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Eine Theologie des Lebens. Dietrich Bonhoeffers - Universität ...

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Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 1<br />

Ralf K. Wüstenberg<br />

<strong>Eine</strong> <strong>Theologie</strong> <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong>


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 2<br />

Für Pia Luise Rübenach


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 3<br />

Ralf K. Wüstenberg<br />

<strong>Eine</strong> <strong>Theologie</strong> <strong>des</strong><br />

<strong>Lebens</strong><br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong><br />

„nichtreligiöse Interpretation“<br />

biblischer Begriffe<br />

EVANGELISCHE VERLAGSANSTALT<br />

Leipzig


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 4<br />

Die Deutsche Bibliothek – Bibliographische Information<br />

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in<br />

der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische<br />

Daten sind im Internet über <br />

abrufbar.<br />

© 2006 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH, Leipzig<br />

Printed in Germany • H 7098<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

Cover: Kai-Michael Gustmann<br />

Satz: Evangelische Verlagsanstalt GmbH<br />

Druck und Binden: Hubert & Co., Göttingen<br />

ISBN-10: 3-374-02425-4<br />

ISBN-13: 978-3-374-02425-4<br />

www.eva-leipzig.de


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 5<br />

Vorwort<br />

Dem 100-jährigen Gedenken <strong>des</strong> Geburtstages von <strong>Dietrich</strong><br />

Bonhoeffer verdankt sich auch dieses Buch. Es handelt sich<br />

um die deutsche Ausgabe meines in Amerika erschienenen<br />

Buches: A Theology of Life. <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer’s Religionless<br />

Christianity (Grand Rapids/Cambridge: Wm. B. Eerdmans<br />

1998).<br />

Ich danke der Evangelischen Verlagsanstalt, namentlich<br />

Frau Dr. Weidhas, für das Interesse am deutschen Manuskript,<br />

das der englischen Buchfassung zu Grunde gelegen<br />

hat. Es ist für die deutsche Ausgabe leicht umgearbeitet<br />

und gekürzt sowie um eine Schlussbetrachtung ergänzt<br />

worden.<br />

Das Geleitwort <strong>des</strong> inzwischen verstorbenen Präsidenten<br />

der Internationalen Bonhoeffergesellschaft, Eberhard<br />

Bethge, wurde nach Rücksprache mit Renate Bethge unverändert<br />

übernommen. Das Literaturverzeichnis ist auf<br />

ein Verzeichnis der benutzten Bonhoeffer-Quellen reduziert<br />

worden. Weitere Literatur wird im Fußnotenapparat<br />

nachgewiesen.<br />

Die Union Evangelischer Kirchen sowie die Freie Universität<br />

Berlin haben mit Zuschüssen die Publikation ermöglicht.<br />

Mein Dank gilt auch der Tutorin am Lehrstuhl,<br />

Annegreth Strümpfel, die sich um das Manuskript verdient<br />

gemacht hat. Das Buch ist meiner Frau gewidmet, die mir<br />

in manch turbulentem Jahr akademischer und kirchlicher<br />

Qualifikation Halt und Gegenüber war.<br />

Ralf K. Wüstenberg, Berlin im Mai 2006<br />

5


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 6


Wüstenberg 04.07. 15.08.2006 14:05 Uhr Seite 7<br />

Geleitwort<br />

Erfreut und befriedigt begrüße ich das Erscheinen von Ralf<br />

Karolus Wüstenberg »<strong>Eine</strong> <strong>Theologie</strong> <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong>. <strong>Dietrich</strong><br />

<strong>Bonhoeffers</strong> nichtreligiöse Interpretation biblischer Begriffe«.<br />

<strong>Eine</strong> neue Generation hat für diese <strong>Theologie</strong>, die inmitten<br />

der Konspiration entstanden ist, Feuer gefangen. Auf<br />

den Schultern der ersten Generation und in Aufnahme <strong>des</strong><br />

Gesprächs mit den Großen <strong>des</strong> 19. und 20. Jahrhunderts,<br />

Philosophen wie Theologen, untersucht Wüstenberg, was<br />

Bonhoeffer für unsere Zeit bei ihnen gehört hat und macht<br />

es für uns fruchtbar. Plötzlich ist es keineswegs vergangen,<br />

sondern außerordentlich gegenwärtig und unerledigt, regt<br />

das Formulieren von Antworten an auf Fragen, die sich<br />

immer drängender stellen, zum Beispiel nach der Weise<br />

unserer Überlieferung der Christologie angesichts <strong>des</strong> Holocaust.<br />

Ralf Wüstenberg setzt jeden von uns neu in die Studierstube.<br />

Er belegt die Kontinuität <strong>des</strong> Werkes <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong><br />

neu und erarbeitet es kritisch. Seine These vom<br />

»Glauben als Leben« scheint mir außerordentlich bedeutsam<br />

und fruchtbar. Er bezieht die hinter uns liegende Rezeptionsgeschichte<br />

der vergangenen Jahrzehnte ein unter<br />

Darbietung neuer Bezüge, vor allem aufgrund von Wilhelm<br />

Dilthey und William James. Ralf Wüstenbergs Buch schickt<br />

neu ins ökumenische Abenteuer.<br />

Eberhard Bethge<br />

7


Wüstenberg 04.07. 15.08.2006 14:05 Uhr Seite 8


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 9<br />

Inhalt<br />

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11<br />

A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik . . . . . . . . . . . . . 21<br />

1. Von der Liberalen zur Dialektischen <strong>Theologie</strong> . . . . . . . . . . 21<br />

2. Unter dem Einfluss der Dialektischen <strong>Theologie</strong> . . . . . . . 37<br />

3. Aus dem Schatten der Dialektischen <strong>Theologie</strong>:<br />

Der Einwand <strong>des</strong> Offenbarungspositivismus . . . . . . . . . . . 65<br />

B. Von der Religionskritik zur „Religionslosigkeit“ . . . . . . . . . . . . . 85<br />

1. Von der dialektisch-theologischen Religionskritik<br />

zur Rezeption <strong>des</strong> deutschen Historismus . . . . . . . . . . . . . . 85<br />

2. Kontinuität und Diskontinuität in<br />

der Religionsthematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112<br />

3. Ergebnis und These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126<br />

C. Von der Rezeption der <strong>Lebens</strong>philosophie zur<br />

›nichtreligiösen Interpretation‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129<br />

1. Die Bedeutung <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong>philosophen<br />

J. Ortega y Gasset . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130<br />

2. Die <strong>Lebens</strong>philosophie Wilhelm Diltheys als<br />

interpretatorischer Schlüssel zum Verständnis der<br />

›nichtreligiösen‹ Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136<br />

3. Ergebnis und These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145<br />

Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149<br />

Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155<br />

9


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 10


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 11<br />

Einleitung<br />

Aus dem Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis von Berlin-<br />

Tegel schreibt <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer im Mai 1944 an seinen<br />

Freund Eberhard Bethge: »Ich denke augenblicklich darüber<br />

nach, wie die Begriffe Buße, Glaube, Rechtfertigung,<br />

Wiedergeburt, Heiligung, weltlich [...] umzuinterpretieren<br />

sind. Ich werde Dir weiter darüber schreiben.« 1 In der<br />

anschließenden theologischen Korrespondenz finden sich<br />

die berühmten Formulierungen von der »religionslosen<br />

Zeit«, der wir entgegengehen und von der »mündigen Welt«,<br />

die auch ohne den »Vormund Gott« existieren kann. Mit<br />

diesen Formulierungen möchte Bonhoeffer eine Interpretationsform<br />

schaffen, in der Christus wirklich wieder Herr<br />

der Welt wird. Diese Form der Interpretation, nach der<br />

Religion nicht mehr zur Vorbedingung <strong>des</strong> Heils werden<br />

soll, nennt Bonhoeffer eine »weltliche« oder auch »nichtreligiöse«<br />

Interpretation. Damit ist keine abstrakte Interpretationsform<br />

gemeint; vielmehr hat Bonhoeffer die nichtreligiöse<br />

Interpretation der biblischen Begriffe vor Augen. Was<br />

heißt aber nichtreligiös interpretieren? Sind wir zu Beginn<br />

<strong>des</strong> 21. Jahrhunderts wirklich religionslos geworden? Wie<br />

wäre dann die Rückkehr <strong>des</strong> Religiösen zu erklären? Ist die<br />

These von der Religionslosigkeit nicht zumin<strong>des</strong>t empirisch<br />

widerlegt? Um sich diesen Fragen zu nähern, ist aber<br />

eine Analyse <strong>des</strong> Religionsverständnisses <strong>Bonhoeffers</strong> nötig.<br />

1) Brief vom 5. 5.1944, »Widerstand und Ergebung. Neuausgabe«,<br />

hrsg. E. Bethge, 3. Aufl. 1985, 313 (im folgenden zitiert WEN).<br />

11


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 12<br />

Einleitung<br />

Es müßte zumin<strong>des</strong>t geklärt werden, welcher Religionsbegriff<br />

der Tegeler <strong>Theologie</strong> eigentlich zugrunde liegt. Zu<br />

diesem Thema schweigt aber die im Übrigen beredte Literatur.<br />

2 In den meisten Studien sind eher die Probleme illustriert<br />

worden als tragfähige Analysen vorgelegt. So wird<br />

Bonhoeffer, der eine religionslose Zeit voraussagt, von den<br />

einen als ›Atheist‹ (A. MacIntyre) 3 oder als ›Säkularer‹ (A.<br />

Loen) 4 bezeichnet, um von anderen als ›religiöse Natur‹ (J.<br />

Macquarrie) 5 tituliert zu werden; wieder andere haben<br />

in ihm den ›Vater der Gott-ist-tot-<strong>Theologie</strong>‹ gesehen (W.<br />

Hamilton et al) 6 . Oder war er ein ›Gnostiker‹ (C. B. Arm-<br />

2) Vgl. den kritischen Überblick über »Vier Jahrzehnte ökumenischer<br />

Bonhoeffer-Interpretation«, in: R. K. WÜSTENBERG, Glauben als<br />

Leben. <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer und die nichtreligiöse Interpretation<br />

biblischer Begriff, Frankfurt/M. et al. 1996, 257–346. Zur neueren<br />

und neuesten Literatur vgl. E. FEIL (Hrsg.), Streitfall »Religion«.<br />

Diskussionen zur Bestimmung und Abgrenzung <strong>des</strong> Religionsbegriffs,<br />

Münster et al. 2000 sowie die »Bonhoeffer-Jahrbücher«, besonders<br />

den Jahrgang 2003 (hier etwa K. B. NIELSEN, Überlegungen<br />

zum Religionsverständnis <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong>: Zwischen<br />

Kritik und Konstruktion, 93-106) sowie A. DENNECKE, Das Leben<br />

»nicht-religiös« interpretieren. <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong> nichtreligiöse<br />

Interpretation im 21. Jahrhundert, in: PTh 2004 (93,1), 32 ff.<br />

3) Vgl. A. MACINTRYRE, God and the Theologians, in: Encounter 21,<br />

Nov 1963, 3–10, Beleg 3.<br />

4) Vgl. A. E. LOEN, Säkularisation. Von der wahren Voraussetzung<br />

und angeblichen Gottlosigkeit der Wissenschaft, 1965, 205 ff. (engl.:<br />

Secularization. Science without God?, London 1967, 188 ff.).<br />

5) Vgl. J. MACQUARRIE, God and Secularity, New Directions in Theology<br />

Today III, 1968, 72 ff.<br />

6) Vgl. W. HAMILTON, A secular Theology for a World come of Age,<br />

in: Theology Today 18, 1962, Beleg 440; vgl. auch J. A. T. ROBINSON,<br />

Honest to God, London 1963 (22. Aufl. 1991).<br />

12


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 13<br />

Einleitung<br />

strong, M. D. Hunnex) 7 , ein ,Sprachanalytiker‹ (P. van Buren)<br />

8 , ein ›Hermeneutiker‹ (zuletzt K.-M. Kodalle) 9 , ein ›Konservativer‹<br />

(E. C. Bianchi) 10 oder bloß ein ›Rezipient‹ (G.<br />

Krause) 11 ? Redet er gar ›der Selbstsäkularisierung <strong>des</strong> Protestantismus<br />

das Wort‹ 12 ?<br />

Alle Antworten sind gegeben worden, und wir könnten<br />

diese Auflistung weiter fortsetzen, beschränken uns jedoch<br />

auf einige pointierte Meinungen. Sie mögen einen Querschnitt<br />

geben für die verschiedensten Formen von Deutungen,<br />

die immer dann auftreten, wenn Bonhoeffer entweder<br />

von einer bestimmten theologischen Schule aus oder von<br />

der jeweiligen religiösen oder säkularen Lage der Zeit her<br />

interpretiert wird. Dabei ist durch Jahrzehnte hindurch auf<br />

Fehlinterpretationen hingewiesen worden. 13 Der britische<br />

7) Vgl. C. B. ARMSTRONG, Christianity without religion, in: CQR 165,<br />

1964, 175–184; M. D. HUNNEX, Religionless Christianity: Is it a<br />

New Form of Gnosticism?, in: Christianity 10, 6, Jan 7, 1966, 7–9.<br />

8) Vgl. P. VAN BUREN, The secular meaning of the Gospel. Based on<br />

an analysis of its language, London 1963.<br />

9) Vgl. K. M. KODALLE, <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer. Zur Kritik seiner <strong>Theologie</strong>,<br />

Gütersloh 1991.<br />

10) Vgl. E. C. BIANCHI, Bonhoeffer and the Church’s prophetic mission,<br />

in: Theological Studies (Baltimore) 28, 1967, 801–811.<br />

11) Vgl. G. KRAUSE, Art. ›Bonhoeffer, <strong>Dietrich</strong>‹, in: TRE VII, 198l, 55–66,<br />

weist wiederholt Begriffe <strong>Bonhoeffers</strong> als bloß aus anderen Quellen<br />

übernommen und sekundär aus, vgl. etwa art. cit. 64, Anm. 1 und 6.<br />

12) Diese Meinung gibt CHR. GREMMELS, Religionslosigkeit?, in:<br />

Bonhoeffer-Rundbrief 76 (2005), 24 wieder.<br />

13) D. JENKINS warnte schon 1962 (Beyond Religion) davor, daß die<br />

Rede von der Religionslosigkeit nicht zu einem ›Slogan‹ verkommen<br />

dürfe. J. MARK (Bonhoeffer Reconsidered, in: Theol, Nov 1973,<br />

No 641, 586–593) mahnte an, daß die These von der Religionslosigkeit<br />

nicht zu einem ›springboard‹ gemacht werden dürfe, auf dem<br />

13


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 14<br />

Einleitung<br />

Barth-Forscher T. F. Torrance 14 hat das Desaster in der Bonhoeffer-Interpretation<br />

schon früh auf den Punkt gebracht:<br />

»Yet the tragedy of the situation is that in the malaise of recent years<br />

instead of really listening to Bonhoeffer, many German thinkers and<br />

writers and Churchmen have come to ›use‹ Bonhoeffer for their own<br />

ends, as a means of objectifying their own image of themselves. And<br />

they have been aided and abetted in this by people in Britain and the<br />

U.S.A. In this way Bonhoeffer’s thought has been severely twisted<br />

and misunderstanding of him has come rife, especially when certain<br />

catch-phrases like ›religionless Christianity‹ and ›wordly holiness‹<br />

are worked up into systems of thought so sharply opposed to Bonhoeffer’s<br />

basic Christian theology, not least his Christology.«<br />

Wo die christologische Mitte bei Bonhoeffer nicht gesehen<br />

wird, da wird er insgesamt fehlinterpretiert – auch und<br />

gerade im Hinblick auf die »nichtreligiöse Interpretation«.<br />

Und so hat sich G. Ebelings 15 Mahnung, daß die »nichtreligiöse<br />

Interpretation [...] für Bonhoeffer nichts anderes als<br />

christologische Interpretation« sei, als Grundeinsicht über<br />

fünf Jahrzehnte in der Bonhoeffer-Forschung erhalten. Nahezu<br />

jede ausgewiesene Publikation zitiert Ebelings For-<br />

sich nahezu jede <strong>Theologie</strong> artikulieren könne. S. PLANT (The use<br />

of the Bible in Bonhoeffer’s ethics, unpublished PhD thesis, Cambridge<br />

1993) beobachtete, daß seit den 50er Jahren die Forderung<br />

einer »nichtreligiösen Interpretation« zu einem ›Slogan theologischer<br />

Trends‹ werde.<br />

14) T. F. TORRANCE, Cheap and Costly Grace, in: God and Rationality<br />

1971, Ch3, 56–85, Zitat 74.<br />

15) G. EBELING, Die ›Nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe‹,<br />

zuerst in: ZThK 52, 1955, 296–360; ich zitiere nach: Mündige<br />

Welt Bd. II, 1956, 12–73, Zitat 20 f. (engl.: The ›non-religious‹ interpretation<br />

of biblical concepts, in: Word and Faith, Philadelphia<br />

1963, 98–161).<br />

14


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 15<br />

Einleitung<br />

mel, doch bleibt ihre Konkretion aus: Wenn nichtreligiös<br />

christologisch interpretieren heißt, was meint dann diese<br />

Interpretation konkret?<br />

Um diese Frage soll es im folgenden gehen. Ihre Beantwortung<br />

wird über mehrere Etappen führen: Von der werkimmanenten<br />

Betrachtung der Religionsthematik bei Bonhoeffer<br />

über die Klärung der Entstehungsgeschichte seiner<br />

religionskritischen Äußerungen zum konstruktiven Versuch<br />

der inhaltlichen Bestimmung seiner These von der<br />

Religionslosigkeit. Zunächst soll gefragt werden, ob Bonhoeffer<br />

überhaupt einen Religionsbegriff entwickelt hat,<br />

über den wir Hinweise auf die Bedeutung der Religionslosigkeit<br />

erhielten. Die werkimmanente Vorklärung führt<br />

zu dem bisher nicht diskutierten Problem eines kohärenten<br />

Religionsbegriffs bei Bonhoeffer. Wird ein solcher verneint,<br />

schließt sich die Behandlung von entstehungsgeschichtlichen<br />

Fragen an: Woher kommen Religionskritik und die<br />

These von der Religionslosigkeit? Was hat Bonhoeffer im<br />

Gefängnis studiert, als er seine Forderungen zu Papier<br />

brachte? Die werkimmanente und rezeptionsgeschichtliche<br />

Untersuchung wird schließlich konstruktiv zu fragen<br />

erlauben, was Bonhoeffer mit der nicht-religiösen Interpretation<br />

biblischer Begriffe konkret beabsichtigte.<br />

Vorklärung<br />

Ist bei Bonhoeffer mit einer geschlossenen Religionskonzeption<br />

zu rechnen, die Hinweise auf die Aussagekraft der nichtreligiösen<br />

Interpretation gibt?<br />

Überblickt man sämtliche Aussagen <strong>Bonhoeffers</strong> über Religion,<br />

so lassen sich formal drei Gruppen von Religionsdeu-<br />

15


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 16<br />

Einleitung<br />

tungen unterscheiden: Vor der Entdeckung der Dialektischen<br />

<strong>Theologie</strong> stehen<br />

– religionswürdigende Aussagen im Vordergrund. Positive Auffassungen<br />

von Religion finden sich in Seminararbeiten und Referaten<br />

seiner Studentenzeit. 16 Seit der Entdeckung und der literarischen<br />

Verarbeitung Karl Barths begegnen dann<br />

– religionskritische Aussagen, die sich in seiner Dissertation<br />

»Sanctorum Communio« erstmals breiter aufweisen lassen. 17 Das<br />

Jahr 1927, in dem »Sanctorum Communio« erschien, markiert chronologisch<br />

eine Wende von der Religionswürdigung zur Religionskritik,<br />

die in den Folgejahren die bestimmende Deutung von Religion<br />

bleibt. Aus der Religionskritik folgert Bonhoeffer 1944 die<br />

nichtreligiöse Interpretation, mit der er schließlich die<br />

– Religionslosigkeit postuliert: Religion wird nicht nur (systematisch-theologisch)<br />

kritisiert, sondern die Zeit von Religion sei<br />

(historisch) abgelaufen.<br />

Religionswürdigung, Religionskritik und Religionslosigkeit<br />

sind die drei Aussageformen von Religion im Gesamtwerk<br />

<strong>Bonhoeffers</strong>. Keine von ihnen wird in sich systemhaft<br />

ausgebildet, noch lassen sie in ihrer Trias eine Theorie von<br />

Religion erkennen. Die drei Religionsdeutungen folgen<br />

vielmehr lose aufeinander, wonach Bonhoeffer Religion<br />

zunächst würdigt, dann kritisiert, um schließlich die<br />

nichtreligiöse Interpretation der biblischen Begriffe zu folgern.<br />

Auch diese chronologische Abfolge darf nicht gepreßt<br />

16) Vgl. etwa die Seminararbeit »Luthers Stimmungen gegenüber seinem<br />

Werk in seinen letzten <strong>Lebens</strong>jahren. Nach seinem Briefwechsel<br />

von 1540–1546«, in: DBW 9, 271–305, bes. 300; oder: »Referat über<br />

historische und pneumatische Schriftauslegung«, in: DBW 9, 305–<br />

323, bes. 305 f.321.<br />

17) »Sanctorum Communio«, DBW 1 (1986), etwa 69, 79, 97, 174; vgl. im<br />

Blick auf F. Schleiermacher 102 n.18.<br />

16


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 17<br />

Einleitung<br />

werden: So äußert sich Bonhoeffer auch vor 1927 vereinzelt<br />

religionskritisch; andererseits kann er noch 1944 vom Christentum<br />

als wahrer Religion sprechen. In der »dialektischtheologischen<br />

Phase« kommen also Elemente einer Religionsbetrachtung<br />

vor, die chronologisch gesehen in die<br />

Zeit vor 1927 fallen müßten, und damit in das Erbe der Liberalen<br />

<strong>Theologie</strong>.<br />

Würdigende Äußerungen, kritische und solche über Religionslosigkeit<br />

folgen nicht nur entwicklungsgeschichtlich<br />

aufeinander, sondern begegnen auch systematisch nebeneinander.<br />

<strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer operiert mit dem Wort<br />

Religion in einer Weise, die eine inhaltliche Bestimmung<br />

schwer macht – oft auch gar nicht sucht. Religion wird zu<br />

einer formalen Negativfolie, auf der dann andere wichtige<br />

Gedanken inhaltlich expliziert werden. Bonhoeffer erklärt<br />

schon 1931 unter dem Eindruck von Karl Barth, daß es »keinen<br />

allgemeinen Begriff von Religion mehr geben« 18 kann.<br />

An der Stelle eines theologisch reflektierten Religionsbegriffs<br />

finden sich bei <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer regulative Vorstellungen<br />

über Religion, wie:<br />

– Religion rede von Gott bloß »an den Rändern«,<br />

– Religion habe nur mit den »letzten Fragen« <strong>des</strong> Menschen<br />

zu tun,<br />

– Religion richte sich allein auf die »Innerlichkeit« und das<br />

»Gewissen« von Menschen.<br />

Bonhoeffer integriert Religion nicht systematisch in seine<br />

<strong>Theologie</strong> und unterscheidet sich darin u. a. von Karl Barth.<br />

18) »Die Systematische <strong>Theologie</strong> <strong>des</strong> 20. Jahrhunderts«, Vorlesung aus<br />

dem Wintersemester 1931/32, in: GS V, 181–227, Beleg 219 (Hervorhebung<br />

im Zitat RW).<br />

17


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 18<br />

Einleitung<br />

Wo gewöhnlich Religion den Ort im System einer regulären<br />

Dogmatik einnimmt, da fragt der irreguläre Dogmatiker:<br />

»Was bedeutet in der Religionslosigkeit der Kultus und das<br />

Gebet?« (WEN 306). Bonhoeffer beantwortet seine Frage mit<br />

dem Hinweis auf die altkirchliche Arkandisziplin; er empfindet<br />

offenbar selber, daß eine Lücke entsteht, wo in der<br />

Religionslosigkeit religiöse Inhalte den angestammten Ort<br />

verlieren. Was sich mit dem Phänomen Religion verbindet,<br />

also etwa der Kultus oder das Gebet, sollen <strong>des</strong>halb der<br />

Arkandisziplin unterworfen werden. Wir erhalten einen<br />

ersten Hinweis darauf, daß Religionslosigkeit phänomenologisch<br />

mit der Ortslosigkeit von Religion zu tun hat.<br />

Religiöse Inhalte sollen aber nicht aufgegeben, sondern<br />

angebetet und vor Profanierung geschützt werden; anstelle<br />

von geschwätziger Religiosität fordert Bonhoeffer »qualifiziertes<br />

Schweigen«. Der Verherrlichung <strong>des</strong> Geheimnisses<br />

der Person Christi in Gebet und Gottesdienst entspricht<br />

nach außen die verantwortliche Tat, so daß die Arkandisziplin<br />

ihren »dialektische(n) Kontrapunkt« 19 in der nichtreligiösen<br />

Interpretation findet. Arkanum und Religionslosigkeit<br />

verhalten sich zueinander wie »das Beten und Tun <strong>des</strong><br />

Gerechten« (WEN 328). Das anbetende Schweigen vor dem<br />

Heiligen einerseits und das nichtreligiöse Bekennen vor der<br />

Welt andererseits gehören als die zwei Seiten <strong>des</strong> christlichen<br />

<strong>Lebens</strong> für Bonhoeffer untrennbar zusammen.<br />

Als erstes Ergebnis ist festzuhalten: <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer<br />

definiert Religion weder begrifflich noch entwickelt er eine<br />

geschlossene Religionstheorie.<br />

19) A. PANGRITZ, »Aspekte der ›Arkandisziplin‹ bei <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer«,<br />

in: ThLZ 119 (1994), Sp. 755–768, Beleg 765.<br />

18


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 19<br />

Einleitung<br />

Dieser Befund hat methodische Konsequenzen. Sollen<br />

seine Aussagen über Religionslosigkeit interpretiert werden,<br />

so kann dies nicht unmittelbar über die Schriften <strong>Bonhoeffers</strong><br />

und einem vermeintlich dort ausgebildeten Religionsbegriff<br />

gelingen, sondern nur mittelbar über die den<br />

Quellen zugrundeliegenden entstehungsgeschichtlichen<br />

Bezüge. Die Frage lautet: Woher kommt die Rede von der<br />

Religionslosigkeit? Die Behandlung dieser Frage führt in<br />

der systematischen Betrachtung <strong>des</strong> Verständnisses von<br />

Religion bei <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer über drei Stationen:<br />

– Von der Religionswürdigung unter dem Einfluß der<br />

Liberalen <strong>Theologie</strong> zur Religionskritik in der Rezeption<br />

der Dialektischen <strong>Theologie</strong> (Abschnitt A);<br />

– von der Religionskritik der Dialektischen <strong>Theologie</strong> zur<br />

»Religionslosigkeit« in der Rezeption <strong>des</strong> deutschen<br />

Historismus (Abschnitt B) und schließlich<br />

– vom <strong>Lebens</strong>begriff der sog. »<strong>Lebens</strong>philosophie« zur<br />

systematischen Aussagekraft der »nichtreligiösen<br />

Interpretation« in den Tegeler Briefen (Abschnitt C).<br />

19


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A. Von der Religionswürdigung<br />

zur Religionskritik<br />

Zunächst soll <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong> Weg von der Religionswürdigung<br />

unter dem Einfluß der Liberalen <strong>Theologie</strong> (1.)<br />

zur Religionskritik in der Rezeption der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

(2.) nachgezeichnet werden. Dann wird unter dem<br />

Stichwort ›Offenbarungspositivismus‹ thematisiert, wie<br />

Bonhoeffer die Bahnen der Religionskritik Karl Barths verläßt<br />

und aus dem Schatten der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

heraustritt (3.). Methodisch werden die Spuren der Liberalen<br />

sowie der Dialektischen <strong>Theologie</strong> im literarischen<br />

Werk <strong>Bonhoeffers</strong> aufgenommen – ausgehend vom Schrifttum<br />

aus der Studienzeit über Qualifikationsarbeiten und<br />

Vorlesungsnachschriften bis hin zu den Ethikfragmenten<br />

und den Tegeler Briefen.<br />

1. Von der Liberalen zur Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

a) Studentische Arbeiten<br />

<strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer ist in die Liberale <strong>Theologie</strong> hineingewachsen,<br />

hat bei K. Holl gehört und bei A. v. Harnack bis<br />

zuletzt Seminare besucht. Eberhard Bethge bemerkt:<br />

»Mit dem Durchbruch der dialektischen <strong>Theologie</strong> trat bei Bonhoeffer<br />

an die Stelle eines gewissen ruhelosen Schweifens eine selbstgewissere<br />

Bestimmtheit. Er gewann jetzt erst eigentlich Freude an der<br />

Sache; es war wie eine Befreiung.«1<br />

1) <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer. Theologe, Christ, Zeitgenosse, 6. Aufl. München<br />

1986, 104 (Biographie im Folgenden zitiert: E. Bethge, DB).<br />

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A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

Die Entdeckung K. Barths wird in die Jahre 1924/25 datiert<br />

und mit der 1924 erschienenen Vortragssammlung ›Das<br />

Wort Gottes und die <strong>Theologie</strong>‹ verbunden.2 Hierin stellt K.<br />

Barth eindeutig fest:<br />

»Jesus hat mit Religion einfach nichts zu tun. Der Sinn seines <strong>Lebens</strong><br />

ist die Aktualität <strong>des</strong>sen, was in keiner Religion aktuell ist, die Aktualität<br />

<strong>des</strong> Unnahbaren, Unfaßbaren, Unbegreiflichen [...]« (94).<br />

Dem korrespondiert die Gegenüberstellung von Religion<br />

und Glaube. Während Religion in ›jedermanns Möglichkeit‹<br />

liegt, gilt nach Barth: »[...] der Glaube, der in der Bibel<br />

geboten ist, ist nicht jedermanns Ding« (74). »Die Religion<br />

vergißt, daß sie nur dann Daseinsberechtigung hat, wenn<br />

sie sich selbst fortwährend aufhebt.« (80) Mit dem Terminus<br />

»Aufhebung von Religion« begegnete bereits 1920 eine<br />

bedeutende Wendung in der Religionskritik K. Barths. Gott<br />

»will nicht Religionsgeschichte begründen, sondern der<br />

Herr unsres <strong>Lebens</strong>, der ewige Herr der Welt sein« (85). An<br />

einer anderen Stelle seines Traktats heißt es:<br />

»Es sind schon oft gerade ausgesprochen unreligiöse Menschen gewesen,<br />

die den ganzen Ernst und das ganze Gewicht der Gottesfrage<br />

viel stärker empfunden, viel schärfer zum Ausdruck gebracht haben<br />

als die innigsten und eifrigsten Frommen« (73).<br />

Hat man den späten Bonhoeffer vor Augen, so stellen sich<br />

Parallelen ein. »Wie kann Christus der Herr auch der Religionslosen<br />

werden«, fragt er etwa am 30.4.1944 (WEN 306).<br />

Der skandinavische Bonhoeffer-Interpret B.-E. Benktson3<br />

2) Das Wort Gottes und die <strong>Theologie</strong>. Gesammelte Vorträge, München<br />

1924, 70–98.<br />

3) Vgl. B.-E. BENKTSON , Kristus och den myndigvordna världen, in:<br />

SvTK 40, 1964, 65–113.<br />

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1. Von der Liberalen zur Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

argumentiert, dass Bonhoeffer in dieser Aussage an den frühen<br />

Aufsatz K. Barths gedacht habe, eine These, auf die in<br />

der Interpretation der Tegeler Briefe zurückzukommen ist.<br />

Fragen wir zunächst: Was kannte der Student Bonhoeffer<br />

eigentlich von Barth? Neben dem genannten Aufsatzband<br />

von 1924 war ihm Barths ›Römerbrief‹ von 1922 (in 3.<br />

Aufl. von 1923) bekannt sowie einige Nummern der Zeitschrift<br />

›Zwischen den Zeiten‹ (= ZZ)4. Vor allem der ›Römerbrief‹<br />

und der Aufsatzband finden bei Bonhoeffer vor 1927<br />

einen Niederschlag.<br />

Zu Karl Barths ›Christlicher Dogmatik im Entwurf‹<br />

fertigte Bonhoeffer lediglich Notizen an (DBW 9, 473 f.), in<br />

denen er das Religionsverständnis Barths nicht weiter kommentierte.<br />

Beiläufig äußert sich Bonhoeffer über den frühen<br />

Dogmatikentwurf Barths gegenüber einem Kommilitonen<br />

kritisch und klagt über »reaktionäre Gesten«. Der<br />

Kommilitone verteidigt den Barth der ›Dogmatik‹ im Unterschied<br />

zum ›Römerbrief‹ mit dem Hinweis: Barth müsse<br />

erst »nach rückwärts Anschluß« gewinnen, um dann »zwei<br />

Schritte vorwärts« tun zu können.5<br />

Aus dem Sommersemester 1925 ist das ›Referat‹ über<br />

historische und pneumatische Schriftauslegung (DBW 9,<br />

305 ff.) hervorzuheben. <strong>Eine</strong>rseits können hier religionswürdigende<br />

Äußerungen festgehalten werden. Andererseits<br />

kommt Bonhoeffer auf Barth zu sprechen. Es geht ihm um<br />

4) Vgl. Nl. 194; Bonhoeffer selbst erwähnt in einem Referat zum Beispiel<br />

K. BARTH, Menschenwort und Gotteswort in der christlichen<br />

Predigt, in: ZZ 3, 1925, 119 ff., und <strong>des</strong>sen Aufsatz ›Das Schriftprinzip<br />

der reformierten Kirche‹, in: ZZ 3, 1925, 215 ff. (vgl. DBW 9, 305,<br />

Anm. 1).<br />

5) R. WIDMANN, zit. nach E. Bethge, DB, 106; vgl. auch DBW 9, 157 ff.<br />

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A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

die Auseinandersetzung mit dem dialektisch-theologischen<br />

Schriftverständnis einerseits und K. Holls Darstellung<br />

der Hermeneutik M. Luthers andererseits. K. Barth<br />

und K. Holl – reformierte und lutherische Tradition – versucht<br />

Bonhoeffer über das Schriftverständnis zusammenzubringen.<br />

Im Blick auf Barth heißt es: »In der Schrift ist die<br />

Offenbarung enthalten, d. h. wie die Schrift selbst sagt ›bezeugt‹«<br />

(DBW 9, 311). In Anlehnung an K. Holl6 schreibt er:<br />

»Mithin nicht die Schrift ist die Offenbarung, das würde gerade wieder<br />

Verdinglichung mit rationalen Mitteln bedeuten, nicht die<br />

Schrift wird als Offenbarung erlebt, sondern die Sache, um die es<br />

geht« (ibid).<br />

Bonhoeffer rezipiert K. Barth mit offenbarungstheologischem<br />

Interesse an der Schriftauslegung (vgl. auch 313 f.;<br />

dort K. Barths Israel-<strong>Theologie</strong>), weniger hinsichtlich der<br />

Religionskritik. Ein ähnliches Beispiel liefert ein ›Referat‹<br />

über Kirche und Ekklesiologie von 1926 (DBW 9, 336 ff.).<br />

<strong>Eine</strong>rseits finden sich Anlehnungen an Barths ›Römerbrief‹,<br />

andererseits keine Spur von Religionskritik. Auf K. Barth<br />

wird ekklesiologisch Bezug genommen:<br />

»Die Kirche wird nie den verhängnisvollen Schritt zu dem Satze tun,<br />

daß ›alles Bestehende Sünde‹ sei, sondern sie wird Schöpfung und<br />

menschliche Entstellung wohl zu trennen wissen und ihr Auge<br />

schärfen; [...] «. 7<br />

In studentischen Arbeiten nimmt Bonhoeffer zwar auf<br />

Barth Bezug. Richtig scheint jedoch die Beobachtung, daß<br />

6) Vgl. zum Einfluß K. Holls auf Bonhoeffer: J. v. SOOSTEN, Die Sozialität,<br />

159 ff.<br />

7) DBW 9, 350; das eingestreute Zitat stammt aus K. BARTHs ›Römerbrief‹<br />

[462]: vgl. den Nachweis in DBW 9, 350, Anm. 67.<br />

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1. Von der Liberalen zur Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

er sich in Jahren 1925/26 »in einer theologischen Zwischenposition<br />

zwischen Barth und den Berliner Theologen«8 befindet.<br />

b) Promotion<br />

Rezeptive Spuren von K. Barth nehmen wir in ›Sanctorum<br />

Communio‹ 9 von 1927 auf. In dem gleichnamigen Hauptkapitel<br />

(77–199) wird vorab festgestellt:<br />

»Es gibt grundsätzlich ein historisieren<strong>des</strong> und ein religiöses Mißverständnis<br />

der Kirche« (79).<br />

Zum ›religiösen Mißverständnis‹ wird das römisch-katholische<br />

Kirchenverständnis gezählt; doch begegnet man dem<br />

›religiösen Mißverständnis‹ auch in der Soziologie, dann<br />

nämlich, wenn es gilt, »›Kirche‹ qua ›religiöse Gemeinschaft‹<br />

[...] als ›öffentlich-rechtliche Körperschaft‹ zu analysieren<br />

und eine soziologische Morphologie derselben zu geben.<br />

Dann wäre alles Theologische überflüssig« (79 f.). Wir treffen<br />

hier auf die Entgegensetzung von <strong>Theologie</strong> und Religion<br />

(in Form von ›religiöser Gemeinschaft‹). Daß Kirche<br />

den Anspruch erhebt, Kirche Gottes zu sein, ist nicht »von<br />

außen her« zu deduzieren. Dieser Weg führt grundsätzlich<br />

nicht über die Kategorie der ›Möglichkeit‹ hinaus. Von da<br />

aus stößt man notwendig auf den Begriff der ›religiösen<br />

Gemeinschaft‹. Der Begriff der Kirche ist nur denkbar in der<br />

Sphäre der gottgesetzten Realität, d. h. er ist nicht deduzierbar.<br />

»Die Realität der Kirche ist eine Offenbarungsrealität,<br />

zu deren Wesen es gehört, entweder geglaubt oder geleugnet<br />

zu werden« (80). Mit dieser Aussage über Offenbarung<br />

8) H. PFEIFER, in: DBW 9, 628.<br />

9) Sanctorum Communio (DBW 1) 1986.<br />

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Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 26<br />

A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

geht der Promovend nicht über seinen Doktorvater hinaus.10<br />

Weiter zeigt Bonhoeffer auf, wie M. Scheler und H.<br />

Scholz den Begriff Kirche aus der Religion beziehungsweise<br />

aus der religiösen Gemeinschaft ableiten. Scheler setzte Religion<br />

mit Metaphysik gleich. »Der Fehler der Schelerschen<br />

Argumentation liegt darin, daß er in der Idee <strong>des</strong> Heiligen<br />

von einem metaphysischen Wertbegriff ausgeht, der uns in<br />

seiner Absolutheit immer unzugänglich bleibt, statt von<br />

der geschichtlich positiven Offenbarung [...] in Christus [...]<br />

aus zu argumentieren« (82). Versteht Scheler Religion als<br />

Metaphysik, so setzt Scholz nach Auffassung <strong>Bonhoeffers</strong><br />

Religion und Offenbarung gleich:<br />

»Religion gehört erstens zu den Ponderabilien <strong>des</strong> menschlichen<br />

Geistes, sie ist zweitens nicht apriori, sondern Offenbarung, was<br />

sich ausschließende Begriffe sind. Daraus folgt die Notwendigkeit<br />

der Erziehung in der Religion« (83).<br />

Scholz setze nämlich mit dem allgemeinen Religionsbegriff<br />

ein. »Der allgemeine Religionsbegriff hat keine sozialen<br />

10) Bei R. SEEBERG, Dogmatik Bd. I, 152, lesen wir: »[...] – der Glaube<br />

nimmt die von oben nach unten kommende Gottesherrschaft in<br />

sich auf, die Liebe gibt sich von unten nach oben steigend dem<br />

Schaffen am Gottesreich hin – [...]«. R. Seeberg kennt zwei Ebenen<br />

der Religionsgemeinschaft, »eine doppelte Bewegung«. »Als eine<br />

Menschheitsangelegenheit erweist sich die Religion dadurch, daß<br />

sie Gemeinschaft bildet« (152). Darüber steht die »zweite, höhere<br />

[...]« (ibid). Auch R. Seeberg läßt seine Betrachtung also ›von oben‹<br />

einsetzen, auch wenn er Religion und Christentum miteinander<br />

identifizieren kann. Das Zitierte steht im ersten Kapitel der<br />

Dogmatik unter der Überschrift: »Das Wesen der Religion und<br />

der Erweis <strong>des</strong> Christentums als der absoluten Religion« (15–222).<br />

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Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 27<br />

1. Von der Liberalen zur Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

Intentionen. [...] Damit sind wir vom allgemeinen Religionsbegriff<br />

auf die konkrete Religionsform zurückgewiesen,<br />

d. h. für uns auf den Begriff der Kirche« (84). Bonhoeffer<br />

thetisch: »Nur aus dem Offenbarungsbegriff kommt man<br />

zum christlichen Kirchenbegriff« (84). Nicht also vom Religionsbegriff<br />

her – so können wir ergänzen. Die Entgegensetzung<br />

von Offenbarung und Religion wird am Kirchenbegriff<br />

durchgespielt:<br />

»Nicht eine neue Religion wirbt um ihre Anhänger [...], sondern Gott<br />

hat die Wirklichkeit der Kirche, der begnadigten Menschheit in<br />

Jesus Christus gesetzt. Nicht Religion, sondern Offenbarung, nicht<br />

Religionsgemeinschaft, sondern Kirche. Das bedeutet die Wirklichkeit<br />

Jesu Christi. Dennoch besteht ein notwendiger Zusammenhang<br />

zwischen Offenbarung und Religion wie zwischen Religionsgemeinschaft<br />

und Kirche. Das wird heute oft verkannt« (97).<br />

Mit der Entgegensetzung von Religionsgemeinschaft und<br />

Kirche hat sich Bonhoeffer offenbar gegen E. Troeltsch abgegrenzt.11<br />

Neben der bekannten Gegenüberstellung von<br />

Religion und Offenbarung tritt nun unvermittelt der Gedanke<br />

eines Zusammenhangs. Entgegensetzung und Zusammenhang<br />

von Religion und Offenbarung können auf<br />

dem Hintergrund von K. Barth einerseits12 und A. Ritschl<br />

andererseits interpretiert werden.<br />

Diese Betrachtung nimmt über 200 Seiten ein! Bonhoeffer wird<br />

davon nicht unbeeinflußt geblieben sein.<br />

11) E. TROELTSCH, Soziallehren, 58 f., unternimmt in der Darstellung<br />

<strong>des</strong> paulinischen Kirchenverständnisses eine Gleichsetzung von<br />

»selbständiger Religionsgemeinschaft« und »Kultgemeinde« (59).<br />

»Die Kultgemeinde ist der Leib <strong>des</strong> Christus, in den man durch die<br />

Taufe eingepflanzt wird und durch den man im Herrenmahl<br />

gespeist und getränkt wird« (ibid).<br />

12) J. v. SOOSTEN (DBW 1, 262 Anm. 71) verweist auf: K. BARTH, Der<br />

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Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 28<br />

A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

In K. Barths ›Römerbrief‹ 13 findet sich besonders im 7. Kapitel, »Die<br />

Freiheit« (211 ff.), die Entgegensetzung von Offenbarung und Religion.<br />

»Die Grenze der Religion« (211 ff.) ist nach Barth mit Christus<br />

gesetzt. »Christus ist <strong>des</strong> Gesetzes Ende, die Grenze der Religion«<br />

(220). »Der Sinn der Religion« (222 f.) ist es, den Menschen vor seine<br />

Krisis zu stellen, »und je stärker diese Krisis sich geltend macht,<br />

<strong>des</strong>to deutlicher ist es, daß wir es bei dem betreffenden Phänomen<br />

tatsächlich mit bewußter oder unbewußter Religion zu tun haben«<br />

(225). In der Religion wird »die Sünde zur anschaulichen Gegebenheit«<br />

(228), der die »Freiheit Gottes« (236) gegenübersteht. »Die Wirklichkeit<br />

der Religion ist Kampf und Ärgernis, Sünde und Tod, Teufel<br />

und Hölle« (241). In der Wirklichkeit der Religion soll »der religiöse<br />

Mensch mit seinem eigentümlichen Sein und Haben [...] selbst zu<br />

Worte kommen – Religionspsychologie!« (240); sie ist »die Entdeckung<br />

seiner Unerlöstheit« (241). Der Religionsbegriff <strong>des</strong> frühen K.<br />

Barth ist an der paulinischen Gesetzestheologie orientiert und folgt<br />

einem dualistischen Sprachgebrauch. So kann K. Barth sagen: »Religion<br />

ist ausbrechender Dualismus« (251). Neben der Gleichung:<br />

Gesetz ist Religion und Evangelium ist Gnade, findet Barth Anschluß<br />

an die paulinische Dialektik: So wenig Gesetz gleich Sünde<br />

ist, so wenig ist Religion gleich Sünde: »Die Sünde (ist) nicht identisch<br />

mit der religiösen Möglichkeit« (223). Barth entfaltet eine Dialektik<br />

von Sünde und Religion, nicht von Gnade und Religion. 14 Dieses<br />

Verhältnis bleibt antithetisch: Religion »ist ein Unglück« (241),<br />

sie ist »Negative« der Gnade (212). Die im 7. Kapitel bezeugte »Dia-<br />

Römerbrief, 211 ff.314 ff.346 ff.375 ff. Diese Seitenangaben entsprechen<br />

den Kapiteln 7 und 9–11 <strong>des</strong> Kommentars.<br />

13) K. BARTH, Der Römerbrief (1922), Zürich (unveränd. Abdruck) 13.<br />

Aufl. 1984.<br />

14) <strong>Eine</strong> solche Dialektik von Gnade und Religion vermutet B.-E.<br />

BENKTSON, Christus und die Religion, 1967, 59; vgl. gegen B.-E.<br />

BENKTSON schon H.-J. KRAUS, Theologische Religionskritik, 1982,<br />

37, der den ›Römerbief‹ alternativ unter der Fragestellung: »Glaube<br />

oder Religion« thematisiert (ibid 7).<br />

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Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 29<br />

1. Von der Liberalen zur Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

lektik« (219) ist für K. Barth eine Dialektik von Religion und Sünde,<br />

die allein von der Gnade her bestimmt wird. Von der Gnade aus wird<br />

die »Sünde zur anschaulichen Gegebenheit« (228). Die Dialektik von<br />

Sünde und Gesetz (bei Paulus), von Sünde und Religion (bei Barth)<br />

wird ausschließlich von der Gnade her bestimmt und ist keine Dialektik<br />

von Religion und Gnade. Im ›Römerbrief‹ von 1922 nimmt K.<br />

Barth Grundeinsichten von 1920 wieder auf und bereitet das Verständnis<br />

von Offenbarung als ›Aufhebung von Religion‹ in KD I/2<br />

von 1938 vor, wenn er schreibt: »Jesus Christus aber ist der neue<br />

Mensch jenseits <strong>des</strong> menschenmöglichen Menschen, jenseits vor<br />

allem <strong>des</strong> frommen Menschen. Er ist die Aufhebung dieses Menschen<br />

in seiner Totalität« (252).<br />

Wenn Bonhoeffer Offenbarung und Religion in ›Sanctorum<br />

Communio‹ entgegensetzt, lehnt er sich offenbar dem<br />

Sprachgebrauch <strong>des</strong> ›Römerbriefs‹ an. In ›Sanctorum Communio‹<br />

heißt es aber auch, daß ein »notwendiger Zusammenhang<br />

zwischen Offenbarung und Religion« bestehe:<br />

»Als Bahnbrecher, Vorbild ist Jesus auch Gründer einer Religionsgemeinschaft«<br />

(Sanctorum Communio, 97). »Jede gemeinsame<br />

Religion ist gestiftet« – So formuliert A. Ritschl.15<br />

Albrecht Ritschl kennt »Merkmale, in welchen das Christenthum<br />

sich als Religion kund giebt« (188). Zu diesen Merkmalen gehören<br />

neben anderen der Ganzheits- und Gemeinschaftscharakter der<br />

christlichen Religion. »Die Behauptung, daß die religiöse Weltanschauung<br />

auf die Vorstellung von einem Ganzen angelegt ist,<br />

bewährt sich allerdings am Christenthum« (190). »Der gemeinschaftliche<br />

Cultus hat ein näheres Verhältniß zur Offenbarung, welche<br />

den Organisationspunkt jeder zusammenhängenden religiösen<br />

Weltanschauung bildet« (192). Für die christliche Religion heißt das:<br />

»Im Christenthum ist die Offenbarung in dem Sohne Gottes der<br />

feste Punkt für alle Erkenntniß und alles religiöse Handeln« (192).<br />

15) A. RITSCHL, Rechtfertigung und Versöhnung III, 1888, 508.<br />

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A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

Das gilt nach A. Ritschl auch für die Kirche, 16 die hier unter dem<br />

Stichwort vom gemeinschaftlichen Kult steht. »In dieser Bedeutung<br />

der Offenbarung für den gemeinschaftlichen Cultus ist auch eine<br />

unumgängliche Bedingung für das Verständniß <strong>des</strong> Christenthums<br />

zu erkennen. Die Person seines Stifters ist nicht nur der Schlüssel für<br />

die christliche Weltanschauung und der Maßstab für die Selbstbeurtheilung<br />

und das sittliche Streben der Christen, sondern auch<br />

der Maßstab dafür, wie das Gebet beschaffen sein muß, in welchem<br />

die individuelle wie die gemeinsame Verehrung Gottes besteht«<br />

(193).<br />

Ein Verhältnis von Offenbarung und Religion, das nicht<br />

zuerst durch eine Entgegensetzung bestimmt ist, kann<br />

Bonhoeffer durchaus A. Ritschl entnommen haben.17 Von<br />

Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch der vorgetragene<br />

Ganzheitscharakter, den A. Ritschl der Religion<br />

beimißt.18 Im Anschluß an das oben Zitierte heißt es: »Zugleich<br />

hängt von der Anerkennung der Offenbarung Gottes<br />

in Christus der Vorzug <strong>des</strong> Christenthums ab, daß seine<br />

Weltanschauung ein geschlossenes Ganzes und sein <strong>Lebens</strong>ziel<br />

dieses ist, daß man als Christ ein Ganzes, ein geistiger<br />

Charakter über der Welt wird« (193).<br />

16) Vgl. A. RITSCHL, op. cit. 105, 124, 274.<br />

17) Bonhoeffer rekurriert an anderen Stellen von ›Sanctorum Communio‹<br />

grundsätzlich positiv auf A. Ritschl; vgl. DBW 1, 88, Anm. 10;<br />

105, Anm. 24; 150, Anm. 92; 166, Anm. 110. An diesen Stellen wird<br />

A. Ritschl als Beleg angeführt; an anderer Stelle stützt sich Bonhoeffer<br />

auf A. Ritschl gegen F. Schleiermacher, vgl. 112, Anm. 32.<br />

Bonhoeffer kann aber nicht A. Ritschls Unterscheidung von Reich<br />

Gottes und Kirche folgen; diese sei »theologisch wie soziologisch<br />

unhaltbar« (147, Anm. 85; vgl. auch 198).<br />

18) Wenn Bonhoeffer später Religion unter dem Aspekt <strong>des</strong> Partiellen<br />

kritisiert, kann er schwerlich dabei an den Religionsbegriff A.<br />

Ritschls gedacht haben!<br />

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1. Von der Liberalen zur Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

Liberales und dialektisch-theologisches Religionsverständnis<br />

scheinen in ›Sanctorum Communio‹ noch unverbunden<br />

nebeneinander zu stehen. Religionskritik ist angelegt,<br />

wird jedoch nicht durchgeführt. Hinsichtlich der<br />

Unterscheidung von Reich Gottes und Reich Christi folgt<br />

Bonhoeffer dann explizit K. Barth (nicht R. Seeberg, der diese<br />

Unterscheidung nicht kennt):<br />

»Kirche ist identisch mit Reich Christi, dieses aber das in der<br />

Geschichte seit Christus verwirklichte Reich Gottes« (98). 19<br />

Folgen wir weiter dem Text von ›Sanctorum Communio‹, so<br />

fällt die Kritik an einer individualistischen Engführung <strong>des</strong><br />

Kirchenbegriffs auf. Gottesgemeinschaft gibt es nach Bonhoeffer<br />

nur in der Kirche.<br />

»An dieser Tatsache scheitert jeder individualistische Kirchenbegriff.<br />

Zwischen Einzelnem und Kirche besteht folgen<strong>des</strong> verschränkte<br />

Verhältnis: Heiliger Geist wirkt nur in der Kirche als der<br />

Gemeinde der Heiligen; so muß jeder, der vom Geist ergriffen wird,<br />

schon in der Gemeinde stehen; andererseits steht niemand in der<br />

Gemeinde, der noch nicht vom Geist ergriffen wäre; woraus denn<br />

folgt, daß der Geist die in der in Christus gesetzten Gemeinde Erwählten<br />

in demselben Akt, in dem er sie bewegt, in die aktualisierte Gemeinde<br />

hineinführt. Eintritt in die Gemeinde begründet den Glauben,<br />

wie dieser jenen begründet« (101).<br />

Bonhoeffer merkt an: »Diesen Zusammenhang hat z. B.<br />

Schleiermacher nicht erkannt« (101, Anm. 18). Weiter zeigt<br />

er anhand von Schleiermachers ›Glaubenslehre‹ und den<br />

›Reden über Religion‹:<br />

19) In der Anmerkung zu diesem Satz schreibt Bonhoeffer, daß der<br />

Leser dazu die »treffenden Ausführungen bei Karl Barth, ›Auferstehung<br />

der Toten‹ 1924, 97 f.« vergleichen solle, ›Sanctorum Communio‹<br />

(DBW 1) 98, Anm. 15.<br />

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A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

»Der Grund für die religiöse Gemeinschaftsbildung liegt in dem<br />

Mitteilungsbedürfnis der Einzelnen. Die Kirche ist Befriedigung<br />

eines Bedürfnisses, ist individualistisch konstruiert. In dieselbe<br />

Richtung weist das berühmte Wort der Glaubenslehre, daß der Protestantismus<br />

das Verhältnis der Einzelnen abhängig mache von seinem<br />

Verhältnis zu Christus (Glaubenslehre 24)« (102).<br />

Bonhoeffer versteht F. Schleiermachers Ekklesiologie individualistisch<br />

und kritisiert offenbar nicht unmittelbar seinen<br />

Religionsbegriff. Die Kritik an F. Schleiermacher richtet<br />

sich vielmehr gegen seinen Kirchenbegriff und gegen<br />

den im Idealismus fehlenden Personen- und Menschheitsbegriff.<br />

Letzterer sei bei F. Schleiermacher biologisch<br />

verkürzt. »Sachlich ist die biologische Fassung <strong>des</strong> Menschheitsbegriffs<br />

wie die anthropologische <strong>des</strong> Pneumagedankens<br />

von uns zurückgewiesen«20.<br />

In dem Abschnitt über die »Geistgemeinschaft« (106 ff.)<br />

können wir wieder Spuren K. Barths aufnehmen. In der<br />

These: »Die christliche Liebe ist keine menschliche Möglichkeit«<br />

(108) begegnet K. Barths Terminologie. Nach dem<br />

›Römerbrief‹ ist »die Liebe nur eine ›relative‹ menschliche<br />

Möglichkeit«.21 Auf diese sprachliche Anlehnung folgt eine<br />

explizite Auseinandersetzung mit K. Barth zum Thema<br />

›Nächstenliebe‹.22 Nach Bonhoeffer ist der Nächste »an sich<br />

20) Sanctorum Communio (DBW 1) 111, Anm. 29; zum Fehlen eines<br />

konkreten Personenbegriffs vgl. op. cit. 130, Anm. 68.<br />

21) J. v. SOOSTEN, DBW 1, 265, Anm. 117; hier auch der Hinweis auf<br />

den Zusammenhang von ›Sanctorum Communio‹ und ›Römerbrief‹,<br />

435 ff.<br />

22) Bonhoeffer geht beim Thema ›Nächstenliebe‹ über R. SEEBERG<br />

hinaus, der in seiner Dogmatik (Bd. II, 524 ff.) in der Bestimmung<br />

<strong>des</strong> wechselseitigen Verhältnisses von Glaube und Liebe innehält.<br />

»Im Glauben werden die Christen geheiligt, in der Liebe heiligen<br />

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1. Von der Liberalen zur Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

unendlich wichtig« und nicht der »<strong>Eine</strong> im anderen« (110,<br />

Anm. 28)23. Er folgt lutherischer Tradition gegen das Extra<br />

Calvinisticum, in <strong>des</strong>sen Tradition er K. Barth sieht.24<br />

In seinen Ausführungen über die »Geisteinheit« (128 ff.)<br />

kann der Promovend Luther und Barth auch nebeneinander<br />

gelten lassen. Auf das Lutherzitat, nach dem in Christus<br />

»alle Eins« sind, »ein kuche«, schreibt Bonhoeffer unter<br />

Berufung auf den Wort-Gottes-Theologen: »Die Einheit<br />

beruht darauf, daß Christus ›der <strong>Eine</strong> ist jenseits je<strong>des</strong><br />

sie sich selbst vermöge der Impulse, die sie im Glauben empfangen«<br />

(528). <strong>Eine</strong> explizite Auseinandersetzung mit dem Thema<br />

›Nächstenliebe‹ findet sich auch nicht im ethischen Teil der Dogmatik<br />

(vgl. § 33 ff. im Bd. II, 229 ff.; vgl. ebenfalls den Hinweis auf<br />

die ›Ethik‹, 527).<br />

23) Gegen den ›Römerbrief‹, den er in Klammern zitiert, schreibt Bonhoeffer<br />

DBW 1, 110, Anm. 28 kritisch, »daß die Liebe wirklich den<br />

anderen liebt, nicht den <strong>Eine</strong>n im anderen – den es vielleicht gar<br />

nicht gibt (doppelte Prä<strong>des</strong>tination! Barth, 437) – daß gerade diese<br />

Liebe zum anderen als dem anderen ›Gott verherrlichen‹ soll (438).<br />

Woher nimmt Barth das Recht zu sagen, der andere sei »an sich<br />

unendlich gleichgültig« (437), wenn Gott befiehlt, gerade ihn zu<br />

lieben. Gott hat den ›Nächsten an sich‹ unendlich wichtig gemacht<br />

und ein anderes ›an sich <strong>des</strong> Nächsten‹ gibt es für uns nicht«. Im<br />

weiteren folgt Bonhoeffer dann gegen K. Barth der lutherischen<br />

Deutung von Nächstenliebe durch R. Bultmann, vgl. DBW 1, 111,<br />

Anm. 28.<br />

24) Zum Verhältnis Barth-Bonhoeffer im Lichte reformierter und<br />

lutherischer Tradition vgl. A. PANGRITZ, Karl Barth in der <strong>Theologie</strong><br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong> – eine notwendige Klarstellung (= Karl<br />

Barth), 1989, 31 ff. A. Pangritz sieht den Einfluß K. Barths auf Bonhoeffer<br />

bereits mit »den Seminararbeiten der Jahre 1925 und 1926«<br />

einsetzen (25) und bis in die Tegeler Zelle hinein wesentlich<br />

bestimmend. Das enge theologische Verhältnis von K. Barth zu<br />

Bonhoeffer werde auch durch ›Sanctorum Communio‹ und ›Akt<br />

33


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 34<br />

A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

anderen‹ (Barth)« (134). Im ›Römerbrief‹ heißt es: » [...] sie ist<br />

communio, [...] sie ist – der <strong>Eine</strong> jenseits je<strong>des</strong> Andern«25.<br />

Insgesamt wird auch der Promovend Bonhoeffer schwerlich<br />

als Barthianer zu bezeichnen sein.26 Am Beispiel der<br />

Religionskritik zeigt sich, wie sehr der dialektisch-theologische<br />

Einfluß noch neben dem der Liberalen <strong>Theologie</strong><br />

steht. Der junge Bonhoeffer läßt »sich einer bestimmten<br />

Schule nicht einfach zurechnen. K. Holl, R. Seeberg und K.<br />

Barth haben ihn beeinflußt, von allen dreien hat er Entscheiden<strong>des</strong><br />

übernommen, allen dreien gegenüber wahrte<br />

er Selbständigkeit <strong>des</strong> theologischen Fragens und Suchens«27.<br />

c) Vikariat<br />

In einem Gemeindevortrag zum Thema »Jesus Christus<br />

und vom Wesen <strong>des</strong> Christentums« sagt Bonhoeffer:<br />

»Ethik und Religion und Kirche liegen in der Richtung <strong>des</strong> Menschen<br />

zu Gott, Christus aber spricht allein, ganz allein von der Rich-<br />

und Sein‹ nicht getrübt (31 f.). Die reservierte Haltung <strong>Bonhoeffers</strong><br />

gegenüber K. Barth in ›Sanctorum Communio‹ interpretiert A.<br />

Pangritz vor dem Hintergrund der Berliner Lutherforschung: K.<br />

Holl (32). Bonhoeffer stellt sich als Lutheraner gegen das Extra<br />

Calvinisticum, eine Haltung, die ihre Zuspitzung dann mit ›Akt<br />

und Sein‹ erfährt: »Gott ist frei nicht vom Menschen, sondern für<br />

den Menschen« (DBW 2, 85). A. Pangritz kommentiert: »Ohne Zweifel:<br />

Hier protestiert ein Lutheraner gegen das reformierte ›non<br />

capax‹« (35).<br />

25) K. BARTH, Der Römerbrief, 428. Bonhoeffer hat offenbar aus dem<br />

Gedächtnis zitiert.<br />

26) Auch die Rezeption von K. BARTHs ›Dogmatik im Entwurf‹ (DBW<br />

1, 172 ff.) verändert dieses Urteil nicht.<br />

27) H. PFEIFER, in: DBW 9, 2.<br />

34


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 35<br />

1. Von der Liberalen zur Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

tung Gottes zum Menschen, nicht vom menschlichen Weg zu Gott,<br />

sondern von Gottes Weg zum Menschen«28.<br />

Dieser Gedanke wird am Ende <strong>des</strong> Vortrags wiederaufgenommen,<br />

wenn Bonhoeffer im Gegensatz zur »Religion«<br />

ausführt:<br />

»Nein, die christliche Idee ist der Weg Gottes zu den Menschen und<br />

als deren sichtbare Vergegenständlichung: das Kreuz. [...] Gott<br />

kommt zum Menschen, der nichts hat, als einen Raum für Gott, –<br />

und dieser Hohlraum, diese Leere im Menschen heißt in der christlichen<br />

Sprache: Glaube.«29<br />

Die Rede vom Hohlraum ist aus rezeptionsgeschichtlichen<br />

Gründen äußerst interessant. Zu Römer 2 schreibt nämlich<br />

K. Barth im ›Römerbrief‹:<br />

»Auch der Glaube, sofern er in irgendeinem Sinn Hohlraum sein<br />

will, ist Unglaube«.30<br />

Bonhoeffer folgt offenbar nicht Barth. Denn dieser bestreitet<br />

gerade die Möglichkeit eines ›Raumes für Gott im Menschen‹.<br />

Hier scheint Bonhoeffer noch der Lehre vom ›religiösen<br />

Apriori‹ zu folgen.<br />

In den Predigten aus der Vikariatszeit finden sich wieder<br />

theologische Anlehnungen an K. Barth. So predigt der<br />

Vikar über Röm 11,6 von der Bedeutung <strong>des</strong> einen, »nämlich,<br />

daß Gott Gott ist und daß Gnade Gnade ist«31. Die the-<br />

28) DBW 10, 316.<br />

29) Zitate op. cit. 319.<br />

30) K. BARTH, Der Römerbrief (1922), 32. Zur Wendung ›Religion als<br />

Unglaube‹ vgl. dann K. Barths Ausführungen in KD I/2, 324 ff.<br />

31) DBW 10, 457. Bonhoeffer mag zuvor Barths Römerbriefkommentar<br />

zu dieser Stelle gelesen haben, in dem das wiederholte »Gnade<br />

allein« auffällig ist (vgl. Römerbrief, 381). Die Herausgeber von<br />

35


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 36<br />

A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

ologischen Anlehnungen an K. Barth tragen in dieser Predigt<br />

auch einen religionskritischen Akzent:<br />

»Nicht Religion, sondern Offenbarung, Gnade, Liebe, nicht Weg zu<br />

Gott, sondern Weg Gottes zum Menschen, das ist die Summe <strong>des</strong><br />

Christentums« (458).<br />

Die Wendung ›Nicht Religion, sondern Offenbarung‹, die<br />

›Sanctorum Communio‹ entlehnt ist, wird am Ende der Predigt,<br />

gleichsam als Resümee, noch einmal wiederholt:<br />

»Nicht Religion, sondern Offenbarung und Gnade: das war das<br />

erlösende Wort und ihm hat sich die Welt erschlossen« (460).<br />

Doch in ähnlicher Weise, wie <strong>Bonhoeffers</strong> Dissertation nicht<br />

allein durch diese religionskritische Entgegensetzung von<br />

Offenbarung und Religion bestimmt ist, lesen wir auch in<br />

dieser Predigt differenziertere Aussagen über Religion. »Religion<br />

wie Sittlichkeit sind die schwerste Gefahr für die Erkenntnis<br />

der göttlichen Gnade; denn sie tragen den Keim in<br />

sich, selbst zu Gott den Weg finden zu wollen« (459). Hier ist<br />

von ›Schwere‹ und nicht von ›Unmöglichkeit‹ die Rede, von<br />

einem ›Keim‹ und nicht von einer ›fundamentalen Verfehlung‹.<br />

Deutliche Anlehnungen an K. Barth finden sich in<br />

der Predigt über 2. Kor. 12,9. Parallel zum ›Römerbrief‹ formuliert<br />

Bonhoeffer: »Religion ist das Unglück«.32 Bei K.<br />

Barth hieß es: Religion »ist ein Unglück«33.<br />

Bei Bonhoeffer begegnet weiter der Satz: »Allem was in<br />

der Welt geschieht, tritt gegenüber das Wort von der Gna-<br />

DBW 10 beobachten einen »starke(n) Anklang« (457, Anm. 7) an die<br />

frühe Aufsatzsammlung Barths ›Das Wort Gottes und die <strong>Theologie</strong>‹<br />

und verweisen dort auf die Seiten 8 ff. und 24–31.<br />

32) DBW 10, 509.<br />

33) K. BARTH, Der Römerbrief (1922), 241.<br />

36


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 37<br />

2. Unter dem Einfluss der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

de«34. Bei K. Barth hieß es: Religion ist das »Negative« der<br />

Gnade.35<br />

d) Ergebnis<br />

Im Rückblick auf die frühen Stadien seiner theologischen<br />

Entwicklung ist zu beobachten, daß ein liberales Verständnis<br />

von Religion, wie es sich in studentischen Arbeiten<br />

nachweisen läßt unter dem Einfluß der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

zunehmend zurücktritt und einem kritischen Verständnis<br />

zu weichen beginnt; auf der anderen Seite bleibt er<br />

dem liberalen Erbe verbunden: <strong>Eine</strong> kulturprotestantische<br />

Religionsauffassung ist in den erhaltenen Predigten und<br />

Vorträgen aus Barcelona noch belegt.<br />

2. Unter dem Einfluß der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

a) Habilitation<br />

»Für die neue Arbeit plant der vor einem halben Jahr promovierte<br />

Licentiat der <strong>Theologie</strong> keine Kompromisse: nicht<br />

historisch, sondern systematisch, nicht psychologisch, sondern<br />

theologisch soll sie werden. Seebergs psychologischer<br />

Anknüpfung der <strong>Theologie</strong> an ein religiöses Apriori hatte er<br />

schon früh widersprochen«36. Im ersten, darstellenden Teil<br />

von ›Akt und Sein‹ werden Kant und der Deutsche Idealismus<br />

schärfer unterschieden als in ›Sanctorum Communio‹.37<br />

Bonhoeffer schreibt über Hegel:<br />

34) DBW 10, 509.<br />

35) K. BARTH, Der Römerbrief (1922), 212.<br />

36) H.-R. REUTER, in: DBW 2, 7.<br />

37) Vgl. H.-R. REUTER, DBW 2, 27, Anm. 1.<br />

37


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 38<br />

A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

»Durch die lebendige Reflexion auf sich selbst versteht sich das Ich<br />

aus sich selbst. Es verhält sich zu sich und daher zu Gott in der Reflexion<br />

unmittelbar. Darum ist Religion = Offenbarung« (46).<br />

J. H. Burtness38 urteilt in diesem Zusammenhang, daß »die<br />

Verwerfung <strong>des</strong> philosophischen Idealismus« Bonhoeffer<br />

und K. Barth gemeinsam seien. Bei genauerer Betrachtung<br />

zeigt sich, daß diese Verwerfung nicht nur Bonhoeffer und<br />

K. Barth gemeinsam ist, sondern auch Bonhoeffer und R.<br />

Seeberg. Neben K. Barth kann der Habilitand auch seinen<br />

Doktorvater »mit weit mehr Recht als kantisch-transzendental,<br />

denn als idealistisch [...] bezeichnen« (49). Für R. Seeberg<br />

gilt nämlich:<br />

»Gott ist die überweltliche, bewußtseinstranszendente Realität, der<br />

Schöpfer und Herr« (51).<br />

Doch wie wird Gott dem Menschen offenbar? »Hier greift<br />

nun Seebergs Lehre vom religiösen Apriori ein; im Menschen<br />

ist die ›drängende Fähigkeit‹, ›reinen Geistes unmittelbar<br />

inne zu werden‹, gesetzt. Danach vermag der Mensch<br />

Gott in sich aufzunehmen« (51):<br />

»Das religiöse Apriori soll dem göttlichen Willen grundsätzlich<br />

offen sein, es soll im Menschen eine Form geben, in die der göttliche<br />

Inhalt auch der Offenbarung einströmen kann. M. a. W. Offenbarung<br />

muß Religion werden, und dies ist ihr Wesen. Offenbarung ist<br />

Religion. Das aber ist eine Wendung vom reinen Transzendentalismus<br />

zum Idealismus« (51).<br />

Bonhoeffer beobachtet offenbar eine Inkonsequenz im<br />

philosophischen Ansatz seines Lehrers, die er am Begriff <strong>des</strong><br />

›religiösen Apriori‹ festmachen kann. Die Rede vom religiö-<br />

38) J. H. BURTNESS, Als ob es Gott nicht gäbe, in: Internationales Bonhoeffer-Forum<br />

Bd. 6, München 1983, 167–183, Zitat 168.<br />

38


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 39<br />

2. Unter dem Einfluss der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

sen Apriori ist für Bonhoeffer an dieser Stelle verbunden<br />

mit der Gleichung von Offenbarung und Religion und darin<br />

mit der Identitätsphilosophie <strong>des</strong> Deutschen Idealismus.39<br />

Im weiteren folgt der Seeberg-Schüler der Luther-<br />

Interpretation seines Berliner Lehrers – auch wenn das<br />

nicht repräsentativ für das Ganze von ›Akt und Sein‹ ist:40<br />

»Der natürliche Mensch hat ein cor curvum in se. Auch die natürliche<br />

Religion bleibt Fleisch und strebt zum Fleisch. Soll die Offenbarung<br />

an den Menschen herankommen, so muß er völlig umgewandelt<br />

werden. Es muß in ihm der Glaube selbst erschaffen<br />

werden. Es gibt hier kein dem Vernehmen vorgeordnetes Vernehmenkönnen.<br />

Das sind Gedanken, die Seeberg selbst ausspricht und<br />

an Luther nachgewiesen hat. 41 Der Glaube steht als gottgewirkter<br />

im Gegensatz zu aller natürlichen Religiosität, für die das von Seeberg<br />

aufgewiesen religiöse Apriori gewiß bestehen bleibt« (52).<br />

<strong>Eine</strong> offenbarungstheologische Religionskritik, wie sie im<br />

Hauptteil unter dem Eindruck der Offenbarungslehre K.<br />

Barths radikalisiert wird, ist also (lutherisch!) von R. Seeberg<br />

her angelegt. Für Bonhoeffer scheint R. Seeberg nicht<br />

konsequent:<br />

39) Die Rede vom religiösen Apriori von E. Troeltsch ist Bonhoeffer<br />

offenbar durch E. Seeberg vermittelt worden. Vgl. zur neueren<br />

Diskussion F. W. VEAUTHIER, Das religiöse Apriori: Zur Ambivalenz<br />

von E. Troeltschs Analyse <strong>des</strong> Vernunftelementes in der<br />

Religion, in: KantSt 78, 1987, 42–63.<br />

40) H. R. REUTER kommentiert, DBW 2, 174: »Zwar hat er Grundpositionen<br />

seines systematischen Lehrers Reinhold Seeberg so in den<br />

Duktus seiner Gedankenführung eingebaut, daß dieser nicht das<br />

Gefühl haben mußte, gegenüber den Akteuren aus Münster, Marburg<br />

und Jena gänzlich ins Abseits geraten zu sein (49 ff.97 ff.), er<br />

radikalisiert Seebergs und Lütgerts halbe Idealismuskritik«.<br />

41) Bonhoeffer nimmt hier Bezug auf R. SEEBERG, Dogmatik II, 506 ff.<br />

(vgl. Akt und Sein, 52, Anm. 36).<br />

39


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 40<br />

A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

»Offenbarung und Glaube sind nach Luther ans konkrete, gepredigte<br />

Wort gebunden, und das Wort ist der Mittler der Berührung von<br />

Gott und Mensch und läßt eine andere ›Unmittelbarkeit‹ nicht zu.<br />

Dann aber läßt sich der Begriff <strong>des</strong> Apriori nur noch so fassen, daß<br />

zum formalen Verständnis dieses Wortes gewisse geistige Formen<br />

vorausgesetzt werden, wobei freilich der Sinn eines spezifisch religiösen<br />

Apriori entfällt. Alles, was sich auf die persönliche Aneignung<br />

der Christustatsache bezieht, ist nicht apriorisch, sondern kontingentes<br />

Tun Gottes am Menschen« (52).<br />

Gott und Mensch sind nicht über die Annahme eines formalen<br />

Apriori zusammenzubringen, sondern durch das<br />

Wort. Bonhoeffer beobachtet eine Spannung in R. Seebergs<br />

Luther-Interpretation und meint diese zugunsten der Christologie<br />

ausgleichen zu können, indem er die Rede vom<br />

religiösen Apriori ausklammert. Sie sei letztlich idealistisch<br />

und von Luther her unnötig. Neben R. Seeberg wird im<br />

Zusammenhang mit der Religionskritik K. Barth genannt.<br />

Bonhoeffer rezipiert neben dem ›Römerbrief‹ (49.75) im<br />

Hauptteil von ›Akt und Sein‹ wesentlich die ›Dogmatik im<br />

Entwurf‹42 (vgl. 77–81.87.91 f.94 f.130). K. Barth wird als Akt-<br />

Theologe vorgestellt und seine Offenbarungslehre breit<br />

dargestellt (77–81). Was Bonhoeffer an R. Seeberg fehlt, findet<br />

er bei Barth: Konsequenz im Transzendentalismus.<br />

»Gott offenbart sich nur in von ihm freigesetzten Akten«<br />

(77). Unter dem Eindruck K. Barths kommt Bonhoeffer unter<br />

der Überschrift ›Erkenntnis der Offenbarung‹ auch auf<br />

das Verhältnis von Offenbarungstheologie und Religion zu<br />

sprechen:<br />

42) KARL BARTH, Gesamtausgabe II, Akademische Werke 1927, Die<br />

Christliche Dogmatik im Entwurf 1. Band: Die Lehre vom Wort<br />

Gottes, Zürich 1982.<br />

40


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 41<br />

2. Unter dem Einfluss der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

»Hier tritt nun der tiefe Unterschied zwischen echtem Transzendentalismus<br />

und Idealismus zutage. War bei diesem (wie gezeigt)<br />

Offenbarung wesenhaft Religion als Konsequenz der Identifizierung<br />

von Ich und Sein, so tritt in Verfolg <strong>des</strong> transzendentalen<br />

Ansatzes bei<strong>des</strong> schroff auseinander. Gott ›ist‹ zwar nur im Glauben,<br />

aber Subjekt <strong>des</strong> Glaubens ist Er selbst. Darum ist Glaube etwas wesentlich<br />

anderes als Religion« (88).<br />

Religionskritik ist hier Kritik am Religionsverständnis <strong>des</strong><br />

Idealismus und erwächst aus der Anwendung <strong>des</strong> Phänomenalismus<br />

I. Kants, wie er am konsequentesten durch K. Barth<br />

in der <strong>Theologie</strong> vertreten wurde. Vor diesem Hintergrund<br />

ist auch die Aussage <strong>Bonhoeffers</strong> vom »theologische(n)<br />

Recht« zu verstehen, »mit dem K. Barth F. Schleiermacher die<br />

›große Verwechslung‹ von Religion und Gnade zum Vorwurf<br />

macht [...]« (153). Bonhoeffer bezieht sich wieder auf die ›Dogmatik<br />

im Entwurf‹,43 in <strong>des</strong>sen § 18 »Die Gnade und die Religion«<br />

(396 ff.) Karl Barth unter der Überschrift »Die große<br />

Verwechslung (Schleiermacher)« (402 f.) schreibt:<br />

»Der Schleiermachersche Mensch steht zum vornherein und immer<br />

vor Gott. [...] Wenn das Religion heißt, dann spielt das in einer anderen<br />

Welt als die Offenbarung. Das hat mit ihrer subjektiven Möglichkeit,<br />

mit der Gnade, mit der Ausgießung <strong>des</strong> heiligen Geistes<br />

nichts zu tun« (404). »Der Schleiermachersche homo religiosus hat –<br />

nichts ist vielleicht bezeichnender für ihn – kein Gegenüber« (405).<br />

K. Barth bleibt nicht bei einer Kritik von Religion stehen,<br />

wenn er unter »3. Gott und die Religion« (413 f.) fortfährt:<br />

»Kraft der Gnade Gottes, in der konkreten Wirklichkeit der Offenbarung,<br />

über die wir freilich keine Verfügung haben, die aber auf<br />

Grund göttlicher Verfügung auch für uns Wirklichkeit sein kann,<br />

43) Die folgenden Seitenzahlen beziehen sich auf die genannte Karl<br />

Barth Gesamtausgabe.<br />

41


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 42<br />

A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

gibt es eine Annahme der Religion, eine Qualifizierung der menschlichen<br />

Frömmigkeit als Glaube und Gehorsam, eine Anrechnung<br />

der vermeintlichen als wirkliche Ehrfurcht« (416).<br />

Im Lichte der Offenbarung kann nach K. Barth also Religion<br />

auch ›wahre Religion‹ werden, wie er in KD I/2 (356 ff.) ausführen<br />

wird. Bonhoeffer folgt auch in dieser Deutung der<br />

›Dogmatik im Entwurf‹, wenn er schreibt:<br />

»Es muß deutlich gesagt werden, daß in der Gemeinde Christi Glaube<br />

in Religion Gestalt annimmt und daher Religion Glaube heißt,<br />

daß ich, gesehen auf Christus, getrost sagen darf und muß: ich glaube,<br />

um im Blick auf mich freilich hinzufügen zu müssen: hilf meinem<br />

Unglauben. Alles Beten, alles Suchen Gottes in seinem Wort,<br />

alles Halten an der Verheißung, alles Dringen in Gottes Gnade, alles<br />

Hoffen im Blick auf das Kreuz ist für die Reflexion ›Religion‹, ›Gläubigkeit‹,<br />

ist aber in der Gemeinde Christi, obschon immer Menschenwerk,<br />

gottgegebener Glaube, von Gott gewollt, in dem sich<br />

Gott wirklich finden läßt« (Akt und Sein [DBW 2] 153 f.).<br />

Es läßt sich eine parallele Bewegung von Barth und Bonhoeffer<br />

hinsichtlich einer Religionskritik und -würdigung<br />

beobachten, die rezeptiv auf den Wort-Gottes-Theologen<br />

zurückgeht (vgl. DBW 2, 153, Anm. 25!). Bonhoeffer folgt in<br />

›Akt und Sein‹ im Unterschied zu ›Sanctorum Communio‹<br />

nun ausschließlich dem Religionsverständnis K. Barths. Dessen<br />

Offenbarungslehre ermöglicht ihm, R. Seebergs Rede<br />

vom religiösen Apriori in Frage zu stellen und damit den<br />

Phänomenalismus Kants für die <strong>Theologie</strong> wiederzuentdecken.<br />

Die offenbarungstheologische Akzentverschiebung,<br />

daß Gott frei sei nicht vom Menschen, sondern für den Menschen<br />

ist zugunsten eines Ausgleiches Barth – Luther entstanden<br />

und vor dem Hintergrund der ekklesiologischen<br />

Thematik von ›Akt und Sein‹ zu verstehen; sie trägt nicht<br />

zum Verständnis der Religionsproblematik bei. Im Gegen-<br />

42


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 43<br />

2. Unter dem Einfluss der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

teil: Hier kann sich Bonhoeffer – wie gesehen – auf Luther<br />

(51 f.) und Barth (88.153 f.) berufen. Der Habilitationsvortrag<br />

zum Thema ›Die Frage nach dem Menschen in der gegenwärtigen<br />

Philosophie und <strong>Theologie</strong>‹44 erweitert die Kritik<br />

am Deutschen Idealismus aus ›Akt und Sein‹ um die Phänomenologie<br />

(360 f.: M. Scheler) und die Existenzphilosophie<br />

(363 f.: M. Heidegger). Bonhoeffer faßt zusammen:<br />

»Die Frage nach dem Menschen ist in der Philosophie letztlich immer<br />

so gestellt, daß die Antwort vom Menschen selbst gefunden<br />

wird, weil sie in der Frage schon beschlossen ist« (368).<br />

Was sagt die <strong>Theologie</strong> dazu?<br />

»Dies Ergebnis der philosophischen Bemühungen nimmt die <strong>Theologie</strong><br />

hin, aber sie deutet es in ihrer Weise als das Denken <strong>des</strong> cor curvum<br />

in se« (369).<br />

M. Luther aufnehmend, wendet sich Bonhoeffer der Luther-<br />

Interpretation seines Lehrers K. Holl zu, für den der transzendente<br />

Gott sich dem Menschen an einem Ort bezeugt:<br />

»Der Ort, an dem Gott sich bezeugt, muß der Ort sein, von dem aus<br />

sich der Mensch versteht und zugleich der, von dem aus die Einheit<br />

<strong>des</strong> Menschen begründet ist. Dieser Ort aber ist offenbar das Gewissen.<br />

[...] Holl hat Luthers Religion als Gewissensreligion bestimmt«<br />

(370).<br />

War K. Holl neben R. Seeberg in der Luther-Interpretation<br />

für den Studenten und Promovenden Bonhoeffer wegweisend,<br />

so trennt er sich seit ›Akt und Sein‹ von diesem Luther-<br />

Verständnis. Standen die Entwürfe K. Holls, R. Seebergs und<br />

K. Barths in ›Sanctorum Communio‹ noch unverbunden<br />

nebeneinander, so schließt sich Bonhoeffer mit ›Akt und<br />

44) DBW 10, 357–378.<br />

43


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 44<br />

A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

Sein‹ der Dialektischen <strong>Theologie</strong> und – auf philosophischer<br />

Ebene – dem Neukantianismus an. Galt für ›Akt und Sein‹<br />

hinsichtlich der Religionskritik K. Barth contra R. Seeberg,<br />

so hier K. Barth contra K. Holl.<br />

Letzterer erfuhr »den lebhaftesten Widerspruch durch<br />

die sogenannte Dialektische <strong>Theologie</strong>. Die Frage, in der der<br />

Mensch auf sich reflektiert, bleibt immer Frage, der Mensch<br />

kann aus sich keine Antwort finden, denn es gibt im Menschen<br />

auch nicht einen Punkt, an dem Gott in ihm Raum<br />

gewinnen könnte; [...] sein Denken [...], seine Religiosität<br />

bleiben hoffnungslose Versuche, das Ich im Absoluten zu<br />

verankern« (370 f.). An der Stelle <strong>des</strong> ›religiösen Gewissens‹<br />

steht für K. Barth das dialektische Verständnis von Offenbarung:<br />

»[...] Gott bleibt der ewig jenseitige, ewig ferne auch und gerade dort,<br />

wo er in der Offenbarung dem Menschen nahe kommt. Barth sagt:<br />

›Der Mensch, dem sich Gott offenbart, ist der Mensch, dem Gott<br />

nicht offenbar werden kann‹ (Dogmatik I, 287)« (371).<br />

Die dem Habilitationsvortrag zugrundeliegende Entgegensetzung<br />

von Philosophie und <strong>Theologie</strong> nimmt den philosophischen<br />

Entwurf aus, der sich mit der Dialektischen<br />

<strong>Theologie</strong> verbindet, nämlich Kants Phänomenalismus<br />

(vgl. etwa 371).<br />

b) Erster Amerikaaufenthalt<br />

Als »Barthianer« wird Bonhoeffer während seines Aufenthaltes<br />

in den USA zu bezeichnen sein. In Arbeiten am Union<br />

Theological Seminary in New York wird das Denken der<br />

Dialektischen <strong>Theologie</strong> geradezu enthusiastisch dargestellt.<br />

Der ›Römerbrief‹ K. Barths wird rezipiert, wenn Bonhoeffer<br />

von der »große(n) Antithese vom Wort Gottes und<br />

44


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 45<br />

2. Unter dem Einfluss der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

dem Menschen« spricht, »von Gnade und Religion«45. Weiter<br />

erhalten wir Hinweise, wie K. Barth die Philosophie in<br />

sein theologisches Denken aufgenommen hat. Bonhoeffer<br />

stellt zunächst lapidar fest, daß K. Barth kein Philosoph,<br />

sondern ein christlicher Theologe sei (vgl. 683). Er zeigt<br />

damit das Offenbarungszentrierte der Wort-Gottes-<strong>Theologie</strong>,<br />

das im alleinigen ›Kommen Gottes‹ liegt:<br />

»Es ist Gottes eigenes Werk, den Menschen in diese Geheimnisse seiner<br />

Offenbarung hineinsehen zu lassen [...]. Das gerade ist die Logik<br />

der Bibel, Gottes Kommen, das alle menschlichen Versuche, zu ihm<br />

zu gelangen, zunichte macht, das alle Moralität und Religion verdammt,<br />

mittels derer der Mensch versucht, Gottes Offenbarung [...]<br />

überflüssig zu machen« (686).<br />

Religion wird von Gottes Offenbarung her kritisiert. K.<br />

Barth habe die Kategorie <strong>des</strong> Wortes Gottes eingeführt, die<br />

im Besonderen gegen religiöses Denken steht:<br />

»Die Kategorie, die Barth in die <strong>Theologie</strong> in ihrem strengen Sinn<br />

einzuführen versucht und die gegenüber [...] religiösem Denken so<br />

widerspenstig ist, ist die Kategorie <strong>des</strong> Wortes Gottes, der Offenbarung<br />

direkt von oben, von außerhalb <strong>des</strong> Menschen, gemäß der<br />

Rechtfertigung <strong>des</strong> Sünders durch Gnade« (687).<br />

Bonhoeffer folgt an dieser Stelle explizit der theologischen<br />

Religionskritik K. Barths, indem er sie in dem Zusammenhang<br />

der iustificatio impii stellt.<br />

»In jeder theologischen Aussage können wir nicht anders, als bestimmte<br />

allgemeine Formen <strong>des</strong> Denkens zu benutzen. <strong>Theologie</strong><br />

hat diese Formen mit der Philosophie gemein« (688).<br />

Bonhoeffer formuliert mit dieser Feststellung eine Grundeinsicht<br />

zum Verhältnis von <strong>Theologie</strong> und Philosophie.46<br />

45) DBW 10, 688; folgende Zitate op. cit.<br />

45


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 46<br />

A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

Er stellt über K. Barth fest, daß dieser im ›Römerbrief‹ und<br />

in späteren Schriften die philosophische Terminologie<br />

Kants und der Neukantianer übernommen habe (vgl. 689.<br />

693)47. Kant hat entgegen dem Deutschen Idealismus (690 f.:<br />

hier Anspielung auf G. Hegel und J. Fichte48) den Vorzug<br />

der Selbsteinschränkung philosophischen Denkens:<br />

»Es gibt nur eine Philosophie, die diese Tatsache erkennt und feststellt,<br />

daß sie die definitive und wesentliche Grenze <strong>des</strong> Menschen<br />

ist; das ist nach Barth [...] die Essenz der Kantischen Philosophie«<br />

(690 f.).<br />

In der Darstellung I. Kants bedient sich Bonhoeffer offenbar<br />

auch der Begriffsfiguren aus seiner Habilitationsschrift<br />

(wie actus directus-reflexus, vgl. 694). Die Umgestaltung <strong>des</strong><br />

Luther-Wortes aus ›Akt und Sein‹ (»reflecte fortiter, sed fortius<br />

fide et gaude in Christo« [DBW 2, 134 Anm. 69]) legt er K.<br />

Barth in den Mund:<br />

46) Vgl. hierzu auch meinen Beitrag ›Bonhoeffer on Theology and<br />

Philosophy‹, in: Anvil 12/1, 1995, 45–56.<br />

47) An dieser Stelle kann nicht vertieft werden, inwieweit K. Barth im<br />

einzelnen das im Neukantianismus zum Grenzbegriff werdende<br />

›Ding an sich‹ offenbarungstheologisch interpretiert und den Phänomenalismus<br />

zum theologischen Ansatz modifiziert. Vgl. zum<br />

philosophischen Barth-Verständnis etwa U. BROWARZIK, Glauben<br />

und Denken, München 1970, 95 ff., bes. 232 f.<br />

48) Beide versuchen, die durch Kant unternommene Selbsteinschränkung<br />

in der Philosophie zurückzunehmen: Fichte durch das ›absolute<br />

Ich‹ und Hegel durch die Geschichtsdialektik: »In dem Augenblick,<br />

da die Idealisten das ›Ding an sich‹ beiseite schoben, war<br />

Kants kritische Philosophie zerstört« (DBW 2, 691).<br />

46


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 47<br />

2. Unter dem Einfluss der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

»So wie Luther pecca fortiter, sed crede fortius sagte, könnte Barth<br />

reflecte fortiter, sed crede fortius sagen« (694).<br />

Bonhoeffer teilt die dialektisch-theologische Religionskritik<br />

und stellt sie in den größeren philosophischen Zusammenhang<br />

der Barthschen Kant-Rezeption.<br />

Zwischenergebnis : <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer vollzieht in ›Akt<br />

und Sein‹ (1929), in seinem Habilitationsvortrag (1930) und<br />

in New York (1931) in zunehmenden Maße den Zusammenhang<br />

zwischen dem Offenbarungsverständnis Barths und<br />

dem Phänomenalismus Kants mit: Wenn das Ding an sich<br />

für I. Kant zumin<strong>des</strong>t unerkennbar, für die Neukantianer<br />

zum bloßem Grenzbegriff wird, stimmt K. Barth dem zu; er<br />

argumentiert, daß genauso auch Gott an sich nicht erkannt<br />

werden könne, es sei denn, er mache sich zuerst durch Offenbarung<br />

bekannt. Diese offenbarungstheologische Rezeption<br />

<strong>des</strong> Neukantianismus erreicht bei Bonhoeffer im Jahr<br />

1931 einen Höhepunkt. Mit dem Höhepunkt ist zugleich<br />

ein Wendepunkt in der <strong>Bonhoeffers</strong>chen Philosophieadaption<br />

markiert. Bonhoeffer entdeckt in New York die <strong>Lebens</strong>philosophie<br />

<strong>des</strong> amerikanischen Pragmatismus.<br />

c) Begegnung mit Karl Barth<br />

Mit der Rückkehr aus den USA im Jahr 1931 beginnt biographisch<br />

»der zweite große Abschnitt seines <strong>Lebens</strong>laufes«49.<br />

In diesen Abschnitt fällt nach der bisher literarisch<br />

geführten Auseinandersetzung mit K. Barth nun die erste<br />

persönliche Begegnung mit dem Dialektiker, die ihrerseits<br />

einen Briefwechsel (1932 f.) nach sich zieht. E. Bethge kommentiert<br />

den Besuch bei K. Barth:<br />

49) E. Bethge, DB, 213.<br />

47


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 48<br />

A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

»Der Bonner Besuch, veranlaßt durch Erwin Sutz, entsprach noch<br />

einem persönlichen Nachholbedarf aus dem Studium« (215).<br />

Entsprechend möchte <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer »noch soviel wie<br />

möglich vom Bonner Semesterende mitbekommen« (216).<br />

Über das erste mehrstündige Gespräch mit K. Barth im Juli<br />

1931 berichtet er in einem Brief an seinen Studienfreund E.<br />

Sutz:<br />

»Nun freilich ist alles sehr oder völlig anders, wenn es an Karl Barth<br />

selbst geht. Man atmet ordentlich auf, man fürchtet nicht mehr, in<br />

der dünnen Luft den Erstickungstod zu sterben. Ich habe, glaube<br />

ich, selten eine unterlassene Sache in meiner theologischen Vergangenheit<br />

so bereut, wie daß ich nicht früher hingegangen bin« 50 .<br />

Wie ernst es Bonhoeffer um Barths Person und <strong>Theologie</strong><br />

gewesen ist, zeigt der Versuch, über Familienkontakte<br />

Barth für die Berufung auf den Berliner Lehrstuhl ins Gespräch<br />

zu bringen.51<br />

Bevor Bonhoeffer 1933 nach England reist, kommt es im<br />

April und September 1932 noch zu zwei weiteren Begegnungen<br />

mit Barth, zunächst in Berlin und dann in der<br />

Schweiz. »Barths und <strong>Bonhoeffers</strong> Beziehungen waren zu<br />

dieser Zeit enger geworden, als das später je wieder möglich<br />

wurde«, so E. Bethge (DB, 219). Doch treten die Begegnun-<br />

50) Brief vom 24. 7. 1931, in: DBW 11 (18–22) 19; folgende Zitate ebenfalls<br />

aus DBW 11.<br />

51) Vgl. den Brief K. BARTHs an Bonhoeffer vom 4. 2.1933, in: GS II (40–<br />

41), 41: »In der Aera <strong>des</strong> Reichskanzlers Hitler wird sich ja gewiß<br />

Wobbermin auf dem Lehrstuhl Schleiermachers stilechter ausnehmen,<br />

als ich dies getan hätte. Ich höre, daß Sie sich meinetwegen<br />

exponiert haben«. E. BETHGE, DB, 218, kommentiert den Ausgang<br />

knapp: »Darüber aber kam das Jahr 1933, und Wobbermin erhielt<br />

das Ordinariat.«<br />

48


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 49<br />

2. Unter dem Einfluss der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

gen von 1932 schon in den Schatten <strong>des</strong> sich abzeichnenden<br />

Kirchenkampfes. Das belegt auch der Briefwechsel zwischen<br />

den beiden Theologen. Während Bonhoeffer im Weihnachtsbrief<br />

1932 auf die unbelasteten Begegnungen mit<br />

K. Barth zurückblickt,52 steht der Briefwechsel von 1933<br />

ganz unter dem Eindruck <strong>des</strong> Kirchenkampfes. Im September<br />

schickt er den Entwurf <strong>des</strong> Betheler Bekenntnisses mit<br />

einem Brief 53 an K. Barth und erklärt im Oktober, daß er<br />

sich dafür entschieden habe, in England »einfach Pfarrarbeit<br />

zu tun«. Als Grund gibt er an, »daß für das Betheler<br />

Bekenntnis«, an dem er »wirklich leidenschaftlich mitgearbeitet<br />

hatte, so fast gar kein Verständnis aufgebracht wurde«<br />

54 . K. Barth antwortet aus der Schweiz, Bonhoeffer möge<br />

aus London unbedingt auf seinen »Berliner Posten« zurückkehren.<br />

»Was heißt: ›Abseitsgehen‹, ›Stille <strong>des</strong> Pfarramtes‹<br />

usw. in einem Augenblick, wo Sie in Deutschland einfach<br />

gefordert sind« 55 .<br />

Nach der literarischen Bekanntschaft <strong>des</strong> Studenten<br />

Bonhoeffer mit K. Barth, die seit 1925 anhält und einen der<br />

ersten rezeptiven Höhepunkte etwa im Vortrag am Union<br />

Theological Seminary 1930/31 erreicht, bringen die persönlichen<br />

Begegnungen mit dem Dialektiker (1931/32) einen<br />

52) Brief an K. BARTH vom 24.12.1932: »Zum Ausgang <strong>des</strong> Jahres<br />

möchte ich Ihnen noch einmal danken für alles, was ich im Laufe<br />

dieses Jahres von Ihnen empfangen habe. Der Abend hier in Berlin<br />

und dann die unvergleichlich schönen Stunden mit Ihnen auf dem<br />

Bergli gehören zu den Augenblicken in diesem Jahr, die bleiben«<br />

(GS II, 39).<br />

53) Brief vom 9. 9.1933, in: DBW 13 (11–15), 13 f.<br />

54) Brief an K. BARTH vom 24.10.1933, in: GS II (130–134), 132.<br />

55) Antwortbrief K. BARTHs vom 20.11.1933, in: DBW 13 (31–34), 31.<br />

49


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 50<br />

A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

weiteren Wendepunkt hin zur vertrauensvollen Beraterfunktion<br />

in biographischen Entscheidungen.<br />

d) Berliner Universität<br />

Als Privatdozent an der Berliner Universität hält Bonhoeffer<br />

im Wintersemester die Vorlesung zur Systematischen <strong>Theologie</strong><br />

im 20. Jahrhundert (im Folgenden: ST20Jh)56. Die<br />

vierzehnteilige Vorlesung gipfelt in der Darstellung der<br />

Dialektischen <strong>Theologie</strong> und K. Barths (vgl. § 10 Die Wende,<br />

192 ff. und § 11 Gott, 197 f.). Von der Berliner <strong>Theologie</strong><br />

scheint der Privatdozent sich zu dieser Zeit endgültig verabschiedet<br />

zu haben (vgl. über A. v. Harnack § 5, 164 ff., über<br />

R. Seeberg und K. Holl im § 13, 207 f.). Doch handelt keineswegs<br />

die ganze Vorlesung von K. Barth. Er tritt vielmehr in<br />

den Hintergrund zugunsten eines Versuchs der historischen<br />

Darstellung der systematischen <strong>Theologie</strong>. Entsprechend<br />

ist auch die Religionsthematik, die die ganze Vorlesung<br />

im Vordergrund steht, keineswegs nur an Barthscher<br />

Religionskritik orientiert. Schon zu Beginn <strong>des</strong> Kollegs tritt<br />

die Religionsproblematik in das Umfeld historischer Erwägungen.<br />

Bonhoeffer möchte zunächst, in § 2, »Kirche und<br />

<strong>Theologie</strong> der Jahrhundertwende in den allgemeinen geistesgeschichtlichen<br />

Zusammenhängen« (143 f.) darstellen<br />

und schreibt über Religion:<br />

»Die religiös-sittliche Persönlichkeit [war] das Zentrum der Predigt.<br />

Christentum wird aufgefaßt als Religion« (145). 57<br />

56) Als Kompilation von Hörernachschriften, herausgegeben von O.<br />

DUDZUS, in: GS V, 181–227. In der Nachschrift von Joachim Kanitz,<br />

kritisch herausgegeben von E. AMELUNG, in: DBW 11,139–213. Ich<br />

folge im wesentlichen der Neuausgabe DBW 11.<br />

50


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 51<br />

2. Unter dem Einfluss der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

Für die wilhelminische Zeit galt die Gleichung Christentum<br />

ist gleich Religion; daß dem nicht schon immer so war, zeigt<br />

<strong>Bonhoeffers</strong> Formulierung vom Christentum, das mit Religion<br />

identifiziert wurde. Wenn die Gleichung Religion ist<br />

gleich Christentum geschichtlich an das ausgehende 19. Jh.<br />

gebunden ist, wie ist Religion dann vor dieser Zeit zu bestimmen?<br />

Bonhoeffer beobachtet, wie in der Neuzeit der<br />

»Individualismus [...] den Protestantismus der Reformation<br />

zerstört« hat:<br />

»In der nachkopernikanischen Welt tritt statt ›Glaube‹ das Wort religio<br />

auf (von den englischen Deisten). Es bed[eutet] die letzte, feinste<br />

der Möglichkeiten <strong>des</strong> Menschen. Der Mensch [wird] als Gott verwandt<br />

entdeckt. Die Reformation wird als die Entdeckung dieses<br />

Menschen betrachtet« (145).<br />

Religion tritt also in die Geschichte ein als Glaubensersatz.<br />

Wo reformatorisch ›Glaube‹ stand, steht nachreformatorisch<br />

›Religion‹. Wir sehen: Glaube und Religion bilden sich<br />

bereits in dieser Vorlesung als historische Gegensätze heraus!<br />

<strong>Theologie</strong> und Historie scheinen am Religionsverständnis<br />

<strong>Bonhoeffers</strong> zumin<strong>des</strong>t nicht dezidiert trennbar.<br />

Vom Verständnis der Religion als ›Glaubensersatz‹ bis hin<br />

zur ›Identifizierung‹ von Religion und Christentum hat die<br />

Religionsproblematik neuzeitlich eine Geschichte durchlebt,<br />

die Bonhoeffer an einzelnen Stationen aufzeigt. »Schon<br />

Hume hatte die Religion auf menschliche Affekte zurückgeführt«<br />

(148). Feuerbach habe diese Konzeption zu<br />

Ende geführt. »Also zwei Fragen Feuerbachs an die Religion:<br />

57) In der Dudzus-Kompilation heißt es an dieser Stelle: Das »Christentum<br />

wurde mit Religion identifiziert« (GS V, 185, Hervorh.<br />

R. W.).<br />

51


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 52<br />

A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

1.) die nach der Wahrheit ihrer Sätze (Illusion58); 2.) nach der<br />

Übereinstimmung mit dem wirklichen Leben« (148 f.).<br />

Verstehen wir den Begriff ›Übereinstimmung‹ im Sinne<br />

von ›Redlichkeit‹, so ist ein entscheiden<strong>des</strong> Stichwort gegeben,<br />

das Bonhoeffer in Tegel beschäftigen wird. In der Tat<br />

wirft er dort der Religion die fehlende Übereinstimmung<br />

mit dem Leben vor. Der Religion fehle der Ganzheitscharakter<br />

und die Redlichkeit. Es wird sich herausstellen, daß<br />

Bonhoeffer diese zweite Frage in Tegel selbst beantwortet.59<br />

Er begegnet der Frage, weshalb die <strong>Theologie</strong> <strong>des</strong> 19. Jh. –<br />

gemeint sind Hegel und Schleiermacher – die durch L.<br />

Feuerbach aufgeworfenen Fragen nicht beantwortet hat,<br />

mit dem Hinweis:<br />

»Die offizielle <strong>Theologie</strong> war zu stark [...] verknüpft mit dem Problem<br />

der Religion« (149).<br />

Im Anschluß an L. Feuerbach geht Bonhoeffer auf die Religionsauffassungen<br />

von J. Kaftan (149 f.), E. Troeltsch (150 ff.),<br />

der Neukantianer (153 f.) und W. James (157) ein. Auf E.<br />

Troeltsch und W. James kommt er im Fortgang seiner Vorlesung<br />

wieder zurück. Sie scheinen eine besondere Bedeu-<br />

58) Es geht um die Frage, »ob nicht alles auf einer Illusion beruhe«<br />

(Dudzus-Kompilation, GS V 187).<br />

59) Auf den Zusammenhang der Feuerbach-Fragen von 1931/32 und<br />

der Tegeler Briefe aus dem Frühsommer 1944 hat schon W. J. PECK,<br />

A Proposal Concerning Bonhoeffer’s Concept of the Person, in:<br />

AThR 50, 1968, 311–329, aufmerksam gemacht. Während <strong>Bonhoeffers</strong><br />

frühe Schriften (von ›Sanctorum Communio‹ bis ›Nachfolge‹)<br />

sich wesentlich mit der ersten Feuerbach-Frage auseinandersetzen,<br />

geben die ›Ethik‹ sowie ›Widerstand und Ergebung‹ Antwort<br />

auf die zweite: »The idea about religionless Christianity« ist nach<br />

Peck »Bonhoeffer’s answer to Feuerbach’s second question« (328).<br />

52


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 53<br />

2. Unter dem Einfluss der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

tung für sein Religionsverständnis zu haben. Über E.<br />

Troeltsch sagt Bonhoeffer, er sei beiden verpflichtet, I. Kant<br />

und F. Schleiermacher (vgl. 151).<br />

»Religion muß in erkenntnistheoretischer Betrachtung als notwendiges<br />

Stück <strong>des</strong> Vernunftzusammenhanges bewiesen werden. Ein<br />

religiöses Apriori soll aufgefunden werden, dann [ist] die Gültigkeit<br />

der Religion erwiesen« (152).<br />

Kritisch sagt Bonhoeffer dann über E. Troeltsch :<br />

»Religion [ist] auch hier aus der Welt zu verstehen. Bei Troeltsch gibt<br />

es keine Möglichkeit mehr der Trennung von <strong>Theologie</strong> und Philosophie.<br />

<strong>Theologie</strong> [ist ein] Spezialfall von Religionswissenschaft, diese<br />

[ein] Spezialfall von Philosophie« (152 f.).<br />

An diese Einsicht scheint er sich 1944 zu erinnern, wenn es<br />

in einem Brief aus der Tegeler Zelle heißt: »Es war die<br />

Schwäche der liberalen <strong>Theologie</strong>, daß sie der Welt das<br />

Recht einräumte, Christus seinen Platz in ihr zuzuweisen;<br />

sie akzeptierte im Streit von Kirche und Welt den von der<br />

Welt diktierten – relativ milden – Frieden. Es war ihre Stärke,<br />

daß sie nicht versuchte, die Geschichte zurückzudrehen<br />

und die Auseinandersetzung wirklich aufnahm (Troeltsch!),<br />

wenn diese auch mit einer Niederlage endete«60.<br />

In der kurzen Darstellung von William James kann<br />

Bonhoeffer auf seine umfangreichen Studien in Amerika<br />

zurückgreifen. So nennt er als Werk von W. James etwa ›The<br />

varieties of religious experience‹, über das er am Union<br />

Theological Seminary ein Kurzreferat gehalten hat.61 Abgekürzt<br />

sagt er in seiner Vorlesung:<br />

60) Brief vom 8. 6.1944, in: WEN 358. (Dies ist die einzige Stelle, an der<br />

Troeltsch in den Briefen aus Tegel erwähnt wird.)<br />

61) Vgl. DBW 10, 408–410 (dt. 666 ff.); zum Umfang der James-Studien<br />

vgl. DBW 10, 269.<br />

53


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 54<br />

A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

»Der Pragmatismus denkt je<strong>des</strong> Problem vom lebendigen Menschen<br />

aus. [...] Das Leben [ist] Kriterium für die Wahrheit, nur was sich auswirkt,<br />

ist wahr. Religion [ist] zunächst psychologisches Phänomen«<br />

(157).62<br />

Die Kritik an James, die Bonhoeffer im Referat erkenntnistheoretisch<br />

geäußert hat, artikuliert er hier religionskritisch:<br />

»Religion [ist] in die Notwendigkeit <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong> eingeordnet;<br />

ob transzendental oder pragmatisch, es bleibt<br />

Anthropologie (Feuerbach!)« (158).<br />

Wie sind nun Troeltsch und James aufeinander bezogen?<br />

Von William James habe Ernst Troeltsch gelernt, das<br />

Gefühl für die Präsenz <strong>des</strong> Übersinnlichen als Charakteristikum<br />

aller Religion anzusehen: »[...] das Charakteristikum<br />

aller Religion [ist] ihr psychologisches Moment, mit<br />

dem man anfangen muß, um zum Transzendentalen vorzustoßen.<br />

Psychologie [ist das] Eingangstor zur Erkenntnistheorie«<br />

(160). In Erkenntnistheorie und Religionsverständnis<br />

gehen also E. Troeltsch und W. James zusammen.<br />

Ihre erkenntnistheoretische Möglichkeit ist die Psycholo-<br />

62) Die Begriffe ›Leben‹ und ›Psychologie‹, die unter Bezugnahme auf<br />

W. Dilthey in den Tegeler Briefen so bedeutsam werden, treten hier<br />

noch in ein negatives Licht; vielleicht liegt das in dem Gefälle der<br />

Vorlesung begründet: Durch K. Barth findet die Feuerbach-Frage<br />

nach der Auflösung der <strong>Theologie</strong> in Anthropologie erst ihre Antwort.<br />

Gleichwohl wird Bonhoeffer der Philosophie James’ etwas<br />

abgewonnen haben, sonst hätte er sicher nicht fast das ganze Werk<br />

<strong>des</strong> amerikanischen Pragmatikers studiert (vgl. DBW 10,269). An<br />

dieser Stelle lässt sich zunächst nur vermuten, daß die James-Studien<br />

den philosophischen Einfluß <strong>des</strong> (durch Barth vermittelten)<br />

Neukantianismus relativiert haben und Bonhoeffer öffneten gegenüber<br />

der ›<strong>Lebens</strong>philosophie‹, die dann in der Tegeler <strong>Theologie</strong><br />

wichtig wird.<br />

54


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 55<br />

2. Unter dem Einfluss der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

gie. An dieser Stelle hätte Bonhoeffer einen dritten Namen<br />

einführen können, der in dieser Vorlesung an anderen Stellen<br />

auch erwähnt wird, den von W. Dilthey (146.177.192).<br />

Die Tegeler <strong>Theologie</strong> kündigt sich an, wo es über »Wilhelm<br />

Diltheys hermeneutische Theorie« (177) heißt: »Die Frage<br />

ist, ob diese Geschichtsphilosophie auf die <strong>Theologie</strong> anzuwenden<br />

ist« (177) – eine Frage, die in Widerstand und Ergebung<br />

beantwortet werden soll. Wie eine Vorwegnahme<br />

mancher Geschichtsreflexionen der Tegeler <strong>Theologie</strong> muten<br />

<strong>Bonhoeffers</strong> bruchstückhaft überlieferten Erwägungen<br />

im § 9 seiner Vorlesung an:63<br />

»(…) Reifezeit <strong>des</strong> Säkularisierungsprozesses der Kultur (mittelalterliches<br />

Städtewesen, Renaissance, Aufklärung, Humanität). [...] Je<strong>des</strong><br />

<strong>Lebens</strong>gebiet sucht Anschluß [an diesen Prozeß] innerhalb der<br />

säkularen (sich autonom verstehenden) 64 Sphäre. Gesetze <strong>des</strong> Handelns<br />

[ergeben sich] aus [den] der Sache immanenten Gesetzen:<br />

Eigengesetzlichkeit. Sachliches Handeln bedeutet dann ethisch:<br />

Autonomie. [...] Der Mensch ist grundsätzlich in der Lage, die Dinge<br />

in ihrer Geschöpflichkeit handeln zu lassen, ohne an ihnen etwas zu<br />

verderben, er braucht sich nur den immanenten Gesetzen anzupassen.<br />

Das ist die Stufe der reinen autonomen Kultur« (185 f.).<br />

Was Bonhoeffer hier am Beispiel einer autonom gewordenen<br />

Ethik zeigt, wird er in Tegel für das Ganze der <strong>Theologie</strong><br />

entfalten. Die Rede von einem seit Renaissance und Aufklärung<br />

sich autonom verstehenden Menschen ist offenbar<br />

in dieser Vorlesung erstmals belegt. Andererseits bleibt<br />

63) O. DUDZUS schreibt zu diesem Abschnitt: »Bei der Darstellung <strong>des</strong><br />

Saekularisierungsprozesses der Kultur fühlt man sich fast in die<br />

Welt der berühmt gewordenen Briefe aus ›Widerstand und Ergebung‹<br />

versetzt« (GS V, 182).<br />

64) Ergänzung in [...] nach der Dudzus-Kompilation, GS V, 210.<br />

55


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 56<br />

A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

Bonhoeffer in dieser Vorlesung noch in der Geschichtsreflexion<br />

stehen und zieht nicht – wie 1944 – die Konsequenz<br />

aus der Beobachtung einer autonom gewordenen Kultur<br />

und fragt: Wer ist Christus für uns heute, d.h. in einer mündig<br />

gewordenen Welt? In der Vorlesung zeigt er vielmehr<br />

die vergeblichen theologischen Reaktionen auf, die den<br />

Angriffen F. Overbecks und F. Nietzsches folgen. Entweder<br />

man assimiliert sich oder negiert die Entwicklung. »Jedenfalls<br />

will man nicht wahr haben, daß das Christentum<br />

kulturfeindlich sei. Bedeutsam [ist] [...] die Selbstverständlichkeit<br />

der Synthese [von Christentum und Kultur]« (187).<br />

Diese Synthese ist auch zu einer Synthese von Religion<br />

und Christentum geworden, wenn wir den historisch zum<br />

Universalbegriff gewachsenen Ausdruck Religion so aufnehmen,<br />

wie ihn Bonhoeffer zu Beginn seiner Vorlesung<br />

von seinem Eintreten in die Geschichte (im 17. Jh.) bis in die<br />

wilhelminische Zeit dargelegt hat.<br />

Der Universalbegriff Religion erfährt erst durch K. Barth<br />

eine grundsätzliche Kritik, eine »Wende« (192 ff.) zeichnet<br />

sich ab. »Die Frage heißt: Gott und Mensch, die Kultur<br />

kommt allein auf die Seite <strong>des</strong> Menschen und der Religion<br />

zu stehen. Sofern Barth Religion nicht mehr mit Gott verwechseln<br />

will, insofern ist die Wende bezeichnet« (194 f.):<br />

»Barth wendet sich im Namen Gottes gegen die Religion« (197). Für<br />

ihn gibt es keine »geistige Gesundung an der Religion, sondern nur<br />

Krankwerden an Gott. [Die Religion steht] stets [in der] Gefahr, daß<br />

sie meint, Gott zu haben, über ihn Bescheid zu wissen, wenn auch in<br />

aller Demut und Bescheidung. Religion wird dann ein Gebiet neben<br />

andern« (198).<br />

In dieser letzten Aussage <strong>Bonhoeffers</strong> klingt die spätere<br />

Charakterisierung von Religion als ›Partialität‹ an. Bonhoeffer<br />

kann K. Barths Religionskritik, wie wir bereits ein-<br />

56


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 57<br />

2. Unter dem Einfluss der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

leitend sahen, auch historisch artikulieren, wenn er im<br />

Lichte der Dialektischen <strong>Theologie</strong> einen allgemeinen Religionsbegriff<br />

für überholt erklärt:<br />

»Es kann keinen allgemeinen Begriff von Religion mehr geben« 65 .<br />

Möchte Bonhoeffer hier sagen, daß Religion ein geschichtlicher<br />

Begriff ist, der – durch die Deisten eingeführt – im<br />

Kulturprotestantismus seinen Höhepunkt erreicht und<br />

schließlich in der Dialektischen <strong>Theologie</strong> sein Ende findet?<br />

Können wir einen gedanklichen Bogen spannen vom Anfang<br />

der Vorlesung, an dem Bonhoeffer Religion historisch<br />

einführt, bis zu dieser Stelle, an der er Religion für geschichtlich<br />

überholt hält? In jedem Fall möchte ich festhalten,<br />

daß <strong>Bonhoeffers</strong> Einsicht von einem überholten<br />

»allgemeinen Begriff von Religion« aus der Dialektischen<br />

<strong>Theologie</strong> erwächst und mit K. Barths Religionskritik verbunden<br />

ist, ja sie radikalisierend in einen historischen Rahmen<br />

spannt.<br />

Der § 11 steht unter dem Titel ›Gott‹ (197 ff.) und gibt die<br />

<strong>Theologie</strong> Karl Barths wieder (schon die Überschrift ist<br />

bezeichnend!). Im folgenden § 12 (199 ff.) erklärt Bonhoeffer,<br />

warum <strong>Theologie</strong> »auf keinen Preis zu verwechseln (ist) mit<br />

65) GS V, 219 (Hervorh. R. W.). Ich folge in dem zitierten Satz dem<br />

Kompilationstext von O. DUDZUS. Der Text nach DBW 11, 199<br />

liest: »Keine allgemeine Begründung von Religion kann es mehr geben«<br />

(Hervorh. R. W.). Tatsächlich heißt es aber in der DBW 11 zugrundeliegenden<br />

Nachschrift von Joachim Kanitz an dieser Stelle:<br />

»Keinen allgem. Begr. v. Rel. kann es mehr geben« (Nl. B 1,1) Die<br />

Kanitz-Nachschrift läßt beide Lesarten zu: Begriff und Begründung.<br />

(Begriff bietet im Hinblick auf den Abschnitt die lectio<br />

difficilior!).<br />

57


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 58<br />

A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

Religionsphilosophie« (199): »Die <strong>Theologie</strong> hat nicht mehr<br />

ihre Wahrheit zu begründen« (199):<br />

»Am Anfang steht ein Akt der Anerkenntnis. Es gibt nur noch Ablehnung<br />

oder Anerkennung, beide [sind] unbegründbar. So steht auch<br />

im Anfang der <strong>Theologie</strong> der Glaube« (200).<br />

Auch darf <strong>Theologie</strong> nicht mit Glaubenslehre verwechselt<br />

werden:<br />

»Der Weg kann nicht vom Glauben zu Gott rückwärts gegangen<br />

werden. In der Glaubenslehre wird Gott stets als Objekt verstanden«<br />

(200).<br />

Wir hören zu Recht die Barth-Rezeption aus ›Akt und Sein‹<br />

nachklingen. Dort hat Bonhoeffer die Akt-<strong>Theologie</strong> (K.<br />

Barth) mit der Seins-<strong>Theologie</strong> (M. Luther) verbunden. Wie<br />

auch in ›Akt und Sein‹ eine reine Akt-<strong>Theologie</strong> mit dem<br />

radikalen Freiheitsbegriff Gottes aufgegeben wurde zugunsten<br />

der lutherischen Seinsprädikate, die Gott in seinem<br />

Wort zukommen, formuliert Bonhoeffer am Ende der Vorlesung<br />

über die Freiheit Gottes: »Nicht Freiheit von, sondern<br />

Freiheit für« (211). Hier wird – wie in ›Akt und Sein‹ –<br />

der reformierte K. Barth lutherisch interpretiert.<br />

Im Hinblick auf die Religionsauffassung <strong>Bonhoeffers</strong><br />

gilt uneingeschränkt der radikale Freiheitsbegriff Gottes,<br />

wie er durch K. Barth vertreten wird. Im Blick auf die Religionskritik<br />

scheint Bonhoeffer K. Barth 1931/32 noch dezidiert<br />

zu folgen. Er hält ihn offenbar für die angemessene<br />

Antwort auf die Feuerbach-Fragen und die kritischen Einwände<br />

gegen den Kulturprotestantismus. Das mag auch erklären,<br />

weshalb er seine historischen Exkurse nicht eigenständig<br />

weiterführt wie später in der Tegeler <strong>Theologie</strong>. Er<br />

läßt die Geschichtsreflexionen vielmehr in die Dialektische<br />

<strong>Theologie</strong> münden und hält sie wohl durch Barth auch für<br />

58


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 59<br />

2. Unter dem Einfluss der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

erfüllt. Das gilt im besonderen für das Verständnis von Religion<br />

und kultureller Autonomie.<br />

Es gilt in<strong>des</strong>sen nicht für das Verhältnis von <strong>Theologie</strong><br />

und Philosophie: Hier besteht weiter Bedarf an »Klärung«<br />

(212). Für Bonhoeffer scheint K. Barths Anwendung <strong>des</strong><br />

Neukantianismus, besonders P. Natorps (vgl. 202 f.), noch<br />

nicht die letzte Bestimmung im Verhältnis von Philosophie<br />

und <strong>Theologie</strong> zu sein. Möglicherweise kann Bonhoeffer so<br />

sprechen, weil er unter dem Eindruck <strong>des</strong> USA-Aufenthaltes<br />

eine andere Philosophie kennengelernt hatte. Wie die<br />

weitere Entwicklung zeigt, öffnet sich Bonhoeffer in der Tat<br />

einer ›lebensnahen‹ Philosophie, die er zu diesem Zeitpunkt<br />

schon kennt, aber erst 1944 voll entfaltet. Ob der Pragmatismus<br />

einen Impuls dazu gegeben hat, muß an dieser Stelle<br />

noch offen bleiben.<br />

Im Wintersemester 1932/33 liest Bonhoeffer über die<br />

›Jüngste <strong>Theologie</strong>‹.66 Der Privatdozent stellt theologische<br />

Entwürfe seiner Zeit kritisch dar. Ein auffälliges Kennzeichen<br />

dieser Vorlesung ist – ähnlich wie in der Vorlesung<br />

ST20Jh – die würdigende Darstellung Barthscher <strong>Theologie</strong><br />

(303–307.318–321; dazwischen die kritisierende Darstellung<br />

K. Heims 307–316).<br />

»Gottes vertikales Wort ist Gericht über den ganzen Menschen, über<br />

die Natur, die Geschichte, auch über <strong>des</strong> Menschen Innerlichkeit<br />

und Frömmigkeit. Daß er kommen mußte, ist der Beweis dafür, daß<br />

wir nicht kommen konnten. So ist Gottes Kommen die Kritik aller<br />

Religion« (303 f.).<br />

<strong>Eine</strong> von K. Barth her bestimmte Religionskritik findet<br />

sich noch in der Tegeler <strong>Theologie</strong>. Interessant ist, daß der<br />

66) Abgedruckt in: GS V, 300–340.<br />

59


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 60<br />

A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

Begriff ›Innerlichkeit‹67 marginal schon vor ›Widerstand<br />

und Ergebung‹ in religionskritischen Zusammenhang belegt<br />

ist.<br />

In der ›Christologievorlesung‹68 aus dem Sommersemester<br />

1933 wird das Thema Religion nur am Rande erwähnt.<br />

Für Bonhoeffer erscheint überraschend die christologischnormative<br />

›Wer-Frage‹ im Zusammenhang der ›religiösen<br />

Frage‹: »Die Wer-Frage ist die religiöse Frage schlechthin«<br />

(GS III, 170).<br />

Die Wer-Frage ist als religiöse Frage für Bonhoeffer die<br />

Transzendenzfrage. Nach den bisherigen Ergebnissen, besonders<br />

im Blick auf ›Akt und Sein‹, wäre zu erwarten, daß<br />

die Transzendenzfrage im Zusammenhang offenbarungstheologischer<br />

Religionskritik begegnet. Statt <strong>des</strong>sen tritt<br />

die Frage nach der Religion in den Kontext der Fragestellung<br />

nach der Transzendenz. Das hier zugrunde gelegte<br />

Religionsverständnis ist nicht dialektisch-theologisch beeinflußt,<br />

sondern scheint zur Zahl der eher unreflektierten<br />

religionspositiven Aussagen zu gehören, die auch nach 1929<br />

noch begegnen. Es fällt auf, daß diese Aussagen außerhalb<br />

<strong>des</strong> Kontextes der Rezeption Barthscher <strong>Theologie</strong> getroffen<br />

werden.<br />

Die Religionsthematik tritt in der zweiten Hälfte der<br />

30er Jahre in den Hintergrund zugunsten kirchenpolitischer<br />

sowie praktisch-theologischer Tätigkeiten. Bemerkenswert<br />

ist, daß zur gleichen Zeit die literarische Beschäftigung<br />

mit Barth zurücktritt. Sowohl in der ›Nachfolge‹ als<br />

67) Bonhoeffer stellt über E. Schaeder fest: »Der erste Angriff gegen Karl<br />

Barth wurde von der Position der religiösen Innerlichkeit geführt«<br />

(GS V, 304).<br />

68) Abgedruckt in: GS III, 166–242.<br />

60


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 61<br />

2. Unter dem Einfluss der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

auch in ›Gemeinsames Leben‹ wird der Name K. Barth nicht<br />

einmal explizit erwähnt.69 Auch eine Religionskritik tritt<br />

nicht in den Blick. Das Thema ›Religion‹ wird insgesamt in<br />

diesen Schriften kaum oder gar nicht angesprochen. Im<br />

Sinne eines argumentum e silentio erhalten wir durch die<br />

Schriften ›Nachfolge‹ und ›Gemeinsames Leben‹ einen Hinweis,<br />

daß die Religionskritik ausschließlich im Rahmen der<br />

Dialektischen <strong>Theologie</strong> geführt wird.<br />

e) Zweiter Amerikaaufenthalt<br />

In dem Bericht 70, den Bonhoeffer über seinen zweiten Amerikaaufenthalt<br />

im Sommer 1939 geschrieben hat, wird Religion<br />

wieder in Anlehnung an Karl Barth kritisiert: In Amerika<br />

habe man nicht verstanden, daß »Gottes ›Kritik‹ auch<br />

die Religion [...] trifft« (354). Weiter schreibt Bonhoeffer von<br />

der »amerikanischen <strong>Theologie</strong>«, daß sie »noch wesentlich<br />

Religion und Ethik« sei (ibid).<br />

In den ›Tagebuchaufzeichnungen‹ unterstreicht Bonhoeffer<br />

im Juni 1939 den Gedanken einer geschichtlich<br />

überholten Religionsauffassung; Religion sei »wirklich überflüssig«71.<br />

Die Menschen kämen »gut und besser ohne Religion«<br />

aus.72<br />

69) Freilich bleibt K. Barth weiter in der Zeit der ›Nachfolge‹ präsent. In<br />

einem Brief an ihn bekennt Bonhoeffer aus Finkenwalde: »Im<br />

Grunde war die ganze Zeit eine andauernde, stillschweigende Auseinandersetzung<br />

mit Ihnen und darum mußte ich eine Weile<br />

schweigen« – Brief vom 19. 9.1936, in: GS II, (283–287) 284.<br />

70) ›Protestantismus ohne Reformation‹, verfaßt im August 1939, in:<br />

GS I, 323–354.<br />

71) Tagebucheintrag am 16. 6.1939, in: GS I, 300.<br />

72) Tagebucheintrag am 18. 6.1939, in: GS I, 300.<br />

61


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 62<br />

A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

Bonhoeffer geht hier offensichtlich über K. Barths Religionskritik<br />

hinaus, da er Religion nicht nur kritisiert, sondern<br />

›ohne‹ Religion auskommen möchte. Überhaupt wird<br />

›Religion‹ nicht mehr thematisiert oder in theologische<br />

Entwürfe eingebunden, wie man es über den Religionsabschnitt<br />

in KD I/2 sagen kann. Dieser Halbband erscheint<br />

1938, ein Jahr vor diesen Aufzeichnungen <strong>Bonhoeffers</strong>. Haben<br />

wir es mit einer ersten Reaktion auf den § 17 der KD I zu<br />

tun? Es ist jedenfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen,<br />

daß Bonhoeffer KD I/2 zu diesem Zeitpunkt gekannt<br />

hat, da er mit Blick auf K. Barths Publikationen<br />

immer auf dem »aktuellen Stand«73 gewesen ist. Das wird<br />

besonders deutlich in den nun zu bearbeitenden Ethik-<br />

Manuskripten; er hat sich vorab Druckfahnen von KD II<br />

schicken lassen.<br />

f) Fragmente zur Ethik<br />

In den frühen Manuskripten (1940/41) begegnen einzelne<br />

religionskritische Aussagen. Dabei knüpft Bonhoeffer an<br />

die Religionskritik aus ›Sanctorum Communio‹ an, wie<br />

etwa an die Entgegensetzung von Religionsgemeinschaft<br />

und Kirche (Ethik [DBW 6] 49 f.84 = Sanctorum Communio<br />

[DBW 1] 97). Hier setzt sich die religionskritische Barth-<br />

Rezeption aus ›Sanctorum Communio‹ mit ihrer Alternative<br />

von Offenbarung oder Religion fort.<br />

Andere Aussagen bereiten offensichtlich die Tegeler<br />

<strong>Theologie</strong> vor: Religion verfehle den Ganzheitscharkter von<br />

göttlicher und menschlicher Wirklichkeit (vgl. DBW 6, 59).<br />

Der Partikularitätscharakter von Religion klingt an, wo Kir-<br />

73) Schriftliche Auskunft E. Bethges.<br />

62


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 63<br />

2. Unter dem Einfluss der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

che es »mit den sogenannten religiösen Funktionen <strong>des</strong><br />

Menschen zu tun« hat, nicht aber »mit dem ganzen Menschen«<br />

(84). Sätze wie diese belegen die Souveränität, mit der<br />

Bonhoeffer den negativ belegten Begriff ›Religion‹ für seine<br />

ethischen Ausführungen einsetzt (vgl. bes. 306). Immerhin<br />

rechnet er mit ›religiösen Funktionen <strong>des</strong> Menschen‹; Bonhoeffer<br />

kehrt offensichtlich zur Vorstellung eines religiösen<br />

Apriori zurück,74 das er zwar zuvor schon kritisiert hat (vgl.<br />

›Akt und Sein‹), aber endgültig erst noch ablegen wird (vgl.<br />

›Widerstand und Ergebung‹).<br />

Es scheint, als ob nach einer zusammenhängenden<br />

Religionsauffassung im Blick auf die Ethik-Fragmente am<br />

allerwenigsten gefragt werden darf: Religion, Religionsgemeinschaft,<br />

Religionsgesellschaft werden nebeneinander<br />

als Negativfolie gegenüber ›Kirche‹ verwandt (vgl. 49.84).<br />

Die Aufnahme Barthschen Denkens bleibt weiter bedeutend,75<br />

bezieht sich jedoch weniger auf <strong>des</strong>sen Religionsbegriff<br />

als vielmehr auf seine Ethik. Zutreffend ist die<br />

Auskunft: »<strong>Bonhoeffers</strong> Position ist am ehesten in der Nähe<br />

der <strong>Theologie</strong> und Ethik Karl Barths zu suchen«76. Die Ethik<br />

K. Barths beschäftigt Bonhoeffer bis in die Tegeler Zelle<br />

74) So auch P. KÖSTER, Nietzsche als verborgener Antipode in <strong>Bonhoeffers</strong><br />

»Ethik«, in: NS 19, 1990, 367–418, bes. 407.<br />

75) Die Herausgeber von DBW 6 verweisen auf andere terminologische<br />

Anklänge an K. Barth; so spricht Bonhoeffer von der Welt, die<br />

»solange erhalten wird, bis sie reif ist für ihr Ende« (Ethik [DBW 6]<br />

146). Die Rede vom ›Abbruch der Welt‹ gehe auf den Aufsatzband<br />

›Das Wort Gottes und die <strong>Theologie</strong>‹ zurück und begegne auch in<br />

einer Predigt <strong>Bonhoeffers</strong> von 1934 (GS V, 560) sowie in der Schrift<br />

›Nachfolge‹, 255; vgl. DBW 6, 146 Anm. 35.<br />

76) Nachwort <strong>des</strong> Herausgeberkreises der Ethik (DBW 6), 424.<br />

63


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 64<br />

A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

hinein.77 Anders steht es mit dem Religionsbegriff, wie wir<br />

am Stichwort Offenbarungspositivismus sehen werden.<br />

Bonhoeffer kann ethische Gedanken aus seinen Manuskripten<br />

in den Tegeler Briefen auch religionskritisch explizieren.<br />

Die ethischen Ausführungen über ›Die letzten und die<br />

vorletzten Dinge‹ (etwa DBW 6, 143) werden zur Tegeler Frage:<br />

»Wir leben im Vorletzten und glauben das Letzte, ist es<br />

nicht so?« (WEN 176)<br />

Bonhoeffer nimmt das ethische Thema vom ›Letzten<br />

und Vorletzten‹ religionskritisch auf: Ein ›letztes‹ Verhalten<br />

ist in einer »ernsten Situation« ein ›religiöses‹ Verhalten; das<br />

Vorletzte – können wir ergänzen – ein ›nichtreligiöses‹.78<br />

Mit den Jahren 1940 f. tritt die Auseinandersetzung mit<br />

K. Barth in ein ethisches Licht. Ist die erste Begegnung mit<br />

K. Barth (1931) schon durch Diskussionen um die Ethik bestimmt,<br />

so sollen diese zehn Jahre später (Treffen im<br />

August 1941) vertieft werden. Während sich angesichts KD<br />

II,2 eine gewisse Nähe zwischen Barth und Bonhoeffer in<br />

ethischen Fragen einstellt, so wird sich hinsichtlich KD I/2<br />

und den Tegeler Briefen zeigen, daß beide Theologen in der<br />

Religionsauffassung auseinandergehen.<br />

Bonhoeffer formuliert von ›Sanctorum Communio‹ über<br />

›Akt und Sein‹ bis zur ›Ethik‹ Religionskritik im Duktus der<br />

Dialektischen <strong>Theologie</strong>; in ›Widerstand und Ergebung‹ je-<br />

77) Vgl. den Brief vom 8.6.1944 (WEN 359); auch K. BARTH würdigt später<br />

<strong>Bonhoeffers</strong> Ethik; vgl. KD III/4 etwa 14 f.21 f.460 f.<br />

78) Vgl. WEN 223 f. Wir sahen, wie <strong>Bonhoeffers</strong> Beobachtung aus der<br />

Ethik (DBW 6, 143), daß er sich in »ernsten Situationen« eher zu<br />

einem ›vorletzten Verhalten‹, etwa zum »Schweigen«, statt zum<br />

»biblischen Trost« entscheide, in ›Widerstand und Ergebung‹ aufgenommen<br />

und religionskritisch zugespitzt wird.<br />

64


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 65<br />

3. Aus dem Schatten der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

doch werden terminologische Anklänge an K. Barth nur<br />

noch vereinzelt auftreten.<br />

g) Ergebnis<br />

Die rezeptionsgeschichtliche Frage, woher die Religionskritik<br />

<strong>Bonhoeffers</strong> stammt, ist an dieser Stelle leicht zu beantworten:<br />

Jede religionskritische Aussage <strong>Bonhoeffers</strong> vor<br />

1944 ist auf Karl Barths theologische Religionskritik zurückzuführen.<br />

Ein gewisser Höhepunkt der <strong>Bonhoeffers</strong>chen<br />

Barth-Rezeption war um das Jahr 1930 zu beobachten (Habilitation,<br />

USA-Stipendiat, Privatdozentur). In ›Akt und<br />

Sein‹ folgt beispielsweise Bonhoeffer ausschließlich dem<br />

Barthschen Religionsverständnis, wie es ihm im ›Römerbrief‹<br />

und der ›Christlichen Dogmatik im Entwurf‹ vorgegeben<br />

war.<br />

Ist die Wendung Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

mit dem Namen Karl Barth verbunden, so ist<br />

auch <strong>Bonhoeffers</strong> Folgerung aus der Religionskritik in kritischer<br />

Auseinandersetzung mit dem Dialektiker erwachsen.<br />

Dem soll nun unter dem Stichwort Offenbarungspositivismus<br />

nachgegangen werden.<br />

3. Aus dem Schatten der Dialektischen <strong>Theologie</strong>:<br />

Der Einwand <strong>des</strong> Offenbarungspositivismus<br />

a) Das Problem<br />

Kaum ein Begriff ist so charakteristisch für eine Kritik an<br />

K. Barth geworden wie <strong>Bonhoeffers</strong> Einwand <strong>des</strong> Offenbarungspositivismus.<br />

Es ist in<strong>des</strong>sen erstaunlich, daß gerade<br />

ein so häufig zitierter Begriff kaum eine inhaltliche Klärung<br />

fand. ›Offenbarungspositivismus‹ ist eher zu einem<br />

Schlagwort geworden, wie die beträchtliche Wirkungsge-<br />

65


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 66<br />

A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

schichte offenlegt. Während K. Barth selbst noch einräumte,<br />

sich vielleicht »tatsächlich gelegentlich offenbarungspositivistisch<br />

benommen und geäußert«79 zu haben, setzt<br />

die Barth-Forschung andere Akzente. Bonhoeffer habe<br />

Barth mißverstanden (Fr.-W. Marquardt)80, <strong>des</strong>halb müsse<br />

sein provozierender Begriff ganz aus dem theologischen<br />

Vokabular ›ausgelöscht‹ werden (S. Fisher)81.<br />

Meinen einige Interpreten, ›Offenbarungspositivimus‹<br />

ziele auf Barths Offenbarungslehre ab (R. Prenter, E. Feil, R.<br />

T. Osborn)82, so sehen andere einen Angriff <strong>Bonhoeffers</strong> auf<br />

den Calvinismus (J. H. Burtness, G. B. Kelly)83. Wieder andere<br />

halten die Rede vom Offenbarungspositivismus für ein<br />

79) Brief an P. W. HERRENBRÜCK vom 21.12.1952, in: MW I, 122.<br />

80) F.-W. MARQUARDT, <strong>Theologie</strong> und Sozialismus, 3. Aufl., München<br />

1985, 245 f.<br />

81) S. FISHER, Revelatory Positivism? Barth’s earliest theology and the<br />

Marburg School, Oxford 1988, 313 f.: »[...] the term ›revelatory positivism‹<br />

is best deleted from the theological dictionary«. S. Fisher folgt<br />

ausdrücklich Fr.-W. MARQUARDT, op. cit. (vgl. Fisher, op. cit., Introduction<br />

1 ff., bes. 6 Anm. 6).<br />

82) R. PRENTER, <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer und Karl Barths Offenbarungspositivismus,<br />

in: MW III, 1969, 11 ff. Für E. FEIL, Die <strong>Theologie</strong> 350,<br />

»besteht u. E. der Offenbarungspositivismus in der Abstraktion, in<br />

der Barth verblieben ist«. R. T. OSBORN, Positivism and Promise in<br />

the Theology of Karl Barth, in: Interpretation 8/ 1971, 283–30, folgt<br />

R. Prenter (288 f.), würdigt <strong>des</strong>sen Darstellung der Offenbarungslehre<br />

in K. Barths ›Römerbrief‹ (289), kritisiert dann aber R. Prenters<br />

Darstellung von K. Barths Offenbarungsverständnis der KD (290).<br />

Insgesamt sieht T. R. Osborn <strong>Bonhoeffers</strong> Kritik gegen K. Barths<br />

christozentrische Offenbarungslehre gerichtet (298).<br />

83) J. H. BURTNESS, Als ob es Gott nicht gäbe. Bonhoeffer, Barth und<br />

das lutherische finitum capax infiniti, in: IBF 6, 1983, 167 ff., bes.<br />

172: »Von ›Akt und Sein‹, wo ›der passionierte Lutheraner mit dem<br />

standhaften Calvinisten über dem finitum capax sive incapax infi-<br />

66


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 67<br />

3. Aus dem Schatten der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

methodisches Problem (H. Ott et al)84. Oder geht es bloß<br />

um die fehlende politische Ausrichtung (T. R. Peters)85?<br />

Wendet er sich gegen ein »Schwarz-Weiß-Denken« (H.-J.<br />

Abromeit)86? Stammt der Begriff vielleicht gar nicht von<br />

niti handgemein wurde‹, bis zu den ›Tegeler Briefen‹, in denen<br />

Barth <strong>des</strong> ›Offenbarungspositivismus‹ bezichtigt wird (5. Mai<br />

1944), hält Bonhoeffer neben seiner bleibenden Zustimmung seine<br />

Kritik durch« G. B. KELLY, <strong>Bonhoeffers</strong> ›non religious‹ Christianity:<br />

Antecedents and Critique, in: Bijdr 37, 1976, 118 ff., hält das lutherische<br />

finitum capax infiniti für eine Erklärungsmöglichkeit für<br />

<strong>Bonhoeffers</strong> Einwand <strong>des</strong> Offenbarungspositivismus (133 f.) und<br />

folgert im Blick auf K. Barth: »God’s revelation in Christ stands over<br />

and against the world« (135).<br />

84) Vgl. H. OTT, Wirklichkeit und Glaube I: Zum theologischen Erbe<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong>, Zürich 1966. Bonhoeffer darf »der Sache nach<br />

als Barthianer bezeichnet werden. [...] Was aber den Stil, die Diktion,<br />

die methodische Intention <strong>des</strong> Denkens anbetrifft, geht er<br />

mit seinen Frühschriften einen Weg, der sich von demjenigen Karl<br />

Barths charakteristisch unterscheidet« (113). Für den Offenbarungspositivismus<br />

gilt, daß er methodisch aus der an sich richtigen<br />

»Grund-Behauptung [...] ein System von Sätzen entwickelt, die,<br />

sofern die Grundvoraussetzung, die axiomatische Behauptung<br />

stimmt, alle in gleicher Weise und mit gleichem Gewicht wahr sein<br />

müssen. So entsteht ein monolithischer Block « (110). Und »in der<br />

Tat« sei es »die Methode der ›Kirchlichen Dogmatik‹, daß aus einem<br />

christologischen Systemprinzip alles gefolgert wird« (113).<br />

85) Vgl. T. R. PETERS, Die Präsenz <strong>des</strong> Politischen in der <strong>Theologie</strong><br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong>. <strong>Eine</strong> historische Untersuchung in systematischer<br />

Absicht (= Die Präsenz), 1976, 172: »<strong>Eine</strong> in sich geschlossene,<br />

positivistische Offenbarungstheologie und die ihr entsprechende<br />

Kirche vermögen nicht handlungsorientierend zu sein, ja befähigen<br />

nicht einmal zur engagierten Wahrnehmung der gesellschaftlichen<br />

Vorgänge«.<br />

86) H.-J. ABROMEIT, Das Geheimnis Christi. <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong> erfahrungsbezogene<br />

Christologie (= Das Geheimnis), 1991, 168.<br />

67


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 68<br />

A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

Bonhoeffer selbst (G. Krause)87? – Die Liste an Interpretationsmustern<br />

kann noch erweitert werden; es wird sicher<br />

von allen Interpreten etwas Richtiges beobachtet. Auffällig<br />

ist nur, daß keiner der genannten Interpreten sich wirklich<br />

auf die Quellen einzulassen scheint.<br />

87) Bonhoeffer weist im Brief vom 8.6.1944 auf die Originalität seiner<br />

Begriffsbildung hin, wenn er schreibt: »›Offenbarungspositivismus‹,<br />

wie ich mich ausdrücke« (WEN 359). G. KRAUSE, Art. ›Bonhoeffer,<br />

<strong>Dietrich</strong>‹, in: TRE VII, 1981, 64, Anm.1, findet den Begriff<br />

Offenbarungspositivismus formal schon bei dem Kirchenhistoriker<br />

E. SEEBERG belegt und führt dazu den ersten Band von<br />

›Luthers <strong>Theologie</strong>‹ aus dem Jahr 1929 an – ohne jedoch der Verwendung<br />

<strong>des</strong> Begriffs dort inhaltlich nachzugehen. ›Offenbarungspositivismus‹<br />

ist im relevanten II. Kapitel, 4. ›Gott und seine<br />

Offenbarung‹ (182ff), nur zweimal bei E. Seeberg bezeugt (185 u.<br />

218) und ist dem Inhalt nach eine Zusammensetzung von M. Luthers<br />

Offenbarungsverständnis in der Abendmahlslehre und dem<br />

»okkamistischen Positivismus« (216). »Luther denkt den Geist nicht<br />

abstrakt = rational [...], sondern konkret = geschichtlich; Geist ist<br />

nicht an sich, sondern immer in konkreter Erscheinung, im Wort,<br />

im Sakrament und in den Heiligen Gottes, d. h. in der Kirche« (216).<br />

Offenbarungspositivismus steht in Zusammenhang mit konkreter<br />

Geschichtlichkeit. Nach E. Seeberg wandelt »Luther Christus [...] in<br />

eine geschichtliche und konkrete Form« (200). Die Abhängigkeit<br />

<strong>des</strong> Begriffs Offenbarungspositivismus von E. Seebergs Luther-<br />

Buch, die Krause annimmt, ist zumin<strong>des</strong>t inhaltlich widerlegt.<br />

Nicht auszuschließen ist freilich, daß Bonhoeffer die Schrift E. Seebergs<br />

kannte; er wurde bei seinem Vater, R. Seeberg, 1927 promoviert.<br />

Doch wenn der Begriff Offenbarungspositivismus aus der<br />

Seeberg-Lektüre für Bonhoeffer wichtig geworden wäre, hätten wir<br />

68


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 69<br />

3. Aus dem Schatten der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

b) Die Quellen<br />

Offenbarungspositivismus wird Barth an drei Stellen vorgehalten<br />

- und nur dort! Die drei Briefe sind auf den 30. 4.,<br />

5.5. und 8. 6.1944 datiert;88 sie entwickeln <strong>Bonhoeffers</strong> neue<br />

Gedanken zur ›Religionslosigkeit‹, Thema der Briefe ist<br />

›Religion‹. Sie sind gleich strukturiert: Bonhoeffer übt zunächst<br />

Religionskritik, würdigt Barth als denjenigen, der<br />

schon früher einen Niederschlag, etwa in ›Sanctorum Communio‹,<br />

›Akt und Sein‹ oder der ›Christologievorlesung‹ erwarten dürfen<br />

und nicht erst 17 Jahre nach Erscheinen von Seebergs Buch in den<br />

Gefängnisbriefen <strong>des</strong> Frühsommers 1944. Der Begriff Offenbarungspositivismus<br />

ist darüber hinaus in seiner Zusammensetzung<br />

theologisch unbestimmt. Bonhoeffer gebraucht die Zusammensetzung<br />

Offenbarungs-Positivismus anders als E. Seeberg. Bestimmt<br />

dieser den »okkamistischen Positivimus« als »konkretgeschichtlich«,<br />

so meint der an K. Barth kritisierte Positivismus im<br />

weiteren Sinne »die Beziehungslosigkeit der Glaubenssätze [...],<br />

kraft welcher sie als bloße Gegebenheiten (posita) ohne jede anderweitige<br />

Begründung einfach hingenommen werden müssen«<br />

(Zitat R. Prenter art. cit. 13). Nicht nur das Positivismusverständnis<br />

ist verschieden, auch das in der Zusammensetzung Offenbarungspositivismus<br />

zugrunde gelegte Verständnis von Offenbarung, das<br />

E. Seeberg aus der Luther-Exegese gewinnt. Nach ihm ist »natürliche<br />

Gotteserkenntnis [...] als Vorstufe der übernatürlichen zu<br />

werten« (206). »Natürliche Gotteserkenntnis ist auch ein Geschenk<br />

Gottes« (203; vgl. etwa 202 f. oder 207). Gerade diese Würdigung der<br />

theologia naturalis macht den Gebrauch <strong>des</strong> Wortes ›Offenbarungspositivismus‹<br />

aus der Seeberg-Lektüre für Bonhoeffer gegen<br />

K. Barth unbrauchbar. In der Ablehnung der Natürlichen <strong>Theologie</strong><br />

sind sich Barth und Bonhoeffer einig. Der Begriff Offenbarungspositivismus<br />

ist also in seiner theologischen Bedeutung bei<br />

Seeberg nicht vorbereitet, wenn auch der Begriff bei ihm auftritt.<br />

Offenbarungspositivismus ist formal, nicht aber inhaltlich vor<br />

Bonhoeffer bezeugt.<br />

88) Vgl. WEN 303 ff.311 ff.355 ff.<br />

69


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 70<br />

A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

diese begonnen habe, kritisiert ihn dann mit dem fragwürdigen<br />

Begriff und folgert für sich die nichtreligiöse Interpretation.<br />

Die »logische Konsequenz«89 aus der Religionskritik<br />

ist für Bonhoeffer die nichtreligiöse Interpretation,<br />

die bei Barth aber ausbleibt und den Offenbarungspositivismus<br />

auf den Plan ruft. So wird die Barthkritik an allen<br />

drei Stellen ganz parallel eingeführt.<br />

Offenbarungspositivimus steht ausschließlich im Kontext<br />

von Barths Religionsbegriff. Bonhoeffer beobachtet<br />

eine Entwicklung in der Religionsbetrachtung seines Lehrers,<br />

deren Endpunkt er zu kritisieren scheint.<br />

Neben generelleren Versuchen, den Zusammenhang<br />

von Offenbarungspositivismus und Religionskritik zu<br />

erhellen (D. Jenkins, J. A. Phillips, C. E. Krieg)90, gibt es auch<br />

konkrete Hinweise, an welche Schriften K. Barths Bonhoef-<br />

89) G. B. KELLY, art. cit. 130 – s. FN 83 (orig. »logical conclusion«).<br />

90) D. JENKINS, Beyond Religion, London 1962, 26 ff., beobachtet ein<br />

Verhältnis von KD I/2 und <strong>Bonhoeffers</strong> Religionsverständnis nach<br />

WEN; dieser Gedanke wird dann durch J. A. PHILLIPS, The Form of<br />

Christ in the World, London 1967, wieder aufgenommen (202 f.).<br />

C. E. KRIEG, Bonhoeffer’s Letters and Papers, in: RelSt 9, 1973, 81–92,<br />

geht davon aus, daß K. Barth und Bonhoeffer zunächst in der<br />

Religionskritik übereinstimmen. Dann aber wende sich Bonhoeffer<br />

gegen K. Barth, der dann wieder von einer grundsätzlich ›religiösen‹<br />

Haltung bestimmt sei und nicht die Folgerung aus der<br />

Religionskritik zöge. »Barth <strong>des</strong>cribes religion as man’s attempt to<br />

have and possess God, in contrast to genuine faith which is a gift of<br />

grace. In other words, for Barth religion is a perversion of a faithful<br />

response to grace. Bonhoeffer is sympathetic to Barth’s distinctions<br />

at this point. Nevertheless, Barth, too, is doing ›religious‹ theology<br />

according to Bonhoeffer. Barth’s greatest shortcoming, as far as<br />

Bonhoeffer was concerned, was that he offered no non-religious<br />

interpretation of biblical concepts« (81).<br />

70


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 71<br />

3. Aus dem Schatten der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

fer gedacht habe: Sind es religionskritische Schriften Barths<br />

von 1919 (A. Pangritz)91, von 1920 (B.-E. Benkston)92 oder von<br />

1938 (G. Sauter, A. J. Wesson, E. Grin)93?<br />

Wogegen wendet sich Bonhoeffer? In welcher Schrift<br />

beobachtet er ein Versagen Barths, zu dem er formal in allen<br />

drei Briefen mit dem Wörtchen dann überleitet? Den ›Rö-<br />

91) A. PANGRITZ, Karl Barth in der <strong>Theologie</strong> <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong>,<br />

Berlin 1989, 88, geht davon aus, daß der Vorwurf <strong>des</strong> Offenbarungspositivismus<br />

auf den ›Tambacher Vortrag‹ K. Barths von 1919 »gemünzt«<br />

sein könnte. Es müßte jedoch »gefragt werden, ob hier<br />

nicht ein fundamentales Mißverständnis <strong>des</strong> ›Tambacher Vortrages‹<br />

auf <strong>Bonhoeffers</strong> Seite vorliegt« (ibid). A. Pangritz bleibt zunächst<br />

also bei der Mißverständnis-These Fr.-W. Marquardts; er<br />

bietet dann andere Erklärungsmodelle für <strong>Bonhoeffers</strong> Einwand:<br />

er richte sich gegen H. Asmussen (82 ff.), entzünde sich an K. Barths<br />

dialektischer Religionswürdigung in »der 2. Auflage <strong>des</strong> ›Römerbriefs‹,<br />

dann aber auch in der ›christlichen‹ und ›Kirchlichen Dogmatik‹<br />

[...]« (108).<br />

92) B.-E. BENKTSON, Kristus och den myndigvordna Världen, in: SvTK<br />

40, 1964, 94 ff.<br />

93) G. SAUTER, Zur Herkunft und Absicht der Formel ›Nicht-religiöse<br />

Interpretation biblischer Begriffe‹ bei <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer, in:<br />

EvTh 25, 1962, 283 ff.; A. J. WESSON, Bonhoeffer’s use of ›Religion‹,<br />

in: LQHR 192, 1967, 50 f., stellt fünf Jahre nach G. Sauter einen begrifflichen<br />

Zusammenhang von KD I/2 und ›Widerstand und Ergebung‹<br />

her. Ein Element der Religionskritik <strong>Bonhoeffers</strong>, das ›Deusex-machina-Konzept‹,<br />

würde sich bei K. Barth im Abschnitt ›Das<br />

Problem der Religion in der <strong>Theologie</strong>‹ (305 ff.) aus KD I/2 finden.<br />

Leider vertieft A. J. Wesson diese Einsichten nicht weiter. Vgl. auch<br />

E. GRIN, <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer und die ›nicht-religiöse‹ Interpretation<br />

biblischer Begriffe (1962), in: P. H. A. NEUMANN (Hrsg.),<br />

Religionsloses Christentum und nicht-religiöse Interpretation bei<br />

<strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer, Darmstadt 1990, 190–209; Grin weist ebenfalls<br />

auf den sachlichen Zusammenhang von KD und WEN (201 f.).<br />

71


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 72<br />

A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

merbrief‹ (von 1922)94 meint er nicht, denn ihn hebt er in<br />

Tegel positiv hervor. Hier werde »der Gott Jesu Christi<br />

gegen die Religion ins Feld geführt«95. Meint er eine frühere<br />

Schrift? Spricht Bonhoeffer im Brief vom 30. 4. sachlich von<br />

»Barth, der als einziger in diese Richtung zu denken angefangen<br />

hat«96, so heißt es in den Briefen vom 5. 5. und 8. 6.<br />

historisch: Barth habe »als erster«97 mit der Religionskritik<br />

begonnen.<br />

B.-E. Benktson98 bezieht die Notiz vom 30. 4. 44 auf den<br />

religionskritischen Aufsatz K. Barths von 1920, nämlich<br />

›Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke‹, den Bonhoeffer<br />

aus ›Das Wort Gottes und die <strong>Theologie</strong>‹ kannte. In diesem<br />

Aufsatz heißt es: »[...] Jesus Christus ist am allerwenigsten<br />

ein Gegenstand religiöser und mystischer Erlebnisse«<br />

(70 f.). Benktson beobachtet zu Recht manche Parallelen zu<br />

Tegeler Äußerungen; doch findet er diese nur hinsichtlich<br />

der Religionskritik. <strong>Eine</strong> nichtreligiöse Interpretation hingegen<br />

– wie sie für Bonhoeffer aus der Religionskritik folgt –<br />

ist dem Aufsatz K. Barths nicht zu entnehmen. Es mag richtig<br />

sein, daß er in Tegel auch an diesen frühen Aufsatz dachte,<br />

wie er in der Religionskritik grundsätzlich an K. Barth<br />

anknüpft. Doch das zeichnet den Aufsatz nicht vor dem<br />

›Römerbrief‹ oder etwa der KD aus. B.-E. Benkston hingegen<br />

94) Obwohl Bonhoeffer auch die 1. Aufl. <strong>des</strong> Römerbriefkommentars<br />

kannte, rekurriert er durchgängig auf die 2. Aufl. (vgl. etwa DBW<br />

1,109, Anm. 28; 97, Anm. 71; DBW 2,75, Anm. 1; DBW 10,457, Anm 8;<br />

459, Anm. 13; WEN, 359).<br />

95) WEN 359.<br />

96) WEN 396 (Hervorh. R.W.).<br />

97) WEN 312.359.<br />

98) B. E. BENKTSON, art. cit. 1964 (s. FN 92), 94 ff.<br />

72


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 73<br />

3. Aus dem Schatten der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

geht davon aus, daß Bonhoeffer am 30. 4. ausschließlich an<br />

diesen – wie er selber schreibt – »ein Vierteljahrhundert vor<br />

›Widerstand und Ergebung‹«99 gehaltenen Aufsatz dachte.<br />

Dann hätte man doch zumin<strong>des</strong>t einen Hinweis auf die<br />

nichtreligiöse Interpretation bei K. Barth erwartet, die nach<br />

<strong>Bonhoeffers</strong> Worten vom 30. 4. aber ausgeblieben ist. <strong>Eine</strong><br />

nichtreligiöse Interpretation der biblischen Begriffe findet<br />

B.-E. Benktson im Barth-Aufsatz von 1920 nicht. Das Unternehmen<br />

einer nichtreligiösen Interpretation ist weder Sache<br />

<strong>des</strong> frühen K. Barth noch Sache eines K. Barth der »regulären«<br />

Dogmatik.<br />

c) Die Bedeutung der Kirchlichen Dogmatik<br />

Sowohl der ›Römerbrief‹ (1922) als auch der früher Aufsatz<br />

Barths (von 1920) scheiden für die Deutung <strong>des</strong> Offenbarungspositivismus<br />

aus. Nun fällt weiter auf, daß Bonhoeffer<br />

in Tegel auch von der ›wahren Religion‹ sprechen kann.<br />

Das ließe die Frage zu, ob sich hier eine positive Rezeption<br />

von KD I/2 § 17 (1938) einstellt, in der Barth die reformatorische<br />

Unterscheidung von wahrer und falscher Religion aufnimmt.<br />

G. Sauter schreibt über den 3. Abschnitt von § 17 der<br />

KD I/2 ›Die wahre Religion‹: »Das könnte Bonhoeffer zu der<br />

Bemerkung bewogen haben, daß ›Christentum [...] immer<br />

eine Form (vielleicht die wahre Form) der Religion gewesen‹<br />

sei«.100 G. Sauters Beobachtung ist von Bedeutung, weil sie<br />

den unmittelbaren Einfluß von KD I/2 auf die Tegeler Religionsthematik<br />

zeigt. Aber gerade im Hinblick auf K.<br />

99) Ibid, 94 (Schwedisches Zitat in dt. wiedergegeben, eig. Übers.).<br />

100) G. SAUTER, art. cit. 1962 (s. FN 93), 291 (mit Zitat aus WEN 305).<br />

73


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 74<br />

A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

Barths Rede von der ›wahren Religion‹ scheint das eher unwahrscheinlich.<br />

Würdigt Bonhoeffer nicht gerade K. Barths<br />

Religionskritik? Erwartet er nicht gerade aus dieser Religionskritik<br />

eine Folgerung, der K. Barth mit seiner Religionswürdigung<br />

im dritten Abschnitt <strong>des</strong> § 17 wohl am<br />

wenigsten gerecht wird? Es ist dann wohl eher an den zweiten<br />

und ersten Abschnitt <strong>des</strong> Paragraphen zu denken. Aber<br />

vielleicht bezieht sich Bonhoeffer in dieser eher beiläufigen<br />

Notiz vom ›Christentum als der wahren Religion‹ gar nicht<br />

auf K. Barth. Auch W. Dilthey, den Bonhoeffer zu dieser Zeit<br />

liest, spricht von ›wahrer Religion‹101. Im übrigen haben<br />

wir gesehen, daß Religion bei Bonhoeffer immer dann in<br />

ein kritisches Licht tritt, wenn sie unter dem Einfluß der<br />

Dialektischen <strong>Theologie</strong> steht. Daneben existieren durch<br />

das ganze Corpus Bonhoefferianum hindurch würdigende<br />

oder zumin<strong>des</strong>t religionsneutrale Äußerungen, die offenkundig<br />

nicht unter dem Einfluß K. Barths entstanden sind.<br />

So sahen wir im Blick auf ›Sanctorum Communio‹, wie sich<br />

die religionskritischen Aussagen auf dem Hintergrund der<br />

Dialektischen <strong>Theologie</strong> interpretieren ließen, die religionswürdigenden<br />

Aussagen hingegen auf dem Hintergrund<br />

der Liberalen <strong>Theologie</strong> (etwa A. Ritschls). Darüber<br />

hinaus war R. Seebergs ›Dogmatik‹ wichtige Interpretationshilfe,<br />

die in dem ersten Band auf über zweihundert<br />

Seiten vom »Wesen der Religion« und vom »Erweis <strong>des</strong> Christentums<br />

als der absoluten Religion« (Dogmatik Bd. I, 15–<br />

222) handelt: Auch von R. Seeberg könnte Bonhoeffer also<br />

101) W. DILTHEY, Weltanschauung und Analyse <strong>des</strong> Menschen seit<br />

Renaissance und Reformation (= Weltanschauung und Analyse),<br />

Ges. Schr. II, 337.<br />

74


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 75<br />

3. Aus dem Schatten der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

die Rede vom ›Christentum als der wahren Religion‹ haben.<br />

Bonhoeffer rezipiert in Tegel den Barthschen Religionsbegriff<br />

aus der KD I/2 § 17 nicht. Im Gegenteil: Er kritisiert<br />

gerade eine Veränderung in der Auffassung <strong>des</strong> Dialektikers.102<br />

Nun bleibt die entscheidene Frage, ob er vielleicht<br />

negativ auf § 17 rekurriert. Damit nehmen wir die Beobachtung<br />

auf, daß der Einwand <strong>des</strong> Offenbarungspositivismus<br />

ausschließlich im Kontext <strong>des</strong> Barthschen Religionsbegriffs<br />

geäußert wird.<br />

Die Religionsbetrachtung der KD unterscheidet sich<br />

vom ›Römerbrief‹ darin, daß Barth einen theologischen Religionsbegriff<br />

ausbildet. Religionskritik wird nun »zur integrativen<br />

Aufgabe der <strong>Theologie</strong>«103. Wird Religion beim<br />

jungen Barth als ›Negative der Gnade‹ kritisiert, so beim<br />

Barth der regulären Dogmatik als Antwort auf Gottes Handeln<br />

gewürdigt. Schon in der ›Dogmatik im Entwurf‹ geht<br />

Barth in § 18 über eine rein kritische Betrachtung von Religion<br />

hinaus und fragt nach ihrer ›Annahme‹ im Licht der<br />

Offenbarung. Religion kann »angenommen und geheiligt<br />

werden«104. Grundsätzlicher spricht Barth im 3. Abschnitt<br />

von § 17 der KD I/2 von der ›wahren Religion‹. »Offenbarung<br />

kann Religion annehmen und auszeichnen als wahre Reli-<br />

102) <strong>Eine</strong> auffällige formale Beobachtung betrifft die die Barthkritik<br />

einleitende Konjunktion dann (im Text hervorgehoben). Es ist zu<br />

fragen, ob Bonhoeffer an den § 17 von KD I/2 gedacht hat, bei dem er<br />

die Wendung von Religionskritik (in Abschnitt 2 <strong>des</strong> § 17) zur offenbarungstheologischen<br />

Religionswürdigung (in Abschnitt 3) beobachtet,<br />

die er dann als Offenbarungspositivismus titulierte.<br />

103) R. GRUHN, Religionskritik als Aufgabe der <strong>Theologie</strong>, in: EvTh 39,<br />

1979, 234–255, Zitat 255.<br />

104) Zitiert nach Karl Barth Gesamtausgabe 14, Zürich 1982, 306 ff.; Bezug<br />

317.<br />

75


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 76<br />

A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

gion«.105 Um von wahrer Religion sprechen zu können, muß<br />

notwendig der Gnadencharakter betont werden. Wahre Religion<br />

lebt »durch Gnade von Gnade«106. Das Gefälle Gnade<br />

– Religion wird groß, wo die Frage nach der Religion<br />

ungebrochen eine »theologische Fragestellung«107 bleiben<br />

soll, wo Gott »souverän«108 am Menschen handelt.<br />

Offenbarung und Religion sind nicht systematisch zusammenzuordnen,<br />

»d. h. als vergleichbare Bereiche nebeneinanderzustellen,<br />

gegeneinander abzugrenzen und miteinander<br />

in Beziehung zu setzen« (320). Das Verhältnis von<br />

Religion und Offenbarung ist also nicht dialektisch zusammenzudenken.<br />

K. Barth verwendet den Begriff ›dialektisch‹<br />

auch gar nicht in diesem Zusammenhang; vielmehr geht es<br />

um die »Überlegenheit« (321) der Offenbarung über die<br />

Religion. <strong>Eine</strong>r »theologischen Betrachtung der Religion«<br />

(326 f.) folgend, spricht K. Barth konsequent von der Offenbarung<br />

her über Religion (etwa gegen G. Hegel 325 f.). So<br />

ist die anthropologische Frage, was Religion sei, von der<br />

theologischen Fragestellung nach der Offenbarung zu beantworten.<br />

»In der Offenbarung sagt Gott dem Menschen,<br />

daß er Gott und daß er als solcher sein, <strong>des</strong> Menschen, Herr<br />

ist« (328). Doch indem sich Gott offenbart, trifft er den Menschen<br />

nicht in einem »neutralen Zustand« (329) an, sondern<br />

als »religiös(en) Menschen«, d. h. als solchen, der Gott von<br />

sich aus erkennen will (329). Religion wird <strong>des</strong>halb zum<br />

»Widerstand« gegen Offenbarung: Sie schiebt »an die Stelle<br />

der göttlichen Wirklichkeit, die sich uns in der Offen-<br />

105) KD I/2, 357.<br />

106) Ibid, 304 und 325.<br />

107) Ibid, 323.<br />

108) Ibid, 322.<br />

76


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 77<br />

3. Aus dem Schatten der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

barung darbietet und darstellt, ein Bild von Gott, das der<br />

Mensch sich eigensinnig und eigenmächtig selbst entworfen<br />

hat« (329). Für K. Barth ist resümierend deutlich, »es ist<br />

Gottes Offenbarung in Jesus Christus und sie allein, durch<br />

die diese Charakterisierung der Religion als Götzendienst<br />

und Werkgerechtigkeit und damit ihre Entlarvung als<br />

Unglaube wirklich vollzogen wird« (343). Religion kann<br />

vom Offenbarungsgeschehen her dann unter den Stichworten<br />

›Nicht-Notwendigkeit‹ (344), ›Schwäche‹ (345), ›Mystik‹<br />

(348 f.) und ›Atheismus‹ (348 f.) charakterisiert werden.<br />

Wir beobachten: Die Religionskritik mündet mit der<br />

›Kirchlichen Dogmatik‹ in eine offenbarungspositive Religionsbetrachtung,<br />

statt – wie Bonhoeffer es erwartet – zu<br />

einer nichtreligiösen Interpretation zu führen. An die Stelle<br />

der nichtreligiösen Interpretation von biblischen Begriffen<br />

tritt bei Barth eine offenbarungspositive Interpretation von<br />

Religion.<br />

Bonhoeffer hat von K. Barth durch KD I/2 keine wegweisenden<br />

Impulse für seine Religionskritik erhalten.109<br />

Hat Barth beispielsweise den Gesetzescharakter von Religion<br />

in KD I/2 kritisiert, so erwartet Bonhoeffer eine nichtreligiöse<br />

oder auch gesetzesfreie Interpretation der biblischen<br />

περιτοµή. Er möchte den religionskritischen Ansatz<br />

von Barth kritisch weiterdenken, ihn nicht institutionalisieren<br />

und einen theologischen Religionsbegriff ausbilden:<br />

Wird Religion kritisiert, so ist die Konsequenz, ohne<br />

Religion von Gott zu reden. Kritisiert Offenbarungsposi-<br />

109) Das würde auch erklären, warum an den beobachteten Stellen der<br />

Ethik, an denen Barthsche Terminologie begegnet, diese auf ›Sanctorum<br />

Communio‹ und damit den frühen K. Barth zurückweist.<br />

77


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 78<br />

A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

tivismus die Theoriebildung von Religion, so meint Religionslosigkeit<br />

bei Bonhoeffer die Theorielosigkeit von Religion.<br />

Für Barth ist Religion eine anthropologische Größe. Sie<br />

gehört zum sündhaften Sein <strong>des</strong> Menschen: Wie der Mensch<br />

nicht ohne Sünde sein kann, so haftet ihm auch Religion an.<br />

Wie der Sünder gerechtfertigt wird, so auch die dem Menschen<br />

anhaftende Religion. Religion wird zum integrativen<br />

Bestandteil der Dogmatik und findet einen festen theologischen<br />

Ort in der Rechtfertigungslehre. Im Rahmen der reformatorischen<br />

Lehre von der iustificatio impii wird auch<br />

die Religion, sofern sie christliche, wahre Religion ist, im<br />

Lichte der Offenbarung gerechtfertigt.110 Bonhoeffer hingegen<br />

möchte den Menschen gerade nicht mit, sondern<br />

ohne Religion verstehen. Er reflektiert auch an keiner Stelle<br />

seines Werkes den Zusammenhang von Sünden- und Religionsverständnis!<br />

Im Gegenteil: In der Tegeler <strong>Theologie</strong><br />

soll der Mensch gerade nicht auf seine Sündhaftigkeit angesprochen<br />

werden, sondern auf seine Mündigkeit. Es geht<br />

nicht um den religiösen Menschen – im Sinne K. Barths –,<br />

sondern um den religionslosen. Und ist dem religionslosen<br />

Menschen durch ein neues Verständnis von Religion geholfen?<br />

Bonhoeffer meint im Brief vom 30. 4., daß für den »reli-<br />

110) Vgl. auch C. GREEN, The Sociality of Christ and Humanity, <strong>Dietrich</strong><br />

Bonhoeffer’s early Theology 1927–133, Missula/Montana,<br />

1975, 309: »[...] there is no sense in which his [Bonhoeffer’s, R.W.]<br />

contemporary reinterpretation of Christianity involves any rehabilitation<br />

or justification of religion as he defines it. In this his<br />

position is different from Barth who, after his attack on all religion<br />

(including Christianity) as unbelief, presents a view of Christianity<br />

as ›true religion‹ under the rubric of the doctrine of justification by<br />

grace.«<br />

78


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 79<br />

3. Aus dem Schatten der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

gionslosen Arbeiter« mit dem Offenbarungspositivismus,<br />

der »im wesentlichen Restauration« geblieben sei, nichts<br />

Entscheiden<strong>des</strong> gewonnen ist (WEN 306). In der Religionslosigkeit<br />

bekomme vielmehr die Arkandisziplin »neue<br />

Wichtigkeit« (ibid).<br />

Steht K. Barths Offenbarungspositivimus im Zusammenhang<br />

mit Religion, so <strong>Bonhoeffers</strong> nichtreligiöse Interpretation<br />

in einer Dialektik mit der Arkandisziplin: Die<br />

›Jungfrauengeburt‹ und die ›Trinität‹111 werden besser der<br />

Arkandisziplin unterworfen, angebetet und vor Profanierung<br />

geschützt, als regulär-dogmatisch expliziert.<br />

d) Andere Stimmen<br />

Offenbarungspositivismus zielt nach der vorangegangenen<br />

Untersuchung auf den Religionsbegriff K. Barths ab und<br />

nicht auf seine Offenbarungslehre, wie andere Interpreten<br />

meinen.<br />

R. Prenter 112 ordnet Barths Offenbarungslehre unter den Gesichtspunkten<br />

›Aktualismus‹, ›Analogismus‹ und ›Universalismus‹. Aktualismus<br />

bedeutet: »Die Offenbarung als solche hat keine Ausdehnung<br />

in der Zeit. Sie geschieht je und je« (22). Analogismus ist<br />

»das auf die Offenbarung Hinweisende oder das die Offenbarung<br />

gleichnisweise Abspiegelnde in dieser Welt« (27). Universalismus »ist<br />

die Betonung der Überzeitlichkeit der Offenbarung« (29). R. Prenter<br />

gewinnt die drei Gesichtspunkte der Offenbarungslehre K. Barths<br />

aus <strong>des</strong>sen ›Römerbrief‹ von 1922 und hält sie dann pauschalisierend<br />

in der ganzen KD für bestimmend. In der Tat beobachteten wir<br />

einen von K. Barth verschiedenen Akzent in der Offenbarungslehre<br />

bereits 1929. In ›Akt und Sein‹ setzt sich Bonhoeffer mit dem Aktualismus<br />

K. Barths auseinander und kommt zu der – auch bei R. Pren-<br />

111) Vgl. WEN 312.<br />

112) R. PRENTER, art. cit. 1960, (FN 82) 11–41.<br />

79


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 80<br />

A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

ter zitierten – Formel: »Gott ist frei nicht vom Menschen, sondern<br />

für den Menschen« (36). R. Prenter möchte beobachten, daß K. Barth<br />

sich mit der KD im Unterschied zum ›Römerbrief‹ von der Welt abwendet<br />

– »der Ewigkeit zu« (38) – und damit dem spekulativen Zug<br />

der Scholastik verfalle. Deshalb sei der Einwand <strong>des</strong> Offenbarungspositivismus<br />

aus der Sicht <strong>Bonhoeffers</strong> gerechtfertigt (41). Prenter<br />

definiert: »Unter Offenbarungspositivismus versteht Bonhoeffer<br />

eine Verkündigung der Offenbarung Gottes, die ihre Wahrheiten<br />

zur bloßen Annahme präsentiert, ohne ihre Beziehung zum Leben<br />

<strong>des</strong> Menschen in der mündigen Welt klarmachen zu können« (21).<br />

Im weiteren Sinn mag das Ergebnis richtig sein, aber es erklärt nicht,<br />

woran sich der Einwand entzündet. R. Prenter beobachtet nicht den<br />

Zusammenhang von Offenbarungspositivismus und Religionsverständnis.<br />

Er versucht statt <strong>des</strong>sen, den Vorwurf <strong>des</strong> Offenbarungspositivismus<br />

allein von Barths Offenbarungslehre her zu interpretieren,<br />

sieht sich dann vor das Problem gestellt, die Offenbarungslehre<br />

insgesamt darzustellen und so zu generalisieren. 113 Oben<br />

wurde hingegen festgestellt, daß etwa die offenbarungstheologische<br />

Akzentverschiebung hinsichtlich <strong>des</strong> Aktualismus in ›Akt<br />

und Sein‹ durch ›Widerstand und Ergebung‹ keinen offenbarungstheologischen,<br />

sondern einen religionskritischen Akzent trägt. Dies<br />

entsprach den formalen Beobachtungen der Briefe: Die Kritik an<br />

Barth wird im Kontext von Religion geführt – und nur dort!<br />

Der Vorwurf <strong>des</strong> Offenbarungspositivismus steht in den<br />

Briefen aus der Tegeler Zelle in direktem Zusammenhang<br />

mit der Barthschen Religionskritik und ist sachlich nicht<br />

von der Offenbarungslehre an sich, sondern von dem offen-<br />

113) Dieses Verfahren R. PRENTERs wird schon früh kritisiert. R. G.<br />

SMITH schreibt: »Prenter, for all his anxiety to do justice both to<br />

Barth and Bonhoeffer, does not, it seems to me, suceed in being entirely<br />

convincing. It is doubtful wether Bonhoeffer can really be<br />

understood on the basis that he is one of Barth’s school« (Introduction<br />

to ›World come of Age‹, London 1967, 10).<br />

80


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 81<br />

3. Aus dem Schatten der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

barungstheologischen Religionsverständnis her zu erklären.<br />

So ist Prenters freilich pauschalisierende Beobachtung<br />

eines unterschiedlichen Offenbarungsverständnisses von<br />

›Römerbrief‹ und KD richtig, wäre dann aber auf das Religionsverständnis<br />

von KD I/2 zu beziehen, um zum Verständnis<br />

<strong>des</strong> Offenbarungspositivismus beizutragen.<br />

B.-E. Benktson hat zu Recht auf den engen Zusammenhang<br />

von K. Barths und <strong>Bonhoeffers</strong> Religionskritik<br />

hingewiesen. Auch hebt er die enge Verklammerung von<br />

Religionskritik und nichtreligiöser Interpretation bei Bonhoeffer<br />

hervor,114 ohne jedoch diese Beobachtung auf den<br />

Zusammenhang von Religionskritik und offenbarungstheologischer<br />

Religionswürdigung bei K. Barth anzuwenden.<br />

Das ist zum einen darauf zurückzuführen, daß B.-E.<br />

Benktson nicht die formale Struktur der Briefe vom 30. 4.,<br />

5. 5. und 8. 6. 44 beobachtet, wonach die Würdigung der<br />

Barthschen Religionskritik und die <strong>Bonhoeffers</strong>che Kritik<br />

an Barths offenbarungstheologischer Religionswürdigung<br />

in der Klammer zwischen Religionskritik und nichtreligiöser<br />

Interpretation in den Tegeler Briefen reflektiert werden.<br />

Zum anderen geht B.-E. Benktson inhaltlich von einem<br />

anderen Religionsbegriff bei K. Barth aus, der das offenba-<br />

114) B.-E. BENKTSON, art. cit. 1964 (s. FN 92), 83, stellt zunächst <strong>Bonhoeffers</strong><br />

Religionskritik hinsichtlich der ›Arbeitshypothese Gott‹<br />

dar und leitet dann zur nichtreligiösen Interpretation bei Bonhoeffer<br />

mit den Worten über: »Deshalb kreisen seine (<strong>Bonhoeffers</strong>)<br />

Gedanken um die Notwendigkeit einer neuen, nichtreligiösen<br />

Deutung der biblischen Begriffe« (83, Übers. R. W.). Das »Deshalb«<br />

unterstreicht für B.-E. BENKTSON die enge Verklammerung von<br />

Religionskritik und nichtreligiöser Interpretation.<br />

81


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 82<br />

A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

rungstheologische Gefälle Offenbarung – Religion nicht beachtet.<br />

B.-E. Benktson versteht den Barthschen Religionsbegriff<br />

ohne Differenzierung vom ›Römerbrief‹ bis hin zur<br />

KD als ›dialektisch‹ und setzt ihn darüber hinaus mit P. Tillichs<br />

und <strong>Bonhoeffers</strong> Religionsbegriff gleich.115 Uns hingegen<br />

ist deutlich, daß Barths Religionsverständnis vom<br />

›Römerbrief‹ über die ›Dogmatik im Entwurf‹ bis hin zur<br />

KD ›dualistisch‹ im Sinne eines deutlichen Gefälles Offenbarung<br />

– Religion bestimmt ist. Da B.-E. Benktson den Religionsbegriff<br />

K. Barths dialektisch versteht und nicht das<br />

offenbarungstheologische Gefälle der Religionswürdigung<br />

von KD I/2 beachtet, ist es wenig verwunderlich, keine<br />

Lösung zum Problemfeld Offenbarungspositivismus vorzufinden.<br />

Wäre Barths oder <strong>Bonhoeffers</strong> Religionsbegriff<br />

nämlich dialektisch, so wäre der Vorbehalt <strong>des</strong> Offenbarungspositivismus<br />

auf Seiten <strong>Bonhoeffers</strong> sinnlos. Gerade<br />

der dualistische Ansatz und das damit gesetzte offenbarungstheologische<br />

Gefälle (von Gnade zu Religion) macht<br />

die dezidierte Akzentuierung der Offenbarung notwendig.<br />

Wird Religion von der Offenbarung her kritisiert, so stellt<br />

sich zwangsläufig bei dem Versuch einer Würdigung der<br />

Religion eine Gewichtung der Offenbarung ein.<br />

115) Vgl. B.-E. BENKTSON, Christus und die Religion, Stuttgart 1967,<br />

59. So auch K.-H. NEBE, ›Religionslose‹ Interpretation bei <strong>Dietrich</strong><br />

Bonhoeffer und ihre Bedeutung für die Aufgabe der Verkündigung,<br />

Diss. 1963, 165 f., der zwar den Unterschied zwischen P. Tillich<br />

und K. Barth im Religionsverständnis deutlich herausarbeitet<br />

(170 ff.), aber K. Barths Religionsbegriff vom ›Römerbrief‹ bis zu KD<br />

I/2 als »dialektisch« versteht (165).<br />

82


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 83<br />

3. Aus dem Schatten der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

e) Erweiterung <strong>des</strong> Begriffs?<br />

Offenbarungspositivismus ist also das »Ergebnis der Religionskritik«116<br />

Karl Barths, und zwar das negative, unerwartete<br />

Ergebnis. Das Ergebnis, das Bonhoeffer aus der<br />

Religionskritik erwartete, ist die nichtreligiöse Interpretation<br />

biblischer Begriffe. Sie bildet <strong>des</strong>halb den »kontrastierenden<br />

Gegenbegriff«117 zu Offenbarungspositivismus.<br />

Bonhoeffer möchte von der Inkarnation118 zur Welt denken<br />

und nicht positivistisch von der Gnade zur Kirche.<br />

Offenbarungspositivismus erfährt bereits bei Bonhoeffer<br />

eine gewisse Erweiterung. In gleicher Weise nämlich, wie er<br />

Barths Religionskritik schon vor KD I/2 würdigt, bleibt auch<br />

die Kritik <strong>des</strong> Offenbarungspositivismus nicht auf die Religionswürdigung<br />

von KD I/2 beschränkt, sondern weitet sich<br />

für Bonhoeffer auf kirchenpolitische Kontroversfragen aus.<br />

Im ›Entwurf‹ schreibt Bonhoeffer: »Barth und die Bekennende Kirche<br />

führen dazu, daß man sich immer wieder hinter den ›Glauben<br />

der Kirche‹ verschanzt und nicht ganz ehrlich fragt und konstatiert,<br />

was man selbst eigentlich glaubt« (WEN 415). Zum Stichwort<br />

»Bekennende Kirche« heißt es unter Einbeziehung <strong>des</strong> antiken Archime<strong>des</strong>-Satzes:<br />

»Offenbarungstheologie; ein δς µοί που στω<br />

gegenüber der Welt; um sie herum ein ›sachliches‹ Interesse am<br />

116) H.-J. KRAUS, Theologische Religionskritik, Neukirchen 1982, 20.<br />

117) H.-J. KRAUS, op. cit. 33, weist auf die angemessene Fragestellung<br />

hin, ohne sie jedoch – im Sinne unserer Analyse – richtig zu beantworten<br />

(34 ff.).<br />

118) Bonhoeffer reflektiert den Zusammenhang von Offenbarungspositivismus<br />

und Inkarnationstheologie, wenn er am 5. 5.1944 schreibt:<br />

»Der Offenbarungspositivismus macht es sich zu leicht, indem er<br />

letztlich ein Gesetz <strong>des</strong> Glaubens aufrichtet und indem er das, was<br />

eine Gabe für uns ist – durch die Fleischwerdung Christi! –, zerreißt«<br />

(WEN 312).<br />

83


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 84<br />

A. Von der Religionswürdigung zur Religionskritik<br />

Christentum« (413). Bonhoeffer scheint den Vorwurf <strong>des</strong> Offenbarungspositivismus<br />

gegen K. Barth auf die Bekennende Kirche zu<br />

erweitern. Scheinbar eignet sich die Schlagkraft <strong>des</strong> Begriffs für diese<br />

Erweiterung. Doch bleibt er damit zweideutig; am 5. 5.1944 heißt<br />

es zunächst, daß die »Bekennende Kirche [...] den Barthschen Ansatz<br />

überhaupt vergessen« habe und »vom Positivismus in die konservative<br />

Restauration geraten« sei (359). Dann ist im selben Brief zu<br />

lesen, daß durch eine nichtreligiöse Interpretation die Liberale<br />

<strong>Theologie</strong> »überwunden« sei; »zugleich aber ist ihre Frage wirklich<br />

aufgenommen und beantwortet (was im Offenbarungspositivismus<br />

der B. K. nicht der Fall ist!)« (360). Einmal wird die Bekennende Kirche<br />

<strong>des</strong> ›Offenbarungspositivismus‹ bezichtigt, ein anderes Mal der<br />

›Restauration‹. Bonhoeffer scheint mit der Erweiterung <strong>des</strong> gegen K.<br />

Barth gerichteten Einwands zu zögern. Das legt auch die Wendung<br />

vom »Offenbarungspositivismus der B. K.« nahe; der Begriff erfährt<br />

eine gewisse Selbständigkeit. 119<br />

f) Ergebnis<br />

Bonhoeffer, der selber keinen Religionsbegriff geschweige<br />

denn eine Religionstheorie ausbilden wollte, kritisiert unter<br />

dem Stichwort Offenbarungspositivismus jenes Anliegen<br />

Barths von KD I/2, das auf eine solche Begriffsbildung<br />

von Religion hinausläuft: Religion wird als anthropologisches<br />

Phänomen letztlich bejaht und nicht (wie auch beim<br />

frühen Barth) als geistesgeschichtliche Größe betrachtet.<br />

119) Vgl. zur Interpretation dieses Halbsatzes A. PANGRITZ, Karl Barth<br />

in der <strong>Theologie</strong> <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong>, 1989, 82 ff. A. Pangritz geht<br />

davon aus, daß die erweiterte Polemik sich gegen H. Asmussen und<br />

lutherische Kreise innerhalb der Bekennenden Kirche richtet. Das<br />

lege auch der Zusammenhang mit R. Bultmann im Brief vom<br />

8. 6. 1944 nahe, über den Bonhoeffer noch hinausgehen möchte<br />

(ähnlich am 5. 5.). H. Asmussen hingegen verteidige »den positivistisch-theologischen<br />

Besitzstand gegenüber der vermeintlichen<br />

Dämonie Bultmanns « (85).<br />

84


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 85<br />

B. Von der Religionskritik<br />

zur Religionslosigkeit<br />

1. Von der dialektisch-theologischen Religionskritik<br />

zur Rezeption <strong>des</strong> deutschen Historismus<br />

In Abschnitt A habe ich <strong>Bonhoeffers</strong> Weg von der Religionswürdigung<br />

zur Religionskritik nachgezeichnet. Die erste<br />

Veränderung im Religionsverständnis <strong>Bonhoeffers</strong> war zu<br />

interpretieren. Gegenstand der Untersuchung bildeten religionswürdigende<br />

und religionskritische Aussagen. Die Frage<br />

lautete: Woher stammen Würdigung und Kritik der Religion?<br />

Mit den Tegeler Briefen begegnen Aussagen, die sich<br />

nicht mehr vor dem Hintergrund der Liberalen oder der<br />

Dialektischen <strong>Theologie</strong> interpretieren lassen; Bonhoeffer<br />

tritt aus dem Schatten Barthscher <strong>Theologie</strong> und Religionskritik.<br />

Doch was tritt an die Stelle eines vermeintlichen<br />

›Offenbarungspositivismus‹? Was ersetzt die dialektischtheologische<br />

Entgegensetzung von Offenbarung und Religion?<br />

Bemerkenswert ist, daß Bonhoeffer weiter Barths<br />

Religionskritik ausdrücklich würdigt, auch wenn sie terminologisch<br />

nicht mehr begegnet. Statt der dialektischtheologischen<br />

Entgegensetzung von Offenbarung und Religion,<br />

wie sie noch in der ›Ethik‹ <strong>Bonhoeffers</strong> aufweisbar<br />

ist, sieht er in der Tegeler <strong>Theologie</strong> eine religionslose Zeit<br />

anbrechen. In diesem Abschnitt frage ich: Woher stammt<br />

<strong>Bonhoeffers</strong> Rede von der Religionslosigkeit?<br />

85


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 86<br />

B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />

a) Zur neuen Terminologie:<br />

Der erste große theologische Brief aus der Tegeler Gefängniszelle<br />

vom 30. 4. 1944 wirft die Frage auf:<br />

»Wie sprechen wir von Gott – ohne Religion, d. h. eben ohne die<br />

zeitbedingten Voraussetzungen der Metaphysik, der Innerlichkeit<br />

etc.?« (WEN 306).<br />

Religion wird unter den zeitbedingten Voraussetzungen als<br />

›Metaphysik‹ und ›Innerlichkeit‹ beschrieben. Im Brief vom<br />

5.5.1944 liest man wieder: »[...] religiös interpretieren [...]<br />

heißt m. E. einerseits metaphysisch, andrerseits individualistisch<br />

reden« (WEN 312).<br />

Was Religion in Form von Metaphysik bedeutet, entfaltet<br />

Bonhoeffer unter den Aspekten ›Gott‹ als ›Arbeitshypothese‹<br />

(WEN 393.413), ›Lückenbüßer‹ (WEN 341.413), ›Deus<br />

ex machina‹ (WEN 307. 394, vgl. auch 374). Die beiden zuletzt<br />

genannten Aspekte kann er auch unter den Sammelbegriff<br />

›naturwissenschaftliche Arbeitshypothese‹ stellen (vgl.<br />

WEN 393). Wendet sich die Kritik der ›Metaphysik‹ gegen<br />

religiös verstandene Transzendenz Gottes, so die der ›Innerlichkeit‹<br />

gegen mißverstandene Immanenz.<br />

»Die Zeit der Religion [...] war eine ›Zeit der Innerlichkeit und <strong>des</strong><br />

Gewissens‹« (WEN 305).<br />

›Religion als Innerlichkeit‹ kritisiert Bonhoeffer unter den<br />

Aspekten ›Partielles‹ (WEN 396.377 f.), ›religiös Bevorzugte‹<br />

(WEN 306 f.), ›Vormund Gott‹ (WEN 357 f.).<br />

Vergleichen wir die religionskritische Begrifflichkeit<br />

von ›Widerstand und Ergebung‹ mit der vor 1944, so fällt<br />

eine terminologische Veränderung auf. Die Frage soll zunächst<br />

rezeptionsgeschichtlich lauten: Woher kommen die<br />

Begriffe ›Metaphysik‹ und ›Innerlichkeit‹, die im Zusammenhang<br />

mit der These von der Religionslosigkeit stehen?<br />

86


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 87<br />

1. Rezeption <strong>des</strong> Historismus<br />

E. Feil1 und Chr. Gremmels2 haben zur selben Zeit,<br />

aber voneinander unabhängig, einen Zusammenhang zwischen<br />

diesen Begriffen und der Lektüre entdeckt, die Bonhoeffer<br />

während seiner Inhaftierung (besonders im Frühsommer<br />

1944) studiert. Er befaßt sich intensiv mit dem<br />

Historismus Wilhelm Diltheys3 und bestellt seit Januar<br />

1944 wiederholt Schriften <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong>philosophen in die<br />

Gefängniszelle.4 Es müsste sich also auch eine Lesefrucht in<br />

den Briefen zeigen.<br />

Chr. Gremmels hat in seiner Untersuchung5 Bonhoeffer-Zitate<br />

aus WEN und Aussagen W. Diltheys aus ›Weltanschauung<br />

und Analyse <strong>des</strong> Menschen seit Renaissance und<br />

Reformation‹ (= Weltanschauung und Analyse, Kürzel: WuA)<br />

gegenübergestellt. Dabei zeigten sich wörtliche Übereinstimmungen<br />

in den Äußerungen über:<br />

1) E. FEIL, Die <strong>Theologie</strong>, 355 ff.<br />

2) CHR. GREMMELS, Mündige Welt und Planung. <strong>Eine</strong> sozialethische<br />

Untersuchung zum Verhältnis von Planung und Geschichte,<br />

Marburg 1970 (= Mündige Welt und Planung).<br />

3) Zur Charakterisierung von W. Diltheys Philosophie als einer »geschichtlichen<br />

<strong>Lebens</strong>philosophie« vgl. O. F. BOLLNOW, Dilthey.<br />

<strong>Eine</strong> Einführung in seine Philosophie (= Dilthey), 2. Aufl. 1955, 35.<br />

4) Vgl. die Briefe vom 14. 1. 1944 (WEN 210: hier erste Nennung Diltheys,<br />

dann WEN 212 und WEN 229); vom 5. 2. 1944 (WEN 235: »Von<br />

Klaus bekam ich Dilthey: ›Von deutscher Dichtung und Musik‹);<br />

außerdem hat Bonhoeffer von seinem Vater ›Das Erlebnis und die<br />

Dichtung‹ erhalten (vgl. Nl 216); im Brief vom 2.3.1944 schreibt<br />

Bonhoeffer an die Eltern: »Könnt Ihr mir bitte Dilthey: ›Weltanschauung<br />

und Analyse <strong>des</strong> Menschen seit Renaissance und Reformation‹<br />

beschaffen« (WEN 255).<br />

5) CHR. GREMMELS, Mündige Welt und Plaung, 13 f. (Nachfolgende<br />

Zitate beziehen sich auf dieses Buch.)<br />

87


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 88<br />

B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />

I. G. Bruno WEN 408 = WuA 341 (›Freundschaft‹),<br />

II. B. de Spinoza WEN 408 = WuA 429 (›Affekte‹),<br />

III. H. von Cherbury WEN 392 f. = WuA 248 f. (›Autonomie‹).<br />

Darüber hinaus beobachtet Chr. Gremmels (14 f.) an einschlägigen<br />

Stellen von ›Weltanschauung und Analyse‹6, daß<br />

Bonhoeffer Reflexionen über ›Mündigkeit und Autonomie<br />

<strong>des</strong> Menschen‹ »von Dilthey übernommen hat. Über die<br />

formalen hinaus lassen sich jedoch auch materiale Bezüge<br />

feststellen, welche die Dilthey-Lektüre <strong>Bonhoeffers</strong> aus der<br />

Ebene bloßer Zufälligkeit herausheben« (15). Zu diesen<br />

zählt Chr. Gremmels den für Bonhoeffer und W. Dilthey<br />

gleichermaßen geltenden »interpretatorischen Schlüsselbegriff«:<br />

›Diesseitigkeit‹ (15).<br />

Aus W. Diltheys Beobachtung ›Von der Erde geht jede<br />

Betrachtung aus‹ leitet Chr. Gremmels eine »Kritik der<br />

Transzendenz im Namen der Erde« ab (15). »Es geht nicht<br />

mehr um die schlecht gestellte Alternative zwischen Immanenz<br />

oder Transzendenz, ›Erde‹ oder ›Himmel‹, sondern um<br />

die Vermittlung der in diesen Kategorien niedergelegten<br />

Intentionen« (16). Bonhoeffer findet diese Vermittlung,<br />

wenn er formuliert: »Gott ist mitten in unserm Leben jenseits«<br />

(bei Chr. Gremmels 16). Wir müssen allerdings beobachten,<br />

daß Bonhoeffer nicht formuliert: ›Gott ist mitten<br />

auf der Erde jenseitig‹.<br />

Chr. Gremmels faßt die Akzentverschiebung gegenüber<br />

W. Dilthey prägnant: »Bonhoeffer mußte die erkenntnistheoretische<br />

Kritik der ›Diesseitigkeit‹ durch eine offenbarungstheologische<br />

Kritik ersetzen« (16 f., Begründung, 17).<br />

Über W. Dilthey gehe Bonhoeffer hinaus durch die »Ver-<br />

6) Etwa Weltanschauung und Analyse, 90 ff.<br />

88


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 89<br />

1. Rezeption <strong>des</strong> Historismus<br />

klammerung geistesgeschichtlicher und christologischer<br />

Elemente im Begriff ›Mündigkeit‹« (22). Chr. Gremmels erläutert<br />

in einem Doppelsatz:<br />

»Der Begriff der mündigen Welt interpretiert das Ende einer bestimmten<br />

weltgeschichtlichen Entwicklung, er ist historisch bzw.<br />

geistesgeschichtlich zu verstehen. [...] Der Begriff der mündigen<br />

Welt interpretiert den Anfang der heilsgeschichtlichen Entwikklung,<br />

er ist christologisch zu verstehen« (22).<br />

Neben dem Begriff der ›Mündigkeit‹ sieht Chr. Gremmels<br />

einen Zusammenhang zwischen der naturwissenschaftlichen<br />

Gefängnislektüre <strong>Bonhoeffers</strong> und dem Terminus<br />

›Arbeitshypothese Gott‹7. Dieser Begriff wird zu einem<br />

bedeutenden Arbeitsbegriff <strong>Bonhoeffers</strong> und dann erweitert<br />

zur ›religiösen‹, ›politischen‹, ›moralischen‹ und ›philosophischen<br />

Arbeitshypothese Gott‹ (vgl. WEN 393). Am<br />

Ende der Geschichtsreflexion <strong>des</strong> Briefes vom 16. 7. 1944<br />

fragt Bonhoeffer dann: »Wo behält nun Gott noch Raum«<br />

(WEN 393). Diese Frage könnte m. E. ebenfalls von C. F. v.<br />

Weizsäckers Buch motiviert sein, in dem es an oben zitierter<br />

7) Bei C. F. v. WEIZSÄCKER, Weltbild der Physik, konnte Bonhoeffer<br />

den Satz lesen: »Mögen auch die Hypothesen von Laplace im einzelnen<br />

falsch gewesen sein, so muß sich doch gewiß jeder Naturforscher<br />

das Ziel setzen, in seinem Arbeitsbereich die Hypothese Gott<br />

überflüssig zu machen« (zit. nach Chr. Gremmels 26; Hervorh.<br />

R. W.). Es ist durchaus denkbar, daß Bonhoeffer die Worte ›Arbeits(bereich)<br />

(der) Hypothese Gott‹ zu »Arbeitshypothese Gott«<br />

zusammengezogen hat (26, Anm. 3). Das Wort »Arbeitshypothese«<br />

wird zwar beiläufig schon in einem Ethik-Fragment von 1941 einmal<br />

erwähnt (Ethik [DBW 6] 106); hier aber wird die »ratio [...] zur<br />

Arbeitshypothese«. Die Begriffsbildung ›Arbeitshypothese Gott‹ –<br />

wie sie dann durchgängig in WEN wichtig wird – ist nicht vorbereitet.<br />

89


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 90<br />

B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />

Stelle über J. Kepler und I. Newton heißt: »Für Kepler deuten<br />

die positiven Erkenntnisse der Wissenschaft auf Gott,<br />

während für Newton gerade nur ihre Lücken noch für Gott<br />

Raum lassen«.8<br />

Im Brief vom 16. 7.1944 erkennen wir deutlich, wie Bonhoeffer<br />

die von W. Dilthey stammende Geschichtsreflexion<br />

über die ›mündig gewordene Welt‹ im Blick auf die moderne<br />

Physik erweitert. Durch C. F. v. Weizsäcker gewinnt er<br />

den Begriff der ›Arbeitshypothese‹, den er dann auf W. Dilthey<br />

anwendet – etwa im Blick auf die ›moralische‹ und<br />

›politische Arbeitshypothese‹ – und zugleich um die ›naturwissenschaftliche<br />

Arbeitshypothese‹ ergänzt. Bonhoeffer<br />

nimmt offenbar C. F. v. Weizsäckers Argument hinein in<br />

den Historismus W. Diltheys.<br />

E. Feil hat sich in verschiedenen Publikationen mit der<br />

Religionsthematik <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong> beschäftigt.9 Wie<br />

Chr. Gremmels beobachtet er einen deutlichen Einfluß Diltheys<br />

auf <strong>Bonhoeffers</strong> Briefe aus Tegel.10 Dabei kommt den<br />

Briefen aus der ersten Hälfte <strong>des</strong> Jahres 1944 große Bedeutung<br />

zu; sie sind im einzelnen datiert auf den 23.1., 9.3.,<br />

30. 4., 8. 6. und 16. 7. 1944.<br />

Nach E. Feil (356) stammt das Lessing-Zitat im Brief<br />

vom 23. 1. 1944 (WEN 215) aus W. Dilthey, Das Erlebnis und<br />

8) Op. Cit., 26.<br />

9) Vgl. etwa Religionsloses Christentum und nichtreligiöse Interpretation<br />

bei Bonhoeffer, in: ThZ 25, 1968, 40–48. Zum Zusammenhang<br />

mit W. Dilthey erstmals in dem Aufsatz: Der Einfluß Wilhelm<br />

Diltheys auf <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong> Widerstand und Ergebung,<br />

in: EvTh 29, 1969, 662–674. Ausführlicher später in: Die <strong>Theologie</strong>,<br />

1971 (inzw. 4. Aufl. 1991), 355 ff.<br />

10) E. FEIL, Die <strong>Theologie</strong>, 355 f.<br />

90


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 91<br />

1. Rezeption <strong>des</strong> Historismus<br />

die Dichtung.11 Der Begriff ›Weltlichkeit‹ in dem Brief vom<br />

9.3.1944 (WEN 258) ist aufgrund der Lektüre ›Von deutscher<br />

Dichtung und Musik‹ entstanden (vgl. Brief vom 5. 2.1944<br />

WEN 235), die <strong>Bonhoeffers</strong> zu seinem Geburtstag erhalten<br />

hat.12 Die Begriffe ›Metaphysik‹ und ›Innerlichkeit‹, wie sie<br />

seit dem April 1944 wichtig werden (vgl. WEN 305), sind<br />

ebenfalls auf diese Lektüre zurückzuführen und avancieren<br />

bei Bonhoeffer zum Kennzeichen von Religion. Der Begriff<br />

›Mündigkeit‹ sowie die mit ›Autonomie‹ verbundenen Geschichtsreflexionen<br />

in den Briefen vom 8. 6. (WEN 356) und<br />

vom 16. 7. 1944 (WEN 393) gehen auf ›Weltanschauung und<br />

Analyse‹ zurück.13 Ein Überblick:<br />

WEN Begriff/Namen WuA<br />

8. Juni (356) Autonomie 43.95.150.273<br />

16. Juli (393) H. Grotius/H. von Cherbury 248–257<br />

16. Juli (393) M. de Montaigne 24–39<br />

16. Juli (393) J. Bodin 145–153<br />

16. Juli (393) G. Bruno 297–311 + 326 ff.<br />

16. Juli (393) B. de Spinoza 342–358 + 452 ff.<br />

16. Juli (393) »als wenn es keinen Gott gäbe« 280<br />

(H. Grotius)<br />

11) Dieses Buch W. Diltheys trägt die Widmung von <strong>Bonhoeffers</strong> Vater,<br />

der es seinem Sohn zum Geburtstag am 4. 2. 1944 schenken wollte.<br />

Bonhoeffer erwähnt aber eine Dilthey-Lektüre schon seit dem<br />

14. 1. 1944 (WEN 210; vgl. auch WEN 212). Die Übereinstimmung<br />

<strong>des</strong> Lessing-Zitates im Brief vom 23. 1. und der Umstand, daß Bonhoeffer<br />

im Brief vom 5. 2. 1944 (WEN 234 f.) alle zum Geburtstag geschenkten<br />

Bücher aufzählt bis auf obiges, läßt den Schluß zu, daß<br />

Bonhoeffer das Geschenk <strong>des</strong> Vaters schon zuvor erhalten und gelesen<br />

haben wird.<br />

12) Vgl. E. FEIL, Die <strong>Theologie</strong>, 357.<br />

13) Vgl. E. FEIL, Die <strong>Theologie</strong>, 360 f.<br />

91


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 92<br />

B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />

Darüber hinaus beobachtet E. Feil parallel zu Chr. Gremmels,<br />

daß die Zitate WEN 408 von B. de Spinoza und G. Bruno<br />

aus ›Weltanschauung und Analyse‹ (341) stammen.<br />

Zwischenergebnis : Die Studien von E. Feil und Chr.<br />

Gremmels belegen, daß ein Zusammenhang zwischen W.<br />

Dilthey und Bonhoeffer im Hinblick auf einzelne Begriffe<br />

und Namen aus dem Umfeld <strong>des</strong> Historismus besteht. Im<br />

Anschluß an die beiden Bonhoeffer–Interpreten stellt sich<br />

abschließend die Frage, ob auch Diltheys Religionsbegriff<br />

einen Einfluß auf die Tegeler <strong>Theologie</strong> ausgeübt hat.<br />

Nach Dilthey liegt Schleiermachers Größe darin,<br />

»daß er als der Verkündiger einer neuen Religiosität diese zu der<br />

bisherigen Entwicklung <strong>des</strong> Christentums in ein inneres Verhältnis<br />

setzte« (WuA, 339).<br />

Religion und Innerlichkeit gehören für W. Dilthey zusammen<br />

und werden bejaht (vgl. auch WuA, 39.61.216). Metaphysik<br />

wird bei ihm historisch (!) kritisiert. Seit dem 17. Jh.<br />

kann die Metaphysik als geschichtlich überholt gelten<br />

(WuA, 41 f.283.348). Bonhoeffer stimmt in der gemeinsamen<br />

»Frontstellung gegen die Metaphysik«14 mit W. Dilthey<br />

überein. Was heißt das? Er beobachtet bei seinem Dilthey-Studium,<br />

daß es sich in der Metaphysikkritik um eine<br />

historische Kritik handelt, die aus W. Diltheys <strong>Lebens</strong>philosophie<br />

erwächst. Ähnlich wie I. Kant, der nicht ›hinter<br />

die Vernunft‹ zurückgehen kann, gilt für W. Dilthey: »Hinter<br />

das Leben kann das Erkennen nicht zurückgehen.«15<br />

14) E. FEIL, Die <strong>Theologie</strong>, 364.<br />

15) W. DILTHEY, Ges. Schr. Bd. VIII, 184.<br />

92


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 93<br />

1. Rezeption <strong>des</strong> Historismus<br />

Bonhoeffer übernimmt die historische Dimension der<br />

Metaphysikkritik und wendet sie religionskritisch. Ist für<br />

W. Dilthey die Metaphysik geschichtlich überholt, so ist für<br />

Bonhoeffer die ›Zeit der Religion‹ vorüber; er wendet also<br />

den Historismus auf die Religionsthematik an. Dabei übernimmt<br />

er Diltheysche Begrifflichkeit und vor allem seine<br />

Argumentation.<br />

b) Zum Begriff ›religionslos‹<br />

In der Literatur ist die Herkunft <strong>des</strong> Terminus ‹religionslos‹<br />

bislang im Dunkeln geblieben. Obwohl Begriffe wie ›Mündigkeit‹,<br />

›Weltlichkeit‹, ›Metaphysik‹ oder ›Innerlichkeit‹<br />

eindeutig als von W. Dilthey stammend ausgewiesen wurden,<br />

fehlt eine Ableitung zum Begriff ,religionslos‹. Das<br />

erstaunt, denn der Gedanke einer ›religionslosen Zeit‹ begegnet<br />

zunächst implizit, dann auch explizit schon bei W.<br />

Dilthey. Im Band ›Das Erlebnis und die Dichtung‹ heißt es:<br />

»Diese christliche Religion war also notwendig, historisch notwendig,<br />

um eine Zeit herbeizuführen, in welcher sie überflüssig wäre«<br />

(86).<br />

Unter ›christlicher Religion‹ versteht W. Dilthey den »Kreis<br />

von Dogmen«, der sich im »Gegensatz zur Religion Christi«<br />

gebildet habe (ibid). Diese »dogmatischen Blöcke« seien in<br />

der »Zeit der Vernunftentwicklung« (das heißt der Aufklärung)<br />

von Bedeutung gewesen, »um nicht einem öden<br />

Materialismus zu verfallen« (ibid). W. Dilthey möchte mit<br />

G. Lessing an der »Religion im Herzen« festhalten und fordert:<br />

»Wir retten das persönliche Christentum, doch lassen wir die <strong>Theologie</strong>,<br />

ja die Kirche, welche eines objektiven Überzeugungsgrun<strong>des</strong><br />

zu bedürfen scheinen, im Stich« (74).<br />

93


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 94<br />

B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />

Das erinnert an F. Schleiermacher, und in der Tat stellt Dilthey<br />

Schleiermacher auch in diese Ahnenreihe: »Dieser große<br />

echte religiöse Gedanke arbeitet von Spinoza und Pascal<br />

ab bis auf Schleiermacher in allen bedeutenden sittlichen<br />

Naturen« (87).16 Der durch F. Schleiermacher und W. Dilthey<br />

vertretene Religionsbegriff17 wurde unter dem Eindruck<br />

der Dialektischen <strong>Theologie</strong> von Bonhoeffer abgelehnt.<br />

Inwieweit übernimmt er aber den Gedankengang<br />

einer ›christlichen Religion‹, die eine ›Zeit‹ hatte und nun<br />

›überflüssig‹ geworden ist?<br />

Die inhaltliche Unterscheidung von institutionalisierter<br />

Religion, die ihre historische Zeit gehabt hat, und privater<br />

Religion, die zeitlos-innerlich begegnet, kann Bonhoeffer<br />

nicht teilen, wohl aber den Gedankengang auf Religion<br />

16) Vgl. auch W. DILTHEY, Leben Schleiermachers II/2, 508 f.; hier versucht<br />

W. Dilthey unter der Überschrift »Schleiermacher als Reformator<br />

der <strong>Theologie</strong>« (508), F. Schleiermachers Religionsbegriff in<br />

seine historische <strong>Lebens</strong>philosophie einzuordnen. So werden etwa<br />

Religiosität und Weltanschauung in ein Verhältnis zueinander<br />

gesetzt (509). Der Zusammenhang von F. Schleiermacher und W.<br />

Dilthey kann auch von der gemeinsamen philosophischen Wurzel,<br />

von I. Kant, her verstanden werden. I. Kants Begriff der ›transzendentalen<br />

Apperzeption‹ wird bei F. Schleiermacher zu <strong>des</strong>sen<br />

Begriff ›Gefühl‹ (nach der Glaubenslehre 1830/31) und bei W. Dilthey<br />

zu dem <strong>des</strong> ›<strong>Lebens</strong>‹. Zum Verhältnis Kant-Schleiermacher<br />

vgl. aus W. Diltheys ›Leben Schleiermachers‹ den Abschnitt:<br />

»Schleiermacher, der Kant der protestantischen <strong>Theologie</strong>« (531 ff.).<br />

17) F. Schleiermachers und W. Diltheys Religionsbegriff sollen wegen<br />

ihrer inhaltlichen Nähe gemeinsam genannt werden; vgl. K. WEL-<br />

KER, Die grundsätzliche Beurteilung der Religionsgeschichte durch<br />

Schleiermacher, Leiden/Köln 1965; zum Religionsbegriff 33 f.; Zusammenfassung<br />

99; zur Diltheyschen Schleiermacher-Rezeption<br />

bes. 67 und 161.<br />

94


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 95<br />

1. Rezeption <strong>des</strong> Historismus<br />

insgesamt anwenden. Wenn er davon spricht, daß die ›Zeit<br />

der Religion‹ oder die ›Zeit der Innerlichkeit und <strong>des</strong> Gewissens‹<br />

vorüber sei, hat er Dilthey vorausgesetzt. Die Tegeler<br />

<strong>Theologie</strong> radikalisiert den Gedanken noch: Nicht eine Unterscheidung<br />

der Religion tritt in den Blick, sondern der<br />

Angriff wird auf den neuzeitlichen Religionsbegriff insgesamt<br />

(und den <strong>des</strong> 19. Jh. im besondern) geführt. Darin wird<br />

auch W. Diltheys (und F. Schleiermachers) Religionsverständnis<br />

nun gleichsam in einem zweiten Argumentationsgang<br />

auch historisch – und nicht allein systematischtheologisch<br />

– kritisiert.<br />

Bleiben wir noch beim Begriff ›Religionslosigkeit‹; implizit<br />

findet sich der Gedanke also in W. Diltheys ›Das<br />

Erlebnis und die Dichtung‹. Wir finden den Begriff aber<br />

auch explizit bei ihm belegt, und zwar in der ›Einleitung in<br />

die Geisteswissenschaften‹ (= Einleitung)18.<br />

Bonhoeffer erwähnt die ›Einleitung‹ explizit in seiner Vorlesung<br />

über die Systematische <strong>Theologie</strong> <strong>des</strong> 20. Jahrhunderts (= ST20Jh) aus<br />

dem WS 1931/3219. Nach den Ausführungen über die »nachkopernikanische<br />

Welt«, in der »statt ›Glaube‹ das Wort religio aufgetreten<br />

sei, stellt er diese radikale »Individualisierung« in den Zusammenhang<br />

<strong>des</strong> Wissenschaftsbegriffs (DBW 11, 145 f.): »Der Gegenstand<br />

einer Wissenschaft muß in Zeugnissen liegen, es gibt keine Metaphysik<br />

durch das Aufkommen der Naturwissenschaften. Identität<br />

<strong>des</strong> kategorialen Systems mit der Wirklichkeit wird vorausgesetzt:<br />

unwissenschaftliche Wissenschaft. (Erst die Relativitätstheorie und<br />

die Quantentheorie hat dies umgestoßen). Keine Wissenschaft<br />

konnte sich dem entziehen: Geschichtswissenschaft, Philosophie,<br />

Psychologie und Soziologie. In der Wende zum 20. Jahrhundert wird<br />

18) Erschienen als Ges. Schr. Bd. I, 2. Aufl. 1922.<br />

19) Vgl. DBW 11, 146, vgl. die Anm. 31 <strong>des</strong> Herausgebers, E. AMELUNG.<br />

95


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 96<br />

B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />

man aufmerksam auf diesen Fehlgriff (Rickert, Dilthey)« 20 . Der Diltheyverweis<br />

belegt wieder <strong>Bonhoeffers</strong> Vertrautheit mit Diltheys<br />

Einleitung.<br />

In der Einleitung bringt Dilthey die für die <strong>Lebens</strong>philosophie<br />

typische Metaphysikkritik vor. Metaphysik sei »eine<br />

geschichtlich begrenzte Erscheinung« (133). Im Unterschied<br />

dazu sei Religion eine fortwährend bestehende Größe:<br />

»[...] wenn die Tatsachen uns zwängen, an irgendeinem Punkte der<br />

sich rückwärts erstreckenden Linie <strong>des</strong> geschichtlichen Verlaufs<br />

einen religionslosen Zustand [...] anzunehmen – was jedoch nicht der<br />

Fall ist –, alsdann würde dieser Punkt zugleich ein Grenzpunkt <strong>des</strong><br />

historischen Verstehens sein« (138). Deutlicher: »[...] ausgeschlossen<br />

also ist das historische Verständnis eines religionslosen Zustan<strong>des</strong><br />

und der Entstehung <strong>des</strong> religiösen Zustan<strong>des</strong> aus ihm« (ibid).<br />

Der Begriff religionslos ist also früh belegt und kann Bonhoeffer<br />

schon aus der Lektüre der Ges. Schr. Bd. I (= Einleitung)<br />

von W. Dilthey bekannt geworden sein. In den Ges.<br />

Schr. Bd. II (= WuA) begegnet die Rede von der Religionslosigkeit<br />

nur marginal,21 so daß wir im Blick auf die Rezeptionsfrage<br />

eher auf den I. Band gewiesen sind. Bonhoeffer<br />

rezipiert den Terminus ›religionslos‹ kritisch: Religionslo-<br />

20) DBW 11, 146. In der Dudzus-Kompilation heißt es zu dem Dilthey-<br />

Beleg ausführlicher: »[...] besonders aber Dilthey in seiner systematischen<br />

Grundlegung der Geisteswissenschaften« (GS V 186). Ein<br />

Blick in das Inhaltsverzeichnis der Einleitung zeigt, daß W. Dilthey<br />

die von Bonhoeffer angesprochenen Themen behandelt, sogar in<br />

gleicher Reihenfolge: Naturwissenschaften ›Einleitung‹ 14 ff., Geschichtswissenschaften<br />

›Einleitung‹ 21 ff., Psychologie ›Einleitung‹<br />

64 ff., Soziologie ›Einleitung‹ 86 ff., <strong>Theologie</strong> ›Einleitung‹ 134 ff.<br />

21) Vgl. Weltanschauung und Analyse 54: »religionslose Moral«; W.<br />

Dilthey spricht hier nicht – wie in der ›Einleitung‹ – von einem<br />

›Verstehensprozeß‹ einer ›religionslosen Zeit‹.<br />

96


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 97<br />

1. Rezeption <strong>des</strong> Historismus<br />

sigkeit wird nicht ausgeschlossen – wie bei Dilthey –, sondern<br />

gerade als historisches Faktum angesehen: Die Zeit der<br />

Religion ist abgelaufen.<br />

Schon während der Rezeption der Einleitung reflektiert<br />

Bonhoeffer historisch über Religion. Solche Reflexionen<br />

sind in der Vorlesung über die ST20Jh belegt und begegnen<br />

im Zusammenhang mit obigem Dilthey-Zitat.22 Religion<br />

und Glaube stehen hier nicht in einem zu bestimmenden<br />

Verhältnis nebeneinander (dualistisch oder dialektisch),<br />

sondern Religion ersetzt Glauben (historisch). Der Dualimus<br />

von Glaube und Religion aus K. Barths ›Römerbrief‹<br />

wird hier verschärft und bekommt eine historische Pointe:<br />

Man kann seit dem 17. Jh. gar nicht mehr von reformatorischem<br />

Glauben sprechen; an seine Stelle trat ein neuzeitlicher<br />

Religionsbegriff. Religion als historische Größe hat<br />

ihren Anfangspunkt und muß auch einen Endpunkt haben<br />

– am Ende der Neuzeit? Bonhoeffer rechnet jedenfalls<br />

mit einem ›religionslosen Christentum‹, das am Ende der<br />

Neuzeit ›ohne‹ Religion von Christus sprechen kann.<br />

Gedanken der Tegeler <strong>Theologie</strong> sind bereits 1931/32<br />

vorbereitet, und gerade im Rückblick lassen sie sich zu<br />

einem Gesamtbild verbinden. Dabei beruft sich Bonhoeffer<br />

sowohl 1931/32 als auch 1944 auf W. Dilthey.23 Der philosophische<br />

Ansatz <strong>des</strong> Historismus läßt Bonhoeffer das Religionsproblem<br />

1944 grundsätzlich ordnen.<br />

22) Vgl. die Vorlesung über die ST20Jh nach DBW 11, 139–213, bes. 145 f.;<br />

für Religion wird hier ein geschichtlicher Anfangspunkt angenommen,<br />

an dem sie beginnt und an die Stelle eines anderen<br />

Begriffs tritt, nämlich <strong>des</strong> Glaubens.<br />

23) Neben W. Dilthey wird in der Vorlesung 1931/32 auch P. de Lagarde<br />

als Beleg in dieser Passage angeführt. Bonhoeffer schreibt (DBW 11,<br />

97


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 98<br />

B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />

Nachdem die Bedeutung <strong>des</strong> Historismus zur Artikulation<br />

der Religionskritik unterstrichen wurde, stellt sich<br />

nun die Frage, in welchem Verhältnis die geschichtlich artikulierte<br />

Religionskritik der Tegeler <strong>Theologie</strong> zur dialektisch-theologischen<br />

Religionskritik steht. Das in der Bonhoefferforschung<br />

immer wieder diskutierte Problem von<br />

Kontinuität oder Diskontinuität in der <strong>Theologie</strong> <strong>Dietrich</strong><br />

<strong>Bonhoeffers</strong> wird uns im Folgenden anhand der Religionskritik<br />

beschäftigen. In einem ersten Schritt werden einzelne<br />

Begriffe aus der <strong>Theologie</strong> <strong>Bonhoeffers</strong> auf ihre religionskritische<br />

Aussagekraft vor 1944 geprüft:<br />

c) Analyse von religionskritischen Einzelbegriffen24<br />

Metaphysik und Innerlichkeit als zwei religionskritisch<br />

zentrale Begriffe der Tegeler <strong>Theologie</strong> begegnen vor 1944<br />

nur je einmal im Kontext von Religion. In den USA sagt<br />

Bonhoeffer 1930:<br />

145): »Paul de Lagarde ›das Verhältnis <strong>des</strong> deutschen Staates zu<br />

<strong>Theologie</strong>, Kirche und Religion‹. Er sieht den entschiedenen Gegensatz<br />

zwischen Religion und reformatorischem Glauben«. Interessant<br />

ist nun, daß für P. de Lagarde dieser Gegensatz historisch<br />

begründet ist. Er selbst schreibt: »Der Protestantismus ist eine<br />

historische Bildung, welche nur aus dem Studium <strong>des</strong> sechzehnten,<br />

nicht aus der öffentlichen Meinung <strong>des</strong> auf die Neige gehenden<br />

neunzehnten Jahrhunderts richtig beurteilt werden kann« (In:<br />

Deutsche Schriften von P. de Lagarde-Gesamtausgabe, 40–83, Zitat<br />

42). M. Luthers Glaubensverständnis und F. Schleiermachers Religionsbegriff<br />

gehen also historisch auseinander.<br />

24) Im folgenden kann nicht auf die philosophische und theologische<br />

Tragweite der Begriffe eingegangen werden. Es wird einzig geprüft,<br />

ob die einzelnen Begriffe auch vor der Tegeler <strong>Theologie</strong> religionskritische<br />

Bedeutung bei <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer haben.<br />

98


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 99<br />

1. Rezeption <strong>des</strong> Historismus<br />

»Keine Religion, keine Ethik, keine metaphysische Erkenntnis kann<br />

dem Menschen dazu verhelfen, sich Gott zu nähern« 25 .<br />

Ebenfalls im Kontext Barthscher <strong>Theologie</strong> werden Innerlichkeit<br />

und Religion in einer Vorlesung von 1932/33 behandelt:<br />

»Gottes vertikales Wort ist Gericht über den ganzen Menschen [...]<br />

auch über <strong>des</strong> Menschen Innerlichkeit und Frömmigkeit. Daß er<br />

kommen mußte, ist der Beweis dafür, daß wir nicht kommen konnten.<br />

So ist Gottes Kommen die Kritik aller Religion« 26 .<br />

Metaphysik und Innerlichkeit sind als Begriffe im Zusammenhang<br />

mit Religion belegt, werden aber nicht gezielt -<br />

wie in ›Widerstand und Ergebung‹ – zur Artikulation der<br />

Religionskritik eingesetzt. Sie treten bloß beiläufig auf.27<br />

Mündigkeit wurde als Begriff der Tegeler <strong>Theologie</strong> als<br />

von W. Dilthey stammend erwiesen. Vorher begegnet der<br />

Begriff ›Mündigkeit‹ oder ›mündig werden‹ in den Jahren<br />

25) DBW 10, 682 (Hervorh. R. W.) – Als Beispiel für das Auftreten von<br />

Metaphysik in einem untheologischen Zusammenhang können<br />

wir auf den Vortrag ›Der Führer und der einzelne‹ von 1933 hinweisen;<br />

hier sagt Bonhoeffer kritisch über den Volksgeist und die<br />

,metaphysischen Tiefen‹: »Der Volksgeist – so denkt man es sich –<br />

bringt aus seinen metaphysischen Tiefen den Führer hervor und<br />

trägt ihn in alle Höhen« (GS II 32).<br />

26) GS V 303 f., Hervorh. R. W.; Bonhoeffer spricht in diesem Zusammenhang<br />

auch kritisch von der »religiösen Innerlichkeit«; von hier aus<br />

sei der »erste Angriff gegen Karl Barth« geführt worden (op. cit. 304).<br />

27) Vgl. auch die Entgegensetzung von Innerlichkeit und Christologie,<br />

die nicht religionskritisch angelegt ist in: Gemeinsames Leben<br />

(DBW 5) 22: »Was einer als Christ in sich ist, in aller Innerlichkeit<br />

und Frömmigkeit, vermag unsere Gemeinschaft nicht zu begründen,<br />

sondern was einer von Christus her ist, ist für unsere Bruderschaft<br />

bestimmend«.<br />

99


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 100<br />

B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />

1933, 1935 f. und 1940. In dem Vortrag ›Der Führer und der<br />

einzelne‹ fordert Bonhoeffer, daß ein Führer »den einzelnen<br />

erst in die eigentliche Mündigkeit zu führen habe« (GS II<br />

36). Der Begriff Mündigkeit wird hier auf die zeitgeschichtliche<br />

Situation bezogen, in der gerade die Unmündigkeit<br />

zum Programm werde. In der ›Finkenwalder Homiletik‹<br />

begegnen wiederholt Gedanken vom ›mündig<br />

werden‹. »Der Protestant soll mündig werden im Umgang<br />

mit der Bibel« (GS IV 255). Die Predigt soll die Gemeinde<br />

anleiten zum »Mündigwerden in der Schrift« (ibid, 268).<br />

Nicht die Lehre soll dem Auditorium im Gedächtnis bleiben,<br />

sondern die Gemeinde soll angeregt werden, nach der<br />

Predigt »die Schrift aufzuschlagen und den Text nachzulesen«<br />

(ibid). In dieselbe Richtung gehen <strong>Bonhoeffers</strong> Forderungen<br />

in dem Entwurf über ›<strong>Theologie</strong> und Gemeinde‹<br />

von 1940. Er ringt um ein »klares Verhältnis der Gemeinde<br />

zur <strong>Theologie</strong>« (GS III 422). Die Gemeinde wird zum »Mündigwerden<br />

in der Erkenntnis« aufgefordert (ibid). Mündigkeit<br />

wird also wieder auf die Gemeinde bezogen und nicht -<br />

wie in ›Widerstand und Ergebung‹ - auf die Welt.28 Bonhoeffer<br />

fordert ein ›Mündigwerden der Gemeinde‹ und beobachtet<br />

noch nicht eine ›mündig gewordene Welt‹, angesichts<br />

derer er die Frage nach Christus und der mündig<br />

gewordenen Welt stellen müßte. Obwohl die Forderung<br />

nach einer ›mündigen Gemeinde‹ durch ›Widerstand und<br />

Ergebung‹ nicht zurückgenommen wird, müssen wir feststellen,<br />

daß der Begriff Mündigkeit unter dem Eindruck <strong>des</strong><br />

Historismus einen neuen Akzent in Tegel bekommt.<br />

Individualismus ist im Unterschied zu den genannten<br />

Begriffen im Kontext Religion auch vor der Tegeler Theolo-<br />

28) Vgl. auch E. FEIL, Die <strong>Theologie</strong>, 355, Anm. 2.<br />

100


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 101<br />

1. Rezeption <strong>des</strong> Historismus<br />

gie breit belegt. Schon in der Dissertation von 1927 wird eine<br />

Kirche kritisiert, die zur »Befriedigung eines Bedürfnisses«<br />

da ist; sie sei »individualistisch konstruiert« (DBW 1, 102<br />

Anm. 18). Der Zusammenhang von Religion und Individualismus<br />

begegnet im ›Studienbericht‹ über den ersten Amerikaaufenthalt<br />

1931; hier wird der Begriff ›religiöser Individualismus‹<br />

zu einem Schlüsselbegriff für das Verständnis<br />

und die Kritik der amerikanischen <strong>Theologie</strong> und Kirche.<br />

Philosophischer Hintergrund dieser Form <strong>des</strong> Individualismus<br />

ist der Pragmatismus, <strong>des</strong>sen Wahrheitsbegriff darauf<br />

hinausläuft, daß »die Wahrheit nur immanent und nicht in<br />

ihrem transzendenten Anspruch« gesucht wird:<br />

»Daß sich hier im Grunde eine rein individualistische <strong>Lebens</strong>auffassung<br />

verbirgt, die jedem einzelnen sein Glück gönnen will und darüber<br />

hinaus nicht viel kennt, ist deutlich« (DBW 10, 270).<br />

Der durch den Pragmatismus bedingte Individualismus<br />

wirkt sich ekklesiologisch dahingehend aus, daß der amerikanische<br />

Protestantismus einen »definitiv kirchenlosen<br />

individualistischen Charakter trage« (ibid, 271). Im Unterschied<br />

zum reformatorischen Protestantismus mit Bekenntnistheologie<br />

und Dogmatik ist der amerikanische<br />

allein begründet in einem religiösen »Individualismus, wie<br />

er sich am reinsten bei den Quäkern und Kongregationalisten<br />

erhalten hat [...]. Bei den Quäkern gibt es folgerichtig<br />

auch keine eigentliche Predigt, keinen Pfarrer, keine<br />

›Kirche‹« (ibid, 276).<br />

In der besprochenen Vorlesung über die ST20Jh identifiziert<br />

Bonhoeffer ›Individualismus‹ mit ›Religion‹29. ›Individualismus‹<br />

und ›Religion‹ werden nun (wie im Amerika-<br />

29) Vgl. DBW 11, 145.<br />

101


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 102<br />

B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />

bericht) vom ›reformatorischen Protestantismus‹ unterschieden:<br />

In Europa gehe der ›religiöse Individualismus‹<br />

nicht auf den Pragmatismus zurück, sondern auf den englischen<br />

Deismus. Bonhoeffer vertieft diese Gedanken in der<br />

Vorlesung über ›Das Wesen der Kirche‹ von 1932; hier wird<br />

das »individualistische Denken« als »überaus wirksame<br />

Fehlerquelle« im Protestantismus erwiesen. »Die Individualisierung<br />

ist der Grundfehler protestantischer <strong>Theologie</strong>«<br />

(GS V 238). Für die Gotteserkenntnis bedeutet das:<br />

»Der einzelne wird zum Subjekt der Gotteserkenntnis. Die Frage<br />

nach dem ›Wie‹ der Gotteserkenntnis wird von Troeltsch mit dem<br />

religiösen Apriori beantwortet. Barth beantwortet sie mit dem Offenbarungsakt<br />

Gottes« (ibid).<br />

Interessanterweise zählt Bonhoeffer auch K. Barth (seit<br />

1929) zu den individualistischen Denkern. (In ›Akt und Sein‹<br />

wird die Individualismus-Kritik auch gegen K. Barths Offenbarungstheologie<br />

gerichtet; vgl. DBW 2, 122). In einem<br />

Predigt-Entwurf über Rechtfertigung von 1935 werden<br />

Aussagen über den Individualismus noch einmal grundsätzlich<br />

formuliert und der Unterschied zwischen Luther<br />

und der nachreformatorischen Zeit prägnant gefaßt.<br />

»Wir müssen endlich davon los, als ginge es [...] um das eigene<br />

Seelenheil <strong>des</strong> Einzelnen. [...] Bei diesem religiösen Individualismus<br />

und bei dieser Methodik bleibt der Mensch im Mittelpunkt.<br />

Es geht Luther trotz seiner Frage nach dem gnädigen Gott<br />

zuerst um das Heil Gottes und nur so auch um das Heil unserer<br />

Seele« (GS IV 202).<br />

Es ist vor diesem Hintergrund verständlich, wenn Bonhoeffer<br />

am 5. 5. 1944 fragt: »Ist nicht die individualistische Frage<br />

nach dem persönlichen Seelenheil uns allen fast völlig entschwunden«<br />

(WEN 312).<br />

102


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 103<br />

1. Rezeption <strong>des</strong> Historismus<br />

Die Rede vom ›religiösen Individualismus‹ zieht sich<br />

durch verschiedene Schriften <strong>Bonhoeffers</strong> und birgt ein<br />

wesentliches Merkmal seiner Religionskritik. ›Religiöser<br />

Individualimus‹ hat bei Bonhoeffer eine Vorgeschichte und<br />

ist wie Religion ein Kampfbegriff, der sich gegen F. Schleiermacher<br />

(Sanctorum Communio), K. Barth (Akt und Sein),<br />

W. James (Studienbericht), H. von Cherbury (Vorlesung)<br />

und schließlich auch gegen W. Dilthey richtet, der wie F.<br />

Schleiermacher die›Privatreligion‹ vertritt. Mit dem Begriff<br />

Individualismus läßt sich eine ungebrochene Kontinuität<br />

in <strong>Bonhoeffers</strong> religionskritischem Denken aufzeigen. In<br />

›Widerstand und Ergebung‹ wird dieser Begriff auch nicht<br />

durch den der Diltheyschen ›Innerlichkeit‹ ersetzt, sondern<br />

tritt unverbunden neben ihn. So wird im Brief vom 30. 4.<br />

1944 Religion als ›Metaphysik und Innerlichkeit‹ beschrieben,<br />

und im folgenden Brief vom 5. 5. heißt es dann:<br />

»religiös interpretieren heißt m. E. einerseits metaphysisch,<br />

andererseits individualistisch reden« (WEN 312, Hervorh.<br />

R. W.).<br />

Der Begriff Autonomie (oder autonom) begegnet verschiedentlich<br />

vor 1944, zuerst in der Habilitationsschrift<br />

›Akt und Sein‹ (DBW 2, 133); hier treten »autonomes Selbstverständnis«<br />

und »autonomes Denken« in den Gegensatz zu<br />

Christologie und Ekklesiologie. Reflexionen über Autonomie<br />

im Zusammenhang mit Ethik und Kultur finden sich<br />

in der Vorlesung über die ST20Jh (DBW 11, 186.190.193 f.);<br />

hier zeigt Bonhoeffer einerseits am Beispiel F. Nietzsches,<br />

inwiefern das Christentum »die verhängnisvollste Hemmung<br />

der autonomen Kultur« bedeutete (DBW 11, 186).<br />

Andererseits habe F. Naumann »den alten Versuch der Synthese«<br />

aufgegeben (DBW 11, 188). Bonhoeffer beschreibt die<br />

Konsequenz Naumanns mit den Worten:<br />

103


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 104<br />

B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />

»Naumanns Denken schließt mit dem restlosen Auseinanderklaffen<br />

[von Christentum und Kultur], aber er zieht doch nicht die letzte<br />

Consequenz, er drängt wieder auf die Synthese«30.<br />

Autonomie wird noch nicht in den Zusammenhang mit<br />

Religion gebracht, obwohl das am Beispiel F. Naumanns<br />

nahegelegen hätte. Weiter im Kontext von Ethik und Kultur<br />

begegnet der Name W. Dilthey, und zwar im Rahmen<br />

einer Reflexion über den Zusammenbruch »der autonomen<br />

Kultur« (DBW 11, 186). W. Dilthey wird - offenbar wieder in<br />

Anlehung an die Einleitung - im Zusammenhang »<strong>des</strong> Geschichtsproblems«<br />

(192) behandelt:<br />

»In allen drei Kreisen (Erkenntnisproblem, Geschichtsproblem und<br />

das ethische Problem) ging es um die Frage <strong>des</strong> Gleichgewichts zur<br />

Kultur. [...] Im ersten Jahrzehnt [waren es] immer mehr, bei denen<br />

der Versuch der Anpassung auseinanderbrach. [Der] Anfang davon<br />

war [...] Dilthey« (DBW 11, 192).<br />

Autonomie als geschichtliches Problem mit Religion zu<br />

verbinden – und somit den Begriff Autonomie positiv zu<br />

belegen –, tritt in dieser Vorlesung noch nicht in den Blick.<br />

Bonhoeffer kannte den Band ›Weltanschauung und Analyse‹<br />

noch nicht. Ebenfalls im Kontext ethischer Erwägungen<br />

stoßen wir in der Vorlesung ›Jüngste <strong>Theologie</strong>‹ auf den<br />

Ausdruck »Autonomie <strong>des</strong> Menschen« (GS V 322). Bonhoeffer<br />

stellt F. Gogarten als Individualethiker dar:<br />

»Ursache für den Zerfall der Welt und das Auseinanderbrechen ihrer<br />

Ordnungen ist die seit der Renaissance immer dominierender werdende<br />

Idee von der Autonomie <strong>des</strong> Menschen. Sie ist gekoppelt mit<br />

einem individualisierenden menschlichen Selbstverständnis. Der<br />

autonome Mensch beherrscht die Welt« (ibid).<br />

30) DBW 11, 189; Zitatstück in [...] ergänzt aus GS V, 212.<br />

104


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 105<br />

1. Rezeption <strong>des</strong> Historismus<br />

Von Bedeutung ist für die Begriffsbetrachtung die Trias:<br />

Renaissance, Autonomie, Individualismus. Hat Bonhoeffer<br />

in der Vorlesung über die ST20Jh Individualismus und Religion<br />

in ein geschichtliches Verhältnis gesetzt, so hier das<br />

Begriffspaar Individualismus und Autonomie. Die Begriffe<br />

Individualismus und Autonomie erhalten in der Tegeler<br />

<strong>Theologie</strong> schließlich gemeinsam ihre religionskritische<br />

Aussagekraft.<br />

In dem Vortrag ›Vergegenwärtigung neutestamentlicher<br />

Texte‹31 von 1935 wird die Frage nach der menschlichen<br />

Autonomie negativ entschieden. Diese Frage wird<br />

nicht in den Zusammenhang von Ethik oder Ekklesiologie,<br />

sondern in den der Exegese und Hermeneutik gestellt.<br />

Christentum und Autonomie stehen in einem alternativen<br />

und nicht in einem relationalen Verhältnis wie in ›Widerstand<br />

und Ergebung‹. Die Frage lautet: Christus oder der<br />

autonome Mensch, und nicht: Christus und die mündig<br />

gewordenen Welt. Überhaupt treten die Begriffe ›autonome‹<br />

Vernunft, <strong>Lebens</strong>gestaltung und Mensch in ein negatives<br />

Licht und werden im Kontext einer Rechtfertigung<br />

<strong>des</strong> Christentums vor der Welt reflektiert. Hintergrund für<br />

die Autonomie-Kritik ist möglicherweise das positive Verständnis<br />

von ›Autonomie‹ im Nationalsozialismus. Der<br />

Begriff ›Autonomie‹ tritt vor 1944 im Zusammenhang von<br />

Ekklesiologie, Ethik und Exegese auf. Mit ›Widerstand und<br />

Ergebung‹ wird der Begriff unter dem Eindruck der systematischen<br />

Dilthey-Lektüre als Arbeitsbegriff eingesetzt. In<br />

der Verwendung besteht eine inhaltliche Diskontinuität<br />

<strong>des</strong> Begriffs.<br />

31) GS III 303–324.<br />

105


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 106<br />

B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />

Redlichkeit. Bonhoeffer schreibt in dem genannten Vortrag<br />

von 193532 über ein vor der Welt zu rechtfertigen<strong>des</strong><br />

Christentum:<br />

»[...] und es ist nur noch eine Frage der Redlichkeit, daß man an diesem<br />

Gebilde sein Interesse gänzlich verliert und sich von ihm abkehrt.<br />

Diese Vergegenwärtigung führt direkt ins Heidentum. Woraus<br />

denn auch folgt, daß zwischen Deutschen Christen und den<br />

sogenannten Neuheiden nur noch der Unterschied der Redlichkeit<br />

besteht« (GS III, 304 f.).<br />

Dieser allgemeine Gebrauch von Redlichkeit verdichtet sich<br />

im frühen Ethik-Fragment ›Erbe und Verfall‹ von 1940 zum<br />

Begriff »intellektuelle Redlichkeit« (DBW 6, 106). Unter dem<br />

Eindruck von G. Lessing formuliert Bonhoeffer:<br />

»Intellektuelle Redlichkeit in allen Dingen, auch in den Fragen <strong>des</strong><br />

Glaubens, war das hohe Gut der befreiten ratio und gehört seitdem<br />

zu den unaufgebbaren sittlichen Forderungen <strong>des</strong> abendländischen<br />

Menschen.« – »Hinter Lessing und Lichtenberg können wir nicht<br />

mehr zurück.« (ibid)<br />

›Redlichkeit‹ wird also hier schon als historische Größe verstanden,<br />

die ihren Anfangspunkt mit G. Lessing33 nimmt.<br />

Der Zusammenhang von intellektueller Redlichkeit und<br />

Religion ist ebenfalls angedeutet, wenn wir der Alternativlesart<br />

zu dem oben zitierten Satz folgen:<br />

»Intellektuelle Redlichkeit in allen Dingen, auch in den religiösen, 34<br />

war das hohe Gut der befreiten ratio« (Ethik [DBW 6] 106 Anm. 52).<br />

32) Vergegenwärtigung neutestamentlicher Texte, in: GS III 303–324.<br />

33) Vgl. auch die Bedeutung G. Lessings für W. Dilthey, etwa in seinem<br />

Aufsatzband: Das Erlebnis und die Dichtung, 18–123.<br />

34) Bonhoeffer hat die »Fragen <strong>des</strong> Glaubens« durch »religiöse (Dinge)«<br />

ersetzt. Es wäre zu fragen, ob wir hierin einen Hinweis auf eine<br />

106


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 107<br />

1. Rezeption <strong>des</strong> Historismus<br />

Bonhoeffer fordert in dem von W. Dilthey beeinflußten<br />

Brief vom 8. 6.1944 die Anwendung seiner Beobachtung aus<br />

der ›Ethik‹:<br />

»Es gehört zur intellektuellen Redlichkeit, diese (religiöse, R.W.)<br />

Arbeitshypothese fallen zu lassen« (WEN 393).<br />

<strong>Eine</strong>n »salto mortale zurück ins Mittelalter« gibt es nur um<br />

den Preis der »intellektuellen Redlichkeit« (WEN 393f). Der<br />

Begriff der Redlichkeit wird in den Historismus W. Diltheys<br />

eingeordnet und in dem Zusammenhang mit Religion reflektiert.35<br />

Nichtreligiös interpretiert bedeutet nämlich der<br />

biblische Begriff ›Buße‹: »letzte Redlichkeit« (WEN 394).<br />

Hier begegnen wir einem der wenigen konkreten Hinweise<br />

einer nichtreligiösen Interpretation biblischer Begriffe.<br />

<strong>Eine</strong>n weiteren biblischen Begriff ›Verheißung‹ interpretiert<br />

Bonhoeffer nichtreligiös durch das Wort ›Sinn‹: »Der<br />

unbiblische Begriff <strong>des</strong> ›Sinnes‹ ist ja nur eine Übersetzung<br />

<strong>des</strong>sen, was die Bibel ›Verheißung‹ nennt« (WEN 426).<br />

›Gott‹/Privileg/Partialität/religiöse Vorstufe : Diese Einzelbegriffe<br />

sollen summarisch behandelt werden, weil sie<br />

gemeinsam ›Widerstand und Ergebung‹ vorbereiten.36<br />

religionskritische Absicht in der Ethik erhalten, die geschichtlich<br />

artikuliert ist.<br />

35) Der Zusammenhang zwischen ›Buße‹ und ›Redlichkeit‹ ist ein Novum<br />

der Tegeler <strong>Theologie</strong>; vergleichen wir etwa eine Predigt <strong>Bonhoeffers</strong><br />

zum Bußtag (vom 19. 11.1933), so fällt auf, daß der Begriff<br />

»Redlichkeit« dort überhaupt nicht begegnet, während von ›Buße‹<br />

häufiger die Rede ist (GS IV 154 f.). Der Zusammenhang zwischen<br />

Buße und Redlichkeit tritt noch nicht in den Blick.<br />

36) <strong>Bonhoeffers</strong> Rede von den ›letzten Fragen‹ bildet eine gewisse Ausnahme,<br />

weil wir hier einer eindeutigen Diskontinuität begegnen.<br />

1944 schreibt er kritisch, daß »doch immer die sogenannten ›letzten<br />

Fragen‹ – Tod, Schuld – blieben, um deretwillen man Gott und die<br />

107


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 108<br />

B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />

›Gott‹ in dieser Schreibweise begegnet erstmals vor<br />

›Widerstand und Ergebung‹ in einem Amerikavortrag von<br />

1930/31 (DBW 10, 448):<br />

»Cosmology may come to the assumption of a last ground of the<br />

world and may call that ›God‹ [...]« 37 .<br />

Hier entsteht die in Tegel durchgängig gebrauchte Schreibweise<br />

für einen religiösen ›Gott‹, der zur Antwort auf die<br />

»letzten Fragen der Menschen« wird (WEN 357). Im Brief<br />

vom 8. 6. 1944 wird die Schreibweise ›Gott‹ besonders häufig<br />

gebraucht (vgl. WEN 356 f.) und – wie 1930/31 – auch im<br />

Zusammenhang mit der Naturwissenschaft: »Arbeitshypothese:<br />

Gott« (hier von C. F. v. Weizsäcker aufgebracht und in<br />

den historischen Argumentationsrahmen eingefügt).<br />

Der Privilegcharakter von Religion wird in der Vorlesung<br />

über Das Wesen der Kirche aus dem Sommersemester<br />

1932 angesprochen. Bonhoeffer kritisiert eine Kirche, die<br />

»sich an bevorzugten Orten ansiedelt« (GS V 233). Statt <strong>des</strong>sen<br />

wird gefordert:<br />

Kirche und den Pfarrer braucht« (WEN 357). In einer Predigt von<br />

1933 beurteilt er die Aufgabe der Kirche umgekehrt, und zwar mit<br />

nahezu denselben Worten. Auf die vermeintlich ›letzte Frage‹: »Wo<br />

werden wir nach unserem eigenen Tode sein«, predigt Bonhoeffer:<br />

»Und die Kirche erhebt den Anspruch, auf diese unmögliche Frage<br />

<strong>des</strong> Menschen Antwort zu geben. Ja, weil diese Kirche auf diese<br />

letzte Frage Antwort weiß, besteht sie« (GS IV 160). Beim Thema<br />

›letzte Fragen‹ hat Bonhoeffer 1944 offenbar ganz andere Konsequenzen<br />

für die Kirche gezogen als in der Predigt von 1933. Hier<br />

haben wir ein Beispiel für eine echte Veränderung im Gedankengang.<br />

37) Dt.: »Die Kosmologie kann eventuell zur Annahme eines letzten<br />

Grun<strong>des</strong> der Welt gelangen und diesen ›Gott‹ nennen [...]« (DBW 10,<br />

694).<br />

108


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 109<br />

»Die Kirche kann nur zeugen von der Mitte der Welt, die Gott allein<br />

schafft. Sie muß versuchen, dem Wirken Gottes Raum zu geben«<br />

(ibid).<br />

Bonhoeffer schreibt: »<strong>Theologie</strong> ist eine Funktion der Kirche«<br />

(GS V 234). Bei K. Barth heißt es: »<strong>Theologie</strong> ist aber eine<br />

Funktion der Kirche«.38<br />

Die wörtliche Übereinstimmung mit K. Barth korrespondiert<br />

mit der zu dieser Zeit gegebenen Übereinstimmung<br />

in der Religionskritik. Auch die Kritik am Privilegscharakter<br />

der Kirche steht in diesem Zusammenhang und<br />

zieht sich bis in die Tegeler <strong>Theologie</strong> hinein (vgl. WEN 306.<br />

327). Diese kirchliche Religionskritik stammt von K. Barth.<br />

In der Vorlesung ›Sichtbare Kirche im Neuen Testament‹<br />

von 1935 werden wieder Kirche und religiöse Gemeinschaft<br />

einander entgegengesetzt. In der ›religiösen Gemeinschaft‹<br />

geht es »um die Aufteilung <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong> in Religiöses und<br />

Profanes« (GS III 330). In der Kirche aber gilt der Grundsatz:<br />

»Das ganze Leben wird mit Beschlag belegt« (ibid). Die Meinung<br />

<strong>Bonhoeffers</strong> ist also, daß Religion einen partiellen Teil<br />

<strong>des</strong> <strong>Lebens</strong> ausmacht, wo hingegen es der Kirche um das<br />

Ganze <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong> geht. In der ›Ethik‹ wird dieser Gedanke<br />

wieder aufgenommen, wenn es über die Kirche heißt:<br />

»Sie hat es also zunächst gar nicht wesentlich mit den sogenannten<br />

religiösen Funktionen <strong>des</strong> Menschen zu tun, sondern mit dem ganzen<br />

Menschen in seinem Dasein in der Welt mit allen seinen Beziehungen«<br />

(DBW 6, 84).<br />

Aus Tegel faßt Bonhoeffer zusammen:<br />

1. Rezeption <strong>des</strong> Historismus<br />

38) KD I/1, 1. Das Erscheinen von KD I/1 fällt – wie die Vorlesung <strong>Bonhoeffers</strong><br />

– in das Jahr 1932.<br />

109


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 110<br />

B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />

»[...] der ›religiöse Akt‹ ist immer etwas Partielles, der ›Glaube‹ ist<br />

etwas Ganzes, ein <strong>Lebens</strong>akt. Jesus ruft nicht zu einer neuen Religion<br />

auf, sondern zum Leben« (WEN 396).<br />

Der Gegensatz ›Leben contra Religion‹ scheint in abgewandelter<br />

Form als ›Leben contra Kirche‹39 vorbereitet. ›Leben‹<br />

und ›Religion‹ werden noch nicht in einen direkten Gegensatz<br />

gebracht.<br />

Im Rahmen der Auslegung <strong>des</strong> Psalters in ›Gemeinsames<br />

Leben‹ hat Bonhoeffer sich mit der aus der religionsgeschichtlichen<br />

Schule stammenden These vom Alten Testament<br />

als der religiösen Vorstufe <strong>des</strong> Neuen auseinanderzusetzen.<br />

Besonders im Blick auf die Rachepsalmen kann er<br />

dieser These nicht folgen (vgl. DBW 5, 39) und verwirft sie<br />

dann im Hinblick auf das Ganze <strong>des</strong> Psalters (vgl. DBW 5,<br />

129). Aus Tegel faßt Bonhoeffer fragend zusammen:<br />

»Religiöse Vorstufe? Das ist eine sehr naive Auskunft; es ist ja ein<br />

und derselbe Gott« (WEN 176).<br />

Die ablehnenden Rede von einer ›religiösen Vorstufe‹ ist<br />

vorbereitet.<br />

Zwischenergebnis: Anhand der Einzelbegriffe, die im<br />

Zusammenhang mit Religion bei Bonhoeffer bedeutsam<br />

geworden sind, ergibt sich folgen<strong>des</strong> Bild: Teilweise sind<br />

diese Begriffe selbst zu Charakteristika der Religion avanciert<br />

(wie ›Metaphysik‹ oder ›Innerlichkeit‹); teilweise standen<br />

sie im größeren Kontext der Religionsthematik - wie<br />

bei der ›mündig gewordenen Welt‹ oder dem Begriff ›Redlichkeit‹.<br />

Die Frage nach dem Verhältnis von Kontinuität<br />

und Diskontinuität in der Religionsthematik soll zunächst<br />

39) Bonhoeffer lehnt hier ein Verständnis von Kirche als religiöser<br />

Gemeinschaft ab.<br />

110


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 111<br />

1. Rezeption <strong>des</strong> Historismus<br />

anhand der untersuchten Einzelbegriffe gestellt werden.<br />

Dabei sind zwei Gruppen zu unterscheiden:<br />

Zum einen Begriffsgruppen, die einen Neuansatz mit<br />

den Tegeler Briefen markieren. Zu diesen Begriffen zählen<br />

›Metaphysik‹ und ›Innerlichkeit‹, deren Gebrauch in der<br />

Begrifflichkeit <strong>Bonhoeffers</strong> vor 1944 nicht im Zusammenhang<br />

mit Religion belegt ist. Die religionskritische Anwendung<br />

dieser Begriffe ist neu und auf dem Hintergrund seines<br />

Dilthey-Studiums interpretierbar.<br />

Andere Begriffe deuten eine Kontinuität in der Beschreibung<br />

von Religion an; hier ist besonders auf den<br />

Begriff ›Individualismus‹ hinzuweisen, der von ›Sanctorum<br />

Communio‹ bis ›Widerstand und Ergebung‹ religionskritische<br />

Züge trägt. In der Tegeler <strong>Theologie</strong> tritt ›Individualismus‹<br />

neben ›Innerlichkeit‹ zur Formulierung der Religionskritik,<br />

wie an den Briefen vom 30. 4. und vom 5. 5. 1944<br />

aufgezeigt. Auch der Begriff ›Redlichkeit‹ steht seit der<br />

›Ethik‹ in religionskritischem Zusammenhang und wird in<br />

›Widerstand und Ergebung‹ zum nichtreligiösen Begriff erweitert<br />

(›Buße‹ als ›letzte Redlichkeit‹). Dieser Begriff (wie<br />

vorher schon der der ›Arbeitshypothese Gott‹) wird unter<br />

dem Eindruck W. Diltheys in die historische Argumentation<br />

eingegliedert, was sich am Brief vom 8. 6. 1944 zeigen<br />

läßt. Die Philosophie W. Diltheys wird zur historischen Folie,<br />

auf deren Hintergrund Bonhoeffer systematisch-theologisch<br />

seine Religionskritik artikuliert.<br />

<strong>Eine</strong> weitere Gruppe von Begriffen ist schwer in das<br />

Schema von Kontinuität und Diskontinuität einzuordnen.<br />

Dazu zählen etwa die Begriffe ›Mündigkeit‹ und ›Autonomie‹.<br />

Die Begriffsuntersuchungen haben ergeben, daß beide<br />

Begriffe auch vor Tegel formal auftauchen. <strong>Eine</strong> religionskritische<br />

Aussagekraft haben sie jedoch erst in den<br />

111


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 112<br />

B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />

Tegeler Briefen erhalten. Neben den Begriffen ›Metaphysik‹<br />

und ›Innerlichkeit‹ sind die Begriffe ›Mündigkeit‹ und<br />

›Autonomie‹ auf <strong>Bonhoeffers</strong> systematische Dilthey-Studien<br />

in Tegel zurückzuführen. Es scheint, als bekämen diese<br />

Begriffe in der Tegeler <strong>Theologie</strong> ihre eigentliche Bedeutung<br />

– vorher angelegt, werden sie unter dem Eindruck <strong>des</strong><br />

Historismus zusammengeführt.<br />

Von den Einzelbegriffen her müssen wir vorläufig eine<br />

Diskontinuität in der Kontinuität annehmen. <strong>Eine</strong> Diskontinuität<br />

stellt sich ein, wo Begriffe im Zusammenhang<br />

der Religionsthematik neu gefüllt (wie etwa ›Autonomie‹)<br />

oder überhaupt neu eingeführt werden (vgl. etwa ›Metaphysik‹).<br />

Die Kontinuität bleibt erhalten bei Begriffen, die<br />

inhaltlich bis in die Tegeler Religionskritik unverändert<br />

bleiben (etwa ›Individualismus‹).<br />

2. Kontinuität oder Diskontinuität<br />

in der Religionsthematik?<br />

Anhand von Einzelbegriffen aus dem Zusammenhang der<br />

Religionsthematik war eine Diskontinuität in der Kontinuität<br />

zu beobachten. Im Folgenden soll grundsätzlich der<br />

Frage nachgegangen werden, ob ein Gegensatz in der Formulierung<br />

der Religionskritik im Werk <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong><br />

besteht.<br />

a) Muss alternativ zwischen einem historischen oder<br />

systematisch-theologischen Verständnis von Religion<br />

bei Bonhoeffer gewählt werden?<br />

E. Feil hat auf die Diskontinuität in der Religionsauffassung<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong> hingewiesen. Mit ›Widerstand<br />

und Ergebung‹ sei »keine dialektische (im Sinne der dialekti-<br />

112


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 113<br />

2. Kontinuität oder Diskontinuität?<br />

schen <strong>Theologie</strong>) und damit in gewisser Hinsicht ›statische‹<br />

Entgegensetzung von Glaube und Religion angenommen,<br />

sondern ein geschichtlicher Religionsbegriff entwickelt«.40<br />

Bonhoeffer verstehe »religionslos« nicht »als systematisch-statische,<br />

sondern als geistesgeschichtlich-genetische<br />

Kategorie«41. Dieser beobachtete Gegensatz steht also in<br />

engem Zusammenhang mit <strong>Bonhoeffers</strong> Rezeption von W.<br />

Dilthey einerseits und seiner Auseinandersetzung mit K.<br />

Barth andererseits.<br />

In der grundsätzlichen Annahme eines Einflusses W.<br />

Diltheys folgen wir E. Feil. Es schließen sich aber drei konkretisierende<br />

Fragen an:<br />

1. Wird W. Dilthey für Bonhoeffer erst 1944 wichtig<br />

(und nicht schon 1931/32)?<br />

2. Was wird für Bonhoeffer 1944 aus der Dilthey-Lektüre<br />

wichtig: der Historismus oder der <strong>Lebens</strong>begriff?<br />

3. Woher stammt die Kritik an der Religion in ›Widerstand<br />

und Ergebung‹, wenn nicht von Barth?<br />

Die zweite Frage stellen wir zur Beantwortung noch zurück.<br />

In Abschnitt C) wird zu fragen sein, ob Bonhoeffer<br />

Diltheys philosophischem Konzept 1944 auch grundsätzlich<br />

theologische Bedeutung beimißt: Hat er bloß den<br />

Historismus zur Formulierung der Religionskritik angewandt<br />

oder auch seinen <strong>Lebens</strong>begriff konstruktiv rezipiert?<br />

Immerhin wurde ihm die <strong>Lebens</strong>philosophie in Gestalt<br />

<strong>des</strong> amerikanischen Pragmatismus schon 1930/31 in<br />

den USA wichtig.<br />

40) E. FEIL, Die <strong>Theologie</strong> 364; vgl. auch DERS., Ende oder Wiederkehr<br />

der Religion? Zu <strong>Bonhoeffers</strong> umstrittener Prognose eines ›religionslosen<br />

Christentums‹, in: IBF 7, 1987, 27–49, bes. 37 f.<br />

41) Ibid, 354.<br />

113


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 114<br />

B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />

Doch zunächst zum Problem der Kontinuität im Religionsverständnis<br />

<strong>Bonhoeffers</strong> und damit zur ersten und<br />

dritten Frage: E. Feil unterscheidet einen ›systematischtheologischen‹<br />

von einem ›historischen‹ Religionsbegriff.<br />

Während der systematisch-theologische Religionsbegriff<br />

<strong>des</strong> frühen Bonhoeffer auf K. Barth zurückgehe, sei der<br />

historische auf W. Dilthey zurückzuführen. Diese Unterscheidung<br />

tritt bei E. Feil in einen Gegensatz: erst ›statisch<br />

und systematisch‹, dann ›dynamisch und historisch‹, ein<br />

Entweder-Oder, eine echte Diskontinuität.<br />

In der Tat zeigte sich, daß die religionskritischen Aussagen<br />

vom frühen K. Barth her beeinflußt sind (vgl. Abschnitt<br />

A), während die Erwägungen über Religionslosigkeit<br />

von Dilthey stammen (vgl. Abschnitt B). Aber tritt die<br />

Barth-Rezeption <strong>des</strong>halb in einen Gegensatz zur Dilthey-<br />

Rezeption? Wie bereits dargelegt, gewinnt Diltheys Historismus<br />

spätestens in der Vorlesung über die ST20Jh aus dem<br />

WS 1931/32 an Bedeutung: <strong>Eine</strong> historische Argumentationsstruktur<br />

im Zusammenhang mit Religion ist bei<br />

Bonhoeffer schon vor 1944 zu beobachten. Wenn also eine<br />

Wende in der Religionsthematik angenommen werden soll,<br />

muß zunächst gefragt werden: Wann soll sich diese vollziehen<br />

1944, 1931/32 oder irgendwann dazwischen? Wenn gar<br />

ein Gegensatz zwischen einem systematisch-theologischen<br />

und einem historischen Religionsverständnis angenommen<br />

werden soll, muß zumin<strong>des</strong>t gefragt werden, worin<br />

dieser bestehen kann. Die Auskunft, er bestehe im Gegensatz<br />

von ›statisch‹ und ›dynamisch‹, ist nach unseren Beobachtungen<br />

nicht hinreichend, auch nicht der Gegensatz<br />

von historisch und systematisch.<br />

E. Feil differenziert in einen dialektischen und dualistischen Religionsbegriff<br />

bei K. Barth. In der Darstellung Barthscher Religionkri-<br />

114


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 115<br />

2. Kontinuität oder Diskontinuität?<br />

tik war gerade keine Unterscheidung zwischen einem dualistischen<br />

und einem dialektischen Religionsbegriff erkennbar. Von den frühen<br />

Aufsätzen bis zur KD ist K. Barths Religionsbegriff dualistisch<br />

bestimmt im Sinne eines offenbarungstheologischen Gefälles Glaube-Religion.<br />

Ein dialektisches Zusammentreten von Glaube und<br />

Religion kann erst recht nicht mit KD I/2 angenommen werden, wo<br />

gerade jeder systematische Ausgleich von vornherein ausgeschlossen<br />

wird. Religion ist ein Problem in der <strong>Theologie</strong>. Gerade das offenbarungstheologische<br />

Gefälle ist von zentraler Bedeutung für die<br />

Ausbildung eines Religionsbegriffs und macht die Rede von der<br />

›wahren Religion‹ für Barth erst möglich (und provoziert, wie wir<br />

sahen, den Einwand <strong>des</strong> Offenbarungspositivismus). K. Barths Religionskritik<br />

ist vom ›Römerbrief‹ bis zur KD im Sinne eines Dualismus<br />

Gnade-Religion angelegt. Fragen wir nun, wie K. Barth seine<br />

Religionskritik formuliert, so beobachten wir überraschend, daß<br />

auch sie einen geschichtlichen Akzent tragen kann. Für K. Barth<br />

ist deutlich, daß »seit 200 Jahren« das »Wort religio« seine Bedeutung<br />

bekommen hat. Er bekennt: »Ich kann das Wort ›Religion‹ nicht<br />

mehr [...] aussprechen ohne die widerwärtige Erinnerung, daß es<br />

nun einmal tatsächlich in der neueren Geistesgeschichte die Flagge<br />

ist, die den Zufluchtsort anzeigt, wohin sich die protestantische<br />

[...] <strong>Theologie</strong> mehr oder weniger fluchtartig zurückzuziehen begann«<br />

42 .<br />

Es ist aufschlußreich, daß auch der Wort-Gottes-Theologe<br />

den Religionsbegriff in geistesgeschichtlichem Kontext reflektieren<br />

kann. Er hat – wie Bonhoeffer – den neuzeitlichen<br />

Religionsbegriff im Blick, wie er grundlegend von Schleiermacher<br />

ausgebildet wurde. Vom 20. Jh. aus kritisiert K.<br />

Barth das Religionsverständnis <strong>des</strong> 19. Jh. Dabei ist die Meinung<br />

Barths wie die <strong>Bonhoeffers</strong>, daß der Religionsbegriff<br />

42) K. BARTH, Unterricht in der christlichen Religion, Erster Band.<br />

Prolegomena 1924, Karl Barth Gesamtausgabe 17, II. Akademische<br />

Werke, Zürich 1985, Zitate 224.<br />

115


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 116<br />

B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />

der Liberalen <strong>Theologie</strong> den Glaubensbegriff der reformatorischen<br />

<strong>Theologie</strong> abgelöst habe: Die <strong>Theologie</strong> sei zur<br />

Anthropologie geworden.43<br />

In diesem historisierenden Sinne hat Bonhoeffer wohl<br />

auch K. Barth in seiner oben erwähnten Vorlesung 1931/32<br />

verstanden: Die Entgegensetzung Glaube – Religion aus<br />

dem ›Römerbrief‹, die er von ›Sanctorum Communio‹ bis<br />

›Widerstand und Ergebung‹ teilt, wird geschichtlich radikalisiert:<br />

Man kann seit dem 17. Jh. gar nicht mehr von<br />

reformatorischem Glauben sprechen. Das kann Bonhoeffer<br />

freilich nur unter dem Eindruck der Dialektischen <strong>Theologie</strong><br />

formulieren, denn allein von hier aus – also vom 20. Jh.<br />

aus – kann man wieder vom reformatorischen Glauben<br />

sprechen. So gipfelt auch die Vorlesung in der Darstellung<br />

K. Barths und der Dialektischen <strong>Theologie</strong>. Systematik und<br />

Historie sind keine Alternativen in <strong>Bonhoeffers</strong> Verständnis<br />

von Religion. Historische Argumentationsstrukturen im<br />

Zusammenhang mit Religion begegnen bei Bonhoeffer<br />

neben systematisch-theologischen Erwägungen schon in<br />

den 30er Jahren: Ob in der dargestellten Vorlesung über die<br />

ST20Jh mit der These, Religion löse den reformatorischen<br />

Glauben im 17. Jh. ab;44 ob er in der besprochenen Predigt<br />

von 1932 nach der Unterscheidung von neuzeitlichem und<br />

vorneuzeitlichem Gottesverständnis der Meinung ist, daß<br />

43) Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Feuerbach-Vorlesung K.<br />

BARTHs aus dem Jahr 1926, in: Die <strong>Theologie</strong> und die Kirche,<br />

Gesammelte Vorträge II, 212–239, 1928. K. Barth ruft in dieser Vorlesung<br />

dazu auf, »Feuerbach das Zugeständnis zu machen, daß er<br />

mit seiner Religionsdeutung auf der ganzen Linie Recht hat« (ibid,<br />

238).<br />

44) Vgl. DBW 11, 145 f.<br />

116


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 117<br />

2. Kontinuität oder Diskontinuität?<br />

durch die Dialektische <strong>Theologie</strong> der Glaube nun wieder die<br />

Religion im 20. Jh. ablöse;45 ob er dann 1939 ›Religion‹ überhaupt<br />

für »überflüssig« hält mit der These, »daß man gut<br />

oder besser ohne ›Religion‹ auskommt«46; ob er in der<br />

›Ethik‹ 1941 Religion mit ›abendländischer Gottlosigkeit‹47<br />

identifiziert oder in einem Brief von 1942 bekennt, daß die<br />

Begriffe ›Gott‹, ›Christus‹ etc. religiös ›entkleidet‹ werden<br />

müßten,48 wenn er schließlich aus der Tegeler Zelle eine ›religionslose<br />

Zeit‹ proklamiert, der wir entgegengehen.49<br />

Überall stehen in der Religionsthematik historische<br />

und systematisch-theologische Erwägungen nebeneinander;<br />

zuweilen ergänzen sie sich, wie in der Vorlesung 1931/<br />

32: Religion als geschichtliche Größe hat ihre Zeit vom 17.–<br />

19. Jh. Die Dialektische <strong>Theologie</strong> <strong>des</strong> 20. Jh. lehnt das neuzeitliches<br />

Verständnis von Religion, wie es sich seit dem 17.<br />

Jh. ausgeprägt hat, ab. Die Tegeler Religionsauffassung radikalisiert<br />

diese Kritik unter systematischem Rückgriff auf<br />

W. Dilthey und formuliert das geschichtliche Ende von<br />

Religion insgesamt.<br />

b) Geschichtlich artikulierte Religionskritik 1930/31 –<br />

Die Bedeutung von William James<br />

Wenn wir nicht trennen zwischen einer systematischen<br />

und einer historisch formulierten Religionskritik bei Bonhoeffer,<br />

bleibt die Frage offen, wann die historisch artikulierte<br />

Religionskritik einsetzt und wo sie erstmals belegt ist.<br />

45) Vgl. DBW 11, 435 ff.<br />

46) GS I 300.<br />

47) Ethik (DBW 6) 113.<br />

48) Vgl. GS II 420.<br />

49) Zuerst im Brief vom 30. 4.1944 (WEN 305 ff.).<br />

117


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 118<br />

B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />

Dazu wollen wir uns einem weitgehend unbeachtet gebliebenen<br />

Feld der Bonhoeffer-Rezeption zuwenden. Neben<br />

Dilthey (von 1931/32 an) gewinnt seit 1930 die pragmatische<br />

<strong>Lebens</strong>philosophie50 für Bonhoeffer an Bedeutung. Sie verbindet<br />

sich für den USA-Stipendiaten hauptsächlich mit<br />

dem Namen W. James.<br />

»Ich las fast das gesamte philosophische Werk von William<br />

James, das mich ungemein fesselte« – so Bonhoeffer in<br />

einer Selbstaussage 1931.51 Besonders vertraut ist er offensichtlich<br />

mit dem Religionsbegriff von W. James gewesen.<br />

Bonhoeffer hielt ein Referat52 über die ›Conclusions‹ der ›Varieties<br />

of religious experience‹, die ›Schlussfolgerungen‹,<br />

die W. James aus seinen ›Vorlesungen über die pragmatische<br />

Religionspsychologie‹ 1901/1902 zog.53 Er eröffnet<br />

seine ›Schlußfolgerungen« (448 ff.), indem er erkenntnistheoretisch<br />

an die historische <strong>Lebens</strong>philosophie anknüpft<br />

und sie fragend mit dem Religionsbegriff verbindet.<br />

»Muß man annehmen, daß bei allen Menschen die Mischung von<br />

Religion und anderen Elementen identisch sein sollte? Muß in der<br />

Tat angenommen werden, daß die Biographien aller Menschen<br />

50) Zum Begriff: Bonhoeffer selbst versteht den Pragmatismus, wie er<br />

durch W. James begründet und zum Instrumentalismus durch<br />

Dewey erweitert wurde, als »<strong>Lebens</strong>philosophie« (DBW 10, 271).<br />

51) DBW 10, 268.<br />

52) Vgl. DBW 10, 408 f.<br />

53) <strong>Eine</strong> dt. Übersetzung besorgte E. HERMS unter dem Titel ›Die Vielfalt<br />

religiöser Erfahrung. <strong>Eine</strong> Studie über die menschliche Natur‹,<br />

1979 (= Vorlesungen). Wir folgen in der Darstellung und Zitation<br />

dem dt. Text und in den Anmerkungen parallel dem amerikanischen<br />

Original ›Conclusions to the varieties of religious experience‹,<br />

in: The Writings of William James, herausgegeben von J. J. MC<br />

ERMOTT, Chicago 1977, 758 ff. (= Conclusions).<br />

118


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 119<br />

2. Kontinuität oder Diskontinuität?<br />

die gleichen religiösen Elemente aufweisen sollten« (Vorlesungen,<br />

450). 54<br />

Bonhoeffer verneint diese Fragen. Die <strong>Lebens</strong>situation der<br />

Menschen sei zu unterschiedlich (450 f.).55 Für die »Wissenschaft<br />

der Religionen« ist Religion geschichtlich überholt,<br />

»ein atavistischer Rückfall in eine Denkweise, über die die<br />

Menschheit in ihren aufgeklärten Exemplaren hinausgewachsen<br />

ist« (453).56 Die »Tage« seien »vorbei, in denen man<br />

sagen konnte, daß selbst für die Wissenschaft die Himmel<br />

die Ehre Gottes rühmen und das Firmament sich als das<br />

Werk seiner Hände erweist« (454).57 Allenfalls ein »Gott<br />

universaler Gesetze« wird noch von der »Wissenschaft anerkannt«<br />

(455).<br />

Religion ist also in einem Schlagwort: »Reiner Anachronismus«<br />

(456).58 W. James stellt das ›wissenschaftliche Reli-<br />

54) »Ought it to be assumed that in all men the mixture of religion<br />

with other elements should be identical? Ought it, indeed, to be<br />

assumed that the lives of all men should show identical religious<br />

elements« (Conclusions, 760).<br />

55) Wie W. Dilthey lehnt auch W. James die Metaphysik ab, wenn er<br />

seine »pragmatische Ansicht der Religion« verteidigt: »Es sind nur<br />

die transzendentalistischen Metaphysiker, die meinen, daß man<br />

die Natur, ohne ihr irgendein konkretes Detail hinzuzufügen oder<br />

fortzunehmen, sondern einfach dadurch, daß man sie den Ausdruck<br />

eines absoluten Geistes nennt, göttlicher macht, als sie direkt<br />

ist. Ich bin überzeugt, daß die pragmatische Auffassung der<br />

Religion die tiefere ist« (Vorlesungen, 472).<br />

56) »[...] an atavistic relapse into a mode of thought which humanity in<br />

its more enlightened examples has outgrown.« (Conclusions, 762)..<br />

57) »[...] the days are over when it could be said that for Science herself<br />

the heavens declare the glory of God and the firmament showeth<br />

his handiwork« (Conclusions, 762 f.).<br />

58) »Pure anachronism! says the survival-theory; [...]« (op. cit. 767).<br />

119


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 120<br />

B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />

gionsbild‹ seiner Zeit dar, wonach Religion ein ›Überbleibsel‹<br />

vergangener Tage ist.<br />

In den Schlagworten von James sowie in der historischen<br />

Dimension der Religionskritik klingen Wendungen<br />

<strong>Bonhoeffers</strong> an. Man denke nur an den »deus ex machina«<br />

oder »›Gott‹ als Arbeitshypothese«. Es sind vor allem die<br />

Grenzbegriffe zum physikalischen Weltbild, die Bonhoeffer<br />

und James gleichermaßen in ihre Religionskritiken einbeziehen.<br />

Vieles spricht dafür anzunehmen, daß Bonhoeffer<br />

neben Dilthey wohl auch den Pragmatismus James’ auf den<br />

neuzeitlichen Religionsbegriff angewendet hat, um das<br />

Ende der Religion zu prognostizieren. Solche Prognose richtet<br />

sich freilich religionstheoretisch nicht nur gegen W.<br />

Diltheys Religionsauffassung, sondern auch gegen die von<br />

W. James, wie noch zu zeigen ist.<br />

Im weiteren Verlauf seiner Schlußfolgerungen kritisiert<br />

W. James zwar weiter die wissenschaftliche Ȇberbleibseltheorie<br />

der Religion« und weist sie »ohne Zögern« zurück<br />

(459). Er möchte aber andererseits an der »Religion <strong>des</strong> Individuums«<br />

und seiner »privaten Realitäten« festhalten (458).<br />

Der »religiöse Geist« werde beeindruckt von der »›Verheißung‹<br />

<strong>des</strong> Morgengrauens und <strong>des</strong> Regenbogens«, von der<br />

»›Stimme‹ <strong>des</strong> Donners«, von der »›Sanftheit‹ <strong>des</strong> Sommerregens«<br />

und der »›Erhabenheit‹ der Sterne« (456).59 Es gehe<br />

59) »Well, it is still in these richer animistic and dramatic aspects that<br />

religion delights to dwell. It is the terror and beauty of phenomena,<br />

the ›promise‹ of the dawn and the rainbow, the ›voice‹ of the thunder,<br />

the ›gentleness‹ of the summer rain, the ›sublimity‹ of the<br />

stars, and not the physical laws which these things follow, by<br />

which the religious mind still continues to be most impressed«<br />

(Conclusions, 767).<br />

120


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 121<br />

2. Kontinuität oder Diskontinuität?<br />

darum, »in der Religion das Element <strong>des</strong> Gefühls zu rehabilitieren<br />

[...]. Individualität ist im Gefühl begründet«<br />

(459). Aussagen wie diese mögen reichen, um den Religionsbegriff<br />

von W. James einzureihen in die Religionsauffassung<br />

von F. Schleiermacher über die <strong>des</strong> Deutschen Idealismus<br />

bis hinauf zu W. Dilthey. Die positive Religionseinschätzung<br />

ist im Blick auf den Pragmatismus bei James<br />

auch konsequent: Religion trägt etwas aus, sie wirkt. Gott<br />

»erweist sich als brauchbar«. Deshalb ist Religion im Sinne<br />

pragmatischer Erkenntnistheorie ›wahr‹. »Die Liebe zum<br />

Leben [...] ist der religiöse Impuls« (462). <strong>Lebens</strong>philosophie<br />

und Religionstheorie sind für W. James untrennbar verbunden.<br />

Bonhoeffer hat ›Religion‹ in der Form <strong>des</strong> ›Individualismus‹<br />

von ›Sanctorum Communio‹ bis ›Widerstand und Ergebung‹<br />

in Verbindung mit F. Schleiermacher und W. Dilthey<br />

abgelehnt. Wie wird er nun die ›Schlußfolgerungen‹<br />

kommentieren? In dem ›Referat‹ über W. James beobachtet<br />

Bonhoeffer deutlich den Übergang von der Darstellung<br />

der naturwissenschaftlichen Religionskritik zur pragmatischen<br />

Religionswürdigung in den ›Conclusions‹. Er gibt<br />

knapp wieder: »Naturwissenschaft ist unpersönlich, Religion<br />

persönlich« (DBW 10, 667).<br />

Bonhoeffer beobachtet auch die historische Verankerung<br />

der Religionsfrage im Pragmatismus: Für W. James ist<br />

die Frage, »ob Religion nur ein Überbleibsel primitiven<br />

Denkens sei und ob die Naturwissenschaften nun an seine<br />

Stelle träten« (ibid). Bonhoeffer kritisiert in seinem James-<br />

Referat diesen Umschwung hin zur Religionswürdigung,<br />

der den Versuch eines Ausgleichs von Religion und Naturwissenschaft<br />

unternimmt. Bonhoeffer wird der naturwissenschaftlichen<br />

Religionskritik folgen. Er lehnt den prag-<br />

121


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 122<br />

B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />

matischen Religionsbegriff ab, indem er zunächst methodologisch<br />

eine pragmatische <strong>Theologie</strong> bestreitet: Die<br />

»Wirksamkeit« Gottes könne nicht seiner »Wirklichkeit«<br />

vorgeordnet werden (668). Mit anderen Worten: ›Wahr‹ ist<br />

nicht allein das, was ›wirkt‹, schon gar nicht in der Gottesfrage.<br />

<strong>Eine</strong>n Gott, der sich erst durch sein Handeln als wirklich<br />

erweist, tituliert die Tegeler <strong>Theologie</strong> mit der Schreibweise<br />

›Gott‹. (Diese Schreibweise begegnet auch in der<br />

deutschen Übersetzung zu diesem Referat.60)<br />

Mit der Ablehnung einer pragmatischen Gotteslehre<br />

verbindet sich auch <strong>Bonhoeffers</strong> zweiter kritischer Einwand<br />

gegenüber W. James (668); für diesen ist religiöse Gotteserkenntnis<br />

Sache <strong>des</strong> »Unterbewusstseins« als vermittelnde<br />

Instanz zwischen dem religiösen Individuum und<br />

Gott. Dieses ist aber für James anthropologische Größe und<br />

liegt nicht »außerhalb der individuellen Person«.<br />

Für Bonhoeffer, der 1930 dialektisch-theologischer Gotteserkenntnis<br />

folgt, kann eine ›religiöse Erfahrung‹, die<br />

nicht wirklich »außerhalb« der individuellen Person liegt,<br />

nur als ›Illusion‹ bezeichnet werden. Philosophisch gesprochen,<br />

setzt er I. Kants Phänomenalismus gegen W. James’<br />

Pragmatismus. Dennoch hat er sich mit der pragmatischen<br />

<strong>Lebens</strong>philosophie beschäftigt. Er rezipiert und kritisiert sie.<br />

Bonhoeffer hat bei W. James von einer naturwissenschaftlichen<br />

Religionskritik gelesen, die so erst in neuzeitlichem<br />

Zusammenhang möglich wurde.61 Diese Form der<br />

60) Vgl. DBW 10, 668; Schreibweise ›Gott‹ auch DBW 10, 448.<br />

61) Auch W. James hält Religion erst seit dem 17. Jh. für bedeutend,<br />

wenn er in einem längeren Exkurs neuzeitliches und vor-neuzeitliches<br />

Denken unterscheidet und den Religionsbegriff als neuzeitlich<br />

ausweist. Dabei zieht James eine Linie in der Metaphysik von<br />

122


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 123<br />

2. Kontinuität oder Diskontinuität?<br />

Religionskritik unterscheidet dezidiert Naturwissenschaft<br />

und Religion. Das teilt Bonhoeffer explizit. <strong>Eine</strong>n »vermittelnden<br />

Begriff zwischen Religion und Naturwissenschaft<br />

zu finden«, scheint ihm »nicht möglich« (668). Aus<br />

Tegel ist derselbe Gedanke zusammengefaßt in dem Satz:<br />

»Ein erbaulicher Naturwissenschaftler [...] ist ein Zwitter«<br />

(WEN 393).<br />

Die bei W. James entwickelte lebensphilosophische Religionskritik<br />

wird von Bonhoeffer geteilt, der pragmatische<br />

Religionsbegriff insgesamt abgelehnt.<br />

c) Noch einmal: Kontinuität oder Diskontinuität?<br />

Es ist nicht alternativ zwischen einem systematischen und<br />

einem historischen Religionsverständnis bei Bonhoeffer zu<br />

wählen. Im Gegenteil: Nach der vorangegangenen Analyse<br />

ist diese Frage im strengen Sinn gar nicht zulässig. Die Artikulation<br />

einer Kritik der Religion steht im jeweiligen Zusammenhang<br />

mit seiner Rezeption philosophischer Entwürfe;<br />

als die drei wichtigsten Namen sind zu nennen: I.<br />

Kant, W. James und W. Dilthey. Für alle drei Philosophen ist<br />

›Religion‹ integrativer Bestandteil ihrer philosophischen<br />

Entwürfe. Insofern ist <strong>Bonhoeffers</strong> Philosophie-Rezeption<br />

eklektisch; er teilt nicht deren Religionsbegriffe.<br />

Der Phänomenalismus Kants wird Bonhoeffer vor allem<br />

durch K. Barth vermittelt. Der offenbarungstheologische<br />

Schlüssel zur Artikulation der Religionskritik findet sich in<br />

dem im Neukantianismus zum Grenzbegriff werdenden<br />

Phänomenalismus. Bonhoeffer ergänzt und radikalisiert<br />

sein Religionsverständnis seit den 30er Jahre historisch. Der<br />

Dualismus von Glaube und Religion tritt radikalisierend in<br />

eine geschichtliche Klammer. W. James ist Wegbereiter für<br />

die ›geschichtliche <strong>Lebens</strong>philosophie‹ der Tegeler Theolo-<br />

123


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 124<br />

B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />

gie und die Rede von der ›Religionslosigkeit‹. Ich halte die<br />

Begegnung mit dem Pragmatismus für die wichtigste nach<br />

dem Neukantianismus und vor dem Historismus.62 Die<br />

Frontstellung gegen die Metaphysik ist W. James und W.<br />

Dilthey gemeinsam, obwohl Bonhoeffer den erkenntnistheoretischen<br />

Ansatz <strong>des</strong> Pragmatismus nicht teilt. Er<br />

bleibt Kantianer im Sinne K. Barths. Das ändert sich erst<br />

unter dem systematischen Einfluß W. Diltheys; durch ihn<br />

entdeckt er eine neue Seite I. Kants. Die (Wieder)-Entdekkung<br />

W. Diltheys bedeutet eine Modifizierung <strong>des</strong> philosophischen<br />

Ansatzes (1944): Wo bei I. Kant die Vernunft steht,<br />

hat bei W. Dilthey das Leben seine erkenntnistheoretische<br />

Bedeutung. Damit geht dann auch eine Kritik an K. Barth<br />

einher. I. Kant und W. Dilthey verbindet für Bonhoeffer<br />

eine gemeinsame Position gegen die Identitätsphilosophie<br />

<strong>des</strong> Deutschen Idealismus.63<br />

Bonhoeffer lehnt W. Diltheys Religionsbegriff ab, obwohl<br />

er ihm terminologisch und erkenntnistheoretisch<br />

folgt. Er wendet den Historismus gegen Diltheys eigenen<br />

Religionsbegriff an und weist ihn als neuzeitlich aus. Er<br />

sieht eine klare Linie in der positiven Religionsauffassung<br />

von G. Lessing über F. Schleiermacher und W. Dilthey bis zu<br />

Aristoteles über Augustin in die Spätscholastik und stellt fest, daß<br />

deren mechanistisches Weltbild neuzeitlich überholt ist (vgl. Conclusions<br />

766 f., Anm. 67).<br />

62) Vgl. R. K. WÜSTENBERG, <strong>Eine</strong> <strong>Theologie</strong> <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong>. <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong><br />

theologische Rezeption der <strong>Lebens</strong>philosophie Wilhelm<br />

Diltheys, in: Dilthey-Jahrbuch 12/1999–2000, 260–270.<br />

63) Bonhoeffer beruft sich auch gerne auf Philosophen, die dem Idealismus<br />

kritisch gegenüberstehen, wie L. Feuerbach (1931/32 in der<br />

Vorlesung ST20Jh), S. Kierkegaard (1937 in der ›Nachfolge‹) und F.<br />

Nietzsche (1940 f. in der Ethik).<br />

124


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 125<br />

2. Kontinuität oder Diskontinuität?<br />

W. James. Die Kritik am Religionsbegriff F. Schleiermachers<br />

kam durch K. Barth und ist schon in ›Sanctorum Communio‹<br />

belegt: Religion als Individualismus.<br />

Diese dialektisch-theologische Einsicht wird historisch<br />

erweitert: rückwärts im Blick auf das 17. und 18. Jh. und vorwärts<br />

hinsichtlich <strong>des</strong> ausgehenden 19. und 20. Jh. Das Verständnis<br />

von ›Religion als Individualismus‹ findet sich<br />

durchgängig von ›Sanctorum Communio‹ (1927) bis ›Widerstand<br />

und Ergebung‹ (1944); es wendet sich gegen den neuzeitlichen<br />

Religionsbegriff im allgemeinen und den <strong>des</strong><br />

Deutschen Idealismus im besonderen. Dabei treten die<br />

Namen H. von Cherbury, G. Lessing, F. Schleiermacher, W.<br />

Dilthey und W. James hervor.<br />

Die Selbständigkeit und Originalität der <strong>Bonhoeffers</strong>chen<br />

Religionsauffassung ist seit den frühen 1930er Jahren<br />

aufgefallen und mündet 1944 in die These von der ›Religionslosigkeit‹.<br />

Ein Gegensatz in der Artikulation der Religionskritik<br />

tritt nicht in den Blick. <strong>Eine</strong> Modifikation in der<br />

Begriffsbildung ist begründet in der unterschiedlichen Rezeption<br />

von <strong>Theologie</strong> (K. Barth) und Philosophie (I. Kant,<br />

W. James, W. Dilthey).<br />

Wir werden in der Religionsauffassung <strong>Bonhoeffers</strong> von<br />

einer Diskontinuität in der Kontinuität sprechen müssen.<br />

<strong>Eine</strong> solche gilt in erweitertem Sinne auch für seine Philosophie-Adaption.<br />

Der neukantianische Ansatz (seit 1929)<br />

wird (seit 1931) unter dem Eindruck <strong>des</strong> Pragmatismus<br />

dann (1944) zum Historismus modifiziert.<br />

125


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 126<br />

B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />

3. Ergebnis und These<br />

Der Weg der Religionsbetrachtung <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong><br />

führte von der Religionswürdigung über die Religionskritik<br />

zur Religionslosigkeit. Dabei waren zwei Veränderungen<br />

im Verständnis von Religion bei <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer zu<br />

beobachten, die beide mit dem Namen Karl Barth verbunden<br />

sind.<br />

Von ›Veränderungen‹ wird bewußt gesprochen. Veränderungen<br />

beinhalten fließende Übergänge und sind etwas<br />

anderes als Zäsuren. Was für die <strong>Theologie</strong> <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong><br />

im Ganzen gilt, das wird durch die vorliegende<br />

Untersuchung für das Thema Religion bestätigt. Mit E.<br />

Bethge und anderen Bonhoeffer-Interpreten nehme ich<br />

eine Kontinuität in theologischen und kirchlichen Fragestellungen<br />

<strong>des</strong> Theologen und Christen an.64 In der speziellen<br />

Begrifflichkeit der Tegeler <strong>Theologie</strong> begegnen freilich<br />

Termini, die im Blick auf andere, frühere Aussagen zur Religionskritik<br />

den Eindruck einer Diskontinuität vermitteln.<br />

Diese tritt jedoch zurück, wenn das Thema Religion auf<br />

dem Hintergrund <strong>des</strong> Ganzen seiner <strong>Theologie</strong> betrachtet<br />

wird.<br />

Die drei genannten Aussageformen von Religion, die im<br />

Gesamtwerk <strong>Bonhoeffers</strong> begegnen, konnten nicht aus sich<br />

heraus interpretiert werden: Bonhoeffer bildet werkimmanent<br />

keinen Religionsbegriff aus. Daher waren wir an die<br />

Rezeptionsfrage gewiesen: Woher kommt <strong>Bonhoeffers</strong> positive<br />

bzw. kritische Betrachtung von Religion? Woher seine<br />

64) Gegen H. MÜLLER, Von der Kirche zur Welt, 2. Aufl., Leipzig 1966,<br />

der mit »qualitativen Sprüngen« und »Widersprüchen« in der<br />

<strong>Theologie</strong> <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong> rechnet (9).<br />

126


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 127<br />

3. Ergebnis und These<br />

These von der Religionslosigkeit? Diese Fragen kann nun<br />

beantwortet werden:<br />

I. <strong>Bonhoeffers</strong> religionswürdigende Aussagen sind auf<br />

dem Hintergrund der Liberalen <strong>Theologie</strong> zu interpretieren<br />

(A. v. Harnack, A. Ritschl).<br />

II. Die kritischen Aussagen über Religion sind unter<br />

dem Einfluß der Dialektischen <strong>Theologie</strong> entstanden (K.<br />

Barth).<br />

III. Seine These von der Religionslosigkeit setzt den<br />

philosophischen Historismus voraus (W. Dilthey, zuvor: W.<br />

James).<br />

Unbeantwortet bleiben noch folgende Fragen: Wie sind<br />

Religionskritik und Religionslosigkeit aufeinander bezogen?<br />

Wie verhält sich die Barth-Rezeption zur Dilthey-Rezeption?<br />

Wie gehören die Untersuchungen von Abschnitt<br />

A) und Abschnitt B) zusammen?<br />

Um diese Fragen zu beantworten, sei an den Leitbegriff<br />

erinnert, unter den Bonhoeffer seine Tegeler <strong>Theologie</strong><br />

stellt: die nichtreligiöse Interpretation biblischer Begriffe.<br />

Dieses theologische Programm setzt sowohl die These von<br />

der Religionslosigkeit voraus als auch die theologische Religionskritik.<br />

Die nichtreligiöse Interpretation biblischer<br />

Begriffe kann auch nicht allein von Dilthey her erklärt werden.<br />

Es zeigte sich, daß der Begriff ›religionslos‹ bei W. Dilthey<br />

gerade nicht kritisch eingesetzt wurde. Im Gegenteil:<br />

Dilthey versteht Religion konsequent aus der Geschichte:<br />

›Religionslosigkeit‹ ist ausgeschlossen.<br />

Bonhoeffer wendet die Religionskritik auf diesen Diltheyschen<br />

Terminus an und gibt ihm eine neue, kritische<br />

Bedeutung. Der Begriff wird gleichsam ›umgepolt‹; der<br />

konstruktive Impuls der Dialektischen <strong>Theologie</strong> bleibt bis<br />

127


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 128<br />

B. Von der Religionskritik zur Religionslosigkeit<br />

in die Tegeler <strong>Theologie</strong> erhalten. In der Forderung einer<br />

nichtreligiösen Interpretation kombiniert Bonhoeffer die<br />

Dialektische <strong>Theologie</strong> mit dem philosophischen Historismus.<br />

Diese Verbindung von religionskritischem Impuls<br />

und historischer Religionsbetrachtung, die die Rede von<br />

der nichtreligiösen Interpretation allererst ermöglicht, ist<br />

in der Literatur bislang nicht hinreichend gesehen worden.<br />

Das Ergebnis in einer These:<br />

Die nichtreligiöse Interpretation ist rezeptionsgeschichtlich<br />

eine Verbindung der theologischen Religionskritik Karl<br />

Barths mit dem philosophischen Historismus Wilhelm Diltheys.<br />

128


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 129<br />

C. Von der Rezeption der<br />

<strong>Lebens</strong>philosophie zur<br />

›nichtreligiösen Interpretation‹<br />

Von der Rezeptionsgeschichte der nichtreligiösen Interpretation<br />

soll abschließend auf ihre systematische Aussagekraft<br />

geschlossen werden. Dabei bleibe ich weiter auf den<br />

Spuren Diltheys und der <strong>Lebens</strong>philosophie, prüfe aber<br />

jetzt den inneren Zusammenhang zwischen »Leben« und<br />

»Geschichte« bei Dilthey und <strong>des</strong>sen Einfluß auf Bonhoeffer.<br />

Alle historische Analyse bei Dilthey ist erkenntnistheoretisch<br />

verankert in <strong>des</strong>sen <strong>Lebens</strong>begriff, eine Einsicht, die<br />

bislang in der Bonhoeffer-Forschung zu wenig Beachtung<br />

fand.<br />

Bonhoeffer geht aber den Erkenntnisweg Diltheys mit<br />

und finalisiert seine Gedanken über die Religionslosigkeit<br />

in der konstruktiv-kritischen Aufnahme <strong>des</strong> philosophischen<br />

<strong>Lebens</strong>begriffs. Hat er unter dem Einfluß der Dialektischen<br />

<strong>Theologie</strong> noch Religion und Glauben einander<br />

entgegengestellt, so nun – unter dem Einfluß der <strong>Lebens</strong>philosophie<br />

<strong>des</strong> ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhun-<br />

derts – Religion und Leben. Dezidiert heißt es bei ihm:<br />

»Jesus ruft nicht zu einer neuen Religion auf, sondern zum<br />

Leben« (WEN 396).<br />

Die Interdependenz von ›Leben‹ und ›Geschichte‹ lernt<br />

Bonhoeffer 1943 bei dem spanischen Kultur- und <strong>Lebens</strong>philosophen<br />

José Ortega y Gasset kennen.<br />

129


Wüstenberg 04.07. 15.08.2006 14:24 Uhr Seite 130<br />

<strong>Lebens</strong>philosophie und ›nichtreligiöse Interpretation‹<br />

1. Die Bedeutung <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong>philosophen<br />

J. Ortega y Gasset<br />

Bevor Bonhoeffer im Frühjahr 1944 beginnt, systematisch<br />

W. Dilthey zu lesen, hat er seit 1943 Werke <strong>des</strong> spanischen<br />

<strong>Lebens</strong>philosophen José Ortega y Gasset in die Tegeler Zelle<br />

bestellt; daneben erwähnt und liest er Philosophen und<br />

Dichter, die in das Umfeld der <strong>Lebens</strong>philosophie1 gezählt<br />

werden, wie C. F. Meyer (WEN 102), F. Nietzsche und S. Kierkegaard<br />

(etwa WEN 257), L. Feuerbach (WEN 393), M. Heidegger<br />

(WEN 92)2, J. W. Goethe (etwa WEN 258), L. Klages<br />

(WEN 257), F. Hölderlin (WEN 363)3 und J. Pestalozzi (WEN<br />

437 f.)4. Daneben liest und zitiert Bonhoeffer ausgiebig A.<br />

Stifters ›Witiko‹.<br />

Am 4.10. 1943 bestellt er in einem Brief an die Eltern<br />

zwei Aufsätze von J. Ortega y Gasset in die Tegeler Zelle:<br />

»System der Geschichte« und »Vom römischen Imperium«<br />

(WEN 136). Am 26. 4.1944, also ein halbes Jahr später, schreibt<br />

1) Vgl. zum Folgenden O. F. BOLLNOW, Die <strong>Lebens</strong>philosophie, Berlin<br />

et al. 1958.<br />

2) Heidegger wird nur am Rande in Tegel erwähnt; explizit in einem<br />

Brief <strong>des</strong> Vaters. Grundsätzlich nimmt aber die »Existentialontologie<br />

lebensphilosophische Ansätze auf und führt sie fort (so O. F.<br />

BOLLNOW, op. cit. 129). Zum Problem der Abgrenzung von Existentialismus<br />

und <strong>Lebens</strong>philosophie vgl. H. FAHRENBACH, <strong>Lebens</strong>philosophische<br />

oder existenzphilosophische Anthropologie?<br />

Plessners Auseinandersetzung mit Heidegger, in: Dilthey-Jahrbuch<br />

VII, 1990/91, 71–111.<br />

3) Hier zitiert Bonhoeffer: ›Wer das Tiefe gedacht, liebt das Lebendigste‹.<br />

Über F. Hölderlin im Kontext der <strong>Lebens</strong>philosophie vgl. O. F.<br />

BOLLNOW, op. cit. 103.<br />

4) Über <strong>des</strong>sen Bedeutung für die <strong>Lebens</strong>philosophie vgl. O. F. BOLL-<br />

NOW, op. cit. etwa 60 f.<br />

130


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 131<br />

1. Der <strong>Lebens</strong>philosoph J. Ortega y Gasset<br />

er – wieder an die Eltern: »Könntet Ihr wohl versuchen, mir<br />

das neue Buch von Ortega y Gasset: ›Das Wesen geschichtlicher<br />

Krisen‹ [...] und möglichst auch das vorige: ›Geschichte<br />

als System‹ zu beschaffen; [...]« (WEN 303). Mit ›Geschichte<br />

als System‹ und ›System der Geschichte‹ wird Bonhoeffer<br />

denselben Aufsatz5 <strong>des</strong> Kulturphilosophen gemeint haben,<br />

nämlich »Geschichte als System«6 von 1941. Aus der wiederholten<br />

Bestellung kann gefolgert werden, daß dieser Aufsatz<br />

für ihn wichtig war. Aus der anderen Beobachtung, daß<br />

der Titel »Über das römische Imperium« von 19407 nicht<br />

wieder bestellt wurde, läßt sich mit einiger Wahrscheinlichkeit<br />

gefolgert werden, daß Bonhoeffer diesen erhalten<br />

und gelesen hat;8 er beschäftigt sich also mit dem <strong>Lebens</strong>philosophen9<br />

seit dem Herbst 1943, interessiert sich weiter<br />

für seine Schriften und bestellt wieder im Frühjahr 1944.<br />

In der Schrift ›Über das römische Imperium‹ konnte<br />

Bonhoeffer Ende 1943 bereits über die geschichtliche Bedeutung<br />

<strong>des</strong> Begriffs ›religio‹ bei Cicero lesen. »Dies Verhalten,<br />

das uns dazu führt, nicht leichthin zu leben, sondern<br />

5) Vgl. auch E. BETHGE, DB 1053; hier wird die philosophische Literatur<br />

aufgelistet, die Bonhoeffer in Tegel las. Von J. Ortega y Gasset<br />

finden sich drei Bücher: »Geschichte als System«, »Vom Wesen geschichtlicher<br />

Krisen« und »Vom römischen Imperium«. Während<br />

Bonhoeffer letzteres bereits seit Oktober 1943 gelesen hat, wurden<br />

die beiden ersteren im Mai 1944 studiert.<br />

6) Im folgenden zitiert nach: Gesammelte Werk-Ausgabe, Band IV (=<br />

Ges. Werke IV), 1956, 366 ff.<br />

7) In: Ges. Werke IV, 414 ff.<br />

8) Vgl. auch E. BETHGE, DB 1053.<br />

9) Mit O. F. BOLLNOW, <strong>Lebens</strong>philosophie, 44, soll der spanische<br />

Kulturphilosoph Ortega y Gasset unmittelbar der Strömung der<br />

<strong>Lebens</strong>philosophie zugerechnet werden.<br />

131


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 132<br />

<strong>Lebens</strong>philosophie und ›nichtreligiöse Interpretation‹<br />

uns mit Bedacht zu betragen, mit Bedacht vor der transzendenten<br />

Wirklichkeit, ist der genaue Sinn, den das Wort religio<br />

für die Römer hatte, und es ist wahrhaftig der wesentliche<br />

Sinn einer jeden Religion«10. Dabei bedeute Religion<br />

nicht ein »Gebundensein <strong>des</strong> Menschen an Gott«, sondern<br />

schlicht »gewissenhaft« im Sinne von »religiosus«, »also wer<br />

sich nicht leichtsinnig, sondern bedächtig verhält«11. Religion<br />

als Gewissensreligion bekommt so eine Bedeutung für<br />

das politische Leben. »Die Begriffe <strong>des</strong> Glaubens und <strong>des</strong><br />

Staates durchdringen einander. In der Politik gibt es Epochen<br />

der Religion und solche der Nachlässigkeit, <strong>des</strong> Bedachten<br />

und der Unbedachtsamkeit, der Gewissenhaftigkeit<br />

und der Frivolität« (ibid).<br />

J. Ortega y Gasset rechnet offenbar in der Geschichte<br />

auch mit einer Zeit ohne Religion, d. h. in seinem Sprachgebrauch<br />

mit einer Zeit »der Nachlässigkeit«, »der Unbedachtsamkeit«<br />

und »der Frivolität«. Religion ist also eine geschichtliche<br />

Größe, die zu bestimmter Zeit in Erscheinung<br />

tritt und zu anderer ausbleibt, weil ›religio‹ für J. Ortega<br />

y Gasset kein »Gebundensein <strong>des</strong> Menschen an Gott«<br />

schlechthin meint, also keine anthropologische Gegebenheit<br />

bedeutet (ibid). Solange der Mensch sich »gewissenhaft«<br />

und »bedächtig verhält«, ist er religiös. »Das Gegenteil<br />

von religio ist negligentia« (ibid).<br />

Bonhoeffer hat möglicherweise Impulse für seine Betrachtung<br />

der Religion als historische Größe min<strong>des</strong>tens<br />

10) In: Ges. Werke IV, 427 ff.<br />

11) Ibid, 428.<br />

132


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 133<br />

1. Der <strong>Lebens</strong>philosoph J. Ortega y Gasset<br />

seit Herbst 1943 erhalten, wenn nicht früher. J. Ortega y<br />

Gasset hat vor und parallel zu W. Dilthey eine bedeutende<br />

Rolle im Hinblick auf die Adaption <strong>des</strong> Historismus und<br />

der <strong>Lebens</strong>philosophie gespielt. Um diese These zu begründen<br />

und zu vertiefen, wende ich mich den beiden Schriften<br />

von J. Ortega y Gasset zu, die Bonhoeffer parallel zu W. Dilthey<br />

gelesen hat.<br />

F. W. Kantzenbach hat überzeugend den Zusammenhang<br />

zwischen J. Ortega y Gassets ›Das Wesen geschichtlicher<br />

Krisen‹ und den Tegeler Briefen herausgestellt. Bonhoeffer<br />

konnte bei Ortega y Gasset »lesen, daß es ein anderes<br />

sei, Veränderungen in der Welt anzuerkennen als zu urteilen:<br />

›Die Welt hat sich verändert!‹ Aber im Unterschied zur<br />

mittelalterlichen Auffassung, daß das natürliche Leben<br />

gleichsam wie eine Maske unsere echte Wirklichkeit verberge<br />

und die wahre Wirklichkeit ›unserer Beschäftigung mit<br />

dem Absoluten oder Gott‹ sei, widersprach Bonhoeffer, konsequent<br />

seiner je und je vertretenen Auffassung, der Paradoxie,<br />

die in der äußersten Umkehr der Perspektive die<br />

Lösung sieht. Das führt zur Kapitulation vor dem Leben,<br />

zur Abwendung von der natürlichen Welt«12. Kantzenbach<br />

sieht auch den Zusammenhang mit W. Dilthey, <strong>des</strong>sen<br />

Analyse Bonhoeffer teilte, »aber er lehnte W. Diltheys<br />

Flucht in die Innerlichkeit und private Gesinnungsreligion<br />

ab« (ibid). Schließlich kommt F. W. Kantzenbach zu dem<br />

überraschenden Urteil: »Wo Dilthey nicht positiv weiterführen<br />

konnte, deutete Ortega y Gasset schon zentraler die<br />

existentielle Verlegenheit an« (ibid). Ich halte dieses Urteil<br />

für weiterführend, weil J. Ortega y Gasset in der Generation<br />

12) F. W. KANTZENBACH, Programme der <strong>Theologie</strong>, 3. Aufl. 1984, 245.<br />

133


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 134<br />

<strong>Lebens</strong>philosophie und ›nichtreligiöse Interpretation‹<br />

der Dilthey-Schüler offenbar den für das 19. Jh. bestimmenden<br />

Religionsbegriff überwunden hat. Während W. Dilthey<br />

Religion als anthropologische Gegebenheit ansieht – einen<br />

»religionslosen Zustand« kann es, wie dargelegt, seines<br />

Erachtens nicht geben –, ist für J. Ortega y Gasset Religion<br />

Sache eines Verhaltensausdrucks, der in verschiedenen geschichtlichen<br />

Epochen unterschiedlich ausfällt und sogar<br />

ganz ausbleiben kann. Religionslosigkeit ist für W. Dilthey<br />

historisch nicht denkbar, für J. Ortega y Gasset hingegen<br />

sehr wohl.<br />

Der (genetische) Zusammenhang zwischen J. Ortega y Gasset und<br />

W. Dilthey, der der Argumentation Kantzenbachs zugrunde liegt,<br />

kann exemplarisch anhand der dritten Schrift Ortega y Gassets, die<br />

Bonhoeffer in die Gefängniszelle bestellt hat, nachgewiesen werden,<br />

nämlich ›Geschichte als System‹. Ortega y Gasset setzt mit der These<br />

ein: »Das Leben ist Aufgabe« (366). Es ist nicht etwas »Fertiges«, sondern<br />

etwas, das gestaltet werden muß. Dazu muß der Mensch<br />

»entscheiden, was er tun soll. Diese Entscheidung ist aber nur möglich,<br />

wenn der Mensch im Besitz gewisser Überzeugungen ist in<br />

bezug auf die Dinge, die ihn umgeben, auf die anderen Menschen<br />

und auf sich selbst. Nur im Hinblick auf diese Überzeugungen kann<br />

er eine Handlung einer anderen vorziehen, kann er leben« (366).<br />

Unter Rationalismus wird »der Glaube an die Vernunft« (372)<br />

verstanden. Doch mit dieser »Glaubensgewissheit« kommt nach J.<br />

Ortega y Gasset die Betrachtung <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong> zu kurz. »Descartes<br />

selbst schrieb schon einen Traktat über den Menschen. Heute aber<br />

wissen wir, daß alle im Prinzip unerschöpflichen Wunder der<br />

Naturwissenschaft immer vor der seltsamen Wirklichkeit haltmachen<br />

müssen, die das menschliche Leben ist« (380). Die »physikalische<br />

Vernunft« habe sich daran gewöhnt, »das menschliche Leben<br />

außer acht zu lassen« (380 f.). Die »physikalisch-mathematische Vernunft«<br />

(389) betrachte den Menschen als ein Ding. »Der Mensch ist<br />

kein Ding, sondern ein Drama, sein Leben, ein reines, allumfassen<strong>des</strong><br />

Ereignis, das einem jeden zustößt und bei dem jeder seinerseits<br />

134


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 135<br />

1. Der <strong>Lebens</strong>philosoph J. Ortega y Gasset<br />

nur Ereignis ist« (389 f.). J. Ortega y Gasset stellt über das Leben weiter<br />

fest: »Das Leben ist ein Gerundium und nicht ein Partizip, ein<br />

faciendum, nicht ein factum« (390) An dieser Stelle nimmt er noch<br />

einmal seine Eingangsthese auf: »Das Leben ist eine Aufgabe« (390).<br />

Auf den folgenden Seiten vollzieht sich, was O. F. Bollnow treffend<br />

beschreibt: »In neuerer Zeit hat vor allem Ortega y Gasset,<br />

namentlich in seiner ›Geschichte als System‹, die Gedanken Diltheys<br />

aufgenommen und in einer überzeugend klaren Weise formuliert«<br />

13 . So nimmt er den Diltheyschen Gedanken eines <strong>Lebens</strong>, das<br />

sich ständig ›im Fluß‹ zwischen Vergangenheit und Zukunft befindet,<br />

auf, wenn er von der »<strong>Lebens</strong>erfahrung« spricht: »So kommt es,<br />

daß das Sein <strong>des</strong> Menschen nicht umkehrbar ist, weil es ontologisch<br />

gezwungen ist, immer fortzuschreiten« (396). Es könnte noch<br />

manch andere Parallele gefunden werden. Ich belasse es aber bei diesem<br />

Aspekt. Der Duktus der ganzen Studie, die ablehnende Haltung<br />

gegenüber dem Rationalismus, entspricht einem typischen Grundzug<br />

der historischen <strong>Lebens</strong>philosophie W. Diltheys. 14<br />

»Gegenüber der reinen physikalisch-mathematischen Vernunft<br />

gibt es also eine erzählende Vernunft. Um etwas – persönlich oder<br />

kollektiv – Menschliches zu verstehen, muß man eine Geschichte<br />

erzählen. [...] Nur durch die historische Vernunft wird das Leben<br />

einigermaßen durchsichtig« (399). In diesen einfachen Worten werden<br />

hermeneutische Grundgedanken W. Diltheys beschrieben. Dilthey<br />

wird in diesem Zusammenhang auch explizit erwähnt. J. Ortega<br />

y Gasset schreibt über ihn, daß er der Mensch sei, »dem wir am<br />

meisten über die Idee <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong> verdanken und der meiner Auffassung<br />

nach der bedeutendste Denker der zweiten Hälfte <strong>des</strong> 19.<br />

Jahrhunderts ist« (400).<br />

In Anlehnung an W. Dilthey möchte J. Ortega y Gasset auch<br />

nicht dem subjektiven Zug einer begriffslosen <strong>Lebens</strong>philosophie<br />

erliegen und gewinnt in der Geschichte den objektiven Maßstab zur<br />

Betrachtung <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong>. In Anspielung auf die These, die der Über-<br />

13) O. F. BOLLNOW, <strong>Lebens</strong>philosophie, 44.<br />

14) Vgl. etwa O. F. BOLLNOW, Dilthey, 26.<br />

135


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 136<br />

<strong>Lebens</strong>philosophie und ›nichtreligiöse Interpretation‹<br />

schrift der Studie zugrunde liegt, schreibt der Kulturphilosoph: »Die<br />

Geschichte ist ein System, das System der menschlichen Erfahrungen,<br />

die eine einzige unerbitterliche Kette bilden. [...] Jeder historische<br />

Ausdruck muß, wenn er genau sein soll, in seiner Funktion auf<br />

die ganze Geschichte festgelegt werden« (404). Der Ganzheitsbegriff,<br />

der für Bonhoeffer theologisch so wichtig wird, könnte auch hier in<br />

der <strong>Lebens</strong>philosophie J. Ortega y Gassets angelegt sein.<br />

Durch die Lektüre J. Ortega y Gassets ist es Bonhoeffer möglich,<br />

den ›ganzen‹ Dilthey ›in nuce‹ kennenzulernen. In der<br />

Darstellung W. Diltheys durch J. Ortega y Gasset wird in<br />

besonderer Weise die Interdependenz von Leben und<br />

Geschichte deutlich.<br />

2. Die <strong>Lebens</strong>philosophie Wilhelm Diltheys als<br />

interpretatorischer Schlüssel zum Verständnis<br />

der ›nichtreligiösen‹ Interpretation<br />

Es wurde dargelegt, wie durch Dilthey »eine neue Stellung<br />

zu Welt und Leben«15 auf den Plan tritt, wie die »neue Weltsicht«<br />

durch die »weltanschauliche Bedeutung der <strong>Lebens</strong>philosophie«16<br />

hervorgehoben wird. Beim Studium <strong>des</strong> Dilthey-Ban<strong>des</strong><br />

›Weltanschauung und Analyse‹ wird Bonhoeffer<br />

die große historische Entwicklung vor Augen geführt,<br />

die dem Menschen Autonomie und Mündigkeit in der<br />

Neuzeit gebracht hat. Auf welchen Gebieten auch immer<br />

Dilthey das Streben nach Mündigkeit oder Autonomie<br />

beobachtet, stets geht er vom gelebten Leben der Menschen<br />

in ihrer Epoche aus. In Begriffsbildungen wie ›<strong>Lebens</strong>ge-<br />

15) A. DEGENER, Die <strong>Lebens</strong>philosophie Wilhelm Diltheys, 1932, 6.<br />

16) Ibid, 7.<br />

136


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 137<br />

2. Die <strong>Lebens</strong>philosophie Wilhelm Diltheys<br />

fühl‹, ›<strong>Lebens</strong>führung‹, ›<strong>Lebens</strong>haltung‹ oder ›<strong>Lebens</strong>stimmung‹<br />

entfaltet Dilthey seine <strong>Lebens</strong>philosophie.17 So sei<br />

zum Beispiel Petrarca »der originalste <strong>Lebens</strong>philosoph«<br />

gewesen, weil er »alle scholastischen Spinnewebe für einen<br />

Moment vollen <strong>Lebens</strong> hinzugeben bereit war«.18 Der Gegensatz<br />

zum Leben ist für Dilthey die Metaphysik, eine<br />

Grundeinsicht, die er in immer neuen Beispielen aus der<br />

Geschichte durch den Band hindurch aufzeigt.19 Die Metaphysikkritik<br />

ist begründet in der erkenntnistheoretischen<br />

Grundlegung seiner <strong>Lebens</strong>philosophie: Hinter das Leben<br />

kann man nicht zurück.<br />

In der Literatur ist die Frage nach dem Einfluß Diltheys als <strong>Lebens</strong>philosoph<br />

nur marginal diskutiert worden. Nach grundsätzlichen<br />

Hinweisen auf die Bedeutung einer Philosophie <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong> für Bonhoeffer<br />

zuerst durch E. Bethge 20 und dann durch E. Feil 21 ist durch<br />

T. R. Peters 22 ein erster konkreter Anstoß gegeben worden. Er weist<br />

darauf hin, daß <strong>Bonhoeffers</strong> Dilthey-Rezeption sich nicht allein auf<br />

<strong>des</strong>sen Historismus bezieht, sondern auch die <strong>Lebens</strong>philosophie<br />

umfaßt. Peters führt dann jedoch den Gedanken einer lebensphilosophischen<br />

Dilthey-Rezeption nicht aus, sondern rechnet mit einer<br />

kontinuierlichen Bedeutung der <strong>Lebens</strong>philosophie F. Nietzsches<br />

für das Gesamtwerk <strong>Bonhoeffers</strong>. Erst die Studie von K. Bartl23 und<br />

17) Vgl. Weltanschauung und Analyse (= Ges. Schr. Bd. II) z. B. 17.18.20.<br />

43.50.<br />

18) Ibid, 20.<br />

19) Ibid, z. B. 20.40.58 f.136 f.144 f.247.298.322.359.394 f.414 f.441.<br />

20) The challenge of Bonhoeffer’s life and theology, in: The Chicago<br />

Theological Seminary Register 51, 2, 1961,1–38.<br />

21) Die <strong>Theologie</strong>, 132 Anm. 20.<br />

22) Die Präsenz <strong>des</strong> Politischen in der <strong>Theologie</strong> <strong>Bonhoeffers</strong>, 1976,<br />

133 ff.<br />

23) <strong>Theologie</strong> und Säkularität. Die theologischen Ansätze Friedrich<br />

137


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 138<br />

<strong>Lebens</strong>philosophie und ›nichtreligiöse Interpretation‹<br />

das Buch von H.-J. Abromeit24 führen weiter. Bartl weist (198 ff.) am<br />

›Wirklichkeitsverständnis‹ <strong>Bonhoeffers</strong> als einer Wirklichkeit die<br />

Relevanz W. Diltheys nach. Er zeigt, daß er nicht nur »der Geschichtsdarstellung«<br />

W. Diltheys nahesteht, »sondern schon seinem<br />

Grundbegriff <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong>« (204). Doch wird diese Einsicht im weiteren<br />

der Studie nicht auf die Religionsthematik von ›Widerstand und<br />

Ergebung‹ angewandt; Bartl bleibt beim Thema seiner Arbeit »<strong>Theologie</strong><br />

und Säkularität«. H.-J. Abromeit führt (125 f.) ebenfalls die<br />

Bedeutung W. Diltheys als <strong>Lebens</strong>philosoph für Bonhoeffer an und<br />

arbeitet die Bedeutung lebensphilosophischer Strömungen für die<br />

›Ethik‹ aus (126 ff.); in der ›Ethik‹ ist aber W. Dilthey für Bonhoeffer<br />

noch nicht wegweisend. Erst in ›Widerstand und Ergebung‹ tritt die<br />

Dilthey-Rezeption durch eine systematische Lektüre hervor. Die<br />

Bedeutung von W. Diltheys <strong>Lebens</strong>philosophie für ›Widerstand und<br />

Ergebung‹ wird bei Abromeit nicht abgehandelt. Doch bildet er den<br />

Begriff »<strong>Lebens</strong>theologie« (125) für den späten Bonhoeffer und zeigt<br />

damit den engen Zusammenhang zur <strong>Lebens</strong>philosophie. Dieser<br />

bestehe »in der beiden zugrundeliegenden Interdependenz von Verstehen<br />

und Erleben« (126). Zusammenfassend ist zu sagen, daß durch<br />

die genannten Ansätze kein Licht auf den Zusammenhang zwischen<br />

<strong>Lebens</strong>philosophie und Religionskritik geworfen wird, somit auch<br />

nicht die Bedeutung von Diltheys <strong>Lebens</strong>begriff für die nichtreligiöse<br />

Interpretation erhellt wird; wohl aber ist in die entscheidende<br />

Richtung einer Bedeutung W. Diltheys als <strong>Lebens</strong>philosoph<br />

für Bonhoeffer allgemein gefragt worden.<br />

Dabei vollzieht <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer die erkenntnistheoretische<br />

Grundeinsicht der <strong>Lebens</strong>philosophie in der Tegeler<br />

<strong>Theologie</strong> mit. Sind frühere Aussagen zum Thema Leben<br />

von den Ethik-Manuskripten (1940–1943) her verständlich,<br />

Gogartens und <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong> zur Analyse und Reflexion der<br />

säkularisierten Welt, 1990.<br />

24) Das Geheimnis Christi. <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong> erfahrungsbezogene<br />

Christologie, 1991.<br />

138


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 139<br />

2. Die <strong>Lebens</strong>philosophie Wilhelm Diltheys<br />

so gilt das nicht mehr für ein religionskritisches Verständnis<br />

von irdischem, christologischem Leben (1944). Der <strong>Lebens</strong>begriff<br />

wird zum christologischen Begriff im religionskritischen<br />

Kontext. In seiner christologischen Tendenz hat<br />

der <strong>Lebens</strong>begriff erkenntnistheoretische Bedeutung: Der<br />

lebensphilosophische Erkenntnisgrund Diltheys, der in der<br />

Frage nach dem Rätsel <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong> gründet, wird bei Bonhoeffer<br />

zum Rätsel <strong>des</strong> christlichen <strong>Lebens</strong> als der Teilnahme<br />

am Sein Jesu.<br />

Die Frage nach Jesus Christus verbindet die Tegeler<br />

<strong>Theologie</strong> in Kontinuität mit der Ethik. In manchen Formulierungen<br />

liegt das Neue von ›Widerstand und Ergebung‹<br />

in der religionskritischen Erweiterung eines christologischen<br />

Urteils.25 In der Beurteilung von Mündigkeit und<br />

Autonomie geht Bonhoeffer weiter. Während in der ›Ethik‹,<br />

besonders im Fragment ›Erbe und Verfall‹26, der Prozess <strong>des</strong><br />

Autonomiegeschehens negativ als zum Nihilismus führend<br />

interpretiert wird,27 lesen wir in ›Widerstand und Ergebung‹<br />

Entgegenlaufen<strong>des</strong>: Die Autonomie der Welt, der<br />

Menschen und <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong> werden positiv beurteilt, die<br />

Mündigkeit wird bejaht. Zwischen der Ethik und diesen<br />

Aussagen in ›Widerstand und Ergebung‹ liegt <strong>Bonhoeffers</strong><br />

Dilthey-Lektüre.<br />

25) In der ›Ethik‹ formuliert Bonhoeffer: »Jesus ist nicht ein Mensch,<br />

sondern der Mensch« (DBW 6, 71). In Tegel nimmt er exakt diese<br />

Formulierung aus der Gestaltethik auf und wendet sie religionskritisch:<br />

»Christsein heißt nicht [...] religiös sein, sondern [...]<br />

Menschsein, nicht einen Menschentypus, sondern den Menschen<br />

schafft Christus in uns« (WEN 395).<br />

26) Ethik (DBW 6) 93 ff., bes. 113 f.<br />

27) Einzig positiver Aspekt in diesem Fragment ist die Befreiung der<br />

ratio; vgl. Ethik (DBW 6) 107 f.<br />

139


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 140<br />

<strong>Lebens</strong>philosophie und ›nichtreligiöse Interpretation‹<br />

Bei der Lektüre <strong>des</strong> Dilthey-Ban<strong>des</strong> ›Weltanschauung<br />

und Analyse‹ wird Bonhoeffer chronologisch vorgegangen<br />

sein. So zeigte sich, daß etwa die Zitate von G. Bruno über<br />

den Freund und von B. de Spinoza über die Affekte in den<br />

»Gedanken über Verschiedenes« (WEN, 408) aus dem Ende<br />

<strong>des</strong> Ban<strong>des</strong> stammen (WuA, 341 f.). Bonhoeffer zitiert diese<br />

Sätze im Juli 1944, also auch am Ende seiner Dilthey-Lektüre.<br />

Wir können damit rechnen, daß zu dieser Zeit der ganze<br />

Dilthey präsent ist. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang<br />

auch die Nennung <strong>des</strong> Philosophen und Naturwissenschaftlers<br />

G. Cardano in ›Widerstand und Ergebung‹<br />

und in ›Weltanschauung und Analyse‹.<br />

E. Bethge weist seinen Freund in einem Brief Ende April<br />

1944 auf die Bedeutung von Cardano hin (vgl. WEN, 299 f.).<br />

Bonhoeffer antwortet Bethge Anfang Mai 1944, also am Anfang<br />

der Lektüre von ›Weltanschauung und Analyse‹: »Den<br />

Cardano kenne ich gar nicht. Gibt es den auch auf deutsch«<br />

(WEN 315). Mitte Juni heißt es dann gegenüber E. Bethge<br />

beiläufig: »Übrigens steht bei Dilthey viel über Cardano«<br />

(WEN 366). G. Cardano wird in W. Diltheys Band erstmals<br />

auf der Seite 284 erwähnt.28 Daraus ist unmittelbar abzuleiten,<br />

daß Bonhoeffer Mitte Juni bereits über die Hälfte –<br />

wenn nicht mehr – aus ›Weltanschauung und Analyse‹ bearbeitet<br />

hat, während er Anfang Mai ganz offensichtlich am<br />

Beginn der Dilthey-Lektüre steht, jedenfalls auf die Ausführungen<br />

über den Renaissancephilosophen noch nicht gestoßen<br />

ist.<br />

28) Ausführlicher spricht W. Dilthey über G. Cardano dann in ›Weltanschauung<br />

und Analyse‹, 416 f. und 429 ff. Da D. Bonhoffer sagt, er<br />

lese viel über den Philosophen, ist es auch denkbar, daß er schon<br />

diese späten Stellen vor Augen hat.<br />

140


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 141<br />

2. Die <strong>Lebens</strong>philosophie Wilhelm Diltheys<br />

Aus der Nennung G. Cardanos kann man exemplarisch<br />

sehen, wie Bonhoeffer Diltheys Band ›Weltanschauung und<br />

Analyse‹ aufmerksam liest. Ich möchte an dieser Stelle noch<br />

andere Namen nennen, die Bonhoeffer aus der Dilthey-Lektüre<br />

wichtig geworden sind: H. von Cherbury, H. Grotius, J.<br />

Bodin, M. de Montaigne, G. Bruno (vgl. WuA, 248 ff.279 f.274<br />

f.263 f.297 f. = WEN 392 f.). Diese Auswahl beschränkt sich<br />

auf den bedeutenden Brief vom 16. 7.1944: Bonhoeffer ordnet<br />

die Namen bestimmten Themen zu, mit Hilfe derer die<br />

»eine große Entwicklung [...] zur Autonomie der Welt«<br />

(WEN 392) erkennbar wird. Es handelt sich um die Themen<br />

›<strong>Theologie</strong>‹ (Vertreter: H. von Cherbury), ›Moral‹ (Namen:<br />

M. de Montaigne, J. Bodin), ›Politik‹ (Vertreter: ›Nachfolge‹.<br />

Macchiavelli) (vgl. WEN 392 f.); beim Thema ›Autonomie‹ in<br />

der ›menschlichen Gesellschaft‹ wird der Name H. Grotius<br />

erwähnt (WEN 393).<br />

Bonhoeffer systematisiert ganz offensichtlich ›Weltanschauung<br />

und Analyse‹ auf bestimmte Themen- und Namensgruppen<br />

hin unter dem Leitgedanken von Autonomie<br />

und Mündigkeit. Verstreute historische Reflexionen in den<br />

verschiedenen Abschnitten von ›Weltanschauung und Analyse‹<br />

werden im Brief vom 16. 7. 1944 zusammengetragen<br />

(vgl. auch den parallelen Brief vom 8. 6.). Nun ist auffällig,<br />

daß es W. Dilthey an keiner Stelle seines Ban<strong>des</strong> darum<br />

geht, ›Autonomie‹ oder ›Mündigkeit‹ als Begriffe schlechthin<br />

zu thematisieren.29<br />

29) Es ist wiederholt aufgefallen, daß auch Bonhoeffer seinen historischen<br />

(von W. Dilthey her motivierten) Exkursen jeweils einen<br />

lebensthematische Abschluß gab (vgl. meine Ausführungen zu<br />

den Briefen vom 8.6. und 16.7. 1944, S. 209 f. und 215 f.). Zu dieser<br />

141


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 142<br />

<strong>Lebens</strong>philosophie und ›nichtreligiöse Interpretation‹<br />

Exemplarisch rufen wir uns ins Gedächtnis, wie Dilthey<br />

H. Grotius versteht. Er sieht, wie P. Charron, F. Bacon und<br />

H. von Cherbury in den ersten drei Jahrzehnten <strong>des</strong> 17.<br />

Jahrhunderts die Linie markieren, auf der H. Grotius<br />

weiterdenkt: Das »natürliche System der moralischen Welt«<br />

wird errichtet (WuA, 276). W. Dilthey reflektiert ›Aufgabe‹<br />

(277), ›Methode‹ (278) und ›Begriffe‹ (279) von Grotius mit<br />

dem Ergebnis, daß die ›allgemeingültigen Begriffe‹ (278)<br />

›<strong>Lebens</strong>begriffe‹ (279) sind. Die Begriffe sind »im Ganzen <strong>des</strong><br />

<strong>Lebens</strong> angelegt und schöpfen aus diesem ihre Überzeugungskraft«<br />

(279). Die deduzierten ›Rechtsbegriffe‹ (= ›<strong>Lebens</strong>begriffe‹)<br />

(280) haben in Anlehnung an H. Grotius »ihre<br />

Geltung unabhängig von dem Glauben an ihre Begründung<br />

einer auf Gott ruhenden teleologischen Ordnung.<br />

›Auch wenn es keinen Gott gäbe‹, würden diese Sätze <strong>des</strong><br />

Naturrechts ihre independente Allgemeingültigkeit haben«<br />

(280).<br />

Das berühmte Grotius-Zitat, das bei Bonhoeffer in lateinischer<br />

Version30 erscheint, steht also in unmittelbarem<br />

Zeit hat Bonhoeffer intensiv ›Weltanschauung und Analyse‹ studiert.<br />

30) Es ist in der Literatur die Frage offen geblieben, woher Bonhoeffer<br />

die lateinische Version ›etsi deus non daretur‹ hat. Bei W. DILTHEY<br />

(WuA, 280) ist dt. ›Auch wenn es keinen Gott gäbe‹ belegt. Ursprünglich<br />

heißt der Ausdruck bei H. GROTIUS, De jure belli ac<br />

pacis libri tres, Prolegomena 11, 7: ›etiamsi daremus, quod sine<br />

summo scelere dari nequit, non esse deum‹. (›Auch wenn wir von<br />

uns gäben [= vernehmen ließen], was ohne großen Frevel nicht ausgeführt<br />

werden kann, daß es keinen Gott gibt.‹ Übers. R. W.) Bonhoeffer<br />

bildet mit lat. datur; bei H. Grotius begegnet ebenfalls<br />

zweimal lat. datur. Wir folgern, daß Bonhoeffer das längere lat.<br />

Original-Zitat kannte und unter dem Eindruck der (verkürzten)<br />

142


Wüstenberg 04.07. 15.08.2006 14:24 Uhr Seite 143<br />

2. Die <strong>Lebens</strong>philosophie Wilhelm Diltheys<br />

lebensphilosophischem Kontext. Dilthey führt Grotius als<br />

Renaissance-Juristen an, der von den <strong>Lebens</strong>begriffen ausgeht<br />

und darin »die wahre Intention der römischen Jurisprudenz«<br />

erneuert (WuA, 279): der Rechtsbegriff als <strong>Lebens</strong>begriff.<br />

So wird auch unmittelbar verständlich, warum<br />

Bonhoeffer vom Leben ohne Gott spricht (vgl. WEN 394)<br />

und warum grundsätzlich die historischen Exkurse über<br />

ein Autonomiestreben auf verschiedenen Gebieten in die<br />

Rede vom Leben münden. Bonhoeffer hat von W. Dilthey<br />

her gesehen, daß der Grotius-Satz ein <strong>Lebens</strong>-Satz ist, »daß<br />

wir in einer Welt leben müssen – etsi deus non daretur«<br />

(WEN 394, Hervorh. R. W.).<br />

Was ich hier für H. Grotius ausgeführt habe, gilt auch<br />

für die anderen genannten Themen und Namen.31 Aus der<br />

deutschen Wiedergabe bei Dilthey die lateinische Form bildet. Ein<br />

Blick in das Originalmanuskript <strong>des</strong> Briefes vom 16. 7. unterstreicht<br />

diese Beobachtung: Bonhoeffer zitiert H. Grotius (Nl A. 81,<br />

195), »daß wir in der Welt leben müssen – ›etsi deus non daretur‹«.<br />

Die zwei Punkte im Anschluß an das Zitat-Stück signalisieren dem<br />

Leser, daß hier verkürzt zitiert worden ist! <strong>Eine</strong> Verkürzung in der<br />

Zitation und eine Wiedergabe von Originalen aus dem Gedächtnis<br />

ist bei Bonhoeffer üblich (vgl. etwa die Zitation von K. BARTHs<br />

Römerbriefkommentar in ›Sanctorum Communio‹, DBW 1, 134).<br />

<strong>Eine</strong> Quellenkenntnis von H. Grotius kann in der Bildungswelt<br />

<strong>Bonhoeffers</strong> vorausgesetzt werden.<br />

31) Es fällt auf, daß sowohl für W. Dilthey als auch für Bonhoeffer die<br />

Nennung von Namen wichtig ist. W. Dilthey expliziert mit Hilfe<br />

der Nennung von Namen seine ›geschichtliche <strong>Lebens</strong>philosophie‹<br />

(G. Bruno, M. de Montaigne, J. Bodin etc.). Bonhoeffer expliziert<br />

ebenfalls mit Hilfe von Namen seine ›nichtreligiöse Interpretation‹;<br />

dabei werden neben den Philosophen, die von W. Dilthey übernommen<br />

werden, auch biblische Namen wichtig, wie etwa Paulus<br />

(306 ff.369), Cornelius (396), Jairus (ibid), Nathanael (ibid) etc.<br />

143


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 144<br />

<strong>Lebens</strong>philosophie und ›nichtreligiöse Interpretation‹<br />

Dilthey-Gesamtdarstellung ist ersichtlich, daß sämtliche<br />

hier aufgezählten Namen in einem lebensthematischen<br />

Zusammenhang stehen.<br />

Auf welchen Gebieten auch immer W. Dilthey das Streben<br />

nach Mündigkeit oder Autonomie beobachtet, stets<br />

geht er vom gelebten Leben der Menschen in ihrer Epoche<br />

aus. Die Mündigkeit der Welt geht zurück auf die Mündigkeit<br />

<strong>des</strong> <strong>Lebens</strong> in der Welt.<br />

Leben als erkenntnistheoretische Maxime wird zur<br />

historischen Einsicht in eine Epoche. Autonomie <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong><br />

wird zur Autonomie der Menschen und der Welt. Bonhoeffer<br />

vollzieht diesen Schritt bewußt mit und setzt mit<br />

dem Ergebnis thetisch ein: »[...] es ist eine große Entwicklung,<br />

die zur Autonomie der Welt führt« (392). An anderer<br />

Stelle, wo er von der Autonomie der Menschen und <strong>des</strong><br />

<strong>Lebens</strong> spricht, läßt Bonhoeffer erkennen, daß er den erkenntnistheoretischen<br />

Ort Diltheys, das Leben, christologisch<br />

interpretiert: Die »Inanspruchnahme der mündig<br />

gewordenen Welt durch Jesus Christus« (WEN 375). Im vorausgehenden<br />

Satz <strong>des</strong> zitierten Briefes fordert Bonhoeffer,<br />

daß »das ganze menschliche Leben« von Christus in Anspruch<br />

genommen werden müsse. Bonhoeffer formuliert<br />

das Thema, um das es in Tegel geht, vom allgemeinen zum<br />

besonderen, von der christologischen Ausgangsfrage zur<br />

Inanspruchnahme <strong>des</strong> irdischen <strong>Lebens</strong>. Im einzelnen können<br />

wir folgende Entwicklung in der christologischen <strong>Lebens</strong>thematik<br />

ausmachen:<br />

I. Ausgangsfrage: »[...] wer Christus für uns heute eigentlich<br />

ist« (30. 4.1944, WEN 305, Hervorh. R. W.);<br />

II. Grundthema: »Christus und die mündig gewordene<br />

Welt« (8. 6.1944, WEN 358, Hervorh. R. W.);<br />

III. Ethik-Thema: Die »Inanspruchnahme der mündig<br />

144


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 145<br />

3. Ergebnis<br />

gewordenen Welt durch Jesus Christus« (30. 6. 1944, WEN<br />

395, Hervorh. R. W.);<br />

IV. <strong>Lebens</strong>-Thema: »Jesus nimmt das ganze menschliche<br />

Leben für sich in Anspruch« (30. 6. 1944, WEN 395, Hervorh. R.<br />

W.); ähnlich 28. 7. 1944 (WEN 406)<br />

V. Ekklesiologische Folgerung: Die Kirche »muß den<br />

Menschen aller Berufe sagen, was ein Leben mit Christus ist,<br />

was es heißt, für andere dazu sein« (Entwurf, WEN 415 f.,<br />

Hervorh. R. W.).<br />

Von der christologischen Ausgangsfrage (I) aus formuliert<br />

Bonhoeffer das Grundthema der Tegeler <strong>Theologie</strong> (II),<br />

wendet es ethisch (III), um schließlich das Thema ganz auf<br />

das Leben zu konkretisieren (IV), einschließlich der ekklesiologischen<br />

Folgerung dieser <strong>Lebens</strong>christologie (V). Die<br />

Essenz der verschiedenen Formulierungen lautet also in<br />

einem Satz:<br />

Der christliche Glaube und das mündige Leben.<br />

3. Ergebnis und These<br />

Mit der Beobachtung, dass Bonhoeffer Diltheys <strong>Lebens</strong>philosophie<br />

christologisch wendet, ist eine wichtige Akzentsetzung<br />

in der Dilthey-Rezeption festzuhalten. Sie hat zu<br />

tun mit der Interdependenz von Religion und Leben bei<br />

Dilthey, die Bonhoeffer nicht mitvollzieht. In der Darstellung<br />

von ›Weltanschauung und Analyse‹ ist wiederholt der<br />

Religionsbegriff W. Diltheys in den Blick getreten. Der<br />

<strong>Lebens</strong>philosoph beabsichtigt, Leben und Religiosität in<br />

ihren unterschiedlichen Ausbildungen in der Zeit der Renaissance<br />

und Reformation miteinander in Beziehung zu<br />

setzen. So sei etwa U. Zwinglis »Religiosität« »wahres Leben«<br />

145


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 146<br />

<strong>Lebens</strong>philosophie und ›nichtreligiöse Interpretation‹<br />

(WuA, 226). Im Zusammenhang mit J. Bodin kann W. Dilthey<br />

die Frage nach »der wahren Religion« stellen (WuA,<br />

151). Er bewundert auch »die religiöse Lebendigkeit von<br />

Luther« (WuA, 231). Insgesamt kritisiert W. Dilthey, wenn<br />

Religion und Leben gegeneinander isoliert werden (WuA,<br />

137). Das ganze Leben ist ihm das religiöse Leben: »Gott will<br />

genossen werden« (WuA, 160). Die Religion soll »im Leben«<br />

behauptet werden (WuA, 237). Dilthey fordert eine ›lebbare‹<br />

Religion, eine Religion der Diesseitigkeit.<br />

<strong>Eine</strong> Religionskritik kommt auch in ›Weltanschauung<br />

und Analyse‹ nicht in den Blick. Auch eine Religionslosigkeit<br />

kann – wie wir sahen – nach W. Dilthey nicht eintreten.<br />

Religionskritik und Religionslosigkeit als zwei bedeutende<br />

Motive der Religionsauffassung <strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong> gehen<br />

daher inhaltlich nicht auf W. Dilthey zurück. Die Metaphysikkritik<br />

in<strong>des</strong>sen – als weiteres Grundmotiv von<br />

›Weltanschauung und Analyse‹32 – wird breit rezipiert. Bonhoeffer<br />

hat die lebensphilosophisch begründete Kritik an<br />

der Metaphysik nachdrücklich mitvollzogen. <strong>Eine</strong> Kritik an<br />

der Religion jedoch ist bei Bonhoeffer begründet durch die<br />

theologische Religionskritik K. Barths; es bestätigt sich die<br />

These aus Abschnitt B), daß Bonhoeffer die theologische<br />

Religionskritik in der Tegeler <strong>Theologie</strong> übernimmt und<br />

mit der historischen <strong>Lebens</strong>philosophie verbindet:<br />

32) Vgl. WuA, 20.40.58 f.136 f.144 f.247.298.322. 359.394 f.414 f.439 f.bes.<br />

441.458 f.469.480.472.494 f.498. In der Dilthey-Forschung rechnet<br />

man auch im Hinblick auf andere Schriften mit »keinem Bezug zur<br />

metaphysischen Tradition« mehr bei W. Dilthey; so S. GIAM-<br />

MUSSO, Der ganze Mensch, in: Dilthey-Jahrbuch VII (1990/91), 112–<br />

138.<br />

146


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 147<br />

3. Ergebnis<br />

Wo sich für W. Dilthey ein Gegensatz zwischen Leben<br />

und Metaphysik ergibt, dort stellt Bonhoeffer Leben und<br />

Religion einander gegenüber. Wie sich bei Dilthey Leben<br />

und Innerlichkeit gegenseitig interpretieren, so bei Bonhoeffer<br />

Leben und Jesus Christus. Der <strong>Lebens</strong>begriff wird<br />

unter dem Eindruck der systematischen Lektüre W. Diltheys<br />

zum erkenntnistheoretischen Grundbegriff.<br />

Darin setzt die Tegeler <strong>Theologie</strong> einen anderen Akzent als die<br />

Ethik-Fragmente. Nimmt Bonhoeffer auch in der ›Ethik‹ und vor<br />

der ›Ethik‹ lebensphilosophische Strömungen 33 auf, so nicht aus einem<br />

erkenntnisleitenden Motiv. Das Thema lautet: Christus und<br />

das Gute.34 In ›Widerstand und Ergebung‹ wird es zu: Christus und<br />

die mündig gewordene Welt. In diesem Zusammenhang begegnen<br />

33) Vgl. in diesem Zusammenhang die rezeptionsgeschichtlichen Beobachtungen<br />

zum Einfluß Nietzsches auf <strong>Bonhoeffers</strong> Ethik bei P.<br />

KÖSTER, F. Nietzsches als verborgener Antipode in <strong>Bonhoeffers</strong><br />

Ethik, in: NS 19, 1990, 367–418 und bei H.-J. ABROMEIT, Das Geheimnis<br />

Christi, 125 ff. Auf die Bedeutung der <strong>Lebens</strong>philosophie<br />

vor der Ethik weist T. R. PETERS, Die Präsenz <strong>des</strong> Politischen in der<br />

<strong>Theologie</strong> <strong>Bonhoeffers</strong>, 127 ff., hin. Nicht erst in Barcelona (wie P.<br />

Köster), sondern schon in ›Sanctorum Communio‹ beobachtet T. R.<br />

Peters die Präsenz F. Nietzsches (135 f.). Weiter hält Peters Nietzsche<br />

in ›Akt und Sein‹ (137 f.) und schließlich in einem Vortrag von<br />

1932 (138 f.) für bedeutsam; auch in der ›Ethik‹ und in ›Widerstand<br />

und Ergebung‹ sieht er ihn auf dem Plan. T. R. Peters beobachtet<br />

freilich auch den antipodischen Charakter von <strong>Bonhoeffers</strong> Nietzsche-Rezeption,<br />

auch wenn diese Ansicht nicht so deutlich wie bei<br />

P. Köster hervortritt. Doch dürfte auch für T. R. Peters klar sein:<br />

Den erkenntnistheoretischen Ansatz in ›Widerstand und Ergebung‹<br />

kann Bonhoeffer weder mit F. Nietzsche noch mit W. James<br />

teilen (zu W. James vgl. T. R. Peters, Die Präsenz, 145 f.). Dazu<br />

bedurfte es der systematischen Lektüre W. Diltheys in Tegel.<br />

34) Vgl. die Ethik-Fragmente: »Christus, die Wirklichkeit und das Gute«<br />

und »Die Geschichte und das Gute« (in zwei Fassungen), ›Ethik‹<br />

147


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 148<br />

<strong>Lebens</strong>philosophie und ›nichtreligiöse Interpretation‹<br />

wir wieder einer Diskontinuität in der Kontinuität. Wir dürfen mit<br />

einer Kontinuität in der christologischen Fragestellung rechnen,<br />

während sich eine Diskontinuität im Hinblick auf das Welt- und<br />

Autonomieverständnis einstellt. In der ›Ethik‹ werden mündiges Leben<br />

und Autonomie weitgehend negativ beurteilt als Abfall von<br />

Gott, während in ›Widerstand und Ergebung‹ die Frage nach Christus<br />

in einem mündig gewordenen Leben gestellt wird. Die Alternative<br />

›Christus oder eine autonome Welt‹ wird in Tegel zur Relation<br />

›Christus und die mündig gewordene Welt‹. Vor dieser Diskontinuität<br />

bleibt die Kontinuität in der christologischen Ausgangsfrage<br />

erhalten: ›Christus und/oder das mündige Leben‹?<br />

<strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer hat für die Betrachtung <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong><br />

einen wichtigen Impuls aus der <strong>Lebens</strong>philosophie erhalten.<br />

Für seine Rezeption Diltheys bleibt die theologische<br />

Betrachtung von Leben ausschlaggebend: Philosophisch<br />

betrachtet, ist das Leben mehrdeutig; eindeutig wird es im<br />

Blick auf Jesus Christus. Leben ist nicht mehr irrationaler<br />

Zauber, sondern wird christologisch interpretiert zum Erkenntnisgegenstand<br />

von Sünde und Rechtfertigung. Das<br />

rechte Verhältnis von mündigem Leben und christlichem<br />

Glauben war <strong>Bonhoeffers</strong> Thema und die Essenz der Fragestellung<br />

nach der nichtreligiösen Interpretation.<br />

These:<br />

Die nichtreligiöse Interpretation ist eine lebens-christologische<br />

Interpretation, die den christlichen Glauben<br />

und das mündige Leben aufeinander bezieht.<br />

(DBW 6) 31 ff. und 218 ff. bzw. 245 ff. Zur lebensthematischen Bedeutung<br />

<strong>des</strong> letztgenannten Manuskriptes ist die Interpretation<br />

von H.-J. ABROMEIT, Das Geheimnis, 126 ff., zu vergleichen.<br />

148


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 149<br />

Schlussbetrachtung<br />

Ist <strong>Bonhoeffers</strong> Rede von der historisch<br />

erledigten Religion selbst historisch?<br />

Vieles spricht dafür, daß es einen Paradigmenwechsel in der<br />

Bonhoefferinterpretation gibt,1 wonach min<strong>des</strong>tens die<br />

These von der Religionslosigkeit angesichts der Rückkehr<br />

von Religion auch in Kirche und <strong>Theologie</strong> nicht mehr<br />

selbstredend ist. »Es ist an der Zeit«, so der bedeutende Bonhoeffer-Interpret<br />

Christian Gremmels jüngst, »diese Debatte<br />

neu zu eröffnen.«2<br />

Wo zu dieser Debatte vom Ergebnis der vorangegangenen<br />

Analyse beigetragen wird, muß bedacht werden, daß<br />

»Religion« im theologischen Entwurf <strong>Bonhoeffers</strong> kein tragen<strong>des</strong><br />

Konzept ist. Nicht Religion, und schon gar nicht<br />

eine geschlossene Theorie der Religion geben die entscheidende<br />

Richtung vor. Statt<strong>des</strong>sen liegt im <strong>Lebens</strong>begriff die<br />

Stoßrichtung der sog. nichtreligiösen Interpretation; und<br />

1) Vgl. hierzu u. a. Beiträge in folgenden Sammelbänden: E. FEIL (Hg.),<br />

Streitfall «Religion«. Diskussionen zur Bestimmung und Abgrenzung<br />

<strong>des</strong> Religionsbegriffs, Münster et al. 2000; CHR. GREMMELS,<br />

W. HUBER (Hrsg.), Religion im Erbe. <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer und die<br />

Zukunftsfähigkeit <strong>des</strong> Christentums, Gütersloh 2002, sowie in den<br />

»Bonhoeffer-Jahrbüchern«, besonders dem Jahrgang 2003 (hier<br />

etwa K. B. NIELSEN, Überlegungen zum Religionsverständnis <strong>Dietrich</strong><br />

<strong>Bonhoeffers</strong>: Zwischen Kritik und Konstruktion, 93–106).<br />

2) CHR. GREMMELS, Religionslosigkeit?, in: Bonhoeffer-Rundbrief<br />

76 (2005), 24.<br />

149


Wüstenberg 04.07. 15.08.2006 14:24 Uhr Seite 150<br />

Schlussbetrachtung<br />

hier müßte eine weiterführende Debatte in <strong>Theologie</strong> und<br />

Kirche ansetzen. Auf zwei Implikationen einer nichtreligiösen<br />

als lebenschristologischer Interpretation möchte ich –<br />

wenigstens thetisch – hinweisen:<br />

1. Die politische Implikation einer ›nichtreligiösen‹ Interpretation<br />

– oder: Die Bedeutung der ›vorletzten Dinge‹.<br />

Die vorgetragene Analyse der nichtreligiöser Interpretation<br />

hat die Bedeutung der »vorletzten Dinge« bei Bonhoeffer<br />

unterstrichen. <strong>Lebens</strong>christologisch soll im Diesseits,<br />

gerade auch im Leiden von Gott gesprochen werden. Die<br />

»vorletzten Dinge« werden nicht vorschnell übersprungen<br />

und der Mensch an die »letzten Dinge« verwiesen. Nichtreligöse<br />

Interpretation hat mit dem Diesseits, dem gelebten<br />

Leben und dem Leiden zu tun, das die Heilsbedeutung aus<br />

dem Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu von Nazareth gewinnt.<br />

<strong>Eine</strong> religiöse Interpretation hat dagegen für Bonhoeffer<br />

mit dem Jenseits zu tun, dem Überspringen <strong>des</strong><br />

»Vorletzten«, der Verweigerung von Leiden als zentrale<br />

Dimension <strong>des</strong> christlichen <strong>Lebens</strong>. In der skizzierten theologischen<br />

Ausrichtung bleibt das Unternehmen »nicht-religiöse«<br />

Interpretation auch für die politische Ethik bedeutend:<br />

Die religiöse Überhöhung <strong>des</strong> Politischen (im<br />

Sinne »letzter Dinge«) scheidet nämlich aus. Alles Politische<br />

gehört immer zu den »vorletzten Dingen«. Bonhoeffer trägt<br />

mit seinem Entwurf einer nichtreligiösen Interpretation<br />

zur qualitativen Schärfung jeder neuen Rede von der Religion<br />

bei, auch der politischen.3 Es sollte keiner Verabsolu-<br />

3) Vgl. hierzu auch R. K. Wüstenberg, Die politische Dimension der<br />

Versöhnung. <strong>Eine</strong> theologische Studie zum Umgang mit Schuld<br />

nach den Systemumbrüchen in Südafrika und Deutschland, Gütersloh<br />

2004, bes. zu <strong>Bonhoeffers</strong> Ethik 489–521.<br />

150


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 151<br />

Schlussbetrachtung<br />

tierung der »vorletzten Dinge« zugearbeitet werden, noch<br />

die religiöse Aufladung <strong>des</strong> Politischen theologisch legitimiert<br />

– ob im nationalsozialistischen Kontext oder danach.4<br />

Die bleibende Bedeutung der nichtreligiösen Interpretation<br />

liegt in der doppelten Würdigung der »vorletzten<br />

Dinge«, das heißt a) theologisch: kein vorschnelles Überspringen<br />

der »vorletzten Dinge«, also keine Jenseitsvertröstung,<br />

die das Leiden aus dem Blickfeld verlöre; b) ethisch:<br />

keine religiöse Überhöhung der »vorletzten Dinge«, etwa<br />

<strong>des</strong> Politischen durch religiöse Aufladung.<br />

2. Die religionstheoretische Implikation – oder: Glauben<br />

und Religion sind keine Gegensätze mehr.<br />

Verwirrend ist die Vokabel Religion in <strong>Bonhoeffers</strong> Tegeler<br />

<strong>Theologie</strong> als Gegenstück seines lebenschristologischen<br />

Entwurfs. So bleibt die kritische Rückfrage, ob und<br />

wenn ja, welche Aussagekraft die nichtreligiöse Interpretation<br />

angesichts der Rückkehr <strong>des</strong> Religiösen haben kann.<br />

Um in dieser zentralen Frage nicht vorschnell zu urteilen,<br />

sollte auf der Grundlage der vorangegangenen Analyse<br />

zweierlei bedacht werden: a) Religionslosigkeit bedeutete<br />

für Bonhoeffer die Theorielosigkeit von Religion, weniger<br />

ein totales Verschwinden von Religion im Sinne eines losem<br />

Verweisungszusammenhangs; b) Religion stand für Bonhoeffer<br />

im Gegensatz zu Leben, weil Religion, wie er sie vor<br />

Augen hatte, auf die Vertröstung auf das Jenseits oder die<br />

Innerlichkeit abzielte.<br />

4) Als ich 2002 am Union Theological Seminary, New York, ein Seminar<br />

über die »nicht-religiöse Interpretation« hielt, war für die amerikanischen<br />

<strong>Theologie</strong>studenten diese politische Implikation der<br />

Religionskritik <strong>Bonhoeffers</strong> zentral.<br />

151


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 152<br />

Schlussbetrachtung<br />

Ad a) Wenn auch Religion nicht aus dem Vokabular verschwunden<br />

ist, so bleibt als Gegenfrage zu prüfen, ob wir<br />

der Zeit von geschlossenen Religionskonzeptionen entgegengehen.<br />

Gibt es heute eine Religion, von der alle Facetten<br />

unserer <strong>Lebens</strong>wirklichkeit abhingen? Kann ein Religionsentwurf<br />

heute als archimedischer Punkt in Kirche und <strong>Theologie</strong><br />

gelten? Fragen wie diese zu stellen, heißt sie zu verneinen.<br />

Weiter darf mit einigem Recht gefragt werden, ob<br />

<strong>Bonhoeffers</strong> Prognose der »Ortslosigkeit von Religion« nicht<br />

zumin<strong>des</strong>t da zutrifft, wo man religiöse Strömungen außerhalb<br />

von <strong>Theologie</strong> und Kirche vor Augen hat. Wer wollte<br />

behaupten, daß Strömungen wie ›New Age‹ geschlossene<br />

Konzeptionen darstellten, die Entwürfen <strong>des</strong> 19. Jahrhunderts<br />

vergleichbar wären? Was schließlich den binnenkirchlichen<br />

Diskurs angeht, wäre zu prüfen, ob eine latente<br />

Renaissance <strong>des</strong> Wortes Religion tatsächlich wieder zur<br />

Theoriebildung von Religion führt. »Nicht die Religion hat<br />

sich als Illusion erwiesen, sondern die Religionstheorie«,<br />

prognostizierte Hermann Lübbe5 schon vor 20 Jahren.<br />

Wenn das zutrifft, dann war Bonhoeffer mit seiner Absage<br />

an die Religionstheorie seiner Zeit voraus gewesen.<br />

Wir gehen einer »völlig religionslosen Zeit entgegen«,<br />

das heißt nach der vorliegenden Analyse: Wir gehen einer<br />

Zeit entgegen, in der nicht mehr alle Deutungen <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong><br />

von einem Religionskonzept abhängen. Trotz latenter Rückkehr<br />

<strong>des</strong> Religiösen gibt es wohl nicht mehr die eine Religion<br />

mit theoretischer Grundlage und absolutem Wahrheitsanspruch.<br />

Statt einen Religionsbegriff auszubilden,<br />

sollte im Sinne <strong>Bonhoeffers</strong> der konstruktive Impuls der<br />

5) Religion nach der Aufklärung, Darmstadt 1986, 14.<br />

152


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 153<br />

Schlussbetrachtung<br />

Religionskritik lebendig bleiben, ja auch und gerade, wo<br />

Religion eine Renaissance erlebt.<br />

Ad b) Vielleicht ist unsere Zeit in manchem Diltheys<br />

und James’ innerer Verbindung von Leben und Religion<br />

näher; jedenfalls erscheint Religion nicht im Zusammenhang<br />

von lebensfremd: »Religion« und »Fülle <strong>des</strong> <strong>Lebens</strong>«<br />

sind keine Gegensätze mehr. Überhaupt scheint Religion<br />

heute kaum mehr geeignet, eine Wirklichkeit zu beschreiben,<br />

die jenseits <strong>des</strong> gelebten <strong>Lebens</strong> steht. Mit der Religion<br />

kehrt zumin<strong>des</strong>t nicht der Glaube an einen Gott der Jenseitsvertröstung<br />

oder der reinen Innerlichkeit zurück.<br />

Könnte man argumentieren, daß <strong>Bonhoeffers</strong> religionskritischer<br />

Impuls »Religion als Metaphysik oder Innerlichkeit«<br />

in <strong>Theologie</strong> und Kirche längst verarbeitet ist? Die Frage zu<br />

stellen, bedeutet sie zu bejahen.6 Es spricht vieles dafür, daß<br />

der kritische Grundtenor heute geteilt wird; nur: am Wort<br />

Religion wird wieder festgehalten. Wir gehen einer »völlig<br />

religionslosen Zeit entgegen«, das hieße dann: Wir gehen<br />

einer Zeit entgegen, in der von Gott nicht mehr an den Rändern<br />

oder der reinen Innerlichkeit gesprochen wird. Wer wollte<br />

bestreiten, daß das so ist? Die Wiederkehr von Religion in<br />

<strong>Theologie</strong> und Kirche steht daher nicht im Widerspruch<br />

zur Tegeler <strong>Theologie</strong>. Im Gegenteil: <strong>Bonhoeffers</strong> religionskritischer<br />

Impuls könnte zur qualitativen Schärfung der<br />

neuen Rede von der Religion beitragen. Und so verstehe ich<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong> Entwurf als Ermutigung, auf dem<br />

»Markt der Möglichkeiten«, dem sogenannten Pluralismus,<br />

6) Vielleicht wäre es im Sinne der Gegenprobe lohnenswert, gegenwärtige<br />

religionspädagogische oder homiletische Entwürfe daraufhin<br />

durchzusehen, ob dort ein Religionskonzept der Innerlichkeit<br />

oder Metaphysik vertreten wird.<br />

153


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 154<br />

Schlussbetrachtung<br />

die Stimme der Kirche selbstbewußt einzubringen, nicht<br />

dominierend, aber hörbar; eine Stimme, die erklingt aus der<br />

»Polyphonie« <strong>des</strong> christlichen <strong>Lebens</strong>: sie kommt aus dem<br />

anbetenden Schweigen vor dem Heiligen einerseits und<br />

dem nichtreligiösen Bekennen vor der Welt andererseits.<br />

Vieles deutet darauf hin, daß es auf diese Stimme zu Beginn<br />

<strong>des</strong> 21. Jahrhunders wieder neu ankommen wird.<br />

154


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 155<br />

Quellenverzeichnis <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer<br />

<strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer Werke (= DBW), herausgegeben von E. Bethge,<br />

E. Feil, Chr. Gremmels, W. Huber, H. Pfeifer, A. Schönherr,<br />

H. E. Tödt, I. Tödt, München 1986 bis 1998; in vorliegender<br />

Untersuchung wurden folgende Werkbände benutzt:<br />

Sanctorum Communio (= DBW 1)<br />

Akt und Sein (= DBW 2)<br />

Schöpfung und Fall (= DBW 3)<br />

Nachfolge (= DBW 4)<br />

Gemeinsames Leben/Das Gebetbuch der Bibel (= DBW 5)<br />

Ethik (= DBW 6)<br />

Fragmente aus Tegel (= DBW 7)<br />

Widerstand und Ergebung (= DBW 8); Zitation folgt der Ausgabe:<br />

Widerstand und Ergebung. Neuausgabe. Briefe und Aufzeichnungen<br />

aus der Haft (= WEN), 3. Aufl. 1985<br />

Jugend und Studium 1918–1927 (= DBW 9)<br />

Barcelona, Berlin, Amerika 1928–1931 (= DBW 10)<br />

Ökumene, Universität, Pfarramt 1931–1932 (= DBW 11)<br />

London 1933–1935 (= DBW 13)<br />

Gesammelte Schriften (= GS), herausgegeben von E. Bethge und<br />

erschienen in 6 Bänden (München 1960 bis 1974)<br />

Bd 1: Ökumene. Briefe, Aufsätze, Dokument, 1928–1942 (= GS I)<br />

Bd 2: Kirchenkampf und Finkenwalde. Resolutionen, Aufsätze,<br />

Rundbriefe,1933–1943 (= GS II)<br />

Bd 3: <strong>Theologie</strong> – Gemeinde, Vorlesungen, Briefe, Gespräche, 1927–<br />

1944 (= GS III),<br />

Bd. 4: Auslegungen – Predigten, 1933–1944 (= GS IV)<br />

Bd. 5: Seminare, Vorlesungen , Predigten, 1924–1941,<br />

1. Ergänzungsband (= GS V)<br />

155


Wüstenberg 04.07. 11.08.2006 13:18 Uhr Seite 156<br />

Quellenverzeichnis<br />

Bd. 6: Tagebücher , Briefe, Dokumente 1923–1945,<br />

2. Ergänzungsband (= GS VI)<br />

<strong>Dietrich</strong> <strong>Bonhoeffers</strong> Hegel-Seminar 1933, nach Aufzeichnungen<br />

von Frenc Lehel, herausgegeben von Ilse Tödt, München<br />

1988.<br />

Brautbriefe Zelle 92, <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer – Maria von Wedemeyer<br />

1943–1945, herausgegeben von R.-A. v. Bismarck und U. Kabitz,<br />

2. Aufl. 1993<br />

Nachlaß <strong>Dietrich</strong> Bonhoeffer. Ein Verzeichnis Archiv – Sammlung<br />

– Bibliothek, herausgegeben von D. Meyer in Zusammenarbeit<br />

mit E. Bethge, 1987; hierin verzeichnet folgende in<br />

der Arbeit erwähnte Archivnummern der Briefe, die im Original<br />

eingesehen wurden:<br />

A 77, 73 (b) Brief vom 5. 9.1943 = WEN 120 f. = DBW 8, 151 f.<br />

A 77, 76 (b) Brief vom 13. 9. 1943 = WEN 125 f. = DBW 8, 157 f.<br />

A 80, 155 Brief 27. 3.1944 = WEN 272 f = DBW 8, 371 f.<br />

A 80, 166 Brief vom 5. 5.1944 = WEN 308 f. = DBW 8, 409 f.<br />

A 80, 181 Brief vom 3. 6.1944 = WEN 346 f. = DBW 8, 461 f.<br />

A 78, 106 und 107 Brief vom 18.12. 1943 = WEN 187 f. = DBW 8, 241 f.<br />

A 79, 128 (37–46) Brief vom 29. u. 30. 1. 1944 = WEN 222 ff. = DBW 8,<br />

300 ff.<br />

A 80, 147 (65–72) Brief vom 9. 3.1944 = WEN 256 ff. = DBW 8, 351 f.<br />

A 80, 162 (95–100) Brief vom 30. 4. 1944 = WEN 303 ff. = DBW 8, 401 f.<br />

A 80, 164 (101–104) Brief vom 5. 5. 1944 = WEN 311 ff. = DBW 8, 413 f.<br />

A 80, 167 (111–114) Brief vom 9. 5. 1944 = WEN 316 f. = DBW 8, 420 f.<br />

A 80, 171 (119–120) Brief vom 20. 5. 1944 = WEN 330 f. = DBW 8, 439 f.<br />

A 80, 176 (133–134) Brief vom 26. 5. 1944 = WEN 338 f. = DBW 8, 450 f.<br />

A 81, 186 (151–158) Brief vom 8. 6. 1944 = WEN 355 f. = DBW 8, 474 f.<br />

A 81, 192 (163–166) Brief vom 30. 6. 1944 = WEN 372 f. = DBW 8, 501 f.<br />

A 81, 193 Brief vom 8. 7. 1944 = WEN 376 f. = DBW 8, 508 f.<br />

A 81, 195 Brief vom 16. 7. 1944 = WEN 391 f. = DBW 8, 526 f.<br />

A 81, 196 (177–178) Brief vom 21. 7. 1944 = WEN 401 f. = DBW 8, 541 f.<br />

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