Eine Theologie des Lebens. Dietrich Bonhoeffers - Universität ...
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Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 1<br />
Ralf K. Wüstenberg<br />
<strong>Eine</strong> <strong>Theologie</strong> <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong>
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 2<br />
Für Pia Luise Rübenach
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 3<br />
Ralf K. Wüstenberg<br />
<strong>Eine</strong> <strong>Theologie</strong> <strong>des</strong><br />
<strong>Lebens</strong><br />
<strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong><br />
„nichtreligiöse Interpretation“<br />
biblischer Begriffe<br />
EVANGELISCHE VERLAGSANSTALT<br />
Leipzig
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 4<br />
Die Deutsche Bibliothek – Bibliographische Information<br />
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in<br />
der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische<br />
Daten sind im Internet über <br />
abrufbar.<br />
© 2006 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH, Leipzig<br />
Printed in Germany • H 7098<br />
Alle Rechte vorbehalten<br />
Cover: Kai-Michael Gustmann<br />
Satz: Evangelische Verlagsanstalt GmbH<br />
Druck und Binden: Hubert & Co., Göttingen<br />
ISBN-10: 3-374-02425-4<br />
ISBN-13: 978-3-374-02425-4<br />
www.eva-leipzig.de
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 5<br />
Vorwort<br />
Dem 100-jährigen Gedenken <strong>des</strong> Geburtstages von <strong>Dietrich</strong><br />
Bonhoeffer verdankt sich auch dieses Buch. Es handelt sich<br />
um die deutsche Ausgabe meines in Amerika erschienenen<br />
Buches: A Theology of Life. <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer’s Religionless<br />
Christianity (Grand Rapids/Cambridge: Wm. B. Eerdmans<br />
1998).<br />
Ich danke der Evangelischen Verlagsanstalt, namentlich<br />
Frau Dr. Weidhas, für das Interesse am deutschen Manuskript,<br />
das der englischen Buchfassung zu Grunde gelegen<br />
hat. Es ist für die deutsche Ausgabe leicht umgearbeitet<br />
und gekürzt sowie um eine Schlussbetrachtung ergänzt<br />
worden.<br />
Das Geleitwort <strong>des</strong> inzwischen verstorbenen Präsidenten<br />
der Internationalen Bonhoeffergesellschaft, Eberhard<br />
Bethge, wurde nach Rücksprache mit Renate Bethge unverändert<br />
übernommen. Das Literaturverzeichnis ist auf<br />
ein Verzeichnis der benutzten Bonhoeffer-Quellen reduziert<br />
worden. Weitere Literatur wird im Fußnotenapparat<br />
nachgewiesen.<br />
Die Union Evangelischer Kirchen sowie die Freie Universität<br />
Berlin haben mit Zuschüssen die Publikation ermöglicht.<br />
Mein Dank gilt auch der Tutorin am Lehrstuhl,<br />
Annegreth Strümpfel, die sich um das Manuskript verdient<br />
gemacht hat. Das Buch ist meiner Frau gewidmet, die mir<br />
in manch turbulentem Jahr akademischer und kirchlicher<br />
Qualifikation Halt und Gegenüber war.<br />
Ralf K. Wüstenberg, Berlin im Mai 2006<br />
5
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Wüstenberg 04.07. 15.08.2006 14:05 Uhr Seite 7<br />
Geleitwort<br />
Erfreut und befriedigt begrüße ich das Erscheinen von Ralf<br />
Karolus Wüstenberg »<strong>Eine</strong> <strong>Theologie</strong> <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong>. <strong>Dietrich</strong><br />
<strong>Bonhoeffers</strong> nichtreligiöse Interpretation biblischer Begriffe«.<br />
<strong>Eine</strong> neue Generation hat für diese <strong>Theologie</strong>, die inmitten<br />
der Konspiration entstanden ist, Feuer gefangen. Auf<br />
den Schultern der ersten Generation und in Aufnahme <strong>des</strong><br />
Gesprächs mit den Großen <strong>des</strong> 19. und 20. Jahrhunderts,<br />
Philosophen wie Theologen, untersucht Wüstenberg, was<br />
Bonhoeffer für unsere Zeit bei ihnen gehört hat und macht<br />
es für uns fruchtbar. Plötzlich ist es keineswegs vergangen,<br />
sondern außerordentlich gegenwärtig und unerledigt, regt<br />
das Formulieren von Antworten an auf Fragen, die sich<br />
immer drängender stellen, zum Beispiel nach der Weise<br />
unserer Überlieferung der Christologie angesichts <strong>des</strong> Holocaust.<br />
Ralf Wüstenberg setzt jeden von uns neu in die Studierstube.<br />
Er belegt die Kontinuität <strong>des</strong> Werkes <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong><br />
neu und erarbeitet es kritisch. Seine These vom<br />
»Glauben als Leben« scheint mir außerordentlich bedeutsam<br />
und fruchtbar. Er bezieht die hinter uns liegende Rezeptionsgeschichte<br />
der vergangenen Jahrzehnte ein unter<br />
Darbietung neuer Bezüge, vor allem aufgrund von Wilhelm<br />
Dilthey und William James. Ralf Wüstenbergs Buch schickt<br />
neu ins ökumenische Abenteuer.<br />
Eberhard Bethge<br />
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Inhalt<br />
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11<br />
A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik . . . . . . . . . . . . . 21<br />
1. Von der Liberalen zur Dialektischen <strong>Theologie</strong> . . . . . . . . . . 21<br />
2. Unter dem Einfluss der Dialektischen <strong>Theologie</strong> . . . . . . . 37<br />
3. Aus dem Schatten der Dialektischen <strong>Theologie</strong>:<br />
Der Einwand <strong>des</strong> Offenbarungspositivismus . . . . . . . . . . . 65<br />
B. Von der Religionskritik zur „Religionslosigkeit“ . . . . . . . . . . . . . 85<br />
1. Von der dialektisch-theologischen Religionskritik<br />
zur Rezeption <strong>des</strong> deutschen Historismus . . . . . . . . . . . . . . 85<br />
2. Kontinuität und Diskontinuität in<br />
der Religionsthematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112<br />
3. Ergebnis und These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126<br />
C. Von der Rezeption der <strong>Lebens</strong>philosophie zur<br />
›nichtreligiösen Interpretation‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129<br />
1. Die Bedeutung <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong>philosophen<br />
J. Ortega y Gasset . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130<br />
2. Die <strong>Lebens</strong>philosophie Wilhelm Diltheys als<br />
interpretatorischer Schlüssel zum Verständnis der<br />
›nichtreligiösen‹ Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136<br />
3. Ergebnis und These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145<br />
Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149<br />
Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155<br />
9
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Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 11<br />
Einleitung<br />
Aus dem Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis von Berlin-<br />
Tegel schreibt <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer im Mai 1944 an seinen<br />
Freund Eberhard Bethge: »Ich denke augenblicklich darüber<br />
nach, wie die Begriffe Buße, Glaube, Rechtfertigung,<br />
Wiedergeburt, Heiligung, weltlich [...] umzuinterpretieren<br />
sind. Ich werde Dir weiter darüber schreiben.« 1 In der<br />
anschließenden theologischen Korrespondenz finden sich<br />
die berühmten Formulierungen von der »religionslosen<br />
Zeit«, der wir entgegengehen und von der »mündigen Welt«,<br />
die auch ohne den »Vormund Gott« existieren kann. Mit<br />
diesen Formulierungen möchte Bonhoeffer eine Interpretationsform<br />
schaffen, in der Christus wirklich wieder Herr<br />
der Welt wird. Diese Form der Interpretation, nach der<br />
Religion nicht mehr zur Vorbedingung <strong>des</strong> Heils werden<br />
soll, nennt Bonhoeffer eine »weltliche« oder auch »nichtreligiöse«<br />
Interpretation. Damit ist keine abstrakte Interpretationsform<br />
gemeint; vielmehr hat Bonhoeffer die nichtreligiöse<br />
Interpretation der biblischen Begriffe vor Augen. Was<br />
heißt aber nichtreligiös interpretieren? Sind wir zu Beginn<br />
<strong>des</strong> 21. Jahrhunderts wirklich religionslos geworden? Wie<br />
wäre dann die Rückkehr <strong>des</strong> Religiösen zu erklären? Ist die<br />
These von der Religionslosigkeit nicht zumin<strong>des</strong>t empirisch<br />
widerlegt? Um sich diesen Fragen zu nähern, ist aber<br />
eine Analyse <strong>des</strong> Religionsverständnisses <strong>Bonhoeffers</strong> nötig.<br />
1) Brief vom 5. 5.1944, »Widerstand und Ergebung. Neuausgabe«,<br />
hrsg. E. Bethge, 3. Aufl. 1985, 313 (im folgenden zitiert WEN).<br />
11
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 12<br />
Einleitung<br />
Es müßte zumin<strong>des</strong>t geklärt werden, welcher Religionsbegriff<br />
der Tegeler <strong>Theologie</strong> eigentlich zugrunde liegt. Zu<br />
diesem Thema schweigt aber die im Übrigen beredte Literatur.<br />
2 In den meisten Studien sind eher die Probleme illustriert<br />
worden als tragfähige Analysen vorgelegt. So wird<br />
Bonhoeffer, der eine religionslose Zeit voraussagt, von den<br />
einen als ›Atheist‹ (A. MacIntyre) 3 oder als ›Säkularer‹ (A.<br />
Loen) 4 bezeichnet, um von anderen als ›religiöse Natur‹ (J.<br />
Macquarrie) 5 tituliert zu werden; wieder andere haben<br />
in ihm den ›Vater der Gott-ist-tot-<strong>Theologie</strong>‹ gesehen (W.<br />
Hamilton et al) 6 . Oder war er ein ›Gnostiker‹ (C. B. Arm-<br />
2) Vgl. den kritischen Überblick über »Vier Jahrzehnte ökumenischer<br />
Bonhoeffer-Interpretation«, in: R. K. WÜSTENBERG, Glauben als<br />
Leben. <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer und die nichtreligiöse Interpretation<br />
biblischer Begriff, Frankfurt/M. et al. 1996, 257–346. Zur neueren<br />
und neuesten Literatur vgl. E. FEIL (Hrsg.), Streitfall »Religion«.<br />
Diskussionen zur Bestimmung und Abgrenzung <strong>des</strong> Religionsbegriffs,<br />
Münster et al. 2000 sowie die »Bonhoeffer-Jahrbücher«, besonders<br />
den Jahrgang 2003 (hier etwa K. B. NIELSEN, Überlegungen<br />
zum Religionsverständnis <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong>: Zwischen<br />
Kritik und Konstruktion, 93-106) sowie A. DENNECKE, Das Leben<br />
»nicht-religiös« interpretieren. <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong> nichtreligiöse<br />
Interpretation im 21. Jahrhundert, in: PTh 2004 (93,1), 32 ff.<br />
3) Vgl. A. MACINTRYRE, God and the Theologians, in: Encounter 21,<br />
Nov 1963, 3–10, Beleg 3.<br />
4) Vgl. A. E. LOEN, Säkularisation. Von der wahren Voraussetzung<br />
und angeblichen Gottlosigkeit der Wissenschaft, 1965, 205 ff. (engl.:<br />
Secularization. Science without God?, London 1967, 188 ff.).<br />
5) Vgl. J. MACQUARRIE, God and Secularity, New Directions in Theology<br />
Today III, 1968, 72 ff.<br />
6) Vgl. W. HAMILTON, A secular Theology for a World come of Age,<br />
in: Theology Today 18, 1962, Beleg 440; vgl. auch J. A. T. ROBINSON,<br />
Honest to God, London 1963 (22. Aufl. 1991).<br />
12
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 13<br />
Einleitung<br />
strong, M. D. Hunnex) 7 , ein ,Sprachanalytiker‹ (P. van Buren)<br />
8 , ein ›Hermeneutiker‹ (zuletzt K.-M. Kodalle) 9 , ein ›Konservativer‹<br />
(E. C. Bianchi) 10 oder bloß ein ›Rezipient‹ (G.<br />
Krause) 11 ? Redet er gar ›der Selbstsäkularisierung <strong>des</strong> Protestantismus<br />
das Wort‹ 12 ?<br />
Alle Antworten sind gegeben worden, und wir könnten<br />
diese Auflistung weiter fortsetzen, beschränken uns jedoch<br />
auf einige pointierte Meinungen. Sie mögen einen Querschnitt<br />
geben für die verschiedensten Formen von Deutungen,<br />
die immer dann auftreten, wenn Bonhoeffer entweder<br />
von einer bestimmten theologischen Schule aus oder von<br />
der jeweiligen religiösen oder säkularen Lage der Zeit her<br />
interpretiert wird. Dabei ist durch Jahrzehnte hindurch auf<br />
Fehlinterpretationen hingewiesen worden. 13 Der britische<br />
7) Vgl. C. B. ARMSTRONG, Christianity without religion, in: CQR 165,<br />
1964, 175–184; M. D. HUNNEX, Religionless Christianity: Is it a<br />
New Form of Gnosticism?, in: Christianity 10, 6, Jan 7, 1966, 7–9.<br />
8) Vgl. P. VAN BUREN, The secular meaning of the Gospel. Based on<br />
an analysis of its language, London 1963.<br />
9) Vgl. K. M. KODALLE, <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer. Zur Kritik seiner <strong>Theologie</strong>,<br />
Gütersloh 1991.<br />
10) Vgl. E. C. BIANCHI, Bonhoeffer and the Church’s prophetic mission,<br />
in: Theological Studies (Baltimore) 28, 1967, 801–811.<br />
11) Vgl. G. KRAUSE, Art. ›Bonhoeffer, <strong>Dietrich</strong>‹, in: TRE VII, 198l, 55–66,<br />
weist wiederholt Begriffe <strong>Bonhoeffers</strong> als bloß aus anderen Quellen<br />
übernommen und sekundär aus, vgl. etwa art. cit. 64, Anm. 1 und 6.<br />
12) Diese Meinung gibt CHR. GREMMELS, Religionslosigkeit?, in:<br />
Bonhoeffer-Rundbrief 76 (2005), 24 wieder.<br />
13) D. JENKINS warnte schon 1962 (Beyond Religion) davor, daß die<br />
Rede von der Religionslosigkeit nicht zu einem ›Slogan‹ verkommen<br />
dürfe. J. MARK (Bonhoeffer Reconsidered, in: Theol, Nov 1973,<br />
No 641, 586–593) mahnte an, daß die These von der Religionslosigkeit<br />
nicht zu einem ›springboard‹ gemacht werden dürfe, auf dem<br />
13
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 14<br />
Einleitung<br />
Barth-Forscher T. F. Torrance 14 hat das Desaster in der Bonhoeffer-Interpretation<br />
schon früh auf den Punkt gebracht:<br />
»Yet the tragedy of the situation is that in the malaise of recent years<br />
instead of really listening to Bonhoeffer, many German thinkers and<br />
writers and Churchmen have come to ›use‹ Bonhoeffer for their own<br />
ends, as a means of objectifying their own image of themselves. And<br />
they have been aided and abetted in this by people in Britain and the<br />
U.S.A. In this way Bonhoeffer’s thought has been severely twisted<br />
and misunderstanding of him has come rife, especially when certain<br />
catch-phrases like ›religionless Christianity‹ and ›wordly holiness‹<br />
are worked up into systems of thought so sharply opposed to Bonhoeffer’s<br />
basic Christian theology, not least his Christology.«<br />
Wo die christologische Mitte bei Bonhoeffer nicht gesehen<br />
wird, da wird er insgesamt fehlinterpretiert – auch und<br />
gerade im Hinblick auf die »nichtreligiöse Interpretation«.<br />
Und so hat sich G. Ebelings 15 Mahnung, daß die »nichtreligiöse<br />
Interpretation [...] für Bonhoeffer nichts anderes als<br />
christologische Interpretation« sei, als Grundeinsicht über<br />
fünf Jahrzehnte in der Bonhoeffer-Forschung erhalten. Nahezu<br />
jede ausgewiesene Publikation zitiert Ebelings For-<br />
sich nahezu jede <strong>Theologie</strong> artikulieren könne. S. PLANT (The use<br />
of the Bible in Bonhoeffer’s ethics, unpublished PhD thesis, Cambridge<br />
1993) beobachtete, daß seit den 50er Jahren die Forderung<br />
einer »nichtreligiösen Interpretation« zu einem ›Slogan theologischer<br />
Trends‹ werde.<br />
14) T. F. TORRANCE, Cheap and Costly Grace, in: God and Rationality<br />
1971, Ch3, 56–85, Zitat 74.<br />
15) G. EBELING, Die ›Nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe‹,<br />
zuerst in: ZThK 52, 1955, 296–360; ich zitiere nach: Mündige<br />
Welt Bd. II, 1956, 12–73, Zitat 20 f. (engl.: The ›non-religious‹ interpretation<br />
of biblical concepts, in: Word and Faith, Philadelphia<br />
1963, 98–161).<br />
14
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 15<br />
Einleitung<br />
mel, doch bleibt ihre Konkretion aus: Wenn nichtreligiös<br />
christologisch interpretieren heißt, was meint dann diese<br />
Interpretation konkret?<br />
Um diese Frage soll es im folgenden gehen. Ihre Beantwortung<br />
wird über mehrere Etappen führen: Von der werkimmanenten<br />
Betrachtung der Religionsthematik bei Bonhoeffer<br />
über die Klärung der Entstehungsgeschichte seiner<br />
religionskritischen Äußerungen zum konstruktiven Versuch<br />
der inhaltlichen Bestimmung seiner These von der<br />
Religionslosigkeit. Zunächst soll gefragt werden, ob Bonhoeffer<br />
überhaupt einen Religionsbegriff entwickelt hat,<br />
über den wir Hinweise auf die Bedeutung der Religionslosigkeit<br />
erhielten. Die werkimmanente Vorklärung führt<br />
zu dem bisher nicht diskutierten Problem eines kohärenten<br />
Religionsbegriffs bei Bonhoeffer. Wird ein solcher verneint,<br />
schließt sich die Behandlung von entstehungsgeschichtlichen<br />
Fragen an: Woher kommen Religionskritik und die<br />
These von der Religionslosigkeit? Was hat Bonhoeffer im<br />
Gefängnis studiert, als er seine Forderungen zu Papier<br />
brachte? Die werkimmanente und rezeptionsgeschichtliche<br />
Untersuchung wird schließlich konstruktiv zu fragen<br />
erlauben, was Bonhoeffer mit der nicht-religiösen Interpretation<br />
biblischer Begriffe konkret beabsichtigte.<br />
Vorklärung<br />
Ist bei Bonhoeffer mit einer geschlossenen Religionskonzeption<br />
zu rechnen, die Hinweise auf die Aussagekraft der nichtreligiösen<br />
Interpretation gibt?<br />
Überblickt man sämtliche Aussagen <strong>Bonhoeffers</strong> über Religion,<br />
so lassen sich formal drei Gruppen von Religionsdeu-<br />
15
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 16<br />
Einleitung<br />
tungen unterscheiden: Vor der Entdeckung der Dialektischen<br />
<strong>Theologie</strong> stehen<br />
– religionswürdigende Aussagen im Vordergrund. Positive Auffassungen<br />
von Religion finden sich in Seminararbeiten und Referaten<br />
seiner Studentenzeit. 16 Seit der Entdeckung und der literarischen<br />
Verarbeitung Karl Barths begegnen dann<br />
– religionskritische Aussagen, die sich in seiner Dissertation<br />
»Sanctorum Communio« erstmals breiter aufweisen lassen. 17 Das<br />
Jahr 1927, in dem »Sanctorum Communio« erschien, markiert chronologisch<br />
eine Wende von der Religionswürdigung zur Religionskritik,<br />
die in den Folgejahren die bestimmende Deutung von Religion<br />
bleibt. Aus der Religionskritik folgert Bonhoeffer 1944 die<br />
nichtreligiöse Interpretation, mit der er schließlich die<br />
– Religionslosigkeit postuliert: Religion wird nicht nur (systematisch-theologisch)<br />
kritisiert, sondern die Zeit von Religion sei<br />
(historisch) abgelaufen.<br />
Religionswürdigung, Religionskritik und Religionslosigkeit<br />
sind die drei Aussageformen von Religion im Gesamtwerk<br />
<strong>Bonhoeffers</strong>. Keine von ihnen wird in sich systemhaft<br />
ausgebildet, noch lassen sie in ihrer Trias eine Theorie von<br />
Religion erkennen. Die drei Religionsdeutungen folgen<br />
vielmehr lose aufeinander, wonach Bonhoeffer Religion<br />
zunächst würdigt, dann kritisiert, um schließlich die<br />
nichtreligiöse Interpretation der biblischen Begriffe zu folgern.<br />
Auch diese chronologische Abfolge darf nicht gepreßt<br />
16) Vgl. etwa die Seminararbeit »Luthers Stimmungen gegenüber seinem<br />
Werk in seinen letzten <strong>Lebens</strong>jahren. Nach seinem Briefwechsel<br />
von 1540–1546«, in: DBW 9, 271–305, bes. 300; oder: »Referat über<br />
historische und pneumatische Schriftauslegung«, in: DBW 9, 305–<br />
323, bes. 305 f.321.<br />
17) »Sanctorum Communio«, DBW 1 (1986), etwa 69, 79, 97, 174; vgl. im<br />
Blick auf F. Schleiermacher 102 n.18.<br />
16
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 17<br />
Einleitung<br />
werden: So äußert sich Bonhoeffer auch vor 1927 vereinzelt<br />
religionskritisch; andererseits kann er noch 1944 vom Christentum<br />
als wahrer Religion sprechen. In der »dialektischtheologischen<br />
Phase« kommen also Elemente einer Religionsbetrachtung<br />
vor, die chronologisch gesehen in die<br />
Zeit vor 1927 fallen müßten, und damit in das Erbe der Liberalen<br />
<strong>Theologie</strong>.<br />
Würdigende Äußerungen, kritische und solche über Religionslosigkeit<br />
folgen nicht nur entwicklungsgeschichtlich<br />
aufeinander, sondern begegnen auch systematisch nebeneinander.<br />
<strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer operiert mit dem Wort<br />
Religion in einer Weise, die eine inhaltliche Bestimmung<br />
schwer macht – oft auch gar nicht sucht. Religion wird zu<br />
einer formalen Negativfolie, auf der dann andere wichtige<br />
Gedanken inhaltlich expliziert werden. Bonhoeffer erklärt<br />
schon 1931 unter dem Eindruck von Karl Barth, daß es »keinen<br />
allgemeinen Begriff von Religion mehr geben« 18 kann.<br />
An der Stelle eines theologisch reflektierten Religionsbegriffs<br />
finden sich bei <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer regulative Vorstellungen<br />
über Religion, wie:<br />
– Religion rede von Gott bloß »an den Rändern«,<br />
– Religion habe nur mit den »letzten Fragen« <strong>des</strong> Menschen<br />
zu tun,<br />
– Religion richte sich allein auf die »Innerlichkeit« und das<br />
»Gewissen« von Menschen.<br />
Bonhoeffer integriert Religion nicht systematisch in seine<br />
<strong>Theologie</strong> und unterscheidet sich darin u. a. von Karl Barth.<br />
18) »Die Systematische <strong>Theologie</strong> <strong>des</strong> 20. Jahrhunderts«, Vorlesung aus<br />
dem Wintersemester 1931/32, in: GS V, 181–227, Beleg 219 (Hervorhebung<br />
im Zitat RW).<br />
17
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 18<br />
Einleitung<br />
Wo gewöhnlich Religion den Ort im System einer regulären<br />
Dogmatik einnimmt, da fragt der irreguläre Dogmatiker:<br />
»Was bedeutet in der Religionslosigkeit der Kultus und das<br />
Gebet?« (WEN 306). Bonhoeffer beantwortet seine Frage mit<br />
dem Hinweis auf die altkirchliche Arkandisziplin; er empfindet<br />
offenbar selber, daß eine Lücke entsteht, wo in der<br />
Religionslosigkeit religiöse Inhalte den angestammten Ort<br />
verlieren. Was sich mit dem Phänomen Religion verbindet,<br />
also etwa der Kultus oder das Gebet, sollen <strong>des</strong>halb der<br />
Arkandisziplin unterworfen werden. Wir erhalten einen<br />
ersten Hinweis darauf, daß Religionslosigkeit phänomenologisch<br />
mit der Ortslosigkeit von Religion zu tun hat.<br />
Religiöse Inhalte sollen aber nicht aufgegeben, sondern<br />
angebetet und vor Profanierung geschützt werden; anstelle<br />
von geschwätziger Religiosität fordert Bonhoeffer »qualifiziertes<br />
Schweigen«. Der Verherrlichung <strong>des</strong> Geheimnisses<br />
der Person Christi in Gebet und Gottesdienst entspricht<br />
nach außen die verantwortliche Tat, so daß die Arkandisziplin<br />
ihren »dialektische(n) Kontrapunkt« 19 in der nichtreligiösen<br />
Interpretation findet. Arkanum und Religionslosigkeit<br />
verhalten sich zueinander wie »das Beten und Tun <strong>des</strong><br />
Gerechten« (WEN 328). Das anbetende Schweigen vor dem<br />
Heiligen einerseits und das nichtreligiöse Bekennen vor der<br />
Welt andererseits gehören als die zwei Seiten <strong>des</strong> christlichen<br />
<strong>Lebens</strong> für Bonhoeffer untrennbar zusammen.<br />
Als erstes Ergebnis ist festzuhalten: <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer<br />
definiert Religion weder begrifflich noch entwickelt er eine<br />
geschlossene Religionstheorie.<br />
19) A. PANGRITZ, »Aspekte der ›Arkandisziplin‹ bei <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer«,<br />
in: ThLZ 119 (1994), Sp. 755–768, Beleg 765.<br />
18
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 19<br />
Einleitung<br />
Dieser Befund hat methodische Konsequenzen. Sollen<br />
seine Aussagen über Religionslosigkeit interpretiert werden,<br />
so kann dies nicht unmittelbar über die Schriften <strong>Bonhoeffers</strong><br />
und einem vermeintlich dort ausgebildeten Religionsbegriff<br />
gelingen, sondern nur mittelbar über die den<br />
Quellen zugrundeliegenden entstehungsgeschichtlichen<br />
Bezüge. Die Frage lautet: Woher kommt die Rede von der<br />
Religionslosigkeit? Die Behandlung dieser Frage führt in<br />
der systematischen Betrachtung <strong>des</strong> Verständnisses von<br />
Religion bei <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer über drei Stationen:<br />
– Von der Religionswürdigung unter dem Einfluß der<br />
Liberalen <strong>Theologie</strong> zur Religionskritik in der Rezeption<br />
der Dialektischen <strong>Theologie</strong> (Abschnitt A);<br />
– von der Religionskritik der Dialektischen <strong>Theologie</strong> zur<br />
»Religionslosigkeit« in der Rezeption <strong>des</strong> deutschen<br />
Historismus (Abschnitt B) und schließlich<br />
– vom <strong>Lebens</strong>begriff der sog. »<strong>Lebens</strong>philosophie« zur<br />
systematischen Aussagekraft der »nichtreligiösen<br />
Interpretation« in den Tegeler Briefen (Abschnitt C).<br />
19
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 20
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A. Von der Religionswürdigung<br />
zur Religionskritik<br />
Zunächst soll <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong> Weg von der Religionswürdigung<br />
unter dem Einfluß der Liberalen <strong>Theologie</strong> (1.)<br />
zur Religionskritik in der Rezeption der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
(2.) nachgezeichnet werden. Dann wird unter dem<br />
Stichwort ›Offenbarungspositivismus‹ thematisiert, wie<br />
Bonhoeffer die Bahnen der Religionskritik Karl Barths verläßt<br />
und aus dem Schatten der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
heraustritt (3.). Methodisch werden die Spuren der Liberalen<br />
sowie der Dialektischen <strong>Theologie</strong> im literarischen<br />
Werk <strong>Bonhoeffers</strong> aufgenommen – ausgehend vom Schrifttum<br />
aus der Studienzeit über Qualifikationsarbeiten und<br />
Vorlesungsnachschriften bis hin zu den Ethikfragmenten<br />
und den Tegeler Briefen.<br />
1. Von der Liberalen zur Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
a) Studentische Arbeiten<br />
<strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer ist in die Liberale <strong>Theologie</strong> hineingewachsen,<br />
hat bei K. Holl gehört und bei A. v. Harnack bis<br />
zuletzt Seminare besucht. Eberhard Bethge bemerkt:<br />
»Mit dem Durchbruch der dialektischen <strong>Theologie</strong> trat bei Bonhoeffer<br />
an die Stelle eines gewissen ruhelosen Schweifens eine selbstgewissere<br />
Bestimmtheit. Er gewann jetzt erst eigentlich Freude an der<br />
Sache; es war wie eine Befreiung.«1<br />
1) <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer. Theologe, Christ, Zeitgenosse, 6. Aufl. München<br />
1986, 104 (Biographie im Folgenden zitiert: E. Bethge, DB).<br />
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A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
Die Entdeckung K. Barths wird in die Jahre 1924/25 datiert<br />
und mit der 1924 erschienenen Vortragssammlung ›Das<br />
Wort Gottes und die <strong>Theologie</strong>‹ verbunden.2 Hierin stellt K.<br />
Barth eindeutig fest:<br />
»Jesus hat mit Religion einfach nichts zu tun. Der Sinn seines <strong>Lebens</strong><br />
ist die Aktualität <strong>des</strong>sen, was in keiner Religion aktuell ist, die Aktualität<br />
<strong>des</strong> Unnahbaren, Unfaßbaren, Unbegreiflichen [...]« (94).<br />
Dem korrespondiert die Gegenüberstellung von Religion<br />
und Glaube. Während Religion in ›jedermanns Möglichkeit‹<br />
liegt, gilt nach Barth: »[...] der Glaube, der in der Bibel<br />
geboten ist, ist nicht jedermanns Ding« (74). »Die Religion<br />
vergißt, daß sie nur dann Daseinsberechtigung hat, wenn<br />
sie sich selbst fortwährend aufhebt.« (80) Mit dem Terminus<br />
»Aufhebung von Religion« begegnete bereits 1920 eine<br />
bedeutende Wendung in der Religionskritik K. Barths. Gott<br />
»will nicht Religionsgeschichte begründen, sondern der<br />
Herr unsres <strong>Lebens</strong>, der ewige Herr der Welt sein« (85). An<br />
einer anderen Stelle seines Traktats heißt es:<br />
»Es sind schon oft gerade ausgesprochen unreligiöse Menschen gewesen,<br />
die den ganzen Ernst und das ganze Gewicht der Gottesfrage<br />
viel stärker empfunden, viel schärfer zum Ausdruck gebracht haben<br />
als die innigsten und eifrigsten Frommen« (73).<br />
Hat man den späten Bonhoeffer vor Augen, so stellen sich<br />
Parallelen ein. »Wie kann Christus der Herr auch der Religionslosen<br />
werden«, fragt er etwa am 30.4.1944 (WEN 306).<br />
Der skandinavische Bonhoeffer-Interpret B.-E. Benktson3<br />
2) Das Wort Gottes und die <strong>Theologie</strong>. Gesammelte Vorträge, München<br />
1924, 70–98.<br />
3) Vgl. B.-E. BENKTSON , Kristus och den myndigvordna världen, in:<br />
SvTK 40, 1964, 65–113.<br />
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Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 23<br />
1. Von der Liberalen zur Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
argumentiert, dass Bonhoeffer in dieser Aussage an den frühen<br />
Aufsatz K. Barths gedacht habe, eine These, auf die in<br />
der Interpretation der Tegeler Briefe zurückzukommen ist.<br />
Fragen wir zunächst: Was kannte der Student Bonhoeffer<br />
eigentlich von Barth? Neben dem genannten Aufsatzband<br />
von 1924 war ihm Barths ›Römerbrief‹ von 1922 (in 3.<br />
Aufl. von 1923) bekannt sowie einige Nummern der Zeitschrift<br />
›Zwischen den Zeiten‹ (= ZZ)4. Vor allem der ›Römerbrief‹<br />
und der Aufsatzband finden bei Bonhoeffer vor 1927<br />
einen Niederschlag.<br />
Zu Karl Barths ›Christlicher Dogmatik im Entwurf‹<br />
fertigte Bonhoeffer lediglich Notizen an (DBW 9, 473 f.), in<br />
denen er das Religionsverständnis Barths nicht weiter kommentierte.<br />
Beiläufig äußert sich Bonhoeffer über den frühen<br />
Dogmatikentwurf Barths gegenüber einem Kommilitonen<br />
kritisch und klagt über »reaktionäre Gesten«. Der<br />
Kommilitone verteidigt den Barth der ›Dogmatik‹ im Unterschied<br />
zum ›Römerbrief‹ mit dem Hinweis: Barth müsse<br />
erst »nach rückwärts Anschluß« gewinnen, um dann »zwei<br />
Schritte vorwärts« tun zu können.5<br />
Aus dem Sommersemester 1925 ist das ›Referat‹ über<br />
historische und pneumatische Schriftauslegung (DBW 9,<br />
305 ff.) hervorzuheben. <strong>Eine</strong>rseits können hier religionswürdigende<br />
Äußerungen festgehalten werden. Andererseits<br />
kommt Bonhoeffer auf Barth zu sprechen. Es geht ihm um<br />
4) Vgl. Nl. 194; Bonhoeffer selbst erwähnt in einem Referat zum Beispiel<br />
K. BARTH, Menschenwort und Gotteswort in der christlichen<br />
Predigt, in: ZZ 3, 1925, 119 ff., und <strong>des</strong>sen Aufsatz ›Das Schriftprinzip<br />
der reformierten Kirche‹, in: ZZ 3, 1925, 215 ff. (vgl. DBW 9, 305,<br />
Anm. 1).<br />
5) R. WIDMANN, zit. nach E. Bethge, DB, 106; vgl. auch DBW 9, 157 ff.<br />
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Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 24<br />
A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
die Auseinandersetzung mit dem dialektisch-theologischen<br />
Schriftverständnis einerseits und K. Holls Darstellung<br />
der Hermeneutik M. Luthers andererseits. K. Barth<br />
und K. Holl – reformierte und lutherische Tradition – versucht<br />
Bonhoeffer über das Schriftverständnis zusammenzubringen.<br />
Im Blick auf Barth heißt es: »In der Schrift ist die<br />
Offenbarung enthalten, d. h. wie die Schrift selbst sagt ›bezeugt‹«<br />
(DBW 9, 311). In Anlehnung an K. Holl6 schreibt er:<br />
»Mithin nicht die Schrift ist die Offenbarung, das würde gerade wieder<br />
Verdinglichung mit rationalen Mitteln bedeuten, nicht die<br />
Schrift wird als Offenbarung erlebt, sondern die Sache, um die es<br />
geht« (ibid).<br />
Bonhoeffer rezipiert K. Barth mit offenbarungstheologischem<br />
Interesse an der Schriftauslegung (vgl. auch 313 f.;<br />
dort K. Barths Israel-<strong>Theologie</strong>), weniger hinsichtlich der<br />
Religionskritik. Ein ähnliches Beispiel liefert ein ›Referat‹<br />
über Kirche und Ekklesiologie von 1926 (DBW 9, 336 ff.).<br />
<strong>Eine</strong>rseits finden sich Anlehnungen an Barths ›Römerbrief‹,<br />
andererseits keine Spur von Religionskritik. Auf K. Barth<br />
wird ekklesiologisch Bezug genommen:<br />
»Die Kirche wird nie den verhängnisvollen Schritt zu dem Satze tun,<br />
daß ›alles Bestehende Sünde‹ sei, sondern sie wird Schöpfung und<br />
menschliche Entstellung wohl zu trennen wissen und ihr Auge<br />
schärfen; [...] «. 7<br />
In studentischen Arbeiten nimmt Bonhoeffer zwar auf<br />
Barth Bezug. Richtig scheint jedoch die Beobachtung, daß<br />
6) Vgl. zum Einfluß K. Holls auf Bonhoeffer: J. v. SOOSTEN, Die Sozialität,<br />
159 ff.<br />
7) DBW 9, 350; das eingestreute Zitat stammt aus K. BARTHs ›Römerbrief‹<br />
[462]: vgl. den Nachweis in DBW 9, 350, Anm. 67.<br />
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Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 25<br />
1. Von der Liberalen zur Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
er sich in Jahren 1925/26 »in einer theologischen Zwischenposition<br />
zwischen Barth und den Berliner Theologen«8 befindet.<br />
b) Promotion<br />
Rezeptive Spuren von K. Barth nehmen wir in ›Sanctorum<br />
Communio‹ 9 von 1927 auf. In dem gleichnamigen Hauptkapitel<br />
(77–199) wird vorab festgestellt:<br />
»Es gibt grundsätzlich ein historisieren<strong>des</strong> und ein religiöses Mißverständnis<br />
der Kirche« (79).<br />
Zum ›religiösen Mißverständnis‹ wird das römisch-katholische<br />
Kirchenverständnis gezählt; doch begegnet man dem<br />
›religiösen Mißverständnis‹ auch in der Soziologie, dann<br />
nämlich, wenn es gilt, »›Kirche‹ qua ›religiöse Gemeinschaft‹<br />
[...] als ›öffentlich-rechtliche Körperschaft‹ zu analysieren<br />
und eine soziologische Morphologie derselben zu geben.<br />
Dann wäre alles Theologische überflüssig« (79 f.). Wir treffen<br />
hier auf die Entgegensetzung von <strong>Theologie</strong> und Religion<br />
(in Form von ›religiöser Gemeinschaft‹). Daß Kirche<br />
den Anspruch erhebt, Kirche Gottes zu sein, ist nicht »von<br />
außen her« zu deduzieren. Dieser Weg führt grundsätzlich<br />
nicht über die Kategorie der ›Möglichkeit‹ hinaus. Von da<br />
aus stößt man notwendig auf den Begriff der ›religiösen<br />
Gemeinschaft‹. Der Begriff der Kirche ist nur denkbar in der<br />
Sphäre der gottgesetzten Realität, d. h. er ist nicht deduzierbar.<br />
»Die Realität der Kirche ist eine Offenbarungsrealität,<br />
zu deren Wesen es gehört, entweder geglaubt oder geleugnet<br />
zu werden« (80). Mit dieser Aussage über Offenbarung<br />
8) H. PFEIFER, in: DBW 9, 628.<br />
9) Sanctorum Communio (DBW 1) 1986.<br />
25
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 26<br />
A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
geht der Promovend nicht über seinen Doktorvater hinaus.10<br />
Weiter zeigt Bonhoeffer auf, wie M. Scheler und H.<br />
Scholz den Begriff Kirche aus der Religion beziehungsweise<br />
aus der religiösen Gemeinschaft ableiten. Scheler setzte Religion<br />
mit Metaphysik gleich. »Der Fehler der Schelerschen<br />
Argumentation liegt darin, daß er in der Idee <strong>des</strong> Heiligen<br />
von einem metaphysischen Wertbegriff ausgeht, der uns in<br />
seiner Absolutheit immer unzugänglich bleibt, statt von<br />
der geschichtlich positiven Offenbarung [...] in Christus [...]<br />
aus zu argumentieren« (82). Versteht Scheler Religion als<br />
Metaphysik, so setzt Scholz nach Auffassung <strong>Bonhoeffers</strong><br />
Religion und Offenbarung gleich:<br />
»Religion gehört erstens zu den Ponderabilien <strong>des</strong> menschlichen<br />
Geistes, sie ist zweitens nicht apriori, sondern Offenbarung, was<br />
sich ausschließende Begriffe sind. Daraus folgt die Notwendigkeit<br />
der Erziehung in der Religion« (83).<br />
Scholz setze nämlich mit dem allgemeinen Religionsbegriff<br />
ein. »Der allgemeine Religionsbegriff hat keine sozialen<br />
10) Bei R. SEEBERG, Dogmatik Bd. I, 152, lesen wir: »[...] – der Glaube<br />
nimmt die von oben nach unten kommende Gottesherrschaft in<br />
sich auf, die Liebe gibt sich von unten nach oben steigend dem<br />
Schaffen am Gottesreich hin – [...]«. R. Seeberg kennt zwei Ebenen<br />
der Religionsgemeinschaft, »eine doppelte Bewegung«. »Als eine<br />
Menschheitsangelegenheit erweist sich die Religion dadurch, daß<br />
sie Gemeinschaft bildet« (152). Darüber steht die »zweite, höhere<br />
[...]« (ibid). Auch R. Seeberg läßt seine Betrachtung also ›von oben‹<br />
einsetzen, auch wenn er Religion und Christentum miteinander<br />
identifizieren kann. Das Zitierte steht im ersten Kapitel der<br />
Dogmatik unter der Überschrift: »Das Wesen der Religion und<br />
der Erweis <strong>des</strong> Christentums als der absoluten Religion« (15–222).<br />
26
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 27<br />
1. Von der Liberalen zur Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
Intentionen. [...] Damit sind wir vom allgemeinen Religionsbegriff<br />
auf die konkrete Religionsform zurückgewiesen,<br />
d. h. für uns auf den Begriff der Kirche« (84). Bonhoeffer<br />
thetisch: »Nur aus dem Offenbarungsbegriff kommt man<br />
zum christlichen Kirchenbegriff« (84). Nicht also vom Religionsbegriff<br />
her – so können wir ergänzen. Die Entgegensetzung<br />
von Offenbarung und Religion wird am Kirchenbegriff<br />
durchgespielt:<br />
»Nicht eine neue Religion wirbt um ihre Anhänger [...], sondern Gott<br />
hat die Wirklichkeit der Kirche, der begnadigten Menschheit in<br />
Jesus Christus gesetzt. Nicht Religion, sondern Offenbarung, nicht<br />
Religionsgemeinschaft, sondern Kirche. Das bedeutet die Wirklichkeit<br />
Jesu Christi. Dennoch besteht ein notwendiger Zusammenhang<br />
zwischen Offenbarung und Religion wie zwischen Religionsgemeinschaft<br />
und Kirche. Das wird heute oft verkannt« (97).<br />
Mit der Entgegensetzung von Religionsgemeinschaft und<br />
Kirche hat sich Bonhoeffer offenbar gegen E. Troeltsch abgegrenzt.11<br />
Neben der bekannten Gegenüberstellung von<br />
Religion und Offenbarung tritt nun unvermittelt der Gedanke<br />
eines Zusammenhangs. Entgegensetzung und Zusammenhang<br />
von Religion und Offenbarung können auf<br />
dem Hintergrund von K. Barth einerseits12 und A. Ritschl<br />
andererseits interpretiert werden.<br />
Diese Betrachtung nimmt über 200 Seiten ein! Bonhoeffer wird<br />
davon nicht unbeeinflußt geblieben sein.<br />
11) E. TROELTSCH, Soziallehren, 58 f., unternimmt in der Darstellung<br />
<strong>des</strong> paulinischen Kirchenverständnisses eine Gleichsetzung von<br />
»selbständiger Religionsgemeinschaft« und »Kultgemeinde« (59).<br />
»Die Kultgemeinde ist der Leib <strong>des</strong> Christus, in den man durch die<br />
Taufe eingepflanzt wird und durch den man im Herrenmahl<br />
gespeist und getränkt wird« (ibid).<br />
12) J. v. SOOSTEN (DBW 1, 262 Anm. 71) verweist auf: K. BARTH, Der<br />
27
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A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
In K. Barths ›Römerbrief‹ 13 findet sich besonders im 7. Kapitel, »Die<br />
Freiheit« (211 ff.), die Entgegensetzung von Offenbarung und Religion.<br />
»Die Grenze der Religion« (211 ff.) ist nach Barth mit Christus<br />
gesetzt. »Christus ist <strong>des</strong> Gesetzes Ende, die Grenze der Religion«<br />
(220). »Der Sinn der Religion« (222 f.) ist es, den Menschen vor seine<br />
Krisis zu stellen, »und je stärker diese Krisis sich geltend macht,<br />
<strong>des</strong>to deutlicher ist es, daß wir es bei dem betreffenden Phänomen<br />
tatsächlich mit bewußter oder unbewußter Religion zu tun haben«<br />
(225). In der Religion wird »die Sünde zur anschaulichen Gegebenheit«<br />
(228), der die »Freiheit Gottes« (236) gegenübersteht. »Die Wirklichkeit<br />
der Religion ist Kampf und Ärgernis, Sünde und Tod, Teufel<br />
und Hölle« (241). In der Wirklichkeit der Religion soll »der religiöse<br />
Mensch mit seinem eigentümlichen Sein und Haben [...] selbst zu<br />
Worte kommen – Religionspsychologie!« (240); sie ist »die Entdeckung<br />
seiner Unerlöstheit« (241). Der Religionsbegriff <strong>des</strong> frühen K.<br />
Barth ist an der paulinischen Gesetzestheologie orientiert und folgt<br />
einem dualistischen Sprachgebrauch. So kann K. Barth sagen: »Religion<br />
ist ausbrechender Dualismus« (251). Neben der Gleichung:<br />
Gesetz ist Religion und Evangelium ist Gnade, findet Barth Anschluß<br />
an die paulinische Dialektik: So wenig Gesetz gleich Sünde<br />
ist, so wenig ist Religion gleich Sünde: »Die Sünde (ist) nicht identisch<br />
mit der religiösen Möglichkeit« (223). Barth entfaltet eine Dialektik<br />
von Sünde und Religion, nicht von Gnade und Religion. 14 Dieses<br />
Verhältnis bleibt antithetisch: Religion »ist ein Unglück« (241),<br />
sie ist »Negative« der Gnade (212). Die im 7. Kapitel bezeugte »Dia-<br />
Römerbrief, 211 ff.314 ff.346 ff.375 ff. Diese Seitenangaben entsprechen<br />
den Kapiteln 7 und 9–11 <strong>des</strong> Kommentars.<br />
13) K. BARTH, Der Römerbrief (1922), Zürich (unveränd. Abdruck) 13.<br />
Aufl. 1984.<br />
14) <strong>Eine</strong> solche Dialektik von Gnade und Religion vermutet B.-E.<br />
BENKTSON, Christus und die Religion, 1967, 59; vgl. gegen B.-E.<br />
BENKTSON schon H.-J. KRAUS, Theologische Religionskritik, 1982,<br />
37, der den ›Römerbief‹ alternativ unter der Fragestellung: »Glaube<br />
oder Religion« thematisiert (ibid 7).<br />
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1. Von der Liberalen zur Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
lektik« (219) ist für K. Barth eine Dialektik von Religion und Sünde,<br />
die allein von der Gnade her bestimmt wird. Von der Gnade aus wird<br />
die »Sünde zur anschaulichen Gegebenheit« (228). Die Dialektik von<br />
Sünde und Gesetz (bei Paulus), von Sünde und Religion (bei Barth)<br />
wird ausschließlich von der Gnade her bestimmt und ist keine Dialektik<br />
von Religion und Gnade. Im ›Römerbrief‹ von 1922 nimmt K.<br />
Barth Grundeinsichten von 1920 wieder auf und bereitet das Verständnis<br />
von Offenbarung als ›Aufhebung von Religion‹ in KD I/2<br />
von 1938 vor, wenn er schreibt: »Jesus Christus aber ist der neue<br />
Mensch jenseits <strong>des</strong> menschenmöglichen Menschen, jenseits vor<br />
allem <strong>des</strong> frommen Menschen. Er ist die Aufhebung dieses Menschen<br />
in seiner Totalität« (252).<br />
Wenn Bonhoeffer Offenbarung und Religion in ›Sanctorum<br />
Communio‹ entgegensetzt, lehnt er sich offenbar dem<br />
Sprachgebrauch <strong>des</strong> ›Römerbriefs‹ an. In ›Sanctorum Communio‹<br />
heißt es aber auch, daß ein »notwendiger Zusammenhang<br />
zwischen Offenbarung und Religion« bestehe:<br />
»Als Bahnbrecher, Vorbild ist Jesus auch Gründer einer Religionsgemeinschaft«<br />
(Sanctorum Communio, 97). »Jede gemeinsame<br />
Religion ist gestiftet« – So formuliert A. Ritschl.15<br />
Albrecht Ritschl kennt »Merkmale, in welchen das Christenthum<br />
sich als Religion kund giebt« (188). Zu diesen Merkmalen gehören<br />
neben anderen der Ganzheits- und Gemeinschaftscharakter der<br />
christlichen Religion. »Die Behauptung, daß die religiöse Weltanschauung<br />
auf die Vorstellung von einem Ganzen angelegt ist,<br />
bewährt sich allerdings am Christenthum« (190). »Der gemeinschaftliche<br />
Cultus hat ein näheres Verhältniß zur Offenbarung, welche<br />
den Organisationspunkt jeder zusammenhängenden religiösen<br />
Weltanschauung bildet« (192). Für die christliche Religion heißt das:<br />
»Im Christenthum ist die Offenbarung in dem Sohne Gottes der<br />
feste Punkt für alle Erkenntniß und alles religiöse Handeln« (192).<br />
15) A. RITSCHL, Rechtfertigung und Versöhnung III, 1888, 508.<br />
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A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
Das gilt nach A. Ritschl auch für die Kirche, 16 die hier unter dem<br />
Stichwort vom gemeinschaftlichen Kult steht. »In dieser Bedeutung<br />
der Offenbarung für den gemeinschaftlichen Cultus ist auch eine<br />
unumgängliche Bedingung für das Verständniß <strong>des</strong> Christenthums<br />
zu erkennen. Die Person seines Stifters ist nicht nur der Schlüssel für<br />
die christliche Weltanschauung und der Maßstab für die Selbstbeurtheilung<br />
und das sittliche Streben der Christen, sondern auch<br />
der Maßstab dafür, wie das Gebet beschaffen sein muß, in welchem<br />
die individuelle wie die gemeinsame Verehrung Gottes besteht«<br />
(193).<br />
Ein Verhältnis von Offenbarung und Religion, das nicht<br />
zuerst durch eine Entgegensetzung bestimmt ist, kann<br />
Bonhoeffer durchaus A. Ritschl entnommen haben.17 Von<br />
Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch der vorgetragene<br />
Ganzheitscharakter, den A. Ritschl der Religion<br />
beimißt.18 Im Anschluß an das oben Zitierte heißt es: »Zugleich<br />
hängt von der Anerkennung der Offenbarung Gottes<br />
in Christus der Vorzug <strong>des</strong> Christenthums ab, daß seine<br />
Weltanschauung ein geschlossenes Ganzes und sein <strong>Lebens</strong>ziel<br />
dieses ist, daß man als Christ ein Ganzes, ein geistiger<br />
Charakter über der Welt wird« (193).<br />
16) Vgl. A. RITSCHL, op. cit. 105, 124, 274.<br />
17) Bonhoeffer rekurriert an anderen Stellen von ›Sanctorum Communio‹<br />
grundsätzlich positiv auf A. Ritschl; vgl. DBW 1, 88, Anm. 10;<br />
105, Anm. 24; 150, Anm. 92; 166, Anm. 110. An diesen Stellen wird<br />
A. Ritschl als Beleg angeführt; an anderer Stelle stützt sich Bonhoeffer<br />
auf A. Ritschl gegen F. Schleiermacher, vgl. 112, Anm. 32.<br />
Bonhoeffer kann aber nicht A. Ritschls Unterscheidung von Reich<br />
Gottes und Kirche folgen; diese sei »theologisch wie soziologisch<br />
unhaltbar« (147, Anm. 85; vgl. auch 198).<br />
18) Wenn Bonhoeffer später Religion unter dem Aspekt <strong>des</strong> Partiellen<br />
kritisiert, kann er schwerlich dabei an den Religionsbegriff A.<br />
Ritschls gedacht haben!<br />
30
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1. Von der Liberalen zur Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
Liberales und dialektisch-theologisches Religionsverständnis<br />
scheinen in ›Sanctorum Communio‹ noch unverbunden<br />
nebeneinander zu stehen. Religionskritik ist angelegt,<br />
wird jedoch nicht durchgeführt. Hinsichtlich der<br />
Unterscheidung von Reich Gottes und Reich Christi folgt<br />
Bonhoeffer dann explizit K. Barth (nicht R. Seeberg, der diese<br />
Unterscheidung nicht kennt):<br />
»Kirche ist identisch mit Reich Christi, dieses aber das in der<br />
Geschichte seit Christus verwirklichte Reich Gottes« (98). 19<br />
Folgen wir weiter dem Text von ›Sanctorum Communio‹, so<br />
fällt die Kritik an einer individualistischen Engführung <strong>des</strong><br />
Kirchenbegriffs auf. Gottesgemeinschaft gibt es nach Bonhoeffer<br />
nur in der Kirche.<br />
»An dieser Tatsache scheitert jeder individualistische Kirchenbegriff.<br />
Zwischen Einzelnem und Kirche besteht folgen<strong>des</strong> verschränkte<br />
Verhältnis: Heiliger Geist wirkt nur in der Kirche als der<br />
Gemeinde der Heiligen; so muß jeder, der vom Geist ergriffen wird,<br />
schon in der Gemeinde stehen; andererseits steht niemand in der<br />
Gemeinde, der noch nicht vom Geist ergriffen wäre; woraus denn<br />
folgt, daß der Geist die in der in Christus gesetzten Gemeinde Erwählten<br />
in demselben Akt, in dem er sie bewegt, in die aktualisierte Gemeinde<br />
hineinführt. Eintritt in die Gemeinde begründet den Glauben,<br />
wie dieser jenen begründet« (101).<br />
Bonhoeffer merkt an: »Diesen Zusammenhang hat z. B.<br />
Schleiermacher nicht erkannt« (101, Anm. 18). Weiter zeigt<br />
er anhand von Schleiermachers ›Glaubenslehre‹ und den<br />
›Reden über Religion‹:<br />
19) In der Anmerkung zu diesem Satz schreibt Bonhoeffer, daß der<br />
Leser dazu die »treffenden Ausführungen bei Karl Barth, ›Auferstehung<br />
der Toten‹ 1924, 97 f.« vergleichen solle, ›Sanctorum Communio‹<br />
(DBW 1) 98, Anm. 15.<br />
31
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A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
»Der Grund für die religiöse Gemeinschaftsbildung liegt in dem<br />
Mitteilungsbedürfnis der Einzelnen. Die Kirche ist Befriedigung<br />
eines Bedürfnisses, ist individualistisch konstruiert. In dieselbe<br />
Richtung weist das berühmte Wort der Glaubenslehre, daß der Protestantismus<br />
das Verhältnis der Einzelnen abhängig mache von seinem<br />
Verhältnis zu Christus (Glaubenslehre 24)« (102).<br />
Bonhoeffer versteht F. Schleiermachers Ekklesiologie individualistisch<br />
und kritisiert offenbar nicht unmittelbar seinen<br />
Religionsbegriff. Die Kritik an F. Schleiermacher richtet<br />
sich vielmehr gegen seinen Kirchenbegriff und gegen<br />
den im Idealismus fehlenden Personen- und Menschheitsbegriff.<br />
Letzterer sei bei F. Schleiermacher biologisch<br />
verkürzt. »Sachlich ist die biologische Fassung <strong>des</strong> Menschheitsbegriffs<br />
wie die anthropologische <strong>des</strong> Pneumagedankens<br />
von uns zurückgewiesen«20.<br />
In dem Abschnitt über die »Geistgemeinschaft« (106 ff.)<br />
können wir wieder Spuren K. Barths aufnehmen. In der<br />
These: »Die christliche Liebe ist keine menschliche Möglichkeit«<br />
(108) begegnet K. Barths Terminologie. Nach dem<br />
›Römerbrief‹ ist »die Liebe nur eine ›relative‹ menschliche<br />
Möglichkeit«.21 Auf diese sprachliche Anlehnung folgt eine<br />
explizite Auseinandersetzung mit K. Barth zum Thema<br />
›Nächstenliebe‹.22 Nach Bonhoeffer ist der Nächste »an sich<br />
20) Sanctorum Communio (DBW 1) 111, Anm. 29; zum Fehlen eines<br />
konkreten Personenbegriffs vgl. op. cit. 130, Anm. 68.<br />
21) J. v. SOOSTEN, DBW 1, 265, Anm. 117; hier auch der Hinweis auf<br />
den Zusammenhang von ›Sanctorum Communio‹ und ›Römerbrief‹,<br />
435 ff.<br />
22) Bonhoeffer geht beim Thema ›Nächstenliebe‹ über R. SEEBERG<br />
hinaus, der in seiner Dogmatik (Bd. II, 524 ff.) in der Bestimmung<br />
<strong>des</strong> wechselseitigen Verhältnisses von Glaube und Liebe innehält.<br />
»Im Glauben werden die Christen geheiligt, in der Liebe heiligen<br />
32
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1. Von der Liberalen zur Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
unendlich wichtig« und nicht der »<strong>Eine</strong> im anderen« (110,<br />
Anm. 28)23. Er folgt lutherischer Tradition gegen das Extra<br />
Calvinisticum, in <strong>des</strong>sen Tradition er K. Barth sieht.24<br />
In seinen Ausführungen über die »Geisteinheit« (128 ff.)<br />
kann der Promovend Luther und Barth auch nebeneinander<br />
gelten lassen. Auf das Lutherzitat, nach dem in Christus<br />
»alle Eins« sind, »ein kuche«, schreibt Bonhoeffer unter<br />
Berufung auf den Wort-Gottes-Theologen: »Die Einheit<br />
beruht darauf, daß Christus ›der <strong>Eine</strong> ist jenseits je<strong>des</strong><br />
sie sich selbst vermöge der Impulse, die sie im Glauben empfangen«<br />
(528). <strong>Eine</strong> explizite Auseinandersetzung mit dem Thema<br />
›Nächstenliebe‹ findet sich auch nicht im ethischen Teil der Dogmatik<br />
(vgl. § 33 ff. im Bd. II, 229 ff.; vgl. ebenfalls den Hinweis auf<br />
die ›Ethik‹, 527).<br />
23) Gegen den ›Römerbrief‹, den er in Klammern zitiert, schreibt Bonhoeffer<br />
DBW 1, 110, Anm. 28 kritisch, »daß die Liebe wirklich den<br />
anderen liebt, nicht den <strong>Eine</strong>n im anderen – den es vielleicht gar<br />
nicht gibt (doppelte Prä<strong>des</strong>tination! Barth, 437) – daß gerade diese<br />
Liebe zum anderen als dem anderen ›Gott verherrlichen‹ soll (438).<br />
Woher nimmt Barth das Recht zu sagen, der andere sei »an sich<br />
unendlich gleichgültig« (437), wenn Gott befiehlt, gerade ihn zu<br />
lieben. Gott hat den ›Nächsten an sich‹ unendlich wichtig gemacht<br />
und ein anderes ›an sich <strong>des</strong> Nächsten‹ gibt es für uns nicht«. Im<br />
weiteren folgt Bonhoeffer dann gegen K. Barth der lutherischen<br />
Deutung von Nächstenliebe durch R. Bultmann, vgl. DBW 1, 111,<br />
Anm. 28.<br />
24) Zum Verhältnis Barth-Bonhoeffer im Lichte reformierter und<br />
lutherischer Tradition vgl. A. PANGRITZ, Karl Barth in der <strong>Theologie</strong><br />
<strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong> – eine notwendige Klarstellung (= Karl<br />
Barth), 1989, 31 ff. A. Pangritz sieht den Einfluß K. Barths auf Bonhoeffer<br />
bereits mit »den Seminararbeiten der Jahre 1925 und 1926«<br />
einsetzen (25) und bis in die Tegeler Zelle hinein wesentlich<br />
bestimmend. Das enge theologische Verhältnis von K. Barth zu<br />
Bonhoeffer werde auch durch ›Sanctorum Communio‹ und ›Akt<br />
33
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 34<br />
A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
anderen‹ (Barth)« (134). Im ›Römerbrief‹ heißt es: » [...] sie ist<br />
communio, [...] sie ist – der <strong>Eine</strong> jenseits je<strong>des</strong> Andern«25.<br />
Insgesamt wird auch der Promovend Bonhoeffer schwerlich<br />
als Barthianer zu bezeichnen sein.26 Am Beispiel der<br />
Religionskritik zeigt sich, wie sehr der dialektisch-theologische<br />
Einfluß noch neben dem der Liberalen <strong>Theologie</strong><br />
steht. Der junge Bonhoeffer läßt »sich einer bestimmten<br />
Schule nicht einfach zurechnen. K. Holl, R. Seeberg und K.<br />
Barth haben ihn beeinflußt, von allen dreien hat er Entscheiden<strong>des</strong><br />
übernommen, allen dreien gegenüber wahrte<br />
er Selbständigkeit <strong>des</strong> theologischen Fragens und Suchens«27.<br />
c) Vikariat<br />
In einem Gemeindevortrag zum Thema »Jesus Christus<br />
und vom Wesen <strong>des</strong> Christentums« sagt Bonhoeffer:<br />
»Ethik und Religion und Kirche liegen in der Richtung <strong>des</strong> Menschen<br />
zu Gott, Christus aber spricht allein, ganz allein von der Rich-<br />
und Sein‹ nicht getrübt (31 f.). Die reservierte Haltung <strong>Bonhoeffers</strong><br />
gegenüber K. Barth in ›Sanctorum Communio‹ interpretiert A.<br />
Pangritz vor dem Hintergrund der Berliner Lutherforschung: K.<br />
Holl (32). Bonhoeffer stellt sich als Lutheraner gegen das Extra<br />
Calvinisticum, eine Haltung, die ihre Zuspitzung dann mit ›Akt<br />
und Sein‹ erfährt: »Gott ist frei nicht vom Menschen, sondern für<br />
den Menschen« (DBW 2, 85). A. Pangritz kommentiert: »Ohne Zweifel:<br />
Hier protestiert ein Lutheraner gegen das reformierte ›non<br />
capax‹« (35).<br />
25) K. BARTH, Der Römerbrief, 428. Bonhoeffer hat offenbar aus dem<br />
Gedächtnis zitiert.<br />
26) Auch die Rezeption von K. BARTHs ›Dogmatik im Entwurf‹ (DBW<br />
1, 172 ff.) verändert dieses Urteil nicht.<br />
27) H. PFEIFER, in: DBW 9, 2.<br />
34
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 35<br />
1. Von der Liberalen zur Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
tung Gottes zum Menschen, nicht vom menschlichen Weg zu Gott,<br />
sondern von Gottes Weg zum Menschen«28.<br />
Dieser Gedanke wird am Ende <strong>des</strong> Vortrags wiederaufgenommen,<br />
wenn Bonhoeffer im Gegensatz zur »Religion«<br />
ausführt:<br />
»Nein, die christliche Idee ist der Weg Gottes zu den Menschen und<br />
als deren sichtbare Vergegenständlichung: das Kreuz. [...] Gott<br />
kommt zum Menschen, der nichts hat, als einen Raum für Gott, –<br />
und dieser Hohlraum, diese Leere im Menschen heißt in der christlichen<br />
Sprache: Glaube.«29<br />
Die Rede vom Hohlraum ist aus rezeptionsgeschichtlichen<br />
Gründen äußerst interessant. Zu Römer 2 schreibt nämlich<br />
K. Barth im ›Römerbrief‹:<br />
»Auch der Glaube, sofern er in irgendeinem Sinn Hohlraum sein<br />
will, ist Unglaube«.30<br />
Bonhoeffer folgt offenbar nicht Barth. Denn dieser bestreitet<br />
gerade die Möglichkeit eines ›Raumes für Gott im Menschen‹.<br />
Hier scheint Bonhoeffer noch der Lehre vom ›religiösen<br />
Apriori‹ zu folgen.<br />
In den Predigten aus der Vikariatszeit finden sich wieder<br />
theologische Anlehnungen an K. Barth. So predigt der<br />
Vikar über Röm 11,6 von der Bedeutung <strong>des</strong> einen, »nämlich,<br />
daß Gott Gott ist und daß Gnade Gnade ist«31. Die the-<br />
28) DBW 10, 316.<br />
29) Zitate op. cit. 319.<br />
30) K. BARTH, Der Römerbrief (1922), 32. Zur Wendung ›Religion als<br />
Unglaube‹ vgl. dann K. Barths Ausführungen in KD I/2, 324 ff.<br />
31) DBW 10, 457. Bonhoeffer mag zuvor Barths Römerbriefkommentar<br />
zu dieser Stelle gelesen haben, in dem das wiederholte »Gnade<br />
allein« auffällig ist (vgl. Römerbrief, 381). Die Herausgeber von<br />
35
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 36<br />
A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
ologischen Anlehnungen an K. Barth tragen in dieser Predigt<br />
auch einen religionskritischen Akzent:<br />
»Nicht Religion, sondern Offenbarung, Gnade, Liebe, nicht Weg zu<br />
Gott, sondern Weg Gottes zum Menschen, das ist die Summe <strong>des</strong><br />
Christentums« (458).<br />
Die Wendung ›Nicht Religion, sondern Offenbarung‹, die<br />
›Sanctorum Communio‹ entlehnt ist, wird am Ende der Predigt,<br />
gleichsam als Resümee, noch einmal wiederholt:<br />
»Nicht Religion, sondern Offenbarung und Gnade: das war das<br />
erlösende Wort und ihm hat sich die Welt erschlossen« (460).<br />
Doch in ähnlicher Weise, wie <strong>Bonhoeffers</strong> Dissertation nicht<br />
allein durch diese religionskritische Entgegensetzung von<br />
Offenbarung und Religion bestimmt ist, lesen wir auch in<br />
dieser Predigt differenziertere Aussagen über Religion. »Religion<br />
wie Sittlichkeit sind die schwerste Gefahr für die Erkenntnis<br />
der göttlichen Gnade; denn sie tragen den Keim in<br />
sich, selbst zu Gott den Weg finden zu wollen« (459). Hier ist<br />
von ›Schwere‹ und nicht von ›Unmöglichkeit‹ die Rede, von<br />
einem ›Keim‹ und nicht von einer ›fundamentalen Verfehlung‹.<br />
Deutliche Anlehnungen an K. Barth finden sich in<br />
der Predigt über 2. Kor. 12,9. Parallel zum ›Römerbrief‹ formuliert<br />
Bonhoeffer: »Religion ist das Unglück«.32 Bei K.<br />
Barth hieß es: Religion »ist ein Unglück«33.<br />
Bei Bonhoeffer begegnet weiter der Satz: »Allem was in<br />
der Welt geschieht, tritt gegenüber das Wort von der Gna-<br />
DBW 10 beobachten einen »starke(n) Anklang« (457, Anm. 7) an die<br />
frühe Aufsatzsammlung Barths ›Das Wort Gottes und die <strong>Theologie</strong>‹<br />
und verweisen dort auf die Seiten 8 ff. und 24–31.<br />
32) DBW 10, 509.<br />
33) K. BARTH, Der Römerbrief (1922), 241.<br />
36
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 37<br />
2. Unter dem Einfluss der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
de«34. Bei K. Barth hieß es: Religion ist das »Negative« der<br />
Gnade.35<br />
d) Ergebnis<br />
Im Rückblick auf die frühen Stadien seiner theologischen<br />
Entwicklung ist zu beobachten, daß ein liberales Verständnis<br />
von Religion, wie es sich in studentischen Arbeiten<br />
nachweisen läßt unter dem Einfluß der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
zunehmend zurücktritt und einem kritischen Verständnis<br />
zu weichen beginnt; auf der anderen Seite bleibt er<br />
dem liberalen Erbe verbunden: <strong>Eine</strong> kulturprotestantische<br />
Religionsauffassung ist in den erhaltenen Predigten und<br />
Vorträgen aus Barcelona noch belegt.<br />
2. Unter dem Einfluß der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
a) Habilitation<br />
»Für die neue Arbeit plant der vor einem halben Jahr promovierte<br />
Licentiat der <strong>Theologie</strong> keine Kompromisse: nicht<br />
historisch, sondern systematisch, nicht psychologisch, sondern<br />
theologisch soll sie werden. Seebergs psychologischer<br />
Anknüpfung der <strong>Theologie</strong> an ein religiöses Apriori hatte er<br />
schon früh widersprochen«36. Im ersten, darstellenden Teil<br />
von ›Akt und Sein‹ werden Kant und der Deutsche Idealismus<br />
schärfer unterschieden als in ›Sanctorum Communio‹.37<br />
Bonhoeffer schreibt über Hegel:<br />
34) DBW 10, 509.<br />
35) K. BARTH, Der Römerbrief (1922), 212.<br />
36) H.-R. REUTER, in: DBW 2, 7.<br />
37) Vgl. H.-R. REUTER, DBW 2, 27, Anm. 1.<br />
37
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 38<br />
A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
»Durch die lebendige Reflexion auf sich selbst versteht sich das Ich<br />
aus sich selbst. Es verhält sich zu sich und daher zu Gott in der Reflexion<br />
unmittelbar. Darum ist Religion = Offenbarung« (46).<br />
J. H. Burtness38 urteilt in diesem Zusammenhang, daß »die<br />
Verwerfung <strong>des</strong> philosophischen Idealismus« Bonhoeffer<br />
und K. Barth gemeinsam seien. Bei genauerer Betrachtung<br />
zeigt sich, daß diese Verwerfung nicht nur Bonhoeffer und<br />
K. Barth gemeinsam ist, sondern auch Bonhoeffer und R.<br />
Seeberg. Neben K. Barth kann der Habilitand auch seinen<br />
Doktorvater »mit weit mehr Recht als kantisch-transzendental,<br />
denn als idealistisch [...] bezeichnen« (49). Für R. Seeberg<br />
gilt nämlich:<br />
»Gott ist die überweltliche, bewußtseinstranszendente Realität, der<br />
Schöpfer und Herr« (51).<br />
Doch wie wird Gott dem Menschen offenbar? »Hier greift<br />
nun Seebergs Lehre vom religiösen Apriori ein; im Menschen<br />
ist die ›drängende Fähigkeit‹, ›reinen Geistes unmittelbar<br />
inne zu werden‹, gesetzt. Danach vermag der Mensch<br />
Gott in sich aufzunehmen« (51):<br />
»Das religiöse Apriori soll dem göttlichen Willen grundsätzlich<br />
offen sein, es soll im Menschen eine Form geben, in die der göttliche<br />
Inhalt auch der Offenbarung einströmen kann. M. a. W. Offenbarung<br />
muß Religion werden, und dies ist ihr Wesen. Offenbarung ist<br />
Religion. Das aber ist eine Wendung vom reinen Transzendentalismus<br />
zum Idealismus« (51).<br />
Bonhoeffer beobachtet offenbar eine Inkonsequenz im<br />
philosophischen Ansatz seines Lehrers, die er am Begriff <strong>des</strong><br />
›religiösen Apriori‹ festmachen kann. Die Rede vom religiö-<br />
38) J. H. BURTNESS, Als ob es Gott nicht gäbe, in: Internationales Bonhoeffer-Forum<br />
Bd. 6, München 1983, 167–183, Zitat 168.<br />
38
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 39<br />
2. Unter dem Einfluss der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
sen Apriori ist für Bonhoeffer an dieser Stelle verbunden<br />
mit der Gleichung von Offenbarung und Religion und darin<br />
mit der Identitätsphilosophie <strong>des</strong> Deutschen Idealismus.39<br />
Im weiteren folgt der Seeberg-Schüler der Luther-<br />
Interpretation seines Berliner Lehrers – auch wenn das<br />
nicht repräsentativ für das Ganze von ›Akt und Sein‹ ist:40<br />
»Der natürliche Mensch hat ein cor curvum in se. Auch die natürliche<br />
Religion bleibt Fleisch und strebt zum Fleisch. Soll die Offenbarung<br />
an den Menschen herankommen, so muß er völlig umgewandelt<br />
werden. Es muß in ihm der Glaube selbst erschaffen<br />
werden. Es gibt hier kein dem Vernehmen vorgeordnetes Vernehmenkönnen.<br />
Das sind Gedanken, die Seeberg selbst ausspricht und<br />
an Luther nachgewiesen hat. 41 Der Glaube steht als gottgewirkter<br />
im Gegensatz zu aller natürlichen Religiosität, für die das von Seeberg<br />
aufgewiesen religiöse Apriori gewiß bestehen bleibt« (52).<br />
<strong>Eine</strong> offenbarungstheologische Religionskritik, wie sie im<br />
Hauptteil unter dem Eindruck der Offenbarungslehre K.<br />
Barths radikalisiert wird, ist also (lutherisch!) von R. Seeberg<br />
her angelegt. Für Bonhoeffer scheint R. Seeberg nicht<br />
konsequent:<br />
39) Die Rede vom religiösen Apriori von E. Troeltsch ist Bonhoeffer<br />
offenbar durch E. Seeberg vermittelt worden. Vgl. zur neueren<br />
Diskussion F. W. VEAUTHIER, Das religiöse Apriori: Zur Ambivalenz<br />
von E. Troeltschs Analyse <strong>des</strong> Vernunftelementes in der<br />
Religion, in: KantSt 78, 1987, 42–63.<br />
40) H. R. REUTER kommentiert, DBW 2, 174: »Zwar hat er Grundpositionen<br />
seines systematischen Lehrers Reinhold Seeberg so in den<br />
Duktus seiner Gedankenführung eingebaut, daß dieser nicht das<br />
Gefühl haben mußte, gegenüber den Akteuren aus Münster, Marburg<br />
und Jena gänzlich ins Abseits geraten zu sein (49 ff.97 ff.), er<br />
radikalisiert Seebergs und Lütgerts halbe Idealismuskritik«.<br />
41) Bonhoeffer nimmt hier Bezug auf R. SEEBERG, Dogmatik II, 506 ff.<br />
(vgl. Akt und Sein, 52, Anm. 36).<br />
39
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 40<br />
A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
»Offenbarung und Glaube sind nach Luther ans konkrete, gepredigte<br />
Wort gebunden, und das Wort ist der Mittler der Berührung von<br />
Gott und Mensch und läßt eine andere ›Unmittelbarkeit‹ nicht zu.<br />
Dann aber läßt sich der Begriff <strong>des</strong> Apriori nur noch so fassen, daß<br />
zum formalen Verständnis dieses Wortes gewisse geistige Formen<br />
vorausgesetzt werden, wobei freilich der Sinn eines spezifisch religiösen<br />
Apriori entfällt. Alles, was sich auf die persönliche Aneignung<br />
der Christustatsache bezieht, ist nicht apriorisch, sondern kontingentes<br />
Tun Gottes am Menschen« (52).<br />
Gott und Mensch sind nicht über die Annahme eines formalen<br />
Apriori zusammenzubringen, sondern durch das<br />
Wort. Bonhoeffer beobachtet eine Spannung in R. Seebergs<br />
Luther-Interpretation und meint diese zugunsten der Christologie<br />
ausgleichen zu können, indem er die Rede vom<br />
religiösen Apriori ausklammert. Sie sei letztlich idealistisch<br />
und von Luther her unnötig. Neben R. Seeberg wird im<br />
Zusammenhang mit der Religionskritik K. Barth genannt.<br />
Bonhoeffer rezipiert neben dem ›Römerbrief‹ (49.75) im<br />
Hauptteil von ›Akt und Sein‹ wesentlich die ›Dogmatik im<br />
Entwurf‹42 (vgl. 77–81.87.91 f.94 f.130). K. Barth wird als Akt-<br />
Theologe vorgestellt und seine Offenbarungslehre breit<br />
dargestellt (77–81). Was Bonhoeffer an R. Seeberg fehlt, findet<br />
er bei Barth: Konsequenz im Transzendentalismus.<br />
»Gott offenbart sich nur in von ihm freigesetzten Akten«<br />
(77). Unter dem Eindruck K. Barths kommt Bonhoeffer unter<br />
der Überschrift ›Erkenntnis der Offenbarung‹ auch auf<br />
das Verhältnis von Offenbarungstheologie und Religion zu<br />
sprechen:<br />
42) KARL BARTH, Gesamtausgabe II, Akademische Werke 1927, Die<br />
Christliche Dogmatik im Entwurf 1. Band: Die Lehre vom Wort<br />
Gottes, Zürich 1982.<br />
40
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 41<br />
2. Unter dem Einfluss der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
»Hier tritt nun der tiefe Unterschied zwischen echtem Transzendentalismus<br />
und Idealismus zutage. War bei diesem (wie gezeigt)<br />
Offenbarung wesenhaft Religion als Konsequenz der Identifizierung<br />
von Ich und Sein, so tritt in Verfolg <strong>des</strong> transzendentalen<br />
Ansatzes bei<strong>des</strong> schroff auseinander. Gott ›ist‹ zwar nur im Glauben,<br />
aber Subjekt <strong>des</strong> Glaubens ist Er selbst. Darum ist Glaube etwas wesentlich<br />
anderes als Religion« (88).<br />
Religionskritik ist hier Kritik am Religionsverständnis <strong>des</strong><br />
Idealismus und erwächst aus der Anwendung <strong>des</strong> Phänomenalismus<br />
I. Kants, wie er am konsequentesten durch K. Barth<br />
in der <strong>Theologie</strong> vertreten wurde. Vor diesem Hintergrund<br />
ist auch die Aussage <strong>Bonhoeffers</strong> vom »theologische(n)<br />
Recht« zu verstehen, »mit dem K. Barth F. Schleiermacher die<br />
›große Verwechslung‹ von Religion und Gnade zum Vorwurf<br />
macht [...]« (153). Bonhoeffer bezieht sich wieder auf die ›Dogmatik<br />
im Entwurf‹,43 in <strong>des</strong>sen § 18 »Die Gnade und die Religion«<br />
(396 ff.) Karl Barth unter der Überschrift »Die große<br />
Verwechslung (Schleiermacher)« (402 f.) schreibt:<br />
»Der Schleiermachersche Mensch steht zum vornherein und immer<br />
vor Gott. [...] Wenn das Religion heißt, dann spielt das in einer anderen<br />
Welt als die Offenbarung. Das hat mit ihrer subjektiven Möglichkeit,<br />
mit der Gnade, mit der Ausgießung <strong>des</strong> heiligen Geistes<br />
nichts zu tun« (404). »Der Schleiermachersche homo religiosus hat –<br />
nichts ist vielleicht bezeichnender für ihn – kein Gegenüber« (405).<br />
K. Barth bleibt nicht bei einer Kritik von Religion stehen,<br />
wenn er unter »3. Gott und die Religion« (413 f.) fortfährt:<br />
»Kraft der Gnade Gottes, in der konkreten Wirklichkeit der Offenbarung,<br />
über die wir freilich keine Verfügung haben, die aber auf<br />
Grund göttlicher Verfügung auch für uns Wirklichkeit sein kann,<br />
43) Die folgenden Seitenzahlen beziehen sich auf die genannte Karl<br />
Barth Gesamtausgabe.<br />
41
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 42<br />
A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
gibt es eine Annahme der Religion, eine Qualifizierung der menschlichen<br />
Frömmigkeit als Glaube und Gehorsam, eine Anrechnung<br />
der vermeintlichen als wirkliche Ehrfurcht« (416).<br />
Im Lichte der Offenbarung kann nach K. Barth also Religion<br />
auch ›wahre Religion‹ werden, wie er in KD I/2 (356 ff.) ausführen<br />
wird. Bonhoeffer folgt auch in dieser Deutung der<br />
›Dogmatik im Entwurf‹, wenn er schreibt:<br />
»Es muß deutlich gesagt werden, daß in der Gemeinde Christi Glaube<br />
in Religion Gestalt annimmt und daher Religion Glaube heißt,<br />
daß ich, gesehen auf Christus, getrost sagen darf und muß: ich glaube,<br />
um im Blick auf mich freilich hinzufügen zu müssen: hilf meinem<br />
Unglauben. Alles Beten, alles Suchen Gottes in seinem Wort,<br />
alles Halten an der Verheißung, alles Dringen in Gottes Gnade, alles<br />
Hoffen im Blick auf das Kreuz ist für die Reflexion ›Religion‹, ›Gläubigkeit‹,<br />
ist aber in der Gemeinde Christi, obschon immer Menschenwerk,<br />
gottgegebener Glaube, von Gott gewollt, in dem sich<br />
Gott wirklich finden läßt« (Akt und Sein [DBW 2] 153 f.).<br />
Es läßt sich eine parallele Bewegung von Barth und Bonhoeffer<br />
hinsichtlich einer Religionskritik und -würdigung<br />
beobachten, die rezeptiv auf den Wort-Gottes-Theologen<br />
zurückgeht (vgl. DBW 2, 153, Anm. 25!). Bonhoeffer folgt in<br />
›Akt und Sein‹ im Unterschied zu ›Sanctorum Communio‹<br />
nun ausschließlich dem Religionsverständnis K. Barths. Dessen<br />
Offenbarungslehre ermöglicht ihm, R. Seebergs Rede<br />
vom religiösen Apriori in Frage zu stellen und damit den<br />
Phänomenalismus Kants für die <strong>Theologie</strong> wiederzuentdecken.<br />
Die offenbarungstheologische Akzentverschiebung,<br />
daß Gott frei sei nicht vom Menschen, sondern für den Menschen<br />
ist zugunsten eines Ausgleiches Barth – Luther entstanden<br />
und vor dem Hintergrund der ekklesiologischen<br />
Thematik von ›Akt und Sein‹ zu verstehen; sie trägt nicht<br />
zum Verständnis der Religionsproblematik bei. Im Gegen-<br />
42
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 43<br />
2. Unter dem Einfluss der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
teil: Hier kann sich Bonhoeffer – wie gesehen – auf Luther<br />
(51 f.) und Barth (88.153 f.) berufen. Der Habilitationsvortrag<br />
zum Thema ›Die Frage nach dem Menschen in der gegenwärtigen<br />
Philosophie und <strong>Theologie</strong>‹44 erweitert die Kritik<br />
am Deutschen Idealismus aus ›Akt und Sein‹ um die Phänomenologie<br />
(360 f.: M. Scheler) und die Existenzphilosophie<br />
(363 f.: M. Heidegger). Bonhoeffer faßt zusammen:<br />
»Die Frage nach dem Menschen ist in der Philosophie letztlich immer<br />
so gestellt, daß die Antwort vom Menschen selbst gefunden<br />
wird, weil sie in der Frage schon beschlossen ist« (368).<br />
Was sagt die <strong>Theologie</strong> dazu?<br />
»Dies Ergebnis der philosophischen Bemühungen nimmt die <strong>Theologie</strong><br />
hin, aber sie deutet es in ihrer Weise als das Denken <strong>des</strong> cor curvum<br />
in se« (369).<br />
M. Luther aufnehmend, wendet sich Bonhoeffer der Luther-<br />
Interpretation seines Lehrers K. Holl zu, für den der transzendente<br />
Gott sich dem Menschen an einem Ort bezeugt:<br />
»Der Ort, an dem Gott sich bezeugt, muß der Ort sein, von dem aus<br />
sich der Mensch versteht und zugleich der, von dem aus die Einheit<br />
<strong>des</strong> Menschen begründet ist. Dieser Ort aber ist offenbar das Gewissen.<br />
[...] Holl hat Luthers Religion als Gewissensreligion bestimmt«<br />
(370).<br />
War K. Holl neben R. Seeberg in der Luther-Interpretation<br />
für den Studenten und Promovenden Bonhoeffer wegweisend,<br />
so trennt er sich seit ›Akt und Sein‹ von diesem Luther-<br />
Verständnis. Standen die Entwürfe K. Holls, R. Seebergs und<br />
K. Barths in ›Sanctorum Communio‹ noch unverbunden<br />
nebeneinander, so schließt sich Bonhoeffer mit ›Akt und<br />
44) DBW 10, 357–378.<br />
43
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 44<br />
A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
Sein‹ der Dialektischen <strong>Theologie</strong> und – auf philosophischer<br />
Ebene – dem Neukantianismus an. Galt für ›Akt und Sein‹<br />
hinsichtlich der Religionskritik K. Barth contra R. Seeberg,<br />
so hier K. Barth contra K. Holl.<br />
Letzterer erfuhr »den lebhaftesten Widerspruch durch<br />
die sogenannte Dialektische <strong>Theologie</strong>. Die Frage, in der der<br />
Mensch auf sich reflektiert, bleibt immer Frage, der Mensch<br />
kann aus sich keine Antwort finden, denn es gibt im Menschen<br />
auch nicht einen Punkt, an dem Gott in ihm Raum<br />
gewinnen könnte; [...] sein Denken [...], seine Religiosität<br />
bleiben hoffnungslose Versuche, das Ich im Absoluten zu<br />
verankern« (370 f.). An der Stelle <strong>des</strong> ›religiösen Gewissens‹<br />
steht für K. Barth das dialektische Verständnis von Offenbarung:<br />
»[...] Gott bleibt der ewig jenseitige, ewig ferne auch und gerade dort,<br />
wo er in der Offenbarung dem Menschen nahe kommt. Barth sagt:<br />
›Der Mensch, dem sich Gott offenbart, ist der Mensch, dem Gott<br />
nicht offenbar werden kann‹ (Dogmatik I, 287)« (371).<br />
Die dem Habilitationsvortrag zugrundeliegende Entgegensetzung<br />
von Philosophie und <strong>Theologie</strong> nimmt den philosophischen<br />
Entwurf aus, der sich mit der Dialektischen<br />
<strong>Theologie</strong> verbindet, nämlich Kants Phänomenalismus<br />
(vgl. etwa 371).<br />
b) Erster Amerikaaufenthalt<br />
Als »Barthianer« wird Bonhoeffer während seines Aufenthaltes<br />
in den USA zu bezeichnen sein. In Arbeiten am Union<br />
Theological Seminary in New York wird das Denken der<br />
Dialektischen <strong>Theologie</strong> geradezu enthusiastisch dargestellt.<br />
Der ›Römerbrief‹ K. Barths wird rezipiert, wenn Bonhoeffer<br />
von der »große(n) Antithese vom Wort Gottes und<br />
44
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 45<br />
2. Unter dem Einfluss der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
dem Menschen« spricht, »von Gnade und Religion«45. Weiter<br />
erhalten wir Hinweise, wie K. Barth die Philosophie in<br />
sein theologisches Denken aufgenommen hat. Bonhoeffer<br />
stellt zunächst lapidar fest, daß K. Barth kein Philosoph,<br />
sondern ein christlicher Theologe sei (vgl. 683). Er zeigt<br />
damit das Offenbarungszentrierte der Wort-Gottes-<strong>Theologie</strong>,<br />
das im alleinigen ›Kommen Gottes‹ liegt:<br />
»Es ist Gottes eigenes Werk, den Menschen in diese Geheimnisse seiner<br />
Offenbarung hineinsehen zu lassen [...]. Das gerade ist die Logik<br />
der Bibel, Gottes Kommen, das alle menschlichen Versuche, zu ihm<br />
zu gelangen, zunichte macht, das alle Moralität und Religion verdammt,<br />
mittels derer der Mensch versucht, Gottes Offenbarung [...]<br />
überflüssig zu machen« (686).<br />
Religion wird von Gottes Offenbarung her kritisiert. K.<br />
Barth habe die Kategorie <strong>des</strong> Wortes Gottes eingeführt, die<br />
im Besonderen gegen religiöses Denken steht:<br />
»Die Kategorie, die Barth in die <strong>Theologie</strong> in ihrem strengen Sinn<br />
einzuführen versucht und die gegenüber [...] religiösem Denken so<br />
widerspenstig ist, ist die Kategorie <strong>des</strong> Wortes Gottes, der Offenbarung<br />
direkt von oben, von außerhalb <strong>des</strong> Menschen, gemäß der<br />
Rechtfertigung <strong>des</strong> Sünders durch Gnade« (687).<br />
Bonhoeffer folgt an dieser Stelle explizit der theologischen<br />
Religionskritik K. Barths, indem er sie in dem Zusammenhang<br />
der iustificatio impii stellt.<br />
»In jeder theologischen Aussage können wir nicht anders, als bestimmte<br />
allgemeine Formen <strong>des</strong> Denkens zu benutzen. <strong>Theologie</strong><br />
hat diese Formen mit der Philosophie gemein« (688).<br />
Bonhoeffer formuliert mit dieser Feststellung eine Grundeinsicht<br />
zum Verhältnis von <strong>Theologie</strong> und Philosophie.46<br />
45) DBW 10, 688; folgende Zitate op. cit.<br />
45
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 46<br />
A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
Er stellt über K. Barth fest, daß dieser im ›Römerbrief‹ und<br />
in späteren Schriften die philosophische Terminologie<br />
Kants und der Neukantianer übernommen habe (vgl. 689.<br />
693)47. Kant hat entgegen dem Deutschen Idealismus (690 f.:<br />
hier Anspielung auf G. Hegel und J. Fichte48) den Vorzug<br />
der Selbsteinschränkung philosophischen Denkens:<br />
»Es gibt nur eine Philosophie, die diese Tatsache erkennt und feststellt,<br />
daß sie die definitive und wesentliche Grenze <strong>des</strong> Menschen<br />
ist; das ist nach Barth [...] die Essenz der Kantischen Philosophie«<br />
(690 f.).<br />
In der Darstellung I. Kants bedient sich Bonhoeffer offenbar<br />
auch der Begriffsfiguren aus seiner Habilitationsschrift<br />
(wie actus directus-reflexus, vgl. 694). Die Umgestaltung <strong>des</strong><br />
Luther-Wortes aus ›Akt und Sein‹ (»reflecte fortiter, sed fortius<br />
fide et gaude in Christo« [DBW 2, 134 Anm. 69]) legt er K.<br />
Barth in den Mund:<br />
46) Vgl. hierzu auch meinen Beitrag ›Bonhoeffer on Theology and<br />
Philosophy‹, in: Anvil 12/1, 1995, 45–56.<br />
47) An dieser Stelle kann nicht vertieft werden, inwieweit K. Barth im<br />
einzelnen das im Neukantianismus zum Grenzbegriff werdende<br />
›Ding an sich‹ offenbarungstheologisch interpretiert und den Phänomenalismus<br />
zum theologischen Ansatz modifiziert. Vgl. zum<br />
philosophischen Barth-Verständnis etwa U. BROWARZIK, Glauben<br />
und Denken, München 1970, 95 ff., bes. 232 f.<br />
48) Beide versuchen, die durch Kant unternommene Selbsteinschränkung<br />
in der Philosophie zurückzunehmen: Fichte durch das ›absolute<br />
Ich‹ und Hegel durch die Geschichtsdialektik: »In dem Augenblick,<br />
da die Idealisten das ›Ding an sich‹ beiseite schoben, war<br />
Kants kritische Philosophie zerstört« (DBW 2, 691).<br />
46
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 47<br />
2. Unter dem Einfluss der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
»So wie Luther pecca fortiter, sed crede fortius sagte, könnte Barth<br />
reflecte fortiter, sed crede fortius sagen« (694).<br />
Bonhoeffer teilt die dialektisch-theologische Religionskritik<br />
und stellt sie in den größeren philosophischen Zusammenhang<br />
der Barthschen Kant-Rezeption.<br />
Zwischenergebnis : <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer vollzieht in ›Akt<br />
und Sein‹ (1929), in seinem Habilitationsvortrag (1930) und<br />
in New York (1931) in zunehmenden Maße den Zusammenhang<br />
zwischen dem Offenbarungsverständnis Barths und<br />
dem Phänomenalismus Kants mit: Wenn das Ding an sich<br />
für I. Kant zumin<strong>des</strong>t unerkennbar, für die Neukantianer<br />
zum bloßem Grenzbegriff wird, stimmt K. Barth dem zu; er<br />
argumentiert, daß genauso auch Gott an sich nicht erkannt<br />
werden könne, es sei denn, er mache sich zuerst durch Offenbarung<br />
bekannt. Diese offenbarungstheologische Rezeption<br />
<strong>des</strong> Neukantianismus erreicht bei Bonhoeffer im Jahr<br />
1931 einen Höhepunkt. Mit dem Höhepunkt ist zugleich<br />
ein Wendepunkt in der <strong>Bonhoeffers</strong>chen Philosophieadaption<br />
markiert. Bonhoeffer entdeckt in New York die <strong>Lebens</strong>philosophie<br />
<strong>des</strong> amerikanischen Pragmatismus.<br />
c) Begegnung mit Karl Barth<br />
Mit der Rückkehr aus den USA im Jahr 1931 beginnt biographisch<br />
»der zweite große Abschnitt seines <strong>Lebens</strong>laufes«49.<br />
In diesen Abschnitt fällt nach der bisher literarisch<br />
geführten Auseinandersetzung mit K. Barth nun die erste<br />
persönliche Begegnung mit dem Dialektiker, die ihrerseits<br />
einen Briefwechsel (1932 f.) nach sich zieht. E. Bethge kommentiert<br />
den Besuch bei K. Barth:<br />
49) E. Bethge, DB, 213.<br />
47
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 48<br />
A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
»Der Bonner Besuch, veranlaßt durch Erwin Sutz, entsprach noch<br />
einem persönlichen Nachholbedarf aus dem Studium« (215).<br />
Entsprechend möchte <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer »noch soviel wie<br />
möglich vom Bonner Semesterende mitbekommen« (216).<br />
Über das erste mehrstündige Gespräch mit K. Barth im Juli<br />
1931 berichtet er in einem Brief an seinen Studienfreund E.<br />
Sutz:<br />
»Nun freilich ist alles sehr oder völlig anders, wenn es an Karl Barth<br />
selbst geht. Man atmet ordentlich auf, man fürchtet nicht mehr, in<br />
der dünnen Luft den Erstickungstod zu sterben. Ich habe, glaube<br />
ich, selten eine unterlassene Sache in meiner theologischen Vergangenheit<br />
so bereut, wie daß ich nicht früher hingegangen bin« 50 .<br />
Wie ernst es Bonhoeffer um Barths Person und <strong>Theologie</strong><br />
gewesen ist, zeigt der Versuch, über Familienkontakte<br />
Barth für die Berufung auf den Berliner Lehrstuhl ins Gespräch<br />
zu bringen.51<br />
Bevor Bonhoeffer 1933 nach England reist, kommt es im<br />
April und September 1932 noch zu zwei weiteren Begegnungen<br />
mit Barth, zunächst in Berlin und dann in der<br />
Schweiz. »Barths und <strong>Bonhoeffers</strong> Beziehungen waren zu<br />
dieser Zeit enger geworden, als das später je wieder möglich<br />
wurde«, so E. Bethge (DB, 219). Doch treten die Begegnun-<br />
50) Brief vom 24. 7. 1931, in: DBW 11 (18–22) 19; folgende Zitate ebenfalls<br />
aus DBW 11.<br />
51) Vgl. den Brief K. BARTHs an Bonhoeffer vom 4. 2.1933, in: GS II (40–<br />
41), 41: »In der Aera <strong>des</strong> Reichskanzlers Hitler wird sich ja gewiß<br />
Wobbermin auf dem Lehrstuhl Schleiermachers stilechter ausnehmen,<br />
als ich dies getan hätte. Ich höre, daß Sie sich meinetwegen<br />
exponiert haben«. E. BETHGE, DB, 218, kommentiert den Ausgang<br />
knapp: »Darüber aber kam das Jahr 1933, und Wobbermin erhielt<br />
das Ordinariat.«<br />
48
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 49<br />
2. Unter dem Einfluss der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
gen von 1932 schon in den Schatten <strong>des</strong> sich abzeichnenden<br />
Kirchenkampfes. Das belegt auch der Briefwechsel zwischen<br />
den beiden Theologen. Während Bonhoeffer im Weihnachtsbrief<br />
1932 auf die unbelasteten Begegnungen mit<br />
K. Barth zurückblickt,52 steht der Briefwechsel von 1933<br />
ganz unter dem Eindruck <strong>des</strong> Kirchenkampfes. Im September<br />
schickt er den Entwurf <strong>des</strong> Betheler Bekenntnisses mit<br />
einem Brief 53 an K. Barth und erklärt im Oktober, daß er<br />
sich dafür entschieden habe, in England »einfach Pfarrarbeit<br />
zu tun«. Als Grund gibt er an, »daß für das Betheler<br />
Bekenntnis«, an dem er »wirklich leidenschaftlich mitgearbeitet<br />
hatte, so fast gar kein Verständnis aufgebracht wurde«<br />
54 . K. Barth antwortet aus der Schweiz, Bonhoeffer möge<br />
aus London unbedingt auf seinen »Berliner Posten« zurückkehren.<br />
»Was heißt: ›Abseitsgehen‹, ›Stille <strong>des</strong> Pfarramtes‹<br />
usw. in einem Augenblick, wo Sie in Deutschland einfach<br />
gefordert sind« 55 .<br />
Nach der literarischen Bekanntschaft <strong>des</strong> Studenten<br />
Bonhoeffer mit K. Barth, die seit 1925 anhält und einen der<br />
ersten rezeptiven Höhepunkte etwa im Vortrag am Union<br />
Theological Seminary 1930/31 erreicht, bringen die persönlichen<br />
Begegnungen mit dem Dialektiker (1931/32) einen<br />
52) Brief an K. BARTH vom 24.12.1932: »Zum Ausgang <strong>des</strong> Jahres<br />
möchte ich Ihnen noch einmal danken für alles, was ich im Laufe<br />
dieses Jahres von Ihnen empfangen habe. Der Abend hier in Berlin<br />
und dann die unvergleichlich schönen Stunden mit Ihnen auf dem<br />
Bergli gehören zu den Augenblicken in diesem Jahr, die bleiben«<br />
(GS II, 39).<br />
53) Brief vom 9. 9.1933, in: DBW 13 (11–15), 13 f.<br />
54) Brief an K. BARTH vom 24.10.1933, in: GS II (130–134), 132.<br />
55) Antwortbrief K. BARTHs vom 20.11.1933, in: DBW 13 (31–34), 31.<br />
49
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 50<br />
A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
weiteren Wendepunkt hin zur vertrauensvollen Beraterfunktion<br />
in biographischen Entscheidungen.<br />
d) Berliner Universität<br />
Als Privatdozent an der Berliner Universität hält Bonhoeffer<br />
im Wintersemester die Vorlesung zur Systematischen <strong>Theologie</strong><br />
im 20. Jahrhundert (im Folgenden: ST20Jh)56. Die<br />
vierzehnteilige Vorlesung gipfelt in der Darstellung der<br />
Dialektischen <strong>Theologie</strong> und K. Barths (vgl. § 10 Die Wende,<br />
192 ff. und § 11 Gott, 197 f.). Von der Berliner <strong>Theologie</strong><br />
scheint der Privatdozent sich zu dieser Zeit endgültig verabschiedet<br />
zu haben (vgl. über A. v. Harnack § 5, 164 ff., über<br />
R. Seeberg und K. Holl im § 13, 207 f.). Doch handelt keineswegs<br />
die ganze Vorlesung von K. Barth. Er tritt vielmehr in<br />
den Hintergrund zugunsten eines Versuchs der historischen<br />
Darstellung der systematischen <strong>Theologie</strong>. Entsprechend<br />
ist auch die Religionsthematik, die die ganze Vorlesung<br />
im Vordergrund steht, keineswegs nur an Barthscher<br />
Religionskritik orientiert. Schon zu Beginn <strong>des</strong> Kollegs tritt<br />
die Religionsproblematik in das Umfeld historischer Erwägungen.<br />
Bonhoeffer möchte zunächst, in § 2, »Kirche und<br />
<strong>Theologie</strong> der Jahrhundertwende in den allgemeinen geistesgeschichtlichen<br />
Zusammenhängen« (143 f.) darstellen<br />
und schreibt über Religion:<br />
»Die religiös-sittliche Persönlichkeit [war] das Zentrum der Predigt.<br />
Christentum wird aufgefaßt als Religion« (145). 57<br />
56) Als Kompilation von Hörernachschriften, herausgegeben von O.<br />
DUDZUS, in: GS V, 181–227. In der Nachschrift von Joachim Kanitz,<br />
kritisch herausgegeben von E. AMELUNG, in: DBW 11,139–213. Ich<br />
folge im wesentlichen der Neuausgabe DBW 11.<br />
50
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 51<br />
2. Unter dem Einfluss der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
Für die wilhelminische Zeit galt die Gleichung Christentum<br />
ist gleich Religion; daß dem nicht schon immer so war, zeigt<br />
<strong>Bonhoeffers</strong> Formulierung vom Christentum, das mit Religion<br />
identifiziert wurde. Wenn die Gleichung Religion ist<br />
gleich Christentum geschichtlich an das ausgehende 19. Jh.<br />
gebunden ist, wie ist Religion dann vor dieser Zeit zu bestimmen?<br />
Bonhoeffer beobachtet, wie in der Neuzeit der<br />
»Individualismus [...] den Protestantismus der Reformation<br />
zerstört« hat:<br />
»In der nachkopernikanischen Welt tritt statt ›Glaube‹ das Wort religio<br />
auf (von den englischen Deisten). Es bed[eutet] die letzte, feinste<br />
der Möglichkeiten <strong>des</strong> Menschen. Der Mensch [wird] als Gott verwandt<br />
entdeckt. Die Reformation wird als die Entdeckung dieses<br />
Menschen betrachtet« (145).<br />
Religion tritt also in die Geschichte ein als Glaubensersatz.<br />
Wo reformatorisch ›Glaube‹ stand, steht nachreformatorisch<br />
›Religion‹. Wir sehen: Glaube und Religion bilden sich<br />
bereits in dieser Vorlesung als historische Gegensätze heraus!<br />
<strong>Theologie</strong> und Historie scheinen am Religionsverständnis<br />
<strong>Bonhoeffers</strong> zumin<strong>des</strong>t nicht dezidiert trennbar.<br />
Vom Verständnis der Religion als ›Glaubensersatz‹ bis hin<br />
zur ›Identifizierung‹ von Religion und Christentum hat die<br />
Religionsproblematik neuzeitlich eine Geschichte durchlebt,<br />
die Bonhoeffer an einzelnen Stationen aufzeigt. »Schon<br />
Hume hatte die Religion auf menschliche Affekte zurückgeführt«<br />
(148). Feuerbach habe diese Konzeption zu<br />
Ende geführt. »Also zwei Fragen Feuerbachs an die Religion:<br />
57) In der Dudzus-Kompilation heißt es an dieser Stelle: Das »Christentum<br />
wurde mit Religion identifiziert« (GS V, 185, Hervorh.<br />
R. W.).<br />
51
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 52<br />
A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
1.) die nach der Wahrheit ihrer Sätze (Illusion58); 2.) nach der<br />
Übereinstimmung mit dem wirklichen Leben« (148 f.).<br />
Verstehen wir den Begriff ›Übereinstimmung‹ im Sinne<br />
von ›Redlichkeit‹, so ist ein entscheiden<strong>des</strong> Stichwort gegeben,<br />
das Bonhoeffer in Tegel beschäftigen wird. In der Tat<br />
wirft er dort der Religion die fehlende Übereinstimmung<br />
mit dem Leben vor. Der Religion fehle der Ganzheitscharakter<br />
und die Redlichkeit. Es wird sich herausstellen, daß<br />
Bonhoeffer diese zweite Frage in Tegel selbst beantwortet.59<br />
Er begegnet der Frage, weshalb die <strong>Theologie</strong> <strong>des</strong> 19. Jh. –<br />
gemeint sind Hegel und Schleiermacher – die durch L.<br />
Feuerbach aufgeworfenen Fragen nicht beantwortet hat,<br />
mit dem Hinweis:<br />
»Die offizielle <strong>Theologie</strong> war zu stark [...] verknüpft mit dem Problem<br />
der Religion« (149).<br />
Im Anschluß an L. Feuerbach geht Bonhoeffer auf die Religionsauffassungen<br />
von J. Kaftan (149 f.), E. Troeltsch (150 ff.),<br />
der Neukantianer (153 f.) und W. James (157) ein. Auf E.<br />
Troeltsch und W. James kommt er im Fortgang seiner Vorlesung<br />
wieder zurück. Sie scheinen eine besondere Bedeu-<br />
58) Es geht um die Frage, »ob nicht alles auf einer Illusion beruhe«<br />
(Dudzus-Kompilation, GS V 187).<br />
59) Auf den Zusammenhang der Feuerbach-Fragen von 1931/32 und<br />
der Tegeler Briefe aus dem Frühsommer 1944 hat schon W. J. PECK,<br />
A Proposal Concerning Bonhoeffer’s Concept of the Person, in:<br />
AThR 50, 1968, 311–329, aufmerksam gemacht. Während <strong>Bonhoeffers</strong><br />
frühe Schriften (von ›Sanctorum Communio‹ bis ›Nachfolge‹)<br />
sich wesentlich mit der ersten Feuerbach-Frage auseinandersetzen,<br />
geben die ›Ethik‹ sowie ›Widerstand und Ergebung‹ Antwort<br />
auf die zweite: »The idea about religionless Christianity« ist nach<br />
Peck »Bonhoeffer’s answer to Feuerbach’s second question« (328).<br />
52
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 53<br />
2. Unter dem Einfluss der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
tung für sein Religionsverständnis zu haben. Über E.<br />
Troeltsch sagt Bonhoeffer, er sei beiden verpflichtet, I. Kant<br />
und F. Schleiermacher (vgl. 151).<br />
»Religion muß in erkenntnistheoretischer Betrachtung als notwendiges<br />
Stück <strong>des</strong> Vernunftzusammenhanges bewiesen werden. Ein<br />
religiöses Apriori soll aufgefunden werden, dann [ist] die Gültigkeit<br />
der Religion erwiesen« (152).<br />
Kritisch sagt Bonhoeffer dann über E. Troeltsch :<br />
»Religion [ist] auch hier aus der Welt zu verstehen. Bei Troeltsch gibt<br />
es keine Möglichkeit mehr der Trennung von <strong>Theologie</strong> und Philosophie.<br />
<strong>Theologie</strong> [ist ein] Spezialfall von Religionswissenschaft, diese<br />
[ein] Spezialfall von Philosophie« (152 f.).<br />
An diese Einsicht scheint er sich 1944 zu erinnern, wenn es<br />
in einem Brief aus der Tegeler Zelle heißt: »Es war die<br />
Schwäche der liberalen <strong>Theologie</strong>, daß sie der Welt das<br />
Recht einräumte, Christus seinen Platz in ihr zuzuweisen;<br />
sie akzeptierte im Streit von Kirche und Welt den von der<br />
Welt diktierten – relativ milden – Frieden. Es war ihre Stärke,<br />
daß sie nicht versuchte, die Geschichte zurückzudrehen<br />
und die Auseinandersetzung wirklich aufnahm (Troeltsch!),<br />
wenn diese auch mit einer Niederlage endete«60.<br />
In der kurzen Darstellung von William James kann<br />
Bonhoeffer auf seine umfangreichen Studien in Amerika<br />
zurückgreifen. So nennt er als Werk von W. James etwa ›The<br />
varieties of religious experience‹, über das er am Union<br />
Theological Seminary ein Kurzreferat gehalten hat.61 Abgekürzt<br />
sagt er in seiner Vorlesung:<br />
60) Brief vom 8. 6.1944, in: WEN 358. (Dies ist die einzige Stelle, an der<br />
Troeltsch in den Briefen aus Tegel erwähnt wird.)<br />
61) Vgl. DBW 10, 408–410 (dt. 666 ff.); zum Umfang der James-Studien<br />
vgl. DBW 10, 269.<br />
53
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 54<br />
A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
»Der Pragmatismus denkt je<strong>des</strong> Problem vom lebendigen Menschen<br />
aus. [...] Das Leben [ist] Kriterium für die Wahrheit, nur was sich auswirkt,<br />
ist wahr. Religion [ist] zunächst psychologisches Phänomen«<br />
(157).62<br />
Die Kritik an James, die Bonhoeffer im Referat erkenntnistheoretisch<br />
geäußert hat, artikuliert er hier religionskritisch:<br />
»Religion [ist] in die Notwendigkeit <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong> eingeordnet;<br />
ob transzendental oder pragmatisch, es bleibt<br />
Anthropologie (Feuerbach!)« (158).<br />
Wie sind nun Troeltsch und James aufeinander bezogen?<br />
Von William James habe Ernst Troeltsch gelernt, das<br />
Gefühl für die Präsenz <strong>des</strong> Übersinnlichen als Charakteristikum<br />
aller Religion anzusehen: »[...] das Charakteristikum<br />
aller Religion [ist] ihr psychologisches Moment, mit<br />
dem man anfangen muß, um zum Transzendentalen vorzustoßen.<br />
Psychologie [ist das] Eingangstor zur Erkenntnistheorie«<br />
(160). In Erkenntnistheorie und Religionsverständnis<br />
gehen also E. Troeltsch und W. James zusammen.<br />
Ihre erkenntnistheoretische Möglichkeit ist die Psycholo-<br />
62) Die Begriffe ›Leben‹ und ›Psychologie‹, die unter Bezugnahme auf<br />
W. Dilthey in den Tegeler Briefen so bedeutsam werden, treten hier<br />
noch in ein negatives Licht; vielleicht liegt das in dem Gefälle der<br />
Vorlesung begründet: Durch K. Barth findet die Feuerbach-Frage<br />
nach der Auflösung der <strong>Theologie</strong> in Anthropologie erst ihre Antwort.<br />
Gleichwohl wird Bonhoeffer der Philosophie James’ etwas<br />
abgewonnen haben, sonst hätte er sicher nicht fast das ganze Werk<br />
<strong>des</strong> amerikanischen Pragmatikers studiert (vgl. DBW 10,269). An<br />
dieser Stelle lässt sich zunächst nur vermuten, daß die James-Studien<br />
den philosophischen Einfluß <strong>des</strong> (durch Barth vermittelten)<br />
Neukantianismus relativiert haben und Bonhoeffer öffneten gegenüber<br />
der ›<strong>Lebens</strong>philosophie‹, die dann in der Tegeler <strong>Theologie</strong><br />
wichtig wird.<br />
54
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 55<br />
2. Unter dem Einfluss der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
gie. An dieser Stelle hätte Bonhoeffer einen dritten Namen<br />
einführen können, der in dieser Vorlesung an anderen Stellen<br />
auch erwähnt wird, den von W. Dilthey (146.177.192).<br />
Die Tegeler <strong>Theologie</strong> kündigt sich an, wo es über »Wilhelm<br />
Diltheys hermeneutische Theorie« (177) heißt: »Die Frage<br />
ist, ob diese Geschichtsphilosophie auf die <strong>Theologie</strong> anzuwenden<br />
ist« (177) – eine Frage, die in Widerstand und Ergebung<br />
beantwortet werden soll. Wie eine Vorwegnahme<br />
mancher Geschichtsreflexionen der Tegeler <strong>Theologie</strong> muten<br />
<strong>Bonhoeffers</strong> bruchstückhaft überlieferten Erwägungen<br />
im § 9 seiner Vorlesung an:63<br />
»(…) Reifezeit <strong>des</strong> Säkularisierungsprozesses der Kultur (mittelalterliches<br />
Städtewesen, Renaissance, Aufklärung, Humanität). [...] Je<strong>des</strong><br />
<strong>Lebens</strong>gebiet sucht Anschluß [an diesen Prozeß] innerhalb der<br />
säkularen (sich autonom verstehenden) 64 Sphäre. Gesetze <strong>des</strong> Handelns<br />
[ergeben sich] aus [den] der Sache immanenten Gesetzen:<br />
Eigengesetzlichkeit. Sachliches Handeln bedeutet dann ethisch:<br />
Autonomie. [...] Der Mensch ist grundsätzlich in der Lage, die Dinge<br />
in ihrer Geschöpflichkeit handeln zu lassen, ohne an ihnen etwas zu<br />
verderben, er braucht sich nur den immanenten Gesetzen anzupassen.<br />
Das ist die Stufe der reinen autonomen Kultur« (185 f.).<br />
Was Bonhoeffer hier am Beispiel einer autonom gewordenen<br />
Ethik zeigt, wird er in Tegel für das Ganze der <strong>Theologie</strong><br />
entfalten. Die Rede von einem seit Renaissance und Aufklärung<br />
sich autonom verstehenden Menschen ist offenbar<br />
in dieser Vorlesung erstmals belegt. Andererseits bleibt<br />
63) O. DUDZUS schreibt zu diesem Abschnitt: »Bei der Darstellung <strong>des</strong><br />
Saekularisierungsprozesses der Kultur fühlt man sich fast in die<br />
Welt der berühmt gewordenen Briefe aus ›Widerstand und Ergebung‹<br />
versetzt« (GS V, 182).<br />
64) Ergänzung in [...] nach der Dudzus-Kompilation, GS V, 210.<br />
55
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 56<br />
A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
Bonhoeffer in dieser Vorlesung noch in der Geschichtsreflexion<br />
stehen und zieht nicht – wie 1944 – die Konsequenz<br />
aus der Beobachtung einer autonom gewordenen Kultur<br />
und fragt: Wer ist Christus für uns heute, d.h. in einer mündig<br />
gewordenen Welt? In der Vorlesung zeigt er vielmehr<br />
die vergeblichen theologischen Reaktionen auf, die den<br />
Angriffen F. Overbecks und F. Nietzsches folgen. Entweder<br />
man assimiliert sich oder negiert die Entwicklung. »Jedenfalls<br />
will man nicht wahr haben, daß das Christentum<br />
kulturfeindlich sei. Bedeutsam [ist] [...] die Selbstverständlichkeit<br />
der Synthese [von Christentum und Kultur]« (187).<br />
Diese Synthese ist auch zu einer Synthese von Religion<br />
und Christentum geworden, wenn wir den historisch zum<br />
Universalbegriff gewachsenen Ausdruck Religion so aufnehmen,<br />
wie ihn Bonhoeffer zu Beginn seiner Vorlesung<br />
von seinem Eintreten in die Geschichte (im 17. Jh.) bis in die<br />
wilhelminische Zeit dargelegt hat.<br />
Der Universalbegriff Religion erfährt erst durch K. Barth<br />
eine grundsätzliche Kritik, eine »Wende« (192 ff.) zeichnet<br />
sich ab. »Die Frage heißt: Gott und Mensch, die Kultur<br />
kommt allein auf die Seite <strong>des</strong> Menschen und der Religion<br />
zu stehen. Sofern Barth Religion nicht mehr mit Gott verwechseln<br />
will, insofern ist die Wende bezeichnet« (194 f.):<br />
»Barth wendet sich im Namen Gottes gegen die Religion« (197). Für<br />
ihn gibt es keine »geistige Gesundung an der Religion, sondern nur<br />
Krankwerden an Gott. [Die Religion steht] stets [in der] Gefahr, daß<br />
sie meint, Gott zu haben, über ihn Bescheid zu wissen, wenn auch in<br />
aller Demut und Bescheidung. Religion wird dann ein Gebiet neben<br />
andern« (198).<br />
In dieser letzten Aussage <strong>Bonhoeffers</strong> klingt die spätere<br />
Charakterisierung von Religion als ›Partialität‹ an. Bonhoeffer<br />
kann K. Barths Religionskritik, wie wir bereits ein-<br />
56
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 57<br />
2. Unter dem Einfluss der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
leitend sahen, auch historisch artikulieren, wenn er im<br />
Lichte der Dialektischen <strong>Theologie</strong> einen allgemeinen Religionsbegriff<br />
für überholt erklärt:<br />
»Es kann keinen allgemeinen Begriff von Religion mehr geben« 65 .<br />
Möchte Bonhoeffer hier sagen, daß Religion ein geschichtlicher<br />
Begriff ist, der – durch die Deisten eingeführt – im<br />
Kulturprotestantismus seinen Höhepunkt erreicht und<br />
schließlich in der Dialektischen <strong>Theologie</strong> sein Ende findet?<br />
Können wir einen gedanklichen Bogen spannen vom Anfang<br />
der Vorlesung, an dem Bonhoeffer Religion historisch<br />
einführt, bis zu dieser Stelle, an der er Religion für geschichtlich<br />
überholt hält? In jedem Fall möchte ich festhalten,<br />
daß <strong>Bonhoeffers</strong> Einsicht von einem überholten<br />
»allgemeinen Begriff von Religion« aus der Dialektischen<br />
<strong>Theologie</strong> erwächst und mit K. Barths Religionskritik verbunden<br />
ist, ja sie radikalisierend in einen historischen Rahmen<br />
spannt.<br />
Der § 11 steht unter dem Titel ›Gott‹ (197 ff.) und gibt die<br />
<strong>Theologie</strong> Karl Barths wieder (schon die Überschrift ist<br />
bezeichnend!). Im folgenden § 12 (199 ff.) erklärt Bonhoeffer,<br />
warum <strong>Theologie</strong> »auf keinen Preis zu verwechseln (ist) mit<br />
65) GS V, 219 (Hervorh. R. W.). Ich folge in dem zitierten Satz dem<br />
Kompilationstext von O. DUDZUS. Der Text nach DBW 11, 199<br />
liest: »Keine allgemeine Begründung von Religion kann es mehr geben«<br />
(Hervorh. R. W.). Tatsächlich heißt es aber in der DBW 11 zugrundeliegenden<br />
Nachschrift von Joachim Kanitz an dieser Stelle:<br />
»Keinen allgem. Begr. v. Rel. kann es mehr geben« (Nl. B 1,1) Die<br />
Kanitz-Nachschrift läßt beide Lesarten zu: Begriff und Begründung.<br />
(Begriff bietet im Hinblick auf den Abschnitt die lectio<br />
difficilior!).<br />
57
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 58<br />
A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
Religionsphilosophie« (199): »Die <strong>Theologie</strong> hat nicht mehr<br />
ihre Wahrheit zu begründen« (199):<br />
»Am Anfang steht ein Akt der Anerkenntnis. Es gibt nur noch Ablehnung<br />
oder Anerkennung, beide [sind] unbegründbar. So steht auch<br />
im Anfang der <strong>Theologie</strong> der Glaube« (200).<br />
Auch darf <strong>Theologie</strong> nicht mit Glaubenslehre verwechselt<br />
werden:<br />
»Der Weg kann nicht vom Glauben zu Gott rückwärts gegangen<br />
werden. In der Glaubenslehre wird Gott stets als Objekt verstanden«<br />
(200).<br />
Wir hören zu Recht die Barth-Rezeption aus ›Akt und Sein‹<br />
nachklingen. Dort hat Bonhoeffer die Akt-<strong>Theologie</strong> (K.<br />
Barth) mit der Seins-<strong>Theologie</strong> (M. Luther) verbunden. Wie<br />
auch in ›Akt und Sein‹ eine reine Akt-<strong>Theologie</strong> mit dem<br />
radikalen Freiheitsbegriff Gottes aufgegeben wurde zugunsten<br />
der lutherischen Seinsprädikate, die Gott in seinem<br />
Wort zukommen, formuliert Bonhoeffer am Ende der Vorlesung<br />
über die Freiheit Gottes: »Nicht Freiheit von, sondern<br />
Freiheit für« (211). Hier wird – wie in ›Akt und Sein‹ –<br />
der reformierte K. Barth lutherisch interpretiert.<br />
Im Hinblick auf die Religionsauffassung <strong>Bonhoeffers</strong><br />
gilt uneingeschränkt der radikale Freiheitsbegriff Gottes,<br />
wie er durch K. Barth vertreten wird. Im Blick auf die Religionskritik<br />
scheint Bonhoeffer K. Barth 1931/32 noch dezidiert<br />
zu folgen. Er hält ihn offenbar für die angemessene<br />
Antwort auf die Feuerbach-Fragen und die kritischen Einwände<br />
gegen den Kulturprotestantismus. Das mag auch erklären,<br />
weshalb er seine historischen Exkurse nicht eigenständig<br />
weiterführt wie später in der Tegeler <strong>Theologie</strong>. Er<br />
läßt die Geschichtsreflexionen vielmehr in die Dialektische<br />
<strong>Theologie</strong> münden und hält sie wohl durch Barth auch für<br />
58
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 59<br />
2. Unter dem Einfluss der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
erfüllt. Das gilt im besonderen für das Verständnis von Religion<br />
und kultureller Autonomie.<br />
Es gilt in<strong>des</strong>sen nicht für das Verhältnis von <strong>Theologie</strong><br />
und Philosophie: Hier besteht weiter Bedarf an »Klärung«<br />
(212). Für Bonhoeffer scheint K. Barths Anwendung <strong>des</strong><br />
Neukantianismus, besonders P. Natorps (vgl. 202 f.), noch<br />
nicht die letzte Bestimmung im Verhältnis von Philosophie<br />
und <strong>Theologie</strong> zu sein. Möglicherweise kann Bonhoeffer so<br />
sprechen, weil er unter dem Eindruck <strong>des</strong> USA-Aufenthaltes<br />
eine andere Philosophie kennengelernt hatte. Wie die<br />
weitere Entwicklung zeigt, öffnet sich Bonhoeffer in der Tat<br />
einer ›lebensnahen‹ Philosophie, die er zu diesem Zeitpunkt<br />
schon kennt, aber erst 1944 voll entfaltet. Ob der Pragmatismus<br />
einen Impuls dazu gegeben hat, muß an dieser Stelle<br />
noch offen bleiben.<br />
Im Wintersemester 1932/33 liest Bonhoeffer über die<br />
›Jüngste <strong>Theologie</strong>‹.66 Der Privatdozent stellt theologische<br />
Entwürfe seiner Zeit kritisch dar. Ein auffälliges Kennzeichen<br />
dieser Vorlesung ist – ähnlich wie in der Vorlesung<br />
ST20Jh – die würdigende Darstellung Barthscher <strong>Theologie</strong><br />
(303–307.318–321; dazwischen die kritisierende Darstellung<br />
K. Heims 307–316).<br />
»Gottes vertikales Wort ist Gericht über den ganzen Menschen, über<br />
die Natur, die Geschichte, auch über <strong>des</strong> Menschen Innerlichkeit<br />
und Frömmigkeit. Daß er kommen mußte, ist der Beweis dafür, daß<br />
wir nicht kommen konnten. So ist Gottes Kommen die Kritik aller<br />
Religion« (303 f.).<br />
<strong>Eine</strong> von K. Barth her bestimmte Religionskritik findet<br />
sich noch in der Tegeler <strong>Theologie</strong>. Interessant ist, daß der<br />
66) Abgedruckt in: GS V, 300–340.<br />
59
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 60<br />
A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
Begriff ›Innerlichkeit‹67 marginal schon vor ›Widerstand<br />
und Ergebung‹ in religionskritischen Zusammenhang belegt<br />
ist.<br />
In der ›Christologievorlesung‹68 aus dem Sommersemester<br />
1933 wird das Thema Religion nur am Rande erwähnt.<br />
Für Bonhoeffer erscheint überraschend die christologischnormative<br />
›Wer-Frage‹ im Zusammenhang der ›religiösen<br />
Frage‹: »Die Wer-Frage ist die religiöse Frage schlechthin«<br />
(GS III, 170).<br />
Die Wer-Frage ist als religiöse Frage für Bonhoeffer die<br />
Transzendenzfrage. Nach den bisherigen Ergebnissen, besonders<br />
im Blick auf ›Akt und Sein‹, wäre zu erwarten, daß<br />
die Transzendenzfrage im Zusammenhang offenbarungstheologischer<br />
Religionskritik begegnet. Statt <strong>des</strong>sen tritt<br />
die Frage nach der Religion in den Kontext der Fragestellung<br />
nach der Transzendenz. Das hier zugrunde gelegte<br />
Religionsverständnis ist nicht dialektisch-theologisch beeinflußt,<br />
sondern scheint zur Zahl der eher unreflektierten<br />
religionspositiven Aussagen zu gehören, die auch nach 1929<br />
noch begegnen. Es fällt auf, daß diese Aussagen außerhalb<br />
<strong>des</strong> Kontextes der Rezeption Barthscher <strong>Theologie</strong> getroffen<br />
werden.<br />
Die Religionsthematik tritt in der zweiten Hälfte der<br />
30er Jahre in den Hintergrund zugunsten kirchenpolitischer<br />
sowie praktisch-theologischer Tätigkeiten. Bemerkenswert<br />
ist, daß zur gleichen Zeit die literarische Beschäftigung<br />
mit Barth zurücktritt. Sowohl in der ›Nachfolge‹ als<br />
67) Bonhoeffer stellt über E. Schaeder fest: »Der erste Angriff gegen Karl<br />
Barth wurde von der Position der religiösen Innerlichkeit geführt«<br />
(GS V, 304).<br />
68) Abgedruckt in: GS III, 166–242.<br />
60
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 61<br />
2. Unter dem Einfluss der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
auch in ›Gemeinsames Leben‹ wird der Name K. Barth nicht<br />
einmal explizit erwähnt.69 Auch eine Religionskritik tritt<br />
nicht in den Blick. Das Thema ›Religion‹ wird insgesamt in<br />
diesen Schriften kaum oder gar nicht angesprochen. Im<br />
Sinne eines argumentum e silentio erhalten wir durch die<br />
Schriften ›Nachfolge‹ und ›Gemeinsames Leben‹ einen Hinweis,<br />
daß die Religionskritik ausschließlich im Rahmen der<br />
Dialektischen <strong>Theologie</strong> geführt wird.<br />
e) Zweiter Amerikaaufenthalt<br />
In dem Bericht 70, den Bonhoeffer über seinen zweiten Amerikaaufenthalt<br />
im Sommer 1939 geschrieben hat, wird Religion<br />
wieder in Anlehnung an Karl Barth kritisiert: In Amerika<br />
habe man nicht verstanden, daß »Gottes ›Kritik‹ auch<br />
die Religion [...] trifft« (354). Weiter schreibt Bonhoeffer von<br />
der »amerikanischen <strong>Theologie</strong>«, daß sie »noch wesentlich<br />
Religion und Ethik« sei (ibid).<br />
In den ›Tagebuchaufzeichnungen‹ unterstreicht Bonhoeffer<br />
im Juni 1939 den Gedanken einer geschichtlich<br />
überholten Religionsauffassung; Religion sei »wirklich überflüssig«71.<br />
Die Menschen kämen »gut und besser ohne Religion«<br />
aus.72<br />
69) Freilich bleibt K. Barth weiter in der Zeit der ›Nachfolge‹ präsent. In<br />
einem Brief an ihn bekennt Bonhoeffer aus Finkenwalde: »Im<br />
Grunde war die ganze Zeit eine andauernde, stillschweigende Auseinandersetzung<br />
mit Ihnen und darum mußte ich eine Weile<br />
schweigen« – Brief vom 19. 9.1936, in: GS II, (283–287) 284.<br />
70) ›Protestantismus ohne Reformation‹, verfaßt im August 1939, in:<br />
GS I, 323–354.<br />
71) Tagebucheintrag am 16. 6.1939, in: GS I, 300.<br />
72) Tagebucheintrag am 18. 6.1939, in: GS I, 300.<br />
61
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 62<br />
A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
Bonhoeffer geht hier offensichtlich über K. Barths Religionskritik<br />
hinaus, da er Religion nicht nur kritisiert, sondern<br />
›ohne‹ Religion auskommen möchte. Überhaupt wird<br />
›Religion‹ nicht mehr thematisiert oder in theologische<br />
Entwürfe eingebunden, wie man es über den Religionsabschnitt<br />
in KD I/2 sagen kann. Dieser Halbband erscheint<br />
1938, ein Jahr vor diesen Aufzeichnungen <strong>Bonhoeffers</strong>. Haben<br />
wir es mit einer ersten Reaktion auf den § 17 der KD I zu<br />
tun? Es ist jedenfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen,<br />
daß Bonhoeffer KD I/2 zu diesem Zeitpunkt gekannt<br />
hat, da er mit Blick auf K. Barths Publikationen<br />
immer auf dem »aktuellen Stand«73 gewesen ist. Das wird<br />
besonders deutlich in den nun zu bearbeitenden Ethik-<br />
Manuskripten; er hat sich vorab Druckfahnen von KD II<br />
schicken lassen.<br />
f) Fragmente zur Ethik<br />
In den frühen Manuskripten (1940/41) begegnen einzelne<br />
religionskritische Aussagen. Dabei knüpft Bonhoeffer an<br />
die Religionskritik aus ›Sanctorum Communio‹ an, wie<br />
etwa an die Entgegensetzung von Religionsgemeinschaft<br />
und Kirche (Ethik [DBW 6] 49 f.84 = Sanctorum Communio<br />
[DBW 1] 97). Hier setzt sich die religionskritische Barth-<br />
Rezeption aus ›Sanctorum Communio‹ mit ihrer Alternative<br />
von Offenbarung oder Religion fort.<br />
Andere Aussagen bereiten offensichtlich die Tegeler<br />
<strong>Theologie</strong> vor: Religion verfehle den Ganzheitscharkter von<br />
göttlicher und menschlicher Wirklichkeit (vgl. DBW 6, 59).<br />
Der Partikularitätscharakter von Religion klingt an, wo Kir-<br />
73) Schriftliche Auskunft E. Bethges.<br />
62
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 63<br />
2. Unter dem Einfluss der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
che es »mit den sogenannten religiösen Funktionen <strong>des</strong><br />
Menschen zu tun« hat, nicht aber »mit dem ganzen Menschen«<br />
(84). Sätze wie diese belegen die Souveränität, mit der<br />
Bonhoeffer den negativ belegten Begriff ›Religion‹ für seine<br />
ethischen Ausführungen einsetzt (vgl. bes. 306). Immerhin<br />
rechnet er mit ›religiösen Funktionen <strong>des</strong> Menschen‹; Bonhoeffer<br />
kehrt offensichtlich zur Vorstellung eines religiösen<br />
Apriori zurück,74 das er zwar zuvor schon kritisiert hat (vgl.<br />
›Akt und Sein‹), aber endgültig erst noch ablegen wird (vgl.<br />
›Widerstand und Ergebung‹).<br />
Es scheint, als ob nach einer zusammenhängenden<br />
Religionsauffassung im Blick auf die Ethik-Fragmente am<br />
allerwenigsten gefragt werden darf: Religion, Religionsgemeinschaft,<br />
Religionsgesellschaft werden nebeneinander<br />
als Negativfolie gegenüber ›Kirche‹ verwandt (vgl. 49.84).<br />
Die Aufnahme Barthschen Denkens bleibt weiter bedeutend,75<br />
bezieht sich jedoch weniger auf <strong>des</strong>sen Religionsbegriff<br />
als vielmehr auf seine Ethik. Zutreffend ist die<br />
Auskunft: »<strong>Bonhoeffers</strong> Position ist am ehesten in der Nähe<br />
der <strong>Theologie</strong> und Ethik Karl Barths zu suchen«76. Die Ethik<br />
K. Barths beschäftigt Bonhoeffer bis in die Tegeler Zelle<br />
74) So auch P. KÖSTER, Nietzsche als verborgener Antipode in <strong>Bonhoeffers</strong><br />
»Ethik«, in: NS 19, 1990, 367–418, bes. 407.<br />
75) Die Herausgeber von DBW 6 verweisen auf andere terminologische<br />
Anklänge an K. Barth; so spricht Bonhoeffer von der Welt, die<br />
»solange erhalten wird, bis sie reif ist für ihr Ende« (Ethik [DBW 6]<br />
146). Die Rede vom ›Abbruch der Welt‹ gehe auf den Aufsatzband<br />
›Das Wort Gottes und die <strong>Theologie</strong>‹ zurück und begegne auch in<br />
einer Predigt <strong>Bonhoeffers</strong> von 1934 (GS V, 560) sowie in der Schrift<br />
›Nachfolge‹, 255; vgl. DBW 6, 146 Anm. 35.<br />
76) Nachwort <strong>des</strong> Herausgeberkreises der Ethik (DBW 6), 424.<br />
63
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 64<br />
A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
hinein.77 Anders steht es mit dem Religionsbegriff, wie wir<br />
am Stichwort Offenbarungspositivismus sehen werden.<br />
Bonhoeffer kann ethische Gedanken aus seinen Manuskripten<br />
in den Tegeler Briefen auch religionskritisch explizieren.<br />
Die ethischen Ausführungen über ›Die letzten und die<br />
vorletzten Dinge‹ (etwa DBW 6, 143) werden zur Tegeler Frage:<br />
»Wir leben im Vorletzten und glauben das Letzte, ist es<br />
nicht so?« (WEN 176)<br />
Bonhoeffer nimmt das ethische Thema vom ›Letzten<br />
und Vorletzten‹ religionskritisch auf: Ein ›letztes‹ Verhalten<br />
ist in einer »ernsten Situation« ein ›religiöses‹ Verhalten; das<br />
Vorletzte – können wir ergänzen – ein ›nichtreligiöses‹.78<br />
Mit den Jahren 1940 f. tritt die Auseinandersetzung mit<br />
K. Barth in ein ethisches Licht. Ist die erste Begegnung mit<br />
K. Barth (1931) schon durch Diskussionen um die Ethik bestimmt,<br />
so sollen diese zehn Jahre später (Treffen im<br />
August 1941) vertieft werden. Während sich angesichts KD<br />
II,2 eine gewisse Nähe zwischen Barth und Bonhoeffer in<br />
ethischen Fragen einstellt, so wird sich hinsichtlich KD I/2<br />
und den Tegeler Briefen zeigen, daß beide Theologen in der<br />
Religionsauffassung auseinandergehen.<br />
Bonhoeffer formuliert von ›Sanctorum Communio‹ über<br />
›Akt und Sein‹ bis zur ›Ethik‹ Religionskritik im Duktus der<br />
Dialektischen <strong>Theologie</strong>; in ›Widerstand und Ergebung‹ je-<br />
77) Vgl. den Brief vom 8.6.1944 (WEN 359); auch K. BARTH würdigt später<br />
<strong>Bonhoeffers</strong> Ethik; vgl. KD III/4 etwa 14 f.21 f.460 f.<br />
78) Vgl. WEN 223 f. Wir sahen, wie <strong>Bonhoeffers</strong> Beobachtung aus der<br />
Ethik (DBW 6, 143), daß er sich in »ernsten Situationen« eher zu<br />
einem ›vorletzten Verhalten‹, etwa zum »Schweigen«, statt zum<br />
»biblischen Trost« entscheide, in ›Widerstand und Ergebung‹ aufgenommen<br />
und religionskritisch zugespitzt wird.<br />
64
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 65<br />
3. Aus dem Schatten der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
doch werden terminologische Anklänge an K. Barth nur<br />
noch vereinzelt auftreten.<br />
g) Ergebnis<br />
Die rezeptionsgeschichtliche Frage, woher die Religionskritik<br />
<strong>Bonhoeffers</strong> stammt, ist an dieser Stelle leicht zu beantworten:<br />
Jede religionskritische Aussage <strong>Bonhoeffers</strong> vor<br />
1944 ist auf Karl Barths theologische Religionskritik zurückzuführen.<br />
Ein gewisser Höhepunkt der <strong>Bonhoeffers</strong>chen<br />
Barth-Rezeption war um das Jahr 1930 zu beobachten (Habilitation,<br />
USA-Stipendiat, Privatdozentur). In ›Akt und<br />
Sein‹ folgt beispielsweise Bonhoeffer ausschließlich dem<br />
Barthschen Religionsverständnis, wie es ihm im ›Römerbrief‹<br />
und der ›Christlichen Dogmatik im Entwurf‹ vorgegeben<br />
war.<br />
Ist die Wendung Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
mit dem Namen Karl Barth verbunden, so ist<br />
auch <strong>Bonhoeffers</strong> Folgerung aus der Religionskritik in kritischer<br />
Auseinandersetzung mit dem Dialektiker erwachsen.<br />
Dem soll nun unter dem Stichwort Offenbarungspositivismus<br />
nachgegangen werden.<br />
3. Aus dem Schatten der Dialektischen <strong>Theologie</strong>:<br />
Der Einwand <strong>des</strong> Offenbarungspositivismus<br />
a) Das Problem<br />
Kaum ein Begriff ist so charakteristisch für eine Kritik an<br />
K. Barth geworden wie <strong>Bonhoeffers</strong> Einwand <strong>des</strong> Offenbarungspositivismus.<br />
Es ist in<strong>des</strong>sen erstaunlich, daß gerade<br />
ein so häufig zitierter Begriff kaum eine inhaltliche Klärung<br />
fand. ›Offenbarungspositivismus‹ ist eher zu einem<br />
Schlagwort geworden, wie die beträchtliche Wirkungsge-<br />
65
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 66<br />
A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
schichte offenlegt. Während K. Barth selbst noch einräumte,<br />
sich vielleicht »tatsächlich gelegentlich offenbarungspositivistisch<br />
benommen und geäußert«79 zu haben, setzt<br />
die Barth-Forschung andere Akzente. Bonhoeffer habe<br />
Barth mißverstanden (Fr.-W. Marquardt)80, <strong>des</strong>halb müsse<br />
sein provozierender Begriff ganz aus dem theologischen<br />
Vokabular ›ausgelöscht‹ werden (S. Fisher)81.<br />
Meinen einige Interpreten, ›Offenbarungspositivimus‹<br />
ziele auf Barths Offenbarungslehre ab (R. Prenter, E. Feil, R.<br />
T. Osborn)82, so sehen andere einen Angriff <strong>Bonhoeffers</strong> auf<br />
den Calvinismus (J. H. Burtness, G. B. Kelly)83. Wieder andere<br />
halten die Rede vom Offenbarungspositivismus für ein<br />
79) Brief an P. W. HERRENBRÜCK vom 21.12.1952, in: MW I, 122.<br />
80) F.-W. MARQUARDT, <strong>Theologie</strong> und Sozialismus, 3. Aufl., München<br />
1985, 245 f.<br />
81) S. FISHER, Revelatory Positivism? Barth’s earliest theology and the<br />
Marburg School, Oxford 1988, 313 f.: »[...] the term ›revelatory positivism‹<br />
is best deleted from the theological dictionary«. S. Fisher folgt<br />
ausdrücklich Fr.-W. MARQUARDT, op. cit. (vgl. Fisher, op. cit., Introduction<br />
1 ff., bes. 6 Anm. 6).<br />
82) R. PRENTER, <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer und Karl Barths Offenbarungspositivismus,<br />
in: MW III, 1969, 11 ff. Für E. FEIL, Die <strong>Theologie</strong> 350,<br />
»besteht u. E. der Offenbarungspositivismus in der Abstraktion, in<br />
der Barth verblieben ist«. R. T. OSBORN, Positivism and Promise in<br />
the Theology of Karl Barth, in: Interpretation 8/ 1971, 283–30, folgt<br />
R. Prenter (288 f.), würdigt <strong>des</strong>sen Darstellung der Offenbarungslehre<br />
in K. Barths ›Römerbrief‹ (289), kritisiert dann aber R. Prenters<br />
Darstellung von K. Barths Offenbarungsverständnis der KD (290).<br />
Insgesamt sieht T. R. Osborn <strong>Bonhoeffers</strong> Kritik gegen K. Barths<br />
christozentrische Offenbarungslehre gerichtet (298).<br />
83) J. H. BURTNESS, Als ob es Gott nicht gäbe. Bonhoeffer, Barth und<br />
das lutherische finitum capax infiniti, in: IBF 6, 1983, 167 ff., bes.<br />
172: »Von ›Akt und Sein‹, wo ›der passionierte Lutheraner mit dem<br />
standhaften Calvinisten über dem finitum capax sive incapax infi-<br />
66
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 67<br />
3. Aus dem Schatten der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
methodisches Problem (H. Ott et al)84. Oder geht es bloß<br />
um die fehlende politische Ausrichtung (T. R. Peters)85?<br />
Wendet er sich gegen ein »Schwarz-Weiß-Denken« (H.-J.<br />
Abromeit)86? Stammt der Begriff vielleicht gar nicht von<br />
niti handgemein wurde‹, bis zu den ›Tegeler Briefen‹, in denen<br />
Barth <strong>des</strong> ›Offenbarungspositivismus‹ bezichtigt wird (5. Mai<br />
1944), hält Bonhoeffer neben seiner bleibenden Zustimmung seine<br />
Kritik durch« G. B. KELLY, <strong>Bonhoeffers</strong> ›non religious‹ Christianity:<br />
Antecedents and Critique, in: Bijdr 37, 1976, 118 ff., hält das lutherische<br />
finitum capax infiniti für eine Erklärungsmöglichkeit für<br />
<strong>Bonhoeffers</strong> Einwand <strong>des</strong> Offenbarungspositivismus (133 f.) und<br />
folgert im Blick auf K. Barth: »God’s revelation in Christ stands over<br />
and against the world« (135).<br />
84) Vgl. H. OTT, Wirklichkeit und Glaube I: Zum theologischen Erbe<br />
<strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong>, Zürich 1966. Bonhoeffer darf »der Sache nach<br />
als Barthianer bezeichnet werden. [...] Was aber den Stil, die Diktion,<br />
die methodische Intention <strong>des</strong> Denkens anbetrifft, geht er<br />
mit seinen Frühschriften einen Weg, der sich von demjenigen Karl<br />
Barths charakteristisch unterscheidet« (113). Für den Offenbarungspositivismus<br />
gilt, daß er methodisch aus der an sich richtigen<br />
»Grund-Behauptung [...] ein System von Sätzen entwickelt, die,<br />
sofern die Grundvoraussetzung, die axiomatische Behauptung<br />
stimmt, alle in gleicher Weise und mit gleichem Gewicht wahr sein<br />
müssen. So entsteht ein monolithischer Block « (110). Und »in der<br />
Tat« sei es »die Methode der ›Kirchlichen Dogmatik‹, daß aus einem<br />
christologischen Systemprinzip alles gefolgert wird« (113).<br />
85) Vgl. T. R. PETERS, Die Präsenz <strong>des</strong> Politischen in der <strong>Theologie</strong><br />
<strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong>. <strong>Eine</strong> historische Untersuchung in systematischer<br />
Absicht (= Die Präsenz), 1976, 172: »<strong>Eine</strong> in sich geschlossene,<br />
positivistische Offenbarungstheologie und die ihr entsprechende<br />
Kirche vermögen nicht handlungsorientierend zu sein, ja befähigen<br />
nicht einmal zur engagierten Wahrnehmung der gesellschaftlichen<br />
Vorgänge«.<br />
86) H.-J. ABROMEIT, Das Geheimnis Christi. <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong> erfahrungsbezogene<br />
Christologie (= Das Geheimnis), 1991, 168.<br />
67
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 68<br />
A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
Bonhoeffer selbst (G. Krause)87? – Die Liste an Interpretationsmustern<br />
kann noch erweitert werden; es wird sicher<br />
von allen Interpreten etwas Richtiges beobachtet. Auffällig<br />
ist nur, daß keiner der genannten Interpreten sich wirklich<br />
auf die Quellen einzulassen scheint.<br />
87) Bonhoeffer weist im Brief vom 8.6.1944 auf die Originalität seiner<br />
Begriffsbildung hin, wenn er schreibt: »›Offenbarungspositivismus‹,<br />
wie ich mich ausdrücke« (WEN 359). G. KRAUSE, Art. ›Bonhoeffer,<br />
<strong>Dietrich</strong>‹, in: TRE VII, 1981, 64, Anm.1, findet den Begriff<br />
Offenbarungspositivismus formal schon bei dem Kirchenhistoriker<br />
E. SEEBERG belegt und führt dazu den ersten Band von<br />
›Luthers <strong>Theologie</strong>‹ aus dem Jahr 1929 an – ohne jedoch der Verwendung<br />
<strong>des</strong> Begriffs dort inhaltlich nachzugehen. ›Offenbarungspositivismus‹<br />
ist im relevanten II. Kapitel, 4. ›Gott und seine<br />
Offenbarung‹ (182ff), nur zweimal bei E. Seeberg bezeugt (185 u.<br />
218) und ist dem Inhalt nach eine Zusammensetzung von M. Luthers<br />
Offenbarungsverständnis in der Abendmahlslehre und dem<br />
»okkamistischen Positivismus« (216). »Luther denkt den Geist nicht<br />
abstrakt = rational [...], sondern konkret = geschichtlich; Geist ist<br />
nicht an sich, sondern immer in konkreter Erscheinung, im Wort,<br />
im Sakrament und in den Heiligen Gottes, d. h. in der Kirche« (216).<br />
Offenbarungspositivismus steht in Zusammenhang mit konkreter<br />
Geschichtlichkeit. Nach E. Seeberg wandelt »Luther Christus [...] in<br />
eine geschichtliche und konkrete Form« (200). Die Abhängigkeit<br />
<strong>des</strong> Begriffs Offenbarungspositivismus von E. Seebergs Luther-<br />
Buch, die Krause annimmt, ist zumin<strong>des</strong>t inhaltlich widerlegt.<br />
Nicht auszuschließen ist freilich, daß Bonhoeffer die Schrift E. Seebergs<br />
kannte; er wurde bei seinem Vater, R. Seeberg, 1927 promoviert.<br />
Doch wenn der Begriff Offenbarungspositivismus aus der<br />
Seeberg-Lektüre für Bonhoeffer wichtig geworden wäre, hätten wir<br />
68
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 69<br />
3. Aus dem Schatten der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
b) Die Quellen<br />
Offenbarungspositivismus wird Barth an drei Stellen vorgehalten<br />
- und nur dort! Die drei Briefe sind auf den 30. 4.,<br />
5.5. und 8. 6.1944 datiert;88 sie entwickeln <strong>Bonhoeffers</strong> neue<br />
Gedanken zur ›Religionslosigkeit‹, Thema der Briefe ist<br />
›Religion‹. Sie sind gleich strukturiert: Bonhoeffer übt zunächst<br />
Religionskritik, würdigt Barth als denjenigen, der<br />
schon früher einen Niederschlag, etwa in ›Sanctorum Communio‹,<br />
›Akt und Sein‹ oder der ›Christologievorlesung‹ erwarten dürfen<br />
und nicht erst 17 Jahre nach Erscheinen von Seebergs Buch in den<br />
Gefängnisbriefen <strong>des</strong> Frühsommers 1944. Der Begriff Offenbarungspositivismus<br />
ist darüber hinaus in seiner Zusammensetzung<br />
theologisch unbestimmt. Bonhoeffer gebraucht die Zusammensetzung<br />
Offenbarungs-Positivismus anders als E. Seeberg. Bestimmt<br />
dieser den »okkamistischen Positivimus« als »konkretgeschichtlich«,<br />
so meint der an K. Barth kritisierte Positivismus im<br />
weiteren Sinne »die Beziehungslosigkeit der Glaubenssätze [...],<br />
kraft welcher sie als bloße Gegebenheiten (posita) ohne jede anderweitige<br />
Begründung einfach hingenommen werden müssen«<br />
(Zitat R. Prenter art. cit. 13). Nicht nur das Positivismusverständnis<br />
ist verschieden, auch das in der Zusammensetzung Offenbarungspositivismus<br />
zugrunde gelegte Verständnis von Offenbarung, das<br />
E. Seeberg aus der Luther-Exegese gewinnt. Nach ihm ist »natürliche<br />
Gotteserkenntnis [...] als Vorstufe der übernatürlichen zu<br />
werten« (206). »Natürliche Gotteserkenntnis ist auch ein Geschenk<br />
Gottes« (203; vgl. etwa 202 f. oder 207). Gerade diese Würdigung der<br />
theologia naturalis macht den Gebrauch <strong>des</strong> Wortes ›Offenbarungspositivismus‹<br />
aus der Seeberg-Lektüre für Bonhoeffer gegen<br />
K. Barth unbrauchbar. In der Ablehnung der Natürlichen <strong>Theologie</strong><br />
sind sich Barth und Bonhoeffer einig. Der Begriff Offenbarungspositivismus<br />
ist also in seiner theologischen Bedeutung bei<br />
Seeberg nicht vorbereitet, wenn auch der Begriff bei ihm auftritt.<br />
Offenbarungspositivismus ist formal, nicht aber inhaltlich vor<br />
Bonhoeffer bezeugt.<br />
88) Vgl. WEN 303 ff.311 ff.355 ff.<br />
69
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 70<br />
A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
diese begonnen habe, kritisiert ihn dann mit dem fragwürdigen<br />
Begriff und folgert für sich die nichtreligiöse Interpretation.<br />
Die »logische Konsequenz«89 aus der Religionskritik<br />
ist für Bonhoeffer die nichtreligiöse Interpretation,<br />
die bei Barth aber ausbleibt und den Offenbarungspositivismus<br />
auf den Plan ruft. So wird die Barthkritik an allen<br />
drei Stellen ganz parallel eingeführt.<br />
Offenbarungspositivimus steht ausschließlich im Kontext<br />
von Barths Religionsbegriff. Bonhoeffer beobachtet<br />
eine Entwicklung in der Religionsbetrachtung seines Lehrers,<br />
deren Endpunkt er zu kritisieren scheint.<br />
Neben generelleren Versuchen, den Zusammenhang<br />
von Offenbarungspositivismus und Religionskritik zu<br />
erhellen (D. Jenkins, J. A. Phillips, C. E. Krieg)90, gibt es auch<br />
konkrete Hinweise, an welche Schriften K. Barths Bonhoef-<br />
89) G. B. KELLY, art. cit. 130 – s. FN 83 (orig. »logical conclusion«).<br />
90) D. JENKINS, Beyond Religion, London 1962, 26 ff., beobachtet ein<br />
Verhältnis von KD I/2 und <strong>Bonhoeffers</strong> Religionsverständnis nach<br />
WEN; dieser Gedanke wird dann durch J. A. PHILLIPS, The Form of<br />
Christ in the World, London 1967, wieder aufgenommen (202 f.).<br />
C. E. KRIEG, Bonhoeffer’s Letters and Papers, in: RelSt 9, 1973, 81–92,<br />
geht davon aus, daß K. Barth und Bonhoeffer zunächst in der<br />
Religionskritik übereinstimmen. Dann aber wende sich Bonhoeffer<br />
gegen K. Barth, der dann wieder von einer grundsätzlich ›religiösen‹<br />
Haltung bestimmt sei und nicht die Folgerung aus der<br />
Religionskritik zöge. »Barth <strong>des</strong>cribes religion as man’s attempt to<br />
have and possess God, in contrast to genuine faith which is a gift of<br />
grace. In other words, for Barth religion is a perversion of a faithful<br />
response to grace. Bonhoeffer is sympathetic to Barth’s distinctions<br />
at this point. Nevertheless, Barth, too, is doing ›religious‹ theology<br />
according to Bonhoeffer. Barth’s greatest shortcoming, as far as<br />
Bonhoeffer was concerned, was that he offered no non-religious<br />
interpretation of biblical concepts« (81).<br />
70
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 71<br />
3. Aus dem Schatten der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
fer gedacht habe: Sind es religionskritische Schriften Barths<br />
von 1919 (A. Pangritz)91, von 1920 (B.-E. Benkston)92 oder von<br />
1938 (G. Sauter, A. J. Wesson, E. Grin)93?<br />
Wogegen wendet sich Bonhoeffer? In welcher Schrift<br />
beobachtet er ein Versagen Barths, zu dem er formal in allen<br />
drei Briefen mit dem Wörtchen dann überleitet? Den ›Rö-<br />
91) A. PANGRITZ, Karl Barth in der <strong>Theologie</strong> <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong>,<br />
Berlin 1989, 88, geht davon aus, daß der Vorwurf <strong>des</strong> Offenbarungspositivismus<br />
auf den ›Tambacher Vortrag‹ K. Barths von 1919 »gemünzt«<br />
sein könnte. Es müßte jedoch »gefragt werden, ob hier<br />
nicht ein fundamentales Mißverständnis <strong>des</strong> ›Tambacher Vortrages‹<br />
auf <strong>Bonhoeffers</strong> Seite vorliegt« (ibid). A. Pangritz bleibt zunächst<br />
also bei der Mißverständnis-These Fr.-W. Marquardts; er<br />
bietet dann andere Erklärungsmodelle für <strong>Bonhoeffers</strong> Einwand:<br />
er richte sich gegen H. Asmussen (82 ff.), entzünde sich an K. Barths<br />
dialektischer Religionswürdigung in »der 2. Auflage <strong>des</strong> ›Römerbriefs‹,<br />
dann aber auch in der ›christlichen‹ und ›Kirchlichen Dogmatik‹<br />
[...]« (108).<br />
92) B.-E. BENKTSON, Kristus och den myndigvordna Världen, in: SvTK<br />
40, 1964, 94 ff.<br />
93) G. SAUTER, Zur Herkunft und Absicht der Formel ›Nicht-religiöse<br />
Interpretation biblischer Begriffe‹ bei <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer, in:<br />
EvTh 25, 1962, 283 ff.; A. J. WESSON, Bonhoeffer’s use of ›Religion‹,<br />
in: LQHR 192, 1967, 50 f., stellt fünf Jahre nach G. Sauter einen begrifflichen<br />
Zusammenhang von KD I/2 und ›Widerstand und Ergebung‹<br />
her. Ein Element der Religionskritik <strong>Bonhoeffers</strong>, das ›Deusex-machina-Konzept‹,<br />
würde sich bei K. Barth im Abschnitt ›Das<br />
Problem der Religion in der <strong>Theologie</strong>‹ (305 ff.) aus KD I/2 finden.<br />
Leider vertieft A. J. Wesson diese Einsichten nicht weiter. Vgl. auch<br />
E. GRIN, <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer und die ›nicht-religiöse‹ Interpretation<br />
biblischer Begriffe (1962), in: P. H. A. NEUMANN (Hrsg.),<br />
Religionsloses Christentum und nicht-religiöse Interpretation bei<br />
<strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer, Darmstadt 1990, 190–209; Grin weist ebenfalls<br />
auf den sachlichen Zusammenhang von KD und WEN (201 f.).<br />
71
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 72<br />
A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
merbrief‹ (von 1922)94 meint er nicht, denn ihn hebt er in<br />
Tegel positiv hervor. Hier werde »der Gott Jesu Christi<br />
gegen die Religion ins Feld geführt«95. Meint er eine frühere<br />
Schrift? Spricht Bonhoeffer im Brief vom 30. 4. sachlich von<br />
»Barth, der als einziger in diese Richtung zu denken angefangen<br />
hat«96, so heißt es in den Briefen vom 5. 5. und 8. 6.<br />
historisch: Barth habe »als erster«97 mit der Religionskritik<br />
begonnen.<br />
B.-E. Benktson98 bezieht die Notiz vom 30. 4. 44 auf den<br />
religionskritischen Aufsatz K. Barths von 1920, nämlich<br />
›Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke‹, den Bonhoeffer<br />
aus ›Das Wort Gottes und die <strong>Theologie</strong>‹ kannte. In diesem<br />
Aufsatz heißt es: »[...] Jesus Christus ist am allerwenigsten<br />
ein Gegenstand religiöser und mystischer Erlebnisse«<br />
(70 f.). Benktson beobachtet zu Recht manche Parallelen zu<br />
Tegeler Äußerungen; doch findet er diese nur hinsichtlich<br />
der Religionskritik. <strong>Eine</strong> nichtreligiöse Interpretation hingegen<br />
– wie sie für Bonhoeffer aus der Religionskritik folgt –<br />
ist dem Aufsatz K. Barths nicht zu entnehmen. Es mag richtig<br />
sein, daß er in Tegel auch an diesen frühen Aufsatz dachte,<br />
wie er in der Religionskritik grundsätzlich an K. Barth<br />
anknüpft. Doch das zeichnet den Aufsatz nicht vor dem<br />
›Römerbrief‹ oder etwa der KD aus. B.-E. Benkston hingegen<br />
94) Obwohl Bonhoeffer auch die 1. Aufl. <strong>des</strong> Römerbriefkommentars<br />
kannte, rekurriert er durchgängig auf die 2. Aufl. (vgl. etwa DBW<br />
1,109, Anm. 28; 97, Anm. 71; DBW 2,75, Anm. 1; DBW 10,457, Anm 8;<br />
459, Anm. 13; WEN, 359).<br />
95) WEN 359.<br />
96) WEN 396 (Hervorh. R.W.).<br />
97) WEN 312.359.<br />
98) B. E. BENKTSON, art. cit. 1964 (s. FN 92), 94 ff.<br />
72
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 73<br />
3. Aus dem Schatten der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
geht davon aus, daß Bonhoeffer am 30. 4. ausschließlich an<br />
diesen – wie er selber schreibt – »ein Vierteljahrhundert vor<br />
›Widerstand und Ergebung‹«99 gehaltenen Aufsatz dachte.<br />
Dann hätte man doch zumin<strong>des</strong>t einen Hinweis auf die<br />
nichtreligiöse Interpretation bei K. Barth erwartet, die nach<br />
<strong>Bonhoeffers</strong> Worten vom 30. 4. aber ausgeblieben ist. <strong>Eine</strong><br />
nichtreligiöse Interpretation der biblischen Begriffe findet<br />
B.-E. Benktson im Barth-Aufsatz von 1920 nicht. Das Unternehmen<br />
einer nichtreligiösen Interpretation ist weder Sache<br />
<strong>des</strong> frühen K. Barth noch Sache eines K. Barth der »regulären«<br />
Dogmatik.<br />
c) Die Bedeutung der Kirchlichen Dogmatik<br />
Sowohl der ›Römerbrief‹ (1922) als auch der früher Aufsatz<br />
Barths (von 1920) scheiden für die Deutung <strong>des</strong> Offenbarungspositivismus<br />
aus. Nun fällt weiter auf, daß Bonhoeffer<br />
in Tegel auch von der ›wahren Religion‹ sprechen kann.<br />
Das ließe die Frage zu, ob sich hier eine positive Rezeption<br />
von KD I/2 § 17 (1938) einstellt, in der Barth die reformatorische<br />
Unterscheidung von wahrer und falscher Religion aufnimmt.<br />
G. Sauter schreibt über den 3. Abschnitt von § 17 der<br />
KD I/2 ›Die wahre Religion‹: »Das könnte Bonhoeffer zu der<br />
Bemerkung bewogen haben, daß ›Christentum [...] immer<br />
eine Form (vielleicht die wahre Form) der Religion gewesen‹<br />
sei«.100 G. Sauters Beobachtung ist von Bedeutung, weil sie<br />
den unmittelbaren Einfluß von KD I/2 auf die Tegeler Religionsthematik<br />
zeigt. Aber gerade im Hinblick auf K.<br />
99) Ibid, 94 (Schwedisches Zitat in dt. wiedergegeben, eig. Übers.).<br />
100) G. SAUTER, art. cit. 1962 (s. FN 93), 291 (mit Zitat aus WEN 305).<br />
73
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 74<br />
A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
Barths Rede von der ›wahren Religion‹ scheint das eher unwahrscheinlich.<br />
Würdigt Bonhoeffer nicht gerade K. Barths<br />
Religionskritik? Erwartet er nicht gerade aus dieser Religionskritik<br />
eine Folgerung, der K. Barth mit seiner Religionswürdigung<br />
im dritten Abschnitt <strong>des</strong> § 17 wohl am<br />
wenigsten gerecht wird? Es ist dann wohl eher an den zweiten<br />
und ersten Abschnitt <strong>des</strong> Paragraphen zu denken. Aber<br />
vielleicht bezieht sich Bonhoeffer in dieser eher beiläufigen<br />
Notiz vom ›Christentum als der wahren Religion‹ gar nicht<br />
auf K. Barth. Auch W. Dilthey, den Bonhoeffer zu dieser Zeit<br />
liest, spricht von ›wahrer Religion‹101. Im übrigen haben<br />
wir gesehen, daß Religion bei Bonhoeffer immer dann in<br />
ein kritisches Licht tritt, wenn sie unter dem Einfluß der<br />
Dialektischen <strong>Theologie</strong> steht. Daneben existieren durch<br />
das ganze Corpus Bonhoefferianum hindurch würdigende<br />
oder zumin<strong>des</strong>t religionsneutrale Äußerungen, die offenkundig<br />
nicht unter dem Einfluß K. Barths entstanden sind.<br />
So sahen wir im Blick auf ›Sanctorum Communio‹, wie sich<br />
die religionskritischen Aussagen auf dem Hintergrund der<br />
Dialektischen <strong>Theologie</strong> interpretieren ließen, die religionswürdigenden<br />
Aussagen hingegen auf dem Hintergrund<br />
der Liberalen <strong>Theologie</strong> (etwa A. Ritschls). Darüber<br />
hinaus war R. Seebergs ›Dogmatik‹ wichtige Interpretationshilfe,<br />
die in dem ersten Band auf über zweihundert<br />
Seiten vom »Wesen der Religion« und vom »Erweis <strong>des</strong> Christentums<br />
als der absoluten Religion« (Dogmatik Bd. I, 15–<br />
222) handelt: Auch von R. Seeberg könnte Bonhoeffer also<br />
101) W. DILTHEY, Weltanschauung und Analyse <strong>des</strong> Menschen seit<br />
Renaissance und Reformation (= Weltanschauung und Analyse),<br />
Ges. Schr. II, 337.<br />
74
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 75<br />
3. Aus dem Schatten der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
die Rede vom ›Christentum als der wahren Religion‹ haben.<br />
Bonhoeffer rezipiert in Tegel den Barthschen Religionsbegriff<br />
aus der KD I/2 § 17 nicht. Im Gegenteil: Er kritisiert<br />
gerade eine Veränderung in der Auffassung <strong>des</strong> Dialektikers.102<br />
Nun bleibt die entscheidene Frage, ob er vielleicht<br />
negativ auf § 17 rekurriert. Damit nehmen wir die Beobachtung<br />
auf, daß der Einwand <strong>des</strong> Offenbarungspositivismus<br />
ausschließlich im Kontext <strong>des</strong> Barthschen Religionsbegriffs<br />
geäußert wird.<br />
Die Religionsbetrachtung der KD unterscheidet sich<br />
vom ›Römerbrief‹ darin, daß Barth einen theologischen Religionsbegriff<br />
ausbildet. Religionskritik wird nun »zur integrativen<br />
Aufgabe der <strong>Theologie</strong>«103. Wird Religion beim<br />
jungen Barth als ›Negative der Gnade‹ kritisiert, so beim<br />
Barth der regulären Dogmatik als Antwort auf Gottes Handeln<br />
gewürdigt. Schon in der ›Dogmatik im Entwurf‹ geht<br />
Barth in § 18 über eine rein kritische Betrachtung von Religion<br />
hinaus und fragt nach ihrer ›Annahme‹ im Licht der<br />
Offenbarung. Religion kann »angenommen und geheiligt<br />
werden«104. Grundsätzlicher spricht Barth im 3. Abschnitt<br />
von § 17 der KD I/2 von der ›wahren Religion‹. »Offenbarung<br />
kann Religion annehmen und auszeichnen als wahre Reli-<br />
102) <strong>Eine</strong> auffällige formale Beobachtung betrifft die die Barthkritik<br />
einleitende Konjunktion dann (im Text hervorgehoben). Es ist zu<br />
fragen, ob Bonhoeffer an den § 17 von KD I/2 gedacht hat, bei dem er<br />
die Wendung von Religionskritik (in Abschnitt 2 <strong>des</strong> § 17) zur offenbarungstheologischen<br />
Religionswürdigung (in Abschnitt 3) beobachtet,<br />
die er dann als Offenbarungspositivismus titulierte.<br />
103) R. GRUHN, Religionskritik als Aufgabe der <strong>Theologie</strong>, in: EvTh 39,<br />
1979, 234–255, Zitat 255.<br />
104) Zitiert nach Karl Barth Gesamtausgabe 14, Zürich 1982, 306 ff.; Bezug<br />
317.<br />
75
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 76<br />
A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
gion«.105 Um von wahrer Religion sprechen zu können, muß<br />
notwendig der Gnadencharakter betont werden. Wahre Religion<br />
lebt »durch Gnade von Gnade«106. Das Gefälle Gnade<br />
– Religion wird groß, wo die Frage nach der Religion<br />
ungebrochen eine »theologische Fragestellung«107 bleiben<br />
soll, wo Gott »souverän«108 am Menschen handelt.<br />
Offenbarung und Religion sind nicht systematisch zusammenzuordnen,<br />
»d. h. als vergleichbare Bereiche nebeneinanderzustellen,<br />
gegeneinander abzugrenzen und miteinander<br />
in Beziehung zu setzen« (320). Das Verhältnis von<br />
Religion und Offenbarung ist also nicht dialektisch zusammenzudenken.<br />
K. Barth verwendet den Begriff ›dialektisch‹<br />
auch gar nicht in diesem Zusammenhang; vielmehr geht es<br />
um die »Überlegenheit« (321) der Offenbarung über die<br />
Religion. <strong>Eine</strong>r »theologischen Betrachtung der Religion«<br />
(326 f.) folgend, spricht K. Barth konsequent von der Offenbarung<br />
her über Religion (etwa gegen G. Hegel 325 f.). So<br />
ist die anthropologische Frage, was Religion sei, von der<br />
theologischen Fragestellung nach der Offenbarung zu beantworten.<br />
»In der Offenbarung sagt Gott dem Menschen,<br />
daß er Gott und daß er als solcher sein, <strong>des</strong> Menschen, Herr<br />
ist« (328). Doch indem sich Gott offenbart, trifft er den Menschen<br />
nicht in einem »neutralen Zustand« (329) an, sondern<br />
als »religiös(en) Menschen«, d. h. als solchen, der Gott von<br />
sich aus erkennen will (329). Religion wird <strong>des</strong>halb zum<br />
»Widerstand« gegen Offenbarung: Sie schiebt »an die Stelle<br />
der göttlichen Wirklichkeit, die sich uns in der Offen-<br />
105) KD I/2, 357.<br />
106) Ibid, 304 und 325.<br />
107) Ibid, 323.<br />
108) Ibid, 322.<br />
76
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 77<br />
3. Aus dem Schatten der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
barung darbietet und darstellt, ein Bild von Gott, das der<br />
Mensch sich eigensinnig und eigenmächtig selbst entworfen<br />
hat« (329). Für K. Barth ist resümierend deutlich, »es ist<br />
Gottes Offenbarung in Jesus Christus und sie allein, durch<br />
die diese Charakterisierung der Religion als Götzendienst<br />
und Werkgerechtigkeit und damit ihre Entlarvung als<br />
Unglaube wirklich vollzogen wird« (343). Religion kann<br />
vom Offenbarungsgeschehen her dann unter den Stichworten<br />
›Nicht-Notwendigkeit‹ (344), ›Schwäche‹ (345), ›Mystik‹<br />
(348 f.) und ›Atheismus‹ (348 f.) charakterisiert werden.<br />
Wir beobachten: Die Religionskritik mündet mit der<br />
›Kirchlichen Dogmatik‹ in eine offenbarungspositive Religionsbetrachtung,<br />
statt – wie Bonhoeffer es erwartet – zu<br />
einer nichtreligiösen Interpretation zu führen. An die Stelle<br />
der nichtreligiösen Interpretation von biblischen Begriffen<br />
tritt bei Barth eine offenbarungspositive Interpretation von<br />
Religion.<br />
Bonhoeffer hat von K. Barth durch KD I/2 keine wegweisenden<br />
Impulse für seine Religionskritik erhalten.109<br />
Hat Barth beispielsweise den Gesetzescharakter von Religion<br />
in KD I/2 kritisiert, so erwartet Bonhoeffer eine nichtreligiöse<br />
oder auch gesetzesfreie Interpretation der biblischen<br />
περιτοµή. Er möchte den religionskritischen Ansatz<br />
von Barth kritisch weiterdenken, ihn nicht institutionalisieren<br />
und einen theologischen Religionsbegriff ausbilden:<br />
Wird Religion kritisiert, so ist die Konsequenz, ohne<br />
Religion von Gott zu reden. Kritisiert Offenbarungsposi-<br />
109) Das würde auch erklären, warum an den beobachteten Stellen der<br />
Ethik, an denen Barthsche Terminologie begegnet, diese auf ›Sanctorum<br />
Communio‹ und damit den frühen K. Barth zurückweist.<br />
77
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 78<br />
A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
tivismus die Theoriebildung von Religion, so meint Religionslosigkeit<br />
bei Bonhoeffer die Theorielosigkeit von Religion.<br />
Für Barth ist Religion eine anthropologische Größe. Sie<br />
gehört zum sündhaften Sein <strong>des</strong> Menschen: Wie der Mensch<br />
nicht ohne Sünde sein kann, so haftet ihm auch Religion an.<br />
Wie der Sünder gerechtfertigt wird, so auch die dem Menschen<br />
anhaftende Religion. Religion wird zum integrativen<br />
Bestandteil der Dogmatik und findet einen festen theologischen<br />
Ort in der Rechtfertigungslehre. Im Rahmen der reformatorischen<br />
Lehre von der iustificatio impii wird auch<br />
die Religion, sofern sie christliche, wahre Religion ist, im<br />
Lichte der Offenbarung gerechtfertigt.110 Bonhoeffer hingegen<br />
möchte den Menschen gerade nicht mit, sondern<br />
ohne Religion verstehen. Er reflektiert auch an keiner Stelle<br />
seines Werkes den Zusammenhang von Sünden- und Religionsverständnis!<br />
Im Gegenteil: In der Tegeler <strong>Theologie</strong><br />
soll der Mensch gerade nicht auf seine Sündhaftigkeit angesprochen<br />
werden, sondern auf seine Mündigkeit. Es geht<br />
nicht um den religiösen Menschen – im Sinne K. Barths –,<br />
sondern um den religionslosen. Und ist dem religionslosen<br />
Menschen durch ein neues Verständnis von Religion geholfen?<br />
Bonhoeffer meint im Brief vom 30. 4., daß für den »reli-<br />
110) Vgl. auch C. GREEN, The Sociality of Christ and Humanity, <strong>Dietrich</strong><br />
Bonhoeffer’s early Theology 1927–133, Missula/Montana,<br />
1975, 309: »[...] there is no sense in which his [Bonhoeffer’s, R.W.]<br />
contemporary reinterpretation of Christianity involves any rehabilitation<br />
or justification of religion as he defines it. In this his<br />
position is different from Barth who, after his attack on all religion<br />
(including Christianity) as unbelief, presents a view of Christianity<br />
as ›true religion‹ under the rubric of the doctrine of justification by<br />
grace.«<br />
78
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 79<br />
3. Aus dem Schatten der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
gionslosen Arbeiter« mit dem Offenbarungspositivismus,<br />
der »im wesentlichen Restauration« geblieben sei, nichts<br />
Entscheiden<strong>des</strong> gewonnen ist (WEN 306). In der Religionslosigkeit<br />
bekomme vielmehr die Arkandisziplin »neue<br />
Wichtigkeit« (ibid).<br />
Steht K. Barths Offenbarungspositivimus im Zusammenhang<br />
mit Religion, so <strong>Bonhoeffers</strong> nichtreligiöse Interpretation<br />
in einer Dialektik mit der Arkandisziplin: Die<br />
›Jungfrauengeburt‹ und die ›Trinität‹111 werden besser der<br />
Arkandisziplin unterworfen, angebetet und vor Profanierung<br />
geschützt, als regulär-dogmatisch expliziert.<br />
d) Andere Stimmen<br />
Offenbarungspositivismus zielt nach der vorangegangenen<br />
Untersuchung auf den Religionsbegriff K. Barths ab und<br />
nicht auf seine Offenbarungslehre, wie andere Interpreten<br />
meinen.<br />
R. Prenter 112 ordnet Barths Offenbarungslehre unter den Gesichtspunkten<br />
›Aktualismus‹, ›Analogismus‹ und ›Universalismus‹. Aktualismus<br />
bedeutet: »Die Offenbarung als solche hat keine Ausdehnung<br />
in der Zeit. Sie geschieht je und je« (22). Analogismus ist<br />
»das auf die Offenbarung Hinweisende oder das die Offenbarung<br />
gleichnisweise Abspiegelnde in dieser Welt« (27). Universalismus »ist<br />
die Betonung der Überzeitlichkeit der Offenbarung« (29). R. Prenter<br />
gewinnt die drei Gesichtspunkte der Offenbarungslehre K. Barths<br />
aus <strong>des</strong>sen ›Römerbrief‹ von 1922 und hält sie dann pauschalisierend<br />
in der ganzen KD für bestimmend. In der Tat beobachteten wir<br />
einen von K. Barth verschiedenen Akzent in der Offenbarungslehre<br />
bereits 1929. In ›Akt und Sein‹ setzt sich Bonhoeffer mit dem Aktualismus<br />
K. Barths auseinander und kommt zu der – auch bei R. Pren-<br />
111) Vgl. WEN 312.<br />
112) R. PRENTER, art. cit. 1960, (FN 82) 11–41.<br />
79
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 80<br />
A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
ter zitierten – Formel: »Gott ist frei nicht vom Menschen, sondern<br />
für den Menschen« (36). R. Prenter möchte beobachten, daß K. Barth<br />
sich mit der KD im Unterschied zum ›Römerbrief‹ von der Welt abwendet<br />
– »der Ewigkeit zu« (38) – und damit dem spekulativen Zug<br />
der Scholastik verfalle. Deshalb sei der Einwand <strong>des</strong> Offenbarungspositivismus<br />
aus der Sicht <strong>Bonhoeffers</strong> gerechtfertigt (41). Prenter<br />
definiert: »Unter Offenbarungspositivismus versteht Bonhoeffer<br />
eine Verkündigung der Offenbarung Gottes, die ihre Wahrheiten<br />
zur bloßen Annahme präsentiert, ohne ihre Beziehung zum Leben<br />
<strong>des</strong> Menschen in der mündigen Welt klarmachen zu können« (21).<br />
Im weiteren Sinn mag das Ergebnis richtig sein, aber es erklärt nicht,<br />
woran sich der Einwand entzündet. R. Prenter beobachtet nicht den<br />
Zusammenhang von Offenbarungspositivismus und Religionsverständnis.<br />
Er versucht statt <strong>des</strong>sen, den Vorwurf <strong>des</strong> Offenbarungspositivismus<br />
allein von Barths Offenbarungslehre her zu interpretieren,<br />
sieht sich dann vor das Problem gestellt, die Offenbarungslehre<br />
insgesamt darzustellen und so zu generalisieren. 113 Oben<br />
wurde hingegen festgestellt, daß etwa die offenbarungstheologische<br />
Akzentverschiebung hinsichtlich <strong>des</strong> Aktualismus in ›Akt<br />
und Sein‹ durch ›Widerstand und Ergebung‹ keinen offenbarungstheologischen,<br />
sondern einen religionskritischen Akzent trägt. Dies<br />
entsprach den formalen Beobachtungen der Briefe: Die Kritik an<br />
Barth wird im Kontext von Religion geführt – und nur dort!<br />
Der Vorwurf <strong>des</strong> Offenbarungspositivismus steht in den<br />
Briefen aus der Tegeler Zelle in direktem Zusammenhang<br />
mit der Barthschen Religionskritik und ist sachlich nicht<br />
von der Offenbarungslehre an sich, sondern von dem offen-<br />
113) Dieses Verfahren R. PRENTERs wird schon früh kritisiert. R. G.<br />
SMITH schreibt: »Prenter, for all his anxiety to do justice both to<br />
Barth and Bonhoeffer, does not, it seems to me, suceed in being entirely<br />
convincing. It is doubtful wether Bonhoeffer can really be<br />
understood on the basis that he is one of Barth’s school« (Introduction<br />
to ›World come of Age‹, London 1967, 10).<br />
80
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 81<br />
3. Aus dem Schatten der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
barungstheologischen Religionsverständnis her zu erklären.<br />
So ist Prenters freilich pauschalisierende Beobachtung<br />
eines unterschiedlichen Offenbarungsverständnisses von<br />
›Römerbrief‹ und KD richtig, wäre dann aber auf das Religionsverständnis<br />
von KD I/2 zu beziehen, um zum Verständnis<br />
<strong>des</strong> Offenbarungspositivismus beizutragen.<br />
B.-E. Benktson hat zu Recht auf den engen Zusammenhang<br />
von K. Barths und <strong>Bonhoeffers</strong> Religionskritik<br />
hingewiesen. Auch hebt er die enge Verklammerung von<br />
Religionskritik und nichtreligiöser Interpretation bei Bonhoeffer<br />
hervor,114 ohne jedoch diese Beobachtung auf den<br />
Zusammenhang von Religionskritik und offenbarungstheologischer<br />
Religionswürdigung bei K. Barth anzuwenden.<br />
Das ist zum einen darauf zurückzuführen, daß B.-E.<br />
Benktson nicht die formale Struktur der Briefe vom 30. 4.,<br />
5. 5. und 8. 6. 44 beobachtet, wonach die Würdigung der<br />
Barthschen Religionskritik und die <strong>Bonhoeffers</strong>che Kritik<br />
an Barths offenbarungstheologischer Religionswürdigung<br />
in der Klammer zwischen Religionskritik und nichtreligiöser<br />
Interpretation in den Tegeler Briefen reflektiert werden.<br />
Zum anderen geht B.-E. Benktson inhaltlich von einem<br />
anderen Religionsbegriff bei K. Barth aus, der das offenba-<br />
114) B.-E. BENKTSON, art. cit. 1964 (s. FN 92), 83, stellt zunächst <strong>Bonhoeffers</strong><br />
Religionskritik hinsichtlich der ›Arbeitshypothese Gott‹<br />
dar und leitet dann zur nichtreligiösen Interpretation bei Bonhoeffer<br />
mit den Worten über: »Deshalb kreisen seine (<strong>Bonhoeffers</strong>)<br />
Gedanken um die Notwendigkeit einer neuen, nichtreligiösen<br />
Deutung der biblischen Begriffe« (83, Übers. R. W.). Das »Deshalb«<br />
unterstreicht für B.-E. BENKTSON die enge Verklammerung von<br />
Religionskritik und nichtreligiöser Interpretation.<br />
81
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 82<br />
A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
rungstheologische Gefälle Offenbarung – Religion nicht beachtet.<br />
B.-E. Benktson versteht den Barthschen Religionsbegriff<br />
ohne Differenzierung vom ›Römerbrief‹ bis hin zur<br />
KD als ›dialektisch‹ und setzt ihn darüber hinaus mit P. Tillichs<br />
und <strong>Bonhoeffers</strong> Religionsbegriff gleich.115 Uns hingegen<br />
ist deutlich, daß Barths Religionsverständnis vom<br />
›Römerbrief‹ über die ›Dogmatik im Entwurf‹ bis hin zur<br />
KD ›dualistisch‹ im Sinne eines deutlichen Gefälles Offenbarung<br />
– Religion bestimmt ist. Da B.-E. Benktson den Religionsbegriff<br />
K. Barths dialektisch versteht und nicht das<br />
offenbarungstheologische Gefälle der Religionswürdigung<br />
von KD I/2 beachtet, ist es wenig verwunderlich, keine<br />
Lösung zum Problemfeld Offenbarungspositivismus vorzufinden.<br />
Wäre Barths oder <strong>Bonhoeffers</strong> Religionsbegriff<br />
nämlich dialektisch, so wäre der Vorbehalt <strong>des</strong> Offenbarungspositivismus<br />
auf Seiten <strong>Bonhoeffers</strong> sinnlos. Gerade<br />
der dualistische Ansatz und das damit gesetzte offenbarungstheologische<br />
Gefälle (von Gnade zu Religion) macht<br />
die dezidierte Akzentuierung der Offenbarung notwendig.<br />
Wird Religion von der Offenbarung her kritisiert, so stellt<br />
sich zwangsläufig bei dem Versuch einer Würdigung der<br />
Religion eine Gewichtung der Offenbarung ein.<br />
115) Vgl. B.-E. BENKTSON, Christus und die Religion, Stuttgart 1967,<br />
59. So auch K.-H. NEBE, ›Religionslose‹ Interpretation bei <strong>Dietrich</strong><br />
Bonhoeffer und ihre Bedeutung für die Aufgabe der Verkündigung,<br />
Diss. 1963, 165 f., der zwar den Unterschied zwischen P. Tillich<br />
und K. Barth im Religionsverständnis deutlich herausarbeitet<br />
(170 ff.), aber K. Barths Religionsbegriff vom ›Römerbrief‹ bis zu KD<br />
I/2 als »dialektisch« versteht (165).<br />
82
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 83<br />
3. Aus dem Schatten der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
e) Erweiterung <strong>des</strong> Begriffs?<br />
Offenbarungspositivismus ist also das »Ergebnis der Religionskritik«116<br />
Karl Barths, und zwar das negative, unerwartete<br />
Ergebnis. Das Ergebnis, das Bonhoeffer aus der<br />
Religionskritik erwartete, ist die nichtreligiöse Interpretation<br />
biblischer Begriffe. Sie bildet <strong>des</strong>halb den »kontrastierenden<br />
Gegenbegriff«117 zu Offenbarungspositivismus.<br />
Bonhoeffer möchte von der Inkarnation118 zur Welt denken<br />
und nicht positivistisch von der Gnade zur Kirche.<br />
Offenbarungspositivismus erfährt bereits bei Bonhoeffer<br />
eine gewisse Erweiterung. In gleicher Weise nämlich, wie er<br />
Barths Religionskritik schon vor KD I/2 würdigt, bleibt auch<br />
die Kritik <strong>des</strong> Offenbarungspositivismus nicht auf die Religionswürdigung<br />
von KD I/2 beschränkt, sondern weitet sich<br />
für Bonhoeffer auf kirchenpolitische Kontroversfragen aus.<br />
Im ›Entwurf‹ schreibt Bonhoeffer: »Barth und die Bekennende Kirche<br />
führen dazu, daß man sich immer wieder hinter den ›Glauben<br />
der Kirche‹ verschanzt und nicht ganz ehrlich fragt und konstatiert,<br />
was man selbst eigentlich glaubt« (WEN 415). Zum Stichwort<br />
»Bekennende Kirche« heißt es unter Einbeziehung <strong>des</strong> antiken Archime<strong>des</strong>-Satzes:<br />
»Offenbarungstheologie; ein δς µοί που στω<br />
gegenüber der Welt; um sie herum ein ›sachliches‹ Interesse am<br />
116) H.-J. KRAUS, Theologische Religionskritik, Neukirchen 1982, 20.<br />
117) H.-J. KRAUS, op. cit. 33, weist auf die angemessene Fragestellung<br />
hin, ohne sie jedoch – im Sinne unserer Analyse – richtig zu beantworten<br />
(34 ff.).<br />
118) Bonhoeffer reflektiert den Zusammenhang von Offenbarungspositivismus<br />
und Inkarnationstheologie, wenn er am 5. 5.1944 schreibt:<br />
»Der Offenbarungspositivismus macht es sich zu leicht, indem er<br />
letztlich ein Gesetz <strong>des</strong> Glaubens aufrichtet und indem er das, was<br />
eine Gabe für uns ist – durch die Fleischwerdung Christi! –, zerreißt«<br />
(WEN 312).<br />
83
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 84<br />
A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />
Christentum« (413). Bonhoeffer scheint den Vorwurf <strong>des</strong> Offenbarungspositivismus<br />
gegen K. Barth auf die Bekennende Kirche zu<br />
erweitern. Scheinbar eignet sich die Schlagkraft <strong>des</strong> Begriffs für diese<br />
Erweiterung. Doch bleibt er damit zweideutig; am 5. 5.1944 heißt<br />
es zunächst, daß die »Bekennende Kirche [...] den Barthschen Ansatz<br />
überhaupt vergessen« habe und »vom Positivismus in die konservative<br />
Restauration geraten« sei (359). Dann ist im selben Brief zu<br />
lesen, daß durch eine nichtreligiöse Interpretation die Liberale<br />
<strong>Theologie</strong> »überwunden« sei; »zugleich aber ist ihre Frage wirklich<br />
aufgenommen und beantwortet (was im Offenbarungspositivismus<br />
der B. K. nicht der Fall ist!)« (360). Einmal wird die Bekennende Kirche<br />
<strong>des</strong> ›Offenbarungspositivismus‹ bezichtigt, ein anderes Mal der<br />
›Restauration‹. Bonhoeffer scheint mit der Erweiterung <strong>des</strong> gegen K.<br />
Barth gerichteten Einwands zu zögern. Das legt auch die Wendung<br />
vom »Offenbarungspositivismus der B. K.« nahe; der Begriff erfährt<br />
eine gewisse Selbständigkeit. 119<br />
f) Ergebnis<br />
Bonhoeffer, der selber keinen Religionsbegriff geschweige<br />
denn eine Religionstheorie ausbilden wollte, kritisiert unter<br />
dem Stichwort Offenbarungspositivismus jenes Anliegen<br />
Barths von KD I/2, das auf eine solche Begriffsbildung<br />
von Religion hinausläuft: Religion wird als anthropologisches<br />
Phänomen letztlich bejaht und nicht (wie auch beim<br />
frühen Barth) als geistesgeschichtliche Größe betrachtet.<br />
119) Vgl. zur Interpretation dieses Halbsatzes A. PANGRITZ, Karl Barth<br />
in der <strong>Theologie</strong> <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong>, 1989, 82 ff. A. Pangritz geht<br />
davon aus, daß die erweiterte Polemik sich gegen H. Asmussen und<br />
lutherische Kreise innerhalb der Bekennenden Kirche richtet. Das<br />
lege auch der Zusammenhang mit R. Bultmann im Brief vom<br />
8. 6. 1944 nahe, über den Bonhoeffer noch hinausgehen möchte<br />
(ähnlich am 5. 5.). H. Asmussen hingegen verteidige »den positivistisch-theologischen<br />
Besitzstand gegenüber der vermeintlichen<br />
Dämonie Bultmanns « (85).<br />
84
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 85<br />
B. Von der Religionskritik<br />
zur Religionslosigkeit<br />
1. Von der dialektisch-theologischen Religionskritik<br />
zur Rezeption <strong>des</strong> deutschen Historismus<br />
In Abschnitt A habe ich <strong>Bonhoeffers</strong> Weg von der Religionswürdigung<br />
zur Religionskritik nachgezeichnet. Die erste<br />
Veränderung im Religionsverständnis <strong>Bonhoeffers</strong> war zu<br />
interpretieren. Gegenstand der Untersuchung bildeten religionswürdigende<br />
und religionskritische Aussagen. Die Frage<br />
lautete: Woher stammen Würdigung und Kritik der Religion?<br />
Mit den Tegeler Briefen begegnen Aussagen, die sich<br />
nicht mehr vor dem Hintergrund der Liberalen oder der<br />
Dialektischen <strong>Theologie</strong> interpretieren lassen; Bonhoeffer<br />
tritt aus dem Schatten Barthscher <strong>Theologie</strong> und Religionskritik.<br />
Doch was tritt an die Stelle eines vermeintlichen<br />
›Offenbarungspositivismus‹? Was ersetzt die dialektischtheologische<br />
Entgegensetzung von Offenbarung und Religion?<br />
Bemerkenswert ist, daß Bonhoeffer weiter Barths<br />
Religionskritik ausdrücklich würdigt, auch wenn sie terminologisch<br />
nicht mehr begegnet. Statt der dialektischtheologischen<br />
Entgegensetzung von Offenbarung und Religion,<br />
wie sie noch in der ›Ethik‹ <strong>Bonhoeffers</strong> aufweisbar<br />
ist, sieht er in der Tegeler <strong>Theologie</strong> eine religionslose Zeit<br />
anbrechen. In diesem Abschnitt frage ich: Woher stammt<br />
<strong>Bonhoeffers</strong> Rede von der Religionslosigkeit?<br />
85
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 86<br />
B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />
a) Zur neuen Terminologie:<br />
Der erste große theologische Brief aus der Tegeler Gefängniszelle<br />
vom 30. 4. 1944 wirft die Frage auf:<br />
»Wie sprechen wir von Gott – ohne Religion, d. h. eben ohne die<br />
zeitbedingten Voraussetzungen der Metaphysik, der Innerlichkeit<br />
etc.?« (WEN 306).<br />
Religion wird unter den zeitbedingten Voraussetzungen als<br />
›Metaphysik‹ und ›Innerlichkeit‹ beschrieben. Im Brief vom<br />
5.5.1944 liest man wieder: »[...] religiös interpretieren [...]<br />
heißt m. E. einerseits metaphysisch, andrerseits individualistisch<br />
reden« (WEN 312).<br />
Was Religion in Form von Metaphysik bedeutet, entfaltet<br />
Bonhoeffer unter den Aspekten ›Gott‹ als ›Arbeitshypothese‹<br />
(WEN 393.413), ›Lückenbüßer‹ (WEN 341.413), ›Deus<br />
ex machina‹ (WEN 307. 394, vgl. auch 374). Die beiden zuletzt<br />
genannten Aspekte kann er auch unter den Sammelbegriff<br />
›naturwissenschaftliche Arbeitshypothese‹ stellen (vgl.<br />
WEN 393). Wendet sich die Kritik der ›Metaphysik‹ gegen<br />
religiös verstandene Transzendenz Gottes, so die der ›Innerlichkeit‹<br />
gegen mißverstandene Immanenz.<br />
»Die Zeit der Religion [...] war eine ›Zeit der Innerlichkeit und <strong>des</strong><br />
Gewissens‹« (WEN 305).<br />
›Religion als Innerlichkeit‹ kritisiert Bonhoeffer unter den<br />
Aspekten ›Partielles‹ (WEN 396.377 f.), ›religiös Bevorzugte‹<br />
(WEN 306 f.), ›Vormund Gott‹ (WEN 357 f.).<br />
Vergleichen wir die religionskritische Begrifflichkeit<br />
von ›Widerstand und Ergebung‹ mit der vor 1944, so fällt<br />
eine terminologische Veränderung auf. Die Frage soll zunächst<br />
rezeptionsgeschichtlich lauten: Woher kommen die<br />
Begriffe ›Metaphysik‹ und ›Innerlichkeit‹, die im Zusammenhang<br />
mit der These von der Religionslosigkeit stehen?<br />
86
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 87<br />
1. Rezeption <strong>des</strong> Historismus<br />
E. Feil1 und Chr. Gremmels2 haben zur selben Zeit,<br />
aber voneinander unabhängig, einen Zusammenhang zwischen<br />
diesen Begriffen und der Lektüre entdeckt, die Bonhoeffer<br />
während seiner Inhaftierung (besonders im Frühsommer<br />
1944) studiert. Er befaßt sich intensiv mit dem<br />
Historismus Wilhelm Diltheys3 und bestellt seit Januar<br />
1944 wiederholt Schriften <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong>philosophen in die<br />
Gefängniszelle.4 Es müsste sich also auch eine Lesefrucht in<br />
den Briefen zeigen.<br />
Chr. Gremmels hat in seiner Untersuchung5 Bonhoeffer-Zitate<br />
aus WEN und Aussagen W. Diltheys aus ›Weltanschauung<br />
und Analyse <strong>des</strong> Menschen seit Renaissance und<br />
Reformation‹ (= Weltanschauung und Analyse, Kürzel: WuA)<br />
gegenübergestellt. Dabei zeigten sich wörtliche Übereinstimmungen<br />
in den Äußerungen über:<br />
1) E. FEIL, Die <strong>Theologie</strong>, 355 ff.<br />
2) CHR. GREMMELS, Mündige Welt und Planung. <strong>Eine</strong> sozialethische<br />
Untersuchung zum Verhältnis von Planung und Geschichte,<br />
Marburg 1970 (= Mündige Welt und Planung).<br />
3) Zur Charakterisierung von W. Diltheys Philosophie als einer »geschichtlichen<br />
<strong>Lebens</strong>philosophie« vgl. O. F. BOLLNOW, Dilthey.<br />
<strong>Eine</strong> Einführung in seine Philosophie (= Dilthey), 2. Aufl. 1955, 35.<br />
4) Vgl. die Briefe vom 14. 1. 1944 (WEN 210: hier erste Nennung Diltheys,<br />
dann WEN 212 und WEN 229); vom 5. 2. 1944 (WEN 235: »Von<br />
Klaus bekam ich Dilthey: ›Von deutscher Dichtung und Musik‹);<br />
außerdem hat Bonhoeffer von seinem Vater ›Das Erlebnis und die<br />
Dichtung‹ erhalten (vgl. Nl 216); im Brief vom 2.3.1944 schreibt<br />
Bonhoeffer an die Eltern: »Könnt Ihr mir bitte Dilthey: ›Weltanschauung<br />
und Analyse <strong>des</strong> Menschen seit Renaissance und Reformation‹<br />
beschaffen« (WEN 255).<br />
5) CHR. GREMMELS, Mündige Welt und Plaung, 13 f. (Nachfolgende<br />
Zitate beziehen sich auf dieses Buch.)<br />
87
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 88<br />
B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />
I. G. Bruno WEN 408 = WuA 341 (›Freundschaft‹),<br />
II. B. de Spinoza WEN 408 = WuA 429 (›Affekte‹),<br />
III. H. von Cherbury WEN 392 f. = WuA 248 f. (›Autonomie‹).<br />
Darüber hinaus beobachtet Chr. Gremmels (14 f.) an einschlägigen<br />
Stellen von ›Weltanschauung und Analyse‹6, daß<br />
Bonhoeffer Reflexionen über ›Mündigkeit und Autonomie<br />
<strong>des</strong> Menschen‹ »von Dilthey übernommen hat. Über die<br />
formalen hinaus lassen sich jedoch auch materiale Bezüge<br />
feststellen, welche die Dilthey-Lektüre <strong>Bonhoeffers</strong> aus der<br />
Ebene bloßer Zufälligkeit herausheben« (15). Zu diesen<br />
zählt Chr. Gremmels den für Bonhoeffer und W. Dilthey<br />
gleichermaßen geltenden »interpretatorischen Schlüsselbegriff«:<br />
›Diesseitigkeit‹ (15).<br />
Aus W. Diltheys Beobachtung ›Von der Erde geht jede<br />
Betrachtung aus‹ leitet Chr. Gremmels eine »Kritik der<br />
Transzendenz im Namen der Erde« ab (15). »Es geht nicht<br />
mehr um die schlecht gestellte Alternative zwischen Immanenz<br />
oder Transzendenz, ›Erde‹ oder ›Himmel‹, sondern um<br />
die Vermittlung der in diesen Kategorien niedergelegten<br />
Intentionen« (16). Bonhoeffer findet diese Vermittlung,<br />
wenn er formuliert: »Gott ist mitten in unserm Leben jenseits«<br />
(bei Chr. Gremmels 16). Wir müssen allerdings beobachten,<br />
daß Bonhoeffer nicht formuliert: ›Gott ist mitten<br />
auf der Erde jenseitig‹.<br />
Chr. Gremmels faßt die Akzentverschiebung gegenüber<br />
W. Dilthey prägnant: »Bonhoeffer mußte die erkenntnistheoretische<br />
Kritik der ›Diesseitigkeit‹ durch eine offenbarungstheologische<br />
Kritik ersetzen« (16 f., Begründung, 17).<br />
Über W. Dilthey gehe Bonhoeffer hinaus durch die »Ver-<br />
6) Etwa Weltanschauung und Analyse, 90 ff.<br />
88
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 89<br />
1. Rezeption <strong>des</strong> Historismus<br />
klammerung geistesgeschichtlicher und christologischer<br />
Elemente im Begriff ›Mündigkeit‹« (22). Chr. Gremmels erläutert<br />
in einem Doppelsatz:<br />
»Der Begriff der mündigen Welt interpretiert das Ende einer bestimmten<br />
weltgeschichtlichen Entwicklung, er ist historisch bzw.<br />
geistesgeschichtlich zu verstehen. [...] Der Begriff der mündigen<br />
Welt interpretiert den Anfang der heilsgeschichtlichen Entwikklung,<br />
er ist christologisch zu verstehen« (22).<br />
Neben dem Begriff der ›Mündigkeit‹ sieht Chr. Gremmels<br />
einen Zusammenhang zwischen der naturwissenschaftlichen<br />
Gefängnislektüre <strong>Bonhoeffers</strong> und dem Terminus<br />
›Arbeitshypothese Gott‹7. Dieser Begriff wird zu einem<br />
bedeutenden Arbeitsbegriff <strong>Bonhoeffers</strong> und dann erweitert<br />
zur ›religiösen‹, ›politischen‹, ›moralischen‹ und ›philosophischen<br />
Arbeitshypothese Gott‹ (vgl. WEN 393). Am<br />
Ende der Geschichtsreflexion <strong>des</strong> Briefes vom 16. 7. 1944<br />
fragt Bonhoeffer dann: »Wo behält nun Gott noch Raum«<br />
(WEN 393). Diese Frage könnte m. E. ebenfalls von C. F. v.<br />
Weizsäckers Buch motiviert sein, in dem es an oben zitierter<br />
7) Bei C. F. v. WEIZSÄCKER, Weltbild der Physik, konnte Bonhoeffer<br />
den Satz lesen: »Mögen auch die Hypothesen von Laplace im einzelnen<br />
falsch gewesen sein, so muß sich doch gewiß jeder Naturforscher<br />
das Ziel setzen, in seinem Arbeitsbereich die Hypothese Gott<br />
überflüssig zu machen« (zit. nach Chr. Gremmels 26; Hervorh.<br />
R. W.). Es ist durchaus denkbar, daß Bonhoeffer die Worte ›Arbeits(bereich)<br />
(der) Hypothese Gott‹ zu »Arbeitshypothese Gott«<br />
zusammengezogen hat (26, Anm. 3). Das Wort »Arbeitshypothese«<br />
wird zwar beiläufig schon in einem Ethik-Fragment von 1941 einmal<br />
erwähnt (Ethik [DBW 6] 106); hier aber wird die »ratio [...] zur<br />
Arbeitshypothese«. Die Begriffsbildung ›Arbeitshypothese Gott‹ –<br />
wie sie dann durchgängig in WEN wichtig wird – ist nicht vorbereitet.<br />
89
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 90<br />
B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />
Stelle über J. Kepler und I. Newton heißt: »Für Kepler deuten<br />
die positiven Erkenntnisse der Wissenschaft auf Gott,<br />
während für Newton gerade nur ihre Lücken noch für Gott<br />
Raum lassen«.8<br />
Im Brief vom 16. 7.1944 erkennen wir deutlich, wie Bonhoeffer<br />
die von W. Dilthey stammende Geschichtsreflexion<br />
über die ›mündig gewordene Welt‹ im Blick auf die moderne<br />
Physik erweitert. Durch C. F. v. Weizsäcker gewinnt er<br />
den Begriff der ›Arbeitshypothese‹, den er dann auf W. Dilthey<br />
anwendet – etwa im Blick auf die ›moralische‹ und<br />
›politische Arbeitshypothese‹ – und zugleich um die ›naturwissenschaftliche<br />
Arbeitshypothese‹ ergänzt. Bonhoeffer<br />
nimmt offenbar C. F. v. Weizsäckers Argument hinein in<br />
den Historismus W. Diltheys.<br />
E. Feil hat sich in verschiedenen Publikationen mit der<br />
Religionsthematik <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong> beschäftigt.9 Wie<br />
Chr. Gremmels beobachtet er einen deutlichen Einfluß Diltheys<br />
auf <strong>Bonhoeffers</strong> Briefe aus Tegel.10 Dabei kommt den<br />
Briefen aus der ersten Hälfte <strong>des</strong> Jahres 1944 große Bedeutung<br />
zu; sie sind im einzelnen datiert auf den 23.1., 9.3.,<br />
30. 4., 8. 6. und 16. 7. 1944.<br />
Nach E. Feil (356) stammt das Lessing-Zitat im Brief<br />
vom 23. 1. 1944 (WEN 215) aus W. Dilthey, Das Erlebnis und<br />
8) Op. Cit., 26.<br />
9) Vgl. etwa Religionsloses Christentum und nichtreligiöse Interpretation<br />
bei Bonhoeffer, in: ThZ 25, 1968, 40–48. Zum Zusammenhang<br />
mit W. Dilthey erstmals in dem Aufsatz: Der Einfluß Wilhelm<br />
Diltheys auf <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong> Widerstand und Ergebung,<br />
in: EvTh 29, 1969, 662–674. Ausführlicher später in: Die <strong>Theologie</strong>,<br />
1971 (inzw. 4. Aufl. 1991), 355 ff.<br />
10) E. FEIL, Die <strong>Theologie</strong>, 355 f.<br />
90
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 91<br />
1. Rezeption <strong>des</strong> Historismus<br />
die Dichtung.11 Der Begriff ›Weltlichkeit‹ in dem Brief vom<br />
9.3.1944 (WEN 258) ist aufgrund der Lektüre ›Von deutscher<br />
Dichtung und Musik‹ entstanden (vgl. Brief vom 5. 2.1944<br />
WEN 235), die <strong>Bonhoeffers</strong> zu seinem Geburtstag erhalten<br />
hat.12 Die Begriffe ›Metaphysik‹ und ›Innerlichkeit‹, wie sie<br />
seit dem April 1944 wichtig werden (vgl. WEN 305), sind<br />
ebenfalls auf diese Lektüre zurückzuführen und avancieren<br />
bei Bonhoeffer zum Kennzeichen von Religion. Der Begriff<br />
›Mündigkeit‹ sowie die mit ›Autonomie‹ verbundenen Geschichtsreflexionen<br />
in den Briefen vom 8. 6. (WEN 356) und<br />
vom 16. 7. 1944 (WEN 393) gehen auf ›Weltanschauung und<br />
Analyse‹ zurück.13 Ein Überblick:<br />
WEN Begriff/Namen WuA<br />
8. Juni (356) Autonomie 43.95.150.273<br />
16. Juli (393) H. Grotius/H. von Cherbury 248–257<br />
16. Juli (393) M. de Montaigne 24–39<br />
16. Juli (393) J. Bodin 145–153<br />
16. Juli (393) G. Bruno 297–311 + 326 ff.<br />
16. Juli (393) B. de Spinoza 342–358 + 452 ff.<br />
16. Juli (393) »als wenn es keinen Gott gäbe« 280<br />
(H. Grotius)<br />
11) Dieses Buch W. Diltheys trägt die Widmung von <strong>Bonhoeffers</strong> Vater,<br />
der es seinem Sohn zum Geburtstag am 4. 2. 1944 schenken wollte.<br />
Bonhoeffer erwähnt aber eine Dilthey-Lektüre schon seit dem<br />
14. 1. 1944 (WEN 210; vgl. auch WEN 212). Die Übereinstimmung<br />
<strong>des</strong> Lessing-Zitates im Brief vom 23. 1. und der Umstand, daß Bonhoeffer<br />
im Brief vom 5. 2. 1944 (WEN 234 f.) alle zum Geburtstag geschenkten<br />
Bücher aufzählt bis auf obiges, läßt den Schluß zu, daß<br />
Bonhoeffer das Geschenk <strong>des</strong> Vaters schon zuvor erhalten und gelesen<br />
haben wird.<br />
12) Vgl. E. FEIL, Die <strong>Theologie</strong>, 357.<br />
13) Vgl. E. FEIL, Die <strong>Theologie</strong>, 360 f.<br />
91
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 92<br />
B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />
Darüber hinaus beobachtet E. Feil parallel zu Chr. Gremmels,<br />
daß die Zitate WEN 408 von B. de Spinoza und G. Bruno<br />
aus ›Weltanschauung und Analyse‹ (341) stammen.<br />
Zwischenergebnis : Die Studien von E. Feil und Chr.<br />
Gremmels belegen, daß ein Zusammenhang zwischen W.<br />
Dilthey und Bonhoeffer im Hinblick auf einzelne Begriffe<br />
und Namen aus dem Umfeld <strong>des</strong> Historismus besteht. Im<br />
Anschluß an die beiden Bonhoeffer–Interpreten stellt sich<br />
abschließend die Frage, ob auch Diltheys Religionsbegriff<br />
einen Einfluß auf die Tegeler <strong>Theologie</strong> ausgeübt hat.<br />
Nach Dilthey liegt Schleiermachers Größe darin,<br />
»daß er als der Verkündiger einer neuen Religiosität diese zu der<br />
bisherigen Entwicklung <strong>des</strong> Christentums in ein inneres Verhältnis<br />
setzte« (WuA, 339).<br />
Religion und Innerlichkeit gehören für W. Dilthey zusammen<br />
und werden bejaht (vgl. auch WuA, 39.61.216). Metaphysik<br />
wird bei ihm historisch (!) kritisiert. Seit dem 17. Jh.<br />
kann die Metaphysik als geschichtlich überholt gelten<br />
(WuA, 41 f.283.348). Bonhoeffer stimmt in der gemeinsamen<br />
»Frontstellung gegen die Metaphysik«14 mit W. Dilthey<br />
überein. Was heißt das? Er beobachtet bei seinem Dilthey-Studium,<br />
daß es sich in der Metaphysikkritik um eine<br />
historische Kritik handelt, die aus W. Diltheys <strong>Lebens</strong>philosophie<br />
erwächst. Ähnlich wie I. Kant, der nicht ›hinter<br />
die Vernunft‹ zurückgehen kann, gilt für W. Dilthey: »Hinter<br />
das Leben kann das Erkennen nicht zurückgehen.«15<br />
14) E. FEIL, Die <strong>Theologie</strong>, 364.<br />
15) W. DILTHEY, Ges. Schr. Bd. VIII, 184.<br />
92
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 93<br />
1. Rezeption <strong>des</strong> Historismus<br />
Bonhoeffer übernimmt die historische Dimension der<br />
Metaphysikkritik und wendet sie religionskritisch. Ist für<br />
W. Dilthey die Metaphysik geschichtlich überholt, so ist für<br />
Bonhoeffer die ›Zeit der Religion‹ vorüber; er wendet also<br />
den Historismus auf die Religionsthematik an. Dabei übernimmt<br />
er Diltheysche Begrifflichkeit und vor allem seine<br />
Argumentation.<br />
b) Zum Begriff ›religionslos‹<br />
In der Literatur ist die Herkunft <strong>des</strong> Terminus ‹religionslos‹<br />
bislang im Dunkeln geblieben. Obwohl Begriffe wie ›Mündigkeit‹,<br />
›Weltlichkeit‹, ›Metaphysik‹ oder ›Innerlichkeit‹<br />
eindeutig als von W. Dilthey stammend ausgewiesen wurden,<br />
fehlt eine Ableitung zum Begriff ,religionslos‹. Das<br />
erstaunt, denn der Gedanke einer ›religionslosen Zeit‹ begegnet<br />
zunächst implizit, dann auch explizit schon bei W.<br />
Dilthey. Im Band ›Das Erlebnis und die Dichtung‹ heißt es:<br />
»Diese christliche Religion war also notwendig, historisch notwendig,<br />
um eine Zeit herbeizuführen, in welcher sie überflüssig wäre«<br />
(86).<br />
Unter ›christlicher Religion‹ versteht W. Dilthey den »Kreis<br />
von Dogmen«, der sich im »Gegensatz zur Religion Christi«<br />
gebildet habe (ibid). Diese »dogmatischen Blöcke« seien in<br />
der »Zeit der Vernunftentwicklung« (das heißt der Aufklärung)<br />
von Bedeutung gewesen, »um nicht einem öden<br />
Materialismus zu verfallen« (ibid). W. Dilthey möchte mit<br />
G. Lessing an der »Religion im Herzen« festhalten und fordert:<br />
»Wir retten das persönliche Christentum, doch lassen wir die <strong>Theologie</strong>,<br />
ja die Kirche, welche eines objektiven Überzeugungsgrun<strong>des</strong><br />
zu bedürfen scheinen, im Stich« (74).<br />
93
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 94<br />
B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />
Das erinnert an F. Schleiermacher, und in der Tat stellt Dilthey<br />
Schleiermacher auch in diese Ahnenreihe: »Dieser große<br />
echte religiöse Gedanke arbeitet von Spinoza und Pascal<br />
ab bis auf Schleiermacher in allen bedeutenden sittlichen<br />
Naturen« (87).16 Der durch F. Schleiermacher und W. Dilthey<br />
vertretene Religionsbegriff17 wurde unter dem Eindruck<br />
der Dialektischen <strong>Theologie</strong> von Bonhoeffer abgelehnt.<br />
Inwieweit übernimmt er aber den Gedankengang<br />
einer ›christlichen Religion‹, die eine ›Zeit‹ hatte und nun<br />
›überflüssig‹ geworden ist?<br />
Die inhaltliche Unterscheidung von institutionalisierter<br />
Religion, die ihre historische Zeit gehabt hat, und privater<br />
Religion, die zeitlos-innerlich begegnet, kann Bonhoeffer<br />
nicht teilen, wohl aber den Gedankengang auf Religion<br />
16) Vgl. auch W. DILTHEY, Leben Schleiermachers II/2, 508 f.; hier versucht<br />
W. Dilthey unter der Überschrift »Schleiermacher als Reformator<br />
der <strong>Theologie</strong>« (508), F. Schleiermachers Religionsbegriff in<br />
seine historische <strong>Lebens</strong>philosophie einzuordnen. So werden etwa<br />
Religiosität und Weltanschauung in ein Verhältnis zueinander<br />
gesetzt (509). Der Zusammenhang von F. Schleiermacher und W.<br />
Dilthey kann auch von der gemeinsamen philosophischen Wurzel,<br />
von I. Kant, her verstanden werden. I. Kants Begriff der ›transzendentalen<br />
Apperzeption‹ wird bei F. Schleiermacher zu <strong>des</strong>sen<br />
Begriff ›Gefühl‹ (nach der Glaubenslehre 1830/31) und bei W. Dilthey<br />
zu dem <strong>des</strong> ›<strong>Lebens</strong>‹. Zum Verhältnis Kant-Schleiermacher<br />
vgl. aus W. Diltheys ›Leben Schleiermachers‹ den Abschnitt:<br />
»Schleiermacher, der Kant der protestantischen <strong>Theologie</strong>« (531 ff.).<br />
17) F. Schleiermachers und W. Diltheys Religionsbegriff sollen wegen<br />
ihrer inhaltlichen Nähe gemeinsam genannt werden; vgl. K. WEL-<br />
KER, Die grundsätzliche Beurteilung der Religionsgeschichte durch<br />
Schleiermacher, Leiden/Köln 1965; zum Religionsbegriff 33 f.; Zusammenfassung<br />
99; zur Diltheyschen Schleiermacher-Rezeption<br />
bes. 67 und 161.<br />
94
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 95<br />
1. Rezeption <strong>des</strong> Historismus<br />
insgesamt anwenden. Wenn er davon spricht, daß die ›Zeit<br />
der Religion‹ oder die ›Zeit der Innerlichkeit und <strong>des</strong> Gewissens‹<br />
vorüber sei, hat er Dilthey vorausgesetzt. Die Tegeler<br />
<strong>Theologie</strong> radikalisiert den Gedanken noch: Nicht eine Unterscheidung<br />
der Religion tritt in den Blick, sondern der<br />
Angriff wird auf den neuzeitlichen Religionsbegriff insgesamt<br />
(und den <strong>des</strong> 19. Jh. im besondern) geführt. Darin wird<br />
auch W. Diltheys (und F. Schleiermachers) Religionsverständnis<br />
nun gleichsam in einem zweiten Argumentationsgang<br />
auch historisch – und nicht allein systematischtheologisch<br />
– kritisiert.<br />
Bleiben wir noch beim Begriff ›Religionslosigkeit‹; implizit<br />
findet sich der Gedanke also in W. Diltheys ›Das<br />
Erlebnis und die Dichtung‹. Wir finden den Begriff aber<br />
auch explizit bei ihm belegt, und zwar in der ›Einleitung in<br />
die Geisteswissenschaften‹ (= Einleitung)18.<br />
Bonhoeffer erwähnt die ›Einleitung‹ explizit in seiner Vorlesung<br />
über die Systematische <strong>Theologie</strong> <strong>des</strong> 20. Jahrhunderts (= ST20Jh) aus<br />
dem WS 1931/3219. Nach den Ausführungen über die »nachkopernikanische<br />
Welt«, in der »statt ›Glaube‹ das Wort religio aufgetreten<br />
sei, stellt er diese radikale »Individualisierung« in den Zusammenhang<br />
<strong>des</strong> Wissenschaftsbegriffs (DBW 11, 145 f.): »Der Gegenstand<br />
einer Wissenschaft muß in Zeugnissen liegen, es gibt keine Metaphysik<br />
durch das Aufkommen der Naturwissenschaften. Identität<br />
<strong>des</strong> kategorialen Systems mit der Wirklichkeit wird vorausgesetzt:<br />
unwissenschaftliche Wissenschaft. (Erst die Relativitätstheorie und<br />
die Quantentheorie hat dies umgestoßen). Keine Wissenschaft<br />
konnte sich dem entziehen: Geschichtswissenschaft, Philosophie,<br />
Psychologie und Soziologie. In der Wende zum 20. Jahrhundert wird<br />
18) Erschienen als Ges. Schr. Bd. I, 2. Aufl. 1922.<br />
19) Vgl. DBW 11, 146, vgl. die Anm. 31 <strong>des</strong> Herausgebers, E. AMELUNG.<br />
95
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 96<br />
B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />
man aufmerksam auf diesen Fehlgriff (Rickert, Dilthey)« 20 . Der Diltheyverweis<br />
belegt wieder <strong>Bonhoeffers</strong> Vertrautheit mit Diltheys<br />
Einleitung.<br />
In der Einleitung bringt Dilthey die für die <strong>Lebens</strong>philosophie<br />
typische Metaphysikkritik vor. Metaphysik sei »eine<br />
geschichtlich begrenzte Erscheinung« (133). Im Unterschied<br />
dazu sei Religion eine fortwährend bestehende Größe:<br />
»[...] wenn die Tatsachen uns zwängen, an irgendeinem Punkte der<br />
sich rückwärts erstreckenden Linie <strong>des</strong> geschichtlichen Verlaufs<br />
einen religionslosen Zustand [...] anzunehmen – was jedoch nicht der<br />
Fall ist –, alsdann würde dieser Punkt zugleich ein Grenzpunkt <strong>des</strong><br />
historischen Verstehens sein« (138). Deutlicher: »[...] ausgeschlossen<br />
also ist das historische Verständnis eines religionslosen Zustan<strong>des</strong><br />
und der Entstehung <strong>des</strong> religiösen Zustan<strong>des</strong> aus ihm« (ibid).<br />
Der Begriff religionslos ist also früh belegt und kann Bonhoeffer<br />
schon aus der Lektüre der Ges. Schr. Bd. I (= Einleitung)<br />
von W. Dilthey bekannt geworden sein. In den Ges.<br />
Schr. Bd. II (= WuA) begegnet die Rede von der Religionslosigkeit<br />
nur marginal,21 so daß wir im Blick auf die Rezeptionsfrage<br />
eher auf den I. Band gewiesen sind. Bonhoeffer<br />
rezipiert den Terminus ›religionslos‹ kritisch: Religionslo-<br />
20) DBW 11, 146. In der Dudzus-Kompilation heißt es zu dem Dilthey-<br />
Beleg ausführlicher: »[...] besonders aber Dilthey in seiner systematischen<br />
Grundlegung der Geisteswissenschaften« (GS V 186). Ein<br />
Blick in das Inhaltsverzeichnis der Einleitung zeigt, daß W. Dilthey<br />
die von Bonhoeffer angesprochenen Themen behandelt, sogar in<br />
gleicher Reihenfolge: Naturwissenschaften ›Einleitung‹ 14 ff., Geschichtswissenschaften<br />
›Einleitung‹ 21 ff., Psychologie ›Einleitung‹<br />
64 ff., Soziologie ›Einleitung‹ 86 ff., <strong>Theologie</strong> ›Einleitung‹ 134 ff.<br />
21) Vgl. Weltanschauung und Analyse 54: »religionslose Moral«; W.<br />
Dilthey spricht hier nicht – wie in der ›Einleitung‹ – von einem<br />
›Verstehensprozeß‹ einer ›religionslosen Zeit‹.<br />
96
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 97<br />
1. Rezeption <strong>des</strong> Historismus<br />
sigkeit wird nicht ausgeschlossen – wie bei Dilthey –, sondern<br />
gerade als historisches Faktum angesehen: Die Zeit der<br />
Religion ist abgelaufen.<br />
Schon während der Rezeption der Einleitung reflektiert<br />
Bonhoeffer historisch über Religion. Solche Reflexionen<br />
sind in der Vorlesung über die ST20Jh belegt und begegnen<br />
im Zusammenhang mit obigem Dilthey-Zitat.22 Religion<br />
und Glaube stehen hier nicht in einem zu bestimmenden<br />
Verhältnis nebeneinander (dualistisch oder dialektisch),<br />
sondern Religion ersetzt Glauben (historisch). Der Dualimus<br />
von Glaube und Religion aus K. Barths ›Römerbrief‹<br />
wird hier verschärft und bekommt eine historische Pointe:<br />
Man kann seit dem 17. Jh. gar nicht mehr von reformatorischem<br />
Glauben sprechen; an seine Stelle trat ein neuzeitlicher<br />
Religionsbegriff. Religion als historische Größe hat<br />
ihren Anfangspunkt und muß auch einen Endpunkt haben<br />
– am Ende der Neuzeit? Bonhoeffer rechnet jedenfalls<br />
mit einem ›religionslosen Christentum‹, das am Ende der<br />
Neuzeit ›ohne‹ Religion von Christus sprechen kann.<br />
Gedanken der Tegeler <strong>Theologie</strong> sind bereits 1931/32<br />
vorbereitet, und gerade im Rückblick lassen sie sich zu<br />
einem Gesamtbild verbinden. Dabei beruft sich Bonhoeffer<br />
sowohl 1931/32 als auch 1944 auf W. Dilthey.23 Der philosophische<br />
Ansatz <strong>des</strong> Historismus läßt Bonhoeffer das Religionsproblem<br />
1944 grundsätzlich ordnen.<br />
22) Vgl. die Vorlesung über die ST20Jh nach DBW 11, 139–213, bes. 145 f.;<br />
für Religion wird hier ein geschichtlicher Anfangspunkt angenommen,<br />
an dem sie beginnt und an die Stelle eines anderen<br />
Begriffs tritt, nämlich <strong>des</strong> Glaubens.<br />
23) Neben W. Dilthey wird in der Vorlesung 1931/32 auch P. de Lagarde<br />
als Beleg in dieser Passage angeführt. Bonhoeffer schreibt (DBW 11,<br />
97
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 98<br />
B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />
Nachdem die Bedeutung <strong>des</strong> Historismus zur Artikulation<br />
der Religionskritik unterstrichen wurde, stellt sich<br />
nun die Frage, in welchem Verhältnis die geschichtlich artikulierte<br />
Religionskritik der Tegeler <strong>Theologie</strong> zur dialektisch-theologischen<br />
Religionskritik steht. Das in der Bonhoefferforschung<br />
immer wieder diskutierte Problem von<br />
Kontinuität oder Diskontinuität in der <strong>Theologie</strong> <strong>Dietrich</strong><br />
<strong>Bonhoeffers</strong> wird uns im Folgenden anhand der Religionskritik<br />
beschäftigen. In einem ersten Schritt werden einzelne<br />
Begriffe aus der <strong>Theologie</strong> <strong>Bonhoeffers</strong> auf ihre religionskritische<br />
Aussagekraft vor 1944 geprüft:<br />
c) Analyse von religionskritischen Einzelbegriffen24<br />
Metaphysik und Innerlichkeit als zwei religionskritisch<br />
zentrale Begriffe der Tegeler <strong>Theologie</strong> begegnen vor 1944<br />
nur je einmal im Kontext von Religion. In den USA sagt<br />
Bonhoeffer 1930:<br />
145): »Paul de Lagarde ›das Verhältnis <strong>des</strong> deutschen Staates zu<br />
<strong>Theologie</strong>, Kirche und Religion‹. Er sieht den entschiedenen Gegensatz<br />
zwischen Religion und reformatorischem Glauben«. Interessant<br />
ist nun, daß für P. de Lagarde dieser Gegensatz historisch<br />
begründet ist. Er selbst schreibt: »Der Protestantismus ist eine<br />
historische Bildung, welche nur aus dem Studium <strong>des</strong> sechzehnten,<br />
nicht aus der öffentlichen Meinung <strong>des</strong> auf die Neige gehenden<br />
neunzehnten Jahrhunderts richtig beurteilt werden kann« (In:<br />
Deutsche Schriften von P. de Lagarde-Gesamtausgabe, 40–83, Zitat<br />
42). M. Luthers Glaubensverständnis und F. Schleiermachers Religionsbegriff<br />
gehen also historisch auseinander.<br />
24) Im folgenden kann nicht auf die philosophische und theologische<br />
Tragweite der Begriffe eingegangen werden. Es wird einzig geprüft,<br />
ob die einzelnen Begriffe auch vor der Tegeler <strong>Theologie</strong> religionskritische<br />
Bedeutung bei <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer haben.<br />
98
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 99<br />
1. Rezeption <strong>des</strong> Historismus<br />
»Keine Religion, keine Ethik, keine metaphysische Erkenntnis kann<br />
dem Menschen dazu verhelfen, sich Gott zu nähern« 25 .<br />
Ebenfalls im Kontext Barthscher <strong>Theologie</strong> werden Innerlichkeit<br />
und Religion in einer Vorlesung von 1932/33 behandelt:<br />
»Gottes vertikales Wort ist Gericht über den ganzen Menschen [...]<br />
auch über <strong>des</strong> Menschen Innerlichkeit und Frömmigkeit. Daß er<br />
kommen mußte, ist der Beweis dafür, daß wir nicht kommen konnten.<br />
So ist Gottes Kommen die Kritik aller Religion« 26 .<br />
Metaphysik und Innerlichkeit sind als Begriffe im Zusammenhang<br />
mit Religion belegt, werden aber nicht gezielt -<br />
wie in ›Widerstand und Ergebung‹ – zur Artikulation der<br />
Religionskritik eingesetzt. Sie treten bloß beiläufig auf.27<br />
Mündigkeit wurde als Begriff der Tegeler <strong>Theologie</strong> als<br />
von W. Dilthey stammend erwiesen. Vorher begegnet der<br />
Begriff ›Mündigkeit‹ oder ›mündig werden‹ in den Jahren<br />
25) DBW 10, 682 (Hervorh. R. W.) – Als Beispiel für das Auftreten von<br />
Metaphysik in einem untheologischen Zusammenhang können<br />
wir auf den Vortrag ›Der Führer und der einzelne‹ von 1933 hinweisen;<br />
hier sagt Bonhoeffer kritisch über den Volksgeist und die<br />
,metaphysischen Tiefen‹: »Der Volksgeist – so denkt man es sich –<br />
bringt aus seinen metaphysischen Tiefen den Führer hervor und<br />
trägt ihn in alle Höhen« (GS II 32).<br />
26) GS V 303 f., Hervorh. R. W.; Bonhoeffer spricht in diesem Zusammenhang<br />
auch kritisch von der »religiösen Innerlichkeit«; von hier aus<br />
sei der »erste Angriff gegen Karl Barth« geführt worden (op. cit. 304).<br />
27) Vgl. auch die Entgegensetzung von Innerlichkeit und Christologie,<br />
die nicht religionskritisch angelegt ist in: Gemeinsames Leben<br />
(DBW 5) 22: »Was einer als Christ in sich ist, in aller Innerlichkeit<br />
und Frömmigkeit, vermag unsere Gemeinschaft nicht zu begründen,<br />
sondern was einer von Christus her ist, ist für unsere Bruderschaft<br />
bestimmend«.<br />
99
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 100<br />
B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />
1933, 1935 f. und 1940. In dem Vortrag ›Der Führer und der<br />
einzelne‹ fordert Bonhoeffer, daß ein Führer »den einzelnen<br />
erst in die eigentliche Mündigkeit zu führen habe« (GS II<br />
36). Der Begriff Mündigkeit wird hier auf die zeitgeschichtliche<br />
Situation bezogen, in der gerade die Unmündigkeit<br />
zum Programm werde. In der ›Finkenwalder Homiletik‹<br />
begegnen wiederholt Gedanken vom ›mündig<br />
werden‹. »Der Protestant soll mündig werden im Umgang<br />
mit der Bibel« (GS IV 255). Die Predigt soll die Gemeinde<br />
anleiten zum »Mündigwerden in der Schrift« (ibid, 268).<br />
Nicht die Lehre soll dem Auditorium im Gedächtnis bleiben,<br />
sondern die Gemeinde soll angeregt werden, nach der<br />
Predigt »die Schrift aufzuschlagen und den Text nachzulesen«<br />
(ibid). In dieselbe Richtung gehen <strong>Bonhoeffers</strong> Forderungen<br />
in dem Entwurf über ›<strong>Theologie</strong> und Gemeinde‹<br />
von 1940. Er ringt um ein »klares Verhältnis der Gemeinde<br />
zur <strong>Theologie</strong>« (GS III 422). Die Gemeinde wird zum »Mündigwerden<br />
in der Erkenntnis« aufgefordert (ibid). Mündigkeit<br />
wird also wieder auf die Gemeinde bezogen und nicht -<br />
wie in ›Widerstand und Ergebung‹ - auf die Welt.28 Bonhoeffer<br />
fordert ein ›Mündigwerden der Gemeinde‹ und beobachtet<br />
noch nicht eine ›mündig gewordene Welt‹, angesichts<br />
derer er die Frage nach Christus und der mündig<br />
gewordenen Welt stellen müßte. Obwohl die Forderung<br />
nach einer ›mündigen Gemeinde‹ durch ›Widerstand und<br />
Ergebung‹ nicht zurückgenommen wird, müssen wir feststellen,<br />
daß der Begriff Mündigkeit unter dem Eindruck <strong>des</strong><br />
Historismus einen neuen Akzent in Tegel bekommt.<br />
Individualismus ist im Unterschied zu den genannten<br />
Begriffen im Kontext Religion auch vor der Tegeler Theolo-<br />
28) Vgl. auch E. FEIL, Die <strong>Theologie</strong>, 355, Anm. 2.<br />
100
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 101<br />
1. Rezeption <strong>des</strong> Historismus<br />
gie breit belegt. Schon in der Dissertation von 1927 wird eine<br />
Kirche kritisiert, die zur »Befriedigung eines Bedürfnisses«<br />
da ist; sie sei »individualistisch konstruiert« (DBW 1, 102<br />
Anm. 18). Der Zusammenhang von Religion und Individualismus<br />
begegnet im ›Studienbericht‹ über den ersten Amerikaaufenthalt<br />
1931; hier wird der Begriff ›religiöser Individualismus‹<br />
zu einem Schlüsselbegriff für das Verständnis<br />
und die Kritik der amerikanischen <strong>Theologie</strong> und Kirche.<br />
Philosophischer Hintergrund dieser Form <strong>des</strong> Individualismus<br />
ist der Pragmatismus, <strong>des</strong>sen Wahrheitsbegriff darauf<br />
hinausläuft, daß »die Wahrheit nur immanent und nicht in<br />
ihrem transzendenten Anspruch« gesucht wird:<br />
»Daß sich hier im Grunde eine rein individualistische <strong>Lebens</strong>auffassung<br />
verbirgt, die jedem einzelnen sein Glück gönnen will und darüber<br />
hinaus nicht viel kennt, ist deutlich« (DBW 10, 270).<br />
Der durch den Pragmatismus bedingte Individualismus<br />
wirkt sich ekklesiologisch dahingehend aus, daß der amerikanische<br />
Protestantismus einen »definitiv kirchenlosen<br />
individualistischen Charakter trage« (ibid, 271). Im Unterschied<br />
zum reformatorischen Protestantismus mit Bekenntnistheologie<br />
und Dogmatik ist der amerikanische<br />
allein begründet in einem religiösen »Individualismus, wie<br />
er sich am reinsten bei den Quäkern und Kongregationalisten<br />
erhalten hat [...]. Bei den Quäkern gibt es folgerichtig<br />
auch keine eigentliche Predigt, keinen Pfarrer, keine<br />
›Kirche‹« (ibid, 276).<br />
In der besprochenen Vorlesung über die ST20Jh identifiziert<br />
Bonhoeffer ›Individualismus‹ mit ›Religion‹29. ›Individualismus‹<br />
und ›Religion‹ werden nun (wie im Amerika-<br />
29) Vgl. DBW 11, 145.<br />
101
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 102<br />
B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />
bericht) vom ›reformatorischen Protestantismus‹ unterschieden:<br />
In Europa gehe der ›religiöse Individualismus‹<br />
nicht auf den Pragmatismus zurück, sondern auf den englischen<br />
Deismus. Bonhoeffer vertieft diese Gedanken in der<br />
Vorlesung über ›Das Wesen der Kirche‹ von 1932; hier wird<br />
das »individualistische Denken« als »überaus wirksame<br />
Fehlerquelle« im Protestantismus erwiesen. »Die Individualisierung<br />
ist der Grundfehler protestantischer <strong>Theologie</strong>«<br />
(GS V 238). Für die Gotteserkenntnis bedeutet das:<br />
»Der einzelne wird zum Subjekt der Gotteserkenntnis. Die Frage<br />
nach dem ›Wie‹ der Gotteserkenntnis wird von Troeltsch mit dem<br />
religiösen Apriori beantwortet. Barth beantwortet sie mit dem Offenbarungsakt<br />
Gottes« (ibid).<br />
Interessanterweise zählt Bonhoeffer auch K. Barth (seit<br />
1929) zu den individualistischen Denkern. (In ›Akt und Sein‹<br />
wird die Individualismus-Kritik auch gegen K. Barths Offenbarungstheologie<br />
gerichtet; vgl. DBW 2, 122). In einem<br />
Predigt-Entwurf über Rechtfertigung von 1935 werden<br />
Aussagen über den Individualismus noch einmal grundsätzlich<br />
formuliert und der Unterschied zwischen Luther<br />
und der nachreformatorischen Zeit prägnant gefaßt.<br />
»Wir müssen endlich davon los, als ginge es [...] um das eigene<br />
Seelenheil <strong>des</strong> Einzelnen. [...] Bei diesem religiösen Individualismus<br />
und bei dieser Methodik bleibt der Mensch im Mittelpunkt.<br />
Es geht Luther trotz seiner Frage nach dem gnädigen Gott<br />
zuerst um das Heil Gottes und nur so auch um das Heil unserer<br />
Seele« (GS IV 202).<br />
Es ist vor diesem Hintergrund verständlich, wenn Bonhoeffer<br />
am 5. 5. 1944 fragt: »Ist nicht die individualistische Frage<br />
nach dem persönlichen Seelenheil uns allen fast völlig entschwunden«<br />
(WEN 312).<br />
102
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 103<br />
1. Rezeption <strong>des</strong> Historismus<br />
Die Rede vom ›religiösen Individualismus‹ zieht sich<br />
durch verschiedene Schriften <strong>Bonhoeffers</strong> und birgt ein<br />
wesentliches Merkmal seiner Religionskritik. ›Religiöser<br />
Individualimus‹ hat bei Bonhoeffer eine Vorgeschichte und<br />
ist wie Religion ein Kampfbegriff, der sich gegen F. Schleiermacher<br />
(Sanctorum Communio), K. Barth (Akt und Sein),<br />
W. James (Studienbericht), H. von Cherbury (Vorlesung)<br />
und schließlich auch gegen W. Dilthey richtet, der wie F.<br />
Schleiermacher die›Privatreligion‹ vertritt. Mit dem Begriff<br />
Individualismus läßt sich eine ungebrochene Kontinuität<br />
in <strong>Bonhoeffers</strong> religionskritischem Denken aufzeigen. In<br />
›Widerstand und Ergebung‹ wird dieser Begriff auch nicht<br />
durch den der Diltheyschen ›Innerlichkeit‹ ersetzt, sondern<br />
tritt unverbunden neben ihn. So wird im Brief vom 30. 4.<br />
1944 Religion als ›Metaphysik und Innerlichkeit‹ beschrieben,<br />
und im folgenden Brief vom 5. 5. heißt es dann:<br />
»religiös interpretieren heißt m. E. einerseits metaphysisch,<br />
andererseits individualistisch reden« (WEN 312, Hervorh.<br />
R. W.).<br />
Der Begriff Autonomie (oder autonom) begegnet verschiedentlich<br />
vor 1944, zuerst in der Habilitationsschrift<br />
›Akt und Sein‹ (DBW 2, 133); hier treten »autonomes Selbstverständnis«<br />
und »autonomes Denken« in den Gegensatz zu<br />
Christologie und Ekklesiologie. Reflexionen über Autonomie<br />
im Zusammenhang mit Ethik und Kultur finden sich<br />
in der Vorlesung über die ST20Jh (DBW 11, 186.190.193 f.);<br />
hier zeigt Bonhoeffer einerseits am Beispiel F. Nietzsches,<br />
inwiefern das Christentum »die verhängnisvollste Hemmung<br />
der autonomen Kultur« bedeutete (DBW 11, 186).<br />
Andererseits habe F. Naumann »den alten Versuch der Synthese«<br />
aufgegeben (DBW 11, 188). Bonhoeffer beschreibt die<br />
Konsequenz Naumanns mit den Worten:<br />
103
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 104<br />
B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />
»Naumanns Denken schließt mit dem restlosen Auseinanderklaffen<br />
[von Christentum und Kultur], aber er zieht doch nicht die letzte<br />
Consequenz, er drängt wieder auf die Synthese«30.<br />
Autonomie wird noch nicht in den Zusammenhang mit<br />
Religion gebracht, obwohl das am Beispiel F. Naumanns<br />
nahegelegen hätte. Weiter im Kontext von Ethik und Kultur<br />
begegnet der Name W. Dilthey, und zwar im Rahmen<br />
einer Reflexion über den Zusammenbruch »der autonomen<br />
Kultur« (DBW 11, 186). W. Dilthey wird - offenbar wieder in<br />
Anlehung an die Einleitung - im Zusammenhang »<strong>des</strong> Geschichtsproblems«<br />
(192) behandelt:<br />
»In allen drei Kreisen (Erkenntnisproblem, Geschichtsproblem und<br />
das ethische Problem) ging es um die Frage <strong>des</strong> Gleichgewichts zur<br />
Kultur. [...] Im ersten Jahrzehnt [waren es] immer mehr, bei denen<br />
der Versuch der Anpassung auseinanderbrach. [Der] Anfang davon<br />
war [...] Dilthey« (DBW 11, 192).<br />
Autonomie als geschichtliches Problem mit Religion zu<br />
verbinden – und somit den Begriff Autonomie positiv zu<br />
belegen –, tritt in dieser Vorlesung noch nicht in den Blick.<br />
Bonhoeffer kannte den Band ›Weltanschauung und Analyse‹<br />
noch nicht. Ebenfalls im Kontext ethischer Erwägungen<br />
stoßen wir in der Vorlesung ›Jüngste <strong>Theologie</strong>‹ auf den<br />
Ausdruck »Autonomie <strong>des</strong> Menschen« (GS V 322). Bonhoeffer<br />
stellt F. Gogarten als Individualethiker dar:<br />
»Ursache für den Zerfall der Welt und das Auseinanderbrechen ihrer<br />
Ordnungen ist die seit der Renaissance immer dominierender werdende<br />
Idee von der Autonomie <strong>des</strong> Menschen. Sie ist gekoppelt mit<br />
einem individualisierenden menschlichen Selbstverständnis. Der<br />
autonome Mensch beherrscht die Welt« (ibid).<br />
30) DBW 11, 189; Zitatstück in [...] ergänzt aus GS V, 212.<br />
104
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 105<br />
1. Rezeption <strong>des</strong> Historismus<br />
Von Bedeutung ist für die Begriffsbetrachtung die Trias:<br />
Renaissance, Autonomie, Individualismus. Hat Bonhoeffer<br />
in der Vorlesung über die ST20Jh Individualismus und Religion<br />
in ein geschichtliches Verhältnis gesetzt, so hier das<br />
Begriffspaar Individualismus und Autonomie. Die Begriffe<br />
Individualismus und Autonomie erhalten in der Tegeler<br />
<strong>Theologie</strong> schließlich gemeinsam ihre religionskritische<br />
Aussagekraft.<br />
In dem Vortrag ›Vergegenwärtigung neutestamentlicher<br />
Texte‹31 von 1935 wird die Frage nach der menschlichen<br />
Autonomie negativ entschieden. Diese Frage wird<br />
nicht in den Zusammenhang von Ethik oder Ekklesiologie,<br />
sondern in den der Exegese und Hermeneutik gestellt.<br />
Christentum und Autonomie stehen in einem alternativen<br />
und nicht in einem relationalen Verhältnis wie in ›Widerstand<br />
und Ergebung‹. Die Frage lautet: Christus oder der<br />
autonome Mensch, und nicht: Christus und die mündig<br />
gewordenen Welt. Überhaupt treten die Begriffe ›autonome‹<br />
Vernunft, <strong>Lebens</strong>gestaltung und Mensch in ein negatives<br />
Licht und werden im Kontext einer Rechtfertigung<br />
<strong>des</strong> Christentums vor der Welt reflektiert. Hintergrund für<br />
die Autonomie-Kritik ist möglicherweise das positive Verständnis<br />
von ›Autonomie‹ im Nationalsozialismus. Der<br />
Begriff ›Autonomie‹ tritt vor 1944 im Zusammenhang von<br />
Ekklesiologie, Ethik und Exegese auf. Mit ›Widerstand und<br />
Ergebung‹ wird der Begriff unter dem Eindruck der systematischen<br />
Dilthey-Lektüre als Arbeitsbegriff eingesetzt. In<br />
der Verwendung besteht eine inhaltliche Diskontinuität<br />
<strong>des</strong> Begriffs.<br />
31) GS III 303–324.<br />
105
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 106<br />
B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />
Redlichkeit. Bonhoeffer schreibt in dem genannten Vortrag<br />
von 193532 über ein vor der Welt zu rechtfertigen<strong>des</strong><br />
Christentum:<br />
»[...] und es ist nur noch eine Frage der Redlichkeit, daß man an diesem<br />
Gebilde sein Interesse gänzlich verliert und sich von ihm abkehrt.<br />
Diese Vergegenwärtigung führt direkt ins Heidentum. Woraus<br />
denn auch folgt, daß zwischen Deutschen Christen und den<br />
sogenannten Neuheiden nur noch der Unterschied der Redlichkeit<br />
besteht« (GS III, 304 f.).<br />
Dieser allgemeine Gebrauch von Redlichkeit verdichtet sich<br />
im frühen Ethik-Fragment ›Erbe und Verfall‹ von 1940 zum<br />
Begriff »intellektuelle Redlichkeit« (DBW 6, 106). Unter dem<br />
Eindruck von G. Lessing formuliert Bonhoeffer:<br />
»Intellektuelle Redlichkeit in allen Dingen, auch in den Fragen <strong>des</strong><br />
Glaubens, war das hohe Gut der befreiten ratio und gehört seitdem<br />
zu den unaufgebbaren sittlichen Forderungen <strong>des</strong> abendländischen<br />
Menschen.« – »Hinter Lessing und Lichtenberg können wir nicht<br />
mehr zurück.« (ibid)<br />
›Redlichkeit‹ wird also hier schon als historische Größe verstanden,<br />
die ihren Anfangspunkt mit G. Lessing33 nimmt.<br />
Der Zusammenhang von intellektueller Redlichkeit und<br />
Religion ist ebenfalls angedeutet, wenn wir der Alternativlesart<br />
zu dem oben zitierten Satz folgen:<br />
»Intellektuelle Redlichkeit in allen Dingen, auch in den religiösen, 34<br />
war das hohe Gut der befreiten ratio« (Ethik [DBW 6] 106 Anm. 52).<br />
32) Vergegenwärtigung neutestamentlicher Texte, in: GS III 303–324.<br />
33) Vgl. auch die Bedeutung G. Lessings für W. Dilthey, etwa in seinem<br />
Aufsatzband: Das Erlebnis und die Dichtung, 18–123.<br />
34) Bonhoeffer hat die »Fragen <strong>des</strong> Glaubens« durch »religiöse (Dinge)«<br />
ersetzt. Es wäre zu fragen, ob wir hierin einen Hinweis auf eine<br />
106
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 107<br />
1. Rezeption <strong>des</strong> Historismus<br />
Bonhoeffer fordert in dem von W. Dilthey beeinflußten<br />
Brief vom 8. 6.1944 die Anwendung seiner Beobachtung aus<br />
der ›Ethik‹:<br />
»Es gehört zur intellektuellen Redlichkeit, diese (religiöse, R.W.)<br />
Arbeitshypothese fallen zu lassen« (WEN 393).<br />
<strong>Eine</strong>n »salto mortale zurück ins Mittelalter« gibt es nur um<br />
den Preis der »intellektuellen Redlichkeit« (WEN 393f). Der<br />
Begriff der Redlichkeit wird in den Historismus W. Diltheys<br />
eingeordnet und in dem Zusammenhang mit Religion reflektiert.35<br />
Nichtreligiös interpretiert bedeutet nämlich der<br />
biblische Begriff ›Buße‹: »letzte Redlichkeit« (WEN 394).<br />
Hier begegnen wir einem der wenigen konkreten Hinweise<br />
einer nichtreligiösen Interpretation biblischer Begriffe.<br />
<strong>Eine</strong>n weiteren biblischen Begriff ›Verheißung‹ interpretiert<br />
Bonhoeffer nichtreligiös durch das Wort ›Sinn‹: »Der<br />
unbiblische Begriff <strong>des</strong> ›Sinnes‹ ist ja nur eine Übersetzung<br />
<strong>des</strong>sen, was die Bibel ›Verheißung‹ nennt« (WEN 426).<br />
›Gott‹/Privileg/Partialität/religiöse Vorstufe : Diese Einzelbegriffe<br />
sollen summarisch behandelt werden, weil sie<br />
gemeinsam ›Widerstand und Ergebung‹ vorbereiten.36<br />
religionskritische Absicht in der Ethik erhalten, die geschichtlich<br />
artikuliert ist.<br />
35) Der Zusammenhang zwischen ›Buße‹ und ›Redlichkeit‹ ist ein Novum<br />
der Tegeler <strong>Theologie</strong>; vergleichen wir etwa eine Predigt <strong>Bonhoeffers</strong><br />
zum Bußtag (vom 19. 11.1933), so fällt auf, daß der Begriff<br />
»Redlichkeit« dort überhaupt nicht begegnet, während von ›Buße‹<br />
häufiger die Rede ist (GS IV 154 f.). Der Zusammenhang zwischen<br />
Buße und Redlichkeit tritt noch nicht in den Blick.<br />
36) <strong>Bonhoeffers</strong> Rede von den ›letzten Fragen‹ bildet eine gewisse Ausnahme,<br />
weil wir hier einer eindeutigen Diskontinuität begegnen.<br />
1944 schreibt er kritisch, daß »doch immer die sogenannten ›letzten<br />
Fragen‹ – Tod, Schuld – blieben, um deretwillen man Gott und die<br />
107
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 108<br />
B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />
›Gott‹ in dieser Schreibweise begegnet erstmals vor<br />
›Widerstand und Ergebung‹ in einem Amerikavortrag von<br />
1930/31 (DBW 10, 448):<br />
»Cosmology may come to the assumption of a last ground of the<br />
world and may call that ›God‹ [...]« 37 .<br />
Hier entsteht die in Tegel durchgängig gebrauchte Schreibweise<br />
für einen religiösen ›Gott‹, der zur Antwort auf die<br />
»letzten Fragen der Menschen« wird (WEN 357). Im Brief<br />
vom 8. 6. 1944 wird die Schreibweise ›Gott‹ besonders häufig<br />
gebraucht (vgl. WEN 356 f.) und – wie 1930/31 – auch im<br />
Zusammenhang mit der Naturwissenschaft: »Arbeitshypothese:<br />
Gott« (hier von C. F. v. Weizsäcker aufgebracht und in<br />
den historischen Argumentationsrahmen eingefügt).<br />
Der Privilegcharakter von Religion wird in der Vorlesung<br />
über Das Wesen der Kirche aus dem Sommersemester<br />
1932 angesprochen. Bonhoeffer kritisiert eine Kirche, die<br />
»sich an bevorzugten Orten ansiedelt« (GS V 233). Statt <strong>des</strong>sen<br />
wird gefordert:<br />
Kirche und den Pfarrer braucht« (WEN 357). In einer Predigt von<br />
1933 beurteilt er die Aufgabe der Kirche umgekehrt, und zwar mit<br />
nahezu denselben Worten. Auf die vermeintlich ›letzte Frage‹: »Wo<br />
werden wir nach unserem eigenen Tode sein«, predigt Bonhoeffer:<br />
»Und die Kirche erhebt den Anspruch, auf diese unmögliche Frage<br />
<strong>des</strong> Menschen Antwort zu geben. Ja, weil diese Kirche auf diese<br />
letzte Frage Antwort weiß, besteht sie« (GS IV 160). Beim Thema<br />
›letzte Fragen‹ hat Bonhoeffer 1944 offenbar ganz andere Konsequenzen<br />
für die Kirche gezogen als in der Predigt von 1933. Hier<br />
haben wir ein Beispiel für eine echte Veränderung im Gedankengang.<br />
37) Dt.: »Die Kosmologie kann eventuell zur Annahme eines letzten<br />
Grun<strong>des</strong> der Welt gelangen und diesen ›Gott‹ nennen [...]« (DBW 10,<br />
694).<br />
108
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 109<br />
»Die Kirche kann nur zeugen von der Mitte der Welt, die Gott allein<br />
schafft. Sie muß versuchen, dem Wirken Gottes Raum zu geben«<br />
(ibid).<br />
Bonhoeffer schreibt: »<strong>Theologie</strong> ist eine Funktion der Kirche«<br />
(GS V 234). Bei K. Barth heißt es: »<strong>Theologie</strong> ist aber eine<br />
Funktion der Kirche«.38<br />
Die wörtliche Übereinstimmung mit K. Barth korrespondiert<br />
mit der zu dieser Zeit gegebenen Übereinstimmung<br />
in der Religionskritik. Auch die Kritik am Privilegscharakter<br />
der Kirche steht in diesem Zusammenhang und<br />
zieht sich bis in die Tegeler <strong>Theologie</strong> hinein (vgl. WEN 306.<br />
327). Diese kirchliche Religionskritik stammt von K. Barth.<br />
In der Vorlesung ›Sichtbare Kirche im Neuen Testament‹<br />
von 1935 werden wieder Kirche und religiöse Gemeinschaft<br />
einander entgegengesetzt. In der ›religiösen Gemeinschaft‹<br />
geht es »um die Aufteilung <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong> in Religiöses und<br />
Profanes« (GS III 330). In der Kirche aber gilt der Grundsatz:<br />
»Das ganze Leben wird mit Beschlag belegt« (ibid). Die Meinung<br />
<strong>Bonhoeffers</strong> ist also, daß Religion einen partiellen Teil<br />
<strong>des</strong> <strong>Lebens</strong> ausmacht, wo hingegen es der Kirche um das<br />
Ganze <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong> geht. In der ›Ethik‹ wird dieser Gedanke<br />
wieder aufgenommen, wenn es über die Kirche heißt:<br />
»Sie hat es also zunächst gar nicht wesentlich mit den sogenannten<br />
religiösen Funktionen <strong>des</strong> Menschen zu tun, sondern mit dem ganzen<br />
Menschen in seinem Dasein in der Welt mit allen seinen Beziehungen«<br />
(DBW 6, 84).<br />
Aus Tegel faßt Bonhoeffer zusammen:<br />
1. Rezeption <strong>des</strong> Historismus<br />
38) KD I/1, 1. Das Erscheinen von KD I/1 fällt – wie die Vorlesung <strong>Bonhoeffers</strong><br />
– in das Jahr 1932.<br />
109
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 110<br />
B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />
»[...] der ›religiöse Akt‹ ist immer etwas Partielles, der ›Glaube‹ ist<br />
etwas Ganzes, ein <strong>Lebens</strong>akt. Jesus ruft nicht zu einer neuen Religion<br />
auf, sondern zum Leben« (WEN 396).<br />
Der Gegensatz ›Leben contra Religion‹ scheint in abgewandelter<br />
Form als ›Leben contra Kirche‹39 vorbereitet. ›Leben‹<br />
und ›Religion‹ werden noch nicht in einen direkten Gegensatz<br />
gebracht.<br />
Im Rahmen der Auslegung <strong>des</strong> Psalters in ›Gemeinsames<br />
Leben‹ hat Bonhoeffer sich mit der aus der religionsgeschichtlichen<br />
Schule stammenden These vom Alten Testament<br />
als der religiösen Vorstufe <strong>des</strong> Neuen auseinanderzusetzen.<br />
Besonders im Blick auf die Rachepsalmen kann er<br />
dieser These nicht folgen (vgl. DBW 5, 39) und verwirft sie<br />
dann im Hinblick auf das Ganze <strong>des</strong> Psalters (vgl. DBW 5,<br />
129). Aus Tegel faßt Bonhoeffer fragend zusammen:<br />
»Religiöse Vorstufe? Das ist eine sehr naive Auskunft; es ist ja ein<br />
und derselbe Gott« (WEN 176).<br />
Die ablehnenden Rede von einer ›religiösen Vorstufe‹ ist<br />
vorbereitet.<br />
Zwischenergebnis: Anhand der Einzelbegriffe, die im<br />
Zusammenhang mit Religion bei Bonhoeffer bedeutsam<br />
geworden sind, ergibt sich folgen<strong>des</strong> Bild: Teilweise sind<br />
diese Begriffe selbst zu Charakteristika der Religion avanciert<br />
(wie ›Metaphysik‹ oder ›Innerlichkeit‹); teilweise standen<br />
sie im größeren Kontext der Religionsthematik - wie<br />
bei der ›mündig gewordenen Welt‹ oder dem Begriff ›Redlichkeit‹.<br />
Die Frage nach dem Verhältnis von Kontinuität<br />
und Diskontinuität in der Religionsthematik soll zunächst<br />
39) Bonhoeffer lehnt hier ein Verständnis von Kirche als religiöser<br />
Gemeinschaft ab.<br />
110
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 111<br />
1. Rezeption <strong>des</strong> Historismus<br />
anhand der untersuchten Einzelbegriffe gestellt werden.<br />
Dabei sind zwei Gruppen zu unterscheiden:<br />
Zum einen Begriffsgruppen, die einen Neuansatz mit<br />
den Tegeler Briefen markieren. Zu diesen Begriffen zählen<br />
›Metaphysik‹ und ›Innerlichkeit‹, deren Gebrauch in der<br />
Begrifflichkeit <strong>Bonhoeffers</strong> vor 1944 nicht im Zusammenhang<br />
mit Religion belegt ist. Die religionskritische Anwendung<br />
dieser Begriffe ist neu und auf dem Hintergrund seines<br />
Dilthey-Studiums interpretierbar.<br />
Andere Begriffe deuten eine Kontinuität in der Beschreibung<br />
von Religion an; hier ist besonders auf den<br />
Begriff ›Individualismus‹ hinzuweisen, der von ›Sanctorum<br />
Communio‹ bis ›Widerstand und Ergebung‹ religionskritische<br />
Züge trägt. In der Tegeler <strong>Theologie</strong> tritt ›Individualismus‹<br />
neben ›Innerlichkeit‹ zur Formulierung der Religionskritik,<br />
wie an den Briefen vom 30. 4. und vom 5. 5. 1944<br />
aufgezeigt. Auch der Begriff ›Redlichkeit‹ steht seit der<br />
›Ethik‹ in religionskritischem Zusammenhang und wird in<br />
›Widerstand und Ergebung‹ zum nichtreligiösen Begriff erweitert<br />
(›Buße‹ als ›letzte Redlichkeit‹). Dieser Begriff (wie<br />
vorher schon der der ›Arbeitshypothese Gott‹) wird unter<br />
dem Eindruck W. Diltheys in die historische Argumentation<br />
eingegliedert, was sich am Brief vom 8. 6. 1944 zeigen<br />
läßt. Die Philosophie W. Diltheys wird zur historischen Folie,<br />
auf deren Hintergrund Bonhoeffer systematisch-theologisch<br />
seine Religionskritik artikuliert.<br />
<strong>Eine</strong> weitere Gruppe von Begriffen ist schwer in das<br />
Schema von Kontinuität und Diskontinuität einzuordnen.<br />
Dazu zählen etwa die Begriffe ›Mündigkeit‹ und ›Autonomie‹.<br />
Die Begriffsuntersuchungen haben ergeben, daß beide<br />
Begriffe auch vor Tegel formal auftauchen. <strong>Eine</strong> religionskritische<br />
Aussagekraft haben sie jedoch erst in den<br />
111
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 112<br />
B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />
Tegeler Briefen erhalten. Neben den Begriffen ›Metaphysik‹<br />
und ›Innerlichkeit‹ sind die Begriffe ›Mündigkeit‹ und<br />
›Autonomie‹ auf <strong>Bonhoeffers</strong> systematische Dilthey-Studien<br />
in Tegel zurückzuführen. Es scheint, als bekämen diese<br />
Begriffe in der Tegeler <strong>Theologie</strong> ihre eigentliche Bedeutung<br />
– vorher angelegt, werden sie unter dem Eindruck <strong>des</strong><br />
Historismus zusammengeführt.<br />
Von den Einzelbegriffen her müssen wir vorläufig eine<br />
Diskontinuität in der Kontinuität annehmen. <strong>Eine</strong> Diskontinuität<br />
stellt sich ein, wo Begriffe im Zusammenhang<br />
der Religionsthematik neu gefüllt (wie etwa ›Autonomie‹)<br />
oder überhaupt neu eingeführt werden (vgl. etwa ›Metaphysik‹).<br />
Die Kontinuität bleibt erhalten bei Begriffen, die<br />
inhaltlich bis in die Tegeler Religionskritik unverändert<br />
bleiben (etwa ›Individualismus‹).<br />
2. Kontinuität oder Diskontinuität<br />
in der Religionsthematik?<br />
Anhand von Einzelbegriffen aus dem Zusammenhang der<br />
Religionsthematik war eine Diskontinuität in der Kontinuität<br />
zu beobachten. Im Folgenden soll grundsätzlich der<br />
Frage nachgegangen werden, ob ein Gegensatz in der Formulierung<br />
der Religionskritik im Werk <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong><br />
besteht.<br />
a) Muss alternativ zwischen einem historischen oder<br />
systematisch-theologischen Verständnis von Religion<br />
bei Bonhoeffer gewählt werden?<br />
E. Feil hat auf die Diskontinuität in der Religionsauffassung<br />
<strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong> hingewiesen. Mit ›Widerstand<br />
und Ergebung‹ sei »keine dialektische (im Sinne der dialekti-<br />
112
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 113<br />
2. Kontinuität oder Diskontinuität?<br />
schen <strong>Theologie</strong>) und damit in gewisser Hinsicht ›statische‹<br />
Entgegensetzung von Glaube und Religion angenommen,<br />
sondern ein geschichtlicher Religionsbegriff entwickelt«.40<br />
Bonhoeffer verstehe »religionslos« nicht »als systematisch-statische,<br />
sondern als geistesgeschichtlich-genetische<br />
Kategorie«41. Dieser beobachtete Gegensatz steht also in<br />
engem Zusammenhang mit <strong>Bonhoeffers</strong> Rezeption von W.<br />
Dilthey einerseits und seiner Auseinandersetzung mit K.<br />
Barth andererseits.<br />
In der grundsätzlichen Annahme eines Einflusses W.<br />
Diltheys folgen wir E. Feil. Es schließen sich aber drei konkretisierende<br />
Fragen an:<br />
1. Wird W. Dilthey für Bonhoeffer erst 1944 wichtig<br />
(und nicht schon 1931/32)?<br />
2. Was wird für Bonhoeffer 1944 aus der Dilthey-Lektüre<br />
wichtig: der Historismus oder der <strong>Lebens</strong>begriff?<br />
3. Woher stammt die Kritik an der Religion in ›Widerstand<br />
und Ergebung‹, wenn nicht von Barth?<br />
Die zweite Frage stellen wir zur Beantwortung noch zurück.<br />
In Abschnitt C) wird zu fragen sein, ob Bonhoeffer<br />
Diltheys philosophischem Konzept 1944 auch grundsätzlich<br />
theologische Bedeutung beimißt: Hat er bloß den<br />
Historismus zur Formulierung der Religionskritik angewandt<br />
oder auch seinen <strong>Lebens</strong>begriff konstruktiv rezipiert?<br />
Immerhin wurde ihm die <strong>Lebens</strong>philosophie in Gestalt<br />
<strong>des</strong> amerikanischen Pragmatismus schon 1930/31 in<br />
den USA wichtig.<br />
40) E. FEIL, Die <strong>Theologie</strong> 364; vgl. auch DERS., Ende oder Wiederkehr<br />
der Religion? Zu <strong>Bonhoeffers</strong> umstrittener Prognose eines ›religionslosen<br />
Christentums‹, in: IBF 7, 1987, 27–49, bes. 37 f.<br />
41) Ibid, 354.<br />
113
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 114<br />
B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />
Doch zunächst zum Problem der Kontinuität im Religionsverständnis<br />
<strong>Bonhoeffers</strong> und damit zur ersten und<br />
dritten Frage: E. Feil unterscheidet einen ›systematischtheologischen‹<br />
von einem ›historischen‹ Religionsbegriff.<br />
Während der systematisch-theologische Religionsbegriff<br />
<strong>des</strong> frühen Bonhoeffer auf K. Barth zurückgehe, sei der<br />
historische auf W. Dilthey zurückzuführen. Diese Unterscheidung<br />
tritt bei E. Feil in einen Gegensatz: erst ›statisch<br />
und systematisch‹, dann ›dynamisch und historisch‹, ein<br />
Entweder-Oder, eine echte Diskontinuität.<br />
In der Tat zeigte sich, daß die religionskritischen Aussagen<br />
vom frühen K. Barth her beeinflußt sind (vgl. Abschnitt<br />
A), während die Erwägungen über Religionslosigkeit<br />
von Dilthey stammen (vgl. Abschnitt B). Aber tritt die<br />
Barth-Rezeption <strong>des</strong>halb in einen Gegensatz zur Dilthey-<br />
Rezeption? Wie bereits dargelegt, gewinnt Diltheys Historismus<br />
spätestens in der Vorlesung über die ST20Jh aus dem<br />
WS 1931/32 an Bedeutung: <strong>Eine</strong> historische Argumentationsstruktur<br />
im Zusammenhang mit Religion ist bei<br />
Bonhoeffer schon vor 1944 zu beobachten. Wenn also eine<br />
Wende in der Religionsthematik angenommen werden soll,<br />
muß zunächst gefragt werden: Wann soll sich diese vollziehen<br />
1944, 1931/32 oder irgendwann dazwischen? Wenn gar<br />
ein Gegensatz zwischen einem systematisch-theologischen<br />
und einem historischen Religionsverständnis angenommen<br />
werden soll, muß zumin<strong>des</strong>t gefragt werden, worin<br />
dieser bestehen kann. Die Auskunft, er bestehe im Gegensatz<br />
von ›statisch‹ und ›dynamisch‹, ist nach unseren Beobachtungen<br />
nicht hinreichend, auch nicht der Gegensatz<br />
von historisch und systematisch.<br />
E. Feil differenziert in einen dialektischen und dualistischen Religionsbegriff<br />
bei K. Barth. In der Darstellung Barthscher Religionkri-<br />
114
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 115<br />
2. Kontinuität oder Diskontinuität?<br />
tik war gerade keine Unterscheidung zwischen einem dualistischen<br />
und einem dialektischen Religionsbegriff erkennbar. Von den frühen<br />
Aufsätzen bis zur KD ist K. Barths Religionsbegriff dualistisch<br />
bestimmt im Sinne eines offenbarungstheologischen Gefälles Glaube-Religion.<br />
Ein dialektisches Zusammentreten von Glaube und<br />
Religion kann erst recht nicht mit KD I/2 angenommen werden, wo<br />
gerade jeder systematische Ausgleich von vornherein ausgeschlossen<br />
wird. Religion ist ein Problem in der <strong>Theologie</strong>. Gerade das offenbarungstheologische<br />
Gefälle ist von zentraler Bedeutung für die<br />
Ausbildung eines Religionsbegriffs und macht die Rede von der<br />
›wahren Religion‹ für Barth erst möglich (und provoziert, wie wir<br />
sahen, den Einwand <strong>des</strong> Offenbarungspositivismus). K. Barths Religionskritik<br />
ist vom ›Römerbrief‹ bis zur KD im Sinne eines Dualismus<br />
Gnade-Religion angelegt. Fragen wir nun, wie K. Barth seine<br />
Religionskritik formuliert, so beobachten wir überraschend, daß<br />
auch sie einen geschichtlichen Akzent tragen kann. Für K. Barth<br />
ist deutlich, daß »seit 200 Jahren« das »Wort religio« seine Bedeutung<br />
bekommen hat. Er bekennt: »Ich kann das Wort ›Religion‹ nicht<br />
mehr [...] aussprechen ohne die widerwärtige Erinnerung, daß es<br />
nun einmal tatsächlich in der neueren Geistesgeschichte die Flagge<br />
ist, die den Zufluchtsort anzeigt, wohin sich die protestantische<br />
[...] <strong>Theologie</strong> mehr oder weniger fluchtartig zurückzuziehen begann«<br />
42 .<br />
Es ist aufschlußreich, daß auch der Wort-Gottes-Theologe<br />
den Religionsbegriff in geistesgeschichtlichem Kontext reflektieren<br />
kann. Er hat – wie Bonhoeffer – den neuzeitlichen<br />
Religionsbegriff im Blick, wie er grundlegend von Schleiermacher<br />
ausgebildet wurde. Vom 20. Jh. aus kritisiert K.<br />
Barth das Religionsverständnis <strong>des</strong> 19. Jh. Dabei ist die Meinung<br />
Barths wie die <strong>Bonhoeffers</strong>, daß der Religionsbegriff<br />
42) K. BARTH, Unterricht in der christlichen Religion, Erster Band.<br />
Prolegomena 1924, Karl Barth Gesamtausgabe 17, II. Akademische<br />
Werke, Zürich 1985, Zitate 224.<br />
115
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 116<br />
B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />
der Liberalen <strong>Theologie</strong> den Glaubensbegriff der reformatorischen<br />
<strong>Theologie</strong> abgelöst habe: Die <strong>Theologie</strong> sei zur<br />
Anthropologie geworden.43<br />
In diesem historisierenden Sinne hat Bonhoeffer wohl<br />
auch K. Barth in seiner oben erwähnten Vorlesung 1931/32<br />
verstanden: Die Entgegensetzung Glaube – Religion aus<br />
dem ›Römerbrief‹, die er von ›Sanctorum Communio‹ bis<br />
›Widerstand und Ergebung‹ teilt, wird geschichtlich radikalisiert:<br />
Man kann seit dem 17. Jh. gar nicht mehr von<br />
reformatorischem Glauben sprechen. Das kann Bonhoeffer<br />
freilich nur unter dem Eindruck der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />
formulieren, denn allein von hier aus – also vom 20. Jh.<br />
aus – kann man wieder vom reformatorischen Glauben<br />
sprechen. So gipfelt auch die Vorlesung in der Darstellung<br />
K. Barths und der Dialektischen <strong>Theologie</strong>. Systematik und<br />
Historie sind keine Alternativen in <strong>Bonhoeffers</strong> Verständnis<br />
von Religion. Historische Argumentationsstrukturen im<br />
Zusammenhang mit Religion begegnen bei Bonhoeffer<br />
neben systematisch-theologischen Erwägungen schon in<br />
den 30er Jahren: Ob in der dargestellten Vorlesung über die<br />
ST20Jh mit der These, Religion löse den reformatorischen<br />
Glauben im 17. Jh. ab;44 ob er in der besprochenen Predigt<br />
von 1932 nach der Unterscheidung von neuzeitlichem und<br />
vorneuzeitlichem Gottesverständnis der Meinung ist, daß<br />
43) Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Feuerbach-Vorlesung K.<br />
BARTHs aus dem Jahr 1926, in: Die <strong>Theologie</strong> und die Kirche,<br />
Gesammelte Vorträge II, 212–239, 1928. K. Barth ruft in dieser Vorlesung<br />
dazu auf, »Feuerbach das Zugeständnis zu machen, daß er<br />
mit seiner Religionsdeutung auf der ganzen Linie Recht hat« (ibid,<br />
238).<br />
44) Vgl. DBW 11, 145 f.<br />
116
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 117<br />
2. Kontinuität oder Diskontinuität?<br />
durch die Dialektische <strong>Theologie</strong> der Glaube nun wieder die<br />
Religion im 20. Jh. ablöse;45 ob er dann 1939 ›Religion‹ überhaupt<br />
für »überflüssig« hält mit der These, »daß man gut<br />
oder besser ohne ›Religion‹ auskommt«46; ob er in der<br />
›Ethik‹ 1941 Religion mit ›abendländischer Gottlosigkeit‹47<br />
identifiziert oder in einem Brief von 1942 bekennt, daß die<br />
Begriffe ›Gott‹, ›Christus‹ etc. religiös ›entkleidet‹ werden<br />
müßten,48 wenn er schließlich aus der Tegeler Zelle eine ›religionslose<br />
Zeit‹ proklamiert, der wir entgegengehen.49<br />
Überall stehen in der Religionsthematik historische<br />
und systematisch-theologische Erwägungen nebeneinander;<br />
zuweilen ergänzen sie sich, wie in der Vorlesung 1931/<br />
32: Religion als geschichtliche Größe hat ihre Zeit vom 17.–<br />
19. Jh. Die Dialektische <strong>Theologie</strong> <strong>des</strong> 20. Jh. lehnt das neuzeitliches<br />
Verständnis von Religion, wie es sich seit dem 17.<br />
Jh. ausgeprägt hat, ab. Die Tegeler Religionsauffassung radikalisiert<br />
diese Kritik unter systematischem Rückgriff auf<br />
W. Dilthey und formuliert das geschichtliche Ende von<br />
Religion insgesamt.<br />
b) Geschichtlich artikulierte Religionskritik 1930/31 –<br />
Die Bedeutung von William James<br />
Wenn wir nicht trennen zwischen einer systematischen<br />
und einer historisch formulierten Religionskritik bei Bonhoeffer,<br />
bleibt die Frage offen, wann die historisch artikulierte<br />
Religionskritik einsetzt und wo sie erstmals belegt ist.<br />
45) Vgl. DBW 11, 435 ff.<br />
46) GS I 300.<br />
47) Ethik (DBW 6) 113.<br />
48) Vgl. GS II 420.<br />
49) Zuerst im Brief vom 30. 4.1944 (WEN 305 ff.).<br />
117
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 118<br />
B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />
Dazu wollen wir uns einem weitgehend unbeachtet gebliebenen<br />
Feld der Bonhoeffer-Rezeption zuwenden. Neben<br />
Dilthey (von 1931/32 an) gewinnt seit 1930 die pragmatische<br />
<strong>Lebens</strong>philosophie50 für Bonhoeffer an Bedeutung. Sie verbindet<br />
sich für den USA-Stipendiaten hauptsächlich mit<br />
dem Namen W. James.<br />
»Ich las fast das gesamte philosophische Werk von William<br />
James, das mich ungemein fesselte« – so Bonhoeffer in<br />
einer Selbstaussage 1931.51 Besonders vertraut ist er offensichtlich<br />
mit dem Religionsbegriff von W. James gewesen.<br />
Bonhoeffer hielt ein Referat52 über die ›Conclusions‹ der ›Varieties<br />
of religious experience‹, die ›Schlussfolgerungen‹,<br />
die W. James aus seinen ›Vorlesungen über die pragmatische<br />
Religionspsychologie‹ 1901/1902 zog.53 Er eröffnet<br />
seine ›Schlußfolgerungen« (448 ff.), indem er erkenntnistheoretisch<br />
an die historische <strong>Lebens</strong>philosophie anknüpft<br />
und sie fragend mit dem Religionsbegriff verbindet.<br />
»Muß man annehmen, daß bei allen Menschen die Mischung von<br />
Religion und anderen Elementen identisch sein sollte? Muß in der<br />
Tat angenommen werden, daß die Biographien aller Menschen<br />
50) Zum Begriff: Bonhoeffer selbst versteht den Pragmatismus, wie er<br />
durch W. James begründet und zum Instrumentalismus durch<br />
Dewey erweitert wurde, als »<strong>Lebens</strong>philosophie« (DBW 10, 271).<br />
51) DBW 10, 268.<br />
52) Vgl. DBW 10, 408 f.<br />
53) <strong>Eine</strong> dt. Übersetzung besorgte E. HERMS unter dem Titel ›Die Vielfalt<br />
religiöser Erfahrung. <strong>Eine</strong> Studie über die menschliche Natur‹,<br />
1979 (= Vorlesungen). Wir folgen in der Darstellung und Zitation<br />
dem dt. Text und in den Anmerkungen parallel dem amerikanischen<br />
Original ›Conclusions to the varieties of religious experience‹,<br />
in: The Writings of William James, herausgegeben von J. J. MC<br />
ERMOTT, Chicago 1977, 758 ff. (= Conclusions).<br />
118
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 119<br />
2. Kontinuität oder Diskontinuität?<br />
die gleichen religiösen Elemente aufweisen sollten« (Vorlesungen,<br />
450). 54<br />
Bonhoeffer verneint diese Fragen. Die <strong>Lebens</strong>situation der<br />
Menschen sei zu unterschiedlich (450 f.).55 Für die »Wissenschaft<br />
der Religionen« ist Religion geschichtlich überholt,<br />
»ein atavistischer Rückfall in eine Denkweise, über die die<br />
Menschheit in ihren aufgeklärten Exemplaren hinausgewachsen<br />
ist« (453).56 Die »Tage« seien »vorbei, in denen man<br />
sagen konnte, daß selbst für die Wissenschaft die Himmel<br />
die Ehre Gottes rühmen und das Firmament sich als das<br />
Werk seiner Hände erweist« (454).57 Allenfalls ein »Gott<br />
universaler Gesetze« wird noch von der »Wissenschaft anerkannt«<br />
(455).<br />
Religion ist also in einem Schlagwort: »Reiner Anachronismus«<br />
(456).58 W. James stellt das ›wissenschaftliche Reli-<br />
54) »Ought it to be assumed that in all men the mixture of religion<br />
with other elements should be identical? Ought it, indeed, to be<br />
assumed that the lives of all men should show identical religious<br />
elements« (Conclusions, 760).<br />
55) Wie W. Dilthey lehnt auch W. James die Metaphysik ab, wenn er<br />
seine »pragmatische Ansicht der Religion« verteidigt: »Es sind nur<br />
die transzendentalistischen Metaphysiker, die meinen, daß man<br />
die Natur, ohne ihr irgendein konkretes Detail hinzuzufügen oder<br />
fortzunehmen, sondern einfach dadurch, daß man sie den Ausdruck<br />
eines absoluten Geistes nennt, göttlicher macht, als sie direkt<br />
ist. Ich bin überzeugt, daß die pragmatische Auffassung der<br />
Religion die tiefere ist« (Vorlesungen, 472).<br />
56) »[...] an atavistic relapse into a mode of thought which humanity in<br />
its more enlightened examples has outgrown.« (Conclusions, 762)..<br />
57) »[...] the days are over when it could be said that for Science herself<br />
the heavens declare the glory of God and the firmament showeth<br />
his handiwork« (Conclusions, 762 f.).<br />
58) »Pure anachronism! says the survival-theory; [...]« (op. cit. 767).<br />
119
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 120<br />
B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />
gionsbild‹ seiner Zeit dar, wonach Religion ein ›Überbleibsel‹<br />
vergangener Tage ist.<br />
In den Schlagworten von James sowie in der historischen<br />
Dimension der Religionskritik klingen Wendungen<br />
<strong>Bonhoeffers</strong> an. Man denke nur an den »deus ex machina«<br />
oder »›Gott‹ als Arbeitshypothese«. Es sind vor allem die<br />
Grenzbegriffe zum physikalischen Weltbild, die Bonhoeffer<br />
und James gleichermaßen in ihre Religionskritiken einbeziehen.<br />
Vieles spricht dafür anzunehmen, daß Bonhoeffer<br />
neben Dilthey wohl auch den Pragmatismus James’ auf den<br />
neuzeitlichen Religionsbegriff angewendet hat, um das<br />
Ende der Religion zu prognostizieren. Solche Prognose richtet<br />
sich freilich religionstheoretisch nicht nur gegen W.<br />
Diltheys Religionsauffassung, sondern auch gegen die von<br />
W. James, wie noch zu zeigen ist.<br />
Im weiteren Verlauf seiner Schlußfolgerungen kritisiert<br />
W. James zwar weiter die wissenschaftliche Ȇberbleibseltheorie<br />
der Religion« und weist sie »ohne Zögern« zurück<br />
(459). Er möchte aber andererseits an der »Religion <strong>des</strong> Individuums«<br />
und seiner »privaten Realitäten« festhalten (458).<br />
Der »religiöse Geist« werde beeindruckt von der »›Verheißung‹<br />
<strong>des</strong> Morgengrauens und <strong>des</strong> Regenbogens«, von der<br />
»›Stimme‹ <strong>des</strong> Donners«, von der »›Sanftheit‹ <strong>des</strong> Sommerregens«<br />
und der »›Erhabenheit‹ der Sterne« (456).59 Es gehe<br />
59) »Well, it is still in these richer animistic and dramatic aspects that<br />
religion delights to dwell. It is the terror and beauty of phenomena,<br />
the ›promise‹ of the dawn and the rainbow, the ›voice‹ of the thunder,<br />
the ›gentleness‹ of the summer rain, the ›sublimity‹ of the<br />
stars, and not the physical laws which these things follow, by<br />
which the religious mind still continues to be most impressed«<br />
(Conclusions, 767).<br />
120
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 121<br />
2. Kontinuität oder Diskontinuität?<br />
darum, »in der Religion das Element <strong>des</strong> Gefühls zu rehabilitieren<br />
[...]. Individualität ist im Gefühl begründet«<br />
(459). Aussagen wie diese mögen reichen, um den Religionsbegriff<br />
von W. James einzureihen in die Religionsauffassung<br />
von F. Schleiermacher über die <strong>des</strong> Deutschen Idealismus<br />
bis hinauf zu W. Dilthey. Die positive Religionseinschätzung<br />
ist im Blick auf den Pragmatismus bei James<br />
auch konsequent: Religion trägt etwas aus, sie wirkt. Gott<br />
»erweist sich als brauchbar«. Deshalb ist Religion im Sinne<br />
pragmatischer Erkenntnistheorie ›wahr‹. »Die Liebe zum<br />
Leben [...] ist der religiöse Impuls« (462). <strong>Lebens</strong>philosophie<br />
und Religionstheorie sind für W. James untrennbar verbunden.<br />
Bonhoeffer hat ›Religion‹ in der Form <strong>des</strong> ›Individualismus‹<br />
von ›Sanctorum Communio‹ bis ›Widerstand und Ergebung‹<br />
in Verbindung mit F. Schleiermacher und W. Dilthey<br />
abgelehnt. Wie wird er nun die ›Schlußfolgerungen‹<br />
kommentieren? In dem ›Referat‹ über W. James beobachtet<br />
Bonhoeffer deutlich den Übergang von der Darstellung<br />
der naturwissenschaftlichen Religionskritik zur pragmatischen<br />
Religionswürdigung in den ›Conclusions‹. Er gibt<br />
knapp wieder: »Naturwissenschaft ist unpersönlich, Religion<br />
persönlich« (DBW 10, 667).<br />
Bonhoeffer beobachtet auch die historische Verankerung<br />
der Religionsfrage im Pragmatismus: Für W. James ist<br />
die Frage, »ob Religion nur ein Überbleibsel primitiven<br />
Denkens sei und ob die Naturwissenschaften nun an seine<br />
Stelle träten« (ibid). Bonhoeffer kritisiert in seinem James-<br />
Referat diesen Umschwung hin zur Religionswürdigung,<br />
der den Versuch eines Ausgleichs von Religion und Naturwissenschaft<br />
unternimmt. Bonhoeffer wird der naturwissenschaftlichen<br />
Religionskritik folgen. Er lehnt den prag-<br />
121
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 122<br />
B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />
matischen Religionsbegriff ab, indem er zunächst methodologisch<br />
eine pragmatische <strong>Theologie</strong> bestreitet: Die<br />
»Wirksamkeit« Gottes könne nicht seiner »Wirklichkeit«<br />
vorgeordnet werden (668). Mit anderen Worten: ›Wahr‹ ist<br />
nicht allein das, was ›wirkt‹, schon gar nicht in der Gottesfrage.<br />
<strong>Eine</strong>n Gott, der sich erst durch sein Handeln als wirklich<br />
erweist, tituliert die Tegeler <strong>Theologie</strong> mit der Schreibweise<br />
›Gott‹. (Diese Schreibweise begegnet auch in der<br />
deutschen Übersetzung zu diesem Referat.60)<br />
Mit der Ablehnung einer pragmatischen Gotteslehre<br />
verbindet sich auch <strong>Bonhoeffers</strong> zweiter kritischer Einwand<br />
gegenüber W. James (668); für diesen ist religiöse Gotteserkenntnis<br />
Sache <strong>des</strong> »Unterbewusstseins« als vermittelnde<br />
Instanz zwischen dem religiösen Individuum und<br />
Gott. Dieses ist aber für James anthropologische Größe und<br />
liegt nicht »außerhalb der individuellen Person«.<br />
Für Bonhoeffer, der 1930 dialektisch-theologischer Gotteserkenntnis<br />
folgt, kann eine ›religiöse Erfahrung‹, die<br />
nicht wirklich »außerhalb« der individuellen Person liegt,<br />
nur als ›Illusion‹ bezeichnet werden. Philosophisch gesprochen,<br />
setzt er I. Kants Phänomenalismus gegen W. James’<br />
Pragmatismus. Dennoch hat er sich mit der pragmatischen<br />
<strong>Lebens</strong>philosophie beschäftigt. Er rezipiert und kritisiert sie.<br />
Bonhoeffer hat bei W. James von einer naturwissenschaftlichen<br />
Religionskritik gelesen, die so erst in neuzeitlichem<br />
Zusammenhang möglich wurde.61 Diese Form der<br />
60) Vgl. DBW 10, 668; Schreibweise ›Gott‹ auch DBW 10, 448.<br />
61) Auch W. James hält Religion erst seit dem 17. Jh. für bedeutend,<br />
wenn er in einem längeren Exkurs neuzeitliches und vor-neuzeitliches<br />
Denken unterscheidet und den Religionsbegriff als neuzeitlich<br />
ausweist. Dabei zieht James eine Linie in der Metaphysik von<br />
122
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 123<br />
2. Kontinuität oder Diskontinuität?<br />
Religionskritik unterscheidet dezidiert Naturwissenschaft<br />
und Religion. Das teilt Bonhoeffer explizit. <strong>Eine</strong>n »vermittelnden<br />
Begriff zwischen Religion und Naturwissenschaft<br />
zu finden«, scheint ihm »nicht möglich« (668). Aus<br />
Tegel ist derselbe Gedanke zusammengefaßt in dem Satz:<br />
»Ein erbaulicher Naturwissenschaftler [...] ist ein Zwitter«<br />
(WEN 393).<br />
Die bei W. James entwickelte lebensphilosophische Religionskritik<br />
wird von Bonhoeffer geteilt, der pragmatische<br />
Religionsbegriff insgesamt abgelehnt.<br />
c) Noch einmal: Kontinuität oder Diskontinuität?<br />
Es ist nicht alternativ zwischen einem systematischen und<br />
einem historischen Religionsverständnis bei Bonhoeffer zu<br />
wählen. Im Gegenteil: Nach der vorangegangenen Analyse<br />
ist diese Frage im strengen Sinn gar nicht zulässig. Die Artikulation<br />
einer Kritik der Religion steht im jeweiligen Zusammenhang<br />
mit seiner Rezeption philosophischer Entwürfe;<br />
als die drei wichtigsten Namen sind zu nennen: I.<br />
Kant, W. James und W. Dilthey. Für alle drei Philosophen ist<br />
›Religion‹ integrativer Bestandteil ihrer philosophischen<br />
Entwürfe. Insofern ist <strong>Bonhoeffers</strong> Philosophie-Rezeption<br />
eklektisch; er teilt nicht deren Religionsbegriffe.<br />
Der Phänomenalismus Kants wird Bonhoeffer vor allem<br />
durch K. Barth vermittelt. Der offenbarungstheologische<br />
Schlüssel zur Artikulation der Religionskritik findet sich in<br />
dem im Neukantianismus zum Grenzbegriff werdenden<br />
Phänomenalismus. Bonhoeffer ergänzt und radikalisiert<br />
sein Religionsverständnis seit den 30er Jahre historisch. Der<br />
Dualismus von Glaube und Religion tritt radikalisierend in<br />
eine geschichtliche Klammer. W. James ist Wegbereiter für<br />
die ›geschichtliche <strong>Lebens</strong>philosophie‹ der Tegeler Theolo-<br />
123
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 124<br />
B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />
gie und die Rede von der ›Religionslosigkeit‹. Ich halte die<br />
Begegnung mit dem Pragmatismus für die wichtigste nach<br />
dem Neukantianismus und vor dem Historismus.62 Die<br />
Frontstellung gegen die Metaphysik ist W. James und W.<br />
Dilthey gemeinsam, obwohl Bonhoeffer den erkenntnistheoretischen<br />
Ansatz <strong>des</strong> Pragmatismus nicht teilt. Er<br />
bleibt Kantianer im Sinne K. Barths. Das ändert sich erst<br />
unter dem systematischen Einfluß W. Diltheys; durch ihn<br />
entdeckt er eine neue Seite I. Kants. Die (Wieder)-Entdekkung<br />
W. Diltheys bedeutet eine Modifizierung <strong>des</strong> philosophischen<br />
Ansatzes (1944): Wo bei I. Kant die Vernunft steht,<br />
hat bei W. Dilthey das Leben seine erkenntnistheoretische<br />
Bedeutung. Damit geht dann auch eine Kritik an K. Barth<br />
einher. I. Kant und W. Dilthey verbindet für Bonhoeffer<br />
eine gemeinsame Position gegen die Identitätsphilosophie<br />
<strong>des</strong> Deutschen Idealismus.63<br />
Bonhoeffer lehnt W. Diltheys Religionsbegriff ab, obwohl<br />
er ihm terminologisch und erkenntnistheoretisch<br />
folgt. Er wendet den Historismus gegen Diltheys eigenen<br />
Religionsbegriff an und weist ihn als neuzeitlich aus. Er<br />
sieht eine klare Linie in der positiven Religionsauffassung<br />
von G. Lessing über F. Schleiermacher und W. Dilthey bis zu<br />
Aristoteles über Augustin in die Spätscholastik und stellt fest, daß<br />
deren mechanistisches Weltbild neuzeitlich überholt ist (vgl. Conclusions<br />
766 f., Anm. 67).<br />
62) Vgl. R. K. WÜSTENBERG, <strong>Eine</strong> <strong>Theologie</strong> <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong>. <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong><br />
theologische Rezeption der <strong>Lebens</strong>philosophie Wilhelm<br />
Diltheys, in: Dilthey-Jahrbuch 12/1999–2000, 260–270.<br />
63) Bonhoeffer beruft sich auch gerne auf Philosophen, die dem Idealismus<br />
kritisch gegenüberstehen, wie L. Feuerbach (1931/32 in der<br />
Vorlesung ST20Jh), S. Kierkegaard (1937 in der ›Nachfolge‹) und F.<br />
Nietzsche (1940 f. in der Ethik).<br />
124
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 125<br />
2. Kontinuität oder Diskontinuität?<br />
W. James. Die Kritik am Religionsbegriff F. Schleiermachers<br />
kam durch K. Barth und ist schon in ›Sanctorum Communio‹<br />
belegt: Religion als Individualismus.<br />
Diese dialektisch-theologische Einsicht wird historisch<br />
erweitert: rückwärts im Blick auf das 17. und 18. Jh. und vorwärts<br />
hinsichtlich <strong>des</strong> ausgehenden 19. und 20. Jh. Das Verständnis<br />
von ›Religion als Individualismus‹ findet sich<br />
durchgängig von ›Sanctorum Communio‹ (1927) bis ›Widerstand<br />
und Ergebung‹ (1944); es wendet sich gegen den neuzeitlichen<br />
Religionsbegriff im allgemeinen und den <strong>des</strong><br />
Deutschen Idealismus im besonderen. Dabei treten die<br />
Namen H. von Cherbury, G. Lessing, F. Schleiermacher, W.<br />
Dilthey und W. James hervor.<br />
Die Selbständigkeit und Originalität der <strong>Bonhoeffers</strong>chen<br />
Religionsauffassung ist seit den frühen 1930er Jahren<br />
aufgefallen und mündet 1944 in die These von der ›Religionslosigkeit‹.<br />
Ein Gegensatz in der Artikulation der Religionskritik<br />
tritt nicht in den Blick. <strong>Eine</strong> Modifikation in der<br />
Begriffsbildung ist begründet in der unterschiedlichen Rezeption<br />
von <strong>Theologie</strong> (K. Barth) und Philosophie (I. Kant,<br />
W. James, W. Dilthey).<br />
Wir werden in der Religionsauffassung <strong>Bonhoeffers</strong> von<br />
einer Diskontinuität in der Kontinuität sprechen müssen.<br />
<strong>Eine</strong> solche gilt in erweitertem Sinne auch für seine Philosophie-Adaption.<br />
Der neukantianische Ansatz (seit 1929)<br />
wird (seit 1931) unter dem Eindruck <strong>des</strong> Pragmatismus<br />
dann (1944) zum Historismus modifiziert.<br />
125
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 126<br />
B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />
3. Ergebnis und These<br />
Der Weg der Religionsbetrachtung <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong><br />
führte von der Religionswürdigung über die Religionskritik<br />
zur Religionslosigkeit. Dabei waren zwei Veränderungen<br />
im Verständnis von Religion bei <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer zu<br />
beobachten, die beide mit dem Namen Karl Barth verbunden<br />
sind.<br />
Von ›Veränderungen‹ wird bewußt gesprochen. Veränderungen<br />
beinhalten fließende Übergänge und sind etwas<br />
anderes als Zäsuren. Was für die <strong>Theologie</strong> <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong><br />
im Ganzen gilt, das wird durch die vorliegende<br />
Untersuchung für das Thema Religion bestätigt. Mit E.<br />
Bethge und anderen Bonhoeffer-Interpreten nehme ich<br />
eine Kontinuität in theologischen und kirchlichen Fragestellungen<br />
<strong>des</strong> Theologen und Christen an.64 In der speziellen<br />
Begrifflichkeit der Tegeler <strong>Theologie</strong> begegnen freilich<br />
Termini, die im Blick auf andere, frühere Aussagen zur Religionskritik<br />
den Eindruck einer Diskontinuität vermitteln.<br />
Diese tritt jedoch zurück, wenn das Thema Religion auf<br />
dem Hintergrund <strong>des</strong> Ganzen seiner <strong>Theologie</strong> betrachtet<br />
wird.<br />
Die drei genannten Aussageformen von Religion, die im<br />
Gesamtwerk <strong>Bonhoeffers</strong> begegnen, konnten nicht aus sich<br />
heraus interpretiert werden: Bonhoeffer bildet werkimmanent<br />
keinen Religionsbegriff aus. Daher waren wir an die<br />
Rezeptionsfrage gewiesen: Woher kommt <strong>Bonhoeffers</strong> positive<br />
bzw. kritische Betrachtung von Religion? Woher seine<br />
64) Gegen H. MÜLLER, Von der Kirche zur Welt, 2. Aufl., Leipzig 1966,<br />
der mit »qualitativen Sprüngen« und »Widersprüchen« in der<br />
<strong>Theologie</strong> <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong> rechnet (9).<br />
126
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 127<br />
3. Ergebnis und These<br />
These von der Religionslosigkeit? Diese Fragen kann nun<br />
beantwortet werden:<br />
I. <strong>Bonhoeffers</strong> religionswürdigende Aussagen sind auf<br />
dem Hintergrund der Liberalen <strong>Theologie</strong> zu interpretieren<br />
(A. v. Harnack, A. Ritschl).<br />
II. Die kritischen Aussagen über Religion sind unter<br />
dem Einfluß der Dialektischen <strong>Theologie</strong> entstanden (K.<br />
Barth).<br />
III. Seine These von der Religionslosigkeit setzt den<br />
philosophischen Historismus voraus (W. Dilthey, zuvor: W.<br />
James).<br />
Unbeantwortet bleiben noch folgende Fragen: Wie sind<br />
Religionskritik und Religionslosigkeit aufeinander bezogen?<br />
Wie verhält sich die Barth-Rezeption zur Dilthey-Rezeption?<br />
Wie gehören die Untersuchungen von Abschnitt<br />
A) und Abschnitt B) zusammen?<br />
Um diese Fragen zu beantworten, sei an den Leitbegriff<br />
erinnert, unter den Bonhoeffer seine Tegeler <strong>Theologie</strong><br />
stellt: die nichtreligiöse Interpretation biblischer Begriffe.<br />
Dieses theologische Programm setzt sowohl die These von<br />
der Religionslosigkeit voraus als auch die theologische Religionskritik.<br />
Die nichtreligiöse Interpretation biblischer<br />
Begriffe kann auch nicht allein von Dilthey her erklärt werden.<br />
Es zeigte sich, daß der Begriff ›religionslos‹ bei W. Dilthey<br />
gerade nicht kritisch eingesetzt wurde. Im Gegenteil:<br />
Dilthey versteht Religion konsequent aus der Geschichte:<br />
›Religionslosigkeit‹ ist ausgeschlossen.<br />
Bonhoeffer wendet die Religionskritik auf diesen Diltheyschen<br />
Terminus an und gibt ihm eine neue, kritische<br />
Bedeutung. Der Begriff wird gleichsam ›umgepolt‹; der<br />
konstruktive Impuls der Dialektischen <strong>Theologie</strong> bleibt bis<br />
127
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 128<br />
B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />
in die Tegeler <strong>Theologie</strong> erhalten. In der Forderung einer<br />
nichtreligiösen Interpretation kombiniert Bonhoeffer die<br />
Dialektische <strong>Theologie</strong> mit dem philosophischen Historismus.<br />
Diese Verbindung von religionskritischem Impuls<br />
und historischer Religionsbetrachtung, die die Rede von<br />
der nichtreligiösen Interpretation allererst ermöglicht, ist<br />
in der Literatur bislang nicht hinreichend gesehen worden.<br />
Das Ergebnis in einer These:<br />
Die nichtreligiöse Interpretation ist rezeptionsgeschichtlich<br />
eine Verbindung der theologischen Religionskritik Karl<br />
Barths mit dem philosophischen Historismus Wilhelm Diltheys.<br />
128
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 129<br />
C. Von der Rezeption der<br />
<strong>Lebens</strong>philosophie zur<br />
›nichtreligiösen Interpretation‹<br />
Von der Rezeptionsgeschichte der nichtreligiösen Interpretation<br />
soll abschließend auf ihre systematische Aussagekraft<br />
geschlossen werden. Dabei bleibe ich weiter auf den<br />
Spuren Diltheys und der <strong>Lebens</strong>philosophie, prüfe aber<br />
jetzt den inneren Zusammenhang zwischen »Leben« und<br />
»Geschichte« bei Dilthey und <strong>des</strong>sen Einfluß auf Bonhoeffer.<br />
Alle historische Analyse bei Dilthey ist erkenntnistheoretisch<br />
verankert in <strong>des</strong>sen <strong>Lebens</strong>begriff, eine Einsicht, die<br />
bislang in der Bonhoeffer-Forschung zu wenig Beachtung<br />
fand.<br />
Bonhoeffer geht aber den Erkenntnisweg Diltheys mit<br />
und finalisiert seine Gedanken über die Religionslosigkeit<br />
in der konstruktiv-kritischen Aufnahme <strong>des</strong> philosophischen<br />
<strong>Lebens</strong>begriffs. Hat er unter dem Einfluß der Dialektischen<br />
<strong>Theologie</strong> noch Religion und Glauben einander<br />
entgegengestellt, so nun – unter dem Einfluß der <strong>Lebens</strong>philosophie<br />
<strong>des</strong> ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhun-<br />
derts – Religion und Leben. Dezidiert heißt es bei ihm:<br />
»Jesus ruft nicht zu einer neuen Religion auf, sondern zum<br />
Leben« (WEN 396).<br />
Die Interdependenz von ›Leben‹ und ›Geschichte‹ lernt<br />
Bonhoeffer 1943 bei dem spanischen Kultur- und <strong>Lebens</strong>philosophen<br />
José Ortega y Gasset kennen.<br />
129
Wüstenberg 04.07. 15.08.2006 14:24 Uhr Seite 130<br />
<strong>Lebens</strong>philosophie und ›nichtreligiöse Interpretation‹<br />
1. Die Bedeutung <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong>philosophen<br />
J. Ortega y Gasset<br />
Bevor Bonhoeffer im Frühjahr 1944 beginnt, systematisch<br />
W. Dilthey zu lesen, hat er seit 1943 Werke <strong>des</strong> spanischen<br />
<strong>Lebens</strong>philosophen José Ortega y Gasset in die Tegeler Zelle<br />
bestellt; daneben erwähnt und liest er Philosophen und<br />
Dichter, die in das Umfeld der <strong>Lebens</strong>philosophie1 gezählt<br />
werden, wie C. F. Meyer (WEN 102), F. Nietzsche und S. Kierkegaard<br />
(etwa WEN 257), L. Feuerbach (WEN 393), M. Heidegger<br />
(WEN 92)2, J. W. Goethe (etwa WEN 258), L. Klages<br />
(WEN 257), F. Hölderlin (WEN 363)3 und J. Pestalozzi (WEN<br />
437 f.)4. Daneben liest und zitiert Bonhoeffer ausgiebig A.<br />
Stifters ›Witiko‹.<br />
Am 4.10. 1943 bestellt er in einem Brief an die Eltern<br />
zwei Aufsätze von J. Ortega y Gasset in die Tegeler Zelle:<br />
»System der Geschichte« und »Vom römischen Imperium«<br />
(WEN 136). Am 26. 4.1944, also ein halbes Jahr später, schreibt<br />
1) Vgl. zum Folgenden O. F. BOLLNOW, Die <strong>Lebens</strong>philosophie, Berlin<br />
et al. 1958.<br />
2) Heidegger wird nur am Rande in Tegel erwähnt; explizit in einem<br />
Brief <strong>des</strong> Vaters. Grundsätzlich nimmt aber die »Existentialontologie<br />
lebensphilosophische Ansätze auf und führt sie fort (so O. F.<br />
BOLLNOW, op. cit. 129). Zum Problem der Abgrenzung von Existentialismus<br />
und <strong>Lebens</strong>philosophie vgl. H. FAHRENBACH, <strong>Lebens</strong>philosophische<br />
oder existenzphilosophische Anthropologie?<br />
Plessners Auseinandersetzung mit Heidegger, in: Dilthey-Jahrbuch<br />
VII, 1990/91, 71–111.<br />
3) Hier zitiert Bonhoeffer: ›Wer das Tiefe gedacht, liebt das Lebendigste‹.<br />
Über F. Hölderlin im Kontext der <strong>Lebens</strong>philosophie vgl. O. F.<br />
BOLLNOW, op. cit. 103.<br />
4) Über <strong>des</strong>sen Bedeutung für die <strong>Lebens</strong>philosophie vgl. O. F. BOLL-<br />
NOW, op. cit. etwa 60 f.<br />
130
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 131<br />
1. Der <strong>Lebens</strong>philosoph J. Ortega y Gasset<br />
er – wieder an die Eltern: »Könntet Ihr wohl versuchen, mir<br />
das neue Buch von Ortega y Gasset: ›Das Wesen geschichtlicher<br />
Krisen‹ [...] und möglichst auch das vorige: ›Geschichte<br />
als System‹ zu beschaffen; [...]« (WEN 303). Mit ›Geschichte<br />
als System‹ und ›System der Geschichte‹ wird Bonhoeffer<br />
denselben Aufsatz5 <strong>des</strong> Kulturphilosophen gemeint haben,<br />
nämlich »Geschichte als System«6 von 1941. Aus der wiederholten<br />
Bestellung kann gefolgert werden, daß dieser Aufsatz<br />
für ihn wichtig war. Aus der anderen Beobachtung, daß<br />
der Titel »Über das römische Imperium« von 19407 nicht<br />
wieder bestellt wurde, läßt sich mit einiger Wahrscheinlichkeit<br />
gefolgert werden, daß Bonhoeffer diesen erhalten<br />
und gelesen hat;8 er beschäftigt sich also mit dem <strong>Lebens</strong>philosophen9<br />
seit dem Herbst 1943, interessiert sich weiter<br />
für seine Schriften und bestellt wieder im Frühjahr 1944.<br />
In der Schrift ›Über das römische Imperium‹ konnte<br />
Bonhoeffer Ende 1943 bereits über die geschichtliche Bedeutung<br />
<strong>des</strong> Begriffs ›religio‹ bei Cicero lesen. »Dies Verhalten,<br />
das uns dazu führt, nicht leichthin zu leben, sondern<br />
5) Vgl. auch E. BETHGE, DB 1053; hier wird die philosophische Literatur<br />
aufgelistet, die Bonhoeffer in Tegel las. Von J. Ortega y Gasset<br />
finden sich drei Bücher: »Geschichte als System«, »Vom Wesen geschichtlicher<br />
Krisen« und »Vom römischen Imperium«. Während<br />
Bonhoeffer letzteres bereits seit Oktober 1943 gelesen hat, wurden<br />
die beiden ersteren im Mai 1944 studiert.<br />
6) Im folgenden zitiert nach: Gesammelte Werk-Ausgabe, Band IV (=<br />
Ges. Werke IV), 1956, 366 ff.<br />
7) In: Ges. Werke IV, 414 ff.<br />
8) Vgl. auch E. BETHGE, DB 1053.<br />
9) Mit O. F. BOLLNOW, <strong>Lebens</strong>philosophie, 44, soll der spanische<br />
Kulturphilosoph Ortega y Gasset unmittelbar der Strömung der<br />
<strong>Lebens</strong>philosophie zugerechnet werden.<br />
131
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 132<br />
<strong>Lebens</strong>philosophie und ›nichtreligiöse Interpretation‹<br />
uns mit Bedacht zu betragen, mit Bedacht vor der transzendenten<br />
Wirklichkeit, ist der genaue Sinn, den das Wort religio<br />
für die Römer hatte, und es ist wahrhaftig der wesentliche<br />
Sinn einer jeden Religion«10. Dabei bedeute Religion<br />
nicht ein »Gebundensein <strong>des</strong> Menschen an Gott«, sondern<br />
schlicht »gewissenhaft« im Sinne von »religiosus«, »also wer<br />
sich nicht leichtsinnig, sondern bedächtig verhält«11. Religion<br />
als Gewissensreligion bekommt so eine Bedeutung für<br />
das politische Leben. »Die Begriffe <strong>des</strong> Glaubens und <strong>des</strong><br />
Staates durchdringen einander. In der Politik gibt es Epochen<br />
der Religion und solche der Nachlässigkeit, <strong>des</strong> Bedachten<br />
und der Unbedachtsamkeit, der Gewissenhaftigkeit<br />
und der Frivolität« (ibid).<br />
J. Ortega y Gasset rechnet offenbar in der Geschichte<br />
auch mit einer Zeit ohne Religion, d. h. in seinem Sprachgebrauch<br />
mit einer Zeit »der Nachlässigkeit«, »der Unbedachtsamkeit«<br />
und »der Frivolität«. Religion ist also eine geschichtliche<br />
Größe, die zu bestimmter Zeit in Erscheinung<br />
tritt und zu anderer ausbleibt, weil ›religio‹ für J. Ortega<br />
y Gasset kein »Gebundensein <strong>des</strong> Menschen an Gott«<br />
schlechthin meint, also keine anthropologische Gegebenheit<br />
bedeutet (ibid). Solange der Mensch sich »gewissenhaft«<br />
und »bedächtig verhält«, ist er religiös. »Das Gegenteil<br />
von religio ist negligentia« (ibid).<br />
Bonhoeffer hat möglicherweise Impulse für seine Betrachtung<br />
der Religion als historische Größe min<strong>des</strong>tens<br />
10) In: Ges. Werke IV, 427 ff.<br />
11) Ibid, 428.<br />
132
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 133<br />
1. Der <strong>Lebens</strong>philosoph J. Ortega y Gasset<br />
seit Herbst 1943 erhalten, wenn nicht früher. J. Ortega y<br />
Gasset hat vor und parallel zu W. Dilthey eine bedeutende<br />
Rolle im Hinblick auf die Adaption <strong>des</strong> Historismus und<br />
der <strong>Lebens</strong>philosophie gespielt. Um diese These zu begründen<br />
und zu vertiefen, wende ich mich den beiden Schriften<br />
von J. Ortega y Gasset zu, die Bonhoeffer parallel zu W. Dilthey<br />
gelesen hat.<br />
F. W. Kantzenbach hat überzeugend den Zusammenhang<br />
zwischen J. Ortega y Gassets ›Das Wesen geschichtlicher<br />
Krisen‹ und den Tegeler Briefen herausgestellt. Bonhoeffer<br />
konnte bei Ortega y Gasset »lesen, daß es ein anderes<br />
sei, Veränderungen in der Welt anzuerkennen als zu urteilen:<br />
›Die Welt hat sich verändert!‹ Aber im Unterschied zur<br />
mittelalterlichen Auffassung, daß das natürliche Leben<br />
gleichsam wie eine Maske unsere echte Wirklichkeit verberge<br />
und die wahre Wirklichkeit ›unserer Beschäftigung mit<br />
dem Absoluten oder Gott‹ sei, widersprach Bonhoeffer, konsequent<br />
seiner je und je vertretenen Auffassung, der Paradoxie,<br />
die in der äußersten Umkehr der Perspektive die<br />
Lösung sieht. Das führt zur Kapitulation vor dem Leben,<br />
zur Abwendung von der natürlichen Welt«12. Kantzenbach<br />
sieht auch den Zusammenhang mit W. Dilthey, <strong>des</strong>sen<br />
Analyse Bonhoeffer teilte, »aber er lehnte W. Diltheys<br />
Flucht in die Innerlichkeit und private Gesinnungsreligion<br />
ab« (ibid). Schließlich kommt F. W. Kantzenbach zu dem<br />
überraschenden Urteil: »Wo Dilthey nicht positiv weiterführen<br />
konnte, deutete Ortega y Gasset schon zentraler die<br />
existentielle Verlegenheit an« (ibid). Ich halte dieses Urteil<br />
für weiterführend, weil J. Ortega y Gasset in der Generation<br />
12) F. W. KANTZENBACH, Programme der <strong>Theologie</strong>, 3. Aufl. 1984, 245.<br />
133
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 134<br />
<strong>Lebens</strong>philosophie und ›nichtreligiöse Interpretation‹<br />
der Dilthey-Schüler offenbar den für das 19. Jh. bestimmenden<br />
Religionsbegriff überwunden hat. Während W. Dilthey<br />
Religion als anthropologische Gegebenheit ansieht – einen<br />
»religionslosen Zustand« kann es, wie dargelegt, seines<br />
Erachtens nicht geben –, ist für J. Ortega y Gasset Religion<br />
Sache eines Verhaltensausdrucks, der in verschiedenen geschichtlichen<br />
Epochen unterschiedlich ausfällt und sogar<br />
ganz ausbleiben kann. Religionslosigkeit ist für W. Dilthey<br />
historisch nicht denkbar, für J. Ortega y Gasset hingegen<br />
sehr wohl.<br />
Der (genetische) Zusammenhang zwischen J. Ortega y Gasset und<br />
W. Dilthey, der der Argumentation Kantzenbachs zugrunde liegt,<br />
kann exemplarisch anhand der dritten Schrift Ortega y Gassets, die<br />
Bonhoeffer in die Gefängniszelle bestellt hat, nachgewiesen werden,<br />
nämlich ›Geschichte als System‹. Ortega y Gasset setzt mit der These<br />
ein: »Das Leben ist Aufgabe« (366). Es ist nicht etwas »Fertiges«, sondern<br />
etwas, das gestaltet werden muß. Dazu muß der Mensch<br />
»entscheiden, was er tun soll. Diese Entscheidung ist aber nur möglich,<br />
wenn der Mensch im Besitz gewisser Überzeugungen ist in<br />
bezug auf die Dinge, die ihn umgeben, auf die anderen Menschen<br />
und auf sich selbst. Nur im Hinblick auf diese Überzeugungen kann<br />
er eine Handlung einer anderen vorziehen, kann er leben« (366).<br />
Unter Rationalismus wird »der Glaube an die Vernunft« (372)<br />
verstanden. Doch mit dieser »Glaubensgewissheit« kommt nach J.<br />
Ortega y Gasset die Betrachtung <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong> zu kurz. »Descartes<br />
selbst schrieb schon einen Traktat über den Menschen. Heute aber<br />
wissen wir, daß alle im Prinzip unerschöpflichen Wunder der<br />
Naturwissenschaft immer vor der seltsamen Wirklichkeit haltmachen<br />
müssen, die das menschliche Leben ist« (380). Die »physikalische<br />
Vernunft« habe sich daran gewöhnt, »das menschliche Leben<br />
außer acht zu lassen« (380 f.). Die »physikalisch-mathematische Vernunft«<br />
(389) betrachte den Menschen als ein Ding. »Der Mensch ist<br />
kein Ding, sondern ein Drama, sein Leben, ein reines, allumfassen<strong>des</strong><br />
Ereignis, das einem jeden zustößt und bei dem jeder seinerseits<br />
134
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 135<br />
1. Der <strong>Lebens</strong>philosoph J. Ortega y Gasset<br />
nur Ereignis ist« (389 f.). J. Ortega y Gasset stellt über das Leben weiter<br />
fest: »Das Leben ist ein Gerundium und nicht ein Partizip, ein<br />
faciendum, nicht ein factum« (390) An dieser Stelle nimmt er noch<br />
einmal seine Eingangsthese auf: »Das Leben ist eine Aufgabe« (390).<br />
Auf den folgenden Seiten vollzieht sich, was O. F. Bollnow treffend<br />
beschreibt: »In neuerer Zeit hat vor allem Ortega y Gasset,<br />
namentlich in seiner ›Geschichte als System‹, die Gedanken Diltheys<br />
aufgenommen und in einer überzeugend klaren Weise formuliert«<br />
13 . So nimmt er den Diltheyschen Gedanken eines <strong>Lebens</strong>, das<br />
sich ständig ›im Fluß‹ zwischen Vergangenheit und Zukunft befindet,<br />
auf, wenn er von der »<strong>Lebens</strong>erfahrung« spricht: »So kommt es,<br />
daß das Sein <strong>des</strong> Menschen nicht umkehrbar ist, weil es ontologisch<br />
gezwungen ist, immer fortzuschreiten« (396). Es könnte noch<br />
manch andere Parallele gefunden werden. Ich belasse es aber bei diesem<br />
Aspekt. Der Duktus der ganzen Studie, die ablehnende Haltung<br />
gegenüber dem Rationalismus, entspricht einem typischen Grundzug<br />
der historischen <strong>Lebens</strong>philosophie W. Diltheys. 14<br />
»Gegenüber der reinen physikalisch-mathematischen Vernunft<br />
gibt es also eine erzählende Vernunft. Um etwas – persönlich oder<br />
kollektiv – Menschliches zu verstehen, muß man eine Geschichte<br />
erzählen. [...] Nur durch die historische Vernunft wird das Leben<br />
einigermaßen durchsichtig« (399). In diesen einfachen Worten werden<br />
hermeneutische Grundgedanken W. Diltheys beschrieben. Dilthey<br />
wird in diesem Zusammenhang auch explizit erwähnt. J. Ortega<br />
y Gasset schreibt über ihn, daß er der Mensch sei, »dem wir am<br />
meisten über die Idee <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong> verdanken und der meiner Auffassung<br />
nach der bedeutendste Denker der zweiten Hälfte <strong>des</strong> 19.<br />
Jahrhunderts ist« (400).<br />
In Anlehnung an W. Dilthey möchte J. Ortega y Gasset auch<br />
nicht dem subjektiven Zug einer begriffslosen <strong>Lebens</strong>philosophie<br />
erliegen und gewinnt in der Geschichte den objektiven Maßstab zur<br />
Betrachtung <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong>. In Anspielung auf die These, die der Über-<br />
13) O. F. BOLLNOW, <strong>Lebens</strong>philosophie, 44.<br />
14) Vgl. etwa O. F. BOLLNOW, Dilthey, 26.<br />
135
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 136<br />
<strong>Lebens</strong>philosophie und ›nichtreligiöse Interpretation‹<br />
schrift der Studie zugrunde liegt, schreibt der Kulturphilosoph: »Die<br />
Geschichte ist ein System, das System der menschlichen Erfahrungen,<br />
die eine einzige unerbitterliche Kette bilden. [...] Jeder historische<br />
Ausdruck muß, wenn er genau sein soll, in seiner Funktion auf<br />
die ganze Geschichte festgelegt werden« (404). Der Ganzheitsbegriff,<br />
der für Bonhoeffer theologisch so wichtig wird, könnte auch hier in<br />
der <strong>Lebens</strong>philosophie J. Ortega y Gassets angelegt sein.<br />
Durch die Lektüre J. Ortega y Gassets ist es Bonhoeffer möglich,<br />
den ›ganzen‹ Dilthey ›in nuce‹ kennenzulernen. In der<br />
Darstellung W. Diltheys durch J. Ortega y Gasset wird in<br />
besonderer Weise die Interdependenz von Leben und<br />
Geschichte deutlich.<br />
2. Die <strong>Lebens</strong>philosophie Wilhelm Diltheys als<br />
interpretatorischer Schlüssel zum Verständnis<br />
der ›nichtreligiösen‹ Interpretation<br />
Es wurde dargelegt, wie durch Dilthey »eine neue Stellung<br />
zu Welt und Leben«15 auf den Plan tritt, wie die »neue Weltsicht«<br />
durch die »weltanschauliche Bedeutung der <strong>Lebens</strong>philosophie«16<br />
hervorgehoben wird. Beim Studium <strong>des</strong> Dilthey-Ban<strong>des</strong><br />
›Weltanschauung und Analyse‹ wird Bonhoeffer<br />
die große historische Entwicklung vor Augen geführt,<br />
die dem Menschen Autonomie und Mündigkeit in der<br />
Neuzeit gebracht hat. Auf welchen Gebieten auch immer<br />
Dilthey das Streben nach Mündigkeit oder Autonomie<br />
beobachtet, stets geht er vom gelebten Leben der Menschen<br />
in ihrer Epoche aus. In Begriffsbildungen wie ›<strong>Lebens</strong>ge-<br />
15) A. DEGENER, Die <strong>Lebens</strong>philosophie Wilhelm Diltheys, 1932, 6.<br />
16) Ibid, 7.<br />
136
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 137<br />
2. Die <strong>Lebens</strong>philosophie Wilhelm Diltheys<br />
fühl‹, ›<strong>Lebens</strong>führung‹, ›<strong>Lebens</strong>haltung‹ oder ›<strong>Lebens</strong>stimmung‹<br />
entfaltet Dilthey seine <strong>Lebens</strong>philosophie.17 So sei<br />
zum Beispiel Petrarca »der originalste <strong>Lebens</strong>philosoph«<br />
gewesen, weil er »alle scholastischen Spinnewebe für einen<br />
Moment vollen <strong>Lebens</strong> hinzugeben bereit war«.18 Der Gegensatz<br />
zum Leben ist für Dilthey die Metaphysik, eine<br />
Grundeinsicht, die er in immer neuen Beispielen aus der<br />
Geschichte durch den Band hindurch aufzeigt.19 Die Metaphysikkritik<br />
ist begründet in der erkenntnistheoretischen<br />
Grundlegung seiner <strong>Lebens</strong>philosophie: Hinter das Leben<br />
kann man nicht zurück.<br />
In der Literatur ist die Frage nach dem Einfluß Diltheys als <strong>Lebens</strong>philosoph<br />
nur marginal diskutiert worden. Nach grundsätzlichen<br />
Hinweisen auf die Bedeutung einer Philosophie <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong> für Bonhoeffer<br />
zuerst durch E. Bethge 20 und dann durch E. Feil 21 ist durch<br />
T. R. Peters 22 ein erster konkreter Anstoß gegeben worden. Er weist<br />
darauf hin, daß <strong>Bonhoeffers</strong> Dilthey-Rezeption sich nicht allein auf<br />
<strong>des</strong>sen Historismus bezieht, sondern auch die <strong>Lebens</strong>philosophie<br />
umfaßt. Peters führt dann jedoch den Gedanken einer lebensphilosophischen<br />
Dilthey-Rezeption nicht aus, sondern rechnet mit einer<br />
kontinuierlichen Bedeutung der <strong>Lebens</strong>philosophie F. Nietzsches<br />
für das Gesamtwerk <strong>Bonhoeffers</strong>. Erst die Studie von K. Bartl23 und<br />
17) Vgl. Weltanschauung und Analyse (= Ges. Schr. Bd. II) z. B. 17.18.20.<br />
43.50.<br />
18) Ibid, 20.<br />
19) Ibid, z. B. 20.40.58 f.136 f.144 f.247.298.322.359.394 f.414 f.441.<br />
20) The challenge of Bonhoeffer’s life and theology, in: The Chicago<br />
Theological Seminary Register 51, 2, 1961,1–38.<br />
21) Die <strong>Theologie</strong>, 132 Anm. 20.<br />
22) Die Präsenz <strong>des</strong> Politischen in der <strong>Theologie</strong> <strong>Bonhoeffers</strong>, 1976,<br />
133 ff.<br />
23) <strong>Theologie</strong> und Säkularität. Die theologischen Ansätze Friedrich<br />
137
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 138<br />
<strong>Lebens</strong>philosophie und ›nichtreligiöse Interpretation‹<br />
das Buch von H.-J. Abromeit24 führen weiter. Bartl weist (198 ff.) am<br />
›Wirklichkeitsverständnis‹ <strong>Bonhoeffers</strong> als einer Wirklichkeit die<br />
Relevanz W. Diltheys nach. Er zeigt, daß er nicht nur »der Geschichtsdarstellung«<br />
W. Diltheys nahesteht, »sondern schon seinem<br />
Grundbegriff <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong>« (204). Doch wird diese Einsicht im weiteren<br />
der Studie nicht auf die Religionsthematik von ›Widerstand und<br />
Ergebung‹ angewandt; Bartl bleibt beim Thema seiner Arbeit »<strong>Theologie</strong><br />
und Säkularität«. H.-J. Abromeit führt (125 f.) ebenfalls die<br />
Bedeutung W. Diltheys als <strong>Lebens</strong>philosoph für Bonhoeffer an und<br />
arbeitet die Bedeutung lebensphilosophischer Strömungen für die<br />
›Ethik‹ aus (126 ff.); in der ›Ethik‹ ist aber W. Dilthey für Bonhoeffer<br />
noch nicht wegweisend. Erst in ›Widerstand und Ergebung‹ tritt die<br />
Dilthey-Rezeption durch eine systematische Lektüre hervor. Die<br />
Bedeutung von W. Diltheys <strong>Lebens</strong>philosophie für ›Widerstand und<br />
Ergebung‹ wird bei Abromeit nicht abgehandelt. Doch bildet er den<br />
Begriff »<strong>Lebens</strong>theologie« (125) für den späten Bonhoeffer und zeigt<br />
damit den engen Zusammenhang zur <strong>Lebens</strong>philosophie. Dieser<br />
bestehe »in der beiden zugrundeliegenden Interdependenz von Verstehen<br />
und Erleben« (126). Zusammenfassend ist zu sagen, daß durch<br />
die genannten Ansätze kein Licht auf den Zusammenhang zwischen<br />
<strong>Lebens</strong>philosophie und Religionskritik geworfen wird, somit auch<br />
nicht die Bedeutung von Diltheys <strong>Lebens</strong>begriff für die nichtreligiöse<br />
Interpretation erhellt wird; wohl aber ist in die entscheidende<br />
Richtung einer Bedeutung W. Diltheys als <strong>Lebens</strong>philosoph<br />
für Bonhoeffer allgemein gefragt worden.<br />
Dabei vollzieht <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer die erkenntnistheoretische<br />
Grundeinsicht der <strong>Lebens</strong>philosophie in der Tegeler<br />
<strong>Theologie</strong> mit. Sind frühere Aussagen zum Thema Leben<br />
von den Ethik-Manuskripten (1940–1943) her verständlich,<br />
Gogartens und <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong> zur Analyse und Reflexion der<br />
säkularisierten Welt, 1990.<br />
24) Das Geheimnis Christi. <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong> erfahrungsbezogene<br />
Christologie, 1991.<br />
138
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 139<br />
2. Die <strong>Lebens</strong>philosophie Wilhelm Diltheys<br />
so gilt das nicht mehr für ein religionskritisches Verständnis<br />
von irdischem, christologischem Leben (1944). Der <strong>Lebens</strong>begriff<br />
wird zum christologischen Begriff im religionskritischen<br />
Kontext. In seiner christologischen Tendenz hat<br />
der <strong>Lebens</strong>begriff erkenntnistheoretische Bedeutung: Der<br />
lebensphilosophische Erkenntnisgrund Diltheys, der in der<br />
Frage nach dem Rätsel <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong> gründet, wird bei Bonhoeffer<br />
zum Rätsel <strong>des</strong> christlichen <strong>Lebens</strong> als der Teilnahme<br />
am Sein Jesu.<br />
Die Frage nach Jesus Christus verbindet die Tegeler<br />
<strong>Theologie</strong> in Kontinuität mit der Ethik. In manchen Formulierungen<br />
liegt das Neue von ›Widerstand und Ergebung‹<br />
in der religionskritischen Erweiterung eines christologischen<br />
Urteils.25 In der Beurteilung von Mündigkeit und<br />
Autonomie geht Bonhoeffer weiter. Während in der ›Ethik‹,<br />
besonders im Fragment ›Erbe und Verfall‹26, der Prozess <strong>des</strong><br />
Autonomiegeschehens negativ als zum Nihilismus führend<br />
interpretiert wird,27 lesen wir in ›Widerstand und Ergebung‹<br />
Entgegenlaufen<strong>des</strong>: Die Autonomie der Welt, der<br />
Menschen und <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong> werden positiv beurteilt, die<br />
Mündigkeit wird bejaht. Zwischen der Ethik und diesen<br />
Aussagen in ›Widerstand und Ergebung‹ liegt <strong>Bonhoeffers</strong><br />
Dilthey-Lektüre.<br />
25) In der ›Ethik‹ formuliert Bonhoeffer: »Jesus ist nicht ein Mensch,<br />
sondern der Mensch« (DBW 6, 71). In Tegel nimmt er exakt diese<br />
Formulierung aus der Gestaltethik auf und wendet sie religionskritisch:<br />
»Christsein heißt nicht [...] religiös sein, sondern [...]<br />
Menschsein, nicht einen Menschentypus, sondern den Menschen<br />
schafft Christus in uns« (WEN 395).<br />
26) Ethik (DBW 6) 93 ff., bes. 113 f.<br />
27) Einzig positiver Aspekt in diesem Fragment ist die Befreiung der<br />
ratio; vgl. Ethik (DBW 6) 107 f.<br />
139
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 140<br />
<strong>Lebens</strong>philosophie und ›nichtreligiöse Interpretation‹<br />
Bei der Lektüre <strong>des</strong> Dilthey-Ban<strong>des</strong> ›Weltanschauung<br />
und Analyse‹ wird Bonhoeffer chronologisch vorgegangen<br />
sein. So zeigte sich, daß etwa die Zitate von G. Bruno über<br />
den Freund und von B. de Spinoza über die Affekte in den<br />
»Gedanken über Verschiedenes« (WEN, 408) aus dem Ende<br />
<strong>des</strong> Ban<strong>des</strong> stammen (WuA, 341 f.). Bonhoeffer zitiert diese<br />
Sätze im Juli 1944, also auch am Ende seiner Dilthey-Lektüre.<br />
Wir können damit rechnen, daß zu dieser Zeit der ganze<br />
Dilthey präsent ist. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang<br />
auch die Nennung <strong>des</strong> Philosophen und Naturwissenschaftlers<br />
G. Cardano in ›Widerstand und Ergebung‹<br />
und in ›Weltanschauung und Analyse‹.<br />
E. Bethge weist seinen Freund in einem Brief Ende April<br />
1944 auf die Bedeutung von Cardano hin (vgl. WEN, 299 f.).<br />
Bonhoeffer antwortet Bethge Anfang Mai 1944, also am Anfang<br />
der Lektüre von ›Weltanschauung und Analyse‹: »Den<br />
Cardano kenne ich gar nicht. Gibt es den auch auf deutsch«<br />
(WEN 315). Mitte Juni heißt es dann gegenüber E. Bethge<br />
beiläufig: »Übrigens steht bei Dilthey viel über Cardano«<br />
(WEN 366). G. Cardano wird in W. Diltheys Band erstmals<br />
auf der Seite 284 erwähnt.28 Daraus ist unmittelbar abzuleiten,<br />
daß Bonhoeffer Mitte Juni bereits über die Hälfte –<br />
wenn nicht mehr – aus ›Weltanschauung und Analyse‹ bearbeitet<br />
hat, während er Anfang Mai ganz offensichtlich am<br />
Beginn der Dilthey-Lektüre steht, jedenfalls auf die Ausführungen<br />
über den Renaissancephilosophen noch nicht gestoßen<br />
ist.<br />
28) Ausführlicher spricht W. Dilthey über G. Cardano dann in ›Weltanschauung<br />
und Analyse‹, 416 f. und 429 ff. Da D. Bonhoffer sagt, er<br />
lese viel über den Philosophen, ist es auch denkbar, daß er schon<br />
diese späten Stellen vor Augen hat.<br />
140
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 141<br />
2. Die <strong>Lebens</strong>philosophie Wilhelm Diltheys<br />
Aus der Nennung G. Cardanos kann man exemplarisch<br />
sehen, wie Bonhoeffer Diltheys Band ›Weltanschauung und<br />
Analyse‹ aufmerksam liest. Ich möchte an dieser Stelle noch<br />
andere Namen nennen, die Bonhoeffer aus der Dilthey-Lektüre<br />
wichtig geworden sind: H. von Cherbury, H. Grotius, J.<br />
Bodin, M. de Montaigne, G. Bruno (vgl. WuA, 248 ff.279 f.274<br />
f.263 f.297 f. = WEN 392 f.). Diese Auswahl beschränkt sich<br />
auf den bedeutenden Brief vom 16. 7.1944: Bonhoeffer ordnet<br />
die Namen bestimmten Themen zu, mit Hilfe derer die<br />
»eine große Entwicklung [...] zur Autonomie der Welt«<br />
(WEN 392) erkennbar wird. Es handelt sich um die Themen<br />
›<strong>Theologie</strong>‹ (Vertreter: H. von Cherbury), ›Moral‹ (Namen:<br />
M. de Montaigne, J. Bodin), ›Politik‹ (Vertreter: ›Nachfolge‹.<br />
Macchiavelli) (vgl. WEN 392 f.); beim Thema ›Autonomie‹ in<br />
der ›menschlichen Gesellschaft‹ wird der Name H. Grotius<br />
erwähnt (WEN 393).<br />
Bonhoeffer systematisiert ganz offensichtlich ›Weltanschauung<br />
und Analyse‹ auf bestimmte Themen- und Namensgruppen<br />
hin unter dem Leitgedanken von Autonomie<br />
und Mündigkeit. Verstreute historische Reflexionen in den<br />
verschiedenen Abschnitten von ›Weltanschauung und Analyse‹<br />
werden im Brief vom 16. 7. 1944 zusammengetragen<br />
(vgl. auch den parallelen Brief vom 8. 6.). Nun ist auffällig,<br />
daß es W. Dilthey an keiner Stelle seines Ban<strong>des</strong> darum<br />
geht, ›Autonomie‹ oder ›Mündigkeit‹ als Begriffe schlechthin<br />
zu thematisieren.29<br />
29) Es ist wiederholt aufgefallen, daß auch Bonhoeffer seinen historischen<br />
(von W. Dilthey her motivierten) Exkursen jeweils einen<br />
lebensthematische Abschluß gab (vgl. meine Ausführungen zu<br />
den Briefen vom 8.6. und 16.7. 1944, S. 209 f. und 215 f.). Zu dieser<br />
141
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 142<br />
<strong>Lebens</strong>philosophie und ›nichtreligiöse Interpretation‹<br />
Exemplarisch rufen wir uns ins Gedächtnis, wie Dilthey<br />
H. Grotius versteht. Er sieht, wie P. Charron, F. Bacon und<br />
H. von Cherbury in den ersten drei Jahrzehnten <strong>des</strong> 17.<br />
Jahrhunderts die Linie markieren, auf der H. Grotius<br />
weiterdenkt: Das »natürliche System der moralischen Welt«<br />
wird errichtet (WuA, 276). W. Dilthey reflektiert ›Aufgabe‹<br />
(277), ›Methode‹ (278) und ›Begriffe‹ (279) von Grotius mit<br />
dem Ergebnis, daß die ›allgemeingültigen Begriffe‹ (278)<br />
›<strong>Lebens</strong>begriffe‹ (279) sind. Die Begriffe sind »im Ganzen <strong>des</strong><br />
<strong>Lebens</strong> angelegt und schöpfen aus diesem ihre Überzeugungskraft«<br />
(279). Die deduzierten ›Rechtsbegriffe‹ (= ›<strong>Lebens</strong>begriffe‹)<br />
(280) haben in Anlehnung an H. Grotius »ihre<br />
Geltung unabhängig von dem Glauben an ihre Begründung<br />
einer auf Gott ruhenden teleologischen Ordnung.<br />
›Auch wenn es keinen Gott gäbe‹, würden diese Sätze <strong>des</strong><br />
Naturrechts ihre independente Allgemeingültigkeit haben«<br />
(280).<br />
Das berühmte Grotius-Zitat, das bei Bonhoeffer in lateinischer<br />
Version30 erscheint, steht also in unmittelbarem<br />
Zeit hat Bonhoeffer intensiv ›Weltanschauung und Analyse‹ studiert.<br />
30) Es ist in der Literatur die Frage offen geblieben, woher Bonhoeffer<br />
die lateinische Version ›etsi deus non daretur‹ hat. Bei W. DILTHEY<br />
(WuA, 280) ist dt. ›Auch wenn es keinen Gott gäbe‹ belegt. Ursprünglich<br />
heißt der Ausdruck bei H. GROTIUS, De jure belli ac<br />
pacis libri tres, Prolegomena 11, 7: ›etiamsi daremus, quod sine<br />
summo scelere dari nequit, non esse deum‹. (›Auch wenn wir von<br />
uns gäben [= vernehmen ließen], was ohne großen Frevel nicht ausgeführt<br />
werden kann, daß es keinen Gott gibt.‹ Übers. R. W.) Bonhoeffer<br />
bildet mit lat. datur; bei H. Grotius begegnet ebenfalls<br />
zweimal lat. datur. Wir folgern, daß Bonhoeffer das längere lat.<br />
Original-Zitat kannte und unter dem Eindruck der (verkürzten)<br />
142
Wüstenberg 04.07. 15.08.2006 14:24 Uhr Seite 143<br />
2. Die <strong>Lebens</strong>philosophie Wilhelm Diltheys<br />
lebensphilosophischem Kontext. Dilthey führt Grotius als<br />
Renaissance-Juristen an, der von den <strong>Lebens</strong>begriffen ausgeht<br />
und darin »die wahre Intention der römischen Jurisprudenz«<br />
erneuert (WuA, 279): der Rechtsbegriff als <strong>Lebens</strong>begriff.<br />
So wird auch unmittelbar verständlich, warum<br />
Bonhoeffer vom Leben ohne Gott spricht (vgl. WEN 394)<br />
und warum grundsätzlich die historischen Exkurse über<br />
ein Autonomiestreben auf verschiedenen Gebieten in die<br />
Rede vom Leben münden. Bonhoeffer hat von W. Dilthey<br />
her gesehen, daß der Grotius-Satz ein <strong>Lebens</strong>-Satz ist, »daß<br />
wir in einer Welt leben müssen – etsi deus non daretur«<br />
(WEN 394, Hervorh. R. W.).<br />
Was ich hier für H. Grotius ausgeführt habe, gilt auch<br />
für die anderen genannten Themen und Namen.31 Aus der<br />
deutschen Wiedergabe bei Dilthey die lateinische Form bildet. Ein<br />
Blick in das Originalmanuskript <strong>des</strong> Briefes vom 16. 7. unterstreicht<br />
diese Beobachtung: Bonhoeffer zitiert H. Grotius (Nl A. 81,<br />
195), »daß wir in der Welt leben müssen – ›etsi deus non daretur‹«.<br />
Die zwei Punkte im Anschluß an das Zitat-Stück signalisieren dem<br />
Leser, daß hier verkürzt zitiert worden ist! <strong>Eine</strong> Verkürzung in der<br />
Zitation und eine Wiedergabe von Originalen aus dem Gedächtnis<br />
ist bei Bonhoeffer üblich (vgl. etwa die Zitation von K. BARTHs<br />
Römerbriefkommentar in ›Sanctorum Communio‹, DBW 1, 134).<br />
<strong>Eine</strong> Quellenkenntnis von H. Grotius kann in der Bildungswelt<br />
<strong>Bonhoeffers</strong> vorausgesetzt werden.<br />
31) Es fällt auf, daß sowohl für W. Dilthey als auch für Bonhoeffer die<br />
Nennung von Namen wichtig ist. W. Dilthey expliziert mit Hilfe<br />
der Nennung von Namen seine ›geschichtliche <strong>Lebens</strong>philosophie‹<br />
(G. Bruno, M. de Montaigne, J. Bodin etc.). Bonhoeffer expliziert<br />
ebenfalls mit Hilfe von Namen seine ›nichtreligiöse Interpretation‹;<br />
dabei werden neben den Philosophen, die von W. Dilthey übernommen<br />
werden, auch biblische Namen wichtig, wie etwa Paulus<br />
(306 ff.369), Cornelius (396), Jairus (ibid), Nathanael (ibid) etc.<br />
143
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 144<br />
<strong>Lebens</strong>philosophie und ›nichtreligiöse Interpretation‹<br />
Dilthey-Gesamtdarstellung ist ersichtlich, daß sämtliche<br />
hier aufgezählten Namen in einem lebensthematischen<br />
Zusammenhang stehen.<br />
Auf welchen Gebieten auch immer W. Dilthey das Streben<br />
nach Mündigkeit oder Autonomie beobachtet, stets<br />
geht er vom gelebten Leben der Menschen in ihrer Epoche<br />
aus. Die Mündigkeit der Welt geht zurück auf die Mündigkeit<br />
<strong>des</strong> <strong>Lebens</strong> in der Welt.<br />
Leben als erkenntnistheoretische Maxime wird zur<br />
historischen Einsicht in eine Epoche. Autonomie <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong><br />
wird zur Autonomie der Menschen und der Welt. Bonhoeffer<br />
vollzieht diesen Schritt bewußt mit und setzt mit<br />
dem Ergebnis thetisch ein: »[...] es ist eine große Entwicklung,<br />
die zur Autonomie der Welt führt« (392). An anderer<br />
Stelle, wo er von der Autonomie der Menschen und <strong>des</strong><br />
<strong>Lebens</strong> spricht, läßt Bonhoeffer erkennen, daß er den erkenntnistheoretischen<br />
Ort Diltheys, das Leben, christologisch<br />
interpretiert: Die »Inanspruchnahme der mündig<br />
gewordenen Welt durch Jesus Christus« (WEN 375). Im vorausgehenden<br />
Satz <strong>des</strong> zitierten Briefes fordert Bonhoeffer,<br />
daß »das ganze menschliche Leben« von Christus in Anspruch<br />
genommen werden müsse. Bonhoeffer formuliert<br />
das Thema, um das es in Tegel geht, vom allgemeinen zum<br />
besonderen, von der christologischen Ausgangsfrage zur<br />
Inanspruchnahme <strong>des</strong> irdischen <strong>Lebens</strong>. Im einzelnen können<br />
wir folgende Entwicklung in der christologischen <strong>Lebens</strong>thematik<br />
ausmachen:<br />
I. Ausgangsfrage: »[...] wer Christus für uns heute eigentlich<br />
ist« (30. 4.1944, WEN 305, Hervorh. R. W.);<br />
II. Grundthema: »Christus und die mündig gewordene<br />
Welt« (8. 6.1944, WEN 358, Hervorh. R. W.);<br />
III. Ethik-Thema: Die »Inanspruchnahme der mündig<br />
144
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 145<br />
3. Ergebnis<br />
gewordenen Welt durch Jesus Christus« (30. 6. 1944, WEN<br />
395, Hervorh. R. W.);<br />
IV. <strong>Lebens</strong>-Thema: »Jesus nimmt das ganze menschliche<br />
Leben für sich in Anspruch« (30. 6. 1944, WEN 395, Hervorh. R.<br />
W.); ähnlich 28. 7. 1944 (WEN 406)<br />
V. Ekklesiologische Folgerung: Die Kirche »muß den<br />
Menschen aller Berufe sagen, was ein Leben mit Christus ist,<br />
was es heißt, für andere dazu sein« (Entwurf, WEN 415 f.,<br />
Hervorh. R. W.).<br />
Von der christologischen Ausgangsfrage (I) aus formuliert<br />
Bonhoeffer das Grundthema der Tegeler <strong>Theologie</strong> (II),<br />
wendet es ethisch (III), um schließlich das Thema ganz auf<br />
das Leben zu konkretisieren (IV), einschließlich der ekklesiologischen<br />
Folgerung dieser <strong>Lebens</strong>christologie (V). Die<br />
Essenz der verschiedenen Formulierungen lautet also in<br />
einem Satz:<br />
Der christliche Glaube und das mündige Leben.<br />
3. Ergebnis und These<br />
Mit der Beobachtung, dass Bonhoeffer Diltheys <strong>Lebens</strong>philosophie<br />
christologisch wendet, ist eine wichtige Akzentsetzung<br />
in der Dilthey-Rezeption festzuhalten. Sie hat zu<br />
tun mit der Interdependenz von Religion und Leben bei<br />
Dilthey, die Bonhoeffer nicht mitvollzieht. In der Darstellung<br />
von ›Weltanschauung und Analyse‹ ist wiederholt der<br />
Religionsbegriff W. Diltheys in den Blick getreten. Der<br />
<strong>Lebens</strong>philosoph beabsichtigt, Leben und Religiosität in<br />
ihren unterschiedlichen Ausbildungen in der Zeit der Renaissance<br />
und Reformation miteinander in Beziehung zu<br />
setzen. So sei etwa U. Zwinglis »Religiosität« »wahres Leben«<br />
145
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 146<br />
<strong>Lebens</strong>philosophie und ›nichtreligiöse Interpretation‹<br />
(WuA, 226). Im Zusammenhang mit J. Bodin kann W. Dilthey<br />
die Frage nach »der wahren Religion« stellen (WuA,<br />
151). Er bewundert auch »die religiöse Lebendigkeit von<br />
Luther« (WuA, 231). Insgesamt kritisiert W. Dilthey, wenn<br />
Religion und Leben gegeneinander isoliert werden (WuA,<br />
137). Das ganze Leben ist ihm das religiöse Leben: »Gott will<br />
genossen werden« (WuA, 160). Die Religion soll »im Leben«<br />
behauptet werden (WuA, 237). Dilthey fordert eine ›lebbare‹<br />
Religion, eine Religion der Diesseitigkeit.<br />
<strong>Eine</strong> Religionskritik kommt auch in ›Weltanschauung<br />
und Analyse‹ nicht in den Blick. Auch eine Religionslosigkeit<br />
kann – wie wir sahen – nach W. Dilthey nicht eintreten.<br />
Religionskritik und Religionslosigkeit als zwei bedeutende<br />
Motive der Religionsauffassung <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong> gehen<br />
daher inhaltlich nicht auf W. Dilthey zurück. Die Metaphysikkritik<br />
in<strong>des</strong>sen – als weiteres Grundmotiv von<br />
›Weltanschauung und Analyse‹32 – wird breit rezipiert. Bonhoeffer<br />
hat die lebensphilosophisch begründete Kritik an<br />
der Metaphysik nachdrücklich mitvollzogen. <strong>Eine</strong> Kritik an<br />
der Religion jedoch ist bei Bonhoeffer begründet durch die<br />
theologische Religionskritik K. Barths; es bestätigt sich die<br />
These aus Abschnitt B), daß Bonhoeffer die theologische<br />
Religionskritik in der Tegeler <strong>Theologie</strong> übernimmt und<br />
mit der historischen <strong>Lebens</strong>philosophie verbindet:<br />
32) Vgl. WuA, 20.40.58 f.136 f.144 f.247.298.322. 359.394 f.414 f.439 f.bes.<br />
441.458 f.469.480.472.494 f.498. In der Dilthey-Forschung rechnet<br />
man auch im Hinblick auf andere Schriften mit »keinem Bezug zur<br />
metaphysischen Tradition« mehr bei W. Dilthey; so S. GIAM-<br />
MUSSO, Der ganze Mensch, in: Dilthey-Jahrbuch VII (1990/91), 112–<br />
138.<br />
146
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 147<br />
3. Ergebnis<br />
Wo sich für W. Dilthey ein Gegensatz zwischen Leben<br />
und Metaphysik ergibt, dort stellt Bonhoeffer Leben und<br />
Religion einander gegenüber. Wie sich bei Dilthey Leben<br />
und Innerlichkeit gegenseitig interpretieren, so bei Bonhoeffer<br />
Leben und Jesus Christus. Der <strong>Lebens</strong>begriff wird<br />
unter dem Eindruck der systematischen Lektüre W. Diltheys<br />
zum erkenntnistheoretischen Grundbegriff.<br />
Darin setzt die Tegeler <strong>Theologie</strong> einen anderen Akzent als die<br />
Ethik-Fragmente. Nimmt Bonhoeffer auch in der ›Ethik‹ und vor<br />
der ›Ethik‹ lebensphilosophische Strömungen 33 auf, so nicht aus einem<br />
erkenntnisleitenden Motiv. Das Thema lautet: Christus und<br />
das Gute.34 In ›Widerstand und Ergebung‹ wird es zu: Christus und<br />
die mündig gewordene Welt. In diesem Zusammenhang begegnen<br />
33) Vgl. in diesem Zusammenhang die rezeptionsgeschichtlichen Beobachtungen<br />
zum Einfluß Nietzsches auf <strong>Bonhoeffers</strong> Ethik bei P.<br />
KÖSTER, F. Nietzsches als verborgener Antipode in <strong>Bonhoeffers</strong><br />
Ethik, in: NS 19, 1990, 367–418 und bei H.-J. ABROMEIT, Das Geheimnis<br />
Christi, 125 ff. Auf die Bedeutung der <strong>Lebens</strong>philosophie<br />
vor der Ethik weist T. R. PETERS, Die Präsenz <strong>des</strong> Politischen in der<br />
<strong>Theologie</strong> <strong>Bonhoeffers</strong>, 127 ff., hin. Nicht erst in Barcelona (wie P.<br />
Köster), sondern schon in ›Sanctorum Communio‹ beobachtet T. R.<br />
Peters die Präsenz F. Nietzsches (135 f.). Weiter hält Peters Nietzsche<br />
in ›Akt und Sein‹ (137 f.) und schließlich in einem Vortrag von<br />
1932 (138 f.) für bedeutsam; auch in der ›Ethik‹ und in ›Widerstand<br />
und Ergebung‹ sieht er ihn auf dem Plan. T. R. Peters beobachtet<br />
freilich auch den antipodischen Charakter von <strong>Bonhoeffers</strong> Nietzsche-Rezeption,<br />
auch wenn diese Ansicht nicht so deutlich wie bei<br />
P. Köster hervortritt. Doch dürfte auch für T. R. Peters klar sein:<br />
Den erkenntnistheoretischen Ansatz in ›Widerstand und Ergebung‹<br />
kann Bonhoeffer weder mit F. Nietzsche noch mit W. James<br />
teilen (zu W. James vgl. T. R. Peters, Die Präsenz, 145 f.). Dazu<br />
bedurfte es der systematischen Lektüre W. Diltheys in Tegel.<br />
34) Vgl. die Ethik-Fragmente: »Christus, die Wirklichkeit und das Gute«<br />
und »Die Geschichte und das Gute« (in zwei Fassungen), ›Ethik‹<br />
147
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 148<br />
<strong>Lebens</strong>philosophie und ›nichtreligiöse Interpretation‹<br />
wir wieder einer Diskontinuität in der Kontinuität. Wir dürfen mit<br />
einer Kontinuität in der christologischen Fragestellung rechnen,<br />
während sich eine Diskontinuität im Hinblick auf das Welt- und<br />
Autonomieverständnis einstellt. In der ›Ethik‹ werden mündiges Leben<br />
und Autonomie weitgehend negativ beurteilt als Abfall von<br />
Gott, während in ›Widerstand und Ergebung‹ die Frage nach Christus<br />
in einem mündig gewordenen Leben gestellt wird. Die Alternative<br />
›Christus oder eine autonome Welt‹ wird in Tegel zur Relation<br />
›Christus und die mündig gewordene Welt‹. Vor dieser Diskontinuität<br />
bleibt die Kontinuität in der christologischen Ausgangsfrage<br />
erhalten: ›Christus und/oder das mündige Leben‹?<br />
<strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer hat für die Betrachtung <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong><br />
einen wichtigen Impuls aus der <strong>Lebens</strong>philosophie erhalten.<br />
Für seine Rezeption Diltheys bleibt die theologische<br />
Betrachtung von Leben ausschlaggebend: Philosophisch<br />
betrachtet, ist das Leben mehrdeutig; eindeutig wird es im<br />
Blick auf Jesus Christus. Leben ist nicht mehr irrationaler<br />
Zauber, sondern wird christologisch interpretiert zum Erkenntnisgegenstand<br />
von Sünde und Rechtfertigung. Das<br />
rechte Verhältnis von mündigem Leben und christlichem<br />
Glauben war <strong>Bonhoeffers</strong> Thema und die Essenz der Fragestellung<br />
nach der nichtreligiösen Interpretation.<br />
These:<br />
Die nichtreligiöse Interpretation ist eine lebens-christologische<br />
Interpretation, die den christlichen Glauben<br />
und das mündige Leben aufeinander bezieht.<br />
(DBW 6) 31 ff. und 218 ff. bzw. 245 ff. Zur lebensthematischen Bedeutung<br />
<strong>des</strong> letztgenannten Manuskriptes ist die Interpretation<br />
von H.-J. ABROMEIT, Das Geheimnis, 126 ff., zu vergleichen.<br />
148
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 149<br />
Schlussbetrachtung<br />
Ist <strong>Bonhoeffers</strong> Rede von der historisch<br />
erledigten Religion selbst historisch?<br />
Vieles spricht dafür, daß es einen Paradigmenwechsel in der<br />
Bonhoefferinterpretation gibt,1 wonach min<strong>des</strong>tens die<br />
These von der Religionslosigkeit angesichts der Rückkehr<br />
von Religion auch in Kirche und <strong>Theologie</strong> nicht mehr<br />
selbstredend ist. »Es ist an der Zeit«, so der bedeutende Bonhoeffer-Interpret<br />
Christian Gremmels jüngst, »diese Debatte<br />
neu zu eröffnen.«2<br />
Wo zu dieser Debatte vom Ergebnis der vorangegangenen<br />
Analyse beigetragen wird, muß bedacht werden, daß<br />
»Religion« im theologischen Entwurf <strong>Bonhoeffers</strong> kein tragen<strong>des</strong><br />
Konzept ist. Nicht Religion, und schon gar nicht<br />
eine geschlossene Theorie der Religion geben die entscheidende<br />
Richtung vor. Statt<strong>des</strong>sen liegt im <strong>Lebens</strong>begriff die<br />
Stoßrichtung der sog. nichtreligiösen Interpretation; und<br />
1) Vgl. hierzu u. a. Beiträge in folgenden Sammelbänden: E. FEIL (Hg.),<br />
Streitfall «Religion«. Diskussionen zur Bestimmung und Abgrenzung<br />
<strong>des</strong> Religionsbegriffs, Münster et al. 2000; CHR. GREMMELS,<br />
W. HUBER (Hrsg.), Religion im Erbe. <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer und die<br />
Zukunftsfähigkeit <strong>des</strong> Christentums, Gütersloh 2002, sowie in den<br />
»Bonhoeffer-Jahrbüchern«, besonders dem Jahrgang 2003 (hier<br />
etwa K. B. NIELSEN, Überlegungen zum Religionsverständnis <strong>Dietrich</strong><br />
<strong>Bonhoeffers</strong>: Zwischen Kritik und Konstruktion, 93–106).<br />
2) CHR. GREMMELS, Religionslosigkeit?, in: Bonhoeffer-Rundbrief<br />
76 (2005), 24.<br />
149
Wüstenberg 04.07. 15.08.2006 14:24 Uhr Seite 150<br />
Schlussbetrachtung<br />
hier müßte eine weiterführende Debatte in <strong>Theologie</strong> und<br />
Kirche ansetzen. Auf zwei Implikationen einer nichtreligiösen<br />
als lebenschristologischer Interpretation möchte ich –<br />
wenigstens thetisch – hinweisen:<br />
1. Die politische Implikation einer ›nichtreligiösen‹ Interpretation<br />
– oder: Die Bedeutung der ›vorletzten Dinge‹.<br />
Die vorgetragene Analyse der nichtreligiöser Interpretation<br />
hat die Bedeutung der »vorletzten Dinge« bei Bonhoeffer<br />
unterstrichen. <strong>Lebens</strong>christologisch soll im Diesseits,<br />
gerade auch im Leiden von Gott gesprochen werden. Die<br />
»vorletzten Dinge« werden nicht vorschnell übersprungen<br />
und der Mensch an die »letzten Dinge« verwiesen. Nichtreligöse<br />
Interpretation hat mit dem Diesseits, dem gelebten<br />
Leben und dem Leiden zu tun, das die Heilsbedeutung aus<br />
dem Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu von Nazareth gewinnt.<br />
<strong>Eine</strong> religiöse Interpretation hat dagegen für Bonhoeffer<br />
mit dem Jenseits zu tun, dem Überspringen <strong>des</strong><br />
»Vorletzten«, der Verweigerung von Leiden als zentrale<br />
Dimension <strong>des</strong> christlichen <strong>Lebens</strong>. In der skizzierten theologischen<br />
Ausrichtung bleibt das Unternehmen »nicht-religiöse«<br />
Interpretation auch für die politische Ethik bedeutend:<br />
Die religiöse Überhöhung <strong>des</strong> Politischen (im<br />
Sinne »letzter Dinge«) scheidet nämlich aus. Alles Politische<br />
gehört immer zu den »vorletzten Dingen«. Bonhoeffer trägt<br />
mit seinem Entwurf einer nichtreligiösen Interpretation<br />
zur qualitativen Schärfung jeder neuen Rede von der Religion<br />
bei, auch der politischen.3 Es sollte keiner Verabsolu-<br />
3) Vgl. hierzu auch R. K. Wüstenberg, Die politische Dimension der<br />
Versöhnung. <strong>Eine</strong> theologische Studie zum Umgang mit Schuld<br />
nach den Systemumbrüchen in Südafrika und Deutschland, Gütersloh<br />
2004, bes. zu <strong>Bonhoeffers</strong> Ethik 489–521.<br />
150
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 151<br />
Schlussbetrachtung<br />
tierung der »vorletzten Dinge« zugearbeitet werden, noch<br />
die religiöse Aufladung <strong>des</strong> Politischen theologisch legitimiert<br />
– ob im nationalsozialistischen Kontext oder danach.4<br />
Die bleibende Bedeutung der nichtreligiösen Interpretation<br />
liegt in der doppelten Würdigung der »vorletzten<br />
Dinge«, das heißt a) theologisch: kein vorschnelles Überspringen<br />
der »vorletzten Dinge«, also keine Jenseitsvertröstung,<br />
die das Leiden aus dem Blickfeld verlöre; b) ethisch:<br />
keine religiöse Überhöhung der »vorletzten Dinge«, etwa<br />
<strong>des</strong> Politischen durch religiöse Aufladung.<br />
2. Die religionstheoretische Implikation – oder: Glauben<br />
und Religion sind keine Gegensätze mehr.<br />
Verwirrend ist die Vokabel Religion in <strong>Bonhoeffers</strong> Tegeler<br />
<strong>Theologie</strong> als Gegenstück seines lebenschristologischen<br />
Entwurfs. So bleibt die kritische Rückfrage, ob und<br />
wenn ja, welche Aussagekraft die nichtreligiöse Interpretation<br />
angesichts der Rückkehr <strong>des</strong> Religiösen haben kann.<br />
Um in dieser zentralen Frage nicht vorschnell zu urteilen,<br />
sollte auf der Grundlage der vorangegangenen Analyse<br />
zweierlei bedacht werden: a) Religionslosigkeit bedeutete<br />
für Bonhoeffer die Theorielosigkeit von Religion, weniger<br />
ein totales Verschwinden von Religion im Sinne eines losem<br />
Verweisungszusammenhangs; b) Religion stand für Bonhoeffer<br />
im Gegensatz zu Leben, weil Religion, wie er sie vor<br />
Augen hatte, auf die Vertröstung auf das Jenseits oder die<br />
Innerlichkeit abzielte.<br />
4) Als ich 2002 am Union Theological Seminary, New York, ein Seminar<br />
über die »nicht-religiöse Interpretation« hielt, war für die amerikanischen<br />
<strong>Theologie</strong>studenten diese politische Implikation der<br />
Religionskritik <strong>Bonhoeffers</strong> zentral.<br />
151
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 152<br />
Schlussbetrachtung<br />
Ad a) Wenn auch Religion nicht aus dem Vokabular verschwunden<br />
ist, so bleibt als Gegenfrage zu prüfen, ob wir<br />
der Zeit von geschlossenen Religionskonzeptionen entgegengehen.<br />
Gibt es heute eine Religion, von der alle Facetten<br />
unserer <strong>Lebens</strong>wirklichkeit abhingen? Kann ein Religionsentwurf<br />
heute als archimedischer Punkt in Kirche und <strong>Theologie</strong><br />
gelten? Fragen wie diese zu stellen, heißt sie zu verneinen.<br />
Weiter darf mit einigem Recht gefragt werden, ob<br />
<strong>Bonhoeffers</strong> Prognose der »Ortslosigkeit von Religion« nicht<br />
zumin<strong>des</strong>t da zutrifft, wo man religiöse Strömungen außerhalb<br />
von <strong>Theologie</strong> und Kirche vor Augen hat. Wer wollte<br />
behaupten, daß Strömungen wie ›New Age‹ geschlossene<br />
Konzeptionen darstellten, die Entwürfen <strong>des</strong> 19. Jahrhunderts<br />
vergleichbar wären? Was schließlich den binnenkirchlichen<br />
Diskurs angeht, wäre zu prüfen, ob eine latente<br />
Renaissance <strong>des</strong> Wortes Religion tatsächlich wieder zur<br />
Theoriebildung von Religion führt. »Nicht die Religion hat<br />
sich als Illusion erwiesen, sondern die Religionstheorie«,<br />
prognostizierte Hermann Lübbe5 schon vor 20 Jahren.<br />
Wenn das zutrifft, dann war Bonhoeffer mit seiner Absage<br />
an die Religionstheorie seiner Zeit voraus gewesen.<br />
Wir gehen einer »völlig religionslosen Zeit entgegen«,<br />
das heißt nach der vorliegenden Analyse: Wir gehen einer<br />
Zeit entgegen, in der nicht mehr alle Deutungen <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong><br />
von einem Religionskonzept abhängen. Trotz latenter Rückkehr<br />
<strong>des</strong> Religiösen gibt es wohl nicht mehr die eine Religion<br />
mit theoretischer Grundlage und absolutem Wahrheitsanspruch.<br />
Statt einen Religionsbegriff auszubilden,<br />
sollte im Sinne <strong>Bonhoeffers</strong> der konstruktive Impuls der<br />
5) Religion nach der Aufklärung, Darmstadt 1986, 14.<br />
152
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 153<br />
Schlussbetrachtung<br />
Religionskritik lebendig bleiben, ja auch und gerade, wo<br />
Religion eine Renaissance erlebt.<br />
Ad b) Vielleicht ist unsere Zeit in manchem Diltheys<br />
und James’ innerer Verbindung von Leben und Religion<br />
näher; jedenfalls erscheint Religion nicht im Zusammenhang<br />
von lebensfremd: »Religion« und »Fülle <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong>«<br />
sind keine Gegensätze mehr. Überhaupt scheint Religion<br />
heute kaum mehr geeignet, eine Wirklichkeit zu beschreiben,<br />
die jenseits <strong>des</strong> gelebten <strong>Lebens</strong> steht. Mit der Religion<br />
kehrt zumin<strong>des</strong>t nicht der Glaube an einen Gott der Jenseitsvertröstung<br />
oder der reinen Innerlichkeit zurück.<br />
Könnte man argumentieren, daß <strong>Bonhoeffers</strong> religionskritischer<br />
Impuls »Religion als Metaphysik oder Innerlichkeit«<br />
in <strong>Theologie</strong> und Kirche längst verarbeitet ist? Die Frage zu<br />
stellen, bedeutet sie zu bejahen.6 Es spricht vieles dafür, daß<br />
der kritische Grundtenor heute geteilt wird; nur: am Wort<br />
Religion wird wieder festgehalten. Wir gehen einer »völlig<br />
religionslosen Zeit entgegen«, das hieße dann: Wir gehen<br />
einer Zeit entgegen, in der von Gott nicht mehr an den Rändern<br />
oder der reinen Innerlichkeit gesprochen wird. Wer wollte<br />
bestreiten, daß das so ist? Die Wiederkehr von Religion in<br />
<strong>Theologie</strong> und Kirche steht daher nicht im Widerspruch<br />
zur Tegeler <strong>Theologie</strong>. Im Gegenteil: <strong>Bonhoeffers</strong> religionskritischer<br />
Impuls könnte zur qualitativen Schärfung der<br />
neuen Rede von der Religion beitragen. Und so verstehe ich<br />
<strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong> Entwurf als Ermutigung, auf dem<br />
»Markt der Möglichkeiten«, dem sogenannten Pluralismus,<br />
6) Vielleicht wäre es im Sinne der Gegenprobe lohnenswert, gegenwärtige<br />
religionspädagogische oder homiletische Entwürfe daraufhin<br />
durchzusehen, ob dort ein Religionskonzept der Innerlichkeit<br />
oder Metaphysik vertreten wird.<br />
153
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 154<br />
Schlussbetrachtung<br />
die Stimme der Kirche selbstbewußt einzubringen, nicht<br />
dominierend, aber hörbar; eine Stimme, die erklingt aus der<br />
»Polyphonie« <strong>des</strong> christlichen <strong>Lebens</strong>: sie kommt aus dem<br />
anbetenden Schweigen vor dem Heiligen einerseits und<br />
dem nichtreligiösen Bekennen vor der Welt andererseits.<br />
Vieles deutet darauf hin, daß es auf diese Stimme zu Beginn<br />
<strong>des</strong> 21. Jahrhunders wieder neu ankommen wird.<br />
154
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 155<br />
Quellenverzeichnis <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer<br />
<strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer Werke (= DBW), herausgegeben von E. Bethge,<br />
E. Feil, Chr. Gremmels, W. Huber, H. Pfeifer, A. Schönherr,<br />
H. E. Tödt, I. Tödt, München 1986 bis 1998; in vorliegender<br />
Untersuchung wurden folgende Werkbände benutzt:<br />
Sanctorum Communio (= DBW 1)<br />
Akt und Sein (= DBW 2)<br />
Schöpfung und Fall (= DBW 3)<br />
Nachfolge (= DBW 4)<br />
Gemeinsames Leben/Das Gebetbuch der Bibel (= DBW 5)<br />
Ethik (= DBW 6)<br />
Fragmente aus Tegel (= DBW 7)<br />
Widerstand und Ergebung (= DBW 8); Zitation folgt der Ausgabe:<br />
Widerstand und Ergebung. Neuausgabe. Briefe und Aufzeichnungen<br />
aus der Haft (= WEN), 3. Aufl. 1985<br />
Jugend und Studium 1918–1927 (= DBW 9)<br />
Barcelona, Berlin, Amerika 1928–1931 (= DBW 10)<br />
Ökumene, Universität, Pfarramt 1931–1932 (= DBW 11)<br />
London 1933–1935 (= DBW 13)<br />
Gesammelte Schriften (= GS), herausgegeben von E. Bethge und<br />
erschienen in 6 Bänden (München 1960 bis 1974)<br />
Bd 1: Ökumene. Briefe, Aufsätze, Dokument, 1928–1942 (= GS I)<br />
Bd 2: Kirchenkampf und Finkenwalde. Resolutionen, Aufsätze,<br />
Rundbriefe,1933–1943 (= GS II)<br />
Bd 3: <strong>Theologie</strong> – Gemeinde, Vorlesungen, Briefe, Gespräche, 1927–<br />
1944 (= GS III),<br />
Bd. 4: Auslegungen – Predigten, 1933–1944 (= GS IV)<br />
Bd. 5: Seminare, Vorlesungen , Predigten, 1924–1941,<br />
1. Ergänzungsband (= GS V)<br />
155
Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 156<br />
Quellenverzeichnis<br />
Bd. 6: Tagebücher , Briefe, Dokumente 1923–1945,<br />
2. Ergänzungsband (= GS VI)<br />
<strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong> Hegel-Seminar 1933, nach Aufzeichnungen<br />
von Frenc Lehel, herausgegeben von Ilse Tödt, München<br />
1988.<br />
Brautbriefe Zelle 92, <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer – Maria von Wedemeyer<br />
1943–1945, herausgegeben von R.-A. v. Bismarck und U. Kabitz,<br />
2. Aufl. 1993<br />
Nachlaß <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer. Ein Verzeichnis Archiv – Sammlung<br />
– Bibliothek, herausgegeben von D. Meyer in Zusammenarbeit<br />
mit E. Bethge, 1987; hierin verzeichnet folgende in<br />
der Arbeit erwähnte Archivnummern der Briefe, die im Original<br />
eingesehen wurden:<br />
A 77, 73 (b) Brief vom 5. 9.1943 = WEN 120 f. = DBW 8, 151 f.<br />
A 77, 76 (b) Brief vom 13. 9. 1943 = WEN 125 f. = DBW 8, 157 f.<br />
A 80, 155 Brief 27. 3.1944 = WEN 272 f = DBW 8, 371 f.<br />
A 80, 166 Brief vom 5. 5.1944 = WEN 308 f. = DBW 8, 409 f.<br />
A 80, 181 Brief vom 3. 6.1944 = WEN 346 f. = DBW 8, 461 f.<br />
A 78, 106 und 107 Brief vom 18.12. 1943 = WEN 187 f. = DBW 8, 241 f.<br />
A 79, 128 (37–46) Brief vom 29. u. 30. 1. 1944 = WEN 222 ff. = DBW 8,<br />
300 ff.<br />
A 80, 147 (65–72) Brief vom 9. 3.1944 = WEN 256 ff. = DBW 8, 351 f.<br />
A 80, 162 (95–100) Brief vom 30. 4. 1944 = WEN 303 ff. = DBW 8, 401 f.<br />
A 80, 164 (101–104) Brief vom 5. 5. 1944 = WEN 311 ff. = DBW 8, 413 f.<br />
A 80, 167 (111–114) Brief vom 9. 5. 1944 = WEN 316 f. = DBW 8, 420 f.<br />
A 80, 171 (119–120) Brief vom 20. 5. 1944 = WEN 330 f. = DBW 8, 439 f.<br />
A 80, 176 (133–134) Brief vom 26. 5. 1944 = WEN 338 f. = DBW 8, 450 f.<br />
A 81, 186 (151–158) Brief vom 8. 6. 1944 = WEN 355 f. = DBW 8, 474 f.<br />
A 81, 192 (163–166) Brief vom 30. 6. 1944 = WEN 372 f. = DBW 8, 501 f.<br />
A 81, 193 Brief vom 8. 7. 1944 = WEN 376 f. = DBW 8, 508 f.<br />
A 81, 195 Brief vom 16. 7. 1944 = WEN 391 f. = DBW 8, 526 f.<br />
A 81, 196 (177–178) Brief vom 21. 7. 1944 = WEN 401 f. = DBW 8, 541 f.<br />
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