Naturschutz contra Nachhaltigkeit? - Forum Umweltbildung
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NATURERFAHRUNG<br />
RAINER BRÄMER<br />
<strong>Naturschutz</strong> <strong>contra</strong><br />
<strong>Nachhaltigkeit</strong>?<br />
Jugendreport Natur 2003 zu den Folgen der<br />
Naturentfremdung<br />
Die Distanz zwischen der alltäglichen Lebenswelt und ihrem<br />
natürlichen Fundament wird immer größer. Jungen Menschen<br />
gerät ihre natürliche Existenzgrundlage zunehmend aus dem<br />
Blickfeld. Was übrigbleibt, ist ein widersprüchliches Patchwork<br />
aus Naturverklärung, Naturkulisse und gedankenlosem Naturverbrauch.<br />
Der neue „Jugendreport Natur“ versucht dem – im<br />
Vergleich mit dem Jugendreport 1997 – auf den Grund zu gehen.<br />
Widersprüche<br />
❚ Fragt man junge Menschen<br />
nach ihrer Lieblingspflanze, so<br />
benennt die Hälfte eine Zierpflanze,<br />
einem Drittel fällt gar<br />
nichts ein, nur weniger als ein<br />
Sechstel verweist auf ein Wildgewächs.<br />
Die Rose besetzt mit<br />
Abstand den Spitzenplatz, aber<br />
nur 21% der Jugendlichen wissen,<br />
wie die Früchte der Rose<br />
heißen.<br />
❚ Schokolade ist auf dem Speiseplan<br />
unseres Nachwuchses als<br />
süße Zutat allgegenwärtig, aber<br />
nur weniger als die Hälfte kennt<br />
die Früchte des Kakaobaumes.<br />
Vanille wird als Eis, Pudding und<br />
Geschmacksverstärker massenhaft<br />
konsumiert, aber nur ein<br />
Drittel weiß um die Farbe von<br />
Vanillefrüchten, der Rest verwechselt<br />
sie mit den künstlichen<br />
Lebensmittelbeigaben Vanillin<br />
(weiß) und Lebensmittelfarbe<br />
(gelb).<br />
❚ Die junge Generation hat Fastfood-Ketten<br />
in ihrem Hunger<br />
auf Hamburger, Würstchen und<br />
Chicken zu Großkonzernen gemacht,<br />
aber nur ein Drittel hält<br />
das Schlachten von Tieren für<br />
notwendig.<br />
❚ In der Rangskala der für uns alle<br />
wichtigen Tätigkeiten steht<br />
das Pflanzen von Bäumen aus<br />
jugendlicher Sicht mit 90 % Zustimmung<br />
an der Spitze. Aber<br />
drei Viertel halten das Fällen von<br />
Bäumen für schädlich, obwohl<br />
das Pflanzen von Bäumen nur<br />
Sinn macht, wenn man sie auch<br />
ernten will.<br />
❚ Die Natur nimmt einen unbestrittenen<br />
Spitzenplatz in der<br />
Wertehierarchie von jungen<br />
Menschen ein, 90 % glauben<br />
ohne sie nicht auszukommen<br />
und plädieren sogar für ein<br />
Recht auf Natur, fast ebenso viele<br />
gestehen Tieren ein eigenständiges<br />
Lebensrecht und eine<br />
eigene Seele zu. Aber das Interesse<br />
an der Natur nimmt stetig<br />
ab, rund die Hälfte hat keinen<br />
Bock mehr über die Natur zu erfahren,<br />
nur 21% würden sich eigenen<br />
Angaben zufolge aktiv<br />
für den Natur- oder Umweltschutz<br />
engagieren. Gegenüber<br />
1997 dokumentiert sich hierin<br />
ein deutlicher Akzeptanzverlust.<br />
Umweltaktionen sind offenkundig<br />
kein besonders aktuelles<br />
Thema mehr. Als eher rational<br />
motivierte Handlungen geht ihnen<br />
jene emotionale Schubkraft<br />
ab, wie sie etwa dem von drei<br />
Viertel der Befragten offenbarten<br />
Brutpflegeinstinkt gegenüber<br />
kleinen, frierenden Vögeln<br />
innewohnt.<br />
❚ Ältere Jugendliche wissen ebenso<br />
wie Besucher von Gymnasien<br />
erheblich mehr über Naturdetails<br />
als der Durchschnitt, zeigen<br />
aber sehr viel weniger Interesse<br />
an der und Engagement für die<br />
Natur.<br />
Interesse an Natur<br />
❚ Das Interesse Jugendlicher an<br />
Pflanzen hat sich seit 1997 halbiert<br />
– statt knapp 40 % interessieren<br />
sich nur noch knapp<br />
20 % für das Bestimmen unbekannter<br />
Flora.<br />
❚ Das Interesse an Tieren nimmt<br />
mit dem Alter stark ab: Während<br />
noch 64 % der Sechstklässler<br />
gerne Tiere beobachten,<br />
sind es unter Neuntklässlern nur<br />
noch 42 %. Ähnliches gilt für<br />
Waldlehrpfade (Abnahme von<br />
48 % auf 29 %) und die Wanderung<br />
mit dem Förster (Abnahme<br />
von 37 % auf 14 %). Älterwerden<br />
heißt offenbar mehr<br />
denn je Abschied nehmen von<br />
der Natur.<br />
18 umwelt & bildung 2/2004
NATURERFAHRUNG<br />
Natur als Erlebnis<br />
❚ Nur jeder zweite Jugendliche ist<br />
in der Lage, auf Befragen stichwortartig<br />
ein eindrucksvolles<br />
Naturerlebnis zu beschreiben.<br />
Jüngere berichten vor allem von<br />
der Begegnung mit Tieren beim<br />
Wandern und Spazieren, Ältere<br />
vom Genuss schöner Landschaft<br />
beim Rasten.<br />
❚ Statt 82 % feiern nur noch<br />
63 % gerne in der freien Natur.<br />
Dafür haben 22 % statt früher<br />
36% etwas dagegen, beim Spazieren<br />
einen Walkman oder<br />
Diskman auf die Ohren zu stülpen.<br />
45 % würden sich über<br />
ein Handyverbot, 35 % über ein<br />
Rauch- und Alkoholverbot beim<br />
Wandern ärgern. Offenbar ist<br />
für viele Medienkids die Natur<br />
als solche zu langweilig.<br />
Natur als Wert<br />
❚ Junge Menschen haben ein<br />
überzogen rosarotes Bild von<br />
der Natur. 73 % sehen in ihr pure<br />
Harmonie wirken und finden<br />
alles gut, was natürlich ist. 79 %<br />
glauben an den Jägerspruch,<br />
dass das Wild seine Ruhe<br />
braucht. 89 % bejahen <strong>Naturschutz</strong>gebiete.<br />
❚ Das wichtigste an der Natur ist<br />
ihnen jedoch, dass die Natur<br />
immer sauber und aufgeräumt<br />
ist (96 % Zustimmung). Das<br />
größte Vergehen gegenüber der<br />
Natur ist daher, Abfall in ihr zurückzulassen.<br />
❚ 85 % der Jugendlichen finden,<br />
dass Tiere ein Seele haben (Bäume:<br />
47 %).<br />
Natur-Nutzung<br />
❚ Jugendliche wissen wenig über<br />
die Rohstoffe von Konsumprodukten,<br />
interessieren sich so gut<br />
wie gar nicht für Nutztiere oder<br />
-pflanzen und besetzen den<br />
produktiven Zusammenhang<br />
zwischen Ressourcen und Produkten<br />
negativ.<br />
❚ Nur ein Viertel der McDonalds-<br />
Generation hält das Mästen von<br />
Schweinen und Schlachten von<br />
Tieren für wichtig.<br />
❚ Rund die Hälfte ist der Ansicht,<br />
dass die Jagd dem Wald schadet<br />
und hält Jäger für Tiermörder.<br />
Weitere Ungereimtheiten<br />
❚ Der Mensch kommt im Naturbild<br />
Jugendlicher grundsätzlich<br />
nicht vor und sie selbst begreifen<br />
sich nicht als Naturwesen.<br />
Statt dessen betrachten sie ihre<br />
Gattung als Erzfeind der Natur,<br />
als Verkörperung des Naturbösen<br />
schlechthin.<br />
❚ Durch die Berührung mit dem<br />
Menschen verlieren Naturelemente<br />
ihren Naturcharakter. So<br />
rechnen Jugendliche ganz allgemein<br />
Pflanzen der Natur zu. Sobald<br />
diese in Gärtnertöpfe oder<br />
Botanische Gärten verpflanzt<br />
oder in Tiefkühltruhen bzw. Dosen<br />
konserviert werden, verlieren<br />
sie indes diese Eigenschaft.<br />
❚ Junge Menschen geben vor,<br />
nicht ohne Natur leben zu können,<br />
obwohl sie sich ansonsten<br />
nicht sonderlich dafür interessieren.<br />
Man bekennt sich zum<br />
<strong>Naturschutz</strong>, aber kennt das<br />
Schutzobjekt nur noch dürftig<br />
(Artenschutz ohne Artenkenntnis).<br />
❚ Die Hochschätzung der Natur<br />
bleibt abstrakt und wird nicht<br />
auf die eigene Person bezogen.<br />
Wohlfeile Gebote zum fürsorglichen<br />
Umgang mit der Natur<br />
werden nicht in Zusammenhang<br />
mit der persönlichen Beanspruchung<br />
von Natur gesehen.<br />
Natur in Segmenten<br />
Die Natur besteht im Bewusstsein<br />
von Jugendlichen offenbar<br />
aus mindestens drei in sich<br />
Bambi-Syndrom: Infantilisierte Natur<br />
geschlossenen, aber weitgehend<br />
unverbundenen Segmenten:<br />
❚ Die Wert-Natur ist abstrakt,<br />
autonom, wild wachsend, menschenleer,<br />
gut, wertvoll, gefährdet,<br />
pflege- und schutzbedürftig.<br />
Sie nimmt einen Spitzenplatz<br />
im jugendlichen Werthorizont<br />
ein. Das Bekenntnis zu Natur<br />
und <strong>Naturschutz</strong> ist unabhängig<br />
vom Naturwissen, Freizeit-Vorlieben,<br />
sozialer Gruppenzugehörigkeit<br />
sowie Wohnort<br />
(Stadt-Land) und hat keinen<br />
mobilisierenden Effekt.<br />
❚ Die Ich-Natur umfasst die natürliche<br />
Alltagsumwelt und fungiert<br />
als Kulisse, Konsum- und<br />
Gebrauchsobjekt sowie emotionaler<br />
Bezugspunkt. Sie ist von<br />
eher minderer Bedeutung und<br />
umwelt & bildung 2/2004<br />
19
NATURERFAHRUNG<br />
bleibt von den Bekenntnissen<br />
zur Wertnatur untangiert.<br />
❚ Die Nutz-Natur als Basis von Produktionsprozessen<br />
und Produkten,<br />
wirtschaftlicher Ausbeutung<br />
und wissenschaftlich-technischer<br />
Beherrschung erscheint<br />
persönlich mehr oder weniger<br />
bedeutungslos, ist aus dem jugendlichen<br />
Horizont weitgehend<br />
ausgeblendet und wird<br />
auf Nachfrage unter Rückgriff<br />
auf die Gebote der Wertnatur<br />
moralisch verurteilt.<br />
Entfremdungssyndrome<br />
❚ Das Bambi-Syndrom: Die Natur<br />
wird moralisiert und infantilisiert.<br />
Aus jugendlicher Sicht ist<br />
sie gut, schön, sauber, harmonisch,<br />
seelenvoll, hilflos, man<br />
darf sie nicht stören, verletzen<br />
oder gar töten.<br />
❚ Neue Natur-Religion: Die Wert-<br />
Natur übernimmt in ihrer isolierten<br />
Überhöhung pseudoreligiöse<br />
Funktionen, die sich besonders<br />
im Umfeld des <strong>Naturschutz</strong>es<br />
manifestieren.<br />
❚ Das Nutzen-Tabu: Man weiß so<br />
gut wie nichts über die Produktion<br />
von Existenzmitteln und will<br />
davon auch nichts wissen.<br />
❚ Das Schlachthaus-Paradox: Die<br />
Aufzucht von Tieren und Pflanzen<br />
wird bejaht, die daraus resultierenden<br />
Produkte werden<br />
genossen, die Produktion aber<br />
diffamiert.<br />
Bambi-Syndrom <strong>contra</strong><br />
<strong>Nachhaltigkeit</strong><br />
❚ Eine wesentliche Konsequenz<br />
des Bambi-Syndroms besteht<br />
darin, dass man eine so zarte<br />
und hilflose Natur nicht einfach<br />
unter schnöden Nützlichkeitsgesichtspunkten<br />
betrachten<br />
und behandeln darf. Schützen<br />
und Nützen erscheinen daher<br />
als radikale Gegensätze. Wer jedoch<br />
die Nutzung der Natur<br />
pauschal verdrängt und/oder<br />
diffamiert, wer <strong>Naturschutz</strong> nur<br />
im Sinne der Abschottung<br />
gegenüber dem utilitaristischen<br />
Zugriff des Menschen versteht,<br />
blockiert damit einen zentralen<br />
Zugang zum Verständnis von<br />
<strong>Nachhaltigkeit</strong>, bezieht sich dieser<br />
Begriff doch vorrangig auf<br />
die Naturnutzung und seine<br />
mehr oder weniger naturverträglichen<br />
Varianten.<br />
❚ Um diese Hypothese zu überprüfen,<br />
wurden die Teilnehmer<br />
der Befragung gebeten, typische<br />
Merkmale von <strong>Nachhaltigkeit</strong><br />
zu benennen. Tatsächlich<br />
fiel 54 % der Jugendlichen hierzu<br />
gar nichts ein, 35 % lagen<br />
voll daneben, 9 % hatten eine<br />
gewisse Ahnung, 2 % konnten,<br />
wenn auch in diffusen Formulierungen,<br />
Kernelemente angeben.<br />
Dabei orientiert sich die<br />
Mehrheit der Fehlantworten an<br />
den einschlägigen Geboten<br />
volkstümlicher Naturmoral, in<br />
denen sich das Bambi-Syndrom<br />
zu höchster Blüte entfaltet. Tiere<br />
nicht ärgern, Bäume nicht erklettern,<br />
keinen Müll wegwerfen,<br />
nicht im Wald spielen, nicht<br />
schreien, keine Musik hören,<br />
keine Blumen pflücken – all diese<br />
Bambismen sind mehr oder<br />
weniger verquer rezipierte Ausflüsse<br />
asketischer Zeigefingersprüche<br />
auf Lehrtafeln und Verbotsschildern,<br />
die noch nicht<br />
einmal sonderlich viel mit <strong>Naturschutz</strong><br />
zu tun haben.<br />
❚ Spätestens nach den freien Assoziationen<br />
zum Thema ist klar:<br />
Das von vielen Naturschützern<br />
gepflegte Bild, welches die Natur<br />
nur als hilfloses Opfer<br />
menschlicher Vergewaltigung<br />
erscheinen lässt, dem man mit<br />
großer Helfergeste beiseite<br />
springen muss („Baum ab nein<br />
danke“, „Freunde der Erde“),<br />
tritt in den Köpfen der jungen<br />
Generation an die Stelle realistischer<br />
Zielvorstellungen im Sinne<br />
von <strong>Nachhaltigkeit</strong>. Damit verhindert<br />
es die Beschäftigung mit<br />
der entscheidenden Zukunftsfrage<br />
nach der richtigen Art der<br />
Naturnutzung. Wer pauschal<br />
Nützen gegen Schützen stellt,<br />
unterminiert jede „Bildung zur<br />
<strong>Nachhaltigkeit</strong>“.<br />
Das mag eine in dieser Verkürzung<br />
überpointierte Einsicht<br />
aus den Befunden des Jugendreports<br />
03 sein. Aber sie muss wohl<br />
erst einmal so drastisch formuliert<br />
werden, um auf die Widersprüche<br />
innerhalb der Natur- und Umweltschutzdebatte<br />
aufmerksam<br />
zu machen und eine vertiefte Diskussion<br />
über die Ursachen der<br />
weitgehenden Erfolglosigkeit umwelt-<br />
wie naturpädagogischer Bildungsbemühungen<br />
in Gang zu<br />
bringen.<br />
Dr. Rainer Brämer ist<br />
Natursoziologe und seit 1972<br />
Wissenschaftlicher Angestellter am<br />
Fachbereich für Erziehungswissenschaft<br />
der Universität Marburg.<br />
Kontakt:<br />
braemer@staff.uni-marburg.de<br />
In ungekürzter Form wird der<br />
vorliegende Text in dem für<br />
kommenden Herbst geplanten<br />
Tagungsband zur FORUM-<br />
Expertentagung „Naturerfahrung<br />
– Neues aus Forschung und<br />
Praxis“ erscheinen.<br />
Die ausführliche Studie „Nachhaltige<br />
Entfremdung“ ist soeben<br />
bei der Schutzgemeinschaft<br />
Deutscher Wald Landesverband<br />
Nordrhein-Westfalen erschienen<br />
und zum Preis von ca. EUR 5,–<br />
zu beziehen.<br />
Bestellungen:<br />
Tel.: 0049/(0)208/883 18 81,<br />
Fax: 0049/(0)208/883 18 83<br />
E-Mail: info@sdw-nrw.de<br />
Internet: www.sdw-nrw.de<br />
Weitere Texte von Rainer Brämer<br />
finden sich auf der Website<br />
www.staff.uni-marburg.de/~braemer/<br />
20 umwelt & bildung 2/2004