt<br />
Eigentümergemeinschaften in<br />
Wohnanlagen streiten sich häufig.<br />
Meist geht es dabei um bauliche<br />
Veränderungen. Zwar<br />
regeln Verträge und die Beschlüsse<br />
der Eigentümerversammlung,<br />
was erlaubt ist und<br />
was nicht, aber nicht jeder ist<br />
gewillt, sich an die Regeln zu<br />
halten. Ein Eigentümer einer<br />
Wohnanlage in Nordrhein-<br />
Westfalen wollte vor seiner Eigentumswohnung<br />
im Erdgeschoss<br />
eine Terrasse bauen.<br />
Seine Nachbarn waren dagegen.<br />
Dennoch ließ der Eigentümer<br />
2005 ein Betonfundament<br />
für die Terrasse gießen. Fertig<br />
gebaut wurde sie jedoch nicht.<br />
2009 beschlossen die übrigen<br />
Eigentümer auf einer Versammlung,<br />
dass das Fundament zu<br />
entfernen sei. Die Kosten habe<br />
der Bauherr zu tragen. Ferner<br />
verlangten die Eigentümer, dass<br />
die Verwalterin den Abriss<br />
schriftlich einfordern sollte. Der<br />
Terrassenbauherr weigerte sich<br />
jedoch, das Fundament zu entfernen,<br />
schließlich seien die gesetzlichen<br />
Ansprüche bereits<br />
2008 verjährt. Bereits 2005 habe<br />
die Verwalterin von seinem<br />
Bauvorhaben gewusst, dieses<br />
Wissen müssten sich die anderen<br />
Eigentümer zurechnen lassen.<br />
Der Bundesgerichtshof<br />
dagegen ließ diese Argumente<br />
MANAGER-BETRIEBSRENTE<br />
Keine Zahlung, keine Steuer<br />
Eine GmbH sagte ihrem neuen<br />
Geschäftsführer eine Betriebsrente<br />
zu. Zu diesem Zeitpunkt<br />
war der Manager 58 Jahre alt.<br />
Die Führungskraft sollte erst<br />
nach zehn Jahren Betriebszugehörigkeit<br />
diese Rente ausbezahlt<br />
bekommen, dann wäre er<br />
68 Jahre alt gewesen. Stattdessen<br />
verließ er bereits nach fünf<br />
Jahren mit 63 das Unternehmen<br />
und ging leer aus. Die Rückstellungen<br />
für die Betriebsrente des<br />
Geschäftsführers setzte die<br />
GmbH in der Steuererklärung<br />
SCHNELLGERICHT<br />
50 000 EURO WEGEN ÄRZTEPFUSCH<br />
§<br />
Eine Frau wurde 2005 an der linken Schulter operiert.<br />
Seit dem Eingriff kann sie den linken Arm<br />
nicht mehr bewegen. Ein Sachverständiger stellte<br />
fest, dass die Operation grob fehlerhaft durchgeführt<br />
wurde. Das Oberlandesgericht Hamm sprach dem<br />
Opfer des Ärztepfuschs 50 000 Euro Schmerzensgeld<br />
zu (26 U 4/13).<br />
gewinnmindernd an. Das Finanzamt<br />
lehnte dies ab.<br />
Schließlich seien die Rückstellungen<br />
für die nicht gezahlte<br />
Betriebsrente eine verdeckte<br />
Gewinnausschüttung und damit<br />
steuerpflichtig. Das Unternehmen<br />
klagte gegen den Steuerbescheid<br />
– ohne Erfolg. Der<br />
Bundesfinanzhof entschied,<br />
dass sich Rückstellungen nur<br />
dann gewinnmindernd ansetzen<br />
ließen, wenn tatsächlich ein<br />
Anspruch auf Betriebsrente bestehe<br />
(I R 76/13).<br />
nicht gelten (V ZR 183/13). So<br />
müssten sich die Eigentümer<br />
nicht das Wissen der Verwalterin<br />
zurechnen lassen, weil sie<br />
die mit der Beseitigung der Terrasse<br />
verbundenen Rechte<br />
nicht auf die Verwalterin übertragen<br />
hätten. Weil sie diese<br />
Rechte nicht übertragen hätten,<br />
beginne die Verjährung nicht<br />
2005 als die Verwalterin <strong>vom</strong><br />
Bau des Fundaments wusste,<br />
sondern erst 2009 mit dem Beschluss<br />
der Eigentümerversammlung.<br />
Die Vorinstanz, das<br />
Landesgericht Dortmund, muss<br />
nun klären, ob alle Eigentümer<br />
bereits 2005 <strong>vom</strong> Bau der Terrasse<br />
wussten.<br />
EINKOMMENSTEUER<br />
Im Einzelfall<br />
weniger<br />
Steuerzahler können den Erwerbsaufwand<br />
<strong>vom</strong> Einkommen<br />
abziehen. Oberhalb von<br />
einer Million Euro Einkommen<br />
werden 40 Prozent der positiven<br />
Einkünfte besteuert,<br />
unabhängig davon, ob weitere<br />
Verluste noch nicht mit Einkommen<br />
verrechnet wurden<br />
(Mindestbesteuerung). Dieses<br />
Verfahren kann im Einzelfall<br />
verfassungswidrig sein<br />
(Bundesfinanzhof, I R 59/12).<br />
WEITERVERKAUF VON E-BOOKS UNTERSAGT<br />
§<br />
Wer E-Books, also elektronische Bücher, kauft,<br />
darf die Dateien nicht ohne Zustimmung des Verlages<br />
weiterverkaufen. Ein Urteil des Oberlandesgerichtes<br />
Hamm (22 U 60/13) ist rechtskräftig, weil die<br />
Klägerin, der Bundesverband der Verbraucherzentralen,<br />
seinen Einspruch gegen das OLG-Urteil beim<br />
Bundesgerichtshof (I-ZR 120/14) zurückgezogen hat.<br />
REISEPORTAL MUSS ALLE KOSTEN NENNEN<br />
§<br />
Der Internet-Reisevermittler Opodo darf seine<br />
Kunden nicht mit unseriösen Warnhinweisen vor<br />
hohen Stornokosten zum Abschluss von Reiseversicherungen<br />
drängen. Kunden, die keine Versicherungen<br />
wollten, müssten darauf ausdrücklich verzichten,<br />
wenn sie bei Opodo buchen und zusätzlich erklären,<br />
dass sie im Notfall alle Kosten selbst zahlen, bemängelte<br />
das Landgericht Berlin (15 O 413/13). Opodo<br />
müsse – anders als bisher – die Servicepauschale für<br />
bestimmte Zahlungsverfahren in die Flugpreise einberechnen,<br />
so die Richter.<br />
STEUER IM AUSLAND<br />
EUGEN STRAUB<br />
ist Partner bei<br />
KPMG in<br />
München und<br />
Chef des Bereiches<br />
Lohnsteuer<br />
Service.<br />
n Herr Straub, können<br />
Rentner, die dauerhaft ins<br />
Ausland ziehen, dem deutschen<br />
Fiskus entkommen?<br />
Wer wegzieht, bleibt mit seiner<br />
Rente in Deutschland<br />
steuerpflichtig. Eine Ausnahme<br />
gilt, wenn Deutschland ein<br />
Doppelbesteuerungsabkommen<br />
abgeschlossen hat, denn<br />
dann wird die Rente in der<br />
Regel im Ausland versteuert.<br />
Es kann aber sein, dass der<br />
deutsche Staat einen Teil der<br />
Rente besteuern darf. Das ist<br />
auch bei neueren Abkommen<br />
der Fall, etwa mit der Türkei.<br />
n Worauf sollten Bürger<br />
achten, die wegziehen?<br />
Deutsche, die im Ausland leben,<br />
müssen auf steuerliche<br />
Vergünstigungen wie den<br />
Grundfreibetrag von 8354 Euro<br />
verzichten. Außerdem kann<br />
man mit seinen gesamten<br />
Einkünften, also nicht nur der<br />
Rente, bis zu elf Jahre in<br />
Deutschland steuerpflichtig<br />
bleiben, wenn der Steuersatz<br />
im Ausland sehr niedrig ist.<br />
n Welches Land mit Abkommen<br />
hat günstige Steuern?<br />
Zypern besteuert Renten<br />
vergleichsweise niedrig.<br />
n Wie ist es mit der Erbschaftsteuer<br />
geregelt?<br />
Die Höhe der zu zahlenden<br />
Steuer orientiert sich am<br />
Wohnsitz von Erbe und Erblasser.<br />
Stirbt ein Deutscher in<br />
Österreich, erhebt das Land<br />
die Steuer nicht, Deutsche<br />
müssen aber fünf Jahre dort<br />
wohnen, um in den Genuss des<br />
Vorteils zu kommen. Wohnt der<br />
Deutsche kürzer in Österreich,<br />
müssen die Erben in Deutschland<br />
Steuern zahlen.<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 Redaktion: martin.gerth@wiwo.de, annina reimann | Frankfurt, heike schwerdtfeger | Frankfurt<br />
117<br />
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Geld&Börse | Geldwoche<br />
KOMMENTAR | Staaten verspielen<br />
ihr Vertrauen beim Anleger. Aktien<br />
bleiben als Sachwerte alternativlos.<br />
Von Martin Gerth<br />
Cristinas Tricks<br />
Heiße Quelle Ölförderung aus<br />
Schiefergestein in Wyoming<br />
Krise? Welche Krise?<br />
Argentiniens Aktienmarkt<br />
brummt. Plus<br />
53 Prozent für den<br />
Aktienindex Merval in diesem<br />
Jahr – in Dollar gerechnet.<br />
Argentiniens Anleger haben<br />
mehr Vertrauen in heimische<br />
Unternehmen als in die abgewirtschaftete<br />
Regierung von<br />
Cristina Fernández de Kirchner<br />
(siehe auch Seite 120). Während<br />
ihnen Buenos Aires eine<br />
hohe Inflation und damit mehr<br />
wertloseres Papiergeld beschert,<br />
zahlen ihnen die Unternehmen<br />
Dividenden. Kursgewinne<br />
gibt es noch oben drauf.<br />
Der Run auf Aktien hat allerdings<br />
noch einen weiteren<br />
Grund. Anleger kaufen mit dem<br />
weichen Peso heimische Aktien<br />
und verkaufen sie gegen harte<br />
Dollar an internationalen Börsen.<br />
So umgehen sie die staatlichen<br />
Limits für Devisengeschäfte.<br />
Bei der letzten Staatspleite<br />
vor 13 Jahren haben vermögende<br />
Argentinier ihr Geld massenhaft<br />
in Dollar umgetauscht, was<br />
die heimische Währung noch<br />
weiter in den Keller trieb. Dieses<br />
Mal wollte die argentinische Regierung<br />
cleverer sein und regulierte<br />
den Dollar-Einkauf. Buenos<br />
Aires hat sich verrechnet,<br />
die Anleger haben einen anderen<br />
Weg gefunden, den ungeliebten<br />
Peso loszuwerden.<br />
Statt Reformen anzupacken,<br />
versucht Kirchner, sich mit allen<br />
Tricks vor Zahlungsverpflichtungen<br />
zu drücken. So will sie Argentiniens<br />
Schulden künftig<br />
über den Finanzplatz Buenos Aires<br />
abwickeln. Damit umgeht sie<br />
den Beschluss eines US-Gerichts,<br />
dass Zahlungen an Gläubiger<br />
nur erlaubt, wenn auch<br />
Forderungen von Hedgefonds,<br />
die argentinische Staatsanleihen<br />
halten, bedient werden.<br />
Auch wenn die International Capital<br />
Association (ICMA), ein<br />
Verband von Börsenhändlern<br />
und Anlegern, neue Regeln für<br />
den Fall einer Staatspleite beschlossen<br />
hat, ist dies kein<br />
Schutz vor der Willkür von Regierungen.<br />
Laut ICMA sollen die<br />
Gläubiger künftig mit einem<br />
Mehrheitsentscheid einen<br />
Schuldenschnitt oder eine Laufzeitverlängerung<br />
bei Anleihen<br />
beschließen können. Bis die Regeln<br />
greifen, können noch Jahre<br />
vergehen. Viel schlimmer ist jedoch,<br />
dass sich Regierungen<br />
nicht an die Regeln halten müssen.<br />
Argentinien und andere<br />
Schulden-Staaten können weiterhin<br />
auf Zeit spielen und renitente<br />
Gläubiger austricksen.<br />
WOHLFEILE KRITIK<br />
Anders als bei Unternehmen,<br />
die den Unmut von Anlegern direkt<br />
am Börsenkurs spüren,<br />
können Wähler ihre Regierungen<br />
in der Regel nur alle vier bis<br />
fünf Jahre abwählen. Es bleibt<br />
den Politikern genügend Zeit,<br />
weiteres Unheil anzurichten.<br />
Dass Finanzminister Wolfgang<br />
Schäuble Argentinien als „Muster<br />
an Unsolidität“ bezeichnet,<br />
ist wohlfeil. Ähnlich klare Worte<br />
gegenüber den Schuldenmachern<br />
aus Italien und Frankreich<br />
blieben bisher aus.<br />
Staatsanleihen sind alles andere<br />
als ein sicherer Hort. Dass<br />
französische Anleihen selbst bei<br />
Restlaufzeiten von 20 Jahren<br />
nicht mehr als zwei Prozent Rendite<br />
bringen, ist kein Zeichen<br />
von Vertrauen, sondern von einem<br />
Mangel an Alternativen auf<br />
dem Zinsmarkt. Auf das Gesamtportfolio<br />
heruntergebrochen,<br />
bleiben Aktien als Sachwerte<br />
nach wie vor alternativlos.<br />
TREND DER WOCHE<br />
Fracking gegen Putin<br />
Weil die USA ein großes Förderland geworden sind,<br />
ist der Ölpreis als politische Waffe stumpf.<br />
Rohöl ist so billig wie seit eineinhalb<br />
Jahren nicht mehr, trotz<br />
der Kriege in der Ukraine und<br />
im Nahen Osten. Der Grund:<br />
Auf dem Weltmarkt kam es<br />
nicht zu einer Verknappung,<br />
sondern zu einer Ölschwemme.<br />
Vor allem in Russland geht wegen<br />
der abschmierenden Konjunktur<br />
der Ölverbrauch zurück,<br />
die Förderung aber läuft<br />
auf vollen Touren. In Europa<br />
und China ist die Nachfrage von<br />
unsicheren Konjunkturaussichten<br />
belastet. Als politische Waffe<br />
jedenfalls ist der Ölpreis derzeit<br />
ziemlich stumpf.<br />
Angebahnt hat sich die Ölpreis-Schwäche<br />
schon vor den<br />
aktuellen Kriegen. Seit Beginn<br />
der Ölgewinnung aus Schiefergestein<br />
(Fracking) in den USA<br />
im Jahre 2008 hat sich das Fördervolumen<br />
mehr als verdoppelt.<br />
Seitdem tritt Amerika immer<br />
weniger als Käufer auf den<br />
internationalen Ölmärkten auf.<br />
Und sollte in den USA eines Tages<br />
das aus den Siebzigerjahren<br />
stammende Ölexportverbot fallen,<br />
käme noch mehr billiges Öl<br />
auf den Weltmarkt.<br />
Spätestens dann jedoch dürfte<br />
die Opec ihre derzeit hohe<br />
Produktion etwas zurückfahren.<br />
Die Organisation der Förderländer<br />
hat zwar an Bedeutung<br />
verloren; dennoch ist sie<br />
mit rund 40 Prozent der Weltproduktion<br />
und drei Vierteln<br />
der Reserven kein Papiertiger.<br />
Gut möglich, dass ein Fass Öl<br />
der Sorte Brent bald weniger als<br />
100 Dollar kostet. Weit unter 90<br />
Dollar jedoch dürfte es auf absehbare<br />
Zeit auch nicht fallen.<br />
Trends der Woche<br />
Entwicklung der wichtigsten Finanzmarkt-Indikatoren<br />
Stand: 4.9.2014 / 18.00 Uhr aktuell seit einer Woche 1 seit einem Jahr 1<br />
Dax 30 9724,26 +2,8 +18,6<br />
MDax 16338,71 +1,5 +12,6<br />
Euro Stoxx 50 3277,25 +3,6 +18,8<br />
S&P 500 2006,84 +0,5 +21,4<br />
Euro in Dollar 1,3015 –1,2 –1,2<br />
Bund-Rendite (10 Jahre) 1 0,95 +0,07 2 –0,97 2<br />
US-Rendite (10 Jahre) 1 2,43 +0,09 2 –0,43 2<br />
Rohöl (Brent) 3 102,45 –0,1 –11,1<br />
Gold 4 1271,50 –1,6 –8,5<br />
Kupfer 5 6967,00 –0,9 –2,2<br />
1<br />
in Prozent; 2 in Prozentpunkten; 3 in Dollar pro Barrel; 4 in Dollar pro Feinunze,<br />
umgerechnet 977,48 Euro; 5 in Dollar pro Tonne; Quelle: vwd group<br />
FOTOS: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, MAURITIUS IMAGES/ALAMY, PHOTOSHOT<br />
118 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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DAX-AKTIEN<br />
Genug abgeschmiert<br />
Das stabile Konsumgeschäft, steigende Margen und<br />
der schwache Euro beflügeln Beiersdorf.<br />
HITLISTE<br />
Weil die Expansion in Asien<br />
nur zäh vorankommt, liefen<br />
Beiersdorf-Aktien in diesem<br />
Jahr schlechter als der Dax.<br />
Nun aber, nach bis zu 15 Prozent<br />
Kursverlust, startet der<br />
Nivea-Produzent eine Aufholjagd.<br />
Auf seinem Kernmarkt<br />
Westeuropa legt der Konsumchemiker<br />
solide zu, das Geschäft<br />
mit Pflegeprodukten<br />
wächst derzeit um zwei Prozent.<br />
In Russland steigt – unbeeindruckt<br />
von Krisen – der<br />
Absatz. Beiersdorf erzielt hier<br />
vier Prozent seiner Kosmetikumsätze,<br />
bei steigenden Marktanteilen.<br />
Sogar auf dem schwierigen<br />
chinesischen Markt<br />
könnten die Zahlen im zweiten<br />
Halbjahr besser ausfallen, da<br />
sie zuletzt durch Konzernumbaumaßnahmen<br />
einmalig gedrückt<br />
wurden. Im ersten Halbjahr<br />
kletterte die Nettorendite<br />
(Reingewinn <strong>vom</strong> Umsatz) von<br />
9,1 Prozent auf 9,7 Prozent – ein<br />
gutes Zeichen. Und nachdem<br />
der Euro nun an Stärke verloren<br />
hat, werden sich für Exporteur<br />
Beiersdorf auch die Währungsbelastungen<br />
verringern.<br />
Überziehungskredit<br />
An Wall Street werden viele<br />
Aktien auf Pump gekauft<br />
US-BÖRSE<br />
Mustergültiger Anstieg<br />
Immer mehr Anleger an Wall Street haben ihre<br />
Wertpapierdepots beliehen, um Aktien zu kaufen.<br />
Dax<br />
Kurs Kursent- Gewinn KGV Börsen- Dividen-<br />
(€) wicklung pro Aktie (€) wert den-<br />
1 Woche 1 Jahr 2014 2015 2015<br />
(Mio. €) rendite<br />
(%) 1<br />
Dax 9724,26 +2,8 +18,6<br />
Aktie<br />
Stand: 4.9.2014 / 18.00 Uhr<br />
Adidas 59,22 +3,1 –25,7 3,10 3,65 16 12390 2,53<br />
Allianz 133,65 +3,2 +20,8 13,82 14,08 9 60938 3,97<br />
BASF NA 78,89 +1,0 +16,2 5,79 6,28 13 72459 3,42<br />
Bayer NA 105,65 +4,4 +24,4 6,04 6,97 15 87367 1,99<br />
Beiersdorf 69,60 +3,4 +6,9 2,49 2,76 25 17539 1,01<br />
BMW St 91,54 +2,5 +26,1 9,00 9,44 10 59071 2,84<br />
Commerzbank 12,47 +9,0 +42,4 0,56 0,98 13 14191 -<br />
Continental 166,50 +1,8 +39,8 12,80 14,27 12 33301 1,50<br />
Daimler 64,14 +3,2 +20,3 6,19 6,85 9 68593 3,51<br />
Deutsche Bank 27,00 +3,4 –15,5 2,27 3,31 8 27524 2,78<br />
Deutsche Börse 55,39 +1,7 +2,3 3,66 4,02 14 10690 3,79<br />
Deutsche Post 25,68 +2,8 +12,8 1,72 1,85 14 31047 3,12<br />
Deutsche Telekom 11,68 +2,2 +19,2 0,62 0,67 17 51990 4,28<br />
E.ON 14,34 +4,1 +18,7 0,94 0,97 15 28694 4,18<br />
Fresenius Med.C. St 54,00 +1,3 +9,0 3,53 3,95 14 16608 1,43<br />
Fresenius SE&Co 37,46 +1,0 +24,6 2,03 2,35 16 8453 3,34<br />
Heidelberg Cement St 58,36 +1,4 +10,6 3,95 4,98 12 10943 1,03<br />
Henkel Vz 81,95 +1,9 +11,5 4,29 4,68 18 33927 1,49<br />
Infineon 8,99 +1,8 +25,5 0,44 0,53 17 9719 1,33<br />
K+S NA 24,20 +1,3 +27,4 1,58 1,62 15 4632 1,03<br />
Lanxess 46,77 –0,6 –8,1 2,07 3,23 14 3891 1,07<br />
Linde 152,15 +1,4 +3,8 7,80 8,83 17 28246 1,97<br />
Lufthansa 13,60 +1,8 +5,2 1,23 2,37 6 6255 -<br />
Merck 66,93 +1,3 +17,5 4,64 4,85 14 4325 2,84<br />
Münchener Rückv. 154,10 +1,7 +13,8 17,59 17,57 9 27636 4,70<br />
RWE St 31,26 +5,6 +48,3 2,21 2,30 14 18944 3,20<br />
SAP 59,99 +1,4 +10,7 3,40 3,72 16 73698 1,83<br />
Siemens 98,59 +3,5 +19,9 6,45 7,36 13 86858 3,04<br />
ThyssenKrupp 21,89 +3,4 +39,0 0,54 1,20 18 11262 -<br />
Volkswagen Vz. 177,35 +3,1 +4,3 21,55 24,02 7 82495 2,29<br />
1<br />
berechnet mit der zuletzt gezahlten Dividende<br />
Das jeweilige Ende der beiden<br />
letzten Haussen an Wall Street<br />
kündigte sich in einer rasch<br />
steigenden Spekulationsneigung<br />
der Anleger an. Abzulesen<br />
war das an der Entwicklung<br />
der für den Kauf von<br />
Aktien beliehenen Wertpapierdepots.<br />
Auch die laufende<br />
Hausse ist nun bedroht:An<br />
der New York Stock Exchange<br />
(Nyse) erreichten die Wertpapierkredite<br />
schon im Februar<br />
dieses Jahres ein Rekordhoch<br />
von 466 Milliarden Dollar. Der<br />
steile Anstieg startete im August<br />
2012, als noch erst knapp<br />
280 Milliarden Dollar an Krediten<br />
gezeichnet waren. Zwar<br />
ging der Börse zwischenzeitlich<br />
etwas Treibstoff verloren<br />
– die Wertpapierkredite reduzierten<br />
sich bis Ende April auf<br />
437 Milliarden Dollar. Anschließend<br />
legten sie nach neuesten<br />
verfügbaren Daten aber wieder<br />
zu, auf 460 Milliarden Dollar<br />
Ende Juli. In der Vergangenheit<br />
folgte einem Gipfel bei den<br />
Wertpapierkrediten mit etwas<br />
zeitlichem Abstand ein zyklisches<br />
Hoch des S&P 500. Der<br />
wichtigste Börsenindex der<br />
Welt stieg gerade mustergültig<br />
in der vergangenen Woche auf<br />
den Rekordstand von 2009,28<br />
Punkten. Das muss nicht das<br />
Ende sein: Sollten die Aktienkäufe<br />
auf Pump im August ein<br />
neues Rekordvolumen erreicht<br />
haben, dann wird die Hausse<br />
wohl noch etwas weiter laufen –<br />
sich allerdings dann auch noch<br />
schneller ihrem Ende nähern.<br />
Wie sich die ausstehenden Wertpapierkredite an der New York Stock<br />
Exchange (Nyse) und der S&P 500 in den jüngsten Börsenzyklen entwickelt<br />
haben<br />
Wertpapierkredite an der<br />
New York Stock Exchange (Nyse)<br />
Hoch/Tief<br />
erreicht in<br />
Monat/Jahr…<br />
3/2000<br />
9/2002<br />
7/2007<br />
2/2009<br />
2/2014<br />
…bei Kreditvolumen<br />
(in<br />
Milliarden Dollar)<br />
278,5<br />
130,3<br />
381,4<br />
173,3<br />
465,7<br />
vorherige<br />
Entwicklung<br />
(in Prozent)<br />
Quelle: Bloomberg, Nyse; Stand: 3. September 2014<br />
–<br />
–53,2<br />
+192,6<br />
–54,6<br />
+168,7<br />
Hoch/Tief<br />
erreicht am…<br />
24.3.2000<br />
10.10.2002<br />
11.10.2007<br />
6.3.2009<br />
3.9.2014<br />
S&P 500<br />
...bei<br />
Indexstand<br />
1552,87<br />
768,63<br />
1576,09<br />
666,79<br />
2009,28<br />
vorherige<br />
Entwicklung<br />
(in Prozent)<br />
–<br />
–50,5<br />
+105,1<br />
–57,7<br />
+201,3<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 119<br />
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Geld&Börse | Geldwoche<br />
AKTIE Jenoptik<br />
Wieder Wende-<br />
Hoffnung in Thüringen<br />
Ohr am Markt Laser- und<br />
Materialbearbeitung in Jena<br />
Der TecDax-Wert Jenoptik<br />
schraubt seine Jahresziele herunter<br />
– und der Aktienkurs<br />
reagiert darauf mit einem<br />
Sturz. Dass Großaktionär<br />
Ergo, Erstversicherungsableger<br />
der Münchener Rück,<br />
bereits im Frühjahr zu höheren<br />
Kursen ausgestiegen war,<br />
mag Anlegern auch nicht<br />
geschmeckt haben. Dazu<br />
kommt ein echter Nachteil für<br />
das Thüringer Unternehmen:<br />
die Exportrestriktionen wegen<br />
des Kriegs in der Ukraine.<br />
Zulieferungen für die Rüstungsindustrie<br />
(etwa optische<br />
Stabilisierungssysteme für<br />
Panzerkanonen) sind für Jenoptik<br />
ein wichtiges Geschäft.<br />
Dennoch, auch wenn sich<br />
Jenoptik-Aktien erst wieder<br />
stabilisieren müssen, sind sie<br />
ein vielversprechendes High-<br />
Tech-Investment.<br />
Den wichtigen Kundenbranchen<br />
von Jenoptik geht<br />
es nicht schlecht:Die Halbleiterindustrie<br />
profitiert <strong>vom</strong><br />
Boom der mobilen Kommunikation;<br />
in der Luftfahrt<br />
steigt der Bedarf an neuen<br />
Maschinen; in der Autoindustrie<br />
sind in diesem Jahr drei<br />
bis vier Prozent Wachstum<br />
möglich; in der Verkehrstechnik<br />
werden zunehmend optische<br />
Überwachungssysteme<br />
eingesetzt. Und ob der Bedarf<br />
an Sicherheits- und Wehrtechnik<br />
angesichts der aktuellen<br />
Krisenherde tatsächlich<br />
rückläufig ist, dürfte zweifelhaft<br />
sein. Insgesamt rechnet der<br />
Branchenverband der optischen<br />
Technologien Spectaris<br />
in diesem Jahr mit sieben Prozent<br />
Wachstum.<br />
Ähnlich könnte auch Jenoptik<br />
zulegen. Im ersten Halbjahr<br />
kamen für 315 Millionen Euro<br />
neue Aufträge herein; elf Prozent<br />
mehr als im gleichen Zeitraum<br />
des Vorjahres. Der Auftragsbestand<br />
liegt mit 438<br />
Millionen Euro sieben Prozent<br />
über Jahresanfang. Nach 600<br />
Millionen Euro Umsatz 2013<br />
kann Jenoptik in diesem Jahr an<br />
die 640 Millionen erzielen.<br />
Die Gewinne sind stabil. Im<br />
ersten Halbjahr zog die Nettomarge<br />
(Reingewinn <strong>vom</strong> Umsatz)<br />
leicht an. Selbst wenn sie<br />
im Jahresverlauf gleich bleibt,<br />
ergäbe das an die 50 Millionen<br />
Euro Nettogewinn. Je Aktie wären<br />
das mehr als 80 Cent.<br />
Jenoptik-Aktien haben damit<br />
eine gute Chance, sich bei Kursen<br />
zwischen 8 und 10 Euro zu<br />
stabilisieren. Dass Jenoptik mit<br />
einer Eigenkapitalquote von 56<br />
Prozent solide finanziert ist,<br />
macht die Aktie erst recht zu<br />
einem Wende-Wert.<br />
Jenoptik<br />
ISIN: DE0006229107<br />
14<br />
12<br />
10<br />
8<br />
6<br />
4<br />
200-Tage-Linie<br />
2<br />
2005 2010 14<br />
Kurs/Stoppkurs (in Euro): 10,05/7,85<br />
KGV 2014/2015: 13,4/11,3<br />
Chance<br />
Risiko<br />
Niedrig<br />
Quelle: Thomson Reuters<br />
Hoch<br />
AKTIE YPF<br />
Soros wittert ein neues<br />
Eldorado in Patagonien<br />
Noch vor gut zwei Jahren<br />
nahm die argentinische<br />
Staatspräsidentin Cristina<br />
Fernández de Kirchner dem<br />
spanischen Ölkonzern Repsol<br />
per Federstrich mal eben dessen<br />
argentinische Tochter<br />
YPF weg. Die Enteignung<br />
könnte in der Rückschau der<br />
Höhepunkt einer fehlgeleiteten<br />
ausländer- und unternehmerfeindlichen<br />
Wirtschaftspolitik<br />
in Argentinien<br />
gewesen sein. Auch wenn es<br />
bei den hinter den Kulissen<br />
laufenden Reparaturarbeiten<br />
zur Verbesserung der Beziehungen<br />
zu internationalen Investoren<br />
knirscht, läuft die<br />
Börse Buenos Aires (siehe Seite<br />
118). Das liegt auch daran,<br />
dass großen ausländischen<br />
Ölkonzernen bereits seit 2013<br />
Steueranreize gewährt werden<br />
bei Investitionen von<br />
mehr als einer Milliarde Dollar.<br />
Der US-Konzern Chevron<br />
schloss unmittelbar nach<br />
dem Beschluss ein Joint Venture<br />
mit YPF. Aufhorchen ließ<br />
unlängst George Soros. Die<br />
Investmentfirma des milliardenschweren<br />
Superinvestors<br />
kaufte im zweiten Quartal<br />
8,47 Millionen YPF-Aktien.<br />
Soros Anteil am argentinischen<br />
Ölkonzern verdoppelte<br />
Spieglein,<br />
Spieglein<br />
Soros setzt<br />
auf YPF<br />
sich damit auf 3,5 Prozent. Aktueller<br />
Marktwert des Pakets:<br />
450 Millionen Dollar. Ihre Positionen<br />
bei YPF ebenfalls aufgestockt<br />
haben die Hedgefonds<br />
Perry Capital (auf 1,9 Prozent)<br />
und Third Point (auf 1,6 Prozent).<br />
Die Investoren wittern in<br />
Argentinien ein neues Eldorado.<br />
Das Land verfügt über gigantische<br />
Vorkommen von Öl<br />
und Gas in seinen Schiefergesteinsformationen.<br />
Als technisch<br />
abbaubar gelten derzeit<br />
27 Milliarden Barrel Öl und 802<br />
Billionen Kubikfuß Erdgas. Das<br />
meiste davon lagert im Vaca-<br />
Muerta-Becken in Patagonien.<br />
YPF<br />
ISIN: US9842451000<br />
70<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
8<br />
50-Tage-Linie<br />
200-Tage-Linie<br />
2005 2010 14<br />
Kurs/Stoppkurs (in Dollar): 35,68/28,60<br />
KGV 2014/2015: 13,1/10,3<br />
Dividendenrendite (in Prozent): 0,31<br />
Chance<br />
Risiko<br />
Niedrig<br />
Quelle: Thomson Reuters<br />
Hoch<br />
FOTOS: PR, BLOOMBERG NEWS/AKOS STILLER, CARO FOTOAGENTUR/ANDREAS FROESE, DDP/EYEVINE/CHARLIE FORGHAM-BAILEY<br />
120 Redaktion: Geldwoche+Zertifikate: Frank Doll, Anton Riedl<br />
Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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ZERTIFIKATE Allianz<br />
Rentable Basis für neue<br />
Finanzgeschäfte<br />
Lichtblick Netto mehr als<br />
sechs Milliarden Euro in Sicht<br />
Aktie mit Teilkasko<br />
Mit 3,6 Milliarden Euro Nettogewinn<br />
lief das erste Halbjahr<br />
für die Allianz so gut, dass die<br />
Prognosen für 2014 heraufgesetzt<br />
werden. Bis zu 10,5 Milliarden<br />
Euro operativen Gewinn<br />
erwartet Konzernchef<br />
Michael Diekmann für dieses<br />
Jahr; vier Prozent mehr als in<br />
der ohnehin guten Saison<br />
2013. Netto dürften das dann<br />
leicht mehr als sechs Milliarden<br />
Euro werden, je Aktie gerechnet,<br />
an die 14 Euro. Mit einer<br />
Gewinnbewertung (KGV<br />
2014) von weniger als zehn<br />
und der Aussicht auf eine höhere<br />
Dividende ist die Allianz<br />
eine der günstigsten und rentabelsten<br />
Aktien im Dax.<br />
Die weiteren Geschäftsaussichten<br />
sind gut. In der Schaden-<br />
und Unfallversicherung<br />
profitiert die Allianz davon,<br />
dass die Versicherungszahlungen<br />
für Naturkatastrophen<br />
rückläufig sind. Die Sparte Lebens-<br />
und Krankenversicherungen<br />
wird durch den guten Verkauf<br />
neuer Finanzprodukte<br />
beflügelt – etwa Policen gegen<br />
Einmalbeitrag. In der Vermögensverwaltung<br />
muss die amerikanische<br />
Tochtergesellschaft<br />
Pimco zwar weitere Mittelabflüsse<br />
hinnehmen. Der Rückgang<br />
der operativen Gewinne<br />
jedoch hat sich mittlerweile verlangsamt.<br />
Und der kleinere Vermögensableger<br />
Allianz Global<br />
Investors gewinnt derzeit sogar<br />
neue Kundengelder.<br />
Die Geschäftsaussichten und<br />
der stabile Kursverlauf machen<br />
die Allianz zu einem interessanten<br />
Basiswert für Zertifikate.<br />
Wer vorsichtig ist, kann mit Discountzertifikaten<br />
auch im Seitwärtstrend<br />
zweistellige Renditen<br />
einfahren. Für Optimisten<br />
kommen eher Bonuszertifikate<br />
infrage. Mit ihnen sind Anleger<br />
beim Kursanstieg dabei, und es<br />
gibt zusätzlich eine Teilabsicherung<br />
gegen Kursrückschläge.<br />
Zertifikate auf die Allianz-Aktie (Kurs 131,20 Euro)<br />
Kurs (Euro)<br />
Stoppkurs (Euro)<br />
Funktion<br />
Kauf-Verkaufs-<br />
Spanne (Prozent)<br />
Emittentin<br />
(Ausfallprämie)<br />
ISIN<br />
Chance/Risiko<br />
Discount für Defensive<br />
119,20<br />
101,30<br />
Quelle: Banken, Thomson Reuters<br />
Ist 9,1 Prozent billiger als die Aktie,<br />
bietet dafür maximal (bis zum Cap<br />
bei 132,00 Euro) 10,7 Prozent<br />
Gewinn. Aktienkurse unter 132,00<br />
Euro schmälern den Gewinn, Verluste<br />
entstehen bei Aktienkursen<br />
unter 119,20 Euro; Laufzeit bis<br />
17. Dezember 2015<br />
0,01<br />
Commerzbank (0,8 Prozent = mittleres<br />
Risiko)<br />
DE000CZ91T30<br />
5/4<br />
Bonus für Optimisten<br />
130,85<br />
111,20<br />
Bietet 7,0 Prozent Gewinn (bis zur<br />
oberen Bonusschwelle bei 140,00<br />
Euro), solange Aktie bis zur Fälligkeit<br />
(18. Dezember 2015) über<br />
110,00 Euro bleibt; keine Gewinngrenze<br />
bei Aktienanstieg über<br />
140,00 Euro; sinkt Allianz auf<br />
110,00 Euro oder tiefer, läuft Zertifikat<br />
wie Aktienkurs<br />
0,02<br />
Deutsche Bank (0,7 Prozent =<br />
mittleres Risiko)<br />
DE000DT2CHT0<br />
6/5<br />
ANLEIHE GlaxoSmithKline<br />
In Dollar<br />
geimpft<br />
Aller Voraussicht nach wird<br />
GlaxoSmithKline in wenigen<br />
Wochen mit der klinischen<br />
Erprobung eines Impfstoffes<br />
gegen den Ebola-Virus beginnen.<br />
Mit 13 Prozent Umsatzanteil<br />
sind Impfstoffe für Glaxo<br />
ein Kerngeschäft. Bis 2015<br />
wird der britische Pharmakonzern<br />
voraussichtlich das Impfstoffgeschäft<br />
von Novartis<br />
übernehmen. Im Gegenzug<br />
gehen große Teile des Geschäfts<br />
mit Medikamenten gegen<br />
Krebs an die Schweizer.<br />
Die Sparte rezeptfreie Medikamente<br />
wird unter britischer<br />
Federführung in einem Gemeinschaftsunternehmen<br />
mit<br />
Novartis ausgebaut.<br />
Glaxo ist derzeit auf gutem<br />
Weg, sein Medikamentenportfolio<br />
zu erneuern. Das senkt<br />
die Anfälligkeit gegen günstige<br />
Nachahmerprodukte (Generika).<br />
So gehen zwar die Umsätze<br />
des Blockbusters Advair<br />
(gegen Asthma) zurück, doch<br />
neue Medikamente wie Breo<br />
oder Anoro legen langsam zu.<br />
Insgesamt stecken in der Forschungspipeline<br />
derzeit mehr<br />
als 40 neue Wirkstoffe oder<br />
Anwendungen in fortgeschrittener<br />
klinischer Entwicklung.<br />
Vergleichsweise stabil ist die<br />
Sparte allgemeinverkäufliche<br />
Pflegemittel, die ein Fünftel<br />
zum Umsatz beisteuert. Glaxo<br />
hat Bestseller wie Odol-Mundwasser<br />
oder Sensodyne-Zahncreme<br />
im Programm.<br />
Währungsnachteile durch<br />
das starke Pfund Sterling und<br />
der Verkauf von Randgeschäftsbereichen<br />
dürften dazu<br />
führen, dass Glaxo in diesem<br />
Jahr mit knapp 24 Milliarden<br />
Pfund Umsatz etwa zehn<br />
Prozent unter Vorjahresniveau<br />
landet. Von 2015 an sollten<br />
dann steigende Verkäufe neuer<br />
Medikamente sowie die<br />
Luft für mehr Atemwegsinhalatoren<br />
von Glaxo<br />
Rochade mit Novartis wieder zu<br />
rund 25 Milliarden Pfund (31,6<br />
Milliarden Euro) Umsatz führen.<br />
Vor Zinsen, Steuern, Abschreibungen<br />
und Amortisation könnten<br />
nach dem schwächeren<br />
zweiten Quartal 2014 insgesamt<br />
rund 7,5 Milliarden Pfund bleiben;<br />
im nächsten Jahr sind bei<br />
stabilen Margen an die acht Milliarden<br />
Pfund möglich. Daran<br />
gemessen sollten die Nettoschulden<br />
(14,4 Milliarden<br />
Pfund) weniger als das Doppelte<br />
ausmachen. Die Eigenkapitalquote<br />
ist mit 18 Prozent zwar<br />
mager, dürfte aber durch stabile<br />
Einnahmen aus dem laufenden<br />
Geschäft (in diesem Jahr rund<br />
3,5 Milliarden Pfund) aufgebessert<br />
werden.<br />
Die Ratingagentur Moody’s<br />
bewertet Anleihen von Glaxo<br />
mit A1, das ist stabiler Investmentbereich.<br />
In Dollar notierte<br />
Papiere mit Laufzeit bis 2022<br />
bringen derzeit 2,9 Prozent Jahresrendite.<br />
Bei einem gesamten<br />
Nennwert von zwei Milliarden<br />
Dollar handelt es sich hier um<br />
einen großen Unternehmensbond.<br />
An deutschen Börsen<br />
handelbar ist er ab einer Mindeststückelung<br />
von 2000 Dollar.<br />
Kurs (Prozent) 99,49<br />
Kupon (Prozent) 2,85<br />
Rendite (Prozent) 2,95<br />
Laufzeit bis 8. Mai 2022<br />
Währung<br />
Dollar<br />
ISIN<br />
US377373AD71<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 121<br />
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Geld&Börse | Geldwoche<br />
FONDS Charlemagne Magna Mena<br />
Nahost-Aktien trotzen<br />
den Kriegen<br />
Fernab <strong>vom</strong> Sturm Megahotel<br />
Burj al Arab in Dubai<br />
Die Terrormiliz Islamischer<br />
Staat (IS) enthauptet Journalisten<br />
im Irak, im benachbarten<br />
Syrien tobt der Bürgerkrieg,<br />
und in Gaza schwelt der<br />
Konflikt zwischen Israel und<br />
der Hamas. Doch die Kriege<br />
lassen die Aktienmärkte in<br />
der Region weitgehend kalt.<br />
Der S&P Pan Arab Composite,<br />
der elf Börsen der Region umfasst,<br />
legte seit Jahresbeginn<br />
um rund ein Viertel zu. Nahezu<br />
doppelt so stark wie sein<br />
Vergleichsindex stieg der<br />
Aktienfonds Magna Mena<br />
(Middle East and North Africa)<br />
der britischen Fondsgesellschaft<br />
Charlemagne.<br />
Fondsmanager Akhilesh<br />
Baveja schaffte mit seiner Aktienauswahl<br />
46 Prozent plus.<br />
Er konzentriert sich auf Titel<br />
aus den ölreichen Golfstaaten.<br />
Etwa 90 Prozent des rund<br />
40 Millionen Euro schweren<br />
Fondsvolumens sind in Saudi-Arabien,<br />
Katar und den<br />
Vereinigten Arabischen Emiraten<br />
(VAE) angelegt. „Diese<br />
Staaten sind gegen eine Ansteckung<br />
durch die Konflikte<br />
weitgehend immun“, glaubt<br />
Baveja. Das liege einerseits an<br />
den strengen Einwanderungsgesetzen.<br />
Andererseits<br />
verstünden es die Herrscherfamilien,<br />
durch soziale Wohltaten<br />
die Bevölkerung bei<br />
Laune zu halten. Zu den größten<br />
Fondspositionen zählen<br />
die Immobilienentwickler<br />
Emaar Properties und Damac<br />
Properties, die in Dubai Luxusbauten<br />
hochziehen.<br />
Ein risikoreiches Geschäft:<br />
Erst im Juni hatte beim Immobilienkonzern<br />
Arabtec ein staatlicher<br />
Investor Anteile auf den<br />
Markt geworfen. Das setzte den<br />
Kurs der Aktie und die gesamte<br />
Börse Dubai unter Druck. Auch<br />
die beiden Fondspositionen litten<br />
deutlich. Inzwischen haben<br />
sich die Kurse wieder erholt.<br />
Die Probleme der Vergangenheit<br />
seien überwunden, meint<br />
Baveja. So hat Dubai etwa die<br />
Grunderwerbsteuer auf vier<br />
Prozent verdoppelt, um spekulative<br />
Immobilienblasen zu verhindern.<br />
Das Platzen einer solchen<br />
Blase hatte 2008 noch zu<br />
großen Turbulenzen geführt.<br />
Außerhalb der Golfstaaten<br />
kaufte Baveja an der Börse Kairo<br />
jüngst Aktien von Arabian<br />
Cement (ACC). Der ägyptische<br />
Zementkonzern sollte <strong>vom</strong> geplanten<br />
Bau einer zweiten Wasserstraße<br />
entlang des Suezkanals<br />
profitieren. Wichtigster<br />
Vorteil von ACC: Der Konzern<br />
kann seine Zementwerke mit<br />
Kohle betreiben. Und die sei<br />
günstiger als Gas.<br />
Charlemagne Magna Mena<br />
ISIN: IE00B3NMJY03<br />
200<br />
180<br />
160<br />
140<br />
120<br />
100<br />
S&P Pan Arab Composite<br />
80<br />
2012 2013<br />
2014<br />
Chance<br />
Risiko<br />
Niedrig<br />
auf 100 umbasiert<br />
Quelle: Thomson Reuters<br />
Hoch<br />
Die besten Afrika- und Orient-Fonds<br />
Wie die erfolgreichsten Portfolio-Manager abgeschnitten haben<br />
Fondsname<br />
Afrika und Mittlerer Osten<br />
Charlemagne Magna Mena<br />
Concord Egypt EUR Shares<br />
Invest AD SICAV GCC Focus<br />
Franklin Mena Acc €<br />
Amundi Eq. Mena<br />
Schroder ISF Middle East EUR<br />
Meridio GCC & Mena Opp.<br />
Baring Mena<br />
T. Rowe Price Mid East & Africa Eq.<br />
iShares MSCI GCC ex-Saudi Arabia<br />
FT EmergingArabia (EUR)<br />
Silk Arab Falcons<br />
Mashreq-Al-Islami Arab Tigers<br />
JPM Emerging Middle East Eq.<br />
Lyxor FTSE Coast Kuwait40<br />
Silk - Road Frontiers R EUR<br />
Afrika<br />
db x-trackers MSCI EFM Afrika Top 50<br />
RBS Emerging & Frt. Africa<br />
Bellevue(Lux) BB African Opport.<br />
Charlemagne Magna Africa<br />
Lyxor ETF Pan Africa<br />
JPM Africa Equity<br />
Coronation All Africa<br />
Silk - African Lions<br />
Robeco Afrika Fonds<br />
JB Africa Focus-EUR<br />
Invest AD SICAV Emerging Africa<br />
Nordea-1 African Equity<br />
Investec GSF Africa Opportunities<br />
Renaissance Sub-Saharan<br />
Templeton Africa<br />
Deutsche Invest Africa<br />
Türkei<br />
UBAM Turkish Equity<br />
RBS Market Access DJ Turkey Titans<br />
Lyxor ETF Turkey (DJ Turkey Tit. 20)<br />
JPM Turkey Equity<br />
DJ Turkey Titans 20 Easy<br />
UBS ETF MSCI Turkey<br />
HSBC MSCI Turkey ETF<br />
Istanbul Equity Fund<br />
Turkisfund Equities<br />
Charlemagne Magna Turkey<br />
KBC Equity Turkey<br />
Espa Stock Istanbul<br />
Akbank Turkish Equities<br />
Jyske Invest Turkish Equities<br />
iShares MSCI Turkey<br />
Candriam Eq. Turkey<br />
ISIN<br />
IE00B3NMJY03<br />
IE0031971363<br />
LU0708208896<br />
LU0352132285<br />
LU0569690554<br />
LU0316459139<br />
LU0269579586<br />
IE00B63QVC53<br />
LU0310187579<br />
IE00B3F81623<br />
LU0317905148<br />
LU0389403501<br />
IE00B29MW600<br />
LU0401356422<br />
FR0010614834<br />
LU0523945037<br />
LU0592217524<br />
LU0667622384<br />
LU0433847596<br />
IE00B0TB5201<br />
FR0010636464<br />
LU0355584979<br />
IE00B2RGH034<br />
LU0389403337<br />
NL0006238131<br />
LU0303756455<br />
LU0708207575<br />
LU0390856663<br />
LU0518403992<br />
LU0545678558<br />
LU0727123662<br />
LU0329759764<br />
LU0500237457<br />
LU0269999362<br />
FR0010326256<br />
LU0117839455<br />
FR0010636555<br />
LU0629459404<br />
IE00B5BRQB73<br />
LU0093368008<br />
LU0085872058<br />
IE00B04R3968<br />
BE0946058170<br />
AT0000704333<br />
LU0366551272<br />
DK0060009835<br />
IE00B1FZS574<br />
LU0344048284<br />
Wertentwicklung<br />
in Prozent<br />
seit 3<br />
Jahren 1<br />
34,1<br />
13,1<br />
1 jährlicher Durchschnitt (in Euro gerechnet); 2 je höher die Jahresvolatilität<br />
(Schwankungsintensität) in den vergangenen drei Jahren, desto riskanter der Fonds;<br />
Quelle: Morningstar; Stand: 1. September 2014<br />
–<br />
26,8<br />
28,9<br />
28,0<br />
16,9<br />
27,7<br />
23,3<br />
21,8<br />
20,5<br />
15,9<br />
24,5<br />
18,4<br />
7,1<br />
8,6<br />
15,6<br />
–<br />
16,0<br />
10,1<br />
–1,2<br />
13,5<br />
19,5<br />
9,8<br />
14,3<br />
2,0<br />
–<br />
10,1<br />
7,2<br />
18,1<br />
–<br />
1,2<br />
15,9<br />
12,2<br />
11,9<br />
9,1<br />
11,5<br />
11,9<br />
12,0<br />
2,1<br />
11,0<br />
11,3<br />
11,8<br />
10,1<br />
9,1<br />
12,6<br />
12,2<br />
9,1<br />
seit 1<br />
Jahr<br />
64,3<br />
50,4<br />
49,3<br />
48,8<br />
43,3<br />
40,4<br />
37,6<br />
37,5<br />
35,5<br />
35,5<br />
34,9<br />
34,8<br />
34,4<br />
33,6<br />
12,6<br />
11,5<br />
31,2<br />
24,5<br />
24,5<br />
23,8<br />
22,8<br />
21,5<br />
21,1<br />
20,3<br />
20,2<br />
20,1<br />
19,4<br />
17,6<br />
16,8<br />
14,1<br />
13,4<br />
10,2<br />
31,3<br />
22,5<br />
22,0<br />
21,6<br />
21,6<br />
21,4<br />
21,4<br />
19,5<br />
18,9<br />
18,2<br />
18,2<br />
17,9<br />
17,7<br />
17,6<br />
16,5<br />
16,4<br />
Volatilität<br />
2<br />
in<br />
Prozent<br />
13,7<br />
15,6<br />
–<br />
11,8<br />
12,5<br />
14,6<br />
18,3<br />
10,8<br />
10,2<br />
15,4<br />
10,9<br />
11,3<br />
11,5<br />
15,3<br />
10,3<br />
9,4<br />
15,0<br />
–<br />
13,5<br />
12,8<br />
15,7<br />
13,3<br />
12,3<br />
10,9<br />
12,3<br />
15,6<br />
–<br />
12,1<br />
10,6<br />
12,2<br />
–<br />
17,1<br />
28,2<br />
28,7<br />
28,8<br />
26,1<br />
28,9<br />
28,9<br />
29,3<br />
30,1<br />
27,9<br />
28,8<br />
28,7<br />
30,4<br />
27,9<br />
28,4<br />
29,4<br />
29,3<br />
FOTO: BILDAGENTUR-ONLINE/DESIGNPICS<br />
122 Redaktion Fonds: Heike Schwerdtfeger<br />
Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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CHARTSIGNAL<br />
Boden eingezogen<br />
Goldminenaktien stehen vor einem neuen langfristigen<br />
Aufwärtstrend. Der Goldpreis wird folgen.<br />
Der rund acht Milliarden<br />
Dollar schwere Indexfonds<br />
Market Vectors Gold Miners<br />
ETF (GDX) bildet die Wertentwicklung<br />
der 18 im NYSE Arca<br />
Gold Miners Index enthaltenen<br />
Goldminenaktien ab. Seit<br />
Dezember 2013 bildet der<br />
Chart des GDX einen Boden<br />
aus. Schon der Kurseinbruch<br />
auf das Tief von 20,24 Dollar<br />
(1) vollzog sich unter einem<br />
geringeren Abgabedruck – fallende<br />
Börsenumsätze bei sinkenden<br />
Kursen – als der vorherige<br />
Kurssturz im Juni 2013<br />
auf 22,21 Dollar (2). Mit dem<br />
Ausbruch über die Trendlinie<br />
T1 im Januar 2014 (3) hat sich<br />
die Wahrscheinlichkeit für ein<br />
Ende des langfristigen Abwärtstrends<br />
weiter erhöht.<br />
Dem Ausbruch folgte eine<br />
trendlose Phase – mal oberhalb,<br />
mal unterhalb der noch<br />
fallenden 200-Tage-Linie.<br />
Diese langfristige Trendlinie<br />
hat inzwischen nach oben<br />
gedreht. Gelingt jetzt der Ausbruch<br />
über 28 Dollar, steht bei<br />
30 Dollar nur noch ein Widerstand<br />
einer dynamischen<br />
Aufwärtsbewegung im Weg.<br />
Der nächste größere Widerstand<br />
folgte dann erst bei 45<br />
Dollar.<br />
Goldaktien weisen damit ein<br />
gutes Verhältnis von Chance<br />
und Risiko auf. Der GDX hielt<br />
sich zuletzt auffallend lange<br />
dicht unter einem wichtigen<br />
Widerstand. Das ist erstaunlich,<br />
weil der Dollar gleichzeitig<br />
Stärke zeigte. Üblicherweise<br />
tendieren Goldaktien zusammen<br />
mit der Alternativwährung<br />
Gold zur Schwäche, wenn die<br />
Weltleitwährung aufwertet.<br />
Diese Robustheit erhöht die<br />
Wahrscheinlichkeit für einen<br />
baldigen Sprung des GDX über<br />
die Widerstandszone zwischen<br />
28 und 30 Dollar. Der Goldpreis<br />
selbst sollte den Minen dann<br />
folgen. Bei wichtigen Weichenstellungen<br />
an den Edelmetallmärkten<br />
eilen die Goldaktien<br />
dem Goldpreis meistens voraus.<br />
Gold und Goldaktien sind<br />
nahezu von den Radarschirmen<br />
der Investoren verschwunden<br />
– nicht die schlechteste<br />
Ausgangslage für hohe Kursgewinne.<br />
Zurück auf dem Radarschirm<br />
Goldaktien weisen ein gutes Verhältnis von Chance und Risiko auf<br />
55<br />
50<br />
45<br />
40<br />
35<br />
30<br />
25<br />
20<br />
Market Vectors<br />
Gold Miners ETF*<br />
2012<br />
* in Dollar; Quelle: Thomson Reuters<br />
T1<br />
2<br />
2013<br />
200-Tage-Linie<br />
1<br />
3<br />
nächster großer Widerstand<br />
2. Widerstand<br />
1. Widerstand<br />
2014<br />
RELATIVE STÄRKE<br />
Einladung zum Kauf<br />
Der Boom neuer Medikamente treibt die Aktien von<br />
BB Biotech. 26 Prozent Rabatt gibt’s zusätzlich.<br />
Am 2. September verkaufte<br />
Klaus Strein, Aufsichtsratsmitglied<br />
von BB Biotech, BB-<br />
Aktien im Wert von 704 000<br />
Schweizer Franken. Ist die<br />
Aktie der Beteiligungsgesellschaft<br />
jetzt ein Verkauf?<br />
Kaum, denn die Branche<br />
boomt. Führende Unternehmen<br />
wie Celgene, Actelion<br />
oder Gilead (alles Schwerpunktbeteiligungen<br />
von BB)<br />
melden wichtige Entwicklungserfolge<br />
bei Medikamenten. Allein<br />
in den USA dürften in diesem<br />
Jahr mehr als 50 neue<br />
Wirkstoffe zugelassen werden,<br />
die meisten davon biotechnologisch<br />
hergestellt. Und dass BB-<br />
Aktien mit 26 Prozent Abschlag<br />
auf den Wert seiner Beteiligungen<br />
gehandelt wird, spiegelt eine<br />
Skepsis wider, die geradezu<br />
einlädt zum Kauf.<br />
Wer schlägt den Index?<br />
Die innerhalb der vergangenen drei Monate am stärksten<br />
gestiegenen und gefallenen Aktien 1<br />
Rang Aktie Index Kurs 2 Kursentwicklung Relative Trend 3<br />
(€) (in Prozent) Stärke<br />
3 Monate 1 Jahr<br />
(in Prozent)<br />
Gewinner<br />
1 BB Biotech (CH) TecDax 145,50 +16,59 +46,90 17,3<br />
2 Glencore Plc (JE) Stoxx50 372,10 +14,77 +18,00 17,0 4<br />
3 Nemetschek TecDax 82,00 +16,28 +80,42 17,0<br />
4 Gagfah (LU) MDax 14,84 +15,80 +59,19 16,5<br />
5 Fresenius Med.C. St Dax 53,92 +13,61 +8,82 14,3<br />
6 Stratec Biomed TecDax 41,00 +12,62 +36,28 13,3<br />
7 KUKA MDax 47,51 +12,53 +49,61 13,2 4<br />
8 Carl-Zeiss Meditec TecDax 23,67 +10,35 +0,64 11,0<br />
9 LEG Immobilien MDax 56,65 +9,77 +35,12 10,4<br />
10 Novartis (CH) Stoxx50 86,95 +7,74 +24,30 9,0 4<br />
11 National Grid (GB) Stoxx50 907,50 +9,21 +23,13 8,9<br />
12 Allianz Dax 133,15 +7,47 +20,33 8,1 4<br />
13 Gerresheimer MDax 55,78 +7,02 +21,39 7,7 5<br />
14 Sanofi S.A. (FR) Stoxx50 84,90 +6,97 +17,12 7,6 4<br />
15 Dt. Wohnen Inhaber MDax 17,26 +6,77 +31,50 7,4<br />
16 Ericsson LMB (SE) Stoxx50 88,45 +6,76 +5,80 7,4<br />
17 Qiagen (NL) TecDax 18,43 +6,50 +18,30 7,2 5<br />
18 Vodafone (GB) Stoxx50 209,50 +5,07 -13,62 7,2 4<br />
19 SAP Dax 59,09 +6,14 +9,02 6,8<br />
20 Axa (FR) Stoxx50 19,34 +5,71 +14,17 6,4 4<br />
21 Drillisch TecDax 29,23 +5,68 +75,21 6,4 4<br />
22 Rio Tinto (GB) Stoxx50 3230,50 +2,34 +4,89 6,3 4<br />
23 HSBC (GB) Stoxx50 655,30 +5,54 -5,23 6,2<br />
24 Zurich Insur. Grp (CH) Stoxx50 279,10 +4,45 +19,53 5,4<br />
Verlierer<br />
152 Bilfinger MDax 53,01 -38,14 -27,57 -37,5<br />
151 Software TecDax 20,05 -26,44 -14,47 -25,8<br />
150 Adidas Dax 58,30 -25,61 -26,90 -24,9<br />
149 QSC TecDax 2,44 -25,12 -33,03 -24,4<br />
148 Leoni MDax 46,63 -23,10 +9,23 -22,4<br />
147 Tesco (GB) Stoxx50 229,77 -22,11 -37,23 -20,7 5<br />
146 Jenoptik TecDax 9,97 -21,08 -4,13 -20,4<br />
145 Lufthansa Dax 13,52 -19,82 +4,56 -19,1 4<br />
144 PSI NA TecDax 11,50 -19,64 -14,24 -19,0<br />
1<br />
aus Dax, MDax, TecDax und Stoxx Europe 50 im Vergleich zum Stoxx Europe 600;<br />
2<br />
bei GB in Pence, bei CH in Franken; 3 Änderung um mindestens fünf Ränge; 4.9.2014,<br />
13:00 Uhr<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 123<br />
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Perspektiven&Debatte<br />
»Absoluter Mangel an<br />
kritischem Denken«<br />
INTERVIEW | Lew Gudkow Der Moskauer Meinungsforscher und Soziologe erklärt, wie<br />
Putin von der Ukraine-Krise profitiert und wieso die russische Bevölkerung ihm glaubt.<br />
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FOTOS: TRUNK ARCHIVE/PLATON, IMAGO/ITAR-TASS<br />
Herr Gudkow, Russlands Wirtschaft<br />
wächst kaum noch, der Kreml befördert<br />
offensichtlich den Krieg in der Ostukraine,<br />
der Westen setzt Moskau mit<br />
Sanktionen unter Druck. Stehen die<br />
Russen noch hinter ihrem Präsidenten<br />
Wladimir Putin?<br />
Absolut. Laut unseren Umfragen sind momentan<br />
81 Prozent der Russen mit der Arbeit<br />
des Präsidenten zufrieden. Eine solch<br />
hohe Unterstützung für Wladimir Putin<br />
würde überhaupt nur einmal übertroffen:<br />
während des Südossetien-Kriegs im August<br />
2008, als Putin vorübergehend Regierungschef<br />
war. Allerdings ist die Beliebtheit<br />
des Kremlchefs anschließend fast kontinuierlich<br />
gesunken – bis zu den Olympischen<br />
Winterspielen im Februar dieses Jahres, als<br />
kaum mehr als ein Viertel der Russen hinter<br />
dem Präsidenten stand.<br />
Also führt die Ukraine-Krise dazu, dass<br />
die Russen fest hinter ihrem Präsidenten<br />
stehen. Können Sie das erklären?<br />
Die Zustimmungsraten steigen nicht direkt<br />
wegen der Ukraine-Krise – sondern infolge<br />
der patriotischen Propaganda, die diese<br />
begleitet. Selbst zu Sowjetzeiten hat es<br />
nach meinem Erinnerungsvermögen nie<br />
eine so massive Propagandakampagne<br />
gegeben wie jene gegen die Ukraine: Man<br />
schafft mit selektiven Informationen, Teilwahrheiten,<br />
Emotionalisierungen, Lügen<br />
und Inszenierungen eine parallele Realität,<br />
wonach in der Ukraine <strong>vom</strong> Westen gesteuerte<br />
Faschisten am Werk sind, die einen<br />
Krieg gegen die eigene Bevölkerung führen<br />
und den Untergang Russlands wollen.<br />
Das funktioniert fantastisch effektiv und<br />
begründet mitunter die hohen Umfragewerte<br />
für Putin.<br />
Wie ist das möglich?<br />
In den vergangenen Jahren hat der russische<br />
Machtapparat die meisten Quellen alternativer<br />
Informationen dichtgemacht.<br />
Kritische Chefredakteure von Magazinen<br />
wie „Kommersant Wlast“ mussten gehen,<br />
die Nachrichtenagentur RIA Novosti bekam<br />
ein Kreml-Sprachrohr als Chef. Vor allem<br />
stehen sämtliche Fernsehkanäle entweder<br />
unter direkter staatlicher Kontrolle –<br />
oder ihre Besitzer sind staatstreue Oligarchen.<br />
Unabhängige Medien findet man<br />
allenfalls noch im Internet. Aber nur 20<br />
Prozent der Russen beziehen ihre Informationen<br />
über die Ukraine-Krise aus dem<br />
Netz, 94 Prozent hingegen bekommen sie<br />
aus dem Fernsehen.<br />
Können diese Augen lügen? Die Mehrheit<br />
der Russen steht hinter Wladimir Putin<br />
»Mit Lügen und<br />
Inszenierungen<br />
wird eine<br />
parallele Realität<br />
erschaffen«<br />
mus weckt. Denn das Fernsehen berieselt<br />
die Russen nicht nur mit tendenziösen<br />
Nachrichten, sondern sendet rund um die<br />
Uhr Dokumentationen etwa zur angeblichen<br />
Kollaboration der Ukrainer mit den<br />
Nazis. So werden Erinnerungen an den<br />
Kampf gegen den Faschismus wach, der<br />
für die Identität der Russen immer besonders<br />
wichtig war.<br />
Wie unterscheidet sich diese Propaganda<br />
von jener der Sowjetunion?<br />
Sie ist professioneller und effektiver. Denn<br />
heute kommt hinzu, dass die Russen ein<br />
DER RUSSLAND-ERKLÄRER<br />
Gudkow, 67, ist<br />
Direktor des<br />
Moskauer Lewada-<br />
Zentrums, des<br />
führenden unabhängigen<br />
Meinungsforschungsinstituts<br />
in Russland.<br />
Der Soziologe<br />
gilt als international<br />
renommierter<br />
Russland-Erklärer.<br />
Sind die Russen so leicht manipulierbar?<br />
In den meisten Ländern der ehemaligen<br />
Sowjetunion sind freiheitlich-demokratische<br />
Werte nicht weit verbreitet. Es<br />
herrscht ein absoluter Mangel an kritischem<br />
Denken. Was auch daran liegt, dass<br />
die meisten Russen ihre Heimat nie verlassen<br />
haben: Nur 18 Prozent besitzen einen<br />
Reisepass, weniger als zehn Prozent waren<br />
schon einmal im Westen. Davon ging es für<br />
die meisten nur in den Urlaub nach Ägypten<br />
oder in die Türkei. Die absolute Masse<br />
lebt unter depressiven Bedingungen in<br />
tristen Industriestädten oder abgelegenen<br />
Dörfern. Wenn man diesen Menschen erzählt,<br />
dass der Westen der Feind ist, dann<br />
glauben sie das. Zumal die aktuelle Propaganda<br />
auf uralte Mythen aus Sowjetzeiten<br />
trifft, sozusagen Ängste vor dem Faschisschwerer<br />
Minderwertigkeitskomplex plagt.<br />
Den Untergang der Sowjetunion haben<br />
viele nicht als Befreiung, sondern als nationale<br />
Demütigung erlebt – zumal die folgenden<br />
„demokratischen“ Jahre mit Chaos<br />
und dem wirtschaftlichen Abstieg verbunden<br />
waren. Wladimir Putin gibt den Russen<br />
ihr Selbstwertgefühl zurück...<br />
...und spielt dabei den Rambo der<br />
internationalen Politik, der sich an keine<br />
Regeln hält.<br />
Rowdytum kommt in Russland gut an,<br />
denn es steht für Russlands neue Stärke. Es<br />
gibt in Russland kein Verständnis für internationale<br />
Regeln. Intuitiv wertet man das<br />
Völkerrecht als selektiv angewandtes Instrument<br />
des Westens. Die einzig gültige<br />
Kategorie für die Russen ist Stärke. Das ist<br />
ein ernsthaftes Problem, das man auch im<br />
Westen noch nicht verstanden hat: Die<br />
Bevölkerung kann mit ihren Erwartungen<br />
die Politik vor sich hertreiben.<br />
Hilft diese Stimmung Putin, sich auf<br />
Dauer an der Macht zu halten?<br />
Lange Zeit basierte die Unterstützung des<br />
Putin-Regimes auf dessen ökonomischen<br />
Erfolgen. Bis 2008 herrschte hohes Wirtschaftswachstum,<br />
was mit steigenden Zustimmungsraten<br />
einherging. Seither hat<br />
sich das Wachstum deutlich abgeschwächt,<br />
die russische Wirtschaft stagniert<br />
und hilft Putin kaum mehr, seine<br />
Macht zu zementieren. Darum bedient<br />
sich das Regime jetzt der Sowjetmythen<br />
und unterdrückt möglichen Widerspruch<br />
mit repressiven Gesetzen. Aber irgendwann<br />
wird es nicht mehr ausreichen,<br />
niedriges Wachstum mit Patriotismus und<br />
Propagandaillusionen zu kaschieren. Die<br />
Zustimmungsraten für Putin können ebenso<br />
schnell wieder sinken, wie sie seit<br />
Februar gestiegen sind.<br />
Könnten die Sanktionen des Westens<br />
dazu beitragen?<br />
Paradoxerweise ist die Angst vor Sanktionen<br />
im August niedriger, als sie im Mai<br />
dieses Jahres war. Die Russen haben bislang<br />
keine direkten Auswirkungen gespürt.<br />
Das könnte sich allerdings ändern,<br />
wenn der Sommer vorbei ist und die<br />
Regale in den Geschäften wirklich leer<br />
werden. Aber selbst das Embargo gegen<br />
westliche Lebensmittel trifft allenfalls die<br />
Mittelschicht in den Städten – die Leute<br />
in Sibiriens Dörfern versorgen sich selbst.<br />
In der breiten Masse ist die Bevölkerung<br />
erst betroffen, wenn die Inflation steigt<br />
und es mit der Wirtschaft weiter bergab<br />
geht.<br />
n<br />
florian.willershausen@wiwo.de<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 125<br />
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Perspektiven&Debatte | Kost-Bar<br />
ALLES ODER NICHTS?<br />
WOLFGANG OTTO<br />
Mitgründer und -inhaber<br />
des Fleischversandhandels<br />
Otto Gourmet<br />
Aktien oder Gold?<br />
Aktien nur <strong>vom</strong> eigenen<br />
Unternehmen.<br />
Cabrio oder SUV?<br />
Cabrio – wenn Autofahren,<br />
dann mit Freiheitsgefühl.<br />
Apartment oder Villa?<br />
Villa – je großzügiger, desto<br />
besser.<br />
Fitnessstudio oder<br />
Waldlauf?<br />
Weder noch – gehe lieber auf<br />
dem Golfplatz spazieren.<br />
Paris oder London?<br />
London – kulinarisch gesehen<br />
gibt es keine besser Stadt.<br />
Nass oder trocken rasieren?<br />
Trocken mit Rückständen –<br />
mindestens drei Millimeter<br />
bleiben stehen.<br />
Maßschuhe oder Sneakers?<br />
Sneakers passen zum Anzug<br />
und bringen Farbe in den<br />
Alltag.<br />
Rotwein oder Weißwein?<br />
Egal, Hauptsache der<br />
Wein ist gut und von einem<br />
befreundeten Winzer.<br />
Mountainbike oder<br />
Rennrad?<br />
Mountainbike – Berge sind<br />
besser als Straßen, und der<br />
Hintern tut nicht ganz so weh.<br />
Tee oder Kaffee?<br />
Die erste Tasse am Morgen<br />
ist Tee, danach ist Kaffee<br />
einfacher zu beschaffen.<br />
WIKINGER IN BERLIN<br />
Frühe Globalisierer<br />
So haben wir uns die Wikinger immer vorgestellt: als Schwerter zückende Schreckensmänner.<br />
Dabei zeigen die im 12. Jahrhundert aus Walrosszahn geschnitzten<br />
Schachfiguren (Bild), dass die Krieger aus dem hohen Norden auch geschickte<br />
Handwerker waren. Die Ausstellung des Berliner Museums für Vor- und Frühgeschichte<br />
präsentiert die Wikinger <strong>vom</strong> 10. September an als globale Seefahrer, die<br />
auf ihren Expeditionen Richtung Westen den Atlantik überquerten und im Osten<br />
Handel trieben mit Städten wie Byzanz. Neben Waffen, Werkzeug und Schmuck<br />
wird im Lichthof des Martin-Gropius-Baus erstmals das mit 37 Meter Länge größte<br />
erhaltene Wikingerschiff zu sehen sein: die 1996 entdeckte und bis 2012 restaurierte<br />
Roskilde 6, die einst 78 Ruderern Platz bot. museumsportal-berlin.de<br />
MUSIK IN FRANKFURT<br />
Aufbrüche<br />
Gleich zweimal ist Beethovens<br />
Streichquartett opus 131 beim<br />
Musikfest der Alten Oper zu<br />
hören: in der Interpretation des<br />
Hagen- und des Amaryllis<br />
Quartetts. Das Schlüsselwerk,<br />
ein Zeugnis für das Neue in der<br />
Musik, steht im Zentrum des<br />
Festivals, das sich <strong>vom</strong> 21. 9. bis<br />
5. 10. Aufbrüchen in der Kunst<br />
widmet. So spielt das Frankfurter<br />
Opernorchester Hans Rotts<br />
selten aufgeführte 1. Sinfonie,<br />
und Igor Levit präsentiert<br />
neben Beethovens „Hammerklaviersonate“<br />
die „Thälmann<br />
Variations“ des Briten Cornelius<br />
Cardew. alteoper.de<br />
THE NEW YORKER<br />
„Can I put this on your bulletin board?<br />
The one in the hall is totally crazy.“<br />
FOTO: HELGE KIRCHBERGER PHOTOGRAPHY/GERALD RIHAR; SCHACHFIGUREN „SCHILDBEISSER“, 1150–1175 N. CHR., WALROSSZAHN. ISLE OF LEWIS, ÄUSSERE HEBRIDEN, SCHOTTLAND. MUSEUM, LONDON;<br />
CARTOON: P.C. VEY/CONDÉ NAST PUBLICATIONS/WWW.CARTOONBANK.COM<br />
126 Redaktion: thorsten.firlus@wiwo.de<br />
Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Leserforum<br />
Deutschland beliefen sich 2013<br />
auf 812 Milliarden Euro. Für<br />
2020 rechnet man mit einer Billion.<br />
Was, wenn Deutschland so<br />
unproduktiv und so ineffizient<br />
verwaltet wird wie Griechenland?<br />
Also: Was machen die<br />
anderen ohne ein zahlendes<br />
Deutschland?<br />
Wolfram Wiesel, via E-Mail<br />
Rösrath (Nordrhein-Westfalen)<br />
lando und Co., indem sie ihnen<br />
im krassen Gegensatz zu kleinen<br />
Boutiquen und herkömmlichen<br />
Einzelhändlern üppige<br />
Subventionen gewährt. Weswegen<br />
vor allem Wirtschaftsminister<br />
Gabriel hier in der Pflicht<br />
steht, eine Kehrtwende zugunsten<br />
des Mittelstandes und damit<br />
einer echten sozialen<br />
Marktwirtschaft einzuleiten.<br />
Abwehrbereit Peschmerga-Soldat am Maschinengewehr<br />
Politik&Weltwirtschaft<br />
Über das Für und Wider eines<br />
bewaffneten Einsatzes im Irak.<br />
Heft 35/2014<br />
Aufwachen<br />
Wenn unschuldige Männer<br />
durch mordlustige Psychopathen<br />
nach Lust und Laune abgeschlachtet<br />
werden, Frauen<br />
und Kinder systematisch vergewaltigt<br />
und verstümmelt werden<br />
und die Freiheit durch eine<br />
krankhafte Ideologie ersetzt<br />
wird, dann können wir uns eine<br />
realitätsfremde Debatte um<br />
Pro und Contra nicht mehr leisten.<br />
Es gibt in dieser Situation<br />
nur eine einzige Aufgabe: sofortige<br />
Verteidigung der in Not<br />
geratenen Bevölkerung und<br />
Vernichtung der Aggressoren.<br />
Niemand sollte so naiv sein und<br />
glauben, dass sich die ISIS-Terroristen<br />
nur auf den Irak und<br />
Syrien beschränken werden. Es<br />
wird Zeit, dass Europa endlich<br />
aufwacht und der massiven Bedrohung<br />
mutig und entschlossen<br />
entgegentritt.<br />
Stephan Lanhenke, via E-Mail<br />
Erwitte (Nordrhein-Westfalen)<br />
Einblick<br />
Henning Krumrey über die europäische<br />
Finanzpolitik und ihren Irrweg.<br />
Heft 36/2014<br />
Doppelmoral<br />
Ein treffender Beitrag, dem wenig<br />
hinzuzufügen ist. Eins<br />
möchte ich allerdings verdeutlichen:<br />
Zulasten Dritter lässt sich<br />
bequem leben – Europäer hin<br />
oder her. Und Deutschland<br />
wird größter Verlierer sein! Wer<br />
bloß des Geldes wegen oder um<br />
der Sozialisierung der Schulden<br />
willen das europäische Signal<br />
schwingt, wird aus meiner Sicht<br />
von einer Doppelmoral geleitet.<br />
Bei näherer Betrachtung behindert<br />
der Dissens der nationalen<br />
Egoismen das Europa aus einem<br />
Guss – jenseits monetärer<br />
Sichtweisen. Ich bin überzeugter<br />
Europäer.<br />
Karl Heinz Schmehr, via E-Mail<br />
Lampertheim (Hessen)<br />
Der Volkswirt<br />
ifo-Präsident Hans-Werner Sinn über<br />
die Folgen der Ein-Kind-Politik in<br />
China. Heft 36/2014<br />
Mehr Verantwortung<br />
Besten Dank für den interessanten<br />
Vergleich der Geburtenrate<br />
zwischen China und Deutschland.<br />
Es zeigt sich erneut, dass<br />
„Sozialisierung“ eben auch dazu<br />
führt, dass man sich entzieht<br />
beziehungsweise entziehen<br />
kann. Die Zahl der Geburten in<br />
Deutschland hat sich seit 1964<br />
halbiert. Von Deutschland<br />
wird aber in Zukunft erwartet,<br />
dass es mehr Verantwortung<br />
übernimmt. Sprich: mehr<br />
zahlen soll. Nur, wie soll es gehen?<br />
Die Sozialausgaben in<br />
Der Volkswirt<br />
Mariana Mazzucato zerstört<br />
den Mythos <strong>vom</strong> Garagen-Erfinder.<br />
Heft 35/2014<br />
Höhere Steuer<br />
Politiker ändern kurzfristig die<br />
Spielregeln, siehe Energiewende.<br />
Nur deshalb folgt das Kapital<br />
kurzfristigen Renditeinteressen.<br />
Langfristig stabile und verlässliche<br />
Rahmenbedingungen lassen<br />
Unternehmer auch wieder<br />
etwas wagen. Der Staat müsste<br />
für Schäden durch Regeländerung<br />
haften. Verzicht auf jegliche<br />
Unternehmenssteuern<br />
würde Investitionen wieder<br />
sprudeln lassen. Steuern sind<br />
Kosten, die über die Preise immer<br />
beim Verbraucher landen.<br />
Eine höhere Mehrwertsteuer ist<br />
da transparenter und ehrlicher.<br />
Wilfried Doberstein, via E-Mail<br />
Bremen<br />
Märkte&Unternehmen<br />
Rocket Internet: Deutschlands<br />
größtes Online-Konglomerat ist eine<br />
Wette auf die Zukunft. Heft 35/2014<br />
Kehrtwende<br />
Die Kritik an den Samwer-Brüdern<br />
greift meines Erachtens zu<br />
kurz, auch wenn das Klonen<br />
von bereits erfolgreichen Geschäftsmodellen,<br />
wie Sie es in<br />
Ihrem Artikel beschreiben,<br />
sicherlich keine intellektuelle<br />
Leistung bedeutet, auf die man<br />
stolz sein kann. Denn erstens<br />
entspricht das Dagobert-Duck-<br />
Denken ohne immaterielle<br />
Werte nur dem, was man immer<br />
noch an den meisten Business<br />
Schools lernt. Und zweitens<br />
trägt die öffentliche Hand<br />
eine erhebliche Mitverantwortung<br />
für den Siegeszug von Za-<br />
Rasmus Ph. Helt, via E-Mail<br />
Hamburg<br />
Gratulation<br />
Nichts ist spannender als Wirtschaft<br />
– und wenig unterhaltsamer<br />
durch die Kombination<br />
von sachlicher Substanz und<br />
sprachlicher Brillanz. Wie dieses<br />
Mal in Ihrer Samwer-Titelstory.<br />
Die WirtschaftsWoche<br />
lässt Zusammenhänge erkennen<br />
und deckt dadurch Widersprüchlichkeit<br />
auf. Höchst instruktiv<br />
ist die Auflistung der<br />
Zalando-Subventionen. Gratulation<br />
zu dieser Geschichte.<br />
Wolfgang Reeder, via E-Mail<br />
Neuwied (Rheinland-Pfalz)<br />
Geld&Börse<br />
Die Unterhaltungsbranche wandelt<br />
sich. Anleger sollten sich früh positionieren.<br />
Heft 34/2014<br />
Treffend<br />
Einen Artikel wie „Kampf ums<br />
Ohr“ habe ich schon länger erwartet,<br />
denn es findet ein gewaltiger<br />
Wandel in der Branche<br />
statt. Umfassend recherchiert<br />
und alle wichtigen Facetten<br />
ausleuchtend, beschreiben Sie<br />
den digitalen Umbruch in der<br />
Musik- und vermutlich, mit Verzögerung<br />
folgend, in allen Medienbranchen.<br />
Andreas Wisbauer, via E-Mail<br />
Berlin<br />
Leserbriefe geben die Meinung des<br />
Schreibers wieder, die nicht mit der<br />
Redaktionsmeinung übereinstimmen<br />
muss. Die Redaktion behält sich vor,<br />
Leserbriefe gekürzt zu veröffentlichen.<br />
WirtschaftsWoche<br />
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128 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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São Paulo Alexander Busch*, R. Otavio de Moraes<br />
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Shanghai Philipp Mattheis*, 100 Changshu Lu, No 2/App. 105,<br />
200040 Shanghai,<br />
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Tokio Martin Fritz*, c/o Foreign Correspondents’ Club of Japan<br />
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Konrad Handschuch (Politik&Weltwirtschaft, Der Volkswirt),<br />
Stephanie Heise (Unternehmen&Märkte), Hauke Reimer<br />
(Geld&Börse), Manfred Engeser (Management&Erfolg),<br />
Thorsten Firlus (Perspektiven&Debatte), Hermann J. Olbermann<br />
(Menschen der Wirtschaft), Lothar Kuhn (Technik&Wissen)<br />
ONLINE<br />
Leitung Franziska Bluhm<br />
Stellvertretende Leitung Dr. Silke Fredrich<br />
Chef <strong>vom</strong> Dienst Daniel Rettig<br />
Redaktion Stephan Happel, Kathrin Grannemann, Ferdinand Knauß,<br />
Saskia Littmann, Meike Lorenzen, Tim Roman Rahmann, Jana Reiblein,<br />
Sebastian Schaal, Andreas Toller<br />
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Die Angaben bezeichnen den<br />
Anfang des jeweiligen Artikels<br />
A<br />
A.T. Kearney.............................................................................. 86<br />
Acer..........................................................................................51<br />
Actelion.................................................................................. 123<br />
ADAC Postbus........................................................................... 58<br />
Adidas.........................................................................12, 98, 104<br />
AEB.......................................................................................... 78<br />
Aldi...........................................................................................68<br />
Alibaba..................................................................................4, 48<br />
Allianz.....................................................................................121<br />
Amazon.........................................................................10, 48, 64<br />
Andreessen Horowitz.................................................................97<br />
AOK.......................................................................................... 86<br />
Apple...........................................................48, 51, 54, 86, 90, 94<br />
Aston Martin............................................................................. 14<br />
AT&T....................................................................................... 104<br />
Audi................................................................................ 9, 56, 98<br />
Automatic Labs......................................................................... 97<br />
Axa........................................................................................... 86<br />
Azumio......................................................................................86<br />
B<br />
Baidu........................................................................................ 48<br />
Banesto.................................................................................. 104<br />
Barmer GEK...............................................................................86<br />
BASF.......................................................................................104<br />
Bayer................................................................................ 82, 104<br />
BB Biotech..............................................................................123<br />
Beiersdorf...............................................................................119<br />
Belkin....................................................................................... 97<br />
Roland Berger...................................................................... 56, 98<br />
Bertelsmann..............................................................................14<br />
BMW....................................................... 8, 9, 56, 60, 63, 98, 104<br />
Bosch....................................................................................... 78<br />
C<br />
Catalys......................................................................................51<br />
Caterna Vision........................................................................... 86<br />
CCE...........................................................................................51<br />
Celesio....................................................................................104<br />
Celgene...................................................................................123<br />
Comcast..................................................................................104<br />
comma soft............................................................................... 14<br />
Commerzbank........................................................................... 98<br />
CompuGroup Medical................................................................ 86<br />
Congstar................................................................................... 68<br />
D<br />
Daimler................................................................8, 9, 56, 64, 104<br />
Datev.................................................................................... 4, 16<br />
DB Regio Nordost...................................................................... 58<br />
Dell...........................................................................................51<br />
Delo..........................................................................................72<br />
Deutsche Bahn....................................................................58, 98<br />
Deutsche Bank........................................................................104<br />
Deutsche BKK........................................................................... 86<br />
Deutsche Börse.........................................................................56<br />
Deutsche Lufthansa...........................................................12, 104<br />
Deutsche Telekom.............................................................68, 104<br />
diffferent...................................................................................98<br />
DirecTV................................................................................... 104<br />
Drillisch.....................................................................................68<br />
Dropbox.................................................................................... 97<br />
E<br />
Ebay..........................................................................................97<br />
EDM Einfach Direkt Media..........................................................14<br />
einfachlotto...............................................................................14<br />
emagine....................................................................................12<br />
Engelhard................................................................................104<br />
E-Plus....................................................................................... 68<br />
Ernst & Young............................................................................16<br />
Evernote....................................................................................97<br />
F<br />
Facebook.....................................................................48, 98, 104<br />
Fanatics.................................................................................... 48<br />
Flickr.........................................................................................97<br />
Flixbus...................................................................................... 58<br />
Flying Health............................................................................. 86<br />
Freenet................................................................................... 104<br />
Fresenius Medical Care............................................................104<br />
G<br />
Gea...........................................................................................78<br />
Gematik.................................................................................... 86<br />
Germania.................................................................................. 10<br />
GfK......................................................................................... 104<br />
GFT Technologies...................................................................... 12<br />
Gilead..................................................................................... 123<br />
GlaxoSmithKline...................................................................... 121<br />
Google...............................................................48, 51, 86, 94, 98<br />
H<br />
Haier.........................................................................................48<br />
Hanson................................................................................... 104<br />
HeidelbergCement...................................................................104<br />
Hewlett-Packard........................................................................51<br />
Hotelplan.................................................................................. 10<br />
HTC.......................................................................................... 98<br />
Huawei................................................................................48, 51<br />
Hydroconnect..............................................................................9<br />
I<br />
IBM...............................................................................51, 54, 86<br />
IFTTT........................................................................................ 97<br />
Instagram..................................................................................98<br />
Intel.......................................................................................... 51<br />
Intersport..................................................................................12<br />
J<br />
Janssen Cilag.............................................................................86<br />
Jenoptik..................................................................................120<br />
Johnson & Johnson....................................................................86<br />
K<br />
Kärcher............................................................................... 10, 78<br />
Klara.........................................................................................86<br />
KPMG..................................................................................14, 82<br />
L<br />
L’Oréal......................................................................................98<br />
Lanxess...................................................................................104<br />
L-Bank...................................................................................... 78<br />
Legend Holding......................................................................... 51<br />
Lenovo.......................................................................... 48, 51, 54<br />
LG.............................................................................................90<br />
Linde...................................................................................... 104<br />
Linkedin....................................................................................97<br />
Lyft........................................................................................... 48<br />
M<br />
Mammut................................................................................... 12<br />
Mastercard................................................................................12<br />
Mayo Clinic................................................................................86<br />
McKinsey............................................................................ 63, 82<br />
Medexo.de................................................................................ 86<br />
Medion..........................................................................48, 51, 54<br />
Meinfernbus..............................................................................58<br />
Mercedes....................................................................................8<br />
Merck & Co....................................................................... 86, 104<br />
MetroPCS................................................................................104<br />
Metrovacesa........................................................................... 104<br />
Microsoft.............................................................................48, 51<br />
Migros.......................................................................................10<br />
Millward Brown..........................................................................98<br />
Moody’s.................................................................................... 56<br />
Moovel......................................................................................64<br />
Motorola............................................................................. 48, 54<br />
MSD Sharp & Dohme................................................................. 86<br />
Mücke, Sturm & Company..........................................................86<br />
Multivac....................................................................................82<br />
Münchener Rück..................................................................... 120<br />
MyDriver................................................................................... 64<br />
MyTaxi.......................................................................................64<br />
N<br />
NEC.................................................................................... 51, 54<br />
Nielsen......................................................................................98<br />
Nissan.................................................................................60, 63<br />
Nobina...................................................................................... 60<br />
Nokia........................................................................................ 51<br />
Norwest Venture Partners..........................................................97<br />
Novartis............................................................................ 82, 121<br />
O<br />
Oddset...................................................................................... 14<br />
Opel..........................................................................................98<br />
P<br />
PayPal.......................................................................................98<br />
Pester Pac Automation.............................................................. 82<br />
Peugeot.................................................................................. 104<br />
Pfizer........................................................................................ 82<br />
Philips.................................................................................86, 97<br />
Phoenix.....................................................................................56<br />
Pinterest................................................................................... 98<br />
Prime Consultancy.....................................................................78<br />
Puma...................................................................................... 104<br />
Q<br />
Qoros........................................................................................48<br />
QQ............................................................................................ 48<br />
R<br />
Raichle......................................................................................12<br />
Renal Care.............................................................................. 104<br />
Renault............................................................................... 14, 63<br />
Riot Games................................................................................48<br />
Ritter Sport............................................................................... 12<br />
Rock Health...............................................................................86<br />
RWE........................................................................................104<br />
Ryanair..................................................................................... 12<br />
S<br />
Samsung................................................................. 48, 51, 54, 90<br />
SAP.............................................................................10, 86, 104<br />
SBB.......................................................................................... 58<br />
Schöffel.................................................................................... 12<br />
SGL...........................................................................................56<br />
Shoprunner............................................................................... 48<br />
Siemens...................................................................... 10, 86, 104<br />
Sixt........................................................................................... 64<br />
SKW Stahl-Metallurgie............................................................. 104<br />
Sky......................................................................................... 104<br />
SmartPatient.............................................................................86<br />
SocialFlow.................................................................................98<br />
Sony......................................................................................... 98<br />
Soundcloud.........................................................................10, 98<br />
Spotify...................................................................................... 98<br />
Stihl..........................................................................................72<br />
T<br />
Tango........................................................................................48<br />
Telefónica................................................................................. 68<br />
Tencent.....................................................................................48<br />
Tesla............................................................................. 56, 60, 63<br />
The North Face..........................................................................12<br />
ThyssenKrupp................................................................... 56, 104<br />
Time Warner Cable.................................................................. 104<br />
Tönnies....................................................................................... 9<br />
Toray.........................................................................................56<br />
Transnova................................................................................. 60<br />
Trigema.....................................................................................12<br />
Tumblr...................................................................................... 98<br />
Twitter.................................................................................48, 98<br />
U<br />
Uber..........................................................................................64<br />
UniCredit.................................................................................104<br />
Unionpay...................................................................................48<br />
V<br />
van Laack..................................................................................78<br />
VDO Automative...................................................................... 104<br />
VF.............................................................................................12<br />
Vine.......................................................................................... 98<br />
Visa...........................................................................................48<br />
Vodafone...................................................................................68<br />
Voith......................................................................................... 56<br />
Volkswagen....................................................8, 12, 48, 56, 60, 63<br />
W<br />
Wal-Mart...................................................................................48<br />
Washabich.de............................................................................86<br />
WeChat..................................................................................... 48<br />
Weixin.......................................................................................48<br />
WhatsApp......................................................................... 48, 104<br />
wpb.......................................................................................... 72<br />
X<br />
Xiaomi.......................................................................................48<br />
XL Health.................................................................................. 86<br />
Y<br />
Youku........................................................................................48<br />
Youtube...............................................................................48, 98<br />
YPF.........................................................................................120<br />
Z<br />
ZocDoc..................................................................................... 86<br />
WirtschaftsWoche 8.9.2014 Nr. 37 129<br />
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Ausblick<br />
„Rosneft und andere russische<br />
Unternehmen werden sich<br />
streng an ihre Lieferverträge<br />
halten. Sanktionen sind eine Art<br />
von Krieg. So wird Hass gesät.“<br />
Igor Setschin<br />
Chef des russischen Ölkonzerns<br />
Rosneft<br />
„Autobahnabschnitte durch<br />
Privatinvestoren bauen<br />
zu lassen darf kein Tabu sein.“<br />
Marcel Fratzscher<br />
Präsident des Deutschen Instituts<br />
für Wirtschaftsforschung (DIW),<br />
über Alternativen zur Pkw-Maut<br />
„Heute kämpft die Ukraine<br />
einen Krieg im<br />
Namen ganz Europas.“<br />
Dalia Grybauskaitė<br />
Präsidentin von Litauen<br />
„One apple a day<br />
keeps Putin away.“<br />
Christian Schmidt<br />
Bundesagrarminister (CSU), über<br />
das russische Agrarembargo<br />
und die Angst deutscher Bauern, auf<br />
ihrer Ernte sitzen zu bleiben<br />
„Da werden Haltungsnoten<br />
verteilt wie beim Sport.<br />
Jeder wirft von der Außenlinie<br />
Kommentare rein.“<br />
Hartmut Mehdorn<br />
Chef des neuen Berliner Flughafens<br />
BER, über die Einmischung von<br />
Politikern beim Bau des Projekts<br />
„I will polish my English.“<br />
Donald Tusk<br />
Polens scheidender Regierungschef<br />
und neuer Ratspräsident der EU,<br />
zur Kritik an seinen mangelnden<br />
Englischkenntnissen<br />
„Ich freue mich über immer<br />
mehr mächtige Männer,<br />
die inzwischen ohne Scheu<br />
ihre weiche Seite zeigen.“<br />
Ursula von der Leyen<br />
Bundesverteidigungsministerin (CDU)<br />
„Sein Alter kann man<br />
nicht ändern.“<br />
Federica Mogherini<br />
Italiens scheidende Außenministerin,<br />
41, und neue Außenbeauftragte<br />
der EU, zur Kritik an ihrer geringen<br />
internationalen Erfahrung<br />
„Anfang des Jahres dachten wir,<br />
es geht nur noch aufwärts.<br />
Das ist jetzt vorbei. Deutschland<br />
ist kein Schlaraffenland,<br />
wo uns die gebratenen Tauben<br />
einfach so in den Mund fliegen.<br />
Wir müssen wirklich etwas tun.“<br />
Eric Schweitzer<br />
Präsident des Deutschen Industrieund<br />
Handelskammertags (DIHK)<br />
„Ich bin jetzt in einer Situation,<br />
in der ich kluge Ratschläge<br />
geben kann. Und das mache<br />
ich jetzt auch.“<br />
Klaus Wowereit<br />
Regierender Bürgermeister von<br />
Berlin, nach seiner Rücktrittserklärung<br />
zur Olympiabewerbung<br />
der Stadt<br />
„Wir können nicht nur<br />
der Betriebsrat der Nation sein.<br />
Wir müssen auch die Frage<br />
beantworten, wie Deutschlands<br />
Wirtschaft in der Weltspitze<br />
bleiben kann.“<br />
Sigmar Gabriel<br />
Bundeswirtschaftsminister und<br />
SPD-Vorsitzender, über die Aufgaben<br />
seiner Partei<br />
„Es gibt derzeit in<br />
Europa einen Flickenteppich.<br />
Es sollte eine einheitliche<br />
europäische Maut geben. Das<br />
Geld müsste dann beim jeweiligen<br />
Nationalstaat bleiben.“<br />
Volker Kauder<br />
Vorsitzender der<br />
CDU/CSU-Bundestagsfraktion<br />
»Niemand muss fürchten, dass<br />
in diesem Winter seine<br />
Wohnung kalt bleibt. Daran hat Putin<br />
überhaupt kein Interesse.«<br />
Johannes Teyssen<br />
Vorstandsvorsitzender des Energiekonzerns E.On, über die Angst vor einem<br />
Stopp von Gaslieferungen aus Russland aufgrund der Ukraine-Krise<br />
„Ich habe alles Geld,<br />
das ich verdient habe, sofort<br />
wieder reinvestiert.<br />
Hätte ich es auf der Bank<br />
gelassen, wäre es emotional<br />
weniger wert als das, was<br />
ich daraus gemacht habe.“<br />
Reinhold Messner<br />
Bergsteiger<br />
„Wenn ich samstags<br />
nachmittags um 16 Uhr<br />
manchmal sage, dass ich jetzt<br />
gehen will, sagen meine<br />
Mitarbeiter, dass ich zum<br />
nächsten Termin müsste.<br />
Nein, ich muss auch mal<br />
nach Hause!“<br />
Angela Merkel<br />
Bundeskanzlerin (CDU)<br />
ILLUSTRATION: JAN PHILIPP SCHWARZ<br />
130 Nr. 37 8.9.2014 WirtschaftsWoche<br />
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