Wirtschaftswoche Ausgabe vom 27.10.2014 (Vorschau)
44 27.10.2014|Deutschland €5,00 4 4 4 1 98065 805008 Frau Dr. Seltsam Oder: Wie ich lernte, die schwarze Null zu lieben Schweiz CHF 8,20 | Österreich €5,30 | Benelux€5,30 | Griechenland€6,00 | GroßbritannienGBP 5,40 | Italien€6,00 | Polen PLN27,50 | Portugal€6,10 | Slowakei €6,10 | Spanien€6,00 | Tschechische Rep. CZK200,- | Ungarn FT 2140,- © Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
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44<br />
<strong>27.10.2014</strong>|Deutschland €5,00<br />
4 4<br />
4 1 98065 805008<br />
Frau Dr. Seltsam<br />
Oder: Wie ich lernte, die schwarze Null zu lieben<br />
Schweiz CHF 8,20 | Österreich €5,30 | Benelux€5,30 | Griechenland€6,00 | GroßbritannienGBP 5,40 | Italien€6,00 | Polen PLN27,50 | Portugal€6,10 | Slowakei €6,10 | Spanien€6,00 | Tschechische Rep. CZK200,- | Ungarn FT 2140,-<br />
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Einblick<br />
Sparen ist gut. Investieren auch. Beides ginge zusammen,<br />
aber die Bundesregierung krallt sich allein<br />
an der schwarzen Null fest. Von Miriam Meckel<br />
Symbolische Politik<br />
FOTO: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
Stellen wir uns die Bundeskanzlerin<br />
vor, wie sie mit zarter und ein<br />
wenig zitternder Hand das Glastürchen<br />
öffnet. Ein vorsichtiger<br />
Griff in die Monstranz, und schon ist dort<br />
auf weichem Kissen glänzend positioniert,<br />
was nahezu anbetungswürdig<br />
scheint: die schwarze Null. Wie eine polit-ökumenische<br />
Glaubensgemeinschaft<br />
sammeln sich die Mehrheiten beider großer<br />
Volksparteien derzeit hinter dieser<br />
Zahl, um gegen die Neuverschuldung anzuziehen.<br />
Glaube kann bekanntlich Berge versetzen.<br />
Ein Berg von zwei Billionen Euro ist<br />
ziemlich hoch. So viele Staatsschulden hat<br />
Deutschland derzeit. Und geht es nach einigen<br />
unserer europäischen Verbündeten,<br />
dann sollen es noch mehr werden: Weg<br />
mit der Haushaltsdisziplin und her mit frischem<br />
Geld für Investitionen, um damit<br />
die schwächelnde europäische Wirtschaft<br />
anzukurbeln. Angela Merkel glaubt an die<br />
schwarze Null, die Franzosen und Italiener<br />
nicht – ein haushaltspolitisches Schisma<br />
durchzieht Europa.<br />
Es ist richtig, nicht wieder auf Neuverschuldung<br />
zu setzen. Es wäre auch richtig,<br />
auf Investitionen und Wachstum zu setzen.<br />
Aus Sicht Merkels ist die schwarze<br />
Null „alternativlos“, um eines ihrer Lieblingswörter<br />
zu benutzen. Entweder sparen<br />
oder investieren. Diese Alternative ist<br />
falsch. Die richtige lautet: Reform oder<br />
Stillstand.<br />
Vor bald zehn Jahren hat Deutschland<br />
der Mut zu Wirtschaftsreformen verlassen.<br />
An seine Stelle ist das wohlige Regieren getreten:<br />
Sparst du noch oder lebst du<br />
schon? Das hat lange gut geklappt. Die<br />
Agenda-Reformen der Regierung Schröder<br />
haben den Weg bereitet, die guten<br />
konjunkturellen Entwicklungen ihren Teil<br />
beigetragen. Und so haben die Deutschen<br />
nicht recht gemerkt, was fehlt. Wir leben<br />
von der Vergangenheit und schließen eine<br />
Wette auf die Zukunft ab. Doch die, so<br />
fürchten die Wirtschaftsforschungsinstitute<br />
nun, geht womöglich nicht mehr auf.<br />
In der Debatte über den Haushalt 2015,<br />
der zum ersten Mal seit 1969 wieder ohne<br />
neue Schulden auskommen soll, hat die<br />
Bundeskanzlerin gesagt, es handele sich<br />
um „einen generationengerechten Haushaltsentwurf“.<br />
Das stimmt so nicht. Ein generationengerechter<br />
Haushalt muss die<br />
Voraussetzungen schaffen, dass diejenigen,<br />
die nach uns kommen, die Chance<br />
auf ein gutes Leben haben. Dazu gehört es<br />
natürlich, zu sparen. Aber dazu gehört<br />
auch, jetzt für die Zukunft zu investieren –<br />
nicht über zehn Jahre von der Substanz zu<br />
leben und keine Wahlgeschenke zu machen,<br />
die nicht bezahlbar sind.<br />
MACHTPOLITIK ODER<br />
WIRTSCHAFTSWACHSTUM<br />
Die schwarze Null ist eine großartige Zahl,<br />
wenn sie mehr ist als die Momentaufnahme<br />
eines Stopps der Neuverschuldung.<br />
Wenn sie mit Investitionen und wirtschaftlichen<br />
Reformen einhergeht. Ist das nicht<br />
der Fall, verkommt sie zum Zeichen symbolischer<br />
Politik. Wir können nun Wetten<br />
darauf abschließen, ob und wann sie doch<br />
wieder fällt. Die Bundeskanzlerin und ihr<br />
Finanzminister werden alles dafür tun,<br />
dass dies nicht geschieht, und dem Druck<br />
aus Europa so lange wie möglich standhalten.<br />
Denn die schwarze Null ist die politische<br />
Innenverteidigung der Kanzlerin.<br />
Sie ist der Gipfel machtpolitischer Absicherung<br />
und der Schutzraum deutscher<br />
Reformträgheit.<br />
An dieser Zahl lässt sich auch zeigen:<br />
Die Logiken von Politik- und Wirtschaftssystem<br />
passen in unserer internationalisierten<br />
Welt immer weniger zusammen. In<br />
der Politik geht es um Macht haben oder<br />
keine Macht haben, in der Wirtschaft dagegen<br />
um Gewinn machen oder keinen<br />
Gewinn machen. Nähme die Bundesregierung<br />
nun Koalitionsgeschenke zurück, um<br />
zu sparen und doch auch zugunsten von<br />
Wirtschaftswachstum zu investieren, würde<br />
es machtpolitisch gefährlich. In<br />
Deutschland, nicht in Europa. Merkel hat<br />
die Schröder-Lektion gut gelernt. Also<br />
bleibt die schwarze Null das Credo der<br />
deutschen Wirtschaftspolitik.<br />
Glaube kann Berge versetzen. Leider<br />
aber keine Schuldenberge.<br />
n<br />
WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 3<br />
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Überblick<br />
VORGESTELLT<br />
Chefredakteurin Miriam Meckel<br />
präsentiert im Video diese <strong>Ausgabe</strong>.<br />
QR-Code bitte mit dem Smartphone scannen.<br />
Sie benötigen dafür eine App wie RedLaser.<br />
Menschen der Wirtschaft<br />
6 Seitenblick Bahn unter Zugzwang<br />
8 Rheinmetall: Thyssen-Deal vor Abschluss<br />
9 Bürgschaften: Attraktiv für Schäuble | DPD:<br />
Kampf um Amazon-Pakete<br />
10 Peugeot:Gewinn ist nicht alles | Interview:<br />
Welthungerhilfe-Manager Jochen Moninger<br />
warnt vor Unruhen nach Ebola-Ausbruch<br />
12 SAP: Stellenabbau forciert | Online-<br />
Werbung: Verfolgung optimiert | Europas<br />
beste Fabrik: VW Polo aus Pamplona<br />
14 Chefsessel | Start-up Pagido<br />
16 Chefbüro Kai Wilhelm, Chef des Modevertriebs<br />
K&W Holding<br />
Politik&Weltwirtschaft<br />
18 Angela Merkel Die Politik der schwarzen<br />
Null dient als Alibi für eine Politik des wirtschaftlichen<br />
Stillstands<br />
24 Finanzen Der Kampf gegen die aggressive<br />
Steuergestaltung internationaler Konzerne<br />
kommt einfach nicht voran<br />
26 Europa Deutsche Weichensteller in Brüssel<br />
32 Rumänien Ein deutschstämmiger Bürgermeister<br />
könnte neuer Präsident werden<br />
34 China Auf dem langen Weg zum Rechtsstaat<br />
wagt Peking nun einen ersten Schritt<br />
35 Global Briefing | Berlin intern<br />
Der Volkswirt<br />
36 Kommentar | New Economics<br />
37 Konjunktur Deutschland<br />
38 Nachgefragt: Paul Sheard Der Chefökonom<br />
von Standard & Poor’s ermuntert die<br />
EZB zu weiterer monetärer Lockerung<br />
39 Denkfabrik Demoskopin Renate Köcher<br />
über die Aufgabenverteilung zwischen der<br />
EU und den Nationalstaaten<br />
Unternehmen&Märkte<br />
40 Whistleblower Staatliche Prämien für<br />
Beschäftigte, die gesetzwidriges Verhalten<br />
des Arbeitgebers melden, machen in<br />
den USA aus Tippgebern und Anwälten<br />
Millionäre | Pro und Contra: Braucht<br />
Deutschland ein solches System?<br />
48 Air Berlin Wer hinter den Kulissen für und<br />
gegen den Lufthansa-Wettbewerber arbeitet |<br />
Die fünf Lektionen des British-Airways-<br />
Übervaters Willie Walsh für Pilotenstreiks<br />
52 Schumag Wie Selbstbedienungsmentalität<br />
ein Traditionsunternehmen schädigte<br />
54 Ebola Warum Deutsche den Erreger so<br />
erfolgreich diagnostizieren<br />
56 Weinhandel Lidl sucht den Wettkampf mit<br />
Amazon – auf Kosten des Fachhandels<br />
Titel Verrat an der Zukunft<br />
Whistleblower<br />
Ex-UBS-Banker Charles<br />
Birkenfeld wurde zum<br />
Millionär, indem er seinen<br />
Arbeitgeber bei der US-<br />
Steuerbehörde verpfiff und<br />
dafür Prämien kassierte.<br />
Macht das Belohnungssystem<br />
Schule?<br />
Seite 40<br />
Weine nicht,<br />
wenn kein<br />
Regen fällt<br />
In vielen Regionen der Welt<br />
tobt der Kampf um sauberes<br />
Wasser. Anleger können<br />
davon profitieren – moralisch<br />
einwandfrei, durch den Kauf<br />
spezieller Technologie-Titel.<br />
Seite 82<br />
Die schwarze Null, die Bundeskanzlerin<br />
Angela Merkel so tapfer verteidigt, ist<br />
nicht „alternativlos“, Haushaltskonsolidierung<br />
und mehr Investitionen sind auch<br />
kein Widerspruch. Was Deutschland<br />
und Europa fehlt, sind kluge Reformen<br />
und eine mutige Politik. Seite 18<br />
TITEL: FOTOKOLLAGE DMITRI BROIDO; FOTOS: MARCO URBAN, PICTURE-ALLIANCE/DPA<br />
4 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Nr. 44, <strong>27.10.2014</strong><br />
Die drei Ausrufezeichen<br />
Die Gründer der Agentur Heimat sind die Köpfe hinter den<br />
Kampagnen der Baumarktkette Hornbach. Wie sie ticken und<br />
warum sie so erfolgreich sind – ein Porträt. Seite 74<br />
58 Sicherheit Ein ehemaliger Bankräuber erklärt<br />
die unsichtbare Logik von Überfällen<br />
Technik&Wissen<br />
62 Hirnforschung Die zehn gefährlichsten<br />
Fehler beim Entscheiden<br />
Management&Erfolg<br />
68 Gründer Am Firmenstandort hängt der<br />
Erfolg | Gründerwettbewerb: Die Finalisten<br />
74 Hall of Fame So ticken die drei Gründer der<br />
Agentur Heimat | Fotos von der großen Gala<br />
ILLUSTRATION: NICHOLAS BLECHMAN, TORSTEN WOLBER; FOTOS: GASPER TRINGALE, ANDREAS CHUDOWSKI FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, GETTY IMAGES/GEORGE ROSE<br />
Clever<br />
entscheiden<br />
Noch immer spukt der Höhlenmensch<br />
in unserem Kopf<br />
herum und führt unseren<br />
Verstand in die Irre. Zehn<br />
Tipps, wie Sie typische Denkfallen<br />
umgehen. Seite 62<br />
Rohstoffe ohne<br />
Raubbau<br />
Ersetzen, wiederverwerten,<br />
schonend abbauen –<br />
so schaffen wir die<br />
Ressourcenwende<br />
Blaue Wirtschaft<br />
Ein Belgier löst globale Probleme lokal<br />
Künstliche Milch<br />
Ein Kalifornier bekämpft den Hunger<br />
Ethische Geldanlage<br />
Ein Deutscher schlägt den Aktienmarkt<br />
Besuchen Sie uns auch im Internet unter green.wiwo.de<br />
WiWo Green Schluss<br />
mit schmutzig<br />
Bisher ist die Suche nach Rohstoffen ein<br />
dreckiges Geschäft. Das ändert sich jetzt.<br />
Plus: Unternehmer und Aktivist Gunter<br />
Pauli über ökologisches Wirtschaftswachstum<br />
| Milch und Eier aus Pflanzen<br />
(Start auf der Rückseite)<br />
Geld&Börse<br />
82 Aktien Investoren können <strong>vom</strong> Kampf ums<br />
Wasser mit gutem Gewissen profitieren<br />
92 US-Börse Qualitätspapiere ganz günstig<br />
94 Steuern und Recht Wie Dividenden von<br />
ausländischen Unternehmen besteuert werden,<br />
wie Anleger sich ihr Geld zurückholen<br />
96 Geldwoche Kommentar: Start-up-Börse |<br />
Trend der Woche: Notenbanken | Dax:<br />
Lanxess | Hitliste: Zinsdifferenzen | Aktie:<br />
Franco-Nevada | Anleihe: EDP | Chartsignal:<br />
Deutsche Bank, Stoxx Europe 600 Banks |<br />
Ölpreis | Investmentfonds: Legg Mason<br />
Clearbridge US Aggressive Growth | Nachgefragt:exceet-Chef<br />
Ulrich Reutner und<br />
sein ungewöhnlicher Weg an die Börse<br />
99 Richtigstellung zu Wolfgang Porsche<br />
Perspektiven&Debatte<br />
104 Interview: Michael Dobbs Der britische<br />
Schriftsteller und Filmproduzent über das<br />
dunkle Innenleben der Politik<br />
108 Kost-Bar<br />
Rubriken<br />
3 Einblick, 110 Leserforum,<br />
111 Firmenindex | Impressum, 112 Ausblick<br />
n Lesen Sie Ihre WirtschaftsWoche<br />
weltweit auf iPad oder iPhone:<br />
Diese Woche unter anderem mit<br />
einer Fotoreportage über Pfleger<br />
und Ärzte, die sich in<br />
Afrika um Ebola-Patienten<br />
kümmern – und zum<br />
Teil selbst Überlebende<br />
der Krankheit sind.<br />
wiwo.de/apps<br />
n Banken-Stresstest Am Sonntag<br />
erläutern EZB und Bundesbank die<br />
Ergebnisse. Wie krisenfest deutsche<br />
Banken sind und wer durchgefallen<br />
ist, aktuell unter wiwo.de/stresstest<br />
facebook.com/<br />
wirtschaftswoche<br />
twitter.com/<br />
wiwo<br />
plus.google.com/<br />
+wirtschaftswoche<br />
WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 5<br />
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Seitenblick<br />
BAHNSTREIKS<br />
Unter Zugzwang<br />
Wer im Tarifkonflikt bei der Bahn direkt und indirekt mitmischt – und wie der Streit<br />
um die Macht von Spartengewerkschaften weitergeht.<br />
Ulrich Weber<br />
Personalvorstand der Bahn<br />
Der Verhandlungsführer der Bahn gilt als Mann der leisen<br />
Töne, als Mann des Ausgleichs. 2009 wechselte er von<br />
Evonik zum Staatskonzern – auch um ausufernde Streiks<br />
wie 2007 zu vermeiden. Nun steuert die Bahn genau darauf<br />
zu. Weber lehnt konkurrierende Tarifverträge für eine<br />
Berufsgruppe kategorisch ab. Die GDL vertrete die<br />
Mehrheit der Lokführer, aber nicht unbedingt die der<br />
Schaffner und Mitarbeiter im Bordrestaurant. Die<br />
Zahl der Streikenden in der Bordgastronomie<br />
habe „im unteren einstelligen<br />
Bereich“ gelegen. Klagen gegen<br />
die GDL sieht Weber nur als<br />
Ultima Ratio – er hofft<br />
nun auf die Politik.<br />
Alexander Kirchner<br />
Vorsitzender der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG)<br />
Im Streikgetöse der GDL geht fast unter, dass auch die größere<br />
Konkurrenzgewerkschaft EVG (100000 Mitglieder) derzeit mit der<br />
Bahn verhandelt – und noch mehr Geld fordert als die ungeliebten<br />
Kollegen (6 Prozent). Eine Kooperation der Gewerkschaften<br />
ist auch deshalb schwer vorstellbar, weil sich Kirchner und<br />
GDL-Boss Weselsky nicht ausstehen können. Beide indes<br />
werden eine Kröte schlucken müssen. Insider sagen: Die GDL<br />
könnte sich das Recht erkämpfen, auch andere Berufsgruppen<br />
bei der Bahn zu vertreten, wenn sie dort die Mehrheit<br />
hat. Im Gegenzug könnte Kirchner unterschiedliche<br />
Tarifverträge innerhalb einer Berufsgruppe verhindern.<br />
Andrea Nahles<br />
Bundesarbeitsministerin (SPD)<br />
Sie ist die Frau, auf die alle warten.<br />
Das Gesetz zur Tarifeinheit, das<br />
Nahles im November vorlegen will<br />
und das am 3. Dezember ins Kabinett<br />
soll, könnte Spartengewerkschaften an<br />
die Kette legen. Im Streitfall würde künftig<br />
nur der Tarifvertrag der Gewerkschaft gelten,<br />
die eine Mehrheit der Beschäftigten im<br />
Betrieb vertritt. Ob die unterlegene Konkurrenz<br />
dennoch streiken darf? Wie zu hören ist, will die<br />
GroKo dies aus Angst vor dem Bundesverfassungsgericht<br />
nicht explizit verbieten. Nahles schiebt die<br />
Streikfrage so den Arbeitsgerichten zu.<br />
6 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Claus Weselsky<br />
Vorsitzender der Gewerkschaft<br />
Deutscher Lokomotivführer (GDL)<br />
Der Dresdner führt die GDL seit 2008 und hat<br />
sich als harter Hund mit einem Hang zu<br />
verbalen Entgleisungen erwiesen. Die GDL fordert<br />
fünf Prozent mehr Lohn, eine um zwei Stunden<br />
sinkende Arbeitszeit und will künftig neben Lokführern<br />
auch das restliche Zugpersonal organisieren. Den<br />
Tarifkonflikt führt Weselsky derart kompromisslos (Kritiker<br />
sagen: rücksichtslos), dass auch intern die Kritik wächst.<br />
Gerüchten zufolge soll es erste Austritte geben, weil Lokführer<br />
nicht zum Hassobjekt der Nation werden wollen. 2013 gründete<br />
sich eine „Initiative für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der<br />
GDL“. Immerhin: Letzte Woche gab es eine Streikpause.<br />
Reiner Hoffmann<br />
Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbunds<br />
Der 59-Jährige unterstützt die DGB-Mitgliedsgewerkschaft<br />
EVG gegen die Lokführerfunktionäre: „Wenn<br />
die GDL den Konflikt will, kann sie ihn haben.“ Um<br />
Frieden zwischen großen und kleinen Gewerkschaften<br />
zu schaffen, schlägt er Tarifgemeinschaften vor.<br />
Hoffmanns Problem: Im eigenen Haus ist die<br />
Gemengelage kompliziert. Zwar gehen die Pläne der<br />
Bundesregierung, den Einfluss von Spartengewerkschaften<br />
zu begrenzen, auf ein gemeinsames Papier<br />
von DGB und Arbeitgebern zurück. Verdi ist jedoch<br />
auf Druck der Basis zurückgerudert. Auf dem<br />
jüngsten DGB-Kongress gab es einen Kompromiss:<br />
Tarifeinheit ja, Einschränkung des Streikrechts nein.<br />
Nicht wenige Juristen halten dies für unvereinbar.<br />
Klaus Dauderstädt<br />
Vorsitzender des Deutschen<br />
Beamtenbunds (DBB)<br />
Vor Kurzem erreichte Dauderstädt ein geharnischter<br />
Brief des DGB-Vorsitzenden Reiner Hoffmann. Er<br />
möge endlich die unter dem Dach des Beamtenbunds<br />
organisierte Lokführergewerkschaft mäßigen.<br />
Einfluss auf die GDL hat Dauderstädt durchaus,<br />
fordert diese doch eine finanzielle Unterstützung<br />
durch den Dachverband, um ihre eigene Streikkasse<br />
zu entlasten. Prinzipiell stehen der GDL ab einer<br />
Streikdauer von drei Stunden bis zu 50 Euro pro<br />
Person und Tag zu – sofern die Bahn die Gehälter<br />
kürzt. Einen direkten Zugriff auf das Geld hat die GDL<br />
aber nicht. Sie muss alle Streikaktionen intern<br />
dokumentieren. Die Entscheidung über die Zahlungen<br />
trifft die Bundestarifkommission des DBB.<br />
Redaktion: bert.losse@wiwo.de,<br />
max haerder, christian schlesiger<br />
FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/DPA/PAUL ZINKEN (2), ACTION PRESS/PAUL ZINKEN, CORBIS/NURPHOTO/REYNALDO PAGANELLI, PR (2), ULLSTEIN BILD/SAWATZKI (6); MONTAGE WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 7<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
Auf den letzten Metern<br />
zum Vertragsabschluss<br />
Rheinmetall-Chef Papperger<br />
RÜSTUNG<br />
Marine-Riese am Rhein<br />
Rheinmetall steht offenbar kurz vor dem<br />
Kauf des Militärgeschäfts von Thyssen-<br />
Krupp. Es wäre die Geburtsstunde eines<br />
maritimen Rüstungskonzerns.<br />
Armin Papperger hat es eilig. Der verschwiegene<br />
Vorstandschef des Düsseldorfer Rüstungskonzerns<br />
Rheinmetall will möglichst bald seinen ersten<br />
großen Zukauf besiegeln. Laut Insidern nähern sich<br />
die Verhandlungen zur Übernahme der Militärsparte<br />
des Essener Stahlriesen ThyssenKrupp, der<br />
ThyssenKrupp Marine Systems (TKMS), dem Abschluss.<br />
Bei der Übernahme des U-Boot- und Fregattenbaus<br />
werde nur noch um den Preis gefeilscht.<br />
„Alles andere inklusive Unterstützung der Bundesregierung<br />
steht, und so kann alles Anfang 2015<br />
über die Bühne gehen“, sagt ein Insider. „Vielleicht<br />
sogar schon Ende dieses Jahres.“ Rheinmetall und<br />
ThyssenKrupp wollten sich dazu nicht äußern.<br />
Beim Kauf drängt ThyssenKrupp laut Insidern<br />
wegen der soliden TKMS-Gewinne auf einen<br />
hohen Preis. Rheinmetall hingegen hoffe, dass die<br />
Verluste im Stahlgeschäft Thyssen-Chef Heinrich<br />
Hiesinger Rabatte abnötigen. „Aber derzeit liegen<br />
die Partner nur rund 100 Millionen auseinander“,<br />
so ein Kenner des Verhandlungsstandes. Weil<br />
Rheinmetall derzeit nicht im Militärschiffbau aktiv<br />
ist, könnte sich der Konzern beim Kauf von TKMS<br />
mit einem Technologiepartner zusammentun. Dieser<br />
erhielte dann am Marine-Geschäft einen Anteil<br />
von deutlich weniger als 50 Prozent. Als Favorit<br />
gilt die Bremer Fr. Lürssen Werft, die neben Luxusyachten<br />
auch Marineschiffe baut.<br />
Darum erwarten Unternehmenskenner, dass der<br />
Zukauf von ThyssenKrupp erst der Auftakt zu einem<br />
Umbau des deutschen Marine-Sektors ist. So<br />
interessiert sich Rheinmetall dem Vernehmen nach<br />
auch dafür, das Bremer Unternehmen Atlas Elektronik<br />
zu kaufen, ein Spezialist für U-Boot-Sonarsysteme<br />
und Tauchroboter. Gut die Hälfte der Atlas-<br />
Anteile bekäme Rheinmetall mit dem Erwerb von<br />
TKMS. Und der Flugzeugbauer Airbus hat schon<br />
angekündigt, dass er seinen Anteil von 49 Prozent<br />
abstoßen will. Mit der Atlas-Technik und dem Wissen<br />
über Flugdrohnen stiege Rheinmetall zu einem<br />
der Marktführer im Zukunftsfeld der unbemannten<br />
Rüstungsgüter auf.<br />
Finanziell ist Papperger vorbereitet. Rheinmetall<br />
besitzt gute Rücklagen und hat sich über ein<br />
Schuldscheindarlehen jüngst weitere 168 Millionen<br />
besorgt. „Und da die Konsolidierung ein Herzenswunsch<br />
von Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel ist,<br />
könnte es vielleicht sogar Gelder von der staatlichen<br />
KfW-Förderbank geben“, sagt ein Insider.<br />
ruediger.kiani-kress@wiwo.de<br />
Aufgerüstet<br />
Europas größte<br />
Waffenhersteller<br />
(in Milliarden Dollar)<br />
28,0<br />
16,5<br />
11,0<br />
10,9<br />
8,3<br />
6,1<br />
5,2<br />
4,6<br />
4,0<br />
3,4<br />
3,4<br />
3,0<br />
1,7<br />
1,1<br />
0,7<br />
1. BAE Systems<br />
2. Airbus Group<br />
3. Thales<br />
4. Finmeccanica<br />
5. Almaz-Antey<br />
6. Rolls-Royce<br />
7. Rheinmetall*<br />
8. DCNS<br />
9. Safran<br />
10. Babcock Int.<br />
11. Russian Helicopters<br />
12. Rheinmetall<br />
.<br />
.<br />
53. ThyssenKrupp<br />
61. Krauss-M. Wegmann<br />
84. Diehl<br />
*nach der Übernahme von<br />
ThyssenKrupp, Atlas Elektronik,<br />
Angaben für 2013; Quelle: Defense<br />
News, Sipri, Unternehmen<br />
FOTOS: PHOTOTHEK/THOMAS TRUTSCHEL, BORIS WINKELMANN, DK IMAGES/DORLING KINDERSLEY<br />
8 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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BÜRGSCHAFTEN<br />
Hermes gut<br />
für Schäuble<br />
Die Vergabe von Bürgschaften<br />
und Garantien ist für Bundesfinanzminister<br />
Wolfgang<br />
Schäuble ein lukratives Geschäft.<br />
Zu dem Ergebnis kommt<br />
der Bundesrechnungshof in<br />
einem noch unveröffentlichten<br />
Bericht. Die Einnahmen aus<br />
der Inanspruchnahme von Gewährleistungen<br />
überstiegen<br />
demnach die <strong>Ausgabe</strong>n für Entschädigungsleistungen<br />
im Zeitraum<br />
von 1991 bis 2013 um 17,4<br />
Milliarden Euro. Das entspricht<br />
einem jährlichen Gewinn von<br />
durchschnittlich fast 800 Millionen<br />
Euro. Ein Großteil der Gewährleistungen<br />
besteht aus den<br />
sogenannten Hermes-Bürgschaften,<br />
mit denen der Bund<br />
Exportgeschäfte deutscher Unternehmen<br />
absichert.<br />
Insgesamt sieht Schäubles<br />
Etatentwurf für 2015 einen Gewährleistungsrahmen<br />
von 477<br />
Milliarden Euro vor, der aber<br />
nur zu schätzungsweise 75 Prozent<br />
ausgeschöpft werden dürfte.<br />
Nicht enthalten sind darin<br />
die Garantiezusagen Deutschlands<br />
im Zuge der Euro-Stützungsmaßnahmen,<br />
die sich laut<br />
Rechnungshof auf rund 310<br />
Milliarden Euro belaufen.<br />
christian.ramthun@wiwo.de | Berlin<br />
Aufgeschnappt<br />
Schutz vor Verschleiß Frankreich<br />
will das vorschnelle Altern<br />
von Elektrogeräten bestrafen.<br />
Geht etwa ein Toaster, Fön oder<br />
Smartphone kurz nach Ablauf<br />
der Garantie kaputt, drohen<br />
dem Hersteller zwei Jahre Haft<br />
sowie 300 000 Euro Strafe. Vorausgesetzt,<br />
ihm kann nachgewiesen<br />
werden, dass er absichtlich<br />
eine Sollbruchstelle<br />
eingebaut hat, damit sich der<br />
Kunde ein neues Gerät kaufen<br />
muss. Die Nationalversammlung<br />
in Paris hat dem Vorhaben<br />
schon zugestimmt.<br />
Tesla-Taxis Wer einmal in den<br />
Elektrowagen von Tesla fahren<br />
möchte, kann dies am Amsterdamer<br />
Flughafen tun. Für die Taxiflotte<br />
dort wurden 167 Exemplare<br />
des Model S angeschafft.<br />
Sie sollen die Emissionen am<br />
Airport reduzieren. Im Vorjahr<br />
hatten die Holländer schon 35<br />
Elektrobusse von BYD geordert.<br />
DPD<br />
Kampf um Amazon-Pakete<br />
Erwartet schnellen Aufstieg DPD-Deutschland-Chef Winkelmann<br />
Der 15. Dezember 2013 geht in<br />
die Firmengeschichte ein: 4,6<br />
Millionen Bestellungen trafen<br />
an dem Tag beim deutschen<br />
Ableger des US-Internet-Händlers<br />
Amazon ein, 53 pro Sekunde.<br />
Rekord. Und alle Produkte<br />
verschickt Amazon per Pakete.<br />
Für Paketdienste ein lohnendes<br />
Geschäft, das sich bisher vor allem<br />
die Deutsche Post DHL und<br />
Hermes teilen, pikanterweise<br />
eine Tochter der Hamburger<br />
Versandgruppe Otto. Doch jetzt<br />
bekommen sie Konkurrenz.<br />
Von sofort an liefert auch der<br />
Paketdienst DPD Amazon-<br />
Pakete aus - deutschlandweit<br />
an Premiumkunden.<br />
Neben Amazon konnte<br />
DPD-Deutschland-Chef Boris<br />
Winkelmann zuvor schon die<br />
Online-Händler JustFab.com,<br />
Asos und Home24 als Auftraggeber<br />
gewinnen. „Wir erhoffen,<br />
dass wir durch unsere neuen<br />
Kunden im nächsten Jahr ein<br />
zweistelliges Wachstum<br />
erreichen und damit wieder<br />
schneller wachsen als der<br />
Gesamtmarkt für Pakete“, sagt<br />
Winkelmann. Derzeit kommt<br />
das Aschaffenburger Unternehmen<br />
im deutschen Geschäft mit<br />
Privatkunden nach eigenen Angaben<br />
auf einen Marktanteil<br />
von sieben Prozent.<br />
„Amazon ist mit seiner Größe<br />
ein systemrelevanter Kunde,<br />
das ist ein wichtiges Signal für<br />
den Markt“, sagt Christian Kille,<br />
Logistik-Professor an der Hochschule<br />
Würzburg.<br />
jacqueline.goebel@wiwo.de<br />
+4<br />
+2<br />
0<br />
+4,20<br />
TANKSTELLE<br />
Auftanken am Abend<br />
So schwanken die Benzinpreise im Verlauf eines Tages<br />
(Abweichung <strong>vom</strong> Mittelwert in Cent)*<br />
–2<br />
–4<br />
–4,99<br />
* Untersuchungszeitraum 1.10.2013 bis 30.9.2014 für Super E10; Quelle: ADAC<br />
WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 9<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
PEUGEOT<br />
Gewinn ist<br />
nicht alles<br />
Peugeot Deutschland wird die<br />
Absatzziele 2014 deutlich verfehlen.<br />
Statt wie geplant 76 000<br />
Pkws wird die französische<br />
Marke hier voraussichtlich<br />
nur etwa 54 000 Autos absetzen,<br />
kündigte Geschäftsführer<br />
Marcel de Rycker an. Obwohl<br />
de Rycker der Konzernleitung<br />
in Paris zum Trost für<br />
die enttäuschenden Verkaufszahlen<br />
einen „sehr beeindruckenden<br />
Betrag“ als Gewinn<br />
versprach („Auch dieses Jahr<br />
werde ich abliefern, was im<br />
Budget vorgesehen war.“),<br />
setzte Konzernchef Carlos<br />
Tavares den 52-jährigen Franzosen<br />
ab. Nachfolger wird<br />
Alberic Chopelin.<br />
Zum Verhängnis wurde de<br />
Rycker, dass die Schwestermarke<br />
Citroën die schwierigen<br />
Rahmenbedingungen<br />
besser meisterte und in<br />
Deutschland den Absatz bis<br />
Ende September um fast sechs<br />
Prozent steigerte. Peugeot<br />
hingegen konzentrierte sich<br />
Ende einer Dienstfahrt<br />
Peugeot-Manager de Rycker<br />
auf rentables Geschäft und<br />
nahm Verluste an Marktanteilen<br />
hin. De Rycker: „Wir sind<br />
aus den Tageszulassungen<br />
raus, haben uns aus dem Mietwagengeschäft<br />
zurückgezogen<br />
und Rahmenabkommen<br />
mit Verbänden gekündigt. Wir<br />
sind auf dem richtigen Weg.“<br />
Eine klare Fehleinschätzung.<br />
franz.rother@wiwo.de<br />
Das Interview auf wiwo.de<br />
INTERVIEW Jochen Moninger<br />
»Es drohen enorme<br />
soziale Spannungen«<br />
Der Leiter der Welthungerhilfe in Sierra Leone<br />
befürchtet den wirtschaftlichen Ruin des Landes,<br />
das vor Ebola im Aufschwung war.<br />
Herr Moninger, Sie arbeiten<br />
seit 2010 für die Welthungerhilfe<br />
in Sierra Leone. Mehr als<br />
1200 Menschen sind schon<br />
an Ebola gestorben. Wann wird<br />
die Epidemie gestoppt?<br />
Die Lage ist dramatisch. Es gibt<br />
jeden Tag 40 bis 50 neue Ebola-<br />
Fälle. Wir müssen uns darauf<br />
einstellen, dass die Zahl der<br />
Neuinfizierten bis Ende des Jahres<br />
auf 200 bis 300 pro Tag ansteigt.<br />
Neben der medizinischen<br />
Versorgung der Kranken ist es<br />
daher mindestens genauso<br />
wichtig, die Ansteckungsgefahr<br />
im Land einzudämmen. Wir arbeiten<br />
daher mit Hochdruck an<br />
einer besseren Infrastruktur<br />
und Logistik.<br />
Priorität hat die Aufgabe,<br />
die rund 9000<br />
Kontaktpersonen der<br />
Infizierten ausfindig<br />
zu machen. Aber auf<br />
dem Land gibt es<br />
kaum Telefone, die<br />
Transportmöglichkeiten sind<br />
schlecht.<br />
Wie wirkt sich Ebola auf die<br />
Wirtschaft aus?<br />
Zwischen 19 Uhr abends und 7<br />
Uhr morgens darf kein Motor-<br />
MEHR ZUM THEMA<br />
Weitere Infos, auch<br />
über das Engagement<br />
deutscher Unternehmen,<br />
auf Seite 54,<br />
auf wiwo.de/ebola<br />
und in der App.<br />
DER UNTERSTÜTZER<br />
Moninger, 35, leitet seit 2010<br />
das Aufbauprogramm der Welthungerhilfe<br />
in Sierra Leone,<br />
zuvor war er im Sudan und im<br />
Jemen. Die Hilfsorganisation fördert<br />
355 Projekte in 40 Ländern.<br />
rad-Taxi mehr fahren. Kneipen<br />
müssen um 21 Uhr schließen.<br />
Auch der Handel innerhalb des<br />
Landes wurde eingeschränkt. Es<br />
gibt 13 Distrikte in Sierra Leone.<br />
Fünf davon befinden sich in<br />
Quarantäne. Außerdem hat die<br />
Regierung an jeder Distriktgrenze<br />
einen Checkpoint eingerichtet,<br />
der nur zwischen<br />
9 Uhr morgens und<br />
17 Uhr abends passiert<br />
werden darf. Die<br />
wirtschaftlichen Folgen<br />
sind dramatisch.<br />
Tagsüber dürfen die<br />
Bürger doch fahren?<br />
Normalerweise fahren<br />
Bauern aus dem Nordosten<br />
des Landes ihre Ernte nachts in<br />
die 200 Kilometer entfernte<br />
Hauptstadt Freetown. Diese<br />
Transportwege sind nun abgeschnitten.<br />
Sie müssen ihre Ware<br />
tagsüber transportieren. Aber in<br />
Sierra Leone gibt es keine Kühlketten.<br />
Die Ernte vergammelt,<br />
noch bevor sie in Freetown ankommt.<br />
Auch zusätzliche Übernachtungen<br />
können sich die<br />
Bauern nicht leisten. Der Handel<br />
bricht ein. Gerade jetzt, wo<br />
die Bauern ihre Haupternte einfahren,<br />
ist das eine Katastrophe.<br />
Die Mehrheit der Menschen arbeitet<br />
zudem als Tagelöhner.<br />
Die Leute schleppen am Morgen<br />
Zement und Sandsäcke und<br />
ernähren damit ihre Familien.<br />
Diese Bevölkerung leidet am<br />
meisten. In den Städten kann<br />
das bald zu Hungersnöten führen.<br />
Ebola wirft die Länder um<br />
Jahre zurück.<br />
War Sierra Leone denn vorher<br />
auf dem richtigen Weg?<br />
Die Länder Westafrikas hatten<br />
sich in den letzten Jahren gut<br />
entwickelt. Allein die Wirtschaft<br />
in Sierra Leone wuchs im vergangenen<br />
Jahr zweistellig, beispielsweise<br />
durch den Abbau<br />
von Eisenerz. Internationale<br />
Konzerne investierten in Zuckerplantagen<br />
und Palmölproduktion.<br />
Auch Hotels und der<br />
Bausektor konnten sich entwickeln.<br />
Nach Jahrzehnten des<br />
Bürgerkriegs gab es für die<br />
Menschen Hoffnung, dass es<br />
bergauf geht.<br />
Damit ist es nun vorbei?<br />
Ebola bringt das Land wieder<br />
auf das Nothilfeniveau. Als die<br />
deutsche Welthungerhilfe 2004<br />
ins Land kam, ging es um<br />
Flüchtlingsprobleme und den<br />
Aufbau einer Infrastruktur. In<br />
den letzten zwei bis drei Jahren<br />
haben sich bereits semiprofessionelle<br />
Wirtschaftsstrukturen<br />
entwickelt, zum Beispiel wie<br />
Betriebe ihren Kakao- und Kaffeeanbau<br />
effizienter machen.<br />
Selbst für erneuerbare Energien<br />
entwickelte sich ein Potenzial.<br />
Doch wegen Ebola sind die<br />
Schulen geschlossen. 1,6 Millionen<br />
Kinder und Jugendliche<br />
verlieren ein ganzes Schuljahr.<br />
Es drohen soziale Spannungen<br />
enormen Ausmaßes.<br />
christian.schlesiger@wiwo.de,<br />
florian willershausen<br />
FOTOS: CARO/SPIEGL, PR<br />
10 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
RESTRUKTURIERUNG<br />
SAP forciert<br />
Stellenabbau<br />
Der geplante Stellenabbau bei<br />
SAP in Deutschland geht in<br />
die entscheidende Phase: Seit<br />
Mitte Oktober führen SAP-<br />
Manager sogenannte „Kontaktgespräche“<br />
mit ausgewählten<br />
Mitarbeitern. Das Ziel sei, die<br />
Betroffenen zum freiwilligen<br />
Ausscheiden zu bewegen, heißt<br />
es aus Kreisen des Betriebsrats.<br />
SAP will rund 300 der knapp<br />
20 000 deutschen Arbeitsplätze<br />
abschaffen.<br />
Das ist Teil der Restrukturierung,<br />
die Konzernchef Bill<br />
McDermott verordnet hat. Er<br />
will SAP stärker auf das Cloud-<br />
Geschäft ausrichten.<br />
Dem Vernehmen nach sind<br />
in Deutschland vor allem Mitarbeiter<br />
in der Verwaltung betroffen;<br />
die Entwicklungsabteilung<br />
bleibt dagegen ausgenommen.<br />
Überproportional trifft es angeblich<br />
das Personalwesen sowie<br />
das Risikomanagement im<br />
Finanzbereich. „Es finden derzeit<br />
Gespräche mit Mitarbeitern<br />
statt, deren Aufgabenprofil in<br />
Zukunft nicht mehr weitergeführt<br />
wird“, teilt SAP auf Anfrage<br />
mit. Ob der Konzern Aufhebungsverträge<br />
anstrebt und um<br />
welche Bereiche es geht, will er<br />
nicht erläutern.<br />
michael.kroker@wiwo.de<br />
TOP-TERMINE VOM 27.10. BIS 02.11.<br />
27.10. Konjunktur Das ifo Institut präsentiert am Montag<br />
den Geschäftsklimaindex für Oktober; im September<br />
war er von 106,3 auf 104,7 Punkte gesunken.<br />
Das war der niedrigste Wert seit April 2013.<br />
28.10. Datenspeicherung Der Bundesgerichtshof entscheidet<br />
am Dienstag über die Speicherung von<br />
IP-Adressen. Der schleswig-holsteinische Landtagsabgeordnete<br />
Patrick Breyer von der Piratenpartei<br />
hat dagegen geklagt, dass die Bundesministerien<br />
von Nutzern ihrer Web-Seiten die<br />
IP-Adressen speichern.<br />
Steuerhinterziehung In Berlin konferieren die Finanzminister<br />
mehrerer Staaten zwei Tage lang<br />
über den automatischen Informationsaustausch in<br />
Steuersachen. Zum Abschluss unterzeichnen die<br />
Politiker ein Steuerabkommen.<br />
TUI Die Aktionäre des deutschen Reisekonzerns<br />
stimmen in einer außerordentlichen Hauptversammlung<br />
darüber ab, ob er mit dem britischen<br />
Touristikkonzern<br />
TUI Travel fusionieren<br />
darf.<br />
29.10. Geldpolitik Die US-Notenbank berät am Mittwoch<br />
über die Geldpolitik. Der Leitzins liegt auf einem<br />
historischen Tief von null bis 0,25 Prozent.<br />
30.10. Arbeitsmarkt Die Bundesagentur für Arbeit veröffentlicht<br />
am Donnerstag die neuen Arbeitslosenzahlen.<br />
Im September sank die Zahl der Erwerbslosen<br />
um 94 000 auf 2,8 Millionen. Die saisonbereinigte<br />
Quote beträgt 6,7 Prozent, in keinem<br />
anderen EU-Land ist sie so niedrig.<br />
31.10. EU-Wirtschaft Eurostat informiert am Freitag<br />
über die Entwicklung der Preise im Euro-Raum<br />
und über den Arbeitsmarkt in der EU.<br />
ONLINE-WERBUNG<br />
Verfolgung<br />
optimiert<br />
Egal, ob der Nutzer am Computer<br />
nach Hotels oder Handtaschen<br />
sucht, geht er kurz darauf<br />
auf andere Web-Seiten, ploppt<br />
dort Werbung für genau diese<br />
Produkte auf. Verantwortlich<br />
dafür ist oft Jean-Baptiste<br />
Rudelle, Chef und Gründer<br />
von Criteo. Das börsennotierte<br />
französische Unternehmen ist<br />
einer der Vorreiter und größten<br />
Anbieter für diese Technologie,<br />
genannt Re-Targeting.<br />
Auch wenn sich viele Nutzer<br />
dadurch überwacht fühlen,<br />
stieß die Technik bisher an<br />
Grenzen: Sie funktionierte nur<br />
an ein und demselben Computer.<br />
Doch künftig taucht Werbung<br />
für Hotels, die sich ein<br />
Nutzer zu Hause am PC angesehen<br />
hat, auch auf dessen<br />
Smartphone, Tablet oder Büro-<br />
Rechner auf. „Solche geräteübergreifende<br />
Werbung wird<br />
immer wichtiger“, sagt Eric<br />
BESTE FABRIK<br />
Polo aus<br />
Pamplona<br />
Eigentlich ist das malerische<br />
Städtchen im Nordosten<br />
Spaniens für seine Stierhatz<br />
bekannt – nun auch als Standort<br />
herausragender industrieller<br />
Produktion: Das Volkswagen-Werk<br />
in Pamplona ist<br />
Europas bestgeführte Fabrik.<br />
Ausgezeichnete Leistung VW-Werksleiter Busche<br />
Hier produziert der Autokonzern<br />
den Polo; die Produktivität<br />
der Mitarbeiter ist in den vergangenen<br />
Jahren um 30 Prozent<br />
gestiegen. „Management und<br />
Arbeiter haben trotz widriger<br />
Umstände die Produktivität<br />
deutlich erhöht“,<br />
begründete<br />
WHU-Professor<br />
und Jurymitglied<br />
Arnd<br />
Huchzermeier<br />
die Wahl auf<br />
der Preisverleihung in Weimar.<br />
Basis des Erfolgs: ein langfristiger<br />
Haustarifvertrag, der dem<br />
Werksleiter Cord Busche in Abstimmung<br />
mit den Gewerkschaften<br />
mehr Flexibilität beim Einsatz<br />
der Arbeiter beschert und<br />
den 4400 Mitarbeitern Beschäftigung<br />
und Inflationsausgleich<br />
garantiert. Ausgerichtet wird<br />
der Wettbewerb von der<br />
WirtschaftsWoche gemeinsam<br />
mit Business<br />
Schools wie der<br />
WHU und Insead.<br />
manfred.engeser@wi-<br />
Ihm entkommt kein Nutzer<br />
Criteo-Chef Rudelle<br />
Eichmann, der bei Criteo das<br />
Tagesgeschäft leitet. Die Technologie<br />
dafür stellen die Franzosen<br />
in Kürze ihren Werbekunden<br />
zur Verfügung. Das<br />
Unternehmen reagiert damit<br />
auch auf den jüngsten Vorstoß<br />
von Facebook, denn die Werbeplattform<br />
Atlas überwindet<br />
ebenfalls Gerätegrenzen.<br />
oliver.voss@wiwo.de<br />
FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/DPA, LAIF/REA<br />
12 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
CHEFSESSEL<br />
START-UP<br />
TOTAL<br />
Patrick Pouyanné, 51<br />
übernimmt nach dem Unfalltod<br />
von Christophe de<br />
Margerie, 63, die Führung<br />
des drittgrößten europäischen<br />
Ölkonzerns. Zunächst<br />
auf Bewährung: Anders als<br />
de Margerie rückt der bisherige<br />
Raffineriechef nur an die<br />
Spitze des Vorstands, übernimmt<br />
aber nicht zusätzlich<br />
den Vorsitz des Verwaltungsrats.<br />
Den lenkt bis Ende 2015<br />
der frühere Total-Präsident<br />
Thierry Desmarest, 68.<br />
Schwierig ist die Aufgabe für<br />
Pouyanné auch so. Die Raffinerien<br />
in Frankreich sind<br />
überdimensioniert. Einige<br />
riskante Explorationsbohrungen<br />
brachten nicht das<br />
erhoffte Ergebnis. Total reduziert<br />
deshalb Investitionen<br />
und Kosten. Gleichzeitig<br />
soll der neue Chef das Erbe<br />
de Margeries fortsetzen: 15<br />
Projekte von der Gasverflüssigung<br />
über die Förderung<br />
von Schiefergas bis hin zu<br />
Tiefwasserbohrungen.<br />
BASF<br />
Sanjeev Gandhi, 47, zieht<br />
zum 1. Dezember in den Vorstand<br />
des weltgrößten Chemiekonzerns<br />
ein. Der gebürtige<br />
Inder, der Abschlüsse in<br />
Chemie und Marketing vorweist,<br />
zeichnet dann <strong>vom</strong> 1.<br />
Mai an für das Asien-Geschäft<br />
von BASF verantwortlich. Dafür<br />
wird der bisherige Asien-<br />
Vorstand Martin Brudermüller,<br />
53, nach Ludwigshafen<br />
wechseln. Der Stellvertreter<br />
von Konzernchef Kurt Bock,<br />
56, kümmert sich nach der<br />
Hauptversammlung am 30.<br />
April kommenden Jahres vor<br />
allem um das Forschungsressort<br />
der BASF. Der bisherige<br />
Forschungschef Andreas Kreimeyer,<br />
59, tritt nach dem Aktionärstreffen<br />
seinen Ruhestand<br />
an. Kreimeyer war zwölf<br />
Jahre im BASF-Vorstand.<br />
REDCOON<br />
Martin Sinner, 47, Mitgründer<br />
des Preisvergleichsportals<br />
Idealo, wird am 1. November<br />
Chef des Online-Händlers, den<br />
Media-Saturn, Europas größter<br />
Elektronikfilialist, 2011 gekauft<br />
hat. Bisher leitet Georg W.<br />
Mehring, 48, Redcoon, er übernimmt<br />
bei Media-Saturn einen<br />
anderen Job. Sinner soll mit der<br />
eigens dafür eingerichteten<br />
Tochterfirma Electronics Online<br />
Group mehrere auf bestimmte<br />
Produkte spezialisierte Online-<br />
Shops aufbauen.<br />
SOMMERZEIT<br />
2200 Bürger<br />
nur haben bisher die Petition unterschrieben, die Bayerns Wirtschaftsministerin<br />
Ilse Aigner (CSU) im Frühjahr initiiert hatte: „Ja<br />
zur dauerhaften Sommerzeit“. Die halbjährliche Zeitumstellung<br />
verursache einen „Mini-Jetlag“, vor allem bei Kindern und Kühen,<br />
so Aigner damals. Jetzt will sie eine EU-Initiative starten.<br />
PAGIDO<br />
Schnelles Geld für Freiberufler<br />
Wochenlang hatte David Harnasch (Mitte) gewartet, bis seine<br />
Rechnungen bezahlt wurden. „Das ist nicht nur nervig, sondern<br />
im schlimmsten Fall sogar existenzbedrohend“, sagt der Journalist.<br />
Freischaffende kennen das Problem: Sie arbeiten stets auf<br />
Rechnung. Bis die beglichen ist, vergehen oft Wochen.<br />
Damit Selbstständige nicht in finanzielle Not geraten, hat Harnasch<br />
mit dem Ex-Banker Ulrik Deichsel (links) und dem IT-<br />
Berater Florian Höppner (rechts) das Start-up Pagido gegründet.<br />
Freiberufler können dort ihre Rechnung einreichen und erhalten<br />
binnen zwei Tagen 80 Prozent der Forderung. Die Berliner kümmern<br />
sich um die Korrespondenz mit dem Auftraggeber und die<br />
Abwicklung der Zahlung. Sobald die Rechnung beglichen wurde,<br />
bekommt der Freelancer weitere 15 Prozent, die restlichen fünf<br />
Prozent behält Pagido. Für dieses sogenannte Factoring kooperiert<br />
das Start-up mit Spezialisten wie CreFo Factoring Stuttgart,<br />
die für den Forderungsverkauf von der BaFin zugelassen sind.<br />
Die Nachfrage überrascht das Start-up, denn neben Journalisten<br />
oder Fotografen melden sich Headhunter, Pflegedienste und<br />
sogar Blumenhändler.<br />
Fakten zum Start<br />
Team derzeit 5 Mitarbeiter<br />
Finanzierung von Axel Springer<br />
Plug and Play, Uwe Horstmann<br />
(Project-A-Gründer) und Johannes<br />
von Borries 100 000 Euro<br />
Kunden bisher über 100 Nutzer<br />
„Es gibt einen viel höheren<br />
Bedarf unter Freelancern,<br />
als wir angenommen<br />
hatten“, sagt<br />
Harnasch. Ihr Angebot<br />
wollen sie nun schnellstmöglich<br />
auch für diese<br />
Branchen optimieren.<br />
marc etzold, mdw@wiwo.de<br />
FOTOS: MYOP DIFFUSION/ED ALCOCK, KEYSTONE/VOLKMAR SCHULZ<br />
14 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Menschen der Wirtschaft | Chefbüro<br />
Kai Wilhelm<br />
Chef des Modevertriebs K&W Holding<br />
Zwischen Tastentelefon und<br />
Ledertasche liegen Geschäftsbriefe,<br />
Modebroschüren und<br />
die neuesten Skizzen der Frühjahrskollektion.<br />
„Das Chaos<br />
hat System“, versichert Kai<br />
Wilhelm, 50, Gesellschafter<br />
und Chef des Modevertriebes<br />
K&W Holding und damit Herr<br />
über die Modemarken Kitaro,<br />
Barbara Becker, St. Moritz und<br />
Jacky Ickx. Den Überblick verliert<br />
der diplomierte Handelsfachwirt<br />
selten, denn das kreative<br />
Durcheinander beschränkt<br />
sich auf den Schreibtisch in seinem<br />
knapp 40 Quadratmeter<br />
großen Büro in Mönchengladbach.<br />
Unter dem Dach einer<br />
ehemaligen Weberei laufen<br />
die Fäden der Holding<br />
zusammen, die<br />
er 2013 in Düsseldorf<br />
gegründet hat und<br />
die heute etwa 40 Mitarbeiter<br />
beschäftigt.<br />
Rund 15 Millionen<br />
Euro setzte das Unternehmen<br />
2013 um. In<br />
diesem Jahr soll der<br />
360 Grad<br />
In unseren App-<br />
<strong>Ausgabe</strong>n finden<br />
Sie an dieser<br />
Stelle ein interaktives<br />
360°-Bild<br />
Umsatz noch einmal um bis zu<br />
drei Millionen Euro zulegen.<br />
Angestrebt werden in den kommenden<br />
fünf Jahren 100 Millionen<br />
Euro. Dabei hofft Wilhelm<br />
auch auf die junge Marke Barbara<br />
Becker, initiiert von der<br />
früheren Frau des ehemaligen<br />
Tennisidols Boris Becker, die<br />
inzwischen als Designerin arbeitet.<br />
Im nächsten<br />
Frühjahr will der gebürtige<br />
Düsseldorfer<br />
sein Angebot erneut<br />
erweitern. Dann<br />
offeriert er auch das<br />
neue Herren-Label<br />
John Bradley, allerdings<br />
exklusiv im<br />
Teleshop-Sender<br />
QVC. Unaufdringlich ist Wilhelms<br />
Büro ausstaffiert. Konferiert<br />
wird an einem langen<br />
Glastisch. An den Wänden hängen<br />
Plakate seiner Werbeträger,<br />
des ehemaligen belgischen<br />
Formel-1-Piloten Jacky Ickx<br />
und von Barbara Becker. Direkt<br />
hinter dem Schreibtisch lächelt<br />
das Konterfei von Marilyn<br />
Monroe. „Es ist leider kein Original“,<br />
sagt Wilhelm über den<br />
Kunstdruck des amerikanischen<br />
Pop-Art-Künstlers Roy<br />
Lichtenstein. Echt ist hingegen<br />
das Foto auf dem Schreibtisch.<br />
Es zeigt den Modemanager im<br />
Superman-Outfit an seinem<br />
50. Geburtstag.<br />
ulrich.groothuis@wiwo.de<br />
FOTO: DOMNIK PIETSCH FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
16 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Verrat an der Zukunft<br />
WIRTSCHAFTSPOLITIK | Die schwarze Null, die Bundeskanzlerin Angela Merkel<br />
so tapfer verteidigt, ist nicht „alternativlos“, Haushaltskonsolidierung<br />
und mehr Investitionen sind kein Widerspruch. Was fehlt, sind kluge Reformen<br />
und eine mutigere Politik.<br />
Der kleine silberne Würfel auf<br />
dem Arbeitstisch ist ein Beruhigungsmittel<br />
der besonderen<br />
Art. Wenn die Lage<br />
heikel wird, kann Angela<br />
Merkel ihn zur Hand nehmen, ihn drehen<br />
und wenden, wie sie es mit jedem<br />
Problem tut, während sie die richtige Lösung<br />
für ihre Zukunft und die des Landes<br />
sucht. Die sechs Seiten von Muttis kleinem<br />
Helfer sagen der Kanzlerin immer<br />
wieder, was sie nach neun Jahren an der<br />
Macht – und 15 weiteren auf dem Weg<br />
dorthin – längst verinnerlicht hat: „In –<br />
der – Ruhe – liegt – die – Kraft.“<br />
Ein Leitspruch, dem sich die mächtigste<br />
Frau Europas nicht nur selbst unterwirft.<br />
Im ganzen Land soll es ohne Aufwallungen<br />
laufen, denn das sichert ihre<br />
Regentschaft. Für die Wähler hat Kanzlerin<br />
Merkel Entspannendes zusammengewürfelt:<br />
Die Normalbürger bekommen<br />
Sozialleistungen, für Wirtschaftsinteressierte<br />
und Unternehmer stellt sie einen<br />
Bundeshaushalt ohne neue Schulden ins<br />
Schaufenster.<br />
Die schwarze Null ist das ökonomische<br />
Feigenblatt der Merkel’schen Politik: das<br />
Symbol für Solidität, Zukunftsvorsorge<br />
und wirtschaftliche Vernunft, das die<br />
Blöße im Koalitionsvertrag verdecken<br />
soll. Denn der garantiert vor allem die<br />
Auslieferung jener vermeintlichen Wohltaten,<br />
die Union und SPD im Wahlkampf<br />
versprochen hatten. Einen vergleichbaren<br />
Elan, Investitionen zu steigern und<br />
die Rahmenbedingungen für Wachstum<br />
zu verbessern, legt Merkels Truppe dagegen<br />
nicht an den Tag. Machterhalt top,<br />
Wirtschaftspolitik flop.<br />
Die Wirtschaftsforschungsinstitute haben<br />
die Bundesregierung bereits als<br />
Wachstumsbremse ausgemacht. „Wir<br />
produzieren weniger, als eigentlich möglich<br />
wäre, und wir haben eine Investitionslücke.<br />
Das ist genau die Situation, in<br />
der der Staat einspringen müsste“, sagt<br />
Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen<br />
Instituts für Wirtschaftsforschung<br />
(DIW). „Nicht mit einem Konjunkturprogramm<br />
für ein, zwei Quartale, sondern<br />
mit staatlichen Investitionen – beispielsweise<br />
in Verkehrsprojekte – und<br />
mit Anreizen für mehr private Investitionen.<br />
Die Bundesregierung könnte hier 15<br />
bis 20 Milliarden Euro ausgeben, ohne<br />
die Schuldenbremse zu verletzen.“ Sein<br />
Fazit: „Da ist die schwarze Null ein fatales<br />
Signal für die deutschen Unternehmen<br />
und die europäischen Nachbarn.“<br />
Auch aus dem Ausland prasselt die<br />
Kritik massiv in die Pressemappen von<br />
Regierungssprecher Steffen Seibert.<br />
Merkels Mann fürs Beschwichtigen<br />
konnte dieser Tage in der Pariser „Libération“<br />
lesen, Deutschland könnte sich<br />
angesichts der Rezession und des „französischen<br />
Drucks“ von der Haushaltsdisziplin<br />
verabschieden. Die spanische „El<br />
País“ schimpft: „Die Politik der absoluten<br />
Sparsamkeit bringt die Euro-Zone an<br />
den Rand der wirtschaftlichen Stagnation<br />
– wenn nicht der Rezession. Aber diese<br />
Diagnose prallt an der deutschen Orthodoxie<br />
ganz einfach ab.“ Der „Economist“<br />
trommelt schon seit Monaten für<br />
ein deutsches Konjunkturprogramm:<br />
„Bauen Sie ein paar Brücken und Straßen,<br />
Frau Merkel“, forderte er von den<br />
„torkelnden Teflon-Teutonen“, die (endlich?)<br />
auch verwundbar sind. Für die<br />
Nachbarn ist die promovierte Physikerin<br />
Merkel eine Frau Dr. Seltsam, die es lernte,<br />
die schwarze Null zu lieben.<br />
Früher, während des Aufstiegs in der<br />
CDU, da hat sie sich noch über Anfeindungen<br />
geärgert. Wenn die Fraktionskollegen<br />
sie in biermutigen Männerrunden<br />
„Zonenwachtel“ schimpften. Das hat die<br />
Einsame damals verletzt, aber auch hart<br />
gemacht. Heute nimmt sie Attacken, die<br />
sie nicht verhindern kann, nur kühl zur<br />
Kenntnis: „Kann man halt nüscht machen.“<br />
Zeit verschwendet sie darauf nicht.<br />
Zumal die Angriffe innenpolitisch<br />
nützlich sind: Der Neid der Nachbarn<br />
lässt die Leistung der Kanzlerin heller<br />
strahlen, als sie ist – schließlich lebt<br />
Deutschland von der Substanz und den<br />
Erfolgen der Schröder-Reformen. Die<br />
bislang zelebrierte Standhaftigkeit verstärkt<br />
zudem noch den sedierenden<br />
Nimbus der Kanzlerin, bei Mutti Merkel<br />
sei schon alles in guten und sicheren<br />
»<br />
FOTO: MARC-STEFFEN UNGER<br />
18 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Politik der kleinen Schritte<br />
Unter dauernder Beobachtung<br />
wagt Bundeskanzlerin<br />
Angela Merkel keine<br />
durchgreifenden Reformen<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
INTERVIEW Michael Heise<br />
»Frankreich ist Vorbild«<br />
Der Chefvolkswirt der Allianz über Vor- und Nachteile öffentlich privater<br />
Partnerschaften (ÖPP) und den Wunsch garantierter Renditen.<br />
Herr Heise, dem Staat fehlt Geld für Zukunftsinvestitionen,<br />
Versicherungen wie<br />
die Allianz würden gerne in die Bresche<br />
springen. Was interessiert Sie an Investitionen<br />
in Tunnel und Brücken?<br />
Investitionen in Infrastrukturprojekte<br />
bieten für alle Beteiligten Vorteile: Die<br />
Gesellschaft profitiert von besserer Infrastruktur,<br />
die Wirtschaft <strong>vom</strong> Investitionsschub,<br />
der Steuerzahler von geringeren<br />
Staatsschulden. Unsere Kunden – für die<br />
wir das Geld anlegen – benötigen eine sichere<br />
und gute Rendite über längere<br />
Zeiträume von 20 bis 30 Jahren. Bis zu<br />
sechs Milliarden Euro kämen zusammen,<br />
wenn die Allianz den Anteil an Infrastrukturausgaben<br />
um nur einen Prozentpunkt<br />
erhöhen würde.<br />
Was finanzieren Sie am liebsten: Straßen,<br />
Schienen oder Schulen?<br />
Das ist nebensächlich. Wir investieren<br />
bevorzugt in Großprojekte, weil die<br />
Transaktionskosten, also die <strong>Ausgabe</strong>n<br />
zum Beispiel für Wirtschaftsprüfer und<br />
Anwälte, dort weniger ins Gewicht fallen.<br />
Interessant sind also der Aus- und<br />
Neubau von Straßen, Tunneln, Brücken<br />
und Flughäfen. Auch erneuerbare Energien<br />
sind spannend. Wir können uns<br />
vorstellen, noch stärker den Ausbau von<br />
Stromtrassen, Solarparks und Windrädern<br />
mitzufinanzieren.<br />
DER STRASSENBAUER<br />
Heise, 58, ist Chefökonom der Allianz<br />
Gruppe. Zuvor war er bei der DZ Bank und<br />
der DG Bank sowie Generalsekretär des<br />
Sachverständigenrates zur Begutachtung<br />
der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.<br />
Welche Rendite erwarten Sie bei ÖPP?<br />
Das hängt davon ab, wie viel Risiko wir<br />
übernehmen. Wenn die Erträge beim<br />
Autobahnausbau von der zukünftigen<br />
Anzahl der Kraftfahrzeuge abhängen,<br />
erwarten wir eine höhere Rendite, als<br />
wenn wir nur die Verfügbarkeit der Straße<br />
garantieren müssen. Die Spanne der<br />
Projekte ist groß. Auch über garantierte<br />
Renditen sollte man nachdenken.<br />
Berlin soll den roten Teppich ausrollen?<br />
Nein, darum geht es nicht. Aktuell sind<br />
die Renditen auf dem Kapitalmarkt gering.<br />
Eine Renditegarantie wäre ein Weg,<br />
um Kapital zu mobilisieren. Aber auch<br />
der Staat könnte profitieren, wenn die<br />
Rendite nach oben gedeckelt würde.<br />
Sehr hohe Renditen bei ÖPP könnten<br />
dann an den Steuerzahler zurückfließen.<br />
Der Staat kann sich billiger finanzieren.<br />
Das ist derzeit richtig, berücksichtigt<br />
aber nur einen kleinen Teil der Infrastrukturkosten.<br />
Man muss sehen, dass<br />
der Staat Risiken an private Investoren<br />
überträgt, etwa Planungsrisiken, Erstellung<br />
der Objekte und laufende Instandhaltung.<br />
Kritiker unterschätzen das.<br />
Denken Sie an den Flughafen BER. Die<br />
Milliardenkosten zahlt der Steuerzahler.<br />
Wie kann der Staat ÖPP stärken?<br />
Zunächst hilft eine sachliche Debatte<br />
über Vor- und Nachteile von solchen<br />
Projekten. Hier ist bereits einiges geschehen.<br />
Der Staat müsste auch über ÖPP-<br />
Projekte offener informieren. Zudem<br />
sollte er Genehmigungs- und Vergabeverfahren<br />
verschlanken und beschleunigen.<br />
Das hilft auch, Geld zu sparen.<br />
Hilft ein Blick ins Ausland?<br />
Ja. Frankreich ist Vorbild. Bei aller Kritik<br />
an der Wirtschaftspolitik: Die Verkehrsinfrastruktur<br />
ist beeindruckend. Frankreich<br />
hat etwa die Autobahnen überwiegend<br />
über ÖPP finanziert. Nach<br />
Konzessionslaufzeiten von 25 bis 35 Jahren<br />
fallen sie wieder in den öffentlichen<br />
Besitz zurück. Die Nutzung der Autobahnen<br />
ist möglicherweise etwas teurer,<br />
aber die Qualität ist besser.<br />
christian.schlesiger@wiwo.de | Berlin<br />
„Economist“:<br />
„Bauen Sie<br />
Brücken und<br />
Straßen, Frau<br />
Merkel“<br />
„Libération“:<br />
Deutschland<br />
verabschiedet sich<br />
unter Frankreichs<br />
Druck von der<br />
Haushaltsdisziplin<br />
»<br />
Händen. Der deutsche Michel schläft selig<br />
im Schatten der Raute.<br />
Ökonomisch und politisch ist ein Bundeshaushalt<br />
ohne neue Schulden richtig.<br />
Viel zu lange, seit 45 Jahren, hat Deutschland<br />
stets zusätzliche Kredite aufgenommen<br />
– ein gigantisches Konjunkturprogramm<br />
auf Pump. Seit Kurt Georg Kiesinger<br />
1969 – ebenfalls in einer großen Koalition –<br />
haben alle Kanzler einen Schuldenberg von<br />
zwei Billionen Euro aufgehäuft.<br />
Merkel hat ein Land, ein ganzes System<br />
pleitegehen sehen, das mehr konsumierte,<br />
als es produzierte. „Man muss doch infrage<br />
stellen, ob wir beständig weniger einnehmen<br />
können, als wir ausgeben“, zieht die Regierungschefin<br />
die verbale Schuldenbremse.<br />
Damit die Mahnung international wirkt,<br />
will Merkel die Null nicht aus der Hand geben.<br />
Auch wenn weder Grundgesetz noch<br />
Maastricht-Vertrag einen völligen Kreditverzicht<br />
vorschreiben. Allerdings verlangt der<br />
europäische Stabilitätspakt einen Schuldenstand<br />
von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts;<br />
derzeit liegt Deutschland bei rund<br />
77 Prozent. Vertragstreu wird auch die Bundesrepublik<br />
nur durch die Kombination von<br />
Sparsamkeit und Wachstum.<br />
Der Haushalt ohne neue Schulden ist in<br />
der Tat „alternativlos“ – Merkels Variante<br />
von Gerhard Schröders „basta“. Aber er ist<br />
kein Widerspruch zu mehr Investitionen.<br />
50 Milliarden Euro für zusätzliche Investitionen<br />
verlangte ausgerechnet der französische<br />
Wirtschaftsminister Emmanuel Macron<br />
von den Deutschen. Sein SPD-Kollege<br />
Sigmar Gabriel sagte nach dem Treffen,<br />
FOTO: ARGUM/THOMAS EINBERGER<br />
20 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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„Nouvel Observateur“<br />
Premier<br />
Valls drängt Kanzlerin<br />
Merkel zu<br />
mehr Investitionen<br />
„Libero“ Renzi<br />
zahlt nicht,<br />
Merkel stellt<br />
Strafzettel aus<br />
Deutschland habe „schon selbst festgestellt“,<br />
dass es den von der OECD angepeilten<br />
Investitionsanteil von 20 Prozent des<br />
Bruttoinlandsprodukts um etwa drei Punkte<br />
verfehlt. Diese „entsprechen ungefähr“ jenem<br />
50-Milliarden-Wunsch aus Paris.<br />
Es gibt ein ganzes Bündel von Möglichkeiten,<br />
Straßen zu flicken, das Internet flott<br />
zu machen, Schulen und Hochschulen zu<br />
verbessern – ohne schon wieder neue Kredite<br />
aufzunehmen. Mit Kreativität und wirtschaftlicher<br />
Planung – nicht Planwirtschaft<br />
– ließen sich Milliarden mobilisieren.<br />
Etliche stehen jedes Jahr im Etat – und<br />
fließen nicht ab. Im Schnitt rund zwei Milliarden<br />
Euro können die Ministerien gar<br />
nicht ausgeben, weil Planung oder Genehmigung<br />
stocken. Auch die Deutsche Bahn,<br />
immer noch in Staatsbesitz, parkt immer etwas<br />
Baugeld auf dem Abstellgleis – es fehlen<br />
die Ingenieure, die neue Trassen- oder<br />
Bahnhofsprojekte vorantreiben könnten.<br />
Zudem beweisen die Haushaltspolitiker<br />
im Parlament jedes Jahr, dass sich aus dem<br />
Plan des Finanzministers noch ein paar Milliarden<br />
herausstreichen lassen. Das reicht<br />
von Rüstungskäufen in dreistelliger Millionenhöhe,<br />
deren rechtfertigendes Bedrohungsszenario<br />
längst überholt ist, bis zu jener<br />
Million Euro an Gehaltszulagen, die die<br />
Rechnungsprüfer beim Deutsch-Französischen<br />
Jugendwerk monieren.<br />
Viel wichtiger freilich ist es, private Geldgeber<br />
für den Bau von Straßen, Schienen<br />
oder Brücken zu begeistern. Das scheitert<br />
meist noch an rechtlichen Unsicherheiten<br />
oder den Renditeerwartungen der Investoren<br />
(siehe Interview). Wegen deren Gewinn<br />
wird der Bau zunächst teurer – dafür aber<br />
liegt das Risiko nicht beim Staat, und er<br />
muss nicht die Verschuldung erhöhen.<br />
Seit Jahren hofft die Wirtschaft auf Steuererleichterungen<br />
für Forschung und Entwicklung.<br />
Einerseits sind da Mitnahmeeffekte<br />
garantiert, andererseits ist technische<br />
Innovation die zentrale Chance für den<br />
Standort Deutschland. Um zusätzliche Investitionen<br />
generell verlockender zu machen,<br />
könnte der Fiskus auch die steuersenkenden<br />
Abschreibungen erhöhen. Der sofortige<br />
Steuerrabatt kostet zwar Geld, refinanziert<br />
sich aber durch den Wachstumsimpuls<br />
zu großen Teilen selbst. Doch auch<br />
da sieht es mit der Bundesregierung düster<br />
aus. „Die degressive AfA dauerhaft, das ist<br />
jenseits dessen, was ich ihnen zusagen<br />
kann“, bremst Finanzminister Wolfgang<br />
Schäuble (CDU) zu große Erwartungen.<br />
Wobei das „dauerhaft“ zumindest einen<br />
kleinen Hoffnungsschimmer erlaubt.<br />
ÜBERHOLEN, OHNE EINZUHOLEN<br />
In Merkels Heimat DDR, Klein-Angela war<br />
gerade fünf Jahre alt, spotteten die Bürger<br />
über Walter Ulbrichts Parole „Überholen,<br />
ohne einzuholen“. Bei Merkel heißt es: beschleunigter<br />
Stillstand. Nichts anderes bot<br />
der nun schon achte Nationale IT-Gipfel der<br />
Bundesregierung. Gleich sechs Minister liefen<br />
hinter der Kanzlerin in Hamburg auf,<br />
um Fortschritt und Wachstum der Informationstechnik<br />
hierzulande zu beschwören.<br />
Leider ist das bislang so erfolgreich wie das<br />
Besprechen von Warzen.<br />
Seit der Premiere unter Merkel im Jahr<br />
2006 reden Politik und Wirtschaft über den<br />
Rückstand des ewig Gleichen: Das Netz<br />
muss schneller werden, die Signale müssen<br />
über Leitung oder Satellit noch im letzten<br />
Eifeldorf zu empfangen sein, es fehlen Programmierer<br />
und andere Fachkräfte. Viel<br />
Fortschritt ist nicht zu verzeichnen, von der<br />
Gestaltung des digitalen gesellschaftlichen<br />
Wandels ganz zu schweigen.<br />
Jetzt, wo die Wachstumsraten zusammenschrumpeln,<br />
müsste sie mit einer Reformagenda<br />
Aufbruchsstimmung erzeugen.<br />
Doch bei Angela Merkel gibt es nicht Opium<br />
fürs Volk, sondern Valium. Die Bürger sollen<br />
nicht berauscht sein von der Regierungspolitik,<br />
nur beruhigt.<br />
Merkel erntet gern die Früchte der Agenda<br />
2010, die Schröder den Jobverlust und ihr<br />
die Macht brachte. „Bei uns war die Arbeitsmarktreform<br />
auch nicht einfach durchzusetzen“,<br />
erinnerte sie beim „Cicero“-Foyergespräch.<br />
Doch sie leitet daraus nur eine<br />
»<br />
WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 21<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Mutti ist Rentners Liebling Konsum statt Zukunftsvorsorge prägt den Koalitionsvertrag<br />
»<br />
weitere Mahnung an die Nachbarn ab,<br />
nicht einen immerwährenden Auftrag für<br />
weitere Reformen an die eigene Adresse.<br />
Dabei müssten die gar nicht die schwarze<br />
Null gefährden. Der Kampf gegen den Paragrafendschungel<br />
ist so ein Wundermittel,<br />
das nichts kostet. „Wir haben versucht, Bürokratie<br />
abzubauen“, sagt Merkel. Doch Mühe<br />
allein genügt nicht. Der Normenkontrollrat<br />
bescheinigt der Koalition das Scheitern:<br />
Um satte 9,2 Milliarden Euro ist die Belastung<br />
der Wirtschaft binnen Jahresfrist gestiegen,<br />
haben Steuerzahlers Mess-Diener<br />
ermittelt. Hauptgrund: der Mindestlohn.<br />
Natürlich könnte die Koalition all jene<br />
Wohltaten wieder einkassieren oder zumindest<br />
auf Eis legen. Den flächendeckenden<br />
Mindestlohn, der in der Boomregion<br />
München genauso hoch sein muss wie im<br />
darbenden Mecklenburg. Die Rente mit 63,<br />
die einer kleinen Klientel erlaubt, vorzeitig<br />
ohne Abschläge in den Ruhestand zu gehen.<br />
Zielgenauer wäre es gewesen, die Erwerbsunfähigkeitsrente<br />
aufzubessern, um<br />
ausgebrannte Mitarbeiter auf das verdiente<br />
Altenteil zu entlassen. Stattdessen gehen<br />
gerade Mittelständlern gefährlich viele erfahrene<br />
Fachkräfte verloren. Begründet<br />
nicht Merkel die schwarze Null damit, sie<br />
sei „der beste Beitrag zur Generationengerechtigkeit“,<br />
weil „der Schuldenberg wenigstens<br />
nicht weiter wächst“? Die Rentenkasse<br />
bis zum Jahr 2030 nicht mit weiteren<br />
160 Milliarden Euro zu belasten schüfe<br />
mindestens so viel Zukunftsvertrauen.<br />
Nun kommt die Pflegezeit hinzu, die Mitarbeitern<br />
erlaubt, bis zu zehn Tage bezahlt<br />
dem Arbeitsplatz fernzubleiben, wenn sie<br />
sich um pflegebedürftige Angehörige kümmern.<br />
Die Kosten trägt zwar die Versicherung,<br />
sie fallen also erst indirekt zur Hälfte<br />
bei den Betrieben an. Aber das Organisationsproblem<br />
entsteht in jedem Büro, jeder<br />
Werkhalle, jeder Lieferkette.<br />
Einfaltspinsel aus der Union versuchten<br />
angesichts der sich abkühlenden Konjunktur<br />
nicht etwa, all die teuren Koalitionskompromisse<br />
und Wahlgeschenke infrage<br />
zu stellen – dazu fehlte offensichtlich der<br />
Mut. Ausgerechnet die Frauenquote attackierten<br />
sie, die ohne Zweifel einzelnen<br />
Großunternehmen Mühe bereitet, aber sicher<br />
nicht die Wettbewerbsfähigkeit der<br />
gesamten deutschen Wirtschaft behindert.<br />
Entsprechend energisch beschied Merkel<br />
die schwarzen Nullen: „Es ist so beschlossen,<br />
und nun wird es auch so gemacht!“<br />
Am Koalitionsvertrag wird grundsätzlich<br />
nicht gerüttelt.<br />
„ES WIRD GEMACHT“<br />
Volker Kauder, Merkels Mehrheitsmacher<br />
im Parlament, versprach nach all den gesteigerten<br />
Sozialausgaben: „Jetzt muss es<br />
aber damit auch gut sein.“ Aber das ist nur<br />
eine weitere Dosis aus Merkels Tranquilizer-Füllhorn.<br />
Denn Kauder sagt auch: „Was<br />
noch im Koalitionsvertrag steht, wird auch<br />
umgesetzt“. Nur noch weitere Lasten soll es<br />
nicht geben.<br />
Beschlossene Wohltaten zurückzunehmen<br />
kommt für Merkel nicht infrage. Hatte<br />
sie nicht Vorgänger Schröder angesichts<br />
des häufigen rot-grünen „Nachbesserns“<br />
als schlechten Gesetzeshandwerker vorgeführt?<br />
Entpuppte sich der Koalitionsvertrag<br />
als das, was er ist – als leichtfertiges Schönwetterkonstrukt<br />
–, machte dies vor allem<br />
Merkels Vertrauensvorsprung beim Wähler<br />
(„Sie kennen mich“) zunichte. Erst wenn<br />
Jobs massiv verloren gehen, wird sie die<br />
schwarze Null kippen. Denn steigende Arbeitslosenzahlen<br />
sind für den Machterhalt<br />
noch gefährlicher als steigende Schulden.<br />
Jetzt rächt sich, dass die Regierung nach<br />
der Wahl auf teure Umverteilung setzte,<br />
statt Reformen einzuleiten. Gegenwartskonsum<br />
statt Zukunftsvorsorge.<br />
Das große Prassen passt eigentlich gar<br />
nicht zum bescheidenen privaten Lebensstil<br />
der Kanzlerin, die auch heute noch gelegentlich<br />
selbst zum Einkauf im Ullrich-<br />
Supermarkt an der Wilhelmstraße auftaucht<br />
und sich amüsiert, wenn sie ihre<br />
Weltführerkollegen damit in Verwirrung<br />
stürzt, weil beispielsweise für den amerikanischen<br />
Präsidenten der ganze Laden geräumt<br />
wird. Erst neulich hat sie den chinesischen<br />
Ministerpräsidenten Li Keqiang an<br />
die vertraute Fleischtheke geführt.<br />
Aber Merkel hat bitter gelernt, dass man<br />
mit Reformen und Sparen die Deutschen<br />
nur verschrecken kann. Als sie nach dem<br />
Aufstieg an die Spitze der CDU erstmals<br />
Freiheit und Macht spüren konnte, da traute<br />
sich Merkel einen Aufstand der wirtschaftlichen<br />
Vernunft zu. Bierdeckel-Steuertarif,<br />
Gesundheitsprämie, Rentenreform<br />
– der Leipziger Parteitag 2003 entfachte<br />
Aufbruchsstimmung in der Union. So viel,<br />
dass der alte Kämpe Norbert Blüm („Die<br />
Rende is sischä“) gerade noch zwei Stimmen<br />
für seine Position bekam.<br />
Doch die Volkspartei erwachte jäh aus<br />
ihrem von Merkel befeuerten Reformrausch,<br />
als es bei der Wahl 2005 nicht für<br />
Schwarz-Gelb reichte. „Dieser Fehler passiert<br />
mir nicht noch einmal“, sagte Merkel<br />
damals. Wenn die Deutschen keine großen<br />
Schritte der Veränderung wollten, dann<br />
bekämen sie halt auch keine. Inzwischen<br />
regiert bereits das „Kabinett Merkel III“.<br />
Wer insgeheim in der CDU-Führung und<br />
vor allem auf dem Wirtschaftsflügel gedacht<br />
hatte, allzu spendable Versprechen<br />
ließen sich mit dem erhofften Koalitionspartner<br />
FDP wieder killen, sah sich ge- und<br />
enttäuscht. Denn in der großen Koalition<br />
sitzt sie mit einer SPD, deren Forderungen<br />
sie im Wahlkampf aus taktischen Gründen<br />
übernommenen hatte. Also konnten die<br />
Genossen noch draufsatteln. Merkel hatte<br />
die Wahl gewonnen, Gabriel die Koalitionsverhandlungen.<br />
25 Prozent waren auf<br />
einmal so viel wert wie 41.<br />
Angela Merkel machen Ziffern keine<br />
Angst. Ihre Doktorarbeit zur „Untersuchung<br />
des Mechanismus von Zerfallsreaktionen<br />
mit einfachem Bindungsbruch“<br />
könnte zwar auch eine politikwissenschaftliche<br />
Analyse von Regierungsbündnissen<br />
sein, befasste sich aber mit physikalischen<br />
Problemen. Es ist ein formelgetränkter<br />
Zahlenfriedhof.<br />
Politisch aber ist die schwarze Null das<br />
höchste der Merkel’schen Reformgefühle.<br />
Eine geliebte Null.<br />
n<br />
henning.krumrey@wiwo.de | Berlin<br />
FOTO: DDP IMAGES/DAPD/MICHAEL GOTTSCHALK<br />
22 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Schäubles Hydra<br />
STEUERN | Im Kampf gegen Steuertrickser feiert der Minister einen<br />
Etappensieg. Einschlägige Länder ändern ihr Geschäftsmodell.<br />
Unverbindliches Geplauder Finanzminister Lew und Schäuble<br />
US-Konzerne drücken globale<br />
Steuerlast<br />
Trotz eines höheren Steuersatzes im Inland zahlt der<br />
US-Softwarekonzern Oracle weltweit weniger Steuern<br />
als sein deutscher Konkurrent SAP<br />
Oracle,<br />
USA<br />
SAP,<br />
Deutschland<br />
Heimat-Steuersatz<br />
35,0 (Federal Tax)<br />
+ 8,8 (State Tax)<br />
= 43,8<br />
15,8 (KSt + Soli)<br />
+ 9,3 (GewSt)<br />
= 25,1<br />
Konzernsteuerquote*<br />
21–23<br />
26–28<br />
* in Prozent des Konzerngewinns; KSt: Körperschaftsteuer,<br />
GewSt: Gewerbesteuer; Konzernsteuerquoten der vergangenen<br />
Jahre; Quelle: Jones Day<br />
Eswerden Festtage für Bundesfinanzminister<br />
Wolfgang Schäuble: Rund<br />
100 Delegationen und 40 Minister<br />
aus aller Welt kommen zu der Berliner<br />
Weltsteuerkonferenz, die Anfang dieser<br />
Woche beginnt. Am Mittwoch wohnen sie<br />
einer Zeremonie bei, in der sich 46 Länder<br />
verpflichten, steuerliche Informationen<br />
über ihre Bürger künftig untereinander<br />
auszutauschen. Dazu gehören auch Steueroasen<br />
wie Luxemburg und Liechtenstein.<br />
Nur die Schweiz ziert sich noch.<br />
Dennoch lastet ein Schatten auf der<br />
Weltsteuerkonferenz, der die Erfolge im<br />
Kampf gegen Steuerbetrüger relativiert.<br />
Denn im mittlerweile viel wichtigeren<br />
Kampf gegen die aggressive Steuergestaltung<br />
internationaler Konzerne kommt die<br />
Staatengemeinschaft nicht <strong>vom</strong> Fleck.<br />
Deshalb treffen sich die Finanzminister<br />
von Deutschland, Frankreich, Großbritannien,<br />
Italien und Spanien am Mittwochmittag<br />
extra in einer G5-Runde, um über<br />
den Fortgang des Steuerunwesens innerhalb<br />
Europas zu sprechen.<br />
Vor allem Schäuble (CDU) sieht Redebedarf.<br />
Kaum hat sich die Staatengemeinschaft<br />
darauf verständigt, die schlimmsten<br />
Steuerschlupflöcher zu stopfen, da arbeiten<br />
einige Regierungen unverfroren an<br />
neuen Sonderangeboten für Unternehmen.<br />
Und die USA, mit deren Finanzminister<br />
Jacob Lew sich Schäuble stets freundlich<br />
unterhält, haben kein Problem damit,<br />
dass Unternehmen wie Apple, Google oder<br />
General Electric inzwischen Gewinne von<br />
mehr als zwei Billionen Dollar quasi steuerfrei<br />
vor der Küste von Florida bunkern.<br />
Auch Irland ist ein Thema. Das berühmtberüchtigte<br />
Steuerschlupfloch „Double<br />
Irish“, das Unternehmen einen staatenlosen<br />
Status verschafft, wird demnächst abgeschafft.<br />
Natürlich nur auf Druck von außen,<br />
wie Irlands Finanzminister Michael<br />
Noonan einräumt: „Mittlerweile wurde<br />
uns das international um die Ohren gehauen.<br />
Ich wollte dafür sorgen, dass dies nicht<br />
länger unseren Ruf beschädigt.“ Stattdessen<br />
hält Noonan neue Goodies bereit.<br />
Den Einkommensteuersatz für Spitzenverdiener<br />
senkt Irland von 48 auf 36<br />
Prozent, was vor allem ausländischen<br />
Top-Managern zugutekommt. Noonans<br />
Wunderwaffe aber ist die angekündigte<br />
„Knowledge Development Box“. Dieses Instrument<br />
soll Gewinne aus Patenten und<br />
anderen Formen des geistigen Eigentums<br />
mit einem Steuersatz von angeblich nur<br />
noch 6,25 Prozent belegen. Das wäre die<br />
Hälfte der offiziellen Unternehmenssteuer,<br />
die mit 12,5 Prozent auch schon weniger<br />
als halb so hoch ist wie die in Deutschland.<br />
So will Noonan die mehr als 700 in Irland<br />
angesiedelten US-Multis bei Laune halten,<br />
die überwiegend im Internet-, High-Techoder<br />
Pharmasektor tätig sind. „Die geplante<br />
Knowledge Development Box wird bei<br />
der Sicherung wertvoller Investitionen ein<br />
großer Vorteil sein“, lobt denn auch die Präsidentin<br />
der American Chamber of Commerce<br />
in Dublin, Louise Phelan, die für<br />
PayPal arbeitet.<br />
Schäubles Kampf gegen die Steuertrickser<br />
gleicht dem gegen die Hydra. Für jeden<br />
abgeschlagenen Kopf wuchsen dem aus<br />
der griechischen Mythologie bekannten<br />
Ungeheuer zwei neue nach.<br />
INS LAGER DER GEGNER<br />
In Großbritannien sinkt unter der Ägide<br />
von Premierminister David Cameron der<br />
Unternehmenssteuersatz von 26 auf 20 Prozent.<br />
Doch damit nicht genug. Voriges Jahr<br />
ließ er eine Patentbox einrichten, in der die<br />
Gewinnbesteuerung bis 2017 schrittweise<br />
auf zehn Prozent schrumpft. Der Clou dabei<br />
ist:Im Extremfall reicht zum Beispiel ein<br />
neues Patent für ein Zündschloss aus, um<br />
den Gewinn aus dem Verkauf eines ganzen<br />
Autos in die Patentbox zu stecken. Für<br />
Schäuble ist das besonders ärgerlich, da<br />
sein britischer Amtskollege George Osborne<br />
vor zwei Jahren gemeinsam mit ihm den<br />
Kampf gegen den unfairen Steuerwettbewerb<br />
eröffnet hatte. Nun ist sein Mitstreiter<br />
ins Lager der Gegner gewechselt.<br />
Unerfreuliches hört Schäuble auch aus<br />
der Schweiz: Als Ersatz für das Bankgeheimnis<br />
suchen die Eidgenossen nach einem<br />
neuen Geschäftsmodell. Eine Gesetzesvorlage<br />
sieht nun vor, dass Unternehmen<br />
fiktive Zinsen auf ihr Eigenkapital berechnen<br />
und als Betriebsaufwand steuerlich<br />
absetzen können – ganz so, als hätten<br />
sie Kredite zu bedienen. Staaten wie Belgien<br />
und Italien praktizieren dies eben-<br />
»<br />
FOTO: DDP IMAGES/SIPA/REYNALDO PAGANELLI<br />
24 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
»<br />
falls. Das Finanzministerium in Berlin<br />
dagegen fürchtet Steuerausfälle in Milliardenhöhe<br />
und lehnt dies für Deutschland<br />
ab. Daneben setzen auch die Schweizer auf<br />
eine Steuersparbox, mit der sie Entwicklung<br />
und den Einsatz von geistigen Eigentumsrechten<br />
durch Schweizer Unternehmen<br />
begünstigen wollen, und zwar mit einem<br />
Steuersatz von ungefähr zehn Prozent.<br />
All die neuen Schlupflöcher machen es<br />
vor allem US-Konzernen leicht, außerhalb<br />
Amerikas erwirtschaftete Gewinne auch<br />
weiterhin zu Minimalsätzen zu versteuern.<br />
Das US-Softwareunternehmen Oracle beispielsweise<br />
führt nur durchschnittlich 22<br />
Prozent seines Konzerngewinns an den<br />
Fiskus ab, obwohl es an seinem Stammsitz<br />
in Kalifornien einem Steuersatz von fast 44<br />
Prozent unterliegt (siehe Tabelle Seite 24).<br />
Oracle verdeutlicht die Strategie der<br />
amerikanischen Finanzpolitik: Wer in den<br />
USA Geschäfte macht, soll dafür kräftig<br />
Steuern zahlen. Ihre Geschäfte im Rest der<br />
Welt sollen US-Unternehmen dagegen<br />
möglichst unbehelligt von den ausländischen<br />
Finanzämtern abwickeln. Deshalb<br />
hat die US-Regierung auch nicht eingegriffen,<br />
um den Double-Irish-Tricks ihrer Konzerne<br />
Einhalt zu gebieten. Im Gegenteil:<br />
Sie gewährt ihren Konzernen eine Steuerstundung<br />
(„Tax Holiday“), solange sie ihre<br />
Gewinne nicht repatriieren.<br />
PRALL GEFÜLLTE KRIEGSKASSEN<br />
„Ohne diese Sonderregelung wären die<br />
US-Konzerne weltweit kaum wettbewerbsfähig“,<br />
sagt Martin Bünning von der internationalen<br />
Anwaltskanzlei Jones Day. So<br />
aber verfügen Apple und Co. über prall gefüllte<br />
Kriegskassen, mit denen sie überall<br />
auf der Welt interessante Firmen aufkaufen<br />
können. „Die Amerikaner sind wenig motiviert,<br />
daran etwas zu ändern“, erklärt Bünning.<br />
Vor allem nicht die Republikaner.<br />
Dies sei doch „nur ein Versuch anderer<br />
Länder, amerikanische Steuerzahler stärker<br />
zu besteuern“, ätzt Senator Orrin Hatch<br />
aus dem Finanzausschuss im Kapitol.<br />
US-Finanzminister Lew verkämpft sich<br />
deshalb nicht an dieser Front. Zur Steuerkonferenz<br />
in Berlin reist er gar nicht erst an.<br />
Auch ein OECD-Parlamentariertreffen in<br />
Paris Anfang Oktober schwänzten die<br />
Amerikaner. Gut Ding braucht eben Weile,<br />
lautet ein Credo von Schäuble. Wer glaubte<br />
denn vor ein paar Jahren, dass sich Luxemburg<br />
zum automatischen Informationsaustausch<br />
von Steuerdaten verpflichtet? n<br />
christian.ramthun@wiwo.de | Berlin,<br />
yvonne esterhazy | London<br />
Man spricht Deutsch<br />
EUROPA | Die Zahl der Deutschen, die in den Europäischen Institutionen<br />
wichtige Ämter bekleiden, nimmt zu. Nicht zur Freude aller.<br />
Nun beginnen sie also doch noch<br />
pünktlich. Kaum jemand hatte in<br />
den vergangenen Monaten mehr<br />
damit gerechnet, dass der neue EU-Kommissionspräsident<br />
Jean-Claude Juncker<br />
und sein Team wie geplant am 1. November<br />
den Dienst antreten würden. Erst stritten<br />
sich die Mitgliedstaaten ums Brüsseler<br />
Spitzenpersonal, dann verlangte das Europäische<br />
Parlament (EP) Nachbesserungen.<br />
Am Schluss verständigte sich die neue große<br />
Koalition aus Christdemokraten und<br />
Sozialdemokraten im EP in einer Hauruck-<br />
Aktion dann doch noch auf das neue Personaltableau,<br />
um den fristgemäßen Start<br />
möglich zu machen.<br />
WICHTIGE POSITIONEN<br />
Pünktlichkeit passt zu dem Bild eines kraftvollen<br />
Neustarts, das Juncker gerne vermitteln<br />
möchte. Pünktlichkeit passt auch zu<br />
einer Kommission, die in mancher Hinsicht<br />
deutscher wird. An der Spitze wird<br />
Deutsch gesprochen, Deutsche haben<br />
wichtige Positionen inne. Damit verstärkt<br />
sich ein Trend, der sich schon in den vergangenen<br />
Jahren abzeichnete. Deutsche<br />
erklimmen in den Brüsseler Institutionen<br />
mehr und mehr Schlüsselstellen. Das<br />
nährt bei anderen Nationen bereits die<br />
Angst vor einer deutschen Übermacht, was<br />
Mehr Deutsche auf Spitzenposten<br />
Kommissionsgebäude in Brüssel<br />
ziemlich übertrieben ist. Als Sachverwalter<br />
deutscher Interessen gerieren sich Deutsche<br />
in Brüssel eher selten, es sei denn, es<br />
gehört ausdrücklich zu ihrer Arbeitsbeschreibung.<br />
Aber allein das Vorrücken der deutschen<br />
Sprache weckt bei anderen Befürchtungen,<br />
der größte Mitgliedstaat könnte zu mächtig<br />
werden. Der künftige EU-Ratspräsident<br />
Donald Tusk, bisher polnischer Ministerpräsident,<br />
spricht besser Deutsch als Englisch.<br />
Als Luxemburger spricht Jean-<br />
Claude Juncker genauso gut Deutsch wie<br />
Französisch, und sein Stellvertreter, der<br />
Niederländer Frans Timmermans, bildet<br />
nicht nur auf Hochdeutsch ebenso komplexe<br />
wie korrekte Sätze. Mit dem Präsidenten<br />
des Europäischen Parlaments,<br />
Martin Schulz, kann er sich auf Platt unterhalten,<br />
beide stammen aus der Region Aachen-Maastricht.<br />
Hinzu kommt, dass die Bundesregierung<br />
sich in den vergangenen Jahren stärker um<br />
die Brüsseler Personalpolitik gekümmert<br />
hat. Seit das Auswärtige Amt Vorbereitungskurse<br />
für den Auswahltest der EU-<br />
Kommission veranstaltet, reüssieren mehr<br />
deutsche Bewerber. Die Briten, die lange<br />
FOTO: EPD-BILD/JOKER/ALEXANDER STEIN<br />
26 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Zeit eigene Leute geschickt in den Institutionen<br />
installiert haben, merken gleichzeitig,<br />
dass ihnen der Nachwuchs ausgeht.<br />
Die wachsende Euro-Skepsis lässt viele<br />
junge Talente von der Insel vor einer Karriere<br />
in der EU zurückschrecken, der Großbritannien<br />
vielleicht gar nicht mehr lange<br />
angehört.<br />
Schon vor drei Jahren gelang es Bundeskanzlerin<br />
Angela Merkel, ihren Berater<br />
Uwe Corsepius an die Spitze des Europäischen<br />
Rats zu platzieren. Mit Klaus Regling<br />
als Chef des Rettungsschirms ESM und<br />
Werner Hoyer als Chef der Europäischen<br />
Investitionsbank stehen auch in Luxemburg<br />
zwei Landsleute wichtigen Einrichtungen<br />
vor. Jeder weitere Deutsche an exponierter<br />
Stelle löst nun international Aufmerksamkeit<br />
aus.<br />
Jüngstes Beispiel ist Martin Selmayr, der<br />
als Junckers Kabinettschef in den kommenden<br />
fünf Jahren dessen wichtigster Berater<br />
sein wird. Dabei wird gerne übersehen,<br />
dass er nicht auf Berliner Intervention<br />
an seinen einflussreichen Posten kam,<br />
sondern über seine Luxemburger Verbindungen.<br />
Zuvor hatte er ein Jahrzehnt für<br />
die Luxemburger Kommissarin Viviane<br />
Reding gearbeitet. Als Juncker im Frühjahr<br />
einen Wahlkampfleiter suchte, weil die Europäische<br />
Volkspartei, die Dachorganisation<br />
der konservativen Parteien, die Kampagne<br />
verschlafen hatte, sprang Selmayr<br />
kurzfristig ein und tourte mit dem Spitzenkandidaten<br />
kreuz und quer durch Europa.<br />
REVOLUTIONÄRE HANDSCHRIFT<br />
Da zeichnete sich schon ab, dass er bei einem<br />
Wahlsieg der starke Mann hinter Juncker<br />
werden würde. Selmayrs Einfluss lässt<br />
sich bereits vor dem Amtsantritt der neuen<br />
Truppe ablesen. Ein für Brüsseler Verhältnisse<br />
geradezu revolutionäres Organigramm,<br />
das seine Handschrift trägt, soll<br />
das alte Ressort-Denken aufbrechen. Bemerkenswert<br />
ist die neue Organisation<br />
auch, weil die neuen Vizepräsidenten allesamt<br />
aus kleinen Ländern kommen.<br />
In vielen Punkten denkt Selmayr europäischer,<br />
als es der Bundesregierung lieb<br />
ist. Und Juncker hat eine soziale Neigung,<br />
die der Kanzlerin abgeht. So ist jetzt schon<br />
abzusehen, dass es auch in Zukunft das ein<br />
oder andere Mal zwischen Berlin und<br />
Brüssel krachen wird. Nur weil Botschaften<br />
auf Deutsch kommen, sind sie nicht automatisch<br />
willkommen.<br />
n<br />
silke.wettach@wiwo.de | Brüssel<br />
Lesen Sie weiter auf Seite 28 »<br />
WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 27<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Martin Selmayr, 43<br />
Günther Oettinger, 61<br />
Renate Nikolay, 47<br />
Kabinettschef<br />
Mit seinem scharfen Verstand und<br />
seiner profunden Sachkenntnis eilt<br />
Martin Selmayr Gesprächspartnern<br />
gerne davon. Als engster Berater von<br />
Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker<br />
wird er die Agenda der Behörde prägen.<br />
In den vergangenen zehn Jahren war Selmayr<br />
erst Pressesprecher, dann Kabinettschef<br />
der luxemburgischen Kommissarin<br />
Viviane Reding. In dieser Funktion stieß er<br />
das Großprojekt der Roaming-Verordnung<br />
an und führte es auch zu Ende.<br />
Ganz entscheidend wird das Zusammenspiel<br />
zwischen dem Kopfmenschen<br />
Selmayr und dem Bauchmenschen Juncker<br />
sein. Selmayr argumentiert, sie würden<br />
sich ergänzen: „Juncker antwortet auf<br />
die Frage, wie lange wir uns schon kennen:<br />
Schon immer.“<br />
Auch wenn Selmayr den Kanzleramtschef<br />
Peter Altmaier (CDU) als „guten<br />
Freund“ bezeichnet, so eilt ihm in Berlin<br />
der Ruf voraus, europäische Interessen<br />
über deutsche zu stellen. Dem politischen<br />
Berlin gehörte er selbst nie an. Allerdings<br />
gab es über den Vater eine Verbindung in<br />
die Politik. Der diente dem Kanzleramtschef<br />
Karl Carstens, der später Bundespräsident<br />
wurde, Ende der Sechzigerjahre als<br />
persönlicher Referent.<br />
Der Einser-Abiturient Selmayr liebäugelte<br />
lange mit einer Karriere in der Wissenschaft.<br />
Seit 2001 ist er Direktor des Centrums<br />
für Europarecht der Universität Passau,<br />
wo er ebenso wie an der Universität<br />
Saarbrücken Vorlesungen zu Europarecht<br />
hält. Er reist mit dem Zug an, weil er zwar<br />
einen Führerschein hat, aber nicht Auto<br />
fährt. „Man muss wissen, was man gut<br />
kann und was nicht.“<br />
Kommissar<br />
Kabinettschefin<br />
Der Schwabe ist in Brüssel angekommen.<br />
Als Bundeskanzlerin Angela kolay wird eines der wichtigsten<br />
Über den Schreibtisch von Renate Ni-<br />
Merkel vor fünf Jahren ausgerechnet<br />
Gesetzesvorhaben der Junckervon<br />
den damaligen Ministerpräsidenten<br />
Baden-Württemberg als Kommissar<br />
nach Brüssel schickte, hatten sich viele gewundert.<br />
Doch Oettinger hat seine Kritiker<br />
seitdem eines Besseren belehrt. Als Energiekommissar<br />
schmiedete er bis zum letzten<br />
Moment an einem Kompromiss im<br />
Kommission gehen: Die neue EU-Datenschutzverordnung<br />
soll die völlig überkommenen<br />
Regeln aus dem Jahr 1995 ablösen<br />
und gleichzeitig in allen 28 EU-Ländern einen<br />
einheitlichen hohen Schutz bieten. Nikolay<br />
wird die wichtigste Beraterin der<br />
tschechischen Justizkommissarin Vera Jurová<br />
Gasstreit zwischen Russland und der<br />
sein. Sie weiß, dass noch viel Feinab-<br />
Ukraine. Dank seines ebenso bewunderten<br />
wie gefürchteten fotografischen Gedächtnisses<br />
arbeitete sich Oettinger schnell in<br />
die Details der Energiepolitik ein.<br />
Oettinger hält engen Kontakt zur Bundesregierung,<br />
jeden Montag nimmt er an<br />
den Sitzungen des CDU-Präsidiums teil. Er<br />
betont allerdings, dass er sich als Kommissar<br />
aus Deutschland sieht und nicht als<br />
deutscher Kommissar. Von Brüssel aus hat<br />
er immer wieder Fehlentwicklungen in<br />
Deutschland kritisiert, etwa die wachsende<br />
Technikfeindlichkeit oder die irrwitzige<br />
Förderung erneuerbarer Energien.<br />
Als Digitalkommissar wird Oettinger interessante<br />
Debatten mit der neuen Wettbewerbskommissarin<br />
stimmung notwendig ist, bis sich die Mitgliedstaaten<br />
bis Ende kommenden Jahres<br />
auf die neue Verordnung einigen. Eine<br />
Frist, die Bundeskanzlerin Angela Merkel<br />
ausdrücklich unterstützt. Ohne Deutschland<br />
mit seinem bisher sehr hohen Niveau<br />
an Datenschutz kann kein Konsens entstehen.<br />
Gleichzeitig hat Deutschland als Exportnation<br />
besonders großes Interesse an<br />
einem funktionierenden Datenschutz, der<br />
etwa den elektronischen Handel fördert.<br />
Da die Mitgliedstaaten noch nicht einmal<br />
die Hälfte des Pensums verhandelt haben,<br />
stehen harte Gespräche bevor. Mit der<br />
zähen Suche nach Kompromissen kennt<br />
sich Nikolay allerdings aus. Ihre Karriere<br />
Margrethe Vestager begann sie im Bundeswirtschaftsministeristimmung<br />
führen, etwa über die von ihm früh kritisierte<br />
Marktmacht von Google. Oettinger<br />
plädiert für eine Abkehr von der klassischen<br />
Wettbewerbspolitik hin zu einem<br />
strategischeren Ansatz: „Wir brauchen<br />
Weltmarktführer.“ Seine Wissenslücke in<br />
Sachen Digitales gibt Oettinger offen zu:<br />
„Mein 16-jähriger Sohn ist mein bester<br />
Lehrer.“ An den EU-Arbeitsalltag hat er sich<br />
allerdings gewöhnt: „Ich fühle mich hier<br />
um als persönliche Referentin von Staatssekretär<br />
Alfred Tacke, damals G8-Sherpa<br />
von Bundeskanzler Gerhard Schröder. Aus<br />
privaten Gründen wechselte sie 2002 nach<br />
Brüssel, zunächst in die Ständige Vertretung<br />
Deutschlands, dann in die Generaldirektion<br />
Handel der Kommission. Die<br />
Mutter von zwölfjährigen Zwillingen arbeitete<br />
in den Kabinetten der britischen Kommissare<br />
Peter Mandelson und Catherine<br />
sehr wohl, weil die Dichte an roten Teppichen<br />
deutlich geringer als in Stuttgart ist.“ der EU mit Südkorea beteiligt war.<br />
Ashton, wo sie am Freihandelsabkommen<br />
»<br />
FOTOS: PR (2), LAIF/JOCK FISTICK<br />
28 Redaktion: silke.wettach@wiwo.de | Brüssel<br />
Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Martin Schulz, 58<br />
Manfred Weber, 42<br />
Uwe Corsepius, 54<br />
Präsident<br />
Fraktionschef<br />
Generalsekretär<br />
Sein persönliches Ziel hat er verfehlt,<br />
ein Platz im Geschichtsbuch ist ihm<br />
trotzdem sicher. Martin Schulz hat es<br />
nach der Europawahl im Mai nicht wie von<br />
ihm geplant geschafft, als Präsident an die<br />
Spitze der neuen EU-Kommission zu treten.<br />
Aber dem SPD-Politiker, der dem Europäischen<br />
Parlament seit 1994 angehört,<br />
ist es quasi im Alleingang gelungen, das<br />
Verfahren zur Besetzung dieses Postens<br />
neu zu gestalten. Bei der Wahl rief er sich<br />
zum Spitzenkandidaten für dieses Amt aus<br />
und versetzte so die Konservativen in Zugzwang.<br />
Bundeskanzlerin Angela Merkel<br />
hatte die Dynamik dieses Prozesses unterschätzt<br />
und auch nach der Wahl noch bestritten,<br />
dass dem Wahlsieger automatisch<br />
das Amt des Kommissionspräsidenten zustehe.<br />
Mittlerweile ist das deutsche Wort<br />
„Spitzenkandidat“ in den EU-Jargon eingegangen<br />
– und unvorstellbar, dass der<br />
nächste EU-Kommissionspräsident nicht<br />
direkt gewählt würde. Schulz erfüllt das<br />
sichtlich mit Stolz, wie sein Auftritt vergangene<br />
Woche in Straßburg belegte.<br />
Auch sein Plan B, als Junckers Stellvertreter<br />
in die Kommission zu wechseln, hat<br />
sich nicht erfüllt. Merkel traut ihm nicht<br />
und hielt an dem CDU-Politiker Günther<br />
Oettinger fest. So bleibt Schulz das Amt des<br />
Parlamentspräsidenten, das er bereits seit<br />
2012 innehat. Seine Vorgänger haben vor<br />
allem repräsentiert. Doch dabei wird es der<br />
Machtpolitiker, der sich stets für höhere<br />
Aufgaben berufen sieht, in den kommenden<br />
fünf Jahren mit Sicherheit nicht belassen.<br />
Der gelernte Buchhändler, der gerne<br />
über Literatur und über sich selbst redet,<br />
wird den Einfluss des Europäischen Parlaments<br />
ausbauen, wo er nur kann.<br />
Angenehmer Händedruck, gewinnendes<br />
Lächeln – Manfred Weber<br />
gehört zu jener Sorte Politiker, die<br />
gerne unter Menschen gehen. Er hätte in<br />
Bayern Karriere machen können, wo er<br />
von 2003 bis 2007 die Junge Union geleitet<br />
hat. 2004 tauschte er jedoch sein Landtagsmandat<br />
gegen einen Sitz im Europäischen<br />
Parlament (EP), zur Überraschung von<br />
vielen Parteifreunden. Dort arbeitete er<br />
sich zum Chef der größten Fraktion, der<br />
Europäischen Volkspartei (EVP), hoch.<br />
Der CSU-Politiker, studierter Ingenieur,<br />
will den Machtzuwachs nutzen, den der<br />
Vertrag von Lissabon dem Europäischen<br />
Parlament beschert hat. „Ich bin quasi der<br />
Fraktionsführer der größten Regierungsfraktion“,<br />
sagt Weber, ein Satz, der so früher<br />
in Brüssel nicht zu hören war.<br />
Mit der Kommission will er eng zusammenarbeiten<br />
und so eine große Koalition<br />
zwischen den Institutionen bauen. „Mein<br />
festes Ziel ist eine enge Abstimmung zwischen<br />
Kommission auf der einen und Europäischem<br />
Parlament auf der anderen<br />
Seite“, betont Weber. Künftig soll es regelmäßig<br />
Treffen des Kommissionspräsidenten<br />
Jean-Claude Juncker, seinem sozialdemokratischen<br />
Vize Frans Timmermans mit<br />
Weber und dem sozialdemokratischen<br />
Fraktionsführer im EP, Gianni Pittella, geben<br />
– die Brüsseler Variante des Berliner<br />
Koalitionsausschusses. Sollte dies tatsächlich<br />
eintreten, würde das die Brüsseler Gepflogenheiten<br />
auf den Kopf stellen. Im EP<br />
herrscht kein Fraktionszwang, Abgeordnete<br />
haben sich bisher auch in ihrer Rolle als<br />
Korrektiv der Kommission gefallen. Enge<br />
Absprachen zwischen Kommission und<br />
Parlament wären ein Novum.<br />
Außerhalb des labyrinthischen Ratsgebäudes<br />
ist er in Brüssel nicht zu<br />
sehen und nicht zu hören. Uwe Corsepius,<br />
von 2006 bis 2011 Leiter der Europa-Abteilung<br />
im Bundeskanzleramt und<br />
enger Vertrauter von Bundeskanzlerin Angela<br />
Merkel, scheut die Öffentlichkeit. Ein<br />
wenig passt das zum Stil des verschwiegendsten<br />
der EU-Organe. Der Rat, die Institution<br />
der 28 Mitgliedstaaten, die im Gesetzgebungsprozess<br />
das letzte Wort hat, arbeitet<br />
meist im Geheimen. Die mühsame<br />
Suche nach politischen Kompromissen<br />
verträgt keine Öffentlichkeit.<br />
In Brüssel eilt dem promovierten Ökonomen<br />
Corsepius der Ruf voraus, seit seiner<br />
Ankunft vor drei Jahren in der<br />
3500-Mitarbeiter-Behörde „aufgeräumt“<br />
zu haben. Altgediente Beamte mussten rotieren,<br />
Erbhöfe wurden abgeschafft. An die<br />
Machtfülle seines Vorgängers Pierre de<br />
Boissieu, der sich über ein Jahrzehnt auf<br />
dem Posten hielt, kommt er nicht heran;<br />
auch weil der Rat seit 2009 mit dem Ratspräsidenten<br />
einen politischen Chef hat, der<br />
ab 1. Dezember Donald Tusk heißen wird.<br />
Eine wichtige Rolle kommt dem gebürtigen<br />
Berliner Corsepius dennoch zu. Er bereitet<br />
die EU-Gipfel vor, ist mit im Raum, wenn<br />
die Staats- und Regierungschefs zusammenkommen.<br />
Die französische Wirtschaftszeitung<br />
„La Tribune“ sah die Berufung<br />
von Corsepius als ein Indiz dafür, dass<br />
„die Deutschen zur Invasion der EU-Institutionen<br />
ansetzen“. Die Schlagzeile führt<br />
allerdings in die Irre: Corsepius liegt es<br />
fern, Berliner Interessen in Brüssel durchzusetzen.<br />
An seinem internen Auftritt hat<br />
er offenbar gefeilt. Seine deutsche Direktheit<br />
habe er abgelegt, heißt es in Brüssel.<br />
FOTOS: ACTION PRESS/HARTMUT MÜLLER-STAUFFENBERG, HORST WAGNER, MARC-STEFFEN UNGER, LAIF/ZURITA/DEPABLO<br />
30 Redaktion: silke.wettach@wiwo.de | Brüssel<br />
Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Reinhard Silberberg, 61<br />
Botschafter<br />
Die Haare sind gestutzt, zum Rauchen<br />
geht er hinunter ins Rauchereck.<br />
Reinhard Silberberg, Hausherr in der<br />
Ständigen Vertretung Deutschlands bei der<br />
EU, kennt den europäischen Betrieb noch<br />
aus einer Epoche, als bei Gipfeln gepafft<br />
wurde wie in einem Altherrenklub. Zu seiner<br />
Zeit als Berater von Bundeskanzler Gerhard<br />
Schröder pflegte der für seine Silbermähne<br />
bekannte Diplomat zu scherzen, jedes Mal,<br />
wenn er vor dem Gipfel zum Friseur gehe,<br />
nähmen die Treffen kein gutes Ende.<br />
Seit September ist er nun wieder in der<br />
EU-Hauptstadt, Außenminister Frank-<br />
Walter Steinmeier, dem er als Staatssekretär<br />
diente, wünschte sich einen Vollprofi<br />
für die Vertretung deutscher Interessen. Im<br />
Auswärtigen Amt gibt es wohl niemanden,<br />
der die EU so gut kennt wie Silberberg.<br />
Mehr als 70 EU-Gipfel hat er mitgemacht,<br />
seit Anfang der Neunzigerjahre beschäftigt<br />
er sich fast ununterbrochen mit<br />
der EU. Die vergangenen fünf Jahre verbrachte<br />
er als deutscher Botschafter in Madrid,<br />
auch dort musste er die oft als eisern<br />
wahrgenommene Anti-Krisen-Politik Berlins<br />
erklären.<br />
Als EU-Botschafter vertritt Silberberg<br />
nun die deutschen Interessen im wichtigen<br />
Ausschuss der Ständigen Vertreter (AStV).<br />
Dort bereiten die Diplomaten die Entscheidungen<br />
der Fachminister vor. „Man<br />
braucht als Vertreter Deutschlands kein<br />
Megafon, die Leute hören zu“, sagt Silberberg.<br />
„Häufig kommt es auf Deutschland<br />
an, wenn Kompromisslinien ausgelotet<br />
werden.“ Gleichzeitig verpflichtet die Größe<br />
Deutschland auch, auf andere, insbesondere<br />
kleinere Länder Rücksicht zu nehmen:<br />
„Es ist wichtig, ausgewogen zu agieren.“ n<br />
WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 31<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Bruch mit dem Alten<br />
RUMÄNIEN | Ein deutscher Bürgermeister aus den Karpaten will<br />
Staatspräsident in einem der ärmsten EU-Länder werden.<br />
Etwa 800 000 Deutsche lebten einst in<br />
der Region Siebenbürgen. Sie waren seit<br />
dem 12. Jahrhundert in mehreren Wellen<br />
eingewandert. Nach der Wende 1990<br />
machten sich Hunderttausende auf in die<br />
Heimat ihrer Vorfahren. Heute zählt die<br />
deutschstämmige Gemeinde nur noch<br />
rund 30 000 Angehörige; in Sibiu leben<br />
knapp 2000 Deutsche.<br />
Als die Bürger Johannis 2000 mit einem<br />
Ergebnis von gut 90 Prozent zum Bürgermeister<br />
wählten, war das eine Sensation,<br />
ein Bruch mit der jüngeren Vergangenheit,<br />
in der die Rumänen den Ton angegeben<br />
hatten. „Die Menschen hier hatten einfach<br />
die Nase voll“, erinnert sich Wiegand Fleischer,<br />
der in Sibiu den Deutschen Wirtschaftsclub<br />
leitet, „es gab keine Jobs und<br />
die Stadt war dabei zu verkommen.“<br />
Wenn Klaus Johannis sich von seinem<br />
Schreibtisch erhebt und ans<br />
Fenster des Rathauses tritt, blickt<br />
er auf eine Postkartenkulisse. Unter ihm erstreckt<br />
sich der weitläufige kopfsteingepflasterte<br />
Marktplatz von Sibiu. In der Mitte<br />
der Piata Mare, wie der zentrale Platz auf<br />
Rumänisch heißt, spielen Kinder am<br />
Springbrunnen. In den Fontänen brechen<br />
sich die Sonnenstrahlen und tauchen den<br />
Platz in malerisches Licht. Die Fassaden<br />
der Häuser am Rand sind in Pastelltönen<br />
gehalten. Dahinter haben sich Galerien,<br />
kleine Cafés und Jazzkneipen eingerichtet.<br />
Auch ein Museum, eine Buchhandlung<br />
und ein paar Boutiquen gibt es.<br />
Es ist ein fast surrealer Kontrast: Als Johannis<br />
vor 14 Jahren zum ersten Mal zum<br />
Bürgermeister von Sibiu gewählt wurde,<br />
glich die Stadt, die früher einmal Hermannstadt<br />
hieß, einer Ruinenlandschaft.<br />
Die Straßen waren keine Straßen, sondern<br />
Wege aus Lehm. Von den grau-schwarzen<br />
Fassaden bröckelte der Putz, Ziegelsteine<br />
brachen aus den Mauern und krachten auf<br />
die Wege – die Bürger der Karpatenstadt<br />
lebten gefährlich.<br />
Johannis, whiskeyweiches Timbre,<br />
spricht langsam und bedächtig. „Die ersten<br />
Monate war ich viel in Deutschland<br />
und Österreich“, erinnert er sich an den Beginn<br />
seiner Amtszeit. Die Arbeitslosigkeit<br />
Gute Chance auf den Sieg<br />
Wahlkämpfer Johannis in Bukarest<br />
war hoch, die Stadtkasse leer. Also lockte<br />
das frischgewählte Stadtoberhaupt internationale<br />
Unternehmen in die Stadt mit ihren<br />
gut 150 000 Einwohnern. Zahlreiche<br />
Mittelständler investierten, auch große<br />
Unternehmen wie Siemens und Continental<br />
kamen. „Die Restaurierung der Altstadt<br />
haben wir am Ende fast komplett aus unserer<br />
Kasse gezahlt“, sagt Johannis.<br />
Doch jetzt wird es dem deutschstämmigen<br />
Bürgermeister in Siebenbürgen zu eng.<br />
Am 2. November wählen die Rumänen einen<br />
neuen Staatspräsidenten, und Johannis,<br />
der als Kandidat der Liberaldemokraten<br />
antritt, hat gute Chancen auf den Sieg.<br />
In den Umfragen liegt er nur knapp hinter<br />
seinem schärfsten Konkurrenten, dem Sozialisten<br />
Viktor Ponta.<br />
Die Unternehmen<br />
nervt die<br />
Unberechenbarkeit<br />
der Politik<br />
OHNE SCHMIERGELDER<br />
Als die ersten deutschen Unternehmen ihre<br />
Abgesandten nach Sibiu schickten, verschenkte<br />
Johannis keine Zeit. Auf dem großen<br />
Tisch in seinem Büro breitete er eine<br />
Karte der Region aus und zeigte den Managern,<br />
welche Grundstücke die Stadt anbieten<br />
konnte. „Ruhig, ohne viele Worte und<br />
vor allem ohne Fragen nach den in Rumänien<br />
sonst üblichen Schmiergeldern“, erinnert<br />
sich einer, der dabei war.<br />
Heute hat der Deutsche Wirtschaftsclub<br />
Sibiu 180 Mitglieder. Im Kreis Siebenbürgen<br />
sind insgesamt geschätzt 500 deutsche<br />
Unternehmen aktiv. Der Autozulieferer<br />
Marquardt aus dem Schwarzwald etwa<br />
baut in der Karpatenstadt mit gut 2000 Mitarbeitern<br />
Schaltsysteme. Der Continental-<br />
Konzern aus Hannover, der im Jahr 2000<br />
sein erstes Werk in Sibiu eröffnete, beschäftigt<br />
ebenfalls rund 2000 Mitarbeiter. Beide<br />
Unternehmen stocken ihr Personal kontinuierlich<br />
auf. Siemens will seine Mannschaft<br />
von derzeit 400 Mitarbeitern in den<br />
kommenden Jahren ebenfalls erweitern.<br />
Das Ergebnis der regen Investitionstätigkeit:<br />
In Sibiu herrscht praktisch Vollbeschäftigung.<br />
Johannis wurde 2004, 2008<br />
und 2012 mit durchschnittlich 80 Prozent<br />
der Stimmen wiedergewählt – Ergebnisse,<br />
die an die Zeiten des Diktators Nikolae<br />
Ceausescu erinnern.<br />
Natürlich waren die ersten Jahren für Johannis<br />
kein Spaziergang. „Ich habe den gesamten<br />
Verwaltungsapparat unter die Lupe<br />
genommen“, sagt der Bürgermeister,<br />
und seine Miene wird dabei sehr ernst. Wer<br />
damals in Sibiu eine Genehmigung, ein<br />
Formular oder nur eine Auskunft von einem<br />
Beamten brauchte, biss auf Granit;<br />
FOTO: PICTURE-ALLIANCE/DPA/EPA/ROBERT GHEMENT<br />
32 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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der Apparat war eine Black Box. Johannis<br />
entließ einen Teil der Belegschaft und holte<br />
jüngere Leute in die Stadtverwaltung. Heute<br />
gilt das Rathaus als vorbildlich in Rumänien.<br />
In den Folgejahren sorgt er für einen<br />
modernen Flughafen in der Stadt. Einen<br />
seiner größten Erfolge verbuchte der Kommunalpolitiker<br />
2007: Sibiu wurde neben<br />
Luxemburg Kulturhauptstadt Europas.<br />
WICHTIGES SIGNAL<br />
Für die Brüsseler Politik ist die Kandidatur<br />
Johannis’ ein wichtiges Signal in einem<br />
Land, das mit einem monatlichen Durchschnittslohn<br />
von etwa 400 Euro zum Armenhaus<br />
der EU gehört. Der frühere<br />
Gymnasiallehrer steht für einen Bruch mit<br />
dem alten von Willkür, Filz, Korruption<br />
und fehlender Rechtsstaatlichkeit geprägten<br />
System.<br />
An einem verregneten Oktobernachmittag<br />
steht Elmar Brok, Vorsitzender des Auswärtigen<br />
Ausschusses im Europaparlament,<br />
zusammen mit Johannis in einem<br />
pastellgelb getünchten Saal mit Stuckdecke<br />
im Rathaus. Reporter der lokalen Fernsehsender<br />
haben ihre Kameras aufgebaut,<br />
Zeitungsredaktionen ihre Mitarbeiter geschickt.<br />
Der Raum ist voll. „Ich habe mit<br />
Herrn Johannis anstehende Reformen in<br />
Rumänien besprochen“, erklärt Brok und<br />
fügt hinzu, dass Brüssel die Präsidentschaftskandidatur<br />
des Bürgermeisters ausdrücklich<br />
unterstütze. „Und da gibt es ja eine<br />
schöne Parallele“, schmunzelt der Besucher<br />
aus Brüssel, „Auch Konrad Adenauer<br />
wurde als Oberbürgermeister von Köln<br />
zum Bundeskanzler gewählt.“ Dieser war<br />
damals freilich keine 55 mehr, wie Johannis,<br />
sondern schon 73 Jahre alt.<br />
Doch sollte auch dieser Bürgermeister<br />
am Ende das Rennen machen, stünde er<br />
vor gewaltigen Herausforderungen. Viele<br />
Unternehmen klagen über die Unberechenbarkeit<br />
der Politik. Vor allem die Steuergesetzgebung<br />
nervt die Wirtschaft. Steuersätze<br />
ändern sich oft über Nacht. Dazu<br />
kommen die fehlende Unabhängigkeit der<br />
Justiz und die großen Defizite in der Bildungspolitik.<br />
Vor allem aber müsste er gegen<br />
ein altes, von Filz und Vetternwirtschaft<br />
gekennzeichnetes System in der<br />
Hauptstadt Bukarest ankämpfen. Zu verantworten<br />
hat dies unter anderem der Johannis-Rivale<br />
Ponta, der zurzeit als Ministerpräsident<br />
des Landes regiert.<br />
Johannis, den Weggefährten als „harten<br />
Knochen“ und extrem durchsetzungsstark<br />
beschreiben, fechten solche Bedenken<br />
nicht an. „Auch in Sibiu musste ich gegen<br />
ein altes System kämpfen“, sagt der Bürgermeister.<br />
Er wolle einen anderen Politikstil<br />
in Rumänien, bei dem es nicht mehr auf<br />
Lärm und große Ankündigungen, sondern<br />
auf Taten ankomme, beteuert er zurzeit<br />
landauf, landab.<br />
EIN POSITIVES VORURTEIL<br />
Wie nervös das Ponta-Lager angesichts der<br />
guten Umfragewerte für den deutschstämmigen<br />
Bürgermeister ist, zeigt die Kampagne<br />
gegen ihn. Die Gegner werfen ihm seine<br />
Kinderlosigkeit genauso vor wie seine<br />
Zugehörigkeit zur protestantischen Kirche<br />
– in einem Land, in der die Mehrheit zur orthodoxen<br />
Glaubensrichtung gehört.<br />
Außerdem könne ein Deutscher doch<br />
kaum Staatspräsident in Rumänien werden,<br />
wettern die Sozialisten. Johannis lässt<br />
sich durch solche Attacken nicht aus der<br />
Ruhe bringen. „Im Gegenteil, das ist ein<br />
positives Vorurteil“, lacht der Kandidat. Die<br />
Wähler in Sibiu haben es bewiesen. n<br />
matthias.kamp@wiwo.de | München<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Über allem die KP<br />
CHINA | Die Regierung in Peking will den Rechtsstaat stärken – was<br />
auch immer die Kommunistische Partei darunter versteht...<br />
Müde <strong>vom</strong> Warten auf Reformen Volkspolizisten auf dem Tiananmen-Platz in Peking<br />
Die Bewohner des Dorfes Jinning in<br />
der chinesischen Provinz Yunnan<br />
sahen schließlich keinen Ausweg<br />
mehr. Die Lokalregierung hatte ihnen gegen<br />
eine geringe Entschädigung ihr Land<br />
genommen, lokale Richter hatten dies für<br />
rechtens erklärt. Also bewaffneten sie sich<br />
und griffen die Bauarbeiter an, die auf ihrem<br />
früheren Besitz zugange waren. Am<br />
14. Oktober waren sechs Arbeiter und zwei<br />
Dorfbewohner tot, weitere 18 verletzt.<br />
Bis zu 100 000 sogenannter „Massenvorfälle“<br />
gibt es laut Regierung pro Jahr, bei<br />
zwei Dritteln geht es um beschlagnahmtes<br />
Land: Eine Lokalregierung veräußert Land<br />
an Immobilienunternehmen, um an Geld<br />
zu kommen. Die Entschädigungen, die die<br />
Bauern erhalten, liegen weit unter den gesetzlichen<br />
Vorgaben. Die Richter, oft mit<br />
Parteikadern und Unternehmen verbandelt,<br />
entscheiden in deren Sinne. Die Folge:<br />
Das Vertrauen der Bevölkerung in das<br />
chinesische Justizsystem sinkt.<br />
Seit Montag vergangener Woche saß die<br />
Kommunistische Partei (KP) in Peking<br />
beim Vierten Plenum zusammen und beriet<br />
das Problem. Es ist das erste Mal, dass<br />
sich das Megatreffen ausschließlich mit<br />
Rechtsfragen beschäftigt. Das zeugt von<br />
der Wichtigkeit, die die Führung unter KP-<br />
Chef Xi Jinping dem Thema beimisst. Das<br />
Treffen stand unter dem Motto „Yifa Zhiguo“,<br />
ein Begriff, den man mit „Herrschaft<br />
des Gesetzes“ oder „Rechtsstaatlichkeit“<br />
aber auch mit „Herrschaft durch Gesetze“<br />
übersetzen kann.<br />
Eine wichtige Frage dreht sich darum,<br />
wer überhaupt Richter werden soll. Zwar<br />
hat sich die Ausbildung in den vergangenen<br />
Jahren stark verbessert, noch immer<br />
aber sind viele nur deswegen für den Richterberuf<br />
qualifiziert, weil sie ehemalige<br />
Soldaten der Volksbefreiungsarmee sind<br />
oder über gute Beziehungen verfügen.<br />
Statt der Partei sollen nun künftig Komitees,<br />
bestehend aus Anwälten, Richtern<br />
und Funktionären, über die Eignung eines<br />
Kandidaten entscheiden.<br />
Ändern soll sich auch etwas bei Gerichten<br />
auf lokaler Ebene. „In Zukunft unterstehen<br />
diese den Provinzen“, sagt Moritz<br />
2400<br />
Todesurteile wurden<br />
in China im vergangenen<br />
Jahr vollstreckt<br />
Rudolf <strong>vom</strong> Mercator Institute for China<br />
Studies in Berlin. „Richter werden dann<br />
unabhängiger von lokalen Kadern agieren<br />
können.“<br />
Internationale Unternehmen plädieren<br />
seit Langem für einen stabileren Rechtsrahmen.<br />
„Das Vertrauen in die Institutionen ist<br />
nicht hoch“, beklagt Jörg Wuttke, Vorsitzender<br />
der Europäischen Handelskammer in<br />
Peking. „Die Unternehmen wünschen sich<br />
weniger Einfluss der Lokalregierungen und<br />
mehr Transparenz der Verfahren.“<br />
Vor allem aber geht es ihnen um eine faire<br />
Anwendung bestehender Gesetze. Als im<br />
Sommer deutsche, amerikanische und japanische<br />
Autobauer wegen Kartellverstößen<br />
angeklagt wurden, gingen chinesische<br />
Konkurrenten straffrei aus. Kein Einzelfall:<br />
Der britische Pharmakonzern GlaxoSmith-<br />
Kline wurde vergangenes Jahr wegen Bestechung<br />
angeklagt. Dass auch chinesische<br />
Unternehmen Ärzten Geld zahlen, damit<br />
die deren Medikamente verschreiben, ist<br />
ein offenes Geheimnis.<br />
Mit den Reformen will Peking erreichen,<br />
dass Gerichte in Zukunft mehr im Sinne<br />
der Zentralregierung handeln. Von einem<br />
Rechtsstaat nach westlicher Art oder gar einer<br />
Verfassung, die auch die KP binden<br />
würde, will man in Peking nichts wissen.<br />
„Es geht nicht um Rechtsstaatlichkeit, sondern<br />
um Recht als Herrschaftsinstrument“,<br />
sagt Rudolf. „Die Gerichte sollen effizienter,<br />
nicht unabhängiger werden.“<br />
KORRUPTE KADER<br />
Denn über allen steht die Partei. So geht Xi<br />
Jinping seit Amtsantritt zwar mit Vehemenz<br />
gegen korrupte Kader in den eigenen<br />
Reihen vor, die Untersuchung der Fälle<br />
aber übernimmt die Partei selbst. Erst nach<br />
dem Ausschluss der Angeklagten aus der<br />
Partei werden sie der Staatsanwaltschaft<br />
übergeben. Die Zahl der Todesurteile wurde<br />
zwar halbiert, doch im vergangenen<br />
Jahr wurden noch immer 2400 solcher Urteile<br />
vollstreckt. Umerziehungslager wurden<br />
abgeschafft – neue Gesetze gegen die<br />
Meinungsfreiheit in Kraft gesetzt.<br />
Wie hart das Recht zuschlagen kann,<br />
zeigt der Fall Ilham Tohti: Am 23. September<br />
wurde der uigurische Wirtschaftsprofessor<br />
wegen „Separatismus“ zu lebenslanger<br />
Haft verurteilt. Dabei galt der 44-Jährige<br />
als gemäßigter Fürsprecher der Uiguren,<br />
der stets für Dialog und Gewaltfreiheit eintrat.<br />
Im Januar schon war Tohti aus seiner<br />
Wohnung entführt worden. Das Gerichtsverfahren<br />
dauerte ganze zwei Tage. n<br />
philipp.mattheis@wiwo.de | Shanghai<br />
FOTO: GETTY IMAGES/KEVIN FRAYER<br />
34 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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FOTOS: CHRISTOPHER WOODS, WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, AEDT/WENN.COM<br />
LONDON | Kunst<br />
und Kommerz gehen<br />
in den Galerien<br />
der Stadt Hand in<br />
Hand. Von Yvonne<br />
Esterházy<br />
Indianer<br />
mit Adler<br />
Eine Mischung aus Vorfreude<br />
und Neugier befällt<br />
mich jedes Mal, wenn ich<br />
durch die Glastüren ins Innere<br />
der Tate Modern,<br />
meines Londoner Lieblingsmuseums,<br />
gehe: Diesmal werde ich<br />
auf besonders ungewöhnliche Weise überrascht.<br />
Die Tate zeigt eine Retrospektive<br />
des Künstlers Sigmar Polke, der, wie Gerhard<br />
Richter, seine Laufbahn in Düsseldorf<br />
begann. Beim Streifzug durch 14 Räume<br />
voller Humor, Provokation und verrückten<br />
Ideen fällt ein schwarz gekleideter Mann<br />
auf. Er läuft mit einer kleinen Kamera herum<br />
und macht Fotos. Es ist Georg Polke,<br />
Sohn des verstorbenen Malers. „Sigmar“,<br />
sagt er, wenn er über seinen Vater spricht.<br />
Polke war erst 19 Jahre, als der Sohn<br />
geboren wurde, das Verhältnis war<br />
freundschaftlich. Georg stellte seinem<br />
Vater den Popstar David Bowie vor, in<br />
Berlin verband sie später eine enge<br />
Freundschaft. Polke senior, erzählt Georg,<br />
war auch befreundet mit Mitgliedern<br />
von Pink Floyd. Syd Barrett, ein verstorbenes<br />
Mitglied der Band, habe einst Polke-Bilder<br />
gekauft. Deren Wert dürfte kräftig<br />
gestiegen sein: Das Auktionshaus<br />
Christie’s versteigerte soeben fünf Polke-<br />
Gemälde aus der Sammlung des Industriellen<br />
Karlheinz Essl für knapp 21 Millionen<br />
Euro – doppelt so viel wie erwartet.<br />
Glanzpunkt war der „Indianer mit Adler“<br />
mit einem Preis von 6,5 Millionen Euro.<br />
„Das war zu wenig“ sagt Georg,<br />
„schließlich war das ein Schlüsselwerk.“<br />
Die Auktion selbst sparte er sich: „ich<br />
schau mir hinterher nur an, was es gebracht<br />
hat.“ Die Werke seines Vaters seien<br />
unterbewertet, sagt er. Wen wundert’s?<br />
Yvonne Esterházy ist London-Korrespondentin<br />
der WirtschaftsWoche.<br />
BERLIN INTERN | Deutsche Diplomaten drängen in<br />
die Wirtschaft. Nach der Pensionierung wollen sie<br />
ihren schwarz-rot-goldenen Dienst versilbern. Von<br />
Henning Krumrey<br />
Mammon statt Mumie<br />
Ran ans Geschäft Berater von der Planitz<br />
(r.) mit Mittelstandspräsident Mario Ohoven<br />
Früher war das Pensionärsleben<br />
der Ex-Diplomaten überschaubar.<br />
Man war Mitglied in den Freundesgesellschaften<br />
jener Länder, in<br />
denen man stationiert gewesen war,<br />
schaute vielleicht gelegentlich bei Veranstaltungen<br />
der Deutschen Gesellschaft für<br />
Auswärtige Politik vorbei und engagierte<br />
sich ehrenamtlich für Fragen der Bildung<br />
oder Völkerverständigung. Und einmal im<br />
Jahr ging man zum „Mumientreff“, so<br />
heißt das Seniorenkränzchen des Auswärtigen<br />
Dienstes despektierlich unter den<br />
Aktiven im Ministerium.<br />
Heute ist alles anders. Die Ex-Diplomaten<br />
sind rüstig, voller Tatendrang – und stoßen<br />
auf wachsenden Bedarf der Wirtschaft. Wer<br />
den Erfahrungsschatz zwischen Etat und<br />
Etikette anzapfen will, klickt einfach auf<br />
„Diploconsult.de“ , und schon öffnet sich<br />
die Expertise für den zahlenden Kunden.<br />
Auf der gemeinsamen Internet-Seite verdingen<br />
sich 26 Ruheständler des Auswärtigen<br />
Dienstes als Experten für ihre früheren<br />
Stationierungsorte, für Fachprobleme und<br />
fürs Protokollarische. Manche von ihnen betreiben<br />
auch eigene Firmen. Bernd Mützelburg<br />
beispielsweise, der Sicherheitsberater<br />
von SPD-Kanzler Gerhard Schröder und zuletzt<br />
Botschafter in Neu-Dehli, hat die „Ambassadors<br />
Associates – International Networking<br />
GmbH“ gegründet. Bernhard Edler<br />
von der Planitz bietet mit seiner Firma Planitz&Partner<br />
auch Schulung in gesellschaftlicher<br />
Etikette, schließlich war er jahrelang<br />
Protokollchef der Bundesregierung.<br />
Als Einzelkämpfer empfiehlt sich Michael<br />
Gerdts, der im Herbst 2012 aus dem Amte<br />
schied. Gerade hat der frühere Pressesprecher<br />
von Außenminister Klaus Kinkel eine<br />
größere Studie über Investitionsmöglichkeiten<br />
in Kenia für ein großes deutsches Industrieunternehmen<br />
fertiggestellt. Nairobi war<br />
nämlich Gerdts’ erste Auslandsstation nach<br />
der aufreibenden Zeit an der Seite Kinkels.<br />
Später kamen noch Auslandsposten in Polen<br />
und Italien dazu. „Wir Diplomaten sind<br />
darauf getrimmt, uns in die Mentalität des<br />
Gegenübers einzudenken“, wirbt er für den<br />
Erfahrungsschatz seiner Zunft. „Der größte<br />
Fehler deutscher Unternehmen besteht darin,<br />
ganz geradeaus einen fairen Vorschlag<br />
auf den Tisch zu legen und zu erwarten,<br />
dass die Gesprächspartner den auch gut<br />
finden müssen.“<br />
Exponent diplomatischer Wiederverwertung<br />
ist Wolfgang Ischinger. Als Botschafter<br />
in Washington brillierte er und konnte<br />
Schröders Nein zum Irakkrieg fast in eine<br />
politische Glanzleistung ummünzen. Ischinger<br />
blieb einfach in seiner internationalen<br />
Mission und wechselte 2008 nur den Arbeitgeber<br />
– <strong>vom</strong> Auswärtigen Amt zur Allianz<br />
SE. Noch heute ist er dort zuständig für<br />
die Regierungsbeziehungen in aller Welt.<br />
Joachim Bitterlich tat es ihm bald nach.<br />
Den Sicherheitsberater von Helmut Kohl<br />
verschlug es 1998 nach dem Regierungswechsel<br />
zu Rot-Grün aus dem Kanzleramt<br />
zunächst zur Nato nach Brüssel und dann<br />
nach Madrid. Aus dem einstweiligen Ruhestand<br />
verdingte sich der gebürtige Saarländer,<br />
verheiratet mit einer Französin, beim<br />
französischen Wasser- und Verkehrskonzern<br />
Veolia, wo er bis 2012 blieb.<br />
Auch die Deutsche Bank sicherte sich<br />
mit Thomas Mattussek die Dienste eines<br />
Spitzendiplomaten, der <strong>vom</strong> Büroleiter Kinkels<br />
zum Botschafter in Großbritannien, bei<br />
den Vereinten Nationen und in Indien aufgestiegen<br />
war. Das Frankfurter Geldhaus<br />
machte den Junggebliebenen zum Cheflobbyisten.<br />
Heute leitet er die Alfred-Herrhausen-Gesellschaft,<br />
den gesellschaftspolitischen<br />
Arm der Bank. Ganz diplomatisch.<br />
WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 35<br />
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Der Volkswirt<br />
KOMMENTAR | Die EZB erwägt,<br />
demnächst auch Unternehmensanleihen<br />
zu kaufen. Das wäre ein<br />
Riesenfehler. Von Malte Fischer<br />
Der Staatskredit<br />
Es sieht nicht gut aus für<br />
Europa. Die Wirtschaft<br />
stagniert, die Arbeitslosigkeit<br />
ist hoch, und<br />
die Staatsschulden steigen.<br />
Kein Wunder, dass der Druck<br />
auf die Währungshüter der Europäischen<br />
Zentralbank (EZB)<br />
zunimmt, der Wirtschaft erneut<br />
unter die Arme zu greifen. Zumal<br />
die Inflation mit 0,3 Prozent<br />
deutlich unter dem Zielwert<br />
der EZB von knapp zwei<br />
Prozent liegt. Anfang vergangener<br />
Woche begann die EZB<br />
damit, Pfandbriefe zu kaufen.<br />
Bald folgen mit Krediten besicherte<br />
Wertpapiere (ABS).<br />
Doch damit dürfte das Ende der<br />
Fahnenstange noch nicht erreicht<br />
sein. In den vergangenen<br />
Tagen sickerte durch, dass die<br />
Zentralbanker erwägen, auch<br />
Unternehmensanleihen zu<br />
kaufen, um ihre Bilanz auszuweiten.<br />
Die Vertreter der Finanzindustrie,<br />
die die EZB seit<br />
Langem drängen, die Notenpresse<br />
noch schneller rotieren<br />
zu lassen, dürften sich die Hände<br />
reiben. Der Wirtschaft der<br />
Euro-Zone aber drohte damit<br />
ein ökonomisches Desaster.<br />
IN DIE RÖHRE GEGUCKT<br />
Anders als der Verkauf von ABS,<br />
der in den Bilanzen der Banken<br />
einen Aktivtausch auslöst<br />
(Zentralbankgeld gegen ABS),<br />
schreiben die Banken beim<br />
Erwerb von Unternehmensanleihen<br />
durch die EZB den Firmen<br />
den Gegenwert der von ihnen<br />
verkauften Papiere auf den Konten<br />
gut. So fließt das Geld direkt<br />
in die Wirtschaft. Höhere Preise<br />
und eine massive Umverteilung<br />
von Einkommen und Vermögen<br />
sind die Folgen. Die Unternehmen,<br />
die das frische Geld als<br />
Erste empfangen, können sich<br />
zu niedrigen Preisen mit Waren<br />
und Diensten eindecken –<br />
der so genannte Cantillon-<br />
Effekt. Arbeitnehmer, Rentner<br />
und Transferempfänger, die das<br />
frische Geld als Letzte erhalten,<br />
gucken in die Röhre. Sie können<br />
erst dann kaufen, wenn die Preise<br />
gestiegen sind.<br />
Der Erwerb von Unternehmensanleihen<br />
durch die EZB<br />
läuft zudem auf die Verstaatlichung<br />
des Kredits hinaus. Die<br />
beamteten Euro-Hüter würden<br />
entscheiden, welche Unternehmen<br />
in den Genuss von Krediten<br />
kämen – und welche nicht.<br />
Der ohnehin weit fortgeschrittene<br />
Marsch in die monetäre<br />
Planwirtschaft beschleunigte<br />
sich.<br />
BOOM-BUST-ZYKLEN<br />
Dazu kommt: Durch den Kauf<br />
von Anleihen drückte die EZB<br />
die Finanzierungskosten der Betriebe<br />
nach unten. Das löst Investitionen<br />
aus, die sich unter<br />
normalen Umständen nicht lohnen.<br />
Damit drohte ein neuer<br />
Boom-Bust-Zyklus, der schnurstracks<br />
in die nächste Krise<br />
führt. Können die Firmen ihre<br />
Anleihen dann nicht mehr bedienen,<br />
müssen die Steuerzahler<br />
– über die Bilanz der EZB –<br />
die Verluste tragen.<br />
Ohnehin stellt sich die Frage,<br />
wem die Käufe von Unternehmensanleihen<br />
dienen sollen.<br />
Kleinere Betriebe mit Kreditschwierigkeiten<br />
dürften kaum<br />
profitieren. Sie sind zu klein, um<br />
Anleihen zu emittieren. Begünstigt<br />
wären nur Großunternehmen,<br />
die derzeit aber nicht unter<br />
Kreditschwierigkeiten leiden.<br />
Die EZB sollte daher die Finger<br />
von Unternehmensanleihen<br />
lassen. Sie richtete mit deren<br />
Erwerb zu viel Schaden an.<br />
NEW ECONOMICS<br />
Joggen für mehr Gehalt<br />
Freizeitsportler können langfristig auf höhere Einkommen<br />
hoffen als Bewegungsmuffel. Allerdings müssen<br />
sie sich dafür ins Zeug legen, sagt eine neue Studie.<br />
Mediziner sind sich einig: Sport<br />
ist gut für die Gesundheit. Doch<br />
macht er Arbeitnehmer auch<br />
produktiver? Einerseits fördern<br />
sportliche Aktivitäten Teamwork<br />
und Selbstdisziplin, andererseits<br />
kostet körperliche<br />
Aktivität nun mal Zeit, die an<br />
anderer Stelle abgeht.<br />
Weil belastbare Zahlen fehlten,<br />
konnten Ökonomen zu dieser<br />
Frage bisher wenig beitragen.<br />
Langzeitdaten von 1994 bis 2008,<br />
die sowohl Gehälter als auch das<br />
sportliche Engagement von eingangs<br />
22- bis 40-jährigen Kanadiern<br />
abbilden, haben es Michael<br />
Lechner von der Universität<br />
St. Gallen und Nazmi Sari von<br />
der University of Saskatchewan<br />
nun erstmals ermöglicht, einen<br />
Zusammenhang zwischen Freizeitgestaltung<br />
und Verdienst herzustellen.*<br />
Die zentrale Erkenntnis<br />
der beiden Ökonomen: Sport<br />
erhöht mittelfristig das Einkommen.<br />
Nach acht bis zwölf Jahren<br />
können Freizeitsportler mit 10<br />
bis 20 Prozent höheren Einkommen<br />
rechnen als Bewegungsmuffel.<br />
Dies entspricht ungefähr<br />
dem Effekt von zwei zusätzlichen<br />
Schuljahren. Anzeichen für Karrieresprünge<br />
fehlen dagegen:<br />
Einen Zusammenhang mit Beförderungen<br />
stellen die beiden<br />
Forscher nicht fest. Und auch ein<br />
Zusammenhang zwischen der<br />
Arbeitszeit und dem Sport fehlt.<br />
Die Forscher arbeiteten mit<br />
einer Stichprobe, die der kanadischen<br />
Gesamtbevölkerung entspricht.<br />
Im Abschlussjahr waren<br />
50 Prozent der Bevölkerung körperlich<br />
nicht aktiv, 25 Prozent<br />
leicht aktiv und 25 Prozent richtig<br />
sportlich. Die Bewegungsgewohnheiten<br />
in Kanada dürften<br />
* Michael Lechner, Nazmi Sari: Labor<br />
Market Effects of Sports and Exercise:<br />
Evidence from Canadian Panel Data,<br />
IZA, DP Nr. 7931, 2014<br />
Guck mal, Chef! Freizeitläufer<br />
beim Marathon in Freiburg<br />
denen in anderen Industrieländern<br />
entsprechen, schreiben<br />
die Autoren.<br />
„Leichte Aktivität“ liegt vor bei<br />
einem Energieverbrauch von<br />
1,5 bis 3,0 Kilokalorien pro Kilogramm<br />
Körpergewicht, höhere<br />
Werte garantierten die Einordnung<br />
in die sportliche Kategorie.<br />
Signifikante Auswirkungen auf<br />
das Gehalt stellen sich interessanterweise<br />
nur bei jenen Arbeitnehmern<br />
ein, die sich richtig<br />
ins Zeug legen. Wer nur mäßig<br />
Sport treibt, kann keinen Gehaltsaufschlag<br />
erwarten.<br />
Die genauen Ursachen für die<br />
statistische Korrelation zwischen<br />
Sportlichkeit und Gehalt<br />
kann die Studie allerdings nicht<br />
benennen. Zudem habe womöglich<br />
der eine oder andere in<br />
den zugrunde liegenden Umfragen<br />
das Ausmaß seiner sportlichen<br />
Aktivitäten etwas übertrieben,<br />
mutmaßen die Forscher.<br />
Verfeinerte Untersuchungen<br />
seien daher sinnvoll – nicht<br />
zuletzt auch zur Art der körperlichen<br />
Betätigung. So fördere<br />
ein Mannschaftssport spezielle<br />
Fähigkeiten, die auf dem Arbeitsmarkt<br />
honoriert werden –<br />
was beim regelmäßigen Besuch<br />
in einer Muckibude nicht<br />
zwingend der Fall sein muss.<br />
Diese qualitativen Effekte konnten<br />
die Forscher noch nicht<br />
berücksichtigen.<br />
silke.wettach@wiwo.de | Brüssel<br />
FOTO: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, ACTION PRESS/IMAGEBROKER<br />
36 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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KONJUNKTUR DEUTSCHLAND<br />
Schwacher Euro<br />
freut die Exporteure<br />
Die Perspektiven für die deutsche<br />
Exportwirtschaft haben<br />
sich wieder etwas aufgehellt.<br />
Der <strong>vom</strong> Münchner ifo Institut<br />
exklusiv für die WirtschaftsWoche<br />
erstellte Exportklimaindex<br />
ist im September nach drei<br />
Rückgängen in Folge wieder gestiegen<br />
und erreicht aktuell 0,35<br />
Saldenpunkte (siehe Grafik).<br />
Der Indikator bündelt den realen<br />
Außenwert des Euro – also<br />
die preisliche Wettbewerbsfähigkeit<br />
der Ausfuhrwirtschaft –<br />
sowie das Konsum- und Geschäftsklima<br />
auf unseren wichtigsten<br />
Absatzmärkten.<br />
Grund für den Anstieg war<br />
vor allem die relativ starke Abwertung<br />
des Euro, der gegenüber<br />
dem Dollar um 3,1 Prozent<br />
nachgab. Dämpfend auf die<br />
Wettbewerbsfähigkeit wirkte<br />
allerdings, dass die Preise in<br />
Deutschland stärker stiegen als<br />
in fast allen wichtigen Handelspartnerländern.<br />
Die Stimmung der Unternehmen<br />
und Haushalte hat sich in<br />
vielen Industrienationen gegenüber<br />
dem Vormonat stabilisiert.<br />
In Frankreich etwa legte<br />
das Geschäftsklima im September<br />
überraschend deutlich zu.<br />
Gleichwohl ist angesichts der<br />
aktuellen geopolitischen Krisen<br />
nach wie vor Verunsicherung<br />
zu spüren. Die Exporterwartungen<br />
der deutschen Unternehmen<br />
im verarbeitenden Gewerbe<br />
fielen im September um 4,2<br />
auf 1,5 Saldenpunkte. Vor allem<br />
die Autobranche befürchtet<br />
schlechtere Auslandsgeschäfte,<br />
aber auch die Produzenten von<br />
elektrischen Ausrüstungen,<br />
Maschinen und Chemieerzeugnissen<br />
sind pessimistischer gestimmt.<br />
Mit Spannung warten Analysten<br />
daher auf den 7. November:<br />
Talfahrt gestoppt<br />
Exportklima und Ausfuhren<br />
0,25<br />
0,20<br />
0,15<br />
0,10<br />
0,05<br />
0<br />
–0,05<br />
–0,10<br />
–0,15<br />
–0,20<br />
–0,25<br />
Exporte (real,<br />
saisonbereinigt,<br />
Veränderung zum<br />
Vorjahr in Prozent)<br />
An diesem Tag gibt das Statistische<br />
Bundesamt in Wiesbaden<br />
die Exportzahlen für September<br />
bekannt. Im August waren die<br />
Auslandsbestellungen im verarbeitenden<br />
Gewerbe gegenüber<br />
dem Vormonat um zwei Prozent<br />
gesunken. Der Maschinenbau<br />
meldete gar ein Minus von<br />
neun Prozent.<br />
Exportklimaindikator<br />
1<br />
¹ Geschäfts- und Konsumklima auf den wichtigsten Absatzmärkten Deutschlands sowie<br />
realer Außenwert des Euro (Indexpunkte); Quelle: ifo<br />
bert.losse@wiwo.de<br />
2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014<br />
1,5<br />
1,0<br />
0,5<br />
0<br />
–0,5<br />
–1,0<br />
–1,5<br />
–2,0<br />
–2,5<br />
–3,0<br />
–3,5<br />
Industrie wieder<br />
optimistischer<br />
Die deutsche Industrie präsentiert<br />
sich robuster als erwartet:<br />
Der <strong>vom</strong> Forschungsinstitut<br />
Markit erhobene Einkaufsmanagerindex<br />
stieg im Oktober<br />
überraschend um 1,9 auf 51,8<br />
Zähler. Der Frühindikator liegt<br />
damit wieder über der Marke<br />
von 50 Punkten, ab der gemeinhin<br />
eine Expansion einsetzt.<br />
Der Index für den Dienstleistungssektor<br />
sank um 0,9 auf<br />
54,8 Zähler.<br />
Derweil scheint – zumindest<br />
bei gewerblichen Produkten –<br />
die Deflation in Deutschland<br />
angekommen zu sein: Die<br />
Erzeugerpreise gaben im September<br />
um 1,0 Prozent gegenüber<br />
dem Vorjahresmonat<br />
nach. Im Vergleich zum August<br />
blieben die Preise unverändert.<br />
Einen besonders großen Rückgang<br />
gab es im Energiebereich<br />
(minus 3,8 Prozent). Vorleistungsgüter<br />
waren um 0,3 Prozent<br />
billiger.<br />
Volkswirtschaftliche<br />
Gesamtrechnung<br />
Real. Bruttoinlandsprodukt<br />
Privater Konsum<br />
Staatskonsum<br />
Ausrüstungsinvestitionen<br />
Bauinvestitionen<br />
Sonstige Anlagen<br />
Ausfuhren<br />
Einfuhren<br />
Arbeitsmarkt,<br />
Produktion und Preise<br />
Industrieproduktion 1<br />
Auftragseingänge 1<br />
Einzelhandelsumsatz 1<br />
Exporte 2<br />
ifo-Geschäftsklimaindex<br />
Einkaufsmanagerindex Industrie<br />
GfK-Konsumklimaindex<br />
Verbraucherpreise 3<br />
Erzeugerpreise 3<br />
Importpreise 3<br />
Arbeitslosenzahl 4<br />
Offene Stellen 4<br />
Beschäftigte 4, 5<br />
2012 2013<br />
Durchschnitt<br />
0,4<br />
0,8<br />
1,0<br />
–4,0<br />
–1,4<br />
3,4<br />
3,2<br />
1,4<br />
2012 2013<br />
Durchschnitt<br />
–0,9<br />
–4,2<br />
0,1<br />
3,3<br />
105,0<br />
46,7<br />
5,9<br />
2,0<br />
1,6<br />
2,1<br />
2896<br />
478<br />
29355<br />
0,1<br />
0,9<br />
0,4<br />
–2,4<br />
–0,2<br />
3,0<br />
0,9<br />
1,5<br />
–0,2<br />
2,5<br />
0,2<br />
–0,2<br />
106,9<br />
50,6<br />
6,5<br />
1,5<br />
–0,1<br />
–2,5<br />
2950<br />
458<br />
29722<br />
II/13 III/13 IV/13 I/14 II/14<br />
Veränderung zum Vorquartal in Prozent<br />
0,8<br />
0,6<br />
0,0<br />
2,3<br />
3,0<br />
0,0<br />
1,4<br />
1,3<br />
Juni<br />
2014<br />
0,4<br />
–2,5<br />
1,1<br />
1,0<br />
109,7<br />
52,0<br />
8,6<br />
1,0<br />
–0,8<br />
–1,2<br />
2913<br />
482<br />
30233<br />
1 Volumen, produzierendes Gewerbe, Veränderung zum Vormonat in Prozent; 2 nominal, Veränderung zum Vormonat in<br />
Prozent; 3 Veränderung zum Vorjahr in Prozent; 4 in Tausend, saisonbereinigt; 5 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte;<br />
alle Angaben bis auf Vorjahresvergleiche saisonbereinigt; Quelle: Thomson Reuters<br />
0,3<br />
0,7<br />
0,6<br />
–0,5<br />
1,8<br />
0,2<br />
0,7<br />
1,7<br />
Juli<br />
2014<br />
1,6<br />
4,9<br />
–0,9<br />
4,8<br />
108,0<br />
52,4<br />
8,9<br />
0,8<br />
–0,8<br />
–1,7<br />
2902<br />
484<br />
30263<br />
0,5<br />
–0,8<br />
–0,1<br />
2,1<br />
0,7<br />
0,2<br />
1,7<br />
0,7<br />
Aug.<br />
2014<br />
–4,0<br />
–5,7<br />
1,5<br />
–5,8<br />
106,3<br />
51,4<br />
8,9<br />
0,8<br />
–0,8<br />
–1,9<br />
2905<br />
494<br />
–<br />
0,7<br />
0,8<br />
0,4<br />
2,1<br />
4,1<br />
1,2<br />
0,0<br />
0,5<br />
Sept.<br />
2014<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
104,7<br />
49,9<br />
8,6<br />
0,8<br />
–1,0<br />
–<br />
2918<br />
500<br />
–<br />
–0,2<br />
0,1<br />
0,1<br />
–0,4<br />
–4,2<br />
0,1<br />
0,9<br />
1,6<br />
Okt.<br />
2014<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
51,8<br />
8,3<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
Letztes Quartal<br />
zum Vorjahr<br />
in Prozent<br />
0,8<br />
1,0<br />
1,0<br />
2,1<br />
0,7<br />
1,6<br />
2,5<br />
4,1<br />
Letzter Monat<br />
zum Vorjahr<br />
in Prozent<br />
–5,9<br />
–4,2<br />
–0,7<br />
–1,0<br />
–3,1<br />
0,2<br />
16,9<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–1,6<br />
9,7<br />
1,8<br />
WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 37<br />
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Der Volkswirt<br />
NACHGEFRAGT Paul Sheard<br />
»Aggressiver eingreifen«<br />
Der globale Chef-Ökonom der US-Ratingagentur<br />
S&P warnt vor einer neuen Euro-Krise und fordert<br />
eine noch expansivere Geldpolitik der EZB.<br />
Mr. Sheard, Ihre Ratingagentur<br />
hat gerade den Ausblick für<br />
Frankreich von stabil auf negativ<br />
geändert und die Kreditwürdigkeit<br />
von Finnland um eine<br />
Stufe gesenkt. Stehen wir vor<br />
der nächsten Krise in Europa?<br />
Es besteht ein augenfälliges<br />
Risiko einer neuen Rezession in<br />
Europa. Die ökonomischen<br />
Bedingungen sind alarmierend:<br />
anhaltend niedrige Inflation,<br />
kaum Wachstum, hohe Arbeitslosenzahlen.<br />
In der Euro-Zone<br />
rechnen wir nur noch mit einem<br />
Wachstum von einem Prozent in<br />
diesem und von 1,4 Prozent im<br />
kommenden Jahr.<br />
Wann senken Sie den Daumen<br />
über Deutschland?<br />
Die Entwicklung in Deutschland<br />
ist nicht erfreulich. Die<br />
Wirtschaft stagniert. Politiker in<br />
ganz Europa sollten sich darum<br />
kümmern, eine neue Rezession<br />
zu verhindern. Eine Krise entsteht<br />
ja nicht über Nacht, das ist<br />
ein schleichender Prozess.<br />
Die Politik kommt allerdings<br />
mit strukturellen Reformen<br />
nicht voran. Stattdessen soll es<br />
die Europäische Zentralbank<br />
richten. Kann die EZB mit einer<br />
immer lockereren Geldpolitik<br />
Europa aus dem Wachstumstief<br />
helfen?<br />
Alle großen Zentralbanken<br />
stehen derzeit zu sehr im Rampenlicht.<br />
Da wird jedes Wort<br />
auf die Goldwaage gelegt und<br />
analysiert. Die Notenbanken<br />
werden kritisiert, dass sie zu<br />
viel tun oder zu wenig – je nachdem,<br />
von welcher politischen<br />
Seite die Attacke kommt. Notenbanken<br />
sollten sich auf ihr<br />
Mandat konzentrieren. Die EZB<br />
hat ein primäres Mandat. Das<br />
lautet, für Preisstabilität zu sorgen.<br />
Sie hat aber noch ein zweites<br />
Mandat, das weniger Aufmerksamkeit<br />
bekommt.<br />
Und das wäre?<br />
In den europäischen Verträgen<br />
ist festgeschrieben: Die EZB<br />
muss mit ihrer Geldpolitik zu<br />
den Zielen der EU beitragen.<br />
Dies sind Ziele wie Vollbeschäftigung<br />
sowie der soziale und<br />
wirtschaftliche Zusammenhalt<br />
DER BEWERTER<br />
Sheard, 59, ist Chief Global Economist<br />
und Leiter der Abteilung<br />
Global Economics and Research<br />
der US-Ratingagentur Standard<br />
& Poor’s Ratings Services.<br />
in Europa. Man kann darüber<br />
diskutieren, wie viel Gewicht<br />
die Notenbank auf diese Ziele<br />
legen sollte. Aber es überrascht<br />
mich, dass dieser Aspekt kaum<br />
eine Rolle spielt.<br />
Was bedeutet das für die Geldpolitik<br />
der EZB?<br />
Sie muss auch auf die Arbeitslosenquote<br />
schauen und sich fragen:<br />
Setzen wir die richtigen<br />
geldpolitischen Instrumente<br />
ein, mit denen wir die Entwicklung<br />
in der Euro-Zone positiv<br />
beeinflussen können, ohne<br />
<strong>vom</strong> Primärziel der Preisstabilität<br />
abzuweichen?<br />
Und? Erfüllt die EZB das?<br />
Vom primären Mandat der<br />
Preisstabilität – mit einer<br />
Inflationszielrate von rund zwei<br />
Prozent – wie auch von ihrem<br />
sekundären Mandat ist die<br />
EZB meilenweit entfernt. Die<br />
Inflationsrate in der Euro-<br />
Zone liegt bei 0,3 Prozent, die<br />
Arbeitslosenquote im Durchschnitt<br />
bei über elf Prozent.<br />
Die Notenbank muss mehr<br />
machen, um ihre Ziele zu erreichen.<br />
Sie muss aggressiver<br />
eingreifen.<br />
Die Zinsen liegen bereits am<br />
Nullpunkt. Da bleibt nur die<br />
Ausweitung der Bilanz, die sogenannte<br />
quantitative Locke-<br />
Die EZB war bei<br />
der Ausweitung<br />
der Bilanz bisher<br />
zurückhaltend«<br />
rung. Und damit ein weiteres<br />
Anwerfen der Notenpresse...<br />
Quantitative Lockerung ist nötig.<br />
Was die EZB bisher gemacht<br />
hat, ist die Einführung eines negativen<br />
Einlagenzinses. Doch<br />
der ist gar kein „echter“ negativer<br />
Zins, weil der Hauptfinanzierungszins<br />
immer noch bei<br />
fünf Basispunkten liegt. Anders<br />
als die Fed war die EZB bisher<br />
zurückhaltend mit der Ausweitung<br />
der Bilanz. Mit der Ankündigung,<br />
forderungsbesicherte<br />
Wertpapiere (ABS) zu kaufen,<br />
hat sie endlich einen Kurswechsel<br />
vorgenommen.<br />
Dieser Schritt wird von vielen<br />
Experten scharf kritisiert. Die<br />
EZB hat den Banken zudem<br />
bereits Milliarden über langfristige<br />
Kredite zur Verfügung<br />
gestellt – ohne nennenswerte<br />
Effekte auf die Realwirtschaft.<br />
Bei den sogenannten TLTROs<br />
hat die EZB den Banken die<br />
Entscheidung überlassen, wie<br />
sie diese günstige Refinanzierungsmöglichkeit<br />
nutzen. Es<br />
hat sich gezeigt, dass diese Kreditlinien<br />
die Bilanz der EZB<br />
nicht sehr ausgeweitet haben.<br />
Halten Sie den Kauf von ABS<br />
und Pfandbriefen ernsthaft für<br />
den richtigen Weg?<br />
Die Theorie moderner Geldpolitik<br />
besagt, dass sich mit quantitativer<br />
Lockerung finanzielle<br />
Bedingungen verbessern lassen.<br />
Ich weiß, Bundesbank-Präsident<br />
Weidmann hält nichts<br />
von ABS-Käufen, weil sich die<br />
EZB damit Kreditrisiken in die<br />
Bilanz holt. Er hält auch nichts<br />
von Staatsanleihenkäufen.<br />
Und? Finden Sie seine Argumente<br />
so falsch?<br />
Die EZB sollte nicht direkt<br />
Staatsanleihen von Regierungen<br />
einzelner Euro-Länder kaufen.<br />
Das ist tatsächlich direkte<br />
Staatsschuldenfinanzierung.<br />
Wenn aber alle geldpolitischen<br />
Instrumente zu gefährlich sind,<br />
um sie zu nutzen, und eine<br />
Notenbank am besten gar nichts<br />
machen soll, dann signalisiert<br />
sie: Wir sind hilflos, wir können<br />
unser Mandat nicht erfüllen.<br />
angela.hennersdorf@wiwo.de | Frankfurt<br />
FOTO: BLOOMBERG NEWS/PATRICK T. FALLON<br />
38 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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DENKFABRIK | Wo muss die EU aktiv werden, und was sollten die Nationalstaaten lieber<br />
selber regeln? Die Bundesbürger haben dazu eine klare Meinung: Eingriffe ins Steuerund<br />
Sozialsystem soll sich Brüssel verkneifen – dafür aber in der Außen- und Haushaltspolitik<br />
sowie bei der Zuwanderung einheitliche Regeln durchsetzen. Von Renate Köcher<br />
Die Deutschen und Europa<br />
FOTO: PR<br />
Die europäische Ebene<br />
steht in Deutschland<br />
seit Langem<br />
unter dem Verdacht,<br />
mehr regeln zu wollen, als sinnvoll<br />
ist. Die Mehrheit der Bevölkerung<br />
wirft der Europäischen<br />
Union vor, sich zu sehr in nationale<br />
Belange einzumischen.<br />
Entsprechend können sich die<br />
meisten Bürger oft auch nicht<br />
für Vorschläge erwärmen, noch<br />
mehr Kompetenzen auf die europäische<br />
Ebene zu verlagern.<br />
Lediglich 17 Prozent halten es<br />
zum Beispiel für sinnvoll, Brüssel<br />
und Straßburg mehr Befugnisse<br />
in der Steuer- und Wirtschaftspolitik<br />
zu übertragen,<br />
wie es im Zusammenhang mit<br />
der Bekämpfung der Krise in<br />
der Euro-Zone im Gespräch ist.<br />
Wenn jedoch differenzierter<br />
diskutiert wird, wie eine sinnvolle<br />
Aufgabenteilung zwischen<br />
europäischer und nationaler<br />
Ebene aussehen könnte, zeigt<br />
sich, dass die Mehrheit der<br />
Bürger durchaus wichtige Entscheidungen<br />
auf europäischer<br />
Ebene ansiedeln möchte. Das<br />
gilt vor allem für die Außen- und<br />
Sicherheitspolitik und für die<br />
Festlegung von Schuldengrenzen.<br />
Drei Viertel der Bürger<br />
halten es für sinnvoll, wenn die<br />
Mitgliedsländer in der Außenund<br />
Sicherheitspolitik keine<br />
Alleingänge machen, sondern<br />
sich auf eine gemeinsame Linie<br />
verständigen. 71 Prozent unterstützen<br />
europäische Vorgaben,<br />
wie stark sich die einzelnen<br />
Staaten verschulden dürfen<br />
(siehe Grafik).<br />
Die Vermutung liegt nahe,<br />
dass dieser breite Konsens unter<br />
dem Eindruck der Krise in<br />
der Euro-Zone entstanden oder<br />
zumindest gewachsen ist. Das<br />
ist interessanterweise jedoch<br />
nicht der Fall. Schon vor einem<br />
guten Jahrzehnt sprachen sich<br />
sieben von zehn Bürgern für einheitliche<br />
europäische Schuldengrenzen<br />
aus. Die Unterstützung<br />
schwankte in den vergangenen<br />
zehn Jahren lediglich in der engen<br />
Bandbreite zwischen 71 und 79<br />
Prozent.<br />
Die Mehrheit plädiert zudem für<br />
eine europäische Regelung von<br />
Bildungsabschlüssen an Schulen<br />
und Universitäten sowie beim<br />
Arbeitsschutz und der Zuwanderung.<br />
Hier haben sich die Einstel-<br />
Differenziertes Urteil<br />
und Krisengebieten der Welt finden<br />
muss.<br />
Auf der anderen Seite gibt es<br />
Bereiche, die eine große Mehrheit<br />
gegen den Einfluss aus Brüssel<br />
abschotten möchte. Das gilt für<br />
die Steuerpolitik und weite Teile<br />
der Sozialpolitik. 63 Prozent der<br />
Bürger votieren für eine nationale<br />
Regelung von Steuern und Abgaben,<br />
68 Prozent wollen auch bei<br />
der Festlegung von Ansprüchen<br />
auf Sozialleistungen keine Mitsprache<br />
der EU. Auf diesen Feldern<br />
ist die Mehrheit überzeugt,<br />
dass viel auf dem Spiel steht, das<br />
Was sollte man europäisch regeln – und was sollte in nationaler<br />
Verantwortung bleiben? (Angaben in Prozent)<br />
National regeln<br />
15<br />
20<br />
40<br />
40<br />
40<br />
63<br />
68<br />
Quelle: Allensbacher Archiv<br />
Außen- und Sicherheitspolitik<br />
Maximale Schuldenhöhe<br />
Zuwanderung<br />
Arbeitsschutz<br />
Abschlüsse an Schulen<br />
und Universitäten<br />
Höhe der Steuern und Abgaben<br />
Sozialleistungen<br />
(Umfang, Berechtigte)<br />
Europäisch regeln<br />
76<br />
71<br />
53<br />
52<br />
52<br />
27<br />
24<br />
lungen in letzter Zeit teilweise<br />
deutlich verändert. Zwischen<br />
2003 und 2013 sprach sich immer<br />
eine relative Mehrheit für nationale<br />
Zuwanderungsregelungen<br />
aus, jetzt erstmals nur eine Minderheit:<br />
53 Prozent votieren für<br />
eine europaweit harmonisierte<br />
Zuwanderungspolitik, nur noch<br />
40 Prozent für nationale Lösungen.<br />
Die Zuspitzung des Flüchtlingsproblems<br />
hat hier viele<br />
Bürger umgestimmt. Immer mehr<br />
Menschen erkennen, dass ein Europa,<br />
das im Innern kaum noch<br />
Grenzen kennt, gemeinsam eine<br />
Lösung für die anschwellenden<br />
Flüchtlingsströme aus den Kriegsunmittelbar<br />
ihre eigenen Interessen<br />
berührt. Die Vorstellung, dass<br />
eine ferne europäische Ebene, auf<br />
die der Wähler kaum Einfluss hat,<br />
Steuerlasten und Sozialleistungen<br />
regelt, ist den meisten unheimlich.<br />
Die Bürger wissen, dass die<br />
nationale Politik bei der Festlegung<br />
von Steuern und Abgaben<br />
oder bei Reformen der sozialen Sicherungssysteme<br />
immer auch die<br />
Akzeptanz ihrer Wähler im Blick<br />
haben muss – und sehen darin einen<br />
Garanten für eine Politik, die<br />
ihre Interessen berücksichtigt.<br />
Insgesamt haben die meisten<br />
Bundesbürger nicht den Eindruck,<br />
dass die deutschen Inte-<br />
ressen in Europa zu kurz kommen.<br />
Nur jeder Dritte wünscht<br />
sich von der Bundesregierung<br />
eine konsequentere Vertretung<br />
deutscher Interessen. Der Einfluss<br />
Deutschlands wird als<br />
groß wahrgenommen – in Europa<br />
und darüber hinaus. Heute<br />
sind 70 Prozent der Bürger<br />
überzeugt, dass Deutschland<br />
auch jenseits von Europas<br />
Grenzen einen großen Einfluss<br />
hat.<br />
WICHTIGE ROLLE<br />
Die meisten stellen dabei einen<br />
direkten Zusammenhang mit<br />
der Mitgliedschaft in der EU<br />
her, da Deutschland in anderen<br />
Weltregionen meist nicht nur als<br />
einzelne Nation, sondern auch<br />
als wichtigstes Land und Einflussfaktor<br />
in der EU wahrgenommen<br />
wird. Entsprechend ist<br />
die Mehrheit überzeugt, dass<br />
die internationalen Einflussmöglichkeiten<br />
Deutschlands<br />
wesentlich mit der Mitgliedschaft<br />
und Rolle in der EU verknüpft<br />
sind.<br />
Grundsätzliche Zweifel, ob<br />
die europäische Integration der<br />
richtige Weg ist, hat nur eine<br />
Minderheit – allerdings ist die<br />
Gruppe der Skeptiker mit einem<br />
Anteil von 23 Prozent durchaus<br />
ernst zu nehmen. Die Mehrheit<br />
der Deutschen kritisiert zwar<br />
bestimmte Maßnahmen und<br />
Regelungsansprüche der EU,<br />
zweifelt aber nicht grundsätzlich<br />
daran, dass die Zukunft<br />
der europäischen Staaten im<br />
europäischen Verbund liegt.<br />
Renate Köcher ist Geschäftsführerin<br />
des Instituts für Demoskopie<br />
Allensbach und Mitglied<br />
des Aufsichtsrates mehrerer<br />
Dax-Unternehmen.<br />
WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 39<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Gute Gier gegen<br />
schlechte Gier<br />
WHISTLEBLOWER | Staatliche Prämien für Beschäftigte,<br />
die gesetzwidriges Verhalten des Arbeitgebers melden,<br />
machen in den USA aus Tippgebern Millionäre. Die<br />
Unternehmen laufen Sturm gegen das Belohnungs-System.<br />
Es ist noch warm in Washington.<br />
Die Aktivisten, die sich im Garten<br />
einer Villa unweit des Kapitols<br />
zu ihrem Jahrestreffen versammelt<br />
haben, suchen den<br />
Schatten. Viele haben ihre zerknautschten<br />
Sakkos abgelegt und die Hemdsärmel aufgekrempelt.<br />
Der eine hat gegen Rassismus<br />
in Behörden aufbegehrt, der andere<br />
Lauschattacken von Geheimdiensten enthüllt<br />
– und dafür gebüßt. Gesichtszüge lassen<br />
den Jobverlust, private Zerwürfnisse<br />
und zermürbende Gerichtsverfahren erahnen,<br />
die so mancher erlitten hat.<br />
Einer passt nicht so recht ins Bild. Bradley<br />
Charles Birkenfeld – hochwertiges<br />
Tuch, markantes Gesicht – hat mit einer<br />
kleinen Entourage ein paar Stühle gekapert<br />
und beobachtet locker-interessiert das<br />
Treiben. Auch der 49-Jährige hat aufbegehrt,<br />
nämlich gegen seinen früheren Arbeitgeber,<br />
die Schweizer Bank UBS. Auch<br />
er hat etwas verraten: dass die eidgenössische<br />
Nobelbank Geld amerikanischer<br />
Steuerhinterzieher vor dem US-Fiskus auf<br />
Konten in der Alpenrepublik versteckt hat.<br />
Und auch er hat dafür seinen Job verloren.<br />
Doch Birkenfeld ist die Ruhe in Person.<br />
Denn er hat nicht nur vieles verloren, sondern<br />
auch einiges gewonnen: 104 Millionen<br />
Dollar bezahlte ihm 2012 die US-Steuerbehörde<br />
IRS für seine Insiderinformationen<br />
über amerikanische Steuersünderkonten<br />
in der Schweiz. Birkenfeld ist also<br />
Multimillionär – und wird zugleich als Robin<br />
Hood verehrt. Eine kurze Rede vor den<br />
Aktivisten, ein Preis, Applaus – dann rauschen<br />
er und seine Freunde wieder ab.<br />
Leute wie Birkenfeld haben Hochkonjunktur<br />
in den USA. Während in Berlin die<br />
schwarz-rote Koalition über den gesetzlichen<br />
Schutz von Hinweisgebern ergebnislos<br />
streitet, ist jenseits des Atlantiks daraus<br />
ein Zig-Millionen-Geschäft geworden.<br />
Whistleblowing oder Tippgeben, wie der<br />
Verrat gesetzeswidrigen Verhaltens in Unternehmen<br />
und Behörden auf Deutsch<br />
heißt, nagt nicht nur an Konzernkassen,<br />
sondern schafft zugleich eine neue Klasse<br />
der Millionäre: Wer einer staatlichen Aufsichtsbehörde,<br />
ob für Börse, Militär oder<br />
Verbraucherschutz, ein Vergehen des Arbeitgebers<br />
gegen Vorschriften meldet, bekommt<br />
dafür eine Prämie in bis zu dreistelliger<br />
Millionenhöhe. Mit von der Partie<br />
sind Anwälte, die sich auf das Metier spezialisiert<br />
haben und ihren Anteil an der Belohnung<br />
abgreifen.<br />
„Whistleblowing ist zum Big Business<br />
geworden, für die Informanten, für ihre<br />
Rechtsanwälte und für den Staat, dem die<br />
zu erwartenden Bußgeldmilliarden nicht<br />
ungelegen kommen“, sagt Tom Devine,<br />
Rechtsanwalt und einer der wichtigsten<br />
Whistleblowing-Experten der USA. „Es ist<br />
ein Goldrausch, aber ich kann nichts<br />
Schlechtes daran erkennen.“<br />
Auslöser für den Run auf die neuen Nuggets<br />
ist vor allem der Dodd-Frank-Act aus<br />
dem Jahr 2011. Das nach den beiden demokratischen<br />
US-Politikern Chris Dodd<br />
und Barney Frank benannte Gesetz zur<br />
Zähmung der Finanzmärkte ermächtigt<br />
die US-Börsenaufsicht SEC wie die Steuerkontrolleure<br />
von der IRS und andere Behörden,<br />
Whistleblower für ihren Geheimnisverrat<br />
mit Prämien zu belohnen. Tipps,<br />
die zu Strafen von mindestens einer Million<br />
Dollar führen, honoriert die SEC mit 10<br />
bis 30 Prozent der Bußgeldsumme.<br />
»<br />
Die Ruhe in Person<br />
Der Ex-UBS-Banker<br />
Charles Birkenfeld<br />
lieferte den US-<br />
Behörden die entscheidenden<br />
Informationen<br />
für den Angriff<br />
auf die Steueroase<br />
Schweiz – und bekam<br />
104 Millionen Dollar<br />
Belohnung<br />
40 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 41<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
»<br />
Weil die mächtigste Börsenaufsicht der<br />
Welt häufig sechsstellige Millionen- und<br />
mitunter sogar Milliardenstrafen verhängt,<br />
hat sich eine regelrechte Whistleblowing-<br />
Branche entwickelt. Mehr als 7000 Informanten<br />
aus den USA und 68 weiteren Ländern<br />
haben die Börsenchecker seit 2011<br />
mit Insider-Informationen über Regelverstöße<br />
ihrer Arbeitgeber geflutet. SEC-Chefin<br />
Mary Jo White pries vergangene Woche<br />
das „enorm erfolgreiche Whistleblower-<br />
Programm, das sehr signifikante Informationen<br />
über schwere Verbrechen liefert“.<br />
Drei Jahre nach dem Inkrafttreten des<br />
Gesetzes zeigt die Statistik, dass das staatlich<br />
geförderte Ausplaudern zunehmend<br />
Betrüger, Bestecher und Berufsmanipulateure<br />
in Unternehmen auffliegen lässt. Aus<br />
Tausenden von Anzeigen hat die SEC bislang<br />
etliche Hundert besonders viel versprechende<br />
ausgewählt und verfolgt. 431<br />
davon mündeten bis Ende 2013 in Verfahren,<br />
die zu Strafen von einer Million Dollar<br />
oder mehr geführt haben.<br />
Die meisten der erfolgreichen Whistleblower<br />
erhielten Prämien unter einer Million<br />
Dollar. Doch die Fälle üppiger Zahlungen<br />
nehmen zu. Einem Tippgeber, der eine<br />
Immobilienbetrügerei meldete, überwies<br />
die SEC im vergangenen Jahr 14 Millionen<br />
Dollar. Vor einigen Wochen transferierte<br />
die Behörde 30 Millionen Dollar auf ein<br />
Konto außerhalb der USA. Es war der erste<br />
SEC-Whistleblower, der aus dem Ausland<br />
Tipps lieferte. Weitere Multimillionenprämien<br />
hat die Behörde angekündigt.<br />
„Das Gesetz funktioniert“, frohlockt die<br />
SEC. Ihre Pipeline sei prall gefüllt mit<br />
hochkarätigen Fällen. Die neue Generation<br />
der Whistleblower sei gut informiert, hoch<br />
spezialisiert und für die Fahnder unverzichtbar.<br />
„Der Staat käme allein nie an diese<br />
Informationen“, verlautet es aus der Behörde:<br />
„Womöglich sind diese Whistleblower<br />
das schärfste Schwert im Kampf<br />
gegen Wirtschaftskriminalität.“<br />
HEIMAT DES WHISTLEBLOWING<br />
Dass der Whistleblower-Millionär in den<br />
Vereinigten Staaten erfunden wurde, ist<br />
kein Zufall. Die USA sind das Mutterland<br />
des Whistleblowing. Früher als jede andere<br />
Nation haben die Vereinigten Staaten erkannt,<br />
wie nützlich Hinweisgeber für die<br />
Strafverfolgung sein können. Schon 1778,<br />
da waren die USA gerade zwei Jahre alt,<br />
wurde das erste Gesetz zu ihrem Schutz<br />
verabschiedet. Auslöser war die Diskriminierung<br />
zweier Soldaten, die Missstände in<br />
der Kriegsmarine angezeigt hatten. 1863<br />
Wertvolle Tipps<br />
Entwicklung des Whistleblower-Programms<br />
der US-Börsenaufsicht SEC<br />
334<br />
2011<br />
3001<br />
Am häufigsten angezeigte Gesetzesverstöße<br />
2013<br />
557<br />
553<br />
525<br />
196<br />
168<br />
149<br />
105<br />
Whistleblower<br />
Insiderhandel<br />
Verstöße gegen Berichtspflichten<br />
Betrug<br />
Marktmanipulation<br />
Verstöße gegen Handelsvorschriften/Preisbildung<br />
Korruption<br />
3238<br />
Belohnungen für Whistleblower<br />
(in Dollar)<br />
45739<br />
14,8 Mio.<br />
2012 2013 2012 2013 2014*<br />
Betrug mit nicht registrierten Wertpapieren<br />
31,7 Mio.<br />
Strafen und Vermögensabschöpfungen nach<br />
Whistleblowing- und sonstigen Verfahren<br />
durch die SEC<br />
Zahl der Verfahren<br />
Strafen und Vermögensabschöpfungen<br />
(in Milliarden Dollar)<br />
735 2,8 734 3,1 686 3,4 755 4,2<br />
2011 2012<br />
* bis September; Quelle: SEC<br />
2013 2014*<br />
folgte ein weiteres Gesetz: Die Regierung<br />
musste während des Bürgerkriegs Betrug<br />
durch Armeeausrüster eindämmen und<br />
setzte dabei auf Tippgeber.<br />
Den großen Durchbruch erlebte das<br />
Whistleblowing 1974 durch den Watergate-<br />
Skandal. US-Präsident Richard Nixon trat<br />
damals zurück, weil ein FBI-Beamter Belastendes<br />
an die Zeitung „Washington<br />
Post“ durchgestochen hatte.<br />
Denunzianten, Verräter, Spitzel – die Bezeichnungen<br />
für diskrete Tippgeber waren<br />
aber auch in den USA nicht immer höflich.<br />
Deshalb ersann der US-Verbraucherschützer<br />
und grüne Politiker Ralph Nader das<br />
Whistleblowing, zu Deutsch: in die Trillerpfeife<br />
blasen, Alarm schlagen, um Missstände<br />
in Staat und Wirtschaft zu bekämpfen.<br />
Heute schützen in den USA Dutzende<br />
Gesetze Whistleblower vor Entlassung,<br />
Strafverfolgung oder Schadensersatzklagen<br />
– und verhelfen zahlreichen Anwälten<br />
zu einem einträglichen Geschäft.<br />
NEUE GOLDGRUBE FÜR KANZLEIEN<br />
Whistleblower-Rechtsanwalt Jordan Thomas<br />
hat in seinem Wolkenkratzer-Büro an<br />
der Südspitze von Manhattan alles Wichtige<br />
gut im Blick:Im Büro hat er seine Vorbilder<br />
versammelt – die Wände sind zugepflastert<br />
mit Plakaten von Hollywood-<br />
Streifen, in denen heimliche Informanten<br />
die Helden sind. Draußen, vor den bodentiefen<br />
Fenstern, erstreckt sich der Finanzdistrikt<br />
von New York. Dort rekrutiert Thomas<br />
seine Klienten, und hier schlagen deren<br />
Enthüllungen oft ein wie Bomben.<br />
Der 44-Jährige gehört zu den führenden<br />
Whistleblower-Anwälten. Wie viele SEC-<br />
Informanten er derzeit vertritt, will er nicht<br />
sagen. „Jeden Tag melden sich etliche potenzielle<br />
Klienten“, verrät Thomas – mehr<br />
nicht. Auch nicht, aus welchen Unternehmen<br />
oder Banken seine Klienten kommen.<br />
Und schon gar nicht, wer diese Mandanten<br />
sind: „Anonymität ist für meine Mandanten<br />
das Wichtigste“, sagt er. „Sie fürchten,<br />
dass sie sonst beruflich erledigt sind.“<br />
Der einstige Aktienhändler und Rechtsanwalt<br />
der US-Kriegsmarine weiß, wie der<br />
Hase läuft: Er war Strafverfolger im US-Justizministerium.<br />
Danach lernten ihn unter<br />
anderem der inzwischen abgewickelte<br />
Energiekonzern Enron, die US-Bank Fannie<br />
Mae, die UBS und die CitiGroup als<br />
Fahnder und Ankläger der SEC kennen.<br />
Aber je länger Thomas als Vize-Chef der<br />
SEC-Vollzugsabteilung arbeitete, umso<br />
mehr verstärkte sich sein Eindruck, gegen<br />
eine Hydra zu kämpfen: „Ein Bösewicht ist<br />
weg, zwei weitere tauchen auf – in immer<br />
kürzerer Abfolge.“ Mehr und mehr habe er<br />
begonnen, „über die Effizienz der Strafverfolgung<br />
nachzudenken“. Wolle man Wirtschaftsverbrechen<br />
effektiv bekämpfen, so<br />
seine Schlussfolgerung, müsse man möglichen<br />
Zeugen die Angst nehmen und ihnen<br />
Schutz vor wirtschaftlichem Ruin bieten.<br />
Thomas entwickelte das neue Whistleblower-Programm<br />
der SEC maßgeblich<br />
mit, bevor er 2011 zur New Yorker Kanzlei<br />
Labaton Sucharow wechselte. Seither<br />
bringt er im Auftrag von Whistleblowern<br />
deren Fälle bei der SEC vor. Die Informanten<br />
könnten sich auch ohne Anwalt an die<br />
SEC wenden. Die meisten wollen aber Fehler<br />
vermeiden, anonym bleiben und wenden<br />
sich an Experten wie Thomas.<br />
42 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Schärfste Waffe<br />
Jo White, Chefin<br />
der US-Börsenaufsicht<br />
SEC,<br />
schwört im Kampf<br />
gegen Wirtschaftskriminalität<br />
auf<br />
Whistleblower<br />
FOTO: GETTY IMAGES<br />
Ein Drittel des Whistlerblower-Lohns<br />
greift der Anwalt ab<br />
Mit dem Seitenwechsel dürfte Thomas<br />
sein Gehalt vervielfacht haben. Denn das<br />
Whistleblowing bietet Verdienstchancen,<br />
die selbst für New Yorker Wirtschaftsanwälte<br />
ungewöhnlich sind. „Whistleblowing<br />
ist die neueste Goldgrube“, sagt ein Washingtoner<br />
Rechtsanwalt: „Die Summen,<br />
die wir verdienen, sind fast schon obszön.“<br />
Die Anwälte arbeiteten fast ausnahmslos<br />
auf Erfolgsbasis. Wird eine Belohnung ausgezahlt,<br />
erhalten sie davon 30 bis 40 Prozent.<br />
Hinzu kämen „sehr ansehnliche“<br />
Stundensätze: „Die meisten rechnen im<br />
Schnitt 400 bis 500 Dollar pro Stunde ab.“<br />
Whistleblowing-Experte Tom Devine,<br />
Direktor für Rechtsfragen bei der Washingtoner<br />
Bürgerrechts-Organisation Government<br />
Accountability Project (GAP), sieht<br />
„einen Traum wahr werden für die Anwaltsprofession:<br />
Erstmals können Rechtsanwälte<br />
stolz darauf sein, reich zu werden.“<br />
Früher hingegen, sagt Devine augenzwinkernd,<br />
habe man für die Mafia arbeiten<br />
müssen, um so gut zu verdienen.<br />
Über 50 Kanzleien seien inzwischen mit<br />
Tippgebern im Geschäft, erzählt Devine. Er<br />
selber habe „häufig mit einem Whistleblower-Anwalt<br />
zu tun, der bis vor ein paar Jahren<br />
Firmen verteidigte, die durch Whistleblower<br />
in Bedrängnis kamen“.<br />
So hat auch die Kanzlei des inzwischen<br />
verstorbenen Staranwalts Johnnie Cochran<br />
das neue Geschäftsfeld entdeckt.<br />
Cochran hatte für den unter Mordverdacht<br />
stehenden Football-Star O.J. Simpson 1994<br />
einen Freispruch erkämpft und verteidigte<br />
Musiker wie Michael Jackson, Snoop Dogg<br />
und P. Diddy. Seit Anfang des Jahres baut<br />
die Kanzlei in Washington eine Abteilung<br />
für SEC-Whistleblower auf.<br />
Es sei die erste Belohnung in Höhe mehrerer<br />
Millionen US-Dollar im vergangenen<br />
Jahr gewesen, die die Kanzlei auf das Thema<br />
aufmerksam gemacht habe, sagt David<br />
Haynes, Partner der Kanzlei: „Da ist echtes<br />
Potenzial, denn Tatsache ist, dass Insidergeschäfte<br />
und andere Verstöße gegen Aktienrecht<br />
nie aufhören werden.“<br />
Politisch sind die Fronten bei dem Thema<br />
klar in den USA. Die Demokraten sind<br />
meist pro Whistleblower-Schutz, die Republikaner<br />
möchten lieber die Unternehmen<br />
vor den Whistleblowern schützen. Und so<br />
sorgen die Profiteure auf beiden Seiten dafür,<br />
dass ihre Einnahmequellen erhalten<br />
bleiben. 2012 trat Barack Obama zur Wiederwahl<br />
an, und sein republikanischer Widersacher<br />
Mitt Romney versprach, im Fall<br />
eines Wahlsiegs das Dodd-Frank-Gesetz<br />
wieder abzuschaffen. Prompt sah Rechtsanwalt<br />
John Phillips aus Washington, ein<br />
Urgestein im Whistleblower-Business, seine<br />
Felle davonschwimmen und erkannte:<br />
„Die Industrie hat Milliardenstrafen gezahlt,<br />
und die Gefahr ist riesig, dass die Politik<br />
auf ihren Druck hin nun zurückrudert.“<br />
Daraufhin begann Phillips, der allein an<br />
einem Whistleblower des Pharmakonzerns<br />
GlaxoSmithKline eine zweistellige Millionensumme<br />
verdient hatte, Wahlkampfspenden<br />
für Obama einzutreiben. Schnell<br />
hatte er 200 000 Dollar beisammen. Sein<br />
Kollege John Morgan aus Florida brachte<br />
es sogar auf 1,7 Millionen Dollar. Ebenfalls<br />
unter den Obama-Spendern: die Kanzlei<br />
Grant & Eisenhofer aus Delaware, die unter<br />
anderem einen Whistleblower unter Vertrag<br />
hatte, der dem US-Justizministerium<br />
im Zuge einer Strafe zu einer 800-Millionen-Dollar-Einnahme<br />
verhalf.<br />
„Man kann nur erahnen, was es bedeutet,<br />
wenn neuerdings so viel Geld mit der<br />
Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität<br />
gemacht wird“, sagt Whistleblowing-Experte<br />
Devine: „Das verändert die Machtverhältnisse<br />
zwischen der Wirtschaft, ihren<br />
Kontrolleuren und einzelnen Whistleblowern<br />
tief greifend.“ Denn Recht zu bekommen<br />
koste in den USA in der Regel viel<br />
»<br />
WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 43<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Staranwalt für Robin Hoods<br />
Jordan Thomas, früher Fahnder der US-<br />
Börsenaufsicht SEC, vertritt bevorzugt<br />
Hinweisgeber und wurde Großverdiener<br />
»<br />
Geld, so Devine: „Wer viel Geld hat, bekommt<br />
öfter recht, so einfach ist das.“<br />
Wer wüsste das besser als die Hausherren<br />
des neoklassizistischen Gebäudes direkt<br />
gegenüber des Präsidentensitzes: die<br />
amerikanische Handelskammer U.S.<br />
Chamber of Commerce. Sie ist der weltgrößte<br />
Unternehmensverband, die mächtigste<br />
Lobbyorganisation der USA – und<br />
der erbittertste Gegner von Whistleblower-<br />
Rechten. Der Verband lief jahrelang Sturm<br />
gegen die Verabschiedung des neuen SEC-<br />
Gesetzes und bekämpft es bis heute.<br />
GLEICHES LÖST GLEICHES<br />
Es sind nicht einzelne Elemente des Gesetzes,<br />
die die Wirtschaftsvertreter stören, es<br />
geht ums Prinzip. Denn mit den hohen<br />
Prämien bekämpft der Staat letztlich illegale<br />
Praktiken, die auf dem gleichen Mechanismus<br />
beruhen, der die Finanzkrise 2008<br />
mit auslöste – dem ungebremsten Gewinnstreben.<br />
Oder zugespitzt: Gier gegen Gier,<br />
getreu dem Chemiker-Latein „Similia similibus<br />
solvuntur“, Gleiches löst Gleiches.<br />
Mitarbeiter, vermutet die Handelskammer,<br />
könnten aus Geldgier direkt zur SEC<br />
laufen, statt Straftaten intern zu melden.<br />
Dies unterwandere die Bemühungen um<br />
Compliance, also um gesetzestreue Unternehmensführung,<br />
schimpft David Hirschmann,<br />
Präsident der Kapitalmarkt-Abteilung<br />
der Handelskammer. Firmen müssten<br />
Gelegenheit haben, Missstände selbst abzustellen.<br />
Sonst sei das, „als würde man bei<br />
einem Brand nicht die Feuerwehr rufen,<br />
sondern einen Anwalt beauftragen, damit<br />
er wegen des Feuers jemanden verklagt“.<br />
Die SEC will nicht ausschließen, dass<br />
manche Mitarbeiter zuerst Behörden einschalten.<br />
Allerdings sehen die Börsenwächter<br />
in erster Linie die Unternehmen in<br />
der Pflicht. Diese müssten sicherstellen,<br />
dass es interne Stellen gibt, an die sich<br />
Whistleblower vertrauensvoll wenden<br />
können. Dann würden die Mitarbeiter<br />
auch den internen Weg als ersten Schritt<br />
vorziehen. Zahlen geben der SEC recht.<br />
Laut einer Erhebung des Ethics Resource<br />
Center in Arlington bei Washington wenden<br />
sich über 90 Prozent der Mitarbeiter in<br />
US-Unternehmen, die Missstände anzeigen,<br />
zunächst an interne Stellen.<br />
§<br />
David Zaring, Jura-Professor an der<br />
Wharton School in Philadelphia, poltert<br />
über einen anderen Aspekt des staatlich<br />
geförderten Whistleblowing. Es ermutige<br />
gewöhnliche Bürger, am Arbeitsplatz „Polizei<br />
zu spielen“, sagt Zaring. Heerscharen<br />
von Rechtsanwälten würden ermuntert,<br />
Spitzel anzuwerben. „So gesehen“, meint<br />
Zaring, „ist das Whistleblower-Programm<br />
eine Privatisierung der Strafverfolgung,<br />
vergleichbar mit der Auslagerung eines<br />
Gefängnisbetriebs an eine Firma.“ Offenbar<br />
vertraue der Gesetzgeber eher auf private<br />
Spitzel statt auf Ermittlungen der Behörden,<br />
sagt Haring, und spielt auf die frühere<br />
SEC-Chefin Mary Schapiro an, die „limitierte<br />
Ressourcen“ der SEC einräumte.<br />
Ex-SEC-Strafverfolger Thomas hingegen<br />
sieht in den Whistleblowern keine Privatisierung<br />
der Strafverfolgung: „Die Behörde<br />
tut das, was sie muss: Sie gestaltet die Straf-<br />
Der Weg zu den Millionen<br />
Wie Whistleblower in den USA Insiderinformationen über Verstöße ihres Arbeitgebers gegen<br />
das Aktienrecht der Börsenaufsicht SEC melden und daran verdienen*<br />
meldet<br />
Unternehmen<br />
Meldung bleibt<br />
intern, keine<br />
öffentlichen Folgen<br />
§ $ § §§ * vereinfachte<br />
verhängt<br />
keine Strafe<br />
Whistleblower<br />
reicht Unterlagen an<br />
keine<br />
Belohnung<br />
Anwalt<br />
reicht Unterlagen weiter<br />
Börsenaufsicht SEC<br />
verhängt Strafe<br />
unter 1 Mio. Dollar<br />
Whistleblower<br />
überweist<br />
30 bis 40Prozent<br />
der Belohnung<br />
an Anwalt<br />
verhängt Strafe<br />
über 1 Mio. Dollar<br />
bezahlt auf Antrag<br />
des Whistleblowers<br />
oder dessen Anwalt<br />
Belohnung von<br />
10 bis 30 Prozent der<br />
Strafe<br />
veröffentlicht Urteil und Unternehmen<br />
auf Web-Site und verpflichtet sich<br />
zur Geheimhaltung der Identität des<br />
Whistleblowers<br />
Darstellung<br />
44 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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FOTOS: GETTY IMAGES/BLOOMBERG COLLECTION (2), REUTERS/TIM SHAFFER, LAIF/REDUX, GETTY IMAGES/AFP, LAIF/KAI NEDDEN<br />
verfolgung so effizient wie möglich, und<br />
die Whistleblower sind dabei das vielleicht<br />
wichtigste Mittel.“<br />
Zwar kommentiert die SEC die Güte der<br />
Whistleblower-Informationen nicht, doch<br />
aus ihrem Umfeld verlautet, dass die Zahl<br />
der unbrauchbaren Tipps „erstaunlich gering“<br />
sei. Offenbar steht die Behörde eher<br />
vor dem Problem, die Tausenden vorgetragenen<br />
Fälle zu sichten und die gravierendsten<br />
herauszufiltern. Mehrfach musste die<br />
Behörde dazu ihr Personal aufstocken.<br />
Es gibt zwei gute Gründe, warum der Anteil<br />
der Prämien-Glücksritter gering ist:<br />
Weil nur Fälle, die zu Strafen von mehr als<br />
einer Million Dollar führen, belohnt werden,<br />
werden Zeugen kleinerer Straftaten<br />
abgeschreckt. Und da sich die meisten<br />
Whistleblower auf ihre Anwälte verlassen,<br />
werden die zur zweiten entscheidenden<br />
Qualitätshürde. Nur wenn Thomas und Co.<br />
Erfolgschancen sehen, werden sie Mandanten<br />
unterstützen und deren Fälle bei<br />
der SEC einreichen.<br />
Die meisten Befürchtungen, die Kritiker<br />
der SEC-Belohnungen vorbrachten, haben<br />
sich nicht bewahrheitet. Von einer Ab-<br />
Unions-Politiker sind gegen Schutzgesetze<br />
für Whistleblower<br />
nancial Conduct Authority registrierte eine<br />
Zunahme von „wertvollen, substanziellen<br />
Whistleblower-Hinweisen um rund 70 Prozent“.<br />
Francesca West, Strategie-Chefin der<br />
britischen Whistlerblower-Organisation<br />
Public Concern at Work, führt den Anstieg<br />
auf die Präsenz von Hinweisgebern in den<br />
Medien und die „Darstellung mancher<br />
Whistleblower als Helden“ zurück.<br />
Die Entwicklung in Großbritannien steht<br />
in krassem Widerspruch zu Deutschland,<br />
wo es kaum gesetzlichen Schutz für Whistleblower<br />
gibt. Trotz des Drängens etwa der<br />
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />
und Entwicklung (OECD) ist ein<br />
deutsches Whistleblower-Schutzgesetz<br />
nicht absehbar. SPD, Grüne und Linke haben<br />
zwar Gesetzesentwürfe vorgelegt.<br />
Doch weil die Union – anders als nach dem<br />
Gammelfleischskandal in Bayern 2007 –<br />
von einem zusätzlichen gesetzlichen<br />
Whistleblower-Schutz derzeit nichts wissen<br />
will, wird es einen gesetzlichen Vorstoß<br />
auf absehbare Zeit wohl nicht geben.<br />
„Deutschland ist beim Whistleblower-<br />
Schutz auf einem Niveau, das man sonst<br />
nur aus Drittweltländern kennt“, kritisiert<br />
schaffung des Programms im Fall eines republikanischen<br />
Wahlsiegs bei den nächsten<br />
Präsidentschaftswahlen 2016 spricht in<br />
Washington deshalb kaum noch jemand.<br />
Vielmehr wird derzeit diskutiert, mit welchen<br />
gesetzlichen Maßnahmen darauf reagiert<br />
werden kann, dass zahlreiche Unternehmen<br />
das SEC-Programm torpedieren.<br />
Viele Unternehmen lassen sich von ihren<br />
Mitarbeitern nämlich vertraglich zusichern,<br />
dass sie auf ihr Recht verzichten, an<br />
dem Whistleblower-Programm teilzunehmen.<br />
Der Chef des SEC-Programms, Sean<br />
McKessy, hat deshalb angekündigt, dass<br />
der Kampf gegen solche Praktiken für ihn<br />
künftig „höchste Priorität“ habe.<br />
Unterdessen scheint das SEC-Programm<br />
zum Vorbild für Börsenaufsichtsbehörden<br />
und Strafverfolger in anderen Ländern zu<br />
werden. So erwägt die britische Regierung,<br />
ein Verfahren zu etablieren, bei dem analog<br />
zum US-System Whistleblower mit Prämien<br />
belohnt werden. Neuen Auftrieb bekamen<br />
die Überlegungen im vergangenen<br />
Jahr, als die Zahl der Whistleblower-Hinweise<br />
an britische Behörden sprunghaft<br />
anstieg. Die Börsenaufsichtsbehörde Fider<br />
amerikanische Whistleblowing-Experte<br />
Devine. Er könne die Skepsis der Politik<br />
gegenüber Whistleblowern in einer „starken<br />
Wirtschaftsnation wie Deutschland“<br />
zwar nachvollziehen, trotzdem sei sie fehl<br />
am Platz. Die Hälfte seiner Arbeitszeit verwende<br />
er darauf, Unternehmen zu erklären,<br />
welch wertvolle Ressource Whistleblower<br />
seien: „Sie sind als aufrechte, aufmerksame<br />
und motivierte Menschen<br />
nicht nur gute Mitarbeiter. Sie sind die<br />
Warnlampe, die leuchtet, bevor die Fahnder<br />
oder Zivilkläger anrücken und es richtig<br />
teuer wird.“<br />
Über eine besondere Wertschätzung für<br />
Whistleblower wird laut Steve Pearlman,<br />
Partner bei der New Yorker Rechtsanwaltskanzlei<br />
Proskauer, derzeit in einigen US-<br />
Firmen diskutiert: nämlich über Prämien<br />
des Arbeitgebers. Offenbar prüfen US-Unternehmen,<br />
ob sie mit den SEC-Prämien<br />
gleichziehen müssen, damit Whistleblower<br />
intern Alarm schlagen – und nicht zur<br />
Börsenaufsicht gehen.<br />
n<br />
martin.seiwert@wiwo.de | New York<br />
Lesen Sie weiter auf Seite 46 »<br />
MUTIGE DER ERSTEN STUNDE<br />
Für Gottes Lohn<br />
Tippgeber, die vor Inkrafttreten des<br />
SEC-Whistleblower-Programms<br />
und ohne Belohnung auspackten.<br />
Richard M. Bowen III<br />
schlug bei der Citi-<br />
Group 2006 intern<br />
Alarm, weil rund 60<br />
Prozent der Hypotheken<br />
faul seien; wurde<br />
kaltgestellt, wandte<br />
sich ergebnislos an SEC, wurde daraufhin<br />
gefeuert. Hypotheken dieser Art lösten<br />
2008 die globale Finanzkrise aus.<br />
Everett Stern<br />
enttarnte bei seinem<br />
Arbeitgeber, der Bank<br />
HSBC, ein verzweigtes<br />
Geldwäschesystem<br />
seines Arbeitgebers,<br />
informierte FBI und<br />
CIA und kündigte 2011. HSBC wurde zu<br />
1,9 Milliarden Dollar Strafe verurteilt.<br />
Linda Almonte<br />
meldete ihrem<br />
Arbeitgeber, der US-<br />
Bank JP Morgan, dass<br />
Tausende offener oder<br />
fehlerhaft berechneter<br />
Kreditkartenschulden<br />
ohne weitere Kontrolle an Inkassounternehmen<br />
gingen; wurde gefeuert; 2013<br />
zahlte JP Morgan 389 Millionen Dollar<br />
Strafe und Schadensersatz.<br />
Wendell Potter<br />
sah als Manager des<br />
US-Krankenversicherers<br />
CIGNA, wie die<br />
Branche mit perfiden<br />
Tricks Leistungen verweigerte;<br />
sagte 2009<br />
vor dem US-Kongress dazu aus.<br />
Eric Ben-Artzi<br />
von der Deutschen<br />
Bank in New York<br />
wandte sich 2010 an<br />
die SCE wegen angeblich<br />
zu hoch<br />
bewerteter Papiere<br />
seines Arbeitgebers; musste ausscheiden;<br />
erwartet im Falle einer Strafe eine<br />
Belohnung; die Deutsche Bank bestreitet<br />
die Vorwürfe.<br />
WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 45<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
SCHUTZ FÜR HINWEISGEBER<br />
Prämien für Denunziation oder Zivilcourage?<br />
Wer in den USA den Behörden Verstöße seines Arbeitgebers etwa gegen das Aktienrecht meldet,<br />
kann mit der Hilfe des Staates und hohen Belohnungen rechnen. Soll es das auch in Deutschland geben?<br />
Pro<br />
Guido Strack, 49, ist Vorsitzender<br />
des 2006 gegründeten Vereins<br />
Whistleblower-Netzwerk in<br />
Köln. Zuvor arbeitete der gelernte<br />
Jurist als Beamter für die<br />
EU-Kommission in Luxemburg.<br />
Der amerikanische<br />
Präsident Barack<br />
Obama verfolgt<br />
Whistleblower im Militär-<br />
und Sicherheitsbereich<br />
härter als je zuvor. Bei Verstößen<br />
gegen Regeln des Marktes<br />
oder Schädigung öffentlicher<br />
Haushalte wird Whistleblowing<br />
jedoch finanziell gefördert. Kritiker<br />
in Deutschland verteufeln<br />
das US-System als Prämie für<br />
Denunzianten. Dies sollte man<br />
differenzierter sehen:<br />
n Das US-System beschränkt<br />
sich nicht auf Prämien für<br />
Whistleblower, sondern verbietet<br />
zugleich deren Diskriminierung<br />
und sanktioniert Täter.<br />
n Belohnungen gibt es auch<br />
hier, etwa für die Aufklärung von<br />
Straftaten oder beim Ankauf<br />
von Steuer-CDs. Dies geschieht<br />
hier jedoch weitgehend ohne<br />
klare Regeln und Rechtssicherheit<br />
für Informanten.<br />
n Andere Whistleblower hingegen<br />
gehen bei uns leer aus und<br />
stehen zudem ohne Schutz da.<br />
Viele können sich keinen Anwalt<br />
leisten, während die gegnerischen<br />
Behörden und Unternehmen über<br />
große Finanzkraft verfügen.<br />
n Das US-System dagegen erschließt<br />
die Marktkräfte zugunsten<br />
der Whistleblower. Anwälte<br />
reißen sich darum, Whistleblower<br />
auf Provisionsbasis, also ohne<br />
dass diese etwas dafür bezahlen<br />
müssen, zu vertreten und ihnen<br />
bei der schwierigen Sachverhaltsermittlung<br />
zu helfen, leider allerdings<br />
nicht im Militär- und Sicherheitsbereich.<br />
n Das US-System erlaubt in einigen<br />
Fällen dem Whistleblower, sofern<br />
die Behörden untätig bleiben,<br />
selbst im Namen der Allgemeinheit<br />
gegen den oder die Täter vor<br />
Gericht zu ziehen. Bei uns geht<br />
auch dies nicht, das öffentliche<br />
Interesse bleibt auf der Strecke.<br />
n Die staatlichen Haushalte in den<br />
USA erlösen jährlich Schadensersatz<br />
und Strafzahlungen in Milliardenhöhe.<br />
Hierzulande fehlen diese<br />
Milliarden ebenso wie Daten, die<br />
zeigen, wie erfolgreich Whistleblowing<br />
für uns alle sein könnte.<br />
n Schließlich ist der Begriff der<br />
Denunziation dort, wo Menschen<br />
in einer Demokratie auf Rechtsbrüche<br />
hinweisen, unangebracht.<br />
Prämien gibt es aber auch in den<br />
USA nur in genau diesen Fällen.<br />
Das Whistleblower-Netzwerk<br />
hat 2011 in einem Gesetzentwurf<br />
zum Schutz von Hinweisgebern<br />
nicht die Kopie des US-Systems<br />
mit seinen Prämien für Whistleblower<br />
gefordert. Wichtiger wäre<br />
ein öffentlicher Whistleblower-<br />
Fonds und ein Bundesbeauftragter,<br />
der diesen verwaltet. Die Mittel<br />
sollen der Unterstützung<br />
bedürftiger Whistleblower und der<br />
Förderung der gesellschaftlichen<br />
Akzeptanz des Whistleblowing<br />
dienen.<br />
Contra<br />
Tim Wybitul, 44, ist Vorstandsmitglied<br />
des Bundesverbandes<br />
Deutscher Compliance Officer<br />
(BDCO) und Leiter Compliance<br />
& Investigations bei der Kanzlei<br />
Hogan Lovells in Frankfurt.<br />
Belohnungen für Whistleblower<br />
wie in den<br />
USA– nein, danke. Dort<br />
können Hinweisgeber<br />
dreistellige Millionenbeträge<br />
bekommen, wenn sie Gesetzesverstöße<br />
melden. Einige amerikanische<br />
Gesetze sehen Belohnungen<br />
für Whistleblower vor, wenn<br />
deren Hinweise zur Verhängung<br />
von Bußgeldern führen, etwa bei<br />
Steuerhinterziehung, im Bereich<br />
der Börsenaufsicht oder anderen<br />
Wirtschaftsgesetzen. Damit<br />
schafft der Staat bewusst Anreize,<br />
das eigene Unternehmen im<br />
Falle von Verstößen bei den Behörden<br />
anzuzeigen.<br />
Dabei geht jedoch unter: Unternehmen<br />
haben ein massives Eigeninteresse,<br />
Wirtschaftsdelikte<br />
zu verhindern. Andernfalls drohen<br />
Ermittlungen der Staatsanwaltschaft,<br />
Strafverfahren vor Gericht,<br />
Verbandsbußen in Millionenhöhe,<br />
Schadensersatzforderungen und<br />
vor allem Rufschäden.<br />
Beschäftigte mit deutschen<br />
Arbeitsverträgen müssen im Rahmen<br />
ihrer gesetzlichen Treuepflicht<br />
Verstöße sogar melden,<br />
wenn der Arbeitgeber schwere<br />
Schäden befürchten muss.<br />
Belohnungen passen hier<br />
jedoch nicht hin, weil das deutsche<br />
Arbeitsrecht so nicht<br />
funktioniert. Denn dieselbe<br />
Treuepflicht sieht auch vor,<br />
dass Mitarbeiter zunächst versuchen<br />
müssen, Fehlentwicklungen<br />
intern anzusprechen,<br />
bevor sie sich an Behörden<br />
oder die Presse wenden. Informiert<br />
ein Arbeitnehmer etwa<br />
die Staatsanwaltschaft oder gar<br />
ausländische Behörden, ohne<br />
zuvor mit seinem Arbeitgeber<br />
über das Problem gesprochen<br />
zu haben, droht die fristlose<br />
Kündigung. Anders liegt der<br />
Fall, wenn eine interne Klärung<br />
dem Mitarbeiter nicht zugemutet<br />
werden kann.<br />
Würde der deutsche Gesetzgeber<br />
Regelungen schaffen, die<br />
Belohnungen für Hinweise an<br />
Behörden vorsähen, würde er<br />
damit Mitarbeiter gegebenenfalls<br />
auffordern, gegen ihre<br />
Pflichten aus dem Arbeitsvertrag<br />
zu verstoßen.<br />
Das Problem bei solchen<br />
Belohnungen geht noch weiter.<br />
Soll der Staat Bürger wirklich<br />
dafür bezahlen, dass sie Unternehmen<br />
oder Mitmenschen bei<br />
Behörden anzeigen? Es wäre<br />
interessant, wie sich dann die<br />
Anzahl der Anzeigen wegen<br />
Steuerhinterziehung entwickeln<br />
würden. Zwar könnten<br />
auch Unternehmen Hinweisgebern<br />
solche Belohnungen in<br />
Aussicht stellen. Fragt sich<br />
nur, wie die Stimmung dann in<br />
den Betrieben wäre. Doch<br />
ehrlich gesagt: Das will ich mir<br />
eigentlich aber gar nicht vorstellen.<br />
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Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Flexible Ringer<br />
AIR BERLIN | Im Konflikt um die Flugrechte kämpfen bizarre Koalitionen um eine gedeihliche Zukunft<br />
für die Airline, ihren Wettbewerber Lufthansa sowie die Hoheit am deutschen Himmel.<br />
Am Donnerstag vorvergangener Woche<br />
machte Bundesverkehrsminister<br />
Alexander Dobrindt (CSU) Air-<br />
Berlin-Chef Wolfgang Prock-Schauer das<br />
Leben etwas leichter. Überraschend kassierte<br />
der Politiker erst mal wieder das Verbot<br />
für Gemeinschaftsflüge der Linie mit<br />
ihrem Großaktionär Etihad aus dem Emirat<br />
Abu Dhabi. Der Bescheid war <strong>vom</strong> Luftfahrtbundesamt<br />
(LBA) in Braunschweig<br />
verfasst, das dem Ministerium unterstellt<br />
ist und die Zusammenarbeit von Air Berlin<br />
mit Etihad beschneiden wollte. Der Rückzieher<br />
spült der angeschlagenen Airline<br />
pro Jahr gut 60 Millionen Euro in die Kasse.<br />
Die Entscheidung des Christsozialen war<br />
mehr als ein Verwaltungsakt oder gar ein<br />
Akt der Nächstenliebe. Denn Dobrindt entschied<br />
unter Druck. Wie Insider berichten,<br />
hatte das Verwaltungsgericht in Braunschweig<br />
kurz zuvor das Signal gegeben, es<br />
könne einem Eilantrag von Etihad gegen<br />
den Erlass stattgeben. „Um sich die Blamage<br />
zu ersparen, hat das Haus Dobrindt das<br />
Verbot erst mal für ein halbes Jahr ausgesetzt“,<br />
heißt es aus eingeweihten Kreisen.<br />
Schwarz-Gelb gegen Rot-Weiß<br />
Dobrindts Volte ist der vorläufige Höhepunkt<br />
eines versteckten Kampfes, den zwei<br />
Teams für und gegen eine gedeihliche<br />
Zukunft von Air Berlin sowie um die<br />
Richtung der deutschen Luftfahrtpolitik<br />
führen.<br />
Die Liste derer, die sich dazu berufen<br />
fühlen und mit allen<br />
Mitteln mitmischen, könnte<br />
illustrer kaum sein. Sie<br />
reicht von Stephan Schulte,<br />
dem Chef der Frankfurter<br />
Flughafenholding<br />
Fraport,<br />
über Gewerkschafter<br />
wie Ilja Schulz<br />
Pro Air Berlin engagieren sich (v.l.) Winfried Kretschmann (Ministerpräsident<br />
Baden-Württemberg, Grüne), Klaus Wowereit (Regierender<br />
Bürgermeister Berlin, SPD), Hannelore Kraft (Ministerpräsidentin<br />
Nordrhein-Westfalen, SPD), Hartmut Mehdorn (Chef Flughafen Berlin)<br />
als Präsident<br />
der mächtigen Pilotenvertretung Vereinigung<br />
Cockpit bis hin zu Bayerns Ministerpräsidenten<br />
Horst Seehofer und Berlins<br />
Regierendem Bürgermeister Klaus Wowereit.<br />
„Da ringen schwarze, grüne und rote<br />
Ministerpräsidenten sowie die gelbe Lufthansa<br />
um die rot-weiße Air Berlin“, beschreibt<br />
ein Beobachter das Farbenspiel.<br />
Und mit der Rücknahme des Erlasses habe<br />
Air Berlin das Hinspiel gewonnen.<br />
Doch die Rückrunde läuft. Denn am Ende<br />
geht es nicht nur um die Frage, ob<br />
Etihad eigene Tickets für Flüge mit Air<br />
Berlin verkaufen darf. Vielmehr tobt<br />
der Streit um drei andere zentrale<br />
Punkte: Welche Rolle soll Air<br />
Berlin künftig im Himmel<br />
über Deutschland spielen?<br />
Wie weit soll sich die<br />
Geopolitische Interessen<br />
Außenminister Steinmeier<br />
will Etihad-Eigentümer<br />
Abu Dhabi nicht verärgern<br />
Bundesregierung<br />
für einen Konkurrenten<br />
heimischer<br />
Linien<br />
wie Lufthansa<br />
(LH) oder Condor verwenden,<br />
der von einem staatlich subventionierten<br />
Angreifer aus Arabien gehätschelt<br />
wird? Und was kann Berlin in dieser Situation<br />
überhaupt tun, wenn der Westen auf<br />
die Hilfe von Scheichs gegen die „IS“-Terroristen<br />
im Nahen Osten angewiesen ist?<br />
„Ein Verbot des Etihad-Engagements bei<br />
Air Berlin würde die Emirate vor den Kopf<br />
stoßen“, heißt es in Regierungskreisen.<br />
Pro Lufthansa engagieren sich (v.l.) Volker Bouffier (Ministerpräsident<br />
Hessen, CDU), Horst Seehofer (Ministerpräsident<br />
Bayern, CSU), Stefan Schulte (Vorstandsvorsitzender Fraport),<br />
Ralf Teckentrup (Vorstandsvorsitzender Condor)<br />
Alexander Dobrindt<br />
(Bundesverkehrsminister, CSU)<br />
»<br />
ILLUSTRATION: STEFFEN MACKERT; FOTOS: IPON/STEFAN BONESS, FOCUS/SCHLESER, PICTURE-ALLIANCE/DPA (4), RAINER UNKEL, BERT BOSTELMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, CARO/ZENSEN. MARC-STEFFEN UNGER<br />
48 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
»<br />
„Und das möchte Außenminister Walter<br />
Steinmeier bei einem Verbündeten im<br />
Kampf gegen die Terrormiliz vermeiden.“<br />
Die Motive der Unterstützer sind verständlich.<br />
Die politischen Helfer von Air<br />
Berlin kommen vor allem aus dem Kreis<br />
von SPD, Grünen und Gewerkschaften. Sie<br />
wollen die Fluglinie mit ihren Jobs sichern.<br />
Air Berlin hat rund 8000 Mitarbeiter in<br />
Deutschland und sorgt mit ihren 30 Millionen<br />
Passagieren noch mal für bis zu 30 000<br />
weitere Jobs bei Imbissen oder Abfertigern<br />
am Flughafen und im Umland.<br />
Das lässt die Gewerkschaft Verdi als Vertreterin<br />
der Mitarbeiter an Bord und Boden<br />
sogar grundsätzliche Vorbehalte gegen die<br />
in England residierende rot-weiße Fluggesellschaft<br />
vergessen. Lange Jahre wetterte<br />
Verdi, dass Air Berlin sich gegen Tariflöhne<br />
und Betriebsräte stemmte. Und noch im<br />
Sommer hatte die Gewerkschaft zum Boykott<br />
von Golffluglinien wie Qatar Airways<br />
aufgefordert, weil diese Kündigungsschutz<br />
und Mitbestimmung verweigern. „Nun<br />
helfen sie, dass die ebenfalls gewerkschaftsfreie<br />
Etihad mit ihrer Expansion Arbeitsplätze<br />
bei der Lufthansa gefährdet“,<br />
wundert sich ein Manager der Fluglinie.<br />
PILOTENSTREIK<br />
Mit der Fleischeraxt<br />
Fünf Lektionen für den Arbeitskampf von Willie Walsh, dem Chef der<br />
British-Airways-Mutter IAG, der Piloten dreimal in die Knie zwang.<br />
ANGST UM DIE LANGSTRECKE<br />
Politikern kommt es dazu vor allem auf die<br />
Stärkung der regionalen Wirtschaftskraft<br />
an. So will die nordrhein-westfälische Landesmutter<br />
Hannelore Kraft auch ihre Flughäfen<br />
füllen und dabei besonders ihrer<br />
Landeshauptstadt Düsseldorf die Air-Berlin-Langstreckenflüge<br />
erhalten. Ähnlich<br />
tickt Baden-Württembergs Landeschef<br />
Winfried Kretschmann. In Stuttgart ist die<br />
Abu-Dhabi-Strecke von Air Berlin der einzige<br />
Langstreckenflug gen Asien.<br />
Die Verbündeten der Lufthansa halten<br />
diese Motive für naiv. „Natürlich sichert<br />
Etihad Jobs“, heißt es im schwarz-gelben<br />
Unterstützerkreis. „Aber am Ende verliert<br />
Lufthansa unter dem Druck der Golflinien<br />
mehr Jobs, als Air Berlin erhält.“ Das träfe<br />
vor allem die Ministerpräsidenten Horst<br />
Seehofer (Bayern) und Volker Bouffier<br />
(Hessen), in deren Ländern die LH-Drehkreuze<br />
Frankfurt und München liegen.<br />
Doch der Zank könnte bald hinfällig<br />
werden. Denn offenbar wollen Deutschland<br />
und die Emirate die Flugrechte neu<br />
regeln. Danach „sind die Verhandlungen<br />
zu einer neuen zwischenstaatlichen Vereinbarung<br />
aufgenommen worden, um eine<br />
dauerhafte Lösung zu finden“, heißt es<br />
aus Kreisen des Verkehrsministeriums. n<br />
ruediger.kiani-kress@wiwo.de, christian schlesiger | Berlin<br />
Mit den Chefs seiner europäischen Konkurrenten<br />
hat Lufthansa-Chef Carsten<br />
Spohr in diesem Jahr vor allem eine<br />
Sache gemeinsam: Pilotenstreiks. Ob Air<br />
France, Tap aus Portugal, Alitalia oder<br />
die isländische Icelandair: Bei ihnen allen<br />
haben die Flugzeugführer die Arbeit<br />
niedergelegt oder dies zumindest angekündigt,<br />
als die Unternehmensführung<br />
Gehälter, Pensionen und Freizeit kürzen<br />
wollte, um im Wettbewerb mit Billigfliegern<br />
oder Fluglinien <strong>vom</strong> Golf nicht unterzugehen.<br />
Nur eine wirkt in alledem wie ein Hort<br />
des Arbeitsfriedens: British Airways. Bei<br />
der britischen Fluggesellschaft, deren Abkürzung<br />
BA unter Vielfliegern wegen der<br />
vielen Arbeitsniederlegungen lange Jahre<br />
für „Buche anderswo“ stand, gibt es seit<br />
gut vier Jahren keine Arbeitskämpfe<br />
mehr.<br />
Das ist das Werk von Willie Walsh, dem<br />
Chef des IAG-Konzerns, zu dem neben<br />
British Airways auch Iberia und Vueling<br />
Gewendeter Gewerkschaftsführer<br />
British-Airways-Übervater Walsh<br />
aus Spanien gehören. Der gebürtige Ire, der<br />
am letzten Samstag dieses Monats seinen<br />
53. Geburtstag feierte, hat seit 2001 zunächst<br />
als Chef der irischen Aer Lingus,<br />
dann von BA und zuletzt als Aufsichtsratschef<br />
von Iberia gleich bei drei Fluglinien<br />
den Piloten Konzessionen abgerungen und<br />
sie bislang von weiteren Streiks abgehalten.<br />
Dabei hat ihm vor allem seine Härte Spitznamen<br />
wie „The Slasher“ (zu Deutsch: die<br />
Fleischeraxt) eingetragen. Weil BA heute<br />
Europas profitabelste Traditionslinie ist, hat<br />
Walsh gleichermaßen den Neid anderer<br />
Airline-Chefs sowie wie den Respekt seiner<br />
Belegschaft geerntet.<br />
Doch so sehr der Manager mit dem billigen<br />
Aussehen – und oft dem Auftreten –<br />
eines Rugbyspielers in der Öffentlichkeit<br />
auch für Härte steht. Der Charme des Metzgers<br />
ist nicht das einzige Mittel, mit dem<br />
Walsh die Piloten auf Linie brachte. „Willies<br />
FOTO: PICTURE PRESS/EYEVINE/CHRISTIAN SINIBALDI<br />
50 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Vorgehen ist deutlich subtiler, als viele<br />
wahrhaben wollen“, sagt John Strickland,<br />
einst Vorstand bei Tochterlinien von BA<br />
sowie KLM und heute als selbstständiger<br />
Unternehmensberater in London tätig. In<br />
Wirklichkeit enthalte Walshs Methode<br />
fünf Lektionen, die sich für seine streikgeplagten<br />
Konkurrenten zu beherzigen<br />
lohnten.<br />
1. KENNE DEINEN GEGNER<br />
Zwar rühmen sich viele Airline-Chefs bester<br />
Kontakte zu ihrer Belegschaft. Doch<br />
keiner kennt die besondere Psyche der<br />
Piloten besser als Walsh. Bevor er nach<br />
seinem Master of Business and Administration<br />
(MBA) am renommierten Dubliner<br />
Trinity College bei Aer Lingus ins Management<br />
aufstieg, war er nicht nur Pilot und<br />
Gewerkschafter. Walsh war bereits mit 24<br />
Jahren sogar Verhandlungsführer – „und<br />
unser wohl gerissenster und härtester“,<br />
erinnert sich respektvoll sein Ex-Kollege<br />
Evan Cullen, heute Präsident der irischen<br />
Pilotengewerkschaft IALPA. In dieser Zeit<br />
sog Walsh auf, wie die Flugzeugführer ticken.<br />
Und er lernte, wie Unternehmen<br />
besser nicht mit ihren Arbeitnehmervertretern<br />
verhandeln: nämlich unehrlich und<br />
wankelmütig.<br />
2. SEI OFFEN UND KONSEQUENT<br />
Auch wenn es die Investoren verschreckte,<br />
Walsh schilderte die Lage des Unternehmens<br />
gegenüber den Angestellten<br />
genauso klar wie gegenüber seinen Aktionären.<br />
„Ich will nicht gute Nachrichten<br />
verkünden, sondern die Wahrheit“, so<br />
sein Motto. Um den Piloten den Ernst der<br />
Lage klarzumachen, öffnete er sogar einer<br />
von deren Gewerkschaft beauftragten<br />
Wirtschaftsprüfungsgesellschaft die<br />
Bücher und verordnete auch sich selbst<br />
und seinen Vorstandsmitgliedern –<br />
zumindest vorübergehend – ähnliche Gehaltseinbußen<br />
wie seinen Untergebenen.<br />
Dazu rechnete Walsh in Tarifverhandlungen<br />
detailliert vor, wie stark das Unternehmen<br />
ohne die Konzessionen seiner<br />
Mitarbeiter schrumpfen müsste. Aber er<br />
präsentierte auch gleichzeitig klar durchgerechnete<br />
Wachstumspläne, die ihm<br />
halfen, beispielsweise die Piloten mit der<br />
Aussicht auf neue Flugzeugmodelle wie<br />
den Superjumbo Airbus A380 oder den<br />
Boeing Dreamliner 787 zu ködern. Dazu<br />
vermied es Walsh, einen einmal beschlossenen<br />
Sanierungsplan durch öffentliche<br />
Kompromissangebote vor einer endgültigen<br />
Einigung zu verwässern oder<br />
während der Verhandlungen weitere Zugeständnisse<br />
zu verlangen.<br />
3. NUTZE STREIKBRECHER<br />
Als die Piloten und später auch die Flugbegleiter<br />
trotzdem streikten, scheute<br />
Walsh keine Tabus, um die Folgen zu mindern.<br />
„Ein vernünftiger Verhandlungsführer<br />
erreicht halt nichts“, sagte er in einem<br />
Interview. Wo andere Airline-Chefs überzogene<br />
Forderungen der Gewerkschaften<br />
beklagen oder flehentlich nach der Politik<br />
rufen, tut er alles, um den Ausstand weitgehend<br />
ins Leere laufen zu lassen. Während<br />
eines Pilotenstreiks bei BA mietete<br />
Walsh gezielt Flugzeuge, und das sogar<br />
bei seinem Erzrivalen, dem irischen Geizflieger<br />
Ryanair. Später im Ausstand der<br />
Flugbegleiter schickte Walsh angelernte<br />
Nachwuchskräfte als Streikbrecher in die<br />
Maschinen und konnte dabei sogar auf<br />
mehrere Tausend Angestellte aus anderen<br />
Unternehmensbereichen zählen. Am<br />
Ende setzte BA auf seinen Flügen sogar<br />
bis zu 1000 bereits von der Sanierung<br />
überzeugte Piloten als Stewards ein.<br />
4. BEWEISE LANGEN ATEM<br />
Um ihre Passagiere nicht unnötig zu verärgern,<br />
geben viele Unternehmen in<br />
Streiks viel zu früh nach, fand Walsh. Er<br />
nicht. „Wer von seiner Sache nicht überzeugt<br />
ist, sollte besser gar nicht erst anfangen“,<br />
so der Manager. Mit den Piloten<br />
rang er bei British Airways am Ende gut<br />
ein Jahr und mit der Kabinenbesatzung<br />
anschließend gleich noch mal so lange.<br />
Doch er gab nicht nach, selbst als Gewerkschafter<br />
ihn mit Adolf Hitler verglichen<br />
oder der Arbeitskampf bei Iberia in<br />
Spanien antibritische Demonstrationen<br />
auslöste. Doch am Ende setzte Walsh<br />
seinen Willen und die Sanierung durch.<br />
5. TRITT RECHTZEITIG ZURÜCK<br />
Als bei BA die Stimmung in der niedergerungenen<br />
Belegschaft nach dem Umbau<br />
am Boden war, zog sich Walsh aus dem<br />
Tagesgeschäft weitgehend zurück. Er arbeitete<br />
an der Fusion mit Iberia und übernahm<br />
schließlich den Chefposten bei der<br />
gemeinsamen Holding IAG. Die Führung<br />
und den Neuaufbau von BA überließ er<br />
seinem Vize, dem umgänglichen damaligen<br />
Finanzchef Keith Williams.<br />
n<br />
ruediger.kiani-kress@wiwo.de<br />
WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 51<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Spielball für<br />
Ego-Trips<br />
SCHUMAG | Wie Missmanagement einen<br />
Mittelständler auf den Hund brachte.<br />
Schweres Erbe<br />
Schumag-Chef<br />
Ohlinger muss sich mit<br />
Bordellrechnungen<br />
seines Vorgängers<br />
herumschlagen<br />
Mit Johannes Ohlinger ist bei dem<br />
Aachener Maschinenbauer Schumag<br />
die Tugend der Sparsamkeit<br />
eingezogen. Der 60-jährige Alleinvorstand<br />
schaltet in den leeren Büros des Verwaltungsgebäudes<br />
abends das Licht aus. Als<br />
Dienstwagen fährt er einen Hyundai. Jeder<br />
soll sehen, dass es mit der Verschwendungssucht<br />
bei der Schumag AG vorbei ist.<br />
Die Zeichen, die Ohlinger zu setzen versucht,<br />
sind überfällig. Denn das 1830 gegründete<br />
Traditionsunternehmen, das mit<br />
Präzisionsteilen made in Germany wirbt,<br />
ist in Nöten. Der Mittelständler mit 49 Millionen<br />
Euro Umsatz und rund 660 Beschäftigten<br />
schreibt seit fünf Jahren Verlust. Vor<br />
einem Jahr teilte Ohlinger den Aktionären<br />
mit, dass die Hälfte des Grundkapitals verbraucht<br />
ist.<br />
VIELE MILLIONEN EURO VERSENKT<br />
Der Niedergang resultiert nicht nur aus<br />
dem scharfen Wettbewerb, der bei Antriebswellen,<br />
Stiften und Ventilen für die<br />
Autoindustrie tobt. Und auch der Umsatzeinbruch<br />
in der Finanzkrise 2009 sowie der<br />
überbordende Verwaltungsapparat nach<br />
dem Verkauf einer wichtigen Sparte erklären<br />
die miese Lage nur unzureichend.<br />
Der Kern des Übels bei Schumag liegt<br />
darin, dass das Unternehmen im besten<br />
Fall schlecht geführt, im schlimmsten Fall<br />
von Aktionären, Aufsichtsräten und Vorständen<br />
für eigene Interessen missbraucht<br />
und geplündert wurde. Das zeigen interne<br />
Schumag-Unterlagen, die der Wirtschafts-<br />
Woche vorliegen. Danach fehlen dem Unternehmen<br />
heute Millionen, die für dubiose<br />
Berater, für unnütze Investitionen und<br />
für private Zwecke bis hin zum Bordellbesuch<br />
draufgingen.<br />
Details über einige der Schandtaten<br />
dürften ans Licht der Öffentlichkeit gelangen,<br />
wenn es zum Prozess kommt. Gerade<br />
erst hat Schumag-Chef Ohlinger, seit zwei<br />
Jahren an der Spitze, bei einigen Verantwortlichen<br />
über vier Millionen Euro eingeklagt.<br />
Im Zentrum der Vorwürfe stehen der<br />
frühere Vorstandschef Nicolaus Heinen,<br />
der bis Mitte 2010 bei Schumag das Sagen<br />
hatte, sowie Großaktionär Peter Koschel,<br />
der auch Mitglied des Aufsichtsrats ist.<br />
Ob die beiden zur Verantwortung gezogen<br />
werden können, wird nicht einfach<br />
festzustellen sein. Fest steht dagegen: In<br />
den vergangenen Jahren gab es viele merkwürdige<br />
Vorgänge, die den Eindruck erwecken,<br />
als sei Schumag mehr ein Selbstbedienungsladen<br />
denn ein gewinnorientiertes<br />
Unternehmen gewesen:<br />
n Allein zwischen 2008 und 2012 gab der<br />
damalige Schumag-Vorstand unter Ohlin-<br />
Mächtige Eigentümer<br />
Aktionärsstruktur der Schumag AG<br />
(in Prozent <strong>vom</strong> Grundkapital)<br />
Meibah International<br />
Streubesitz<br />
13<br />
8<br />
Schumag-Mitarbeiter*<br />
52<br />
27<br />
* Anteil wird indirekt gehalten; Quelle: Unternehmen<br />
Peter Koschel*<br />
gers Vorgängern knapp neun Millionen Euro<br />
für externe Berater aus, deren Wert für<br />
das Unternehmen teilweise zweifelhaft waren.<br />
So erhielt ein Berater für seine Ratschläge<br />
im Bereich „Marketing, Vertrieb<br />
und Finanzierung“ 142 000 Euro. Welche<br />
Leistungen er erbrachte, ist nirgendwo<br />
festgehalten. Später tauchte dieser Berater<br />
als Geschäftsführer einer Firma auf, an der<br />
der damalige Schumag-Chef Heinen mittelbar<br />
beteiligt war. Ohlinger zweifelt an,<br />
dass der Berater für sein Geld etwas Sinnstiftendes<br />
geleistet hat. Heinen hält dagegen,<br />
der Berater habe Schumag „PR-mäßig<br />
stärker international ausrichten sollen“.<br />
Seine Arbeitsleistung sei mit „voller Zufriedenheit<br />
zur Kenntnis genommen“ worden.<br />
n Mehr als eine halbe Million Euro Honorar<br />
für nicht näher spezifizierte Beratung<br />
sackte eine Gesellschaft ein, die zeitweise<br />
Schumag-Aufsichtsrat Koschel und Ex-Vorstand<br />
Heinen indirekt gehörte. Heinens<br />
Nachfolger, der mittlerweile verstorben ist,<br />
führte diese Gesellschaft und erhielt überdies<br />
ein Beraterhonorar von rund 900 000<br />
Euro. Koschel behauptet heute, dass er gegen<br />
diese Verträge gewesen sei. Heinen<br />
bleibt dabei, dass sein Nachfolger wertvolle<br />
Dienste geleistet und hierfür ein „angemessenes<br />
Honorar“ erhalten habe, das<br />
<strong>vom</strong> Aufsichtsrat genehmigt worden sei.<br />
n Heinens verstorbener Nachfolger war<br />
nicht gerade sparsam. Nach Informationen<br />
der WirtschaftsWoche soll er jeden Monat<br />
mehrere Tausend Euro in einem Edel-Bordell<br />
im Rheinland „mit verführerischem<br />
Ambiente im tropischen Stil“ verprasst und<br />
die Rechnung mit der Firmenkreditkarte<br />
beglichen haben.<br />
FOTO: IMAGO/RENE SCHULZ<br />
52 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
n Mit 3,5 Millionen Euro zu Buche schlug<br />
den internen Unterlagen zufolge eine „Geschäftslinie<br />
Russland“ nebst zugehörigem<br />
„Know-how-Paket“, das Schumag unter<br />
Heinen erwarb. Das sollte dem Unternehmen<br />
Aufträge im Umfang von 20 bis 35 Millionen<br />
Euro für Ventile einbringen, die in<br />
russischen Ölpipelines eingebaut werden<br />
sollten. Doch aus dem erhofften Geschäft<br />
wurde nichts. Es ist nicht einmal klar, ob<br />
Schumag das angebliche „Know-how“, das<br />
etwa aus Zeichnungen besteht, überhaupt<br />
nutzen darf, da die Rechte möglicherweise<br />
bei einer anderen Firma liegen. Verkäufer<br />
des „Know-how-Pakets“ war eine Gesellschaft,<br />
die zeitweise Aufsichtsrat Koschel<br />
sowie dem damaligen Schumag-Vorstand<br />
Heinen und dessen Vater gehörte.<br />
n Auf dubiose Weise kam Schumag auch<br />
zu einer mehr als zwei Millionen Euro teuren<br />
5000 Quadratmeter großen Produktionshalle,<br />
die bis heute leer steht. Zwar<br />
geht aus Aufsichtsratsunterlagen hervor,<br />
dass Heinens Vorgänger allenfalls „langfristig“<br />
eine „ausreichende Auslastung“<br />
erwarteten und andere Maßnahmen einem<br />
Neubau vorzogen. Dennoch drängten<br />
die Betriebsräte im Aufsichtsrat auf einen<br />
zügigen Bau und kritisierten gar, dass<br />
der Vorstand mehrere Angebote einholen<br />
wollte, um Geld zu sparen. Die Arbeitnehmervertreter<br />
wollen dazu nicht Stellung<br />
nehmen.<br />
Das Leid mit den Chefs und Eigentümern<br />
hat bei Schumag Tradition. Bis 2002<br />
gehörte der frühere Familienbetrieb zum<br />
einstigen Babcock-Konzern, der Geld aus<br />
der Kasse der Aachener Tochter abzog.<br />
Nach der Pleite des Anlagenbauers 2002<br />
wurde Schumag als eigenständiges, börsennotiertes<br />
Unternehmen weitergeführt<br />
und 2007 mehrheitlich von der Berliner<br />
Unternehmerfamilie Kazinakis übernommen.<br />
Als deren Beteiligungsgesellschaft<br />
pleiteging, war über Jahre unklar, wem<br />
Schumag mehrheitlich gehört. Das hat sich<br />
vor einigen Wochen grundlegend geän-<br />
»Schumag wird<br />
für die Fehden der<br />
Führungskräfte<br />
missbraucht«<br />
Verklagter Ex-Schumag-Vorstand Heinen<br />
Stattdessen wanderte das Geld unter anderem<br />
in das ominöse und offensichtlich gescheiterte<br />
Russland-Geschäft, für das nun<br />
niemand die Verantwortung tragen will.<br />
Schumag-Chef Ohlinger fühlt sich von<br />
Großaktionär und Aufsichtsrat Koschel, der<br />
dem Unternehmen das „Know-how-Paket“<br />
verkaufte, sowie <strong>vom</strong> damaligen Vorstandschef<br />
Heinen hereingelegt. Koschel dagegen<br />
schiebt alles auf die damaligen Vorstände.<br />
Diese seien schuld daran, dass Schumag<br />
mithilfe des „Know-how-Pakets“ keine Aufträge<br />
hereinholen konnte. So habe Schumag<br />
in einem Fall Zertifikate für ein paar Tausend<br />
Euro benötigt, um einen Millionenauftrag an<br />
Land zu ziehen. Der Vorstand aber habe die<br />
Rechnung des Zertifizierers nicht beglichen<br />
und damit das Geschäft versemmelt. Im Übrigen<br />
erwarte er noch Gewinne. Die Geschäftslinie<br />
sei immer noch werthaltig.<br />
dert, als die Hälfte der Aktien an die<br />
Münchner Firma Meibah ging, die zur chinesischen<br />
Meikai-Gruppe gehört. Etwas<br />
mehr als ein Viertel der Aktien hält Schumag-Aufsichtsrat<br />
Koschel, rund acht Prozent<br />
halten die Mitarbeiter (siehe Grafik).<br />
Losgegangen war es mit den dubiosen<br />
Geschäften bei Schumag, nachdem das<br />
Unternehmen seine Maschinenbausparte<br />
verkauft hatte und von heute auf morgen<br />
über 40 Millionen Euro auf dem Konto lagen.<br />
GR0SSE RETOURKUTSCHE<br />
Doch die Fakten sprechen eine andere<br />
Sprache: Bis September 2012 hat die Energietochter<br />
von Schumag, die die Pipeline-<br />
Geschäfte an Land ziehen sollte, 6,7 Millionen<br />
Euro verbrannt.<br />
Ex-Vorstandschef Heinen holt gar zur<br />
großen Retourkutsche gegen das gegenwärtige<br />
Management aus. Schumag, so<br />
sein Vorwurf, werde „noch immer als<br />
Spielball für die Ego-Trips und Fehden der<br />
Eigentlich hätte der Vorstand damit örtlichen Führungskräfte“ missbraucht.<br />
dringend nötige Investitionen finanzieren<br />
müssen. Doch dazu kam es nicht. Die Maschinen<br />
bei Schumag sind inzwischen so<br />
Der Aufsichtsrat habe beim Russland-Geschäft<br />
sämtliche Informationen gehabt<br />
und den Deal einstimmig genehmigt.<br />
marode, dass sie jedes Jahr 35 000 Stunden In der Tat müssen sich die Aufsichtsratsmitglieder,<br />
zu denen damals auch Oh-»<br />
ausfallen. © Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Unternehmen&Märkte<br />
»<br />
men weltweit führend“, sagt Roland<br />
Göhde, Chef von German<br />
Healthcare Partnership (GHP),<br />
einer Allianz der Privatwirtschaft<br />
zur Stärkung von Gesundheitssystemen<br />
in Entwicklungsländern,<br />
die von der Bundesregierung<br />
unterstützt wird.<br />
Die Zeit drängt. Knapp 5000<br />
Ebola-Infizierte in Westafrika starben bereits.<br />
Zwar gelten Nigeria und Senegal wieder<br />
als Ebola-frei. Doch in den von Bürgerkrieg<br />
gezeichneten Staaten Liberia, Sierra<br />
Leone und Guinea verdoppelt sich die Zahl<br />
der Infizierten weiter alle drei Wochen. Die<br />
US-Seuchenschutzbehörde Centers for<br />
Desease Control and Prevention (CDC)<br />
rechnet bald mit 1,4 Millionen Infizierten.<br />
Die ökonomischen Folgen sind verheerend<br />
(siehe Interview Seite 10).<br />
Die deutschen Diagnostikfirmen profitierten<br />
von ausgezeichneter Forschung in<br />
diesem Bereich. So arbeiten am Institut für<br />
Virologie der Uni Marburg einige der weltweit<br />
führenden Experten für Filoviren, zu<br />
denen der Ebola-Virus gehört. Ebenso relinger<br />
gehörte, die Frage gefallen lassen,<br />
ob sie ausreichend hingeschaut haben. Die<br />
Unterlagen einer Aufsichtsratssitzung jedenfalls<br />
erwecken den Eindruck, dass die<br />
Kontrolleure nicht so ganz genau wussten,<br />
was sie da eigentlich für die Schumag einkauften.<br />
Im Protokoll ist eher rudimentär<br />
von einer „Geschäftslinie Russland“ die<br />
Rede. Obwohl es intern auch warnende<br />
Stimmen gab, winkte der Aufsichtsrat den<br />
Russland-Deal durch.<br />
NEUER ÄRGER<br />
Wann Schumag aus dem Schlamassel<br />
kommt, ist nicht absehbar. Denn wer gehofft<br />
hatte, der Einstieg des chinesischen<br />
Autoteile- und Kleidungsherstellers Meikai<br />
mit 52 Prozent brächte Ruhe ins Unternehmen,<br />
sieht sich getäuscht. Erst einmal<br />
schafft der neue Großaktionär weitere Probleme.<br />
So verliert Schumag durch den<br />
neuen Mehrheitseigentümer das Recht,<br />
die Verluste der Vergangenheit mit späteren<br />
Gewinnen steuerlich verrechnen zu<br />
können. Das heißt, das Unternehmen<br />
muss künftige Gewinne – und in diesem<br />
Jahr wird Schumag vermutlich wieder<br />
schwarze Zahlen schreiben – versteuern.<br />
Internen Kalkulationen zufolge könnten<br />
durch den Eigentümerwechsel in den<br />
kommenden fünf Jahren Steuern in Höhe<br />
von bis zu zehn Millionen Euro anfallen.<br />
Des Weiteren drohen die Eigentumsverhältnisse<br />
Schumag zu blockieren. Denn<br />
Miaocheng Guo, der Chef des neuen Großaktionärs<br />
Meikai, hätte auch gerne Koschels<br />
27 Prozent übernommen. Der aber<br />
wollte nicht für 1,35 Euro pro Aktie verkaufen.<br />
Nun kann Koschel mit seinen 27 Prozent<br />
eine Kapitalerhöhung bei Schumag<br />
durch die Chinesen verhindern, da hierfür<br />
75 Prozent der Stimmen auf der Hauptversammlung<br />
nötig sind.<br />
Der Betriebsrat steht dem neuen Aktionär<br />
aus China Unternehmenskreisen zufolge<br />
ebenfalls eher feindlich gegenüber.<br />
Die Mitarbeiter sind bei Schumag mächtig,<br />
da ihnen acht Prozent des Unternehmens<br />
gehören. Meikai-Chef Gou soll kürzlich<br />
zwar versichert haben, am Standort Aachen<br />
festhalten zu wollen, um die Kunden<br />
nicht zu verunsichern. Doch das Misstrauen<br />
der Beschäftigten ist groß.<br />
Die vergangene Schumag-Hauptversammlung<br />
beendete Betriebsrats- und<br />
Aufsichtsratschef Ralf Marbaise mit den<br />
Worten: „Wir haben noch ein Ass im Ärmel.“<br />
Viele Anwesende verstanden das als<br />
Drohung an die Adresse der Chinesen. n<br />
melanie.bergermann@wiwo.de | Frankfurt<br />
Bis zur Grasnarbe<br />
EBOLA | Deutsche Unternehmen sind führend bei Virustests und<br />
könnten eine wichtige Rolle im Kampf gegen die Epidemie spielen.<br />
Blau ist die Farbe des Todes. Ein paar<br />
Tropfen Blut reichen, um zu erkennen,<br />
ob Ebola im Körper ist. Je blauer<br />
sich das Röhrchen in Gestalt einer Plastikzigarette<br />
verfärbt, desto schlimmer wütet<br />
das Virus, desto näher ist der Tod. Bleibt<br />
das Röhrchen weiß, gibt es Entwarnung.<br />
Im Kampf gegen Ebola<br />
ist die Hoffnung weiß – die Hoffnung,<br />
dass man sich (noch)<br />
nicht angesteckt hat.<br />
Ihre Hoffnung, Afrika im<br />
Kampf gegen Ebola helfen zu<br />
können, haben drei deutsche<br />
Unternehmer noch nicht aufgegeben.<br />
Seit sieben Monaten bieten<br />
Hans Hermann Söffing, Tom Halgasch<br />
und Bernhard Niethe der Bundesregierung<br />
und der Weltgesundheitsorganisation<br />
WHO zwei fast fertig erprobte Ebola-<br />
Schnelltests an; erforscht wurden sie vor<br />
zehn Jahren. Niethe entwickelte die Diagnostika,<br />
Söffing kann sie in seiner Firma<br />
Senova in Weimar fertigen, Halgasch verfügt<br />
über ein Labor in Guinea und könnte<br />
den Vertrieb in Westafrika organisieren.<br />
WELTWEIT VORN<br />
Noch zögern das Bundesgesundheitsministerium<br />
und die WHO, den Test in Afrika<br />
einzusetzen, da er nicht alle vorgeschriebenen<br />
Prozeduren durchlaufen hat. Der<br />
Schnelltest beruht auf Forschungsergebnissen<br />
der Bundeswehr und unterscheidet<br />
sich von Verfahren, die auf Erbgutanalysen<br />
beruhen. Er weist nicht die Viren nach,<br />
sondern die Abwehrstoffe, die ein Infizierter<br />
gebildet hat. Diese Tests sind mit 20 bis<br />
30 Minuten Dauer deutlich schneller als<br />
Erbguttests, aber in der Regel auch nicht<br />
ganz so genau. Zudem fehlt der endgültige<br />
Beweis der Zuverlässigkeit.<br />
Während Westafrika unter der Ebola-<br />
Epidemie zusammenzubrechen droht,<br />
bieten sich deutsche Unternehmen an, bei<br />
einem wichtigen Teil der Bekämpfung zu<br />
helfen: bei der Erkennung der Krankheit.<br />
Unternehmen wie GlaxoSmithKline aus<br />
Großbritannien, NewLink Genetics und<br />
Johnson & Johnson aus den USA arbeiten<br />
fieberhaft an Impfstoffen, Firmen von hier<br />
sind führend bei Diagnostika zur Früher-<br />
Fotos<br />
In unseren App-<br />
<strong>Ausgabe</strong>n finden<br />
Sie Aufnahmen<br />
von Rettungskräften<br />
am Ort<br />
kennung des Virus. Schnelltests sind mindestens<br />
so wichtig wie Krankenhäuser und<br />
Versorgungszenten für Kranke.<br />
„Deutsche Unternehmen sind bei der<br />
Entwicklung von diagnostischen Lösungen<br />
zur Erkennung von Ebola neben amerikanischen<br />
und französischen Fir-<br />
Außer Kontrolle<br />
Zahl der Ebola-Infizierten und -Toten in<br />
Westafrika (in Tausend)<br />
10<br />
8<br />
6<br />
4<br />
2<br />
Infizierte<br />
Tote<br />
0<br />
M A M J J A S O<br />
Quelle: WHO<br />
2014<br />
FOTO: ACTION PRESS/ZUMA PRESS/NURPHOTO<br />
54 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Suche nach Infizierten<br />
Mitarbeiterin des<br />
Liberianischen Roten<br />
Kreuzes in Monrovia<br />
Ebola-Schnelltests made in Germany<br />
ALTONA DIAGNOSTICS Sitz in Hamburg,<br />
2007 gegründet. Erfolge bei Diagnose<br />
von BSE und SARS. Ebola-Test analysiert<br />
Virus-Erbgut, dauert vier Stunden.<br />
Vertrieb in Westafrika über Düsseldorfer<br />
Diagnostikahersteller Qiagen.<br />
ALERE TECHNOLOGIES Gegründet 1998<br />
in Jena. Stärken: Bietet für Afrika bereits<br />
mobile Geräte für Tests von HIV und Tuberkulose.<br />
Ebola-Test analysiert Viren-Erbgut.<br />
Soll für Nichtregierungsorganisationen feldtauglichen<br />
Ebola-Schnelltest entwickeln.<br />
SENOVA 30-Mitarbeiter-Betrieb in Weimar.<br />
Ebola-Test per Streifen oder Röhrchen<br />
wäre revolutionär: Ergebnis in Minuten.<br />
Basiert auf Forschungen der<br />
Bundeswehr. Reagiert auf Antikörper. Beweis<br />
der Zuverlässigkeit steht noch aus.<br />
nommiert ist das Hamburger Bernhard-<br />
Nocht-Institut für Tropenmedizin, dessen<br />
Forscher seit März in Guinea im Auftrag eines<br />
europäischen Konsortiums ein mobiles<br />
Untersuchungslabor aufgebaut haben.<br />
Aus diesen Forschungseinrichtungen<br />
haben sich zahlreiche Unternehmen ausgegründet,<br />
etwa in Hamburg die Firma Altona<br />
Diagnostics. Die hat in Zusammenarbeit<br />
mit Forscherkollegen aus Marburg seit<br />
März einen sehr sicher arbeitenden Test<br />
entwickelt, der innerhalb von vier bis fünf<br />
Stunden Ergebnisse liefert. „Er wird im Europäischen<br />
mobilen Labor in Westafrika<br />
und den an die WHO angegliederten Laboratorien<br />
eingesetzt“, sagt Hans Kuhn, Finanzchef<br />
des Unternehmens.<br />
Seit Oktober hat auch Qiagen den Test<br />
im Angebot. Das Biotech-Unternehmen<br />
aus Hilden bei Düsseldorf ist weltweit in<br />
der Diagnostikszene sehr gut bekannt, weil<br />
es sich seit den Achtzigerjahren mit praktischen<br />
Laborsets für die Isolierung von Erbgut<br />
aus biologischem Probenmaterial einen<br />
Namen gemacht hat. Die Produkte von<br />
Qiagen fehlen in keinem Biotech-Labor<br />
der Welt. Qiagen gilt auch bei WHO und<br />
CDC als wichtiger Ansprechpartner. Doch<br />
der Schnelltest hat einen Nachteil. Weil er<br />
das Erbgut analysiert, ist er komplex, verhältnismäßig<br />
teuer. Zudem erfordert er gute<br />
Laborinfrastruktur und geschultes Personal.<br />
Diese Methode sei daher „nicht ohne<br />
Weiteres vor Ort in infrastrukturschwachen<br />
und ländlichen Gebieten einsetzbar“,<br />
sagt Experte Göhde.<br />
ROBUSTE GERÄTE FÜR AFRIKA<br />
Bundesforschungsministerin Johanna<br />
Wanka steckt daher mehrere Millionen Euro<br />
in eine Non-Profit-Organisation in Genf,<br />
die Foundation for Innovative New Diagnostics<br />
(FIND). Diese will einen wirkungsvollen<br />
Test für Westafrika entwickeln lassen<br />
und setzt dabei auf Hilfe des Jenaer Unternehmens<br />
Alere Technologies. Das Spinoff<br />
aus Forschungseinrichtungen der Region<br />
entwickelt Tests, die einfach zu handhaben<br />
sind und in unmittelbarer Patientennähe<br />
durchgeführt werden können.<br />
„Wir arbeiten dezentral und bis herunter<br />
zur Grasnarbe“, beschreibt Alere-Technologies-Chef<br />
Eugen Ermantraut den Ansatz.<br />
Der Vorteil – auch dieser auf Erbgutanalysen<br />
beruhenden Tests – wäre offensichtlich:<br />
„Wenn wir damit zu den Menschen<br />
kommen, schränkt das die Wege ein, die<br />
mögliche Kranke zurücklegen und dabei<br />
weitere Menschen anstecken.“<br />
Noch hat Alere keinen verkaufsfertigen<br />
Test im Angebot. Das Unternehmen ist<br />
aber mit treffsicheren und robusten Tuberkulose-<br />
und Aids-Tests in Afrika im Geschäft.<br />
Weil der Aids-Erreger dem Ebola-<br />
Virus ähnelt, könnte ein angepasster Alere-<br />
Test sehr rasch auch bei der neuen Seuche<br />
funktionieren. Deshalb hat sich FIND auch<br />
schon an Alere gewandt.<br />
Senova-Chef Söffing gibt nicht auf. Er<br />
reist diese Tage nach Guinea. Dort betreibt<br />
sein Geschäftskollege Halgasch, Chef des<br />
Gesundheitsdienstleisters Health Focus in<br />
Potsdam, seit Jahren ein Labor, das sich zu<br />
einer anerkannten Privatklinik gemausert<br />
hat. Für den Schnelltest würden bald Patienten<br />
getestet und Mitarbeiter geschult.<br />
„Wenn man Ebola früh erkennt und den<br />
Patienten isoliert“, ist Söffing optimistisch,<br />
„kann man die Krankheit besiegen.“ n<br />
christian.schlesiger@wiwo.de, susanne kutter,<br />
florian willershausen | Berlin<br />
WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 55<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Château Lidl<br />
WEINHANDEL | Der Einstieg des Discounters Lidl in das Geschäft<br />
mit teuren Weinen trifft den ohnehin angeschlagenen Fachhandel<br />
hart. Und die Konkurrenz zieht nach.<br />
nicht selten von Ortsnachbarn oder Verbandsfreunden<br />
gerüffelt. Lang gehört zum<br />
Verband deutscher Prädikatsweingüter,<br />
der für sich in Anspruch nimmt, die große<br />
Mehrheit der Spitzenproduzenten der 13<br />
deutschen Weinbauregionen zu vertreten.<br />
Die Dämme brechen. Mit Online-Offerten<br />
wie dem 2011er Château d’Yquem für<br />
349 Euro oder dem Saint-Estèphe Grand<br />
Cru Classé 2 Château Montrose des gleichen<br />
Jahrgangs für 89,99 Euro nimmt Lidl<br />
den Wettbewerb nicht nur mit dem stationären<br />
Fachhandel, sondern auch mit den<br />
Versendern hochwertiger Weine auf.<br />
Kampfpreis 299 Euro pro Flasche Château<br />
d’Yquem bei Sauternes im Bordeaux<br />
Der Newsletter der Weinhandlung Lorenz<br />
Adlon in Berlin schwärmt in den<br />
höchsten Tönen: Wer zu Gast sei auf<br />
Château d’Yquem auf der Spitze eines Hügels<br />
oberhalb der Ortschaft Sauternes südöstlich<br />
von Bordeaux, habe „wirklich das<br />
Gefühl, in einer anderen Welt zu sein“. Das<br />
ist sie auch. Insbesondere die Süßweine des<br />
Gutes gelten als die rarsten und besten der<br />
Welt. Ein d’Yquem aus dem Jahr 1811 ist bis<br />
heute laut „Guinness Buch der Rekorde“ die<br />
teuerste je versteigerte Flasche Weißwein:<br />
Sie erzielte 2011 in London 75000 Pfund.<br />
Der jüngste aktuell zu kaufende Jahrgang<br />
2011 ist bei Lorenz Adlon allerdings zurzeit<br />
zum Kampfpreis von 299 Euro zu haben –<br />
50 Euro weniger als Discounter Lidl seit<br />
Ende Oktober für den gleichen Wein in seinem<br />
Online-Shop verlangt. Bei solchen<br />
Preisen ist die Gewinnmarge schmal: Etwa<br />
250 Euro pro Flasche verlangt das Weingut,<br />
das zum Pariser Luxuskonzern LVMH gehört,<br />
schon von seinen Zwischenhändlern,<br />
die an den Einzelhandel weiterverkaufen.<br />
Die Reaktion der Berliner zeigt, wie bedrohlich<br />
der Einstieg von Lidl ins Geschäft<br />
mit hochpreisigen Weinen von der Branche<br />
eingeschätzt wird. „Das ist ein harter<br />
Schlag für den eh schon leidenden Weinfachhandel“,<br />
sagt Olaf Müller-Soppart, Mitgründer<br />
von Jacques’ Weindepot und heute<br />
Inhaber eines Spezialhauses für Weinkellereinrichtungen.<br />
Und die Lage dürfte<br />
sich verschärfen. Denn neben Lidl planen<br />
auch andere Einzelhandelsriesen, das Geschäft<br />
mit teureren Tropfen auszubauen.<br />
Der Konkurrenzkampf um den rund fünf<br />
Milliarden schweren Weinmarkt in<br />
Deutschland erreicht mit dem Lidl-Vorstoß<br />
eine neue Dimension. Bislang beschränkten<br />
sich die Discounter darauf, neben ihrem<br />
Standardsortiment billiger Weine in<br />
Aktionen Rieslinge und Barolos namhafter<br />
Weingüter anzubieten. Die kosten dann<br />
auch mal deutlich mehr als die 2,60 Euro,<br />
die der Deutsche im Schnitt für einen Liter<br />
Discounter-Wein zahlt. Die Aktionen taten<br />
dem Fachhandel wegen der begrenzten<br />
Mengen nicht wirklich weh.<br />
Dennoch wurden Winzer wie Hans Lang<br />
aus Eltville am Rhein, die an Aldi lieferten,<br />
PUNKTE FÜR DEN VERBRAUCHER<br />
Bei den Bordeaux-Weinen soll es nicht bleiben,<br />
Lidl will weitere Länder dazunehmen.<br />
Und andere Handelsketten ziehen nach.<br />
Real plant für die wichtige Vorweihnachtszeit<br />
eine Aktion mit Weinen renommierter<br />
Häuser wie Antinori, Mondavi oder Torres.<br />
Discounter Netto lässt sich von dem Mastersommelier<br />
Frank Kämmer beraten und<br />
führt im laut eigenen Aussagen größten Online-Weinsortiment<br />
eines Discounters unter<br />
anderem chilenische Rotweine für 99,50<br />
Euro oder einen Château Figeac für 249 Euro.<br />
Rewe plant seit Monaten den Aufbau eines<br />
Online-Weinshops und muss nun zusehen,<br />
wie Wettbewerber Lidl mit Werbung in<br />
allen Filialen und TV-Spots voranprescht.<br />
All dies trifft auf einen Fachhandel, der<br />
bereits angeschlagen ist. Weinverkauf ist in<br />
Deutschland mittlerweile die Domäne der<br />
Supermärkte, großen Kaufhäuser und Discounter.<br />
74 Prozent aller Flaschen gehen in<br />
diesem Segment über das Kassenband, gerade<br />
einmal sieben Prozent verkauft der<br />
Fachhandel (siehe Grafik). Das könnte nun<br />
noch weniger werden. „Bis heute war es<br />
nicht lustig mit Weinhandel, jetzt ist er tot“,<br />
klagt ein Berliner Händler, dessen Spezialität<br />
hochwertige Weine aus dem Bordeaux,<br />
der Champagne und den deutschen Spitzenweingütern<br />
sind.<br />
Der Fachhandel leidet darunter, dass für<br />
Weine unterhalb von zehn Euro kaum ein<br />
Kunde Beratung im Ladengeschäft sucht.<br />
Und selbst Händler in der Preislage oberhalb<br />
von 20 Euro pro Flasche können nicht<br />
sicher sein, dass der Kunde, der sich einen<br />
Sancerre zum Steinbutt empfehlen lässt,<br />
den auch im Geschäft einpackt. Das Phänomen<br />
ist auch in anderen Branchen bekannt:„Die<br />
Kunden suchen heute zum Teil<br />
noch im Geschäft auf dem Smartphone<br />
nach dem empfohlenen Wein, und wenn<br />
er im Versand billiger ist, bestellen sie ihn<br />
dort“, schimpft der Berliner Händler, der<br />
FOTO: GETTY IMAGES<br />
56 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Direkt <strong>vom</strong> Discounter<br />
Absatzmengen von Wein in Deutschland<br />
nach Einkaufsstätten (Anteile in Prozent)<br />
12 13<br />
13 13<br />
21 22<br />
27 26<br />
15 14<br />
7 7<br />
5 5<br />
2012 2013<br />
Quelle: GfK Consumer Scan<br />
Lebensmitteleinzelhandel<br />
bis 1500 m 2 Ladenfläche<br />
Selbstbedienungswarenhäuser<br />
und Verbrauchermärkte<br />
Aldi<br />
Restliche Discounter<br />
Winzer<br />
Fachhandel<br />
Restliche Einkaufsstellen<br />
wie Tankstellen, Restaurants<br />
weiß, dass nur die Spezialisierung auf seltene<br />
Weine sein Überleben sichert.<br />
In der Beletage der Weinexperten gibt es<br />
gegenüber den Discountern – anders als bei<br />
manchen Winzern – offenbar weniger Berührungsängste.<br />
So hat Lidl die Kompetenz<br />
für den Verkauf hochwertiger Weine eingekauft<br />
und dafür Richard Bampfield verpflichtet.<br />
Der Brite hat 2012 in Großbritannien<br />
erstmals für die dortigen Lidl-Filialen<br />
Top-Weine ausgesucht und bewertet.<br />
Bampfield ist einer von nur knapp 300 Masters<br />
of Wine, die <strong>vom</strong> gleichnamigen Institut<br />
ausgebildet und geprüft werden. Zu ihnen<br />
zählen einige der einflussreichsten Weinkritiker<br />
wie Michael Broadbent oder Jancis<br />
Robinson.<br />
Aus Deutschland gehört Caro Maurer zu<br />
dem exklusiven Club. Für die Weinautorin<br />
und Dozentin ist Bampfields Lidl-Engagement<br />
kein Sündenfall: „Er bewertet die Weine<br />
nach den üblichen Kriterien.“ Sie freue<br />
sich, dass mit Lidl ein Discounter auch bessere<br />
Qualitäten anbiete und der Kunde so<br />
dazu angeregt werde, auch mal mehr Geld<br />
für einen Wein auszugeben.<br />
Bei Deutschlands größtem Weinhändler<br />
Aldi ist der ehemalige Sommelierweltmeister<br />
Markus Del Monego an Bord – auch er<br />
ein Master of Wine.Del Monego ist Gründer<br />
der Essener Agentur Caveco, die für Aldi die<br />
Weine aussucht. Früher stand Del Monego<br />
mit seinem eigenen Gesicht für die Aldi-<br />
Weinauswahl, nach vielen Anfeindungen<br />
von Kollegen wirkt er inzwischen nur noch<br />
abseits der Öffentlichkeit.<br />
Aldi – bekannt dafür, bewusst spät auf<br />
Branchentrends aufzuspringen – hat noch<br />
keinen Online-Shop, setzt aber auch auf<br />
bessere Weinqualitäten. So arbeitet der Discounter<br />
mit dem badischen Winzer Fritz<br />
Keller zusammen, der seit 2008 für Aldi Süd<br />
die Edition Fritz Keller produziert – zu Preisen<br />
deutlich über dem Aldi-Durchschnitt.<br />
Die Trauben stammen von mehr als 450 badischen<br />
Winzern, die nach Vorgaben Kellers<br />
die Rebstöcke beschneiden und Mengen reduzieren<br />
müssen.<br />
Hinter Lidls Vorstoß stecken indes weitere<br />
Motive als nur der Angriff auf Weinhändler<br />
und Handelskonkurrenten. Lidls Strategie<br />
mit dem Angebot von 1000 Weinen im Online-Shop<br />
ist es auch, die eigenen Kunden an<br />
den gerade durchstartenden Kauf von Lebensmitteln<br />
im Internet zu gewöhnen (WirtschaftsWoche<br />
Heft 44/2013). Alle fürchten<br />
sich auch vor dem Versandhändler Amazon,<br />
der in den USA mit fresh.amazon Erfolg hat.<br />
Tjorven Jorzik ist Geschäftsführer des Beratungsunternehmens<br />
Frag’ Henry, das einen<br />
digitalen Sommelier für Supermärkte entwickelt<br />
hat. Via Touchscreen können sich dabei<br />
Kunden im Geschäft einen Wein empfehlen<br />
lassen. Jorzik meint: „Die Weinfachhändler<br />
leiden zwar unter dem Vorstoß der Discounter,<br />
sind aber eher Kollateralopfer.“<br />
n<br />
thorsten.firlus@wiwo.de<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Ungleiche Partner Früher nahm sich<br />
Ex-Bankräuber Massat (rechts), was er kriegen<br />
konnte, heute unterstützt er Sicherheitsberater<br />
Hannich. Vor beiden steht ein kleiner<br />
Safe, den Massat allerdings trotz seiner<br />
Erfahrung nicht zu knacken vermochte<br />
»Überfälle konnte ich gut«<br />
BANKEN | Was ist der Einbruch in eine Bank gegen den Schutz einer Bank? Die Antwort<br />
geben zwei Insider: der Ex-Bankräuber Siegfried Massat und der Sicherheitsberater Rainer<br />
Hannich, die dabei helfen, Filialen besser auf Überfälle vorzubereiten.<br />
FOTO: CHRISTOF MATTES FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
58 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Wenn Siegfried Massat ans Rednerpult<br />
tritt und sich vorstellt, geht ein Raunen<br />
durchs Auditorium. Seine Zuhörer sind<br />
Banker. Der eine oder andere von ihnen<br />
hat selbst Überfälle erlebt<br />
oder Geschichten von betroffenen<br />
Kollegen gehört.<br />
Manches Opfer empfindet<br />
es als Unverschämtheit,<br />
wenn sich ein verurteilter<br />
Bankräuber wie Massat als<br />
Dozent vor Bankangestellte<br />
hinstellt. Andere dagegen<br />
sehen die Vorträge des<br />
72-Jährigen als unterhaltsamen<br />
Kontrapunkt zu den oft<br />
drögen Programmen auf Finanzkongressen<br />
oder Sicherheitsmessen und feixen zu<br />
den abenteuerlichen Storys des ehemaligen<br />
Berufsverbrechers.<br />
Nach Absitzen diverser Strafen hat Massat<br />
mit seiner Vergangenheit abgeschlossen.<br />
Heute arbeitet er mit Rainer Hannich<br />
zusammen, der lange Schutzbeauftragter<br />
einer Landesbank war und sich danach als<br />
Sicherheitsberater selbstständig gemacht<br />
hat. Hannich hat Massats erzählerisches<br />
Talent entdeckt und stellt sein Insiderwissen<br />
nun Bankern zur Verfügung.<br />
Massat plaudert in rheinischem Singsang,<br />
bringt seine Geschichten von den<br />
Überfällen sympathisch-sachlich rüber.<br />
Vor Bankern tritt er im Anzug auf, sonst<br />
kleidet er sich modisch, aber leger, trägt<br />
Hemd oder Pulli, dazu eine helle Hose. Die<br />
Haare auf dem sonnengebräunten Schädel<br />
sind kurz getrimmt, ein schlangenförmiges<br />
Tattoo auf dem rechten Unterarm weist auf<br />
die Knastkarriere hin. Insgesamt hat er<br />
rund 30 Jahre hinter Gittern verbracht.<br />
Herr Massat, kann man von Banküberfällen<br />
reich werden?<br />
Manche vielleicht, ich nicht. Die Beute sah<br />
zwar immer nach viel Geld auf einen<br />
Schlag aus, aber dazwischen hatte ich<br />
Durststrecken und Fehlschläge. Wenn man<br />
davon leben muss, bleibt nicht viel übrig.<br />
Warum haben Sie überhaupt Banken<br />
überfallen, wenn es nichts bringt?<br />
Ich bin in die Kriminalität geraten durch<br />
meine Biografie – Heimkind, Jugendknast<br />
und so weiter. Dann habe ich nach anfänglichen<br />
Rückschlägen festgestellt, dass<br />
Überfälle etwas waren, was ich sehr gut<br />
konnte. Es war mein Job. Ich war Berufsverbrecher,<br />
der scheinbare Erfolg verschaffte<br />
mir Anerkennung in meinem<br />
Umfeld.<br />
Wann haben Sie Ihr Talent für Überfälle<br />
entdeckt?<br />
DER WACHHUND<br />
Hannich, 61, arbeitete bis<br />
2007 als sogenannter<br />
Zentraler Schutzbeauftragter<br />
einer deutschen Landesbank<br />
und machte sich<br />
danach als unabhängiger<br />
Sicherheitsberater für<br />
Banken und Sparkassen<br />
selbstständig.<br />
Meinen ersten richtigen Banküberfall habe<br />
ich mit Anfang 30 verübt, in den Siebzigerjahren.<br />
Davor bin ich in Banken eingebrochen,<br />
wenn niemand da war, und habe den<br />
Tresor aufgeschweißt. Das<br />
dauerte einmal ein ganzes<br />
Wochenende, in einer kleinen<br />
Volks- und Raiffeisenbank<br />
in der Nähe von Mönchengladbach.<br />
Ein Kumpel<br />
und ich haben schichtweise<br />
Brenner und Meißel bedient.<br />
Am Ende waren<br />
Scheine drin im Wert von<br />
60 000 D-Mark, aber viele<br />
versengt von den Funken<br />
<strong>vom</strong> Aufschweißen.<br />
Was kam nach den Bankeinbrüchen?<br />
Beim ersten Überfall sind wir vor Schreck<br />
wieder rückwärts raus aus der Filiale, weil<br />
so viele Kunden im Schalterraum standen.<br />
Das war ein Fehler, wie ich später gelernt<br />
habe. Denn für Bankräuber ist es gut, wenn<br />
viele Kunden im Raum sind.<br />
Herr Hannich, wissen Sie als Sicherheitsexperte<br />
und natürlicher Gegner von Leutten<br />
wie Herrn Massat, warum das so ist?<br />
Für Banken als Unternehmen ist bei Überfällen<br />
das Wichtigste, Leben und Gesundheit<br />
von Kunden und Mitarbeitern zu<br />
schützen. Das sind auch die Vorgaben der<br />
Berufsgenossenschaften, über die die Mitarbeiter<br />
versichert sind. Das Personal hat<br />
strikte Anweisung, auf alle Forderungen<br />
der Täter einzugehen – vor allem, wenn<br />
Kunden dabei sind.<br />
Und wenn gerade keine<br />
Kunden da sind?<br />
Dann kann man schon mal<br />
leichter riskieren, den<br />
Alarm auszulösen, ohne<br />
dass es die Bankräuber merken.<br />
Viele Tresore oder Tresorräume<br />
lassen sich mit einer<br />
alternativen Kombination<br />
öffnen, die unbemerkt<br />
Alarm auslöst.<br />
Herr Massat, wie ging es<br />
weiter nach Ihrem ersten, misslungenen<br />
Überfall?<br />
Wir sind erwischt worden, wurden aber<br />
nicht verurteilt. Denn wir sind vor Vollendung<br />
von der Tat reuevoll zurückgetreten,<br />
wie Juristen sagen. Später habe ich mir<br />
dann neue Komplizen gesucht und weitergemacht.<br />
Wie haben Sie die Kunden und Mitarbeiter<br />
der Banken unter Kontrolle gebracht?<br />
Wir haben sie bedroht. Meine Komplizen<br />
hatten meist Pistolen, aber ich trug eine<br />
DER PANZERKNACKER<br />
Massat, 72, Spitzname<br />
Siggi, verbrachte seine Jugend<br />
im Heim, raubte Banken<br />
und Juweliere aus und<br />
landete im Gefängnis, um<br />
am Ende zu den Guten<br />
überzulaufen. Heute referiert<br />
er auf Finanzkongressen<br />
und Sicherheitsmessen<br />
über seine Taten.<br />
Schrotflinte, der Lauf gekürzt, der Schaft<br />
abgesägt. Das ist eine ganz bösartige Waffe,<br />
und das sieht man ihr auch an. Die Wirkung<br />
auf Menschen ist schon allein beim<br />
Anblick verheerend. Allerdings haben wir<br />
während eines Überfalls niemals eine Waffe<br />
abfeuern müssen. Die Leute mussten<br />
sich hinlegen und die Angestellten das<br />
Geld aus der Kasse herausgeben.<br />
Wie kamen Sie da ran?<br />
Einer von uns sprang über den Bedienschalter,<br />
schnappte sich einen Bankangestellten<br />
und ging mit dem in den abgeschirmten<br />
Kassenraum. In den kam man<br />
meist nur durch eine Tür hinter der Schalterhalle.<br />
Sie haben nie auf Menschen geschossen,<br />
warum?<br />
Unsere Bande wollte das auf jeden Fall verhindern,<br />
weil der Fahndungsdruck auf uns<br />
sonst überhand genommen hätte. Wir haben<br />
also nicht allein aus Mitgefühl so gehandelt.<br />
Weil keiner zu Schaden gekommen<br />
ist, hat die Polizei nach einigen Tagen<br />
die Suche aufgegeben und sich auf noch<br />
drastischere Fälle konzentriert.<br />
Herr Hannich, wie bereiten Sie die Banken<br />
und ihre Mitarbeiter auf solche oder<br />
ähnliche Überfälle vor?<br />
Mindestens zwei Mal im Jahr gibt es Sicherheitsunterweisungen<br />
in den Filialen. Die<br />
sind bewusst abstrakt gehalten. Wir warnen<br />
davor, Widerstand zu leisten oder zu<br />
fliehen, weil das die Täter zwingt, von ihrer<br />
Waffe Gebrauch zu machen.<br />
Veranstalten Sie auch Rollenspiele,<br />
um das Verhalten<br />
bei Überfällen realitätsnah<br />
zu trainieren?<br />
Davon rate ich ab. Das habe<br />
ich bisher nur für Polizisten<br />
gemacht, die haben<br />
zum Beispiel in einer Bankfiliale<br />
eine Geiselnahme<br />
trainiert, am Wochenende<br />
und ohne Mitarbeiter oder<br />
Kunden. Eine Überdosis<br />
Realität würde die Angst<br />
der Angestellten erheblich steigern, einige<br />
würden um Versetzung weg aus der Filiale<br />
bitten.<br />
Herr Massat, wie haben Sie sich nach den<br />
Überfällen davongemacht?<br />
Entscheidend ist, dass ein schneller Fluchtwagen<br />
mit einem zuverlässigen Fahrer bereitsteht.<br />
Das Auto war geklaut, meist ein<br />
schneller Golf GTI oder G 60. Dann gab es<br />
noch ein Fahrzeug zum Wechseln, um die<br />
Spur zu verwischen. Das Zweitauto war ein<br />
Audi 100. Die Fahrzeuge haben wir auf<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
»<br />
einem belebten Parkplatz zum Beispiel<br />
vor einem Supermarkt abgestellt, wo sie<br />
tagsüber nicht auffielen.<br />
Offensichtlich haben Sie die Überfälle<br />
intensiv vorbereitet.<br />
Man muss das im Detail planen, für mich<br />
war es wie gesagt ein Beruf. Wenn wir weit<br />
genug weg waren von der Bank und die Polizei<br />
die Straßen nach uns absuchte, haben<br />
wir uns für viele Stunden versteckt, etwa in<br />
einem Gebüsch hinter einem Spielplatz,<br />
und die Beute gezählt.<br />
Dafür hatten Sie Nerven?<br />
Man muss ja im Versteck etwas tun, um die<br />
Zeit totzuschlagen. Die Beute zu zählen<br />
ist gar nicht so ohne. Auch damals waren<br />
die Geldbündel schon mit Farbbömbchen<br />
gesichert. Wenn man die falsch anpackte,<br />
war das Geld wertlos. Außerdem wäre<br />
man aufgefallen mit Farbe an den<br />
Händen.<br />
Wie konnten Sie das vermeiden?<br />
Wir hatten Stulpenhandschuhe<br />
dabei und Plastiktüten. Dann<br />
wurde jeweils ein Bündel aus<br />
dem Beutel herausgeholt und in<br />
der Plastiktüte geöffnet. So wurde<br />
nur das Bündel verunreinigt, in<br />
dem die Farbpatrone versteckt<br />
war.<br />
Wie viele Banken haben Sie<br />
überfallen?<br />
Die Taten sind verjährt, aber ich<br />
lege trotzdem keine Liste auf den<br />
Tisch. Wegen Bankraub und bewaffneten<br />
Diebstahls wurde ich<br />
zuletzt 1994 zu siebeneinhalb<br />
Jahren Gefängnis verurteilt.<br />
Wie hat man Sie erwischt?<br />
Erwischt wurde ich wegen einer<br />
anderen Sache. Wir wollten einen<br />
Juwelier überfallen und dafür einen Laster<br />
klauen, um mit der Ladefläche rückwärts<br />
durchs Schaufenster zu stoßen. Gegenüber<br />
der Spedition, wo die Lkws parkten, war eine<br />
Tankstelle. Von dort hat wohl jemand<br />
die Polizei gerufen. Wir konnten zwar mit<br />
unserem eigenen Auto rechtzeitig entkommen,<br />
kehrten aber nach etwa einer Stunde<br />
zurück, um die Spuren zu beseitigen. Mein<br />
Kumpel hatte eine Flasche liegen gelassen,<br />
die er ohne Handschuhe angefasst hatte.<br />
Das ließ ihm keine Ruhe, weil er sich um<br />
die Fingerabdrücke sorgte. Allerdings hatten<br />
die Polizisten auf uns gewartet.<br />
Woher wusste die Polizei, dass Sie Bankräuber<br />
waren, nicht nur Autodiebe?<br />
Das wussten die erst auch nicht. Aber wir<br />
sind dann mit dem Auto davongedüst, die<br />
haben uns erst nach einer halsbrecherischen<br />
Verfolgungsjagd quer durch Essen<br />
gekriegt. Die Polizisten waren zugegebenermaßen<br />
gute Fahrer, ihr Wagen hat unseren<br />
von der Straße in einen Zaun gerammt.<br />
Da wir Waffen hatten, wurde denen<br />
klar, dass sie es mit Schwerkriminellen<br />
zu tun hatten. Die Waffen haben die Polizei<br />
in Rage gebracht, damit hätten wir auf<br />
die schießen können. Wir wurden dann<br />
heftig verhört, auch geschlagen, es gab Geständnisse.<br />
Waren Prügel durch die Polizei der Grund<br />
für das Geständnis?<br />
Nein.<br />
Warum wollten Sie von Banken auf<br />
Juweliere umsatteln?<br />
Das ging leichter. Die Banken haben immer<br />
mehr aufgerüstet und die Kassenbestände<br />
abgespeckt, das sprach sich<br />
»Man muss im Versteck etwas<br />
tun, um die Zeit totzuschlagen«<br />
Siegfried Massat, Ex-Bankräuber<br />
schnell herum im Milieu. Vor manchen Filialen<br />
waren Warnhinweise, auch in osteuropäischen<br />
Sprachen: Hier nur wenig<br />
Bargeld.<br />
Herr Hannich, was waren die Gründe für<br />
diese Aufrüstung der Bankfilialen?<br />
Der erste Wendepunkt waren die Banküberfälle<br />
durch RAF-Terroristen in den<br />
Siebzigerjahren. Da hat in den Vorstandsetagen<br />
ein Umdenken eingesetzt. Ob aus<br />
politischen Gründen, also um Terroristen<br />
abzuwehren, darüber kann ich nur spekulieren.<br />
Die Zahl der Raubüberfälle hatte ein<br />
Niveau erreicht dass sich der Gesetzgeber<br />
veranlasst sah, mehr für die Sicherheit von<br />
Bankfilialen zu tun.<br />
Was haben die Banken konkret gegen<br />
Überfälle unternommen?<br />
Das Bargeld wurde schneller abtransportiert,<br />
die Tresorräume mit Zeitschlössern<br />
versehen, sodass die Türen erst nach Minuten<br />
aufgingen – zu lang für einen schnellen<br />
Überfall. Kassenbestände wurden massiv<br />
verringert, Alarmanlagen verbessert und –<br />
damals völlig neu – Kameras zur Aufzeichnung<br />
von Überfällen installiert. Damit war<br />
auch eine Abschreckung verbunden.<br />
Auch die Verbrechen des NSU-Terror-<br />
Trios zeigen, dass Banküberfälle nach wie<br />
vor passieren. Haben Bankfilialen immer<br />
noch ein Sicherheitsproblem?<br />
Banküberfälle wird man nie ausschließen<br />
können. Gelegentlich gehen Filialen nicht<br />
sorgsam mit den Sicherheitsvorschriften<br />
um, was Täter erkennen und ausnutzen.<br />
Die Taten von Herrn Massat liegen lange<br />
zurück. Welchen Nutzen ziehen Sicherheitsprofis<br />
heute aus seinen<br />
Berichten?<br />
Jedes Tatgeschehen ist anders.<br />
Aber aus den Schilderungen<br />
kann man schließen, welche Sicherheitsvorkehrungen<br />
abschreckend<br />
oder risikomindernd wirken.<br />
Auch Polizisten setzen sich<br />
mit ehemaligen Straftätern zusammen,<br />
um aus deren Denken,<br />
Handeln und Fühlen Erkenntnisse<br />
für künftige Fälle zu gewinnen.<br />
Eines kann man ganz sicher attestieren:<br />
Bankraub lohnt nicht – zu<br />
wenig Beute, hohe Aufklärungsquoten<br />
und massive Strafen für<br />
die Täter.<br />
Herr Massat, haben Sie es<br />
eigentlich auch mal mit legaler<br />
Arbeit versucht?<br />
Ja, ich habe Trinkhallen in meinem<br />
Wohnort aufgemacht, die<br />
meine Familie und mich redlich ernährt<br />
haben. Aber wenn es dem Esel zu wohl<br />
wird, geht er aufs Eis tanzen. Ich habe den<br />
Anfragen von meinen Kollegen nicht lange<br />
standgehalten, und schon war ich wieder<br />
im Geschäft.<br />
Sie haben anfangs angedeutet, dass von<br />
der Beute nicht viel übrig geblieben ist.<br />
Wovon leben Sie heute, von Vorträgen?<br />
Ich wünschte, das könnte ich. Nein, ich habe<br />
142 Euro Rente im Monat, für die Zeit, in<br />
der ich Rentenbeiträge gezahlt habe. Die<br />
Arbeit im Gefängnis wird leider nicht auf<br />
die Rente angerechnet. Wenn das so wäre,<br />
hätte ich eine bessere Rente. Dazu kommt<br />
die staatliche Grundsicherung, also Hartz<br />
IV. Ich klage nicht, es ist eine Situation, für<br />
die ich selbst verantwortlich bin.<br />
n<br />
mark.fehr@wiwo.de | Frankfurt<br />
FOTO: CHRISTOF MATTES FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
60 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Technik&Wissen<br />
Vorsicht, Falle!<br />
HIRNFORSCHUNG | Als Manager, Vorgesetzte, Investoren – oder ganz privat: Wir müssen<br />
ständig entscheiden. Und dabei führt der angeblich so objektive Verstand uns<br />
allzu oft in die Irre. Neue Erkenntnisse von Neurologen und Psychologen helfen uns,<br />
teure Fehler zu vermeiden.<br />
Soll ich heiraten, Kinder bekommen,<br />
ein Haus kaufen? Bewerbe<br />
ich mich auf die frei werdende<br />
Stelle als Abteilungsleiter?<br />
Oder wechsele ich besser die<br />
Firma? Bei solch wichtigen Fragen beraten<br />
sich Menschen bisher meist mit Freunden<br />
oder der Familie.<br />
Seit Kurzem bietet das Internet nun auch<br />
hier eine digitale Alternative zum guten alten<br />
analogen Gespräch an: Das kalifornische<br />
Start-up Cloverpop verspricht Hilfe<br />
für alle Lebenslagen. Seit September können<br />
sich Zauderer und Zögerer im Web<br />
durch einen Fragebogen klicken, der sie<br />
beim Abwägen unterstützen soll.<br />
Zwar entscheidet der Dienst am Ende<br />
nicht wirklich für die Nutzer. Doch zumindest<br />
helfe er, „Klarheit zu bekommen und<br />
sich der Motive bewusst zu werden, die ihr<br />
Denken beeinflussen“, verspricht Cloverpop-Gründer<br />
Erik Larson. Der Selbsttest<br />
arbeite systematisch Alternativen heraus<br />
und zeige auf, was dem Fragenden wichtig<br />
sei – Ruhm, Reichtum, Familie oder Spaß<br />
am Leben. Larsons Ziel: „Auf dieser<br />
Grundlage getroffene Entscheidungen berücksichtigen,<br />
was für den jeweiligen Menschen<br />
wirklich zählt.“<br />
Jeden Tag treffen wir 20 000 Entscheidungen,<br />
schätzt der Münchner Hirnforscher<br />
Ernst Pöppel. Bedeutende und unbedeutende<br />
– und solche, die wir gar nicht<br />
wahrnehmen. Fast unbemerkt entscheiden<br />
wir uns morgens, die Beine aus dem<br />
Bett zu schwingen. Wir treffen unsere Wahl<br />
vor dem Kleiderschrank, am Frühstückstisch:<br />
Honig oder Marmelade? Vieles geschieht<br />
intuitiv, ohne wirkliche Relevanz<br />
für Erfolg oder Misserfolg an einem Tag.<br />
Doch dann gibt es Entscheidungen, die<br />
wir auch als solche empfinden, bei denen<br />
wir auf jeden Fall richtig liegen wollen: Wer<br />
von den vier Stellenbewerbern ist der Richtige?<br />
Was sagen wir, wenn der Chef heute<br />
unsere Meinung zum anstehenden Ausbau<br />
des China-Geschäfts hören will?<br />
Was kaum jemandem bewusst ist: Erschreckend<br />
oft übernehmen verborgene<br />
Mechanismen das Kommando, tappen wir<br />
in Fallen mit teils drastischen und teuren<br />
Folgen: Investoren setzen auf falsche Firmen,<br />
Chefs stellen unfähige Mitarbeiter<br />
ein, Richter verurteilen Unschuldige, Konzernstrategen<br />
deuten Prognosen falsch:<br />
20 000<br />
Entscheidungen<br />
trifft der Mensch<br />
an jedem einzelnen Tag<br />
n So vergrätzte der Softwarekonzern<br />
Microsoft Zigtausende treue Kunden, als<br />
er bei Windows 8 auf die ungeliebte<br />
Kacheloptik umstellte. Ein echter Fehlgriff,<br />
der dazu beitrug, dass die Software<br />
floppte.<br />
n Der nie fertiggestellte Atommeiler Kalkar<br />
verschlang 3,6 Milliarden Euro. Heute ist<br />
der schnelle Brüter ein Freizeitpark.<br />
n Der deutsche Chemiegigant BASF<br />
verkaufte seine komplette Pharmasparte<br />
für 6,9 Milliarden Dollar an den US-<br />
Konzern Abbott. Mit im Paket: Das fast<br />
fertig entwickelte Krebsmittel Humira. Es<br />
spielt Abbott heute knapp zehn Milliarden<br />
Dollar Umsatz ein – pro Jahr.<br />
Die Beispiele zeigen: Wer glaubt, Fehlurteile<br />
unterliefen nur schlichten Gemütern,<br />
liegt falsch. Im Gegenteil, auch kluge<br />
Menschen treffen allzu oft falsche Entscheidungen.<br />
Warum das so ist, versuchen Forscher<br />
mit aufwendigen Methoden zu ergründen<br />
(siehe Seite 66). Kaum ein Wissenschaftsfeld<br />
boomt derzeit so stark. Eine Milliarde<br />
Euro steckt etwa die Europäische Union ins<br />
Human Brain Projekt. Und in Berlin<br />
trafen sich gerade 6000 Neuropsychologen<br />
zu ihrer Jahrestagung. Die Faszination ist<br />
groß.<br />
Einiges können die Forscher schon jetzt<br />
erklären. Warum viele Schlüsse, die wir für<br />
wohlüberlegt und objektiv halten, es gar<br />
nicht sind, weil das Gehirn die Wirklichkeit<br />
verzerrt darstellt oder sie falsch bewertet.<br />
Das liegt weder an Dummheit noch an Inkompetenz.<br />
Viele dieser Vorgänge haben<br />
sich in Jahrmillionen der Evolution entwickelt.<br />
Bloß passen die Entscheidungsmuster<br />
nur noch bedingt in unsere moderne<br />
Lebenswelt.<br />
Andere Kompetenzen wie den Umgang<br />
mit Zahlen und Statistiken beherrschen<br />
wir noch immer nicht ausreichend, so<br />
Neuroforscher Pöppel: „Wir haben viele<br />
Defizite, die es uns schwer machen, fehlerlos<br />
durchs Leben zu navigieren.“<br />
Nur wer also weiß, welche Streiche unser<br />
Gehirn uns spielt, kann die Fallen umgehen.<br />
Wir haben die jüngsten Erkenntnisse<br />
gesichtet und die zehn wichtigsten von ihnen<br />
identifiziert: damit Sie sich künftig<br />
richtig entscheiden.<br />
ILLUSTRATION: NICHOLAS BLECHMAN<br />
62 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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1<br />
SCHÖNHEITS-FALLE<br />
Wie uns schöne Menschen im<br />
Beruf verführen.<br />
Die größte Schwachstelle gut durchdachter<br />
Analysen ist – ausgerechnet – unser Denkapparat:<br />
Denn evolutionär betrachtet ist<br />
das Gehirn noch immer für das Leben als<br />
Jäger und Sammler optimiert. „Wir fliegen<br />
zum Mond, aber unsere Entscheidungen<br />
werden von archaischen Strukturen eingeschränkt,<br />
die aus der Höhle stammen“, sagt<br />
der Bonner Mediziner Christian Elger.<br />
So war es in der Steinzeit beispielsweise<br />
überlebenswichtig, blitzschnell entscheiden<br />
zu können, ob wir uns einem Menschen<br />
nähern, vor ihm fliehen oder gegen<br />
ihn kämpfen sollten. Damals wie heute beurteilen<br />
wir die Vertrauenswürdigkeit des<br />
Gegenübers im Eilverfahren an seinem<br />
Gesicht. Ebenmaß und Schönheit geben<br />
uns dabei ein gutes und sicheres Gefühl.<br />
Das funktioniert bei Kleinkindern wie<br />
bei Erwachsenen, was Tests in der Schweiz<br />
zeigten. Es lenkt uns auch in der Geschäftswelt<br />
leicht aufs falsche Gleis: Sogar erfah-<br />
rene Personalchefs tappen in die Schönheits-Falle.<br />
Bemühen sie sich nicht aktiv,<br />
sie zu umgehen, lassen sie sich <strong>vom</strong> Erscheinungsbild<br />
eines Bewerbers oder einer<br />
Bewerberin blenden. Auch deshalb entfernen<br />
Personaler inzwischen die Fotos aus<br />
Bewerbungsmappen.<br />
Auch bei Investitionen wie etwa dem<br />
Kauf eines Hauses oder eines Oldtimers<br />
wiegt die gefühlte Vertrauenswürdigkeit<br />
des Verkäufers oft schwerer als harte Daten<br />
– etwa Preis, Ausstattung, Zustand der Karosse<br />
oder Lage der Immobilie. Obacht!<br />
»<br />
WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 63<br />
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Technik&Wissen<br />
2<br />
GEGENWARTS-FALLE<br />
Ungeduld ist gefährlich – und<br />
Talent gar nicht so wichtig.<br />
Auch an anderer Stelle prägt das Erbe der<br />
Steinzeit unser Denken: So mag es bei einer<br />
prähistorischen Lebenserwartung von<br />
höchstens 40 Jahren und Gefahren wie Säbelzahntigern<br />
sinnvoll gewesen sein, all das<br />
sofort zu genießen, was die Gegenwart bietet.<br />
Sich also den Bauch randvoll zu schlagen,<br />
wenn die Sippe gerade ein Mammut erlegt<br />
hatte. Wozu Vorräte anlegen, wenn das<br />
Fleisch mangels Kühltruhe eh vergammelt?<br />
Aus heutiger Sicht ist es dagegen sehr<br />
sinnvoll, an die Zukunft zu denken. Sei es,<br />
um unternehmerisch nachhaltig zu wirtschaften<br />
oder sich privat fürs Alter<br />
abzusichern. All das wissen wir – im<br />
Grunde. Doch trotzdem spielt uns unser<br />
Gehirn auch hier einen Streich, wie Neuroökonomen<br />
nachgewiesen haben. „Wir<br />
bewerten die Gegenwart noch immer<br />
höher als die Zukunft“, sagt der Innsbrucker<br />
Wirtschaftswissenschaftler Matthias<br />
Sutter, der im Januar eine Exzellenzprofessur<br />
für ökonomische Verhaltensforschung<br />
in Köln antritt.<br />
Das klassische Experiment sieht so aus:<br />
Die Probanden sollen sich zum Beispiel entscheiden,<br />
ob sie lieber jetzt gleich zehn Euro<br />
oder in drei Wochen elf Euro bekommen<br />
möchten. Mithilfe von Kernspintomografen<br />
können Forscher beobachten, welche Gehirnregionen<br />
bei einzelnen Probanden das<br />
Handeln beeinflussen. Das kann die entwicklungsbiologisch<br />
junge Großhirnrinde<br />
sein, aber auch ein weit älteres Hirnareal,<br />
das sogenannte limbische System – eine Art<br />
internes Belohnungszentrum. Dabei zeigt<br />
sich: Je stärker das limbische System durchschlägt,<br />
desto eher entscheiden sich die<br />
Testpersonen fürs schnelle Geld.<br />
Das muss nicht so bleiben. Sutter hat mithilfe<br />
von Erstklässlern (und Gummibärchen-Tüten)<br />
untersucht, dass sich Geduld<br />
trainieren lässt. Seine Erkenntnis, „Ausdauer<br />
schlägt Talent“, findet sich auch im Untertitel<br />
seines aktuellen Buches. Verlässlichkeit sei<br />
dabei ein entscheidendes Kriterium: „Bekommen<br />
Kinder eine zweite Tüte Gummibärchen<br />
versprochen, wenn sie die erste die<br />
ganze Schulstunde über nicht öffnen, müssen<br />
sie diese auch erhalten“, sagt Sutter. Wird<br />
die Belohnung vorenthalten, ist auch der negative<br />
Lerneffekt enorm.<br />
Um der Jetztzeit-Falle zu entgehen,<br />
empfiehlt Sutter – aufs Wirtschaftsleben<br />
übertragen – deshalb die Abkehr von kurzfristig<br />
orientierten Boni-Zahlungen für Ma-<br />
nager, jedenfalls dann, wenn es um Entscheidungen<br />
geht, die dem Unternehmen<br />
langfristigen Erfolg bescheren sollen.<br />
3<br />
GRUPPEN-FALLE<br />
Dem Herdentrieb zu folgen<br />
kann übel enden.<br />
Wir sind zwar nicht ganz so tumb, wie die<br />
sprichwörtlichen Lemminge. Aber als soziales<br />
Wesen ist auch der Homo sapiens<br />
auf das Wohl und Wehe seiner Mitmenschen<br />
angewiesen. Damit entscheiden wir<br />
nicht objektiv, sondern vor dem Hintergrund<br />
gesellschaftlicher Akzeptanz: Wen<br />
wir heiraten, welchen Beruf wir ergreifen,<br />
welches Auto wir fahren und welchen<br />
Hobbys wir nachgehen.<br />
Weil es in unserer zunehmend komplexeren<br />
Welt immer schwieriger wird, auf<br />
Basis fundierten Wissens zu entscheiden,<br />
vereinfachen viele Menschen das Verfahren.<br />
Sie orientieren sich an dem, was mehrheitsfähig<br />
ist, und schwimmen mit dem<br />
Strom – in der Hoffnung, dass die anderen<br />
wohl wissen werden, was sie tun und sich<br />
ihr Handeln reiflich überlegt haben.<br />
Im Einzellfall kann das eine sinnvolle Strategie<br />
sein, etwa wenn Privatanleger mit wenig<br />
Zeit und Einblick ins Börsengeschehen<br />
die Investmentstrategien erfolgreicher Börsianer<br />
nachahmen. Doch selbst Manager,<br />
die in ihren eigenen Wissensgebieten hochkompetent<br />
sind, erliegen allzu oft dem Her-<br />
dentrieb. Das hat der Psychologe Gerd Gigerenzer<br />
festgestellt, einer der international renommiertesten<br />
Entscheidungsforscher.<br />
Der Direktor des Max-Planck-Instituts<br />
für Bildungsforschung in Berlin findet das<br />
sehr bedenklich. Denn nur weil alle etwas<br />
tun, muss das noch lange nicht richtig sein.<br />
Das gelte nicht nur für mögliche Engagements<br />
eines Unternehmens in einer bestimmten,<br />
gerade angesagten Region der<br />
Welt. Auch andere Modeerscheinungen in<br />
der Wirtschaft verleiteten Manager dazu,<br />
lieber der Herde zu folgen, als sich auf die<br />
eigene Kompetenz zu besinnen.<br />
Das Gruppenverhalten vor der jüngsten<br />
großen Immobilien- und Finanzkrise sei<br />
geradezu exemplarisch gewesen, so Gigerenzer:<br />
„Eigentlich war offensichtlich, dass<br />
diese Blase irgendwann platzen muss. Aber<br />
keiner wollte der Erste sein, der aussteigt<br />
und nicht mehr kurzfristig mit verdient.“<br />
4<br />
ANGST-FALLE<br />
Defensives Entscheiden<br />
schadet allen und ist teuer.<br />
Nicht bloß Denkfaulheit, auch Angst vor<br />
Misserfolg und Repressalien ist ein weiterer<br />
Grund für Fehlurteile. Auch dafür sei<br />
die Finanzkrise ein gutes Beispiel, sagt<br />
Gigerenzer. Denn selbst von denen, die das<br />
Risiko sahen, habe sich kaum einer getraut,<br />
Alarm zu schlagen. Ursache dafür, so fand<br />
der Experte mithilfe zahlreicher For-<br />
ILLUSTRATIONEN: NICHOLAS BLECHMAN<br />
64 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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schungsinterviews heraus, ist das immer<br />
gleiche Denkschema: bloß keine Fehler<br />
begehen; und sich schon gar nicht mutig<br />
aus der Deckung wagen. Defensive Unternehmensführung<br />
nennt Gigerenzer das,<br />
wenn Manager nicht managen und agieren,<br />
sondern nur reagieren.<br />
Besonders auffällig sei das bei angestellten<br />
Top-Kräften, die sich regelmäßig Aktionären<br />
oder Firmeneignern gegenüber erklären<br />
müssten. Sie stolpern regelmäßig in<br />
die Angst-Falle. Wem das Unternehmen<br />
dagegen gehört, der handle eigenständiger<br />
und innovativer.<br />
Die Angst vor dem eigenen Mut blockiert<br />
demnach die Unternehmen in ihrem wirtschaftlichen<br />
Schwung.<br />
Noch teurer wird die Sache mit der Angst<br />
vor dem Versagen und vor Fehlentscheidungen<br />
in der Medizin. Gigerenzers Forschungsteam<br />
hat über Jahre Daten zusammengetragen,<br />
die belegen, dass Ärzte häufig<br />
teure Medikamente verschreiben, obwohl<br />
sie gar nicht wissen, was der Patient<br />
hat. Auslöser ist die Angst, ihre Hilflosigkeit<br />
könne auffallen. Die ehrliche Antwort „ich<br />
weiß nicht, was Ihnen fehlt“ scheuen viele<br />
Mediziner aus Sorge, es könnte ihre Autorität<br />
untergraben – oder den Kranken einem<br />
anderen Arzt in die Arme treiben.<br />
Diese Art der defensiven Medizin treibt<br />
nicht nur die Kosten des Gesundheitssystems<br />
unnötig in die Höhe, sie schadet auch<br />
den Patienten. Denn die schlucken Medikamente,<br />
die ihnen nicht helfen und im<br />
Zweifelsfall sogar schädliche Nebenwirkungen<br />
haben. Wollen Ärzte der Sache aber<br />
auf den Grund gehen, tun sie oft zu viel.<br />
Selbst wenn sie die Ursache gefunden haben,<br />
überschütten sie den Kranken weiter<br />
mit modernster und teurer Diagnosetechnik<br />
– aus purer Angst, etwas zu übersehen.<br />
wieder zur Vernunft gebracht<br />
und geschlichtet“, gibt Elger zu.<br />
Ohne Moderator wäre er voll in<br />
die Emotions-Falle getappt.<br />
Die Kunst ist es, dann externen<br />
Rat anzunehmen und Entscheidungen<br />
zu vertagen, bis sich die<br />
Gefühlswogen wieder geglättet<br />
haben. Wer in der Zeit shoppen<br />
geht, sollte sich klar darüber sein, dass es<br />
teuer werden könnte. Der Kaufrausch, in<br />
den mancher verfällt, um die schlechte Laune<br />
zu bekämpfen, ist fast schon legendär.<br />
Grandiose Realitätsverzerrer sind auch<br />
Lob und Schmeichelei: Selbst wenn die<br />
<strong>vom</strong> Mitarbeiter gesäuselten Worte offensichtlich<br />
geheuchelt sind, können sich die<br />
wenigsten dagegen wehren, anschließend<br />
milde und generös aufzutreten. Dann genehmigt<br />
der sparsamste Chef doch noch<br />
den Sonderurlaub oder die Dienstreise.<br />
6<br />
AUFMERKSAMKEITS-FALLE<br />
Warum Fliegen gefährlicher wirkt<br />
als Autofahren.<br />
Was wir beim Entscheiden empfinden, ist die<br />
eine Sache. Wer uns berät, eine andere. Klar<br />
ist:Chefs und Familienoberhäuptern schenken<br />
wir mehr Aufmerksamkeit als anderen.<br />
Und ihre Urteile und Ratschläge bewerten<br />
wir höher als die eines jüngeren Menschen –<br />
selbst dann, wenn der Jungspund sich in<br />
dem betreffenden Themengebiet sehr viel<br />
besser auskennt als der Silberrücken. Beispielsweise<br />
wenn es um die Anschaffung von<br />
Software oder die Präsentation des Unternehmens<br />
in sozialen Netzwerken geht.<br />
Kommt es im Team zur Aussprache, werden<br />
sich viele Mitarbeiter der Meinung des<br />
Literatur<br />
In unseren<br />
App-<strong>Ausgabe</strong><br />
finden eine Liste<br />
mit den besten<br />
Büchern zum<br />
Thema<br />
Chefs anschließen. Und das nicht<br />
bloß aus Loyalität, sondern auch<br />
weil Untergebene erfahrenen Vorgesetzten<br />
qua Seniorität eine bessere<br />
und weisere Entscheidung<br />
zutrauen.<br />
Die Aufmerksamkeits-Falle<br />
schlägt auch da zu, wo Menschen<br />
besonders lautstark auftreten<br />
oder durch ihren Beruf ständig im<br />
Rampenlicht stehen, etwa als Nachrichtensprecher<br />
im Fernsehen. Ihnen allen<br />
trauten Probanden in Forschungsprojekten<br />
viel mehr Entscheidungskompetenz<br />
zu. Wer solche Verzerrungen vermeiden<br />
will, sollte auf anonyme Abstimmungen<br />
setzen.<br />
Was unsere Aufmerksamkeit zudem fesselt<br />
und so die Bewertungsmaßstäbe verschiebt,<br />
sind Unfälle mit vielen Opfern.<br />
Evolutionär erklären Wissenschaftler das<br />
so: Zu den Zeiten, als Menschentrupps nur<br />
vereinzelt auf der Erde herumzogen, konnte<br />
eine Sippe zwar einzelne Todesfälle verkraften,<br />
nicht aber den Tod mehrerer<br />
Gruppenmitglieder. Das bedeutete in der<br />
Regel das Todesurteil für den Rest der Sippe<br />
– und diese Erfahrung beeinflusst bis<br />
heute unsere Entscheidungsmuster.<br />
Bei aktuell 7,3 Milliarden Menschen<br />
weltweit besteht die Gefahr des Aussterbens<br />
zwar längst nicht mehr. Trotzdem<br />
lässt die Ur-Angst viele Menschen das Fliegen<br />
für weit gefährlicher halten als etwa<br />
Autofahrten. Risikoforscher wie Ortwin<br />
Renn aus Stuttgart rechnen vor, wie irrational<br />
das ist: „Pro Jahr sterben weltweit 630<br />
Menschen bei Flugzeugunglücken, im<br />
Straßenverkehr kommen dagegen 1,24<br />
Millionen Menschen um.“<br />
»<br />
5EMOTIONS-FALLE<br />
Selbst offensichtlich geheucheltes<br />
Lob macht gefügig.<br />
Sogar bei Menschen, die sich als bedacht<br />
und rational bezeichnen würden, haben<br />
Emotionen einen enormen Einfluss. Neben<br />
der Angst zählen auch Ärger, Frust und<br />
Lob dazu.<br />
Davor sind nicht einmal Wissenschaftler<br />
gefeit, die selbst am Thema arbeiten. So erzählt<br />
der Bonner Hirnforscher Elger, dass<br />
er vor Kurzem fast ein Forschungsprojekt<br />
hätte platzen lassen, für das er Jahre gekämpft<br />
hatte – vor Wut über einen Kollegen,<br />
der ihm Geltungssucht unterstellte.<br />
„Zum Glück hat mich ein dritter Kollege<br />
WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 65<br />
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Technik&Wissen<br />
NEURO-POP-ART<br />
Trügerische<br />
bunte Kleckse<br />
Kernspintomografie hilft Forschern,<br />
Denkvorgänge im Hirn zu<br />
verstehen. Allerdings nicht immer.<br />
Die Technik ist fast zu gut, um wahr zu<br />
sein: Mithilfe der Kernspintomografie<br />
können Forscher dem Gehirn bis in<br />
tiefste Schichten in Echtzeit beim Arbeiten<br />
zusehen. So lässt sich orten, wo<br />
gerade wie viel frisches, sauerstoffreiches<br />
Blut hinströmt: Die bunten Punkte<br />
am Monitor des Messgerätes zeugen<br />
von Aktivität der Nervenzellen.<br />
Weil die Durchleuchtungstechnik nur<br />
mit einem starken Magnetfeld und einem<br />
UKW-Sender arbeitet und ganz ohne<br />
schädliche Strahlen auskommt, ist<br />
sie ideal für die Wahrnehmungsforschung.<br />
Wissenschaftler haben Scharen<br />
von Probanden in die Röhre geschoben<br />
und sie mit Fragekarten traktiert – <strong>vom</strong><br />
Kaufverhalten bis zum Gottesglauben:<br />
Leuchtete es bei Fotos von Markenprodukten<br />
wie Coca-Cola, Gucci oder Adidas<br />
stärker im limbischen Belohnungszentrum?<br />
Und welche Hirnaktivität löst<br />
der Anblick eines Rosenkranzes aus?<br />
TOTER LACHS MIT MITGEFÜHL<br />
So hilfreich die Technik ist, bei der Interpretation<br />
der Bilder mit ihren bunten<br />
Farbklecksen schießen manche Forscher<br />
übers Ziel hinaus und vergessen<br />
simple Grundregeln der Messtechnik.<br />
So überführte der kalifornische Forscher<br />
Craig Bennett Kollegen der<br />
Schlamperei – mit Tiefkühllachs. Er<br />
schob das Tier in die Kernspinröhre und<br />
hielt ihm Bilder von lachenden oder wütenden<br />
Menschen vor. Dass die Scans<br />
des Lachses Hirnaktivität in Form bunter<br />
Flecken zeigten, lag indes nicht daran,<br />
dass der tote Fisch Gefühle zeigte<br />
– sondern schlicht an Messfehlern.<br />
Als Bennett das Gerät kalibrierte, verschwanden<br />
diese typischen Signale. Sie<br />
zu eliminieren, das zeigte der Vergleich,<br />
hatten andere Forscher bei ihren Kernspin-Untersuchungen<br />
mit Menschen<br />
vergessen. Spätestens da aber reduziert<br />
sich – was im Grunde faszinierende<br />
Technik ist – auf Neuro-Pop-Art.<br />
7<br />
STATISTIK-FALLE<br />
Dem Menschen fehlt der<br />
natürliche Sinn für Zahlen.<br />
Mit dem Erfassen von Zahlen und Wahrscheinlichkeiten<br />
haben wir Menschen generell<br />
ein Problem. „Uns fehlt leider ein<br />
statistischer Sinn“, schreibt der Münchner<br />
Psychologe Ernst Pöppel in seinem Buch<br />
„Zum Entscheiden geboren – Hirnforschung<br />
für Manager“. Mit der Folge, dass<br />
wir statistische Aussagen günstigstenfalls<br />
unbeholfen interpretierten, oft aber auch<br />
schlicht falsch.<br />
Eine der häufigsten Statistik-Fallen, in<br />
die wir geraten, ist, Signifikanz und Relevanz<br />
zu verwechseln. Umso wichtiger ist es<br />
aus Pöppels Sicht, sich den Unterschied<br />
ein für alle Mal einzuprägen. So kann etwas<br />
im statistischen Sinne signifikant verschieden<br />
sein – und damit für manchen Manager<br />
Grundlage für eine unternehmerische<br />
Entscheidung. Das heißt aber noch lange<br />
nicht, dass der Unterschied am Ende auch<br />
relevant, also von Bedeutung, ist.<br />
So könnten einer statistischen Erhebung<br />
zufolge die Mieten in einem neuen Gewerbegebiet<br />
signifikant niedriger sein als am<br />
jetzigen Standort der Firma. Wenn dieser<br />
Unterschied aber weniger als einen Euro<br />
pro Quadratmeter beträgt, lohnt es sich<br />
nicht, über einen Umzug nachzudenken.<br />
Der Unterschied ist nicht relevant.<br />
Verwirrung entsteht auch dann, wenn<br />
statistische Daten nicht als absolute, sondern<br />
als relative Werte angegeben werden.<br />
Gerade in der Medizin passiert das häufig.<br />
Etwa wenn es darum geht, den Nutzen einer<br />
Vorsorgeuntersuchung oder eines Medikaments<br />
zu untermauern. So werbe<br />
manches Pharmaunternehmen mit der<br />
Aussage, ein neuer Blutfettsenker senke<br />
das Risiko, einen Herzinfarkt zu bekommen,<br />
um 50 Prozent, so der Psychologe<br />
Gigerenzer: „Das klingt gut.“ Es sei auch<br />
nicht gelogen, aber es ist der relative Wert.<br />
Die absoluten Zahlen sehen so aus: Ohne<br />
das Medikament bekommen zwei von<br />
hundert Menschen innerhalb von fünf Jahren<br />
einen Infarkt, mit dem Medikament<br />
nur einer von hundert. Das ist dann weit<br />
weniger berauschend.<br />
Das Fatale an der Sache: Bei Ärztefortbildungen,<br />
auf denen Gigerenzer regelmäßig<br />
vorträgt, stolpern die meisten Mediziner in<br />
diese Darstellungs-Falle. Sie können den<br />
Nutzen eines Medikaments überhaupt<br />
nicht einschätzen, weil sie die Daten nicht<br />
hinterfragen. „Das müssten Mediziner unbedingt<br />
beigebracht bekommen“, wettert<br />
der Entscheidungs-Forscher. Es sei auch<br />
gar kein Hexenwerk, das zu erlernen:<br />
„Selbst Grundschüler begreifen das.“<br />
Wer den Trick einmal raus hat, wird sich<br />
in Zukunft konkrete Beispiele suchen, um<br />
nebulöse Wahrscheinlichkeiten in konkrete<br />
und greifbare Größen umzurechnen.<br />
8<br />
RABATT-FALLE<br />
Wenn uns die Freude an der<br />
Schnäppchen-Jagd übermannt.<br />
Ein Sonderfall der Statistik-Falle sind Sonderangebote<br />
und Schnäppchen. Hier ist<br />
besondere Vorsicht geboten. Denn wir<br />
können nicht nur schwer Prozentzahlen<br />
spontan verstehen, auch das Belohnungszentrum<br />
des Gehirns spielt uns gern einen<br />
Streich: Es überflutet uns mit Glücksbotenstoffen,<br />
sobald wir ein besonders günstiges<br />
ILLUSTRATIONEN: NICHOLAS BLECHMAN<br />
66 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Angebot zu ergattern glauben. Wir freuen<br />
uns unbändig, wie viel wir gegenüber dem<br />
regulären Preis sparen, und kaufen Dinge,<br />
die wir gar nicht oder nicht in dieser Menge<br />
benötigen.<br />
In Loriots Filmkomödie „Pappa ante<br />
Portas“ legt Heinrich Lohse als Einkaufsdirektor<br />
bei der Deutschen Röhren AG mit<br />
Lkw-Ladungen von besonders günstigem,<br />
da rabattiertem Schreibmaschinenpapier<br />
erst fast den Betrieb lahm. Dann verliert er<br />
wegen seines Rabatt-Wahns den Job.<br />
Auch reale Manager verfangen sich in<br />
der Rabatt-Falle, wenn sie glauben, einen<br />
ganz besonders pfiffigen oder vorteilhaften<br />
Deal abzuschließen. Das kann ins Auge gehen.<br />
Etwa, wenn das besonders günstige<br />
Baugrundstück sich als sündhaft teurer<br />
Sanierungsfall entpuppt, weil hier eine<br />
Vorgängerfirma vor Jahrzehnten ihren<br />
Sondermüll verbuddelt hat, statt ihn zu<br />
entsorgen. Ob der Vorbesitzer und Verkäufer<br />
davon wusste und sich der Kauf deshalb<br />
anfechten lässt, werden Juristen klären –<br />
für viel Geld.<br />
Und wer vor einigen Jahren dachte, dass<br />
Baugeld mit weniger als fünf Prozent Darlehenszinsen<br />
unglaublich günstig sei,<br />
schloss euphorisch einen Kreditvertrag<br />
über einen besonders langen Zeitraum von<br />
15 oder noch mehr Jahren ab. Angesichts<br />
der heute üblichen 1,2 Prozent Zinsen war<br />
das keine gute Entscheidung.<br />
9<br />
RATIONALITÄTS-FALLE<br />
Wo das Bauchgefühl mehr sagt<br />
als 1000 Statistiken.<br />
Handeln wie die Lemminge, das Denken<br />
Erfahreneren überlassen, sich von Emotionen<br />
leiten lassen – all dieser Denk-Gefahren<br />
sind sich viele von uns bewusst. Mancher<br />
setzt deshalb umso entschiedener auf<br />
Vernunft und Faktenprüfung – und verfängt<br />
sich in der Rationalitäts-Falle.<br />
Denn obwohl wir Menschen offenbar<br />
mit Zahlen nicht sonderlich gut umgehen<br />
können, neigen wir dazu, bei der Entscheidungsfindung<br />
möglichst viele Daten und<br />
Fakten zusammenzutragen. Gerade wenn<br />
es um künftige Entwicklungen geht – etwa<br />
wie sich der Markt für Tablets oder Computer<br />
entwickelt, ob sich Elektromobile<br />
durchsetzen oder auch wie groß die Wahrscheinlichkeit<br />
ist, an Krebs zu erkranken –<br />
immer versuchen wir, mit noch mehr Daten<br />
das nicht Vorhersehbare zu berechnen.<br />
Bis wir in der Datenflut untergehen.<br />
Dabei hat der Mensch über die Jahrmillionen<br />
ganz brauchbare, als Heuristiken<br />
bezeichnete, Bewertungskonzepte entwickelt,<br />
um mit wenig Wissen zu guten Entscheidungen<br />
zu kommen – das Bauchgefühl.<br />
Es sei oft verlässlicher als 1000 Datenpunkte,<br />
argumentieren sowohl Hirnforscher<br />
als auch Psychologen.<br />
Manchmal ist es sogar besser, weniger zu<br />
wissen. Die Logik hinter dieser Dummy-<br />
Strategie: Werden Versuchsteilnehmer gefragt,<br />
ob Bielefeld oder Hannover mehr<br />
Einwohner habe, schneiden amerikanische<br />
Kandidaten besser ab als deutsche.<br />
Weil sie noch nie von Bielefeld gehört haben,<br />
verfahren sie nach der Faustregel:<br />
Wenn ich es nicht kenne, muss es wohl<br />
klein sein. Und sie haben recht.<br />
In der Finanzwelt heißt eine Faustregel<br />
„investiere nie in ein Produkt, das du nicht<br />
verstehst“. Leider habe sich kaum jemand<br />
daran gehalten, moniert Gigerenzer. Nach<br />
dem Finanz-Crash finden Banker seine<br />
Ansätze nun aber sehr überlegenswert. So<br />
entwickelt er derzeit mit der Bank of England<br />
Heuristiken, die Gefahren und Krisen<br />
besser vorhersagen sollen als bisherige Berechnungsmodelle<br />
und Datenanalysen.<br />
10<br />
MÜDIGKEITS-FALLE<br />
Entscheiden strengt an,<br />
abends lügt es sich leichter.<br />
Sich zu entscheiden ist echte Arbeit für das<br />
Gehirn. Sie ist so anstrengend, dass im<br />
Laufe des Tages eine echte Urteilsmüdig-<br />
keit einritt. Je weiter der Tag fortschreitet, je<br />
mehr wir bereits gedacht und geurteilt haben,<br />
desto fahriger und schlechter werden<br />
die Entscheidungen. Und nicht nur die Urteilsqualität,<br />
auch die Moral leidet dann:<br />
So lügen selbst aufrichtige und sehr tugendhafte<br />
Menschen abends deutlich häufiger,<br />
haben Studien ergeben. Wohl einfach,<br />
weil es oft bequemer ist, ein bisschen<br />
zu mogeln, statt strikt bei der Wahrheit zu<br />
bleiben.<br />
Das Fazit: Wichtiges sollten Sie in den<br />
Vormittagsstunden entscheiden – und mit<br />
Geschäftspartnern am besten dann verhandeln,<br />
wenn alle frisch, ausgeschlafen<br />
und tendenziell ehrlicher sind. Wer nach<br />
Übersee reist, sollte seinen Jetlag berücksichtigen.<br />
Und wer bei einer Bewerbungsrunde<br />
erst einen Vorstellungstermin am<br />
späten Nachmittag bekommt, sollte versuchen,<br />
das Gespräch zu verlegen. Denn Untersuchungen<br />
zeigten, dass auch Entscheidungsträger<br />
im Laufe des Tages immer kritischer<br />
werden.<br />
Das gilt nicht bloß für Personaler, sondern<br />
auch für Richter: So ergab eine Studie<br />
in Israel, dass Verurteilte, die ein Entlassungsgesuch<br />
gestellt hatten, am Vormittag<br />
noch gute Chancen hatten, durchzukommen.<br />
Nachmittags wurde dagegen niemand<br />
mehr vorzeitig aus der Haft entlassen.<br />
Da schnappte die Entscheidungs-Falle<br />
dann ganz wörtlich zu.<br />
n<br />
susanne.kutter@wiwo.de<br />
WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 67<br />
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Management&Erfolg<br />
Der perfekte Startplatz<br />
GRÜNDER | Berlin oder München, Hamburg oder Köln: Die Wahl des optimalen<br />
Standorts ist entscheidend für den Erfolg junger Gründer. Welche Unternehmen wo<br />
am besten aufgehoben sind. Und wie die Städte um die Start-up-Szene buhlen.<br />
Zwei Tage Hamburg, zwei Tage<br />
Berlin, zwei Tage Düsseldorf:So<br />
sieht eine Arbeitswoche von Sebastian<br />
Rösch und Maximilian<br />
Schmiedel aus. Derzeit pendeln<br />
sie durch die Republik, um ihr Start-up aufzubauen:<br />
Brightup entwickelt eine App für<br />
Smartphones, mit der sich die Beleuchtung<br />
zu Hause steuern und überwachen lässt –<br />
damit das Licht angeht, wenn es dunkel<br />
wird, und wieder ausgeht, wenn man<br />
die Wohnung verlässt. Damit die Nachttischlampe<br />
zum Aufwecken hochdimmt<br />
und die Deckenlampe beim Filmschauen<br />
herunterdimmt – alles wie von selbst.<br />
So klar die Geschäftsidee, so unklar ist<br />
im Moment, wo sich die Gründer dauerhaft<br />
niederlassen werden. An der Uni<br />
Hamburg sind sie gestartet, unter dem<br />
Dach eines Energieversorgers im Rheinland<br />
arbeiten sie an der Umsetzung, im Microsoft<br />
Ventures Accelerator in Berlin entwickeln<br />
sie Strategien. Sie haben Schreibtische<br />
in drei Städten, wohnen bei Freunden<br />
und in Hotels. Zwischendurch sitzen sie im<br />
Zug, wo sie programmieren, designen oder<br />
E-Mails beantworten. „Wir haben zwar hohe<br />
Reisekosten“, sagt Gründer Rösch, „aber<br />
wir wollten uns bisher nicht festlegen, weil<br />
alle drei Städte Vorteile bieten.“<br />
Die Wahl des richtigen Standorts: für viele<br />
Gründer eine Entscheidung, die sie später<br />
kaum revidieren können. „Vom Standort<br />
hängt nicht nur ab, wie nah ich an Kunden,<br />
Mitarbeitern und Geldgebern bin“,<br />
sagt Sebastian Zenker, Professor für Stadtmarketing<br />
an der Copenhagen Business<br />
School. „Der Standort prägt auch das<br />
Image meines Unternehmens, gerade<br />
wenn es noch unbekannt ist.“<br />
Davon profitiert Berlin mehrfach. Studien<br />
zufolge gehen in der Hauptstadt im<br />
Schnitt jeden Tag zwei neue Firmen in<br />
innovativen Branchen an den Start. Mehr<br />
als 2000 Arbeitsplätze entstehen Jahr für<br />
Jahr im digitalen Sektor. Laut dem aktuellen<br />
Deutschen Startup Monitor von<br />
Bundesverband Deutsche Startups und<br />
KPMG bringen sieben von zehn Berliner<br />
Start-ups nach eigener Aussage eine<br />
„europaweite oder weltweite Neuheit“ auf<br />
den Markt. Häufiger als Jungunternehmen<br />
aus anderen Städten erhalten sie dafür<br />
Risikokapital, der Zugang zu Investoren<br />
fällt ihnen leichter als Start-ups in anderen<br />
Städten.<br />
BERLIN-BASHING IST IN<br />
Längst halten Gründer in ganz Europa Berlin<br />
für den Standort schlechthin. Das zeigte<br />
sich auch auf der Start-up-Tour der WirtschaftsWoche<br />
im Oktober: In der Green<br />
Garage bauen Unternehmer aus Großbritannien<br />
und Holland Öko-Start-ups auf.<br />
Solche Inkubatoren sind ein wichtiger<br />
Grund für Gründer, ihren Standort zu verändern:<br />
Klang Technologies aus Aachen etwa,<br />
das im Finale des WirtschaftsWoche-<br />
Gründerwettbewerbs Neumacher steht<br />
(siehe Seite 72), hat in der Berliner Startup-Brutstätte<br />
Hubraum ein Büro bezogen.<br />
Auch Fördergelder spielen bei der Entscheidung<br />
eine wichtige Rolle, wie eine<br />
Studie der Kanzlei Lutz Abel zeigt.<br />
Doch nicht alle Gründer lassen sich <strong>vom</strong><br />
Hauptstadt-Hype anstecken. Im Gegenteil:<br />
„Berlin-Bashing“, das Schimpfen auf die<br />
Metropole, ist populär – zumindest bei der<br />
Konkurrenz aus dem Rest der Republik.<br />
Jüngster Fall: Gründer aus der bayrischen<br />
Landeshauptstadt formulierten eine Pressemitteilung<br />
mit dem Titel: „Isar statt<br />
Spree: Start-ups loben München.“<br />
Prompt erklärte das Gründerportal<br />
Deutsche-Startups.de die Hauptstadt-Hetze<br />
für „überflüssig wie ein Eisverkäufer in<br />
der Arktis“. Könne man gemeinsam stärker<br />
um Kunden und Investoren kämpfen als<br />
allein, sei eine städteübergreifende Kooperation<br />
durchaus sinnvoll, bestätigt Forscher<br />
Sebastian Zenker. „Aber der Wettbewerb<br />
bringt Städte auch dazu, nach Erfolgskonzepten<br />
zu suchen, am Image zu arbeiten<br />
und Gelder bereitzustellen – davon<br />
können Gründer profitieren.“<br />
So wie die Brightup-Gründer. Gut möglich,<br />
dass auch sie am Ende in Berlin landen:<br />
„Wir brauchen Investoren und IT-Entwickler,<br />
die sich mit Hardware auskennen“,<br />
sagt Rösch. „Davon gibt es in Berlin einfach<br />
deutlich mehr als anderswo.“<br />
KÖLN<br />
Die Domstadt: Der<br />
Hidden Champion<br />
der Gründerszene<br />
Wenn Christian Schwarzkopf und Tim Lagerpusch<br />
erzählen, warum sie im Frühjahr<br />
2013 ihre Koffer gepackt haben und von<br />
Hamburg nach Köln gezogen sind, sprechen<br />
sie gerne von der großen „catchment<br />
area“ rund um Köln – zu Deutsch: dem riesigen<br />
Einzugsbereich der Domstadt. In einer<br />
Stunde erreichen die beiden von hier<br />
aus zahlreiche Großstädte im Rheinland<br />
und im Ruhrgebiet, wo zusammengenommen<br />
mehr als zwölf Millionen Menschen<br />
leben. Selbst bis Paris dauert es kaum län-<br />
FOTO: DOMINIK PIETSCH FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
68 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Umzug in die<br />
Domstadt Die<br />
Sugartrends-<br />
Gründer tauschten<br />
Hamburg<br />
gegen Köln<br />
ger als drei Stunden. „Köln ist ein Hidden<br />
Champion“, sagt Schwarzkopf, „und unter<br />
Gründern absolut im Kommen.“<br />
Für Schwarzkopf und Lagerpusch war<br />
die Stadt deswegen erste Wahl – vor Hamburg<br />
und Berlin. Auch Karlsruhe ließen sie<br />
links liegen, obwohl sie dort studiert und<br />
das Center für Innovation & Entrepreneurship<br />
aufgebaut hatten. Der Grund für ihren<br />
Umzug: Für ihren Online-Marktplatz Sugartrends<br />
mit besonderen Produkten, wie sie sich vor<br />
allem in den Innenstädten großer Städte<br />
finden. Jene Einzelhändler, die im Wettstreit<br />
mit großen Online-Anbietern um ihre<br />
Existenz fürchten müssen. Über die<br />
Plattform Sugartrends sollen sie mehr Käufer<br />
im Netz erreichen.<br />
Lagerpusch und Schwarzkopf haben<br />
sich mitten in der entstehenden Gründerzone<br />
zwischen den beiden Start-up-Häuschen<br />
Viertel niedergelassen – in einem<br />
restaurierten Fabrikgebäude aus Backsteinen<br />
mit hellen Rundbogenfenstern. „Wir<br />
sind mittendrin“, sagt Schwarzkopf, „nah<br />
an anderen Start-ups und nah an vielen<br />
kleinen Läden.“<br />
Dass Schwarzkopf und Lagerpusch mit<br />
ihrer hohen Meinung <strong>vom</strong> Standort Köln in<br />
der Gründerszene der Stadt nicht alleine<br />
stehen, zeigte sich etwa Anfang Oktober, als<br />
suchen Schwarzkopf und Lagersern<br />
Startplatz und dem Clusterhaus in der der E-Entrepreneurship Flying Circus an der<br />
pusch nach kleinen Läden und Boutiquen Nähe des Friesenplatzes sowie dem Belgi-<br />
Universität der Domstadt haltmachte –»<br />
WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 69<br />
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Management&Erfolg<br />
»<br />
ein Projekt des Entrepreneurship-Professors<br />
Tobias Kollmann, der per Bus in ganz<br />
Deutschland für Unternehmertum warb.<br />
Auf dem Podium erklärten Gründer, dass<br />
die Szene in Berlin „zu viel mit sich selbst<br />
beschäftigt“ sei. Köln dagegen besteche etwa<br />
durch die Nähe zu Mittelstand und Industrie<br />
im Rheinland und Ruhrgebiet. Das<br />
helfe vor allem Gründern mit sogenannten<br />
Business-to-Business-Ideen – also solchen<br />
Start-ups, die ihre Produkte vor allem an gewerbliche<br />
Abnehmer verkaufen wollen.<br />
Wie wichtig diese Verbindung ist, bestätigt<br />
auch der aktuelle Deutsche Startup<br />
Monitor: Fast 40 Prozent der Gründer aus<br />
dem Raum Rhein-Ruhr bekannten in der<br />
Umfrage, ausschließlich Businesskunden<br />
zu adressieren – mehr als in Berlin, Hamburg<br />
oder München. Für solche Firmen sei<br />
Berlin eher nicht geeignet, weil es in der<br />
Hauptstadt und in der Umgebung weniger<br />
Industrie gebe und „du da halt nicht gut<br />
wegkommst“, formuliert es der Kölner Seriengründer<br />
Oliver Thylmann.<br />
Auch die Jungunternehmer Schwarzkopf<br />
und Lagerpusch schätzen die Nähe Kölns<br />
zu mehreren Flughäfen. Denn einige ihrer<br />
Entwickler sitzen in Lissabon – „und dorthin<br />
zu kommen war von Hamburg aus<br />
schwierig und teuer“.<br />
SCHLECHTE NOTEN FÜR POLITIKER<br />
Zumal es im Rheinland gutes Personal gibt,<br />
wie Tobias Schiwek bestätigt. Er hat 2012<br />
das Start-up Endore.me gegründet, eine<br />
Plattform, die Künstler und Fans zusammenbringen<br />
soll. Endore.me startete in<br />
Berlin, wo seine ersten Investoren ihren<br />
Sitz hatten. Doch als Schiwek und sein Mitgründer<br />
in Köln deutlich schneller Entwickler<br />
fanden, zogen sie nach einigen Monaten<br />
zurück an den Rhein.<br />
Allerdings hat die Region noch Nachholbedarf.<br />
Laut dem Deutschen Startup Monitor<br />
ist in der Metropolregion Rhein-Ruhr<br />
sowohl der Zugang zu Beratern und Mentoren<br />
als auch der Zugang zu Investoren<br />
schwieriger als in Berlin, München oder<br />
Hamburg. Erfolge werden nach Ansicht<br />
der befragten Unternehmer nicht sichtbar<br />
genug kommuniziert, und das Veranstaltungsangebot<br />
für Gründer lässt zu wünschen<br />
übrig. Außerdem bewerten die<br />
Gründer die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen<br />
eher schlecht, wenn es um<br />
die Förderung des Gründerstandorts geht.<br />
Dabei sollten die Städte der Region kooperieren,<br />
findet Sugartrends-Gründer<br />
Schwarzkopf: „Kleinstaaterei hilft hier niemandem<br />
weiter.“<br />
HAMBURG<br />
Die Stadt der<br />
digitalen<br />
Leuchttürme<br />
Das Angebot ihres Investors klang verlockend:<br />
günstige Räume in Berlin-Mitte –<br />
genau da, wo der Geldgeber selbst seine<br />
Büros hat, wo die Start-up-Szene am sichtbarsten<br />
ist und wo Woche für Woche<br />
Events für Gründer und Geldgeber stattfinden.<br />
Viele Jungunternehmer würden sich<br />
vermutlich die Finger danach lecken.<br />
Doch Hauke Windmüller, Michael Asshauer<br />
und David Nellessen lehnten ab,<br />
blieben mit ihrem Start-up Familonet lieber<br />
in Hamburg – dort, wo sie ihre App entwickelt<br />
haben. Eine App, die Familien vernetzt:<br />
Wer sie nutzt, kann mit Verwandten<br />
kommunizieren, sie über seinen Standort<br />
informieren, im Notfall um Hilfe rufen<br />
oder automatisch benachrichtigen, wenn<br />
er an einem bestimmten Ort angekommen<br />
ist – etwa in der Schule oder zu Hause. Zwei<br />
Jahre nach dem Start sind mehr als 100 000<br />
Nutzer bei Familonet angemeldet. Den Erfolg<br />
verdankt das Start-up auch der Stadt:<br />
Für den Start hatte es einen Zuschuss der<br />
Hamburgischen Förderbank von fast<br />
150 000 Euro eingesammelt. „Eine vergleichbare<br />
Förderung“, sagt Gründer<br />
Windmüller, „hätten wir an keinem anderen<br />
Standort bekommen.“<br />
Das Förderprogramm der Bank funktioniert<br />
wie Köder und Anker gleichzeitig: In<br />
die Stadt locken soll er Gründer, die noch<br />
nicht wissen, wo sie ihre Firma aufbauen<br />
sollen. Und Unternehmen wie Familonet,<br />
die in Hamburg gestartet sind, an den<br />
Sesshaft geworden Familonet-<br />
Gründer Asshauer, Nellessen<br />
und Windmüller (von links)<br />
fühlen sich wohl in Hamburg<br />
Standort binden. Denn wer die Hansestadt<br />
während des Förderzeitraums oder in den<br />
fünf Jahren danach verlässt, kann zur Rückzahlung<br />
verpflichtet werden.<br />
Trotz des Angebots bewerten Hamburger<br />
Gründer den Zugang zu Förderprogrammen<br />
im Deutschen Startup Monitor<br />
schlechter als Gründer aus Berlin, München<br />
oder der Metropolregion Rhein-Ruhr.<br />
Carsten Brosda, Leiter des Medien-Amts<br />
der Hansestadt und Kenner der Start-up-<br />
Szene, will die Angebote deswegen bekannter<br />
machen. Außerdem wolle die<br />
Stadt „weitere, vor allem private Finanzierungsmöglichkeiten<br />
noch transparenter<br />
und damit effektiver zu machen“.<br />
HAMBURG SICHTBAR MACHEN<br />
Brosda betont außerdem, dass in der Stadt<br />
viele Initiativen entstanden sind, die die<br />
Gründerszene sichtbarer machen sollen –<br />
„und zwar ganz von selbst und deswegen<br />
nachhaltig“. Ein Beispiel: Die Unternehmer<br />
Sanja Stankovic, Sina Gritzuhn und Tim<br />
Jaudzims haben das Netzwerk Hamburg<br />
Startups gegründet – aus Frust darüber,<br />
dass die Hamburger Start-ups oft unterschätzt<br />
werden, und mit dem Ziel, die „versteckte,<br />
lebendige und wachsende Gründerszene“<br />
sichtbarer zu machen.<br />
Verstecken muss sich Hamburg nicht:<br />
Schon jetzt arbeiten mehr als 50 000 Beschäftigte<br />
in fast 10 000 IT-Unternehmen.<br />
Als Leuchttürme an der Elbe gelten die Online-Spielehersteller<br />
Bigpoint und Good-<br />
Game Studios und der Serverhersteller<br />
Protonet. Die Regierung des Stadtstaats<br />
will dafür sorgen, dass weitere Erfolgsbeispiele<br />
folgen: Über ihre Standortinitiative<br />
FOTO: JASPER FORTH<br />
70 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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nextMedia.Hamburg will sie neue Startups<br />
im Digitalsektor unterstützen.<br />
Manche Gründer verleitet der Erfolg dazu,<br />
gegen die Hauptstadt im Osten zu wettern.<br />
„Berlin ist für Start-ups, Hamburg für<br />
Grown-ups“, stichelt etwa Facelift-Gründer<br />
Benjamin Schröter. In der Verwaltung der<br />
Hansestadt setzt man aber auf Kooperation<br />
statt Konfrontation: „Berlin und Hamburg<br />
sind so unterschiedlich, dass sie sich eher<br />
ergänzen, als miteinander zu konkurrieren“,<br />
betont Carsten Brosda. Aus Sicht des<br />
Stadtmarketing-Forschers Zenker ist das<br />
sinnvoll: „Hamburg kann sich im internationalen<br />
Wettbewerb besserstellen, wenn<br />
es sich als Metropolregion positioniert.<br />
Auch Hamburg und Berlin lassen sich<br />
räumlich gut zusammen denken.“<br />
Hauke Windmüller kann das bestätigen:<br />
Er pendelt oft in die Hauptstadt – zu Investoren<br />
oder zu Veranstaltungen. „Für uns“,<br />
sagt der Gründer, „war die Nähe zu Berlin<br />
ein wichtiges Argument für Hamburg.“<br />
MÜNCHEN<br />
Mit Bits und<br />
Brez’n aus dem<br />
Schatten Berlins<br />
Das Schreiben war nicht länger als zwei Seiten,<br />
aber sein Inhalt brisant genug, um die<br />
Gründerszene aufzubringen: „Mehr als 30<br />
Prozent aller Investorengelder wandern<br />
nach Berlin“, hieß es Anfang September in<br />
einer Pressemitteilung, „die Stadt an der<br />
Spree scheint förmlich ein Erfolgsgarant zu<br />
sein – oder doch nur eine Hype-Bühne?“<br />
Für Zoltan Elek steht die Antwort längst fest.<br />
„In München entstehen Unternehmen“, erklärte<br />
der Co-Autor der umstrittenen Pressemitteilung,<br />
die in Berlin als Brandbrief verstanden<br />
wurde, „in Berlin Start-up-Projekte.“<br />
Wer mit dem Unternehmer spricht, versteht<br />
schnell, was er an München schätzt.<br />
Elek hat Landwärme aufgebaut – sein Unternehmen<br />
erzeugt Biomethan aus Abfällen<br />
und nachwachsenden Rohstoffen,<br />
speist es ins Erdgasnetz ein, handelt damit<br />
und berät andere Erzeuger. Knapp sieben<br />
Jahre nach dem Start beschäftigt Elek 15<br />
Mitarbeiter und erwirtschaftet nach eigenen<br />
Angaben rund 80 Millionen Euro Umsatz.<br />
Elek setzt damit auf den Trend zu regenerativen<br />
Energien: Allein von 2010 bis<br />
2013 ist die Zahl der Biogasanlagen in<br />
Deutschland von 44 auf 144 gestiegen.<br />
München ist für Elek der perfekte Standort<br />
– nicht nur, weil er hier selbst studiert<br />
und in einem Kombinationsstudiengang<br />
der beiden Münchner Universitäten TU und<br />
LMU seine Begeisterung fürs Unternehmertum<br />
entdeckt hat. An den Universitäten der<br />
bayrischen Landeshauptstadt hat er auch<br />
seine Mitarbeiter rekrutiert. „Die Nähe zu<br />
den Hochschulen ist ein Riesenvorteil“, sagt<br />
Elek, „und viele Absolventen möchten langfristig<br />
in München bleiben.“<br />
Studien belegen, wie wichtig die Hochschulen<br />
für die Gründerszene in München<br />
sind: Laut dem Gründungsradar des Stifterverbands<br />
für die Deutsche Wissenschaft fördern<br />
die TU München und die Hochschule<br />
München von allen großen deutschen<br />
Hochschulen Gründungen am besten. Dazu<br />
passt, dass der Anteil der Start-ups, die von<br />
Gründern mit Hochschulabschluss aufgebaut<br />
werden, in München höher ist als etwa<br />
in Berlin und Hamburg. Das zeigt der Deutsche<br />
Startup Monitor, in dem Münchens<br />
Gründer außerdem den Zugang zu Business<br />
Angels und die Netzwerke der Stadt loben.<br />
Auch die Bemühungen der Landesregierung,<br />
Start-ups zu fördern, bewerten die<br />
Jungunternehmer vergleichsweise gut – genau<br />
wie die Vielfalt der Events für Start-ups.<br />
Im Januar etwa findet das zweite „Bits & Pretzels“<br />
statt:Initiator Andreas Bruckschlögl erwartet<br />
dann rund 1500 Vertreter des Startup-Ökosystems<br />
im Löwenbräukeller.<br />
START-UPS ÜBERLEBEN LÄNGER<br />
Verständlich, dass Münchens Gründer die<br />
Stadt aus dem Schatten Berlins hieven wollen.<br />
Dazu haben sie kürzlich die Initiative<br />
„Best of Munich“ ins Leben gerufen. Laut<br />
den Initiatoren ist die Stadt an der Isar<br />
nicht nur „führender Standort der digitalen<br />
Wirtschaft in Deutschland und im europäischen<br />
Vergleich vor London und Paris“.<br />
Sondern auch jene Stadt in Deutschland,<br />
in der mit 62 Prozent mehr Start-ups die<br />
ersten fünf Jahre überleben als im Rest der<br />
Republik. Gemessen an der Zahl der Einwohner,<br />
werden nirgendwo sonst so viele<br />
IT-Unternehmen gegründet wie in München,<br />
errechnete der Branchenverband<br />
Bitkom in einer Studie Ende 2012.<br />
Zoltan Elek pendelt mittlerweile oft in<br />
die Hauptstadt. Dort sucht er den Dialog<br />
mit Verbänden und Politikern, um für Biogas<br />
zu werben – denn Energiepolitik ist zu<br />
großen Teilen Bundespolitik. Und er besucht<br />
Biogaserzeuger, denn rund um Berlin<br />
sitzen die meisten von ihnen. Bayern<br />
bleibt er trotzdem treu. „München“, sagt<br />
der Unternehmer, „zieht einfach die richtigen<br />
Leute an.“<br />
n<br />
jens.toennesmann@wiwo.de<br />
Die<br />
Finalisten<br />
GRÜNDERWETTBEWERB | Vom<br />
Fahrradschloss bis zum mobilen<br />
digitalen Fotolabor: Diese<br />
sechs Start-ups haben es ins<br />
Finale des WirtschaftsWoche-<br />
Gründerpreises geschafft.<br />
Ambiotex<br />
SCHLAUES SHIRT<br />
Ein T-Shirt, das Puls, Atmung und Bewegung<br />
misst und an eine Smartphone-App<br />
überträgt, die die Daten analysiert: Mit seiner<br />
Geschäftsidee setzt das Mainzer Startup<br />
Ambiotex gleich auf zwei Trends. Zum<br />
einen auf den wachsenden Wunsch vieler<br />
Menschen, die eigene Leistung zu messen.<br />
Zum anderen auf die neue Möglichkeit,<br />
sehr kleine Computer direkt am Körper zu<br />
tragen. Sportlern, gestressten Managern<br />
und Menschen mit Gesundheitsrisiken soll<br />
das schlaue Shirt des Start-ups helfen, Körperfunktionen<br />
zu überwachen, mehr zu<br />
leisten und Stress abzubauen.<br />
Die Idee kommt an: Die Gründer Thomas<br />
und Andrea Claussen, Klaus Bscheid,<br />
Gerhard Tauschl und Stephanie Renda<br />
qualifizierten sich über die Abstimmung<br />
unter den WirtschaftsWoche-Lesern für<br />
das Finale von Neumacher 2014.<br />
Fast Forward Imaging<br />
VERKAUFSFÖRDERNDE FOTOS<br />
Ob Konzern, Mittelständler oder Kleinunternehmer:<br />
Wer Produkte online anbietet,<br />
braucht gute Bilder, damit Kunden<br />
tatsächlich per Mausklick kaufen. Doch<br />
solche Produktfotos sind oft teuer oder von<br />
schlechter Qualität. Anna Rojahn hat eine<br />
Technologie entwickelt, die dieses Problem<br />
lösen soll: einen großen Kasten mit<br />
Scheinwerfern und Kameras, in dem sich<br />
Produkte von allen Seiten ablichten lassen,<br />
sowie Software, die daraus innerhalb<br />
weniger Minuten hochauflösende Freisteller-Fotos<br />
und 360-Grad-Ansichten erstellt.<br />
Die Bilder sollen Online-Shoppern das<br />
Gefühl vermitteln, die Produkte in die »<br />
WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 71<br />
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Management&Erfolg<br />
Ins rechte<br />
Bild gesetzt<br />
Anna Rojahn,<br />
Gründerin von<br />
Fast Forward<br />
Imaging<br />
über Trends und Technologien, Märkte und<br />
Wettbewerber analysieren und visualisieren<br />
lassen. Das von Peter Walde und Uwe Kühn,<br />
Matthias Plaue und Luis Sperr im Jahr 2012<br />
gegründete Unternehmen hat bereits erste<br />
Kunden, etwa den Autohersteller Audi.<br />
Lock8<br />
SICHERE SACHE<br />
»<br />
Hand nehmen zu können, und zum<br />
Kauf animieren.<br />
Fast Forward Imaging nutzt für die Lösung<br />
ein Patent der Bauhaus-Universität<br />
Weimar mit exklusiver Lizenz. Das Geschäftsmodell<br />
des Start-ups: Wer mehr als<br />
5000 Produkte im Jahr fotografieren will,<br />
bekommt die Hardware kostenlos und<br />
zahlt pro fotografiertem Produkt. Damit<br />
hat Gründerin Rojahn schon eine Reihe<br />
von Kunden und Investoren überzeugt –<br />
darunter Vogel Ventures und die Ganske<br />
Media Group.<br />
Fresh Detect<br />
MISS DEN KEIM<br />
Mehr als 200 000 Menschen in Deutschland<br />
erkranken jedes Jahr, weil sie über Lebensmittel<br />
Bakterien und Keime zu sich<br />
nehmen. Fresh Detect will das Problem<br />
entschärfen: Das Unternehmen aus Karlsfeld<br />
bei München entwickelt ein handtellergroßes<br />
Gerät, mit dem sich in etwa drei<br />
Sekunden die Keimbelastung von Lebensmitteln<br />
ermitteln lassen soll. Das etwa 500<br />
Gramm schwere Minilabor misst dafür, wie<br />
viele Exkremente von Bakterien auf Lebensmitteln<br />
vorhanden sind – sogar durch<br />
eine transparente Verpackung hindurch.<br />
Die Technologie soll Lebensmitteltests einfacher,<br />
günstiger und schneller machen.<br />
Das Start-up ist aus einem Forschungsprojekt<br />
entstanden, 2015 wollen die<br />
Gründer Oliver Dietrich, Ralf Hasler und<br />
Mathias Reichl das Handgerät zur Serienreife<br />
bringen und an Industrie, Einzelhändler<br />
und Gastronomen verkaufen.<br />
Mapegy<br />
DURCHBLICK IM DATENWUST<br />
Wer neue Produkte entwickelt, nach Partnern<br />
oder Investoren sucht, muss in kurzer<br />
Zeit wichtige Entscheidungen treffen. Das<br />
Problem: zu viele Informationen. Das Berliner<br />
Start-up Mapegy will günstig und schnell<br />
für Durchblick im Datenwust sorgen: Es entwickelt<br />
Software, mit der sich Informationen<br />
DER PREIS<br />
Kapital für Ideen<br />
Der Sieger erhält<br />
10 000 Euro Startkapital<br />
sowie ein Paket<br />
aus Sachleistungen<br />
im Wert von bis zu<br />
300 000 Euro von<br />
den Partnern des Wettbewerbs: der Anwaltskanzlei<br />
Osborne Clarke, der Agentur<br />
thjnk, dem Investor High-Tech Gründerfonds,<br />
der Unternehmerorganisation<br />
Entrepreneurs’ Organization und der<br />
WirtschaftsWoche. Die Preisverleihung<br />
findet am 18. November im Rahmen<br />
der Gründerkonferenz Neumacher<br />
statt, an der Gründer und Unternehmer<br />
teilnehmen können. Infos und Anmeldungen<br />
unter www.neumacher.com<br />
Etwa alle zwei Minuten wird in Deutschland<br />
ein Fahrrad gestohlen. Und vermutlich mindestens<br />
ebenso oft eines an Freund oder Bekannte<br />
verliehen. Franz Salzmann und Daniel<br />
Zajarias-Fainsod wollen Dieben die Arbeit<br />
erschweren und Radbesitzern das Verleihen<br />
erleichtern: Ihr Start-up Lock8 entwickelt<br />
ein intelligentes Fahrradschloss, das<br />
mit einem GPS-Empfänger ausgestattet ist<br />
und sich mit dem Internet verbinden kann.<br />
Über eine Smartphone-App können Fahrradbesitzer<br />
zum einen sehen, wo sich das<br />
Fahrrad gerade befindet, und werden alarmiert,<br />
wenn es gestohlen wird. Zum anderen<br />
können sie es via App verleihen, auch<br />
gegen Gebühr. Nutzer können via App Fahrräder<br />
orten und mit dem Smartphone öffnen<br />
– einen Schlüssel fürs Schloss brauchen<br />
sie nicht mehr. Die Gründer haben bei namhaften<br />
Investoren einen siebenstelligen Betrag<br />
eingesammelt. Im Dezember wollen sie<br />
die ersten 1000 Test-Schlösser ausliefern.<br />
Klang Technologies<br />
AUSGEKLÜGELTER SOUND<br />
Was wäre, wenn man über Kopfhörer eine<br />
Band so hören könnte, als stünde sie um einen<br />
herum – der Sänger vorne links, der<br />
Bassist vorne rechts, der Schlagzeuger hinter<br />
dem Rücken? Für solch ein Hörerlebnis<br />
will das Aachener Start-up Klang Technologies<br />
mit einer neuen 3-D-Audio-Technologie<br />
sorgen – ganz gleich, ob man Musik<br />
lauscht, Spiele spielt oder Hörspielen folgt.<br />
Die Gründer Roman Scharrer, Pascal<br />
Dietrich und Benedikt Krechel sind Akustik-Forscher<br />
und Ingenieure von der<br />
RWTH Aachen, Robin Müller und Bernd<br />
Kopin erfahrene Musikunternehmer. Seit<br />
2013 baut das Team das Start-up auf und<br />
hat – nach einem Start mit einem Exist-Stipendium<br />
– bereits Investoren gefunden.<br />
Mitte Oktober gab es für Berliner Bands die<br />
erste Kostprobe: Das Start-up öffnete seine<br />
Proberäume – die kostenlosen Sessions<br />
waren binnen Tagen ausgebucht. n<br />
jens.toennesmann@wiwo.de<br />
FOTO: TILMANN CLASSEN<br />
72 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Management&Erfolg<br />
Kreatives Gipfeltreffen<br />
Heimat-Gründer Guido<br />
Heffels (oben), Andreas<br />
Mengele (links) und Matthias<br />
von Bechtolsheim in ihrem<br />
Berliner Konferenzraum „Berg“<br />
FOTO: ANDREAS CHUDOWSKI FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
74 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Keiner spürt es so wie sie<br />
HALL OF FAME | Guido Heffels, Matthias von Bechtolsheim, Andreas Mengele Sie haben für die Baumarktkette<br />
Hornbach dem Heimwerker ein Denkmal gesetzt, mit Fußballlegende Dettmar Cramer das Image<br />
der Volks- und Raiffeisenbanken aufpoliert und mit Adolf Hitler die FDP wiederbelebt: Als erstes Trio<br />
kommen die Gründer der Agentur Heimat in die Ruhmeshalle der deutschen Werbung.<br />
Der Anruf erreicht Matthias von<br />
Bechtolsheim beim Mittagessen.<br />
„Wir haben ein Problem“,<br />
sagt die Stimme am anderen<br />
Ende. „Und wir brauchen eine<br />
Lösung – heute noch.“ Die Stimme gehört<br />
einem Manager von Burger King. Das Problem<br />
der Fast-Food-Kette: Ein Reporterteam<br />
des Privatsenders RTL hatte über<br />
mangelnde Hygiene und unmenschliche<br />
Arbeitsbedingungen in einigen Filialen berichtet<br />
– das Unternehmen fand sich innerhalb<br />
weniger Stunden nach der Ausstrahlung<br />
der Sendung inmitten eines veritablen<br />
Shitstorms.<br />
Zwei Minuten nach dem Anruf seines<br />
Kunden schart von Bechtolsheim, Mitgründer<br />
der Werbeagentur Heimat, ein Team um<br />
sich. Zieht Vergleiche zu PR-Skandalen aus<br />
den Neunzigerjahren wie dem Elchtest-Desaster<br />
von Mercedes-Benz oder Shells Reaktion<br />
auf die Diskussion um die Ölplattform<br />
Brent Spar. Und entwickelt innerhalb weniger<br />
Minuten ein Szenario entlang klassischer<br />
Krisen-PR:Fehler eingestehen, Besserung<br />
geloben und die Botschaft schnell und<br />
glaubwürdig kommunizieren, am authentischsten<br />
durch Mitarbeiter des Unternehmens,<br />
ergänzt durch Aktionen wie einen<br />
Tag der offenen Tür. „Alles analytisch sauber<br />
abgleitet“, erinnert sich Heimat-Kreativchef<br />
Guido Heffels an die Vorschläge, die ihm<br />
von Bechtolsheim kurz darauf präsentiert.<br />
„Aber nicht entschieden genug.“<br />
FEUER MIT FEUER BEKÄMPFEN<br />
Sein spontaner Vorschlag: Warum nicht eine<br />
umstrittene Filiale niederbrennen, wieder<br />
aufbauen und die Bilder für einen PR-<br />
Film nutzen, als radikalstes Zeichen eines<br />
Neuanfangs? „Wenn die Hütte brennt, muss<br />
man ein noch kraftvolleres Zeichen dagegensetzen“,<br />
sagt Heffels. „Und Feuer bekämpft<br />
man nun mal mit Feuer.“<br />
Stille, sekundenlang. Was von Bechtolsheim<br />
als „die für Guido charakteristische<br />
kreative Urgewalt“ beschreibt, löst zwischen<br />
den Agenturgründern eine kurze, aber intensive<br />
Diskussion über kreative Machbarkeit<br />
und konkreten Kundennutzen aus,<br />
die kurz darauf auch mit dem Management<br />
von Burger King fortgesetzt wird. Ergebnis:<br />
Ein TV-Spot, geschaltet zur Hauptsendezeit<br />
auf den größten deutschen TV-Kanälen, in<br />
dem sich Burger King entschuldigt, Hygiene-Kontrollen,<br />
die Gründung eines Gästebeirats<br />
und Bezahlung nach Tarifvertrag<br />
verspricht. Ein 60-Sekunden-Statement,<br />
gesprochen <strong>vom</strong> Deutschland-Chef Andreas<br />
Bork. Aufgenommen nicht in mehreren<br />
Ewiger Ruhm<br />
Um Branchengrößen wie Guido Heffels,<br />
Matthias von Bechtolsheim und Andreas<br />
Mengele zu ehren und die gesellschaftliche<br />
wie ökonomische Bedeutung der<br />
Branche zu würdigen,<br />
hat die Wirtschafts-<br />
Woche 2001 die Hall<br />
of Fame der deutschen<br />
Werbung ins<br />
Leben gerufen. „Ihre<br />
Mitglieder haben die<br />
deutsche Werbung nachhaltig geprägt“,<br />
so Miriam Meckel, Chefredakteurin der<br />
WirtschaftsWoche und Vorsitzende der<br />
Jury. „Ihre Arbeit zeichnet sich durch<br />
kontinuierlich hohe Qualität aus.“<br />
Häppchen, sondern ohne Schnitt, mit leicht<br />
verwackelter Kamera.<br />
„Es geht uns nicht darum, ein kreatives<br />
Feuerwerk um seiner selbst willen abzubrennen,<br />
sondern darum, den intelligentesten<br />
Weg im Sinne des Kunden zu finden“, erklären<br />
die drei Agenturgründer Heffels, von<br />
Bechtolsheim und Andreas Mengele ihre<br />
Entscheidung für die scheinbar konventionelle,<br />
biedere Variante. „Das war in dieser<br />
Situation die beste Lösung.“<br />
VIELFACH PRÄMIERT<br />
Eine, die dem Kunden gefällt. Und im Netz<br />
polarisiert: „Als ich las, dass der Spot von<br />
Heimat ist, hatte ich mich schon gefreut.<br />
Während des Anschauens war ich eher enttäuscht“,<br />
so der Kommentar von Nutzer naja.<br />
„Von Heimat hier mehr zu erwarten, womöglich<br />
Werbehumor oder kreatives Vorturnen,<br />
hieße Heimat zu unterschätzen“,<br />
kontert User Fritz. „Ich finde den Spot gedanklich<br />
absolut auf den Punkt.“<br />
Und keine Eintagsfliege, wie der Blick auf<br />
die Heimat-Historie zeigt: Seit ihrer Gründung<br />
vor 15 Jahren setzt die Agentur mit ihren<br />
Kampagnen, unter anderem für die Baumarktkette<br />
Hornbach („Mach es zu deinem<br />
Projekt“, „Keiner spürt es so wie Du“) oder<br />
die Volksbanken Raiffeisenbanken („Jeder<br />
Mensch hat etwas, das ihn antreibt“), regelmäßig<br />
kreative Ausrufezeichen. Hat weltweit<br />
Dutzende Preise für kreative und effiziente<br />
Werbung eingeheimst. Genialität, die sich<br />
rechnet – auch für die Agentur selbst:Mit 230<br />
Mitarbeitern, einem Umsatz von knapp 23<br />
Millionen Euro und einem operativen Gewinn,<br />
der nach eigenen Angaben auf 3,7 Millionen<br />
Euro kletterte, gehörte Heimat 2013 zu<br />
den zehn größten inhabergeführten Agenturen<br />
Deutschlands. Obwohl – oder vermut-<br />
»<br />
WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 75<br />
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Management&Erfolg<br />
<br />
Spieltrieb geweckt Mit der Fanta-Kampagne „Play Now“<br />
trifft Heimat das Lebensgefühl der Jugend, ohne sich bei<br />
der Zielgruppe anzubiedern<br />
<br />
Seltenes Stück Ein Hammer aus dem Schrott eines<br />
Panzers wurde zum Objekt der Begierde und lockte Hunderttausende<br />
auf die Hornbach-Web-Site und in die Märkte<br />
Da häng ich dran Umherstreifen, Beute machen, der<br />
Wunsch nach Individualität: Die Kampagne „Gefunden<br />
auf otto.de“ für das E-Commerce-Angebot des Einzelhandelskonzerns<br />
spielt mit weiblichen Klischees<br />
<br />
<br />
Sinn des Lebens Trainerlegende Dettmar Cramer erzählt in der<br />
Volksbanken-Raiffeisenbanken-Kampagne „Jeder Mensch hat<br />
etwas, das ihn antreibt“ über seine Liebe zum Fußball. Emotionen<br />
statt Zinssatz: Für die Finanzbranche war das 2009 ein Novum<br />
<br />
Virale Sehnsucht Für Google ersann Heimat einen „Fluchtplan ins<br />
Grüne“. Auf der gleichnamigen Web-Seite finden überarbeitete<br />
Großstädter Naherholungsgebiete. Wer mag, kann seine Lieblingsplätze<br />
fotografieren und so mit den anderen Nutzern teilen<br />
FOTOS: PR<br />
76 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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»<br />
lich gerade weil sie im Schnitt zwei von<br />
drei Anfragen ablehnt – „wenn es uns nicht<br />
reizt, wir keinen Zugang finden und ein Ja für<br />
uns und den Kunden langfristig nur frustrierend<br />
wäre“, sagt Heffels. „Das Leben ist zu<br />
kurz, um sich mit Kunden rumzuärgern.“<br />
Basis dieses Erfolgs: kein schneller Witz,<br />
sondern „berührende, originäre Kommunikation,<br />
die etwas bewegt“ – so beschreiben<br />
die drei Gründer das Ziel ihrer Arbeit. „Wir<br />
verstehen uns blind, obwohl wir, jeder für<br />
sich genommen, sehr unterschiedlich sind.“<br />
KREATIVER INTENSIVTÄTER<br />
Mengele, der Ruhigste im Bunde, der als intelligenter<br />
Faktensammler und schonungsloser<br />
Analytiker den Boden für die internen<br />
Diskussionen auf dem Weg zur Kampagnenidee<br />
bereitet. Von Bechtolsheim,<br />
selbst ernannte Quasselstrippe, vor allem<br />
aber überzeugender Verkäufer der Agenturideen<br />
wie Kundenversteher, im Kopf so<br />
schnell wie mit der Zunge, für Mengele „ein<br />
Alphatier mit Substanz“.<br />
Und Heffels, für von Bechtolsheim der<br />
„kreative Intensivtäter“, als erklärter Feind<br />
des Nebensatzes ein „Weltmeister der Verdichtung,<br />
der jede Botschaft auf den Punkt<br />
schwitzt“. Und jede scheinbar perfekte Lösung<br />
mit dem immer gleichen Satz infrage<br />
stellt: „Schafft das was weg?“ Der zwar von<br />
außen gern als Kopf der Gruppe wahrgenommen<br />
wird, aber – genau wie seine Kompagnons<br />
– weiß, „dass der Einzelne ohne die<br />
beiden anderen nichts wäre“.<br />
Freunde? Sind sie nicht, auch da gibt es<br />
kein Vertun. „Wir bilden einander einen<br />
fruchtbaren Resonanzboden“, sagt Mengele.<br />
„Einen Raum für Feedback auf Zuruf, in<br />
dem sich jeder ausprobieren kann, ohne<br />
Angst vor dem Scheitern haben zu müssen.<br />
Und in dem wir die Basis schaffen für die in<br />
unseren Augen intelligenteste Lösung.“<br />
Gründe genug die Heimat-Gründer in<br />
die Hall of Fame der deutschen Werbung<br />
aufzunehmen, die die WirtschaftsWoche<br />
2001 ins Leben rief, um die ökonomische<br />
Bedeutung der Branche und<br />
deren Koryphäen zu würdigen<br />
(siehe Kasten siehe Seite 75).<br />
„Es ist beeindruckend, wie sich<br />
die drei mit ihren unterschiedlichen<br />
Fähigkeiten ergänzen“, so<br />
das Urteil der Jury. „Wie sie aus<br />
1+1+1 oft mindestens vier machen<br />
und über viele Jahre kreative,<br />
kundenorientierte Spitzenleistungen<br />
abliefern.“ Ein Anspruch,<br />
auf den sich auch die<br />
Gründer verständigen, als sie<br />
APP + ONLINE<br />
Die Videospots zu den<br />
Kampagnen<br />
und mehr Bilder von<br />
der Preisverleihung finden<br />
Sie auf unserer<br />
App und im Internet<br />
unter<br />
wiwo.de/hall-of-fame<br />
nach ein paar Bier zu viel auf der Reeperbahn<br />
verabreden, ihre Ideen auf eigene Rechnung<br />
zu entwickeln: Der Mönchengladbacher<br />
Guido Heffels, damals 34, der zu Schulzeiten<br />
seine Liebe zum Punk entdeckt hatte, regelmäßig<br />
in der Düsseldorfer Kultkneipe Ratinger<br />
Hof abhing, von seinem Kinderzimmer<br />
aus selbst produzierte Platten vertrieb und<br />
bis heute, statt mit Excelcharts zu jonglieren,<br />
lieber Slogans wie die Titelzeile eines Punksongs<br />
textet – „eine kurze, knappe Botschaft –<br />
dann folgt der Rest von selbst“. Der sich mit<br />
eisernem Willen das Stottern abtrainierte.<br />
Seinen Eltern, Vater Friseur, Mutter Kosmetikerin,<br />
bis heute dafür dankbar ist, dass sie<br />
ihm als Kind das Tennisspielen ermöglichten,<br />
was er heute wieder mit Leidenschaft<br />
tut. Der sich nach einem Grafikdesign-Studi-<br />
um über mehrere Agenturen bis zum Kreativdirektor<br />
in der Hamburger Werbeagentur<br />
Springer & Jacoby nach oben arbeitet. Ein<br />
hochkreativer Hitzkopf, der schon mal die<br />
Aktenordner seines Kollegen durchs Treppenhaus<br />
schleudert, wenn er seinen Kopf<br />
nicht gleich durchsetzen kann.<br />
GOLDENE ZWERGE<br />
Der Name des damaligen Kollegen: Matthias<br />
von Bechtolsheim, aufgewachsen nahe<br />
München, damals 31. Der schon als Kind<br />
Anzeigen aus amerikanischen und französischen<br />
Magazinen ausschneidet, als Jugendlicher<br />
im Kino statt „Rambo III“ lieber die<br />
„Cannes-Rolle“ sieht. Und darüber nachdenkt,<br />
warum Unternehmen wie der Reifenhersteller<br />
Uniroyal mit goldenen Zwergen<br />
für sich werben. Der nach einer Ausbildung<br />
zum Werbekaufmann, einem berufsbegleitenden<br />
Studium an der Bayerischen<br />
Werbeakademie und Stationen<br />
bei damals angesehenen Agenturen<br />
wie Gabler und BMZ, wo<br />
er an der legendären Toyota-<br />
Tier-Kampagne („Nichts ist unmöglich“)<br />
mitgewirkt hat, 1995<br />
bei Springer & Jacoby landet.<br />
Der in Deutschlands damals<br />
führender Kreativagentur mit<br />
Ende 20 schon zur Führungsmannschaft<br />
gehört. Und doch<br />
nach vier Jahren eine neue Herausforderung<br />
sucht.<br />
So wie Andreas Mengele, damals 35. Der<br />
Schwabe, der nach internationalem BWL-<br />
Studium „lieber in die Werbung als in den<br />
Vertrieb“ will und als Trainee bei der Grey-<br />
Tochter Gramm in Düsseldorf anheuert.<br />
Aber nach einem verlorenen Pitch merkt,<br />
„dass ich hier falsch bin“. Und zu der Agentur<br />
wechselt, die den Etat gewonnen hatte –<br />
Springer & Jacoby, wo er auf Heffels und von<br />
Bechtolsheim trifft. In dem von Kreativen<br />
geprägten Unternehmen etabliert er mit<br />
Gründer Konstantin Jacoby die strategische<br />
Planung, wechselt 1997 zum Konkurrenten<br />
Jung von Matt. „Ich wollte noch mal was anderes<br />
sehen – für eine eigene Agentur war es<br />
noch nicht die richtige Zeit“.<br />
Die kommt zwei Jahre später, ausgerechnet<br />
nachdem er mitgeholfen hatte, den gro-<br />
»Gute Werbung darf alles – nur keinen<br />
kaltlassen«<br />
Guido Heffels, Kreativchef der Agentur Heimat<br />
ßen Etat der Deutschen Post an Land zu ziehen<br />
– und dafür von Co-Agenturchef Holger<br />
Jung ein aus seiner Sicht überflüssiges Lob<br />
bekam. „Mein Schlüsselerlebnis“, erinnert<br />
sich Mengele. „Jetzt wollte ich wissen, ob ich<br />
gut genug war, es unter eigenem Namen zu<br />
versuchen.“<br />
Das geht damals auch Heffels und von<br />
Bechtolsheim so, die sich beide auf ihre Art<br />
am System Springer & Jacoby abgearbeitet<br />
hatten. Drei Brüder im Geiste, alle auf dem<br />
Sprung. „Natürlich hat uns damals jeder von<br />
dem Schritt abgeraten“, erinnert sich Heffels.<br />
„Zu viele Häuptlinge, das konnte nicht gut<br />
gehen.“ Was sich zu bewahrheiten scheint,<br />
als schon nach einem Jahr der vierte im Bunde<br />
– Ex-Springer-Kollege Arndt Dallmann –<br />
die Agentur verlässt – „wir hatten einfach<br />
unterschiedliche Auffassungen <strong>vom</strong> Charakter<br />
dieser Agentur“.<br />
LUST STATT BUSINESSPLAN<br />
Umso einiger war sich das verbliebene Triumvirat:<br />
hatte bewusst „die ausgetretenen<br />
Hamburger Pfade“ gen Berlin verlassen,<br />
„wo man damals noch ins Café gehen<br />
konnte, ohne einen Werber zu treffen“. Das<br />
Trio landet auf der Suche nach passenden<br />
Räumen in der Kreuzberger Ex-Wohnung<br />
von Regisseur Wim Wenders – dessen ehemaliges<br />
Schlafzimmer dient heute als Konferenzraum,<br />
von der Dachterrasse lässt<br />
sich ganz Berlin überblicken. „Wir hatten<br />
keinen Businessplan“, sagt Heffels.<br />
WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 77<br />
»<br />
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Management&Erfolg<br />
Ran an den Speck Mit den Kampagnen für die Baumarktkette Hornbach<br />
setzt Heimat dem Heimwerker seit 13 Jahren ein Denkmal<br />
<br />
<br />
Erfolgreich<br />
provoziert Mit<br />
den Konterfeis<br />
von Sektenguru<br />
Bhagwan, Adolf<br />
Hitler und der<br />
Horrorfilmfigur<br />
Freddy Krueger<br />
löst Heimat einen<br />
Skandal aus und<br />
befördert das<br />
Comeback der FDP<br />
<br />
Grenzen überschreiten<br />
Mit<br />
rotem Klebeband<br />
markiert Heimat<br />
im Auftrag des US-<br />
TV-Senders CNN<br />
die Hauptstadt<br />
zum 20-jährigen<br />
Jahrestag des<br />
Mauerfalls<br />
»<br />
„Aber unheimliche Lust, uns auszuprobieren.“<br />
Angefangen beim Namen: Nicht wie in<br />
der Branche oft üblich wie die Gründer<br />
sollte die Agentur heißen – eine Marke sollte<br />
es sein, „stärker als jeder Einzelne von<br />
uns“. Es folgten Diskussionen, unter anderem<br />
über Vorschläge wie Laughing Tuna –<br />
„das klang wie eine ostdeutsche Marke für<br />
Surfer-Klamotten“. Plötzlich lag der Name<br />
Heimat auf dem Tisch – „da sagte keiner<br />
mehr was – wir wussten, das war es“,<br />
erinnert sich Heffels. „Weil man nur erkennt,<br />
wohin man will, wenn man weiß,<br />
woher man kommt – das setzt sofort Gedanken<br />
frei.“<br />
Und Bilder, die jeder Mitarbeiter auf seine<br />
Visitenkarte drucken darf: Bayer von Bechtolsheim<br />
zeigt sich selbst beim Skifahren,<br />
Mengele sein zerwühltes Bett, Heffels eine<br />
Fleischerpalme – eine triste Pflanze auf der<br />
Fensterbank einer Metzgerei.<br />
Einer der ersten Heimat-Kunden: die FDP<br />
Nordrhein-Westfalen, der die Agentur mit<br />
zwei simplen, aber suggestiven Motiven<br />
2002 zur unerwarteten Rückkehr in den<br />
Landtag verhilft. Eines zeigt als Wahlziel eine<br />
blaue 8 auf gelbem Grund, ein anderes Sektenguru<br />
Bhagwan neben Adolf Hitler und<br />
Horrorfilmfigur Freddy Krueger („Wenn wir<br />
nicht schnell für mehr Lehrer sorgen, suchen<br />
sich unsere Kinder selber welche“).<br />
Das Hitlermotiv wird nur einmal auf einer<br />
Pressekonferenz gezeigt – und löst einen<br />
Medienhype aus. „Das war Punk“, sagt Heffels.<br />
„Wir haben alles infrage gestellt.“<br />
WIE IN EINER GUTEN EHE<br />
Eine Haltung, die auch Hornbach überzeugt:<br />
Die Baumarktkette aus der Südpfalz arbeitet<br />
seit 2002 mit Heimat zusammen. Als „streit-,<br />
aber fruchtbar – wie in einer guten Ehe“ beschreibt<br />
Hornbach-Marketingleiter Marc<br />
Kreisel das Verhältnis zwischen Unternehmen<br />
und Agentur, die sich für Hornbach<br />
nicht einfach schnöde Reklame zu Bohrmaschinen<br />
oder Preisschlachten ausdenkt, sondern<br />
die Leidenschaft der Heimwerker zur<br />
Grundhaltung jeder neuen Kampagne erhebt<br />
und in strategische Entscheidungen<br />
eingebunden ist – bis hin zum Kreieren von<br />
Mitarbeiterbeteiligungsmodellen. Und dazu<br />
beiträgt, dass die Marke heute 98 Prozent der<br />
Deutschen kennen und als beliebter Arbeitgeber<br />
gilt. „Die Arbeit von Heimat ist einzigartig“,<br />
sagt Kreisel, „wir sind damit absolut<br />
glücklich.“<br />
2006 etwa, als die Agentur den fiktiven Motorradfahrer<br />
Ron Hammer ins Zentrum einer<br />
Kampagne stellt. Ihn in einem verwackelt<br />
gefilmten Webspot bei einem Stunt gegen<br />
einen Hornbach-Markt krachen lässt,<br />
auf Plakaten für angeblich reale Rennen mit<br />
ihm wirbt und ein „Bravo“-Poster produzieren<br />
lässt, so eine bundesweite Debatte über<br />
dessen Authentizität auslöst, die es bis in die<br />
FOTOS : PICTURE-ALLIANCE/DPA, PR (2)<br />
78 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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„Tagesschau“ schafft. Und damit eine virale<br />
Kampagne kreiert, bevor der Begriff salonfähig<br />
wird. Oder als Heimat Begehrlichkeiten<br />
auf einen limitierten Hammer weckt, der<br />
aus Blechen russischer Panzer gefertigt wird.<br />
Bis hin zum Stellen existenzieller Fragen<br />
(„Was bleibt von Dir?“), für die die Agentur<br />
aus Pietätsgründen gar auf das Soundlogo<br />
verzichtet („Yippi jaja yippie yippie yeah“),<br />
das sonst jeden Hornbach-Spot abbindet.<br />
Ähnlich auch im jüngsten Spot „Gothic Girl“,<br />
der über die Protagonistin, ein Gruftie-Mädchen,<br />
Mobbing unter Kindern thematisiert,<br />
Anderssein feiert und im Netz schon mehr<br />
als 4,5 Millionen Mal abgerufen wurde.<br />
„Die Verknüpfung zum Hier und Jetzt, zu<br />
unseren Sorgen und Nöten zeigt die Relevanz<br />
einer Kampagne“, sagt Heffels. „Gute<br />
Werbung darf alles – nur keinen kaltlassen.“<br />
So wie die Kampagne für den TV-Sender<br />
CNN, der anlässlich des 20. Jahrestags des<br />
Berliner Mauerfalls eigentlich „nur eine Anzeige“<br />
wollte. Weil Heffels und Kollegen sich<br />
„eigentlich nie an Briefings halten, aber<br />
Spaß an der Aufgabe“ bekamen, bescherten<br />
sie CNN eine Aktion, die die Hauptstadt in<br />
ein riesiges Spielfeld verwandelte: Mit einem<br />
speziell gestalteten Klebeband markierten<br />
sie einen Weg entlang des alten Mauerverlaufs,<br />
ergänzt durch Arbeiten eines Künstler<br />
an markanten Punkten der Stadt.<br />
IM KASTENWAGEN ZUM TENNIS<br />
„Heimat, das ist Überzeugungstäterschaft<br />
und damit verbunden Konsequenz, Radikalität<br />
und Mut zur Exzentrik“ sagt Jean-Remy<br />
von Matt, Mitgründer der gleichnamigen<br />
Agentur. „Und das Ganze auf einem hohen<br />
professionellen Niveau.“<br />
Erfolg, der Begehrlichkeiten weckt: Nachdem<br />
über die Jahre Interessenten immer<br />
wieder vergeblich versucht hatten, die Agentur<br />
zu kaufen, übernahm das internationale<br />
Agenturnetzwerk TBWA im Juli 70 Prozent<br />
von Heimat und gab den drei Gründern 30<br />
Prozent an TBWA Deutschland, zu der jetzt<br />
auch Heimat gehört – für einen kolportiert<br />
höheren zweistelligen Millionenbetrag.<br />
„Wir nehmen nicht das Geld und hauen<br />
ab“, sagt Heffels, der auch künftig in seinem<br />
alten Kastenwagen im Tennisclub vorfahren<br />
will. „Wir wollen für globale Kunden arbeiten,<br />
das verlangt globale Präsenz. Und<br />
wir wollen uns weiter leisten können, Kunden,<br />
auf die wir keine Lust haben, abzulehnen.“<br />
Seine größte Angst? „Dass uns langweilig<br />
wird. Deshalb fragen wir uns immer<br />
wieder: Was können wir noch nicht? Denn<br />
das können wir meistens sehr gut.“ n<br />
manfred.engeser@wiwo.de<br />
WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 79<br />
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Management&Erfolg<br />
2<br />
1<br />
3<br />
4<br />
5<br />
1| Jean-Remy von Matt (Jung von Matt),<br />
Miriam Meckel (WirtschaftsWoche), Andreas<br />
Mengele, Guido Heffels, Matthias von<br />
Bechtolsheim (alle Heimat), Moderator Klaas<br />
Heufer-Umlauf<br />
2| Gabriele Eick (Marketingclub Frankfurt)<br />
und Friedrich von Metzler (Bankhaus Metzler)<br />
3| Nicola Brown, Marc Hines und Sabine<br />
Frank (alle BBDO)<br />
4| Michael Moser (Shanghai Berlin), Horst<br />
Wagner (Publicis Pixelpark), Jens Merkel<br />
(wob), Simone Leipossy (K3), Frank Merkel<br />
(wob) und Dirk Kidrowitsch (GWA-Vorstand)<br />
5| Uli Veigel (Brand Consultancy)<br />
6| Rund 200 Gäste feierten im Frankfurter<br />
Palmengarten<br />
6<br />
7<br />
7| Ingo Krauss (Mitglied Hall of Fame)<br />
GALA<br />
Nacht der Werber<br />
Mit einer großen Gala im Rahmen<br />
der Effie-Preisverleihung des Verbands<br />
der Kommunikationsagenturen<br />
GWA im Frankfurter Palmengarten<br />
feierten rund 200 prominente Vertreter aus<br />
Werbung, Industrie, Politik und Gesellschaft<br />
am vergangenen Donnerstag die<br />
Aufnahme von Guido Heffels, Matthias von<br />
Bechtolsheim und Andreas Mengele in die<br />
Hall of Fame der deutschen Werbung.<br />
„Ich erlebe die drei als besonders authentische<br />
Überzeugungstäter“, sagte Jean-<br />
Rémy von Matt, Mitgründer der Agentur<br />
Jung von Matt und selbst seit 2002 Mitglied<br />
der Hall of Fame in seiner Laudatio auf die<br />
neuen Preisträger. „Authentisch ist man ja<br />
dann, wenn man nicht zwei Gesichter sondern<br />
nur eins hat. Bei Guido Heffels, Matthias<br />
von Bechtolsheim und Andreas Mengele<br />
verhält es sich so: Sie alle zusammen<br />
zeigen nur ein Gesicht.“<br />
Die Gründer der Agentur Heimat sind<br />
die Mitglieder 31 bis 33 der Hall of Fame –<br />
und seit der Gründung 2001 das erste Trio,<br />
das in die Ruhmeshalle der deutschen<br />
Werbung aufgenommen wurde.<br />
„Natürlich hat uns damals jeder von<br />
dem Schritt abgeraten – zu viele Häuptlinge,<br />
das konnte nicht gut gehen“ erinnerte<br />
sich Heffels, Mitgründer und kreativer<br />
Vordenker des Gründer-Trios, an den gemeinsamen<br />
Start vor 15 Jahren. Und<br />
brachte das Erfolgsgeheimnis der Agentur<br />
auf den Punkt:„Man muss aufpassen, dass<br />
man es nicht allen recht macht. Wenn es<br />
allen gefällt, dann stimmt etwas nicht.<br />
Gute Werbung sollte berühren und darf<br />
keinem egal sein.“<br />
n<br />
manfred.engeser@wiwo.de<br />
FOTOS: BERT BOSTELMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
80 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Geld&Börse<br />
Bis zum letzten<br />
Tropfen<br />
AKTIEN | Bevölkerungswachstum, der Klimawandel, aber<br />
auch Verschwendung machen Trinkwasser in vielen<br />
Weltregionen zum knappen Gut. Die Wasseraufbereitung<br />
wird zum Milliardengeschäft – und zu einer Geldanlage.<br />
FOTOS: ISTOCK, GETTY IMAGES/GEORGE ROSE<br />
Der Rasensprinkler platzte, kurz<br />
nachdem Claudia Amling auf<br />
eine Geschäftsreise gegangen<br />
war. Als die 52-jährige Marketingmanagerin<br />
Tage später ins<br />
kalifornische Santa Cruz heimkehrte, waren<br />
bereits etliche Tausend Liter Wasser im<br />
Erdreich versickert. Neben der Rechnung<br />
dafür trudelte wenig später auch noch eine<br />
Strafe über 300 Dollar ein, die ihr der US-<br />
Bundesstaat Kalifornien auferlegte – der<br />
Wasserzähler hatte den Behörden signalisiert:<br />
Verschwendung. Um der Strafe zu<br />
entgehen, besuchte Amling eine zweistündige<br />
Schulung an der städtisch organisierten<br />
Wasserschule im Louden Nelson Community<br />
Center in Santa Cruz, wo sie im<br />
sparsamen Umgang mit Wasser unterrichtet<br />
wurde. „Das war schon ärgerlich, zumal<br />
ich in unserem Drei-Personen-Haushalt<br />
immer extrem auf unseren Wasserverbrauch<br />
achte“, erzählt Amling.<br />
Die Küstenstadt Santa Cruz, rund 100<br />
Kilometer südlich von San Francisco, ist<br />
die erste Gemeinde im US-Bundesstaat<br />
Kalifornien, die wegen extremer Trockenheit<br />
Wasser rationiert hat. Seit Mai dürfen<br />
Haushalte mit bis zu vier Personen nur<br />
noch höchstens 940 Liter Wasser am Tag<br />
verbrauchen – egal, ob beim Waschen,<br />
Kochen oder beim Bewässern des Gartens.<br />
Mehrverbrauch zieht höhere<br />
Gebühren und empfindliche<br />
Strafen nach sich. „Uns geht es<br />
nicht um das Einsammeln von<br />
Bußgeldern, sondern um den<br />
Lerneffekt“, sagt Toby Goddard,<br />
die bei der Stadt Santa Cruz für<br />
das Wassermanagement zuständig<br />
ist.<br />
Fotos<br />
In unserer App-<br />
<strong>Ausgabe</strong> finden<br />
Sie eine Bildstrecke<br />
über<br />
Brunnenprojekte<br />
in Afrika<br />
Auch in anderen Teilen der Welt wird der<br />
Wasserverbrauch zunehmend rigide reguliert.<br />
Venezuelas Hauptstadt Caracas hat in<br />
diesem Jahr mehrere Monate lang das<br />
Wasser rationiert. Ähnliches könnte demnächst<br />
den Bewohnern der brasilianischen<br />
Millionenstadt São Paulo drohen. Dort gehen<br />
die Vorräte in den Wasserspeichern<br />
wegen Trockenheit zur Neige. Die Behörden<br />
lehnen bislang zwar eine Rationierung<br />
ab, dafür fällt die Wasserversorgung in Teilen<br />
São Paulos seit Monaten regelmäßig für<br />
mehrere Stunden aus. Schon Mitte Mai<br />
musste die Metropole deshalb ihre sogenannte<br />
erste „technische Reserve“ anzapfen.<br />
Und dabei wird es nicht bleiben: Bis<br />
2020, so eine Studie der Welternährungsorganisation<br />
FAO, werden bis zu 40 Prozent<br />
der weltweit besiedelten Regionen unter<br />
Wassermangel leiden. Schuld sind Bevölkerungswachstum,<br />
Klimawandel, Wasserverschmutzung<br />
und -verschwendung.<br />
ILLEGALER BRUNNEN<br />
Wo Wasser knapp ist, wächst die Gefahr<br />
politischer Auseinandersetzungen. Vor allem<br />
im Nahen Osten: Nach einer Studie<br />
des britischen Risikoanalyseunternehmens<br />
Maplecroft liegen die zehn Länder<br />
mit dem weltweit größten Missverhältnis<br />
zwischen exzessivem Wasserverbrauch<br />
und geringem natürlichem Wassernachschub<br />
in der Region zwischen<br />
Libyen im Westen und Iran<br />
im Osten. Wenigen Reserven<br />
steht dort eine hohe Nachfrage<br />
der Bevölkerung gegenüber (siehe<br />
Grafik Seite 88).<br />
Al-Moghraka, ein kleines Dorf<br />
im Gazastreifen, zwei Kilome-<br />
»<br />
82 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Neue Untiefen<br />
Der Lake Shasta Kaliforniens<br />
größter Wasserspeicher,<br />
ist nur zu einem<br />
Viertel gefüllt. Monatelange<br />
Dürre hat die Reservoirs im<br />
bevölkerungsreichsten<br />
US-Bundesstaat austrocknen<br />
lassen. Inzwischen wird<br />
der Wasserverbrauch in<br />
Kalifornien von den<br />
Behörden rationiert.<br />
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Geld&Börse<br />
»<br />
ter Luftlinie zur israelischen Grenze: Die<br />
dreijährige Sahra hat Durst. Ihre Mutter Isra<br />
Migdad würde ihr gerne Wasser zu trinken<br />
geben, aber die salzige Brühe, die aus<br />
dem Hahn im Haus ihrer Familie in Al-<br />
Moghraka fließt, ist ungenießbar. Viele<br />
Kinder in der Nachbarschaft seien bereits<br />
krank geworden, erzählt sie. Die Familie<br />
versorgt sich derweil über einen illegalen<br />
Brunnen samt Wasserleitung unterhalb<br />
des Hauses. 350 Dollar haben Migdad und<br />
ihre Familie mit insgesamt 16 Personen in<br />
die illegale Quelle investiert. Allerdings ist<br />
auch dieses Wasser nicht sauber. Sie müssen<br />
daher weitere 500 Liter pro Woche bei<br />
Händlern in Gaza kaufen, die Wasser in<br />
großen Kanistern per Tankwagen aus Israel<br />
herbeischaffen, was, aufs Jahr gerechnet,<br />
etwa 300 Dollar kostet. Bei einem durchschnittlichen<br />
Verdienst in Gaza von etwa<br />
400 Dollar pro Monat und einer Arbeitslosigkeit<br />
von 45 Prozent kann sich das aber<br />
nur ein kleiner Teil der Bevölkerung leisten.<br />
Viele sind gezwungen, verschmutztes<br />
Wasser zu trinken.<br />
„Meist ist die Wassernot hausgemacht“,<br />
sagt Benjamin Pohl, Wissenschaftler des<br />
Thinktanks Adelphi. So hätten etwa Syrien<br />
und Irak jahrzehntelang ihre Grundwasserreservoirs<br />
geplündert. Folge: Brunnen<br />
wasser aus dem Hahn und verkauft den<br />
Menschen dafür das deutlich teurere aus<br />
der Flasche. Nestlé bestreitet dies. Die Ausbeutung<br />
von Wasserressourcen würde die<br />
eigene Geschäftsgrundlage zerstören.<br />
Internationale Versorger stehen ebenfalls<br />
in der Kritik. Der Vorwurf: Mit der<br />
Privatisierung der Wasserversorgung in<br />
Schwellenländern sind insbesondere die<br />
ärmeren Bewohner der Preispolitik der<br />
Multis hilflos ausgeliefert. Eine Reihe von<br />
Staaten habt inzwischen die Notbremse<br />
gezogen und legt die Wasserpreise wieder<br />
selbst fest. Und wo die Staaten eingreifen,<br />
ziehen sich die Wasserversorger oft zurück.<br />
So hat sich der französische Wasserversorger<br />
Suez bereits 2005 aus Argentinien verabschiedet.<br />
Vorausgegangen war ein Streit<br />
um die Wasserpreise und den Ausbau der<br />
Infrastruktur. Auch in Großbritannien lässt<br />
der Staat die Versorger offensichtlich nicht<br />
genug verdienen: 2012 stieß Veolia seine<br />
britische Wassersparte ab. Und RWE verabschiedete<br />
sich im vergangenen Jahrzehnt<br />
nach wenigen Jahren Engagement<br />
gleich aus zwei milliardenschweren Abenteuern:<br />
American Water und der britischen<br />
Thames Water.<br />
Auch in Deutschland schwingt das politische<br />
Pendel Richtung Verstaatlichung: So<br />
Dass die Terroristen des »IS«<br />
Staudämme besetzen, ist kein Zufall<br />
fallen trocken, Böden versalzen. Wer die<br />
Kontrolle über Flüsse und Wasserspeicher<br />
hat, besitzt große Macht. Dass die Terroristen<br />
des „Islamischen Staates“ („IS“) Staudämme<br />
besetzen, ist kein Zufall. Ortschaften,<br />
die „IS“ bisher nicht erobern konnte<br />
oder verloren hat, wird das Wasser abgedreht,<br />
um den Widerstand zu brechen:<br />
Wasser wird so zur Waffe.<br />
HILFLOS AUSGELIEFERT<br />
Auch internationale Konzerne stehen im<br />
Verdacht, den Menschen das Wasser abzugraben.<br />
So zapft der Schweizer Konzern<br />
Nestlé mit seiner Mineralwasserproduktion<br />
in vielen Regionen der Welt systematisch<br />
das Grundwasser an. Seit der 2012<br />
veröffentlichte Film „Bottled Life“ Nestlés<br />
umstrittene Firmenpolitik aufdeckte, sind<br />
die Schweizer moralisch angeschlagen.<br />
Hauptvorwurf der Filmer: Nestlé entzieht<br />
privaten Haushalten das preiswerte Trinkhat<br />
das Land Berlin 2012 und 2013 Anteile<br />
an den kommunalen Wasserbetrieben<br />
<strong>vom</strong> französischen Versorger Veolia und<br />
RWE für insgesamt 1,3 Milliarden Euro zurückgekauft.<br />
Erst 1999 war die Wasserversorgung<br />
in Berlin teilprivatisiert worden.<br />
Im vergangenen Jahr nahm die EU-<br />
Kommission nach Bürgerprotesten die<br />
Wasserversorgung von einer Vergabe von<br />
Konzessionen an Privatunternehmen aus.<br />
Die damalige Verbraucherministerin Ilse<br />
Aigner sprang den Bürgern bei: „Wasser ist<br />
keine Ware wie jede andere, sondern unser<br />
wichtigstes Lebensmittel.“<br />
Dennoch ist Trinkwasser längst eine Ware,<br />
auch ohne Nestlé. In den USA und Australien<br />
wird seit Jahrzehnten an Börsen mit<br />
Wasserrechten gehandelt (siehe Kasten<br />
Seite 86). Ziel ist es, auf diese Weise das<br />
knappe Gut möglichst effizient zu verteilen.<br />
Denn was nichts kostet, wird meist verschwendet.<br />
Allerdings braucht der Markt<br />
eine ordnende Hand. In Chile musste die<br />
Regierung den Handel mit Wasserrechten<br />
regulieren, um Spekulation und Ausbeutung<br />
zu vermeiden.<br />
Auch wenn der Staat versucht, Missbrauch<br />
zu verhindern, bleiben private Geschäfte<br />
mit Trinkwasser umstritten – ähnlich<br />
wie Spekulationen mit Agrarrohstoffen.<br />
Das heißt jedoch nicht, dass Anleger<br />
den Wasserboom an sich vorbeiziehen lassen<br />
müssen. Statt mit Nestlé und den großen<br />
Wasserversorgern auf wachsende Not<br />
und steigende Preise zu spekulieren, können<br />
sie sich an Unternehmen beteiligen,<br />
deren Geschäftszweck die Aufbereitung<br />
oder Verteilung von Trinkwasser ist. Deren<br />
Geschäftsmodell ist unabhängiger von politischer<br />
Einflussnahme und zumindest auf<br />
den ersten Blick moralisch unbedenklich.<br />
Und der Markt ist riesig: Die US-Analyseagentur<br />
BCC Research schätzt den weltweiten<br />
Markt für Wassertechnologie auf<br />
84 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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FOTOS: ISTOCK, LAIF/REDUX/THE NEW YORK TIMES<br />
derzeit 60 Milliarden Dollar.<br />
Bis 2019 soll er auf 96<br />
Milliarden Dollar wachsen.<br />
Allerdings ist nicht jede<br />
Aktie eines Konzerns, der<br />
mit Wassertechnologie<br />
Geld verdient, ein Kaufkandidat.<br />
Weniger attraktiv<br />
sind Großkonzerne, etwa<br />
General Electric. Zwar macht das US-<br />
Schwergewicht auch mit Meerwasserentsalzung<br />
Gewinne. Doch die Wassersparte<br />
bewegt den Kurs der Aktie nur wenig: GE<br />
verdient im Geschäftsfeld Power & Water<br />
sein Geld vor allem mit Windkraftanlagen.<br />
Ähnlich sieht es bei den Wasserversorgern<br />
mit Technologiesparte aus. Suez und Veolia<br />
machen ihre Profite überwiegend mit<br />
Energie, Müll und Recycling. Mehr Potenzial<br />
versprechen Unternehmen, die einen<br />
Großteil ihres Geschäftes mit Wassertechnologie<br />
machen, etwa Xylem.<br />
Gefahrenquelle<br />
Syrische Flüchtlingskinder<br />
spielen mit Wasser aus<br />
einem verschmutzten<br />
Teich in Suruç im Südosten<br />
der Türkei. Nicht nur<br />
die Kriege in Syrien und<br />
Irak, sondern auch jahrzehntelange<br />
Ausbeutung<br />
der Grundwasserreserven<br />
haben die Versorgungslage<br />
in der Region<br />
verschärft.<br />
Das US-Unternehmen<br />
fertigt auch in Herford. In<br />
Ostwestfallen brummt am<br />
Testplatz 2 der Produktionshalle<br />
von Xylem der<br />
Hochspannungsstrom. Bis<br />
zu 5500 Volt fließen durch<br />
die Elektroden des Ozongenerators,<br />
den Xylem<br />
prüft. Mithilfe elektrischer Energie wird<br />
im Generator Sauerstoff in Ozon umgewandelt.<br />
Ozon tötet Keime im Wasser<br />
ab und zersetzt Schadstoffe. Besteht das<br />
Gerät den fünftägigen Test, wird es per<br />
Schiff nach China verfrachtet und soll in<br />
Peking kommunale Abwässer mit Ozon<br />
reinigen. Bis zu 14 Kilogramm des flüchtigen<br />
Gases kann die Anlage pro Stunde<br />
erzeugen. Das reicht, um pro Stunde<br />
20 000 Kubikmeter Abwasser zu reinigen,<br />
so viel wie zwei olympische Schwimmbecken<br />
fassen.<br />
Mehr Geld als mit kommunalen Abwässern<br />
lässt sich mit schmutziger Brühe aus<br />
Industrieanlagen verdienen. Nach einer<br />
Studie der OECD soll der Wasserbedarf der<br />
Industrie bis 2050 um 400 Prozent steigen.<br />
DURSTIGE ÖLFÖRDERER<br />
Besonders durstig sind derzeit Öl- und<br />
Gasförderer, die Wasser und Chemikalien<br />
in tiefe Gesteinsschichten pressen (Fracking),<br />
um neue Quellen zu erschließen.<br />
Jedes Bohrloch verbraucht etwa 20 000 Kubikmeter<br />
Wasser. Und in den USA gibt es<br />
mittlerweile etwa 50 000 Bohrlöcher. Mit<br />
dem insgesamt benötigten Wasser ließe<br />
sich 3000 Mal der Gasometer in Oberhausen<br />
füllen. Das beim Fracking anfallende<br />
Abwasser muss von Chemikalien und anderen<br />
Zusätzen gereinigt werden. Die<br />
Agentur Global Water Intelligence schätzt<br />
diesen Markt auf zwei Milliarden Dollar.<br />
2018 sollen es 3,6 Milliarden sein.<br />
»<br />
WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 85<br />
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Geld&Börse<br />
BÖRSE<br />
Einstieg über Umwege<br />
Wie Wasserrechte an regionalen Marktplätzen gehandelt werden.<br />
Wasserrechte verbriefen den Zugang zu<br />
lokalen Wasserquellen. Sie können sowohl<br />
zeitlich limitiert sein als auch die<br />
Menge des zu entnehmenden Wassers<br />
begrenzen. Käufer und Verkäufer, in der<br />
Regel Landwirte, Industrieunternehmen<br />
und Kommunen, kommen meist aus der<br />
gleichen Region und finden auf speziellen<br />
Handelsplattformen, den Wasserbörsen,<br />
zusammen. Meist sind diese Handelsplätze<br />
nicht mit Börsen im klassischen Sinne<br />
zu vergleichen, an denen sich kontinuierlich<br />
Kauf- und Verkaufskurse bilden, weil<br />
Wasserrechte nicht homogen, sondern<br />
regional gebundene Unikate sind.<br />
LIQUIDE WERTE<br />
Profianleger können in den USA über<br />
spezialisierte Vermögensverwalter in<br />
Portfolios aus Wasserrechten investieren.<br />
Privatanleger können den Umweg über<br />
börsennotierte Unternehmen gehen:<br />
Limoneira, J.G. Boswell oder Pico aus den<br />
USA halten Wasserrechte. Besitzer von<br />
Agrarland haben häufig Zugriff auf<br />
Wasserrechte, die sie auch getrennt von<br />
der Immobilie verkaufen können.<br />
PILOTPROJEKTE IN CHINA<br />
Die chinesische Regierung plant derzeit<br />
eine nationale Börse für Wasserrechte mit<br />
einem Grundkapital von einer Milliarde<br />
Yuan (umgerechnet 128 Millionen Euro).<br />
Zudem wollen die Chinesen einen Fonds<br />
auflegen, der in Wasserrechte investiert.<br />
Derzeit laufen in China in einigen Provinzen<br />
Pilotprojekte, um den Handel mit<br />
Wasserrechten zu fördern.<br />
PREISANSTIEG IN DEN USA<br />
Der Westen der USA gehört zu den Pionieren<br />
beim Wasserrechtehandel. An regionalen<br />
Börsen, beispielsweise der Texas<br />
Water Exchange oder der Water Right<br />
Exchange in Utah, werden lokale Wasservorkommen<br />
für Industrie, Landwirtschaft<br />
und Gemeinden gehandelt. Der Handel ist<br />
in der Regel in regionale Segmente aufgeteilt.<br />
Die zunehmende Trockenheit im US-<br />
Westen lässt die Preise für Wasserrechte<br />
steigen. In der Dürreperiode der Jahre<br />
2006 bis 2009 zog der Index für Wasserrechte<br />
in dieser Region laut Unternehmensberatung<br />
West Water Research<br />
deutlich an (siehe Grafik).<br />
ACKERLAND AUSTRALIEN<br />
In Australien hat sich mit der Water Exchange<br />
eine Börse etabliert, an der Käufer<br />
und Verkäufer von Wasserrechten<br />
über das Internet mithilfe spezialisierter<br />
Broker handeln können. Eigentümer der<br />
Water Exchange ist die NSX (National<br />
Stock Exchange of Australia). In Australien<br />
werden sowohl dauerhafte Wasserrechte<br />
gehandelt als auch Lizenzen, die<br />
nur für eine bestimmte Saison gelten. 90<br />
Prozent des Wasserhandels in Australien<br />
konzentriert sich auf den Südosten des<br />
Landes, in dem ein Großteil des zu bewässernden<br />
Ackerlandes liegt.<br />
CHILE DENKT AN BEDÜRFTIGE<br />
In Chile sind seit 1981 Wasserrechte privatisiert.<br />
Sie können unabhängig von den<br />
zugehörigen Grundstücken versteigert<br />
werden. 2005 wurden die Wassergesetze<br />
reformiert, um Spekulation und Marktmissbrauch<br />
zu unterbinden. Kleinere,<br />
finanzschwache Farmer hatten bereits<br />
Probleme, an ausreichend Wasser zu<br />
kommen. Derzeit arbeitet Chiles Regierung<br />
an einer weiteren Gesetzesreform,<br />
die Wasserrechte tangiert. Künftig soll die<br />
Regierung in Zeiten extremer Dürre neue<br />
Wasserrechte ohne Kompensation an Bedürftige<br />
verteilen dürfen.<br />
Dürre treibt Wasserpreis<br />
Wie sich der Börsenpreis von Wasserrechten<br />
für den Südwesten der USA seit<br />
2002 entwickelt hat (in Punkten) 1<br />
3500<br />
3000<br />
2500<br />
2000<br />
extreme<br />
1500<br />
Trockenheit<br />
1000<br />
in Kalifornien<br />
500<br />
0<br />
2002 2005 2008 2010 2013<br />
1 Water Rights Index, 2002 = 1000 Punkte;<br />
Quelle: West Water Research<br />
martin.gerth@wiwo.de<br />
»<br />
Zwar ist der Bedarf an Wassertechnologie<br />
weltweit groß, die Zahl der Unternehmen,<br />
deren Aktien – wie bei Xylem – davon<br />
profitieren, jedoch klein. Und wer sein<br />
Geld in Wassertechnologie investieren will,<br />
muss sich im Ausland umschauen, denn<br />
der deutsche Kurszettel ist eine Wüste.<br />
Technologisch vorne liegen derzeit Entwickler<br />
aus den USA, Japan, Australien und<br />
Israel. In den USA sitzt mittlerweile das<br />
Gros der Spezialisten für Wassertechnologie:<br />
Der Index Nasdaq US Water umfasst<br />
derzeit 29 Einzeltitel.<br />
Aktienfonds, die sich auf die Wasserbranche<br />
spezialisiert haben, investieren<br />
vor allem in mittelgroße US-Werte. Ihnen<br />
fehlen jedoch große liquide Werte, mit denen<br />
sich auch größere Portfolios bestücken<br />
lassen. Notgedrungen greifen die Fonds zu<br />
Unternehmen, die außer mit Wasser auch<br />
mit vielen anderen Sparten ihr Geld verdienen.<br />
So verirrt sich schon mal Nestlé in<br />
einen Wasserfonds, weil die Schweizer<br />
Weltmarktführer bei Mineralwasser sind.<br />
Reine Wassertechnologiefonds gibt es<br />
derzeit nicht. Anleger, die nach einem besonders<br />
hohen Hebel auf das Geschäft mit<br />
Wasserfiltern oder Pumpen suchen, sollten<br />
86 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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FOTOS: ISTOCK, REUTERS/CHINA DAILY<br />
sich daher einzelne Aktien herauspicken<br />
(siehe Tabelle Seite 90). Dieter Küffer, Manager<br />
des Fonds Robeco SAM Water, hält<br />
derzeit Meerwasserentsalzung, die Reinigung<br />
von Schiffsballastwasser und Wasserrecycling<br />
in der Industrie für die attraktivsten<br />
Trends. „Überall dort, wo Wasserknappheit<br />
herrscht wie im Nahen Osten<br />
oder in Kalifornien, wird das Meer als zusätzliche<br />
Quelle erschlossen“, sagt Küffer.<br />
KURS ORDENTLICH IN FAHRT<br />
Das schlägt sich an der Börse nieder. Schon<br />
ordentlich Fahrt aufgenommen hat etwa<br />
die Aktie des Meerwasserentsalzungsspezialisten<br />
Pentair. Seit Januar 2010 hat sich<br />
der Kurs der Schweizer fast verdoppelt.<br />
Und wichtige Bilanzzahlen untermauern<br />
den Anstieg: Im dritten Geschäftsquartal<br />
hatte Pentair freie Mittel aus dem Zahlungsüberschuss<br />
(Free Cash-Flow) von 600<br />
Millionen Dollar angehäuft, 22,7 Prozent<br />
mehr als im Vorjahresquartal.<br />
Noch kostet ein Kubikmeter Trinkwasser<br />
aus der Meerwasserentsalzung etwa einen<br />
Euro, sauberes Grundwasser aus einem<br />
Brunnen dagegen nur 35 Cent. Schuld daran<br />
sind vor allem die Energiekosten. Die<br />
Grüne Hölle<br />
Ein Junge badet an der<br />
algenverseuchten Küste<br />
in Qingdao im Osten<br />
Chinas. Ungeklärte Abwässer,<br />
vor allem Düngemittel<br />
aus der Landwirtschaft,<br />
lassen den<br />
Algenteppich blühen. Um<br />
die landesweite Wasserverschmutzung<br />
zu<br />
bekämpfen, muss China<br />
Milliarden investieren.<br />
amerikanischen Unternehmen<br />
Flowserve und Energy<br />
Recovery, haben deshalb<br />
Konzepte entwickelt, mit<br />
denen sich die in der Hydraulik<br />
von Meerwasserentsalzungsanlagen<br />
eingesetzte<br />
Energie zurückgewinnen<br />
lässt. Aber Energy<br />
Recovery steckt gerade in einer Umbruchphase:<br />
Finanz- und Vertriebsvorstand wurden<br />
in diesem Jahr wegen schwacher Zahlen<br />
ausgetauscht. Bisher bleiben Anleger<br />
skeptisch, ob Energy Recovery die Wende<br />
schafft. Seit September 2013 hat sich der<br />
Aktienkurs fast halbiert. Besser sieht es bei<br />
Flowserve aus. Seit Januar 2012 schnitt<br />
Flowserve kontinuierlich besser ab als der<br />
S&P 500. Dennoch war die Aktie zuletzt mit<br />
einem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von<br />
17 nicht zu teuer. Allerdings gibt es auch bei<br />
Flowserve einen Wermutstropfen. Das Unternehmen<br />
verkauft seine Pumpen, Ventile<br />
und Dichtungen vor allem an die Öl- und<br />
Gasindustrie sowie Chemiekonzerne. Das<br />
macht Flowserve konjunkturanfällig.<br />
Relativ neu ist das Geschäft mit verschmutztem<br />
Schiffsballastwasser. Um beladene<br />
Schiffe stabil zu halten,<br />
füllen Frachter Tanks<br />
mit Meerwasser. Bisher haben<br />
Schiffe ihre Ballasttanks<br />
einfach ins Meer entleert.<br />
Im Ballastwasser sammeln<br />
sich jedoch mit der<br />
Zeit kleine Lebewesen an,<br />
die an den Küsten millionenschwere<br />
Schäden anrichten können. So<br />
untergräbt die aus Asien eingeschleppte<br />
Wollhandkrabbe in Nord- und Ostsee Hafen-<br />
und Küstenschutzanlagen und zerstört<br />
Fischernetze. Um solche Fälle zu verhindern,<br />
müssen Frachtschiffe von 2016 an ihr<br />
Ballastwasser vor dem Verklappen reinigen.<br />
Auch wenn die Ballastwasserkonvention<br />
der International Maritime Organisation<br />
(IMO), ein Zusammenschluss der Staaten<br />
mit Seehandelsflotten, noch nicht in Kraft<br />
getreten ist, werden bereits jetzt Schiffsneubauten<br />
mit entsprechenden Anlagen ausgerüstet.<br />
Dieser Markt wird weltweit auf etwa<br />
28 Milliarden Dollar geschätzt.<br />
An sauberen Frachtschiffen werden vor<br />
allem die US-Unternehmen Xylem, Calgon<br />
Carbon und die japanische Kurita Water<br />
verdienen. Kurita Water setzt auf Chlor-<br />
»<br />
WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 87<br />
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Geld&Börse<br />
Kampf ums Wasser<br />
Der Water Stress Index misst das Verhältnis zwischen Wasserverbrauch und natürlichem Wassernachschub. Je schlechter dieses Verhältnis<br />
in einer Region ist, desto größer ist das Risiko von Konflikten.Die zehn Länder 1 mit dem weltweit höchsten Risiko liegen alle im Nahen Osten<br />
Kanada<br />
Frankreich<br />
Deutschland<br />
Russland<br />
Spanien<br />
Italien<br />
Mexiko<br />
USA<br />
Jordanien<br />
Israel<br />
Saudi-Arabien<br />
Libyen<br />
Nigeria<br />
Oman<br />
V.A.E. 2<br />
Indien<br />
China<br />
Iran<br />
Katar<br />
Peru<br />
Brasilien<br />
Bahrain<br />
Kuwait<br />
Indonesien<br />
Südafrika<br />
Australien<br />
1 rot markiert;<br />
2 Vereinigte Arabische Emirate;<br />
Quelle: Maplecroft<br />
Argentinien<br />
Risikostufe<br />
extrem hoch hoch mittel niedrig keine Angabe<br />
»<br />
chemikalien, um das Ballastwasser zu<br />
reinigen. Dafür müssen die Schiffe einen<br />
Hafen anlaufen. Xylem und Calgon Carbon<br />
vermarkten dagegen eine Kombination<br />
aus UV-Bestrahlung und Filter, die auch an<br />
Bord des Schiffes funktioniert.<br />
Welches der beiden Verfahren sich weltweit<br />
durchsetzen wird, hängt auch von der<br />
Prüfung der US-Behörden ab. Die USA<br />
werden das erste Land sein, dass das internationale<br />
Ballastwasserabkommen in nationales<br />
Recht umsetzen wird. Da die US-<br />
Vorgaben strenger sind als die der IMO,<br />
könnte sich daraus ein globaler Standard<br />
entwickeln. Für Xylem und Calgon Carbon<br />
spricht, dass von den bisher installierten<br />
Geräten, die Ballastwasser reinigen, zwei<br />
Drittel mit UV-Strahlen arbeiten.<br />
Insbesondere für Kurita Water wäre das<br />
US-Siegel wichtig. Trotz wachsender Nachfrage<br />
aus China sind die Preise für Chemikalien<br />
zur Wasserreinigung, die überwiegend<br />
in Japan hergestellt werden, unter<br />
Druck. Im zweiten Quartal dieses Jahres<br />
verdiente Kurita in der Chemiesparte trotz<br />
leichtem Umsatzplus sieben Prozent weniger<br />
als im Vorjahreszeitraum. Kurita sucht<br />
daher neue Absatzmärkte. Neugeschäft<br />
mit der Reinigung von Ballastwasser käme<br />
da gerade recht. Bei Calgon Carbon sieht es<br />
jetzt schon besser aus. 2013 und im laufen-<br />
den Jahr haben die Amerikaner ihre Finanzen<br />
in Ordnung gebracht: nur noch 8,0<br />
Prozent Fremdkapital und 11,9 Prozent<br />
Rendite aufs Eigenkapital sind gute Werte.<br />
Zudem stiegen die frei verfügbaren Mittel<br />
für Dividenden und Aktienrückkäufe im<br />
zweiten Halbjahr gegenüber dem Vorjahr<br />
um 36 Prozent. Das Geld bleibt allerdings<br />
im Unternehmen: Zuletzt 2005 zahlte Calgon<br />
Carbon Dividende. Die finanzielle<br />
Rosskur hat sich an der Börse bemerkbar<br />
gemacht: Im vergangenen Jahr legte der<br />
Aktienkurs um 43 Prozent zu.<br />
SCHWIMMEN? NIE IM LEBEN!<br />
Shanghai, eine Druckerei im Süden der<br />
chinesischen Metropole nahe des ehemaligen<br />
Expo-Geländes: Druckmaschinen<br />
rattern, in der Fabrikhalle riecht es süßlich<br />
nach Kunststoff. Die Oktobersonne heizt<br />
die Luft auf 25 Grad im Schatten. Deutlich<br />
wärmer ist es am Arbeitsplatz der 28-jährigen<br />
Wang Hui, die in einem Verschlag am<br />
Ende der Fabrikhalle Reis für die Arbeiter<br />
kocht. Weil es drinnen zu stickig ist, zieht<br />
ihr Sohn sie ins Freie. Die beiden blicken<br />
auf einen zehn Meter breiten Kanal, der in<br />
den Fluss Huangpo läuft, Shanghais<br />
wichtigste Wasserquelle. Eine Abkühlung<br />
wäre nicht schlecht. „Schwimmen?“, lacht<br />
Wang Hui. „Nie im Leben! Das ist viel zu<br />
dreckig.“ Nur ein paar Meter von der Fabrikhalle<br />
entfernt läuft eine braun-gelbe<br />
Brühe aus einem Plastikrohr in den Kanal.<br />
Was dort herausläuft, weiß keiner so genau.<br />
Jedenfalls verbreitet sich ein fauliger<br />
Geruch am Ufer.<br />
Bisher mussten Chinas Industriebetriebe<br />
kaum fürchten, Probleme wegen des<br />
Drecks zu bekommen, mit dem sie Seen<br />
und Flüsse vergiften. Inzwischen lässt sich<br />
Chinas Bevölkerung die Wasserverschmutzung<br />
durch die Industrie nicht<br />
mehr gefallen. Proteste zwingen den Staat<br />
zum Handeln. So schlossen die Behörden<br />
in Chinas autonomer Provinz Guangxi<br />
Zhuang eine Zinkmine, weil diese das<br />
Wasser vergiftet hatte. Mehrere Manager<br />
des Minenbetreibers erhielten Haftstrafen,<br />
das Unternehmen selbst musste eine<br />
Geldstrafe zahlen.<br />
Sowohl für das Management als auch die<br />
Unternehmen wird es zunehmend riskanter,<br />
verschmutztes Wasser ungeklärt zu<br />
entsorgen. Die Chinesen rüsten daher auf.<br />
Inzwischen sind sie der weltgrößte Abnehmer<br />
von Chemikalien, mit denen sich Wasser<br />
reinigen lässt. Derzeit investieren die<br />
Chinesen zudem pro Jahr umgerechnet<br />
zwei Milliarden Euro in neue Kläranlagen.<br />
In Zukunft könnten es deutlich mehr sein,<br />
hofft die Branche. Im aktuellen Fünf-<br />
»<br />
FOTO: ISTOCK<br />
88 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Geld&Börse<br />
Filtern, entsalzen und steuern<br />
Aktien von Wassertechnologieunternehmen und Wasseraktien-Fonds mit dem derzeit größten Potenzial<br />
Unternehmen (Land)<br />
Pentair (Schweiz)<br />
Xylem (USA)<br />
Kurita Water Industries (Japan)<br />
Watts Water Technologies (USA)<br />
Tetra Tech (USA)<br />
Mueller Water Products (USA)<br />
Calgon Carbon (USA)<br />
Fonds/börsengehandelte Indexfonds (ETFs)<br />
Tareno Water Fund<br />
KBC Eco Water<br />
Robeco SAM Sust. Water<br />
Lyxor World Water ETF<br />
ISIN<br />
IE00BLS09M33<br />
US98419M1009<br />
JP3270000007<br />
US9427491025<br />
US88162G1031<br />
US6247581084<br />
US1296031065<br />
ISIN<br />
LU0319773551<br />
BE0175479063<br />
LU0133061175<br />
FR0010527275<br />
Börsenwert (in<br />
Millionen Dollar)<br />
12141<br />
6510<br />
2713<br />
2043<br />
1622<br />
1590<br />
1144<br />
Börsenwert<br />
(in Millionen<br />
Dollar)<br />
107<br />
178<br />
571<br />
146<br />
Kurs-Gewinn-<br />
Verhältnis 1<br />
17,5<br />
17,6<br />
23,2<br />
22,4<br />
16,5<br />
29,6<br />
21,1<br />
1 2014, geschätzt; 2 1 = niedrig, 10 = hoch; Quelle: Bloomberg, Morningstar; Stand: 23. Oktober 2014<br />
Kurs/Stoppkurs<br />
(in Euro)<br />
50,93/40,75<br />
26,93/21,55<br />
16,29/13,00<br />
44,57/35,65<br />
19,63/15,70<br />
7,12/5,70<br />
15,47/12,40<br />
Wertentwicklung pro Jahr<br />
(in Prozent)<br />
1 Jahr 3 Jahre<br />
13,7 22,6<br />
10,5 20,0<br />
12,1 17,2<br />
15,1 15,6<br />
Technologie<br />
Meerwasserentsalzung, Filter<br />
Filter, Pumpen, Wasserreinigung<br />
chemische Wasserreinigung<br />
Wasserreinigung, Infrastruktur<br />
Osmosetechnik<br />
intelligente Wassersteuerung<br />
Wasserreinigung mit Aktivkohle und UV<br />
Anlageschwerpunkt<br />
US-Wassertechnologieaktien<br />
US-Wassertechnologieaktien<br />
Technologie- und Versorgeraktien<br />
bildet den World Water Index nach<br />
Chance/<br />
Risiko 2<br />
7/6<br />
7/6<br />
8/7<br />
8/7<br />
7/6<br />
6/5<br />
7/6<br />
Chance/<br />
Risiko 2<br />
8/7<br />
8/7<br />
7/6<br />
7/6<br />
»<br />
jahresplan (2011 bis 2015) veranschlagte<br />
die KP-Führung bis 2020 Investitionen in<br />
Wasserinfrastruktur und -aufbereitung in<br />
Höhe von 580 Milliarden Dollar. Die Investitionen<br />
sind dringend notwendig, denn<br />
bis 2020 wird sich der Wasserverbrauch der<br />
chinesischen Industrie verdoppeln.<br />
Auch High-Tech-Betriebe brauchen<br />
mehr und vor allem reineres Wasser. Im<br />
Sommer gelang es Kurita Water, einen größeren<br />
Auftrag von Chinas Chipindustrie an<br />
Land zu ziehen. Für knapp 100 Millionen<br />
Dollar verkauften die Japaner Anlagen, um<br />
hochreines Wasser für die Chipproduktion<br />
herzustellen sowie die Abwässer der Fabriken<br />
zu reinigen. Kurita will in diesem Jahr<br />
seinen Umsatz in Asien außerhalb Japans<br />
um 18 Prozent auf 32 Milliarden Yen (umgerechnet<br />
235 Millionen Euro) ausbauen.<br />
Nicht nur der Wachstumsmarkt China,<br />
auch Übernahmefantasien beflügeln die<br />
Kurse. „Die Übernahmen in der Wasserbranche<br />
haben sich in den vergangenen<br />
Jahren verlagert, von den großen Zusammenschlüssen<br />
bei Wasserversorgern hin<br />
zu Übernahmen bei kleineren Technologieunternehmen“,<br />
sagt Arnaud Bisschop,<br />
Manager des Fonds Pictet Water.<br />
Anleger, die Aktien von Übernahmezielen<br />
halten, können überdurchschnittlich<br />
profitieren. Im Oktober schluckte die niederländische<br />
Arcadis, die Projekte zur<br />
Wasseraufbereitung und zum Hochwasserschutz<br />
betreut, den britischen Baudienstleister<br />
Hyder, der unter anderem<br />
Kläranlagen plant. Seit Bekanntwerden der<br />
Übernahmepläne Ende Juli legte Hyder<br />
von 4,50 auf 7,50 Pfund zu.<br />
Zu den aktuellen Übernahmekandidaten<br />
zählt derzeit etwa die kanadische GLV<br />
Group, die sich auf Wasserreinigung, Papierherstellung<br />
und Maschinenbau für die<br />
Getränkeindustrie spezialisiert hat.<br />
Besser durch Technik<br />
Das Wassertechnologieunternehmen Xylem<br />
schlug zuletzt den Aktienindex S&P Global<br />
Water, der auch Versorger enthält 1 170<br />
160<br />
Xylem<br />
150<br />
140<br />
130<br />
S&P Global Water<br />
120<br />
110<br />
100<br />
2012 2013<br />
2014<br />
1 indexiert: Oktober 2012 =100; Quelle: Bloomberg<br />
VERSCHÄRFTE GRENZWERTE<br />
Neben dem wirtschaftlichen tragen Wassertechnologieunternehmen<br />
noch ein politisches<br />
Risiko: Sei es, wenn es um öffentliche<br />
Investitionen in Infrastruktur oder um<br />
neue Vorschriften für die Wasserqualität<br />
geht. Derzeit arbeitet etwa die US-Umweltbehörde<br />
EPA an Regeln für die Belastung<br />
des Wassers mit gefährlichen Viren. In Europa<br />
sollen in mehreren Ländern die<br />
Grenzwerte für Medikamentenrückstände<br />
wie etwa Antibiotika verschärft werden.<br />
Beide Maßnahmen könnten den Unternehmen<br />
neues Geld in die Kassen spülen.<br />
Wie groß das Marktpotenzial tatsächlich<br />
sein wird, lässt sich aber schwer abschätzen.<br />
Werden andere Länder mit scharfen<br />
Vorschriften nachziehen? Lohnt es sich, in<br />
neue Technologie zu investieren?<br />
Da der politische Wind sich schnell drehen<br />
kann, sollten Anleger daher Unternehmen<br />
bevorzugen, die möglichst wenig von<br />
staatlichen Vorschriften etwa zur Wasserqualität<br />
abhängen. Das gilt beispielsweise für<br />
Hersteller von Verfahren, die für Industrieprozesse<br />
Schadstoffe aus dem Wasser filtern.<br />
Calgon Carbon etwa setzt Aktivkohle ein, um<br />
für die Pharmaproduktion kleinste organische<br />
Verunreinigungen zu entfernen. Und je<br />
weniger die Unternehmen von öffentlichen<br />
Aufträgen abhängen, desto besser – denn<br />
Städte und Länder vergeben meist nach<br />
Haushaltslage. Bei Xylem macht öffentliche<br />
Infrastruktur nur 34 Prozent des Geschäfts<br />
aus, andere Spezialisten wie Tetra Tech und<br />
Mueller Water erlösten 2013 knapp 47 Prozent<br />
sowie 55 Prozent aus Staatsprojekten.<br />
Der Sonnenstaat Kalifornien macht derweil<br />
seinen Bürgern das Leben immer<br />
schwerer. Bisher konnte jeder, der Wasser<br />
brauchte, einen Brunnen bohren, wenn<br />
nötig, bis zu 350 Meter tief. Damit ist nun<br />
Schluss. Gouverneur Jerry Brown unterzeichnete<br />
kürzlich ein Papier, das den Zugang<br />
zum Grundwasser reguliert. Statt die<br />
Reserven anzugreifen, sollen die Bürger<br />
Wasser einfach mehrfach nutzen – nachdem<br />
es gereinigt wurde.<br />
Ob Brown selbst sein Wasser zum Duschen<br />
aus einem eigenen Brunnen oder<br />
aus dem öffentlichen Netz bezieht, ist nicht<br />
bekannt.<br />
n<br />
martin.gerth@wiwo.de, matthias hohensee | Silicon Valley,<br />
philipp mattheis | Shanghai, kristina milz<br />
FOTO: ISTOCK<br />
90 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
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Geld&Börse | Barron’s<br />
Verschreckte Herde<br />
US-AKTIEN | Während des jüngsten Ausverkaufs ist viel Qualität<br />
günstig auf den Markt gekommen. Wo Anleger zugreifen dürfen.<br />
Die Märkte unterliegen derzeit heftigen<br />
Stimmungsschwankungen,<br />
wie der reinste Teenager. Der<br />
Dow Jones Industrial Index verlor<br />
allein im Oktober zwischenzeitlich 6,5<br />
Prozent. Und es hätte noch viel schlimmer<br />
kommen können. Besorgniserregend ist<br />
vor allem, dass die Verkäufe panikartige<br />
Formen annahmen. Als Anlass für die<br />
Flucht zum Ausgang wurden alle möglichen<br />
Gründe genannt, <strong>vom</strong> langsamen<br />
Wachstum in Europa bis hin zur möglichen<br />
weltweiten Ausbreitung von Ebola.<br />
90 PROZENT UNTER WASSER<br />
Panik führt fast immer zu schlechten Entscheidungen<br />
– in diesem Fall zu wahllosen<br />
Verkäufen. Die Anleger stoßen Aktien ab,<br />
ohne zu überlegen, ob sich die Rahmenbedingungen<br />
für die Unternehmen wirklich<br />
verschlechtert haben. „Viele schütten<br />
sprichwörtlich das Kind mit dem Bade<br />
aus“, sagt Tobias Levkovich, Chefstratege<br />
der Citigroup, „es wird viel Qualität zu<br />
Schleuderpreisen verkauft.“<br />
Beispielhaft der Dow Jones: Jede einzelne<br />
der 30 Aktien im Blue-Chip-Index hat<br />
im Oktober verloren – Unternehmen so<br />
unterschiedlich wie der Chipproduzent Intel<br />
und der Getränkehersteller Coca-Cola.<br />
Im Standard & Poor’s Index, der 500 Unternehmen<br />
umfasst, sind 90 Prozent der Aktien<br />
unter Wasser. Auch ein Blick über die<br />
amerikanischen Grenzen hinaus bot keinerlei<br />
Trost, da jeder einzelne der großen<br />
Indizes in den roten Bereich rutschte – der<br />
deutsche Leitindex Dax etwa radierte in<br />
den ersten Oktobertagen die gesamten bisherigen<br />
Jahresgewinne aus.<br />
Anlage-Profis haben ein Maß, mit dem<br />
sie den Grad der Willkür solcher Abverkäufe<br />
messen. Es nennt sich Korrelation und<br />
beschreibt die Tendenz von Wertpapieren,<br />
sich innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens<br />
in die gleiche Richtung zu bewegen.<br />
In guten Zeiten nimmt die Korrelation für<br />
gewöhnlich ab, weil sich die Anleger Zeit<br />
nehmen, zu verstehen, was den Kurs einer<br />
bestimmten Aktie treibt.<br />
Diese Situation hatten wir bis September,<br />
als Daten der Citigroup zufolge die<br />
Korrelation zwischen den 50 größten Aktien<br />
im S&P 500 und dem Index selbst auf<br />
nur 18 Prozent fiel. Aber wenn es die Anleger<br />
mit der Angst zu tun bekommen, tätigen<br />
sie häufig zuerst Verkäufe<br />
Die beste<br />
Geschichte aus<br />
der aktuellen<br />
<strong>Ausgabe</strong> von<br />
dem führenden<br />
amerikanischen<br />
Magazin für<br />
Geldanleger.<br />
und stellen erst danach die Fragen.<br />
Das lässt die Korrelation auf<br />
Spitzenwerte klettern – so geschehen<br />
in der Vorwoche, als<br />
dieser Maßstab auf nahezu 70<br />
Prozent anstieg.<br />
Ein ähnliches Herdenverhalten<br />
erlebten wir zuletzt 2013 mit<br />
dem sogenannten Taper Tantrum,<br />
den panikartigen Verkäufen<br />
nach der Ankündigung der US-Zentralbank<br />
Fed, sie wolle bald beginnen, ihr Anleihenaufkaufprogramm<br />
zurückzufahren.<br />
Der S&P 500 fiel in der Folge in nur vier<br />
Wochen um fast fünf Prozent. Im Nachhinein<br />
hat der Absturz mutigen Anlegern<br />
Kaufgelegenheiten eröffnet.<br />
Das könnte auch diesmal so sein. Sean<br />
Darby zumindest, Aktienstratege bei der<br />
US-Investmentbank Jefferies, hat sich<br />
schon auf die Suche nach Unternehmen<br />
gemacht, deren Kurs-Gewinn-Verhältnis<br />
(KGV) und Kurs-Buchwert-Verhältnis<br />
(KBV) bei gleichzeitig nicht rückläufigen<br />
Gewinnprognosen unter den fünfjährigen<br />
Durchschnitt gefallen sind. Mit anderen<br />
Worten: die im Oktober-Schlussverkauf<br />
mit unter die Räder kamen, ohne dass sich<br />
an ihrem fundamentalen Geschäft etwas<br />
zum Schlechten geändert hätte.<br />
Unter den Unternehmen, die aus seinem<br />
Screening hervorgingen, waren der Biotechnologieriese<br />
Gilead Sciences, dessen<br />
Aktie im Oktober kurzzeitig elf Prozent billiger<br />
wurde, obwohl die Analysten ihre Gewinnschätzungen<br />
sogar nach oben revidierten,<br />
der Versicherer Prudential, dessen<br />
Aktienkurs 16 Prozent fiel, und der Krankenversicherer<br />
WellPoint, dessen Aktie<br />
jüngst satte 25 Prozent einbüßte.<br />
EISENBAHN MIT FUSIONSFANTASIE<br />
Ebenso auf diese Liste schaffte es eine Reihe<br />
von US-Eisenbahnunternehmen, darunter<br />
Norfolk Southern, Union Pacific<br />
und CSX Corp., die gerade von Canadian<br />
Pacific Railway eine Fusionsofferte erhielt.<br />
CSX lehnte das Angebot zwar zunächst ab,<br />
doch das beeindruckte die Anleger nicht<br />
wirklich; sie trieben den Kurs der Aktie um<br />
13 Prozent höher.<br />
Das Seltsamste an dem Angebot: Es gab<br />
in den USA keine Fusionen von Eisenbahnunternehmen,<br />
seit der U.S. Surface<br />
Transportation Board (STB) im Jahr 2000<br />
ein Moratorium verhängte. Es ist daher<br />
völlig unklar, ob die Regulierungsbehörde<br />
die Fusion durchwinken würde. Heißt das,<br />
die Anleger sollten CSX meiden? Nicht unbedingt.<br />
Allison Landry von Credit<br />
Suisse meint, CSX könne 2015<br />
dank höherer Preise ein Umsatzwachstum<br />
von 15 Prozent schaffen,<br />
nachdem das Unternehmen<br />
in den vergangenen drei Jahren<br />
Wachstumsraten im einstelligen<br />
Bereich verzeichnet hatte. Wenn<br />
sie recht hat, könnte der Kurs auf<br />
38 Dollar klettern. n<br />
ben levisohn | geld@wiwo.de<br />
ILLUSTRATION: TOM MACKINGER<br />
92 Nr. 44 27.10.14 WirtschaftsWoche<br />
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Geld&Börse | Steuern und Recht<br />
AKTIEN<br />
Einfaches Prinzip, teurer Spaß<br />
Wer in ausländische Unternehmen investiert, erhält oft deutlich weniger<br />
Dividende als erwartet – wegen hoher Quellensteuern im Ausland. Wie Anleger<br />
ihr Geld zurückholen.<br />
Wer als deutscher Anleger spanische<br />
Aktien kauft, der sollte<br />
sich für eine herbe Enttäuschung<br />
wappnen: Am ersten<br />
Handelstag nach der Hauptversammlung,<br />
dann wenn die<br />
Ausschüttungen an Aktionäre<br />
überwiesen werden, landet<br />
hierzulande auf dem Konto nur<br />
gut die Hälfte der Dividende.<br />
Denn Spanien zwackt eine<br />
Quellensteuer von 21 Prozent<br />
ab – und danach berechnet die<br />
hiesige Bank noch mal 26,4 Prozent<br />
Abgeltungsteuer und Solidaritätszuschlag<br />
obendrauf.<br />
Das gilt zumindest, wenn der<br />
Sparerfreibetrag von 801 Euro<br />
(1602 Euro für Ehepaare) ausgeschöpft<br />
ist. Von 1000 Euro Dividende<br />
kommen dann gerade<br />
mal 526 Euro an. Noch weniger<br />
ist es bei Kirchenmitgliedern,<br />
bei denen deutsche Banken zudem<br />
rund 20 Euro Kirchensteuer<br />
abzwacken.<br />
Auch bei Aktien aus anderen<br />
Ländern drohen hohe Abzüge.<br />
Einen großen Teil davon können<br />
sich Anleger zwar erstatten<br />
lassen. Doch viele machen das<br />
nicht:Laut einer Studie der britischen<br />
Beratungsfirma Goal<br />
Group verzichten deutsche Investoren<br />
auf Rückforderungen<br />
von 691 Millionen Euro, die ihnen<br />
aus internationalen Kapitalanlagen<br />
– vor allem Aktien –<br />
zustehen. Pro Jahr. „Anleger<br />
verschenken erhebliche Summen“,<br />
sagt Ellen Ashauer-Moll,<br />
Steuerexpertin bei Rödl & Partner<br />
in Regensburg. Aber wie<br />
hoch sind die Abzüge? Und wie<br />
holen Anleger ihr Geld zurück?<br />
LAST BLEIBT GLEICH HOCH<br />
Das Prinzip ist einfach: Fast alle<br />
Länder ziehen von Dividenden,<br />
die Unternehmen zahlen,<br />
eine Quellensteuer ab. Der Satz<br />
beträgt bis zu 35 Prozent. Die<br />
deutsche Depotbank, bei der die<br />
Nettodividende des Anlegers<br />
eingeht, darf danach aber maximal<br />
15 Prozent Quellensteuer<br />
von der deutschen Abgeltungsteuer<br />
abziehen. Kein Problem<br />
gibt’s damit bei Quellensteuern<br />
bis 15 Prozent (siehe Tabelle):<br />
Magische Grenze<br />
Welche Länder mit großen<br />
Börsen maximal 15 Prozent<br />
Quellensteuer abziehen... 1<br />
Land<br />
Japan<br />
Niederlande<br />
Großbritannien<br />
Russland<br />
Südafrika<br />
...und welche Länder bei Dividenden<br />
kräftiger hinlangen 3<br />
Frankreich<br />
Italien<br />
Norwegen<br />
Österreich<br />
Schweiz<br />
Spanien<br />
USA<br />
Hälfte unter Wasser<br />
Abzüge bei<br />
Statoil-Dividende<br />
Steuersatz<br />
(in Prozent)<br />
15<br />
15<br />
1 bedeutet, dass die Quellensteuer komplett<br />
mit der Abgeltungsteuer verrechnet<br />
wird; 2 in bestimmten Fällen null;<br />
3 bedeutet, dass Anleger eine Erstattung<br />
beantragen müssen; 4 deutsche Banken<br />
verrechnen keinen Teil der Quellensteuer<br />
mit der Abgeltungsteuer, da eine<br />
Kompletterstattung im Ausland möglich<br />
ist; Quelle: Bundeszentralamt für Steuern<br />
0<br />
15<br />
15 2<br />
21<br />
20<br />
25<br />
25<br />
35<br />
21<br />
30<br />
in Deutschland<br />
anrechenbar<br />
(Prozent)<br />
15<br />
15<br />
0<br />
15<br />
15<br />
15<br />
15<br />
15<br />
15<br />
15<br />
0 4<br />
0 4<br />
Bei einer 1000-Euro-Dividende<br />
berücksichtigt die hiesige Bank<br />
die 150 Euro, die bereits im Ausland<br />
abgezwackt wurden. Statt<br />
der eigentlich fälligen 264 Euro<br />
(25 Prozent Abgeltungsteuer<br />
plus Soli) zahlen Anleger dann<br />
nur noch 114 Euro Abgeltungssteuer<br />
an den deutschen Fiskus.<br />
„Die Steuerlast ist dann genauso<br />
hoch wie bei deutschen Dividenden“,<br />
sagt Jochen Busch, Partner<br />
bei Baker Tilly Roelfs in München.<br />
In Ländern mit höheren<br />
Quellensteuern sind dagegen<br />
Rückholaktionen nötig – und oft<br />
müssen Anleger selbst aktiv werden,<br />
um eine Doppelbesteuerung<br />
zu verhindern. „Etliche<br />
Banken bieten diesen Service<br />
nicht an“, sagt Ashauer-Moll von<br />
Rödl. Besonders wichtig oder<br />
problematisch sind Rückholaktionen<br />
in folgenden Ländern:<br />
n Spanien Auf den ersten Blick<br />
ist die Iberische Halbinsel ein<br />
Paradies für Kleinanleger. Denn<br />
sie können sich die 21-prozentige<br />
Quellensteuer auf Dividenden<br />
von bis zu 1500 Euro pro<br />
Jahr in voller Höhe erstatten lassen.<br />
Das Problem: Wegen der<br />
großzügigen Erstattungsregeln<br />
ist es deutschen Banken untersagt,<br />
spanische Quellensteuern<br />
automatisch auf die Abgeltungsteuer<br />
anzurechnen. Sonst besteht<br />
die Gefahr, dass die spanische<br />
Steuer die Abgeltungsteuer<br />
mindert, obwohl sich<br />
Anleger das Geld auf der Iberischen<br />
Halbinsel erstatten lassen.<br />
Das Anrechnungsverbot ist<br />
der Grund dafür, warum von<br />
Dividenden aus Spanien nur<br />
etwas mehr als die Hälfte übrig<br />
bleibt. Umso wichtiger ist es,<br />
sich das Geld auch tatsächlich<br />
in Spanien erstatten zu lassen<br />
(siehe Kasten unten rechts).<br />
n Norwegen Auch die norwegischen<br />
Gesetze sehen großzügige<br />
Steuererstattungen vor, weshalb<br />
die dortige 25-prozentige<br />
Quellensteuer ebenfalls nicht<br />
mal zum Teil von der deutschen<br />
Abgeltungsteuer abgezogen<br />
wird. Damit kommt bei deutschen<br />
Aktionären weniger als<br />
die Hälfte der Dividende von<br />
FOTOS: HARALD PETTERSEN, BLOOMBERG NEWS/BRENT LEWIN<br />
94 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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norwegischen Unternehmen<br />
an. Wer also etwa die Aktie des<br />
norwegischen Öl- und Gasförderers<br />
Statoil hält, bekommt zunächst<br />
nicht eine Dividendenrendite<br />
von aktuell rund 5,0,<br />
sondern von nur knapp 2,5 Prozent.<br />
Dass Norwegen trotzdem<br />
weniger Unmut unter Investoren<br />
auslöst als Spanien, liegt am<br />
vergleichsweise unkomplizierten<br />
Erstattungsverfahren: Ein<br />
formloser Brief an die zuständige<br />
Behörde genügt: The Central<br />
Office – Foreign Tax Affairs<br />
(Sentralskattekontoret for Utenlandssaker),<br />
PO Box 8031, N<br />
4068 Stavanger. Anleger dürfen<br />
auch auf Deutsch schreiben. Allerdings<br />
müssen sie neben einer<br />
Kopie der Dividendenabrechnung<br />
auch eine „Ansässigkeitsbescheinigung“<br />
beifügen, die<br />
deutsche Finanzämter erteilen.<br />
n Frankreich Bei Dividenden<br />
französischer Konzerne ziehen<br />
deutsche Banken zwar die maximal<br />
möglichen 15 Prozent von<br />
der Abgeltungsteuer ab. Doch<br />
den Rest der 21-prozentigen<br />
französischen Quellensteuer<br />
zurückzuholen ist für Privatanleger<br />
nahezu unmöglich.<br />
Denn die Franzosen fordern<br />
in Erstattungsanträgen eine<br />
Bestätigung der Bank, die für<br />
Gläserner Vorhang Frankreich mauert bei Erstattung<br />
den Einbehalt der französischen<br />
Quellensteuer zuständig<br />
war. „Unserer Erfahrung nach<br />
bekommen Privatanleger<br />
diese Bestätigung nicht, weil<br />
sie kein Kunde dieser Bank<br />
sind“, so Ashauer-Moll. Wenn<br />
die Depotbank eines Anlegers<br />
die Erstattung beantragt,<br />
funktioniert das dagegen –<br />
untereinander kooperieren<br />
Geldhäuser bereitwilliger. Viele<br />
Banken bieten diesen Service<br />
jedoch nicht an, andere<br />
berechnen relativ hohe Gebühren.<br />
„Das lohnt sich wegen<br />
sechs Prozent Quellensteuer<br />
häufig nicht“, sagt Ashauer-<br />
Moll. Immerhin: Anleger<br />
können französischen Unternehmen<br />
vor der Dividendenausschüttung<br />
eine „Wohnsitzbescheinigung“<br />
vorlegen.<br />
Dann werden nur die – hierzulande<br />
verrechenbaren – 15<br />
Prozent abgezogen. Das dafür<br />
nötige „Formular 5000“ und<br />
Hinweise zum Erstattungsverfahren<br />
gibt’s auf der Web-Seite<br />
www.steuerliches-info-center.<br />
de in der Rubrik „Ausländische<br />
Formulare“/„Quellensteuern“.<br />
Dort finden Anleger auch für<br />
zahlreiche andere Länder For-<br />
mulare und Erläuterungen zum<br />
Erstattungsverfahren.<br />
Wer sich damit beschäftigt,<br />
stellt schnell fest:Es ist in der<br />
Regel kein Hexenwerk, sich<br />
sein Geld zurückzuholen. Dies<br />
ist vier Jahre lang rückwirkend<br />
möglich; die Frist beginnt am<br />
Tag der Ausschüttung.<br />
Allerdings müssen Anleger<br />
bisweilen Geduld haben. Italien<br />
(Quellensteuer: 20 Prozent)<br />
etwa braucht oft mehrere<br />
Jahre für die Steuererstattung.<br />
SCHNELLE SCHWEIZER<br />
Deutlich schneller sind die<br />
Schweizer, die mit 35 Prozent<br />
besonders kräftig hinlangen.<br />
„Sie erstatten die Quellensteuer<br />
aber in der Regel binnen weniger<br />
Monate“, sagt Busch von Baker<br />
Tilly Roelfs. Damit sind die<br />
Eidgenossen im Vergleich zu<br />
vielen EU-Staaten vorbildlich.<br />
Nach Ansicht von Rödl-Expertin<br />
Ashauer-Moll müsste es aber<br />
gerade innerhalb der EU einfacher<br />
und schneller gehen. „Die<br />
jetzige Rechtslage führt zu erheblichen<br />
Verzögerungen und<br />
schreckt viele ausländische Anleger<br />
ab, Erstattungen zu beantragen“,<br />
sagt sie. Das sei EUrechtlich<br />
fragwürdig.<br />
daniel schönwitz | geld@wiwo.de<br />
SPANISCHE STEUER<br />
Immer noch mit Tücken<br />
Deutsche Anleger müssen Urlaube an der Costa Brava<br />
nicht mehr mit Behördengängen verbinden. Wie<br />
Quellensteuer-Erstattungen jetzt zu schaffen sind.<br />
Deutsche Aktionäre spanischer<br />
Unternehmen brauchten<br />
bis vor Kurzem ein Konto<br />
auf der Iberischen Halbinsel,<br />
wenn sie sich Quellensteuern<br />
erstatten lassen wollten. Um<br />
dieses zu eröffnen, mussten<br />
sie bei der zuständigen Behörde<br />
erst mal eine Steuernummer<br />
beantragen. Doch 2012<br />
hat Spanien die Regeln geändert:<br />
Die Erstattung von Quellensteuern<br />
auf Dividenden seit<br />
dem Jahr 2011 ist deshalb<br />
leichter; ein Konto vor Ort ist<br />
nicht mehr nötig. Anleger können<br />
inzwischen Steuernummer<br />
und Erstattung gleichzeitig im<br />
Internet beantragen.<br />
27 SEITEN ANLEITUNG<br />
Dazu müssen sie auf der Seite<br />
der Behörde „Agencia Tributaria“<br />
das Formular „Modelo 210“<br />
(www2.agenciatributaria.gob.es/<br />
es13/h/ie02100b.html?idi=en),<br />
das es auch auf Englisch gibt,<br />
aufrufen und ausfüllen. Wie das<br />
geht, erklärt die spanische Botschaft<br />
in Berlin auf nicht weniger<br />
als 27 Seiten (www.exteriores.<br />
gob.es/Embajadas/BERLIN/es/<br />
Embajada/Documents/Dividenden.pdf).<br />
Besonders kompliziert bleibt<br />
es für Aktionäre, die mehr als<br />
1500 Euro Dividende im Jahr<br />
kassieren. Sie können entweder<br />
die klassische Erstattung beantragen<br />
(Feld 19 des Formulars<br />
ankreuzen), bekommen dann<br />
aber nur 21 Prozent bis zur<br />
Grenze von 1500 Euro erstattet,<br />
also maximal 315 Euro. Der Rest<br />
ist verloren. Oder sie beantragen<br />
die Erstattung gemäß deutschspanischem<br />
Steuerabkommen<br />
(Feld 20). Dann bekommen sie<br />
nur sechs Prozent auf alle Ausschüttungen,<br />
egal, in welcher<br />
Höhe, und müssen sich die<br />
restlichen 15 Prozent beim<br />
deutschen Finanzamt holen.<br />
DOPPELFELDER<br />
Viele hatten zuletzt beide Felder<br />
angekreuzt, um von 1500<br />
Euro 21 Prozent zu bekommen<br />
und darüber hinaus sechs Prozent.<br />
„Das hat auch in einigen<br />
Fällen funktioniert, entspricht<br />
aber offenbar nicht den Vorschriften“,<br />
sagt Ellen Ashauer-<br />
Moll von Rödl & Partner. Die<br />
spanischen Behörden hätten<br />
wohl immer noch „internen<br />
Klärungsbedarf“, was den genauen<br />
Ablauf betrifft.<br />
WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 95<br />
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Geld&Börse | Geldwoche<br />
KOMMENTAR | Auch der nächste<br />
Anlauf eines neuen Neuen Marktes<br />
dürfte scheitern. Na und?<br />
Von Christof Schürmann<br />
Zeigt eure Füße<br />
Sehr flexibel<br />
Fed-Mitglied Bullard<br />
rudert zurück<br />
Der Berg wird kreißen,<br />
so viel ist klar, am<br />
18. Dezember, in der<br />
Scharnhorststraße<br />
34-37 in Berlin. Dann lädt Bundeswirtschaftsminister<br />
Sigmar<br />
Gabriel den Chef der Deutschen<br />
Börse Reto Francioni in sein<br />
Ministerium ein. Im Schlepptau<br />
mit Vertretern großer Geldhäuser<br />
wie der Deutschen Bank<br />
und Lobbyisten von Firmengründern<br />
soll dann festgezurrt<br />
werden, wie und wann es denn<br />
werden könnte mit einem neuen<br />
Börsensegment für junge Unternehmen.<br />
SPD-Schwergewicht Gabriel<br />
tritt dabei in kleine Fußstapfen.<br />
Schon sein Amtsvorgänger Philipp<br />
Rösler (FDP) wollte einen<br />
neuen Neuen Markt, eine Spezialabteilung<br />
an der Börse also, in<br />
der sich Start-ups Kapital besorgen<br />
können. Herausgekommen<br />
war dabei nichts.<br />
Davon wenig irritiert, kündigte<br />
Gabriel vergangenen Dienstag<br />
auf dem 8. IT-Gipfel in Hamburg<br />
an, „wir wollen gemeinsam mit<br />
der Deutschen Börse eine ,Börse<br />
2.0‘ initiieren“. Bei so viel politischem<br />
Rückwind wagten sich<br />
gleich auch Lobbyisten aus der<br />
Deckung. Florian Nöll, seines<br />
Zeichens Chef des Bundesverbands<br />
deutscher Start-up-Firmen,<br />
preschte nur einen Tag<br />
später schon mal vor und forderte<br />
forsch den Start der neuen<br />
Börse „im ersten Quartal 2015“.<br />
Das, so berichten Kenner der<br />
Materie, wäre für die Deutsche<br />
Börse kein Problem, zumindest<br />
technisch.<br />
Die Hürden sind ganz andere.<br />
Schon seit diesem Frühjahr laufen<br />
heimlich, still und leise Präsentationen<br />
von Start-ups vor<br />
Analysten und potenziellen<br />
Geldgebern, um sich kalt warmzulaufen<br />
für einen Börsengang<br />
(IPO). Diese Als-ob-IPO-Veranstaltungen<br />
hätten „Licht und<br />
Schatten“ zutage gefördert,<br />
heißt es. Nein, IFRS ist kein neues<br />
Betriebssystem, sondern sie<br />
sind ein Bilanzstandard.<br />
Einige Start-ups hätten<br />
schnell abgewinkt, als sie merkten,<br />
was für ein Aufwand vor<br />
und nach einem IPO betrieben<br />
werden muss. Diese Testläufe<br />
konnten auch die Frage nicht<br />
beantworten, ob es hierzulande<br />
überhaupt genügend gutes<br />
Start-up-Material gibt, um ein<br />
neues Börsensegment zu füllen.<br />
Schon daran scheitert ein Neuer<br />
Markt 2015.<br />
ÜBERBÜROKRATISIERT<br />
Die Politik macht wichtig, was<br />
nicht wichtig ist. Wichtiger wäre<br />
es, Privatanlegern mal wieder<br />
die Tür zur Börse zu öffnen. Das<br />
geht nur, wenn Bankberater wieder<br />
raten dürfen, ein aktives<br />
Depot zu eröffnen, mal hier eine<br />
Siemens-Aktie zu kaufen, mal<br />
da eine Daimler-Anleihe, ohne<br />
dafür mit einem Bein im Gefängnis<br />
zu stehen. Eingeflogen unter<br />
dem Stichwort Anlegerschutz,<br />
erstickt der Normalbanker inzwischen<br />
in Bürokratie, und die<br />
Kunden sind verschreckt vor<br />
lauter Warnhinweisen, die sie<br />
abzeichnen müssen.<br />
Und für die Start-ups gilt: Der<br />
Weg an die Börse führt nicht<br />
durch eine schummrige Kiez-<br />
Kneipe mit Sofamöbeln. Nein,<br />
dieser Weg könnte ein leichter<br />
sein, er ist hell beleuchtet.<br />
Denn die Deutsche Börse hat<br />
ein Segment mit reduzierten Anforderungen<br />
speziell für junge<br />
Unternehmen. Entry Standard<br />
heißt das. Also, ihr Gründer in<br />
Heidelberg, Hamburg, Berlin:<br />
Zeigt her eure Füße.<br />
TREND DER WOCHE<br />
Ausstieg <strong>vom</strong> Ausstieg<br />
Die Finanzmärkte entlassen die Notenbanken nur<br />
ungern aus ihrer Rolle als Finanziers.<br />
Früher orientierten sich die Finanzmärkte<br />
an den meist unabhängig<br />
gefällten Entscheidungen<br />
von Notenbanken, heute<br />
zwingen die Finanzmärkte die<br />
Notenbanken zu bestimmten<br />
Entscheidungen. Das geht mitunter<br />
recht schnell.<br />
Anfang Oktober etwa plädierte<br />
James Bullard noch für<br />
eine Anhebung der US-Leitzinsen<br />
bereits im ersten Quartal<br />
2015. Doch nur kurze Zeit später<br />
empfiehlt der Chef der regionalen<br />
Notenbank von St. Louis,<br />
der aktuell im geldpolitischen<br />
Ausschuss der US-Notenbank<br />
Fed nicht stimmberechtigt ist,<br />
seinen Kollegen, die Käufe von<br />
US-Staatsanleihen und Kreditverbriefungen<br />
fortzusetzen. Eigentlich<br />
galt es als sicher, dass<br />
der geldpolitische Ausschuss<br />
der Fed nach seiner Sitzung am<br />
28. und 29. Oktober das Ende<br />
der monatlichen Käufe im Volumen<br />
von zuletzt 15 Milliarden<br />
Dollar verkünden werde.<br />
Während die Fed also möglicherweise<br />
zurückrudert und<br />
den Ausstieg <strong>vom</strong> Ausstieg vorbereitet,<br />
drücken die Finanzmärkte<br />
bei der Europäischen<br />
Zentralbank (EZB) auf noch<br />
mehr Tempo. Zwar hat die EZB<br />
in der vergangenen Woche gerade<br />
erst damit begonnen,<br />
Pfandbriefe aufzukaufen. Doch<br />
nach Informationen der Nachrichtenagentur<br />
Reuters sollen<br />
die Frankfurter Euro-Wächter<br />
hinter den Kulissen auch einen<br />
Plan für den Aufkauf von Unternehmensanleihen<br />
in der Euro-<br />
Zone vorbereiten (siehe auch<br />
Seite 36).<br />
Trends der Woche<br />
Entwicklung der wichtigsten Finanzmarkt-Indikatoren<br />
Stand: 23.10.2014 / 18.00 Uhr aktuell seit einer Woche 1 seit einem Jahr 1<br />
Dax 30 9047,31 +5,4 +1,4<br />
MDax 15693,79 +6,5 –0,4<br />
Euro Stoxx 50 3044,30 +5,9 +0,9<br />
S&P 500 1953,47 +4,9 +11,9<br />
Euro in Dollar 1,2669 –0,6 –7,9<br />
Bund-Rendite (10 Jahre) 1 0,85 +0,07 2 –0,94 2<br />
US-Rendite (10 Jahre) 1 2,25 +0,10 2 –0,26 2<br />
Rohöl (Brent) 3 86,15 +2,2 –20,5<br />
Gold 4 1232,75 –0,4 –7,4<br />
Kupfer 5 6718,50 +1,3 –6,7<br />
1<br />
in Prozent; 2 in Prozentpunkten; 3 in Dollar pro Barrel; 4 in Dollar pro Feinunze,<br />
umgerechnet 975,20 Euro; 5 in Dollar pro Tonne; Quelle: vwd group<br />
FOTOS: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, BRIAN SNYDER/REUTERS/CORBIS, DAVID MCLAIN/AURORA/LAIF<br />
96 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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DAX-AKTIEN<br />
Null Wirkung<br />
Spezialchemiker Lanxess profitiert von einem<br />
starken Dollar, die Aktionäre spüren das nicht.<br />
HITLISTE<br />
Im Dax gilt der Spezialchemiekonzern<br />
Lanxess als<br />
großer Profiteur eines schwachen<br />
Euro. Nach Aussage<br />
von Vorstandschef Matthias<br />
Zachert bewegt eine Veränderung<br />
des Dollar zum Euro um<br />
einen Cent das operative Ergebnis<br />
vor Zinsen, Steuern<br />
und Abschreibungen um rund<br />
fünf Millionen Euro. Mit Blick<br />
auf den Kursverlauf der Aktie<br />
könnte man allerdings annehmen,<br />
der Dollar stürze seit<br />
Monaten, statt zu steigen.<br />
Seit Mai konnte der Dollar<br />
aber um bis zu zehn Prozent<br />
gegen den Euro zulegen – die<br />
Lanxess-Aktie brach seither um<br />
rund 30 Prozent ein. Der positive<br />
Währungseffekt der Dollar-<br />
Stärke wird überlagert von anderen<br />
negative Faktoren. Dazu<br />
zählt vor allem der preisdämpfende<br />
Effekt aus den weltweiten<br />
Überkapazitäten bei synthetischem<br />
Kautschuk, einem<br />
Hauptprodukt von Lanxess. Damit<br />
erfüllt sich die Prognose,<br />
dass Lanxess-Aktionäre weiter<br />
Geduld brauchen (Wirtschafts-<br />
Woche 36/2014).<br />
Bröckelt weiter<br />
Risiken von Griechen-<br />
Anleihen erhöht<br />
ANLEIHEN<br />
Euro-Bonds vertagt<br />
Die Renditeaufschläge gegenüber Bundesanleihen<br />
haben sich in der Euro-Zone wieder ausgeweitet.<br />
Dax<br />
Kurs Kursent- Gewinn KGV Börsen- Dividen-<br />
(€) wicklung pro Aktie (€) wert den-<br />
1 Woche 1 Jahr 2014 2015 2015<br />
(Mio. €) rendite<br />
(%) 1<br />
Dax 9047,31 +5,4 +1,4<br />
Aktie<br />
Stand: 23.10.2014 / 18.00 Uhr<br />
Adidas 58,71 +8,9 –30,9 3,10 3,64 16 12283 2,55<br />
Allianz 123,30 +4,6 0 13,89 13,91 9 56219 4,30<br />
BASF NA 71,03 +6,0 –4,1 5,66 6,15 12 65240 3,80<br />
Bayer NA 106,90 +5,4 +17,2 5,99 6,94 15 88401 1,96<br />
Beiersdorf 63,52 +3,1 –9,0 2,48 2,75 23 16007 1,10<br />
BMW St 83,15 +6,8 +1,4 9,05 9,47 9 53426 3,13<br />
Commerzbank 11,68 +13,5 +24,9 0,54 0,98 12 13292 -<br />
Continental 152,80 +5,0 +12,1 12,81 14,25 11 30561 1,64<br />
Daimler 60,38 +4,1 +3,4 6,16 6,77 9 64572 3,73<br />
Deutsche Bank 25,13 +7,7 –26,5 2,28 3,20 8 25618 2,98<br />
Deutsche Börse 53,32 +5,5 –8,3 3,65 4,01 13 10291 3,94<br />
Deutsche Post 23,92 +6,9 –3,5 1,71 1,84 13 28920 3,34<br />
Deutsche Telekom 10,90 +5,3 –4,8 0,62 0,66 17 48496 4,59<br />
E.ON 13,26 +5,6 –0,5 0,93 0,97 14 26533 4,52<br />
Fresenius Med.C. St 55,65 +8,1 +13,7 3,52 3,94 14 17115 1,38<br />
Fresenius SE&Co 38,66 +6,1 +22,4 2,02 2,34 17 8724 3,23<br />
Heidelberg Cement St 53,21 +7,1 –10,3 3,90 4,92 11 9977 1,13<br />
Henkel Vz 76,03 +4,7 –1,4 4,28 4,69 16 31656 1,60<br />
Infineon 7,58 +7,2 +7,2 0,44 0,52 15 8195 1,58<br />
K+S NA 21,05 +8,3 +10,6 1,63 1,58 13 4029 1,19<br />
Lanxess 40,13 +1,0 –21,5 1,95 2,99 13 3339 1,25<br />
Linde 150,65 +4,2 +3,9 7,76 8,77 17 27968 1,99<br />
Lufthansa 12,35 +8,3 –15,3 1,38 2,26 5 5678 -<br />
Merck 71,28 +7,2 +18,4 4,66 4,96 14 4606 2,67<br />
Münchener Rückv. 150,45 +5,2 +0,4 17,49 17,19 9 26982 4,82<br />
RWE St 27,33 +6,9 +2,8 2,21 2,24 12 16555 3,66<br />
SAP 52,36 +0,8 –7,9 3,41 3,73 14 64324 2,10<br />
Siemens 86,64 +5,1 –6,3 6,42 7,29 12 76330 3,46<br />
ThyssenKrupp 19,01 +7,8 +0,2 0,56 1,21 16 9778 -<br />
Volkswagen Vz. 161,30 +5,4 –8,4 21,46 23,81 7 75677 2,52<br />
1<br />
berechnet mit der zuletzt gezahlten Dividende<br />
Zwei Jahre lang haben Investoren<br />
Europas Politiker in ihrem<br />
Glauben bestärkt, dass<br />
die Euro-Krise vorbei oder zumindest<br />
beherrschbar sei. Die<br />
Renditeaufschläge gegenüber<br />
deutschen Staatsanleihen,<br />
das Krisenbarometer für die<br />
Euro-Zone, engten sich immer<br />
weiter ein. Der Weg in die<br />
Haftungsgemeinschaft schien<br />
unumkehrbar und Euro-<br />
Bonds damit de facto eingeführt.<br />
Ganz so weit ist es aber<br />
wohl noch nicht. Das hat der<br />
jüngste Run in Bundesanleihen<br />
gezeigt. Dass es sich dabei<br />
um eine massive Fluchtbewegung<br />
in Qualität handelte, lässt<br />
sich ablesen an den zeitgleich<br />
und nahezu flächendeckend<br />
steigenden Renditeaufschlägen<br />
in der Euro-Zone. Der Aufschlag<br />
zehnjähriger Griechen-<br />
Bonds hatte sich gegenüber<br />
dem Jahrestief zeitweise verdoppelt.<br />
Nahezu alle Banken in<br />
der Peripherie halten umfangreiche<br />
Bestände heimischer<br />
Staatspapiere. So gesehen waren<br />
die Turbulenzen der Stresstest<br />
vor dem Stresstest.<br />
Renditeaufschläge von zehnjährigen Staatsanleihen aus der<br />
Euro-Zone gegenüber zehnjährigen deutschen Bundesanleihen<br />
Schuldner<br />
Griechenland<br />
Portugal<br />
Slowenien<br />
Italien<br />
Spanien<br />
Irland<br />
Slowakei<br />
Frankreich<br />
Belgien<br />
Österreich<br />
Holland<br />
Finnland<br />
EFSF*<br />
Renditeaufschlag in Basispunkten<br />
(ein Basispunkt = 0,01 Prozentpunkte)<br />
Jahrestief 2014<br />
+407,2<br />
+190,2<br />
+148,3<br />
+132,2<br />
+110,7<br />
+64,9<br />
+37,9<br />
+31,5<br />
+25,4<br />
+17,2<br />
+12,6<br />
+9,8<br />
+5,8<br />
aktuell<br />
+610,1<br />
+238,0<br />
+187,1<br />
+162,4<br />
+132,5<br />
+93,6<br />
+44,7<br />
+42,3<br />
+35,2<br />
+22,7<br />
+16,9<br />
+15,6<br />
+13,0<br />
Veränderung gegenüber<br />
Jahrestief<br />
in Prozent<br />
* Europäische Finanzstabilisierungsfazilität; Quelle: Bloomberg; Stand: 22. Oktober 2014<br />
+50<br />
+25<br />
+26<br />
+23<br />
+20<br />
+44<br />
+18<br />
+34<br />
+39<br />
+32<br />
+34<br />
+59<br />
+124<br />
WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 97<br />
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Geld&Börse | Geldwoche<br />
AKTIE Franco-Nevada<br />
Smarte Einkaufstour im<br />
Bergbausektor<br />
ANLEIHE EDP<br />
Top in der<br />
B-Note<br />
Minen-Monster Eine Milliarde<br />
Dollar zum Abruf bereit<br />
Royaltygesellschaften im<br />
Bergbau betreiben keine Minen,<br />
sondern kassieren von<br />
deren Betreibern Lizenzabgaben,<br />
sogenannte Royalties.<br />
Royalties sind teilweise <strong>vom</strong><br />
Rohstoffpreis abhängig, fließen<br />
aber oft unabhängig von<br />
den Produktions- und Erschließungskosten.<br />
Diesen<br />
Anspruch sichern sich Gesellschaften<br />
wie die auf Edelmetalle<br />
fokussierte kanadische<br />
Franco-Nevada meist gegen<br />
Zahlung einer Anschubfinanzierung.<br />
Teilweise garantiert<br />
die Zahlung auch, die in Minen<br />
als Beiprodukte geförderten<br />
Metalle zu einem vorher<br />
fixierten Preis einzukaufen<br />
und zum Marktpreis selbst zu<br />
verkaufen. So machte es jetzt<br />
Franco-Nevada mit einer<br />
Zahlung von 648 Millionen<br />
Dollar an Lundin Mining.<br />
Damit sichern sich die Kanadier<br />
einen Großteil der<br />
zukünftigen Gold- und Silberproduktion<br />
in der chilenischen<br />
Kupfermine Candelaria<br />
zu fixierten Unzenpreisen von<br />
400 Dollar für Gold und vier<br />
Dollar für Silber. Lundin übernimmt<br />
gerade für insgesamt<br />
1,8 Milliarden Dollar 80 Prozent<br />
an Candelaria. Der Anteil<br />
wurde bisher von Freeport-<br />
McMorran gehalten.<br />
Wegen der Besonderheiten<br />
des Geschäftsmodells fallen<br />
die Margen von Royaltygesellschaften<br />
meist üppiger aus<br />
und sind besser kalkulierbar als<br />
die der Produzenten. Wegen<br />
der geringeren Hebelwirkung<br />
auf den Rohstoffpreis steigen<br />
die Aktienkurse von Royaltygesellschaften<br />
in Haussephasen<br />
weniger spektakulär als jene der<br />
Minen. Dafür geraten sie bei<br />
Korrekturen auch nicht so stark<br />
unter die Räder. Euro-Anleger<br />
liegen mit Franco-Nevada seit<br />
Jahresanfang gar rund 40 Prozent<br />
vorne (WirtschaftsWoche<br />
5/2014). Die Kanadier, die auch<br />
nach dem jüngsten Deal schuldenfrei<br />
bleiben, könnten aus<br />
Barreserven und unausgeschöpften<br />
Kreditlinien aus dem<br />
Stand gut eine Milliarde Dollar<br />
mobilisieren. Das verleiht Flexibilität,<br />
um sich im schwierigen<br />
Marktumfeld für Bergbaufinanzierungen<br />
bei Projekten weiter<br />
günstig einzukaufen. Von ihrer<br />
Charakteristik her ist die Aktie<br />
etwa in der Mitte des Anlagespektrums<br />
zwischen physischem<br />
Gold und Minenaktien<br />
angesiedelt. Die Quartalsdividende<br />
von 20 Cent pro Aktie<br />
macht das Papier zu einer verzinsten<br />
Alternative zu einem<br />
mit physischen Barren besicherten<br />
Goldfonds.<br />
Franco-Nevada<br />
ISIN: CA3518581051<br />
70<br />
50<br />
30<br />
20<br />
10<br />
Chance<br />
Risiko<br />
Niedrig<br />
Quelle: Thomson Reuters<br />
50-Tage-Linie<br />
200-Tage-Linie<br />
07 08 09 10 11 12 13 14<br />
Kurs/Stoppkurs (in Dollar): 53,43/43,30<br />
Kurs-Buchwert-Verhältnis: 2,3<br />
Dividendenrendite (in Prozent): 1,5<br />
Hoch<br />
Weitblick 44 Prozent der Stromproduktion<br />
mit Wasserkraft<br />
Für 208 Millionen Euro verkauft<br />
Energias de Portugal<br />
(EDP) gerade einen Minderheitsanteil<br />
seiner französischen<br />
Windparks an den Finanzinvestor<br />
EFG-Hermes.<br />
Der portugiesische Stromkonzern<br />
behält bei diesem Geschäft<br />
die operative Kontrolle,<br />
holt aber gleichzeitig frisches<br />
Geld für den Ausbau seines<br />
internationalen Geschäfts mit<br />
erneuerbaren Energiequellen<br />
herein. Schon heute stammen<br />
44 Prozent der EDP-Stromproduktion<br />
aus Wasserkraft,<br />
34 Prozent aus Windkraft. Die<br />
Portugiesen sind bei der<br />
Stromerzeugung aus erneuerbaren<br />
Quellen eine der führenden<br />
Adressen weltweit – und<br />
das kommt an. Bereits 2011<br />
stieg deshalb der Energiekonzern<br />
China Three Gorges mit<br />
21 Prozent beim ehemaligen<br />
Lissaboner Staatsunternehmen<br />
ein. Die Chinesen wollen<br />
weiteres Geld in EDP stecken,<br />
um selbst den Anteil von Strom<br />
aus Wasserkraft zu erhöhen.<br />
Die führende Position bei<br />
Energieerzeugung aus erneuerbaren<br />
Quellen und der starke<br />
Großaktionär machen EDP<br />
zu einem interessanten Anleihenschuldner.<br />
Derzeit hat das<br />
Unternehmen 18 Anleihen<br />
mit einem Gesamtvolumen<br />
von rund zwölf Milliarden Euro<br />
auf dem Markt. Papiere mit<br />
Laufzeit bis 2020 bringen gut<br />
zwei Prozent Jahresrendite.<br />
Wer einsteigen will, sollte etwas<br />
Geduld mitbringen und<br />
Käufe limitieren. Die Kauf-<br />
Verkaufs-Spanne schwankt je<br />
nach Kaufinteresse zwischen<br />
0,5 Prozent und 2,0 Prozent.<br />
Mit 6,6 Millionen Stromkunden<br />
und 1,2 Millionen Gaskunden<br />
ist EDP der führende<br />
Versorger in Portugal und in<br />
den angrenzenden spanischen<br />
Gebieten. Dazu kommt,<br />
als wichtigster internationaler<br />
Wachstumsmarkt, eine brasilianische<br />
Tochter mit mehr als drei<br />
Millionen Stromkunden.<br />
In diesem Jahr dürfte EDP gut<br />
16 Milliarden Euro Umsatz erzielen.<br />
Nach dem leichten Anstieg<br />
des operativen Gewinns im<br />
ersten Halbjahr sollten ähnlich<br />
wie in den vergangenen Jahren<br />
vor Zinsen, Steuern, Abschreibungen<br />
und Amortisation 3,7<br />
Milliarden Euro hängen bleiben.<br />
Daran gemessen machen<br />
die Nettofinanzschulden (16,9<br />
Milliarden Euro) das 4,6-Fache<br />
aus. Das ist zwar noch deutlich<br />
<strong>vom</strong> angestrebten Ziel entfernt,<br />
die Schulden beim Dreifachen<br />
des operativen Gewinns einpendeln<br />
zu lassen. Doch seit<br />
zwei Jahren kommt der Schuldenabbau<br />
voran. Zudem ist die<br />
Bilanz mit 29 Prozent Eigenkapital<br />
(11,7 Milliarden Euro) vergleichsweise<br />
gut austariert.<br />
Standard & Poor’s bewertet<br />
EDP-Anleihen als spekulative<br />
Anlage, mit BB+ aber im obersten<br />
Bereich. Moody’s hat Ende<br />
Juli die vergleichbare Bewertung<br />
Ba1 bestätigt und den Ausblick<br />
auf „positiv“ angehoben.<br />
Kurs (%) 109,40<br />
Kupon (%) 4,125<br />
Rendite (%) 2,36<br />
Laufzeit bis 29.Juni 2020<br />
Währung<br />
ISIN<br />
Euro<br />
XS0223447227<br />
98 Redaktion: Geldwoche+Zertifikate: Frank Doll, Anton Riedl<br />
Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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FOTO: REUTERS, EDP, JIM WEST/ACTION PRESS<br />
CHARTSIGNAL<br />
Europas Bad Bank<br />
Die Aktie der Deutschen Bank zieht den<br />
europäischen Bankenindex nach unten.<br />
Ende April, noch bei Kursen<br />
oberhalb von 30 Euro, machte<br />
die WirtschaftsWoche auf die<br />
prekäre charttechnische Situation<br />
der Aktie der Deutschen<br />
Bank aufmerksam.<br />
Nach dem Fall unter die seit<br />
Anfang 2009 etablierte Aufwärtstrendlinie<br />
T1 (Punkt 1,<br />
oberer Chart) ging es mit dem<br />
Kurs zwischenzeitlich runter<br />
bis auf 22,66 Euro. T1 ist die<br />
untere Begrenzung eines sich<br />
über mehr als fünf Jahre erstreckenden<br />
symmetrischen<br />
Dreiecks. Der Ausbruch aus<br />
diesem groß angelegten Dreieck<br />
lässt aus charttechnischer<br />
Sicht ein hohes Abwärtspotenzial<br />
erwarten. Symmetrische<br />
Dreiecke sind Konsolidierungsformationen<br />
innerhalb langfristiger Abwärtstrends.<br />
Der Aktienkurs<br />
dürfte daher seinen 2007 einsetzenden<br />
langfristigen Abwärtstrend<br />
fortsetzen.<br />
Den beiden Trendwenden<br />
des europäischen Bankenindex<br />
Stoxx Europe 600 Banks<br />
(unterer Chart) in den Jahren<br />
2007 und 2011 gingen jeweils<br />
Trendliniendurchbrüche der<br />
Deutsche-Bank-Aktie voraus<br />
(2, 3). Bleibt es bei diesem Muster,<br />
dann droht nun auch dem<br />
Bankenindex ein nachhaltiger<br />
Fall unter die wichtige Unterstützung<br />
bei 185 Punkten. In<br />
der vorvergangenen Woche<br />
wurde die Marke kurzzeitig gerissen.<br />
Nach dem Scheitern an<br />
den Trendlinien T2 und T3, die<br />
aktuell bei 200 Punkten einen<br />
starken Widerstand bilden, ähnelt<br />
die charttechnische Ausgangslage<br />
jener <strong>vom</strong> zweiten<br />
Quartal 2011 – abgesehen <strong>vom</strong><br />
heute wesentlich tieferen Kursniveau<br />
der Deutsche-Bank-Aktie.<br />
Ein scharfer Kursrutsch bei<br />
einer systemrelevanten Bank<br />
wie der Deutschen könnte im<br />
Bankenindex gar die massive<br />
Unterstützung, die sich 2011<br />
und 2012 bei 120 Punkten formiert<br />
hat, in Gefahr bringen.<br />
Zumal andere wichtige europäische<br />
Bankaktien aus Spanien,<br />
Frankreich und Italien<br />
Gipfelformationen ausbilden<br />
oder charttechnische Trendwendeformation<br />
bereits abgeschlossen<br />
haben.<br />
Wenig Unterstützung<br />
Trendwenden im europäischen Bankenindex Stoxx Europe 600 Banks<br />
gehen oft Trendliniendurchbrüche der Deutsche-Bank-Aktie voraus<br />
120<br />
100<br />
80<br />
60<br />
40<br />
20<br />
12<br />
500<br />
400<br />
300<br />
200<br />
100<br />
80<br />
2005 2007 2009 2011 2013 2014<br />
Quelle: Thomson Reuters<br />
Deutsche Bank<br />
Stoxx Europe 600 Banks<br />
2<br />
3<br />
symmetrisches<br />
Dreieck<br />
großes Dreieck<br />
T3<br />
T2<br />
Unterstützung<br />
T1<br />
1<br />
Unterstützung<br />
PORSCHE<br />
Richtigstellung<br />
Zum Artikel „Das Pfinztal-Geheimnis“ in der<br />
WirtschaftsWoche 41 <strong>vom</strong> 06.10.2014.<br />
Im Artikel berichteten wir,<br />
dass neue Aussagen darauf<br />
hindeuten, dass Porsche und<br />
seine Eigentümer, anders als<br />
öffentlich behauptet, bereits<br />
im Sommer 2008 Zugriff auf<br />
drei Viertel der VW-Aktien<br />
hatten. Diese Behauptung<br />
halten wir in Bezug auf die<br />
Aussage von Wolfgang Porsche<br />
nicht mehr aufrecht; sie<br />
ist unzutreffend. Aus dem Beschluss<br />
des Oberlandesgerichts<br />
Stuttgart – 1. Strafsenat<br />
– <strong>vom</strong> 18. August 2014 (Az. 1<br />
Ws 68/14) zitieren wir darüber<br />
hinaus Wolfgang Porsche,<br />
der der Staatsanwaltschaft<br />
Stuttgart erklärt habe,<br />
dass Porsche – anders als das<br />
Unternehmen behauptet –<br />
über Optionen auch Zugriff auf<br />
insgesamt knapp 73 Prozent<br />
der VW-Stammaktien gehabt<br />
habe. Herr Porsche legt Wert<br />
auf die Feststellung, dass er<br />
sich in seiner Vernehmung bei<br />
der Staatsanwaltschaft Stuttgart<br />
zu der Frage, ob und in<br />
welcher Höhe sich Porsche<br />
über Optionen Zugriff auf VW-<br />
Aktien gesichert haben soll,<br />
nicht geäußert hat. Herr Porsche<br />
hat recht. Das OLG Stuttgart<br />
hat den Vorhalt der Staatsanwaltschaft<br />
in dem Urteil<br />
fälschlicherweise als Zitat von<br />
Herrn Porsche widergegeben.<br />
Zu diesem Vorhalt der Staatsanwaltschaft<br />
hat sich Herr Porsche<br />
jedoch überhaupt nicht<br />
geäußert.<br />
ÖLPREIS<br />
Fracking mit Gegenwind<br />
Sorgen vor einer konjunkturell<br />
bedingten Nachfrageschwäche<br />
und das globale Überangebot<br />
drückten den Brentölpreis,<br />
gemessen an seinem<br />
Jahreshöchststand <strong>vom</strong> Juni,<br />
inzwischen um 25 Prozent auf<br />
zuletzt unter 85 Dollar pro<br />
Fass. „Ohne eine Produktionskürzung<br />
der Opec bleibt der<br />
Ölmarkt überversorgt“, sagen<br />
die Rohstoffexperten der<br />
Commerzbank. Allerdings sei<br />
kein Opec-Land bereit, zu einer<br />
Produktionskürzung beizutragen.<br />
Auch der wichtigste<br />
Produzent Saudi-Arabien hat<br />
angekündigt, einen niedrigeren<br />
Ölpreis über einen längeren<br />
Zeitraum zu akzeptieren.<br />
Denkbares Kalkül der<br />
Scheichs: Ein niedrigeres<br />
Preisniveau bremst das Angebotswachstum<br />
in anderen<br />
Ländern, etwa in den USA.<br />
Giganten US-Ölproduktion auf<br />
40-Jahreshoch<br />
Der Fracking-Boom trieb die<br />
US-Ölproduktion unlängst auf<br />
den höchsten Stand seit fast vier<br />
Jahrzehnten. Doch nun drohen<br />
die ersten US-Schieferölproduzenten<br />
in die Verlustzone zu geraten.<br />
An Wall Street gehörten<br />
Energieaktien zuletzt zu den<br />
großen Verlierern, die Renditen<br />
von 190 Anleihen von Schieferöl-<br />
und Schiefergasproduzenten<br />
zogen seit Ende August um<br />
durchschnittlich 1,2 Prozentpunkte<br />
an.<br />
WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 99<br />
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Geld&Börse | Geldwoche<br />
FONDS Legg Mason Clearbridge US Aggressive Growth<br />
Rendite mit viel Geduld<br />
und wenigen Aktien<br />
Blaues Wunder Audi-Navi mit<br />
Spracherkennung von Nuance<br />
„Der Aktienmarkt war nach<br />
dem langen Anstieg reif für eine<br />
Korrektur“, sagt Evan S.<br />
Bauman, Fondsmanager bei<br />
der US-Gesellschaft Legg<br />
Mason in New York. Beim US-<br />
Aktienfonds des Hauses hatte<br />
sich das Fondsmanager-Duo<br />
aus Bauman und Richard<br />
Freeman auf einen Kursrutsch<br />
eingestellt und mit 15<br />
Prozent des Fonds mehr Geld<br />
als üblich verzinst geparkt.<br />
Der Fonds besteht seit Langem<br />
zu einem Drittel aus Aktien<br />
aus dem boomenden Gesundheitsmarkt,<br />
die weniger<br />
starke Kursverluste erlitten<br />
haben. Die liquiden Mittel<br />
konnten die Manager jetzt für<br />
Zukäufe einsetzen. So wurde<br />
die bestehende Position bei<br />
Anadarko Petroleum aufgestockt.<br />
Der Ölförderer muss in<br />
den USA zwar wegen Umweltvergehen<br />
eine Rekordstrafe<br />
von 5,1 Milliarden Dollar zahlen.<br />
Doch die Vermögenswerte<br />
seien trotzdem doppelt<br />
so hoch wie der Börsenpreis,<br />
und Anadarko sei auch bei<br />
noch niedrigeren Ölpreisen<br />
profitabel. Zudem erfüllt das<br />
Unternehmen die Investment-Kriterien<br />
der Manager:<br />
Es verdient Geld, steigert den<br />
Gewinn und hat eine starke<br />
Marktstellung. Nicht aus Faulheit,<br />
sondern weil sie sich für<br />
die Prüfung der Unternehmen<br />
und ihres Managements<br />
Zeit nehmen, kommen jährlich<br />
nur ein bis zwei neue Unternehmen<br />
ins 3,1 Milliarden<br />
Dollar schwere Portfolio, das<br />
derzeit aus 64 Einzeltiteln besteht.<br />
Ungewöhnlich lange halten<br />
die Manager an Aktien fest.<br />
Anadarko haben sie schon elf<br />
Jahre im Fonds, der Pharmawert<br />
Forest Laboratories gehörte<br />
fast 30 Jahre dazu, bevor er<br />
2014 von der irischen Actavis<br />
geschluckt wurde. Zuletzt wurden<br />
Aktien von Nuance Communications<br />
gekauft. Deren<br />
Sprachverarbeitungssoftware<br />
kommt etwa im neuen Audi TT<br />
bei der Bedienung von Navi<br />
und Radio zum Einsatz. „Nuance<br />
ist sehr innovativ hat viele<br />
Patente und ist im Markt der<br />
Sprachsteuerung sehr gut aufgestellt.<br />
Sie waren schon profitabel,<br />
und dies wird auch für<br />
2015 erwartet“, sagt Bauman. Er<br />
meidet Hardwareausrüster wie<br />
Apple, weil er nicht wisse, „wie<br />
die mobilen Geräte künftig aussehen<br />
werden“, aber die Software<br />
im Inneren der Geräte<br />
werde weiterhin benötigt. Daher<br />
hält er etwa den Speichermedienhersteller<br />
Sandisk, die<br />
Softwareschmiede Citrix sowie<br />
den LED-Hersteller Cree.<br />
Legg Mason Clearbridge<br />
ISIN: IE00B241FC99<br />
220<br />
200<br />
180<br />
160<br />
140<br />
120<br />
100<br />
80<br />
Chance<br />
Risiko<br />
2010 11 12 13 14<br />
Niedrig<br />
Indexiert: seit 5 Jahren (=100);<br />
Quelle: Thomson Reuters<br />
MSCI<br />
USA-Aktienindex<br />
Hoch<br />
Die besten US-Aktienfonds<br />
Wie die erfolgreichsten Portfoliomanager abgeschnitten haben<br />
Fondsname<br />
iShares Nasdaq 1003<br />
Legg Mason Clearbridge Growth Premium<br />
Fidelity America<br />
CitiFirst Equity Balanced-Beta USA<br />
AB American Growth<br />
Sarasin Sustainable Eq. USA<br />
AXA Rose. US Defensive Eq. Income Alpha<br />
Pioneer US Fundamental Growth<br />
Fidelity American Diversified<br />
M&G North American Value<br />
Fidelity American Growth<br />
Legg Mason Clearbridge US Aggr.Growth<br />
CMI US Enhanced Equity<br />
iShares S&P 500 Minimum Volatility<br />
UBS (Lux) ES USA Growth<br />
HSBC S&P 500 ETF 3<br />
JPM US Research Enhanced Index<br />
Legg Mason ClearBridge Value<br />
SPDR S&P 500 Low Volatility ETF<br />
UBS (Lux) ES US Total Yield<br />
JPM Highbridge US Steep<br />
AB SICAV Select US Equity<br />
Lyxor ETF Russell 1000 Growth<br />
ComStage MSCI USA Large Cap ETF<br />
Berenberg US Stockpicker<br />
JPM US Equity Plus<br />
Schroder ISF US Large Cap<br />
Allianz Best Styles US Equity<br />
UBS ETF MSCI USA<br />
JPM US Select Eq. Plus<br />
Pioneer SF US Eq. Markets Plus<br />
ING (L) Invest US Equity<br />
Vanguard US 500 Stock Index Inv.<br />
CMI US Equity Index Tracking<br />
Goldman Sachs US Core Equity<br />
AXA Rosenberg US Equity Alpha<br />
AXA Rosenberg US Enhanced Index<br />
UBS ETF MSCI USA Value<br />
Fidelity FAST US Fund<br />
PowerShares FTSE RAFI US 1000 ETF 3<br />
Parvest Equity USA Growth<br />
Coutts US Equity Index<br />
AXA WF II North American Equities<br />
Natixis Actions US Growth<br />
Threadneedle US Controled Core Eq.<br />
HSBC GIF US Equity<br />
db x-trackers S&P 500 Equal<br />
ComStage MSCI North America ETF<br />
Deutsche Invest II US Top Dividend FC<br />
JPM US Select Equity<br />
1 jährlicher Durchschnitt (in Euro gerechnet); 2 je höher die Jahresvolatilität (Schwankungsintensität)<br />
in den vergangenen drei Jahren, desto riskanter der Fonds;<br />
3 weitere ETF mit diesem Index von anderen Anbietern;<br />
Quelle: Morningstar; Stand: 21. Oktober 2014<br />
ISIN<br />
IE00B53SZB19<br />
IE00B23ZBJ17<br />
LU0318939179<br />
IE00B7KPPF38<br />
LU0079475348<br />
LU0526864581<br />
IE00B3L6PR96<br />
LU0347184748<br />
LU0346390437<br />
GB00B1RXYZ16<br />
LU0318939252<br />
IE00B241FC99<br />
LU0129306311<br />
IE00B6SPMN59<br />
LU0358729654<br />
IE00B5KQNG97<br />
LU0590395801<br />
IE00B53D7544<br />
IE00B802KR88<br />
LU0868494617<br />
LU0325074507<br />
LU0736561332<br />
FR0011119148<br />
LU0392495882<br />
LU0534928600<br />
LU0289218454<br />
LU0106261539<br />
LU0788520384<br />
IE00B77D4428<br />
LU0292454872<br />
LU0367810255<br />
LU0293054556<br />
IE0002639668<br />
LU0129306154<br />
LU0280924829<br />
IE0008365516<br />
IE0033609615<br />
IE00B78JSG98<br />
LU0363262394<br />
IE00B23D8S39<br />
LU0823434583<br />
IE0002293995<br />
LU0011972238<br />
FR0010256404<br />
LU0640477955<br />
LU0164902883<br />
LU0659579493<br />
LU0392494992<br />
LU0781239156<br />
LU0070214290<br />
Wertentwicklung<br />
in Prozent<br />
seit 3<br />
Jahren 1<br />
22,6<br />
11,1<br />
23,7<br />
–<br />
21,9<br />
22,0<br />
–<br />
20,4<br />
20,8<br />
22,5<br />
21,4<br />
24,8<br />
20,3<br />
–<br />
20,6<br />
20,9<br />
20,7<br />
21,0<br />
–<br />
–<br />
21,3<br />
–<br />
–<br />
20,9<br />
20,8<br />
19,8<br />
21,1<br />
–<br />
–<br />
20,8<br />
20,2<br />
20,5<br />
20,6<br />
19,9<br />
20,9<br />
21,3<br />
22,1<br />
–<br />
–<br />
21,9<br />
17,5<br />
20,1<br />
20,0<br />
20,1<br />
21,9<br />
19,3<br />
–<br />
19,9<br />
–<br />
20,1<br />
seit einem<br />
Jahr<br />
24,6<br />
22,6<br />
21,3<br />
21,3<br />
21,1<br />
20,9<br />
20,3<br />
19,6<br />
19,6<br />
19,4<br />
19,2<br />
19,2<br />
19,1<br />
19,1<br />
19,0<br />
18,9<br />
18,9<br />
18,8<br />
18,8<br />
18,8<br />
18,8<br />
18,6<br />
18,6<br />
18,5<br />
18,5<br />
18,5<br />
18,3<br />
18,3<br />
18,3<br />
18,2<br />
18,2<br />
17,9<br />
17,9<br />
17,8<br />
17,8<br />
17,6<br />
17,6<br />
17,6<br />
17,5<br />
17,4<br />
17,4<br />
17,4<br />
17,4<br />
17,4<br />
17,3<br />
17,3<br />
17,2<br />
17,1<br />
17,0<br />
16,9<br />
Volatilität<br />
2<br />
in<br />
Prozent<br />
10,5<br />
10,7<br />
8,7<br />
–<br />
10,5<br />
12,5<br />
–<br />
8,3<br />
9,2<br />
11,7<br />
10,3<br />
9,6<br />
10,7<br />
–<br />
10,1<br />
8,2<br />
9,7<br />
9,2<br />
–<br />
–<br />
9,4<br />
–<br />
–<br />
8,4<br />
10,5<br />
10,3<br />
8,9<br />
–<br />
–<br />
10,3<br />
8,3<br />
8,3<br />
8,2<br />
10,5<br />
9,3<br />
9,5<br />
9,2<br />
–<br />
–<br />
8,2<br />
9,4<br />
8,9<br />
8,6<br />
8,4<br />
8,3<br />
9,1<br />
–<br />
8,2<br />
–<br />
9,9<br />
FOTO: PR<br />
100 Redaktion Fonds: Heike Schwerdtfeger<br />
Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Geld&Börse | Geldwoche<br />
NACHGEFRAGT Ulrich Reutner<br />
»Jedem Bauteil eine<br />
Identität geben«<br />
Der Chef des Technologiekonzerns exceet erklärt<br />
seinen ungewöhnlichen Weg an die Börse – und<br />
wie Maschinen sich selbst überwachen.<br />
Herr Reutner, Sie hatten mit<br />
exceet 2011 einen Börsengang,<br />
ein IPO, geplant. Der<br />
platzte – und trotzdem haben<br />
Sie es im gleichen Jahr<br />
noch an die Börse geschafft.<br />
Warum klappte es erst nicht?<br />
Unsere betreuende Bank war<br />
Anfang 2011 skeptisch, ob wir<br />
über den klassischen IPO einen<br />
angemessenen Preis für<br />
unsere Aktien erzielen würden<br />
– die Stimmung gegenüber<br />
Technologiewerten war<br />
sehr verhalten. Also stoppten<br />
wir den Prozess. Im Rückblick<br />
ein gutes Timing – im Sommer<br />
brachen die Kurse ein.<br />
Über einen sogenannten<br />
SPAC schafften Sie doch<br />
noch den Börsengang im Juli<br />
2011. Bei dieser Special Purpose<br />
Acquisition Company<br />
geht eine Art Unternehmenshülle<br />
an die Börse, in diesem<br />
Fall ein Börsenmantel namens<br />
Helikos im Jahr 2010.<br />
Helikos musste innerhalb von<br />
zwei Jahren einen Übernahmekandidaten<br />
finden, der<br />
dann unter ihrem Dach an die<br />
Börse kommen sollte: Die<br />
Wahl fiel auf exceet.<br />
Wir waren vorbereitet, und als<br />
im Frühjahr 2011 die Anfrage<br />
DATENSCHÜTZER<br />
Reutner, 49, ist seit 2009 Vorstandsvorsitzender<br />
der exceet<br />
Group. Zuvor arbeitete er beim<br />
schwedischen Sicherheitskonzern<br />
Assa Abbloy.<br />
von Helikos kam, bot sich uns<br />
sogar eine günstigere Alternative<br />
zum regulären IPO.<br />
In den USA haben sich SPACs<br />
etabliert. In Deutschland sind<br />
sie eines von nur drei Unternehmen,<br />
die so an die Börse<br />
kamen. Hat es sich gelohnt?<br />
Die Umsetzung lief reibungslos,<br />
der Aufwand war am Ende<br />
aber der gleiche: Als Vorstandschef<br />
der Zielgesellschaft musste<br />
ich natürlich mit zu den<br />
Investorengesprächen, um<br />
ihnen das Unternehmen zu<br />
präsentieren.<br />
Die SPAC-Gründer und Alteigentümer<br />
halten noch hohe<br />
Anteile an exceet.<br />
Sie halten die deutliche Mehrheit,<br />
insbesondere wenn man<br />
die optionsähnlichen nicht<br />
börsenotierten B- und C-Aktien<br />
mitzählt. Die zählen nicht<br />
zur Marktkapitalisierung, können<br />
aber in gelistete A-Aktien<br />
gewandelt werden. Das ist bei<br />
SPAC-Börsengängen üblich.<br />
Besteht für Anleger die Gefahr<br />
Kursverluste zu erleiden, wenn<br />
die Umwandlung in Aktien<br />
erfolgt?<br />
Theoretisch, weil ja mehr Anteile<br />
auf den Markt kommen könnten.<br />
Aber dazu muss der Kurs<br />
spätestens bis zum Sommer<br />
2016 nachhaltig auf mindestens<br />
zwölf Euro steigen. Sonst verfällt<br />
das Wandlungsrecht.<br />
Sie haben exceet mit Zukäufen<br />
stark vergrößert. Als Anleger<br />
verliert man schnell den Überblick<br />
über Ihren Konzern.<br />
Seit unserer Gründung operieren<br />
wir in drei Segmenten: vernetzte<br />
intelligente Elektronik,<br />
Identitätsmanagement und<br />
Smart Cards und vernetzte Sicherheitslösungen.<br />
Da wir aber<br />
wohl mehr Standorte haben als<br />
Unternehmen vergleichbarer<br />
Größe, verschlanken wir unsere<br />