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Tierversuche: Geringerer Bedarf dank technischem Fortschritt

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Mediengespräch «Tierschutz, <strong>Tierversuche</strong>, Labortierhaltung» vom 7. November 2013 in Bern<br />

<strong>Tierversuche</strong>:<br />

<strong>Geringerer</strong> <strong>Bedarf</strong> <strong>dank</strong> <strong>technischem</strong> <strong>Fortschritt</strong><br />

von Isabelle Chevalley, Dr. ès Sciences. Nationalrätin (GLP/VD)<br />

Heute werden viele Tiere in <strong>Tierversuche</strong>n für giftige Produkte, neue Medikamente oder die<br />

Erstellung von Diagnosen verwendet. Das einzige Problem ist, dass der Mensch kein Nagetier ist.<br />

Wenig geeignetes Tiermodell<br />

In einer Studie 1 wurden die karzinogenen Eigenschaften von Substanzen bei Ratten und Mäusen<br />

verglichen. 46 % der getesteten Substanzen waren bei Ratten karzinogen, nicht aber bei Mäusen<br />

oder umgekehrt. Daher stellt sich die Frage der Gültigkeit einer Hochrechnung für den<br />

Menschen, wenn die Ergebnisse selbst bei Ratten und Mäusen verschieden sind. Bei einer<br />

anderen Studie, die 1983 an 19 für den Menschen allgemein bekannten karzinogenen<br />

Substanzen, zum Beispiel Dichlorvos und Lindan, durchgeführt wurde, führten nur neun bei<br />

Nagern zu Krebs. Dies entspricht einer Fehlerquote von 63 %! Es wurde auch nachgewiesen, dass<br />

Menschen 300 Mal empfindlicher auf Asbest reagieren als Ratten. Die karzinogene Wirkung von<br />

Asbest wurde schliesslich auch mittels Untersuchungen an Arbeitern, die mit diesem Material in<br />

Kontakt standen, festgestellt. Sacharin hingegen wurde zu Unrecht zwei Jahrzehnte lang als<br />

karzinogen klassifiziert, weil die männlichen Nagetiere mit dieser Substanz einen Blasenkrebs<br />

entwickelten. Zahlreiche an der Bevölkerung durchgeführte Studien hatten für dieses<br />

Süssungsmittel kein Krebsrisiko ergeben. Trotzdem verlangte die amerikanische<br />

Gesundheitsbehörde FDA einen Warnhinweis auf Sacharinverpackungen. Erst 2000 wurde der<br />

Irrtum eingestanden.<br />

Beispiele, bei denen Mensch und Tier auf verschiedene Substanzen unterschiedlich reagieren:<br />

Substanz Mensch Tier<br />

Asbest Krebs Von Ratten und Hamstern toleriert<br />

Arsen Giftig Von Schafen toleriert<br />

Thalidomid Missbildungen Keine Missbildungen bei Tieren (ausser bei gewissen<br />

Affen- und Kaninchenarten)<br />

Kortison Toleriert Missbildungen bei Mäusen<br />

Morphin Beruhigend Stimulierend bei Katzen, Rindern und Pferden<br />

Penizillin Gut toleriert Schädigende Wirkungen bei Meerschweinchen,<br />

Kaninchen und Hamstern<br />

Paracetamol Gut toleriert Toxische Wirkung bei Katzen<br />

Phenobarbital Gut toleriert Leberkrebs bei Ratten<br />

Sacharin Gut toleriert Blasenkrebs bei männlichen Ratten<br />

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Mediengespräch «Tierschutz, <strong>Tierversuche</strong>, Labortierhaltung» vom 7. November 2013 in Bern<br />

Viel schlimmer noch: Niemand weiss, wie viele als gültig taxierte Medikamente nie auf<br />

den Markt gekommen sind, weil sie gestützt auf <strong>Tierversuche</strong> vorzeitig ausgeschieden<br />

wurden. Wir hätten auf viele hilfreiche Medikamente, darunter Aspirin, Ibuprofen, Insulin,<br />

Penizillin oder Phenobarbital, verzichten müssen, wenn man sich bereits früher auf diese Art von<br />

Experimenten verlassen hätte. Diese Substanzen lösen nämlich bei bestimmten Tierarten<br />

schwere Schädigungen aus, da diese einen anderen Stoffwechsel haben.<br />

<strong>Tierversuche</strong> allein sind nicht der Grund für die Gültigkeit eines Medikamentes<br />

92 % der potenziellen Medikamente, die sich im Tiermodell als wirksam und sicher erwiesen<br />

haben, schaffen die Hürde der klinischen Untersuchung 2 entweder aufgrund fehlender<br />

Wirksamkeit oder unerwünschter Nebenwirkungen nicht. Von den restlichen 8 % wird die Hälfte<br />

wieder vom Markt genommen, weil die Medikamente beim Menschen andere Nebenwirkungen<br />

zeigen, die schwerwiegend bzw. tödlich sind 3 .<br />

In einer weiteren Vergleichsstudie hat ein Team britischer Wissenschaftler festgestellt, dass sich<br />

die Ergebnisse von Forschungen, die bei Tieren und Menschen auf die gleiche Art und Weise<br />

durchgeführt wurden, oft deutlich voneinander unterscheiden. Gemäss dieser Studie 4 können<br />

ungenaue Ergebnisse von <strong>Tierversuche</strong>n das Leben von Patienten gefährden und sind im<br />

Übrigen eine Verschwendung der für die Forschung bereitgestellten Mittel.<br />

Gibt es Alternativen?<br />

Ob für Toxizitätstests, Versuche zur Erkennung von Krankheiten oder Tests von aktiven<br />

Wirkstoffen – es gibt zuverlässigere und weniger kostspielige Alternativen zu <strong>Tierversuche</strong>n. Hier<br />

ein paar Beispiele:<br />

Toxizitätstest<br />

Während Jahrzehnten wurde der so genannte Fischtest durchgeführt, um die Toxizität von<br />

Industrieabwasser zu bestimmen und die Gebühren für die Einleitung des Abwassers in die<br />

Gewässer zu berechnen. Selbst das Gesetz schrieb diesen Test vor. Er bestand darin,<br />

festzustellen, ab welcher Verdünnung des Abwassers alle Versuchstiere 48 Stunden überleben.<br />

Seit 1997 wurden verschiedene Versuche ohne Tiere in die Verordnungen aufgenommen und<br />

sollten diesen letztendlich ersetzen. Diese Tests stützen sich auf Bakterien oder Algen und<br />

reagieren alle empfindlicher als der Fischtest. Doch erst auf Druck von Tierschutzorganisationen<br />

wurde der Fischtest 2005 abgelöst, wird aber weiterhin trotz klarer Rechtslage gelegentlich<br />

verwendet.<br />

Krankheitstest<br />

Meerschweinchen wurden seit über 100 Jahren für die Diagnose von Tuberkulose verwendet.<br />

Das Analysematerial, zum Beispiel der Speichel, wurde dem Tier in die Flanke injiziert. Nach 6 bis<br />

8 Wochen wurden die Tiere getötet und unter dem Gesichtspunkt von spezifischen organischen<br />

Veränderungen untersucht. Moderne Techniken, die mit speziellen Kulturbrühen arbeiten,<br />

erlauben heute die Züchtung der Krankheitserreger der Tuberkulose. In den angelsächsischen<br />

Ländern ist dieser Laborversuch an Tieren verboten.<br />

Wirkstofftest<br />

Monoklonale Antikörper sind Proteine, die in der Diagnostik und Therapie von Krebs und<br />

anderen schweren Krankheiten eine grosse Rolle spielen. Die Herstellung erfolgt seit rund<br />

zwanzig Jahren an Tierzellen im Bioreaktor. Zuvor waren die Antikörper mittels Experimenten an<br />

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Mediengespräch «Tierschutz, <strong>Tierversuche</strong>, Labortierhaltung» vom 7. November 2013 in Bern<br />

Mäusen und Kaninchen gewonnen worden. Die Universität Genf hat vor kurzem eine Technik<br />

entwickelt, die ein unbegrenztes Klonen der Antikörper mittels Bakterien ermöglicht. Dank<br />

dieses Verfahrens bleiben in der Schweiz nicht weniger als 6‘000 Kaninchen von <strong>Tierversuche</strong>n<br />

verschont.<br />

Bei allen injizierten Lösungen, Impfstoffen oder anderen eingespritzten Substanzen ist zu<br />

untersuchen, ob sie Stoffe enthalten, die Fieber auslösen könnten. Bis heute wurde die Substanz<br />

Kaninchen verabreicht. Während mehrerer Stunden wird kontrolliert, ob die Körpertemperatur<br />

steigt. Die Ergebnisse sind nicht zuverlässig, denn die Temperatur der Tiere könnte von nicht<br />

erfassbaren Faktoren beeinflusst werden und zeigt bei wiederholter Anwendung starke<br />

Schwankungen. Es ist einfacher, das Vorhandensein von Substanzen mikrobiellen Ursprungs<br />

nachzuweisen, die das Fieber im menschlichen Blut aufgrund der Reaktion der Immunzellen<br />

auslösen. Man erhält sehr präzise und reproduzierbare Resultate, die für den Menschen direkte<br />

Schlüsse erlauben. Obwohl die Methode seit 2010 im Europäischen Arzneibuch eingetragen und<br />

daher anerkannt ist, wird sie noch sehr wenig angewendet.<br />

Manchmal sind Tiere nötig, aber es geht auch mit weniger Verschwendung und Leiden<br />

So können zum Beispiel Gewebeschnitte von zu diesem Zweck getöteten Tieren oder aus<br />

Schlachtabfällen verwendet werden. Beim von der EU geförderten Projekt Sens-it-iv arbeitet<br />

man mit Lungenschnitten von toten Ratten, um die Schädlichkeit der eingeatmeten Substanzen<br />

zu prüfen. Der gleiche Test kann an menschlichem Gewebe aus Operationsabfällen durchgeführt<br />

werden.<br />

Alternativen zu <strong>Tierversuche</strong>n sind günstiger<br />

Es wurde eine Vergleichsstudie 5 der Kosten von <strong>Tierversuche</strong>n und In-Vitro-Methoden mittels<br />

eines Vergleichs von sehr unterschiedlichen Tests durchgeführt. Diese Studie zeigt, dass die<br />

Alternativen viel weniger kosten.<br />

Toxizitätstest<br />

Tierversuch<br />

Normalkosten in CHF<br />

In-vitro-Test<br />

Irritation der Augen 2'100.- 1'125.-<br />

Ätzende Wirkung auf der Haut 2'100.- 175.- bis 975.-<br />

Irritation der Augen unter Lichteinfluss 11'800.- 1'500.-<br />

Schädigung am Erbgut<br />

(Schwesterchromatid-Austausch<br />

Schädigung am Erbgut<br />

(nicht geplante DNS-Synthese)<br />

26'500.-<br />

38'500.-<br />

Schädigung am Erbgut (Mutation) 36'000.- 24'000.-<br />

9'600.-<br />

13'200.-<br />

Pyrogentest (Stoff, der Fieber erzeugt) 480.- 130.-<br />

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Mediengespräch «Tierschutz, <strong>Tierversuche</strong>, Labortierhaltung» vom 7. November 2013 in Bern<br />

Sind <strong>Tierversuche</strong> Alibiübungen?<br />

Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass nur 325 Wirkstoffe nötig sind, um<br />

Humankrankheiten zu behandeln 6 . Trotzdem überschwemmen über 6‘500 Arzneimittel den<br />

Schweizer Markt, gegenüber mehr als 60‘000 in Deutschland. Dies hat unerfreuliche Folgen für<br />

die privaten und staatlichen Gesundheitskosten. Dabei sind die schädlichen Nebenwirkungen<br />

der Substanzen nicht immer bekannt, da meist nur die „positiven“ Studien veröffentlicht werden,<br />

während die „negativen“ unter Verschluss bleiben 7 . Erhält die Öffentlichkeit Kenntnis von<br />

schweren oder sogar tödlichen Nebenwirkungen eines Medikaments, verstecken sich die<br />

Pharmaunternehmen hinter <strong>Tierversuche</strong>n, um sich gegen Schadenersatzklagen zu wappnen.<br />

Wie soll es weitergehen?<br />

In die <strong>Tierversuche</strong> fliessen viele staatliche Mittel. Das Konzept der 3 R (Replacement, Reduction,<br />

Refinement) wird in der Forschung immer noch als Stiefkind behandelt. So beliefen sich<br />

beispielsweise die jährlichen Kosten für Projekte mit <strong>Tierversuche</strong>n an den Hochschulen gemäss<br />

SNF 2009 auf CHF 76 Millionen (521 Projekte). Die Herstellung und Umsetzung der gesetzlich<br />

verankerten Alternativen zu <strong>Tierversuche</strong>n werden zum Vergleich pro Jahr mit nur CHF 450‘000<br />

finanziert. Die Stiftung Forschung 3R kann jährlich nur drei bis sechs neue Projekte unterstützen,<br />

das ist 100 Mal weniger als die Unterstützung des SNF für Projekte mit Tieren. Ohne<br />

angemessene finanzielle Mittel lassen sich keine glaubwürdigen Alternativen finden. Geben wir<br />

unseren Forschern also die finanzielle Unterstützung, die ihren tatsächlichen Bedürfnissen<br />

entspricht.<br />

1 Di Carlo, FJ. Drug Metabolism Reviews 1984, 15: 409-413.<br />

2 US Food and Drug administration Report: Innovation or Stagnation-Challenge and Opportunity on<br />

the Critical Path to New Medical Products, March 2004, p.8.<br />

3 US General Accounting Office. FDA Drug Review: Postapprouval Risks 1976-1985. Publication<br />

GAO/PEMD-90-15, Washington D.C., 1990.<br />

4 Pound P, Ebrahim S, Sandercock P, Bracken MB, Roberts I: Where is the evidence that animal<br />

research benefits humans? BMJ, 2004, 328: 514-517.<br />

5 McIvor E, Seidle T: Within REACH-Intelligent Testing Strategies for the Future EU Chemicals<br />

Regulation, Sept. 2006.<br />

6 Weltgesundheitsorganisation, Pressemitteilung vom 04.09.2002, www.who.int.<br />

7 Paulus J, Kranke Maschenschaften. Bild der Wissenschaft, 10/2005, 27-31.<br />

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