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Cicero Rote Karte! - Kein Fußball für Russland und Katar (Vorschau)

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Nº10<br />

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10<br />

4 196392 008505<br />

<strong>Kein</strong> <strong>Fußball</strong> <strong>für</strong><br />

<strong>Russland</strong> <strong>und</strong> <strong>Katar</strong> –<br />

Die <strong>Cicero</strong>-Elf<br />

der WM-Kritiker<br />

Wolfsland<br />

Die Deutschen <strong>und</strong> ihr<br />

Mythentier<br />

„Ich nehm’ mir auch mal frei“<br />

Angela Merkel im<br />

<strong>Cicero</strong>-Gespräch<br />

Im Bier <strong>und</strong> Jetzt<br />

Ein Fotoessay<br />

zur Wiesn


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ATTICUS<br />

N°-10<br />

SCHWEIGEKARTELL<br />

Titelbild: Simon Prades; Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

Ganz kurz tauchte die Idee auf,<br />

sie kam aus Großbritannien <strong>und</strong><br />

sollte in den Instrumentenkasten der<br />

Europä ischen Union gegen das <strong>Russland</strong><br />

Wladimir Putins. Aber ganz schnell<br />

schoben die <strong>Fußball</strong>funktionäre eine<br />

Bleiplatte darüber. In dieser Frage bilden<br />

sogar die sich spinnefeinden <strong>Fußball</strong>bosse<br />

Sepp Blatter <strong>und</strong> Michel Platini<br />

eine Front. „Das ist doch albern“, erklärte<br />

Platini. Die WM 2018 bleibe in<br />

<strong>Russland</strong> – <strong>und</strong> die 2022 in <strong>Katar</strong>.<br />

Die Idee verschwand wieder von der<br />

Brüsseler Sanktionsliste. Aber nicht aus<br />

unseren Köpfen. Die <strong>Cicero</strong>-Redaktion<br />

ist einhellig wie selten der Meinung, dass<br />

beiden Ländern das Privileg nicht gebührt,<br />

eines der größten Sportfeste der<br />

Welt auszurichten. Bei <strong>Katar</strong> stellt sich<br />

immer schon die Frage, was es eigentlich<br />

soll, in der Hitze eines Wüstenstaats<br />

<strong>Fußball</strong> zu spielen. Zu den erschreckenden<br />

Berichten über die Ausbeutung von<br />

Arbeitern auf den Baustellen von <strong>Katar</strong><br />

kamen jüngst Hinweise darauf, dass in<br />

dem Emirat Sponsoren des islamistischen<br />

Terrors sitzen.<br />

Und <strong>Russland</strong>: Putin hat schon die<br />

Olympischen Winterspiele zur Machtdemonstration<br />

umfunktioniert. Der deutsche<br />

B<strong>und</strong>espräsident sah es als geboten<br />

an, nicht nach Sotschi zu reisen. Um<br />

wie weit mehr müssen diese Vorbehalte<br />

nun nach der Annexion der Krim <strong>und</strong><br />

des Kampfes um die Ostukraine gelten.<br />

Blatter <strong>und</strong> Platini können bei all<br />

ihrer Macht nicht alle zum Schweigen<br />

verdonnern. In diesem Heft erheben elf<br />

Persönlichkeiten die Stimme gegen das<br />

Schweigekartell – <strong>Fußball</strong>er, Trainer,<br />

Schriftsteller. <strong>Kein</strong>e WM <strong>für</strong> <strong>Katar</strong>,<br />

keine WM <strong>für</strong> <strong>Russland</strong>! Manche fordern<br />

beides, manche unterscheiden.<br />

Manche schreiben abwägend, andere<br />

apodiktisch. Aber alle sind der Meinung:<br />

Darüber muss endlich geredet werden.<br />

Der Sportjournalist Jens Weinreich<br />

beschreibt, wie es zu diesen beiden unseligen<br />

Entscheidungen kam – <strong>und</strong> ob<br />

man sie revidieren könnte (ab Seite 14).<br />

Unsere Reporterin Sarah-Maria Deckert<br />

kontaktierte an die 100 Persönlichkeiten,<br />

um eine <strong>Cicero</strong>-Elf der WM-Kritiker<br />

aufzustellen (ab Seite 22). Viele<br />

stimmten ihr hinter vorgehaltener Hand<br />

zu – <strong>und</strong> lehnten dann doch ab. Umso<br />

mehr Respekt verdient jene Elf, die<br />

sich in diesem Heft versammelt hat. Sie<br />

haben angefangen. Diskutieren Sie mit<br />

( rotekarte@cicero.de ). Mischen Sie sich<br />

ein. Schreiben Sie uns.<br />

Mit besten Grüßen<br />

CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />

Chefredakteur<br />

3<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


INHALT<br />

TITELTHEMA<br />

14<br />

FAULES SPIEL<br />

Die Geschichte der WM-Vergabe ist eine von Geld,<br />

Macht <strong>und</strong> Eitelkeit. Wäre es überhaupt möglich, <strong>Russland</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Katar</strong> die <strong>Fußball</strong>turniere wieder wegzunehmen?<br />

Von JENS WEINREICH<br />

Illustration: Simon Prades<br />

21<br />

60 PROZENT DAGEGEN<br />

Eine Umfrage im Auftrag<br />

von <strong>Cicero</strong> ergibt: Die klare<br />

Mehrheit der Deutschen ist<br />

gegen die <strong>Fußball</strong>-WM in <strong>Katar</strong><br />

Von FORSA<br />

22<br />

ELF STARKE STIMMEN<br />

Von Axel Hacke bis Thomas<br />

Strunz: Persönlichkeiten<br />

schreiben, was sie an einer WM<br />

in <strong>Katar</strong> <strong>und</strong> <strong>Russland</strong> stört<br />

Die CICERO-ELF der WM-Kritiker<br />

30<br />

„KEINE WM BEI KRIEG“<br />

Der Grüne Jürgen Trittin<br />

ist gegen die WM in<br />

<strong>Katar</strong>. <strong>Russland</strong> würde<br />

er eine Chance geben<br />

Von CHRISTOPH SEILS<br />

5<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


BERLINER REPUBLIK WELTBÜHNE KAPITAL<br />

32 DIE INSELLÖSUNG<br />

Was soll bloß aus der Ex-CSU-<br />

Rebellin Gabriele Pauli werden?<br />

Vielleicht Bürgermeisterin auf Sylt<br />

Von MERLE SCHMALENBACH<br />

34 DIE CSU IST NICHT NUR SEEHOFER<br />

Manfred Weber macht fern<br />

von König Horsts Hof Karriere:<br />

als Fraktionschef in Brüssel<br />

Von WERNER SONNE<br />

36 DIE RIESENCHANCE<br />

Die potenziellen Wowereit-Nachfolger<br />

überzeugen nicht. Höchste Zeit,<br />

eine zu erfinden: Charlotte Prinz<br />

Von GEORG LÖWISCH<br />

38 „SOLANGE ICH NICHT<br />

FERTIG GEDACHT HABE, KANN<br />

ICH NICHT ENTSCHEIDEN“<br />

Kanzlerin Angela Merkel über richtige<br />

Tempi, über Krieg <strong>und</strong> Frieden <strong>und</strong><br />

warum sie auch mal nach Hause muss<br />

Von FRANK A. MEYER <strong>und</strong><br />

CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />

47 FRAU FRIED FRAGT SICH …<br />

… warum unsere Kinder uns<br />

nicht mehr peinlich finden<br />

Von AMELIE FRIED<br />

48 ES GIBT KEIN ZURÜCK<br />

Die Union hat neun Rezepte gegen<br />

die AfD. <strong>Kein</strong>es davon taugt<br />

Von CHRISTOPH SEILS<br />

50 HOMO VATER<br />

Unser Autor will ein Kind.<br />

Auch wenn er schwul ist<br />

Von SÖREN KITTEL<br />

38<br />

Mächtig<br />

56 KLAR, KLUG, KÜHL<br />

Ratspräsident Donald Tusk: So ein<br />

Politikertypus ist neu <strong>für</strong> Brüssel<br />

Von SABINE ADLER<br />

58 DER ONKEL MIT DER KNARRE<br />

PKK-Chef Abdullah Öcalan<br />

befehligt aus dem Gefängnis seine<br />

Kämpfer gegen den „Islamischen Staat“<br />

Von FRANK NORDHAUSEN<br />

60 REISELEITER<br />

IN DER TODESZONE<br />

Der Syrer Hamid war Gefangener<br />

des IS. Sein amerikanischer<br />

Begleiter wurde enthauptet<br />

Von CARSTEN STORMER<br />

68 „EIN SICHERHEITSRISIKO“<br />

Deutsche IS-Kämpfer: BKA-Chef<br />

Jörg Ziercke will schärfere Gesetze<br />

Von TIMO STEIN<br />

70 WODKA UND WASSERPFEIFE<br />

Kleines Emirat ganz groß.<br />

Report über <strong>Katar</strong> zwischen<br />

Terrorsponsering <strong>und</strong> Ausschweifung<br />

Von TESSA SZYSZKOWITZ<br />

78 DAS IMPERIUM DER LÜGEN<br />

Katzen bellen, H<strong>und</strong>e miauen – die<br />

Kultur des Betrugs in <strong>Russland</strong><br />

Von MICHAIL SCHISCHKIN<br />

70<br />

Protzig<br />

86 MARATHON STATT SPRINT<br />

Adidas, Nike, Asics?<br />

Lunge! In Mecklenburg<br />

produzieren zwei<br />

Brüder Laufschuhe<br />

Von ERIC CHAUVISTRÉ<br />

88 ÄRGER AN ALLEN<br />

FRONTEN<br />

Die Scheichs dürfen<br />

Frank Hauns Panzer<br />

nicht kaufen, die<br />

B<strong>und</strong>eswehr will sie nicht<br />

Von HAUKE FRIEDERICHS<br />

90 MOBILES<br />

SCHEITERN<br />

Für den großen Traum<br />

vom Elektroauto<br />

denkt die B<strong>und</strong>esregierung<br />

zu klein<br />

Von CHRISTIAN SCHWÄGERL<br />

96 RÜCKKEHR<br />

DER KRISE<br />

Deflation ist <strong>für</strong> den Euro<br />

gefährlicher als Inflation<br />

Von HENRIK ENDERLEIN<br />

98 IM BIER UND JETZT<br />

Mit der Panoramakamera auf<br />

der Wiesn – ein Fotoessay<br />

Von MICHAEL VON GRAFFENRIED<br />

98<br />

Bierselig<br />

Fotos: Antje Berghäuser <strong>für</strong> <strong>Cicero</strong>, Maurice Weiss/Ostkreuz, Michael von Graffenried<br />

6<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


STIL<br />

SALON<br />

CICERO<br />

STANDARDS<br />

108 SCHLAFT EUCH<br />

NACH OBEN!<br />

Die Unternehmerin<br />

Arianna Huffington will,<br />

dass wir Erfolg<br />

neu definieren<br />

Von LENA BERGMANN<br />

110 HOTEL CALIFORNIA<br />

Der T5 ist das Nachfolgemodell<br />

des beliebten VW Bulli.<br />

Ein Autotest in den Bergen<br />

124 BLAU SIND ALLE SEINE KLÄNGE<br />

Der Dirigent Teodor Currentzis<br />

setzt Mozart unter Starkstrom<br />

Von DOROTHEA WALCHSHÄUSL<br />

126 DEUTSCHER ALS<br />

EINE WEISSWURST<br />

Der Schauspieler Elyas M’Barek<br />

sucht seinen Weg zwischen<br />

Krimi <strong>und</strong> Klamauk<br />

Von DIETER OSSWALD<br />

3 ATTICUS<br />

Von CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />

8 STADTGESPRÄCH<br />

10 FORUM<br />

12 IMPRESSUM<br />

146 POSTSCRIPTUM<br />

Von ALEXANDER MARGUIER<br />

Von LENA BERGMANN<br />

118 „DIE MUSEN WEHREN SICH“<br />

Regisseur Christian Petzold<br />

über Schlampen,<br />

Göttinnen <strong>und</strong> Ladys<br />

128 MAN SIEHT NUR,<br />

WAS MAN SUCHT<br />

Der DDR-Maler Wolfgang Mattheuer<br />

<strong>und</strong> die Farben des Westens<br />

Von BEAT WYSS<br />

Fotos: Andreas Müller <strong>für</strong> <strong>Cicero</strong>; Illustration: Marco Wagner<br />

Von SARAH-MARIA DECKERT<br />

122 WARUM ICH TRAGE,<br />

WAS ICH TRAGE<br />

Auf Buchmessen<br />

gehören Ballerinas in<br />

die Handtasche<br />

Von ELISABETH RUGE<br />

110<br />

Geräumig<br />

130 „IRREN GEHÖRT DAZU“<br />

Peter Trawny über Martin<br />

Heideggers Antisemitismus<br />

Von MICHAEL STALLKNECHT<br />

134 ER IST WIEDER DA<br />

Wolfsrepublik: Wie die Deutschen<br />

<strong>und</strong> ihr Mythentier zueinanderfinden<br />

Von ECKHARD FUHR<br />

140 KEINE ANGST VOR ISEGRIM<br />

Der Schweriner Minister Till Backhaus<br />

über seine Begegnung mit einem Wolf<br />

Von ALEXANDER KISSLER<br />

142 HOPES WELT<br />

Wien <strong>und</strong> die Wiege der Filmmusik<br />

Von DANIEL HOPE<br />

144 DIE LETZTEN 24 STUNDEN<br />

Sterben mit Mozart<br />

Von DESMOND TUTU<br />

134<br />

Grimmig<br />

Der Titelkünstler<br />

Seine Illustrationen sind<br />

<strong>Fußball</strong>begeisterung in<br />

Reinform. Simon Prades,<br />

Künstler aus Saarbrücken,<br />

liebt den <strong>Fußball</strong>. Während<br />

der WM 2014 hat er <strong>für</strong><br />

das US-Magazin The New<br />

Republic packende Szenen<br />

des Spiels festgehalten.<br />

So entstand Spieltag <strong>für</strong><br />

Spieltag eine Dokumentation<br />

der Dramatik: Schüsse,<br />

Paraden, jubelnde Spieler.<br />

Und Fouls. Um die geht<br />

es uns in dieser Ausgabe.<br />

Nicht um Regelverstöße im<br />

Stadion, sondern um Verletzungen<br />

des Völkerrechts<br />

<strong>und</strong> der Menschenrechte.<br />

Für den <strong>Cicero</strong>-Titel hat<br />

Prades ein grobes Foul<br />

gezeichnet: Der Spieler, der<br />

zum Kopfball aufgestiegen<br />

ist, wird am Trikot gehalten.<br />

Für das Heft zeichnete<br />

Prades zudem die <strong>Cicero</strong>-<br />

Elf der WM-Kritiker. Und<br />

wir zeigen einige der Illustrationen<br />

von der WM: den<br />

Biss von Luis Suárez <strong>und</strong><br />

das Foul an Neymar. Simon<br />

Prades zeigt sie mit einer<br />

erzählerischen Lebendigkeit,<br />

die die Faszination<br />

einer Weltmeisterschaft<br />

einfängt. Ein Turnier, das<br />

nicht als Prestigeprojekt<br />

<strong>für</strong> Potentaten missbraucht<br />

werden sollte.<br />

7<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


CICERO<br />

Stadtgespräch<br />

Wolfgang Schäuble entdeckt den Historiker in sich, den meisten Deutschen<br />

geht die Maut-Debatte auf die Nerven – <strong>und</strong> die Kanzlerkantine kocht fettarm<br />

Kanzlerküche<br />

<strong>Kein</strong>e fetten Jahre<br />

Hobbyhistoriker Schäuble<br />

Minister <strong>für</strong> Geschichte<br />

Staatsgeschenke<br />

Curie <strong>für</strong> die Kanzlerin<br />

Gerald Jordan weiß genau, wie lange<br />

das Fett in den Fritteusen <strong>und</strong><br />

Pfannen der Berliner Gastronomie blubbert.<br />

Der 50-Jährige holt es dort nämlich<br />

regelmäßig zum Weiterverkauf an<br />

die Dieselproduktion ab. Bei manchen<br />

Buden fährt Jordan mit seiner „Fettfeuerwehr“<br />

mehrmals im Monat vorbei;<br />

woanders baden ganze Generationen<br />

von Pommes im selben Öl. „Bei manchen<br />

meiner K<strong>und</strong>en würde ich nicht essen“,<br />

sagt Jordan. Auch im B<strong>und</strong>eskanzleramt<br />

ist die Fettfeuerwehr eher selten<br />

im Einsatz. Nur alle neun bis zwölf Monate<br />

holt Jordan – unter den Argusaugen<br />

der Sicherheitsleute – das Fett dort<br />

ab. Verwendet die Kanzlerkantine etwa<br />

bedenklich lange dasselbe Frittieröl?<br />

Nein, sagt Jordan. In der gehobenen Küche<br />

würde einfach nicht so viel frittiert.<br />

Vielleicht liegt es auch an Angela Merkels<br />

Lieblingsessen: Wer würde schon<br />

Kartoffelsuppe frittieren? vin<br />

Wolfgang Schäuble ist gelernter Jurist<br />

<strong>und</strong> hat in seinem derzeitigen<br />

Beruf als B<strong>und</strong>esfinanzminister viel mit<br />

Zahlen um die Ohren. Seine eigentliche<br />

Leidenschaft gilt aber offenbar immer<br />

mehr den großen Weltläuften <strong>und</strong><br />

geschichtlichen Gesamtzusammenhängen.<br />

Am 17. September jedenfalls stellte<br />

Schäuble gemeinsam mit dem Oberhistoriker<br />

Heinrich August Winkler dessen<br />

neuestes Buch „Geschichte des<br />

Westens – Vom Kalten Krieg zum Mauerfall“<br />

(1258 Seiten) vor. Um nur eine<br />

Woche später mit dem irischen Geschichtsprofessor<br />

Brendan Simms über<br />

dessen 896-Seiten-Werk zum Thema<br />

„Eine deutsche Geschichte Europas“<br />

zu sprechen. Letzteres trägt übrigens<br />

den Titel „Kampf um Vorherrschaft“.<br />

Hoffentlich wird das dem deutschen Finanzminister<br />

von seinen europäischen<br />

Amtskollegen nicht als Beweis <strong>für</strong> ein<br />

Suprematiestreben ausgelegt. mar<br />

Sage noch einer, die Deutschen<br />

seien politikverdrossen! R<strong>und</strong><br />

150 000 Menschen haben am Tag der<br />

offenen Tür die B<strong>und</strong>esministerien<br />

<strong>und</strong> das Kanzleramt besucht. Dort<br />

wurde sogar ein Konferenzsaal zum<br />

Wickelraum umfunktioniert. Im Untergeschoss<br />

scharten sich die Besucher<br />

um die Kanzlergeschenke. Was<br />

ein deutscher Regierungs chef nicht so<br />

alles bekommt: einen Krummdolch,<br />

eine Muschelschale, Düfte aus Arabien.<br />

Frankreich hat sich bei der Auswahl<br />

seines Geschenks sogar richtig Gedanken<br />

gemacht: Der Wissenschaftlerin<br />

Merkel wurde vom Nachbarn eine Ausgabe<br />

von Marie Curies „Radioactivité“<br />

aus dem Jahre 1935 überreicht. Die Vitrinen<br />

erzählen auch einiges über die<br />

Entwicklung der Schenkkultur: Willy<br />

Brandt <strong>und</strong> Helmut Schmidt bekamen<br />

jeder eine Tabakpfeife. Früher waren<br />

Geschenke wenigstens noch nützlich. vin<br />

Illustrationen: Jan Rieckhoff<br />

8<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


Umfrage zur Maut-Debatte<br />

„<strong>Kein</strong> wichtiges Thema“<br />

Mit der Diskussion über die Maut<br />

verhält es sich ein bisschen wie<br />

mit der „Ice Bucket Challenge“: Die<br />

meisten finden sie albern, machen aber<br />

fröhlich mit. Das deutsche Publikum<br />

kann dem Gezänk wegen der von der<br />

CSU forcierten Straßennutungsgebühr<br />

mehrheitlich dennoch nichts abgewinnen:<br />

Eine im Auftrag von <strong>Cicero</strong> vorgenommene<br />

Forsa-Umfrage kommt zu<br />

dem Ergebnis, dass nur <strong>für</strong> 46 Prozent<br />

der Deutschen die Einführung einer<br />

PKW-Maut auf deutschen Straßen ein<br />

„wichtiges Thema“ ist, „das die Menschen<br />

zurzeit bewegt“. Für 53 Prozent<br />

der 1005 befragten Personen ist das Gegenteil<br />

der Fall. Ein kleiner Punktsieg<br />

<strong>für</strong> den Maut-Initiator <strong>und</strong> CSU-Chef<br />

Horst Seehofer ist trotzdem zu vermelden:<br />

Immerhin 53 Prozent der Anhänger<br />

seiner eigenen Partei empfinden die<br />

geplante Straßennutzungsgebühr als ein<br />

„wichtiges Thema“, eine große Minderheit<br />

von 46 Prozent sieht das anders.<br />

Bei den CDU-Wählern wiederum ergibt<br />

sich das umgekehrte Bild: 49 Prozent<br />

halten die Maut <strong>für</strong> ein „wichtiges<br />

Thema“, eine knappe Mehrheit von<br />

51 Prozent erkennt darin „kein so wichtiges<br />

Thema“. Unter den SPD-Anhängern<br />

sind die Maut-Verdrossenen mit<br />

57 Prozent sogar klar in der Mehrzahl;<br />

erst recht gilt das <strong>für</strong> Wähler der Linkspartei<br />

(61 Prozent) <strong>und</strong> der Grünen<br />

(66 Prozent). Nur bei Anhängern der<br />

AfD scheint die Maut richtig zu zünden:<br />

64 Prozent sagen, es handle sich um<br />

„ein wichtiges Thema“. mar<br />

Neuer Sprecher im Finanzministerium<br />

Ein Pietist <strong>für</strong> Schäuble<br />

Der neue Pressesprecher von Wolfgang<br />

Schäuble ist zwar genauso<br />

wenig Historiker wie sein Chef. Aber<br />

als studierter Völkerk<strong>und</strong>ler, Politologe<br />

<strong>und</strong> Philosoph kann Martin Jäger<br />

dem geschichtsbewussten B<strong>und</strong>esfinanzminister<br />

sicherlich das Wasser<br />

reichen. Zumal der CDU-Mann Jäger,<br />

Jahrgang 1964, schon selbst ein bisschen<br />

Geschichte (mit-)geschrieben hat:<br />

So formulierte er einst <strong>für</strong> den FDP-Außenminister<br />

Klaus Kinkel dessen europapolitische<br />

Reden, um nach dem<br />

Regierungswechsel dasselbe <strong>für</strong> den<br />

SPD-Kanzler Gerhard Schröder zu tun.<br />

Und von 2005 bis 2008 diente er in der<br />

Großen Koalition dem SPD-Außenminister<br />

Frank-Walter Steinmeier als Sprecher<br />

des Auswärtigen Amtes. Nach<br />

einem Lobbyisten-Intermezzo beim Autokonzern<br />

Daimler wurde Martin Jäger,<br />

der nach eigenen Worten „aus einer<br />

sehr konservativen pietistischen Familie<br />

von der Schwäbischen Alb“ stammt,<br />

sogar zum deutschen Botschafter in Afghanistan<br />

berufen. Jetzt also eine Rückkehr<br />

ins Zentrum der Macht. Die Tatsache,<br />

dass Schäuble seinen früheren<br />

Sprecher Michael Offer einst vor der<br />

Hauptstadtpresse so gedemütigt hatte,<br />

dass dieser anschließend seinen Job hinwarf,<br />

irritiert Jäger nicht: „Ein Angebot<br />

von Schäuble, nach Berlin zu kommen,<br />

lehnt man doch nicht ab.“ Von den Berliner<br />

Journalisten erwartet er jedoch,<br />

dass sie den Schwaben in ihm akzeptieren.<br />

Er halte es mit der Devise: „Net<br />

gschimpft isch g’nug g’lobt.“ tz<br />

Deutscher Schilderwald<br />

Aufforstung dank App<br />

Bei der etwas zerfahrenen Maut-Diskussion<br />

geht es ja vor allem um die<br />

Frage, wie die Verkehrsinfrastruktur in<br />

Deutschland künftig finanziert werden<br />

kann. Und zu dieser Infrastruktur zählen<br />

bekanntlich auch Verkehrsschilder.<br />

Tatsächlich scheint der berühmte deutsche<br />

Schilderwald ebenfalls bedroht zu<br />

sein: verkratzte „Stop“-Gebote, verrostete<br />

Hinweise auf Parkverbote, verdreckte<br />

Vorfahrt-achten-Dreiecke allerorten.<br />

Zum Glück kümmert sich seit<br />

Jahresanfang jemand darum, <strong>und</strong> zwar<br />

der „Schilderüberwachungsverein“,<br />

kurz SÜV. Er fordert Mitbürger dazu<br />

auf, unleserliche Verkehrszeichen über<br />

eine spezielle App zu melden – <strong>und</strong> dokumentiert<br />

sie ordnungsgemäß. Engagiert<br />

wie eine Vogelschutzinitiative,<br />

streng wie der TÜV. Die Medien springen<br />

darauf an: „Schwäbische Schilderinitiative“<br />

(FAZ), „Wächter <strong>für</strong> saubere<br />

Verkehrsschilder“ (Auto-Bild), „Schildwutbürger“<br />

(Spiegel Online). Doch wer<br />

sind die Gründer des SÜV? Nun ja,<br />

zwei Stuttgarter, die gemeinsam in einer<br />

Kommunikationsagentur arbeiten.<br />

Diese Agentur teilt sich mit dem Verein<br />

die Anschrift. Und das Geld? Kommt<br />

unter anderem vom IVSt. Also vom Industrieverband<br />

Straßenausstattung,<br />

dem auch Hersteller von Verkehrsschildern<br />

angehören. Wenn die Behörden<br />

jetzt neue Verkehrszeichen bestellen<br />

(am besten mit retroreflektierender Folie,<br />

denn das sind im SÜV-Sprech „gute<br />

Schilder“), ist das wohl der Schildbürgerinitiative<br />

zu verdanken. vin<br />

9<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


CICERO<br />

Leserbriefe<br />

FORUM<br />

Es geht um Schottland, Nationalismus, Amazon,<br />

das Geschäftsgebaren der Sparkasse <strong>und</strong> das Sie<br />

Zum Beitrag „Schotten dicht“ von Christoph Schwennicke, September 2014<br />

Schottland gegen England<br />

Die Schlacht von Bannockburn kennen nicht nur schottische Kinder. Sie hatte<br />

zur Folge, dass das Königreich Schottland weitere 400 Jahre unabhängig blieb,<br />

bis seine <strong>und</strong> die englische Aristokratie 1707 die Vereinigung zu Großbritannien<br />

beschlossen. Bereits 1603 war es zur Personalunion gekommen, als der schottische<br />

König Jakob VI. von England wurde (nicht umgekehrt). Von einer englischen<br />

„Oberhand“ vor 700 Jahren kann also keine Rede sein. Auch könnte<br />

Großbritannien mangels Weiterbestehen 2017 nicht aus der EU austreten, wenn<br />

Schottland unabhängig würde. Schottland würde übrigens erklärtermaßen nicht<br />

austreten, beim Verbleib in Großbritannien aber müssen.<br />

Wolfgang Heislitz, Frankfurt<br />

Zum Beitrag „Ein Gefühl von<br />

Geborgenheit“ von Herfried Münkler,<br />

September 2014<br />

Politiker sind schuld<br />

Die Analyse von Herfried Münkler<br />

greift zu kurz. Wenn man sich mit<br />

den Begriffen „Staat“ <strong>und</strong> „Nation“<br />

sowie den zunehmenden Sezessionsbestrebungen<br />

innerhalb Europas befasst,<br />

dann gehören ebenfalls nicht<br />

mehr funktionierende Föderalismusmodelle,<br />

wie etwa in Spanien, in<br />

den Mittelpunkt. Wo die Zentralregierung<br />

in Madrid spätestens mit ihrer<br />

jüngsten Entscheidung, vor den<br />

Kanaren nach Öl zu bohren – <strong>und</strong><br />

damit neben der Natur die bisherige<br />

touristische Existenzgr<strong>und</strong>lage der<br />

gesamten Bevölkerung zu gefährden<br />

–, gezeigt hat, dass sie selbst die<br />

essenziellen Interessen der Regionen<br />

nicht mehr respektiert. Weswegen<br />

weniger die „Sicherheitsnetze“ der<br />

EU als kurzsichtige Politiker, wie<br />

Mariano Rajoy, <strong>für</strong> das Auseinanderdriften<br />

verantwortlich sind.<br />

Rasmus Ph. Helt, Hamburg<br />

Zum Beitrag „Eine einmalige<br />

Gelegenheit“ von Sean Connery,<br />

September 2014<br />

James Bond ist kein Politiker<br />

Sean Connery war der beste James<br />

Bond <strong>und</strong> ein Weltklasseschauspieler<br />

– sagt man. Zweifelsohne<br />

ist er ein glühender Patriot, aber<br />

kein weitsichtiger Politiker. Sein<br />

Artikel wärmt jedem Schotten<br />

das Herz mit all den Aufzählungen<br />

über Tradition <strong>und</strong> Kultur. Als<br />

weitsichtiger Patriot würde er seinen<br />

Landsleuten aber sagen, dass<br />

Schottland wirtschaftlich in erheblichem<br />

Umfang von England <strong>und</strong><br />

der EU subventioniert wird. Bayern<br />

<strong>und</strong> Katalonien wären lebensfähig,<br />

Schottland nicht. Wenn das Füllhorn<br />

aus London <strong>und</strong> Brüssel nicht<br />

mehr über den High- <strong>und</strong> Lowlands<br />

ausgegossen wird – <strong>und</strong> so tönt es<br />

aus Brüssel –, wird ein separates<br />

Schottland ein Armenhaus wie Sizilien,<br />

nur ohne Sonne <strong>und</strong> mit viel<br />

Regen.<br />

Kurt Reuter, Heusenstamm<br />

Zum Beitrag „Frau Fried fragt sich, ob<br />

sie als Amazon-K<strong>und</strong>in ein schlechter<br />

Mensch ist“ von Amelie Fried,<br />

September 2014<br />

Freie Marktwirtschaft<br />

Amazon ist nicht böse! Amazon ist<br />

ein Geschäftsmodell, eine globale<br />

Strategie. Das ist a priori nichts<br />

Schlechtes. Amazon steht hier <strong>für</strong><br />

eine ganze Reihe von Geschäftsmodellen,<br />

die sich Marktsegmente<br />

aneignen wollen, so funktioniert<br />

die freie Marktwirtschaft. Ob dieses<br />

Modell erfolgreich ist, entscheiden<br />

wir. Ein paar Klicks, <strong>und</strong> ich<br />

bekomme umgehend Post. Das ist<br />

komfortabel. Was ist der Preis?<br />

Viele Artikel würde ich auch<br />

im regionalen Markt bekommen.<br />

Die Wertschöpfung würde in der<br />

Region bleiben <strong>und</strong> käme der Region<br />

zugute <strong>und</strong> nicht einem Investorenkonsortium.<br />

Ich füttere eine<br />

Marktmacht, <strong>für</strong> die es ein Leichtes<br />

ist, völlig legal keine Steuern zu<br />

bezahlen. Gravierender noch die<br />

Erosion der regionalen Wirtschaft,<br />

die über die Gewerbesteuer die<br />

Kommune mitfinanziert.<br />

Die gut sortierte Buchhandlung<br />

am Ort, der Bäcker um die<br />

Ecke mit den besten Brötchen der<br />

Welt, der Elektrohandel am Ort,<br />

der sich um meine defekte Waschmaschine<br />

kümmert.<br />

Wollen wir das alles opfern <strong>für</strong><br />

ein bisschen mehr Bequemlichkeit,<br />

einen etwas günstigeren Preis, dem<br />

vermeintlichen Einsparen von Zeit?<br />

Auf Kosten von sozialen Kontakten<br />

<strong>und</strong> Erlebnissen?<br />

Dr. Leonhard Waldmüller, Breitengüßbach<br />

10<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


∆Wie lang ist ein langes Leben?<br />

Die Lebenserwartung ist seit 1960 weltweit von 50 auf 70 Jahre gestiegen. Und das ist nur<br />

einer von vielen Gründen, warum es sich lohnt, Verantwortung zu übernehmen. Als eine der<br />

größten Förderbanken der Welt investiert die KfW in Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Hygieneprogramme –<br />

<strong>und</strong> ermöglicht jeder Generation, ihre Lebensbedingungen nachhaltig zu verbessern.<br />

Veränderung fängt mit Verantwortung an. kfw.de/verantwortung


IMPRESSUM<br />

VERLEGER Michael Ringier<br />

CHEFREDAKTEUR Christoph Schwennicke<br />

STELLVERTRETER DES CHEFREDAKTEURS<br />

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TEXTCHEF Georg Löwisch<br />

CHEFIN VOM DIENST Kerstin Schröer<br />

CHEFREPORTER Constantin Magnis<br />

POLITISCHER KORRESPONDENT Christoph Seils<br />

RESSORTLEITER Lena Bergmann ( Stil ),<br />

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Til Knipper ( Kapital ), Dr. Frauke Meyer-Gosau<br />

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CICERO ONLINE Petra Sorge, Timo Stein<br />

ASSISTENTIN DES CHEFREDAKTEURS<br />

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REDAKTIONSASSISTENTIN Sonja Vinco<br />

ART-DIREKTORIN Viola Schmieskors<br />

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VERLAG<br />

GESCHÄFTSFÜHRUNG<br />

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VERTRIEB UND UNTERNEHMENSENTWICKLUNG<br />

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REDAKTIONSMARKETING Janne Schumacher<br />

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Düsternstraße 1–3, 20355 Hamburg<br />

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ANZEIGEN-DISPOSITION Erwin Böck<br />

HERSTELLUNG Michael Passen<br />

DRUCK/LITHO Neef+Stumme<br />

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erhalten sollten, bitten Sie ihn, <strong>Cicero</strong> bei seinem<br />

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Regel am Folgetag erhältlich.<br />

Zum Beitrag „Gib mir mein Sie zurück“<br />

von Holger Fuss, September 2014<br />

Sparsames Duzen<br />

Wie erfrischend! Ich begann mein<br />

Studium im Herbst 1968 (!), was<br />

mich allerdings nie hinderte, mit<br />

meinem Du sparsam umzugehen.<br />

Während des Referendariats, als das<br />

Du schon heftig die Umgangsformen<br />

infizierte, sagte unser pädagogischer<br />

Ausbilder den bemerkenswerten<br />

Satz, wenn man Schülern das Du<br />

anbiete, lüge man sie an, denn da<br />

wir Lehrer die Noten geben, könnten<br />

wir nicht die guten Kumpel der<br />

Schüler sein. Mit Erstaunen registrierte<br />

ich, dass mit einer verjüngten<br />

Schulleitung sich auch von dort<br />

aus epidemisch das Du ausbreitete,<br />

mit zum Teil merkwürdigen Auswirkungen,<br />

wenn ein Schulleiter, Jahrgang<br />

1962, mit 20 Jahre jüngeren<br />

Junglehrern per Du ist <strong>und</strong> als Vorgesetzter<br />

wegen eines hochnotpeinlichen<br />

Vorwurfs auf einmal offiziell<br />

eine Suspendierung aussprechen<br />

muss – da macht sich das Du dann<br />

nicht so gut.<br />

Maria Stein, Melsungen<br />

Voller Unkenntnis<br />

Warum lässt Herr Fuss uns nicht<br />

wissen, dass man im Hebräischen,<br />

Altgriechischen, Lateinischen <strong>und</strong><br />

Gotischen ausschließlich das Duzen<br />

kennt oder kannte? Und dass<br />

in den sechziger <strong>und</strong> siebziger Jahren<br />

die Schweden aufhörten, ihnen<br />

nicht bekannte oder ältere beziehungsweise<br />

in der Hierarchie höher<br />

stehende Personen in der dritten<br />

Person über Namen oder Titel anzusprechen,<br />

<strong>und</strong> zum Du als allgemein<br />

gültigem Anredepronomen übergingen?<br />

Die Behauptung von Herrn<br />

Fuss, dass sich erst seit unserer Generation<br />

die „Duz-Hegemonie“ im<br />

öffentlichen Raum ausbreitet, zeugt<br />

von Unkenntnis. Das einzig Wertvolle<br />

<strong>für</strong> mich ist in dem Artikel die<br />

Aufforderung, dass wir akzeptieren<br />

sollten, dass wir selbst verantwortlich<br />

<strong>für</strong> die Verwahrlosung der Sitten<br />

sind. Jedoch ist dies das Prinzip<br />

des Lebens: „Learning by doing.“<br />

Rita Schlesinger-Spies, Gröbenzell<br />

12<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


CICERO<br />

Leserbriefe<br />

Zum Beitrag „Der letzte Vorhang“ von<br />

Alexander Marguier, September 2014<br />

Zur rechten Zeit<br />

Der Artikel passt leider sehr gut<br />

zu der derzeitigen Situation in Bad<br />

Hersfeld. Es ist Ihnen sicherlich bekannt,<br />

dass Holk Freytag Ende Juli<br />

auf eine sehr beschämende Art<br />

<strong>und</strong> Weise vom Magistrat entlassen<br />

wurde. Das Ensemble hat sich<br />

bew<strong>und</strong>ernswert eingesetzt. Viele,<br />

nicht nur Hersfelder, sind traurig<br />

<strong>und</strong> entsetzt über diesen Affront<br />

gegen die Kultur <strong>und</strong> gegen den<br />

Menschen Holk Freytag. Ihr Artikel<br />

kommt zur passenden Zeit <strong>für</strong><br />

die w<strong>und</strong>erbaren Bad Hersfelder<br />

Festspiele in der altehrwürdigen<br />

Stiftsruine.<br />

Christine Krüger, Bad Hersfeld<br />

Zum Beitrag „Der Böse ist immer der<br />

Westen“ von Moritz Gathmann,<br />

September 2014<br />

Karikatur: Hauck & Bauer<br />

Zusammhänge ignoriert<br />

Der Beitrag von Moritz Gathmann<br />

ist sehr einseitig strukturiert. Der<br />

„Maidan-Sieg“ wird als etwas Besonderes<br />

herausgestellt. Ob der vom<br />

Westen mitinszenierte Putsch ein<br />

Sieg war, wird sich erst in einigen<br />

Jahrzehnten zeigen. Bedingt durch<br />

die Planung der USA, im Osten Polens<br />

Abwehrraketen aufzustellen<br />

(angeblich zur Abwehr iranischer<br />

Raketen), sowie das immer weitere<br />

Vorrücken der Nato in Richtung russischer<br />

Grenze lässt sich das Verhalten<br />

von <strong>Russland</strong> in die Vergangenheit<br />

projizieren. Man muss schon<br />

sehr naiv sein, um diese Zusammenhänge<br />

zu ignorieren.<br />

Claus Jürgen Lehmann, Oestrich-Winkel<br />

Zum Beitrag „Die Blutspur des<br />

Propheten“ von Gilles Kepel, August 2014<br />

Wer befreit Syrien?<br />

Fakt ist: Unter Saddam Hussein oder<br />

auch Assad hatten Christen nichts<br />

zu be<strong>für</strong>chten. Was ist zu tun? Die<br />

Alliierten damals haben uns Deutsche<br />

von den Nazi-Schergen befreit.<br />

Wer wird die leidende Bevölkerung<br />

in Syrien <strong>und</strong> im Irak befreien?<br />

Erwin Chudaska, Rödermark<br />

Zum Beitrag „Dreckige Saubermänner“<br />

von Meike Schreiber, August 2014<br />

Alles noch viel schlimmer<br />

Ihr Artikel über die Sparkassen ist<br />

noch viel zu positiv. Die Parlamentsbuchhandlung,<br />

in Bonn die Buchhandlung<br />

im B<strong>und</strong>eshaus, ist seit<br />

1949 sehr gut zahlender K<strong>und</strong>e der<br />

Sparkasse Bonn. Als der Umzug<br />

1999 nach Berlin anstand <strong>und</strong> wir<br />

Geld brauchten <strong>für</strong> den Neuanfang,<br />

hatten wir größte Schwierigkeiten,<br />

von unserer Hausbank Sparkasse<br />

Bonn einen Kredit zu bekommen.<br />

Die Kreditanstalt <strong>für</strong> Wiederaufbau<br />

(!) hat uns geholfen. Die Sparkasse<br />

Bonn hat uns nach einigen<br />

Jahren finanziell den Hals umdrehen<br />

wollen. Heute wissen wir, dass sich<br />

der Vorstand wegen des Congress<br />

Centers mit einem windigen Koreaner<br />

verzockt hat <strong>und</strong> es nur noch<br />

um Rendite geht. Die Sparkasse ist<br />

nicht mehr <strong>für</strong> den Mittelstand da.<br />

Sie verkauft dir einen Regenschirm,<br />

wenn die Sonne scheint, <strong>und</strong> nimmt<br />

ihn dir ab, wenn es regnet.<br />

Ben Maderspacher-Lenz, Berlin<br />

Zum Beitrag „Totalitäre Religion“ von<br />

Frank A. Meyer, August 2014<br />

Selbstgerecht<br />

Ihre Gegenüberstellung eines mittelalterlichen<br />

Islam einerseits <strong>und</strong><br />

eines jüdisch-christlich geprägten<br />

Westens andererseits, als Hort<br />

von Freiheit <strong>und</strong> Pluralismus in den<br />

300 Jahren seit der Aufklärung, erscheint<br />

mir doch arg selbstgerecht<br />

<strong>und</strong> geschichtsvergessen.<br />

Erwin Sharp, Düsseldorf<br />

Korrektur<br />

Im Porträt „Erdogans Spätzle“ über<br />

Rezzo Schlauch in unserer September-<br />

Ausgabe stand, dass er in früheren<br />

Jahren gesagt habe: „Mit Frauenpolitik<br />

holt man heute keinen Schwanz mehr<br />

hinterm Ofen vor.“ Dies hatten uns<br />

Zeitzeugen in Stuttgart berichtet. Herr<br />

Schlauch legt Wert darauf, dass er sich<br />

nicht so geäußert hat. Nicht bestreitet<br />

er hingegen das Zitat: „Frauenpolitik<br />

interessiert keine Sau.“<br />

Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.<br />

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.<br />

Wünsche, Anregungen <strong>und</strong> Meinungsäußerungen<br />

senden Sie bitte an redaktion@cicero.de<br />

13<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


TITEL<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Karte</strong><br />

Von JENS WEINREICH<br />

Illustrationen SIMON PRADES<br />

14<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


Die Vergabe der <strong>Fußball</strong>-WM an <strong>Russland</strong> <strong>und</strong> <strong>Katar</strong><br />

ist nicht erst seit den jüngsten politischen Entwicklungen<br />

hochumstritten. Denn in beiden Fällen geht es um ein<br />

unglaubliches Maß an Korruption. Geschichte eines Skandals,<br />

bei dem Recht <strong>und</strong> Gesetz keine Bedeutung mehr haben<br />

15<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


TITEL<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Karte</strong><br />

In der skandalträchtigen Chronik des Weltsports<br />

markiert der 2. Dezember 2010 ein spektakuläres<br />

Kapitel. An jenem Tag wurden in Zürich die <strong>Fußball</strong>weltmeisterschaften<br />

2018 <strong>und</strong> 2022 vergeben.<br />

Das Exekutivkomitee des Weltfußballverbands<br />

Fifa, damals auf 22 Mitglieder dezimiert, weil zwei<br />

Funktionäre wegen Bestechlichkeit suspendiert worden<br />

waren, entschied sich unter elf Nationen mehrheitlich<br />

da<strong>für</strong>, die WM 2018 an <strong>Russland</strong> <strong>und</strong> die WM 2022<br />

an <strong>Katar</strong> zu vergeben. Das hatten nur wenige Insider<br />

erwartet. Für H<strong>und</strong>erte Millionen <strong>Fußball</strong>fans war es<br />

eine Sensation. Ein Irrsinn. Die Wahl <strong>Russland</strong>s war ja<br />

noch halbwegs vermittelbar – aber das winzige Emirat<br />

<strong>Katar</strong>? Eine Weltmeisterschaft in der Wüste? Die<br />

Fifa-Bosse setzten sich über alle Bedenken selbst in<br />

den eigenen Reihen hinweg. Für Mitbewerber war es<br />

ein Schock; Australier <strong>und</strong> Engländer scheuten sich<br />

nicht, die Korruptionsfrage aufzuwerfen <strong>und</strong> Belege<br />

da<strong>für</strong> zu sammeln. Das war neu.<br />

<strong>Russland</strong> <strong>und</strong> <strong>Katar</strong> hatten in der technischen Evaluierung<br />

schlecht abgeschnitten. England (2018) <strong>und</strong><br />

die USA (2022) hatten gemäß Prüfbericht der Fifa die<br />

besten Offerten unterbreitet, mit der nötigen Infrastruktur<br />

inklusive zahlreicher Stadien, die profitabel<br />

betrieben wurden. Doch derlei Aspekte der Nachhaltigkeit<br />

milliardenschwerer Mega-Events interessierten<br />

die Fifa-Führung nicht.<br />

Seit jenem 2. Dezember 2010 diskutiert alle Welt<br />

über umfassende Korruption bei diesen Bewerbungen,<br />

über eine Verlegung der WM 2022 vom Sommer in den<br />

Winter, über Menschenrechte, skandalöse Arbeitsbedingungen<br />

<strong>und</strong> das sklavenhalterähnliche Kafala-System<br />

in <strong>Katar</strong>, über einen Boykott der WM 2018 in <strong>Russland</strong><br />

wegen Wladimir Putins Annexionspolitik in der<br />

Ukraine – <strong>und</strong> sogar über eine Neuvergabe der Turniere.<br />

Letzteres liegt aber allein in der Macht der Fifa.<br />

<strong>Kein</strong>e politische Institution könnte den Verband zu<br />

diesem Schritt zwingen. Zu den vielen bizarren Konstellationen<br />

zählt also auch der Umstand, dass allein<br />

jene, die <strong>Russland</strong> <strong>und</strong> <strong>Katar</strong> mit den WM-Turnieren<br />

betraut haben, ihre eigenen Entscheidungen kassieren<br />

können. Würden dann die korrupten unter ihnen auch<br />

das Schmiergeld zurückzahlen?<br />

Schon in der Bewerbungsphase unterwarfen sich<br />

alle WM-Interessenten dem Regelwerk der Fifa <strong>und</strong><br />

verzichteten darauf, gegebenenfalls Ansprüche vor<br />

ordentlichen Gerichten durchzusetzen. Ein Disput<br />

könnte lediglich vor dem umstrittenen Weltsportgerichtshof<br />

CAS in Lausanne ausgetragen werden. Die<br />

Fifa ist in diesem WM-Franchise der Rechteinhaber;<br />

<strong>Russland</strong> <strong>und</strong> <strong>Katar</strong> bezahlen zwar die Party, bleiben<br />

aber Juniorpartner wie alle anderen WM-Organisatoren<br />

zuvor.<br />

Natürlich müssten sich <strong>Russland</strong> oder <strong>Katar</strong> nicht<br />

an ein Fifa-Verdikt zu ihrem Nachteil halten, sondern<br />

könnten einen Präzedenzfall schaffen <strong>und</strong> auf den<br />

Rechtsweg der Fifa-Familie pfeifen. Wie wahrscheinlich<br />

aber wäre dieser Schritt, der ja bedeuten würde,<br />

dass Korruptionsfälle, die zur Neuvergabe der WM<br />

geführt haben, vor ordentlichen Gerichten öffentlich<br />

verhandelt würden? Daran hat niemand Interesse, weder<br />

die Geber aus <strong>Russland</strong> <strong>und</strong> <strong>Katar</strong> noch die Nehmer<br />

aus dem Fifa-Exekutivkomitee.<br />

<strong>Russland</strong> hatte sich im Dezember 2010 mit<br />

13 Stimmen in der ersten R<strong>und</strong>e vor Spanien <strong>und</strong><br />

Portugal durchgesetzt. <strong>Katar</strong> gewann in der vierten<br />

R<strong>und</strong>e mit 14 zu acht Stimmen gegen die USA.<br />

Von den Fifa-Vorstandsmitgliedern des Jahres 2010<br />

sind inzwischen neun der Korruption oder der Mitwisserschaft<br />

überführt, gegen 13 Funktionäre liegen<br />

Indizien vor, die auf Nepotismus bis hin zu Millionen-Abzocke<br />

deuten. Nur zwei dürfen als unbescholten<br />

gelten: Geoff Thompson aus England <strong>und</strong> Junji<br />

Ogura aus Japan. Beide haben das Exekutivkomitee<br />

inzwischen verlassen, ebenso wie die deutsche <strong>Fußball</strong>ikone<br />

Franz Beckenbauer. Beckenbauer wurde im<br />

Mai 2012 <strong>für</strong> eine unbekannte Summe Botschafter<br />

des von Gazprom geführten Verbands russischer Gasproduzenten<br />

– eine Partnerschaft, über deren Anbahnung<br />

bereits 2010 in der Bewerbungsphase gemunkelt<br />

wurde. Beckenbauer weist jeden Zusammenhang zur<br />

WM-Vergabe zurück.<br />

Seit 2010 schieden acht korrupte Führungskräfte<br />

aus. Im Herbst 2014 gilt dennoch mehr als die Hälfte<br />

der nunmehr 25 Exekutivmitglieder als belastet. Dazu<br />

zählen Vizepräsident Michel Platini aus Frankreich<br />

oder Michel d’Hooghe aus Belgien, deren Söhne unmittelbar<br />

nach der WM-Vergabe lukrative Jobs in katarischen<br />

Firmen erhielten.<br />

Dazu zählt auch der Strippenzieher Marios Lefkaritis<br />

aus Zypern, dessen Werk einer größeren Öffentlichkeit<br />

bislang verborgen blieb. Zum Kerngeschäft<br />

seiner Unternehmen zählt der Handel mit Öl <strong>und</strong> Gas.<br />

Im Sommer 2011 hat Lefkaritis <strong>für</strong> 32 Millionen Euro<br />

Gr<strong>und</strong>stücke an <strong>Katar</strong>s Staatsfonds QIA verkauft. Natürlich<br />

behauptet Lefkaritis, dieser Deal sei unabhängig<br />

von seiner Tätigkeit in der Fifa zustande gekommen.<br />

Der Klassiker unter den billigen Ausreden, aber<br />

wirkungsvoll: Im moralischen Sinne lassen sich derlei<br />

Vorgänge zwar kritisieren, strafrechtlich aber gilt es zu<br />

Über eine Neuvergabe<br />

der Turniere kann<br />

nicht die Politik,<br />

sondern nur die Fifa<br />

bestimmen<br />

16<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


eweisen, dass der Gr<strong>und</strong>stücksdeal die Entlohnung<br />

<strong>für</strong> die Stimme von Lefkaritis bei der WM-Vergabe war.<br />

Korruption ist der Missbrauch anvertrauter Macht<br />

zum privaten Vorteil. Nachweisen lässt sich dieser<br />

Missbrauch selten, weil Geber <strong>und</strong> Nehmer – beide<br />

sind Täter – ein Geheimhaltungsinteresse verbindet.<br />

Das unterscheidet Korruption von anderen Vergehen.<br />

Das macht die Aufklärung so schwierig <strong>und</strong> treibt die<br />

Dunkelziffern bei solchen Delikten in schwindelerregende<br />

Höhen jenseits von 95 Prozent – zumal im rechtlichen<br />

Niemandsland des Weltfußballwesens, wo Korruption<br />

in all ihren Schattierungen nicht die Ausnahme<br />

ist, sondern die Regel.<br />

Anfang September hat der von der Fifa<br />

verpflichtete ehemalige amerikanische<br />

Staatsanwalt Michael Garcia seinen sogenannten<br />

Untersuchungsbericht zum<br />

WM-Bewerbungsprozess vorgelegt. Als<br />

Chef der Ermittlungskammer der hausinternen Fifa-<br />

Ethikkommission überstellte Garcia das Konvolut von<br />

350 Seiten an den Münchener Strafrichter Hans-Joachim<br />

Eckert, den Boss der rechtsprechenden Fifa-<br />

Ethikkammer. Garcia soll mit seinen Leuten 75 Zeugen<br />

befragt <strong>und</strong> mehr als 200 000 Seiten Unterlagen<br />

durchforstet haben. Eckert hat nun das letzte Wort.<br />

Die Unabhängigkeit der Ethikkommission wird<br />

weltweit bezweifelt, zumal Fifa-Präsident Blatter im<br />

Laufe der Jahre immer wieder Ergebnisse vorweggenommen<br />

hat. Mehrfach erklärte er ultimativ, die<br />

WM 2022 werde in <strong>Katar</strong> stattfinden, komme was<br />

WM 2014, Viertelfinale: Brasilien gegen<br />

Kolumbien. Juan Zuniga springt Brasiliens<br />

Neymar in den Rücken. Wirbelbruch<br />

wolle. Das hört sich derzeit etwas kleinlauter an, dennoch:<br />

Blatters Aufstieg in der Fifa vom Generalsekretär<br />

zum Präsidenten im Jahr 1998, sein zweiter erfolgreicher<br />

Wahlkampf 2002 <strong>und</strong> sein Machterhalt<br />

sind untrennbar mit der Herrscherfamilie Al Thani<br />

verb<strong>und</strong>en. <strong>Katar</strong> hat diese Wahlkämpfe zu großen<br />

Teilen finanziert. Seit 1995, als <strong>Katar</strong> binnen weniger<br />

Wochen als Ersatzausrichter einer Junioren-WM einsprang,<br />

spielt das Emirat eine Schlüsselrolle in der Fifa.<br />

Die Al Thanis, der junge Emir Tamim <strong>und</strong> sein Vater<br />

Hamad, wissen alles über Joseph Blatter. Würde der es<br />

wagen, <strong>Katar</strong> vor der Weltöffentlichkeit als Schurkenstaat<br />

bloßzustellen, der sich Events, Verträge <strong>und</strong> Posten<br />

im Weltsport erkauft? Wie würde <strong>Katar</strong> reagieren?<br />

Die Konstellation hat das Potenzial, einen Erdrutsch<br />

auszulösen. In vielen der mehr als 100 Weltverbände,<br />

darunter 35 olympische Föderationen, läuft<br />

es ähnlich. <strong>Katar</strong> macht mit fast allen Verbänden Geschäfte<br />

im Rahmen des nationalen Planes, Doha als<br />

globale Sporthauptstadt zu etablieren. Allein in den<br />

nächsten Monaten finden dort Weltmeisterschaften im<br />

Schwimmen, Squash, Handball <strong>und</strong> Boxen statt.<br />

Als im August die Forderungen nach einem Boykott<br />

der <strong>Russland</strong>-WM 2018 lauter <strong>und</strong> sogar beim<br />

EU-Gipfel im Rahmen eines Sanktionspakets diskutiert<br />

wurden, sprang Fifa-Chef Blatter seinem<br />

17<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


Neymar wird vom Platz getragen, er<br />

muss ins Krankenhaus. Fürs Halbfinale<br />

gegen Deutschland fällt er aus<br />

18<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


TITEL<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Karte</strong><br />

Thomas Bach <strong>und</strong><br />

Joseph Blatter sind<br />

Meister darin,<br />

Politiker <strong>für</strong> ihre<br />

Zwecke einzuspannen<br />

Geschäftspartner Wladimir Putin ebenfalls zur Seite:<br />

Sport solle nicht mit Politik vermischt werden, erklärte<br />

Blatter im Beisein Putins, der ja selbst Weltklasse darin<br />

ist, Sport mit Politik zu vermengen. Sport solle nicht<br />

mit Politik vermischt werden, hatte im Februar 2014<br />

auch der deutsche IOC-Präsident Thomas Bach argumentiert,<br />

als das IOC in Putins Residenzstadt Sotschi<br />

die mehr als 50 Milliarden Dollar teuren Olympischen<br />

Winterspiele ausrichtete. Bach feierte die russischen<br />

Propagandaspiele als grandiosen Erfolg, während derer<br />

Putin die Annexion der Krim vorbereitete.<br />

Blatter, Bach <strong>und</strong> Putin halten zusammen wie Pech<br />

<strong>und</strong> Schwefel. Bach <strong>und</strong> Blatter sind Meister darin, Politiker<br />

<strong>für</strong> ihre Zwecke einzuspannen. Putin ist ein<br />

ungekrönter Olympiasieger darin, Sport <strong>für</strong> seine Interessen<br />

zu instrumentalisieren. Als Ausrichter von<br />

Mega-Events <strong>und</strong> anderen Weltmeisterschaften liegt<br />

<strong>Russland</strong> im laufenden Jahrzehnt an Position eins weltweit.<br />

Russische Firmen wie der staatliche Gaskonzern<br />

Gazprom sponsern zahlreiche Weltverbände, darunter<br />

auch die Fifa <strong>und</strong> die Europäische <strong>Fußball</strong>-Union Uefa.<br />

Russische Oligarchen, Politiker <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>e Putins<br />

haben in etlichen Weltverbänden als Präsidenten die<br />

Macht übernommen oder agieren in Exekutivkomitees<br />

an entscheidenden Positionen. Weder das IOC noch die<br />

Fifa können <strong>und</strong> werden sich von Putin lossagen. Mit<br />

Boykottforderungen darf man den Sport<strong>für</strong>sten ohnehin<br />

nicht kommen. Denn so etwas ist Teufelszeug<br />

<strong>für</strong> einen wie Bach: Der ehemalige Fechter begann<br />

seine Funktionärskarriere als Athletensprecher <strong>und</strong><br />

kämpfte 1980 vergeblich gegen den Olympiaboykott<br />

der Sommerspiele in Moskau, als viele westliche Nationen<br />

wegen des Einmarschs sowjetischer Truppen in<br />

Afghanistan fernblieben.<br />

Die aufflammenden Diskussionen über einen Boykott<br />

der WM 2018 in <strong>Russland</strong> lassen sich nur schwer<br />

mit den turbulenten Ereignissen des Jahres 1980 vergleichen,<br />

zu unterschiedlich sind die politischen Konstellationen.<br />

Damals schlossen sich weltweit 41 Nationen<br />

dem Aufruf der USA an. Das Europaparlament<br />

empfahl den Nationalen Olympischen Komitees der<br />

Mitgliedsländer, Moskau zu boykottieren. Es gab keinen<br />

kollektiven Beschluss des EWG-Ministerrats <strong>und</strong><br />

auch nicht der Nato.<br />

Die Sportminister des Europarats waren mehrheitlich<br />

gegen einen Boykott. Von den zehn Ländern der<br />

damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft boykottierten<br />

letztlich nur zwei Olympiakomitees: das der<br />

Niederlande <strong>und</strong> das NOK <strong>für</strong> Deutschland. Das deutsche<br />

NOK beugte sich einer B<strong>und</strong>estagsempfehlung <strong>und</strong><br />

dem immensen Druck der Regierung Helmut Schmidts.<br />

Dagegen flogen Franzosen, Italiener <strong>und</strong> Briten nach<br />

Moskau <strong>und</strong> widersetzten sich teilweise den Boykottforderungen<br />

ihrer Regierungen. Es ist aber kaum vorstellbar,<br />

dass in vier Jahren Franzosen, Engländer <strong>und</strong><br />

Italiener an der WM in <strong>Russland</strong> teilnehmen, während<br />

der Titelverteidiger Deutschland boykottiert <strong>und</strong> daheim<br />

bleibt. Jede B<strong>und</strong>esregierung, die so etwas auch<br />

nur in Erwägung zieht, müsste mit einem Volksaufstand<br />

rechnen. Denn der goldene WM-Pokal ist quasi unantastbar.<br />

Darin vor allem besteht die Macht der Fifa.<br />

Alle wollen sie teilhaben an der großen <strong>Fußball</strong>show,<br />

ob Politik oder Sponsoren. Und deshalb ist auch<br />

von den Geldgebern keine echte Aufklärung zu erwarten.<br />

Adidas beispielsweise, Fifa-Partner der ersten<br />

St<strong>und</strong>e, begnügte sich nach den jüngsten Enthüllungen<br />

der S<strong>und</strong>ay Times mit wachsweichen Statements, die<br />

wortgleich schon 2011 nach Veröffentlichung anderer<br />

Korruptionsgeschichten verbreitet worden waren.<br />

Und die öffentlich-rechtlichen Sender ARD <strong>und</strong> ZDF<br />

verkündeten Anfang Juni, als die Welt über Sklavenarbeiter<br />

<strong>und</strong> Korruption in <strong>Katar</strong> debattierte, mit der<br />

Fifa neue Verträge <strong>für</strong> die Wüsten-WM abgeschlossen<br />

zu haben. Sie finanzieren das System Blatter.<br />

Mit ernsthaften Boykotterwägungen<br />

müssten sich die Politik <strong>und</strong> die nationalen<br />

<strong>Fußball</strong>verbände erst 2016 befassen<br />

– dann nämlich beginnt die Qualifikation<br />

<strong>für</strong> die WM in <strong>Russland</strong>. Bis<br />

dahin kann sich die politische Lage entspannt haben.<br />

Und bis dahin werden deutsche Firmen alles daransetzen,<br />

Aufträge <strong>für</strong> die WM-Bauten <strong>und</strong> die begleitenden<br />

Infrastrukturmaßnahmen in <strong>Russland</strong> zu akquirieren.<br />

In <strong>Katar</strong> führen deutsche Unternehmen bereits Milliardenaufträge<br />

aus. <strong>Kein</strong>e B<strong>und</strong>esregierung hat je erwogen,<br />

diese Firmen zum Rückzug zu bewegen.<br />

Hans-Joachim Eckert ist ein Mann <strong>für</strong> schwere<br />

Fälle. Er hat als Richter am Münchner Landgericht vor<br />

einigen Jahren den Siemens-Schmiergeldprozess geleitet.<br />

Er hat einen guten Ruf zu verlieren, der während<br />

seiner Tätigkeit <strong>für</strong> die Fifa bereits gelitten hat.<br />

Eckert betreibt in der Fifa keine Strafjustiz. Er überprüft<br />

lediglich, wie sich die Vorgänge r<strong>und</strong> um die<br />

WM-Bewerbungen von <strong>Russland</strong>, <strong>Katar</strong> <strong>und</strong> neun anderen<br />

Nationen, die der ehemalige US-Staatsanwalt<br />

Michael Garcia ihm zusammengefasst hat, mit dem<br />

Ethikkodex vereinbaren lassen. Das sagt einiges darüber<br />

aus, was von Eckerts Urteil erwartet werden darf.<br />

Denn ein Fifa-Ethikreglement war in den Jahren 2009<br />

19<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


TITEL<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Karte</strong><br />

<strong>und</strong> 2010 nur rudimentär entwickelt – daran wurde<br />

erst nach der WM-Vergabe, ab Mitte 2011, unter größtem<br />

medialem Druck gebastelt. In der heißen Phase<br />

der WM-Bewerbungen aber hatte sich der Engländer<br />

Lord Sebastian Coe, Olympiasieger <strong>und</strong> Organisator<br />

der Spiele 2012 in London, von Blatter als Fifa-Ethikchef<br />

wegen Arbeitsüberlastung beurlauben lassen. Es<br />

gab damals nicht einmal ein konsistentes Bewerbungsreglement:<br />

Zunächst waren Doppelbewerbungen <strong>für</strong><br />

die Weltmeisterschaften 2018 <strong>und</strong> 2022 zugelassen,<br />

erst kurz vor der Entscheidung verlangte die Fifa, die<br />

Interessenten sollten sich <strong>für</strong> eine WM entscheiden.<br />

Was Garcia in seinem Bericht nicht erwähnt, womöglich<br />

bewusst negiert <strong>und</strong> ausgelassen hat, kann<br />

Eckert nicht würdigen. Eckert könnte zusätzliche Ermittlungen<br />

einleiten, sollte ihm das von Garcia erstellte<br />

Material nicht ausreichen. Doch was heißt hier<br />

Ermittlungen? Denn es recherchieren ja keine Polizeibehörden<br />

auf rechtsstaatlicher Gr<strong>und</strong>lage, sondern nur<br />

ein von der Fifa-Führung unter dubiosen Umständen<br />

<strong>für</strong> viele Millionen angeheuerter Amerikaner mit seinen<br />

Leuten. In anderen Fällen haben Garcias Berichte<br />

stets zu dem von Blatter erwünschten Ergebnis geführt.<br />

Rechtsstaatlichkeit gibt es ohnehin nicht im Reich<br />

der Sportkonzerne. Die Fifa <strong>und</strong> das IOC sind globale<br />

Parallelgesellschaften mit eigener Jurisdiktion,<br />

Uruguays Luis Suárez hält sich die Zähne,<br />

nachdem er sie in die Schulter des Italieners<br />

Giorgio Chiellini gerammt hat<br />

die sich öffentlicher Kontrolle entziehen. So greifen<br />

beispielsweise internationale Antikorruptionsabkommen,<br />

die in der Politik <strong>und</strong> der regulären Wirtschaft<br />

gelten, nicht in diesem Schattenbusiness. Fifa, IOC <strong>und</strong><br />

60 andere Sportverbände residieren in der Schweiz,<br />

setzen Milliarden um, genießen zahlreiche steuerliche<br />

Privilegien <strong>und</strong> den rechtlichen Status von Vereinen.<br />

Und das, obwohl etwa die Fifa in großem Stil am Finanzmarkt<br />

agiert <strong>und</strong> aktuell Reserven von 1,432 Milliarden<br />

Dollar meldet.<br />

Für <strong>Russland</strong> <strong>und</strong> <strong>Katar</strong> haben die WM-Projekte<br />

oberste Priorität. In <strong>Russland</strong> hatte Putin<br />

die Bewerbung zur Chefsache gemacht; heute<br />

setzt er die WM-Vorbereitungen als allmächtiger<br />

Präsident durch. Er hatte Gazprom <strong>und</strong><br />

Oligarchen wie Roman Abramowitsch <strong>für</strong> die Bewerbung<br />

eingespannt. Es gibt Hinweise darauf, dass der<br />

Auslandsgeheimdienst SWR im Fifa-Umfeld die Fäden<br />

zog, angeblich, um lange nach dem 2. Dezember 2010<br />

die Spuren unsauberer Machenschaften zu verwischen.<br />

<strong>Katar</strong> hat im Rahmen seiner Bewerbung ebenfalls<br />

Geheimdienstler eingesetzt, etwa die Business-Intelligence-Firma<br />

Kroll Associates, die im „Projekt Seleucia“<br />

nicht nur Fifa-Funktionäre ausspionierte, sondern<br />

offenbar auch Journalisten, die kritisch über die Machenschaften<br />

berichteten. Auf der anderen Seite waren<br />

in einigen Ländern verdeckte Ermittler tätig, langgediente<br />

hochrangige Geheimdienstler, um auf eigene<br />

Faust Beweise <strong>für</strong> die Millionentransfers zu sammeln<br />

<strong>und</strong> an den Meistbietenden zu verkaufen.<br />

20<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


Bei diesen WM-Vergaben könnte es sich um die<br />

größten Korruptionsfälle der Sportgeschichte handeln.<br />

Angeblich sollen die Stimmen mancher Fifa-<br />

Exekutivmitglieder 30 bis 35 Millionen Euro gekostet<br />

haben. Derlei märchenhafte Summen sorgten da<strong>für</strong>,<br />

dass auch <strong>für</strong> Dokumente, die angeblich Korruption<br />

belegen sollen, unfassbare Beträge aufgerufen wurden.<br />

So verlangte ein Informant von Journalisten fünf<br />

Millionen Dollar vorab <strong>für</strong> ein Konvolut von Unterlagen<br />

<strong>und</strong> Kontoauszügen. Zweifelsfrei belegt sind bisher<br />

aber nur die Zahlungen des einstigen katarischen Fifa -<br />

Exekutivlers Mohamed bin Hammam an Vorstandskollegen<br />

wie den langjährigen Fifa-Vizepräsidenten Jack<br />

Warner aus Trinidad <strong>und</strong> Tobago sowie zweitrangige<br />

Funktionäre aus Afrika <strong>und</strong> Asien, die kein Stimmrecht<br />

hatten, wohl aber Stimmung <strong>für</strong> <strong>Katar</strong> machen<br />

konnten. Die Londoner S<strong>und</strong>ay Times hat diese Vorgänge<br />

im Juni 2014 enthüllt.<br />

<strong>Katar</strong>s WM-Organisatoren behaupten, bin Hammam<br />

sei nicht in die offizielle Bewerbung eingeb<strong>und</strong>en<br />

gewesen. Tatsächlich ist bin Hammam einer der<br />

wichtigsten Sportfunktionäre in der Erbmonarchie;<br />

mehr als 13 Jahre lang hat er den prall gefüllten Entwicklungshilfefonds<br />

der Fifa verwaltet, hat <strong>für</strong> Blatter<br />

Wahlkämpfe organisiert <strong>und</strong> Stimmenpakete arrangiert.<br />

Blatter hat ihn erst gestoppt, als bin Hammam<br />

selbst den Fifa-Thron besteigen <strong>und</strong> Präsident werden<br />

wollte – er wurde lebenslang gesperrt.<br />

Sollte die <strong>Fußball</strong>-WM 2018 wie geplant in <strong>Russland</strong><br />

stattfinden, dürften mehr als 100 Milliarden Dollar<br />

in Infrastrukturprojekte <strong>und</strong> Stadien investiert<br />

werden – die Korruptionsmarge beträgt laut dem Bauunternehmer<br />

<strong>und</strong> Whistleblower Waleri Morosow 15<br />

bis 20 Prozent. In <strong>Katar</strong> wiederum ist die WM 2022<br />

ein Kernprojekt des gigantischen Masterplans „Qatar<br />

National Vision 2030“. Ob nun 250 oder 300 Milliarden<br />

Dollar da<strong>für</strong> aufgewendet werden, spielt dort keine<br />

Rolle. <strong>Katar</strong> verfügt dank seiner Gasvorkommen über<br />

enorme Reichtümer. Und wenn das Turnier dort wegen<br />

der Hitze in den Winter verlegt werden sollte <strong>und</strong> die<br />

nationalen <strong>Fußball</strong>verbände oder die übertragenden<br />

TV-Anstalten deswegen ihre Planungen umschmeißen<br />

müssen, würden sie von <strong>Katar</strong> gewiss <strong>für</strong>stlich entschädigt.<br />

Alles nur eine Frage des Preises.<br />

UMFRAGE *<br />

MEHRHEITEN GEGEN<br />

RUSSLAND UND KATAR<br />

<strong>Katar</strong><br />

Die <strong>Fußball</strong>-WM 2022 sollte nicht wie vereinbart<br />

von <strong>Katar</strong>, sondern in einem anderen Land<br />

ausgetragen werden. **<br />

JA<br />

ANHÄNGER DER<br />

62% – CDU/CSU<br />

63% – SPD<br />

63% – LINKE<br />

70% – GRÜNE<br />

58% – AFD<br />

INSGESAMT<br />

INSGESAMT<br />

60% 28%<br />

OST – 54% WEST – 61% OST – 24% WEST – 29%<br />

<strong>Russland</strong><br />

Die <strong>Fußball</strong>-WM 2018 sollte nicht wie vereinbart<br />

von <strong>Russland</strong>, sondern in einem anderen Land<br />

ausgetragen werden. **<br />

JA<br />

NEIN<br />

ANHÄNGER DER<br />

24% – CDU/CSU<br />

32% – SPD<br />

29% – LINKE<br />

25% – GRÜNE<br />

27% – AFD<br />

NEIN<br />

Foto: Privat<br />

Weiterlesen<br />

JENS WEINREICH ist<br />

Autor in Berlin. Er beschäftigt<br />

sich seit Jahren<br />

mit Sportpolitik <strong>und</strong> insbesondere<br />

mit der Fifa<br />

Lesen Sie mehr zu <strong>Katar</strong> <strong>und</strong> <strong>Russland</strong> in der Weltbühne:<br />

Report über das reiche Emirat, das Leid verursacht (Seite 70).<br />

Essay von Michail Schischkin zur Tradition des Lügens (Seite 78)<br />

ANHÄNGER DER<br />

ANHÄNGER DER<br />

47% – CDU/CSU 41% CDU/CSU<br />

43% – SPD 51% SPD<br />

22% – LINKE 65% LINKE<br />

54% – GRÜNE 40% GRÜNE<br />

46% – AFD 52% AFD<br />

INSGESAMT<br />

INSGESAMT<br />

47% 42%<br />

OST – 36% WEST – 49% OST – 44% WEST – 42%<br />

* Forsa-Umfrage, Datenbasis: 1002 Befragte,<br />

Erhebungszeitraum: 11. <strong>und</strong> 12. September 2014<br />

** Abweichungen von 100% = „weiß nicht“<br />

21<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


TITEL<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Karte</strong><br />

ELF STARKE<br />

STIMMEN<br />

22<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


Von links stehend<br />

Axel Hacke<br />

Marco Bode<br />

Uli Hannemann<br />

Selmin Çalışkan<br />

Thomas Strunz<br />

Jörg Schmadtke<br />

Vorne<br />

Moritz Rinke<br />

Sibylle Berg<br />

Yves Eigenrauch<br />

Marcel Reif<br />

Peter Neururer<br />

Hauptsache Weltmeisterschaften? Unwichtig, wer<br />

darunter leidet? Egal, wer sich damit schmückt?<br />

Vielleicht sieht das die Fifa so. Aber elf Persönlichkeiten<br />

haben etwas gegen <strong>Katar</strong> <strong>und</strong> <strong>Russland</strong> als Gastgeber<br />

Die <strong>Cicero</strong>-Elf der WM-Kritiker<br />

23<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


TITEL<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Karte</strong><br />

1<br />

Jörg Schmadtke, 50,<br />

ehemaliger <strong>Fußball</strong>torhüter, heute<br />

Sportdirektor des 1. FC Köln<br />

Wir haben Olympia in Peking gefeiert, wir hatten eine<br />

Weltmeisterschaft 1978 in Argentinien, als dort die Militärjunta<br />

regierte. 1972 nach dem Anschlag im olympischen Dorf<br />

gingen die Spiele weiter. Was ich damit sagen will, ist: Die großen<br />

Sportveranstaltungen finden in der realen Welt statt, nicht<br />

in einer Wunschwelt. Aber natürlich ist die Frage legitim, ob<br />

es von allen Ländern mit ihren Vor- <strong>und</strong> Nachteilen<br />

ausgerechnet <strong>Katar</strong> sein musste. Wenn wir<br />

diskutieren, ob sich das mit dem Fair-Play-<br />

Gedanken des <strong>Fußball</strong>s in Einklang bringen<br />

lässt, dann müssen wir aber auch über<br />

<strong>Russland</strong> reden – <strong>und</strong> das Vergabeverfahren<br />

kritisch überprüfen.<br />

2<br />

Peter Neururer, 59, B<strong>und</strong>esligatrainer<br />

beim VfL Bochum<br />

Sagt die <strong>Fußball</strong>weltmeisterschaft in <strong>Katar</strong> ab! Das ist ja<br />

fast schon eine Pflicht. Diese Veranstaltung darf man in keiner<br />

Weise tolerieren. Wenn man den Medienberichten Glauben<br />

schenken kann – <strong>und</strong> ich nehme an, dass man es kann –<br />

<strong>und</strong> sich bewusst ist, wie viele Gastarbeiter dort unter den<br />

unmenschlichsten Bedingungen ihr Dasein fristen, kann man<br />

nicht mehr mit reinem Gewissen dahinterstehen. Für mich ist<br />

das eine sportliche Tragödie. Die Sommerhitze in <strong>Katar</strong> wäre<br />

<strong>für</strong> die Spieler <strong>und</strong> die Fans darüber hinaus eine einzige Zumutung,<br />

die Spiele in den Winter zu verlegen, eine logistische <strong>und</strong><br />

völlig idiotische Fehlentscheidung. Alles, was ich<br />

mit dieser Weltmeisterschaft in Verbindung<br />

bringen kann, hat bisher nicht viel mit Sport<br />

zu tun. Da stehen rein wirtschaftliche Interessen<br />

im Vordergr<strong>und</strong>. Der <strong>Fußball</strong> darf<br />

sich an so einem Foulspiel nicht beteiligen.<br />

Doch leider scheint der Schwachmatismus<br />

bei den Entscheidungsträgern im Weltfußball<br />

überhandzunehmen. Auch in Bezug<br />

auf die WM 2018 in <strong>Russland</strong> gibt es meiner Meinung<br />

nach klaren Handlungsbedarf. Sanktionen auszusprechen,<br />

reicht nicht aus. Wir müssen ein deutliches Zeichen setzen, beispielsweise<br />

indem man über alternative Spielorte nachdenkt.<br />

3<br />

Thomas Strunz, 46,<br />

<strong>Fußball</strong>europameister<br />

1996 <strong>und</strong> Sport1-Experte<br />

Die Austragung eines sportlichen Großereignisses<br />

wie einer <strong>Fußball</strong>-WM in aktuellen<br />

Krisenregionen sollte uns nachdenklich<br />

machen. Die Mitgliedsländer der Fifa haben<br />

diese Entscheidung in einer fragwürdigen<br />

Doppelwahl so getroffen, ohne dass wir damals<br />

bereits die Ukrainekrise <strong>und</strong> die verschärfte<br />

IS-Thematik hatten. Ich bin sicher,<br />

dass eine heutige Wahl völlig anders ausgehen<br />

würde <strong>und</strong> sowohl <strong>Russland</strong> als auch <strong>Katar</strong><br />

keine Chance mit ihren Bewerbungen hätten.<br />

Die Fifa hat die gesellschaftliche <strong>und</strong> politische<br />

Verpflichtung, die Ausrichterländer<br />

<strong>Russland</strong> <strong>und</strong> <strong>Katar</strong> an die ganz kurze Leine<br />

zu nehmen <strong>und</strong> mit der Wegnahme des Ausrichterstatus<br />

zu drohen, wenn es kriegerische,<br />

menschenrechtliche <strong>und</strong> sozialpolitische Themen<br />

gibt <strong>und</strong> diese nicht im Sinne der Weltgemeinschaft<br />

kurzfristig beendet oder gelöst<br />

werden. Darüber hinaus müsste ein Alternativplan<br />

<strong>für</strong> die Neuvergabe der Weltmeisterschaften<br />

2018 <strong>und</strong> 2022 erarbeitet werden,<br />

der bis zum Sommer 2015 greift, um den<br />

neuen Bewerbern die Möglichkeit einer professionellen<br />

Umsetzung zu geben.<br />

Mittlerweile hat der <strong>Fußball</strong> mit seiner<br />

globalen Wahrnehmung eine soziale Verantwortung<br />

übernommen. Durch die Vergabe<br />

der WM an die beiden Länder <strong>und</strong> der damit<br />

verb<strong>und</strong>enen verstärkten medialen Fokussierung<br />

auf die dort herrschenden Zustände<br />

kann es natürlich zu Veränderungen<br />

in den einzelnen Staaten kommen. Ob diese<br />

von Nachhaltigkeit geprägt sein werden, wird<br />

sich zeigen müssen. Von einem bereits öffentlich<br />

thematisierten Boykott einzelner Nationen<br />

halte ich in diesem Kontext nichts. Die<br />

Fifa mit Sepp Blatter an der Spitze hat die<br />

Aufgabe, diesen beiden Ländern klarzumachen,<br />

wie die Regeln der Weltgemeinschaft<br />

aussehen <strong>und</strong> was von <strong>Russland</strong> <strong>und</strong> <strong>Katar</strong><br />

in diesem Zusammenhang erwartet<br />

wird. Sollte diese<br />

Erwartung der Welt nicht<br />

erfüllbar sein, dürfen die<br />

WM-Turniere dort nicht<br />

stattfinden.<br />

24<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


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TITEL<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Karte</strong><br />

5<br />

Marco Bode, 45,<br />

<strong>Fußball</strong>europameister 1996,<br />

heute Aufsichtsratsmitglied<br />

des SV Werder Bremen.<br />

Gilt als einer der fairsten Spieler<br />

der B<strong>und</strong>esligageschichte<br />

Alle Informationen, die mir zur Verfügung stehen, vor allem Berichte<br />

von Amnesty International, sprechen da<strong>für</strong>, dass die Vergabe der<br />

Weltmeisterschaft nach <strong>Katar</strong> ein großer Fehler war <strong>und</strong> korrigiert werden<br />

sollte. Neben politischen <strong>und</strong> sozialen Gründen sind die klimatischen<br />

Verhältnisse aus Sicht eines Sportlers nur ein weiteres Argument<br />

gegen eine <strong>Fußball</strong>-WM in <strong>Katar</strong>. Was <strong>Russland</strong> angeht, fällt mir eine<br />

Beurteilung im Moment sehr schwer. Das politische Handeln unter Putin<br />

in der Ukraine ist völkerrechtswidrig, aber auch der Westen ist nicht<br />

frei von Verantwortung <strong>für</strong> die Situation. Sportler lehnen<br />

einen Boykott wie 1980 gr<strong>und</strong>sätzlich ab, ein anderes<br />

Gastgeberland zu wählen, ist eher denkbar. Allerdings<br />

sprechen alle Zeichen von Blatter <strong>und</strong> auch<br />

Platini gegen eine Rücknahme der Vergaben. Auf jeden<br />

Fall gilt es, die Werte des Sports zu verteidigen.<br />

4<br />

Sibylle Berg, 52, Autorin<br />

<strong>und</strong> Dramatikerin<br />

Ich war noch nie in <strong>Katar</strong>. Und es ist immer<br />

bedenklich, ein Urteil nur aufgr<strong>und</strong> von<br />

Informationen aus zweiter Hand zu fällen.<br />

Vertraue ich allerdings auch nur<br />

zur Hälfte allen von hier aus<br />

verfügbaren Informationen,<br />

würde ich weder – wie es<br />

in Europa üblich ist – Immobilien,<br />

Geschäfte <strong>und</strong><br />

Gr<strong>und</strong> an <strong>Katar</strong>er verkaufen<br />

noch so eine nette Geld<br />

bringende Albernheit wie ein<br />

Sportevent dort stattfinden lassen.<br />

Vermutlich wird die Liste der Austragungsorte<br />

klein, wenn man die Spiele nur in Ländern<br />

ohne Menschenrechtsverletzungen, ohne Homophobie<br />

<strong>und</strong> Terrorfinanzierung stattfinden<br />

lässt. Aber dann, liebe Spieler <strong>und</strong> Spielerinnen,<br />

bestreikt halt die Spiele in Kackländern,<br />

<strong>und</strong> vor allem: bestreikt Sepp Blatter!<br />

6<br />

Marcel Reif, 64,<br />

<strong>Fußball</strong>experte <strong>und</strong><br />

Sky-Chefkommentator<br />

Wenn ich an die anstehenden Weltmeisterschaften<br />

in <strong>Russland</strong> <strong>und</strong> <strong>Katar</strong> denke, stellt<br />

sich in beiden Fällen die Frage, wie der Fair-<br />

Play-Gedanke des <strong>Fußball</strong>s zu Ländern passt,<br />

die unseren demokratischen Ansprüchen nicht<br />

oder nur kaum genügen. Gerade die Korruptionsvorwürfe<br />

am Vergabeverfahren der WM<br />

nach <strong>Katar</strong> sind bereits so schwerwiegend, dass<br />

diese erst einmal lückenlos aufgeklärt werden<br />

müssen, bevor man hier ein <strong>Fußball</strong>fest feiern<br />

kann. Dass die klimatischen Bedingungen<br />

<strong>für</strong> ein Turnier im katarischen<br />

Sommer dazu noch absurd<br />

ungeeignet sind, wird da ja fast<br />

schon zur Nebensache. Wir sollten<br />

also alle ganz genau hingucken<br />

<strong>und</strong> öffentlich machen, dass das so<br />

nicht in Ordnung ist.<br />

26<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


OKTOBER 2014 / EURO 9,00 / SFR 14,50<br />

7<br />

Moritz Rinke, 47,<br />

Dramatiker, Romanautor <strong>und</strong> Stürmer<br />

der Autorennationalmannschaft<br />

Selbst wenn sich <strong>Katar</strong> im Juli 2022 irgendwie einen milden<br />

Frühling kaufen könnte, darf eine WM in <strong>Katar</strong> nicht stattfinden.<br />

Nicht bevor erst einmal ermittelt worden ist, ob die<br />

Korruptionsvorwürfe gegen den ehemaligen katarischen Fifa-<br />

Spitzenfunktionär stimmen, wonach er Offizielle mit fünf Millionen<br />

Dollar bestochen haben soll, um den WM-Zuschlag <strong>für</strong><br />

<strong>Katar</strong> zu bekommen. Dass diese Untersuchungen allerdings<br />

die Fifa-Ethikkommission leitet, macht mich skeptisch. Bei der<br />

Konstruktion „Fifa-Ethikkommission“ muss ich an den Satz<br />

von Karl Valentin denken, wonach man sich bei einem Studium<br />

der Wirtschaftsethik <strong>für</strong> eines der beiden entscheiden müsse.<br />

Selbst wenn herauskommen sollte, dass <strong>Katar</strong> keine<br />

Schmiergelder gezahlt hat, darf eine WM in <strong>Katar</strong> nicht stattfinden.<br />

Die Ausbeutung der Arbeitsmigranten ist mehrfach<br />

dokumentiert worden, auch durch einen erschütternden Bericht<br />

von Amnesty International. Ich <strong>für</strong>chte, dass milliardenschwere<br />

Finanztransaktionen wie <strong>Fußball</strong>weltmeisterschaften<br />

sich zwar immer noch „Fair-Play-Veranstaltungen“ nennen, es<br />

aber mit Menschenrechtsverletzungen nicht so ernst nehmen.<br />

Sonst dürfte auch keine WM in <strong>Russland</strong> stattfinden! (Und<br />

überhaupt: Wie groß wird <strong>Russland</strong> sein, wenn dort die WM<br />

2018 stattfindet? Sind die deutschen Gruppenspiele dann in<br />

der ehemaligen Ukraine?)<br />

Selbst wenn <strong>Katar</strong> Wiedergutmachungszahlungen an die<br />

Arbeitsmigranten leisten <strong>und</strong> die Arbeitstoten wieder lebendig<br />

machen würde, darf eine WM in <strong>Katar</strong> nicht stattfinden. Es<br />

tauchen immer wieder Quellen auf, die belegen, dass<br />

sunnitische Golfstaaten wie Saudi-Arabien <strong>und</strong><br />

<strong>Katar</strong> (oder ultrareiche Fanatiker oder Clans<br />

aus diesen Staaten) die IS-Terroristen mit Geld<br />

oder Waffen unterstützen. Und um es wirklich<br />

absurd zu beschreiben: Als einziges Team<br />

könnte ja trotzdem Deutschland zur WM nach<br />

<strong>Katar</strong> fahren, denn die schwarz-gelbe B<strong>und</strong>esregierung<br />

hat 2012 Waffenlieferungen <strong>für</strong> <strong>Katar</strong><br />

bewilligt, <strong>für</strong> 1,89 Milliarden Euro! Also: Erst die<br />

Leopard-Panzer liefern, dann die neuen Götzes <strong>und</strong> Benders.<br />

Dann müsste man locker wieder Weltmeister werden. Allerdings<br />

haben laut „Schweizer Medienberichten“ die IS-Terroristen<br />

einen Drohbrief an Sepp Blatter von der Fifa geschrieben,<br />

in dem es heiße, dass <strong>Katar</strong> bald zum neuen Kalifat gehören<br />

werde <strong>und</strong> eine WM nicht zu einem Kalifat passe.<br />

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<strong>Rote</strong> <strong>Karte</strong><br />

8<br />

Selmin Çalışkan, 47<br />

Generalsekretärin von<br />

Amnesty International<br />

Deutschland<br />

Die Fifa darf die WM nicht an Länder<br />

wie <strong>Katar</strong> oder <strong>Russland</strong> vergeben, aber<br />

gleichzeitig die Augen vor den unhaltbaren<br />

Zuständen dort verschließen. Das<br />

muss nicht Boykott bedeuten. Sie muss<br />

aber ihren Einfluss nutzen, um die Situation<br />

der Menschen zu verbessern. Und<br />

auf jeden Fall ist sie verantwortlich da<strong>für</strong>,<br />

was in unmittelbarem Zusammenhang<br />

mit der WM passiert – wie andere<br />

global agierende Wirtschaftsunternehmen<br />

bei ihren Geschäften auch. Die Fifa<br />

macht sich zum Komplizen von Menschenrechtsverletzungen,<br />

wenn etwa auf<br />

den Stadionbaustellen unmenschliche Bedingungen<br />

herrschen <strong>und</strong> sogar Arbeiter<br />

wegen dieser Bedingungen sterben.<br />

Fair Play in <strong>Katar</strong> muss auch heißen:<br />

Faire <strong>und</strong> sichere Bedingungen <strong>für</strong> die<br />

in <strong>Katar</strong> beschäftigten Arbeitsmigranten.<br />

Dazu muss das Sponsorengesetz<br />

abgeschafft<br />

werden, das ausländische<br />

Arbeiterinnen<br />

<strong>und</strong> Arbeiter<br />

in extreme Abhängigkeit<br />

vom Arbeitgeber<br />

bringt. Fair<br />

Play in <strong>Russland</strong> muss<br />

auch heißen: Meinungs<strong>und</strong><br />

Versammlungsfreiheit am Rande<br />

der Sportveranstaltung. Bei den Olympischen<br />

Winterspielen in Sotschi war das<br />

nicht der Fall. Um Ruhe während der<br />

Spiele zu haben, nahm die Polizei Menschen,<br />

die friedlich protestieren wollten,<br />

schon bei der Anreise fest. Darunter den<br />

Umweltaktivisten Jewgeni Witischko.<br />

Das Olympische Komitee schwieg dazu.<br />

Witischko ist noch heute in Haft.<br />

9<br />

Uli Hannemann, 49<br />

Schriftsteller <strong>und</strong> Mitglied der<br />

Autorennationalmannschaft,<br />

dort Innenverteidiger<br />

Man kann <strong>Russland</strong> <strong>und</strong> <strong>Katar</strong> nicht über einen Kamm scheren.<br />

Im Fall <strong>Katar</strong> summieren sich irrwitzige klimatische Bedingungen,<br />

vermutete Korruption bei der Vergabe <strong>und</strong> menschenunwürdige Behandlung<br />

der Arbeitskräfte. Das sollte noch dem geduldigsten Fan<br />

die Feierfreude verhageln. Was <strong>Russland</strong> betrifft, gilt es, Entwicklungen<br />

abzuwarten. Hier überwiegt zurzeit die allgemeinpolitische<br />

Problematik, im Gegensatz zur sportpolitischen in <strong>Katar</strong>.<br />

Die Fifa muss gründlich reformiert werden. Eitle <strong>und</strong> machtgeile<br />

Funktionäre wie Beckenbauer, der den toten Arbeitern in <strong>Katar</strong><br />

flapsige Scherzworte aufs Wüstengrab streut, Blatter, Platini <strong>und</strong><br />

Konsorten schänden jeden Anstand. Korruptionsvorwürfe müssen<br />

von unabhängiger Seite untersucht werden – es kann nicht angehen,<br />

dass die Fifa agiert wie ein absolutistisches Regime, unabhängig<br />

von Steuer- <strong>und</strong> sonstiger Gerechtigkeit. Sonst setzt sich die Tendenz<br />

weiter fort, dass Ausrichter mit postdemokratischen Strukturen<br />

<strong>für</strong> Prunkspiele bluten, während andernorts die Vernunft schon die<br />

Bewerbung scheitern lässt. Die Veranstaltungen müssen nachhaltiger<br />

werden, Geld muss in die Kassen zurückfließen, aus denen es<br />

investiert wird.<br />

Es wäre naiv, an das Gladiatorenspektakel WM<br />

die gleichen gesellschaftlichen Ansprüche zu erheben<br />

wie an den Breitensport <strong>Fußball</strong>. Doch<br />

auch eine Unterhaltungsveranstaltung sollte<br />

sich wenigstens an den gr<strong>und</strong>legenden Prinzipien<br />

der Moral orientieren. Das vermissten wir<br />

bei der Fifa in Südafrika, in Brasilien <strong>und</strong> werden<br />

das auch in <strong>Russland</strong> <strong>und</strong> <strong>Katar</strong> tun. So viel steht<br />

bereits mit der Vergabe der Turniere fest.<br />

28<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


10<br />

Yves Eigenrauch, 43, früher <strong>Fußball</strong>profi.<br />

Gewann mit Schalke 1997<br />

den Uefa-Cup. In seiner B<strong>und</strong>esligazeit<br />

nicht eine <strong>Rote</strong> <strong>Karte</strong><br />

Kritik an den Weltmeisterschaften in <strong>Russland</strong> <strong>und</strong> <strong>Katar</strong> ist nötig.<br />

Sie bedeutet, das Ganze in politische Relationen zu setzen. Natürlich<br />

ist es bei so einem riesigen Apparat wie der Fifa immer schwer, die<br />

Wahrheit herauszufinden. Aber es gibt dennoch so etwas wie Moral<br />

<strong>und</strong> Ethik. Und diese Gr<strong>und</strong>sätze sollten auf der ganzen Welt Gültigkeit<br />

haben. Wenn bestimmte Entscheidungen moralisch <strong>und</strong> ethisch<br />

nicht oder nicht mehr vertretbar sind, dann sollten sie revidiert werden.<br />

Geld darf nicht den Ausschlag geben. Letzten Endes ist das, was hier<br />

gerade passiert, nur ein Synonym <strong>für</strong> das allgemeine Gebaren<br />

der Menschen in der Welt. Und das scheint rein<br />

wirtschaftlich motiviert zu sein. Irgendwo auf dem<br />

Weg hat der <strong>Fußball</strong> seine Ideale verloren – wenn<br />

sie denn je vorhanden waren. Das nennt man Kapitalismus.<br />

Vielleicht ist ein faires Miteinander einfach<br />

nicht mehr gefragt.<br />

1.258 S. Ln. € 39,95<br />

ISBN 978-3-406-66984-2<br />

Jetzt neu:<br />

Band 3 der vierbändigen<br />

Geschichte des Westens<br />

„Geschichtsschreibung auf<br />

höchstem Niveau.“<br />

Volker Ullrich, Tages-Anzeiger<br />

Illustrationen: Simon Prades (Seiten 22 bis 29)<br />

11<br />

Axel Hacke, 58, Journalist <strong>und</strong> Schriftsteller.<br />

Sein jüngstes Buch: „<strong>Fußball</strong>gefühle“<br />

<strong>Russland</strong> überfällt gerade ein anderes Land <strong>und</strong> annektiert Teile<br />

davon völkerrechtswidrig. <strong>Katar</strong> ist ein Sklavenstaat. Selbst in Brasilien<br />

war es schon kaum möglich, guten Gewissens ein <strong>Fußball</strong>fest zu<br />

feiern. Wo doch dort Milliarden <strong>für</strong> überflüssige Stadien ausgegeben<br />

wurden, die anderswo dringend benötigt worden wären. Wo<br />

kann man überhaupt noch guten Gewissens feiern? Vermutlich<br />

muss man die Widersprüche, die mit einem solchen<br />

Fest verb<strong>und</strong>en sind, jedenfalls bis zu einem gewissen<br />

Grad aushalten. <strong>Katar</strong> müsste man die WM<br />

entziehen. Sie hätte nie dorthin vergeben werden dürfen,<br />

allein, weil das Klima da<strong>für</strong> komplett ungeeignet<br />

ist. Die Weltmeisterschaft dort wäre eine völlig sterile<br />

Veranstaltung <strong>und</strong> ein Musterbeispiel da<strong>für</strong>, wie sehr sich<br />

die Fifa von der Basis des <strong>Fußball</strong>s <strong>und</strong> von dessen Anhängern<br />

entfernt hat. Ich bin gegen einen Boykott in <strong>Russland</strong>, weil ich<br />

generell nicht viel von Sportboykotts halte. Damit bewirkt man kaum<br />

etwas, zerstört aber <strong>für</strong> die Sportler unendlich viel. Die Einheit <strong>und</strong><br />

Unabhängigkeit des Weltsports hat einen eigenen Wert. Wenn man<br />

das aufs Spiel setzt, gibt es irgendwann weder Olympische Spiele noch<br />

<strong>Fußball</strong>weltmeisterschaften. Der <strong>Fußball</strong> hat eine Verantwortung, die<br />

jenseits des Spielfelds liegt. Eine Organisation wie die Fifa, die immer<br />

wieder im Verdacht der Korruption steht, wird dieser Verantwortung<br />

nicht besonders gut gerecht.<br />

29<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014<br />

831 S., 50 Abb. Ln. € 29,95<br />

ISBN 978-3-406-66936-1<br />

Johannes Willms hat eine<br />

mitreißende Geschichte der<br />

Französischen Revolution<br />

geschrieben. Personen, Kräfte<br />

<strong>und</strong> Motive – erklärt <strong>und</strong><br />

analysiert von einem der<br />

besten Kenner.<br />

C.H.BECK<br />

WWW.CHBECK.DE


TITEL<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Karte</strong><br />

„ KEINE WM BEI KRIEG “<br />

Der Grüne Jürgen Trittin über asymmetrische<br />

Kriege, <strong>Russland</strong> <strong>und</strong> <strong>Katar</strong><br />

Herr Trittin, ist der Eindruck falsch, dass der Westen<br />

auf den Terror der islamischen Miliz im Irak <strong>und</strong><br />

auf den Krieg in der Ukraine recht hilflos reagiert?<br />

Jürgen Trittin: Die Kriegsmuster sind andere als<br />

im letzten Jahrh<strong>und</strong>ert. Es geht nicht mehr Staat gegen<br />

Staat. Krieg erwächst aus dem Zerfall von Staaten. Daraus<br />

entstehen asymmetrische Kriege, an denen Söldner,<br />

Freischärler <strong>und</strong> Spezialkräfte beteiligt sind. Am Ende<br />

solcher Konflikte stehen anders als 1945 oder 1918 politische<br />

Lösungen <strong>und</strong> nicht der militärische Sieg.<br />

Hat der Westen vor der Logik der Waffen kapituliert?<br />

Es wäre naiv, nicht zu reagieren. Man musste die<br />

Isis am Staudamm von Mossul<br />

mit Luftangriffen stoppen. Aber<br />

der Rückgriff aufs Militärische ist<br />

als letztes Mittel immer ein Ausdruck<br />

der Hilflosigkeit. Der Isis<br />

wird nur dauerhaft zurückgeschlagen<br />

werden können, wenn es zu einem<br />

Interessenausgleich zwischen<br />

Saudi-Arabien <strong>und</strong> Iran kommt.<br />

Die Hilflosigkeit zeigt sich auch<br />

in den deutschen Waffenlieferungen<br />

an die kurdischen Peschmerga.<br />

Niemand weiß, wer diese Waffen<br />

<strong>für</strong> was einsetzen wird.<br />

Es geht doch längst nicht nur um<br />

Waffenlieferungen. In Deutschland<br />

wird bereits über einen Einsatz<br />

der B<strong>und</strong>eswehr diskutiert.<br />

Gleichzeitig erleben wir: Die einzige effektive Antwort<br />

geben die Amerikaner mit ihren Bomben …<br />

… aber die USA haben sich nicht einen Tag lang um<br />

ein UN-Mandat bemüht, obwohl sie es eventuell bekommen<br />

hätten. Solange es ein solches Mandat nicht<br />

gibt, solange Barack Obama einzig auf eine Koalition<br />

der Willigen setzt, kann Deutschland nicht dabei sein.<br />

Mit einem Mandat der UN sollte sich Deutschland<br />

also auch an Luftschlägen beteiligen?<br />

Die Kanzlerin hat das bisher ausgeschlossen, was<br />

ich <strong>für</strong> richtig halte. Ein UN-Mandat wäre in jedem Fall<br />

verfassungsrechtlich zwingend notwendig. Das gibt es<br />

nur mit <strong>Russland</strong> <strong>und</strong> China – also mit einer politischen<br />

Verständigung in der Region.<br />

Auf Dauer wird man doch nicht bei der Arbeitsteilung<br />

bleiben können, die USA sind <strong>für</strong> die Schmutzarbeit<br />

zuständig <strong>und</strong> Deutschland <strong>für</strong> die Hilfsgüter.<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich haben Sie recht – auch wenn<br />

die USA in diesem Fall <strong>für</strong> die Folgen des eigenen<br />

völkerrechtswidrigen Krieges gegen den Irak aufkommen<br />

müssen. Im Rahmen der UN muss sich Deutschland<br />

auch stärker an militärischen Missionen beteiligen.<br />

Nur, ein UN-Mandat fällt nicht vom Himmel. Da<strong>für</strong><br />

muss man den politischen Willen <strong>und</strong> eine politische,<br />

nicht bloß eine militärische Strategie haben. Der Westen<br />

gegen den Islam – da heißt der Sieger dann Isis.<br />

In der Ukraine setzt der Westen auf Sanktionen gegen<br />

<strong>Russland</strong>. Aber Putin führt alle weiter an der<br />

Nase herum. Sind Sanktionen ein stumpfes Schwert?<br />

Die Sanktionen haben bisher eher symbolischen<br />

Charakter. Trotzdem sind die Folgen in <strong>Russland</strong> spürbar.<br />

Allein schon die Debatte über<br />

Sanktionen hat zu einem massiven<br />

Stopp ausländischer Investitionen,<br />

zur Flucht von Kapital<br />

<strong>und</strong> zu einem geschwächten Rubel<br />

geführt. Jetzt steckt das Land in<br />

einer Rezession. Langfristig sind<br />

Sanktionen deshalb ein scharfes<br />

Schwert.<br />

Finanziers des Terrors sitzen auch<br />

in <strong>Katar</strong>, die Strippenzieher des<br />

Ukrainekriegs in <strong>Russland</strong>. Ist es<br />

Zufall, dass in diesen beiden Ländern<br />

2018 <strong>und</strong> 2022 die <strong>Fußball</strong>-<br />

WM stattfindet?<br />

Das hat vor allem mit der Fifa<br />

zu tun. Das System Fifa sucht die<br />

Nähe von korrupten politischen<br />

Systemen, weil es selbst korrupt ist. Selbst wenn sich<br />

<strong>Katar</strong> zu einer Musterdemokratie entwickeln <strong>und</strong> die<br />

Sklavenarbeit abschaffen sollte, bin ich aus anderen<br />

Gründen da<strong>für</strong>, die WM zu entziehen. Unter den klimatischen<br />

Bedingungen, die dort herrschen, kann man<br />

keine WM organisieren.<br />

Muss der Westen nicht auch den Boykott der WM in<br />

<strong>Russland</strong> 2018 erwägen?<br />

Wir sollten <strong>Russland</strong> die Chance geben, zu den europäischen<br />

Werten zurückzukehren. Dazu gehört es,<br />

die Grenzen <strong>und</strong> das Prinzip der Selbstbestimmung<br />

der Völker anzuerkennen. Beides sind Gr<strong>und</strong>pfeiler<br />

der europäischen Sicherheit nach dem Ende des Kalten<br />

Krieges. Deshalb würde ich die Frage erst mal offenhalten.<br />

Aber eines ist doch klar: Solange <strong>Russland</strong><br />

einen Krieg im Nachbarland führt, kann in dem Land<br />

keine <strong>Fußball</strong>-WM stattfinden.<br />

Die Fragen stellte CHRISTOPH SEILS<br />

Illustration: Simon Prades<br />

30<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

„ Ich habe oft<br />

Diskussionen erlebt,<br />

bei denen gesagt wurde:<br />

Wenn du jetzt nicht<br />

sagst, was du machst,<br />

geschieht morgen etwas<br />

ganz Schreckliches.<br />

Aber dazu kam es dann<br />

doch nicht “<br />

B<strong>und</strong>eskanzlerin Angela Merkel im <strong>Cicero</strong>-Gespräch, Seite 38<br />

31<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Porträt<br />

DIE INSELLÖSUNG<br />

Gabriele Pauli stapft in Sneakers durch den Sand von Sylt. Im Norden will sie ein neues<br />

Kapitel beginnen: als Bürgermeisterin. Sie hat Chancen. Weil sie es behutsam angeht<br />

Von MERLE SCHMALENBACH<br />

Foto: Roman Matejov <strong>für</strong> <strong>Cicero</strong><br />

Gabriele Pauli verspätet sich etwas,<br />

also schaut man schon mal ohne<br />

sie auf die Speisekarte: Trüffelpommes,<br />

Lachs-Sashimi, Bison-Steak. Es<br />

gibt auch eine Flasche Champagner <strong>für</strong><br />

3800 Euro. Ah, da unten ist ein Stück Apfelkuchen<br />

<strong>für</strong> 4,50 Euro. Gott sei Dank.<br />

Pauli hat den Treffpunkt auf Sylt selbst<br />

ausgesucht. Ursprünglich sollte es das<br />

Café Luzifer sein, dann schwenkte sie<br />

auf das Restaurant Sansibar um. Politiker<br />

wie Wolfgang Schäuble kommen<br />

hierher. Einst gingen auch Romy Schneider<br />

<strong>und</strong> Brigitte Bardot ein <strong>und</strong> aus. Es ist<br />

ein Sehen <strong>und</strong> Gesehenwerden, ein Ort<br />

der Inszenierung.<br />

Pauli tritt ein. Kaum hat sie Platz genommen,<br />

kommt der Wirt, Herbert Seckler,<br />

ein gut vernetzter Mann mit grauen<br />

Haaren. Gedämpfte Stimme. Mit wem<br />

sie zuletzt gesprochen habe, fragt er. Ah,<br />

okay. Als Nächstes könne sie ja mal zu<br />

dem <strong>und</strong> dem gehen, rät Seckler. Pauli<br />

trifft gerade viele Leute. Sie will als Sylter<br />

Bürgermeisterin kandidieren. Am<br />

Vortag ist sie auf der Insel angekommen,<br />

um 20 Uhr, <strong>und</strong> hat die Koffer in ihre<br />

neue Wohnung gewuchtet.<br />

Die Geschichte geht so: Die Insulaner<br />

suchen ein neues Oberhaupt. Für den<br />

Job braucht man etwas Glamour, aber vor<br />

allem staubtrockene Verwaltungserfahrung.<br />

Geeignete Bewerber, vor allem mit<br />

Charisma, waren zuerst rar. Eines Tages<br />

saßen ein paar Sylter Bürger zusammen<br />

<strong>und</strong> grübelten über die Lage. Bis Paulis<br />

Name fiel. Sie war 18 Jahre Fürther Landrätin.<br />

Sie kennt sich mit Lokalpolitik aus,<br />

mit Müllsäcken <strong>und</strong> Bushaltestellen. Sie<br />

trägt elegante Kleider. Am nächsten Tag<br />

klingelte ihr Telefon. Sie nahm ab.<br />

Gabriele Pauli war schon viel in ihrem<br />

Leben. Sie war die schöne Landrätin,<br />

die Zerstoiberin, die mit den Latex-Handschuhen.<br />

Sie hat über Polit-PR<br />

promoviert. 2007 wurde sie bekannt, als<br />

sie sich in der CSU gegen Bayerns Ministerpräsidenten<br />

Edm<strong>und</strong> Stoiber stellte.<br />

Sie trat in Talkshows auf, war kurz Liebling<br />

der Medien. Doch nach Stoibers<br />

Rücktritt wurde es <strong>für</strong> sie eng in der CSU.<br />

Manche in der Partei schimpften sie Hexe<br />

<strong>und</strong> Schlimmeres. Danach wurde sie mit<br />

den Freien Wählern unglücklich; mit der<br />

Freien Union, einer Neugründung, übernahm<br />

sie sich. Es ging nicht mehr weiter.<br />

Letztes Jahr nahm sie Abschied aus der<br />

Politik. Sie hat ihre Biografie veröffentlicht<br />

<strong>und</strong> bietet Coachings <strong>für</strong> Politneulinge<br />

an. Jetzt zieht es sie in die Manege<br />

zurück. „Mein Leben vollzieht sich in<br />

Abschieden <strong>und</strong> Kapiteln“, sagt sie.<br />

EINE WOCHE bevor sie sich endgültig <strong>für</strong><br />

Sylt entscheidet, wartet Pauli vor dem<br />

Münchner Landtag. Sie darf ihn lebenslang<br />

betreten, weil sie mal Abgeordnete<br />

war. Auch diesen Treffpunkt hat sie vorgeschlagen.<br />

Ob man mal reinwolle, fragt<br />

sie? Warum nicht.<br />

Pauli erklimmt die Treppen, geht<br />

durch die leeren Gänge. An den Wänden<br />

hängen Ölschinken, sie erzählen von<br />

Schlachten <strong>und</strong> Krönungen. Pauli betritt<br />

den Plenarsaal. „Hier habe ich gesessen“,<br />

sagt sie. „Erst vorne, dann hinten.“ Sie<br />

geht zu ihrem Stuhl, legt die Hände auf<br />

die Lehne. Die Abgeordneten sind außer<br />

Haus. Es ist menschenleer. Nur eine<br />

schemenhafte Gestalt bewegt sich oben<br />

auf dem Glasdach. Pauli blickt hoch, sieht<br />

einen Wischmopp über sich. Er klatscht<br />

auf das Glas.<br />

Im Landtag stürzt ein Mann auf sie<br />

zu, der Saaldiener. Wie es ihr gehe, fragt<br />

er. Sie strahlt. Ob er das mit Sylt gehört<br />

habe? Er runzelt die Stirn. Da kenne sie<br />

doch bestimmt niemanden, sagt er.<br />

Tatsächlich sind die Sylter Nachfahren<br />

von Seefahrern. Sie schipperten aufs Meer<br />

hinaus, manchmal versanken sie. „Sie sind<br />

sehr offen“, sagt Pauli. Ihre neuen Bekannten<br />

hätten ihr die Wohnung, einen Leihwagen<br />

<strong>und</strong> Gesprächspartner vermittelt. Die<br />

klappert sie jetzt ab. Es gibt viele Probleme<br />

auf der Insel: Die jungen Sylter ziehen weg.<br />

Die Wohnungen sind knapp. In den Kassen<br />

bleibt wenig hängen. Pauli wirbt deshalb<br />

<strong>für</strong> eine Erhöhung der Zweitwohnsitzsteuer<br />

<strong>und</strong> eine Geburtsstation. „Gefühlt<br />

gibt es eine sehr große Chance <strong>für</strong> Frau<br />

Pauli“, sagt der Chefredakteur der Sylter<br />

R<strong>und</strong>schau, Michael Stitz. „Nach anfänglicher<br />

Skepsis haben sich viele wichtige<br />

Stimmen <strong>für</strong> sie ausgesprochen.“ Sie<br />

habe den passenden Lebenslauf <strong>und</strong> trete<br />

auf der Insel behutsam auf. Zudem werde<br />

auf Sylt der Promifaktor gerne gesehen.<br />

Die Wahl ist am 14. Dezember.<br />

Sylt. Pauli stapft in ihren lila Sneakers<br />

durch den Sand. Der Wind weht<br />

durch ihre Haare. Sie ist jetzt 57 Jahre<br />

alt. Ihr Vater ist vor einiger Zeit gestorben,<br />

auch ihr Bruder. Er sagte zu ihr: Du<br />

hast nur ein Leben. Sie hat lange darüber<br />

nachgedacht. Der Politikbetrieb ist unbarmherzig.<br />

Bei einer Rede im Landtag<br />

sprach sie einmal von der Abwesenheit<br />

des göttlichen Gedankens in der Politik.<br />

Es war ein authentischer Moment, bei all<br />

der Inszenierung.<br />

Die Sonne bricht durch, Pauli atmet<br />

die Luft tief ein. Man kann auf Sylt kilometerweit<br />

am Strand wandern, der Blick<br />

geht ins Unendliche. Nur hier vorne am<br />

Wasser, da warnt ein Schild vor den Strömungen:<br />

Wenn man in der Mitte bleibt,<br />

innerhalb der grünen Fähnchen, ist alles<br />

gut, steht da. Aber wenn man nicht<br />

aufpasst, dann reißt das Meer einen mit.<br />

MERLE SCHMALENBACH, freie Reporterin,<br />

schreibt regelmäßig in <strong>Cicero</strong>. Am Sonntag,<br />

14. Dezember, wird sie den Sylter Wahlabend<br />

im Internet verfolgen<br />

33<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Porträt<br />

DIE CSU IST NICHT NUR SEEHOFER<br />

Manfred Weber ist kein Prinz am Hof von König Horst in München. Aber er hat eine<br />

Hausmacht – <strong>und</strong> als EVP-Chef im Europaparlament einen der wichtigen Jobs in Brüssel<br />

Von WERNER SONNE<br />

Foto: Dirk Bruniecki <strong>für</strong> <strong>Cicero</strong><br />

Schon mal was von Niederhatzkofen<br />

gehört? Nicht? Dann vielleicht<br />

doch von Rottenburg an<br />

der Laaber, zu dem dieses Dorf gehört?<br />

Auch nicht? Falls Sie mal hinwollen,<br />

bringt Sie der Bus 6241 vom Landshuter<br />

Hauptbahnhof hin. Das Dorf hat einen<br />

<strong>für</strong> Niederhatzkofener Verhältnisse berühmten<br />

Sohn: Manfred Weber. Manfred<br />

wer? Kennen Sie auch nicht? Sollten Sie<br />

aber, denn Weber ist einer der mächtigsten<br />

Männer in der europäischen Politik.<br />

Nach der Europawahl wurde er, gerade<br />

42 geworden, in Brüssel zum Fraktionschef<br />

der Europäischen Volkspartei,<br />

dem Sammelbecken der Christdemokraten<br />

Europas. Es ist die stärkste Fraktion<br />

im EU-Parlament. Weber bekam nur<br />

zwei Gegenstimmen: über 99 Prozent.<br />

Ausgerechnet ein Politiker der CSU,<br />

jener Partei, die im Wahlkampf alles getan<br />

hatte, irgendwie <strong>für</strong> Europa zu sein,<br />

aber vor allem auch dagegen. Das ist ihr<br />

nicht gut bekommen, <strong>und</strong> hernach wurde<br />

gegen CSU-Chef Horst Seehofer hörbar<br />

gegrantelt. Aber Weber macht gern sein<br />

eigenes Ding. Das kann man auch daran<br />

sehen, dass er nicht als möglicher Erbe<br />

Seehofers gehandelt wird, obwohl der<br />

sich einen ganzen Hofstaat an Prinzen<br />

<strong>und</strong> Prinzessinnen hält – von Ilse Aigner,<br />

Markus Söder, Joachim Herrmann bis zu<br />

Alexander Dobrindt. Man sollte jedoch<br />

den Mann in Brüssel nicht unterschätzen.<br />

Seine Wahl zum EVP-Fraktionschef<br />

ist auch erstaunlich, weil Angela Merkel<br />

nicht entzückt war, dass diesen wichtigen<br />

Posten ein CSU-Mann bekommen sollte<br />

<strong>und</strong> niemand von der CDU.<br />

Andererseits: Manfred Weber, Europaparlamentarier<br />

seit 2004, hat seinen<br />

Karrieresprung lange vorbereitet.<br />

Er hat sich als Vize-Fraktionschef schon<br />

Ansehen erworben, ein fleißiger, unaufgeregter<br />

Arbeiter, der andere mitnimmt.<br />

Und sein Vorgänger, der Franzose Joseph<br />

Daul, hat <strong>für</strong> ihn geworben.<br />

Weber ist ein Europa-Überzeugungstäter.<br />

Wie sich seine Haltung von der<br />

Seehofers unterscheidet, konnte man im<br />

Wahlkampf sehen. Als CSU-Vize Peter<br />

Gauweiler gegen die EU wütete, sagte<br />

Seehofer: „Er vertritt exakt die Linie<br />

der CSU.“ Weber dagegen brachte sogar<br />

Franz Josef Strauß in Stellung. Mit<br />

Strauß-Tochter Monika Hohlmeier, auch<br />

im EU-Parlament, schrieb er im Münchner<br />

Merkur: „Andere schimpfen über<br />

Brüssel. Die CSU aber darf nicht nur kritisieren<br />

<strong>und</strong> schimpfen, sie muss den Willen<br />

zur Gestaltung zeigen.“ Eine Kampfansage<br />

an Gauweiler – <strong>und</strong> Seehofer. Er<br />

fügte an, Strauß würde heute „eine Vertiefung<br />

der politischen Integration Europas<br />

verlangen“.<br />

AM ABEND DER EUROPAWAHL musste<br />

Seehofer kleinlaut das schlechte Wahlergebnis<br />

erläutern. Weber triumphierte.<br />

In seiner Heimat Niederbayern holte er<br />

50,5 Prozent, 10 Prozentpunkte mehr als<br />

die CSU im Landesdurchschnitt.<br />

Niederbayern ist CSU-Kernland,<br />

<strong>und</strong> Manfred Weber ist dort der Bezirkschef<br />

der Partei, eine schöne Hausmacht.<br />

Gewählt <strong>für</strong> diesen Posten wurde er wie<br />

in Brüssel mit 99 Prozent. Die Bezirksvorsitzenden<br />

sind in der Partei die eigentlichen<br />

Fürsten, mit denen kann auch der<br />

Landesvater <strong>und</strong> CSU-Vorsitzende nicht<br />

einfach umspringen wie er mag. „Weber<br />

hat seine Karriere nicht Seehofer zu verdanken“,<br />

sagt ein Berliner CSU-Minister.<br />

„Das macht ihn auch unabhängig.“<br />

In seinem Büro in Brüssel schaffen<br />

vier Reihen von der Decke herabhängender<br />

Neonleuchten ein grelles Licht, die<br />

Einrichtung ist zweckmäßig-geschmacksneutral,<br />

dunkle Ledersitzgarnitur, eine<br />

Europafahne hinterm Schreibtisch. So<br />

pompös-modernistisch das Gebäude des<br />

Brüsseler Parlaments von außen wirkt,<br />

so nüchtern sind die 751 Abgeordneten<br />

untergebracht. Das passt zu Weber. Er<br />

ist nicht pompös, kein Bierzelttyp, der<br />

draufhaut. Dass er den Machtkampf in<br />

der CSU um Europa gewonnen hat, kostet<br />

er freilich schon ein wenig aus. Peter<br />

Gauweiler habe in der Europapolitik „die<br />

Deutungshoheit ein Stück weit verloren“,<br />

stichelt er. „Wir wollen nicht nur nörgeln,<br />

wir wollen gestalten.“<br />

In der neuen Position spielt Weber<br />

bisweilen erste Liga, etwa wenn er den<br />

italienischen Regierungschef Matteo<br />

Renzi wegen der Schulden seines Landes<br />

schurigelt. „Ich sage Ihnen, es ist der<br />

falsche Weg. Regeln sind da, damit sie<br />

eingehalten werden, <strong>und</strong> da gibt es keinen<br />

Unterschied zwischen kleinen Staaten<br />

<strong>und</strong> großen Staaten in der Europäischen<br />

Union.“ Renzi nimmt das ernst.<br />

Er giftet zurück, auch Deutschland habe<br />

schließlich früher Defizitgrenzen überschritten.<br />

„Man sollte anderen nicht unbedingt<br />

Lektionen erteilen.“<br />

Freilich muss Weber zu Hause zeigen,<br />

was er bewirken kann. Ob die PKW-<br />

Maut, das CSU-Prestigeprojekt, kommt<br />

oder nicht, entscheidet sich auch in Brüssel.<br />

Weber sagt: „Ich glaube, dass es<br />

Chancen gibt, das hinzukriegen.“<br />

In seinem niederbayerischen Wahlkreis,<br />

einem Zentrum der Tabakindustrie,<br />

hat er einmal gezeigt, wie man in<br />

Brüssel etwas erreicht. Die EU wollte den<br />

Schnupftabak verbieten, Niederbayern<br />

war in Aufregung. Weber reagierte. Ein<br />

Federstrich in dem komplizierten EU-Papier<br />

– <strong>und</strong> der Schnupftabak war gerettet.<br />

WERNER SONNE war lange ARD-Korrespondent.<br />

Er schreibt Romane, politische<br />

Bücher – <strong>und</strong> regelmäßig in <strong>Cicero</strong><br />

35<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Porträt<br />

DIE RIESENCHANCE<br />

Wer folgt Klaus Wowereit? Weil keiner der Aspiranten so richtig taugt, hat unser Autor<br />

lieber eine Kandidatin entworfen: Charlotte Prinz. Ein Besuch kurz vor der Wahl<br />

Von GEORG LÖWISCH<br />

Es muss keine Absicht sein, aber sie<br />

produziert gerade das perfekte Bild.<br />

Die Kandidatin steht am Fenster, sie<br />

blickt in den Berliner Abend, sie schaut<br />

sich die Stadt noch einmal an, die sie ab<br />

morgen regieren wird. Mittwoch, 10. Dezember,<br />

kurz nach 19 Uhr. Am nächsten<br />

Vormittag soll das Abgeordnetenhaus<br />

Charlotte Prinz zur Nachfolgerin<br />

von Klaus Wowereit wählen. Die Konkurrenz,<br />

wer Regierender Bürgermeister<br />

wird, hatte in der SPD am Ende gewütet<br />

wie eine Brandbombe, die ihrem Umfeld<br />

allen Sauerstoff entzieht. Dann kam sie.<br />

Sie wendet sich um, als der Reporter<br />

eintritt, im Gesicht eine Spur Selbstironie,<br />

als wolle sie sagen: Ganz schön dicke,<br />

die Fensterszene. Natürlich denkt sie<br />

in Bildern <strong>und</strong> Symbolen. Sie hat sich <strong>für</strong><br />

die wenigen Pressetermine vor der Wahl<br />

ja bewusst das Büro von Frank Henkel<br />

geborgt. Er soll zeigen dürfen, dass sie<br />

seine Idee war. Und Henkel, CDU-Landeschef<br />

<strong>und</strong> Innensenator der Großen<br />

Koaliton, drückt tatsächlich die Brust<br />

raus, als er an den Sitzungstisch bittet.<br />

Er duzt sie. „In Berlin sitzt du am besten<br />

mit dem Rücken zur Wand, Charlotte.“<br />

Prinz, 44, war Personalvorstand eines<br />

kanadischen Energiekonzerns. Vor<br />

einem Jahr der Wechsel: Für den Hauptaktionär<br />

baute sie in Montreal eine große<br />

Bildungsstiftung auf. Dazu: einst Olympionikin<br />

im Rudern. Zwei Söhne. <strong>Kein</strong> Parteibuch,<br />

aber Ex-Stipendiatin der Adenauer-Stiftung;<br />

damit stellte Henkel die<br />

CDU-Nervensägen in Zehlen- <strong>und</strong> Reinickendorf<br />

ruhig, die fragten, warum er<br />

nicht selbst antritt. „Berlin braucht jetzt<br />

einen Befreiungsschlag“, wiederholt er<br />

seine Formel. „Dazu braucht es Politiker,<br />

die nicht an sich selbst denken.“<br />

Eigentlich kommt sie aus einer SPD-<br />

Familie. Der Vater Minister bei Rau, die<br />

Mutter Regisseurin, oft am Theater in<br />

Bochum. Das Erbe findet sich auch in<br />

ihren ziemlich linken Arbeiten zur Bildungsgerechtigkeit.<br />

Eine Kandidatin, zu<br />

der die SPD nicht leicht Nein sagen konnte.<br />

„Und Soziologin“, sagt Henkel <strong>und</strong> grinst.<br />

„Vor Stanford habe ich Jura studiert“, erwidert<br />

Prinz mit etwas Schärfe. Henkels<br />

Lächeln verschmiert.<br />

ALS DIE ERSTE RUNDE des SPD-Mitgliederentscheids<br />

über die Bühne gerumpelt<br />

war, schied Fraktionschef Raed Saleh<br />

aus. Für die Stichwahl blieben Parteichef<br />

Jan Stöß <strong>und</strong> Bausenator Michael Müller.<br />

Kurz vor der Entscheidung im November<br />

provozierte Wowereit Stöß nach einer<br />

Veranstaltung subtil. <strong>Rote</strong>r Kopf, lautes<br />

Brüllen, die Kameras liefen, der Kandidat<br />

war raus. Müllers Nerven hatten vermutlich<br />

die Parteiintrigen zerrüttet, wie sonst<br />

wäre zu erklären, dass er die Kanzlerin in<br />

„Brinkmann & Asmuth“ auf berlin.tv als<br />

„lavierenden Pudding“ bezeichnete. Umgehend<br />

lehnte Henkel ihn ab. Und präsentierte,<br />

noch ehe der parteilose Finanzsenator<br />

Nußbaum aus dem Quark kam,<br />

seine Überraschungskandidatin.<br />

Saleh applaudierte als Erster. Das<br />

Kalkül, mit einer parteilosen Bürgermeisterin<br />

werde er zum stärksten Mann<br />

der SPD, war offensichtlich. „Ich bin noch<br />

jung“, hatte er gesagt. Doch was tut er,<br />

wenn Prinz in die SPD eintritt <strong>und</strong> so zur<br />

Nummer eins wird? Oder braucht sie ihn<br />

<strong>und</strong> Henkel als Knautschzone? Sie schaut<br />

amüsiert. „Was Sie so alles geheimnissen.“<br />

Sie sagt, sie habe mit ihrem Vater<br />

lange darüber gesprochen, was man aus<br />

Wowereits Amtszeit lernen könnte. Er<br />

sagte: „Du kannst da nicht wirklich regieren,<br />

die Stadt macht eh, was sie will.“<br />

„Management by slogans“, so überschreibt<br />

sie die Ära Wowereit, <strong>und</strong> will<br />

das als Kompliment verstanden wissen.<br />

Sie dagegen setzt auf „Management by<br />

impact“ <strong>und</strong> will deswegen ein Thema<br />

mit Verve verfolgen. Die Schulen. Sie<br />

sind die Zeitbombe Berlins – oder, so sagt<br />

sie es: die Riesenchance. <strong>Kein</strong>e Bruchbuden,<br />

keine Lernanstalten mehr. Solche<br />

Lehrer, die gegen jede Kreativität mauern,<br />

müsse man „de-demotivieren“, sie<br />

betont das so, als wolle sie sie notfalls<br />

ins Bürgeramt stecken. Für die Schulleiter<br />

soll eine Kombiausbildung aus Pädagogik<br />

<strong>und</strong> Management her. Und mehr<br />

Geld. Das Bonusprogramm mit den<br />

100 000 Euro: richtig, aber zu klein gedacht.<br />

Woher soll das Geld kommen?<br />

„Prioritäten setzen. Ich weiß, wie es war,<br />

auf dem Treppchen zu stehen. Olympia<br />

ist ein Traum. Aber wir brauchen das<br />

Geld. First things first. Wir steigen aus.<br />

Und weil das nicht verhandelbar ist, sage<br />

ich das auch vor der Wahl morgen.“<br />

Für die Stiftung in Montreal hatte<br />

Charlotte Prinz noch vor vier Wochen<br />

ein paar Problemstädte in den USA besucht.<br />

Ferguson? Berlin!<br />

Schon wegen ihrer Erscheinung ist<br />

Prinz <strong>für</strong> ausreichend Glam gut. Ihr<br />

Mann ist Künstler? „Stencil. Graffiti<br />

mit Schablonen.“ Wo stellt er aus? „Er<br />

möchte nicht Teil des Kunstbetriebs sein.<br />

Obwohl er schon mal was verkauft.“<br />

Die Wildheit Berlins in eine neue, urbane<br />

Bürgerlichkeit zu begleiten – sie mag<br />

die Vorstellung. Das brave Montreal hat<br />

sie dermaßen über. Sie will etwas riskieren.<br />

Das behält sie zwar lieber noch <strong>für</strong><br />

sich. Aber sie weiß aus dem Sport, dass<br />

sich erst im Scheitern mit Stil wahre Größe<br />

zeigt. Wenn sie den Flughafen mit Eleganz<br />

beerdigte, könnte ihr die Stadt über die<br />

Amtszeit hinaus zu Füßen liegen.<br />

GEORG LÖWISCH ist Textchef von <strong>Cicero</strong>.<br />

Der Wahlberliner wird die Hoffnung auf<br />

eine gute Landesregierung nicht so schnell<br />

aufgeben<br />

Illustration: Martin Haake<br />

36<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Gespräch<br />

„ SOLANGE ICH<br />

NICHT FERTIG<br />

GEDACHT HABE,<br />

KANN ICH NICHT<br />

ENTSCHEIDEN “<br />

Moderation FRANK A. MEYER <strong>und</strong><br />

CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />

B<strong>und</strong>eskanzlerin Angela Merkel<br />

im <strong>Cicero</strong>-Gespräch über die<br />

Geschwindigkeit der Politik,<br />

Deutschlands Rolle in einer Zeit<br />

der Konflikte <strong>und</strong> ihre Telefonleitung<br />

zu Wladimir Putin<br />

Fotos ANTJE BERGHÄUSER<br />

39<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Gespräch<br />

Frau Merkel, wir haben im Augenblick<br />

eine Welt, die wütet. Mit der Ukrainekrise<br />

ist die Frage von Krieg <strong>und</strong> Frieden<br />

mit voller Wucht auf unseren Kontinent<br />

zurückgekehrt. Das alles geschieht<br />

vor dem Hintergr<strong>und</strong> des Gedenkens an<br />

den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor<br />

100 Jahren. Die Menschen leben in Sorge.<br />

Ist die Sorge berechtigt, dass sich aus<br />

diesem Konflikt etwas Größeres entwickeln<br />

kann?<br />

Angela Merkel: Sie haben recht, wir<br />

denken in diesem Jahr an 100 Jahre<br />

Ausbruch des Ersten Weltkriegs <strong>und</strong> an<br />

75 Jahre Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.<br />

Als wir als B<strong>und</strong>esregierung nach<br />

der Wahl geplant haben, was wir in diesem<br />

Gedenkjahr machen, war eine Idee,<br />

die Staaten des westlichen Balkans mit<br />

ihren Außenministern, Wirtschaftsministern<br />

<strong>und</strong> Premierministern einzuladen,<br />

um mit ihnen über das noch bessere<br />

Zusammenleben in ihrer Region zu<br />

sprechen. Das geschah in der Gewissheit,<br />

dass seit den neunziger Jahren dort nicht<br />

mehr akuter Krieg herrscht, sondern ein<br />

friedliches Miteinander möglich geworden<br />

ist. Damals haben wir nicht geahnt,<br />

dass wir uns mit militärischen Auseinandersetzungen<br />

in der Ukraine <strong>und</strong> zum<br />

Teil auch zwischen <strong>Russland</strong> <strong>und</strong> der Ukraine<br />

auseinandersetzen müssen.<br />

Und jetzt?<br />

Wir wollen nicht militärisch eingreifen.<br />

Aber wir müssen alle diplomatische<br />

Kraft aufbringen <strong>und</strong> gegebenenfalls<br />

auch mit Sanktionen unseren Forderungen<br />

politischen Nachdruck verleihen. Es<br />

ist schon eine ernste Situation. Wir als<br />

Deutsche müssen alles versuchen, um zu<br />

helfen, dass es zu einer diplomatischen<br />

Lösung kommt. Was mir in der Ukraine<br />

so <strong>für</strong>chterlich leidtut: Es leiden Menschen,<br />

die 20 Tage oder mehr kein Wasser<br />

<strong>und</strong> keinen Strom haben. Menschen sind<br />

umgekommen. Deshalb drängt die Zeit.<br />

Mit dem Assoziationsabkommen zwischen<br />

der EU <strong>und</strong> der Ukraine hat man<br />

einen Zug nach Westen gemacht. Hat<br />

man nicht vergessen, dass da jemand<br />

ist, der noch Dinge aus anderen Zeiten<br />

bewältigt? Der mit unserem Verständnis<br />

von Zusammenarbeit nichts zu tun<br />

hat, sondern eher mit dem von vor 50<br />

oder 70 Jahren.<br />

Angela Merkel<br />

Seit neun Jahren Kanzlerin,<br />

seit 14 Jahren Chefin der CDU.<br />

Und seit fast 25 Jahren in der<br />

Politik, in die sie nach dem<br />

Wendeherbst in der DDR 1989<br />

kam. Im Juli feierte Merkel<br />

ihren 60. Geburtstag. Dieses<br />

Interview ist die gekürzte<br />

Fassung des <strong>Cicero</strong>-Foyergesprächs,<br />

das am Abend des<br />

27. August im Berliner Ensemble<br />

vor ausverkauftem Haus<br />

stattfand. Es wurde vom<br />

Regierungssprecher geringfügig<br />

redigiert <strong>und</strong> autorisiert<br />

„ Jetzt gucken Sie<br />

entnervt, weil ich<br />

so viel sage “<br />

Ich teile die Einschätzung, dass das<br />

seitens <strong>Russland</strong>s ein Denken in Interessensphären<br />

<strong>und</strong> Einflussbereichen ist,<br />

wie wir es nicht kennen. Sehen Sie, ich<br />

bin geprägt davon, dass wir vor 25 Jahren<br />

den Mauerfall hatten – auch daran<br />

denken wir jetzt – <strong>und</strong> dass uns damals<br />

unter Präsident Gorbatschow die deutsche<br />

Einheit ermöglicht wurde, mit seinem<br />

Einverständnis <strong>und</strong> natürlich mit<br />

dem Einverständnis Frankreichs, Großbritanniens<br />

<strong>und</strong> Amerikas, in Frieden<br />

<strong>und</strong> in guter Nachbarschaft mit anderen.<br />

Das prägt mich, auch immer wieder<br />

das gute <strong>und</strong> konstruktive Verhältnis<br />

zu <strong>Russland</strong> zu suchen. Wir erleben<br />

jetzt, dass das den Menschen in der Ukraine<br />

eben nicht erlaubt wurde.<br />

Sie meinen, die Annäherung an die EU?<br />

Es ist ja nicht so, dass wir über die<br />

Köpfe der Ukrainer hinweg gesagt haben:<br />

„Ihr müsst jetzt mit uns, der Europäischen<br />

Union, ein Assoziierungsabkommen<br />

abschließen!“ Sondern<br />

40<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


nämlich – sinngemäß – dass das schwierigste<br />

Ereignis des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts der<br />

Zerfall der Sowjetunion war. Aus deutscher<br />

Perspektive kämen uns da mit Sicherheit<br />

sofort der Nationalsozialismus<br />

<strong>und</strong> der Zweite Weltkrieg in den Sinn,<br />

Ereignisse mit Alleinstellungsmerkmal.<br />

Insofern ist dieser Satz weit entfernt<br />

von unserem Denken. Wir kennen Putins<br />

Haltung dazu. Dennoch können wir<br />

nicht sagen, dass eine ehemalige Sowjetrepublik,<br />

die sich jetzt anders orientieren<br />

möchte, keine Unterstützung von uns bekommt,<br />

weil wir Angst haben, dass das<br />

Schwierigkeiten hervorrufen könnte.<br />

Präsident Janukowitsch, den sein eigenes<br />

Volk nachher mehr oder weniger verjagt<br />

hat, ist immer wieder zur Europäischen<br />

Union gekommen <strong>und</strong> hat gesagt:<br />

„Ich will unterschreiben.“ Kurz vorher<br />

hat er dann einen Rückzieher gemacht.<br />

Sein Volk hatte sich darauf gefreut, dass<br />

jetzt die Annäherung an die Europäische<br />

Union kommt; hinterher bekam er den<br />

Aufstand auf dem Maidan. Es ist ja auch<br />

nicht so, dass die Kräfte, die nach Europa<br />

streben, keine Mehrheit hätten. Präsident<br />

Poroschenko ist gewählt, mit Ausnahme<br />

der Wahlbezirke in Donezk <strong>und</strong> Lugansk.<br />

In der gesamten Ost- <strong>und</strong> Südukraine hat<br />

er die meisten Stimmen bekommen. Er<br />

hat sich klar zu Europa bekannt.<br />

Und <strong>Russland</strong>?<br />

Ehrlich gesagt, es ist nicht so, dass<br />

wir den russischen Präsidenten erst<br />

jetzt kennengelernt haben. Er hat immer<br />

wieder einen Satz gesagt, den ich<br />

inhaltlich überhaupt nicht teile, der<br />

aber <strong>für</strong> ihn offensichtlich stimmt,<br />

Haben Sie einen besonderen Draht zu<br />

Wladimir Putin?<br />

Ich habe erst einmal eine ganz normale<br />

Telefonverbindung zu ihm. Wir telefonieren<br />

des Öfteren. Ich fühle mich da<strong>für</strong><br />

verantwortlich, etwas <strong>für</strong> die Lösung<br />

dieses Konflikts zu tun, gemeinsam mit<br />

unserem Außenminister. Ob das gelingt,<br />

kann ich aber nicht sagen. Man braucht<br />

manchmal einen sehr langen Atem in<br />

der Außenpolitik. Es ist aber auch wichtig<br />

– ansonsten hätte es überhaupt keinen<br />

Erfolg –, dass wir eine einheitliche europäische<br />

Haltung – siehe auch die Sanktionsbeschlüsse<br />

– <strong>und</strong> dass wir eine gemeinsame<br />

Haltung mit den Vereinigten<br />

Staaten von Amerika haben.<br />

Kommen wir auf die Ungleichzeitigkeiten<br />

zurück: Als B<strong>und</strong>eskanzlerin mit<br />

dieser Weltverantwortung müssen Sie<br />

wie in einer Zeitmaschine leben. Wenn<br />

Sie nach Irak schauen oder nach Syrien,<br />

stellen Sie fest, dass das, was dort<br />

stattfindet, noch weiter zurück ist. Da<br />

müssen Sie noch tiefer in die Geschichte<br />

eintauchen, um zu verstehen, was da<br />

läuft. Das ist doch eine Situation, die<br />

Sie sich vor zwei oder drei Jahren gar<br />

nicht haben vorstellen können.<br />

Nein, natürlich habe ich das so nicht<br />

vorausgesehen. Aber es ist ja auch unsere<br />

Aufgabe als Politiker, auf die Ereignisse<br />

in der Welt zu reagieren. Was<br />

sehen wir? Nach dem Ende des Kalten<br />

Krieges in den neunziger Jahren haben<br />

wir ja erlebt, dass mit Titos Abgang das<br />

Gebilde Jugoslawien auseinandergebrochen<br />

ist. Plötzlich hat man die Spuren<br />

der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg wieder<br />

gesehen. Die alten Feindschaften sind<br />

«Das wichtigste Buch über<br />

den Zweiten Weltkrieg, das<br />

bislang in diesem<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert erschienen ist ...<br />

Richard Overys<br />

herausragende Untersuchung<br />

muss als Standardwerk<br />

über den Bombenkrieg<br />

betrachtet werden.»<br />

Richard J. Evans<br />

© Hulton Archive /Getty Images<br />

41<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Gespräch<br />

hochgekommen. Es war interessant, dass<br />

sich bestimmte traditionelle Beziehungen<br />

zwischen Serbien <strong>und</strong> Frankreich,<br />

Deutschland <strong>und</strong> Kroatien wiederbelebt<br />

haben. Dass wir dort einigermaßen Frieden<br />

geschaffen haben, war nur der Tatsache<br />

zu verdanken, dass die Europäische<br />

Union <strong>und</strong> die Nato gemeinsam gehandelt<br />

<strong>und</strong> wir diesen Ländern eine europäische<br />

Perspektive gegeben haben.<br />

Und nun sieht man die Spuren alter<br />

Feindschaften woanders.<br />

Im Gr<strong>und</strong>e genommen bricht jetzt<br />

in einer anderen Region die Ordnung,<br />

die nach dem Ersten Weltkrieg dort geschaffen<br />

wurde, ebenfalls auf <strong>und</strong> wird<br />

von bestimmten Kräften infrage gestellt.<br />

Jetzt müssen wir uns damit beschäftigen,<br />

wie dort eine Befriedung gelingen<br />

kann. Die Situation im Irak hat sich im<br />

Gr<strong>und</strong>e angedeutet, weil sich der ehemalige<br />

Ministerpräsident Maliki eben nicht<br />

darum gekümmert hat, die verschiedenen<br />

Gruppen in dem Land zusammenzuhalten.<br />

So konnte eine terroristische Organisation<br />

wie der IS jetzt so viel Zulauf<br />

von Sunniten <strong>und</strong> von ehemaligen Mitgliedern<br />

der Baath-Partei erhalten, weil<br />

sich diese Gruppen in dem Land überhaupt<br />

nicht mehr aufgenommen gefühlt<br />

hatten, sondern nur noch die Schiiten im<br />

Mittelpunkt standen.<br />

Frau Merkel, ist die Demokratie zu langsam<br />

<strong>für</strong> diese Welt? Oder ist diese Welt<br />

zu schnell <strong>für</strong> die Demokratie? Es hat<br />

etwa zehn Tage gedauert, bis sich die<br />

B<strong>und</strong>esregierung von einem kategorischen<br />

Nein zu Waffenlieferungen zu einem<br />

Ja durchgerungen hat.<br />

Ich will zunächst sagen, dass es jedenfalls<br />

von mir kein kategorisches Nein<br />

zu jeder Waffenlieferung gab, sondern<br />

wir sehr früh mit dem Außenminister<br />

<strong>und</strong> auch der Verteidigungsministerin<br />

einig waren: Wir prüfen, was rechtlich<br />

bei uns möglich ist. In Deutschland<br />

gibt es bestimmte Restriktionen. Aber<br />

an der Tatsache, dass wir zum Beispiel<br />

bei B<strong>und</strong>eswehreinsätzen Parlamentsentscheidungen<br />

brauchen, dass wir bei<br />

der Finanzkrise <strong>und</strong> bei der Eurokrise<br />

Parlamentsentscheidungen haben mussten,<br />

hat es noch nie gelegen. Wir haben<br />

binnen einer Woche sehr schnell die unglaublichsten<br />

Dinge beschlossen. Gerade<br />

„ Ehrlich gesagt,<br />

es ist<br />

nicht so,<br />

dass wir den<br />

russischen<br />

Präsidenten<br />

erst jetzt<br />

kennengelernt<br />

haben “<br />

aus den vergangenen Jahren, in denen<br />

verschiedene krisenhafte Situationen<br />

zu bewältigen waren, habe ich den Eindruck<br />

gewonnen, dass die Demokratie,<br />

wenn sie will, <strong>und</strong> auch B<strong>und</strong> <strong>und</strong> Länder<br />

in der Zusammenarbeit sehr schnell<br />

sein können <strong>und</strong> immer mit dem Tempo<br />

mithalten.<br />

Lässt sich demokratische Politik in dieser<br />

Welt zu sehr treiben?<br />

Natürlich gibt es auch Kräfte, von denen<br />

man ein bisschen gejagt wird. Selbst<br />

wenn man sagt, man unterwerfe sich dem<br />

Tempo der Finanzmärkte, wird die Politik<br />

jedoch mit dem Hochfrequenzhandel<br />

nicht mitkommen. Und, ehrlich gesagt,<br />

möchte ich das auch gar nicht. Wir<br />

treffen weitgehende Entscheidungen über<br />

den Einsatz von Menschen <strong>und</strong> Waffen,<br />

über Steuergelder. Was wir entscheiden,<br />

muss Bestand haben. Wenn man sich<br />

anderen Tempi unterwirft, kann es sein,<br />

dass man am nächsten Tag das Gegenteil<br />

davon tun muss …<br />

42<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


Wie findet man das richtige Tempo?<br />

Diese Kraft, den eigenen Rhythmus<br />

zu finden <strong>und</strong> sich nicht dauernd von außen<br />

sagen zu lassen, was wie schnell zu<br />

sein hat <strong>und</strong> wann man eine definitive<br />

Antwort braucht, gehört dazu – in der Politik<br />

heute vielleicht stärker als früher, als<br />

man noch Briefe ausgetauscht hat. Heute<br />

geht das alles schneller per E-Mail <strong>und</strong><br />

per Online-Medien. Aber manchmal hat<br />

man schon drei Zyklen von medialem<br />

Hin <strong>und</strong> Her durchlaufen, bevor wir etwas<br />

entschieden haben.<br />

Was ist Ihre Formel? Gerade Journalisten<br />

verzweifeln ja fast an Ihrer Fähigkeit<br />

zu warten.<br />

Solange ich nicht fertig gedacht habe,<br />

kann ich nicht entscheiden. Für Sie ist<br />

es eine Meldung mehr, wenn ich gestern<br />

dies sage <strong>und</strong> morgen jenes. Aber solche<br />

Entscheidungen müssen Bestand haben.<br />

Ich muss in der Lage sein, Parlamente davon<br />

zu überzeugen. Ich muss Menschen<br />

davon überzeugen. Das muss durchdacht<br />

sein. Wir wissen schon, dass manche Entscheidungen<br />

schneller getroffen werden<br />

müssen. Aber nicht alle Entscheidungen<br />

müssen so schnell getroffen werden, wie<br />

es scheinbar von uns gefordert wird.<br />

Die Ansprüche an die Demokratie wachsen:<br />

Sie muss schneller werden, heißt es.<br />

Es wird gesagt: Nehmt euch ein Beispiel<br />

an autoritären Systemen, da entscheidet<br />

immer noch das von der Wirtschaft<br />

geliebte Zentralkomitee.<br />

Das hat mir aber noch nie jemand<br />

gesagt. Es mag vielleicht manchmal diskutiert<br />

werden, ob dann alles einfacher<br />

würde. Ich bin aber zutiefst davon überzeugt,<br />

dass das nicht der Fall wäre. Auch<br />

wenn wir uns manchmal mit Entscheidungen<br />

schwertun <strong>und</strong> das Für <strong>und</strong> Wider<br />

vieler Dinge abwägen, zeigt die Erfahrung<br />

doch, dass gerade im föderalen<br />

System zwischen B<strong>und</strong> <strong>und</strong> Ländern Entscheidungen<br />

oft viel robuster sind <strong>und</strong><br />

auch länger Bestand haben. Wenn Sie<br />

mitten in einer Eurokrise stehen, können<br />

Sie nicht sagen, zuerst ist eine halbjährige<br />

Diskussion darüber notwendig,<br />

ob man jemandem hilft oder nicht. Da<br />

drängte schon die Frage: Wann macht in<br />

Tokio die Börse auf? Bis dahin sollten wir<br />

eine Entscheidung haben. Aber ich habe<br />

auch oft Diskussionen erlebt, bei denen<br />

gesagt wurde: Wenn du jetzt nicht sagst,<br />

was du machst, dann geschieht morgen<br />

etwas ganz Schreckliches. Aber dazu<br />

kam es dann doch nicht.<br />

Zum Irak: Warum sind es wieder die USA,<br />

die dort eingreifen müssen? Warum ist<br />

es wieder Großbritannien? Warum wir?<br />

Die Terrororganisation „Islamischer<br />

Staat“ hat nach unserer Einschätzung<br />

etwa 20 000 Kämpfer. Davon kommen<br />

2000 Kämpfer aus Europa <strong>und</strong> von denen<br />

wahrscheinlich etwa 400 aus Deutschland.<br />

Da kann man nicht so einfach sagen,<br />

das hat mit uns nichts zu tun. Und die<br />

Tatsache, dass zum Beispiel ein designierter<br />

neuer Ministerpräsident al Abadi gef<strong>und</strong>en<br />

wurde <strong>und</strong> hoffentlich auch eine<br />

Regierung bilden kann, ist dem Bemühen<br />

der Vereinigten Staaten zu verdanken,<br />

aber zum Beispiel auch dem Mittun<br />

des Iran. Wenn Sie sich die Flüchtlingslasten<br />

anschauen, werden Sie feststellen,<br />

dass die Türkei es nicht mit 25 000,<br />

50 000 oder vielleicht 70 000 syrischen<br />

Flüchtlingen wie wir zu tun hat, sondern<br />

dass es dort um H<strong>und</strong>erttausende geht.<br />

Im Libanon, in Jordanien sind zurzeit<br />

an vielen Orten mehr Flüchtlingskinder<br />

als einheimische Kinder an den Schulen,<br />

sodass man dort doppelt Unterricht erteilen<br />

muss. Es gibt auch viele arabische<br />

Staaten – ich erwähne als Beispiel Ägypten<br />

–, die sich etwa um eine Waffenruhe<br />

in Gaza bemühen.<br />

Sind Sie froh, dass Deutschland im Irak<br />

dank Gerhard Schröder nicht die besondere<br />

Verantwortung hat wie die USA?<br />

Sie waren damals in den USA <strong>und</strong> haben<br />

einen Beitrag geschrieben, in dem<br />

stand, Schröder spreche nicht <strong>für</strong> ganz<br />

Deutschland. Damit haben Sie gesagt:<br />

Es gibt auch Menschen, die sagen: Wir<br />

sollten an diesem Krieg teilnehmen.<br />

Das habe ich nicht gesagt, sondern<br />

ich habe gesagt – das war mein Vorwurf<br />

an den damaligen B<strong>und</strong>eskanzler<br />

Gerhard Schröder –, dass er sich nicht<br />

um eine einheitliche europäische Haltung<br />

bemüht hat. Europa war gespalten.<br />

Wenn Europa gespalten ist, kann es<br />

seine Kraft nicht entwickeln. Wir hatten<br />

zum Beispiel bei den Chemiewaffen in<br />

Syrien eine andere Situation. Da haben<br />

wir uns um eine sehr geschlossene europäische<br />

Position bemüht. Das hat zum<br />

Schluss auch über viele Schritte dazu geführt,<br />

dass in Syrien nicht bombardiert<br />

wurde. Ich war nicht davon überzeugt,<br />

dass man das Äußerste getan hat, um zu<br />

verhindern, dass die Amerikaner im Irak<br />

eingegriffen haben. Aber lassen wir das<br />

beiseite. Die Amerikaner haben ganz andere<br />

militärische Möglichkeiten. Sie können<br />

in einem solchen Einsatz vielleicht<br />

als einzige Nation der Welt auf einem<br />

Berg im Nordirak eine schnelle Rettung<br />

von Menschenleben durchführen <strong>und</strong><br />

Zukunft ist machbar!<br />

Horst W. Opaschowski befasst sich mit den drängenden Fragen<br />

der Gegenwart, in der die Politik den Mut zur Weitsicht<br />

verloren hat. Zwischen berechtigtem Alarmismus <strong>und</strong> notwendigem<br />

Optimismus zeigt er, dass die Weichen neu gestellt<br />

werden müssen – im Interesse kommender Generationen <strong>und</strong><br />

nicht auf ihre Kosten! Eine glänzende <strong>und</strong> pointierte Analyse<br />

mit hoffnungsvollen Schlussfolgerungen.<br />

Horst W. Opaschowski<br />

SO WOLLEN WIR LEBEN!<br />

Die 10 Zukunftshoffnungen<br />

der Deutschen<br />

219 Seiten / geb. mit Schutzumschlag<br />

€ 19,99 (D) / € 20,60 (A) / CHF* 28,50<br />

ISBN 978-3-579-07076-6<br />

Auch als E-Book<br />

erhältlich<br />

www.gtvh.de<br />

GÜTERSLOHER<br />

VERLAGSHAUS<br />

*empf. Verkaufspreis


BERLINER REPUBLIK<br />

Gespräch<br />

Spezialkräfte einsetzen. Das können<br />

wir nicht. Deutschland hat diese militärischen<br />

Fähigkeiten nicht <strong>und</strong> wird sie<br />

auch nicht anstreben.<br />

Aber die EU könnte sie anstreben.<br />

Ob wir diese Fähigkeit erreichen,<br />

das weiß ich nicht. Wir sollten eine<br />

bessere EU-kompatible Verteidigungspolitik<br />

entwickeln. Wir sollten auch<br />

aufpassen, dass die Fähigkeiten in der<br />

Nato nicht so entwickelt werden, dass<br />

der Abstand zu den Vereinigten Staaten<br />

von Amerika zu groß wird. Deshalb<br />

müssen wir zum Beispiel die Debatte<br />

führen, ob wir eine eigene Herstellung<br />

von Drohnen brauchen – seien es Aufklärungsdrohnen<br />

oder andere Drohnen.<br />

Europa muss zu einem solchen Projekt<br />

bereit sein.<br />

Es gab einmal eine Zeit, in der Sie zumindest<br />

halblaut die Hoffnung gehegt<br />

haben, dass es eine europäische Armee<br />

geben könnte. Ist das ein Ziel?<br />

Wir sind noch nicht am Ende dessen.<br />

Wir haben zum Beispiel eine deutschfranzösische<br />

Brigade. Sie ist jetzt in Mali<br />

zum ersten Mal im Einsatz. Das kann ein<br />

Nukleus sein. Wir haben Kooperationen<br />

mit den Dänen <strong>und</strong> den Polen. Ich denke,<br />

dass das schrittweise Zusammenwachsen<br />

europäischer Verteidigungsverbände vorangebracht<br />

werden muss. Dazu gibt es<br />

auch durchaus Vorstellungen.<br />

Wie weit kann der Prozess des Zusammenwachsens<br />

im Militärischen sein?<br />

Deutschland wird auf absehbare<br />

Zeit – ich denke, <strong>für</strong> immer, aber ich<br />

weiß nicht, was zukünftige Parlamente<br />

entscheiden – eine Parlamentsarmee<br />

haben. Das unterscheidet unsere Armee<br />

von anderen Armeen auf der Welt. Damit<br />

brauchen wir parlamentarische Entscheidungen<br />

<strong>und</strong> haben eine breitere Diskussion.<br />

Trotzdem müssen wir in der Lage<br />

sein, unseren Truppenbeitrag auch <strong>für</strong><br />

schnelle Einsatzkräfte zuzusagen. Das<br />

tun wir in der Nato <strong>und</strong> auch in der Europäischen<br />

Union. Im Augenblick wäre<br />

es ein wichtiger Beitrag, eine gemeinsame<br />

Verteidigungsanstrengung zu machen,<br />

etwa beim Thema Ausrüstung. Da<br />

haben wir noch sehr viele verschiedene<br />

Bezugsquellen, eigene, französische, italienische,<br />

deutsche Industrien.<br />

STIMMEN ZUM CICERO-<br />

GESPRÄCH MIT ANGELA MERKEL<br />

AM 27. AUGUST<br />

„Wann immer Merkel sich<br />

locker machte, wann<br />

immer sie vom staatstragenden<br />

Ton abwich,<br />

setzte es Applaus, den<br />

herzlich zu nennen noch<br />

untertrieben ist. Merkel,<br />

man spürte es an diesem<br />

Abend mal wieder, ist<br />

außerordentlich beliebt“<br />

Anja Maier in der tageszeitung über<br />

Merkels Auftreten <strong>und</strong> die Reaktion des<br />

Publikums<br />

„Wir sind eine große<br />

Nation, die sich anstrengt,<br />

um sich wieder zu<br />

sammeln. Wir sind kein<br />

deutsches B<strong>und</strong>esland“<br />

Der französische Sozialistenchef<br />

Jean-Christophe Cambadélis bei einem<br />

Parteikongress in La Rochelle als Replik<br />

auf Merkels Äußerungen zu Frankreich<br />

„Wir sehen bei diesen<br />

Worten die kleine Angela<br />

vor uns. Sie tollt über die<br />

Wiesen der Uckermark,<br />

botanisiert ein wenig,<br />

pflückt hier ein Blümlein,<br />

jagt dort ein Vögelchen.<br />

Herzallerliebst!“<br />

Bernd Matthies im Tagesspiegel zu<br />

Merkels Bemerkung, dass sie samstags<br />

um 16 Uhr Schluss mache, „weil man<br />

sonst nicht fröhlich sein kann“<br />

„Angela Merkel stellt sich<br />

nur selten solchen<br />

öffentlichen Gesprächen“<br />

Holger Schmale in der Berliner Zeitung<br />

„Applaus. Gute Laune.<br />

Bestes Berliner Sommerwetter“<br />

Evelyn Roll in der Süddeutschen Zeitung<br />

Unser Gespräch kreist stark um die Rolle<br />

Deutschlands in der Welt. Man sagt, Sie<br />

sind die mächtigste Frau der Welt.<br />

Es gibt aber viele mächtige Männer.<br />

Ich bin vielleicht deswegen die mächtigste<br />

Frau, weil nicht so viele Frauen in<br />

Verantwortung sind.<br />

Kürzlich hat der frühere EU-Kommissar<br />

Jacques Barrot auf die Frage, wie<br />

er die Macht Deutschlands <strong>und</strong> die Ohnmacht<br />

Frankreichs sieht, gesagt: „Oui,<br />

c’est une blessure.“ Eine Kränkung also.<br />

Wir sollten auch da einmal zurückschauen.<br />

Anfang des vergangenen Jahrzehnts,<br />

um das Jahr 2000 herum, war<br />

Deutschland „der kranke Mann“ Europas.<br />

Wir sind von allen Seiten beschimpft<br />

worden. Man hatte den Eindruck, das<br />

bessert sich auch nicht mehr. Wir sehen,<br />

dass Deutschland durch eine vernünftige<br />

Reformpolitik <strong>und</strong> eine vernünftige<br />

Tarifpolitik, durch ein sehr gutes Miteinander<br />

in der Finanz- <strong>und</strong> in der Eurokrise<br />

jetzt in einer völlig anderen Position<br />

ist. Schauen Sie sich die Kurven<br />

zur Staatsverschuldung, zu den Ausgaben,<br />

zur Arbeitslosigkeit an. Über viele<br />

Jahre lag Frankreich vor uns. Jetzt hat<br />

sich das umgekehrt.<br />

Was folgt daraus?<br />

Wenn der französische Präsident das<br />

umsetzt, was er sich vorgenommen hat,<br />

dann kann das Bild auch anders aussehen,<br />

<strong>und</strong> es kann passieren, dass wir wieder<br />

einmal ins Hintertreffen geraten. Ich<br />

traue jedem europäischen Land zu, dass<br />

es die notwendigen Dinge so richtet, dass<br />

es wieder vorn sein kann.<br />

Die Regierungskrise in Frankreich kam<br />

zustande, weil der Spardruck auf Frankreich<br />

lastet. Halten Sie ihn aufrecht?<br />

Das entscheide ja nicht ich, sondern<br />

die Europäische Kommission. Die Kommission<br />

hat Frankreich schon mehr Zeit<br />

gegeben <strong>und</strong> wird sich weiter mit der<br />

Situation in Frankreich befassen. Über<br />

die Frage, ob man 1 oder 2 oder 3 Prozent<br />

Verschuldung hat oder, wie wir, einen<br />

ausgeglichenen Haushalt, kann man<br />

ja reden. Darüber wird in der Kommission<br />

auch geredet. Aber man muss doch<br />

infrage stellen, ob wir beständig weniger<br />

einnehmen können, als wir ausgeben,<br />

sodass unsere Schuldenstände immer<br />

44<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


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BERLINER REPUBLIK<br />

Gespräch<br />

weiter wachsen. Daraus ist ja auch eine<br />

Vertrauenskrise erwachsen.<br />

Also muss der Spardruck aufrechterhalten<br />

werden?<br />

Ich bin sehr da<strong>für</strong>, dass man alles<br />

auf Wachstum setzt. Das ist auch das<br />

französische Ziel. In Frankreich geht es<br />

darum, Strukturreformen umzusetzen.<br />

Das hat der französische Präsident auch<br />

angekündigt. Das ist an vielen Stellen<br />

schwer. Bei uns war die Arbeitsmarktreform<br />

auch nicht einfach durchzusetzen.<br />

Deshalb ist es doch sehr wichtig,<br />

dass wir uns gegenseitig unterstützen,<br />

wenn es um solche Reformen geht, dass<br />

wir glauben, dass Wachstum nicht nur<br />

daraus besteht, mehr Geld auszugeben,<br />

sondern aus kluger Anreizpolitik. Da nur<br />

von Spardruck zu sprechen, trifft, denke<br />

ich, nicht zu. Sie können durch Bürokratieabbau,<br />

durch Investitionen in Forschung<br />

<strong>und</strong> Entwicklung, durch Investitionen<br />

in Bildung vieles nach vorn bringen.<br />

Das haben wir doch auch getan. Deutschland<br />

ist attraktiver geworden. Wir haben<br />

versucht, Bürokratie abzubauen. Wir haben<br />

den Haushalt konsolidiert <strong>und</strong> können<br />

trotzdem wachsen. Wir werden auch<br />

weiter reformieren müssen.<br />

In Europa gibt es eigentlich einen ganzen<br />

Teppich rechtspopulistischer Bewegungen.<br />

Macht Ihnen das Sorgen?<br />

Mir sagt dieses Phänomen, dass wir<br />

<strong>für</strong> dieses Europa kämpfen, da<strong>für</strong> argumentieren<br />

<strong>und</strong> auch die europäische<br />

Integration mit Bedacht weiterentwickeln<br />

müssen. Europa, die Europäische<br />

Union, die Kommission oder das Europäische<br />

Parlament müssen offen da<strong>für</strong><br />

sein zu fragen, ob alles, was inzwischen<br />

nach Europa verlagert wurde, wirklich<br />

in Europa geregelt werden muss. Sind<br />

alle Vorschriften, die wir dort machen,<br />

wirklich so, dass die Menschen sie begreifen<br />

können? Mir sagen die Fischer in<br />

meinem Wahlkreis an der Ostseeküste,<br />

dass auf einem einfachen Fischer, der<br />

vielleicht ein Boot betreibt <strong>und</strong> <strong>für</strong> den<br />

lokalen Tourismus Fische fängt, so viele<br />

EU-Vorschriften liegen, dass er von deren<br />

Notwendigkeit nicht ganz überzeugt ist.<br />

So, wie wir in Deutschland auch einmal<br />

ein Gesetz abschaffen, kann man auch in<br />

Europa fragen, ob diese oder jene Richtlinie<br />

noch notwendig ist.<br />

„ Zu meiner<br />

Arbeit gehört<br />

auch, dass<br />

ich mir mal<br />

einen freien<br />

Abend nehme.<br />

Ich sag dann<br />

einfach: ,Ich<br />

muss nach<br />

Hause‘ “<br />

Sie sind jetzt in Ihrer dritten Legislaturperiode.<br />

Das erste Jahr dieser dritten<br />

Legislaturperiode ist fast um. Was<br />

kommt noch? Welchen Projekten verschreiben<br />

Sie sich auch selber? Ich<br />

nehme an, die Pkw-Maut ist es nicht.<br />

Sie ist eher über Sie gekommen, als dass<br />

Sie sie unbedingt gewollt hätten.<br />

Sie ist Teil des Koalitionsvertrags.<br />

Aber sie ist nicht Ihre Herzensangelegenheit<br />

gewesen.<br />

Die Frage, wie wir mehr Infrastrukturinvestitionen<br />

zum Beispiel im Straßenbereich,<br />

aber auch im Breitbandbereich<br />

hinbekommen, ist schon ein<br />

zentrales Projekt.<br />

Was ist in diesen drei Jahren von der Regierung<br />

noch zu erwarten?<br />

Mir liegt der ganze Bereich Forschung<br />

<strong>und</strong> Bildung sehr am Herzen,<br />

ebenso das Thema der digitalen Agenda,<br />

die wir gerade auf den Weg gebracht haben.<br />

Damit sind wir aber längst noch<br />

nicht am Ende. Das umfasst die Facette<br />

Breitbandausbau – zunächst einmal bis<br />

2018 <strong>für</strong> jeden Haushalt 50 Megabit pro<br />

Sek<strong>und</strong>e, <strong>und</strong> damit ist es nicht zu Ende.<br />

Das führt mich zu einem weiteren Thema,<br />

das mich interessiert, nämlich Industrie<br />

4.0. Wir werden die Verschmelzung der<br />

digitalen Welt mit der Welt der industriellen<br />

Produktion bekommen. Im Auto<br />

sind es heute schon 40 Prozent IT-Wertschöpfung<br />

<strong>und</strong> noch 60 Prozent Auto im<br />

klassischen Sinne. Das wird sich vielleicht<br />

noch weiter entwickeln. Wir werden<br />

Projekte haben wie das fahrerlos fahrende<br />

Auto. Das bedeutet, dass Sie mit<br />

50 Megabit entlang der Autobahn noch<br />

nicht weit kommen werden …<br />

Das ist eines Ihrer wichtigsten Themen?<br />

Der Breitbandausbau wird sehr stark<br />

über die Zukunftsfähigkeit Deutschlands<br />

entscheiden. Wir werden damit auch völlig<br />

neue Herausforderungen <strong>für</strong> die Arbeitswelt<br />

<strong>und</strong> <strong>für</strong> die Frage haben, worauf<br />

Gewerkschaften reagieren müssen.<br />

Wir sehen jetzt schon das Thema der unentwegten<br />

Erreichbarkeit. Das sind Themen,<br />

die uns umtreiben <strong>und</strong> die <strong>für</strong> mich<br />

wichtig sind. Ebenso ist auch die Vereinbarkeit<br />

von Beruf <strong>und</strong> Familie sehr wichtig;<br />

denn wir werden deutlich weniger<br />

Arbeitskräfte haben <strong>und</strong> schauen müssen,<br />

wie alle, die gern arbeiten möchten,<br />

das tun können, ohne dass die Menschlichkeit<br />

unserer Gesellschaft dahingeht.<br />

Wir haben immer noch Probleme im Bereich<br />

der Integration; denn viele Migranten<br />

haben noch nicht die gleiche Qualifikation.<br />

Jetzt gucken Sie entnervt, weil<br />

ich so viel sage, <strong>und</strong> anschließend sagen<br />

Sie wieder, Sie wissen nicht, was ich die<br />

nächsten drei Jahre machen will. Deshalb<br />

musste ich das jetzt einmal in so einem<br />

langen Block darlegen.<br />

Zuletzt gab es Berichte, nach denen<br />

es sein könnte, dass wir eines Morgens<br />

aufwachen <strong>und</strong> Angela Merkel nicht<br />

mehr B<strong>und</strong>eskanzlerin ist. Weil Sie sagen:<br />

Es reicht.<br />

46<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

Ich habe vielfach gesagt – ich sage es<br />

heute gern noch einmal –, dass ich den<br />

Menschen im Wahlkampf versprochen<br />

habe, dass ich die ganze Legislaturperiode<br />

– vorbehaltlich meiner guten Ges<strong>und</strong>heit<br />

– zur Verfügung stehe. Das ist<br />

keine Einschränkung. Ich sage nur, dass<br />

ich <strong>für</strong> diese Legislaturperiode angetreten<br />

bin <strong>und</strong> arbeiten werde <strong>und</strong> dass die<br />

Entscheidungen, was in der Zukunft passiert,<br />

gefällt werden, wenn mehr als ein<br />

Jahr dieser Legislaturperiode vorbei ist,<br />

eben zum gegebenen Zeitpunkt.<br />

Frage einer Zuschauerin: Wie sehen Sie<br />

die Zukunft der AfD?<br />

Wenn wir alle da<strong>für</strong> werben, die Parteien<br />

zu unterstützen, die jetzt im Parlament<br />

sind, dann haben wir, glaube ich,<br />

eine Chance, die AfD nicht übergroß<br />

werden zu lassen. Also: Mit den Wählern<br />

sprechen <strong>und</strong> sagen, welche Angebote<br />

wir haben. Die Sorgen ernst nehmen,<br />

die die Menschen haben.<br />

Darf die CDU Regierungsbündnisse mit<br />

der AfD eingehen?<br />

Wir haben im B<strong>und</strong>esvorstand der<br />

CDU einen sehr klaren Beschluss gefasst,<br />

dass Koalitionen <strong>für</strong> uns nicht infrage<br />

kommen.<br />

Frage einer Zuschauerin: Wie schaffen<br />

Sie es, sich zu erholen? Machen Sie Yoga?<br />

Meditieren Sie?<br />

Nein, ich meditiere nicht. Ich versuche,<br />

mich ein paar St<strong>und</strong>en an der frischen<br />

Luft zu bewegen. Im Urlaub – das<br />

wissen Sie, darüber wird ja berichtet –<br />

wandere ich <strong>und</strong> gehe ab <strong>und</strong> zu auch<br />

mal auf einen Berg. Ich versuche immer<br />

wieder Phasen zu haben, in denen ich<br />

über das viele, das ich erlebe, nachdenken<br />

<strong>und</strong> es verarbeiten kann. Das heißt,<br />

zu meiner Arbeit gehört auch, dass ich<br />

mir – das kann ich natürlich nicht immer<br />

sicherstellen – auch mal einen freien<br />

Abend nehme. Früher war es häufig so,<br />

dass es, wenn ich samstags um 16 Uhr<br />

gesagt habe, ich will jetzt gehen, hieß:<br />

„Sie muss zum nächsten Termin.“ Ich<br />

sage dann einfach: „Ich muss nicht zum<br />

nächsten Termin. Ich muss nach Hause.“<br />

Ich muss auch mal nach Hause, weil man<br />

überhaupt nicht mehr fröhlich sein kann,<br />

wenn man nicht irgendwo immer wieder<br />

mit beiden Beinen auf der Erde steht.<br />

FRAU FRIED FRAGT SICH …<br />

… warum unsere Kinder uns nicht mehr<br />

peinlich finden<br />

Früher hatte ein Kind Glück, wenn es seine Kindheit überlebte<br />

<strong>und</strong> die Eltern sich an seinen Namen erinnerten. Später durfte es<br />

dankbar sein, wenn es nicht geschlagen <strong>und</strong> als Halbwüchsiger in<br />

die Obhut eines Lehrherrn oder an die Front geschickt wurde.<br />

Als ich jung war, stritt ich mit meinen Eltern über Rocklängen <strong>und</strong><br />

Ausgehzeiten, übers Rauchen, Musik <strong>und</strong> das, was sie meinen „Umgang“<br />

nannten. Ich fand sie blöd, <strong>und</strong> sie fanden mich unausstehlich,<br />

<strong>und</strong> dann lief ich weg <strong>und</strong> blieb wochenlang verschw<strong>und</strong>en. Mein<br />

Mann bedrohte damals seine Eltern, er würde mit seinen Anarchistenfre<strong>und</strong>en<br />

ihr Haus besetzen, der Vater kündigte an, dem Sohn die Polizei<br />

in die WG zu schicken, um seinen Hausschlüssel abholen zu lassen.<br />

Ansonsten endeten alle politischen Diskussionen mit der gebrüllten<br />

Aufforderung: „Wenn’s dir hier nicht passt, dann geh doch nach<br />

drüben!“ Unsere Eltern waren Spießer <strong>für</strong> uns, <strong>und</strong> wir zogen unser<br />

Selbstbewusstsein daraus, anders sein zu wollen als sie.<br />

Heute findet der Krieg der Generationen nicht mehr statt. Teenagertöchter<br />

tragen freudig die Klamotten ihrer Mütter, Studenten besuchen<br />

mit ihren Vätern Rockkonzerte. Manche finden es nicht mal<br />

seltsam, zu Hause zu wohnen, bis sie 25 sind. Die Kinder suchen mit<br />

uns den Konsens, nicht die Konfrontation. Sie finden ihre Stärke nicht<br />

in der Abgrenzung, sondern in der Affirmation. Unsere politischen<br />

Diskussionen sind lebhaft, aber keine Schlachten, <strong>und</strong> wir lernen voneinander.<br />

Offenbar ist es ihnen lieber, uns toll finden zu können, als<br />

uns blöd finden zu müssen. Das beobachte ich nicht nur in unserer Familie,<br />

sondern in unserem gesamten Umfeld.<br />

Vermutlich nie zuvor hatten Kinder <strong>und</strong> Eltern ein so gutes Verhältnis.<br />

Kinder sind ein rares Glück geworden <strong>und</strong> werden (zumindest<br />

in Gesellschaften wie unserer) als kostbare Individuen wahrgenommen.<br />

Eltern sind aufgr<strong>und</strong> veränderter ökonomischer Verhältnisse<br />

nicht mehr die Schinder von ganz früher. Als Mutter finde ich das toll,<br />

aber wie ist das <strong>für</strong> die Jungen, wenn sie ihre Altvorderen nicht mehr<br />

guten Gewissens ablehnen können? Können die überhaupt richtig erwachsen<br />

werden? Oder brauchen sie mit 40 einen Psychotherapeuten,<br />

um sich endlich von ihren viel zu netten Eltern lösen zu können?<br />

AMELIE FRIED ist Fernsehmoderatorin <strong>und</strong> Bestsellerautorin.<br />

Für <strong>Cicero</strong> schreibt sie über Männer, Frauen <strong>und</strong> was das Leben<br />

sonst an Fragen aufwirft<br />

47<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Analyse<br />

ES GIBT KEIN ZURÜCK<br />

Im Kampf gegen die Alternative <strong>für</strong> Deutschland diskutieren<br />

CDU <strong>und</strong> CSU viele Strategien. Mindestens neun. <strong>Kein</strong>e taugt<br />

Von CHRISTOPH SEILS<br />

Sachsen, Thüringen, Brandenburg. Drei Landtagswahlen,<br />

drei Mal jubelten die Kandidaten der Alternative <strong>für</strong><br />

Deutschland. 9,7 Prozent, 10,6 Prozent, 12,2 Prozent. Ließ<br />

sich der Einzug ins Europaparlament noch als Ausrutscher<br />

darstellen, steht mittlerweile fest, dass die AfD so schnell<br />

nicht wieder verschwinden wird. Schon im Februar steht<br />

die Bürgerschaftswahl in Hamburg an, im Mai wählt Bremen.<br />

Die AfD gewinnt Anhänger von allen Parteien. Aber<br />

vor allem CDU <strong>und</strong> CSU haben ein Problem. Denn die neue<br />

Partei wirbt in erster Linie mit Themen <strong>und</strong> Werten um<br />

Wähler, die die Union besetzt hatte. <strong>Kein</strong> W<strong>und</strong>er, dass es<br />

in der Union nur so wimmelt an Strategien, wie man die<br />

AfD wieder loswerden könne. Durchdacht sind sie alle nicht.<br />

1TOTSCHWEIGEN<br />

Nicht drüber reden, nicht aufwerten, nicht mit AfD-<br />

Politikern in Talkshows gehen, diese Strategie empfiehlt<br />

Volker Kauder, Chef der Union im B<strong>und</strong>estag. Doch<br />

da<strong>für</strong> ist es jetzt wohl zu spät. Eine erfolgreiche neue Partei<br />

ist viel zu interessant, als dass die Medien sie außen vor<br />

lassen würden. Zudem ist es in der digitalen Debattenwelt<br />

egal, ob Kauder <strong>und</strong> Kollegen mitdiskutieren.<br />

2<br />

KOPIEREN<br />

Der CSU-Politiker Peter Gauweiler hat es versucht.<br />

Er hat über AfD-Politiker als „ehrenwerte Leute“<br />

gesprochen, er ist mehrfach gegen die Eurorettung vor Gericht<br />

gezogen <strong>und</strong> hat gegen Brüssel geschimpft. Um die<br />

Aktion glaubhaft zu machen, hat CSU-Chef Horst Seehofer<br />

Gauweiler sogar zum Parteivize befördert. Es half nichts.<br />

Bei der Europawahl im Mai erzielte die CSU das schlechteste<br />

Ergebnis ihrer Geschichte. Die AfD hingegen feierte.<br />

3THEMEN ABJAGEN<br />

Die CDU müsse gegen die AfD „die Themen ansprechen<br />

<strong>und</strong> lösen, die die Menschen vor Ort bewegen“,<br />

sagt Angela Merkel. Viel Spielraum hat die Kanzlerin<br />

<strong>und</strong> CDU-Vorsitzende da nicht. Schließlich verlangt<br />

die AfD, den „Einheitseuro“ abzuschaffen, die sächsische<br />

Spitzenkandidatin Frauke Petry zweifelt an der Klimaschädlichkeit<br />

von CO 2<br />

<strong>und</strong> ihr Brandenburger Parteifre<strong>und</strong><br />

Alexander Gauland hat Verständnis <strong>für</strong> die „russischen<br />

Bedürfnisse im Umgang mit den Nachfolgestaaten der<br />

einstigen Sowjetunion“. Da muss das Völkerrecht schon mal<br />

zurückstecken. Die AfD-Wähler sind begeistert. Aber eine<br />

Regierung kann sich das nicht leisten, zumal nicht, wenn<br />

Maß <strong>und</strong> Vernunft ihr Markenzeichen sind wie bei Merkel.<br />

4<br />

IN DIE RECHTE ECKE STELLEN<br />

Vorbehalte gegen Einwanderer, Angst vor Kriminalität,<br />

Traditionsfamilie – neben der Euroskepsis<br />

sind es vor allem konservative Themen <strong>und</strong> rechte Parolen,<br />

mit denen die AfD ihre Wähler mobilisiert. Sie setze auf<br />

„Rechtspopulismus, Ressentiments <strong>und</strong> Nostalgie“, schimpft<br />

die CDU-Politikerin Julia Klöckner. Die CDU ist mittlerweile<br />

so weit in die Mitte gerückt, dass am rechten Rand des<br />

Parteiensystems viel Platz entstanden ist. Da hilft es wenig,<br />

die AfD dort hinzustellen, wo sie sowieso schon steht.<br />

5<br />

FÜR POLITIKUNFÄHIG ERKLÄREN<br />

Die AfD lebe vom Protest, sagt CDU-Generalsekretär<br />

Peter Tauber. „Die AfD schürt Angst, ohne<br />

Antworten zu geben“, sagt Julia Klöckner, deshalb müsse<br />

die Partei einem „Realitätscheck“ unterzogen werden. Nur:<br />

Diese Abgrenzung kommt der AfD gerade recht; je lauter<br />

die CDU jammert, umso besser. Fast durchgängig stimmen<br />

die AfD-Wähler in Meinungsumfragen der Aussage zu, „es<br />

geschieht den anderen Parteien ganz recht, dass die AfD<br />

die Politik aufmischt“.<br />

6<br />

INHALTLICH STELLEN<br />

„Wir müssen die AfD stellen <strong>und</strong> erklären, warum<br />

sie falsch liegt“, sagt der nordrhein-westfälische<br />

CDU-Chef Armin Laschet. Diese Strategie hat allerdings<br />

zwei Nachteile: Erstens werden damit auch die Argumente<br />

des Gegners aufgewertet <strong>und</strong> zweitens könnte die Union<br />

selbst in Erklärungsnot kommen. Schließlich haben CDU<br />

<strong>und</strong> CSU vor ein paar Jahren selbst noch auf die Atomenergie<br />

gesetzt, die Homoehe abgelehnt, den Doppelpass<br />

verteufelt. Und sie wollten überhaupt nichts davon wissen,<br />

dass der Islam zu Deutschland gehört.<br />

7VERFASSUNGSSCHUTZ EINSCHALTEN<br />

Früher hat der Verfassungsschutz gerne geholfen,<br />

bei den Republikanern zum Beispiel. Kaum waren<br />

die Rechten 1989 erfolgreich <strong>und</strong> eine Gefahr <strong>für</strong> CDU<br />

<strong>und</strong> CSU, sammelte der Geheimdienst Belege da<strong>für</strong>, dass<br />

48<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


die Partei eine Gefahr <strong>für</strong> die freiheitlich-demokratische<br />

Gr<strong>und</strong>ordnung sei. Beamte, die mit den Reps sympathisierten,<br />

wurden an die Pflicht zur Verfassungstreue erinnert.<br />

So wird das mit der AfD nicht funktionieren, denn<br />

Parteichef Bernd Lucke grenzt sich offensiv vom Rechtsextremismus<br />

ab.<br />

8<br />

GUT REGIEREN<br />

„Die beste Antwort auf die AfD ist die gute Arbeit,<br />

die wir in der B<strong>und</strong>esregierung leisten müssen“, sagt<br />

Angela Merkel. So schlecht scheint ihr dies einerseits nicht<br />

zu gelingen. Die Mehrzahl der Deutschen ist mit der Arbeit<br />

der Großen Koalition zufrieden. Die Wirtschaft wächst, die<br />

Zahl der Arbeitslosen sinkt, die Eurokrise ist eingedämmt.<br />

Mindestlohn <strong>und</strong> Rente mit 63 stoßen auf breite Zustimmung.<br />

Die Kanzlerin ist beliebt. Wahlen entscheiden sich<br />

aber an Zukunftsaussichten <strong>und</strong> die nehmen viele Deutsche<br />

als düster wahr. Sie haben Angst um ihr Geld <strong>und</strong> ihren sozialen<br />

Status, sie <strong>für</strong>chten den wirtschaftlichen Abstieg des<br />

Landes. Die Kriege im Irak <strong>und</strong> in der Ukraine tun ein Übriges.<br />

Diese Ängste schürt die AfD meisterlich.<br />

9<br />

UMARMEN<br />

„Wir fahren einen klaren Kurs der Abgrenzung“,<br />

sagt Peter Tauber. Jede Zusammenarbeit mit der<br />

AfD schließt er aus. Allerdings wird die CDU weder in Sachsen<br />

noch in Thüringen oder Brandenburg durch das Wahlergebnis<br />

in Versuchung geführt. Dennoch werben einzelne<br />

CDU-Politiker <strong>für</strong> Koalitionen mit der AfD, die B<strong>und</strong>estagsabgeordnete<br />

Erika Steinbach zum Beispiel. Wenn es dazu<br />

kommt, wird die CDU erklären, sie wolle die AfD durch die<br />

Einbindung in Verantwortung entzaubern. Sie wäre dann<br />

auch <strong>für</strong> den Bau von Asylbewerberheimen zuständig. An<br />

der Macht entzaubern? Das hat auch die SPD mit der Linken<br />

schon vergeblich versucht. Auch die FPÖ in Österreich<br />

oder die rechtspopulistische PVV von Geert Wilders in den<br />

Niederlanden haben ihren Platz im Parteiensystem gef<strong>und</strong>en,<br />

obwohl sie Regierungsluft schnuppern durften.<br />

Wie es die Union macht, macht sie es verkehrt. Selbst wenn<br />

es nach den drei Wahlen im Osten erst mal wieder ruhig<br />

werden wird um die AfD. In Hamburg <strong>und</strong> Bremen sind<br />

Wahlkämpfe kostengünstig. Das Potenzial von Rechtspopulisten<br />

in Hamburg zeigen die 19,4 Prozent der Schill-Partei<br />

im Jahr 2001. 2017 wird die AfD Kurs auf den B<strong>und</strong>estag<br />

nehmen. CDU <strong>und</strong> CSU können einstweilen nur eines<br />

tun: die AfD ertragen. Sie stehen in internationaler Verantwortung<br />

<strong>und</strong> sind in Absprachen mit der SPD eingeb<strong>und</strong>en.<br />

Gleichzeitig haben sie konservative Wurzeln gekappt <strong>und</strong><br />

sich <strong>für</strong> schwarz-grüne Bündnisse geöffnet. Die Union hat<br />

keine Möglichkeit, ihre rechte Flanke zu schließen. Der Abschied<br />

von ihrem gesellschaftlichen Modernisierungskurs<br />

würde ihr noch mehr schaden. Es gibt kein Zurück.<br />

CHRISTOPH SEILS ist Politischer Korrespondent von <strong>Cicero</strong> <strong>und</strong><br />

Politikwissenschaftler. Vor zwei Jahrzehnten hat er sich an der<br />

FU Berlin intensiv mit Aufstieg <strong>und</strong> Fall der Republikaner beschäftigt<br />

ECHO<br />

KLASSIK<br />

2014<br />

mit Auftritten von<br />

Anna Netrebko, Jonas Kaufmann,<br />

Anne-Sophie Mutter, Diana Damrau,<br />

David Garrett u.v.m.<br />

Moderation<br />

Nina Eichinger <strong>und</strong> Rolando Villazón<br />

Sonntag, 26.Oktober 2014<br />

Philharmonie im Gasteig<br />

Eintrittskarten <strong>für</strong> die Verleihung<br />

Vorverkauf: München Ticket<br />

telefonisch: 089 54 81 81 81<br />

online: www.muenchenticket.de<br />

TV-Ausstrahlung<br />

26. Oktober, 22:00 Uhr im ZDF<br />

Alle Informationen zur Verleihung<br />

<strong>und</strong> zu den Preisträgern 2014<br />

www.echoklassik.de<br />

www.facebook.com/ECHO.Klassik<br />

www.youtube.com/Echomusikpreis<br />

#ECHOKLASSIK2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Reportage<br />

HOMO<br />

VATER<br />

Unser Autor wünscht<br />

sich ein Kind.<br />

Obwohl er schwul ist.<br />

Wie soll das gehen?<br />

Erste Erfahrungen im<br />

Gründen einer<br />

Regenbogenfamilie<br />

Von SÖREN KITTEL<br />

Fotos ANTJE BERGHÄUSER<br />

Wenn ich irgendwann, vielleicht<br />

in 15 Jahren, einmal<br />

mit meinem Kind spazieren<br />

gehe <strong>und</strong> gefragt werde, wie alles angefangen<br />

hat, dann werde ich wohl erst herumdrucksen:<br />

„Eine lange Geschichte.“<br />

Aber wenn dieser Sohn oder diese Tochter<br />

nach mir kommt <strong>und</strong> nicht lockerlässt,<br />

werde ich eine Bank suchen <strong>und</strong><br />

erzählen müssen, wie kompliziert diese<br />

Monate waren, in denen ich Vater werden<br />

wollte.<br />

Begonnen hat es mit einer E-Mail<br />

im Herbst 2013. Sie erreichte mich in<br />

einer seltsamen Phase, die wohl viele<br />

in der Lebensmitte durchmachen: Langzeitpartner<br />

weg, Firma verkauft <strong>und</strong> der<br />

Vermieter will die Wohnung luxussanieren.<br />

In ihrer E-Mail schrieben zwei<br />

Fre<strong>und</strong>innen von mir mit ihrem charmanten,<br />

leicht verschwurbelten Humor:<br />

50<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


BERLINER REPUBLIK<br />

Reportage<br />

„Eigentlich wollten wir Dich mit Käsekuchen<br />

in einen Zuckerschock versetzen …“,<br />

aber sie haben nicht mehr warten wollen<br />

<strong>und</strong> fragen jetzt doch auf diesem Weg, ob<br />

ich Vater werden möchte. „Das ist jetzt<br />

kein offizieller Baby-Antrag“, schreiben<br />

sie noch, „aber das Angebot <strong>für</strong> Familiensondierungsgespräche.“<br />

Sie suchten<br />

mehr als einen Samenspender <strong>und</strong> weniger<br />

als einen Zusammen-Wohnen-Vollzeitvater.<br />

Ich solle „eine Rolle im Leben<br />

der Kinder spielen“. Ähnlich diffuse Vorstellungen<br />

hätte ich auch, schrieb ich zurück.<br />

Und: Wir sollten uns treffen.<br />

IN DEN NÄCHSTEN WOCHEN sprach ich<br />

mit Fre<strong>und</strong>en darüber, <strong>und</strong> schon das war<br />

ein bisschen wie Weihnachten. Plötzlich<br />

war da so eine Hoffnung in den Tagen,<br />

dass alles anders werden könnte <strong>und</strong><br />

Verantwortung ins Leben kommt. Dass<br />

es Sinn macht, in einer Großstadt wie<br />

Berlin zu leben, wo so etwas nicht komplett<br />

ungewöhnlich ist. Doch mir wurde<br />

auch klar: Es gibt keine wirklichen Vorbilder<br />

<strong>für</strong> diese Art der Familie. Es gibt<br />

den Film „The Kids Are All Right“ mit<br />

Julianne Moore als lesbischer Mutter,<br />

die sich später doch in den Hetero-Vater<br />

verliebt, <strong>und</strong> es gibt das Buch „Kindsköpfe“<br />

von Kriss Rudolph, der über zwei<br />

schwule Väter schreibt.<br />

Im Internet steht etwas mehr, unter<br />

anderem der w<strong>und</strong>erbare Blog des Niederländers<br />

Geer Oskam, der im März<br />

dieses Jahres Vater einer Tochter wurde.<br />

Unter der Überschrift „Two Girls a boy<br />

and a cup“ schreibt der 29-Jährige über<br />

die Zeit der Vorfreude, über den ersten<br />

Herzton, die rührende Unsicherheit der<br />

Ärzte („Oh! Wir sind so altmodisch <strong>und</strong><br />

haben nur zwei Stühle!“) oder des eigenen<br />

Vaters („Sind die Damen jetzt meine<br />

Schwiegertöchter?“). Er schreibt über<br />

den Tag der Geburt – <strong>und</strong> über den Moment<br />

der Zeugung. Das ist auch peinlich.<br />

Werde ich irgendwann in einem Zimmer<br />

liegen <strong>und</strong> versuchen, einen Plastikbecher<br />

zu treffen, während auf meinem Mobiltelefon<br />

brasilianische Pornos laufen?<br />

Entsteht so Leben? Ist das nicht alles total<br />

irre, was wir da tun?<br />

Die ersten Treffen mit den „Müttern“<br />

verliefen ruhig. Wir konnten ungezwungen<br />

über unsere Kindheit (behütet <strong>und</strong><br />

recht frei) <strong>und</strong> unser Elternbild (demokratisch,<br />

aber nicht antiautoritär) reden.<br />

Wir arbeiteten alle drei mehr oder weniger<br />

„in den Medien“ <strong>und</strong> trugen auch<br />

noch ähnliche Kastenbrillen. Ich hatte in<br />

dieser Zeit gerade Bedarf an neuer Musik<br />

<strong>und</strong> bekam ein paar Alben von einer der<br />

Mütter überspielt: Softer Rock mit Herz<br />

<strong>und</strong> guten Texten von Lykke Li, Mumford<br />

& Sons, Feist <strong>und</strong> natürlich die Lesben-Ikone<br />

Tanita Tikaram. Mir gefiel der<br />

neue So<strong>und</strong>track in meinem Leben. Ich<br />

kann sagen: Wir hatten gute Abende, bei<br />

Tee <strong>und</strong> Rotwein. Inspiration <strong>für</strong> die ersten<br />

ernsten Elterngespräche holten wir<br />

uns auch im Regenbogen-Familienzentrum<br />

in Berlin-Schöneberg.<br />

Das Regenbogen-Familienzentrum<br />

ist der einzige offizielle Ort seiner Art<br />

in Deutschland. Es gibt Krabbelgruppen<br />

<strong>und</strong> Kleinkinder-Treffs <strong>und</strong> seit neuestem:<br />

eine Schwangerengruppe. Weil es<br />

Berlin, Sommer 2014. In der<br />

Hauptstadt gibt es das einzige<br />

Zentrum <strong>für</strong> Regenbogenfamilien.<br />

Die Leiterin sagt: „Alle<br />

Kinder, die hier entstehen, sind<br />

Wunschkinder“<br />

so langsam eben doch genug schwangere<br />

Lesben gibt in Berlin. Am ersten Montag<br />

im Monat treffen sich „Homosexuelle mit<br />

Kinderwunsch“. Mal kommen 15 Leute<br />

in den Raum in Schöneberg, mal fast 40.<br />

Sie sitzen im Kreis <strong>und</strong> die fast zenbuddhistisch-entspannte<br />

Gruppenleiterin<br />

Constanze Körner fordert sie auf, ihre<br />

Geschichte zu erzählen. Sie selbst zieht<br />

mit ihrer Frau <strong>und</strong> einem homosexuellen<br />

Mann fünf Kinder groß: drei leibliche<br />

aus einer früheren Ehe <strong>und</strong> zwei von ihrer<br />

Frau <strong>und</strong> einem schwulen Mann. Sie<br />

erzählt so ungezwungen <strong>und</strong> so authentisch<br />

von ihrem gar nicht so ungewöhnlichen<br />

Familienleben, dass es kein W<strong>und</strong>er<br />

ist, dass ihr Zentrum 2013 mit dem<br />

Preis „Ort der Ideen“ der B<strong>und</strong>esregierung<br />

ausgezeichnet wurde.<br />

In die Kinderwunschgruppe gingen<br />

meine beiden Mütter <strong>und</strong> ich nicht nur,<br />

um die rechtlichen Fragen zu besprechen<br />

<strong>und</strong> die gemeinsamen Ängste. Wir taten<br />

das auch, um zu sehen, welche Vorstellungen<br />

andere Paare hatten.<br />

EINE JUNGE FRAU legt die Hand auf<br />

das Knie ihrer schweigsamen Frau <strong>und</strong><br />

sagt: „Meine Fre<strong>und</strong>in <strong>und</strong> ich, wir haben<br />

schon alles geplant. Wir haben den<br />

Vater schon, der geht dann mal mit dem<br />

Kleinen einmal im Monat in den Zoo<br />

oder so. Beim nächsten Eisprung legen<br />

wir los. Wenn der Kleine fragt, wer der<br />

Papa ist, sagen wir: Der Andy, aus dem<br />

Zoo, weißt du noch?“<br />

Eine andere sagt: „Ich bin hetero<br />

<strong>und</strong> ich bin nur mitgekommen, weil ich<br />

einfach so langsam gern Kinder bekommen<br />

möchte <strong>und</strong> mir das auch mit einem<br />

schwulen Mann vorstellen kann. Ich war<br />

bei spermaspender.de <strong>und</strong> familyship.de,<br />

aber bisher ohne Glück.“<br />

Und so geht es die ganzen 90 Minuten<br />

um dieses „Glück“. Constanze Körner<br />

beantwortet Fragen geduldig, auch die<br />

ungewöhnlichsten. Sie sagt, sie habe alles<br />

schon einmal gehört. In fast jeder Sitzung<br />

sagt Constanze Körner zwei Sätze, die<br />

Mut machen. Der eine ist: „Alle Kinder,<br />

die hier entstehen, sind Wunschkinder.“<br />

Und der andere klingt noch etwas größer:<br />

„Wir sind die erste Generation Regenbogenfamilien,<br />

wir stehen noch ganz am<br />

Anfang.“ Uns dreien hat sie geraten, es<br />

doch mit einem gemeinsamen Wochenende<br />

auf dem Land zu probieren.<br />

52<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


SETZEN DEM<br />

ANDERSDENKEN<br />

EIN DENKMAL.<br />

HÄUSER.<br />

DAS MAGAZIN FÜR ARCH ITEKTUR & DESIGN.


BERLINER REPUBLIK<br />

Reportage<br />

Ein paar Wochen später also, noch<br />

im Winter, sitze ich bei den beiden Müttern<br />

<strong>und</strong> wir suchen auf dem iPad nach<br />

guten Orten in Brandenburg <strong>für</strong> das gemeinsame<br />

Wochenende. Als mir kalt<br />

wird <strong>und</strong> ich um eine Wolldecke bitte,<br />

sagt eine der beiden: „Nimm doch ein<br />

Stück von meiner, wir werden ja vielleicht<br />

bald noch viel mehr miteinander<br />

teilen.“ Sie hat das nicht ganz so anzüglich<br />

formuliert, aber es stimmte natürlich<br />

– wir steuerten auf eine Familie zu.<br />

Müssten wir dazu nicht eigentlich öfter<br />

telefonieren? „Hey, mein Tag war heute<br />

verrückt, wie sieht’s bei euch aus?“ Stattdessen<br />

verabredeten wir uns auch nach<br />

Wochen noch zu Abenden fest.<br />

Nach einem Theaterabend bringe ich<br />

die beiden noch zur U-Bahn, ich merke,<br />

dass etwas in der Luft liegt. Eine der beiden<br />

Mütter sagt kurz vorm Einsteigen in<br />

die U-Bahn: „Denkst du eigentlich auch<br />

manchmal, dass das total irre ist, was wir<br />

hier machen? Kompletter Wahnsinn? Ein<br />

Kind zu dritt?“<br />

Gesagt habe ich wohl so etwas wie<br />

„Ja klar, wir drei Verrückten … Aber entstehen<br />

nicht Kinder bei Heteros manchmal<br />

unter noch seltsameren Umständen?“<br />

Ich wollte diese Zweifel nicht, aber im<br />

Gr<strong>und</strong>e hatte ich die gleichen. Es ist eben<br />

doch ein Riesenschritt, nur vergleichbar<br />

mit einer Hochzeit: Ich als schwuler<br />

Mann zeuge ein Kind mit zwei lesbischen<br />

Fre<strong>und</strong>innen, vielleicht sogar zwei Kinder,<br />

<strong>und</strong> zusammen sind wir eine richtige<br />

Regenbogenfamilie.<br />

Die Details <strong>für</strong> unser buntes Familienleben<br />

wollen wir an dem Wochenende<br />

auf einem Bauernhof in Brandenburg<br />

vereinbaren. Wer sieht das Kind wie<br />

oft? Welche Schulbildung? Impfung? Das<br />

wollen wir aufschreiben. Eine Art Eltern-<br />

Manifest, das vor Gericht zwar keine Bedeutung<br />

hat, aber uns doch Sicherheit geben<br />

soll. Als die Türen schließen <strong>und</strong> die<br />

U-Bahn wegfährt, überlege ich, warum<br />

es so schwierig ist, einen gemeinsamen<br />

Termin zu finden. Ein schlechtes Zeichen?<br />

Wie soll das erst werden, wenn es<br />

um viel mehr geht?<br />

Regenbogenfamilie, der Begriff steht<br />

seit 2009 im Duden. In den Niederlanden<br />

sind sie schon ein wenig im Alltag etabliert.<br />

Den ersten schwulen Vater lernte<br />

ich in Amsterdam im Jahr 2000 kennen.<br />

Gerade erst vor wenigen Wochen hat mir<br />

Mit den ersten beiden Müttern<br />

traf sich Sören Kittel eine ganze<br />

Weile. Es wurde nichts. „Denkst<br />

du eigentlich auch manchmal,<br />

dass das total irre ist, was wir<br />

hier machen? Kompletter<br />

Wahnsinn? Ein Kind zu dritt?“<br />

ein niederländischer Fre<strong>und</strong> bei einem<br />

Berlinbesuch die Ultraschallfotos seines<br />

Sohnes gezeigt. „Mann, sieht der noch<br />

hässlich aus“, sagt er in typisch niederländischem<br />

Understatement. Da lachte er,<br />

der 29 Jahre alte Fastvater. Er wird das<br />

Kind zur Adoption freigeben, damit die<br />

zweite Mutter es adoptieren kann. So haben<br />

wir das auch geplant.<br />

Dann kommt er doch, dieser eine<br />

Abend, der beginnt wie der erste. Ich<br />

sitze am Tisch mit den beiden Müttern,<br />

ausgerechnet kurz vor Ostern, wenn<br />

sich alles nach Aufbruch anfühlt. Küken,<br />

bunte Eier, Wiedergeburt. Es lief<br />

softer Pop-Rock <strong>und</strong> ich hatte ein Häschen<br />

aus Schokolade mitgebracht. Bio-<br />

Schokolade, man will ja alles richtig<br />

machen. Und dann frage ich nach dem<br />

Wochenende in Brandenburg, wir hatten<br />

ja endlich ein Datum. Eine der beiden<br />

unterbrach mich: „Ja, darüber wollten<br />

wir noch einmal mit dir reden …“ „Wir<br />

sind noch nicht so weit“, das ist einer<br />

der Sätze, die folgen, „es liegt nicht an<br />

dir“ <strong>und</strong>: „Vielleicht passt es auch einfach<br />

nicht so.“ Wir beschlossen schließlich,<br />

weiter „Fre<strong>und</strong>e zu bleiben“. Aber<br />

auf dem Heimweg war mir auch klar: Das<br />

war ein „Schlussmachen“.<br />

ANFANG JUNI war ich noch einmal beim<br />

Regenbogen-Familientreff, es war der<br />

letzte <strong>für</strong> diesen Sommer. Constanze<br />

Körner macht Ferien mit ihrer Großfamilie.<br />

Dieses Mal saßen 22 Frauen da,<br />

nur sechs Männer. Ich musste erzählen,<br />

warum ich dieses Mal allein gekommen<br />

war, nicht mehr zu dritt. Das war unangenehm,<br />

aber ging vorbei. Gegenüber im<br />

Stuhlkreis saßen zwei Frauen, die mich<br />

abwechselnd angrinsten, oder hatte ich<br />

mir das eingebildet? Ich hatte in der Vorstellungsr<strong>und</strong>e<br />

nur erfahren, dass sie 40<br />

<strong>und</strong> 34 Jahre alt waren. Sie waren zum<br />

ersten Mal da. Bei der Verabschiedung<br />

sagte eine der beiden: „Einen schönen<br />

Sommer.“ Zwei Tage später hatte ich eine<br />

E-Mail im Postkasten, weitergeleitet von<br />

Constanze Körner: „Ich glaube, die beiden<br />

meinen Dich“, schrieb sie. In der Betreffzeile<br />

stand „Vater gesucht“. Ein bisschen<br />

irre ist das alles schon, dachte ich,<br />

<strong>und</strong> hab sofort geantwortet.<br />

Meine Tochter oder mein Sohn will<br />

dann sicher wissen, wie es weitergeht.<br />

Es beginnt im Gr<strong>und</strong>e wie das erste Mal,<br />

nur dass es funkt. Es ist eine Mischung<br />

aus großem Vertrauen, viel Vorbereitung,<br />

auch einem gewissen Pragmatismus <strong>und</strong><br />

dem Wunsch danach, es einfach zu probieren.<br />

„Bis September zumindest bist<br />

du noch nicht entstanden“, würde ich<br />

sagen, das kann ich dem Kind dann erklären.<br />

In meinem Leben ist im Herbst<br />

2014 zumindest vieles stabiler geworden:<br />

neue Arbeit, neue Wohnung, sogar eine<br />

neue Liebe. „Wir haben viel über dich gesprochen,<br />

auch wenn es dich noch nicht<br />

gab“, werde ich sagen. Und: „Der Sommer<br />

2014 war fantastisch.“<br />

SÖREN KITTEL lebt als freier Journalist derzeit<br />

zwischen Berlin <strong>und</strong> Seoul <strong>und</strong> schreibt<br />

<strong>für</strong> Zeitungen <strong>und</strong> Magazine<br />

54<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


WELTBÜHNE<br />

„ Wenn einer von uns in<br />

der Hitze umkippt, wird<br />

er sofort entlassen “<br />

Ein Gastarbeiter in <strong>Katar</strong>, der anonym bleiben will, aus<br />

Angst, seinen Job zu verlieren, Seite 70<br />

55<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


WELTBÜHNE<br />

Porträt<br />

KLAR, KLUG, KÜHL<br />

Donald Tusk wird neuer EU-Ratspräsident. Wer ist der bisherige polnische<br />

Regierungschef, der sein Land wie kaum ein anderer fit gemacht hat <strong>für</strong> die Union?<br />

Von SABINE ADLER<br />

Ist Donald Tusk der zweite polnische<br />

Papst? Janusz Palikot, Weggefährte,<br />

später politischer Opponent, sagt: Ja.<br />

Bronislaw Komorowski, Polens Präsident,<br />

sieht in Tusks Ernennung zum EU-Ratspräsidenten<br />

die Anerkennung <strong>für</strong> Polens<br />

Rolle in Europa. Selbst der ewige Widersacher<br />

Jaroslaw Kaczynski wünschte<br />

dem Erwählten Glück in Brüssel. Freilich<br />

halbherzig; dem Wunsch folgte das<br />

vernichtende Urteil, Tusk sei ein schlechter<br />

Premier gewesen. Da hatte der noch<br />

nicht einmal seinen Rücktritt erklärt.<br />

Tusk, 57 Jahre alt, hat soeben nur<br />

knapp einen peinlichen Abhörskandal<br />

überstanden, in dem sein Außenminister<br />

eine polnische „Negerhaftigkeit“ den<br />

Amerikanern gegenüber beklagte. Tusk<br />

meisterte die Affäre <strong>und</strong> bewies einmal<br />

mehr sein politisches Geschick. 2011<br />

schaffte er seine Wiederwahl, als erster<br />

Premier im nachkommunistischen Polen.<br />

Tusk löst als Ratspräsident Herman<br />

Van Rompuy ab, der bisher das Gremium<br />

der Staats- <strong>und</strong> Regierungschefs leitete.<br />

Wer den schüchtern wirkenden Polen <strong>für</strong><br />

eine ähnlich graue Maus wie van Rompuy<br />

hält, ignoriert Polens Aufstieg. Das<br />

Land kam unversehrt durch die Finanzkrise,<br />

weist seit Jahren ein deutlich höheres<br />

Wirtschaftswachstum auf als der<br />

EU-Durchschnitt. Polnischem Verhandlungsgeschick<br />

verdankt das Land, es zum<br />

größten Nettoempfänger gebracht zu haben.<br />

Bis 2020 sollen über 100 Milliarden<br />

Euro fließen, weil Polen EU-Gelder bisher<br />

besonders effizient einsetzte.<br />

Tusk wurde lange <strong>für</strong> ein hohes EU-<br />

Amt gehandelt. Den Ausschlag <strong>für</strong> seine<br />

Ernennung dürfte der Kurs gegenüber<br />

der Ukraine gegeben haben. Seit der<br />

Orangenen Revolution, nicht erst mit<br />

dem Euro-Maidan, agiert Polen als Fürsprecher<br />

Kiews. Beide eint das Schicksal,<br />

dem gemeinsamen Nachbarn <strong>Russland</strong><br />

die Stirn bieten zu müssen. Dabei verbindet<br />

Polen <strong>und</strong> die Ukraine selbst eine<br />

blutige Geschichte: die Massaker von<br />

Wolhynien, wo Ukrainer während des<br />

Zweiten Weltkriegs über h<strong>und</strong>erttausend<br />

Polen abschlachteten, um eine „ethnisch<br />

reine“ Region zu schaffen, die nach dem<br />

Krieg der Ukraine zugeschlagen werden<br />

würde. Die Polen haben das nicht vergessen,<br />

doch sie sehen, dass sich in der Ukraine<br />

ein Unrechtsbewusstsein regt. Vor<br />

allem aber, dass jetzt nicht die Zeit <strong>für</strong><br />

Historikerkommissionen ist.<br />

Anders als das Polen der Kaczynski‐Brüder<br />

ist das Land unter Tusk wieder<br />

offen <strong>für</strong> seine Nachbarn. Mit Geschichtsbewusstsein<br />

<strong>und</strong> der Fähigkeit,<br />

denjenigen beim Namen zu nennen, der<br />

andere ihrer Freiheit beraubt.<br />

DER JUNGENHAFTE Tusk, der immer<br />

noch begeistert <strong>Fußball</strong> spielt, wurde –<br />

wie die meisten der polnischen Spitzenpolitiker<br />

– in Danzig geboren. Von klein<br />

auf lernte er, Widerstand zu leisten. So<br />

begann Tusks politische Tätigkeit in der<br />

Opposition, die es nicht geben durfte, die<br />

im Untergr<strong>und</strong> agierte, nach selbst verfassten<br />

Regeln, präziser Organisation. Ihr<br />

Gegner: das kommunistische Regime Polens,<br />

Bruderstaat der Sowjetunion, die<br />

keine drei Wochen nach dem Überfall<br />

der deutschen Wehrmacht auf Polen im<br />

Osten einmarschiert war.<br />

Ausgerechnet der Absturz der polnischen<br />

Regierungsmaschine über dem<br />

russischen Smolensk 2010 weckte Hoffnungen<br />

auf eine polnisch-russische Annäherung.<br />

Putin, damals Ministerpräsident,<br />

umarmte den polnischen Amtskollegen<br />

Tusk an der Unglücksstelle. Der Moment<br />

schien einen Neuanfang zu markieren.<br />

Die Geste brachte Jaroslaw Kaczynski<br />

zur Raserei. Er vermutet bis heute einen<br />

Anschlag auf das Flugzeug, hinter<br />

dem womöglich <strong>Russland</strong> oder gar die<br />

Tusk-Regierung stecken. Donald Tusk<br />

rang ob der Unterstellung um Fassung.<br />

Stockend, mit vielen Versprechern, noch<br />

deutlicher lispelnd als sonst, entgegnete<br />

er: „Es ist schwer, mit einer solchen Person,<br />

die derartige Anschuldigungen<br />

vorbringt, in ein <strong>und</strong> demselben Land<br />

zu leben.“ Tusk zeigte Nachsicht mit<br />

Kaczynski, der in tiefer Trauer um seinen<br />

Zwillingsbruder nur noch um sich schlug.<br />

Ist Tusk zu nett, um auszuteilen? Zumindest<br />

polarisiert <strong>und</strong> polemisiert er<br />

nicht. Er positioniert sich dennoch klar.<br />

Was ihn von Angela Merkel unterscheidet.<br />

Sie fördert ihn seit Jahren. Auch weil<br />

der Pole ausspricht, was sie denkt. Weil<br />

er kann, was ihr in Deutschland Krach<br />

einbringen würde. Zum Beispiel eine gemeinsame<br />

Energiepolitik gegen <strong>Russland</strong><br />

vorschlagen.<br />

Tusk, den Unternehmer <strong>für</strong> einen<br />

studierten Ökonomen halten, der aber<br />

Historiker ist, steht <strong>für</strong> einen liberalen<br />

<strong>und</strong> pragmatischen Wirtschaftskurs.<br />

Seine Idee: eine europäische Energieunion,<br />

in der die EU-Mitgliedstaaten zusammen<br />

als Käufer von russischem Gas<br />

<strong>und</strong> Öl auftreten. <strong>Russland</strong> könnte dann<br />

das politische Agieren einzelner Länder<br />

nicht mehr über unterschiedliche Gaspreise<br />

abstrafen, könnte sie nicht mehr<br />

gegeneinander ausspielen.<br />

Donald Tusk hat Brücken im gespaltenen<br />

Polen gebaut, die Fehde der tief<br />

verfeindeten Lager wenn nicht beendet,<br />

so doch entschärft. In den Augen seiner<br />

Landsleute ist das vielleicht sein größter<br />

Verdienst – weshalb sie nun bangen, wie<br />

es ohne ihn wird.<br />

SABINE ADLER ist Osteuropakorrespondentin<br />

des Deutschlandradios. Sie verfolgt seit<br />

Jahren, wie die Polen zu ihrer Rolle in Europa<br />

finden<br />

Foto: Marcin Kalinski/Laif<br />

56<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


WELTBÜHNE<br />

Porträt<br />

DER ONKEL MIT DER KNARRE<br />

Abdullah Öcalan sitzt als verurteilter Terrorist im Gefängnis. Doch seit seine Kämpfer<br />

Jesiden vor dem „Islamischen Staat“ retteten, erscheint der PKK-Führer im neuen Licht<br />

Von FRANK NORDHAUSEN<br />

Foto: Ullstein Bild/Vario Images<br />

Er regiert aus dem Gefängnis – <strong>und</strong><br />

das schon seit 15 Jahren. Viele Türken<br />

halten den Mann mit dem buschigen<br />

Schnurrbart, den sie „Apo“ – zu<br />

deutsch: Onkel – nennen, <strong>für</strong> das personifizierte<br />

Böse. Der Westen hat seine Partei<br />

als Terrororganisation eingestuft. Anders<br />

die jesidischen Flüchtlinge in der südosttürkischen<br />

Kleinstadt Silopi, <strong>für</strong> sie ist<br />

Abdullah Öcalan, 66, der Retter.<br />

Der Gründer <strong>und</strong> Chef der Kurdischen<br />

Arbeiterpartei PKK hat viele Facetten.<br />

Unbestritten ist, dass seit 1984<br />

mehr als 40 000 Menschen dem blutigen<br />

Bürgerkrieg der PKK in der Türkei<br />

zum Opfer gefallen sind – <strong>für</strong> Öcalans<br />

Traum von einem unabhängigen Kurdistan.<br />

Doch wie die nordirische Terrorgruppe<br />

IRA einst zum Verhandlungspartner<br />

der britischen Regierung wurde, so<br />

steht auch die PKK seit zweieinhalb Jahren<br />

im Dialog über einen Friedensschluss<br />

mit Ankara. Seit anderthalb Jahren hält<br />

ein Waffenstillstand. Zentrale Figur der<br />

Gespräche ist Öcalan, der aus der Haft<br />

heraus verhandelt.<br />

Fahnen mit seinem Porträt wehen im<br />

kurdischen Norden Syriens, seit dort die<br />

PKK-Schwesterorganisation PYD 2012<br />

die Macht übernahm. Seit August sind<br />

PKK-Banner sogar im Nordirak zu sehen,<br />

wo Öcalans konservativ-islamischer<br />

Erzrivale Massud Barsani das kurdische<br />

Autonomiegebiet regiert. Die Popularität<br />

des PKK-Chefs unter den r<strong>und</strong> 30 Millionen<br />

Kurden im Nahen Osten ist enorm<br />

gestiegen, seit Barsanis Peschmerga-Soldaten<br />

im August den Milizen des „Islamischen<br />

Staates“ nicht die Stirn boten.<br />

Statt ihrer hat die PKK einen Korridor<br />

ins Sindschar-Gebirge freigekämpft <strong>und</strong><br />

Zehntausende Jesiden gerettet.<br />

Nun werden die r<strong>und</strong> 15 000 PKK-<br />

Kämpfer als Helden gefeiert, <strong>und</strong> Öcalan<br />

ist zu einer Schlüsselfigur im Nahen<br />

Osten avanciert. Einheiten seiner säkularen<br />

Guerilla kämpfen Seite an Seite<br />

mit den Peschmerga gegen die Islamisten.<br />

Womöglich stufen die Regierungen<br />

in Europa <strong>und</strong> den USA Abdullah<br />

Öcalans Organisation bald nicht mehr als<br />

Terroristen ein.<br />

URSPRÜNGLICH BEWUNDERTE der in der<br />

südostanatolischen Provinz Sanliurfa geborene<br />

Sohn armer Leute den türkischen<br />

Republikgründer Atatürk. Er wollte sogar<br />

Offizier werden. Als das Militär ihn<br />

abwies, studierte er Politikwissenschaft<br />

in Ankara. Dort entwickelte er sich zu<br />

einem radikalen, von Marx <strong>und</strong> Mao beeinflussten<br />

Linken. 1978 gründete er die<br />

separatistische Kurdische Arbeiterpartei;<br />

ein Jahr später flüchtete er angesichts einer<br />

Verhaftungswelle nach Syrien.<br />

Öcalan leitete die PKK aus dem Exil<br />

in Damaskus <strong>und</strong> blieb ihr unbestrittener<br />

Anführer. Er führte die Guerilla hierarchisch<br />

wie eine Sekte, alle maßgeblichen<br />

Entscheidungen traf er selbst. Geliebt<br />

<strong>und</strong> ge<strong>für</strong>chtet, bestimmte er das Leben<br />

seiner Anhänger <strong>und</strong> schreckte auch vor<br />

Mord an Rivalen <strong>und</strong> Dissidenten nicht<br />

zurück. Auf seinen Befehl attackierten<br />

die Kämpfer türkische Armeeposten,<br />

nahmen Geiseln, verübten Selbstmordanschläge<br />

<strong>und</strong> töteten Tausende Menschen,<br />

darunter auch Zivilisten.<br />

PKK-Kritiker <strong>und</strong> -Aussteiger würden<br />

bis heute bedroht, sagt der in Berlin<br />

lebende syrische Kurde Siamend Hajo,<br />

der die PKK-kritische Webseite „Kurdwatch“<br />

betreibt. „Widerspruch wird<br />

nicht geduldet <strong>und</strong> Abweichung drakonisch<br />

bestraft.“<br />

Seinen sozialistischen Idealen folgend<br />

propagierte Öcalan die Befreiung der Frau<br />

<strong>und</strong> stellte auch Frauenbataillone auf, die<br />

seinem persönlichen Befehl unterstanden.<br />

Die Guerilla bot jungen Kurdinnen<br />

in den neunziger Jahren die Chance, aus<br />

den streng patriarchalischen Strukturen<br />

auszubrechen. Der Preis da<strong>für</strong> war<br />

ein Keuschheitsgelübde, das „Apo“ brutal<br />

durchsetzte. Es gibt Berichte, dass er<br />

weibliche Milizionäre, die sich mit Männern<br />

einließen, erschießen ließ. Gleichwohl<br />

wirkte die Aufwertung der Frauen<br />

tief hinein in die erzkonservative kurdische<br />

Gesellschaft. Eine Modernisierungsleistung,<br />

die wesentlich Öcalans Werk ist.<br />

Nachdem ein türkisches Spezialkommando<br />

Öcalan 1999 in Kenia entführt<br />

<strong>und</strong> in die Türkei gebracht hatte,<br />

wurde der PKK-Chef wegen Gründung<br />

einer terroristischen Vereinigung, Hochverrats<br />

<strong>und</strong> Mordes zum Tod verurteilt<br />

<strong>und</strong> nach Abschaffung der Todesstrafe<br />

in der Türkei 2002 zu lebenslanger Haft<br />

begnadigt. Im Gefängnis wandelte er sich<br />

vom orthodoxen Leninisten zum Anhänger<br />

des US-amerikanischen Anarchisten<br />

Murray Bookchin.<br />

Durch die Haft auf der Insel Imrali<br />

im Marmarameer ist Öcalan zu einer<br />

lebenden Legende geworden – auch<br />

<strong>für</strong> eine neue Generation junger Kurden.<br />

Seine Macht über die Bewegung demonstrierte<br />

er eindrucksvoll, als im November<br />

2012 r<strong>und</strong> 1700 kurdische Häftlinge<br />

ein Todesfasten auf sein Wort hin abbrachen<br />

<strong>und</strong> er ein halbes Jahr später in der<br />

inoffiziellen Kurdenhauptstadt Diyarbakir<br />

seinen Aufruf zur Waffenruhe verkünden<br />

ließ.<br />

Dass sein Rückhalt <strong>und</strong> Ansehen in<br />

den Kurdengebieten heute größer sind als<br />

vor 15 Jahren, hat vor allem mit seinem<br />

neuen Realismus zu tun – dem Abschied<br />

vom Traum „Großkurdistans“.<br />

FRANK NORDHAUSEN hat die<br />

Kurdengebiete der Türkei, Syriens <strong>und</strong> des<br />

Iraks oft besucht <strong>und</strong> viele Gespräche mit<br />

aktiven <strong>und</strong> früheren PKK-Mitgliedern geführt<br />

59<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


REISELEITER IN<br />

DER TODESZONE<br />

Text <strong>und</strong> Fotos CARSTEN STORMER<br />

Der „Islamische Staat“ mordet <strong>und</strong> brandschatzt.<br />

Tausende Menschen im Irak <strong>und</strong> in Syrien sind<br />

bereits Opfer der Dschihadisten geworden. Auch der<br />

Syrer Hamid, der sich als Medienaktivist versteht,<br />

geriet in die Fänge der Fanatiker – <strong>und</strong> entkam<br />

Freiwillige Helfer <strong>und</strong> Zivilisten<br />

bringen sich nach einem<br />

Fassbombenabwurf auf ein<br />

Wohngebiet in Aleppo in<br />

Sicherheit<br />

60<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


WELTBÜHNE<br />

Reportage<br />

61<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


WELTBÜHNE<br />

Reportage<br />

Die Hoffnung, dass der ganze Scheiß irgendwann<br />

einmal ein Ende findet, hat Hamid fast aufgegeben.<br />

Er steht in einer Seitenstraße von Aleppos<br />

Kurdenviertel Sheikh Maqsood, legt den Kopf in<br />

den Nacken, blinzelt in die Sonne <strong>und</strong> lauscht dem<br />

Grollen, das allmählich lauter wird. Wie ein Gewitter,<br />

das in der Ferne aufzieht. Kurz darauf entdeckt er das<br />

Kampfflugzeug am Himmel. Seit den frühen Morgenst<strong>und</strong>en<br />

bombardiert die syrische Luftwaffe Aleppo.<br />

Hamid sucht Deckung, kniet sich hinter ein rostiges<br />

Auto <strong>und</strong> zeigt auf einen silbernen Punkt am Himmel,<br />

der sich nähert, anschließend wieder entfernt, eine<br />

scharfe Linkskurve fliegt, wendet <strong>und</strong> im Sturzflug die<br />

Stadt ansteuert wie ein Raubvogel seine Beute. Dann<br />

klinkt die Maschine ihre Raketen aus <strong>und</strong> der Pilot<br />

zieht das Flugzeug wieder nach oben. Die Prozedur<br />

wiederholt sich zwei Mal, begleitet vom Knattern der<br />

Flugabwehrgeschütze der Rebellen.<br />

Während Hamid den Angriff von Assads Truppen<br />

auf der Straße verfolgt, tritt seine Frau Amira auf den<br />

Balkon ihrer gemeinsamen Wohnung im fünften Stock<br />

<strong>und</strong> blickt besorgt nach unten. „Hamid, wo gehen die<br />

Bomben runter? Greifen sie unser Viertel an?“, fragt<br />

sie <strong>und</strong> streicht über ihren Bauch. Amira ist im achten<br />

Monat schwanger, <strong>und</strong> ein Lächeln zieht über Hamids<br />

Gesicht, als er seine Frau erblickt. „Nicht weit von hier,<br />

Habibti, mach dir keine Sorgen. Aber geh zurück ins<br />

Haus. Ich bin zum Abendessen zurück.“ Dann steigt<br />

er in den Toyota, legt seine Videokamera auf die Rückbank<br />

<strong>und</strong> fährt los.<br />

Hamid, 27 Jahre alt, ist ein kleiner, dünner Mann<br />

mit Vollbart <strong>und</strong> müden Augen. Von <strong>und</strong> an ihm lassen<br />

sich viele Charakteristika des Krieges in Syrien zeigen,<br />

der nun schon drei Jahre dauert. Es ist sicherer, seinen<br />

Nachnamen nicht zu nennen <strong>und</strong> auch<br />

keine Fotos von ihm zu drucken. Hamid ist<br />

frei, aber der US-Journalist Steven Sotloff,<br />

mit dem er vor einem Jahr entführt worden<br />

war, ist tot. Anfang September wurde<br />

bekannt, dass der 31 Jahre alte Reporter,<br />

der unter anderem <strong>für</strong> das Magazin Time<br />

schrieb, ermordet wurde. Angehörige der<br />

Terrorgruppe „Islamischer Staat“ verbreiteten<br />

ein Video, auf dem Sotloffs Enthauptung<br />

zu sehen ist.<br />

Vor dem Krieg hat Hamid Betriebswirtschaft<br />

studiert. Wie viele seiner Landsleute<br />

hoffte er, die schon 40 Jahre währende<br />

Diktatur abzuschütteln. Er demonstrierte,<br />

kämpfte später aufseiten der Rebellen in einer<br />

kurdischen Einheit gegen die syrische<br />

Regierungsarmee.<br />

Aus Enttäuschung über die zerstrittene Opposition<br />

<strong>und</strong> aus Liebe zu seiner Frau legte er nach einigen<br />

Monaten die Kalaschnikow beiseite. Heute nennt<br />

er sich Medienaktivist. Auf Facebook <strong>und</strong> Twitter postet<br />

Hamid Bilder <strong>und</strong> Berichte des Krieges; dazwischen<br />

Selfies, Koransuren <strong>und</strong> Karikaturen, die Assad oder<br />

die Anhänger des „Islamischen Staates“ verspotten. Er<br />

hoffe noch immer, so sagt er, dass die Welt durch seine<br />

Arbeit in den sozialen Netzwerken Syrien nicht vergisst.<br />

Manchmal führt er ausländische Journalisten<br />

durch seine Stadt <strong>und</strong> an die Front, verdient sich als<br />

Mädchen <strong>für</strong> alles ein paar Dollar. Ein Verzweifelter,<br />

der versucht, aus seiner Situation das Beste zu machen.<br />

Treibgut des Krieges.<br />

Am Morgen des 4. August 2013 steigt Steven Sotloff<br />

an der syrisch-türkischen Grenze zu Hamid ins<br />

Auto. Er will aus Aleppo berichten, Hamid sollte ihn<br />

als Fahrer <strong>und</strong> Übersetzer unterstützen. Ein gefährlicher<br />

Job. Fast täglich entführen Islamisten ausländische<br />

Journalisten. Aber Hamid brauchte das Geld. Die<br />

Lebensmittelpreise haben sich verfünffacht, bezahlte<br />

Arbeit gibt es nach drei Jahren Bürgerkrieg kaum noch<br />

in Aleppo.<br />

HAMID HAT SORGFÄLTIG GEPLANT. Tagelang beobachtete<br />

er die Zugangsstraßen nach Aleppo, schaute, ob<br />

Banditen oder Islamisten Checkpoints errichtet haben.<br />

Er dachte, er hätte alles im Griff.<br />

Als er den US-Journalisten am vereinbarten Treffpunkt<br />

abholt, warten im Wagen zum Schutz auch drei<br />

Bewaffnete. Aber gegen die Islamisten haben sie keine<br />

Chance. An einer Straßensperre im syrischen Marea,<br />

etwa 40 Kilometer nördlich von Aleppo, endet die<br />

Fahrt. Mehrere Bewaffnete stoppen den klapprigen<br />

Toyota, ziehen die Männer aus dem Wagen, stülpen<br />

ihnen Stoffmasken über den Kopf <strong>und</strong> treiben sie mit<br />

Gewehrkolben in ein wartendes Fahrzeug. „Wir wurden<br />

verraten, die Islamisten wussten, wann <strong>und</strong> wo wir<br />

uns treffen, welchen Weg wir nehmen“, sagt Hamid.<br />

In dieser geheimen Schule<br />

wird inmitten des Krieges<br />

unterrichtet. Diese Schülerin<br />

sah, wie ihr Großvater von<br />

einem Scharfschützen<br />

erschossen wurde<br />

62<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


Nach einem Angriff der<br />

syrischen Luftwaffe liegen<br />

Gebäude <strong>und</strong> Straße in<br />

Trümmern. Oft treffen die<br />

Bomben leer stehende<br />

Häuser, da viele Bewohner<br />

aus der Stadt geflohen sind<br />

Ein freiwilliger Helfer<br />

hat diesen zwölfjährigen<br />

Jungen aus einem eingestürzten<br />

Wohnhaus geborgen<br />

Seine Entführer sperren ihn in die Zelle eines Kellergewölbes.<br />

Er weiß nicht, wo er ist. Mehrmals täglich<br />

verhören ihn maskierte Männer, keine Syrer, sondern<br />

Tunesier <strong>und</strong> Marokkaner. Sie wollen wissen, warum<br />

Hamid mit einem Ungläubigen zusammenarbeitet. Der<br />

„Ungläubige“, das ist Steven Sotloff.<br />

Hamid hat Glück. Nach 15 Tagen lassen ihn die<br />

Entführer gehen. Einfach so. Was aus Steven Sotloff<br />

wird, erfährt er nicht. Der junge Muslim hört Gerüchte,<br />

dass sein Auftraggeber am Leben sei, irgendwo festgehalten<br />

in einem Gefängnis des „Islamischen Staates“,<br />

vielleicht in Aleppo, vielleicht in Rakka. Ein Jahr<br />

später, Anfang September 2014, kommt die Nachricht<br />

von Sotloffs Tod.<br />

Ein Morgen wie jeder andere in Aleppo, August<br />

2014. Hamid weiß noch nichts vom Schicksal Sotloffs.<br />

Er steuert den Toyota durch die Ruinenlandschaft.<br />

Aus der einstigen Wirtschaftsmetropole ist eine Geisterstadt<br />

geworden, in der es seit Wochen weder Strom<br />

noch fließend Wasser gibt. Seit Ende Dezember vergangenen<br />

Jahres vergeht kein Tag, ohne dass die syrische<br />

Luftwaffe Fassbomben über der Stadt abwirft:<br />

mit Sprengstoff <strong>und</strong> Eisenschrot gefüllte Ölfässer, die<br />

aus Hubschraubern geschubst werden. Sie treffen meist<br />

Schulen, Krankenhäuser, Wohnhäuser oder Märkte<br />

<strong>und</strong> haben seit Anfang des Jahres mehr als 2000 Menschen<br />

getötet.<br />

Schon im Februar dieses Jahres forderte der Sicherheitsrat<br />

der Vereinten Nationen in einer Resolution<br />

ein Ende der Luftanschläge auf zivile Gebiete; verurteilte<br />

ausdrücklich die Verwendung von Fassbomben.<br />

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch<br />

hat mit Satellitenaufnahmen belegt, dass allein zwischen<br />

Dezember 2013 <strong>und</strong> Februar 2014 mindestens<br />

340 Plätze in Aleppo von Fassbomben getroffen wurden.<br />

Die in Großbritannien ansässige Organisation Syrian<br />

Observatory for Human Rights zählte bis Anfang<br />

Juni dieses Jahres 1963 Tote durch Fassbomben – davon<br />

283 Frauen <strong>und</strong> 567 Kinder.<br />

Hamid steuert seinen Wagen durch die zerstörte<br />

Stadt, vorbei an der Ruine, die einmal ein Krankenhaus<br />

war. Der Chefarzt musste fliehen, weil er es<br />

wagte, die schwarze Flagge des „Islamischen Staates“<br />

mit dem muslimischen Glaubensbekenntnis vom<br />

Eingang des Hospitals abzuhängen. Seitdem bekam<br />

er Morddrohungen.<br />

Nach drei Jahren Krieg <strong>und</strong> mehr als 190 000 Toten<br />

ist aus dem arabischen Frühling längst ein syrischer<br />

Winter geworden. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten<br />

Nationen spricht von 2,8 Millionen Flüchtlingen<br />

<strong>und</strong> 6,5 Millionen Vertriebenen im eigenen Land – fast<br />

63<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


WELTBÜHNE<br />

Reportage<br />

DER TERROR DES<br />

„ISLAMISCHEN STAATES“<br />

WAS IST DER „ISLAMISCHE STAAT“?<br />

Der IS ist eine salafistisch-dschihadistische Terrororganisation.<br />

Sie ist 2003 aus der vom Jordanier<br />

Abu Mussab al Sarkawi gegründeten irakischen<br />

Al Qaida hervorgegangen. Seither hat sie ihren Namen<br />

mehrfach geändert: „Islamischer Staat im Irak<br />

<strong>und</strong> der Levante“ (Isil), „Islamischer Staat im Irak<br />

<strong>und</strong> in Syrien“ (Isis) oder „Islamischer Staat Irak <strong>und</strong><br />

Großsyrien“ (Isig), seit Ende Juni nur noch „Islamischer<br />

Staat“ (IS). Durch die Erfolge der 10 000 bis<br />

20 000 Mann starken Miliz im Irak <strong>und</strong> in Syrien ist es<br />

zwischen dem IS <strong>und</strong> der ursprünglichen Al Qaida, die<br />

von Aiman al Sawahiri von Pakistan aus gesteuert<br />

wird, zu einem offenen Machtkampf gekommen. Anfang<br />

des Jahres kappte Al Qaida offiziell die Verbindungen<br />

zum IS <strong>und</strong> erklärte Anfang September die<br />

Gründung eines Kalifats in Myanmar, Bangladesch<br />

<strong>und</strong> Teilen von Indien zum Ziel. Markenzeichen des<br />

IS ist ein tiefer Hass auf Schiiten <strong>und</strong> seine selbst <strong>für</strong><br />

Dschihadisten außergewöhnliche Brutalität. In den<br />

bereits eroberten Gebieten gehören öffentliche Steinigungen<br />

<strong>und</strong> Enthauptungen sowie der Verkauf von<br />

Frauen auf „Sklavenmärkten“ zum Alltag.<br />

WAS IST DAS ZIEL?<br />

Ziel der Terroristen ist die Schaffung eines islamischen<br />

Gottesstaats, der über den Irak bis nach Syrien<br />

reichen soll. Dazu gehören auch der Libanon, Jordanien,<br />

Israel <strong>und</strong> die palästinensischen Autonomiegebiete.<br />

Auf diesem Gebiet sollen nur noch die Gebote<br />

<strong>und</strong> Bestimmungen der islamischen Gesellschaft zu<br />

Lebzeiten des Propheten Mohammed gelten.<br />

WER IST DER ANFÜHRER?<br />

Über Abu Bakr al Baghdadi ist nur wenig bekannt.<br />

Wahrscheinlich wurde er 1971 in der irakischen<br />

Stadt Samarra geboren. Sein bürgerlicher Name lautet<br />

Ibrahim Awwad Ibrahim Ali al Badri. Er nennt sich<br />

auch: Abu Bakr al Husayni al Baghdadi; Abu Bakr al<br />

Baghdadi al Husayni al Quraishi; Dr. Ibrahim Awwad<br />

Ibrahim al Samarrai; Ibrahim Awad Ibrahim al Badri<br />

al Samarrai oder Abu Dua. Er soll verheiratet sein <strong>und</strong><br />

an der Islamischen Universität von Bagdad Religionswissenschaften<br />

studiert haben. Nach der Eroberung<br />

des Irak durch die Amerikaner gründete er die islamistische<br />

Widerstandsgruppe Jaysh Ahli Sunna <strong>und</strong><br />

wurde einer der wichtigsten Vertreter von Al Qaida<br />

in der Region. Er wurde von den Amerikanern verhaftet<br />

<strong>und</strong> in das Gefangenenlager Bucca gesperrt –<br />

wann er wieder freikam, ist unklar. Seither versucht<br />

er, mit äußerster Brutalität ein sunnitisches Kalifat zu<br />

errichten.<br />

WOHER STAMMT DAS GELD?<br />

In den vom IS kontrollierten Gebieten in Syrien<br />

<strong>und</strong> im Irak haben die Dschihadisten ein eigenes<br />

Wirtschaftssystem etabliert. Es ist ein erpresserisches<br />

System entstanden aus Landwirtschaftsabgaben,<br />

Verkehrsgebühren, Schutzgeldzahlungen von Christen<br />

<strong>und</strong> anderen religiösen Minderheiten sowie Lösegeldzahlungen.<br />

Vor allem aber ist es den Milizen gelungen,<br />

Ölfelder zu erobern <strong>und</strong> Banken zu plündern. Hingegen<br />

sind Spenden von wohlhabenden Einzelpersonen<br />

aus <strong>Katar</strong>, Kuwait, Saudi-Arabien <strong>und</strong> den Vereinigten<br />

Arabischen Emiraten nach Einschätzung von Experten<br />

zurückgegangen.<br />

Ein Junge schreit seine<br />

Wut <strong>und</strong> Angst heraus,<br />

nachdem Kampfflugzeuge<br />

einen Marktplatz im<br />

Shaar-Viertel Aleppos mit<br />

Raketen beschossen haben<br />

die Hälfte der Bevölkerung befindet sich auf der Flucht.<br />

Mit jedem Tag werden es mehr.<br />

Die Fanatiker des „Islamischen Staates“ nutzen<br />

das Chaos im Land, um all jene zu vernichten, die sich<br />

ihnen widersetzen. Zwar konnte eine Allianz der syrischen<br />

Rebellen die Gotteskrieger aus Aleppo vertreiben,<br />

aber in den vergangenen Wochen sind die Terroristen<br />

wieder auf dem Vormarsch, erobern Kleinstädte<br />

<strong>und</strong> Dörfer im Umland Aleppos. „Ich bin Muslim“, sagt<br />

Hamid im Auto. In den Augen des IS aber sei er ein<br />

kufar, ein Ungläubiger, da er deren Weltanschauung<br />

nicht teile. „Das sind Mörder <strong>und</strong> Geistesgestörte, die<br />

ihre Welt einteilen in halal <strong>und</strong> haram.“ Gut <strong>und</strong> Böse,<br />

erlaubt <strong>und</strong> verboten, ohne Zwischentöne. Wer gegen<br />

ihre Regeln verstößt, der stirbt.<br />

H<strong>und</strong>erte Syrer sind der IS-Ideologie schon zum<br />

Opfer gefallen. „In Aleppo haben sie vergangenes Jahr<br />

einen 15-Jährigen vor den Augen seiner Mutter erschossen,<br />

weil er den Propheten beleidigt haben soll“,<br />

knurrt Hamid. „Blasphemie.“ In Rakka, der Hauptstadt<br />

des IS, kreuzigen <strong>und</strong> enthaupten sie regelmäßig<br />

Menschen, die ihnen im Weg stehen: Akademiker,<br />

Journalisten, moderate Rebellen, Schiiten, Kurden,<br />

Andersgläubige. Die Islamisten präsentieren die Bilder<br />

der Gekreuzigten <strong>und</strong> Geköpften in den sozialen Netzwerken.
Seine<br />

Heimat verlassen, in die Türkei fliehen,<br />

das will Hamid dennoch nicht. „Wie könnte ich mein<br />

Land im Stich lassen? Ich käme mir vor wie ein Verräter“,<br />

sagt er, zündet sich eine Gitanes an <strong>und</strong> zieht<br />

den Rauch tief in seine Lunge.<br />

Die Autofahrt führt an zerschossenen Autos vorbei<br />

<strong>und</strong> an zertrümmerten Häusern, aus denen zerfetzter<br />

Stahl ragt. Auf dem Armaturenbrett liegt eine<br />

ungeladene Pistole. „Zur Abschreckung“, sagt Hamid<br />

64<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


Solange<br />

Deutschland<br />

liest, werden<br />

wir schreiben.


<strong>und</strong> schnippt die Kippe aus dem offenen Fenster. Immer<br />

wieder muss er den Wagen anhalten, aussteigen<br />

<strong>und</strong> Deckung in Ruinen suchen, weil Hubschrauber<br />

Fassbomben abwerfen oder ein Kampfjet Raketen abfeuert.<br />

Die wenigen Menschen, die sich noch auf die<br />

Straße wagen, verstecken sich in Hauseingängen <strong>und</strong><br />

beobachten die Helikopter über ihnen. „Bald fällt die<br />

erste Bombe“, sagt Hamid <strong>und</strong> wartet angespannt.<br />

Ein alter Lebensmittelhändler winkt Hamid <strong>und</strong><br />

ein paar andere Menschen in seinen Laden. Dort sei<br />

es sicherer, meint er, verschwindet in einem Hinterzimmer<br />

<strong>und</strong> kommt Minuten später mit frisch gekochtem<br />

schwarzen Tee <strong>und</strong> einer Argileh zurück, der syrischen<br />

Wasserpfeife. „Syrische Gastfre<strong>und</strong>schaft“, sagt<br />

Hamid <strong>und</strong> lächelt. „Der können auch Assads Bomben<br />

nichts anhaben.“ Während die Männer auf die<br />

Einschläge warten, nippen sie am gesüßten Tee, nuckeln<br />

an der Pfeife <strong>und</strong> reißen Witze über Präsident<br />

Baschar al Assad. Als zwei Fassbomben einige Straßenzüge<br />

weiter explodieren, verabschieden sich die<br />

Männer. Auch Hamid will weiter. Nur wenige H<strong>und</strong>ert<br />

Meter von seinem Wagen entfernt steigt ein Rauchpilz<br />

in den wolkenlosen Sommerhimmel.<br />

DER TOD IST TEIL von Hamids Leben geworden. Hamid<br />

geriet ins Visier von Scharfschützen, die auf<br />

ihn feuerten; in seiner Nähe explodierten Bomben<br />

<strong>und</strong> Granaten. Er sah Fre<strong>und</strong>e sterben. Aber Hamid<br />

sieht auch, wie die Menschen in Aleppo in der Not<br />

zusammenrücken.<br />

Nach 40 Minuten Fahrt parkt er seinen Wagen<br />

vor dem Mietshaus eines Bekannten. Der betreibt<br />

im Keller eine Art Untergr<strong>und</strong>küche, in der er <strong>und</strong><br />

drei Helfer <strong>für</strong> H<strong>und</strong>erte mittellose Menschen an den<br />

Freiwillige Helfer der<br />

Weißen Helme bergen ein<br />

Opfer aus den Trümmern<br />

Der Pathologe Abu Jaffer<br />

protokolliert die namenlosen<br />

Toten Aleppos. An der Wand<br />

eines ehemaligen Klassenzimmers<br />

hängen die Fotos<br />

der im Krieg Getöteten<br />

Frontabschnitten Essen kochen <strong>und</strong> kostenlos verteilen.<br />

Sie reden über die schwierige Versorgungslage.<br />

Dass der Kumpel fünf Tage lang kein Essen verteilen<br />

konnte, weil sein Viertel täglich bombardiert wurde.<br />

Hamid fährt weiter, trifft den Pathologen Abu<br />

Jaffer, der seit zwei Jahren in einem ausgebombten<br />

Schulgebäude namenlose Tote fotografiert, in dem verzweifelten<br />

Versuch, den Toten ihre Würde zurückzugeben.<br />

<strong>Kein</strong> Tag vergeht, ohne dass namenlose Tote<br />

in die Schule gebracht werden. Der Arzt protokolliert<br />

das Geschlecht, wann <strong>und</strong> wo sie gestorben sind.<br />

Die Bilder der Menschen pinnt er an die Wand eines<br />

66<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


Fotos: Carsten Stormer/Zeitenspiegel (Seiten 60 bis 67), Privat (Autor)<br />

Klassenzimmers – H<strong>und</strong>erte Fotos von verstümmelten<br />

Leichen. An diesem Morgen kommt ein weiteres<br />

namenloses Porträt dazu. Dann rollt er den halb verwesten<br />

Körper eines Mannes in einen grauen Leichensack<br />

<strong>und</strong> zieht den Reißverschluss zu.<br />

Nachmittags unterhält sich Hamid mit der Rektorin<br />

einer geheimen Schule im Erdgeschoss eines Wohnhauses<br />

im Frontviertel Salaheddin. Unterricht ist in<br />

Aleppo kaum noch möglich, da Schulen Ziele von Assads<br />

Luftwaffe sind. Die Finger der Rektorin klopfen<br />

wie ein Metronom unaufhörlich auf die Glasplatte ihres<br />

Schreibtischs. Zwei Dutzend vom Krieg traumatisierte<br />

Kinder unterrichtet sie täglich, außer freitags,<br />

um den Kleinen einen Schein von Normalität vorzugaukeln.<br />

Geschichten vom Alltag in Aleppo, die Hamid<br />

mit Journalisten <strong>und</strong> der Welt teilen möchte.<br />

Im August dieses Jahres sieht Hamid im Internet,<br />

wie der amerikanische Journalist James Foley vor laufender<br />

Kamera enthauptet wird. Am Ende der Inszenierung<br />

zieht ein Terrorist eine weitere Geisel vor die<br />

Kamera <strong>und</strong> droht, diese ebenfalls zu ermorden. Es ist<br />

Steven Sotloff. Jener Mann, der zusammen mit Hamid<br />

entführt wurde. Zwei Wochen später<br />

wird auch er umgebracht. „Das sind<br />

Verbrecher, das ist nicht unsere Auffassung<br />

des Islam“, sagt Hamid. Was<br />

bleibt, sind seine Schuldgefühle. Auf<br />

Facebook bittet er Steven Sotloffs Mutter<br />

um Verzeihung, dass er nicht besser<br />

auf ihren Sohn aufpassen konnte.<br />

Zwischen all dem Schrecken <strong>und</strong><br />

der Angst gibt es in Aleppo die kleinen<br />

Momente des Glücks. Ebenfalls im<br />

August wird Hamids Sohn geboren. Er<br />

nennt ihn Bakr, nach dem Schwiegervater<br />

des Propheten Mohammed. Zur<br />

gleichen Zeit zieht die syrische Armee<br />

ihren Belagerungsring um Aleppo immer<br />

enger, nimmt das Industrieviertel<br />

Sheikh Najar ein, schneidet Versorgungswege<br />

der Rebellen ab. „Es ist nur<br />

noch eine Frage der Zeit, bis die Stadt eingekesselt ist.<br />

Uns droht das gleiche Schicksal wie den Menschen in<br />

Homs“, schreibt ein verzweifelter Hamid.<br />

Währenddessen nimmt der IS im Umland Aleppos<br />

ein Dorf nach dem anderen ein <strong>und</strong> rückt immer näher<br />

auf die Stadt zu. Damit zerschellt auch Hamids Starrsinn,<br />

in seiner Heimatstadt auszuharren. „Ich trage<br />

jetzt <strong>für</strong> meinen Sohn Verantwortung. Es geht nicht<br />

mehr allein um mich“, schreibt er Ende August. „Ich<br />

haue ab.“ Egal wohin.<br />

CARSTEN STORMER war im Sommer das<br />

achte Mal in Syrien. Dieses Mal war die Angst<br />

groß, vom IS entführt zu werden. Das ständige<br />

Abwerfen von Fassbomben machte es fast<br />

unmöglich, sich in Aleppo zu bewegen<br />

Kompressor<br />

Das Kulturmagazin<br />

Mo bis Fr • 14:07<br />

Das Feuilleton im Radio.<br />

b<strong>und</strong>esweit <strong>und</strong> werbefrei<br />

DAB+, Kabel, Satellit, App, deutschlandradiokultur.de


WELTBÜHNE<br />

Interview<br />

„EIN SICHERHEITSRISIKO “<br />

BKA-Chef Jörg Ziercke über deutsche IS-Kämpfer, die Gefahr,<br />

die von ihnen ausgeht, <strong>und</strong> was die Polizei gegen sie unternimmt<br />

Herr Ziercke, auch Deutsche<br />

haben sich in Syrien <strong>und</strong> im<br />

Irak islamistischen Terroristen<br />

angeschlossen. Wie viele<br />

sind es?<br />

Jörg Ziercke: Den deutschen<br />

Sicherheitsbehörden liegen<br />

zurzeit Erkenntnisse zu<br />

mehr als 400 deutschen Islamisten<br />

sowie Islamisten aus<br />

Deutschland vor, die in Richtung<br />

Syrien ausgereist sind,<br />

um dort an Kampfhandlungen<br />

teilzunehmen oder den Widerstand<br />

gegen das Assad-Regime<br />

Jörg Ziercke, 67<br />

in sonstiger Weise zu unterstützen.<br />

Etwa ein Drittel ist zwi-<br />

ist seit 2004 Präsident<br />

des B<strong>und</strong>eskriminalamts<br />

schenzeitlich nach Deutschland<br />

zurückgekehrt. Bei etwa<br />

25 dieser Personen ist davon<br />

auszugehen, dass sie sich aktiv am bewaffneten Widerstand<br />

in Syrien beteiligt haben. Mehr als 40 Personen<br />

sollen im Kampf ums Leben gekommen sein.<br />

Gibt es ein Profil der auffälligen Personen?<br />

Die Mehrzahl der Personen ist männlich <strong>und</strong> zwischen<br />

21 <strong>und</strong> 30 Jahre alt. Mehr als die Hälfte von ihnen<br />

hat die deutsche Staatsbürgerschaft, gefolgt von<br />

türkischen, syrischen <strong>und</strong> russischen Staatsangehörigen.<br />

Über eine Vielzahl der Personen liegen bis zum<br />

Zeitpunkt ihrer Ausreise keine oder nur wenige staatsschutzrelevante<br />

Erkenntnisse vor.<br />

Welche Motivation haben sie?<br />

Die Motivation des Einzelnen ist sehr unterschiedlich<br />

<strong>und</strong> reicht vom vermeintlichen Abenteuer über erhofftes<br />

Ansehen <strong>und</strong> persönliche Anerkennung bis hin<br />

zum politischen Engagement gegen das Assad-Regime.<br />

Wer wirbt die Kämpfer an?<br />

Die Rekrutierung erfolgt üblicherweise durch<br />

Schlüsselpersonen im engeren Umfeld des Betroffenen,<br />

die Einfluss auf die Person haben. Diese persönlichen<br />

Kontakte entstehen in bestimmten Moscheen,<br />

in radikalen Gruppen sowie auf sogenannten Benefizveranstaltungen<br />

<strong>für</strong> Syrien, bei denen neben dem<br />

religiösen Diskurs auch Spenden gesammelt werden.<br />

Wie groß schätzen Sie die Gefahr durch Heimkehrer<br />

ein?<br />

Nahezu alle islamistischen Terrororganisationen<br />

haben sich dem weltweiten Dschihad verschrieben <strong>und</strong><br />

streben die Errichtung eines alle Länder umfassenden<br />

Kalifats an. Aufgr<strong>und</strong> dieser Ausrichtung sind <strong>für</strong><br />

diese Gruppierungen Anschläge weltweit gerechtfertigt.<br />

Daher stellen Personen, die sich in einem terroristischen<br />

Ausbildungslager aufgehalten haben oder<br />

an Kampfhandlungen beteiligt waren, aufgr<strong>und</strong> der<br />

ideologischen Indoktrinierung <strong>und</strong> der Ausbildung im<br />

Umgang mit Waffen <strong>und</strong> Sprengstoffen ein besonderes<br />

Sicherheitsrisiko dar. Durch die Ausbildung sind<br />

sie dazu fähig, Anschläge auch ohne weitere Unterstützung<br />

Dritter zu begehen. Dschihadistische Propaganda,<br />

unter Umständen verb<strong>und</strong>en mit einem äußeren<br />

Ereignis, kann bei diesen Personen dazu führen, dass<br />

sie sich spontan zu einer Tat entschließen.<br />

Was kann der Rechtsstaat dagegen unternehmen?<br />

Wichtig ist, dass alle Akteure der deutschen Sicherheitsarchitektur<br />

die Aktivitäten islamistischer Extremisten<br />

in Deutschland genau beobachten <strong>und</strong> sich<br />

darüber intensiv austauschen. Aber auch die internationale<br />

Netzwerkbildung ist von großer Bedeutung. Auf<br />

diesem Wege ist es uns bisher – mit Ausnahme des<br />

radikalisierten Einzeltäters vom Frankfurter Flughafen<br />

2011 – gelungen, Anschläge in Deutschland zu<br />

verhindern.<br />

Wie hoch ist das Risiko, dass ein Anschlag gelingt?<br />

Eine h<strong>und</strong>ertprozentige Sicherheit kann es nicht<br />

geben. Nur mithilfe einer ganzheitlichen <strong>und</strong> f<strong>und</strong>ierten<br />

Informationsbasis, wie sie im gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum<br />

<strong>und</strong> mithilfe der Anti-Terror-<br />

Datei geschaffen wurde, lassen sich Maßnahmen der<br />

Prävention <strong>und</strong> Strafverfolgung umsetzen. Zugleich ist<br />

auch der Gesetzgeber gefragt, den Sicherheitsbehörden<br />

einen geeigneten, zeitgemäßen Rechtsrahmen zu<br />

schaffen. Auch die Islamisten haben den Vorzug von<br />

Kryptierung <strong>und</strong> Anonymisierung im Internet <strong>für</strong> sich<br />

entdeckt. Daher gilt es, rechtliche Instrumente zu bekommen,<br />

die dem Rechnung tragen.<br />

Die Fragen stellte TIMO STEIN<br />

Foto: Marko Priske/Laif<br />

68<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


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<strong>Cicero</strong><br />

Kalender


Ein Frau im Abya in Italien?<br />

Nicht ganz.<br />

Das Einkaufszentrum Villagio<br />

ist Venedig nachempf<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> steht in der katarischen<br />

Hauptstadt Doha


WELTBÜHNE<br />

Report<br />

WODKA UND<br />

WASSERPFEIFE<br />

Von TESSA SZYSZKOWITZ<br />

Das reiche Scheichtum <strong>Katar</strong> wandelt auf einem<br />

schmalen Grat zwischen Tradition <strong>und</strong> Innovation,<br />

zwischen Terrorfinanzierung <strong>und</strong> Ausbeutung,<br />

zwischen Freiheit <strong>und</strong> Entrechtung<br />

Fotos MAURICE WEISS<br />

71<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


WELTBÜHNE<br />

Report<br />

In der Bar des Luxushotels W Doha<br />

dröhnt laute Musik. Bis auf die Terrasse<br />

hinaus drängen sich junge<br />

Frauen mit nackten Schultern, kurzen<br />

Röcken <strong>und</strong> hohen Absätzen. Cocktailgläser<br />

in den Händen, parlieren sie mit<br />

Männern in Anzug oder legerer Abendkleidung.<br />

Die Eiswürfel klirren in den<br />

Gläsern, die Stimmung ist gut. „Noch<br />

eine R<strong>und</strong>e Wodkashots“, ruft ein junger<br />

Amerikaner dem Barkeeper zu. Manch<br />

einer hier mag diese Versammlung <strong>für</strong><br />

frevelhaften Götzendienst im Tempel<br />

westlicher Dekadenz halten.<br />

Das W Doha sieht dem W New York<br />

zum Verwechseln ähnlich. Die Skyline<br />

von Doha mit seinen stolzen Wolkenkratzern<br />

ähnelt vor allem nachts jener von<br />

Manhattan, dem Inbegriff von Modernität<br />

<strong>und</strong> Macht.<br />

Noch vor 40 Jahren war Doha ein Beduinendorf.<br />

Heute ist die Hauptstadt des<br />

Emirats <strong>Katar</strong> zu einer glitzernden Metropole<br />

herangewachsen. Tamim bin Hamad<br />

bin Khalifa al Thani, 34, der Emir von<br />

<strong>Katar</strong>, will die Tradition der Golfaraber<br />

mit den Errungenschaften des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

verbinden. Mit eingeschlichen<br />

haben sich: Alkohol <strong>und</strong> Miniröcke.<br />

Die Symbolik ist auch bei Tag eindeutig.<br />

Überall stehen Baukräne, die<br />

Etage um Etage auf die neuen Wohn- <strong>und</strong><br />

Bürotürme setzen. Scheich Tamim baut<br />

sein Reich in den Himmel hinauf. Er will<br />

damit nicht nur seinen immensen Reichtum<br />

zur Schau stellen. <strong>Katar</strong> verfügt über<br />

riesige Gasvorkommen. Die Staatsreserven<br />

betragen 150 Milliarden Euro. Nach<br />

dem Pro-Kopf-Einkommen ist das Mini-<br />

Emirat mit seinen 275 000 Staatsbürgern<br />

das reichste Land der Erde.<br />

gewinnen, nicht gestärkt, sondern geschwächt.<br />

Auch intern ist das Vorhaben,<br />

einen eigenen Weg zwischen konservativem<br />

Islam <strong>und</strong> westlicher Lebensart zu<br />

finden, permanent bedroht.<br />

Seit <strong>Katar</strong> vor knapp vier Jahren die<br />

<strong>Fußball</strong>-WM 2022 zugesprochen wurde,<br />

ist das Scheichtum in den Blickpunkt der<br />

Weltöffentlichkeit gerückt. Geschmierte<br />

Sportfunktionäre sind keine Weltneuheit,<br />

aber die Affäre um die Vergabe der WM<br />

an das Emirat wächst sich aus.<br />

Schmiergelder sind nicht <strong>Katar</strong>s<br />

einziges Problem. Die britische Tageszeitung<br />

The Guardian veröffentlichte<br />

einen Bericht über die Behandlung der<br />

Gastarbeiter auf katarischen Baustellen:<br />

Vorigen Sommer starb fast jeden Tag ein<br />

Arbeiter an Hitzschlag. In <strong>Katar</strong> gibt es<br />

weder Gewerkschaften noch politische<br />

Institutionen, geschweige denn eine kritische<br />

Öffentlichkeit, die Missbrauch aufzeigen<br />

könnte. Nach internationalen Protesten<br />

<strong>und</strong> ersten Boykottaufrufen hatte<br />

Schwimmen mit Aussicht.<br />

Dieses Hotel inmitten der<br />

katarischen Wüste lockt<br />

seine Gäste mit einer<br />

Poolanlage im 31. Stockwerk<br />

das Scheichtum Anfang des Jahres einen<br />

Aktionsplan beschlossen, mit dem die Arbeitsbedingungen<br />

<strong>für</strong> Gastarbeiter drastisch<br />

verbessert werden sollten.<br />

PASSIERT IST WENIG. Im Gegenteil.<br />

Krishna Upadhyaya <strong>und</strong> Ghimire G<strong>und</strong>ev<br />

bekommen gerade zu spüren, wie repressiv<br />

es in <strong>Katar</strong> zugeht. Die beiden<br />

britischen Menschenrechtsexperten wurden<br />

am 31. August verhaftet. Ihnen wird<br />

vorgeworfen, „das Gesetz des Landes gebrochen<br />

zu haben“. Ihr Verbrechen: Sie<br />

arbeiteten an einem Bericht <strong>für</strong> das Global<br />

Network for Rights and Development<br />

über nepalesische Gastarbeiter.<br />

Vor einer der spektakulären Baustellen<br />

sitzen Arbeiter aus Südostasien in der<br />

Dämmerung auf dem Gehsteig. Sie haben<br />

seit dem Morgengrauen gearbeitet. <strong>Kein</strong>er<br />

will seinen Namen nennen, die Angst<br />

vor dem Verlust des Jobs ist zu groß. Ihre<br />

Gesichter sind mit Tüchern umwickelt,<br />

sie schützen sich so gegen Staub, Sonne –<br />

<strong>und</strong> Fotos. „Wenn einer von uns in der<br />

Hitze umkippt“, sagt einer der maskierten<br />

Männer, „wird er sofort entlassen.“<br />

In <strong>Katar</strong> leben etwa zwei Millionen<br />

Menschen, von denen über drei Viertel<br />

Gastarbeiter sind. Sie sind vollkommen<br />

rechtlos. Die Arbeiter werden nach dem<br />

TROTZ SEINER KLEINHEIT will das Emirat<br />

auch politisch eine ernst zu nehmende<br />

Macht im Nahen Osten sein. Womöglich<br />

auch im Rest der Welt. Diese Gratwanderung<br />

ist heikel. Die Globalisierung der<br />

Macht hat ihren Preis. Gerade im Nahen<br />

Osten, der zurzeit eine neue Phase der<br />

Gewalt erlebt.<br />

<strong>Katar</strong> hat zu Beginn des Arabischen<br />

Frühlings 2011 hoch gepokert <strong>und</strong> viel<br />

verloren: Geld, aber auch Prestige. Die<br />

Unterstützung der Muslimbruderschaft<br />

in Ägypten, der Hamas im Gazastreifen<br />

<strong>und</strong> der islamistischen Rebellen in Syrien<br />

hat das ambitionierte Projekt, Einfluss zu


Kafala-System ins Land gebracht. Ein<br />

Sponsor übernimmt die Verantwortung –<br />

<strong>und</strong> den Pass. Damit sind die Jobsuchenden<br />

ihrem Bürgen ausgeliefert. Das Kafala-System<br />

befördert nicht nur sexuelle<br />

Ausbeutung von Frauen, es dient auch<br />

dazu, ausländische Wirtschaftsinteressen<br />

zu kontrollieren.<br />

Viele Geschäftsleute aus der ganzen<br />

Welt haben sich mit dem Kafala-System<br />

abgef<strong>und</strong>en – der Bauboom in <strong>Katar</strong> ist<br />

<strong>für</strong> Firmen wie die Deutsche Bahn, Siemens<br />

oder Hochtief einfach zu interessant.<br />

Da<strong>für</strong> nehmen sie in Kauf, dass sie<br />

mit lokalen Partnern zusammenarbeiten<br />

müssen.<br />

DAS ABSOLUTISTISCHE SCHEICHTUM<br />

ist eine demokratiefreie Zone. Zwar hat<br />

der damalige Kalif Hamad bin Khalifa al<br />

Thani 2003 eine „Beratende Versammlung“,<br />

ein Quasi-Parlament eingeführt.<br />

Dessen Befugnisse bestehen aber lediglich<br />

im Abnicken von Gesetzen, die dem<br />

Emir <strong>und</strong> seinen Beratern eingefallen<br />

sind. Erste Wahlen gab es zum Gemeinderat<br />

2007 <strong>und</strong> 2011 – revolutionärerweise<br />

durften auch Frauen wählen <strong>und</strong><br />

sogar kandidieren.<br />

Im Vergleich zu anderen arabischen<br />

Potentaten haben die <strong>Katar</strong>er immerhin<br />

Glück mit ihrer Herrscherfamilie: Die al<br />

Thanis sind religiös deutlich moderater<br />

als die ultrakonservativen Wahhabiten in<br />

Saudi-Arabien; sie denken politischer als<br />

die al Maktums in Dubai <strong>und</strong> sind innovativer<br />

in Erziehungs- <strong>und</strong> Forschungsprojekten<br />

als alle Nachbarn zusammen.<br />

Bloß nicht selber schwitzen.<br />

Diese wohlhabenden katarischen<br />

Hotelgäste schauen<br />

lieber anderen beim Jetski<strong>und</strong><br />

Speedbootfahren zu<br />

„<strong>Katar</strong> ist eine ganz eigene Gesellschaft,<br />

schwer mit anderen zu vergleichen“,<br />

sagt Ahmed Abdul-Malik al Hamadi.<br />

Der katarische Dichter sitzt im<br />

traditionellen Dischdasch, dem weißen<br />

Gewand mit rot-weißem Kopftuch, beim<br />

Kaffee in einem modernen Einkaufszentrum.<br />

Sein Vater war noch Perlentaucher.<br />

Der Sohn weiß beide Welten der katarischen<br />

Gegenwart zu schätzen: die Traditionen<br />

der Beduinengesellschaft wie<br />

die Innovationen des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />

Er hat nur einmal geheiratet, während<br />

viele seiner katarischen Fre<strong>und</strong>e bis<br />

zu vier Frauen haben. Seine Frau, sagt<br />

er, sei sehr selbstständig: „Sie macht,<br />

was sie will! Der Prophet Mohammed<br />

hat nie gesagt, dass man Frauen verstecken<br />

muss“, erklärt der 63-Jährige<br />

<strong>und</strong> blickt aufmerksam hinunter auf die<br />

Frauen, die an den Schaufenstern entlang<br />

schlendern.<br />

Die meisten katarischen Frauen tragen,<br />

wenn sie das Haus verlassen, eine<br />

schwarze Abaya, den Ganzkörperschleier,<br />

der am Arabischen Golf Brauch<br />

ist. Das Gesicht bleibt dabei frei. Manche<br />

Frauen sieht man auch in Sommerkleidern<br />

oder Jeans auf den Straßen. In <strong>Katar</strong><br />

dürfen Frauen im Gegensatz zu Saudi-<br />

Arabien ohne Kopftuch auf die Straße<br />

gehen. Allerdings trauen sich das die Einheimischen<br />

nicht unbedingt.<br />

Das Scheichtum ist erst seit 1971 unabhängig.<br />

Bis dahin agierten die Briten<br />

als Schutzmacht. Die al Thanis sind als<br />

Herrscherfamilie seit 1915 anerkannt.<br />

1940 wurde in <strong>Katar</strong> Öl gef<strong>und</strong>en, später<br />

Gas, <strong>und</strong> innerhalb weniger Jahrzehnte<br />

zogen die <strong>Katar</strong>er vom Beduinenzelt in<br />

Wolkenkratzer.<br />

Tamim ist der sechste Emir des Al-<br />

Thani-Clans. Er übernahm den Wüstenthron<br />

von seinem Vater Hamad im<br />

Juni 2013. Der Wechsel kam plötzlich<br />

<strong>und</strong> wurde von Experten als Versuch<br />

gewertet, Dynamik in Zeiten des Umbruchs<br />

zu markieren. Die Macht wurde<br />

bei den al Thanis auch schon zuvor in unblutigen<br />

Coups übergeben. Tamims Vater<br />

Hamad stahl seinem Vater Khalifa<br />

die Macht 1995. Der alte Scheich verbrachte<br />

seine Tage damals bereits lieber<br />

an der Côte d’Azur als am Golf. Der reformorientierte<br />

Hamad wollte die Geschicke<br />

des Emirats nicht nur in die Hand<br />

nehmen, um das Land ins 21. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

zu befördern. Er wollte sich auch<br />

von Saudi-Arabien lossagen. Der große<br />

Nachbar hatten bereits einen ihm genehmen<br />

Nachfolger <strong>für</strong> den alten Emir von<br />

<strong>Katar</strong> ausgesucht. Die al Sauds betrachteten<br />

den Zwergenstaat gerne als ihren<br />

Hinterhof.<br />

Aus diesem angespannten Machtverhältnis<br />

resultieren bis heute einige<br />

der größten Probleme in den nahöstlichen<br />

Kabalen. So investierte der Vater<br />

des heutigen Scheichs schon früh in die<br />

Entwicklung der Muslimbruderschaft. Er<br />

sah in ihnen ein reformerisches Potenzial<br />

<strong>für</strong> die Militärdiktatur Ägyptens. Außerdem<br />

waren die Muslimbrüder politisch<br />

weniger fanatisch als die Wahhabiten in<br />

Saudi-Arabien. Der spirituelle Führer der<br />

Muslimbrüder Yusuf Abdullah al Qaradawi<br />

genießt schon seit Jahrzehnten politisches<br />

Asyl in Doha.<br />

DAS ZWISCHENSPIEL der Muslembrüder<br />

an der Macht in Kairo aber hat nur<br />

ein Jahr gedauert <strong>und</strong> stellt eines der beschämenden<br />

Kapitel der katarischen Politsaga<br />

dar. „Ich mache hauptsächlich<br />

die islamistischen Kräfte unter Mohammed<br />

Mursi <strong>für</strong> diese Katastrophe verantwortlich“,<br />

sagt Azmi Bischara. Der palästinensische<br />

Intellektuelle aus Israel<br />

73<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


WELTBÜHNE<br />

Report<br />

GROSSBRITANNIEN<br />

100 %<br />

The Shard, London,<br />

Europas höchstes Gebäude<br />

100 %<br />

Olympiapark, London<br />

100 %<br />

Hyde Park Nummer 1,<br />

Londoner Wohnhausblock<br />

100 %<br />

Harrods-Gruppe, Warenhaus<br />

26 %<br />

Sainsbury’s, Supermarktkette<br />

20 %<br />

Camden Market,<br />

sechs Märkte in London<br />

10,3 %<br />

London Stock Exchange, Börse<br />

6,3 %<br />

Barclays, Bank<br />

3 – 5 %<br />

Royal Dutch Shell,<br />

Mineralöl- <strong>und</strong><br />

Erdgasunternehmen<br />

FRANKREICH<br />

100 %<br />

Paris Saint-Germain,<br />

<strong>Fußball</strong>verein<br />

100 %<br />

Immobilien auf den<br />

Champs-Élysées in Paris<br />

100 %<br />

Printemps,<br />

Warenhauskette<br />

100 %<br />

Lido Paris, Revuetheater<br />

12,8 %<br />

Lagardère SCA, Verlags- <strong>und</strong><br />

Medienunternehmen<br />

5 %<br />

Veolia<br />

Environnement S. A.,<br />

Wasser-, Abwasser-, Energie-,<br />

Transportunternehmen<br />

3 %<br />

Vivendi S. A., Medienkonzern<br />

3%<br />

Total, Mineralölunternehmen<br />

1%<br />

Louis Vuitton,<br />

Moët Hennessy ( LVMH ),<br />

Luxusgüter<br />

Infografik<br />

DIE GLOBALE<br />

WIRTSCHAFTSMACHT<br />

London, Paris, Frankfurt: <strong>Katar</strong> investiert<br />

vor allem über seinen Staatsfonds<br />

Qatar Investment Authority in lukrative<br />

Unternehmen – ein Überblick<br />

KATAR<br />

DEUTSCHLAND<br />

15,6 %<br />

Volkswagen AG<br />

9 %<br />

Hochtief<br />

6 %<br />

Deutsche Bank<br />

3 %<br />

Siemens<br />

SCHWEIZ<br />

100 %<br />

Hotel Schweizerhof,<br />

Zürich<br />

100 %<br />

Hotel Schweizerhof,<br />

Bern<br />

100 %<br />

Hotel Royal Savoy,<br />

Lausanne<br />

12 %<br />

Glencore Xstrata,<br />

Rohstoffhändler<br />

6,2 %<br />

Credit Suisse,<br />

Bank<br />

ITALIEN<br />

100 %<br />

Valentino,<br />

Modeunternehmen<br />

CHINA<br />

21,8 %<br />

Agricultural Bank of China,<br />

Bank<br />

USA<br />

100 %<br />

Miramax,<br />

Filmproduktion <strong>und</strong> -verleih<br />

74<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


ist heute Direktor des Arab Center for<br />

Research and Policy Studies in Doha.<br />

„Mursi <strong>und</strong> sein Führungsteam haben<br />

sich nicht darum bemüht, in der Übergangsphase<br />

alle demokratischen Kräfte<br />

einzubinden. Nicht nur das: Die Islamisten<br />

haben Proteste niedergeschlagen, die<br />

Anführer verhaftet <strong>und</strong> antidemokratische<br />

Gesetze erlassen. Deshalb war der<br />

Staatsstreich des Militärs im Juli 2013 so<br />

leicht durchzuführen.“<br />

Die <strong>Katar</strong>er waren zwar Schutzmacht<br />

der Muslimbrüder, solange diese<br />

noch in der Opposition waren. Kaum<br />

aber hatten die Islamisten in Ägypten die<br />

Macht errungen, hörten sie nicht mehr<br />

auf den moderierenden Rat des Emirs in<br />

Doha <strong>und</strong> radikalisierten sich. Nach Mursis<br />

Fall <strong>und</strong> der Wiederkehr des Militärs<br />

unter Abdel Fattah al Sisi erhöhten die<br />

anderen Golfscheichs unter der Führung<br />

Saudi-Arabiens den Druck auf Scheich<br />

Tamim al Thani <strong>und</strong> beriefen sogar kurzzeitig<br />

ihre Botschafter aus <strong>Katar</strong> zurück.<br />

Heute hält sich der junge Emir mit allzu<br />

lauter Unterstützung der Muslimbruderschaft<br />

zurück.<br />

© Foto Becker: Volkmar Könneke © Foto Hofreiter: DBT/Stella von Saldern © Foto Schwennicke: Andrej Dallmann<br />

Das <strong>Cicero</strong>-Foyergespräch<br />

Dr. Toni Hofreiter<br />

30.<br />

September<br />

20:00 Uhr<br />

Infografik: <strong>Cicero</strong>; Quelle: <strong>Cicero</strong>-Recherche<br />

GLEICHZEITIG MIT ÄGYPTEN ist auch <strong>Katar</strong>s<br />

Investition in die islamistische Opposition<br />

in Syrien schiefgegangen. <strong>Katar</strong><br />

hatte seit dem Beginn des Aufstands gegen<br />

den Diktator Baschar al Assad gute<br />

Kontakte zum Widerstand gepflegt – vor<br />

allem zur Al-Nusra-Front. Das hat sich<br />

gerächt. Immer mehr Al-Nusra-Kämpfer<br />

sind inzwischen mit katarischem Geld<br />

in den Taschen zum „Islamischen Staat“<br />

übergelaufen. Heute müssen sich die <strong>Katar</strong>er<br />

fragen, ob ihre großzügigen Spenden<br />

an die islamistischen Rebellen ein<br />

noch größeres Monster als Baschar al Assad<br />

haben entstehen lassen.<br />

Auch mit der Hamas hatte <strong>Katar</strong><br />

Pech. Ursprünglich war die Idee im Nahen<br />

Osten populär, die islamistische Hamas-Bewegung<br />

im Gaza streifen zu unterstützen,<br />

nachdem sich Israel 2007 aus<br />

dem Gebiet zurückgezogen hatte. Ein Besuch<br />

des damaligen Emirs 2012 im Gazastreifen<br />

verlief triumphal. Der katarische<br />

Scheich kam mit gezücktem Scheckbuch<br />

<strong>und</strong> wirkte wie ein Mäzen des arabischen<br />

Widerstands gegen die Unterdrücker.<br />

Heute hat die Hamas nicht nur Israel<br />

zum Feind. Seit in Kairo wieder das Militär<br />

regiert, sind die Grenzen zwischen<br />

Ulrich Becker<br />

<strong>Karte</strong>n erhalten sie bei der SÜDWEST PRESSE:<br />

südwestpresse.de/ticketshop<br />

Christoph Schwennicke<br />

Mit Dr. Toni Hofreiter, Fraktionsvorsitzender der Partei<br />

Bündnis 90/Die Grünen im B<strong>und</strong>estag, sprechen<br />

<strong>Cicero</strong>-Chefredakteur Christoph Schwennicke <strong>und</strong><br />

Ulrich Becker, Chefredakteur SÜDWEST PRESSE.<br />

Dienstag, 30. September 2014, 20:00 Uhr,<br />

Stadthaus Ulm, Münsterplatz 50, 89073 Ulm.<br />

In Kooperation<br />

mit SÜDWEST PRESSE


Gaza <strong>und</strong> Ägypten erneut geschlossen.<br />

Der jüngste Krieg zwischen der Hamas<br />

<strong>und</strong> Israel führte am Ende zu einem Waffenstillstand,<br />

von dem niemand erwartet,<br />

dass er lange hält. <strong>Katar</strong> aber durfte bei<br />

den Verhandlungen in Kairo um einen<br />

Waffenstillstand zwischen Hamas <strong>und</strong> Israel<br />

nur eine untergeordnete Rolle spielen.<br />

Unterdessen lebt Chalid Maschal, der<br />

Chef der Hamas, immer noch in Doha<br />

im Exil.<br />

SO TUMMELN SICH IN KATAR die wichtigsten<br />

Oppositionellen des Nahen Ostens.<br />

Neben Maschal auch der spirituelle<br />

Führer der Muslimbrüder <strong>und</strong> eben auch<br />

Azmi Bischara. Der palästinensische Politologe<br />

war israelischer Staatsbürger <strong>und</strong><br />

Abgeordneter im israelischen Parlament,<br />

der Knesset. Nach dem Libanonkrieg im<br />

Sommer 2006 wurde Bischara vorgeworfen,<br />

er habe die libanesisch-islamistische<br />

Hisbollah mit Informationen über israelische<br />

Angriffsziele versorgt. 2007 flüchtete<br />

er aus Israel, weil er <strong>für</strong>chtete, wegen<br />

Staatsverrats belangt zu werden.<br />

Bischara ist eine Schlüsselfigur am<br />

Hof des jungen Emirs geworden. Scheich<br />

Tamim muss nach seinem ersten schwierigen<br />

Regierungsjahr neue Prioritäten<br />

setzen. Die Muslimbruderschaft ist den<br />

<strong>Katar</strong>ern immer noch wichtig, man wird<br />

den spirituellen Führer al Qaradawi<br />

nicht ausweisen. Um aber die schiefgegangenen<br />

Investitionen in die Islamisten<br />

in Ägypten oder Syrien wettzumachen,<br />

gibt der junge Emir nun den linken Arabisten<br />

mehr Raum. „<strong>Katar</strong> will zu der<br />

<strong>Kein</strong> Modell. Vom Aspire Tower<br />

aus betrachtet, sehen Fahrzeuge<br />

wie Spielzeugautos aus. Der mit<br />

300 Metern höchste Wolkenkratzer<br />

<strong>Katar</strong>s wurde 2006 erbaut<br />

ursprünglichen Idee zurück, die drei<br />

Trends der arabischen Politik gleichmäßig<br />

zu propagieren: Islamisten, Linke<br />

<strong>und</strong> Liberale sollen alle eine Stimme bekommen“,<br />

sagt der Golfexperte Andrew<br />

Hammond vom European Council on<br />

Foreign Relations in London.<br />

Als Zeichen der Abgrenzung von der<br />

Politik seines Vaters will Scheich Tamim<br />

eine neue Zeitung <strong>und</strong> einen neuen Fernsehsender<br />

gründen. Der neue Sender Al<br />

Arabi Al Dschadid – Der Neue Araber –<br />

soll nicht aus Doha, sondern aus London<br />

berichten.<br />

Mit der britischen Hauptstadt sind<br />

die katarischen Herrscher traditionell<br />

eng verb<strong>und</strong>en, schließlich war das Vereinigte<br />

Königreich einst die Schutzmacht<br />

des Scheichtums bis zu seiner Unabhängigkeit<br />

1971. Prinz Tamim wurde<br />

in britischen Eliteschulen erzogen <strong>und</strong><br />

besuchte später die Royal Military Academy<br />

Sandhurst.<br />

Inzwischen hat sich das Verhältnis<br />

allerdings fast umgekehrt: Waren einst<br />

die Briten die Kolonialherren am Golf,<br />

so sahnen heute die <strong>Katar</strong>er in London<br />

ab. Sie kaufen die Kronjuwelen britischer<br />

Identität auf, die sich die Engländer nicht<br />

mehr leisten können – etwa das Edelkaufhaus<br />

Harrods oder die Barclays-Bank.<br />

Der neue Fernsehsender Al Arabi<br />

Al Dschadid soll nun in Park Royal am<br />

Rande Londons entstehen. Arabische<br />

Journalisten in der britischen Hauptstadt<br />

sind sich sicher, dass Der neue Araber<br />

dem alten Al Dschasira Konkurrenz machen<br />

wird. Al Dschasira war von Vater<br />

Hamad 1996 gegründet worden, um dem<br />

Nahen Osten eine arabische Stimme auf<br />

der internationalen Fernsehbühne zu geben.<br />

Der Sender ist in Doha beheimatet<br />

<strong>und</strong> hat jahrelang als eine Art Anti-CNN<br />

gut funktioniert. In den vergangenen<br />

Jahren allerdings wurde Al Dschasira<br />

von vielen immer mehr als Sprachrohr<br />

von Al Qaida empf<strong>und</strong>en.<br />

Mit dem Sturz der Muslimbrüder in<br />

Kairo begann auch der Niedergang der<br />

Fernsehstation. In einem spektakulären<br />

Schauprozess wurden im Juni dieses Jahres<br />

mehrere Reporter des katarischen<br />

Senders zu jahrelangen Gefängnisstrafen<br />

verurteilt, weil sie angeblich im Dienst<br />

der Muslimbrüder gestanden haben sollen.<br />

Doha musste dem Schauspiel machtlos<br />

zusehen.<br />

Diese Demütigung möchte der katarische<br />

Emir schnell vergessen machen.<br />

Seine Regentschaft wird der junge<br />

Scheich in Zukunft mit mehr Balance<br />

zwischen den islamistischen <strong>und</strong> den linken<br />

Kräften im arabischen Lager – <strong>und</strong><br />

an seinem Hof – anlegen. Das seltsame<br />

katarische Gesellschaftsprojekt zwischen<br />

Wodkashot <strong>und</strong> Wasserpfeife hat<br />

gute Chancen, das jetzige Chaos im Nahen<br />

Osten zu überleben.<br />

Vielleicht wird Scheich Tamim bin<br />

Hamad bin Khalifa al Thani nicht – wie<br />

von seinem Vater erhofft – die Vorherrschaft<br />

des großen Nachbarn Saudi-Arabien<br />

brechen können. Eine moderatere<br />

Variante des wahhabitischen Islam, der<br />

in Riad gepflegt wird, könnte sich in<br />

Doha aber durchaus entwickeln. Allein<br />

schon, weil der Rest des Nahen Ostens<br />

immer tiefer in den Konflikt zwischen<br />

Schiiten <strong>und</strong> Sunniten versinkt. <strong>Katar</strong><br />

ist vergleichsweise noch eine Oase der<br />

Stabilität.<br />

TESSA SZYSZKOWITZ war<br />

Nahost-, <strong>Russland</strong>- <strong>und</strong><br />

EU-Korrespondentin. Die<br />

Entwicklung <strong>Katar</strong>s verfolgt sie<br />

mit gemischten Gefühlen<br />

Fotos: Maurice Weiss/Ostkreuz (Seiten 70 bis 76), Privat (Autorin)<br />

76<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


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WELTBÜHNE<br />

Essay<br />

DAS IMPERIUM<br />

DER LÜGEN<br />

Von MICHAIL SCHISCHKIN<br />

Die Wahrheit abzustreiten, das hat in <strong>Russland</strong> nicht<br />

nur Tradition, sondern ist vielmehr Teil des<br />

Gesellschaftsvertrags. Auch deshalb wirkt der<br />

Westen im Ukrainekonflikt so hilflos<br />

Illustrationen FELIX GEPHART<br />

Als Kinder lasen wir alle das Buch „Gelsomino<br />

im Lande der Lügner“ des Italieners Gianni Rodari.<br />

Darin kommt ein Junge in ein Land, das<br />

von einer Piratenbande eingenommen worden ist, die<br />

nun alle zum Lügen zwingt. Den Katzen wird befohlen<br />

zu bellen, den H<strong>und</strong>en zu miauen. „Brot“ muss „Tinte“<br />

genannt werden. Es ist nur Falschgeld im Umlauf, <strong>und</strong><br />

die Einwohner werden über die Zeitung „Der musterhafte<br />

Lügner“ über die wichtigsten Nachrichten informiert.<br />

Uns Kindern gefiel die Absurdität dieser Situation<br />

natürlich. Für die Erwachsenen lag das Geheimnis<br />

des unglaublichen Erfolgs dieses Buches allerdings darin,<br />

dass sie genau verstanden, über welches Land hier<br />

in Wirklichkeit geschrieben wurde. Orwell <strong>für</strong> Anfänger.<br />

Als die Kinder älter wurden, begriffen sie ebenfalls<br />

sehr schnell, dass sie in genau diesem Land lebten.<br />

Die Lüge war allgegenwärtig. Die Zeitungen logen,<br />

das Fernsehen, die Lehrer. Der Staat betrog seine<br />

Bürger, die Bürger betrogen den Staat. So waren die<br />

allen verständlichen Spielregeln. Vom Kindergarten<br />

an gewöhnten wir uns daran.<br />

Mit Plakaten überzeugte man die Bevölkerung,<br />

dass die „UdSSR – das Bollwerk des Friedens“ sei,<br />

<strong>und</strong> schickte gleichzeitig seine Panzer überallhin auf<br />

der Welt. Im Fernsehen berichtete man freudig über<br />

die Erfüllung der Fünfjahrespläne, doch die Regale in<br />

den Geschäften wurden fortwährend leerer <strong>und</strong> die<br />

Schlangen davor größer. Wir lebten in dem Land, „in<br />

dem der Sozialismus gesiegt“ hatte, in dem laut Gesetz<br />

alles dem Volk gehörte, doch in Wirklichkeit besaß<br />

das Volk nichts. Überhaupt gehörte niemandem etwas.<br />

Wir lebten in diesem außergewöhnlichen Land voller<br />

Sklaven, in dem alle dem System gehörten. Diejenigen,<br />

die uns anführten, waren einfach die größten Sklaven.<br />

Niemand trug die Verantwortung <strong>für</strong> sein Land. Die<br />

Kolchose-Sklaven sind enteignet worden <strong>und</strong> ihnen<br />

war es egal, ob die Ernte heranwuchs oder nicht. Die<br />

Arbeiter-Sklaven soffen, <strong>und</strong> ihre Vorgesetzten schickten<br />

gefälschte Bilanzen ans Ministerium. Die regierenden<br />

Sklaven nahmen diese verdrehten Lügen als gültige<br />

Resultate in Empfang.<br />

Über Jahrzehnte wurden eigene <strong>und</strong> fremde Leute<br />

angeschwindelt, <strong>und</strong> man störte sich nicht daran, dass<br />

niemand dem anderen glaubte. Unter dem erlogenen<br />

„Aufruf einer Gruppe von Genossen“ fiel man in die<br />

Tschechoslowakei ein. Man log, dass man uns nach<br />

Afghanistan eingeladen habe. Es wurde geschwindelt,<br />

wenn bei Flugzeugkatastrophen <strong>Fußball</strong>- oder Hockeymannschaften<br />

starben – denn solche Katastrophen kamen<br />

ja nur dort vor, im Westen. Die ganze Welt wurde<br />

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<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


79<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


WELTBÜHNE<br />

Essay<br />

angeschwindelt, als ein südkoreanisches Flugzeug abgeschossen<br />

worden war. Chruschtschow wurde aus den<br />

offiziellen Bildern des Empfangs von Gagarin auf dem<br />

<strong>Rote</strong>n Platz herausgeschnitten. Man log über die Vergangenheit,<br />

die Gegenwart <strong>und</strong> die Zukunft, zu jedem<br />

Anlass, egal ob wichtig oder unwichtig.<br />

Meine Mutter unterrichtete damals in der Schule,<br />

doch ich habe zu der Zeit natürlich noch nicht realisiert,<br />

wie schwierig die Gestaltung des Unterrichts<br />

<strong>für</strong> sie <strong>und</strong> alle Lehrer war: Sie standen vor einer unlösbaren<br />

Aufgabe – die Kinder zu lehren, die Wahrheit<br />

zu sagen, <strong>und</strong> sie gleichzeitig auf ein Leben im<br />

Land der Lügen vorzubereiten.<br />

Nach dem geschriebenen<br />

Gesetz sollte man immer die<br />

Wahrheit sagen, doch das ungeschriebene<br />

hieß: Wenn du<br />

die Wahrheit sagst, wirst du<br />

Kummer ernten.<br />

Sie lehrten uns Lügen, an<br />

die sie selbst nicht glaubten,<br />

weil sie uns liebten <strong>und</strong> uns retten<br />

wollten. Denn in unserem<br />

Land wurde mit Worten ein<br />

tödliches Spiel getrieben. Man<br />

musste die richtigen Worte<br />

aussprechen <strong>und</strong> die falschen<br />

verschweigen. Niemand zog<br />

diese Grenze offiziell, doch jeder<br />

spürte sie in sich. Die Dissidenten<br />

verstießen gegen diese<br />

Spielregeln – aufgr<strong>und</strong> ihres<br />

selbstmörderischen Verständnisses<br />

<strong>für</strong> Gefühle der persönlichen<br />

Wertschätzung (so lautete<br />

Solschenizyns berühmter<br />

Aufruf: „Nicht nach der Lüge leben“). Auch unerschrockene<br />

junge Leute verstießen dagegen – aus Dummheit.<br />

Die Lehrer versuchten, diese wahrheitsliebenden Jugendlichen<br />

zu retten, indem sie ihnen eine belebende<br />

Dosis Furcht einimpften. War das im Moment ein bisschen<br />

schmerzhaft, so immunisierte es doch <strong>für</strong> das<br />

ganze folgende Leben. Vielleicht hatte man uns Chemie<br />

oder Englisch nur schlecht beigebracht, doch wir<br />

erhielten eine beispielhafte Erziehung in der schwierigen<br />

Kunst des Überlebens – das eine zu sagen, aber<br />

das andere zu denken <strong>und</strong> zu tun.<br />

Diese Lüge darf keinesfalls als Sünde bezeichnet<br />

werden – in ihr konzentrierte sich die ganze Kraft<br />

der Vitalität, die Stärke der Überlebensgeister. Jeder,<br />

der geboren wurde, fand sich in diesem geschlossenen<br />

Kreis aus Lügen wieder. Doch warum? Wie konnte es<br />

so kommen? Ich kann mich erinnern, wie mich als Jugendlicher<br />

die einfache Erklärung überrascht hat, die<br />

ich dazu im Artikel „Das Paradox der Lüge“ gelesen<br />

habe, den der verbotene Philosoph Nikolai Berdjajew<br />

1939 im Exil über die Diktaturen von Hitler <strong>und</strong> Stalin<br />

Diese Lüge ist<br />

keine Sünde.<br />

In ihr konzentrierte<br />

sich die<br />

ganze Stärke<br />

der Überlebensgeister<br />

geschrieben hatte: „Die Menschen leben in Angst, <strong>und</strong><br />

die Lüge ist ihre Waffe zur Verteidigung.“ Die Machthaber<br />

<strong>für</strong>chteten sich vor ihrem eigenen Volk <strong>und</strong> logen<br />

deshalb. Und die Bevölkerung machte bei dieser Lüge<br />

mit, denn sie <strong>für</strong>chtete sich wiederum vor der Macht.<br />

Die Machthaber <strong>und</strong> ihr Volk hatten einen Gesellschaftsvertrag<br />

miteinander geschlossen: Wir wissen,<br />

dass wir lügen <strong>und</strong> dass ihr lügt <strong>und</strong> werden weiter<br />

lügen, um zu überleben. Mit diesem contrat social<br />

sind Generationen groß geworden.<br />

Ich weiß noch, wie wir vom Reaktorunglück in<br />

Tschernobyl erfahren haben. Ich arbeitete damals<br />

an einer Schule. In der Pause<br />

rannte ein sichtlich erregter<br />

Physiker zu uns ins Lehrerzimmer,<br />

der von einem Bekannten<br />

hinter vorgehaltener<br />

Hand über die Katastrophe<br />

unterrichtet worden war. Ihm<br />

glaubten wir sofort. Er, <strong>und</strong><br />

nicht die Regierung, sagte,<br />

man solle die Kinder in die<br />

Häuser holen.<br />

Die offiziellen Kanäle<br />

schwiegen noch lange, <strong>und</strong><br />

dann berichteten sie zwar über<br />

die Ereignisse, beschwichtigten<br />

aber gleichzeitig, es bestehe<br />

überhaupt keine Gefahr.<br />

Die Bevölkerung wusste bereits,<br />

was das bedeutete: Wenn<br />

sie sagten, es gebe keine Gefahr,<br />

dann stand es nicht gut.<br />

Ein gespaltetes Bewusstsein<br />

– das eine zu sagen <strong>und</strong><br />

etwas anderes zu denken <strong>und</strong><br />

zu tun – machte die Wirklichkeit einer ganzen Nation<br />

aus. Wenn sich eine Lüge von sich selbst abschottet,<br />

wird sie fähig, eine neue Realität zu konstruieren.<br />

Diese Realität sind wir. Und alle wir Russen, die heute<br />

leben, kommen aus ihr. Sowohl Regierungsbe<strong>für</strong>worter<br />

wie auch Oppositionelle.<br />

Gegen Ende des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts fand in <strong>Russland</strong><br />

ein W<strong>und</strong>er statt. Die obersten Sklaven starben<br />

einer nach dem anderen, <strong>und</strong> unser Gefängnisstaat<br />

brach einfach in sich zusammen. Von Mitte der achtziger<br />

bis zu Beginn der neunziger Jahre erhielt mein<br />

Volk die einzigartige Möglichkeit, sein Leben neu aufzubauen,<br />

eigene Entscheidungen zu treffen. 1991 befreiten<br />

wir uns zwar von der Kommunistischen Partei,<br />

doch von uns selbst konnten wir uns nicht befreien.<br />

Unser gewohnter Gesellschaftsvertrag blieb auch nach<br />

dem Zerfall der UdSSR in Kraft.<br />

Wir waren naiv. Alles erschien so einfach <strong>und</strong> offensichtlich:<br />

Unser Land ist von einer Bande von Kommunisten<br />

eingenommen worden, <strong>und</strong> wenn man die<br />

Partei verjagt, werden sich die Grenzen öffnen <strong>und</strong> uns<br />

80<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


81<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


WELTBÜHNE<br />

Essay<br />

eine Rückkehr ermöglichen in die Familie der Nationen,<br />

die nach den Gesetzen der Demokratie, der Freiheit<br />

<strong>und</strong> der Persönlichkeitsrechte leben. Die Worte<br />

klangen wie ein w<strong>und</strong>erbares Märchen über die unerreichbare<br />

Zukunft – Parlament, Republik, Verfassung,<br />

Wahlen.<br />

Irgendwie dachten wir gar nicht daran, dass all<br />

diese Worte bei uns bereits Wirklichkeit waren – immerhin<br />

galt die Verfassung Stalins aus dem Jahr 1937<br />

als „demokratischste Verfassung der Welt“ –, <strong>und</strong> auch<br />

an Wahlen nahmen wir regelmäßig teil. Wir vergaßen,<br />

dass alle guten Worte,<br />

wenn sie die Grenze zu unserem<br />

Heimatland überquerten,<br />

plötzlich eine ganz<br />

andere als ihre ursprüngliche<br />

Bedeutung annahmen.<br />

Demokratie – das bedeutete<br />

Chaos. Parlament – ein<br />

Ruheposten <strong>für</strong> das Ganoventum.<br />

Brot – Tinte. Wer<br />

hätte damals gedacht, dass<br />

die Kommunistische Partei<br />

zwar verschwindet, wir<br />

aber dieselben bleiben –<br />

<strong>und</strong> mit uns auch all die<br />

guten Worte: Demokratie,<br />

Parlament <strong>und</strong> Verfassung<br />

wurden einfach zu<br />

Schlagstöcken im endlosen<br />

Kampf um Macht <strong>und</strong> Geld<br />

im neuen <strong>Russland</strong>.<br />

Es erwies sich als unmöglich,<br />

die Wächter zu<br />

verjagen, denn jeder war<br />

sich selbst ein Wachposten.<br />

Wenn der Aufruhr im<br />

Sträflingslager nicht unterdrückt werden konnte, so<br />

hörte er irgendwie von selbst auf, <strong>und</strong> er endete einfach<br />

damit, dass die Leute in ihre Baracken zurückkehrten.<br />

Schließlich musste man weiterleben. Die Ordnung<br />

stellte sich von selbst wieder her. Die gleiche<br />

Ordnung wie früher – denn eine andere kannte dort<br />

niemand. Und wieder besetzten die Stärksten die besten<br />

Pritschen <strong>und</strong> drängten die Schwachen zum Abort.<br />

Die kommunistische Lüge wandelte sich zu einer<br />

demokratischen. Die Leute wurden nun unter demokratischen<br />

Losungen ausgeraubt. Die Clique ehemaliger<br />

Partei- <strong>und</strong> Komsomolfunktionäre teilte alle natürlichen<br />

Ressourcen unter sich auf <strong>und</strong> beeilte sich,<br />

sie so schnell wie möglich ins Ausland zu verkaufen,<br />

um heute reich zu werden, ohne an die Zukunft des<br />

eigenen Landes zu denken. In diesem Licht sieht der<br />

unterdrückte, größte Teil der Bevölkerung heute die<br />

demokratischen Reformen der neunziger Jahre. Denn<br />

hinter der Maskerade des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts treten die<br />

ewigen russischen Konstanten überdeutlich hervor:<br />

ein Haufen Diebe, Beamte <strong>und</strong> Oligarchen, die den<br />

Reichtum des Landes an sich gerissen haben <strong>und</strong> keine<br />

Sek<strong>und</strong>e daran denken, mit der armen, versoffenen<br />

Bevölkerung zu teilen. Das Geld <strong>für</strong> die bald ausverkauften<br />

Bodenschätze fließt in den Westen <strong>und</strong> wird<br />

nicht in russische Straßen, Krankenhäuser oder Schulen<br />

investiert. Staatliche Mittel, die <strong>für</strong> soziale Zwecke<br />

zur Verfügung gestellt werden, kommen größtenteils<br />

nie an ihrem Bestimmungsort an, sondern verschwinden<br />

in den Taschen der Beamten.<br />

Die Fingerabdrücke aus Lügen bleiben dieselben.<br />

So wie in der UdSSR<br />

schwindelt auch die russische<br />

Propaganda eine<br />

andere Realität vor. Die<br />

Automobilindustrie ist zusammengebrochen,<br />

die<br />

Flugzeugherstellung ebenfalls;<br />

Raketen werden zwar<br />

noch abgeschossen, doch sie<br />

stürzen regelmäßig ab; die<br />

Hälfte aller Nahrungsmittel<br />

wird importiert, Haushaltsgeräte<br />

kommen zu beinahe<br />

100 Prozent aus dem Ausland.<br />

Das Land produziert<br />

praktisch nichts mehr, der<br />

Staatshaushalt gründet allein<br />

auf dem Verkauf von<br />

Öl <strong>und</strong> Gas, doch das Fernsehen<br />

erklärt der Bevölkerung,<br />

„<strong>Russland</strong> erhebe sich<br />

von den Knien“.<br />

Putin begann seine Regentschaft<br />

sogleich mit Lügen.<br />

Als er den zweiten<br />

Tschetschenienkrieg vom<br />

Zaun brach, erklärte er gleichzeitig den Massenmedien<br />

den Krieg. Lügen umhüllten den Untergang des<br />

U-Bootes Kursk, Explosionen in Moskauer Wohnhäusern,<br />

die Tragödie in Beslan, die Geiselnahme <strong>und</strong> deren<br />

tödlichen Ausgang im Musicaltheater Nord-Ost.<br />

Gleichzeitig mit der Zunahme der Lügen steigt die<br />

Popularität des Staatsführers. Lügen gibt es nur dort,<br />

wo man nach der Wahrheit sucht. Doch da, wo man<br />

nicht sucht, da gibt es auch keine Lügen. Allein nach<br />

der Wahrheit zu suchen, wird ungemütlich.<br />

In Tolstois Roman „Anna Karenina“ fragt Levin<br />

einen Bauern: „Michajlitsch, was hältst du vom Krieg?<br />

Was findest du? Sollen wir <strong>für</strong> die Christen kämpfen?“<br />

Die Antwort: „Was soll man da denken? Zar Alexander<br />

Nikolajewitsch denkt doch <strong>für</strong> uns, das hat er immer<br />

gemacht. Er kennt sich da besser aus.“<br />

Dem Großteil der Russen erging es schlecht in<br />

der marktwirtschaftlichen Pseudodemokratie. Das<br />

sich satt gegessene Land wurde von Sehnsucht ergriffen.<br />

Generation <strong>für</strong> Generation hat man den Menschen<br />

82<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


alles weggenommen <strong>und</strong> ihnen zur Kompensation das<br />

stolze Gefühl vermittelt, Bürger eines riesigen, ruhmreichen<br />

Imperiums zu sein. Für sie wurde gedacht, <strong>für</strong><br />

sie wurde entschieden, sie wurden geleitet. Eine solche<br />

Leere empfindet wohl ein aus dem Armeedienst entlassener<br />

Berufssoldat. Plötzlich muss man Verantwortung<br />

<strong>für</strong> sein eigenes Leben übernehmen, den eigenen<br />

Weg finden, selbst denken. Die Menschen vermissten<br />

die Eindeutigkeit, die Ordnung, die Obrigkeit. Die russische<br />

Schwermut. Sehnsucht nach einem eindeutigen<br />

Weltbild. Nach der Unterteilung in eigen <strong>und</strong> fremd.<br />

Nach einem weisen väterlichen Anführer. Nach einem<br />

großen Sieg. Nach der Größe des Heimatlands. Die<br />

Propaganda keimt auf diesem gut vorbereiteten Boden.<br />

Die Fernsehbilder der Leiche Gaddafis waren <strong>für</strong><br />

diejenigen, die mein Land in Geiselhaft genommen<br />

haben, ein Wink aus den Weiten des Weltalls. H<strong>und</strong>erttausende<br />

Menschen, die sich mit den gefälschten<br />

Wahlen 2011 nicht abfinden wollten <strong>und</strong> sich auf den<br />

Plätzen Moskaus versammelten, zwangen den selbst<br />

ernannten Herrscher im Kreml zum Nachdenken. Der<br />

Sieg des Maidan <strong>und</strong> die würdelose Flucht von Wiktor<br />

Janukowitsch riefen Panik hervor <strong>und</strong> forderten<br />

sofortiges Handeln. Denn wenn die Ukrainer ihre<br />

Bande verjagen konnten, so könnte dies dem Bruder-<br />

Anzeige volk <strong>für</strong> zweifellos RECHTE als Beispiel dienen. Seite<br />

Als Erstes zog das Fernsehen in den Krieg. Das Medium<br />

zur Masseninformation wandelte sich in eine Massenvernichtungswaffe.<br />

Die Lüge ist die Verteidigungswaffe<br />

eines Regimes vor seinem Volk. Nun wurde ein<br />

von allen Diktaturen erprobtes Mittel herangezogen –<br />

ein äußerer Feind. Vor unseren Augen wandelten sich<br />

die Ukrainer zu „Ukrofaschisten“. So wurden die visionären<br />

Worte Churchills Wirklichkeit: „The fascists of<br />

the future will be called anti-fascists.“ Wieder wurden<br />

die Russen in einen Krieg gegen den Faschismus gerufen.<br />

Zum x-ten Mal in der Geschichte beruft sich ein<br />

Diktator zur Sicherung seiner Macht auf den Patriotismus.<br />

Von den Fernsehbildschirmen hallt es nun hysterisch:<br />

„mächtiges <strong>Russland</strong>“, „wir erheben uns von<br />

den Knien“, „die Rückkehr der russischen Länder“,<br />

„die Verteidigung der russischen Sprache“, „das Sammeln<br />

der russischen Erde“, „wir retten die Welt vor<br />

dem Faschismus“. Und natürlich schreitet unser Führer<br />

ganz an der Spitze voran: Putin im Panzer, Putin<br />

im U-Boot, Putin im Flugzeug.<br />

Abermals wird die Geschichte umgeschrieben,<br />

man lässt ihr nur noch kriegerische Siege <strong>und</strong> erkämpften<br />

Ruhm <strong>und</strong> unterstreicht die Losung des stalinistischen<br />

Gelehrten Michail Pokrowski: „Geschichte ist<br />

Politik, die sich der Vergangenheit zuwendet“ – <strong>und</strong><br />

bei dieser Gelegenheit auch die Losung des totalitären<br />

25 Jahre Mauerfall<br />

Patenschaften, LICHTGRENZE, Ballonaktion<br />

7. — 9. November 2014<br />

Ò berlin.de/Mauerfall2014<br />

Kooperationspartner:<br />

Unterstützer <strong>und</strong> Sponsoren:<br />

Medienpartner:<br />

© Kulturprojekte Berlin_WHITEvoid / Christopher Bauder, Foto: Daniel Büche


WELTBÜHNE<br />

Essay<br />

Regimes in Orwells „1984“: „Wer die Gegenwart beherrscht,<br />

beherrscht auch die Vergangenheit, <strong>und</strong> wer<br />

die Vergangenheit beherrscht, der wird auch in Zukunft<br />

herrschen.“ In die Schulbücher wurde bereits<br />

ein Kapitel über die ruhmreiche Rückkehr der Krim<br />

eingefügt. Das folgende Kapitel muss noch geschrieben<br />

werden: Kiew kriecht wie ein verlorener Sohn in<br />

die offenen Arme der russischen Welt.<br />

Der Krieg mit der Ukraine passt vollständig in jenes<br />

Korsett aus Lügen, das ganzen Generationen vertraut<br />

ist. „Auf der Krim gibt es keine russischen Soldaten“,<br />

heißt es unverfroren. Den eigenen Leuten ist<br />

alles klar; der Gesellschaftsvertrag<br />

der Lüge behält seine<br />

Gültigkeit. Dann wird das<br />

Offensichtliche mit selbstzufriedenem<br />

Lächeln bestätigt:<br />

„Auf der Krim waren russische<br />

Truppen.“ Im Westen w<strong>und</strong>ert<br />

man sich, wie man sein eigenes<br />

Volk so schamlos belügen kann.<br />

Doch die Bevölkerung nimmt<br />

das nicht als Lüge wahr. Krieg<br />

ist Krieg, wir verstehen doch<br />

alles, es geht darum, den Feind<br />

zu täuschen. Das ist kein Laster,<br />

sondern eine Tugend.<br />

„In der Ukraine kämpfen<br />

keine russischen Soldaten.“ –<br />

„In der Ukraine gibt es keine<br />

russischen Panzer.“ – „Die<br />

Boeing wurde von Ukrainern<br />

abgeschossen.“<br />

Das alles gab es schon oft,<br />

auch dass man über Leichen<br />

geht. Das sowjetische Radio<br />

übertrug einst folgende in Umlauf gebrachte Lüge:<br />

„Tass, die russische Nachrichtenagentur, teilt mit, dass<br />

sich kein sowjetischer Soldat auf dem Territorium Koreas<br />

befindet!“ So gab es auch keine sowjetischen Soldaten<br />

in Ägypten, in Algerien, im Jemen, in Syrien, in<br />

Angola, in Mosambik, in Äthiopien, in Kambodscha,<br />

in Bangladesch oder in Laos. Wenn sie das Glück hatten,<br />

am Leben geblieben zu sein <strong>und</strong> dann nach Hause<br />

kamen, wurde ihnen angeordnet: kein Wort! Die Heimat<br />

verleugnete sie – erst in den neunziger Jahren erkannte<br />

man sie an <strong>und</strong> subsumierte sie als Teilnehmer<br />

kriegerischer Handlungen unter den Gesetzesparagrafen<br />

„Über die Veteranen“. In diesem Gesetz ist eine<br />

Aufzählung der „unsichtbaren Kriege“ aufgeführt, in<br />

denen unsere Soldaten <strong>und</strong> Offiziere gekämpft haben,<br />

deren Teilnahme jedoch kategorisch <strong>und</strong> grimmig von<br />

unseren Regierungen verneint wurde. Die zukünftigen<br />

Gesetzgeber werden auch die Ukraine in diese Liste<br />

aufnehmen müssen.<br />

Ich erinnere mich, dass der Mutter eines meiner<br />

Klassenkameraden, der in Afghanistan gefallen war,<br />

Wenn Putin<br />

seinem eigenen<br />

Land ins Gesicht<br />

schwindelt,<br />

wissen dort alle,<br />

dass er lügt<br />

verboten wurde, auf dem Grabstein den Ort seines<br />

Todes anzugeben. Heute, wenn die „Fracht 200“ aus<br />

der Ukraine nach <strong>Russland</strong> kommt, wird den Angehörigen<br />

der in der Ukraine Gefallenen auch nicht erlaubt,<br />

ihre Geliebten öffentlich beizusetzen. Wieder<br />

werden in meiner Heimat Begräbnisse im Verborgenen<br />

durchgeführt.<br />

Niemand glaubt an die massenweisen Infarkte <strong>und</strong><br />

Gehirnschläge, die jene Soldaten aus einer Ecke bei<br />

Rostow getroffen haben sollen, als sie im Urlaub waren<br />

– alle verstehen alles. Und niemand verletzt den<br />

contrat social der Lüge. Der Vater eines Fallschirmjägers,<br />

der ohne Beine aus der<br />

Ukraine nach <strong>Russland</strong> zurückgekommen<br />

ist, hat auf<br />

Facebook geschrieben: „Mein<br />

Sohn ist Soldat, er hat seine<br />

Befehle ausgeführt, deshalb<br />

hat er, was auch immer mit<br />

ihm geschieht, richtig gehandelt,<br />

<strong>und</strong> ich bin stolz auf ihn.“<br />

Wenn Putin seinem eigenen<br />

Land ins Gesicht schwindelt,<br />

wissen alle, dass er lügt,<br />

<strong>und</strong> er selbst weiß, dass es alle<br />

wissen. Doch seine Wählerschaft<br />

ist mit seinen Lügengeschichten<br />

einverstanden.<br />

Wenn Putin den westlichen<br />

Politikern unverfroren<br />

ins Gesicht lügt, schaut er mit<br />

offensichtlichem Interesse <strong>und</strong><br />

nicht ohne Spaß auf ihre Reaktionen,<br />

sonnt sich in ihrer<br />

Fassungslosigkeit <strong>und</strong> Hilflosigkeit.<br />

Zu solchen Lügen sind<br />

sie nicht bereit. Die westlichen Politiker schwindeln<br />

anders, im demokratischen Europa herrscht ein anderer<br />

Algorithmus der Lüge. So können sie beispielsweise<br />

nicht ihre Soldaten zum Sterben schicken <strong>und</strong><br />

sich gleichzeitig von ihnen lossagen wie in <strong>Russland</strong>.<br />

Das würde ihre Wählerschaft niemals verstehen <strong>und</strong><br />

verzeihen.<br />

Wird Europa diesem Tsunami der Lügen etwas<br />

entgegensetzen können, oder wird es den Putinischen<br />

Gesellschaftsvertrag akzeptieren?<br />

Man muss die Ukrofaschisten zerschlagen. In der<br />

Ukraine gibt es keine russischen Panzer. Brot – ist Tinte.<br />

Übersetzung: Vera Patoka-Meyer<br />

MICHAIL SCHISCHKIN, 1961 in Moskau<br />

geboren, gehört zu den wichtigsten russischen<br />

Gegenwartsautoren. Er lebt seit 1995 in<br />

der Schweiz. Zuletzt erschien 2012 sein Roman<br />

„Briefsteller“ ( DVA )<br />

Foto: Evgeniya Frolkova<br />

84<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


KAPITAL<br />

„ Mit den bisherigen<br />

Mitteln werden<br />

wir das Ziel, dass<br />

in Deutschland<br />

2020 eine Million<br />

Elektroautos<br />

unterwegs sind,<br />

nicht erreichen “<br />

Henning Kagermann, Vorsitzender der Nationalen Plattform Elektromobilität, über die wenig<br />

couragierten Bemühungen der B<strong>und</strong>esregierung, die E-Mobilität zu fördern, Seite 90<br />

85<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


KAPITAL<br />

Porträt<br />

MARATHON STATT SPRINT<br />

Die Laufschuhe aus asiatischer Massenproduktion waren ihnen nicht gut genug.<br />

Deshalb stellen Ulf <strong>und</strong> Lars Lunge in Mecklenburg ihre eigenen Modelle her<br />

Von ERIC CHAUVISTRÉ<br />

Verloren steht er da, unwirklich<br />

<strong>und</strong> aus der Zeit gefallen. Der<br />

rote Backsteinbau würde gut<br />

in die Hamburger Speicherstadt passen.<br />

Doch das h<strong>und</strong>ert Jahre alte Gebäude<br />

steht, umgeben von grünen Wiesen,<br />

in Mecklenburg. So deplatziert, wie<br />

der mächtige Bau auf dem platten Land<br />

wirkt, so anachronistisch scheint auch<br />

das, was in seinem Inneren passiert.<br />

Ulf <strong>und</strong> Lars Lunge produzieren<br />

hier Laufschuhe. Mitten in Deutschland.<br />

Von dem Dorf Düssin aus treten sie gegen<br />

die globalen Sportmarken an, die ihre<br />

Schuhe millionenfach in Asiens Billiglohnfabriken<br />

herstellen lassen, um sie<br />

mit großem PR-Aufwand in den Markt<br />

zu pressen. „Die anderen denken nur ans<br />

Management, hetzen zwischen Produktions-<br />

<strong>und</strong> Absatzkontinenten hin <strong>und</strong><br />

her“, sagt Ulf Lunge, mit 53 Jahren der<br />

ältere der beiden Geschäftsführer, „wir<br />

machen alles hier.“<br />

1983 ist Ulf Lunge den Berlin-Marathon<br />

in 2 St<strong>und</strong>en <strong>und</strong> 23 Minuten gelaufen.<br />

Mit der Leistung wäre er auch<br />

heute noch unter den schnellsten deutschen<br />

Langstrecklern. Vier Jahre zuvor<br />

hatte er in Hamburg einen Laufschuhladen<br />

eröffnet. Ulf Lunge wollte an bessere<br />

Laufschuhe kommen. Damals war Laufen<br />

noch kein Breitensport in Deutschland,<br />

die Auswahl an Schuhen entsprechend<br />

überschaubar. Als das Geschäft<br />

größer wird, muss sich der Sohn eines<br />

Weinhändlers zwischen seinem BWL-<br />

Studium <strong>und</strong> der realen Wirtschaft entscheiden.<br />

Der Laden ist ihm wichtiger.<br />

Ende der achtziger Jahre steigt<br />

sein jüngerer Bruder Lars ein, auch<br />

ein ambitionierter Läufer. Nach einer<br />

Lehre als Feinmechaniker lockt<br />

den heute 48-Jährigen die Selbstständigkeit.<br />

Und das Produkt. „Wir kommen<br />

selbst vom Laufsport“, sagt Lars<br />

Lunge, „was wir hier machen, ist auch<br />

Selbstverwirklichung.“<br />

Nach Jahren im Einzelhandel wollten<br />

die Lunge-Brüder selbst Laufschuhe<br />

herstellen, die ihren eigenen Ansprüchen<br />

genügen. Zunächst probieren auch sie,<br />

in Asien zu produzieren, sind aber nicht<br />

zufrieden. Im Jahr 2005 kaufen sie den<br />

Backsteinbau, 90 Kilometer südöstlich<br />

von Hamburg. Ein Jahr später beginnt<br />

<strong>für</strong> mehrere Millionen Euro der Umbau<br />

vom Kuhstall zur Manufaktur.<br />

Seit 2007 werden hier Schuhe produziert.<br />

Die Sohlen werden geschnitten<br />

statt gepresst, so sind auch kleinere Serien<br />

wirtschaftlich. 10 000 Paar sind es<br />

inzwischen pro Jahr. 20 Mitarbeiter beschäftigen<br />

die Lunges. Die meisten davon<br />

sitzen an speziellen Nähmaschinen, in einem<br />

mit viel Tageslicht gefüllten Raum,<br />

gleich neben dem Büro der Chefs.<br />

Exakt 200 Euro kostet das Standardmodell<br />

der Lunges im Laden. Sie liegen<br />

damit nur r<strong>und</strong> 20 Euro über dem Listenpreis<br />

<strong>für</strong> die Spitzenmodelle der führenden<br />

Marken. Dennoch ist es weit mehr,<br />

als die meisten Läufer <strong>für</strong> ihre Schuhe<br />

auszugeben bereit sind. Doch Ulf Lunge<br />

ist zuversichtlich, den K<strong>und</strong>en vermitteln<br />

zu können, dass ein guter Laufschuh ein<br />

„technisches Produkt“ <strong>und</strong> „eine nachhaltige<br />

Investition in die eigene Ges<strong>und</strong>heit“<br />

ist. In solchen Momenten spricht der<br />

überzeugte Läufer aus ihm. Das könnte<br />

ihm auch der geschickteste PR-Berater<br />

nicht antrainieren.<br />

Trotz wachsender Konkurrenz durch<br />

den Onlinehandel betreiben die Lunge-<br />

Brüder weiterhin auch eigene Laufläden<br />

in Hamburg <strong>und</strong> Berlin, wo sie Schuhe<br />

aller Marken verkaufen. „Das ist unser<br />

Testfeld“, sagt Ulf Lunge. „Da sind wir<br />

am Ball, da hören wir die Trends.“<br />

Auf Werbung verzichten sie. „Was<br />

nützt uns PR, wenn die Regale leer sind“,<br />

sagt Ulf Lunge. Stiege die Nachfrage zu<br />

schnell, müssten sie die Händler auf Monate<br />

vertrösten. „Wir bauen die richtigen<br />

Schuhe, da kommen schon die richtigen<br />

Leute.“ 2013 hat die Manufaktur<br />

nach eigenen Angaben erstmals die Produktionskosten<br />

eingefahren. In diesem<br />

Jahr sollen auch die Abschreibungen mit<br />

drin sein.<br />

Die Lunges sind nüchterne Hamburger<br />

Kaufleute. Zuweilen werden sie aber<br />

richtig leidenschaftlich: Es gehe hier auch<br />

um Werte, die man nicht in Zahlen ausdrücken<br />

könne, um etwas, das bleiben<br />

werde – sagt der eine. Es sei ein gutes<br />

Gefühl, ein nachhaltiges Produkt herzustellen<br />

<strong>und</strong> den Leuten in der Region gute<br />

Jobs zu bieten – fügt der andere hinzu.<br />

Die Zeit arbeitet <strong>für</strong> sie. Je mehr über<br />

schlechte Arbeitsbedingungen in asiatischen<br />

Fabriken berichtet wird, desto höher<br />

steigt die Nachfrage nach ihren in<br />

Deutschland hergestellten Schuhen. Im<br />

roten Backsteinbau ist noch viel Platz<br />

<strong>für</strong> neue Produktionslinien. „Die anderen<br />

sind Sprinter“, sagt Ulf Lange, „wir<br />

machen Marathon.“<br />

ERIC CHAUVISTRÉ ist Journalist in Berlin.<br />

Er muss den Berlin-Marathon wegen einer<br />

Fußverletzung dieses Jahr ausfallen lassen<br />

MYTHOS<br />

MITTELSTAND<br />

Was hat Deutschland,<br />

was andere nicht haben?<br />

Den Mittelstand!<br />

<strong>Cicero</strong> stellt in jeder Ausgabe<br />

einen mittelständischen<br />

Unternehmer vor.<br />

Die bisherigen Porträts<br />

finden Sie unter:<br />

www.cicero.de/mittelstand<br />

Foto: Anna Mutter <strong>für</strong> <strong>Cicero</strong><br />

86<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


KAPITAL<br />

Porträt<br />

ÄRGER AN ALLEN FRONTEN<br />

Der Chef von Krauss-Maffei Wegmann, Frank Haun, steht mit dem Rücken zur Wand.<br />

Die arabischen Scheichs dürfen seine Panzer nicht kaufen, die B<strong>und</strong>eswehr will sie nicht<br />

Von HAUKE FRIEDERICHS<br />

Foto: Hans-Bernhard Huber/Laif<br />

Wird die arabische Halbinsel<br />

bald wieder rot? Zumindest<br />

muss Frank Haun wohl bald<br />

die Weltkarte neu ordnen, die der Chef<br />

von Krauss-Maffei Wegmann (KMW)<br />

gern seinen Besuchern zeigt. Darauf ist<br />

markiert, wohin der deutsche Panzerhersteller<br />

seine Produkte liefern darf: Blau<br />

steht <strong>für</strong> Staaten, in die Exporte möglich<br />

sind. Für rote Länder gibt es keine<br />

Ausfuhrgenehmigungen. Mit den gelben<br />

Flächen sind eingeschränkte Geschäfte<br />

möglich.<br />

Unter der schwarz-gelben B<strong>und</strong>esregierung<br />

waren die roten Gebiete <strong>für</strong><br />

deutsche Waffen in den vergangenen vier<br />

Jahren immer kleiner geworden: Nur Lieferungen<br />

in den Iran, China, Nordkorea,<br />

Weißrussland <strong>und</strong> wenige andere Staaten<br />

in Kriegs- <strong>und</strong> Krisengebieten waren<br />

nicht genehmigungsfähig.<br />

Paradiesische Zeiten <strong>für</strong> Haun <strong>und</strong><br />

sein Unternehmen. Im Frühjahr 2013<br />

konnte er den Gesellschaftern von<br />

Krauss-Maffei einen der größten Deals<br />

der Firmengeschichte präsentieren: <strong>Katar</strong><br />

bestellte bei den Münchnern <strong>für</strong> knapp<br />

1,9 Milliarden Euro 62 Kampfpanzer vom<br />

Typ Leopard 2 <strong>und</strong> 24 Panzerhaubitzen –<br />

durchgewunken von Schwarz-Gelb kurz<br />

vor dem B<strong>und</strong>estagswahlkampf.<br />

Nur anderthalb Jahre später stehen<br />

Haun <strong>und</strong> KMW mit dem Rücken zur<br />

Wand. Der <strong>Katar</strong>-Deal dürfte <strong>für</strong> lange<br />

Zeit der letzte Milliardenauftrag von der<br />

arabischen Halbinsel gewesen sein. Vizekanzler<br />

<strong>und</strong> Wirtschaftsminister Sigmar<br />

Gabriel hat Anfang September bei einem<br />

Treffen mit Vertretern der Rüstungsindustrie<br />

erneut bekräftigt, an seiner restriktiven<br />

Waffenexportpolitik festhalten<br />

zu wollen: Staaten in Krisengebieten <strong>und</strong><br />

Länder, in denen die Menschenrechte<br />

systematisch missachtet werden, erhalten<br />

keine Waffen mehr aus Deutschland.<br />

Für Haun ist das ein Riesenproblem.<br />

Denn die Scheichs waren in den vergangenen<br />

Jahren seine besten K<strong>und</strong>en. Das<br />

KMW-Vorzeigeprodukt, der Leopard 2,<br />

galt unter arabischen Herrschern als Statussymbol<br />

der eigenen Macht. In Europa<br />

findet KMW dagegen immer weniger Abnehmer.<br />

Die Verteidigungsetats sinken –<br />

<strong>und</strong> schwere Panzer gelten inzwischen<br />

eher als Auslaufmodell. Der Umsatz des<br />

Panzerherstellers, dessen Firmenzentrale<br />

in München liegt, der aber auch in<br />

Kassel <strong>und</strong> Hamburg produziert, ist seit<br />

2008 von 1,4 Milliarden Euro auf r<strong>und</strong><br />

800 Millionen Euro herabgesackt.<br />

Selbst die lukrativen Geschäfte mit<br />

Griechenland bereiten Haun jetzt Sorgen.<br />

Die Staatsanwaltschaft München<br />

ermittelt gegen ihn <strong>und</strong> weitere ehemalige<br />

KMW-Manager wegen Steuerhinterziehung<br />

<strong>und</strong> Schmiergeldzahlungen im<br />

Zusammenhang mit einem Panzerexport<br />

nach Griechenland 2002.<br />

NEU IST FÜR KMW auch die mangelnde<br />

Rückendeckung aus Berlin. Haun, der<br />

den Traditionsbetrieb seit acht Jahren<br />

leitet, gilt als enger Vertrauter von Manfred<br />

Bode. Der KMW-Patriarch, der als<br />

Aufsichtsratsvorsitzender im Hintergr<strong>und</strong><br />

die Strippen zieht <strong>und</strong> dessen Familie<br />

die Mehrheit des Unternehmens gehört,<br />

ist einer der am besten vernetzten<br />

Rüstungsmanager des Landes. Und Haun<br />

hat von seinem Mentor gelernt: Er sitzt<br />

im Advisory Council der renommierten<br />

Münchner Sicherheitskonferenz, bei der<br />

jedes Jahr hochrangige Vertreter aus Politik,<br />

Militär <strong>und</strong> Rüstungsindustrie aus<br />

der ganzen Welt in der bayerischen Landeshauptstadt<br />

zusammentreffen. Auch<br />

im Atlantic Council, der sich dem Ausbau<br />

der transatlantischen Sicherheit verschrieben<br />

hat, im Wirtschaftsbeirat der<br />

Union <strong>und</strong> in den zahlreichen Verbänden<br />

der Rüstungsindustrie mischt Haun eifrig<br />

mit. Regelmäßig trifft er im Auswärtigen<br />

Amt <strong>und</strong> in den Ministerien <strong>für</strong> Wirtschaft<br />

<strong>und</strong> Verteidigung Staatssekretäre<br />

<strong>und</strong> Minister zum Gedankenaustausch.<br />

Gesprächspartner beschreiben den<br />

55-jährigen Haun als charmant, eloquent,<br />

selbstsicher <strong>und</strong> zielstrebig. Seine Produkte<br />

stellt er als Lebensretter <strong>für</strong> deutsche<br />

Soldaten im Auslandseinsatz dar.<br />

Bezeichnungen wie Waffenschmiede verbittet<br />

sich Haun. Lieber kokettiert er hinter<br />

verschlossenen Türen damit, KMW<br />

sei doch eigentlich nur ein „Autohersteller“.<br />

Öffentlich tritt Haun dagegen selten<br />

auf. Er ist genauso medienscheu wie das<br />

Unternehmen selbst.<br />

Unbeantwortet ist bisher auch die<br />

wichtigste Frage: Wie soll es mit Haun<br />

<strong>und</strong> KMW weitergehen? Das Unternehmen<br />

hat zwar kürzlich verkündet, es<br />

strebe mit dem französischen Konkurrenten<br />

Nexter bis Ende des Jahres eine<br />

Vereinbarung über eine Fusion an, aber<br />

die Panzer der Franzosen gelten als technisch<br />

überholt, <strong>und</strong> die Modellpalette<br />

beider Firmen überschneidet sich stark.<br />

Möglicherweise spekuliert Haun auf die<br />

großzügigeren Ausfuhrbedingungen der<br />

Franzosen, um mit seinen Hightech-Panzern<br />

neue Märkte erobern zu können.<br />

Doch auch dies könnte Gabriel verhindern.<br />

Der Wirtschaftsminister bevorzuge<br />

eine Übernahme von KMW durch<br />

den Düsseldorfer Konzern Rheinmetall,<br />

heißt es aus Gabriels Umfeld. Doch diese<br />

Idee ist in München etwa so beliebt wie<br />

Medien <strong>und</strong> die Friedensbewegung, weil<br />

KMW dabei seine Eigenständigkeit verlöre<br />

<strong>und</strong> Frank Haun wohl seinen Job.<br />

HAUKE FRIEDERICHS beobachtet seit<br />

Jahren die deutsche Rüstungsindustrie <strong>und</strong> ist<br />

Autor des Buches „Bombengeschäfte – Tod<br />

made in Germany“<br />

89<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


90<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


KAPITAL<br />

Report<br />

MOBILES<br />

SCHEITERN<br />

Eine Million<br />

Elektroautos sind<br />

das Ziel, aber die<br />

Regierung versagt<br />

bei der Umsetzung<br />

<strong>und</strong> schadet der<br />

deutschen Industrie<br />

Von CHRISTIAN SCHWÄGERL<br />

Illustrationen SUSANN STEFANIZEN<br />

Die Stadt, die Gernot Lobenberg<br />

sieht, wenn er morgens zur Arbeit<br />

durch Berlin radelt, ist von<br />

vorgestern. All die Autos, die Benzin verbrennen.<br />

Auspuffe, die noch mehr Kohlendioxid<br />

in die Atmosphäre pumpen.<br />

Blechmassen, die öffentlichen Raum wegnehmen.<br />

Lieferwagen, die Straßen verstopfen<br />

<strong>und</strong> Lärm machen. Dem 50 Jahre<br />

alten Volkswirt erscheint das so anachronistisch<br />

wie Pferdedroschken <strong>und</strong> Handkarren.<br />

Lobenberg sieht vor sich bereits<br />

in klaren Konturen die Zukunft: ein Berlin<br />

mit vernetzter Elektromobilität.<br />

In dieser Stadt gibt es deutlich weniger<br />

Autos als heute, die Bewohner<br />

kommen schnell, günstig <strong>und</strong> umweltfre<strong>und</strong>lich<br />

an ihre Ziele. Sie teilen sich<br />

eine Flotte von Elektroautos, die alle<br />

Bedürfnisse abdeckt: Wer Möbel kaufen<br />

will, ruft einen Transporter, der selbst gesteuert<br />

vorfährt. Wer zu zweit an den<br />

Wannsee will, nimmt den kleinen Flitzer.<br />

Eine App ermittelt den günstigsten Weg<br />

<strong>und</strong> bucht je nach Verkehrslage die optimale<br />

Abfolge von Carsharing, Bus, Bahn,<br />

Mietfahrrad. Auch <strong>für</strong> Gepäck <strong>und</strong> Lasten<br />

stehen fahrerlose Servicefahrzeuge<br />

zur Verfügung. Lieferfahrzeuge <strong>und</strong><br />

Müllwagen sind dank Elektroantrieb<br />

so leise, als gäbe es sie nicht. Der Treibstoff<br />

kommt nicht aus russischen Ölfeldern,<br />

sondern aus Solarzellen <strong>und</strong> Brandenburger<br />

Windrädern, deren Strom an<br />

jeder Ecke geladen werden kann.<br />

91<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


KAPITAL<br />

Report<br />

Lobenberg träumt diesen Traum von<br />

Berufs wegen. Er leitet die Berliner Agentur<br />

<strong>für</strong> Elektromobilität. Deren Aufgabe<br />

ist es, die Mobilität in der Hauptstadt <strong>und</strong><br />

ihrem Umland komplett umzukrempeln.<br />

„Einfach, komfortabel <strong>und</strong> cool soll es<br />

sein, elektrisch durch die Stadt zu gleiten“,<br />

sagt der Verkehrsstratege.<br />

Doch die Realität sieht anders aus.<br />

Das 2009 von Kanzlerin Angela Merkel<br />

ausgerufene Ziel, bis 2020 eine Million<br />

Elektroautos auf deutsche Straßen<br />

zu bringen, droht zu scheitern. Bis 2014<br />

sollte es bereits 100 000 Elektroautos geben,<br />

zugelassen sind heute gerade mal<br />

20 000. Und auch wenn die Kanzlerin unermüdlich<br />

die Bedeutung der Stromautos<br />

<strong>für</strong> die Zukunft Deutschlands betont,<br />

haben andere Länder, etwa die USA als<br />

Anbieter <strong>und</strong> die Niederlande als Markt,<br />

inzwischen einen Vorsprung. Deutsche<br />

Hersteller bieten zwar 16 elektrifizierte<br />

Modelle an, vom Kleinwagen bis zum<br />

Sportcoupé. Die Deutschen wollen aber<br />

nicht von ihren Benzinern ablassen.<br />

DABEI SIND ELEKTROAUTOS beim Fahren<br />

alles andere als Spaßbremsen. Vor allem<br />

Fre<strong>und</strong>e schnellen Beschleunigens kommen<br />

auf ihre Kosten. Der Elektromotor<br />

setzt die Energie überwiegend <strong>für</strong> den<br />

Antrieb ein <strong>und</strong> nicht, wie Benzinautos,<br />

da<strong>für</strong>, die Motorhaube aufzuheizen. Wer<br />

mit einem der größeren Vorzeigemodelle<br />

deutscher Hersteller auf der Autobahn<br />

unterwegs ist, kann im Rückspiegel viele<br />

verdutzte Gesichter sehen, die sich über<br />

das geräuschlose Geschoss w<strong>und</strong>ern.<br />

Die Freude endet aber schnell beim<br />

Blick auf die Reichweite. Etwa 100 Kilometer<br />

beträgt sie <strong>für</strong> E-Kleinwagen.<br />

Wer Klimaanlage <strong>und</strong> Radio dazuschaltet,<br />

kann zuschauen, wie die Restleistung<br />

gegen null rast. Dann heißt es, schnell<br />

eine der seltenen Stromsäulen zu finden,<br />

bevor der Wagen liegen bleibt. Nutzbar<br />

ist er dann in der Regel erst wieder acht<br />

St<strong>und</strong>en später.<br />

Diese technischen Grenzen treffen<br />

die Autofahrer an einem empfindlichen<br />

Nerv, sagt Tom Kedor, der Betreiber der<br />

Internetplattform Motor-Talk, einer Art<br />

Facebook <strong>für</strong> deutsche Autofahrer mit<br />

zwei Millionen registrierten Nutzern.<br />

Im Alltag sei das Auto zwar Mittel zum<br />

Zweck, es sei aber zugleich ein Symbol<br />

von Freiheit. „Zwischen den politischen<br />

Zielen <strong>und</strong> dem, was Autofahrer denken<br />

<strong>und</strong> fühlen, gibt es eine riesige Kluft“,<br />

sagt Kedor.<br />

Anfang des Jahres hat er unter seinen<br />

Nutzern eine Befragung durchgeführt<br />

– <strong>und</strong> überwiegend negative Urteile<br />

zur Elektromobilität ermittelt. „Viele<br />

Menschen <strong>für</strong>chten, dass Elektromobilität<br />

ihre persönliche Freiheit reduzieren<br />

wird, weil die Autos viel kosten, eine geringe<br />

Reichweite haben <strong>und</strong> das Laden<br />

der Batterie so lange dauert.“ 82 Prozent<br />

der r<strong>und</strong> 5000 Befragten würden<br />

nicht einmal dann ein Elektroauto kaufen,<br />

wenn der Staat ihnen 2500 Euro dazugeben<br />

würde.<br />

Ähnlich abwehrend denken bisher<br />

viele Manager von Firmenflotten, sogar<br />

die Beamten, die in B<strong>und</strong>esministerien<br />

da<strong>für</strong> zuständig sind, neue Autos anzuschaffen.<br />

Durch eine kleine Anfrage des<br />

Grünen-Abgeordneten Stephan Kühn<br />

kam heraus, dass nur ein kleiner Teil der<br />

neuen Fahrzeuge im Dienst der B<strong>und</strong>esregierung<br />

Elektroautos sind.<br />

Für Kanzlerin Merkel, Automanager<br />

<strong>und</strong> Verkehrsstrategen wie Gernot<br />

Lobenberg ist diese Negativstimmung<br />

alarmierend. Bei kaum einem anderen<br />

Alltagsprodukt hat sich je eine B<strong>und</strong>esregierung<br />

so stark engagiert. Das Kalkül<br />

ist nicht nur ökologisch: Die Automobilindustrie<br />

ist das Rückgrat der deutschen<br />

Wirtschaft. Wenn sich die Elektromobilität<br />

als wettbewerbsfähig erweist <strong>und</strong> die<br />

USA, Japan oder China diesen Markt dominierten,<br />

würde das Deutschlands Wirtschaft<br />

empfindlich treffen.<br />

DA ELEKTROMOBILITÄT gr<strong>und</strong>legende<br />

technische Innovationen <strong>und</strong> eine neue<br />

Infrastruktur erfordert, sieht sich die Regierung<br />

in der Rolle der Geburtshelferin.<br />

Die Subventionen sind bisher im Gegensatz<br />

zu anderen Ländern eher indirekter<br />

Natur, Kaufprämien gibt es nicht. R<strong>und</strong><br />

1,5 Milliarden Euro flossen in Deutschland<br />

in Forschungsförderung <strong>und</strong> Pilotprojekte.<br />

Regierung, Wirtschaft <strong>und</strong><br />

Wissenschaft kooperieren eng in der<br />

„Nationalen Plattform Elektromobilität“,<br />

der NPE.<br />

Trotz aller Anstrengungen will sich<br />

die Realität aber partout nicht nach den<br />

Plänen der Regierung richten. Ende 2014<br />

läuft bereits die „Marktvorbereitungsphase“<br />

aus: die Zeit also, in der erste<br />

Modelle in den Handel kommen <strong>und</strong> die<br />

Infrastruktur der E-Mobilität vorbereitet<br />

wird. Was nun folgen soll, heißt „Markthochlauf“.<br />

Jetzt geht es darum, elektrisches<br />

Autofahren zum Massenphänomen<br />

zu machen. Bereits 2015 wird sich zeigen,<br />

ob Merkels Ziel noch erreichbar ist – oder<br />

sich als teure Fehlinvestition erweist.<br />

Das Hauptproblem ist, dass es nicht<br />

reicht, einfach einen Verbrennungsdurch<br />

einen Elektromotor zu ersetzen.<br />

92<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


Weil sie verschlafen haben, über Erdgas<br />

als Lösung nachzudenken.<br />

Erdgas aus Norwegen ist die emissionsarme <strong>und</strong> kosteneffektive Antwort auf Deutschlands<br />

Energiefragen. Es wird Zeit, die Augen zu öffnen, damit Deutschland die Energiewende<br />

nicht verschläft: Denn norwegische Erdgasreserven können den Bedarf Deutschlands in den<br />

nächsten Jahrzehnten problemlos <strong>und</strong> umweltfre<strong>und</strong>lich decken.<br />

Mehr Information auf statoil.de


KAPITAL<br />

Report<br />

„ Um weltweit<br />

Leitanbieter zu<br />

werden, muss<br />

man erst mal<br />

selbst Leitmarkt<br />

sein. Sonst gefährdet<br />

man<br />

die deutsche<br />

Autoindustrie“<br />

Henning Kagermann,<br />

Vorsitzender der<br />

Nationa len Plattform<br />

Elektromobilität<br />

Um zu funktionieren, braucht Elektromobilität<br />

ein dichtes Netz von Ladepunkten.<br />

Von den 1,2 Millionen Ladepunkten,<br />

die laut NPE deutschlandweit 2020<br />

unbedingt nötig sind, steht aber erst ein<br />

geringer Teil.<br />

Weil die Zeit drängt, setzt im Regierungsviertel<br />

nun hektische Betriebsamkeit<br />

ein. Der B<strong>und</strong>estag will noch im<br />

Herbst ein neues Gesetz zur Förderung<br />

der Elektromobilität beschließen. Henning<br />

Kagermann, der NPE-Vorsitzende,<br />

arbeitet an einer Reihe von Sofortmaßnahmen,<br />

um Wunsch <strong>und</strong> Wirklichkeit<br />

doch noch in Einklang zu bringen.<br />

Kagermann, 67 Jahre alt, ein grauhaariger<br />

Mann mit spitzbübischem Lächeln,<br />

war bis 2009 Chef des Softwarekonzerns<br />

SAP. Seither steht er an<br />

der Spitze der Technikakademie Acatech<br />

<strong>und</strong> zahlreicher anderer Gremien<br />

im Dienst der Innovation. Er glaubt fest<br />

an die Kreativität deutscher Erfinder <strong>und</strong><br />

Ingenieure: „Vor einigen Jahren forderten<br />

manche in der Autoindustrie noch,<br />

die Regierung soll das Land mit Ladestationen<br />

zum Preis von 10 000 Euro das<br />

Stück überziehen, heute reden wir über<br />

smarte Lösungen von Start-ups, etwa<br />

mithilfe von Straßenlaternen, die nur<br />

einen Bruchteil davon kosten.“<br />

Kagermann verweist auf eine Reihe<br />

von Fortschritten. Die Batterien, das<br />

teure Herzstück der Elektroautos, würden<br />

rasch billiger. Bei höherer Nachfrage<br />

werde der Anschaffungspreis von Elektroautos<br />

deutlich sinken. Schnelle Ladestationen<br />

mit Tankzeiten von nur noch<br />

20 Minuten würden marktreif. Und ein<br />

Kabelsalat wie <strong>für</strong> die Aufladung von<br />

Mobiltelefonen sei rechtzeitig vermieden<br />

worden; Autofahrer würden in ganz<br />

Europa einheitliche Stecker verwenden.<br />

Doch auch sein Optimismus hat eine<br />

eng begrenzte Reichweite. Ende November<br />

will Kagermann der B<strong>und</strong>eskanzlerin<br />

den dritten Zwischenbericht zum Stand<br />

der Elektromobilität vorlegen. Dessen<br />

zentrale Botschaft steht schon jetzt fest:<br />

„Mit den bisherigen Mitteln werden wir<br />

das Ziel, dass in Deutschland 2020 eine<br />

Million Elektroautos unterwegs sind,<br />

nicht erreichen.“<br />

Frühestens 2018 sei damit zu rechnen,<br />

dass die Elektromobilität sich selbsttragend<br />

entwickle, sagt Kagermann.<br />

„Dazu muss die Politik zusätzliche Anreize<br />

<strong>und</strong> bessere Rahmenbedingungen<br />

schaffen, <strong>und</strong> zwar nicht erst in zwei,<br />

drei Jahren, sondern jetzt.“ Im Zentrum<br />

seiner Strategie stehen Dienstwagen.<br />

Sie machen 60 Prozent der Neufahrzeuge<br />

aus, oftmals werden sie in großer<br />

Stückzahl angeschafft. Um eine Million<br />

E-Wagen auf die Straße zu bringen, muss<br />

man also nicht eine Million Autokäufer<br />

überzeugen, sondern Deutschlands Flottenmanager.<br />

Ihnen will Kagermann die<br />

neuen Autos mit einer besonders großzügigen<br />

steuerlichen Abschreibung<br />

schmackhaft machen.<br />

RUND 200 MILLIONEN EURO Steuermindereinnahmen<br />

pro Jahr würde dieses Privileg<br />

verursachen. Zudem solle der Staat<br />

jährlich 110 Millionen Euro in den Bau<br />

von öffentlichen Ladepunkten investieren<br />

<strong>und</strong> weiterhin 500 Millionen Euro in<br />

die Forschungsförderung stecken, fordert<br />

der Innovationsmanager. Die Investitionen<br />

würden sich in Form von Arbeitsplätzen<br />

<strong>und</strong> Steuereinnahmen mehr als rentieren,<br />

sagt Kagermann, ohne sie sei die<br />

Position der deutschen Automobilindustrie<br />

gefährdet: „Um weltweit Leitanbieter<br />

zu sein, muss man selbst Leitmarkt sein.“<br />

Bei B<strong>und</strong>esfinanzminister Wolfgang<br />

Schäuble stoßen solche Forderungen<br />

aber auf Vorbehalte. Niemand soll<br />

seinen ausgeglichenen Haushalt antasten.<br />

Der B<strong>und</strong>estagsabgeordnete Andreas<br />

Jung, Beauftragter der CDU/<br />

CSU-B<strong>und</strong>estagsfraktion <strong>für</strong> Elektromobilität,<br />

hält das <strong>für</strong> gefährlich. „Wir treten<br />

bei der Elektromobilität jetzt in die<br />

entscheidende Phase ein“, sagt er. „Um<br />

doch noch von 20 000 Autos auf eine Million<br />

zu kommen, können wir es uns nicht<br />

leisten, dass die Mühlen langsam mahlen.“<br />

Auch Jung ist der Meinung, dass<br />

Unternehmensflotten der Schlüssel zum<br />

Erfolg sind, der B<strong>und</strong>estag müsse deshalb<br />

die Steuervorteile rasch beschließen.<br />

Andernfalls drohe eine „doppelte<br />

Bremsung“: Potenzielle Käufer warten<br />

immer länger ab, ob es nicht doch noch<br />

Fördermittel gebe.<br />

Auf die Regierung kommt obendrein<br />

eine viel gr<strong>und</strong>sätzlichere Frage zu: Elektroautos,<br />

zumindest die von heute, passen<br />

mit ihrer geringen Reichweite <strong>und</strong><br />

ihrem ökologischen Anspruch nicht<br />

wirklich in ein Verkehrskonzept, das auf<br />

unbegrenzte Automobilität setzt. Städte,<br />

die wirklich umweltfre<strong>und</strong>lich sein wollen,<br />

brauchen die riesigen Verkehrs- <strong>und</strong><br />

Parkplatzflächen von heute in Zukunft<br />

<strong>für</strong> bessere Zwecke: etwa um Lebensmittel<br />

nah am Verbraucher anzubauen, wie<br />

das in sogenannten „essbaren Städten“<br />

erprobt wird. Oder um Fahrradspuren<br />

zu schaffen, auf denen sich diese wirklich<br />

ressourcenschonenden Verkehrsteilnehmer<br />

sicher bewegen können.<br />

Nicht nur Autofahrer, die sich von<br />

100 Kilometern Reichweite abschrecken<br />

lassen, zweifeln an der Strategie<br />

der Kanzlerin, Benzinautos eins zu eins<br />

durch Elektroautos ersetzen zu wollen,<br />

sondern auch Umweltschützer. Für längere<br />

Strecken sollten nicht Autos die zentrale<br />

Rolle spielen, sondern ein „leistungsfähiges<br />

Bahn- <strong>und</strong> Fernbusnetz<br />

mit b<strong>und</strong>esweit aufeinander abgestimmten<br />

Anschlüssen“, fordern die deutschen<br />

Umweltverbände in einem verkehrspolitischen<br />

Alternativkonzept.<br />

Die B<strong>und</strong>esregierung verfolgt derzeit<br />

einen anderen Weg: Das Fördergesetz,<br />

das der B<strong>und</strong>estag in diesem Herbst<br />

beschließen soll, sieht als wichtige Neuerung<br />

vor, Busspuren <strong>für</strong> Elektroautos zu<br />

öffnen. Geht der Plan auf, stehen Busse<br />

an der Ampel wieder Schlange.<br />

CHRISTIAN SCHWÄGERL<br />

fuhr zu den Rechercheterminen<br />

<strong>für</strong> diese Geschichte entweder<br />

mit dem Fahrrad oder mit<br />

einem Elektroauto<br />

Foto: Privat<br />

94<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


* Gebührenfrei aus dem deutschen Festnetz<br />

Warum sind fast alle Spitzenköche Männer? Und sehen sogar so<br />

aus? Wie Alex Atala, Brasiliens Star koch, der <strong>für</strong> den Regenwald<br />

kämpft – <strong>und</strong> das wahrscheinlich mit bloßen Händen.<br />

Das Biest,<br />

welches er hier als Serviervorschlag dem Amazonas entrungen hat,<br />

ist ein Pirarucu – behauptet zumindest unser Wissensredakteur.<br />

Das rezeptfreie Koch gespräch aus Ausgabe 6/2014 lesen Sie auf<br />

www.weltamsonntag.de/inspiration.<br />

4 Wochen kostenlos Probe lesen unter 0800/8508030.*


KAPITAL<br />

Kommentar<br />

RÜCKKEHR DER KRISE<br />

Deutschlands Politiker <strong>für</strong>chten sich mal wieder vor<br />

der Inflation <strong>und</strong> lassen EZB-Präsident Mario Draghi<br />

im Kampf gegen die viel gefährlichere Deflation allein<br />

Von HENRIK ENDERLEIN<br />

Stellen Sie sich vor, Sie sähen als<br />

Arzt bei einem Patienten Anzeichen<br />

einer extrem schweren chronischen<br />

Krankheit im Anfangsstadium.<br />

Es gibt ein Medikament mit unschönen,<br />

aber nicht wirklich gefährlichen Nebenwirkungen.<br />

Die Wahrscheinlichkeit eines<br />

Ausbruchs liegt bei 30 Prozent. Würden<br />

Sie das Medikament verschreiben oder<br />

nichts tun <strong>und</strong> hoffen, dass der Patient<br />

zu den zwei Dritteln gehört, die von der<br />

Krankheit verschont bleiben?<br />

Die europäische Volkswirtschaft<br />

kämpft mit den ersten Anzeichen einer<br />

Deflation. Aktuell steigt die Teuerungsrate<br />

im Euroraum mit 0,3 Prozent<br />

kaum noch. Die Chefin des Internationalen<br />

Währungsfonds Christine Lagarde<br />

beziffert die Wahrscheinlichkeit einer<br />

langwierigen Deflation in Europa mit<br />

30 Prozent.<br />

In Deutschland kümmert sich kaum<br />

jemand um dieses Risiko. Im Gegenteil:<br />

EZB-Präsident Mario Draghi muss Prügel<br />

da<strong>für</strong> einstecken, dass er mit Notmaßnahmen<br />

wie Anleihekäufen oder<br />

negativen Zinsen die Deflationsgefahr<br />

einzudämmen versucht.<br />

Seine Kritiker verweisen auf die<br />

großen Risiken dieser Notmaßnahmen.<br />

Aber sollten sie nicht auch die Risiken<br />

des Nichthandelns betrachten? In der<br />

Medizin tun wir das ständig: Wir stellen<br />

Risiken <strong>und</strong> Nebenwirkungen einer Behandlung<br />

ins Verhältnis zum Risiko der<br />

Krankheit. Wer Medikamente komplett<br />

ablehnt, ist entweder in den Fängen einer<br />

Sekte gelandet oder aus anderen Gründen<br />

nicht mehr ganz bei Sinnen.<br />

Bei der Debatte in Deutschland geht<br />

es fast immer nur um die Nebenwirkung<br />

Den Deutschen noch immer<br />

suspekt: der italienische<br />

EZB-Präsident Mario Draghi<br />

Inflation, als vermeintlich gefährlichstes<br />

Übel. Überraschend ist das nicht.<br />

Die deutsche Inflationsangst ist legendär.<br />

„Bei den Italienern gehört Inflation<br />

zum Leben wie Tomatensoße zur Pasta!“,<br />

schrieb die Bild 2011 in einer Kampagne<br />

gegen Mario Draghi.<br />

Es ist richtig, dass Inflation gefährlich<br />

ist. Und niemand wünscht sich, dass<br />

die EZB ihr Preisstabilitätsziel von knapp<br />

2 Prozent aufgibt. Nur sind wir von diesem<br />

Wert weit entfernt. Und die drohende<br />

Krankheit Deflation kann deutlich gefährlicher<br />

sein als eine Inflation. Ist eine Deflationsspirale<br />

einmal in Gang gesetzt, lassen<br />

sich Preisverfall <strong>und</strong> konjunkturelle<br />

Stagnation kaum noch bremsen.<br />

Ein Blick nach Japan reicht aus. Seit<br />

den frühen neunziger Jahren versucht<br />

Foto: Olaf Blecker<br />

96<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


das Land mit allen Kräften wieder Preisauftrieb<br />

zu erzeugen. Erfolglos. Ein Vierteljahrh<strong>und</strong>ert<br />

Deflation hat die ehemals<br />

dynamischste Volkswirtschaft der Welt<br />

brutal zurückgestutzt.<br />

Warum ist Deflation so gefährlich?<br />

Der Gr<strong>und</strong> ist ihre sich selbst verstärkende<br />

Wirkung. Fallen die Preise kontinuierlich,<br />

schieben Verbraucher <strong>und</strong><br />

Firmen ihre Käufe <strong>und</strong> Investitionen so<br />

lange wie möglich auf. Abwarten heißt<br />

Geldgewinn. Autos oder Maschinen werden<br />

erst ersetzt, wenn sie ersetzt werden<br />

müssen. Und eine Investition zu tätigen,<br />

ist in Zeiten fallender Preise mit deutlich<br />

größerem Risiko verb<strong>und</strong>en. Denn<br />

selbst bei Nullzinsen ist der Kauf einer<br />

Immobilie kein gutes Geschäft, wenn der<br />

Preis der Immobilie Jahr <strong>für</strong> Jahr sinkt.<br />

In Deflationszeiten ist die beste Geldanlage<br />

das Halten von Bargeld. Denn <strong>für</strong><br />

100 000 Euro Cash kann ich bei fallenden<br />

Preisen schon im kommenden Jahr<br />

mehr Güter kaufen als heute.<br />

Leider ist das Immobilienbeispiel<br />

nicht nur eine gute Illustration der Deflationsgefahren.<br />

Es zeigt auch, warum<br />

kaum jemand in Deutschland diese Deflationsgefahr<br />

ernst nimmt. Steigen nicht<br />

gerade Mieten <strong>und</strong> Häuserpreise rasant<br />

an? Ist es nicht gerade die „Politik des<br />

billigen Geldes“, die Preisexplosion <strong>und</strong><br />

Blasenbildung verursacht?<br />

Die europäische Konjunktur befindet<br />

sich in einer widersprüchlichen Lage.<br />

Während die einen über das Ende der<br />

Krise jubeln, sehen andere Anzeichen einer<br />

langwierigen Stagnation. Während<br />

die Nullzinspolitik den einen hohe Rendite<br />

bringt, tun sich andere schwer, überhaupt<br />

noch Kredite <strong>für</strong> Investitionen zu<br />

bekommen.<br />

In der Tat hat die Eurokrise einen<br />

Wendepunkt erreicht. Der Zerfall der<br />

Währungsunion ist keine direkte Bedrohung<br />

mehr. Zinsspreizungen sind<br />

zurückgegangen <strong>und</strong> der Teufelskreis<br />

zwischen Staaten <strong>und</strong> Banken hat <strong>für</strong><br />

viele Beobachter einen Großteil seiner<br />

zerstörerischen Dynamik verloren. In<br />

Deutschland ist die konjunkturelle Arbeitslosigkeit<br />

kaum noch ein Problem.<br />

Die „schwarze Null“ ist der ganze Stolz<br />

des B<strong>und</strong>esfinanzministers.<br />

Doch auch die B<strong>und</strong>esregierung hat<br />

ihre Wachstumszahlen nach unten korrigiert.<br />

Im zweiten Quartal dieses Jahres<br />

Es könnte schon<br />

zu spät sein,<br />

um Europa vor<br />

der Deflation zu<br />

schützen <strong>und</strong><br />

Investitionen zu<br />

fördern<br />

ist die deutsche Wirtschaft nicht mehr gewachsen.<br />

Und im Rest des Euroraums ist<br />

die Lage ohnehin deutlich angespannt.<br />

Zu den ökonomischen Risiken gesellen<br />

sich die politischen Risiken. Die meisten<br />

Wirtschaftskrisen folgen einer Drei-<br />

Schritte-Logik. Am Anfang steht die<br />

Finanzmarkt- <strong>und</strong> Bankenkrise. Dann<br />

folgt der Konjunktureinbruch mit finanz<strong>und</strong><br />

geldpolitischen Auswirkungen, die<br />

harte Einschnitte nach sich ziehen. Die<br />

dritte Phase der Krise ist die politische.<br />

Jede Krise bringt Verlierer hervor. In den<br />

europäischen Krisenländern geht es um<br />

komplette verlorene Generationen. Das<br />

Ergebnis ist in vielen Ländern eine Mischung<br />

aus Krisenerschöpfung, Austeritätsverdruss<br />

<strong>und</strong> politischer Radikalisierung.<br />

Die Folgen haben wir bei der<br />

Europawahl beobachten können.<br />

Wirtschaftskrisen enden erst dann,<br />

wenn erste – oft isolierte – Wachstumsimpulse<br />

einen Schneeballeffekt erzeugen.<br />

Es gibt zwei zentrale Auslöser einer solchen<br />

Dynamik: Strukturreformen <strong>und</strong><br />

Investitionen.<br />

BEIDE WEGE SIND STEINIG: Dringend<br />

nötige Strukturreformen treiben Regierungen<br />

in Krisenländern an die Grenzen<br />

ihrer Handlungsfähigkeit, weil sie<br />

erst langfristig Wirkung zeigen werden.<br />

Im Jahr fünf der Eurokrise <strong>und</strong> Jahr sieben<br />

der Weltwirtschaftskrise ist die Bereitschaft,<br />

weitere Einschnitte hinzunehmen,<br />

in den Krisenländern deutlich<br />

gesunken. Aber auch die deutsche Bevölkerung<br />

weiß, dass hohe Arbeitslosigkeit<br />

<strong>und</strong> niedriges Wachstum kein leichtes<br />

Umfeld <strong>für</strong> Reformen sind. Dass die<br />

Reformen trotzdem notwendig sind, steht<br />

außer Frage. Aber sie werden das Wachstum<br />

erst in mehreren Jahren nach Europa<br />

zurückbringen.<br />

Investitionsprogramme können eine<br />

sofortige Wirkung entfalten. Aber die Investitionsbereitschaft<br />

ist wegen der stagnierenden<br />

Konjunktur <strong>und</strong> der fallenden<br />

Preise gering. Wenigstens dieses Problem<br />

ist erkannt: Investition ist schon jetzt das<br />

Wirtschaftswort des Jahres 2014. Nur leider<br />

kann kein Politiker Investitionen herbeireden.<br />

Und die EZB, die Liquidität in<br />

den Markt pumpt, um Investitionen zu<br />

erleichtern, sieht, dass ein Großteil in<br />

Immobilien oder Aktien fließt, ohne<br />

den Produktionskreislauf nachhaltig zu<br />

stärken.<br />

Was ist zu tun? Die schlechte Nachricht<br />

ist, dass es schon zu spät sein könnte,<br />

um Europa vor der Deflation zu schützen.<br />

Die gute Nachricht wäre, dass wir jetzt<br />

zumindest alles tun, was noch getan werden<br />

kann: Erstens muss sich die Kombination<br />

aus Schuldenabbau <strong>und</strong> Reformen<br />

in ganz Europa fortsetzen. Zweitens sollten<br />

sich die Akzente beim Schuldenabbau<br />

aber leicht verschieben <strong>und</strong> nicht mehr<br />

nur bei den kurzfristig verfügbaren Mitteln<br />

ansetzen – in der Regel Investitionen.<br />

Das Drei-Prozent-Kriterium der EU-Verträge<br />

könnte um einen „Zukunftsfaktor“<br />

ergänzt werden, der Investitionen ausspart.<br />

Drittens sollte die Europäische Zentralbank<br />

den kompletten Spielraum ihres<br />

Mandats ausnutzen, um die Deflation zu<br />

bekämpfen, Nebenwirkungen inklusive.<br />

Wer die „Politik des billigen Geldes“ der<br />

Zentralbank kritisiert, muss erklären, wie<br />

ohne diese Politik überhaupt noch Investitionen<br />

erfolgen können, um das Deflationsrisiko<br />

zu begrenzen.<br />

Denn die Gefahren der Deflation<br />

sollte niemand unterschätzen. In Japan<br />

verdoppelte sich in den ersten Jahren<br />

der Deflation der Wert des Yen – <strong>für</strong> die<br />

deutsche Exportwirtschaft wäre das Gift.<br />

Gleichzeitig stürzten die Aktienkurse<br />

ab <strong>und</strong> der Schuldenstand stieg bis auf<br />

Rekordwerte von über 200 Prozent der<br />

Jahreswirtschaftsleistung.<br />

Wer solche Risiken bewusst in Kauf<br />

nimmt, handelt grob fahrlässig.<br />

HENRIK ENDERLEIN<br />

ist Direktor des Jacques-Delors-Instituts in<br />

Berlin <strong>und</strong> Professor <strong>für</strong> politische Ökonomie<br />

an der Hertie School of Governance<br />

97<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


KAPITAL<br />

Fotoessay<br />

IM BIER<br />

UND JETZT<br />

98<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


Mit der Wiesn beginnt in Bayern die<br />

fünfte Jahreszeit. Der Fotograf<br />

Michael von Graffenried hat sich mit<br />

seiner Panoramakamera in die<br />

Menge geworfen <strong>und</strong> einfach abgedrückt


KAPITAL<br />

Fotoessay<br />

„Ich lege die Leute ein bisschen rein“, sagt von<br />

Graffenried. Nur die wenigsten bemerken dabei<br />

überhaupt, dass sie von ihm fotografiert werden.<br />

Damit fallen nicht nur die Hemmungen<br />

100<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


Ein Krug, ein Zug: Eine Gruppe von Männern<br />

feuert ihren Fre<strong>und</strong> beim Trinken an. Ob er<br />

die Maß auf ex schafft oder nicht, ist am<br />

Ende egal. Die nächste ist eh schon bestellt<br />

Im vergangenen Jahr versorgte das <strong>Rote</strong><br />

Kreuz auf dem Oktoberfest 7551 Menschen,<br />

3600 davon mussten ärztlich behandelt<br />

werden – 638 wegen einer Alkoholvergiftung


KAPITAL<br />

Fotoessay<br />

14 Festzelte gibt es auf dem Oktoberfest.<br />

Vom Schottenhamel über das Bräurosl bis zum<br />

Hacker. Hier lassen die Gäste die Bedienungen<br />

am letzten Wiesn-Sonntag hochleben<br />

102<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


Für seine Panoramabilder nimmt<br />

von Graffenried am liebsten das<br />

Bad in der Menge. Hier fühlt er sich<br />

wie ein „Fisch im Wasser“, sagt er<br />

104<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


Das Herzkasperl-Festzelt ist das Kulturzelt<br />

der historischen Wiesn. Hier gibt es Schuhplattler,<br />

Trachten <strong>und</strong> a echte Blosmusi – besonders<br />

beliebt beim älteren Wiesn-Publikum<br />

Je später die St<strong>und</strong>e, desto mehr geht<br />

verloren – das Geld, die Manieren, das<br />

Gedächtnis. Nun heißt es: Gemeinsames<br />

Ausnüchtern, am Fuße der Bavaria


KAPITAL<br />

Fotoessay<br />

Zwei Mädchen laufen über den Festplatz.<br />

Auf dem Kopf tragen sie ein paar Plüschohren.<br />

Die Tracht feiert mit dem Oktoberfest<br />

ein Comeback – nicht immer ganz stilecht<br />

Braurösser <strong>und</strong> Karussellpferde drehen wieder<br />

ihre R<strong>und</strong>en, das Starkbier fließt in<br />

Hektolitern <strong>und</strong> ein satter Duft von Hendl<br />

<strong>und</strong> gebrannten Mandeln steigt auf. Wenn<br />

die Spätsommersonne ein letztes Mal die<br />

Wadeln wärmt, fiebert ganz München seiner fünften<br />

Jahreszeit entgegen: dem Oktoberfest. Über sechs Millionen<br />

Besucher strömen dann auf den Festplatz unter<br />

der Bavaria <strong>und</strong> machen aus der Theresienwiese<br />

die Wiesn – das größte Volksfest der Welt. Eine närrische<br />

Bühne bayerischer Lebensart oder zumindest<br />

der Idee davon.<br />

Zwei Wochen lang färbt sich hier die Welt weißblau.<br />

Und in schunkelnder Übereinkunft schmiegen<br />

sich lederbehoste Burschen an Dirndl mit festgezurrten<br />

Busen, in dampfenden Festzelten <strong>und</strong> kreischenden<br />

Fahrgeschäften, bis auch der letzte Tropfen ausgetrunken<br />

ist. 6,7 Millionen Maß Bier waren es im<br />

vergangenen Jahr, begleitet von mehr als einer halben<br />

Million Hendl.<br />

Das wilde Treiben gibt es nun im Breitbild. Der<br />

Schweizer Fotograf Michael von Graffenried, 1957<br />

in Bern geboren, hat es in der Serie „Bierfest“ festgehalten.<br />

Schnappschüsse im Panoramaformat. Seit<br />

1991 arbeitet er fast ausschließlich mit einer alten<br />

mechanischen Widelux-Kamera, die er auf einem<br />

Markt in Algerien entdeckte, als er dort den Bürgerkrieg<br />

dokumentierte. Der Schritt nach München liegt<br />

da nicht unbedingt nahe, außer vielleicht insofern, als<br />

dass von Graffenried erklärt: „Manchmal fühlt es sich<br />

auch hier an wie Bürgerkrieg.“ Das ist natürlich etwas<br />

zynisch, aber nicht unbedingt verkehrt.<br />

Die Panoramakamera bedient er manuell, ohne<br />

Scharfeinstellung <strong>und</strong> ohne durch den Sucher zu gucken.<br />

An einem Band hängt sie um seinen Hals vor der<br />

Brust, die Hände ruhig auf dem Auslöser, bis er einfach<br />

abdrückt. Auf gut Glück. Das Objektiv fährt dann<br />

langsam von links nach rechts <strong>und</strong> streicht das Licht<br />

wie bei einem Laserdrucker auf den Film. So entstehen<br />

160-Grad-Aufnahmen, kritisch, ironisch, manchmal<br />

verwackelt <strong>und</strong> nicht immer ganz freiwillig, denn<br />

von Graffenrieds Modelle bekommen von den Fotoarbeiten<br />

meist nichts mit. Ihnen ist das Bier zu Kopf gestiegen.<br />

Ein Knipser <strong>und</strong> sie wanken weiter, dem Zapfenstreich<br />

entgegen. Sarah-Maria Deckert<br />

Michael von Graffenrieds Panoramafotografien stammen<br />

aus dem Bildband „Bierfest“, der demnächst im Steidl‐Verlag<br />

Göttingen erscheinen wird<br />

106<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


STIL<br />

„ Wenn zwei<br />

Männer über<br />

eine Frau reden,<br />

besteht entweder<br />

die Gefahr der<br />

Vergöttlichung<br />

oder der<br />

Verschlampung. “<br />

Der Regisseur Christian Petzold über Frauenbilder im deutschen Kino,<br />

Interview ab Seite 118<br />

107<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


STIL<br />

Porträt<br />

SCHLAFT EUCH NACH OBEN!<br />

Die Unternehmerin Arianna Huffington empfiehlt in ihrem neuen Buch erschöpften<br />

Karrieristen, auch mal zur Ruhe zu kommen. Und sie selbst? Zelebriert das Multitasking<br />

Von LENA BERGMANN<br />

Foto: John Keatley/Redux/Laif<br />

Bevor sich die Blondine mit standhafter<br />

Föhnfrisur im New Yorker<br />

Büro der Huffington Post zum<br />

Skypen vor einem Bücherregal positioniert,<br />

stellt ein Assistent <strong>für</strong> sie die Verbindung<br />

her <strong>und</strong> prüft die Qualität von<br />

Ton <strong>und</strong> Bild. Dann richtet er die Kamera<br />

so aus, dass seine Chefin ideal eingerahmt<br />

wird. Der Hintergr<strong>und</strong> ist auf<br />

gemütlich gestylt: Bildbände, gerahmte<br />

Fotos <strong>und</strong> ein paar kleinere Gegenstände<br />

stehen im Regal – offensichtlich ist dies<br />

Huffingtons Skype-Ecke.<br />

Die 64 Jahre alte Unternehmerin,<br />

Online-Pionierin, ehemalige Republikanerin,<br />

Mutter <strong>und</strong> Autorin hat genau<br />

eine halbe St<strong>und</strong>e Zeit, um über ihr<br />

neues Buch zu sprechen, das gerade unter<br />

dem deutschen Titel „Die Neuerfindung<br />

des Erfolgs“ im Fischer-Verlag erschienen<br />

ist.<br />

Huffington gilt in den USA als Erfolgsmensch<br />

par excellence. Die gebürtige<br />

Griechin ist im Alter von 18 Jahren<br />

nach England gezogen, wo sie ein Stipendium<br />

<strong>für</strong> ein Studium in Cambridge gewann.<br />

Sie arbeitete als Journalistin <strong>und</strong><br />

Autorin von Sachbüchern – zum Beispiel<br />

über Pablo Picasso <strong>und</strong> Maria Callas –,<br />

bevor sie in die USA ging <strong>und</strong> dort als<br />

politisch engagierte Ehefrau des republikanischen<br />

Senatskandidaten Michael<br />

Huffington Furore machte. Dieser outete<br />

sich als schwul, Arianna ließ sich scheiden<br />

<strong>und</strong> wurde Demokratin. 2003 kandidierte<br />

sie sogar gegen Schwarzenegger<br />

als Gouverneurin von Kalifornien.<br />

2005 gründete sie die Online-Zeitung<br />

Huffington Post, eine Nachrichten-<br />

<strong>und</strong> Kommentarplattform, die<br />

von Anfang an umstritten war, da sie<br />

von Gastautoren lebt, die kein Honorar<br />

erhalten. Es entstanden internationale<br />

Ableger – der deutsche ging im vergangenen<br />

Jahr in Kooperation mit dem<br />

Burda-Verlag online, erzeugt aber weniger<br />

Geklapper als die amerikanische<br />

Plattform.<br />

Im New Yorker Büro ragt nun von<br />

rechts ein Assistent ins Bild, um Huffington<br />

ein dampfendes Glas Tee zu reichen,<br />

von links beugt sich jemand rüber,<br />

um sich eine Unterschrift zu holen. Huffington<br />

unterschreibt murmelnd, ohne<br />

das Interview zu unterbrechen, obwohl<br />

sie Multitasking neuerdings verabscheut,<br />

wie sie in ihrem Buch schreibt.<br />

Leider wirkt die Unternehmerin in<br />

diesem Moment wenig fokussiert. Sie<br />

beantwortet alle Fragen, mit denen sie<br />

gerechnet hat, kurz <strong>und</strong> druckreif, als<br />

würde sie per Teleprompter aus dem eigenen<br />

Buch zitieren. Fragen, mit denen<br />

sie eigentlich nicht gerechnet haben kann,<br />

beantwortet sie genauso perfekt, nur der<br />

erstaunlich starke griechische Akzent<br />

fällt etwas raus. Sie wirkt jünger als 64.<br />

IHR BUCH RICHTET sich an Karrieristen,<br />

die denken, dass Überst<strong>und</strong>en, wenig<br />

Schlaf, Multitasking <strong>und</strong> ständige Erreichbarkeit,<br />

auch außerhalb des Büros,<br />

ein Erfolgsrezept seien. „Mein Zusammenbruch<br />

im Jahr 2007 hat mich zum<br />

Umdenken gezwungen“, sagt Huffington.<br />

Sie ist inzwischen zu einer Art öffentliche<br />

Schlafbotschafterin geworden. Sie<br />

sitzt sogar im Verwaltungsrat der Abteilung<br />

Schlafmedizin der Harvard Medical<br />

School, wie sie im Kapitel „Schlafen Sie<br />

sich nach oben“ bekennt. Sie haben Einschlafstörungen?<br />

Zählen Sie einfach von<br />

300 in Dreierschritten herunter.<br />

Wie viel permanenter Stress anrichten<br />

kann, wie sehr Ges<strong>und</strong>heit, Kreativität<br />

<strong>und</strong> selbst die Moral darunter leiden,<br />

das belegt Huffington mit einer Fülle an<br />

Forschungsergebnissen, die nicht nur die<br />

heilende Wirkung von Schlaf zelebrieren,<br />

sondern auch die Kraft von Meditation<br />

<strong>und</strong> Yoga oder den Vorteil des Gehens gegenüber<br />

dem Sitzen. „Um auch die letzten<br />

Skeptiker zu überzeugen“, wie sie<br />

sagt. Vielleicht auch, um nicht als New-<br />

Age-Tante abgestempelt zu werden.<br />

„Unsere Unternehmenskultur basiert<br />

auf Stress, Schlafentzug <strong>und</strong> Burnout“.<br />

Huffingtons Rezept: „Jemand, der<br />

Macht <strong>und</strong> Geld hat, gilt als erfolgreich.<br />

Wir brauchen dringend eine dritte Maßeinheit,<br />

wenn wir Erfolg definieren, die<br />

etwas über die Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> die Zufriedenheit<br />

der Person aussagt.“ Diese<br />

Maßeinheit nennt sie „3rd Metric“.<br />

Ihr Buch, das auch Bekenntnisse von<br />

Größen aus Wirtschaft, Politik <strong>und</strong> den<br />

Medien versammelt, liest sich teilweise<br />

wie das Manifest einer prominenten, erfolgreichen<br />

Selbsthilfegruppe, <strong>und</strong> das<br />

ist der interessante Teil. Wir erfahren,<br />

dass Bill Clinton die meisten Fehler wegen<br />

Übermüdung unterlaufen sind, dass<br />

Steve Jobs die besten Einfälle nach der<br />

Meditation hatte. Alles Erfolgsmenschen,<br />

mit denen man sich identifizieren soll.<br />

Und doch wendet sich Huffington<br />

mit ihrem Appell primär an das eigene<br />

Geschlecht: Weil Frauen ges<strong>und</strong>heitlich<br />

noch mehr unter Stress zu leiden haben,<br />

sollen sie da<strong>für</strong> kämpfen, dass sich Strukturen<br />

in den Unternehmen ändern. Überst<strong>und</strong>en<br />

sollen stigmatisiert werden, die<br />

Firmen sollen Stressabbauprogramme installieren<br />

<strong>und</strong> die Projektarbeit fördern.<br />

Das komme insbesondere jungen Müttern<br />

zugute. „Männer werden von den<br />

Maßnahmen natürlich auch profitieren“,<br />

behauptet Huffington. „Ich beobachte,<br />

dass gerade ein Aufwachen im globalen<br />

Maßstab stattfindet“, sagt Huffington vor<br />

ihrer Bücherwand. Unter dem Make-up<br />

sind Spuren der Müdigkeit zu sehen.<br />

LENA BERGMANN leitet das Ressort Stil von<br />

<strong>Cicero</strong>. Sie schätzt den Mittagsschlaf<br />

109<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


STIL<br />

Reportage<br />

HOTEL<br />

CALIFORNIA<br />

110<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


Von LENA BERGMANN<br />

Nach dem VW Käfer kam der Bulli. Er wurde ein Mythos.<br />

Vom Wirtschaftsw<strong>und</strong>erwagen über den Hippie-Bus bis<br />

zum Familien-Nutzfahrzeug. Taugt er <strong>für</strong>s Jahr 2014? Unsere<br />

Autorin hat sich in den Ferien einen T5 ausgeliehen<br />

Fotos ANDREAS MÜLLER<br />

111<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


STIL<br />

Reportage<br />

Man schreibt den Sommer der Eiskönigin.<br />

R<strong>und</strong> um die Welt singen<br />

Kinder den So<strong>und</strong>track zu<br />

dem Disney-Film hoch <strong>und</strong> runter. Eltern<br />

suchen dann gerne das Weite. Aber<br />

wir sitzen fest. In einem familienfre<strong>und</strong>lichen,<br />

leise-sicher-sparsamen Abenteuermobil.<br />

Hinter unseren langstreckentauglichen<br />

Brummi-Thronen wüten fünf<br />

Kinder. Zwei der Passagiere, meine Patentochter,<br />

neun Jahre, <strong>und</strong> ihre Schwester,<br />

sieben Jahre, haben immerhin schöne<br />

Stimmen. Wenn sie gerade nicht Urlaub<br />

machen, singen sie in einem Kinderchor,<br />

sie leben in England. „Do you want to<br />

build a snow-maaan?“, singen die beiden.<br />

Im Kapitänssessel das<br />

Alpenpanorama im<br />

Blick. Lena Bergmann<br />

am Steuer des T5<br />

Meine vier Jahre alte Tochter kann leider<br />

nicht so schön singen. Da<strong>für</strong> laut: „Willst<br />

du einen Schneemann bau-ääähn?“ Die<br />

zwei jüngsten Passagiere – beide eins –<br />

können nicht singen. Aber schreien.<br />

Willkommen in Kitzbühel. Im Österreichurlaub<br />

mit Familie <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>en.<br />

Fünf Kinder, sechs Erwachsene, natürlich<br />

sind noch andere Autos dabei. Aber<br />

ich habe den Bus. Genauer: den T5, Modell<br />

California Beach, mit Aufstelldach,<br />

Nachfahre des Bullis, des zweiten zivilen<br />

Volkswagens nach dem Käfer. VW hat<br />

ihn <strong>für</strong> diese zehntägige Recherche zur<br />

Verfügung gestellt. Das Einsteigermodell<br />

kostet knapp 39 000 Euro.<br />

Meine Schwester <strong>und</strong> ich haben an<br />

diesem Vormittag alle Kinder in den Bus<br />

geladen, um zum See zu fahren. Die<br />

Männer haben frei. Die Sonne scheint.<br />

Während sich mir durch die hohe Frontscheibe<br />

ein Gebirgspanorama bietet, gestochen<br />

scharf wie ein Ravensburger<br />

Puzzle mit 3000 Teilen, träume ich von<br />

einem Cabrio, einem Zweisitzer.<br />

Doch ich befinde mich in einem Siebensitzer.<br />

Zusammen ist man weniger<br />

allein: zwei Frauen, fünf Kinder, zwei<br />

Sprachen, ein Bus. Wir haben die Konferenzanordnung<br />

gewählt, das heißt, die<br />

mittleren Sitze umgedreht, sodass die<br />

großen Mädchen die kleinen im Blick<br />

haben. Die Kinder lieben den Bus. Die<br />

Geselligkeit. Die Trinkbecher-Halter. Die<br />

riesigen Fenster, aus denen sie die Kühe,<br />

den Wilden Kaiser <strong>und</strong> potenzielle Plätze<br />

zum Übernachten sehen, denn sie lieben<br />

natürlich auch das Bett zum Aufstellen<br />

im Dach. Viermal mussten wir es bereits<br />

auf- <strong>und</strong> abbauen. In zwei Tagen. Selbst<br />

schuld. Wer fährt auch freiwillig so ein<br />

Auto?<br />

Ich nicht. Im Alltag zumindest nicht.<br />

Ich bin zehn Jahre lang Mini gefahren.<br />

Den alten. Dann hat mein 1,95-Meter-<br />

Mann über Rückenschmerzen geklagt.<br />

Und mir einen langen Vortrag über<br />

Knautschzonen gehalten. Der Mini ist<br />

weg, leider. Wenigstens ist der Mann<br />

noch da.<br />

Menschen in Familienkutschen sind<br />

mir seit jeher suspekt. Mit Verw<strong>und</strong>erung<br />

habe ich den Trend zum Minivan<br />

wahrgenommen. Nun die nächste Eskalationsstufe:<br />

Familien-Nutzfahrzeuge!<br />

Nichts <strong>für</strong> mich, so dachte ich immer.<br />

Ich kutschiere im Alltag ja auch nicht<br />

112<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


fünf Kinder samt Ausrüstung zum Ballett<br />

oder Hockey. Ich habe keinen nassen<br />

Labrador, der auf einer abwaschbaren<br />

Ladefläche Platz macht, nachdem<br />

er im Matsch gespielt hat. Und ich muss<br />

nicht 18 Billy-Regale auf einmal transportieren,<br />

obwohl man mir bei VW gesagt<br />

hat, dass das mit diesem Fahrzeug<br />

hier möglich wäre – vorausgesetzt, man<br />

entfernte vorher die hinteren Sitzbänke.<br />

Aber weil ich doch ein Gruppenmensch<br />

bin <strong>und</strong> Produkte mit Geschichte<br />

interessant finde, habe ich mich auf den<br />

Mythos VW-Bus eingelassen, zumindest<br />

<strong>für</strong> diese eine Reise.<br />

DIE ERSTE GENERATION des Bulli, der T1,<br />

hatte 26 PS, konnte 750 Kilogramm Nutzlast<br />

transportieren <strong>und</strong> erreichte eine<br />

Spitzengeschwindigkeit von 75 St<strong>und</strong>enkilometern.<br />

Er kam 1950 auf den Markt<br />

<strong>und</strong> wurde zu einem Symbol des Wirtschaftsw<strong>und</strong>ers.<br />

Der fleißige Kleinunternehmer<br />

hatte privat einen Käfer <strong>und</strong> im<br />

Betrieb eine Flotte knatternder Bullis<br />

Viermal das Bett zum<br />

Aufstellen im Dach auf<strong>und</strong><br />

wieder abbauen –<br />

das lieben die Kinder fast<br />

so sehr wie die Eiskönigin<br />

im Einsatz. Mein Großvater mit seinem<br />

Stangeneishandel beispielsweise.<br />

Mit dem Wohlstand kam der Appetit<br />

auf Tourismus, <strong>und</strong> mit der Campingbox<br />

von Westfalia die Möglichkeit, den<br />

T1 zur Urlaubszeit als Reisemobil einzusetzen.<br />

Aber nicht nur die Kleinbürger<br />

fuhren im Bulli in die Alpen, um sich<br />

bei einer Jause vom Häuslebauen zu erholen,<br />

sondern auch die Aussteiger in<br />

den Hindukusch, um beim Schwarzen<br />

Afghanen über Liebe <strong>und</strong> Frieden nachzusinnen:<br />

Ab Mitte der sechziger Jahre<br />

machte der VW-Bus eine erstaunliche<br />

Karriere als inoffizieller Dienstwagen<br />

der Hippie-Bewegung.<br />

Auch in den USA drängten sich haufenweise<br />

langhaarige Jugendliche in bunt<br />

bemalte <strong>und</strong> mit Matratzen <strong>und</strong> Batikdecken<br />

bewohnbar gemachte Bullis, um<br />

nach Kalifornien zu fahren. Ich selbst<br />

habe es nach dem Abi in einem VW-<br />

Bus mit Peace-Zeichen auf der Tür immerhin<br />

einmal nach Holland geschafft.<br />

VW war über diese neue, begeisterte


STIL<br />

Reportage<br />

Zeltplatz, Spielplatz,<br />

Klettergerüst,<br />

fahrende Kindertagesstätte.<br />

Der T5, hier mit<br />

sieben Sitzen,<br />

ist die nächste<br />

Eskalations stufe<br />

nach dem Minivan<br />

114<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


Der Bus funktioniert<br />

als Familienauto<br />

zu gut, sodass<br />

er einen gnadenlos<br />

auf die Eltern rolle<br />

reduziert<br />

Bulli-Klientel zuerst nicht erfreut, das<br />

Unternehmen <strong>für</strong>chtete einen Imageverlust,<br />

das Rebranding des fleißigen Transporters<br />

als Faulenzergefährt. 1988 führte<br />

es dann freilich das Bulli-Reisemobil California<br />

auf den Markt, das auf Strand,<br />

Surfen <strong>und</strong> Mountainbiken, aber schon<br />

auch ein bisschen auf die Hippie-Vergangenheit<br />

anspielte.<br />

Vom aktuellen California auf Basis<br />

des Multivan T5 sind seit 2004 mehr als<br />

50 000 Exemplare vom Band gelaufen.<br />

Die fünfte Generation des Bullis richtet<br />

sich weder an den Kleinbürger noch an<br />

den Hippie, sondern eher an den selbstbewussten<br />

Dynamiker mit Kindern <strong>und</strong><br />

Hobbys.<br />

Den perlweißen California Beach<br />

kann man zwar, ohne negativ aufzufallen,<br />

vor einem Fünf-Sterne-Hotel parken<br />

oder vor dem Berghaus auf der Kitzbüheler<br />

Bichlalm, das uns als Basis <strong>für</strong> den<br />

Mehrfamilienurlaub dient. Das Problem<br />

dabei ist, dass mein Mann <strong>und</strong> ich ein<br />

liebstes Hobby haben: Zeit zu zweit zu<br />

verbringen.<br />

NACH DEM SCHWIMMAUSFLUG mit fünf<br />

Bälgern glaube ich, den California verstanden<br />

zu haben: Der Nachteil des Busses<br />

ist, dass er als Familientransporter<br />

zu gut funktioniert, sodass er den Fahrer<br />

gnadenlos auf seine Elternrolle reduziert.<br />

Das könne man dem Bus doch<br />

nicht ankreiden, gibt mein Mann zu bedenken,<br />

der den Tag Zeitung lesend im<br />

Garten verbracht hat. Zudem sei der California<br />

doch vielseitig. Das Modell California<br />

Beach mit Kühlbox, Hochbett <strong>und</strong><br />

Markise sei eine Art fahrendes Seehäuschen.<br />

Es gebe da doch diesen Feldweg am<br />

Ufer des Schwarzsees …<br />

Wenig später sehen wir das Berghaus<br />

auf dem Display der Rückfahrkamera<br />

Rear Assist kleiner werden. Ich sitze am<br />

Steuer. Erleichtert sinke ich in meinen bequemen<br />

Kapitänssessel mit Armlehne. In<br />

der 32-Liter-Kühlbox schlummern zwei<br />

Flaschen Rosé. Der TDI-Motor bügelt die<br />

Anhöhen glatt. Der California ist ein sehr<br />

deutsches Auto, wenn man Deutschland<br />

als das Land der perfekten Maschinen<br />

versteht. Es ist angenehm ruhig im Führerhaus,<br />

man könnte sich spontan auf<br />

die Langstrecke begeben, der Wagen<br />

hat ganz offensichtlich die nomadischen<br />

Gene seines Urahns geerbt. Aber wir haben<br />

bei unseren Fre<strong>und</strong>en nur eine Nacht<br />

Freigang ausgehandelt.<br />

Am Ufer des Schwarzsees fahren wir<br />

die Markise aus, zwei Klappstühle sind<br />

in die Heckklappe integriert. Tannenduft,<br />

Grillenzirpen. Es dämmert, aber man findet<br />

sich zurecht – die Trittstufen des California<br />

sind dezent beleuchtet. Der Wein<br />

ist kalt, die Kühlbox funktioniert.<br />

Hatte ich schon erwähnt, dass das<br />

Bett im Dach über einen echten Lattenrost<br />

verfügt? Für gelegentliche Übernachtungen<br />

mehr als adäquat. Unten<br />

gäbe es zudem die Möglichkeit, aus den<br />

Rücksitzen eine große Liegefläche zu<br />

schaffen, sodass man hier auch als Familie<br />

schlafen könnte. Wir denken auch<br />

an unser Töchterlein. Sie wünscht sich<br />

dringend einen H<strong>und</strong> – sicher würde sie<br />

sich mit ihm auch auf Reisen das Bett teilen.<br />

In dieser Konstellation erscheint uns<br />

eine längere Reise zu viert mit dem California<br />

auf einmal sehr romantisch, mit<br />

Stellplatz am Strand, kleinem Grill <strong>und</strong><br />

Wäscheleinen vor der Schiebetür, auf denen<br />

abends die Badesachen trocknen.<br />

Ein Ausstattungsmerkmal, das wir<br />

nun am Schwarzsee doch vermissen, ist<br />

das Paket „Multimedia“ mit drahtlosem<br />

Internetzugang <strong>und</strong> acht Lautsprechern,<br />

denn man könnte nun natürlich leise<br />

„Hotel California“ von den Eagles hören<br />

oder „Going Mobile“ von The Who, einen<br />

Song, den Pete Townshend Anfang<br />

der Siebziger über seinen damaligen Hippie-Bulli<br />

schrieb.<br />

LENA BERGMANN ist Leiterin des Stil-<br />

Ressorts von <strong>Cicero</strong>. Nach den Bulli-Ferien<br />

verbrachte sie noch ein paar Tage in New<br />

York <strong>und</strong> fuhr nur Taxi<br />

Ondoro Holz<br />

Schreibgeräte mit unverwechselbar<br />

markantem Schaft aus Räuchereiche,<br />

dessen Oberfläche geschmeidig<br />

<strong>und</strong> warm anmutet.<br />

115<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014<br />

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118<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


STIL<br />

Interview<br />

„ DIE MUSEN<br />

WEHREN SICH “<br />

Welche Frauenbilder prägt das Kino?<br />

Der Regisseur Christian Petzold<br />

über verlorene Unschuld, Schlampen,<br />

Göttinnen, Phantomladys <strong>und</strong><br />

wärmende Geschichten vom Scheitern<br />

Herr Petzold, welche Obsession haben<br />

Sie eigentlich mit Nina Hoss?<br />

Christian Petzold: Ich frage mich<br />

das auch manchmal. Es ist aber keine<br />

Obsession. Nina Hoss eignet sich nicht<br />

<strong>für</strong> Obsessionen.<br />

Warum nicht?<br />

Weil sie keine Muse ist. Musen sind<br />

immer halbnackt <strong>und</strong> irgendwie österreichisch.<br />

Nina ist jemand, der zurückschlägt.<br />

Und das gefällt mir.<br />

„Phoenix“ ist mittlerweile Ihr sechster<br />

Film mit ihr. Sie beschreiben sie als „vollständige“<br />

Schauspielerin. Was bedeutet<br />

das?<br />

Sie erarbeitet sich ihre Figuren mit<br />

Haut <strong>und</strong> Haar. Im Gegensatz zu Schauspielern<br />

wie beispielsweise Gérard Depardieu,<br />

der eine Rolle sehr schnell <strong>und</strong><br />

über den Körper begreift. Er macht die<br />

Figur zu einem Teil seiner Biografie, so<br />

lässig <strong>und</strong> voller Sex. Wie in „Green<br />

Card“ mit Andie MacDowell, wo er als<br />

dieser wahnsinnige Franzose Knoblauch<br />

zerhämmert <strong>und</strong> Gauloises raucht.<br />

Wenn es irgendwo Not gibt oder ein<br />

Feuer ausbricht, bei Depardieu überlebt<br />

man.<br />

Heißt das, dass Nina Hoss der Sex fehlt?<br />

Nein, damit meine ich, dass bei ihr<br />

diese Körperlichkeit nicht von selbst<br />

da ist. Da ist erst mal nichts. Sie macht<br />

sich vollkommen leer <strong>und</strong> arbeitet dann<br />

sehr präzise auf ein Bild hin. Sie modelliert<br />

ihre Figur. Es gibt einen Aufsatz<br />

von Heinrich von Kleist über das Marionettentheater.<br />

Er handelt davon, dass<br />

der Mensch seine Unschuld verloren hat.<br />

Wenn man die Selbstverständlichkeit<br />

des ersten Kusses verpasst, gibt es keinen<br />

zweiten.<br />

Wie kann man denn den ersten Kuss<br />

verpassen?<br />

Indem man den Moment verpasst<br />

oder das Falsche sagt. Kleist erklärt<br />

das so: Ein Junge schwimmt im Wasser,<br />

taucht auf <strong>und</strong> jemand sagt zu ihm:<br />

„Du schwimmst so schön.“ Er bew<strong>und</strong>ert<br />

seine natürliche Anmut. Von diesem Moment<br />

an kann der Junge aber nicht mehr<br />

schön schwimmen, weil er jetzt ein Bild<br />

von sich hat. Gérard Depardieu gehört<br />

zu den Schauspielern, denen diese Unbefangenheit<br />

geblieben ist, <strong>und</strong> deshalb<br />

ist er anmutig. Er wirft sich ins Wasser,<br />

egal was jemand sagt.<br />

Warum inszenieren Sie Ihre Frauenfiguren<br />

immer so eintönig? Minimalistisch,<br />

119<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


STIL<br />

Interview<br />

Emanzipiert, aber nicht autark. Nina<br />

Hoss als Petzolds „Barbara“ von 2012<br />

Traumatisiert. Nelly in „Phoenix“, der<br />

gerade in den Kinos anläuft<br />

Modern, aber ohnmächtig. Als<br />

Ost-West-Wanderin „Yella“ 2007<br />

Christian Petzold<br />

Der 54 Jahre alte Regisseur<br />

<strong>und</strong> Drehbuchautor wurde<br />

mehrfach ausgezeichnet,<br />

darunter mit dem Silbernen<br />

Bären der Berlinale <strong>für</strong><br />

„Barbara“. Er studierte an der<br />

Deutschen Film- <strong>und</strong> Fernsehakademie<br />

Berlin <strong>und</strong> wird<br />

der Berliner Schule zugerechnet.<br />

Sein Holocaust-Drama<br />

„Phoenix“ hatte im September<br />

beim Filmfest Toronto Premiere<br />

irgendwie körperlos <strong>und</strong> mit dieser reservierten<br />

Spielweise, mit der sie durch<br />

die Filme wandeln wie durch ein Exil.<br />

Sagen wir so: Nina Hoss spielt eben<br />

häufig Frauen, die im Begriff sind zu verschwinden<br />

<strong>und</strong> gegen ihr Phantomwerden<br />

ankämpfen. Das kann ganz realistisch<br />

sein, indem man seine Wohnung<br />

verliert. Schwupps, steht man vor dem<br />

Nichts. Das sind die Gespenster, die versuchen,<br />

sich wieder zu erden. Es ist aber<br />

nicht so, dass ich nur von Phantomladys<br />

umgeben bin. Schauen Sie sich Julia<br />

Hummer oder Barbara Auer an! Das<br />

sind keine Gespenster.<br />

Die eine gibt sich androgyn, die andere<br />

unnahbar. Allesamt sind es Glückssucherinnen.<br />

Aber keine findet das Glück.<br />

Weil das Kino immer von den Ohnmächtigen<br />

erzählt. Sie versuchen, die<br />

Handlungsstränge in die Hand zu bekommen,<br />

schaffen es aber nicht. In meinen<br />

100 Lieblingsfilmen schafft es kein einziger.<br />

Es gibt diesen Film mit Kevin Costner,<br />

in dem er so ein Golfass spielt. In<br />

einer Szene versucht er über einen Wassergraben<br />

zu schlagen, <strong>und</strong> es ist klar,<br />

dass er es nicht schaffen kann. Aber er<br />

schlägt weiter, immer weiter. So was mag<br />

ich. Vielleicht wärmen uns gerade Geschichten<br />

von denen, die scheitern, weil<br />

sie in ihrem Scheitern etwas Tolles versucht<br />

haben. Ich glaube aber nicht, dass<br />

diese Ohnmacht dazu führt, dass man<br />

sich als Zuschauer ohnmächtig fühlt.<br />

Ohnmächtig vielleicht nicht, aber<br />

deprimiert.<br />

Also, ich bin nicht deprimiert nach<br />

meinen Filmen. Sind Sie deprimiert?<br />

Ja. Allein, wenn man sich Ihren Begriff<br />

von Liebe ansieht: Stets gefärbt von<br />

Misstrauen, Täuschung, Zweifel, Geheimnissen<br />

<strong>und</strong> fehlendem Vertrauen.<br />

Ist das etwa Ihre Definition von Flirt?<br />

Natürlich! Es gibt doch von Tolstoi<br />

diesen berühmten Anfang bei „Anna<br />

Karenina“ …<br />

… „Alle glücklichen Familien gleichen einander,<br />

jede unglückliche ist auf ihre eigene<br />

Weise unglücklich.“<br />

Genau. Das ist bei der Liebe dasselbe.<br />

Glückliche Paare, die sich küssen,<br />

ein Haus kaufen, sich auf der neuen<br />

Matratze aneinanderkuscheln, das ist<br />

doch alles Werbung. Die Liebe, die mich<br />

interessiert, ist ein Tanz. Und der hat immer<br />

etwas von Abstoßen <strong>und</strong> Anziehen.<br />

Mit allem anderen kann man Margarine<br />

verkaufen.<br />

Sie haben einen Querschnitt von 1945<br />

bis heute gezogen: In „Phoenix“ zeigen<br />

Sie die emotional abhängige Frau, in<br />

„Barbara“ eine emanzipierte <strong>und</strong> doch<br />

nicht autarke, in „Yella“ ist sie modern,<br />

aber ohnmächtig. Wie hat sich das<br />

Selbstverständnis der Frau gewandelt?<br />

Das kann ich nicht beantworten. Ich<br />

verstehe mich nicht als Frau. Ich kann<br />

nur von meinem Verhältnis zu meinen<br />

Frauenfiguren reden. Obwohl auch das<br />

schwierig ist, weil das wiederum nur das<br />

Konzept einer Frau <strong>für</strong> ein Drehbuch<br />

ist – dazu noch von zwei Männern geschrieben,<br />

von Harun Farocki <strong>und</strong> mir,<br />

mit dem ich immer zusammengearbeitet<br />

habe. Wenn zwei Männer über eine Frau<br />

reden, besteht entweder die Gefahr der<br />

Vergöttlichung oder der Verschlampung.<br />

Das bewegt sich immer an der Grenze<br />

zum Unangenehmen. Da ist die Dusche<br />

eines Sportvereins nicht weit.<br />

Göttin oder Schlampe – gibt es noch<br />

was dazwischen?<br />

(lacht) Oh Gott, ja. Das Kino ist ja<br />

keine Individualkunst, sondern Kollektivkunst.<br />

Und wenn dann vor dir so kluge<br />

Frauen wie Nina Hoss, Barbara Auer<br />

oder Nina Kunzendorf sitzen, mit dem<br />

Drehbuch in der Hand, dann machen sie<br />

aus meinem Konzept ihr eigenes. Das<br />

ist ja das Schöne heutzutage: Die Musen<br />

wehren sich.<br />

Heißt das, dass sich auch das Selbstverständnis<br />

der Schauspielerin gewandelt<br />

hat? Sieht man sich den Mythos<br />

um Marilyn Monroe <strong>und</strong> den Hype um<br />

Scarlett Johansson an, scheint es noch<br />

dasselbe zu sein: die Schauspielerin als<br />

sexualisierte Projektionsfläche männlicher<br />

Fantasie.<br />

Eine Kolumnistin vom New Musical<br />

Express hat dazu mal einen brutalen<br />

Text geschrieben. Sie sagte, die Frauen<br />

der vierziger Jahre mussten auf jeder<br />

Casting-Couch so viele Schwänze blasen,<br />

bis sie zum Star wurden. Dann waren sie<br />

Göttinnen <strong>und</strong> mussten nie wieder einen<br />

Fotos: Maurice Weiss/Ostkreuz <strong>für</strong> <strong>Cicero</strong> (Seite 118), Christian Schulz (2), Hans Fromm<br />

120<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


lasen. Später fingen die Regisseure dann<br />

an, ihre Hauptdarstellerinnen zu heiraten.<br />

Die mussten blasen, bis sie starben.<br />

Ein Hoch auf die Ehescheidung.<br />

Diese Art von Regisseuren lassen<br />

sich erst dann scheiden, wenn sie sich sicher<br />

sind, dass die Frauen nach der Ehe<br />

kein eigenständiges Leben mehr führen<br />

können.<br />

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Mit „Phoenix“ haben Sie sich nun an<br />

Deutschlands Trauma gewagt, die Zeit<br />

des Nationalsozialismus. Warum?<br />

Ich wollte, dass die Vergangenheit<br />

auf die Gegenwart einschlägt. Wir tun<br />

alle so, als ob dieses Trauma zu Ende<br />

wäre. Ist es aber nicht. Wenn man in Berlin<br />

diese fantastischen Stolpersteine sieht,<br />

spürt man, was <strong>für</strong> reichhaltige Leben<br />

zerstört worden sind. Und was wir dann<br />

<strong>für</strong> jämmerliche Filme über diese Zeit<br />

hinbekommen, in denen die Deutschen<br />

immer Opfer sind <strong>und</strong> sich jeder Schuld<br />

entziehen. Das kotzt mich an.<br />

Was muss passieren, damit Sie Ihre Kritiker<br />

einmal maßlos schockieren <strong>und</strong><br />

eine Feel-Good-Komödie drehen, in<br />

der von mir aus Nina Hoss Knoblauch<br />

zerhämmert?<br />

Würde ich gerne mal machen, aber<br />

nicht um jemanden zu schockieren. Ich<br />

mochte Howard Hawks ganz gerne, der<br />

alles Mögliche gemacht hat, Pharaonenfilme,<br />

Komödien, Detektivgeschichten.<br />

Und trotzdem hatte man immer das<br />

Gefühl, das ist ein Film von ihm. Eine<br />

Komödie würde bei mir deshalb wahrscheinlich<br />

auch nicht sehr viel anders aussehen.<br />

Mache ich aber bald!<br />

Ihre Drehbücher sind immer zusammen<br />

mit Harun Farocki entstanden. Sie haben<br />

einmal gesagt, Sie könnten nie alleine<br />

schreiben. Nun, da er vor kurzem<br />

gestorben ist, darf ich fragen: Was nun?<br />

Ich weiß es noch nicht. Noch ist der<br />

Schmerz über den Verlust zu groß.<br />

Werden Sie sich einen neuen Partner<br />

zum Schreiben suchen? Vielleicht ja<br />

eine Frau?<br />

Vielleicht. Ja, eine Frau wäre gut.<br />

Das Gespräch führte<br />

SARAH-MARIA DECKERT<br />

© Monique Wüstenhagen (BVMI)<br />

Mit <strong>Cicero</strong> zum eCHO Klassik. Der Treffpunkt<br />

nationaler <strong>und</strong> internationaler Klassik-stars.<br />

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Senden Sie dazu einfach eine E-Mail mit Ihren Kontaktdaten an<br />

echo@cicero.de Teilnahmeschluss ist der 10. Oktober 2014.<br />

In Kooperation mit:<br />

Sonntag, 26.10.2014<br />

Einlass ab 15:30 Uhr<br />

Beginn 16:45 Uhr<br />

Philharmonie im Gasteig München<br />

Rosenheimer Straße 5<br />

81667 München<br />

ECHO<br />

Klassik


STIL<br />

Kleiderordnung<br />

WARUM<br />

ich trage,<br />

WAS<br />

ich trage<br />

ELISABETH RUGE<br />

Ich packe meinen Koffer <strong>für</strong> die Buchmesse<br />

<strong>und</strong> das Erste, was ich hineintue,<br />

sind ein paar Turnschuhe, ziemlich<br />

alte, die mit der Zeit immer bequemer<br />

geworden sind. Auf der Messe muss<br />

man sich wohlfühlen, zumindest in seiner<br />

Kleidung. Natürlich soll es auch nach<br />

was aussehen, aber am liebsten vergesse<br />

ich, was ich anhabe. Dazu habe ich zu<br />

viele andere Dinge im Kopf. Für die Empfänge<br />

et cetera habe ich dann auch ein<br />

Paar Ballerinas in der Handtasche. Das<br />

habe ich von den russischen Frauen gelernt,<br />

die an der Garderobe immer blitzschnell<br />

ihre schweren Winterstiefel gegen<br />

schöne Schuhe austauschen.<br />

Mein Stil ist kein Diktat, das von<br />

einem fordert, uneitel zu sein. Aber<br />

ich mag dieses Moment einer gewissen<br />

Nachlässigkeit, diese Form von nebensächlicher<br />

Eleganz, in der natürlich<br />

auch Souveränität liegt. Nicht unbedingt<br />

typisch deutsch. Hier sieht man häufiger<br />

eine Art uninspirierte Akkuratesse,<br />

Stichwort colour matching <strong>und</strong> Ähnliches<br />

oder immer zuverlässig in der neuesten<br />

Kollektion vor die Tür treten. Ich<br />

mag besonders, wie sich die Engländerinnen<br />

anziehen – in der Londoner Tube<br />

kann man das w<strong>und</strong>erbar beobachten.<br />

„Begnadete Schlampigkeit“, so könnte<br />

man es umschreiben. In der Art, wie<br />

sie alles zusammenwerfen, liegt auf jeden<br />

Fall etwas Freies. Und Menschen,<br />

Haltungen, Dinge, in denen sich Freiheit<br />

ausdrückt, bedeuten mir viel. Ich<br />

bin schon häufig aus Situationen herausgetreten,<br />

die mir vielleicht ein Maß an<br />

Sicherheit gegeben haben, in denen ich<br />

mir aber die Frage stellen musste: Was<br />

mache ich hier gerade? Mache ich das<br />

Richtige? Das <strong>für</strong> mich Richtige? Oder<br />

Elisabeth Ruge, 54, war 1994<br />

Mitbegründerin des Berlin-<br />

Verlags. 2012 gründete sie<br />

Hanser Berlin. Im Frühling 2014<br />

eröffnete sie eine eigene<br />

Literaturagentur in Berlin-<br />

Mitte. Gerade schreibt<br />

Ruge an ihrem ersten Buch<br />

„Drei Frauen“<br />

muss ich etwas ändern? Manchmal gibt<br />

es solche Momente.<br />

Bücher gibt’s auf der Messe wie Sand<br />

am Meer, klar. Aber in meinen Koffer<br />

packe ich stets eins, das mit dem ganzen<br />

Rummel nichts zu tun hat, einen<br />

Kleist-Band zum Beispiel oder etwas<br />

von Robert Walser. Das ist wichtig, um<br />

den Kopf freizuhalten. Außerdem brauche<br />

ich irgendwas zum Versprühen. <strong>Kein</strong><br />

schweres Parfum, das am Körper klebt,<br />

sondern irgendwas „Früsches“, wie der<br />

Berliner sagen würde, das mich aufweckt.<br />

Ein warmes Tuch habe ich sowieso immer<br />

dabei, das kann man sich schnell um<br />

den Hals oder um die Nieren legen. Und<br />

zu guter Letzt brauche ich in Frankfurt<br />

meine Uhr – unverzichtbar, wenn man<br />

alle 30 Minuten einen Termin hat. Aber<br />

das Beste an ihr ist: Man kann das Ziffernblatt<br />

einfach wegklappen. Dann mache<br />

ich die Augen zu. Nur kurz.<br />

Aufgezeichnet von SARAH-MARIA DECKERT<br />

Foto: Thomas Kierok <strong>für</strong> <strong>Cicero</strong><br />

122<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


SALON<br />

„ Musik trägt die Kraft<br />

des Protests ebenso<br />

in sich wie den naiven<br />

Glauben daran, dass<br />

man jeden Menschen<br />

lieben kann “<br />

Der griechische Dirigent Teodor Currentzis machte sich in <strong>Russland</strong> einen Namen <strong>und</strong> wird<br />

nun in Deutschland ausgezeichnet <strong>für</strong> seinen Mozart unter Starkstrom, Seite 124<br />

123<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


SALON<br />

Porträt<br />

BLAU SIND ALLE SEINE KLÄNGE<br />

Der griechische Dirigent <strong>und</strong> Dandy Teodor Currentzis erobert vom russischen Perm aus<br />

die Musikwelt. Mozart setzt er unter Starkstrom. Nun erhält er den Echo-Klassik-Preis<br />

Von DOROTHEA WALCHSHÄUSL<br />

Wäre Teodor Currentzis kein Romantiker,<br />

er wäre nicht hier –<br />

in dieser Stadt, in der noch<br />

Hammer <strong>und</strong> Sichel an den Hausmauern<br />

prangen, in der sich die Sonne in der<br />

vergilbten Verschalung der Plattenbauten<br />

spiegelt, grobklotzige Sowjetkunst in den<br />

Himmel ragt <strong>und</strong> im Winter bei minus<br />

15 Grad die Abgase in der Luft gefrieren.<br />

Bis 1991 war die russische Stadt Perm mit<br />

r<strong>und</strong> einer Million Einwohnern eine verbotene<br />

Stadt <strong>für</strong> Ausländer, war Hochburg<br />

der Rüstungsindustrie <strong>und</strong> Heimat<br />

von Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow.<br />

Heute ist sie die Kulturmetropole<br />

im Ural. Ihre künstlerische Leuchtgestalt<br />

heißt Teodor Currentzis.<br />

„Ich bin eine sehr romantische Person,<br />

ich bin kein Technokrat“, sagt der<br />

Musikdirektor des Permer Opern- <strong>und</strong><br />

Balletttheaters, nippt am schwarzen Tee<br />

<strong>und</strong> dreht den großen Ring an seinem<br />

Finger. Sein Büro atmet den Geist postromantischen<br />

Schwärmertums. Schwere<br />

Samtvorhänge verdunkeln den Raum,<br />

auf tiefroten Tapeten schlängeln sich Blumenranken,<br />

die Chaiselongue verschwindet<br />

unter einem orientalischen Überwurf.<br />

Currentzis thront im edlen grauen Anzug<br />

auf einem ausladenden Sessel. Er zupft<br />

das Einstecktuch zurecht, wirft die schulterlangen<br />

dunklen Haare zurück <strong>und</strong> lächelt<br />

mit abwartendem Adlerblick.<br />

Der 42-jährige Grieche ist ein Meister<br />

der Inszenierung. <strong>Kein</strong> Foto findet<br />

ohne seine Zustimmung den Weg in den<br />

Druck. Auf den freigegebenen Bildern inszeniert<br />

sich Currentzis als düster-erotische<br />

Mischung aus Dandy <strong>und</strong> Magier mit<br />

einer Prise Graf Dracula.<br />

In Athen geboren, ging Teodor<br />

Currentzis 1994 zum Dirigierstudium<br />

bei Ilja Musin nach St. Petersburg, „von<br />

einem schwierigen Land in ein anderes“.<br />

Bis heute ist er <strong>Russland</strong> trotz zahlreicher<br />

Engagements im westlichen Ausland treu<br />

geblieben. Er schätzt die russische Kultur,<br />

die Offenheit der Menschen <strong>und</strong> eine<br />

Mentalität, die <strong>für</strong> ihn im Gegensatz zum<br />

disziplingesteuerten westlichen System<br />

noch Raum <strong>für</strong> die „wirklich wichtigen<br />

Dinge des Lebens“ lässt: die Poesie zum<br />

Beispiel, die innere Freiheit <strong>und</strong> – natürlich<br />

– die Liebe.<br />

Fast immer kommt sie ins Spiel,<br />

wenn Currentzis über Musik spricht:<br />

„Musik ist der Geist, der zwischen den<br />

Gegensätzen <strong>und</strong> der Vereinigung dieser<br />

entsteht. Dabei trägt sie ebenso die<br />

Kraft des Protests in sich wie den naiven<br />

Glauben daran, dass man jeden Menschen<br />

lieben kann“, sagt Currentzis <strong>und</strong><br />

seufzt. Die spirituell angereicherte Sprache<br />

<strong>und</strong> die dramatische Pose liegen dem<br />

Künstler. Schmal <strong>und</strong> hochgewachsen eilt<br />

er durch die Gänge der Oper, pulsierend<br />

<strong>und</strong> spannungsgeladen sind auch seine<br />

Bewegungen auf der Bühne. Er geht auf<br />

Tuchfühlung mit den Musikern, reißt sich<br />

erhitzt den Frack vom Leib, singt laut<br />

beim Dirigieren, wie im Rausch.<br />

ALS ER VIER JAHRE ALT WAR, sang ihm<br />

der Vater ein griechisches Volkslied vor,<br />

das von Eltern erzählt, die ihre verlorenen<br />

Kinder suchen, „ich weinte die ganze<br />

Zeit“. In diesem Moment habe er verstanden,<br />

was Tragödie bedeutet <strong>und</strong> wie<br />

der Mensch in der Kunst nach Erlösung<br />

strebt. Über die Klaviertastatur gebeugt,<br />

suchte er schon als Kind nach Dissonanzen<br />

<strong>und</strong> ihrer Auflösung in Schönheit. Bis<br />

heute ist es diese romantische Idee, die<br />

Currentzis leitet <strong>und</strong> mit der er internationale<br />

Spitzenmusiker dazu verführt, ihm<br />

an den Rand Sibiriens zu folgen.<br />

Nun umringen sie ihn musizierend<br />

auf der Bühne des Permer Opernhauses.<br />

Eine Schwurgemeinschaft, die sich der<br />

bedingungslosen Hingabe verschrieben<br />

hat: tanzende Körper, die sich zur Musik<br />

bewegen; junge Gesichter zwischen<br />

20 <strong>und</strong> 30, aus deren Augen Besessenheit<br />

spricht. 2004 hat Currentzis das Ensemble<br />

Musica Aeterna als damaliger Chefdirigent<br />

am Opernhaus in Nowosibirsk<br />

gegründet. 2001 hat er es nach Perm mitgenommen<br />

<strong>und</strong> mit ihm die Interpretationspraxis<br />

neu definiert.<br />

Detailversessen lotet er die Stücke<br />

aus <strong>und</strong> experimentiert mit ungewöhnlicher<br />

Instrumentierung. Auch Mozart<br />

setzt er so unter Starkstrom: Hochenergetisch<br />

auf den Punkt gebracht, emotional<br />

extrem ausgeleuchtet <strong>und</strong> in flirrenden<br />

Farbschichtungen transparent<br />

durchdrungen. Nicht ohne Gr<strong>und</strong> wird<br />

die „Figaro“-Einspielung des Ensembles<br />

bei Sony nun mit dem Echo-Klassik-Preis<br />

ausgezeichnet.<br />

Warum gerade Perm? „Wir könnten<br />

das Projekt Musica Aeterna überall machen.<br />

Aber in Perm sind wir frei, können<br />

eine neue Architektur schaffen. Hier gibt<br />

es noch keine Regeln.“ Hier kann er nach<br />

Gutdünken am Vorabend den Probenplan<br />

umwerfen, hier spielen die Musiker<br />

immer im Stehen <strong>und</strong> folgen keinen gewerkschaftlich<br />

erfochtenen Pausenzwängen,<br />

sondern proben im Spieleifer schon<br />

mal 14 St<strong>und</strong>en.<br />

In den Proben wird über Gefühle gesprochen,<br />

nicht über Dynamik. „Darum<br />

geht es in unserer Musik. Um Persönlichkeit.<br />

Und um Liebe.“ Man hat es fast geahnt.<br />

„Kunst ist wie eine Blume inmitten<br />

von Ruinen“, sagt Currentzis. „Je größer<br />

die Ruinen, desto strahlender blüht die<br />

Kunst.“ In Perm hat Teodor Currentzis<br />

seine blaue Blume gef<strong>und</strong>en.<br />

DOROTHEA WALCHSHÄUSL war bei ihrer<br />

Reise nach Perm von den Gegensätzen<br />

fasziniert <strong>und</strong> erlebte die Oper als Oase der<br />

Seligen inmitten postsowjetischer Schroffheit<br />

Foto: Robert Kittel/Sony Classical<br />

124<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


SALON<br />

Porträt<br />

DEUTSCHER ALS EINE WEISSWURST<br />

Der Kreischalarm ist sein Metier: Wie Schauspieler Elyas M’Barek zum Leinwandstar<br />

wurde <strong>und</strong> mit zwei neuen Filmen seinen Weg sucht zwischen Krimi <strong>und</strong> Klamauk<br />

Von DIETER OSSWALD<br />

Foto: Max Miller/Favorite Picture<br />

Zwei Kinostarts auf einen Streich:<br />

Das erleben selbst Hollywood-<br />

Größen nicht alle Tage. „Clooney,<br />

heul leise!“, würde Aushilfslehrer<br />

Zeki Müller wohl sagen. Mit dieser<br />

Rolle in „Fack ju Göhte“ avancierte Elyas<br />

M’Barek im vergangenen Jahr zum<br />

Überflieger. Mit mehr als sieben Millionen<br />

Zuschauern landete die Schulkomödie<br />

auf Platz vier in der seit 1968 erhobenen<br />

Hitparade b<strong>und</strong>esdeutscher Filme.<br />

Das heimische Kino gebar einen Star.<br />

Der kommt nun, im Abstand von einer<br />

Woche, doppelt auf die Leinwand. In<br />

der Komödie „Männerhort“ von Franziska<br />

Meyer Price flüchtet er mit Detlev<br />

Buck <strong>und</strong> Christoph Maria Herbst vor<br />

konsumhysterischen Fre<strong>und</strong>innen in einen<br />

Heizungskeller, um ungestört dem<br />

Bier <strong>und</strong> dem <strong>Fußball</strong> zu frönen. Im<br />

smarten Computer-Thriller „Who Am I“<br />

von Baran Bo Odar gibt er einen cleveren<br />

Hacker-Freak, der mit Tom Schilling<br />

von Geheimdiensten gejagt wird.<br />

Die persönliche „Wer bin ich?“-<br />

Frage nimmt der Schauspieler allem medialen<br />

Rummel zum Trotz mit gelassenem<br />

Schulterzucken. „Bin ich ein Star?<br />

Ich kann das <strong>für</strong> mich gar nicht so einfach<br />

sagen, weil mein Leben eigentlich ziemlich<br />

normal ist.“ Dazu knipst M’Barek<br />

sein Markenzeichen-Grinsen an <strong>und</strong><br />

wirkt keineswegs kokettierend. „Wer<br />

meinen Alltag erleben würde, wäre erstaunt,<br />

wie ein ‚Star‘ so lebt.“<br />

Zur Plauderaudienz ist der Münchner<br />

ins Berliner „Soho-House“ gekommen.<br />

Kaum betritt er das Zimmer, sucht<br />

er eine Steckdose <strong>für</strong> sein Smartphone.<br />

Das Klappern auf sozialen Netzwerken<br />

braucht Energie, <strong>und</strong> M’Barek klappert<br />

viel: bei Twitter, bei Instagram <strong>und</strong> Facebook,<br />

wo er unlängst die Marke von zwei<br />

Millionen Fans geknackt hat, „das wächst<br />

wie ein kleines Imperium“.<br />

Anders als üblich schreibt dieser<br />

Promi dort persönlich. „Wollen wir nicht<br />

alle zusammen an den FKK-Strand gehen?“,<br />

lockte er die Fans, die mit tausendfachem<br />

„Gefällt mir“ quittierten.<br />

Oder er meldete sich zum Anpfiff<br />

des WM-Endspiels mit: „Geil, im ZDF<br />

läuft ‚Traumschiff‘!!“ Bisweilen eignen<br />

sich Netzwerke zum süffisanten Protest.<br />

„Und du sprichst kein Wort Arabisch?“,<br />

hatte Markus Lanz ihn bei „Wetten,<br />

dass..?“ begrüßt, um sich danach über<br />

den „echtesten falschen Türken“, den er<br />

je in der Sendung hatte, zu freuen. Für<br />

den in München geborenen Sohn einer<br />

Österreicherin <strong>und</strong> eines Tunesiers war<br />

da Schluss mit lustig. Gelangweilt daddelte<br />

er fortan in sein Mobiltelefon. Den<br />

Twitter-Rat von Regisseur Bora Dagtekin<br />

(„Während da nichts los ist auf der Couch,<br />

fotografier mal in Dianas Ausschnitt!!“)<br />

tweetete er zeitgleich fröhlich weiter.<br />

IM FILM „MÄNNERHORT“ findet sich eine<br />

ähnliche Szene: „Bist du Türke?“, fragt<br />

der Hausmeister. „Ich bin deutscher als<br />

eine Weißwurst <strong>und</strong> habe eine Döner-<br />

Allergie“ kommt als genervte Antwort.<br />

Die Szene sei lange vor „Wetten, dass..?“<br />

gedreht worden, er wolle da gar nicht<br />

nachtreten. „Ich kann ja verstehen, dass<br />

Herr Lanz, der aus einer kleinen Stadt in<br />

Südtirol stammt, überrascht ist, dass jemand<br />

mit meinem Aussehen nur mit der<br />

deutschen Sprache aufgewachsen ist <strong>und</strong><br />

gar kein Arabisch spricht – das kann er<br />

sich als Ausländer wohl nicht vorstellen“,<br />

lacht M’Barek <strong>und</strong> beißt in sein Muffin.<br />

Wim Wenders würde wohl mitlachen,<br />

hat er im Mai beim gemeinsamen Dreh<br />

eines Werbespots <strong>für</strong> Eiscreme doch einen<br />

„großartigen Schauspieler“ entdeckt,<br />

mit dem er in vieler Hinsicht gleich ticke:<br />

„Wer weiß, was sich daraus einmal entwickelt“,<br />

fügte Wenders in Cannes hinzu.<br />

Einmal in der Championsleague<br />

der Regisseure spielen, der Traum jedes<br />

Schauspielers? Der 32-Jährige winkt ab.<br />

Er freue sich auf den nächsten Film mit<br />

„Fack ju Göhte“-Regisseur Bora Dagtekin<br />

„genauso, als wenn Tarantino anrufen<br />

würde“. Dem Tausendsassa Dagtekin<br />

hat M’Barek viel zu verdanken, schrieb<br />

er ihm doch nicht nur die Rolle des Klassenlehrerkaspers<br />

auf den Leib, sondern<br />

zuvor schon den Macho mit weichem<br />

Herz in der Kulturen-Clash-Komödie<br />

„Türkisch <strong>für</strong> Anfänger“, die selbst als<br />

Wiederholung der ARD nun eine Traumquote<br />

von 17,4 Prozent bescherte.<br />

Alle lieben Elyas. Der Mann sieht<br />

blendend aus, kann einen trainierten<br />

Körper präsentieren <strong>und</strong> taugt als Projektionsfläche<br />

diverser Begierden: vom Sexobjekt<br />

über den coolen Kumpel, den lustigen<br />

Partyhopper bis zum großen Bruder.<br />

All das bieten auch andere Stars, aber selten<br />

mit solcher Lässigkeit <strong>und</strong> Selbstironie.<br />

Nur im Freibad, erzählt der Kreischalarmauslöser,<br />

„wäre eine Tarnkappe<br />

nicht schlecht, um mit Fre<strong>und</strong>en einfach<br />

herumliegen zu können“.<br />

Trotz Smartphone-Spionen an jeder<br />

Ecke hält der Star sein Privatleben<br />

erstaunlich erfolgreich geheim, selbst<br />

Google erweist sich als völlig ahnungslos.<br />

„Man vergisst oft, dass es Leute gibt, die<br />

überhaupt keine Lust auf Prominenz haben<br />

<strong>und</strong> nicht öffentlich stattfinden wollen.<br />

Das möchte ich respektieren.“<br />

Vor zwei Monaten hat er sich bei allem<br />

ausgestellten, ausgelebten Hang zur<br />

Normalität ein kleines Update im Haushalt<br />

erlaubt: eine Putzfrau. Sie sei „der<br />

größte Luxus, den ich mir gönne“.<br />

DIETER OSSWALD schreibt über Filme <strong>und</strong><br />

Stars. Auch bei der dritten Begegnung mit<br />

M’Barek fiel der Verzicht auf ein gemeinsames<br />

Selfie mangels eigenem Handy leicht<br />

127<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


SALON<br />

Man sieht nur, was man sucht<br />

Wo ist es noch TAUSENDMAL<br />

schöner als hier? Von BEAT WYSS<br />

128<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


Der DDR-Maler Wolfgang Mattheuer, hochdekoriert<br />

in Ost wie West, verließ die Heimat 1973<br />

auf farbenfrohen Pfaden <strong>und</strong> im Traumbild nur<br />

Fotos: Museum der bildenden Künste Leipzig/© VG Bild-Kunst Bonn 2014, Gaetan Bally/Keystone Schweiz/Laif (Autor)<br />

Hätte man sie gelassen, die<br />

DDR wäre am 7. Oktober<br />

ins Rentenalter gekommen<br />

<strong>und</strong> könnte nach<br />

deutschem Beamtenrecht<br />

noch mindestens zwei Jahre weitermachen.<br />

Dass es anders gekommen ist,<br />

nahm Wolfgang Mattheuers Gemälde<br />

„Hinter den sieben Bergen“ vorweg.<br />

Eine Autokolonne fährt auf der Überlandstraße<br />

davon. Über Hügel schlängelt<br />

sich das graue Band verblauendem Gebirge<br />

zu. Gesäumt ist die Straße von Plakatwänden<br />

mit Propaganda; Traumlogik<br />

regiert. Zu sehen sind Diagramme, ein<br />

Fotoapparat, Tischtennisschläger. Die<br />

Buchstaben auf den Reklameschildern<br />

ergeben das Wort Eiapopeia, eine Anspielung<br />

auf Heinrich Heines „Deutschland.<br />

Ein Wintermärchen“. Ein Harfenmädchen<br />

singt darin:<br />

Das alte Entsagungslied,<br />

Das Eyapopeya vom Himmel,<br />

Womit man einlullt, wenn es greint,<br />

Das Volk, den großen Lümmel.<br />

Dieses Volk aber ist einen Monat<br />

nach den Geburtstagsfeierlichkeiten von<br />

1989 aus der maroden Umerziehungsanstalt<br />

Ost ausgebrochen.<br />

Das Schlusslicht der Karawane bilden<br />

ein Zweisitzer-Moped – die legendäre<br />

Simson Schwalbe? – <strong>und</strong> ein<br />

vierschrötiger Lada. Das Fahrzeug<br />

sowjetischer Bauart in feldgrauer Lackierung<br />

spielt auf das Ereignis an, das<br />

der Künstler in ein malerisches Traumbild<br />

verwandelt. Den Prager Frühling zu<br />

beenden, waren im Herbst 1968 sowjetische<br />

Panzerverbände durch das Vogtland<br />

gerasselt, die Heimat des Künstlers,<br />

Wolfgang Mattheuers „Hinter den<br />

sieben Bergen“ von 1973 ist noch<br />

immer in Leipzig zu besichtigen<br />

in Richtung tschechischer Grenze. „Die<br />

Freiheit spielt mit bunten Luftballons“,<br />

schreibt Mattheuer ins Tagebuch, „<strong>und</strong><br />

andere fahren hin mit Panzer <strong>und</strong> Kanonen<br />

– um nachzuschauen.“<br />

Gewölk wirft seinen Schatten über<br />

die Hügel. Der Himmel vor uns wäre<br />

noch makellos, schwebte da nicht die<br />

Fata Morgana einer lichten Frauengestalt:<br />

Kolossal wie die Freiheitsstatue von<br />

New York <strong>und</strong> zugleich elegant wie Delacroix’<br />

„Liberté“, die das Volk auf die<br />

Barrikaden führt. Ihre Trikolore hat sich<br />

in bunte Luftballons vervielfältigt, einen<br />

Blumenstrauß trägt Marianne statt dem<br />

Gewehr. Malte hier ein „Republikflüchtling<br />

im Wartestand“? Die Genossen unter<br />

den Kritikern sahen hinter den sieben<br />

Bergen das kapitalistische Westdeutschland<br />

haltlos lockend hervorlugen.<br />

Das Gemälde wurde auch im Westen<br />

umgehend wahrgenommen. Kaum war<br />

die Farbe trocken, gelangte „Hinter den<br />

sieben Bergen“ an die legendäre Hamburger<br />

Ausstellung zum 200. Geburtstag<br />

von Caspar David Friedrich. Der DDR-<br />

Maler war heimgeholt als Nachfahre der<br />

Landschaftsmalerei im Geist der deutschen<br />

Romantik. Die linken Ausstellungsmacher<br />

in Westdeutschland wollten<br />

ein Gegengewicht zur US-amerikanischen<br />

Dominanz im Kunstbetrieb schaffen.<br />

Dabei wurden sie von Peter Ludwig<br />

unterstützt, der nicht nur westliche Pop-<br />

Art, sondern auch realistische Kunst aus<br />

dem Ostblock sammelte. Mit Mattheuer<br />

war er seit 1977 im Geschäft, demselben<br />

Jahr, als „Hinter den sieben Bergen“ zur<br />

Documenta nach Kassel reiste.<br />

Verkäufe in den Westen wurden über<br />

den staatlichen Kunsthandel abgewickelt.<br />

Die DDR war durchaus interessiert, mit<br />

kritischer Kunst Geschäfte zu machen.<br />

Damit erwarb man sich Westdevisen <strong>und</strong><br />

eine liberale Außenwirkung. Toleriert<br />

war Regimekritik in der Maske des Mythos.<br />

Auch der Parteifunktionär mochte<br />

Beat Wyss<br />

ist einer der bekanntesten<br />

Kunsthistoriker des Landes.<br />

Er lehrt Kunstwissenschaft<br />

<strong>und</strong> Medienphilosophie an<br />

der Staatlichen Hochschule<br />

<strong>für</strong> Gestaltung in Karlsruhe<br />

<strong>und</strong> schreibt jeden Monat<br />

in <strong>Cicero</strong> über ein Kunstwerk<br />

<strong>und</strong> dessen Geschichte.<br />

Kürzlich erschien bei Philo<br />

Fine Arts sein Essay „Renaissance<br />

als Kulturtechnik“<br />

sich unter den „Mühen der Ebene“ als<br />

Sisyphos vorkommen, dem der Fels kurz<br />

vor dem Gipfel des Sozialismus dann<br />

doch wieder hinunterkollert.<br />

War die westliche Freiheit utopischer<br />

Vorschein oder nur Budenzauber?<br />

Mattheuers Gemälde lässt beide Lesarten<br />

zu. Der Künstler selbst war in dieser<br />

Frage unentschieden. In der Ambivalenz<br />

steckt nicht Verstellung, sondern<br />

Zwiespalt. Der wurde mit Preisen besiegelt:<br />

1984 erhielt der Mitbegründer der<br />

Leipziger Schule den Staatspreis der DDR<br />

Erster Klasse, überreicht von Erich Honecker,<br />

neun Jahre später den Verdienstorden<br />

der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland,<br />

überreicht von Richard von Weizsäcker.<br />

Die Überlandstraße von Hof Richtung<br />

Zwickau durchs Vogtland, gemalt<br />

von Mattheuer, ist inzwischen zur vierspurigen<br />

A72 ausgebaut, der Grenzübergang<br />

vor Plauen geschlossen.<br />

129<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


SALON<br />

Gespräch<br />

„ IRREN GEHÖRT DAZU “<br />

Seinsgeschichtlicher Antisemitismus: Peter Trawny, Herausgeber<br />

der „Schwarzen Hefte“, über Abgründe im<br />

Denken Heideggers – <strong>und</strong> warum der Philosoph anregend bleibt<br />

Herr Trawny, Sie sind der Herausgeber<br />

der „Schwarzen Hefte“ <strong>und</strong> gehörten<br />

zu den Ersten, die darauf bestanden,<br />

dass es sich bei den problematischen<br />

Äußerungen Heideggers um Antisemitismus<br />

handele. Warum sind Sie so<br />

vorgegangen?<br />

Peter Trawny: Wir müssen, wenn<br />

wir diese Äußerungen lesen, die gängigen<br />

Kriterien der Antisemitismusforschung<br />

anlegen. Dann bleibt uns nichts<br />

anderes übrig, als sie als Antisemitismus<br />

zu bezeichnen. Da haben wir keinen<br />

Spielraum. Bei Heidegger gibt es eine<br />

spezifische Form des Antisemitismus, der<br />

Martin Heidegger<br />

Der 1889 geborene Philosoph<br />

notierte in den „Schwarzen Heften“<br />

von den dreißiger Jahren bis kurz<br />

vor seinem Tod 1976 Hintergr<strong>und</strong>notizen<br />

zu seiner Philosophie. Sie<br />

bilden den <strong>für</strong> 2020 vorgesehenen<br />

Abschluss der auf über h<strong>und</strong>ert<br />

Bände angelegten Gesamtausgabe<br />

allerdings mit Stereotypen arbeitet, die<br />

heute noch weit verbreitet sind <strong>und</strong> den<br />

Antisemitismus mitbestimmen. Ich denke<br />

an sein Räsonieren über „die zähe Geschicklichkeit<br />

des Rechnens <strong>und</strong> Schiebens<br />

<strong>und</strong> Durcheinandermischens, wodurch<br />

die Weltlosigkeit des Judentums<br />

gegründet“ werde. Er sah das Judentum<br />

verantwortlich <strong>für</strong> „das Sichbreitmachen<br />

einer sonst leeren Rationalität<br />

<strong>und</strong> Rechenfähigkeit“. Mir ging es dabei<br />

auch um die Frage: Wie wollen wir<br />

mit Heidegger an den Universitäten<br />

umgehen? Wie weit sind die Institutionen<br />

bereit, Projekte, die mit Heidegger<br />

Foto: Digne Meller Marcovicz/BPK<br />

130<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


zusammenhängen, noch zu fördern? Deshalb<br />

schien es mir richtig, die Diskussion<br />

ohne Wenn <strong>und</strong> Aber zu führen <strong>und</strong> nicht<br />

zu lavieren.<br />

Verändern die „Schwarzen Hefte“ unser<br />

Bild von Heideggers Haltung zum<br />

Nationalsozialismus?<br />

Es bleibt im Großen <strong>und</strong> Ganzen der<br />

Weg, den man kannte: Eine frühe Faszination,<br />

verb<strong>und</strong>en mit einem Engagement,<br />

das relativ schnell wieder einkassiert<br />

wird; aber auch eine bleibende<br />

Loyalität bei gleichzeitiger kritischer Distanzierung,<br />

die dann immer stärker wird.<br />

Das Neue ist das, was ich antisemitische<br />

Passagen im philosophischen Kontext<br />

nennen würde. Man kannte private Äußerungen,<br />

die ein gewisses Ressentiment<br />

gegenüber Juden ausdrückten, aber keinen<br />

Versuch, das Judentum als geschichtliche<br />

Figur in den Auseinandersetzungen<br />

des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts zu fassen.<br />

Die Reaktion in der publizistischen Öffentlichkeit<br />

fiel sehr heftig aus. Hat Sie<br />

das überrascht?<br />

Ich hatte erwartet, dass es eine Debatte<br />

geben werde, aber nicht in dieser<br />

Breite. Das Video bei Youtube, das<br />

mich bei der ersten öffentlichen Vorstellung<br />

der „Hefte“ zeigt, ist 7000 Mal angeklickt<br />

worden. Das finde ich ziemlich<br />

verrückt. Es zeigt, dass es ein breites Interesse<br />

an diesem Philosophen gibt.<br />

von Jürgen Habermas. Die Kritische Theorie<br />

hält das Argument <strong>für</strong> die Zentralfunktion<br />

des philosophischen Denkens.<br />

Heideggers Denken aber ist kein Diskurs.<br />

Es ist eine andere Weise des Denkens, die<br />

von den Vertretern des Arguments nicht<br />

als Philosophie anerkannt wird.<br />

Bei einem Philosophen, der die Öffentlichkeit<br />

derart verachtet hat, könnte<br />

man in dieser Umkehrung Ironie sehen.<br />

Diese problematische Verachtung der<br />

Öffentlichkeit ist typisch <strong>für</strong> Heideggers<br />

Denken: Es ist anstößig. Auf diese Provokation<br />

können die Nichtakademiker<br />

erstaunlicherweise besser reagieren als<br />

die Akademiker, die glauben, es sei nicht<br />

Aufgabe der Philosophie, Anstoß zu erregen.<br />

Das gilt etwa auch <strong>für</strong> Heideggers<br />

Schülerin <strong>und</strong> vorübergehende Geliebte<br />

Hannah Arendt. Auch sie ist der Ansicht,<br />

dass Philosophie extrem sein <strong>und</strong> Anstoß<br />

erregen muss, um überhaupt Philosophie<br />

zu sein. In der Analytischen Philosophie<br />

<strong>und</strong> der Kritischen Theorie hat der Anstoß<br />

als Anstoß keine Bedeutung.<br />

„Wer groß denkt, muss groß irren“, heißt<br />

es in den „Schwarzen Heften“ – der zentrale<br />

Satz <strong>für</strong> Ihr neues, soeben bei Matthes<br />

& Seitz erschienenes Buch „Irrnisfuge.<br />

Heideggers An-archie“. Martin<br />

Heideggers Irren, schreiben Sie, sei „ein<br />

Augenblick der Philosophie“.<br />

„Die Irre“, wie er das nennt, gehört<br />

konstitutiv zu Heideggers Wahrheitsverständnis:<br />

Er war philosophisch davon<br />

überzeugt, dass es so etwas wie eine moralische<br />

Verantwortung des Autors nicht<br />

gibt. Was mich aber eigentlich interessiert,<br />

ist die Frage, ob der Irrtum oder das<br />

Verirren nicht überhaupt zur Geschichte<br />

des Philosophierens gehört. Wir hangeln<br />

uns an dem entlang, was Habermas das<br />

„bessere Argument“ nennt. Aber welche<br />

Kriterien haben wir eigentlich, um ein<br />

philosophisches Buch wahr oder unwahr<br />

zu nennen? Auf dieses Problem scheint<br />

mir Heidegger hinzuweisen.<br />

Foto: Jens Grossmann/Laif [M]<br />

Wie erklären Sie sich das?<br />

Bei Heidegger gibt es eine Kluft zwischen<br />

der akademischen <strong>und</strong> der öffentlichen<br />

Wahrnehmung. In der Öffentlichkeit<br />

gilt Heidegger als der Philosoph des<br />

20. Jahrh<strong>und</strong>erts oder vielleicht – neben<br />

Ludwig Wittgenstein – als der andere<br />

große Philosoph dieses Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />

Es gibt ein allgemeines Interesse an dieser<br />

Figur, die sich natürlich in die Zeitgeschichte<br />

verstrickt hat, nicht einfach in<br />

akademischer Distanz geblieben ist. Das<br />

findet man interessant <strong>und</strong> wichtig.<br />

Aber nur in der Öffentlichkeit?<br />

Die Entwicklung der akademischen<br />

Philosophie in Deutschland in den letzten<br />

40 Jahren steht unter zwei Einflüssen:<br />

der Analytischen Philosophie, die<br />

aus dem angelsächsischen Raum kommt,<br />

<strong>und</strong> der Frankfurter Schule in Gestalt<br />

Peter Trawny<br />

In seinem neuen Essay „Irrnisfuge.<br />

Heideggers An-archie“ umkreist<br />

der Leiter des Wuppertaler<br />

Martin-Heidegger-Instituts einen<br />

umstrittenen Punkt: War Martin<br />

Heidegger Antisemit? Heideggers<br />

Engagement in den ersten Jahren<br />

des Nationalsozialismus ist seit<br />

langem bekannt, doch als Antisemit<br />

galt er nicht. Das änderte sich<br />

mit den seit März erscheinenden<br />

„Schwarzen Heften“, die Trawny<br />

herausgibt<br />

Welche Potenziale sehen Sie dann in<br />

Heideggers Denken <strong>für</strong> die Gegenwart?<br />

Zwei Punkte, wenn ich es knapp machen<br />

soll. Mit Heidegger lässt sich darüber<br />

nachdenken, inwiefern der Mensch<br />

in einer Welt, die universal von Technik,<br />

Kapital <strong>und</strong> Medien bestimmt wird, überhaupt<br />

noch frei sein kann. Wir sind heute<br />

integriert in eine Häufung von Funktionszusammenhängen,<br />

in eine Öffentlichkeit,<br />

die immer schon kapitalistisch<br />

geprägt <strong>und</strong> von Technik determiniert<br />

ist. Heideggers kritische Auseinandersetzung<br />

mit der Technik in den fünfziger<br />

<strong>und</strong> sechziger Jahren scheint mir ein<br />

Anknüpfungspunkt zu bleiben.<br />

Und zweitens?<br />

Ich glaube, dass der Denkstil, den<br />

Heidegger gepflegt hat, eine Form der<br />

131<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


SALON<br />

Gespräch<br />

Freiheit ist. Bei Heidegger lässt sich wie<br />

bei keinem Zweiten lernen, was es bedeutet,<br />

im Denken frei zu sein. Man kann<br />

seinen Stil kritisch sehen <strong>und</strong> muss ihm<br />

nicht folgen. Aber bei ihm kann man lernen,<br />

was es heißt, nicht stehen zu bleiben<br />

<strong>und</strong> sogar sich selbst immer wieder<br />

zu überwinden.<br />

Um eines der „Schwarzen Hefte“, das<br />

Sie demnächst herausgeben, scheint<br />

es einen regelrechten Krimi gegeben<br />

zu haben. Es war verschollen.<br />

Die „Anmerkungen I“ mit Aufzeichnungen<br />

von 1942 bis 1946 befanden sich<br />

im Besitz von Silvio Vietta, dem Sohn<br />

von Dory Vietta, einer Geliebten Heideggers.<br />

Vielleicht hatte Heidegger es<br />

ihr geschenkt. Die Familie Heidegger<br />

suchte es jahrelang. Im Zuge der Veröffentlichung<br />

der ersten „Schwarzen Hefte“<br />

hat sich dann Vietta bereit erklärt, das<br />

Heft dem Deutschen Literaturarchiv in<br />

Marbach am Neckar zu verkaufen. Erst<br />

danach war mir erlaubt, den Inhalt kennenzulernen.<br />

Vietta meinte in einem Interview<br />

mit der Zeit, das Heft enthalte<br />

keine „antisemitischen Stellen“. Diese<br />

Äußerung ist apologetisch <strong>und</strong> voreilig.<br />

Die Leser werden sich bald ihr eigenes<br />

Bild machen können.<br />

Was erwartet die Leser denn?<br />

Ich denke, dass meine These eines<br />

„seinsgeschichtlichen Antisemitismus“<br />

bei Heidegger durch die kommenden<br />

„Schwarzen Hefte“ gestützt wird.<br />

Es gibt darin Äußerungen zur Schoah,<br />

auch wenn Heidegger natürlich den Begriff<br />

nicht kennt. Mit einer Aussage dazu<br />

möchte ich abwarten.<br />

Die Literaturkritikerin Elke Heidenreich<br />

hat Heidegger in der Schweizer Fernsehsendung<br />

„Literaturclub“ vorgeworfen,<br />

er habe die Juden aus Deutschland beseitigt<br />

sehen wollen. Stimmen Sie zu?<br />

Nein. Davon habe ich mich auch distanziert.<br />

Die Frage ist: Was hat Heidegger<br />

gewusst? Man muss sehen, dass<br />

Heidegger die antisemitischen Formulierungen<br />

während der Judenverfolgung<br />

verwendet. Das hat ein größeres<br />

Gewicht als beispielsweise bei Nietzsche,<br />

bei dem sich ebenfalls antisemitische<br />

Äußerungen finden – neben<br />

philosemitischen.<br />

„ Bei Heidegger<br />

lässt sich<br />

wie bei keinem<br />

Zweiten lernen,<br />

was es bedeutet,<br />

im Denken<br />

frei zu sein “<br />

Nietzsche aber war 1900 gestorben.<br />

Heidegger muss die Judenverfolgung<br />

wahrgenommen haben. 1938<br />

brannte in Freiburg die Synagoge unweit<br />

der Universität, an der er lehrte. Er<br />

hat auch wahrgenommen, dass Menschen<br />

emigriert sind. Es gibt allerdings keinen<br />

Hinweis darauf, dass er gewusst hat, was<br />

in den Vernichtungslagern passiert. Vermutlich<br />

wusste er es nicht.<br />

In den bisher veröffentlichten „Schwarzen<br />

Heften“ spricht sich ein vehementes<br />

Krisenbewusstsein aus. Ist das die<br />

Krise des Nationalsozialismus oder betrifft<br />

uns diese Diagnose noch?<br />

Beides. Das macht seine kritische<br />

Analyse des Nationalsozialismus <strong>für</strong><br />

viele nicht annehmbar: dass Heidegger<br />

ihn als eine Form der Moderne begreift,<br />

auch wenn er das Wort nicht benutzt. Er<br />

ist überzeugt, dass der Nationalsozialismus<br />

eine Endform der Neuzeit <strong>und</strong> damit<br />

auch der Moderne darstellt. Dass er daran<br />

den krisenhaften Status auch der Philosophie<br />

thematisiert, scheint mir stimmig.<br />

Für die Gegenwart nenne ich nur<br />

ein Beispiel, das Heidegger selbst wahrscheinlich<br />

gar nicht verstanden hätte:<br />

Die Alphatiere des akademischen Betriebs<br />

listen heute in ihren Lebensläufen<br />

bereits die Summen der angeworbenen<br />

Drittmittel auf.<br />

„Rechnendes Denken“ lautet ein Hauptvorwurf<br />

Heideggers an die Neuzeit.<br />

Tatsächlich muss man sich fragen,<br />

was es denn <strong>für</strong> die Philosophie bedeutet,<br />

wenn sie sich maßlos in eine Ökonomisierung<br />

integriert, gegen die man<br />

von den Philosophen eher Sturm erwarten<br />

sollte. Ging es der Philosophie nicht<br />

einmal darum, mit all dem zu brechen,<br />

was wir sonst so tun? Ich erinnere nur<br />

an das Höhlengleichnis: Die Philosophie<br />

beginnt bei Platon mit einer Geschichte<br />

des Ausbruchs. Da<strong>für</strong> gibt es bei solchen<br />

Philosophen aber gar kein Bewusstsein<br />

mehr. Heidegger hingegen thematisiert<br />

genau diese totale Integration der Philosophie<br />

in Funktionszusammenhänge, in<br />

die sie ihrer Herkunft nach nicht hineingehört<br />

oder die sie immer brechen wollte.<br />

Dann wäre Heidegger <strong>für</strong> Sie der Denker<br />

einer kommenden Revolution?<br />

Das vielleicht nicht. Aber es gibt<br />

in der gesamten Geschichte der Philosophie<br />

seit Parmenides eine Tendenz<br />

zu dem, was Heidegger die „Verwandlung“<br />

genannt hat. Dahinter steckt die<br />

Überzeugung, dass es eine Wahrheit gibt,<br />

die sich nicht einfach in die bestehenden<br />

Verhältnisse integriert. Das teilt die<br />

platonische Philosophie mit dem Christentum,<br />

das teilen die philosophischen<br />

Vertreter einer Revolution mit dem religiösen<br />

Messianismus. Können wir diese<br />

Tradition einfach verabschieden <strong>und</strong> ausrufen:<br />

Das sagt uns nichts mehr? Leben<br />

wir in einer Zeit, die so immanent von<br />

Technik, Kapital <strong>und</strong> Medien bestimmt<br />

ist, dass es kein Außerhalb mehr gibt,<br />

dass wir uns ganz da hinein integrieren<br />

müssen, weil es uns vorrangig um soziale<br />

Sicherheit geht <strong>und</strong> es nichts mehr anderes<br />

zu denken gibt? An diesem Punkt<br />

gibt es <strong>für</strong> mich bei den zeitgenössischen<br />

Denkern wenig Anknüpfungspunkte. Sie<br />

tun so, als sei das kein Problem mehr.<br />

Heidegger gehört in diese lange, ältere<br />

Tradition noch hinein.<br />

MICHAEL STALLKNECHT stellte die Fragen<br />

132<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


DER TAGESSPIEGEL<br />

Diversity<br />

2014<br />

Die Konferenz <strong>für</strong> Vielfalt<br />

in der Arbeitswelt<br />

13. <strong>und</strong> 14. November in Berlin<br />

Jetzt Tickets buchen!<br />

www.diversity-konferenz.de<br />

Wie steht es um die Vielfalt in der Wirtschaft? Im Mittelpunkt<br />

der Veranstaltung stehen die praktischen Erfahrungen der<br />

Unternehmen. Neben Keynotes <strong>und</strong> Podiumsdiskussionen<br />

wird in Workshops praktisches Wissen vermittelt. Ein weiterer<br />

Höhepunkt ist der Diversity-Slam – ein Wettstreit auf<br />

der Bühne im Minutentakt.<br />

Die Themen der Workshops: Wie kommuniziert man Vielfalt?<br />

Wie sieht eine barrierefreie Arbeitswelt aus? Wie<br />

gehen Firmen mit sexueller Orientierung <strong>und</strong> Identität am<br />

besten um? Wie bezieht man Männer aktiv in die Diversity-<br />

Arbeit ein?<br />

Als Referentinnen <strong>und</strong> Referenten nehmen unter anderem teil:<br />

Manuela Schwesig<br />

B<strong>und</strong>esministerin <strong>für</strong><br />

Familie, Senioren,<br />

Frauen <strong>und</strong> Jugend<br />

Aydan Özoguz<br />

Staatsministerin<br />

<strong>und</strong> Beauftragte <strong>für</strong><br />

Migration, Flüchtlinge<br />

<strong>und</strong> Integration<br />

Ingo Kramer<br />

Präsident der<br />

B<strong>und</strong>esvereinigung der<br />

Deutschen Arbeitgeberverbände<br />

(BDA)<br />

Claudia Joost<br />

Personalvorstand<br />

BP Europa SE<br />

Angelika Huber-<br />

Straßer<br />

Partnerin bei der<br />

KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft<br />

Eva Maria<br />

Welskop-Deffaa<br />

Mitglied im ver.di-<br />

B<strong>und</strong>esvorstand<br />

Bernd Ulrich<br />

stellvertretender<br />

Chefredakteur DIE<br />

ZEIT<br />

Hatice Akyün<br />

Journalistin, Kolumnistin<br />

<strong>und</strong> Buchautorin<br />

Ana-Cristina Grohnert,<br />

Managing Partner Talent,<br />

Ernst & Young GmbH<br />

Wirtschaftsprüfungsgesellschaft,<br />

Vorstandsvorsitzende<br />

Charta der<br />

Vielfalt e.V.<br />

www.diversity-konferenz.de<br />

Unsere Partner


SALON<br />

Reportage<br />

ER IST<br />

WIEDER DA<br />

Von ECKHARD FUHR<br />

Illustrationen MARCO WAGNER<br />

Lehrmeister <strong>und</strong> Mythentier, Hoffnungsträger <strong>und</strong><br />

Angstobjekt, immer <strong>für</strong> eine Haupt- <strong>und</strong> Staatsaktion<br />

gut: Wie ein Heimkehrer unser Leben verändert.<br />

Einblicke in die Wolfsrepublik Deutschland<br />

134<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


SALON<br />

Reportage<br />

Die Herbstsonne stand schon am Himmel.<br />

Der Hirsch, der im Morgengrauen auf der<br />

Waldwiese geäst hatte, war längst in den<br />

Wald gezogen. Seit St<strong>und</strong>en saßen wir<br />

regungslos in unserem Versteck, eingepackt<br />

in zottelige Tarnanzüge, in denen es uns jetzt<br />

mehr als wohlig warm wurde. Meinen ersten Wolf sah<br />

ich, als ich mir hinter der Gesichtsmaske den Schweiß<br />

aus den Augen gerieben hatte. Die Nase am Boden,<br />

kam er genau dort aus dem Wald, wo vor einer St<strong>und</strong>e<br />

der Hirsch verschw<strong>und</strong>en war. Er hatte es nicht eilig.<br />

Wie ein schlecht gelaunter Teenager trödelte er in den<br />

Tag hinein. Etwa ein halbes Jahr alt musste der im<br />

Frühjahr geborene Jungwolf sein. Der dunkle, graubraune<br />

Winterbalg, den er früh angelegt hatte, ließ<br />

ihn älter erscheinen. Das Wölfchen wirkte schon wie<br />

ein Wolf. Nach einigen Minuten folgte ihm ein zweiter.<br />

Als die Bühne leer war, löste sich meine Benommenheit,<br />

Zivilisationsgeräusche drangen an mein Ohr.<br />

Wir waren im Lausitzer Braunkohlerevier, nicht weit<br />

vom Kraftwerk „Schwarze Pumpe“. Mein Begleiter,<br />

der Biologe <strong>und</strong> Tierfilmer Sebastian Koerner, packte<br />

Kamera <strong>und</strong> Stativ zusammen. Für ihn sind solche<br />

Wolfsbeobachtungen nichts Spektakuläres. Ein Großteil<br />

der Filmaufnahmen, die es von wild lebenden Wölfen<br />

in Deutschland gibt, stammt von ihm.<br />

Ich wollte deutsche Wölfe mit eigenen Augen gesehen<br />

haben, bevor ich über sie schreibe. Ich dachte mir,<br />

dass man sich mit einem eigenen Bild im Kopf sicherer<br />

in einem Gebiet bewegt, wo Zerrbilder, Wunschbilder<br />

oder Phantombilder üppig gedeihen. Und ich wollte natürlich<br />

auch wissen, ob eine Begegnung mit Wölfen ein<br />

so aufwühlendes, ja erschütterndes Erlebnis ist, wie<br />

es vielfach geschildert wird. Am meisten beeindruckte<br />

mich die Gelassenheit der Wölfe. Die Begegnung mit<br />

ihnen war kein Erweckungserlebnis, sondern eine Ernüchterung<br />

im besten Sinne: Die Wölfe selbst sind das<br />

beste Kontrastprogramm zu den Hysterien, die sie bei<br />

ihren menschlichen Zeitgenossen mitunter entfachen.<br />

Es ist allerdings schwer, nüchtern zu bleiben bei<br />

der Beschäftigung mit Wölfen. Wie kein anderes Tier<br />

findet der Stammvater unserer H<strong>und</strong>e direkten Zugang<br />

zu unseren Emotionen. Menschen <strong>und</strong> Wölfe waren,<br />

seit sie sich in den eiszeitlichen Steppen Eurasiens <strong>und</strong><br />

Nordamerikas begegneten, aufeinander bezogen. Sie<br />

Es ist schwer, nüchtern<br />

zu bleiben bei der<br />

Beschäftigung mit<br />

Wölfen. Es geht um<br />

Elementares<br />

teilten denselben Lebensraum, jagten dieselben Beutetiere,<br />

wendeten gleiche Jagdstrategien an, ähnelten<br />

sich in ihrem Sozialverhalten <strong>und</strong> entwickelten deshalb<br />

ein „Verständnis“ <strong>für</strong>einander, das es so in keiner<br />

anderen Mensch-Tier-Beziehung gibt. Es geht um<br />

Elementares, wenn der Wolf wieder auftaucht.<br />

Ohne die Zehntausende von Jahren währende<br />

Sonderbeziehung zwischen Wolf <strong>und</strong> Mensch ist die<br />

gewaltige Resonanz nicht zu erklären, die seine Rückkehr<br />

in die mitteleuropäische Kulturlandschaft findet.<br />

Es gibt noch andere solcher Rückkehrer, etwa den Biber,<br />

den Seeadler, den Luchs oder die Wildkatze. Aber<br />

keiner polarisiert so wie der Wolf, um keinen gibt es<br />

ein solches Geschrei. Naturnutzer wie Schafhalter oder<br />

Jäger stellt er vor manchmal schwer lösbare Probleme.<br />

Naturschützer feiern seine Rückkehr. Naturromantiker<br />

begrüßen den Wolf als Boten angeblich unberührter<br />

Wildnis <strong>und</strong> übersehen dabei gern, dass ihn die<br />

durch intensive Landwirtschaft auf einen historischen<br />

Höchststand gefütterten Populationen seiner Beutetiere<br />

anlocken. Städter lieben den Wolf mehr, als es<br />

die Landbevölkerung tut, die ihn zum direkten Nachbarn<br />

hat. Ältere hegen ihm gegenüber größere Bedenken<br />

als Jüngere. Der Osten Deutschlands – Sachsen,<br />

Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern<br />

– wird in wenigen Jahren flächendeckend vom<br />

Wolf besiedelt sein. Im Westen <strong>und</strong> Südwesten ist er<br />

bislang nur zeitweiliger Gast. Die westlichsten Rudelterritorien<br />

liegen derzeit in der Lüneburger Heide.<br />

AUFMERKSAM AUF DIE WÖLFE wurde ich bald nach der<br />

deutschen Wiedervereinigung. Im Mittelpunkt meiner<br />

Arbeit standen die politischen, gesellschaftlichen <strong>und</strong><br />

kulturellen Folgen dieser Zeitenwende. Aber gewissermaßen<br />

aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, dass<br />

sich auch in der Natur so etwas wie eine „Wende“ anbahnte.<br />

Anfang der neunziger Jahre häuften sich die<br />

Berichte über Wölfe, die, aus Polen kommend, bis in<br />

die Nähe Berlins vordrangen <strong>und</strong> auf dem Autobahnring<br />

zu Tode kamen. Auch geschossen wurden zuwandernde<br />

Wölfe immer wieder, obwohl seit dem 3. Oktober<br />

1990 in der ehemaligen DDR das deutsche <strong>und</strong><br />

europäische Naturschutzrecht galt, nach dem der Wolf<br />

eine streng geschützte Art ist, <strong>für</strong> deren Erhaltung <strong>und</strong><br />

Förderung sich die Politik aktiv einsetzen muss. Als<br />

ich in der FAZ meinen ersten Artikel über die Rückkehr<br />

der Wölfe schrieb, erklärte mich mancher Leserbriefschreiber<br />

zum Spinner. Für die große Mehrheit<br />

der Deutschen war vor 20 Jahren die Vorstellung,<br />

ihr Land könnte wieder von Wölfen besiedelt werden,<br />

schlicht abwegig. Man stand doch an der Schwelle zum<br />

21. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>und</strong> erlebte die Anfänge einer digitalen<br />

Revolution. Wölfe gab es seit mehr als 100 Jahren<br />

in Deutschland nicht mehr. Die letzten in den Vogesen,<br />

in der Eifel oder in Sachsen wurden um 1900 erlegt.<br />

Schon da gab es nur noch Einzeltiere <strong>und</strong> Durchwanderer.<br />

Gut, in Ostpreußen waren sie nie verschw<strong>und</strong>en.<br />

136<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


SALON<br />

Reportage<br />

Aber wie lange schon war das alte Ostpreußen versunken?<br />

Nein, Wölfe passten einfach nicht in die Zeit.<br />

Die Wölfe sahen das anders. Als hätten sie einen<br />

Sinn <strong>für</strong> historische Dramaturgie, begannen sie ihre<br />

Landnahme westlich von Oder <strong>und</strong> Neiße just in dem<br />

Moment, in dem Parlament <strong>und</strong> Regierung ihre Arbeit<br />

in Berlin aufnahmen <strong>und</strong> sich der Fokus politischer<br />

<strong>und</strong> kultureller Öffentlichkeit vom Rhein an<br />

die Spree verschob. Die Veröstlichung Deutschlands<br />

<strong>und</strong> die Verwestlichung der Wölfe trafen zusammen,<br />

als ein Wolfspaar auf dem Truppenübungsplatz Muskauer<br />

Heide in der sächsischen Oberlausitz im Frühjahr<br />

2000 Welpen großzog, die ersten seit mehr als<br />

einem Jahrh<strong>und</strong>ert in Deutschland geborenen Wölfe.<br />

Und die ersten Wölfe überhaupt, die offiziell willkommen<br />

waren. Nicht mehr ihre Ausrottung, sondern die<br />

Aussöhnung mit ihnen stand plötzlich auf der Agenda.<br />

150 Jahre lang hatte kein Wolf eine Überlebenschance<br />

in Deutschland. Nun warteten überall Empfangskomitees<br />

auf ihn. <strong>Kein</strong> Umweltminister kann es sich leisten,<br />

nichts <strong>für</strong> den Wolf zu tun. B<strong>und</strong>esländer, in denen<br />

Wölfe noch nicht regelmäßig vorkommen, werden zu<br />

Wolfserwartungsländern erklärt, damit an R<strong>und</strong>en Tischen<br />

Wolfsmanagementpläne verhandelt werden können.<br />

Wem es gelingt, Naturschützer <strong>und</strong> Jäger, Tierschützer<br />

<strong>und</strong> Landwirte zusammenzuspannen, der hat<br />

sein artenschutzpolitisches Meisterstück geliefert.<br />

Verw<strong>und</strong>erlich ist das alles nur auf den ersten<br />

Blick. Wenn man in die Geschichte zurückschaut, wird<br />

einem schnell klar, dass der Wolf immer <strong>für</strong> Haupt- <strong>und</strong><br />

Staatsaktionen gut war. Er war, bei Römern <strong>und</strong> Türken<br />

etwa, in die Gründungsmythen großer Reiche eingeschrieben.<br />

Im christlichen Abendland aber diente er,<br />

wenn Hunnen, Muselmanen, Ungarn oder Slawen gerade<br />

nicht zur Hand waren, als Feind, gegen den kirchliche<br />

<strong>und</strong> weltliche Herren die göttliche Ordnung oder<br />

die moderne Zivilisation verteidigten.<br />

Heute haben sich diese Verhältnisse umgekehrt.<br />

Funktionierende Staatlichkeit zeigt sich nicht mehr<br />

in der Fähigkeit, den Wolf zu vernichten. Im Gegenteil:<br />

Der Staat muss beweisen, dass er den Wolf schützen<br />

<strong>und</strong> gesellschaftliche Akzeptanz <strong>für</strong> ihn schaffen<br />

kann. Überall in Europa erobern Wölfe angestammte<br />

Lebensräume zurück. Zum ersten Mal in geschichtlicher<br />

Zeit unternehmen die Europäer nichts dagegen.<br />

Das ist <strong>für</strong> beide Seiten neu. Was daraus wird, ist offen.<br />

Manche Wölfe sind von dieser Offenheit gezeichnet.<br />

ENDE MÄRZ 2013 wird nahe der Ortschaft Mücka im<br />

Landkreis Görlitz der Kadaver der Wölfin „Einauge“<br />

gef<strong>und</strong>en. „Einauge“ war eine der Urmütter der deutschen<br />

Wölfe. Geboren auf dem Truppenübungsplatz<br />

Muskauer Heide, gehörte sie vielleicht zu den ersten<br />

„deutschen“ Wolfswelpen, die dort im Jahr 2000 zur<br />

Welt kamen. Es kann aber auch sein, dass sie aus dem<br />

Muskauer Wurf des folgenden Jahres stammte. Irgendwann<br />

kam <strong>für</strong> sie die Zeit abzuwandern, einen Partner<br />

zu suchen, ein eigenes Territorium zu begründen<br />

<strong>und</strong> Nachwuchs in die Welt zu setzen.<br />

„Einauge“ war eine späte Mutter. Erst 2005 fand<br />

sie den Richtigen, der so ganz richtig dann auch nicht<br />

war. Ihr Rüde kam aus der näheren Verwandtschaft.<br />

Es mag sein, dass sie deswegen so lange zögerte, sich<br />

zu binden. Lieber wäre ihr wahrscheinlich ein frischer<br />

Einwanderer aus Polen gewesen oder gar aus Weißrussland<br />

oder dem Baltikum. Solche Blutauffrischer jedoch<br />

waren <strong>und</strong> sind auch heute noch Mangelware auf dem<br />

wölfischen Heiratsmarkt. Wie dem auch sei, ihr Auserwählter<br />

nahm sie, wie sie war, einäugig <strong>und</strong> humpelnd.<br />

Filmaufnahmen aus dem Jahr 2005 zeigen ein<br />

Wolfspaar in der Nähe des Braunkohletagebaus Nochten.<br />

Bei der Wölfin leuchtet nachts nur ein Auge, das<br />

linke. Und sie lahmt. So kommt „Einauge“ zu ihrem<br />

Namen. Die Begründer des Nochtener Rudels ziehen<br />

Celebrate Classical Music<br />

LUCERNE FESTIVAL am Piano<br />

22. – 30. November 2014<br />

LUCERNE FESTIVAL zu Ostern<br />

21. – 29. März 2015<br />

LUCERNE FESTIVAL im Sommer<br />

14. August – 13. September 2015<br />

www.lucernefestival.ch


is 2011 Jahr <strong>für</strong> Jahr Welpen auf, mindestens 42 insgesamt.<br />

Nachkommen von „Einauge“ begründen das<br />

Daubaner, das Spremberger <strong>und</strong> das Milkeler Rudel.<br />

Eine Tochter wandert nach Niedersachsen <strong>und</strong> eröffnet<br />

dort, auf dem Truppenübungsplatz Munster, das<br />

neue Wolfszeitalter.<br />

2010 wurde „Einauge“ gefangen <strong>und</strong> mit einem<br />

Senderhalsband versehen. Leider funktionierte das<br />

Gerät nicht lange. Immerhin ergaben die gesammelten<br />

Daten, dass „Einauge“ ein Territorium von r<strong>und</strong><br />

200 Quadratkilometern bewohnte. Auch konnte man<br />

nachvollziehen, dass sie mit ihren Welpen oft umzog.<br />

Gab es Gründe <strong>für</strong> diese Unruhe? 2012 wurden „Einauge“<br />

<strong>und</strong> ihr Partner verdrängt; eine Tochter nahm<br />

ihre Position ein. Aufnahmen aus Fotofallen <strong>und</strong> vielfältige<br />

Spuren belegen diesen Machtwechsel.<br />

„Einauges“ Kadaver wurde im Berliner Institut <strong>für</strong><br />

Zoo- <strong>und</strong> Wildtierforschung obduziert. Als Todesursache<br />

stellte man schwere Bissverletzungen fest. Alles<br />

deutet darauf hin, dass „Einauge“ von Artgenossen<br />

getötet wurde. Wahrscheinlich war sie zwischen<br />

die Fronten eines wölfischen Grenzkriegs geraten. Der<br />

F<strong>und</strong>ort ihres Kadavers jedenfalls liegt in einem zwischen<br />

zwei Rudeln umkämpften Gebiet. Andere Angriffe<br />

hatte sie überlebt. Mehrfach war auf sie geschossen<br />

worden. In ihrem Körper fand man Schrotkörner.<br />

„Einauge“ verbrachte den größten Teil ihres Lebens<br />

genau dort, wo 100 Jahre zuvor der „letzte“ deutsche<br />

Wolf, der „Tiger von Sabrodt“ 1904 erlegt wurde. Nun<br />

sei endlich, „Gott sei Dank, Ruhe, <strong>und</strong> den Erfolg werden<br />

wir recht bald an unserem Wildstand merken“, kommentierte<br />

damals die Jagdzeitschrift Wild <strong>und</strong> H<strong>und</strong>.<br />

Heute gibt es unter den Jägern nicht wenige<br />

Wolfshasser, doch die artikulieren sich hauptsächlich<br />

in der Anonymität von Internetforen oder beim<br />

„Schüsseltreiben“ nach der Jagd, wenn man glaubt, unter<br />

sich zu sein. <strong>Kein</strong> Jagdverband aber fordert die<br />

neuerliche Ausrottung der Wölfe. Manchen Jägern<br />

verlangt diese offizielle Wolfstoleranz viel Selbstüberwindung<br />

ab. Ihnen fällt es schwer, einen Superjäger<br />

neben sich zu dulden. Andere jedoch freuen sich darüber,<br />

nun gemeinsam mit dem Wolf jagen zu dürfen.<br />

Auch die Weideviehhalter sind weit davon entfernt,<br />

zur Selbsthilfe mit Pulver <strong>und</strong> Blei zu greifen.<br />

Zwar kommt es immer wieder zu illegalen Abschüssen.<br />

Die weitere Ausbreitung der Wölfe wird aber daran<br />

nicht scheitern. Die Zahl der Rudel wächst. Insgesamt<br />

gibt es in Deutschland r<strong>und</strong> 30 Wolfsfamilien,<br />

also Wolfspaare mit Welpen <strong>und</strong> Jungen des Vorjahres.<br />

Nicht alle begrüßen die Wölfe begeistert. Das<br />

wäre eine Haltung, die man insbesondere den Landwirten<br />

nicht abverlangen kann. Dennoch besteht eine<br />

breite Bereitschaft, es trotz aller nicht von der Hand<br />

29.05.–30.11.2014<br />

www.dhm.de ∙ Täglich 10–18 Uhr


SALON<br />

Reportage<br />

zu weisenden Konflikte mit den Wölfen als Nachbarn<br />

wenigstens zu versuchen.<br />

„Einauge“ trug die Spuren alter Wolfsfeindschaft<br />

in ihrem Körper. Ihre Verletzungen hinderten sie aber<br />

nicht daran, in Deutschland ein langes, fruchtbares<br />

Wolfsleben zu führen. An den Wölfen wird die wölfische<br />

Wiederbesiedelung Mitteleuropas nicht scheitern.<br />

Sie betrachten die vom Menschen geformte Kulturlandschaft<br />

nüchtern <strong>und</strong> erkennen in ihr einen attraktiven<br />

Lebensraum. Das erstaunt viele Naturschützer, denen<br />

die Idee, Tieren <strong>und</strong> Pflanzen Rückzugsräume zu<br />

schaffen <strong>und</strong> Restbestände „unberührter“ Natur unter<br />

eine Schutzglocke zu stellen, zur zweiten Natur geworden<br />

ist. Der Wolf braucht nur genügend wild lebende<br />

Huftiere als Beute <strong>und</strong> ein Minimum an Rückzugsmöglichkeiten<br />

zur Aufzucht seiner Jungen. Das findet er<br />

fast überall in Deutschland. Auf Nationalparks oder<br />

andere Schutzgebiete ist er nicht angewiesen.<br />

Auch im Westen Deutschlands scheint Bewegung<br />

in die wölfische Expansion zu kommen. Vielleicht wird<br />

in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg <strong>und</strong> Nordrhein-Westfalen<br />

in absehbarer Zeit niemand mehr<br />

die Wölfe als ein Phänomen sich entvölkernder Landstriche<br />

des Ostens abtun können. Das waren sie zwar<br />

nie, aber dieser Denkfigur begegnet man bis heute. Es<br />

wird wohl Jahre dauern, bis auch in den Mittelgebirgen<br />

Westdeutschlands annähernd Verhältnisse wie in Sachsen<br />

oder Brandenburg herrschen. Und wahrscheinlich<br />

wird man über Schwarzwald oder Odenwald nie sagen<br />

können, was man über die Lausitz sagt, dass sie nämlich<br />

die europäische Region mit der größten Wolfsdichte<br />

sei. Doch zu einem normalen Bestandteil der Wildtierfauna<br />

wird er auch dort werden, wenn wir ihn lassen.<br />

Wölfe sind große Lehrmeister. Sie können uns zum<br />

Beispiel dazu bringen, Natur nicht nur dort wertzuschätzen,<br />

wo sie einem romantischen Ideal entspricht.<br />

Heidelandschaften, Hochmoore, Sumpfgebiete, ursprüngliche<br />

Auwälder können unserer Fürsorge sicher<br />

sein. Wir hegen <strong>und</strong> pflegen sie, wandeln dort auf vorgeschriebenen<br />

Pfaden oder lassen uns von Rangern<br />

führen, was die Kostbarkeit dieser „letzten Paradiese“<br />

noch unterstreicht. Es ist nichts falsch daran, solche<br />

selten gewordenen Naturräume <strong>und</strong> Ökosysteme unter<br />

Schutz zu stellen. Doch birgt die Fixierung auf diese<br />

„Reste“ die Gefahr, dass man allem darum herum mit<br />

Desinteresse begegnet, weil ja „der Mensch“ die Natur<br />

dort ohnehin „zerstört“ habe.<br />

DIE WÖLFE HELFEN UNS, von der romantischen Illusion<br />

einer intakten Natur loszukommen, indem sie uns<br />

vorführen, wie sie als hoch entwickelte Säugetiere die<br />

unterschiedlichsten vom Menschen geprägten Lebensräume<br />

nutzen können. Dieses Phänomen ist zwar nicht<br />

ganz neu. Füchse, Wildschweine, Waschbären oder Biber<br />

zum Beispiel haben sogar Großstädte als Habitat<br />

entdeckt, zu schweigen von unzähligen Vogelarten,<br />

die mit einem Großteil ihrer Populationen zu einer<br />

Interview<br />

KEINE ANGST VOR ISEGRIM<br />

„Der Wolf hat genauso wie der Mensch<br />

das Recht, auf dieser Erde zu leben“<br />

TILL BACKHAUS<br />

Der SPD-Politiker ist seit 1998<br />

Landwirtschaftsminister<br />

von Mecklenburg-Vorpommern<br />

Herr Backhaus, sind Sie schon einem Wolf begegnet?<br />

Till Backhaus: Ich bin wahrscheinlich einer der Ersten<br />

überhaupt, die in Mecklenburg-Vorpommern einen<br />

solchen Durchzügler sahen. Es war nachts, ich kam von<br />

einer Dienstfahrt zurück, <strong>und</strong> ich sah ihn vom Auto aus.<br />

Das muss im Herbst 2008 gewesen sein, in der Nähe von<br />

Zarrenthin.<br />

Haben Sie sich ge<strong>für</strong>chtet?<br />

Es gibt keinen Gr<strong>und</strong>, Angst zu haben. Die Chance,<br />

ihn beim Pilzesammeln oder Blaubeerpflücken zu treffen,<br />

ist äußerst gering. Seine Sinne sind außerordentlich<br />

fein, <strong>und</strong> er hat ein scheues Wesen. Zudem ist er eine<br />

vom Aussterben bedrohte Art. Wir Menschen müssen ihn<br />

schützen <strong>und</strong> ihm eine Heimstätte geben. Darum habe<br />

ich bereits 2006 angefangen, in Mecklenburg-Vorpommern<br />

ein Programm zum Wolfsmanagement aufzulegen.<br />

In Deutschland soll es r<strong>und</strong> 30 Wolfsfamilien geben.<br />

Die Größenordnung kann stimmen, aber es ist ein<br />

dynamischer Prozess. Es gilt als gesichert, dass wir derzeit<br />

in Sachsen <strong>und</strong> Brandenburg 22 Rudel haben. Mecklenburg-Vorpommern<br />

ist ein Zuzugsgebiet <strong>für</strong> Wölfe.<br />

Jüngst wurden hier fünf Welpen geboren, die wir – zusammen<br />

mit dem WWF – beobachten. Außerdem gibt es<br />

Hinweise, dass eine zweite Wölfin Nachwuchs bekam.<br />

Was tun Sie als Landesregierung?<br />

Wir haben alle Betroffenen an einen Tisch gebeten,<br />

neben Naturschützern <strong>und</strong> Bauernverbänden auch die<br />

Jäger. Bisher wurden über 50 Wolfsmanager ausgebildet.<br />

So gewinnen wir ein genaues Bild der Wolfspopulation.<br />

Sofern Schäden entstehen, prüft eine Stabsstelle im Landesamt<br />

Umwelt, Natur <strong>und</strong> Geologie, ob Wölfe die Verursacher<br />

waren, <strong>und</strong> entschädigt gegebenenfalls.<br />

Wird der Osten Deutschlands in wenigen Jahren flächendeckend<br />

vom Wolf besiedelt sein?<br />

Der Wolf ist ein sehr scheues <strong>und</strong> empfindsames<br />

Tier, kann aber in einer Nacht bis zu 70 Kilometer zurücklegen.<br />

Er liebt unverschnittene Landschaftsräume, daran<br />

herrscht im Osten kein Mangel. Der Wolf ist nach internationalem<br />

Recht eine der am stärksten geschützten<br />

Arten überhaupt. Denken Sie an das Washingtoner Artenschutzabkommen<br />

oder die Berner Konvention. Er ist<br />

auch im Europäischen Recht <strong>und</strong> im B<strong>und</strong>es- wie Landesrecht<br />

breit verankert. Er hat genauso wie der Mensch das<br />

Recht, auf dieser Erde zu leben. Die aus den Reihen der<br />

CDU erhobene irrsinnige Forderung, ihn generell jagen zu<br />

dürfen, stellt sich gegen alle diese Rechte.<br />

Würden Sie es niemals gutheißen, Wölfe zu schießen?<br />

Wenn die präventiven Maßnahmen nicht greifen<br />

<strong>und</strong> der Wolf dauerhaft in die Nutztierbestände eingreift,<br />

ist laut B<strong>und</strong>esnaturschutzgesetz die Bejagung eines<br />

Wolfes in begründeten Einzelfällen zulässig. Davon werden<br />

wir im Zweifelsfall Gebrauch machen. (akis)<br />

140<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


Fotos: SPD, Picture Alliance/DPA<br />

urbanen Lebensweise übergegangen sind. Dem Charismatiker<br />

Wolf jedoch haftet der Geruch der Wildnis an.<br />

Es ist eine Frage der Kultur, nicht der Natur, ob<br />

Mensch <strong>und</strong> Wolf im Europa des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts auf<br />

Dauer koexistieren können. Die Einstellung der Bevölkerung<br />

großen Beutegreifern gegenüber harrt zwar<br />

noch einer tiefer gehenden empirischen Untersuchung.<br />

Das bis jetzt vorliegende demoskopische Material lässt<br />

jedoch eine gr<strong>und</strong>sätzlich wohlwollende Haltung einer<br />

Mehrheit erkennen. Vor 35 Jahren, als Wölfe aus einem<br />

Gehege im Nationalpark Bayerischer Wald ausbrachen,<br />

war das Meinungsbild noch anders. Ohne den gr<strong>und</strong>sätzlichen<br />

gesellschaftlichen Meinungsumschwung unter<br />

dem Einfluss der Naturschutz- <strong>und</strong> Ökologiebewegung<br />

gäbe es das Thema Rückkehr der Wölfe nicht.<br />

Werden die Heimkehrer unser Leben verändern?<br />

Eine bequeme Antwort lautet, dass sich <strong>für</strong> die große<br />

Mehrheit der Bevölkerung gar nichts ändern werde.<br />

Sollen sich die Wölfe doch in strukturschwachen, von<br />

Bevölkerungsschw<strong>und</strong> betroffenen Gebieten ausbreiten<br />

<strong>und</strong> den Prozess der Verödung oder Renaturierung<br />

beschleunigen. „Mut zur Wildnis“ gilt gerade in<br />

urbanen Milieus als diskussionswürdige Option. Ungeahnte<br />

Mittel würden frei, wenn man Gebiete an der<br />

Peripherie vom zivilisatorischen Versorgungsnetz nehmen<br />

könnte <strong>und</strong> vom Gr<strong>und</strong>satz der Gleichwertigkeit<br />

der Lebensverhältnisse abrücken würde. Naturtourismus<br />

böte auch ökonomische Perspektiven.<br />

Die andere Position lautet, dass die Rückkehr<br />

der Wölfe die Aufmerksamkeit der Gesellschaft<br />

<strong>für</strong> die Kulturlandschaft stärkt. Es ist nicht mehr<br />

selbstverständlich, dass Weidevieh die Landschaft<br />

offenhält, wenn der Wolf umgeht. Aber soll man sich<br />

wegen des Wolfes mit dem kulturellen Verlust abfinden,<br />

den die Aufgabe der Weidewirtschaft bedeutete?<br />

Soll Vieh nur in abgeschotteten Ställen gehalten werden?<br />

Die Intensivierung der Tierproduktion hat die<br />

Entwicklung ohnehin schon weit in diese Richtung getrieben.<br />

Aber die Gegenbilder einer Natur, Mensch <strong>und</strong><br />

Tier achtsam behandelnden Landwirtschaft brauchen<br />

Rinder <strong>und</strong> Schafe auf der Weide.<br />

Die tief in uns eingewurzelten Landschaftsbilder,<br />

die <strong>für</strong> die meisten immer noch identitätsstiftend sind,<br />

brauchen das auch. Es geht nicht darum, zur Verteidigung<br />

der Kulturlandschaft ein gesellschaftliches Bündnis<br />

gegen den Wolf zu schmieden. Es geht darum, diese<br />

Kulturlandschaft <strong>und</strong> das Leben, Arbeiten <strong>und</strong> Wirtschaften<br />

in ihr den durch die Wölfe geschaffenen neuen<br />

Bedingungen anzupassen. Das heißt ganz banal, dass<br />

man die Weidetierhalter nicht auf den Kosten sitzen<br />

lässt, die durch die von der Gesellschaft mehrheitlich<br />

erwünschten Wölfe entstehen. In Berggebieten etwa ist<br />

Weidewirtschaft mit der Anwesenheit von Wölfen nur<br />

vereinbar, wenn die Herden von einem Hirten geführt<br />

<strong>und</strong> bewacht werden. Warum soll die Allgemeinheit<br />

nicht die Kosten <strong>für</strong> das Behirten übernehmen, das ja<br />

in erster Linie eine Naturschutzleistung ist?<br />

Wir haben, von der gesellschaftlichen Mentalität<br />

<strong>und</strong> von unseren ökonomischen Möglichkeiten her, die<br />

Chance, den Wolf in unsere Kulturlandschaft aufzunehmen.<br />

Dem Wolf ist dort ein artgerechtes Leben<br />

durchaus möglich. Er sucht sich selbst aus, wo er leben<br />

möchte. Vielleicht kommen wir mit Wolfes Hilfe<br />

selbst zu einem etwas „artgerechteren“, von naturfernen<br />

Hysterien weniger gebeutelten Leben.<br />

Richtigstellung<br />

Im August-Heft berichtete Peter Henning unter dem Titel<br />

„Licht im Schacht“ auf S. 103 von einer Begegnung mit der<br />

Schriftstellerin Judith Hermann. Wir bedauern außerordentlich,<br />

feststellen zu müssen, dass es die Begegnung zwischen der<br />

Autorin <strong>und</strong> Peter Henning nicht gegeben hat. Wir entschuldigen<br />

uns in aller Form bei Frau Hermann <strong>für</strong> die falsche Berichterstattung,<br />

die zudem noch zu früh erfolgt ist: Ihr Roman<br />

„Aller Liebe Anfang“ ist am 15. August 2014 im Verlag S. Fischer<br />

erschienen. Die <strong>Cicero</strong>-Redaktion<br />

Anmerkung der Redaktion<br />

ECKHARD FUHR ist Korrespondent <strong>für</strong><br />

Kultur <strong>und</strong> Gesellschaft bei der Welt-<br />

Gruppe <strong>und</strong> Autor des am 29. September<br />

im Münchner Riemann-Verlag erscheinenden<br />

Buches „Rückkehr der Wölfe“<br />

Zu dieser Richtigstellung, die auf Wunsch des Verlags S. Fischer<br />

erscheint, möchten wir anmerken, dass der Autor uns getäuscht<br />

hat. Er gab schriftlich <strong>und</strong> telefonisch eingeholte Zitate<br />

als Resultat eines Treffens aus. Wir bedauern den Vorfall sehr.<br />

141<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


SALON<br />

Hopes Welt<br />

KING KONG WOHNT HIER NICHT MEHR<br />

Wie ich einmal in Hollywood lernte, dass die Wiege der<br />

Filmmusik in Wien steht <strong>und</strong> warum sie ein Segen ist<br />

Von DANIEL HOPE<br />

Neulich befand ich mich mitten in Hollywood,<br />

in den Paramount Studios. Ich war<br />

auf den Spuren eines Komponisten, der<br />

die Filmmusik wesentlich geprägt hat. Um Erich<br />

Wolfgang Korngold zu verstehen, muss man jedoch<br />

die Reise viel früher beginnen, in Wien am<br />

Anfang des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />

Korngolds Vater Julius war einer der einflussreichsten<br />

Musikkritiker Wiens. Auf Empfehlung<br />

von Gustav Mahler studierte Sohn Erich bei Alexander<br />

von Zemlinsky <strong>und</strong> wurde als Jahrh<strong>und</strong>erttalent<br />

gehandelt; Richard Strauss <strong>und</strong> Giacomo<br />

Puccini gehörten zu den Bew<strong>und</strong>erern des<br />

Kindes. Mit elf Jahren komponierte Korngold das<br />

Ballett „Der Schneemann“, welches in Anwesenheit<br />

von Kaiser Franz Josef uraufgeführt wurde. Es<br />

folgten Jugendwerke, die die renommiertesten Musikerpersönlichkeiten<br />

spielten, von Bruno Walter<br />

bis Wilhelm Furtwängler. Korngolds Aufstieg dauerte<br />

bis etwa 1930, als das Neue Wiener Tagblatt<br />

das Ergebnis einer Umfrage nach den berühmtesten<br />

Österreichern veröffentlichte: In der Gruppe<br />

„Kunst“ wurde als einer der Komponisten Korngold<br />

genannt.<br />

An seine früheren Erfolge aber konnte er nicht<br />

mehr anknüpfen. Er ging nach Berlin, um mit seinem<br />

Fre<strong>und</strong> Max Reinhardt Operetten zu machen. Bald<br />

wurde ihm jedoch bewusst, dass Deutschland ihm<br />

als Jude keine Zukunft bieten würde. So folgte<br />

er 1934 der Einladung Max Reinhardts nach Hollywood,<br />

wo er <strong>für</strong> einen „Sommernachtstraum“-<br />

Film die Musik von Mendelssohn neu arrangierte.<br />

Infolge des Anschlusses Österreichs ließ er sich<br />

1938 auf Dauer in Hollywood nieder. Dort traf<br />

er auf eine Filmwelt, die hungrig nach sinfonisch<br />

durchkomponierten So<strong>und</strong>tracks war. 1927 hatte<br />

die Premiere des ersten abendfüllenden Tonfilms<br />

stattgef<strong>und</strong>en.<br />

In den Archiven der Paramount-Studios entdeckte<br />

ich Musikstücke von Korngold, die seit über<br />

60 Jahren vergessen waren. Mir wurde bewusst,<br />

wie sehr Komponisten wie er in jeder Musikgattung<br />

zu Hause gewesen waren <strong>und</strong> wie schnell sie<br />

liefern mussten; morgens ein Foxtrott, nachmittags<br />

ein Western, am Abend ein Walzer.<br />

Der Dirigent André Previn erzählte mir eine<br />

schöne Geschichte über Korngold <strong>und</strong> Max Steiner.<br />

Dieser, ebenfalls ein Wiener, schuf mit „King<br />

Kong“ den ersten großorchestralen So<strong>und</strong>track der<br />

Filmgeschichte. Als die beiden sich auf der Straße<br />

begegneten – sie mochten einander –, hielt Steiner<br />

an: „Wir arbeiten seit zehn Jahren <strong>für</strong> das Filmstudio.<br />

Wie kommt es, dass meine Musik besser <strong>und</strong><br />

deine schlechter geworden ist?“ Korngolds Antwort:<br />

„Das ist leicht zu erklären. Du imitierst mich,<br />

<strong>und</strong> ich imitiere dich!“<br />

Korngold schuf bis zum Ende des Zweiten<br />

Weltkriegs 17 Filmkompositionen. Nach dem Krieg<br />

geriet seine Musik ins Abseits; in Europa wurde sie<br />

komplett ignoriert. „Ich bin oft gefragt worden“,<br />

sagte er, „ob ich beim Komponieren von Filmmusik<br />

den Geschmack <strong>und</strong> das momentane Musikverständnis<br />

des Publikums bedenke. Ich kann die<br />

Frage mit einem klaren Nein beantworten.“ Vielleicht<br />

funktioniert deshalb seine Musik so genial,<br />

auch ohne Bilder.<br />

DANIEL HOPE ist Violinist von Weltrang <strong>und</strong> schreibt<br />

jeden Monat in <strong>Cicero</strong>. Zuletzt erschienen sein Buch<br />

„Toi, toi, toi! – Pannen <strong>und</strong> Katastrophen in der Musik“<br />

( Rowohlt ) <strong>und</strong> die CD „Escape to Paradise – The<br />

Hollywood Album“. Er lebt in Wien<br />

Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

142<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


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SALON<br />

144<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


Foto: Benny Gool <strong>und</strong> Roger Friedman/Oryx Media <strong>für</strong> <strong>Cicero</strong><br />

DESMOND<br />

Die letzten 24 St<strong>und</strong>en<br />

Da wird Licht<br />

sein <strong>und</strong> Wärme,<br />

Schönheit<br />

<strong>und</strong> Mozart<br />

TUTU<br />

Desmond Tutu<br />

Der anglikanische Erzbischof ist<br />

Friedensnobelpreisträger <strong>und</strong><br />

gilt als Gewissen Südafrikas.<br />

Sein neues Buch „Das Buch des<br />

Vergebens“ schrieb er gemeinsam<br />

mit seiner Tochter Mpho Tutu<br />

Ich habe ein langes, recht erfülltes<br />

<strong>und</strong> glückliches Leben gehabt <strong>und</strong><br />

wäre bereit zu gehen. Die letzten<br />

24 St<strong>und</strong>en meines Lebens möchte<br />

ich gemeinsam mit meiner Familie<br />

verbringen <strong>und</strong> mich mit meinem<br />

geistlichen Beistand treffen. Bevor ich<br />

meine Reise in die Unendlichkeit antrete,<br />

möchte ich vorher beichten, die heilige<br />

Kommunion <strong>und</strong> die Sterbesakramente<br />

empfangen.<br />

Ich möchte sterben in der Gewissheit,<br />

alles getan zu haben, damit die Welt ein<br />

besserer Ort wird <strong>für</strong> alle Kinder Gottes.<br />

Besonders <strong>für</strong> jene, die Gottes Lieblinge<br />

sind: die Unterdrückten, die Verachteten,<br />

die Ausgestoßenen.<br />

Während ich mich mit diesem Thema<br />

auseinandersetze, bin ich mir so schrecklich<br />

darüber bewusst, wie sehr in jüngster<br />

Zeit Gottes Lieblinge gelitten haben. Es<br />

gibt blutige Konflikte in Syrien, im Irak,<br />

im Südsudan, in Afghanistan <strong>und</strong> nun in<br />

Gaza, wo ein schlimmes Blutvergießen<br />

in Palästina zulasten der Zivilbevölkerung<br />

stattfindet. Das ist <strong>für</strong>chterlich. Ich<br />

würde mich mit den Verantwortlichen in<br />

Israel treffen <strong>und</strong> ihnen sagen, dass ich<br />

tief besorgt darüber bin, was sie sich gegenseitig<br />

antun. Der Gewehrlauf wird<br />

ihnen keine wirkliche Sicherheit geben.<br />

Echte Sicherheit bekämen sie nur,<br />

wenn sie den Siedlungsbau im Westjordanland<br />

stoppten <strong>und</strong> zurückkehrten zur<br />

Grenze von 1967. Sie müssen die Mauer<br />

in den besetzten palästinensischen Gebieten<br />

abreißen, die der Internationale<br />

Gerichtshof <strong>für</strong> illegal erklärte. Wir haben<br />

in Südafrika gesehen, wie eine entmenschlichte<br />

Politik ihre leidtragenden<br />

Opfer sukzessive entmenschlichte. Das<br />

war erbarmungslos. Es kann keinen Frieden<br />

geben anderswo in der Welt, wenn<br />

es keinen Frieden im Heiligen Land gibt –<br />

der Heimat des Prinzen des Friedens.<br />

Gott möchte, dass wir wissen, dass<br />

wir alle Mitglieder einer Familie sind, der<br />

Familie der Menschheit, Gottes Familie.<br />

Wir sind geschaffen worden <strong>für</strong> die Zweisamkeit,<br />

die Gemeinsamkeit, die Familie.<br />

Gott ist <strong>für</strong> mich alles Gute, alle<br />

Schönheit <strong>und</strong> alle Wahrheit. Ich stelle<br />

mir Gott vor als ein weiches <strong>und</strong> zartes<br />

Licht oder wie ein glühendes Feuer<br />

im Winter, an dessen Licht <strong>und</strong> Schönheit<br />

wir uns alle wärmen. Wir werden<br />

nie den Punkt erreichen, dass einer von<br />

uns sagen könnte: „Nun verstehe ich Gott<br />

gänzlich!“ Gott ist unendlich, <strong>und</strong> wir<br />

werden immer endliche Wesen bleiben.<br />

Meine Beziehung zu Gott wächst stetig.<br />

Ich glaube fest daran, dass Gott die<br />

Liebe ist. Und ich habe versucht, diese<br />

Liebe zu ihm zu vertiefen. Ich vertraue<br />

Gott bedingungslos.<br />

Wenn ich sterbe, werde ich nicht<br />

mehr die Last meines Körpers haben,<br />

doch ich werde erkennbar ich bleiben.<br />

Wir werden nicht verschluckt werden<br />

von einer göttlichen Suppe. Es wird kein<br />

Vorher <strong>und</strong> Nachher geben. Es wird nur<br />

noch die Unendlichkeit geben.<br />

Während der letzten Minuten<br />

möchte ich meiner Familie sagen, dass<br />

ich in den nächsten Raum unseres Universums<br />

gehen werde <strong>und</strong> wir uns alle<br />

wiedersehen werden, wenn ihre Zeit gekommen<br />

ist. Ich werde ihnen sagen, dass<br />

sie auf sich aufpassen <strong>und</strong> <strong>für</strong>einander<br />

sorgen sollen – besonders <strong>für</strong> ihre Mutter,<br />

andernfalls werde ich zurückkehren<br />

<strong>und</strong> sie heimsuchen!<br />

Es wird einen kleinen Moment der<br />

Ängstlichkeit geben, ins Ungewisse zu<br />

gehen. Doch ich glaube, dass derjenige,<br />

der mich geschaffen <strong>und</strong> erlöst hat, mich<br />

zu sehr liebt, als dass mir etwas Widriges<br />

widerfahren könnte. Wenn ich gehe,<br />

möchte ich Mozarts „Laudate Dominum“<br />

hören, gesungen von Kiri Te Kanawa. Ich<br />

werde mich von meiner Familie verabschieden<br />

<strong>und</strong> meine Augen das letzte Mal<br />

schließen.<br />

Aufgezeichnet von BJÖRN EENBOOM<br />

145<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


POSTSCRIPTUM<br />

N°-10<br />

KRIEGSGÖTTER<br />

Das Böse ist immer <strong>und</strong> überall“, hieß<br />

es in einem Songtext der österreichischen<br />

Spaßband „Erste Allgemeine<br />

Verunsicherung“. Das war im Jahr 1985.<br />

Inzwischen ist das Böse noch öfter <strong>und</strong><br />

noch überaller, aber eben leider nicht in<br />

witzigen Liedern, sondern in ernst gemeinter<br />

politischer Rhetorik. Den ständigen,<br />

anständigen Kampf des Guten gegen das<br />

Böse beschwor ja bereits George W. Bush<br />

nach den Anschlägen vom 11. September,<br />

<strong>und</strong> wenn man diese Wortwahl zugr<strong>und</strong>e<br />

legt, dann hat sich jedenfalls das Böse in<br />

den vergangenen Jahren vom Guten weder<br />

beeindrucken noch aufhalten lassen. Im<br />

Gegenteil.<br />

Dass ausgerechnet der sogenannte<br />

Anführer der westlichen Welt den Kampf<br />

gegen den Terror manichäisch auflud <strong>und</strong><br />

damit erst recht einen Religionskonflikt<br />

heraufbeschwor, war schon schlimm genug.<br />

Natürlich nicht aus der Sicht islamistischer<br />

Terroristen, die diese Herausforderung nur<br />

allzu gern annahmen, weil sie exakt in ihr<br />

Denkmuster passte. Sondern <strong>für</strong> uns Demokraten,<br />

die wir uns so gern unser aufgeklärtes<br />

Weltbild zugutehalten. Immerhin<br />

schien dieser Spuk mit dem Machtwechsel<br />

in Washington vorbei zu sein.<br />

Bis der „Islamische Staat“ auf der politischen<br />

Landkarte erschien. Seitdem gibt<br />

es kein Halten mehr. In Barack Obamas<br />

Regierungserklärungen zum IS lauert „das<br />

Böse“ in jedem dritten Absatz, sein Vize<br />

Joe Biden droht öffentlich, die IS-Terroristen<br />

„bis an die Tore der Hölle zu verfolgen,<br />

um sie vor Gericht zu stellen, denn in<br />

der Hölle werden sie schließlich landen“.<br />

Nun braucht man überhaupt nicht feinsinnig<br />

danach zu fragen, ob das In-Aussicht-<br />

Stellen von Höllenqualen mit westlichem<br />

Rechtsverständnis kompatibel ist oder<br />

gar damit gleichgesetzt werden sollte. In<br />

jedem Fall sind solche Sätze wie der des<br />

amerikanischen Vizepräsidenten ein Rückfall<br />

in vorzivilisatorisches Machtgebaren.<br />

Und noch viel schlimmer: Sie sind Ausdruck<br />

einer evidenten Hilf- <strong>und</strong> Ratlosigkeit,<br />

versteckt hinter Sprachwolken aus<br />

religiösem Kitsch.<br />

Der „Kampf gegen den Terror“ im<br />

Irak, in Afghanistan <strong>und</strong> weit über diese<br />

Länder hinaus ist nicht deshalb so kolossal<br />

gescheitert, weil „die Guten“ auf die falschen<br />

Götter gesetzt haben. Sondern weil<br />

im Eifer des Gefechts die kluge, die vorausschauende<br />

Analyse der politischen Gemengelage<br />

sträflich vernachlässigt wurde.<br />

Die Auseinandersetzung mit vermeintlich<br />

irrationalen Terrorregimes kann aber nur<br />

mit der schärfsten Waffe gewonnen werden,<br />

die der Westen im Arsenal hat. Und<br />

das ist die Vernunft.<br />

ALEXANDER MARGUIER<br />

ist stellvertretender Chefredakteur<br />

von <strong>Cicero</strong><br />

DIE NÄCHSTE CICERO-AUSGABE ERSCHEINT AM 23. OKTOBER<br />

Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />

146<br />

<strong>Cicero</strong> – 10. 2014


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