Wirtschaftswoche Ausgabe vom 27.10.2014 (Vorschau)

27.10.2014 Aufrufe

44 27.10.2014|Deutschland €5,00 4 4 4 1 98065 805008 Frau Dr. Seltsam Oder: Wie ich lernte, die schwarze Null zu lieben Schweiz CHF 8,20 | Österreich €5,30 | Benelux€5,30 | Griechenland€6,00 | GroßbritannienGBP 5,40 | Italien€6,00 | Polen PLN27,50 | Portugal€6,10 | Slowakei €6,10 | Spanien€6,00 | Tschechische Rep. CZK200,- | Ungarn FT 2140,- © Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.

44<br />

<strong>27.10.2014</strong>|Deutschland €5,00<br />

4 4<br />

4 1 98065 805008<br />

Frau Dr. Seltsam<br />

Oder: Wie ich lernte, die schwarze Null zu lieben<br />

Schweiz CHF 8,20 | Österreich €5,30 | Benelux€5,30 | Griechenland€6,00 | GroßbritannienGBP 5,40 | Italien€6,00 | Polen PLN27,50 | Portugal€6,10 | Slowakei €6,10 | Spanien€6,00 | Tschechische Rep. CZK200,- | Ungarn FT 2140,-<br />

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Einblick<br />

Sparen ist gut. Investieren auch. Beides ginge zusammen,<br />

aber die Bundesregierung krallt sich allein<br />

an der schwarzen Null fest. Von Miriam Meckel<br />

Symbolische Politik<br />

FOTO: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

Stellen wir uns die Bundeskanzlerin<br />

vor, wie sie mit zarter und ein<br />

wenig zitternder Hand das Glastürchen<br />

öffnet. Ein vorsichtiger<br />

Griff in die Monstranz, und schon ist dort<br />

auf weichem Kissen glänzend positioniert,<br />

was nahezu anbetungswürdig<br />

scheint: die schwarze Null. Wie eine polit-ökumenische<br />

Glaubensgemeinschaft<br />

sammeln sich die Mehrheiten beider großer<br />

Volksparteien derzeit hinter dieser<br />

Zahl, um gegen die Neuverschuldung anzuziehen.<br />

Glaube kann bekanntlich Berge versetzen.<br />

Ein Berg von zwei Billionen Euro ist<br />

ziemlich hoch. So viele Staatsschulden hat<br />

Deutschland derzeit. Und geht es nach einigen<br />

unserer europäischen Verbündeten,<br />

dann sollen es noch mehr werden: Weg<br />

mit der Haushaltsdisziplin und her mit frischem<br />

Geld für Investitionen, um damit<br />

die schwächelnde europäische Wirtschaft<br />

anzukurbeln. Angela Merkel glaubt an die<br />

schwarze Null, die Franzosen und Italiener<br />

nicht – ein haushaltspolitisches Schisma<br />

durchzieht Europa.<br />

Es ist richtig, nicht wieder auf Neuverschuldung<br />

zu setzen. Es wäre auch richtig,<br />

auf Investitionen und Wachstum zu setzen.<br />

Aus Sicht Merkels ist die schwarze<br />

Null „alternativlos“, um eines ihrer Lieblingswörter<br />

zu benutzen. Entweder sparen<br />

oder investieren. Diese Alternative ist<br />

falsch. Die richtige lautet: Reform oder<br />

Stillstand.<br />

Vor bald zehn Jahren hat Deutschland<br />

der Mut zu Wirtschaftsreformen verlassen.<br />

An seine Stelle ist das wohlige Regieren getreten:<br />

Sparst du noch oder lebst du<br />

schon? Das hat lange gut geklappt. Die<br />

Agenda-Reformen der Regierung Schröder<br />

haben den Weg bereitet, die guten<br />

konjunkturellen Entwicklungen ihren Teil<br />

beigetragen. Und so haben die Deutschen<br />

nicht recht gemerkt, was fehlt. Wir leben<br />

von der Vergangenheit und schließen eine<br />

Wette auf die Zukunft ab. Doch die, so<br />

fürchten die Wirtschaftsforschungsinstitute<br />

nun, geht womöglich nicht mehr auf.<br />

In der Debatte über den Haushalt 2015,<br />

der zum ersten Mal seit 1969 wieder ohne<br />

neue Schulden auskommen soll, hat die<br />

Bundeskanzlerin gesagt, es handele sich<br />

um „einen generationengerechten Haushaltsentwurf“.<br />

Das stimmt so nicht. Ein generationengerechter<br />

Haushalt muss die<br />

Voraussetzungen schaffen, dass diejenigen,<br />

die nach uns kommen, die Chance<br />

auf ein gutes Leben haben. Dazu gehört es<br />

natürlich, zu sparen. Aber dazu gehört<br />

auch, jetzt für die Zukunft zu investieren –<br />

nicht über zehn Jahre von der Substanz zu<br />

leben und keine Wahlgeschenke zu machen,<br />

die nicht bezahlbar sind.<br />

MACHTPOLITIK ODER<br />

WIRTSCHAFTSWACHSTUM<br />

Die schwarze Null ist eine großartige Zahl,<br />

wenn sie mehr ist als die Momentaufnahme<br />

eines Stopps der Neuverschuldung.<br />

Wenn sie mit Investitionen und wirtschaftlichen<br />

Reformen einhergeht. Ist das nicht<br />

der Fall, verkommt sie zum Zeichen symbolischer<br />

Politik. Wir können nun Wetten<br />

darauf abschließen, ob und wann sie doch<br />

wieder fällt. Die Bundeskanzlerin und ihr<br />

Finanzminister werden alles dafür tun,<br />

dass dies nicht geschieht, und dem Druck<br />

aus Europa so lange wie möglich standhalten.<br />

Denn die schwarze Null ist die politische<br />

Innenverteidigung der Kanzlerin.<br />

Sie ist der Gipfel machtpolitischer Absicherung<br />

und der Schutzraum deutscher<br />

Reformträgheit.<br />

An dieser Zahl lässt sich auch zeigen:<br />

Die Logiken von Politik- und Wirtschaftssystem<br />

passen in unserer internationalisierten<br />

Welt immer weniger zusammen. In<br />

der Politik geht es um Macht haben oder<br />

keine Macht haben, in der Wirtschaft dagegen<br />

um Gewinn machen oder keinen<br />

Gewinn machen. Nähme die Bundesregierung<br />

nun Koalitionsgeschenke zurück, um<br />

zu sparen und doch auch zugunsten von<br />

Wirtschaftswachstum zu investieren, würde<br />

es machtpolitisch gefährlich. In<br />

Deutschland, nicht in Europa. Merkel hat<br />

die Schröder-Lektion gut gelernt. Also<br />

bleibt die schwarze Null das Credo der<br />

deutschen Wirtschaftspolitik.<br />

Glaube kann Berge versetzen. Leider<br />

aber keine Schuldenberge.<br />

n<br />

WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 3<br />

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Überblick<br />

VORGESTELLT<br />

Chefredakteurin Miriam Meckel<br />

präsentiert im Video diese <strong>Ausgabe</strong>.<br />

QR-Code bitte mit dem Smartphone scannen.<br />

Sie benötigen dafür eine App wie RedLaser.<br />

Menschen der Wirtschaft<br />

6 Seitenblick Bahn unter Zugzwang<br />

8 Rheinmetall: Thyssen-Deal vor Abschluss<br />

9 Bürgschaften: Attraktiv für Schäuble | DPD:<br />

Kampf um Amazon-Pakete<br />

10 Peugeot:Gewinn ist nicht alles | Interview:<br />

Welthungerhilfe-Manager Jochen Moninger<br />

warnt vor Unruhen nach Ebola-Ausbruch<br />

12 SAP: Stellenabbau forciert | Online-<br />

Werbung: Verfolgung optimiert | Europas<br />

beste Fabrik: VW Polo aus Pamplona<br />

14 Chefsessel | Start-up Pagido<br />

16 Chefbüro Kai Wilhelm, Chef des Modevertriebs<br />

K&W Holding<br />

Politik&Weltwirtschaft<br />

18 Angela Merkel Die Politik der schwarzen<br />

Null dient als Alibi für eine Politik des wirtschaftlichen<br />

Stillstands<br />

24 Finanzen Der Kampf gegen die aggressive<br />

Steuergestaltung internationaler Konzerne<br />

kommt einfach nicht voran<br />

26 Europa Deutsche Weichensteller in Brüssel<br />

32 Rumänien Ein deutschstämmiger Bürgermeister<br />

könnte neuer Präsident werden<br />

34 China Auf dem langen Weg zum Rechtsstaat<br />

wagt Peking nun einen ersten Schritt<br />

35 Global Briefing | Berlin intern<br />

Der Volkswirt<br />

36 Kommentar | New Economics<br />

37 Konjunktur Deutschland<br />

38 Nachgefragt: Paul Sheard Der Chefökonom<br />

von Standard & Poor’s ermuntert die<br />

EZB zu weiterer monetärer Lockerung<br />

39 Denkfabrik Demoskopin Renate Köcher<br />

über die Aufgabenverteilung zwischen der<br />

EU und den Nationalstaaten<br />

Unternehmen&Märkte<br />

40 Whistleblower Staatliche Prämien für<br />

Beschäftigte, die gesetzwidriges Verhalten<br />

des Arbeitgebers melden, machen in<br />

den USA aus Tippgebern und Anwälten<br />

Millionäre | Pro und Contra: Braucht<br />

Deutschland ein solches System?<br />

48 Air Berlin Wer hinter den Kulissen für und<br />

gegen den Lufthansa-Wettbewerber arbeitet |<br />

Die fünf Lektionen des British-Airways-<br />

Übervaters Willie Walsh für Pilotenstreiks<br />

52 Schumag Wie Selbstbedienungsmentalität<br />

ein Traditionsunternehmen schädigte<br />

54 Ebola Warum Deutsche den Erreger so<br />

erfolgreich diagnostizieren<br />

56 Weinhandel Lidl sucht den Wettkampf mit<br />

Amazon – auf Kosten des Fachhandels<br />

Titel Verrat an der Zukunft<br />

Whistleblower<br />

Ex-UBS-Banker Charles<br />

Birkenfeld wurde zum<br />

Millionär, indem er seinen<br />

Arbeitgeber bei der US-<br />

Steuerbehörde verpfiff und<br />

dafür Prämien kassierte.<br />

Macht das Belohnungssystem<br />

Schule?<br />

Seite 40<br />

Weine nicht,<br />

wenn kein<br />

Regen fällt<br />

In vielen Regionen der Welt<br />

tobt der Kampf um sauberes<br />

Wasser. Anleger können<br />

davon profitieren – moralisch<br />

einwandfrei, durch den Kauf<br />

spezieller Technologie-Titel.<br />

Seite 82<br />

Die schwarze Null, die Bundeskanzlerin<br />

Angela Merkel so tapfer verteidigt, ist<br />

nicht „alternativlos“, Haushaltskonsolidierung<br />

und mehr Investitionen sind auch<br />

kein Widerspruch. Was Deutschland<br />

und Europa fehlt, sind kluge Reformen<br />

und eine mutige Politik. Seite 18<br />

TITEL: FOTOKOLLAGE DMITRI BROIDO; FOTOS: MARCO URBAN, PICTURE-ALLIANCE/DPA<br />

4 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Nr. 44, <strong>27.10.2014</strong><br />

Die drei Ausrufezeichen<br />

Die Gründer der Agentur Heimat sind die Köpfe hinter den<br />

Kampagnen der Baumarktkette Hornbach. Wie sie ticken und<br />

warum sie so erfolgreich sind – ein Porträt. Seite 74<br />

58 Sicherheit Ein ehemaliger Bankräuber erklärt<br />

die unsichtbare Logik von Überfällen<br />

Technik&Wissen<br />

62 Hirnforschung Die zehn gefährlichsten<br />

Fehler beim Entscheiden<br />

Management&Erfolg<br />

68 Gründer Am Firmenstandort hängt der<br />

Erfolg | Gründerwettbewerb: Die Finalisten<br />

74 Hall of Fame So ticken die drei Gründer der<br />

Agentur Heimat | Fotos von der großen Gala<br />

ILLUSTRATION: NICHOLAS BLECHMAN, TORSTEN WOLBER; FOTOS: GASPER TRINGALE, ANDREAS CHUDOWSKI FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, GETTY IMAGES/GEORGE ROSE<br />

Clever<br />

entscheiden<br />

Noch immer spukt der Höhlenmensch<br />

in unserem Kopf<br />

herum und führt unseren<br />

Verstand in die Irre. Zehn<br />

Tipps, wie Sie typische Denkfallen<br />

umgehen. Seite 62<br />

Rohstoffe ohne<br />

Raubbau<br />

Ersetzen, wiederverwerten,<br />

schonend abbauen –<br />

so schaffen wir die<br />

Ressourcenwende<br />

Blaue Wirtschaft<br />

Ein Belgier löst globale Probleme lokal<br />

Künstliche Milch<br />

Ein Kalifornier bekämpft den Hunger<br />

Ethische Geldanlage<br />

Ein Deutscher schlägt den Aktienmarkt<br />

Besuchen Sie uns auch im Internet unter green.wiwo.de<br />

WiWo Green Schluss<br />

mit schmutzig<br />

Bisher ist die Suche nach Rohstoffen ein<br />

dreckiges Geschäft. Das ändert sich jetzt.<br />

Plus: Unternehmer und Aktivist Gunter<br />

Pauli über ökologisches Wirtschaftswachstum<br />

| Milch und Eier aus Pflanzen<br />

(Start auf der Rückseite)<br />

Geld&Börse<br />

82 Aktien Investoren können <strong>vom</strong> Kampf ums<br />

Wasser mit gutem Gewissen profitieren<br />

92 US-Börse Qualitätspapiere ganz günstig<br />

94 Steuern und Recht Wie Dividenden von<br />

ausländischen Unternehmen besteuert werden,<br />

wie Anleger sich ihr Geld zurückholen<br />

96 Geldwoche Kommentar: Start-up-Börse |<br />

Trend der Woche: Notenbanken | Dax:<br />

Lanxess | Hitliste: Zinsdifferenzen | Aktie:<br />

Franco-Nevada | Anleihe: EDP | Chartsignal:<br />

Deutsche Bank, Stoxx Europe 600 Banks |<br />

Ölpreis | Investmentfonds: Legg Mason<br />

Clearbridge US Aggressive Growth | Nachgefragt:exceet-Chef<br />

Ulrich Reutner und<br />

sein ungewöhnlicher Weg an die Börse<br />

99 Richtigstellung zu Wolfgang Porsche<br />

Perspektiven&Debatte<br />

104 Interview: Michael Dobbs Der britische<br />

Schriftsteller und Filmproduzent über das<br />

dunkle Innenleben der Politik<br />

108 Kost-Bar<br />

Rubriken<br />

3 Einblick, 110 Leserforum,<br />

111 Firmenindex | Impressum, 112 Ausblick<br />

n Lesen Sie Ihre WirtschaftsWoche<br />

weltweit auf iPad oder iPhone:<br />

Diese Woche unter anderem mit<br />

einer Fotoreportage über Pfleger<br />

und Ärzte, die sich in<br />

Afrika um Ebola-Patienten<br />

kümmern – und zum<br />

Teil selbst Überlebende<br />

der Krankheit sind.<br />

wiwo.de/apps<br />

n Banken-Stresstest Am Sonntag<br />

erläutern EZB und Bundesbank die<br />

Ergebnisse. Wie krisenfest deutsche<br />

Banken sind und wer durchgefallen<br />

ist, aktuell unter wiwo.de/stresstest<br />

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wirtschaftswoche<br />

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WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 5<br />

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Seitenblick<br />

BAHNSTREIKS<br />

Unter Zugzwang<br />

Wer im Tarifkonflikt bei der Bahn direkt und indirekt mitmischt – und wie der Streit<br />

um die Macht von Spartengewerkschaften weitergeht.<br />

Ulrich Weber<br />

Personalvorstand der Bahn<br />

Der Verhandlungsführer der Bahn gilt als Mann der leisen<br />

Töne, als Mann des Ausgleichs. 2009 wechselte er von<br />

Evonik zum Staatskonzern – auch um ausufernde Streiks<br />

wie 2007 zu vermeiden. Nun steuert die Bahn genau darauf<br />

zu. Weber lehnt konkurrierende Tarifverträge für eine<br />

Berufsgruppe kategorisch ab. Die GDL vertrete die<br />

Mehrheit der Lokführer, aber nicht unbedingt die der<br />

Schaffner und Mitarbeiter im Bordrestaurant. Die<br />

Zahl der Streikenden in der Bordgastronomie<br />

habe „im unteren einstelligen<br />

Bereich“ gelegen. Klagen gegen<br />

die GDL sieht Weber nur als<br />

Ultima Ratio – er hofft<br />

nun auf die Politik.<br />

Alexander Kirchner<br />

Vorsitzender der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG)<br />

Im Streikgetöse der GDL geht fast unter, dass auch die größere<br />

Konkurrenzgewerkschaft EVG (100000 Mitglieder) derzeit mit der<br />

Bahn verhandelt – und noch mehr Geld fordert als die ungeliebten<br />

Kollegen (6 Prozent). Eine Kooperation der Gewerkschaften<br />

ist auch deshalb schwer vorstellbar, weil sich Kirchner und<br />

GDL-Boss Weselsky nicht ausstehen können. Beide indes<br />

werden eine Kröte schlucken müssen. Insider sagen: Die GDL<br />

könnte sich das Recht erkämpfen, auch andere Berufsgruppen<br />

bei der Bahn zu vertreten, wenn sie dort die Mehrheit<br />

hat. Im Gegenzug könnte Kirchner unterschiedliche<br />

Tarifverträge innerhalb einer Berufsgruppe verhindern.<br />

Andrea Nahles<br />

Bundesarbeitsministerin (SPD)<br />

Sie ist die Frau, auf die alle warten.<br />

Das Gesetz zur Tarifeinheit, das<br />

Nahles im November vorlegen will<br />

und das am 3. Dezember ins Kabinett<br />

soll, könnte Spartengewerkschaften an<br />

die Kette legen. Im Streitfall würde künftig<br />

nur der Tarifvertrag der Gewerkschaft gelten,<br />

die eine Mehrheit der Beschäftigten im<br />

Betrieb vertritt. Ob die unterlegene Konkurrenz<br />

dennoch streiken darf? Wie zu hören ist, will die<br />

GroKo dies aus Angst vor dem Bundesverfassungsgericht<br />

nicht explizit verbieten. Nahles schiebt die<br />

Streikfrage so den Arbeitsgerichten zu.<br />

6 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Claus Weselsky<br />

Vorsitzender der Gewerkschaft<br />

Deutscher Lokomotivführer (GDL)<br />

Der Dresdner führt die GDL seit 2008 und hat<br />

sich als harter Hund mit einem Hang zu<br />

verbalen Entgleisungen erwiesen. Die GDL fordert<br />

fünf Prozent mehr Lohn, eine um zwei Stunden<br />

sinkende Arbeitszeit und will künftig neben Lokführern<br />

auch das restliche Zugpersonal organisieren. Den<br />

Tarifkonflikt führt Weselsky derart kompromisslos (Kritiker<br />

sagen: rücksichtslos), dass auch intern die Kritik wächst.<br />

Gerüchten zufolge soll es erste Austritte geben, weil Lokführer<br />

nicht zum Hassobjekt der Nation werden wollen. 2013 gründete<br />

sich eine „Initiative für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der<br />

GDL“. Immerhin: Letzte Woche gab es eine Streikpause.<br />

Reiner Hoffmann<br />

Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbunds<br />

Der 59-Jährige unterstützt die DGB-Mitgliedsgewerkschaft<br />

EVG gegen die Lokführerfunktionäre: „Wenn<br />

die GDL den Konflikt will, kann sie ihn haben.“ Um<br />

Frieden zwischen großen und kleinen Gewerkschaften<br />

zu schaffen, schlägt er Tarifgemeinschaften vor.<br />

Hoffmanns Problem: Im eigenen Haus ist die<br />

Gemengelage kompliziert. Zwar gehen die Pläne der<br />

Bundesregierung, den Einfluss von Spartengewerkschaften<br />

zu begrenzen, auf ein gemeinsames Papier<br />

von DGB und Arbeitgebern zurück. Verdi ist jedoch<br />

auf Druck der Basis zurückgerudert. Auf dem<br />

jüngsten DGB-Kongress gab es einen Kompromiss:<br />

Tarifeinheit ja, Einschränkung des Streikrechts nein.<br />

Nicht wenige Juristen halten dies für unvereinbar.<br />

Klaus Dauderstädt<br />

Vorsitzender des Deutschen<br />

Beamtenbunds (DBB)<br />

Vor Kurzem erreichte Dauderstädt ein geharnischter<br />

Brief des DGB-Vorsitzenden Reiner Hoffmann. Er<br />

möge endlich die unter dem Dach des Beamtenbunds<br />

organisierte Lokführergewerkschaft mäßigen.<br />

Einfluss auf die GDL hat Dauderstädt durchaus,<br />

fordert diese doch eine finanzielle Unterstützung<br />

durch den Dachverband, um ihre eigene Streikkasse<br />

zu entlasten. Prinzipiell stehen der GDL ab einer<br />

Streikdauer von drei Stunden bis zu 50 Euro pro<br />

Person und Tag zu – sofern die Bahn die Gehälter<br />

kürzt. Einen direkten Zugriff auf das Geld hat die GDL<br />

aber nicht. Sie muss alle Streikaktionen intern<br />

dokumentieren. Die Entscheidung über die Zahlungen<br />

trifft die Bundestarifkommission des DBB.<br />

Redaktion: bert.losse@wiwo.de,<br />

max haerder, christian schlesiger<br />

FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/DPA/PAUL ZINKEN (2), ACTION PRESS/PAUL ZINKEN, CORBIS/NURPHOTO/REYNALDO PAGANELLI, PR (2), ULLSTEIN BILD/SAWATZKI (6); MONTAGE WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 7<br />

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Menschen der Wirtschaft<br />

Auf den letzten Metern<br />

zum Vertragsabschluss<br />

Rheinmetall-Chef Papperger<br />

RÜSTUNG<br />

Marine-Riese am Rhein<br />

Rheinmetall steht offenbar kurz vor dem<br />

Kauf des Militärgeschäfts von Thyssen-<br />

Krupp. Es wäre die Geburtsstunde eines<br />

maritimen Rüstungskonzerns.<br />

Armin Papperger hat es eilig. Der verschwiegene<br />

Vorstandschef des Düsseldorfer Rüstungskonzerns<br />

Rheinmetall will möglichst bald seinen ersten<br />

großen Zukauf besiegeln. Laut Insidern nähern sich<br />

die Verhandlungen zur Übernahme der Militärsparte<br />

des Essener Stahlriesen ThyssenKrupp, der<br />

ThyssenKrupp Marine Systems (TKMS), dem Abschluss.<br />

Bei der Übernahme des U-Boot- und Fregattenbaus<br />

werde nur noch um den Preis gefeilscht.<br />

„Alles andere inklusive Unterstützung der Bundesregierung<br />

steht, und so kann alles Anfang 2015<br />

über die Bühne gehen“, sagt ein Insider. „Vielleicht<br />

sogar schon Ende dieses Jahres.“ Rheinmetall und<br />

ThyssenKrupp wollten sich dazu nicht äußern.<br />

Beim Kauf drängt ThyssenKrupp laut Insidern<br />

wegen der soliden TKMS-Gewinne auf einen<br />

hohen Preis. Rheinmetall hingegen hoffe, dass die<br />

Verluste im Stahlgeschäft Thyssen-Chef Heinrich<br />

Hiesinger Rabatte abnötigen. „Aber derzeit liegen<br />

die Partner nur rund 100 Millionen auseinander“,<br />

so ein Kenner des Verhandlungsstandes. Weil<br />

Rheinmetall derzeit nicht im Militärschiffbau aktiv<br />

ist, könnte sich der Konzern beim Kauf von TKMS<br />

mit einem Technologiepartner zusammentun. Dieser<br />

erhielte dann am Marine-Geschäft einen Anteil<br />

von deutlich weniger als 50 Prozent. Als Favorit<br />

gilt die Bremer Fr. Lürssen Werft, die neben Luxusyachten<br />

auch Marineschiffe baut.<br />

Darum erwarten Unternehmenskenner, dass der<br />

Zukauf von ThyssenKrupp erst der Auftakt zu einem<br />

Umbau des deutschen Marine-Sektors ist. So<br />

interessiert sich Rheinmetall dem Vernehmen nach<br />

auch dafür, das Bremer Unternehmen Atlas Elektronik<br />

zu kaufen, ein Spezialist für U-Boot-Sonarsysteme<br />

und Tauchroboter. Gut die Hälfte der Atlas-<br />

Anteile bekäme Rheinmetall mit dem Erwerb von<br />

TKMS. Und der Flugzeugbauer Airbus hat schon<br />

angekündigt, dass er seinen Anteil von 49 Prozent<br />

abstoßen will. Mit der Atlas-Technik und dem Wissen<br />

über Flugdrohnen stiege Rheinmetall zu einem<br />

der Marktführer im Zukunftsfeld der unbemannten<br />

Rüstungsgüter auf.<br />

Finanziell ist Papperger vorbereitet. Rheinmetall<br />

besitzt gute Rücklagen und hat sich über ein<br />

Schuldscheindarlehen jüngst weitere 168 Millionen<br />

besorgt. „Und da die Konsolidierung ein Herzenswunsch<br />

von Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel ist,<br />

könnte es vielleicht sogar Gelder von der staatlichen<br />

KfW-Förderbank geben“, sagt ein Insider.<br />

ruediger.kiani-kress@wiwo.de<br />

Aufgerüstet<br />

Europas größte<br />

Waffenhersteller<br />

(in Milliarden Dollar)<br />

28,0<br />

16,5<br />

11,0<br />

10,9<br />

8,3<br />

6,1<br />

5,2<br />

4,6<br />

4,0<br />

3,4<br />

3,4<br />

3,0<br />

1,7<br />

1,1<br />

0,7<br />

1. BAE Systems<br />

2. Airbus Group<br />

3. Thales<br />

4. Finmeccanica<br />

5. Almaz-Antey<br />

6. Rolls-Royce<br />

7. Rheinmetall*<br />

8. DCNS<br />

9. Safran<br />

10. Babcock Int.<br />

11. Russian Helicopters<br />

12. Rheinmetall<br />

.<br />

.<br />

53. ThyssenKrupp<br />

61. Krauss-M. Wegmann<br />

84. Diehl<br />

*nach der Übernahme von<br />

ThyssenKrupp, Atlas Elektronik,<br />

Angaben für 2013; Quelle: Defense<br />

News, Sipri, Unternehmen<br />

FOTOS: PHOTOTHEK/THOMAS TRUTSCHEL, BORIS WINKELMANN, DK IMAGES/DORLING KINDERSLEY<br />

8 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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BÜRGSCHAFTEN<br />

Hermes gut<br />

für Schäuble<br />

Die Vergabe von Bürgschaften<br />

und Garantien ist für Bundesfinanzminister<br />

Wolfgang<br />

Schäuble ein lukratives Geschäft.<br />

Zu dem Ergebnis kommt<br />

der Bundesrechnungshof in<br />

einem noch unveröffentlichten<br />

Bericht. Die Einnahmen aus<br />

der Inanspruchnahme von Gewährleistungen<br />

überstiegen<br />

demnach die <strong>Ausgabe</strong>n für Entschädigungsleistungen<br />

im Zeitraum<br />

von 1991 bis 2013 um 17,4<br />

Milliarden Euro. Das entspricht<br />

einem jährlichen Gewinn von<br />

durchschnittlich fast 800 Millionen<br />

Euro. Ein Großteil der Gewährleistungen<br />

besteht aus den<br />

sogenannten Hermes-Bürgschaften,<br />

mit denen der Bund<br />

Exportgeschäfte deutscher Unternehmen<br />

absichert.<br />

Insgesamt sieht Schäubles<br />

Etatentwurf für 2015 einen Gewährleistungsrahmen<br />

von 477<br />

Milliarden Euro vor, der aber<br />

nur zu schätzungsweise 75 Prozent<br />

ausgeschöpft werden dürfte.<br />

Nicht enthalten sind darin<br />

die Garantiezusagen Deutschlands<br />

im Zuge der Euro-Stützungsmaßnahmen,<br />

die sich laut<br />

Rechnungshof auf rund 310<br />

Milliarden Euro belaufen.<br />

christian.ramthun@wiwo.de | Berlin<br />

Aufgeschnappt<br />

Schutz vor Verschleiß Frankreich<br />

will das vorschnelle Altern<br />

von Elektrogeräten bestrafen.<br />

Geht etwa ein Toaster, Fön oder<br />

Smartphone kurz nach Ablauf<br />

der Garantie kaputt, drohen<br />

dem Hersteller zwei Jahre Haft<br />

sowie 300 000 Euro Strafe. Vorausgesetzt,<br />

ihm kann nachgewiesen<br />

werden, dass er absichtlich<br />

eine Sollbruchstelle<br />

eingebaut hat, damit sich der<br />

Kunde ein neues Gerät kaufen<br />

muss. Die Nationalversammlung<br />

in Paris hat dem Vorhaben<br />

schon zugestimmt.<br />

Tesla-Taxis Wer einmal in den<br />

Elektrowagen von Tesla fahren<br />

möchte, kann dies am Amsterdamer<br />

Flughafen tun. Für die Taxiflotte<br />

dort wurden 167 Exemplare<br />

des Model S angeschafft.<br />

Sie sollen die Emissionen am<br />

Airport reduzieren. Im Vorjahr<br />

hatten die Holländer schon 35<br />

Elektrobusse von BYD geordert.<br />

DPD<br />

Kampf um Amazon-Pakete<br />

Erwartet schnellen Aufstieg DPD-Deutschland-Chef Winkelmann<br />

Der 15. Dezember 2013 geht in<br />

die Firmengeschichte ein: 4,6<br />

Millionen Bestellungen trafen<br />

an dem Tag beim deutschen<br />

Ableger des US-Internet-Händlers<br />

Amazon ein, 53 pro Sekunde.<br />

Rekord. Und alle Produkte<br />

verschickt Amazon per Pakete.<br />

Für Paketdienste ein lohnendes<br />

Geschäft, das sich bisher vor allem<br />

die Deutsche Post DHL und<br />

Hermes teilen, pikanterweise<br />

eine Tochter der Hamburger<br />

Versandgruppe Otto. Doch jetzt<br />

bekommen sie Konkurrenz.<br />

Von sofort an liefert auch der<br />

Paketdienst DPD Amazon-<br />

Pakete aus - deutschlandweit<br />

an Premiumkunden.<br />

Neben Amazon konnte<br />

DPD-Deutschland-Chef Boris<br />

Winkelmann zuvor schon die<br />

Online-Händler JustFab.com,<br />

Asos und Home24 als Auftraggeber<br />

gewinnen. „Wir erhoffen,<br />

dass wir durch unsere neuen<br />

Kunden im nächsten Jahr ein<br />

zweistelliges Wachstum<br />

erreichen und damit wieder<br />

schneller wachsen als der<br />

Gesamtmarkt für Pakete“, sagt<br />

Winkelmann. Derzeit kommt<br />

das Aschaffenburger Unternehmen<br />

im deutschen Geschäft mit<br />

Privatkunden nach eigenen Angaben<br />

auf einen Marktanteil<br />

von sieben Prozent.<br />

„Amazon ist mit seiner Größe<br />

ein systemrelevanter Kunde,<br />

das ist ein wichtiges Signal für<br />

den Markt“, sagt Christian Kille,<br />

Logistik-Professor an der Hochschule<br />

Würzburg.<br />

jacqueline.goebel@wiwo.de<br />

+4<br />

+2<br />

0<br />

+4,20<br />

TANKSTELLE<br />

Auftanken am Abend<br />

So schwanken die Benzinpreise im Verlauf eines Tages<br />

(Abweichung <strong>vom</strong> Mittelwert in Cent)*<br />

–2<br />

–4<br />

–4,99<br />

* Untersuchungszeitraum 1.10.2013 bis 30.9.2014 für Super E10; Quelle: ADAC<br />

WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 9<br />

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Menschen der Wirtschaft<br />

PEUGEOT<br />

Gewinn ist<br />

nicht alles<br />

Peugeot Deutschland wird die<br />

Absatzziele 2014 deutlich verfehlen.<br />

Statt wie geplant 76 000<br />

Pkws wird die französische<br />

Marke hier voraussichtlich<br />

nur etwa 54 000 Autos absetzen,<br />

kündigte Geschäftsführer<br />

Marcel de Rycker an. Obwohl<br />

de Rycker der Konzernleitung<br />

in Paris zum Trost für<br />

die enttäuschenden Verkaufszahlen<br />

einen „sehr beeindruckenden<br />

Betrag“ als Gewinn<br />

versprach („Auch dieses Jahr<br />

werde ich abliefern, was im<br />

Budget vorgesehen war.“),<br />

setzte Konzernchef Carlos<br />

Tavares den 52-jährigen Franzosen<br />

ab. Nachfolger wird<br />

Alberic Chopelin.<br />

Zum Verhängnis wurde de<br />

Rycker, dass die Schwestermarke<br />

Citroën die schwierigen<br />

Rahmenbedingungen<br />

besser meisterte und in<br />

Deutschland den Absatz bis<br />

Ende September um fast sechs<br />

Prozent steigerte. Peugeot<br />

hingegen konzentrierte sich<br />

Ende einer Dienstfahrt<br />

Peugeot-Manager de Rycker<br />

auf rentables Geschäft und<br />

nahm Verluste an Marktanteilen<br />

hin. De Rycker: „Wir sind<br />

aus den Tageszulassungen<br />

raus, haben uns aus dem Mietwagengeschäft<br />

zurückgezogen<br />

und Rahmenabkommen<br />

mit Verbänden gekündigt. Wir<br />

sind auf dem richtigen Weg.“<br />

Eine klare Fehleinschätzung.<br />

franz.rother@wiwo.de<br />

Das Interview auf wiwo.de<br />

INTERVIEW Jochen Moninger<br />

»Es drohen enorme<br />

soziale Spannungen«<br />

Der Leiter der Welthungerhilfe in Sierra Leone<br />

befürchtet den wirtschaftlichen Ruin des Landes,<br />

das vor Ebola im Aufschwung war.<br />

Herr Moninger, Sie arbeiten<br />

seit 2010 für die Welthungerhilfe<br />

in Sierra Leone. Mehr als<br />

1200 Menschen sind schon<br />

an Ebola gestorben. Wann wird<br />

die Epidemie gestoppt?<br />

Die Lage ist dramatisch. Es gibt<br />

jeden Tag 40 bis 50 neue Ebola-<br />

Fälle. Wir müssen uns darauf<br />

einstellen, dass die Zahl der<br />

Neuinfizierten bis Ende des Jahres<br />

auf 200 bis 300 pro Tag ansteigt.<br />

Neben der medizinischen<br />

Versorgung der Kranken ist es<br />

daher mindestens genauso<br />

wichtig, die Ansteckungsgefahr<br />

im Land einzudämmen. Wir arbeiten<br />

daher mit Hochdruck an<br />

einer besseren Infrastruktur<br />

und Logistik.<br />

Priorität hat die Aufgabe,<br />

die rund 9000<br />

Kontaktpersonen der<br />

Infizierten ausfindig<br />

zu machen. Aber auf<br />

dem Land gibt es<br />

kaum Telefone, die<br />

Transportmöglichkeiten sind<br />

schlecht.<br />

Wie wirkt sich Ebola auf die<br />

Wirtschaft aus?<br />

Zwischen 19 Uhr abends und 7<br />

Uhr morgens darf kein Motor-<br />

MEHR ZUM THEMA<br />

Weitere Infos, auch<br />

über das Engagement<br />

deutscher Unternehmen,<br />

auf Seite 54,<br />

auf wiwo.de/ebola<br />

und in der App.<br />

DER UNTERSTÜTZER<br />

Moninger, 35, leitet seit 2010<br />

das Aufbauprogramm der Welthungerhilfe<br />

in Sierra Leone,<br />

zuvor war er im Sudan und im<br />

Jemen. Die Hilfsorganisation fördert<br />

355 Projekte in 40 Ländern.<br />

rad-Taxi mehr fahren. Kneipen<br />

müssen um 21 Uhr schließen.<br />

Auch der Handel innerhalb des<br />

Landes wurde eingeschränkt. Es<br />

gibt 13 Distrikte in Sierra Leone.<br />

Fünf davon befinden sich in<br />

Quarantäne. Außerdem hat die<br />

Regierung an jeder Distriktgrenze<br />

einen Checkpoint eingerichtet,<br />

der nur zwischen<br />

9 Uhr morgens und<br />

17 Uhr abends passiert<br />

werden darf. Die<br />

wirtschaftlichen Folgen<br />

sind dramatisch.<br />

Tagsüber dürfen die<br />

Bürger doch fahren?<br />

Normalerweise fahren<br />

Bauern aus dem Nordosten<br />

des Landes ihre Ernte nachts in<br />

die 200 Kilometer entfernte<br />

Hauptstadt Freetown. Diese<br />

Transportwege sind nun abgeschnitten.<br />

Sie müssen ihre Ware<br />

tagsüber transportieren. Aber in<br />

Sierra Leone gibt es keine Kühlketten.<br />

Die Ernte vergammelt,<br />

noch bevor sie in Freetown ankommt.<br />

Auch zusätzliche Übernachtungen<br />

können sich die<br />

Bauern nicht leisten. Der Handel<br />

bricht ein. Gerade jetzt, wo<br />

die Bauern ihre Haupternte einfahren,<br />

ist das eine Katastrophe.<br />

Die Mehrheit der Menschen arbeitet<br />

zudem als Tagelöhner.<br />

Die Leute schleppen am Morgen<br />

Zement und Sandsäcke und<br />

ernähren damit ihre Familien.<br />

Diese Bevölkerung leidet am<br />

meisten. In den Städten kann<br />

das bald zu Hungersnöten führen.<br />

Ebola wirft die Länder um<br />

Jahre zurück.<br />

War Sierra Leone denn vorher<br />

auf dem richtigen Weg?<br />

Die Länder Westafrikas hatten<br />

sich in den letzten Jahren gut<br />

entwickelt. Allein die Wirtschaft<br />

in Sierra Leone wuchs im vergangenen<br />

Jahr zweistellig, beispielsweise<br />

durch den Abbau<br />

von Eisenerz. Internationale<br />

Konzerne investierten in Zuckerplantagen<br />

und Palmölproduktion.<br />

Auch Hotels und der<br />

Bausektor konnten sich entwickeln.<br />

Nach Jahrzehnten des<br />

Bürgerkriegs gab es für die<br />

Menschen Hoffnung, dass es<br />

bergauf geht.<br />

Damit ist es nun vorbei?<br />

Ebola bringt das Land wieder<br />

auf das Nothilfeniveau. Als die<br />

deutsche Welthungerhilfe 2004<br />

ins Land kam, ging es um<br />

Flüchtlingsprobleme und den<br />

Aufbau einer Infrastruktur. In<br />

den letzten zwei bis drei Jahren<br />

haben sich bereits semiprofessionelle<br />

Wirtschaftsstrukturen<br />

entwickelt, zum Beispiel wie<br />

Betriebe ihren Kakao- und Kaffeeanbau<br />

effizienter machen.<br />

Selbst für erneuerbare Energien<br />

entwickelte sich ein Potenzial.<br />

Doch wegen Ebola sind die<br />

Schulen geschlossen. 1,6 Millionen<br />

Kinder und Jugendliche<br />

verlieren ein ganzes Schuljahr.<br />

Es drohen soziale Spannungen<br />

enormen Ausmaßes.<br />

christian.schlesiger@wiwo.de,<br />

florian willershausen<br />

FOTOS: CARO/SPIEGL, PR<br />

10 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Menschen der Wirtschaft<br />

RESTRUKTURIERUNG<br />

SAP forciert<br />

Stellenabbau<br />

Der geplante Stellenabbau bei<br />

SAP in Deutschland geht in<br />

die entscheidende Phase: Seit<br />

Mitte Oktober führen SAP-<br />

Manager sogenannte „Kontaktgespräche“<br />

mit ausgewählten<br />

Mitarbeitern. Das Ziel sei, die<br />

Betroffenen zum freiwilligen<br />

Ausscheiden zu bewegen, heißt<br />

es aus Kreisen des Betriebsrats.<br />

SAP will rund 300 der knapp<br />

20 000 deutschen Arbeitsplätze<br />

abschaffen.<br />

Das ist Teil der Restrukturierung,<br />

die Konzernchef Bill<br />

McDermott verordnet hat. Er<br />

will SAP stärker auf das Cloud-<br />

Geschäft ausrichten.<br />

Dem Vernehmen nach sind<br />

in Deutschland vor allem Mitarbeiter<br />

in der Verwaltung betroffen;<br />

die Entwicklungsabteilung<br />

bleibt dagegen ausgenommen.<br />

Überproportional trifft es angeblich<br />

das Personalwesen sowie<br />

das Risikomanagement im<br />

Finanzbereich. „Es finden derzeit<br />

Gespräche mit Mitarbeitern<br />

statt, deren Aufgabenprofil in<br />

Zukunft nicht mehr weitergeführt<br />

wird“, teilt SAP auf Anfrage<br />

mit. Ob der Konzern Aufhebungsverträge<br />

anstrebt und um<br />

welche Bereiche es geht, will er<br />

nicht erläutern.<br />

michael.kroker@wiwo.de<br />

TOP-TERMINE VOM 27.10. BIS 02.11.<br />

27.10. Konjunktur Das ifo Institut präsentiert am Montag<br />

den Geschäftsklimaindex für Oktober; im September<br />

war er von 106,3 auf 104,7 Punkte gesunken.<br />

Das war der niedrigste Wert seit April 2013.<br />

28.10. Datenspeicherung Der Bundesgerichtshof entscheidet<br />

am Dienstag über die Speicherung von<br />

IP-Adressen. Der schleswig-holsteinische Landtagsabgeordnete<br />

Patrick Breyer von der Piratenpartei<br />

hat dagegen geklagt, dass die Bundesministerien<br />

von Nutzern ihrer Web-Seiten die<br />

IP-Adressen speichern.<br />

Steuerhinterziehung In Berlin konferieren die Finanzminister<br />

mehrerer Staaten zwei Tage lang<br />

über den automatischen Informationsaustausch in<br />

Steuersachen. Zum Abschluss unterzeichnen die<br />

Politiker ein Steuerabkommen.<br />

TUI Die Aktionäre des deutschen Reisekonzerns<br />

stimmen in einer außerordentlichen Hauptversammlung<br />

darüber ab, ob er mit dem britischen<br />

Touristikkonzern<br />

TUI Travel fusionieren<br />

darf.<br />

29.10. Geldpolitik Die US-Notenbank berät am Mittwoch<br />

über die Geldpolitik. Der Leitzins liegt auf einem<br />

historischen Tief von null bis 0,25 Prozent.<br />

30.10. Arbeitsmarkt Die Bundesagentur für Arbeit veröffentlicht<br />

am Donnerstag die neuen Arbeitslosenzahlen.<br />

Im September sank die Zahl der Erwerbslosen<br />

um 94 000 auf 2,8 Millionen. Die saisonbereinigte<br />

Quote beträgt 6,7 Prozent, in keinem<br />

anderen EU-Land ist sie so niedrig.<br />

31.10. EU-Wirtschaft Eurostat informiert am Freitag<br />

über die Entwicklung der Preise im Euro-Raum<br />

und über den Arbeitsmarkt in der EU.<br />

ONLINE-WERBUNG<br />

Verfolgung<br />

optimiert<br />

Egal, ob der Nutzer am Computer<br />

nach Hotels oder Handtaschen<br />

sucht, geht er kurz darauf<br />

auf andere Web-Seiten, ploppt<br />

dort Werbung für genau diese<br />

Produkte auf. Verantwortlich<br />

dafür ist oft Jean-Baptiste<br />

Rudelle, Chef und Gründer<br />

von Criteo. Das börsennotierte<br />

französische Unternehmen ist<br />

einer der Vorreiter und größten<br />

Anbieter für diese Technologie,<br />

genannt Re-Targeting.<br />

Auch wenn sich viele Nutzer<br />

dadurch überwacht fühlen,<br />

stieß die Technik bisher an<br />

Grenzen: Sie funktionierte nur<br />

an ein und demselben Computer.<br />

Doch künftig taucht Werbung<br />

für Hotels, die sich ein<br />

Nutzer zu Hause am PC angesehen<br />

hat, auch auf dessen<br />

Smartphone, Tablet oder Büro-<br />

Rechner auf. „Solche geräteübergreifende<br />

Werbung wird<br />

immer wichtiger“, sagt Eric<br />

BESTE FABRIK<br />

Polo aus<br />

Pamplona<br />

Eigentlich ist das malerische<br />

Städtchen im Nordosten<br />

Spaniens für seine Stierhatz<br />

bekannt – nun auch als Standort<br />

herausragender industrieller<br />

Produktion: Das Volkswagen-Werk<br />

in Pamplona ist<br />

Europas bestgeführte Fabrik.<br />

Ausgezeichnete Leistung VW-Werksleiter Busche<br />

Hier produziert der Autokonzern<br />

den Polo; die Produktivität<br />

der Mitarbeiter ist in den vergangenen<br />

Jahren um 30 Prozent<br />

gestiegen. „Management und<br />

Arbeiter haben trotz widriger<br />

Umstände die Produktivität<br />

deutlich erhöht“,<br />

begründete<br />

WHU-Professor<br />

und Jurymitglied<br />

Arnd<br />

Huchzermeier<br />

die Wahl auf<br />

der Preisverleihung in Weimar.<br />

Basis des Erfolgs: ein langfristiger<br />

Haustarifvertrag, der dem<br />

Werksleiter Cord Busche in Abstimmung<br />

mit den Gewerkschaften<br />

mehr Flexibilität beim Einsatz<br />

der Arbeiter beschert und<br />

den 4400 Mitarbeitern Beschäftigung<br />

und Inflationsausgleich<br />

garantiert. Ausgerichtet wird<br />

der Wettbewerb von der<br />

WirtschaftsWoche gemeinsam<br />

mit Business<br />

Schools wie der<br />

WHU und Insead.<br />

manfred.engeser@wi-<br />

Ihm entkommt kein Nutzer<br />

Criteo-Chef Rudelle<br />

Eichmann, der bei Criteo das<br />

Tagesgeschäft leitet. Die Technologie<br />

dafür stellen die Franzosen<br />

in Kürze ihren Werbekunden<br />

zur Verfügung. Das<br />

Unternehmen reagiert damit<br />

auch auf den jüngsten Vorstoß<br />

von Facebook, denn die Werbeplattform<br />

Atlas überwindet<br />

ebenfalls Gerätegrenzen.<br />

oliver.voss@wiwo.de<br />

FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/DPA, LAIF/REA<br />

12 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Menschen der Wirtschaft<br />

CHEFSESSEL<br />

START-UP<br />

TOTAL<br />

Patrick Pouyanné, 51<br />

übernimmt nach dem Unfalltod<br />

von Christophe de<br />

Margerie, 63, die Führung<br />

des drittgrößten europäischen<br />

Ölkonzerns. Zunächst<br />

auf Bewährung: Anders als<br />

de Margerie rückt der bisherige<br />

Raffineriechef nur an die<br />

Spitze des Vorstands, übernimmt<br />

aber nicht zusätzlich<br />

den Vorsitz des Verwaltungsrats.<br />

Den lenkt bis Ende 2015<br />

der frühere Total-Präsident<br />

Thierry Desmarest, 68.<br />

Schwierig ist die Aufgabe für<br />

Pouyanné auch so. Die Raffinerien<br />

in Frankreich sind<br />

überdimensioniert. Einige<br />

riskante Explorationsbohrungen<br />

brachten nicht das<br />

erhoffte Ergebnis. Total reduziert<br />

deshalb Investitionen<br />

und Kosten. Gleichzeitig<br />

soll der neue Chef das Erbe<br />

de Margeries fortsetzen: 15<br />

Projekte von der Gasverflüssigung<br />

über die Förderung<br />

von Schiefergas bis hin zu<br />

Tiefwasserbohrungen.<br />

BASF<br />

Sanjeev Gandhi, 47, zieht<br />

zum 1. Dezember in den Vorstand<br />

des weltgrößten Chemiekonzerns<br />

ein. Der gebürtige<br />

Inder, der Abschlüsse in<br />

Chemie und Marketing vorweist,<br />

zeichnet dann <strong>vom</strong> 1.<br />

Mai an für das Asien-Geschäft<br />

von BASF verantwortlich. Dafür<br />

wird der bisherige Asien-<br />

Vorstand Martin Brudermüller,<br />

53, nach Ludwigshafen<br />

wechseln. Der Stellvertreter<br />

von Konzernchef Kurt Bock,<br />

56, kümmert sich nach der<br />

Hauptversammlung am 30.<br />

April kommenden Jahres vor<br />

allem um das Forschungsressort<br />

der BASF. Der bisherige<br />

Forschungschef Andreas Kreimeyer,<br />

59, tritt nach dem Aktionärstreffen<br />

seinen Ruhestand<br />

an. Kreimeyer war zwölf<br />

Jahre im BASF-Vorstand.<br />

REDCOON<br />

Martin Sinner, 47, Mitgründer<br />

des Preisvergleichsportals<br />

Idealo, wird am 1. November<br />

Chef des Online-Händlers, den<br />

Media-Saturn, Europas größter<br />

Elektronikfilialist, 2011 gekauft<br />

hat. Bisher leitet Georg W.<br />

Mehring, 48, Redcoon, er übernimmt<br />

bei Media-Saturn einen<br />

anderen Job. Sinner soll mit der<br />

eigens dafür eingerichteten<br />

Tochterfirma Electronics Online<br />

Group mehrere auf bestimmte<br />

Produkte spezialisierte Online-<br />

Shops aufbauen.<br />

SOMMERZEIT<br />

2200 Bürger<br />

nur haben bisher die Petition unterschrieben, die Bayerns Wirtschaftsministerin<br />

Ilse Aigner (CSU) im Frühjahr initiiert hatte: „Ja<br />

zur dauerhaften Sommerzeit“. Die halbjährliche Zeitumstellung<br />

verursache einen „Mini-Jetlag“, vor allem bei Kindern und Kühen,<br />

so Aigner damals. Jetzt will sie eine EU-Initiative starten.<br />

PAGIDO<br />

Schnelles Geld für Freiberufler<br />

Wochenlang hatte David Harnasch (Mitte) gewartet, bis seine<br />

Rechnungen bezahlt wurden. „Das ist nicht nur nervig, sondern<br />

im schlimmsten Fall sogar existenzbedrohend“, sagt der Journalist.<br />

Freischaffende kennen das Problem: Sie arbeiten stets auf<br />

Rechnung. Bis die beglichen ist, vergehen oft Wochen.<br />

Damit Selbstständige nicht in finanzielle Not geraten, hat Harnasch<br />

mit dem Ex-Banker Ulrik Deichsel (links) und dem IT-<br />

Berater Florian Höppner (rechts) das Start-up Pagido gegründet.<br />

Freiberufler können dort ihre Rechnung einreichen und erhalten<br />

binnen zwei Tagen 80 Prozent der Forderung. Die Berliner kümmern<br />

sich um die Korrespondenz mit dem Auftraggeber und die<br />

Abwicklung der Zahlung. Sobald die Rechnung beglichen wurde,<br />

bekommt der Freelancer weitere 15 Prozent, die restlichen fünf<br />

Prozent behält Pagido. Für dieses sogenannte Factoring kooperiert<br />

das Start-up mit Spezialisten wie CreFo Factoring Stuttgart,<br />

die für den Forderungsverkauf von der BaFin zugelassen sind.<br />

Die Nachfrage überrascht das Start-up, denn neben Journalisten<br />

oder Fotografen melden sich Headhunter, Pflegedienste und<br />

sogar Blumenhändler.<br />

Fakten zum Start<br />

Team derzeit 5 Mitarbeiter<br />

Finanzierung von Axel Springer<br />

Plug and Play, Uwe Horstmann<br />

(Project-A-Gründer) und Johannes<br />

von Borries 100 000 Euro<br />

Kunden bisher über 100 Nutzer<br />

„Es gibt einen viel höheren<br />

Bedarf unter Freelancern,<br />

als wir angenommen<br />

hatten“, sagt<br />

Harnasch. Ihr Angebot<br />

wollen sie nun schnellstmöglich<br />

auch für diese<br />

Branchen optimieren.<br />

marc etzold, mdw@wiwo.de<br />

FOTOS: MYOP DIFFUSION/ED ALCOCK, KEYSTONE/VOLKMAR SCHULZ<br />

14 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Menschen der Wirtschaft | Chefbüro<br />

Kai Wilhelm<br />

Chef des Modevertriebs K&W Holding<br />

Zwischen Tastentelefon und<br />

Ledertasche liegen Geschäftsbriefe,<br />

Modebroschüren und<br />

die neuesten Skizzen der Frühjahrskollektion.<br />

„Das Chaos<br />

hat System“, versichert Kai<br />

Wilhelm, 50, Gesellschafter<br />

und Chef des Modevertriebes<br />

K&W Holding und damit Herr<br />

über die Modemarken Kitaro,<br />

Barbara Becker, St. Moritz und<br />

Jacky Ickx. Den Überblick verliert<br />

der diplomierte Handelsfachwirt<br />

selten, denn das kreative<br />

Durcheinander beschränkt<br />

sich auf den Schreibtisch in seinem<br />

knapp 40 Quadratmeter<br />

großen Büro in Mönchengladbach.<br />

Unter dem Dach einer<br />

ehemaligen Weberei laufen<br />

die Fäden der Holding<br />

zusammen, die<br />

er 2013 in Düsseldorf<br />

gegründet hat und<br />

die heute etwa 40 Mitarbeiter<br />

beschäftigt.<br />

Rund 15 Millionen<br />

Euro setzte das Unternehmen<br />

2013 um. In<br />

diesem Jahr soll der<br />

360 Grad<br />

In unseren App-<br />

<strong>Ausgabe</strong>n finden<br />

Sie an dieser<br />

Stelle ein interaktives<br />

360°-Bild<br />

Umsatz noch einmal um bis zu<br />

drei Millionen Euro zulegen.<br />

Angestrebt werden in den kommenden<br />

fünf Jahren 100 Millionen<br />

Euro. Dabei hofft Wilhelm<br />

auch auf die junge Marke Barbara<br />

Becker, initiiert von der<br />

früheren Frau des ehemaligen<br />

Tennisidols Boris Becker, die<br />

inzwischen als Designerin arbeitet.<br />

Im nächsten<br />

Frühjahr will der gebürtige<br />

Düsseldorfer<br />

sein Angebot erneut<br />

erweitern. Dann<br />

offeriert er auch das<br />

neue Herren-Label<br />

John Bradley, allerdings<br />

exklusiv im<br />

Teleshop-Sender<br />

QVC. Unaufdringlich ist Wilhelms<br />

Büro ausstaffiert. Konferiert<br />

wird an einem langen<br />

Glastisch. An den Wänden hängen<br />

Plakate seiner Werbeträger,<br />

des ehemaligen belgischen<br />

Formel-1-Piloten Jacky Ickx<br />

und von Barbara Becker. Direkt<br />

hinter dem Schreibtisch lächelt<br />

das Konterfei von Marilyn<br />

Monroe. „Es ist leider kein Original“,<br />

sagt Wilhelm über den<br />

Kunstdruck des amerikanischen<br />

Pop-Art-Künstlers Roy<br />

Lichtenstein. Echt ist hingegen<br />

das Foto auf dem Schreibtisch.<br />

Es zeigt den Modemanager im<br />

Superman-Outfit an seinem<br />

50. Geburtstag.<br />

ulrich.groothuis@wiwo.de<br />

FOTO: DOMNIK PIETSCH FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

16 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

Verrat an der Zukunft<br />

WIRTSCHAFTSPOLITIK | Die schwarze Null, die Bundeskanzlerin Angela Merkel<br />

so tapfer verteidigt, ist nicht „alternativlos“, Haushaltskonsolidierung<br />

und mehr Investitionen sind kein Widerspruch. Was fehlt, sind kluge Reformen<br />

und eine mutigere Politik.<br />

Der kleine silberne Würfel auf<br />

dem Arbeitstisch ist ein Beruhigungsmittel<br />

der besonderen<br />

Art. Wenn die Lage<br />

heikel wird, kann Angela<br />

Merkel ihn zur Hand nehmen, ihn drehen<br />

und wenden, wie sie es mit jedem<br />

Problem tut, während sie die richtige Lösung<br />

für ihre Zukunft und die des Landes<br />

sucht. Die sechs Seiten von Muttis kleinem<br />

Helfer sagen der Kanzlerin immer<br />

wieder, was sie nach neun Jahren an der<br />

Macht – und 15 weiteren auf dem Weg<br />

dorthin – längst verinnerlicht hat: „In –<br />

der – Ruhe – liegt – die – Kraft.“<br />

Ein Leitspruch, dem sich die mächtigste<br />

Frau Europas nicht nur selbst unterwirft.<br />

Im ganzen Land soll es ohne Aufwallungen<br />

laufen, denn das sichert ihre<br />

Regentschaft. Für die Wähler hat Kanzlerin<br />

Merkel Entspannendes zusammengewürfelt:<br />

Die Normalbürger bekommen<br />

Sozialleistungen, für Wirtschaftsinteressierte<br />

und Unternehmer stellt sie einen<br />

Bundeshaushalt ohne neue Schulden ins<br />

Schaufenster.<br />

Die schwarze Null ist das ökonomische<br />

Feigenblatt der Merkel’schen Politik: das<br />

Symbol für Solidität, Zukunftsvorsorge<br />

und wirtschaftliche Vernunft, das die<br />

Blöße im Koalitionsvertrag verdecken<br />

soll. Denn der garantiert vor allem die<br />

Auslieferung jener vermeintlichen Wohltaten,<br />

die Union und SPD im Wahlkampf<br />

versprochen hatten. Einen vergleichbaren<br />

Elan, Investitionen zu steigern und<br />

die Rahmenbedingungen für Wachstum<br />

zu verbessern, legt Merkels Truppe dagegen<br />

nicht an den Tag. Machterhalt top,<br />

Wirtschaftspolitik flop.<br />

Die Wirtschaftsforschungsinstitute haben<br />

die Bundesregierung bereits als<br />

Wachstumsbremse ausgemacht. „Wir<br />

produzieren weniger, als eigentlich möglich<br />

wäre, und wir haben eine Investitionslücke.<br />

Das ist genau die Situation, in<br />

der der Staat einspringen müsste“, sagt<br />

Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen<br />

Instituts für Wirtschaftsforschung<br />

(DIW). „Nicht mit einem Konjunkturprogramm<br />

für ein, zwei Quartale, sondern<br />

mit staatlichen Investitionen – beispielsweise<br />

in Verkehrsprojekte – und<br />

mit Anreizen für mehr private Investitionen.<br />

Die Bundesregierung könnte hier 15<br />

bis 20 Milliarden Euro ausgeben, ohne<br />

die Schuldenbremse zu verletzen.“ Sein<br />

Fazit: „Da ist die schwarze Null ein fatales<br />

Signal für die deutschen Unternehmen<br />

und die europäischen Nachbarn.“<br />

Auch aus dem Ausland prasselt die<br />

Kritik massiv in die Pressemappen von<br />

Regierungssprecher Steffen Seibert.<br />

Merkels Mann fürs Beschwichtigen<br />

konnte dieser Tage in der Pariser „Libération“<br />

lesen, Deutschland könnte sich<br />

angesichts der Rezession und des „französischen<br />

Drucks“ von der Haushaltsdisziplin<br />

verabschieden. Die spanische „El<br />

País“ schimpft: „Die Politik der absoluten<br />

Sparsamkeit bringt die Euro-Zone an<br />

den Rand der wirtschaftlichen Stagnation<br />

– wenn nicht der Rezession. Aber diese<br />

Diagnose prallt an der deutschen Orthodoxie<br />

ganz einfach ab.“ Der „Economist“<br />

trommelt schon seit Monaten für<br />

ein deutsches Konjunkturprogramm:<br />

„Bauen Sie ein paar Brücken und Straßen,<br />

Frau Merkel“, forderte er von den<br />

„torkelnden Teflon-Teutonen“, die (endlich?)<br />

auch verwundbar sind. Für die<br />

Nachbarn ist die promovierte Physikerin<br />

Merkel eine Frau Dr. Seltsam, die es lernte,<br />

die schwarze Null zu lieben.<br />

Früher, während des Aufstiegs in der<br />

CDU, da hat sie sich noch über Anfeindungen<br />

geärgert. Wenn die Fraktionskollegen<br />

sie in biermutigen Männerrunden<br />

„Zonenwachtel“ schimpften. Das hat die<br />

Einsame damals verletzt, aber auch hart<br />

gemacht. Heute nimmt sie Attacken, die<br />

sie nicht verhindern kann, nur kühl zur<br />

Kenntnis: „Kann man halt nüscht machen.“<br />

Zeit verschwendet sie darauf nicht.<br />

Zumal die Angriffe innenpolitisch<br />

nützlich sind: Der Neid der Nachbarn<br />

lässt die Leistung der Kanzlerin heller<br />

strahlen, als sie ist – schließlich lebt<br />

Deutschland von der Substanz und den<br />

Erfolgen der Schröder-Reformen. Die<br />

bislang zelebrierte Standhaftigkeit verstärkt<br />

zudem noch den sedierenden<br />

Nimbus der Kanzlerin, bei Mutti Merkel<br />

sei schon alles in guten und sicheren<br />

»<br />

FOTO: MARC-STEFFEN UNGER<br />

18 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Politik der kleinen Schritte<br />

Unter dauernder Beobachtung<br />

wagt Bundeskanzlerin<br />

Angela Merkel keine<br />

durchgreifenden Reformen<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

INTERVIEW Michael Heise<br />

»Frankreich ist Vorbild«<br />

Der Chefvolkswirt der Allianz über Vor- und Nachteile öffentlich privater<br />

Partnerschaften (ÖPP) und den Wunsch garantierter Renditen.<br />

Herr Heise, dem Staat fehlt Geld für Zukunftsinvestitionen,<br />

Versicherungen wie<br />

die Allianz würden gerne in die Bresche<br />

springen. Was interessiert Sie an Investitionen<br />

in Tunnel und Brücken?<br />

Investitionen in Infrastrukturprojekte<br />

bieten für alle Beteiligten Vorteile: Die<br />

Gesellschaft profitiert von besserer Infrastruktur,<br />

die Wirtschaft <strong>vom</strong> Investitionsschub,<br />

der Steuerzahler von geringeren<br />

Staatsschulden. Unsere Kunden – für die<br />

wir das Geld anlegen – benötigen eine sichere<br />

und gute Rendite über längere<br />

Zeiträume von 20 bis 30 Jahren. Bis zu<br />

sechs Milliarden Euro kämen zusammen,<br />

wenn die Allianz den Anteil an Infrastrukturausgaben<br />

um nur einen Prozentpunkt<br />

erhöhen würde.<br />

Was finanzieren Sie am liebsten: Straßen,<br />

Schienen oder Schulen?<br />

Das ist nebensächlich. Wir investieren<br />

bevorzugt in Großprojekte, weil die<br />

Transaktionskosten, also die <strong>Ausgabe</strong>n<br />

zum Beispiel für Wirtschaftsprüfer und<br />

Anwälte, dort weniger ins Gewicht fallen.<br />

Interessant sind also der Aus- und<br />

Neubau von Straßen, Tunneln, Brücken<br />

und Flughäfen. Auch erneuerbare Energien<br />

sind spannend. Wir können uns<br />

vorstellen, noch stärker den Ausbau von<br />

Stromtrassen, Solarparks und Windrädern<br />

mitzufinanzieren.<br />

DER STRASSENBAUER<br />

Heise, 58, ist Chefökonom der Allianz<br />

Gruppe. Zuvor war er bei der DZ Bank und<br />

der DG Bank sowie Generalsekretär des<br />

Sachverständigenrates zur Begutachtung<br />

der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.<br />

Welche Rendite erwarten Sie bei ÖPP?<br />

Das hängt davon ab, wie viel Risiko wir<br />

übernehmen. Wenn die Erträge beim<br />

Autobahnausbau von der zukünftigen<br />

Anzahl der Kraftfahrzeuge abhängen,<br />

erwarten wir eine höhere Rendite, als<br />

wenn wir nur die Verfügbarkeit der Straße<br />

garantieren müssen. Die Spanne der<br />

Projekte ist groß. Auch über garantierte<br />

Renditen sollte man nachdenken.<br />

Berlin soll den roten Teppich ausrollen?<br />

Nein, darum geht es nicht. Aktuell sind<br />

die Renditen auf dem Kapitalmarkt gering.<br />

Eine Renditegarantie wäre ein Weg,<br />

um Kapital zu mobilisieren. Aber auch<br />

der Staat könnte profitieren, wenn die<br />

Rendite nach oben gedeckelt würde.<br />

Sehr hohe Renditen bei ÖPP könnten<br />

dann an den Steuerzahler zurückfließen.<br />

Der Staat kann sich billiger finanzieren.<br />

Das ist derzeit richtig, berücksichtigt<br />

aber nur einen kleinen Teil der Infrastrukturkosten.<br />

Man muss sehen, dass<br />

der Staat Risiken an private Investoren<br />

überträgt, etwa Planungsrisiken, Erstellung<br />

der Objekte und laufende Instandhaltung.<br />

Kritiker unterschätzen das.<br />

Denken Sie an den Flughafen BER. Die<br />

Milliardenkosten zahlt der Steuerzahler.<br />

Wie kann der Staat ÖPP stärken?<br />

Zunächst hilft eine sachliche Debatte<br />

über Vor- und Nachteile von solchen<br />

Projekten. Hier ist bereits einiges geschehen.<br />

Der Staat müsste auch über ÖPP-<br />

Projekte offener informieren. Zudem<br />

sollte er Genehmigungs- und Vergabeverfahren<br />

verschlanken und beschleunigen.<br />

Das hilft auch, Geld zu sparen.<br />

Hilft ein Blick ins Ausland?<br />

Ja. Frankreich ist Vorbild. Bei aller Kritik<br />

an der Wirtschaftspolitik: Die Verkehrsinfrastruktur<br />

ist beeindruckend. Frankreich<br />

hat etwa die Autobahnen überwiegend<br />

über ÖPP finanziert. Nach<br />

Konzessionslaufzeiten von 25 bis 35 Jahren<br />

fallen sie wieder in den öffentlichen<br />

Besitz zurück. Die Nutzung der Autobahnen<br />

ist möglicherweise etwas teurer,<br />

aber die Qualität ist besser.<br />

christian.schlesiger@wiwo.de | Berlin<br />

„Economist“:<br />

„Bauen Sie<br />

Brücken und<br />

Straßen, Frau<br />

Merkel“<br />

„Libération“:<br />

Deutschland<br />

verabschiedet sich<br />

unter Frankreichs<br />

Druck von der<br />

Haushaltsdisziplin<br />

»<br />

Händen. Der deutsche Michel schläft selig<br />

im Schatten der Raute.<br />

Ökonomisch und politisch ist ein Bundeshaushalt<br />

ohne neue Schulden richtig.<br />

Viel zu lange, seit 45 Jahren, hat Deutschland<br />

stets zusätzliche Kredite aufgenommen<br />

– ein gigantisches Konjunkturprogramm<br />

auf Pump. Seit Kurt Georg Kiesinger<br />

1969 – ebenfalls in einer großen Koalition –<br />

haben alle Kanzler einen Schuldenberg von<br />

zwei Billionen Euro aufgehäuft.<br />

Merkel hat ein Land, ein ganzes System<br />

pleitegehen sehen, das mehr konsumierte,<br />

als es produzierte. „Man muss doch infrage<br />

stellen, ob wir beständig weniger einnehmen<br />

können, als wir ausgeben“, zieht die Regierungschefin<br />

die verbale Schuldenbremse.<br />

Damit die Mahnung international wirkt,<br />

will Merkel die Null nicht aus der Hand geben.<br />

Auch wenn weder Grundgesetz noch<br />

Maastricht-Vertrag einen völligen Kreditverzicht<br />

vorschreiben. Allerdings verlangt der<br />

europäische Stabilitätspakt einen Schuldenstand<br />

von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts;<br />

derzeit liegt Deutschland bei rund<br />

77 Prozent. Vertragstreu wird auch die Bundesrepublik<br />

nur durch die Kombination von<br />

Sparsamkeit und Wachstum.<br />

Der Haushalt ohne neue Schulden ist in<br />

der Tat „alternativlos“ – Merkels Variante<br />

von Gerhard Schröders „basta“. Aber er ist<br />

kein Widerspruch zu mehr Investitionen.<br />

50 Milliarden Euro für zusätzliche Investitionen<br />

verlangte ausgerechnet der französische<br />

Wirtschaftsminister Emmanuel Macron<br />

von den Deutschen. Sein SPD-Kollege<br />

Sigmar Gabriel sagte nach dem Treffen,<br />

FOTO: ARGUM/THOMAS EINBERGER<br />

20 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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„Nouvel Observateur“<br />

Premier<br />

Valls drängt Kanzlerin<br />

Merkel zu<br />

mehr Investitionen<br />

„Libero“ Renzi<br />

zahlt nicht,<br />

Merkel stellt<br />

Strafzettel aus<br />

Deutschland habe „schon selbst festgestellt“,<br />

dass es den von der OECD angepeilten<br />

Investitionsanteil von 20 Prozent des<br />

Bruttoinlandsprodukts um etwa drei Punkte<br />

verfehlt. Diese „entsprechen ungefähr“ jenem<br />

50-Milliarden-Wunsch aus Paris.<br />

Es gibt ein ganzes Bündel von Möglichkeiten,<br />

Straßen zu flicken, das Internet flott<br />

zu machen, Schulen und Hochschulen zu<br />

verbessern – ohne schon wieder neue Kredite<br />

aufzunehmen. Mit Kreativität und wirtschaftlicher<br />

Planung – nicht Planwirtschaft<br />

– ließen sich Milliarden mobilisieren.<br />

Etliche stehen jedes Jahr im Etat – und<br />

fließen nicht ab. Im Schnitt rund zwei Milliarden<br />

Euro können die Ministerien gar<br />

nicht ausgeben, weil Planung oder Genehmigung<br />

stocken. Auch die Deutsche Bahn,<br />

immer noch in Staatsbesitz, parkt immer etwas<br />

Baugeld auf dem Abstellgleis – es fehlen<br />

die Ingenieure, die neue Trassen- oder<br />

Bahnhofsprojekte vorantreiben könnten.<br />

Zudem beweisen die Haushaltspolitiker<br />

im Parlament jedes Jahr, dass sich aus dem<br />

Plan des Finanzministers noch ein paar Milliarden<br />

herausstreichen lassen. Das reicht<br />

von Rüstungskäufen in dreistelliger Millionenhöhe,<br />

deren rechtfertigendes Bedrohungsszenario<br />

längst überholt ist, bis zu jener<br />

Million Euro an Gehaltszulagen, die die<br />

Rechnungsprüfer beim Deutsch-Französischen<br />

Jugendwerk monieren.<br />

Viel wichtiger freilich ist es, private Geldgeber<br />

für den Bau von Straßen, Schienen<br />

oder Brücken zu begeistern. Das scheitert<br />

meist noch an rechtlichen Unsicherheiten<br />

oder den Renditeerwartungen der Investoren<br />

(siehe Interview). Wegen deren Gewinn<br />

wird der Bau zunächst teurer – dafür aber<br />

liegt das Risiko nicht beim Staat, und er<br />

muss nicht die Verschuldung erhöhen.<br />

Seit Jahren hofft die Wirtschaft auf Steuererleichterungen<br />

für Forschung und Entwicklung.<br />

Einerseits sind da Mitnahmeeffekte<br />

garantiert, andererseits ist technische<br />

Innovation die zentrale Chance für den<br />

Standort Deutschland. Um zusätzliche Investitionen<br />

generell verlockender zu machen,<br />

könnte der Fiskus auch die steuersenkenden<br />

Abschreibungen erhöhen. Der sofortige<br />

Steuerrabatt kostet zwar Geld, refinanziert<br />

sich aber durch den Wachstumsimpuls<br />

zu großen Teilen selbst. Doch auch<br />

da sieht es mit der Bundesregierung düster<br />

aus. „Die degressive AfA dauerhaft, das ist<br />

jenseits dessen, was ich ihnen zusagen<br />

kann“, bremst Finanzminister Wolfgang<br />

Schäuble (CDU) zu große Erwartungen.<br />

Wobei das „dauerhaft“ zumindest einen<br />

kleinen Hoffnungsschimmer erlaubt.<br />

ÜBERHOLEN, OHNE EINZUHOLEN<br />

In Merkels Heimat DDR, Klein-Angela war<br />

gerade fünf Jahre alt, spotteten die Bürger<br />

über Walter Ulbrichts Parole „Überholen,<br />

ohne einzuholen“. Bei Merkel heißt es: beschleunigter<br />

Stillstand. Nichts anderes bot<br />

der nun schon achte Nationale IT-Gipfel der<br />

Bundesregierung. Gleich sechs Minister liefen<br />

hinter der Kanzlerin in Hamburg auf,<br />

um Fortschritt und Wachstum der Informationstechnik<br />

hierzulande zu beschwören.<br />

Leider ist das bislang so erfolgreich wie das<br />

Besprechen von Warzen.<br />

Seit der Premiere unter Merkel im Jahr<br />

2006 reden Politik und Wirtschaft über den<br />

Rückstand des ewig Gleichen: Das Netz<br />

muss schneller werden, die Signale müssen<br />

über Leitung oder Satellit noch im letzten<br />

Eifeldorf zu empfangen sein, es fehlen Programmierer<br />

und andere Fachkräfte. Viel<br />

Fortschritt ist nicht zu verzeichnen, von der<br />

Gestaltung des digitalen gesellschaftlichen<br />

Wandels ganz zu schweigen.<br />

Jetzt, wo die Wachstumsraten zusammenschrumpeln,<br />

müsste sie mit einer Reformagenda<br />

Aufbruchsstimmung erzeugen.<br />

Doch bei Angela Merkel gibt es nicht Opium<br />

fürs Volk, sondern Valium. Die Bürger sollen<br />

nicht berauscht sein von der Regierungspolitik,<br />

nur beruhigt.<br />

Merkel erntet gern die Früchte der Agenda<br />

2010, die Schröder den Jobverlust und ihr<br />

die Macht brachte. „Bei uns war die Arbeitsmarktreform<br />

auch nicht einfach durchzusetzen“,<br />

erinnerte sie beim „Cicero“-Foyergespräch.<br />

Doch sie leitet daraus nur eine<br />

»<br />

WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 21<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

Mutti ist Rentners Liebling Konsum statt Zukunftsvorsorge prägt den Koalitionsvertrag<br />

»<br />

weitere Mahnung an die Nachbarn ab,<br />

nicht einen immerwährenden Auftrag für<br />

weitere Reformen an die eigene Adresse.<br />

Dabei müssten die gar nicht die schwarze<br />

Null gefährden. Der Kampf gegen den Paragrafendschungel<br />

ist so ein Wundermittel,<br />

das nichts kostet. „Wir haben versucht, Bürokratie<br />

abzubauen“, sagt Merkel. Doch Mühe<br />

allein genügt nicht. Der Normenkontrollrat<br />

bescheinigt der Koalition das Scheitern:<br />

Um satte 9,2 Milliarden Euro ist die Belastung<br />

der Wirtschaft binnen Jahresfrist gestiegen,<br />

haben Steuerzahlers Mess-Diener<br />

ermittelt. Hauptgrund: der Mindestlohn.<br />

Natürlich könnte die Koalition all jene<br />

Wohltaten wieder einkassieren oder zumindest<br />

auf Eis legen. Den flächendeckenden<br />

Mindestlohn, der in der Boomregion<br />

München genauso hoch sein muss wie im<br />

darbenden Mecklenburg. Die Rente mit 63,<br />

die einer kleinen Klientel erlaubt, vorzeitig<br />

ohne Abschläge in den Ruhestand zu gehen.<br />

Zielgenauer wäre es gewesen, die Erwerbsunfähigkeitsrente<br />

aufzubessern, um<br />

ausgebrannte Mitarbeiter auf das verdiente<br />

Altenteil zu entlassen. Stattdessen gehen<br />

gerade Mittelständlern gefährlich viele erfahrene<br />

Fachkräfte verloren. Begründet<br />

nicht Merkel die schwarze Null damit, sie<br />

sei „der beste Beitrag zur Generationengerechtigkeit“,<br />

weil „der Schuldenberg wenigstens<br />

nicht weiter wächst“? Die Rentenkasse<br />

bis zum Jahr 2030 nicht mit weiteren<br />

160 Milliarden Euro zu belasten schüfe<br />

mindestens so viel Zukunftsvertrauen.<br />

Nun kommt die Pflegezeit hinzu, die Mitarbeitern<br />

erlaubt, bis zu zehn Tage bezahlt<br />

dem Arbeitsplatz fernzubleiben, wenn sie<br />

sich um pflegebedürftige Angehörige kümmern.<br />

Die Kosten trägt zwar die Versicherung,<br />

sie fallen also erst indirekt zur Hälfte<br />

bei den Betrieben an. Aber das Organisationsproblem<br />

entsteht in jedem Büro, jeder<br />

Werkhalle, jeder Lieferkette.<br />

Einfaltspinsel aus der Union versuchten<br />

angesichts der sich abkühlenden Konjunktur<br />

nicht etwa, all die teuren Koalitionskompromisse<br />

und Wahlgeschenke infrage<br />

zu stellen – dazu fehlte offensichtlich der<br />

Mut. Ausgerechnet die Frauenquote attackierten<br />

sie, die ohne Zweifel einzelnen<br />

Großunternehmen Mühe bereitet, aber sicher<br />

nicht die Wettbewerbsfähigkeit der<br />

gesamten deutschen Wirtschaft behindert.<br />

Entsprechend energisch beschied Merkel<br />

die schwarzen Nullen: „Es ist so beschlossen,<br />

und nun wird es auch so gemacht!“<br />

Am Koalitionsvertrag wird grundsätzlich<br />

nicht gerüttelt.<br />

„ES WIRD GEMACHT“<br />

Volker Kauder, Merkels Mehrheitsmacher<br />

im Parlament, versprach nach all den gesteigerten<br />

Sozialausgaben: „Jetzt muss es<br />

aber damit auch gut sein.“ Aber das ist nur<br />

eine weitere Dosis aus Merkels Tranquilizer-Füllhorn.<br />

Denn Kauder sagt auch: „Was<br />

noch im Koalitionsvertrag steht, wird auch<br />

umgesetzt“. Nur noch weitere Lasten soll es<br />

nicht geben.<br />

Beschlossene Wohltaten zurückzunehmen<br />

kommt für Merkel nicht infrage. Hatte<br />

sie nicht Vorgänger Schröder angesichts<br />

des häufigen rot-grünen „Nachbesserns“<br />

als schlechten Gesetzeshandwerker vorgeführt?<br />

Entpuppte sich der Koalitionsvertrag<br />

als das, was er ist – als leichtfertiges Schönwetterkonstrukt<br />

–, machte dies vor allem<br />

Merkels Vertrauensvorsprung beim Wähler<br />

(„Sie kennen mich“) zunichte. Erst wenn<br />

Jobs massiv verloren gehen, wird sie die<br />

schwarze Null kippen. Denn steigende Arbeitslosenzahlen<br />

sind für den Machterhalt<br />

noch gefährlicher als steigende Schulden.<br />

Jetzt rächt sich, dass die Regierung nach<br />

der Wahl auf teure Umverteilung setzte,<br />

statt Reformen einzuleiten. Gegenwartskonsum<br />

statt Zukunftsvorsorge.<br />

Das große Prassen passt eigentlich gar<br />

nicht zum bescheidenen privaten Lebensstil<br />

der Kanzlerin, die auch heute noch gelegentlich<br />

selbst zum Einkauf im Ullrich-<br />

Supermarkt an der Wilhelmstraße auftaucht<br />

und sich amüsiert, wenn sie ihre<br />

Weltführerkollegen damit in Verwirrung<br />

stürzt, weil beispielsweise für den amerikanischen<br />

Präsidenten der ganze Laden geräumt<br />

wird. Erst neulich hat sie den chinesischen<br />

Ministerpräsidenten Li Keqiang an<br />

die vertraute Fleischtheke geführt.<br />

Aber Merkel hat bitter gelernt, dass man<br />

mit Reformen und Sparen die Deutschen<br />

nur verschrecken kann. Als sie nach dem<br />

Aufstieg an die Spitze der CDU erstmals<br />

Freiheit und Macht spüren konnte, da traute<br />

sich Merkel einen Aufstand der wirtschaftlichen<br />

Vernunft zu. Bierdeckel-Steuertarif,<br />

Gesundheitsprämie, Rentenreform<br />

– der Leipziger Parteitag 2003 entfachte<br />

Aufbruchsstimmung in der Union. So viel,<br />

dass der alte Kämpe Norbert Blüm („Die<br />

Rende is sischä“) gerade noch zwei Stimmen<br />

für seine Position bekam.<br />

Doch die Volkspartei erwachte jäh aus<br />

ihrem von Merkel befeuerten Reformrausch,<br />

als es bei der Wahl 2005 nicht für<br />

Schwarz-Gelb reichte. „Dieser Fehler passiert<br />

mir nicht noch einmal“, sagte Merkel<br />

damals. Wenn die Deutschen keine großen<br />

Schritte der Veränderung wollten, dann<br />

bekämen sie halt auch keine. Inzwischen<br />

regiert bereits das „Kabinett Merkel III“.<br />

Wer insgeheim in der CDU-Führung und<br />

vor allem auf dem Wirtschaftsflügel gedacht<br />

hatte, allzu spendable Versprechen<br />

ließen sich mit dem erhofften Koalitionspartner<br />

FDP wieder killen, sah sich ge- und<br />

enttäuscht. Denn in der großen Koalition<br />

sitzt sie mit einer SPD, deren Forderungen<br />

sie im Wahlkampf aus taktischen Gründen<br />

übernommenen hatte. Also konnten die<br />

Genossen noch draufsatteln. Merkel hatte<br />

die Wahl gewonnen, Gabriel die Koalitionsverhandlungen.<br />

25 Prozent waren auf<br />

einmal so viel wert wie 41.<br />

Angela Merkel machen Ziffern keine<br />

Angst. Ihre Doktorarbeit zur „Untersuchung<br />

des Mechanismus von Zerfallsreaktionen<br />

mit einfachem Bindungsbruch“<br />

könnte zwar auch eine politikwissenschaftliche<br />

Analyse von Regierungsbündnissen<br />

sein, befasste sich aber mit physikalischen<br />

Problemen. Es ist ein formelgetränkter<br />

Zahlenfriedhof.<br />

Politisch aber ist die schwarze Null das<br />

höchste der Merkel’schen Reformgefühle.<br />

Eine geliebte Null.<br />

n<br />

henning.krumrey@wiwo.de | Berlin<br />

FOTO: DDP IMAGES/DAPD/MICHAEL GOTTSCHALK<br />

22 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

Schäubles Hydra<br />

STEUERN | Im Kampf gegen Steuertrickser feiert der Minister einen<br />

Etappensieg. Einschlägige Länder ändern ihr Geschäftsmodell.<br />

Unverbindliches Geplauder Finanzminister Lew und Schäuble<br />

US-Konzerne drücken globale<br />

Steuerlast<br />

Trotz eines höheren Steuersatzes im Inland zahlt der<br />

US-Softwarekonzern Oracle weltweit weniger Steuern<br />

als sein deutscher Konkurrent SAP<br />

Oracle,<br />

USA<br />

SAP,<br />

Deutschland<br />

Heimat-Steuersatz<br />

35,0 (Federal Tax)<br />

+ 8,8 (State Tax)<br />

= 43,8<br />

15,8 (KSt + Soli)<br />

+ 9,3 (GewSt)<br />

= 25,1<br />

Konzernsteuerquote*<br />

21–23<br />

26–28<br />

* in Prozent des Konzerngewinns; KSt: Körperschaftsteuer,<br />

GewSt: Gewerbesteuer; Konzernsteuerquoten der vergangenen<br />

Jahre; Quelle: Jones Day<br />

Eswerden Festtage für Bundesfinanzminister<br />

Wolfgang Schäuble: Rund<br />

100 Delegationen und 40 Minister<br />

aus aller Welt kommen zu der Berliner<br />

Weltsteuerkonferenz, die Anfang dieser<br />

Woche beginnt. Am Mittwoch wohnen sie<br />

einer Zeremonie bei, in der sich 46 Länder<br />

verpflichten, steuerliche Informationen<br />

über ihre Bürger künftig untereinander<br />

auszutauschen. Dazu gehören auch Steueroasen<br />

wie Luxemburg und Liechtenstein.<br />

Nur die Schweiz ziert sich noch.<br />

Dennoch lastet ein Schatten auf der<br />

Weltsteuerkonferenz, der die Erfolge im<br />

Kampf gegen Steuerbetrüger relativiert.<br />

Denn im mittlerweile viel wichtigeren<br />

Kampf gegen die aggressive Steuergestaltung<br />

internationaler Konzerne kommt die<br />

Staatengemeinschaft nicht <strong>vom</strong> Fleck.<br />

Deshalb treffen sich die Finanzminister<br />

von Deutschland, Frankreich, Großbritannien,<br />

Italien und Spanien am Mittwochmittag<br />

extra in einer G5-Runde, um über<br />

den Fortgang des Steuerunwesens innerhalb<br />

Europas zu sprechen.<br />

Vor allem Schäuble (CDU) sieht Redebedarf.<br />

Kaum hat sich die Staatengemeinschaft<br />

darauf verständigt, die schlimmsten<br />

Steuerschlupflöcher zu stopfen, da arbeiten<br />

einige Regierungen unverfroren an<br />

neuen Sonderangeboten für Unternehmen.<br />

Und die USA, mit deren Finanzminister<br />

Jacob Lew sich Schäuble stets freundlich<br />

unterhält, haben kein Problem damit,<br />

dass Unternehmen wie Apple, Google oder<br />

General Electric inzwischen Gewinne von<br />

mehr als zwei Billionen Dollar quasi steuerfrei<br />

vor der Küste von Florida bunkern.<br />

Auch Irland ist ein Thema. Das berühmtberüchtigte<br />

Steuerschlupfloch „Double<br />

Irish“, das Unternehmen einen staatenlosen<br />

Status verschafft, wird demnächst abgeschafft.<br />

Natürlich nur auf Druck von außen,<br />

wie Irlands Finanzminister Michael<br />

Noonan einräumt: „Mittlerweile wurde<br />

uns das international um die Ohren gehauen.<br />

Ich wollte dafür sorgen, dass dies nicht<br />

länger unseren Ruf beschädigt.“ Stattdessen<br />

hält Noonan neue Goodies bereit.<br />

Den Einkommensteuersatz für Spitzenverdiener<br />

senkt Irland von 48 auf 36<br />

Prozent, was vor allem ausländischen<br />

Top-Managern zugutekommt. Noonans<br />

Wunderwaffe aber ist die angekündigte<br />

„Knowledge Development Box“. Dieses Instrument<br />

soll Gewinne aus Patenten und<br />

anderen Formen des geistigen Eigentums<br />

mit einem Steuersatz von angeblich nur<br />

noch 6,25 Prozent belegen. Das wäre die<br />

Hälfte der offiziellen Unternehmenssteuer,<br />

die mit 12,5 Prozent auch schon weniger<br />

als halb so hoch ist wie die in Deutschland.<br />

So will Noonan die mehr als 700 in Irland<br />

angesiedelten US-Multis bei Laune halten,<br />

die überwiegend im Internet-, High-Techoder<br />

Pharmasektor tätig sind. „Die geplante<br />

Knowledge Development Box wird bei<br />

der Sicherung wertvoller Investitionen ein<br />

großer Vorteil sein“, lobt denn auch die Präsidentin<br />

der American Chamber of Commerce<br />

in Dublin, Louise Phelan, die für<br />

PayPal arbeitet.<br />

Schäubles Kampf gegen die Steuertrickser<br />

gleicht dem gegen die Hydra. Für jeden<br />

abgeschlagenen Kopf wuchsen dem aus<br />

der griechischen Mythologie bekannten<br />

Ungeheuer zwei neue nach.<br />

INS LAGER DER GEGNER<br />

In Großbritannien sinkt unter der Ägide<br />

von Premierminister David Cameron der<br />

Unternehmenssteuersatz von 26 auf 20 Prozent.<br />

Doch damit nicht genug. Voriges Jahr<br />

ließ er eine Patentbox einrichten, in der die<br />

Gewinnbesteuerung bis 2017 schrittweise<br />

auf zehn Prozent schrumpft. Der Clou dabei<br />

ist:Im Extremfall reicht zum Beispiel ein<br />

neues Patent für ein Zündschloss aus, um<br />

den Gewinn aus dem Verkauf eines ganzen<br />

Autos in die Patentbox zu stecken. Für<br />

Schäuble ist das besonders ärgerlich, da<br />

sein britischer Amtskollege George Osborne<br />

vor zwei Jahren gemeinsam mit ihm den<br />

Kampf gegen den unfairen Steuerwettbewerb<br />

eröffnet hatte. Nun ist sein Mitstreiter<br />

ins Lager der Gegner gewechselt.<br />

Unerfreuliches hört Schäuble auch aus<br />

der Schweiz: Als Ersatz für das Bankgeheimnis<br />

suchen die Eidgenossen nach einem<br />

neuen Geschäftsmodell. Eine Gesetzesvorlage<br />

sieht nun vor, dass Unternehmen<br />

fiktive Zinsen auf ihr Eigenkapital berechnen<br />

und als Betriebsaufwand steuerlich<br />

absetzen können – ganz so, als hätten<br />

sie Kredite zu bedienen. Staaten wie Belgien<br />

und Italien praktizieren dies eben-<br />

»<br />

FOTO: DDP IMAGES/SIPA/REYNALDO PAGANELLI<br />

24 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

»<br />

falls. Das Finanzministerium in Berlin<br />

dagegen fürchtet Steuerausfälle in Milliardenhöhe<br />

und lehnt dies für Deutschland<br />

ab. Daneben setzen auch die Schweizer auf<br />

eine Steuersparbox, mit der sie Entwicklung<br />

und den Einsatz von geistigen Eigentumsrechten<br />

durch Schweizer Unternehmen<br />

begünstigen wollen, und zwar mit einem<br />

Steuersatz von ungefähr zehn Prozent.<br />

All die neuen Schlupflöcher machen es<br />

vor allem US-Konzernen leicht, außerhalb<br />

Amerikas erwirtschaftete Gewinne auch<br />

weiterhin zu Minimalsätzen zu versteuern.<br />

Das US-Softwareunternehmen Oracle beispielsweise<br />

führt nur durchschnittlich 22<br />

Prozent seines Konzerngewinns an den<br />

Fiskus ab, obwohl es an seinem Stammsitz<br />

in Kalifornien einem Steuersatz von fast 44<br />

Prozent unterliegt (siehe Tabelle Seite 24).<br />

Oracle verdeutlicht die Strategie der<br />

amerikanischen Finanzpolitik: Wer in den<br />

USA Geschäfte macht, soll dafür kräftig<br />

Steuern zahlen. Ihre Geschäfte im Rest der<br />

Welt sollen US-Unternehmen dagegen<br />

möglichst unbehelligt von den ausländischen<br />

Finanzämtern abwickeln. Deshalb<br />

hat die US-Regierung auch nicht eingegriffen,<br />

um den Double-Irish-Tricks ihrer Konzerne<br />

Einhalt zu gebieten. Im Gegenteil:<br />

Sie gewährt ihren Konzernen eine Steuerstundung<br />

(„Tax Holiday“), solange sie ihre<br />

Gewinne nicht repatriieren.<br />

PRALL GEFÜLLTE KRIEGSKASSEN<br />

„Ohne diese Sonderregelung wären die<br />

US-Konzerne weltweit kaum wettbewerbsfähig“,<br />

sagt Martin Bünning von der internationalen<br />

Anwaltskanzlei Jones Day. So<br />

aber verfügen Apple und Co. über prall gefüllte<br />

Kriegskassen, mit denen sie überall<br />

auf der Welt interessante Firmen aufkaufen<br />

können. „Die Amerikaner sind wenig motiviert,<br />

daran etwas zu ändern“, erklärt Bünning.<br />

Vor allem nicht die Republikaner.<br />

Dies sei doch „nur ein Versuch anderer<br />

Länder, amerikanische Steuerzahler stärker<br />

zu besteuern“, ätzt Senator Orrin Hatch<br />

aus dem Finanzausschuss im Kapitol.<br />

US-Finanzminister Lew verkämpft sich<br />

deshalb nicht an dieser Front. Zur Steuerkonferenz<br />

in Berlin reist er gar nicht erst an.<br />

Auch ein OECD-Parlamentariertreffen in<br />

Paris Anfang Oktober schwänzten die<br />

Amerikaner. Gut Ding braucht eben Weile,<br />

lautet ein Credo von Schäuble. Wer glaubte<br />

denn vor ein paar Jahren, dass sich Luxemburg<br />

zum automatischen Informationsaustausch<br />

von Steuerdaten verpflichtet? n<br />

christian.ramthun@wiwo.de | Berlin,<br />

yvonne esterhazy | London<br />

Man spricht Deutsch<br />

EUROPA | Die Zahl der Deutschen, die in den Europäischen Institutionen<br />

wichtige Ämter bekleiden, nimmt zu. Nicht zur Freude aller.<br />

Nun beginnen sie also doch noch<br />

pünktlich. Kaum jemand hatte in<br />

den vergangenen Monaten mehr<br />

damit gerechnet, dass der neue EU-Kommissionspräsident<br />

Jean-Claude Juncker<br />

und sein Team wie geplant am 1. November<br />

den Dienst antreten würden. Erst stritten<br />

sich die Mitgliedstaaten ums Brüsseler<br />

Spitzenpersonal, dann verlangte das Europäische<br />

Parlament (EP) Nachbesserungen.<br />

Am Schluss verständigte sich die neue große<br />

Koalition aus Christdemokraten und<br />

Sozialdemokraten im EP in einer Hauruck-<br />

Aktion dann doch noch auf das neue Personaltableau,<br />

um den fristgemäßen Start<br />

möglich zu machen.<br />

WICHTIGE POSITIONEN<br />

Pünktlichkeit passt zu dem Bild eines kraftvollen<br />

Neustarts, das Juncker gerne vermitteln<br />

möchte. Pünktlichkeit passt auch zu<br />

einer Kommission, die in mancher Hinsicht<br />

deutscher wird. An der Spitze wird<br />

Deutsch gesprochen, Deutsche haben<br />

wichtige Positionen inne. Damit verstärkt<br />

sich ein Trend, der sich schon in den vergangenen<br />

Jahren abzeichnete. Deutsche<br />

erklimmen in den Brüsseler Institutionen<br />

mehr und mehr Schlüsselstellen. Das<br />

nährt bei anderen Nationen bereits die<br />

Angst vor einer deutschen Übermacht, was<br />

Mehr Deutsche auf Spitzenposten<br />

Kommissionsgebäude in Brüssel<br />

ziemlich übertrieben ist. Als Sachverwalter<br />

deutscher Interessen gerieren sich Deutsche<br />

in Brüssel eher selten, es sei denn, es<br />

gehört ausdrücklich zu ihrer Arbeitsbeschreibung.<br />

Aber allein das Vorrücken der deutschen<br />

Sprache weckt bei anderen Befürchtungen,<br />

der größte Mitgliedstaat könnte zu mächtig<br />

werden. Der künftige EU-Ratspräsident<br />

Donald Tusk, bisher polnischer Ministerpräsident,<br />

spricht besser Deutsch als Englisch.<br />

Als Luxemburger spricht Jean-<br />

Claude Juncker genauso gut Deutsch wie<br />

Französisch, und sein Stellvertreter, der<br />

Niederländer Frans Timmermans, bildet<br />

nicht nur auf Hochdeutsch ebenso komplexe<br />

wie korrekte Sätze. Mit dem Präsidenten<br />

des Europäischen Parlaments,<br />

Martin Schulz, kann er sich auf Platt unterhalten,<br />

beide stammen aus der Region Aachen-Maastricht.<br />

Hinzu kommt, dass die Bundesregierung<br />

sich in den vergangenen Jahren stärker um<br />

die Brüsseler Personalpolitik gekümmert<br />

hat. Seit das Auswärtige Amt Vorbereitungskurse<br />

für den Auswahltest der EU-<br />

Kommission veranstaltet, reüssieren mehr<br />

deutsche Bewerber. Die Briten, die lange<br />

FOTO: EPD-BILD/JOKER/ALEXANDER STEIN<br />

26 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Zeit eigene Leute geschickt in den Institutionen<br />

installiert haben, merken gleichzeitig,<br />

dass ihnen der Nachwuchs ausgeht.<br />

Die wachsende Euro-Skepsis lässt viele<br />

junge Talente von der Insel vor einer Karriere<br />

in der EU zurückschrecken, der Großbritannien<br />

vielleicht gar nicht mehr lange<br />

angehört.<br />

Schon vor drei Jahren gelang es Bundeskanzlerin<br />

Angela Merkel, ihren Berater<br />

Uwe Corsepius an die Spitze des Europäischen<br />

Rats zu platzieren. Mit Klaus Regling<br />

als Chef des Rettungsschirms ESM und<br />

Werner Hoyer als Chef der Europäischen<br />

Investitionsbank stehen auch in Luxemburg<br />

zwei Landsleute wichtigen Einrichtungen<br />

vor. Jeder weitere Deutsche an exponierter<br />

Stelle löst nun international Aufmerksamkeit<br />

aus.<br />

Jüngstes Beispiel ist Martin Selmayr, der<br />

als Junckers Kabinettschef in den kommenden<br />

fünf Jahren dessen wichtigster Berater<br />

sein wird. Dabei wird gerne übersehen,<br />

dass er nicht auf Berliner Intervention<br />

an seinen einflussreichen Posten kam,<br />

sondern über seine Luxemburger Verbindungen.<br />

Zuvor hatte er ein Jahrzehnt für<br />

die Luxemburger Kommissarin Viviane<br />

Reding gearbeitet. Als Juncker im Frühjahr<br />

einen Wahlkampfleiter suchte, weil die Europäische<br />

Volkspartei, die Dachorganisation<br />

der konservativen Parteien, die Kampagne<br />

verschlafen hatte, sprang Selmayr<br />

kurzfristig ein und tourte mit dem Spitzenkandidaten<br />

kreuz und quer durch Europa.<br />

REVOLUTIONÄRE HANDSCHRIFT<br />

Da zeichnete sich schon ab, dass er bei einem<br />

Wahlsieg der starke Mann hinter Juncker<br />

werden würde. Selmayrs Einfluss lässt<br />

sich bereits vor dem Amtsantritt der neuen<br />

Truppe ablesen. Ein für Brüsseler Verhältnisse<br />

geradezu revolutionäres Organigramm,<br />

das seine Handschrift trägt, soll<br />

das alte Ressort-Denken aufbrechen. Bemerkenswert<br />

ist die neue Organisation<br />

auch, weil die neuen Vizepräsidenten allesamt<br />

aus kleinen Ländern kommen.<br />

In vielen Punkten denkt Selmayr europäischer,<br />

als es der Bundesregierung lieb<br />

ist. Und Juncker hat eine soziale Neigung,<br />

die der Kanzlerin abgeht. So ist jetzt schon<br />

abzusehen, dass es auch in Zukunft das ein<br />

oder andere Mal zwischen Berlin und<br />

Brüssel krachen wird. Nur weil Botschaften<br />

auf Deutsch kommen, sind sie nicht automatisch<br />

willkommen.<br />

n<br />

silke.wettach@wiwo.de | Brüssel<br />

Lesen Sie weiter auf Seite 28 »<br />

WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 27<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

Martin Selmayr, 43<br />

Günther Oettinger, 61<br />

Renate Nikolay, 47<br />

Kabinettschef<br />

Mit seinem scharfen Verstand und<br />

seiner profunden Sachkenntnis eilt<br />

Martin Selmayr Gesprächspartnern<br />

gerne davon. Als engster Berater von<br />

Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker<br />

wird er die Agenda der Behörde prägen.<br />

In den vergangenen zehn Jahren war Selmayr<br />

erst Pressesprecher, dann Kabinettschef<br />

der luxemburgischen Kommissarin<br />

Viviane Reding. In dieser Funktion stieß er<br />

das Großprojekt der Roaming-Verordnung<br />

an und führte es auch zu Ende.<br />

Ganz entscheidend wird das Zusammenspiel<br />

zwischen dem Kopfmenschen<br />

Selmayr und dem Bauchmenschen Juncker<br />

sein. Selmayr argumentiert, sie würden<br />

sich ergänzen: „Juncker antwortet auf<br />

die Frage, wie lange wir uns schon kennen:<br />

Schon immer.“<br />

Auch wenn Selmayr den Kanzleramtschef<br />

Peter Altmaier (CDU) als „guten<br />

Freund“ bezeichnet, so eilt ihm in Berlin<br />

der Ruf voraus, europäische Interessen<br />

über deutsche zu stellen. Dem politischen<br />

Berlin gehörte er selbst nie an. Allerdings<br />

gab es über den Vater eine Verbindung in<br />

die Politik. Der diente dem Kanzleramtschef<br />

Karl Carstens, der später Bundespräsident<br />

wurde, Ende der Sechzigerjahre als<br />

persönlicher Referent.<br />

Der Einser-Abiturient Selmayr liebäugelte<br />

lange mit einer Karriere in der Wissenschaft.<br />

Seit 2001 ist er Direktor des Centrums<br />

für Europarecht der Universität Passau,<br />

wo er ebenso wie an der Universität<br />

Saarbrücken Vorlesungen zu Europarecht<br />

hält. Er reist mit dem Zug an, weil er zwar<br />

einen Führerschein hat, aber nicht Auto<br />

fährt. „Man muss wissen, was man gut<br />

kann und was nicht.“<br />

Kommissar<br />

Kabinettschefin<br />

Der Schwabe ist in Brüssel angekommen.<br />

Als Bundeskanzlerin Angela kolay wird eines der wichtigsten<br />

Über den Schreibtisch von Renate Ni-<br />

Merkel vor fünf Jahren ausgerechnet<br />

Gesetzesvorhaben der Junckervon<br />

den damaligen Ministerpräsidenten<br />

Baden-Württemberg als Kommissar<br />

nach Brüssel schickte, hatten sich viele gewundert.<br />

Doch Oettinger hat seine Kritiker<br />

seitdem eines Besseren belehrt. Als Energiekommissar<br />

schmiedete er bis zum letzten<br />

Moment an einem Kompromiss im<br />

Kommission gehen: Die neue EU-Datenschutzverordnung<br />

soll die völlig überkommenen<br />

Regeln aus dem Jahr 1995 ablösen<br />

und gleichzeitig in allen 28 EU-Ländern einen<br />

einheitlichen hohen Schutz bieten. Nikolay<br />

wird die wichtigste Beraterin der<br />

tschechischen Justizkommissarin Vera Jurová<br />

Gasstreit zwischen Russland und der<br />

sein. Sie weiß, dass noch viel Feinab-<br />

Ukraine. Dank seines ebenso bewunderten<br />

wie gefürchteten fotografischen Gedächtnisses<br />

arbeitete sich Oettinger schnell in<br />

die Details der Energiepolitik ein.<br />

Oettinger hält engen Kontakt zur Bundesregierung,<br />

jeden Montag nimmt er an<br />

den Sitzungen des CDU-Präsidiums teil. Er<br />

betont allerdings, dass er sich als Kommissar<br />

aus Deutschland sieht und nicht als<br />

deutscher Kommissar. Von Brüssel aus hat<br />

er immer wieder Fehlentwicklungen in<br />

Deutschland kritisiert, etwa die wachsende<br />

Technikfeindlichkeit oder die irrwitzige<br />

Förderung erneuerbarer Energien.<br />

Als Digitalkommissar wird Oettinger interessante<br />

Debatten mit der neuen Wettbewerbskommissarin<br />

stimmung notwendig ist, bis sich die Mitgliedstaaten<br />

bis Ende kommenden Jahres<br />

auf die neue Verordnung einigen. Eine<br />

Frist, die Bundeskanzlerin Angela Merkel<br />

ausdrücklich unterstützt. Ohne Deutschland<br />

mit seinem bisher sehr hohen Niveau<br />

an Datenschutz kann kein Konsens entstehen.<br />

Gleichzeitig hat Deutschland als Exportnation<br />

besonders großes Interesse an<br />

einem funktionierenden Datenschutz, der<br />

etwa den elektronischen Handel fördert.<br />

Da die Mitgliedstaaten noch nicht einmal<br />

die Hälfte des Pensums verhandelt haben,<br />

stehen harte Gespräche bevor. Mit der<br />

zähen Suche nach Kompromissen kennt<br />

sich Nikolay allerdings aus. Ihre Karriere<br />

Margrethe Vestager begann sie im Bundeswirtschaftsministeristimmung<br />

führen, etwa über die von ihm früh kritisierte<br />

Marktmacht von Google. Oettinger<br />

plädiert für eine Abkehr von der klassischen<br />

Wettbewerbspolitik hin zu einem<br />

strategischeren Ansatz: „Wir brauchen<br />

Weltmarktführer.“ Seine Wissenslücke in<br />

Sachen Digitales gibt Oettinger offen zu:<br />

„Mein 16-jähriger Sohn ist mein bester<br />

Lehrer.“ An den EU-Arbeitsalltag hat er sich<br />

allerdings gewöhnt: „Ich fühle mich hier<br />

um als persönliche Referentin von Staatssekretär<br />

Alfred Tacke, damals G8-Sherpa<br />

von Bundeskanzler Gerhard Schröder. Aus<br />

privaten Gründen wechselte sie 2002 nach<br />

Brüssel, zunächst in die Ständige Vertretung<br />

Deutschlands, dann in die Generaldirektion<br />

Handel der Kommission. Die<br />

Mutter von zwölfjährigen Zwillingen arbeitete<br />

in den Kabinetten der britischen Kommissare<br />

Peter Mandelson und Catherine<br />

sehr wohl, weil die Dichte an roten Teppichen<br />

deutlich geringer als in Stuttgart ist.“ der EU mit Südkorea beteiligt war.<br />

Ashton, wo sie am Freihandelsabkommen<br />

»<br />

FOTOS: PR (2), LAIF/JOCK FISTICK<br />

28 Redaktion: silke.wettach@wiwo.de | Brüssel<br />

Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

Martin Schulz, 58<br />

Manfred Weber, 42<br />

Uwe Corsepius, 54<br />

Präsident<br />

Fraktionschef<br />

Generalsekretär<br />

Sein persönliches Ziel hat er verfehlt,<br />

ein Platz im Geschichtsbuch ist ihm<br />

trotzdem sicher. Martin Schulz hat es<br />

nach der Europawahl im Mai nicht wie von<br />

ihm geplant geschafft, als Präsident an die<br />

Spitze der neuen EU-Kommission zu treten.<br />

Aber dem SPD-Politiker, der dem Europäischen<br />

Parlament seit 1994 angehört,<br />

ist es quasi im Alleingang gelungen, das<br />

Verfahren zur Besetzung dieses Postens<br />

neu zu gestalten. Bei der Wahl rief er sich<br />

zum Spitzenkandidaten für dieses Amt aus<br />

und versetzte so die Konservativen in Zugzwang.<br />

Bundeskanzlerin Angela Merkel<br />

hatte die Dynamik dieses Prozesses unterschätzt<br />

und auch nach der Wahl noch bestritten,<br />

dass dem Wahlsieger automatisch<br />

das Amt des Kommissionspräsidenten zustehe.<br />

Mittlerweile ist das deutsche Wort<br />

„Spitzenkandidat“ in den EU-Jargon eingegangen<br />

– und unvorstellbar, dass der<br />

nächste EU-Kommissionspräsident nicht<br />

direkt gewählt würde. Schulz erfüllt das<br />

sichtlich mit Stolz, wie sein Auftritt vergangene<br />

Woche in Straßburg belegte.<br />

Auch sein Plan B, als Junckers Stellvertreter<br />

in die Kommission zu wechseln, hat<br />

sich nicht erfüllt. Merkel traut ihm nicht<br />

und hielt an dem CDU-Politiker Günther<br />

Oettinger fest. So bleibt Schulz das Amt des<br />

Parlamentspräsidenten, das er bereits seit<br />

2012 innehat. Seine Vorgänger haben vor<br />

allem repräsentiert. Doch dabei wird es der<br />

Machtpolitiker, der sich stets für höhere<br />

Aufgaben berufen sieht, in den kommenden<br />

fünf Jahren mit Sicherheit nicht belassen.<br />

Der gelernte Buchhändler, der gerne<br />

über Literatur und über sich selbst redet,<br />

wird den Einfluss des Europäischen Parlaments<br />

ausbauen, wo er nur kann.<br />

Angenehmer Händedruck, gewinnendes<br />

Lächeln – Manfred Weber<br />

gehört zu jener Sorte Politiker, die<br />

gerne unter Menschen gehen. Er hätte in<br />

Bayern Karriere machen können, wo er<br />

von 2003 bis 2007 die Junge Union geleitet<br />

hat. 2004 tauschte er jedoch sein Landtagsmandat<br />

gegen einen Sitz im Europäischen<br />

Parlament (EP), zur Überraschung von<br />

vielen Parteifreunden. Dort arbeitete er<br />

sich zum Chef der größten Fraktion, der<br />

Europäischen Volkspartei (EVP), hoch.<br />

Der CSU-Politiker, studierter Ingenieur,<br />

will den Machtzuwachs nutzen, den der<br />

Vertrag von Lissabon dem Europäischen<br />

Parlament beschert hat. „Ich bin quasi der<br />

Fraktionsführer der größten Regierungsfraktion“,<br />

sagt Weber, ein Satz, der so früher<br />

in Brüssel nicht zu hören war.<br />

Mit der Kommission will er eng zusammenarbeiten<br />

und so eine große Koalition<br />

zwischen den Institutionen bauen. „Mein<br />

festes Ziel ist eine enge Abstimmung zwischen<br />

Kommission auf der einen und Europäischem<br />

Parlament auf der anderen<br />

Seite“, betont Weber. Künftig soll es regelmäßig<br />

Treffen des Kommissionspräsidenten<br />

Jean-Claude Juncker, seinem sozialdemokratischen<br />

Vize Frans Timmermans mit<br />

Weber und dem sozialdemokratischen<br />

Fraktionsführer im EP, Gianni Pittella, geben<br />

– die Brüsseler Variante des Berliner<br />

Koalitionsausschusses. Sollte dies tatsächlich<br />

eintreten, würde das die Brüsseler Gepflogenheiten<br />

auf den Kopf stellen. Im EP<br />

herrscht kein Fraktionszwang, Abgeordnete<br />

haben sich bisher auch in ihrer Rolle als<br />

Korrektiv der Kommission gefallen. Enge<br />

Absprachen zwischen Kommission und<br />

Parlament wären ein Novum.<br />

Außerhalb des labyrinthischen Ratsgebäudes<br />

ist er in Brüssel nicht zu<br />

sehen und nicht zu hören. Uwe Corsepius,<br />

von 2006 bis 2011 Leiter der Europa-Abteilung<br />

im Bundeskanzleramt und<br />

enger Vertrauter von Bundeskanzlerin Angela<br />

Merkel, scheut die Öffentlichkeit. Ein<br />

wenig passt das zum Stil des verschwiegendsten<br />

der EU-Organe. Der Rat, die Institution<br />

der 28 Mitgliedstaaten, die im Gesetzgebungsprozess<br />

das letzte Wort hat, arbeitet<br />

meist im Geheimen. Die mühsame<br />

Suche nach politischen Kompromissen<br />

verträgt keine Öffentlichkeit.<br />

In Brüssel eilt dem promovierten Ökonomen<br />

Corsepius der Ruf voraus, seit seiner<br />

Ankunft vor drei Jahren in der<br />

3500-Mitarbeiter-Behörde „aufgeräumt“<br />

zu haben. Altgediente Beamte mussten rotieren,<br />

Erbhöfe wurden abgeschafft. An die<br />

Machtfülle seines Vorgängers Pierre de<br />

Boissieu, der sich über ein Jahrzehnt auf<br />

dem Posten hielt, kommt er nicht heran;<br />

auch weil der Rat seit 2009 mit dem Ratspräsidenten<br />

einen politischen Chef hat, der<br />

ab 1. Dezember Donald Tusk heißen wird.<br />

Eine wichtige Rolle kommt dem gebürtigen<br />

Berliner Corsepius dennoch zu. Er bereitet<br />

die EU-Gipfel vor, ist mit im Raum, wenn<br />

die Staats- und Regierungschefs zusammenkommen.<br />

Die französische Wirtschaftszeitung<br />

„La Tribune“ sah die Berufung<br />

von Corsepius als ein Indiz dafür, dass<br />

„die Deutschen zur Invasion der EU-Institutionen<br />

ansetzen“. Die Schlagzeile führt<br />

allerdings in die Irre: Corsepius liegt es<br />

fern, Berliner Interessen in Brüssel durchzusetzen.<br />

An seinem internen Auftritt hat<br />

er offenbar gefeilt. Seine deutsche Direktheit<br />

habe er abgelegt, heißt es in Brüssel.<br />

FOTOS: ACTION PRESS/HARTMUT MÜLLER-STAUFFENBERG, HORST WAGNER, MARC-STEFFEN UNGER, LAIF/ZURITA/DEPABLO<br />

30 Redaktion: silke.wettach@wiwo.de | Brüssel<br />

Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Reinhard Silberberg, 61<br />

Botschafter<br />

Die Haare sind gestutzt, zum Rauchen<br />

geht er hinunter ins Rauchereck.<br />

Reinhard Silberberg, Hausherr in der<br />

Ständigen Vertretung Deutschlands bei der<br />

EU, kennt den europäischen Betrieb noch<br />

aus einer Epoche, als bei Gipfeln gepafft<br />

wurde wie in einem Altherrenklub. Zu seiner<br />

Zeit als Berater von Bundeskanzler Gerhard<br />

Schröder pflegte der für seine Silbermähne<br />

bekannte Diplomat zu scherzen, jedes Mal,<br />

wenn er vor dem Gipfel zum Friseur gehe,<br />

nähmen die Treffen kein gutes Ende.<br />

Seit September ist er nun wieder in der<br />

EU-Hauptstadt, Außenminister Frank-<br />

Walter Steinmeier, dem er als Staatssekretär<br />

diente, wünschte sich einen Vollprofi<br />

für die Vertretung deutscher Interessen. Im<br />

Auswärtigen Amt gibt es wohl niemanden,<br />

der die EU so gut kennt wie Silberberg.<br />

Mehr als 70 EU-Gipfel hat er mitgemacht,<br />

seit Anfang der Neunzigerjahre beschäftigt<br />

er sich fast ununterbrochen mit<br />

der EU. Die vergangenen fünf Jahre verbrachte<br />

er als deutscher Botschafter in Madrid,<br />

auch dort musste er die oft als eisern<br />

wahrgenommene Anti-Krisen-Politik Berlins<br />

erklären.<br />

Als EU-Botschafter vertritt Silberberg<br />

nun die deutschen Interessen im wichtigen<br />

Ausschuss der Ständigen Vertreter (AStV).<br />

Dort bereiten die Diplomaten die Entscheidungen<br />

der Fachminister vor. „Man<br />

braucht als Vertreter Deutschlands kein<br />

Megafon, die Leute hören zu“, sagt Silberberg.<br />

„Häufig kommt es auf Deutschland<br />

an, wenn Kompromisslinien ausgelotet<br />

werden.“ Gleichzeitig verpflichtet die Größe<br />

Deutschland auch, auf andere, insbesondere<br />

kleinere Länder Rücksicht zu nehmen:<br />

„Es ist wichtig, ausgewogen zu agieren.“ n<br />

WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 31<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

Bruch mit dem Alten<br />

RUMÄNIEN | Ein deutscher Bürgermeister aus den Karpaten will<br />

Staatspräsident in einem der ärmsten EU-Länder werden.<br />

Etwa 800 000 Deutsche lebten einst in<br />

der Region Siebenbürgen. Sie waren seit<br />

dem 12. Jahrhundert in mehreren Wellen<br />

eingewandert. Nach der Wende 1990<br />

machten sich Hunderttausende auf in die<br />

Heimat ihrer Vorfahren. Heute zählt die<br />

deutschstämmige Gemeinde nur noch<br />

rund 30 000 Angehörige; in Sibiu leben<br />

knapp 2000 Deutsche.<br />

Als die Bürger Johannis 2000 mit einem<br />

Ergebnis von gut 90 Prozent zum Bürgermeister<br />

wählten, war das eine Sensation,<br />

ein Bruch mit der jüngeren Vergangenheit,<br />

in der die Rumänen den Ton angegeben<br />

hatten. „Die Menschen hier hatten einfach<br />

die Nase voll“, erinnert sich Wiegand Fleischer,<br />

der in Sibiu den Deutschen Wirtschaftsclub<br />

leitet, „es gab keine Jobs und<br />

die Stadt war dabei zu verkommen.“<br />

Wenn Klaus Johannis sich von seinem<br />

Schreibtisch erhebt und ans<br />

Fenster des Rathauses tritt, blickt<br />

er auf eine Postkartenkulisse. Unter ihm erstreckt<br />

sich der weitläufige kopfsteingepflasterte<br />

Marktplatz von Sibiu. In der Mitte<br />

der Piata Mare, wie der zentrale Platz auf<br />

Rumänisch heißt, spielen Kinder am<br />

Springbrunnen. In den Fontänen brechen<br />

sich die Sonnenstrahlen und tauchen den<br />

Platz in malerisches Licht. Die Fassaden<br />

der Häuser am Rand sind in Pastelltönen<br />

gehalten. Dahinter haben sich Galerien,<br />

kleine Cafés und Jazzkneipen eingerichtet.<br />

Auch ein Museum, eine Buchhandlung<br />

und ein paar Boutiquen gibt es.<br />

Es ist ein fast surrealer Kontrast: Als Johannis<br />

vor 14 Jahren zum ersten Mal zum<br />

Bürgermeister von Sibiu gewählt wurde,<br />

glich die Stadt, die früher einmal Hermannstadt<br />

hieß, einer Ruinenlandschaft.<br />

Die Straßen waren keine Straßen, sondern<br />

Wege aus Lehm. Von den grau-schwarzen<br />

Fassaden bröckelte der Putz, Ziegelsteine<br />

brachen aus den Mauern und krachten auf<br />

die Wege – die Bürger der Karpatenstadt<br />

lebten gefährlich.<br />

Johannis, whiskeyweiches Timbre,<br />

spricht langsam und bedächtig. „Die ersten<br />

Monate war ich viel in Deutschland<br />

und Österreich“, erinnert er sich an den Beginn<br />

seiner Amtszeit. Die Arbeitslosigkeit<br />

Gute Chance auf den Sieg<br />

Wahlkämpfer Johannis in Bukarest<br />

war hoch, die Stadtkasse leer. Also lockte<br />

das frischgewählte Stadtoberhaupt internationale<br />

Unternehmen in die Stadt mit ihren<br />

gut 150 000 Einwohnern. Zahlreiche<br />

Mittelständler investierten, auch große<br />

Unternehmen wie Siemens und Continental<br />

kamen. „Die Restaurierung der Altstadt<br />

haben wir am Ende fast komplett aus unserer<br />

Kasse gezahlt“, sagt Johannis.<br />

Doch jetzt wird es dem deutschstämmigen<br />

Bürgermeister in Siebenbürgen zu eng.<br />

Am 2. November wählen die Rumänen einen<br />

neuen Staatspräsidenten, und Johannis,<br />

der als Kandidat der Liberaldemokraten<br />

antritt, hat gute Chancen auf den Sieg.<br />

In den Umfragen liegt er nur knapp hinter<br />

seinem schärfsten Konkurrenten, dem Sozialisten<br />

Viktor Ponta.<br />

Die Unternehmen<br />

nervt die<br />

Unberechenbarkeit<br />

der Politik<br />

OHNE SCHMIERGELDER<br />

Als die ersten deutschen Unternehmen ihre<br />

Abgesandten nach Sibiu schickten, verschenkte<br />

Johannis keine Zeit. Auf dem großen<br />

Tisch in seinem Büro breitete er eine<br />

Karte der Region aus und zeigte den Managern,<br />

welche Grundstücke die Stadt anbieten<br />

konnte. „Ruhig, ohne viele Worte und<br />

vor allem ohne Fragen nach den in Rumänien<br />

sonst üblichen Schmiergeldern“, erinnert<br />

sich einer, der dabei war.<br />

Heute hat der Deutsche Wirtschaftsclub<br />

Sibiu 180 Mitglieder. Im Kreis Siebenbürgen<br />

sind insgesamt geschätzt 500 deutsche<br />

Unternehmen aktiv. Der Autozulieferer<br />

Marquardt aus dem Schwarzwald etwa<br />

baut in der Karpatenstadt mit gut 2000 Mitarbeitern<br />

Schaltsysteme. Der Continental-<br />

Konzern aus Hannover, der im Jahr 2000<br />

sein erstes Werk in Sibiu eröffnete, beschäftigt<br />

ebenfalls rund 2000 Mitarbeiter. Beide<br />

Unternehmen stocken ihr Personal kontinuierlich<br />

auf. Siemens will seine Mannschaft<br />

von derzeit 400 Mitarbeitern in den<br />

kommenden Jahren ebenfalls erweitern.<br />

Das Ergebnis der regen Investitionstätigkeit:<br />

In Sibiu herrscht praktisch Vollbeschäftigung.<br />

Johannis wurde 2004, 2008<br />

und 2012 mit durchschnittlich 80 Prozent<br />

der Stimmen wiedergewählt – Ergebnisse,<br />

die an die Zeiten des Diktators Nikolae<br />

Ceausescu erinnern.<br />

Natürlich waren die ersten Jahren für Johannis<br />

kein Spaziergang. „Ich habe den gesamten<br />

Verwaltungsapparat unter die Lupe<br />

genommen“, sagt der Bürgermeister,<br />

und seine Miene wird dabei sehr ernst. Wer<br />

damals in Sibiu eine Genehmigung, ein<br />

Formular oder nur eine Auskunft von einem<br />

Beamten brauchte, biss auf Granit;<br />

FOTO: PICTURE-ALLIANCE/DPA/EPA/ROBERT GHEMENT<br />

32 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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der Apparat war eine Black Box. Johannis<br />

entließ einen Teil der Belegschaft und holte<br />

jüngere Leute in die Stadtverwaltung. Heute<br />

gilt das Rathaus als vorbildlich in Rumänien.<br />

In den Folgejahren sorgt er für einen<br />

modernen Flughafen in der Stadt. Einen<br />

seiner größten Erfolge verbuchte der Kommunalpolitiker<br />

2007: Sibiu wurde neben<br />

Luxemburg Kulturhauptstadt Europas.<br />

WICHTIGES SIGNAL<br />

Für die Brüsseler Politik ist die Kandidatur<br />

Johannis’ ein wichtiges Signal in einem<br />

Land, das mit einem monatlichen Durchschnittslohn<br />

von etwa 400 Euro zum Armenhaus<br />

der EU gehört. Der frühere<br />

Gymnasiallehrer steht für einen Bruch mit<br />

dem alten von Willkür, Filz, Korruption<br />

und fehlender Rechtsstaatlichkeit geprägten<br />

System.<br />

An einem verregneten Oktobernachmittag<br />

steht Elmar Brok, Vorsitzender des Auswärtigen<br />

Ausschusses im Europaparlament,<br />

zusammen mit Johannis in einem<br />

pastellgelb getünchten Saal mit Stuckdecke<br />

im Rathaus. Reporter der lokalen Fernsehsender<br />

haben ihre Kameras aufgebaut,<br />

Zeitungsredaktionen ihre Mitarbeiter geschickt.<br />

Der Raum ist voll. „Ich habe mit<br />

Herrn Johannis anstehende Reformen in<br />

Rumänien besprochen“, erklärt Brok und<br />

fügt hinzu, dass Brüssel die Präsidentschaftskandidatur<br />

des Bürgermeisters ausdrücklich<br />

unterstütze. „Und da gibt es ja eine<br />

schöne Parallele“, schmunzelt der Besucher<br />

aus Brüssel, „Auch Konrad Adenauer<br />

wurde als Oberbürgermeister von Köln<br />

zum Bundeskanzler gewählt.“ Dieser war<br />

damals freilich keine 55 mehr, wie Johannis,<br />

sondern schon 73 Jahre alt.<br />

Doch sollte auch dieser Bürgermeister<br />

am Ende das Rennen machen, stünde er<br />

vor gewaltigen Herausforderungen. Viele<br />

Unternehmen klagen über die Unberechenbarkeit<br />

der Politik. Vor allem die Steuergesetzgebung<br />

nervt die Wirtschaft. Steuersätze<br />

ändern sich oft über Nacht. Dazu<br />

kommen die fehlende Unabhängigkeit der<br />

Justiz und die großen Defizite in der Bildungspolitik.<br />

Vor allem aber müsste er gegen<br />

ein altes, von Filz und Vetternwirtschaft<br />

gekennzeichnetes System in der<br />

Hauptstadt Bukarest ankämpfen. Zu verantworten<br />

hat dies unter anderem der Johannis-Rivale<br />

Ponta, der zurzeit als Ministerpräsident<br />

des Landes regiert.<br />

Johannis, den Weggefährten als „harten<br />

Knochen“ und extrem durchsetzungsstark<br />

beschreiben, fechten solche Bedenken<br />

nicht an. „Auch in Sibiu musste ich gegen<br />

ein altes System kämpfen“, sagt der Bürgermeister.<br />

Er wolle einen anderen Politikstil<br />

in Rumänien, bei dem es nicht mehr auf<br />

Lärm und große Ankündigungen, sondern<br />

auf Taten ankomme, beteuert er zurzeit<br />

landauf, landab.<br />

EIN POSITIVES VORURTEIL<br />

Wie nervös das Ponta-Lager angesichts der<br />

guten Umfragewerte für den deutschstämmigen<br />

Bürgermeister ist, zeigt die Kampagne<br />

gegen ihn. Die Gegner werfen ihm seine<br />

Kinderlosigkeit genauso vor wie seine<br />

Zugehörigkeit zur protestantischen Kirche<br />

– in einem Land, in der die Mehrheit zur orthodoxen<br />

Glaubensrichtung gehört.<br />

Außerdem könne ein Deutscher doch<br />

kaum Staatspräsident in Rumänien werden,<br />

wettern die Sozialisten. Johannis lässt<br />

sich durch solche Attacken nicht aus der<br />

Ruhe bringen. „Im Gegenteil, das ist ein<br />

positives Vorurteil“, lacht der Kandidat. Die<br />

Wähler in Sibiu haben es bewiesen. n<br />

matthias.kamp@wiwo.de | München<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

Über allem die KP<br />

CHINA | Die Regierung in Peking will den Rechtsstaat stärken – was<br />

auch immer die Kommunistische Partei darunter versteht...<br />

Müde <strong>vom</strong> Warten auf Reformen Volkspolizisten auf dem Tiananmen-Platz in Peking<br />

Die Bewohner des Dorfes Jinning in<br />

der chinesischen Provinz Yunnan<br />

sahen schließlich keinen Ausweg<br />

mehr. Die Lokalregierung hatte ihnen gegen<br />

eine geringe Entschädigung ihr Land<br />

genommen, lokale Richter hatten dies für<br />

rechtens erklärt. Also bewaffneten sie sich<br />

und griffen die Bauarbeiter an, die auf ihrem<br />

früheren Besitz zugange waren. Am<br />

14. Oktober waren sechs Arbeiter und zwei<br />

Dorfbewohner tot, weitere 18 verletzt.<br />

Bis zu 100 000 sogenannter „Massenvorfälle“<br />

gibt es laut Regierung pro Jahr, bei<br />

zwei Dritteln geht es um beschlagnahmtes<br />

Land: Eine Lokalregierung veräußert Land<br />

an Immobilienunternehmen, um an Geld<br />

zu kommen. Die Entschädigungen, die die<br />

Bauern erhalten, liegen weit unter den gesetzlichen<br />

Vorgaben. Die Richter, oft mit<br />

Parteikadern und Unternehmen verbandelt,<br />

entscheiden in deren Sinne. Die Folge:<br />

Das Vertrauen der Bevölkerung in das<br />

chinesische Justizsystem sinkt.<br />

Seit Montag vergangener Woche saß die<br />

Kommunistische Partei (KP) in Peking<br />

beim Vierten Plenum zusammen und beriet<br />

das Problem. Es ist das erste Mal, dass<br />

sich das Megatreffen ausschließlich mit<br />

Rechtsfragen beschäftigt. Das zeugt von<br />

der Wichtigkeit, die die Führung unter KP-<br />

Chef Xi Jinping dem Thema beimisst. Das<br />

Treffen stand unter dem Motto „Yifa Zhiguo“,<br />

ein Begriff, den man mit „Herrschaft<br />

des Gesetzes“ oder „Rechtsstaatlichkeit“<br />

aber auch mit „Herrschaft durch Gesetze“<br />

übersetzen kann.<br />

Eine wichtige Frage dreht sich darum,<br />

wer überhaupt Richter werden soll. Zwar<br />

hat sich die Ausbildung in den vergangenen<br />

Jahren stark verbessert, noch immer<br />

aber sind viele nur deswegen für den Richterberuf<br />

qualifiziert, weil sie ehemalige<br />

Soldaten der Volksbefreiungsarmee sind<br />

oder über gute Beziehungen verfügen.<br />

Statt der Partei sollen nun künftig Komitees,<br />

bestehend aus Anwälten, Richtern<br />

und Funktionären, über die Eignung eines<br />

Kandidaten entscheiden.<br />

Ändern soll sich auch etwas bei Gerichten<br />

auf lokaler Ebene. „In Zukunft unterstehen<br />

diese den Provinzen“, sagt Moritz<br />

2400<br />

Todesurteile wurden<br />

in China im vergangenen<br />

Jahr vollstreckt<br />

Rudolf <strong>vom</strong> Mercator Institute for China<br />

Studies in Berlin. „Richter werden dann<br />

unabhängiger von lokalen Kadern agieren<br />

können.“<br />

Internationale Unternehmen plädieren<br />

seit Langem für einen stabileren Rechtsrahmen.<br />

„Das Vertrauen in die Institutionen ist<br />

nicht hoch“, beklagt Jörg Wuttke, Vorsitzender<br />

der Europäischen Handelskammer in<br />

Peking. „Die Unternehmen wünschen sich<br />

weniger Einfluss der Lokalregierungen und<br />

mehr Transparenz der Verfahren.“<br />

Vor allem aber geht es ihnen um eine faire<br />

Anwendung bestehender Gesetze. Als im<br />

Sommer deutsche, amerikanische und japanische<br />

Autobauer wegen Kartellverstößen<br />

angeklagt wurden, gingen chinesische<br />

Konkurrenten straffrei aus. Kein Einzelfall:<br />

Der britische Pharmakonzern GlaxoSmith-<br />

Kline wurde vergangenes Jahr wegen Bestechung<br />

angeklagt. Dass auch chinesische<br />

Unternehmen Ärzten Geld zahlen, damit<br />

die deren Medikamente verschreiben, ist<br />

ein offenes Geheimnis.<br />

Mit den Reformen will Peking erreichen,<br />

dass Gerichte in Zukunft mehr im Sinne<br />

der Zentralregierung handeln. Von einem<br />

Rechtsstaat nach westlicher Art oder gar einer<br />

Verfassung, die auch die KP binden<br />

würde, will man in Peking nichts wissen.<br />

„Es geht nicht um Rechtsstaatlichkeit, sondern<br />

um Recht als Herrschaftsinstrument“,<br />

sagt Rudolf. „Die Gerichte sollen effizienter,<br />

nicht unabhängiger werden.“<br />

KORRUPTE KADER<br />

Denn über allen steht die Partei. So geht Xi<br />

Jinping seit Amtsantritt zwar mit Vehemenz<br />

gegen korrupte Kader in den eigenen<br />

Reihen vor, die Untersuchung der Fälle<br />

aber übernimmt die Partei selbst. Erst nach<br />

dem Ausschluss der Angeklagten aus der<br />

Partei werden sie der Staatsanwaltschaft<br />

übergeben. Die Zahl der Todesurteile wurde<br />

zwar halbiert, doch im vergangenen<br />

Jahr wurden noch immer 2400 solcher Urteile<br />

vollstreckt. Umerziehungslager wurden<br />

abgeschafft – neue Gesetze gegen die<br />

Meinungsfreiheit in Kraft gesetzt.<br />

Wie hart das Recht zuschlagen kann,<br />

zeigt der Fall Ilham Tohti: Am 23. September<br />

wurde der uigurische Wirtschaftsprofessor<br />

wegen „Separatismus“ zu lebenslanger<br />

Haft verurteilt. Dabei galt der 44-Jährige<br />

als gemäßigter Fürsprecher der Uiguren,<br />

der stets für Dialog und Gewaltfreiheit eintrat.<br />

Im Januar schon war Tohti aus seiner<br />

Wohnung entführt worden. Das Gerichtsverfahren<br />

dauerte ganze zwei Tage. n<br />

philipp.mattheis@wiwo.de | Shanghai<br />

FOTO: GETTY IMAGES/KEVIN FRAYER<br />

34 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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FOTOS: CHRISTOPHER WOODS, WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, AEDT/WENN.COM<br />

LONDON | Kunst<br />

und Kommerz gehen<br />

in den Galerien<br />

der Stadt Hand in<br />

Hand. Von Yvonne<br />

Esterházy<br />

Indianer<br />

mit Adler<br />

Eine Mischung aus Vorfreude<br />

und Neugier befällt<br />

mich jedes Mal, wenn ich<br />

durch die Glastüren ins Innere<br />

der Tate Modern,<br />

meines Londoner Lieblingsmuseums,<br />

gehe: Diesmal werde ich<br />

auf besonders ungewöhnliche Weise überrascht.<br />

Die Tate zeigt eine Retrospektive<br />

des Künstlers Sigmar Polke, der, wie Gerhard<br />

Richter, seine Laufbahn in Düsseldorf<br />

begann. Beim Streifzug durch 14 Räume<br />

voller Humor, Provokation und verrückten<br />

Ideen fällt ein schwarz gekleideter Mann<br />

auf. Er läuft mit einer kleinen Kamera herum<br />

und macht Fotos. Es ist Georg Polke,<br />

Sohn des verstorbenen Malers. „Sigmar“,<br />

sagt er, wenn er über seinen Vater spricht.<br />

Polke war erst 19 Jahre, als der Sohn<br />

geboren wurde, das Verhältnis war<br />

freundschaftlich. Georg stellte seinem<br />

Vater den Popstar David Bowie vor, in<br />

Berlin verband sie später eine enge<br />

Freundschaft. Polke senior, erzählt Georg,<br />

war auch befreundet mit Mitgliedern<br />

von Pink Floyd. Syd Barrett, ein verstorbenes<br />

Mitglied der Band, habe einst Polke-Bilder<br />

gekauft. Deren Wert dürfte kräftig<br />

gestiegen sein: Das Auktionshaus<br />

Christie’s versteigerte soeben fünf Polke-<br />

Gemälde aus der Sammlung des Industriellen<br />

Karlheinz Essl für knapp 21 Millionen<br />

Euro – doppelt so viel wie erwartet.<br />

Glanzpunkt war der „Indianer mit Adler“<br />

mit einem Preis von 6,5 Millionen Euro.<br />

„Das war zu wenig“ sagt Georg,<br />

„schließlich war das ein Schlüsselwerk.“<br />

Die Auktion selbst sparte er sich: „ich<br />

schau mir hinterher nur an, was es gebracht<br />

hat.“ Die Werke seines Vaters seien<br />

unterbewertet, sagt er. Wen wundert’s?<br />

Yvonne Esterházy ist London-Korrespondentin<br />

der WirtschaftsWoche.<br />

BERLIN INTERN | Deutsche Diplomaten drängen in<br />

die Wirtschaft. Nach der Pensionierung wollen sie<br />

ihren schwarz-rot-goldenen Dienst versilbern. Von<br />

Henning Krumrey<br />

Mammon statt Mumie<br />

Ran ans Geschäft Berater von der Planitz<br />

(r.) mit Mittelstandspräsident Mario Ohoven<br />

Früher war das Pensionärsleben<br />

der Ex-Diplomaten überschaubar.<br />

Man war Mitglied in den Freundesgesellschaften<br />

jener Länder, in<br />

denen man stationiert gewesen war,<br />

schaute vielleicht gelegentlich bei Veranstaltungen<br />

der Deutschen Gesellschaft für<br />

Auswärtige Politik vorbei und engagierte<br />

sich ehrenamtlich für Fragen der Bildung<br />

oder Völkerverständigung. Und einmal im<br />

Jahr ging man zum „Mumientreff“, so<br />

heißt das Seniorenkränzchen des Auswärtigen<br />

Dienstes despektierlich unter den<br />

Aktiven im Ministerium.<br />

Heute ist alles anders. Die Ex-Diplomaten<br />

sind rüstig, voller Tatendrang – und stoßen<br />

auf wachsenden Bedarf der Wirtschaft. Wer<br />

den Erfahrungsschatz zwischen Etat und<br />

Etikette anzapfen will, klickt einfach auf<br />

„Diploconsult.de“ , und schon öffnet sich<br />

die Expertise für den zahlenden Kunden.<br />

Auf der gemeinsamen Internet-Seite verdingen<br />

sich 26 Ruheständler des Auswärtigen<br />

Dienstes als Experten für ihre früheren<br />

Stationierungsorte, für Fachprobleme und<br />

fürs Protokollarische. Manche von ihnen betreiben<br />

auch eigene Firmen. Bernd Mützelburg<br />

beispielsweise, der Sicherheitsberater<br />

von SPD-Kanzler Gerhard Schröder und zuletzt<br />

Botschafter in Neu-Dehli, hat die „Ambassadors<br />

Associates – International Networking<br />

GmbH“ gegründet. Bernhard Edler<br />

von der Planitz bietet mit seiner Firma Planitz&Partner<br />

auch Schulung in gesellschaftlicher<br />

Etikette, schließlich war er jahrelang<br />

Protokollchef der Bundesregierung.<br />

Als Einzelkämpfer empfiehlt sich Michael<br />

Gerdts, der im Herbst 2012 aus dem Amte<br />

schied. Gerade hat der frühere Pressesprecher<br />

von Außenminister Klaus Kinkel eine<br />

größere Studie über Investitionsmöglichkeiten<br />

in Kenia für ein großes deutsches Industrieunternehmen<br />

fertiggestellt. Nairobi war<br />

nämlich Gerdts’ erste Auslandsstation nach<br />

der aufreibenden Zeit an der Seite Kinkels.<br />

Später kamen noch Auslandsposten in Polen<br />

und Italien dazu. „Wir Diplomaten sind<br />

darauf getrimmt, uns in die Mentalität des<br />

Gegenübers einzudenken“, wirbt er für den<br />

Erfahrungsschatz seiner Zunft. „Der größte<br />

Fehler deutscher Unternehmen besteht darin,<br />

ganz geradeaus einen fairen Vorschlag<br />

auf den Tisch zu legen und zu erwarten,<br />

dass die Gesprächspartner den auch gut<br />

finden müssen.“<br />

Exponent diplomatischer Wiederverwertung<br />

ist Wolfgang Ischinger. Als Botschafter<br />

in Washington brillierte er und konnte<br />

Schröders Nein zum Irakkrieg fast in eine<br />

politische Glanzleistung ummünzen. Ischinger<br />

blieb einfach in seiner internationalen<br />

Mission und wechselte 2008 nur den Arbeitgeber<br />

– <strong>vom</strong> Auswärtigen Amt zur Allianz<br />

SE. Noch heute ist er dort zuständig für<br />

die Regierungsbeziehungen in aller Welt.<br />

Joachim Bitterlich tat es ihm bald nach.<br />

Den Sicherheitsberater von Helmut Kohl<br />

verschlug es 1998 nach dem Regierungswechsel<br />

zu Rot-Grün aus dem Kanzleramt<br />

zunächst zur Nato nach Brüssel und dann<br />

nach Madrid. Aus dem einstweiligen Ruhestand<br />

verdingte sich der gebürtige Saarländer,<br />

verheiratet mit einer Französin, beim<br />

französischen Wasser- und Verkehrskonzern<br />

Veolia, wo er bis 2012 blieb.<br />

Auch die Deutsche Bank sicherte sich<br />

mit Thomas Mattussek die Dienste eines<br />

Spitzendiplomaten, der <strong>vom</strong> Büroleiter Kinkels<br />

zum Botschafter in Großbritannien, bei<br />

den Vereinten Nationen und in Indien aufgestiegen<br />

war. Das Frankfurter Geldhaus<br />

machte den Junggebliebenen zum Cheflobbyisten.<br />

Heute leitet er die Alfred-Herrhausen-Gesellschaft,<br />

den gesellschaftspolitischen<br />

Arm der Bank. Ganz diplomatisch.<br />

WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 35<br />

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Der Volkswirt<br />

KOMMENTAR | Die EZB erwägt,<br />

demnächst auch Unternehmensanleihen<br />

zu kaufen. Das wäre ein<br />

Riesenfehler. Von Malte Fischer<br />

Der Staatskredit<br />

Es sieht nicht gut aus für<br />

Europa. Die Wirtschaft<br />

stagniert, die Arbeitslosigkeit<br />

ist hoch, und<br />

die Staatsschulden steigen.<br />

Kein Wunder, dass der Druck<br />

auf die Währungshüter der Europäischen<br />

Zentralbank (EZB)<br />

zunimmt, der Wirtschaft erneut<br />

unter die Arme zu greifen. Zumal<br />

die Inflation mit 0,3 Prozent<br />

deutlich unter dem Zielwert<br />

der EZB von knapp zwei<br />

Prozent liegt. Anfang vergangener<br />

Woche begann die EZB<br />

damit, Pfandbriefe zu kaufen.<br />

Bald folgen mit Krediten besicherte<br />

Wertpapiere (ABS).<br />

Doch damit dürfte das Ende der<br />

Fahnenstange noch nicht erreicht<br />

sein. In den vergangenen<br />

Tagen sickerte durch, dass die<br />

Zentralbanker erwägen, auch<br />

Unternehmensanleihen zu<br />

kaufen, um ihre Bilanz auszuweiten.<br />

Die Vertreter der Finanzindustrie,<br />

die die EZB seit<br />

Langem drängen, die Notenpresse<br />

noch schneller rotieren<br />

zu lassen, dürften sich die Hände<br />

reiben. Der Wirtschaft der<br />

Euro-Zone aber drohte damit<br />

ein ökonomisches Desaster.<br />

IN DIE RÖHRE GEGUCKT<br />

Anders als der Verkauf von ABS,<br />

der in den Bilanzen der Banken<br />

einen Aktivtausch auslöst<br />

(Zentralbankgeld gegen ABS),<br />

schreiben die Banken beim<br />

Erwerb von Unternehmensanleihen<br />

durch die EZB den Firmen<br />

den Gegenwert der von ihnen<br />

verkauften Papiere auf den Konten<br />

gut. So fließt das Geld direkt<br />

in die Wirtschaft. Höhere Preise<br />

und eine massive Umverteilung<br />

von Einkommen und Vermögen<br />

sind die Folgen. Die Unternehmen,<br />

die das frische Geld als<br />

Erste empfangen, können sich<br />

zu niedrigen Preisen mit Waren<br />

und Diensten eindecken –<br />

der so genannte Cantillon-<br />

Effekt. Arbeitnehmer, Rentner<br />

und Transferempfänger, die das<br />

frische Geld als Letzte erhalten,<br />

gucken in die Röhre. Sie können<br />

erst dann kaufen, wenn die Preise<br />

gestiegen sind.<br />

Der Erwerb von Unternehmensanleihen<br />

durch die EZB<br />

läuft zudem auf die Verstaatlichung<br />

des Kredits hinaus. Die<br />

beamteten Euro-Hüter würden<br />

entscheiden, welche Unternehmen<br />

in den Genuss von Krediten<br />

kämen – und welche nicht.<br />

Der ohnehin weit fortgeschrittene<br />

Marsch in die monetäre<br />

Planwirtschaft beschleunigte<br />

sich.<br />

BOOM-BUST-ZYKLEN<br />

Dazu kommt: Durch den Kauf<br />

von Anleihen drückte die EZB<br />

die Finanzierungskosten der Betriebe<br />

nach unten. Das löst Investitionen<br />

aus, die sich unter<br />

normalen Umständen nicht lohnen.<br />

Damit drohte ein neuer<br />

Boom-Bust-Zyklus, der schnurstracks<br />

in die nächste Krise<br />

führt. Können die Firmen ihre<br />

Anleihen dann nicht mehr bedienen,<br />

müssen die Steuerzahler<br />

– über die Bilanz der EZB –<br />

die Verluste tragen.<br />

Ohnehin stellt sich die Frage,<br />

wem die Käufe von Unternehmensanleihen<br />

dienen sollen.<br />

Kleinere Betriebe mit Kreditschwierigkeiten<br />

dürften kaum<br />

profitieren. Sie sind zu klein, um<br />

Anleihen zu emittieren. Begünstigt<br />

wären nur Großunternehmen,<br />

die derzeit aber nicht unter<br />

Kreditschwierigkeiten leiden.<br />

Die EZB sollte daher die Finger<br />

von Unternehmensanleihen<br />

lassen. Sie richtete mit deren<br />

Erwerb zu viel Schaden an.<br />

NEW ECONOMICS<br />

Joggen für mehr Gehalt<br />

Freizeitsportler können langfristig auf höhere Einkommen<br />

hoffen als Bewegungsmuffel. Allerdings müssen<br />

sie sich dafür ins Zeug legen, sagt eine neue Studie.<br />

Mediziner sind sich einig: Sport<br />

ist gut für die Gesundheit. Doch<br />

macht er Arbeitnehmer auch<br />

produktiver? Einerseits fördern<br />

sportliche Aktivitäten Teamwork<br />

und Selbstdisziplin, andererseits<br />

kostet körperliche<br />

Aktivität nun mal Zeit, die an<br />

anderer Stelle abgeht.<br />

Weil belastbare Zahlen fehlten,<br />

konnten Ökonomen zu dieser<br />

Frage bisher wenig beitragen.<br />

Langzeitdaten von 1994 bis 2008,<br />

die sowohl Gehälter als auch das<br />

sportliche Engagement von eingangs<br />

22- bis 40-jährigen Kanadiern<br />

abbilden, haben es Michael<br />

Lechner von der Universität<br />

St. Gallen und Nazmi Sari von<br />

der University of Saskatchewan<br />

nun erstmals ermöglicht, einen<br />

Zusammenhang zwischen Freizeitgestaltung<br />

und Verdienst herzustellen.*<br />

Die zentrale Erkenntnis<br />

der beiden Ökonomen: Sport<br />

erhöht mittelfristig das Einkommen.<br />

Nach acht bis zwölf Jahren<br />

können Freizeitsportler mit 10<br />

bis 20 Prozent höheren Einkommen<br />

rechnen als Bewegungsmuffel.<br />

Dies entspricht ungefähr<br />

dem Effekt von zwei zusätzlichen<br />

Schuljahren. Anzeichen für Karrieresprünge<br />

fehlen dagegen:<br />

Einen Zusammenhang mit Beförderungen<br />

stellen die beiden<br />

Forscher nicht fest. Und auch ein<br />

Zusammenhang zwischen der<br />

Arbeitszeit und dem Sport fehlt.<br />

Die Forscher arbeiteten mit<br />

einer Stichprobe, die der kanadischen<br />

Gesamtbevölkerung entspricht.<br />

Im Abschlussjahr waren<br />

50 Prozent der Bevölkerung körperlich<br />

nicht aktiv, 25 Prozent<br />

leicht aktiv und 25 Prozent richtig<br />

sportlich. Die Bewegungsgewohnheiten<br />

in Kanada dürften<br />

* Michael Lechner, Nazmi Sari: Labor<br />

Market Effects of Sports and Exercise:<br />

Evidence from Canadian Panel Data,<br />

IZA, DP Nr. 7931, 2014<br />

Guck mal, Chef! Freizeitläufer<br />

beim Marathon in Freiburg<br />

denen in anderen Industrieländern<br />

entsprechen, schreiben<br />

die Autoren.<br />

„Leichte Aktivität“ liegt vor bei<br />

einem Energieverbrauch von<br />

1,5 bis 3,0 Kilokalorien pro Kilogramm<br />

Körpergewicht, höhere<br />

Werte garantierten die Einordnung<br />

in die sportliche Kategorie.<br />

Signifikante Auswirkungen auf<br />

das Gehalt stellen sich interessanterweise<br />

nur bei jenen Arbeitnehmern<br />

ein, die sich richtig<br />

ins Zeug legen. Wer nur mäßig<br />

Sport treibt, kann keinen Gehaltsaufschlag<br />

erwarten.<br />

Die genauen Ursachen für die<br />

statistische Korrelation zwischen<br />

Sportlichkeit und Gehalt<br />

kann die Studie allerdings nicht<br />

benennen. Zudem habe womöglich<br />

der eine oder andere in<br />

den zugrunde liegenden Umfragen<br />

das Ausmaß seiner sportlichen<br />

Aktivitäten etwas übertrieben,<br />

mutmaßen die Forscher.<br />

Verfeinerte Untersuchungen<br />

seien daher sinnvoll – nicht<br />

zuletzt auch zur Art der körperlichen<br />

Betätigung. So fördere<br />

ein Mannschaftssport spezielle<br />

Fähigkeiten, die auf dem Arbeitsmarkt<br />

honoriert werden –<br />

was beim regelmäßigen Besuch<br />

in einer Muckibude nicht<br />

zwingend der Fall sein muss.<br />

Diese qualitativen Effekte konnten<br />

die Forscher noch nicht<br />

berücksichtigen.<br />

silke.wettach@wiwo.de | Brüssel<br />

FOTO: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, ACTION PRESS/IMAGEBROKER<br />

36 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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KONJUNKTUR DEUTSCHLAND<br />

Schwacher Euro<br />

freut die Exporteure<br />

Die Perspektiven für die deutsche<br />

Exportwirtschaft haben<br />

sich wieder etwas aufgehellt.<br />

Der <strong>vom</strong> Münchner ifo Institut<br />

exklusiv für die WirtschaftsWoche<br />

erstellte Exportklimaindex<br />

ist im September nach drei<br />

Rückgängen in Folge wieder gestiegen<br />

und erreicht aktuell 0,35<br />

Saldenpunkte (siehe Grafik).<br />

Der Indikator bündelt den realen<br />

Außenwert des Euro – also<br />

die preisliche Wettbewerbsfähigkeit<br />

der Ausfuhrwirtschaft –<br />

sowie das Konsum- und Geschäftsklima<br />

auf unseren wichtigsten<br />

Absatzmärkten.<br />

Grund für den Anstieg war<br />

vor allem die relativ starke Abwertung<br />

des Euro, der gegenüber<br />

dem Dollar um 3,1 Prozent<br />

nachgab. Dämpfend auf die<br />

Wettbewerbsfähigkeit wirkte<br />

allerdings, dass die Preise in<br />

Deutschland stärker stiegen als<br />

in fast allen wichtigen Handelspartnerländern.<br />

Die Stimmung der Unternehmen<br />

und Haushalte hat sich in<br />

vielen Industrienationen gegenüber<br />

dem Vormonat stabilisiert.<br />

In Frankreich etwa legte<br />

das Geschäftsklima im September<br />

überraschend deutlich zu.<br />

Gleichwohl ist angesichts der<br />

aktuellen geopolitischen Krisen<br />

nach wie vor Verunsicherung<br />

zu spüren. Die Exporterwartungen<br />

der deutschen Unternehmen<br />

im verarbeitenden Gewerbe<br />

fielen im September um 4,2<br />

auf 1,5 Saldenpunkte. Vor allem<br />

die Autobranche befürchtet<br />

schlechtere Auslandsgeschäfte,<br />

aber auch die Produzenten von<br />

elektrischen Ausrüstungen,<br />

Maschinen und Chemieerzeugnissen<br />

sind pessimistischer gestimmt.<br />

Mit Spannung warten Analysten<br />

daher auf den 7. November:<br />

Talfahrt gestoppt<br />

Exportklima und Ausfuhren<br />

0,25<br />

0,20<br />

0,15<br />

0,10<br />

0,05<br />

0<br />

–0,05<br />

–0,10<br />

–0,15<br />

–0,20<br />

–0,25<br />

Exporte (real,<br />

saisonbereinigt,<br />

Veränderung zum<br />

Vorjahr in Prozent)<br />

An diesem Tag gibt das Statistische<br />

Bundesamt in Wiesbaden<br />

die Exportzahlen für September<br />

bekannt. Im August waren die<br />

Auslandsbestellungen im verarbeitenden<br />

Gewerbe gegenüber<br />

dem Vormonat um zwei Prozent<br />

gesunken. Der Maschinenbau<br />

meldete gar ein Minus von<br />

neun Prozent.<br />

Exportklimaindikator<br />

1<br />

¹ Geschäfts- und Konsumklima auf den wichtigsten Absatzmärkten Deutschlands sowie<br />

realer Außenwert des Euro (Indexpunkte); Quelle: ifo<br />

bert.losse@wiwo.de<br />

2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014<br />

1,5<br />

1,0<br />

0,5<br />

0<br />

–0,5<br />

–1,0<br />

–1,5<br />

–2,0<br />

–2,5<br />

–3,0<br />

–3,5<br />

Industrie wieder<br />

optimistischer<br />

Die deutsche Industrie präsentiert<br />

sich robuster als erwartet:<br />

Der <strong>vom</strong> Forschungsinstitut<br />

Markit erhobene Einkaufsmanagerindex<br />

stieg im Oktober<br />

überraschend um 1,9 auf 51,8<br />

Zähler. Der Frühindikator liegt<br />

damit wieder über der Marke<br />

von 50 Punkten, ab der gemeinhin<br />

eine Expansion einsetzt.<br />

Der Index für den Dienstleistungssektor<br />

sank um 0,9 auf<br />

54,8 Zähler.<br />

Derweil scheint – zumindest<br />

bei gewerblichen Produkten –<br />

die Deflation in Deutschland<br />

angekommen zu sein: Die<br />

Erzeugerpreise gaben im September<br />

um 1,0 Prozent gegenüber<br />

dem Vorjahresmonat<br />

nach. Im Vergleich zum August<br />

blieben die Preise unverändert.<br />

Einen besonders großen Rückgang<br />

gab es im Energiebereich<br />

(minus 3,8 Prozent). Vorleistungsgüter<br />

waren um 0,3 Prozent<br />

billiger.<br />

Volkswirtschaftliche<br />

Gesamtrechnung<br />

Real. Bruttoinlandsprodukt<br />

Privater Konsum<br />

Staatskonsum<br />

Ausrüstungsinvestitionen<br />

Bauinvestitionen<br />

Sonstige Anlagen<br />

Ausfuhren<br />

Einfuhren<br />

Arbeitsmarkt,<br />

Produktion und Preise<br />

Industrieproduktion 1<br />

Auftragseingänge 1<br />

Einzelhandelsumsatz 1<br />

Exporte 2<br />

ifo-Geschäftsklimaindex<br />

Einkaufsmanagerindex Industrie<br />

GfK-Konsumklimaindex<br />

Verbraucherpreise 3<br />

Erzeugerpreise 3<br />

Importpreise 3<br />

Arbeitslosenzahl 4<br />

Offene Stellen 4<br />

Beschäftigte 4, 5<br />

2012 2013<br />

Durchschnitt<br />

0,4<br />

0,8<br />

1,0<br />

–4,0<br />

–1,4<br />

3,4<br />

3,2<br />

1,4<br />

2012 2013<br />

Durchschnitt<br />

–0,9<br />

–4,2<br />

0,1<br />

3,3<br />

105,0<br />

46,7<br />

5,9<br />

2,0<br />

1,6<br />

2,1<br />

2896<br />

478<br />

29355<br />

0,1<br />

0,9<br />

0,4<br />

–2,4<br />

–0,2<br />

3,0<br />

0,9<br />

1,5<br />

–0,2<br />

2,5<br />

0,2<br />

–0,2<br />

106,9<br />

50,6<br />

6,5<br />

1,5<br />

–0,1<br />

–2,5<br />

2950<br />

458<br />

29722<br />

II/13 III/13 IV/13 I/14 II/14<br />

Veränderung zum Vorquartal in Prozent<br />

0,8<br />

0,6<br />

0,0<br />

2,3<br />

3,0<br />

0,0<br />

1,4<br />

1,3<br />

Juni<br />

2014<br />

0,4<br />

–2,5<br />

1,1<br />

1,0<br />

109,7<br />

52,0<br />

8,6<br />

1,0<br />

–0,8<br />

–1,2<br />

2913<br />

482<br />

30233<br />

1 Volumen, produzierendes Gewerbe, Veränderung zum Vormonat in Prozent; 2 nominal, Veränderung zum Vormonat in<br />

Prozent; 3 Veränderung zum Vorjahr in Prozent; 4 in Tausend, saisonbereinigt; 5 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte;<br />

alle Angaben bis auf Vorjahresvergleiche saisonbereinigt; Quelle: Thomson Reuters<br />

0,3<br />

0,7<br />

0,6<br />

–0,5<br />

1,8<br />

0,2<br />

0,7<br />

1,7<br />

Juli<br />

2014<br />

1,6<br />

4,9<br />

–0,9<br />

4,8<br />

108,0<br />

52,4<br />

8,9<br />

0,8<br />

–0,8<br />

–1,7<br />

2902<br />

484<br />

30263<br />

0,5<br />

–0,8<br />

–0,1<br />

2,1<br />

0,7<br />

0,2<br />

1,7<br />

0,7<br />

Aug.<br />

2014<br />

–4,0<br />

–5,7<br />

1,5<br />

–5,8<br />

106,3<br />

51,4<br />

8,9<br />

0,8<br />

–0,8<br />

–1,9<br />

2905<br />

494<br />

–<br />

0,7<br />

0,8<br />

0,4<br />

2,1<br />

4,1<br />

1,2<br />

0,0<br />

0,5<br />

Sept.<br />

2014<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

104,7<br />

49,9<br />

8,6<br />

0,8<br />

–1,0<br />

–<br />

2918<br />

500<br />

–<br />

–0,2<br />

0,1<br />

0,1<br />

–0,4<br />

–4,2<br />

0,1<br />

0,9<br />

1,6<br />

Okt.<br />

2014<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

51,8<br />

8,3<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

Letztes Quartal<br />

zum Vorjahr<br />

in Prozent<br />

0,8<br />

1,0<br />

1,0<br />

2,1<br />

0,7<br />

1,6<br />

2,5<br />

4,1<br />

Letzter Monat<br />

zum Vorjahr<br />

in Prozent<br />

–5,9<br />

–4,2<br />

–0,7<br />

–1,0<br />

–3,1<br />

0,2<br />

16,9<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–1,6<br />

9,7<br />

1,8<br />

WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 37<br />

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Der Volkswirt<br />

NACHGEFRAGT Paul Sheard<br />

»Aggressiver eingreifen«<br />

Der globale Chef-Ökonom der US-Ratingagentur<br />

S&P warnt vor einer neuen Euro-Krise und fordert<br />

eine noch expansivere Geldpolitik der EZB.<br />

Mr. Sheard, Ihre Ratingagentur<br />

hat gerade den Ausblick für<br />

Frankreich von stabil auf negativ<br />

geändert und die Kreditwürdigkeit<br />

von Finnland um eine<br />

Stufe gesenkt. Stehen wir vor<br />

der nächsten Krise in Europa?<br />

Es besteht ein augenfälliges<br />

Risiko einer neuen Rezession in<br />

Europa. Die ökonomischen<br />

Bedingungen sind alarmierend:<br />

anhaltend niedrige Inflation,<br />

kaum Wachstum, hohe Arbeitslosenzahlen.<br />

In der Euro-Zone<br />

rechnen wir nur noch mit einem<br />

Wachstum von einem Prozent in<br />

diesem und von 1,4 Prozent im<br />

kommenden Jahr.<br />

Wann senken Sie den Daumen<br />

über Deutschland?<br />

Die Entwicklung in Deutschland<br />

ist nicht erfreulich. Die<br />

Wirtschaft stagniert. Politiker in<br />

ganz Europa sollten sich darum<br />

kümmern, eine neue Rezession<br />

zu verhindern. Eine Krise entsteht<br />

ja nicht über Nacht, das ist<br />

ein schleichender Prozess.<br />

Die Politik kommt allerdings<br />

mit strukturellen Reformen<br />

nicht voran. Stattdessen soll es<br />

die Europäische Zentralbank<br />

richten. Kann die EZB mit einer<br />

immer lockereren Geldpolitik<br />

Europa aus dem Wachstumstief<br />

helfen?<br />

Alle großen Zentralbanken<br />

stehen derzeit zu sehr im Rampenlicht.<br />

Da wird jedes Wort<br />

auf die Goldwaage gelegt und<br />

analysiert. Die Notenbanken<br />

werden kritisiert, dass sie zu<br />

viel tun oder zu wenig – je nachdem,<br />

von welcher politischen<br />

Seite die Attacke kommt. Notenbanken<br />

sollten sich auf ihr<br />

Mandat konzentrieren. Die EZB<br />

hat ein primäres Mandat. Das<br />

lautet, für Preisstabilität zu sorgen.<br />

Sie hat aber noch ein zweites<br />

Mandat, das weniger Aufmerksamkeit<br />

bekommt.<br />

Und das wäre?<br />

In den europäischen Verträgen<br />

ist festgeschrieben: Die EZB<br />

muss mit ihrer Geldpolitik zu<br />

den Zielen der EU beitragen.<br />

Dies sind Ziele wie Vollbeschäftigung<br />

sowie der soziale und<br />

wirtschaftliche Zusammenhalt<br />

DER BEWERTER<br />

Sheard, 59, ist Chief Global Economist<br />

und Leiter der Abteilung<br />

Global Economics and Research<br />

der US-Ratingagentur Standard<br />

& Poor’s Ratings Services.<br />

in Europa. Man kann darüber<br />

diskutieren, wie viel Gewicht<br />

die Notenbank auf diese Ziele<br />

legen sollte. Aber es überrascht<br />

mich, dass dieser Aspekt kaum<br />

eine Rolle spielt.<br />

Was bedeutet das für die Geldpolitik<br />

der EZB?<br />

Sie muss auch auf die Arbeitslosenquote<br />

schauen und sich fragen:<br />

Setzen wir die richtigen<br />

geldpolitischen Instrumente<br />

ein, mit denen wir die Entwicklung<br />

in der Euro-Zone positiv<br />

beeinflussen können, ohne<br />

<strong>vom</strong> Primärziel der Preisstabilität<br />

abzuweichen?<br />

Und? Erfüllt die EZB das?<br />

Vom primären Mandat der<br />

Preisstabilität – mit einer<br />

Inflationszielrate von rund zwei<br />

Prozent – wie auch von ihrem<br />

sekundären Mandat ist die<br />

EZB meilenweit entfernt. Die<br />

Inflationsrate in der Euro-<br />

Zone liegt bei 0,3 Prozent, die<br />

Arbeitslosenquote im Durchschnitt<br />

bei über elf Prozent.<br />

Die Notenbank muss mehr<br />

machen, um ihre Ziele zu erreichen.<br />

Sie muss aggressiver<br />

eingreifen.<br />

Die Zinsen liegen bereits am<br />

Nullpunkt. Da bleibt nur die<br />

Ausweitung der Bilanz, die sogenannte<br />

quantitative Locke-<br />

Die EZB war bei<br />

der Ausweitung<br />

der Bilanz bisher<br />

zurückhaltend«<br />

rung. Und damit ein weiteres<br />

Anwerfen der Notenpresse...<br />

Quantitative Lockerung ist nötig.<br />

Was die EZB bisher gemacht<br />

hat, ist die Einführung eines negativen<br />

Einlagenzinses. Doch<br />

der ist gar kein „echter“ negativer<br />

Zins, weil der Hauptfinanzierungszins<br />

immer noch bei<br />

fünf Basispunkten liegt. Anders<br />

als die Fed war die EZB bisher<br />

zurückhaltend mit der Ausweitung<br />

der Bilanz. Mit der Ankündigung,<br />

forderungsbesicherte<br />

Wertpapiere (ABS) zu kaufen,<br />

hat sie endlich einen Kurswechsel<br />

vorgenommen.<br />

Dieser Schritt wird von vielen<br />

Experten scharf kritisiert. Die<br />

EZB hat den Banken zudem<br />

bereits Milliarden über langfristige<br />

Kredite zur Verfügung<br />

gestellt – ohne nennenswerte<br />

Effekte auf die Realwirtschaft.<br />

Bei den sogenannten TLTROs<br />

hat die EZB den Banken die<br />

Entscheidung überlassen, wie<br />

sie diese günstige Refinanzierungsmöglichkeit<br />

nutzen. Es<br />

hat sich gezeigt, dass diese Kreditlinien<br />

die Bilanz der EZB<br />

nicht sehr ausgeweitet haben.<br />

Halten Sie den Kauf von ABS<br />

und Pfandbriefen ernsthaft für<br />

den richtigen Weg?<br />

Die Theorie moderner Geldpolitik<br />

besagt, dass sich mit quantitativer<br />

Lockerung finanzielle<br />

Bedingungen verbessern lassen.<br />

Ich weiß, Bundesbank-Präsident<br />

Weidmann hält nichts<br />

von ABS-Käufen, weil sich die<br />

EZB damit Kreditrisiken in die<br />

Bilanz holt. Er hält auch nichts<br />

von Staatsanleihenkäufen.<br />

Und? Finden Sie seine Argumente<br />

so falsch?<br />

Die EZB sollte nicht direkt<br />

Staatsanleihen von Regierungen<br />

einzelner Euro-Länder kaufen.<br />

Das ist tatsächlich direkte<br />

Staatsschuldenfinanzierung.<br />

Wenn aber alle geldpolitischen<br />

Instrumente zu gefährlich sind,<br />

um sie zu nutzen, und eine<br />

Notenbank am besten gar nichts<br />

machen soll, dann signalisiert<br />

sie: Wir sind hilflos, wir können<br />

unser Mandat nicht erfüllen.<br />

angela.hennersdorf@wiwo.de | Frankfurt<br />

FOTO: BLOOMBERG NEWS/PATRICK T. FALLON<br />

38 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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DENKFABRIK | Wo muss die EU aktiv werden, und was sollten die Nationalstaaten lieber<br />

selber regeln? Die Bundesbürger haben dazu eine klare Meinung: Eingriffe ins Steuerund<br />

Sozialsystem soll sich Brüssel verkneifen – dafür aber in der Außen- und Haushaltspolitik<br />

sowie bei der Zuwanderung einheitliche Regeln durchsetzen. Von Renate Köcher<br />

Die Deutschen und Europa<br />

FOTO: PR<br />

Die europäische Ebene<br />

steht in Deutschland<br />

seit Langem<br />

unter dem Verdacht,<br />

mehr regeln zu wollen, als sinnvoll<br />

ist. Die Mehrheit der Bevölkerung<br />

wirft der Europäischen<br />

Union vor, sich zu sehr in nationale<br />

Belange einzumischen.<br />

Entsprechend können sich die<br />

meisten Bürger oft auch nicht<br />

für Vorschläge erwärmen, noch<br />

mehr Kompetenzen auf die europäische<br />

Ebene zu verlagern.<br />

Lediglich 17 Prozent halten es<br />

zum Beispiel für sinnvoll, Brüssel<br />

und Straßburg mehr Befugnisse<br />

in der Steuer- und Wirtschaftspolitik<br />

zu übertragen,<br />

wie es im Zusammenhang mit<br />

der Bekämpfung der Krise in<br />

der Euro-Zone im Gespräch ist.<br />

Wenn jedoch differenzierter<br />

diskutiert wird, wie eine sinnvolle<br />

Aufgabenteilung zwischen<br />

europäischer und nationaler<br />

Ebene aussehen könnte, zeigt<br />

sich, dass die Mehrheit der<br />

Bürger durchaus wichtige Entscheidungen<br />

auf europäischer<br />

Ebene ansiedeln möchte. Das<br />

gilt vor allem für die Außen- und<br />

Sicherheitspolitik und für die<br />

Festlegung von Schuldengrenzen.<br />

Drei Viertel der Bürger<br />

halten es für sinnvoll, wenn die<br />

Mitgliedsländer in der Außenund<br />

Sicherheitspolitik keine<br />

Alleingänge machen, sondern<br />

sich auf eine gemeinsame Linie<br />

verständigen. 71 Prozent unterstützen<br />

europäische Vorgaben,<br />

wie stark sich die einzelnen<br />

Staaten verschulden dürfen<br />

(siehe Grafik).<br />

Die Vermutung liegt nahe,<br />

dass dieser breite Konsens unter<br />

dem Eindruck der Krise in<br />

der Euro-Zone entstanden oder<br />

zumindest gewachsen ist. Das<br />

ist interessanterweise jedoch<br />

nicht der Fall. Schon vor einem<br />

guten Jahrzehnt sprachen sich<br />

sieben von zehn Bürgern für einheitliche<br />

europäische Schuldengrenzen<br />

aus. Die Unterstützung<br />

schwankte in den vergangenen<br />

zehn Jahren lediglich in der engen<br />

Bandbreite zwischen 71 und 79<br />

Prozent.<br />

Die Mehrheit plädiert zudem für<br />

eine europäische Regelung von<br />

Bildungsabschlüssen an Schulen<br />

und Universitäten sowie beim<br />

Arbeitsschutz und der Zuwanderung.<br />

Hier haben sich die Einstel-<br />

Differenziertes Urteil<br />

und Krisengebieten der Welt finden<br />

muss.<br />

Auf der anderen Seite gibt es<br />

Bereiche, die eine große Mehrheit<br />

gegen den Einfluss aus Brüssel<br />

abschotten möchte. Das gilt für<br />

die Steuerpolitik und weite Teile<br />

der Sozialpolitik. 63 Prozent der<br />

Bürger votieren für eine nationale<br />

Regelung von Steuern und Abgaben,<br />

68 Prozent wollen auch bei<br />

der Festlegung von Ansprüchen<br />

auf Sozialleistungen keine Mitsprache<br />

der EU. Auf diesen Feldern<br />

ist die Mehrheit überzeugt,<br />

dass viel auf dem Spiel steht, das<br />

Was sollte man europäisch regeln – und was sollte in nationaler<br />

Verantwortung bleiben? (Angaben in Prozent)<br />

National regeln<br />

15<br />

20<br />

40<br />

40<br />

40<br />

63<br />

68<br />

Quelle: Allensbacher Archiv<br />

Außen- und Sicherheitspolitik<br />

Maximale Schuldenhöhe<br />

Zuwanderung<br />

Arbeitsschutz<br />

Abschlüsse an Schulen<br />

und Universitäten<br />

Höhe der Steuern und Abgaben<br />

Sozialleistungen<br />

(Umfang, Berechtigte)<br />

Europäisch regeln<br />

76<br />

71<br />

53<br />

52<br />

52<br />

27<br />

24<br />

lungen in letzter Zeit teilweise<br />

deutlich verändert. Zwischen<br />

2003 und 2013 sprach sich immer<br />

eine relative Mehrheit für nationale<br />

Zuwanderungsregelungen<br />

aus, jetzt erstmals nur eine Minderheit:<br />

53 Prozent votieren für<br />

eine europaweit harmonisierte<br />

Zuwanderungspolitik, nur noch<br />

40 Prozent für nationale Lösungen.<br />

Die Zuspitzung des Flüchtlingsproblems<br />

hat hier viele<br />

Bürger umgestimmt. Immer mehr<br />

Menschen erkennen, dass ein Europa,<br />

das im Innern kaum noch<br />

Grenzen kennt, gemeinsam eine<br />

Lösung für die anschwellenden<br />

Flüchtlingsströme aus den Kriegsunmittelbar<br />

ihre eigenen Interessen<br />

berührt. Die Vorstellung, dass<br />

eine ferne europäische Ebene, auf<br />

die der Wähler kaum Einfluss hat,<br />

Steuerlasten und Sozialleistungen<br />

regelt, ist den meisten unheimlich.<br />

Die Bürger wissen, dass die<br />

nationale Politik bei der Festlegung<br />

von Steuern und Abgaben<br />

oder bei Reformen der sozialen Sicherungssysteme<br />

immer auch die<br />

Akzeptanz ihrer Wähler im Blick<br />

haben muss – und sehen darin einen<br />

Garanten für eine Politik, die<br />

ihre Interessen berücksichtigt.<br />

Insgesamt haben die meisten<br />

Bundesbürger nicht den Eindruck,<br />

dass die deutschen Inte-<br />

ressen in Europa zu kurz kommen.<br />

Nur jeder Dritte wünscht<br />

sich von der Bundesregierung<br />

eine konsequentere Vertretung<br />

deutscher Interessen. Der Einfluss<br />

Deutschlands wird als<br />

groß wahrgenommen – in Europa<br />

und darüber hinaus. Heute<br />

sind 70 Prozent der Bürger<br />

überzeugt, dass Deutschland<br />

auch jenseits von Europas<br />

Grenzen einen großen Einfluss<br />

hat.<br />

WICHTIGE ROLLE<br />

Die meisten stellen dabei einen<br />

direkten Zusammenhang mit<br />

der Mitgliedschaft in der EU<br />

her, da Deutschland in anderen<br />

Weltregionen meist nicht nur als<br />

einzelne Nation, sondern auch<br />

als wichtigstes Land und Einflussfaktor<br />

in der EU wahrgenommen<br />

wird. Entsprechend ist<br />

die Mehrheit überzeugt, dass<br />

die internationalen Einflussmöglichkeiten<br />

Deutschlands<br />

wesentlich mit der Mitgliedschaft<br />

und Rolle in der EU verknüpft<br />

sind.<br />

Grundsätzliche Zweifel, ob<br />

die europäische Integration der<br />

richtige Weg ist, hat nur eine<br />

Minderheit – allerdings ist die<br />

Gruppe der Skeptiker mit einem<br />

Anteil von 23 Prozent durchaus<br />

ernst zu nehmen. Die Mehrheit<br />

der Deutschen kritisiert zwar<br />

bestimmte Maßnahmen und<br />

Regelungsansprüche der EU,<br />

zweifelt aber nicht grundsätzlich<br />

daran, dass die Zukunft<br />

der europäischen Staaten im<br />

europäischen Verbund liegt.<br />

Renate Köcher ist Geschäftsführerin<br />

des Instituts für Demoskopie<br />

Allensbach und Mitglied<br />

des Aufsichtsrates mehrerer<br />

Dax-Unternehmen.<br />

WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 39<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Gute Gier gegen<br />

schlechte Gier<br />

WHISTLEBLOWER | Staatliche Prämien für Beschäftigte,<br />

die gesetzwidriges Verhalten des Arbeitgebers melden,<br />

machen in den USA aus Tippgebern Millionäre. Die<br />

Unternehmen laufen Sturm gegen das Belohnungs-System.<br />

Es ist noch warm in Washington.<br />

Die Aktivisten, die sich im Garten<br />

einer Villa unweit des Kapitols<br />

zu ihrem Jahrestreffen versammelt<br />

haben, suchen den<br />

Schatten. Viele haben ihre zerknautschten<br />

Sakkos abgelegt und die Hemdsärmel aufgekrempelt.<br />

Der eine hat gegen Rassismus<br />

in Behörden aufbegehrt, der andere<br />

Lauschattacken von Geheimdiensten enthüllt<br />

– und dafür gebüßt. Gesichtszüge lassen<br />

den Jobverlust, private Zerwürfnisse<br />

und zermürbende Gerichtsverfahren erahnen,<br />

die so mancher erlitten hat.<br />

Einer passt nicht so recht ins Bild. Bradley<br />

Charles Birkenfeld – hochwertiges<br />

Tuch, markantes Gesicht – hat mit einer<br />

kleinen Entourage ein paar Stühle gekapert<br />

und beobachtet locker-interessiert das<br />

Treiben. Auch der 49-Jährige hat aufbegehrt,<br />

nämlich gegen seinen früheren Arbeitgeber,<br />

die Schweizer Bank UBS. Auch<br />

er hat etwas verraten: dass die eidgenössische<br />

Nobelbank Geld amerikanischer<br />

Steuerhinterzieher vor dem US-Fiskus auf<br />

Konten in der Alpenrepublik versteckt hat.<br />

Und auch er hat dafür seinen Job verloren.<br />

Doch Birkenfeld ist die Ruhe in Person.<br />

Denn er hat nicht nur vieles verloren, sondern<br />

auch einiges gewonnen: 104 Millionen<br />

Dollar bezahlte ihm 2012 die US-Steuerbehörde<br />

IRS für seine Insiderinformationen<br />

über amerikanische Steuersünderkonten<br />

in der Schweiz. Birkenfeld ist also<br />

Multimillionär – und wird zugleich als Robin<br />

Hood verehrt. Eine kurze Rede vor den<br />

Aktivisten, ein Preis, Applaus – dann rauschen<br />

er und seine Freunde wieder ab.<br />

Leute wie Birkenfeld haben Hochkonjunktur<br />

in den USA. Während in Berlin die<br />

schwarz-rote Koalition über den gesetzlichen<br />

Schutz von Hinweisgebern ergebnislos<br />

streitet, ist jenseits des Atlantiks daraus<br />

ein Zig-Millionen-Geschäft geworden.<br />

Whistleblowing oder Tippgeben, wie der<br />

Verrat gesetzeswidrigen Verhaltens in Unternehmen<br />

und Behörden auf Deutsch<br />

heißt, nagt nicht nur an Konzernkassen,<br />

sondern schafft zugleich eine neue Klasse<br />

der Millionäre: Wer einer staatlichen Aufsichtsbehörde,<br />

ob für Börse, Militär oder<br />

Verbraucherschutz, ein Vergehen des Arbeitgebers<br />

gegen Vorschriften meldet, bekommt<br />

dafür eine Prämie in bis zu dreistelliger<br />

Millionenhöhe. Mit von der Partie<br />

sind Anwälte, die sich auf das Metier spezialisiert<br />

haben und ihren Anteil an der Belohnung<br />

abgreifen.<br />

„Whistleblowing ist zum Big Business<br />

geworden, für die Informanten, für ihre<br />

Rechtsanwälte und für den Staat, dem die<br />

zu erwartenden Bußgeldmilliarden nicht<br />

ungelegen kommen“, sagt Tom Devine,<br />

Rechtsanwalt und einer der wichtigsten<br />

Whistleblowing-Experten der USA. „Es ist<br />

ein Goldrausch, aber ich kann nichts<br />

Schlechtes daran erkennen.“<br />

Auslöser für den Run auf die neuen Nuggets<br />

ist vor allem der Dodd-Frank-Act aus<br />

dem Jahr 2011. Das nach den beiden demokratischen<br />

US-Politikern Chris Dodd<br />

und Barney Frank benannte Gesetz zur<br />

Zähmung der Finanzmärkte ermächtigt<br />

die US-Börsenaufsicht SEC wie die Steuerkontrolleure<br />

von der IRS und andere Behörden,<br />

Whistleblower für ihren Geheimnisverrat<br />

mit Prämien zu belohnen. Tipps,<br />

die zu Strafen von mindestens einer Million<br />

Dollar führen, honoriert die SEC mit 10<br />

bis 30 Prozent der Bußgeldsumme.<br />

»<br />

Die Ruhe in Person<br />

Der Ex-UBS-Banker<br />

Charles Birkenfeld<br />

lieferte den US-<br />

Behörden die entscheidenden<br />

Informationen<br />

für den Angriff<br />

auf die Steueroase<br />

Schweiz – und bekam<br />

104 Millionen Dollar<br />

Belohnung<br />

40 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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FOTO: GASPER TRINGALE<br />

WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 41<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

»<br />

Weil die mächtigste Börsenaufsicht der<br />

Welt häufig sechsstellige Millionen- und<br />

mitunter sogar Milliardenstrafen verhängt,<br />

hat sich eine regelrechte Whistleblowing-<br />

Branche entwickelt. Mehr als 7000 Informanten<br />

aus den USA und 68 weiteren Ländern<br />

haben die Börsenchecker seit 2011<br />

mit Insider-Informationen über Regelverstöße<br />

ihrer Arbeitgeber geflutet. SEC-Chefin<br />

Mary Jo White pries vergangene Woche<br />

das „enorm erfolgreiche Whistleblower-<br />

Programm, das sehr signifikante Informationen<br />

über schwere Verbrechen liefert“.<br />

Drei Jahre nach dem Inkrafttreten des<br />

Gesetzes zeigt die Statistik, dass das staatlich<br />

geförderte Ausplaudern zunehmend<br />

Betrüger, Bestecher und Berufsmanipulateure<br />

in Unternehmen auffliegen lässt. Aus<br />

Tausenden von Anzeigen hat die SEC bislang<br />

etliche Hundert besonders viel versprechende<br />

ausgewählt und verfolgt. 431<br />

davon mündeten bis Ende 2013 in Verfahren,<br />

die zu Strafen von einer Million Dollar<br />

oder mehr geführt haben.<br />

Die meisten der erfolgreichen Whistleblower<br />

erhielten Prämien unter einer Million<br />

Dollar. Doch die Fälle üppiger Zahlungen<br />

nehmen zu. Einem Tippgeber, der eine<br />

Immobilienbetrügerei meldete, überwies<br />

die SEC im vergangenen Jahr 14 Millionen<br />

Dollar. Vor einigen Wochen transferierte<br />

die Behörde 30 Millionen Dollar auf ein<br />

Konto außerhalb der USA. Es war der erste<br />

SEC-Whistleblower, der aus dem Ausland<br />

Tipps lieferte. Weitere Multimillionenprämien<br />

hat die Behörde angekündigt.<br />

„Das Gesetz funktioniert“, frohlockt die<br />

SEC. Ihre Pipeline sei prall gefüllt mit<br />

hochkarätigen Fällen. Die neue Generation<br />

der Whistleblower sei gut informiert, hoch<br />

spezialisiert und für die Fahnder unverzichtbar.<br />

„Der Staat käme allein nie an diese<br />

Informationen“, verlautet es aus der Behörde:<br />

„Womöglich sind diese Whistleblower<br />

das schärfste Schwert im Kampf<br />

gegen Wirtschaftskriminalität.“<br />

HEIMAT DES WHISTLEBLOWING<br />

Dass der Whistleblower-Millionär in den<br />

Vereinigten Staaten erfunden wurde, ist<br />

kein Zufall. Die USA sind das Mutterland<br />

des Whistleblowing. Früher als jede andere<br />

Nation haben die Vereinigten Staaten erkannt,<br />

wie nützlich Hinweisgeber für die<br />

Strafverfolgung sein können. Schon 1778,<br />

da waren die USA gerade zwei Jahre alt,<br />

wurde das erste Gesetz zu ihrem Schutz<br />

verabschiedet. Auslöser war die Diskriminierung<br />

zweier Soldaten, die Missstände in<br />

der Kriegsmarine angezeigt hatten. 1863<br />

Wertvolle Tipps<br />

Entwicklung des Whistleblower-Programms<br />

der US-Börsenaufsicht SEC<br />

334<br />

2011<br />

3001<br />

Am häufigsten angezeigte Gesetzesverstöße<br />

2013<br />

557<br />

553<br />

525<br />

196<br />

168<br />

149<br />

105<br />

Whistleblower<br />

Insiderhandel<br />

Verstöße gegen Berichtspflichten<br />

Betrug<br />

Marktmanipulation<br />

Verstöße gegen Handelsvorschriften/Preisbildung<br />

Korruption<br />

3238<br />

Belohnungen für Whistleblower<br />

(in Dollar)<br />

45739<br />

14,8 Mio.<br />

2012 2013 2012 2013 2014*<br />

Betrug mit nicht registrierten Wertpapieren<br />

31,7 Mio.<br />

Strafen und Vermögensabschöpfungen nach<br />

Whistleblowing- und sonstigen Verfahren<br />

durch die SEC<br />

Zahl der Verfahren<br />

Strafen und Vermögensabschöpfungen<br />

(in Milliarden Dollar)<br />

735 2,8 734 3,1 686 3,4 755 4,2<br />

2011 2012<br />

* bis September; Quelle: SEC<br />

2013 2014*<br />

folgte ein weiteres Gesetz: Die Regierung<br />

musste während des Bürgerkriegs Betrug<br />

durch Armeeausrüster eindämmen und<br />

setzte dabei auf Tippgeber.<br />

Den großen Durchbruch erlebte das<br />

Whistleblowing 1974 durch den Watergate-<br />

Skandal. US-Präsident Richard Nixon trat<br />

damals zurück, weil ein FBI-Beamter Belastendes<br />

an die Zeitung „Washington<br />

Post“ durchgestochen hatte.<br />

Denunzianten, Verräter, Spitzel – die Bezeichnungen<br />

für diskrete Tippgeber waren<br />

aber auch in den USA nicht immer höflich.<br />

Deshalb ersann der US-Verbraucherschützer<br />

und grüne Politiker Ralph Nader das<br />

Whistleblowing, zu Deutsch: in die Trillerpfeife<br />

blasen, Alarm schlagen, um Missstände<br />

in Staat und Wirtschaft zu bekämpfen.<br />

Heute schützen in den USA Dutzende<br />

Gesetze Whistleblower vor Entlassung,<br />

Strafverfolgung oder Schadensersatzklagen<br />

– und verhelfen zahlreichen Anwälten<br />

zu einem einträglichen Geschäft.<br />

NEUE GOLDGRUBE FÜR KANZLEIEN<br />

Whistleblower-Rechtsanwalt Jordan Thomas<br />

hat in seinem Wolkenkratzer-Büro an<br />

der Südspitze von Manhattan alles Wichtige<br />

gut im Blick:Im Büro hat er seine Vorbilder<br />

versammelt – die Wände sind zugepflastert<br />

mit Plakaten von Hollywood-<br />

Streifen, in denen heimliche Informanten<br />

die Helden sind. Draußen, vor den bodentiefen<br />

Fenstern, erstreckt sich der Finanzdistrikt<br />

von New York. Dort rekrutiert Thomas<br />

seine Klienten, und hier schlagen deren<br />

Enthüllungen oft ein wie Bomben.<br />

Der 44-Jährige gehört zu den führenden<br />

Whistleblower-Anwälten. Wie viele SEC-<br />

Informanten er derzeit vertritt, will er nicht<br />

sagen. „Jeden Tag melden sich etliche potenzielle<br />

Klienten“, verrät Thomas – mehr<br />

nicht. Auch nicht, aus welchen Unternehmen<br />

oder Banken seine Klienten kommen.<br />

Und schon gar nicht, wer diese Mandanten<br />

sind: „Anonymität ist für meine Mandanten<br />

das Wichtigste“, sagt er. „Sie fürchten,<br />

dass sie sonst beruflich erledigt sind.“<br />

Der einstige Aktienhändler und Rechtsanwalt<br />

der US-Kriegsmarine weiß, wie der<br />

Hase läuft: Er war Strafverfolger im US-Justizministerium.<br />

Danach lernten ihn unter<br />

anderem der inzwischen abgewickelte<br />

Energiekonzern Enron, die US-Bank Fannie<br />

Mae, die UBS und die CitiGroup als<br />

Fahnder und Ankläger der SEC kennen.<br />

Aber je länger Thomas als Vize-Chef der<br />

SEC-Vollzugsabteilung arbeitete, umso<br />

mehr verstärkte sich sein Eindruck, gegen<br />

eine Hydra zu kämpfen: „Ein Bösewicht ist<br />

weg, zwei weitere tauchen auf – in immer<br />

kürzerer Abfolge.“ Mehr und mehr habe er<br />

begonnen, „über die Effizienz der Strafverfolgung<br />

nachzudenken“. Wolle man Wirtschaftsverbrechen<br />

effektiv bekämpfen, so<br />

seine Schlussfolgerung, müsse man möglichen<br />

Zeugen die Angst nehmen und ihnen<br />

Schutz vor wirtschaftlichem Ruin bieten.<br />

Thomas entwickelte das neue Whistleblower-Programm<br />

der SEC maßgeblich<br />

mit, bevor er 2011 zur New Yorker Kanzlei<br />

Labaton Sucharow wechselte. Seither<br />

bringt er im Auftrag von Whistleblowern<br />

deren Fälle bei der SEC vor. Die Informanten<br />

könnten sich auch ohne Anwalt an die<br />

SEC wenden. Die meisten wollen aber Fehler<br />

vermeiden, anonym bleiben und wenden<br />

sich an Experten wie Thomas.<br />

42 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Schärfste Waffe<br />

Jo White, Chefin<br />

der US-Börsenaufsicht<br />

SEC,<br />

schwört im Kampf<br />

gegen Wirtschaftskriminalität<br />

auf<br />

Whistleblower<br />

FOTO: GETTY IMAGES<br />

Ein Drittel des Whistlerblower-Lohns<br />

greift der Anwalt ab<br />

Mit dem Seitenwechsel dürfte Thomas<br />

sein Gehalt vervielfacht haben. Denn das<br />

Whistleblowing bietet Verdienstchancen,<br />

die selbst für New Yorker Wirtschaftsanwälte<br />

ungewöhnlich sind. „Whistleblowing<br />

ist die neueste Goldgrube“, sagt ein Washingtoner<br />

Rechtsanwalt: „Die Summen,<br />

die wir verdienen, sind fast schon obszön.“<br />

Die Anwälte arbeiteten fast ausnahmslos<br />

auf Erfolgsbasis. Wird eine Belohnung ausgezahlt,<br />

erhalten sie davon 30 bis 40 Prozent.<br />

Hinzu kämen „sehr ansehnliche“<br />

Stundensätze: „Die meisten rechnen im<br />

Schnitt 400 bis 500 Dollar pro Stunde ab.“<br />

Whistleblowing-Experte Tom Devine,<br />

Direktor für Rechtsfragen bei der Washingtoner<br />

Bürgerrechts-Organisation Government<br />

Accountability Project (GAP), sieht<br />

„einen Traum wahr werden für die Anwaltsprofession:<br />

Erstmals können Rechtsanwälte<br />

stolz darauf sein, reich zu werden.“<br />

Früher hingegen, sagt Devine augenzwinkernd,<br />

habe man für die Mafia arbeiten<br />

müssen, um so gut zu verdienen.<br />

Über 50 Kanzleien seien inzwischen mit<br />

Tippgebern im Geschäft, erzählt Devine. Er<br />

selber habe „häufig mit einem Whistleblower-Anwalt<br />

zu tun, der bis vor ein paar Jahren<br />

Firmen verteidigte, die durch Whistleblower<br />

in Bedrängnis kamen“.<br />

So hat auch die Kanzlei des inzwischen<br />

verstorbenen Staranwalts Johnnie Cochran<br />

das neue Geschäftsfeld entdeckt.<br />

Cochran hatte für den unter Mordverdacht<br />

stehenden Football-Star O.J. Simpson 1994<br />

einen Freispruch erkämpft und verteidigte<br />

Musiker wie Michael Jackson, Snoop Dogg<br />

und P. Diddy. Seit Anfang des Jahres baut<br />

die Kanzlei in Washington eine Abteilung<br />

für SEC-Whistleblower auf.<br />

Es sei die erste Belohnung in Höhe mehrerer<br />

Millionen US-Dollar im vergangenen<br />

Jahr gewesen, die die Kanzlei auf das Thema<br />

aufmerksam gemacht habe, sagt David<br />

Haynes, Partner der Kanzlei: „Da ist echtes<br />

Potenzial, denn Tatsache ist, dass Insidergeschäfte<br />

und andere Verstöße gegen Aktienrecht<br />

nie aufhören werden.“<br />

Politisch sind die Fronten bei dem Thema<br />

klar in den USA. Die Demokraten sind<br />

meist pro Whistleblower-Schutz, die Republikaner<br />

möchten lieber die Unternehmen<br />

vor den Whistleblowern schützen. Und so<br />

sorgen die Profiteure auf beiden Seiten dafür,<br />

dass ihre Einnahmequellen erhalten<br />

bleiben. 2012 trat Barack Obama zur Wiederwahl<br />

an, und sein republikanischer Widersacher<br />

Mitt Romney versprach, im Fall<br />

eines Wahlsiegs das Dodd-Frank-Gesetz<br />

wieder abzuschaffen. Prompt sah Rechtsanwalt<br />

John Phillips aus Washington, ein<br />

Urgestein im Whistleblower-Business, seine<br />

Felle davonschwimmen und erkannte:<br />

„Die Industrie hat Milliardenstrafen gezahlt,<br />

und die Gefahr ist riesig, dass die Politik<br />

auf ihren Druck hin nun zurückrudert.“<br />

Daraufhin begann Phillips, der allein an<br />

einem Whistleblower des Pharmakonzerns<br />

GlaxoSmithKline eine zweistellige Millionensumme<br />

verdient hatte, Wahlkampfspenden<br />

für Obama einzutreiben. Schnell<br />

hatte er 200 000 Dollar beisammen. Sein<br />

Kollege John Morgan aus Florida brachte<br />

es sogar auf 1,7 Millionen Dollar. Ebenfalls<br />

unter den Obama-Spendern: die Kanzlei<br />

Grant & Eisenhofer aus Delaware, die unter<br />

anderem einen Whistleblower unter Vertrag<br />

hatte, der dem US-Justizministerium<br />

im Zuge einer Strafe zu einer 800-Millionen-Dollar-Einnahme<br />

verhalf.<br />

„Man kann nur erahnen, was es bedeutet,<br />

wenn neuerdings so viel Geld mit der<br />

Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität<br />

gemacht wird“, sagt Whistleblowing-Experte<br />

Devine: „Das verändert die Machtverhältnisse<br />

zwischen der Wirtschaft, ihren<br />

Kontrolleuren und einzelnen Whistleblowern<br />

tief greifend.“ Denn Recht zu bekommen<br />

koste in den USA in der Regel viel<br />

»<br />

WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 43<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Staranwalt für Robin Hoods<br />

Jordan Thomas, früher Fahnder der US-<br />

Börsenaufsicht SEC, vertritt bevorzugt<br />

Hinweisgeber und wurde Großverdiener<br />

»<br />

Geld, so Devine: „Wer viel Geld hat, bekommt<br />

öfter recht, so einfach ist das.“<br />

Wer wüsste das besser als die Hausherren<br />

des neoklassizistischen Gebäudes direkt<br />

gegenüber des Präsidentensitzes: die<br />

amerikanische Handelskammer U.S.<br />

Chamber of Commerce. Sie ist der weltgrößte<br />

Unternehmensverband, die mächtigste<br />

Lobbyorganisation der USA – und<br />

der erbittertste Gegner von Whistleblower-<br />

Rechten. Der Verband lief jahrelang Sturm<br />

gegen die Verabschiedung des neuen SEC-<br />

Gesetzes und bekämpft es bis heute.<br />

GLEICHES LÖST GLEICHES<br />

Es sind nicht einzelne Elemente des Gesetzes,<br />

die die Wirtschaftsvertreter stören, es<br />

geht ums Prinzip. Denn mit den hohen<br />

Prämien bekämpft der Staat letztlich illegale<br />

Praktiken, die auf dem gleichen Mechanismus<br />

beruhen, der die Finanzkrise 2008<br />

mit auslöste – dem ungebremsten Gewinnstreben.<br />

Oder zugespitzt: Gier gegen Gier,<br />

getreu dem Chemiker-Latein „Similia similibus<br />

solvuntur“, Gleiches löst Gleiches.<br />

Mitarbeiter, vermutet die Handelskammer,<br />

könnten aus Geldgier direkt zur SEC<br />

laufen, statt Straftaten intern zu melden.<br />

Dies unterwandere die Bemühungen um<br />

Compliance, also um gesetzestreue Unternehmensführung,<br />

schimpft David Hirschmann,<br />

Präsident der Kapitalmarkt-Abteilung<br />

der Handelskammer. Firmen müssten<br />

Gelegenheit haben, Missstände selbst abzustellen.<br />

Sonst sei das, „als würde man bei<br />

einem Brand nicht die Feuerwehr rufen,<br />

sondern einen Anwalt beauftragen, damit<br />

er wegen des Feuers jemanden verklagt“.<br />

Die SEC will nicht ausschließen, dass<br />

manche Mitarbeiter zuerst Behörden einschalten.<br />

Allerdings sehen die Börsenwächter<br />

in erster Linie die Unternehmen in<br />

der Pflicht. Diese müssten sicherstellen,<br />

dass es interne Stellen gibt, an die sich<br />

Whistleblower vertrauensvoll wenden<br />

können. Dann würden die Mitarbeiter<br />

auch den internen Weg als ersten Schritt<br />

vorziehen. Zahlen geben der SEC recht.<br />

Laut einer Erhebung des Ethics Resource<br />

Center in Arlington bei Washington wenden<br />

sich über 90 Prozent der Mitarbeiter in<br />

US-Unternehmen, die Missstände anzeigen,<br />

zunächst an interne Stellen.<br />

§<br />

David Zaring, Jura-Professor an der<br />

Wharton School in Philadelphia, poltert<br />

über einen anderen Aspekt des staatlich<br />

geförderten Whistleblowing. Es ermutige<br />

gewöhnliche Bürger, am Arbeitsplatz „Polizei<br />

zu spielen“, sagt Zaring. Heerscharen<br />

von Rechtsanwälten würden ermuntert,<br />

Spitzel anzuwerben. „So gesehen“, meint<br />

Zaring, „ist das Whistleblower-Programm<br />

eine Privatisierung der Strafverfolgung,<br />

vergleichbar mit der Auslagerung eines<br />

Gefängnisbetriebs an eine Firma.“ Offenbar<br />

vertraue der Gesetzgeber eher auf private<br />

Spitzel statt auf Ermittlungen der Behörden,<br />

sagt Haring, und spielt auf die frühere<br />

SEC-Chefin Mary Schapiro an, die „limitierte<br />

Ressourcen“ der SEC einräumte.<br />

Ex-SEC-Strafverfolger Thomas hingegen<br />

sieht in den Whistleblowern keine Privatisierung<br />

der Strafverfolgung: „Die Behörde<br />

tut das, was sie muss: Sie gestaltet die Straf-<br />

Der Weg zu den Millionen<br />

Wie Whistleblower in den USA Insiderinformationen über Verstöße ihres Arbeitgebers gegen<br />

das Aktienrecht der Börsenaufsicht SEC melden und daran verdienen*<br />

meldet<br />

Unternehmen<br />

Meldung bleibt<br />

intern, keine<br />

öffentlichen Folgen<br />

§ $ § §§ * vereinfachte<br />

verhängt<br />

keine Strafe<br />

Whistleblower<br />

reicht Unterlagen an<br />

keine<br />

Belohnung<br />

Anwalt<br />

reicht Unterlagen weiter<br />

Börsenaufsicht SEC<br />

verhängt Strafe<br />

unter 1 Mio. Dollar<br />

Whistleblower<br />

überweist<br />

30 bis 40Prozent<br />

der Belohnung<br />

an Anwalt<br />

verhängt Strafe<br />

über 1 Mio. Dollar<br />

bezahlt auf Antrag<br />

des Whistleblowers<br />

oder dessen Anwalt<br />

Belohnung von<br />

10 bis 30 Prozent der<br />

Strafe<br />

veröffentlicht Urteil und Unternehmen<br />

auf Web-Site und verpflichtet sich<br />

zur Geheimhaltung der Identität des<br />

Whistleblowers<br />

Darstellung<br />

44 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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FOTOS: GETTY IMAGES/BLOOMBERG COLLECTION (2), REUTERS/TIM SHAFFER, LAIF/REDUX, GETTY IMAGES/AFP, LAIF/KAI NEDDEN<br />

verfolgung so effizient wie möglich, und<br />

die Whistleblower sind dabei das vielleicht<br />

wichtigste Mittel.“<br />

Zwar kommentiert die SEC die Güte der<br />

Whistleblower-Informationen nicht, doch<br />

aus ihrem Umfeld verlautet, dass die Zahl<br />

der unbrauchbaren Tipps „erstaunlich gering“<br />

sei. Offenbar steht die Behörde eher<br />

vor dem Problem, die Tausenden vorgetragenen<br />

Fälle zu sichten und die gravierendsten<br />

herauszufiltern. Mehrfach musste die<br />

Behörde dazu ihr Personal aufstocken.<br />

Es gibt zwei gute Gründe, warum der Anteil<br />

der Prämien-Glücksritter gering ist:<br />

Weil nur Fälle, die zu Strafen von mehr als<br />

einer Million Dollar führen, belohnt werden,<br />

werden Zeugen kleinerer Straftaten<br />

abgeschreckt. Und da sich die meisten<br />

Whistleblower auf ihre Anwälte verlassen,<br />

werden die zur zweiten entscheidenden<br />

Qualitätshürde. Nur wenn Thomas und Co.<br />

Erfolgschancen sehen, werden sie Mandanten<br />

unterstützen und deren Fälle bei<br />

der SEC einreichen.<br />

Die meisten Befürchtungen, die Kritiker<br />

der SEC-Belohnungen vorbrachten, haben<br />

sich nicht bewahrheitet. Von einer Ab-<br />

Unions-Politiker sind gegen Schutzgesetze<br />

für Whistleblower<br />

nancial Conduct Authority registrierte eine<br />

Zunahme von „wertvollen, substanziellen<br />

Whistleblower-Hinweisen um rund 70 Prozent“.<br />

Francesca West, Strategie-Chefin der<br />

britischen Whistlerblower-Organisation<br />

Public Concern at Work, führt den Anstieg<br />

auf die Präsenz von Hinweisgebern in den<br />

Medien und die „Darstellung mancher<br />

Whistleblower als Helden“ zurück.<br />

Die Entwicklung in Großbritannien steht<br />

in krassem Widerspruch zu Deutschland,<br />

wo es kaum gesetzlichen Schutz für Whistleblower<br />

gibt. Trotz des Drängens etwa der<br />

Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />

und Entwicklung (OECD) ist ein<br />

deutsches Whistleblower-Schutzgesetz<br />

nicht absehbar. SPD, Grüne und Linke haben<br />

zwar Gesetzesentwürfe vorgelegt.<br />

Doch weil die Union – anders als nach dem<br />

Gammelfleischskandal in Bayern 2007 –<br />

von einem zusätzlichen gesetzlichen<br />

Whistleblower-Schutz derzeit nichts wissen<br />

will, wird es einen gesetzlichen Vorstoß<br />

auf absehbare Zeit wohl nicht geben.<br />

„Deutschland ist beim Whistleblower-<br />

Schutz auf einem Niveau, das man sonst<br />

nur aus Drittweltländern kennt“, kritisiert<br />

schaffung des Programms im Fall eines republikanischen<br />

Wahlsiegs bei den nächsten<br />

Präsidentschaftswahlen 2016 spricht in<br />

Washington deshalb kaum noch jemand.<br />

Vielmehr wird derzeit diskutiert, mit welchen<br />

gesetzlichen Maßnahmen darauf reagiert<br />

werden kann, dass zahlreiche Unternehmen<br />

das SEC-Programm torpedieren.<br />

Viele Unternehmen lassen sich von ihren<br />

Mitarbeitern nämlich vertraglich zusichern,<br />

dass sie auf ihr Recht verzichten, an<br />

dem Whistleblower-Programm teilzunehmen.<br />

Der Chef des SEC-Programms, Sean<br />

McKessy, hat deshalb angekündigt, dass<br />

der Kampf gegen solche Praktiken für ihn<br />

künftig „höchste Priorität“ habe.<br />

Unterdessen scheint das SEC-Programm<br />

zum Vorbild für Börsenaufsichtsbehörden<br />

und Strafverfolger in anderen Ländern zu<br />

werden. So erwägt die britische Regierung,<br />

ein Verfahren zu etablieren, bei dem analog<br />

zum US-System Whistleblower mit Prämien<br />

belohnt werden. Neuen Auftrieb bekamen<br />

die Überlegungen im vergangenen<br />

Jahr, als die Zahl der Whistleblower-Hinweise<br />

an britische Behörden sprunghaft<br />

anstieg. Die Börsenaufsichtsbehörde Fider<br />

amerikanische Whistleblowing-Experte<br />

Devine. Er könne die Skepsis der Politik<br />

gegenüber Whistleblowern in einer „starken<br />

Wirtschaftsnation wie Deutschland“<br />

zwar nachvollziehen, trotzdem sei sie fehl<br />

am Platz. Die Hälfte seiner Arbeitszeit verwende<br />

er darauf, Unternehmen zu erklären,<br />

welch wertvolle Ressource Whistleblower<br />

seien: „Sie sind als aufrechte, aufmerksame<br />

und motivierte Menschen<br />

nicht nur gute Mitarbeiter. Sie sind die<br />

Warnlampe, die leuchtet, bevor die Fahnder<br />

oder Zivilkläger anrücken und es richtig<br />

teuer wird.“<br />

Über eine besondere Wertschätzung für<br />

Whistleblower wird laut Steve Pearlman,<br />

Partner bei der New Yorker Rechtsanwaltskanzlei<br />

Proskauer, derzeit in einigen US-<br />

Firmen diskutiert: nämlich über Prämien<br />

des Arbeitgebers. Offenbar prüfen US-Unternehmen,<br />

ob sie mit den SEC-Prämien<br />

gleichziehen müssen, damit Whistleblower<br />

intern Alarm schlagen – und nicht zur<br />

Börsenaufsicht gehen.<br />

n<br />

martin.seiwert@wiwo.de | New York<br />

Lesen Sie weiter auf Seite 46 »<br />

MUTIGE DER ERSTEN STUNDE<br />

Für Gottes Lohn<br />

Tippgeber, die vor Inkrafttreten des<br />

SEC-Whistleblower-Programms<br />

und ohne Belohnung auspackten.<br />

Richard M. Bowen III<br />

schlug bei der Citi-<br />

Group 2006 intern<br />

Alarm, weil rund 60<br />

Prozent der Hypotheken<br />

faul seien; wurde<br />

kaltgestellt, wandte<br />

sich ergebnislos an SEC, wurde daraufhin<br />

gefeuert. Hypotheken dieser Art lösten<br />

2008 die globale Finanzkrise aus.<br />

Everett Stern<br />

enttarnte bei seinem<br />

Arbeitgeber, der Bank<br />

HSBC, ein verzweigtes<br />

Geldwäschesystem<br />

seines Arbeitgebers,<br />

informierte FBI und<br />

CIA und kündigte 2011. HSBC wurde zu<br />

1,9 Milliarden Dollar Strafe verurteilt.<br />

Linda Almonte<br />

meldete ihrem<br />

Arbeitgeber, der US-<br />

Bank JP Morgan, dass<br />

Tausende offener oder<br />

fehlerhaft berechneter<br />

Kreditkartenschulden<br />

ohne weitere Kontrolle an Inkassounternehmen<br />

gingen; wurde gefeuert; 2013<br />

zahlte JP Morgan 389 Millionen Dollar<br />

Strafe und Schadensersatz.<br />

Wendell Potter<br />

sah als Manager des<br />

US-Krankenversicherers<br />

CIGNA, wie die<br />

Branche mit perfiden<br />

Tricks Leistungen verweigerte;<br />

sagte 2009<br />

vor dem US-Kongress dazu aus.<br />

Eric Ben-Artzi<br />

von der Deutschen<br />

Bank in New York<br />

wandte sich 2010 an<br />

die SCE wegen angeblich<br />

zu hoch<br />

bewerteter Papiere<br />

seines Arbeitgebers; musste ausscheiden;<br />

erwartet im Falle einer Strafe eine<br />

Belohnung; die Deutsche Bank bestreitet<br />

die Vorwürfe.<br />

WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 45<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

SCHUTZ FÜR HINWEISGEBER<br />

Prämien für Denunziation oder Zivilcourage?<br />

Wer in den USA den Behörden Verstöße seines Arbeitgebers etwa gegen das Aktienrecht meldet,<br />

kann mit der Hilfe des Staates und hohen Belohnungen rechnen. Soll es das auch in Deutschland geben?<br />

Pro<br />

Guido Strack, 49, ist Vorsitzender<br />

des 2006 gegründeten Vereins<br />

Whistleblower-Netzwerk in<br />

Köln. Zuvor arbeitete der gelernte<br />

Jurist als Beamter für die<br />

EU-Kommission in Luxemburg.<br />

Der amerikanische<br />

Präsident Barack<br />

Obama verfolgt<br />

Whistleblower im Militär-<br />

und Sicherheitsbereich<br />

härter als je zuvor. Bei Verstößen<br />

gegen Regeln des Marktes<br />

oder Schädigung öffentlicher<br />

Haushalte wird Whistleblowing<br />

jedoch finanziell gefördert. Kritiker<br />

in Deutschland verteufeln<br />

das US-System als Prämie für<br />

Denunzianten. Dies sollte man<br />

differenzierter sehen:<br />

n Das US-System beschränkt<br />

sich nicht auf Prämien für<br />

Whistleblower, sondern verbietet<br />

zugleich deren Diskriminierung<br />

und sanktioniert Täter.<br />

n Belohnungen gibt es auch<br />

hier, etwa für die Aufklärung von<br />

Straftaten oder beim Ankauf<br />

von Steuer-CDs. Dies geschieht<br />

hier jedoch weitgehend ohne<br />

klare Regeln und Rechtssicherheit<br />

für Informanten.<br />

n Andere Whistleblower hingegen<br />

gehen bei uns leer aus und<br />

stehen zudem ohne Schutz da.<br />

Viele können sich keinen Anwalt<br />

leisten, während die gegnerischen<br />

Behörden und Unternehmen über<br />

große Finanzkraft verfügen.<br />

n Das US-System dagegen erschließt<br />

die Marktkräfte zugunsten<br />

der Whistleblower. Anwälte<br />

reißen sich darum, Whistleblower<br />

auf Provisionsbasis, also ohne<br />

dass diese etwas dafür bezahlen<br />

müssen, zu vertreten und ihnen<br />

bei der schwierigen Sachverhaltsermittlung<br />

zu helfen, leider allerdings<br />

nicht im Militär- und Sicherheitsbereich.<br />

n Das US-System erlaubt in einigen<br />

Fällen dem Whistleblower, sofern<br />

die Behörden untätig bleiben,<br />

selbst im Namen der Allgemeinheit<br />

gegen den oder die Täter vor<br />

Gericht zu ziehen. Bei uns geht<br />

auch dies nicht, das öffentliche<br />

Interesse bleibt auf der Strecke.<br />

n Die staatlichen Haushalte in den<br />

USA erlösen jährlich Schadensersatz<br />

und Strafzahlungen in Milliardenhöhe.<br />

Hierzulande fehlen diese<br />

Milliarden ebenso wie Daten, die<br />

zeigen, wie erfolgreich Whistleblowing<br />

für uns alle sein könnte.<br />

n Schließlich ist der Begriff der<br />

Denunziation dort, wo Menschen<br />

in einer Demokratie auf Rechtsbrüche<br />

hinweisen, unangebracht.<br />

Prämien gibt es aber auch in den<br />

USA nur in genau diesen Fällen.<br />

Das Whistleblower-Netzwerk<br />

hat 2011 in einem Gesetzentwurf<br />

zum Schutz von Hinweisgebern<br />

nicht die Kopie des US-Systems<br />

mit seinen Prämien für Whistleblower<br />

gefordert. Wichtiger wäre<br />

ein öffentlicher Whistleblower-<br />

Fonds und ein Bundesbeauftragter,<br />

der diesen verwaltet. Die Mittel<br />

sollen der Unterstützung<br />

bedürftiger Whistleblower und der<br />

Förderung der gesellschaftlichen<br />

Akzeptanz des Whistleblowing<br />

dienen.<br />

Contra<br />

Tim Wybitul, 44, ist Vorstandsmitglied<br />

des Bundesverbandes<br />

Deutscher Compliance Officer<br />

(BDCO) und Leiter Compliance<br />

& Investigations bei der Kanzlei<br />

Hogan Lovells in Frankfurt.<br />

Belohnungen für Whistleblower<br />

wie in den<br />

USA– nein, danke. Dort<br />

können Hinweisgeber<br />

dreistellige Millionenbeträge<br />

bekommen, wenn sie Gesetzesverstöße<br />

melden. Einige amerikanische<br />

Gesetze sehen Belohnungen<br />

für Whistleblower vor, wenn<br />

deren Hinweise zur Verhängung<br />

von Bußgeldern führen, etwa bei<br />

Steuerhinterziehung, im Bereich<br />

der Börsenaufsicht oder anderen<br />

Wirtschaftsgesetzen. Damit<br />

schafft der Staat bewusst Anreize,<br />

das eigene Unternehmen im<br />

Falle von Verstößen bei den Behörden<br />

anzuzeigen.<br />

Dabei geht jedoch unter: Unternehmen<br />

haben ein massives Eigeninteresse,<br />

Wirtschaftsdelikte<br />

zu verhindern. Andernfalls drohen<br />

Ermittlungen der Staatsanwaltschaft,<br />

Strafverfahren vor Gericht,<br />

Verbandsbußen in Millionenhöhe,<br />

Schadensersatzforderungen und<br />

vor allem Rufschäden.<br />

Beschäftigte mit deutschen<br />

Arbeitsverträgen müssen im Rahmen<br />

ihrer gesetzlichen Treuepflicht<br />

Verstöße sogar melden,<br />

wenn der Arbeitgeber schwere<br />

Schäden befürchten muss.<br />

Belohnungen passen hier<br />

jedoch nicht hin, weil das deutsche<br />

Arbeitsrecht so nicht<br />

funktioniert. Denn dieselbe<br />

Treuepflicht sieht auch vor,<br />

dass Mitarbeiter zunächst versuchen<br />

müssen, Fehlentwicklungen<br />

intern anzusprechen,<br />

bevor sie sich an Behörden<br />

oder die Presse wenden. Informiert<br />

ein Arbeitnehmer etwa<br />

die Staatsanwaltschaft oder gar<br />

ausländische Behörden, ohne<br />

zuvor mit seinem Arbeitgeber<br />

über das Problem gesprochen<br />

zu haben, droht die fristlose<br />

Kündigung. Anders liegt der<br />

Fall, wenn eine interne Klärung<br />

dem Mitarbeiter nicht zugemutet<br />

werden kann.<br />

Würde der deutsche Gesetzgeber<br />

Regelungen schaffen, die<br />

Belohnungen für Hinweise an<br />

Behörden vorsähen, würde er<br />

damit Mitarbeiter gegebenenfalls<br />

auffordern, gegen ihre<br />

Pflichten aus dem Arbeitsvertrag<br />

zu verstoßen.<br />

Das Problem bei solchen<br />

Belohnungen geht noch weiter.<br />

Soll der Staat Bürger wirklich<br />

dafür bezahlen, dass sie Unternehmen<br />

oder Mitmenschen bei<br />

Behörden anzeigen? Es wäre<br />

interessant, wie sich dann die<br />

Anzahl der Anzeigen wegen<br />

Steuerhinterziehung entwickeln<br />

würden. Zwar könnten<br />

auch Unternehmen Hinweisgebern<br />

solche Belohnungen in<br />

Aussicht stellen. Fragt sich<br />

nur, wie die Stimmung dann in<br />

den Betrieben wäre. Doch<br />

ehrlich gesagt: Das will ich mir<br />

eigentlich aber gar nicht vorstellen.<br />

FOTO: PR<br />

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46 oder plus.google.com/+wirtschaftswoche<br />

Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Flexible Ringer<br />

AIR BERLIN | Im Konflikt um die Flugrechte kämpfen bizarre Koalitionen um eine gedeihliche Zukunft<br />

für die Airline, ihren Wettbewerber Lufthansa sowie die Hoheit am deutschen Himmel.<br />

Am Donnerstag vorvergangener Woche<br />

machte Bundesverkehrsminister<br />

Alexander Dobrindt (CSU) Air-<br />

Berlin-Chef Wolfgang Prock-Schauer das<br />

Leben etwas leichter. Überraschend kassierte<br />

der Politiker erst mal wieder das Verbot<br />

für Gemeinschaftsflüge der Linie mit<br />

ihrem Großaktionär Etihad aus dem Emirat<br />

Abu Dhabi. Der Bescheid war <strong>vom</strong> Luftfahrtbundesamt<br />

(LBA) in Braunschweig<br />

verfasst, das dem Ministerium unterstellt<br />

ist und die Zusammenarbeit von Air Berlin<br />

mit Etihad beschneiden wollte. Der Rückzieher<br />

spült der angeschlagenen Airline<br />

pro Jahr gut 60 Millionen Euro in die Kasse.<br />

Die Entscheidung des Christsozialen war<br />

mehr als ein Verwaltungsakt oder gar ein<br />

Akt der Nächstenliebe. Denn Dobrindt entschied<br />

unter Druck. Wie Insider berichten,<br />

hatte das Verwaltungsgericht in Braunschweig<br />

kurz zuvor das Signal gegeben, es<br />

könne einem Eilantrag von Etihad gegen<br />

den Erlass stattgeben. „Um sich die Blamage<br />

zu ersparen, hat das Haus Dobrindt das<br />

Verbot erst mal für ein halbes Jahr ausgesetzt“,<br />

heißt es aus eingeweihten Kreisen.<br />

Schwarz-Gelb gegen Rot-Weiß<br />

Dobrindts Volte ist der vorläufige Höhepunkt<br />

eines versteckten Kampfes, den zwei<br />

Teams für und gegen eine gedeihliche<br />

Zukunft von Air Berlin sowie um die<br />

Richtung der deutschen Luftfahrtpolitik<br />

führen.<br />

Die Liste derer, die sich dazu berufen<br />

fühlen und mit allen<br />

Mitteln mitmischen, könnte<br />

illustrer kaum sein. Sie<br />

reicht von Stephan Schulte,<br />

dem Chef der Frankfurter<br />

Flughafenholding<br />

Fraport,<br />

über Gewerkschafter<br />

wie Ilja Schulz<br />

Pro Air Berlin engagieren sich (v.l.) Winfried Kretschmann (Ministerpräsident<br />

Baden-Württemberg, Grüne), Klaus Wowereit (Regierender<br />

Bürgermeister Berlin, SPD), Hannelore Kraft (Ministerpräsidentin<br />

Nordrhein-Westfalen, SPD), Hartmut Mehdorn (Chef Flughafen Berlin)<br />

als Präsident<br />

der mächtigen Pilotenvertretung Vereinigung<br />

Cockpit bis hin zu Bayerns Ministerpräsidenten<br />

Horst Seehofer und Berlins<br />

Regierendem Bürgermeister Klaus Wowereit.<br />

„Da ringen schwarze, grüne und rote<br />

Ministerpräsidenten sowie die gelbe Lufthansa<br />

um die rot-weiße Air Berlin“, beschreibt<br />

ein Beobachter das Farbenspiel.<br />

Und mit der Rücknahme des Erlasses habe<br />

Air Berlin das Hinspiel gewonnen.<br />

Doch die Rückrunde läuft. Denn am Ende<br />

geht es nicht nur um die Frage, ob<br />

Etihad eigene Tickets für Flüge mit Air<br />

Berlin verkaufen darf. Vielmehr tobt<br />

der Streit um drei andere zentrale<br />

Punkte: Welche Rolle soll Air<br />

Berlin künftig im Himmel<br />

über Deutschland spielen?<br />

Wie weit soll sich die<br />

Geopolitische Interessen<br />

Außenminister Steinmeier<br />

will Etihad-Eigentümer<br />

Abu Dhabi nicht verärgern<br />

Bundesregierung<br />

für einen Konkurrenten<br />

heimischer<br />

Linien<br />

wie Lufthansa<br />

(LH) oder Condor verwenden,<br />

der von einem staatlich subventionierten<br />

Angreifer aus Arabien gehätschelt<br />

wird? Und was kann Berlin in dieser Situation<br />

überhaupt tun, wenn der Westen auf<br />

die Hilfe von Scheichs gegen die „IS“-Terroristen<br />

im Nahen Osten angewiesen ist?<br />

„Ein Verbot des Etihad-Engagements bei<br />

Air Berlin würde die Emirate vor den Kopf<br />

stoßen“, heißt es in Regierungskreisen.<br />

Pro Lufthansa engagieren sich (v.l.) Volker Bouffier (Ministerpräsident<br />

Hessen, CDU), Horst Seehofer (Ministerpräsident<br />

Bayern, CSU), Stefan Schulte (Vorstandsvorsitzender Fraport),<br />

Ralf Teckentrup (Vorstandsvorsitzender Condor)<br />

Alexander Dobrindt<br />

(Bundesverkehrsminister, CSU)<br />

»<br />

ILLUSTRATION: STEFFEN MACKERT; FOTOS: IPON/STEFAN BONESS, FOCUS/SCHLESER, PICTURE-ALLIANCE/DPA (4), RAINER UNKEL, BERT BOSTELMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, CARO/ZENSEN. MARC-STEFFEN UNGER<br />

48 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

»<br />

„Und das möchte Außenminister Walter<br />

Steinmeier bei einem Verbündeten im<br />

Kampf gegen die Terrormiliz vermeiden.“<br />

Die Motive der Unterstützer sind verständlich.<br />

Die politischen Helfer von Air<br />

Berlin kommen vor allem aus dem Kreis<br />

von SPD, Grünen und Gewerkschaften. Sie<br />

wollen die Fluglinie mit ihren Jobs sichern.<br />

Air Berlin hat rund 8000 Mitarbeiter in<br />

Deutschland und sorgt mit ihren 30 Millionen<br />

Passagieren noch mal für bis zu 30 000<br />

weitere Jobs bei Imbissen oder Abfertigern<br />

am Flughafen und im Umland.<br />

Das lässt die Gewerkschaft Verdi als Vertreterin<br />

der Mitarbeiter an Bord und Boden<br />

sogar grundsätzliche Vorbehalte gegen die<br />

in England residierende rot-weiße Fluggesellschaft<br />

vergessen. Lange Jahre wetterte<br />

Verdi, dass Air Berlin sich gegen Tariflöhne<br />

und Betriebsräte stemmte. Und noch im<br />

Sommer hatte die Gewerkschaft zum Boykott<br />

von Golffluglinien wie Qatar Airways<br />

aufgefordert, weil diese Kündigungsschutz<br />

und Mitbestimmung verweigern. „Nun<br />

helfen sie, dass die ebenfalls gewerkschaftsfreie<br />

Etihad mit ihrer Expansion Arbeitsplätze<br />

bei der Lufthansa gefährdet“,<br />

wundert sich ein Manager der Fluglinie.<br />

PILOTENSTREIK<br />

Mit der Fleischeraxt<br />

Fünf Lektionen für den Arbeitskampf von Willie Walsh, dem Chef der<br />

British-Airways-Mutter IAG, der Piloten dreimal in die Knie zwang.<br />

ANGST UM DIE LANGSTRECKE<br />

Politikern kommt es dazu vor allem auf die<br />

Stärkung der regionalen Wirtschaftskraft<br />

an. So will die nordrhein-westfälische Landesmutter<br />

Hannelore Kraft auch ihre Flughäfen<br />

füllen und dabei besonders ihrer<br />

Landeshauptstadt Düsseldorf die Air-Berlin-Langstreckenflüge<br />

erhalten. Ähnlich<br />

tickt Baden-Württembergs Landeschef<br />

Winfried Kretschmann. In Stuttgart ist die<br />

Abu-Dhabi-Strecke von Air Berlin der einzige<br />

Langstreckenflug gen Asien.<br />

Die Verbündeten der Lufthansa halten<br />

diese Motive für naiv. „Natürlich sichert<br />

Etihad Jobs“, heißt es im schwarz-gelben<br />

Unterstützerkreis. „Aber am Ende verliert<br />

Lufthansa unter dem Druck der Golflinien<br />

mehr Jobs, als Air Berlin erhält.“ Das träfe<br />

vor allem die Ministerpräsidenten Horst<br />

Seehofer (Bayern) und Volker Bouffier<br />

(Hessen), in deren Ländern die LH-Drehkreuze<br />

Frankfurt und München liegen.<br />

Doch der Zank könnte bald hinfällig<br />

werden. Denn offenbar wollen Deutschland<br />

und die Emirate die Flugrechte neu<br />

regeln. Danach „sind die Verhandlungen<br />

zu einer neuen zwischenstaatlichen Vereinbarung<br />

aufgenommen worden, um eine<br />

dauerhafte Lösung zu finden“, heißt es<br />

aus Kreisen des Verkehrsministeriums. n<br />

ruediger.kiani-kress@wiwo.de, christian schlesiger | Berlin<br />

Mit den Chefs seiner europäischen Konkurrenten<br />

hat Lufthansa-Chef Carsten<br />

Spohr in diesem Jahr vor allem eine<br />

Sache gemeinsam: Pilotenstreiks. Ob Air<br />

France, Tap aus Portugal, Alitalia oder<br />

die isländische Icelandair: Bei ihnen allen<br />

haben die Flugzeugführer die Arbeit<br />

niedergelegt oder dies zumindest angekündigt,<br />

als die Unternehmensführung<br />

Gehälter, Pensionen und Freizeit kürzen<br />

wollte, um im Wettbewerb mit Billigfliegern<br />

oder Fluglinien <strong>vom</strong> Golf nicht unterzugehen.<br />

Nur eine wirkt in alledem wie ein Hort<br />

des Arbeitsfriedens: British Airways. Bei<br />

der britischen Fluggesellschaft, deren Abkürzung<br />

BA unter Vielfliegern wegen der<br />

vielen Arbeitsniederlegungen lange Jahre<br />

für „Buche anderswo“ stand, gibt es seit<br />

gut vier Jahren keine Arbeitskämpfe<br />

mehr.<br />

Das ist das Werk von Willie Walsh, dem<br />

Chef des IAG-Konzerns, zu dem neben<br />

British Airways auch Iberia und Vueling<br />

Gewendeter Gewerkschaftsführer<br />

British-Airways-Übervater Walsh<br />

aus Spanien gehören. Der gebürtige Ire, der<br />

am letzten Samstag dieses Monats seinen<br />

53. Geburtstag feierte, hat seit 2001 zunächst<br />

als Chef der irischen Aer Lingus,<br />

dann von BA und zuletzt als Aufsichtsratschef<br />

von Iberia gleich bei drei Fluglinien<br />

den Piloten Konzessionen abgerungen und<br />

sie bislang von weiteren Streiks abgehalten.<br />

Dabei hat ihm vor allem seine Härte Spitznamen<br />

wie „The Slasher“ (zu Deutsch: die<br />

Fleischeraxt) eingetragen. Weil BA heute<br />

Europas profitabelste Traditionslinie ist, hat<br />

Walsh gleichermaßen den Neid anderer<br />

Airline-Chefs sowie wie den Respekt seiner<br />

Belegschaft geerntet.<br />

Doch so sehr der Manager mit dem billigen<br />

Aussehen – und oft dem Auftreten –<br />

eines Rugbyspielers in der Öffentlichkeit<br />

auch für Härte steht. Der Charme des Metzgers<br />

ist nicht das einzige Mittel, mit dem<br />

Walsh die Piloten auf Linie brachte. „Willies<br />

FOTO: PICTURE PRESS/EYEVINE/CHRISTIAN SINIBALDI<br />

50 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Vorgehen ist deutlich subtiler, als viele<br />

wahrhaben wollen“, sagt John Strickland,<br />

einst Vorstand bei Tochterlinien von BA<br />

sowie KLM und heute als selbstständiger<br />

Unternehmensberater in London tätig. In<br />

Wirklichkeit enthalte Walshs Methode<br />

fünf Lektionen, die sich für seine streikgeplagten<br />

Konkurrenten zu beherzigen<br />

lohnten.<br />

1. KENNE DEINEN GEGNER<br />

Zwar rühmen sich viele Airline-Chefs bester<br />

Kontakte zu ihrer Belegschaft. Doch<br />

keiner kennt die besondere Psyche der<br />

Piloten besser als Walsh. Bevor er nach<br />

seinem Master of Business and Administration<br />

(MBA) am renommierten Dubliner<br />

Trinity College bei Aer Lingus ins Management<br />

aufstieg, war er nicht nur Pilot und<br />

Gewerkschafter. Walsh war bereits mit 24<br />

Jahren sogar Verhandlungsführer – „und<br />

unser wohl gerissenster und härtester“,<br />

erinnert sich respektvoll sein Ex-Kollege<br />

Evan Cullen, heute Präsident der irischen<br />

Pilotengewerkschaft IALPA. In dieser Zeit<br />

sog Walsh auf, wie die Flugzeugführer ticken.<br />

Und er lernte, wie Unternehmen<br />

besser nicht mit ihren Arbeitnehmervertretern<br />

verhandeln: nämlich unehrlich und<br />

wankelmütig.<br />

2. SEI OFFEN UND KONSEQUENT<br />

Auch wenn es die Investoren verschreckte,<br />

Walsh schilderte die Lage des Unternehmens<br />

gegenüber den Angestellten<br />

genauso klar wie gegenüber seinen Aktionären.<br />

„Ich will nicht gute Nachrichten<br />

verkünden, sondern die Wahrheit“, so<br />

sein Motto. Um den Piloten den Ernst der<br />

Lage klarzumachen, öffnete er sogar einer<br />

von deren Gewerkschaft beauftragten<br />

Wirtschaftsprüfungsgesellschaft die<br />

Bücher und verordnete auch sich selbst<br />

und seinen Vorstandsmitgliedern –<br />

zumindest vorübergehend – ähnliche Gehaltseinbußen<br />

wie seinen Untergebenen.<br />

Dazu rechnete Walsh in Tarifverhandlungen<br />

detailliert vor, wie stark das Unternehmen<br />

ohne die Konzessionen seiner<br />

Mitarbeiter schrumpfen müsste. Aber er<br />

präsentierte auch gleichzeitig klar durchgerechnete<br />

Wachstumspläne, die ihm<br />

halfen, beispielsweise die Piloten mit der<br />

Aussicht auf neue Flugzeugmodelle wie<br />

den Superjumbo Airbus A380 oder den<br />

Boeing Dreamliner 787 zu ködern. Dazu<br />

vermied es Walsh, einen einmal beschlossenen<br />

Sanierungsplan durch öffentliche<br />

Kompromissangebote vor einer endgültigen<br />

Einigung zu verwässern oder<br />

während der Verhandlungen weitere Zugeständnisse<br />

zu verlangen.<br />

3. NUTZE STREIKBRECHER<br />

Als die Piloten und später auch die Flugbegleiter<br />

trotzdem streikten, scheute<br />

Walsh keine Tabus, um die Folgen zu mindern.<br />

„Ein vernünftiger Verhandlungsführer<br />

erreicht halt nichts“, sagte er in einem<br />

Interview. Wo andere Airline-Chefs überzogene<br />

Forderungen der Gewerkschaften<br />

beklagen oder flehentlich nach der Politik<br />

rufen, tut er alles, um den Ausstand weitgehend<br />

ins Leere laufen zu lassen. Während<br />

eines Pilotenstreiks bei BA mietete<br />

Walsh gezielt Flugzeuge, und das sogar<br />

bei seinem Erzrivalen, dem irischen Geizflieger<br />

Ryanair. Später im Ausstand der<br />

Flugbegleiter schickte Walsh angelernte<br />

Nachwuchskräfte als Streikbrecher in die<br />

Maschinen und konnte dabei sogar auf<br />

mehrere Tausend Angestellte aus anderen<br />

Unternehmensbereichen zählen. Am<br />

Ende setzte BA auf seinen Flügen sogar<br />

bis zu 1000 bereits von der Sanierung<br />

überzeugte Piloten als Stewards ein.<br />

4. BEWEISE LANGEN ATEM<br />

Um ihre Passagiere nicht unnötig zu verärgern,<br />

geben viele Unternehmen in<br />

Streiks viel zu früh nach, fand Walsh. Er<br />

nicht. „Wer von seiner Sache nicht überzeugt<br />

ist, sollte besser gar nicht erst anfangen“,<br />

so der Manager. Mit den Piloten<br />

rang er bei British Airways am Ende gut<br />

ein Jahr und mit der Kabinenbesatzung<br />

anschließend gleich noch mal so lange.<br />

Doch er gab nicht nach, selbst als Gewerkschafter<br />

ihn mit Adolf Hitler verglichen<br />

oder der Arbeitskampf bei Iberia in<br />

Spanien antibritische Demonstrationen<br />

auslöste. Doch am Ende setzte Walsh<br />

seinen Willen und die Sanierung durch.<br />

5. TRITT RECHTZEITIG ZURÜCK<br />

Als bei BA die Stimmung in der niedergerungenen<br />

Belegschaft nach dem Umbau<br />

am Boden war, zog sich Walsh aus dem<br />

Tagesgeschäft weitgehend zurück. Er arbeitete<br />

an der Fusion mit Iberia und übernahm<br />

schließlich den Chefposten bei der<br />

gemeinsamen Holding IAG. Die Führung<br />

und den Neuaufbau von BA überließ er<br />

seinem Vize, dem umgänglichen damaligen<br />

Finanzchef Keith Williams.<br />

n<br />

ruediger.kiani-kress@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 51<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Spielball für<br />

Ego-Trips<br />

SCHUMAG | Wie Missmanagement einen<br />

Mittelständler auf den Hund brachte.<br />

Schweres Erbe<br />

Schumag-Chef<br />

Ohlinger muss sich mit<br />

Bordellrechnungen<br />

seines Vorgängers<br />

herumschlagen<br />

Mit Johannes Ohlinger ist bei dem<br />

Aachener Maschinenbauer Schumag<br />

die Tugend der Sparsamkeit<br />

eingezogen. Der 60-jährige Alleinvorstand<br />

schaltet in den leeren Büros des Verwaltungsgebäudes<br />

abends das Licht aus. Als<br />

Dienstwagen fährt er einen Hyundai. Jeder<br />

soll sehen, dass es mit der Verschwendungssucht<br />

bei der Schumag AG vorbei ist.<br />

Die Zeichen, die Ohlinger zu setzen versucht,<br />

sind überfällig. Denn das 1830 gegründete<br />

Traditionsunternehmen, das mit<br />

Präzisionsteilen made in Germany wirbt,<br />

ist in Nöten. Der Mittelständler mit 49 Millionen<br />

Euro Umsatz und rund 660 Beschäftigten<br />

schreibt seit fünf Jahren Verlust. Vor<br />

einem Jahr teilte Ohlinger den Aktionären<br />

mit, dass die Hälfte des Grundkapitals verbraucht<br />

ist.<br />

VIELE MILLIONEN EURO VERSENKT<br />

Der Niedergang resultiert nicht nur aus<br />

dem scharfen Wettbewerb, der bei Antriebswellen,<br />

Stiften und Ventilen für die<br />

Autoindustrie tobt. Und auch der Umsatzeinbruch<br />

in der Finanzkrise 2009 sowie der<br />

überbordende Verwaltungsapparat nach<br />

dem Verkauf einer wichtigen Sparte erklären<br />

die miese Lage nur unzureichend.<br />

Der Kern des Übels bei Schumag liegt<br />

darin, dass das Unternehmen im besten<br />

Fall schlecht geführt, im schlimmsten Fall<br />

von Aktionären, Aufsichtsräten und Vorständen<br />

für eigene Interessen missbraucht<br />

und geplündert wurde. Das zeigen interne<br />

Schumag-Unterlagen, die der Wirtschafts-<br />

Woche vorliegen. Danach fehlen dem Unternehmen<br />

heute Millionen, die für dubiose<br />

Berater, für unnütze Investitionen und<br />

für private Zwecke bis hin zum Bordellbesuch<br />

draufgingen.<br />

Details über einige der Schandtaten<br />

dürften ans Licht der Öffentlichkeit gelangen,<br />

wenn es zum Prozess kommt. Gerade<br />

erst hat Schumag-Chef Ohlinger, seit zwei<br />

Jahren an der Spitze, bei einigen Verantwortlichen<br />

über vier Millionen Euro eingeklagt.<br />

Im Zentrum der Vorwürfe stehen der<br />

frühere Vorstandschef Nicolaus Heinen,<br />

der bis Mitte 2010 bei Schumag das Sagen<br />

hatte, sowie Großaktionär Peter Koschel,<br />

der auch Mitglied des Aufsichtsrats ist.<br />

Ob die beiden zur Verantwortung gezogen<br />

werden können, wird nicht einfach<br />

festzustellen sein. Fest steht dagegen: In<br />

den vergangenen Jahren gab es viele merkwürdige<br />

Vorgänge, die den Eindruck erwecken,<br />

als sei Schumag mehr ein Selbstbedienungsladen<br />

denn ein gewinnorientiertes<br />

Unternehmen gewesen:<br />

n Allein zwischen 2008 und 2012 gab der<br />

damalige Schumag-Vorstand unter Ohlin-<br />

Mächtige Eigentümer<br />

Aktionärsstruktur der Schumag AG<br />

(in Prozent <strong>vom</strong> Grundkapital)<br />

Meibah International<br />

Streubesitz<br />

13<br />

8<br />

Schumag-Mitarbeiter*<br />

52<br />

27<br />

* Anteil wird indirekt gehalten; Quelle: Unternehmen<br />

Peter Koschel*<br />

gers Vorgängern knapp neun Millionen Euro<br />

für externe Berater aus, deren Wert für<br />

das Unternehmen teilweise zweifelhaft waren.<br />

So erhielt ein Berater für seine Ratschläge<br />

im Bereich „Marketing, Vertrieb<br />

und Finanzierung“ 142 000 Euro. Welche<br />

Leistungen er erbrachte, ist nirgendwo<br />

festgehalten. Später tauchte dieser Berater<br />

als Geschäftsführer einer Firma auf, an der<br />

der damalige Schumag-Chef Heinen mittelbar<br />

beteiligt war. Ohlinger zweifelt an,<br />

dass der Berater für sein Geld etwas Sinnstiftendes<br />

geleistet hat. Heinen hält dagegen,<br />

der Berater habe Schumag „PR-mäßig<br />

stärker international ausrichten sollen“.<br />

Seine Arbeitsleistung sei mit „voller Zufriedenheit<br />

zur Kenntnis genommen“ worden.<br />

n Mehr als eine halbe Million Euro Honorar<br />

für nicht näher spezifizierte Beratung<br />

sackte eine Gesellschaft ein, die zeitweise<br />

Schumag-Aufsichtsrat Koschel und Ex-Vorstand<br />

Heinen indirekt gehörte. Heinens<br />

Nachfolger, der mittlerweile verstorben ist,<br />

führte diese Gesellschaft und erhielt überdies<br />

ein Beraterhonorar von rund 900 000<br />

Euro. Koschel behauptet heute, dass er gegen<br />

diese Verträge gewesen sei. Heinen<br />

bleibt dabei, dass sein Nachfolger wertvolle<br />

Dienste geleistet und hierfür ein „angemessenes<br />

Honorar“ erhalten habe, das<br />

<strong>vom</strong> Aufsichtsrat genehmigt worden sei.<br />

n Heinens verstorbener Nachfolger war<br />

nicht gerade sparsam. Nach Informationen<br />

der WirtschaftsWoche soll er jeden Monat<br />

mehrere Tausend Euro in einem Edel-Bordell<br />

im Rheinland „mit verführerischem<br />

Ambiente im tropischen Stil“ verprasst und<br />

die Rechnung mit der Firmenkreditkarte<br />

beglichen haben.<br />

FOTO: IMAGO/RENE SCHULZ<br />

52 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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n Mit 3,5 Millionen Euro zu Buche schlug<br />

den internen Unterlagen zufolge eine „Geschäftslinie<br />

Russland“ nebst zugehörigem<br />

„Know-how-Paket“, das Schumag unter<br />

Heinen erwarb. Das sollte dem Unternehmen<br />

Aufträge im Umfang von 20 bis 35 Millionen<br />

Euro für Ventile einbringen, die in<br />

russischen Ölpipelines eingebaut werden<br />

sollten. Doch aus dem erhofften Geschäft<br />

wurde nichts. Es ist nicht einmal klar, ob<br />

Schumag das angebliche „Know-how“, das<br />

etwa aus Zeichnungen besteht, überhaupt<br />

nutzen darf, da die Rechte möglicherweise<br />

bei einer anderen Firma liegen. Verkäufer<br />

des „Know-how-Pakets“ war eine Gesellschaft,<br />

die zeitweise Aufsichtsrat Koschel<br />

sowie dem damaligen Schumag-Vorstand<br />

Heinen und dessen Vater gehörte.<br />

n Auf dubiose Weise kam Schumag auch<br />

zu einer mehr als zwei Millionen Euro teuren<br />

5000 Quadratmeter großen Produktionshalle,<br />

die bis heute leer steht. Zwar<br />

geht aus Aufsichtsratsunterlagen hervor,<br />

dass Heinens Vorgänger allenfalls „langfristig“<br />

eine „ausreichende Auslastung“<br />

erwarteten und andere Maßnahmen einem<br />

Neubau vorzogen. Dennoch drängten<br />

die Betriebsräte im Aufsichtsrat auf einen<br />

zügigen Bau und kritisierten gar, dass<br />

der Vorstand mehrere Angebote einholen<br />

wollte, um Geld zu sparen. Die Arbeitnehmervertreter<br />

wollen dazu nicht Stellung<br />

nehmen.<br />

Das Leid mit den Chefs und Eigentümern<br />

hat bei Schumag Tradition. Bis 2002<br />

gehörte der frühere Familienbetrieb zum<br />

einstigen Babcock-Konzern, der Geld aus<br />

der Kasse der Aachener Tochter abzog.<br />

Nach der Pleite des Anlagenbauers 2002<br />

wurde Schumag als eigenständiges, börsennotiertes<br />

Unternehmen weitergeführt<br />

und 2007 mehrheitlich von der Berliner<br />

Unternehmerfamilie Kazinakis übernommen.<br />

Als deren Beteiligungsgesellschaft<br />

pleiteging, war über Jahre unklar, wem<br />

Schumag mehrheitlich gehört. Das hat sich<br />

vor einigen Wochen grundlegend geän-<br />

»Schumag wird<br />

für die Fehden der<br />

Führungskräfte<br />

missbraucht«<br />

Verklagter Ex-Schumag-Vorstand Heinen<br />

Stattdessen wanderte das Geld unter anderem<br />

in das ominöse und offensichtlich gescheiterte<br />

Russland-Geschäft, für das nun<br />

niemand die Verantwortung tragen will.<br />

Schumag-Chef Ohlinger fühlt sich von<br />

Großaktionär und Aufsichtsrat Koschel, der<br />

dem Unternehmen das „Know-how-Paket“<br />

verkaufte, sowie <strong>vom</strong> damaligen Vorstandschef<br />

Heinen hereingelegt. Koschel dagegen<br />

schiebt alles auf die damaligen Vorstände.<br />

Diese seien schuld daran, dass Schumag<br />

mithilfe des „Know-how-Pakets“ keine Aufträge<br />

hereinholen konnte. So habe Schumag<br />

in einem Fall Zertifikate für ein paar Tausend<br />

Euro benötigt, um einen Millionenauftrag an<br />

Land zu ziehen. Der Vorstand aber habe die<br />

Rechnung des Zertifizierers nicht beglichen<br />

und damit das Geschäft versemmelt. Im Übrigen<br />

erwarte er noch Gewinne. Die Geschäftslinie<br />

sei immer noch werthaltig.<br />

dert, als die Hälfte der Aktien an die<br />

Münchner Firma Meibah ging, die zur chinesischen<br />

Meikai-Gruppe gehört. Etwas<br />

mehr als ein Viertel der Aktien hält Schumag-Aufsichtsrat<br />

Koschel, rund acht Prozent<br />

halten die Mitarbeiter (siehe Grafik).<br />

Losgegangen war es mit den dubiosen<br />

Geschäften bei Schumag, nachdem das<br />

Unternehmen seine Maschinenbausparte<br />

verkauft hatte und von heute auf morgen<br />

über 40 Millionen Euro auf dem Konto lagen.<br />

GR0SSE RETOURKUTSCHE<br />

Doch die Fakten sprechen eine andere<br />

Sprache: Bis September 2012 hat die Energietochter<br />

von Schumag, die die Pipeline-<br />

Geschäfte an Land ziehen sollte, 6,7 Millionen<br />

Euro verbrannt.<br />

Ex-Vorstandschef Heinen holt gar zur<br />

großen Retourkutsche gegen das gegenwärtige<br />

Management aus. Schumag, so<br />

sein Vorwurf, werde „noch immer als<br />

Spielball für die Ego-Trips und Fehden der<br />

Eigentlich hätte der Vorstand damit örtlichen Führungskräfte“ missbraucht.<br />

dringend nötige Investitionen finanzieren<br />

müssen. Doch dazu kam es nicht. Die Maschinen<br />

bei Schumag sind inzwischen so<br />

Der Aufsichtsrat habe beim Russland-Geschäft<br />

sämtliche Informationen gehabt<br />

und den Deal einstimmig genehmigt.<br />

marode, dass sie jedes Jahr 35 000 Stunden In der Tat müssen sich die Aufsichtsratsmitglieder,<br />

zu denen damals auch Oh-»<br />

ausfallen. © Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

»<br />

men weltweit führend“, sagt Roland<br />

Göhde, Chef von German<br />

Healthcare Partnership (GHP),<br />

einer Allianz der Privatwirtschaft<br />

zur Stärkung von Gesundheitssystemen<br />

in Entwicklungsländern,<br />

die von der Bundesregierung<br />

unterstützt wird.<br />

Die Zeit drängt. Knapp 5000<br />

Ebola-Infizierte in Westafrika starben bereits.<br />

Zwar gelten Nigeria und Senegal wieder<br />

als Ebola-frei. Doch in den von Bürgerkrieg<br />

gezeichneten Staaten Liberia, Sierra<br />

Leone und Guinea verdoppelt sich die Zahl<br />

der Infizierten weiter alle drei Wochen. Die<br />

US-Seuchenschutzbehörde Centers for<br />

Desease Control and Prevention (CDC)<br />

rechnet bald mit 1,4 Millionen Infizierten.<br />

Die ökonomischen Folgen sind verheerend<br />

(siehe Interview Seite 10).<br />

Die deutschen Diagnostikfirmen profitierten<br />

von ausgezeichneter Forschung in<br />

diesem Bereich. So arbeiten am Institut für<br />

Virologie der Uni Marburg einige der weltweit<br />

führenden Experten für Filoviren, zu<br />

denen der Ebola-Virus gehört. Ebenso relinger<br />

gehörte, die Frage gefallen lassen,<br />

ob sie ausreichend hingeschaut haben. Die<br />

Unterlagen einer Aufsichtsratssitzung jedenfalls<br />

erwecken den Eindruck, dass die<br />

Kontrolleure nicht so ganz genau wussten,<br />

was sie da eigentlich für die Schumag einkauften.<br />

Im Protokoll ist eher rudimentär<br />

von einer „Geschäftslinie Russland“ die<br />

Rede. Obwohl es intern auch warnende<br />

Stimmen gab, winkte der Aufsichtsrat den<br />

Russland-Deal durch.<br />

NEUER ÄRGER<br />

Wann Schumag aus dem Schlamassel<br />

kommt, ist nicht absehbar. Denn wer gehofft<br />

hatte, der Einstieg des chinesischen<br />

Autoteile- und Kleidungsherstellers Meikai<br />

mit 52 Prozent brächte Ruhe ins Unternehmen,<br />

sieht sich getäuscht. Erst einmal<br />

schafft der neue Großaktionär weitere Probleme.<br />

So verliert Schumag durch den<br />

neuen Mehrheitseigentümer das Recht,<br />

die Verluste der Vergangenheit mit späteren<br />

Gewinnen steuerlich verrechnen zu<br />

können. Das heißt, das Unternehmen<br />

muss künftige Gewinne – und in diesem<br />

Jahr wird Schumag vermutlich wieder<br />

schwarze Zahlen schreiben – versteuern.<br />

Internen Kalkulationen zufolge könnten<br />

durch den Eigentümerwechsel in den<br />

kommenden fünf Jahren Steuern in Höhe<br />

von bis zu zehn Millionen Euro anfallen.<br />

Des Weiteren drohen die Eigentumsverhältnisse<br />

Schumag zu blockieren. Denn<br />

Miaocheng Guo, der Chef des neuen Großaktionärs<br />

Meikai, hätte auch gerne Koschels<br />

27 Prozent übernommen. Der aber<br />

wollte nicht für 1,35 Euro pro Aktie verkaufen.<br />

Nun kann Koschel mit seinen 27 Prozent<br />

eine Kapitalerhöhung bei Schumag<br />

durch die Chinesen verhindern, da hierfür<br />

75 Prozent der Stimmen auf der Hauptversammlung<br />

nötig sind.<br />

Der Betriebsrat steht dem neuen Aktionär<br />

aus China Unternehmenskreisen zufolge<br />

ebenfalls eher feindlich gegenüber.<br />

Die Mitarbeiter sind bei Schumag mächtig,<br />

da ihnen acht Prozent des Unternehmens<br />

gehören. Meikai-Chef Gou soll kürzlich<br />

zwar versichert haben, am Standort Aachen<br />

festhalten zu wollen, um die Kunden<br />

nicht zu verunsichern. Doch das Misstrauen<br />

der Beschäftigten ist groß.<br />

Die vergangene Schumag-Hauptversammlung<br />

beendete Betriebsrats- und<br />

Aufsichtsratschef Ralf Marbaise mit den<br />

Worten: „Wir haben noch ein Ass im Ärmel.“<br />

Viele Anwesende verstanden das als<br />

Drohung an die Adresse der Chinesen. n<br />

melanie.bergermann@wiwo.de | Frankfurt<br />

Bis zur Grasnarbe<br />

EBOLA | Deutsche Unternehmen sind führend bei Virustests und<br />

könnten eine wichtige Rolle im Kampf gegen die Epidemie spielen.<br />

Blau ist die Farbe des Todes. Ein paar<br />

Tropfen Blut reichen, um zu erkennen,<br />

ob Ebola im Körper ist. Je blauer<br />

sich das Röhrchen in Gestalt einer Plastikzigarette<br />

verfärbt, desto schlimmer wütet<br />

das Virus, desto näher ist der Tod. Bleibt<br />

das Röhrchen weiß, gibt es Entwarnung.<br />

Im Kampf gegen Ebola<br />

ist die Hoffnung weiß – die Hoffnung,<br />

dass man sich (noch)<br />

nicht angesteckt hat.<br />

Ihre Hoffnung, Afrika im<br />

Kampf gegen Ebola helfen zu<br />

können, haben drei deutsche<br />

Unternehmer noch nicht aufgegeben.<br />

Seit sieben Monaten bieten<br />

Hans Hermann Söffing, Tom Halgasch<br />

und Bernhard Niethe der Bundesregierung<br />

und der Weltgesundheitsorganisation<br />

WHO zwei fast fertig erprobte Ebola-<br />

Schnelltests an; erforscht wurden sie vor<br />

zehn Jahren. Niethe entwickelte die Diagnostika,<br />

Söffing kann sie in seiner Firma<br />

Senova in Weimar fertigen, Halgasch verfügt<br />

über ein Labor in Guinea und könnte<br />

den Vertrieb in Westafrika organisieren.<br />

WELTWEIT VORN<br />

Noch zögern das Bundesgesundheitsministerium<br />

und die WHO, den Test in Afrika<br />

einzusetzen, da er nicht alle vorgeschriebenen<br />

Prozeduren durchlaufen hat. Der<br />

Schnelltest beruht auf Forschungsergebnissen<br />

der Bundeswehr und unterscheidet<br />

sich von Verfahren, die auf Erbgutanalysen<br />

beruhen. Er weist nicht die Viren nach,<br />

sondern die Abwehrstoffe, die ein Infizierter<br />

gebildet hat. Diese Tests sind mit 20 bis<br />

30 Minuten Dauer deutlich schneller als<br />

Erbguttests, aber in der Regel auch nicht<br />

ganz so genau. Zudem fehlt der endgültige<br />

Beweis der Zuverlässigkeit.<br />

Während Westafrika unter der Ebola-<br />

Epidemie zusammenzubrechen droht,<br />

bieten sich deutsche Unternehmen an, bei<br />

einem wichtigen Teil der Bekämpfung zu<br />

helfen: bei der Erkennung der Krankheit.<br />

Unternehmen wie GlaxoSmithKline aus<br />

Großbritannien, NewLink Genetics und<br />

Johnson & Johnson aus den USA arbeiten<br />

fieberhaft an Impfstoffen, Firmen von hier<br />

sind führend bei Diagnostika zur Früher-<br />

Fotos<br />

In unseren App-<br />

<strong>Ausgabe</strong>n finden<br />

Sie Aufnahmen<br />

von Rettungskräften<br />

am Ort<br />

kennung des Virus. Schnelltests sind mindestens<br />

so wichtig wie Krankenhäuser und<br />

Versorgungszenten für Kranke.<br />

„Deutsche Unternehmen sind bei der<br />

Entwicklung von diagnostischen Lösungen<br />

zur Erkennung von Ebola neben amerikanischen<br />

und französischen Fir-<br />

Außer Kontrolle<br />

Zahl der Ebola-Infizierten und -Toten in<br />

Westafrika (in Tausend)<br />

10<br />

8<br />

6<br />

4<br />

2<br />

Infizierte<br />

Tote<br />

0<br />

M A M J J A S O<br />

Quelle: WHO<br />

2014<br />

FOTO: ACTION PRESS/ZUMA PRESS/NURPHOTO<br />

54 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Suche nach Infizierten<br />

Mitarbeiterin des<br />

Liberianischen Roten<br />

Kreuzes in Monrovia<br />

Ebola-Schnelltests made in Germany<br />

ALTONA DIAGNOSTICS Sitz in Hamburg,<br />

2007 gegründet. Erfolge bei Diagnose<br />

von BSE und SARS. Ebola-Test analysiert<br />

Virus-Erbgut, dauert vier Stunden.<br />

Vertrieb in Westafrika über Düsseldorfer<br />

Diagnostikahersteller Qiagen.<br />

ALERE TECHNOLOGIES Gegründet 1998<br />

in Jena. Stärken: Bietet für Afrika bereits<br />

mobile Geräte für Tests von HIV und Tuberkulose.<br />

Ebola-Test analysiert Viren-Erbgut.<br />

Soll für Nichtregierungsorganisationen feldtauglichen<br />

Ebola-Schnelltest entwickeln.<br />

SENOVA 30-Mitarbeiter-Betrieb in Weimar.<br />

Ebola-Test per Streifen oder Röhrchen<br />

wäre revolutionär: Ergebnis in Minuten.<br />

Basiert auf Forschungen der<br />

Bundeswehr. Reagiert auf Antikörper. Beweis<br />

der Zuverlässigkeit steht noch aus.<br />

nommiert ist das Hamburger Bernhard-<br />

Nocht-Institut für Tropenmedizin, dessen<br />

Forscher seit März in Guinea im Auftrag eines<br />

europäischen Konsortiums ein mobiles<br />

Untersuchungslabor aufgebaut haben.<br />

Aus diesen Forschungseinrichtungen<br />

haben sich zahlreiche Unternehmen ausgegründet,<br />

etwa in Hamburg die Firma Altona<br />

Diagnostics. Die hat in Zusammenarbeit<br />

mit Forscherkollegen aus Marburg seit<br />

März einen sehr sicher arbeitenden Test<br />

entwickelt, der innerhalb von vier bis fünf<br />

Stunden Ergebnisse liefert. „Er wird im Europäischen<br />

mobilen Labor in Westafrika<br />

und den an die WHO angegliederten Laboratorien<br />

eingesetzt“, sagt Hans Kuhn, Finanzchef<br />

des Unternehmens.<br />

Seit Oktober hat auch Qiagen den Test<br />

im Angebot. Das Biotech-Unternehmen<br />

aus Hilden bei Düsseldorf ist weltweit in<br />

der Diagnostikszene sehr gut bekannt, weil<br />

es sich seit den Achtzigerjahren mit praktischen<br />

Laborsets für die Isolierung von Erbgut<br />

aus biologischem Probenmaterial einen<br />

Namen gemacht hat. Die Produkte von<br />

Qiagen fehlen in keinem Biotech-Labor<br />

der Welt. Qiagen gilt auch bei WHO und<br />

CDC als wichtiger Ansprechpartner. Doch<br />

der Schnelltest hat einen Nachteil. Weil er<br />

das Erbgut analysiert, ist er komplex, verhältnismäßig<br />

teuer. Zudem erfordert er gute<br />

Laborinfrastruktur und geschultes Personal.<br />

Diese Methode sei daher „nicht ohne<br />

Weiteres vor Ort in infrastrukturschwachen<br />

und ländlichen Gebieten einsetzbar“,<br />

sagt Experte Göhde.<br />

ROBUSTE GERÄTE FÜR AFRIKA<br />

Bundesforschungsministerin Johanna<br />

Wanka steckt daher mehrere Millionen Euro<br />

in eine Non-Profit-Organisation in Genf,<br />

die Foundation for Innovative New Diagnostics<br />

(FIND). Diese will einen wirkungsvollen<br />

Test für Westafrika entwickeln lassen<br />

und setzt dabei auf Hilfe des Jenaer Unternehmens<br />

Alere Technologies. Das Spinoff<br />

aus Forschungseinrichtungen der Region<br />

entwickelt Tests, die einfach zu handhaben<br />

sind und in unmittelbarer Patientennähe<br />

durchgeführt werden können.<br />

„Wir arbeiten dezentral und bis herunter<br />

zur Grasnarbe“, beschreibt Alere-Technologies-Chef<br />

Eugen Ermantraut den Ansatz.<br />

Der Vorteil – auch dieser auf Erbgutanalysen<br />

beruhenden Tests – wäre offensichtlich:<br />

„Wenn wir damit zu den Menschen<br />

kommen, schränkt das die Wege ein, die<br />

mögliche Kranke zurücklegen und dabei<br />

weitere Menschen anstecken.“<br />

Noch hat Alere keinen verkaufsfertigen<br />

Test im Angebot. Das Unternehmen ist<br />

aber mit treffsicheren und robusten Tuberkulose-<br />

und Aids-Tests in Afrika im Geschäft.<br />

Weil der Aids-Erreger dem Ebola-<br />

Virus ähnelt, könnte ein angepasster Alere-<br />

Test sehr rasch auch bei der neuen Seuche<br />

funktionieren. Deshalb hat sich FIND auch<br />

schon an Alere gewandt.<br />

Senova-Chef Söffing gibt nicht auf. Er<br />

reist diese Tage nach Guinea. Dort betreibt<br />

sein Geschäftskollege Halgasch, Chef des<br />

Gesundheitsdienstleisters Health Focus in<br />

Potsdam, seit Jahren ein Labor, das sich zu<br />

einer anerkannten Privatklinik gemausert<br />

hat. Für den Schnelltest würden bald Patienten<br />

getestet und Mitarbeiter geschult.<br />

„Wenn man Ebola früh erkennt und den<br />

Patienten isoliert“, ist Söffing optimistisch,<br />

„kann man die Krankheit besiegen.“ n<br />

christian.schlesiger@wiwo.de, susanne kutter,<br />

florian willershausen | Berlin<br />

WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 55<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Château Lidl<br />

WEINHANDEL | Der Einstieg des Discounters Lidl in das Geschäft<br />

mit teuren Weinen trifft den ohnehin angeschlagenen Fachhandel<br />

hart. Und die Konkurrenz zieht nach.<br />

nicht selten von Ortsnachbarn oder Verbandsfreunden<br />

gerüffelt. Lang gehört zum<br />

Verband deutscher Prädikatsweingüter,<br />

der für sich in Anspruch nimmt, die große<br />

Mehrheit der Spitzenproduzenten der 13<br />

deutschen Weinbauregionen zu vertreten.<br />

Die Dämme brechen. Mit Online-Offerten<br />

wie dem 2011er Château d’Yquem für<br />

349 Euro oder dem Saint-Estèphe Grand<br />

Cru Classé 2 Château Montrose des gleichen<br />

Jahrgangs für 89,99 Euro nimmt Lidl<br />

den Wettbewerb nicht nur mit dem stationären<br />

Fachhandel, sondern auch mit den<br />

Versendern hochwertiger Weine auf.<br />

Kampfpreis 299 Euro pro Flasche Château<br />

d’Yquem bei Sauternes im Bordeaux<br />

Der Newsletter der Weinhandlung Lorenz<br />

Adlon in Berlin schwärmt in den<br />

höchsten Tönen: Wer zu Gast sei auf<br />

Château d’Yquem auf der Spitze eines Hügels<br />

oberhalb der Ortschaft Sauternes südöstlich<br />

von Bordeaux, habe „wirklich das<br />

Gefühl, in einer anderen Welt zu sein“. Das<br />

ist sie auch. Insbesondere die Süßweine des<br />

Gutes gelten als die rarsten und besten der<br />

Welt. Ein d’Yquem aus dem Jahr 1811 ist bis<br />

heute laut „Guinness Buch der Rekorde“ die<br />

teuerste je versteigerte Flasche Weißwein:<br />

Sie erzielte 2011 in London 75000 Pfund.<br />

Der jüngste aktuell zu kaufende Jahrgang<br />

2011 ist bei Lorenz Adlon allerdings zurzeit<br />

zum Kampfpreis von 299 Euro zu haben –<br />

50 Euro weniger als Discounter Lidl seit<br />

Ende Oktober für den gleichen Wein in seinem<br />

Online-Shop verlangt. Bei solchen<br />

Preisen ist die Gewinnmarge schmal: Etwa<br />

250 Euro pro Flasche verlangt das Weingut,<br />

das zum Pariser Luxuskonzern LVMH gehört,<br />

schon von seinen Zwischenhändlern,<br />

die an den Einzelhandel weiterverkaufen.<br />

Die Reaktion der Berliner zeigt, wie bedrohlich<br />

der Einstieg von Lidl ins Geschäft<br />

mit hochpreisigen Weinen von der Branche<br />

eingeschätzt wird. „Das ist ein harter<br />

Schlag für den eh schon leidenden Weinfachhandel“,<br />

sagt Olaf Müller-Soppart, Mitgründer<br />

von Jacques’ Weindepot und heute<br />

Inhaber eines Spezialhauses für Weinkellereinrichtungen.<br />

Und die Lage dürfte<br />

sich verschärfen. Denn neben Lidl planen<br />

auch andere Einzelhandelsriesen, das Geschäft<br />

mit teureren Tropfen auszubauen.<br />

Der Konkurrenzkampf um den rund fünf<br />

Milliarden schweren Weinmarkt in<br />

Deutschland erreicht mit dem Lidl-Vorstoß<br />

eine neue Dimension. Bislang beschränkten<br />

sich die Discounter darauf, neben ihrem<br />

Standardsortiment billiger Weine in<br />

Aktionen Rieslinge und Barolos namhafter<br />

Weingüter anzubieten. Die kosten dann<br />

auch mal deutlich mehr als die 2,60 Euro,<br />

die der Deutsche im Schnitt für einen Liter<br />

Discounter-Wein zahlt. Die Aktionen taten<br />

dem Fachhandel wegen der begrenzten<br />

Mengen nicht wirklich weh.<br />

Dennoch wurden Winzer wie Hans Lang<br />

aus Eltville am Rhein, die an Aldi lieferten,<br />

PUNKTE FÜR DEN VERBRAUCHER<br />

Bei den Bordeaux-Weinen soll es nicht bleiben,<br />

Lidl will weitere Länder dazunehmen.<br />

Und andere Handelsketten ziehen nach.<br />

Real plant für die wichtige Vorweihnachtszeit<br />

eine Aktion mit Weinen renommierter<br />

Häuser wie Antinori, Mondavi oder Torres.<br />

Discounter Netto lässt sich von dem Mastersommelier<br />

Frank Kämmer beraten und<br />

führt im laut eigenen Aussagen größten Online-Weinsortiment<br />

eines Discounters unter<br />

anderem chilenische Rotweine für 99,50<br />

Euro oder einen Château Figeac für 249 Euro.<br />

Rewe plant seit Monaten den Aufbau eines<br />

Online-Weinshops und muss nun zusehen,<br />

wie Wettbewerber Lidl mit Werbung in<br />

allen Filialen und TV-Spots voranprescht.<br />

All dies trifft auf einen Fachhandel, der<br />

bereits angeschlagen ist. Weinverkauf ist in<br />

Deutschland mittlerweile die Domäne der<br />

Supermärkte, großen Kaufhäuser und Discounter.<br />

74 Prozent aller Flaschen gehen in<br />

diesem Segment über das Kassenband, gerade<br />

einmal sieben Prozent verkauft der<br />

Fachhandel (siehe Grafik). Das könnte nun<br />

noch weniger werden. „Bis heute war es<br />

nicht lustig mit Weinhandel, jetzt ist er tot“,<br />

klagt ein Berliner Händler, dessen Spezialität<br />

hochwertige Weine aus dem Bordeaux,<br />

der Champagne und den deutschen Spitzenweingütern<br />

sind.<br />

Der Fachhandel leidet darunter, dass für<br />

Weine unterhalb von zehn Euro kaum ein<br />

Kunde Beratung im Ladengeschäft sucht.<br />

Und selbst Händler in der Preislage oberhalb<br />

von 20 Euro pro Flasche können nicht<br />

sicher sein, dass der Kunde, der sich einen<br />

Sancerre zum Steinbutt empfehlen lässt,<br />

den auch im Geschäft einpackt. Das Phänomen<br />

ist auch in anderen Branchen bekannt:„Die<br />

Kunden suchen heute zum Teil<br />

noch im Geschäft auf dem Smartphone<br />

nach dem empfohlenen Wein, und wenn<br />

er im Versand billiger ist, bestellen sie ihn<br />

dort“, schimpft der Berliner Händler, der<br />

FOTO: GETTY IMAGES<br />

56 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Direkt <strong>vom</strong> Discounter<br />

Absatzmengen von Wein in Deutschland<br />

nach Einkaufsstätten (Anteile in Prozent)<br />

12 13<br />

13 13<br />

21 22<br />

27 26<br />

15 14<br />

7 7<br />

5 5<br />

2012 2013<br />

Quelle: GfK Consumer Scan<br />

Lebensmitteleinzelhandel<br />

bis 1500 m 2 Ladenfläche<br />

Selbstbedienungswarenhäuser<br />

und Verbrauchermärkte<br />

Aldi<br />

Restliche Discounter<br />

Winzer<br />

Fachhandel<br />

Restliche Einkaufsstellen<br />

wie Tankstellen, Restaurants<br />

weiß, dass nur die Spezialisierung auf seltene<br />

Weine sein Überleben sichert.<br />

In der Beletage der Weinexperten gibt es<br />

gegenüber den Discountern – anders als bei<br />

manchen Winzern – offenbar weniger Berührungsängste.<br />

So hat Lidl die Kompetenz<br />

für den Verkauf hochwertiger Weine eingekauft<br />

und dafür Richard Bampfield verpflichtet.<br />

Der Brite hat 2012 in Großbritannien<br />

erstmals für die dortigen Lidl-Filialen<br />

Top-Weine ausgesucht und bewertet.<br />

Bampfield ist einer von nur knapp 300 Masters<br />

of Wine, die <strong>vom</strong> gleichnamigen Institut<br />

ausgebildet und geprüft werden. Zu ihnen<br />

zählen einige der einflussreichsten Weinkritiker<br />

wie Michael Broadbent oder Jancis<br />

Robinson.<br />

Aus Deutschland gehört Caro Maurer zu<br />

dem exklusiven Club. Für die Weinautorin<br />

und Dozentin ist Bampfields Lidl-Engagement<br />

kein Sündenfall: „Er bewertet die Weine<br />

nach den üblichen Kriterien.“ Sie freue<br />

sich, dass mit Lidl ein Discounter auch bessere<br />

Qualitäten anbiete und der Kunde so<br />

dazu angeregt werde, auch mal mehr Geld<br />

für einen Wein auszugeben.<br />

Bei Deutschlands größtem Weinhändler<br />

Aldi ist der ehemalige Sommelierweltmeister<br />

Markus Del Monego an Bord – auch er<br />

ein Master of Wine.Del Monego ist Gründer<br />

der Essener Agentur Caveco, die für Aldi die<br />

Weine aussucht. Früher stand Del Monego<br />

mit seinem eigenen Gesicht für die Aldi-<br />

Weinauswahl, nach vielen Anfeindungen<br />

von Kollegen wirkt er inzwischen nur noch<br />

abseits der Öffentlichkeit.<br />

Aldi – bekannt dafür, bewusst spät auf<br />

Branchentrends aufzuspringen – hat noch<br />

keinen Online-Shop, setzt aber auch auf<br />

bessere Weinqualitäten. So arbeitet der Discounter<br />

mit dem badischen Winzer Fritz<br />

Keller zusammen, der seit 2008 für Aldi Süd<br />

die Edition Fritz Keller produziert – zu Preisen<br />

deutlich über dem Aldi-Durchschnitt.<br />

Die Trauben stammen von mehr als 450 badischen<br />

Winzern, die nach Vorgaben Kellers<br />

die Rebstöcke beschneiden und Mengen reduzieren<br />

müssen.<br />

Hinter Lidls Vorstoß stecken indes weitere<br />

Motive als nur der Angriff auf Weinhändler<br />

und Handelskonkurrenten. Lidls Strategie<br />

mit dem Angebot von 1000 Weinen im Online-Shop<br />

ist es auch, die eigenen Kunden an<br />

den gerade durchstartenden Kauf von Lebensmitteln<br />

im Internet zu gewöhnen (WirtschaftsWoche<br />

Heft 44/2013). Alle fürchten<br />

sich auch vor dem Versandhändler Amazon,<br />

der in den USA mit fresh.amazon Erfolg hat.<br />

Tjorven Jorzik ist Geschäftsführer des Beratungsunternehmens<br />

Frag’ Henry, das einen<br />

digitalen Sommelier für Supermärkte entwickelt<br />

hat. Via Touchscreen können sich dabei<br />

Kunden im Geschäft einen Wein empfehlen<br />

lassen. Jorzik meint: „Die Weinfachhändler<br />

leiden zwar unter dem Vorstoß der Discounter,<br />

sind aber eher Kollateralopfer.“<br />

n<br />

thorsten.firlus@wiwo.de<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Ungleiche Partner Früher nahm sich<br />

Ex-Bankräuber Massat (rechts), was er kriegen<br />

konnte, heute unterstützt er Sicherheitsberater<br />

Hannich. Vor beiden steht ein kleiner<br />

Safe, den Massat allerdings trotz seiner<br />

Erfahrung nicht zu knacken vermochte<br />

»Überfälle konnte ich gut«<br />

BANKEN | Was ist der Einbruch in eine Bank gegen den Schutz einer Bank? Die Antwort<br />

geben zwei Insider: der Ex-Bankräuber Siegfried Massat und der Sicherheitsberater Rainer<br />

Hannich, die dabei helfen, Filialen besser auf Überfälle vorzubereiten.<br />

FOTO: CHRISTOF MATTES FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

58 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Wenn Siegfried Massat ans Rednerpult<br />

tritt und sich vorstellt, geht ein Raunen<br />

durchs Auditorium. Seine Zuhörer sind<br />

Banker. Der eine oder andere von ihnen<br />

hat selbst Überfälle erlebt<br />

oder Geschichten von betroffenen<br />

Kollegen gehört.<br />

Manches Opfer empfindet<br />

es als Unverschämtheit,<br />

wenn sich ein verurteilter<br />

Bankräuber wie Massat als<br />

Dozent vor Bankangestellte<br />

hinstellt. Andere dagegen<br />

sehen die Vorträge des<br />

72-Jährigen als unterhaltsamen<br />

Kontrapunkt zu den oft<br />

drögen Programmen auf Finanzkongressen<br />

oder Sicherheitsmessen und feixen zu<br />

den abenteuerlichen Storys des ehemaligen<br />

Berufsverbrechers.<br />

Nach Absitzen diverser Strafen hat Massat<br />

mit seiner Vergangenheit abgeschlossen.<br />

Heute arbeitet er mit Rainer Hannich<br />

zusammen, der lange Schutzbeauftragter<br />

einer Landesbank war und sich danach als<br />

Sicherheitsberater selbstständig gemacht<br />

hat. Hannich hat Massats erzählerisches<br />

Talent entdeckt und stellt sein Insiderwissen<br />

nun Bankern zur Verfügung.<br />

Massat plaudert in rheinischem Singsang,<br />

bringt seine Geschichten von den<br />

Überfällen sympathisch-sachlich rüber.<br />

Vor Bankern tritt er im Anzug auf, sonst<br />

kleidet er sich modisch, aber leger, trägt<br />

Hemd oder Pulli, dazu eine helle Hose. Die<br />

Haare auf dem sonnengebräunten Schädel<br />

sind kurz getrimmt, ein schlangenförmiges<br />

Tattoo auf dem rechten Unterarm weist auf<br />

die Knastkarriere hin. Insgesamt hat er<br />

rund 30 Jahre hinter Gittern verbracht.<br />

Herr Massat, kann man von Banküberfällen<br />

reich werden?<br />

Manche vielleicht, ich nicht. Die Beute sah<br />

zwar immer nach viel Geld auf einen<br />

Schlag aus, aber dazwischen hatte ich<br />

Durststrecken und Fehlschläge. Wenn man<br />

davon leben muss, bleibt nicht viel übrig.<br />

Warum haben Sie überhaupt Banken<br />

überfallen, wenn es nichts bringt?<br />

Ich bin in die Kriminalität geraten durch<br />

meine Biografie – Heimkind, Jugendknast<br />

und so weiter. Dann habe ich nach anfänglichen<br />

Rückschlägen festgestellt, dass<br />

Überfälle etwas waren, was ich sehr gut<br />

konnte. Es war mein Job. Ich war Berufsverbrecher,<br />

der scheinbare Erfolg verschaffte<br />

mir Anerkennung in meinem<br />

Umfeld.<br />

Wann haben Sie Ihr Talent für Überfälle<br />

entdeckt?<br />

DER WACHHUND<br />

Hannich, 61, arbeitete bis<br />

2007 als sogenannter<br />

Zentraler Schutzbeauftragter<br />

einer deutschen Landesbank<br />

und machte sich<br />

danach als unabhängiger<br />

Sicherheitsberater für<br />

Banken und Sparkassen<br />

selbstständig.<br />

Meinen ersten richtigen Banküberfall habe<br />

ich mit Anfang 30 verübt, in den Siebzigerjahren.<br />

Davor bin ich in Banken eingebrochen,<br />

wenn niemand da war, und habe den<br />

Tresor aufgeschweißt. Das<br />

dauerte einmal ein ganzes<br />

Wochenende, in einer kleinen<br />

Volks- und Raiffeisenbank<br />

in der Nähe von Mönchengladbach.<br />

Ein Kumpel<br />

und ich haben schichtweise<br />

Brenner und Meißel bedient.<br />

Am Ende waren<br />

Scheine drin im Wert von<br />

60 000 D-Mark, aber viele<br />

versengt von den Funken<br />

<strong>vom</strong> Aufschweißen.<br />

Was kam nach den Bankeinbrüchen?<br />

Beim ersten Überfall sind wir vor Schreck<br />

wieder rückwärts raus aus der Filiale, weil<br />

so viele Kunden im Schalterraum standen.<br />

Das war ein Fehler, wie ich später gelernt<br />

habe. Denn für Bankräuber ist es gut, wenn<br />

viele Kunden im Raum sind.<br />

Herr Hannich, wissen Sie als Sicherheitsexperte<br />

und natürlicher Gegner von Leutten<br />

wie Herrn Massat, warum das so ist?<br />

Für Banken als Unternehmen ist bei Überfällen<br />

das Wichtigste, Leben und Gesundheit<br />

von Kunden und Mitarbeitern zu<br />

schützen. Das sind auch die Vorgaben der<br />

Berufsgenossenschaften, über die die Mitarbeiter<br />

versichert sind. Das Personal hat<br />

strikte Anweisung, auf alle Forderungen<br />

der Täter einzugehen – vor allem, wenn<br />

Kunden dabei sind.<br />

Und wenn gerade keine<br />

Kunden da sind?<br />

Dann kann man schon mal<br />

leichter riskieren, den<br />

Alarm auszulösen, ohne<br />

dass es die Bankräuber merken.<br />

Viele Tresore oder Tresorräume<br />

lassen sich mit einer<br />

alternativen Kombination<br />

öffnen, die unbemerkt<br />

Alarm auslöst.<br />

Herr Massat, wie ging es<br />

weiter nach Ihrem ersten, misslungenen<br />

Überfall?<br />

Wir sind erwischt worden, wurden aber<br />

nicht verurteilt. Denn wir sind vor Vollendung<br />

von der Tat reuevoll zurückgetreten,<br />

wie Juristen sagen. Später habe ich mir<br />

dann neue Komplizen gesucht und weitergemacht.<br />

Wie haben Sie die Kunden und Mitarbeiter<br />

der Banken unter Kontrolle gebracht?<br />

Wir haben sie bedroht. Meine Komplizen<br />

hatten meist Pistolen, aber ich trug eine<br />

DER PANZERKNACKER<br />

Massat, 72, Spitzname<br />

Siggi, verbrachte seine Jugend<br />

im Heim, raubte Banken<br />

und Juweliere aus und<br />

landete im Gefängnis, um<br />

am Ende zu den Guten<br />

überzulaufen. Heute referiert<br />

er auf Finanzkongressen<br />

und Sicherheitsmessen<br />

über seine Taten.<br />

Schrotflinte, der Lauf gekürzt, der Schaft<br />

abgesägt. Das ist eine ganz bösartige Waffe,<br />

und das sieht man ihr auch an. Die Wirkung<br />

auf Menschen ist schon allein beim<br />

Anblick verheerend. Allerdings haben wir<br />

während eines Überfalls niemals eine Waffe<br />

abfeuern müssen. Die Leute mussten<br />

sich hinlegen und die Angestellten das<br />

Geld aus der Kasse herausgeben.<br />

Wie kamen Sie da ran?<br />

Einer von uns sprang über den Bedienschalter,<br />

schnappte sich einen Bankangestellten<br />

und ging mit dem in den abgeschirmten<br />

Kassenraum. In den kam man<br />

meist nur durch eine Tür hinter der Schalterhalle.<br />

Sie haben nie auf Menschen geschossen,<br />

warum?<br />

Unsere Bande wollte das auf jeden Fall verhindern,<br />

weil der Fahndungsdruck auf uns<br />

sonst überhand genommen hätte. Wir haben<br />

also nicht allein aus Mitgefühl so gehandelt.<br />

Weil keiner zu Schaden gekommen<br />

ist, hat die Polizei nach einigen Tagen<br />

die Suche aufgegeben und sich auf noch<br />

drastischere Fälle konzentriert.<br />

Herr Hannich, wie bereiten Sie die Banken<br />

und ihre Mitarbeiter auf solche oder<br />

ähnliche Überfälle vor?<br />

Mindestens zwei Mal im Jahr gibt es Sicherheitsunterweisungen<br />

in den Filialen. Die<br />

sind bewusst abstrakt gehalten. Wir warnen<br />

davor, Widerstand zu leisten oder zu<br />

fliehen, weil das die Täter zwingt, von ihrer<br />

Waffe Gebrauch zu machen.<br />

Veranstalten Sie auch Rollenspiele,<br />

um das Verhalten<br />

bei Überfällen realitätsnah<br />

zu trainieren?<br />

Davon rate ich ab. Das habe<br />

ich bisher nur für Polizisten<br />

gemacht, die haben<br />

zum Beispiel in einer Bankfiliale<br />

eine Geiselnahme<br />

trainiert, am Wochenende<br />

und ohne Mitarbeiter oder<br />

Kunden. Eine Überdosis<br />

Realität würde die Angst<br />

der Angestellten erheblich steigern, einige<br />

würden um Versetzung weg aus der Filiale<br />

bitten.<br />

Herr Massat, wie haben Sie sich nach den<br />

Überfällen davongemacht?<br />

Entscheidend ist, dass ein schneller Fluchtwagen<br />

mit einem zuverlässigen Fahrer bereitsteht.<br />

Das Auto war geklaut, meist ein<br />

schneller Golf GTI oder G 60. Dann gab es<br />

noch ein Fahrzeug zum Wechseln, um die<br />

Spur zu verwischen. Das Zweitauto war ein<br />

Audi 100. Die Fahrzeuge haben wir auf<br />

WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 59<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

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einem belebten Parkplatz zum Beispiel<br />

vor einem Supermarkt abgestellt, wo sie<br />

tagsüber nicht auffielen.<br />

Offensichtlich haben Sie die Überfälle<br />

intensiv vorbereitet.<br />

Man muss das im Detail planen, für mich<br />

war es wie gesagt ein Beruf. Wenn wir weit<br />

genug weg waren von der Bank und die Polizei<br />

die Straßen nach uns absuchte, haben<br />

wir uns für viele Stunden versteckt, etwa in<br />

einem Gebüsch hinter einem Spielplatz,<br />

und die Beute gezählt.<br />

Dafür hatten Sie Nerven?<br />

Man muss ja im Versteck etwas tun, um die<br />

Zeit totzuschlagen. Die Beute zu zählen<br />

ist gar nicht so ohne. Auch damals waren<br />

die Geldbündel schon mit Farbbömbchen<br />

gesichert. Wenn man die falsch anpackte,<br />

war das Geld wertlos. Außerdem wäre<br />

man aufgefallen mit Farbe an den<br />

Händen.<br />

Wie konnten Sie das vermeiden?<br />

Wir hatten Stulpenhandschuhe<br />

dabei und Plastiktüten. Dann<br />

wurde jeweils ein Bündel aus<br />

dem Beutel herausgeholt und in<br />

der Plastiktüte geöffnet. So wurde<br />

nur das Bündel verunreinigt, in<br />

dem die Farbpatrone versteckt<br />

war.<br />

Wie viele Banken haben Sie<br />

überfallen?<br />

Die Taten sind verjährt, aber ich<br />

lege trotzdem keine Liste auf den<br />

Tisch. Wegen Bankraub und bewaffneten<br />

Diebstahls wurde ich<br />

zuletzt 1994 zu siebeneinhalb<br />

Jahren Gefängnis verurteilt.<br />

Wie hat man Sie erwischt?<br />

Erwischt wurde ich wegen einer<br />

anderen Sache. Wir wollten einen<br />

Juwelier überfallen und dafür einen Laster<br />

klauen, um mit der Ladefläche rückwärts<br />

durchs Schaufenster zu stoßen. Gegenüber<br />

der Spedition, wo die Lkws parkten, war eine<br />

Tankstelle. Von dort hat wohl jemand<br />

die Polizei gerufen. Wir konnten zwar mit<br />

unserem eigenen Auto rechtzeitig entkommen,<br />

kehrten aber nach etwa einer Stunde<br />

zurück, um die Spuren zu beseitigen. Mein<br />

Kumpel hatte eine Flasche liegen gelassen,<br />

die er ohne Handschuhe angefasst hatte.<br />

Das ließ ihm keine Ruhe, weil er sich um<br />

die Fingerabdrücke sorgte. Allerdings hatten<br />

die Polizisten auf uns gewartet.<br />

Woher wusste die Polizei, dass Sie Bankräuber<br />

waren, nicht nur Autodiebe?<br />

Das wussten die erst auch nicht. Aber wir<br />

sind dann mit dem Auto davongedüst, die<br />

haben uns erst nach einer halsbrecherischen<br />

Verfolgungsjagd quer durch Essen<br />

gekriegt. Die Polizisten waren zugegebenermaßen<br />

gute Fahrer, ihr Wagen hat unseren<br />

von der Straße in einen Zaun gerammt.<br />

Da wir Waffen hatten, wurde denen<br />

klar, dass sie es mit Schwerkriminellen<br />

zu tun hatten. Die Waffen haben die Polizei<br />

in Rage gebracht, damit hätten wir auf<br />

die schießen können. Wir wurden dann<br />

heftig verhört, auch geschlagen, es gab Geständnisse.<br />

Waren Prügel durch die Polizei der Grund<br />

für das Geständnis?<br />

Nein.<br />

Warum wollten Sie von Banken auf<br />

Juweliere umsatteln?<br />

Das ging leichter. Die Banken haben immer<br />

mehr aufgerüstet und die Kassenbestände<br />

abgespeckt, das sprach sich<br />

»Man muss im Versteck etwas<br />

tun, um die Zeit totzuschlagen«<br />

Siegfried Massat, Ex-Bankräuber<br />

schnell herum im Milieu. Vor manchen Filialen<br />

waren Warnhinweise, auch in osteuropäischen<br />

Sprachen: Hier nur wenig<br />

Bargeld.<br />

Herr Hannich, was waren die Gründe für<br />

diese Aufrüstung der Bankfilialen?<br />

Der erste Wendepunkt waren die Banküberfälle<br />

durch RAF-Terroristen in den<br />

Siebzigerjahren. Da hat in den Vorstandsetagen<br />

ein Umdenken eingesetzt. Ob aus<br />

politischen Gründen, also um Terroristen<br />

abzuwehren, darüber kann ich nur spekulieren.<br />

Die Zahl der Raubüberfälle hatte ein<br />

Niveau erreicht dass sich der Gesetzgeber<br />

veranlasst sah, mehr für die Sicherheit von<br />

Bankfilialen zu tun.<br />

Was haben die Banken konkret gegen<br />

Überfälle unternommen?<br />

Das Bargeld wurde schneller abtransportiert,<br />

die Tresorräume mit Zeitschlössern<br />

versehen, sodass die Türen erst nach Minuten<br />

aufgingen – zu lang für einen schnellen<br />

Überfall. Kassenbestände wurden massiv<br />

verringert, Alarmanlagen verbessert und –<br />

damals völlig neu – Kameras zur Aufzeichnung<br />

von Überfällen installiert. Damit war<br />

auch eine Abschreckung verbunden.<br />

Auch die Verbrechen des NSU-Terror-<br />

Trios zeigen, dass Banküberfälle nach wie<br />

vor passieren. Haben Bankfilialen immer<br />

noch ein Sicherheitsproblem?<br />

Banküberfälle wird man nie ausschließen<br />

können. Gelegentlich gehen Filialen nicht<br />

sorgsam mit den Sicherheitsvorschriften<br />

um, was Täter erkennen und ausnutzen.<br />

Die Taten von Herrn Massat liegen lange<br />

zurück. Welchen Nutzen ziehen Sicherheitsprofis<br />

heute aus seinen<br />

Berichten?<br />

Jedes Tatgeschehen ist anders.<br />

Aber aus den Schilderungen<br />

kann man schließen, welche Sicherheitsvorkehrungen<br />

abschreckend<br />

oder risikomindernd wirken.<br />

Auch Polizisten setzen sich<br />

mit ehemaligen Straftätern zusammen,<br />

um aus deren Denken,<br />

Handeln und Fühlen Erkenntnisse<br />

für künftige Fälle zu gewinnen.<br />

Eines kann man ganz sicher attestieren:<br />

Bankraub lohnt nicht – zu<br />

wenig Beute, hohe Aufklärungsquoten<br />

und massive Strafen für<br />

die Täter.<br />

Herr Massat, haben Sie es<br />

eigentlich auch mal mit legaler<br />

Arbeit versucht?<br />

Ja, ich habe Trinkhallen in meinem<br />

Wohnort aufgemacht, die<br />

meine Familie und mich redlich ernährt<br />

haben. Aber wenn es dem Esel zu wohl<br />

wird, geht er aufs Eis tanzen. Ich habe den<br />

Anfragen von meinen Kollegen nicht lange<br />

standgehalten, und schon war ich wieder<br />

im Geschäft.<br />

Sie haben anfangs angedeutet, dass von<br />

der Beute nicht viel übrig geblieben ist.<br />

Wovon leben Sie heute, von Vorträgen?<br />

Ich wünschte, das könnte ich. Nein, ich habe<br />

142 Euro Rente im Monat, für die Zeit, in<br />

der ich Rentenbeiträge gezahlt habe. Die<br />

Arbeit im Gefängnis wird leider nicht auf<br />

die Rente angerechnet. Wenn das so wäre,<br />

hätte ich eine bessere Rente. Dazu kommt<br />

die staatliche Grundsicherung, also Hartz<br />

IV. Ich klage nicht, es ist eine Situation, für<br />

die ich selbst verantwortlich bin.<br />

n<br />

mark.fehr@wiwo.de | Frankfurt<br />

FOTO: CHRISTOF MATTES FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

60 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Technik&Wissen<br />

Vorsicht, Falle!<br />

HIRNFORSCHUNG | Als Manager, Vorgesetzte, Investoren – oder ganz privat: Wir müssen<br />

ständig entscheiden. Und dabei führt der angeblich so objektive Verstand uns<br />

allzu oft in die Irre. Neue Erkenntnisse von Neurologen und Psychologen helfen uns,<br />

teure Fehler zu vermeiden.<br />

Soll ich heiraten, Kinder bekommen,<br />

ein Haus kaufen? Bewerbe<br />

ich mich auf die frei werdende<br />

Stelle als Abteilungsleiter?<br />

Oder wechsele ich besser die<br />

Firma? Bei solch wichtigen Fragen beraten<br />

sich Menschen bisher meist mit Freunden<br />

oder der Familie.<br />

Seit Kurzem bietet das Internet nun auch<br />

hier eine digitale Alternative zum guten alten<br />

analogen Gespräch an: Das kalifornische<br />

Start-up Cloverpop verspricht Hilfe<br />

für alle Lebenslagen. Seit September können<br />

sich Zauderer und Zögerer im Web<br />

durch einen Fragebogen klicken, der sie<br />

beim Abwägen unterstützen soll.<br />

Zwar entscheidet der Dienst am Ende<br />

nicht wirklich für die Nutzer. Doch zumindest<br />

helfe er, „Klarheit zu bekommen und<br />

sich der Motive bewusst zu werden, die ihr<br />

Denken beeinflussen“, verspricht Cloverpop-Gründer<br />

Erik Larson. Der Selbsttest<br />

arbeite systematisch Alternativen heraus<br />

und zeige auf, was dem Fragenden wichtig<br />

sei – Ruhm, Reichtum, Familie oder Spaß<br />

am Leben. Larsons Ziel: „Auf dieser<br />

Grundlage getroffene Entscheidungen berücksichtigen,<br />

was für den jeweiligen Menschen<br />

wirklich zählt.“<br />

Jeden Tag treffen wir 20 000 Entscheidungen,<br />

schätzt der Münchner Hirnforscher<br />

Ernst Pöppel. Bedeutende und unbedeutende<br />

– und solche, die wir gar nicht<br />

wahrnehmen. Fast unbemerkt entscheiden<br />

wir uns morgens, die Beine aus dem<br />

Bett zu schwingen. Wir treffen unsere Wahl<br />

vor dem Kleiderschrank, am Frühstückstisch:<br />

Honig oder Marmelade? Vieles geschieht<br />

intuitiv, ohne wirkliche Relevanz<br />

für Erfolg oder Misserfolg an einem Tag.<br />

Doch dann gibt es Entscheidungen, die<br />

wir auch als solche empfinden, bei denen<br />

wir auf jeden Fall richtig liegen wollen: Wer<br />

von den vier Stellenbewerbern ist der Richtige?<br />

Was sagen wir, wenn der Chef heute<br />

unsere Meinung zum anstehenden Ausbau<br />

des China-Geschäfts hören will?<br />

Was kaum jemandem bewusst ist: Erschreckend<br />

oft übernehmen verborgene<br />

Mechanismen das Kommando, tappen wir<br />

in Fallen mit teils drastischen und teuren<br />

Folgen: Investoren setzen auf falsche Firmen,<br />

Chefs stellen unfähige Mitarbeiter<br />

ein, Richter verurteilen Unschuldige, Konzernstrategen<br />

deuten Prognosen falsch:<br />

20 000<br />

Entscheidungen<br />

trifft der Mensch<br />

an jedem einzelnen Tag<br />

n So vergrätzte der Softwarekonzern<br />

Microsoft Zigtausende treue Kunden, als<br />

er bei Windows 8 auf die ungeliebte<br />

Kacheloptik umstellte. Ein echter Fehlgriff,<br />

der dazu beitrug, dass die Software<br />

floppte.<br />

n Der nie fertiggestellte Atommeiler Kalkar<br />

verschlang 3,6 Milliarden Euro. Heute ist<br />

der schnelle Brüter ein Freizeitpark.<br />

n Der deutsche Chemiegigant BASF<br />

verkaufte seine komplette Pharmasparte<br />

für 6,9 Milliarden Dollar an den US-<br />

Konzern Abbott. Mit im Paket: Das fast<br />

fertig entwickelte Krebsmittel Humira. Es<br />

spielt Abbott heute knapp zehn Milliarden<br />

Dollar Umsatz ein – pro Jahr.<br />

Die Beispiele zeigen: Wer glaubt, Fehlurteile<br />

unterliefen nur schlichten Gemütern,<br />

liegt falsch. Im Gegenteil, auch kluge<br />

Menschen treffen allzu oft falsche Entscheidungen.<br />

Warum das so ist, versuchen Forscher<br />

mit aufwendigen Methoden zu ergründen<br />

(siehe Seite 66). Kaum ein Wissenschaftsfeld<br />

boomt derzeit so stark. Eine Milliarde<br />

Euro steckt etwa die Europäische Union ins<br />

Human Brain Projekt. Und in Berlin<br />

trafen sich gerade 6000 Neuropsychologen<br />

zu ihrer Jahrestagung. Die Faszination ist<br />

groß.<br />

Einiges können die Forscher schon jetzt<br />

erklären. Warum viele Schlüsse, die wir für<br />

wohlüberlegt und objektiv halten, es gar<br />

nicht sind, weil das Gehirn die Wirklichkeit<br />

verzerrt darstellt oder sie falsch bewertet.<br />

Das liegt weder an Dummheit noch an Inkompetenz.<br />

Viele dieser Vorgänge haben<br />

sich in Jahrmillionen der Evolution entwickelt.<br />

Bloß passen die Entscheidungsmuster<br />

nur noch bedingt in unsere moderne<br />

Lebenswelt.<br />

Andere Kompetenzen wie den Umgang<br />

mit Zahlen und Statistiken beherrschen<br />

wir noch immer nicht ausreichend, so<br />

Neuroforscher Pöppel: „Wir haben viele<br />

Defizite, die es uns schwer machen, fehlerlos<br />

durchs Leben zu navigieren.“<br />

Nur wer also weiß, welche Streiche unser<br />

Gehirn uns spielt, kann die Fallen umgehen.<br />

Wir haben die jüngsten Erkenntnisse<br />

gesichtet und die zehn wichtigsten von ihnen<br />

identifiziert: damit Sie sich künftig<br />

richtig entscheiden.<br />

ILLUSTRATION: NICHOLAS BLECHMAN<br />

62 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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1<br />

SCHÖNHEITS-FALLE<br />

Wie uns schöne Menschen im<br />

Beruf verführen.<br />

Die größte Schwachstelle gut durchdachter<br />

Analysen ist – ausgerechnet – unser Denkapparat:<br />

Denn evolutionär betrachtet ist<br />

das Gehirn noch immer für das Leben als<br />

Jäger und Sammler optimiert. „Wir fliegen<br />

zum Mond, aber unsere Entscheidungen<br />

werden von archaischen Strukturen eingeschränkt,<br />

die aus der Höhle stammen“, sagt<br />

der Bonner Mediziner Christian Elger.<br />

So war es in der Steinzeit beispielsweise<br />

überlebenswichtig, blitzschnell entscheiden<br />

zu können, ob wir uns einem Menschen<br />

nähern, vor ihm fliehen oder gegen<br />

ihn kämpfen sollten. Damals wie heute beurteilen<br />

wir die Vertrauenswürdigkeit des<br />

Gegenübers im Eilverfahren an seinem<br />

Gesicht. Ebenmaß und Schönheit geben<br />

uns dabei ein gutes und sicheres Gefühl.<br />

Das funktioniert bei Kleinkindern wie<br />

bei Erwachsenen, was Tests in der Schweiz<br />

zeigten. Es lenkt uns auch in der Geschäftswelt<br />

leicht aufs falsche Gleis: Sogar erfah-<br />

rene Personalchefs tappen in die Schönheits-Falle.<br />

Bemühen sie sich nicht aktiv,<br />

sie zu umgehen, lassen sie sich <strong>vom</strong> Erscheinungsbild<br />

eines Bewerbers oder einer<br />

Bewerberin blenden. Auch deshalb entfernen<br />

Personaler inzwischen die Fotos aus<br />

Bewerbungsmappen.<br />

Auch bei Investitionen wie etwa dem<br />

Kauf eines Hauses oder eines Oldtimers<br />

wiegt die gefühlte Vertrauenswürdigkeit<br />

des Verkäufers oft schwerer als harte Daten<br />

– etwa Preis, Ausstattung, Zustand der Karosse<br />

oder Lage der Immobilie. Obacht!<br />

»<br />

WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 63<br />

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Technik&Wissen<br />

2<br />

GEGENWARTS-FALLE<br />

Ungeduld ist gefährlich – und<br />

Talent gar nicht so wichtig.<br />

Auch an anderer Stelle prägt das Erbe der<br />

Steinzeit unser Denken: So mag es bei einer<br />

prähistorischen Lebenserwartung von<br />

höchstens 40 Jahren und Gefahren wie Säbelzahntigern<br />

sinnvoll gewesen sein, all das<br />

sofort zu genießen, was die Gegenwart bietet.<br />

Sich also den Bauch randvoll zu schlagen,<br />

wenn die Sippe gerade ein Mammut erlegt<br />

hatte. Wozu Vorräte anlegen, wenn das<br />

Fleisch mangels Kühltruhe eh vergammelt?<br />

Aus heutiger Sicht ist es dagegen sehr<br />

sinnvoll, an die Zukunft zu denken. Sei es,<br />

um unternehmerisch nachhaltig zu wirtschaften<br />

oder sich privat fürs Alter<br />

abzusichern. All das wissen wir – im<br />

Grunde. Doch trotzdem spielt uns unser<br />

Gehirn auch hier einen Streich, wie Neuroökonomen<br />

nachgewiesen haben. „Wir<br />

bewerten die Gegenwart noch immer<br />

höher als die Zukunft“, sagt der Innsbrucker<br />

Wirtschaftswissenschaftler Matthias<br />

Sutter, der im Januar eine Exzellenzprofessur<br />

für ökonomische Verhaltensforschung<br />

in Köln antritt.<br />

Das klassische Experiment sieht so aus:<br />

Die Probanden sollen sich zum Beispiel entscheiden,<br />

ob sie lieber jetzt gleich zehn Euro<br />

oder in drei Wochen elf Euro bekommen<br />

möchten. Mithilfe von Kernspintomografen<br />

können Forscher beobachten, welche Gehirnregionen<br />

bei einzelnen Probanden das<br />

Handeln beeinflussen. Das kann die entwicklungsbiologisch<br />

junge Großhirnrinde<br />

sein, aber auch ein weit älteres Hirnareal,<br />

das sogenannte limbische System – eine Art<br />

internes Belohnungszentrum. Dabei zeigt<br />

sich: Je stärker das limbische System durchschlägt,<br />

desto eher entscheiden sich die<br />

Testpersonen fürs schnelle Geld.<br />

Das muss nicht so bleiben. Sutter hat mithilfe<br />

von Erstklässlern (und Gummibärchen-Tüten)<br />

untersucht, dass sich Geduld<br />

trainieren lässt. Seine Erkenntnis, „Ausdauer<br />

schlägt Talent“, findet sich auch im Untertitel<br />

seines aktuellen Buches. Verlässlichkeit sei<br />

dabei ein entscheidendes Kriterium: „Bekommen<br />

Kinder eine zweite Tüte Gummibärchen<br />

versprochen, wenn sie die erste die<br />

ganze Schulstunde über nicht öffnen, müssen<br />

sie diese auch erhalten“, sagt Sutter. Wird<br />

die Belohnung vorenthalten, ist auch der negative<br />

Lerneffekt enorm.<br />

Um der Jetztzeit-Falle zu entgehen,<br />

empfiehlt Sutter – aufs Wirtschaftsleben<br />

übertragen – deshalb die Abkehr von kurzfristig<br />

orientierten Boni-Zahlungen für Ma-<br />

nager, jedenfalls dann, wenn es um Entscheidungen<br />

geht, die dem Unternehmen<br />

langfristigen Erfolg bescheren sollen.<br />

3<br />

GRUPPEN-FALLE<br />

Dem Herdentrieb zu folgen<br />

kann übel enden.<br />

Wir sind zwar nicht ganz so tumb, wie die<br />

sprichwörtlichen Lemminge. Aber als soziales<br />

Wesen ist auch der Homo sapiens<br />

auf das Wohl und Wehe seiner Mitmenschen<br />

angewiesen. Damit entscheiden wir<br />

nicht objektiv, sondern vor dem Hintergrund<br />

gesellschaftlicher Akzeptanz: Wen<br />

wir heiraten, welchen Beruf wir ergreifen,<br />

welches Auto wir fahren und welchen<br />

Hobbys wir nachgehen.<br />

Weil es in unserer zunehmend komplexeren<br />

Welt immer schwieriger wird, auf<br />

Basis fundierten Wissens zu entscheiden,<br />

vereinfachen viele Menschen das Verfahren.<br />

Sie orientieren sich an dem, was mehrheitsfähig<br />

ist, und schwimmen mit dem<br />

Strom – in der Hoffnung, dass die anderen<br />

wohl wissen werden, was sie tun und sich<br />

ihr Handeln reiflich überlegt haben.<br />

Im Einzellfall kann das eine sinnvolle Strategie<br />

sein, etwa wenn Privatanleger mit wenig<br />

Zeit und Einblick ins Börsengeschehen<br />

die Investmentstrategien erfolgreicher Börsianer<br />

nachahmen. Doch selbst Manager,<br />

die in ihren eigenen Wissensgebieten hochkompetent<br />

sind, erliegen allzu oft dem Her-<br />

dentrieb. Das hat der Psychologe Gerd Gigerenzer<br />

festgestellt, einer der international renommiertesten<br />

Entscheidungsforscher.<br />

Der Direktor des Max-Planck-Instituts<br />

für Bildungsforschung in Berlin findet das<br />

sehr bedenklich. Denn nur weil alle etwas<br />

tun, muss das noch lange nicht richtig sein.<br />

Das gelte nicht nur für mögliche Engagements<br />

eines Unternehmens in einer bestimmten,<br />

gerade angesagten Region der<br />

Welt. Auch andere Modeerscheinungen in<br />

der Wirtschaft verleiteten Manager dazu,<br />

lieber der Herde zu folgen, als sich auf die<br />

eigene Kompetenz zu besinnen.<br />

Das Gruppenverhalten vor der jüngsten<br />

großen Immobilien- und Finanzkrise sei<br />

geradezu exemplarisch gewesen, so Gigerenzer:<br />

„Eigentlich war offensichtlich, dass<br />

diese Blase irgendwann platzen muss. Aber<br />

keiner wollte der Erste sein, der aussteigt<br />

und nicht mehr kurzfristig mit verdient.“<br />

4<br />

ANGST-FALLE<br />

Defensives Entscheiden<br />

schadet allen und ist teuer.<br />

Nicht bloß Denkfaulheit, auch Angst vor<br />

Misserfolg und Repressalien ist ein weiterer<br />

Grund für Fehlurteile. Auch dafür sei<br />

die Finanzkrise ein gutes Beispiel, sagt<br />

Gigerenzer. Denn selbst von denen, die das<br />

Risiko sahen, habe sich kaum einer getraut,<br />

Alarm zu schlagen. Ursache dafür, so fand<br />

der Experte mithilfe zahlreicher For-<br />

ILLUSTRATIONEN: NICHOLAS BLECHMAN<br />

64 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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schungsinterviews heraus, ist das immer<br />

gleiche Denkschema: bloß keine Fehler<br />

begehen; und sich schon gar nicht mutig<br />

aus der Deckung wagen. Defensive Unternehmensführung<br />

nennt Gigerenzer das,<br />

wenn Manager nicht managen und agieren,<br />

sondern nur reagieren.<br />

Besonders auffällig sei das bei angestellten<br />

Top-Kräften, die sich regelmäßig Aktionären<br />

oder Firmeneignern gegenüber erklären<br />

müssten. Sie stolpern regelmäßig in<br />

die Angst-Falle. Wem das Unternehmen<br />

dagegen gehört, der handle eigenständiger<br />

und innovativer.<br />

Die Angst vor dem eigenen Mut blockiert<br />

demnach die Unternehmen in ihrem wirtschaftlichen<br />

Schwung.<br />

Noch teurer wird die Sache mit der Angst<br />

vor dem Versagen und vor Fehlentscheidungen<br />

in der Medizin. Gigerenzers Forschungsteam<br />

hat über Jahre Daten zusammengetragen,<br />

die belegen, dass Ärzte häufig<br />

teure Medikamente verschreiben, obwohl<br />

sie gar nicht wissen, was der Patient<br />

hat. Auslöser ist die Angst, ihre Hilflosigkeit<br />

könne auffallen. Die ehrliche Antwort „ich<br />

weiß nicht, was Ihnen fehlt“ scheuen viele<br />

Mediziner aus Sorge, es könnte ihre Autorität<br />

untergraben – oder den Kranken einem<br />

anderen Arzt in die Arme treiben.<br />

Diese Art der defensiven Medizin treibt<br />

nicht nur die Kosten des Gesundheitssystems<br />

unnötig in die Höhe, sie schadet auch<br />

den Patienten. Denn die schlucken Medikamente,<br />

die ihnen nicht helfen und im<br />

Zweifelsfall sogar schädliche Nebenwirkungen<br />

haben. Wollen Ärzte der Sache aber<br />

auf den Grund gehen, tun sie oft zu viel.<br />

Selbst wenn sie die Ursache gefunden haben,<br />

überschütten sie den Kranken weiter<br />

mit modernster und teurer Diagnosetechnik<br />

– aus purer Angst, etwas zu übersehen.<br />

wieder zur Vernunft gebracht<br />

und geschlichtet“, gibt Elger zu.<br />

Ohne Moderator wäre er voll in<br />

die Emotions-Falle getappt.<br />

Die Kunst ist es, dann externen<br />

Rat anzunehmen und Entscheidungen<br />

zu vertagen, bis sich die<br />

Gefühlswogen wieder geglättet<br />

haben. Wer in der Zeit shoppen<br />

geht, sollte sich klar darüber sein, dass es<br />

teuer werden könnte. Der Kaufrausch, in<br />

den mancher verfällt, um die schlechte Laune<br />

zu bekämpfen, ist fast schon legendär.<br />

Grandiose Realitätsverzerrer sind auch<br />

Lob und Schmeichelei: Selbst wenn die<br />

<strong>vom</strong> Mitarbeiter gesäuselten Worte offensichtlich<br />

geheuchelt sind, können sich die<br />

wenigsten dagegen wehren, anschließend<br />

milde und generös aufzutreten. Dann genehmigt<br />

der sparsamste Chef doch noch<br />

den Sonderurlaub oder die Dienstreise.<br />

6<br />

AUFMERKSAMKEITS-FALLE<br />

Warum Fliegen gefährlicher wirkt<br />

als Autofahren.<br />

Was wir beim Entscheiden empfinden, ist die<br />

eine Sache. Wer uns berät, eine andere. Klar<br />

ist:Chefs und Familienoberhäuptern schenken<br />

wir mehr Aufmerksamkeit als anderen.<br />

Und ihre Urteile und Ratschläge bewerten<br />

wir höher als die eines jüngeren Menschen –<br />

selbst dann, wenn der Jungspund sich in<br />

dem betreffenden Themengebiet sehr viel<br />

besser auskennt als der Silberrücken. Beispielsweise<br />

wenn es um die Anschaffung von<br />

Software oder die Präsentation des Unternehmens<br />

in sozialen Netzwerken geht.<br />

Kommt es im Team zur Aussprache, werden<br />

sich viele Mitarbeiter der Meinung des<br />

Literatur<br />

In unseren<br />

App-<strong>Ausgabe</strong><br />

finden eine Liste<br />

mit den besten<br />

Büchern zum<br />

Thema<br />

Chefs anschließen. Und das nicht<br />

bloß aus Loyalität, sondern auch<br />

weil Untergebene erfahrenen Vorgesetzten<br />

qua Seniorität eine bessere<br />

und weisere Entscheidung<br />

zutrauen.<br />

Die Aufmerksamkeits-Falle<br />

schlägt auch da zu, wo Menschen<br />

besonders lautstark auftreten<br />

oder durch ihren Beruf ständig im<br />

Rampenlicht stehen, etwa als Nachrichtensprecher<br />

im Fernsehen. Ihnen allen<br />

trauten Probanden in Forschungsprojekten<br />

viel mehr Entscheidungskompetenz<br />

zu. Wer solche Verzerrungen vermeiden<br />

will, sollte auf anonyme Abstimmungen<br />

setzen.<br />

Was unsere Aufmerksamkeit zudem fesselt<br />

und so die Bewertungsmaßstäbe verschiebt,<br />

sind Unfälle mit vielen Opfern.<br />

Evolutionär erklären Wissenschaftler das<br />

so: Zu den Zeiten, als Menschentrupps nur<br />

vereinzelt auf der Erde herumzogen, konnte<br />

eine Sippe zwar einzelne Todesfälle verkraften,<br />

nicht aber den Tod mehrerer<br />

Gruppenmitglieder. Das bedeutete in der<br />

Regel das Todesurteil für den Rest der Sippe<br />

– und diese Erfahrung beeinflusst bis<br />

heute unsere Entscheidungsmuster.<br />

Bei aktuell 7,3 Milliarden Menschen<br />

weltweit besteht die Gefahr des Aussterbens<br />

zwar längst nicht mehr. Trotzdem<br />

lässt die Ur-Angst viele Menschen das Fliegen<br />

für weit gefährlicher halten als etwa<br />

Autofahrten. Risikoforscher wie Ortwin<br />

Renn aus Stuttgart rechnen vor, wie irrational<br />

das ist: „Pro Jahr sterben weltweit 630<br />

Menschen bei Flugzeugunglücken, im<br />

Straßenverkehr kommen dagegen 1,24<br />

Millionen Menschen um.“<br />

»<br />

5EMOTIONS-FALLE<br />

Selbst offensichtlich geheucheltes<br />

Lob macht gefügig.<br />

Sogar bei Menschen, die sich als bedacht<br />

und rational bezeichnen würden, haben<br />

Emotionen einen enormen Einfluss. Neben<br />

der Angst zählen auch Ärger, Frust und<br />

Lob dazu.<br />

Davor sind nicht einmal Wissenschaftler<br />

gefeit, die selbst am Thema arbeiten. So erzählt<br />

der Bonner Hirnforscher Elger, dass<br />

er vor Kurzem fast ein Forschungsprojekt<br />

hätte platzen lassen, für das er Jahre gekämpft<br />

hatte – vor Wut über einen Kollegen,<br />

der ihm Geltungssucht unterstellte.<br />

„Zum Glück hat mich ein dritter Kollege<br />

WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 65<br />

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Technik&Wissen<br />

NEURO-POP-ART<br />

Trügerische<br />

bunte Kleckse<br />

Kernspintomografie hilft Forschern,<br />

Denkvorgänge im Hirn zu<br />

verstehen. Allerdings nicht immer.<br />

Die Technik ist fast zu gut, um wahr zu<br />

sein: Mithilfe der Kernspintomografie<br />

können Forscher dem Gehirn bis in<br />

tiefste Schichten in Echtzeit beim Arbeiten<br />

zusehen. So lässt sich orten, wo<br />

gerade wie viel frisches, sauerstoffreiches<br />

Blut hinströmt: Die bunten Punkte<br />

am Monitor des Messgerätes zeugen<br />

von Aktivität der Nervenzellen.<br />

Weil die Durchleuchtungstechnik nur<br />

mit einem starken Magnetfeld und einem<br />

UKW-Sender arbeitet und ganz ohne<br />

schädliche Strahlen auskommt, ist<br />

sie ideal für die Wahrnehmungsforschung.<br />

Wissenschaftler haben Scharen<br />

von Probanden in die Röhre geschoben<br />

und sie mit Fragekarten traktiert – <strong>vom</strong><br />

Kaufverhalten bis zum Gottesglauben:<br />

Leuchtete es bei Fotos von Markenprodukten<br />

wie Coca-Cola, Gucci oder Adidas<br />

stärker im limbischen Belohnungszentrum?<br />

Und welche Hirnaktivität löst<br />

der Anblick eines Rosenkranzes aus?<br />

TOTER LACHS MIT MITGEFÜHL<br />

So hilfreich die Technik ist, bei der Interpretation<br />

der Bilder mit ihren bunten<br />

Farbklecksen schießen manche Forscher<br />

übers Ziel hinaus und vergessen<br />

simple Grundregeln der Messtechnik.<br />

So überführte der kalifornische Forscher<br />

Craig Bennett Kollegen der<br />

Schlamperei – mit Tiefkühllachs. Er<br />

schob das Tier in die Kernspinröhre und<br />

hielt ihm Bilder von lachenden oder wütenden<br />

Menschen vor. Dass die Scans<br />

des Lachses Hirnaktivität in Form bunter<br />

Flecken zeigten, lag indes nicht daran,<br />

dass der tote Fisch Gefühle zeigte<br />

– sondern schlicht an Messfehlern.<br />

Als Bennett das Gerät kalibrierte, verschwanden<br />

diese typischen Signale. Sie<br />

zu eliminieren, das zeigte der Vergleich,<br />

hatten andere Forscher bei ihren Kernspin-Untersuchungen<br />

mit Menschen<br />

vergessen. Spätestens da aber reduziert<br />

sich – was im Grunde faszinierende<br />

Technik ist – auf Neuro-Pop-Art.<br />

7<br />

STATISTIK-FALLE<br />

Dem Menschen fehlt der<br />

natürliche Sinn für Zahlen.<br />

Mit dem Erfassen von Zahlen und Wahrscheinlichkeiten<br />

haben wir Menschen generell<br />

ein Problem. „Uns fehlt leider ein<br />

statistischer Sinn“, schreibt der Münchner<br />

Psychologe Ernst Pöppel in seinem Buch<br />

„Zum Entscheiden geboren – Hirnforschung<br />

für Manager“. Mit der Folge, dass<br />

wir statistische Aussagen günstigstenfalls<br />

unbeholfen interpretierten, oft aber auch<br />

schlicht falsch.<br />

Eine der häufigsten Statistik-Fallen, in<br />

die wir geraten, ist, Signifikanz und Relevanz<br />

zu verwechseln. Umso wichtiger ist es<br />

aus Pöppels Sicht, sich den Unterschied<br />

ein für alle Mal einzuprägen. So kann etwas<br />

im statistischen Sinne signifikant verschieden<br />

sein – und damit für manchen Manager<br />

Grundlage für eine unternehmerische<br />

Entscheidung. Das heißt aber noch lange<br />

nicht, dass der Unterschied am Ende auch<br />

relevant, also von Bedeutung, ist.<br />

So könnten einer statistischen Erhebung<br />

zufolge die Mieten in einem neuen Gewerbegebiet<br />

signifikant niedriger sein als am<br />

jetzigen Standort der Firma. Wenn dieser<br />

Unterschied aber weniger als einen Euro<br />

pro Quadratmeter beträgt, lohnt es sich<br />

nicht, über einen Umzug nachzudenken.<br />

Der Unterschied ist nicht relevant.<br />

Verwirrung entsteht auch dann, wenn<br />

statistische Daten nicht als absolute, sondern<br />

als relative Werte angegeben werden.<br />

Gerade in der Medizin passiert das häufig.<br />

Etwa wenn es darum geht, den Nutzen einer<br />

Vorsorgeuntersuchung oder eines Medikaments<br />

zu untermauern. So werbe<br />

manches Pharmaunternehmen mit der<br />

Aussage, ein neuer Blutfettsenker senke<br />

das Risiko, einen Herzinfarkt zu bekommen,<br />

um 50 Prozent, so der Psychologe<br />

Gigerenzer: „Das klingt gut.“ Es sei auch<br />

nicht gelogen, aber es ist der relative Wert.<br />

Die absoluten Zahlen sehen so aus: Ohne<br />

das Medikament bekommen zwei von<br />

hundert Menschen innerhalb von fünf Jahren<br />

einen Infarkt, mit dem Medikament<br />

nur einer von hundert. Das ist dann weit<br />

weniger berauschend.<br />

Das Fatale an der Sache: Bei Ärztefortbildungen,<br />

auf denen Gigerenzer regelmäßig<br />

vorträgt, stolpern die meisten Mediziner in<br />

diese Darstellungs-Falle. Sie können den<br />

Nutzen eines Medikaments überhaupt<br />

nicht einschätzen, weil sie die Daten nicht<br />

hinterfragen. „Das müssten Mediziner unbedingt<br />

beigebracht bekommen“, wettert<br />

der Entscheidungs-Forscher. Es sei auch<br />

gar kein Hexenwerk, das zu erlernen:<br />

„Selbst Grundschüler begreifen das.“<br />

Wer den Trick einmal raus hat, wird sich<br />

in Zukunft konkrete Beispiele suchen, um<br />

nebulöse Wahrscheinlichkeiten in konkrete<br />

und greifbare Größen umzurechnen.<br />

8<br />

RABATT-FALLE<br />

Wenn uns die Freude an der<br />

Schnäppchen-Jagd übermannt.<br />

Ein Sonderfall der Statistik-Falle sind Sonderangebote<br />

und Schnäppchen. Hier ist<br />

besondere Vorsicht geboten. Denn wir<br />

können nicht nur schwer Prozentzahlen<br />

spontan verstehen, auch das Belohnungszentrum<br />

des Gehirns spielt uns gern einen<br />

Streich: Es überflutet uns mit Glücksbotenstoffen,<br />

sobald wir ein besonders günstiges<br />

ILLUSTRATIONEN: NICHOLAS BLECHMAN<br />

66 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Angebot zu ergattern glauben. Wir freuen<br />

uns unbändig, wie viel wir gegenüber dem<br />

regulären Preis sparen, und kaufen Dinge,<br />

die wir gar nicht oder nicht in dieser Menge<br />

benötigen.<br />

In Loriots Filmkomödie „Pappa ante<br />

Portas“ legt Heinrich Lohse als Einkaufsdirektor<br />

bei der Deutschen Röhren AG mit<br />

Lkw-Ladungen von besonders günstigem,<br />

da rabattiertem Schreibmaschinenpapier<br />

erst fast den Betrieb lahm. Dann verliert er<br />

wegen seines Rabatt-Wahns den Job.<br />

Auch reale Manager verfangen sich in<br />

der Rabatt-Falle, wenn sie glauben, einen<br />

ganz besonders pfiffigen oder vorteilhaften<br />

Deal abzuschließen. Das kann ins Auge gehen.<br />

Etwa, wenn das besonders günstige<br />

Baugrundstück sich als sündhaft teurer<br />

Sanierungsfall entpuppt, weil hier eine<br />

Vorgängerfirma vor Jahrzehnten ihren<br />

Sondermüll verbuddelt hat, statt ihn zu<br />

entsorgen. Ob der Vorbesitzer und Verkäufer<br />

davon wusste und sich der Kauf deshalb<br />

anfechten lässt, werden Juristen klären –<br />

für viel Geld.<br />

Und wer vor einigen Jahren dachte, dass<br />

Baugeld mit weniger als fünf Prozent Darlehenszinsen<br />

unglaublich günstig sei,<br />

schloss euphorisch einen Kreditvertrag<br />

über einen besonders langen Zeitraum von<br />

15 oder noch mehr Jahren ab. Angesichts<br />

der heute üblichen 1,2 Prozent Zinsen war<br />

das keine gute Entscheidung.<br />

9<br />

RATIONALITÄTS-FALLE<br />

Wo das Bauchgefühl mehr sagt<br />

als 1000 Statistiken.<br />

Handeln wie die Lemminge, das Denken<br />

Erfahreneren überlassen, sich von Emotionen<br />

leiten lassen – all dieser Denk-Gefahren<br />

sind sich viele von uns bewusst. Mancher<br />

setzt deshalb umso entschiedener auf<br />

Vernunft und Faktenprüfung – und verfängt<br />

sich in der Rationalitäts-Falle.<br />

Denn obwohl wir Menschen offenbar<br />

mit Zahlen nicht sonderlich gut umgehen<br />

können, neigen wir dazu, bei der Entscheidungsfindung<br />

möglichst viele Daten und<br />

Fakten zusammenzutragen. Gerade wenn<br />

es um künftige Entwicklungen geht – etwa<br />

wie sich der Markt für Tablets oder Computer<br />

entwickelt, ob sich Elektromobile<br />

durchsetzen oder auch wie groß die Wahrscheinlichkeit<br />

ist, an Krebs zu erkranken –<br />

immer versuchen wir, mit noch mehr Daten<br />

das nicht Vorhersehbare zu berechnen.<br />

Bis wir in der Datenflut untergehen.<br />

Dabei hat der Mensch über die Jahrmillionen<br />

ganz brauchbare, als Heuristiken<br />

bezeichnete, Bewertungskonzepte entwickelt,<br />

um mit wenig Wissen zu guten Entscheidungen<br />

zu kommen – das Bauchgefühl.<br />

Es sei oft verlässlicher als 1000 Datenpunkte,<br />

argumentieren sowohl Hirnforscher<br />

als auch Psychologen.<br />

Manchmal ist es sogar besser, weniger zu<br />

wissen. Die Logik hinter dieser Dummy-<br />

Strategie: Werden Versuchsteilnehmer gefragt,<br />

ob Bielefeld oder Hannover mehr<br />

Einwohner habe, schneiden amerikanische<br />

Kandidaten besser ab als deutsche.<br />

Weil sie noch nie von Bielefeld gehört haben,<br />

verfahren sie nach der Faustregel:<br />

Wenn ich es nicht kenne, muss es wohl<br />

klein sein. Und sie haben recht.<br />

In der Finanzwelt heißt eine Faustregel<br />

„investiere nie in ein Produkt, das du nicht<br />

verstehst“. Leider habe sich kaum jemand<br />

daran gehalten, moniert Gigerenzer. Nach<br />

dem Finanz-Crash finden Banker seine<br />

Ansätze nun aber sehr überlegenswert. So<br />

entwickelt er derzeit mit der Bank of England<br />

Heuristiken, die Gefahren und Krisen<br />

besser vorhersagen sollen als bisherige Berechnungsmodelle<br />

und Datenanalysen.<br />

10<br />

MÜDIGKEITS-FALLE<br />

Entscheiden strengt an,<br />

abends lügt es sich leichter.<br />

Sich zu entscheiden ist echte Arbeit für das<br />

Gehirn. Sie ist so anstrengend, dass im<br />

Laufe des Tages eine echte Urteilsmüdig-<br />

keit einritt. Je weiter der Tag fortschreitet, je<br />

mehr wir bereits gedacht und geurteilt haben,<br />

desto fahriger und schlechter werden<br />

die Entscheidungen. Und nicht nur die Urteilsqualität,<br />

auch die Moral leidet dann:<br />

So lügen selbst aufrichtige und sehr tugendhafte<br />

Menschen abends deutlich häufiger,<br />

haben Studien ergeben. Wohl einfach,<br />

weil es oft bequemer ist, ein bisschen<br />

zu mogeln, statt strikt bei der Wahrheit zu<br />

bleiben.<br />

Das Fazit: Wichtiges sollten Sie in den<br />

Vormittagsstunden entscheiden – und mit<br />

Geschäftspartnern am besten dann verhandeln,<br />

wenn alle frisch, ausgeschlafen<br />

und tendenziell ehrlicher sind. Wer nach<br />

Übersee reist, sollte seinen Jetlag berücksichtigen.<br />

Und wer bei einer Bewerbungsrunde<br />

erst einen Vorstellungstermin am<br />

späten Nachmittag bekommt, sollte versuchen,<br />

das Gespräch zu verlegen. Denn Untersuchungen<br />

zeigten, dass auch Entscheidungsträger<br />

im Laufe des Tages immer kritischer<br />

werden.<br />

Das gilt nicht bloß für Personaler, sondern<br />

auch für Richter: So ergab eine Studie<br />

in Israel, dass Verurteilte, die ein Entlassungsgesuch<br />

gestellt hatten, am Vormittag<br />

noch gute Chancen hatten, durchzukommen.<br />

Nachmittags wurde dagegen niemand<br />

mehr vorzeitig aus der Haft entlassen.<br />

Da schnappte die Entscheidungs-Falle<br />

dann ganz wörtlich zu.<br />

n<br />

susanne.kutter@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 67<br />

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Management&Erfolg<br />

Der perfekte Startplatz<br />

GRÜNDER | Berlin oder München, Hamburg oder Köln: Die Wahl des optimalen<br />

Standorts ist entscheidend für den Erfolg junger Gründer. Welche Unternehmen wo<br />

am besten aufgehoben sind. Und wie die Städte um die Start-up-Szene buhlen.<br />

Zwei Tage Hamburg, zwei Tage<br />

Berlin, zwei Tage Düsseldorf:So<br />

sieht eine Arbeitswoche von Sebastian<br />

Rösch und Maximilian<br />

Schmiedel aus. Derzeit pendeln<br />

sie durch die Republik, um ihr Start-up aufzubauen:<br />

Brightup entwickelt eine App für<br />

Smartphones, mit der sich die Beleuchtung<br />

zu Hause steuern und überwachen lässt –<br />

damit das Licht angeht, wenn es dunkel<br />

wird, und wieder ausgeht, wenn man<br />

die Wohnung verlässt. Damit die Nachttischlampe<br />

zum Aufwecken hochdimmt<br />

und die Deckenlampe beim Filmschauen<br />

herunterdimmt – alles wie von selbst.<br />

So klar die Geschäftsidee, so unklar ist<br />

im Moment, wo sich die Gründer dauerhaft<br />

niederlassen werden. An der Uni<br />

Hamburg sind sie gestartet, unter dem<br />

Dach eines Energieversorgers im Rheinland<br />

arbeiten sie an der Umsetzung, im Microsoft<br />

Ventures Accelerator in Berlin entwickeln<br />

sie Strategien. Sie haben Schreibtische<br />

in drei Städten, wohnen bei Freunden<br />

und in Hotels. Zwischendurch sitzen sie im<br />

Zug, wo sie programmieren, designen oder<br />

E-Mails beantworten. „Wir haben zwar hohe<br />

Reisekosten“, sagt Gründer Rösch, „aber<br />

wir wollten uns bisher nicht festlegen, weil<br />

alle drei Städte Vorteile bieten.“<br />

Die Wahl des richtigen Standorts: für viele<br />

Gründer eine Entscheidung, die sie später<br />

kaum revidieren können. „Vom Standort<br />

hängt nicht nur ab, wie nah ich an Kunden,<br />

Mitarbeitern und Geldgebern bin“,<br />

sagt Sebastian Zenker, Professor für Stadtmarketing<br />

an der Copenhagen Business<br />

School. „Der Standort prägt auch das<br />

Image meines Unternehmens, gerade<br />

wenn es noch unbekannt ist.“<br />

Davon profitiert Berlin mehrfach. Studien<br />

zufolge gehen in der Hauptstadt im<br />

Schnitt jeden Tag zwei neue Firmen in<br />

innovativen Branchen an den Start. Mehr<br />

als 2000 Arbeitsplätze entstehen Jahr für<br />

Jahr im digitalen Sektor. Laut dem aktuellen<br />

Deutschen Startup Monitor von<br />

Bundesverband Deutsche Startups und<br />

KPMG bringen sieben von zehn Berliner<br />

Start-ups nach eigener Aussage eine<br />

„europaweite oder weltweite Neuheit“ auf<br />

den Markt. Häufiger als Jungunternehmen<br />

aus anderen Städten erhalten sie dafür<br />

Risikokapital, der Zugang zu Investoren<br />

fällt ihnen leichter als Start-ups in anderen<br />

Städten.<br />

BERLIN-BASHING IST IN<br />

Längst halten Gründer in ganz Europa Berlin<br />

für den Standort schlechthin. Das zeigte<br />

sich auch auf der Start-up-Tour der WirtschaftsWoche<br />

im Oktober: In der Green<br />

Garage bauen Unternehmer aus Großbritannien<br />

und Holland Öko-Start-ups auf.<br />

Solche Inkubatoren sind ein wichtiger<br />

Grund für Gründer, ihren Standort zu verändern:<br />

Klang Technologies aus Aachen etwa,<br />

das im Finale des WirtschaftsWoche-<br />

Gründerwettbewerbs Neumacher steht<br />

(siehe Seite 72), hat in der Berliner Startup-Brutstätte<br />

Hubraum ein Büro bezogen.<br />

Auch Fördergelder spielen bei der Entscheidung<br />

eine wichtige Rolle, wie eine<br />

Studie der Kanzlei Lutz Abel zeigt.<br />

Doch nicht alle Gründer lassen sich <strong>vom</strong><br />

Hauptstadt-Hype anstecken. Im Gegenteil:<br />

„Berlin-Bashing“, das Schimpfen auf die<br />

Metropole, ist populär – zumindest bei der<br />

Konkurrenz aus dem Rest der Republik.<br />

Jüngster Fall: Gründer aus der bayrischen<br />

Landeshauptstadt formulierten eine Pressemitteilung<br />

mit dem Titel: „Isar statt<br />

Spree: Start-ups loben München.“<br />

Prompt erklärte das Gründerportal<br />

Deutsche-Startups.de die Hauptstadt-Hetze<br />

für „überflüssig wie ein Eisverkäufer in<br />

der Arktis“. Könne man gemeinsam stärker<br />

um Kunden und Investoren kämpfen als<br />

allein, sei eine städteübergreifende Kooperation<br />

durchaus sinnvoll, bestätigt Forscher<br />

Sebastian Zenker. „Aber der Wettbewerb<br />

bringt Städte auch dazu, nach Erfolgskonzepten<br />

zu suchen, am Image zu arbeiten<br />

und Gelder bereitzustellen – davon<br />

können Gründer profitieren.“<br />

So wie die Brightup-Gründer. Gut möglich,<br />

dass auch sie am Ende in Berlin landen:<br />

„Wir brauchen Investoren und IT-Entwickler,<br />

die sich mit Hardware auskennen“,<br />

sagt Rösch. „Davon gibt es in Berlin einfach<br />

deutlich mehr als anderswo.“<br />

KÖLN<br />

Die Domstadt: Der<br />

Hidden Champion<br />

der Gründerszene<br />

Wenn Christian Schwarzkopf und Tim Lagerpusch<br />

erzählen, warum sie im Frühjahr<br />

2013 ihre Koffer gepackt haben und von<br />

Hamburg nach Köln gezogen sind, sprechen<br />

sie gerne von der großen „catchment<br />

area“ rund um Köln – zu Deutsch: dem riesigen<br />

Einzugsbereich der Domstadt. In einer<br />

Stunde erreichen die beiden von hier<br />

aus zahlreiche Großstädte im Rheinland<br />

und im Ruhrgebiet, wo zusammengenommen<br />

mehr als zwölf Millionen Menschen<br />

leben. Selbst bis Paris dauert es kaum län-<br />

FOTO: DOMINIK PIETSCH FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

68 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Umzug in die<br />

Domstadt Die<br />

Sugartrends-<br />

Gründer tauschten<br />

Hamburg<br />

gegen Köln<br />

ger als drei Stunden. „Köln ist ein Hidden<br />

Champion“, sagt Schwarzkopf, „und unter<br />

Gründern absolut im Kommen.“<br />

Für Schwarzkopf und Lagerpusch war<br />

die Stadt deswegen erste Wahl – vor Hamburg<br />

und Berlin. Auch Karlsruhe ließen sie<br />

links liegen, obwohl sie dort studiert und<br />

das Center für Innovation & Entrepreneurship<br />

aufgebaut hatten. Der Grund für ihren<br />

Umzug: Für ihren Online-Marktplatz Sugartrends<br />

mit besonderen Produkten, wie sie sich vor<br />

allem in den Innenstädten großer Städte<br />

finden. Jene Einzelhändler, die im Wettstreit<br />

mit großen Online-Anbietern um ihre<br />

Existenz fürchten müssen. Über die<br />

Plattform Sugartrends sollen sie mehr Käufer<br />

im Netz erreichen.<br />

Lagerpusch und Schwarzkopf haben<br />

sich mitten in der entstehenden Gründerzone<br />

zwischen den beiden Start-up-Häuschen<br />

Viertel niedergelassen – in einem<br />

restaurierten Fabrikgebäude aus Backsteinen<br />

mit hellen Rundbogenfenstern. „Wir<br />

sind mittendrin“, sagt Schwarzkopf, „nah<br />

an anderen Start-ups und nah an vielen<br />

kleinen Läden.“<br />

Dass Schwarzkopf und Lagerpusch mit<br />

ihrer hohen Meinung <strong>vom</strong> Standort Köln in<br />

der Gründerszene der Stadt nicht alleine<br />

stehen, zeigte sich etwa Anfang Oktober, als<br />

suchen Schwarzkopf und Lagersern<br />

Startplatz und dem Clusterhaus in der der E-Entrepreneurship Flying Circus an der<br />

pusch nach kleinen Läden und Boutiquen Nähe des Friesenplatzes sowie dem Belgi-<br />

Universität der Domstadt haltmachte –»<br />

WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 69<br />

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Management&Erfolg<br />

»<br />

ein Projekt des Entrepreneurship-Professors<br />

Tobias Kollmann, der per Bus in ganz<br />

Deutschland für Unternehmertum warb.<br />

Auf dem Podium erklärten Gründer, dass<br />

die Szene in Berlin „zu viel mit sich selbst<br />

beschäftigt“ sei. Köln dagegen besteche etwa<br />

durch die Nähe zu Mittelstand und Industrie<br />

im Rheinland und Ruhrgebiet. Das<br />

helfe vor allem Gründern mit sogenannten<br />

Business-to-Business-Ideen – also solchen<br />

Start-ups, die ihre Produkte vor allem an gewerbliche<br />

Abnehmer verkaufen wollen.<br />

Wie wichtig diese Verbindung ist, bestätigt<br />

auch der aktuelle Deutsche Startup<br />

Monitor: Fast 40 Prozent der Gründer aus<br />

dem Raum Rhein-Ruhr bekannten in der<br />

Umfrage, ausschließlich Businesskunden<br />

zu adressieren – mehr als in Berlin, Hamburg<br />

oder München. Für solche Firmen sei<br />

Berlin eher nicht geeignet, weil es in der<br />

Hauptstadt und in der Umgebung weniger<br />

Industrie gebe und „du da halt nicht gut<br />

wegkommst“, formuliert es der Kölner Seriengründer<br />

Oliver Thylmann.<br />

Auch die Jungunternehmer Schwarzkopf<br />

und Lagerpusch schätzen die Nähe Kölns<br />

zu mehreren Flughäfen. Denn einige ihrer<br />

Entwickler sitzen in Lissabon – „und dorthin<br />

zu kommen war von Hamburg aus<br />

schwierig und teuer“.<br />

SCHLECHTE NOTEN FÜR POLITIKER<br />

Zumal es im Rheinland gutes Personal gibt,<br />

wie Tobias Schiwek bestätigt. Er hat 2012<br />

das Start-up Endore.me gegründet, eine<br />

Plattform, die Künstler und Fans zusammenbringen<br />

soll. Endore.me startete in<br />

Berlin, wo seine ersten Investoren ihren<br />

Sitz hatten. Doch als Schiwek und sein Mitgründer<br />

in Köln deutlich schneller Entwickler<br />

fanden, zogen sie nach einigen Monaten<br />

zurück an den Rhein.<br />

Allerdings hat die Region noch Nachholbedarf.<br />

Laut dem Deutschen Startup Monitor<br />

ist in der Metropolregion Rhein-Ruhr<br />

sowohl der Zugang zu Beratern und Mentoren<br />

als auch der Zugang zu Investoren<br />

schwieriger als in Berlin, München oder<br />

Hamburg. Erfolge werden nach Ansicht<br />

der befragten Unternehmer nicht sichtbar<br />

genug kommuniziert, und das Veranstaltungsangebot<br />

für Gründer lässt zu wünschen<br />

übrig. Außerdem bewerten die<br />

Gründer die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen<br />

eher schlecht, wenn es um<br />

die Förderung des Gründerstandorts geht.<br />

Dabei sollten die Städte der Region kooperieren,<br />

findet Sugartrends-Gründer<br />

Schwarzkopf: „Kleinstaaterei hilft hier niemandem<br />

weiter.“<br />

HAMBURG<br />

Die Stadt der<br />

digitalen<br />

Leuchttürme<br />

Das Angebot ihres Investors klang verlockend:<br />

günstige Räume in Berlin-Mitte –<br />

genau da, wo der Geldgeber selbst seine<br />

Büros hat, wo die Start-up-Szene am sichtbarsten<br />

ist und wo Woche für Woche<br />

Events für Gründer und Geldgeber stattfinden.<br />

Viele Jungunternehmer würden sich<br />

vermutlich die Finger danach lecken.<br />

Doch Hauke Windmüller, Michael Asshauer<br />

und David Nellessen lehnten ab,<br />

blieben mit ihrem Start-up Familonet lieber<br />

in Hamburg – dort, wo sie ihre App entwickelt<br />

haben. Eine App, die Familien vernetzt:<br />

Wer sie nutzt, kann mit Verwandten<br />

kommunizieren, sie über seinen Standort<br />

informieren, im Notfall um Hilfe rufen<br />

oder automatisch benachrichtigen, wenn<br />

er an einem bestimmten Ort angekommen<br />

ist – etwa in der Schule oder zu Hause. Zwei<br />

Jahre nach dem Start sind mehr als 100 000<br />

Nutzer bei Familonet angemeldet. Den Erfolg<br />

verdankt das Start-up auch der Stadt:<br />

Für den Start hatte es einen Zuschuss der<br />

Hamburgischen Förderbank von fast<br />

150 000 Euro eingesammelt. „Eine vergleichbare<br />

Förderung“, sagt Gründer<br />

Windmüller, „hätten wir an keinem anderen<br />

Standort bekommen.“<br />

Das Förderprogramm der Bank funktioniert<br />

wie Köder und Anker gleichzeitig: In<br />

die Stadt locken soll er Gründer, die noch<br />

nicht wissen, wo sie ihre Firma aufbauen<br />

sollen. Und Unternehmen wie Familonet,<br />

die in Hamburg gestartet sind, an den<br />

Sesshaft geworden Familonet-<br />

Gründer Asshauer, Nellessen<br />

und Windmüller (von links)<br />

fühlen sich wohl in Hamburg<br />

Standort binden. Denn wer die Hansestadt<br />

während des Förderzeitraums oder in den<br />

fünf Jahren danach verlässt, kann zur Rückzahlung<br />

verpflichtet werden.<br />

Trotz des Angebots bewerten Hamburger<br />

Gründer den Zugang zu Förderprogrammen<br />

im Deutschen Startup Monitor<br />

schlechter als Gründer aus Berlin, München<br />

oder der Metropolregion Rhein-Ruhr.<br />

Carsten Brosda, Leiter des Medien-Amts<br />

der Hansestadt und Kenner der Start-up-<br />

Szene, will die Angebote deswegen bekannter<br />

machen. Außerdem wolle die<br />

Stadt „weitere, vor allem private Finanzierungsmöglichkeiten<br />

noch transparenter<br />

und damit effektiver zu machen“.<br />

HAMBURG SICHTBAR MACHEN<br />

Brosda betont außerdem, dass in der Stadt<br />

viele Initiativen entstanden sind, die die<br />

Gründerszene sichtbarer machen sollen –<br />

„und zwar ganz von selbst und deswegen<br />

nachhaltig“. Ein Beispiel: Die Unternehmer<br />

Sanja Stankovic, Sina Gritzuhn und Tim<br />

Jaudzims haben das Netzwerk Hamburg<br />

Startups gegründet – aus Frust darüber,<br />

dass die Hamburger Start-ups oft unterschätzt<br />

werden, und mit dem Ziel, die „versteckte,<br />

lebendige und wachsende Gründerszene“<br />

sichtbarer zu machen.<br />

Verstecken muss sich Hamburg nicht:<br />

Schon jetzt arbeiten mehr als 50 000 Beschäftigte<br />

in fast 10 000 IT-Unternehmen.<br />

Als Leuchttürme an der Elbe gelten die Online-Spielehersteller<br />

Bigpoint und Good-<br />

Game Studios und der Serverhersteller<br />

Protonet. Die Regierung des Stadtstaats<br />

will dafür sorgen, dass weitere Erfolgsbeispiele<br />

folgen: Über ihre Standortinitiative<br />

FOTO: JASPER FORTH<br />

70 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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nextMedia.Hamburg will sie neue Startups<br />

im Digitalsektor unterstützen.<br />

Manche Gründer verleitet der Erfolg dazu,<br />

gegen die Hauptstadt im Osten zu wettern.<br />

„Berlin ist für Start-ups, Hamburg für<br />

Grown-ups“, stichelt etwa Facelift-Gründer<br />

Benjamin Schröter. In der Verwaltung der<br />

Hansestadt setzt man aber auf Kooperation<br />

statt Konfrontation: „Berlin und Hamburg<br />

sind so unterschiedlich, dass sie sich eher<br />

ergänzen, als miteinander zu konkurrieren“,<br />

betont Carsten Brosda. Aus Sicht des<br />

Stadtmarketing-Forschers Zenker ist das<br />

sinnvoll: „Hamburg kann sich im internationalen<br />

Wettbewerb besserstellen, wenn<br />

es sich als Metropolregion positioniert.<br />

Auch Hamburg und Berlin lassen sich<br />

räumlich gut zusammen denken.“<br />

Hauke Windmüller kann das bestätigen:<br />

Er pendelt oft in die Hauptstadt – zu Investoren<br />

oder zu Veranstaltungen. „Für uns“,<br />

sagt der Gründer, „war die Nähe zu Berlin<br />

ein wichtiges Argument für Hamburg.“<br />

MÜNCHEN<br />

Mit Bits und<br />

Brez’n aus dem<br />

Schatten Berlins<br />

Das Schreiben war nicht länger als zwei Seiten,<br />

aber sein Inhalt brisant genug, um die<br />

Gründerszene aufzubringen: „Mehr als 30<br />

Prozent aller Investorengelder wandern<br />

nach Berlin“, hieß es Anfang September in<br />

einer Pressemitteilung, „die Stadt an der<br />

Spree scheint förmlich ein Erfolgsgarant zu<br />

sein – oder doch nur eine Hype-Bühne?“<br />

Für Zoltan Elek steht die Antwort längst fest.<br />

„In München entstehen Unternehmen“, erklärte<br />

der Co-Autor der umstrittenen Pressemitteilung,<br />

die in Berlin als Brandbrief verstanden<br />

wurde, „in Berlin Start-up-Projekte.“<br />

Wer mit dem Unternehmer spricht, versteht<br />

schnell, was er an München schätzt.<br />

Elek hat Landwärme aufgebaut – sein Unternehmen<br />

erzeugt Biomethan aus Abfällen<br />

und nachwachsenden Rohstoffen,<br />

speist es ins Erdgasnetz ein, handelt damit<br />

und berät andere Erzeuger. Knapp sieben<br />

Jahre nach dem Start beschäftigt Elek 15<br />

Mitarbeiter und erwirtschaftet nach eigenen<br />

Angaben rund 80 Millionen Euro Umsatz.<br />

Elek setzt damit auf den Trend zu regenerativen<br />

Energien: Allein von 2010 bis<br />

2013 ist die Zahl der Biogasanlagen in<br />

Deutschland von 44 auf 144 gestiegen.<br />

München ist für Elek der perfekte Standort<br />

– nicht nur, weil er hier selbst studiert<br />

und in einem Kombinationsstudiengang<br />

der beiden Münchner Universitäten TU und<br />

LMU seine Begeisterung fürs Unternehmertum<br />

entdeckt hat. An den Universitäten der<br />

bayrischen Landeshauptstadt hat er auch<br />

seine Mitarbeiter rekrutiert. „Die Nähe zu<br />

den Hochschulen ist ein Riesenvorteil“, sagt<br />

Elek, „und viele Absolventen möchten langfristig<br />

in München bleiben.“<br />

Studien belegen, wie wichtig die Hochschulen<br />

für die Gründerszene in München<br />

sind: Laut dem Gründungsradar des Stifterverbands<br />

für die Deutsche Wissenschaft fördern<br />

die TU München und die Hochschule<br />

München von allen großen deutschen<br />

Hochschulen Gründungen am besten. Dazu<br />

passt, dass der Anteil der Start-ups, die von<br />

Gründern mit Hochschulabschluss aufgebaut<br />

werden, in München höher ist als etwa<br />

in Berlin und Hamburg. Das zeigt der Deutsche<br />

Startup Monitor, in dem Münchens<br />

Gründer außerdem den Zugang zu Business<br />

Angels und die Netzwerke der Stadt loben.<br />

Auch die Bemühungen der Landesregierung,<br />

Start-ups zu fördern, bewerten die<br />

Jungunternehmer vergleichsweise gut – genau<br />

wie die Vielfalt der Events für Start-ups.<br />

Im Januar etwa findet das zweite „Bits & Pretzels“<br />

statt:Initiator Andreas Bruckschlögl erwartet<br />

dann rund 1500 Vertreter des Startup-Ökosystems<br />

im Löwenbräukeller.<br />

START-UPS ÜBERLEBEN LÄNGER<br />

Verständlich, dass Münchens Gründer die<br />

Stadt aus dem Schatten Berlins hieven wollen.<br />

Dazu haben sie kürzlich die Initiative<br />

„Best of Munich“ ins Leben gerufen. Laut<br />

den Initiatoren ist die Stadt an der Isar<br />

nicht nur „führender Standort der digitalen<br />

Wirtschaft in Deutschland und im europäischen<br />

Vergleich vor London und Paris“.<br />

Sondern auch jene Stadt in Deutschland,<br />

in der mit 62 Prozent mehr Start-ups die<br />

ersten fünf Jahre überleben als im Rest der<br />

Republik. Gemessen an der Zahl der Einwohner,<br />

werden nirgendwo sonst so viele<br />

IT-Unternehmen gegründet wie in München,<br />

errechnete der Branchenverband<br />

Bitkom in einer Studie Ende 2012.<br />

Zoltan Elek pendelt mittlerweile oft in<br />

die Hauptstadt. Dort sucht er den Dialog<br />

mit Verbänden und Politikern, um für Biogas<br />

zu werben – denn Energiepolitik ist zu<br />

großen Teilen Bundespolitik. Und er besucht<br />

Biogaserzeuger, denn rund um Berlin<br />

sitzen die meisten von ihnen. Bayern<br />

bleibt er trotzdem treu. „München“, sagt<br />

der Unternehmer, „zieht einfach die richtigen<br />

Leute an.“<br />

n<br />

jens.toennesmann@wiwo.de<br />

Die<br />

Finalisten<br />

GRÜNDERWETTBEWERB | Vom<br />

Fahrradschloss bis zum mobilen<br />

digitalen Fotolabor: Diese<br />

sechs Start-ups haben es ins<br />

Finale des WirtschaftsWoche-<br />

Gründerpreises geschafft.<br />

Ambiotex<br />

SCHLAUES SHIRT<br />

Ein T-Shirt, das Puls, Atmung und Bewegung<br />

misst und an eine Smartphone-App<br />

überträgt, die die Daten analysiert: Mit seiner<br />

Geschäftsidee setzt das Mainzer Startup<br />

Ambiotex gleich auf zwei Trends. Zum<br />

einen auf den wachsenden Wunsch vieler<br />

Menschen, die eigene Leistung zu messen.<br />

Zum anderen auf die neue Möglichkeit,<br />

sehr kleine Computer direkt am Körper zu<br />

tragen. Sportlern, gestressten Managern<br />

und Menschen mit Gesundheitsrisiken soll<br />

das schlaue Shirt des Start-ups helfen, Körperfunktionen<br />

zu überwachen, mehr zu<br />

leisten und Stress abzubauen.<br />

Die Idee kommt an: Die Gründer Thomas<br />

und Andrea Claussen, Klaus Bscheid,<br />

Gerhard Tauschl und Stephanie Renda<br />

qualifizierten sich über die Abstimmung<br />

unter den WirtschaftsWoche-Lesern für<br />

das Finale von Neumacher 2014.<br />

Fast Forward Imaging<br />

VERKAUFSFÖRDERNDE FOTOS<br />

Ob Konzern, Mittelständler oder Kleinunternehmer:<br />

Wer Produkte online anbietet,<br />

braucht gute Bilder, damit Kunden<br />

tatsächlich per Mausklick kaufen. Doch<br />

solche Produktfotos sind oft teuer oder von<br />

schlechter Qualität. Anna Rojahn hat eine<br />

Technologie entwickelt, die dieses Problem<br />

lösen soll: einen großen Kasten mit<br />

Scheinwerfern und Kameras, in dem sich<br />

Produkte von allen Seiten ablichten lassen,<br />

sowie Software, die daraus innerhalb<br />

weniger Minuten hochauflösende Freisteller-Fotos<br />

und 360-Grad-Ansichten erstellt.<br />

Die Bilder sollen Online-Shoppern das<br />

Gefühl vermitteln, die Produkte in die »<br />

WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 71<br />

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Management&Erfolg<br />

Ins rechte<br />

Bild gesetzt<br />

Anna Rojahn,<br />

Gründerin von<br />

Fast Forward<br />

Imaging<br />

über Trends und Technologien, Märkte und<br />

Wettbewerber analysieren und visualisieren<br />

lassen. Das von Peter Walde und Uwe Kühn,<br />

Matthias Plaue und Luis Sperr im Jahr 2012<br />

gegründete Unternehmen hat bereits erste<br />

Kunden, etwa den Autohersteller Audi.<br />

Lock8<br />

SICHERE SACHE<br />

»<br />

Hand nehmen zu können, und zum<br />

Kauf animieren.<br />

Fast Forward Imaging nutzt für die Lösung<br />

ein Patent der Bauhaus-Universität<br />

Weimar mit exklusiver Lizenz. Das Geschäftsmodell<br />

des Start-ups: Wer mehr als<br />

5000 Produkte im Jahr fotografieren will,<br />

bekommt die Hardware kostenlos und<br />

zahlt pro fotografiertem Produkt. Damit<br />

hat Gründerin Rojahn schon eine Reihe<br />

von Kunden und Investoren überzeugt –<br />

darunter Vogel Ventures und die Ganske<br />

Media Group.<br />

Fresh Detect<br />

MISS DEN KEIM<br />

Mehr als 200 000 Menschen in Deutschland<br />

erkranken jedes Jahr, weil sie über Lebensmittel<br />

Bakterien und Keime zu sich<br />

nehmen. Fresh Detect will das Problem<br />

entschärfen: Das Unternehmen aus Karlsfeld<br />

bei München entwickelt ein handtellergroßes<br />

Gerät, mit dem sich in etwa drei<br />

Sekunden die Keimbelastung von Lebensmitteln<br />

ermitteln lassen soll. Das etwa 500<br />

Gramm schwere Minilabor misst dafür, wie<br />

viele Exkremente von Bakterien auf Lebensmitteln<br />

vorhanden sind – sogar durch<br />

eine transparente Verpackung hindurch.<br />

Die Technologie soll Lebensmitteltests einfacher,<br />

günstiger und schneller machen.<br />

Das Start-up ist aus einem Forschungsprojekt<br />

entstanden, 2015 wollen die<br />

Gründer Oliver Dietrich, Ralf Hasler und<br />

Mathias Reichl das Handgerät zur Serienreife<br />

bringen und an Industrie, Einzelhändler<br />

und Gastronomen verkaufen.<br />

Mapegy<br />

DURCHBLICK IM DATENWUST<br />

Wer neue Produkte entwickelt, nach Partnern<br />

oder Investoren sucht, muss in kurzer<br />

Zeit wichtige Entscheidungen treffen. Das<br />

Problem: zu viele Informationen. Das Berliner<br />

Start-up Mapegy will günstig und schnell<br />

für Durchblick im Datenwust sorgen: Es entwickelt<br />

Software, mit der sich Informationen<br />

DER PREIS<br />

Kapital für Ideen<br />

Der Sieger erhält<br />

10 000 Euro Startkapital<br />

sowie ein Paket<br />

aus Sachleistungen<br />

im Wert von bis zu<br />

300 000 Euro von<br />

den Partnern des Wettbewerbs: der Anwaltskanzlei<br />

Osborne Clarke, der Agentur<br />

thjnk, dem Investor High-Tech Gründerfonds,<br />

der Unternehmerorganisation<br />

Entrepreneurs’ Organization und der<br />

WirtschaftsWoche. Die Preisverleihung<br />

findet am 18. November im Rahmen<br />

der Gründerkonferenz Neumacher<br />

statt, an der Gründer und Unternehmer<br />

teilnehmen können. Infos und Anmeldungen<br />

unter www.neumacher.com<br />

Etwa alle zwei Minuten wird in Deutschland<br />

ein Fahrrad gestohlen. Und vermutlich mindestens<br />

ebenso oft eines an Freund oder Bekannte<br />

verliehen. Franz Salzmann und Daniel<br />

Zajarias-Fainsod wollen Dieben die Arbeit<br />

erschweren und Radbesitzern das Verleihen<br />

erleichtern: Ihr Start-up Lock8 entwickelt<br />

ein intelligentes Fahrradschloss, das<br />

mit einem GPS-Empfänger ausgestattet ist<br />

und sich mit dem Internet verbinden kann.<br />

Über eine Smartphone-App können Fahrradbesitzer<br />

zum einen sehen, wo sich das<br />

Fahrrad gerade befindet, und werden alarmiert,<br />

wenn es gestohlen wird. Zum anderen<br />

können sie es via App verleihen, auch<br />

gegen Gebühr. Nutzer können via App Fahrräder<br />

orten und mit dem Smartphone öffnen<br />

– einen Schlüssel fürs Schloss brauchen<br />

sie nicht mehr. Die Gründer haben bei namhaften<br />

Investoren einen siebenstelligen Betrag<br />

eingesammelt. Im Dezember wollen sie<br />

die ersten 1000 Test-Schlösser ausliefern.<br />

Klang Technologies<br />

AUSGEKLÜGELTER SOUND<br />

Was wäre, wenn man über Kopfhörer eine<br />

Band so hören könnte, als stünde sie um einen<br />

herum – der Sänger vorne links, der<br />

Bassist vorne rechts, der Schlagzeuger hinter<br />

dem Rücken? Für solch ein Hörerlebnis<br />

will das Aachener Start-up Klang Technologies<br />

mit einer neuen 3-D-Audio-Technologie<br />

sorgen – ganz gleich, ob man Musik<br />

lauscht, Spiele spielt oder Hörspielen folgt.<br />

Die Gründer Roman Scharrer, Pascal<br />

Dietrich und Benedikt Krechel sind Akustik-Forscher<br />

und Ingenieure von der<br />

RWTH Aachen, Robin Müller und Bernd<br />

Kopin erfahrene Musikunternehmer. Seit<br />

2013 baut das Team das Start-up auf und<br />

hat – nach einem Start mit einem Exist-Stipendium<br />

– bereits Investoren gefunden.<br />

Mitte Oktober gab es für Berliner Bands die<br />

erste Kostprobe: Das Start-up öffnete seine<br />

Proberäume – die kostenlosen Sessions<br />

waren binnen Tagen ausgebucht. n<br />

jens.toennesmann@wiwo.de<br />

FOTO: TILMANN CLASSEN<br />

72 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Management&Erfolg<br />

Kreatives Gipfeltreffen<br />

Heimat-Gründer Guido<br />

Heffels (oben), Andreas<br />

Mengele (links) und Matthias<br />

von Bechtolsheim in ihrem<br />

Berliner Konferenzraum „Berg“<br />

FOTO: ANDREAS CHUDOWSKI FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

74 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Keiner spürt es so wie sie<br />

HALL OF FAME | Guido Heffels, Matthias von Bechtolsheim, Andreas Mengele Sie haben für die Baumarktkette<br />

Hornbach dem Heimwerker ein Denkmal gesetzt, mit Fußballlegende Dettmar Cramer das Image<br />

der Volks- und Raiffeisenbanken aufpoliert und mit Adolf Hitler die FDP wiederbelebt: Als erstes Trio<br />

kommen die Gründer der Agentur Heimat in die Ruhmeshalle der deutschen Werbung.<br />

Der Anruf erreicht Matthias von<br />

Bechtolsheim beim Mittagessen.<br />

„Wir haben ein Problem“,<br />

sagt die Stimme am anderen<br />

Ende. „Und wir brauchen eine<br />

Lösung – heute noch.“ Die Stimme gehört<br />

einem Manager von Burger King. Das Problem<br />

der Fast-Food-Kette: Ein Reporterteam<br />

des Privatsenders RTL hatte über<br />

mangelnde Hygiene und unmenschliche<br />

Arbeitsbedingungen in einigen Filialen berichtet<br />

– das Unternehmen fand sich innerhalb<br />

weniger Stunden nach der Ausstrahlung<br />

der Sendung inmitten eines veritablen<br />

Shitstorms.<br />

Zwei Minuten nach dem Anruf seines<br />

Kunden schart von Bechtolsheim, Mitgründer<br />

der Werbeagentur Heimat, ein Team um<br />

sich. Zieht Vergleiche zu PR-Skandalen aus<br />

den Neunzigerjahren wie dem Elchtest-Desaster<br />

von Mercedes-Benz oder Shells Reaktion<br />

auf die Diskussion um die Ölplattform<br />

Brent Spar. Und entwickelt innerhalb weniger<br />

Minuten ein Szenario entlang klassischer<br />

Krisen-PR:Fehler eingestehen, Besserung<br />

geloben und die Botschaft schnell und<br />

glaubwürdig kommunizieren, am authentischsten<br />

durch Mitarbeiter des Unternehmens,<br />

ergänzt durch Aktionen wie einen<br />

Tag der offenen Tür. „Alles analytisch sauber<br />

abgleitet“, erinnert sich Heimat-Kreativchef<br />

Guido Heffels an die Vorschläge, die ihm<br />

von Bechtolsheim kurz darauf präsentiert.<br />

„Aber nicht entschieden genug.“<br />

FEUER MIT FEUER BEKÄMPFEN<br />

Sein spontaner Vorschlag: Warum nicht eine<br />

umstrittene Filiale niederbrennen, wieder<br />

aufbauen und die Bilder für einen PR-<br />

Film nutzen, als radikalstes Zeichen eines<br />

Neuanfangs? „Wenn die Hütte brennt, muss<br />

man ein noch kraftvolleres Zeichen dagegensetzen“,<br />

sagt Heffels. „Und Feuer bekämpft<br />

man nun mal mit Feuer.“<br />

Stille, sekundenlang. Was von Bechtolsheim<br />

als „die für Guido charakteristische<br />

kreative Urgewalt“ beschreibt, löst zwischen<br />

den Agenturgründern eine kurze, aber intensive<br />

Diskussion über kreative Machbarkeit<br />

und konkreten Kundennutzen aus,<br />

die kurz darauf auch mit dem Management<br />

von Burger King fortgesetzt wird. Ergebnis:<br />

Ein TV-Spot, geschaltet zur Hauptsendezeit<br />

auf den größten deutschen TV-Kanälen, in<br />

dem sich Burger King entschuldigt, Hygiene-Kontrollen,<br />

die Gründung eines Gästebeirats<br />

und Bezahlung nach Tarifvertrag<br />

verspricht. Ein 60-Sekunden-Statement,<br />

gesprochen <strong>vom</strong> Deutschland-Chef Andreas<br />

Bork. Aufgenommen nicht in mehreren<br />

Ewiger Ruhm<br />

Um Branchengrößen wie Guido Heffels,<br />

Matthias von Bechtolsheim und Andreas<br />

Mengele zu ehren und die gesellschaftliche<br />

wie ökonomische Bedeutung der<br />

Branche zu würdigen,<br />

hat die Wirtschafts-<br />

Woche 2001 die Hall<br />

of Fame der deutschen<br />

Werbung ins<br />

Leben gerufen. „Ihre<br />

Mitglieder haben die<br />

deutsche Werbung nachhaltig geprägt“,<br />

so Miriam Meckel, Chefredakteurin der<br />

WirtschaftsWoche und Vorsitzende der<br />

Jury. „Ihre Arbeit zeichnet sich durch<br />

kontinuierlich hohe Qualität aus.“<br />

Häppchen, sondern ohne Schnitt, mit leicht<br />

verwackelter Kamera.<br />

„Es geht uns nicht darum, ein kreatives<br />

Feuerwerk um seiner selbst willen abzubrennen,<br />

sondern darum, den intelligentesten<br />

Weg im Sinne des Kunden zu finden“, erklären<br />

die drei Agenturgründer Heffels, von<br />

Bechtolsheim und Andreas Mengele ihre<br />

Entscheidung für die scheinbar konventionelle,<br />

biedere Variante. „Das war in dieser<br />

Situation die beste Lösung.“<br />

VIELFACH PRÄMIERT<br />

Eine, die dem Kunden gefällt. Und im Netz<br />

polarisiert: „Als ich las, dass der Spot von<br />

Heimat ist, hatte ich mich schon gefreut.<br />

Während des Anschauens war ich eher enttäuscht“,<br />

so der Kommentar von Nutzer naja.<br />

„Von Heimat hier mehr zu erwarten, womöglich<br />

Werbehumor oder kreatives Vorturnen,<br />

hieße Heimat zu unterschätzen“,<br />

kontert User Fritz. „Ich finde den Spot gedanklich<br />

absolut auf den Punkt.“<br />

Und keine Eintagsfliege, wie der Blick auf<br />

die Heimat-Historie zeigt: Seit ihrer Gründung<br />

vor 15 Jahren setzt die Agentur mit ihren<br />

Kampagnen, unter anderem für die Baumarktkette<br />

Hornbach („Mach es zu deinem<br />

Projekt“, „Keiner spürt es so wie Du“) oder<br />

die Volksbanken Raiffeisenbanken („Jeder<br />

Mensch hat etwas, das ihn antreibt“), regelmäßig<br />

kreative Ausrufezeichen. Hat weltweit<br />

Dutzende Preise für kreative und effiziente<br />

Werbung eingeheimst. Genialität, die sich<br />

rechnet – auch für die Agentur selbst:Mit 230<br />

Mitarbeitern, einem Umsatz von knapp 23<br />

Millionen Euro und einem operativen Gewinn,<br />

der nach eigenen Angaben auf 3,7 Millionen<br />

Euro kletterte, gehörte Heimat 2013 zu<br />

den zehn größten inhabergeführten Agenturen<br />

Deutschlands. Obwohl – oder vermut-<br />

»<br />

WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 75<br />

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Management&Erfolg<br />

<br />

Spieltrieb geweckt Mit der Fanta-Kampagne „Play Now“<br />

trifft Heimat das Lebensgefühl der Jugend, ohne sich bei<br />

der Zielgruppe anzubiedern<br />

<br />

Seltenes Stück Ein Hammer aus dem Schrott eines<br />

Panzers wurde zum Objekt der Begierde und lockte Hunderttausende<br />

auf die Hornbach-Web-Site und in die Märkte<br />

Da häng ich dran Umherstreifen, Beute machen, der<br />

Wunsch nach Individualität: Die Kampagne „Gefunden<br />

auf otto.de“ für das E-Commerce-Angebot des Einzelhandelskonzerns<br />

spielt mit weiblichen Klischees<br />

<br />

<br />

Sinn des Lebens Trainerlegende Dettmar Cramer erzählt in der<br />

Volksbanken-Raiffeisenbanken-Kampagne „Jeder Mensch hat<br />

etwas, das ihn antreibt“ über seine Liebe zum Fußball. Emotionen<br />

statt Zinssatz: Für die Finanzbranche war das 2009 ein Novum<br />

<br />

Virale Sehnsucht Für Google ersann Heimat einen „Fluchtplan ins<br />

Grüne“. Auf der gleichnamigen Web-Seite finden überarbeitete<br />

Großstädter Naherholungsgebiete. Wer mag, kann seine Lieblingsplätze<br />

fotografieren und so mit den anderen Nutzern teilen<br />

FOTOS: PR<br />

76 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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»<br />

lich gerade weil sie im Schnitt zwei von<br />

drei Anfragen ablehnt – „wenn es uns nicht<br />

reizt, wir keinen Zugang finden und ein Ja für<br />

uns und den Kunden langfristig nur frustrierend<br />

wäre“, sagt Heffels. „Das Leben ist zu<br />

kurz, um sich mit Kunden rumzuärgern.“<br />

Basis dieses Erfolgs: kein schneller Witz,<br />

sondern „berührende, originäre Kommunikation,<br />

die etwas bewegt“ – so beschreiben<br />

die drei Gründer das Ziel ihrer Arbeit. „Wir<br />

verstehen uns blind, obwohl wir, jeder für<br />

sich genommen, sehr unterschiedlich sind.“<br />

KREATIVER INTENSIVTÄTER<br />

Mengele, der Ruhigste im Bunde, der als intelligenter<br />

Faktensammler und schonungsloser<br />

Analytiker den Boden für die internen<br />

Diskussionen auf dem Weg zur Kampagnenidee<br />

bereitet. Von Bechtolsheim,<br />

selbst ernannte Quasselstrippe, vor allem<br />

aber überzeugender Verkäufer der Agenturideen<br />

wie Kundenversteher, im Kopf so<br />

schnell wie mit der Zunge, für Mengele „ein<br />

Alphatier mit Substanz“.<br />

Und Heffels, für von Bechtolsheim der<br />

„kreative Intensivtäter“, als erklärter Feind<br />

des Nebensatzes ein „Weltmeister der Verdichtung,<br />

der jede Botschaft auf den Punkt<br />

schwitzt“. Und jede scheinbar perfekte Lösung<br />

mit dem immer gleichen Satz infrage<br />

stellt: „Schafft das was weg?“ Der zwar von<br />

außen gern als Kopf der Gruppe wahrgenommen<br />

wird, aber – genau wie seine Kompagnons<br />

– weiß, „dass der Einzelne ohne die<br />

beiden anderen nichts wäre“.<br />

Freunde? Sind sie nicht, auch da gibt es<br />

kein Vertun. „Wir bilden einander einen<br />

fruchtbaren Resonanzboden“, sagt Mengele.<br />

„Einen Raum für Feedback auf Zuruf, in<br />

dem sich jeder ausprobieren kann, ohne<br />

Angst vor dem Scheitern haben zu müssen.<br />

Und in dem wir die Basis schaffen für die in<br />

unseren Augen intelligenteste Lösung.“<br />

Gründe genug die Heimat-Gründer in<br />

die Hall of Fame der deutschen Werbung<br />

aufzunehmen, die die WirtschaftsWoche<br />

2001 ins Leben rief, um die ökonomische<br />

Bedeutung der Branche und<br />

deren Koryphäen zu würdigen<br />

(siehe Kasten siehe Seite 75).<br />

„Es ist beeindruckend, wie sich<br />

die drei mit ihren unterschiedlichen<br />

Fähigkeiten ergänzen“, so<br />

das Urteil der Jury. „Wie sie aus<br />

1+1+1 oft mindestens vier machen<br />

und über viele Jahre kreative,<br />

kundenorientierte Spitzenleistungen<br />

abliefern.“ Ein Anspruch,<br />

auf den sich auch die<br />

Gründer verständigen, als sie<br />

APP + ONLINE<br />

Die Videospots zu den<br />

Kampagnen<br />

und mehr Bilder von<br />

der Preisverleihung finden<br />

Sie auf unserer<br />

App und im Internet<br />

unter<br />

wiwo.de/hall-of-fame<br />

nach ein paar Bier zu viel auf der Reeperbahn<br />

verabreden, ihre Ideen auf eigene Rechnung<br />

zu entwickeln: Der Mönchengladbacher<br />

Guido Heffels, damals 34, der zu Schulzeiten<br />

seine Liebe zum Punk entdeckt hatte, regelmäßig<br />

in der Düsseldorfer Kultkneipe Ratinger<br />

Hof abhing, von seinem Kinderzimmer<br />

aus selbst produzierte Platten vertrieb und<br />

bis heute, statt mit Excelcharts zu jonglieren,<br />

lieber Slogans wie die Titelzeile eines Punksongs<br />

textet – „eine kurze, knappe Botschaft –<br />

dann folgt der Rest von selbst“. Der sich mit<br />

eisernem Willen das Stottern abtrainierte.<br />

Seinen Eltern, Vater Friseur, Mutter Kosmetikerin,<br />

bis heute dafür dankbar ist, dass sie<br />

ihm als Kind das Tennisspielen ermöglichten,<br />

was er heute wieder mit Leidenschaft<br />

tut. Der sich nach einem Grafikdesign-Studi-<br />

um über mehrere Agenturen bis zum Kreativdirektor<br />

in der Hamburger Werbeagentur<br />

Springer & Jacoby nach oben arbeitet. Ein<br />

hochkreativer Hitzkopf, der schon mal die<br />

Aktenordner seines Kollegen durchs Treppenhaus<br />

schleudert, wenn er seinen Kopf<br />

nicht gleich durchsetzen kann.<br />

GOLDENE ZWERGE<br />

Der Name des damaligen Kollegen: Matthias<br />

von Bechtolsheim, aufgewachsen nahe<br />

München, damals 31. Der schon als Kind<br />

Anzeigen aus amerikanischen und französischen<br />

Magazinen ausschneidet, als Jugendlicher<br />

im Kino statt „Rambo III“ lieber die<br />

„Cannes-Rolle“ sieht. Und darüber nachdenkt,<br />

warum Unternehmen wie der Reifenhersteller<br />

Uniroyal mit goldenen Zwergen<br />

für sich werben. Der nach einer Ausbildung<br />

zum Werbekaufmann, einem berufsbegleitenden<br />

Studium an der Bayerischen<br />

Werbeakademie und Stationen<br />

bei damals angesehenen Agenturen<br />

wie Gabler und BMZ, wo<br />

er an der legendären Toyota-<br />

Tier-Kampagne („Nichts ist unmöglich“)<br />

mitgewirkt hat, 1995<br />

bei Springer & Jacoby landet.<br />

Der in Deutschlands damals<br />

führender Kreativagentur mit<br />

Ende 20 schon zur Führungsmannschaft<br />

gehört. Und doch<br />

nach vier Jahren eine neue Herausforderung<br />

sucht.<br />

So wie Andreas Mengele, damals 35. Der<br />

Schwabe, der nach internationalem BWL-<br />

Studium „lieber in die Werbung als in den<br />

Vertrieb“ will und als Trainee bei der Grey-<br />

Tochter Gramm in Düsseldorf anheuert.<br />

Aber nach einem verlorenen Pitch merkt,<br />

„dass ich hier falsch bin“. Und zu der Agentur<br />

wechselt, die den Etat gewonnen hatte –<br />

Springer & Jacoby, wo er auf Heffels und von<br />

Bechtolsheim trifft. In dem von Kreativen<br />

geprägten Unternehmen etabliert er mit<br />

Gründer Konstantin Jacoby die strategische<br />

Planung, wechselt 1997 zum Konkurrenten<br />

Jung von Matt. „Ich wollte noch mal was anderes<br />

sehen – für eine eigene Agentur war es<br />

noch nicht die richtige Zeit“.<br />

Die kommt zwei Jahre später, ausgerechnet<br />

nachdem er mitgeholfen hatte, den gro-<br />

»Gute Werbung darf alles – nur keinen<br />

kaltlassen«<br />

Guido Heffels, Kreativchef der Agentur Heimat<br />

ßen Etat der Deutschen Post an Land zu ziehen<br />

– und dafür von Co-Agenturchef Holger<br />

Jung ein aus seiner Sicht überflüssiges Lob<br />

bekam. „Mein Schlüsselerlebnis“, erinnert<br />

sich Mengele. „Jetzt wollte ich wissen, ob ich<br />

gut genug war, es unter eigenem Namen zu<br />

versuchen.“<br />

Das geht damals auch Heffels und von<br />

Bechtolsheim so, die sich beide auf ihre Art<br />

am System Springer & Jacoby abgearbeitet<br />

hatten. Drei Brüder im Geiste, alle auf dem<br />

Sprung. „Natürlich hat uns damals jeder von<br />

dem Schritt abgeraten“, erinnert sich Heffels.<br />

„Zu viele Häuptlinge, das konnte nicht gut<br />

gehen.“ Was sich zu bewahrheiten scheint,<br />

als schon nach einem Jahr der vierte im Bunde<br />

– Ex-Springer-Kollege Arndt Dallmann –<br />

die Agentur verlässt – „wir hatten einfach<br />

unterschiedliche Auffassungen <strong>vom</strong> Charakter<br />

dieser Agentur“.<br />

LUST STATT BUSINESSPLAN<br />

Umso einiger war sich das verbliebene Triumvirat:<br />

hatte bewusst „die ausgetretenen<br />

Hamburger Pfade“ gen Berlin verlassen,<br />

„wo man damals noch ins Café gehen<br />

konnte, ohne einen Werber zu treffen“. Das<br />

Trio landet auf der Suche nach passenden<br />

Räumen in der Kreuzberger Ex-Wohnung<br />

von Regisseur Wim Wenders – dessen ehemaliges<br />

Schlafzimmer dient heute als Konferenzraum,<br />

von der Dachterrasse lässt<br />

sich ganz Berlin überblicken. „Wir hatten<br />

keinen Businessplan“, sagt Heffels.<br />

WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 77<br />

»<br />

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Management&Erfolg<br />

Ran an den Speck Mit den Kampagnen für die Baumarktkette Hornbach<br />

setzt Heimat dem Heimwerker seit 13 Jahren ein Denkmal<br />

<br />

<br />

Erfolgreich<br />

provoziert Mit<br />

den Konterfeis<br />

von Sektenguru<br />

Bhagwan, Adolf<br />

Hitler und der<br />

Horrorfilmfigur<br />

Freddy Krueger<br />

löst Heimat einen<br />

Skandal aus und<br />

befördert das<br />

Comeback der FDP<br />

<br />

Grenzen überschreiten<br />

Mit<br />

rotem Klebeband<br />

markiert Heimat<br />

im Auftrag des US-<br />

TV-Senders CNN<br />

die Hauptstadt<br />

zum 20-jährigen<br />

Jahrestag des<br />

Mauerfalls<br />

»<br />

„Aber unheimliche Lust, uns auszuprobieren.“<br />

Angefangen beim Namen: Nicht wie in<br />

der Branche oft üblich wie die Gründer<br />

sollte die Agentur heißen – eine Marke sollte<br />

es sein, „stärker als jeder Einzelne von<br />

uns“. Es folgten Diskussionen, unter anderem<br />

über Vorschläge wie Laughing Tuna –<br />

„das klang wie eine ostdeutsche Marke für<br />

Surfer-Klamotten“. Plötzlich lag der Name<br />

Heimat auf dem Tisch – „da sagte keiner<br />

mehr was – wir wussten, das war es“,<br />

erinnert sich Heffels. „Weil man nur erkennt,<br />

wohin man will, wenn man weiß,<br />

woher man kommt – das setzt sofort Gedanken<br />

frei.“<br />

Und Bilder, die jeder Mitarbeiter auf seine<br />

Visitenkarte drucken darf: Bayer von Bechtolsheim<br />

zeigt sich selbst beim Skifahren,<br />

Mengele sein zerwühltes Bett, Heffels eine<br />

Fleischerpalme – eine triste Pflanze auf der<br />

Fensterbank einer Metzgerei.<br />

Einer der ersten Heimat-Kunden: die FDP<br />

Nordrhein-Westfalen, der die Agentur mit<br />

zwei simplen, aber suggestiven Motiven<br />

2002 zur unerwarteten Rückkehr in den<br />

Landtag verhilft. Eines zeigt als Wahlziel eine<br />

blaue 8 auf gelbem Grund, ein anderes Sektenguru<br />

Bhagwan neben Adolf Hitler und<br />

Horrorfilmfigur Freddy Krueger („Wenn wir<br />

nicht schnell für mehr Lehrer sorgen, suchen<br />

sich unsere Kinder selber welche“).<br />

Das Hitlermotiv wird nur einmal auf einer<br />

Pressekonferenz gezeigt – und löst einen<br />

Medienhype aus. „Das war Punk“, sagt Heffels.<br />

„Wir haben alles infrage gestellt.“<br />

WIE IN EINER GUTEN EHE<br />

Eine Haltung, die auch Hornbach überzeugt:<br />

Die Baumarktkette aus der Südpfalz arbeitet<br />

seit 2002 mit Heimat zusammen. Als „streit-,<br />

aber fruchtbar – wie in einer guten Ehe“ beschreibt<br />

Hornbach-Marketingleiter Marc<br />

Kreisel das Verhältnis zwischen Unternehmen<br />

und Agentur, die sich für Hornbach<br />

nicht einfach schnöde Reklame zu Bohrmaschinen<br />

oder Preisschlachten ausdenkt, sondern<br />

die Leidenschaft der Heimwerker zur<br />

Grundhaltung jeder neuen Kampagne erhebt<br />

und in strategische Entscheidungen<br />

eingebunden ist – bis hin zum Kreieren von<br />

Mitarbeiterbeteiligungsmodellen. Und dazu<br />

beiträgt, dass die Marke heute 98 Prozent der<br />

Deutschen kennen und als beliebter Arbeitgeber<br />

gilt. „Die Arbeit von Heimat ist einzigartig“,<br />

sagt Kreisel, „wir sind damit absolut<br />

glücklich.“<br />

2006 etwa, als die Agentur den fiktiven Motorradfahrer<br />

Ron Hammer ins Zentrum einer<br />

Kampagne stellt. Ihn in einem verwackelt<br />

gefilmten Webspot bei einem Stunt gegen<br />

einen Hornbach-Markt krachen lässt,<br />

auf Plakaten für angeblich reale Rennen mit<br />

ihm wirbt und ein „Bravo“-Poster produzieren<br />

lässt, so eine bundesweite Debatte über<br />

dessen Authentizität auslöst, die es bis in die<br />

FOTOS : PICTURE-ALLIANCE/DPA, PR (2)<br />

78 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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„Tagesschau“ schafft. Und damit eine virale<br />

Kampagne kreiert, bevor der Begriff salonfähig<br />

wird. Oder als Heimat Begehrlichkeiten<br />

auf einen limitierten Hammer weckt, der<br />

aus Blechen russischer Panzer gefertigt wird.<br />

Bis hin zum Stellen existenzieller Fragen<br />

(„Was bleibt von Dir?“), für die die Agentur<br />

aus Pietätsgründen gar auf das Soundlogo<br />

verzichtet („Yippi jaja yippie yippie yeah“),<br />

das sonst jeden Hornbach-Spot abbindet.<br />

Ähnlich auch im jüngsten Spot „Gothic Girl“,<br />

der über die Protagonistin, ein Gruftie-Mädchen,<br />

Mobbing unter Kindern thematisiert,<br />

Anderssein feiert und im Netz schon mehr<br />

als 4,5 Millionen Mal abgerufen wurde.<br />

„Die Verknüpfung zum Hier und Jetzt, zu<br />

unseren Sorgen und Nöten zeigt die Relevanz<br />

einer Kampagne“, sagt Heffels. „Gute<br />

Werbung darf alles – nur keinen kaltlassen.“<br />

So wie die Kampagne für den TV-Sender<br />

CNN, der anlässlich des 20. Jahrestags des<br />

Berliner Mauerfalls eigentlich „nur eine Anzeige“<br />

wollte. Weil Heffels und Kollegen sich<br />

„eigentlich nie an Briefings halten, aber<br />

Spaß an der Aufgabe“ bekamen, bescherten<br />

sie CNN eine Aktion, die die Hauptstadt in<br />

ein riesiges Spielfeld verwandelte: Mit einem<br />

speziell gestalteten Klebeband markierten<br />

sie einen Weg entlang des alten Mauerverlaufs,<br />

ergänzt durch Arbeiten eines Künstler<br />

an markanten Punkten der Stadt.<br />

IM KASTENWAGEN ZUM TENNIS<br />

„Heimat, das ist Überzeugungstäterschaft<br />

und damit verbunden Konsequenz, Radikalität<br />

und Mut zur Exzentrik“ sagt Jean-Remy<br />

von Matt, Mitgründer der gleichnamigen<br />

Agentur. „Und das Ganze auf einem hohen<br />

professionellen Niveau.“<br />

Erfolg, der Begehrlichkeiten weckt: Nachdem<br />

über die Jahre Interessenten immer<br />

wieder vergeblich versucht hatten, die Agentur<br />

zu kaufen, übernahm das internationale<br />

Agenturnetzwerk TBWA im Juli 70 Prozent<br />

von Heimat und gab den drei Gründern 30<br />

Prozent an TBWA Deutschland, zu der jetzt<br />

auch Heimat gehört – für einen kolportiert<br />

höheren zweistelligen Millionenbetrag.<br />

„Wir nehmen nicht das Geld und hauen<br />

ab“, sagt Heffels, der auch künftig in seinem<br />

alten Kastenwagen im Tennisclub vorfahren<br />

will. „Wir wollen für globale Kunden arbeiten,<br />

das verlangt globale Präsenz. Und<br />

wir wollen uns weiter leisten können, Kunden,<br />

auf die wir keine Lust haben, abzulehnen.“<br />

Seine größte Angst? „Dass uns langweilig<br />

wird. Deshalb fragen wir uns immer<br />

wieder: Was können wir noch nicht? Denn<br />

das können wir meistens sehr gut.“ n<br />

manfred.engeser@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 79<br />

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Management&Erfolg<br />

2<br />

1<br />

3<br />

4<br />

5<br />

1| Jean-Remy von Matt (Jung von Matt),<br />

Miriam Meckel (WirtschaftsWoche), Andreas<br />

Mengele, Guido Heffels, Matthias von<br />

Bechtolsheim (alle Heimat), Moderator Klaas<br />

Heufer-Umlauf<br />

2| Gabriele Eick (Marketingclub Frankfurt)<br />

und Friedrich von Metzler (Bankhaus Metzler)<br />

3| Nicola Brown, Marc Hines und Sabine<br />

Frank (alle BBDO)<br />

4| Michael Moser (Shanghai Berlin), Horst<br />

Wagner (Publicis Pixelpark), Jens Merkel<br />

(wob), Simone Leipossy (K3), Frank Merkel<br />

(wob) und Dirk Kidrowitsch (GWA-Vorstand)<br />

5| Uli Veigel (Brand Consultancy)<br />

6| Rund 200 Gäste feierten im Frankfurter<br />

Palmengarten<br />

6<br />

7<br />

7| Ingo Krauss (Mitglied Hall of Fame)<br />

GALA<br />

Nacht der Werber<br />

Mit einer großen Gala im Rahmen<br />

der Effie-Preisverleihung des Verbands<br />

der Kommunikationsagenturen<br />

GWA im Frankfurter Palmengarten<br />

feierten rund 200 prominente Vertreter aus<br />

Werbung, Industrie, Politik und Gesellschaft<br />

am vergangenen Donnerstag die<br />

Aufnahme von Guido Heffels, Matthias von<br />

Bechtolsheim und Andreas Mengele in die<br />

Hall of Fame der deutschen Werbung.<br />

„Ich erlebe die drei als besonders authentische<br />

Überzeugungstäter“, sagte Jean-<br />

Rémy von Matt, Mitgründer der Agentur<br />

Jung von Matt und selbst seit 2002 Mitglied<br />

der Hall of Fame in seiner Laudatio auf die<br />

neuen Preisträger. „Authentisch ist man ja<br />

dann, wenn man nicht zwei Gesichter sondern<br />

nur eins hat. Bei Guido Heffels, Matthias<br />

von Bechtolsheim und Andreas Mengele<br />

verhält es sich so: Sie alle zusammen<br />

zeigen nur ein Gesicht.“<br />

Die Gründer der Agentur Heimat sind<br />

die Mitglieder 31 bis 33 der Hall of Fame –<br />

und seit der Gründung 2001 das erste Trio,<br />

das in die Ruhmeshalle der deutschen<br />

Werbung aufgenommen wurde.<br />

„Natürlich hat uns damals jeder von<br />

dem Schritt abgeraten – zu viele Häuptlinge,<br />

das konnte nicht gut gehen“ erinnerte<br />

sich Heffels, Mitgründer und kreativer<br />

Vordenker des Gründer-Trios, an den gemeinsamen<br />

Start vor 15 Jahren. Und<br />

brachte das Erfolgsgeheimnis der Agentur<br />

auf den Punkt:„Man muss aufpassen, dass<br />

man es nicht allen recht macht. Wenn es<br />

allen gefällt, dann stimmt etwas nicht.<br />

Gute Werbung sollte berühren und darf<br />

keinem egal sein.“<br />

n<br />

manfred.engeser@wiwo.de<br />

FOTOS: BERT BOSTELMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

80 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Geld&Börse<br />

Bis zum letzten<br />

Tropfen<br />

AKTIEN | Bevölkerungswachstum, der Klimawandel, aber<br />

auch Verschwendung machen Trinkwasser in vielen<br />

Weltregionen zum knappen Gut. Die Wasseraufbereitung<br />

wird zum Milliardengeschäft – und zu einer Geldanlage.<br />

FOTOS: ISTOCK, GETTY IMAGES/GEORGE ROSE<br />

Der Rasensprinkler platzte, kurz<br />

nachdem Claudia Amling auf<br />

eine Geschäftsreise gegangen<br />

war. Als die 52-jährige Marketingmanagerin<br />

Tage später ins<br />

kalifornische Santa Cruz heimkehrte, waren<br />

bereits etliche Tausend Liter Wasser im<br />

Erdreich versickert. Neben der Rechnung<br />

dafür trudelte wenig später auch noch eine<br />

Strafe über 300 Dollar ein, die ihr der US-<br />

Bundesstaat Kalifornien auferlegte – der<br />

Wasserzähler hatte den Behörden signalisiert:<br />

Verschwendung. Um der Strafe zu<br />

entgehen, besuchte Amling eine zweistündige<br />

Schulung an der städtisch organisierten<br />

Wasserschule im Louden Nelson Community<br />

Center in Santa Cruz, wo sie im<br />

sparsamen Umgang mit Wasser unterrichtet<br />

wurde. „Das war schon ärgerlich, zumal<br />

ich in unserem Drei-Personen-Haushalt<br />

immer extrem auf unseren Wasserverbrauch<br />

achte“, erzählt Amling.<br />

Die Küstenstadt Santa Cruz, rund 100<br />

Kilometer südlich von San Francisco, ist<br />

die erste Gemeinde im US-Bundesstaat<br />

Kalifornien, die wegen extremer Trockenheit<br />

Wasser rationiert hat. Seit Mai dürfen<br />

Haushalte mit bis zu vier Personen nur<br />

noch höchstens 940 Liter Wasser am Tag<br />

verbrauchen – egal, ob beim Waschen,<br />

Kochen oder beim Bewässern des Gartens.<br />

Mehrverbrauch zieht höhere<br />

Gebühren und empfindliche<br />

Strafen nach sich. „Uns geht es<br />

nicht um das Einsammeln von<br />

Bußgeldern, sondern um den<br />

Lerneffekt“, sagt Toby Goddard,<br />

die bei der Stadt Santa Cruz für<br />

das Wassermanagement zuständig<br />

ist.<br />

Fotos<br />

In unserer App-<br />

<strong>Ausgabe</strong> finden<br />

Sie eine Bildstrecke<br />

über<br />

Brunnenprojekte<br />

in Afrika<br />

Auch in anderen Teilen der Welt wird der<br />

Wasserverbrauch zunehmend rigide reguliert.<br />

Venezuelas Hauptstadt Caracas hat in<br />

diesem Jahr mehrere Monate lang das<br />

Wasser rationiert. Ähnliches könnte demnächst<br />

den Bewohnern der brasilianischen<br />

Millionenstadt São Paulo drohen. Dort gehen<br />

die Vorräte in den Wasserspeichern<br />

wegen Trockenheit zur Neige. Die Behörden<br />

lehnen bislang zwar eine Rationierung<br />

ab, dafür fällt die Wasserversorgung in Teilen<br />

São Paulos seit Monaten regelmäßig für<br />

mehrere Stunden aus. Schon Mitte Mai<br />

musste die Metropole deshalb ihre sogenannte<br />

erste „technische Reserve“ anzapfen.<br />

Und dabei wird es nicht bleiben: Bis<br />

2020, so eine Studie der Welternährungsorganisation<br />

FAO, werden bis zu 40 Prozent<br />

der weltweit besiedelten Regionen unter<br />

Wassermangel leiden. Schuld sind Bevölkerungswachstum,<br />

Klimawandel, Wasserverschmutzung<br />

und -verschwendung.<br />

ILLEGALER BRUNNEN<br />

Wo Wasser knapp ist, wächst die Gefahr<br />

politischer Auseinandersetzungen. Vor allem<br />

im Nahen Osten: Nach einer Studie<br />

des britischen Risikoanalyseunternehmens<br />

Maplecroft liegen die zehn Länder<br />

mit dem weltweit größten Missverhältnis<br />

zwischen exzessivem Wasserverbrauch<br />

und geringem natürlichem Wassernachschub<br />

in der Region zwischen<br />

Libyen im Westen und Iran<br />

im Osten. Wenigen Reserven<br />

steht dort eine hohe Nachfrage<br />

der Bevölkerung gegenüber (siehe<br />

Grafik Seite 88).<br />

Al-Moghraka, ein kleines Dorf<br />

im Gazastreifen, zwei Kilome-<br />

»<br />

82 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Neue Untiefen<br />

Der Lake Shasta Kaliforniens<br />

größter Wasserspeicher,<br />

ist nur zu einem<br />

Viertel gefüllt. Monatelange<br />

Dürre hat die Reservoirs im<br />

bevölkerungsreichsten<br />

US-Bundesstaat austrocknen<br />

lassen. Inzwischen wird<br />

der Wasserverbrauch in<br />

Kalifornien von den<br />

Behörden rationiert.<br />

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Geld&Börse<br />

»<br />

ter Luftlinie zur israelischen Grenze: Die<br />

dreijährige Sahra hat Durst. Ihre Mutter Isra<br />

Migdad würde ihr gerne Wasser zu trinken<br />

geben, aber die salzige Brühe, die aus<br />

dem Hahn im Haus ihrer Familie in Al-<br />

Moghraka fließt, ist ungenießbar. Viele<br />

Kinder in der Nachbarschaft seien bereits<br />

krank geworden, erzählt sie. Die Familie<br />

versorgt sich derweil über einen illegalen<br />

Brunnen samt Wasserleitung unterhalb<br />

des Hauses. 350 Dollar haben Migdad und<br />

ihre Familie mit insgesamt 16 Personen in<br />

die illegale Quelle investiert. Allerdings ist<br />

auch dieses Wasser nicht sauber. Sie müssen<br />

daher weitere 500 Liter pro Woche bei<br />

Händlern in Gaza kaufen, die Wasser in<br />

großen Kanistern per Tankwagen aus Israel<br />

herbeischaffen, was, aufs Jahr gerechnet,<br />

etwa 300 Dollar kostet. Bei einem durchschnittlichen<br />

Verdienst in Gaza von etwa<br />

400 Dollar pro Monat und einer Arbeitslosigkeit<br />

von 45 Prozent kann sich das aber<br />

nur ein kleiner Teil der Bevölkerung leisten.<br />

Viele sind gezwungen, verschmutztes<br />

Wasser zu trinken.<br />

„Meist ist die Wassernot hausgemacht“,<br />

sagt Benjamin Pohl, Wissenschaftler des<br />

Thinktanks Adelphi. So hätten etwa Syrien<br />

und Irak jahrzehntelang ihre Grundwasserreservoirs<br />

geplündert. Folge: Brunnen<br />

wasser aus dem Hahn und verkauft den<br />

Menschen dafür das deutlich teurere aus<br />

der Flasche. Nestlé bestreitet dies. Die Ausbeutung<br />

von Wasserressourcen würde die<br />

eigene Geschäftsgrundlage zerstören.<br />

Internationale Versorger stehen ebenfalls<br />

in der Kritik. Der Vorwurf: Mit der<br />

Privatisierung der Wasserversorgung in<br />

Schwellenländern sind insbesondere die<br />

ärmeren Bewohner der Preispolitik der<br />

Multis hilflos ausgeliefert. Eine Reihe von<br />

Staaten habt inzwischen die Notbremse<br />

gezogen und legt die Wasserpreise wieder<br />

selbst fest. Und wo die Staaten eingreifen,<br />

ziehen sich die Wasserversorger oft zurück.<br />

So hat sich der französische Wasserversorger<br />

Suez bereits 2005 aus Argentinien verabschiedet.<br />

Vorausgegangen war ein Streit<br />

um die Wasserpreise und den Ausbau der<br />

Infrastruktur. Auch in Großbritannien lässt<br />

der Staat die Versorger offensichtlich nicht<br />

genug verdienen: 2012 stieß Veolia seine<br />

britische Wassersparte ab. Und RWE verabschiedete<br />

sich im vergangenen Jahrzehnt<br />

nach wenigen Jahren Engagement<br />

gleich aus zwei milliardenschweren Abenteuern:<br />

American Water und der britischen<br />

Thames Water.<br />

Auch in Deutschland schwingt das politische<br />

Pendel Richtung Verstaatlichung: So<br />

Dass die Terroristen des »IS«<br />

Staudämme besetzen, ist kein Zufall<br />

fallen trocken, Böden versalzen. Wer die<br />

Kontrolle über Flüsse und Wasserspeicher<br />

hat, besitzt große Macht. Dass die Terroristen<br />

des „Islamischen Staates“ („IS“) Staudämme<br />

besetzen, ist kein Zufall. Ortschaften,<br />

die „IS“ bisher nicht erobern konnte<br />

oder verloren hat, wird das Wasser abgedreht,<br />

um den Widerstand zu brechen:<br />

Wasser wird so zur Waffe.<br />

HILFLOS AUSGELIEFERT<br />

Auch internationale Konzerne stehen im<br />

Verdacht, den Menschen das Wasser abzugraben.<br />

So zapft der Schweizer Konzern<br />

Nestlé mit seiner Mineralwasserproduktion<br />

in vielen Regionen der Welt systematisch<br />

das Grundwasser an. Seit der 2012<br />

veröffentlichte Film „Bottled Life“ Nestlés<br />

umstrittene Firmenpolitik aufdeckte, sind<br />

die Schweizer moralisch angeschlagen.<br />

Hauptvorwurf der Filmer: Nestlé entzieht<br />

privaten Haushalten das preiswerte Trinkhat<br />

das Land Berlin 2012 und 2013 Anteile<br />

an den kommunalen Wasserbetrieben<br />

<strong>vom</strong> französischen Versorger Veolia und<br />

RWE für insgesamt 1,3 Milliarden Euro zurückgekauft.<br />

Erst 1999 war die Wasserversorgung<br />

in Berlin teilprivatisiert worden.<br />

Im vergangenen Jahr nahm die EU-<br />

Kommission nach Bürgerprotesten die<br />

Wasserversorgung von einer Vergabe von<br />

Konzessionen an Privatunternehmen aus.<br />

Die damalige Verbraucherministerin Ilse<br />

Aigner sprang den Bürgern bei: „Wasser ist<br />

keine Ware wie jede andere, sondern unser<br />

wichtigstes Lebensmittel.“<br />

Dennoch ist Trinkwasser längst eine Ware,<br />

auch ohne Nestlé. In den USA und Australien<br />

wird seit Jahrzehnten an Börsen mit<br />

Wasserrechten gehandelt (siehe Kasten<br />

Seite 86). Ziel ist es, auf diese Weise das<br />

knappe Gut möglichst effizient zu verteilen.<br />

Denn was nichts kostet, wird meist verschwendet.<br />

Allerdings braucht der Markt<br />

eine ordnende Hand. In Chile musste die<br />

Regierung den Handel mit Wasserrechten<br />

regulieren, um Spekulation und Ausbeutung<br />

zu vermeiden.<br />

Auch wenn der Staat versucht, Missbrauch<br />

zu verhindern, bleiben private Geschäfte<br />

mit Trinkwasser umstritten – ähnlich<br />

wie Spekulationen mit Agrarrohstoffen.<br />

Das heißt jedoch nicht, dass Anleger<br />

den Wasserboom an sich vorbeiziehen lassen<br />

müssen. Statt mit Nestlé und den großen<br />

Wasserversorgern auf wachsende Not<br />

und steigende Preise zu spekulieren, können<br />

sie sich an Unternehmen beteiligen,<br />

deren Geschäftszweck die Aufbereitung<br />

oder Verteilung von Trinkwasser ist. Deren<br />

Geschäftsmodell ist unabhängiger von politischer<br />

Einflussnahme und zumindest auf<br />

den ersten Blick moralisch unbedenklich.<br />

Und der Markt ist riesig: Die US-Analyseagentur<br />

BCC Research schätzt den weltweiten<br />

Markt für Wassertechnologie auf<br />

84 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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FOTOS: ISTOCK, LAIF/REDUX/THE NEW YORK TIMES<br />

derzeit 60 Milliarden Dollar.<br />

Bis 2019 soll er auf 96<br />

Milliarden Dollar wachsen.<br />

Allerdings ist nicht jede<br />

Aktie eines Konzerns, der<br />

mit Wassertechnologie<br />

Geld verdient, ein Kaufkandidat.<br />

Weniger attraktiv<br />

sind Großkonzerne, etwa<br />

General Electric. Zwar macht das US-<br />

Schwergewicht auch mit Meerwasserentsalzung<br />

Gewinne. Doch die Wassersparte<br />

bewegt den Kurs der Aktie nur wenig: GE<br />

verdient im Geschäftsfeld Power & Water<br />

sein Geld vor allem mit Windkraftanlagen.<br />

Ähnlich sieht es bei den Wasserversorgern<br />

mit Technologiesparte aus. Suez und Veolia<br />

machen ihre Profite überwiegend mit<br />

Energie, Müll und Recycling. Mehr Potenzial<br />

versprechen Unternehmen, die einen<br />

Großteil ihres Geschäftes mit Wassertechnologie<br />

machen, etwa Xylem.<br />

Gefahrenquelle<br />

Syrische Flüchtlingskinder<br />

spielen mit Wasser aus<br />

einem verschmutzten<br />

Teich in Suruç im Südosten<br />

der Türkei. Nicht nur<br />

die Kriege in Syrien und<br />

Irak, sondern auch jahrzehntelange<br />

Ausbeutung<br />

der Grundwasserreserven<br />

haben die Versorgungslage<br />

in der Region<br />

verschärft.<br />

Das US-Unternehmen<br />

fertigt auch in Herford. In<br />

Ostwestfallen brummt am<br />

Testplatz 2 der Produktionshalle<br />

von Xylem der<br />

Hochspannungsstrom. Bis<br />

zu 5500 Volt fließen durch<br />

die Elektroden des Ozongenerators,<br />

den Xylem<br />

prüft. Mithilfe elektrischer Energie wird<br />

im Generator Sauerstoff in Ozon umgewandelt.<br />

Ozon tötet Keime im Wasser<br />

ab und zersetzt Schadstoffe. Besteht das<br />

Gerät den fünftägigen Test, wird es per<br />

Schiff nach China verfrachtet und soll in<br />

Peking kommunale Abwässer mit Ozon<br />

reinigen. Bis zu 14 Kilogramm des flüchtigen<br />

Gases kann die Anlage pro Stunde<br />

erzeugen. Das reicht, um pro Stunde<br />

20 000 Kubikmeter Abwasser zu reinigen,<br />

so viel wie zwei olympische Schwimmbecken<br />

fassen.<br />

Mehr Geld als mit kommunalen Abwässern<br />

lässt sich mit schmutziger Brühe aus<br />

Industrieanlagen verdienen. Nach einer<br />

Studie der OECD soll der Wasserbedarf der<br />

Industrie bis 2050 um 400 Prozent steigen.<br />

DURSTIGE ÖLFÖRDERER<br />

Besonders durstig sind derzeit Öl- und<br />

Gasförderer, die Wasser und Chemikalien<br />

in tiefe Gesteinsschichten pressen (Fracking),<br />

um neue Quellen zu erschließen.<br />

Jedes Bohrloch verbraucht etwa 20 000 Kubikmeter<br />

Wasser. Und in den USA gibt es<br />

mittlerweile etwa 50 000 Bohrlöcher. Mit<br />

dem insgesamt benötigten Wasser ließe<br />

sich 3000 Mal der Gasometer in Oberhausen<br />

füllen. Das beim Fracking anfallende<br />

Abwasser muss von Chemikalien und anderen<br />

Zusätzen gereinigt werden. Die<br />

Agentur Global Water Intelligence schätzt<br />

diesen Markt auf zwei Milliarden Dollar.<br />

2018 sollen es 3,6 Milliarden sein.<br />

»<br />

WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 85<br />

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Geld&Börse<br />

BÖRSE<br />

Einstieg über Umwege<br />

Wie Wasserrechte an regionalen Marktplätzen gehandelt werden.<br />

Wasserrechte verbriefen den Zugang zu<br />

lokalen Wasserquellen. Sie können sowohl<br />

zeitlich limitiert sein als auch die<br />

Menge des zu entnehmenden Wassers<br />

begrenzen. Käufer und Verkäufer, in der<br />

Regel Landwirte, Industrieunternehmen<br />

und Kommunen, kommen meist aus der<br />

gleichen Region und finden auf speziellen<br />

Handelsplattformen, den Wasserbörsen,<br />

zusammen. Meist sind diese Handelsplätze<br />

nicht mit Börsen im klassischen Sinne<br />

zu vergleichen, an denen sich kontinuierlich<br />

Kauf- und Verkaufskurse bilden, weil<br />

Wasserrechte nicht homogen, sondern<br />

regional gebundene Unikate sind.<br />

LIQUIDE WERTE<br />

Profianleger können in den USA über<br />

spezialisierte Vermögensverwalter in<br />

Portfolios aus Wasserrechten investieren.<br />

Privatanleger können den Umweg über<br />

börsennotierte Unternehmen gehen:<br />

Limoneira, J.G. Boswell oder Pico aus den<br />

USA halten Wasserrechte. Besitzer von<br />

Agrarland haben häufig Zugriff auf<br />

Wasserrechte, die sie auch getrennt von<br />

der Immobilie verkaufen können.<br />

PILOTPROJEKTE IN CHINA<br />

Die chinesische Regierung plant derzeit<br />

eine nationale Börse für Wasserrechte mit<br />

einem Grundkapital von einer Milliarde<br />

Yuan (umgerechnet 128 Millionen Euro).<br />

Zudem wollen die Chinesen einen Fonds<br />

auflegen, der in Wasserrechte investiert.<br />

Derzeit laufen in China in einigen Provinzen<br />

Pilotprojekte, um den Handel mit<br />

Wasserrechten zu fördern.<br />

PREISANSTIEG IN DEN USA<br />

Der Westen der USA gehört zu den Pionieren<br />

beim Wasserrechtehandel. An regionalen<br />

Börsen, beispielsweise der Texas<br />

Water Exchange oder der Water Right<br />

Exchange in Utah, werden lokale Wasservorkommen<br />

für Industrie, Landwirtschaft<br />

und Gemeinden gehandelt. Der Handel ist<br />

in der Regel in regionale Segmente aufgeteilt.<br />

Die zunehmende Trockenheit im US-<br />

Westen lässt die Preise für Wasserrechte<br />

steigen. In der Dürreperiode der Jahre<br />

2006 bis 2009 zog der Index für Wasserrechte<br />

in dieser Region laut Unternehmensberatung<br />

West Water Research<br />

deutlich an (siehe Grafik).<br />

ACKERLAND AUSTRALIEN<br />

In Australien hat sich mit der Water Exchange<br />

eine Börse etabliert, an der Käufer<br />

und Verkäufer von Wasserrechten<br />

über das Internet mithilfe spezialisierter<br />

Broker handeln können. Eigentümer der<br />

Water Exchange ist die NSX (National<br />

Stock Exchange of Australia). In Australien<br />

werden sowohl dauerhafte Wasserrechte<br />

gehandelt als auch Lizenzen, die<br />

nur für eine bestimmte Saison gelten. 90<br />

Prozent des Wasserhandels in Australien<br />

konzentriert sich auf den Südosten des<br />

Landes, in dem ein Großteil des zu bewässernden<br />

Ackerlandes liegt.<br />

CHILE DENKT AN BEDÜRFTIGE<br />

In Chile sind seit 1981 Wasserrechte privatisiert.<br />

Sie können unabhängig von den<br />

zugehörigen Grundstücken versteigert<br />

werden. 2005 wurden die Wassergesetze<br />

reformiert, um Spekulation und Marktmissbrauch<br />

zu unterbinden. Kleinere,<br />

finanzschwache Farmer hatten bereits<br />

Probleme, an ausreichend Wasser zu<br />

kommen. Derzeit arbeitet Chiles Regierung<br />

an einer weiteren Gesetzesreform,<br />

die Wasserrechte tangiert. Künftig soll die<br />

Regierung in Zeiten extremer Dürre neue<br />

Wasserrechte ohne Kompensation an Bedürftige<br />

verteilen dürfen.<br />

Dürre treibt Wasserpreis<br />

Wie sich der Börsenpreis von Wasserrechten<br />

für den Südwesten der USA seit<br />

2002 entwickelt hat (in Punkten) 1<br />

3500<br />

3000<br />

2500<br />

2000<br />

extreme<br />

1500<br />

Trockenheit<br />

1000<br />

in Kalifornien<br />

500<br />

0<br />

2002 2005 2008 2010 2013<br />

1 Water Rights Index, 2002 = 1000 Punkte;<br />

Quelle: West Water Research<br />

martin.gerth@wiwo.de<br />

»<br />

Zwar ist der Bedarf an Wassertechnologie<br />

weltweit groß, die Zahl der Unternehmen,<br />

deren Aktien – wie bei Xylem – davon<br />

profitieren, jedoch klein. Und wer sein<br />

Geld in Wassertechnologie investieren will,<br />

muss sich im Ausland umschauen, denn<br />

der deutsche Kurszettel ist eine Wüste.<br />

Technologisch vorne liegen derzeit Entwickler<br />

aus den USA, Japan, Australien und<br />

Israel. In den USA sitzt mittlerweile das<br />

Gros der Spezialisten für Wassertechnologie:<br />

Der Index Nasdaq US Water umfasst<br />

derzeit 29 Einzeltitel.<br />

Aktienfonds, die sich auf die Wasserbranche<br />

spezialisiert haben, investieren<br />

vor allem in mittelgroße US-Werte. Ihnen<br />

fehlen jedoch große liquide Werte, mit denen<br />

sich auch größere Portfolios bestücken<br />

lassen. Notgedrungen greifen die Fonds zu<br />

Unternehmen, die außer mit Wasser auch<br />

mit vielen anderen Sparten ihr Geld verdienen.<br />

So verirrt sich schon mal Nestlé in<br />

einen Wasserfonds, weil die Schweizer<br />

Weltmarktführer bei Mineralwasser sind.<br />

Reine Wassertechnologiefonds gibt es<br />

derzeit nicht. Anleger, die nach einem besonders<br />

hohen Hebel auf das Geschäft mit<br />

Wasserfiltern oder Pumpen suchen, sollten<br />

86 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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FOTOS: ISTOCK, REUTERS/CHINA DAILY<br />

sich daher einzelne Aktien herauspicken<br />

(siehe Tabelle Seite 90). Dieter Küffer, Manager<br />

des Fonds Robeco SAM Water, hält<br />

derzeit Meerwasserentsalzung, die Reinigung<br />

von Schiffsballastwasser und Wasserrecycling<br />

in der Industrie für die attraktivsten<br />

Trends. „Überall dort, wo Wasserknappheit<br />

herrscht wie im Nahen Osten<br />

oder in Kalifornien, wird das Meer als zusätzliche<br />

Quelle erschlossen“, sagt Küffer.<br />

KURS ORDENTLICH IN FAHRT<br />

Das schlägt sich an der Börse nieder. Schon<br />

ordentlich Fahrt aufgenommen hat etwa<br />

die Aktie des Meerwasserentsalzungsspezialisten<br />

Pentair. Seit Januar 2010 hat sich<br />

der Kurs der Schweizer fast verdoppelt.<br />

Und wichtige Bilanzzahlen untermauern<br />

den Anstieg: Im dritten Geschäftsquartal<br />

hatte Pentair freie Mittel aus dem Zahlungsüberschuss<br />

(Free Cash-Flow) von 600<br />

Millionen Dollar angehäuft, 22,7 Prozent<br />

mehr als im Vorjahresquartal.<br />

Noch kostet ein Kubikmeter Trinkwasser<br />

aus der Meerwasserentsalzung etwa einen<br />

Euro, sauberes Grundwasser aus einem<br />

Brunnen dagegen nur 35 Cent. Schuld daran<br />

sind vor allem die Energiekosten. Die<br />

Grüne Hölle<br />

Ein Junge badet an der<br />

algenverseuchten Küste<br />

in Qingdao im Osten<br />

Chinas. Ungeklärte Abwässer,<br />

vor allem Düngemittel<br />

aus der Landwirtschaft,<br />

lassen den<br />

Algenteppich blühen. Um<br />

die landesweite Wasserverschmutzung<br />

zu<br />

bekämpfen, muss China<br />

Milliarden investieren.<br />

amerikanischen Unternehmen<br />

Flowserve und Energy<br />

Recovery, haben deshalb<br />

Konzepte entwickelt, mit<br />

denen sich die in der Hydraulik<br />

von Meerwasserentsalzungsanlagen<br />

eingesetzte<br />

Energie zurückgewinnen<br />

lässt. Aber Energy<br />

Recovery steckt gerade in einer Umbruchphase:<br />

Finanz- und Vertriebsvorstand wurden<br />

in diesem Jahr wegen schwacher Zahlen<br />

ausgetauscht. Bisher bleiben Anleger<br />

skeptisch, ob Energy Recovery die Wende<br />

schafft. Seit September 2013 hat sich der<br />

Aktienkurs fast halbiert. Besser sieht es bei<br />

Flowserve aus. Seit Januar 2012 schnitt<br />

Flowserve kontinuierlich besser ab als der<br />

S&P 500. Dennoch war die Aktie zuletzt mit<br />

einem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von<br />

17 nicht zu teuer. Allerdings gibt es auch bei<br />

Flowserve einen Wermutstropfen. Das Unternehmen<br />

verkauft seine Pumpen, Ventile<br />

und Dichtungen vor allem an die Öl- und<br />

Gasindustrie sowie Chemiekonzerne. Das<br />

macht Flowserve konjunkturanfällig.<br />

Relativ neu ist das Geschäft mit verschmutztem<br />

Schiffsballastwasser. Um beladene<br />

Schiffe stabil zu halten,<br />

füllen Frachter Tanks<br />

mit Meerwasser. Bisher haben<br />

Schiffe ihre Ballasttanks<br />

einfach ins Meer entleert.<br />

Im Ballastwasser sammeln<br />

sich jedoch mit der<br />

Zeit kleine Lebewesen an,<br />

die an den Küsten millionenschwere<br />

Schäden anrichten können. So<br />

untergräbt die aus Asien eingeschleppte<br />

Wollhandkrabbe in Nord- und Ostsee Hafen-<br />

und Küstenschutzanlagen und zerstört<br />

Fischernetze. Um solche Fälle zu verhindern,<br />

müssen Frachtschiffe von 2016 an ihr<br />

Ballastwasser vor dem Verklappen reinigen.<br />

Auch wenn die Ballastwasserkonvention<br />

der International Maritime Organisation<br />

(IMO), ein Zusammenschluss der Staaten<br />

mit Seehandelsflotten, noch nicht in Kraft<br />

getreten ist, werden bereits jetzt Schiffsneubauten<br />

mit entsprechenden Anlagen ausgerüstet.<br />

Dieser Markt wird weltweit auf etwa<br />

28 Milliarden Dollar geschätzt.<br />

An sauberen Frachtschiffen werden vor<br />

allem die US-Unternehmen Xylem, Calgon<br />

Carbon und die japanische Kurita Water<br />

verdienen. Kurita Water setzt auf Chlor-<br />

»<br />

WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 87<br />

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Geld&Börse<br />

Kampf ums Wasser<br />

Der Water Stress Index misst das Verhältnis zwischen Wasserverbrauch und natürlichem Wassernachschub. Je schlechter dieses Verhältnis<br />

in einer Region ist, desto größer ist das Risiko von Konflikten.Die zehn Länder 1 mit dem weltweit höchsten Risiko liegen alle im Nahen Osten<br />

Kanada<br />

Frankreich<br />

Deutschland<br />

Russland<br />

Spanien<br />

Italien<br />

Mexiko<br />

USA<br />

Jordanien<br />

Israel<br />

Saudi-Arabien<br />

Libyen<br />

Nigeria<br />

Oman<br />

V.A.E. 2<br />

Indien<br />

China<br />

Iran<br />

Katar<br />

Peru<br />

Brasilien<br />

Bahrain<br />

Kuwait<br />

Indonesien<br />

Südafrika<br />

Australien<br />

1 rot markiert;<br />

2 Vereinigte Arabische Emirate;<br />

Quelle: Maplecroft<br />

Argentinien<br />

Risikostufe<br />

extrem hoch hoch mittel niedrig keine Angabe<br />

»<br />

chemikalien, um das Ballastwasser zu<br />

reinigen. Dafür müssen die Schiffe einen<br />

Hafen anlaufen. Xylem und Calgon Carbon<br />

vermarkten dagegen eine Kombination<br />

aus UV-Bestrahlung und Filter, die auch an<br />

Bord des Schiffes funktioniert.<br />

Welches der beiden Verfahren sich weltweit<br />

durchsetzen wird, hängt auch von der<br />

Prüfung der US-Behörden ab. Die USA<br />

werden das erste Land sein, dass das internationale<br />

Ballastwasserabkommen in nationales<br />

Recht umsetzen wird. Da die US-<br />

Vorgaben strenger sind als die der IMO,<br />

könnte sich daraus ein globaler Standard<br />

entwickeln. Für Xylem und Calgon Carbon<br />

spricht, dass von den bisher installierten<br />

Geräten, die Ballastwasser reinigen, zwei<br />

Drittel mit UV-Strahlen arbeiten.<br />

Insbesondere für Kurita Water wäre das<br />

US-Siegel wichtig. Trotz wachsender Nachfrage<br />

aus China sind die Preise für Chemikalien<br />

zur Wasserreinigung, die überwiegend<br />

in Japan hergestellt werden, unter<br />

Druck. Im zweiten Quartal dieses Jahres<br />

verdiente Kurita in der Chemiesparte trotz<br />

leichtem Umsatzplus sieben Prozent weniger<br />

als im Vorjahreszeitraum. Kurita sucht<br />

daher neue Absatzmärkte. Neugeschäft<br />

mit der Reinigung von Ballastwasser käme<br />

da gerade recht. Bei Calgon Carbon sieht es<br />

jetzt schon besser aus. 2013 und im laufen-<br />

den Jahr haben die Amerikaner ihre Finanzen<br />

in Ordnung gebracht: nur noch 8,0<br />

Prozent Fremdkapital und 11,9 Prozent<br />

Rendite aufs Eigenkapital sind gute Werte.<br />

Zudem stiegen die frei verfügbaren Mittel<br />

für Dividenden und Aktienrückkäufe im<br />

zweiten Halbjahr gegenüber dem Vorjahr<br />

um 36 Prozent. Das Geld bleibt allerdings<br />

im Unternehmen: Zuletzt 2005 zahlte Calgon<br />

Carbon Dividende. Die finanzielle<br />

Rosskur hat sich an der Börse bemerkbar<br />

gemacht: Im vergangenen Jahr legte der<br />

Aktienkurs um 43 Prozent zu.<br />

SCHWIMMEN? NIE IM LEBEN!<br />

Shanghai, eine Druckerei im Süden der<br />

chinesischen Metropole nahe des ehemaligen<br />

Expo-Geländes: Druckmaschinen<br />

rattern, in der Fabrikhalle riecht es süßlich<br />

nach Kunststoff. Die Oktobersonne heizt<br />

die Luft auf 25 Grad im Schatten. Deutlich<br />

wärmer ist es am Arbeitsplatz der 28-jährigen<br />

Wang Hui, die in einem Verschlag am<br />

Ende der Fabrikhalle Reis für die Arbeiter<br />

kocht. Weil es drinnen zu stickig ist, zieht<br />

ihr Sohn sie ins Freie. Die beiden blicken<br />

auf einen zehn Meter breiten Kanal, der in<br />

den Fluss Huangpo läuft, Shanghais<br />

wichtigste Wasserquelle. Eine Abkühlung<br />

wäre nicht schlecht. „Schwimmen?“, lacht<br />

Wang Hui. „Nie im Leben! Das ist viel zu<br />

dreckig.“ Nur ein paar Meter von der Fabrikhalle<br />

entfernt läuft eine braun-gelbe<br />

Brühe aus einem Plastikrohr in den Kanal.<br />

Was dort herausläuft, weiß keiner so genau.<br />

Jedenfalls verbreitet sich ein fauliger<br />

Geruch am Ufer.<br />

Bisher mussten Chinas Industriebetriebe<br />

kaum fürchten, Probleme wegen des<br />

Drecks zu bekommen, mit dem sie Seen<br />

und Flüsse vergiften. Inzwischen lässt sich<br />

Chinas Bevölkerung die Wasserverschmutzung<br />

durch die Industrie nicht<br />

mehr gefallen. Proteste zwingen den Staat<br />

zum Handeln. So schlossen die Behörden<br />

in Chinas autonomer Provinz Guangxi<br />

Zhuang eine Zinkmine, weil diese das<br />

Wasser vergiftet hatte. Mehrere Manager<br />

des Minenbetreibers erhielten Haftstrafen,<br />

das Unternehmen selbst musste eine<br />

Geldstrafe zahlen.<br />

Sowohl für das Management als auch die<br />

Unternehmen wird es zunehmend riskanter,<br />

verschmutztes Wasser ungeklärt zu<br />

entsorgen. Die Chinesen rüsten daher auf.<br />

Inzwischen sind sie der weltgrößte Abnehmer<br />

von Chemikalien, mit denen sich Wasser<br />

reinigen lässt. Derzeit investieren die<br />

Chinesen zudem pro Jahr umgerechnet<br />

zwei Milliarden Euro in neue Kläranlagen.<br />

In Zukunft könnten es deutlich mehr sein,<br />

hofft die Branche. Im aktuellen Fünf-<br />

»<br />

FOTO: ISTOCK<br />

88 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Geld&Börse<br />

Filtern, entsalzen und steuern<br />

Aktien von Wassertechnologieunternehmen und Wasseraktien-Fonds mit dem derzeit größten Potenzial<br />

Unternehmen (Land)<br />

Pentair (Schweiz)<br />

Xylem (USA)<br />

Kurita Water Industries (Japan)<br />

Watts Water Technologies (USA)<br />

Tetra Tech (USA)<br />

Mueller Water Products (USA)<br />

Calgon Carbon (USA)<br />

Fonds/börsengehandelte Indexfonds (ETFs)<br />

Tareno Water Fund<br />

KBC Eco Water<br />

Robeco SAM Sust. Water<br />

Lyxor World Water ETF<br />

ISIN<br />

IE00BLS09M33<br />

US98419M1009<br />

JP3270000007<br />

US9427491025<br />

US88162G1031<br />

US6247581084<br />

US1296031065<br />

ISIN<br />

LU0319773551<br />

BE0175479063<br />

LU0133061175<br />

FR0010527275<br />

Börsenwert (in<br />

Millionen Dollar)<br />

12141<br />

6510<br />

2713<br />

2043<br />

1622<br />

1590<br />

1144<br />

Börsenwert<br />

(in Millionen<br />

Dollar)<br />

107<br />

178<br />

571<br />

146<br />

Kurs-Gewinn-<br />

Verhältnis 1<br />

17,5<br />

17,6<br />

23,2<br />

22,4<br />

16,5<br />

29,6<br />

21,1<br />

1 2014, geschätzt; 2 1 = niedrig, 10 = hoch; Quelle: Bloomberg, Morningstar; Stand: 23. Oktober 2014<br />

Kurs/Stoppkurs<br />

(in Euro)<br />

50,93/40,75<br />

26,93/21,55<br />

16,29/13,00<br />

44,57/35,65<br />

19,63/15,70<br />

7,12/5,70<br />

15,47/12,40<br />

Wertentwicklung pro Jahr<br />

(in Prozent)<br />

1 Jahr 3 Jahre<br />

13,7 22,6<br />

10,5 20,0<br />

12,1 17,2<br />

15,1 15,6<br />

Technologie<br />

Meerwasserentsalzung, Filter<br />

Filter, Pumpen, Wasserreinigung<br />

chemische Wasserreinigung<br />

Wasserreinigung, Infrastruktur<br />

Osmosetechnik<br />

intelligente Wassersteuerung<br />

Wasserreinigung mit Aktivkohle und UV<br />

Anlageschwerpunkt<br />

US-Wassertechnologieaktien<br />

US-Wassertechnologieaktien<br />

Technologie- und Versorgeraktien<br />

bildet den World Water Index nach<br />

Chance/<br />

Risiko 2<br />

7/6<br />

7/6<br />

8/7<br />

8/7<br />

7/6<br />

6/5<br />

7/6<br />

Chance/<br />

Risiko 2<br />

8/7<br />

8/7<br />

7/6<br />

7/6<br />

»<br />

jahresplan (2011 bis 2015) veranschlagte<br />

die KP-Führung bis 2020 Investitionen in<br />

Wasserinfrastruktur und -aufbereitung in<br />

Höhe von 580 Milliarden Dollar. Die Investitionen<br />

sind dringend notwendig, denn<br />

bis 2020 wird sich der Wasserverbrauch der<br />

chinesischen Industrie verdoppeln.<br />

Auch High-Tech-Betriebe brauchen<br />

mehr und vor allem reineres Wasser. Im<br />

Sommer gelang es Kurita Water, einen größeren<br />

Auftrag von Chinas Chipindustrie an<br />

Land zu ziehen. Für knapp 100 Millionen<br />

Dollar verkauften die Japaner Anlagen, um<br />

hochreines Wasser für die Chipproduktion<br />

herzustellen sowie die Abwässer der Fabriken<br />

zu reinigen. Kurita will in diesem Jahr<br />

seinen Umsatz in Asien außerhalb Japans<br />

um 18 Prozent auf 32 Milliarden Yen (umgerechnet<br />

235 Millionen Euro) ausbauen.<br />

Nicht nur der Wachstumsmarkt China,<br />

auch Übernahmefantasien beflügeln die<br />

Kurse. „Die Übernahmen in der Wasserbranche<br />

haben sich in den vergangenen<br />

Jahren verlagert, von den großen Zusammenschlüssen<br />

bei Wasserversorgern hin<br />

zu Übernahmen bei kleineren Technologieunternehmen“,<br />

sagt Arnaud Bisschop,<br />

Manager des Fonds Pictet Water.<br />

Anleger, die Aktien von Übernahmezielen<br />

halten, können überdurchschnittlich<br />

profitieren. Im Oktober schluckte die niederländische<br />

Arcadis, die Projekte zur<br />

Wasseraufbereitung und zum Hochwasserschutz<br />

betreut, den britischen Baudienstleister<br />

Hyder, der unter anderem<br />

Kläranlagen plant. Seit Bekanntwerden der<br />

Übernahmepläne Ende Juli legte Hyder<br />

von 4,50 auf 7,50 Pfund zu.<br />

Zu den aktuellen Übernahmekandidaten<br />

zählt derzeit etwa die kanadische GLV<br />

Group, die sich auf Wasserreinigung, Papierherstellung<br />

und Maschinenbau für die<br />

Getränkeindustrie spezialisiert hat.<br />

Besser durch Technik<br />

Das Wassertechnologieunternehmen Xylem<br />

schlug zuletzt den Aktienindex S&P Global<br />

Water, der auch Versorger enthält 1 170<br />

160<br />

Xylem<br />

150<br />

140<br />

130<br />

S&P Global Water<br />

120<br />

110<br />

100<br />

2012 2013<br />

2014<br />

1 indexiert: Oktober 2012 =100; Quelle: Bloomberg<br />

VERSCHÄRFTE GRENZWERTE<br />

Neben dem wirtschaftlichen tragen Wassertechnologieunternehmen<br />

noch ein politisches<br />

Risiko: Sei es, wenn es um öffentliche<br />

Investitionen in Infrastruktur oder um<br />

neue Vorschriften für die Wasserqualität<br />

geht. Derzeit arbeitet etwa die US-Umweltbehörde<br />

EPA an Regeln für die Belastung<br />

des Wassers mit gefährlichen Viren. In Europa<br />

sollen in mehreren Ländern die<br />

Grenzwerte für Medikamentenrückstände<br />

wie etwa Antibiotika verschärft werden.<br />

Beide Maßnahmen könnten den Unternehmen<br />

neues Geld in die Kassen spülen.<br />

Wie groß das Marktpotenzial tatsächlich<br />

sein wird, lässt sich aber schwer abschätzen.<br />

Werden andere Länder mit scharfen<br />

Vorschriften nachziehen? Lohnt es sich, in<br />

neue Technologie zu investieren?<br />

Da der politische Wind sich schnell drehen<br />

kann, sollten Anleger daher Unternehmen<br />

bevorzugen, die möglichst wenig von<br />

staatlichen Vorschriften etwa zur Wasserqualität<br />

abhängen. Das gilt beispielsweise für<br />

Hersteller von Verfahren, die für Industrieprozesse<br />

Schadstoffe aus dem Wasser filtern.<br />

Calgon Carbon etwa setzt Aktivkohle ein, um<br />

für die Pharmaproduktion kleinste organische<br />

Verunreinigungen zu entfernen. Und je<br />

weniger die Unternehmen von öffentlichen<br />

Aufträgen abhängen, desto besser – denn<br />

Städte und Länder vergeben meist nach<br />

Haushaltslage. Bei Xylem macht öffentliche<br />

Infrastruktur nur 34 Prozent des Geschäfts<br />

aus, andere Spezialisten wie Tetra Tech und<br />

Mueller Water erlösten 2013 knapp 47 Prozent<br />

sowie 55 Prozent aus Staatsprojekten.<br />

Der Sonnenstaat Kalifornien macht derweil<br />

seinen Bürgern das Leben immer<br />

schwerer. Bisher konnte jeder, der Wasser<br />

brauchte, einen Brunnen bohren, wenn<br />

nötig, bis zu 350 Meter tief. Damit ist nun<br />

Schluss. Gouverneur Jerry Brown unterzeichnete<br />

kürzlich ein Papier, das den Zugang<br />

zum Grundwasser reguliert. Statt die<br />

Reserven anzugreifen, sollen die Bürger<br />

Wasser einfach mehrfach nutzen – nachdem<br />

es gereinigt wurde.<br />

Ob Brown selbst sein Wasser zum Duschen<br />

aus einem eigenen Brunnen oder<br />

aus dem öffentlichen Netz bezieht, ist nicht<br />

bekannt.<br />

n<br />

martin.gerth@wiwo.de, matthias hohensee | Silicon Valley,<br />

philipp mattheis | Shanghai, kristina milz<br />

FOTO: ISTOCK<br />

90 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Geld&Börse | Barron’s<br />

Verschreckte Herde<br />

US-AKTIEN | Während des jüngsten Ausverkaufs ist viel Qualität<br />

günstig auf den Markt gekommen. Wo Anleger zugreifen dürfen.<br />

Die Märkte unterliegen derzeit heftigen<br />

Stimmungsschwankungen,<br />

wie der reinste Teenager. Der<br />

Dow Jones Industrial Index verlor<br />

allein im Oktober zwischenzeitlich 6,5<br />

Prozent. Und es hätte noch viel schlimmer<br />

kommen können. Besorgniserregend ist<br />

vor allem, dass die Verkäufe panikartige<br />

Formen annahmen. Als Anlass für die<br />

Flucht zum Ausgang wurden alle möglichen<br />

Gründe genannt, <strong>vom</strong> langsamen<br />

Wachstum in Europa bis hin zur möglichen<br />

weltweiten Ausbreitung von Ebola.<br />

90 PROZENT UNTER WASSER<br />

Panik führt fast immer zu schlechten Entscheidungen<br />

– in diesem Fall zu wahllosen<br />

Verkäufen. Die Anleger stoßen Aktien ab,<br />

ohne zu überlegen, ob sich die Rahmenbedingungen<br />

für die Unternehmen wirklich<br />

verschlechtert haben. „Viele schütten<br />

sprichwörtlich das Kind mit dem Bade<br />

aus“, sagt Tobias Levkovich, Chefstratege<br />

der Citigroup, „es wird viel Qualität zu<br />

Schleuderpreisen verkauft.“<br />

Beispielhaft der Dow Jones: Jede einzelne<br />

der 30 Aktien im Blue-Chip-Index hat<br />

im Oktober verloren – Unternehmen so<br />

unterschiedlich wie der Chipproduzent Intel<br />

und der Getränkehersteller Coca-Cola.<br />

Im Standard & Poor’s Index, der 500 Unternehmen<br />

umfasst, sind 90 Prozent der Aktien<br />

unter Wasser. Auch ein Blick über die<br />

amerikanischen Grenzen hinaus bot keinerlei<br />

Trost, da jeder einzelne der großen<br />

Indizes in den roten Bereich rutschte – der<br />

deutsche Leitindex Dax etwa radierte in<br />

den ersten Oktobertagen die gesamten bisherigen<br />

Jahresgewinne aus.<br />

Anlage-Profis haben ein Maß, mit dem<br />

sie den Grad der Willkür solcher Abverkäufe<br />

messen. Es nennt sich Korrelation und<br />

beschreibt die Tendenz von Wertpapieren,<br />

sich innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens<br />

in die gleiche Richtung zu bewegen.<br />

In guten Zeiten nimmt die Korrelation für<br />

gewöhnlich ab, weil sich die Anleger Zeit<br />

nehmen, zu verstehen, was den Kurs einer<br />

bestimmten Aktie treibt.<br />

Diese Situation hatten wir bis September,<br />

als Daten der Citigroup zufolge die<br />

Korrelation zwischen den 50 größten Aktien<br />

im S&P 500 und dem Index selbst auf<br />

nur 18 Prozent fiel. Aber wenn es die Anleger<br />

mit der Angst zu tun bekommen, tätigen<br />

sie häufig zuerst Verkäufe<br />

Die beste<br />

Geschichte aus<br />

der aktuellen<br />

<strong>Ausgabe</strong> von<br />

dem führenden<br />

amerikanischen<br />

Magazin für<br />

Geldanleger.<br />

und stellen erst danach die Fragen.<br />

Das lässt die Korrelation auf<br />

Spitzenwerte klettern – so geschehen<br />

in der Vorwoche, als<br />

dieser Maßstab auf nahezu 70<br />

Prozent anstieg.<br />

Ein ähnliches Herdenverhalten<br />

erlebten wir zuletzt 2013 mit<br />

dem sogenannten Taper Tantrum,<br />

den panikartigen Verkäufen<br />

nach der Ankündigung der US-Zentralbank<br />

Fed, sie wolle bald beginnen, ihr Anleihenaufkaufprogramm<br />

zurückzufahren.<br />

Der S&P 500 fiel in der Folge in nur vier<br />

Wochen um fast fünf Prozent. Im Nachhinein<br />

hat der Absturz mutigen Anlegern<br />

Kaufgelegenheiten eröffnet.<br />

Das könnte auch diesmal so sein. Sean<br />

Darby zumindest, Aktienstratege bei der<br />

US-Investmentbank Jefferies, hat sich<br />

schon auf die Suche nach Unternehmen<br />

gemacht, deren Kurs-Gewinn-Verhältnis<br />

(KGV) und Kurs-Buchwert-Verhältnis<br />

(KBV) bei gleichzeitig nicht rückläufigen<br />

Gewinnprognosen unter den fünfjährigen<br />

Durchschnitt gefallen sind. Mit anderen<br />

Worten: die im Oktober-Schlussverkauf<br />

mit unter die Räder kamen, ohne dass sich<br />

an ihrem fundamentalen Geschäft etwas<br />

zum Schlechten geändert hätte.<br />

Unter den Unternehmen, die aus seinem<br />

Screening hervorgingen, waren der Biotechnologieriese<br />

Gilead Sciences, dessen<br />

Aktie im Oktober kurzzeitig elf Prozent billiger<br />

wurde, obwohl die Analysten ihre Gewinnschätzungen<br />

sogar nach oben revidierten,<br />

der Versicherer Prudential, dessen<br />

Aktienkurs 16 Prozent fiel, und der Krankenversicherer<br />

WellPoint, dessen Aktie<br />

jüngst satte 25 Prozent einbüßte.<br />

EISENBAHN MIT FUSIONSFANTASIE<br />

Ebenso auf diese Liste schaffte es eine Reihe<br />

von US-Eisenbahnunternehmen, darunter<br />

Norfolk Southern, Union Pacific<br />

und CSX Corp., die gerade von Canadian<br />

Pacific Railway eine Fusionsofferte erhielt.<br />

CSX lehnte das Angebot zwar zunächst ab,<br />

doch das beeindruckte die Anleger nicht<br />

wirklich; sie trieben den Kurs der Aktie um<br />

13 Prozent höher.<br />

Das Seltsamste an dem Angebot: Es gab<br />

in den USA keine Fusionen von Eisenbahnunternehmen,<br />

seit der U.S. Surface<br />

Transportation Board (STB) im Jahr 2000<br />

ein Moratorium verhängte. Es ist daher<br />

völlig unklar, ob die Regulierungsbehörde<br />

die Fusion durchwinken würde. Heißt das,<br />

die Anleger sollten CSX meiden? Nicht unbedingt.<br />

Allison Landry von Credit<br />

Suisse meint, CSX könne 2015<br />

dank höherer Preise ein Umsatzwachstum<br />

von 15 Prozent schaffen,<br />

nachdem das Unternehmen<br />

in den vergangenen drei Jahren<br />

Wachstumsraten im einstelligen<br />

Bereich verzeichnet hatte. Wenn<br />

sie recht hat, könnte der Kurs auf<br />

38 Dollar klettern. n<br />

ben levisohn | geld@wiwo.de<br />

ILLUSTRATION: TOM MACKINGER<br />

92 Nr. 44 27.10.14 WirtschaftsWoche<br />

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Geld&Börse | Steuern und Recht<br />

AKTIEN<br />

Einfaches Prinzip, teurer Spaß<br />

Wer in ausländische Unternehmen investiert, erhält oft deutlich weniger<br />

Dividende als erwartet – wegen hoher Quellensteuern im Ausland. Wie Anleger<br />

ihr Geld zurückholen.<br />

Wer als deutscher Anleger spanische<br />

Aktien kauft, der sollte<br />

sich für eine herbe Enttäuschung<br />

wappnen: Am ersten<br />

Handelstag nach der Hauptversammlung,<br />

dann wenn die<br />

Ausschüttungen an Aktionäre<br />

überwiesen werden, landet<br />

hierzulande auf dem Konto nur<br />

gut die Hälfte der Dividende.<br />

Denn Spanien zwackt eine<br />

Quellensteuer von 21 Prozent<br />

ab – und danach berechnet die<br />

hiesige Bank noch mal 26,4 Prozent<br />

Abgeltungsteuer und Solidaritätszuschlag<br />

obendrauf.<br />

Das gilt zumindest, wenn der<br />

Sparerfreibetrag von 801 Euro<br />

(1602 Euro für Ehepaare) ausgeschöpft<br />

ist. Von 1000 Euro Dividende<br />

kommen dann gerade<br />

mal 526 Euro an. Noch weniger<br />

ist es bei Kirchenmitgliedern,<br />

bei denen deutsche Banken zudem<br />

rund 20 Euro Kirchensteuer<br />

abzwacken.<br />

Auch bei Aktien aus anderen<br />

Ländern drohen hohe Abzüge.<br />

Einen großen Teil davon können<br />

sich Anleger zwar erstatten<br />

lassen. Doch viele machen das<br />

nicht:Laut einer Studie der britischen<br />

Beratungsfirma Goal<br />

Group verzichten deutsche Investoren<br />

auf Rückforderungen<br />

von 691 Millionen Euro, die ihnen<br />

aus internationalen Kapitalanlagen<br />

– vor allem Aktien –<br />

zustehen. Pro Jahr. „Anleger<br />

verschenken erhebliche Summen“,<br />

sagt Ellen Ashauer-Moll,<br />

Steuerexpertin bei Rödl & Partner<br />

in Regensburg. Aber wie<br />

hoch sind die Abzüge? Und wie<br />

holen Anleger ihr Geld zurück?<br />

LAST BLEIBT GLEICH HOCH<br />

Das Prinzip ist einfach: Fast alle<br />

Länder ziehen von Dividenden,<br />

die Unternehmen zahlen,<br />

eine Quellensteuer ab. Der Satz<br />

beträgt bis zu 35 Prozent. Die<br />

deutsche Depotbank, bei der die<br />

Nettodividende des Anlegers<br />

eingeht, darf danach aber maximal<br />

15 Prozent Quellensteuer<br />

von der deutschen Abgeltungsteuer<br />

abziehen. Kein Problem<br />

gibt’s damit bei Quellensteuern<br />

bis 15 Prozent (siehe Tabelle):<br />

Magische Grenze<br />

Welche Länder mit großen<br />

Börsen maximal 15 Prozent<br />

Quellensteuer abziehen... 1<br />

Land<br />

Japan<br />

Niederlande<br />

Großbritannien<br />

Russland<br />

Südafrika<br />

...und welche Länder bei Dividenden<br />

kräftiger hinlangen 3<br />

Frankreich<br />

Italien<br />

Norwegen<br />

Österreich<br />

Schweiz<br />

Spanien<br />

USA<br />

Hälfte unter Wasser<br />

Abzüge bei<br />

Statoil-Dividende<br />

Steuersatz<br />

(in Prozent)<br />

15<br />

15<br />

1 bedeutet, dass die Quellensteuer komplett<br />

mit der Abgeltungsteuer verrechnet<br />

wird; 2 in bestimmten Fällen null;<br />

3 bedeutet, dass Anleger eine Erstattung<br />

beantragen müssen; 4 deutsche Banken<br />

verrechnen keinen Teil der Quellensteuer<br />

mit der Abgeltungsteuer, da eine<br />

Kompletterstattung im Ausland möglich<br />

ist; Quelle: Bundeszentralamt für Steuern<br />

0<br />

15<br />

15 2<br />

21<br />

20<br />

25<br />

25<br />

35<br />

21<br />

30<br />

in Deutschland<br />

anrechenbar<br />

(Prozent)<br />

15<br />

15<br />

0<br />

15<br />

15<br />

15<br />

15<br />

15<br />

15<br />

15<br />

0 4<br />

0 4<br />

Bei einer 1000-Euro-Dividende<br />

berücksichtigt die hiesige Bank<br />

die 150 Euro, die bereits im Ausland<br />

abgezwackt wurden. Statt<br />

der eigentlich fälligen 264 Euro<br />

(25 Prozent Abgeltungsteuer<br />

plus Soli) zahlen Anleger dann<br />

nur noch 114 Euro Abgeltungssteuer<br />

an den deutschen Fiskus.<br />

„Die Steuerlast ist dann genauso<br />

hoch wie bei deutschen Dividenden“,<br />

sagt Jochen Busch, Partner<br />

bei Baker Tilly Roelfs in München.<br />

In Ländern mit höheren<br />

Quellensteuern sind dagegen<br />

Rückholaktionen nötig – und oft<br />

müssen Anleger selbst aktiv werden,<br />

um eine Doppelbesteuerung<br />

zu verhindern. „Etliche<br />

Banken bieten diesen Service<br />

nicht an“, sagt Ashauer-Moll von<br />

Rödl. Besonders wichtig oder<br />

problematisch sind Rückholaktionen<br />

in folgenden Ländern:<br />

n Spanien Auf den ersten Blick<br />

ist die Iberische Halbinsel ein<br />

Paradies für Kleinanleger. Denn<br />

sie können sich die 21-prozentige<br />

Quellensteuer auf Dividenden<br />

von bis zu 1500 Euro pro<br />

Jahr in voller Höhe erstatten lassen.<br />

Das Problem: Wegen der<br />

großzügigen Erstattungsregeln<br />

ist es deutschen Banken untersagt,<br />

spanische Quellensteuern<br />

automatisch auf die Abgeltungsteuer<br />

anzurechnen. Sonst besteht<br />

die Gefahr, dass die spanische<br />

Steuer die Abgeltungsteuer<br />

mindert, obwohl sich<br />

Anleger das Geld auf der Iberischen<br />

Halbinsel erstatten lassen.<br />

Das Anrechnungsverbot ist<br />

der Grund dafür, warum von<br />

Dividenden aus Spanien nur<br />

etwas mehr als die Hälfte übrig<br />

bleibt. Umso wichtiger ist es,<br />

sich das Geld auch tatsächlich<br />

in Spanien erstatten zu lassen<br />

(siehe Kasten unten rechts).<br />

n Norwegen Auch die norwegischen<br />

Gesetze sehen großzügige<br />

Steuererstattungen vor, weshalb<br />

die dortige 25-prozentige<br />

Quellensteuer ebenfalls nicht<br />

mal zum Teil von der deutschen<br />

Abgeltungsteuer abgezogen<br />

wird. Damit kommt bei deutschen<br />

Aktionären weniger als<br />

die Hälfte der Dividende von<br />

FOTOS: HARALD PETTERSEN, BLOOMBERG NEWS/BRENT LEWIN<br />

94 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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norwegischen Unternehmen<br />

an. Wer also etwa die Aktie des<br />

norwegischen Öl- und Gasförderers<br />

Statoil hält, bekommt zunächst<br />

nicht eine Dividendenrendite<br />

von aktuell rund 5,0,<br />

sondern von nur knapp 2,5 Prozent.<br />

Dass Norwegen trotzdem<br />

weniger Unmut unter Investoren<br />

auslöst als Spanien, liegt am<br />

vergleichsweise unkomplizierten<br />

Erstattungsverfahren: Ein<br />

formloser Brief an die zuständige<br />

Behörde genügt: The Central<br />

Office – Foreign Tax Affairs<br />

(Sentralskattekontoret for Utenlandssaker),<br />

PO Box 8031, N<br />

4068 Stavanger. Anleger dürfen<br />

auch auf Deutsch schreiben. Allerdings<br />

müssen sie neben einer<br />

Kopie der Dividendenabrechnung<br />

auch eine „Ansässigkeitsbescheinigung“<br />

beifügen, die<br />

deutsche Finanzämter erteilen.<br />

n Frankreich Bei Dividenden<br />

französischer Konzerne ziehen<br />

deutsche Banken zwar die maximal<br />

möglichen 15 Prozent von<br />

der Abgeltungsteuer ab. Doch<br />

den Rest der 21-prozentigen<br />

französischen Quellensteuer<br />

zurückzuholen ist für Privatanleger<br />

nahezu unmöglich.<br />

Denn die Franzosen fordern<br />

in Erstattungsanträgen eine<br />

Bestätigung der Bank, die für<br />

Gläserner Vorhang Frankreich mauert bei Erstattung<br />

den Einbehalt der französischen<br />

Quellensteuer zuständig<br />

war. „Unserer Erfahrung nach<br />

bekommen Privatanleger<br />

diese Bestätigung nicht, weil<br />

sie kein Kunde dieser Bank<br />

sind“, so Ashauer-Moll. Wenn<br />

die Depotbank eines Anlegers<br />

die Erstattung beantragt,<br />

funktioniert das dagegen –<br />

untereinander kooperieren<br />

Geldhäuser bereitwilliger. Viele<br />

Banken bieten diesen Service<br />

jedoch nicht an, andere<br />

berechnen relativ hohe Gebühren.<br />

„Das lohnt sich wegen<br />

sechs Prozent Quellensteuer<br />

häufig nicht“, sagt Ashauer-<br />

Moll. Immerhin: Anleger<br />

können französischen Unternehmen<br />

vor der Dividendenausschüttung<br />

eine „Wohnsitzbescheinigung“<br />

vorlegen.<br />

Dann werden nur die – hierzulande<br />

verrechenbaren – 15<br />

Prozent abgezogen. Das dafür<br />

nötige „Formular 5000“ und<br />

Hinweise zum Erstattungsverfahren<br />

gibt’s auf der Web-Seite<br />

www.steuerliches-info-center.<br />

de in der Rubrik „Ausländische<br />

Formulare“/„Quellensteuern“.<br />

Dort finden Anleger auch für<br />

zahlreiche andere Länder For-<br />

mulare und Erläuterungen zum<br />

Erstattungsverfahren.<br />

Wer sich damit beschäftigt,<br />

stellt schnell fest:Es ist in der<br />

Regel kein Hexenwerk, sich<br />

sein Geld zurückzuholen. Dies<br />

ist vier Jahre lang rückwirkend<br />

möglich; die Frist beginnt am<br />

Tag der Ausschüttung.<br />

Allerdings müssen Anleger<br />

bisweilen Geduld haben. Italien<br />

(Quellensteuer: 20 Prozent)<br />

etwa braucht oft mehrere<br />

Jahre für die Steuererstattung.<br />

SCHNELLE SCHWEIZER<br />

Deutlich schneller sind die<br />

Schweizer, die mit 35 Prozent<br />

besonders kräftig hinlangen.<br />

„Sie erstatten die Quellensteuer<br />

aber in der Regel binnen weniger<br />

Monate“, sagt Busch von Baker<br />

Tilly Roelfs. Damit sind die<br />

Eidgenossen im Vergleich zu<br />

vielen EU-Staaten vorbildlich.<br />

Nach Ansicht von Rödl-Expertin<br />

Ashauer-Moll müsste es aber<br />

gerade innerhalb der EU einfacher<br />

und schneller gehen. „Die<br />

jetzige Rechtslage führt zu erheblichen<br />

Verzögerungen und<br />

schreckt viele ausländische Anleger<br />

ab, Erstattungen zu beantragen“,<br />

sagt sie. Das sei EUrechtlich<br />

fragwürdig.<br />

daniel schönwitz | geld@wiwo.de<br />

SPANISCHE STEUER<br />

Immer noch mit Tücken<br />

Deutsche Anleger müssen Urlaube an der Costa Brava<br />

nicht mehr mit Behördengängen verbinden. Wie<br />

Quellensteuer-Erstattungen jetzt zu schaffen sind.<br />

Deutsche Aktionäre spanischer<br />

Unternehmen brauchten<br />

bis vor Kurzem ein Konto<br />

auf der Iberischen Halbinsel,<br />

wenn sie sich Quellensteuern<br />

erstatten lassen wollten. Um<br />

dieses zu eröffnen, mussten<br />

sie bei der zuständigen Behörde<br />

erst mal eine Steuernummer<br />

beantragen. Doch 2012<br />

hat Spanien die Regeln geändert:<br />

Die Erstattung von Quellensteuern<br />

auf Dividenden seit<br />

dem Jahr 2011 ist deshalb<br />

leichter; ein Konto vor Ort ist<br />

nicht mehr nötig. Anleger können<br />

inzwischen Steuernummer<br />

und Erstattung gleichzeitig im<br />

Internet beantragen.<br />

27 SEITEN ANLEITUNG<br />

Dazu müssen sie auf der Seite<br />

der Behörde „Agencia Tributaria“<br />

das Formular „Modelo 210“<br />

(www2.agenciatributaria.gob.es/<br />

es13/h/ie02100b.html?idi=en),<br />

das es auch auf Englisch gibt,<br />

aufrufen und ausfüllen. Wie das<br />

geht, erklärt die spanische Botschaft<br />

in Berlin auf nicht weniger<br />

als 27 Seiten (www.exteriores.<br />

gob.es/Embajadas/BERLIN/es/<br />

Embajada/Documents/Dividenden.pdf).<br />

Besonders kompliziert bleibt<br />

es für Aktionäre, die mehr als<br />

1500 Euro Dividende im Jahr<br />

kassieren. Sie können entweder<br />

die klassische Erstattung beantragen<br />

(Feld 19 des Formulars<br />

ankreuzen), bekommen dann<br />

aber nur 21 Prozent bis zur<br />

Grenze von 1500 Euro erstattet,<br />

also maximal 315 Euro. Der Rest<br />

ist verloren. Oder sie beantragen<br />

die Erstattung gemäß deutschspanischem<br />

Steuerabkommen<br />

(Feld 20). Dann bekommen sie<br />

nur sechs Prozent auf alle Ausschüttungen,<br />

egal, in welcher<br />

Höhe, und müssen sich die<br />

restlichen 15 Prozent beim<br />

deutschen Finanzamt holen.<br />

DOPPELFELDER<br />

Viele hatten zuletzt beide Felder<br />

angekreuzt, um von 1500<br />

Euro 21 Prozent zu bekommen<br />

und darüber hinaus sechs Prozent.<br />

„Das hat auch in einigen<br />

Fällen funktioniert, entspricht<br />

aber offenbar nicht den Vorschriften“,<br />

sagt Ellen Ashauer-<br />

Moll von Rödl & Partner. Die<br />

spanischen Behörden hätten<br />

wohl immer noch „internen<br />

Klärungsbedarf“, was den genauen<br />

Ablauf betrifft.<br />

WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 95<br />

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Geld&Börse | Geldwoche<br />

KOMMENTAR | Auch der nächste<br />

Anlauf eines neuen Neuen Marktes<br />

dürfte scheitern. Na und?<br />

Von Christof Schürmann<br />

Zeigt eure Füße<br />

Sehr flexibel<br />

Fed-Mitglied Bullard<br />

rudert zurück<br />

Der Berg wird kreißen,<br />

so viel ist klar, am<br />

18. Dezember, in der<br />

Scharnhorststraße<br />

34-37 in Berlin. Dann lädt Bundeswirtschaftsminister<br />

Sigmar<br />

Gabriel den Chef der Deutschen<br />

Börse Reto Francioni in sein<br />

Ministerium ein. Im Schlepptau<br />

mit Vertretern großer Geldhäuser<br />

wie der Deutschen Bank<br />

und Lobbyisten von Firmengründern<br />

soll dann festgezurrt<br />

werden, wie und wann es denn<br />

werden könnte mit einem neuen<br />

Börsensegment für junge Unternehmen.<br />

SPD-Schwergewicht Gabriel<br />

tritt dabei in kleine Fußstapfen.<br />

Schon sein Amtsvorgänger Philipp<br />

Rösler (FDP) wollte einen<br />

neuen Neuen Markt, eine Spezialabteilung<br />

an der Börse also, in<br />

der sich Start-ups Kapital besorgen<br />

können. Herausgekommen<br />

war dabei nichts.<br />

Davon wenig irritiert, kündigte<br />

Gabriel vergangenen Dienstag<br />

auf dem 8. IT-Gipfel in Hamburg<br />

an, „wir wollen gemeinsam mit<br />

der Deutschen Börse eine ,Börse<br />

2.0‘ initiieren“. Bei so viel politischem<br />

Rückwind wagten sich<br />

gleich auch Lobbyisten aus der<br />

Deckung. Florian Nöll, seines<br />

Zeichens Chef des Bundesverbands<br />

deutscher Start-up-Firmen,<br />

preschte nur einen Tag<br />

später schon mal vor und forderte<br />

forsch den Start der neuen<br />

Börse „im ersten Quartal 2015“.<br />

Das, so berichten Kenner der<br />

Materie, wäre für die Deutsche<br />

Börse kein Problem, zumindest<br />

technisch.<br />

Die Hürden sind ganz andere.<br />

Schon seit diesem Frühjahr laufen<br />

heimlich, still und leise Präsentationen<br />

von Start-ups vor<br />

Analysten und potenziellen<br />

Geldgebern, um sich kalt warmzulaufen<br />

für einen Börsengang<br />

(IPO). Diese Als-ob-IPO-Veranstaltungen<br />

hätten „Licht und<br />

Schatten“ zutage gefördert,<br />

heißt es. Nein, IFRS ist kein neues<br />

Betriebssystem, sondern sie<br />

sind ein Bilanzstandard.<br />

Einige Start-ups hätten<br />

schnell abgewinkt, als sie merkten,<br />

was für ein Aufwand vor<br />

und nach einem IPO betrieben<br />

werden muss. Diese Testläufe<br />

konnten auch die Frage nicht<br />

beantworten, ob es hierzulande<br />

überhaupt genügend gutes<br />

Start-up-Material gibt, um ein<br />

neues Börsensegment zu füllen.<br />

Schon daran scheitert ein Neuer<br />

Markt 2015.<br />

ÜBERBÜROKRATISIERT<br />

Die Politik macht wichtig, was<br />

nicht wichtig ist. Wichtiger wäre<br />

es, Privatanlegern mal wieder<br />

die Tür zur Börse zu öffnen. Das<br />

geht nur, wenn Bankberater wieder<br />

raten dürfen, ein aktives<br />

Depot zu eröffnen, mal hier eine<br />

Siemens-Aktie zu kaufen, mal<br />

da eine Daimler-Anleihe, ohne<br />

dafür mit einem Bein im Gefängnis<br />

zu stehen. Eingeflogen unter<br />

dem Stichwort Anlegerschutz,<br />

erstickt der Normalbanker inzwischen<br />

in Bürokratie, und die<br />

Kunden sind verschreckt vor<br />

lauter Warnhinweisen, die sie<br />

abzeichnen müssen.<br />

Und für die Start-ups gilt: Der<br />

Weg an die Börse führt nicht<br />

durch eine schummrige Kiez-<br />

Kneipe mit Sofamöbeln. Nein,<br />

dieser Weg könnte ein leichter<br />

sein, er ist hell beleuchtet.<br />

Denn die Deutsche Börse hat<br />

ein Segment mit reduzierten Anforderungen<br />

speziell für junge<br />

Unternehmen. Entry Standard<br />

heißt das. Also, ihr Gründer in<br />

Heidelberg, Hamburg, Berlin:<br />

Zeigt her eure Füße.<br />

TREND DER WOCHE<br />

Ausstieg <strong>vom</strong> Ausstieg<br />

Die Finanzmärkte entlassen die Notenbanken nur<br />

ungern aus ihrer Rolle als Finanziers.<br />

Früher orientierten sich die Finanzmärkte<br />

an den meist unabhängig<br />

gefällten Entscheidungen<br />

von Notenbanken, heute<br />

zwingen die Finanzmärkte die<br />

Notenbanken zu bestimmten<br />

Entscheidungen. Das geht mitunter<br />

recht schnell.<br />

Anfang Oktober etwa plädierte<br />

James Bullard noch für<br />

eine Anhebung der US-Leitzinsen<br />

bereits im ersten Quartal<br />

2015. Doch nur kurze Zeit später<br />

empfiehlt der Chef der regionalen<br />

Notenbank von St. Louis,<br />

der aktuell im geldpolitischen<br />

Ausschuss der US-Notenbank<br />

Fed nicht stimmberechtigt ist,<br />

seinen Kollegen, die Käufe von<br />

US-Staatsanleihen und Kreditverbriefungen<br />

fortzusetzen. Eigentlich<br />

galt es als sicher, dass<br />

der geldpolitische Ausschuss<br />

der Fed nach seiner Sitzung am<br />

28. und 29. Oktober das Ende<br />

der monatlichen Käufe im Volumen<br />

von zuletzt 15 Milliarden<br />

Dollar verkünden werde.<br />

Während die Fed also möglicherweise<br />

zurückrudert und<br />

den Ausstieg <strong>vom</strong> Ausstieg vorbereitet,<br />

drücken die Finanzmärkte<br />

bei der Europäischen<br />

Zentralbank (EZB) auf noch<br />

mehr Tempo. Zwar hat die EZB<br />

in der vergangenen Woche gerade<br />

erst damit begonnen,<br />

Pfandbriefe aufzukaufen. Doch<br />

nach Informationen der Nachrichtenagentur<br />

Reuters sollen<br />

die Frankfurter Euro-Wächter<br />

hinter den Kulissen auch einen<br />

Plan für den Aufkauf von Unternehmensanleihen<br />

in der Euro-<br />

Zone vorbereiten (siehe auch<br />

Seite 36).<br />

Trends der Woche<br />

Entwicklung der wichtigsten Finanzmarkt-Indikatoren<br />

Stand: 23.10.2014 / 18.00 Uhr aktuell seit einer Woche 1 seit einem Jahr 1<br />

Dax 30 9047,31 +5,4 +1,4<br />

MDax 15693,79 +6,5 –0,4<br />

Euro Stoxx 50 3044,30 +5,9 +0,9<br />

S&P 500 1953,47 +4,9 +11,9<br />

Euro in Dollar 1,2669 –0,6 –7,9<br />

Bund-Rendite (10 Jahre) 1 0,85 +0,07 2 –0,94 2<br />

US-Rendite (10 Jahre) 1 2,25 +0,10 2 –0,26 2<br />

Rohöl (Brent) 3 86,15 +2,2 –20,5<br />

Gold 4 1232,75 –0,4 –7,4<br />

Kupfer 5 6718,50 +1,3 –6,7<br />

1<br />

in Prozent; 2 in Prozentpunkten; 3 in Dollar pro Barrel; 4 in Dollar pro Feinunze,<br />

umgerechnet 975,20 Euro; 5 in Dollar pro Tonne; Quelle: vwd group<br />

FOTOS: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, BRIAN SNYDER/REUTERS/CORBIS, DAVID MCLAIN/AURORA/LAIF<br />

96 Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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DAX-AKTIEN<br />

Null Wirkung<br />

Spezialchemiker Lanxess profitiert von einem<br />

starken Dollar, die Aktionäre spüren das nicht.<br />

HITLISTE<br />

Im Dax gilt der Spezialchemiekonzern<br />

Lanxess als<br />

großer Profiteur eines schwachen<br />

Euro. Nach Aussage<br />

von Vorstandschef Matthias<br />

Zachert bewegt eine Veränderung<br />

des Dollar zum Euro um<br />

einen Cent das operative Ergebnis<br />

vor Zinsen, Steuern<br />

und Abschreibungen um rund<br />

fünf Millionen Euro. Mit Blick<br />

auf den Kursverlauf der Aktie<br />

könnte man allerdings annehmen,<br />

der Dollar stürze seit<br />

Monaten, statt zu steigen.<br />

Seit Mai konnte der Dollar<br />

aber um bis zu zehn Prozent<br />

gegen den Euro zulegen – die<br />

Lanxess-Aktie brach seither um<br />

rund 30 Prozent ein. Der positive<br />

Währungseffekt der Dollar-<br />

Stärke wird überlagert von anderen<br />

negative Faktoren. Dazu<br />

zählt vor allem der preisdämpfende<br />

Effekt aus den weltweiten<br />

Überkapazitäten bei synthetischem<br />

Kautschuk, einem<br />

Hauptprodukt von Lanxess. Damit<br />

erfüllt sich die Prognose,<br />

dass Lanxess-Aktionäre weiter<br />

Geduld brauchen (Wirtschafts-<br />

Woche 36/2014).<br />

Bröckelt weiter<br />

Risiken von Griechen-<br />

Anleihen erhöht<br />

ANLEIHEN<br />

Euro-Bonds vertagt<br />

Die Renditeaufschläge gegenüber Bundesanleihen<br />

haben sich in der Euro-Zone wieder ausgeweitet.<br />

Dax<br />

Kurs Kursent- Gewinn KGV Börsen- Dividen-<br />

(€) wicklung pro Aktie (€) wert den-<br />

1 Woche 1 Jahr 2014 2015 2015<br />

(Mio. €) rendite<br />

(%) 1<br />

Dax 9047,31 +5,4 +1,4<br />

Aktie<br />

Stand: 23.10.2014 / 18.00 Uhr<br />

Adidas 58,71 +8,9 –30,9 3,10 3,64 16 12283 2,55<br />

Allianz 123,30 +4,6 0 13,89 13,91 9 56219 4,30<br />

BASF NA 71,03 +6,0 –4,1 5,66 6,15 12 65240 3,80<br />

Bayer NA 106,90 +5,4 +17,2 5,99 6,94 15 88401 1,96<br />

Beiersdorf 63,52 +3,1 –9,0 2,48 2,75 23 16007 1,10<br />

BMW St 83,15 +6,8 +1,4 9,05 9,47 9 53426 3,13<br />

Commerzbank 11,68 +13,5 +24,9 0,54 0,98 12 13292 -<br />

Continental 152,80 +5,0 +12,1 12,81 14,25 11 30561 1,64<br />

Daimler 60,38 +4,1 +3,4 6,16 6,77 9 64572 3,73<br />

Deutsche Bank 25,13 +7,7 –26,5 2,28 3,20 8 25618 2,98<br />

Deutsche Börse 53,32 +5,5 –8,3 3,65 4,01 13 10291 3,94<br />

Deutsche Post 23,92 +6,9 –3,5 1,71 1,84 13 28920 3,34<br />

Deutsche Telekom 10,90 +5,3 –4,8 0,62 0,66 17 48496 4,59<br />

E.ON 13,26 +5,6 –0,5 0,93 0,97 14 26533 4,52<br />

Fresenius Med.C. St 55,65 +8,1 +13,7 3,52 3,94 14 17115 1,38<br />

Fresenius SE&Co 38,66 +6,1 +22,4 2,02 2,34 17 8724 3,23<br />

Heidelberg Cement St 53,21 +7,1 –10,3 3,90 4,92 11 9977 1,13<br />

Henkel Vz 76,03 +4,7 –1,4 4,28 4,69 16 31656 1,60<br />

Infineon 7,58 +7,2 +7,2 0,44 0,52 15 8195 1,58<br />

K+S NA 21,05 +8,3 +10,6 1,63 1,58 13 4029 1,19<br />

Lanxess 40,13 +1,0 –21,5 1,95 2,99 13 3339 1,25<br />

Linde 150,65 +4,2 +3,9 7,76 8,77 17 27968 1,99<br />

Lufthansa 12,35 +8,3 –15,3 1,38 2,26 5 5678 -<br />

Merck 71,28 +7,2 +18,4 4,66 4,96 14 4606 2,67<br />

Münchener Rückv. 150,45 +5,2 +0,4 17,49 17,19 9 26982 4,82<br />

RWE St 27,33 +6,9 +2,8 2,21 2,24 12 16555 3,66<br />

SAP 52,36 +0,8 –7,9 3,41 3,73 14 64324 2,10<br />

Siemens 86,64 +5,1 –6,3 6,42 7,29 12 76330 3,46<br />

ThyssenKrupp 19,01 +7,8 +0,2 0,56 1,21 16 9778 -<br />

Volkswagen Vz. 161,30 +5,4 –8,4 21,46 23,81 7 75677 2,52<br />

1<br />

berechnet mit der zuletzt gezahlten Dividende<br />

Zwei Jahre lang haben Investoren<br />

Europas Politiker in ihrem<br />

Glauben bestärkt, dass<br />

die Euro-Krise vorbei oder zumindest<br />

beherrschbar sei. Die<br />

Renditeaufschläge gegenüber<br />

deutschen Staatsanleihen,<br />

das Krisenbarometer für die<br />

Euro-Zone, engten sich immer<br />

weiter ein. Der Weg in die<br />

Haftungsgemeinschaft schien<br />

unumkehrbar und Euro-<br />

Bonds damit de facto eingeführt.<br />

Ganz so weit ist es aber<br />

wohl noch nicht. Das hat der<br />

jüngste Run in Bundesanleihen<br />

gezeigt. Dass es sich dabei<br />

um eine massive Fluchtbewegung<br />

in Qualität handelte, lässt<br />

sich ablesen an den zeitgleich<br />

und nahezu flächendeckend<br />

steigenden Renditeaufschlägen<br />

in der Euro-Zone. Der Aufschlag<br />

zehnjähriger Griechen-<br />

Bonds hatte sich gegenüber<br />

dem Jahrestief zeitweise verdoppelt.<br />

Nahezu alle Banken in<br />

der Peripherie halten umfangreiche<br />

Bestände heimischer<br />

Staatspapiere. So gesehen waren<br />

die Turbulenzen der Stresstest<br />

vor dem Stresstest.<br />

Renditeaufschläge von zehnjährigen Staatsanleihen aus der<br />

Euro-Zone gegenüber zehnjährigen deutschen Bundesanleihen<br />

Schuldner<br />

Griechenland<br />

Portugal<br />

Slowenien<br />

Italien<br />

Spanien<br />

Irland<br />

Slowakei<br />

Frankreich<br />

Belgien<br />

Österreich<br />

Holland<br />

Finnland<br />

EFSF*<br />

Renditeaufschlag in Basispunkten<br />

(ein Basispunkt = 0,01 Prozentpunkte)<br />

Jahrestief 2014<br />

+407,2<br />

+190,2<br />

+148,3<br />

+132,2<br />

+110,7<br />

+64,9<br />

+37,9<br />

+31,5<br />

+25,4<br />

+17,2<br />

+12,6<br />

+9,8<br />

+5,8<br />

aktuell<br />

+610,1<br />

+238,0<br />

+187,1<br />

+162,4<br />

+132,5<br />

+93,6<br />

+44,7<br />

+42,3<br />

+35,2<br />

+22,7<br />

+16,9<br />

+15,6<br />

+13,0<br />

Veränderung gegenüber<br />

Jahrestief<br />

in Prozent<br />

* Europäische Finanzstabilisierungsfazilität; Quelle: Bloomberg; Stand: 22. Oktober 2014<br />

+50<br />

+25<br />

+26<br />

+23<br />

+20<br />

+44<br />

+18<br />

+34<br />

+39<br />

+32<br />

+34<br />

+59<br />

+124<br />

WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 97<br />

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Geld&Börse | Geldwoche<br />

AKTIE Franco-Nevada<br />

Smarte Einkaufstour im<br />

Bergbausektor<br />

ANLEIHE EDP<br />

Top in der<br />

B-Note<br />

Minen-Monster Eine Milliarde<br />

Dollar zum Abruf bereit<br />

Royaltygesellschaften im<br />

Bergbau betreiben keine Minen,<br />

sondern kassieren von<br />

deren Betreibern Lizenzabgaben,<br />

sogenannte Royalties.<br />

Royalties sind teilweise <strong>vom</strong><br />

Rohstoffpreis abhängig, fließen<br />

aber oft unabhängig von<br />

den Produktions- und Erschließungskosten.<br />

Diesen<br />

Anspruch sichern sich Gesellschaften<br />

wie die auf Edelmetalle<br />

fokussierte kanadische<br />

Franco-Nevada meist gegen<br />

Zahlung einer Anschubfinanzierung.<br />

Teilweise garantiert<br />

die Zahlung auch, die in Minen<br />

als Beiprodukte geförderten<br />

Metalle zu einem vorher<br />

fixierten Preis einzukaufen<br />

und zum Marktpreis selbst zu<br />

verkaufen. So machte es jetzt<br />

Franco-Nevada mit einer<br />

Zahlung von 648 Millionen<br />

Dollar an Lundin Mining.<br />

Damit sichern sich die Kanadier<br />

einen Großteil der<br />

zukünftigen Gold- und Silberproduktion<br />

in der chilenischen<br />

Kupfermine Candelaria<br />

zu fixierten Unzenpreisen von<br />

400 Dollar für Gold und vier<br />

Dollar für Silber. Lundin übernimmt<br />

gerade für insgesamt<br />

1,8 Milliarden Dollar 80 Prozent<br />

an Candelaria. Der Anteil<br />

wurde bisher von Freeport-<br />

McMorran gehalten.<br />

Wegen der Besonderheiten<br />

des Geschäftsmodells fallen<br />

die Margen von Royaltygesellschaften<br />

meist üppiger aus<br />

und sind besser kalkulierbar als<br />

die der Produzenten. Wegen<br />

der geringeren Hebelwirkung<br />

auf den Rohstoffpreis steigen<br />

die Aktienkurse von Royaltygesellschaften<br />

in Haussephasen<br />

weniger spektakulär als jene der<br />

Minen. Dafür geraten sie bei<br />

Korrekturen auch nicht so stark<br />

unter die Räder. Euro-Anleger<br />

liegen mit Franco-Nevada seit<br />

Jahresanfang gar rund 40 Prozent<br />

vorne (WirtschaftsWoche<br />

5/2014). Die Kanadier, die auch<br />

nach dem jüngsten Deal schuldenfrei<br />

bleiben, könnten aus<br />

Barreserven und unausgeschöpften<br />

Kreditlinien aus dem<br />

Stand gut eine Milliarde Dollar<br />

mobilisieren. Das verleiht Flexibilität,<br />

um sich im schwierigen<br />

Marktumfeld für Bergbaufinanzierungen<br />

bei Projekten weiter<br />

günstig einzukaufen. Von ihrer<br />

Charakteristik her ist die Aktie<br />

etwa in der Mitte des Anlagespektrums<br />

zwischen physischem<br />

Gold und Minenaktien<br />

angesiedelt. Die Quartalsdividende<br />

von 20 Cent pro Aktie<br />

macht das Papier zu einer verzinsten<br />

Alternative zu einem<br />

mit physischen Barren besicherten<br />

Goldfonds.<br />

Franco-Nevada<br />

ISIN: CA3518581051<br />

70<br />

50<br />

30<br />

20<br />

10<br />

Chance<br />

Risiko<br />

Niedrig<br />

Quelle: Thomson Reuters<br />

50-Tage-Linie<br />

200-Tage-Linie<br />

07 08 09 10 11 12 13 14<br />

Kurs/Stoppkurs (in Dollar): 53,43/43,30<br />

Kurs-Buchwert-Verhältnis: 2,3<br />

Dividendenrendite (in Prozent): 1,5<br />

Hoch<br />

Weitblick 44 Prozent der Stromproduktion<br />

mit Wasserkraft<br />

Für 208 Millionen Euro verkauft<br />

Energias de Portugal<br />

(EDP) gerade einen Minderheitsanteil<br />

seiner französischen<br />

Windparks an den Finanzinvestor<br />

EFG-Hermes.<br />

Der portugiesische Stromkonzern<br />

behält bei diesem Geschäft<br />

die operative Kontrolle,<br />

holt aber gleichzeitig frisches<br />

Geld für den Ausbau seines<br />

internationalen Geschäfts mit<br />

erneuerbaren Energiequellen<br />

herein. Schon heute stammen<br />

44 Prozent der EDP-Stromproduktion<br />

aus Wasserkraft,<br />

34 Prozent aus Windkraft. Die<br />

Portugiesen sind bei der<br />

Stromerzeugung aus erneuerbaren<br />

Quellen eine der führenden<br />

Adressen weltweit – und<br />

das kommt an. Bereits 2011<br />

stieg deshalb der Energiekonzern<br />

China Three Gorges mit<br />

21 Prozent beim ehemaligen<br />

Lissaboner Staatsunternehmen<br />

ein. Die Chinesen wollen<br />

weiteres Geld in EDP stecken,<br />

um selbst den Anteil von Strom<br />

aus Wasserkraft zu erhöhen.<br />

Die führende Position bei<br />

Energieerzeugung aus erneuerbaren<br />

Quellen und der starke<br />

Großaktionär machen EDP<br />

zu einem interessanten Anleihenschuldner.<br />

Derzeit hat das<br />

Unternehmen 18 Anleihen<br />

mit einem Gesamtvolumen<br />

von rund zwölf Milliarden Euro<br />

auf dem Markt. Papiere mit<br />

Laufzeit bis 2020 bringen gut<br />

zwei Prozent Jahresrendite.<br />

Wer einsteigen will, sollte etwas<br />

Geduld mitbringen und<br />

Käufe limitieren. Die Kauf-<br />

Verkaufs-Spanne schwankt je<br />

nach Kaufinteresse zwischen<br />

0,5 Prozent und 2,0 Prozent.<br />

Mit 6,6 Millionen Stromkunden<br />

und 1,2 Millionen Gaskunden<br />

ist EDP der führende<br />

Versorger in Portugal und in<br />

den angrenzenden spanischen<br />

Gebieten. Dazu kommt,<br />

als wichtigster internationaler<br />

Wachstumsmarkt, eine brasilianische<br />

Tochter mit mehr als drei<br />

Millionen Stromkunden.<br />

In diesem Jahr dürfte EDP gut<br />

16 Milliarden Euro Umsatz erzielen.<br />

Nach dem leichten Anstieg<br />

des operativen Gewinns im<br />

ersten Halbjahr sollten ähnlich<br />

wie in den vergangenen Jahren<br />

vor Zinsen, Steuern, Abschreibungen<br />

und Amortisation 3,7<br />

Milliarden Euro hängen bleiben.<br />

Daran gemessen machen<br />

die Nettofinanzschulden (16,9<br />

Milliarden Euro) das 4,6-Fache<br />

aus. Das ist zwar noch deutlich<br />

<strong>vom</strong> angestrebten Ziel entfernt,<br />

die Schulden beim Dreifachen<br />

des operativen Gewinns einpendeln<br />

zu lassen. Doch seit<br />

zwei Jahren kommt der Schuldenabbau<br />

voran. Zudem ist die<br />

Bilanz mit 29 Prozent Eigenkapital<br />

(11,7 Milliarden Euro) vergleichsweise<br />

gut austariert.<br />

Standard & Poor’s bewertet<br />

EDP-Anleihen als spekulative<br />

Anlage, mit BB+ aber im obersten<br />

Bereich. Moody’s hat Ende<br />

Juli die vergleichbare Bewertung<br />

Ba1 bestätigt und den Ausblick<br />

auf „positiv“ angehoben.<br />

Kurs (%) 109,40<br />

Kupon (%) 4,125<br />

Rendite (%) 2,36<br />

Laufzeit bis 29.Juni 2020<br />

Währung<br />

ISIN<br />

Euro<br />

XS0223447227<br />

98 Redaktion: Geldwoche+Zertifikate: Frank Doll, Anton Riedl<br />

Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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FOTO: REUTERS, EDP, JIM WEST/ACTION PRESS<br />

CHARTSIGNAL<br />

Europas Bad Bank<br />

Die Aktie der Deutschen Bank zieht den<br />

europäischen Bankenindex nach unten.<br />

Ende April, noch bei Kursen<br />

oberhalb von 30 Euro, machte<br />

die WirtschaftsWoche auf die<br />

prekäre charttechnische Situation<br />

der Aktie der Deutschen<br />

Bank aufmerksam.<br />

Nach dem Fall unter die seit<br />

Anfang 2009 etablierte Aufwärtstrendlinie<br />

T1 (Punkt 1,<br />

oberer Chart) ging es mit dem<br />

Kurs zwischenzeitlich runter<br />

bis auf 22,66 Euro. T1 ist die<br />

untere Begrenzung eines sich<br />

über mehr als fünf Jahre erstreckenden<br />

symmetrischen<br />

Dreiecks. Der Ausbruch aus<br />

diesem groß angelegten Dreieck<br />

lässt aus charttechnischer<br />

Sicht ein hohes Abwärtspotenzial<br />

erwarten. Symmetrische<br />

Dreiecke sind Konsolidierungsformationen<br />

innerhalb langfristiger Abwärtstrends.<br />

Der Aktienkurs<br />

dürfte daher seinen 2007 einsetzenden<br />

langfristigen Abwärtstrend<br />

fortsetzen.<br />

Den beiden Trendwenden<br />

des europäischen Bankenindex<br />

Stoxx Europe 600 Banks<br />

(unterer Chart) in den Jahren<br />

2007 und 2011 gingen jeweils<br />

Trendliniendurchbrüche der<br />

Deutsche-Bank-Aktie voraus<br />

(2, 3). Bleibt es bei diesem Muster,<br />

dann droht nun auch dem<br />

Bankenindex ein nachhaltiger<br />

Fall unter die wichtige Unterstützung<br />

bei 185 Punkten. In<br />

der vorvergangenen Woche<br />

wurde die Marke kurzzeitig gerissen.<br />

Nach dem Scheitern an<br />

den Trendlinien T2 und T3, die<br />

aktuell bei 200 Punkten einen<br />

starken Widerstand bilden, ähnelt<br />

die charttechnische Ausgangslage<br />

jener <strong>vom</strong> zweiten<br />

Quartal 2011 – abgesehen <strong>vom</strong><br />

heute wesentlich tieferen Kursniveau<br />

der Deutsche-Bank-Aktie.<br />

Ein scharfer Kursrutsch bei<br />

einer systemrelevanten Bank<br />

wie der Deutschen könnte im<br />

Bankenindex gar die massive<br />

Unterstützung, die sich 2011<br />

und 2012 bei 120 Punkten formiert<br />

hat, in Gefahr bringen.<br />

Zumal andere wichtige europäische<br />

Bankaktien aus Spanien,<br />

Frankreich und Italien<br />

Gipfelformationen ausbilden<br />

oder charttechnische Trendwendeformation<br />

bereits abgeschlossen<br />

haben.<br />

Wenig Unterstützung<br />

Trendwenden im europäischen Bankenindex Stoxx Europe 600 Banks<br />

gehen oft Trendliniendurchbrüche der Deutsche-Bank-Aktie voraus<br />

120<br />

100<br />

80<br />

60<br />

40<br />

20<br />

12<br />

500<br />

400<br />

300<br />

200<br />

100<br />

80<br />

2005 2007 2009 2011 2013 2014<br />

Quelle: Thomson Reuters<br />

Deutsche Bank<br />

Stoxx Europe 600 Banks<br />

2<br />

3<br />

symmetrisches<br />

Dreieck<br />

großes Dreieck<br />

T3<br />

T2<br />

Unterstützung<br />

T1<br />

1<br />

Unterstützung<br />

PORSCHE<br />

Richtigstellung<br />

Zum Artikel „Das Pfinztal-Geheimnis“ in der<br />

WirtschaftsWoche 41 <strong>vom</strong> 06.10.2014.<br />

Im Artikel berichteten wir,<br />

dass neue Aussagen darauf<br />

hindeuten, dass Porsche und<br />

seine Eigentümer, anders als<br />

öffentlich behauptet, bereits<br />

im Sommer 2008 Zugriff auf<br />

drei Viertel der VW-Aktien<br />

hatten. Diese Behauptung<br />

halten wir in Bezug auf die<br />

Aussage von Wolfgang Porsche<br />

nicht mehr aufrecht; sie<br />

ist unzutreffend. Aus dem Beschluss<br />

des Oberlandesgerichts<br />

Stuttgart – 1. Strafsenat<br />

– <strong>vom</strong> 18. August 2014 (Az. 1<br />

Ws 68/14) zitieren wir darüber<br />

hinaus Wolfgang Porsche,<br />

der der Staatsanwaltschaft<br />

Stuttgart erklärt habe,<br />

dass Porsche – anders als das<br />

Unternehmen behauptet –<br />

über Optionen auch Zugriff auf<br />

insgesamt knapp 73 Prozent<br />

der VW-Stammaktien gehabt<br />

habe. Herr Porsche legt Wert<br />

auf die Feststellung, dass er<br />

sich in seiner Vernehmung bei<br />

der Staatsanwaltschaft Stuttgart<br />

zu der Frage, ob und in<br />

welcher Höhe sich Porsche<br />

über Optionen Zugriff auf VW-<br />

Aktien gesichert haben soll,<br />

nicht geäußert hat. Herr Porsche<br />

hat recht. Das OLG Stuttgart<br />

hat den Vorhalt der Staatsanwaltschaft<br />

in dem Urteil<br />

fälschlicherweise als Zitat von<br />

Herrn Porsche widergegeben.<br />

Zu diesem Vorhalt der Staatsanwaltschaft<br />

hat sich Herr Porsche<br />

jedoch überhaupt nicht<br />

geäußert.<br />

ÖLPREIS<br />

Fracking mit Gegenwind<br />

Sorgen vor einer konjunkturell<br />

bedingten Nachfrageschwäche<br />

und das globale Überangebot<br />

drückten den Brentölpreis,<br />

gemessen an seinem<br />

Jahreshöchststand <strong>vom</strong> Juni,<br />

inzwischen um 25 Prozent auf<br />

zuletzt unter 85 Dollar pro<br />

Fass. „Ohne eine Produktionskürzung<br />

der Opec bleibt der<br />

Ölmarkt überversorgt“, sagen<br />

die Rohstoffexperten der<br />

Commerzbank. Allerdings sei<br />

kein Opec-Land bereit, zu einer<br />

Produktionskürzung beizutragen.<br />

Auch der wichtigste<br />

Produzent Saudi-Arabien hat<br />

angekündigt, einen niedrigeren<br />

Ölpreis über einen längeren<br />

Zeitraum zu akzeptieren.<br />

Denkbares Kalkül der<br />

Scheichs: Ein niedrigeres<br />

Preisniveau bremst das Angebotswachstum<br />

in anderen<br />

Ländern, etwa in den USA.<br />

Giganten US-Ölproduktion auf<br />

40-Jahreshoch<br />

Der Fracking-Boom trieb die<br />

US-Ölproduktion unlängst auf<br />

den höchsten Stand seit fast vier<br />

Jahrzehnten. Doch nun drohen<br />

die ersten US-Schieferölproduzenten<br />

in die Verlustzone zu geraten.<br />

An Wall Street gehörten<br />

Energieaktien zuletzt zu den<br />

großen Verlierern, die Renditen<br />

von 190 Anleihen von Schieferöl-<br />

und Schiefergasproduzenten<br />

zogen seit Ende August um<br />

durchschnittlich 1,2 Prozentpunkte<br />

an.<br />

WirtschaftsWoche <strong>27.10.2014</strong> Nr. 44 99<br />

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Geld&Börse | Geldwoche<br />

FONDS Legg Mason Clearbridge US Aggressive Growth<br />

Rendite mit viel Geduld<br />

und wenigen Aktien<br />

Blaues Wunder Audi-Navi mit<br />

Spracherkennung von Nuance<br />

„Der Aktienmarkt war nach<br />

dem langen Anstieg reif für eine<br />

Korrektur“, sagt Evan S.<br />

Bauman, Fondsmanager bei<br />

der US-Gesellschaft Legg<br />

Mason in New York. Beim US-<br />

Aktienfonds des Hauses hatte<br />

sich das Fondsmanager-Duo<br />

aus Bauman und Richard<br />

Freeman auf einen Kursrutsch<br />

eingestellt und mit 15<br />

Prozent des Fonds mehr Geld<br />

als üblich verzinst geparkt.<br />

Der Fonds besteht seit Langem<br />

zu einem Drittel aus Aktien<br />

aus dem boomenden Gesundheitsmarkt,<br />

die weniger<br />

starke Kursverluste erlitten<br />

haben. Die liquiden Mittel<br />

konnten die Manager jetzt für<br />

Zukäufe einsetzen. So wurde<br />

die bestehende Position bei<br />

Anadarko Petroleum aufgestockt.<br />

Der Ölförderer muss in<br />

den USA zwar wegen Umweltvergehen<br />

eine Rekordstrafe<br />

von 5,1 Milliarden Dollar zahlen.<br />

Doch die Vermögenswerte<br />

seien trotzdem doppelt<br />

so hoch wie der Börsenpreis,<br />

und Anadarko sei auch bei<br />

noch niedrigeren Ölpreisen<br />

profitabel. Zudem erfüllt das<br />

Unternehmen die Investment-Kriterien<br />

der Manager:<br />

Es verdient Geld, steigert den<br />

Gewinn und hat eine starke<br />

Marktstellung. Nicht aus Faulheit,<br />

sondern weil sie sich für<br />

die Prüfung der Unternehmen<br />

und ihres Managements<br />

Zeit nehmen, kommen jährlich<br />

nur ein bis zwei neue Unternehmen<br />

ins 3,1 Milliarden<br />

Dollar schwere Portfolio, das<br />

derzeit aus 64 Einzeltiteln besteht.<br />

Ungewöhnlich lange halten<br />

die Manager an Aktien fest.<br />

Anadarko haben sie schon elf<br />

Jahre im Fonds, der Pharmawert<br />

Forest Laboratories gehörte<br />

fast 30 Jahre dazu, bevor er<br />

2014 von der irischen Actavis<br />

geschluckt wurde. Zuletzt wurden<br />

Aktien von Nuance Communications<br />

gekauft. Deren<br />

Sprachverarbeitungssoftware<br />

kommt etwa im neuen Audi TT<br />

bei der Bedienung von Navi<br />

und Radio zum Einsatz. „Nuance<br />

ist sehr innovativ hat viele<br />

Patente und ist im Markt der<br />

Sprachsteuerung sehr gut aufgestellt.<br />

Sie waren schon profitabel,<br />

und dies wird auch für<br />

2015 erwartet“, sagt Bauman. Er<br />

meidet Hardwareausrüster wie<br />

Apple, weil er nicht wisse, „wie<br />

die mobilen Geräte künftig aussehen<br />

werden“, aber die Software<br />

im Inneren der Geräte<br />

werde weiterhin benötigt. Daher<br />

hält er etwa den Speichermedienhersteller<br />

Sandisk, die<br />

Softwareschmiede Citrix sowie<br />

den LED-Hersteller Cree.<br />

Legg Mason Clearbridge<br />

ISIN: IE00B241FC99<br />

220<br />

200<br />

180<br />

160<br />

140<br />

120<br />

100<br />

80<br />

Chance<br />

Risiko<br />

2010 11 12 13 14<br />

Niedrig<br />

Indexiert: seit 5 Jahren (=100);<br />

Quelle: Thomson Reuters<br />

MSCI<br />

USA-Aktienindex<br />

Hoch<br />

Die besten US-Aktienfonds<br />

Wie die erfolgreichsten Portfoliomanager abgeschnitten haben<br />

Fondsname<br />

iShares Nasdaq 1003<br />

Legg Mason Clearbridge Growth Premium<br />

Fidelity America<br />

CitiFirst Equity Balanced-Beta USA<br />

AB American Growth<br />

Sarasin Sustainable Eq. USA<br />

AXA Rose. US Defensive Eq. Income Alpha<br />

Pioneer US Fundamental Growth<br />

Fidelity American Diversified<br />

M&G North American Value<br />

Fidelity American Growth<br />

Legg Mason Clearbridge US Aggr.Growth<br />

CMI US Enhanced Equity<br />

iShares S&P 500 Minimum Volatility<br />

UBS (Lux) ES USA Growth<br />

HSBC S&P 500 ETF 3<br />

JPM US Research Enhanced Index<br />

Legg Mason ClearBridge Value<br />

SPDR S&P 500 Low Volatility ETF<br />

UBS (Lux) ES US Total Yield<br />

JPM Highbridge US Steep<br />

AB SICAV Select US Equity<br />

Lyxor ETF Russell 1000 Growth<br />

ComStage MSCI USA Large Cap ETF<br />

Berenberg US Stockpicker<br />

JPM US Equity Plus<br />

Schroder ISF US Large Cap<br />

Allianz Best Styles US Equity<br />

UBS ETF MSCI USA<br />

JPM US Select Eq. Plus<br />

Pioneer SF US Eq. Markets Plus<br />

ING (L) Invest US Equity<br />

Vanguard US 500 Stock Index Inv.<br />

CMI US Equity Index Tracking<br />

Goldman Sachs US Core Equity<br />

AXA Rosenberg US Equity Alpha<br />

AXA Rosenberg US Enhanced Index<br />

UBS ETF MSCI USA Value<br />

Fidelity FAST US Fund<br />

PowerShares FTSE RAFI US 1000 ETF 3<br />

Parvest Equity USA Growth<br />

Coutts US Equity Index<br />

AXA WF II North American Equities<br />

Natixis Actions US Growth<br />

Threadneedle US Controled Core Eq.<br />

HSBC GIF US Equity<br />

db x-trackers S&P 500 Equal<br />

ComStage MSCI North America ETF<br />

Deutsche Invest II US Top Dividend FC<br />

JPM US Select Equity<br />

1 jährlicher Durchschnitt (in Euro gerechnet); 2 je höher die Jahresvolatilität (Schwankungsintensität)<br />

in den vergangenen drei Jahren, desto riskanter der Fonds;<br />

3 weitere ETF mit diesem Index von anderen Anbietern;<br />

Quelle: Morningstar; Stand: 21. Oktober 2014<br />

ISIN<br />

IE00B53SZB19<br />

IE00B23ZBJ17<br />

LU0318939179<br />

IE00B7KPPF38<br />

LU0079475348<br />

LU0526864581<br />

IE00B3L6PR96<br />

LU0347184748<br />

LU0346390437<br />

GB00B1RXYZ16<br />

LU0318939252<br />

IE00B241FC99<br />

LU0129306311<br />

IE00B6SPMN59<br />

LU0358729654<br />

IE00B5KQNG97<br />

LU0590395801<br />

IE00B53D7544<br />

IE00B802KR88<br />

LU0868494617<br />

LU0325074507<br />

LU0736561332<br />

FR0011119148<br />

LU0392495882<br />

LU0534928600<br />

LU0289218454<br />

LU0106261539<br />

LU0788520384<br />

IE00B77D4428<br />

LU0292454872<br />

LU0367810255<br />

LU0293054556<br />

IE0002639668<br />

LU0129306154<br />

LU0280924829<br />

IE0008365516<br />

IE0033609615<br />

IE00B78JSG98<br />

LU0363262394<br />

IE00B23D8S39<br />

LU0823434583<br />

IE0002293995<br />

LU0011972238<br />

FR0010256404<br />

LU0640477955<br />

LU0164902883<br />

LU0659579493<br />

LU0392494992<br />

LU0781239156<br />

LU0070214290<br />

Wertentwicklung<br />

in Prozent<br />

seit 3<br />

Jahren 1<br />

22,6<br />

11,1<br />

23,7<br />

–<br />

21,9<br />

22,0<br />

–<br />

20,4<br />

20,8<br />

22,5<br />

21,4<br />

24,8<br />

20,3<br />

–<br />

20,6<br />

20,9<br />

20,7<br />

21,0<br />

–<br />

–<br />

21,3<br />

–<br />

–<br />

20,9<br />

20,8<br />

19,8<br />

21,1<br />

–<br />

–<br />

20,8<br />

20,2<br />

20,5<br />

20,6<br />

19,9<br />

20,9<br />

21,3<br />

22,1<br />

–<br />

–<br />

21,9<br />

17,5<br />

20,1<br />

20,0<br />

20,1<br />

21,9<br />

19,3<br />

–<br />

19,9<br />

–<br />

20,1<br />

seit einem<br />

Jahr<br />

24,6<br />

22,6<br />

21,3<br />

21,3<br />

21,1<br />

20,9<br />

20,3<br />

19,6<br />

19,6<br />

19,4<br />

19,2<br />

19,2<br />

19,1<br />

19,1<br />

19,0<br />

18,9<br />

18,9<br />

18,8<br />

18,8<br />

18,8<br />

18,8<br />

18,6<br />

18,6<br />

18,5<br />

18,5<br />

18,5<br />

18,3<br />

18,3<br />

18,3<br />

18,2<br />

18,2<br />

17,9<br />

17,9<br />

17,8<br />

17,8<br />

17,6<br />

17,6<br />

17,6<br />

17,5<br />

17,4<br />

17,4<br />

17,4<br />

17,4<br />

17,4<br />

17,3<br />

17,3<br />

17,2<br />

17,1<br />

17,0<br />

16,9<br />

Volatilität<br />

2<br />

in<br />

Prozent<br />

10,5<br />

10,7<br />

8,7<br />

–<br />

10,5<br />

12,5<br />

–<br />

8,3<br />

9,2<br />

11,7<br />

10,3<br />

9,6<br />

10,7<br />

–<br />

10,1<br />

8,2<br />

9,7<br />

9,2<br />

–<br />

–<br />

9,4<br />

–<br />

–<br />

8,4<br />

10,5<br />

10,3<br />

8,9<br />

–<br />

–<br />

10,3<br />

8,3<br />

8,3<br />

8,2<br />

10,5<br />

9,3<br />

9,5<br />

9,2<br />

–<br />

–<br />

8,2<br />

9,4<br />

8,9<br />

8,6<br />

8,4<br />

8,3<br />

9,1<br />

–<br />

8,2<br />

–<br />

9,9<br />

FOTO: PR<br />

100 Redaktion Fonds: Heike Schwerdtfeger<br />

Nr. 44 <strong>27.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


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Geld&Börse | Geldwoche<br />

NACHGEFRAGT Ulrich Reutner<br />

»Jedem Bauteil eine<br />

Identität geben«<br />

Der Chef des Technologiekonzerns exceet erklärt<br />

seinen ungewöhnlichen Weg an die Börse – und<br />

wie Maschinen sich selbst überwachen.<br />

Herr Reutner, Sie hatten mit<br />

exceet 2011 einen Börsengang,<br />

ein IPO, geplant. Der<br />

platzte – und trotzdem haben<br />

Sie es im gleichen Jahr<br />

noch an die Börse geschafft.<br />

Warum klappte es erst nicht?<br />

Unsere betreuende Bank war<br />

Anfang 2011 skeptisch, ob wir<br />

über den klassischen IPO einen<br />

angemessenen Preis für<br />

unsere Aktien erzielen würden<br />

– die Stimmung gegenüber<br />

Technologiewerten war<br />

sehr verhalten. Also stoppten<br />

wir den Prozess. Im Rückblick<br />

ein gutes Timing – im Sommer<br />

brachen die Kurse ein.<br />

Über einen sogenannten<br />

SPAC schafften Sie doch<br />

noch den Börsengang im Juli<br />

2011. Bei dieser Special Purpose<br />

Acquisition Company<br />

geht eine Art Unternehmenshülle<br />

an die Börse, in diesem<br />

Fall ein Börsenmantel namens<br />

Helikos im Jahr 2010.<br />

Helikos musste innerhalb von<br />

zwei Jahren einen Übernahmekandidaten<br />

finden, der<br />

dann unter ihrem Dach an die<br />

Börse kommen sollte: Die<br />

Wahl fiel auf exceet.<br />

Wir waren vorbereitet, und als<br />

im Frühjahr 2011 die Anfrage<br />

DATENSCHÜTZER<br />

Reutner, 49, ist seit 2009 Vorstandsvorsitzender<br />

der exceet<br />

Group. Zuvor arbeitete er beim<br />

schwedischen Sicherheitskonzern<br />

Assa Abbloy.<br />

von Helikos kam, bot sich uns<br />

sogar eine günstigere Alternative<br />

zum regulären IPO.<br />

In den USA haben sich SPACs<br />

etabliert. In Deutschland sind<br />

sie eines von nur drei Unternehmen,<br />

die so an die Börse<br />

kamen. Hat es sich gelohnt?<br />

Die Umsetzung lief reibungslos,<br />

der Aufwand war am Ende<br />

aber der gleiche: Als Vorstandschef<br />

der Zielgesellschaft musste<br />

ich natürlich mit zu den<br />

Investorengesprächen, um<br />

ihnen das Unternehmen zu<br />

präsentieren.<br />

Die SPAC-Gründer und Alteigentümer<br />

halten noch hohe<br />

Anteile an exceet.<br />

Sie halten die deutliche Mehrheit,<br />

insbesondere wenn man<br />

die optionsähnlichen nicht<br />

börsenotierten B- und C-Aktien<br />

mitzählt. Die zählen nicht<br />

zur Marktkapitalisierung, können<br />

aber in gelistete A-Aktien<br />

gewandelt werden. Das ist bei<br />

SPAC-Börsengängen üblich.<br />

Besteht für Anleger die Gefahr<br />

Kursverluste zu erleiden, wenn<br />

die Umwandlung in Aktien<br />

erfolgt?<br />

Theoretisch, weil ja mehr Anteile<br />

auf den Markt kommen könnten.<br />

Aber dazu muss der Kurs<br />

spätestens bis zum Sommer<br />

2016 nachhaltig auf mindestens<br />

zwölf Euro steigen. Sonst verfällt<br />

das Wandlungsrecht.<br />

Sie haben exceet mit Zukäufen<br />

stark vergrößert. Als Anleger<br />

verliert man schnell den Überblick<br />

über Ihren Konzern.<br />

Seit unserer Gründung operieren<br />

wir in drei Segmenten: vernetzte<br />

intelligente Elektronik,<br />

Identitätsmanagement und<br />

Smart Cards und vernetzte Sicherheitslösungen.<br />

Da wir aber<br />

wohl mehr Standorte haben als<br />

Unternehmen vergleichbarer<br />

Größe, verschlanken wir unsere<br />