Wirtschaftswoche Ausgabe vom 15.09.2014 (Vorschau)
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
38
15.9.2014|Deutschland €5,00
3 8
4 1 98065 805008
Gefährlicher als die NSA
Was Finanzkonzerne über Sie wissen
Die neue Fernseh-Freiheit
Netflix schreckt die Sender auf
Wie
tief
geht’s
runter...
...mit Euro, Zins
und Konjunktur?
Schweiz CHF 8,20 | Österreich €5,30 | Benelux€5,30 | Griechenland€6,00 | GroßbritannienGBP 5,40 | Italien€6,00 | Polen PLN27,50 | Portugal€6,10 | Slowakei €6,10 | Spanien€6,00 | Tschechische Rep. CZK200,- | Ungarn FT 2140,-
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Einblick
Als wäre Murphys Gesetz die Gründungsakte von
EZB und EU: Was mit Europas Währung schiefgehen
kann, geht schief. Von Henning Krumrey
Höllischer Abgrund
FOTO: WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
In vielen Brüsseler Büros hängt, gern
in der Sprache des jeweiligen Bewohners,
derselbe Witz über Wohl und
Wehe der europäischen Einigung:
„Der Himmel ist dort, wo die Briten die
Polizisten sind, die Franzosen die Köche,
die Deutschen die Mechaniker, die Italiener
die Liebhaber, und organisiert wird
alles von den Schweizern.
Die Hölle ist dort, wo die Briten die Köche
sind, die Franzosen die Mechaniker,
die Schweizer die Liebhaber, die Deutschen
die Polizisten, und organisiert wird
alles von den Italienern.“
Der neue EU-Kommissionspräsident
Jean-Claude Juncker hat sich für die höllische
Variante entschieden. Er setzt an die
wirtschaftlich entscheidenden Machthebel
Personen, die mit den jeweiligen Zielen
nichts anfangen können oder wollen: den
Stabilitätssünder Pierre Moscovici aus
Frankreich als Währungshüter, den Bankenfreund
Jonathan Hill aus Großbritannien
als Zuchtmeister der Finanzmärkte,
die Freihandels-Skeptikerin Cecilia Malmström
aus Schweden als Förderin des Warenverkehrs.
Juncker verklärt sein Personaltableau
zum diabolischen Schachzug: Frühere
Sünder könnten den aktuellen Übeltätern
am besten erklären, was falsch läuft. Was er
verschweigt:Das funktioniert nur, wenn sie
inzwischen geläutert wären. Aber Fehlanzeige.
Ein trockener Alkoholiker kann vielleicht
überzeugendes Vorbild für Abstinenz
sein; ein Fuselfreund im Vollrausch
wohl kaum.
Auch Mario Draghi, Präsident der Europäischen
Zentralbank, schaut in den Abgrund.
Seit der Entscheidung der EZB, die
Zinsen auf den Minirekord von 0,05 Prozent
zu schrumpfen, bewegt sich der Euro
nur noch in eine Richtung: nach unten.
Dieser Absturz ist gewollt – und im günstigsten
Fall nutzlos. Zwei Ziele wollen die
Notenbanker erreichen: die Inflation anheizen
und die Kreditvergabe an Unternehmen
in Südeuropas Krisenstaaten ankurbeln.
Das soll die von ihnen registrierte Deflationsgefahr
bannen und zudem die schwächelnde
Konjunktur auf Trab bringen.
Denn je flauer der Euro-Wechselkurs,
desto teurer werden die Einfuhren von
Rohstoffen bis Lebensmitteln. Erdöl aus
Arabien, Erdgas aus Russland, Erdbeeren
aus Israel und Erdnüsse aus den USA sollen
also die Preise in Europa nach oben treiben.
Das kann vielleicht noch funktionieren.
Schließlich kennt die Wirtschaftsgeschichte
genügend Beispiele, in denen sich
die Menschen von der Geldpolitik übertölpeln
ließen. Beispielsweise wenn diese
die Geldillusion nutzte, um über eine künstlich
erzeugte Inflation die Beschäftigung
anzukurbeln – wenn auch als Strohfeuer.
Die Gesetze des (Binnen-)Marktes lassen
sich dagegen nicht so einfach außer Kraft
setzen. Zwar werden mit der Abwertung die
Exporte aus Europa billiger. Doch die Südländer
werden davon nicht viel profitieren,
weil ihre wichtigsten Abnehmerländer innerhalb
der Euro-Zone liegen. Eine Maschine
aus Griechenland, ein Auto aus spanischer
Produktion kosten in Deutschland
oder Frankreich genauso viel wie bisher.
WANN ZAHLT DER SPARER STRAFE?
Mehr Kredite für Mittelständler in Südeuropa
wird es so nicht geben. Hatten die bisher
keine Projekte oder kein Vertrauen, die
bei einem Zins von 0,15 Prozent Investoren
anlockten, wird dies bei 0,05 Prozent nicht
anders sein. Auch die kühnste Idee funktioniert
nicht, wenn es keinen Absatzmarkt
gibt. Strafzinsen für geparktes Geld wird es
bald nicht nur für, sondern auch von Banken
geben, getarnt als höhere Gebühren.
Tagesgeld für größere Beträge rentiert heute
schon schwächer als für Minisummen.
Von Finanzminister Wolfgang Schäuble
weiß man, dass er Draghis Politik für hilflosen
Aktionismus hält, der bloß Tatkraft suggerieren
soll. Daheim beharrt die Bundesregierung
zu Recht auf ihrem Sparkurs und
predigt Reformen und Enthaltsamkeit in
den Mühen der Ebene. In Europa dagegen
schaut die Bundesregierung machtlos zu,
wie andere die Währungspolitik dominieren.
Und sie duldet, dass immer neue
Schuldengebirge aufgetürmt werden. Falls
Draghi wieder einen Absturz des Euro organisieren
will: Die Klippe ist gebaut. n
WirtschaftsWoche 15.9.2014 Nr. 38 5
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Überblick
Menschen der Wirtschaft
8 Seitenblick Wo Unternehmen einstellen
10 Taxi-Streit: Gabriel fordert neue Gesetze
11 Breitband: Neuer Finanzierungsvorschlag |
Rocket Internet:Berger wird Aufsichtsrat
12 Interview: Porsche-Betriebsrat Uwe Hück
sorgt sich um die Exklusivität der Sportwagenmarke
| UKW: Angriff auf das Monopol
13 Asyl: Schlechtere Unterkünfte | Daimler:
Kampf um junge Kunden | Forschung:
Erfolgreiche Förderung
14 Chefsessel | Start-up Inventorum
16 Chefbüro Thomas Nau, Deutschland-Chef
von American Express
Politik&Weltwirtschaft
18 Geldpolitik Mit Nullzinsen und umstrittenen
Wertpapiergeschäften schickt Zentralbankchef
Mario Draghi den Euro auf Talfahrt | So
trifft eine Schwachwährung deutsche Unternehmen
| Worauf Anleger achten müssen
28 EU-Kommission Was auf den deutschen
Kommissar Günther Oettinger zukommt
30 Europa Das schottische Referendum
könnte den Separatismus beflügeln
32 Global Briefing
Interview: Claude-France Arnould Die
Geschäftsführerin der Europäischen Verteidigungsagentur
hält nichts vom Sparen
36 Forum Fünf Thesen zur Reform des
Emissionsrechtehandels in der EU
37 Berlin intern
Der Volkwirt
38 Kommentar | New Economics
39 Denkfabrik Martin Feldstein fordert eine radikale
Unternehmenssteuerreform in den USA
40 Nachgefragt: Axel Ockenfels Der Kölner
Top-Ökonom über den Vormarsch der
experimentellen Wirtschaftsforschung
Unternehmen&Märkte
42 Netflix Der Online-Video-Riese aus den
USA greift die etablierten TV-Sender an |
Interview: WDR-Manager Michael Loeb will
eigene Internet-TV-Plattformen aufbauen
48 Sanktionen Eine exklusive Studie zeigt,
welche Branchen am meisten leiden | Die
Probleme der russischen Autoindustrie
54 Eiscreme Der Marktführer verkauft Rosen
und heuert bei der Konkurrenz an
56 Warenhäuser Mitten im Karstadt-Drama erstrahlt
in Görlitz ein Jugendstil-Kaufhaus neu
58 Interview Andreas Nauen Der Chef des
Windradbauers Senvion rechnet mit neuen
Großaufträgen für Offshore-Parks
60 Trimet Deutschlands führender Aluminiumhersteller
versucht, eine Hütte in Frankreich
mit Sozialpartnerschaft zu retten
63 Alibaba Jack Ma, der schillernde Gründer
des chinesischen E-Commerce-Giganten
Technik&Wissen
66 Serie: Fossile Energie (III) – Kohle
Auch mit Braun- und Steinkohle lässt sich
klimafreundlich Strom erzeugen
Titel Der Euro taucht ab
Mit Nullzinsen und neuen Geldspritzen
schickt die EZB die Gemeinschaftswährung
auf Talfahrt. Das soll die Konjunktur
stützen und die Inflation ankurbeln.
Doch die Geldflut mindert auch den
Reformdruck auf die Regierungen und
gefährdet unseren Wohlstand. Seite 18
Schreck der Programmdirektoren
Der amerikanische Internet-TV-Anbieter Netflix will aggressiver
als erwartet mit exklusiven Serien und raffinierter Technik den
deutschen Fernsehsendern die Zuschauer abjagen. Seite 42
Klimafeind
auf Ökokurs
Noch ist Kohle Stromlieferant
Nummer eins. Will sie überleben,
braucht sie sauberere
Kraftwerke. Im dritten Teil
der Serie Fossile Energie
untersuchten wir, ob das geht.
Seite 66
TITELILLUSTRATION: TORSTEN WOLBER
6 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Nr. 38, 15.9.2014
Geld her!
Gründer wie Franziska von Hardenberg
brauchen für den Start ihres Unternehmens
oder dessen Ausbau Kapital.
Wie Jungunternehmer für jede dieser
Phasen die passende finanzielle
Förderung finden. Seite 76
72 Garten Digitaltechnik fürs Privat-Biotop
74 Smartwatches Was taugt Apples Uhr?
Management&Erfolg
76 Gründer Wie Start-ups die beste finanzielle
Förderung für jede Wachstumsphase finden
83 Kolumne: Sprengers Spitzen Warum nur
weibliche Männer als moderne Chefs gelten
Geld&Börse
84 Datenschutz Was Versicherer und Banken
so alles über Sie wissen
90 Geldmarkt Den Märkten droht der Entzug
von Liquidität – auch den Börsen
95 Aktien Vermögensverwalter Blackrock profitiert
vom neuen Sparfleiß der Amerikaner
96 Steuern und Recht Flugausfall und Verspätung
| Aktionärsrechte | Erbschaftsteuer
98 Geldwoche Kommentar: Abgeltungsteuer |
Trend der Woche: Euro Stoxx | Dax-Aktien:
Daimler | Hitliste: Zinsen | Aktien: Sanofi,
Yara International | Anleihe: DIC Asset |
Zertifikate: Kaffee | Investmentfonds:
JPMorgan Europe Dynamic | Neuemission:
Snowbird | Relative Stärke: Bilfinger
FOTOS: GLENN MATSUMURA, MAURITIUS IMAGES/HANS-PETER MERTEN, PR; ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS
Im Griff der Finanz-NSA
Kredit verweigert, Versicherungsantrag abgelehnt? Dann stimmen
Ihre Daten wohl nicht. Banken und Versicherer speichern mehr, als
Verbrauchern lieb ist. Und längst nicht alles ist korrekt. Seite 84
n Luxusgüter Mein Auto, mein Boot, mein
Diamantring – das war einmal. Im Westen steht
die Luxusbranche vor einem großen Umbruch.
Statt Bling-Bling zählen zunehmend andere
Werte. Woher der plötzliche Mentalitätswandel
kommt, erklärt Branchenexpertin Martina Kühne
im Interview. wiwo.de/luxusbranche
Hebt die Schwellen!
Der Kapitalismus greift nach der Kultur,
Freihandelsabkommen gefährden
die Kunst, jammern die Intendanten. Ein
Pamphlet gegen das Selbstmitleid der
Kulturtreibenden. Seite 106
facebook.com/
wirtschaftswoche
twitter.com/
wiwo
plus.google.com/
+wirtschaftswoche
Perspektiven&Debatte
106 Essay Der Kapitalismus greift nach der
Kultur, jammern Intendanten. Warum die
Kritik der Kulturtreibenden scheinheilig ist
110 Kost-Bar
Rubriken
5 Einblick, 112 Leserforum,
113 Firmenindex | Impressum, 114 Ausblick
n Lesen Sie Ihre WirtschaftsWoche
weltweit auf iPad oder iPhone:
In dieser Ausgabe finden Sie eine
spektakuläre Innenansicht
des Luxuskaufhauses in
Görlitz. Und ein Video
zeigt, warum Film-Revolutionär
Netflix auch als
Arbeitgeber besonders ist.
wiwo.de/apps
WirtschaftsWoche 15.9.2014 Nr. 38 7
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Seitenblick
Hire and fire
ARBEITSMARKT | Deutschlands Pharma-, IT- und Autounternehmen stellen kräftig Fach- und
Führungskräfte ein, bauen aber an anderer Stelle ab. Auch weltweit dreht sich das Jobkarussell.
Wo, das zeigt eine Umfrage der Personalberatung Antal.
Anteil der deutschen Unternehmen in folgenden Branchen, die Fach- und Führungskräfte einstellen
oder entlassen wollen (in Prozent)*
Einstellungen
Entlassungen
Online
Die komplette Studie
können Sie ab dem 17.9.
herunterladen unter
wiwo.de/personalstudie
Rechnungswesen, Beratung
39
9
Produktion, Maschinenbau
35
10
Automobil, Luftfahrt
16
42
Werbung, Medien
13
7
Gesundheit, Biotech
37
6
Chemie
5
23
Pharma
4
54
Nahrungsmittel, Getränke
24
16
IT-Software und -Services
11
52
Elektronik
0
26
Welche Spezialisten deutsche Firmen suchen oder entlassen (in Prozent)*
Buchhaltung, Steuern
54
7
Ingenieure
WirtschaftsWoche Online
WirtschaftsWoche Online
IT-Technik
Forschung, Entwicklung
59 68 67
12 9 17
Verwaltung
Personalwesen
Logistik
Verkauf, Marketing
58
74 57 79
13 5 13 17
* in den kommenden drei Monaten; Quelle: Antal International (Umfrage bei rund 8200 Unternehmen weltweit)
8 Redaktion: Stephanie Heise
Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Anteil der Unternehmen in folgenden Ländern, die Fach- und Führungskräfte einstellen oder
entlassen wollen (in Prozent)*
Europa
44 56
Irland
50 39
58 50
Belgien
58
21
Großbritannien
49
30
Niederlande
35
8
Deutschland
58
26
Schweden
66
11
Polen
78
10
Tschechien
80
30
Slowakei
Frankreich
31
11
37 33
Ungarn
Schweiz
93
50
27
Portugal
32 26
Spanien
46
10
36 29
20
Rumänien
50
23
Bulgarien
Italien
Österreich
Weltweit
73
USA
31
59
16
Russland
Vereinigte
Arabische
Emirate 65
65
17
66
33
Mexiko
47
16
Saudi-Arabien
19
China
58
57
26
Brasilien
48
17
Südafrika
60
22
Indien
30 16
Singapur
2
Malaysia
ILLUSTRATION: KRISTINA DÜLLMANN
WirtschaftsWoche 15.9.2014 Nr. 38 9
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Menschen der Wirtschaft
Regelbrecher
Uber-Chef
Kalanick
bringt Bewegung
in das
Taxigewerbe
TAXIMARKT
Hauch von Liberalisierung
Die Politik reagiert auf die Verbote gegen
das US-Unternehmen Uber. Regierungsmitglieder
fordern nun mehr Wettbewerb.
Während die Taxibranche mit allen Mitteln gegen
den umstrittenen Fahrdienst Uber vorgeht, bekommt
dessen Chef, Travis Kalanick, unerwartete
Unterstützung: Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD)
fordert Änderungen des Personenbeförderungsgesetzes
(PbefG). „Aus wettbewerblicher Sicht halten
wir generell eine Überprüfung und gegebenenfalls
Anpassung bestehender Regelungen an die Anforderungen
der digitalen Welt und den veränderten
Mobilitätsbedürfnissen der Verbraucherinnen
und Verbraucher für erforderlich“, heißt es in einer
Stellungnahme des Bundeswirtschaftsministeriums.
Ähnliche Forderungen kommen aus dem Justizministerium.
„Mehr Wettbewerb kann zu mehr
Angeboten, höherer Qualität und besseren Preisen
führen“, sagt Gerd Billen, Staatssekretär für Verbraucherschutz.
Das erhöht den Druck auf Bundesverkehrsminister
Alexander Dobrindt (CSU), der für das Gesetz
zuständig ist, Reformen aber bislang ausschließt.
„Derzeit sind keine Änderungen der Vorschriften
zur Personenbeförderung vorgesehen“, erklärt
das Verkehrsministerium. Auch die Opposition
fordert, die Regeln „an die Neuzeit“ anzupassen, so
Stephan Kühn, verkehrspolitischer Sprecher der
Grünen. Private Autofahrten könnten den öffentlichen
Verkehr „sinnvoll ergänzen“. Hierbei sollte
„das nicht kommerzielle Interesse im Vordergrund
stehen“. CDU-Fraktions-Vize Michael Fuchs fordert
Vorgaben für Anbieter wie Uber. Sie müssten beispielsweise
„sicherstellen, dass die Fahrer zur Beförderung
von Personen befähigt sind“. Dennoch
befürworte Fuchs dringend „frischen Wind“ in der
Taxibranche. „Wer wie ich oft im Taxi unterwegs
ist, weiß, wie viele schmuddelige Wagen und orientierungslose
Fahrer es leider auch im registrierten
Taxigewerbe geben kann.“
Doch bei der Kundenzufriedenheit kann der Taxi-Angreifer
nur teilweise punkten, wie eine Studie
von Puls Marktforschung ergab, die der Wirtschafts-
Woche exklusiv vorliegt. Zwar liege Uber in der
qualitativen Bewertung vorne: Fast vier von zehn
Nutzern bewerteten Uber mit „sehr gut“, bei Taxis
nur elf Prozent. „Uber hat offensichtlich in kurzer
Zeit einen harten Kern an Fans gewonnen“, sagt
Puls-Chef Konrad Weßner. Allerdings hegen Nutzer
auch Zweifel. „Taxis zeichnen sich aus Nutzersicht
eindeutig und klar durch Verlässlichkeit und
Sicherheit aus“, so Weßner. Für Uber spreche dagegen
der Preis und ein Newcomer-Bonus in
bestimmten internetaffinen Kreisen. Trotzdem
würden selbst 30 Prozent aller Uber-Nutzer, wenn
sie die Wahl hätten, das Taxi bevorzugen.
christian.schlesiger@wiwo.de, michael kroker,
henning krumrey, max haerder | Berlin
Im Zweifel Taxi
Welche der beiden
Möglichkeiten deutsche
Nutzer bevorzugen
(in Prozent)
45,8
13,4
Taxi-Nutzer
Taxi
Uber
30,8
Uber-Nutzer
Quelle: Puls Marktforschung
19,2
10 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
GLASFASERAUSBAU
Zahlen und Steuern sparen
Es ist eines der wichtigsten Projekte
der Bundesregierung. Bis
2018 soll Deutschland den
Rückstand bei superschnellen
Internet-Anschlüssen aufholen.
Jeder Haushalt soll dann mit
einer Mindestgeschwindigkeit
von 50 Megabit pro Sekunde
eine eigene Auffahrt zur Datenautobahn
bekommen. Mit den
Chefs der Telekomgesellschaften
erörtert der für die digitale
Infrastruktur zuständige Bundesminister
Alexander Dobrindt
(CSU) derzeit, wie man
Kosteneinsparungen und Investitionsanreize
für einen schnelleren
Glasfaserausbau schaffen
kann. Als ersten Maßnahmenkatalog
will der Minister bis spätestens
Mitte Oktober ein sogenanntes
„Kursbuch“ vorlegen.
Einen Zahn hat Bundesfinanzminister
Wolfgang Schäuble
allen Beteiligten bereits im
Vorfeld gezogen: Fördergelder
aus dem Bundeshaushalt wird
es für den Glasfaserausbau
nicht geben.
Jetzt startet der Bundesverband
Glasfaseranschluss
(Buglas) einen neuen Anlauf,
um Schäubles Widerstand zu
brechen. Eine Hürde für einen
beschleunigten Ausbau von
Glasfaseranschlüssen seien die
heutigen Steuergesetze, kritisiert
der Verband in einem Gutachten,
das der Wirtschafts-
Woche vorliegt. Insbesondere
die Eigentümer selbst genutzter
Einfamilienhäuser können
demnach die Kosten für die Installation
eines Glasfaseranschlusses
bisher nicht im vollen
Umfang von der Steuer absetzen.
Dabei geht es zwar nur um
die wenigen Meter von der
Grundstücksgrenze bis zum
Haus. Doch die dabei entstehenden
Kosten von durchschnittlich
1250 Euro pro Einfamilienhaus
könnten die
Netzbetreiber auf die Eigentümer
abwälzen, wenn sie steuerlich
absetzbar wären.
Modellrechnungen, die Buglas-Geschäftsführer
Wolfgang
Heer in der kommenden Woche
in Berlin vorlegen will, zeigen,
was solch eine Steuerreform
bringt: Pro Jahr könnte eine
Million Hauseigentümer eine
Gesamtinvestition in Höhe von
1,25 Milliarden Euro tragen, der
Staat müsste aber nur mit Mindereinnahmen
in Höhe von
237,6 Millionen Euro rechnen.
„Das sind weniger als 0,1 Prozent
des gesamten Einkommensteueraufkommens“,
rechnet
Verbandsgeschäftsführer
Heer vor.
juergen.berke@wiwo.de
Aufgeschnappt
Ikea im Apple-Stil Die Inhalte
seien vorinstalliert, drahtlos abrufbar,
und Ladezeiten entfielen
– so kündigt der selbst ernannte
„Chefdesigner-Guru“ Jörgen
Eghammer im schwarzen T-Shirt
den neuen Ikea-Katalog an.
Eine Satire auf Apples Produktshows.
Mit dem Spot, zu sehen
auf YouTube, wirbt der Möbelriese
in Singapur für seinen neuen
Katalog.
Inflationäre Strafen An stark
steigende Preise haben sich die
krisengeplagten Argentinier gewöhnt,
nicht aber an eine Inflation
des Bußgelds. Wer trotz roter
Ampel weiterfährt, muss 9600
Pesos bezahlen, umgerechnet
886 Euro. Bei zu schnellem
Fahren kassiert die Polizei sogar
bis zu 2360 Euro. Der Grund:
Seit vergangenem Jahr sind die
Bußgelder an den Benzinpreis
gekoppelt. Seither legten sie um
21 Prozent zu.
ROCKET INTERNET
Upgrade im
Aufsichtsrat
Neuer Posten Beraterlegende
Berger geht bei Rocket an Bord
Nach der Bekanntgabe der Börsenpläne
von Rocket Internet
hat sich nun auch der Aufsichtsrat
der Berliner Start-up-Fabrik
neu formiert. Das prominenteste
Mitglied des Kontrollgremiums
ist Unternehmensberater
Roland Berger. Zudem wachen
United-Internet-Gründer
Ralph Dommermuth, der ehemalige
ProSiebenSat.1-Vorstand
Marcus Englert sowie
Philip Yea, Ex-Chef der Beteiligungsgesellschaft
3i, über die
Geschäfte des Unternehmens.
Lorenzo Grabau, Manager des
schwedischen Rocket-Großaktionärs
Kinnevik, leitet das Gremium.
Die WirtschaftsWoche
hatte bereits im August über
die Pläne zur Besetzung des
Aufsichtsrats berichtet, die jetzt
umgesetzt wurden.
henryk.hielscher@wiwo.de
FOTOS: LAIF/REDUX/THE NEW YORK TIMES, PR, EX-PRESS/MARKUS FORTE
Die Bestseller am Himmel
Die fünf meistgenutzen Passagierflugzeuge*
1013
1289
1184
Boeing 777 (USA)
Airbus A330 (Frankreich/Deutschland)
Boeing-737-Familie (USA)
Airbus-A320-Familie (Frankreich/Deutschland)
Bombardier-CRJ-Familie (Kanada)
5614
5643
* Angaben: Hersteller, Typ, Produktionsland und aktuelle
Anzahl der Flugzeuge im weltweiten Einsatz;
Quelle: Ascend, Stand August 2014
WirtschaftsWoche 15.9.2014 Nr. 38 11
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Menschen der Wirtschaft
RUNDFUNK
Monopol
knacken
Aggressiver Angreifer
Uplink-Chef Radomski
Vor rund 30 Jahren startete in
Deutschland das Privatfernsehen,
vor 16 Jahren liberalisierte
die Bundesregierung den Telefonmarkt.
An der Schnittstelle
der beiden Technikwelten aber
hat sich bis heute ein lukratives
Quasimonopol gehalten: der
Betrieb der deutschen Rundfunk-
und Fernsehsendernetze
durch Media Broadcast (MB),
einst eine Tochter der Deutschen
Telekom, jetzt Teil der
französischen TDF-Group. MB
beherrscht den branchenintern
auf rund 150 Millionen Euro geschätzten
Gesamtmarkt weitestgehend
alleine. Das soll sich
von 2016 an ändern. Dann kann
der Betrieb der Sendefrequenzen
neu vergeben werden.
Wichtigster Angreifer dürfte
das Düsseldorfer Start-up
Uplink sein. Zu den Investoren
gehören Ex-Bundespostminister
Christian Schwarz-Schilling
und der langjährige Chef des
Rundfunkvermarkters RMS,
Wilfried Sorge. Gründer und
Geschäftsführer von Uplink ist
Michael Radomski, der früher
für den Mobilfunker Drillisch
und die Handelskette Rewe
gearbeitet hat.
Bisher betreibt Uplink erst einige
Sendeanlagen in Ostdeutschland.
Von Anfang 2016
an will Uplink aggressiv im Revier
des Marktführers wildern.
„In fünf Jahren wollen wir 30
Prozent des Umsatzes zu uns
holen“, peilt Radomski an.
thomas.kuhn@wiwo.de
INTERVIEW Uwe Hück
»Porsche darf nicht zur
Legebatterie werden«
Der Chef des Porsche-Betriebsrats verteidigt die
Exklusivität der Automarke und macht Vorschläge zur
Erhöhung der Produktivität.
Herr Hück, Porsche ist seit fünf
Jahren Teil des VW-Konzerns.
Wie fühlen Sie sich dort?
Volkswagen ist inzwischen unsere
Familie, aber das Wohnzimmer
ist und bleibt Porsche.
Vor fünf Jahren hatten wir Entwicklungskosten
von etwa 800
Millionen Euro, heute sind es
circa 1,5 Milliarden. Zusammen
mit VW konnten wir die notwendigen
Synergien bilden und
den hausgemachten Investitionsstau
der letzten Jahre auflösen.
Aber unsere Investitionen
finanzieren wir selbst und können
auch Geld in Zukunftstechnologien
investieren – etwa in
moderne Antriebstechnik.
2009 verkaufte Porsche rund
100 000 Autos, heute fast
doppelt so viele. Büßt die Marke
ihre Exklusivität ein?
Vorstandschef Matthias Müller
und ich sind uns einig: Wir wollen
lieber ein Auto zu wenig im
Markt haben, als eines zu viel.
Selbst wenn Sie über 200 000
Autos verkaufen könnten?
Man muss auch Nein sagen
können. Wir müssen die Exklusivität
der Marke und den Mythos
Porsche beibehalten.
Brasilien, Indien, auch China
haben noch Potenzial. Auf dem
Weltmarkt muss man Exklusivität
vielleicht neu definieren.
Wenn wir mehr verkaufen können,
ohne dass unsere Identität
dabei aufgegeben wird, kann
ich ja schlecht schimpfen.
Mit dem Macan zeigt Ihre
Marke, dass sie auch erfolgreich
ins Volumensegment vorstoßen
kann. Prognosen gehen von
einem Absatz von 50 000 bis
60 000 Stück aus.
Unsere Viertürer verkaufen sich
immer besser, das stimmt. Aber
DER KÄMPFER
Hück, 52, leitet seit 1997 den
Betriebsrat und ist seit 2010
Vize im Aufsichtsrat von Porsche.
Begonnen hatte der Amateurboxer
dort 1985 als Lackierer.
der Mythos Porsche lebt von
seinen Zweitürern wie dem
911er. Unter dem Erfolg der
Viertürer dürfen unsere klassischen
Sportwagen nicht leiden,
sonst leidet die ganze Marge.
Die Viertürer kommen aus
Leipzig. Was soll in Zuffenhausen
künftig vom Band laufen?
Mein Traum sieht so aus, dass
alle Zweitürer in Zuffenhausen
gebaut werden.
Der Konzern will eine halbe
Milliarde Euro in den Ausbau
von Zuffenhausen investieren.
Die Belegschaft soll dafür aber
die Produktivität im Wert von
150 Millionen Euro steigern.
Wie soll das gelingen?
Produktivität heißt ja nicht,
schneller zu arbeiten, sondern
effektiver zu arbeiten. Das
heißt, unnötige Arbeit muss
nicht gemacht werden. Dafür
haben wir den Porsche-Verbesserungs-Prozess.
Ein Lackierer
etwa hat nun zusätzlich die Aufgabe,
den Instandhalter auf
Probleme hinzuweisen. Früher
war das getrennt voneinander.
Das allein wird kaum reichen.
Die Personalkosten können Sie
senken, indem Sie in Weiterbildung
investieren. Warum sollte
ein Mitarbeiter vom Karosseriebau
nicht auch im Motorenbau
eingesetzt werden? Aus Gesundheitsgründen
ist ohnehin
ein vernünftiges Rotationsverfahren
angebracht:Wenn Sie
den Krankenstand um einen
Prozentpunkt senken, gewinnen
Sie mehr, als wenn Sie die
Pausen streichen. Die Frage ist
nicht, ob wir weiter hochtakten,
sondern wie wir intelligent Arbeit
reinholen.
Woran denken Sie?
Wir haben ein neues Motorwerk
für Hochleistungsmotoren,
wir haben eine erstklassige
Sattlerei. Wir müssen nun überlegen,
wie wir die Fertigungstiefe
erhöhen können.
Wie viele Fahrzeuge können Sie
in Zuffenhausen bauen?
Wenn es nach mir geht, mehr.
Heute produzieren wir pro Jahr
im Optimalfall etwa 42 000
Stück. Da ist sicher noch Luft
nach oben. 2009 haben wir pro
Tag 162 Autos produziert, heute
sind wir bei 206 Fahrzeugen.
Wir müssen aber bei allem, was
wir tun und planen, den Mythos
Porsche leben. Wir müssen unsere
Garagenduft-Mentalität
beibehalten und dürfen nicht
zur Legebatterie werden. Das
würden unsere Kunden nicht
akzeptieren.
Der Audi Q5 kommt demnächst
aus Mexiko. Wäre das auch
eine Strategie für Porsche?
Die Frage ist, ob es Sinn macht,
Reis in Deutschland anzubauen.
Was ich meine: Wenn Porsche
nicht made in Germany
ist, werden wir unsere Marge
nicht mehr lange halten.
rebecca.eisert@wiwo.de, franz rother
12 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
FOTOS: PR, CHRISTOF MATTES FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, PHOTOTHEK.NET/UTE GRABOWSKY, DDP IMAGES/SPORT MOMENTS, DDP IMAGES/COMMONLENS/AXEL SCHMIDT
ASYLBEWERBER
Schlechtere
Unterkünfte
Mit der wachsenden Zahl an
Asylbewerbern sinkt die Qualität
der Unterbringung. Das
ergibt sich aus einer Studie der
Hilfsorganisation Pro Asyl.
Demnach ist der Anteil von Asylbewerbern,
die in Einzelwohnungen
leben, zuletzt rapide
gesunken. 2007 lag er noch bei
66,1 Prozent, 2012 nur noch
bei 55,7 Prozent. Immer mehr
Menschen müssen somit in Gemeinschaftsunterkünften
ausharren.
Die Studie zeigt zudem,
dass sich die Wohnungsquote
zwischen den Bundesländern
stark unterscheidet: So konnten
in Rheinland-Pfalz knapp 92
Prozent der Asylbewerber in
Wohnungen untergebracht
werden, in Sachsen waren es
nur 29 Prozent.
Auch an anderer Stelle im
System knirscht es. So benötigt
das Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge, das die Asylverfahren
bearbeitet, erneut
mehr Personal. Erst im Frühjahr
hatte der Bund 300 neue
Stellen genehmigt, jetzt fordert
Präsident Manfred Schmidt:
„Wir brauchen nächstes Jahr
noch mal mehr Personal. Dies
wird auch Gegenstand der
Haushaltsverhandlungen sein.“
konrad.fischer@wiwo.de
FORSCHUNG
Förderung mit Hebelwirkung
Das „Flaggschiff“ der High-
Tech-Strategie, wie Beamte von
Bundesforschungsministerin
Johanna Wanka den „Spitzencluster-Wettbewerb“
nennen,
erhält gute Noten von der Wissenschaft.
In einem 200-seitigen
Abschlussbericht lobt das
Rheinisch-Westfälische Institut
für Wirtschaftsforschung (RWI)
das Fördervorhaben der Regierung
wegen seines besonderen
TOP-TERMINE VOM 15.09. BIS 21.09.
15.09. Bahn Am Montag beginnt die erste Tarifrunde zwischen
der Deutschen Bahn und der Eisenbahnund
Verkehrsgewerkschaft (EVG), die sechs Prozent
mehr Lohn fordert. Bisher hat die Bahn mit
der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer
(GDL) verhandelt. Sie verlangt fünf Prozent mehr
Geld und eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit
von 39 auf 37 Stunden. EVG und GDL streiten sich
darum, wer welche Mitarbeitergruppen vertritt.
17.09. Deutschland-Besuch Scheich Tamim
Bin Hamad al Thani, Staatsoberhaupt
des Golf-Emirats Katar, eröffnet am
Mittwoch in Berlin ein Wirtschaftsforum.
Anschließend wird er Bundeskanzlerin Angela
Merkel, Außenminister Frank-Walter Steinmeier
sowie Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel treffen.
Geldpolitik Der Rat der Europäischen Zentralbank
(EZB) berät über die Geldpolitik. Auch die US-Notenbank
diskutiert darüber. Nach der Sitzung erläutert
US-Notenbank-Chefin Janet Yellen vor
Journalisten mögliche Entscheidungen.
18.09. Schottland 4,2 Millionen Schotten können am
Donnerstag darüber abstimmen, ob der Landesteil
ein eigener Staat werden soll. In einer Umfrage
hatten sich zuletzt 51 Prozent für die Unabhängigkeit
von Großbritannien ausgesprochen.
Kündigungsfristen Das Bundesarbeitsgericht urteilt,
ob Kündigungsfristen nach der Betriebszugehörigkeit
der Mitarbeiter gestaffelt werden dürfen.
Luftfahrt Der Europäische Gerichtshof urteilt
darüber, ob EU-Staaten den Fluggesellschaften
verbieten dürfen, nach eigenem Ermessen einen
Aufschlag für das Fluggepäck zu kassieren.
20.09. SPD Rund 200 Delegierte treffen sich am Samstag
im Berliner Willy-Brandt-Haus zum kleinen
Parteitag. Kernthema ist die Digitalisierung.
Gute Noten Forschungsministerin
Wanka
„Hebeleffekts“. 600 Millionen
Euro investierte der
Bund seit 2009, um
regionale Leuchtturmprojekte
wie Logistik
im Ruhrgebiet, Maschinenbau
in Ostwestfalen-Lippe
oder Luftfahrttechnik
in Hamburg
zu fördern. Das Geld
entfaltete eine „beträchtliche
Anstoßwirkung“. So investierten
die Unternehmen genauso viel
an Eigenmitteln, wie sie an
staatlicher Förderung erhielten.
Kleine Unternehmen
investierten sogar das
1,36-Fache der Fördergelder.
Zudem führte
das Programm zu 900
Innovationen, von
denen 300 auf dem
Markt seien, sowie zu
40 Ausgründungen.
christian.schlesiger@wiwo.de
DAIMLER
Mehr Jüngere
ohne Auto
Jüngere Menschen für die Marke
Mercedes zu begeistern ist
eines der wichtigsten Ziele von
Daimler-Chef Dieter Zetsche.
Im Schnitt sind Mercedes-Käufer
56 Jahre alt, keine andere
Automarke in Deutschland hat
ältere Kunden. Mit der neu gestalteten
A-Klasse kann Zetsche
allerdings einen ersten Erfolg
vermelden: „Die Käufer in
Deutschland sind im Durchschnitt
zehn Jahre jünger als
früher.“ Auch Car2Go, die Carsharing-Sparte
von Daimler,
werde junge Zielgruppen anlocken,
ist Zetsche überzeugt.
Die zunehmende Bereitschaft
Jüngerer auf ein eigenes
Auto zu verzichten, alarmiert
die gesamte Branche. Laut Statistischem
Bundesamt besaßen
in Deutschland von den 25- bis
Verjüngungskur
Daimler-Chef Zetsche
35-jährigen Haushaltsvorständen
2008 insgesamt 69 Prozent
ein Auto. 2004 waren es noch 79
Prozent. Bei den unter 25-Jährigen
sank der Anteil von 2005
bis 2011 von 64 auf 56 Prozent.
Ein ähnliches Bild zeigt sich
in den USA. 2005 hatten noch
85 Prozent der unter 35-Jährigen
einen eigenen Wagen, 2011
nur 82 Prozent.
Gleichzeitig besitzen immer
mehr Senioren ein Fahrzeug. In
den USA haben rund 80 Prozent
der Haushaltsvorstände, die
65 Jahre alt und älter sind, ein
eigenes Auto, in Deutschland
rund 78 Prozent.
martin.seiwert@wiwo.de
WirtschaftsWoche 15.9.2014 Nr. 38 13
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Menschen der Wirtschaft
CHEFSESSEL
START-UP
Metro-Manager wechselt zu
Aldi Süd und zieht in das oberste
Führungsgremium des Discounters,
den Koordinierungsrat,
ein. Der Posten ist seit
Dezember 2013 vakant. Damals
hatte Ex-MAN-Finanzvorstand
Frank Lutz, 45, den Job quittiert.
OTTO GROUP
Neela Montgomery, 40,
wagt sich nach Deutschland,
obwohl die Britin wie
der gescheiterte frühere
Karstadt-Chef Andrew Jennings
kein Deutsch spricht
und den deutschen Einzelhandel
kaum kennt. Vom
1. November an soll sie im
Vorstand der Hamburger
Handelsgruppe Otto die
Multichannel-Strategie vorantreiben.
Ein Feld, das
sie zuletzt beim britischen
Handelskonzern Tesco beackert
hat. Bei Otto folgt die
Absolventin eines Literatur-
und eines MBA-Studiums
auf den Betriebswirt
und promovierten Soziologen
Timm Homann, 46, der
künftig den westfälischen
Textilhändler Ernsting’s
Family leitet.
ALDI SÜD
Thomas Ziegler, 47, kehrt
nach gut zwei Jahren bei der
Funke Mediengruppe in den
Handel zurück. Der frühere
CARSHARING
FERRARI
Luca di Montezemolo, 67,
räumt nach 23 Jahren an der
Spitze von Ferrari am 13. Oktober,
dem Tag des Börsengangs
von FiatChrysler Automobiles,
das Feld für Konzernchef Sergio
Marchionne. Vorangegangen
waren Auseinandersetzungen
zwischen den beiden Spitzenmanagern
um die künftige Rolle
von Ferrari: Marchionne will
die 90-Prozent-Tochter von Fiat
stärker in den Konzern einbinden,
um Synergien zu heben.
INFINITI
Roland Krüger, 48, liebt extreme
Herausforderungen. Zum
Jahreswechsel 2013 lief er als
erster Deutscher allein auf
Skiern zum Südpol. Sein Job als
Vertriebsleiter von BMW in
Deutschland war dem Designer
aus München hingegen offenbar
zu langweilig. Denn nach
nur 19 Monaten räumte er jetzt
den Posten und wechselte als
neuer Chef zur Nissan-Premiummarke
Infiniti. Dort hatten
in den vergangenen Wochen
gleich mehrere Spitzenkräfte
das Handtuch geworfen – zermürbt
von den Auseinandersetzungen
mit Konzernchef Carlos
Ghosn.
4 Millionen
Deutsche haben in den vergangenen zwei Jahren Carsharing
benutzt, das sind acht Prozent aller Bundesbürger ab 18 Jahren
und doppelt so viele wie Anfang 2013, so eine Umfrage des
IT-Branchenverbandes Bitkom. Von den 30- bis 49-Jährigen
buchten sogar zehn Prozent solch ein Auto.
INVENTORUM
High Tech für Händler
Der 34-jährige Michael Brehm (links) war einst Mitgründer von
StudiVZ und dann Investor bei erfolgreich verkauften Online-
Firmen wie Brands4Friends oder Daily Deal. „Ich habe damals begeistert
den Offline-Handel angegriffen“, sagt Brehm. Doch inzwischen
sorgt er sich um die kleinen Läden und will ihnen helfen.
„Wir wollen die Händler ins 21. Jahrhundert beamen“, tönt Brehm.
Dazu hat er mit Christoph Brem das Start-up Inventorum gegründet.
Sie haben ein iPad-Kassensystem entwickelt, in das zudem
Software zur Verwaltung von Waren und Kunden integriert
ist. Auch in eigenen Online-Shops oder bei Ebay kann darüber verkauft
werden. „Viele kleine Händler geben ihr Inventar dort noch
manuell ein“, sagt Brehm. Das führe zu verärgerten Kunden, wenn
ein Artikel bestellt wird, aber nicht geliefert werden kann, weil das
letzte Stück kurz zuvor im Laden verkauft wurde. Seit Ende 2012
arbeitet Inventorum an der Lösung, nun ist sie voll funktionsfähig.
Bisher habe es nur sehr teure Softwarelösungen gegeben, Inventorum
soll unter 100 Euro pro Monat kosten. Über 1000 Kunden gibt
es bereits. Zudem haben die Berliner namhafte Partner überzeugt.
ECE, der größte Betreiber
Fakten zum Unternehmen
Finanzierung von High-Tech
Gründerfonds, Klingel New Media
und Vogel Ventures knapp
1 Million Euro
Kosten Kasse ab 29 Euro pro
Monat, Online-Shop kostet 49 Euro
von Einkaufszentren in
Europa, und PayPal testen
Ende des Monats in
Hamburg und Essen eine
neue App für Shoppingcenter
und arbeiten dabei
mit Brehm und Brem zusammen.
oliver.voss@wiwo.de
FOTOS: PR
14 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Menschen der Wirtschaft | Chefbüro
Thomas Nau
Deutschland-Chef von American Express
„Nice to be evergreen“ steht auf
dem Plakat, das neben dem
Regal hängt. Der Spruch ist auch
das Motto von Thomas Nau, 53.
Seit fast 13 Jahren arbeitet er
für den amerikanischen Finanzdienstleister
American Express,
der die grünen Kreditkarten herausgibt.
Seit Ende 2011 leitet
Nau das Deutschland-Geschäft.
In die Finanzbranche kam er
über Umwege. Nach dem Studium
an der Frankfurter Universität
begann der Diplom-Kaufmann
zunächst bei Milupa,
einem Hersteller von Babynahrung,
später wechselte er zu EP
Electronic Partner, Reckitt &
Colman und zum Glasproduzenten
Schott. „Ich
habe einen langen
Background in Vertrieb
und Marketing“,
erzählt Nau. So einen
Mann hatte American
Express 2001 gesucht.
„Da habe ich ein bisschen
was auf den
360 Grad
In unseren App-
Ausgaben finden
Sie an dieser
Stelle ein interaktives
360°-Bild
Tisch gebracht“, sagt Nau. Sein
jüngstes Projekt ist eine Kreditkarte,
die mit Payback gekoppelt
ist, dem größten deutschen Bonusprogramm.
Er selbst besitzt
drei Kreditkarten, darunter eine
von der Konkurrenz. „Wettbewerbsbeobachtung
schadet
nie“, meint der Manager. Im
Regal hinter dem Schreibtisch
stehen Repliken alter
Kreditkarten und
Stoffbärchen, die die
Aids-Hilfe jährlich
verteilt. „Wir unterstützen
sie sehr stark“,
erklärt Nau. Rund 600
Mitarbeiter beschäftigt
der US-Konzern
in Frankfurt, Naus Büros liegt im
fünften Stock. Die Einrichtung
hat er übernommen. „Ich hätte
sie mir nicht reingestellt, aber
sie erfüllt ihren Zweck.“ Auf dem
Konferenztisch steht eine Schale
mit Äpfeln. „Ich habe immer
frisches Obst“, sagt Nau, „wir
haben hier ein sehr ausgeprägtes
Healthy-Living-Programm.“
Rückenmassage in der Mittagspause,
Yoga und Sportangebote
in Fitnessstudios und Vereinen.
Nau macht da nicht mit. Aber
sportlich sei er schon, versichert
er. „Im Winter bin ich
leidenschaftlicher Skifahrer, im
Sommer golfe ich.“
hermann.olbermann@wiwo.de
FOTO: DOMINIK PIETSCH FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
16 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Politik&Weltwirtschaft
Auf abschüssiger Bahn
EURO | Mit Nullzinsen und neuen Geldspritzen schickt die Europäische Zentralbank
den Euro auf Talfahrt. Die Weichwährung soll die Konjunktur stützen und die Inflation
ankurbeln. Doch die Geldflut aus Frankfurt entwertet die Ersparnisse der Bürger,
schmälert den Reformdruck auf die Regierungen und gefährdet den Wohlstand.
Im Schatten der Bankentürme in
Frankfurt ist sie schon spürbar, die
steigende Inflation, die Mario Draghi,
der Präsident der Europäischen Zentralbank
(EZB), so herbeisehnt. Quasi
über Nacht kostet die Suppe im Frankfurter
Biocafé in der City mit 5,80 Euro mal eben
30 Cent mehr als in der Woche zuvor. Der
Italiener gleich nebenan bietet sein Mittagsmenü,
eine einfache Pasta mit kleinem
Salat und Espresso nicht mehr wie am Vortag
für 9,90 Euro, sondern für 11,90 Euro
an. „Geld ist billig wie nie zuvor, der EZB sei
Dank“, rechtfertigt der italienische Kellner
den Aufschlag lachend und lenkt seinen
Blick schnell wieder auf sein Notebook.
Der Mann will eine Wohnung in Frankfurt
kaufen. Da die Immobilienpreise steigen
und steigen, muss er langsam zu Potte
kommen, sonst wird das nichts mit der
schicken Eigentumswohnung in der Bankenstadt.
ALARM IM EUROTOWER
Geht es nach dem Willen von EZB-Chef
Draghi, markieren die jüngsten Preisschübe
auf dem Mittagstisch und dem Wohnungsmarkt
der Mainmetropole noch
längst nicht das Ende der Fahnenstange.
Anfang des Monats drückte Europas oberster
Notenbanker den Leitzins auf die mikroskopische
Größenordnung von 0,05
Prozent herunter. Zudem kündigte er an,
die EZB werde ab Oktober mit Krediten
verbriefte Wertpapiere und Pfandbriefe
von den Banken kaufen und diese mit Zentralbankgeld
fluten.
Bereits im Juni hatten die Notenbanker
die Zinsen gesenkt und den Geschäftsbanken
langfristige Geldleihgeschäfte zu Minizinsen
in Aussicht gestellt. Doch die wegbrechende
Konjunktur, die schwächelnde
Kreditvergabe sowie die sinkenden Teuerungsraten
haben die Notenbanker in
Alarmstimmung versetzt. Sie fürchten, die
Euro-Zone könnte in eine Deflation stürzen,
die die reale Schuldenlast der Staaten
in ungeahnte Höhen katapultiert.
Dem wollen sie durch das erneute Öffnen
der Geldschleusen entgegenwirken.
Das Ziel: ein schwacher Euro, der die Importe
verteuert und Inflation importiert.
Goldman Sachs
erwartet die
Parität zum Dollar
bis Ende 2017
der Alten und der Neuen Welt immer weiter
auseinander. Geldanlagen in der Euro-
Zone lohnen sich kaum noch. Die Ökonomen
der US-Bank Goldman Sachs erwarten
daher, dass sich der Euro in den nächsten
zwölf Monaten auf 1,20 Dollar verbilligt.
Ende 2017 werde er die Parität zum
Dollar erreichen.
Deutschlands Exporteure mag das freuen,
spült der schwache Euro ihnen doch
zunächst zusätzliche Gewinne in die Kassen
(siehe Seite 24). Doch langfristig hat
der Cocktail aus Niedrigzinsen und weicher
Währung toxische Wirkungen auf die
Wirtschaft. Er setzt Fehlinvestitionen in
Gang, entwertet die Ersparnisse, mindert
den Reformdruck und lähmt die Kostenkontrolle
in den Unternehmen. Wachstum
und Wohlstand sind in Gefahr.
SCHWACHE KONJUNKTUR
Noch vor wenigen Monaten hatte niemand
damit gerechnet, dass die Euro-Hüter die
Geldschleusen so rasch so weit öffnen würden.
Denn die Konjunktur in der Euro-
Zone schien endlich Tritt zu fassen. Dann
aber gingen die Stimmungsindikatoren
plötzlich auf Talfahrt, später folgten die
harten Daten. Im zweiten Quartal stagnierte
die Wirtschaftsleistung in der Währungsunion,
in Deutschland ging sie sogar zurück.
Das hat mehrere Ursachen:
Die Ukraine-Krise hat die Unsicherheit für
Unternehmen und Bürger erhöht. Die
deutschen Exporte nach Russland sind im
zweiten Quartal um 18 Prozent gegenüber
dem Vorjahr eingebrochen. Die Investitionslaune
der Firmen ist dahin. Verschärft
sich der Konflikt in der Ukraine, könnte die
ohnehin fragile Konjunktur in der Euro-
An den Märkten kam die Botschaft an.
Kaum hatte Draghi die geplanten Geldspritzen
verkündet, knickte der Euro gegenüber
dem Dollar um drei Cent auf 1,29
ein. In den nächsten Monaten dürfte sich
die Talfahrt der Gemeinschaftswährung
fortsetzen.
Dazu trägt auch bei, dass die US-Notenbank
sich anschickt, ihre Geldpolitik zu
straffen. Auf ihrem Treffen in dieser Woche
dürften die US-Währungshüter beschließen,
weniger Anleihen als bisher zu kaufen
und somit weniger Geld zu drucken. Mitte
nächsten Jahres könnte nach Ansicht von
Beobachtern die erste Leitzinserhöhung
folgen. Damit driften die Zinsen zwischen »
FOTOS: IMAGO/IMAGEBROKER, MARKUS SCHWALENBERG FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE; MONTAGE: DMITRI BROIDO
18 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Der Euro
taucht ab
Kursverlust gegenüber
dem Dollar
seit Juli 2014
WirtschaftsWoche 15.9.2014 Nr. 38 19
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Politik&Weltwirtschaft
»
Zone endgültig abschmieren. Vor allem,
wenn Russland im Zuge der sich
hochschaukelnden Sanktionsspirale den
westlichen Fluggesellschaften die Überflugerlaubnis
über den russischen Luftraum
entzieht.
Längere Flugrouten trieben die Kosten in
die Höhe und drehten die Integration der
Weltwirtschaft ein Stück weit zurück. Die
Folgen dürften insbesondere die deutschen
Unternehmen zu spüren bekommen.
In einer Umfrage der Deutsch-Russischen
Auslandshandelskammer gaben
jüngst 58 Prozent der in Russland aktiven
deutschen Unternehmen an, die Ukraine-
Krise belaste ihr Tagesgeschäft. Die Ökonomen
des Deutschen Industrie- und
Handelskammertages warnen, der Ukraine-Konflikt
werde die deutsche Wirtschaft
in diesem Jahr einen Prozentpunkt Exportwachstum
kosten.
Aus den übrigen Schwellenländern, wo
die Geschäfte der europäischen Unternehmen
in den vergangenen Jahren bombig
liefen, kommen ebenfalls schlechte Nachrichten.
Brasiliens Wirtschaft befindet sich
in der Rezession, in China drücken rückläufige
Immobilienpreise und -verkäufe
auf das Wirtschaftswachstum, und in Indien
dämpft die Hochzinspolitik die Konjunktur.
Das erschwert es den Europäern,
sich aus der Konjunkturflaute herauszuexportieren.
Die Reformverweigerung der Regierungen
in Italien und Frankreich verschärft die
Probleme noch. Regierungschef Matteo
Renzi und Präsident François Hollande gefallen
sich zwar darin, Reformen anzukündigen.
Geliefert aber haben sie bisher so
Weichwährung als
Export-Turbo Containerhafen
in Italien
Ein schwacher
Euro verteuert
die Importe
gut wie nichts. Italiens Wirtschaft
schrumpft seit Jahren, das Bruttoinlandsprodukt
liegt um zehn Prozent unter dem
Niveau von 2008 (siehe Grafik). Nach Berechnungen
der Ökonomen des Analyseinstituts
Oxford Economics ist Italien das
einzige Land Europas, in dem die Produktivität
der Arbeitskräfte und der Maschinen
seit dem Jahr 2000 anhaltend sinkt.
Mangelnde Innovationsfähigkeit, schlechte
Bildung, Korruption, eine überbordende
Bürokratie und ein zementierter Arbeitsmarkt
liegen wie Mehltau auf der
Wirtschaft. Außer einer Ministeuerentlastung
für Geringverdiener und einer halb
garen Senatsreform hat Renzi nichts
zustande gebracht, was den Namen Reformen
verdiente. Anfang September versprach
er, Italien binnen 1000 Tagen zu
einem „zivilisierten Land“ zu machen. Experten
sind jedoch skeptisch. „Das Risiko,
dass der Schwung verpufft und die Reformen
ausbleiben, ist hoch“, sagt Nicola
Nobile, Ökonomin von Oxford Economics.
Kaum besser sieht es in Frankreich aus.
Die Wirtschaft leidet unter dem hypertrophen
Staat, den die Regierung in den ver-
Mit Zinsen nahe null, einer Geldflut und schwachem Euro will die EZB den Preisverfall stoppen
Leitzinsen der EZB
Bilanzsumme der EZB
2014
Milliarden Euro
6
3500
Spitzenrefinanzierungszins
Angestrebtes Ziel:
rund 3000 Mrd. €
5
–1
2008
1000
2008
Hauptrefinanzierungszins 3000
4
3
2
2500
2000
1
1500
0
Einlagenzins
2014
Wechselkurs des Euro
Realer effektiver
Euro-Wechselkurs*
160
* Wechselkurs gegen US-Dollar sowie realer, gewichteter Außenwert gegenüber den wichtigsten Handelspartnerwährungen (2000 = 100); Quelle: EZB, Eurostat, Bloomberg, JP Morgan, Thomson Reuters
150
140
130
120
Dollar je Euro
1,60
1,50
1,40
1,30
1,20
2008 2014
Verbraucherpreise in der Euro-Zone
Veränderung zum Vorjahr in Prozent
4,0
3,5
3,0
2,5
2,0
1,5
1,0
0,5
0
–0,5
–1,0
2008 2014
20 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
FOTOS: REUTERS/ALESSANDRO BIANCHI, LAIF/REA/JACQUES WITT, IMAGO, MARKUS SCHWALENBERG; MONTAGE: DMITRI BROIDO
gangenen Jahren mit immer höheren Steuern
gemästet hat. Der Arbeitsmarkt ist stark
reguliert, die Kooperationsbereitschaft von
Arbeitnehmern und Arbeitgebern gering,
die Arbeitslosigkeit hoch. Der Regierung
fehlt der Wille, den Staatshaushalt zu sanieren.
In der vergangenen Woche kündigte
Finanzminister Michel Sapin an, die Regierung
sehe sich außerstande, das Haushaltsdefizit
wie versprochen 2015 unter die
Maastrichter Obergrenze von drei Prozent
des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu drücken.
Das sei frühestens 2017 möglich. Zuvor
hatte die Regierung erklärt, die für das
nächste Jahr vorgesehenen Einsparungen
von 21 Milliarden Euro um ein bis zwei
Milliarden Euro zu kürzen.
ITALIENISCHE WÄHRUNGSUNION
Der finanzpolitische Schlendrian, gepaart
mit Nullwachstum, lässt die Staatsschulden
Italiens und Frankreichs steigen. Verlieren
die Märkte aber das Vertrauen in die
beiden Länder, sind Hilfskredite durch den
Euro-Rettungsschirm ESM kaum möglich.
„Italien und Frankreich würden schon jeweils
allein die Möglichkeiten des ESM bei
Weitem überschreiten, da ihre Wirtschaftsleistung
und ihr Anleihemarkt schlicht zu
groß sind“, sagt Stefan Bielmeier, Chefvolkswirt
der DZ Bank.
So wächst der Druck auf die EZB, den
Regierungen in Rom und Paris mit niedrigen
Zinsen und höherer Inflation zu Hilfe
zu eilen. „Die EZB wird zunehmend zum
Ausputzer für die reformresistenten Regierungen“,
kritisiert Jörg Krämer, Chefvolkswirt
der Commerzbank. Nicht auszuschließen,
dass die Reformverweigerung der Regierungen
in Rom und Paris mit Kalkül erfolgt.
Denn je schlechter es der Konjunktur
und den Staatshaushalten in der Euro-Zone
geht, desto stärker wird der Druck auf
die EZB, die Staaten mit der Notenpresse
zu finanzieren.
Der Währungsunion droht damit eine
Entwicklung, wie sie Italien in den Siebzigerjahren
erlebt hat. Um den Ausbau des
Wohlfahrtsstaates zu finanzieren, räumte
die italienische Zentralbank Banca d’Italia
damals dem Finanzminister eine Kreditlinie
von 14 Prozent des Budgets zu einem
Minizinssatz von einem Prozent ein. Später
kaufte sie Anleihen des Staates, die dieser
nicht am Markt platzieren konnte.
1975 befanden sich bereits 48 Prozent aller
Staatspapiere im Besitz der Banca
Schrumpfende Wirtschaft, wachsende Schulden und mehr Arbeitslose drücken auf die Preise
Reales Bruttoinlandsprodukt*
110
100
90
80
Italien
Griechenland
Frankreich
Portugal
Spanien
70
2008 2014**
* 1. Quartal 2008 = 100; ** Prognose; Quelle: Eurostat, EU-Kommission
Reformresistente Chefs Premierminister
Renzi, Präsident Hollande
d’Italia. Die Folge der hemmungslosen
Gelddruckerei war Inflation. In der Spitze
schoss die Teuerungsrate auf 26 Prozent in
die Höhe.
Die Haushaltsfinanzierung mit der Notenpresse
ließ bei den Politikern in Rom alle
Hemmungen fallen. Das Haushaltsdefizit
sprang von drei Prozent vom BIP im Jahr
1970 auf zehn Prozent 1975. Der Schuldenberg
wuchs von 36 Prozent der Wirtschaftsleistung
1969 auf 56 Prozent im Jahr 1975.
Die Konsequenz: Italiens Währung ging
auf steile Talfahrt.
In den nächsten Jahren könnte der Euro-
Zone Ähnliches bevorstehen. „Ebenso wie
damals die Banca d’Italia wird die EZB faktisch
von den Finanzministern dominiert,
Europa ist auf dem Weg in die italienische
Währungsunion“, fürchtet Commerzbank-
Chefökonom Krämer. Daher sei es nur
noch eine Frage der Zeit, bis die Frankfurter
Währungshüter ebenso wie die italienische
Zentralbank damals in großem Stil
Staatsanleihen kaufe. Die jüngsten Beschlüsse
der EZB, mit Krediten besicherte
Wertpapiere (ABS) und Pfandbriefe zu erwerben,
sei nur die „Ouvertüre“ für die
ganz große Geldschwemme.
NÄCHSTE ABWERTUNGSWELLE
Auslöser könnte ausgerechnet die US-Notenbank
Fed sein. Erhöht sie wie erwartet
ihre Leitzinsen Mitte nächsten Jahres, fließen
Anlegergelder von Europa nach Amerika.
„Die EZB wird versuchen, den Euro-
Raum gegen den Zinsanstieg aus Amerika
durch den Ankauf von Staatsanleihen abzuschirmen“,
prognostiziert Krämer. Die
Zinsunterschiede zwischen den USA
Staatsschulden
Arbeitslosenquote
Verbraucherpreise (Veränderung
(in Prozent vom BIP)
(in Prozent)
zum Vorjahr in Prozent)
200 30
6
Spanien
Griechenland Griechenland Griechenland
5
25
Italien
150
4
Italien
Spanien
3
20
Portugal
Portugal 2
100
1
Frankreich
15
Frankreich
Italien 0
50
Spanien
10
–1
Frankreich
Portugal
–2
0 5
–3
2008 2014** 2008
2014 2008 2014
»
WirtschaftsWoche 15.9.2014 Nr. 38 21
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Politik&Weltwirtschaft
»
und Europa nehmen dann zu – und die
nächste Abwertungswelle erfasst den Euro.
Noch gesteht die EZB nicht offen ein,
dass sie den Euro zur Weichwährung machen
will. So begründete EZB-Chef Draghi
die avisierten ABS-Käufe und die im Juni
beschlossenen Geldleihgeschäfte mit dem
Ziel, die Kreditvergabe in den Krisenländern
wieder in Gang zu bringen. Indem die
Banken ABS an die EZB verkaufen, erhalten
sie von der Zentralbank frisches Geld,
das sie verwenden können, um neue Kredite
zu refinanzieren.
GELD FLIESST INS AUSLAND
Zudem setzt der ABS-Verkauf Eigenkapital
der Banken frei. Damit könnten die Banken
neue Kredite unterlegen. Das nutzt jedoch
nichts, weil die Kreditnachfrage in
den Krisenländern am Boden liegt. Unternehmen
und Bürger ächzen dort noch immer
unter hohen Altschulden, ihre Lust auf
neue Kredite ist daher gering. Zudem
dämpfen die schlechten Absatzaussichten
und die hohe Arbeitslosigkeit den Wunsch
nach neuen Schulden.
Der Hinweis der EZB auf die lahme Kreditvergabe
dürfte daher in erster Linie ein
Ablenkungsmanöver sein, um ihre Weichspül-Pläne
für den Euro zu kaschieren. Verräterisch
war die Bemerkung von EZB-
Chef Draghi, er wolle die Bilanzsumme der
Zentralbank, die seit geraumer Zeit
schrumpft, wieder auf den Stand von Mitte
2012 erhöhen. Denn dazu müssen die
Währungshüter rund 1000 Milliarden Euro
an frischem Zentralbankgeld in das Bankensystem
pumpen.
Weil die Kreditnachfrage stockt, werden
die Banken einen Großteil des Geldes ins
Ausland schleusen, wo ihnen höhere Zinsen
und Renditen winken. So bieten zehnjährige
US-Staatsanleihen derzeit eine
Rendite von rund 2,5 Prozent, 1,5 Prozentpunkte
mehr als Bundesanleihen mit gleicher
Laufzeit. Anlagen in Schwellenländern
verzinsen sich sogar im Schnitt mit
6,5 Prozent.
„Die jüngsten Lockerungsmaßnahmen
der EZB zementieren die Position des Euro
als Finanzierungswährung für Carry-
Trades“, urteilt Valentin Marinov von der
Citigroup in London. Die EZB sei die erste
Zentralbank, die nicht nur Geld in die
Märkte pumpe, sondern auch Banken
Tauscht frisches Geld gegen Risiken
EZB-Präsident Mario Draghi
durch einen negativen Einlagenzins dafür
bestrafe, wenn sie Geld bei der Notenbank
parken. „Die Finanzinstitute werden geradezu
gedrängt, ausländische Vermögenswerte
zu kaufen“, sagt Marinov. Das erhöht
das Angebot an Euro und drückt den
Wechselkurs nach unten.
LAKAI DER REGIERUNGEN
Ein schwacher Euro verbilligt zwar die Exporte,
aber er verteuert auch die Importe.
Der höhere Preisauftrieb im Inland steigert
das nominale Wirtschaftswachstum. Liegt
die Wachstumsrate des nominalen BIPs
über dem Zins, zu dem sich die Regierung
verschuldet, bremst dies den Anstieg der
Schuldenquote, im günstigsten Fall sinkt
diese sogar. Kein Wunder, dass vor allem
Politiker aus den hoch verschuldeten Ländern
der Euro-Zone nicht müde werden,
niedrigere Zinsen und eine Abwertung des
Euro zu fordern. Die Zentralbank wird zunehmend
zum Lakai der Regierungen.
Die Kollateralschäden der Minizins- und
Weichwährungsstrategie sind gigantisch.
„Die Erfahrung zeigt, dass viele Regierungen
sinkende Zinsen als Aufmunterung
verstehen, noch mehr Schulden zu machen
und Reformen auf die lange Bank zu schieben“,
warnt Commerzbanker Krämer. Steigt
der Schuldenberg, wächst der Druck auf die
EZB, die Zinsen weiter zu senken und niedrig
zu halten, damit der Finanzminister den
Schuldendienst stemmen kann. Es entsteht
eine Spirale aus steigenden Schulden und
Stimmen aus
dem Ausland
Paul Krugman
„New York Times“, USA
„Bei der Verkündung der EZB-Maßnahmen
war ein Hauch von Verzweiflung zu
spüren. Europa befindet sich im Sog
eines Deflationsstrudels. Es ist zwar gut,
zu wissen, dass sich die EZB dessen bewusst
ist. Aber die Erleuchtung könnte
zu spät gekommen sein.“
Claudia Aebersold Szalay
„Neue Zürcher Zeitung“, Schweiz
„Die Notenbank in Frankfurt hat ihr
wirksamstes Instrumentarium weitgehend
ausgereizt, die Strukturschwäche
in der Euro-Zone kann und wird sie mit
ihren Mitteln nicht überwinden können.
[…] Die EZB will um jeden Preis den
Eindruck vermeiden, ihr gingen im Kampf
um die Erhaltung der Währungsunion und
des Euro die Mittel aus. Doch ihr Präsident
gibt inzwischen unumwunden zu, dass es
immer schwieriger werde, allein mit der
Geldpolitik für Preisstabilität in der Euro-
Zone zu sorgen.“
Simon Baptist
„Economist“, England
„Jetzt ist die perfekte Zeit für eine fiskalische
Expansion und nicht für eine
weitere Schrumpfung. Europa kommt
gerade aus einer schweren Rezession,
die von unzureichender Nachfrage verursacht
wurde. Die Rentenerträge sind auf
einem historischen Tiefpunkt, und viele
Länder haben ungenutzte Kapazitäten
im Bausektor. Wer glaubt, die EZB könne
die Lage mit noch niedrigeren als den
ohnehin schon minimalen Zinsen retten,
der irrt.“
Jean-Pierre Robin
„Le Figaro“, Frankreich
„Genau in dem Moment, als die amerikanische
Notenbank Fed ihre Geldpolitik
strafft, entschied sich die EZB, ihre zu lockern.
Das Zusammenwirken wertet logischerweise
den Euro ab, zur Zufriedenheit
Frankreichs. Doch Draghi kann die Wirtschaften
Europas nicht allein ankurbeln.
Jetzt liegt es an jedem Land selbst, sich
zu reformieren.“
Stefania Tamburello
„Corriere della Sera“, Italien
„Es ist keine starke Waffe, wie das Quantitative
Easing, um die Stagnation zu bekämpfen.
Doch das neue Programm, das
Mario Draghi zum Ankauf von Bankpapieren
angekündigt hat, könnte sich trotzdem
als sehr effizientes Instrument
erweisen.“
Zusammengestellt von Matthias Streit
FOTO: GETTY IMAGES/ANADOLU AGENCY, IMAGO, MARKUS SCHWALENBERG; MONTAGE: DMITRI BROIDO
22 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
sinkenden Zinsen. Am Ende droht der Kollaps
des gesamten Geldsystems.
Für die Sparer sind das denkbar schlechte
Nachrichten – zumindest, wenn sie ihr
Geld in vermeintlich sicheren Staatsanleihen
und Festgeldern in der Euro-Zone geparkt
haben, anstatt es mit Auslandsanlagen
in Sicherheit zu bringen (siehe Seite
26). Schon jetzt gleichen die Magerzinsen,
die Staatspapiere und Festgelder abwerfen,
kaum die Geldentwertung aus. Treibt der
schwache Euro die Teuerung in die Höhe,
wird die Geldanlage zur Geldvernichtung.
IM ALTER DROHT ARMUT
Dazu kommt: Je länger die Zinsen auf Guthaben
hinter der Inflationsrate zurückbleiben,
desto schwieriger wird es für die jüngeren
Generationen, einen auskömmlichen
Kapitalstock fürs Alter aufzubauen.
„Ein 35-Jähriger, der eine monatliche Zusatzrente
von 600 Euro ab dem 65. Lebensjahr
anstrebt, muss bei zwei Prozent realer
Verzinsung monatlich 242 Euro zur Seite
legen; bei einem Realzins von minus einem
Prozent sind es schon 513 Euro, mehr
als das Doppelte“, hat Reiner Osbild, Professor
an der Hochschule in Heidelberg, errechnet.
Vielen Erwerbstätigen droht im
Alter Armut.
Die negativen Folgen eines weichen Euro
werden auch Touristen spüren, die ihren
Urlaub außerhalb der Euro-Zone verbringen
wollen. Sie müssen für das Bier am
Thailand-Strand oder den Eintritt in den
US-Nationalpark deutlich tiefer in die Taschen
greifen. Seit Anfang Mai hat der Euro
gegenüber allen wichtigen Währungen abgewertet.
So könnte es den Bewohnern der
Euro-Zone so ergehen wie den Italienern
in den Siebzigerjahren. Damals haben sie
auf Urlaube im Ausland nicht nur deshalb
verzichtet, weil es an der heimischen Adria
und Riviera so schön ist, sondern weil sie
sich mit ihrer weichen Lira keinen Trip in
andere Länder leisten konnten.
Politiker und Notenbanker setzen dennoch
darauf, die Abwertung werde die
Ausfuhren ankurbeln und die Konjunktur
in Fahrt bringen. Tatsächlich spült ein
schwacher Euro den Exporteuren zusätzliches
Geld in die Kassen, etwa wenn sie ihre
Erlöse im Dollar-Raum in Euro umtauschen.
„Die Exporteure erhoffen sich vom
sinkenden Euro durchaus Windfall-Profits
durch erhöhte Wettbewerbsfähigkeit im
Dollar-Raum, also im Wesentlichen USA
und Nahost“, sagt Anton Börner, Präsident
des Bundesverbandes Großhandel, Außenhandel,
Dienstleistungen.
Doch allzu stark dürfte ein abwertungsbedingter
Exportschub für Deutschland
nicht ausfallen. Das zeigen Modellrechnungen
der Commerzbank. Wertet der Euro
gegenüber allen wichtigen Handelspartnerländern
um 25 Prozent ab, steigert dies
das Exportniveau unter sonst gleichen
Umständen um gerade mal drei Prozent.
Der Grund dafür dürfte sein, dass die
deutschen Unternehmen keine Billigheimer
sind, die ihre Waren vornehmlich über
den Preis losschlagen, sondern vielmehr
durch hohe Qualität zu überzeugen wissen.
Dies relativiert den Einfluss des Preises
auf die Preisentscheidungen der Besteller
deutscher Waren im Ausland. Etwas
höher ist der Impuls der Abwertung dagegen
für ein Land wie Spanien. Das Land
könnte sein Exportniveau bei einer Abwertung
des Euro um 25 Prozent um etwa sieben
Prozent steigern.
Die Kehrseite der Abwertungs-Medaille
ist jedoch, dass die Exporteure mehr Geld
für den Import von Vorprodukten aus Ländern
außerhalb der Euro-Zone auf den
Tisch legen müssten. Dieser Kostenschock
träfe die deutschen Unternehmen besonders
hart, da ihre Ausfuhren im Schnitt zu
40 Prozent aus importierten Vorleistungen
bestehen. Reichen sie die höheren Kosten
der Einfuhren über die Preise an ihre Kunden
weiter, verpufft die durch die Abwertung
gewonnene Wettbewerbsfähigkeit
zum Teil wieder.
Thomas Mayer, Gründungsdirektor des
Flossbach von Storch Research Instituts,
warnt daher vor dem süßen Gift einer Abwertung.
„Kurzfristig bringt sie den Ländern
Erleichterung, langfristig schmälert
sie jedoch ihren Lebensstandard, denn sie
verteuert die Importe, sediert die Anreize
zur Kostenkontrolle in den Unternehmen
und mindert den Reformdruck auf die Politik“,
urteilt Mayer.
Für die Zukunft der Währungsunion ist
er daher skeptisch. „Der Euro-Zone droht
das gleiche Schicksal wie früheren Währungsunionen:
Die wirtschaftlich schwachen
Länder übernehmen das Ruder und
zwingen die Gemeinschaft zu inflationieren.
Es ist dann nur noch eine Frage der
Zeit, bis die stabilitätsorientierten Länder
aussteigen“, hofft Mayer.
Der unverhoffte Preisschub für die Pasta
beim Italiener im Frankfurter Bankenviertel
sollte EZB-Chef Draghi eine Warnung
sein.
n
malte.fischer@wiwo.de, angela hennersdorf | Frankfurt
Lesen Sie weiter auf Seite 24 »
WirtschaftsWoche 15.9.2014 Nr. 38 23
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Politik&Weltwirtschaft
Unter dem Strich bleibt was
WÄHRUNG | Der schwächere Euro wird zum Konjunkturprogramm für exportstarke Unternehmen mit
wenig Produktion im Dollar-Raum. Standortentscheidungen bleiben davon aber unberührt.
Josef Trischler ist guter Dinge. Das Mitglied
der Hauptgeschäftsführung des
Verbands Deutscher Maschinen- und
Anlagenbau (VDMA) rechnet damit, dass
das Gros der rund 3100 Mitglieder (Umsatz
2013: 206 Milliarden Euro) zunehmend
weniger Neigung verspürt, sich für das Exportgeschäft
über kostspielige Termingeschäfte
abzusichern. Dieses sogenannte
Hedging betreiben Unternehmen immer
dann, wenn die Gefahr besteht, dass etwa
der Dollar abwertet und sie dadurch beim
Umtausch in Euro am Ende weniger verdienen,
als sie bei der Auftragserteilung ursprünglich
kalkuliert hatten.
Seit sich die Europäische Zentralbank
(EZB) anschickt, den Euro möglichst
schwach zu halten, lässt diese Furcht aber
immer mehr nach. Denn je niedriger der
Euro gegenüber dem Dollar notiert, desto
mehr Euro erhalten die Maschinenbauer
beim Umtausch ihrer Devisen, die sie
durch den Verkauf ihrer Textil-, Druckoder
Verpackungsanlagen zum Beispiel in
die USA einnehmen. Zwar müssen die Einkäufer
im Gegenzug mehr Euro für Rohstoffe
oder sonstige Importe hinlegen, die
in Dollar abgerechnet werden. Doch unter
dem Strich dürfte mehr übrig bleiben als
vorher. „Der Anteil der Einkäufe aus dem
Dollar-Raum“, weiß Trischler, der beim
VDMA auch als oberster Betriebswirt firmiert,
„ist wertmäßig klar niedriger als der
Anteil der Verkäufe.“
TRUMPF RELATIVIERT
Keine Frage: Die Schwächung des Euro, allem
voran durch immer niedrigere Zinsen,
ist für die exportorientierten deutschen
Unternehmen – und das sind die 30 Konzerne
im Deutschen Aktienindex (Dax)
und die 100 wachstumsstärksten mittelständischen
Weltmarktführer (Wirtschafts-
Woche 4/2013) allemal – ein wahres Konjunkturprogramm.
Zwar stehe auch der japanische
Yen nach wie vor relativ schwach,
schränkt VDMA-Funktionär Trischler ein,
was den deutschen Werkzeugmaschinenbauern
im Wettbewerb mit ihren starken japanischen
Konkurrenten schade. Für den
Preiswettbewerb mit amerikanischen Anbietern
aber, die von den niedrigen Energiepreisen
sowie den geringen Löhnen in
ihrem Land profitieren, stimmt derzeit die
Richtung, die der Euro-Kurs einschlägt.
Wie sehr der Sinkflug des Euro hilft,
hängt allerdings vom jeweiligen Unternehmen
ab. „Tendenziell hilft uns als exportorientiertem
Unternehmen der stärkere
Dollar“, heißt es beim Werkzeugmaschinenbauer
Trumpf im schwäbischen Ditzingen.
Dies sei allerdings kein Faktor, der
das Geschäft entscheidend beeinflusse.
Zum einen sei der Euro-Raum mit einem
Anteil von rund 50 Prozent nach wie vor
der größte Absatzmarkt des Unternehmens,
erklärt Trumpf. Zudem sei der Export
der High-Tech-Werkzeugmaschinen
sowie Laser- und Medizintechnik aus
Deutschland in Nicht-EU-Länder „durch
langfristiges Hedging gegen kurzfristige
Kursschwankungen abgesichert“. Zum andern
haben die Schwaben Produktionsanlagen
im außereuropäischen Ausland aufgezogen,
auch in den USA. Zwei Fabriken
produzieren für Abnehmer in den Vereinigten
Staaten. „Natural Hedging“ sagen
Finanzchefs dazu, zu Deutsch: natürliche
Absicherung. Weil ein Großteil der Kosten
sowie die Einnahmen in Dollar anfallen,
muss sich Trumpf in den USA um Währungsturbulenzen
erst einmal nicht kümmern.
Und fällt der Euro, vergrößert das
den US-Gewinn in Euro.
BASF PROFITIERT
Auch die einstige Paradefirma Heidelberger
Druckmaschinen (Konzernverlust im
ersten Quartal des aktuellen Geschäftsjahrs:
34 Millionen Euro) kann nach eigener
Auskunft „in allen Regionen von der
derzeitigen Euro-Schwäche profitieren“.
Der Konzern erzielt 80 Prozent seines Umsatzes
(im Geschäftsjahr 2013/14 rund 2,4
Milliarden Euro) im Ausland. Sicherungsinstrumente
gegen Währungsrisiken rücken
nun aber in den Hintergrund, „da das
Unternehmen seine Produkte aufgrund
der Währungsrelation außerhalb des Euro-
Raums günstiger anbieten kann“.
Welche Spuren der schwache Euro in der
deutschen Handelsbilanz hinterlässt, zeigte
der Juli. Da stellten die deutschen Unternehmen
mit 101 Milliarden Euro einen
neuen Ausfuhrrekord auf. Weil gleichzeitig
die Importe um 1,8 Prozent schrumpften,
Wechselbad der Gefühle bei Daimler S-Klasse-Fertigung im Werk Sindelfingen
24 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
FOTOS: GETTY IMAGES/THOMAS NIEDERMÜLLER,IMAGO, MARKUS SCHWALENBERG; MONTAGE: DMITRI BROIDO
erreichte auch der deutsche Handelsüberschuss
mit 23,4 Milliarden Euro eine neue
Rekordmarke.
Die vom schwachen Euro gespeisten Rekorde
dürften in den kommenden Monaten
die Gewinn-und-Verlust-Rechnung
vieler Unternehmer ordentlich aufhübschen.
Beispiel BASF: Noch im zweiten
Quartal kostete die relative Stärke des Euro
den Chemiekonzern im Vergleich zum
Vorjahr 684 Millionen Euro Umsatz. Wird
der Euro jetzt weicher, treibt dies nicht nur
den Umsatz. Jeder US-Cent, den der Dollar
höher und der Euro entsprechend niedriger
notiert, verbessert das Ergebnis von
BASF gleich um rund 50 Millionen Euro.
LANXESS HOFFT
Eine ähnliche Rechnung macht der Chemie-
und Pharmakonzern Bayer auf. Eine
Abwertung des Euro gegenüber dem Dollar
um ein einziges Prozent erhöht den
Konzernumsatz um 84 Millionen Euro.
Und das, ohne dass die Leverkusener eine
einzige Schachtel Aspirin oder eine Ladung
Kunststoff mehr verkauft hätten.
Beim Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen,
kurz: Ebitda, beträgt das
Plus immerhin noch 24 Millionen Euro.
Der größte Brocken des Windfall-Profits
entstammt dabei der Pharmasparte
(HealthCare) und dem Geschäft mit den
Landwirten (CropScience).
Regelrecht Freude über den sinkenden
Euro-Kurs kommt bei Matthias Zachert auf,
dem neuen Chef des Kölner Chemiekonzerns
Lanxess. Für das Unternehmen spielen
„Veränderungen des Euro-Dollar-Kurses
die größte Rolle, da der Ein- und Verkauf
von Chemiegütern häufig in Dollar fakturiert
wird – und auch Preislisten für Produkte
in Dollar geführt werden“, heißt es bei
Lanxess. So ging im ersten Halbjahr trotz
höherer Verkaufsmengen auch wegen des
starken Euro der Umsatz um 4,1 Prozent auf
4,1 Milliarden Euro zurück. „Gegenüber
dem deutlich stärkeren Euro zu Beginn des
Jahres wäre ein Wechselkurs auf dem aktuellen
oder sogar niedrigeren Niveau für Lanxess
vorteilhaft“, heißt es nun im Konzern.
Wo keine Euphorie über den von der
EZB gewünschten niedrigen Euro-Kurs
aufkommt, herrscht meist Gelassenheit.
„Das Währungsrisiko besteht nun einmal,
wenn man als international tätiges Unternehmen
Geschäfte in Ländern mit unterschiedlichen
Währungen macht“, heißt es
beim Pharmahersteller Merck. Um von
Währungsschwankungen nicht völlig überrascht
zu werden, sichern die Darmstädter
ihr Geschäft mit Finanzderivaten. Dabei
konzentriert sich der Nasivin- und Erbitux-
Hersteller auf den Dollar und passt den
Umfang seiner Absicherung seit 2011 in einem
Dreijahreszeitraum an.
Tief greifende Auswirkungen auf die Unternehmensstrategien
hat die Wechselkurs-Politik
der EZB sowieso kaum. BMW
etwa hat entschieden, mit der Produktion
immer mehr dorthin zu gehen, wo die
meisten künftigen Käufer erwartet werden.
So stecken die Bayern bis 2016 rund eine
Milliarde Dollar in den Ausbau des Werkes
in Spartanburg im US-Bundesstaat South
Carolina. Dadurch soll die Produktionska-
50 Millionen Euro
Gewinn bringt es BASF,
wenn der Euro um einen
Cent billiger notiert
100 Millionen
Euro mehr Umsatz hat
Airbus, wenn der Euro
ein Cent weniger kostet
50 Prozent mehr
Autos baut BMW künftig
in den USA – eine „strategische
Entscheidung“
pazität dort von jährlich rund 300 000 auf
450 000 Autos steigen.
Zwar könnte BMW diese Autos auch in
Europa produzieren, in die USA exportieren
und dabei Extraerlöse durch einen
schwächelnden Euro einstreichen. Doch
von kurzfristigen Währungsschwankungen
lassen sich die Münchner nicht leiten. Investitionen
wie in Spartanburg seien „langfristige
strategische Entscheidungen“, betont
ein Konzernsprecher.
Stattdessen setzen die Münchner auf
klassisches Hedging und sind nach eigener
Auskunft „für 2014 in den Hauptwährungen
weitgehend gesichert“. Dazu bieten
sich den Bayern zum Beispiel Instrumente,
die einen festen Wechselkurs bieten. Eine
andere Variante sind Optionen, mit denen
sich das Unternehmen nur das Recht erwirbt,
im Falle eines steigenden Dollar einen
Dollar-Betrag noch zum alten, günstigeren
Kurs eintauschen zu dürfen. Dafür
wird eine Prämie fällig. Fällt der Dollar wider
Erwarten, muss das Unternehmen den
Dollar-Betrag nicht abnehmen, sondern
hat nur die Prämie verloren.
AIRBUS FREUT SICH
In welches Wechselbad die Veränderung
des Euro-Kurses ein Unternehmen stürzen
kann, bekommt derzeit BMW-Konkurrent
Daimler zu spüren. Im ersten Halbjahr hatten
Wechselkurs-Veränderungen noch zu
Belastungen geführt. „Diese sollten durch
die jüngste Abwertung des Euro zum Dollar
zum Teil wieder aufgeholt werden“,
heißt es nun. Pech für die Stuttgarter, dass
sie sich bis zum Jahresende so weit abgesichert
haben, dass die Segnungen der EZB-
Politik sie kaum treffen dürften. „Da wir für
dieses Jahr bereits fast vollständig gehedgt
sind“, so die Antwort auf die Anfrage der
WirtschaftsWoche, „werden wir nur in geringem
Maße vom erstarkten Dollar profitieren.“
Ein gepflegtes Understatement lässt Airbus-Chef
Tom Enders zur aktuellen Euro-
Schwäche verbreiten. Der deutsch-französische
Flugzeugbauer und Rüstungskonzern
mit Produktionsstätten überwiegend
in Europa, bezahlt seine Lieferanten und
Beschäftigten vor allem in Euro. Die Flugzeuge
rechnet er aber üblicherweise in
Dollar ab. Steigt dessen Wert, kann Enders
seine Flugzeuge billiger anbieten, ohne
Einnahmen in Euro einzubüßen. Oder er
kassiert mehr Euro beim gleichen Preis.
„Wir begrüßen die Entwicklung und sehen
eine weitere Bewegung in diese Richtung
positiv“, heißt es deshalb bei Airbus.
Tatsache ist: Die Airbus-Fabriken sind
dank 5900 bestellter Flugzeugen für die
nächsten acht bis neun Jahre ausgelastet.
Mit jedem Cent, den der Euro gegenüber
dem Dollar verliert, klingeln rund 100 Millionen
Euro mehr in der Konzernkasse.
Das ist so viel, wie Airbus-Chef Enders
durch den Verkauf seines Passagierjets
A321 neo zum Listenpreis einnimmt. n
thomas.gloeckner@wiwo.de, rebecca eisert,
ruediger kiani-kress
Lesen Sie weiter auf Seite 26 »
WirtschaftsWoche 15.9.2014 Nr. 38 25
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Politik&Weltwirtschaft
ANLAGESTRATEGIE
Verluste ummünzen
Mit Anleihen, Aktien und Zertifikaten können sich Anleger gegen den
schwachen Euro wappnen.
Risikofreudige Neueinsteiger können
auch jetzt noch eine Wette gegen den
Euro starten (siehe Tabelle). Wer schon
länger auf diesen Trend gesetzt hat, lag
nicht falsch. Mehr als 50 Prozent Kursplus
in fünf Wochen haben die in der
WirtschaftsWoche 32/2014 vorgestellten
Euro-Shortzertifikate eingespielt. Die
trüben Aussichten für den Euro machen
weitere Kursgewinne möglich.
Euro-Shortzertifikate sind spekulative
Anlagevehikel, mit denen sich Verluste im
Euro in Kursgewinne ummünzen lassen.
Allerdings drohen empfindliche Kursrückschläge,
sollte sich der Euro vorübergehend
etwas erholen. Wem das zu riskant
ist, lebt mit Anleihen oder Aktien sicherer.
Wichtigster Gewinner der Euro-Schwäche
ist der Dollar – und mit ihm automatisch
US-Wertpapiere. Der Klassiker sind
amerikanische Staatsanleihen. Vorteil: Zum
möglichen Währungsgewinn kommt die
Aussicht auf einen Rendite-Kick. Weil in
Amerika die Zinsen am Kapitalmarkt höher
sind als in Europa, werfen US-Staatsanleihen
mehr ab als Bundesanleihen. US-
Papiere mit Laufzeit bis 2020 bieten derzeit
gegenüber deutschen Staatsanleihen
1,7 Prozentpunkte Renditevorteil pro Jahr.
RENDITEVORTEIL OBENDRAUF
Gibt der Euro gegenüber dem Dollar nach,
werden auch andere Währungen für Anleger
interessanter. Der kanadische Dollar (aktuell
0,71 Euro) und die norwegische Krone (aktuell
0,12 Euro) profitieren davon, dass die
Konjunktur in Kanada und Norwegen im
zweiten Quartal deutlich stärker zugelegt hat
als in den Kernländern der EU. In Polen dürften
die Folgen der Sanktionen gegen Russland
zwar das Wachstum etwas dämpfen,
doch die Notenbank rechnet auch dann
noch mit mehr als drei Prozent plus in diesem
Jahr. Die Landeswährung Zloty (aktuell
0,24 Euro) sollte das stabil halten. 1,8
Prozentpunkte Renditevorteil gegenüber
Bundesanleihen gibt es obendrauf.
Auch für Aktionäre kann sich ein
schwacher Euro auszahlen. Direkt, wenn
Anteile internationaler Unternehmen
entsprechend der Landeswährung gegen
Euro zulegen. In diesem Fall ist es vorteilhaft,
auf Aktien mit stabilem Geschäft
und hoher Dividende zu setzen, wie etwa
auf den US-Kommunikationskonzern
AT&T. Indirekt bekommen diejenigen Unternehmen
Rückenwind, deren Kosten
weitgehend in Euro anfallen, Umsätze
aber zu einem großen Teil außerhalb des
Euro-Raums erzielt werden. Dies trifft etwa
auf den Flugzeugbauer Airbus zu, der
drei Viertel seiner Maschinen im außereuropäischen
Raum absetzt. Zu den Währungsgewinnern
zählt auch der italienische
Energiekonzern Eni, der vor allem in
Afrika produziert, sein Öl aber gegen US-
Währung verkauft.
n
anton.riedl @wiwo.de
Zehn gegen den Euro
Anlage- und Spekulationspapiere für Euro-Pessimisten
Währung
Kennzeichen
ISIN
Kurs
Chance/
Risiko
Anleihen
US-Staatsanleihen
Währungsanleihe
Norwegische
Staatsanleihen
Währungsanleihe
US-Dollar
Kanada-Dollar
Norwegische
Krone
Polnischer
Zloty
2,625 Prozent Kupon, Laufzeit bis 15. August 2020, Rendite 2,00 Prozent, Moody’s-
Rating Aaa
2,25 Prozent Kupon, Laufzeit bis 23. Juli 2021, Rendite 2,26 Prozent, Emittentin
Landwirtschaftliche Rentenbank, Moody’s-Rating Aaa
3,75 Prozent Kupon, Laufzeit bis 25. Mai 2021, Rendite 1,96 Prozent, S&P-Rating AAA
4,25 Prozent Kupon, Laufzeit bis 25. Oktober 2022, Rendite 2,49 Prozent, Emittentin
Europäische Investitionsbank, S&P-Rating AAA
US912828NT32
XS1089927781
NO0010572878
XS0845917342
103,55
Prozent
99,96
Prozent
111,15
Prozent
112,81
Prozent
2/1
2/1
2/1
3/2
Aktien
AT&T
Eni
Airbus
Derivate
Währungs-
Zinszertifikat
Währungs-
Zinszertifikat
Euro-Dollar-
Shortzertifikat
US-Dollar
Euro
Euro
Neuseeland-
Dollar
Chinesischer
Renminbi
US-Dollar
Quelle: Thomson Reuters, Banken, eigene Recherche
In Dollar notierter Anlageklassiker mit stabilen Gewinnen und vielversprechender Expansion
(Übernahme des Bezahlsenders DirecTV); 5,2 Prozent Dividendenrendite in Sicht
Italienischer Energiekonzern fördert Großteil seines Öls außerhalb des Dollar-Raums,
verkauft aber in US-Währung
Flugzeugbauer produziert im Euro, aber steigender Absatz im internationalen Geschäft,
Ausstieg beim Konkurrenten Dassault kann Milliardenerlös einbringen
Aktuell 2,49 Prozent Zins plus Wechselkursentwicklung zum Euro, keine feste Laufzeit,
Emittentin Commerzbank
Aktuell 3,85 Prozent Zins plus Wechselkursentwicklung zum Euro, keine feste Laufzeit,
Emittentin Commerzbank
Verstärkt die tägliche Wertveränderung Euro zu Dollar um den Faktor fünf, keine feste
Laufzeit, Emittentin Commerzbank
US00206R1023
IT0003132476
NL0000235190
DE000CB1NZD6
DE000CB2CNY9
DE000CZ60BQ6
35,15
Dollar
19,45
Euro
48,62
Euro
71,09
Euro
133,36
Euro
9,20
Euro
5/4
6/5
6/5
6/5
7/6
10/9
FOTO: IMAGO, MARKUS SCHWALENBERG; MONTAGE: DMITRI BROIDO
26 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Politik&Weltwirtschaft
iPad kann er schon
EU-KOMMISSION | Mit dem Ressort für die Digitalwirtschaft
bekommt Günther Oettinger eine zentrale Aufgabe in Brüssel.
Mit neuer Aufgabe
EU-Kommissar
Oettinger
markts auf 656 Milliarden Euro im Jahr beziffert.
Oettinger wird nun Antworten auf die
entscheidenden Fragen des Sektors finden
müssen: Wie etwa kann die Regulierung der
Märkte für Telekommunikation in den 28
Mitgliedsländern stärker angenähert werden?
Bisher operiert keiner der großen Telekomanbieter
in allen EU-Mitgliedstaaten,
nationale Schranken verhindern grenzüberschreitendes
Wachstum. „Im Weltmaßstab
sind Deutsche Telekom und France Télécom
am unteren Ende der Skala“, sagt Oettinger
und gibt zu erkennen, dass er in seinem
neuen Amt durchaus Industriepolitik
betreiben will.
Sein iPhone bedient er ebenso routiniert
wie sein iPad, den Terminkalender
führt er elektronisch. Nur bei
den Lesegewohnheiten ist Günther Oettinger,
60, noch etwas altmodisch. „Ich lese
Zeitungen am liebsten auf Papier“, gestand
er vergangene Woche, als bekannt wurde,
er werde in seiner zweiten Amtszeit als
deutscher Vertreter in der Europäischen
Kommission für die digitale Wirtschaft und
Gesellschaft zuständig sein.
KRITIKER IRREN
Kaum war die Personalie in der Welt, hagelte
es Kritik: Deutschland werde mit einem
unwichtigen Ressort abgespeist, Oettinger,
der von sich selbst sagt, er sei kein
„digital native“, passe nicht auf den Posten.
Doch in beidem irren die Kritiker. Als Kommissar
für Digitales wird Oettinger eine
Schlüsselposition in der Kommission von
Jean-Claude Juncker übernehmen. Er wird
mit entscheiden, ob Europa in der digitalen
Welt den Anschluss findet oder weiterhin
anderen Weltregionen die Marktführerschaft
überlässt. Wer ihn kennt, weiß, dass
er sich rasch in die neue Materie einfinden
wird – so wie er vor fünf Jahren flugs die
Energiepolitik durchdrang. Zumal er aus
seiner Zeit als Ministerpräsident in Baden-
Württemberg noch Kontakte pflegt zu Konzernen
wie IBM, Hewlett-Packard und SAP,
allesamt in seiner Heimat ansässig.
Politische Unterstützung genießt Oettinger
ohnehin. Der künftige Kommissionschef
Juncker hat das Digitale zu einer seiner
Prioritäten ausgerufen, um Europa
wettbewerbsfähiger zu machen. Binnen
sechs Monaten soll Oettinger ein umfassendes
Gesetzespaket für einen digitalen
Binnenmarkt vorlegen. Schon Junckers
wichtigster Berater, Kabinettschef Martin
Selmayr, wird dafür sorgen, dass das Thema
ganz oben auf der Agenda bleibt. Als
rechte Hand der früheren Luxemburger
Kommissarin Viviane Reding war er einst
maßgeblich für die Reduzierung der Roaming-Gebühren
in der EU verantwortlich.
Junckers Team stützt sich auf eine Studie
des Europäischen Parlaments, die die Kosten
des zersplitterten europäischen Digital-
Im Internet soll es
unterschiedliche
Geschwindigkeiten
geben
ABGESTUFTE NEUTRALITÄT
Ein wichtiges Thema ist das Verhältnis zwischen
klassischen Telekomunternehmen
und Inhalteanbietern ohne Netz wie Google
und Netflix. Auch dabei geht es um Regulierung,
aber vor allem um Netzneutralität.
Oettinger lässt bereits durchblicken,
dass er eine „abgestufte“ Netzneutralität
einer „absoluten“ vorzieht. Das heißt, dass
es für Internet-Nutzer unterschiedliche
Geschwindigkeiten geben würde.
Die Macht der Netzbesitzer entscheidet
auch über die Höhe der Investitionen in
die digitale Infrastruktur. Da haben die EU-
Länder die europäischen Mittel für den
Ausbau bei den jüngsten Haushaltsverhandlungen
zusammengestrichen. Andere
haben in der Zwischenzeit geklotzt. Japan,
Südkorea und die USA verfügen über ein
größeres Glasfasernetz. In China stehen
mehr Mobilfunkmasten der vierten Generation
als in ganz Europa.
Wie viel Einfluss Oettinger in der neuen
EU-Kommission entwickeln wird, hängt
entscheidend von ihm selbst ab. Andrus
Ansip steht als Vizepräsident über ihm und
kann theoretisch ein Veto gegen seine Vorschläge
einlegen. Die Beamten arbeiten
aber zunächst Oettinger zu, sodass er inhaltlich
die Richtung vorgibt. Als Este ist
Ansip internetaffin, inhaltliche Dispute
sind weniger vorgezeichnet als etwa beim
französischen Währungskommissar Pierre
Moscovici, der mit dem lettischen Austeritäts-Fan
Valdis Dombrovskis als Vizepräsident
zusammenarbeiten muss.
In der Telekombranche eilt Oettinger der
Ruf voraus, der Großindustrie näher zu stehen
als der kleinen Konkurrenz. Er sieht
deren Interessen aber gar nicht als so widerstreitend
an: „Für Start-ups ist es besser,
sie haben Weltmarktführer in Europa als in
New York oder Shanghai.“
n
silke.wettach@wiwo.de | Brüssel
FOTO: FOTOGLORIA/EZEQUIEL SCAGNETTI
28 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Politik&Weltwirtschaft
Nichts zu verlieren
EUROPA | Selbst wenn sich die Schotten für den Verbleib in
Großbritannien entscheiden sollten, wird die Debatte über
Unabhängigkeit weitergehen. Auch anderswo in Europa.
Schottischer
Superman
Yes-Kampagne
in Glasgow
Regierungschef Salmond dies als eine leere
Drohung bezeichnet. „Absolutes Chaos“,
erwartet Andy Brough, Direktor der Vermögensverwaltung
Schroder Investment
Management, im Fall eines Ja.
In seltener Einmütigkeit pilgerten deswegen
Vertreter der drei größten Parteien
am Mittwoch vergangener Woche nach
Schottland, um dieses zu verhindern. Aber
selbst wenn sie Erfolg haben, wird das Referendum
nachhaltige Folgen haben –
nicht nur für Großbritannien, sondern
auch für ganz Europa. Alleine die Tatsache,
dass die Schotten über ihre Zukunft abstimmen
dürfen, verhilft separatistischen
Katalanen zu neuem Auftrieb.
Freitag, 19. September, 6.30 Uhr morgens,
helle Aufregung in der Londoner
City. Rot blinken die Eilmeldungen
auf den Bildschirmen der Devisenhändler:
Denkbar knapp – mit 50,5 Prozent
– haben die Schotten für die Unabhängigkeit
von Großbritannien gestimmt. Der
Kurs des Britischen Pfund fällt rapide, die
Aktien der schottischen Banken und Unternehmen
ebenso, im Finanzministerium
und bei der Bank of England tagen die Krisenstäbe.
Der Fernsehsender BBC überträgt
eine Ansprache von Premier David
Cameron: „Trotz aller Aufrufe zum Rücktritt
werde ich im Amt bleiben“, beteuert er.
Großbritannien trudelt in eine schwere
wirtschaftliche und politische Krise. Die
Trennung soll nach dem Willen der Regierung
in Edinburgh bereits im März 2016
vollzogen werden.
Dies ist ein erfundenes Szenario – noch.
Aber es könnte schnell wahr werden, wenn
die 4,2 Millionen Wahlberechtigten in
Schottland am Donnerstag dieser Woche
dafür stimmen, die 307-jährige Union mit
Großbritannien zu verlassen. Monatelang
sahen die Meinungsforscher die Befürworter
der Unabhängigkeit um Ministerpräsident
Alex Salmond als Verlierer. Doch
dann rüttelte eine Umfrage zehn Tage vor
dem Referendum die Finanzmärkte und
die Politiker auf:Zum ersten Mal befürworteten
demnach 51 Prozent der Schotten die
Unabhängigkeit.
Das Pfund fiel gegenüber dem Dollar auf
einen Jahrestiefststand. Die Märkte zeigen
sich offenkundig irritiert von der Ankündigung
aus London, ein unabhängiges
Schottland werde die gemeinsame Währung
verlieren – auch wenn der schottische
EXTREM SCHWIERIG
In Brüssel wird die Entwicklung mit großer
Sorge gesehen. Politische Unruhe ist das
Letzte, das die konjunkturlahme EU derzeit
gebrauchen kann.
Offiziell bleibt Brüssel bei seiner Linie,
die es bereits seit einem Jahrzehnt verfolgt:
Neue Staaten müssen sich neu um die Mitgliedschaft
bewerben. Wenn eine Region
nicht mehr Teil eines EU-Mitgliedstaats sei,
dann hätten dort die EU-Verträge keine
Geltung, schrieb die frühere EU-Justizkommissarin
Viviane Reding im März an das
schottische Parlament. EU-Kommissionspräsident
José Manuel Barroso hatte die
Schotten zuvor mit der Aussage geschockt,
es sei „extrem schwierig bis unmöglich“,
dass ein unabhängiges Schottland der EU
beitreten könne, weil es dazu die Zustimmung
aller EU-Mitglieder bräuchte. Barroso
verwies auf Spanien, das bisher den Kosovo
nicht anerkannt hat.
Ähnlich lauten die Warnungen zum Thema
Währung. Der frühere Kommissar für
Wirtschaft und Währung, Olli Rehn, ließ
Schottland wissen, der Plan von Salmond,
weiter das Pfund zu benützen, sei ohne
Londons Erlaubnis „schlicht nicht möglich“.
Ohne eigene Zentralbank könne
Schottland sich auch nicht für den Euro bewerben.
Salmond hatte in der Vergangenheit
mehrfach erklärt, ein unabhängiges
Schottland sei nicht bereit, die Auflagen für
einen Euro-Beitritt einzuhalten.
Befürworter der schottischen Unabhängigkeit
halten das für Drohgebärden. „Ich
glaube nicht, dass die EU-Mitgliedschaft
eines unabhängigen Schottland so schwierig
wäre“, sagt Sionaidh Douglas-Scott, Professorin
für Europäisches Recht an der
Universität von Oxford. „Hier wird mit der
Angst der Menschen gespielt.“ Eine Union,
die sich ausdrücklich auf die Freiheit als
FOTO: GETTY IMAGES/JEREMY SUTTON-HIBBERT
30 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Grundrecht berufe, müsse den Willen der
Bürger akzeptieren, sich selbst zu regieren,
argumentiert sie. Und Bryan MacGregor
von der Universität Aberdeen, Sprecher
der Initiative Academics for yes, fordert die
EU auf, sich nicht auf die Seite der Mächtigen
zu stellen: „Die EU sollte demokratische
Bewegungen begrüßen.“
Für die EU ist es schwierig, darauf zu reagieren,
seit Populisten bei der Europawahl
im Mai deutlich an Stimmen hinzugewonnen
haben. Weil sich noch nie ein Land in
der EU aufgespalten hat, gibt es auch
schlicht keinen Präzedenzfall. Die Teilung
der Tschechoslowakei und die neuen
Grenzziehungen im früheren Jugoslawien
passierten, ehe die Nachfolgestaaten der
Allerdings gibt es einen Riesenunterschied:
Die Regierung in Madrid will verhindern,
dass die Katalanen selbst über ihre
Unabhängigkeit entscheiden. „Es wird
auf keinen Fall ein illegales Referendum
geben“, insistiert Ministerpräsident Mariano
Rajoy. „Spanien ist ein Rechtsstaat.“ Artur
Mas, Präsident Kataloniens, will den
Einwohnern seiner Region am 9. November
zwei Fragen stellen: Soll Katalonien ein
Staat werden? Und wenn ja, soll dieser
Staat unabhängig von Spanien sein? Laut
Verfassung kann aber nur die nationale Regierung
solche Fragen stellen.
Von der Unabhängigkeit hätte Katalonien
wirtschaftlich nichts zu gewinnen,
rund 60 größtenteils deutsche Firmenbosbleibt,
auch wenn es diesmal beim Nein-
Votum bliebe, nach wie vor dem wahrscheinlichsten
Ausgang. „Das Thema
kommt wieder“, sagt Juristin Douglas-Scott,
spätestens wenn Großbritannien 2017
über den Verbleib in der EU abstimmen
sollte, könnte ein erneutes Referendum auf
die Tagesordnung kommen. Die Ungewissheit
über ein zweites Referendum würde
aber Märkte und Investoren nachhaltig
verunsichern.
NICHTS BEIM ALTEN
Anders als in Spanien, wo Premier Rajoy
jegliche Zugeständnisse etwa beim ungerechten
Finanzausgleich zwischen den Regionen
ablehnt, bleibt in Großbritannien
EU beitraten. Würde den Schotten als neuer
unabhängiger Staat jedoch der Verbleib
in der EU leicht gemacht, so drohen gleich
an mehreren Stellen in Europa die Grenzen
zu verrutschen. In Dublin wird spekuliert,
Nordirland könne nach einem Ja der
Schotten ein eigenes Referendum für einen
Zusammenschluss mit der irischen Republik
fordern.
Besonders aufmerksam verfolgen die
Katalanen die Entwicklung in Schottland,
nachdem sie am Donnerstag vergangener
Woche, ihres Nationalfeiertages, des Endes
ihrer Selbstverwaltung 1714 gedacht haben.
„80 Prozent dessen, was über das Verhältnis
zwischen Schottland und England
gesagt werden kann, trifft auch auf uns zu“,
argumentiert Gerard Padró, katalanischer
Professor an der London School of Economics.
„Wir sind wie Schottland ohne Öl.“
se in Katalonien warnten kürzlich vor den
„verheerenden Folgen“ einer Unabhängigkeit.
Ohne den Euro würde sich die Verschuldung
mit einem Schlag vervielfachen.
Die Situation in Schottland könnte aber
die Unabhängigkeitsdebatte in Katalonien
über Jahre köcheln lassen. Denn dort rechnen
Experten fest damit, dass das Thema
ganz weit oben auf der Tagesordnung
Die EU sollte
den Willen der
Bevölkerung
akzeptieren
nichts beim Alten – völlig unabhängig vom
Ausgang des Referendums. In Panik hat die
Regierung den Schotten in letzter Minute
weitere Zugeständnisse angeboten, sie sollen
in der Steuer- und Sozialpolitik mehr
Rechte erhalten. „Der Status quo ist nicht
länger eine Option“, so Ex-Premier Gordon
Brown, selbst Schotte, der für eine Beibehaltung
der Union kämpft. Mehr Selbstverwaltung
– im Volksmund „Devo(lution)
Max“ genannt – hatte Cameron jedoch
2012, als er mit Salmond über die Formulierung
der Referendumsfrage verhandelte,
strikt abgelehnt. Damals bestand er strikt
darauf, dass auf dem Stimmzettel nur ein
Satz stehen darf: „Soll Schottland ein unabhängiges
Land werden?“ Ein Fehler, der
sich nun bitter rächen könnte.
n
silke.wettach@wiwo.de | Brüssel,
yvonne esterhazy | London, anne grüttner | Madrid
WirtschaftsWoche 15.9.2014 Nr. 38 31
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Politik&Weltwirtschaft
PARIS | Der Export
von Cognac und
Bordeaux bricht ein
– und schuld sind
die Chinesen. Von
Karin Finkenzeller
Trockene
Kehlen
»Frieden gibt es
nicht zum Nulltarif«
INTERVIEW | Claude-France Arnould Die Geschäftsführerin der
Europäischen Verteidigungsagentur (EDA) hält nichts vom Sparen.
Als hätte Staatschef
François Hollande derzeit
noch nicht genug an der
Backe, muss er nun auch
noch diese schlechte
Nachricht verkraften:
Nicht einmal mehr das „savoir vivre“, die
französische Lebensart, taugt noch als
Exportschlager. Im ersten Halbjahr sind
die Ausfuhren von Cognac um zwölf
Prozent eingebrochen, die von Bordeaux-
Weinen sogar um 28 Prozent. Der Verband
der Wein- und Spirituosenhersteller
schreibt die Schlappe dem Umstand zu,
dass die edlen Tropfen aus Frankreich in
China vor allem zum Zweck der Korruption
begeisterte Abnehmer fanden. Zwischen
2006 und Jahresbeginn waren die
Umsätze dort um satte 168 Prozent gestiegen.
Doch jetzt sehen die chinesischen Behörden
genauer hin, wer da wessen Kehlen
schmiert. Bei offiziellen Empfängen
fließt nunmehr kein Tropfen Alkohol. Und
auch kleine Geschenke unter Freunden –
bei denen die teuren Tropfen erste Wahl
waren – sind in Peking nicht mehr gern
gesehen.
Ausnahme in der negativen Exportbilanz:
Mit Champagner lässt sich noch immer
gut feiern, die Ausfuhr stieg seit Anfang
des Jahres um acht Prozent. Auch
mit anderen Knallkörpern hübscht Frankreich
seine Handelsbilanz auf. Verteidigungsminister
Jean-Yves Le Drian ließ gerade
mit Unterstützung der
Unternehmensberatung McKinsey wissen,
dass die Handelsdefizite der vergangenen
Jahre um fünf bis acht Prozent höher
ausgefallen wären, gäbe es da nicht
die erfolgreichen Auslandskontrakte der
Rüstungsindustrie. Na dann Prost!
Karin Finkenzeller ist Frankreich-
Korrespondentin der WirtschaftsWoche.
Madame Arnould, die Verteidigungshaushalte
schrumpfen in Europa seit Jahren,
Ausgaben für militärische Forschung
werden stark gekürzt. Wie schwer leidet
darunter die europäische Verteidigungsindustrie?
Noch sind die Hersteller sehr wettbewerbsfähig.
Unter den fünf größten Exporteuren
von Verteidigungsgütern weltweit befinden
sich mit Deutschland und Frankreich
zwei EU-Länder. Wenn nun aber die Investitionen
weiter schrumpfen und Forschungsprogramme
zusammengestrichen
werden, besteht das Risiko, dass die Branche
nicht überlebt. Damit würden wir technologisches
Know-how und Humankapital
verlieren.
Ist das nicht ein wenig übertrieben?
Absolut nicht. Flugzeugbauer wie Airbus
verlegen sich immer mehr auf das zivile
Geschäft, weil sie dort Geld verdienen. Ich
sehe die Gefahr, dass sich große Konzerne
DIE STRATEGIN
Arnould ist seit 2011 Geschäftsführerin der
Europäischen Verteidigungsagentur (EDA).
Die EU-Institution befasst sich mit der
Planung, Beschaffung und Erforschung von
Rüstungsgütern in den Mitgliedstaaten.
komplett aus dem Verteidigungsgeschäft
zurückziehen. Und die weniger wettbewerbsfähigen
oder kleineren könnten auf
der Strecke bleiben. Dieses Szenario ist
sehr wahrscheinlich, wenn die Investitionen
weiterhin ausbleiben.
Hätte Europa nicht auch ein Interesse,
die Verteidigungsausgaben zu erhöhen,
um sich außenpolitisch mehr Gewicht zu
verschaffen, etwa um den russischen Präsidenten
Wladimir Putin zu beeindrucken?
Es geht hier nicht nur um Putin! Wenn Europa
sich keine Investitionen in die Vertei-
FOTOS: SAMMY HART,EDA/FRÉDÉRIC RAEVENS
32 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
digung mehr leistet, ist das ein klares Signal
an die ganze Welt. Asien gibt in der Summe
mehr Geld als Europa für Verteidigung aus.
Im Jahr 2012 kamen insgesamt 19,9 Prozent
der weltweiten Ausgaben für Verteidigung
aus Asien, 17,6 Prozent dagegen aus
Europa. Das wirkt sich direkt auf den außenpolitischen
Einfluss Europas aus.
Wenn Europa so wenig für Verteidigung
ausgibt, dann lässt es klar erkennen, dass
die Fähigkeit zu militärischen Einsätzen
keine Priorität ist.
Sparen alle europäischen Länder an der
Rüstung?
Es gibt durchaus Ausnahmen. In den baltischen
Staaten, in Polen und in Rumänien
dreht sich der Trend schon. Dort gibt es
den politischen Willen, stärker in die Verteidigung
zu investieren, und die Bevölkerung
unterstützt das auch. Aber in anderen
Mitgliedstaaten sind wir davon noch weit
entfernt. Von der Ukraine-Krise einmal abgesehen:
Es drohen aktuell viele Gefahren.
Es ist wirklich nicht der Moment für eine
Demobilisierung.
Im vergangenen Dezember haben die
europäischen Staats- und Regierungschefs
die Bedeutung der Verteidigung bei
einem EU-Gipfel unterstrichen. War das
ein reines Lippenbekenntnis?
Das war durchaus ein erster wichtiger
Schritt. Aber nun muss in den Mitgliedstaaten
etwas passieren – trotz des Zwangs
zum Sparen. Die Staats- und Regierungschefs
haben ja auch zu Recht darauf hingewiesen,
dass das Geld im Bereich Verteidigung
so effizient wie möglich ausgegeben
werden soll. Dabei spielt die Kooperation
unter den Mitgliedstaaten eine wichtige
Rolle.
Sind die EU-Länder wirklich bereit, bei
der Verteidigung verstärkt zusammenzuarbeiten?
Auf der politischen Ebene durchaus, aber
das reicht leider in der Praxis oft nicht aus.
Denn die bürokratischen Strukturen in den
Mitgliedstaaten haben nicht den Reflex,
über Grenzen hinweg gemeinsam zu arbeiten.
Sind deswegen die Verteidigungsmärkte
so zersplittert?
In der EU laufen derzeit im Bereich der Verteidigung
89 Entwicklungsprogramme, in
den USA existieren dagegen nur 27 solcher
Programme – bei einem größeren Haushalt.
Das heißt konkret, dass es bei einem
Produkt wie einem Hubschrauber unterschiedliche
nationale Varianten gibt. Die
Hersteller kommen nun auf uns zu mit der
Bitte nach mehr Harmonisierung.
WirtschaftsWoche 15.9.2014 Nr. 38 33
»
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Politik&Weltwirtschaft
Sicherheit vom Fließband Panzerproduktion bei Rheinmetall
Können Sie die denn
erzwingen?
Wir können neue Programme
auflegen, etwa für Drohnen, die
heutzutage nur Amerikaner
und Israelis liefern können.
Aber die Mitgliedsländer müssen
das wollen. Auch im Bereich
Cyber-Sicherheit und Satelliten
sehe ich die Chance für
einen gemeinsamen Neustart.
Beschaffungs- und Entwicklungsentscheidungen
fallen in
den Mitgliedstaaten nach
nationalen Erfordernissen –
also sehr unterschiedlich.
Haben Sie die Hoffnung, dass
sich diese angleichen lassen,
damit die Staaten mehr Güter gemeinsam
entwickeln können?
Aufeinander abgestimmte Beschaffungszyklen
wären ideal, aber ich bin skeptisch,
ob sich das erreichen lässt. Die Zyklen hängen
unter anderem von Wahlperioden ab.
Jede neue Regierung überdenkt die militärischen
Programme ihrer Vorgänger.
Der scheidende Binnenmarktkommissar
Michel Barnier hat versucht, in der EU
einen gemeinsamen Markt für Verteidigungsgüter
zu schaffen. Ist auch das
Wunschdenken?
Die zwei EU Richtlinien, die 2009 verabschiedet
wurden, sind eine wichtige Etappe,
um den Markt wettbewerbsfähiger zu
machen. Aber der Markt ist natürlich größer
als Europa, und auch außerhalb gibt es
Protektionismus. Gleichzeitig muss man
sich vor Augen halten, dass der Markt für
Verteidigungsgüter natürlich nicht wie jeder
andere ist. Die Kunden sind Staaten,
deshalb spielen Fragen der staatlichen
Souveränität und der Liefersicherheit eine
große Rolle. Der Vertrag von Lissabon sieht
im Artikel 346 ausdrücklich die Möglichkeit
vor, dass Staaten ihre öffentlichen Aufträge,
soweit aus Sicherheitsgründen notwendig,
nach gängigen Vergaberegeln vergeben.
Weshalb sollten Länder genau dies dann
in Zukunft tun?
Wir versuchen – gemeinsam mit der EU-
Kommission – Überzeugungsarbeit zu leisten
und auf der Basis konkreter Resultate
die Vorteile der Nutzung der entsprechenden
Richtlinie aufzuzeigen. Die Regierungen
müssen verstehen, dass ihre Unternehmen
von der Öffnung profitieren, weil
diese künftig auch das Nachbarland beliefern
können. Das Ziel muss Gegenseitigkeit
sein. Im Übrigen spart die Marktöffnung
Geld. Die drei baltischen Staaten
kaufen bereits gemeinsam Munition ein.
Sie haben das nüchtern durchgerechnet
und sind zu dem Ergebnis gekommen,
dass eine individuelle Beschaffung teurer
gekommen wäre. Die Europäische Verteidigungsagentur
wickelt die Beschaffung
für die drei Länder ab.
Könnte das ein Modell für die Zukunft
sein?
Bei den kleineren EU-Staaten insbesondere
beobachten wir reges Interesse an einem
solchen Modell. Zum Glück müssen wir in
unserer Agentur nicht auf alle 28 Länder
warten. Es reicht, dass zwei Länder kooperieren
wollen, und wir können ein Programm
maßschneidern. Was bisher allerdings
fehlt, ist die Nachfrage der großen
Länder, die dank uns Geld sparen könnten.
Kleineren Ländern ermöglicht die Kooperation,
militärisch handlungsfähig zu bleiben.
Am 1. November bekommt die Europäische
Verteidigungsagentur mit der Hohen
Außenbeauftragten Federica Mogherini
eine neue politische Führung. Was wird
sich ändern?
Der künftige EU-Kommissionspräsident
Jean-Claude Juncker hat bereits angekündigt,
dass er die Verbindung zwischen Außenpolitik
und Verteidigung stärken will.
»Große Konzerne
könnten sich aus
der Verteidigung
zurückziehen«
Das ist der richtige Weg, denn
bisher gibt es nicht einmal einen
eigenen Rat für Verteidigung.
Während sich die Außenoder
Finanzminister regelmäßig
in Brüssel treffen, gibt es
keine solche Struktur für die
Verteidigungsminister. Nur bei
uns in der EDA kommen sie regelmäßig
zusammen. Man sollte
nicht unterschätzen, wie
wichtig diese persönlichen
Kontakte sind, um gemeinsames
Handeln zu ermöglichen.
Bisher hat sich die EU-Kommission
gescheut, Forschungsprojekte
zu finanzieren, wenn
diese auch der Verteidigung
zugutegekommen wären. Sollte sich das
ändern?
Für uns ist es extrem wichtig, dass die Forschung
dual ausgerichtet wird. Es gibt ja
viele Beispiele, wie militärische Forschung
zu Ergebnissen kommt, von denen alle
profitieren. Das offensichtlichste Beispiel
ist das Internet. Aber es gibt so viele andere,
etwa bei Satelliten. In Deutschland zeigt
ein Start-up wie Kinexon, wie sich aus für
das Militär entwickelter Weltraumtechnologie
ein System zur Bewegungs- und Leistungsmessung
von Sportlern entwickeln
lässt. Und der Austausch findet in beide
Richtungen statt. Auf dem Gebiet der Simulation
haben sich militärische Entwickler
bei der Industrie für elektronische Spiele
bedient.
Wo sehen Sie weiteres Potenzial für duale
Forschung und Entwicklung?
Es wird Drohnen mit ziviler Nutzung geben,
die bei Waldbränden zum Einsatz
kommen könnten oder zur Sicherung von
Grenzen.
Hat die Politik die Bedeutung der dualen
Forschung verstanden?
Da muss in den Institutionen und bei bestimmten
Mitgliedsländern noch Überzeugungsarbeit
geleistet werden. Es handelt
sich hier nicht darum, Verteidigung durch
die Hintertür zu finanzieren. Es geht darum,
die allgemeine Sicherheit zu gewährleisten.
Kommt die Nachricht in Deutschland an?
Da braucht es noch einen gewissen Fortschritt.
Könnte die gegenwärtige geopolitische
Lage dabei helfen?
Es gibt immerhin ein neues Bewusstsein,
dass wir nicht in einer stabilen Welt leben,
in der es den Frieden zum Nulltarif gibt. n
silke.wettach@wiwo.de | Brüssel
FOTO: PICTURE-ALLIANCE/DPA
34 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Politik&Weltwirtschaft
Die Rechte gehören allen!
FORUM | Das System handelbarer Emissionsrechte der Europäischen Union könnte
besser und effizienter ausgestaltet werden. Fünf Vorschläge für eine Reform. Von Jürgen Hacker
Das EU-System handelbarer
Emissionsrechte (EU-ETS),
Kernstück der europäischen
Klimaschutzpolitik, ist in die
Kritik geraten. Weil der Preis der
Emissionsrechte schon lange relativ
niedrig ist, wird behauptet, das
System funktioniere nicht. Das
Gegenteil ist aber der Fall! Der
niedrige Preis erleichtert die Wiederbelebung
der europäischen
Wirtschaft, die immer noch in einer
konjunkturellen Flaute steckt.
Dass der Preis mit der Konjunktur
schwankt und so eine antizyklische
Wirkung ausübt, ist volkswirtschaftlich
sinnvoll und erwünscht.
Dennoch ist das EU-ETS reformbedürftig.
Die tatsächlichen Probleme
sind aber folgende:
1. Die jährlichen Mengen an Emissionsrechten, die die EU dem
System zur Verfügung stellt, sind nicht sinnvoll festgelegt. Sie orientierten
sich an irrelevanten Preisprognosen. Ab der nächsten
Verpflichtungsperiode, die 2021 beginnt, müssen die jährlichen
Rechtemengen daher endlich direkt vom international vereinbarten
Zwei-Grad-Celsius-Klimaschutzziel abgeleitet werden. Dies ist
zwar wissenschaftlich und politisch nicht trivial, aber auf Basis der
neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse durchaus möglich.
2. Nur etwa 50 Prozent der Rechte werden in der laufenden Periode
versteigert. Die anderen 50 Prozent werden mit viel zu komplexen
und trotzdem nicht gerechten Regeln den Anlagenbetreibern
kostenlos zugeteilt. Dies ist mit einem riesigen Bürokratieaufwand
für Anlagenbetreiber, Verifizierer, nationale und EU-
Behörden, Rechtsanwälte und Gerichte verbunden. Ab 2021 sollten
endlich alle Rechte ohne Ausnahme versteigert werden! Dies
würde den bürokratischen Aufwand für alle minimieren
und zusätzliche kostengünstige Emissionsvermeidungsmöglichkeiten
offenlegen und zur Anwendung
bringen.
3. Die kostenlose Rechtezuteilung wird mit den sonst
drohenden Arbeitsplatzverlagerungen über die EU-
Grenzen hinweg begründet. Diese Gefahr ist jedoch
viel geringer als behauptet. Ab 2021 sollte ein Ausgleichsmechanismus
dieser Gefahr vorbeugen. Für
die wenigen tatsächlich gefährdeten Produkte müssten
deren Importeure Emissionsrechte erwerben, Exporteure
erhalten im gleichen Umfang Rechte erstattet.
Diese WTO-konforme Grenzausgleichsregelung
würde die Wettbewerbsgleichheit dynamisch und
Bitte umverteilen! Der Staat soll Erlöse aus dem
Emissionshandel mit der Steuer verrechnen
Hacker, 66, ist
Vorsitzender des
Bundesverbands
Emissionshandel
und Klimaschutz.
vollständig herstellen, unabhängig
vom jeweiligen Emissionsrechtepreis.
4. Die Erlöse aus der Rechte-Versteigerung
werden nicht sinnvoll
verwandt. Die Rechte gehören weder
der emittierenden Industrie
noch dem Staat. Sie gehören allen
EU-Bürgern! Der Staat ist nur
Treuhänder und hat die Erlöse
an den Treugeber weiterzuleiten.
Die Steuerzahler sollten daher auf
ihre jährliche Steuerschuld einen
Pro-Kopf-Abzug erhalten, Transferempfänger
einen Pro-Kopf-
Zuschlag; ermittelt aus den jährlichen
Versteigerungserlösen, geteilt
durch die Anzahl der Bürger.
Dies wäre volkswirtschaftlich sinnvoll,
umwelt- und sozialpolitisch gerecht!
5. Nur rund 45 Prozent der EU-Treibhausgasemissionen werden
bislang vom EU-ETS erfasst, das Potenzial wird also nur unzureichend
genutzt. Das System sollte daher spätestens ab 2021 auf
möglichst alle Bereiche, zumindest aber auf die Verkehrs- und Wärmesektoren
ausgeweitet werden.
Besonders einfach ist dies für den Straßenverkehr zu realisieren!
Die in Verkehr gebrachten Treibstoffmengen werden bereits an den
Zolllagern der Raffinerien oder beim Import an den EU-Außengrenzen
zum Zweck der Energiesteuerberechnung genau überwacht.
Diese ermittelten Mengen müssten lediglich mit ihren jeweiligen
Emissionsfaktoren multipliziert und die resultierenden CO 2 -Emissionen
an die jeweiligen ETS-Behörden gemeldet werden. Ferner
müssten die Mineralölgesellschaften verpflichtet werden, entsprechende
Mengen an Emissionsrechten abzugeben. Natürlich würden
diese die Kosten für die Rechtebeschaffung einpreisen. Werden ferner
diese Kosten auf der Tankrechnung ausgewiesen,
könnte jeder Kfz-Fahrer seine individuellen CO 2 -Emissionen
und die damit verbundenen Kosten ablesen und
dies bei seinem Verhalten berücksichtigen.
Der Straßenverkehr könnte zudem bereits vor 2021
in das System einbezogen werden. Würde dies ab 2016
erfolgen und die Rechtemenge nur um 50 Prozent der
Verkehrsemissionen erhöht, würde der derzeitige
Überhang von rund zwei Milliarden Rechten bis 2020
völlig aufgesaugt werden.
Das EU-ETS könnte so insgesamt wesentlich verbessert
und effizienter gestaltet werden. Als Nebeneffekt
würde sich dann auch der politisch erwünschte höhere
Preis für Emissionsrechte von selbst einstellen. n
FOTOS: PLAINPICTURE/RUDI SEBASTIAN, PR
36 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
BERLIN INTERN | Die Regierung hat erkannt: Forschung
optimiert die Produktion so radikal, dass der Mensch
auf der Strecke bleibt. Um das zu verhindern, soll noch
mehr geforscht werden. Von Christian Schlesiger
Forschung erforschen
FOTOS: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, PICTURE-ALLIANCE/DPA
Bundesforschungsministerin
Johanna Wanka ist die Goldmarie
des Kabinetts. Die Bundeskanzlerin
überhäuft sie gegenwärtig
geradezu mit Geld. Kein Ressort darf
mehr verteilen als die ostdeutsche Mathematik-Professorin
Wanka. Das erzeugt Neider.
Doch die sind still, weil sie wissen,
dass die promovierte Physikerin Angela
Merkel – mit Chemie-Professor Joachim
Sauer von der Humboldt-Universität zu
Berlin verheiratet – ihre schützende Hand
Massenproduktion zurückholen Grillo,
Wanka, Neugebauer, Bsirske (von links)
über die Forschung hält. Drei Milliarden
Euro gibt es allein in dieser Legislaturperiode
extra. Seit Merkel regiert, stieg der
Forschungsetat von Jahr zu Jahr.
Wanka hat schon ein neues Ausgabenfeld
für sich entdeckt, mit dem sie das viele
schöne Geld sinnvoll verprassen kann: fürs
Forschen übers Forschen. Denn: Wo geforscht
wird, rollen Köpfe. Die Fortschritte
in der Digitalisierung der Alltagswelt locken
Menschen erstens in schnell ergreifbare,
aber nicht sehr lukrative Minigewerbe wie
Chauffeursdienste über Taxi-Apps. Zweitens
sorgt die ständige Erreichbarkeit über
diverse Kanäle wie Handy und E-Mail für
eine 24/7-Standby-Verfügbarkeit der Mitarbeiter.
Und drittens werden Menschen
gefeuert, wo Computer es besser können.
Die Frage, die sich Wanka stellt: Wie kann
die Gesellschaft von der Digitalisierung
profitieren ohne unnötig großen Kollateralschaden?
Arbeitsforscher sollen künftig
diese schädlichen Verquickungen rechtzeitig
erkennen, damit Politik reagieren kann.
Dafür gibt es Geld. Eine Milliarde Euro
lobt der Bund für Projekte aus, die bis 2020
zu „Innovationen für die Produktion,
Dienstleistung und Arbeit von morgen“ führen
sollen. Der Startschuss fiel letzte Woche
im Berliner Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen
und Konstruktionstechnik.
Wankas neuester Fördertopf ist Teil der
High-Tech-Strategie der Regierung, die in
diesem Jahr elf Milliarden Euro verschlingt.
Rationalisierung soll also der Belegschaft
zugutekommen. Diese neue Stoßrichtung
gefällt sogar den Gewerkschaften. Früher
zogen die noch die Fortschrittsbremse, weil
sie Strukturwandel wegen des Jobabbaus
befürchteten. Heute sehen sie „die Chance
der Gestaltung“, sagt Frank Bsirske, Chef
der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Es
sind ganz neue Töne der Arbeitnehmervertreter
(siehe Seite 38).
Werden die einstigen Gegner der Industrialisierung
so zu engen Buddies der forschungsfrenetischen
Kanzlerin? Die Arbeitgeberseite
frohlockt schon längst:
Unternehmen stehen vor „radikalen Veränderungen“,
vor einer 4.0-Revolution und
ganz neuen Chancen. Das sagt Ulrich
Grillo, Präsident des Bundesverbands der
Deutschen Industrie. Und spricht vom Turnschuh.
Wenn Sportkonzerne wie Adidas
und Puma jeden einzelnen Kundenwunsch
etwa nach Größe, Farbe und Design direkt
in die Produktion einfließen lassen könnten,
ließe sich die Fertigung „wieder zurück
nach Europa holen“. Grillo fordert alle auf,
„gemeinsam an der Zukunft für das Industrieland
Deutschland“ zu arbeiten.
Forschungsgelder, um der Massenproduktion
in China Paroli zu bieten? Textilproduktion
in Herzogenaurach statt in
Bangladesch? Das klingt aus deutscher Arbeitnehmersicht
wie ein schönes Märchen.
Und selbst wenn am Ende die große High-
Tech-Strategie der Forschungsministerin
floppt: Der Öffentlichkeit wird das nicht
weiter auffallen. Denn die Gelder fließen in
diverse kleine, unauffällige Projekte. So
kann Wanka sicher sein: Die Pechmarie
wird sie so nie.
WirtschaftsWoche 15.9.2014 Nr. 38 37
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Der Volkswirt
KOMMENTAR | Die Digitalisierung
bedroht die Macht der Gewerkschaften
– doch die zeigen eine erstaunliche
Offenheit. Von Bert Losse
Gewerkschaft 4.0
Vor vielen Jahren machte
ich als Student ein
Praktikum bei der
Deutschen Postgewerkschaft.
Dort gab es bei der
Mitgliederzeitung einen leitenden
Redakteur, der sich weigerte,
einen PC zu benutzen. Diese
Geräte seien ein Rationalisierungswerkzeug
der Arbeitgeber,
ein Jobvernichter. Ein anständiger
Journalist müsse bei
der Schreibmaschine bleiben.
Der Mann war kein Exot. Er
stand für die Grundhaltung der
Gewerkschaften, jedweden
Wandel von Wirtschaft und Arbeitswelt
als Gefahr zu betrachten.
Bei technologischen und
ökonomischen Umwälzungen
setzten sich die Gewerkschaften
in den vergangenen Jahrzehnten
gern ins Bremserhäuschen
und begleiteten den Strukturwandel
lieber mit Protesten als
mit konstruktiven Vorschlägen.
Mit Globalisierung und Freihandel
haben sie bis heute nicht
ihren Frieden gemacht, wie der
Widerstand gegen das Freihandelsabkommen
zwischen der EU
und den USA zeigt.
RÄUMLICH ENTGRENZT
Beim neuen Megatrend, der Digitalisierung
der Arbeitswelt, ist
das anders. Schon früh haben
sich die Gewerkschaften mit den
Chancen und Risiken auseinandergesetzt
und dabei eine differenzierte
Haltung gewonnen.
Vergangene Woche gab es
gleich zwei Großveranstaltungen
zum Thema. Die IG Metall
diskutierte mit rund 400 Betriebsräten,
Managern, Ingenieuren
und IT-Experten im
Opelwerk Rüsselsheim über die
Folgen von Industrie 4.0 auf die
Arbeitsbedingungen. Die Kollegen
von Verdi luden in Berlin
zum Kongress „Arbeitswelt,
Selbstbestimmung und Demokratie
im digitalen Zeitalter“.
Verdi-Boss Frank Bsirske, sonst
ein Mahner vor dem Herrn, lobte
plötzlich die „Chancen zeitlicher
und räumlicher Entgrenzung“.
NEUE ARBEITSTEILUNG
Die Gewerkschaften wissen sehr
wohl, dass die zunehmende
Digitalisierung ihren Einfluss
schwächen könnte. Selbstbedienungskassen
im Supermarkt,
selbstfahrende Gabelstapler im
Warenlager, vernetzte Maschinen:
Die Digitalisierung wird viele
Arbeitnehmer überflüssig machen,
die heute zur Kernklientel
der Gewerkschaften gehören.
Das Crowdsourcing – eine neue
Form der Arbeitsteilung, bei der
Solounternehmer über Internet-
Plattformen ihre Dienste erbringen
– macht zudem den klassischen
gewerkschaftlichen
Zugriff auf Unternehmen über
Betriebsräte schwieriger.
Trotzdem ist von einer Blockadehaltung
der Gewerkschaften
nichts zu spüren. Sie sehen
nämlich auch die Vorteile für die
Gesundheit und Lebensqualität
der Beschäftigten. „Wenn Produktionsmittel
und Arbeit nicht
mehr an einen Ort oder an ein
Werk gebunden sind, ist das
unsere Chance für mehr Zeitsouveränität“,
sagt IG-Metall-
Vorständlerin Christiane Benner.
Datenschutz, Weiterbildung,
digitale Mitbestimmung – das
sind die Themen, mit denen sich
die Gewerkschaften nun befassen
wollen.
Das ist eine gute Nachricht.
Als neuzeitliche Maschinenstürmer
werden die Gewerkschaften
nicht gebraucht. Als konstruktive
Begleiter einer neuen technologischen
Epoche sehr wohl.
NEW ECONOMICS
Näher an der Realität
US-Ökonomen haben aus Social-Media-Daten
einen neuen Arbeitsmarkt-Indikator entwickelt. Der
Praxistest fällt bisher gar nicht so schlecht aus.
Die schlechte Nachricht passt
locker in 140 Zeichen. In Zeiten
sozialer Netzwerke kommunizieren
immer mehr Menschen
ihren Jobverlust per Twitter. In
den USA hat die Mitteilsamkeit
ein solches Maß erreicht, dass
Ökonomen der University of
Michigan anhand der Datenflut
jetzt einen neuartigen Arbeitsmarktindex
kreiert haben, der
die Fluktuation in den Unternehmen
schneller erfassen soll
als die amtliche Statistik.*
Ein Team von fünf Ökonomen
und Informatikern sah sich dafür
Tweets zwischen Juli 2011
und November 2013 genauer
an. Insgesamt analysierten sie
einen Datensatz von 19,3 Milliarden
Tweets, etwa zehn Prozent
aller Nachrichten, die in
dem Zeitraum bei Twitter eingestellt
wurden. Die Wissenschaftler
filterten jene heraus,
die einen Jobverlust anzeigen,
die etwa Ausdrücke wie „axed“,
„canned“, „been fired“, „laid off“
oder „pink slip“ enthielten.
Der daraus gebastelte „Social
Media Job Loss Index“ erwies
sich bisher als gutes Prognoseinstrument
für die offiziellen
Zahlen. Er lag meist näher an
den abschließenden, revidierten
Zahlen als an den zunächst
veröffentlichten Werten der Statistikbehörden.
Vorbehalte, die
via Twitter generierten Daten
seien nicht repräsentativ, weil
überwiegend die junge Generation
twittert, teilen die Autoren
nicht. Die Studie ergab, dass ältere
Menschen zwar insgesamt
weniger via Twitter kommunizieren.
Beim Thema Jobverlust
zeigten sie sich jedoch umso
auskunftsfreudiger.
* Dolan Antenucci, Michael Cafarella,
Margaret Levenstein, Christopher Ré,
Matthew Shapiro: Using Social Media to
Measure Labor Market Flows, University
of Michigan, 2014
Arbeit gesucht Bewerber bei einer
Job-Messe in Orlando, Florida
Der große Vorteil des neuen
Jobbarometers ist laut den Autoren
die höhere Realitätsnähe
im Vergleich zu herkömmlichen
Prognoseinstrumenten. Traditionell
sind in den USA die Neuanträge
auf Arbeitslosengeld ein
wichtiger Frühindikator für den
Arbeitsmarkt. Doch nicht jeder,
der seinen Job verliert, beantragt
automatisch Arbeitslosengeld.
Bisweilen hat man gar keinen
Anspruch darauf.
Die aus Twitter generierten
Daten hätten diese Unschärfe
nicht, sagen die Autoren. Die
Wissenschaftler geben zwar zu,
dass weitere Langzeitstudien
notwendig seien. Sie glauben
gleichwohl, dass der neue Index
Trendwenden am Arbeitsmarkt
schneller identifizieren kann –
und die Analyse von Social-
Media-Daten auch anderen
Disziplinen nutzen könnte:
„Forscher sollten die von uns in
dieser Studie entwickelte Technik
nutzen, um Gebiete zu erkunden,
die die offizielle Statistik
noch nicht gut abdeckt.“
Wie akkurat der neue Index
ist, lässt sich auch online nachverfolgen
(http: econprediction.eecs.umich.edu).
Die Forscher
wollen ihre auf Twitter
basierenden Prognosen regelmäßig
ins Netz stellen – damit
man sie später mit den offiziellen
Zahlen vergleichen kann.
silke.wettach@wiwo.de | Brüssel
FOTOS: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, LAIF/POLARIS/PAUL HENNESSY
38 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
DENKFABRIK | Das amerikanische Steuersystem bringt immer mehr US-Konzerne dazu,
die Gewinne ihrer ausländischen Töchter außerhalb der USA zu reinvestieren. Will
Präsident Obama die Wirtschaft stärken, muss er dieses Kapital in die USA zurückholen –
am besten durch eine umfassende Unternehmenssteuerreform. Von Martin Feldstein
Home sweet home
FOTOS: LAIF/POLARIS, IMAGO/IPON
Diese Entwicklung
freut die Europäer,
ist für die Amerikaner
aber ein Problem:
Immer mehr US-Unternehmen
wollen ihren Hauptgeschäftssitz
nach Europa verlegen. Der
Grund: Multinationale Konzerne
können sich auf diese Weise
den unvorteilhaften Körperschaftsteuerbestimmungen
in
den USA entziehen und ihre
Steuerlast verringern.
Die US-Regierung will dagegen
nun durch administrative
Änderungen des Steuerrechts
vorgehen. Viel sinnvoller hingegen
wäre eine Steuerreform, die
multinationale Unternehmen
gar nicht erst in Versuchung
bringt, Firmensitze zu verlagern.
Eine Reform könnte die Beschäftigung
und Produktion in
den USA erhöhen – und die
Steuereinnahmen auch.
Nach geltendem Recht werden
US-Unternehmensgewinne
mit 35 Prozent besteuert – der
höchste Satz unter den OECD-
Ländern. Im OECD-Schnitt liegt
er bei 25 Prozent. US-Unternehmen
zahlen die Steuer auf in
den USA erzielte Gewinne und
auf Erlöse ausländischer Tochterunternehmen,
wenn diese
Gelder in die USA zurückgeholt
(repatriiert) werden.
reits gezahlten 12,5 Prozent in
Irland. Wer Gewinne in Irland –
oder einem anderen Land –
wieder investiert, muss keine
weiteren Steuern entrichten.
Viele US-Firmen ziehen es daher
vor, diese Gewinne im Ausland
zu belassen – als finanzielle
Rücklage oder in Form von Investitionen
in neue oder bestehende
Tochtergesellschaften. Mittlerweile
haben Unternehmen rund zwei
Billionen Dollar an Gewinnen im
Ausland angehäuft, die im Heimatland
nie versteuert wurden.
Alle anderen OECD-Länder gehen
mit Gewinnen ausländischer
riales System würde multinationale
US-Unternehmen ermuntern, ihre
Auslandsgewinne im Inland zu
reinvestieren. Da die Konzerne gegenwärtig
nur einen geringen Teil
der Auslandsgewinne repatriieren,
würden der US-Regierung kaum
Steuereinnahmen entgehen. Vor
einigen Jahren schätzte das US-Finanzministerium,
dass die Umstellung
auf ein territoriales System die
Körperschaftsteuereinnahmen um
lediglich 130 Milliarden US-Dollar
über zehn Jahre verringern würde.
Sinnvoll wäre zudem, den US-
Körperschaftsteuersatz schrittweise
zu senken und dem OECD-
»US-Unternehmen
haben
im Ausland rund
zwei Billionen
Dollar an Gewinnen
angehäuft«
Töchter ihrer Unternehmen anders
um. Sie setzen auf die sogenannte
territoriale Methode. So
entrichtet etwa eine französische
Firma, die in Irland investiert,
12,5 Prozent irische Körperschaftsteuer,
kann Gewinne nach
Steuern dann aber zu einem Steuersatz
von unter fünf Prozent
nach Frankreich zurückholen.
Amerikas derzeitiges Steuersystem
belastet die US-Wirtschaft in
mehrfacher Weise. Die zusätzlichen
Steuern, die US-Firmen entrichten,
wenn sie Gewinne repatriieren,
erhöhen ihre Kapitalkosten
und verringern ihre Wettbewerbsfähigkeit
auf internationalen Märkten.
Die Umstellung auf ein territo-
Scharfe Geschäfte Rasierklingenproduktion
bei der US-
Firma Gillette in Berlin
Durchschnitt anzunähern. Auch
das würde zur Rückführung von
Auslandsgewinnen in die USA
animieren. Da US-Unternehmen
Gewinne in beträchtlicher Höhe
im Ausland halten, die nie in den
USA versteuert wurden, könnte
die Umstellung sogar den Nettogewinn
erhöhen.
Parallel zur Umstellung auf ein
territoriales System und zur
Senkung des Steuersatzes könnte
die US-Regierung unversteuerte
Gewinne aus der Vergangenheit
einmalig mit einem geringen
Steuersatz belegen, der über einen
Zeitraum von zehn Jahren zu entrichten
wäre. Unternehmen dürften
dann vorhandene Gewinne re-
NEUE METHODE
So zahlt etwa eine in Irland tätige
Tochtergesellschaft eines
US-Unternehmens die irische
Körperschaftsteuer von 12,5
Prozent auf dort erzielte Gewinne.
Wenn das Unternehmen die
Gewinne nach Steuern repatriiert,
zahlt es Steuern in Höhe
von 22,5 Prozent – die Differenz
zwischen dem US-Steuersatz
von 35 Prozent und den bepatriieren,
ohne zusätzliche
Steuern zu entrichten. Zukünftige
Auslandsgewinne könnten
wie anderswo mit einer geringen
Steuerlast von fünf Prozent in die
USA zurückfließen.
STAAT PROFITIERT
Eine Steuer von zehn Prozent
auf vorhandene Auslandsgewinne
würde über zehn Jahre rund
200 Milliarden Dollar einbringen.
Bei 15 Prozent wären es
300 Milliarden Dollar. Die konkrete
Festlegung des Steuersatzes
wäre Teil der Verhandlung,
wie weit der Körperschaftsteuersatz
gesenkt werden soll.
Ein Unternehmen mit 500 Millionen
US-Dollar an kumulierten
Auslandsgewinnen würde bei
einer Besteuerung von zehn Prozent
Steuern in Höhe von 50 Millionen
US-Dollar entrichten, zahlbar
über zehn Jahre. Es könnte
das Geld ohne zusätzliche
Steuerschuld repatriieren. Die
Rückführung von Gewinnen in
die USA, die 500 Millionen
US-Dollar übersteigen, würde
einem Steuersatz von fünf Prozent
unterliegen.
Die Umstellung auf ein territoriales
System und einen niedrigeren
Körperschaftsteuersatz
dürfte trotz der nachzuzahlenden
Steuern bei US-Unternehmen
Anklang finden. Wenn
Obama nach einer Möglichkeit
sucht, die Wirtschaft zu stärken
und die Beschäftigung zu steigern,
sollte er die Initiative für ein
solches Reformpaket ergreifen.
Martin Feldstein ist Professor
an der Harvard-Universität.
Der renommierte US-Ökonom
schreibt jeden Monat exklusiv
für die WirtschaftsWoche und
wiwo.de
WirtschaftsWoche 15.9.2014 Nr. 38 39
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Der Volkswirt
NACHGEFRAGT Axel Ockenfels
»Viele weiße Flecken«
Der Kölner Top-Ökonom über den Vormarsch von Laborexperimenten in
der Wirtschaftswissenschaft – und die Bedeutung irrationalen Verhaltens
auf unsere Entscheidungen.
Professor Ockenfels, am 13.
Oktober gibt die Königlich-
Schwedische Akademie der
Wissenschaften bekannt, wer
in diesem Jahr den Nobelpreis
für Wirtschaft bekommt.
Könnte es diesmal ein experimenteller
Forscher sein?
In den vergangenen Jahren gab
es eine Reihe von Nobelpreisen
an Wirtschaftsforscher, die zumindest
teilweise experimentell
arbeiten. Deshalb würde es
mich nicht überraschen, wenn
es auch dieses Jahr so sein wird.
Wer sollte den Preis bekommen
– und warum?
Die Entscheidung würde mir
schwerfallen. Ich bin froh, dass
ich sie nicht treffen muss.
Wie bewerten Sie die Stellung
der Experimentalökonomie
innerhalb der Wirtschaftswissenschaft?
Haben wir es mit
einer Boomdisziplin zu tun?
Es ist richtig, dass die experimentelle
Wirtschaftsforschung
in den vergangenen Jahren
einen Aufschwung erlebte. Sie
ist kein Orchideenfach mehr,
sondern gehört heute selbstverständlich
zur Wirtschaftswissenschaft.
Sie hinterfragen in Ihrer Forschung
das Leitbild des Homo
oeconomicus. Der Mensch sei
nicht vollkommen rational und
kein ausschließlicher Nutzenmaximierer
– sondern werde
auch von Fairnessmotiven,
Altruismus und Neid in seinen
Entscheidungen beeinflusst.
Hat der Homo oeconomicus
damit ausgedient?
Nein. Das Modell des Homo
oeconomicus bietet gerade
wegen seiner Einfachheit eine
DER LABORÖKONOM
Ockenfels, 45, ist Professor für
Wirtschaftswissenschaft an der
Universität Köln und Gründungsdirektor
des Kölner Laboratoriums
für Wirtschaftsforschung. Zudem
sitzt er im Wissenschaftlichen
Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums.
Ockenfels gehört
zu den forschungsstärksten und
einflussreichsten Ökonomen in
Deutschland. Für seine Arbeiten
erhielt er unter anderem den
Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis
der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
erste Orientierung. Viele Aspekte
von Anreizen und Verhalten
lassen sich damit gut verstehen.
Doch es gibt auch Lücken im
Modell. Oft gibt es ja mehrere
rationale Strategien, unterschiedliche
Motive ökonomischen
Verhaltens und auch verschiedene
Auffassungen über
die Auswirkungen von Entscheidungen,
die allesamt im
Einklang mit Rationalverhalten
stehen. Ohne weitere Unterfütterung
läuft das Modell des
Homo oeconomicus regel-
mäßig ins Leere. Zweitens sind
Menschen natürlich nicht immer
perfekt rational. Jeder weiß
das. Weitere Landkarten, die
das menschliche Verhalten vermessen,
sind daher nötig. Es
wäre unklug, sich in Wissenschaft,
Wirtschaft und Politik
nur auf ein Modell zu verlassen.
Lässt sich unter diesen
Umständen das Verhalten der
Menschen überhaupt noch
kalkulieren?
Ich denke, dass wir in einigen
Bereichen qualitativ gut verstehen,
was das Verhalten
treibt. Wir wissen heute etwa
wesentlich mehr über die Rolle
sozialer Motive bei der Teamarbeit
oder in Verhandlungen
als noch vor ein oder zwei Dekaden.
Aber es gibt auch noch
viele weiße Flecken. Beispielsweise
spielt für das Verhalten in
modernen Märkten das Timing
der Aktivitäten eine wichtige
Rolle, doch der Zeitfaktor wird
in vielen Modellen nicht zufriedenstellend
berücksichtigt.
Was bedeuten diese Entwicklungen
für die Wirtschaftswissenschaft?
Die Wirtschaftswissenschaft
kann eine Menge von der Praxis
lernen. Sie hilft uns, die relevanten
weißen Flecken auf unseren
Landkarten zu finden und
schützt uns so vor einer Elfenbeinturm-Mentalität.
Eine der
resultierenden Entwicklungen
ist, dass nicht mehr nur möglichst
abstrakte und universell
gültige Befunde für Ökonomen
interessant sind, sondern auch
die Besonderheiten einzelner
Märkte und Organisationen in
den Fokus geraten.
Nach Erkenntnissen der Verhaltensökonomie
beobachten
Menschen auch das Verhalten
ihrer Mitmenschen, um zu Entscheidungen
zu gelangen. Sind
die Menschen also von äußeren
Einflüssen determiniert?
Ja. Es gibt eine Reihe rationaler
und nicht rationaler Gründe,
das Verhalten anderer bei eigenen
Entscheidungen zu berücksichtigen.
Dazu gehören Lernen
und normkonformes Verhalten.
40 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
FOTO: DAVID KLAMMER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
Unsere Studien untersuchen
solche Aspekte und bauen sie in
die Modelle ein.
Wer Gier beobachtet, ist
also geneigt, selber gierig zu
werden?
Ja, wir neigen dazu, uns mit
anderen Menschen zu vergleichen.
Dies gilt nicht nur
für Gier, sei es Geldgier oder
Neugier, sondern in fast allen
sozialen Kontexten. Menschen
mögen es insbesondere nicht,
hinter andere zurückzufallen.
Die dem zugrunde liegenden
evolutionären Gründe und
kognitiven Mechanismen
sind recht gut verstanden. Die
Auswirkungen auf das Verhalten
werden allerdings noch unterschätzt.
Lassen sich Menschen in Richtung
Kooperation und Fairness
steuern? Braucht es nur den
richtigen Rahmen, der Handlungen
vorstrukturiert?
Wenn das so einfach wäre,
könnten wir einige große Herausforderungen
unserer Zeit
abhaken. Doch tendenziell
stimmt es schon: Wer die Spielregeln
macht, kann Verhalten
lenken. Tatsächlich hat die
Kooperationsforschung in den
vergangenen Jahren große Fortschritte
gemacht. Zum Beispiel
haben wir gelernt, wie sich in
Auktionen eine unerwünschte
Kooperation zwischen Bietern
durch kluges Marktdesign verhindern
lässt. Derlei Erkenntnisse
darüber, was Kooperation
erleichtert oder erschwert, hilft
uns wiederum, in anderen
Situationen für mehr Kooperation
und Vertrauen zu sorgen.
Zum Beispiel?
Ein Beispiel ist die Schaffung
von Spielregeln, die das Vertrauen
zwischen Millionen
anonymer Menschen in großen
Internet-Märkten erleichtern
können. Eine Stellschraube
dabei ist die Kanalisierung von
Informationen, die es den Akteuren
erlauben, Kooperation
möglichst genau zu identifizieren
und etwa durch Weiterempfehlung
zu belohnen. Der Impuls
zu belohnen ist zwar auf
»Es wäre unklug,
sich in Wissenschaft
und Politik
nur auf ein Modell
zu verlassen«
rationaler Basis oft nicht zu
erklären, aber tief im Menschen
verankert. Gleichzeitig aber
müssen wir Anreize vermeiden,
kooperative Verhaltensmuster
strategisch auszubeuten.
Wie akquirieren Sie eigentlich
die Probanden für Ihre Experimente?
An der Universität zu Köln
haben wir einen Pool von
mehreren Tausend Studenten,
die an Experimenten in
Computerlaboren der Wirtschaftswissenschaft
und
Psychologie teilnehmen. In
anderen Studien führen wir unsere
Experimente mit Managern
und anderen Marktakteuren
im Feld durch.
Wie viele Probanden haben Sie
im Schnitt pro Experiment?
Das ist sehr unterschiedlich. In
Laborstudien sind in der Regel
über 100 Versuchspersonen beteiligt.
In Feldstudien variieren
die Beobachtungszahlen von
ein paar Dutzend bis zu einigen
Tausend.
Was können Wirtschaft und
Politik aus Laborversuchen
lernen?
Experimente können helfen,
zuverlässigere Verhaltensmodelle
zu entwerfen, unsere Erkenntnisse
in die Praxis zu
kommunizieren und neue Ideen
gewissermaßen im Windkanal
zu testen. Praktiker lassen
sich nämlich selten allein durch
mathematische Beweise überzeugen.
Die Internet-Ökonomie
setzt experimentelle Methoden
bereits im großen Maßstab ein,
und einige andere Industrien
ziehen nach.
Können Sie Beispiele für
den Praxisbezug Ihrer eigenen
Experimente geben?
»Die Internet-
Ökonomie setzt
experimentelle
Methoden bereits
im großen
Maßstab ein«
In Köln beschäftigen wir uns
mit einer großen Bandbreite
von Themen, etwa mit Anreizsystemen
und Produktionsmanagement
in Unternehmen, mit
Verhandlungen und Interaktionen
auf Auktions-, Internetund
Strommärkten. Wir arbeiten
interdisziplinär und setzen
experimentelle und theoretische
Methoden ein. Die Idee ist,
die Herausforderungen wie ein
„ökonomischer Ingenieur“ anzugehen.
Wie stark nutzt die Politik die
Erkenntnisse von Verhaltensökonomen?
Viele Regierungen ziehen mittlerweile
Verhaltensökonomen
zu Rate. Auch das Bundeskanzleramt
stellt Verhaltensökonomen
ein. Anreizsysteme und
nicht rationales Verhalten spielen
ja auch in der Politik eine
Rolle. In unserer Forschergruppe
in Köln beschäftigen wir
uns zum Beispiel mit der Frage,
welche Anreize die Kooperation
beim Klimaschutz erleichtern.
Allerdings darf man nicht
vergessen, dass Verhaltensökonomik
und „Economic Engineering“
junge Disziplinen sind
und die Politik ein komplexes
Feld. Viele Fragen, die an uns
herangetragen werden, lassen
sich noch nicht robust beantworten.
Es gibt viel Forschungsbedarf,
und die großen Hoffnungen,
die im
Zusammenhang mit Politikberatung
manchmal aufkommen,
scheinen mir teils übertrieben.
Die Politik sucht womöglich
auch die Hilfe von den Verhaltensökonomen,
um zu lernen,
wie sich die Bürger durch sanften
Paternalismus konditionieren
lassen – und etwa mehr auf
ihre Gesundheit achten. Finden
Sie eine solche psychologische
Regierungsführung richtig?
Ich glaube, dass die Paternalismus-Debatte
dem eigentlichen
Beitrag der Verhaltensökonomik
in der Politikberatung nicht
gerecht wird. Es ist doch so: Die
Politik verfolgt ihre Ziele mit
Anreizen aller Art, und Menschen
reagieren auf solche Anreize.
Doch sie tun das nicht immer
so, wie es unsere Intuition
oder Lehrbuchmodelle nahelegen
würden. Eine Politikmaßnahme,
die bei rationalem
Verhalten funktioniert, kann
bei realem Verhalten versagen.
Die Einbeziehung der Verhaltenswissenschaft
hilft dabei,
Verhaltensreaktionen auf Anreize
besser zu verstehen und
vorherzusagen. So kann sie
Fehler vermeiden helfen. Eine
offene Diskussion kann auch
Manipulationen vermeiden. Es
wäre daher fahrlässig, wenn
die Politik bei der Umsetzung
ihrer Ziele wissenschaftliche
Erkenntnisse über das Verhalten
ignorierte.
Kritiker werfen der Experimentalökonomie
vor, sie habe
kein theoretisches Fundament,
und ihre Aussagen ließen sich
nicht verallgemeinern. Was
sagen Sie zu diesen Vorwürfen?
Es ist absolut der falsche Weg,
alte Gräben zu vertiefen und
verschiedene Methoden gegeneinander
auszuspielen. Theorie
und Experimente liefern Modelle
der Welt, die sich gegenseitig
ergänzen – aber keinesfalls
gegenseitig ersetzen. Ich
würde für reale Entscheidungen
keiner Theorie vertrauen
wollen, deren empirischer Gehalt
nicht nachgewiesen ist –
aber auch keinem Experiment,
dem die theoretische Fundierung
fehlt. Es ist an der Zeit,
dass die Wirtschaftswissenschaft
sich weniger an ihren
Methoden aufreibt – sondern
sich wieder stärker den Problemen
widmet.
nils heisterhagen | politik@wiwo.de
WirtschaftsWoche 15.9.2014 Nr. 38 41
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Unternehmen&Märkte
Der will nur streamen
Netflix-Boss Hastings
möchte mit Millionenaufwand
die Deutschen
von der gewohnten Flimmerkiste
in sein Internet-Fernsehparadies
locken und ihnen Unterhaltung
auf Abruf
schmackhaft machen
42 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Roter Teppich
für den Angreifer
NETFLIX | Beim Deutschland-Start wird der Online-Video-
Riese aus den USA die etablierten Fernsehsender massiver
angreifen als bisher bekannt. Die müssen umso
mehr fürchten, Zuschauer an das Internet-TV zu verlieren.
Die Immobilie mit der Nummer
440 hat die wohl interessanteste
Geschichte aller Anwesen
an der feinen Keizersgracht in
Amsterdam. Seit dem frühen
17. Jahrhundert residierten hier Notare,
Pleitiers und selbst eine Miederwarenfabrik,
bis das Haus im Juli 2011 fast gänzlich
niederbrannte und neu errichtet wurde.
Einen besseren Ort für eine Revolution
hätte Reed Hastings kaum finden können.
Denn an die Keizersgracht hat der Chef
und Miteigentümer des US-Internet-Fernsehanbieters
Netflix elf Leute geschickt, die
ihren eigenen Brandherd entfachen sollen.
Die Netflix-Elf soll, hinter hohen Fenstern
und verklinkerten Säulen im zweiten Stock
des Gebäudes, nichts Geringeres tun, als
die europäische Fernsehbranche auf den
Kopf stellen.
Hastings Auftrag: Bietet den Menschen
eine Alternative zum heutigen Fernsehen
mit zig Sendern und festen Startzeiten.
Lasst sie Filme und Serien zu jeder beliebigen
Zeit starten, anhalten oder zurückspulen,
kurzum: genießen.
Für weniger als zehn Euro pro Monat soll
künftig jedermann per Mausklick auf seinem
Laptop, Tablet, Smartphone oder internetfähigen
Fernseher unbegrenzt Filme
sehen können, ohne diese herunterladen
zu müssen. Das heißt im Internet-Jargon
„streamen“. Dafür hat Netflix 75 000 Streifen
und teils exklusive Serienfolgen in petto.
Mit dem Angebot will die Truppe in
Amsterdam Netflix zunächst einen großen
Teil des wachsenden Abruf-TV-Geschäftes
sichern. Auf lange Sicht jedoch schwebt
Hastings viel mehr vor: Netflix soll als
Speerspitze dem Internet-Fernsehen gegenüber
dem herkömmlichen, sogenannten
linearen TV mit festem Programmschema
zum Durchbruch verhelfen – und
damit die klassischen Sender verdrängen.
Horchten in den vergangenen Wochen
vor allem Fernsehfans freudig auf ob der
neuen TV-Wunderwelt, geraten jetzt langsam,
aber sicher die etablierten Film-
»
Veni, video, vici
Der Aufstieg von Netflix seit der Gründung
6,0
5,0
4,0
Umsatz (in Mrd. $)
davon Streaming*
250
Gewinn nach Steuern
200
(in Mio. $)
150
60
50
40
Kunden (in Mio.)
Länder
3,0
100
30
FOTO: GLENN MATSUMURA
2,0
1,0
1998 2014
50
–50
1998 2014
* bis 2007 nur DVD-Versand, Umsatz US-Streaming-Geschäft erst ab Ende 2011 separat ausgewiesen;
Quelle: Unternehmen, teilweise geschätzt
0
20
10
1998 2014
WirtschaftsWoche 15.9.2014 Nr. 38 43
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Unternehmen&Märkte
»
und Fernsehanbieter in Alarmstimmung.
Videotheken drohen endgültig zu
verschwinden, DVD-Händler langfristig
ihr Geschäft zu verlieren.
Aufgescheucht sind vor allem ARD, ZDF,
RTL, ProSieben, Sat.1 sowie deren Wettbewerber.
Weil vor der Fernsehfreude, forciert
von Netflix und internetfähigen Fernsehgeräten,
in vielen Wohnzimmern künftig
immer häufiger die Suche im wachsenden
Angebot des Internets steht, droht den
traditionellen Sendestationen der Abstieg.
Insbesondere die Privaten stehen im
Feuer. Denn sie verlieren auf Dauer ihre
Bedeutung für die werbende Wirtschaft
und damit die wichtigste Einnahmequelle,
wenn immer mehr Zuschauer im Web bei
Angeboten wie Netflix hängen bleiben.
„Netflix ist eines der digitalen TV-Modelle,
das traditionellen Fernsehsendern die Vermittlerrolle
wegzuschnappen droht“, sagt
Martin Sorrell, Gründer und Vorstandschef
des weltgrößten Werbekonzerns WPP in
London, gegenüber der WirtschaftsWoche.
Wie nah die Gefahr ist, zeigen die bisherigen
Internet-Video-Anbieter wie Amazon
oder der Filmabrufdienst Snap des Bezahl-
TV-Unternehmens Sky. Sie alle haben auf
Abwehrmodus umgeschaltet. Einige investierten
bereits kräftig in ihr Filmangebot,
andere locken mit Dumpingpreisen von
3,99 Euro im Monat, um von der heranrückenden
Netflix-Elf nicht an den Rand gedrängt
zu werden.
Am kommenden Dienstag ist es so weit.
Dann kommt Netflix-Chef Hastings mit
Vorstandskollegen nach Berlin. Dort, in der
Komischen Oper, will er den Startschuss
geben, zuerst für Deutschland und kurz
danach für Frankreich, die Schweiz, Österreich,
Belgien sowie Luxemburg. „Das wird
eine Zeitenwende einläuten“, sagt Clemens
Schwaiger, bei der Unternehmensberatung
Arthur D. Little weltweit für das Geschäft
mit digitalen Medien verantwortlich.
Denn so viel ist sicher: Netflix wird massiver
in den deutschen Markt gehen als bisher
bekannt. Und das sowohl beim Angebot
als auch beim Vertrieb.
So werden die Amerikaner ARD, ZDF,
RTL und Co. nicht alleine angreifen, sondern
mit Partnern. „Netflix stellt sich in
Deutschland so breit auf wie noch in keinem
anderen Land zuvor“, verrät ein Insider,
der in den vergangenen Wochen entsprechende
Verträge ausgehandelt hat.
SERIEN ALS LOCKSTOFF
Demnach bereiten die Amerikaner zahlreiche
Kooperationen vor, die fein säuberlich
nach Absatzkanälen getrennt sind. Im
Festnetz etwa wird das Unternehmen exklusiv
mit der Deutschen Telekom zusammenarbeiten,
wie die WirtschaftsWoche
erfuhr. Der Ex-Monopolist will das Videoangebot
seiner Fernsehplattform Entertain
ausweiten und hofft mit Netflix auf ein zusätzliches
Zugpferd.
Im Mobilfunk dagegen setzt Netflix wohl
– wie schon in Großbritannien und den
Niederlanden – auf Vodafone. Der will
seinen Vertragskunden höherwertige
Smartphones schmackhaft machen für das
schnellere Internet LTE. Eine längere Gratisnutzung
von Netflix soll dafür wahrscheinlich
der Lockstoff sein. Auch Konkurrent
E-Plus rechnet sich Chancen aus, ins
Geschäft zu kommen.
Und auch das angeblich so bescheidene
Programmangebot von Netflix in Deutschland
wird umfangreicher ausfallen als erwartet.
So waberte in den vergangenen
Wochen das Gerücht durch die Branche,
der US-Konkurrent müsse zum Start auf
seine besten Angebote wie die Erfolgsserie
„House Of Cards“ verzichten.
In Wirklichkeit werden beide Staffeln der
preisgekrönten US-Serie um den skrupellosen
Politiker Francis Underwood aber
bereitstehen, denn ein halbes Jahr nach
der Erstausstrahlung beim Bezahlkanal
Sky kann Netflix selbst über die Rechte verfügen,
bestätigt ein Sky-Sprecher. Zudem
hat sich Hastings ein paar Trümpfe wie die
Erfolgsserie „Orange Is The New Black“
aufgehoben und Hits wie die Vampir-Serie
„Hemlock Grove“ von Wettbewerbern wie
Amazon zurückgeholt.
Zwar wird der Angriff auf die öffentlichrechtlichen
und privaten TV-Anstalten für
Netflix teuer. So kommt Unternehmenschef
Hastings nicht umhin, einen großen
Teil seines diesjährigen Marketingetats von
rund einer halben Milliarde Dollar für Werbung
in Deutschland und seinen Nachbarländern
auszugeben, der in TV-Spots,
Print-Anzeigen und Plakatwände fließt.
Für die Reklame hat Netflix laut Insidern
die renommierte Hamburger Werbeagentur
Jung von Matt engagiert.
Doch aus Sicht der Amerikaner ist das
Geld gut angelegt. Denn laut einer Studie
der Beratung PwC wird sich das Geschäft
mit Videos auf Abruf weltweit bis 2019 fast
verdoppeln. Damit läuft das Geschäft mit
bewegten Bildern in fünf Jahren fast so
häufig über das Internet wie über das Kino
– und damit immer mehr an den traditionellen
TV-Sendern vorbei.
Offiziell leugnen allen voran die Privaten
die Bedrohung durch Netflix. Sie erwarte
„kurzfristig keinen messbaren Einfluss auf
die lineare TV-Nutzung“, sagt RTL-Group-
Chefin Anke Schäferkordt. Und ihr Konzernchef,
Bertelsmann-Lenker Thomas
Rabe, sekundiert, da Netflix nun mal abofinanziert
sei und RTL Geld mit Werbung
verdiene, gebe es keine Gefahr für seine
Cashcow.
Datensauger Video
Transportierte Datenmenge im Internet in den USA nach Tageszeit (in Millionen Gigabyte)
10
8
6
4
2
6:00 8:00 10:00 12:00 14:00 16:00 18:00
Uhrzeit
20:00 22:00 24:00 2:00 4:00
Quelle: Sandvine Networks, Bloomberg Businessweek
Sonstiges
Einkaufen
Spiele
Anderes Streaming
(darunter YouTube, iTunes,
Facebook, Amazon, Hulu)
Netflix
Einfaches Surfen
Legaler und illegaler
Austausch (File Sharing)
Sturm auf Streaming
Umsatz mit im Internet abrufbaren Videos
in Deutschland
273
Mrd. €
20%
26%
26%
28%
2014
Prognose; Quelle: Goldmedia
750
Mrd. €
11%
11%
51%
27%
2019
Bezahlvideos
Einzelabruf
Abonnement
Werbefinanziert
44 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
FOTO: ALLSTAR PICTURE LIBRARY/LIONSGATE TELEVISION
Ungewohnte Umgebung Netflix-Serien wie
„Orange Is The New Black“ brechen mit den
üblichen Erzählweisen im TV
Das aber sehen nicht alle so. Widerspruch
kommt etwa aus dem Lager der gebührenfinanzierten
öffentlich-rechtlichen
Kanäle, die sich dank sicherer Gebühren
um ihre Einnahmen keine Sorgen machen
müssen. Michael Loeb, Geschäftsführer
des Rechtehändlers WDR Mediagroup in
Köln, sieht in dem Erfolg des Internet-
Fernsehens zur beliebigen Zeit in den USA
durchaus ein Menetekel für die hiesige
Zunft: Dort hätten Filme auf Abruf der linearen
TV-Nutzung „schon die Rücklichter
gezeigt“ (siehe Interview Seite 47).
Entsprechend nehmen Experten RTL die
zur Schau getragene Entspanntheit schlicht
nicht ab. „RTL, Sat.1 und Co. werden Hunderttausende
Zuschauer verlieren“, sagt
Thomas Koch, Werbeexperte und Medienberater
aus Düsseldorf. „Serien und Filme,
die von Werbung unterbrochen werden
und zu Zeiten laufen, die nicht in den Tagesrhythmus
passen, werden abgestraft.“
Schuld daran seien RTL und seine Freunde
selbst, meint Koch. Immerhin hätten „vor
allem die Privatsender mit ihrem Billigprogramm
Netflix den roten Teppich doch
regelrecht ausgerollt – auf allen Kanälen
läuft fast nur noch austauschbares Programm
für eine dumpfe Masse, die von ihrer
demografischen Ausprägung her nicht
attraktiv ist für sehr viele Werbekunden“.
Darum dürften sich die Privaten nicht
wundern, dass ihre Geldgeber, die werbetreibenden
Unternehmen, den Zuschauern
ins Netz folgen. „Lineares Fernsehen
wird in ein paar Jahren massiv Werbegeschäft
verlieren – da können die TV-Protagonisten
postulieren, was sie wollen“,
meint Frank-Peter Lortz, Vorstandschef
der Düsseldorfer Mediaagentur Vivaki.
„Diese Entwicklung ist nicht aufzuhalten.“
Verschärfen dürfte die Situation der Privaten
zudem, dass Kosten für Rechte für
Serien und Filme durch die Internet-Konkurrenz
noch stärker steigen werden, als
sie dies schon tun. Den großen Sendern
bleibt da nur, entweder mehr Geld in eigene
Produktionen zu investieren. Oder sie
setzen noch stärker auf selbst inszenierte
Live-Shows wie „Deutschland sucht den
Superstar“ und große Sportereignisse wie
Fußballspiele. Das erhöht auch noch das
Geschäftsrisiko, wie die jüngste RTL-Show
„Rising Star“ zeigt, die am Geschmack des
Publikums vorbeiging.
Zwar haben auch RTL und ProSieben
längst eigene Digital-Ableger und Plattformen
mit unterschiedlichen Geschäftsmo-
»In den USA zeigt
Netflix den TV-
Sendern schon die
Rücklichter«
WDR-Rechte-Händler Michael Loeb
ten Online-Videothek mit 50 Millionen
Kunden in 40 Ländern verdankt Netflix einer
Arbeitsweise, die in der Branche einzigartig
und nicht so leicht zu kopieren ist.
Dabei steht an erster Stelle eine ausgefeilte
IT. Die übernimmt nicht nur viele
Routineaufgaben der Verwaltung. Sie sorgt
auch dafür, dass Videos ohne lange Ladezeit
und nerviges Ruckeln beim Kunden
ankommen, selbst zur Hauptfernsehzeit,
wenn Netflix etwa in den USA mit geschätzten
drei Millionen Gigabyte pro Stunde ein
Drittel des gesamten Datenverkehrs im Internet
ausmacht (siehe Grafik Seite 44).
Die dafür nötigen Computer- und Datenbankprogramme
entwickelt Netflix
selbst. Seinen Filmschatz in Form hochaufgelöster
HD-Videos mit einer Gesamtlaufzeit
von 200 Jahren etwa lagert der Angreifer
aus den USA in einem weltweiten Rechnerpark.
Und das gleich mehrfach, damit
viele Filme möglichst schnell abrufbar und
nahe bei den Kunden liegen.
SYMBIOSE MIT DEM ERZRIVALEN
Um die Kosten für den Auf- und ständigen
Ausbau des Rechnerparks zu drücken,
mietet Konzernchef Hastings Speicherkapazität
bei Amazon. Obwohl der Versandriese
durch ein eigenes Video-Angebot
zu den schärfsten Konkurrenten zählt,
gab es bislang keinen Ärger, im Gegenteil.
„Die lernen in Sachen Computernetze von
uns und wir von denen“, kommentiert Hastings
die Symbiose.
Besonders stolz ist der Netflix-Chef auf
sein Computerprogramm, das die Sehgewohnheiten
der Kunden analysiert und ihnen
die für sie interessantesten Filme und
Serien aus der konzerneigenen Bibliothek
vorschlägt. Die Software ordnet die Netflix-
Kunden anhand der bisher gesehenen Inhalte
in Gruppen, indem sie zwischen fast
79 000 unterschiedlichen Vorlieben der Zuschauer
unterscheidet. Dabei wird hochgradig
differenziert, etwa zwischen „Schrulligen
Science-Fiction-Komödien“ oder „Düsteren
alternativen Polizei-Dramen“. Damit
die empfohlenen Videos möglichst bald
beim Kunden sind, schicken Algorithmen
die ausgewählten Streifen vorsichtshalber
gleich auf einen Rechner in dessen Nähe.
Um daraus ein möglichst großes Geschäft
zu machen, hat sich Netflix eine eigene
Abrechnungsmethode gegenüber den
Filmlieferanten einfallen lassen. Die unterscheidet
sich grundlegend von den Zahlungen
der Musikdienste wie Spotify und Simfy
oder der Online-Videotheken wie Videoload
(Deutsche Telekom) oder iTunes
dellen wie Maxdome und Clipfish gegründet.
Doch den Durchbruch zum wirklichen
Massenmarkt haben sie nicht geschafft –
auch deshalb, weil das Bundeskartellamt
vor einem Jahr die Pläne der Privatsender
und der Öffentlich-Rechtlichen stoppte, jeweils
gemeinsame Internet-Plattformen
für deren Filme und Serien aufzubauen.
Vor diesem Hintergrund wird es schwer
für die etablierten Stationen, gegen den
Konkurrenten Netflix zu bestehen, der mit
seinem Geschäftsmodell Lichtjahre voraus
zu sein scheint. Denn seinen Aufstieg in
den 17 Jahren seit Gründung vom einfachen
DVD-Versandverleiher zur weltgröß- »
WirtschaftsWoche 15.9.2014 Nr. 38 45
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Unternehmen&Märkte
»
(Apple). Während diese von jedem eingenommenen
Euro einen fixen Anteil an
die Filmstudios oder Musikkonzerne bezahlen,
überweist Netflix eine Pauschale,
egal, wie oft der Streifen abgerufen wird.
Das sorgt zwar für höhere Anfangskosten.
Doch von einer bestimmten Zahl der
Abos an steigert jede zusätzliche Einnahme
fast komplett den Gewinn. „Das ist
zwar riskanter, verspricht aber einen deutlich
höheren Ertrag“, sagt Berater Schwaiger.
Dritte Säule des Netflix-Erfolgs ist das
Angebot. Zum einen errechnet die IT ständig
für jedes einzelne Video die Kosten pro
Abruf und Stunde – und sortiert die unrentablen
Streifen aus. Zum anderen bietet
Netflix Filme und Serien, die nirgendwo
anders laufen. Von den drei Milliarden
Dollar, die Netflix in diesem Jahr in neue
Unterhaltungsstoffe steckt, sollen 80 Prozent
in exklusive Titel fließen.
So produzierte Netflix 2013 als erster Online-Filmanbieter
eine eigene Serie und
verbuchte mit der Neuverfilmung des britischen
Polit-Intrigantenstadels „House of
Cards“ einen Riesenerfolg. Dabei brach das
Drehbuch mit den klassischen Sehgewohnheiten
und verzichtete auf künstliche
Spannung und Hektik, wie sie Produktionen
etwa für private TV-Sender aufweisen,
um die Zuschauer zum Dranbleiben nach
dem Werbeblock zu verführen. Selbst vor
experimentellen Filmen kleiner Studios
oder ausländischen Produktionen schrecken
die Amerikaner nicht zurück. „Weil
Anke unter Druck Filme auf Abruf bedrohen
vor allem TV-Sender der RTL-Group-Chefin
Schäferkordt und die anderen Privaten
deren Rechte günstig zu haben sind, rechnet
sich das auch bei einer kleineren Zuschauerzahl“,
sagt Netflix-Finanzchef David
Wells.
Fragt sich nur, wie schnell die Amerikaner
damit in Deutschland und Europa
durchdringen. In Frankreich ist das aus
Sicht von Berater Schwaiger etwas leichter:
„Weil es nur wenige frei empfangbare Programme
gibt, sind Bezahlkanäle und Internet-Fernsehen
bereits etabliert.“
Etwas schwerer wird die Sache in
Deutschland und Österreich.
Hier gibt es nicht nur bis zu 200
Gratissender über Antenne, Kabel
und Satellit, sondern hier
zahlen die Zuschauer bereits
spürbare Beträge fürs Fernsehen
– zum Beispiel 17,98 Euro im Monat
an die öffentlich-rechtlichen
Sender ARD, ZDF oder ORF.
Video
In unserer App-
Ausgabe sehen
Sie hier einen Film
über Netflix als
Arbeitgeber
Große Furcht vor bestehenden elektronischen
Videotheken muss Netflix zurzeit
nicht haben. Deren Erfolg hält sich in
Deutschland noch in Grenzen: Watchever,
der Netflix-Konkurrent des französischen
Medienriesen Vivendi, steht gerade zum
Verkauf, Maxdome ist zwar Marktführer,
dem Vernehmen nach aber ebenfalls nicht
profitabel. Und der Bezahlkanal Sky robbt
sich nach 20 Jahren auf Sendung an vier
Millionen zahlende Zuschauer heran. Unterm
Strich macht das Unternehmen, das
klassisches Pay-TV mit Online-Abrufen
verbindet, weiterhin tiefrote Zahlen.
Gleichwohl muss Netflix damit rechnen,
dass seine führende Rolle beim TV auf Abruf
angegriffen werden wird. Als heißester
Kandidat gilt der iPhone-Hersteller Apple,
der sich dank seines Vermögens sowohl eine
komplette Übernahme als auch ein eigenes
Angebot leisten könnte. Bislang
schreckt der aufwendige Poker um Ausstrahlungsrechte
das Unternehmen allerdings
vom Video-Streaming ab. Zudem
verdient Apple noch immer viel Geld mit
dem Verkauf einzelner Videos.
Aber das kann sich rasch ändern.
„Sobald die den Eindruck
haben, dass sich das ändert“, sagt
Werner Ballhaus, Medienspezialist
der Beratung PwC, „können
die schnell reagieren.“
n
peter.steinkirchner@wiwo.de,
ruediger.kiani-kress@wiwo.de, jürgen berke,
matthias hohensee | Silicon Valley
Alles auf Abruf
Die wichtigsten Anbieter im Online-Fernsehen
Angebot
Netflix
Entertain
Prime Instant
Video
iTunes
Maxdome
Sky Snap
Watchever
YouTube
Unternehmen
Netflix
Deutsche
Telekom
Amazon
Apple
ProSieben-
Sat.1
Sky
Vivendi
Google
Streamingkosten
(€ pro Jahr)
95,88–107,88
ab 359,40*
* inklusive Telefon und Internet-Anschluss; Quelle: Unternehmen
49
Bezahlung pro
Download
95,88
47,88
107,88
0
Stärke
Viele exklusive Filme und Serien, bewährte Technik,
starke Kooperationspartner
Auch über Satellit nutzbar, teilweise ohne Online-
Verbindung nutzbar
Exklusive Filme und Serien, Gratislieferung von
Amazon-Bestellungen, auf Kindle Fire ohne Online-
Verbindung nutzbar
Sehr breites Angebot, Serien direkt nach US-
Ausstrahlung, Kauf ab 99 Cent
Großes Angebot, Serien direkt nach US-Ausstrahlung,
Kaufvideos, teilweise ohne Online-Verbindung nutzbar
Niedriger Preis; auch Originalfassungen, gegen
Aufpreis teilweise ohne Internet-Verbindung nutzbar
Teilweise ohne Online-Verbindung nutzbar
Gratis, fast unendliches Angebot
Schwäche
Wenig aktuelle Filme, anfangs
relativ kleines Angebot
Nur im Paket mit Telefon und
Internet, lange Vertragsbindung
Begrenztes Angebot,
wenig Aktuelles
Nur Kauf und Miete
Aktuelle Filme und Serien nur
Zuzahlung
Begrenztes Angebot,
wenig Aktuelles
Begrenztes Angebot,
wenig Aktuelles
Wenig aktuelle und hochwertige
Filme
Wichtigste Serien
House Of Cards, Orange Is The
New Black, Hemlock Grove
Sherlock, The Mentalist, How I
Met Your Mother
24, Vikings, Californication,
Crossbones, Ally McBeal, Alpha
House, Betas
True Detective, Sleepy Hollow,
The Strain, Downton Abbey
Under The Dome, Hannibal, Sons
Of Anarchy, Bitten, Hawaii Five-O
Game Of Thrones, Alcatraz,
Die Sopranos, The Walking Dead
Mad Men, The Wire, Lilyhammer
The Mentalist, Torchwood
Tatort, Schimanski, Kanäle von
Komödianten wie Y-Titti, LeFloid
FOTO: RTL/THOMAS RABSCH
46 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
INTERVIEW Michael Loeb
»Wir müssen das Internet umarmen«
Der Chef des Rechtehändlers WDR Mediagroup erwartet einen Zuschauerschwund bei den klassischen
TV-Sendern und will eigene Online-Plattformen aufbauen.
FOTO: WDR
Herr Loeb, das Bundeskartellamt hat
ARD und ZDF den Aufbau der kostenpflichtigen
Video-on-Demand-Plattform
Germany’s Gold untersagt. Mit dem
Deutschland-Start von Netflix bekommt
der Markt jetzt aber eine neue Dynamik.
Starten Sie einen weiteren Versuch?
Germany’s Gold sollte das kollektive Gedächtnis
des deutschen Fernsehens der
vergangenen 60 Jahre sein. Nach dem
Aus haben wir analysiert, welche alternativen
Strategien zur kommerziellen
Verwertung von Inhalten auf digitalen
Plattformen wir verfolgen können.
Und, welche sind das?
Wir lizenzieren jetzt über unser Tochterunternehmen
Release Company viele
WDR-Sendungen und solche von Anbietern
wie dem Filmstudio Bavaria an alle
großen Video-Plattformen von iTunes
über Watchever bis Amazon Prime.
Die Plattform, die zumindest alle ARD-
Inhalte bündelt, haben Sie aufgegeben?
Nein, ich halte solch ein Angebot nach
wie vor für extrem wichtig, weil man als
Anbieter für Videos auf Abruf nur bestehen
kann, wenn man massenweise attraktive
Inhalte aggregiert und Partner
findet, mit denen man sich die hohen Infrastrukturkosten
teilen kann. Nachdem
uns aber das Kartellamt einen Strich
durch diese Rechnung gemacht hat, treiben
wir neue Projekte voran, die sich auf
Nischen konzentrieren…
...wie Krimis oder Kinderprogramme?
In der Richtung. Wir wollen in diesen Nischen
für unsere öffentlich-rechtlichen
Inhalte, wie etwa die Serie „Mord mit
Aussicht“ und die „Sendung mit der
Maus“, die richtigen Geschäftsmodelle
finden und sie in hoher Qualität und
möglichst vollständig anbieten. Natürlich
würden wir weiterhin gern etwas
Größeres machen und sind mit Sendern
und Produzenten im Gespräch. Aber es
ist sehr, sehr schwer, wenn man nicht
mehr den Anspruch haben darf, das gesamte
deutsche Fernsehen abzubilden.
Haben Sie denn viel mehr Möglichkeiten,
als die „Sendung mit der Maus“
und andere Rechte an die Player zu verticken,
die jetzt den Markt aufrollen?
Es wird immer schwieriger, ein solches
Projekt noch rechtzeitig zu starten. Der
Markt für Videos auf Abruf ist recht voll
und wird sich mit den Start von Netflix
schnell weiterentwickeln. Auch Netflix
wird den Markt nicht von heute auf morgen
umkrempeln. Aber kein Sender darf
den Kopf in den Sand stecken und so tun,
als ginge ihn das nichts an. Dafür ist zu viel
in Bewegung geraten. Nehmen Sie die
USA: Dort haben Videos auf Abruf der linearen
TV-Nutzung, bei der ein Programm
zu festen Zeiten gesendet wird, schon die
Rücklichter gezeigt. Dazu hat Netflix maßgeblich
beigetragen. Das hat zwar einige
Jahre gedauert, aber dieser Prozess könnte
jetzt auch hierzulande beginnen.
Aber Netflix profitiert in den USA doch
sehr stark davon, davon, dass viele
Zuschauer es leid sind, bis zu 100 Dollar
im Monat für Kabel-TV zu zahlen?
Das stimmt. Und deutsche Zuschauer haben
ein viel größeres Angebot an frei empfangbaren
Sendern. Aber in beiden Län-
DER MEDIEN-MAKLER
Loeb, 51, ist seit sechs Jahren Geschäftsführer
der WDR Mediagroup in Köln, der
kommerziellen Tochter des Senders. Sie
vermarktet eigene und die Programme von
Dritten und verkauft Radio-Werbezeiten.
dern schauen immer mehr Menschen
im Netz Bewegtbilder an. Dieser Trend
wird sich durchsetzen. Die Leute bleiben
länger im Netz, und das Angebot an Filmen
und Serien wird größer.
Ist Fernsehen mit Filmen zu festen Sendezeiten
Schnee von gestern?
Wir gehen davon aus, dass beide Nutzungsmöglichkeiten
bestehen bleiben.
Filme auf Abruf sind nicht das Ende des
Fernsehens. Tatsächlich müssen die traditionellen
Kanäle sich die Möglichkeiten
des Internets erschließen, dann kann
es sogar positive Rückflüsse auf die lineare
Ausstrahlung haben, weil beispielsweise
Serien im Internet ein jüngeres
Publikum erreichen, das dann die
neue Staffel wieder im TV verfolgt.
Berater sagen, das Netz sei das neue
Leitmedium und das Fernsehen tot.
Das ist Quatsch. Das Internet ist ein Verbreitungsweg.
Ob es für Fernsehunternehmen
eine Gefahr oder eine Chance
ist, hängt von der Strategie der einzelnen
Sender ab. Klar erreichen wir heute über
das normale TV-Programm junge Leute
nicht mehr so wie früher. Aber für die
platzieren wir Programme wie „Mord
mit Aussicht“ eben auch auf Plattformen
zum Abrufen und hoffen, dass ein zufriedener
Zuschauer sich die nächste Folge
direkt im TV anschaut. Wir müssen das
Internet umarmen, anders geht es nicht.
Einige Sender hoffen, Netflix klaue vor allem
Video-Plattformen wie Maxdome und
Bezahlkanälen wie Sky die Zuschauer?
Nein, das trifft alle. In den USA haben die
großen, werbefinanzierten TV-Sender in
den vergangenen zwei Jahren in den jungen
Zielgruppen viel Reichweite verloren.
Die sind praktisch eins zu eins zu
Netflix, Hulu und vergleichbaren Angeboten
abgewandert. Im Markt für Filme
auf Abruf wird es aber auch zu einem
harten Verdrängungswettbewerb kommen.
Alle diese Dienste kosten Abogebühren.
Da werden Kunden sehr genau
hinsehen, für welches Angebot sie zahlen
wollen.
n
peter.steinkirchner@wiwo.de
WirtschaftsWoche 15.9.2014 Nr. 38 47
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Unternehmen&Märkte
Agrar, Auto, Anlagen
Welche Branchen in Deutschland die EU-Sanktionen gegen Russland besonders treffen
Geschäfte mit Russland
Sanktionsfolgen
Agrar/
Lebensmittel
Chemie
Pharma
Automobil
(inkl. Zulieferer)
Maschinen-/
Anlagenbau
Telekom, IT,
Medien
Bauindustrie
Einzelhandel
Konsumgüter
Rüstung
Transport/
Logistik
Energie
Exporte nach Russland
(Exportanteil
und/oder Umsatz)
2,8 %
1,5 Mrd. €
3,3 %
5,2 Mrd. €
3,4 %
2,1 Mrd. €
4,0 %
7,6 Mrd. €
5,3 %
7,8 Mrd. €
3,5 %
1,03 Mrd. €
0,2 %
55 Mio. €
keine Angabe
circa 4 % 1
2500 1
>10000 1
1,6 Mrd. € 1
628 Mio. €
keine Angabe
>3500 1
>30000 1
>15000 1
circa 2,1 Mrd. € 1
>1000 1
>5000 1
>5000 1
3
Sanktionen behindern
Geschäft unmittelbar
Importstopp
Einschränkungen
bei Dual-Use-Gütern
Einschränkungen
bei Dual-Use-Gütern
Embargo für
Rüstungsgüter
Sanktionen behindern Geschäft
mittelbar oder perspektivisch
Umsatzeinbußen, Preisverfall droht
und Geschäftsverlust an Konkurrenten
Umsatzeinbußen
Umsatzeinbußen
Umsatzeinbußen
Umsatzeinbußen
Umsatzeinbußen
Probleme mit
Lieferkette
Umsatzeinbußen
keine Geschäfte mit russischen Banken
Umsatzeinbußen
geringere Frachttransporte, Verbot
von Überflugrechten droht
strategischen Investments droht
Wertverlust
Umsatzeinbußen, drohende Importbeschränkungen
Sanktionsfolgen
insgesamt
1 Roland-Berger-Schätzungen (basierend auf Außenhandelsstatistiken und/oder Unternehmensdaten); 2 Forderungen der deutschen Banken gegenüber Russland;
3 Importe und strategische Investments; Quelle: Roland Berger, Branchenverbände, Destatis, Unternehmenszahlen; jeweils letzte verfügbare Daten (2013 oder 2012)
Aufruf zum Überwintern
SANKTIONEN | Eine exklusive Studie der Unternehmensberatung Roland Berger zeigt, welche
Branchen am stärksten unter den gegenseitigen Wirtschaftsblockaden von EU und Russland leiden.
Mit Russland machen 6200 deutsche
Unternehmen Geschäfte, mehr als
23 Milliarden Euro haben sie dort
investiert. Waren und Dienste im Wert von
77 Milliarden Euro werden pro Jahr zwischen
beiden Ländern gehandelt. Für die
EU ist Russland das viertgrößte Exportland
und steht bei den Importen auf Rang zwei
nach China, vor allem durch Öl und Gas.
Entsprechend schmerzhaft sind für die
Wirtschaft die Folgen des Streits zwischen
der EU und Moskau. 71 Prozent der befragten
Unternehmen sehen die Wirtschaftslage
in Russland als rezessiv an, ergab eine aktuelle
Umfrage des Deutschen Industrie- und
Handelskammertags. 62 Prozent wollen daher
zum Beispiel Projekte in Russland stornieren
oder Mitarbeiter entlassen. So fahren
Volkswagen und Opel bereits die Autoproduktion
im Reich von Präsident Wladimir
Putin zurück (siehe Grafik Seite 52).
Welche Branchen in Deutschland sind
am stärksten betroffen von den Sanktionen
gegen Russland und wie können Unternehmen
darauf reagieren? Das analysiert
die Strategieberatung Roland Berger in einer
aktuellen Studie, die der Wirtschafts-
Woche exklusiv vorliegt. Demnach ist die
Bedeutung des Russland-Geschäfts am
größten für die Autobranche, Maschinenund
Anlagenbau sowie Energieversorger.
Die härtesten Folgen erwarten die Berger-
Experten für die Agrar- und Lebensmittelindustrie,
Autohersteller und -zulieferer,
Maschinen- und Anlagenbauer sowie ITund
Telekomunternehmen (siehe Tabelle).
Die harten Wirtschaftssanktionen der
EU beschränken unter anderem den Export
von High-Tech- und Rüstungsgü-
»
ILLISTRATION: KRISTINA DÜLLMANN
48 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Unternehmen&Märkte
»
tern und erschweren den Zugang russischer
Banken zu den EU-Kapitalmärkten.
Russland hat mit einem Importstopp für
Lebensmittel aus der EU und anderen westlichen
Ländern wie den USA reagiert. Daher
sind die Hersteller von Agrarprodukten
und Lebensmitteln am stärksten betroffen.
Folgen weitere Blockaden, drohen sie ihr
Geschäft an Konkurrenten zu verlieren.
Infolge der Analyse senkt Roland Berger
die Wachstumsprognose für Deutschland
2014 von 2,0 auf 1,7 Prozent. „Persönlich
hoffe ich zwar, dass es noch zu einer kurzfristigen
Deeskalation kommt“, sagt Burkhard
Schwenker, Berger-Aufsichtsratschef
und Co-Autor der Studie. „Aber als realistische
Planungsbasis müssen Unternehmen
davon ausgehen, dass der Konflikt länger
dauert und sich die Sanktionen in den
nächsten zwei Jahren noch auswirken.“
Für dieses wahrscheinlichste von drei Berger-Szenarien
lautet der Rat „überwintern“,
in Kurzform: Aktivitäten in Russland herunterfahren
und einzelne abstoßen, Kosten
sparen, Kontakte
und Präsenz vor
Ort aufrechterhalten,
zugleich alter-
online
native Absatzmärkte
Was tun bei Sanktionen?
Einen Selbsttest
suchen und Aktivitäten
in sanktionsfreie
für Firmen finden Sie
unter wiwo.de/berger
Länder verlagern.
„Bei Sanktionen
gilt das Primat der
Politik, und die Wirtschaft hat sich unterzuordnen.
Das ist im Prinzip auch richtig“,
sagt Schwenker. „Doch die Politik ist zugleich
gefordert, alternative Möglichkeiten
für die Wirtschaft aufzutun. Das kommt mir
derzeit auf europäischer Ebene zu kurz.“
Zwei Maßnahmen lägen in Brüssel bereits
in der Schublade und müssten nur
umgesetzt werden: So könne eine Belebung
des europäischen Binnenmarktes ein
Prozent zusätzliches Wachstum schaffen.
Ein weiteres Prozent ließe sich generieren,
würde die EU pro Jahr 80 Milliarden Euro
mehr für Infrastruktur ausgeben. Der
Investitionsbedarf hierfür hat sich in der
Euro-Zone bis 2020 laut Berger-Studie auf
mehr als zwei Billionen Euro summiert.
Und die EU könnte das Handelsabkommen
TTIP mit den USA beschleunigen:
„Der Konflikt mit Russland zeigt, wie wichtig
das transatlantische Bündnis ist“, sagt
Schwenker. „Mit guter Kommunikation
seitens der Politik, an der es bisher mangelt,
ließe sich auch die Anti-TTIP-Stimmung
in der Bevölkerung verändern.“ n
stephanie.heise@wiwo.de
Wer früh sät...
AUTOINDUSTRIE | Die Sanktionen und der schwache Rubel vermiesen
den Herstellern das Geschäft und den ausländischen Zulieferern die
Investitionslust. Das könnte sich in ein paar Jahren rächen.
Dieter Trzaska ist Berufsoptimist. Seit
1975 handelt der inzwischen 68-Jährige
mit Autos der Marke Lada. Er
freute sich, als ihm nach dem Mauerfall Interessenten
aus dem Osten die russischen
Autos aus den Händen rissen. Und er verzagte
nicht, als der Importeur für Deutschland
1999 Insolvenz anmeldete – kurzerhand
übernahm der gebürtige Ruhrgebietler
damals selbst die Firma. Dass Russlands
größter Autohersteller Awtowas später
kaum noch Geld in die Marke Lada und in
neue Modelle investierte, sodass die Autos
nicht mehr westlichen Sicherheitsstandards
entsprachen, verkraftete Trzaska
ebenso wie das jahrelange Desinteresse
der in Zypern beheimateten Vertriebsgesellschaft
am Export nach Westeuropa.
Vergeben und vergessen. Lieber will
Trzaska ein neues Kapitel in seiner persönlichen
Lada-Geschichte aufschlagen. Deshalb
lud er am vergangenen Wochenende
treue Kunden und befreundete Händler an
seinen Firmensitz in Buxtehude ein, um in
einer Hausmesse die Deutschland-Premiere
des neuen Lada Granta zu feiern: eine
kompakte wie robuste Stufenhecklimousine
mit vier Sitzplätzen und einem großen
Kofferraum, die in Deutschland nun zu
Preisen ab 7990 Euro angeboten wird. Monatlich
150 Exemplare des Billigautos hofft
Trzaska abzusetzen, mindestens.
VERKÄUFE MASSIV EINGEBROCHEN
Doch das neue Kapitel ist in Gefahr. Denn
Produkte aus Russland leiden derzeit in
Deutschland und im restlichen Westeuropa
unter dem Putin-Faktor. So sehr Trzaska
auch appelliert, die „politischen Querelen
nicht überzubewerten“. Der Krieg an der
russisch-ukrainischen Grenze und die
Sanktionen des Westens gegen Russland
dürften Ost-West-Geschäfte in den kommenden
Monaten ordentlich verhageln.
Die Folgen für die Autoindustrie sind in
Russland bereits deutlich zu spüren. Seit
Jahresbeginn sind die Autoverkäufe im
Land um über zehn Prozent zurückgegangen.
Bo Andersson, der zu Jahresbeginn in
Toljatti, 1000 Kilometer südöstlich von
Moskau, die Regie über den inzwischen
von Renault-Nissan kontrollierten russischen
Autokonzern Awtowas übernahm,
verfügte deshalb, die Produktion drei Monate
lang um rund 250 000 Einheiten zu
drosseln. Sein ehrgeiziger Plan, den einstigen
sowjetischen Staatskonzern bis zum
Jahresende in die Gewinnzone zurückzuführen,
dürfte damit Makulatur sein.
Auch andere Autokonzerne sind bereits
auf die Bremse getreten. Opel hat in seinem
Werk in St. Petersburg auf Kurzarbeit
umgestellt, Volkswagen hat die Bänder in
seinem Werk in Kaluga, 190 Kilometer südwestlich
von Moskau, kurzerhand für vorerst
zwei Wochen vollständig stillgelegt.
Dabei hatte sich Marcus Osegowitsch, der
Generaldirektor der Volkswagen-Gruppe
in Russland, kurz zuvor im Gespräch mit
der WirtschaftsWoche noch verhalten optimistisch
gezeigt, dass die Marktschwäche
schon bald überwunden sein könnte.
Doch die Abwrackprämie von umgerechnet
gut 800 Euro, mit der die russische
Regierung den lahmen Autoabsatz wieder
in Schwung zu bringen hofft, zeigt bislang
kaum Wirkung (siehe Grafik Seite 52). Das
Interesse an neuen Autos ist zwar groß, wie
der Andrang auf der Moscow Motor Show
zeigte. Auch ist jeder zweite der insgesamt
37 Millionen Personenwagen, die derzeit
in Russland zugelassen sind, älter als zehn
Jahre und stark reparaturanfällig.
Doch ein neues Auto können sich derzeit
nur wenige Russen leisten. Und weil
die Banken des Landes sich aufgrund der
Sanktionen derzeit kein frisches Kapital im
Westen besorgen können, sind die Anschaffungskredite
seit April deutlich teurer
geworden. Hinzu kommt, dass viele Russen
ihre Ersparnisse in Dollar und Euro angelegt
haben und das Geld wegen des Verfalls
des Rubel und der galoppierenden Inflation
jetzt nicht antasten mögen, wie VW-
Statthalter Osegowitsch erklärt: „Unsere
Produktion planen wir derzeit deshalb nur
noch von Woche zu Woche.“
Die Abwertung des Rubel um 20 Prozent
seit Jahresbeginn – von der russischen
Zentralbank zumindest in Kauf genommen,
um die Kapitalflucht zu stoppen –
macht der Autoindustrie noch in anderer
FOTO: RENAULT/ROLAND MOURON
50 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Hinsicht zu schaffen, wie Bruno Ancelin,
Vertreter des Awtowas-Großaktionärs
Renault, erläutert: „Sie zwingt uns, die
Lokalisierung zu verstärken.“ Im Klartext:
Die Autohersteller im Land, vor allem die
ausländischen, müssen mehr in Russland
produzieren und zudem mehr Komponenten
von inländischen Zulieferern beziehen,
da der Einkauf jenseits der Grenze immer
teurer wird. Politisch sei die Konzentration
auf das Inland gewollt, sagt Renault-Vertreter
Ancelin: „Putin will auf diese Weise die
russische Autoindustrie stärken.“
ZU TEUER UND ZU SCHLECHT
Jeder Automobilhersteller, der sich in
Russland engagiert, hat sich per Dekret 166
dazu verpflichtet, zur Reindustrialisierung
des Landes beizutragen, indem er heimische
Komponenten kauft. Awtowas fertigt
in der 675 Hektar großen Gigafabrik an der
Wolga – Kapazität: 1,1 Millionen Autos pro
Jahr – bereits heute 85 Prozent seiner Teile
selbst. Der Anteil der Produktion im Inland
inklusive der zugelieferten Teile liegt bei
über 90 Prozent. Am zweiten Produktionsstandort
von Renault-Nissan in Russland,
dem Moskauer Werk von Avtoframos, werden
derzeit 75 Prozent der Autoteile im Inland
produziert. Das Ziel ist ein Wert von
80 Prozent, der unter anderem durch die
Produktion der kompletten Fahrgestelle
aus russischen Teilen erreicht werden soll.
Das Problem ist nur: Die Qualität der
heimischen Zulieferer lässt teilweise stark
zu wünschen übrig – und die in Russland
produzierten Teile sind nicht unbedingt
preiswerter als die importierten, berichten
unisono Manager von Renault und Awtowas.
„Produktionsumfänge kann man hier
nicht so einfach outsourcen“, gibt Awtowas-Finanzchef
Evgenij Belinin unumwunden
zu. Denn das könnte, auch aufgrund
der Qualitätsprobleme, schnell sehr
teuer werden. Um den Neustart von Lada
nicht durch Rückrufaktionen zu gefährden,
hat Awtowas-Chef Bo Andersson deshalb
entschieden, einige Teile der Produktion,
die bereits an Zulieferer ausgelagert waren,
wieder zurück nach Toljatti zu holen.
Ihrer Verzweiflung über die katastrophale
Lage machten die Hersteller kürzlich auf
dem Russian Automotive Forum in Moskau
Internationale Automobilausstellung Luft. Für Lisa King, Einkaufschefin des Joint
Die Staus in der Moskauer Innenstadt zeugen Ventures Ford Sollers, ist die Lage mehr als
von guten Geschäften deutscher Hersteller ernst: „Beim Aufbau eines lokalen Zulie-»
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Unternehmen&Märkte
Heißes Eisen 480 Millionen Euro hat Renault in die Modernisierung der Moskauer Autofabrik
investiert. Rohkarossen werden hier trotzdem immer noch per Hand zusammengeschweißt
»
Made in Russia
Inlandsfertigung der Autohersteller in Russland
(in Prozent)
Aktueller Wert Zielniveau für 2015 bis 2018
Avtoframos
Hyundai
VW 1
Ford Sollers
PSMA
Nissan
GM
Toyota
Avtotor
75
47
42
37
35
34
51 2
15
15
30
k.A.
46
45
1 mit GAZ-Anlagen; 2 mit GM-Avtotaz;
Quelle: LMC Automotive, Autostat, EY analysis
48
60
60
60
80
gleitet, erkennt darin die Folgen des jahrzehntelang
nahezu geschlossenen Marktes,
in dem die Zulieferer Teil staatlicher Großkonzerne
waren. „Wo der Kunde gleichzeitig
Besitzer seiner Lieferanten ist, entsteht
kein Wettbewerb, wo Fahrzeuge nicht weiterentwickelt
werden, keine Innovation.“
Die russischen Zulieferer seien chinesischen,
brasilianischen oder indischen
deutlich hinterher. Die Hersteller entkommen
unter den politischen Vorgaben der
Zuliefererwüste nur, indem sie noch mehr
investieren und selbst fertigen. Volkswagen
nimmt 2015 sein Motorenwerk in Kaluga,
Bosch eine neue Fabrik für Kraftfahrzeugtechnik
in Samara im Süden des Landes in
Betrieb. In zwei Jahren sollen dort 500 Rus-
Russisches Roulette
Entwicklung der Pkw-Neuzulassungen in
Russland (in Tausend Fahrzeugen) 1
Lada 247
Renault 124
Hyundai
Kia 123
Nissan 102
Toyota 102
VW
Chevrolet
Skoda
Opel
117
85
82
56
43
1 in der Zeit von Januar bis August 2014; 2 im
Vergleich zum Vorjahreszeitraum; Werte gerundet;
Quelle: Association of European Business
Veränderung 2
+18 %
+1 %
–18 %
–10%
–5 %
–1 %
–18 %
–27 %
–2 %
–19 %
fernetzes geht es nicht darum, wie gut
das Geschäft ins Laufen kommt, sondern,
ob es überhaupt ins Laufen kommt.“ VW-
Manager Osegowitsch beklagt, dass es zwar
Stahl gebe, „aber zu wenig und nicht in der
benötigten Qualität“. Bosch-Russland-
Präsident Gerhard Pfeifer sieht „Nachholbedarf
bei Prozessstabilität und -qualität“.
Nur eine Handvoll Zulieferer erfülle die
ISO-Norm, die Bosch für seine Produkte
verlange. Auf den Wunschlisten der Autokonzerne
stehen simple Teile wie Spiegel
und Gurte, aber auch elektrische Fensterheber,
Türschlösser und Räder.
Dirk Meyer, Managing Partner beim
Forum Russland, das Betriebe der Automobilindustrie
beim Gang nach Russland besen
arbeiten. Einziger Trost: Die Personalkosten
sind so niedrig, dass die Lokalisierung
die Fertigungskosten niedrig hält. In
Moskau liegt das Einstiegsgehalt eines
Bandarbeiters bei 1034 Euro, in Toljatti sogar
nur bei 517 Euro. Umgekehrt treiben so
niedrige Löhne die Lokalisierung an.
Allerdings wird in Russland nicht allzu
spitz gerechnet. „Produzenten können alle
Kosten in der Produktion, die in Russland
anfallen, als Lokalisierung zählen“, sagt Andrej
Toptun, Chefanalyst der Beratung Autostat.
So lässt sich auf dem Papier mehr
Lokalisierung erzeugen, als da ist. Mit harten
Konsequenzen muss, so Sergej Litwinenko,
Experte für den russischen Automarkt
beim Beratungshaus PwC, kaum ein
Hersteller rechnen: „Der Staat hat derzeit
viel Verständnis für ihre Probleme und ist
bereit, entgegenzukommen.“ Für die westlichen
Autokonzerne wie auch für Russland
wäre es das Beste, es trauten sich ein
paar deutsche mittelständische Zulieferer
nach Russland. „Noch zu Beginn des Jahres
hatten wir viele Interessenten“, sagt Edda
Wolf von GTAI Germany Trade & Invest, einer
Gesellschaft für Außenwirtschaft und
Standortmarketing in Bonn. Doch mit Aufflammen
der Konflikte in der Ostukraine
sei das Interesse weitgehend erloschen.
CHINESEN ZAUDERN NICHT
Vor allem Bosch bemüht sich, das Engagement
in Russland zu versüßen. „Mit uns als
Ankerkunden können die Unternehmen
eine Grundauslastung erwarten. Zudem
erhalten Lieferanten, die sich ansiedeln,
um uns zu beliefern, von der Regionalverwaltung
die gleichen Bedingungen wie
wir.“ Pfeifer weiß, dass die meisten Mittelständler
dennoch zögern, weil ihnen die
Stückzahlen noch zu gering sind. „Erst ab
200000 Einheiten ist eine Direktinvestition
in Russland für einen mittelständischen
Zulieferbetrieb interessant“, erklärt Wolf.
Die Mutlosigkeit könnte sich in ein paar
Jahren rächen. Trotz aller politischer Turbulenzen
– langfristig bleibt Russland einer
der größten Wachstumsmärkte für die Autoindustrie
weltweit. Aktuell besitzt nur jeder
vierte Russe ein eigenes Auto.
Chinesische Hersteller zaudern deshalb
nicht. Great Wall hat den Bau eines Werks
in Tula angekündigt, Geely montiert bereits
über 100 000 Fahrzeuge in Weißrussland.
Und Dongfeng, beteiligt am französischen
Autokonzern PSA, baut sein Vertriebsnetz
aus – wer früh sät, erntet auch.
n
rebecca.eisert@wiwo.de, franz.rother@wiwo.de,
maxim kireev
FOTO: PR
52 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Unternehmen&Märkte
Heißer Tanz
EISCREME-MARKT | Wirbel in der Branche: warum Gotthard Kirchner
den größten deutschen Speiseeishersteller Rosen verkaufte und
beim schärfsten Konkurrenten anheuerte.
DMK, Rosen und R&R sind Unternehmen,
die kaum jemand kennt. Aber
fast jeder Deutsche schleckt deren
eiskalte Kreationen, die sich in den Eistruhen
großer Handelskonzerne wie Aldi,
Lidl und Penny hinter blumigen Namen
wie Gelatelli, Grandessa oder Mucci verbergen.
Eine gleichermaßen überraschende wie
pikante Personalie wirbelt nun die Branche
der Handelsmarkenhersteller durcheinander:
Gotthard Kirchner verkauft Rosen
Eiskrem, den größten Hersteller von Speiseeis,
an das Deutsche Milchkontor (DMK)
und heuert als Deutschland-Chef bei der
britischen R&R Ice Cream an, dem größten
Wettbewerber in der Branche.
Der Seitenwechsel kommt für die Bremer
Großmolkerei und Kirchners Ex-Unternehmen
zu Unzeiten. Denn die DMK-
Eiscremesparte schwächelt, Synergien aus
dem Kauf von Rosen sind noch nicht mal
identifiziert. Ausgerechnet in dieser
Schwächephase bläst R&R mit Unterstützung
von Kirchner zum Generalangriff: Es
geht um die Vormachtstellung in den Eistruhen
der großen europäischen Lebensmittelketten
– ein Milliardengeschäft.
Vom Unternehmer
zum Manager
Frontenwechsel
beim früheren Rosen-
Eiskrem-Inhaber
Kirchner
KENNER DER MATERIE
Das wird immer stärker von Handelsmarken
dominiert. In Deutschland liegt ihr
Mengenanteil bei rund 64 Prozent, die
Umsatzanteile nähern sich der 50-Prozent-
Marke. Nur beim Impulseis – dem klassischen
Eis am Stiel – dominieren bekannte
Marken wie Langnese (Unilever) und
Mövenpick (Nestlé).
Mit Kirchner hat sich R&R nun die
Dienste einer Koryphäe gesichert. In der
Branche gilt der hochgewachsene Manager
mit der hohen Stirn als Freund
schneller Entscheidungen. Kirchner
spricht freundlich, unaufgeregt und diskutiert
mit Freunden gerne über seine
große Leidenschaft neben der Familie
und dem Eisgeschäft: dem Fußballbundesligisten
Borussia Mönchengladbach.
Der 50-Jährige kennt das Eisgeschäft von
Kindesbeinen an. 1967 kauft Kirchners
Vater August seinem Onkel Karl eine Eisdiele
in Heinsberg bei Aachen ab, das Café Rosen.
Die Kirchners produzieren dort fortan
nicht nur Eis für das Café, sondern beliefern
auch Haushalte in der Umgebung.
Das Geschäft brummt. 1974 gelingt der
Durchbruch: Mit der selbst kreierten Eismarke
Cassie schafft Kirchner senior erstmals
den Sprung in die Truhen des Lebensmittelhandels.
Die Edeka-Großhandlung in
Moers listet Rosen, und Cassie landet in
rund 150 Läden.
1990, nach seinem Studium der Betriebswirtschaft
an der Universität Paderborn mit
anschließender Promotion, steigt der Junior
in das Unternehmen ein. Dort verantwortet
er als Geschäftsführer neben seinem
Vater die Unternehmensentwicklung. 2001
übernimmt der Junior dann alle Firmenanteile.
In neue Dimensionen katapultiert
Kirchner das Unternehmen zu Beginn des
Jahres 2007: Rosen übernimmt von Nestlé
zwei Speiseeisfabriken der Tochter Schöller.
Der Schweizer Nahrungsmittelmulti will
sich auf die Premiummarken Mövenpick
und Schöller konzentrieren und keine Handelsmarken
mehr herstellen.
Rosen dagegen ist auf solche Produkte
spezialisiert. Durch die Übernahme wird
der Familienbetrieb zum größten Speiseeisproduzenten
Deutschlands. Der Umsatz
schnellt von 90 auf 170 Millionen Euro, die
Mitarbeiterzahl klettert von 300 auf 750.
Doch die Übernahme wird für Kirchner
zu einem finanziellen Kraftakt, von dem er
sich nicht mehr erholen wird. Denn neben
der Schöller-Übernahme baut Kirchner am
Stammsitz noch eine neue Stieleisfabrik
für acht Millionen Euro. Parallel schießen
Zucker- und Milchpreise in die Höhe. Zudem
lösen kräftige Auftragszuwächse für
2012 zusätzlichen Kapitalbedarf aus.
Als Kirchner Ende 2011 beginnt, über die
Verlängerung eines Kredits in Höhe von 70
Millionen Euro zu verhandeln, stellen sich
einige Banken in dem Konsortium quer,
weil Rosen nicht alle Kreditvereinbarungsklauseln
einhalten kann. So sinkt etwa
2011 die Eigenkapitalquote um fast
sieben Prozentpunkte auf 23 Prozent
und erreicht damit den
Zielwert nicht.
Kirchner gelingt es, mit einem
Überbrückungskredit den
kurzfristigen Finanzbedarf für
die Saison 2012 sicherzustellen.
Doch die Banken fordern
von ihm, weiteres Eigenkapital
oder eigenkapitalähnliche Mittel
in Höhe von 20 Millionen Euro
nachzuschießen. Kirchner gibt
auf. Im November 2012 verkauft er
Rosen Eiskrem an DMK. Zehn Prozent
und seinen Geschäftsführerposten
behält er.
DMK, Deutschlands größte Molkerei
mit einem Umsatz von 5,3 Milliarden
Euro, ist erst im Frühjahr 2011
durch die Fusion der Großmolkereien
Humana und Nordmilch (Milram) entstanden.
Humana bringt eine Speiseeissparte
mit der Marke Sanobub in die neue
DMK ein. Die Sparte firmiert als DMK Eis.
Doch die Chemie zwischen dem genossenschaftlichen
Milliardenkoloß und dem
flinken Familienunternehmen stimmt von
FOTOS: PR (2)
54 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Beginn an nicht. „Die Beteiligung der DMK
an Rosen brachte die Chance zur Nutzung
vieler Synergien für beide Unternehmen“,
sagte Kirchner seinerzeit einer regionalen
Tageszeitung. „Wie sich jedoch herausstellte,
waren die Auffassungen hinsichtlich der
zukünftigen Unternehmensstrategie zu unterschiedlich.“
ÜBERRASCHENDER ANRUF
Spätestens als Kirchner klar wird, dass er in
einen noch zu gründenden Beirat abgeschoben
werden soll, zieht er die Reißleine.
Mitte Juli 2013 kündigt er seinen Geschäftsführervertrag
und zieht die Verkaufsoption
an DMK über die restlichen zehn Prozent
der Anteile.
Ein paar Monate später klingelt Kirchners
Handy. In der Leitung ist Ibrahim Najafi,
Chef des britischen Eisherstellers R&R
mit Sitz in der Nähe von Leeds. Nach einigen
Treffen bietet Najafi seinem einstigen
Konkurrenten zunächst eine Beratertätigkeit.
Kirchner nimmt an. Eine Konkurrenzausschlussklausel
von DMK gab es nicht.
R&R ist nach eigenen Angaben mit 900
Millionen Euro Umsatz und 3500 Mitarbeitern
der zweitgrößte Eishersteller
Europas und seit jeher Hauptkonkurrent
von Rosen und jetzt DMK Eis. Das Bundeskartellamt
genehmigte die Übernahme von
Rosen durch DMK Mitte 2013 mit dem
Hinweis: „Es gibt keine Anhaltspunkte dafür,
dass DMK Eis und Rosen füreinander
jeweils engste Wettbewerber sind. Vielmehr
haben sich aber sehr deutliche Hinweise
ergeben, dass R&R der wichtigste
verhaltensbegrenzende Wettbewerber für
jeden der beiden am Zusammenschluss
Beteiligten ist.“
Die Briten produzieren in Osnabrück
nicht nur Handelsmarken, sondern auch
namhafte Lizenzmarken für Eiscreme wie
Milka, KitKat, Toblerone, Oreo und Daim
für Mondelez (früher Kraft Foods) sowie
Landliebe-Eis. Ausgerechnet bei R&R
bringt Kirchner nun seine Erfahrung ein.
Offenbar hat es gleich gefunkt:Aus dem Beraterjob
wurde zum 1. August eine Festanstellung
als Geschäftsführer des Deutschland-Geschäfts
mit einem Umsatz von rund
200 Millionen Euro. Die Position ist neu.
Bisher hatte Najafi von Leeds aus das
Deutschland-Geschäft verantwortet.
Die Ära Rosen und DMK ist für Kirchner
abgeschlossen. Er werde sich dazu nicht
weiter äußern. Über seinen neuen Arbeitgeber
sagt Kirchner: „R&R entscheidet
schnell, die Mitarbeiter haben eine hohe
Kompetenz, und es gibt sehr klare Strukturen,
die selbst mich überrascht haben.“
Auch finanziell sind die Briten, die dem
größten französischen Finanzinvestor PAI
Partners gehören, bestens ausgerüstet. „Ein
Vergleich der Kapitalflussrechnungen von
DMK und R&R zeigt, dass R&R über einen
deutlichen höheren Cash-Flow verfügen
kann, als dies bei DMK der Fall ist“, befand
das Bundeskartellamt seinerzeit.
Derweil berichten Branchenkenner, dass
es im DMK-Eisgeschäft nicht rundlaufe und
die Sparte defizitär sei. Ein DMK-Sprecher
bestätigt, dass sich auch fast zwei Jahre
nach der Übernahme „beide Gesellschaften
in einem laufenden Integrationsprozess befinden
und Integrationsteams derzeit alle
Geschäftsbereiche analysieren und versuchen,
Synergien und Verbesserungsmöglichkeiten
zu identifizieren“. Für 2014 rechne
DMK aber mit einem positiven Ergebnis.
Spätestens im kommenden Sommer
wird es also einen noch heißeren Tanz um
die Eistruhen im Handel geben.
n
mario.brueck@wiwo.de
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Unternehmen&Märkte
Hauch von Luxus
WARENHÄUSER | Karstadt-Drama? Kaufhaussterben? Nicht in Görlitz,
wo ein verwaistes Warenhaus in neuem Glanz erstrahlen soll.
Der Blick geht weit über die Dächer von
Görlitz. „Von hier aus können Sie das
Riesengebirge sehen“, sagt Jürgen
Friedel und deutet ins Ungefähre. Friedel –
weißes Haar, Businesshemd – lehnt am Geländer
eines schmalen Balkons ganz oben
im alten Kaufhaus der Stadt und schwärmt
von einer Restaurant-Terrasse, die er hier anbauen
will. Nur das Hämmern im Hintergrund
stört den Traum vom Sonnendeck.
Die Terrassenpläne seien die Kür, zunächst
komme die Pflicht, sagt Friedel. Nach
Jahren des Leerstands will er das alte Warenhaus
in der sächsischen Stadt wieder eröffnen.
Ein Warenhaus? In Görlitz? Wann
immer Friedel, der zuvor Flughäfen plante,
sein Projekt präsentiert, darf er sich ungläubiger
Blicke gewiss sein.
Tatsächlich wirkt die Idee angesichts des
Dramas bei Karstadt fast surreal. Seit Monaten
beherrscht die Dauerkrise der früheren
Handelsikone die Schlagzeilen. Am Donnerstag
traf sich der Karstadt-Aufsichtsrat
zur ersten Sitzung nach der Übernahme
durch den österreichischen Investor René
Benko. Statt Aufbruchsstimmung stand der
Dreiklang des Niedergangs auf der Agenda
des Gremiums: Personalabbau, Sparmaßnahmen,
Filialschließungen. So geht es seit
Jahren. Überall im Konzern wird gekürzt, gerechnet
und jener goldenen Warenhaus-Ära
nachgetrauert, der auch das Haus in Görlitz
entstammt.
Mit seinen Granitarkaden, der Glaskuppel,
die sich über den Lichthof im
Inneren spannt, und den großzügigen
Fensterfronten galt der 1913 errichtete
Bau lange Zeit als eines der
schönsten Warenhäuser des Landes.
Doch zuletzt nutzten nur noch
Filmemacher das Jugendstilambiente
als Kulisse. So
drehte US-Regisseur Wes
Anderson hier „Grand
Budapest Hotel“, Werbeclips
und Dokumentationen
entstanden in den
Räumen, nur verkauft
wird hier schon seit fünf
Jahren nichts mehr.
2005 war das Haus als
Teil von Karstadt Kompakt
an einen britischen Investor verkauft worden.
Der führte die Warenhäuser unter der
Marke Hertie weiter. Seit deren Pleite steht
das Görlitzer Kaufhaus leer. Zum Weihnachtsgeschäft
2015 soll es wieder öffnen.
Der Zeitplan ist sportlich.
Rohre und Kabel ragen aus den Wänden
in der dritten Etage, auf dem Boden liegt ein
Stück Putz. „Wir haben schon mehr als 2000
Tonnen Schutt aus dem Gebäude geholt“,
sagt Projektleiter Friedel und zeigt in den
Raum: Vorn am Balkon soll eine Prosecco-
Bar entstehen, weiter hinten die Sport- und
Elektronikabteilung und gleich daneben das
Männerland. Friedel lacht. Im Männerland
könnten Kundinnen ihre einkaufsmüden
Partner bei Fußball-TV und ähnlichen Vergnügungen
parken, derweil sich die Damen
durchs Sortiment shoppen.
Mit solchen Details will Friedel später
Kunden locken, zunächst aber Mieter gewinnen.
Das Warenhaus soll als eine Art
Shop-in-Shop-Konzept funktionieren. Anders
als in einem Center würden die Übergänge
zwischen den einzelnen Geschäften
aber fließender gestaltet. Es gehe nicht darum,
einfach ein altes Haus zu sanieren und
ein paar Shops reinzupacken, sagt Friedel:
„Das Kaufhaus soll aus einem Guss sein,
Herr Stöcker will es schön haben.“
Winfried Stöcker ist der eigentliche Initiator
des Kaufhaus-Projekts. Rund 20 Millionen
Euro will der Lübecker Unternehmer
dafür in die Hand nehmen.
Stöcker kennt das Kaufhaus noch aus
Kindertagen. Sein Vater betrieb in der
Nähe von Görlitz eine Spinnerei. 1960
ging die Familie in den Westen. Der
Junior studierte Medizin und gründete
1987 Euroimmun, ein Unternehmen
für Labordiagnostik.
Euroimmun peilt 2014
rund 200 Millionen Euro
Umsatz an, ist hochprofitabel
und gilt als einer der
Kaufhaus-Mäzen
Der Lübecker Unternehmer
Stöcker investiert
20 Millionen Euro in
das Görlitzer Jugendstil-
Kaufhaus
innovativsten Mittelständler (Wirtschafts-
Woche 15/2014). Den Verfall des Kaufhauses
in seiner alten Heimat hatte Stöcker schon
länger beobachtet. Als er dann in einem
Zeitungsartikel über die Dreharbeiten zu
„Grand Hotel Budapest“ las, machte Stöcker
einen Termin mit dem Görlitzer Bürgermeister
aus.
Wenig später unterschrieb er den Kaufvertrag
für das Gebäude. „Sicherlich hat meine
Herkunft aus der Oberlausitz bei der Entscheidung
eine Rolle gespielt“, sagt Stöcker,
„aber das ist kein Nostalgie-Projekt.“ Selbst
zu Hertie-Zeiten hätte die Görlitzer Filiale
schwarze Zahlen geschrieben.
IN DER BOSS-LIGA
Stöckers Mann in Görlitz schreitet die imposante
Freitreppe hinab in die zweite Etage,
dann weiter ins erste Obergeschoss. Wie
eine Galerie rahmt die zukünftige Verkaufsfläche
den Lichthof ein. Wo genau sich
später die Herren- und Damenabteilung befinden
soll, sei noch offen. Doch die Ausrichtung
ist klar: „Wir wollen nicht unbedingt in
der Gucci-, aber durchaus in der Boss-Liga
spielen“, sagt Friedel.
Ein Hauch von Luxus in Görlitz? Die Bevölkerung
der Stadt ist seit 1994 um fast ein
Fünftel geschrumpft. Gemessen an der
Kaufkraft seiner Einwohner, ist Görlitz das
Armenhaus der Republik.
„Natürlich kennen wir die Statistiken“, sagt
Friedel. Aber: Die Zahl der Touristen steige
seit Jahren. Entsprechend zielen Stöcker und
Friedel nicht nur auf die 55000 Görlitzer,
sondern wollen auch Kunden aus Dresden,
dem polnischen Breslau und dem tschechischen
Liberec in ihr Haus locken. Zugleich
verhandeln sie mit polnischen Markenherstellern,
die mit dem Sprung auf den
deutschen Markt liebäugeln und die Grenzstadt
als Experimentierfeld nutzen wollen.
Draußen vor der verriegelten Eingangstür
stehen ein paar Touristen und blicken in den
Innenraum des Baus. Das Erdgeschoss wirkt
luftig wie ein Ballsaal. Parfüms und Accessoires,
Bücher und Geschenkartikel will
Friedel hier unter Kronleuchtern verkaufen.
Ursprünglich hatte Kaufhaus-Betreiber
Stöcker den Namen KaDeO für sein Haus
favorisiert – wahlweise lesbar als Kaufhaus
des Ostens oder der Oberlausitz. Doch die
Anspielung auf das Karstadt-Flaggschiff
KaDeWe in Berlin war rechtlich zu heikel.
Inzwischen prangt der schlichte Namenszug
Kaufhaus Görlitz am Schaufenster, daneben
der Hinweis: „Hier wird renoviert,
was Sie morgen fasziniert.“
n
henryk.hielscher@wiwo.de
FOTOS: PAWEL SOSNOWKSI, BARBARA KLOTH (4)
56 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Baustelle mit Kronleuchter
Zum Weihnachtsgeschäft
2015
soll der Umbau des
Görlitzer Kaufhauses
vollendet sein. Das
prächtige Gebäude
diente auch als Kulisse
für den Film „Grand
Budapest Hotel“
360 Grad
In unserer App
finden Sie einen
spektakulären
Rundgang durch
das Kaufhaus
WirtschaftsWoche 15.9.2014 Nr. 38 57
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Unternehmen&Märkte
»Im Markt ist wieder Bewegung«
INTERVIEW | Andreas Nauen Der Chef des Windradherstellers Senvion will die Windenergie preiswerter
und effizienter machen und rechnet mit neuen Großaufträgen für deutsche Offshore-Windparks.
Herr Nauen, Senvion hieß bis Jahresbeginn
Repower. Weshalb haben Sie eine
der angesehensten Adressen in der
Windradindustrie einfach so unbenannt?
Das war nicht einfach so. Die Namensänderung
war notwendig, weil wir den
Namen Repower seit 2001 nur in Lizenz
hatten und diese Ende 2013 abgelaufen
war. Sie gehört einem Schweizer Energieversorger,
der den Namen inzwischen
auch für sich selbst nutzt.
Und weshalb haben Sie sich dann den
kryptischen Name Senvion gegeben?
Senvion ist ebenso wenig kryptisch wie
E.On für Deutschlands größten Stromkonzern.
Senvion setzt sich zusammen aus den
Anfangsbuchstaben der englischen Begriffe
Sustainibility, Energy, Vision und on.
Zusammengezogen stehen diese dann für
Nachhaltigkeit, Energie, Vision – voilà.
Senvion ist im Besitz des indischen Windkraftkonzerns
Suzlon, agiert aber nahezu
unabhängig. Wie funktioniert das?
Es gibt in der Tat vergleichsweise wenig
Zusammenarbeit mit unserem Mutterhaus.
Technologisch arbeiten wir völlig eigenständig.
Das liegt zum einen daran,
dass wir auf verschiedenen Märkten mit
unterschiedlichen Produkten agieren.
Zum anderen hat das auch mit dem
Eigenfinanzierungsvertrag zu tun, dem wir
unterliegen.
Das heißt, die Inder können sich nicht
direkt aus Ihrer Kasse bedienen?
Es gibt keinen Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrag
zwischen Senvion
und Suzlon. Die Banken haben 2007 die
Übernahme unter der Bedingung finanziert,
dass Suzlon keinen Zugriff auf unseren
Cash-Flow bekommt. Wir haben die
Kreditlinien im April erneuert und sogar
eine Erhöhung um 100 Millionen auf 850
Millionen sichergestellt. Auch dabei hat
das Bankenkonsortium wieder darauf
bestanden, dass unsere indische Mutter
keinen Zugriff auf die finanziellen Mittel
erhält. Die Voraussetzungen für die Zusammenarbeit
mit Suzlon wurden von den
Banken sogar noch schärfer reglementiert.
Jetzt versucht Suzlon offenbar, Senvion
wieder an die Börse zu bringen, um sich
Geld für die eigene Entschuldung zu be-
DER WINDMÜLLER
Nauen, 50, ist seit dem 1. Juli 2010 Chef des Hamburger
Windturbinenbauers Senvion, früher Repower. Nauen studierte
Maschinenbau in Duisburg und startete 1991 seine Karriere
bei Siemens im Projektgeschäft. Nach der Übernahme des
dänischen Windmühlenbauers Bonus Energy durch die
Münchner 2004 baute er als Chef der Siemens-Sparte Wind
Power das Windgeschäft des Konzerns auf.
58 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Unternehmen&Märkte
FOTO: ANDREAS CHUDOWSKI FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
sorgen. Der Börsengang sollte Gerüchten
zufolge schon in diesem Monat erfolgen.
Wäre es so, würde ich hier wohl nicht so
entspannt sitzen. Ansonsten möchte ich
mich an Spekulationen nicht beteiligen.
Offshore-Windenergie gilt als Gewinner
der Novelle des Erneuerbaren-Energien-
Gesetzes, kurz: EEG. Sehen Sie das auch so?
Es ist natürlich schwierig, heute von Gewinnern
zu sprechen, wenn eine Branche
über Jahre Stillstand aushalten musste,
weil die politischen Rahmenbedingungen
fehlten. Aber ich bin jetzt froh, dass wir mit
der Verlängerung der Einspeisevergütung
für Windstrom bis 2019 eine vernünftige
Basis haben. Auch die Anbindungen der
Meereswindparks ans Stromnetz sind nun
klar geregelt. Und wenn dann die ganzen
Windparkprojekte realisiert sind, die jetzt
angekündigt werden, dann können wir uns
vielleicht als Gewinner fühlen.
Senvion war ja von der Flaute ebenfalls
arg gebeutelt. In Ihrer Rotorblattfertigung
wird seit Februar kurzgearbeitet.
Ich glaube, es gab in der gesamten Offshore-Windradindustrie
kein Unternehmen,
das nicht betroffen war. Unsere
Rotorblattproduktion in Bremerhaven ist
eben speziell für die Fertigung von Offshore-Anlagen
ausgerichtet und deshalb
von der Kurzarbeit betroffen.
Wieso legen Sie nach der EEG-Novelle
jetzt nicht richtig los?
So schnell geht das nicht, vor allem nicht
bei den Meereswindparks. Diese milliardenschweren
Großprojekte haben Vorlaufzeiten
von zwei bis drei Jahren, ehe überhaupt
eine einzige Windturbine ins Meer
gesetzt werden kann. Wir werden also frühestens
2015 mit der Produktion beginnen
können. Aber in der Tat, es ist wieder Bewegung
im Markt. Verhandlungen mit Unternehmen,
die Windparks bauen wollten,
dann zögerten oder Projekte ganz auf Eis
legten, haben wir wieder aufgenommen.
Das sind Aufträge, bei denen wir früher
schon ziemlich weit waren, da fehlten nur
noch die Unterschriften.
Und dann kam mit Wirtschaftsminister
Philipp Rösler von der FDP und Umweltminister
Peter Altmeier von der CDU
erst der Stillstand beim EEG und vor der
Bundestagswahl die Unsicherheit – mit
der Folge, dass Sie 2013 nicht eine
einzige Offshore-Turbine verkauft haben.
Das stimmt leider. In diesem Jahr wird sich
das nicht wiederholen. Wir liefern 48 Windmühlen
für den Windpark Nordsee Ost an
den Stromkonzern RWE. Und wir verhandeln
wieder über zurückgestellte Aufträge.
Können Sie Details nennen?
Es geht um drei Windparks, einen mit 20,
einen mit 50 und einen mit 80 Turbinen in
der deutschen Nordsee.
Strom von hoher See gilt als Kostentreiber
bei der EEG-Umlage. Wie wollen
Sie das ändern?
Dass die gesamte Offshore-Industrie günstiger
werden muss, ist seit Jahren jedem
klar. Aber es hat sich schon viel getan. In
der Anfangsphase mussten wir uns noch
von einem Engpass zum nächsten hangeln:
Mal gab es nicht genug Windräder,
dann nicht genug Montageschiffe, zu wenige
Unterwasserkabel oder Fachpersonal.
Das ist alles behoben. Jetzt können wir intensiv
an Kostensenkungen arbeiten.
Welche Hebel gibt es da speziell für Sie
als Windradhersteller?
Sie können natürlich schlicht und einfach
versuchen, bestehende Windturbinen
schiffung der Fundamente und natürlich
auch das Material preiswerter.
Ihr Umsatzrückgang um rund 20 Prozent
kam in erster Linie durch den Wegfall des
US-Geschäfts. Wie konnte das passieren?
Durch die Erschließung riesiger Schiefererdgasreserven
mithilfe der Fracking-
Technologie sind die Strompreise in den
USA so stark gefallen, dass sich der Bau
neuer Windparks nicht mehr lohnte. Wir
hatten 2012 noch rund 100 Millionen Umsatz
dort. Die sind futsch. Wir konnten
zwar davon in Kanada etwas wettmachen,
aber längst nicht in diesen Dimensionen.
Geht das Geschäft so unerfreulich weiter?
Nein. Die Auftragseingänge lagen in den ersten
Monaten des Geschäftsjahres, das bei
uns von April 2014 bis März 2015 läuft, rund
zehn Prozent über dem Vorjahreszeitraum.
Der Umsatz ist in ähnlicher Größenordnung
gewachsen. Zudem ist für uns wichtig, wie
Siemens und GE verlieren Boden
Die größten Windradbauer der Welt (Marktanteile der Hersteller 2013 in Prozent)*
13,2 (14,6) 10,2 (6,2) 10,1 (8,2) 8,0 (10,6) 5,1 (4,0) 4,9 (13,6) 4,6 (8,5) 3,9 (4,6) 3,7 (2,5) 3,4 (2,0)
Vestas Goldwind Enercon Siemens Suzlon/
Dänemark China Deutschland Deutschland Senvion
Indien/
Deutschland
* in Klammern: Vergleichswert 2012; Quelle: Make Consulting
General
Electric
USA
Gamesa
Spanien
United
Power
China
Mingyang
China
Nordex
Deutschland
günstiger zu fertigen. Was aber einen viel
größeren Hebel hat, ist die Weiterentwicklung
der Technologie...
...also die Steigerung der Effizienz.
Unsere Offshore-Turbine vom Typ 6.2 M
152, deren Prototyp wir gerade bauen, hat
152 Meter statt früher 126 Meter lange Rotorblätter.
Das bringt einen Mehrertrag von
20 Prozent am gleichen Standort.
Die Anlage wird dann aber mehr kosten?
Nein, sie soll nicht mehr kosten als das Vorgängermodell.
Das ist das klare Ziel. Auch
die Erhöhung der Lebensdauer der Windräder
von 20 auf 25 Jahre senkt Kosten.
Hinzu kommen signifikante Ersparnisse
beim Fundament. Die meisten Offshoreturbinen
wurden bisher auf dreibeinige
Stahlkolosse, sogenannte Tripoden, gesetzt.
Jetzt kommen sogenannte Monopiles
zum Einsatz, bei denen nur noch ein Fundamentrohr
in den Meeresboden gerammt
wird. Das macht die Verankerung, die Verviel
vom geplanten Jahresumsatz wir schon
fest in den Büchern haben. Und da sieht es
ziemlich gut aus. Wir konnten rund 90 Prozent
einbuchen, und das von einem Wert,
der leicht über dem des Vorjahres in Höhe
von 1,8 Milliarden Euro liegt. Die Zwei-Milliarden-Marke
werden wir dieses Jahr wohl
nicht erreichen.
Hochseewindparks werden fast nur von
europäischen Branchenriesen wie Siemens
und Senvion oder Areva aus Frankreich
beliefert. Wieso hört man nichts von den
ambitionierten chinesischen Anbietern?
Bei Offshore-Anlagen begegnen wir diesen
Wettbewerbern nicht. Das wundert uns allerdings
auch nicht. Denn wir sowie die anderen
europäischen Hersteller haben zehn
und mehr Jahre Erfahrungsvorsprung in diesem
hoch komplizierten Metier. Das ist mit
Onshore-Projekten oder gar mit Fotovoltaikparks
überhaupt nicht vergleichbar. n
mario.brueck@wiwo.de
WirtschaftsWoche 15.9.2014 Nr. 38 59
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Unternehmen&Märkte
Der gute Deutsche
TRIMET | Heinz Peter Schlüter, Deutschlands führender Aluminiumproduzent, will mit Sozialpartnerschaft
eine französische Hütte retten. Beißen die Arbeiter an? Ein nicht gerade alltäglicher Ortstermin.
Rockender Patron
Trimet-Eigentümer Schlüter
(rechts) und Frankreichs neuer
Wirtschaftsminister Macron (Mitte)
beim Tag der offenen Tür in Saint-
Jean-de-Maurienne in Savoyen
Ein bisschen aufgeregt ist Heinz Peter
Schlüter schon, als er mit seiner hellblauen
Gibson Les Paul auf die Bühne
tritt. Nur wenige Stunden hatten er und
seine sechs Mitmusiker Zeit gehabt, um ihre
ganz eigene Version des französischen
Chansons „Les Champs-Élysées“ von Joe
Dassin einzustudieren. Und jetzt steht im
Festzelt sogar Emanuele Macron vor ihnen,
der neue Wirtschaftsminister von
Frankreich, der noch keine zwei Wochen
im Amt ist.
Der Schlagzeuger gibt vier Schläge vor,
Schlüter greift in die Saiten seiner E-Gitarre
und singt auf Französisch los: „Wir hab’n
gesucht, wir hatten’s dann, und haben
auch verhandelt lang, um im Dezember ja
zu sag’n – und uns zu vermähl’n.“
Und tatsächlich, es passiert. Das Publikum
stimmt ein, der Minister, 36 Jahre
jung, mehr smarter Ex-Investmentbanker
denn Arbeiterführer, lächelt, klatscht im
Takt und singt in seiner Sprache den
Refrain: „ Auf Saint-Jean-de-Maurienne,
»Rauch, viel
Rauch, aber das
Fest hier, sehr
angenehm«
CGT-Gewerkschafter Freddy Bozon
auf Saint-Jean-de-Maurienne! Bei Sonne,
bei Regen, ob Mittag, ob Nacht, wir produzier’n
Aluminium, in Saint-Jean-de-
Maurienne.“
Besser hätte das Entree nicht ausfallen
können, das Schlüter mit Dassins Ohrwurm
und seiner Band Die Düsselfööss
aus der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt
gelang: hier, im 8000-Einwohner-Dorf
Saint-Jean-de-Maurienne im
französischen Alpen-Department Savoyen,
ganz in der Nähe des Fréjus-Tunnels,
der berühmten Alpen-Etappen der Tour de
France und der Skipisten von Trois Vallées.
Der 64-jährige Hobbyrocker ist Eigentümer
der Essener Trimet SE und Deutschlands
führender Aluminiumproduzent mit
Werken in Gelsenkirchen, Hamburg, Essen
FOTO: ACTION PRESS/ABACA PRESS
60 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
sowie an den beiden ostdeutschen Standorten
Harzgerode und Sömmerda. Sie alle
hat Schlüter in den vergangenen 20 Jahren
übernommen und dadurch mehr oder
weniger vor der Schließung bewahrt.
Die Hütte in Savoyen, die der leutselige,
graumelierte Mittsechziger soeben in seinem
Lied besang, ist sein jüngster Coup in
dieser Reihe. Der 107 Jahre alte Standort
hatte früher zum französischen Alu-Riesen
Pechiney gehört und war vor gut einem
Jahr vom bisherigen Eigentümer, dem britisch-australischen
Rohstoffkonzern Rio-
Tinto-Alcan, zum Verkauf oder zur Schließung
gestellt.
FÜR FRANKREICH UNGEWÖHNLICH
Der staatliche französische Stromkonzern
EdF erwarb im Dezember vergangenes
Jahres 35 Prozent und Schlüter 65 Prozent,
weil ihm die Aluminiumdrähte, wie sie in
Saint-Jean-de-Maurienne
produziert werden, in
seiner Produktpalette
Frankreich
fehlten.
Und dann, gut ein
Dreivierteljahr später,
das: Schlüter, Herr über
1,3 Milliarden Euro
Umsatz und rund Saint-Jean-de-Maurienne
2800 Mitarbeiter, lädt
Gattin Karin sowie 47 Mitarbeiter, L’Alpe d’Huez
Manager und Geschäftsfreunde in
eine von Trimet gecharterte Embraer und
jettet mit ihnen von Düsseldorf nach Savoyen.
Einziger Tagesordnungspunkt: Teilnahme
am Tag der offenen Tür in Saint-
Jean-de-Maurienne. „Uns ist es wichtig,
den Familien der Mitarbeiter und den
Menschen in der Region die Fabrik zu zeigen,
Vertrauen zu schaffen und die
deutsch-französische Zusammenarbeit zu
stärken“, erklärt er fast staatsmännisch die
Reise der Großgruppe. „In Frankreich ist es
eher ungewöhnlich, dass ein Unternehmer
so etwas macht.“
Ein Tag der offenen Tür in einem französischen
Bergdorf in Anwesenheit des rockenden
Eigentümers, dazu vier Dutzend
Deutsche und der frisch gekürte sozialistischen
Wirtschaftsminister, der kurzfristig
von Paris in die Provinz jettet, mit 25 französische
Journalisten als Entourage: Dahinter
steckt mehr als ein Tête-à-Tête mit
Malochern bei sommerlichen 28 Grad unter
stahlblauem Berghimmel.
Der erste Samstag dieses Septembers,
das spürt heute jeder hier in Saint-Jean-de-
Maurienne, der soll nicht nur in die Geschichte
der Trimet SE und des Alpendorfs
in Savoyen eingehen. Von dem Massenauflauf
soll zugleich ein weithin sichtbares
Zeichen ausgehen für den Versuch eines
Unternehmers von der anderen Seite des
Rheins, im wirtschaftlich waidwunden
Frankreich die deutsche Sozialpartnerschaft
einzuführen – und dem Land vielleicht
so aus den ständigen Streiks, Blockaden
und dem Niedergang zu helfen.
Doch glauben die rund 550 Mitarbeiter
das dem Minister und ihrem neuen Eigentümer?
Verschafft der heutige Tag ihnen
das Vertrauen in Schlüter, dass er sie in eine
gute Zukunft führt, statt ihnen in erster
Linie die Löhne zu drücken?
Freddy Bozon, 44, Jeans, kurzärmliges
Hemd, kleiner Bauch, ist zuständig für Arbeitssicherheit
bei Trimet France und Vertreter
der einst kommunistischen Gewerkschaft
CGT, die 2006 mit Streiks die damals
bürgerliche Regierung zur Rücknahme von
Einschnitten beim Kün-
Department Savoyen
Trois Vallées
Fréjus-
Tunnel
digungsschutz zwang.
„Rauch, viel Rauch“, sagt
er über Schlüters Auftritt.
„Aber das Fest hier, sehr
angenehm.“
Man müsse abwarten,
sagt dagegen
Josef Spinelli,
57, die Augen müde
von zwölf Jahren
in der Schmelze
abwechselnd frühmorgens, nachmittags
und nachts. „Ich hoffe, dass wir künftig
gleich viel Geld verdienen wie heute, nicht
weniger“, meint er. Ob Schlüter es ehrlich
meint, wisse er nicht. „Man muss abwarten.“
Klar, sagt er, „natürlich hatte ich Angst,
dass das Werk geschlossen wird“. Insofern
sei Schlüter für ihn erst mal ein „Retter“.
BRATWURST UND ORCHIDEEN
Um Skeptiker wie CGT-Vertreter Bozon
und Wohlwollende wie Schichtarbeiter
Spinelli auf seine Seite zu kriegen, wuchert
der Chef-Gast aus Deutschland an diesem
Samstag nur so mit Symbolik. „In Deutschland
ist der Unternehmer viel weniger
bourgeois als in Frankreich“, meint ein Arbeiter
mit Blick auf das ungewohnte Sozialpartnerschaftsfeuerwerk,
das Schlüter vor
seinen Augen abbrennt.
Gleich hinterm Fabriktor von Trimet
France läuft von Vormittag bis in den frühen
Abend deutsches Freibier. Dazu hat Schlüter
die Brauerei Dampfe aus Essen angemietet,
die mit einem roten Magirus-Deutz-
Feuerwehrauto Baujahr 1965 und massig
Bier aus dem Ruhrgebiet anreiste.
WirtschaftsWoche 15.9.2014 Nr. 38 61
»
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Unternehmen&Märkte
»
Die Sonne brennt. „Arndt“, wie sich der
Zapfmeister auf einem Anstecker nennt,
trägt einen grauen Filzhut mit weißblauer
Kordel und einen Kinnbart, den er zu einem
Zopf geflochten hat. Er und seine Helfer
kommen kaum nach, genügend „Bierre
blonde“ oder „Bierre brune“ auszuschenken.
Nebenan brutzeln deutsche Köche,
ebenfalls für umsonst, riesige Bratwurstringe,
dünsten Sauerkraut und frittieren
Reibekuchen. „J’aime l’ambiance allemande“,
sagt ein Franzose an einem der Bierzelttische
mit rot-weiß karierter Tischdecke,
Stoffläufer und Edelweißstickerei. „Ich
mag die deutsche Atmosphäre.“
Für seine Landsleute, denen solche Nähe
zu deutscher Gemütlichkeit und deftiger
Küche fehlt, gibt es wenige Schritte weiter
das französische Pendant zur Bier- und
Bratstation aus Essen: ein riesiges Festzelt
mit weiß gedeckten Tischen, blauen Läufern
sowie Bouquets aus Blattgrün, weißen
Rosen und weißen Orchideen. Auch hier ist
alles „gratuit“, kostenlos. Die Schlangen vor
Pâté, Salade und Émincé, sprich: vor Pasteten,
Salat und Geschnetzeltem, reißen nicht
ab, bis, wie es sich in Frankreich gehört,
Käse und Dessert aufgefahren werden.
NAGELPROBE IN EINIGEN WOCHEN
Das ganz große Zeichen für die künftige
Sozialpartnerschaft, die er sich in seinem
neuen Werk wünscht, hat Schlüter allerdings
am Morgen, gleich nach seiner Ankunft,
gesetzt. Denn der Anlass für die ganze,
vermutlich rund 100000 Euro teure
Sause ist eigentlich die Wieder-Inbetriebnahme
einer Schmelzlinie, für deren Modernisierung
Schlüter und EdF 100 Millionen
Euro lockermachten.
Ein Bildschirm zeigt 11 Uhr, 26 Minuten
und 5 Sekunden, dazu 150 Mega-Ampere
Strom, der gerade durch die Anlage fließt.
Schlüter, Wirtschaftsminister Macron und
ein Direktor von EdF haben sich um einen
roten Knopf gereiht. Schlüter legt die Hand
auf den Knopf, darüber Macron und dann
der EdF-Manager die seine.
Ein gemeinsamer Druck, binnen 55 Sekunden
schießt die Stromstärke auf 184000
Ampere, das 2800-Fache des Stroms, den
eine durchschnittliche Wohnung maximal
absaugt. Es hat geklappt, die neue Schmelze
funktioniert. Sozialist Macron zieht
schnell einen Arbeiter mit CGT-Aufkleber
auf dem Helm an sich heran. Kameras
halten den Moment fest, voilà.
„Links sein heißt für mich im Endeffekt,
effizient zu sein, die Bedingungen für
Investitionen, Produktion und Innovation
Biertische und Edelweißstickerei Deutsche
Kultur bei Trimet in Frankreich
zu schaffen“, wird Macron später im
Festzelt zu den Arbeitern und Gewerkschaftern
sagen. „Links sein heißt, verantwortlich
zu sein, nicht eine Haltung einzunehmen,
sondern zu versuchen, die Dinge
zu verändern.“
Was das für Trimet France heißt, ist heute
offiziell kein Thema in Saint-Jean-de-
Maurienne, wird aber in den kommenden
Wochen zur Nagelprobe für Schlüter. Denn
seit Kurzem laufen Verhandlungen der
Werksleitung mit den Arbeitnehmervertretern,
unter anderem über flexible Arbeitszeiten
wie in Deutschland und um die
Fortexistenz der 35-Stunden-Woche. Die
gilt seit 2000 in Frankreich als Prestigeprojekt
der Sozialisten unter ihrem damaligen
Ministerpräsidenten Lionel Jospin.
„Wir haben verstanden, dass wir produktiver
werden müssen“, sagt zwischen
Hauptgang und Nachspeise Yves Largeron,
47, ein Vertreter der gemäßigten Gewerkschaft
CFDT, der an den Verhandlungen
beteiligt ist. Mehr will er nicht verraten. Um
auszuloten, was er der Werksleitung im
Falle von Zugeständnissen etwa bei der Arbeitszeit
abringen kann, berät sich der
Franzose mit Trimet-Betriebsrat Thomas
Flesch in Essen. Der sitzt nicht nur für die
»Wir haben
verstanden, dass
wir produktiver
werden müssen«
CFDT-Gewerkschafter Yves Largeron
Gewerkschaft IGBCE im Trimet-Aufsichtsrat,
sondern zählt auch zu den Teilnehmern
eines „sozialpartnerschaftlichen
Branchendialogs“, den der Gesamtverband
der Aluminiumindustrie in Deutschland
pflegt – mit Schlüter an der Spitze.
Über so etwas spricht heute aber niemand
bei Trimet in Savoyen. CGT-Verteter
Bozon, der in Schlüters Aufritt „viel Rauch“
sah und dessen kampffreudige Gewerkschaft
die Mehrheit der Beschäftigten
hinter sich hat, geht mit der Erkenntnis
nach Hause: „Es war nicht der Patron,
der hier sang.“
Schlüter selbst sitzt im Festzelt mit den
weiß gedeckten Tischen und den Blumengebinden,
steckt sich eine Zigarre an und
trinkt vor Freude noch ein Bier. Für ihn war
der Tag ein „toller Erfolg“. Obwohl schon 16
Uhr, reihen sich noch immer Menschen in
eine Schlange, die sich einen Arbeitskittel
anziehen und Helm und Schutzbrille aufsetzen,
um das Werk zu besichtigen.
ZARTE ZEICHEN DER ANNÄHERUNG
Auf den Tischen vor Schlüter, wo zur Mittagszeit
nur Wein stand, haben sich zu den
bauchigen Pokalen auch leere Biergläser
gesellt. Ein zartes Zeichen für deutschfranzösische
Annäherung? Schlüter und
seine mitgereisten Manager aus Deutschland
jedenfalls sind sicher, dass sich die
Mitarbeiter in Saint-Jean-de-Maurienne
heute von ihnen nicht eingelullt, sondern
ernst genommen fühlten.
Wieso sollte einer wie er sonst das Werk
übernommen, an die 50 Leute zusätzlich
eingestellt und einen dicken zweistelligen
Millionenbetrag in eine neue Schmelzlinie
investiert haben? Es ist ja auch der französische
Staat über den Stromkonzern EdF
mit von der Partie, der in der Gegend Wasserkraftwerke
mit einer Gesamtleistung
von fast drei Atomkraftwerken betreibt und
mit Schlüter für die stromfressenden Anlagen
einen atmenden, vom Aluminiumpreis
abhängigen Tarif vereinbart hat.
Zum Schluss geht der Patron noch einmal
auf die Bühne, um ein Abschiedsständchen
zu bringen, diesmal auf Kölsch
mit ein wenig Englisch, auch wenn wohl
die allermeisten Franzosen dazu wippen,
ohne den Text zu verstehen. „Bye-bye my
love, mach et jot, bes zom nächste Mol“,
singt Schlüter und greift wieder in die Saiten
seiner hellblauen Gibson Les Paul. „Ich
weed dich nie, niemols verjesse, denn die
Naach met dir wor schön, bye-bye my love,
auf Wiedersehn.“
n
reinhold.boehmer@wiwo.de
FOTO: TRIMET/MARCEL PASCHERTZ
62 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Ein Ziel, fünf Gesichter
ALIBABA | Jack Ma, der Gründer des chinesischen E-Commerce-Giganten und Börsenkandidaten,
ist eine der schillerndsten Unternehmerpersönlichkeiten weltweit.
Mal mit Weißhaarperücke, mal als
Krokodil, mal Antreiber, mal
Möchte-gern-General: Wer ist dieser
Jack Ma, jene 49-jährige, drahtige Gestalt,
die voraussichtlich am 19. September
mit ihrem Unternehmen, dem chinesischen
E-Commerce-Konzern Alibaba, den
größten Börsengang aller Zeiten aufs Parkett
legen will? Ein Psychogramm der fünf
Charaktere.
I. DER EXZENTRIKER
Ma besitzt die Fähigkeit, sich Menschen
auf unkonventionelle Art sympathisch zu
machen. China Ende der Achtzigerjahre,
das rückständige „Königreich der blauen
Ameisen“ hat sich gerade der Welt geöffnet,
da verfällt der junge Ma auf eine ausgefallene
Idee. Er spricht in der ostchinesischen
Stadt Hangzhou ausländische
Touristen an, um ihnen den nahe gelegenen
berühmten Westsee zu zeigen. Geld
will er dafür keines, nur sein Englisch
verbessern und in Kontakt mit Westlern
kommen. Die schätzen seine offene, ein
bisschen durchgeknallte Art.
Die behält Ma auch bei, nachdem er im
dritten Versuch die Abschlussprüfung in
Englisch am Hangzhou Teacher’s Institute
bestanden und sich zunächst als Englisch-
Lehrer für 20 Dollar im Monat verdingt hatte.
Als er 2009 das zehnjährige Bestehen
von Alibaba feiert, tritt er mit einer Weißhaarperücke,
Sonnenbrille und rot geschminkten
Lippen als Marilyn-Monroe-
Double auf die Bühne. Er singt „Can You
Feel the Love Tonight“ aus dem Film „König
der Löwen“. Das Publikum tobt.
Sein exzentrisches Showtalent führt Ma
auf seine Eltern zurück. Die arbeiteten als
Künstler für klassische chinesische Musicals,
den „Pingtan“. Bei Alibaba nutzt er
sein Faible, um Mitarbeiter zu motivieren.
So forderte er 2003 Manager während einer
Sitzung auf, einen Kopfstand zu machen,
um „eine andere Perspektive zu bekommen“.
Einer wandte ein, er habe noch nie
einen Kopfstand gemacht. Als er es schaffte,
klopfte Ma ihm auf die Schulter und sagte:
„Du bist zu Sachen fähig, von denen du
gar nichts weißt.“
Der Amerikaner Porter Erisman stieß
2000 zu Alibaba und war dort bis 2008 stellvertretender
Konzernchef. Im vergangenen
Jahr drehte er einen Film über Ma mit
dem Titel „Das Krokodil im Yangtse“. „Alibabas
Management hatte nie eine Starbesetzung“,
sagt Erisman. „Aber durch seine
herausragende Fähigkeit, Menschen zu
motivieren, gelang es Jack Ma, ein Team
zusammenzuschweißen, das gewaltige
Hindernisse überwinden konnte.“
FOTO: ULLSTEIN BILD
Kung Fu Fighting
Alibaba-Gründer Ma
bei einem seiner
publikumswirksamen
Auftritte
II. DER VISIONÄR
„Jack ist nicht primär von der Aussicht auf
Geld getrieben“, sagt Biograf Erisman über
Ma. „Er hatte von Anfang an eine Vision,
die er schließlich wahr werden ließ.“
Das kam so: 1995 bringt der Job Ma als
Übersetzer in die USA. Dort sieht er zum
ersten Mal einen Computer mit Internet-
Zugang. Er tippt das Wort „Beer“ in die
Suchleiste und erhält Tausende Treffer.
Dann tippt er „Beer“ und „China“ ein
»
WirtschaftsWoche 15.9.2014 Nr. 38 63
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Unternehmen&Märkte
»
und erhält null Treffer. In diesem Moment
nimmt sich Ma vor, das Internet in
seiner Heimat groß zu machen. Er kehrt
nach China zurück und gründet mit 2000
geliehenen US-Dollar China Pages, eine
Art Online-Katalog für chinesische Unternehmen.
Zur Premiere lädt Ma Freunde zu
sich nach Hause ein. Während es dreieinhalb
Stunden dauert, bis die Seite geladen
ist, trinkt die Runde Bier und spielt Karten.
China Pages scheitert, doch Ma gibt
nicht auf und leiht sich 1999 abermals Geld
von Freunden, insgesamt 60 000 US-Dollar.
Damit gründet er Alibaba. China hat zu
dieser Zeit gerade einmal drei Millionen
Internet-User, trotzdem hat Ma nur ein
Ziel: „Alibaba soll sich mit den größten Internet-Unternehmen
der Welt messen.“
Heute ist China Weltmeister mit rund
650 Millionen Internet-Nutzern. Ma hat
mit seiner Online-Plattform Taobao, einer
Mischung aus Ebay und Amazon, den Alltag
seiner Landsleute revolutioniert. Seit
Taobao kann jeder in China ein eigenes
Geschäft eröffnen, und auch Konsumenten
in der abgelegenen Provinz kommen
an Produkte, die sie wollen.
III. DER KRIEGER
Kaum etwas sagt über Mas Persönlichkeit
so viel aus wie sein Eingeständnis: „Ich habe
mir immer gewünscht, in Zeiten des
Krieges geboren zu sein. Was hätte ich als
General erreichen können!“
Denn Angriff und Aggressivität gehören
zu dem Charakter des Chinesen wie der
Klick zum Internet. Als Ebay 2003 im Reich
der Mitte einen Marktanteil von 85 Prozent
besaß, erklärte Ma dem US-Giganten einfach
den Guerillakrieg. Dazu wies er seine
Manager an, den Revolutionär Mao Tsetung
zu studieren und in Militäruniformen
zu joggen. „Heute ist dunkel, morgen ist
noch dunkler, doch übermorgen scheint
die Sonne“, ließ er sie wissen. „Die meisten
sterben am Abend des zweiten Tages!“
Mit chinesischem Wimmeldesign und
einer Chat-Möglichkeit, um mit Kunden
und Verkäufern zu reden, macht Ma seinen
Online-Marktplatz zur digitalen Vernich-
Alias Marylin Monroe Alibaba-Gründer Ma
auf einer Konzernparty
tungswaffe für Ebay. 2005 hat er bereits 60
Prozent Marktanteil. In dieser Zeit spricht
er auch die heute berühmten Worte: „Ebay
ist ein Hai im Ozean, wir sind ein Krokodil
im Yangtse. Wenn wir im Ozean kämpfen,
verlieren wir, im Fluss aber sind wir die Gewinner!“
Im darauffolgenden Jahr räumt
Ebay die Niederlage ein und zieht sich 2007
fast vollständig aus China zurück.
IV. DER UNERBITTLICHE
Ma kennt keine Gnade, kein Einsehen, keine
Geduld. Als er das Flaggschiff des Unternehmens,
das Online-Portal Taobao, entwickelte,
verordnete er seinen Mitarbeitern
strikte Isolation und Hingabe. Seine Ali-
Ren, wie die Alibaba-Mitarbeiter heißen,
dürfen ein halbes Jahr keine Presse lesen,
Zum Arbeiten pfercht Ma sie in seiner eigenen
Wohnung ein. Unerbittlich kämpft Ma,
bis er seinen anfangs übermächtigen Konkurrenten
Ebay vom Markt gedrängt hat.
Zurzeit heißt Mas Hauptgegner Tencent.
Der größte Internet-Konzern Asiens ist 135
Milliarden Dollar schwer und macht Alibaba
an mehreren Fronten zu schaffen: Der
beliebte Messaging-Dienst WeChat (vergleichbar
mit dem westlichen WhatsApp)
wird von 300 Millionen Chinesen genutzt.
Dagegen hat Ma seine Eigenkreation Laiwang
in Stellung gebracht. Er hat seine Mitarbeiter
aufgefordert, auf Laiwang umzusteigen.
Würden sie das Produkt nicht ausreichend
bewerben, drohte er, werde er ihnen
den Jahresbonus streichen.
Mas Rigorosität erstreckt sich bis ins
Privatleben. Ende der Neunzigerjahre installierte
er seine Frau Zhang Ying, mit der
er seit den Achtzigern verheiratet ist, als
General Manager von Alibaba. Den 1992
geborenen Sohn sah das Paar darauf hin
nur am Wochenende. Als der Zehnjährige
später süchtig nach Online-Games wurde,
wies Ma seine Frau an, sich nur noch um die
Familie zu kümmern. Sie tut, was er sagt.
Auch politisch kennt Ma kein Pardon.
Ende der Neunziger arbeitete er selbst zwei
Jahre lang für die Regierung. Als ein Journalist
eingesperrt wurde, weil der Alibaba-
Investor Yahoo Informationen an die Öffentlichkeit
weitergegeben hatte, fragte ihn
eine Reporterin, wie er sich verhalten hätte:
„Genau so!“, platzte es aus Ma heraus.
„Wer Geschäfte machen will, muss sich an
die Gesetzes des Landes halten!“
V. DER MENSCHENFREUND
Seiner Sozialisation hat Ma es zu verdanken,
dass er jetzt danach lechzt, seinen
Landsleuten Gutes zu tun. Der Endvierziger
gehört zur ersten Generation großer
chinesischer Unternehmer wie Yang Yuanqing
von Lenovo oder Pony Ma von Tencent,
die ihre Kindheit in bitterer Armut
verbrachten.
Als Ma im Mai 2013 seinen Rücktritt vom
Chefposten bei Alibaba bekannt gab, um an
die Aufsichtsratsspitze zu rücken, erklärte
er, seinem Land etwas zurückgeben zu wollen.
Seitdem macht er auf Menschenfreund.
So hat Ma mit über drei Milliarden
US-Dollar, zwei Prozent des Firmenvermögens,
dieses Jahr einen Fonds für wohltätige
Projekte gegründet, der kulturelle, soziale
und umweltfreundliche Projekte fördert.
Zudem ist Ma Vorsitzender des chinesischen
Arms der Organisation The Nature
Conservancy, die sich um die verschmutzten
Böden und Gewässer durch das unkontrollierte
Wirtschaftswachstum kümmert.
„In China werden in den nächsten 10
oder 20 Jahren viele Leute Krankheiten wie
Krebs bekommen, weil Wasser, Luft und
Lebensmittel verschmutzt sind“, sagt er. n
philipp.mattheis@wiwo.de | Shanghai
50 JAHRE JACK MA
1964
Geboren im
ostchinesischen
Hangzhou
Erster
Kontakt mit
einem Computer
mit
Internet-
Anschluss
1995
1995
Gründung
des Online-
Katalogs
China Pages
Gründung
der Internet-
Firma
Alibaba
1999
2003
Gründung der
E-Commerce-
Plattform Taobao
und des
Online-Bezahldienstes
Alipay
Yahoo steigt
mit einer
Milliarde
Dollar bei
Alibaba ein
2005
2007
Ebay kapituliert
vor
Taobao und
zieht sich
aus China
zurück
Rücktritt als
Alibaba-Chef
und Wechsel
an die Aufsichtsratsspitze
2013
2014
Börsengang
von Alibaba
FOTO: REUTERS/STEVEN CHI
64 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
AKTIE
Märchenkurse
Angesichts der Risiken sind die
Alibaba-Anteilsscheine zu teuer.
Voraussichtlich werden die Aktien des
chinesischen Internet-Händlers Alibaba
am 19. September zum ersten Mal an der
New Yorker Börse gehandelt. Angeboten
werden sie amerikanischen Investoren in
den Tagen davor zu Kursen zwischen 60
und 66 Dollar. Bei bis zu 368 Millionen
Aktien wären 24,3 Milliarden Dollar Emissionserlös
möglich. Das wäre der größte
Börsengang aller Zeiten. Mit insgesamt
2457 Millionen einzelnen Aktien käme
Alibaba auf einen Börsenwert von 162
Milliarden Dollar. Auf einen Schlag hätte
Alibaba an der Börse mit der bisherigen
Nummer eins der Branche gleichgezogen,
dem Online-Imperium Amazon.
Gemessen am amerikanischen Konkurrenten,
sind die neuen Alibaba-Aktien auf
den ersten Blick nicht einmal überbewer-
tet. Der vorläufige Kurs entspricht dem
25-Fachen des voraussichtlichen operativen
Gewinns vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen
(Ebitda) im laufenden Geschäftsjahr
(bis 31. März 2015) in Höhe von
6,5 Milliarden Dollar. Das ist just der gleiche
Preis wie für Amazon. Die Wachstumsrate
des operativen Gewinns wäre mit rund
50 Prozent ebenfalls vergleichbar. Beim Eigenkapital
(Alibaba 14 Milliarden, Amazon
10 Milliarden Dollar) und beim möglichen
Reingewinn des aktuellen Geschäftsjahres
(Alibaba 5,5, Amazon 1,2 Milliarden Dollar)
liegen die Chinesen sogar vorne.
LIEBER ABWARTEN
Dennoch gibt es Risiken. Sollte die Konjunktur
in China an Dynamik verlieren, dürfte das
auch die märchenhaft anmutenden Erwartungen
an das Wachstum des chinesischen
Online-Handels (plus 150 Prozent bis 2016)
dämpfen. Hinzu kommen formale Risiken.
Wer Alibaba-Aktien kauft, bekommt nur Anteile
einer auf den Cayman Inseln gegründeten
Unternehmenstochter, ohne klassische
Aktionärs- und Mitspracherechte.
Fazit: Für Normalanleger hier ist eine Alibaba-Zeichnung
kaum möglich. Deshalb
empfiehlt sich, abzuwarten, bis sich der
Kurs einpendelt. Ein günstiges Angebot
wäre die Aktie erst auf niedrigerem Niveau.
anton.riedl@wiwo.de
Börsenneuling im Check: Alibaba
Branche
Umsatz
2011/2012/2013/
2014/2015*
Nettogewinn
2011/2012/2013/
2014/2015*
Zeichnungsspanne
Wert der
angebotenen Aktien
Börsenwert
(Marktkapitalisierung)
Erstnotiz
ISIN
Risiko
Internet-Handel
1,77/3,13/5,49/
8,58/11,75 Mrd. Dollar
0,24/0,73/1,38/
3,83/ 5,66 Mrd. Dollar
60 bis 66 Dollar
bis zu 24,3 Mrd. Dollar
bis zu 162,2 Mrd. Dollar
19. September 2014
US01609W1027
hoch
* ab 2015 Schätzungen, Geschäftsjahr bis 31. März;
Quelle: Bloomberg, Unternehmen, eigene Recherche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Technik&Wissen
Waschtag für
König Kohle
ENERGIE | Stein- und Braunkohle sind die Stromlieferanten Nummer eins.
Wollen sie überleben, brauchen sie flexible, saubere und klimafreundliche
Kraftwerke. Doch sind die überhaupt bezahlbar?
Wo andere nur die Nase
rümpfen, gar Protestaktionen
starten, wenn es um
die Kohle geht, gerät Michael
Bong ins Schwärmen.
Der Landwirt in fünfter Generation
freut sich über seinen riesigen Nachbarn,
das Braunkohlekraftwerk Niederaußem.
Seine Felder und Gewächshäuser liegen
nur rund einen Kilometer von der Anlage
entfernt, der zweitgrößten Deutschlands.
Der Mann, Mitte 40, nennt das einen
„schönen Standortvorteil“. Denn er heizt
seine Tomaten im Gewächshaus und den
Rhabarber auf dem Feld mit warmem Wasser
aus dem Kraftwerk.
Auf seinen Feldern hier im Rheinland
westlich von Köln kann Bong so fünf Wochen
vor der Konkurrenz ernten, im Gewächshaus
das ganze Jahr über. Die Abwärme
bekommt er günstig vom Kraftwerkbetreiber
RWE und spart so schätzungsweise
mehrere Tausend Euro Heizkosten
pro Jahr. Ganz genau hat er das
noch nicht berechnet. Aber das Geschäft
läuft so gut, dass Bong expandieren will.
Demnächst kommt ein Spargelfeld dazu,
samt riesiger, kohlebetriebener „Fußbodenheizung“,
wie er sagt.
Die Pläne von RWE, ab 2017 Niederaußem
zu erweitern, kommen ihm da gerade
recht. Auch der Essener Konzern freut
sich über den Abnehmer der Wärme, die
sonst ungenutzt in die Atmosphäre entweichen
würde. Schließlich soll der neue Block
BoAplus „ein Vorzeigeprojekt“ für umweltund
klimaschonende Stromerzeugung
werden, verspricht der Energieversorger.
Aber Landwirt Bong und die RWE-Ingenieure
sind mit ihrer Begeisterung für die
Glatt halbieren
Damit sich die Erde nicht um mehr als zwei
Grad erwärmt, muss die weltweite Stromproduktion
aus Kohlekraftwerken stark sinken
Stromproduktion
2011
Stromproduktion
2035
12
50
20
27
%
%
20
20
41
10
* inkl. Abfallverbrennung und Wasserkraft; Quelle: IEA
Kohle
Serie
Fossile Energie
In den vergangenen
Wochen haben wir
untersucht, welche Zukunft
Erdgas (Ausgabe
27), Erdöl (Ausgabe
33) und Kohle als
Energieträger haben.
Erdgas und Öl
Atomkraft
Erneuerbare
Energie*
Kohle recht allein. Das 1,5 Milliarden
teure Projekt BoAplus, an
dessen Technologien der Konzern
seit Jahrzehnten forscht,
könnte zur Sackgasse für den
Versorger werden – denn kaum
ein fossiler Energieträger ist derzeit
umstrittener als die Kohle.
Das Kohlendioxid (CO 2 ) aus
den Kohlekraftwerken heizt das
Klima auf. Kein fossiler Energieträger
verursacht pro erzeugter
Kilowattstunde Strom mehr des
Treibhausgases. Soll sich die Erde
nicht um mehr als zwei Grad erwärmen,
müsste der Anteil der Kohle am Energiemix
drastisch sinken (siehe Grafik unten).
Zudem kreiden Umweltorganisationen der
Kohle allein in Deutschland Gesundheitsschäden
in Milliardenhöhe an.
Und sie verliert ihre wichtigsten
Fans: China, weltweit größter
Verbraucher des Rohstoffs, will
wegen der verheerenden Luftverschmutzung
durch Kohlekraftwerke
stärker auf Atomkraft
und Erneuerbare setzen. In den
USA geht in den nächsten Jahren
Prognosen zufolge ein Viertel
der Kraftwerke vom Netz, auch
weil US-Präsident Barack Obama
strenge Klimaschutzvorgaben
plant.
Derzeit erzeugt die Kohle rund 40 Prozent
des Stroms weltweit und ist damit die
Nummer eins in diesem Bereich – noch.
Der Analyst Elad Jelasko von der Ratingagentur
Standard & Poor’s aus London
fasste die Situation kürzlich so zusammen:
„König Kohle könnte bald seine Krone verlieren.“
Im Umkehrschluss bedeutet das:
Will sie eine Zukunft haben, muss sie sauber
werden. Doch geht das überhaupt?
Wer diese Frage beantworten will, muss
nach Niederaußem fahren. Dort sind die
Technologien für das Kohlekraftwerk der
Zukunft im Test, dort entscheidet sich, wie
sauber Kohle zu vertretbaren Kosten sein
kann und welchen Platz sie künftig im
Energiemix einnehmen wird.
WASCHEN, WASCHEN, WASCHEN
3000 Unterschriften gegen den Neubau in
Niederaußem haben Umweltschützer gesammelt.
Zudem wächst, um den Hunger
des Kraftwerks zu stillen, der Tagebau
Garzweiler II. 1600 Menschen müssen umsiedeln.
Bis zu 1000 Tonnen Braunkohle
würde allein BoAplus fressen – pro Stunde.
FOTO: MAURITIUS IMAGES/HANS-PETER MERTEN
66 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Gruppenbild mit Tagebau
Allein Garzweiler liefert täglich
Tausende Tonnen Braunkohle
für Kraftwerke wie Niederaußem
Trotz des massiven Eingriffs in die Natur
ist Reinhold Elsen überzeugt, dass an der
Stein- und Braunkohle „auch künftig kein
Weg vorbeiführt“. Der Ingenieur leitet die
Abteilung Forschung und Entwicklung für
konventionelle Stromerzeugung bei RWE.
Sein Argument: Kein anderer fossiler
Energieträger sei so wirtschaftlich und zuverlässig
zu beschaffen, gleichzeitig liefere
die Kohle Energie, wenn Wind und Sonne
ausfallen. Und das beim aktuellen Verbrauch
noch für die nächsten 200 Jahre.
Über Gedeih und Verderb der Kohlekraft
entscheidet nach Ansicht vieler Experten
eine Technologie, die Elsen und die RWE-
Ingenieure „die Waschanlage“ nennen. Sie
besteht aus zahllosen Rohren, die an der
Kraftwerkswand verschraubt sind. 40 Meter
hoch ragen sie an ihr empor wie eine
stahlgewordene Schlingpflanze. Die Anlage
wäscht aus den Abgasen 90 Prozent des
CO 2 heraus und soll die Kohle endlich klimafreundlich
machen. RWE betreibt sie
zusammen mit dem Chemieriesen BASF
und dem Anlagenbauer Linde seit 2009.
Nachdem der Rauch aus dem Kraftwerk
durch einen Staub- und Schwefelfilter geschickt
wurde, kommt er in das Röhrensystem.
In einem Behälter fließt der Rauch
durch eine wässrige Lösung. Darin enthalten
sind Amine, die normalerweise in
Waschmitteln, Schmier- und Farbstoffen
stecken. Sie ziehen das CO 2 aus dem
Rauch, binden es und transportieren es in
einen zweiten Behälter. Dort erwärmen
sich die Amine und geben das Kohlendioxid
wieder ab, das abgesaugt wird.
Bisher reicht die Kapazität der Waschmaschine
aber nur, um weniger als ein
Prozent der gesamten Rauchgase in
Niederaußem zu reinigen. Dass mehr drin
ist, davon sind die Entwickler überzeugt.
»
WirtschaftsWoche 15.9.2014 Nr. 38 67
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Technik&Wissen
»
BASF wirbt weltweit für das in der Anlage
verwendete Waschmittel. Ab 2016 soll es
in Japan in einer Raffinerie zum Einsatz
kommen.
Wie dringend ein flächendeckender Einsatz
der Technik wäre, zeigte erst vor wenigen
Wochen eine Hochrechnung von US-
Forschern. Alle derzeit aktiven Kohlekraftwerke
stoßen demnach innerhalb ihrer
noch verbleibenden Laufzeit rund 200 Milliarden
Tonnen CO 2 aus. Ändert sich daran
nichts, wird sich die Erderwärmung kaum
auf zwei Grad begrenzen lassen.
AB IN DEN UNTERGRUND
Prominente Klimaschützer wie Hans Joachim
Schellnhuber, Leiter des Potsdam-Instituts
für Klimafolgenforschung PIK, plädieren
deshalb schon lange dafür, stärker
auf die CO 2 -Abscheidung zu setzen. „Verzichten
wir auf sie, so wird es erheblich teurer,
einen gefährlichen Klimawandel zu
vermeiden“, warnt er.
Allerdings ist die Technik alles andere als
günstig. Und: Bisher weiß niemand, wohin
mit dem eingefangenen CO 2 .
Eine Möglichkeit wäre es, das Gas als
Rohstoff in der Industrie zu nutzen. Der
Chemiekonzern Bayer zum Beispiel will ab
2016 Vorprodukte von Schaumstoff aus
Kohlendioxid produzieren und so Erdöl
einsparen – die Klimabilanz des Verfahrens
ist exzellent. Nur verarbeitet die Bayer-Anlage
erst einmal nur rund 1000 Tonnen CO 2
pro Jahr. Allein in Niederaußem fallen im
selben Zeitraum 29 Millionen Tonnen an.
Auch weltweit ist das Potenzial begrenzt.
Selbst wenn die Chemieindustrie Erdöl
vollständig durch CO 2 als Ausgangsmaterial
ersetzte, könnte sie nur ein Prozent der
globalen Emissionen nutzen.
Deshalb bleibt den Unternehmen nichts
anderes übrig, als CO 2 in den Boden zu
pressen. Platz gäbe es genug. Deutschland
und seine größten Nachbarstaaten könnten
an Land und in der Nordsee 40 Jahre
lang ihre gesamten Emissionen aus Kraftwerken
und Industrie einlagern. Infrage
kämen Sandsteinschichten, die das Kohlendioxid
wie ein Schwamm aufsaugen,
oder leergepumpte Gasfelder. Das Verfahren,
CO 2 in Kraftwerken abzutrennen und
zu verpressen, nennt sich kurz CCS, Carbon
Capture and Storage.
Ein erstes Testprojekt des in Potsdam angesiedelten
Deutschen Geoforschungszentrums
verlief erfolgreich. Nahe der
Kleinstadt Ketzin/Havel westlich von Berlin
pumpten Forscher seit 2008 rund 67 000
Tonnen CO 2 unter die Erde. Bis heute ist
Künftig soll
der Klimakiller
zu Schaumstoff
werden
nichts davon entwichen, sagt Projektleiter
Axel Liebscher.
Die Gegner des Verfahrens überzeugt
das nicht. Sie fürchten, das Klimagas könne
Salzwasser an die Oberfläche drücken und
Grundwasser verunreinigen. Liebscher
hält die Vorsicht grundsätzlich für richtig.
„Aber wenn Geologen eine Lagerstätte vorher
gründlich auf Risse und Störungen untersuchen
und sie genau überwachen, sind
die Risiken beherrschbar“, versichert er.
Dennoch verhinderten Anwohnerproteste
ein weiteres Projekt in Sachsen-Anhalt
ebenso wie eines von Vattenfall in Brandenburg.
Das Unternehmen stellte daraufhin
im April alle Forschungen zur CO 2 -Abtrennung
in Deutschland ein.
Bleibt eine Alternative: Das Kohlendioxid
muss raus in die Nordsee, wo ohnehin mehr
als 70 Prozent der potenziellen CO 2 -Lager-
Raus auf das Meer Ausgediente Gasförderplattformen
in der Nordsee sollen
künftig CO 2 in den Untergrund pressen
stätten der Anrainerstaaten liegen. 2016 will
der Öl- und Gasmulti Shell dort das größte
CCS-Projekt Europas unter dem Namen Peterhead
starten. 100 Kilometer vor der Küste
Schottlands sollen pro Jahr eine Million
Tonnen CO 2 aus einem Gaskraftwerk eingelagert
werden. Mit einem neuen Kohlekraftwerk
in England Namens White Rose plant
der französische Technikkonzern Alstom
mit zwei Partnern Ähnliches. Die britische
Regierung will die Vorhaben mit 1,3 Milliarden
Euro unterstützen; die EU schießt bei
White Rose 300 Millionen zu. Dafür will
Alstom ein ganz neues Verfahren für die
Kohle entwickeln, das bei der Verbrennung
statt Luft sehr reinen Sauerstoff verwendet
und so hauptsächlich CO 2 und Wasser produziert
– eine teure Wäsche wie in Niederaußem
ist nicht mehr nötig.
ENDLICH EINE WEISSE WESTE?
All diese CCS-Verfahren sind derzeit noch
teuer – zu teuer, um je am Markt bestehen
zu können, urteilt jedenfalls der Industrie-
Ökonom Christian von Hirschhausen von
der Technischen Universität Berlin. Und
nennt das Verfahren bereits spöttisch den
„Transrapid der Energiewirtschaft“.
Derzeit kostet es zwischen 30 und 40 Euro,
um eine Tonne CO 2 in einem Kraftwerk
einzufangen. Allein bei RWE in Niederaußem
würde sich das auf mindestens 750
Millionen Euro pro Jahr summieren. Auf
die fünf Cent, die eine Kilowattstunde aus
einem neuen Braunkohlekraftwerk im
Schnitt kostet, kämen rund drei Cent hinzu,
plus Transport und Lagerung des CO 2 .
Strom aus Kohlekraftwerken würde damit
in etwa so viel kosten wie Energie aus Gaskraftwerken,
Wind- oder Solaranlagen.
Dennoch können sich klimafreundliche
Kohlekraftwerke lohnen. Das will jedenfalls
der kanadische Energieversorger Saskpower
ab Oktober mit dem ersten kommerziellen
CCS-Projekt weltweit beweisen.
Strengere Klimavorgaben zwangen das
Unternehmen, einen Block in seinem
Kraftwerk Boundary Dam nahe der Grenze
zur USA für 900 Millionen Euro nachzurüsten.
Nur einen Teil des CO 2 zweigen die Ingenieure
künftig ab, die Kohle zieht so in
der Klimabilanz mit Erdgas gleich. Zudem
verkauft Saskpower sein Kohlendioxid an
eine Ölförderfirma, die damit alte Felder
wieder zum Sprudeln bringt. In den USA
sind derzeit zwei ähnliche Projekte im Bau.
Aber selbst wenn CCS eines Tages wirtschaftlich
wird und sich CO 2 entsorgen
lässt: Umweltschützern und Anwohnern
der Kohlekraftwerke reicht eine weiße
»
FOTOS: PR
68 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Technik&Wissen
»
Klimaweste längst nicht. Denn auch
Schadstoffe wie Feinstaub, Quecksilber
und Stickoxide, die Kohlekraftwerke ausstoßen,
sorgen regelmäßig für Schlagzeilen.
Forscher der Universität Stuttgart haben
im Auftrag von Greenpeace ausgerechnet,
dass Feinstaub aus deutschen Kohlekraftwerken
pro Jahr zu 3100 vorzeitigen Todesfällen
führt. Eine Studie der Health and
Environment Alliance (Heal) sprach 2013
von Gesundheitskosten von 2,3 bis 6,4 Milliarden
Euro, die Schadstoffe aus Kohlekraftwerken
in Deutschland verursachen.
Heal ist ein europaweiter Zusammenschluss
von Nichtregierungsorganisationen.
Auch das Umweltbundesamt (UBA)
kreidet der Kohle erhebliche Gesundheitskosten
an.
DIE SACHE MIT DEM FEINSTAUB
Vertreter der Kohleindustrie halten naturgemäß
wenig von diesen Zahlen. Den Umweltschützern
gehe es nicht um eine „seriöse
Debatte, sondern vielmehr darum,
den Energieträger Kohle zu diskreditieren“,
glaubt der Verband der europäischen
Kraftwerksbetreiber VGB PowerTech.
Feinstaub ist ohne Frage schädlich. Insgesamt
fordert er 47 000 vorzeitige Todesfälle
im Jahr in Deutschland laut UBA. Die
meisten der winzigen Partikel, die sich in
der Lunge anreichern und in die Blutbahnen
gelangen können, kommen aber aus
Kampf dem Smog Datong in Nordchina gilt
als Kohlezentrum des Landes. In kaum einer
chinesischen Stadt ist die Luft schlechter
dem Auspuff von Autos. Nur rund sechs
Prozent der Staubbelastung geht auf die
Kohlekraft zurück. Wer Feinstaub bekämpfen
wolle, solle bei den Hauptverursachern
anfangen, fordern die Kraftwerksbetreiber.
Thomas Kuhlbusch, der sich seit Jahren
mit dem Thema beschäftigt und den Bereich
Luftreinhaltung am Institut für Energie-
und Umwelttechnik in Duisburg leitet,
hält die Ergebnisse der Greenpeace- und
Heal-Studie für eine „erste Näherung“. „Allerdings
fehlen bisher Daten, um bessere
und genauere Aussagen machen zu können,
welche Quellen von Luftschadstoffen
wie auf den Menschen wirken“, sagt er.
Hinzu kommt: Auch Schwefeldioxid und
Stickoxide aus Kraftwerken wandeln sich in
der Atmosphäre zu kleinsten Staubparti-
Kohlekraft wird
das Backup für
die erneuerbaren
Energien
keln um. Ein erheblicher Teil dieser Emissionen
stammt aus den deutschen Kohlemeilern.
Doch wie schädlich diese sekundären
Feinstaubpartikel sind, ist umstritten.
Ohnehin verweisen die Energiekonzerne
darauf, dass ihre Kraftwerke alle gesetzlich
vorgegebenen Grenzwerte einhalten.
SCHNELL WIE EIN GASKRAFTWERK
Das reiche aber nicht zum Schutz der Bevölkerung,
moniert das UBA seit Jahren
und fordert schärfere gesetzliche Vorgaben.
Technisch wären bessere Filter durchaus
möglich. Kosten würden sie die deutschen
Kraftwerksbetreiber laut einer UBA-
Studie rund 80 Millionen Euro pro Jahr.
Wird Kohlestrom durch zusätzliche Klima-
und Schadstoffvorschriften zu teuer?
RWE-Forschungschef Elsen meint Nein. Er
arbeitet daran, das Kraftwerk BoAplus mit
neuen Materialien so flexibel wie möglich
zu machen. Die Kohle sei „auch in Zukunft
das Backup für die erneuerbaren Energien“,
sagt er. Fallen Wind und Sonne aus,
soll BoAplus einspringen – und sich das gebührend
bezahlen lassen. 70 Prozent seiner
Leistung soll der Block in nur 30 Minuten
ans Netz bringen können – damit wäre
er so schnell wie ein Gaskraftwerk.
König Kohle, so scheint es, räumt freiwillig
den Thron. Ganz abtreten will er aber
noch nicht.
n
benjamin.reuter@wiwo.de
FOTOS: CORBIS/PAUL SOUDERS
70 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Technik&Wissen
Drohnen gegen Hasen
GARTEN | Unser Alltag wird immer vernetzter – und jetzt sind die Astern dran.
Die Herbstblüher funken künftig mit Sensorhilfe ans Handy, wann sie Wasser
brauchen. Mit einem Wisch übers Display startet der Gartenfreund dann
von der Terrasse aus die Sprinkleranlage, überwacht am Urlaubsort den Rasenroboter
und verscheucht via Bürorechner mit der Drohne gefräßige Hasen.
Ein Überblick über neueste Digitaltechnik fürs Privat-Biotop.
Drache speit Feuer
Dank Apps wie TopUnkraut
erkennt der Gartenfreund
lästiges Gewächs. Der
Weed Dragon flämmt es ab.
Preis: ca. 140 Euro
Mähen per SMS
Robo-Mäher von Husqvarna
senden Ihre Position per
SMS ans Handy und lassen
sich via App starten.
Preis: ab 2600 Euro
Cloud hilft gießen
Der Edyn Sensor kontrolliert
die Bodenqualität und
steuert die Sprinkleranlage.
Via Cloud kommuniziert
er mit dem Handy.
Preis: unter 100 Euro
Fernsteuerung fürs Grün
Apps wie die von Greenbox helfen,
Rasen und Pflanzen sowie
Garten-Gadgets zu überwachen.
Systempreis: rund 250 Euro
Durst unter Kontrolle
Der Verbrauchszähler von
Gardena hilft, den
Wasserfluss zu überwachen.
Preis: unter 20 Euro
72 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Lernfähiger Assistent
Iro bewässert Pflanzen,
gestützt auf Wetterdaten, und
passt sich dem Garten an.
Preis: ca. 190 Euro
Aufs Dach gestiegen
iRobot Looj übernimmt
den riskanten Job,
Dachrinnen auszufegen.
Preis: 299 Euro
Wächter im Sturzflug
Die Garden Gnome Drone
ist noch ein Prototyp, der
Hasen und Marder selbstständig
vertreiben soll.
Preis: noch unbekannt
Was Pflanzen wollen
Der Sensor EasyBloom
misst Feuchte und
Nährstoffe im Boden.
Preis: ca. 40 Euro
Tüchtiger Taucher
Der Roboter
TigerShark QC von
Hayward putzt autonom
im Swimmingpool.
Preis: rund 600 Euro
ILLUSTRATION: JAVIER ZARRACINA
WirtschaftsWoche 15.9.2014 Nr. 38 73
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Technik&Wissen
Smarte Zeiteisen
WEARABLES | Was leistet die gerade vorgestellte Apple Watch, und
wer muss sie fürchten?
Es war ein Zitat aus zweiter Hand, doch
es reichte, um den Alpenstaat zu alarmieren.
„Wenn wir unsere Uhr bringen,
kommt’s für die Schweiz richtig dicke“,
zitierte die „New York Times“ ein Gespräch
von Apple-Chefdesigner Jonathan Ive mit
Kollegen. Prompt unkte das Schweizer
Boulevardblatt „Blick“ vom Untergang der
eidgenössischen Uhrenbranche.
Vergangene Woche nun enthüllte der kalifornische
Konzern mit großem Brimborium
seine Apple Watch. Droht der Uhrenindustrie
jetzt tatsächlich das Ende? Gelingt es
Apple-Chef Tim Cook, aus dem Schatten
seines Vorgängers Steve Jobs zu treten, eine
völlig neue Produktkategorie zu schaffen
und zu dominieren – so wie Jobs 2007 mit
dem ersten iPhone?
Eins ist klar: Dieses Mal wird es deutlich
schwerer. Denn Apple leistet sich einen
Spätstart. Längst gibt es ansehnliche und
innovative Cyber-Uhren von Motorola,
Samsung und Co., mit denen der Besitzer
seine E-Mails checken, die Fitness überwachen
oder sich den Weg zum nächsten Termin
weisen lassen kann (siehe unten).
Sicher, die Kalifornier haben sich für ihre
Uhr, wie gewohnt, eine intuitive Bedienung
ausgedacht. So kann der Besitzer per Krone
am Gehäuse Apps ansteuern; verschiedene
Vibrationstypen melden bei der Navigation,
wann der Träger nach rechts oder
links abbiegen soll. Trotzdem enttäuschte
Cook die Fans bei aller Euphorie gleich
wieder: Das smarte Zeiteisen gibt es erst im
kommenden Jahr. Immerhin erspart das
potenziellen Käufern die Entscheidung, ob
sie ihr Weihnachtsgeld für das neue iPhone
6 oder die Uhr ausgeben sollen.
Die Smartwatch ist zudem wählerisch,
sie vermählt sich nur mit iPhones ab Generation
5. So wie umgekehrt die Konkurrenz-Produkte
der Android-Fraktion nur
mit Handys harmonieren, die mit der Goo-
FOTOS: PR
Uhren-Vergleich
Von futuristisch bis retro: Smartwatches gibt es mittlerweile für jeden Geschmack.
Apple Watch
Für Überzeugte
Wie üblich bei Apple-Produkten
spalten der hohe Preis und das ungewohnte
Bedienkonzept die Gemüter.
Die Form der in drei Ausführungen
und zwei Größen erhältlichen Uhr orientiert
sich an klassischen Vorbildern
und klaren Linien von Industriedesignern
wie dem Deutschen Dieter
Rams. Die Verarbeitung ist exzellent.
Plattform: iOS
Displaydiagonale: 4,5 bzw 5,0 cm
Auflösung: min. 220 Pixel pro Zoll
Technik: Pulssensor, wasserfest
Preis: ab 349 Euro
LG G Watch R
Für Tiefstapler
Der unerwartet schlank geratene
Zeitmesser der Koreaner imitiert
das Design traditioneller Sportuhren
fast perfekt. Der Betrachter muss
dank des knackscharfen, leuchtstarken,
von einer Lunette eingefassten
Displays sehr genau hinschauen,
um zu erkennen, dass Zeiger und
Ziffernblatt nicht echt sind.
Plattform: Android Wear
Displaydiagonale: 3,3 cm
Auflösung: 245 Pixel pro Zoll
Technik: opt. Pulssensor, wasserfest
Preis: unter 300 Euro
Samsung Gear S
Für Individualisten
Anders als alle Konkurrenzmodelle
funktioniert Samsungs Smartwatch
nicht nur als Handyanhängsel,
sondern – dank eines eingebauten
Mobilfunkmoduls – auch eigenständig.
Ihr großes Touch-Display
erleichtert die Bedienung, macht die
Gear S aber auch außergewöhnlich
schwer und klobig.
Plattform: Tizen
Displaydiagonale: 5,1 cm
Auflösung: k. A.
Technik: UMTS-Funk, GPS-Navigat.
Preis: noch unbekannt
74 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
gle-Software arbeiten. Es dürfte
eine Illusion bleiben, dass Uhren
des einen Lagers irgendwann
auch Smartphones aus der anderen
Welt verstehen. Apple war
durchaus schon offener. iPhones
und die iPod-Musikspieler lassen
sich auch heute noch mit
Windows-Rechnern verbinden.
Hintergrund
In unseren App-
Ausgaben lesen
Sie, wie die Apple
Watch zur Geldbörse
wird
GEFAHR FÜR FITNESS-TRACKER
Was aber bedeutet die Apple Watch für die
klassische Uhrenindustrie? Sie greift
schließlich mit der Kissenform des Gehäuses,
der Krone und dem – auf Wunsch – aus
Metallgliedern gefertigten Armband die
Formensprache historischer Luxusuhren
und aktueller Retromodelle auf. Trotzdem
dürfte sie allenfalls Herstellern in unteren
und mittleren Preislagen gefährlich werden.
Wer mit Uhren von 5000 bis
500 000 Euro liebäugelt, begeistert
sich für Mechanik, schätzt das
Prestige nobler Marken und hat –
das richtige Modell vorausgesetzt
– sogar eine Anlageform am Arm.
Gefährlicher wird es für die Fitness-Tracker.
Schließlich erledigt
die Apple Watch nahezu perfekt,
was auch Schrittzähler wie Jawbone, Fitbit
oder Garmin Vivofit leisten. Bei GPS-Sportuhren
sieht es anders aus. Denn ohne
iPhone zeichnet die iUhr keine Strecke auf.
Angemessen robust und wasserdicht sind
beide auch nicht. Und so wird kein Triathlet
den Ironman auf Hawaii mit einer Apple
Watch protokollieren – er wird höchstens
mit ihr am Arm nach Hause fahren. n
thomas.kuhn@wiwo.de, thorsten firlus,
matthias hohensee | silicon valley
Pebble
Für Pragmatiker
Die Pebble harmoniert als einziges
Modell im Vergleich mit Apple- und
Android-Handys. Tausende Apps lassen
sich nachladen. Das Display mit
elektronischer Tinte ist etwas pixelig,
aber extrem stromsparend. Das ermöglicht
bis zu eine Woche Laufzeit.
Die Konkurrenz muss nach maximal
zwei Tagen wieder an die Steckdose.
Plattform: Pebble OS
Displaydiagonale: 3,2 cm
Auflösung: 176 Pixel pro Zoll
Technik: wasserdicht, kein Touch
Preis: 150 Euro
Motorola Moto 360
Für Konservative
Motorolas Designer wollten keine
Computeruhr, sondern einen modernen
Zeitmesser schaffen. Mit der
kreisrunden Form und dem schwarzen
Antlitz, das an Movado-Uhren erinnert,
ist ihnen das gelungen. Nur ist
die Moto mit einer Dicke von 11 Millimetern
und einem Durchmesser von
42 Millimetern recht wuchtig geraten.
Plattform: Android Wear
Displaydiagonale: 4 cm
Auflösung: 205 Pixel pro Zoll
Technik: Pulssensor, Stahlgehäuse
Preis: 249 Euro
WirtschaftsWoche 15.9.2014 Nr. 38 75
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Management&Erfolg
Lukrative Quellen
GRÜNDER | Kapital für Start und Ausbau ihres Unternehmens ist für Gründer
in Deutschland schwer zu kriegen. Wie Start-ups die für jede Phase passende finanzielle
Förderung finden.
Blumen liebt sie, seit sie denken
kann. Und ihre Geschäftsidee
kommt an: Schnittblumen per
Mausklick bietet Franziska von
Hardenberg auf ihrer Internet-
Plattform Bloomy Days an. Tausende Kunden
haben bereits ein Abo abgeschlossen,
jeder zehnte Kunde gar zwei – genug Arbeit
und Umsatz für mittlerweile 19 Voll- und
60 Teilzeitkräfte, die in einer Lagerhalle in
Berlin die Blumen arrangieren und versenden.
Im kommenden Jahr will die Jungunternehmerin
mit ihrem Start-up erstmals
Gewinne erzielen.
Alles bestens und nach Plan, könnte
man meinen. Eigentlich.
Doch die Suche nach Kapitalgebern
war mühsam für von Hardenberg. Seit
Januar etwa wirbt die 30-Jährige bei Risikokapitalgebern
um einen Millionenbetrag,
um ihr weiteres Wachstum zu finanzieren.
Etwa 250 Mal hat sie in den vergangenen
Monaten ihre Geschichte erzählt, etwa 30
Mal ihre Geschäftsidee ausführlich präsentiert.
„Kapital einzusammeln, um das
Wachstum einer erfolgreichen Geschäftsidee
zu finanzieren, ist in Deutschland
schwierig“, sagt von Hardenberg, „weil
die Investoren zu zögerlich sind und es zu
wenige gibt, die in neue Geschäftsmodelle
investieren.“
Wie groß diese Lücke in Deutschland ist,
belegt der neue Deutsche Startup Monitor
(DSM) des Bundesverbands Deutsche
Startups und der Berliner Hochschule für
Wirtschaft und Recht: Mindestens 650 Millionen
Euro benötigen Deutschlands Jungunternehmer
in den kommenden zwölf
Monaten allein, um in Wachstum zu investieren.
Zum Vergleich: Laut dem Bera-
Aus eigener Kraft
Woher Start-ups ihr Kapital erhalten (in Prozent)
Eigene Ersparnisse
Familie und Freunde
Staatliche Fördermittel
Business Angels
Inst. Risikokapitalgeber
Inkubatoren
Bankdarlehen
Schwarmfinanzierung
82,5
87,3
32,7
30,7
29,1
25,5
28,2
16,8
21,4
8,4
10,9
12,1
10,2
5,0
4,1
3,1
Quelle: Deutscher Startup Monitor/Bundesverband
Deutsche Startups, 2014; Mehrfachnennungen möglich
Alle Start-ups
Start-ups
jünger als
zwölf Monate
tungsunternehmen FHP Private Equity
Consultants investierten Risikokapitalgeber
im vergangenen Jahr 411 Millionen
Euro. Zu wenig – und deutlich weniger als
etwa in den USA.
Viele Gründer stellt das vor Probleme.
Denn wer wachsen will, muss investieren –
in Mitarbeiter, Maschinen, Marketing. Laut
DSM fühlen sich 38 Prozent in ihren Expansionsplänen
aber ausgebremst –
Wachstumskapital scheint unerreichbar.
Bei den meisten Jungunternehmern
fehlt es schon zum Start an Unterstützern:
Acht von zehn Gründern sind aufs eigene
Ersparte angewiesen. Jeder dritte Gründer
besorgt sich das Geld zunächst bei den sogenannten
„3F“: Family, Friends and Fools
– bei Familie, Freunden und Verrückten.
Auch von Hardenberg blitzte in Finanzierungsgesprächen
anfangs immer wieder
ab: „Ich brauchte nur Blumen, Internet
und Abo sagen, da sind bei den Banken die
Alarmglocken angegangen“, erzählt die
30-Jährige. Ein Bankangestellter habe ihr
sogar empfohlen, doch einfach eine Currywurstbude
zu eröffnen – dafür hätte er
einen Kredit gewährt. Der Start als Unternehmerin
gelang letztlich nur, weil ihr
Vater ihr 25 000 Euro lieh.
STAAT GRÜNDET MIT
Dabei gibt es – ob in Gründungs- oder
Wachstumsphase – durchaus Alternativen
zum Griff in die Familienkasse: Vater Staat.
Die Palette der Förderangebote aus dem
Steuersäckel reicht von Zuschüssen über
Kredite bis hin zu Beteiligungen, wie sie
etwa der halbstaatliche High-Tech Gründerfonds
eingeht. Weit über 100 Millionen
Euro standen laut Subventionsbericht der
Bundesregierung im Jahr 2013 für die
Förderung von jungen, innovativen Unternehmen
zur Verfügung.
Doch zwei von drei Start-ups lassen die
Möglichkeit, sich vom Steuerzahler beim
Aufbau ihres Unternehmens finanziell unter
die Arme greifen zu lassen, ungenutzt –
das belegen sowohl der DSM als auch der
KfW Gründungsmonitor.
Das dürfte auch daran liegen, dass Gründer
den staatlichen Förderdschungel nur
schwer durchdringen. Das jedenfalls kann
Kumardev Chatterjee bestätigen. Der Präsident
des European Young Innovators
Forum will das ändern. Er reist derzeit
durch die Republik, um Gründern zu helfen,
das Förderprogramm Horizont 2020
anzuzapfen, mit dem die Europäische Union
Forschung und Innovation in den Internet-
und Kommunikationstechnologien
FOTO: PR
76 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
FRANZISKA V. HARDENBERG
Unternehmen Bloomy Days, Berlin
Mitarbeiter 19 Vollzeit und 60 Teilzeit
Branche Online-Handel
Finanzquellen Familie, Privatinvestoren,
institutionelle Risikokapitalgeber
fördert. Knapp 2,8 Milliarden Euro stehen
für kleine und mittelgroße Unternehmen
zur Verfügung – weder sind Zinsen fällig,
noch müssen Unternehmer Firmenanteile
abgeben. Dennoch: „Bisher war die Resonanz
auf das Programm eher gering“, sagt
Chatterjee, „dabei kann es die Start-up-
Szene enorm weiterbringen.“
Tim Pohlmann wurde auf der Suche
nach Kapital nicht in Brüssel, sondern in
Berlin fündig. Der promovierte Volkswirt
hat lange an der TU Berlin erforscht, wie
sich aus statistischen Daten Technologietrends
und Marktentwicklungen ableiten
lassen. Als er merkte, wie groß das Interesse
bei Unternehmen daran ist, kündigte er
2013 seine Stelle als Wissenschaftler und
gründete zusammen mit dem Informatiker
Dmitri Gerats selbst eines. IPlytics war
geboren. Ihre Geschäftsidee: Eine Online-
Plattform, auf der Unternehmen Millionen
von Patentdaten, Forschungsergebnisse
und Produktbeschreibungen durchsuchen
und auswerten können, um Technologien
der Zukunft zu identifizieren und ihre
Konkurrenten im Blick zu behalten.
Den Start sicherte der Staat: Exist, ein
Gründerstipendium des Bundeswirtschaftsministeriums,
finanzierte den Unternehmern
zwölf Monate lang ihren Lebensunterhalt
und unterstützte sie mit Coachings. Das
Stipendium sei zwar „etwas bürokratisch“,
sagt Pohlmann, „aber unverzichtbar“.
Die große Nachfrage von Konzernen wie
Siemens, Deutsche Telekom und Bosch
setzte die Gründer unter Wachstumsdruck:
Um eine GmbH zu gründen, Entwickler
einzustellen und die Plattform weiterzuentwickeln,
mussten sie Geld in die Hand
»
WirtschaftsWoche 15.9.2014 Nr. 38 77
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Management&Erfolg
Moehrings Tipp: „Du musst alle wissen
lassen, dass du gerade Kapitalgeber suchst
– das hilft.“
»
nehmen. „Uns war klar“, sagt Pohlmann,
„wir brauchten Business Angels.“
Also Privatinvestoren, die nicht nur mit
Kapital, sondern auch mit Know-how
weiterhelfen. Und bei gewichtigen Entscheidungen
gern ein Wörtchen mitreden.
Ihr Engagement lassen sie sich mit Unternehmensanteilen
bezahlen, um diese nach
einigen Jahren mit Gewinn zu versilbern.
GELD VOM DOKTORVATER
Den ersten dieser Geldgeber fanden die
Gründer in Pohlmanns Doktorvater. „Anfangs
war er skeptisch“, sagt Pohlmann.
Dann erzählten andere Gründer ihm vom
Wagniskapitalzuschuss namens Invest, mit
dem der Staat seit 2013 Business Angels ködern
will. Er erstattet ihnen 20 Prozent ihres
Investments, wenn sie sich an einem
jungen innovativen Unternehmen beteiligen.
Seit Mai 2013 hat das Bundeswirtschaftsministerium
nach eigenen Angaben
rund 9,2 Millionen Euro für mehr als 620
Beteiligungen bewilligt und damit über 45
Millionen Euro für Start-ups mobilisiert.
Ein kleiner Teil davon floss auch an Pohlmanns
Doktorvater, nachdem er sich mit
einem niedrigen fünfstelligen Betrag an
dem jungen Unternehmen beteiligt hatte.
„Der Zuschuss war ein Trumpf in den Gesprächen“,
sagt Pohlmann, „er hat uns geholfen,
leichter Geld einzusammeln.“
Jetzt suchen er und Gerats nach weiteren
Privatinvestoren: Auf der Internet-Seite des
Business Angels Netzwerks Deutschland
haben sie sich ins sogenannte Invest Verzeichnis
eingetragen, in der förderfähige
Start-ups gelistet sind. Prompt meldeten
sich zwei interessierte Geldgeber – in Kürze
steht das erste Gespräch an.
WANJA OBERHOF (2. VON RECHTS)
Unternehmen Niiu, Berlin
Mitarbeiter 25
Branche Medien
Finanzquellen Business Angels,
staatliche Fördermittel
Passende Business Angels zu finden fällt
vielen Gründern allerdings schwer – besonders,
wenn sie zum ersten Mal ein Start-up
aufbauen und keine Kontakte besitzen.
„Die Welt der Geldgeber ist intransparent
wie eine Blackbox“, sagt Philipp Moehring.
„Gründer können kaum erkennen, wer zu
ihrem Unternehmen passt.“
Um das zu ändern, wechselte der erfahrene
Risikokapital-Manager zu Jahresbeginn
ins europäische Büro von AngelList in Berlin.
Das US-Unternehmen bietet Gründern
die Möglichkeit, sich mit Geldgebern zu vernetzen
und Investments publik zu machen.
Weltweit haben sich auf AngelList rund
300 000 Unternehmen und mehr als 30 000
Investoren registriert – die meisten davon in
den USA. Jetzt will AngelList auch die hiesige
Investorenszene transparenter machen –
knapp 2000 Gründer und 600 Kapitalgeber
aus Deutschland haben sich mittlerweile
auf der digitalen Plattform angemeldet.
»Die Welt der
Geldgeber ist
intransparent wie
eine Blackbox«
GESAMTES ERBE RISKIERT
Wanja Oberhof musste das erst lernen. Er
gründete 2007 ein Unternehmen, das aus
verschiedenen Nachrichtenquellen individuelle
Zeitungen nach Leserwunsch generierte,
druckte und auslieferte. Sein Mitgründer
hatte sein Erbe, er selbst seine Ersparnisse
investiert. 2011 beendeten sie
das Projekt. „Uns wurde klar“, sagt Oberhof,
„dass wir unsere individualisierte Zeitung
als App für Tablet-PCs und Smartphones
anbieten müssen statt auf Papier.“
Also gründete er ein zweites Mal und entwickelte
mit dem Unternehmen Niiu eine
App, mit der Nutzer Inhalte aus vielen verschiedenen
Quellen lesen können – die
Lokalzeitung genauso wie die „New York
Times“. Wer für seine Wunschzeitung knapp
15 Euro pro Monat zahlt, kann sogar auf
Angebote hinter den Bezahlschranken der
Verlage zugreifen. Inzwischen haben mehr
als 1000 Nutzer die Bezahlversion gebucht,
das Start-up beschäftigt 25 Mitarbeiter.
Geholfen hat Oberhof beim zweiten Anlauf
vor allem, dass er frühzeitig Medienunternehmer
als Investoren gewann. In
diesem Sommer besorgte sich der Jungunternehmer
schließlich rund 900000 Euro
Forschungszuschuss und -darlehen von der
Investitionsbank Berlin. Auf das Förderprogramm
hatte ihn der Generalbevollmächtigte
der Bank am Rande einer Gründertagung
hingewiesen. Um mit Niiu auch international
wachsen zu können, will Oberhof bald
die nächsten Millionen einsammeln – bei
institutionellen Risikokapitalgebern.
So wie Gründerin von Hardenberg. Bald
nach der Starthilfe durch ihren Vater stellte
ihr ein Bekannter den Investor Christophe
Maire vor, der sich an ihrem Unternehmen
beteiligte. Kurz darauf sammelte sie über
die Crowdinvest-Plattform Seedmatch
rund 100 000 Euro von 167 Investoren ein.
Inzwischen ist auch die nächste Finanzierungsrunde
gesichert: Im August beschlossen
die Osnabrücker Intan Group
und Hardenbergs Alt-Investoren, sich mit
einem siebenstelligen Betrag an Bloomy
Days zu beteiligen. Genug Geld, um etwa
in TV-Werbung zu investieren. Und ein
Grund zum Feiern: Nach dem Notartermin
ließ von Hardenberg für die Mitarbeiter
zwei Flaschen Champagner springen. n
jens.toennesmann@wiwo.de
Lesen Sie weiter auf Seite 80 »
FOTO: PR
78 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Management&Erfolg
Hoffnungsfroh
Start-up qLearning
aus Berlin
Hosen
runter
NEUMACHER | In der zweiten
Runde des WirtschaftsWoche-
Gründerwettbewerbs werben
35 Start-ups um die Gunst von
Juroren und WirtschaftsWoche-
Lesern.
Von Adsquare bis Zertisa
Diese 35 Start-ups stellen sich unter wiwo.de/neumacherwahl dem Votum der Leser
Unternehmen
Adsquare
Ambiotex
AOM-Systems
Aquakin
Channel Pilot Solutions
Circus Internet
Fast Forward Imaging
FAZUA
FreshDetect
iGrow
KLANG:technologies
Little Postman
Lockbox
Mapegy
My Boo
NearBees
NFC21
Onears Germany
OPAL
Payever
PopUp Berlin
qLearning
Salonmeister
SCANOTEC GbR
Schadenengel
Scondoo
Secucloud
Shipcloud
Stuffle
SugarTrends
SUMTEQ
Vaamo Finanz
Velolock
VibeWrite
Zertisa
Internet-Adresse
adsquare.com
ambiotex.de
aom-systems.com
www.aquakin.de
www.channelpilot.de
meinespielzeugkiste.de
fastforward-imaging.com
www.fazua.com
www.freshdetect.com
www.igrow.academy
www.klang.com
littlepostman.com
lockboxsystem.com
www.mapegy.com
www.my-boo.de
nearbees.de
www.nfc-tag-shop.de
www.direct-on-ear.de
www.opal-analytics.com
www.payever.de
www.popup-berlin.de
www.qlearning.de
salonmeister.de
www.scanotec.de
www.schadenengel.de
scondoo.de
secucloud.com
www.shipcloud.io
stuffle.it
www.sugartrends.com
noch nicht vorhanden
www.vaamo.de
lock8.me
vibewrite.com
www.zertisa.com
Geschäftsidee
Technologie, mit der Unternehmen Werbung auf Smartphones schalten
können, die zum Standort des Nutzers passt
Innovatives T-Shirt, das beim Sport Körperfunktionen misst
Optischer Sensor zur Steuerung von Sprühprozessen in der Industrie
Kleinstes und leichtestes Wasserkraftwerk der Welt
Technologie, mit der Online-Shops ihre Produkte automatisiert auf Hunderten
von Online-Marktplätzen präsentieren können
Online-Service, über den Familien Spielzeug im Monatsabo leihen können
Technologie, mit der sich 360-Grad-Produktfotos erstellen lassen
Innovatives und besonders flexibles Antriebssystem für Elektrofahrräder
Tragbares Minilabor zur Qualitätsprüfung von Lebensmitteln
Virtuelle Akademie, die eine neuartige Lernmethode entwickelt hat
Innovative 3-D-Sound-Technologie für Kopfhörer
Software, die Push-Nachrichten an App-Nutzer schickt
und so Unternehmen hilft, die App-Nutzung zu maximieren
Mobile Packstation, mit der sich Paketsendungen empfangen lassen
Analyse- und Visualisierungssoftware für Technologiedaten
Ökobambusfahrräder aus nachhaltiger Produktion
Plattform, über die sich lokale Imker finden und Honig bestellen lässt
Anbieter von Produkten, die Datenübertragung mit der sogenannten
Near-Field-Communication-Technologie per Funk ermöglichen
Technologie, mit der Hörgeschädigte bei Events besser zuhören können
Software, um Warendaten in Unternehmen zu analysieren
Tool, mit dem Online-Shops Bezahldienste einfach einbinden können
Online-Marktplatz für Pop-up-Shops – Läden, die nur für kurze Zeit öffnen
Innovative Lern-Apps für Smartphones
Online-Buchungsplattform für Friseure und andere Dienstleister
Technologie, mit der sich Menschen als 3-D-Figur nachdrucken lassen
Online-Plattform, die bei Schäden an Haus und Hof Hilfe organisiert
App, mit der sich beim Supermarkteinkauf Gutscheine einlösen lassen
Software, die Haushalte und Unternehmen vor Internet-Angriffen schützt
Plattform, auf der Online-Händler den Paketversand organisieren können
Flohmarkt-App für Smartphones
E-Commerce-Plattform
Innovativer Hochleistungsdämmstoff
Geldanlage-Plattform
GPS-fähiges Fahrradschloss, das via Smartphone bedient wird
neuartiger Digitalstift, der sich mit Apps verbinden lässt
Android-Softwaremanagement-Plattform
Sie entwickeln tragbare Minilabore
und 3-D-Scanner, bauen Fahrräder
aus Bambus und Fahrradschlösser
mit GPS-Empfänger, schneidern T-Shirts
mit Pulsmesser oder setzen auf Online-
Plattformen und Smartphone-Apps: Jene
35 Start-ups, die die zweite Runde von
Neumacher erreicht haben– dem Gründerwettbewerb,
den die WirtschaftsWoche seit
2007 ausrichtet.
In diesem Jahr war der Andrang groß wie
nie: Mehr als 210 Gründer haben sich um
den Preis beworben – etwa doppelt so viele
wie im vergangenen Jahr. Die Bewerber kamen
aus allen Teilen der Republik: Zwar ist
etwa die Hälfte in einer Großstadt ansässig,
die Übrigen aber verteilen sich über das gesamte
Bundesgebiet. Auffällig aber auch:
Knapp 18 Prozent der Bewerber bauen ihr
Unternehmen in Berlin auf, das sich zur
Gründerhauptstadt Deutschlands entwickelt
hat. Vor allem unter Internet-
Gründern gilt Berlin als Standort der Wahl.
Dazu passt, dass sich in diesem Jahr vor
allem Gründer beworben haben, die auf
Software, Internet und Technologien für
Smartphones setzen: Sie machen mit
knapp 65 Prozent die Mehrheit der Teilnehmer
aus, wie die Auswertung des
High-Tech Gründerfonds zeigt, der den
Wettbewerb als Partner unterstützt.
Unter den besten 35 Unternehmen findet
sich beispielsweise qLearning Applications,
dessen Gründerteam um Felix Klühr
und Korbinian Weisser eigens von München
nach Berlin gezogen ist, um dort eine
neuartige Lern-App für Smartphones zu
entwickeln. Sie soll Studierenden dabei
helfen, die Inhalte von Vorlesungen und
Seminaren leichter zu lernen. Mit Erfolg:
Weniger als zwei Jahre nach dem Start arbeitet
das zwölfköpfige Team des Unternehmens
mit mehr als 50 Universitäten zusammen.
FOTO: LUDWIG SCHUBERT
80 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Aber immerhin jeder fünfte
Bewerber setzt auf innovative
Technologien zum Anfassen –
einige verbinden sie außerdem
mit der digitalen Welt. Unter
den 35 Besten etwa findet sich
Velolock, das alarmgesicherte Fahrradschlösser
mit GPS-Empfänger anbietet, die
sich per Smartphone-App öffnen und verschließen
lassen. Das soll verhindern, dass
Fahrräder geklaut werden, und gleichzeitig
ermöglichen, sie mit anderen zu teilen. Die
Idee dazu haben die beiden Gründer Frank
Salzmann und Daniel Zajarias-Fainsod
quasi aus eigener Betroffenheit geboren:
Während ihres Studiums waren ihnen ihre
Räder immer wieder gestohlen worden.
DIE ABSTIMMUNG
Nun sind neben den Jurymitgliedern, zu
denen unter anderem der GFT-Gründer
Ulrich Dietz sowie der Xing-Gründer und
heutige Investor Lars Hinrich gehören,
auch die Leser der WirtschaftsWoche gefordert.
Gemeinsam wählen sie insgesamt
sechs Finalisten aus, die ihre Unternehmen
am 29. Oktober noch einmal vor der Jury
präsentieren. Dann entscheidet sich, wer
am 18. November den begehrten
Preis gewinnt.
Ausführlichere Informationen
über die 35 Kandidaten,
die in der zweiten Runde zur
Abstimmung stehen, finden Sie
unter wiwo.de/neumacherwahl
DER PREIS
Der Sieger des Wettbewerbs erhält ein Preispaket
aus 10000 Euro Startkapital sowie
Sachleistungen im Wert von bis zu 300000
Euro, die die Partner des WirtschaftsWoche-
Gründerwettbewerbs zur Verfügung stellen.
Die Anwaltskanzlei Osborne Clarke berät
die Sieger in Rechtsfragen, Experten der
Agentur thjnk helfen beim Aufbau einer
Markenstrategie, der High-Tech Gründerfonds
unterstützt sie mit einem Coaching
durch erfahrene Gründer-Experten. Die
WirtschaftsWoche stiftet den Gewinnern außerdem
Medialeistungen und gibt ihnen
Gelegenheit, im Gründertagebuch über ihre
Fortschritte zu berichten – so wie Andrea
Pfundmeier und Robert Freudenreich, die
den Wettbewerb im vergangenen Jahr für
sich entscheiden konnten (siehe Seite 84).
Außerdem nehmen die Gewinner des
Hauptpreises sowie die Träger eines Sonderpreises
für Soziale Unternehmer am
Accelerator Program des Unternehmernetzwerks
Entrepreneurs’ Organization teil, das
Gründern den Start erleichtern soll.
DIE KONFERENZ
Die Siegerehrung findet im Rahmen der
Gründerkonferenz Neumacher am 18. November
in Hamburg statt. Die Konferenz
der WirtschaftsWoche findet in diesem
Jahr zum zweiten Mal statt und hat das
Ziel, etablierte Unternehmen mit Start-ups
zu vernetzen. Teilnehmen können auch
Unternehmer, die sich nicht am WirtschaftsWoche-Wettbewerb
beteiligt haben.
Die Teilnahme ist kostenlos. Weitere
Informationen und Anmeldung unter
www.neumacher.com
Lesen Sie weiter auf Seite 82 »
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Management&Erfolg
Hilfreiche Hacker
GRÜNDERTAGEBUCH | Warum Secomba einer Online-Attacke auf
Prominente Hunderte neue Nutzer verdankt.
Der Skandal sorgte weltweit für Neugier,
Spott und Angst: Anfang September
stellten Hacker Nacktfotos
von rund 100 Prominenten ins Netz, die sie
in der Apple-Datenbank iCloud erbeutet
hatten. Für Andrea Pfundmeier und Robert
Freudenreich ein weiterer Beweis, wie
nützlich ihre Technologie ist. Mit ihrem
Start-up Secomba haben die beiden Gründer
eine Software namens Boxcryptor entwickelt,
mit der Internet-Nutzer Daten verschlüsseln
und sie so vor Hackern schützen
können, bevor sie sie in solche Datenwolken
übertragen.
Ursprünglich hatte Gründer Robert
Freudenreich Boxcryptor entwickelt, um
seine eigenen Daten zu schützen – mit
Pfundmeier wollte er eigentlich Studentenausweise
digitalisieren. Doch als das
Duo die Sicherheitssoftware 2011 veröffentlichte,
war die Nachfrage danach so
groß, dass sie sich ganz darauf konzentrierten.
Sie fanden Investoren, lehnten eine
Übernahmeofferte ab. Und erzielten 2013 –
im Jahr der NSA-Affäre – erstmals mehr als
eine Million Euro Umsatz.
Kurz darauf konnten sie den Wirtschafts-
Woche-Gründerwettbewerb Neumacher
gewinnen (siehe Seite 80). Seitdem berichtet
Gründerin Pfundmeier, wie ihr Unternehmen
wächst: Inzwischen beschäftigt es
15 Mitarbeiter und peilt in diesem Jahr
erstmals die Gewinnzone an.
Hoch hinaus
Gründer Robert
Freudenreich
(Mitte)
beim TV-Dreh
in den Bergen
21. JULI
Seit wir mit Secomba gestartet sind versuche
ich, meine Erfahrungen an andere
Gründerinnen weiterzugeben. So wie
heute auf der Konferenz DLD Women in
München, die sich an Frauen im IT- und
Medienbereich richtet. Ich diskutiere über
Chancen von Start-ups und werbe für
IT-Berufe, in denen Frauen kreativ sein
und sich ihre Arbeit sehr flexibel einteilen
können.
29. JULI
Ich bin etwas aufgeregt: Sigmar Gabriel,
Bundesminister für Wirtschaft und Energie,
ist in Augsburg. Bei einer Diskussion
zum Thema „Deutsche Start-ups: Wo
drückt der Schuh“ unterhalten wir uns
darüber, wie Deutschland gründerfreundlicher
werden kann. Ich schlage ihm
das Grundschulfach Informatik als Mittel
gegen den IT-Fachkräftemangel vor.
Und thematisiere den Mangel an Wachstumskapital
für deutsche Start-ups. Das
merken wir gerade selbst: Wir haben zwar
schnell Business Angels gefunden, die uns
in einer frühen Phase mit Startkapital
unterstützt haben. Aber eine weitere
Finanzierungsrunde wäre sicherlich
schwerer auf die Beine zu stellen, zumindest
in Deutschland.
1. AUGUST
Anfangs haben wir uns mit Boxcryptor
hauptsächlich an Privatpersonen und sehr
kleine Teams gerichtet. Nun möchten wir
uns bei Geschäftskunden etablieren. Der
Bedarf ist da: Viele mittelständische und
große Unternehmen verfügen über sensible
Daten, die sie schützen müssen, wenn
sie sie in die Cloud hochladen. Allerdings
fehlten uns bisher die Kapazitäten sie gezielt
anzusprechen – unser Team besteht ja
vor allem aus Entwicklern.
Heute ändert sich das: Unser erster festangestellter
Vertriebsmitarbeiter fängt an.
Außerdem ergänzen wir unsere Web-Seite
um einen Geschäftskundenbereich – wir
sind gespannt, ob sich die Investition auszahlt.
13. AUGUST
Gestern haben wir eine neue Beta-Version
unserer Software für Apples Betriebssystem
Mac OS X veröffentlicht – viele User
hatten sich mehr Funktionen und Stabilität
gewünscht. Ein weiteres Update erleichtert
größeren Teams die Arbeit mit Boxcryptor
– und soll helfen, unseren Geschäftskundenbereich
weiter auszubauen.
25. AUGUST
Wir fühlen uns wie Schauspieler! Das ZDF
ist mit einem Kamerateam zu Gast und
dreht und dreht und dreht. Warum? Ein
Jahr nach unserem Sieg beim Wirtschafts-
Woche-Gründerwettbewerb stehen wir
nun auch im Finale des Deutschen Gründerpreises.
Am 16. September fällt die Entscheidung
– zu sehen im ZDF.
1. SEPTEMBER
Was für ein Skandal: Nacktfotos von mehr
als 100 weiblichen Promis sind im Internet
aufgetaucht. Hacker haben sich Zugriff zu
den Apple-iCloud-Konten der Stars verschafft.
Für uns hat der Vorfall trotz aller
Tragik einen positiven Nebeneffekt:Die Sicherheit
von Cloud-Diensten wird in den
Medien rauf- und runterdiskutiert. Und
immer wieder wird Boxcryptor als Möglichkeit
vorgestellt, sich vor solchen Angriffen
zu schützen. Sogar die Tagesschau
berichtet über uns – was uns Hunderte
Downloads beschert und hilft, die Nutzer
zu sensibilisieren. So hat der gesamte
Skandal auch eine gute Seite.
n
Redaktion: jens.toennesmann@wiwo.de
FOTO: PR, LITERATURTEST/SABINE FELBER
82 Nr. 38 15.9.14 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
SPRENGERS SPITZEN
Die Zwangsfeminisierung
Warum ausgerechnet die Frauenquote Männern helfen könnte, sich treu zu bleiben.
Der moderne Manager ist ein therapeutisch
definiertes Subjekt. Ihm
wird permanent nahegelegt, sich
selbst zu überprüfen, zu verbessern und
im Zweifelsfall professionelle Hilfe zu
nutzen. Und seit die Idee der guten Führung
populär wurde, gibt es einen Standard,
an dem er sich messen lassen
muss. Wer davon abweicht, gilt als defizitär,
mindestens aber optimierbar.
Fragt man nach den Inhalten dieses
Standards, so offenbart sich ein dunkles
Geheimnis der Managemententwicklung:
Es sind Einstellungen und Verhaltensweisen,
die man traditionell als
weiblich bezeichnet. Schaut man genau
hin, so wird Männern auf Führungsseminaren
seit vielen Jahren ein weiblicher
Führungsstil eingebläut: Empathisch
soll man(n) sein, nahbar, friedfertig,
sich in andere hineinversetzen,
niemanden in die Defensive drängen,
Fehler zugeben – so steht es in allen
Ratgebern, so predigen es die Trainer.
Emotionale Intelligenz ist das Stichwort.
MACHO-GEHABE IST OUT
Der Chef wird zum Mitarbeiter-Versteher,
der in ihre Herzen und Hirne
hineinleuchtet, ihre wahren Motive und
Bedürfnisse kennt. Den zielorientierten
Tunnelblick hat er gegen den wegorientierten Breitbandblick
eingetauscht, er ist einfühlsam oder guckt wenigstens so. Mehr
noch: Er kann auf eine dermaßen männlich entschlossene
Weise weich und weiblich sein, wie das die Frauen selbst gar nicht
hinbekämen.
Natürlich widerstrebt es jedem intelligenten Menschen, in stereotyper
Form von männlich und weiblich zu sprechen – aber wie
soll man sonst reden? Zugespitzt gilt jedenfalls: Macho-Gehabe ist
out. Wortkarge, selbstsichere, durchsetzungsstarke, entscheidungsschnelle,
emotional ausdruckslose Männer, die nicht gerne
über sich selbst nachdenken und noch viel weniger an einem
Feedback interessiert sind, die hält man für unzeitgemäß. Das
heißt, um heute Karrierechancen zu haben, müssen sie sich feminisieren.
Nur weibliche Männer gelten als moderne Führungskräfte.
Vor allem im Mittelmanagement – ganz oben dürfen sie dann
wieder den Harten geben.
In der Psychologie der Geschlechtsunterschiede steht der Mann
für Imponiergehabe, ungebrochene Selbsteinschätzung und hohe
Frustrationstoleranz. Was ist daran falsch?
Reinhard Sprenger, 61, Ex-Manager bei
3M und Adecco, zählt zu den renommiertesten
deutschsprachigen Managementautoren.
»Nur weibliche Männer
gelten als moderne
Führungskräfte«
Frauen schauen nach innen, Männer
nach außen. Was brauchen wir? Noch
mehr Nabelschau? Noch mehr Bürokratie,
Meetings, Feedbackrunden? Oder
müssen wir nicht viel mehr nach außen
schauen – zum Kunden, dahin, wo das
Geschäft gemacht wird? Da draußen
tobt der Wettbewerb, das Überbieten.
Die Idee des Wettkampfes ist maskulin.
Das Unbedingt-Wollen. Es ist eine Welt
der Schnelligkeit und der feindlichen
Übernahmen, in der man, neurochemisch
gesprochen, Antreibersubstanzen
wie Testosteron, Adrenalin und Phenylethylamin
braucht, keine Treuehormone
wie Oxytocin. Die Arbeit von Führungskräften
fordert da Mut statt Zögerlichkeit,
Handeln statt Erklären. Oft ist es
besser, nicht zu sehr in sich zu gehen, um
seine Pflicht zu tun. Man denke an Soldaten,
Feuerwehrmänner. Was ist daran
falsch?
KRANKHAFT UND MÄNNLICH
Damit ist kein Hasardeurtum gerechtfertigt
und schon gar nicht Respektlosigkeit.
Aber die dominante personenzentrische
Perspektive pathologisiert
gerne männliches Verhalten, indem sie
ausgeprägte Persönlichkeitseigenschaften
ins Extreme schiebt und dann von
Narzissten, Gefühlsblinden, Machiavellisten, Manisch-Depressiven
oder Passiv-Aggressiven faselt, die man sich allesamt krankhaft
vorstellt – und alle männlich.
Die Psychologie hat mit dem Leitbild der Androgynität neue Formen
der Inkompetenz kreiert, die sie nun bewirtschaften kann. Das
wäre noch harmlos. Aber die Maßnahmen untergraben das Selbstbewusstsein
der Männer, fördern anpasserisches Verhalten und
mangelnde Zivilcourage. Managementtraining als Fegefeuer, durch
das jeder Mann weibliche Verhaltensweisen so weit verinnerlicht,
dass er sich heimlich identifiziert mit der Rolle als sozial inkompetenter
Unterdrücker kreativer Individuen. Die Folge ist eine anbiedernde
männliche Autokorruption, die sich mit der Forderung nach
Authentizität zu einem depressionsfördernden Delirium vermengt.
So wird das weibliche Element mangels physischer Repräsentanz
in den Unternehmen an Männer delegiert. Und kaum noch
finden sich Männer, die sich wehren, die sich nicht umerziehen
lassen, die ihre Qualitäten selbstbewusst benennen. Aus dieser
Perspektive spricht alles für die Frauenquote. Dann könnten Männer
Männer bleiben.
n
WirtschaftsWoche 15.9.2014 Nr. 38 83
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Geld&Börse
Gefährlicher als die NSA
DATENSCHUTZ | Banken und Versicherer sammeln und speichern massenhaft
Informationen, zum Teil mithilfe spezialisierter Dienstleister. Was wissen sie über
mich, welche Nachteile drohen mir dadurch – und wie kann ich mich schützen?
Ein Selbstversuch.
Die Nachricht war kurz und
schmerzhaft. Man könne ihm
keine private Krankenversicherung
anbieten, teilte der
Deutsche Ring einem Interessenten
aus Karlsruhe vor wenigen Wochen
mit – ohne Angabe von Gründen. Erst als
sein Finanzmakler Frank Rindermann
nachhakte, erhielt der abgeblitzte Kunde
eine Liste mit ärztlichen Diagnosen.
Die Liste enthielt jedoch nicht nur Erkrankungen,
die der Mann in seiner „Risikovoranfrage“
genannt hatte, sondern
auch ärztliche Befunde aus den Jahren vor
2010, sagt Rindermann. Erkrankungen aus
dieser Zeit aber waren faktisch verjährt –
der Deutsche Ring hatte diese deshalb
nicht abgefragt. Die Daten stammten aus
einer Anfrage aus dem Jahr 2010, die der
Deutsche Ring ebenfalls abgelehnt hatte.
Die Frage ist nun: Durfte der Deutsche
Ring, eine Tochter der Signal Iduna, die Informationen
aus der 2010er-Anfrage noch
nutzen? Der Deutsche Ring teilt dazu mit,
dass es sich um ein Versehen handele. Daten
aus Risikovoranfragen würden normalerweise
nur für ein Jahr „vorgehalten“.
Tatsächlich dürfen private Kassen Gesundheitsdaten
laut Datenschutz-Selbstverpflichtung
der Branche für bis zu drei
Jahre speichern, „wenn der Vertrag nicht
zustande kommt“. Weiter heißt es jedoch,
dass die Frist am Ende des Jahres der „Antragstellung“
beginnt. Die Klausel bezieht
sich somit auf offizielle Anträge; von „Risikovoranfragen“
ist nicht die Rede.
Rindermann bezweifelt deshalb, dass es
überhaupt eine Rechtsgrundlage für die
Datenspeicherung nach abgelehnten Voranfragen
gibt. Laut Deutschem Ring ist ein
Banken erfassen
und speichern
massenhaft
sensible Daten
Jahr notwendig, um sie „sachgemäß“ zu
bearbeiten. Schließlich würden Voranfragen
bisweilen von Maklern modifiziert,
und manchmal kämen „noch Gutachten
und Nachfragen ins Spiel“.
Die alten Daten des Karlsruhers hat der
Versicherer inzwischen gelöscht. Trotzdem
muss der Mann, der sich mit einer privaten
Zusatzpolice absichern wollte, nun anderswo
sein Glück versuchen.
Der Streit zeigt: Die Finanzbranche speichert
massenhaft Daten – bisweilen auf zumindest
fragwürdiger rechtlicher Grundlage
und über vereinbarte Fristen hinaus.
Während die Datensammeleien von Geheimdiensten
wie der NSA den Durchschnittsbürger
eher kalt lassen, kann die
Sammelwut bei Finanzdaten gravierende
Folgen haben, bis hin zur Verweigerung
von existenziellen Versicherungen.
Auch Bankkunden kann ein laxer Umgang
mit Daten teuer zu stehen kommen.
So können Kreditanträge abgelehnt werden,
wenn Informationen bei der Bonitätsauskunft
Schufa nicht rechtzeitig gelöscht
oder gar falsche Angaben gespeichert werden.
Jeder Verbraucher sollte deshalb wissen,
welche Daten Finanzdienstleister über
ihn horten. Bei der eigenen Bank und Versicherung
ist das klar. Aber was haben sie
an andere Unternehmen oder Datenbanken
weitergegeben? Und sind die Daten
korrekt? Was ist noch aus etwaigen abgelehnten
Anträgen hinterlegt? Ich habe versucht,
das herauszufinden – und dabei
überraschende Erkenntnisse gewonnen.
ABFRAGE BEI DER DATENBANK
Zunächst will ich wissen, was das Hinweisund
Informationssystem der Versicherer
(HIS) über mich hergibt (siehe Kasten
Seite 88). Meine Vermutung ist: gar nichts.
Denn das HIS ist eine Datenbank, die vor
allem der „Prävention von Versicherungsbetrug“
dient.
Versicherer melden dazu „Auffälligkeiten“
wie Schadensmeldungen kurz nach
Abschluss einer Haftpflichtversicherung
sowie „atypische Schadenshäufigkeiten“.
In der Haftpflicht-, Hausrat- und Gebäudeversicherung
führen drei Schäden binnen
zwei Jahren zu einem Eintrag. In der Kfzund
Rechtsschutzversicherung liegt die
Schwelle mit vier Schäden in zwölf Monaten
etwas höher.
Von diesen Schwellen bin ich weit entfernt.
Umso größer die Überraschung, als
nach vier Tagen die Selbstauskunft im
Briefkasten liegt. Denn zu meiner Person
ist sehr wohl eine Auffälligkeit eingetragen:
Die Allianz hat mich mit der Begründung
„Versicherungssumme/Rentenhöhe“ eintragen
lassen. Was hat das zu bedeuten?
„Wer eine Berufsunfähigkeitsversicherung
abschließt, wird ans HIS gemeldet, sobald
die jährliche Rente daraus mehr als 9000
Euro beträgt“, erklärt Thomas Lämmrich
vom Versicherungsverband GDV. Sicht-
»
ILLUSTRATION: EDEL RODRIGUEZ
84 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
682
Millionen Daten von
66,3 Millionen
Menschen hortet
die Schufa 300000
Euro Auszahlung bei
Tod könnten Mörder
locken – also ab in die
zentrale Datenbank!
9000
Euro Jahresrente aus
der BU-Police sind okay,
wer höher abschließt,
wird verdächtig
WirtschaftsWoche 15.9.2014 Nr. 38 85
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Geld&Börse
»
bar für andere Versicherer seien Einträge
aber nur, wenn die jährliche Rente – womöglich
im Zusammenspiel mit einer weiteren
Police – 12 000 Euro übersteige.
Die Versicherer befürchten, dass Menschen
bei allzu üppiger Absicherung kein
Interesse haben, den Versicherungsfall
„durch Vorsicht und Prävention“ zu vermeiden
– oder gar in Versuchung geraten,
ihn bewusst herbeizuführen. Für ein gemütliches
Rest-Leben mit auskömmlicher
Berufsunfähigkeitsrente scheint mancher
bereit, sich zu verstümmeln.
Droht mir wegen des Eintrags nun ein
Nein, wenn ich eine weitere Berufsunfähigkeits-(BU-)Police
beantrage? Nein, sagt
Lämmrich. Ein HIS-Eintrag führe nicht automatisch
zur Ablehnung. Die Assekuranzen
schauten in solchen Fällen aber genau
hin und prüfen zum Beispiel, wie hoch die
BU-Rente im Vergleich zum aktuellen Einkommen
ist. Ist sie gleich hoch oder höher,
schrillen die Alarmglocken.
MORDVERDACHT AB 300 000 EURO
Lebensversicherungen, die im Todesfall
auszahlen, führen ab 100 000 Euro Versicherungssumme
zu einem HIS-Eintrag.
„Sichtbar für andere Versicherer wird der
Eintrag aber erst, wenn die Versicherungssumme
– womöglich im Zusammenspiel
mit anderen Policen – 300 000 Euro erreicht“,
sagt Lämmrich. So viel Geld, so das
Kalkül, könnte schon mal zu einem Missbrauch
verleiten – bis hin zu Selbstmord
oder Mord. Versicherer wollen deshalb
wissen, ob bereits ein hoher Todesfallschutz
besteht, wenn sie Anträge prüfen.
Einträge im HIS können weitreichende
Folgen haben – von der besonders kritischen
Prüfung einer Schadensmeldung bis
hin zur Verweigerung einer wichtigen BUoder
Lebensversicherung. Versicherte sollten
deshalb unbedingt per Selbstauskunft
prüfen, ob Angaben korrekt sind und überhaupt
noch gespeichert werden dürfen.
Die Löschvorschriften sind ein Fall für
juristische Feinschmecker. Grundsätzlich
gilt: Einträge müssen vier Jahre nach Ablauf
des Jahres, in dem sie erfolgten, gelöscht
werden – es sei denn, innerhalb der
Frist kommt ein Eintrag in der jeweiligen
Sparte hinzu. Meine 2012 eingetragene BU
bliebe also für weitere vier Jahre vermerkt,
wenn ich bis Ende 2016 eine zweite BU mit
einer Jahresrente von über 9000 Euro abschließe.
Nach Ablauf der zweiten Vier-
Jahres-Frist ist aber endgültig Schluss.
Eine Ausnahme von der Vier-Jahres-Frist
gilt für Daten von Personen, deren Anträge
Bei hohen Berufsunfähigkeitsrenten
wittern Versicherer Simulanten
auf BU- oder Lebenspolicen abgelehnt
wurden. Sie werden nur drei Jahre lang gespeichert,
ebenfalls vom Ende des Jahres
an gerechnet, in dem der Eintrag erfolgte.
Der Grund – meist Krankheiten, aber
auch gefährliche Berufe oder Hobbys – ist
zwar nicht sichtbar, wenn Sachbearbeiter
anderer Versicherer das HIS abrufen. Es erscheint
aber ein Vermerk, dass beim Antragsteller
„Erschwernisse“ vorliegen. „Das
können die Versicherer dann zum Anlass
nehmen, nachzuhaken“, sagt Lämmrich.
PKV SPEICHERT SELBST
Die privaten Krankenversicherer (PKV)
machen beim HIS nicht mit. Sie speichern
– wie der Fall Deutscher Ring zeigt – Daten
aus abgelehnten Voranfragen und Anträgen
selbst, leiten sie aber nicht an eine Datenbank
weiter. Woanders landen können
sie trotzdem, denn die Versicherer speichern
Gesundheitsdaten auch, „um mögliche
Anfragen weiterer Versicherungen beantworten
zu können“. Nach Angaben des
Krankenversicherer-Verbands gibt es aber
keine standardmäßigen Rundfragen bei
der Konkurrenz, wenn Anträge oder Voranfragen
geprüft werden. Stattdessen wird
gezielt nachgefragt, wenn ein Antragsteller
angibt, dass in den letzten drei Jahren ein
Antrag bei einem anderen Unternehmen
angelehnt wurde. Danach erkundigen sich
Versicherer in ihren Formularen explizit.
Aber wird nach Ablauf von Fristen tatsächlich
gelöscht? Finanzmakler Rindermann
fürchtet, dass zahlreiche Versicherer
mit Daten arbeiten, die Kunden längst vernichtet
wähnen. „Ich erlebe immer wieder,
dass Risikovoranfragen oder Anträge völlig
überraschend abgelehnt werden – sei es
bei Kranken-, Berufsunfähigkeits- oder Lebensversicherungen.“
Meist gebe es keine
Begründung.
Rindermann empfiehlt Kunden, die Versicherung
nach einer abgelehnten Risikovoranfrage
aufzufordern, die Daten umgehend
zu löschen und dies zu bestätigen.
Bei abgelehnten offiziellen Anträgen ist
dies nach Ablauf der Drei-Jahres-Frist zwar
ausdrücklich vorgesehen – aber es schadet
trotzdem nicht, dies zu überprüfen.
In der Krankenversicherung können
noch weitere Informationen über Versicherte
in der Branche umherschwirren,
ohne dass diese das wissen. Das liegt am
„System der Versichertenumfrage“, mit
dem die Krankenversicherer Betrug bei Bestandskunden
bekämpfen wollen. Namen
ILLUSTRATIONEN: EDEL RODRIGUEZ
86 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
von Antragstellern, mit denen kein Vertrag
zustande gekommen ist, werden laut PKV-
Verband dagegen nicht gespeichert. Verbandssprecher
Dominik Heck versichert,
angewandt werde das System nur als „seltene
Ausnahme“ bei ernsthaften und
schwerwiegenden Verdachtsmomenten.
„Im Bereich der Krankentagegeldversicherung
etwa kommt es vor, dass Personen
sich bei verschiedenen Gesellschaften versichern“,
so Heck. Wer so handelt, könnte
sich absichtlich verletzen und dann hohe
Krankentagegelder einstreichen. Fällt einem
Versicherer etwas auf, füllt er eine Karteikarte
aus und faxt die an den Verband,
der jedem Mitgliedsunternehmen per Post
eine Kopie schickt und danach die Daten
„sofort“ löscht, so Heck. Das Gleiche gelte
für die Versicherer, wenn die gemeldete
Person nicht zu ihren Kunden gehört, der
Verdacht auf betrügerische Doppelversicherung
sich also nicht bestätigt. „Dazu
haben sich die teilnehmenden Unternehmen
gegenüber den Datenschutzbehörden
verpflichtet“, sagt Heck. Das Problem:
Kontrollieren kann das keiner. Denn anders
als beim HIS gibt es keine Auskunft
darüber, welche Daten über mich kursieren.
Meinen Plan, dies per Selbstauskunft
herauszubekommen, muss ich begraben.
„Das System der privaten Krankenversicherer
ist intransparent“, sagt Rindermann.
Auch Thilo Weichert, oberster Datenschützer
in Schleswig-Holstein, hält das Verfahren
für „nicht vereinbar mit unserem Datenschutzrecht“.
Laut „Handelsblatt“ will
sich der PKV-Verband in den kommenden
Monaten dem HIS anschließen.
WAS DIE SCHUFA ALLES WEISS
Nachdem die HIS-Auskunft einen überraschenden
Eintrag zutage gefördert und die
Recherchen in Sachen PKV ins Nichts geführt
haben, bin ich besonders gespannt,
was die Schufa über mich weiß. Das Gemeinschaftsunternehmen
der Banken und
Sparkassen gehört zu den eifrigsten Datensammlern
des Landes; es hortet 682 Millionen
Informationen zu 66,3 Millionen
Personen und 4,2 Millionen Firmen.
Sie erfährt zum Beispiel, wenn ich irgendwo
ein Konto eröffne, einen Kredit
aufnehme oder eine Kreditkarte bekomme.
Auch der Abschluss von Mobilfunk-,
Leasing- oder Ratenzahlungsverträgen
wird von den 8500 Vertragspartnern der
Schufa – neben Banken auch Telekomfirmen,
Versandhändler und andere – umgehend
gemeldet. Die Schufa aber speichert
bisweilen falsche Informationen oder »
VERSICHERUNGEN
Gefährliche
Datenrabatte
Sammeln Versicherer in Zukunft
mehr Informationen? Technisch
möglich wäre es allemal.
In der Medizin findet derzeit eine technische
Revolution statt, die neuen Optionen
sind verlockend (WirtschaftsWoche
37/2014): So können wir mit Fitness-Apps
oder Innovationen wie der in der vergangenen
Woche präsentierten Smartwatch von
Apple unseren Körper vermessen. Doch
nicht nur die Herzen von Medizinern, ITund
Sportfreaks schlagen deshalb höher:
In der Versicherungsbranche wird derzeit
hinter vorgehaltener Hand über Krankenversicherungstarife
diskutiert, die sich daran
orientieren, wie viel wir uns bewegen.
Noch gibt es so etwas hierzulande nicht.
„Uns ist kein solcher Tarif bekannt“, sagt
Axel Kleinlein, Vorstandssprecher des
Bundes der Versicherten.
Aber der Datenschutz spräche nicht
grundsätzlich dagegen: Solange die Kunden
einwilligen, wäre ein solcher Tarif
wohl zulässig. „Es gilt aber der Grundsatz
der Datensparsamkeit, sodass wirklich
nur die notwendigen Daten übermittelt
werden dürften“, sagt Julius Reiter, auf
Finanzen und Datenschutz spezialisierter
Rechtsanwalt in Düsseldorf.
In der Kfz-Versicherung sammeln Anbieter
bereits Daten über das Verhalten
ihrer Kunden: Seit Anfang des Jahres bietet
die Sparkassen-Tochter S-Direkt einen
„Telematik-Tarif“ an. Kunden installieren
dafür eine Box im Auto, die Daten übers
Fahrverhalten speichert, etwa die Geschwindigkeit
und die Zahl der Nachtfahrten.
Wer vorsichtig und selten nachts
oder in der Stadt fährt, kann bis zu fünf
Prozent Rabatt erhalten.
Experten wie Jürgen Bönninger, Geschäftsführer
FSD Fahrzeugsystemdaten
GmbH in Dresden, sind jedoch skeptisch,
weil die Telematik-Technik noch nicht
ausgereift ist. Bei Geräten, die man bisher
– außerhalb des S-Direkt-Angebots – getestet
habe, bestehe die Gefahr, „dass
der Rabatt eher von Zufällen als von der
Fahrweise abhängt“.
IN TELEMATIK-TARIF GEDRÄNGT
S-Direkt hat den Verkauf nach 1000 Policen
vorerst eingestellt und prüft nun, wie
das Modell in der Praxis funktioniert. Einiges
aber spricht dafür, dass es künftig
mehr solcher Angebote gibt: Ab Herbst
2015 soll gemäß EU-Vorgaben jeder Neuwagen
ein automatisches Notrufsystem
enthalten. Damit wäre eine Datenerfassung
für Telematik-Tarife kein Problem
mehr, die Installation einer Box unnötig.
Rechtsanwalt Reiter befürchtet nun,
dass auf lange Sicht wirtschaftlicher
Druck entsteht, Daten preiszugeben.
„Wenn sie günstiger sind als klassische
Tarife, könnten sich viele Kunden zu Telematik-Tarifen
gedrängt fühlen“, sagt er.
Der Gesetzgeber, so Reiter, müsse deshalb
verhindern, dass Unternehmen
Druck aufbauen. „Es darf nicht sein, dass
Bürger für günstige Tarife eine ständige
Überwachung ihrer Fahrweise und womöglich
sogar der Bewegungsprofile ihres
Autos in Kauf nehmen.“ Das Problem:
Menschen, die sich ständig kontrolliert
fühlen, verkrampfen und neigen dazu,
mehr Fehler zu machen.
Hinzu kommt: Eine umfassende Datenpreisgabe
würde zu immer individuelleren
Versicherungstarifen führen – sei es bei
Kraftfahrzeug-, Kranken- oder anderen
Policen. Damit drohen nicht nur Datenverweigerern
höhere Beiträge, sondern
auch Risikokunden. „Das aber widerspricht
dem Solidaritätsgedanken bei
Versicherungen“, warnt Kleinlein vom
Bund der Versicherten.
WirtschaftsWoche 15.9.2014 Nr. 38 87
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Geld&Börse
HIS UND SCHUFA
Auf der Spur
Wie Sie herausfinden, was Auskunfteien
über Sie speichern – und
wie Sie Fehler korrigieren.
Wer wissen will, was Banken und Versicherer
in ihren zentralen Datenbanken
über ihn speichern, kann dort einmal
pro Jahr eine kostenlose Selbstauskunft
beantragen.
n Hinweis- und Informationssystem
der Versicherer. Verbraucher rufen die
Seite des Betreibers informa risk &
fraud prevention (www.informa-irfp.de)
auf, auf der sie in der Rubrik „Selbstauskunft
und Datenschutz“ ein Formular
herunterladen können. Dann
müssen sie Namen, Adresse und Geburtsdatum
eintragen und das Formular
per Post an informa schicken –
samt Kopie des Personalausweises
(Vorder- und Rückseite).
Entdecken sie Fehler in der Selbstauskunft,
können sich Betroffene entweder
an informa oder an den Versicherer
wenden, der den Eintrag gemeldet
hat. Das gilt auch, wenn Einträge korrekt
sind, aber bereits gelöscht sein
müssten.
n Schufa. Auf www.meineschufa.de
können Interessierte ein Bestellformular
für eine „Datenübersicht“ herunterladen,
ausfüllen und per Post an die
Schufa schicken. Auch hier ist wieder
eine Ausweiskopie nötig.
Alternativ ist ein ständiger Online-
Zugriff auf die eigenen Schufa-Daten
möglich – inklusive sofortiger Info über
Neues, etwa Änderungen der Bonität.
Das kostet 18,50 Euro für die Registrierung
und dann zehn Euro pro Jahr.
Die Schufa verspricht, unvollständige,
unzutreffende oder veraltete Angaben
„kostenlos und umgehend“ zu korrigieren.
Dazu sollen sich Verbraucher
ans Privatkunden Service Center (Postfach
10 34 41, 50474 Köln) wenden
und ihr Anliegen „kurz schriftlich darstellen“,
am besten mit Belegen. Die
Schufa hakt nach eigenen Angaben
meist noch am selben Tag beim Vertragspartner
nach, der den Eintrag gemeldet
hat.
Kredit abgelehnt,
Police verweigert
– und der Kunde
weiß nicht, warum
»
löscht Daten nicht rechtzeitig. Zuletzt
holten im August zehn Kollegen des „Handelsblatts“
Schufa-Auskünfte ein und stießen
auf mehrere Fehler; so war zum Beispiel
ein Kredit eingetragen, der bereits vor
zehn Jahren getilgt wurde.
Die Schufa verweist darauf, dass der unabhängige
Ombudsmann – der jüngst verstorbene
Ex-Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts,
Winfried Hassemer –
2013 nur 32 Fehler bemängelt habe. Das allerdings
sind nur Fehler, die auch von Kunden
bemerkt wurden.
Fehler können gravierende Folgen haben.
Wenn etwa ein getilgter Kredit noch
eingetragen und die Rückzahlung nicht
vermerkt ist, verschlechtert das meine Bonitätsnote
– was wiederum dazu führen
kann, dass mir Kredite zu miesen Konditionen
angeboten oder ganz verweigert werden.
Umso wichtiger also, dass die Auskunftei
keine falschen Daten speichert.
Doch die Schufa spannt mich auf die
Folter; drei Wochen dauert es, bis die
Selbstauskunft im Briefkasten liegt. Immerhin
ist alles korrekt, zumindest so weit
ich das überprüfen kann. So steht darin,
wo ich Girokonten eröffnet und Kreditkartenverträge
abgeschlossen habe. Der gemeinsam
mit meiner Frau aufgenommene
Immobilienkredit ist ebenfalls vermerkt,
inklusive Summe und Fälligkeit. Da sämtliche
Konten und Verträge noch laufen und
der Kredit – leider – noch nicht getilgt ist,
gibt es keinen Grund, bei der Schufa Korrekturen
oder Löschungen zu beantragen.
Automatisch gelöscht werden Kredite drei
Jahre nach der Rückzahlung (bis dahin
Vermerk „erledigt“), Giro- und Kreditkartenkonten
sofort nach Auflösung.
STREIT UM DEN „SCORE“
Allerdings kann ich auch hier wieder nicht
alle Daten überprüfen. Denn neben Informationen,
die Banken und andere über
mich übermittelt haben, schickt mir die
Schufa auch mehrere „Score“-Werte, die
sie auf Basis meiner Daten ermittelt hat.
Der Basis-Score drückt aus, mit welcher
Wahrscheinlichkeit ich meine künftigen
Zahlungsverpflichtungen erfüllen kann.
Hinzu kommen noch 17 Einzel-Scores, die
zeigen, wie hoch diese Wahrscheinlichkeit
gegenüber verschiedenen Geschäftspartnern
ist, darunter Banken, Telekomanbieter
und Versandhandel.
Meine Score-Werte sind okay, somit
muss ich nicht einschreiten. Aber auch
wenn sie überraschend niedrig wären,
könnte ich nicht prüfen, ob die Schufa
richtig gerechnet hat. Denn die gibt zwar
an, welche Kriterien einfließen, etwa die
Anzahl der „Kreditaktivitäten“ oder Zahlungsausfälle.
Aber die Rechenmethode
gibt sie nicht preis – „Geschäftsgeheimnis“.
Zu Recht, wie der Bundesgerichtshof im Januar
entschied. Die Richter wiesen die Klage
einer Frau ab, für die die Schufa Score-
Werte von zum Teil nur knapp über 80 Prozent
errechnet hat. Es reiche, wenn die
Schufa die Kriterien nenne, die in die Berechnung
einflössen. Zudem habe die Auskunftei
ihre Rechenmethode vor Datenschützern
offengelegt. Das letzte Wort hat
nun das Bundesverfassungsgericht.
Vorerst kann daher kein Kunde prüfen,
wie Scores berechnet werden, ob die Methode
sinnvoll ist und ob sich womöglich
Fehler eingeschlichen haben. Immerhin
können Verbraucher der Schufa Scores zu
ihrer Person untersagen. Doch Verweigerer
machen sich verdächtig, sie bekommen
oft weder Kredit noch Handyvertrag. Und
wer versucht, ein „Schufa-freies“ Darlehen
zu bekommen, landet meist schnurstracks
bei Kredithaien.
Dann doch lieber mitmachen. Und die
Grundlage der Scores – die gespeicherten
Daten – penibel prüfen.
n
daniel schönwitz | geld@wiwo.de
ILLUSTRATION: EDEL RODRIGUEZ
88 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Geld&Börse
Wenn die Liquidität geht,
dann kommt der Crash
Abgang mit
Karton
15. September
2008: Letzter
Arbeitstag bei
Lehman Brothers
US-GELDMARKT | Papiere, die zur Absicherung von Krediten dienen, werden knapp. Den Märkten
droht der Entzug von Liquidität. Das Phänomen gefährdet auch die Aktienkurse.
Die Zeit heilt alle Wunden – und trübt
die Erinnerung. Am heutigen Montag
jährt sich zum sechsten Mal die
Pleite von Lehman Brothers. Viele Anleger
glauben, benebelt von fünf Jahren Börsenhausse,
dass all jene Probleme, die 2008
fast zum Kollaps des globalen Finanzsystems
geführt haben, beseitigt wären. Regierungen,
Notenbanken und Aufsichtsbehörden
hätten die Lage heute im Griff. Ein
Irrglaube. Es droht wieder Stress im Finanzsystem.
Das Frühwarnsystem dafür ist
der Repo-Markt in den USA. Der Untergang
von Lehman beschleunigte sich 2008,
nachdem das traditionsreiche Wall-Street-
Haus den Zugang zur Finanzierung über
diesen Billionen Dollar schweren Teil des
Geldmarktes verloren hatte. Trotzdem
wird über den Repo-Markt wenig berichtet,
von Ökonomen und Analysten wird er
meist ignoriert.
Am Repo-Markt leihen sich Banken von
anderen Banken und von Geldmarktfonds
kurzfristig Geld, maximal für ein Jahr, häufig
nur für wenige Tage oder gar nur für eine
Nacht. Auch Hedgefonds finanzieren
sich inzwischen in großem Stil am Repo-
Markt.
WIE DER REPO-MARKT ARBEITET
Dem jeweiligen Kreditgeber werden als Sicherheiten
Wertpapiere übertragen. Überwiegend
dienen US-Staatsanleihen und
durch Hypotheken besicherte Schuldverschreibungen
der staatlichen Hypothekenfinanzierer
Ginnie Mae, Fannie Mae und
Freddie Mac als Sicherheiten. Schuldner
können aber auch Unternehmensanleihen,
Aktien und verbriefte Kreditkarten-,
Studenten- und Autokredite hinterlegen.
Der Kreditnehmer in einem Repo-Geschäft
verpflichtet sich, die Wertpapiere am
Ende der vereinbarten Laufzeit zurückzukaufen,
und zahlt zusätzlich Zinsen für den
Kredit. Je nach Qualität der hinterlegten Sicherheit
wird ein Sicherheitsabschlag abgezogen.
Schlechtere Papiere werden also
nicht zu 100 Prozent, sondern zum Beispiel
nur zu 90 Prozent beliehen. Je besser die
Bonität, desto geringer fällt dieser Abschlag
aus.
Das Besondere: Der Kreditgeber kann
die als Sicherheit für seinen Kredit angenommenen
Wertpapiere ebenfalls einsetzen,
um andere Geschäfte zu schließen
oder sie gar erneut zu beleihen. Der Kreditschöpfungsprozess
durch die Hinterlegung
von Sicherheiten hat somit einen Multiplikatoreffekt.
Er funktioniert ähnlich wie der
traditionelle Geldschöpfungsprozess, bei
dem die Notenbank durch befristete Käufe
von Wertpapieren den Geschäftsbanken
kurzfristig Liquidität bereitstellt.
FOTO: GETTY IMAGES/PARIS MATCH/SEBASTIEN MICKE
90 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Die Kreditschöpfung über die mehrfache
Verpfändung von Sicherheiten, sogenannte
Beleihungs- oder Collateralketten,
ist im heutigen Finanzsystem eine der
Hauptquellen für Kredite. Ende 2007 führten
die US-Banken rund 10 000 Milliarden
Dollar an Sicherheiten. Dahinter verbarg
sich aber letztlich nur ein tatsächlich verwertbares
Wertpapiervolumen von etwa
einem Drittel der ausgewiesenen Summe.
Im Schnitt wurde eine Sicherheit also dreimal
zur Kreditaufnahme eingesetzt.
Die eigentliche Aufgabe des Repo-Marktes
besteht darin, kurzfristig Liquiditätsspitzen
auszugleichen. Im Idealfall erhöht
er so die Effizienz der Geldversorgung,
auch zum Wohle der Realwirtschaft. Mittlerweile
ist der Repo-Markt aber auch das
wichtigste Schmiermittel für ein gigantisches
Schattenbankensystem. Er bestimmt
maßgeblich mit, wie viel Liquidität in die
spekulativen Grauzonen der Finanzmärkte
fließt.
Schattenwelt
Wer mit wem am US-Repo-Markt Geschäfte macht
Geldmarktinvestoren
• Hedgefonds
• Vermögensverwaltungsgesellschaften
• Geldmarktfonds 1
• Wertpapierverleiher 1
• Andere
Banken/
Wertpapierhändler 1,2
Geld
Wertpapiere
Kreditnehmer
• Prime-Brokerage-Kunden 3
• Hedgefonds
• Andere
1 Geschäfte laufen überwiegend nicht direkt unter den Vertragspartnern ab, zwischengeschaltet sind die Clearingbanken
JP Morgan Chase und Bank of New York Mellon; Investoren verlangen keine spezifischen Sicherheiten, sondern akzeptieren
einen breiten Pool an Sicherheiten; 2 im Interbankenhandel über Clearingbanken werden Forderungen
und Verbindlichkeiten saldiert (Netting); 3 Kunden, für die Banken Geschäfte abwickeln und finanzieren
ES MANGELT AN PAPIEREN
Banken und Hedgefonds, die sich am Repo-Markt
finanzieren, brauchen immer
Papiere, die sie als Sicherheiten für Repo-
Geschäfte hinterlegen können. Unter angespannten
Marktbedingungen benötigt
das Finanzsystem der USA insgesamt
11 200 Milliarden Dollar an hochwertigen
Sicherheiten, so das Treasury Borrowing
Advisory Committee, ein Beratungsgremium
des US-Finanzministeriums. Gibt es
nicht genug Sicherheiten, wird die Liquidität
knapp. Weil die Akteure am Repo-Markt
auch Derivate, Anleihen oder Aktien kaufen,
hat eine knappe Liquidität hier Folgen
für nahezu alle anderen Anlagenmärkte.
Genau diese Knappheit droht nun. Die
größte Gefahr für die Stabilität der Finanzmärkte
könnte nun erneut von einem
Rückgang der Liquidität am Repo-Markt
ausgehen. Es mangelt sprichwörtlich an Sicherheiten.
Der Grund dafür ist grotesk. Das Allheilmittel
zur Bewältigung der letzten Finanzkrise,
der Ankauf von Anleihen durch die
US-Notenbank Fed, droht zum Auslöser
der nächsten Krise zu werden. Die Fed hat
dank ihrer Anleihekaufprogramme (Quantitative
Easing, QE) inzwischen US-Staatsanleihen
im Volumen von 2437 Milliarden
Dollar angesammelt. Damit hält sie gut 20
Prozent aller ausstehenden Schuldpapiere
der US-Regierung.
Die Staatsanleihen in der Fed-Bilanz aber
fehlen am Repo-Markt als Sicherheiten für
neue Kredite. Eine US-Staatsanleihe lässt
sich schließlich beliebig oft als Sicherheit
verwenden. Das Gleiche gilt für hypothekenbesicherte
Schuldverschreibungen
(Mortgage Backed Securities, MBS), von
denen die Fed im Zuge von QE ein Volumen
von 1678 Milliarden Dollar aufgekauft hat.
Wenn die Fed Staatsanleihen und MBS
kauft, gibt sie zwar Liquidität in den Markt
– aber eben nur einmal. Weil die Anleihen
danach aber nicht mehr als Sicherheiten
für eine weitere Kreditaufnahme zur Verfügung
stehen, entzieht sie unter dem Strich
den Märkten Liquidität.
Die Annahme, die Fed sorge mit ihren
Anleihekäufen für zusätzliche Liquidität an
den Finanzmärkten, zieht so gesehen also
nicht. Abzulesen ist das auch an den
schrumpfenden Handelsvolumina: Obwohl
das ausstehende Volumen von US-
Staatsanleihen seit 2007 von 4340 auf über
12 000 Milliarden Dollar angeschwollen ist,
ging deren durchschnittliches Handels-»
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Geld&Börse
Quartals aufzuhübschen. Ende Juni etwa
erhöhte sich das RRP-Volumen der Fed
über Nacht um 200 Milliarden Dollar auf
insgesamt 340 Milliarden Dollar. Doch
schon am ersten Tag des neuen Quartals
schrumpfte das Volumen um fast die gleiche
Summe wieder zusammen – die Banken
hatten die Staatsanleihen wieder an
die Fed zurückgegeben.
Halde auf Pump
In den USA werden exzessiv Autokredite
vergeben, verbrieft und verkauft
»
volumen in diesem Zeitraum von 570
Milliarden auf zuletzt 504 Milliarden Dollar
pro Tag zurück.
Inzwischen verringert die US-Regierung
ihre Neuverschuldung gar. Während zwischen
2009 und 2012 im Bundesetat noch
Finanzierungslücken von über 1000 Milliarden
Dollar pro Fiskaljahr klafften, wird in
Washington 2014 mit einem Defizitrückgang
von 680 auf 649 Milliarden Dollar gerechnet.
Entsprechend kleiner wird das
Neuemissionsvolumen von Staatsanleihen.
US-Banken halten nur noch rund 550
Milliarden Dollar in Staatsanleihen und
Schuldverschreibungen staatlicher Institutionen
in ihren Bilanzen. Eigentlich benötigten
sie mehr davon – um sie als verwertbare
Sicherheiten zur Refinanzierung am
Repo-Markt einsetzen zu können und weil
Zunehmende Lieferprobleme
Wöchentliche Ausfälle bei der Bereitstellung
und Rückgabe von US-Staatsanleihen 1 bei
Repo-Geschäften (in Milliarden Dollar)
Bereitstellung
Rückgabe
1.1.2014
30.4.2014 27.8.2014
1 ohne inflationsgeschützte US-Staatsanleihen (TIPS);
Quelle: Federal Reserve Bank of New York
200
175
150
125
100
75
50
25
0
sie wegen der verschärften Liquiditätsund
Eigenkapitalvorschriften mehr bonitätsstarke
Aktiva vorweisen müssen, die
sich auch im Krisenfall rasch zu Geld machen
lassen.
BILANZEN AUFGEHÜBSCHT
Über das sogenannte Reverse-Repo-Programm
(RRP) kann die Fed Banken, Geldmarktfonds
und anderen Akteuren die begehrte
Sicherheit US-Staatsanleihen gegen
Cash zur Verfügung stellen. Auf diesem
Weg sollte die Fed, darauf war das Programm
ursprünglich einmal angelegt, die
durch ihre Anleihekaufprogramme geschaffene
Liquidität dem Bankensystem
wieder entziehen.
Banken nutzen das Programm vor allem
dazu, ihre Bilanzen zum Ende eines jeden
Liquiditätsschwund
Ausstehendes Finanzierungsvolumen
der Primary Dealer 1 am Repo-Markt
(in Milliarden Dollar)
2006 2008 2010 2012 14
1 22 ausgesuchte Wall-Street-Häuser, die direkt
mit der Fed New York Wertpapiere handeln dürfen;
Quelle: Federal Reserve Bank of New York
4500
4000
3500
3000
2500
2000
NOT MACHT ERFINDERISCH
In ihren Bilanzen aber können die Banken
den kurzfristig höheren Bestand an Staatsanleihen
bis zum nächsten Stichtag ausweisen.
Kritiker werfen der Fed vor, sie habe
mit dem Reverse-Repo-Programm einen
eintägigen Window-Dressing-Mechanismus
eingeführt: Die Banken werden
schön poliert ins Schaufenster gestellt, Investoren
und Aufsichtsbehörden werden
über den wahren Gesundheitszustand des
US-Bankensystems getäuscht.
Gute Zahlen zum Quartalsende scheinen
bitter nötig. Ob Zufall oder nicht: Finanzunfälle
ereignen sich oft gegen Ende
eines Quartals. Besonders gefährlich war
in der Vergangenheit das dritte Quartal des
jeweiligen Krisenjahres. Am 23. September
1998 wurde der Hedgefonds Long Term
Capital Management (LTCM) gerettet, am
17. September 2007 räumten Kunden bei
Northern Rock in Großbritannien ihre Einlagen
ab, und am 15. September 2008 ging
Lehman Brothers unter.
Einen nennenswerten Beitrag, den bei
den Banken herrschenden Mangel an Sicherheiten
dauerhaft zu beseitigen, leiste
das Reverse-Repo-Programm unter dem
Strich nicht, urteilen Analysten von JP Morgan.
Tatsächlich mehrten sich zuletzt gar
Signale, die auf einen drohenden Liquiditätsengpass
am Repo-Markt hindeuten. So
hatten sich die 22 ausgesuchten Wall-
Street-Adressen, die US-Staatsanleihen direkt
bei der New Yorker Fed ersteigern dürfen
und die den Staatsanleihehandel liquide
halten sollen („Primary Dealer“), im Juli
am Repo-Markt im Schnitt nur noch 2380
Milliarden Dollar geliehen. Damit wurde
das Tief des Krisenjahres 2009 unterschritten.
Anfang 2008, vor dem großen Crash,
erreichte das entsprechende Volumen zeitweise
mehr als 4300 Milliarden Dollar.
Angesichts dieser Zahlen überrascht es
nicht, dass Banken oder Hedgefonds offenbar
zunehmend Probleme haben, Sicherheiten
für Repo-Kredite pünktlich bereitzustellen
oder zurückzugeben. Gerade bei
US-Staatsanleihen häufen sich seit Juni die
Ausreißer nach oben mit wöchentlichen
FOTO: GETTY IMAGES/CHIP SOMODEVILLA
92 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Ausfallvolumina jenseits von 100 Milliarden
Dollar (siehe Grafik Seite 92). Zwischen
Januar 2012 und Mai 2014 lag das wöchentliche
Ausfallvolumen im Schnitt noch bei
46 Milliarden Dollar. Wer die Sicherheiten
nicht fristgerecht bereitstellt oder zurückgibt,
zahlt also lieber die bei verzögerter
Lieferung fällige Vertragsstrafe von drei
Prozent, als sich die Wertpapiere am Markt
zu besorgen – ein Knappheitssignal.
KETTENREAKTION DROHT
„Da könnte sich etwas Unheilvolles zusammenbrauen“,
sagte Stanley Sun Ende Juni
dem Börsendienst Bloomberg. Sun ist
Zinsstratege bei Nomura Holdings in New
York. Die US-Tochter der japanischen Investmentbank
gehört zum Kreis der 22 Primary
Dealer.
Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich
in Basel, eine Art Bank der Zentralbanken,
stuft Repo-Geschäfte nach wie
vor als recht risikolos ein. „Dabei hatte gerade
das exzessive Vertrauen in diese Form
Für Verwerfungen
am Kreditmarkt
ist heute kein
Unfall à la
Lehman nötig
der Finanzierung das System zum Einsturz
gebracht“, sagt Sheila Bair, die ehemalige
Chefin der US-Einlagensicherung FDIC.
Regulierer hatten sich vor 2008 nur um
etablierte Banken gekümmert. Das Schattenbankensystem
aus Hedgefonds und
Private-Equity-Fonds sowie den Zweckgesellschaften,
die Banken außerhalb ihrer
Bilanzen führten, blieb unreguliert. Über
den Repo-Markt aber sind regulierte Banken
mit Schattenbanken eng verzahnt.
Zentrales Element dieser Verzahnung ist
die Beleihungskette der Sicherheiten, eben
die Tatsache, dass eine Anleihe auf dem
Repo-Markt gleich mehrfach als Sicherheit
für Kredite eingesetzt wird.
Schattenbanken finanzieren sich über
den Repo-Markt kurzfristig, legen die Gelder
aber meist auf längere Frist an. So müssen
am Repo-Markt zur Refinanzierung
dieser Positionen täglich Hunderte Milliarden
Dollar an Verbindlichkeiten neu aufund
abgebaut werden. In den Bankbilanzen
tauchen diese Summen so aber nicht
auf. Weil Forderungen und Verbindlichkeiten
dort in der Regel saldiert werden dürfen,
lassen sich die tatsächlichen Kreditrisiken
verschleiern – aber nur, solange die
Beleihungskette nicht reißt. Schon der
Ausfall einer Gegenpartei kann eine Kettenreaktion
auslösen, wie 2008.
Die Krise begann damals, als sich der
Wert komplex strukturierter und verbriefter
Finanzprodukte mit Bezug zum US-Immobilienmarkt
verflüchtigte. Die Verluste
aus den Investments zehrten am Eigenkapital
der Banken. Weil die Anlagen auch als
Sicherheiten am Repo-Markt eingesetzt
wurden, mussten dort wegen der Wertminderung
der Papiere Sicherheiten nachgeschossen
werden. Nach der Pleite von Lehman
Brothers hatte die Erkenntnis, dass jede
Bank pleitegehen kann, zu einem Run
auf den Repo-Markt geführt. Die Beleihungskette
riss, die Liquidität trocknete
aus. Auch die Realwirtschaft saß fast auf
dem Trockenen.
NEUES AUS DER GIFTKÜCHE
Doch die Lernkurve von Notenbanken und
Aufsichtsbehörden ist flach, und der Arm
der Wall Street reicht weit. So hat die Fed
mit ihrer Dauertiefzinspolitik und QE
gleich die nächste spekulative Renditejagd
entfacht. In den USA hat das erneut für einen
Boom bei strukturierten Finanzprodukten
und unregulierten Kreditderivaten
gesorgt. „Wir haben heute mehr Leverage
und ein größeres Derivate-Risiko als jemals
zuvor“, sagt Janet Tavakoli. Tavakoli
gründete 2003 in Chicago die Beratungsfirma
Tavakoli Structured Finance und gilt als
eine der weltweit renommiertesten Derivate-Expertinnen.
Leverage umschreibt
hier den Hebeleffekt bei Derivaten. Eigenkapital
wird durch Kredite gehebelt. Je größer
das Leverage, desto mehr Gewinn
(oder Verlust) kann mit kleinem Kapitaleinsatz
erzielt werden.
Banken sind längst wieder dabei, Problemkredite
in dicken Kreditbündeln zu
verstecken, etwa in sogenannten Collateralized
Loan Obligations (CLOs). Hier lagern
Banken etwa 100 bis 200 Unternehmenskredite
in eine Zweckgesellschaft außerhalb
der Bilanz aus. In dieser Zweckgesellschaft
werden die Kredite in einem Wertpapier,
dem CLO, gebündelt und so handelbar
gemacht. 2013 wurden nach Daten
von JP Morgan CLOs im Volumen von 82
Milliarden Dollar verkauft. Für 2014 wird
mit einem Anstieg auf 100 Milliarden
»
WirtschaftsWoche 15.9.2014 Nr. 38 93
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Geld&Börse
»
Dollar gerechnet. Das wäre ein neuer
Rekord. Insgesamt stehen in den USA derzeit
CLOs im Volumen von 300 Milliarden
Dollar aus. Etwa zwei Drittel davon werden
von den Ratingagenturen als nahezu mündelsicher
mit der Bestnote Triple-A bewertet.
Dabei setzt sich der Inhalt üblicherweise
auch aus Krediten von geringerer Qualität
zusammen.
Noch im September will Goldman
Sachs, dessen Chef Lloyd Blankfein einst
sagte, Banken würden „Gottes Werk“ verrichten,
mit sogenannten „Fixed Income
Global Structured Covered Obligation“
(FIGSCO) an den Markt kommen. Investoren
erhalten Anspruch auf ein Portfolio an
festverzinslichen Anleihen, wissen dabei
aber nicht, um welche Wertpapiere es sich
konkret handelt. „Das könnten hypothekenbesicherte
Wertpapiere, Staatsanleihen
oder hochverzinsliche Unternehmensanleihen
sein“, mutmaßen die Analysten der
französischen Großbank Crédit Agricole.
Da beruhigt auch nicht, dass die Ratingagentur
Standard & Poor’s das innovative
Goldman-Produkt bereits mit der Bestnote
Triple-A dekoriert hat.
AAA HAT WENIG ZU SAGEN
Erinnerungen werden wach an die Zeit vor
dem Lehman-Crash: Sogenannte Collateralised
Debt Obligations (CDOs) und andere
hypothekenbesicherte Wertpapiere,
die in der Finanzkrise bis zu 97 Prozent ihres
Wertes verloren hatten, waren ebenfalls
mit Triple-A ausgezeichnet.
Das „Wall Street Journal“ berichtete unlängst
von einem Boom bei sogenannten
„Structured Agency Credit Risk Bonds“. Mit
dieser neuen Variante synthetischer CDOs
wollen die staatlichen Hypothekenfinanzierer
Fannie Mae und Freddie Mac Ausfallrisiken
einer Gruppe von Hypotheken
auf private Investoren übertragen. Dafür
erhielten diese eine relativ hohe Rendite.
Die ersten dieser Produkte gingen im Juli
2013 an den Markt. Wall Street soll die
hochriskanten Produkte zu etwa 80 Prozent
kurzfristig über den Repo-Markt finanziert
haben. Nach einem anfänglichen
Kursanstieg um 30 Prozent brachen die
Kurse im August allerdings ein. Einige
Hedgefonds mussten Sicherheiten nachschießen.
Wer das nicht konnte, musste liquidieren.
Für größere Verwerfungen am Kreditmarkt
ist heute kein Unfall à la Lehman
mehr nötig. Unter Umständen reichte
schon ein Zinsanstieg oder eine Ausweitung
der Credit Spreads, also ein höherer
Schon der Ausfall
einer Gegenpartei
kann eine Kettenreaktion
auslösen,
so wie 2008
Einblick in die Derivate-Küche Goldman-
Chef Lloyd Blankfein vor dem US-Senat
Renditezuschlag für risikobehaftete Anleihen,
sagt Manish Kapoor vom New Yorker
Hedgefonds West Wheelock Capital. Kapoor
war bis zum Schluss Mitarbeiter von
Lehman und hat den Untergang des einstigen
Traditionshauses hautnah miterlebt.
Neben Banken wären heute auch die
Hedgefonds von einem Run auf den Repo-
Markt betroffen. Dort sollen sie sich geschätzt
mehr als 1000 Milliarden Dollar an
Fremdgeldern besorgt haben. Seit der von
der Federal Reserve Bank of New York organisierten
Rettung von LTCM im September
1998 gilt für große Hedgefonds ebenfalls,
dass es zu riskant wäre, sie pleitegehen
zu lassen („Too big to fail“).
Feiner Unterschied: Damals reichten 3,6
Milliarden Dollar, um die Wall Street von
der LTCM-Pleite abzuschirmen. Heute
aber steckt ungleich mehr Geld in Hedgefonds:
Anfang der Neunziger verwaltete
die Branche Vermögenswerte von 40 Milliarden
Dollar, heute dürften es über 2600
Milliarden Dollar sein.
2007, im Jahr vor dem Lehman-Crash,
erreichte der Kreditboom seinen Höhepunkt,
als immer wahnwitzigere Finanzinnovationen
zur Schuldenfinanzierung auf
den Markt kamen. Das wurde damals von
den meisten Anlegern nicht zur Kenntnis
genommen. So ist es auch heute wieder.
Der jüngste Kurseinbruch von Junk-
Bonds, also Anleihen von bonitätsschwachen
Unternehmen, ist durchaus vergleichbar
mit den Problemen, in die zwei
von der Investmentbank Bear Stearns aufgelegte
„High Grade“-Kredit-Hedgefonds
im Juni 2007 geraten waren. Auch dort
spielte die fehlende Liquidität eine entscheidende
Rolle. Die beiden Fonds konnten
sich nicht mehr refinanzieren, um ihre
Positionen aufrechtzuerhalten. Am 31. Juli
2007 beantragten die Fonds Gläubigerschutz.
Bear Stearns landete im Mai 2008
unter dem Dach von JP Morgan und entging
nur so demselben Schicksal, wie es
Lehman wenige Monate später ereilte.
SCHWER VERKÄUFLICHE BONDS
Investoren müssen sich nur daran erinnern,
dass riskante Wertpapiere auch ein
Risiko tragen, dann sorgen Verkäufe automatisch
für weitere Verkäufe. Die Rekordabflüsse
aus Junk-Bonds in den vergangenen
Wochen deuten darauf hin, dass dieser
Prozess bereits angelaufen sein könnte. Für
einige Anleihen gibt es kaum noch einen
Markt. Es kann hier jederzeit zu einer Panik
kommen, die schnell auf andere spekulative
Segmente des Kreditmarktes übergreifen
kann – etwa auf verbriefte Subprime-
Autokredite.
Wie Immobilienkäufe vor der Finanzkrise
werden in den USA heute Autokäufe im
Schnitt zu mehr als 100 Prozent auf Pump
finanziert, sprich: Die alte Karre ist noch
nicht abbezahlt, da steht die neue schon
vor der Tür. Die Bonität vieler Kreditnehmer
ist bedenklich schlecht. Banken halten
rund ein Drittel des auf 250 Milliarden Dollar
geschätzten Marktvolumens. Die US-
Aufsicht Office of the Comptroller of the
Currency hat die Banken bereits vor den
Risiken der Autokredite gewarnt.
Dass sich die Aufsichtsbehörde für das
US-Bankensystem überhaupt damit beschäftigen
muss, scheint erstaunlich. Hierzulande
reicht ein Blick in die Gebrauchtwagen-Statistik
des ADAC, und schon wird
klar: Ein neues Auto verliert automatisch
und rasch an Wert. Sobald das Nummernschild
angeschraubt ist, sind 10 bis 20 Prozent
der Kaufsumme futsch. Als 100-Prozent-Sicherheit
für einen Kredit ist ein Auto
ungeeignet – mag der Crashtest auch noch
so gut ausgefallen sein.
n
frank.doll@wiwo.de, gerald cesar
FOTO: IMAGO/UPI PHOTO
94 Nr. 38 15.9.14 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Barron’s
Ein Volk sorgt vor
US-AKTIEN | Amerikaner sparen mehr. Das bremst die Wirtschaft
und treibt die Kurse von börsennotierten Vermögensverwaltern.
2020 wachsen. Das wäre dann die längste
US-Wachstumsphase seit dem Zweiten
Weltkrieg.
Weil die Amerikaner weniger ausgeben,
überrascht es nicht, dass der Einzelhandel
leidet. Zum Beispiel die US-Einzelhandelskette
Gap, zu der auch die Modemarken
Banana Republic und Old Navy gehören.
Der Kurs der Aktie verlor zuletzt, nachdem
das Unternehmen im August bei gut eingeführten
Läden, die seit mindestens einem
Jahr bestehen, Umsatzeinbußen um zwei
Prozent gemeldet hatte.
ILLUSTRATION: TOM MACKINGER
Zugmaschine der US-Wirtschaft ist
der Konsument. Dieser Tage wirkt
die Lokomotive allerdings reichlich
ramponiert. Die Konsumausgaben
sind bis Juli nur noch mit einer
durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate
von 3,2 Prozent gestiegen. Das ist der
geringste Wert seit 2009, obwohl die Einkommen
die höchste Wachstumsrate seit
2011 aufweisen. Die Amerikaner geben also
weniger von ihrem verdienten Geld aus.
5,7 Prozent des Einkommens im Juli wurden
auf die hohe Kante gelegt. Das ist die
höchste Sparquote seit 2012. Eine Nation
von Verschwendern wird vorsichtiger.
Für die US-Wirtschaft ist ein gesparter
Cent aber leider kein gewonnener Cent.
Bei der Berechnung des Bruttoinlandsprodukts
zählen die Verbraucherausgaben,
nicht die Ersparnisse. Daher führte der
Rückgang der Verbraucherausgaben im Juli
im Vergleich zum Juni zu einer Korrektur
der Konjunkturprognosen für das dritte
Quartal auf nun weniger als drei Prozent.
Warum geben die Leute ihr Geld nicht
aus? Gründe sind etwa der ungewöhnlich
kühle Sommer, der die Stromrechnungen
in Grenzen hielt, weil die Klimaanlagen
nicht so oft in Betrieb waren wie in vergangenen
Jahren. Oder auch demografische
Aspekte: Die Zahl der über 65-Jährigen –
die mit ihrem Geld vorsichtig wirtschaften
müssen, wenn es bis zum Ende reichen soll
– steigt rascher als die der Menschen, die
ihr maximales Einkommens- und Ausgabenniveau
erreicht haben.
Wesentlicher erscheint eine weniger
handfeste Tatsache: Die Amerikaner haben
die große Rezession psychologisch nach
wie vor nicht überwunden. In Stimmungsumfragen
schätzen sie die aktuelle Lage
zwar als gut ein. Weit weniger zuversichtlich
sind aber die Einschätzungen für die
Zukunft. Von denen jedoch hänge das
Konsumverhalten der Menschen ab, sagt
der Ökonom David Rosenberg von der Vermögensverwaltung
Gluskin Sheff. „Ein globaler
Finanzkollaps zieht immer Nachbeben
nach sich“, sagt er.
Das heißt nicht, dass die Konsumenten
nicht wieder zu kaufen beginnen – es geht
nur einfach langsamer, wie alles andere in
der Erholung nach der großen Finanzkrise.
Laut Ellen Zentner von Morgan Stanley
liegt das Verbrauchervertrauen erst jetzt
wieder auf einem durchschnittlichen
Niveau, obwohl sich die US-
Wirtschaft seit über fünf Jahren
auf Erholungskurs befindet. Immerhin:
Weil das Tempo des Aufschwungs
so moderat ist, hält die
Phase der wirtschaftlichen Expansion
länger an als in anderen
Konjunkturzyklen, die früher in
eine Überhitzung mündeten. Die
US-Wirtschaft könnte noch bis
Die beste
Geschichte aus
der aktuellen
Ausgabe von
dem führenden
amerikanischen
Magazin für
Geldanleger.
BÖRSENBOOM HEBT KAUFLAUNE
Eine Ausnahme bilden die auf wohlhabende
Käufer ausgerichteten Händler. Die Zukunftserwartungen
der Vermögenden orientieren
sich gewöhnlich an der Entwicklung
der Börsen, und die lässt ja seit zwei
Jahren nahezu euphorische Gefühle aufkommen.
Der Schmuckhändler Tiffany etwa
meldete gerade 16 Prozent Gewinnwachstum.
Direkt profitieren können Anleger von
der neuen Sparfreude mithilfe der Aktien
von börsennotierten Vermögensverwaltern.
All das gesparte Geld wolle auch angelegt
werden, sagt Rosenberg. Man könne
es auf ein Bankkonto legen oder in Geldmarktfonds
parken und dabei praktisch
nichts verdienen. Oder man könne es
arbeiten lassen, indem man es in Aktien,
Anleihen, Fonds oder börsennotierten
Indexfonds (ETFs) anlege. „Die Sparfreude
ist ein Gräuel für Einzelhändler, aber ein
Segen für Vermögensverwalter“, meint
Rosenberg.
Unter den Gewinnern dürfte der international
tätige US-Vermögensverwalter
Blackrock zu finden sein. Börsennotierte
ETFs sind bei den Anlegern zunehmend
hoch im Kurs, und davon profitiert iShares,
der ETF-Anbieter von Blackrock. Allein im
August flossen der Firma elf Milliarden
Dollar an neuen Mitteln zu, meldete Doug
Sipkin, der den Indexfondsanbieter für die
Susquehanna Financial Group beobachtet.
Die ETFs von iShares haben Recherchen
von Sipkin zufolge auch bei verwalteten
ETF-Portfolios voll eingeschlagen:
Ende Juni hatten die
13 größten Vermögensverwalter
rund 220 iShares-Produkte in
ihren Portfolios, gegenüber 168
noch ein Jahr zuvor. Sipkin
glaubt, der Kurs der Blackrock-
Aktie könnte noch um 15 Prozent
steigen, auf etwa 380 Dollar. n
ben levisohn | geld@wiwo.de
WirtschaftsWoche 15.9.2014 Nr. 38 95
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Geld&Börse | Steuern und Recht
FLUGGASTRECHT
Geld gibt es ab drei Stunden
Airlines müssen Reisende entschädigen, wenn sie verspätete Flüge zu vertreten haben.
Derzeit streiken Piloten der Lufthansa. Passagiere
ärgern sich über verspätete oder ausgefallene
Flüge. Geld dafür gibt es nicht. So entschied
der Bundesgerichtshof, dass ein Streik ein ungewöhnlicher
Umstand ist, den die Fluggesellschaften
nicht zu vertreten haben (X ZR 104/13, X ZR
121/13). Gleiches gilt für Stürme, Vulkanausbrüche
oder Terroranschläge. Allerdings müsse
die Airline nachweisen, dass sie alles Zumutbare
getan habe, um Ausfälle und Verspätungen zu
verhindern, so die Richter. Zahlen müssen die
Airlines dagegen, wenn der Flug wegen eigenem
Verschulden verspätet war, etwa weil die Maschine
defekt oder der Flug überbucht war. Geld gibt
es allerdings nur, wenn die Verspätung mindestens
drei Stunden betrug. Die verlorene Zeit wird
RECHT EINFACH | Herbstlaub
Fallen im Herbst die Blätter von
den Bäumen, drohen durch das
Laub Unfälle und Streit. Oft
enden die Konflikte vor Gericht.
§
Gestürzt. Eine Passantin
stürzte auf dem Bürgersteig
auf feuchtem Laub und
brach sich die Schulter. Vom
Anrainer wollte sie 2500 Euro
Schmerzensgeld. Er habe den Gehweg
nicht ausreichend geräumt.
Die Richter lehnten ab, denn der
Beklagte habe kurz vor dem Unfall
Laub entfernt. Es sei den Anwoh-
nern nicht zuzumuten, den Bürgersteig
ständig zu räumen (Landgericht
Coburg, 14 O 742/07).
Zwangsarbeit. Ein Hausbesitzer
sollte nicht nur das Laub der Bäume
auf seinem Grundstück vom
Gehweg entfernen, sondern auch
die Blätter von drei Eichen, die auf
einer öffentlichen Fläche standen,
die an sein Grundstück grenzte.
Diese Auflage der Stadt empfand
der Eigenheimer als Zwangsarbeit
und klagte. Er fühle sich gegenüber
anderen Anwohnern benachteiligt.
gemessen, wenn sich am Zielflughafen die Tür
der Maschine öffnet (Europäischer Gerichtshof,
C-452/13). Holt der Pilot einen Teil der Verspätung
auf, sodass sie am Ziel weniger als drei Stunden
beträgt, gehen die Passagiere leer aus. Entschädigt
werden Reisende, die innerhalb der EU
fliegen und Passagiere von Airlines mit Sitz in der
EU, deren Flug zwar in einem Drittland startete,
aber auf einem Flughafen innerhalb der EU
endet. Wie hoch die Entschädigung ist, hängt von
der Flugstrecke ab. Bei bis zu 1500 Kilometern
sind es 250 Euro, bis 3500 Kilometern 400 Euro
und bei über 3500 Kilometern 600 Euro, wenn
der Flug mindestens vier Stunden verspätet war.
Passagiere können Entschädigungen bis zu drei
Jahre nach dem Flug geltend machen.
Vor Gericht hatte der Hausbesitzer
kein Glück. Das Laub der drei
Eichen zu entfernen sei zumutbar,
so die Richter (Verwaltungsgericht
Lüneburg, 5 A 34/07).
Oft genug gefegt. Ein Patient
stürzte auf seinem Weg vom Parkplatz
zum Haupteingang eines
Krankenhauses und fiel dabei auf
AKTIONÄRSRECHTE
Anleger
getäuscht
Zwei Anleger kauften im Oktober
2010 Aktien der neu gegründeten
Frankfurter Alpha-B Holding
im Wert von 300 000 Euro.
Die Aktien waren weder börsennotiert
noch handelbar.
Laut Treuhandvertrag sollte die
Alpha-B Holding eine Banklizenz
erwerben oder eine Bank
kaufen, um unter anderem Investmentbanking
und Handel
mit Forderungen zu betreiben.
Später stellte sich heraus, dass
das von Wing Yin Chan gegründete
Unternehmen ausschließlich
Immobilien kaufte und
verwaltete. Die Anleger fühlten
sich getäuscht und verklagten
Gründer Chan. Sie hätten sich
nicht beteiligt, wenn sie vom
tatsächlichen Geschäftsmodell
gewusst hätten. Sie bekamen
beim Landgericht Frankfurt
vorläufig recht (2–27 O 422/12).
Laut Urteil muss Chan die Aktien
zurücknehmen und den
Anlegern die 300 000 Euro plus
Zinsen zurückzahlen. Allerdings
ist das Urteil noch nicht
rechtskräftig. „Bis April 2011
soll Chan laut eigenen Angaben
mit Aktien und Wandelanleihen
der Alpha-B Holding bei
Anlegern insgesamt 5,3 Millionen
Euro eingesammelt haben“,
sagt Andreas M. Lang, Vorstand
der Kanzlei Nieding & Barth in
Frankfurt.
den Rücken. Grund für die Rutschpartie
war nasses Laub. Der
Patient wollte vom Krankenhaus
25 000 Euro Schmerzensgeld.
Trotz Rückenschmerzen bekam er
kein Geld. Das Krankenhaus habe
laut Zeugenaussagen etwa zwei
Stunden vor dem Unfall den Gehweg
von Laub gereinigt, so die
Richter. Es sei damit erwiesen,
dass das Krankenhaus die Wege
ausreichend oft von Blättern
befreit habe (Schleswig-Holsteinisches
Oberlandesgericht, 11 U
16/13).
FOTOS: GETTY IMAGES/ANADOLU AGENCY/ABDULSELAM DURDAK, SHOTSHOP.COM, PR
96 Nr. 38 15.9.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
ERBSCHAFTSTEUER IN SPANIEN
Zu viel gezahlte Steuer zurückfordern
Der Europäische Gerichtshof
(EuGH) hat entschieden, dass
die spanische Erbschaftsteuer
gegen EU-Recht verstößt, weil
Ausländer, die ihren steuerrechtlichen
Wohnsitz nicht in
Spanien haben, eine höhere
Erbschaftsteuer zahlen müssen
als Einheimische (C-127/12).
Grund dafür, so Steuerberater
Gustavo Yanes aus Madrid, seien
regionale Vergünstigungen
bei der Erbschaftsteuer für die
in der betreffenden Region
wohnenden Steuerzahler. So
könnten Kinder, die von ihren
Eltern eine Immobilie erbten,
beispielsweise in Madrid oder
auf den Balearen, zusätzlich
EINKOMMENSTEUER
Yacht ist Privatsache
Unternehmer dürfen Aufwand,
der ausschließlich privaten
Zwecken dient, beispielsweise
für Segel- oder Motoryachten,
weder als Betriebsausgaben
von der Einkommensteuer
noch die auf den Kaufpreis entfallende
Mehrwertsteuer absetzen.
Dieses Verbot verstößt
nicht gegen geltendes EU-Recht
(Bundesfinanzhof, V R 34/13).
Allerdings gibt es eine Ausnahme.
Wenn der Unternehmer
seine Yacht gewerblich vermietet
und damit Gewinn erzielen
SCHNELLGERICHT
will, kann er den laufenden Aufwand
als Betriebsausgaben und
die beim Kauf gezahlte Mehrwertsteuer
absetzen. Nutzt der
Besitzer die Yacht überwiegend
selbst und vermietet sie nur gelegentlich
an Dritte, gibt es in
der Regel keinen Anspruch auf
Steuerabzug, weil sich damit
keine Gewinne erzielen lassen.
Einen Steuernachlass gibt es
immer nur dann, wenn der
Steuerzahler nachweisen kann,
dass der Aufwand zu Einkünften
führt.
einen persönlichen Freibetrag
in Anspruch nehmen. Aufgrund
des Urteils könnten Ausländer
vom spanischen Fiskus zu viel
gezahlte Erbschaftsteuer zurückverlangen,
so Yanes. Dies
sei in Fällen möglich, bei denen
die Erbschaft oder Schenkung
nicht mehr als vier Jahre zurückliege
oder der Steuerbescheid
noch nicht rechtskräftig
sei. Rückerstattungsanträge seien
bei der Zentralfinanzbehörde
in Madrid einzureichen, die
für Ausländer zuständig sei, die