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Nº10<br />
OKTOBER<br />
2014<br />
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10<br />
4 196392 008505<br />
<strong>Kein</strong> <strong>Fußball</strong> <strong>für</strong><br />
<strong>Russland</strong> <strong>und</strong> <strong>Katar</strong> –<br />
Die <strong>Cicero</strong>-Elf<br />
der WM-Kritiker<br />
Wolfsland<br />
Die Deutschen <strong>und</strong> ihr<br />
Mythentier<br />
„Ich nehm’ mir auch mal frei“<br />
Angela Merkel im<br />
<strong>Cicero</strong>-Gespräch<br />
Im Bier <strong>und</strong> Jetzt<br />
Ein Fotoessay<br />
zur Wiesn
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ATTICUS<br />
N°-10<br />
SCHWEIGEKARTELL<br />
Titelbild: Simon Prades; Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />
Ganz kurz tauchte die Idee auf,<br />
sie kam aus Großbritannien <strong>und</strong><br />
sollte in den Instrumentenkasten der<br />
Europä ischen Union gegen das <strong>Russland</strong><br />
Wladimir Putins. Aber ganz schnell<br />
schoben die <strong>Fußball</strong>funktionäre eine<br />
Bleiplatte darüber. In dieser Frage bilden<br />
sogar die sich spinnefeinden <strong>Fußball</strong>bosse<br />
Sepp Blatter <strong>und</strong> Michel Platini<br />
eine Front. „Das ist doch albern“, erklärte<br />
Platini. Die WM 2018 bleibe in<br />
<strong>Russland</strong> – <strong>und</strong> die 2022 in <strong>Katar</strong>.<br />
Die Idee verschwand wieder von der<br />
Brüsseler Sanktionsliste. Aber nicht aus<br />
unseren Köpfen. Die <strong>Cicero</strong>-Redaktion<br />
ist einhellig wie selten der Meinung, dass<br />
beiden Ländern das Privileg nicht gebührt,<br />
eines der größten Sportfeste der<br />
Welt auszurichten. Bei <strong>Katar</strong> stellt sich<br />
immer schon die Frage, was es eigentlich<br />
soll, in der Hitze eines Wüstenstaats<br />
<strong>Fußball</strong> zu spielen. Zu den erschreckenden<br />
Berichten über die Ausbeutung von<br />
Arbeitern auf den Baustellen von <strong>Katar</strong><br />
kamen jüngst Hinweise darauf, dass in<br />
dem Emirat Sponsoren des islamistischen<br />
Terrors sitzen.<br />
Und <strong>Russland</strong>: Putin hat schon die<br />
Olympischen Winterspiele zur Machtdemonstration<br />
umfunktioniert. Der deutsche<br />
B<strong>und</strong>espräsident sah es als geboten<br />
an, nicht nach Sotschi zu reisen. Um<br />
wie weit mehr müssen diese Vorbehalte<br />
nun nach der Annexion der Krim <strong>und</strong><br />
des Kampfes um die Ostukraine gelten.<br />
Blatter <strong>und</strong> Platini können bei all<br />
ihrer Macht nicht alle zum Schweigen<br />
verdonnern. In diesem Heft erheben elf<br />
Persönlichkeiten die Stimme gegen das<br />
Schweigekartell – <strong>Fußball</strong>er, Trainer,<br />
Schriftsteller. <strong>Kein</strong>e WM <strong>für</strong> <strong>Katar</strong>,<br />
keine WM <strong>für</strong> <strong>Russland</strong>! Manche fordern<br />
beides, manche unterscheiden.<br />
Manche schreiben abwägend, andere<br />
apodiktisch. Aber alle sind der Meinung:<br />
Darüber muss endlich geredet werden.<br />
Der Sportjournalist Jens Weinreich<br />
beschreibt, wie es zu diesen beiden unseligen<br />
Entscheidungen kam – <strong>und</strong> ob<br />
man sie revidieren könnte (ab Seite 14).<br />
Unsere Reporterin Sarah-Maria Deckert<br />
kontaktierte an die 100 Persönlichkeiten,<br />
um eine <strong>Cicero</strong>-Elf der WM-Kritiker<br />
aufzustellen (ab Seite 22). Viele<br />
stimmten ihr hinter vorgehaltener Hand<br />
zu – <strong>und</strong> lehnten dann doch ab. Umso<br />
mehr Respekt verdient jene Elf, die<br />
sich in diesem Heft versammelt hat. Sie<br />
haben angefangen. Diskutieren Sie mit<br />
( rotekarte@cicero.de ). Mischen Sie sich<br />
ein. Schreiben Sie uns.<br />
Mit besten Grüßen<br />
CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />
Chefredakteur<br />
3<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
INHALT<br />
TITELTHEMA<br />
14<br />
FAULES SPIEL<br />
Die Geschichte der WM-Vergabe ist eine von Geld,<br />
Macht <strong>und</strong> Eitelkeit. Wäre es überhaupt möglich, <strong>Russland</strong><br />
<strong>und</strong> <strong>Katar</strong> die <strong>Fußball</strong>turniere wieder wegzunehmen?<br />
Von JENS WEINREICH<br />
Illustration: Simon Prades<br />
21<br />
60 PROZENT DAGEGEN<br />
Eine Umfrage im Auftrag<br />
von <strong>Cicero</strong> ergibt: Die klare<br />
Mehrheit der Deutschen ist<br />
gegen die <strong>Fußball</strong>-WM in <strong>Katar</strong><br />
Von FORSA<br />
22<br />
ELF STARKE STIMMEN<br />
Von Axel Hacke bis Thomas<br />
Strunz: Persönlichkeiten<br />
schreiben, was sie an einer WM<br />
in <strong>Katar</strong> <strong>und</strong> <strong>Russland</strong> stört<br />
Die CICERO-ELF der WM-Kritiker<br />
30<br />
„KEINE WM BEI KRIEG“<br />
Der Grüne Jürgen Trittin<br />
ist gegen die WM in<br />
<strong>Katar</strong>. <strong>Russland</strong> würde<br />
er eine Chance geben<br />
Von CHRISTOPH SEILS<br />
5<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
BERLINER REPUBLIK WELTBÜHNE KAPITAL<br />
32 DIE INSELLÖSUNG<br />
Was soll bloß aus der Ex-CSU-<br />
Rebellin Gabriele Pauli werden?<br />
Vielleicht Bürgermeisterin auf Sylt<br />
Von MERLE SCHMALENBACH<br />
34 DIE CSU IST NICHT NUR SEEHOFER<br />
Manfred Weber macht fern<br />
von König Horsts Hof Karriere:<br />
als Fraktionschef in Brüssel<br />
Von WERNER SONNE<br />
36 DIE RIESENCHANCE<br />
Die potenziellen Wowereit-Nachfolger<br />
überzeugen nicht. Höchste Zeit,<br />
eine zu erfinden: Charlotte Prinz<br />
Von GEORG LÖWISCH<br />
38 „SOLANGE ICH NICHT<br />
FERTIG GEDACHT HABE, KANN<br />
ICH NICHT ENTSCHEIDEN“<br />
Kanzlerin Angela Merkel über richtige<br />
Tempi, über Krieg <strong>und</strong> Frieden <strong>und</strong><br />
warum sie auch mal nach Hause muss<br />
Von FRANK A. MEYER <strong>und</strong><br />
CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />
47 FRAU FRIED FRAGT SICH …<br />
… warum unsere Kinder uns<br />
nicht mehr peinlich finden<br />
Von AMELIE FRIED<br />
48 ES GIBT KEIN ZURÜCK<br />
Die Union hat neun Rezepte gegen<br />
die AfD. <strong>Kein</strong>es davon taugt<br />
Von CHRISTOPH SEILS<br />
50 HOMO VATER<br />
Unser Autor will ein Kind.<br />
Auch wenn er schwul ist<br />
Von SÖREN KITTEL<br />
38<br />
Mächtig<br />
56 KLAR, KLUG, KÜHL<br />
Ratspräsident Donald Tusk: So ein<br />
Politikertypus ist neu <strong>für</strong> Brüssel<br />
Von SABINE ADLER<br />
58 DER ONKEL MIT DER KNARRE<br />
PKK-Chef Abdullah Öcalan<br />
befehligt aus dem Gefängnis seine<br />
Kämpfer gegen den „Islamischen Staat“<br />
Von FRANK NORDHAUSEN<br />
60 REISELEITER<br />
IN DER TODESZONE<br />
Der Syrer Hamid war Gefangener<br />
des IS. Sein amerikanischer<br />
Begleiter wurde enthauptet<br />
Von CARSTEN STORMER<br />
68 „EIN SICHERHEITSRISIKO“<br />
Deutsche IS-Kämpfer: BKA-Chef<br />
Jörg Ziercke will schärfere Gesetze<br />
Von TIMO STEIN<br />
70 WODKA UND WASSERPFEIFE<br />
Kleines Emirat ganz groß.<br />
Report über <strong>Katar</strong> zwischen<br />
Terrorsponsering <strong>und</strong> Ausschweifung<br />
Von TESSA SZYSZKOWITZ<br />
78 DAS IMPERIUM DER LÜGEN<br />
Katzen bellen, H<strong>und</strong>e miauen – die<br />
Kultur des Betrugs in <strong>Russland</strong><br />
Von MICHAIL SCHISCHKIN<br />
70<br />
Protzig<br />
86 MARATHON STATT SPRINT<br />
Adidas, Nike, Asics?<br />
Lunge! In Mecklenburg<br />
produzieren zwei<br />
Brüder Laufschuhe<br />
Von ERIC CHAUVISTRÉ<br />
88 ÄRGER AN ALLEN<br />
FRONTEN<br />
Die Scheichs dürfen<br />
Frank Hauns Panzer<br />
nicht kaufen, die<br />
B<strong>und</strong>eswehr will sie nicht<br />
Von HAUKE FRIEDERICHS<br />
90 MOBILES<br />
SCHEITERN<br />
Für den großen Traum<br />
vom Elektroauto<br />
denkt die B<strong>und</strong>esregierung<br />
zu klein<br />
Von CHRISTIAN SCHWÄGERL<br />
96 RÜCKKEHR<br />
DER KRISE<br />
Deflation ist <strong>für</strong> den Euro<br />
gefährlicher als Inflation<br />
Von HENRIK ENDERLEIN<br />
98 IM BIER UND JETZT<br />
Mit der Panoramakamera auf<br />
der Wiesn – ein Fotoessay<br />
Von MICHAEL VON GRAFFENRIED<br />
98<br />
Bierselig<br />
Fotos: Antje Berghäuser <strong>für</strong> <strong>Cicero</strong>, Maurice Weiss/Ostkreuz, Michael von Graffenried<br />
6<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
STIL<br />
SALON<br />
CICERO<br />
STANDARDS<br />
108 SCHLAFT EUCH<br />
NACH OBEN!<br />
Die Unternehmerin<br />
Arianna Huffington will,<br />
dass wir Erfolg<br />
neu definieren<br />
Von LENA BERGMANN<br />
110 HOTEL CALIFORNIA<br />
Der T5 ist das Nachfolgemodell<br />
des beliebten VW Bulli.<br />
Ein Autotest in den Bergen<br />
124 BLAU SIND ALLE SEINE KLÄNGE<br />
Der Dirigent Teodor Currentzis<br />
setzt Mozart unter Starkstrom<br />
Von DOROTHEA WALCHSHÄUSL<br />
126 DEUTSCHER ALS<br />
EINE WEISSWURST<br />
Der Schauspieler Elyas M’Barek<br />
sucht seinen Weg zwischen<br />
Krimi <strong>und</strong> Klamauk<br />
Von DIETER OSSWALD<br />
3 ATTICUS<br />
Von CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />
8 STADTGESPRÄCH<br />
10 FORUM<br />
12 IMPRESSUM<br />
146 POSTSCRIPTUM<br />
Von ALEXANDER MARGUIER<br />
Von LENA BERGMANN<br />
118 „DIE MUSEN WEHREN SICH“<br />
Regisseur Christian Petzold<br />
über Schlampen,<br />
Göttinnen <strong>und</strong> Ladys<br />
128 MAN SIEHT NUR,<br />
WAS MAN SUCHT<br />
Der DDR-Maler Wolfgang Mattheuer<br />
<strong>und</strong> die Farben des Westens<br />
Von BEAT WYSS<br />
Fotos: Andreas Müller <strong>für</strong> <strong>Cicero</strong>; Illustration: Marco Wagner<br />
Von SARAH-MARIA DECKERT<br />
122 WARUM ICH TRAGE,<br />
WAS ICH TRAGE<br />
Auf Buchmessen<br />
gehören Ballerinas in<br />
die Handtasche<br />
Von ELISABETH RUGE<br />
110<br />
Geräumig<br />
130 „IRREN GEHÖRT DAZU“<br />
Peter Trawny über Martin<br />
Heideggers Antisemitismus<br />
Von MICHAEL STALLKNECHT<br />
134 ER IST WIEDER DA<br />
Wolfsrepublik: Wie die Deutschen<br />
<strong>und</strong> ihr Mythentier zueinanderfinden<br />
Von ECKHARD FUHR<br />
140 KEINE ANGST VOR ISEGRIM<br />
Der Schweriner Minister Till Backhaus<br />
über seine Begegnung mit einem Wolf<br />
Von ALEXANDER KISSLER<br />
142 HOPES WELT<br />
Wien <strong>und</strong> die Wiege der Filmmusik<br />
Von DANIEL HOPE<br />
144 DIE LETZTEN 24 STUNDEN<br />
Sterben mit Mozart<br />
Von DESMOND TUTU<br />
134<br />
Grimmig<br />
Der Titelkünstler<br />
Seine Illustrationen sind<br />
<strong>Fußball</strong>begeisterung in<br />
Reinform. Simon Prades,<br />
Künstler aus Saarbrücken,<br />
liebt den <strong>Fußball</strong>. Während<br />
der WM 2014 hat er <strong>für</strong><br />
das US-Magazin The New<br />
Republic packende Szenen<br />
des Spiels festgehalten.<br />
So entstand Spieltag <strong>für</strong><br />
Spieltag eine Dokumentation<br />
der Dramatik: Schüsse,<br />
Paraden, jubelnde Spieler.<br />
Und Fouls. Um die geht<br />
es uns in dieser Ausgabe.<br />
Nicht um Regelverstöße im<br />
Stadion, sondern um Verletzungen<br />
des Völkerrechts<br />
<strong>und</strong> der Menschenrechte.<br />
Für den <strong>Cicero</strong>-Titel hat<br />
Prades ein grobes Foul<br />
gezeichnet: Der Spieler, der<br />
zum Kopfball aufgestiegen<br />
ist, wird am Trikot gehalten.<br />
Für das Heft zeichnete<br />
Prades zudem die <strong>Cicero</strong>-<br />
Elf der WM-Kritiker. Und<br />
wir zeigen einige der Illustrationen<br />
von der WM: den<br />
Biss von Luis Suárez <strong>und</strong><br />
das Foul an Neymar. Simon<br />
Prades zeigt sie mit einer<br />
erzählerischen Lebendigkeit,<br />
die die Faszination<br />
einer Weltmeisterschaft<br />
einfängt. Ein Turnier, das<br />
nicht als Prestigeprojekt<br />
<strong>für</strong> Potentaten missbraucht<br />
werden sollte.<br />
7<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
CICERO<br />
Stadtgespräch<br />
Wolfgang Schäuble entdeckt den Historiker in sich, den meisten Deutschen<br />
geht die Maut-Debatte auf die Nerven – <strong>und</strong> die Kanzlerkantine kocht fettarm<br />
Kanzlerküche<br />
<strong>Kein</strong>e fetten Jahre<br />
Hobbyhistoriker Schäuble<br />
Minister <strong>für</strong> Geschichte<br />
Staatsgeschenke<br />
Curie <strong>für</strong> die Kanzlerin<br />
Gerald Jordan weiß genau, wie lange<br />
das Fett in den Fritteusen <strong>und</strong><br />
Pfannen der Berliner Gastronomie blubbert.<br />
Der 50-Jährige holt es dort nämlich<br />
regelmäßig zum Weiterverkauf an<br />
die Dieselproduktion ab. Bei manchen<br />
Buden fährt Jordan mit seiner „Fettfeuerwehr“<br />
mehrmals im Monat vorbei;<br />
woanders baden ganze Generationen<br />
von Pommes im selben Öl. „Bei manchen<br />
meiner K<strong>und</strong>en würde ich nicht essen“,<br />
sagt Jordan. Auch im B<strong>und</strong>eskanzleramt<br />
ist die Fettfeuerwehr eher selten<br />
im Einsatz. Nur alle neun bis zwölf Monate<br />
holt Jordan – unter den Argusaugen<br />
der Sicherheitsleute – das Fett dort<br />
ab. Verwendet die Kanzlerkantine etwa<br />
bedenklich lange dasselbe Frittieröl?<br />
Nein, sagt Jordan. In der gehobenen Küche<br />
würde einfach nicht so viel frittiert.<br />
Vielleicht liegt es auch an Angela Merkels<br />
Lieblingsessen: Wer würde schon<br />
Kartoffelsuppe frittieren? vin<br />
Wolfgang Schäuble ist gelernter Jurist<br />
<strong>und</strong> hat in seinem derzeitigen<br />
Beruf als B<strong>und</strong>esfinanzminister viel mit<br />
Zahlen um die Ohren. Seine eigentliche<br />
Leidenschaft gilt aber offenbar immer<br />
mehr den großen Weltläuften <strong>und</strong><br />
geschichtlichen Gesamtzusammenhängen.<br />
Am 17. September jedenfalls stellte<br />
Schäuble gemeinsam mit dem Oberhistoriker<br />
Heinrich August Winkler dessen<br />
neuestes Buch „Geschichte des<br />
Westens – Vom Kalten Krieg zum Mauerfall“<br />
(1258 Seiten) vor. Um nur eine<br />
Woche später mit dem irischen Geschichtsprofessor<br />
Brendan Simms über<br />
dessen 896-Seiten-Werk zum Thema<br />
„Eine deutsche Geschichte Europas“<br />
zu sprechen. Letzteres trägt übrigens<br />
den Titel „Kampf um Vorherrschaft“.<br />
Hoffentlich wird das dem deutschen Finanzminister<br />
von seinen europäischen<br />
Amtskollegen nicht als Beweis <strong>für</strong> ein<br />
Suprematiestreben ausgelegt. mar<br />
Sage noch einer, die Deutschen<br />
seien politikverdrossen! R<strong>und</strong><br />
150 000 Menschen haben am Tag der<br />
offenen Tür die B<strong>und</strong>esministerien<br />
<strong>und</strong> das Kanzleramt besucht. Dort<br />
wurde sogar ein Konferenzsaal zum<br />
Wickelraum umfunktioniert. Im Untergeschoss<br />
scharten sich die Besucher<br />
um die Kanzlergeschenke. Was<br />
ein deutscher Regierungs chef nicht so<br />
alles bekommt: einen Krummdolch,<br />
eine Muschelschale, Düfte aus Arabien.<br />
Frankreich hat sich bei der Auswahl<br />
seines Geschenks sogar richtig Gedanken<br />
gemacht: Der Wissenschaftlerin<br />
Merkel wurde vom Nachbarn eine Ausgabe<br />
von Marie Curies „Radioactivité“<br />
aus dem Jahre 1935 überreicht. Die Vitrinen<br />
erzählen auch einiges über die<br />
Entwicklung der Schenkkultur: Willy<br />
Brandt <strong>und</strong> Helmut Schmidt bekamen<br />
jeder eine Tabakpfeife. Früher waren<br />
Geschenke wenigstens noch nützlich. vin<br />
Illustrationen: Jan Rieckhoff<br />
8<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
Umfrage zur Maut-Debatte<br />
„<strong>Kein</strong> wichtiges Thema“<br />
Mit der Diskussion über die Maut<br />
verhält es sich ein bisschen wie<br />
mit der „Ice Bucket Challenge“: Die<br />
meisten finden sie albern, machen aber<br />
fröhlich mit. Das deutsche Publikum<br />
kann dem Gezänk wegen der von der<br />
CSU forcierten Straßennutungsgebühr<br />
mehrheitlich dennoch nichts abgewinnen:<br />
Eine im Auftrag von <strong>Cicero</strong> vorgenommene<br />
Forsa-Umfrage kommt zu<br />
dem Ergebnis, dass nur <strong>für</strong> 46 Prozent<br />
der Deutschen die Einführung einer<br />
PKW-Maut auf deutschen Straßen ein<br />
„wichtiges Thema“ ist, „das die Menschen<br />
zurzeit bewegt“. Für 53 Prozent<br />
der 1005 befragten Personen ist das Gegenteil<br />
der Fall. Ein kleiner Punktsieg<br />
<strong>für</strong> den Maut-Initiator <strong>und</strong> CSU-Chef<br />
Horst Seehofer ist trotzdem zu vermelden:<br />
Immerhin 53 Prozent der Anhänger<br />
seiner eigenen Partei empfinden die<br />
geplante Straßennutzungsgebühr als ein<br />
„wichtiges Thema“, eine große Minderheit<br />
von 46 Prozent sieht das anders.<br />
Bei den CDU-Wählern wiederum ergibt<br />
sich das umgekehrte Bild: 49 Prozent<br />
halten die Maut <strong>für</strong> ein „wichtiges<br />
Thema“, eine knappe Mehrheit von<br />
51 Prozent erkennt darin „kein so wichtiges<br />
Thema“. Unter den SPD-Anhängern<br />
sind die Maut-Verdrossenen mit<br />
57 Prozent sogar klar in der Mehrzahl;<br />
erst recht gilt das <strong>für</strong> Wähler der Linkspartei<br />
(61 Prozent) <strong>und</strong> der Grünen<br />
(66 Prozent). Nur bei Anhängern der<br />
AfD scheint die Maut richtig zu zünden:<br />
64 Prozent sagen, es handle sich um<br />
„ein wichtiges Thema“. mar<br />
Neuer Sprecher im Finanzministerium<br />
Ein Pietist <strong>für</strong> Schäuble<br />
Der neue Pressesprecher von Wolfgang<br />
Schäuble ist zwar genauso<br />
wenig Historiker wie sein Chef. Aber<br />
als studierter Völkerk<strong>und</strong>ler, Politologe<br />
<strong>und</strong> Philosoph kann Martin Jäger<br />
dem geschichtsbewussten B<strong>und</strong>esfinanzminister<br />
sicherlich das Wasser<br />
reichen. Zumal der CDU-Mann Jäger,<br />
Jahrgang 1964, schon selbst ein bisschen<br />
Geschichte (mit-)geschrieben hat:<br />
So formulierte er einst <strong>für</strong> den FDP-Außenminister<br />
Klaus Kinkel dessen europapolitische<br />
Reden, um nach dem<br />
Regierungswechsel dasselbe <strong>für</strong> den<br />
SPD-Kanzler Gerhard Schröder zu tun.<br />
Und von 2005 bis 2008 diente er in der<br />
Großen Koalition dem SPD-Außenminister<br />
Frank-Walter Steinmeier als Sprecher<br />
des Auswärtigen Amtes. Nach<br />
einem Lobbyisten-Intermezzo beim Autokonzern<br />
Daimler wurde Martin Jäger,<br />
der nach eigenen Worten „aus einer<br />
sehr konservativen pietistischen Familie<br />
von der Schwäbischen Alb“ stammt,<br />
sogar zum deutschen Botschafter in Afghanistan<br />
berufen. Jetzt also eine Rückkehr<br />
ins Zentrum der Macht. Die Tatsache,<br />
dass Schäuble seinen früheren<br />
Sprecher Michael Offer einst vor der<br />
Hauptstadtpresse so gedemütigt hatte,<br />
dass dieser anschließend seinen Job hinwarf,<br />
irritiert Jäger nicht: „Ein Angebot<br />
von Schäuble, nach Berlin zu kommen,<br />
lehnt man doch nicht ab.“ Von den Berliner<br />
Journalisten erwartet er jedoch,<br />
dass sie den Schwaben in ihm akzeptieren.<br />
Er halte es mit der Devise: „Net<br />
gschimpft isch g’nug g’lobt.“ tz<br />
Deutscher Schilderwald<br />
Aufforstung dank App<br />
Bei der etwas zerfahrenen Maut-Diskussion<br />
geht es ja vor allem um die<br />
Frage, wie die Verkehrsinfrastruktur in<br />
Deutschland künftig finanziert werden<br />
kann. Und zu dieser Infrastruktur zählen<br />
bekanntlich auch Verkehrsschilder.<br />
Tatsächlich scheint der berühmte deutsche<br />
Schilderwald ebenfalls bedroht zu<br />
sein: verkratzte „Stop“-Gebote, verrostete<br />
Hinweise auf Parkverbote, verdreckte<br />
Vorfahrt-achten-Dreiecke allerorten.<br />
Zum Glück kümmert sich seit<br />
Jahresanfang jemand darum, <strong>und</strong> zwar<br />
der „Schilderüberwachungsverein“,<br />
kurz SÜV. Er fordert Mitbürger dazu<br />
auf, unleserliche Verkehrszeichen über<br />
eine spezielle App zu melden – <strong>und</strong> dokumentiert<br />
sie ordnungsgemäß. Engagiert<br />
wie eine Vogelschutzinitiative,<br />
streng wie der TÜV. Die Medien springen<br />
darauf an: „Schwäbische Schilderinitiative“<br />
(FAZ), „Wächter <strong>für</strong> saubere<br />
Verkehrsschilder“ (Auto-Bild), „Schildwutbürger“<br />
(Spiegel Online). Doch wer<br />
sind die Gründer des SÜV? Nun ja,<br />
zwei Stuttgarter, die gemeinsam in einer<br />
Kommunikationsagentur arbeiten.<br />
Diese Agentur teilt sich mit dem Verein<br />
die Anschrift. Und das Geld? Kommt<br />
unter anderem vom IVSt. Also vom Industrieverband<br />
Straßenausstattung,<br />
dem auch Hersteller von Verkehrsschildern<br />
angehören. Wenn die Behörden<br />
jetzt neue Verkehrszeichen bestellen<br />
(am besten mit retroreflektierender Folie,<br />
denn das sind im SÜV-Sprech „gute<br />
Schilder“), ist das wohl der Schildbürgerinitiative<br />
zu verdanken. vin<br />
9<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
CICERO<br />
Leserbriefe<br />
FORUM<br />
Es geht um Schottland, Nationalismus, Amazon,<br />
das Geschäftsgebaren der Sparkasse <strong>und</strong> das Sie<br />
Zum Beitrag „Schotten dicht“ von Christoph Schwennicke, September 2014<br />
Schottland gegen England<br />
Die Schlacht von Bannockburn kennen nicht nur schottische Kinder. Sie hatte<br />
zur Folge, dass das Königreich Schottland weitere 400 Jahre unabhängig blieb,<br />
bis seine <strong>und</strong> die englische Aristokratie 1707 die Vereinigung zu Großbritannien<br />
beschlossen. Bereits 1603 war es zur Personalunion gekommen, als der schottische<br />
König Jakob VI. von England wurde (nicht umgekehrt). Von einer englischen<br />
„Oberhand“ vor 700 Jahren kann also keine Rede sein. Auch könnte<br />
Großbritannien mangels Weiterbestehen 2017 nicht aus der EU austreten, wenn<br />
Schottland unabhängig würde. Schottland würde übrigens erklärtermaßen nicht<br />
austreten, beim Verbleib in Großbritannien aber müssen.<br />
Wolfgang Heislitz, Frankfurt<br />
Zum Beitrag „Ein Gefühl von<br />
Geborgenheit“ von Herfried Münkler,<br />
September 2014<br />
Politiker sind schuld<br />
Die Analyse von Herfried Münkler<br />
greift zu kurz. Wenn man sich mit<br />
den Begriffen „Staat“ <strong>und</strong> „Nation“<br />
sowie den zunehmenden Sezessionsbestrebungen<br />
innerhalb Europas befasst,<br />
dann gehören ebenfalls nicht<br />
mehr funktionierende Föderalismusmodelle,<br />
wie etwa in Spanien, in<br />
den Mittelpunkt. Wo die Zentralregierung<br />
in Madrid spätestens mit ihrer<br />
jüngsten Entscheidung, vor den<br />
Kanaren nach Öl zu bohren – <strong>und</strong><br />
damit neben der Natur die bisherige<br />
touristische Existenzgr<strong>und</strong>lage der<br />
gesamten Bevölkerung zu gefährden<br />
–, gezeigt hat, dass sie selbst die<br />
essenziellen Interessen der Regionen<br />
nicht mehr respektiert. Weswegen<br />
weniger die „Sicherheitsnetze“ der<br />
EU als kurzsichtige Politiker, wie<br />
Mariano Rajoy, <strong>für</strong> das Auseinanderdriften<br />
verantwortlich sind.<br />
Rasmus Ph. Helt, Hamburg<br />
Zum Beitrag „Eine einmalige<br />
Gelegenheit“ von Sean Connery,<br />
September 2014<br />
James Bond ist kein Politiker<br />
Sean Connery war der beste James<br />
Bond <strong>und</strong> ein Weltklasseschauspieler<br />
– sagt man. Zweifelsohne<br />
ist er ein glühender Patriot, aber<br />
kein weitsichtiger Politiker. Sein<br />
Artikel wärmt jedem Schotten<br />
das Herz mit all den Aufzählungen<br />
über Tradition <strong>und</strong> Kultur. Als<br />
weitsichtiger Patriot würde er seinen<br />
Landsleuten aber sagen, dass<br />
Schottland wirtschaftlich in erheblichem<br />
Umfang von England <strong>und</strong><br />
der EU subventioniert wird. Bayern<br />
<strong>und</strong> Katalonien wären lebensfähig,<br />
Schottland nicht. Wenn das Füllhorn<br />
aus London <strong>und</strong> Brüssel nicht<br />
mehr über den High- <strong>und</strong> Lowlands<br />
ausgegossen wird – <strong>und</strong> so tönt es<br />
aus Brüssel –, wird ein separates<br />
Schottland ein Armenhaus wie Sizilien,<br />
nur ohne Sonne <strong>und</strong> mit viel<br />
Regen.<br />
Kurt Reuter, Heusenstamm<br />
Zum Beitrag „Frau Fried fragt sich, ob<br />
sie als Amazon-K<strong>und</strong>in ein schlechter<br />
Mensch ist“ von Amelie Fried,<br />
September 2014<br />
Freie Marktwirtschaft<br />
Amazon ist nicht böse! Amazon ist<br />
ein Geschäftsmodell, eine globale<br />
Strategie. Das ist a priori nichts<br />
Schlechtes. Amazon steht hier <strong>für</strong><br />
eine ganze Reihe von Geschäftsmodellen,<br />
die sich Marktsegmente<br />
aneignen wollen, so funktioniert<br />
die freie Marktwirtschaft. Ob dieses<br />
Modell erfolgreich ist, entscheiden<br />
wir. Ein paar Klicks, <strong>und</strong> ich<br />
bekomme umgehend Post. Das ist<br />
komfortabel. Was ist der Preis?<br />
Viele Artikel würde ich auch<br />
im regionalen Markt bekommen.<br />
Die Wertschöpfung würde in der<br />
Region bleiben <strong>und</strong> käme der Region<br />
zugute <strong>und</strong> nicht einem Investorenkonsortium.<br />
Ich füttere eine<br />
Marktmacht, <strong>für</strong> die es ein Leichtes<br />
ist, völlig legal keine Steuern zu<br />
bezahlen. Gravierender noch die<br />
Erosion der regionalen Wirtschaft,<br />
die über die Gewerbesteuer die<br />
Kommune mitfinanziert.<br />
Die gut sortierte Buchhandlung<br />
am Ort, der Bäcker um die<br />
Ecke mit den besten Brötchen der<br />
Welt, der Elektrohandel am Ort,<br />
der sich um meine defekte Waschmaschine<br />
kümmert.<br />
Wollen wir das alles opfern <strong>für</strong><br />
ein bisschen mehr Bequemlichkeit,<br />
einen etwas günstigeren Preis, dem<br />
vermeintlichen Einsparen von Zeit?<br />
Auf Kosten von sozialen Kontakten<br />
<strong>und</strong> Erlebnissen?<br />
Dr. Leonhard Waldmüller, Breitengüßbach<br />
10<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
∆Wie lang ist ein langes Leben?<br />
Die Lebenserwartung ist seit 1960 weltweit von 50 auf 70 Jahre gestiegen. Und das ist nur<br />
einer von vielen Gründen, warum es sich lohnt, Verantwortung zu übernehmen. Als eine der<br />
größten Förderbanken der Welt investiert die KfW in Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Hygieneprogramme –<br />
<strong>und</strong> ermöglicht jeder Generation, ihre Lebensbedingungen nachhaltig zu verbessern.<br />
Veränderung fängt mit Verantwortung an. kfw.de/verantwortung
IMPRESSUM<br />
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CHEFREDAKTEUR Christoph Schwennicke<br />
STELLVERTRETER DES CHEFREDAKTEURS<br />
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TEXTCHEF Georg Löwisch<br />
CHEFIN VOM DIENST Kerstin Schröer<br />
CHEFREPORTER Constantin Magnis<br />
POLITISCHER KORRESPONDENT Christoph Seils<br />
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REDAKTIONSASSISTENTIN Sonja Vinco<br />
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VERTRIEB UND UNTERNEHMENSENTWICKLUNG<br />
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Zum Beitrag „Gib mir mein Sie zurück“<br />
von Holger Fuss, September 2014<br />
Sparsames Duzen<br />
Wie erfrischend! Ich begann mein<br />
Studium im Herbst 1968 (!), was<br />
mich allerdings nie hinderte, mit<br />
meinem Du sparsam umzugehen.<br />
Während des Referendariats, als das<br />
Du schon heftig die Umgangsformen<br />
infizierte, sagte unser pädagogischer<br />
Ausbilder den bemerkenswerten<br />
Satz, wenn man Schülern das Du<br />
anbiete, lüge man sie an, denn da<br />
wir Lehrer die Noten geben, könnten<br />
wir nicht die guten Kumpel der<br />
Schüler sein. Mit Erstaunen registrierte<br />
ich, dass mit einer verjüngten<br />
Schulleitung sich auch von dort<br />
aus epidemisch das Du ausbreitete,<br />
mit zum Teil merkwürdigen Auswirkungen,<br />
wenn ein Schulleiter, Jahrgang<br />
1962, mit 20 Jahre jüngeren<br />
Junglehrern per Du ist <strong>und</strong> als Vorgesetzter<br />
wegen eines hochnotpeinlichen<br />
Vorwurfs auf einmal offiziell<br />
eine Suspendierung aussprechen<br />
muss – da macht sich das Du dann<br />
nicht so gut.<br />
Maria Stein, Melsungen<br />
Voller Unkenntnis<br />
Warum lässt Herr Fuss uns nicht<br />
wissen, dass man im Hebräischen,<br />
Altgriechischen, Lateinischen <strong>und</strong><br />
Gotischen ausschließlich das Duzen<br />
kennt oder kannte? Und dass<br />
in den sechziger <strong>und</strong> siebziger Jahren<br />
die Schweden aufhörten, ihnen<br />
nicht bekannte oder ältere beziehungsweise<br />
in der Hierarchie höher<br />
stehende Personen in der dritten<br />
Person über Namen oder Titel anzusprechen,<br />
<strong>und</strong> zum Du als allgemein<br />
gültigem Anredepronomen übergingen?<br />
Die Behauptung von Herrn<br />
Fuss, dass sich erst seit unserer Generation<br />
die „Duz-Hegemonie“ im<br />
öffentlichen Raum ausbreitet, zeugt<br />
von Unkenntnis. Das einzig Wertvolle<br />
<strong>für</strong> mich ist in dem Artikel die<br />
Aufforderung, dass wir akzeptieren<br />
sollten, dass wir selbst verantwortlich<br />
<strong>für</strong> die Verwahrlosung der Sitten<br />
sind. Jedoch ist dies das Prinzip<br />
des Lebens: „Learning by doing.“<br />
Rita Schlesinger-Spies, Gröbenzell<br />
12<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
CICERO<br />
Leserbriefe<br />
Zum Beitrag „Der letzte Vorhang“ von<br />
Alexander Marguier, September 2014<br />
Zur rechten Zeit<br />
Der Artikel passt leider sehr gut<br />
zu der derzeitigen Situation in Bad<br />
Hersfeld. Es ist Ihnen sicherlich bekannt,<br />
dass Holk Freytag Ende Juli<br />
auf eine sehr beschämende Art<br />
<strong>und</strong> Weise vom Magistrat entlassen<br />
wurde. Das Ensemble hat sich<br />
bew<strong>und</strong>ernswert eingesetzt. Viele,<br />
nicht nur Hersfelder, sind traurig<br />
<strong>und</strong> entsetzt über diesen Affront<br />
gegen die Kultur <strong>und</strong> gegen den<br />
Menschen Holk Freytag. Ihr Artikel<br />
kommt zur passenden Zeit <strong>für</strong><br />
die w<strong>und</strong>erbaren Bad Hersfelder<br />
Festspiele in der altehrwürdigen<br />
Stiftsruine.<br />
Christine Krüger, Bad Hersfeld<br />
Zum Beitrag „Der Böse ist immer der<br />
Westen“ von Moritz Gathmann,<br />
September 2014<br />
Karikatur: Hauck & Bauer<br />
Zusammhänge ignoriert<br />
Der Beitrag von Moritz Gathmann<br />
ist sehr einseitig strukturiert. Der<br />
„Maidan-Sieg“ wird als etwas Besonderes<br />
herausgestellt. Ob der vom<br />
Westen mitinszenierte Putsch ein<br />
Sieg war, wird sich erst in einigen<br />
Jahrzehnten zeigen. Bedingt durch<br />
die Planung der USA, im Osten Polens<br />
Abwehrraketen aufzustellen<br />
(angeblich zur Abwehr iranischer<br />
Raketen), sowie das immer weitere<br />
Vorrücken der Nato in Richtung russischer<br />
Grenze lässt sich das Verhalten<br />
von <strong>Russland</strong> in die Vergangenheit<br />
projizieren. Man muss schon<br />
sehr naiv sein, um diese Zusammenhänge<br />
zu ignorieren.<br />
Claus Jürgen Lehmann, Oestrich-Winkel<br />
Zum Beitrag „Die Blutspur des<br />
Propheten“ von Gilles Kepel, August 2014<br />
Wer befreit Syrien?<br />
Fakt ist: Unter Saddam Hussein oder<br />
auch Assad hatten Christen nichts<br />
zu be<strong>für</strong>chten. Was ist zu tun? Die<br />
Alliierten damals haben uns Deutsche<br />
von den Nazi-Schergen befreit.<br />
Wer wird die leidende Bevölkerung<br />
in Syrien <strong>und</strong> im Irak befreien?<br />
Erwin Chudaska, Rödermark<br />
Zum Beitrag „Dreckige Saubermänner“<br />
von Meike Schreiber, August 2014<br />
Alles noch viel schlimmer<br />
Ihr Artikel über die Sparkassen ist<br />
noch viel zu positiv. Die Parlamentsbuchhandlung,<br />
in Bonn die Buchhandlung<br />
im B<strong>und</strong>eshaus, ist seit<br />
1949 sehr gut zahlender K<strong>und</strong>e der<br />
Sparkasse Bonn. Als der Umzug<br />
1999 nach Berlin anstand <strong>und</strong> wir<br />
Geld brauchten <strong>für</strong> den Neuanfang,<br />
hatten wir größte Schwierigkeiten,<br />
von unserer Hausbank Sparkasse<br />
Bonn einen Kredit zu bekommen.<br />
Die Kreditanstalt <strong>für</strong> Wiederaufbau<br />
(!) hat uns geholfen. Die Sparkasse<br />
Bonn hat uns nach einigen<br />
Jahren finanziell den Hals umdrehen<br />
wollen. Heute wissen wir, dass sich<br />
der Vorstand wegen des Congress<br />
Centers mit einem windigen Koreaner<br />
verzockt hat <strong>und</strong> es nur noch<br />
um Rendite geht. Die Sparkasse ist<br />
nicht mehr <strong>für</strong> den Mittelstand da.<br />
Sie verkauft dir einen Regenschirm,<br />
wenn die Sonne scheint, <strong>und</strong> nimmt<br />
ihn dir ab, wenn es regnet.<br />
Ben Maderspacher-Lenz, Berlin<br />
Zum Beitrag „Totalitäre Religion“ von<br />
Frank A. Meyer, August 2014<br />
Selbstgerecht<br />
Ihre Gegenüberstellung eines mittelalterlichen<br />
Islam einerseits <strong>und</strong><br />
eines jüdisch-christlich geprägten<br />
Westens andererseits, als Hort<br />
von Freiheit <strong>und</strong> Pluralismus in den<br />
300 Jahren seit der Aufklärung, erscheint<br />
mir doch arg selbstgerecht<br />
<strong>und</strong> geschichtsvergessen.<br />
Erwin Sharp, Düsseldorf<br />
Korrektur<br />
Im Porträt „Erdogans Spätzle“ über<br />
Rezzo Schlauch in unserer September-<br />
Ausgabe stand, dass er in früheren<br />
Jahren gesagt habe: „Mit Frauenpolitik<br />
holt man heute keinen Schwanz mehr<br />
hinterm Ofen vor.“ Dies hatten uns<br />
Zeitzeugen in Stuttgart berichtet. Herr<br />
Schlauch legt Wert darauf, dass er sich<br />
nicht so geäußert hat. Nicht bestreitet<br />
er hingegen das Zitat: „Frauenpolitik<br />
interessiert keine Sau.“<br />
Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.<br />
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.<br />
Wünsche, Anregungen <strong>und</strong> Meinungsäußerungen<br />
senden Sie bitte an redaktion@cicero.de<br />
13<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
TITEL<br />
<strong>Rote</strong> <strong>Karte</strong><br />
Von JENS WEINREICH<br />
Illustrationen SIMON PRADES<br />
14<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
Die Vergabe der <strong>Fußball</strong>-WM an <strong>Russland</strong> <strong>und</strong> <strong>Katar</strong><br />
ist nicht erst seit den jüngsten politischen Entwicklungen<br />
hochumstritten. Denn in beiden Fällen geht es um ein<br />
unglaubliches Maß an Korruption. Geschichte eines Skandals,<br />
bei dem Recht <strong>und</strong> Gesetz keine Bedeutung mehr haben<br />
15<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
TITEL<br />
<strong>Rote</strong> <strong>Karte</strong><br />
In der skandalträchtigen Chronik des Weltsports<br />
markiert der 2. Dezember 2010 ein spektakuläres<br />
Kapitel. An jenem Tag wurden in Zürich die <strong>Fußball</strong>weltmeisterschaften<br />
2018 <strong>und</strong> 2022 vergeben.<br />
Das Exekutivkomitee des Weltfußballverbands<br />
Fifa, damals auf 22 Mitglieder dezimiert, weil zwei<br />
Funktionäre wegen Bestechlichkeit suspendiert worden<br />
waren, entschied sich unter elf Nationen mehrheitlich<br />
da<strong>für</strong>, die WM 2018 an <strong>Russland</strong> <strong>und</strong> die WM 2022<br />
an <strong>Katar</strong> zu vergeben. Das hatten nur wenige Insider<br />
erwartet. Für H<strong>und</strong>erte Millionen <strong>Fußball</strong>fans war es<br />
eine Sensation. Ein Irrsinn. Die Wahl <strong>Russland</strong>s war ja<br />
noch halbwegs vermittelbar – aber das winzige Emirat<br />
<strong>Katar</strong>? Eine Weltmeisterschaft in der Wüste? Die<br />
Fifa-Bosse setzten sich über alle Bedenken selbst in<br />
den eigenen Reihen hinweg. Für Mitbewerber war es<br />
ein Schock; Australier <strong>und</strong> Engländer scheuten sich<br />
nicht, die Korruptionsfrage aufzuwerfen <strong>und</strong> Belege<br />
da<strong>für</strong> zu sammeln. Das war neu.<br />
<strong>Russland</strong> <strong>und</strong> <strong>Katar</strong> hatten in der technischen Evaluierung<br />
schlecht abgeschnitten. England (2018) <strong>und</strong><br />
die USA (2022) hatten gemäß Prüfbericht der Fifa die<br />
besten Offerten unterbreitet, mit der nötigen Infrastruktur<br />
inklusive zahlreicher Stadien, die profitabel<br />
betrieben wurden. Doch derlei Aspekte der Nachhaltigkeit<br />
milliardenschwerer Mega-Events interessierten<br />
die Fifa-Führung nicht.<br />
Seit jenem 2. Dezember 2010 diskutiert alle Welt<br />
über umfassende Korruption bei diesen Bewerbungen,<br />
über eine Verlegung der WM 2022 vom Sommer in den<br />
Winter, über Menschenrechte, skandalöse Arbeitsbedingungen<br />
<strong>und</strong> das sklavenhalterähnliche Kafala-System<br />
in <strong>Katar</strong>, über einen Boykott der WM 2018 in <strong>Russland</strong><br />
wegen Wladimir Putins Annexionspolitik in der<br />
Ukraine – <strong>und</strong> sogar über eine Neuvergabe der Turniere.<br />
Letzteres liegt aber allein in der Macht der Fifa.<br />
<strong>Kein</strong>e politische Institution könnte den Verband zu<br />
diesem Schritt zwingen. Zu den vielen bizarren Konstellationen<br />
zählt also auch der Umstand, dass allein<br />
jene, die <strong>Russland</strong> <strong>und</strong> <strong>Katar</strong> mit den WM-Turnieren<br />
betraut haben, ihre eigenen Entscheidungen kassieren<br />
können. Würden dann die korrupten unter ihnen auch<br />
das Schmiergeld zurückzahlen?<br />
Schon in der Bewerbungsphase unterwarfen sich<br />
alle WM-Interessenten dem Regelwerk der Fifa <strong>und</strong><br />
verzichteten darauf, gegebenenfalls Ansprüche vor<br />
ordentlichen Gerichten durchzusetzen. Ein Disput<br />
könnte lediglich vor dem umstrittenen Weltsportgerichtshof<br />
CAS in Lausanne ausgetragen werden. Die<br />
Fifa ist in diesem WM-Franchise der Rechteinhaber;<br />
<strong>Russland</strong> <strong>und</strong> <strong>Katar</strong> bezahlen zwar die Party, bleiben<br />
aber Juniorpartner wie alle anderen WM-Organisatoren<br />
zuvor.<br />
Natürlich müssten sich <strong>Russland</strong> oder <strong>Katar</strong> nicht<br />
an ein Fifa-Verdikt zu ihrem Nachteil halten, sondern<br />
könnten einen Präzedenzfall schaffen <strong>und</strong> auf den<br />
Rechtsweg der Fifa-Familie pfeifen. Wie wahrscheinlich<br />
aber wäre dieser Schritt, der ja bedeuten würde,<br />
dass Korruptionsfälle, die zur Neuvergabe der WM<br />
geführt haben, vor ordentlichen Gerichten öffentlich<br />
verhandelt würden? Daran hat niemand Interesse, weder<br />
die Geber aus <strong>Russland</strong> <strong>und</strong> <strong>Katar</strong> noch die Nehmer<br />
aus dem Fifa-Exekutivkomitee.<br />
<strong>Russland</strong> hatte sich im Dezember 2010 mit<br />
13 Stimmen in der ersten R<strong>und</strong>e vor Spanien <strong>und</strong><br />
Portugal durchgesetzt. <strong>Katar</strong> gewann in der vierten<br />
R<strong>und</strong>e mit 14 zu acht Stimmen gegen die USA.<br />
Von den Fifa-Vorstandsmitgliedern des Jahres 2010<br />
sind inzwischen neun der Korruption oder der Mitwisserschaft<br />
überführt, gegen 13 Funktionäre liegen<br />
Indizien vor, die auf Nepotismus bis hin zu Millionen-Abzocke<br />
deuten. Nur zwei dürfen als unbescholten<br />
gelten: Geoff Thompson aus England <strong>und</strong> Junji<br />
Ogura aus Japan. Beide haben das Exekutivkomitee<br />
inzwischen verlassen, ebenso wie die deutsche <strong>Fußball</strong>ikone<br />
Franz Beckenbauer. Beckenbauer wurde im<br />
Mai 2012 <strong>für</strong> eine unbekannte Summe Botschafter<br />
des von Gazprom geführten Verbands russischer Gasproduzenten<br />
– eine Partnerschaft, über deren Anbahnung<br />
bereits 2010 in der Bewerbungsphase gemunkelt<br />
wurde. Beckenbauer weist jeden Zusammenhang zur<br />
WM-Vergabe zurück.<br />
Seit 2010 schieden acht korrupte Führungskräfte<br />
aus. Im Herbst 2014 gilt dennoch mehr als die Hälfte<br />
der nunmehr 25 Exekutivmitglieder als belastet. Dazu<br />
zählen Vizepräsident Michel Platini aus Frankreich<br />
oder Michel d’Hooghe aus Belgien, deren Söhne unmittelbar<br />
nach der WM-Vergabe lukrative Jobs in katarischen<br />
Firmen erhielten.<br />
Dazu zählt auch der Strippenzieher Marios Lefkaritis<br />
aus Zypern, dessen Werk einer größeren Öffentlichkeit<br />
bislang verborgen blieb. Zum Kerngeschäft<br />
seiner Unternehmen zählt der Handel mit Öl <strong>und</strong> Gas.<br />
Im Sommer 2011 hat Lefkaritis <strong>für</strong> 32 Millionen Euro<br />
Gr<strong>und</strong>stücke an <strong>Katar</strong>s Staatsfonds QIA verkauft. Natürlich<br />
behauptet Lefkaritis, dieser Deal sei unabhängig<br />
von seiner Tätigkeit in der Fifa zustande gekommen.<br />
Der Klassiker unter den billigen Ausreden, aber<br />
wirkungsvoll: Im moralischen Sinne lassen sich derlei<br />
Vorgänge zwar kritisieren, strafrechtlich aber gilt es zu<br />
Über eine Neuvergabe<br />
der Turniere kann<br />
nicht die Politik,<br />
sondern nur die Fifa<br />
bestimmen<br />
16<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
eweisen, dass der Gr<strong>und</strong>stücksdeal die Entlohnung<br />
<strong>für</strong> die Stimme von Lefkaritis bei der WM-Vergabe war.<br />
Korruption ist der Missbrauch anvertrauter Macht<br />
zum privaten Vorteil. Nachweisen lässt sich dieser<br />
Missbrauch selten, weil Geber <strong>und</strong> Nehmer – beide<br />
sind Täter – ein Geheimhaltungsinteresse verbindet.<br />
Das unterscheidet Korruption von anderen Vergehen.<br />
Das macht die Aufklärung so schwierig <strong>und</strong> treibt die<br />
Dunkelziffern bei solchen Delikten in schwindelerregende<br />
Höhen jenseits von 95 Prozent – zumal im rechtlichen<br />
Niemandsland des Weltfußballwesens, wo Korruption<br />
in all ihren Schattierungen nicht die Ausnahme<br />
ist, sondern die Regel.<br />
Anfang September hat der von der Fifa<br />
verpflichtete ehemalige amerikanische<br />
Staatsanwalt Michael Garcia seinen sogenannten<br />
Untersuchungsbericht zum<br />
WM-Bewerbungsprozess vorgelegt. Als<br />
Chef der Ermittlungskammer der hausinternen Fifa-<br />
Ethikkommission überstellte Garcia das Konvolut von<br />
350 Seiten an den Münchener Strafrichter Hans-Joachim<br />
Eckert, den Boss der rechtsprechenden Fifa-<br />
Ethikkammer. Garcia soll mit seinen Leuten 75 Zeugen<br />
befragt <strong>und</strong> mehr als 200 000 Seiten Unterlagen<br />
durchforstet haben. Eckert hat nun das letzte Wort.<br />
Die Unabhängigkeit der Ethikkommission wird<br />
weltweit bezweifelt, zumal Fifa-Präsident Blatter im<br />
Laufe der Jahre immer wieder Ergebnisse vorweggenommen<br />
hat. Mehrfach erklärte er ultimativ, die<br />
WM 2022 werde in <strong>Katar</strong> stattfinden, komme was<br />
WM 2014, Viertelfinale: Brasilien gegen<br />
Kolumbien. Juan Zuniga springt Brasiliens<br />
Neymar in den Rücken. Wirbelbruch<br />
wolle. Das hört sich derzeit etwas kleinlauter an, dennoch:<br />
Blatters Aufstieg in der Fifa vom Generalsekretär<br />
zum Präsidenten im Jahr 1998, sein zweiter erfolgreicher<br />
Wahlkampf 2002 <strong>und</strong> sein Machterhalt<br />
sind untrennbar mit der Herrscherfamilie Al Thani<br />
verb<strong>und</strong>en. <strong>Katar</strong> hat diese Wahlkämpfe zu großen<br />
Teilen finanziert. Seit 1995, als <strong>Katar</strong> binnen weniger<br />
Wochen als Ersatzausrichter einer Junioren-WM einsprang,<br />
spielt das Emirat eine Schlüsselrolle in der Fifa.<br />
Die Al Thanis, der junge Emir Tamim <strong>und</strong> sein Vater<br />
Hamad, wissen alles über Joseph Blatter. Würde der es<br />
wagen, <strong>Katar</strong> vor der Weltöffentlichkeit als Schurkenstaat<br />
bloßzustellen, der sich Events, Verträge <strong>und</strong> Posten<br />
im Weltsport erkauft? Wie würde <strong>Katar</strong> reagieren?<br />
Die Konstellation hat das Potenzial, einen Erdrutsch<br />
auszulösen. In vielen der mehr als 100 Weltverbände,<br />
darunter 35 olympische Föderationen, läuft<br />
es ähnlich. <strong>Katar</strong> macht mit fast allen Verbänden Geschäfte<br />
im Rahmen des nationalen Planes, Doha als<br />
globale Sporthauptstadt zu etablieren. Allein in den<br />
nächsten Monaten finden dort Weltmeisterschaften im<br />
Schwimmen, Squash, Handball <strong>und</strong> Boxen statt.<br />
Als im August die Forderungen nach einem Boykott<br />
der <strong>Russland</strong>-WM 2018 lauter <strong>und</strong> sogar beim<br />
EU-Gipfel im Rahmen eines Sanktionspakets diskutiert<br />
wurden, sprang Fifa-Chef Blatter seinem<br />
17<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
Neymar wird vom Platz getragen, er<br />
muss ins Krankenhaus. Fürs Halbfinale<br />
gegen Deutschland fällt er aus<br />
18<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
TITEL<br />
<strong>Rote</strong> <strong>Karte</strong><br />
Thomas Bach <strong>und</strong><br />
Joseph Blatter sind<br />
Meister darin,<br />
Politiker <strong>für</strong> ihre<br />
Zwecke einzuspannen<br />
Geschäftspartner Wladimir Putin ebenfalls zur Seite:<br />
Sport solle nicht mit Politik vermischt werden, erklärte<br />
Blatter im Beisein Putins, der ja selbst Weltklasse darin<br />
ist, Sport mit Politik zu vermengen. Sport solle nicht<br />
mit Politik vermischt werden, hatte im Februar 2014<br />
auch der deutsche IOC-Präsident Thomas Bach argumentiert,<br />
als das IOC in Putins Residenzstadt Sotschi<br />
die mehr als 50 Milliarden Dollar teuren Olympischen<br />
Winterspiele ausrichtete. Bach feierte die russischen<br />
Propagandaspiele als grandiosen Erfolg, während derer<br />
Putin die Annexion der Krim vorbereitete.<br />
Blatter, Bach <strong>und</strong> Putin halten zusammen wie Pech<br />
<strong>und</strong> Schwefel. Bach <strong>und</strong> Blatter sind Meister darin, Politiker<br />
<strong>für</strong> ihre Zwecke einzuspannen. Putin ist ein<br />
ungekrönter Olympiasieger darin, Sport <strong>für</strong> seine Interessen<br />
zu instrumentalisieren. Als Ausrichter von<br />
Mega-Events <strong>und</strong> anderen Weltmeisterschaften liegt<br />
<strong>Russland</strong> im laufenden Jahrzehnt an Position eins weltweit.<br />
Russische Firmen wie der staatliche Gaskonzern<br />
Gazprom sponsern zahlreiche Weltverbände, darunter<br />
auch die Fifa <strong>und</strong> die Europäische <strong>Fußball</strong>-Union Uefa.<br />
Russische Oligarchen, Politiker <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>e Putins<br />
haben in etlichen Weltverbänden als Präsidenten die<br />
Macht übernommen oder agieren in Exekutivkomitees<br />
an entscheidenden Positionen. Weder das IOC noch die<br />
Fifa können <strong>und</strong> werden sich von Putin lossagen. Mit<br />
Boykottforderungen darf man den Sport<strong>für</strong>sten ohnehin<br />
nicht kommen. Denn so etwas ist Teufelszeug<br />
<strong>für</strong> einen wie Bach: Der ehemalige Fechter begann<br />
seine Funktionärskarriere als Athletensprecher <strong>und</strong><br />
kämpfte 1980 vergeblich gegen den Olympiaboykott<br />
der Sommerspiele in Moskau, als viele westliche Nationen<br />
wegen des Einmarschs sowjetischer Truppen in<br />
Afghanistan fernblieben.<br />
Die aufflammenden Diskussionen über einen Boykott<br />
der WM 2018 in <strong>Russland</strong> lassen sich nur schwer<br />
mit den turbulenten Ereignissen des Jahres 1980 vergleichen,<br />
zu unterschiedlich sind die politischen Konstellationen.<br />
Damals schlossen sich weltweit 41 Nationen<br />
dem Aufruf der USA an. Das Europaparlament<br />
empfahl den Nationalen Olympischen Komitees der<br />
Mitgliedsländer, Moskau zu boykottieren. Es gab keinen<br />
kollektiven Beschluss des EWG-Ministerrats <strong>und</strong><br />
auch nicht der Nato.<br />
Die Sportminister des Europarats waren mehrheitlich<br />
gegen einen Boykott. Von den zehn Ländern der<br />
damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft boykottierten<br />
letztlich nur zwei Olympiakomitees: das der<br />
Niederlande <strong>und</strong> das NOK <strong>für</strong> Deutschland. Das deutsche<br />
NOK beugte sich einer B<strong>und</strong>estagsempfehlung <strong>und</strong><br />
dem immensen Druck der Regierung Helmut Schmidts.<br />
Dagegen flogen Franzosen, Italiener <strong>und</strong> Briten nach<br />
Moskau <strong>und</strong> widersetzten sich teilweise den Boykottforderungen<br />
ihrer Regierungen. Es ist aber kaum vorstellbar,<br />
dass in vier Jahren Franzosen, Engländer <strong>und</strong><br />
Italiener an der WM in <strong>Russland</strong> teilnehmen, während<br />
der Titelverteidiger Deutschland boykottiert <strong>und</strong> daheim<br />
bleibt. Jede B<strong>und</strong>esregierung, die so etwas auch<br />
nur in Erwägung zieht, müsste mit einem Volksaufstand<br />
rechnen. Denn der goldene WM-Pokal ist quasi unantastbar.<br />
Darin vor allem besteht die Macht der Fifa.<br />
Alle wollen sie teilhaben an der großen <strong>Fußball</strong>show,<br />
ob Politik oder Sponsoren. Und deshalb ist auch<br />
von den Geldgebern keine echte Aufklärung zu erwarten.<br />
Adidas beispielsweise, Fifa-Partner der ersten<br />
St<strong>und</strong>e, begnügte sich nach den jüngsten Enthüllungen<br />
der S<strong>und</strong>ay Times mit wachsweichen Statements, die<br />
wortgleich schon 2011 nach Veröffentlichung anderer<br />
Korruptionsgeschichten verbreitet worden waren.<br />
Und die öffentlich-rechtlichen Sender ARD <strong>und</strong> ZDF<br />
verkündeten Anfang Juni, als die Welt über Sklavenarbeiter<br />
<strong>und</strong> Korruption in <strong>Katar</strong> debattierte, mit der<br />
Fifa neue Verträge <strong>für</strong> die Wüsten-WM abgeschlossen<br />
zu haben. Sie finanzieren das System Blatter.<br />
Mit ernsthaften Boykotterwägungen<br />
müssten sich die Politik <strong>und</strong> die nationalen<br />
<strong>Fußball</strong>verbände erst 2016 befassen<br />
– dann nämlich beginnt die Qualifikation<br />
<strong>für</strong> die WM in <strong>Russland</strong>. Bis<br />
dahin kann sich die politische Lage entspannt haben.<br />
Und bis dahin werden deutsche Firmen alles daransetzen,<br />
Aufträge <strong>für</strong> die WM-Bauten <strong>und</strong> die begleitenden<br />
Infrastrukturmaßnahmen in <strong>Russland</strong> zu akquirieren.<br />
In <strong>Katar</strong> führen deutsche Unternehmen bereits Milliardenaufträge<br />
aus. <strong>Kein</strong>e B<strong>und</strong>esregierung hat je erwogen,<br />
diese Firmen zum Rückzug zu bewegen.<br />
Hans-Joachim Eckert ist ein Mann <strong>für</strong> schwere<br />
Fälle. Er hat als Richter am Münchner Landgericht vor<br />
einigen Jahren den Siemens-Schmiergeldprozess geleitet.<br />
Er hat einen guten Ruf zu verlieren, der während<br />
seiner Tätigkeit <strong>für</strong> die Fifa bereits gelitten hat.<br />
Eckert betreibt in der Fifa keine Strafjustiz. Er überprüft<br />
lediglich, wie sich die Vorgänge r<strong>und</strong> um die<br />
WM-Bewerbungen von <strong>Russland</strong>, <strong>Katar</strong> <strong>und</strong> neun anderen<br />
Nationen, die der ehemalige US-Staatsanwalt<br />
Michael Garcia ihm zusammengefasst hat, mit dem<br />
Ethikkodex vereinbaren lassen. Das sagt einiges darüber<br />
aus, was von Eckerts Urteil erwartet werden darf.<br />
Denn ein Fifa-Ethikreglement war in den Jahren 2009<br />
19<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
TITEL<br />
<strong>Rote</strong> <strong>Karte</strong><br />
<strong>und</strong> 2010 nur rudimentär entwickelt – daran wurde<br />
erst nach der WM-Vergabe, ab Mitte 2011, unter größtem<br />
medialem Druck gebastelt. In der heißen Phase<br />
der WM-Bewerbungen aber hatte sich der Engländer<br />
Lord Sebastian Coe, Olympiasieger <strong>und</strong> Organisator<br />
der Spiele 2012 in London, von Blatter als Fifa-Ethikchef<br />
wegen Arbeitsüberlastung beurlauben lassen. Es<br />
gab damals nicht einmal ein konsistentes Bewerbungsreglement:<br />
Zunächst waren Doppelbewerbungen <strong>für</strong><br />
die Weltmeisterschaften 2018 <strong>und</strong> 2022 zugelassen,<br />
erst kurz vor der Entscheidung verlangte die Fifa, die<br />
Interessenten sollten sich <strong>für</strong> eine WM entscheiden.<br />
Was Garcia in seinem Bericht nicht erwähnt, womöglich<br />
bewusst negiert <strong>und</strong> ausgelassen hat, kann<br />
Eckert nicht würdigen. Eckert könnte zusätzliche Ermittlungen<br />
einleiten, sollte ihm das von Garcia erstellte<br />
Material nicht ausreichen. Doch was heißt hier<br />
Ermittlungen? Denn es recherchieren ja keine Polizeibehörden<br />
auf rechtsstaatlicher Gr<strong>und</strong>lage, sondern nur<br />
ein von der Fifa-Führung unter dubiosen Umständen<br />
<strong>für</strong> viele Millionen angeheuerter Amerikaner mit seinen<br />
Leuten. In anderen Fällen haben Garcias Berichte<br />
stets zu dem von Blatter erwünschten Ergebnis geführt.<br />
Rechtsstaatlichkeit gibt es ohnehin nicht im Reich<br />
der Sportkonzerne. Die Fifa <strong>und</strong> das IOC sind globale<br />
Parallelgesellschaften mit eigener Jurisdiktion,<br />
Uruguays Luis Suárez hält sich die Zähne,<br />
nachdem er sie in die Schulter des Italieners<br />
Giorgio Chiellini gerammt hat<br />
die sich öffentlicher Kontrolle entziehen. So greifen<br />
beispielsweise internationale Antikorruptionsabkommen,<br />
die in der Politik <strong>und</strong> der regulären Wirtschaft<br />
gelten, nicht in diesem Schattenbusiness. Fifa, IOC <strong>und</strong><br />
60 andere Sportverbände residieren in der Schweiz,<br />
setzen Milliarden um, genießen zahlreiche steuerliche<br />
Privilegien <strong>und</strong> den rechtlichen Status von Vereinen.<br />
Und das, obwohl etwa die Fifa in großem Stil am Finanzmarkt<br />
agiert <strong>und</strong> aktuell Reserven von 1,432 Milliarden<br />
Dollar meldet.<br />
Für <strong>Russland</strong> <strong>und</strong> <strong>Katar</strong> haben die WM-Projekte<br />
oberste Priorität. In <strong>Russland</strong> hatte Putin<br />
die Bewerbung zur Chefsache gemacht; heute<br />
setzt er die WM-Vorbereitungen als allmächtiger<br />
Präsident durch. Er hatte Gazprom <strong>und</strong><br />
Oligarchen wie Roman Abramowitsch <strong>für</strong> die Bewerbung<br />
eingespannt. Es gibt Hinweise darauf, dass der<br />
Auslandsgeheimdienst SWR im Fifa-Umfeld die Fäden<br />
zog, angeblich, um lange nach dem 2. Dezember 2010<br />
die Spuren unsauberer Machenschaften zu verwischen.<br />
<strong>Katar</strong> hat im Rahmen seiner Bewerbung ebenfalls<br />
Geheimdienstler eingesetzt, etwa die Business-Intelligence-Firma<br />
Kroll Associates, die im „Projekt Seleucia“<br />
nicht nur Fifa-Funktionäre ausspionierte, sondern<br />
offenbar auch Journalisten, die kritisch über die Machenschaften<br />
berichteten. Auf der anderen Seite waren<br />
in einigen Ländern verdeckte Ermittler tätig, langgediente<br />
hochrangige Geheimdienstler, um auf eigene<br />
Faust Beweise <strong>für</strong> die Millionentransfers zu sammeln<br />
<strong>und</strong> an den Meistbietenden zu verkaufen.<br />
20<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
Bei diesen WM-Vergaben könnte es sich um die<br />
größten Korruptionsfälle der Sportgeschichte handeln.<br />
Angeblich sollen die Stimmen mancher Fifa-<br />
Exekutivmitglieder 30 bis 35 Millionen Euro gekostet<br />
haben. Derlei märchenhafte Summen sorgten da<strong>für</strong>,<br />
dass auch <strong>für</strong> Dokumente, die angeblich Korruption<br />
belegen sollen, unfassbare Beträge aufgerufen wurden.<br />
So verlangte ein Informant von Journalisten fünf<br />
Millionen Dollar vorab <strong>für</strong> ein Konvolut von Unterlagen<br />
<strong>und</strong> Kontoauszügen. Zweifelsfrei belegt sind bisher<br />
aber nur die Zahlungen des einstigen katarischen Fifa -<br />
Exekutivlers Mohamed bin Hammam an Vorstandskollegen<br />
wie den langjährigen Fifa-Vizepräsidenten Jack<br />
Warner aus Trinidad <strong>und</strong> Tobago sowie zweitrangige<br />
Funktionäre aus Afrika <strong>und</strong> Asien, die kein Stimmrecht<br />
hatten, wohl aber Stimmung <strong>für</strong> <strong>Katar</strong> machen<br />
konnten. Die Londoner S<strong>und</strong>ay Times hat diese Vorgänge<br />
im Juni 2014 enthüllt.<br />
<strong>Katar</strong>s WM-Organisatoren behaupten, bin Hammam<br />
sei nicht in die offizielle Bewerbung eingeb<strong>und</strong>en<br />
gewesen. Tatsächlich ist bin Hammam einer der<br />
wichtigsten Sportfunktionäre in der Erbmonarchie;<br />
mehr als 13 Jahre lang hat er den prall gefüllten Entwicklungshilfefonds<br />
der Fifa verwaltet, hat <strong>für</strong> Blatter<br />
Wahlkämpfe organisiert <strong>und</strong> Stimmenpakete arrangiert.<br />
Blatter hat ihn erst gestoppt, als bin Hammam<br />
selbst den Fifa-Thron besteigen <strong>und</strong> Präsident werden<br />
wollte – er wurde lebenslang gesperrt.<br />
Sollte die <strong>Fußball</strong>-WM 2018 wie geplant in <strong>Russland</strong><br />
stattfinden, dürften mehr als 100 Milliarden Dollar<br />
in Infrastrukturprojekte <strong>und</strong> Stadien investiert<br />
werden – die Korruptionsmarge beträgt laut dem Bauunternehmer<br />
<strong>und</strong> Whistleblower Waleri Morosow 15<br />
bis 20 Prozent. In <strong>Katar</strong> wiederum ist die WM 2022<br />
ein Kernprojekt des gigantischen Masterplans „Qatar<br />
National Vision 2030“. Ob nun 250 oder 300 Milliarden<br />
Dollar da<strong>für</strong> aufgewendet werden, spielt dort keine<br />
Rolle. <strong>Katar</strong> verfügt dank seiner Gasvorkommen über<br />
enorme Reichtümer. Und wenn das Turnier dort wegen<br />
der Hitze in den Winter verlegt werden sollte <strong>und</strong> die<br />
nationalen <strong>Fußball</strong>verbände oder die übertragenden<br />
TV-Anstalten deswegen ihre Planungen umschmeißen<br />
müssen, würden sie von <strong>Katar</strong> gewiss <strong>für</strong>stlich entschädigt.<br />
Alles nur eine Frage des Preises.<br />
UMFRAGE *<br />
MEHRHEITEN GEGEN<br />
RUSSLAND UND KATAR<br />
<strong>Katar</strong><br />
Die <strong>Fußball</strong>-WM 2022 sollte nicht wie vereinbart<br />
von <strong>Katar</strong>, sondern in einem anderen Land<br />
ausgetragen werden. **<br />
JA<br />
ANHÄNGER DER<br />
62% – CDU/CSU<br />
63% – SPD<br />
63% – LINKE<br />
70% – GRÜNE<br />
58% – AFD<br />
INSGESAMT<br />
INSGESAMT<br />
60% 28%<br />
OST – 54% WEST – 61% OST – 24% WEST – 29%<br />
<strong>Russland</strong><br />
Die <strong>Fußball</strong>-WM 2018 sollte nicht wie vereinbart<br />
von <strong>Russland</strong>, sondern in einem anderen Land<br />
ausgetragen werden. **<br />
JA<br />
NEIN<br />
ANHÄNGER DER<br />
24% – CDU/CSU<br />
32% – SPD<br />
29% – LINKE<br />
25% – GRÜNE<br />
27% – AFD<br />
NEIN<br />
Foto: Privat<br />
Weiterlesen<br />
JENS WEINREICH ist<br />
Autor in Berlin. Er beschäftigt<br />
sich seit Jahren<br />
mit Sportpolitik <strong>und</strong> insbesondere<br />
mit der Fifa<br />
Lesen Sie mehr zu <strong>Katar</strong> <strong>und</strong> <strong>Russland</strong> in der Weltbühne:<br />
Report über das reiche Emirat, das Leid verursacht (Seite 70).<br />
Essay von Michail Schischkin zur Tradition des Lügens (Seite 78)<br />
ANHÄNGER DER<br />
ANHÄNGER DER<br />
47% – CDU/CSU 41% CDU/CSU<br />
43% – SPD 51% SPD<br />
22% – LINKE 65% LINKE<br />
54% – GRÜNE 40% GRÜNE<br />
46% – AFD 52% AFD<br />
INSGESAMT<br />
INSGESAMT<br />
47% 42%<br />
OST – 36% WEST – 49% OST – 44% WEST – 42%<br />
* Forsa-Umfrage, Datenbasis: 1002 Befragte,<br />
Erhebungszeitraum: 11. <strong>und</strong> 12. September 2014<br />
** Abweichungen von 100% = „weiß nicht“<br />
21<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
TITEL<br />
<strong>Rote</strong> <strong>Karte</strong><br />
ELF STARKE<br />
STIMMEN<br />
22<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
Von links stehend<br />
Axel Hacke<br />
Marco Bode<br />
Uli Hannemann<br />
Selmin Çalışkan<br />
Thomas Strunz<br />
Jörg Schmadtke<br />
Vorne<br />
Moritz Rinke<br />
Sibylle Berg<br />
Yves Eigenrauch<br />
Marcel Reif<br />
Peter Neururer<br />
Hauptsache Weltmeisterschaften? Unwichtig, wer<br />
darunter leidet? Egal, wer sich damit schmückt?<br />
Vielleicht sieht das die Fifa so. Aber elf Persönlichkeiten<br />
haben etwas gegen <strong>Katar</strong> <strong>und</strong> <strong>Russland</strong> als Gastgeber<br />
Die <strong>Cicero</strong>-Elf der WM-Kritiker<br />
23<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
TITEL<br />
<strong>Rote</strong> <strong>Karte</strong><br />
1<br />
Jörg Schmadtke, 50,<br />
ehemaliger <strong>Fußball</strong>torhüter, heute<br />
Sportdirektor des 1. FC Köln<br />
Wir haben Olympia in Peking gefeiert, wir hatten eine<br />
Weltmeisterschaft 1978 in Argentinien, als dort die Militärjunta<br />
regierte. 1972 nach dem Anschlag im olympischen Dorf<br />
gingen die Spiele weiter. Was ich damit sagen will, ist: Die großen<br />
Sportveranstaltungen finden in der realen Welt statt, nicht<br />
in einer Wunschwelt. Aber natürlich ist die Frage legitim, ob<br />
es von allen Ländern mit ihren Vor- <strong>und</strong> Nachteilen<br />
ausgerechnet <strong>Katar</strong> sein musste. Wenn wir<br />
diskutieren, ob sich das mit dem Fair-Play-<br />
Gedanken des <strong>Fußball</strong>s in Einklang bringen<br />
lässt, dann müssen wir aber auch über<br />
<strong>Russland</strong> reden – <strong>und</strong> das Vergabeverfahren<br />
kritisch überprüfen.<br />
2<br />
Peter Neururer, 59, B<strong>und</strong>esligatrainer<br />
beim VfL Bochum<br />
Sagt die <strong>Fußball</strong>weltmeisterschaft in <strong>Katar</strong> ab! Das ist ja<br />
fast schon eine Pflicht. Diese Veranstaltung darf man in keiner<br />
Weise tolerieren. Wenn man den Medienberichten Glauben<br />
schenken kann – <strong>und</strong> ich nehme an, dass man es kann –<br />
<strong>und</strong> sich bewusst ist, wie viele Gastarbeiter dort unter den<br />
unmenschlichsten Bedingungen ihr Dasein fristen, kann man<br />
nicht mehr mit reinem Gewissen dahinterstehen. Für mich ist<br />
das eine sportliche Tragödie. Die Sommerhitze in <strong>Katar</strong> wäre<br />
<strong>für</strong> die Spieler <strong>und</strong> die Fans darüber hinaus eine einzige Zumutung,<br />
die Spiele in den Winter zu verlegen, eine logistische <strong>und</strong><br />
völlig idiotische Fehlentscheidung. Alles, was ich<br />
mit dieser Weltmeisterschaft in Verbindung<br />
bringen kann, hat bisher nicht viel mit Sport<br />
zu tun. Da stehen rein wirtschaftliche Interessen<br />
im Vordergr<strong>und</strong>. Der <strong>Fußball</strong> darf<br />
sich an so einem Foulspiel nicht beteiligen.<br />
Doch leider scheint der Schwachmatismus<br />
bei den Entscheidungsträgern im Weltfußball<br />
überhandzunehmen. Auch in Bezug<br />
auf die WM 2018 in <strong>Russland</strong> gibt es meiner Meinung<br />
nach klaren Handlungsbedarf. Sanktionen auszusprechen,<br />
reicht nicht aus. Wir müssen ein deutliches Zeichen setzen, beispielsweise<br />
indem man über alternative Spielorte nachdenkt.<br />
3<br />
Thomas Strunz, 46,<br />
<strong>Fußball</strong>europameister<br />
1996 <strong>und</strong> Sport1-Experte<br />
Die Austragung eines sportlichen Großereignisses<br />
wie einer <strong>Fußball</strong>-WM in aktuellen<br />
Krisenregionen sollte uns nachdenklich<br />
machen. Die Mitgliedsländer der Fifa haben<br />
diese Entscheidung in einer fragwürdigen<br />
Doppelwahl so getroffen, ohne dass wir damals<br />
bereits die Ukrainekrise <strong>und</strong> die verschärfte<br />
IS-Thematik hatten. Ich bin sicher,<br />
dass eine heutige Wahl völlig anders ausgehen<br />
würde <strong>und</strong> sowohl <strong>Russland</strong> als auch <strong>Katar</strong><br />
keine Chance mit ihren Bewerbungen hätten.<br />
Die Fifa hat die gesellschaftliche <strong>und</strong> politische<br />
Verpflichtung, die Ausrichterländer<br />
<strong>Russland</strong> <strong>und</strong> <strong>Katar</strong> an die ganz kurze Leine<br />
zu nehmen <strong>und</strong> mit der Wegnahme des Ausrichterstatus<br />
zu drohen, wenn es kriegerische,<br />
menschenrechtliche <strong>und</strong> sozialpolitische Themen<br />
gibt <strong>und</strong> diese nicht im Sinne der Weltgemeinschaft<br />
kurzfristig beendet oder gelöst<br />
werden. Darüber hinaus müsste ein Alternativplan<br />
<strong>für</strong> die Neuvergabe der Weltmeisterschaften<br />
2018 <strong>und</strong> 2022 erarbeitet werden,<br />
der bis zum Sommer 2015 greift, um den<br />
neuen Bewerbern die Möglichkeit einer professionellen<br />
Umsetzung zu geben.<br />
Mittlerweile hat der <strong>Fußball</strong> mit seiner<br />
globalen Wahrnehmung eine soziale Verantwortung<br />
übernommen. Durch die Vergabe<br />
der WM an die beiden Länder <strong>und</strong> der damit<br />
verb<strong>und</strong>enen verstärkten medialen Fokussierung<br />
auf die dort herrschenden Zustände<br />
kann es natürlich zu Veränderungen<br />
in den einzelnen Staaten kommen. Ob diese<br />
von Nachhaltigkeit geprägt sein werden, wird<br />
sich zeigen müssen. Von einem bereits öffentlich<br />
thematisierten Boykott einzelner Nationen<br />
halte ich in diesem Kontext nichts. Die<br />
Fifa mit Sepp Blatter an der Spitze hat die<br />
Aufgabe, diesen beiden Ländern klarzumachen,<br />
wie die Regeln der Weltgemeinschaft<br />
aussehen <strong>und</strong> was von <strong>Russland</strong> <strong>und</strong> <strong>Katar</strong><br />
in diesem Zusammenhang erwartet<br />
wird. Sollte diese<br />
Erwartung der Welt nicht<br />
erfüllbar sein, dürfen die<br />
WM-Turniere dort nicht<br />
stattfinden.<br />
24<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
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nzz.ch/testen30
TITEL<br />
<strong>Rote</strong> <strong>Karte</strong><br />
5<br />
Marco Bode, 45,<br />
<strong>Fußball</strong>europameister 1996,<br />
heute Aufsichtsratsmitglied<br />
des SV Werder Bremen.<br />
Gilt als einer der fairsten Spieler<br />
der B<strong>und</strong>esligageschichte<br />
Alle Informationen, die mir zur Verfügung stehen, vor allem Berichte<br />
von Amnesty International, sprechen da<strong>für</strong>, dass die Vergabe der<br />
Weltmeisterschaft nach <strong>Katar</strong> ein großer Fehler war <strong>und</strong> korrigiert werden<br />
sollte. Neben politischen <strong>und</strong> sozialen Gründen sind die klimatischen<br />
Verhältnisse aus Sicht eines Sportlers nur ein weiteres Argument<br />
gegen eine <strong>Fußball</strong>-WM in <strong>Katar</strong>. Was <strong>Russland</strong> angeht, fällt mir eine<br />
Beurteilung im Moment sehr schwer. Das politische Handeln unter Putin<br />
in der Ukraine ist völkerrechtswidrig, aber auch der Westen ist nicht<br />
frei von Verantwortung <strong>für</strong> die Situation. Sportler lehnen<br />
einen Boykott wie 1980 gr<strong>und</strong>sätzlich ab, ein anderes<br />
Gastgeberland zu wählen, ist eher denkbar. Allerdings<br />
sprechen alle Zeichen von Blatter <strong>und</strong> auch<br />
Platini gegen eine Rücknahme der Vergaben. Auf jeden<br />
Fall gilt es, die Werte des Sports zu verteidigen.<br />
4<br />
Sibylle Berg, 52, Autorin<br />
<strong>und</strong> Dramatikerin<br />
Ich war noch nie in <strong>Katar</strong>. Und es ist immer<br />
bedenklich, ein Urteil nur aufgr<strong>und</strong> von<br />
Informationen aus zweiter Hand zu fällen.<br />
Vertraue ich allerdings auch nur<br />
zur Hälfte allen von hier aus<br />
verfügbaren Informationen,<br />
würde ich weder – wie es<br />
in Europa üblich ist – Immobilien,<br />
Geschäfte <strong>und</strong><br />
Gr<strong>und</strong> an <strong>Katar</strong>er verkaufen<br />
noch so eine nette Geld<br />
bringende Albernheit wie ein<br />
Sportevent dort stattfinden lassen.<br />
Vermutlich wird die Liste der Austragungsorte<br />
klein, wenn man die Spiele nur in Ländern<br />
ohne Menschenrechtsverletzungen, ohne Homophobie<br />
<strong>und</strong> Terrorfinanzierung stattfinden<br />
lässt. Aber dann, liebe Spieler <strong>und</strong> Spielerinnen,<br />
bestreikt halt die Spiele in Kackländern,<br />
<strong>und</strong> vor allem: bestreikt Sepp Blatter!<br />
6<br />
Marcel Reif, 64,<br />
<strong>Fußball</strong>experte <strong>und</strong><br />
Sky-Chefkommentator<br />
Wenn ich an die anstehenden Weltmeisterschaften<br />
in <strong>Russland</strong> <strong>und</strong> <strong>Katar</strong> denke, stellt<br />
sich in beiden Fällen die Frage, wie der Fair-<br />
Play-Gedanke des <strong>Fußball</strong>s zu Ländern passt,<br />
die unseren demokratischen Ansprüchen nicht<br />
oder nur kaum genügen. Gerade die Korruptionsvorwürfe<br />
am Vergabeverfahren der WM<br />
nach <strong>Katar</strong> sind bereits so schwerwiegend, dass<br />
diese erst einmal lückenlos aufgeklärt werden<br />
müssen, bevor man hier ein <strong>Fußball</strong>fest feiern<br />
kann. Dass die klimatischen Bedingungen<br />
<strong>für</strong> ein Turnier im katarischen<br />
Sommer dazu noch absurd<br />
ungeeignet sind, wird da ja fast<br />
schon zur Nebensache. Wir sollten<br />
also alle ganz genau hingucken<br />
<strong>und</strong> öffentlich machen, dass das so<br />
nicht in Ordnung ist.<br />
26<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
OKTOBER 2014 / EURO 9,00 / SFR 14,50<br />
7<br />
Moritz Rinke, 47,<br />
Dramatiker, Romanautor <strong>und</strong> Stürmer<br />
der Autorennationalmannschaft<br />
Selbst wenn sich <strong>Katar</strong> im Juli 2022 irgendwie einen milden<br />
Frühling kaufen könnte, darf eine WM in <strong>Katar</strong> nicht stattfinden.<br />
Nicht bevor erst einmal ermittelt worden ist, ob die<br />
Korruptionsvorwürfe gegen den ehemaligen katarischen Fifa-<br />
Spitzenfunktionär stimmen, wonach er Offizielle mit fünf Millionen<br />
Dollar bestochen haben soll, um den WM-Zuschlag <strong>für</strong><br />
<strong>Katar</strong> zu bekommen. Dass diese Untersuchungen allerdings<br />
die Fifa-Ethikkommission leitet, macht mich skeptisch. Bei der<br />
Konstruktion „Fifa-Ethikkommission“ muss ich an den Satz<br />
von Karl Valentin denken, wonach man sich bei einem Studium<br />
der Wirtschaftsethik <strong>für</strong> eines der beiden entscheiden müsse.<br />
Selbst wenn herauskommen sollte, dass <strong>Katar</strong> keine<br />
Schmiergelder gezahlt hat, darf eine WM in <strong>Katar</strong> nicht stattfinden.<br />
Die Ausbeutung der Arbeitsmigranten ist mehrfach<br />
dokumentiert worden, auch durch einen erschütternden Bericht<br />
von Amnesty International. Ich <strong>für</strong>chte, dass milliardenschwere<br />
Finanztransaktionen wie <strong>Fußball</strong>weltmeisterschaften<br />
sich zwar immer noch „Fair-Play-Veranstaltungen“ nennen, es<br />
aber mit Menschenrechtsverletzungen nicht so ernst nehmen.<br />
Sonst dürfte auch keine WM in <strong>Russland</strong> stattfinden! (Und<br />
überhaupt: Wie groß wird <strong>Russland</strong> sein, wenn dort die WM<br />
2018 stattfindet? Sind die deutschen Gruppenspiele dann in<br />
der ehemaligen Ukraine?)<br />
Selbst wenn <strong>Katar</strong> Wiedergutmachungszahlungen an die<br />
Arbeitsmigranten leisten <strong>und</strong> die Arbeitstoten wieder lebendig<br />
machen würde, darf eine WM in <strong>Katar</strong> nicht stattfinden. Es<br />
tauchen immer wieder Quellen auf, die belegen, dass<br />
sunnitische Golfstaaten wie Saudi-Arabien <strong>und</strong><br />
<strong>Katar</strong> (oder ultrareiche Fanatiker oder Clans<br />
aus diesen Staaten) die IS-Terroristen mit Geld<br />
oder Waffen unterstützen. Und um es wirklich<br />
absurd zu beschreiben: Als einziges Team<br />
könnte ja trotzdem Deutschland zur WM nach<br />
<strong>Katar</strong> fahren, denn die schwarz-gelbe B<strong>und</strong>esregierung<br />
hat 2012 Waffenlieferungen <strong>für</strong> <strong>Katar</strong><br />
bewilligt, <strong>für</strong> 1,89 Milliarden Euro! Also: Erst die<br />
Leopard-Panzer liefern, dann die neuen Götzes <strong>und</strong> Benders.<br />
Dann müsste man locker wieder Weltmeister werden. Allerdings<br />
haben laut „Schweizer Medienberichten“ die IS-Terroristen<br />
einen Drohbrief an Sepp Blatter von der Fifa geschrieben,<br />
in dem es heiße, dass <strong>Katar</strong> bald zum neuen Kalifat gehören<br />
werde <strong>und</strong> eine WM nicht zu einem Kalifat passe.<br />
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<strong>Rote</strong> <strong>Karte</strong><br />
8<br />
Selmin Çalışkan, 47<br />
Generalsekretärin von<br />
Amnesty International<br />
Deutschland<br />
Die Fifa darf die WM nicht an Länder<br />
wie <strong>Katar</strong> oder <strong>Russland</strong> vergeben, aber<br />
gleichzeitig die Augen vor den unhaltbaren<br />
Zuständen dort verschließen. Das<br />
muss nicht Boykott bedeuten. Sie muss<br />
aber ihren Einfluss nutzen, um die Situation<br />
der Menschen zu verbessern. Und<br />
auf jeden Fall ist sie verantwortlich da<strong>für</strong>,<br />
was in unmittelbarem Zusammenhang<br />
mit der WM passiert – wie andere<br />
global agierende Wirtschaftsunternehmen<br />
bei ihren Geschäften auch. Die Fifa<br />
macht sich zum Komplizen von Menschenrechtsverletzungen,<br />
wenn etwa auf<br />
den Stadionbaustellen unmenschliche Bedingungen<br />
herrschen <strong>und</strong> sogar Arbeiter<br />
wegen dieser Bedingungen sterben.<br />
Fair Play in <strong>Katar</strong> muss auch heißen:<br />
Faire <strong>und</strong> sichere Bedingungen <strong>für</strong> die<br />
in <strong>Katar</strong> beschäftigten Arbeitsmigranten.<br />
Dazu muss das Sponsorengesetz<br />
abgeschafft<br />
werden, das ausländische<br />
Arbeiterinnen<br />
<strong>und</strong> Arbeiter<br />
in extreme Abhängigkeit<br />
vom Arbeitgeber<br />
bringt. Fair<br />
Play in <strong>Russland</strong> muss<br />
auch heißen: Meinungs<strong>und</strong><br />
Versammlungsfreiheit am Rande<br />
der Sportveranstaltung. Bei den Olympischen<br />
Winterspielen in Sotschi war das<br />
nicht der Fall. Um Ruhe während der<br />
Spiele zu haben, nahm die Polizei Menschen,<br />
die friedlich protestieren wollten,<br />
schon bei der Anreise fest. Darunter den<br />
Umweltaktivisten Jewgeni Witischko.<br />
Das Olympische Komitee schwieg dazu.<br />
Witischko ist noch heute in Haft.<br />
9<br />
Uli Hannemann, 49<br />
Schriftsteller <strong>und</strong> Mitglied der<br />
Autorennationalmannschaft,<br />
dort Innenverteidiger<br />
Man kann <strong>Russland</strong> <strong>und</strong> <strong>Katar</strong> nicht über einen Kamm scheren.<br />
Im Fall <strong>Katar</strong> summieren sich irrwitzige klimatische Bedingungen,<br />
vermutete Korruption bei der Vergabe <strong>und</strong> menschenunwürdige Behandlung<br />
der Arbeitskräfte. Das sollte noch dem geduldigsten Fan<br />
die Feierfreude verhageln. Was <strong>Russland</strong> betrifft, gilt es, Entwicklungen<br />
abzuwarten. Hier überwiegt zurzeit die allgemeinpolitische<br />
Problematik, im Gegensatz zur sportpolitischen in <strong>Katar</strong>.<br />
Die Fifa muss gründlich reformiert werden. Eitle <strong>und</strong> machtgeile<br />
Funktionäre wie Beckenbauer, der den toten Arbeitern in <strong>Katar</strong><br />
flapsige Scherzworte aufs Wüstengrab streut, Blatter, Platini <strong>und</strong><br />
Konsorten schänden jeden Anstand. Korruptionsvorwürfe müssen<br />
von unabhängiger Seite untersucht werden – es kann nicht angehen,<br />
dass die Fifa agiert wie ein absolutistisches Regime, unabhängig<br />
von Steuer- <strong>und</strong> sonstiger Gerechtigkeit. Sonst setzt sich die Tendenz<br />
weiter fort, dass Ausrichter mit postdemokratischen Strukturen<br />
<strong>für</strong> Prunkspiele bluten, während andernorts die Vernunft schon die<br />
Bewerbung scheitern lässt. Die Veranstaltungen müssen nachhaltiger<br />
werden, Geld muss in die Kassen zurückfließen, aus denen es<br />
investiert wird.<br />
Es wäre naiv, an das Gladiatorenspektakel WM<br />
die gleichen gesellschaftlichen Ansprüche zu erheben<br />
wie an den Breitensport <strong>Fußball</strong>. Doch<br />
auch eine Unterhaltungsveranstaltung sollte<br />
sich wenigstens an den gr<strong>und</strong>legenden Prinzipien<br />
der Moral orientieren. Das vermissten wir<br />
bei der Fifa in Südafrika, in Brasilien <strong>und</strong> werden<br />
das auch in <strong>Russland</strong> <strong>und</strong> <strong>Katar</strong> tun. So viel steht<br />
bereits mit der Vergabe der Turniere fest.<br />
28<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
10<br />
Yves Eigenrauch, 43, früher <strong>Fußball</strong>profi.<br />
Gewann mit Schalke 1997<br />
den Uefa-Cup. In seiner B<strong>und</strong>esligazeit<br />
nicht eine <strong>Rote</strong> <strong>Karte</strong><br />
Kritik an den Weltmeisterschaften in <strong>Russland</strong> <strong>und</strong> <strong>Katar</strong> ist nötig.<br />
Sie bedeutet, das Ganze in politische Relationen zu setzen. Natürlich<br />
ist es bei so einem riesigen Apparat wie der Fifa immer schwer, die<br />
Wahrheit herauszufinden. Aber es gibt dennoch so etwas wie Moral<br />
<strong>und</strong> Ethik. Und diese Gr<strong>und</strong>sätze sollten auf der ganzen Welt Gültigkeit<br />
haben. Wenn bestimmte Entscheidungen moralisch <strong>und</strong> ethisch<br />
nicht oder nicht mehr vertretbar sind, dann sollten sie revidiert werden.<br />
Geld darf nicht den Ausschlag geben. Letzten Endes ist das, was hier<br />
gerade passiert, nur ein Synonym <strong>für</strong> das allgemeine Gebaren<br />
der Menschen in der Welt. Und das scheint rein<br />
wirtschaftlich motiviert zu sein. Irgendwo auf dem<br />
Weg hat der <strong>Fußball</strong> seine Ideale verloren – wenn<br />
sie denn je vorhanden waren. Das nennt man Kapitalismus.<br />
Vielleicht ist ein faires Miteinander einfach<br />
nicht mehr gefragt.<br />
1.258 S. Ln. € 39,95<br />
ISBN 978-3-406-66984-2<br />
Jetzt neu:<br />
Band 3 der vierbändigen<br />
Geschichte des Westens<br />
„Geschichtsschreibung auf<br />
höchstem Niveau.“<br />
Volker Ullrich, Tages-Anzeiger<br />
Illustrationen: Simon Prades (Seiten 22 bis 29)<br />
11<br />
Axel Hacke, 58, Journalist <strong>und</strong> Schriftsteller.<br />
Sein jüngstes Buch: „<strong>Fußball</strong>gefühle“<br />
<strong>Russland</strong> überfällt gerade ein anderes Land <strong>und</strong> annektiert Teile<br />
davon völkerrechtswidrig. <strong>Katar</strong> ist ein Sklavenstaat. Selbst in Brasilien<br />
war es schon kaum möglich, guten Gewissens ein <strong>Fußball</strong>fest zu<br />
feiern. Wo doch dort Milliarden <strong>für</strong> überflüssige Stadien ausgegeben<br />
wurden, die anderswo dringend benötigt worden wären. Wo<br />
kann man überhaupt noch guten Gewissens feiern? Vermutlich<br />
muss man die Widersprüche, die mit einem solchen<br />
Fest verb<strong>und</strong>en sind, jedenfalls bis zu einem gewissen<br />
Grad aushalten. <strong>Katar</strong> müsste man die WM<br />
entziehen. Sie hätte nie dorthin vergeben werden dürfen,<br />
allein, weil das Klima da<strong>für</strong> komplett ungeeignet<br />
ist. Die Weltmeisterschaft dort wäre eine völlig sterile<br />
Veranstaltung <strong>und</strong> ein Musterbeispiel da<strong>für</strong>, wie sehr sich<br />
die Fifa von der Basis des <strong>Fußball</strong>s <strong>und</strong> von dessen Anhängern<br />
entfernt hat. Ich bin gegen einen Boykott in <strong>Russland</strong>, weil ich<br />
generell nicht viel von Sportboykotts halte. Damit bewirkt man kaum<br />
etwas, zerstört aber <strong>für</strong> die Sportler unendlich viel. Die Einheit <strong>und</strong><br />
Unabhängigkeit des Weltsports hat einen eigenen Wert. Wenn man<br />
das aufs Spiel setzt, gibt es irgendwann weder Olympische Spiele noch<br />
<strong>Fußball</strong>weltmeisterschaften. Der <strong>Fußball</strong> hat eine Verantwortung, die<br />
jenseits des Spielfelds liegt. Eine Organisation wie die Fifa, die immer<br />
wieder im Verdacht der Korruption steht, wird dieser Verantwortung<br />
nicht besonders gut gerecht.<br />
29<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014<br />
831 S., 50 Abb. Ln. € 29,95<br />
ISBN 978-3-406-66936-1<br />
Johannes Willms hat eine<br />
mitreißende Geschichte der<br />
Französischen Revolution<br />
geschrieben. Personen, Kräfte<br />
<strong>und</strong> Motive – erklärt <strong>und</strong><br />
analysiert von einem der<br />
besten Kenner.<br />
C.H.BECK<br />
WWW.CHBECK.DE
TITEL<br />
<strong>Rote</strong> <strong>Karte</strong><br />
„ KEINE WM BEI KRIEG “<br />
Der Grüne Jürgen Trittin über asymmetrische<br />
Kriege, <strong>Russland</strong> <strong>und</strong> <strong>Katar</strong><br />
Herr Trittin, ist der Eindruck falsch, dass der Westen<br />
auf den Terror der islamischen Miliz im Irak <strong>und</strong><br />
auf den Krieg in der Ukraine recht hilflos reagiert?<br />
Jürgen Trittin: Die Kriegsmuster sind andere als<br />
im letzten Jahrh<strong>und</strong>ert. Es geht nicht mehr Staat gegen<br />
Staat. Krieg erwächst aus dem Zerfall von Staaten. Daraus<br />
entstehen asymmetrische Kriege, an denen Söldner,<br />
Freischärler <strong>und</strong> Spezialkräfte beteiligt sind. Am Ende<br />
solcher Konflikte stehen anders als 1945 oder 1918 politische<br />
Lösungen <strong>und</strong> nicht der militärische Sieg.<br />
Hat der Westen vor der Logik der Waffen kapituliert?<br />
Es wäre naiv, nicht zu reagieren. Man musste die<br />
Isis am Staudamm von Mossul<br />
mit Luftangriffen stoppen. Aber<br />
der Rückgriff aufs Militärische ist<br />
als letztes Mittel immer ein Ausdruck<br />
der Hilflosigkeit. Der Isis<br />
wird nur dauerhaft zurückgeschlagen<br />
werden können, wenn es zu einem<br />
Interessenausgleich zwischen<br />
Saudi-Arabien <strong>und</strong> Iran kommt.<br />
Die Hilflosigkeit zeigt sich auch<br />
in den deutschen Waffenlieferungen<br />
an die kurdischen Peschmerga.<br />
Niemand weiß, wer diese Waffen<br />
<strong>für</strong> was einsetzen wird.<br />
Es geht doch längst nicht nur um<br />
Waffenlieferungen. In Deutschland<br />
wird bereits über einen Einsatz<br />
der B<strong>und</strong>eswehr diskutiert.<br />
Gleichzeitig erleben wir: Die einzige effektive Antwort<br />
geben die Amerikaner mit ihren Bomben …<br />
… aber die USA haben sich nicht einen Tag lang um<br />
ein UN-Mandat bemüht, obwohl sie es eventuell bekommen<br />
hätten. Solange es ein solches Mandat nicht<br />
gibt, solange Barack Obama einzig auf eine Koalition<br />
der Willigen setzt, kann Deutschland nicht dabei sein.<br />
Mit einem Mandat der UN sollte sich Deutschland<br />
also auch an Luftschlägen beteiligen?<br />
Die Kanzlerin hat das bisher ausgeschlossen, was<br />
ich <strong>für</strong> richtig halte. Ein UN-Mandat wäre in jedem Fall<br />
verfassungsrechtlich zwingend notwendig. Das gibt es<br />
nur mit <strong>Russland</strong> <strong>und</strong> China – also mit einer politischen<br />
Verständigung in der Region.<br />
Auf Dauer wird man doch nicht bei der Arbeitsteilung<br />
bleiben können, die USA sind <strong>für</strong> die Schmutzarbeit<br />
zuständig <strong>und</strong> Deutschland <strong>für</strong> die Hilfsgüter.<br />
Gr<strong>und</strong>sätzlich haben Sie recht – auch wenn<br />
die USA in diesem Fall <strong>für</strong> die Folgen des eigenen<br />
völkerrechtswidrigen Krieges gegen den Irak aufkommen<br />
müssen. Im Rahmen der UN muss sich Deutschland<br />
auch stärker an militärischen Missionen beteiligen.<br />
Nur, ein UN-Mandat fällt nicht vom Himmel. Da<strong>für</strong><br />
muss man den politischen Willen <strong>und</strong> eine politische,<br />
nicht bloß eine militärische Strategie haben. Der Westen<br />
gegen den Islam – da heißt der Sieger dann Isis.<br />
In der Ukraine setzt der Westen auf Sanktionen gegen<br />
<strong>Russland</strong>. Aber Putin führt alle weiter an der<br />
Nase herum. Sind Sanktionen ein stumpfes Schwert?<br />
Die Sanktionen haben bisher eher symbolischen<br />
Charakter. Trotzdem sind die Folgen in <strong>Russland</strong> spürbar.<br />
Allein schon die Debatte über<br />
Sanktionen hat zu einem massiven<br />
Stopp ausländischer Investitionen,<br />
zur Flucht von Kapital<br />
<strong>und</strong> zu einem geschwächten Rubel<br />
geführt. Jetzt steckt das Land in<br />
einer Rezession. Langfristig sind<br />
Sanktionen deshalb ein scharfes<br />
Schwert.<br />
Finanziers des Terrors sitzen auch<br />
in <strong>Katar</strong>, die Strippenzieher des<br />
Ukrainekriegs in <strong>Russland</strong>. Ist es<br />
Zufall, dass in diesen beiden Ländern<br />
2018 <strong>und</strong> 2022 die <strong>Fußball</strong>-<br />
WM stattfindet?<br />
Das hat vor allem mit der Fifa<br />
zu tun. Das System Fifa sucht die<br />
Nähe von korrupten politischen<br />
Systemen, weil es selbst korrupt ist. Selbst wenn sich<br />
<strong>Katar</strong> zu einer Musterdemokratie entwickeln <strong>und</strong> die<br />
Sklavenarbeit abschaffen sollte, bin ich aus anderen<br />
Gründen da<strong>für</strong>, die WM zu entziehen. Unter den klimatischen<br />
Bedingungen, die dort herrschen, kann man<br />
keine WM organisieren.<br />
Muss der Westen nicht auch den Boykott der WM in<br />
<strong>Russland</strong> 2018 erwägen?<br />
Wir sollten <strong>Russland</strong> die Chance geben, zu den europäischen<br />
Werten zurückzukehren. Dazu gehört es,<br />
die Grenzen <strong>und</strong> das Prinzip der Selbstbestimmung<br />
der Völker anzuerkennen. Beides sind Gr<strong>und</strong>pfeiler<br />
der europäischen Sicherheit nach dem Ende des Kalten<br />
Krieges. Deshalb würde ich die Frage erst mal offenhalten.<br />
Aber eines ist doch klar: Solange <strong>Russland</strong><br />
einen Krieg im Nachbarland führt, kann in dem Land<br />
keine <strong>Fußball</strong>-WM stattfinden.<br />
Die Fragen stellte CHRISTOPH SEILS<br />
Illustration: Simon Prades<br />
30<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
„ Ich habe oft<br />
Diskussionen erlebt,<br />
bei denen gesagt wurde:<br />
Wenn du jetzt nicht<br />
sagst, was du machst,<br />
geschieht morgen etwas<br />
ganz Schreckliches.<br />
Aber dazu kam es dann<br />
doch nicht “<br />
B<strong>und</strong>eskanzlerin Angela Merkel im <strong>Cicero</strong>-Gespräch, Seite 38<br />
31<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Porträt<br />
DIE INSELLÖSUNG<br />
Gabriele Pauli stapft in Sneakers durch den Sand von Sylt. Im Norden will sie ein neues<br />
Kapitel beginnen: als Bürgermeisterin. Sie hat Chancen. Weil sie es behutsam angeht<br />
Von MERLE SCHMALENBACH<br />
Foto: Roman Matejov <strong>für</strong> <strong>Cicero</strong><br />
Gabriele Pauli verspätet sich etwas,<br />
also schaut man schon mal ohne<br />
sie auf die Speisekarte: Trüffelpommes,<br />
Lachs-Sashimi, Bison-Steak. Es<br />
gibt auch eine Flasche Champagner <strong>für</strong><br />
3800 Euro. Ah, da unten ist ein Stück Apfelkuchen<br />
<strong>für</strong> 4,50 Euro. Gott sei Dank.<br />
Pauli hat den Treffpunkt auf Sylt selbst<br />
ausgesucht. Ursprünglich sollte es das<br />
Café Luzifer sein, dann schwenkte sie<br />
auf das Restaurant Sansibar um. Politiker<br />
wie Wolfgang Schäuble kommen<br />
hierher. Einst gingen auch Romy Schneider<br />
<strong>und</strong> Brigitte Bardot ein <strong>und</strong> aus. Es ist<br />
ein Sehen <strong>und</strong> Gesehenwerden, ein Ort<br />
der Inszenierung.<br />
Pauli tritt ein. Kaum hat sie Platz genommen,<br />
kommt der Wirt, Herbert Seckler,<br />
ein gut vernetzter Mann mit grauen<br />
Haaren. Gedämpfte Stimme. Mit wem<br />
sie zuletzt gesprochen habe, fragt er. Ah,<br />
okay. Als Nächstes könne sie ja mal zu<br />
dem <strong>und</strong> dem gehen, rät Seckler. Pauli<br />
trifft gerade viele Leute. Sie will als Sylter<br />
Bürgermeisterin kandidieren. Am<br />
Vortag ist sie auf der Insel angekommen,<br />
um 20 Uhr, <strong>und</strong> hat die Koffer in ihre<br />
neue Wohnung gewuchtet.<br />
Die Geschichte geht so: Die Insulaner<br />
suchen ein neues Oberhaupt. Für den<br />
Job braucht man etwas Glamour, aber vor<br />
allem staubtrockene Verwaltungserfahrung.<br />
Geeignete Bewerber, vor allem mit<br />
Charisma, waren zuerst rar. Eines Tages<br />
saßen ein paar Sylter Bürger zusammen<br />
<strong>und</strong> grübelten über die Lage. Bis Paulis<br />
Name fiel. Sie war 18 Jahre Fürther Landrätin.<br />
Sie kennt sich mit Lokalpolitik aus,<br />
mit Müllsäcken <strong>und</strong> Bushaltestellen. Sie<br />
trägt elegante Kleider. Am nächsten Tag<br />
klingelte ihr Telefon. Sie nahm ab.<br />
Gabriele Pauli war schon viel in ihrem<br />
Leben. Sie war die schöne Landrätin,<br />
die Zerstoiberin, die mit den Latex-Handschuhen.<br />
Sie hat über Polit-PR<br />
promoviert. 2007 wurde sie bekannt, als<br />
sie sich in der CSU gegen Bayerns Ministerpräsidenten<br />
Edm<strong>und</strong> Stoiber stellte.<br />
Sie trat in Talkshows auf, war kurz Liebling<br />
der Medien. Doch nach Stoibers<br />
Rücktritt wurde es <strong>für</strong> sie eng in der CSU.<br />
Manche in der Partei schimpften sie Hexe<br />
<strong>und</strong> Schlimmeres. Danach wurde sie mit<br />
den Freien Wählern unglücklich; mit der<br />
Freien Union, einer Neugründung, übernahm<br />
sie sich. Es ging nicht mehr weiter.<br />
Letztes Jahr nahm sie Abschied aus der<br />
Politik. Sie hat ihre Biografie veröffentlicht<br />
<strong>und</strong> bietet Coachings <strong>für</strong> Politneulinge<br />
an. Jetzt zieht es sie in die Manege<br />
zurück. „Mein Leben vollzieht sich in<br />
Abschieden <strong>und</strong> Kapiteln“, sagt sie.<br />
EINE WOCHE bevor sie sich endgültig <strong>für</strong><br />
Sylt entscheidet, wartet Pauli vor dem<br />
Münchner Landtag. Sie darf ihn lebenslang<br />
betreten, weil sie mal Abgeordnete<br />
war. Auch diesen Treffpunkt hat sie vorgeschlagen.<br />
Ob man mal reinwolle, fragt<br />
sie? Warum nicht.<br />
Pauli erklimmt die Treppen, geht<br />
durch die leeren Gänge. An den Wänden<br />
hängen Ölschinken, sie erzählen von<br />
Schlachten <strong>und</strong> Krönungen. Pauli betritt<br />
den Plenarsaal. „Hier habe ich gesessen“,<br />
sagt sie. „Erst vorne, dann hinten.“ Sie<br />
geht zu ihrem Stuhl, legt die Hände auf<br />
die Lehne. Die Abgeordneten sind außer<br />
Haus. Es ist menschenleer. Nur eine<br />
schemenhafte Gestalt bewegt sich oben<br />
auf dem Glasdach. Pauli blickt hoch, sieht<br />
einen Wischmopp über sich. Er klatscht<br />
auf das Glas.<br />
Im Landtag stürzt ein Mann auf sie<br />
zu, der Saaldiener. Wie es ihr gehe, fragt<br />
er. Sie strahlt. Ob er das mit Sylt gehört<br />
habe? Er runzelt die Stirn. Da kenne sie<br />
doch bestimmt niemanden, sagt er.<br />
Tatsächlich sind die Sylter Nachfahren<br />
von Seefahrern. Sie schipperten aufs Meer<br />
hinaus, manchmal versanken sie. „Sie sind<br />
sehr offen“, sagt Pauli. Ihre neuen Bekannten<br />
hätten ihr die Wohnung, einen Leihwagen<br />
<strong>und</strong> Gesprächspartner vermittelt. Die<br />
klappert sie jetzt ab. Es gibt viele Probleme<br />
auf der Insel: Die jungen Sylter ziehen weg.<br />
Die Wohnungen sind knapp. In den Kassen<br />
bleibt wenig hängen. Pauli wirbt deshalb<br />
<strong>für</strong> eine Erhöhung der Zweitwohnsitzsteuer<br />
<strong>und</strong> eine Geburtsstation. „Gefühlt<br />
gibt es eine sehr große Chance <strong>für</strong> Frau<br />
Pauli“, sagt der Chefredakteur der Sylter<br />
R<strong>und</strong>schau, Michael Stitz. „Nach anfänglicher<br />
Skepsis haben sich viele wichtige<br />
Stimmen <strong>für</strong> sie ausgesprochen.“ Sie<br />
habe den passenden Lebenslauf <strong>und</strong> trete<br />
auf der Insel behutsam auf. Zudem werde<br />
auf Sylt der Promifaktor gerne gesehen.<br />
Die Wahl ist am 14. Dezember.<br />
Sylt. Pauli stapft in ihren lila Sneakers<br />
durch den Sand. Der Wind weht<br />
durch ihre Haare. Sie ist jetzt 57 Jahre<br />
alt. Ihr Vater ist vor einiger Zeit gestorben,<br />
auch ihr Bruder. Er sagte zu ihr: Du<br />
hast nur ein Leben. Sie hat lange darüber<br />
nachgedacht. Der Politikbetrieb ist unbarmherzig.<br />
Bei einer Rede im Landtag<br />
sprach sie einmal von der Abwesenheit<br />
des göttlichen Gedankens in der Politik.<br />
Es war ein authentischer Moment, bei all<br />
der Inszenierung.<br />
Die Sonne bricht durch, Pauli atmet<br />
die Luft tief ein. Man kann auf Sylt kilometerweit<br />
am Strand wandern, der Blick<br />
geht ins Unendliche. Nur hier vorne am<br />
Wasser, da warnt ein Schild vor den Strömungen:<br />
Wenn man in der Mitte bleibt,<br />
innerhalb der grünen Fähnchen, ist alles<br />
gut, steht da. Aber wenn man nicht<br />
aufpasst, dann reißt das Meer einen mit.<br />
MERLE SCHMALENBACH, freie Reporterin,<br />
schreibt regelmäßig in <strong>Cicero</strong>. Am Sonntag,<br />
14. Dezember, wird sie den Sylter Wahlabend<br />
im Internet verfolgen<br />
33<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Porträt<br />
DIE CSU IST NICHT NUR SEEHOFER<br />
Manfred Weber ist kein Prinz am Hof von König Horst in München. Aber er hat eine<br />
Hausmacht – <strong>und</strong> als EVP-Chef im Europaparlament einen der wichtigen Jobs in Brüssel<br />
Von WERNER SONNE<br />
Foto: Dirk Bruniecki <strong>für</strong> <strong>Cicero</strong><br />
Schon mal was von Niederhatzkofen<br />
gehört? Nicht? Dann vielleicht<br />
doch von Rottenburg an<br />
der Laaber, zu dem dieses Dorf gehört?<br />
Auch nicht? Falls Sie mal hinwollen,<br />
bringt Sie der Bus 6241 vom Landshuter<br />
Hauptbahnhof hin. Das Dorf hat einen<br />
<strong>für</strong> Niederhatzkofener Verhältnisse berühmten<br />
Sohn: Manfred Weber. Manfred<br />
wer? Kennen Sie auch nicht? Sollten Sie<br />
aber, denn Weber ist einer der mächtigsten<br />
Männer in der europäischen Politik.<br />
Nach der Europawahl wurde er, gerade<br />
42 geworden, in Brüssel zum Fraktionschef<br />
der Europäischen Volkspartei,<br />
dem Sammelbecken der Christdemokraten<br />
Europas. Es ist die stärkste Fraktion<br />
im EU-Parlament. Weber bekam nur<br />
zwei Gegenstimmen: über 99 Prozent.<br />
Ausgerechnet ein Politiker der CSU,<br />
jener Partei, die im Wahlkampf alles getan<br />
hatte, irgendwie <strong>für</strong> Europa zu sein,<br />
aber vor allem auch dagegen. Das ist ihr<br />
nicht gut bekommen, <strong>und</strong> hernach wurde<br />
gegen CSU-Chef Horst Seehofer hörbar<br />
gegrantelt. Aber Weber macht gern sein<br />
eigenes Ding. Das kann man auch daran<br />
sehen, dass er nicht als möglicher Erbe<br />
Seehofers gehandelt wird, obwohl der<br />
sich einen ganzen Hofstaat an Prinzen<br />
<strong>und</strong> Prinzessinnen hält – von Ilse Aigner,<br />
Markus Söder, Joachim Herrmann bis zu<br />
Alexander Dobrindt. Man sollte jedoch<br />
den Mann in Brüssel nicht unterschätzen.<br />
Seine Wahl zum EVP-Fraktionschef<br />
ist auch erstaunlich, weil Angela Merkel<br />
nicht entzückt war, dass diesen wichtigen<br />
Posten ein CSU-Mann bekommen sollte<br />
<strong>und</strong> niemand von der CDU.<br />
Andererseits: Manfred Weber, Europaparlamentarier<br />
seit 2004, hat seinen<br />
Karrieresprung lange vorbereitet.<br />
Er hat sich als Vize-Fraktionschef schon<br />
Ansehen erworben, ein fleißiger, unaufgeregter<br />
Arbeiter, der andere mitnimmt.<br />
Und sein Vorgänger, der Franzose Joseph<br />
Daul, hat <strong>für</strong> ihn geworben.<br />
Weber ist ein Europa-Überzeugungstäter.<br />
Wie sich seine Haltung von der<br />
Seehofers unterscheidet, konnte man im<br />
Wahlkampf sehen. Als CSU-Vize Peter<br />
Gauweiler gegen die EU wütete, sagte<br />
Seehofer: „Er vertritt exakt die Linie<br />
der CSU.“ Weber dagegen brachte sogar<br />
Franz Josef Strauß in Stellung. Mit<br />
Strauß-Tochter Monika Hohlmeier, auch<br />
im EU-Parlament, schrieb er im Münchner<br />
Merkur: „Andere schimpfen über<br />
Brüssel. Die CSU aber darf nicht nur kritisieren<br />
<strong>und</strong> schimpfen, sie muss den Willen<br />
zur Gestaltung zeigen.“ Eine Kampfansage<br />
an Gauweiler – <strong>und</strong> Seehofer. Er<br />
fügte an, Strauß würde heute „eine Vertiefung<br />
der politischen Integration Europas<br />
verlangen“.<br />
AM ABEND DER EUROPAWAHL musste<br />
Seehofer kleinlaut das schlechte Wahlergebnis<br />
erläutern. Weber triumphierte.<br />
In seiner Heimat Niederbayern holte er<br />
50,5 Prozent, 10 Prozentpunkte mehr als<br />
die CSU im Landesdurchschnitt.<br />
Niederbayern ist CSU-Kernland,<br />
<strong>und</strong> Manfred Weber ist dort der Bezirkschef<br />
der Partei, eine schöne Hausmacht.<br />
Gewählt <strong>für</strong> diesen Posten wurde er wie<br />
in Brüssel mit 99 Prozent. Die Bezirksvorsitzenden<br />
sind in der Partei die eigentlichen<br />
Fürsten, mit denen kann auch der<br />
Landesvater <strong>und</strong> CSU-Vorsitzende nicht<br />
einfach umspringen wie er mag. „Weber<br />
hat seine Karriere nicht Seehofer zu verdanken“,<br />
sagt ein Berliner CSU-Minister.<br />
„Das macht ihn auch unabhängig.“<br />
In seinem Büro in Brüssel schaffen<br />
vier Reihen von der Decke herabhängender<br />
Neonleuchten ein grelles Licht, die<br />
Einrichtung ist zweckmäßig-geschmacksneutral,<br />
dunkle Ledersitzgarnitur, eine<br />
Europafahne hinterm Schreibtisch. So<br />
pompös-modernistisch das Gebäude des<br />
Brüsseler Parlaments von außen wirkt,<br />
so nüchtern sind die 751 Abgeordneten<br />
untergebracht. Das passt zu Weber. Er<br />
ist nicht pompös, kein Bierzelttyp, der<br />
draufhaut. Dass er den Machtkampf in<br />
der CSU um Europa gewonnen hat, kostet<br />
er freilich schon ein wenig aus. Peter<br />
Gauweiler habe in der Europapolitik „die<br />
Deutungshoheit ein Stück weit verloren“,<br />
stichelt er. „Wir wollen nicht nur nörgeln,<br />
wir wollen gestalten.“<br />
In der neuen Position spielt Weber<br />
bisweilen erste Liga, etwa wenn er den<br />
italienischen Regierungschef Matteo<br />
Renzi wegen der Schulden seines Landes<br />
schurigelt. „Ich sage Ihnen, es ist der<br />
falsche Weg. Regeln sind da, damit sie<br />
eingehalten werden, <strong>und</strong> da gibt es keinen<br />
Unterschied zwischen kleinen Staaten<br />
<strong>und</strong> großen Staaten in der Europäischen<br />
Union.“ Renzi nimmt das ernst.<br />
Er giftet zurück, auch Deutschland habe<br />
schließlich früher Defizitgrenzen überschritten.<br />
„Man sollte anderen nicht unbedingt<br />
Lektionen erteilen.“<br />
Freilich muss Weber zu Hause zeigen,<br />
was er bewirken kann. Ob die PKW-<br />
Maut, das CSU-Prestigeprojekt, kommt<br />
oder nicht, entscheidet sich auch in Brüssel.<br />
Weber sagt: „Ich glaube, dass es<br />
Chancen gibt, das hinzukriegen.“<br />
In seinem niederbayerischen Wahlkreis,<br />
einem Zentrum der Tabakindustrie,<br />
hat er einmal gezeigt, wie man in<br />
Brüssel etwas erreicht. Die EU wollte den<br />
Schnupftabak verbieten, Niederbayern<br />
war in Aufregung. Weber reagierte. Ein<br />
Federstrich in dem komplizierten EU-Papier<br />
– <strong>und</strong> der Schnupftabak war gerettet.<br />
WERNER SONNE war lange ARD-Korrespondent.<br />
Er schreibt Romane, politische<br />
Bücher – <strong>und</strong> regelmäßig in <strong>Cicero</strong><br />
35<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Porträt<br />
DIE RIESENCHANCE<br />
Wer folgt Klaus Wowereit? Weil keiner der Aspiranten so richtig taugt, hat unser Autor<br />
lieber eine Kandidatin entworfen: Charlotte Prinz. Ein Besuch kurz vor der Wahl<br />
Von GEORG LÖWISCH<br />
Es muss keine Absicht sein, aber sie<br />
produziert gerade das perfekte Bild.<br />
Die Kandidatin steht am Fenster, sie<br />
blickt in den Berliner Abend, sie schaut<br />
sich die Stadt noch einmal an, die sie ab<br />
morgen regieren wird. Mittwoch, 10. Dezember,<br />
kurz nach 19 Uhr. Am nächsten<br />
Vormittag soll das Abgeordnetenhaus<br />
Charlotte Prinz zur Nachfolgerin<br />
von Klaus Wowereit wählen. Die Konkurrenz,<br />
wer Regierender Bürgermeister<br />
wird, hatte in der SPD am Ende gewütet<br />
wie eine Brandbombe, die ihrem Umfeld<br />
allen Sauerstoff entzieht. Dann kam sie.<br />
Sie wendet sich um, als der Reporter<br />
eintritt, im Gesicht eine Spur Selbstironie,<br />
als wolle sie sagen: Ganz schön dicke,<br />
die Fensterszene. Natürlich denkt sie<br />
in Bildern <strong>und</strong> Symbolen. Sie hat sich <strong>für</strong><br />
die wenigen Pressetermine vor der Wahl<br />
ja bewusst das Büro von Frank Henkel<br />
geborgt. Er soll zeigen dürfen, dass sie<br />
seine Idee war. Und Henkel, CDU-Landeschef<br />
<strong>und</strong> Innensenator der Großen<br />
Koaliton, drückt tatsächlich die Brust<br />
raus, als er an den Sitzungstisch bittet.<br />
Er duzt sie. „In Berlin sitzt du am besten<br />
mit dem Rücken zur Wand, Charlotte.“<br />
Prinz, 44, war Personalvorstand eines<br />
kanadischen Energiekonzerns. Vor<br />
einem Jahr der Wechsel: Für den Hauptaktionär<br />
baute sie in Montreal eine große<br />
Bildungsstiftung auf. Dazu: einst Olympionikin<br />
im Rudern. Zwei Söhne. <strong>Kein</strong> Parteibuch,<br />
aber Ex-Stipendiatin der Adenauer-Stiftung;<br />
damit stellte Henkel die<br />
CDU-Nervensägen in Zehlen- <strong>und</strong> Reinickendorf<br />
ruhig, die fragten, warum er<br />
nicht selbst antritt. „Berlin braucht jetzt<br />
einen Befreiungsschlag“, wiederholt er<br />
seine Formel. „Dazu braucht es Politiker,<br />
die nicht an sich selbst denken.“<br />
Eigentlich kommt sie aus einer SPD-<br />
Familie. Der Vater Minister bei Rau, die<br />
Mutter Regisseurin, oft am Theater in<br />
Bochum. Das Erbe findet sich auch in<br />
ihren ziemlich linken Arbeiten zur Bildungsgerechtigkeit.<br />
Eine Kandidatin, zu<br />
der die SPD nicht leicht Nein sagen konnte.<br />
„Und Soziologin“, sagt Henkel <strong>und</strong> grinst.<br />
„Vor Stanford habe ich Jura studiert“, erwidert<br />
Prinz mit etwas Schärfe. Henkels<br />
Lächeln verschmiert.<br />
ALS DIE ERSTE RUNDE des SPD-Mitgliederentscheids<br />
über die Bühne gerumpelt<br />
war, schied Fraktionschef Raed Saleh<br />
aus. Für die Stichwahl blieben Parteichef<br />
Jan Stöß <strong>und</strong> Bausenator Michael Müller.<br />
Kurz vor der Entscheidung im November<br />
provozierte Wowereit Stöß nach einer<br />
Veranstaltung subtil. <strong>Rote</strong>r Kopf, lautes<br />
Brüllen, die Kameras liefen, der Kandidat<br />
war raus. Müllers Nerven hatten vermutlich<br />
die Parteiintrigen zerrüttet, wie sonst<br />
wäre zu erklären, dass er die Kanzlerin in<br />
„Brinkmann & Asmuth“ auf berlin.tv als<br />
„lavierenden Pudding“ bezeichnete. Umgehend<br />
lehnte Henkel ihn ab. Und präsentierte,<br />
noch ehe der parteilose Finanzsenator<br />
Nußbaum aus dem Quark kam,<br />
seine Überraschungskandidatin.<br />
Saleh applaudierte als Erster. Das<br />
Kalkül, mit einer parteilosen Bürgermeisterin<br />
werde er zum stärksten Mann<br />
der SPD, war offensichtlich. „Ich bin noch<br />
jung“, hatte er gesagt. Doch was tut er,<br />
wenn Prinz in die SPD eintritt <strong>und</strong> so zur<br />
Nummer eins wird? Oder braucht sie ihn<br />
<strong>und</strong> Henkel als Knautschzone? Sie schaut<br />
amüsiert. „Was Sie so alles geheimnissen.“<br />
Sie sagt, sie habe mit ihrem Vater<br />
lange darüber gesprochen, was man aus<br />
Wowereits Amtszeit lernen könnte. Er<br />
sagte: „Du kannst da nicht wirklich regieren,<br />
die Stadt macht eh, was sie will.“<br />
„Management by slogans“, so überschreibt<br />
sie die Ära Wowereit, <strong>und</strong> will<br />
das als Kompliment verstanden wissen.<br />
Sie dagegen setzt auf „Management by<br />
impact“ <strong>und</strong> will deswegen ein Thema<br />
mit Verve verfolgen. Die Schulen. Sie<br />
sind die Zeitbombe Berlins – oder, so sagt<br />
sie es: die Riesenchance. <strong>Kein</strong>e Bruchbuden,<br />
keine Lernanstalten mehr. Solche<br />
Lehrer, die gegen jede Kreativität mauern,<br />
müsse man „de-demotivieren“, sie<br />
betont das so, als wolle sie sie notfalls<br />
ins Bürgeramt stecken. Für die Schulleiter<br />
soll eine Kombiausbildung aus Pädagogik<br />
<strong>und</strong> Management her. Und mehr<br />
Geld. Das Bonusprogramm mit den<br />
100 000 Euro: richtig, aber zu klein gedacht.<br />
Woher soll das Geld kommen?<br />
„Prioritäten setzen. Ich weiß, wie es war,<br />
auf dem Treppchen zu stehen. Olympia<br />
ist ein Traum. Aber wir brauchen das<br />
Geld. First things first. Wir steigen aus.<br />
Und weil das nicht verhandelbar ist, sage<br />
ich das auch vor der Wahl morgen.“<br />
Für die Stiftung in Montreal hatte<br />
Charlotte Prinz noch vor vier Wochen<br />
ein paar Problemstädte in den USA besucht.<br />
Ferguson? Berlin!<br />
Schon wegen ihrer Erscheinung ist<br />
Prinz <strong>für</strong> ausreichend Glam gut. Ihr<br />
Mann ist Künstler? „Stencil. Graffiti<br />
mit Schablonen.“ Wo stellt er aus? „Er<br />
möchte nicht Teil des Kunstbetriebs sein.<br />
Obwohl er schon mal was verkauft.“<br />
Die Wildheit Berlins in eine neue, urbane<br />
Bürgerlichkeit zu begleiten – sie mag<br />
die Vorstellung. Das brave Montreal hat<br />
sie dermaßen über. Sie will etwas riskieren.<br />
Das behält sie zwar lieber noch <strong>für</strong><br />
sich. Aber sie weiß aus dem Sport, dass<br />
sich erst im Scheitern mit Stil wahre Größe<br />
zeigt. Wenn sie den Flughafen mit Eleganz<br />
beerdigte, könnte ihr die Stadt über die<br />
Amtszeit hinaus zu Füßen liegen.<br />
GEORG LÖWISCH ist Textchef von <strong>Cicero</strong>.<br />
Der Wahlberliner wird die Hoffnung auf<br />
eine gute Landesregierung nicht so schnell<br />
aufgeben<br />
Illustration: Martin Haake<br />
36<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Gespräch<br />
„ SOLANGE ICH<br />
NICHT FERTIG<br />
GEDACHT HABE,<br />
KANN ICH NICHT<br />
ENTSCHEIDEN “<br />
Moderation FRANK A. MEYER <strong>und</strong><br />
CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />
B<strong>und</strong>eskanzlerin Angela Merkel<br />
im <strong>Cicero</strong>-Gespräch über die<br />
Geschwindigkeit der Politik,<br />
Deutschlands Rolle in einer Zeit<br />
der Konflikte <strong>und</strong> ihre Telefonleitung<br />
zu Wladimir Putin<br />
Fotos ANTJE BERGHÄUSER<br />
39<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Gespräch<br />
Frau Merkel, wir haben im Augenblick<br />
eine Welt, die wütet. Mit der Ukrainekrise<br />
ist die Frage von Krieg <strong>und</strong> Frieden<br />
mit voller Wucht auf unseren Kontinent<br />
zurückgekehrt. Das alles geschieht<br />
vor dem Hintergr<strong>und</strong> des Gedenkens an<br />
den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor<br />
100 Jahren. Die Menschen leben in Sorge.<br />
Ist die Sorge berechtigt, dass sich aus<br />
diesem Konflikt etwas Größeres entwickeln<br />
kann?<br />
Angela Merkel: Sie haben recht, wir<br />
denken in diesem Jahr an 100 Jahre<br />
Ausbruch des Ersten Weltkriegs <strong>und</strong> an<br />
75 Jahre Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.<br />
Als wir als B<strong>und</strong>esregierung nach<br />
der Wahl geplant haben, was wir in diesem<br />
Gedenkjahr machen, war eine Idee,<br />
die Staaten des westlichen Balkans mit<br />
ihren Außenministern, Wirtschaftsministern<br />
<strong>und</strong> Premierministern einzuladen,<br />
um mit ihnen über das noch bessere<br />
Zusammenleben in ihrer Region zu<br />
sprechen. Das geschah in der Gewissheit,<br />
dass seit den neunziger Jahren dort nicht<br />
mehr akuter Krieg herrscht, sondern ein<br />
friedliches Miteinander möglich geworden<br />
ist. Damals haben wir nicht geahnt,<br />
dass wir uns mit militärischen Auseinandersetzungen<br />
in der Ukraine <strong>und</strong> zum<br />
Teil auch zwischen <strong>Russland</strong> <strong>und</strong> der Ukraine<br />
auseinandersetzen müssen.<br />
Und jetzt?<br />
Wir wollen nicht militärisch eingreifen.<br />
Aber wir müssen alle diplomatische<br />
Kraft aufbringen <strong>und</strong> gegebenenfalls<br />
auch mit Sanktionen unseren Forderungen<br />
politischen Nachdruck verleihen. Es<br />
ist schon eine ernste Situation. Wir als<br />
Deutsche müssen alles versuchen, um zu<br />
helfen, dass es zu einer diplomatischen<br />
Lösung kommt. Was mir in der Ukraine<br />
so <strong>für</strong>chterlich leidtut: Es leiden Menschen,<br />
die 20 Tage oder mehr kein Wasser<br />
<strong>und</strong> keinen Strom haben. Menschen sind<br />
umgekommen. Deshalb drängt die Zeit.<br />
Mit dem Assoziationsabkommen zwischen<br />
der EU <strong>und</strong> der Ukraine hat man<br />
einen Zug nach Westen gemacht. Hat<br />
man nicht vergessen, dass da jemand<br />
ist, der noch Dinge aus anderen Zeiten<br />
bewältigt? Der mit unserem Verständnis<br />
von Zusammenarbeit nichts zu tun<br />
hat, sondern eher mit dem von vor 50<br />
oder 70 Jahren.<br />
Angela Merkel<br />
Seit neun Jahren Kanzlerin,<br />
seit 14 Jahren Chefin der CDU.<br />
Und seit fast 25 Jahren in der<br />
Politik, in die sie nach dem<br />
Wendeherbst in der DDR 1989<br />
kam. Im Juli feierte Merkel<br />
ihren 60. Geburtstag. Dieses<br />
Interview ist die gekürzte<br />
Fassung des <strong>Cicero</strong>-Foyergesprächs,<br />
das am Abend des<br />
27. August im Berliner Ensemble<br />
vor ausverkauftem Haus<br />
stattfand. Es wurde vom<br />
Regierungssprecher geringfügig<br />
redigiert <strong>und</strong> autorisiert<br />
„ Jetzt gucken Sie<br />
entnervt, weil ich<br />
so viel sage “<br />
Ich teile die Einschätzung, dass das<br />
seitens <strong>Russland</strong>s ein Denken in Interessensphären<br />
<strong>und</strong> Einflussbereichen ist,<br />
wie wir es nicht kennen. Sehen Sie, ich<br />
bin geprägt davon, dass wir vor 25 Jahren<br />
den Mauerfall hatten – auch daran<br />
denken wir jetzt – <strong>und</strong> dass uns damals<br />
unter Präsident Gorbatschow die deutsche<br />
Einheit ermöglicht wurde, mit seinem<br />
Einverständnis <strong>und</strong> natürlich mit<br />
dem Einverständnis Frankreichs, Großbritanniens<br />
<strong>und</strong> Amerikas, in Frieden<br />
<strong>und</strong> in guter Nachbarschaft mit anderen.<br />
Das prägt mich, auch immer wieder<br />
das gute <strong>und</strong> konstruktive Verhältnis<br />
zu <strong>Russland</strong> zu suchen. Wir erleben<br />
jetzt, dass das den Menschen in der Ukraine<br />
eben nicht erlaubt wurde.<br />
Sie meinen, die Annäherung an die EU?<br />
Es ist ja nicht so, dass wir über die<br />
Köpfe der Ukrainer hinweg gesagt haben:<br />
„Ihr müsst jetzt mit uns, der Europäischen<br />
Union, ein Assoziierungsabkommen<br />
abschließen!“ Sondern<br />
40<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
nämlich – sinngemäß – dass das schwierigste<br />
Ereignis des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts der<br />
Zerfall der Sowjetunion war. Aus deutscher<br />
Perspektive kämen uns da mit Sicherheit<br />
sofort der Nationalsozialismus<br />
<strong>und</strong> der Zweite Weltkrieg in den Sinn,<br />
Ereignisse mit Alleinstellungsmerkmal.<br />
Insofern ist dieser Satz weit entfernt<br />
von unserem Denken. Wir kennen Putins<br />
Haltung dazu. Dennoch können wir<br />
nicht sagen, dass eine ehemalige Sowjetrepublik,<br />
die sich jetzt anders orientieren<br />
möchte, keine Unterstützung von uns bekommt,<br />
weil wir Angst haben, dass das<br />
Schwierigkeiten hervorrufen könnte.<br />
Präsident Janukowitsch, den sein eigenes<br />
Volk nachher mehr oder weniger verjagt<br />
hat, ist immer wieder zur Europäischen<br />
Union gekommen <strong>und</strong> hat gesagt:<br />
„Ich will unterschreiben.“ Kurz vorher<br />
hat er dann einen Rückzieher gemacht.<br />
Sein Volk hatte sich darauf gefreut, dass<br />
jetzt die Annäherung an die Europäische<br />
Union kommt; hinterher bekam er den<br />
Aufstand auf dem Maidan. Es ist ja auch<br />
nicht so, dass die Kräfte, die nach Europa<br />
streben, keine Mehrheit hätten. Präsident<br />
Poroschenko ist gewählt, mit Ausnahme<br />
der Wahlbezirke in Donezk <strong>und</strong> Lugansk.<br />
In der gesamten Ost- <strong>und</strong> Südukraine hat<br />
er die meisten Stimmen bekommen. Er<br />
hat sich klar zu Europa bekannt.<br />
Und <strong>Russland</strong>?<br />
Ehrlich gesagt, es ist nicht so, dass<br />
wir den russischen Präsidenten erst<br />
jetzt kennengelernt haben. Er hat immer<br />
wieder einen Satz gesagt, den ich<br />
inhaltlich überhaupt nicht teile, der<br />
aber <strong>für</strong> ihn offensichtlich stimmt,<br />
Haben Sie einen besonderen Draht zu<br />
Wladimir Putin?<br />
Ich habe erst einmal eine ganz normale<br />
Telefonverbindung zu ihm. Wir telefonieren<br />
des Öfteren. Ich fühle mich da<strong>für</strong><br />
verantwortlich, etwas <strong>für</strong> die Lösung<br />
dieses Konflikts zu tun, gemeinsam mit<br />
unserem Außenminister. Ob das gelingt,<br />
kann ich aber nicht sagen. Man braucht<br />
manchmal einen sehr langen Atem in<br />
der Außenpolitik. Es ist aber auch wichtig<br />
– ansonsten hätte es überhaupt keinen<br />
Erfolg –, dass wir eine einheitliche europäische<br />
Haltung – siehe auch die Sanktionsbeschlüsse<br />
– <strong>und</strong> dass wir eine gemeinsame<br />
Haltung mit den Vereinigten<br />
Staaten von Amerika haben.<br />
Kommen wir auf die Ungleichzeitigkeiten<br />
zurück: Als B<strong>und</strong>eskanzlerin mit<br />
dieser Weltverantwortung müssen Sie<br />
wie in einer Zeitmaschine leben. Wenn<br />
Sie nach Irak schauen oder nach Syrien,<br />
stellen Sie fest, dass das, was dort<br />
stattfindet, noch weiter zurück ist. Da<br />
müssen Sie noch tiefer in die Geschichte<br />
eintauchen, um zu verstehen, was da<br />
läuft. Das ist doch eine Situation, die<br />
Sie sich vor zwei oder drei Jahren gar<br />
nicht haben vorstellen können.<br />
Nein, natürlich habe ich das so nicht<br />
vorausgesehen. Aber es ist ja auch unsere<br />
Aufgabe als Politiker, auf die Ereignisse<br />
in der Welt zu reagieren. Was<br />
sehen wir? Nach dem Ende des Kalten<br />
Krieges in den neunziger Jahren haben<br />
wir ja erlebt, dass mit Titos Abgang das<br />
Gebilde Jugoslawien auseinandergebrochen<br />
ist. Plötzlich hat man die Spuren<br />
der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg wieder<br />
gesehen. Die alten Feindschaften sind<br />
«Das wichtigste Buch über<br />
den Zweiten Weltkrieg, das<br />
bislang in diesem<br />
Jahrh<strong>und</strong>ert erschienen ist ...<br />
Richard Overys<br />
herausragende Untersuchung<br />
muss als Standardwerk<br />
über den Bombenkrieg<br />
betrachtet werden.»<br />
Richard J. Evans<br />
© Hulton Archive /Getty Images<br />
41<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Gespräch<br />
hochgekommen. Es war interessant, dass<br />
sich bestimmte traditionelle Beziehungen<br />
zwischen Serbien <strong>und</strong> Frankreich,<br />
Deutschland <strong>und</strong> Kroatien wiederbelebt<br />
haben. Dass wir dort einigermaßen Frieden<br />
geschaffen haben, war nur der Tatsache<br />
zu verdanken, dass die Europäische<br />
Union <strong>und</strong> die Nato gemeinsam gehandelt<br />
<strong>und</strong> wir diesen Ländern eine europäische<br />
Perspektive gegeben haben.<br />
Und nun sieht man die Spuren alter<br />
Feindschaften woanders.<br />
Im Gr<strong>und</strong>e genommen bricht jetzt<br />
in einer anderen Region die Ordnung,<br />
die nach dem Ersten Weltkrieg dort geschaffen<br />
wurde, ebenfalls auf <strong>und</strong> wird<br />
von bestimmten Kräften infrage gestellt.<br />
Jetzt müssen wir uns damit beschäftigen,<br />
wie dort eine Befriedung gelingen<br />
kann. Die Situation im Irak hat sich im<br />
Gr<strong>und</strong>e angedeutet, weil sich der ehemalige<br />
Ministerpräsident Maliki eben nicht<br />
darum gekümmert hat, die verschiedenen<br />
Gruppen in dem Land zusammenzuhalten.<br />
So konnte eine terroristische Organisation<br />
wie der IS jetzt so viel Zulauf<br />
von Sunniten <strong>und</strong> von ehemaligen Mitgliedern<br />
der Baath-Partei erhalten, weil<br />
sich diese Gruppen in dem Land überhaupt<br />
nicht mehr aufgenommen gefühlt<br />
hatten, sondern nur noch die Schiiten im<br />
Mittelpunkt standen.<br />
Frau Merkel, ist die Demokratie zu langsam<br />
<strong>für</strong> diese Welt? Oder ist diese Welt<br />
zu schnell <strong>für</strong> die Demokratie? Es hat<br />
etwa zehn Tage gedauert, bis sich die<br />
B<strong>und</strong>esregierung von einem kategorischen<br />
Nein zu Waffenlieferungen zu einem<br />
Ja durchgerungen hat.<br />
Ich will zunächst sagen, dass es jedenfalls<br />
von mir kein kategorisches Nein<br />
zu jeder Waffenlieferung gab, sondern<br />
wir sehr früh mit dem Außenminister<br />
<strong>und</strong> auch der Verteidigungsministerin<br />
einig waren: Wir prüfen, was rechtlich<br />
bei uns möglich ist. In Deutschland<br />
gibt es bestimmte Restriktionen. Aber<br />
an der Tatsache, dass wir zum Beispiel<br />
bei B<strong>und</strong>eswehreinsätzen Parlamentsentscheidungen<br />
brauchen, dass wir bei<br />
der Finanzkrise <strong>und</strong> bei der Eurokrise<br />
Parlamentsentscheidungen haben mussten,<br />
hat es noch nie gelegen. Wir haben<br />
binnen einer Woche sehr schnell die unglaublichsten<br />
Dinge beschlossen. Gerade<br />
„ Ehrlich gesagt,<br />
es ist<br />
nicht so,<br />
dass wir den<br />
russischen<br />
Präsidenten<br />
erst jetzt<br />
kennengelernt<br />
haben “<br />
aus den vergangenen Jahren, in denen<br />
verschiedene krisenhafte Situationen<br />
zu bewältigen waren, habe ich den Eindruck<br />
gewonnen, dass die Demokratie,<br />
wenn sie will, <strong>und</strong> auch B<strong>und</strong> <strong>und</strong> Länder<br />
in der Zusammenarbeit sehr schnell<br />
sein können <strong>und</strong> immer mit dem Tempo<br />
mithalten.<br />
Lässt sich demokratische Politik in dieser<br />
Welt zu sehr treiben?<br />
Natürlich gibt es auch Kräfte, von denen<br />
man ein bisschen gejagt wird. Selbst<br />
wenn man sagt, man unterwerfe sich dem<br />
Tempo der Finanzmärkte, wird die Politik<br />
jedoch mit dem Hochfrequenzhandel<br />
nicht mitkommen. Und, ehrlich gesagt,<br />
möchte ich das auch gar nicht. Wir<br />
treffen weitgehende Entscheidungen über<br />
den Einsatz von Menschen <strong>und</strong> Waffen,<br />
über Steuergelder. Was wir entscheiden,<br />
muss Bestand haben. Wenn man sich<br />
anderen Tempi unterwirft, kann es sein,<br />
dass man am nächsten Tag das Gegenteil<br />
davon tun muss …<br />
42<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
Wie findet man das richtige Tempo?<br />
Diese Kraft, den eigenen Rhythmus<br />
zu finden <strong>und</strong> sich nicht dauernd von außen<br />
sagen zu lassen, was wie schnell zu<br />
sein hat <strong>und</strong> wann man eine definitive<br />
Antwort braucht, gehört dazu – in der Politik<br />
heute vielleicht stärker als früher, als<br />
man noch Briefe ausgetauscht hat. Heute<br />
geht das alles schneller per E-Mail <strong>und</strong><br />
per Online-Medien. Aber manchmal hat<br />
man schon drei Zyklen von medialem<br />
Hin <strong>und</strong> Her durchlaufen, bevor wir etwas<br />
entschieden haben.<br />
Was ist Ihre Formel? Gerade Journalisten<br />
verzweifeln ja fast an Ihrer Fähigkeit<br />
zu warten.<br />
Solange ich nicht fertig gedacht habe,<br />
kann ich nicht entscheiden. Für Sie ist<br />
es eine Meldung mehr, wenn ich gestern<br />
dies sage <strong>und</strong> morgen jenes. Aber solche<br />
Entscheidungen müssen Bestand haben.<br />
Ich muss in der Lage sein, Parlamente davon<br />
zu überzeugen. Ich muss Menschen<br />
davon überzeugen. Das muss durchdacht<br />
sein. Wir wissen schon, dass manche Entscheidungen<br />
schneller getroffen werden<br />
müssen. Aber nicht alle Entscheidungen<br />
müssen so schnell getroffen werden, wie<br />
es scheinbar von uns gefordert wird.<br />
Die Ansprüche an die Demokratie wachsen:<br />
Sie muss schneller werden, heißt es.<br />
Es wird gesagt: Nehmt euch ein Beispiel<br />
an autoritären Systemen, da entscheidet<br />
immer noch das von der Wirtschaft<br />
geliebte Zentralkomitee.<br />
Das hat mir aber noch nie jemand<br />
gesagt. Es mag vielleicht manchmal diskutiert<br />
werden, ob dann alles einfacher<br />
würde. Ich bin aber zutiefst davon überzeugt,<br />
dass das nicht der Fall wäre. Auch<br />
wenn wir uns manchmal mit Entscheidungen<br />
schwertun <strong>und</strong> das Für <strong>und</strong> Wider<br />
vieler Dinge abwägen, zeigt die Erfahrung<br />
doch, dass gerade im föderalen<br />
System zwischen B<strong>und</strong> <strong>und</strong> Ländern Entscheidungen<br />
oft viel robuster sind <strong>und</strong><br />
auch länger Bestand haben. Wenn Sie<br />
mitten in einer Eurokrise stehen, können<br />
Sie nicht sagen, zuerst ist eine halbjährige<br />
Diskussion darüber notwendig,<br />
ob man jemandem hilft oder nicht. Da<br />
drängte schon die Frage: Wann macht in<br />
Tokio die Börse auf? Bis dahin sollten wir<br />
eine Entscheidung haben. Aber ich habe<br />
auch oft Diskussionen erlebt, bei denen<br />
gesagt wurde: Wenn du jetzt nicht sagst,<br />
was du machst, dann geschieht morgen<br />
etwas ganz Schreckliches. Aber dazu<br />
kam es dann doch nicht.<br />
Zum Irak: Warum sind es wieder die USA,<br />
die dort eingreifen müssen? Warum ist<br />
es wieder Großbritannien? Warum wir?<br />
Die Terrororganisation „Islamischer<br />
Staat“ hat nach unserer Einschätzung<br />
etwa 20 000 Kämpfer. Davon kommen<br />
2000 Kämpfer aus Europa <strong>und</strong> von denen<br />
wahrscheinlich etwa 400 aus Deutschland.<br />
Da kann man nicht so einfach sagen,<br />
das hat mit uns nichts zu tun. Und die<br />
Tatsache, dass zum Beispiel ein designierter<br />
neuer Ministerpräsident al Abadi gef<strong>und</strong>en<br />
wurde <strong>und</strong> hoffentlich auch eine<br />
Regierung bilden kann, ist dem Bemühen<br />
der Vereinigten Staaten zu verdanken,<br />
aber zum Beispiel auch dem Mittun<br />
des Iran. Wenn Sie sich die Flüchtlingslasten<br />
anschauen, werden Sie feststellen,<br />
dass die Türkei es nicht mit 25 000,<br />
50 000 oder vielleicht 70 000 syrischen<br />
Flüchtlingen wie wir zu tun hat, sondern<br />
dass es dort um H<strong>und</strong>erttausende geht.<br />
Im Libanon, in Jordanien sind zurzeit<br />
an vielen Orten mehr Flüchtlingskinder<br />
als einheimische Kinder an den Schulen,<br />
sodass man dort doppelt Unterricht erteilen<br />
muss. Es gibt auch viele arabische<br />
Staaten – ich erwähne als Beispiel Ägypten<br />
–, die sich etwa um eine Waffenruhe<br />
in Gaza bemühen.<br />
Sind Sie froh, dass Deutschland im Irak<br />
dank Gerhard Schröder nicht die besondere<br />
Verantwortung hat wie die USA?<br />
Sie waren damals in den USA <strong>und</strong> haben<br />
einen Beitrag geschrieben, in dem<br />
stand, Schröder spreche nicht <strong>für</strong> ganz<br />
Deutschland. Damit haben Sie gesagt:<br />
Es gibt auch Menschen, die sagen: Wir<br />
sollten an diesem Krieg teilnehmen.<br />
Das habe ich nicht gesagt, sondern<br />
ich habe gesagt – das war mein Vorwurf<br />
an den damaligen B<strong>und</strong>eskanzler<br />
Gerhard Schröder –, dass er sich nicht<br />
um eine einheitliche europäische Haltung<br />
bemüht hat. Europa war gespalten.<br />
Wenn Europa gespalten ist, kann es<br />
seine Kraft nicht entwickeln. Wir hatten<br />
zum Beispiel bei den Chemiewaffen in<br />
Syrien eine andere Situation. Da haben<br />
wir uns um eine sehr geschlossene europäische<br />
Position bemüht. Das hat zum<br />
Schluss auch über viele Schritte dazu geführt,<br />
dass in Syrien nicht bombardiert<br />
wurde. Ich war nicht davon überzeugt,<br />
dass man das Äußerste getan hat, um zu<br />
verhindern, dass die Amerikaner im Irak<br />
eingegriffen haben. Aber lassen wir das<br />
beiseite. Die Amerikaner haben ganz andere<br />
militärische Möglichkeiten. Sie können<br />
in einem solchen Einsatz vielleicht<br />
als einzige Nation der Welt auf einem<br />
Berg im Nordirak eine schnelle Rettung<br />
von Menschenleben durchführen <strong>und</strong><br />
Zukunft ist machbar!<br />
Horst W. Opaschowski befasst sich mit den drängenden Fragen<br />
der Gegenwart, in der die Politik den Mut zur Weitsicht<br />
verloren hat. Zwischen berechtigtem Alarmismus <strong>und</strong> notwendigem<br />
Optimismus zeigt er, dass die Weichen neu gestellt<br />
werden müssen – im Interesse kommender Generationen <strong>und</strong><br />
nicht auf ihre Kosten! Eine glänzende <strong>und</strong> pointierte Analyse<br />
mit hoffnungsvollen Schlussfolgerungen.<br />
Horst W. Opaschowski<br />
SO WOLLEN WIR LEBEN!<br />
Die 10 Zukunftshoffnungen<br />
der Deutschen<br />
219 Seiten / geb. mit Schutzumschlag<br />
€ 19,99 (D) / € 20,60 (A) / CHF* 28,50<br />
ISBN 978-3-579-07076-6<br />
Auch als E-Book<br />
erhältlich<br />
www.gtvh.de<br />
GÜTERSLOHER<br />
VERLAGSHAUS<br />
*empf. Verkaufspreis
BERLINER REPUBLIK<br />
Gespräch<br />
Spezialkräfte einsetzen. Das können<br />
wir nicht. Deutschland hat diese militärischen<br />
Fähigkeiten nicht <strong>und</strong> wird sie<br />
auch nicht anstreben.<br />
Aber die EU könnte sie anstreben.<br />
Ob wir diese Fähigkeit erreichen,<br />
das weiß ich nicht. Wir sollten eine<br />
bessere EU-kompatible Verteidigungspolitik<br />
entwickeln. Wir sollten auch<br />
aufpassen, dass die Fähigkeiten in der<br />
Nato nicht so entwickelt werden, dass<br />
der Abstand zu den Vereinigten Staaten<br />
von Amerika zu groß wird. Deshalb<br />
müssen wir zum Beispiel die Debatte<br />
führen, ob wir eine eigene Herstellung<br />
von Drohnen brauchen – seien es Aufklärungsdrohnen<br />
oder andere Drohnen.<br />
Europa muss zu einem solchen Projekt<br />
bereit sein.<br />
Es gab einmal eine Zeit, in der Sie zumindest<br />
halblaut die Hoffnung gehegt<br />
haben, dass es eine europäische Armee<br />
geben könnte. Ist das ein Ziel?<br />
Wir sind noch nicht am Ende dessen.<br />
Wir haben zum Beispiel eine deutschfranzösische<br />
Brigade. Sie ist jetzt in Mali<br />
zum ersten Mal im Einsatz. Das kann ein<br />
Nukleus sein. Wir haben Kooperationen<br />
mit den Dänen <strong>und</strong> den Polen. Ich denke,<br />
dass das schrittweise Zusammenwachsen<br />
europäischer Verteidigungsverbände vorangebracht<br />
werden muss. Dazu gibt es<br />
auch durchaus Vorstellungen.<br />
Wie weit kann der Prozess des Zusammenwachsens<br />
im Militärischen sein?<br />
Deutschland wird auf absehbare<br />
Zeit – ich denke, <strong>für</strong> immer, aber ich<br />
weiß nicht, was zukünftige Parlamente<br />
entscheiden – eine Parlamentsarmee<br />
haben. Das unterscheidet unsere Armee<br />
von anderen Armeen auf der Welt. Damit<br />
brauchen wir parlamentarische Entscheidungen<br />
<strong>und</strong> haben eine breitere Diskussion.<br />
Trotzdem müssen wir in der Lage<br />
sein, unseren Truppenbeitrag auch <strong>für</strong><br />
schnelle Einsatzkräfte zuzusagen. Das<br />
tun wir in der Nato <strong>und</strong> auch in der Europäischen<br />
Union. Im Augenblick wäre<br />
es ein wichtiger Beitrag, eine gemeinsame<br />
Verteidigungsanstrengung zu machen,<br />
etwa beim Thema Ausrüstung. Da<br />
haben wir noch sehr viele verschiedene<br />
Bezugsquellen, eigene, französische, italienische,<br />
deutsche Industrien.<br />
STIMMEN ZUM CICERO-<br />
GESPRÄCH MIT ANGELA MERKEL<br />
AM 27. AUGUST<br />
„Wann immer Merkel sich<br />
locker machte, wann<br />
immer sie vom staatstragenden<br />
Ton abwich,<br />
setzte es Applaus, den<br />
herzlich zu nennen noch<br />
untertrieben ist. Merkel,<br />
man spürte es an diesem<br />
Abend mal wieder, ist<br />
außerordentlich beliebt“<br />
Anja Maier in der tageszeitung über<br />
Merkels Auftreten <strong>und</strong> die Reaktion des<br />
Publikums<br />
„Wir sind eine große<br />
Nation, die sich anstrengt,<br />
um sich wieder zu<br />
sammeln. Wir sind kein<br />
deutsches B<strong>und</strong>esland“<br />
Der französische Sozialistenchef<br />
Jean-Christophe Cambadélis bei einem<br />
Parteikongress in La Rochelle als Replik<br />
auf Merkels Äußerungen zu Frankreich<br />
„Wir sehen bei diesen<br />
Worten die kleine Angela<br />
vor uns. Sie tollt über die<br />
Wiesen der Uckermark,<br />
botanisiert ein wenig,<br />
pflückt hier ein Blümlein,<br />
jagt dort ein Vögelchen.<br />
Herzallerliebst!“<br />
Bernd Matthies im Tagesspiegel zu<br />
Merkels Bemerkung, dass sie samstags<br />
um 16 Uhr Schluss mache, „weil man<br />
sonst nicht fröhlich sein kann“<br />
„Angela Merkel stellt sich<br />
nur selten solchen<br />
öffentlichen Gesprächen“<br />
Holger Schmale in der Berliner Zeitung<br />
„Applaus. Gute Laune.<br />
Bestes Berliner Sommerwetter“<br />
Evelyn Roll in der Süddeutschen Zeitung<br />
Unser Gespräch kreist stark um die Rolle<br />
Deutschlands in der Welt. Man sagt, Sie<br />
sind die mächtigste Frau der Welt.<br />
Es gibt aber viele mächtige Männer.<br />
Ich bin vielleicht deswegen die mächtigste<br />
Frau, weil nicht so viele Frauen in<br />
Verantwortung sind.<br />
Kürzlich hat der frühere EU-Kommissar<br />
Jacques Barrot auf die Frage, wie<br />
er die Macht Deutschlands <strong>und</strong> die Ohnmacht<br />
Frankreichs sieht, gesagt: „Oui,<br />
c’est une blessure.“ Eine Kränkung also.<br />
Wir sollten auch da einmal zurückschauen.<br />
Anfang des vergangenen Jahrzehnts,<br />
um das Jahr 2000 herum, war<br />
Deutschland „der kranke Mann“ Europas.<br />
Wir sind von allen Seiten beschimpft<br />
worden. Man hatte den Eindruck, das<br />
bessert sich auch nicht mehr. Wir sehen,<br />
dass Deutschland durch eine vernünftige<br />
Reformpolitik <strong>und</strong> eine vernünftige<br />
Tarifpolitik, durch ein sehr gutes Miteinander<br />
in der Finanz- <strong>und</strong> in der Eurokrise<br />
jetzt in einer völlig anderen Position<br />
ist. Schauen Sie sich die Kurven<br />
zur Staatsverschuldung, zu den Ausgaben,<br />
zur Arbeitslosigkeit an. Über viele<br />
Jahre lag Frankreich vor uns. Jetzt hat<br />
sich das umgekehrt.<br />
Was folgt daraus?<br />
Wenn der französische Präsident das<br />
umsetzt, was er sich vorgenommen hat,<br />
dann kann das Bild auch anders aussehen,<br />
<strong>und</strong> es kann passieren, dass wir wieder<br />
einmal ins Hintertreffen geraten. Ich<br />
traue jedem europäischen Land zu, dass<br />
es die notwendigen Dinge so richtet, dass<br />
es wieder vorn sein kann.<br />
Die Regierungskrise in Frankreich kam<br />
zustande, weil der Spardruck auf Frankreich<br />
lastet. Halten Sie ihn aufrecht?<br />
Das entscheide ja nicht ich, sondern<br />
die Europäische Kommission. Die Kommission<br />
hat Frankreich schon mehr Zeit<br />
gegeben <strong>und</strong> wird sich weiter mit der<br />
Situation in Frankreich befassen. Über<br />
die Frage, ob man 1 oder 2 oder 3 Prozent<br />
Verschuldung hat oder, wie wir, einen<br />
ausgeglichenen Haushalt, kann man<br />
ja reden. Darüber wird in der Kommission<br />
auch geredet. Aber man muss doch<br />
infrage stellen, ob wir beständig weniger<br />
einnehmen können, als wir ausgeben,<br />
sodass unsere Schuldenstände immer<br />
44<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
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BERLINER REPUBLIK<br />
Gespräch<br />
weiter wachsen. Daraus ist ja auch eine<br />
Vertrauenskrise erwachsen.<br />
Also muss der Spardruck aufrechterhalten<br />
werden?<br />
Ich bin sehr da<strong>für</strong>, dass man alles<br />
auf Wachstum setzt. Das ist auch das<br />
französische Ziel. In Frankreich geht es<br />
darum, Strukturreformen umzusetzen.<br />
Das hat der französische Präsident auch<br />
angekündigt. Das ist an vielen Stellen<br />
schwer. Bei uns war die Arbeitsmarktreform<br />
auch nicht einfach durchzusetzen.<br />
Deshalb ist es doch sehr wichtig,<br />
dass wir uns gegenseitig unterstützen,<br />
wenn es um solche Reformen geht, dass<br />
wir glauben, dass Wachstum nicht nur<br />
daraus besteht, mehr Geld auszugeben,<br />
sondern aus kluger Anreizpolitik. Da nur<br />
von Spardruck zu sprechen, trifft, denke<br />
ich, nicht zu. Sie können durch Bürokratieabbau,<br />
durch Investitionen in Forschung<br />
<strong>und</strong> Entwicklung, durch Investitionen<br />
in Bildung vieles nach vorn bringen.<br />
Das haben wir doch auch getan. Deutschland<br />
ist attraktiver geworden. Wir haben<br />
versucht, Bürokratie abzubauen. Wir haben<br />
den Haushalt konsolidiert <strong>und</strong> können<br />
trotzdem wachsen. Wir werden auch<br />
weiter reformieren müssen.<br />
In Europa gibt es eigentlich einen ganzen<br />
Teppich rechtspopulistischer Bewegungen.<br />
Macht Ihnen das Sorgen?<br />
Mir sagt dieses Phänomen, dass wir<br />
<strong>für</strong> dieses Europa kämpfen, da<strong>für</strong> argumentieren<br />
<strong>und</strong> auch die europäische<br />
Integration mit Bedacht weiterentwickeln<br />
müssen. Europa, die Europäische<br />
Union, die Kommission oder das Europäische<br />
Parlament müssen offen da<strong>für</strong><br />
sein zu fragen, ob alles, was inzwischen<br />
nach Europa verlagert wurde, wirklich<br />
in Europa geregelt werden muss. Sind<br />
alle Vorschriften, die wir dort machen,<br />
wirklich so, dass die Menschen sie begreifen<br />
können? Mir sagen die Fischer in<br />
meinem Wahlkreis an der Ostseeküste,<br />
dass auf einem einfachen Fischer, der<br />
vielleicht ein Boot betreibt <strong>und</strong> <strong>für</strong> den<br />
lokalen Tourismus Fische fängt, so viele<br />
EU-Vorschriften liegen, dass er von deren<br />
Notwendigkeit nicht ganz überzeugt ist.<br />
So, wie wir in Deutschland auch einmal<br />
ein Gesetz abschaffen, kann man auch in<br />
Europa fragen, ob diese oder jene Richtlinie<br />
noch notwendig ist.<br />
„ Zu meiner<br />
Arbeit gehört<br />
auch, dass<br />
ich mir mal<br />
einen freien<br />
Abend nehme.<br />
Ich sag dann<br />
einfach: ,Ich<br />
muss nach<br />
Hause‘ “<br />
Sie sind jetzt in Ihrer dritten Legislaturperiode.<br />
Das erste Jahr dieser dritten<br />
Legislaturperiode ist fast um. Was<br />
kommt noch? Welchen Projekten verschreiben<br />
Sie sich auch selber? Ich<br />
nehme an, die Pkw-Maut ist es nicht.<br />
Sie ist eher über Sie gekommen, als dass<br />
Sie sie unbedingt gewollt hätten.<br />
Sie ist Teil des Koalitionsvertrags.<br />
Aber sie ist nicht Ihre Herzensangelegenheit<br />
gewesen.<br />
Die Frage, wie wir mehr Infrastrukturinvestitionen<br />
zum Beispiel im Straßenbereich,<br />
aber auch im Breitbandbereich<br />
hinbekommen, ist schon ein<br />
zentrales Projekt.<br />
Was ist in diesen drei Jahren von der Regierung<br />
noch zu erwarten?<br />
Mir liegt der ganze Bereich Forschung<br />
<strong>und</strong> Bildung sehr am Herzen,<br />
ebenso das Thema der digitalen Agenda,<br />
die wir gerade auf den Weg gebracht haben.<br />
Damit sind wir aber längst noch<br />
nicht am Ende. Das umfasst die Facette<br />
Breitbandausbau – zunächst einmal bis<br />
2018 <strong>für</strong> jeden Haushalt 50 Megabit pro<br />
Sek<strong>und</strong>e, <strong>und</strong> damit ist es nicht zu Ende.<br />
Das führt mich zu einem weiteren Thema,<br />
das mich interessiert, nämlich Industrie<br />
4.0. Wir werden die Verschmelzung der<br />
digitalen Welt mit der Welt der industriellen<br />
Produktion bekommen. Im Auto<br />
sind es heute schon 40 Prozent IT-Wertschöpfung<br />
<strong>und</strong> noch 60 Prozent Auto im<br />
klassischen Sinne. Das wird sich vielleicht<br />
noch weiter entwickeln. Wir werden<br />
Projekte haben wie das fahrerlos fahrende<br />
Auto. Das bedeutet, dass Sie mit<br />
50 Megabit entlang der Autobahn noch<br />
nicht weit kommen werden …<br />
Das ist eines Ihrer wichtigsten Themen?<br />
Der Breitbandausbau wird sehr stark<br />
über die Zukunftsfähigkeit Deutschlands<br />
entscheiden. Wir werden damit auch völlig<br />
neue Herausforderungen <strong>für</strong> die Arbeitswelt<br />
<strong>und</strong> <strong>für</strong> die Frage haben, worauf<br />
Gewerkschaften reagieren müssen.<br />
Wir sehen jetzt schon das Thema der unentwegten<br />
Erreichbarkeit. Das sind Themen,<br />
die uns umtreiben <strong>und</strong> die <strong>für</strong> mich<br />
wichtig sind. Ebenso ist auch die Vereinbarkeit<br />
von Beruf <strong>und</strong> Familie sehr wichtig;<br />
denn wir werden deutlich weniger<br />
Arbeitskräfte haben <strong>und</strong> schauen müssen,<br />
wie alle, die gern arbeiten möchten,<br />
das tun können, ohne dass die Menschlichkeit<br />
unserer Gesellschaft dahingeht.<br />
Wir haben immer noch Probleme im Bereich<br />
der Integration; denn viele Migranten<br />
haben noch nicht die gleiche Qualifikation.<br />
Jetzt gucken Sie entnervt, weil<br />
ich so viel sage, <strong>und</strong> anschließend sagen<br />
Sie wieder, Sie wissen nicht, was ich die<br />
nächsten drei Jahre machen will. Deshalb<br />
musste ich das jetzt einmal in so einem<br />
langen Block darlegen.<br />
Zuletzt gab es Berichte, nach denen<br />
es sein könnte, dass wir eines Morgens<br />
aufwachen <strong>und</strong> Angela Merkel nicht<br />
mehr B<strong>und</strong>eskanzlerin ist. Weil Sie sagen:<br />
Es reicht.<br />
46<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />
Ich habe vielfach gesagt – ich sage es<br />
heute gern noch einmal –, dass ich den<br />
Menschen im Wahlkampf versprochen<br />
habe, dass ich die ganze Legislaturperiode<br />
– vorbehaltlich meiner guten Ges<strong>und</strong>heit<br />
– zur Verfügung stehe. Das ist<br />
keine Einschränkung. Ich sage nur, dass<br />
ich <strong>für</strong> diese Legislaturperiode angetreten<br />
bin <strong>und</strong> arbeiten werde <strong>und</strong> dass die<br />
Entscheidungen, was in der Zukunft passiert,<br />
gefällt werden, wenn mehr als ein<br />
Jahr dieser Legislaturperiode vorbei ist,<br />
eben zum gegebenen Zeitpunkt.<br />
Frage einer Zuschauerin: Wie sehen Sie<br />
die Zukunft der AfD?<br />
Wenn wir alle da<strong>für</strong> werben, die Parteien<br />
zu unterstützen, die jetzt im Parlament<br />
sind, dann haben wir, glaube ich,<br />
eine Chance, die AfD nicht übergroß<br />
werden zu lassen. Also: Mit den Wählern<br />
sprechen <strong>und</strong> sagen, welche Angebote<br />
wir haben. Die Sorgen ernst nehmen,<br />
die die Menschen haben.<br />
Darf die CDU Regierungsbündnisse mit<br />
der AfD eingehen?<br />
Wir haben im B<strong>und</strong>esvorstand der<br />
CDU einen sehr klaren Beschluss gefasst,<br />
dass Koalitionen <strong>für</strong> uns nicht infrage<br />
kommen.<br />
Frage einer Zuschauerin: Wie schaffen<br />
Sie es, sich zu erholen? Machen Sie Yoga?<br />
Meditieren Sie?<br />
Nein, ich meditiere nicht. Ich versuche,<br />
mich ein paar St<strong>und</strong>en an der frischen<br />
Luft zu bewegen. Im Urlaub – das<br />
wissen Sie, darüber wird ja berichtet –<br />
wandere ich <strong>und</strong> gehe ab <strong>und</strong> zu auch<br />
mal auf einen Berg. Ich versuche immer<br />
wieder Phasen zu haben, in denen ich<br />
über das viele, das ich erlebe, nachdenken<br />
<strong>und</strong> es verarbeiten kann. Das heißt,<br />
zu meiner Arbeit gehört auch, dass ich<br />
mir – das kann ich natürlich nicht immer<br />
sicherstellen – auch mal einen freien<br />
Abend nehme. Früher war es häufig so,<br />
dass es, wenn ich samstags um 16 Uhr<br />
gesagt habe, ich will jetzt gehen, hieß:<br />
„Sie muss zum nächsten Termin.“ Ich<br />
sage dann einfach: „Ich muss nicht zum<br />
nächsten Termin. Ich muss nach Hause.“<br />
Ich muss auch mal nach Hause, weil man<br />
überhaupt nicht mehr fröhlich sein kann,<br />
wenn man nicht irgendwo immer wieder<br />
mit beiden Beinen auf der Erde steht.<br />
FRAU FRIED FRAGT SICH …<br />
… warum unsere Kinder uns nicht mehr<br />
peinlich finden<br />
Früher hatte ein Kind Glück, wenn es seine Kindheit überlebte<br />
<strong>und</strong> die Eltern sich an seinen Namen erinnerten. Später durfte es<br />
dankbar sein, wenn es nicht geschlagen <strong>und</strong> als Halbwüchsiger in<br />
die Obhut eines Lehrherrn oder an die Front geschickt wurde.<br />
Als ich jung war, stritt ich mit meinen Eltern über Rocklängen <strong>und</strong><br />
Ausgehzeiten, übers Rauchen, Musik <strong>und</strong> das, was sie meinen „Umgang“<br />
nannten. Ich fand sie blöd, <strong>und</strong> sie fanden mich unausstehlich,<br />
<strong>und</strong> dann lief ich weg <strong>und</strong> blieb wochenlang verschw<strong>und</strong>en. Mein<br />
Mann bedrohte damals seine Eltern, er würde mit seinen Anarchistenfre<strong>und</strong>en<br />
ihr Haus besetzen, der Vater kündigte an, dem Sohn die Polizei<br />
in die WG zu schicken, um seinen Hausschlüssel abholen zu lassen.<br />
Ansonsten endeten alle politischen Diskussionen mit der gebrüllten<br />
Aufforderung: „Wenn’s dir hier nicht passt, dann geh doch nach<br />
drüben!“ Unsere Eltern waren Spießer <strong>für</strong> uns, <strong>und</strong> wir zogen unser<br />
Selbstbewusstsein daraus, anders sein zu wollen als sie.<br />
Heute findet der Krieg der Generationen nicht mehr statt. Teenagertöchter<br />
tragen freudig die Klamotten ihrer Mütter, Studenten besuchen<br />
mit ihren Vätern Rockkonzerte. Manche finden es nicht mal<br />
seltsam, zu Hause zu wohnen, bis sie 25 sind. Die Kinder suchen mit<br />
uns den Konsens, nicht die Konfrontation. Sie finden ihre Stärke nicht<br />
in der Abgrenzung, sondern in der Affirmation. Unsere politischen<br />
Diskussionen sind lebhaft, aber keine Schlachten, <strong>und</strong> wir lernen voneinander.<br />
Offenbar ist es ihnen lieber, uns toll finden zu können, als<br />
uns blöd finden zu müssen. Das beobachte ich nicht nur in unserer Familie,<br />
sondern in unserem gesamten Umfeld.<br />
Vermutlich nie zuvor hatten Kinder <strong>und</strong> Eltern ein so gutes Verhältnis.<br />
Kinder sind ein rares Glück geworden <strong>und</strong> werden (zumindest<br />
in Gesellschaften wie unserer) als kostbare Individuen wahrgenommen.<br />
Eltern sind aufgr<strong>und</strong> veränderter ökonomischer Verhältnisse<br />
nicht mehr die Schinder von ganz früher. Als Mutter finde ich das toll,<br />
aber wie ist das <strong>für</strong> die Jungen, wenn sie ihre Altvorderen nicht mehr<br />
guten Gewissens ablehnen können? Können die überhaupt richtig erwachsen<br />
werden? Oder brauchen sie mit 40 einen Psychotherapeuten,<br />
um sich endlich von ihren viel zu netten Eltern lösen zu können?<br />
AMELIE FRIED ist Fernsehmoderatorin <strong>und</strong> Bestsellerautorin.<br />
Für <strong>Cicero</strong> schreibt sie über Männer, Frauen <strong>und</strong> was das Leben<br />
sonst an Fragen aufwirft<br />
47<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Analyse<br />
ES GIBT KEIN ZURÜCK<br />
Im Kampf gegen die Alternative <strong>für</strong> Deutschland diskutieren<br />
CDU <strong>und</strong> CSU viele Strategien. Mindestens neun. <strong>Kein</strong>e taugt<br />
Von CHRISTOPH SEILS<br />
Sachsen, Thüringen, Brandenburg. Drei Landtagswahlen,<br />
drei Mal jubelten die Kandidaten der Alternative <strong>für</strong><br />
Deutschland. 9,7 Prozent, 10,6 Prozent, 12,2 Prozent. Ließ<br />
sich der Einzug ins Europaparlament noch als Ausrutscher<br />
darstellen, steht mittlerweile fest, dass die AfD so schnell<br />
nicht wieder verschwinden wird. Schon im Februar steht<br />
die Bürgerschaftswahl in Hamburg an, im Mai wählt Bremen.<br />
Die AfD gewinnt Anhänger von allen Parteien. Aber<br />
vor allem CDU <strong>und</strong> CSU haben ein Problem. Denn die neue<br />
Partei wirbt in erster Linie mit Themen <strong>und</strong> Werten um<br />
Wähler, die die Union besetzt hatte. <strong>Kein</strong> W<strong>und</strong>er, dass es<br />
in der Union nur so wimmelt an Strategien, wie man die<br />
AfD wieder loswerden könne. Durchdacht sind sie alle nicht.<br />
1TOTSCHWEIGEN<br />
Nicht drüber reden, nicht aufwerten, nicht mit AfD-<br />
Politikern in Talkshows gehen, diese Strategie empfiehlt<br />
Volker Kauder, Chef der Union im B<strong>und</strong>estag. Doch<br />
da<strong>für</strong> ist es jetzt wohl zu spät. Eine erfolgreiche neue Partei<br />
ist viel zu interessant, als dass die Medien sie außen vor<br />
lassen würden. Zudem ist es in der digitalen Debattenwelt<br />
egal, ob Kauder <strong>und</strong> Kollegen mitdiskutieren.<br />
2<br />
KOPIEREN<br />
Der CSU-Politiker Peter Gauweiler hat es versucht.<br />
Er hat über AfD-Politiker als „ehrenwerte Leute“<br />
gesprochen, er ist mehrfach gegen die Eurorettung vor Gericht<br />
gezogen <strong>und</strong> hat gegen Brüssel geschimpft. Um die<br />
Aktion glaubhaft zu machen, hat CSU-Chef Horst Seehofer<br />
Gauweiler sogar zum Parteivize befördert. Es half nichts.<br />
Bei der Europawahl im Mai erzielte die CSU das schlechteste<br />
Ergebnis ihrer Geschichte. Die AfD hingegen feierte.<br />
3THEMEN ABJAGEN<br />
Die CDU müsse gegen die AfD „die Themen ansprechen<br />
<strong>und</strong> lösen, die die Menschen vor Ort bewegen“,<br />
sagt Angela Merkel. Viel Spielraum hat die Kanzlerin<br />
<strong>und</strong> CDU-Vorsitzende da nicht. Schließlich verlangt<br />
die AfD, den „Einheitseuro“ abzuschaffen, die sächsische<br />
Spitzenkandidatin Frauke Petry zweifelt an der Klimaschädlichkeit<br />
von CO 2<br />
<strong>und</strong> ihr Brandenburger Parteifre<strong>und</strong><br />
Alexander Gauland hat Verständnis <strong>für</strong> die „russischen<br />
Bedürfnisse im Umgang mit den Nachfolgestaaten der<br />
einstigen Sowjetunion“. Da muss das Völkerrecht schon mal<br />
zurückstecken. Die AfD-Wähler sind begeistert. Aber eine<br />
Regierung kann sich das nicht leisten, zumal nicht, wenn<br />
Maß <strong>und</strong> Vernunft ihr Markenzeichen sind wie bei Merkel.<br />
4<br />
IN DIE RECHTE ECKE STELLEN<br />
Vorbehalte gegen Einwanderer, Angst vor Kriminalität,<br />
Traditionsfamilie – neben der Euroskepsis<br />
sind es vor allem konservative Themen <strong>und</strong> rechte Parolen,<br />
mit denen die AfD ihre Wähler mobilisiert. Sie setze auf<br />
„Rechtspopulismus, Ressentiments <strong>und</strong> Nostalgie“, schimpft<br />
die CDU-Politikerin Julia Klöckner. Die CDU ist mittlerweile<br />
so weit in die Mitte gerückt, dass am rechten Rand des<br />
Parteiensystems viel Platz entstanden ist. Da hilft es wenig,<br />
die AfD dort hinzustellen, wo sie sowieso schon steht.<br />
5<br />
FÜR POLITIKUNFÄHIG ERKLÄREN<br />
Die AfD lebe vom Protest, sagt CDU-Generalsekretär<br />
Peter Tauber. „Die AfD schürt Angst, ohne<br />
Antworten zu geben“, sagt Julia Klöckner, deshalb müsse<br />
die Partei einem „Realitätscheck“ unterzogen werden. Nur:<br />
Diese Abgrenzung kommt der AfD gerade recht; je lauter<br />
die CDU jammert, umso besser. Fast durchgängig stimmen<br />
die AfD-Wähler in Meinungsumfragen der Aussage zu, „es<br />
geschieht den anderen Parteien ganz recht, dass die AfD<br />
die Politik aufmischt“.<br />
6<br />
INHALTLICH STELLEN<br />
„Wir müssen die AfD stellen <strong>und</strong> erklären, warum<br />
sie falsch liegt“, sagt der nordrhein-westfälische<br />
CDU-Chef Armin Laschet. Diese Strategie hat allerdings<br />
zwei Nachteile: Erstens werden damit auch die Argumente<br />
des Gegners aufgewertet <strong>und</strong> zweitens könnte die Union<br />
selbst in Erklärungsnot kommen. Schließlich haben CDU<br />
<strong>und</strong> CSU vor ein paar Jahren selbst noch auf die Atomenergie<br />
gesetzt, die Homoehe abgelehnt, den Doppelpass<br />
verteufelt. Und sie wollten überhaupt nichts davon wissen,<br />
dass der Islam zu Deutschland gehört.<br />
7VERFASSUNGSSCHUTZ EINSCHALTEN<br />
Früher hat der Verfassungsschutz gerne geholfen,<br />
bei den Republikanern zum Beispiel. Kaum waren<br />
die Rechten 1989 erfolgreich <strong>und</strong> eine Gefahr <strong>für</strong> CDU<br />
<strong>und</strong> CSU, sammelte der Geheimdienst Belege da<strong>für</strong>, dass<br />
48<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
die Partei eine Gefahr <strong>für</strong> die freiheitlich-demokratische<br />
Gr<strong>und</strong>ordnung sei. Beamte, die mit den Reps sympathisierten,<br />
wurden an die Pflicht zur Verfassungstreue erinnert.<br />
So wird das mit der AfD nicht funktionieren, denn<br />
Parteichef Bernd Lucke grenzt sich offensiv vom Rechtsextremismus<br />
ab.<br />
8<br />
GUT REGIEREN<br />
„Die beste Antwort auf die AfD ist die gute Arbeit,<br />
die wir in der B<strong>und</strong>esregierung leisten müssen“, sagt<br />
Angela Merkel. So schlecht scheint ihr dies einerseits nicht<br />
zu gelingen. Die Mehrzahl der Deutschen ist mit der Arbeit<br />
der Großen Koalition zufrieden. Die Wirtschaft wächst, die<br />
Zahl der Arbeitslosen sinkt, die Eurokrise ist eingedämmt.<br />
Mindestlohn <strong>und</strong> Rente mit 63 stoßen auf breite Zustimmung.<br />
Die Kanzlerin ist beliebt. Wahlen entscheiden sich<br />
aber an Zukunftsaussichten <strong>und</strong> die nehmen viele Deutsche<br />
als düster wahr. Sie haben Angst um ihr Geld <strong>und</strong> ihren sozialen<br />
Status, sie <strong>für</strong>chten den wirtschaftlichen Abstieg des<br />
Landes. Die Kriege im Irak <strong>und</strong> in der Ukraine tun ein Übriges.<br />
Diese Ängste schürt die AfD meisterlich.<br />
9<br />
UMARMEN<br />
„Wir fahren einen klaren Kurs der Abgrenzung“,<br />
sagt Peter Tauber. Jede Zusammenarbeit mit der<br />
AfD schließt er aus. Allerdings wird die CDU weder in Sachsen<br />
noch in Thüringen oder Brandenburg durch das Wahlergebnis<br />
in Versuchung geführt. Dennoch werben einzelne<br />
CDU-Politiker <strong>für</strong> Koalitionen mit der AfD, die B<strong>und</strong>estagsabgeordnete<br />
Erika Steinbach zum Beispiel. Wenn es dazu<br />
kommt, wird die CDU erklären, sie wolle die AfD durch die<br />
Einbindung in Verantwortung entzaubern. Sie wäre dann<br />
auch <strong>für</strong> den Bau von Asylbewerberheimen zuständig. An<br />
der Macht entzaubern? Das hat auch die SPD mit der Linken<br />
schon vergeblich versucht. Auch die FPÖ in Österreich<br />
oder die rechtspopulistische PVV von Geert Wilders in den<br />
Niederlanden haben ihren Platz im Parteiensystem gef<strong>und</strong>en,<br />
obwohl sie Regierungsluft schnuppern durften.<br />
Wie es die Union macht, macht sie es verkehrt. Selbst wenn<br />
es nach den drei Wahlen im Osten erst mal wieder ruhig<br />
werden wird um die AfD. In Hamburg <strong>und</strong> Bremen sind<br />
Wahlkämpfe kostengünstig. Das Potenzial von Rechtspopulisten<br />
in Hamburg zeigen die 19,4 Prozent der Schill-Partei<br />
im Jahr 2001. 2017 wird die AfD Kurs auf den B<strong>und</strong>estag<br />
nehmen. CDU <strong>und</strong> CSU können einstweilen nur eines<br />
tun: die AfD ertragen. Sie stehen in internationaler Verantwortung<br />
<strong>und</strong> sind in Absprachen mit der SPD eingeb<strong>und</strong>en.<br />
Gleichzeitig haben sie konservative Wurzeln gekappt <strong>und</strong><br />
sich <strong>für</strong> schwarz-grüne Bündnisse geöffnet. Die Union hat<br />
keine Möglichkeit, ihre rechte Flanke zu schließen. Der Abschied<br />
von ihrem gesellschaftlichen Modernisierungskurs<br />
würde ihr noch mehr schaden. Es gibt kein Zurück.<br />
CHRISTOPH SEILS ist Politischer Korrespondent von <strong>Cicero</strong> <strong>und</strong><br />
Politikwissenschaftler. Vor zwei Jahrzehnten hat er sich an der<br />
FU Berlin intensiv mit Aufstieg <strong>und</strong> Fall der Republikaner beschäftigt<br />
ECHO<br />
KLASSIK<br />
2014<br />
mit Auftritten von<br />
Anna Netrebko, Jonas Kaufmann,<br />
Anne-Sophie Mutter, Diana Damrau,<br />
David Garrett u.v.m.<br />
Moderation<br />
Nina Eichinger <strong>und</strong> Rolando Villazón<br />
Sonntag, 26.Oktober 2014<br />
Philharmonie im Gasteig<br />
Eintrittskarten <strong>für</strong> die Verleihung<br />
Vorverkauf: München Ticket<br />
telefonisch: 089 54 81 81 81<br />
online: www.muenchenticket.de<br />
TV-Ausstrahlung<br />
26. Oktober, 22:00 Uhr im ZDF<br />
Alle Informationen zur Verleihung<br />
<strong>und</strong> zu den Preisträgern 2014<br />
www.echoklassik.de<br />
www.facebook.com/ECHO.Klassik<br />
www.youtube.com/Echomusikpreis<br />
#ECHOKLASSIK2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Reportage<br />
HOMO<br />
VATER<br />
Unser Autor wünscht<br />
sich ein Kind.<br />
Obwohl er schwul ist.<br />
Wie soll das gehen?<br />
Erste Erfahrungen im<br />
Gründen einer<br />
Regenbogenfamilie<br />
Von SÖREN KITTEL<br />
Fotos ANTJE BERGHÄUSER<br />
Wenn ich irgendwann, vielleicht<br />
in 15 Jahren, einmal<br />
mit meinem Kind spazieren<br />
gehe <strong>und</strong> gefragt werde, wie alles angefangen<br />
hat, dann werde ich wohl erst herumdrucksen:<br />
„Eine lange Geschichte.“<br />
Aber wenn dieser Sohn oder diese Tochter<br />
nach mir kommt <strong>und</strong> nicht lockerlässt,<br />
werde ich eine Bank suchen <strong>und</strong><br />
erzählen müssen, wie kompliziert diese<br />
Monate waren, in denen ich Vater werden<br />
wollte.<br />
Begonnen hat es mit einer E-Mail<br />
im Herbst 2013. Sie erreichte mich in<br />
einer seltsamen Phase, die wohl viele<br />
in der Lebensmitte durchmachen: Langzeitpartner<br />
weg, Firma verkauft <strong>und</strong> der<br />
Vermieter will die Wohnung luxussanieren.<br />
In ihrer E-Mail schrieben zwei<br />
Fre<strong>und</strong>innen von mir mit ihrem charmanten,<br />
leicht verschwurbelten Humor:<br />
50<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
BERLINER REPUBLIK<br />
Reportage<br />
„Eigentlich wollten wir Dich mit Käsekuchen<br />
in einen Zuckerschock versetzen …“,<br />
aber sie haben nicht mehr warten wollen<br />
<strong>und</strong> fragen jetzt doch auf diesem Weg, ob<br />
ich Vater werden möchte. „Das ist jetzt<br />
kein offizieller Baby-Antrag“, schreiben<br />
sie noch, „aber das Angebot <strong>für</strong> Familiensondierungsgespräche.“<br />
Sie suchten<br />
mehr als einen Samenspender <strong>und</strong> weniger<br />
als einen Zusammen-Wohnen-Vollzeitvater.<br />
Ich solle „eine Rolle im Leben<br />
der Kinder spielen“. Ähnlich diffuse Vorstellungen<br />
hätte ich auch, schrieb ich zurück.<br />
Und: Wir sollten uns treffen.<br />
IN DEN NÄCHSTEN WOCHEN sprach ich<br />
mit Fre<strong>und</strong>en darüber, <strong>und</strong> schon das war<br />
ein bisschen wie Weihnachten. Plötzlich<br />
war da so eine Hoffnung in den Tagen,<br />
dass alles anders werden könnte <strong>und</strong><br />
Verantwortung ins Leben kommt. Dass<br />
es Sinn macht, in einer Großstadt wie<br />
Berlin zu leben, wo so etwas nicht komplett<br />
ungewöhnlich ist. Doch mir wurde<br />
auch klar: Es gibt keine wirklichen Vorbilder<br />
<strong>für</strong> diese Art der Familie. Es gibt<br />
den Film „The Kids Are All Right“ mit<br />
Julianne Moore als lesbischer Mutter,<br />
die sich später doch in den Hetero-Vater<br />
verliebt, <strong>und</strong> es gibt das Buch „Kindsköpfe“<br />
von Kriss Rudolph, der über zwei<br />
schwule Väter schreibt.<br />
Im Internet steht etwas mehr, unter<br />
anderem der w<strong>und</strong>erbare Blog des Niederländers<br />
Geer Oskam, der im März<br />
dieses Jahres Vater einer Tochter wurde.<br />
Unter der Überschrift „Two Girls a boy<br />
and a cup“ schreibt der 29-Jährige über<br />
die Zeit der Vorfreude, über den ersten<br />
Herzton, die rührende Unsicherheit der<br />
Ärzte („Oh! Wir sind so altmodisch <strong>und</strong><br />
haben nur zwei Stühle!“) oder des eigenen<br />
Vaters („Sind die Damen jetzt meine<br />
Schwiegertöchter?“). Er schreibt über<br />
den Tag der Geburt – <strong>und</strong> über den Moment<br />
der Zeugung. Das ist auch peinlich.<br />
Werde ich irgendwann in einem Zimmer<br />
liegen <strong>und</strong> versuchen, einen Plastikbecher<br />
zu treffen, während auf meinem Mobiltelefon<br />
brasilianische Pornos laufen?<br />
Entsteht so Leben? Ist das nicht alles total<br />
irre, was wir da tun?<br />
Die ersten Treffen mit den „Müttern“<br />
verliefen ruhig. Wir konnten ungezwungen<br />
über unsere Kindheit (behütet <strong>und</strong><br />
recht frei) <strong>und</strong> unser Elternbild (demokratisch,<br />
aber nicht antiautoritär) reden.<br />
Wir arbeiteten alle drei mehr oder weniger<br />
„in den Medien“ <strong>und</strong> trugen auch<br />
noch ähnliche Kastenbrillen. Ich hatte in<br />
dieser Zeit gerade Bedarf an neuer Musik<br />
<strong>und</strong> bekam ein paar Alben von einer der<br />
Mütter überspielt: Softer Rock mit Herz<br />
<strong>und</strong> guten Texten von Lykke Li, Mumford<br />
& Sons, Feist <strong>und</strong> natürlich die Lesben-Ikone<br />
Tanita Tikaram. Mir gefiel der<br />
neue So<strong>und</strong>track in meinem Leben. Ich<br />
kann sagen: Wir hatten gute Abende, bei<br />
Tee <strong>und</strong> Rotwein. Inspiration <strong>für</strong> die ersten<br />
ernsten Elterngespräche holten wir<br />
uns auch im Regenbogen-Familienzentrum<br />
in Berlin-Schöneberg.<br />
Das Regenbogen-Familienzentrum<br />
ist der einzige offizielle Ort seiner Art<br />
in Deutschland. Es gibt Krabbelgruppen<br />
<strong>und</strong> Kleinkinder-Treffs <strong>und</strong> seit neuestem:<br />
eine Schwangerengruppe. Weil es<br />
Berlin, Sommer 2014. In der<br />
Hauptstadt gibt es das einzige<br />
Zentrum <strong>für</strong> Regenbogenfamilien.<br />
Die Leiterin sagt: „Alle<br />
Kinder, die hier entstehen, sind<br />
Wunschkinder“<br />
so langsam eben doch genug schwangere<br />
Lesben gibt in Berlin. Am ersten Montag<br />
im Monat treffen sich „Homosexuelle mit<br />
Kinderwunsch“. Mal kommen 15 Leute<br />
in den Raum in Schöneberg, mal fast 40.<br />
Sie sitzen im Kreis <strong>und</strong> die fast zenbuddhistisch-entspannte<br />
Gruppenleiterin<br />
Constanze Körner fordert sie auf, ihre<br />
Geschichte zu erzählen. Sie selbst zieht<br />
mit ihrer Frau <strong>und</strong> einem homosexuellen<br />
Mann fünf Kinder groß: drei leibliche<br />
aus einer früheren Ehe <strong>und</strong> zwei von ihrer<br />
Frau <strong>und</strong> einem schwulen Mann. Sie<br />
erzählt so ungezwungen <strong>und</strong> so authentisch<br />
von ihrem gar nicht so ungewöhnlichen<br />
Familienleben, dass es kein W<strong>und</strong>er<br />
ist, dass ihr Zentrum 2013 mit dem<br />
Preis „Ort der Ideen“ der B<strong>und</strong>esregierung<br />
ausgezeichnet wurde.<br />
In die Kinderwunschgruppe gingen<br />
meine beiden Mütter <strong>und</strong> ich nicht nur,<br />
um die rechtlichen Fragen zu besprechen<br />
<strong>und</strong> die gemeinsamen Ängste. Wir taten<br />
das auch, um zu sehen, welche Vorstellungen<br />
andere Paare hatten.<br />
EINE JUNGE FRAU legt die Hand auf<br />
das Knie ihrer schweigsamen Frau <strong>und</strong><br />
sagt: „Meine Fre<strong>und</strong>in <strong>und</strong> ich, wir haben<br />
schon alles geplant. Wir haben den<br />
Vater schon, der geht dann mal mit dem<br />
Kleinen einmal im Monat in den Zoo<br />
oder so. Beim nächsten Eisprung legen<br />
wir los. Wenn der Kleine fragt, wer der<br />
Papa ist, sagen wir: Der Andy, aus dem<br />
Zoo, weißt du noch?“<br />
Eine andere sagt: „Ich bin hetero<br />
<strong>und</strong> ich bin nur mitgekommen, weil ich<br />
einfach so langsam gern Kinder bekommen<br />
möchte <strong>und</strong> mir das auch mit einem<br />
schwulen Mann vorstellen kann. Ich war<br />
bei spermaspender.de <strong>und</strong> familyship.de,<br />
aber bisher ohne Glück.“<br />
Und so geht es die ganzen 90 Minuten<br />
um dieses „Glück“. Constanze Körner<br />
beantwortet Fragen geduldig, auch die<br />
ungewöhnlichsten. Sie sagt, sie habe alles<br />
schon einmal gehört. In fast jeder Sitzung<br />
sagt Constanze Körner zwei Sätze, die<br />
Mut machen. Der eine ist: „Alle Kinder,<br />
die hier entstehen, sind Wunschkinder.“<br />
Und der andere klingt noch etwas größer:<br />
„Wir sind die erste Generation Regenbogenfamilien,<br />
wir stehen noch ganz am<br />
Anfang.“ Uns dreien hat sie geraten, es<br />
doch mit einem gemeinsamen Wochenende<br />
auf dem Land zu probieren.<br />
52<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
SETZEN DEM<br />
ANDERSDENKEN<br />
EIN DENKMAL.<br />
HÄUSER.<br />
DAS MAGAZIN FÜR ARCH ITEKTUR & DESIGN.
BERLINER REPUBLIK<br />
Reportage<br />
Ein paar Wochen später also, noch<br />
im Winter, sitze ich bei den beiden Müttern<br />
<strong>und</strong> wir suchen auf dem iPad nach<br />
guten Orten in Brandenburg <strong>für</strong> das gemeinsame<br />
Wochenende. Als mir kalt<br />
wird <strong>und</strong> ich um eine Wolldecke bitte,<br />
sagt eine der beiden: „Nimm doch ein<br />
Stück von meiner, wir werden ja vielleicht<br />
bald noch viel mehr miteinander<br />
teilen.“ Sie hat das nicht ganz so anzüglich<br />
formuliert, aber es stimmte natürlich<br />
– wir steuerten auf eine Familie zu.<br />
Müssten wir dazu nicht eigentlich öfter<br />
telefonieren? „Hey, mein Tag war heute<br />
verrückt, wie sieht’s bei euch aus?“ Stattdessen<br />
verabredeten wir uns auch nach<br />
Wochen noch zu Abenden fest.<br />
Nach einem Theaterabend bringe ich<br />
die beiden noch zur U-Bahn, ich merke,<br />
dass etwas in der Luft liegt. Eine der beiden<br />
Mütter sagt kurz vorm Einsteigen in<br />
die U-Bahn: „Denkst du eigentlich auch<br />
manchmal, dass das total irre ist, was wir<br />
hier machen? Kompletter Wahnsinn? Ein<br />
Kind zu dritt?“<br />
Gesagt habe ich wohl so etwas wie<br />
„Ja klar, wir drei Verrückten … Aber entstehen<br />
nicht Kinder bei Heteros manchmal<br />
unter noch seltsameren Umständen?“<br />
Ich wollte diese Zweifel nicht, aber im<br />
Gr<strong>und</strong>e hatte ich die gleichen. Es ist eben<br />
doch ein Riesenschritt, nur vergleichbar<br />
mit einer Hochzeit: Ich als schwuler<br />
Mann zeuge ein Kind mit zwei lesbischen<br />
Fre<strong>und</strong>innen, vielleicht sogar zwei Kinder,<br />
<strong>und</strong> zusammen sind wir eine richtige<br />
Regenbogenfamilie.<br />
Die Details <strong>für</strong> unser buntes Familienleben<br />
wollen wir an dem Wochenende<br />
auf einem Bauernhof in Brandenburg<br />
vereinbaren. Wer sieht das Kind wie<br />
oft? Welche Schulbildung? Impfung? Das<br />
wollen wir aufschreiben. Eine Art Eltern-<br />
Manifest, das vor Gericht zwar keine Bedeutung<br />
hat, aber uns doch Sicherheit geben<br />
soll. Als die Türen schließen <strong>und</strong> die<br />
U-Bahn wegfährt, überlege ich, warum<br />
es so schwierig ist, einen gemeinsamen<br />
Termin zu finden. Ein schlechtes Zeichen?<br />
Wie soll das erst werden, wenn es<br />
um viel mehr geht?<br />
Regenbogenfamilie, der Begriff steht<br />
seit 2009 im Duden. In den Niederlanden<br />
sind sie schon ein wenig im Alltag etabliert.<br />
Den ersten schwulen Vater lernte<br />
ich in Amsterdam im Jahr 2000 kennen.<br />
Gerade erst vor wenigen Wochen hat mir<br />
Mit den ersten beiden Müttern<br />
traf sich Sören Kittel eine ganze<br />
Weile. Es wurde nichts. „Denkst<br />
du eigentlich auch manchmal,<br />
dass das total irre ist, was wir<br />
hier machen? Kompletter<br />
Wahnsinn? Ein Kind zu dritt?“<br />
ein niederländischer Fre<strong>und</strong> bei einem<br />
Berlinbesuch die Ultraschallfotos seines<br />
Sohnes gezeigt. „Mann, sieht der noch<br />
hässlich aus“, sagt er in typisch niederländischem<br />
Understatement. Da lachte er,<br />
der 29 Jahre alte Fastvater. Er wird das<br />
Kind zur Adoption freigeben, damit die<br />
zweite Mutter es adoptieren kann. So haben<br />
wir das auch geplant.<br />
Dann kommt er doch, dieser eine<br />
Abend, der beginnt wie der erste. Ich<br />
sitze am Tisch mit den beiden Müttern,<br />
ausgerechnet kurz vor Ostern, wenn<br />
sich alles nach Aufbruch anfühlt. Küken,<br />
bunte Eier, Wiedergeburt. Es lief<br />
softer Pop-Rock <strong>und</strong> ich hatte ein Häschen<br />
aus Schokolade mitgebracht. Bio-<br />
Schokolade, man will ja alles richtig<br />
machen. Und dann frage ich nach dem<br />
Wochenende in Brandenburg, wir hatten<br />
ja endlich ein Datum. Eine der beiden<br />
unterbrach mich: „Ja, darüber wollten<br />
wir noch einmal mit dir reden …“ „Wir<br />
sind noch nicht so weit“, das ist einer<br />
der Sätze, die folgen, „es liegt nicht an<br />
dir“ <strong>und</strong>: „Vielleicht passt es auch einfach<br />
nicht so.“ Wir beschlossen schließlich,<br />
weiter „Fre<strong>und</strong>e zu bleiben“. Aber<br />
auf dem Heimweg war mir auch klar: Das<br />
war ein „Schlussmachen“.<br />
ANFANG JUNI war ich noch einmal beim<br />
Regenbogen-Familientreff, es war der<br />
letzte <strong>für</strong> diesen Sommer. Constanze<br />
Körner macht Ferien mit ihrer Großfamilie.<br />
Dieses Mal saßen 22 Frauen da,<br />
nur sechs Männer. Ich musste erzählen,<br />
warum ich dieses Mal allein gekommen<br />
war, nicht mehr zu dritt. Das war unangenehm,<br />
aber ging vorbei. Gegenüber im<br />
Stuhlkreis saßen zwei Frauen, die mich<br />
abwechselnd angrinsten, oder hatte ich<br />
mir das eingebildet? Ich hatte in der Vorstellungsr<strong>und</strong>e<br />
nur erfahren, dass sie 40<br />
<strong>und</strong> 34 Jahre alt waren. Sie waren zum<br />
ersten Mal da. Bei der Verabschiedung<br />
sagte eine der beiden: „Einen schönen<br />
Sommer.“ Zwei Tage später hatte ich eine<br />
E-Mail im Postkasten, weitergeleitet von<br />
Constanze Körner: „Ich glaube, die beiden<br />
meinen Dich“, schrieb sie. In der Betreffzeile<br />
stand „Vater gesucht“. Ein bisschen<br />
irre ist das alles schon, dachte ich,<br />
<strong>und</strong> hab sofort geantwortet.<br />
Meine Tochter oder mein Sohn will<br />
dann sicher wissen, wie es weitergeht.<br />
Es beginnt im Gr<strong>und</strong>e wie das erste Mal,<br />
nur dass es funkt. Es ist eine Mischung<br />
aus großem Vertrauen, viel Vorbereitung,<br />
auch einem gewissen Pragmatismus <strong>und</strong><br />
dem Wunsch danach, es einfach zu probieren.<br />
„Bis September zumindest bist<br />
du noch nicht entstanden“, würde ich<br />
sagen, das kann ich dem Kind dann erklären.<br />
In meinem Leben ist im Herbst<br />
2014 zumindest vieles stabiler geworden:<br />
neue Arbeit, neue Wohnung, sogar eine<br />
neue Liebe. „Wir haben viel über dich gesprochen,<br />
auch wenn es dich noch nicht<br />
gab“, werde ich sagen. Und: „Der Sommer<br />
2014 war fantastisch.“<br />
SÖREN KITTEL lebt als freier Journalist derzeit<br />
zwischen Berlin <strong>und</strong> Seoul <strong>und</strong> schreibt<br />
<strong>für</strong> Zeitungen <strong>und</strong> Magazine<br />
54<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
WELTBÜHNE<br />
„ Wenn einer von uns in<br />
der Hitze umkippt, wird<br />
er sofort entlassen “<br />
Ein Gastarbeiter in <strong>Katar</strong>, der anonym bleiben will, aus<br />
Angst, seinen Job zu verlieren, Seite 70<br />
55<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
WELTBÜHNE<br />
Porträt<br />
KLAR, KLUG, KÜHL<br />
Donald Tusk wird neuer EU-Ratspräsident. Wer ist der bisherige polnische<br />
Regierungschef, der sein Land wie kaum ein anderer fit gemacht hat <strong>für</strong> die Union?<br />
Von SABINE ADLER<br />
Ist Donald Tusk der zweite polnische<br />
Papst? Janusz Palikot, Weggefährte,<br />
später politischer Opponent, sagt: Ja.<br />
Bronislaw Komorowski, Polens Präsident,<br />
sieht in Tusks Ernennung zum EU-Ratspräsidenten<br />
die Anerkennung <strong>für</strong> Polens<br />
Rolle in Europa. Selbst der ewige Widersacher<br />
Jaroslaw Kaczynski wünschte<br />
dem Erwählten Glück in Brüssel. Freilich<br />
halbherzig; dem Wunsch folgte das<br />
vernichtende Urteil, Tusk sei ein schlechter<br />
Premier gewesen. Da hatte der noch<br />
nicht einmal seinen Rücktritt erklärt.<br />
Tusk, 57 Jahre alt, hat soeben nur<br />
knapp einen peinlichen Abhörskandal<br />
überstanden, in dem sein Außenminister<br />
eine polnische „Negerhaftigkeit“ den<br />
Amerikanern gegenüber beklagte. Tusk<br />
meisterte die Affäre <strong>und</strong> bewies einmal<br />
mehr sein politisches Geschick. 2011<br />
schaffte er seine Wiederwahl, als erster<br />
Premier im nachkommunistischen Polen.<br />
Tusk löst als Ratspräsident Herman<br />
Van Rompuy ab, der bisher das Gremium<br />
der Staats- <strong>und</strong> Regierungschefs leitete.<br />
Wer den schüchtern wirkenden Polen <strong>für</strong><br />
eine ähnlich graue Maus wie van Rompuy<br />
hält, ignoriert Polens Aufstieg. Das<br />
Land kam unversehrt durch die Finanzkrise,<br />
weist seit Jahren ein deutlich höheres<br />
Wirtschaftswachstum auf als der<br />
EU-Durchschnitt. Polnischem Verhandlungsgeschick<br />
verdankt das Land, es zum<br />
größten Nettoempfänger gebracht zu haben.<br />
Bis 2020 sollen über 100 Milliarden<br />
Euro fließen, weil Polen EU-Gelder bisher<br />
besonders effizient einsetzte.<br />
Tusk wurde lange <strong>für</strong> ein hohes EU-<br />
Amt gehandelt. Den Ausschlag <strong>für</strong> seine<br />
Ernennung dürfte der Kurs gegenüber<br />
der Ukraine gegeben haben. Seit der<br />
Orangenen Revolution, nicht erst mit<br />
dem Euro-Maidan, agiert Polen als Fürsprecher<br />
Kiews. Beide eint das Schicksal,<br />
dem gemeinsamen Nachbarn <strong>Russland</strong><br />
die Stirn bieten zu müssen. Dabei verbindet<br />
Polen <strong>und</strong> die Ukraine selbst eine<br />
blutige Geschichte: die Massaker von<br />
Wolhynien, wo Ukrainer während des<br />
Zweiten Weltkriegs über h<strong>und</strong>erttausend<br />
Polen abschlachteten, um eine „ethnisch<br />
reine“ Region zu schaffen, die nach dem<br />
Krieg der Ukraine zugeschlagen werden<br />
würde. Die Polen haben das nicht vergessen,<br />
doch sie sehen, dass sich in der Ukraine<br />
ein Unrechtsbewusstsein regt. Vor<br />
allem aber, dass jetzt nicht die Zeit <strong>für</strong><br />
Historikerkommissionen ist.<br />
Anders als das Polen der Kaczynski‐Brüder<br />
ist das Land unter Tusk wieder<br />
offen <strong>für</strong> seine Nachbarn. Mit Geschichtsbewusstsein<br />
<strong>und</strong> der Fähigkeit,<br />
denjenigen beim Namen zu nennen, der<br />
andere ihrer Freiheit beraubt.<br />
DER JUNGENHAFTE Tusk, der immer<br />
noch begeistert <strong>Fußball</strong> spielt, wurde –<br />
wie die meisten der polnischen Spitzenpolitiker<br />
– in Danzig geboren. Von klein<br />
auf lernte er, Widerstand zu leisten. So<br />
begann Tusks politische Tätigkeit in der<br />
Opposition, die es nicht geben durfte, die<br />
im Untergr<strong>und</strong> agierte, nach selbst verfassten<br />
Regeln, präziser Organisation. Ihr<br />
Gegner: das kommunistische Regime Polens,<br />
Bruderstaat der Sowjetunion, die<br />
keine drei Wochen nach dem Überfall<br />
der deutschen Wehrmacht auf Polen im<br />
Osten einmarschiert war.<br />
Ausgerechnet der Absturz der polnischen<br />
Regierungsmaschine über dem<br />
russischen Smolensk 2010 weckte Hoffnungen<br />
auf eine polnisch-russische Annäherung.<br />
Putin, damals Ministerpräsident,<br />
umarmte den polnischen Amtskollegen<br />
Tusk an der Unglücksstelle. Der Moment<br />
schien einen Neuanfang zu markieren.<br />
Die Geste brachte Jaroslaw Kaczynski<br />
zur Raserei. Er vermutet bis heute einen<br />
Anschlag auf das Flugzeug, hinter<br />
dem womöglich <strong>Russland</strong> oder gar die<br />
Tusk-Regierung stecken. Donald Tusk<br />
rang ob der Unterstellung um Fassung.<br />
Stockend, mit vielen Versprechern, noch<br />
deutlicher lispelnd als sonst, entgegnete<br />
er: „Es ist schwer, mit einer solchen Person,<br />
die derartige Anschuldigungen<br />
vorbringt, in ein <strong>und</strong> demselben Land<br />
zu leben.“ Tusk zeigte Nachsicht mit<br />
Kaczynski, der in tiefer Trauer um seinen<br />
Zwillingsbruder nur noch um sich schlug.<br />
Ist Tusk zu nett, um auszuteilen? Zumindest<br />
polarisiert <strong>und</strong> polemisiert er<br />
nicht. Er positioniert sich dennoch klar.<br />
Was ihn von Angela Merkel unterscheidet.<br />
Sie fördert ihn seit Jahren. Auch weil<br />
der Pole ausspricht, was sie denkt. Weil<br />
er kann, was ihr in Deutschland Krach<br />
einbringen würde. Zum Beispiel eine gemeinsame<br />
Energiepolitik gegen <strong>Russland</strong><br />
vorschlagen.<br />
Tusk, den Unternehmer <strong>für</strong> einen<br />
studierten Ökonomen halten, der aber<br />
Historiker ist, steht <strong>für</strong> einen liberalen<br />
<strong>und</strong> pragmatischen Wirtschaftskurs.<br />
Seine Idee: eine europäische Energieunion,<br />
in der die EU-Mitgliedstaaten zusammen<br />
als Käufer von russischem Gas<br />
<strong>und</strong> Öl auftreten. <strong>Russland</strong> könnte dann<br />
das politische Agieren einzelner Länder<br />
nicht mehr über unterschiedliche Gaspreise<br />
abstrafen, könnte sie nicht mehr<br />
gegeneinander ausspielen.<br />
Donald Tusk hat Brücken im gespaltenen<br />
Polen gebaut, die Fehde der tief<br />
verfeindeten Lager wenn nicht beendet,<br />
so doch entschärft. In den Augen seiner<br />
Landsleute ist das vielleicht sein größter<br />
Verdienst – weshalb sie nun bangen, wie<br />
es ohne ihn wird.<br />
SABINE ADLER ist Osteuropakorrespondentin<br />
des Deutschlandradios. Sie verfolgt seit<br />
Jahren, wie die Polen zu ihrer Rolle in Europa<br />
finden<br />
Foto: Marcin Kalinski/Laif<br />
56<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
WELTBÜHNE<br />
Porträt<br />
DER ONKEL MIT DER KNARRE<br />
Abdullah Öcalan sitzt als verurteilter Terrorist im Gefängnis. Doch seit seine Kämpfer<br />
Jesiden vor dem „Islamischen Staat“ retteten, erscheint der PKK-Führer im neuen Licht<br />
Von FRANK NORDHAUSEN<br />
Foto: Ullstein Bild/Vario Images<br />
Er regiert aus dem Gefängnis – <strong>und</strong><br />
das schon seit 15 Jahren. Viele Türken<br />
halten den Mann mit dem buschigen<br />
Schnurrbart, den sie „Apo“ – zu<br />
deutsch: Onkel – nennen, <strong>für</strong> das personifizierte<br />
Böse. Der Westen hat seine Partei<br />
als Terrororganisation eingestuft. Anders<br />
die jesidischen Flüchtlinge in der südosttürkischen<br />
Kleinstadt Silopi, <strong>für</strong> sie ist<br />
Abdullah Öcalan, 66, der Retter.<br />
Der Gründer <strong>und</strong> Chef der Kurdischen<br />
Arbeiterpartei PKK hat viele Facetten.<br />
Unbestritten ist, dass seit 1984<br />
mehr als 40 000 Menschen dem blutigen<br />
Bürgerkrieg der PKK in der Türkei<br />
zum Opfer gefallen sind – <strong>für</strong> Öcalans<br />
Traum von einem unabhängigen Kurdistan.<br />
Doch wie die nordirische Terrorgruppe<br />
IRA einst zum Verhandlungspartner<br />
der britischen Regierung wurde, so<br />
steht auch die PKK seit zweieinhalb Jahren<br />
im Dialog über einen Friedensschluss<br />
mit Ankara. Seit anderthalb Jahren hält<br />
ein Waffenstillstand. Zentrale Figur der<br />
Gespräche ist Öcalan, der aus der Haft<br />
heraus verhandelt.<br />
Fahnen mit seinem Porträt wehen im<br />
kurdischen Norden Syriens, seit dort die<br />
PKK-Schwesterorganisation PYD 2012<br />
die Macht übernahm. Seit August sind<br />
PKK-Banner sogar im Nordirak zu sehen,<br />
wo Öcalans konservativ-islamischer<br />
Erzrivale Massud Barsani das kurdische<br />
Autonomiegebiet regiert. Die Popularität<br />
des PKK-Chefs unter den r<strong>und</strong> 30 Millionen<br />
Kurden im Nahen Osten ist enorm<br />
gestiegen, seit Barsanis Peschmerga-Soldaten<br />
im August den Milizen des „Islamischen<br />
Staates“ nicht die Stirn boten.<br />
Statt ihrer hat die PKK einen Korridor<br />
ins Sindschar-Gebirge freigekämpft <strong>und</strong><br />
Zehntausende Jesiden gerettet.<br />
Nun werden die r<strong>und</strong> 15 000 PKK-<br />
Kämpfer als Helden gefeiert, <strong>und</strong> Öcalan<br />
ist zu einer Schlüsselfigur im Nahen<br />
Osten avanciert. Einheiten seiner säkularen<br />
Guerilla kämpfen Seite an Seite<br />
mit den Peschmerga gegen die Islamisten.<br />
Womöglich stufen die Regierungen<br />
in Europa <strong>und</strong> den USA Abdullah<br />
Öcalans Organisation bald nicht mehr als<br />
Terroristen ein.<br />
URSPRÜNGLICH BEWUNDERTE der in der<br />
südostanatolischen Provinz Sanliurfa geborene<br />
Sohn armer Leute den türkischen<br />
Republikgründer Atatürk. Er wollte sogar<br />
Offizier werden. Als das Militär ihn<br />
abwies, studierte er Politikwissenschaft<br />
in Ankara. Dort entwickelte er sich zu<br />
einem radikalen, von Marx <strong>und</strong> Mao beeinflussten<br />
Linken. 1978 gründete er die<br />
separatistische Kurdische Arbeiterpartei;<br />
ein Jahr später flüchtete er angesichts einer<br />
Verhaftungswelle nach Syrien.<br />
Öcalan leitete die PKK aus dem Exil<br />
in Damaskus <strong>und</strong> blieb ihr unbestrittener<br />
Anführer. Er führte die Guerilla hierarchisch<br />
wie eine Sekte, alle maßgeblichen<br />
Entscheidungen traf er selbst. Geliebt<br />
<strong>und</strong> ge<strong>für</strong>chtet, bestimmte er das Leben<br />
seiner Anhänger <strong>und</strong> schreckte auch vor<br />
Mord an Rivalen <strong>und</strong> Dissidenten nicht<br />
zurück. Auf seinen Befehl attackierten<br />
die Kämpfer türkische Armeeposten,<br />
nahmen Geiseln, verübten Selbstmordanschläge<br />
<strong>und</strong> töteten Tausende Menschen,<br />
darunter auch Zivilisten.<br />
PKK-Kritiker <strong>und</strong> -Aussteiger würden<br />
bis heute bedroht, sagt der in Berlin<br />
lebende syrische Kurde Siamend Hajo,<br />
der die PKK-kritische Webseite „Kurdwatch“<br />
betreibt. „Widerspruch wird<br />
nicht geduldet <strong>und</strong> Abweichung drakonisch<br />
bestraft.“<br />
Seinen sozialistischen Idealen folgend<br />
propagierte Öcalan die Befreiung der Frau<br />
<strong>und</strong> stellte auch Frauenbataillone auf, die<br />
seinem persönlichen Befehl unterstanden.<br />
Die Guerilla bot jungen Kurdinnen<br />
in den neunziger Jahren die Chance, aus<br />
den streng patriarchalischen Strukturen<br />
auszubrechen. Der Preis da<strong>für</strong> war<br />
ein Keuschheitsgelübde, das „Apo“ brutal<br />
durchsetzte. Es gibt Berichte, dass er<br />
weibliche Milizionäre, die sich mit Männern<br />
einließen, erschießen ließ. Gleichwohl<br />
wirkte die Aufwertung der Frauen<br />
tief hinein in die erzkonservative kurdische<br />
Gesellschaft. Eine Modernisierungsleistung,<br />
die wesentlich Öcalans Werk ist.<br />
Nachdem ein türkisches Spezialkommando<br />
Öcalan 1999 in Kenia entführt<br />
<strong>und</strong> in die Türkei gebracht hatte,<br />
wurde der PKK-Chef wegen Gründung<br />
einer terroristischen Vereinigung, Hochverrats<br />
<strong>und</strong> Mordes zum Tod verurteilt<br />
<strong>und</strong> nach Abschaffung der Todesstrafe<br />
in der Türkei 2002 zu lebenslanger Haft<br />
begnadigt. Im Gefängnis wandelte er sich<br />
vom orthodoxen Leninisten zum Anhänger<br />
des US-amerikanischen Anarchisten<br />
Murray Bookchin.<br />
Durch die Haft auf der Insel Imrali<br />
im Marmarameer ist Öcalan zu einer<br />
lebenden Legende geworden – auch<br />
<strong>für</strong> eine neue Generation junger Kurden.<br />
Seine Macht über die Bewegung demonstrierte<br />
er eindrucksvoll, als im November<br />
2012 r<strong>und</strong> 1700 kurdische Häftlinge<br />
ein Todesfasten auf sein Wort hin abbrachen<br />
<strong>und</strong> er ein halbes Jahr später in der<br />
inoffiziellen Kurdenhauptstadt Diyarbakir<br />
seinen Aufruf zur Waffenruhe verkünden<br />
ließ.<br />
Dass sein Rückhalt <strong>und</strong> Ansehen in<br />
den Kurdengebieten heute größer sind als<br />
vor 15 Jahren, hat vor allem mit seinem<br />
neuen Realismus zu tun – dem Abschied<br />
vom Traum „Großkurdistans“.<br />
FRANK NORDHAUSEN hat die<br />
Kurdengebiete der Türkei, Syriens <strong>und</strong> des<br />
Iraks oft besucht <strong>und</strong> viele Gespräche mit<br />
aktiven <strong>und</strong> früheren PKK-Mitgliedern geführt<br />
59<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
REISELEITER IN<br />
DER TODESZONE<br />
Text <strong>und</strong> Fotos CARSTEN STORMER<br />
Der „Islamische Staat“ mordet <strong>und</strong> brandschatzt.<br />
Tausende Menschen im Irak <strong>und</strong> in Syrien sind<br />
bereits Opfer der Dschihadisten geworden. Auch der<br />
Syrer Hamid, der sich als Medienaktivist versteht,<br />
geriet in die Fänge der Fanatiker – <strong>und</strong> entkam<br />
Freiwillige Helfer <strong>und</strong> Zivilisten<br />
bringen sich nach einem<br />
Fassbombenabwurf auf ein<br />
Wohngebiet in Aleppo in<br />
Sicherheit<br />
60<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
WELTBÜHNE<br />
Reportage<br />
61<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
WELTBÜHNE<br />
Reportage<br />
Die Hoffnung, dass der ganze Scheiß irgendwann<br />
einmal ein Ende findet, hat Hamid fast aufgegeben.<br />
Er steht in einer Seitenstraße von Aleppos<br />
Kurdenviertel Sheikh Maqsood, legt den Kopf in<br />
den Nacken, blinzelt in die Sonne <strong>und</strong> lauscht dem<br />
Grollen, das allmählich lauter wird. Wie ein Gewitter,<br />
das in der Ferne aufzieht. Kurz darauf entdeckt er das<br />
Kampfflugzeug am Himmel. Seit den frühen Morgenst<strong>und</strong>en<br />
bombardiert die syrische Luftwaffe Aleppo.<br />
Hamid sucht Deckung, kniet sich hinter ein rostiges<br />
Auto <strong>und</strong> zeigt auf einen silbernen Punkt am Himmel,<br />
der sich nähert, anschließend wieder entfernt, eine<br />
scharfe Linkskurve fliegt, wendet <strong>und</strong> im Sturzflug die<br />
Stadt ansteuert wie ein Raubvogel seine Beute. Dann<br />
klinkt die Maschine ihre Raketen aus <strong>und</strong> der Pilot<br />
zieht das Flugzeug wieder nach oben. Die Prozedur<br />
wiederholt sich zwei Mal, begleitet vom Knattern der<br />
Flugabwehrgeschütze der Rebellen.<br />
Während Hamid den Angriff von Assads Truppen<br />
auf der Straße verfolgt, tritt seine Frau Amira auf den<br />
Balkon ihrer gemeinsamen Wohnung im fünften Stock<br />
<strong>und</strong> blickt besorgt nach unten. „Hamid, wo gehen die<br />
Bomben runter? Greifen sie unser Viertel an?“, fragt<br />
sie <strong>und</strong> streicht über ihren Bauch. Amira ist im achten<br />
Monat schwanger, <strong>und</strong> ein Lächeln zieht über Hamids<br />
Gesicht, als er seine Frau erblickt. „Nicht weit von hier,<br />
Habibti, mach dir keine Sorgen. Aber geh zurück ins<br />
Haus. Ich bin zum Abendessen zurück.“ Dann steigt<br />
er in den Toyota, legt seine Videokamera auf die Rückbank<br />
<strong>und</strong> fährt los.<br />
Hamid, 27 Jahre alt, ist ein kleiner, dünner Mann<br />
mit Vollbart <strong>und</strong> müden Augen. Von <strong>und</strong> an ihm lassen<br />
sich viele Charakteristika des Krieges in Syrien zeigen,<br />
der nun schon drei Jahre dauert. Es ist sicherer, seinen<br />
Nachnamen nicht zu nennen <strong>und</strong> auch<br />
keine Fotos von ihm zu drucken. Hamid ist<br />
frei, aber der US-Journalist Steven Sotloff,<br />
mit dem er vor einem Jahr entführt worden<br />
war, ist tot. Anfang September wurde<br />
bekannt, dass der 31 Jahre alte Reporter,<br />
der unter anderem <strong>für</strong> das Magazin Time<br />
schrieb, ermordet wurde. Angehörige der<br />
Terrorgruppe „Islamischer Staat“ verbreiteten<br />
ein Video, auf dem Sotloffs Enthauptung<br />
zu sehen ist.<br />
Vor dem Krieg hat Hamid Betriebswirtschaft<br />
studiert. Wie viele seiner Landsleute<br />
hoffte er, die schon 40 Jahre währende<br />
Diktatur abzuschütteln. Er demonstrierte,<br />
kämpfte später aufseiten der Rebellen in einer<br />
kurdischen Einheit gegen die syrische<br />
Regierungsarmee.<br />
Aus Enttäuschung über die zerstrittene Opposition<br />
<strong>und</strong> aus Liebe zu seiner Frau legte er nach einigen<br />
Monaten die Kalaschnikow beiseite. Heute nennt<br />
er sich Medienaktivist. Auf Facebook <strong>und</strong> Twitter postet<br />
Hamid Bilder <strong>und</strong> Berichte des Krieges; dazwischen<br />
Selfies, Koransuren <strong>und</strong> Karikaturen, die Assad oder<br />
die Anhänger des „Islamischen Staates“ verspotten. Er<br />
hoffe noch immer, so sagt er, dass die Welt durch seine<br />
Arbeit in den sozialen Netzwerken Syrien nicht vergisst.<br />
Manchmal führt er ausländische Journalisten<br />
durch seine Stadt <strong>und</strong> an die Front, verdient sich als<br />
Mädchen <strong>für</strong> alles ein paar Dollar. Ein Verzweifelter,<br />
der versucht, aus seiner Situation das Beste zu machen.<br />
Treibgut des Krieges.<br />
Am Morgen des 4. August 2013 steigt Steven Sotloff<br />
an der syrisch-türkischen Grenze zu Hamid ins<br />
Auto. Er will aus Aleppo berichten, Hamid sollte ihn<br />
als Fahrer <strong>und</strong> Übersetzer unterstützen. Ein gefährlicher<br />
Job. Fast täglich entführen Islamisten ausländische<br />
Journalisten. Aber Hamid brauchte das Geld. Die<br />
Lebensmittelpreise haben sich verfünffacht, bezahlte<br />
Arbeit gibt es nach drei Jahren Bürgerkrieg kaum noch<br />
in Aleppo.<br />
HAMID HAT SORGFÄLTIG GEPLANT. Tagelang beobachtete<br />
er die Zugangsstraßen nach Aleppo, schaute, ob<br />
Banditen oder Islamisten Checkpoints errichtet haben.<br />
Er dachte, er hätte alles im Griff.<br />
Als er den US-Journalisten am vereinbarten Treffpunkt<br />
abholt, warten im Wagen zum Schutz auch drei<br />
Bewaffnete. Aber gegen die Islamisten haben sie keine<br />
Chance. An einer Straßensperre im syrischen Marea,<br />
etwa 40 Kilometer nördlich von Aleppo, endet die<br />
Fahrt. Mehrere Bewaffnete stoppen den klapprigen<br />
Toyota, ziehen die Männer aus dem Wagen, stülpen<br />
ihnen Stoffmasken über den Kopf <strong>und</strong> treiben sie mit<br />
Gewehrkolben in ein wartendes Fahrzeug. „Wir wurden<br />
verraten, die Islamisten wussten, wann <strong>und</strong> wo wir<br />
uns treffen, welchen Weg wir nehmen“, sagt Hamid.<br />
In dieser geheimen Schule<br />
wird inmitten des Krieges<br />
unterrichtet. Diese Schülerin<br />
sah, wie ihr Großvater von<br />
einem Scharfschützen<br />
erschossen wurde<br />
62<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
Nach einem Angriff der<br />
syrischen Luftwaffe liegen<br />
Gebäude <strong>und</strong> Straße in<br />
Trümmern. Oft treffen die<br />
Bomben leer stehende<br />
Häuser, da viele Bewohner<br />
aus der Stadt geflohen sind<br />
Ein freiwilliger Helfer<br />
hat diesen zwölfjährigen<br />
Jungen aus einem eingestürzten<br />
Wohnhaus geborgen<br />
Seine Entführer sperren ihn in die Zelle eines Kellergewölbes.<br />
Er weiß nicht, wo er ist. Mehrmals täglich<br />
verhören ihn maskierte Männer, keine Syrer, sondern<br />
Tunesier <strong>und</strong> Marokkaner. Sie wollen wissen, warum<br />
Hamid mit einem Ungläubigen zusammenarbeitet. Der<br />
„Ungläubige“, das ist Steven Sotloff.<br />
Hamid hat Glück. Nach 15 Tagen lassen ihn die<br />
Entführer gehen. Einfach so. Was aus Steven Sotloff<br />
wird, erfährt er nicht. Der junge Muslim hört Gerüchte,<br />
dass sein Auftraggeber am Leben sei, irgendwo festgehalten<br />
in einem Gefängnis des „Islamischen Staates“,<br />
vielleicht in Aleppo, vielleicht in Rakka. Ein Jahr<br />
später, Anfang September 2014, kommt die Nachricht<br />
von Sotloffs Tod.<br />
Ein Morgen wie jeder andere in Aleppo, August<br />
2014. Hamid weiß noch nichts vom Schicksal Sotloffs.<br />
Er steuert den Toyota durch die Ruinenlandschaft.<br />
Aus der einstigen Wirtschaftsmetropole ist eine Geisterstadt<br />
geworden, in der es seit Wochen weder Strom<br />
noch fließend Wasser gibt. Seit Ende Dezember vergangenen<br />
Jahres vergeht kein Tag, ohne dass die syrische<br />
Luftwaffe Fassbomben über der Stadt abwirft:<br />
mit Sprengstoff <strong>und</strong> Eisenschrot gefüllte Ölfässer, die<br />
aus Hubschraubern geschubst werden. Sie treffen meist<br />
Schulen, Krankenhäuser, Wohnhäuser oder Märkte<br />
<strong>und</strong> haben seit Anfang des Jahres mehr als 2000 Menschen<br />
getötet.<br />
Schon im Februar dieses Jahres forderte der Sicherheitsrat<br />
der Vereinten Nationen in einer Resolution<br />
ein Ende der Luftanschläge auf zivile Gebiete; verurteilte<br />
ausdrücklich die Verwendung von Fassbomben.<br />
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch<br />
hat mit Satellitenaufnahmen belegt, dass allein zwischen<br />
Dezember 2013 <strong>und</strong> Februar 2014 mindestens<br />
340 Plätze in Aleppo von Fassbomben getroffen wurden.<br />
Die in Großbritannien ansässige Organisation Syrian<br />
Observatory for Human Rights zählte bis Anfang<br />
Juni dieses Jahres 1963 Tote durch Fassbomben – davon<br />
283 Frauen <strong>und</strong> 567 Kinder.<br />
Hamid steuert seinen Wagen durch die zerstörte<br />
Stadt, vorbei an der Ruine, die einmal ein Krankenhaus<br />
war. Der Chefarzt musste fliehen, weil er es<br />
wagte, die schwarze Flagge des „Islamischen Staates“<br />
mit dem muslimischen Glaubensbekenntnis vom<br />
Eingang des Hospitals abzuhängen. Seitdem bekam<br />
er Morddrohungen.<br />
Nach drei Jahren Krieg <strong>und</strong> mehr als 190 000 Toten<br />
ist aus dem arabischen Frühling längst ein syrischer<br />
Winter geworden. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten<br />
Nationen spricht von 2,8 Millionen Flüchtlingen<br />
<strong>und</strong> 6,5 Millionen Vertriebenen im eigenen Land – fast<br />
63<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
WELTBÜHNE<br />
Reportage<br />
DER TERROR DES<br />
„ISLAMISCHEN STAATES“<br />
WAS IST DER „ISLAMISCHE STAAT“?<br />
Der IS ist eine salafistisch-dschihadistische Terrororganisation.<br />
Sie ist 2003 aus der vom Jordanier<br />
Abu Mussab al Sarkawi gegründeten irakischen<br />
Al Qaida hervorgegangen. Seither hat sie ihren Namen<br />
mehrfach geändert: „Islamischer Staat im Irak<br />
<strong>und</strong> der Levante“ (Isil), „Islamischer Staat im Irak<br />
<strong>und</strong> in Syrien“ (Isis) oder „Islamischer Staat Irak <strong>und</strong><br />
Großsyrien“ (Isig), seit Ende Juni nur noch „Islamischer<br />
Staat“ (IS). Durch die Erfolge der 10 000 bis<br />
20 000 Mann starken Miliz im Irak <strong>und</strong> in Syrien ist es<br />
zwischen dem IS <strong>und</strong> der ursprünglichen Al Qaida, die<br />
von Aiman al Sawahiri von Pakistan aus gesteuert<br />
wird, zu einem offenen Machtkampf gekommen. Anfang<br />
des Jahres kappte Al Qaida offiziell die Verbindungen<br />
zum IS <strong>und</strong> erklärte Anfang September die<br />
Gründung eines Kalifats in Myanmar, Bangladesch<br />
<strong>und</strong> Teilen von Indien zum Ziel. Markenzeichen des<br />
IS ist ein tiefer Hass auf Schiiten <strong>und</strong> seine selbst <strong>für</strong><br />
Dschihadisten außergewöhnliche Brutalität. In den<br />
bereits eroberten Gebieten gehören öffentliche Steinigungen<br />
<strong>und</strong> Enthauptungen sowie der Verkauf von<br />
Frauen auf „Sklavenmärkten“ zum Alltag.<br />
WAS IST DAS ZIEL?<br />
Ziel der Terroristen ist die Schaffung eines islamischen<br />
Gottesstaats, der über den Irak bis nach Syrien<br />
reichen soll. Dazu gehören auch der Libanon, Jordanien,<br />
Israel <strong>und</strong> die palästinensischen Autonomiegebiete.<br />
Auf diesem Gebiet sollen nur noch die Gebote<br />
<strong>und</strong> Bestimmungen der islamischen Gesellschaft zu<br />
Lebzeiten des Propheten Mohammed gelten.<br />
WER IST DER ANFÜHRER?<br />
Über Abu Bakr al Baghdadi ist nur wenig bekannt.<br />
Wahrscheinlich wurde er 1971 in der irakischen<br />
Stadt Samarra geboren. Sein bürgerlicher Name lautet<br />
Ibrahim Awwad Ibrahim Ali al Badri. Er nennt sich<br />
auch: Abu Bakr al Husayni al Baghdadi; Abu Bakr al<br />
Baghdadi al Husayni al Quraishi; Dr. Ibrahim Awwad<br />
Ibrahim al Samarrai; Ibrahim Awad Ibrahim al Badri<br />
al Samarrai oder Abu Dua. Er soll verheiratet sein <strong>und</strong><br />
an der Islamischen Universität von Bagdad Religionswissenschaften<br />
studiert haben. Nach der Eroberung<br />
des Irak durch die Amerikaner gründete er die islamistische<br />
Widerstandsgruppe Jaysh Ahli Sunna <strong>und</strong><br />
wurde einer der wichtigsten Vertreter von Al Qaida<br />
in der Region. Er wurde von den Amerikanern verhaftet<br />
<strong>und</strong> in das Gefangenenlager Bucca gesperrt –<br />
wann er wieder freikam, ist unklar. Seither versucht<br />
er, mit äußerster Brutalität ein sunnitisches Kalifat zu<br />
errichten.<br />
WOHER STAMMT DAS GELD?<br />
In den vom IS kontrollierten Gebieten in Syrien<br />
<strong>und</strong> im Irak haben die Dschihadisten ein eigenes<br />
Wirtschaftssystem etabliert. Es ist ein erpresserisches<br />
System entstanden aus Landwirtschaftsabgaben,<br />
Verkehrsgebühren, Schutzgeldzahlungen von Christen<br />
<strong>und</strong> anderen religiösen Minderheiten sowie Lösegeldzahlungen.<br />
Vor allem aber ist es den Milizen gelungen,<br />
Ölfelder zu erobern <strong>und</strong> Banken zu plündern. Hingegen<br />
sind Spenden von wohlhabenden Einzelpersonen<br />
aus <strong>Katar</strong>, Kuwait, Saudi-Arabien <strong>und</strong> den Vereinigten<br />
Arabischen Emiraten nach Einschätzung von Experten<br />
zurückgegangen.<br />
Ein Junge schreit seine<br />
Wut <strong>und</strong> Angst heraus,<br />
nachdem Kampfflugzeuge<br />
einen Marktplatz im<br />
Shaar-Viertel Aleppos mit<br />
Raketen beschossen haben<br />
die Hälfte der Bevölkerung befindet sich auf der Flucht.<br />
Mit jedem Tag werden es mehr.<br />
Die Fanatiker des „Islamischen Staates“ nutzen<br />
das Chaos im Land, um all jene zu vernichten, die sich<br />
ihnen widersetzen. Zwar konnte eine Allianz der syrischen<br />
Rebellen die Gotteskrieger aus Aleppo vertreiben,<br />
aber in den vergangenen Wochen sind die Terroristen<br />
wieder auf dem Vormarsch, erobern Kleinstädte<br />
<strong>und</strong> Dörfer im Umland Aleppos. „Ich bin Muslim“, sagt<br />
Hamid im Auto. In den Augen des IS aber sei er ein<br />
kufar, ein Ungläubiger, da er deren Weltanschauung<br />
nicht teile. „Das sind Mörder <strong>und</strong> Geistesgestörte, die<br />
ihre Welt einteilen in halal <strong>und</strong> haram.“ Gut <strong>und</strong> Böse,<br />
erlaubt <strong>und</strong> verboten, ohne Zwischentöne. Wer gegen<br />
ihre Regeln verstößt, der stirbt.<br />
H<strong>und</strong>erte Syrer sind der IS-Ideologie schon zum<br />
Opfer gefallen. „In Aleppo haben sie vergangenes Jahr<br />
einen 15-Jährigen vor den Augen seiner Mutter erschossen,<br />
weil er den Propheten beleidigt haben soll“,<br />
knurrt Hamid. „Blasphemie.“ In Rakka, der Hauptstadt<br />
des IS, kreuzigen <strong>und</strong> enthaupten sie regelmäßig<br />
Menschen, die ihnen im Weg stehen: Akademiker,<br />
Journalisten, moderate Rebellen, Schiiten, Kurden,<br />
Andersgläubige. Die Islamisten präsentieren die Bilder<br />
der Gekreuzigten <strong>und</strong> Geköpften in den sozialen Netzwerken. Seine<br />
Heimat verlassen, in die Türkei fliehen,<br />
das will Hamid dennoch nicht. „Wie könnte ich mein<br />
Land im Stich lassen? Ich käme mir vor wie ein Verräter“,<br />
sagt er, zündet sich eine Gitanes an <strong>und</strong> zieht<br />
den Rauch tief in seine Lunge.<br />
Die Autofahrt führt an zerschossenen Autos vorbei<br />
<strong>und</strong> an zertrümmerten Häusern, aus denen zerfetzter<br />
Stahl ragt. Auf dem Armaturenbrett liegt eine<br />
ungeladene Pistole. „Zur Abschreckung“, sagt Hamid<br />
64<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
Solange<br />
Deutschland<br />
liest, werden<br />
wir schreiben.
<strong>und</strong> schnippt die Kippe aus dem offenen Fenster. Immer<br />
wieder muss er den Wagen anhalten, aussteigen<br />
<strong>und</strong> Deckung in Ruinen suchen, weil Hubschrauber<br />
Fassbomben abwerfen oder ein Kampfjet Raketen abfeuert.<br />
Die wenigen Menschen, die sich noch auf die<br />
Straße wagen, verstecken sich in Hauseingängen <strong>und</strong><br />
beobachten die Helikopter über ihnen. „Bald fällt die<br />
erste Bombe“, sagt Hamid <strong>und</strong> wartet angespannt.<br />
Ein alter Lebensmittelhändler winkt Hamid <strong>und</strong><br />
ein paar andere Menschen in seinen Laden. Dort sei<br />
es sicherer, meint er, verschwindet in einem Hinterzimmer<br />
<strong>und</strong> kommt Minuten später mit frisch gekochtem<br />
schwarzen Tee <strong>und</strong> einer Argileh zurück, der syrischen<br />
Wasserpfeife. „Syrische Gastfre<strong>und</strong>schaft“, sagt<br />
Hamid <strong>und</strong> lächelt. „Der können auch Assads Bomben<br />
nichts anhaben.“ Während die Männer auf die<br />
Einschläge warten, nippen sie am gesüßten Tee, nuckeln<br />
an der Pfeife <strong>und</strong> reißen Witze über Präsident<br />
Baschar al Assad. Als zwei Fassbomben einige Straßenzüge<br />
weiter explodieren, verabschieden sich die<br />
Männer. Auch Hamid will weiter. Nur wenige H<strong>und</strong>ert<br />
Meter von seinem Wagen entfernt steigt ein Rauchpilz<br />
in den wolkenlosen Sommerhimmel.<br />
DER TOD IST TEIL von Hamids Leben geworden. Hamid<br />
geriet ins Visier von Scharfschützen, die auf<br />
ihn feuerten; in seiner Nähe explodierten Bomben<br />
<strong>und</strong> Granaten. Er sah Fre<strong>und</strong>e sterben. Aber Hamid<br />
sieht auch, wie die Menschen in Aleppo in der Not<br />
zusammenrücken.<br />
Nach 40 Minuten Fahrt parkt er seinen Wagen<br />
vor dem Mietshaus eines Bekannten. Der betreibt<br />
im Keller eine Art Untergr<strong>und</strong>küche, in der er <strong>und</strong><br />
drei Helfer <strong>für</strong> H<strong>und</strong>erte mittellose Menschen an den<br />
Freiwillige Helfer der<br />
Weißen Helme bergen ein<br />
Opfer aus den Trümmern<br />
Der Pathologe Abu Jaffer<br />
protokolliert die namenlosen<br />
Toten Aleppos. An der Wand<br />
eines ehemaligen Klassenzimmers<br />
hängen die Fotos<br />
der im Krieg Getöteten<br />
Frontabschnitten Essen kochen <strong>und</strong> kostenlos verteilen.<br />
Sie reden über die schwierige Versorgungslage.<br />
Dass der Kumpel fünf Tage lang kein Essen verteilen<br />
konnte, weil sein Viertel täglich bombardiert wurde.<br />
Hamid fährt weiter, trifft den Pathologen Abu<br />
Jaffer, der seit zwei Jahren in einem ausgebombten<br />
Schulgebäude namenlose Tote fotografiert, in dem verzweifelten<br />
Versuch, den Toten ihre Würde zurückzugeben.<br />
<strong>Kein</strong> Tag vergeht, ohne dass namenlose Tote<br />
in die Schule gebracht werden. Der Arzt protokolliert<br />
das Geschlecht, wann <strong>und</strong> wo sie gestorben sind.<br />
Die Bilder der Menschen pinnt er an die Wand eines<br />
66<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
Fotos: Carsten Stormer/Zeitenspiegel (Seiten 60 bis 67), Privat (Autor)<br />
Klassenzimmers – H<strong>und</strong>erte Fotos von verstümmelten<br />
Leichen. An diesem Morgen kommt ein weiteres<br />
namenloses Porträt dazu. Dann rollt er den halb verwesten<br />
Körper eines Mannes in einen grauen Leichensack<br />
<strong>und</strong> zieht den Reißverschluss zu.<br />
Nachmittags unterhält sich Hamid mit der Rektorin<br />
einer geheimen Schule im Erdgeschoss eines Wohnhauses<br />
im Frontviertel Salaheddin. Unterricht ist in<br />
Aleppo kaum noch möglich, da Schulen Ziele von Assads<br />
Luftwaffe sind. Die Finger der Rektorin klopfen<br />
wie ein Metronom unaufhörlich auf die Glasplatte ihres<br />
Schreibtischs. Zwei Dutzend vom Krieg traumatisierte<br />
Kinder unterrichtet sie täglich, außer freitags,<br />
um den Kleinen einen Schein von Normalität vorzugaukeln.<br />
Geschichten vom Alltag in Aleppo, die Hamid<br />
mit Journalisten <strong>und</strong> der Welt teilen möchte.<br />
Im August dieses Jahres sieht Hamid im Internet,<br />
wie der amerikanische Journalist James Foley vor laufender<br />
Kamera enthauptet wird. Am Ende der Inszenierung<br />
zieht ein Terrorist eine weitere Geisel vor die<br />
Kamera <strong>und</strong> droht, diese ebenfalls zu ermorden. Es ist<br />
Steven Sotloff. Jener Mann, der zusammen mit Hamid<br />
entführt wurde. Zwei Wochen später<br />
wird auch er umgebracht. „Das sind<br />
Verbrecher, das ist nicht unsere Auffassung<br />
des Islam“, sagt Hamid. Was<br />
bleibt, sind seine Schuldgefühle. Auf<br />
Facebook bittet er Steven Sotloffs Mutter<br />
um Verzeihung, dass er nicht besser<br />
auf ihren Sohn aufpassen konnte.<br />
Zwischen all dem Schrecken <strong>und</strong><br />
der Angst gibt es in Aleppo die kleinen<br />
Momente des Glücks. Ebenfalls im<br />
August wird Hamids Sohn geboren. Er<br />
nennt ihn Bakr, nach dem Schwiegervater<br />
des Propheten Mohammed. Zur<br />
gleichen Zeit zieht die syrische Armee<br />
ihren Belagerungsring um Aleppo immer<br />
enger, nimmt das Industrieviertel<br />
Sheikh Najar ein, schneidet Versorgungswege<br />
der Rebellen ab. „Es ist nur<br />
noch eine Frage der Zeit, bis die Stadt eingekesselt ist.<br />
Uns droht das gleiche Schicksal wie den Menschen in<br />
Homs“, schreibt ein verzweifelter Hamid.<br />
Währenddessen nimmt der IS im Umland Aleppos<br />
ein Dorf nach dem anderen ein <strong>und</strong> rückt immer näher<br />
auf die Stadt zu. Damit zerschellt auch Hamids Starrsinn,<br />
in seiner Heimatstadt auszuharren. „Ich trage<br />
jetzt <strong>für</strong> meinen Sohn Verantwortung. Es geht nicht<br />
mehr allein um mich“, schreibt er Ende August. „Ich<br />
haue ab.“ Egal wohin.<br />
CARSTEN STORMER war im Sommer das<br />
achte Mal in Syrien. Dieses Mal war die Angst<br />
groß, vom IS entführt zu werden. Das ständige<br />
Abwerfen von Fassbomben machte es fast<br />
unmöglich, sich in Aleppo zu bewegen<br />
Kompressor<br />
Das Kulturmagazin<br />
Mo bis Fr • 14:07<br />
Das Feuilleton im Radio.<br />
b<strong>und</strong>esweit <strong>und</strong> werbefrei<br />
DAB+, Kabel, Satellit, App, deutschlandradiokultur.de
WELTBÜHNE<br />
Interview<br />
„EIN SICHERHEITSRISIKO “<br />
BKA-Chef Jörg Ziercke über deutsche IS-Kämpfer, die Gefahr,<br />
die von ihnen ausgeht, <strong>und</strong> was die Polizei gegen sie unternimmt<br />
Herr Ziercke, auch Deutsche<br />
haben sich in Syrien <strong>und</strong> im<br />
Irak islamistischen Terroristen<br />
angeschlossen. Wie viele<br />
sind es?<br />
Jörg Ziercke: Den deutschen<br />
Sicherheitsbehörden liegen<br />
zurzeit Erkenntnisse zu<br />
mehr als 400 deutschen Islamisten<br />
sowie Islamisten aus<br />
Deutschland vor, die in Richtung<br />
Syrien ausgereist sind,<br />
um dort an Kampfhandlungen<br />
teilzunehmen oder den Widerstand<br />
gegen das Assad-Regime<br />
Jörg Ziercke, 67<br />
in sonstiger Weise zu unterstützen.<br />
Etwa ein Drittel ist zwi-<br />
ist seit 2004 Präsident<br />
des B<strong>und</strong>eskriminalamts<br />
schenzeitlich nach Deutschland<br />
zurückgekehrt. Bei etwa<br />
25 dieser Personen ist davon<br />
auszugehen, dass sie sich aktiv am bewaffneten Widerstand<br />
in Syrien beteiligt haben. Mehr als 40 Personen<br />
sollen im Kampf ums Leben gekommen sein.<br />
Gibt es ein Profil der auffälligen Personen?<br />
Die Mehrzahl der Personen ist männlich <strong>und</strong> zwischen<br />
21 <strong>und</strong> 30 Jahre alt. Mehr als die Hälfte von ihnen<br />
hat die deutsche Staatsbürgerschaft, gefolgt von<br />
türkischen, syrischen <strong>und</strong> russischen Staatsangehörigen.<br />
Über eine Vielzahl der Personen liegen bis zum<br />
Zeitpunkt ihrer Ausreise keine oder nur wenige staatsschutzrelevante<br />
Erkenntnisse vor.<br />
Welche Motivation haben sie?<br />
Die Motivation des Einzelnen ist sehr unterschiedlich<br />
<strong>und</strong> reicht vom vermeintlichen Abenteuer über erhofftes<br />
Ansehen <strong>und</strong> persönliche Anerkennung bis hin<br />
zum politischen Engagement gegen das Assad-Regime.<br />
Wer wirbt die Kämpfer an?<br />
Die Rekrutierung erfolgt üblicherweise durch<br />
Schlüsselpersonen im engeren Umfeld des Betroffenen,<br />
die Einfluss auf die Person haben. Diese persönlichen<br />
Kontakte entstehen in bestimmten Moscheen,<br />
in radikalen Gruppen sowie auf sogenannten Benefizveranstaltungen<br />
<strong>für</strong> Syrien, bei denen neben dem<br />
religiösen Diskurs auch Spenden gesammelt werden.<br />
Wie groß schätzen Sie die Gefahr durch Heimkehrer<br />
ein?<br />
Nahezu alle islamistischen Terrororganisationen<br />
haben sich dem weltweiten Dschihad verschrieben <strong>und</strong><br />
streben die Errichtung eines alle Länder umfassenden<br />
Kalifats an. Aufgr<strong>und</strong> dieser Ausrichtung sind <strong>für</strong><br />
diese Gruppierungen Anschläge weltweit gerechtfertigt.<br />
Daher stellen Personen, die sich in einem terroristischen<br />
Ausbildungslager aufgehalten haben oder<br />
an Kampfhandlungen beteiligt waren, aufgr<strong>und</strong> der<br />
ideologischen Indoktrinierung <strong>und</strong> der Ausbildung im<br />
Umgang mit Waffen <strong>und</strong> Sprengstoffen ein besonderes<br />
Sicherheitsrisiko dar. Durch die Ausbildung sind<br />
sie dazu fähig, Anschläge auch ohne weitere Unterstützung<br />
Dritter zu begehen. Dschihadistische Propaganda,<br />
unter Umständen verb<strong>und</strong>en mit einem äußeren<br />
Ereignis, kann bei diesen Personen dazu führen, dass<br />
sie sich spontan zu einer Tat entschließen.<br />
Was kann der Rechtsstaat dagegen unternehmen?<br />
Wichtig ist, dass alle Akteure der deutschen Sicherheitsarchitektur<br />
die Aktivitäten islamistischer Extremisten<br />
in Deutschland genau beobachten <strong>und</strong> sich<br />
darüber intensiv austauschen. Aber auch die internationale<br />
Netzwerkbildung ist von großer Bedeutung. Auf<br />
diesem Wege ist es uns bisher – mit Ausnahme des<br />
radikalisierten Einzeltäters vom Frankfurter Flughafen<br />
2011 – gelungen, Anschläge in Deutschland zu<br />
verhindern.<br />
Wie hoch ist das Risiko, dass ein Anschlag gelingt?<br />
Eine h<strong>und</strong>ertprozentige Sicherheit kann es nicht<br />
geben. Nur mithilfe einer ganzheitlichen <strong>und</strong> f<strong>und</strong>ierten<br />
Informationsbasis, wie sie im gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum<br />
<strong>und</strong> mithilfe der Anti-Terror-<br />
Datei geschaffen wurde, lassen sich Maßnahmen der<br />
Prävention <strong>und</strong> Strafverfolgung umsetzen. Zugleich ist<br />
auch der Gesetzgeber gefragt, den Sicherheitsbehörden<br />
einen geeigneten, zeitgemäßen Rechtsrahmen zu<br />
schaffen. Auch die Islamisten haben den Vorzug von<br />
Kryptierung <strong>und</strong> Anonymisierung im Internet <strong>für</strong> sich<br />
entdeckt. Daher gilt es, rechtliche Instrumente zu bekommen,<br />
die dem Rechnung tragen.<br />
Die Fragen stellte TIMO STEIN<br />
Foto: Marko Priske/Laif<br />
68<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
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<strong>Cicero</strong><br />
Kalender
Ein Frau im Abya in Italien?<br />
Nicht ganz.<br />
Das Einkaufszentrum Villagio<br />
ist Venedig nachempf<strong>und</strong>en<br />
<strong>und</strong> steht in der katarischen<br />
Hauptstadt Doha
WELTBÜHNE<br />
Report<br />
WODKA UND<br />
WASSERPFEIFE<br />
Von TESSA SZYSZKOWITZ<br />
Das reiche Scheichtum <strong>Katar</strong> wandelt auf einem<br />
schmalen Grat zwischen Tradition <strong>und</strong> Innovation,<br />
zwischen Terrorfinanzierung <strong>und</strong> Ausbeutung,<br />
zwischen Freiheit <strong>und</strong> Entrechtung<br />
Fotos MAURICE WEISS<br />
71<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
WELTBÜHNE<br />
Report<br />
In der Bar des Luxushotels W Doha<br />
dröhnt laute Musik. Bis auf die Terrasse<br />
hinaus drängen sich junge<br />
Frauen mit nackten Schultern, kurzen<br />
Röcken <strong>und</strong> hohen Absätzen. Cocktailgläser<br />
in den Händen, parlieren sie mit<br />
Männern in Anzug oder legerer Abendkleidung.<br />
Die Eiswürfel klirren in den<br />
Gläsern, die Stimmung ist gut. „Noch<br />
eine R<strong>und</strong>e Wodkashots“, ruft ein junger<br />
Amerikaner dem Barkeeper zu. Manch<br />
einer hier mag diese Versammlung <strong>für</strong><br />
frevelhaften Götzendienst im Tempel<br />
westlicher Dekadenz halten.<br />
Das W Doha sieht dem W New York<br />
zum Verwechseln ähnlich. Die Skyline<br />
von Doha mit seinen stolzen Wolkenkratzern<br />
ähnelt vor allem nachts jener von<br />
Manhattan, dem Inbegriff von Modernität<br />
<strong>und</strong> Macht.<br />
Noch vor 40 Jahren war Doha ein Beduinendorf.<br />
Heute ist die Hauptstadt des<br />
Emirats <strong>Katar</strong> zu einer glitzernden Metropole<br />
herangewachsen. Tamim bin Hamad<br />
bin Khalifa al Thani, 34, der Emir von<br />
<strong>Katar</strong>, will die Tradition der Golfaraber<br />
mit den Errungenschaften des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
verbinden. Mit eingeschlichen<br />
haben sich: Alkohol <strong>und</strong> Miniröcke.<br />
Die Symbolik ist auch bei Tag eindeutig.<br />
Überall stehen Baukräne, die<br />
Etage um Etage auf die neuen Wohn- <strong>und</strong><br />
Bürotürme setzen. Scheich Tamim baut<br />
sein Reich in den Himmel hinauf. Er will<br />
damit nicht nur seinen immensen Reichtum<br />
zur Schau stellen. <strong>Katar</strong> verfügt über<br />
riesige Gasvorkommen. Die Staatsreserven<br />
betragen 150 Milliarden Euro. Nach<br />
dem Pro-Kopf-Einkommen ist das Mini-<br />
Emirat mit seinen 275 000 Staatsbürgern<br />
das reichste Land der Erde.<br />
gewinnen, nicht gestärkt, sondern geschwächt.<br />
Auch intern ist das Vorhaben,<br />
einen eigenen Weg zwischen konservativem<br />
Islam <strong>und</strong> westlicher Lebensart zu<br />
finden, permanent bedroht.<br />
Seit <strong>Katar</strong> vor knapp vier Jahren die<br />
<strong>Fußball</strong>-WM 2022 zugesprochen wurde,<br />
ist das Scheichtum in den Blickpunkt der<br />
Weltöffentlichkeit gerückt. Geschmierte<br />
Sportfunktionäre sind keine Weltneuheit,<br />
aber die Affäre um die Vergabe der WM<br />
an das Emirat wächst sich aus.<br />
Schmiergelder sind nicht <strong>Katar</strong>s<br />
einziges Problem. Die britische Tageszeitung<br />
The Guardian veröffentlichte<br />
einen Bericht über die Behandlung der<br />
Gastarbeiter auf katarischen Baustellen:<br />
Vorigen Sommer starb fast jeden Tag ein<br />
Arbeiter an Hitzschlag. In <strong>Katar</strong> gibt es<br />
weder Gewerkschaften noch politische<br />
Institutionen, geschweige denn eine kritische<br />
Öffentlichkeit, die Missbrauch aufzeigen<br />
könnte. Nach internationalen Protesten<br />
<strong>und</strong> ersten Boykottaufrufen hatte<br />
Schwimmen mit Aussicht.<br />
Dieses Hotel inmitten der<br />
katarischen Wüste lockt<br />
seine Gäste mit einer<br />
Poolanlage im 31. Stockwerk<br />
das Scheichtum Anfang des Jahres einen<br />
Aktionsplan beschlossen, mit dem die Arbeitsbedingungen<br />
<strong>für</strong> Gastarbeiter drastisch<br />
verbessert werden sollten.<br />
PASSIERT IST WENIG. Im Gegenteil.<br />
Krishna Upadhyaya <strong>und</strong> Ghimire G<strong>und</strong>ev<br />
bekommen gerade zu spüren, wie repressiv<br />
es in <strong>Katar</strong> zugeht. Die beiden<br />
britischen Menschenrechtsexperten wurden<br />
am 31. August verhaftet. Ihnen wird<br />
vorgeworfen, „das Gesetz des Landes gebrochen<br />
zu haben“. Ihr Verbrechen: Sie<br />
arbeiteten an einem Bericht <strong>für</strong> das Global<br />
Network for Rights and Development<br />
über nepalesische Gastarbeiter.<br />
Vor einer der spektakulären Baustellen<br />
sitzen Arbeiter aus Südostasien in der<br />
Dämmerung auf dem Gehsteig. Sie haben<br />
seit dem Morgengrauen gearbeitet. <strong>Kein</strong>er<br />
will seinen Namen nennen, die Angst<br />
vor dem Verlust des Jobs ist zu groß. Ihre<br />
Gesichter sind mit Tüchern umwickelt,<br />
sie schützen sich so gegen Staub, Sonne –<br />
<strong>und</strong> Fotos. „Wenn einer von uns in der<br />
Hitze umkippt“, sagt einer der maskierten<br />
Männer, „wird er sofort entlassen.“<br />
In <strong>Katar</strong> leben etwa zwei Millionen<br />
Menschen, von denen über drei Viertel<br />
Gastarbeiter sind. Sie sind vollkommen<br />
rechtlos. Die Arbeiter werden nach dem<br />
TROTZ SEINER KLEINHEIT will das Emirat<br />
auch politisch eine ernst zu nehmende<br />
Macht im Nahen Osten sein. Womöglich<br />
auch im Rest der Welt. Diese Gratwanderung<br />
ist heikel. Die Globalisierung der<br />
Macht hat ihren Preis. Gerade im Nahen<br />
Osten, der zurzeit eine neue Phase der<br />
Gewalt erlebt.<br />
<strong>Katar</strong> hat zu Beginn des Arabischen<br />
Frühlings 2011 hoch gepokert <strong>und</strong> viel<br />
verloren: Geld, aber auch Prestige. Die<br />
Unterstützung der Muslimbruderschaft<br />
in Ägypten, der Hamas im Gazastreifen<br />
<strong>und</strong> der islamistischen Rebellen in Syrien<br />
hat das ambitionierte Projekt, Einfluss zu
Kafala-System ins Land gebracht. Ein<br />
Sponsor übernimmt die Verantwortung –<br />
<strong>und</strong> den Pass. Damit sind die Jobsuchenden<br />
ihrem Bürgen ausgeliefert. Das Kafala-System<br />
befördert nicht nur sexuelle<br />
Ausbeutung von Frauen, es dient auch<br />
dazu, ausländische Wirtschaftsinteressen<br />
zu kontrollieren.<br />
Viele Geschäftsleute aus der ganzen<br />
Welt haben sich mit dem Kafala-System<br />
abgef<strong>und</strong>en – der Bauboom in <strong>Katar</strong> ist<br />
<strong>für</strong> Firmen wie die Deutsche Bahn, Siemens<br />
oder Hochtief einfach zu interessant.<br />
Da<strong>für</strong> nehmen sie in Kauf, dass sie<br />
mit lokalen Partnern zusammenarbeiten<br />
müssen.<br />
DAS ABSOLUTISTISCHE SCHEICHTUM<br />
ist eine demokratiefreie Zone. Zwar hat<br />
der damalige Kalif Hamad bin Khalifa al<br />
Thani 2003 eine „Beratende Versammlung“,<br />
ein Quasi-Parlament eingeführt.<br />
Dessen Befugnisse bestehen aber lediglich<br />
im Abnicken von Gesetzen, die dem<br />
Emir <strong>und</strong> seinen Beratern eingefallen<br />
sind. Erste Wahlen gab es zum Gemeinderat<br />
2007 <strong>und</strong> 2011 – revolutionärerweise<br />
durften auch Frauen wählen <strong>und</strong><br />
sogar kandidieren.<br />
Im Vergleich zu anderen arabischen<br />
Potentaten haben die <strong>Katar</strong>er immerhin<br />
Glück mit ihrer Herrscherfamilie: Die al<br />
Thanis sind religiös deutlich moderater<br />
als die ultrakonservativen Wahhabiten in<br />
Saudi-Arabien; sie denken politischer als<br />
die al Maktums in Dubai <strong>und</strong> sind innovativer<br />
in Erziehungs- <strong>und</strong> Forschungsprojekten<br />
als alle Nachbarn zusammen.<br />
Bloß nicht selber schwitzen.<br />
Diese wohlhabenden katarischen<br />
Hotelgäste schauen<br />
lieber anderen beim Jetski<strong>und</strong><br />
Speedbootfahren zu<br />
„<strong>Katar</strong> ist eine ganz eigene Gesellschaft,<br />
schwer mit anderen zu vergleichen“,<br />
sagt Ahmed Abdul-Malik al Hamadi.<br />
Der katarische Dichter sitzt im<br />
traditionellen Dischdasch, dem weißen<br />
Gewand mit rot-weißem Kopftuch, beim<br />
Kaffee in einem modernen Einkaufszentrum.<br />
Sein Vater war noch Perlentaucher.<br />
Der Sohn weiß beide Welten der katarischen<br />
Gegenwart zu schätzen: die Traditionen<br />
der Beduinengesellschaft wie<br />
die Innovationen des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />
Er hat nur einmal geheiratet, während<br />
viele seiner katarischen Fre<strong>und</strong>e bis<br />
zu vier Frauen haben. Seine Frau, sagt<br />
er, sei sehr selbstständig: „Sie macht,<br />
was sie will! Der Prophet Mohammed<br />
hat nie gesagt, dass man Frauen verstecken<br />
muss“, erklärt der 63-Jährige<br />
<strong>und</strong> blickt aufmerksam hinunter auf die<br />
Frauen, die an den Schaufenstern entlang<br />
schlendern.<br />
Die meisten katarischen Frauen tragen,<br />
wenn sie das Haus verlassen, eine<br />
schwarze Abaya, den Ganzkörperschleier,<br />
der am Arabischen Golf Brauch<br />
ist. Das Gesicht bleibt dabei frei. Manche<br />
Frauen sieht man auch in Sommerkleidern<br />
oder Jeans auf den Straßen. In <strong>Katar</strong><br />
dürfen Frauen im Gegensatz zu Saudi-<br />
Arabien ohne Kopftuch auf die Straße<br />
gehen. Allerdings trauen sich das die Einheimischen<br />
nicht unbedingt.<br />
Das Scheichtum ist erst seit 1971 unabhängig.<br />
Bis dahin agierten die Briten<br />
als Schutzmacht. Die al Thanis sind als<br />
Herrscherfamilie seit 1915 anerkannt.<br />
1940 wurde in <strong>Katar</strong> Öl gef<strong>und</strong>en, später<br />
Gas, <strong>und</strong> innerhalb weniger Jahrzehnte<br />
zogen die <strong>Katar</strong>er vom Beduinenzelt in<br />
Wolkenkratzer.<br />
Tamim ist der sechste Emir des Al-<br />
Thani-Clans. Er übernahm den Wüstenthron<br />
von seinem Vater Hamad im<br />
Juni 2013. Der Wechsel kam plötzlich<br />
<strong>und</strong> wurde von Experten als Versuch<br />
gewertet, Dynamik in Zeiten des Umbruchs<br />
zu markieren. Die Macht wurde<br />
bei den al Thanis auch schon zuvor in unblutigen<br />
Coups übergeben. Tamims Vater<br />
Hamad stahl seinem Vater Khalifa<br />
die Macht 1995. Der alte Scheich verbrachte<br />
seine Tage damals bereits lieber<br />
an der Côte d’Azur als am Golf. Der reformorientierte<br />
Hamad wollte die Geschicke<br />
des Emirats nicht nur in die Hand<br />
nehmen, um das Land ins 21. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
zu befördern. Er wollte sich auch<br />
von Saudi-Arabien lossagen. Der große<br />
Nachbar hatten bereits einen ihm genehmen<br />
Nachfolger <strong>für</strong> den alten Emir von<br />
<strong>Katar</strong> ausgesucht. Die al Sauds betrachteten<br />
den Zwergenstaat gerne als ihren<br />
Hinterhof.<br />
Aus diesem angespannten Machtverhältnis<br />
resultieren bis heute einige<br />
der größten Probleme in den nahöstlichen<br />
Kabalen. So investierte der Vater<br />
des heutigen Scheichs schon früh in die<br />
Entwicklung der Muslimbruderschaft. Er<br />
sah in ihnen ein reformerisches Potenzial<br />
<strong>für</strong> die Militärdiktatur Ägyptens. Außerdem<br />
waren die Muslimbrüder politisch<br />
weniger fanatisch als die Wahhabiten in<br />
Saudi-Arabien. Der spirituelle Führer der<br />
Muslimbrüder Yusuf Abdullah al Qaradawi<br />
genießt schon seit Jahrzehnten politisches<br />
Asyl in Doha.<br />
DAS ZWISCHENSPIEL der Muslembrüder<br />
an der Macht in Kairo aber hat nur<br />
ein Jahr gedauert <strong>und</strong> stellt eines der beschämenden<br />
Kapitel der katarischen Politsaga<br />
dar. „Ich mache hauptsächlich<br />
die islamistischen Kräfte unter Mohammed<br />
Mursi <strong>für</strong> diese Katastrophe verantwortlich“,<br />
sagt Azmi Bischara. Der palästinensische<br />
Intellektuelle aus Israel<br />
73<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
WELTBÜHNE<br />
Report<br />
GROSSBRITANNIEN<br />
100 %<br />
The Shard, London,<br />
Europas höchstes Gebäude<br />
100 %<br />
Olympiapark, London<br />
100 %<br />
Hyde Park Nummer 1,<br />
Londoner Wohnhausblock<br />
100 %<br />
Harrods-Gruppe, Warenhaus<br />
26 %<br />
Sainsbury’s, Supermarktkette<br />
20 %<br />
Camden Market,<br />
sechs Märkte in London<br />
10,3 %<br />
London Stock Exchange, Börse<br />
6,3 %<br />
Barclays, Bank<br />
3 – 5 %<br />
Royal Dutch Shell,<br />
Mineralöl- <strong>und</strong><br />
Erdgasunternehmen<br />
FRANKREICH<br />
100 %<br />
Paris Saint-Germain,<br />
<strong>Fußball</strong>verein<br />
100 %<br />
Immobilien auf den<br />
Champs-Élysées in Paris<br />
100 %<br />
Printemps,<br />
Warenhauskette<br />
100 %<br />
Lido Paris, Revuetheater<br />
12,8 %<br />
Lagardère SCA, Verlags- <strong>und</strong><br />
Medienunternehmen<br />
5 %<br />
Veolia<br />
Environnement S. A.,<br />
Wasser-, Abwasser-, Energie-,<br />
Transportunternehmen<br />
3 %<br />
Vivendi S. A., Medienkonzern<br />
3%<br />
Total, Mineralölunternehmen<br />
1%<br />
Louis Vuitton,<br />
Moët Hennessy ( LVMH ),<br />
Luxusgüter<br />
Infografik<br />
DIE GLOBALE<br />
WIRTSCHAFTSMACHT<br />
London, Paris, Frankfurt: <strong>Katar</strong> investiert<br />
vor allem über seinen Staatsfonds<br />
Qatar Investment Authority in lukrative<br />
Unternehmen – ein Überblick<br />
KATAR<br />
DEUTSCHLAND<br />
15,6 %<br />
Volkswagen AG<br />
9 %<br />
Hochtief<br />
6 %<br />
Deutsche Bank<br />
3 %<br />
Siemens<br />
SCHWEIZ<br />
100 %<br />
Hotel Schweizerhof,<br />
Zürich<br />
100 %<br />
Hotel Schweizerhof,<br />
Bern<br />
100 %<br />
Hotel Royal Savoy,<br />
Lausanne<br />
12 %<br />
Glencore Xstrata,<br />
Rohstoffhändler<br />
6,2 %<br />
Credit Suisse,<br />
Bank<br />
ITALIEN<br />
100 %<br />
Valentino,<br />
Modeunternehmen<br />
CHINA<br />
21,8 %<br />
Agricultural Bank of China,<br />
Bank<br />
USA<br />
100 %<br />
Miramax,<br />
Filmproduktion <strong>und</strong> -verleih<br />
74<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
ist heute Direktor des Arab Center for<br />
Research and Policy Studies in Doha.<br />
„Mursi <strong>und</strong> sein Führungsteam haben<br />
sich nicht darum bemüht, in der Übergangsphase<br />
alle demokratischen Kräfte<br />
einzubinden. Nicht nur das: Die Islamisten<br />
haben Proteste niedergeschlagen, die<br />
Anführer verhaftet <strong>und</strong> antidemokratische<br />
Gesetze erlassen. Deshalb war der<br />
Staatsstreich des Militärs im Juli 2013 so<br />
leicht durchzuführen.“<br />
Die <strong>Katar</strong>er waren zwar Schutzmacht<br />
der Muslimbrüder, solange diese<br />
noch in der Opposition waren. Kaum<br />
aber hatten die Islamisten in Ägypten die<br />
Macht errungen, hörten sie nicht mehr<br />
auf den moderierenden Rat des Emirs in<br />
Doha <strong>und</strong> radikalisierten sich. Nach Mursis<br />
Fall <strong>und</strong> der Wiederkehr des Militärs<br />
unter Abdel Fattah al Sisi erhöhten die<br />
anderen Golfscheichs unter der Führung<br />
Saudi-Arabiens den Druck auf Scheich<br />
Tamim al Thani <strong>und</strong> beriefen sogar kurzzeitig<br />
ihre Botschafter aus <strong>Katar</strong> zurück.<br />
Heute hält sich der junge Emir mit allzu<br />
lauter Unterstützung der Muslimbruderschaft<br />
zurück.<br />
© Foto Becker: Volkmar Könneke © Foto Hofreiter: DBT/Stella von Saldern © Foto Schwennicke: Andrej Dallmann<br />
Das <strong>Cicero</strong>-Foyergespräch<br />
Dr. Toni Hofreiter<br />
30.<br />
September<br />
20:00 Uhr<br />
Infografik: <strong>Cicero</strong>; Quelle: <strong>Cicero</strong>-Recherche<br />
GLEICHZEITIG MIT ÄGYPTEN ist auch <strong>Katar</strong>s<br />
Investition in die islamistische Opposition<br />
in Syrien schiefgegangen. <strong>Katar</strong><br />
hatte seit dem Beginn des Aufstands gegen<br />
den Diktator Baschar al Assad gute<br />
Kontakte zum Widerstand gepflegt – vor<br />
allem zur Al-Nusra-Front. Das hat sich<br />
gerächt. Immer mehr Al-Nusra-Kämpfer<br />
sind inzwischen mit katarischem Geld<br />
in den Taschen zum „Islamischen Staat“<br />
übergelaufen. Heute müssen sich die <strong>Katar</strong>er<br />
fragen, ob ihre großzügigen Spenden<br />
an die islamistischen Rebellen ein<br />
noch größeres Monster als Baschar al Assad<br />
haben entstehen lassen.<br />
Auch mit der Hamas hatte <strong>Katar</strong><br />
Pech. Ursprünglich war die Idee im Nahen<br />
Osten populär, die islamistische Hamas-Bewegung<br />
im Gaza streifen zu unterstützen,<br />
nachdem sich Israel 2007 aus<br />
dem Gebiet zurückgezogen hatte. Ein Besuch<br />
des damaligen Emirs 2012 im Gazastreifen<br />
verlief triumphal. Der katarische<br />
Scheich kam mit gezücktem Scheckbuch<br />
<strong>und</strong> wirkte wie ein Mäzen des arabischen<br />
Widerstands gegen die Unterdrücker.<br />
Heute hat die Hamas nicht nur Israel<br />
zum Feind. Seit in Kairo wieder das Militär<br />
regiert, sind die Grenzen zwischen<br />
Ulrich Becker<br />
<strong>Karte</strong>n erhalten sie bei der SÜDWEST PRESSE:<br />
südwestpresse.de/ticketshop<br />
Christoph Schwennicke<br />
Mit Dr. Toni Hofreiter, Fraktionsvorsitzender der Partei<br />
Bündnis 90/Die Grünen im B<strong>und</strong>estag, sprechen<br />
<strong>Cicero</strong>-Chefredakteur Christoph Schwennicke <strong>und</strong><br />
Ulrich Becker, Chefredakteur SÜDWEST PRESSE.<br />
Dienstag, 30. September 2014, 20:00 Uhr,<br />
Stadthaus Ulm, Münsterplatz 50, 89073 Ulm.<br />
In Kooperation<br />
mit SÜDWEST PRESSE
Gaza <strong>und</strong> Ägypten erneut geschlossen.<br />
Der jüngste Krieg zwischen der Hamas<br />
<strong>und</strong> Israel führte am Ende zu einem Waffenstillstand,<br />
von dem niemand erwartet,<br />
dass er lange hält. <strong>Katar</strong> aber durfte bei<br />
den Verhandlungen in Kairo um einen<br />
Waffenstillstand zwischen Hamas <strong>und</strong> Israel<br />
nur eine untergeordnete Rolle spielen.<br />
Unterdessen lebt Chalid Maschal, der<br />
Chef der Hamas, immer noch in Doha<br />
im Exil.<br />
SO TUMMELN SICH IN KATAR die wichtigsten<br />
Oppositionellen des Nahen Ostens.<br />
Neben Maschal auch der spirituelle<br />
Führer der Muslimbrüder <strong>und</strong> eben auch<br />
Azmi Bischara. Der palästinensische Politologe<br />
war israelischer Staatsbürger <strong>und</strong><br />
Abgeordneter im israelischen Parlament,<br />
der Knesset. Nach dem Libanonkrieg im<br />
Sommer 2006 wurde Bischara vorgeworfen,<br />
er habe die libanesisch-islamistische<br />
Hisbollah mit Informationen über israelische<br />
Angriffsziele versorgt. 2007 flüchtete<br />
er aus Israel, weil er <strong>für</strong>chtete, wegen<br />
Staatsverrats belangt zu werden.<br />
Bischara ist eine Schlüsselfigur am<br />
Hof des jungen Emirs geworden. Scheich<br />
Tamim muss nach seinem ersten schwierigen<br />
Regierungsjahr neue Prioritäten<br />
setzen. Die Muslimbruderschaft ist den<br />
<strong>Katar</strong>ern immer noch wichtig, man wird<br />
den spirituellen Führer al Qaradawi<br />
nicht ausweisen. Um aber die schiefgegangenen<br />
Investitionen in die Islamisten<br />
in Ägypten oder Syrien wettzumachen,<br />
gibt der junge Emir nun den linken Arabisten<br />
mehr Raum. „<strong>Katar</strong> will zu der<br />
<strong>Kein</strong> Modell. Vom Aspire Tower<br />
aus betrachtet, sehen Fahrzeuge<br />
wie Spielzeugautos aus. Der mit<br />
300 Metern höchste Wolkenkratzer<br />
<strong>Katar</strong>s wurde 2006 erbaut<br />
ursprünglichen Idee zurück, die drei<br />
Trends der arabischen Politik gleichmäßig<br />
zu propagieren: Islamisten, Linke<br />
<strong>und</strong> Liberale sollen alle eine Stimme bekommen“,<br />
sagt der Golfexperte Andrew<br />
Hammond vom European Council on<br />
Foreign Relations in London.<br />
Als Zeichen der Abgrenzung von der<br />
Politik seines Vaters will Scheich Tamim<br />
eine neue Zeitung <strong>und</strong> einen neuen Fernsehsender<br />
gründen. Der neue Sender Al<br />
Arabi Al Dschadid – Der Neue Araber –<br />
soll nicht aus Doha, sondern aus London<br />
berichten.<br />
Mit der britischen Hauptstadt sind<br />
die katarischen Herrscher traditionell<br />
eng verb<strong>und</strong>en, schließlich war das Vereinigte<br />
Königreich einst die Schutzmacht<br />
des Scheichtums bis zu seiner Unabhängigkeit<br />
1971. Prinz Tamim wurde<br />
in britischen Eliteschulen erzogen <strong>und</strong><br />
besuchte später die Royal Military Academy<br />
Sandhurst.<br />
Inzwischen hat sich das Verhältnis<br />
allerdings fast umgekehrt: Waren einst<br />
die Briten die Kolonialherren am Golf,<br />
so sahnen heute die <strong>Katar</strong>er in London<br />
ab. Sie kaufen die Kronjuwelen britischer<br />
Identität auf, die sich die Engländer nicht<br />
mehr leisten können – etwa das Edelkaufhaus<br />
Harrods oder die Barclays-Bank.<br />
Der neue Fernsehsender Al Arabi<br />
Al Dschadid soll nun in Park Royal am<br />
Rande Londons entstehen. Arabische<br />
Journalisten in der britischen Hauptstadt<br />
sind sich sicher, dass Der neue Araber<br />
dem alten Al Dschasira Konkurrenz machen<br />
wird. Al Dschasira war von Vater<br />
Hamad 1996 gegründet worden, um dem<br />
Nahen Osten eine arabische Stimme auf<br />
der internationalen Fernsehbühne zu geben.<br />
Der Sender ist in Doha beheimatet<br />
<strong>und</strong> hat jahrelang als eine Art Anti-CNN<br />
gut funktioniert. In den vergangenen<br />
Jahren allerdings wurde Al Dschasira<br />
von vielen immer mehr als Sprachrohr<br />
von Al Qaida empf<strong>und</strong>en.<br />
Mit dem Sturz der Muslimbrüder in<br />
Kairo begann auch der Niedergang der<br />
Fernsehstation. In einem spektakulären<br />
Schauprozess wurden im Juni dieses Jahres<br />
mehrere Reporter des katarischen<br />
Senders zu jahrelangen Gefängnisstrafen<br />
verurteilt, weil sie angeblich im Dienst<br />
der Muslimbrüder gestanden haben sollen.<br />
Doha musste dem Schauspiel machtlos<br />
zusehen.<br />
Diese Demütigung möchte der katarische<br />
Emir schnell vergessen machen.<br />
Seine Regentschaft wird der junge<br />
Scheich in Zukunft mit mehr Balance<br />
zwischen den islamistischen <strong>und</strong> den linken<br />
Kräften im arabischen Lager – <strong>und</strong><br />
an seinem Hof – anlegen. Das seltsame<br />
katarische Gesellschaftsprojekt zwischen<br />
Wodkashot <strong>und</strong> Wasserpfeife hat<br />
gute Chancen, das jetzige Chaos im Nahen<br />
Osten zu überleben.<br />
Vielleicht wird Scheich Tamim bin<br />
Hamad bin Khalifa al Thani nicht – wie<br />
von seinem Vater erhofft – die Vorherrschaft<br />
des großen Nachbarn Saudi-Arabien<br />
brechen können. Eine moderatere<br />
Variante des wahhabitischen Islam, der<br />
in Riad gepflegt wird, könnte sich in<br />
Doha aber durchaus entwickeln. Allein<br />
schon, weil der Rest des Nahen Ostens<br />
immer tiefer in den Konflikt zwischen<br />
Schiiten <strong>und</strong> Sunniten versinkt. <strong>Katar</strong><br />
ist vergleichsweise noch eine Oase der<br />
Stabilität.<br />
TESSA SZYSZKOWITZ war<br />
Nahost-, <strong>Russland</strong>- <strong>und</strong><br />
EU-Korrespondentin. Die<br />
Entwicklung <strong>Katar</strong>s verfolgt sie<br />
mit gemischten Gefühlen<br />
Fotos: Maurice Weiss/Ostkreuz (Seiten 70 bis 76), Privat (Autorin)<br />
76<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
ALLES. DIGITAL.<br />
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WELTBÜHNE<br />
Essay<br />
DAS IMPERIUM<br />
DER LÜGEN<br />
Von MICHAIL SCHISCHKIN<br />
Die Wahrheit abzustreiten, das hat in <strong>Russland</strong> nicht<br />
nur Tradition, sondern ist vielmehr Teil des<br />
Gesellschaftsvertrags. Auch deshalb wirkt der<br />
Westen im Ukrainekonflikt so hilflos<br />
Illustrationen FELIX GEPHART<br />
Als Kinder lasen wir alle das Buch „Gelsomino<br />
im Lande der Lügner“ des Italieners Gianni Rodari.<br />
Darin kommt ein Junge in ein Land, das<br />
von einer Piratenbande eingenommen worden ist, die<br />
nun alle zum Lügen zwingt. Den Katzen wird befohlen<br />
zu bellen, den H<strong>und</strong>en zu miauen. „Brot“ muss „Tinte“<br />
genannt werden. Es ist nur Falschgeld im Umlauf, <strong>und</strong><br />
die Einwohner werden über die Zeitung „Der musterhafte<br />
Lügner“ über die wichtigsten Nachrichten informiert.<br />
Uns Kindern gefiel die Absurdität dieser Situation<br />
natürlich. Für die Erwachsenen lag das Geheimnis<br />
des unglaublichen Erfolgs dieses Buches allerdings darin,<br />
dass sie genau verstanden, über welches Land hier<br />
in Wirklichkeit geschrieben wurde. Orwell <strong>für</strong> Anfänger.<br />
Als die Kinder älter wurden, begriffen sie ebenfalls<br />
sehr schnell, dass sie in genau diesem Land lebten.<br />
Die Lüge war allgegenwärtig. Die Zeitungen logen,<br />
das Fernsehen, die Lehrer. Der Staat betrog seine<br />
Bürger, die Bürger betrogen den Staat. So waren die<br />
allen verständlichen Spielregeln. Vom Kindergarten<br />
an gewöhnten wir uns daran.<br />
Mit Plakaten überzeugte man die Bevölkerung,<br />
dass die „UdSSR – das Bollwerk des Friedens“ sei,<br />
<strong>und</strong> schickte gleichzeitig seine Panzer überallhin auf<br />
der Welt. Im Fernsehen berichtete man freudig über<br />
die Erfüllung der Fünfjahrespläne, doch die Regale in<br />
den Geschäften wurden fortwährend leerer <strong>und</strong> die<br />
Schlangen davor größer. Wir lebten in dem Land, „in<br />
dem der Sozialismus gesiegt“ hatte, in dem laut Gesetz<br />
alles dem Volk gehörte, doch in Wirklichkeit besaß<br />
das Volk nichts. Überhaupt gehörte niemandem etwas.<br />
Wir lebten in diesem außergewöhnlichen Land voller<br />
Sklaven, in dem alle dem System gehörten. Diejenigen,<br />
die uns anführten, waren einfach die größten Sklaven.<br />
Niemand trug die Verantwortung <strong>für</strong> sein Land. Die<br />
Kolchose-Sklaven sind enteignet worden <strong>und</strong> ihnen<br />
war es egal, ob die Ernte heranwuchs oder nicht. Die<br />
Arbeiter-Sklaven soffen, <strong>und</strong> ihre Vorgesetzten schickten<br />
gefälschte Bilanzen ans Ministerium. Die regierenden<br />
Sklaven nahmen diese verdrehten Lügen als gültige<br />
Resultate in Empfang.<br />
Über Jahrzehnte wurden eigene <strong>und</strong> fremde Leute<br />
angeschwindelt, <strong>und</strong> man störte sich nicht daran, dass<br />
niemand dem anderen glaubte. Unter dem erlogenen<br />
„Aufruf einer Gruppe von Genossen“ fiel man in die<br />
Tschechoslowakei ein. Man log, dass man uns nach<br />
Afghanistan eingeladen habe. Es wurde geschwindelt,<br />
wenn bei Flugzeugkatastrophen <strong>Fußball</strong>- oder Hockeymannschaften<br />
starben – denn solche Katastrophen kamen<br />
ja nur dort vor, im Westen. Die ganze Welt wurde<br />
78<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
79<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
WELTBÜHNE<br />
Essay<br />
angeschwindelt, als ein südkoreanisches Flugzeug abgeschossen<br />
worden war. Chruschtschow wurde aus den<br />
offiziellen Bildern des Empfangs von Gagarin auf dem<br />
<strong>Rote</strong>n Platz herausgeschnitten. Man log über die Vergangenheit,<br />
die Gegenwart <strong>und</strong> die Zukunft, zu jedem<br />
Anlass, egal ob wichtig oder unwichtig.<br />
Meine Mutter unterrichtete damals in der Schule,<br />
doch ich habe zu der Zeit natürlich noch nicht realisiert,<br />
wie schwierig die Gestaltung des Unterrichts<br />
<strong>für</strong> sie <strong>und</strong> alle Lehrer war: Sie standen vor einer unlösbaren<br />
Aufgabe – die Kinder zu lehren, die Wahrheit<br />
zu sagen, <strong>und</strong> sie gleichzeitig auf ein Leben im<br />
Land der Lügen vorzubereiten.<br />
Nach dem geschriebenen<br />
Gesetz sollte man immer die<br />
Wahrheit sagen, doch das ungeschriebene<br />
hieß: Wenn du<br />
die Wahrheit sagst, wirst du<br />
Kummer ernten.<br />
Sie lehrten uns Lügen, an<br />
die sie selbst nicht glaubten,<br />
weil sie uns liebten <strong>und</strong> uns retten<br />
wollten. Denn in unserem<br />
Land wurde mit Worten ein<br />
tödliches Spiel getrieben. Man<br />
musste die richtigen Worte<br />
aussprechen <strong>und</strong> die falschen<br />
verschweigen. Niemand zog<br />
diese Grenze offiziell, doch jeder<br />
spürte sie in sich. Die Dissidenten<br />
verstießen gegen diese<br />
Spielregeln – aufgr<strong>und</strong> ihres<br />
selbstmörderischen Verständnisses<br />
<strong>für</strong> Gefühle der persönlichen<br />
Wertschätzung (so lautete<br />
Solschenizyns berühmter<br />
Aufruf: „Nicht nach der Lüge leben“). Auch unerschrockene<br />
junge Leute verstießen dagegen – aus Dummheit.<br />
Die Lehrer versuchten, diese wahrheitsliebenden Jugendlichen<br />
zu retten, indem sie ihnen eine belebende<br />
Dosis Furcht einimpften. War das im Moment ein bisschen<br />
schmerzhaft, so immunisierte es doch <strong>für</strong> das<br />
ganze folgende Leben. Vielleicht hatte man uns Chemie<br />
oder Englisch nur schlecht beigebracht, doch wir<br />
erhielten eine beispielhafte Erziehung in der schwierigen<br />
Kunst des Überlebens – das eine zu sagen, aber<br />
das andere zu denken <strong>und</strong> zu tun.<br />
Diese Lüge darf keinesfalls als Sünde bezeichnet<br />
werden – in ihr konzentrierte sich die ganze Kraft<br />
der Vitalität, die Stärke der Überlebensgeister. Jeder,<br />
der geboren wurde, fand sich in diesem geschlossenen<br />
Kreis aus Lügen wieder. Doch warum? Wie konnte es<br />
so kommen? Ich kann mich erinnern, wie mich als Jugendlicher<br />
die einfache Erklärung überrascht hat, die<br />
ich dazu im Artikel „Das Paradox der Lüge“ gelesen<br />
habe, den der verbotene Philosoph Nikolai Berdjajew<br />
1939 im Exil über die Diktaturen von Hitler <strong>und</strong> Stalin<br />
Diese Lüge ist<br />
keine Sünde.<br />
In ihr konzentrierte<br />
sich die<br />
ganze Stärke<br />
der Überlebensgeister<br />
geschrieben hatte: „Die Menschen leben in Angst, <strong>und</strong><br />
die Lüge ist ihre Waffe zur Verteidigung.“ Die Machthaber<br />
<strong>für</strong>chteten sich vor ihrem eigenen Volk <strong>und</strong> logen<br />
deshalb. Und die Bevölkerung machte bei dieser Lüge<br />
mit, denn sie <strong>für</strong>chtete sich wiederum vor der Macht.<br />
Die Machthaber <strong>und</strong> ihr Volk hatten einen Gesellschaftsvertrag<br />
miteinander geschlossen: Wir wissen,<br />
dass wir lügen <strong>und</strong> dass ihr lügt <strong>und</strong> werden weiter<br />
lügen, um zu überleben. Mit diesem contrat social<br />
sind Generationen groß geworden.<br />
Ich weiß noch, wie wir vom Reaktorunglück in<br />
Tschernobyl erfahren haben. Ich arbeitete damals<br />
an einer Schule. In der Pause<br />
rannte ein sichtlich erregter<br />
Physiker zu uns ins Lehrerzimmer,<br />
der von einem Bekannten<br />
hinter vorgehaltener<br />
Hand über die Katastrophe<br />
unterrichtet worden war. Ihm<br />
glaubten wir sofort. Er, <strong>und</strong><br />
nicht die Regierung, sagte,<br />
man solle die Kinder in die<br />
Häuser holen.<br />
Die offiziellen Kanäle<br />
schwiegen noch lange, <strong>und</strong><br />
dann berichteten sie zwar über<br />
die Ereignisse, beschwichtigten<br />
aber gleichzeitig, es bestehe<br />
überhaupt keine Gefahr.<br />
Die Bevölkerung wusste bereits,<br />
was das bedeutete: Wenn<br />
sie sagten, es gebe keine Gefahr,<br />
dann stand es nicht gut.<br />
Ein gespaltetes Bewusstsein<br />
– das eine zu sagen <strong>und</strong><br />
etwas anderes zu denken <strong>und</strong><br />
zu tun – machte die Wirklichkeit einer ganzen Nation<br />
aus. Wenn sich eine Lüge von sich selbst abschottet,<br />
wird sie fähig, eine neue Realität zu konstruieren.<br />
Diese Realität sind wir. Und alle wir Russen, die heute<br />
leben, kommen aus ihr. Sowohl Regierungsbe<strong>für</strong>worter<br />
wie auch Oppositionelle.<br />
Gegen Ende des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts fand in <strong>Russland</strong><br />
ein W<strong>und</strong>er statt. Die obersten Sklaven starben<br />
einer nach dem anderen, <strong>und</strong> unser Gefängnisstaat<br />
brach einfach in sich zusammen. Von Mitte der achtziger<br />
bis zu Beginn der neunziger Jahre erhielt mein<br />
Volk die einzigartige Möglichkeit, sein Leben neu aufzubauen,<br />
eigene Entscheidungen zu treffen. 1991 befreiten<br />
wir uns zwar von der Kommunistischen Partei,<br />
doch von uns selbst konnten wir uns nicht befreien.<br />
Unser gewohnter Gesellschaftsvertrag blieb auch nach<br />
dem Zerfall der UdSSR in Kraft.<br />
Wir waren naiv. Alles erschien so einfach <strong>und</strong> offensichtlich:<br />
Unser Land ist von einer Bande von Kommunisten<br />
eingenommen worden, <strong>und</strong> wenn man die<br />
Partei verjagt, werden sich die Grenzen öffnen <strong>und</strong> uns<br />
80<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
81<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
WELTBÜHNE<br />
Essay<br />
eine Rückkehr ermöglichen in die Familie der Nationen,<br />
die nach den Gesetzen der Demokratie, der Freiheit<br />
<strong>und</strong> der Persönlichkeitsrechte leben. Die Worte<br />
klangen wie ein w<strong>und</strong>erbares Märchen über die unerreichbare<br />
Zukunft – Parlament, Republik, Verfassung,<br />
Wahlen.<br />
Irgendwie dachten wir gar nicht daran, dass all<br />
diese Worte bei uns bereits Wirklichkeit waren – immerhin<br />
galt die Verfassung Stalins aus dem Jahr 1937<br />
als „demokratischste Verfassung der Welt“ –, <strong>und</strong> auch<br />
an Wahlen nahmen wir regelmäßig teil. Wir vergaßen,<br />
dass alle guten Worte,<br />
wenn sie die Grenze zu unserem<br />
Heimatland überquerten,<br />
plötzlich eine ganz<br />
andere als ihre ursprüngliche<br />
Bedeutung annahmen.<br />
Demokratie – das bedeutete<br />
Chaos. Parlament – ein<br />
Ruheposten <strong>für</strong> das Ganoventum.<br />
Brot – Tinte. Wer<br />
hätte damals gedacht, dass<br />
die Kommunistische Partei<br />
zwar verschwindet, wir<br />
aber dieselben bleiben –<br />
<strong>und</strong> mit uns auch all die<br />
guten Worte: Demokratie,<br />
Parlament <strong>und</strong> Verfassung<br />
wurden einfach zu<br />
Schlagstöcken im endlosen<br />
Kampf um Macht <strong>und</strong> Geld<br />
im neuen <strong>Russland</strong>.<br />
Es erwies sich als unmöglich,<br />
die Wächter zu<br />
verjagen, denn jeder war<br />
sich selbst ein Wachposten.<br />
Wenn der Aufruhr im<br />
Sträflingslager nicht unterdrückt werden konnte, so<br />
hörte er irgendwie von selbst auf, <strong>und</strong> er endete einfach<br />
damit, dass die Leute in ihre Baracken zurückkehrten.<br />
Schließlich musste man weiterleben. Die Ordnung<br />
stellte sich von selbst wieder her. Die gleiche<br />
Ordnung wie früher – denn eine andere kannte dort<br />
niemand. Und wieder besetzten die Stärksten die besten<br />
Pritschen <strong>und</strong> drängten die Schwachen zum Abort.<br />
Die kommunistische Lüge wandelte sich zu einer<br />
demokratischen. Die Leute wurden nun unter demokratischen<br />
Losungen ausgeraubt. Die Clique ehemaliger<br />
Partei- <strong>und</strong> Komsomolfunktionäre teilte alle natürlichen<br />
Ressourcen unter sich auf <strong>und</strong> beeilte sich,<br />
sie so schnell wie möglich ins Ausland zu verkaufen,<br />
um heute reich zu werden, ohne an die Zukunft des<br />
eigenen Landes zu denken. In diesem Licht sieht der<br />
unterdrückte, größte Teil der Bevölkerung heute die<br />
demokratischen Reformen der neunziger Jahre. Denn<br />
hinter der Maskerade des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts treten die<br />
ewigen russischen Konstanten überdeutlich hervor:<br />
ein Haufen Diebe, Beamte <strong>und</strong> Oligarchen, die den<br />
Reichtum des Landes an sich gerissen haben <strong>und</strong> keine<br />
Sek<strong>und</strong>e daran denken, mit der armen, versoffenen<br />
Bevölkerung zu teilen. Das Geld <strong>für</strong> die bald ausverkauften<br />
Bodenschätze fließt in den Westen <strong>und</strong> wird<br />
nicht in russische Straßen, Krankenhäuser oder Schulen<br />
investiert. Staatliche Mittel, die <strong>für</strong> soziale Zwecke<br />
zur Verfügung gestellt werden, kommen größtenteils<br />
nie an ihrem Bestimmungsort an, sondern verschwinden<br />
in den Taschen der Beamten.<br />
Die Fingerabdrücke aus Lügen bleiben dieselben.<br />
So wie in der UdSSR<br />
schwindelt auch die russische<br />
Propaganda eine<br />
andere Realität vor. Die<br />
Automobilindustrie ist zusammengebrochen,<br />
die<br />
Flugzeugherstellung ebenfalls;<br />
Raketen werden zwar<br />
noch abgeschossen, doch sie<br />
stürzen regelmäßig ab; die<br />
Hälfte aller Nahrungsmittel<br />
wird importiert, Haushaltsgeräte<br />
kommen zu beinahe<br />
100 Prozent aus dem Ausland.<br />
Das Land produziert<br />
praktisch nichts mehr, der<br />
Staatshaushalt gründet allein<br />
auf dem Verkauf von<br />
Öl <strong>und</strong> Gas, doch das Fernsehen<br />
erklärt der Bevölkerung,<br />
„<strong>Russland</strong> erhebe sich<br />
von den Knien“.<br />
Putin begann seine Regentschaft<br />
sogleich mit Lügen.<br />
Als er den zweiten<br />
Tschetschenienkrieg vom<br />
Zaun brach, erklärte er gleichzeitig den Massenmedien<br />
den Krieg. Lügen umhüllten den Untergang des<br />
U-Bootes Kursk, Explosionen in Moskauer Wohnhäusern,<br />
die Tragödie in Beslan, die Geiselnahme <strong>und</strong> deren<br />
tödlichen Ausgang im Musicaltheater Nord-Ost.<br />
Gleichzeitig mit der Zunahme der Lügen steigt die<br />
Popularität des Staatsführers. Lügen gibt es nur dort,<br />
wo man nach der Wahrheit sucht. Doch da, wo man<br />
nicht sucht, da gibt es auch keine Lügen. Allein nach<br />
der Wahrheit zu suchen, wird ungemütlich.<br />
In Tolstois Roman „Anna Karenina“ fragt Levin<br />
einen Bauern: „Michajlitsch, was hältst du vom Krieg?<br />
Was findest du? Sollen wir <strong>für</strong> die Christen kämpfen?“<br />
Die Antwort: „Was soll man da denken? Zar Alexander<br />
Nikolajewitsch denkt doch <strong>für</strong> uns, das hat er immer<br />
gemacht. Er kennt sich da besser aus.“<br />
Dem Großteil der Russen erging es schlecht in<br />
der marktwirtschaftlichen Pseudodemokratie. Das<br />
sich satt gegessene Land wurde von Sehnsucht ergriffen.<br />
Generation <strong>für</strong> Generation hat man den Menschen<br />
82<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
alles weggenommen <strong>und</strong> ihnen zur Kompensation das<br />
stolze Gefühl vermittelt, Bürger eines riesigen, ruhmreichen<br />
Imperiums zu sein. Für sie wurde gedacht, <strong>für</strong><br />
sie wurde entschieden, sie wurden geleitet. Eine solche<br />
Leere empfindet wohl ein aus dem Armeedienst entlassener<br />
Berufssoldat. Plötzlich muss man Verantwortung<br />
<strong>für</strong> sein eigenes Leben übernehmen, den eigenen<br />
Weg finden, selbst denken. Die Menschen vermissten<br />
die Eindeutigkeit, die Ordnung, die Obrigkeit. Die russische<br />
Schwermut. Sehnsucht nach einem eindeutigen<br />
Weltbild. Nach der Unterteilung in eigen <strong>und</strong> fremd.<br />
Nach einem weisen väterlichen Anführer. Nach einem<br />
großen Sieg. Nach der Größe des Heimatlands. Die<br />
Propaganda keimt auf diesem gut vorbereiteten Boden.<br />
Die Fernsehbilder der Leiche Gaddafis waren <strong>für</strong><br />
diejenigen, die mein Land in Geiselhaft genommen<br />
haben, ein Wink aus den Weiten des Weltalls. H<strong>und</strong>erttausende<br />
Menschen, die sich mit den gefälschten<br />
Wahlen 2011 nicht abfinden wollten <strong>und</strong> sich auf den<br />
Plätzen Moskaus versammelten, zwangen den selbst<br />
ernannten Herrscher im Kreml zum Nachdenken. Der<br />
Sieg des Maidan <strong>und</strong> die würdelose Flucht von Wiktor<br />
Janukowitsch riefen Panik hervor <strong>und</strong> forderten<br />
sofortiges Handeln. Denn wenn die Ukrainer ihre<br />
Bande verjagen konnten, so könnte dies dem Bruder-<br />
Anzeige volk <strong>für</strong> zweifellos RECHTE als Beispiel dienen. Seite<br />
Als Erstes zog das Fernsehen in den Krieg. Das Medium<br />
zur Masseninformation wandelte sich in eine Massenvernichtungswaffe.<br />
Die Lüge ist die Verteidigungswaffe<br />
eines Regimes vor seinem Volk. Nun wurde ein<br />
von allen Diktaturen erprobtes Mittel herangezogen –<br />
ein äußerer Feind. Vor unseren Augen wandelten sich<br />
die Ukrainer zu „Ukrofaschisten“. So wurden die visionären<br />
Worte Churchills Wirklichkeit: „The fascists of<br />
the future will be called anti-fascists.“ Wieder wurden<br />
die Russen in einen Krieg gegen den Faschismus gerufen.<br />
Zum x-ten Mal in der Geschichte beruft sich ein<br />
Diktator zur Sicherung seiner Macht auf den Patriotismus.<br />
Von den Fernsehbildschirmen hallt es nun hysterisch:<br />
„mächtiges <strong>Russland</strong>“, „wir erheben uns von<br />
den Knien“, „die Rückkehr der russischen Länder“,<br />
„die Verteidigung der russischen Sprache“, „das Sammeln<br />
der russischen Erde“, „wir retten die Welt vor<br />
dem Faschismus“. Und natürlich schreitet unser Führer<br />
ganz an der Spitze voran: Putin im Panzer, Putin<br />
im U-Boot, Putin im Flugzeug.<br />
Abermals wird die Geschichte umgeschrieben,<br />
man lässt ihr nur noch kriegerische Siege <strong>und</strong> erkämpften<br />
Ruhm <strong>und</strong> unterstreicht die Losung des stalinistischen<br />
Gelehrten Michail Pokrowski: „Geschichte ist<br />
Politik, die sich der Vergangenheit zuwendet“ – <strong>und</strong><br />
bei dieser Gelegenheit auch die Losung des totalitären<br />
25 Jahre Mauerfall<br />
Patenschaften, LICHTGRENZE, Ballonaktion<br />
7. — 9. November 2014<br />
Ò berlin.de/Mauerfall2014<br />
Kooperationspartner:<br />
Unterstützer <strong>und</strong> Sponsoren:<br />
Medienpartner:<br />
© Kulturprojekte Berlin_WHITEvoid / Christopher Bauder, Foto: Daniel Büche
WELTBÜHNE<br />
Essay<br />
Regimes in Orwells „1984“: „Wer die Gegenwart beherrscht,<br />
beherrscht auch die Vergangenheit, <strong>und</strong> wer<br />
die Vergangenheit beherrscht, der wird auch in Zukunft<br />
herrschen.“ In die Schulbücher wurde bereits<br />
ein Kapitel über die ruhmreiche Rückkehr der Krim<br />
eingefügt. Das folgende Kapitel muss noch geschrieben<br />
werden: Kiew kriecht wie ein verlorener Sohn in<br />
die offenen Arme der russischen Welt.<br />
Der Krieg mit der Ukraine passt vollständig in jenes<br />
Korsett aus Lügen, das ganzen Generationen vertraut<br />
ist. „Auf der Krim gibt es keine russischen Soldaten“,<br />
heißt es unverfroren. Den eigenen Leuten ist<br />
alles klar; der Gesellschaftsvertrag<br />
der Lüge behält seine<br />
Gültigkeit. Dann wird das<br />
Offensichtliche mit selbstzufriedenem<br />
Lächeln bestätigt:<br />
„Auf der Krim waren russische<br />
Truppen.“ Im Westen w<strong>und</strong>ert<br />
man sich, wie man sein eigenes<br />
Volk so schamlos belügen kann.<br />
Doch die Bevölkerung nimmt<br />
das nicht als Lüge wahr. Krieg<br />
ist Krieg, wir verstehen doch<br />
alles, es geht darum, den Feind<br />
zu täuschen. Das ist kein Laster,<br />
sondern eine Tugend.<br />
„In der Ukraine kämpfen<br />
keine russischen Soldaten.“ –<br />
„In der Ukraine gibt es keine<br />
russischen Panzer.“ – „Die<br />
Boeing wurde von Ukrainern<br />
abgeschossen.“<br />
Das alles gab es schon oft,<br />
auch dass man über Leichen<br />
geht. Das sowjetische Radio<br />
übertrug einst folgende in Umlauf gebrachte Lüge:<br />
„Tass, die russische Nachrichtenagentur, teilt mit, dass<br />
sich kein sowjetischer Soldat auf dem Territorium Koreas<br />
befindet!“ So gab es auch keine sowjetischen Soldaten<br />
in Ägypten, in Algerien, im Jemen, in Syrien, in<br />
Angola, in Mosambik, in Äthiopien, in Kambodscha,<br />
in Bangladesch oder in Laos. Wenn sie das Glück hatten,<br />
am Leben geblieben zu sein <strong>und</strong> dann nach Hause<br />
kamen, wurde ihnen angeordnet: kein Wort! Die Heimat<br />
verleugnete sie – erst in den neunziger Jahren erkannte<br />
man sie an <strong>und</strong> subsumierte sie als Teilnehmer<br />
kriegerischer Handlungen unter den Gesetzesparagrafen<br />
„Über die Veteranen“. In diesem Gesetz ist eine<br />
Aufzählung der „unsichtbaren Kriege“ aufgeführt, in<br />
denen unsere Soldaten <strong>und</strong> Offiziere gekämpft haben,<br />
deren Teilnahme jedoch kategorisch <strong>und</strong> grimmig von<br />
unseren Regierungen verneint wurde. Die zukünftigen<br />
Gesetzgeber werden auch die Ukraine in diese Liste<br />
aufnehmen müssen.<br />
Ich erinnere mich, dass der Mutter eines meiner<br />
Klassenkameraden, der in Afghanistan gefallen war,<br />
Wenn Putin<br />
seinem eigenen<br />
Land ins Gesicht<br />
schwindelt,<br />
wissen dort alle,<br />
dass er lügt<br />
verboten wurde, auf dem Grabstein den Ort seines<br />
Todes anzugeben. Heute, wenn die „Fracht 200“ aus<br />
der Ukraine nach <strong>Russland</strong> kommt, wird den Angehörigen<br />
der in der Ukraine Gefallenen auch nicht erlaubt,<br />
ihre Geliebten öffentlich beizusetzen. Wieder<br />
werden in meiner Heimat Begräbnisse im Verborgenen<br />
durchgeführt.<br />
Niemand glaubt an die massenweisen Infarkte <strong>und</strong><br />
Gehirnschläge, die jene Soldaten aus einer Ecke bei<br />
Rostow getroffen haben sollen, als sie im Urlaub waren<br />
– alle verstehen alles. Und niemand verletzt den<br />
contrat social der Lüge. Der Vater eines Fallschirmjägers,<br />
der ohne Beine aus der<br />
Ukraine nach <strong>Russland</strong> zurückgekommen<br />
ist, hat auf<br />
Facebook geschrieben: „Mein<br />
Sohn ist Soldat, er hat seine<br />
Befehle ausgeführt, deshalb<br />
hat er, was auch immer mit<br />
ihm geschieht, richtig gehandelt,<br />
<strong>und</strong> ich bin stolz auf ihn.“<br />
Wenn Putin seinem eigenen<br />
Land ins Gesicht schwindelt,<br />
wissen alle, dass er lügt,<br />
<strong>und</strong> er selbst weiß, dass es alle<br />
wissen. Doch seine Wählerschaft<br />
ist mit seinen Lügengeschichten<br />
einverstanden.<br />
Wenn Putin den westlichen<br />
Politikern unverfroren<br />
ins Gesicht lügt, schaut er mit<br />
offensichtlichem Interesse <strong>und</strong><br />
nicht ohne Spaß auf ihre Reaktionen,<br />
sonnt sich in ihrer<br />
Fassungslosigkeit <strong>und</strong> Hilflosigkeit.<br />
Zu solchen Lügen sind<br />
sie nicht bereit. Die westlichen Politiker schwindeln<br />
anders, im demokratischen Europa herrscht ein anderer<br />
Algorithmus der Lüge. So können sie beispielsweise<br />
nicht ihre Soldaten zum Sterben schicken <strong>und</strong><br />
sich gleichzeitig von ihnen lossagen wie in <strong>Russland</strong>.<br />
Das würde ihre Wählerschaft niemals verstehen <strong>und</strong><br />
verzeihen.<br />
Wird Europa diesem Tsunami der Lügen etwas<br />
entgegensetzen können, oder wird es den Putinischen<br />
Gesellschaftsvertrag akzeptieren?<br />
Man muss die Ukrofaschisten zerschlagen. In der<br />
Ukraine gibt es keine russischen Panzer. Brot – ist Tinte.<br />
Übersetzung: Vera Patoka-Meyer<br />
MICHAIL SCHISCHKIN, 1961 in Moskau<br />
geboren, gehört zu den wichtigsten russischen<br />
Gegenwartsautoren. Er lebt seit 1995 in<br />
der Schweiz. Zuletzt erschien 2012 sein Roman<br />
„Briefsteller“ ( DVA )<br />
Foto: Evgeniya Frolkova<br />
84<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
KAPITAL<br />
„ Mit den bisherigen<br />
Mitteln werden<br />
wir das Ziel, dass<br />
in Deutschland<br />
2020 eine Million<br />
Elektroautos<br />
unterwegs sind,<br />
nicht erreichen “<br />
Henning Kagermann, Vorsitzender der Nationalen Plattform Elektromobilität, über die wenig<br />
couragierten Bemühungen der B<strong>und</strong>esregierung, die E-Mobilität zu fördern, Seite 90<br />
85<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
KAPITAL<br />
Porträt<br />
MARATHON STATT SPRINT<br />
Die Laufschuhe aus asiatischer Massenproduktion waren ihnen nicht gut genug.<br />
Deshalb stellen Ulf <strong>und</strong> Lars Lunge in Mecklenburg ihre eigenen Modelle her<br />
Von ERIC CHAUVISTRÉ<br />
Verloren steht er da, unwirklich<br />
<strong>und</strong> aus der Zeit gefallen. Der<br />
rote Backsteinbau würde gut<br />
in die Hamburger Speicherstadt passen.<br />
Doch das h<strong>und</strong>ert Jahre alte Gebäude<br />
steht, umgeben von grünen Wiesen,<br />
in Mecklenburg. So deplatziert, wie<br />
der mächtige Bau auf dem platten Land<br />
wirkt, so anachronistisch scheint auch<br />
das, was in seinem Inneren passiert.<br />
Ulf <strong>und</strong> Lars Lunge produzieren<br />
hier Laufschuhe. Mitten in Deutschland.<br />
Von dem Dorf Düssin aus treten sie gegen<br />
die globalen Sportmarken an, die ihre<br />
Schuhe millionenfach in Asiens Billiglohnfabriken<br />
herstellen lassen, um sie<br />
mit großem PR-Aufwand in den Markt<br />
zu pressen. „Die anderen denken nur ans<br />
Management, hetzen zwischen Produktions-<br />
<strong>und</strong> Absatzkontinenten hin <strong>und</strong><br />
her“, sagt Ulf Lunge, mit 53 Jahren der<br />
ältere der beiden Geschäftsführer, „wir<br />
machen alles hier.“<br />
1983 ist Ulf Lunge den Berlin-Marathon<br />
in 2 St<strong>und</strong>en <strong>und</strong> 23 Minuten gelaufen.<br />
Mit der Leistung wäre er auch<br />
heute noch unter den schnellsten deutschen<br />
Langstrecklern. Vier Jahre zuvor<br />
hatte er in Hamburg einen Laufschuhladen<br />
eröffnet. Ulf Lunge wollte an bessere<br />
Laufschuhe kommen. Damals war Laufen<br />
noch kein Breitensport in Deutschland,<br />
die Auswahl an Schuhen entsprechend<br />
überschaubar. Als das Geschäft<br />
größer wird, muss sich der Sohn eines<br />
Weinhändlers zwischen seinem BWL-<br />
Studium <strong>und</strong> der realen Wirtschaft entscheiden.<br />
Der Laden ist ihm wichtiger.<br />
Ende der achtziger Jahre steigt<br />
sein jüngerer Bruder Lars ein, auch<br />
ein ambitionierter Läufer. Nach einer<br />
Lehre als Feinmechaniker lockt<br />
den heute 48-Jährigen die Selbstständigkeit.<br />
Und das Produkt. „Wir kommen<br />
selbst vom Laufsport“, sagt Lars<br />
Lunge, „was wir hier machen, ist auch<br />
Selbstverwirklichung.“<br />
Nach Jahren im Einzelhandel wollten<br />
die Lunge-Brüder selbst Laufschuhe<br />
herstellen, die ihren eigenen Ansprüchen<br />
genügen. Zunächst probieren auch sie,<br />
in Asien zu produzieren, sind aber nicht<br />
zufrieden. Im Jahr 2005 kaufen sie den<br />
Backsteinbau, 90 Kilometer südöstlich<br />
von Hamburg. Ein Jahr später beginnt<br />
<strong>für</strong> mehrere Millionen Euro der Umbau<br />
vom Kuhstall zur Manufaktur.<br />
Seit 2007 werden hier Schuhe produziert.<br />
Die Sohlen werden geschnitten<br />
statt gepresst, so sind auch kleinere Serien<br />
wirtschaftlich. 10 000 Paar sind es<br />
inzwischen pro Jahr. 20 Mitarbeiter beschäftigen<br />
die Lunges. Die meisten davon<br />
sitzen an speziellen Nähmaschinen, in einem<br />
mit viel Tageslicht gefüllten Raum,<br />
gleich neben dem Büro der Chefs.<br />
Exakt 200 Euro kostet das Standardmodell<br />
der Lunges im Laden. Sie liegen<br />
damit nur r<strong>und</strong> 20 Euro über dem Listenpreis<br />
<strong>für</strong> die Spitzenmodelle der führenden<br />
Marken. Dennoch ist es weit mehr,<br />
als die meisten Läufer <strong>für</strong> ihre Schuhe<br />
auszugeben bereit sind. Doch Ulf Lunge<br />
ist zuversichtlich, den K<strong>und</strong>en vermitteln<br />
zu können, dass ein guter Laufschuh ein<br />
„technisches Produkt“ <strong>und</strong> „eine nachhaltige<br />
Investition in die eigene Ges<strong>und</strong>heit“<br />
ist. In solchen Momenten spricht der<br />
überzeugte Läufer aus ihm. Das könnte<br />
ihm auch der geschickteste PR-Berater<br />
nicht antrainieren.<br />
Trotz wachsender Konkurrenz durch<br />
den Onlinehandel betreiben die Lunge-<br />
Brüder weiterhin auch eigene Laufläden<br />
in Hamburg <strong>und</strong> Berlin, wo sie Schuhe<br />
aller Marken verkaufen. „Das ist unser<br />
Testfeld“, sagt Ulf Lunge. „Da sind wir<br />
am Ball, da hören wir die Trends.“<br />
Auf Werbung verzichten sie. „Was<br />
nützt uns PR, wenn die Regale leer sind“,<br />
sagt Ulf Lunge. Stiege die Nachfrage zu<br />
schnell, müssten sie die Händler auf Monate<br />
vertrösten. „Wir bauen die richtigen<br />
Schuhe, da kommen schon die richtigen<br />
Leute.“ 2013 hat die Manufaktur<br />
nach eigenen Angaben erstmals die Produktionskosten<br />
eingefahren. In diesem<br />
Jahr sollen auch die Abschreibungen mit<br />
drin sein.<br />
Die Lunges sind nüchterne Hamburger<br />
Kaufleute. Zuweilen werden sie aber<br />
richtig leidenschaftlich: Es gehe hier auch<br />
um Werte, die man nicht in Zahlen ausdrücken<br />
könne, um etwas, das bleiben<br />
werde – sagt der eine. Es sei ein gutes<br />
Gefühl, ein nachhaltiges Produkt herzustellen<br />
<strong>und</strong> den Leuten in der Region gute<br />
Jobs zu bieten – fügt der andere hinzu.<br />
Die Zeit arbeitet <strong>für</strong> sie. Je mehr über<br />
schlechte Arbeitsbedingungen in asiatischen<br />
Fabriken berichtet wird, desto höher<br />
steigt die Nachfrage nach ihren in<br />
Deutschland hergestellten Schuhen. Im<br />
roten Backsteinbau ist noch viel Platz<br />
<strong>für</strong> neue Produktionslinien. „Die anderen<br />
sind Sprinter“, sagt Ulf Lange, „wir<br />
machen Marathon.“<br />
ERIC CHAUVISTRÉ ist Journalist in Berlin.<br />
Er muss den Berlin-Marathon wegen einer<br />
Fußverletzung dieses Jahr ausfallen lassen<br />
MYTHOS<br />
MITTELSTAND<br />
Was hat Deutschland,<br />
was andere nicht haben?<br />
Den Mittelstand!<br />
<strong>Cicero</strong> stellt in jeder Ausgabe<br />
einen mittelständischen<br />
Unternehmer vor.<br />
Die bisherigen Porträts<br />
finden Sie unter:<br />
www.cicero.de/mittelstand<br />
Foto: Anna Mutter <strong>für</strong> <strong>Cicero</strong><br />
86<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
KAPITAL<br />
Porträt<br />
ÄRGER AN ALLEN FRONTEN<br />
Der Chef von Krauss-Maffei Wegmann, Frank Haun, steht mit dem Rücken zur Wand.<br />
Die arabischen Scheichs dürfen seine Panzer nicht kaufen, die B<strong>und</strong>eswehr will sie nicht<br />
Von HAUKE FRIEDERICHS<br />
Foto: Hans-Bernhard Huber/Laif<br />
Wird die arabische Halbinsel<br />
bald wieder rot? Zumindest<br />
muss Frank Haun wohl bald<br />
die Weltkarte neu ordnen, die der Chef<br />
von Krauss-Maffei Wegmann (KMW)<br />
gern seinen Besuchern zeigt. Darauf ist<br />
markiert, wohin der deutsche Panzerhersteller<br />
seine Produkte liefern darf: Blau<br />
steht <strong>für</strong> Staaten, in die Exporte möglich<br />
sind. Für rote Länder gibt es keine<br />
Ausfuhrgenehmigungen. Mit den gelben<br />
Flächen sind eingeschränkte Geschäfte<br />
möglich.<br />
Unter der schwarz-gelben B<strong>und</strong>esregierung<br />
waren die roten Gebiete <strong>für</strong><br />
deutsche Waffen in den vergangenen vier<br />
Jahren immer kleiner geworden: Nur Lieferungen<br />
in den Iran, China, Nordkorea,<br />
Weißrussland <strong>und</strong> wenige andere Staaten<br />
in Kriegs- <strong>und</strong> Krisengebieten waren<br />
nicht genehmigungsfähig.<br />
Paradiesische Zeiten <strong>für</strong> Haun <strong>und</strong><br />
sein Unternehmen. Im Frühjahr 2013<br />
konnte er den Gesellschaftern von<br />
Krauss-Maffei einen der größten Deals<br />
der Firmengeschichte präsentieren: <strong>Katar</strong><br />
bestellte bei den Münchnern <strong>für</strong> knapp<br />
1,9 Milliarden Euro 62 Kampfpanzer vom<br />
Typ Leopard 2 <strong>und</strong> 24 Panzerhaubitzen –<br />
durchgewunken von Schwarz-Gelb kurz<br />
vor dem B<strong>und</strong>estagswahlkampf.<br />
Nur anderthalb Jahre später stehen<br />
Haun <strong>und</strong> KMW mit dem Rücken zur<br />
Wand. Der <strong>Katar</strong>-Deal dürfte <strong>für</strong> lange<br />
Zeit der letzte Milliardenauftrag von der<br />
arabischen Halbinsel gewesen sein. Vizekanzler<br />
<strong>und</strong> Wirtschaftsminister Sigmar<br />
Gabriel hat Anfang September bei einem<br />
Treffen mit Vertretern der Rüstungsindustrie<br />
erneut bekräftigt, an seiner restriktiven<br />
Waffenexportpolitik festhalten<br />
zu wollen: Staaten in Krisengebieten <strong>und</strong><br />
Länder, in denen die Menschenrechte<br />
systematisch missachtet werden, erhalten<br />
keine Waffen mehr aus Deutschland.<br />
Für Haun ist das ein Riesenproblem.<br />
Denn die Scheichs waren in den vergangenen<br />
Jahren seine besten K<strong>und</strong>en. Das<br />
KMW-Vorzeigeprodukt, der Leopard 2,<br />
galt unter arabischen Herrschern als Statussymbol<br />
der eigenen Macht. In Europa<br />
findet KMW dagegen immer weniger Abnehmer.<br />
Die Verteidigungsetats sinken –<br />
<strong>und</strong> schwere Panzer gelten inzwischen<br />
eher als Auslaufmodell. Der Umsatz des<br />
Panzerherstellers, dessen Firmenzentrale<br />
in München liegt, der aber auch in<br />
Kassel <strong>und</strong> Hamburg produziert, ist seit<br />
2008 von 1,4 Milliarden Euro auf r<strong>und</strong><br />
800 Millionen Euro herabgesackt.<br />
Selbst die lukrativen Geschäfte mit<br />
Griechenland bereiten Haun jetzt Sorgen.<br />
Die Staatsanwaltschaft München<br />
ermittelt gegen ihn <strong>und</strong> weitere ehemalige<br />
KMW-Manager wegen Steuerhinterziehung<br />
<strong>und</strong> Schmiergeldzahlungen im<br />
Zusammenhang mit einem Panzerexport<br />
nach Griechenland 2002.<br />
NEU IST FÜR KMW auch die mangelnde<br />
Rückendeckung aus Berlin. Haun, der<br />
den Traditionsbetrieb seit acht Jahren<br />
leitet, gilt als enger Vertrauter von Manfred<br />
Bode. Der KMW-Patriarch, der als<br />
Aufsichtsratsvorsitzender im Hintergr<strong>und</strong><br />
die Strippen zieht <strong>und</strong> dessen Familie<br />
die Mehrheit des Unternehmens gehört,<br />
ist einer der am besten vernetzten<br />
Rüstungsmanager des Landes. Und Haun<br />
hat von seinem Mentor gelernt: Er sitzt<br />
im Advisory Council der renommierten<br />
Münchner Sicherheitskonferenz, bei der<br />
jedes Jahr hochrangige Vertreter aus Politik,<br />
Militär <strong>und</strong> Rüstungsindustrie aus<br />
der ganzen Welt in der bayerischen Landeshauptstadt<br />
zusammentreffen. Auch<br />
im Atlantic Council, der sich dem Ausbau<br />
der transatlantischen Sicherheit verschrieben<br />
hat, im Wirtschaftsbeirat der<br />
Union <strong>und</strong> in den zahlreichen Verbänden<br />
der Rüstungsindustrie mischt Haun eifrig<br />
mit. Regelmäßig trifft er im Auswärtigen<br />
Amt <strong>und</strong> in den Ministerien <strong>für</strong> Wirtschaft<br />
<strong>und</strong> Verteidigung Staatssekretäre<br />
<strong>und</strong> Minister zum Gedankenaustausch.<br />
Gesprächspartner beschreiben den<br />
55-jährigen Haun als charmant, eloquent,<br />
selbstsicher <strong>und</strong> zielstrebig. Seine Produkte<br />
stellt er als Lebensretter <strong>für</strong> deutsche<br />
Soldaten im Auslandseinsatz dar.<br />
Bezeichnungen wie Waffenschmiede verbittet<br />
sich Haun. Lieber kokettiert er hinter<br />
verschlossenen Türen damit, KMW<br />
sei doch eigentlich nur ein „Autohersteller“.<br />
Öffentlich tritt Haun dagegen selten<br />
auf. Er ist genauso medienscheu wie das<br />
Unternehmen selbst.<br />
Unbeantwortet ist bisher auch die<br />
wichtigste Frage: Wie soll es mit Haun<br />
<strong>und</strong> KMW weitergehen? Das Unternehmen<br />
hat zwar kürzlich verkündet, es<br />
strebe mit dem französischen Konkurrenten<br />
Nexter bis Ende des Jahres eine<br />
Vereinbarung über eine Fusion an, aber<br />
die Panzer der Franzosen gelten als technisch<br />
überholt, <strong>und</strong> die Modellpalette<br />
beider Firmen überschneidet sich stark.<br />
Möglicherweise spekuliert Haun auf die<br />
großzügigeren Ausfuhrbedingungen der<br />
Franzosen, um mit seinen Hightech-Panzern<br />
neue Märkte erobern zu können.<br />
Doch auch dies könnte Gabriel verhindern.<br />
Der Wirtschaftsminister bevorzuge<br />
eine Übernahme von KMW durch<br />
den Düsseldorfer Konzern Rheinmetall,<br />
heißt es aus Gabriels Umfeld. Doch diese<br />
Idee ist in München etwa so beliebt wie<br />
Medien <strong>und</strong> die Friedensbewegung, weil<br />
KMW dabei seine Eigenständigkeit verlöre<br />
<strong>und</strong> Frank Haun wohl seinen Job.<br />
HAUKE FRIEDERICHS beobachtet seit<br />
Jahren die deutsche Rüstungsindustrie <strong>und</strong> ist<br />
Autor des Buches „Bombengeschäfte – Tod<br />
made in Germany“<br />
89<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
90<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
KAPITAL<br />
Report<br />
MOBILES<br />
SCHEITERN<br />
Eine Million<br />
Elektroautos sind<br />
das Ziel, aber die<br />
Regierung versagt<br />
bei der Umsetzung<br />
<strong>und</strong> schadet der<br />
deutschen Industrie<br />
Von CHRISTIAN SCHWÄGERL<br />
Illustrationen SUSANN STEFANIZEN<br />
Die Stadt, die Gernot Lobenberg<br />
sieht, wenn er morgens zur Arbeit<br />
durch Berlin radelt, ist von<br />
vorgestern. All die Autos, die Benzin verbrennen.<br />
Auspuffe, die noch mehr Kohlendioxid<br />
in die Atmosphäre pumpen.<br />
Blechmassen, die öffentlichen Raum wegnehmen.<br />
Lieferwagen, die Straßen verstopfen<br />
<strong>und</strong> Lärm machen. Dem 50 Jahre<br />
alten Volkswirt erscheint das so anachronistisch<br />
wie Pferdedroschken <strong>und</strong> Handkarren.<br />
Lobenberg sieht vor sich bereits<br />
in klaren Konturen die Zukunft: ein Berlin<br />
mit vernetzter Elektromobilität.<br />
In dieser Stadt gibt es deutlich weniger<br />
Autos als heute, die Bewohner<br />
kommen schnell, günstig <strong>und</strong> umweltfre<strong>und</strong>lich<br />
an ihre Ziele. Sie teilen sich<br />
eine Flotte von Elektroautos, die alle<br />
Bedürfnisse abdeckt: Wer Möbel kaufen<br />
will, ruft einen Transporter, der selbst gesteuert<br />
vorfährt. Wer zu zweit an den<br />
Wannsee will, nimmt den kleinen Flitzer.<br />
Eine App ermittelt den günstigsten Weg<br />
<strong>und</strong> bucht je nach Verkehrslage die optimale<br />
Abfolge von Carsharing, Bus, Bahn,<br />
Mietfahrrad. Auch <strong>für</strong> Gepäck <strong>und</strong> Lasten<br />
stehen fahrerlose Servicefahrzeuge<br />
zur Verfügung. Lieferfahrzeuge <strong>und</strong><br />
Müllwagen sind dank Elektroantrieb<br />
so leise, als gäbe es sie nicht. Der Treibstoff<br />
kommt nicht aus russischen Ölfeldern,<br />
sondern aus Solarzellen <strong>und</strong> Brandenburger<br />
Windrädern, deren Strom an<br />
jeder Ecke geladen werden kann.<br />
91<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
KAPITAL<br />
Report<br />
Lobenberg träumt diesen Traum von<br />
Berufs wegen. Er leitet die Berliner Agentur<br />
<strong>für</strong> Elektromobilität. Deren Aufgabe<br />
ist es, die Mobilität in der Hauptstadt <strong>und</strong><br />
ihrem Umland komplett umzukrempeln.<br />
„Einfach, komfortabel <strong>und</strong> cool soll es<br />
sein, elektrisch durch die Stadt zu gleiten“,<br />
sagt der Verkehrsstratege.<br />
Doch die Realität sieht anders aus.<br />
Das 2009 von Kanzlerin Angela Merkel<br />
ausgerufene Ziel, bis 2020 eine Million<br />
Elektroautos auf deutsche Straßen<br />
zu bringen, droht zu scheitern. Bis 2014<br />
sollte es bereits 100 000 Elektroautos geben,<br />
zugelassen sind heute gerade mal<br />
20 000. Und auch wenn die Kanzlerin unermüdlich<br />
die Bedeutung der Stromautos<br />
<strong>für</strong> die Zukunft Deutschlands betont,<br />
haben andere Länder, etwa die USA als<br />
Anbieter <strong>und</strong> die Niederlande als Markt,<br />
inzwischen einen Vorsprung. Deutsche<br />
Hersteller bieten zwar 16 elektrifizierte<br />
Modelle an, vom Kleinwagen bis zum<br />
Sportcoupé. Die Deutschen wollen aber<br />
nicht von ihren Benzinern ablassen.<br />
DABEI SIND ELEKTROAUTOS beim Fahren<br />
alles andere als Spaßbremsen. Vor allem<br />
Fre<strong>und</strong>e schnellen Beschleunigens kommen<br />
auf ihre Kosten. Der Elektromotor<br />
setzt die Energie überwiegend <strong>für</strong> den<br />
Antrieb ein <strong>und</strong> nicht, wie Benzinautos,<br />
da<strong>für</strong>, die Motorhaube aufzuheizen. Wer<br />
mit einem der größeren Vorzeigemodelle<br />
deutscher Hersteller auf der Autobahn<br />
unterwegs ist, kann im Rückspiegel viele<br />
verdutzte Gesichter sehen, die sich über<br />
das geräuschlose Geschoss w<strong>und</strong>ern.<br />
Die Freude endet aber schnell beim<br />
Blick auf die Reichweite. Etwa 100 Kilometer<br />
beträgt sie <strong>für</strong> E-Kleinwagen.<br />
Wer Klimaanlage <strong>und</strong> Radio dazuschaltet,<br />
kann zuschauen, wie die Restleistung<br />
gegen null rast. Dann heißt es, schnell<br />
eine der seltenen Stromsäulen zu finden,<br />
bevor der Wagen liegen bleibt. Nutzbar<br />
ist er dann in der Regel erst wieder acht<br />
St<strong>und</strong>en später.<br />
Diese technischen Grenzen treffen<br />
die Autofahrer an einem empfindlichen<br />
Nerv, sagt Tom Kedor, der Betreiber der<br />
Internetplattform Motor-Talk, einer Art<br />
Facebook <strong>für</strong> deutsche Autofahrer mit<br />
zwei Millionen registrierten Nutzern.<br />
Im Alltag sei das Auto zwar Mittel zum<br />
Zweck, es sei aber zugleich ein Symbol<br />
von Freiheit. „Zwischen den politischen<br />
Zielen <strong>und</strong> dem, was Autofahrer denken<br />
<strong>und</strong> fühlen, gibt es eine riesige Kluft“,<br />
sagt Kedor.<br />
Anfang des Jahres hat er unter seinen<br />
Nutzern eine Befragung durchgeführt<br />
– <strong>und</strong> überwiegend negative Urteile<br />
zur Elektromobilität ermittelt. „Viele<br />
Menschen <strong>für</strong>chten, dass Elektromobilität<br />
ihre persönliche Freiheit reduzieren<br />
wird, weil die Autos viel kosten, eine geringe<br />
Reichweite haben <strong>und</strong> das Laden<br />
der Batterie so lange dauert.“ 82 Prozent<br />
der r<strong>und</strong> 5000 Befragten würden<br />
nicht einmal dann ein Elektroauto kaufen,<br />
wenn der Staat ihnen 2500 Euro dazugeben<br />
würde.<br />
Ähnlich abwehrend denken bisher<br />
viele Manager von Firmenflotten, sogar<br />
die Beamten, die in B<strong>und</strong>esministerien<br />
da<strong>für</strong> zuständig sind, neue Autos anzuschaffen.<br />
Durch eine kleine Anfrage des<br />
Grünen-Abgeordneten Stephan Kühn<br />
kam heraus, dass nur ein kleiner Teil der<br />
neuen Fahrzeuge im Dienst der B<strong>und</strong>esregierung<br />
Elektroautos sind.<br />
Für Kanzlerin Merkel, Automanager<br />
<strong>und</strong> Verkehrsstrategen wie Gernot<br />
Lobenberg ist diese Negativstimmung<br />
alarmierend. Bei kaum einem anderen<br />
Alltagsprodukt hat sich je eine B<strong>und</strong>esregierung<br />
so stark engagiert. Das Kalkül<br />
ist nicht nur ökologisch: Die Automobilindustrie<br />
ist das Rückgrat der deutschen<br />
Wirtschaft. Wenn sich die Elektromobilität<br />
als wettbewerbsfähig erweist <strong>und</strong> die<br />
USA, Japan oder China diesen Markt dominierten,<br />
würde das Deutschlands Wirtschaft<br />
empfindlich treffen.<br />
DA ELEKTROMOBILITÄT gr<strong>und</strong>legende<br />
technische Innovationen <strong>und</strong> eine neue<br />
Infrastruktur erfordert, sieht sich die Regierung<br />
in der Rolle der Geburtshelferin.<br />
Die Subventionen sind bisher im Gegensatz<br />
zu anderen Ländern eher indirekter<br />
Natur, Kaufprämien gibt es nicht. R<strong>und</strong><br />
1,5 Milliarden Euro flossen in Deutschland<br />
in Forschungsförderung <strong>und</strong> Pilotprojekte.<br />
Regierung, Wirtschaft <strong>und</strong><br />
Wissenschaft kooperieren eng in der<br />
„Nationalen Plattform Elektromobilität“,<br />
der NPE.<br />
Trotz aller Anstrengungen will sich<br />
die Realität aber partout nicht nach den<br />
Plänen der Regierung richten. Ende 2014<br />
läuft bereits die „Marktvorbereitungsphase“<br />
aus: die Zeit also, in der erste<br />
Modelle in den Handel kommen <strong>und</strong> die<br />
Infrastruktur der E-Mobilität vorbereitet<br />
wird. Was nun folgen soll, heißt „Markthochlauf“.<br />
Jetzt geht es darum, elektrisches<br />
Autofahren zum Massenphänomen<br />
zu machen. Bereits 2015 wird sich zeigen,<br />
ob Merkels Ziel noch erreichbar ist – oder<br />
sich als teure Fehlinvestition erweist.<br />
Das Hauptproblem ist, dass es nicht<br />
reicht, einfach einen Verbrennungsdurch<br />
einen Elektromotor zu ersetzen.<br />
92<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
Weil sie verschlafen haben, über Erdgas<br />
als Lösung nachzudenken.<br />
Erdgas aus Norwegen ist die emissionsarme <strong>und</strong> kosteneffektive Antwort auf Deutschlands<br />
Energiefragen. Es wird Zeit, die Augen zu öffnen, damit Deutschland die Energiewende<br />
nicht verschläft: Denn norwegische Erdgasreserven können den Bedarf Deutschlands in den<br />
nächsten Jahrzehnten problemlos <strong>und</strong> umweltfre<strong>und</strong>lich decken.<br />
Mehr Information auf statoil.de
KAPITAL<br />
Report<br />
„ Um weltweit<br />
Leitanbieter zu<br />
werden, muss<br />
man erst mal<br />
selbst Leitmarkt<br />
sein. Sonst gefährdet<br />
man<br />
die deutsche<br />
Autoindustrie“<br />
Henning Kagermann,<br />
Vorsitzender der<br />
Nationa len Plattform<br />
Elektromobilität<br />
Um zu funktionieren, braucht Elektromobilität<br />
ein dichtes Netz von Ladepunkten.<br />
Von den 1,2 Millionen Ladepunkten,<br />
die laut NPE deutschlandweit 2020<br />
unbedingt nötig sind, steht aber erst ein<br />
geringer Teil.<br />
Weil die Zeit drängt, setzt im Regierungsviertel<br />
nun hektische Betriebsamkeit<br />
ein. Der B<strong>und</strong>estag will noch im<br />
Herbst ein neues Gesetz zur Förderung<br />
der Elektromobilität beschließen. Henning<br />
Kagermann, der NPE-Vorsitzende,<br />
arbeitet an einer Reihe von Sofortmaßnahmen,<br />
um Wunsch <strong>und</strong> Wirklichkeit<br />
doch noch in Einklang zu bringen.<br />
Kagermann, 67 Jahre alt, ein grauhaariger<br />
Mann mit spitzbübischem Lächeln,<br />
war bis 2009 Chef des Softwarekonzerns<br />
SAP. Seither steht er an<br />
der Spitze der Technikakademie Acatech<br />
<strong>und</strong> zahlreicher anderer Gremien<br />
im Dienst der Innovation. Er glaubt fest<br />
an die Kreativität deutscher Erfinder <strong>und</strong><br />
Ingenieure: „Vor einigen Jahren forderten<br />
manche in der Autoindustrie noch,<br />
die Regierung soll das Land mit Ladestationen<br />
zum Preis von 10 000 Euro das<br />
Stück überziehen, heute reden wir über<br />
smarte Lösungen von Start-ups, etwa<br />
mithilfe von Straßenlaternen, die nur<br />
einen Bruchteil davon kosten.“<br />
Kagermann verweist auf eine Reihe<br />
von Fortschritten. Die Batterien, das<br />
teure Herzstück der Elektroautos, würden<br />
rasch billiger. Bei höherer Nachfrage<br />
werde der Anschaffungspreis von Elektroautos<br />
deutlich sinken. Schnelle Ladestationen<br />
mit Tankzeiten von nur noch<br />
20 Minuten würden marktreif. Und ein<br />
Kabelsalat wie <strong>für</strong> die Aufladung von<br />
Mobiltelefonen sei rechtzeitig vermieden<br />
worden; Autofahrer würden in ganz<br />
Europa einheitliche Stecker verwenden.<br />
Doch auch sein Optimismus hat eine<br />
eng begrenzte Reichweite. Ende November<br />
will Kagermann der B<strong>und</strong>eskanzlerin<br />
den dritten Zwischenbericht zum Stand<br />
der Elektromobilität vorlegen. Dessen<br />
zentrale Botschaft steht schon jetzt fest:<br />
„Mit den bisherigen Mitteln werden wir<br />
das Ziel, dass in Deutschland 2020 eine<br />
Million Elektroautos unterwegs sind,<br />
nicht erreichen.“<br />
Frühestens 2018 sei damit zu rechnen,<br />
dass die Elektromobilität sich selbsttragend<br />
entwickle, sagt Kagermann.<br />
„Dazu muss die Politik zusätzliche Anreize<br />
<strong>und</strong> bessere Rahmenbedingungen<br />
schaffen, <strong>und</strong> zwar nicht erst in zwei,<br />
drei Jahren, sondern jetzt.“ Im Zentrum<br />
seiner Strategie stehen Dienstwagen.<br />
Sie machen 60 Prozent der Neufahrzeuge<br />
aus, oftmals werden sie in großer<br />
Stückzahl angeschafft. Um eine Million<br />
E-Wagen auf die Straße zu bringen, muss<br />
man also nicht eine Million Autokäufer<br />
überzeugen, sondern Deutschlands Flottenmanager.<br />
Ihnen will Kagermann die<br />
neuen Autos mit einer besonders großzügigen<br />
steuerlichen Abschreibung<br />
schmackhaft machen.<br />
RUND 200 MILLIONEN EURO Steuermindereinnahmen<br />
pro Jahr würde dieses Privileg<br />
verursachen. Zudem solle der Staat<br />
jährlich 110 Millionen Euro in den Bau<br />
von öffentlichen Ladepunkten investieren<br />
<strong>und</strong> weiterhin 500 Millionen Euro in<br />
die Forschungsförderung stecken, fordert<br />
der Innovationsmanager. Die Investitionen<br />
würden sich in Form von Arbeitsplätzen<br />
<strong>und</strong> Steuereinnahmen mehr als rentieren,<br />
sagt Kagermann, ohne sie sei die<br />
Position der deutschen Automobilindustrie<br />
gefährdet: „Um weltweit Leitanbieter<br />
zu sein, muss man selbst Leitmarkt sein.“<br />
Bei B<strong>und</strong>esfinanzminister Wolfgang<br />
Schäuble stoßen solche Forderungen<br />
aber auf Vorbehalte. Niemand soll<br />
seinen ausgeglichenen Haushalt antasten.<br />
Der B<strong>und</strong>estagsabgeordnete Andreas<br />
Jung, Beauftragter der CDU/<br />
CSU-B<strong>und</strong>estagsfraktion <strong>für</strong> Elektromobilität,<br />
hält das <strong>für</strong> gefährlich. „Wir treten<br />
bei der Elektromobilität jetzt in die<br />
entscheidende Phase ein“, sagt er. „Um<br />
doch noch von 20 000 Autos auf eine Million<br />
zu kommen, können wir es uns nicht<br />
leisten, dass die Mühlen langsam mahlen.“<br />
Auch Jung ist der Meinung, dass<br />
Unternehmensflotten der Schlüssel zum<br />
Erfolg sind, der B<strong>und</strong>estag müsse deshalb<br />
die Steuervorteile rasch beschließen.<br />
Andernfalls drohe eine „doppelte<br />
Bremsung“: Potenzielle Käufer warten<br />
immer länger ab, ob es nicht doch noch<br />
Fördermittel gebe.<br />
Auf die Regierung kommt obendrein<br />
eine viel gr<strong>und</strong>sätzlichere Frage zu: Elektroautos,<br />
zumindest die von heute, passen<br />
mit ihrer geringen Reichweite <strong>und</strong><br />
ihrem ökologischen Anspruch nicht<br />
wirklich in ein Verkehrskonzept, das auf<br />
unbegrenzte Automobilität setzt. Städte,<br />
die wirklich umweltfre<strong>und</strong>lich sein wollen,<br />
brauchen die riesigen Verkehrs- <strong>und</strong><br />
Parkplatzflächen von heute in Zukunft<br />
<strong>für</strong> bessere Zwecke: etwa um Lebensmittel<br />
nah am Verbraucher anzubauen, wie<br />
das in sogenannten „essbaren Städten“<br />
erprobt wird. Oder um Fahrradspuren<br />
zu schaffen, auf denen sich diese wirklich<br />
ressourcenschonenden Verkehrsteilnehmer<br />
sicher bewegen können.<br />
Nicht nur Autofahrer, die sich von<br />
100 Kilometern Reichweite abschrecken<br />
lassen, zweifeln an der Strategie<br />
der Kanzlerin, Benzinautos eins zu eins<br />
durch Elektroautos ersetzen zu wollen,<br />
sondern auch Umweltschützer. Für längere<br />
Strecken sollten nicht Autos die zentrale<br />
Rolle spielen, sondern ein „leistungsfähiges<br />
Bahn- <strong>und</strong> Fernbusnetz<br />
mit b<strong>und</strong>esweit aufeinander abgestimmten<br />
Anschlüssen“, fordern die deutschen<br />
Umweltverbände in einem verkehrspolitischen<br />
Alternativkonzept.<br />
Die B<strong>und</strong>esregierung verfolgt derzeit<br />
einen anderen Weg: Das Fördergesetz,<br />
das der B<strong>und</strong>estag in diesem Herbst<br />
beschließen soll, sieht als wichtige Neuerung<br />
vor, Busspuren <strong>für</strong> Elektroautos zu<br />
öffnen. Geht der Plan auf, stehen Busse<br />
an der Ampel wieder Schlange.<br />
CHRISTIAN SCHWÄGERL<br />
fuhr zu den Rechercheterminen<br />
<strong>für</strong> diese Geschichte entweder<br />
mit dem Fahrrad oder mit<br />
einem Elektroauto<br />
Foto: Privat<br />
94<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
* Gebührenfrei aus dem deutschen Festnetz<br />
Warum sind fast alle Spitzenköche Männer? Und sehen sogar so<br />
aus? Wie Alex Atala, Brasiliens Star koch, der <strong>für</strong> den Regenwald<br />
kämpft – <strong>und</strong> das wahrscheinlich mit bloßen Händen.<br />
Das Biest,<br />
welches er hier als Serviervorschlag dem Amazonas entrungen hat,<br />
ist ein Pirarucu – behauptet zumindest unser Wissensredakteur.<br />
Das rezeptfreie Koch gespräch aus Ausgabe 6/2014 lesen Sie auf<br />
www.weltamsonntag.de/inspiration.<br />
4 Wochen kostenlos Probe lesen unter 0800/8508030.*
KAPITAL<br />
Kommentar<br />
RÜCKKEHR DER KRISE<br />
Deutschlands Politiker <strong>für</strong>chten sich mal wieder vor<br />
der Inflation <strong>und</strong> lassen EZB-Präsident Mario Draghi<br />
im Kampf gegen die viel gefährlichere Deflation allein<br />
Von HENRIK ENDERLEIN<br />
Stellen Sie sich vor, Sie sähen als<br />
Arzt bei einem Patienten Anzeichen<br />
einer extrem schweren chronischen<br />
Krankheit im Anfangsstadium.<br />
Es gibt ein Medikament mit unschönen,<br />
aber nicht wirklich gefährlichen Nebenwirkungen.<br />
Die Wahrscheinlichkeit eines<br />
Ausbruchs liegt bei 30 Prozent. Würden<br />
Sie das Medikament verschreiben oder<br />
nichts tun <strong>und</strong> hoffen, dass der Patient<br />
zu den zwei Dritteln gehört, die von der<br />
Krankheit verschont bleiben?<br />
Die europäische Volkswirtschaft<br />
kämpft mit den ersten Anzeichen einer<br />
Deflation. Aktuell steigt die Teuerungsrate<br />
im Euroraum mit 0,3 Prozent<br />
kaum noch. Die Chefin des Internationalen<br />
Währungsfonds Christine Lagarde<br />
beziffert die Wahrscheinlichkeit einer<br />
langwierigen Deflation in Europa mit<br />
30 Prozent.<br />
In Deutschland kümmert sich kaum<br />
jemand um dieses Risiko. Im Gegenteil:<br />
EZB-Präsident Mario Draghi muss Prügel<br />
da<strong>für</strong> einstecken, dass er mit Notmaßnahmen<br />
wie Anleihekäufen oder<br />
negativen Zinsen die Deflationsgefahr<br />
einzudämmen versucht.<br />
Seine Kritiker verweisen auf die<br />
großen Risiken dieser Notmaßnahmen.<br />
Aber sollten sie nicht auch die Risiken<br />
des Nichthandelns betrachten? In der<br />
Medizin tun wir das ständig: Wir stellen<br />
Risiken <strong>und</strong> Nebenwirkungen einer Behandlung<br />
ins Verhältnis zum Risiko der<br />
Krankheit. Wer Medikamente komplett<br />
ablehnt, ist entweder in den Fängen einer<br />
Sekte gelandet oder aus anderen Gründen<br />
nicht mehr ganz bei Sinnen.<br />
Bei der Debatte in Deutschland geht<br />
es fast immer nur um die Nebenwirkung<br />
Den Deutschen noch immer<br />
suspekt: der italienische<br />
EZB-Präsident Mario Draghi<br />
Inflation, als vermeintlich gefährlichstes<br />
Übel. Überraschend ist das nicht.<br />
Die deutsche Inflationsangst ist legendär.<br />
„Bei den Italienern gehört Inflation<br />
zum Leben wie Tomatensoße zur Pasta!“,<br />
schrieb die Bild 2011 in einer Kampagne<br />
gegen Mario Draghi.<br />
Es ist richtig, dass Inflation gefährlich<br />
ist. Und niemand wünscht sich, dass<br />
die EZB ihr Preisstabilitätsziel von knapp<br />
2 Prozent aufgibt. Nur sind wir von diesem<br />
Wert weit entfernt. Und die drohende<br />
Krankheit Deflation kann deutlich gefährlicher<br />
sein als eine Inflation. Ist eine Deflationsspirale<br />
einmal in Gang gesetzt, lassen<br />
sich Preisverfall <strong>und</strong> konjunkturelle<br />
Stagnation kaum noch bremsen.<br />
Ein Blick nach Japan reicht aus. Seit<br />
den frühen neunziger Jahren versucht<br />
Foto: Olaf Blecker<br />
96<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
das Land mit allen Kräften wieder Preisauftrieb<br />
zu erzeugen. Erfolglos. Ein Vierteljahrh<strong>und</strong>ert<br />
Deflation hat die ehemals<br />
dynamischste Volkswirtschaft der Welt<br />
brutal zurückgestutzt.<br />
Warum ist Deflation so gefährlich?<br />
Der Gr<strong>und</strong> ist ihre sich selbst verstärkende<br />
Wirkung. Fallen die Preise kontinuierlich,<br />
schieben Verbraucher <strong>und</strong><br />
Firmen ihre Käufe <strong>und</strong> Investitionen so<br />
lange wie möglich auf. Abwarten heißt<br />
Geldgewinn. Autos oder Maschinen werden<br />
erst ersetzt, wenn sie ersetzt werden<br />
müssen. Und eine Investition zu tätigen,<br />
ist in Zeiten fallender Preise mit deutlich<br />
größerem Risiko verb<strong>und</strong>en. Denn<br />
selbst bei Nullzinsen ist der Kauf einer<br />
Immobilie kein gutes Geschäft, wenn der<br />
Preis der Immobilie Jahr <strong>für</strong> Jahr sinkt.<br />
In Deflationszeiten ist die beste Geldanlage<br />
das Halten von Bargeld. Denn <strong>für</strong><br />
100 000 Euro Cash kann ich bei fallenden<br />
Preisen schon im kommenden Jahr<br />
mehr Güter kaufen als heute.<br />
Leider ist das Immobilienbeispiel<br />
nicht nur eine gute Illustration der Deflationsgefahren.<br />
Es zeigt auch, warum<br />
kaum jemand in Deutschland diese Deflationsgefahr<br />
ernst nimmt. Steigen nicht<br />
gerade Mieten <strong>und</strong> Häuserpreise rasant<br />
an? Ist es nicht gerade die „Politik des<br />
billigen Geldes“, die Preisexplosion <strong>und</strong><br />
Blasenbildung verursacht?<br />
Die europäische Konjunktur befindet<br />
sich in einer widersprüchlichen Lage.<br />
Während die einen über das Ende der<br />
Krise jubeln, sehen andere Anzeichen einer<br />
langwierigen Stagnation. Während<br />
die Nullzinspolitik den einen hohe Rendite<br />
bringt, tun sich andere schwer, überhaupt<br />
noch Kredite <strong>für</strong> Investitionen zu<br />
bekommen.<br />
In der Tat hat die Eurokrise einen<br />
Wendepunkt erreicht. Der Zerfall der<br />
Währungsunion ist keine direkte Bedrohung<br />
mehr. Zinsspreizungen sind<br />
zurückgegangen <strong>und</strong> der Teufelskreis<br />
zwischen Staaten <strong>und</strong> Banken hat <strong>für</strong><br />
viele Beobachter einen Großteil seiner<br />
zerstörerischen Dynamik verloren. In<br />
Deutschland ist die konjunkturelle Arbeitslosigkeit<br />
kaum noch ein Problem.<br />
Die „schwarze Null“ ist der ganze Stolz<br />
des B<strong>und</strong>esfinanzministers.<br />
Doch auch die B<strong>und</strong>esregierung hat<br />
ihre Wachstumszahlen nach unten korrigiert.<br />
Im zweiten Quartal dieses Jahres<br />
Es könnte schon<br />
zu spät sein,<br />
um Europa vor<br />
der Deflation zu<br />
schützen <strong>und</strong><br />
Investitionen zu<br />
fördern<br />
ist die deutsche Wirtschaft nicht mehr gewachsen.<br />
Und im Rest des Euroraums ist<br />
die Lage ohnehin deutlich angespannt.<br />
Zu den ökonomischen Risiken gesellen<br />
sich die politischen Risiken. Die meisten<br />
Wirtschaftskrisen folgen einer Drei-<br />
Schritte-Logik. Am Anfang steht die<br />
Finanzmarkt- <strong>und</strong> Bankenkrise. Dann<br />
folgt der Konjunktureinbruch mit finanz<strong>und</strong><br />
geldpolitischen Auswirkungen, die<br />
harte Einschnitte nach sich ziehen. Die<br />
dritte Phase der Krise ist die politische.<br />
Jede Krise bringt Verlierer hervor. In den<br />
europäischen Krisenländern geht es um<br />
komplette verlorene Generationen. Das<br />
Ergebnis ist in vielen Ländern eine Mischung<br />
aus Krisenerschöpfung, Austeritätsverdruss<br />
<strong>und</strong> politischer Radikalisierung.<br />
Die Folgen haben wir bei der<br />
Europawahl beobachten können.<br />
Wirtschaftskrisen enden erst dann,<br />
wenn erste – oft isolierte – Wachstumsimpulse<br />
einen Schneeballeffekt erzeugen.<br />
Es gibt zwei zentrale Auslöser einer solchen<br />
Dynamik: Strukturreformen <strong>und</strong><br />
Investitionen.<br />
BEIDE WEGE SIND STEINIG: Dringend<br />
nötige Strukturreformen treiben Regierungen<br />
in Krisenländern an die Grenzen<br />
ihrer Handlungsfähigkeit, weil sie<br />
erst langfristig Wirkung zeigen werden.<br />
Im Jahr fünf der Eurokrise <strong>und</strong> Jahr sieben<br />
der Weltwirtschaftskrise ist die Bereitschaft,<br />
weitere Einschnitte hinzunehmen,<br />
in den Krisenländern deutlich<br />
gesunken. Aber auch die deutsche Bevölkerung<br />
weiß, dass hohe Arbeitslosigkeit<br />
<strong>und</strong> niedriges Wachstum kein leichtes<br />
Umfeld <strong>für</strong> Reformen sind. Dass die<br />
Reformen trotzdem notwendig sind, steht<br />
außer Frage. Aber sie werden das Wachstum<br />
erst in mehreren Jahren nach Europa<br />
zurückbringen.<br />
Investitionsprogramme können eine<br />
sofortige Wirkung entfalten. Aber die Investitionsbereitschaft<br />
ist wegen der stagnierenden<br />
Konjunktur <strong>und</strong> der fallenden<br />
Preise gering. Wenigstens dieses Problem<br />
ist erkannt: Investition ist schon jetzt das<br />
Wirtschaftswort des Jahres 2014. Nur leider<br />
kann kein Politiker Investitionen herbeireden.<br />
Und die EZB, die Liquidität in<br />
den Markt pumpt, um Investitionen zu<br />
erleichtern, sieht, dass ein Großteil in<br />
Immobilien oder Aktien fließt, ohne<br />
den Produktionskreislauf nachhaltig zu<br />
stärken.<br />
Was ist zu tun? Die schlechte Nachricht<br />
ist, dass es schon zu spät sein könnte,<br />
um Europa vor der Deflation zu schützen.<br />
Die gute Nachricht wäre, dass wir jetzt<br />
zumindest alles tun, was noch getan werden<br />
kann: Erstens muss sich die Kombination<br />
aus Schuldenabbau <strong>und</strong> Reformen<br />
in ganz Europa fortsetzen. Zweitens sollten<br />
sich die Akzente beim Schuldenabbau<br />
aber leicht verschieben <strong>und</strong> nicht mehr<br />
nur bei den kurzfristig verfügbaren Mitteln<br />
ansetzen – in der Regel Investitionen.<br />
Das Drei-Prozent-Kriterium der EU-Verträge<br />
könnte um einen „Zukunftsfaktor“<br />
ergänzt werden, der Investitionen ausspart.<br />
Drittens sollte die Europäische Zentralbank<br />
den kompletten Spielraum ihres<br />
Mandats ausnutzen, um die Deflation zu<br />
bekämpfen, Nebenwirkungen inklusive.<br />
Wer die „Politik des billigen Geldes“ der<br />
Zentralbank kritisiert, muss erklären, wie<br />
ohne diese Politik überhaupt noch Investitionen<br />
erfolgen können, um das Deflationsrisiko<br />
zu begrenzen.<br />
Denn die Gefahren der Deflation<br />
sollte niemand unterschätzen. In Japan<br />
verdoppelte sich in den ersten Jahren<br />
der Deflation der Wert des Yen – <strong>für</strong> die<br />
deutsche Exportwirtschaft wäre das Gift.<br />
Gleichzeitig stürzten die Aktienkurse<br />
ab <strong>und</strong> der Schuldenstand stieg bis auf<br />
Rekordwerte von über 200 Prozent der<br />
Jahreswirtschaftsleistung.<br />
Wer solche Risiken bewusst in Kauf<br />
nimmt, handelt grob fahrlässig.<br />
HENRIK ENDERLEIN<br />
ist Direktor des Jacques-Delors-Instituts in<br />
Berlin <strong>und</strong> Professor <strong>für</strong> politische Ökonomie<br />
an der Hertie School of Governance<br />
97<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
KAPITAL<br />
Fotoessay<br />
IM BIER<br />
UND JETZT<br />
98<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
Mit der Wiesn beginnt in Bayern die<br />
fünfte Jahreszeit. Der Fotograf<br />
Michael von Graffenried hat sich mit<br />
seiner Panoramakamera in die<br />
Menge geworfen <strong>und</strong> einfach abgedrückt
KAPITAL<br />
Fotoessay<br />
„Ich lege die Leute ein bisschen rein“, sagt von<br />
Graffenried. Nur die wenigsten bemerken dabei<br />
überhaupt, dass sie von ihm fotografiert werden.<br />
Damit fallen nicht nur die Hemmungen<br />
100<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
Ein Krug, ein Zug: Eine Gruppe von Männern<br />
feuert ihren Fre<strong>und</strong> beim Trinken an. Ob er<br />
die Maß auf ex schafft oder nicht, ist am<br />
Ende egal. Die nächste ist eh schon bestellt<br />
Im vergangenen Jahr versorgte das <strong>Rote</strong><br />
Kreuz auf dem Oktoberfest 7551 Menschen,<br />
3600 davon mussten ärztlich behandelt<br />
werden – 638 wegen einer Alkoholvergiftung
KAPITAL<br />
Fotoessay<br />
14 Festzelte gibt es auf dem Oktoberfest.<br />
Vom Schottenhamel über das Bräurosl bis zum<br />
Hacker. Hier lassen die Gäste die Bedienungen<br />
am letzten Wiesn-Sonntag hochleben<br />
102<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
Für seine Panoramabilder nimmt<br />
von Graffenried am liebsten das<br />
Bad in der Menge. Hier fühlt er sich<br />
wie ein „Fisch im Wasser“, sagt er<br />
104<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
Das Herzkasperl-Festzelt ist das Kulturzelt<br />
der historischen Wiesn. Hier gibt es Schuhplattler,<br />
Trachten <strong>und</strong> a echte Blosmusi – besonders<br />
beliebt beim älteren Wiesn-Publikum<br />
Je später die St<strong>und</strong>e, desto mehr geht<br />
verloren – das Geld, die Manieren, das<br />
Gedächtnis. Nun heißt es: Gemeinsames<br />
Ausnüchtern, am Fuße der Bavaria
KAPITAL<br />
Fotoessay<br />
Zwei Mädchen laufen über den Festplatz.<br />
Auf dem Kopf tragen sie ein paar Plüschohren.<br />
Die Tracht feiert mit dem Oktoberfest<br />
ein Comeback – nicht immer ganz stilecht<br />
Braurösser <strong>und</strong> Karussellpferde drehen wieder<br />
ihre R<strong>und</strong>en, das Starkbier fließt in<br />
Hektolitern <strong>und</strong> ein satter Duft von Hendl<br />
<strong>und</strong> gebrannten Mandeln steigt auf. Wenn<br />
die Spätsommersonne ein letztes Mal die<br />
Wadeln wärmt, fiebert ganz München seiner fünften<br />
Jahreszeit entgegen: dem Oktoberfest. Über sechs Millionen<br />
Besucher strömen dann auf den Festplatz unter<br />
der Bavaria <strong>und</strong> machen aus der Theresienwiese<br />
die Wiesn – das größte Volksfest der Welt. Eine närrische<br />
Bühne bayerischer Lebensart oder zumindest<br />
der Idee davon.<br />
Zwei Wochen lang färbt sich hier die Welt weißblau.<br />
Und in schunkelnder Übereinkunft schmiegen<br />
sich lederbehoste Burschen an Dirndl mit festgezurrten<br />
Busen, in dampfenden Festzelten <strong>und</strong> kreischenden<br />
Fahrgeschäften, bis auch der letzte Tropfen ausgetrunken<br />
ist. 6,7 Millionen Maß Bier waren es im<br />
vergangenen Jahr, begleitet von mehr als einer halben<br />
Million Hendl.<br />
Das wilde Treiben gibt es nun im Breitbild. Der<br />
Schweizer Fotograf Michael von Graffenried, 1957<br />
in Bern geboren, hat es in der Serie „Bierfest“ festgehalten.<br />
Schnappschüsse im Panoramaformat. Seit<br />
1991 arbeitet er fast ausschließlich mit einer alten<br />
mechanischen Widelux-Kamera, die er auf einem<br />
Markt in Algerien entdeckte, als er dort den Bürgerkrieg<br />
dokumentierte. Der Schritt nach München liegt<br />
da nicht unbedingt nahe, außer vielleicht insofern, als<br />
dass von Graffenried erklärt: „Manchmal fühlt es sich<br />
auch hier an wie Bürgerkrieg.“ Das ist natürlich etwas<br />
zynisch, aber nicht unbedingt verkehrt.<br />
Die Panoramakamera bedient er manuell, ohne<br />
Scharfeinstellung <strong>und</strong> ohne durch den Sucher zu gucken.<br />
An einem Band hängt sie um seinen Hals vor der<br />
Brust, die Hände ruhig auf dem Auslöser, bis er einfach<br />
abdrückt. Auf gut Glück. Das Objektiv fährt dann<br />
langsam von links nach rechts <strong>und</strong> streicht das Licht<br />
wie bei einem Laserdrucker auf den Film. So entstehen<br />
160-Grad-Aufnahmen, kritisch, ironisch, manchmal<br />
verwackelt <strong>und</strong> nicht immer ganz freiwillig, denn<br />
von Graffenrieds Modelle bekommen von den Fotoarbeiten<br />
meist nichts mit. Ihnen ist das Bier zu Kopf gestiegen.<br />
Ein Knipser <strong>und</strong> sie wanken weiter, dem Zapfenstreich<br />
entgegen. Sarah-Maria Deckert<br />
Michael von Graffenrieds Panoramafotografien stammen<br />
aus dem Bildband „Bierfest“, der demnächst im Steidl‐Verlag<br />
Göttingen erscheinen wird<br />
106<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
STIL<br />
„ Wenn zwei<br />
Männer über<br />
eine Frau reden,<br />
besteht entweder<br />
die Gefahr der<br />
Vergöttlichung<br />
oder der<br />
Verschlampung. “<br />
Der Regisseur Christian Petzold über Frauenbilder im deutschen Kino,<br />
Interview ab Seite 118<br />
107<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
STIL<br />
Porträt<br />
SCHLAFT EUCH NACH OBEN!<br />
Die Unternehmerin Arianna Huffington empfiehlt in ihrem neuen Buch erschöpften<br />
Karrieristen, auch mal zur Ruhe zu kommen. Und sie selbst? Zelebriert das Multitasking<br />
Von LENA BERGMANN<br />
Foto: John Keatley/Redux/Laif<br />
Bevor sich die Blondine mit standhafter<br />
Föhnfrisur im New Yorker<br />
Büro der Huffington Post zum<br />
Skypen vor einem Bücherregal positioniert,<br />
stellt ein Assistent <strong>für</strong> sie die Verbindung<br />
her <strong>und</strong> prüft die Qualität von<br />
Ton <strong>und</strong> Bild. Dann richtet er die Kamera<br />
so aus, dass seine Chefin ideal eingerahmt<br />
wird. Der Hintergr<strong>und</strong> ist auf<br />
gemütlich gestylt: Bildbände, gerahmte<br />
Fotos <strong>und</strong> ein paar kleinere Gegenstände<br />
stehen im Regal – offensichtlich ist dies<br />
Huffingtons Skype-Ecke.<br />
Die 64 Jahre alte Unternehmerin,<br />
Online-Pionierin, ehemalige Republikanerin,<br />
Mutter <strong>und</strong> Autorin hat genau<br />
eine halbe St<strong>und</strong>e Zeit, um über ihr<br />
neues Buch zu sprechen, das gerade unter<br />
dem deutschen Titel „Die Neuerfindung<br />
des Erfolgs“ im Fischer-Verlag erschienen<br />
ist.<br />
Huffington gilt in den USA als Erfolgsmensch<br />
par excellence. Die gebürtige<br />
Griechin ist im Alter von 18 Jahren<br />
nach England gezogen, wo sie ein Stipendium<br />
<strong>für</strong> ein Studium in Cambridge gewann.<br />
Sie arbeitete als Journalistin <strong>und</strong><br />
Autorin von Sachbüchern – zum Beispiel<br />
über Pablo Picasso <strong>und</strong> Maria Callas –,<br />
bevor sie in die USA ging <strong>und</strong> dort als<br />
politisch engagierte Ehefrau des republikanischen<br />
Senatskandidaten Michael<br />
Huffington Furore machte. Dieser outete<br />
sich als schwul, Arianna ließ sich scheiden<br />
<strong>und</strong> wurde Demokratin. 2003 kandidierte<br />
sie sogar gegen Schwarzenegger<br />
als Gouverneurin von Kalifornien.<br />
2005 gründete sie die Online-Zeitung<br />
Huffington Post, eine Nachrichten-<br />
<strong>und</strong> Kommentarplattform, die<br />
von Anfang an umstritten war, da sie<br />
von Gastautoren lebt, die kein Honorar<br />
erhalten. Es entstanden internationale<br />
Ableger – der deutsche ging im vergangenen<br />
Jahr in Kooperation mit dem<br />
Burda-Verlag online, erzeugt aber weniger<br />
Geklapper als die amerikanische<br />
Plattform.<br />
Im New Yorker Büro ragt nun von<br />
rechts ein Assistent ins Bild, um Huffington<br />
ein dampfendes Glas Tee zu reichen,<br />
von links beugt sich jemand rüber,<br />
um sich eine Unterschrift zu holen. Huffington<br />
unterschreibt murmelnd, ohne<br />
das Interview zu unterbrechen, obwohl<br />
sie Multitasking neuerdings verabscheut,<br />
wie sie in ihrem Buch schreibt.<br />
Leider wirkt die Unternehmerin in<br />
diesem Moment wenig fokussiert. Sie<br />
beantwortet alle Fragen, mit denen sie<br />
gerechnet hat, kurz <strong>und</strong> druckreif, als<br />
würde sie per Teleprompter aus dem eigenen<br />
Buch zitieren. Fragen, mit denen<br />
sie eigentlich nicht gerechnet haben kann,<br />
beantwortet sie genauso perfekt, nur der<br />
erstaunlich starke griechische Akzent<br />
fällt etwas raus. Sie wirkt jünger als 64.<br />
IHR BUCH RICHTET sich an Karrieristen,<br />
die denken, dass Überst<strong>und</strong>en, wenig<br />
Schlaf, Multitasking <strong>und</strong> ständige Erreichbarkeit,<br />
auch außerhalb des Büros,<br />
ein Erfolgsrezept seien. „Mein Zusammenbruch<br />
im Jahr 2007 hat mich zum<br />
Umdenken gezwungen“, sagt Huffington.<br />
Sie ist inzwischen zu einer Art öffentliche<br />
Schlafbotschafterin geworden. Sie<br />
sitzt sogar im Verwaltungsrat der Abteilung<br />
Schlafmedizin der Harvard Medical<br />
School, wie sie im Kapitel „Schlafen Sie<br />
sich nach oben“ bekennt. Sie haben Einschlafstörungen?<br />
Zählen Sie einfach von<br />
300 in Dreierschritten herunter.<br />
Wie viel permanenter Stress anrichten<br />
kann, wie sehr Ges<strong>und</strong>heit, Kreativität<br />
<strong>und</strong> selbst die Moral darunter leiden,<br />
das belegt Huffington mit einer Fülle an<br />
Forschungsergebnissen, die nicht nur die<br />
heilende Wirkung von Schlaf zelebrieren,<br />
sondern auch die Kraft von Meditation<br />
<strong>und</strong> Yoga oder den Vorteil des Gehens gegenüber<br />
dem Sitzen. „Um auch die letzten<br />
Skeptiker zu überzeugen“, wie sie<br />
sagt. Vielleicht auch, um nicht als New-<br />
Age-Tante abgestempelt zu werden.<br />
„Unsere Unternehmenskultur basiert<br />
auf Stress, Schlafentzug <strong>und</strong> Burnout“.<br />
Huffingtons Rezept: „Jemand, der<br />
Macht <strong>und</strong> Geld hat, gilt als erfolgreich.<br />
Wir brauchen dringend eine dritte Maßeinheit,<br />
wenn wir Erfolg definieren, die<br />
etwas über die Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> die Zufriedenheit<br />
der Person aussagt.“ Diese<br />
Maßeinheit nennt sie „3rd Metric“.<br />
Ihr Buch, das auch Bekenntnisse von<br />
Größen aus Wirtschaft, Politik <strong>und</strong> den<br />
Medien versammelt, liest sich teilweise<br />
wie das Manifest einer prominenten, erfolgreichen<br />
Selbsthilfegruppe, <strong>und</strong> das<br />
ist der interessante Teil. Wir erfahren,<br />
dass Bill Clinton die meisten Fehler wegen<br />
Übermüdung unterlaufen sind, dass<br />
Steve Jobs die besten Einfälle nach der<br />
Meditation hatte. Alles Erfolgsmenschen,<br />
mit denen man sich identifizieren soll.<br />
Und doch wendet sich Huffington<br />
mit ihrem Appell primär an das eigene<br />
Geschlecht: Weil Frauen ges<strong>und</strong>heitlich<br />
noch mehr unter Stress zu leiden haben,<br />
sollen sie da<strong>für</strong> kämpfen, dass sich Strukturen<br />
in den Unternehmen ändern. Überst<strong>und</strong>en<br />
sollen stigmatisiert werden, die<br />
Firmen sollen Stressabbauprogramme installieren<br />
<strong>und</strong> die Projektarbeit fördern.<br />
Das komme insbesondere jungen Müttern<br />
zugute. „Männer werden von den<br />
Maßnahmen natürlich auch profitieren“,<br />
behauptet Huffington. „Ich beobachte,<br />
dass gerade ein Aufwachen im globalen<br />
Maßstab stattfindet“, sagt Huffington vor<br />
ihrer Bücherwand. Unter dem Make-up<br />
sind Spuren der Müdigkeit zu sehen.<br />
LENA BERGMANN leitet das Ressort Stil von<br />
<strong>Cicero</strong>. Sie schätzt den Mittagsschlaf<br />
109<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
STIL<br />
Reportage<br />
HOTEL<br />
CALIFORNIA<br />
110<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
Von LENA BERGMANN<br />
Nach dem VW Käfer kam der Bulli. Er wurde ein Mythos.<br />
Vom Wirtschaftsw<strong>und</strong>erwagen über den Hippie-Bus bis<br />
zum Familien-Nutzfahrzeug. Taugt er <strong>für</strong>s Jahr 2014? Unsere<br />
Autorin hat sich in den Ferien einen T5 ausgeliehen<br />
Fotos ANDREAS MÜLLER<br />
111<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
STIL<br />
Reportage<br />
Man schreibt den Sommer der Eiskönigin.<br />
R<strong>und</strong> um die Welt singen<br />
Kinder den So<strong>und</strong>track zu<br />
dem Disney-Film hoch <strong>und</strong> runter. Eltern<br />
suchen dann gerne das Weite. Aber<br />
wir sitzen fest. In einem familienfre<strong>und</strong>lichen,<br />
leise-sicher-sparsamen Abenteuermobil.<br />
Hinter unseren langstreckentauglichen<br />
Brummi-Thronen wüten fünf<br />
Kinder. Zwei der Passagiere, meine Patentochter,<br />
neun Jahre, <strong>und</strong> ihre Schwester,<br />
sieben Jahre, haben immerhin schöne<br />
Stimmen. Wenn sie gerade nicht Urlaub<br />
machen, singen sie in einem Kinderchor,<br />
sie leben in England. „Do you want to<br />
build a snow-maaan?“, singen die beiden.<br />
Im Kapitänssessel das<br />
Alpenpanorama im<br />
Blick. Lena Bergmann<br />
am Steuer des T5<br />
Meine vier Jahre alte Tochter kann leider<br />
nicht so schön singen. Da<strong>für</strong> laut: „Willst<br />
du einen Schneemann bau-ääähn?“ Die<br />
zwei jüngsten Passagiere – beide eins –<br />
können nicht singen. Aber schreien.<br />
Willkommen in Kitzbühel. Im Österreichurlaub<br />
mit Familie <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>en.<br />
Fünf Kinder, sechs Erwachsene, natürlich<br />
sind noch andere Autos dabei. Aber<br />
ich habe den Bus. Genauer: den T5, Modell<br />
California Beach, mit Aufstelldach,<br />
Nachfahre des Bullis, des zweiten zivilen<br />
Volkswagens nach dem Käfer. VW hat<br />
ihn <strong>für</strong> diese zehntägige Recherche zur<br />
Verfügung gestellt. Das Einsteigermodell<br />
kostet knapp 39 000 Euro.<br />
Meine Schwester <strong>und</strong> ich haben an<br />
diesem Vormittag alle Kinder in den Bus<br />
geladen, um zum See zu fahren. Die<br />
Männer haben frei. Die Sonne scheint.<br />
Während sich mir durch die hohe Frontscheibe<br />
ein Gebirgspanorama bietet, gestochen<br />
scharf wie ein Ravensburger<br />
Puzzle mit 3000 Teilen, träume ich von<br />
einem Cabrio, einem Zweisitzer.<br />
Doch ich befinde mich in einem Siebensitzer.<br />
Zusammen ist man weniger<br />
allein: zwei Frauen, fünf Kinder, zwei<br />
Sprachen, ein Bus. Wir haben die Konferenzanordnung<br />
gewählt, das heißt, die<br />
mittleren Sitze umgedreht, sodass die<br />
großen Mädchen die kleinen im Blick<br />
haben. Die Kinder lieben den Bus. Die<br />
Geselligkeit. Die Trinkbecher-Halter. Die<br />
riesigen Fenster, aus denen sie die Kühe,<br />
den Wilden Kaiser <strong>und</strong> potenzielle Plätze<br />
zum Übernachten sehen, denn sie lieben<br />
natürlich auch das Bett zum Aufstellen<br />
im Dach. Viermal mussten wir es bereits<br />
auf- <strong>und</strong> abbauen. In zwei Tagen. Selbst<br />
schuld. Wer fährt auch freiwillig so ein<br />
Auto?<br />
Ich nicht. Im Alltag zumindest nicht.<br />
Ich bin zehn Jahre lang Mini gefahren.<br />
Den alten. Dann hat mein 1,95-Meter-<br />
Mann über Rückenschmerzen geklagt.<br />
Und mir einen langen Vortrag über<br />
Knautschzonen gehalten. Der Mini ist<br />
weg, leider. Wenigstens ist der Mann<br />
noch da.<br />
Menschen in Familienkutschen sind<br />
mir seit jeher suspekt. Mit Verw<strong>und</strong>erung<br />
habe ich den Trend zum Minivan<br />
wahrgenommen. Nun die nächste Eskalationsstufe:<br />
Familien-Nutzfahrzeuge!<br />
Nichts <strong>für</strong> mich, so dachte ich immer.<br />
Ich kutschiere im Alltag ja auch nicht<br />
112<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
fünf Kinder samt Ausrüstung zum Ballett<br />
oder Hockey. Ich habe keinen nassen<br />
Labrador, der auf einer abwaschbaren<br />
Ladefläche Platz macht, nachdem<br />
er im Matsch gespielt hat. Und ich muss<br />
nicht 18 Billy-Regale auf einmal transportieren,<br />
obwohl man mir bei VW gesagt<br />
hat, dass das mit diesem Fahrzeug<br />
hier möglich wäre – vorausgesetzt, man<br />
entfernte vorher die hinteren Sitzbänke.<br />
Aber weil ich doch ein Gruppenmensch<br />
bin <strong>und</strong> Produkte mit Geschichte<br />
interessant finde, habe ich mich auf den<br />
Mythos VW-Bus eingelassen, zumindest<br />
<strong>für</strong> diese eine Reise.<br />
DIE ERSTE GENERATION des Bulli, der T1,<br />
hatte 26 PS, konnte 750 Kilogramm Nutzlast<br />
transportieren <strong>und</strong> erreichte eine<br />
Spitzengeschwindigkeit von 75 St<strong>und</strong>enkilometern.<br />
Er kam 1950 auf den Markt<br />
<strong>und</strong> wurde zu einem Symbol des Wirtschaftsw<strong>und</strong>ers.<br />
Der fleißige Kleinunternehmer<br />
hatte privat einen Käfer <strong>und</strong> im<br />
Betrieb eine Flotte knatternder Bullis<br />
Viermal das Bett zum<br />
Aufstellen im Dach auf<strong>und</strong><br />
wieder abbauen –<br />
das lieben die Kinder fast<br />
so sehr wie die Eiskönigin<br />
im Einsatz. Mein Großvater mit seinem<br />
Stangeneishandel beispielsweise.<br />
Mit dem Wohlstand kam der Appetit<br />
auf Tourismus, <strong>und</strong> mit der Campingbox<br />
von Westfalia die Möglichkeit, den<br />
T1 zur Urlaubszeit als Reisemobil einzusetzen.<br />
Aber nicht nur die Kleinbürger<br />
fuhren im Bulli in die Alpen, um sich<br />
bei einer Jause vom Häuslebauen zu erholen,<br />
sondern auch die Aussteiger in<br />
den Hindukusch, um beim Schwarzen<br />
Afghanen über Liebe <strong>und</strong> Frieden nachzusinnen:<br />
Ab Mitte der sechziger Jahre<br />
machte der VW-Bus eine erstaunliche<br />
Karriere als inoffizieller Dienstwagen<br />
der Hippie-Bewegung.<br />
Auch in den USA drängten sich haufenweise<br />
langhaarige Jugendliche in bunt<br />
bemalte <strong>und</strong> mit Matratzen <strong>und</strong> Batikdecken<br />
bewohnbar gemachte Bullis, um<br />
nach Kalifornien zu fahren. Ich selbst<br />
habe es nach dem Abi in einem VW-<br />
Bus mit Peace-Zeichen auf der Tür immerhin<br />
einmal nach Holland geschafft.<br />
VW war über diese neue, begeisterte
STIL<br />
Reportage<br />
Zeltplatz, Spielplatz,<br />
Klettergerüst,<br />
fahrende Kindertagesstätte.<br />
Der T5, hier mit<br />
sieben Sitzen,<br />
ist die nächste<br />
Eskalations stufe<br />
nach dem Minivan<br />
114<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
Der Bus funktioniert<br />
als Familienauto<br />
zu gut, sodass<br />
er einen gnadenlos<br />
auf die Eltern rolle<br />
reduziert<br />
Bulli-Klientel zuerst nicht erfreut, das<br />
Unternehmen <strong>für</strong>chtete einen Imageverlust,<br />
das Rebranding des fleißigen Transporters<br />
als Faulenzergefährt. 1988 führte<br />
es dann freilich das Bulli-Reisemobil California<br />
auf den Markt, das auf Strand,<br />
Surfen <strong>und</strong> Mountainbiken, aber schon<br />
auch ein bisschen auf die Hippie-Vergangenheit<br />
anspielte.<br />
Vom aktuellen California auf Basis<br />
des Multivan T5 sind seit 2004 mehr als<br />
50 000 Exemplare vom Band gelaufen.<br />
Die fünfte Generation des Bullis richtet<br />
sich weder an den Kleinbürger noch an<br />
den Hippie, sondern eher an den selbstbewussten<br />
Dynamiker mit Kindern <strong>und</strong><br />
Hobbys.<br />
Den perlweißen California Beach<br />
kann man zwar, ohne negativ aufzufallen,<br />
vor einem Fünf-Sterne-Hotel parken<br />
oder vor dem Berghaus auf der Kitzbüheler<br />
Bichlalm, das uns als Basis <strong>für</strong> den<br />
Mehrfamilienurlaub dient. Das Problem<br />
dabei ist, dass mein Mann <strong>und</strong> ich ein<br />
liebstes Hobby haben: Zeit zu zweit zu<br />
verbringen.<br />
NACH DEM SCHWIMMAUSFLUG mit fünf<br />
Bälgern glaube ich, den California verstanden<br />
zu haben: Der Nachteil des Busses<br />
ist, dass er als Familientransporter<br />
zu gut funktioniert, sodass er den Fahrer<br />
gnadenlos auf seine Elternrolle reduziert.<br />
Das könne man dem Bus doch<br />
nicht ankreiden, gibt mein Mann zu bedenken,<br />
der den Tag Zeitung lesend im<br />
Garten verbracht hat. Zudem sei der California<br />
doch vielseitig. Das Modell California<br />
Beach mit Kühlbox, Hochbett <strong>und</strong><br />
Markise sei eine Art fahrendes Seehäuschen.<br />
Es gebe da doch diesen Feldweg am<br />
Ufer des Schwarzsees …<br />
Wenig später sehen wir das Berghaus<br />
auf dem Display der Rückfahrkamera<br />
Rear Assist kleiner werden. Ich sitze am<br />
Steuer. Erleichtert sinke ich in meinen bequemen<br />
Kapitänssessel mit Armlehne. In<br />
der 32-Liter-Kühlbox schlummern zwei<br />
Flaschen Rosé. Der TDI-Motor bügelt die<br />
Anhöhen glatt. Der California ist ein sehr<br />
deutsches Auto, wenn man Deutschland<br />
als das Land der perfekten Maschinen<br />
versteht. Es ist angenehm ruhig im Führerhaus,<br />
man könnte sich spontan auf<br />
die Langstrecke begeben, der Wagen<br />
hat ganz offensichtlich die nomadischen<br />
Gene seines Urahns geerbt. Aber wir haben<br />
bei unseren Fre<strong>und</strong>en nur eine Nacht<br />
Freigang ausgehandelt.<br />
Am Ufer des Schwarzsees fahren wir<br />
die Markise aus, zwei Klappstühle sind<br />
in die Heckklappe integriert. Tannenduft,<br />
Grillenzirpen. Es dämmert, aber man findet<br />
sich zurecht – die Trittstufen des California<br />
sind dezent beleuchtet. Der Wein<br />
ist kalt, die Kühlbox funktioniert.<br />
Hatte ich schon erwähnt, dass das<br />
Bett im Dach über einen echten Lattenrost<br />
verfügt? Für gelegentliche Übernachtungen<br />
mehr als adäquat. Unten<br />
gäbe es zudem die Möglichkeit, aus den<br />
Rücksitzen eine große Liegefläche zu<br />
schaffen, sodass man hier auch als Familie<br />
schlafen könnte. Wir denken auch<br />
an unser Töchterlein. Sie wünscht sich<br />
dringend einen H<strong>und</strong> – sicher würde sie<br />
sich mit ihm auch auf Reisen das Bett teilen.<br />
In dieser Konstellation erscheint uns<br />
eine längere Reise zu viert mit dem California<br />
auf einmal sehr romantisch, mit<br />
Stellplatz am Strand, kleinem Grill <strong>und</strong><br />
Wäscheleinen vor der Schiebetür, auf denen<br />
abends die Badesachen trocknen.<br />
Ein Ausstattungsmerkmal, das wir<br />
nun am Schwarzsee doch vermissen, ist<br />
das Paket „Multimedia“ mit drahtlosem<br />
Internetzugang <strong>und</strong> acht Lautsprechern,<br />
denn man könnte nun natürlich leise<br />
„Hotel California“ von den Eagles hören<br />
oder „Going Mobile“ von The Who, einen<br />
Song, den Pete Townshend Anfang<br />
der Siebziger über seinen damaligen Hippie-Bulli<br />
schrieb.<br />
LENA BERGMANN ist Leiterin des Stil-<br />
Ressorts von <strong>Cicero</strong>. Nach den Bulli-Ferien<br />
verbrachte sie noch ein paar Tage in New<br />
York <strong>und</strong> fuhr nur Taxi<br />
Ondoro Holz<br />
Schreibgeräte mit unverwechselbar<br />
markantem Schaft aus Räuchereiche,<br />
dessen Oberfläche geschmeidig<br />
<strong>und</strong> warm anmutet.<br />
115<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014<br />
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118<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
STIL<br />
Interview<br />
„ DIE MUSEN<br />
WEHREN SICH “<br />
Welche Frauenbilder prägt das Kino?<br />
Der Regisseur Christian Petzold<br />
über verlorene Unschuld, Schlampen,<br />
Göttinnen, Phantomladys <strong>und</strong><br />
wärmende Geschichten vom Scheitern<br />
Herr Petzold, welche Obsession haben<br />
Sie eigentlich mit Nina Hoss?<br />
Christian Petzold: Ich frage mich<br />
das auch manchmal. Es ist aber keine<br />
Obsession. Nina Hoss eignet sich nicht<br />
<strong>für</strong> Obsessionen.<br />
Warum nicht?<br />
Weil sie keine Muse ist. Musen sind<br />
immer halbnackt <strong>und</strong> irgendwie österreichisch.<br />
Nina ist jemand, der zurückschlägt.<br />
Und das gefällt mir.<br />
„Phoenix“ ist mittlerweile Ihr sechster<br />
Film mit ihr. Sie beschreiben sie als „vollständige“<br />
Schauspielerin. Was bedeutet<br />
das?<br />
Sie erarbeitet sich ihre Figuren mit<br />
Haut <strong>und</strong> Haar. Im Gegensatz zu Schauspielern<br />
wie beispielsweise Gérard Depardieu,<br />
der eine Rolle sehr schnell <strong>und</strong><br />
über den Körper begreift. Er macht die<br />
Figur zu einem Teil seiner Biografie, so<br />
lässig <strong>und</strong> voller Sex. Wie in „Green<br />
Card“ mit Andie MacDowell, wo er als<br />
dieser wahnsinnige Franzose Knoblauch<br />
zerhämmert <strong>und</strong> Gauloises raucht.<br />
Wenn es irgendwo Not gibt oder ein<br />
Feuer ausbricht, bei Depardieu überlebt<br />
man.<br />
Heißt das, dass Nina Hoss der Sex fehlt?<br />
Nein, damit meine ich, dass bei ihr<br />
diese Körperlichkeit nicht von selbst<br />
da ist. Da ist erst mal nichts. Sie macht<br />
sich vollkommen leer <strong>und</strong> arbeitet dann<br />
sehr präzise auf ein Bild hin. Sie modelliert<br />
ihre Figur. Es gibt einen Aufsatz<br />
von Heinrich von Kleist über das Marionettentheater.<br />
Er handelt davon, dass<br />
der Mensch seine Unschuld verloren hat.<br />
Wenn man die Selbstverständlichkeit<br />
des ersten Kusses verpasst, gibt es keinen<br />
zweiten.<br />
Wie kann man denn den ersten Kuss<br />
verpassen?<br />
Indem man den Moment verpasst<br />
oder das Falsche sagt. Kleist erklärt<br />
das so: Ein Junge schwimmt im Wasser,<br />
taucht auf <strong>und</strong> jemand sagt zu ihm:<br />
„Du schwimmst so schön.“ Er bew<strong>und</strong>ert<br />
seine natürliche Anmut. Von diesem Moment<br />
an kann der Junge aber nicht mehr<br />
schön schwimmen, weil er jetzt ein Bild<br />
von sich hat. Gérard Depardieu gehört<br />
zu den Schauspielern, denen diese Unbefangenheit<br />
geblieben ist, <strong>und</strong> deshalb<br />
ist er anmutig. Er wirft sich ins Wasser,<br />
egal was jemand sagt.<br />
Warum inszenieren Sie Ihre Frauenfiguren<br />
immer so eintönig? Minimalistisch,<br />
119<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
STIL<br />
Interview<br />
Emanzipiert, aber nicht autark. Nina<br />
Hoss als Petzolds „Barbara“ von 2012<br />
Traumatisiert. Nelly in „Phoenix“, der<br />
gerade in den Kinos anläuft<br />
Modern, aber ohnmächtig. Als<br />
Ost-West-Wanderin „Yella“ 2007<br />
Christian Petzold<br />
Der 54 Jahre alte Regisseur<br />
<strong>und</strong> Drehbuchautor wurde<br />
mehrfach ausgezeichnet,<br />
darunter mit dem Silbernen<br />
Bären der Berlinale <strong>für</strong><br />
„Barbara“. Er studierte an der<br />
Deutschen Film- <strong>und</strong> Fernsehakademie<br />
Berlin <strong>und</strong> wird<br />
der Berliner Schule zugerechnet.<br />
Sein Holocaust-Drama<br />
„Phoenix“ hatte im September<br />
beim Filmfest Toronto Premiere<br />
irgendwie körperlos <strong>und</strong> mit dieser reservierten<br />
Spielweise, mit der sie durch<br />
die Filme wandeln wie durch ein Exil.<br />
Sagen wir so: Nina Hoss spielt eben<br />
häufig Frauen, die im Begriff sind zu verschwinden<br />
<strong>und</strong> gegen ihr Phantomwerden<br />
ankämpfen. Das kann ganz realistisch<br />
sein, indem man seine Wohnung<br />
verliert. Schwupps, steht man vor dem<br />
Nichts. Das sind die Gespenster, die versuchen,<br />
sich wieder zu erden. Es ist aber<br />
nicht so, dass ich nur von Phantomladys<br />
umgeben bin. Schauen Sie sich Julia<br />
Hummer oder Barbara Auer an! Das<br />
sind keine Gespenster.<br />
Die eine gibt sich androgyn, die andere<br />
unnahbar. Allesamt sind es Glückssucherinnen.<br />
Aber keine findet das Glück.<br />
Weil das Kino immer von den Ohnmächtigen<br />
erzählt. Sie versuchen, die<br />
Handlungsstränge in die Hand zu bekommen,<br />
schaffen es aber nicht. In meinen<br />
100 Lieblingsfilmen schafft es kein einziger.<br />
Es gibt diesen Film mit Kevin Costner,<br />
in dem er so ein Golfass spielt. In<br />
einer Szene versucht er über einen Wassergraben<br />
zu schlagen, <strong>und</strong> es ist klar,<br />
dass er es nicht schaffen kann. Aber er<br />
schlägt weiter, immer weiter. So was mag<br />
ich. Vielleicht wärmen uns gerade Geschichten<br />
von denen, die scheitern, weil<br />
sie in ihrem Scheitern etwas Tolles versucht<br />
haben. Ich glaube aber nicht, dass<br />
diese Ohnmacht dazu führt, dass man<br />
sich als Zuschauer ohnmächtig fühlt.<br />
Ohnmächtig vielleicht nicht, aber<br />
deprimiert.<br />
Also, ich bin nicht deprimiert nach<br />
meinen Filmen. Sind Sie deprimiert?<br />
Ja. Allein, wenn man sich Ihren Begriff<br />
von Liebe ansieht: Stets gefärbt von<br />
Misstrauen, Täuschung, Zweifel, Geheimnissen<br />
<strong>und</strong> fehlendem Vertrauen.<br />
Ist das etwa Ihre Definition von Flirt?<br />
Natürlich! Es gibt doch von Tolstoi<br />
diesen berühmten Anfang bei „Anna<br />
Karenina“ …<br />
… „Alle glücklichen Familien gleichen einander,<br />
jede unglückliche ist auf ihre eigene<br />
Weise unglücklich.“<br />
Genau. Das ist bei der Liebe dasselbe.<br />
Glückliche Paare, die sich küssen,<br />
ein Haus kaufen, sich auf der neuen<br />
Matratze aneinanderkuscheln, das ist<br />
doch alles Werbung. Die Liebe, die mich<br />
interessiert, ist ein Tanz. Und der hat immer<br />
etwas von Abstoßen <strong>und</strong> Anziehen.<br />
Mit allem anderen kann man Margarine<br />
verkaufen.<br />
Sie haben einen Querschnitt von 1945<br />
bis heute gezogen: In „Phoenix“ zeigen<br />
Sie die emotional abhängige Frau, in<br />
„Barbara“ eine emanzipierte <strong>und</strong> doch<br />
nicht autarke, in „Yella“ ist sie modern,<br />
aber ohnmächtig. Wie hat sich das<br />
Selbstverständnis der Frau gewandelt?<br />
Das kann ich nicht beantworten. Ich<br />
verstehe mich nicht als Frau. Ich kann<br />
nur von meinem Verhältnis zu meinen<br />
Frauenfiguren reden. Obwohl auch das<br />
schwierig ist, weil das wiederum nur das<br />
Konzept einer Frau <strong>für</strong> ein Drehbuch<br />
ist – dazu noch von zwei Männern geschrieben,<br />
von Harun Farocki <strong>und</strong> mir,<br />
mit dem ich immer zusammengearbeitet<br />
habe. Wenn zwei Männer über eine Frau<br />
reden, besteht entweder die Gefahr der<br />
Vergöttlichung oder der Verschlampung.<br />
Das bewegt sich immer an der Grenze<br />
zum Unangenehmen. Da ist die Dusche<br />
eines Sportvereins nicht weit.<br />
Göttin oder Schlampe – gibt es noch<br />
was dazwischen?<br />
(lacht) Oh Gott, ja. Das Kino ist ja<br />
keine Individualkunst, sondern Kollektivkunst.<br />
Und wenn dann vor dir so kluge<br />
Frauen wie Nina Hoss, Barbara Auer<br />
oder Nina Kunzendorf sitzen, mit dem<br />
Drehbuch in der Hand, dann machen sie<br />
aus meinem Konzept ihr eigenes. Das<br />
ist ja das Schöne heutzutage: Die Musen<br />
wehren sich.<br />
Heißt das, dass sich auch das Selbstverständnis<br />
der Schauspielerin gewandelt<br />
hat? Sieht man sich den Mythos<br />
um Marilyn Monroe <strong>und</strong> den Hype um<br />
Scarlett Johansson an, scheint es noch<br />
dasselbe zu sein: die Schauspielerin als<br />
sexualisierte Projektionsfläche männlicher<br />
Fantasie.<br />
Eine Kolumnistin vom New Musical<br />
Express hat dazu mal einen brutalen<br />
Text geschrieben. Sie sagte, die Frauen<br />
der vierziger Jahre mussten auf jeder<br />
Casting-Couch so viele Schwänze blasen,<br />
bis sie zum Star wurden. Dann waren sie<br />
Göttinnen <strong>und</strong> mussten nie wieder einen<br />
Fotos: Maurice Weiss/Ostkreuz <strong>für</strong> <strong>Cicero</strong> (Seite 118), Christian Schulz (2), Hans Fromm<br />
120<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
lasen. Später fingen die Regisseure dann<br />
an, ihre Hauptdarstellerinnen zu heiraten.<br />
Die mussten blasen, bis sie starben.<br />
Ein Hoch auf die Ehescheidung.<br />
Diese Art von Regisseuren lassen<br />
sich erst dann scheiden, wenn sie sich sicher<br />
sind, dass die Frauen nach der Ehe<br />
kein eigenständiges Leben mehr führen<br />
können.<br />
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gewinnen<br />
Mit „Phoenix“ haben Sie sich nun an<br />
Deutschlands Trauma gewagt, die Zeit<br />
des Nationalsozialismus. Warum?<br />
Ich wollte, dass die Vergangenheit<br />
auf die Gegenwart einschlägt. Wir tun<br />
alle so, als ob dieses Trauma zu Ende<br />
wäre. Ist es aber nicht. Wenn man in Berlin<br />
diese fantastischen Stolpersteine sieht,<br />
spürt man, was <strong>für</strong> reichhaltige Leben<br />
zerstört worden sind. Und was wir dann<br />
<strong>für</strong> jämmerliche Filme über diese Zeit<br />
hinbekommen, in denen die Deutschen<br />
immer Opfer sind <strong>und</strong> sich jeder Schuld<br />
entziehen. Das kotzt mich an.<br />
Was muss passieren, damit Sie Ihre Kritiker<br />
einmal maßlos schockieren <strong>und</strong><br />
eine Feel-Good-Komödie drehen, in<br />
der von mir aus Nina Hoss Knoblauch<br />
zerhämmert?<br />
Würde ich gerne mal machen, aber<br />
nicht um jemanden zu schockieren. Ich<br />
mochte Howard Hawks ganz gerne, der<br />
alles Mögliche gemacht hat, Pharaonenfilme,<br />
Komödien, Detektivgeschichten.<br />
Und trotzdem hatte man immer das<br />
Gefühl, das ist ein Film von ihm. Eine<br />
Komödie würde bei mir deshalb wahrscheinlich<br />
auch nicht sehr viel anders aussehen.<br />
Mache ich aber bald!<br />
Ihre Drehbücher sind immer zusammen<br />
mit Harun Farocki entstanden. Sie haben<br />
einmal gesagt, Sie könnten nie alleine<br />
schreiben. Nun, da er vor kurzem<br />
gestorben ist, darf ich fragen: Was nun?<br />
Ich weiß es noch nicht. Noch ist der<br />
Schmerz über den Verlust zu groß.<br />
Werden Sie sich einen neuen Partner<br />
zum Schreiben suchen? Vielleicht ja<br />
eine Frau?<br />
Vielleicht. Ja, eine Frau wäre gut.<br />
Das Gespräch führte<br />
SARAH-MARIA DECKERT<br />
© Monique Wüstenhagen (BVMI)<br />
Mit <strong>Cicero</strong> zum eCHO Klassik. Der Treffpunkt<br />
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echo@cicero.de Teilnahmeschluss ist der 10. Oktober 2014.<br />
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Sonntag, 26.10.2014<br />
Einlass ab 15:30 Uhr<br />
Beginn 16:45 Uhr<br />
Philharmonie im Gasteig München<br />
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ECHO<br />
Klassik
STIL<br />
Kleiderordnung<br />
WARUM<br />
ich trage,<br />
WAS<br />
ich trage<br />
ELISABETH RUGE<br />
Ich packe meinen Koffer <strong>für</strong> die Buchmesse<br />
<strong>und</strong> das Erste, was ich hineintue,<br />
sind ein paar Turnschuhe, ziemlich<br />
alte, die mit der Zeit immer bequemer<br />
geworden sind. Auf der Messe muss<br />
man sich wohlfühlen, zumindest in seiner<br />
Kleidung. Natürlich soll es auch nach<br />
was aussehen, aber am liebsten vergesse<br />
ich, was ich anhabe. Dazu habe ich zu<br />
viele andere Dinge im Kopf. Für die Empfänge<br />
et cetera habe ich dann auch ein<br />
Paar Ballerinas in der Handtasche. Das<br />
habe ich von den russischen Frauen gelernt,<br />
die an der Garderobe immer blitzschnell<br />
ihre schweren Winterstiefel gegen<br />
schöne Schuhe austauschen.<br />
Mein Stil ist kein Diktat, das von<br />
einem fordert, uneitel zu sein. Aber<br />
ich mag dieses Moment einer gewissen<br />
Nachlässigkeit, diese Form von nebensächlicher<br />
Eleganz, in der natürlich<br />
auch Souveränität liegt. Nicht unbedingt<br />
typisch deutsch. Hier sieht man häufiger<br />
eine Art uninspirierte Akkuratesse,<br />
Stichwort colour matching <strong>und</strong> Ähnliches<br />
oder immer zuverlässig in der neuesten<br />
Kollektion vor die Tür treten. Ich<br />
mag besonders, wie sich die Engländerinnen<br />
anziehen – in der Londoner Tube<br />
kann man das w<strong>und</strong>erbar beobachten.<br />
„Begnadete Schlampigkeit“, so könnte<br />
man es umschreiben. In der Art, wie<br />
sie alles zusammenwerfen, liegt auf jeden<br />
Fall etwas Freies. Und Menschen,<br />
Haltungen, Dinge, in denen sich Freiheit<br />
ausdrückt, bedeuten mir viel. Ich<br />
bin schon häufig aus Situationen herausgetreten,<br />
die mir vielleicht ein Maß an<br />
Sicherheit gegeben haben, in denen ich<br />
mir aber die Frage stellen musste: Was<br />
mache ich hier gerade? Mache ich das<br />
Richtige? Das <strong>für</strong> mich Richtige? Oder<br />
Elisabeth Ruge, 54, war 1994<br />
Mitbegründerin des Berlin-<br />
Verlags. 2012 gründete sie<br />
Hanser Berlin. Im Frühling 2014<br />
eröffnete sie eine eigene<br />
Literaturagentur in Berlin-<br />
Mitte. Gerade schreibt<br />
Ruge an ihrem ersten Buch<br />
„Drei Frauen“<br />
muss ich etwas ändern? Manchmal gibt<br />
es solche Momente.<br />
Bücher gibt’s auf der Messe wie Sand<br />
am Meer, klar. Aber in meinen Koffer<br />
packe ich stets eins, das mit dem ganzen<br />
Rummel nichts zu tun hat, einen<br />
Kleist-Band zum Beispiel oder etwas<br />
von Robert Walser. Das ist wichtig, um<br />
den Kopf freizuhalten. Außerdem brauche<br />
ich irgendwas zum Versprühen. <strong>Kein</strong><br />
schweres Parfum, das am Körper klebt,<br />
sondern irgendwas „Früsches“, wie der<br />
Berliner sagen würde, das mich aufweckt.<br />
Ein warmes Tuch habe ich sowieso immer<br />
dabei, das kann man sich schnell um<br />
den Hals oder um die Nieren legen. Und<br />
zu guter Letzt brauche ich in Frankfurt<br />
meine Uhr – unverzichtbar, wenn man<br />
alle 30 Minuten einen Termin hat. Aber<br />
das Beste an ihr ist: Man kann das Ziffernblatt<br />
einfach wegklappen. Dann mache<br />
ich die Augen zu. Nur kurz.<br />
Aufgezeichnet von SARAH-MARIA DECKERT<br />
Foto: Thomas Kierok <strong>für</strong> <strong>Cicero</strong><br />
122<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
SALON<br />
„ Musik trägt die Kraft<br />
des Protests ebenso<br />
in sich wie den naiven<br />
Glauben daran, dass<br />
man jeden Menschen<br />
lieben kann “<br />
Der griechische Dirigent Teodor Currentzis machte sich in <strong>Russland</strong> einen Namen <strong>und</strong> wird<br />
nun in Deutschland ausgezeichnet <strong>für</strong> seinen Mozart unter Starkstrom, Seite 124<br />
123<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
SALON<br />
Porträt<br />
BLAU SIND ALLE SEINE KLÄNGE<br />
Der griechische Dirigent <strong>und</strong> Dandy Teodor Currentzis erobert vom russischen Perm aus<br />
die Musikwelt. Mozart setzt er unter Starkstrom. Nun erhält er den Echo-Klassik-Preis<br />
Von DOROTHEA WALCHSHÄUSL<br />
Wäre Teodor Currentzis kein Romantiker,<br />
er wäre nicht hier –<br />
in dieser Stadt, in der noch<br />
Hammer <strong>und</strong> Sichel an den Hausmauern<br />
prangen, in der sich die Sonne in der<br />
vergilbten Verschalung der Plattenbauten<br />
spiegelt, grobklotzige Sowjetkunst in den<br />
Himmel ragt <strong>und</strong> im Winter bei minus<br />
15 Grad die Abgase in der Luft gefrieren.<br />
Bis 1991 war die russische Stadt Perm mit<br />
r<strong>und</strong> einer Million Einwohnern eine verbotene<br />
Stadt <strong>für</strong> Ausländer, war Hochburg<br />
der Rüstungsindustrie <strong>und</strong> Heimat<br />
von Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow.<br />
Heute ist sie die Kulturmetropole<br />
im Ural. Ihre künstlerische Leuchtgestalt<br />
heißt Teodor Currentzis.<br />
„Ich bin eine sehr romantische Person,<br />
ich bin kein Technokrat“, sagt der<br />
Musikdirektor des Permer Opern- <strong>und</strong><br />
Balletttheaters, nippt am schwarzen Tee<br />
<strong>und</strong> dreht den großen Ring an seinem<br />
Finger. Sein Büro atmet den Geist postromantischen<br />
Schwärmertums. Schwere<br />
Samtvorhänge verdunkeln den Raum,<br />
auf tiefroten Tapeten schlängeln sich Blumenranken,<br />
die Chaiselongue verschwindet<br />
unter einem orientalischen Überwurf.<br />
Currentzis thront im edlen grauen Anzug<br />
auf einem ausladenden Sessel. Er zupft<br />
das Einstecktuch zurecht, wirft die schulterlangen<br />
dunklen Haare zurück <strong>und</strong> lächelt<br />
mit abwartendem Adlerblick.<br />
Der 42-jährige Grieche ist ein Meister<br />
der Inszenierung. <strong>Kein</strong> Foto findet<br />
ohne seine Zustimmung den Weg in den<br />
Druck. Auf den freigegebenen Bildern inszeniert<br />
sich Currentzis als düster-erotische<br />
Mischung aus Dandy <strong>und</strong> Magier mit<br />
einer Prise Graf Dracula.<br />
In Athen geboren, ging Teodor<br />
Currentzis 1994 zum Dirigierstudium<br />
bei Ilja Musin nach St. Petersburg, „von<br />
einem schwierigen Land in ein anderes“.<br />
Bis heute ist er <strong>Russland</strong> trotz zahlreicher<br />
Engagements im westlichen Ausland treu<br />
geblieben. Er schätzt die russische Kultur,<br />
die Offenheit der Menschen <strong>und</strong> eine<br />
Mentalität, die <strong>für</strong> ihn im Gegensatz zum<br />
disziplingesteuerten westlichen System<br />
noch Raum <strong>für</strong> die „wirklich wichtigen<br />
Dinge des Lebens“ lässt: die Poesie zum<br />
Beispiel, die innere Freiheit <strong>und</strong> – natürlich<br />
– die Liebe.<br />
Fast immer kommt sie ins Spiel,<br />
wenn Currentzis über Musik spricht:<br />
„Musik ist der Geist, der zwischen den<br />
Gegensätzen <strong>und</strong> der Vereinigung dieser<br />
entsteht. Dabei trägt sie ebenso die<br />
Kraft des Protests in sich wie den naiven<br />
Glauben daran, dass man jeden Menschen<br />
lieben kann“, sagt Currentzis <strong>und</strong><br />
seufzt. Die spirituell angereicherte Sprache<br />
<strong>und</strong> die dramatische Pose liegen dem<br />
Künstler. Schmal <strong>und</strong> hochgewachsen eilt<br />
er durch die Gänge der Oper, pulsierend<br />
<strong>und</strong> spannungsgeladen sind auch seine<br />
Bewegungen auf der Bühne. Er geht auf<br />
Tuchfühlung mit den Musikern, reißt sich<br />
erhitzt den Frack vom Leib, singt laut<br />
beim Dirigieren, wie im Rausch.<br />
ALS ER VIER JAHRE ALT WAR, sang ihm<br />
der Vater ein griechisches Volkslied vor,<br />
das von Eltern erzählt, die ihre verlorenen<br />
Kinder suchen, „ich weinte die ganze<br />
Zeit“. In diesem Moment habe er verstanden,<br />
was Tragödie bedeutet <strong>und</strong> wie<br />
der Mensch in der Kunst nach Erlösung<br />
strebt. Über die Klaviertastatur gebeugt,<br />
suchte er schon als Kind nach Dissonanzen<br />
<strong>und</strong> ihrer Auflösung in Schönheit. Bis<br />
heute ist es diese romantische Idee, die<br />
Currentzis leitet <strong>und</strong> mit der er internationale<br />
Spitzenmusiker dazu verführt, ihm<br />
an den Rand Sibiriens zu folgen.<br />
Nun umringen sie ihn musizierend<br />
auf der Bühne des Permer Opernhauses.<br />
Eine Schwurgemeinschaft, die sich der<br />
bedingungslosen Hingabe verschrieben<br />
hat: tanzende Körper, die sich zur Musik<br />
bewegen; junge Gesichter zwischen<br />
20 <strong>und</strong> 30, aus deren Augen Besessenheit<br />
spricht. 2004 hat Currentzis das Ensemble<br />
Musica Aeterna als damaliger Chefdirigent<br />
am Opernhaus in Nowosibirsk<br />
gegründet. 2001 hat er es nach Perm mitgenommen<br />
<strong>und</strong> mit ihm die Interpretationspraxis<br />
neu definiert.<br />
Detailversessen lotet er die Stücke<br />
aus <strong>und</strong> experimentiert mit ungewöhnlicher<br />
Instrumentierung. Auch Mozart<br />
setzt er so unter Starkstrom: Hochenergetisch<br />
auf den Punkt gebracht, emotional<br />
extrem ausgeleuchtet <strong>und</strong> in flirrenden<br />
Farbschichtungen transparent<br />
durchdrungen. Nicht ohne Gr<strong>und</strong> wird<br />
die „Figaro“-Einspielung des Ensembles<br />
bei Sony nun mit dem Echo-Klassik-Preis<br />
ausgezeichnet.<br />
Warum gerade Perm? „Wir könnten<br />
das Projekt Musica Aeterna überall machen.<br />
Aber in Perm sind wir frei, können<br />
eine neue Architektur schaffen. Hier gibt<br />
es noch keine Regeln.“ Hier kann er nach<br />
Gutdünken am Vorabend den Probenplan<br />
umwerfen, hier spielen die Musiker<br />
immer im Stehen <strong>und</strong> folgen keinen gewerkschaftlich<br />
erfochtenen Pausenzwängen,<br />
sondern proben im Spieleifer schon<br />
mal 14 St<strong>und</strong>en.<br />
In den Proben wird über Gefühle gesprochen,<br />
nicht über Dynamik. „Darum<br />
geht es in unserer Musik. Um Persönlichkeit.<br />
Und um Liebe.“ Man hat es fast geahnt.<br />
„Kunst ist wie eine Blume inmitten<br />
von Ruinen“, sagt Currentzis. „Je größer<br />
die Ruinen, desto strahlender blüht die<br />
Kunst.“ In Perm hat Teodor Currentzis<br />
seine blaue Blume gef<strong>und</strong>en.<br />
DOROTHEA WALCHSHÄUSL war bei ihrer<br />
Reise nach Perm von den Gegensätzen<br />
fasziniert <strong>und</strong> erlebte die Oper als Oase der<br />
Seligen inmitten postsowjetischer Schroffheit<br />
Foto: Robert Kittel/Sony Classical<br />
124<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
SALON<br />
Porträt<br />
DEUTSCHER ALS EINE WEISSWURST<br />
Der Kreischalarm ist sein Metier: Wie Schauspieler Elyas M’Barek zum Leinwandstar<br />
wurde <strong>und</strong> mit zwei neuen Filmen seinen Weg sucht zwischen Krimi <strong>und</strong> Klamauk<br />
Von DIETER OSSWALD<br />
Foto: Max Miller/Favorite Picture<br />
Zwei Kinostarts auf einen Streich:<br />
Das erleben selbst Hollywood-<br />
Größen nicht alle Tage. „Clooney,<br />
heul leise!“, würde Aushilfslehrer<br />
Zeki Müller wohl sagen. Mit dieser<br />
Rolle in „Fack ju Göhte“ avancierte Elyas<br />
M’Barek im vergangenen Jahr zum<br />
Überflieger. Mit mehr als sieben Millionen<br />
Zuschauern landete die Schulkomödie<br />
auf Platz vier in der seit 1968 erhobenen<br />
Hitparade b<strong>und</strong>esdeutscher Filme.<br />
Das heimische Kino gebar einen Star.<br />
Der kommt nun, im Abstand von einer<br />
Woche, doppelt auf die Leinwand. In<br />
der Komödie „Männerhort“ von Franziska<br />
Meyer Price flüchtet er mit Detlev<br />
Buck <strong>und</strong> Christoph Maria Herbst vor<br />
konsumhysterischen Fre<strong>und</strong>innen in einen<br />
Heizungskeller, um ungestört dem<br />
Bier <strong>und</strong> dem <strong>Fußball</strong> zu frönen. Im<br />
smarten Computer-Thriller „Who Am I“<br />
von Baran Bo Odar gibt er einen cleveren<br />
Hacker-Freak, der mit Tom Schilling<br />
von Geheimdiensten gejagt wird.<br />
Die persönliche „Wer bin ich?“-<br />
Frage nimmt der Schauspieler allem medialen<br />
Rummel zum Trotz mit gelassenem<br />
Schulterzucken. „Bin ich ein Star?<br />
Ich kann das <strong>für</strong> mich gar nicht so einfach<br />
sagen, weil mein Leben eigentlich ziemlich<br />
normal ist.“ Dazu knipst M’Barek<br />
sein Markenzeichen-Grinsen an <strong>und</strong><br />
wirkt keineswegs kokettierend. „Wer<br />
meinen Alltag erleben würde, wäre erstaunt,<br />
wie ein ‚Star‘ so lebt.“<br />
Zur Plauderaudienz ist der Münchner<br />
ins Berliner „Soho-House“ gekommen.<br />
Kaum betritt er das Zimmer, sucht<br />
er eine Steckdose <strong>für</strong> sein Smartphone.<br />
Das Klappern auf sozialen Netzwerken<br />
braucht Energie, <strong>und</strong> M’Barek klappert<br />
viel: bei Twitter, bei Instagram <strong>und</strong> Facebook,<br />
wo er unlängst die Marke von zwei<br />
Millionen Fans geknackt hat, „das wächst<br />
wie ein kleines Imperium“.<br />
Anders als üblich schreibt dieser<br />
Promi dort persönlich. „Wollen wir nicht<br />
alle zusammen an den FKK-Strand gehen?“,<br />
lockte er die Fans, die mit tausendfachem<br />
„Gefällt mir“ quittierten.<br />
Oder er meldete sich zum Anpfiff<br />
des WM-Endspiels mit: „Geil, im ZDF<br />
läuft ‚Traumschiff‘!!“ Bisweilen eignen<br />
sich Netzwerke zum süffisanten Protest.<br />
„Und du sprichst kein Wort Arabisch?“,<br />
hatte Markus Lanz ihn bei „Wetten,<br />
dass..?“ begrüßt, um sich danach über<br />
den „echtesten falschen Türken“, den er<br />
je in der Sendung hatte, zu freuen. Für<br />
den in München geborenen Sohn einer<br />
Österreicherin <strong>und</strong> eines Tunesiers war<br />
da Schluss mit lustig. Gelangweilt daddelte<br />
er fortan in sein Mobiltelefon. Den<br />
Twitter-Rat von Regisseur Bora Dagtekin<br />
(„Während da nichts los ist auf der Couch,<br />
fotografier mal in Dianas Ausschnitt!!“)<br />
tweetete er zeitgleich fröhlich weiter.<br />
IM FILM „MÄNNERHORT“ findet sich eine<br />
ähnliche Szene: „Bist du Türke?“, fragt<br />
der Hausmeister. „Ich bin deutscher als<br />
eine Weißwurst <strong>und</strong> habe eine Döner-<br />
Allergie“ kommt als genervte Antwort.<br />
Die Szene sei lange vor „Wetten, dass..?“<br />
gedreht worden, er wolle da gar nicht<br />
nachtreten. „Ich kann ja verstehen, dass<br />
Herr Lanz, der aus einer kleinen Stadt in<br />
Südtirol stammt, überrascht ist, dass jemand<br />
mit meinem Aussehen nur mit der<br />
deutschen Sprache aufgewachsen ist <strong>und</strong><br />
gar kein Arabisch spricht – das kann er<br />
sich als Ausländer wohl nicht vorstellen“,<br />
lacht M’Barek <strong>und</strong> beißt in sein Muffin.<br />
Wim Wenders würde wohl mitlachen,<br />
hat er im Mai beim gemeinsamen Dreh<br />
eines Werbespots <strong>für</strong> Eiscreme doch einen<br />
„großartigen Schauspieler“ entdeckt,<br />
mit dem er in vieler Hinsicht gleich ticke:<br />
„Wer weiß, was sich daraus einmal entwickelt“,<br />
fügte Wenders in Cannes hinzu.<br />
Einmal in der Championsleague<br />
der Regisseure spielen, der Traum jedes<br />
Schauspielers? Der 32-Jährige winkt ab.<br />
Er freue sich auf den nächsten Film mit<br />
„Fack ju Göhte“-Regisseur Bora Dagtekin<br />
„genauso, als wenn Tarantino anrufen<br />
würde“. Dem Tausendsassa Dagtekin<br />
hat M’Barek viel zu verdanken, schrieb<br />
er ihm doch nicht nur die Rolle des Klassenlehrerkaspers<br />
auf den Leib, sondern<br />
zuvor schon den Macho mit weichem<br />
Herz in der Kulturen-Clash-Komödie<br />
„Türkisch <strong>für</strong> Anfänger“, die selbst als<br />
Wiederholung der ARD nun eine Traumquote<br />
von 17,4 Prozent bescherte.<br />
Alle lieben Elyas. Der Mann sieht<br />
blendend aus, kann einen trainierten<br />
Körper präsentieren <strong>und</strong> taugt als Projektionsfläche<br />
diverser Begierden: vom Sexobjekt<br />
über den coolen Kumpel, den lustigen<br />
Partyhopper bis zum großen Bruder.<br />
All das bieten auch andere Stars, aber selten<br />
mit solcher Lässigkeit <strong>und</strong> Selbstironie.<br />
Nur im Freibad, erzählt der Kreischalarmauslöser,<br />
„wäre eine Tarnkappe<br />
nicht schlecht, um mit Fre<strong>und</strong>en einfach<br />
herumliegen zu können“.<br />
Trotz Smartphone-Spionen an jeder<br />
Ecke hält der Star sein Privatleben<br />
erstaunlich erfolgreich geheim, selbst<br />
Google erweist sich als völlig ahnungslos.<br />
„Man vergisst oft, dass es Leute gibt, die<br />
überhaupt keine Lust auf Prominenz haben<br />
<strong>und</strong> nicht öffentlich stattfinden wollen.<br />
Das möchte ich respektieren.“<br />
Vor zwei Monaten hat er sich bei allem<br />
ausgestellten, ausgelebten Hang zur<br />
Normalität ein kleines Update im Haushalt<br />
erlaubt: eine Putzfrau. Sie sei „der<br />
größte Luxus, den ich mir gönne“.<br />
DIETER OSSWALD schreibt über Filme <strong>und</strong><br />
Stars. Auch bei der dritten Begegnung mit<br />
M’Barek fiel der Verzicht auf ein gemeinsames<br />
Selfie mangels eigenem Handy leicht<br />
127<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
SALON<br />
Man sieht nur, was man sucht<br />
Wo ist es noch TAUSENDMAL<br />
schöner als hier? Von BEAT WYSS<br />
128<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
Der DDR-Maler Wolfgang Mattheuer, hochdekoriert<br />
in Ost wie West, verließ die Heimat 1973<br />
auf farbenfrohen Pfaden <strong>und</strong> im Traumbild nur<br />
Fotos: Museum der bildenden Künste Leipzig/© VG Bild-Kunst Bonn 2014, Gaetan Bally/Keystone Schweiz/Laif (Autor)<br />
Hätte man sie gelassen, die<br />
DDR wäre am 7. Oktober<br />
ins Rentenalter gekommen<br />
<strong>und</strong> könnte nach<br />
deutschem Beamtenrecht<br />
noch mindestens zwei Jahre weitermachen.<br />
Dass es anders gekommen ist,<br />
nahm Wolfgang Mattheuers Gemälde<br />
„Hinter den sieben Bergen“ vorweg.<br />
Eine Autokolonne fährt auf der Überlandstraße<br />
davon. Über Hügel schlängelt<br />
sich das graue Band verblauendem Gebirge<br />
zu. Gesäumt ist die Straße von Plakatwänden<br />
mit Propaganda; Traumlogik<br />
regiert. Zu sehen sind Diagramme, ein<br />
Fotoapparat, Tischtennisschläger. Die<br />
Buchstaben auf den Reklameschildern<br />
ergeben das Wort Eiapopeia, eine Anspielung<br />
auf Heinrich Heines „Deutschland.<br />
Ein Wintermärchen“. Ein Harfenmädchen<br />
singt darin:<br />
Das alte Entsagungslied,<br />
Das Eyapopeya vom Himmel,<br />
Womit man einlullt, wenn es greint,<br />
Das Volk, den großen Lümmel.<br />
Dieses Volk aber ist einen Monat<br />
nach den Geburtstagsfeierlichkeiten von<br />
1989 aus der maroden Umerziehungsanstalt<br />
Ost ausgebrochen.<br />
Das Schlusslicht der Karawane bilden<br />
ein Zweisitzer-Moped – die legendäre<br />
Simson Schwalbe? – <strong>und</strong> ein<br />
vierschrötiger Lada. Das Fahrzeug<br />
sowjetischer Bauart in feldgrauer Lackierung<br />
spielt auf das Ereignis an, das<br />
der Künstler in ein malerisches Traumbild<br />
verwandelt. Den Prager Frühling zu<br />
beenden, waren im Herbst 1968 sowjetische<br />
Panzerverbände durch das Vogtland<br />
gerasselt, die Heimat des Künstlers,<br />
Wolfgang Mattheuers „Hinter den<br />
sieben Bergen“ von 1973 ist noch<br />
immer in Leipzig zu besichtigen<br />
in Richtung tschechischer Grenze. „Die<br />
Freiheit spielt mit bunten Luftballons“,<br />
schreibt Mattheuer ins Tagebuch, „<strong>und</strong><br />
andere fahren hin mit Panzer <strong>und</strong> Kanonen<br />
– um nachzuschauen.“<br />
Gewölk wirft seinen Schatten über<br />
die Hügel. Der Himmel vor uns wäre<br />
noch makellos, schwebte da nicht die<br />
Fata Morgana einer lichten Frauengestalt:<br />
Kolossal wie die Freiheitsstatue von<br />
New York <strong>und</strong> zugleich elegant wie Delacroix’<br />
„Liberté“, die das Volk auf die<br />
Barrikaden führt. Ihre Trikolore hat sich<br />
in bunte Luftballons vervielfältigt, einen<br />
Blumenstrauß trägt Marianne statt dem<br />
Gewehr. Malte hier ein „Republikflüchtling<br />
im Wartestand“? Die Genossen unter<br />
den Kritikern sahen hinter den sieben<br />
Bergen das kapitalistische Westdeutschland<br />
haltlos lockend hervorlugen.<br />
Das Gemälde wurde auch im Westen<br />
umgehend wahrgenommen. Kaum war<br />
die Farbe trocken, gelangte „Hinter den<br />
sieben Bergen“ an die legendäre Hamburger<br />
Ausstellung zum 200. Geburtstag<br />
von Caspar David Friedrich. Der DDR-<br />
Maler war heimgeholt als Nachfahre der<br />
Landschaftsmalerei im Geist der deutschen<br />
Romantik. Die linken Ausstellungsmacher<br />
in Westdeutschland wollten<br />
ein Gegengewicht zur US-amerikanischen<br />
Dominanz im Kunstbetrieb schaffen.<br />
Dabei wurden sie von Peter Ludwig<br />
unterstützt, der nicht nur westliche Pop-<br />
Art, sondern auch realistische Kunst aus<br />
dem Ostblock sammelte. Mit Mattheuer<br />
war er seit 1977 im Geschäft, demselben<br />
Jahr, als „Hinter den sieben Bergen“ zur<br />
Documenta nach Kassel reiste.<br />
Verkäufe in den Westen wurden über<br />
den staatlichen Kunsthandel abgewickelt.<br />
Die DDR war durchaus interessiert, mit<br />
kritischer Kunst Geschäfte zu machen.<br />
Damit erwarb man sich Westdevisen <strong>und</strong><br />
eine liberale Außenwirkung. Toleriert<br />
war Regimekritik in der Maske des Mythos.<br />
Auch der Parteifunktionär mochte<br />
Beat Wyss<br />
ist einer der bekanntesten<br />
Kunsthistoriker des Landes.<br />
Er lehrt Kunstwissenschaft<br />
<strong>und</strong> Medienphilosophie an<br />
der Staatlichen Hochschule<br />
<strong>für</strong> Gestaltung in Karlsruhe<br />
<strong>und</strong> schreibt jeden Monat<br />
in <strong>Cicero</strong> über ein Kunstwerk<br />
<strong>und</strong> dessen Geschichte.<br />
Kürzlich erschien bei Philo<br />
Fine Arts sein Essay „Renaissance<br />
als Kulturtechnik“<br />
sich unter den „Mühen der Ebene“ als<br />
Sisyphos vorkommen, dem der Fels kurz<br />
vor dem Gipfel des Sozialismus dann<br />
doch wieder hinunterkollert.<br />
War die westliche Freiheit utopischer<br />
Vorschein oder nur Budenzauber?<br />
Mattheuers Gemälde lässt beide Lesarten<br />
zu. Der Künstler selbst war in dieser<br />
Frage unentschieden. In der Ambivalenz<br />
steckt nicht Verstellung, sondern<br />
Zwiespalt. Der wurde mit Preisen besiegelt:<br />
1984 erhielt der Mitbegründer der<br />
Leipziger Schule den Staatspreis der DDR<br />
Erster Klasse, überreicht von Erich Honecker,<br />
neun Jahre später den Verdienstorden<br />
der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland,<br />
überreicht von Richard von Weizsäcker.<br />
Die Überlandstraße von Hof Richtung<br />
Zwickau durchs Vogtland, gemalt<br />
von Mattheuer, ist inzwischen zur vierspurigen<br />
A72 ausgebaut, der Grenzübergang<br />
vor Plauen geschlossen.<br />
129<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
SALON<br />
Gespräch<br />
„ IRREN GEHÖRT DAZU “<br />
Seinsgeschichtlicher Antisemitismus: Peter Trawny, Herausgeber<br />
der „Schwarzen Hefte“, über Abgründe im<br />
Denken Heideggers – <strong>und</strong> warum der Philosoph anregend bleibt<br />
Herr Trawny, Sie sind der Herausgeber<br />
der „Schwarzen Hefte“ <strong>und</strong> gehörten<br />
zu den Ersten, die darauf bestanden,<br />
dass es sich bei den problematischen<br />
Äußerungen Heideggers um Antisemitismus<br />
handele. Warum sind Sie so<br />
vorgegangen?<br />
Peter Trawny: Wir müssen, wenn<br />
wir diese Äußerungen lesen, die gängigen<br />
Kriterien der Antisemitismusforschung<br />
anlegen. Dann bleibt uns nichts<br />
anderes übrig, als sie als Antisemitismus<br />
zu bezeichnen. Da haben wir keinen<br />
Spielraum. Bei Heidegger gibt es eine<br />
spezifische Form des Antisemitismus, der<br />
Martin Heidegger<br />
Der 1889 geborene Philosoph<br />
notierte in den „Schwarzen Heften“<br />
von den dreißiger Jahren bis kurz<br />
vor seinem Tod 1976 Hintergr<strong>und</strong>notizen<br />
zu seiner Philosophie. Sie<br />
bilden den <strong>für</strong> 2020 vorgesehenen<br />
Abschluss der auf über h<strong>und</strong>ert<br />
Bände angelegten Gesamtausgabe<br />
allerdings mit Stereotypen arbeitet, die<br />
heute noch weit verbreitet sind <strong>und</strong> den<br />
Antisemitismus mitbestimmen. Ich denke<br />
an sein Räsonieren über „die zähe Geschicklichkeit<br />
des Rechnens <strong>und</strong> Schiebens<br />
<strong>und</strong> Durcheinandermischens, wodurch<br />
die Weltlosigkeit des Judentums<br />
gegründet“ werde. Er sah das Judentum<br />
verantwortlich <strong>für</strong> „das Sichbreitmachen<br />
einer sonst leeren Rationalität<br />
<strong>und</strong> Rechenfähigkeit“. Mir ging es dabei<br />
auch um die Frage: Wie wollen wir<br />
mit Heidegger an den Universitäten<br />
umgehen? Wie weit sind die Institutionen<br />
bereit, Projekte, die mit Heidegger<br />
Foto: Digne Meller Marcovicz/BPK<br />
130<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
zusammenhängen, noch zu fördern? Deshalb<br />
schien es mir richtig, die Diskussion<br />
ohne Wenn <strong>und</strong> Aber zu führen <strong>und</strong> nicht<br />
zu lavieren.<br />
Verändern die „Schwarzen Hefte“ unser<br />
Bild von Heideggers Haltung zum<br />
Nationalsozialismus?<br />
Es bleibt im Großen <strong>und</strong> Ganzen der<br />
Weg, den man kannte: Eine frühe Faszination,<br />
verb<strong>und</strong>en mit einem Engagement,<br />
das relativ schnell wieder einkassiert<br />
wird; aber auch eine bleibende<br />
Loyalität bei gleichzeitiger kritischer Distanzierung,<br />
die dann immer stärker wird.<br />
Das Neue ist das, was ich antisemitische<br />
Passagen im philosophischen Kontext<br />
nennen würde. Man kannte private Äußerungen,<br />
die ein gewisses Ressentiment<br />
gegenüber Juden ausdrückten, aber keinen<br />
Versuch, das Judentum als geschichtliche<br />
Figur in den Auseinandersetzungen<br />
des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts zu fassen.<br />
Die Reaktion in der publizistischen Öffentlichkeit<br />
fiel sehr heftig aus. Hat Sie<br />
das überrascht?<br />
Ich hatte erwartet, dass es eine Debatte<br />
geben werde, aber nicht in dieser<br />
Breite. Das Video bei Youtube, das<br />
mich bei der ersten öffentlichen Vorstellung<br />
der „Hefte“ zeigt, ist 7000 Mal angeklickt<br />
worden. Das finde ich ziemlich<br />
verrückt. Es zeigt, dass es ein breites Interesse<br />
an diesem Philosophen gibt.<br />
von Jürgen Habermas. Die Kritische Theorie<br />
hält das Argument <strong>für</strong> die Zentralfunktion<br />
des philosophischen Denkens.<br />
Heideggers Denken aber ist kein Diskurs.<br />
Es ist eine andere Weise des Denkens, die<br />
von den Vertretern des Arguments nicht<br />
als Philosophie anerkannt wird.<br />
Bei einem Philosophen, der die Öffentlichkeit<br />
derart verachtet hat, könnte<br />
man in dieser Umkehrung Ironie sehen.<br />
Diese problematische Verachtung der<br />
Öffentlichkeit ist typisch <strong>für</strong> Heideggers<br />
Denken: Es ist anstößig. Auf diese Provokation<br />
können die Nichtakademiker<br />
erstaunlicherweise besser reagieren als<br />
die Akademiker, die glauben, es sei nicht<br />
Aufgabe der Philosophie, Anstoß zu erregen.<br />
Das gilt etwa auch <strong>für</strong> Heideggers<br />
Schülerin <strong>und</strong> vorübergehende Geliebte<br />
Hannah Arendt. Auch sie ist der Ansicht,<br />
dass Philosophie extrem sein <strong>und</strong> Anstoß<br />
erregen muss, um überhaupt Philosophie<br />
zu sein. In der Analytischen Philosophie<br />
<strong>und</strong> der Kritischen Theorie hat der Anstoß<br />
als Anstoß keine Bedeutung.<br />
„Wer groß denkt, muss groß irren“, heißt<br />
es in den „Schwarzen Heften“ – der zentrale<br />
Satz <strong>für</strong> Ihr neues, soeben bei Matthes<br />
& Seitz erschienenes Buch „Irrnisfuge.<br />
Heideggers An-archie“. Martin<br />
Heideggers Irren, schreiben Sie, sei „ein<br />
Augenblick der Philosophie“.<br />
„Die Irre“, wie er das nennt, gehört<br />
konstitutiv zu Heideggers Wahrheitsverständnis:<br />
Er war philosophisch davon<br />
überzeugt, dass es so etwas wie eine moralische<br />
Verantwortung des Autors nicht<br />
gibt. Was mich aber eigentlich interessiert,<br />
ist die Frage, ob der Irrtum oder das<br />
Verirren nicht überhaupt zur Geschichte<br />
des Philosophierens gehört. Wir hangeln<br />
uns an dem entlang, was Habermas das<br />
„bessere Argument“ nennt. Aber welche<br />
Kriterien haben wir eigentlich, um ein<br />
philosophisches Buch wahr oder unwahr<br />
zu nennen? Auf dieses Problem scheint<br />
mir Heidegger hinzuweisen.<br />
Foto: Jens Grossmann/Laif [M]<br />
Wie erklären Sie sich das?<br />
Bei Heidegger gibt es eine Kluft zwischen<br />
der akademischen <strong>und</strong> der öffentlichen<br />
Wahrnehmung. In der Öffentlichkeit<br />
gilt Heidegger als der Philosoph des<br />
20. Jahrh<strong>und</strong>erts oder vielleicht – neben<br />
Ludwig Wittgenstein – als der andere<br />
große Philosoph dieses Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />
Es gibt ein allgemeines Interesse an dieser<br />
Figur, die sich natürlich in die Zeitgeschichte<br />
verstrickt hat, nicht einfach in<br />
akademischer Distanz geblieben ist. Das<br />
findet man interessant <strong>und</strong> wichtig.<br />
Aber nur in der Öffentlichkeit?<br />
Die Entwicklung der akademischen<br />
Philosophie in Deutschland in den letzten<br />
40 Jahren steht unter zwei Einflüssen:<br />
der Analytischen Philosophie, die<br />
aus dem angelsächsischen Raum kommt,<br />
<strong>und</strong> der Frankfurter Schule in Gestalt<br />
Peter Trawny<br />
In seinem neuen Essay „Irrnisfuge.<br />
Heideggers An-archie“ umkreist<br />
der Leiter des Wuppertaler<br />
Martin-Heidegger-Instituts einen<br />
umstrittenen Punkt: War Martin<br />
Heidegger Antisemit? Heideggers<br />
Engagement in den ersten Jahren<br />
des Nationalsozialismus ist seit<br />
langem bekannt, doch als Antisemit<br />
galt er nicht. Das änderte sich<br />
mit den seit März erscheinenden<br />
„Schwarzen Heften“, die Trawny<br />
herausgibt<br />
Welche Potenziale sehen Sie dann in<br />
Heideggers Denken <strong>für</strong> die Gegenwart?<br />
Zwei Punkte, wenn ich es knapp machen<br />
soll. Mit Heidegger lässt sich darüber<br />
nachdenken, inwiefern der Mensch<br />
in einer Welt, die universal von Technik,<br />
Kapital <strong>und</strong> Medien bestimmt wird, überhaupt<br />
noch frei sein kann. Wir sind heute<br />
integriert in eine Häufung von Funktionszusammenhängen,<br />
in eine Öffentlichkeit,<br />
die immer schon kapitalistisch<br />
geprägt <strong>und</strong> von Technik determiniert<br />
ist. Heideggers kritische Auseinandersetzung<br />
mit der Technik in den fünfziger<br />
<strong>und</strong> sechziger Jahren scheint mir ein<br />
Anknüpfungspunkt zu bleiben.<br />
Und zweitens?<br />
Ich glaube, dass der Denkstil, den<br />
Heidegger gepflegt hat, eine Form der<br />
131<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
SALON<br />
Gespräch<br />
Freiheit ist. Bei Heidegger lässt sich wie<br />
bei keinem Zweiten lernen, was es bedeutet,<br />
im Denken frei zu sein. Man kann<br />
seinen Stil kritisch sehen <strong>und</strong> muss ihm<br />
nicht folgen. Aber bei ihm kann man lernen,<br />
was es heißt, nicht stehen zu bleiben<br />
<strong>und</strong> sogar sich selbst immer wieder<br />
zu überwinden.<br />
Um eines der „Schwarzen Hefte“, das<br />
Sie demnächst herausgeben, scheint<br />
es einen regelrechten Krimi gegeben<br />
zu haben. Es war verschollen.<br />
Die „Anmerkungen I“ mit Aufzeichnungen<br />
von 1942 bis 1946 befanden sich<br />
im Besitz von Silvio Vietta, dem Sohn<br />
von Dory Vietta, einer Geliebten Heideggers.<br />
Vielleicht hatte Heidegger es<br />
ihr geschenkt. Die Familie Heidegger<br />
suchte es jahrelang. Im Zuge der Veröffentlichung<br />
der ersten „Schwarzen Hefte“<br />
hat sich dann Vietta bereit erklärt, das<br />
Heft dem Deutschen Literaturarchiv in<br />
Marbach am Neckar zu verkaufen. Erst<br />
danach war mir erlaubt, den Inhalt kennenzulernen.<br />
Vietta meinte in einem Interview<br />
mit der Zeit, das Heft enthalte<br />
keine „antisemitischen Stellen“. Diese<br />
Äußerung ist apologetisch <strong>und</strong> voreilig.<br />
Die Leser werden sich bald ihr eigenes<br />
Bild machen können.<br />
Was erwartet die Leser denn?<br />
Ich denke, dass meine These eines<br />
„seinsgeschichtlichen Antisemitismus“<br />
bei Heidegger durch die kommenden<br />
„Schwarzen Hefte“ gestützt wird.<br />
Es gibt darin Äußerungen zur Schoah,<br />
auch wenn Heidegger natürlich den Begriff<br />
nicht kennt. Mit einer Aussage dazu<br />
möchte ich abwarten.<br />
Die Literaturkritikerin Elke Heidenreich<br />
hat Heidegger in der Schweizer Fernsehsendung<br />
„Literaturclub“ vorgeworfen,<br />
er habe die Juden aus Deutschland beseitigt<br />
sehen wollen. Stimmen Sie zu?<br />
Nein. Davon habe ich mich auch distanziert.<br />
Die Frage ist: Was hat Heidegger<br />
gewusst? Man muss sehen, dass<br />
Heidegger die antisemitischen Formulierungen<br />
während der Judenverfolgung<br />
verwendet. Das hat ein größeres<br />
Gewicht als beispielsweise bei Nietzsche,<br />
bei dem sich ebenfalls antisemitische<br />
Äußerungen finden – neben<br />
philosemitischen.<br />
„ Bei Heidegger<br />
lässt sich<br />
wie bei keinem<br />
Zweiten lernen,<br />
was es bedeutet,<br />
im Denken<br />
frei zu sein “<br />
Nietzsche aber war 1900 gestorben.<br />
Heidegger muss die Judenverfolgung<br />
wahrgenommen haben. 1938<br />
brannte in Freiburg die Synagoge unweit<br />
der Universität, an der er lehrte. Er<br />
hat auch wahrgenommen, dass Menschen<br />
emigriert sind. Es gibt allerdings keinen<br />
Hinweis darauf, dass er gewusst hat, was<br />
in den Vernichtungslagern passiert. Vermutlich<br />
wusste er es nicht.<br />
In den bisher veröffentlichten „Schwarzen<br />
Heften“ spricht sich ein vehementes<br />
Krisenbewusstsein aus. Ist das die<br />
Krise des Nationalsozialismus oder betrifft<br />
uns diese Diagnose noch?<br />
Beides. Das macht seine kritische<br />
Analyse des Nationalsozialismus <strong>für</strong><br />
viele nicht annehmbar: dass Heidegger<br />
ihn als eine Form der Moderne begreift,<br />
auch wenn er das Wort nicht benutzt. Er<br />
ist überzeugt, dass der Nationalsozialismus<br />
eine Endform der Neuzeit <strong>und</strong> damit<br />
auch der Moderne darstellt. Dass er daran<br />
den krisenhaften Status auch der Philosophie<br />
thematisiert, scheint mir stimmig.<br />
Für die Gegenwart nenne ich nur<br />
ein Beispiel, das Heidegger selbst wahrscheinlich<br />
gar nicht verstanden hätte:<br />
Die Alphatiere des akademischen Betriebs<br />
listen heute in ihren Lebensläufen<br />
bereits die Summen der angeworbenen<br />
Drittmittel auf.<br />
„Rechnendes Denken“ lautet ein Hauptvorwurf<br />
Heideggers an die Neuzeit.<br />
Tatsächlich muss man sich fragen,<br />
was es denn <strong>für</strong> die Philosophie bedeutet,<br />
wenn sie sich maßlos in eine Ökonomisierung<br />
integriert, gegen die man<br />
von den Philosophen eher Sturm erwarten<br />
sollte. Ging es der Philosophie nicht<br />
einmal darum, mit all dem zu brechen,<br />
was wir sonst so tun? Ich erinnere nur<br />
an das Höhlengleichnis: Die Philosophie<br />
beginnt bei Platon mit einer Geschichte<br />
des Ausbruchs. Da<strong>für</strong> gibt es bei solchen<br />
Philosophen aber gar kein Bewusstsein<br />
mehr. Heidegger hingegen thematisiert<br />
genau diese totale Integration der Philosophie<br />
in Funktionszusammenhänge, in<br />
die sie ihrer Herkunft nach nicht hineingehört<br />
oder die sie immer brechen wollte.<br />
Dann wäre Heidegger <strong>für</strong> Sie der Denker<br />
einer kommenden Revolution?<br />
Das vielleicht nicht. Aber es gibt<br />
in der gesamten Geschichte der Philosophie<br />
seit Parmenides eine Tendenz<br />
zu dem, was Heidegger die „Verwandlung“<br />
genannt hat. Dahinter steckt die<br />
Überzeugung, dass es eine Wahrheit gibt,<br />
die sich nicht einfach in die bestehenden<br />
Verhältnisse integriert. Das teilt die<br />
platonische Philosophie mit dem Christentum,<br />
das teilen die philosophischen<br />
Vertreter einer Revolution mit dem religiösen<br />
Messianismus. Können wir diese<br />
Tradition einfach verabschieden <strong>und</strong> ausrufen:<br />
Das sagt uns nichts mehr? Leben<br />
wir in einer Zeit, die so immanent von<br />
Technik, Kapital <strong>und</strong> Medien bestimmt<br />
ist, dass es kein Außerhalb mehr gibt,<br />
dass wir uns ganz da hinein integrieren<br />
müssen, weil es uns vorrangig um soziale<br />
Sicherheit geht <strong>und</strong> es nichts mehr anderes<br />
zu denken gibt? An diesem Punkt<br />
gibt es <strong>für</strong> mich bei den zeitgenössischen<br />
Denkern wenig Anknüpfungspunkte. Sie<br />
tun so, als sei das kein Problem mehr.<br />
Heidegger gehört in diese lange, ältere<br />
Tradition noch hinein.<br />
MICHAEL STALLKNECHT stellte die Fragen<br />
132<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
DER TAGESSPIEGEL<br />
Diversity<br />
2014<br />
Die Konferenz <strong>für</strong> Vielfalt<br />
in der Arbeitswelt<br />
13. <strong>und</strong> 14. November in Berlin<br />
Jetzt Tickets buchen!<br />
www.diversity-konferenz.de<br />
Wie steht es um die Vielfalt in der Wirtschaft? Im Mittelpunkt<br />
der Veranstaltung stehen die praktischen Erfahrungen der<br />
Unternehmen. Neben Keynotes <strong>und</strong> Podiumsdiskussionen<br />
wird in Workshops praktisches Wissen vermittelt. Ein weiterer<br />
Höhepunkt ist der Diversity-Slam – ein Wettstreit auf<br />
der Bühne im Minutentakt.<br />
Die Themen der Workshops: Wie kommuniziert man Vielfalt?<br />
Wie sieht eine barrierefreie Arbeitswelt aus? Wie<br />
gehen Firmen mit sexueller Orientierung <strong>und</strong> Identität am<br />
besten um? Wie bezieht man Männer aktiv in die Diversity-<br />
Arbeit ein?<br />
Als Referentinnen <strong>und</strong> Referenten nehmen unter anderem teil:<br />
Manuela Schwesig<br />
B<strong>und</strong>esministerin <strong>für</strong><br />
Familie, Senioren,<br />
Frauen <strong>und</strong> Jugend<br />
Aydan Özoguz<br />
Staatsministerin<br />
<strong>und</strong> Beauftragte <strong>für</strong><br />
Migration, Flüchtlinge<br />
<strong>und</strong> Integration<br />
Ingo Kramer<br />
Präsident der<br />
B<strong>und</strong>esvereinigung der<br />
Deutschen Arbeitgeberverbände<br />
(BDA)<br />
Claudia Joost<br />
Personalvorstand<br />
BP Europa SE<br />
Angelika Huber-<br />
Straßer<br />
Partnerin bei der<br />
KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft<br />
Eva Maria<br />
Welskop-Deffaa<br />
Mitglied im ver.di-<br />
B<strong>und</strong>esvorstand<br />
Bernd Ulrich<br />
stellvertretender<br />
Chefredakteur DIE<br />
ZEIT<br />
Hatice Akyün<br />
Journalistin, Kolumnistin<br />
<strong>und</strong> Buchautorin<br />
Ana-Cristina Grohnert,<br />
Managing Partner Talent,<br />
Ernst & Young GmbH<br />
Wirtschaftsprüfungsgesellschaft,<br />
Vorstandsvorsitzende<br />
Charta der<br />
Vielfalt e.V.<br />
www.diversity-konferenz.de<br />
Unsere Partner
SALON<br />
Reportage<br />
ER IST<br />
WIEDER DA<br />
Von ECKHARD FUHR<br />
Illustrationen MARCO WAGNER<br />
Lehrmeister <strong>und</strong> Mythentier, Hoffnungsträger <strong>und</strong><br />
Angstobjekt, immer <strong>für</strong> eine Haupt- <strong>und</strong> Staatsaktion<br />
gut: Wie ein Heimkehrer unser Leben verändert.<br />
Einblicke in die Wolfsrepublik Deutschland<br />
134<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
SALON<br />
Reportage<br />
Die Herbstsonne stand schon am Himmel.<br />
Der Hirsch, der im Morgengrauen auf der<br />
Waldwiese geäst hatte, war längst in den<br />
Wald gezogen. Seit St<strong>und</strong>en saßen wir<br />
regungslos in unserem Versteck, eingepackt<br />
in zottelige Tarnanzüge, in denen es uns jetzt<br />
mehr als wohlig warm wurde. Meinen ersten Wolf sah<br />
ich, als ich mir hinter der Gesichtsmaske den Schweiß<br />
aus den Augen gerieben hatte. Die Nase am Boden,<br />
kam er genau dort aus dem Wald, wo vor einer St<strong>und</strong>e<br />
der Hirsch verschw<strong>und</strong>en war. Er hatte es nicht eilig.<br />
Wie ein schlecht gelaunter Teenager trödelte er in den<br />
Tag hinein. Etwa ein halbes Jahr alt musste der im<br />
Frühjahr geborene Jungwolf sein. Der dunkle, graubraune<br />
Winterbalg, den er früh angelegt hatte, ließ<br />
ihn älter erscheinen. Das Wölfchen wirkte schon wie<br />
ein Wolf. Nach einigen Minuten folgte ihm ein zweiter.<br />
Als die Bühne leer war, löste sich meine Benommenheit,<br />
Zivilisationsgeräusche drangen an mein Ohr.<br />
Wir waren im Lausitzer Braunkohlerevier, nicht weit<br />
vom Kraftwerk „Schwarze Pumpe“. Mein Begleiter,<br />
der Biologe <strong>und</strong> Tierfilmer Sebastian Koerner, packte<br />
Kamera <strong>und</strong> Stativ zusammen. Für ihn sind solche<br />
Wolfsbeobachtungen nichts Spektakuläres. Ein Großteil<br />
der Filmaufnahmen, die es von wild lebenden Wölfen<br />
in Deutschland gibt, stammt von ihm.<br />
Ich wollte deutsche Wölfe mit eigenen Augen gesehen<br />
haben, bevor ich über sie schreibe. Ich dachte mir,<br />
dass man sich mit einem eigenen Bild im Kopf sicherer<br />
in einem Gebiet bewegt, wo Zerrbilder, Wunschbilder<br />
oder Phantombilder üppig gedeihen. Und ich wollte natürlich<br />
auch wissen, ob eine Begegnung mit Wölfen ein<br />
so aufwühlendes, ja erschütterndes Erlebnis ist, wie<br />
es vielfach geschildert wird. Am meisten beeindruckte<br />
mich die Gelassenheit der Wölfe. Die Begegnung mit<br />
ihnen war kein Erweckungserlebnis, sondern eine Ernüchterung<br />
im besten Sinne: Die Wölfe selbst sind das<br />
beste Kontrastprogramm zu den Hysterien, die sie bei<br />
ihren menschlichen Zeitgenossen mitunter entfachen.<br />
Es ist allerdings schwer, nüchtern zu bleiben bei<br />
der Beschäftigung mit Wölfen. Wie kein anderes Tier<br />
findet der Stammvater unserer H<strong>und</strong>e direkten Zugang<br />
zu unseren Emotionen. Menschen <strong>und</strong> Wölfe waren,<br />
seit sie sich in den eiszeitlichen Steppen Eurasiens <strong>und</strong><br />
Nordamerikas begegneten, aufeinander bezogen. Sie<br />
Es ist schwer, nüchtern<br />
zu bleiben bei der<br />
Beschäftigung mit<br />
Wölfen. Es geht um<br />
Elementares<br />
teilten denselben Lebensraum, jagten dieselben Beutetiere,<br />
wendeten gleiche Jagdstrategien an, ähnelten<br />
sich in ihrem Sozialverhalten <strong>und</strong> entwickelten deshalb<br />
ein „Verständnis“ <strong>für</strong>einander, das es so in keiner<br />
anderen Mensch-Tier-Beziehung gibt. Es geht um<br />
Elementares, wenn der Wolf wieder auftaucht.<br />
Ohne die Zehntausende von Jahren währende<br />
Sonderbeziehung zwischen Wolf <strong>und</strong> Mensch ist die<br />
gewaltige Resonanz nicht zu erklären, die seine Rückkehr<br />
in die mitteleuropäische Kulturlandschaft findet.<br />
Es gibt noch andere solcher Rückkehrer, etwa den Biber,<br />
den Seeadler, den Luchs oder die Wildkatze. Aber<br />
keiner polarisiert so wie der Wolf, um keinen gibt es<br />
ein solches Geschrei. Naturnutzer wie Schafhalter oder<br />
Jäger stellt er vor manchmal schwer lösbare Probleme.<br />
Naturschützer feiern seine Rückkehr. Naturromantiker<br />
begrüßen den Wolf als Boten angeblich unberührter<br />
Wildnis <strong>und</strong> übersehen dabei gern, dass ihn die<br />
durch intensive Landwirtschaft auf einen historischen<br />
Höchststand gefütterten Populationen seiner Beutetiere<br />
anlocken. Städter lieben den Wolf mehr, als es<br />
die Landbevölkerung tut, die ihn zum direkten Nachbarn<br />
hat. Ältere hegen ihm gegenüber größere Bedenken<br />
als Jüngere. Der Osten Deutschlands – Sachsen,<br />
Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern<br />
– wird in wenigen Jahren flächendeckend vom<br />
Wolf besiedelt sein. Im Westen <strong>und</strong> Südwesten ist er<br />
bislang nur zeitweiliger Gast. Die westlichsten Rudelterritorien<br />
liegen derzeit in der Lüneburger Heide.<br />
AUFMERKSAM AUF DIE WÖLFE wurde ich bald nach der<br />
deutschen Wiedervereinigung. Im Mittelpunkt meiner<br />
Arbeit standen die politischen, gesellschaftlichen <strong>und</strong><br />
kulturellen Folgen dieser Zeitenwende. Aber gewissermaßen<br />
aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, dass<br />
sich auch in der Natur so etwas wie eine „Wende“ anbahnte.<br />
Anfang der neunziger Jahre häuften sich die<br />
Berichte über Wölfe, die, aus Polen kommend, bis in<br />
die Nähe Berlins vordrangen <strong>und</strong> auf dem Autobahnring<br />
zu Tode kamen. Auch geschossen wurden zuwandernde<br />
Wölfe immer wieder, obwohl seit dem 3. Oktober<br />
1990 in der ehemaligen DDR das deutsche <strong>und</strong><br />
europäische Naturschutzrecht galt, nach dem der Wolf<br />
eine streng geschützte Art ist, <strong>für</strong> deren Erhaltung <strong>und</strong><br />
Förderung sich die Politik aktiv einsetzen muss. Als<br />
ich in der FAZ meinen ersten Artikel über die Rückkehr<br />
der Wölfe schrieb, erklärte mich mancher Leserbriefschreiber<br />
zum Spinner. Für die große Mehrheit<br />
der Deutschen war vor 20 Jahren die Vorstellung,<br />
ihr Land könnte wieder von Wölfen besiedelt werden,<br />
schlicht abwegig. Man stand doch an der Schwelle zum<br />
21. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>und</strong> erlebte die Anfänge einer digitalen<br />
Revolution. Wölfe gab es seit mehr als 100 Jahren<br />
in Deutschland nicht mehr. Die letzten in den Vogesen,<br />
in der Eifel oder in Sachsen wurden um 1900 erlegt.<br />
Schon da gab es nur noch Einzeltiere <strong>und</strong> Durchwanderer.<br />
Gut, in Ostpreußen waren sie nie verschw<strong>und</strong>en.<br />
136<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
SALON<br />
Reportage<br />
Aber wie lange schon war das alte Ostpreußen versunken?<br />
Nein, Wölfe passten einfach nicht in die Zeit.<br />
Die Wölfe sahen das anders. Als hätten sie einen<br />
Sinn <strong>für</strong> historische Dramaturgie, begannen sie ihre<br />
Landnahme westlich von Oder <strong>und</strong> Neiße just in dem<br />
Moment, in dem Parlament <strong>und</strong> Regierung ihre Arbeit<br />
in Berlin aufnahmen <strong>und</strong> sich der Fokus politischer<br />
<strong>und</strong> kultureller Öffentlichkeit vom Rhein an<br />
die Spree verschob. Die Veröstlichung Deutschlands<br />
<strong>und</strong> die Verwestlichung der Wölfe trafen zusammen,<br />
als ein Wolfspaar auf dem Truppenübungsplatz Muskauer<br />
Heide in der sächsischen Oberlausitz im Frühjahr<br />
2000 Welpen großzog, die ersten seit mehr als<br />
einem Jahrh<strong>und</strong>ert in Deutschland geborenen Wölfe.<br />
Und die ersten Wölfe überhaupt, die offiziell willkommen<br />
waren. Nicht mehr ihre Ausrottung, sondern die<br />
Aussöhnung mit ihnen stand plötzlich auf der Agenda.<br />
150 Jahre lang hatte kein Wolf eine Überlebenschance<br />
in Deutschland. Nun warteten überall Empfangskomitees<br />
auf ihn. <strong>Kein</strong> Umweltminister kann es sich leisten,<br />
nichts <strong>für</strong> den Wolf zu tun. B<strong>und</strong>esländer, in denen<br />
Wölfe noch nicht regelmäßig vorkommen, werden zu<br />
Wolfserwartungsländern erklärt, damit an R<strong>und</strong>en Tischen<br />
Wolfsmanagementpläne verhandelt werden können.<br />
Wem es gelingt, Naturschützer <strong>und</strong> Jäger, Tierschützer<br />
<strong>und</strong> Landwirte zusammenzuspannen, der hat<br />
sein artenschutzpolitisches Meisterstück geliefert.<br />
Verw<strong>und</strong>erlich ist das alles nur auf den ersten<br />
Blick. Wenn man in die Geschichte zurückschaut, wird<br />
einem schnell klar, dass der Wolf immer <strong>für</strong> Haupt- <strong>und</strong><br />
Staatsaktionen gut war. Er war, bei Römern <strong>und</strong> Türken<br />
etwa, in die Gründungsmythen großer Reiche eingeschrieben.<br />
Im christlichen Abendland aber diente er,<br />
wenn Hunnen, Muselmanen, Ungarn oder Slawen gerade<br />
nicht zur Hand waren, als Feind, gegen den kirchliche<br />
<strong>und</strong> weltliche Herren die göttliche Ordnung oder<br />
die moderne Zivilisation verteidigten.<br />
Heute haben sich diese Verhältnisse umgekehrt.<br />
Funktionierende Staatlichkeit zeigt sich nicht mehr<br />
in der Fähigkeit, den Wolf zu vernichten. Im Gegenteil:<br />
Der Staat muss beweisen, dass er den Wolf schützen<br />
<strong>und</strong> gesellschaftliche Akzeptanz <strong>für</strong> ihn schaffen<br />
kann. Überall in Europa erobern Wölfe angestammte<br />
Lebensräume zurück. Zum ersten Mal in geschichtlicher<br />
Zeit unternehmen die Europäer nichts dagegen.<br />
Das ist <strong>für</strong> beide Seiten neu. Was daraus wird, ist offen.<br />
Manche Wölfe sind von dieser Offenheit gezeichnet.<br />
ENDE MÄRZ 2013 wird nahe der Ortschaft Mücka im<br />
Landkreis Görlitz der Kadaver der Wölfin „Einauge“<br />
gef<strong>und</strong>en. „Einauge“ war eine der Urmütter der deutschen<br />
Wölfe. Geboren auf dem Truppenübungsplatz<br />
Muskauer Heide, gehörte sie vielleicht zu den ersten<br />
„deutschen“ Wolfswelpen, die dort im Jahr 2000 zur<br />
Welt kamen. Es kann aber auch sein, dass sie aus dem<br />
Muskauer Wurf des folgenden Jahres stammte. Irgendwann<br />
kam <strong>für</strong> sie die Zeit abzuwandern, einen Partner<br />
zu suchen, ein eigenes Territorium zu begründen<br />
<strong>und</strong> Nachwuchs in die Welt zu setzen.<br />
„Einauge“ war eine späte Mutter. Erst 2005 fand<br />
sie den Richtigen, der so ganz richtig dann auch nicht<br />
war. Ihr Rüde kam aus der näheren Verwandtschaft.<br />
Es mag sein, dass sie deswegen so lange zögerte, sich<br />
zu binden. Lieber wäre ihr wahrscheinlich ein frischer<br />
Einwanderer aus Polen gewesen oder gar aus Weißrussland<br />
oder dem Baltikum. Solche Blutauffrischer jedoch<br />
waren <strong>und</strong> sind auch heute noch Mangelware auf dem<br />
wölfischen Heiratsmarkt. Wie dem auch sei, ihr Auserwählter<br />
nahm sie, wie sie war, einäugig <strong>und</strong> humpelnd.<br />
Filmaufnahmen aus dem Jahr 2005 zeigen ein<br />
Wolfspaar in der Nähe des Braunkohletagebaus Nochten.<br />
Bei der Wölfin leuchtet nachts nur ein Auge, das<br />
linke. Und sie lahmt. So kommt „Einauge“ zu ihrem<br />
Namen. Die Begründer des Nochtener Rudels ziehen<br />
Celebrate Classical Music<br />
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22. – 30. November 2014<br />
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21. – 29. März 2015<br />
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14. August – 13. September 2015<br />
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is 2011 Jahr <strong>für</strong> Jahr Welpen auf, mindestens 42 insgesamt.<br />
Nachkommen von „Einauge“ begründen das<br />
Daubaner, das Spremberger <strong>und</strong> das Milkeler Rudel.<br />
Eine Tochter wandert nach Niedersachsen <strong>und</strong> eröffnet<br />
dort, auf dem Truppenübungsplatz Munster, das<br />
neue Wolfszeitalter.<br />
2010 wurde „Einauge“ gefangen <strong>und</strong> mit einem<br />
Senderhalsband versehen. Leider funktionierte das<br />
Gerät nicht lange. Immerhin ergaben die gesammelten<br />
Daten, dass „Einauge“ ein Territorium von r<strong>und</strong><br />
200 Quadratkilometern bewohnte. Auch konnte man<br />
nachvollziehen, dass sie mit ihren Welpen oft umzog.<br />
Gab es Gründe <strong>für</strong> diese Unruhe? 2012 wurden „Einauge“<br />
<strong>und</strong> ihr Partner verdrängt; eine Tochter nahm<br />
ihre Position ein. Aufnahmen aus Fotofallen <strong>und</strong> vielfältige<br />
Spuren belegen diesen Machtwechsel.<br />
„Einauges“ Kadaver wurde im Berliner Institut <strong>für</strong><br />
Zoo- <strong>und</strong> Wildtierforschung obduziert. Als Todesursache<br />
stellte man schwere Bissverletzungen fest. Alles<br />
deutet darauf hin, dass „Einauge“ von Artgenossen<br />
getötet wurde. Wahrscheinlich war sie zwischen<br />
die Fronten eines wölfischen Grenzkriegs geraten. Der<br />
F<strong>und</strong>ort ihres Kadavers jedenfalls liegt in einem zwischen<br />
zwei Rudeln umkämpften Gebiet. Andere Angriffe<br />
hatte sie überlebt. Mehrfach war auf sie geschossen<br />
worden. In ihrem Körper fand man Schrotkörner.<br />
„Einauge“ verbrachte den größten Teil ihres Lebens<br />
genau dort, wo 100 Jahre zuvor der „letzte“ deutsche<br />
Wolf, der „Tiger von Sabrodt“ 1904 erlegt wurde. Nun<br />
sei endlich, „Gott sei Dank, Ruhe, <strong>und</strong> den Erfolg werden<br />
wir recht bald an unserem Wildstand merken“, kommentierte<br />
damals die Jagdzeitschrift Wild <strong>und</strong> H<strong>und</strong>.<br />
Heute gibt es unter den Jägern nicht wenige<br />
Wolfshasser, doch die artikulieren sich hauptsächlich<br />
in der Anonymität von Internetforen oder beim<br />
„Schüsseltreiben“ nach der Jagd, wenn man glaubt, unter<br />
sich zu sein. <strong>Kein</strong> Jagdverband aber fordert die<br />
neuerliche Ausrottung der Wölfe. Manchen Jägern<br />
verlangt diese offizielle Wolfstoleranz viel Selbstüberwindung<br />
ab. Ihnen fällt es schwer, einen Superjäger<br />
neben sich zu dulden. Andere jedoch freuen sich darüber,<br />
nun gemeinsam mit dem Wolf jagen zu dürfen.<br />
Auch die Weideviehhalter sind weit davon entfernt,<br />
zur Selbsthilfe mit Pulver <strong>und</strong> Blei zu greifen.<br />
Zwar kommt es immer wieder zu illegalen Abschüssen.<br />
Die weitere Ausbreitung der Wölfe wird aber daran<br />
nicht scheitern. Die Zahl der Rudel wächst. Insgesamt<br />
gibt es in Deutschland r<strong>und</strong> 30 Wolfsfamilien,<br />
also Wolfspaare mit Welpen <strong>und</strong> Jungen des Vorjahres.<br />
Nicht alle begrüßen die Wölfe begeistert. Das<br />
wäre eine Haltung, die man insbesondere den Landwirten<br />
nicht abverlangen kann. Dennoch besteht eine<br />
breite Bereitschaft, es trotz aller nicht von der Hand<br />
29.05.–30.11.2014<br />
www.dhm.de ∙ Täglich 10–18 Uhr
SALON<br />
Reportage<br />
zu weisenden Konflikte mit den Wölfen als Nachbarn<br />
wenigstens zu versuchen.<br />
„Einauge“ trug die Spuren alter Wolfsfeindschaft<br />
in ihrem Körper. Ihre Verletzungen hinderten sie aber<br />
nicht daran, in Deutschland ein langes, fruchtbares<br />
Wolfsleben zu führen. An den Wölfen wird die wölfische<br />
Wiederbesiedelung Mitteleuropas nicht scheitern.<br />
Sie betrachten die vom Menschen geformte Kulturlandschaft<br />
nüchtern <strong>und</strong> erkennen in ihr einen attraktiven<br />
Lebensraum. Das erstaunt viele Naturschützer, denen<br />
die Idee, Tieren <strong>und</strong> Pflanzen Rückzugsräume zu<br />
schaffen <strong>und</strong> Restbestände „unberührter“ Natur unter<br />
eine Schutzglocke zu stellen, zur zweiten Natur geworden<br />
ist. Der Wolf braucht nur genügend wild lebende<br />
Huftiere als Beute <strong>und</strong> ein Minimum an Rückzugsmöglichkeiten<br />
zur Aufzucht seiner Jungen. Das findet er<br />
fast überall in Deutschland. Auf Nationalparks oder<br />
andere Schutzgebiete ist er nicht angewiesen.<br />
Auch im Westen Deutschlands scheint Bewegung<br />
in die wölfische Expansion zu kommen. Vielleicht wird<br />
in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg <strong>und</strong> Nordrhein-Westfalen<br />
in absehbarer Zeit niemand mehr<br />
die Wölfe als ein Phänomen sich entvölkernder Landstriche<br />
des Ostens abtun können. Das waren sie zwar<br />
nie, aber dieser Denkfigur begegnet man bis heute. Es<br />
wird wohl Jahre dauern, bis auch in den Mittelgebirgen<br />
Westdeutschlands annähernd Verhältnisse wie in Sachsen<br />
oder Brandenburg herrschen. Und wahrscheinlich<br />
wird man über Schwarzwald oder Odenwald nie sagen<br />
können, was man über die Lausitz sagt, dass sie nämlich<br />
die europäische Region mit der größten Wolfsdichte<br />
sei. Doch zu einem normalen Bestandteil der Wildtierfauna<br />
wird er auch dort werden, wenn wir ihn lassen.<br />
Wölfe sind große Lehrmeister. Sie können uns zum<br />
Beispiel dazu bringen, Natur nicht nur dort wertzuschätzen,<br />
wo sie einem romantischen Ideal entspricht.<br />
Heidelandschaften, Hochmoore, Sumpfgebiete, ursprüngliche<br />
Auwälder können unserer Fürsorge sicher<br />
sein. Wir hegen <strong>und</strong> pflegen sie, wandeln dort auf vorgeschriebenen<br />
Pfaden oder lassen uns von Rangern<br />
führen, was die Kostbarkeit dieser „letzten Paradiese“<br />
noch unterstreicht. Es ist nichts falsch daran, solche<br />
selten gewordenen Naturräume <strong>und</strong> Ökosysteme unter<br />
Schutz zu stellen. Doch birgt die Fixierung auf diese<br />
„Reste“ die Gefahr, dass man allem darum herum mit<br />
Desinteresse begegnet, weil ja „der Mensch“ die Natur<br />
dort ohnehin „zerstört“ habe.<br />
DIE WÖLFE HELFEN UNS, von der romantischen Illusion<br />
einer intakten Natur loszukommen, indem sie uns<br />
vorführen, wie sie als hoch entwickelte Säugetiere die<br />
unterschiedlichsten vom Menschen geprägten Lebensräume<br />
nutzen können. Dieses Phänomen ist zwar nicht<br />
ganz neu. Füchse, Wildschweine, Waschbären oder Biber<br />
zum Beispiel haben sogar Großstädte als Habitat<br />
entdeckt, zu schweigen von unzähligen Vogelarten,<br />
die mit einem Großteil ihrer Populationen zu einer<br />
Interview<br />
KEINE ANGST VOR ISEGRIM<br />
„Der Wolf hat genauso wie der Mensch<br />
das Recht, auf dieser Erde zu leben“<br />
TILL BACKHAUS<br />
Der SPD-Politiker ist seit 1998<br />
Landwirtschaftsminister<br />
von Mecklenburg-Vorpommern<br />
Herr Backhaus, sind Sie schon einem Wolf begegnet?<br />
Till Backhaus: Ich bin wahrscheinlich einer der Ersten<br />
überhaupt, die in Mecklenburg-Vorpommern einen<br />
solchen Durchzügler sahen. Es war nachts, ich kam von<br />
einer Dienstfahrt zurück, <strong>und</strong> ich sah ihn vom Auto aus.<br />
Das muss im Herbst 2008 gewesen sein, in der Nähe von<br />
Zarrenthin.<br />
Haben Sie sich ge<strong>für</strong>chtet?<br />
Es gibt keinen Gr<strong>und</strong>, Angst zu haben. Die Chance,<br />
ihn beim Pilzesammeln oder Blaubeerpflücken zu treffen,<br />
ist äußerst gering. Seine Sinne sind außerordentlich<br />
fein, <strong>und</strong> er hat ein scheues Wesen. Zudem ist er eine<br />
vom Aussterben bedrohte Art. Wir Menschen müssen ihn<br />
schützen <strong>und</strong> ihm eine Heimstätte geben. Darum habe<br />
ich bereits 2006 angefangen, in Mecklenburg-Vorpommern<br />
ein Programm zum Wolfsmanagement aufzulegen.<br />
In Deutschland soll es r<strong>und</strong> 30 Wolfsfamilien geben.<br />
Die Größenordnung kann stimmen, aber es ist ein<br />
dynamischer Prozess. Es gilt als gesichert, dass wir derzeit<br />
in Sachsen <strong>und</strong> Brandenburg 22 Rudel haben. Mecklenburg-Vorpommern<br />
ist ein Zuzugsgebiet <strong>für</strong> Wölfe.<br />
Jüngst wurden hier fünf Welpen geboren, die wir – zusammen<br />
mit dem WWF – beobachten. Außerdem gibt es<br />
Hinweise, dass eine zweite Wölfin Nachwuchs bekam.<br />
Was tun Sie als Landesregierung?<br />
Wir haben alle Betroffenen an einen Tisch gebeten,<br />
neben Naturschützern <strong>und</strong> Bauernverbänden auch die<br />
Jäger. Bisher wurden über 50 Wolfsmanager ausgebildet.<br />
So gewinnen wir ein genaues Bild der Wolfspopulation.<br />
Sofern Schäden entstehen, prüft eine Stabsstelle im Landesamt<br />
Umwelt, Natur <strong>und</strong> Geologie, ob Wölfe die Verursacher<br />
waren, <strong>und</strong> entschädigt gegebenenfalls.<br />
Wird der Osten Deutschlands in wenigen Jahren flächendeckend<br />
vom Wolf besiedelt sein?<br />
Der Wolf ist ein sehr scheues <strong>und</strong> empfindsames<br />
Tier, kann aber in einer Nacht bis zu 70 Kilometer zurücklegen.<br />
Er liebt unverschnittene Landschaftsräume, daran<br />
herrscht im Osten kein Mangel. Der Wolf ist nach internationalem<br />
Recht eine der am stärksten geschützten<br />
Arten überhaupt. Denken Sie an das Washingtoner Artenschutzabkommen<br />
oder die Berner Konvention. Er ist<br />
auch im Europäischen Recht <strong>und</strong> im B<strong>und</strong>es- wie Landesrecht<br />
breit verankert. Er hat genauso wie der Mensch das<br />
Recht, auf dieser Erde zu leben. Die aus den Reihen der<br />
CDU erhobene irrsinnige Forderung, ihn generell jagen zu<br />
dürfen, stellt sich gegen alle diese Rechte.<br />
Würden Sie es niemals gutheißen, Wölfe zu schießen?<br />
Wenn die präventiven Maßnahmen nicht greifen<br />
<strong>und</strong> der Wolf dauerhaft in die Nutztierbestände eingreift,<br />
ist laut B<strong>und</strong>esnaturschutzgesetz die Bejagung eines<br />
Wolfes in begründeten Einzelfällen zulässig. Davon werden<br />
wir im Zweifelsfall Gebrauch machen. (akis)<br />
140<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
Fotos: SPD, Picture Alliance/DPA<br />
urbanen Lebensweise übergegangen sind. Dem Charismatiker<br />
Wolf jedoch haftet der Geruch der Wildnis an.<br />
Es ist eine Frage der Kultur, nicht der Natur, ob<br />
Mensch <strong>und</strong> Wolf im Europa des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts auf<br />
Dauer koexistieren können. Die Einstellung der Bevölkerung<br />
großen Beutegreifern gegenüber harrt zwar<br />
noch einer tiefer gehenden empirischen Untersuchung.<br />
Das bis jetzt vorliegende demoskopische Material lässt<br />
jedoch eine gr<strong>und</strong>sätzlich wohlwollende Haltung einer<br />
Mehrheit erkennen. Vor 35 Jahren, als Wölfe aus einem<br />
Gehege im Nationalpark Bayerischer Wald ausbrachen,<br />
war das Meinungsbild noch anders. Ohne den gr<strong>und</strong>sätzlichen<br />
gesellschaftlichen Meinungsumschwung unter<br />
dem Einfluss der Naturschutz- <strong>und</strong> Ökologiebewegung<br />
gäbe es das Thema Rückkehr der Wölfe nicht.<br />
Werden die Heimkehrer unser Leben verändern?<br />
Eine bequeme Antwort lautet, dass sich <strong>für</strong> die große<br />
Mehrheit der Bevölkerung gar nichts ändern werde.<br />
Sollen sich die Wölfe doch in strukturschwachen, von<br />
Bevölkerungsschw<strong>und</strong> betroffenen Gebieten ausbreiten<br />
<strong>und</strong> den Prozess der Verödung oder Renaturierung<br />
beschleunigen. „Mut zur Wildnis“ gilt gerade in<br />
urbanen Milieus als diskussionswürdige Option. Ungeahnte<br />
Mittel würden frei, wenn man Gebiete an der<br />
Peripherie vom zivilisatorischen Versorgungsnetz nehmen<br />
könnte <strong>und</strong> vom Gr<strong>und</strong>satz der Gleichwertigkeit<br />
der Lebensverhältnisse abrücken würde. Naturtourismus<br />
böte auch ökonomische Perspektiven.<br />
Die andere Position lautet, dass die Rückkehr<br />
der Wölfe die Aufmerksamkeit der Gesellschaft<br />
<strong>für</strong> die Kulturlandschaft stärkt. Es ist nicht mehr<br />
selbstverständlich, dass Weidevieh die Landschaft<br />
offenhält, wenn der Wolf umgeht. Aber soll man sich<br />
wegen des Wolfes mit dem kulturellen Verlust abfinden,<br />
den die Aufgabe der Weidewirtschaft bedeutete?<br />
Soll Vieh nur in abgeschotteten Ställen gehalten werden?<br />
Die Intensivierung der Tierproduktion hat die<br />
Entwicklung ohnehin schon weit in diese Richtung getrieben.<br />
Aber die Gegenbilder einer Natur, Mensch <strong>und</strong><br />
Tier achtsam behandelnden Landwirtschaft brauchen<br />
Rinder <strong>und</strong> Schafe auf der Weide.<br />
Die tief in uns eingewurzelten Landschaftsbilder,<br />
die <strong>für</strong> die meisten immer noch identitätsstiftend sind,<br />
brauchen das auch. Es geht nicht darum, zur Verteidigung<br />
der Kulturlandschaft ein gesellschaftliches Bündnis<br />
gegen den Wolf zu schmieden. Es geht darum, diese<br />
Kulturlandschaft <strong>und</strong> das Leben, Arbeiten <strong>und</strong> Wirtschaften<br />
in ihr den durch die Wölfe geschaffenen neuen<br />
Bedingungen anzupassen. Das heißt ganz banal, dass<br />
man die Weidetierhalter nicht auf den Kosten sitzen<br />
lässt, die durch die von der Gesellschaft mehrheitlich<br />
erwünschten Wölfe entstehen. In Berggebieten etwa ist<br />
Weidewirtschaft mit der Anwesenheit von Wölfen nur<br />
vereinbar, wenn die Herden von einem Hirten geführt<br />
<strong>und</strong> bewacht werden. Warum soll die Allgemeinheit<br />
nicht die Kosten <strong>für</strong> das Behirten übernehmen, das ja<br />
in erster Linie eine Naturschutzleistung ist?<br />
Wir haben, von der gesellschaftlichen Mentalität<br />
<strong>und</strong> von unseren ökonomischen Möglichkeiten her, die<br />
Chance, den Wolf in unsere Kulturlandschaft aufzunehmen.<br />
Dem Wolf ist dort ein artgerechtes Leben<br />
durchaus möglich. Er sucht sich selbst aus, wo er leben<br />
möchte. Vielleicht kommen wir mit Wolfes Hilfe<br />
selbst zu einem etwas „artgerechteren“, von naturfernen<br />
Hysterien weniger gebeutelten Leben.<br />
Richtigstellung<br />
Im August-Heft berichtete Peter Henning unter dem Titel<br />
„Licht im Schacht“ auf S. 103 von einer Begegnung mit der<br />
Schriftstellerin Judith Hermann. Wir bedauern außerordentlich,<br />
feststellen zu müssen, dass es die Begegnung zwischen der<br />
Autorin <strong>und</strong> Peter Henning nicht gegeben hat. Wir entschuldigen<br />
uns in aller Form bei Frau Hermann <strong>für</strong> die falsche Berichterstattung,<br />
die zudem noch zu früh erfolgt ist: Ihr Roman<br />
„Aller Liebe Anfang“ ist am 15. August 2014 im Verlag S. Fischer<br />
erschienen. Die <strong>Cicero</strong>-Redaktion<br />
Anmerkung der Redaktion<br />
ECKHARD FUHR ist Korrespondent <strong>für</strong><br />
Kultur <strong>und</strong> Gesellschaft bei der Welt-<br />
Gruppe <strong>und</strong> Autor des am 29. September<br />
im Münchner Riemann-Verlag erscheinenden<br />
Buches „Rückkehr der Wölfe“<br />
Zu dieser Richtigstellung, die auf Wunsch des Verlags S. Fischer<br />
erscheint, möchten wir anmerken, dass der Autor uns getäuscht<br />
hat. Er gab schriftlich <strong>und</strong> telefonisch eingeholte Zitate<br />
als Resultat eines Treffens aus. Wir bedauern den Vorfall sehr.<br />
141<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
SALON<br />
Hopes Welt<br />
KING KONG WOHNT HIER NICHT MEHR<br />
Wie ich einmal in Hollywood lernte, dass die Wiege der<br />
Filmmusik in Wien steht <strong>und</strong> warum sie ein Segen ist<br />
Von DANIEL HOPE<br />
Neulich befand ich mich mitten in Hollywood,<br />
in den Paramount Studios. Ich war<br />
auf den Spuren eines Komponisten, der<br />
die Filmmusik wesentlich geprägt hat. Um Erich<br />
Wolfgang Korngold zu verstehen, muss man jedoch<br />
die Reise viel früher beginnen, in Wien am<br />
Anfang des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />
Korngolds Vater Julius war einer der einflussreichsten<br />
Musikkritiker Wiens. Auf Empfehlung<br />
von Gustav Mahler studierte Sohn Erich bei Alexander<br />
von Zemlinsky <strong>und</strong> wurde als Jahrh<strong>und</strong>erttalent<br />
gehandelt; Richard Strauss <strong>und</strong> Giacomo<br />
Puccini gehörten zu den Bew<strong>und</strong>erern des<br />
Kindes. Mit elf Jahren komponierte Korngold das<br />
Ballett „Der Schneemann“, welches in Anwesenheit<br />
von Kaiser Franz Josef uraufgeführt wurde. Es<br />
folgten Jugendwerke, die die renommiertesten Musikerpersönlichkeiten<br />
spielten, von Bruno Walter<br />
bis Wilhelm Furtwängler. Korngolds Aufstieg dauerte<br />
bis etwa 1930, als das Neue Wiener Tagblatt<br />
das Ergebnis einer Umfrage nach den berühmtesten<br />
Österreichern veröffentlichte: In der Gruppe<br />
„Kunst“ wurde als einer der Komponisten Korngold<br />
genannt.<br />
An seine früheren Erfolge aber konnte er nicht<br />
mehr anknüpfen. Er ging nach Berlin, um mit seinem<br />
Fre<strong>und</strong> Max Reinhardt Operetten zu machen. Bald<br />
wurde ihm jedoch bewusst, dass Deutschland ihm<br />
als Jude keine Zukunft bieten würde. So folgte<br />
er 1934 der Einladung Max Reinhardts nach Hollywood,<br />
wo er <strong>für</strong> einen „Sommernachtstraum“-<br />
Film die Musik von Mendelssohn neu arrangierte.<br />
Infolge des Anschlusses Österreichs ließ er sich<br />
1938 auf Dauer in Hollywood nieder. Dort traf<br />
er auf eine Filmwelt, die hungrig nach sinfonisch<br />
durchkomponierten So<strong>und</strong>tracks war. 1927 hatte<br />
die Premiere des ersten abendfüllenden Tonfilms<br />
stattgef<strong>und</strong>en.<br />
In den Archiven der Paramount-Studios entdeckte<br />
ich Musikstücke von Korngold, die seit über<br />
60 Jahren vergessen waren. Mir wurde bewusst,<br />
wie sehr Komponisten wie er in jeder Musikgattung<br />
zu Hause gewesen waren <strong>und</strong> wie schnell sie<br />
liefern mussten; morgens ein Foxtrott, nachmittags<br />
ein Western, am Abend ein Walzer.<br />
Der Dirigent André Previn erzählte mir eine<br />
schöne Geschichte über Korngold <strong>und</strong> Max Steiner.<br />
Dieser, ebenfalls ein Wiener, schuf mit „King<br />
Kong“ den ersten großorchestralen So<strong>und</strong>track der<br />
Filmgeschichte. Als die beiden sich auf der Straße<br />
begegneten – sie mochten einander –, hielt Steiner<br />
an: „Wir arbeiten seit zehn Jahren <strong>für</strong> das Filmstudio.<br />
Wie kommt es, dass meine Musik besser <strong>und</strong><br />
deine schlechter geworden ist?“ Korngolds Antwort:<br />
„Das ist leicht zu erklären. Du imitierst mich,<br />
<strong>und</strong> ich imitiere dich!“<br />
Korngold schuf bis zum Ende des Zweiten<br />
Weltkriegs 17 Filmkompositionen. Nach dem Krieg<br />
geriet seine Musik ins Abseits; in Europa wurde sie<br />
komplett ignoriert. „Ich bin oft gefragt worden“,<br />
sagte er, „ob ich beim Komponieren von Filmmusik<br />
den Geschmack <strong>und</strong> das momentane Musikverständnis<br />
des Publikums bedenke. Ich kann die<br />
Frage mit einem klaren Nein beantworten.“ Vielleicht<br />
funktioniert deshalb seine Musik so genial,<br />
auch ohne Bilder.<br />
DANIEL HOPE ist Violinist von Weltrang <strong>und</strong> schreibt<br />
jeden Monat in <strong>Cicero</strong>. Zuletzt erschienen sein Buch<br />
„Toi, toi, toi! – Pannen <strong>und</strong> Katastrophen in der Musik“<br />
( Rowohlt ) <strong>und</strong> die CD „Escape to Paradise – The<br />
Hollywood Album“. Er lebt in Wien<br />
Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />
142<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
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SALON<br />
144<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
Foto: Benny Gool <strong>und</strong> Roger Friedman/Oryx Media <strong>für</strong> <strong>Cicero</strong><br />
DESMOND<br />
Die letzten 24 St<strong>und</strong>en<br />
Da wird Licht<br />
sein <strong>und</strong> Wärme,<br />
Schönheit<br />
<strong>und</strong> Mozart<br />
TUTU<br />
Desmond Tutu<br />
Der anglikanische Erzbischof ist<br />
Friedensnobelpreisträger <strong>und</strong><br />
gilt als Gewissen Südafrikas.<br />
Sein neues Buch „Das Buch des<br />
Vergebens“ schrieb er gemeinsam<br />
mit seiner Tochter Mpho Tutu<br />
Ich habe ein langes, recht erfülltes<br />
<strong>und</strong> glückliches Leben gehabt <strong>und</strong><br />
wäre bereit zu gehen. Die letzten<br />
24 St<strong>und</strong>en meines Lebens möchte<br />
ich gemeinsam mit meiner Familie<br />
verbringen <strong>und</strong> mich mit meinem<br />
geistlichen Beistand treffen. Bevor ich<br />
meine Reise in die Unendlichkeit antrete,<br />
möchte ich vorher beichten, die heilige<br />
Kommunion <strong>und</strong> die Sterbesakramente<br />
empfangen.<br />
Ich möchte sterben in der Gewissheit,<br />
alles getan zu haben, damit die Welt ein<br />
besserer Ort wird <strong>für</strong> alle Kinder Gottes.<br />
Besonders <strong>für</strong> jene, die Gottes Lieblinge<br />
sind: die Unterdrückten, die Verachteten,<br />
die Ausgestoßenen.<br />
Während ich mich mit diesem Thema<br />
auseinandersetze, bin ich mir so schrecklich<br />
darüber bewusst, wie sehr in jüngster<br />
Zeit Gottes Lieblinge gelitten haben. Es<br />
gibt blutige Konflikte in Syrien, im Irak,<br />
im Südsudan, in Afghanistan <strong>und</strong> nun in<br />
Gaza, wo ein schlimmes Blutvergießen<br />
in Palästina zulasten der Zivilbevölkerung<br />
stattfindet. Das ist <strong>für</strong>chterlich. Ich<br />
würde mich mit den Verantwortlichen in<br />
Israel treffen <strong>und</strong> ihnen sagen, dass ich<br />
tief besorgt darüber bin, was sie sich gegenseitig<br />
antun. Der Gewehrlauf wird<br />
ihnen keine wirkliche Sicherheit geben.<br />
Echte Sicherheit bekämen sie nur,<br />
wenn sie den Siedlungsbau im Westjordanland<br />
stoppten <strong>und</strong> zurückkehrten zur<br />
Grenze von 1967. Sie müssen die Mauer<br />
in den besetzten palästinensischen Gebieten<br />
abreißen, die der Internationale<br />
Gerichtshof <strong>für</strong> illegal erklärte. Wir haben<br />
in Südafrika gesehen, wie eine entmenschlichte<br />
Politik ihre leidtragenden<br />
Opfer sukzessive entmenschlichte. Das<br />
war erbarmungslos. Es kann keinen Frieden<br />
geben anderswo in der Welt, wenn<br />
es keinen Frieden im Heiligen Land gibt –<br />
der Heimat des Prinzen des Friedens.<br />
Gott möchte, dass wir wissen, dass<br />
wir alle Mitglieder einer Familie sind, der<br />
Familie der Menschheit, Gottes Familie.<br />
Wir sind geschaffen worden <strong>für</strong> die Zweisamkeit,<br />
die Gemeinsamkeit, die Familie.<br />
Gott ist <strong>für</strong> mich alles Gute, alle<br />
Schönheit <strong>und</strong> alle Wahrheit. Ich stelle<br />
mir Gott vor als ein weiches <strong>und</strong> zartes<br />
Licht oder wie ein glühendes Feuer<br />
im Winter, an dessen Licht <strong>und</strong> Schönheit<br />
wir uns alle wärmen. Wir werden<br />
nie den Punkt erreichen, dass einer von<br />
uns sagen könnte: „Nun verstehe ich Gott<br />
gänzlich!“ Gott ist unendlich, <strong>und</strong> wir<br />
werden immer endliche Wesen bleiben.<br />
Meine Beziehung zu Gott wächst stetig.<br />
Ich glaube fest daran, dass Gott die<br />
Liebe ist. Und ich habe versucht, diese<br />
Liebe zu ihm zu vertiefen. Ich vertraue<br />
Gott bedingungslos.<br />
Wenn ich sterbe, werde ich nicht<br />
mehr die Last meines Körpers haben,<br />
doch ich werde erkennbar ich bleiben.<br />
Wir werden nicht verschluckt werden<br />
von einer göttlichen Suppe. Es wird kein<br />
Vorher <strong>und</strong> Nachher geben. Es wird nur<br />
noch die Unendlichkeit geben.<br />
Während der letzten Minuten<br />
möchte ich meiner Familie sagen, dass<br />
ich in den nächsten Raum unseres Universums<br />
gehen werde <strong>und</strong> wir uns alle<br />
wiedersehen werden, wenn ihre Zeit gekommen<br />
ist. Ich werde ihnen sagen, dass<br />
sie auf sich aufpassen <strong>und</strong> <strong>für</strong>einander<br />
sorgen sollen – besonders <strong>für</strong> ihre Mutter,<br />
andernfalls werde ich zurückkehren<br />
<strong>und</strong> sie heimsuchen!<br />
Es wird einen kleinen Moment der<br />
Ängstlichkeit geben, ins Ungewisse zu<br />
gehen. Doch ich glaube, dass derjenige,<br />
der mich geschaffen <strong>und</strong> erlöst hat, mich<br />
zu sehr liebt, als dass mir etwas Widriges<br />
widerfahren könnte. Wenn ich gehe,<br />
möchte ich Mozarts „Laudate Dominum“<br />
hören, gesungen von Kiri Te Kanawa. Ich<br />
werde mich von meiner Familie verabschieden<br />
<strong>und</strong> meine Augen das letzte Mal<br />
schließen.<br />
Aufgezeichnet von BJÖRN EENBOOM<br />
145<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
POSTSCRIPTUM<br />
N°-10<br />
KRIEGSGÖTTER<br />
Das Böse ist immer <strong>und</strong> überall“, hieß<br />
es in einem Songtext der österreichischen<br />
Spaßband „Erste Allgemeine<br />
Verunsicherung“. Das war im Jahr 1985.<br />
Inzwischen ist das Böse noch öfter <strong>und</strong><br />
noch überaller, aber eben leider nicht in<br />
witzigen Liedern, sondern in ernst gemeinter<br />
politischer Rhetorik. Den ständigen,<br />
anständigen Kampf des Guten gegen das<br />
Böse beschwor ja bereits George W. Bush<br />
nach den Anschlägen vom 11. September,<br />
<strong>und</strong> wenn man diese Wortwahl zugr<strong>und</strong>e<br />
legt, dann hat sich jedenfalls das Böse in<br />
den vergangenen Jahren vom Guten weder<br />
beeindrucken noch aufhalten lassen. Im<br />
Gegenteil.<br />
Dass ausgerechnet der sogenannte<br />
Anführer der westlichen Welt den Kampf<br />
gegen den Terror manichäisch auflud <strong>und</strong><br />
damit erst recht einen Religionskonflikt<br />
heraufbeschwor, war schon schlimm genug.<br />
Natürlich nicht aus der Sicht islamistischer<br />
Terroristen, die diese Herausforderung nur<br />
allzu gern annahmen, weil sie exakt in ihr<br />
Denkmuster passte. Sondern <strong>für</strong> uns Demokraten,<br />
die wir uns so gern unser aufgeklärtes<br />
Weltbild zugutehalten. Immerhin<br />
schien dieser Spuk mit dem Machtwechsel<br />
in Washington vorbei zu sein.<br />
Bis der „Islamische Staat“ auf der politischen<br />
Landkarte erschien. Seitdem gibt<br />
es kein Halten mehr. In Barack Obamas<br />
Regierungserklärungen zum IS lauert „das<br />
Böse“ in jedem dritten Absatz, sein Vize<br />
Joe Biden droht öffentlich, die IS-Terroristen<br />
„bis an die Tore der Hölle zu verfolgen,<br />
um sie vor Gericht zu stellen, denn in<br />
der Hölle werden sie schließlich landen“.<br />
Nun braucht man überhaupt nicht feinsinnig<br />
danach zu fragen, ob das In-Aussicht-<br />
Stellen von Höllenqualen mit westlichem<br />
Rechtsverständnis kompatibel ist oder<br />
gar damit gleichgesetzt werden sollte. In<br />
jedem Fall sind solche Sätze wie der des<br />
amerikanischen Vizepräsidenten ein Rückfall<br />
in vorzivilisatorisches Machtgebaren.<br />
Und noch viel schlimmer: Sie sind Ausdruck<br />
einer evidenten Hilf- <strong>und</strong> Ratlosigkeit,<br />
versteckt hinter Sprachwolken aus<br />
religiösem Kitsch.<br />
Der „Kampf gegen den Terror“ im<br />
Irak, in Afghanistan <strong>und</strong> weit über diese<br />
Länder hinaus ist nicht deshalb so kolossal<br />
gescheitert, weil „die Guten“ auf die falschen<br />
Götter gesetzt haben. Sondern weil<br />
im Eifer des Gefechts die kluge, die vorausschauende<br />
Analyse der politischen Gemengelage<br />
sträflich vernachlässigt wurde.<br />
Die Auseinandersetzung mit vermeintlich<br />
irrationalen Terrorregimes kann aber nur<br />
mit der schärfsten Waffe gewonnen werden,<br />
die der Westen im Arsenal hat. Und<br />
das ist die Vernunft.<br />
ALEXANDER MARGUIER<br />
ist stellvertretender Chefredakteur<br />
von <strong>Cicero</strong><br />
DIE NÄCHSTE CICERO-AUSGABE ERSCHEINT AM 23. OKTOBER<br />
Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />
146<br />
<strong>Cicero</strong> – 10. 2014
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