Inhalt 85 4C.qxd - Alexander von Humboldt-Stiftung
Inhalt 85 4C.qxd - Alexander von Humboldt-Stiftung
Inhalt 85 4C.qxd - Alexander von Humboldt-Stiftung
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Alexander von Humboldt-Stiftung
kosmos Nr.85 >> Juli 2005
Humboldt
kosmos
>> Wanderungen >> Migrations
Titelthema Coverstory
Editorial Editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
Dear Readers,
die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte
der Wanderung. Schauen Sie auf Europa, das in diesen
Monaten intensiv über seine Identität und seine
gemeinsame politische Zukunft diskutiert.
Vor eineinhalb Jahrtausenden gaben die Wanderungen
germanischer und slawischer Völker dem Kontinent
ein anderes Gesicht.
Heute prägen andere Völkerwanderungen die
moderne vernetzte Welt: Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler gehören zu den Berufsgruppen, die
ihren Arbeitsplatz nicht mehr in nur einem Land
finden. Den Guten und Mobilen eröffnen sich an vielen
Orten der Welt neue Berufs- und Karrierechancen.
Die Lebensläufe der Humboldt-Stipendiatinnen und
-Stipendiaten belegen dies mit vielen Beispielen. Das
Herkunftsland der Humboldt-Gastwissenschaftler ist
oftmals nicht identisch mit dem Land, in das die
nächste Etappe der akademischen Karriere führt.
Deutschland ist zu einer Drehscheibe für internationale
wissenschaftliche Talente geworden.
Ein Weg bleibt in Deutschland jedoch oftmals
noch versperrt: Die Wanderung zwischen einer akademischen
und einer außerakademischen Tätigkeit ist
meist nur in frühen Karrierephasen möglich. Doch es
kann auch anders gehen: In zahlreichen Ländern
haben Humboldtianer ihren Arbeitsplatz an der
Hochschule verlassen, um als Minister oder wissenschaftliche
Berater für ihre Regierungen und
Parlamente, um als Richter an obersten Gerichtshöfen
oder als Wissenschaftsmanager zu arbeiten. Oftmals
kehren sie nach dem Ende einer Amtszeit in ihre
wissenschaftlichen Positionen zurück. Politik,
Gesellschaft wie Universitäten öffnen Drehtüren,
die nicht nur den Weg hinaus, sondern auch den
Weg zurück ermöglichen. Profitieren können davon
alle Beteiligten.
Dieses Heft berichtet von solchen Wanderungen
zwischen Berufsfeldern und zwischen den Ländern.
Es sind diese Wanderungen, die das Gesicht moderner
Gesellschaften prägen. Viel Freude beim Lesen
wünscht Ihnen
Human history is a history of migration. Take Europe
for instance, which has been intensively debating its
identity and its common political future over the last
few months. One-and-a-half millennia ago, the
migratory movements of Germanic and Slav peoples
gave the continent another appearance.
Today, the modern, networked world is being
shaped by other types of migration. Academics belong
to those professional groups that no longer find their
jobs in one country alone. Those who are good enough
and sufficiently mobile will be offered new professional
and career opportunities in several places throughout
the world. Many an example of this is demonstrated by
the CVs of the Humboldt Fellows. Often, a Humboldt
Visiting Academic’s country of origin is not identical
with the country that the next career stage is going
to lead to. Germany has become a turntable of
international academic talent.
Nevertheless, one course still often remains
barred in Germany. Usually, migrating between an
academic and a non-academic activity is only possible
in the early stages of a career. However, there are
examples of alternatives in several countries, where
Humboldtians have left their positions in higher
education to work as ministers or academic advisors to
their governments and parliaments, or as judges at the
supreme courts of justice or as science managers.
Often, they will return to their academic jobs when
their period of office is over. Politics, society and
universities are like revolving doors that not only open
up a way out but also a way back. All those involved
can benefit from this.
This issue gives accounts of such migrations
between fields of occupation and between countries.
It is these migrations that shape the face of modern
societies. Wishing you happy reading,
Yours Georg Schütte
Ihr Georg Schütte
1 >> Humboldt kosmos 85/2005
Titelthema Coverstory
Inhalt
Contents
Impressum Imprint
Humboldt kosmos
Ausgabe Issue
85
Herausgeber Publisher
Alexander von
Humboldt-Stiftung
V.i.S.d.P. Responsible person in
accordance with German press law
Generalsekretär
Secretary General
Dr. Georg Schütte
Redaktion Editorial Staff
Georg Scholl (Leitung) (Head)
Ulla Hecken
Objektleitung Head of Project
Dr. Ulrike Albrecht
Gestaltung Design
Brighten the Corners
Studio for Design
www.brightenthecorners.com
Layout Layout
Brighten the Corners &
Courir-Druck GmbH, Bonn
Übersetzungen ins Englische
English Translations
Mike Gardner
Wissenschaftlicher Beirat
Academic Advisory Board
Prof. Dr. Roland Fischer
Prof. Dr. Joachim Jens Hesse
Prof. Dr. Wolfgang Peter Schleich
Prof. Dr. Waltraud Wiethölter
Redaktionsbeirat
Editorial Advisory Board
Dr. Sven Baszio
Dr. Johannes Belz
Dr. Gisela Janetzke
Dr. Barbara Sheldon
Redaktionsanschrift Address
Redaktion Humboldt Kosmos
Jean-Paul-Straße 12
D-53173 Bonn
presse@avh.de
www.humboldt-foundation.de
>>>
2 >> Humboldt kosmos 85/2005
Titelthema Coverstory
6 22 44 58
>>>
Verlag und redaktionelle
Verantwortung für die Rubrik
Nachrichten Publishing House
and editorial responsibility for
the News section
Lemmens Verlags- &
Mediengesellschaft mbH
Matthias-Grünewald-Str. 1-3
D-53175 Bonn
info@lemmens.de
www.lemmens.de
Druck Printer
Druckpartner Moser GmbH,
Rheinbach
Erscheinungsweise 2 x jährlich
Appearing twice a year
Auflage dieser Ausgabe
Circulation of this issue
36 500
Bildnachweis Picture credits
Titel: Böll & Fischer GbR, Unkel
S. 2, 3, 7, 9, 13, 17, 23, 25, 28, 31,
37, 49: Böll & Fischer GbR, Unkel
S. 3 oben rechts: picturealliance/akg-images
S. 18 oben links und unten links:
Olivier Moine, Université
Montpellier II
S. 18 oben rechts und unten
rechts: Christine Hatté, LSCE
Gif sur Yvette
S. 33, 34: Eichborn-Verlag
S. 35 (links): bpk/Nationalgalerie,
SMB/Jürgen Liepe
S. 35 (rechts): Stiftung Preußischer
Schlösser und Gärten
Berlin-Brandenburg.
S. 39 oben: picture-alliance/
dpa/dpaweb
S. 41, 43, 45, 47: Uschi Heidel
S. 48 oben: Ralf Gerard/JOKER
S. 48 unten: Peter Albaum/JOKER
S. 50: Katharina Eglau/JOKER,
S. 52: David Ausserhofer/JOKER
S. 53: Deutsches Zentrum für
Luft- und Raumfahrt, David Ausserhofer/JOKER,
Böll & Fischer
GbR, Unkel
S. 55: Erik Lichtenscheidt, Bonn
S. 56: Deutsche Welle, Bonn
S. 59 von links nach rechts:
picture-alliance/akg-images
picture-alliance/akg-images
picture-alliance/dpa/dpaweb
S. 60: picture-alliance/akgimages
Autorenfotos: privat
Die Beiträge geben die persönliche
Sicht der Autoren und
nicht die der Alexander von
Humboldt-Stiftung wieder.
Nichtnamentlich gezeichnete
Artikel und Interviews sind
redaktionelle Beiträge.
Contributions reflect the personal
views of the authors and
not those of the Alexander von
Humboldt Foundation. Articles
with no reference to an author
are editorial contributions.
1
Editorial
Editorial
2
Inhalt
Contents
4
Criticus meint...
Criticus says...
6
Titelthema –
Wanderungen
Cover Story –
Migrations
8
Jeanne Rubner
Erfolgsmodell aufs
Spiel gesetzt
Putting success
at stake
12
Interview
Sven Beckert
Der Traum von Amerika
und die Lust auf Europa
The American dream
and a hankering for
Europe
16
Denis-Didier Rousseau
Den steinernen
Schnecken auf der Spur
In search of the
stone snails
20
Interview
Carlos Huneeus
Wissenschaftler
an die Macht
Power to the
academics
22
Barbara Sheldon
Das Geheimnis der
fehlenden Forscher
The secret of the
missing researchers
26
Interview
Irena Lipowicz
Mittendrin – was
für eine Chance!
Right in between –
what an opportunity!
28
Amir Reza Jassbi
Ausweg Ausland
Going abroad as
a way out
30
Abdallah Al-Zoubi
Fortschritt durch
Austausch
Progress through
exchange
32
Deutschland
im Blick
View onto
Germany
Woher kommt
der deutsche
Humboldtboom?
How come Humboldt is
booming in Germany?
36
Interview
Vilmos Agel
Literatur ist ein
kulinarischer Genuss
Literature is a culinary
pleasure
38
Michael Palocz-Andresen
Wer hat Angst vom
Autoruß?
Who’s afraid of car soot?
40
Humboldtianer
im Profil
Humboldtians
in Profile
Uschi Heidel
Vom Minister zum
Stipendiaten
A minister turned fellow
44
Uschi Heidel
Lieber Leipzig
Better to be in Leipzig
48
Nachrichten
News
54
Neues aus
der Stiftung
News from
the Foundation
58
Wissenschaft
und Kultur
Science
and Culture
Anja Bettenworth
& Ruth Scodel
Liebe und Tod
im Historienfilm
Matters of love and
death in history films
ISSN 0344-0354
3 >> Humboldt kosmos 85/2005
Criticus Criticus
Criticus meint...
Criticus says...
dass die Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden,
welche bei großer Wahlbeteiligung ausdrücklich
„Nein“ zur Europäischen Verfassung gesagt haben,
die Europäische Union keineswegs in eine Krise gestürzt,
sondern nur eine längst vorhandene Krise offengelegt
haben. Natürlich ist mit dem so deutlich ausgefallenen
„Non“ und „Nee“ der beiden Gründungsstaaten der
Europäischen Union nicht schon das ganze historisch
bedeutsame Projekt einer Union des alten Kontinents
gefährdet, wohl aber ist die Frage nach den neuen vertraglichen
Grundlagen dieser Union gestellt. Die Ratlosigkeit
der Regierungen ist offenkundig. An mangelnder
Aufklärung habe es gelegen, sagen die einen. Eher an
innenpolitische Gründe sei in den Ländern des Referendums
zu denken, als an europapolitische, meinen andere.
Die Erweiterung der EU sei zu rasch erfolgt, lautet ein
weiterer Erklärungsversuch, Fremdenangst wird bemüht,
Angst vor dem Eingriff einer fernen, nur schwer verständlichen
Bürokratie in das Leben der einzelnen Bürger
etc. etc. Der eigentliche Grund für die großen Mehrheiten,
welche, trotz intensiver Werbung der Regierungen
für die Verfassung, deren Gegner erhalten haben, wird
nur selten genannt: die politische Klasse Europas hat sich
von ihrer Basis gelöst und weiß kaum noch, was die Menschen
denken und fühlen. Die Behauptung, die Franzosen
hätten die Verfassung gar nicht gelesen, gegen die sie
gestimmt haben, ist in einem traditionell so bewusst politisch
handelnden Land wie Frankreich eine glatte Unterstellung.
In den Ländern, in denen das Referendum
bevorsteht, Dänemark, Polen, Irland, der tschechischen
Republik, breitet sich Angst vor einem Domino-Effekt
aus, die britische Regierung hat das geplante Referendum
auf unbestimmte Zeit vertagt. Wie ein Referendum in
Deutschland ausgegangen wäre, wenn sich die deutsche
Regierung dazu hätte bereitfinden können, scheint mir
kaum zweifelhaft. Auch hier hätte bei den Bürgern die
Verfassung keineswegs jene triumphale Zustimmung
erfahren, die ihr im Parlament zuteil wurde. Auch in
Deutschland wird nämlich gerne übersehen, dass die
(manchmal schon größte, zumindest aber) zweitgrößte
Partei im Lande die der Nichtwähler ist. Wird ihr Unmut
erst einmal wach, gibt es ein Erdbeben wie bei den Referenden
in Frankreich und den Niederlanden.
Die römische Zeitung „La Repubblica“ meinte, im
niederländischen Referendum sei die letzte Ideologie
that the referenda in France and the Netherlands, which
saw a high turnout and clearly rejected the European
Constitution, have by no means brought disaster to the
European Union but merely exposed a long-standing crisis.
Of course such a decisive “Non” and “Nee” on the
part of the European Union’s two founding nations is not
enough to jeopardise the historically important project of
the old continent forming a union in its entirety, but it
has certainly raised questions regarding the new constitutional
basis for this union. Obviously, the governments
are at a loss. Some say people haven’t been given enough
information. Others maintain that domestic policy
issues in the countries the referenda had been held in
were to blame rather than European politics. A further
attempt to explain the outcome is to maintain that the
EU enlargement has made too rapid progress, that xenophobia
and fear of a remote bureaucracy that is difficult
to comprehend interfering with the lives of individual
citizens is being incited, etc., etc. Only rarely is mention
made of the true reason for the considerable majorities
that the opponents of the constitution have scored in spite
of the intensive advertising campaigns the governments
ran in favour of it. Europe’s political class is no longer in
touch with the grassroots and has hardly any idea of
what the people think and feel. To claim that the French
didn’t even bother to read the constitution they voted
against is clearly a misrepresentation given a country like
France that has traditionally demonstrated political
awareness in its actions. In the countries yet to hold a referendum,
Denmark, Poland, Ireland, and the Czech
Republic, fear of a domino effect is spreading, and the UK
government has postponed its planned referendum
indefinitely. I have hardly any doubts what the outcome
of a referendum in Germany would have been like, had
the German Government found itself in a position to
hold one. Here too, the triumphal approval the constitution
was met with in Parliament would certainly have
been absent among the citizens. For in Germany too,
there is a strong tendency to ignore that the country’s
(sometimes already largest, but certainly) second-largest
party is that of the non-voters. Once their disgruntlement
surfaces, there will be an earthquake the likes of the
referendum outcomes in France and the Netherlands.
Rome’s newspaper “La Repubblica” claimed that the
Dutch referendum had represented the demise of the last
4 >> Humboldt kosmos 85/2005
Criticus Criticus
untergegangen, die das Ende der politischen Religionen
des 20. Jahrhunderts überdauert habe, jener „Europäismus“,
der keine Politik und keine Leidenschaft kenne,
sondern wie ein Baukasten funktioniert habe, unbekümmert
um jene, die darin ihre Heimat haben. Nach dem
Zweiten Weltkrieg war es zunächst ein großer Fortschritt,
dass sich Europa als eine Wirtschaftsgemeinschaft konstituierte,
dass in kleinen, nüchtern geplanten und überlegten
Schritten ein europäischer Markt geschaffen wurde,
der auch Frieden unter den einstmals verfeindeten Völkern
garantierte. Dann aber, als die großen Schritte
anstanden, die Gemeinschaft der Euro-Länder, die Osterweiterung
der Union und nun die gemeinsame Verfassung,
welche der Union als Union Handlungsfähigkeit
schenken soll, wurde rasch deutlich, dass die Planungssprache
nicht mehr genügte, dass ein europäischer Markt
als Basis für ein gemeinsames Europa nicht ausreicht.
Wenn Europa mehr sein soll als eine Freihandelszone,
eine Währungsgemeinschaft und ein Subventionenbündnis,
muss es – so pathetisch dies auch klingen mag –
in den Herzen der Menschen wurzeln. Dies zu erreichen,
ist eine lang dauernde und immerwährende, im hektischen
Alltag der Politik oft vernachlässigte Aufgabe.
Die Alexander von Humboldt-Stiftung hat mehr als
50 Jahre gebraucht, um jene internationale Gemeinschaft
zu werden, als die sie sich heute in 130 Nationen der Erde
darstellt; eine Gemeinschaft, die sich als eine Familie
fühlt, verbunden durch Wissenschaft und durch die Sympathie
zu jenem Deutschland, das, nach den Schrecken
des Nationalsozialismus, mit der Gründung der Alexander
von Humboldt-Stiftung gleichsam die Hand der Versöhnung
zu den Völkern der Erde ausgestreckt hat und
sie noch immer ausgestreckt hält. Die Humboldt-Stiftung
ist mehr als eine bequeme Finanzierungsquelle für
wissenschaftliche Zusammenarbeit, sie ist für viele ihrer
Stipendiatinnen und Stipendiaten zu einer zweiten Heimat
geworden. Könnte ihr Erfolgsrezept nicht auch ein
Rezept für das an Sympathie und Zuneigung notleidende
Europa sein?
Mit dieser Frage grüßt aus Bonn alle Freunde nah
und fern, die über die Humboldt-Stiftung Mitglieder
einer europäischen Familie geworden sind, herzlich
Criticus
ideology to have survived the end of the twentieth century’s
political religions – that Europeanism that knew no
politics and no passion but worked like an assembly kit
ignoring all those it was home to. Initially, after the Second
World War, Europe’s constituting itself as an economic
community and the creation of a European market
in small, well-considered moves was a huge step forward
that also guaranteed peace among what had at one
time been hostile peoples. But then, when the major initiatives
were forthcoming, the community of the euro
countries, the Union’s eastern enlargement and now, the
common constitution meant to grant the Union the ability
to act as a union, it quickly became apparent that the
language of planning was no longer enough, and that a
European market does not provide a sufficient basis for a
common Europe. If Europe is intended to be more than a
free trade zone, a currency union and a subsidy alliance,
pathetic as this may sound, it has to be rooted in people’s
hearts. Achieving this is a long and lasting task that has
often been forgotten in hectic day-to-day politics.
It took the Alexander von Humboldt Foundation
more than 50 years to become the international community
it now represents in 130 nations throughout the
world, a community that feels like a family, with ties
established through academe and sympathy with a Germany
that, following the terrors of National Socialism,
with the founding of the Alexander von Humboldt Foundation
quasi held out its hand as a gesture of reconciliation
with the world’s nations and is still doing so. The
Humboldt Foundation is more than a convenient source
of funding for academic co-operation. For many of its fellows,
it has become a second home. Couldn’t its recipe for
success also be a remedy for a Europe suffering from a
lack of sympathy and affection?
Perhaps you would like to ponder over this question.
With best wishes from Bonn to all friends far and near
who have become members of a European family thanks
to the Humboldt Foundation,
Criticus
5 >> Humboldt kosmos 85/2005
Wanderungen
Migrations
Wer in der Forschung etwas werden
will, packt früher oder später einmal
seine Koffer und geht auf Wanderschaft.
Wissenschaftler sind zu privilegierten
Wanderarbeitern geworden, um die die
Forschungsnationen in aller Welt buhlen
– vor allem mit materiellen Anreizen
wie Forschungsmitteln und Laborausstattungen.
Doch mindestens genauso
wichtig sind die weichen Faktoren, das
zeigen die Beiträge in diesem Heft: Wie
gefällt es den mitreisenden Kindern?
Wie leicht findet der Ehepartner einen
Job? Wie ist das politische Klima im
Gastland? Der Vergleich zwischen den
Vereinigten Staaten als immer noch
weltweit beliebtestem Wanderungsziel
und Europa fällt immer noch zugunsten
Amerikas aus. Doch das Erfolgsmodell
USA hat Risse bekommen. Über die
Vorzüge der alten und der neuen Welt
schreiben die Autoren dieser Ausgabe
ebenso wie über einzelne Staaten wie
den Iran, der sich um das Thema Braindrain
noch wenig kümmert, über Länder
wie Polen, das westeuropäische Forscher
zu Unrecht kaum als Ziel eines
Auslandsaufenthalts wahrnehmen, über
klassische Forschungsexpeditionen auf
den Spuren Humboldts und über die
Wanderung zwischen den Welten von
Politik und Wissenschaft.
Anyone wishing to get somewhere in
research will have to pack his bags and go
off on his travels sooner or later. Academics
have become privileged migrant workers
wooed by the research nations
throughout the world – particularly with
material incentives such as research funds
and laboratory equipment. But the soft
factors are at least just as important, as the
articles in this magazine show. How do the
children travelling with their parents like
it? How easy will it be for the husband or
wife to find a job? What is the political climate
like in the host country? Comparisons
between the United States as what is
still the most popular destination for
migrations world-wide and Europe continue
to be in favour of America. But
cracks have been appearing in the American
success story. The authors of this issue
have written about the advantages of the
Old and the New World in general as well
as about individual countries like Iran,
which as yet has done little to address
the problem of the brain drain, Poland,
which Western European researchers quite
wrongly hardly perceive as a destination
for a stay abroad, classic research expeditions
following the footsteps of Humboldt
and migrations between the worlds of politics
and academe.
Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations
Jeanne Rubner
Erfolgsmodell aufs Spiel gesetzt
Putting success at stake
Im Wettbewerb um die besten Köpfe liegen die Vereinigten
Staaten seit langem an der Spitze. Doch die
Vorherrschaft bröckelt. Die Gründe hierfür sind hausgemacht.
Während das amerikanische Erfolgsmodell
im eigenen Land aufs Spiel gesetzt wird, inspiriert es
die Konkurrenz. Asien und Europa wollen von der
nachlassenden Anziehungskraft Amerikas profitieren.
When it comes to competing for the best brains, the
USA can clearly boast a long-standing lead. But
America’s supremacy is on the wane – for reasons of
its own making. Whereas a successful model has
been put on the line at home, it is in fact inspiring
the country’s rivals. Asia and Europe seek to benefit
from America’s flagging attractiveness.
Spätestens nach der Doktorprüfung muss ein junger
Forscher die Koffer packen und sich ein Flugticket nach
Amerika besorgen. Für die wissenschaftliche Karriere
ist – zumindest in den Naturwissenschaften – eine Stelle
jenseits des Atlantiks Pflichteintrag im Lebenslauf.
Der Aufenthalt in Stanford, Michigan oder am MIT
gehört zur Tradition der akademischen Laufbahn,
sodass der oder das „Postdoc“ sich längst im deutschen
Sprachgebrauch etabliert hat.
Der Sog der amerikanischen Labors und Institute
muss nicht überraschen: Mit dem Niedergang der deutschen
Wissenschaft durch die Vernichtung der Juden
konnten die USA zur unangefochtenen Forschungsnation
werden, zum Kristallisationspunkt der akademischen
Migrationsströme. Im globalen Wissenschaftsmarkt
sind sie die Nummer eins – die internationalen Ranglisten
der Universitäten, auf denen Harvard, Yale, Stanford
und andere stets ganz vorne stehen, zeugen davon.
Viele Postdocs gehen mit einem Stipendium in die
USA, übrigens auch ein Grund, warum sie mit offenen
Armen empfangen werden. Über diese moderne Form
der Leiharbeiterschaft – so muss man es wohl nennen –
müsste man sich keine größeren Sorgen machen, wenn
sich nicht in den vergangenen Jahrzehnten das Problem
des „Braindrains“ verschärft hätte. Gerade die Besten
nämlich bleiben: Amerika wusste schon immer, Kapital
aus der Einwanderung zu schlagen. Die klügsten Köpfe
hat man gerne abgeworben, zum Bleiben überredet –
durch gut ausgestattete Labors, durch ein hervorragendes
Umfeld, durch die Freiheit zu forschen.
Das führt dazu, dass fast ein Drittel der deutschen
Stipendiaten, die mit Geld etwa der Humboldt-Stiftung
oder der Deutschen Forschungsgemeinschaft nach
Amerika gehen, dort auch dauerhaft bleibt. Überraschend
ist das nicht und die Bedenken der Nachwuchsforscher
sind bekannt: Deutschland hat seine Hochschulen
vernachlässigt, indem es sie für die Massen öffnete,
ohne die entsprechenden Mittel bereitzustellen.
Once a young researcher has finished his doctoral exams,
it is high time for him to get packing and buy an air ticket
to America. A position in the USA is an absolute must
in a CV, at least for a career in the sciences. Stays at Stanford,
Michigan or at the MIT belong to the tradition of
an academic career, so that the “postdoc” has long
become commonplace in the German language.
It should come as no surprise for American laboratories
and institutes to have such an appeal. The decline of
German academe brought about by the holocaust
enabled the USA to become the undisputed nation of science
and focal point of academic migration. That universities
like Harvard, Yale and Stanford should head
international rankings bears testimony to the USA’s
leading role on the global science market.
Many postdocs visit the USA with a stipend in their
pocket, which is one of the reasons why they are welcomed
with open arms. This modern type of casual
labour need not be a cause for concern were it not for the
problem of brain drain having grown more acute over the
last few decades. Well-equipped laboratories, an excellent
environment and freedom of research are simply too
much to resist, especially for the best brains. So they tend
to stay in America, a country that has always succeeded
in making a profit out of immigration.
Nearly a third of German grant-holders visiting the
USA and funded by e.g. the Humboldt Foundation or by
the Deutsche Forschungsgemeinschaft (German Research
Foundation) stay there permanently. This is not surprising,
given especially that the concerns of junior
researchers are only too well-known. Germany is reputed
to have neglected its higher education system by opening
it up for the masses without providing the necessary
funding. The German system of qualifying as a university
lecturer, “Habilitation”, shackles new blood, with even
the newly created “Juniorprofessur” positions failing to
guarantee tenure. Clinical research is extremely difficult
in German hospitals. And unlike in the USA, hardly any
*******
Dr. Jeanne Rubner ist
Redakteurin im Ressort
Außenpolitik der
Süddeutschen Zeitung
in München. Sie ist
Mitglied des Advisory
Board im Transatlantic
Science and Humanities
Programme der Humboldt-Stiftung.
*******
Dr. Jeanne Rubner is
foreign policy editor
for the Süddeutsche
Zeitung in Munich.
She is a member of the
Advisory Board of the
Humboldt Foundation’s
Transatlantic Science
and Humanities Programme.
8 >> Humboldt kosmos 85/2005
9 >> Humboldt kosmos 85/2005
************************
„Es fehlt an heimischem Nachwuchs. Ohne Ausländer
könnten Harvard und Stanford ihre naturwissenschaftlichen
Departments dicht machen.“
Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations
************************
“America has long been suffering from a dearth of indigenous
new blood. Harvard, Stanford and the MIT would have to close
their science departments down were it not for foreigners.”
Die Habilitation legt dem Nachwuchs Fesseln an, auch die neu geschaffene
Juniorprofessur bietet keine Garantie auf einen festen Job. Klinische
Forschung ist in einem deutschen Krankenhaus extrem schwierig.
Und nicht zuletzt kümmert sich – anders als in den USA – kaum
eine Uni darum, auch dem Partner einen Job zu vermitteln, was Doppelkarrieren
erschwert.
Dass es nicht die Freude am Auswandern ist, welche die Forscher
von der Rückkehr abhält, belegen Umfragen: Immerhin 44 Prozent
der Emigrierten würden wieder nach Deutschland kommen, falls die
Bedingungen besser wären.
Wenn schon die Rückkehrer sich rar machen, so gelingt es kaum,
die Neukommenden von der Qualität des deutschen Systems zu überzeugen.
Deutschland ist kein Einwanderungsland und sieht sich auch
nicht als solches. Es behandelt seine Forscher schlecht – selbst Ausländer
mit einem festen Job erhalten oft nur Aufenthaltsgenehmigungen
für ein paar Jahre und müssen lange Jahre auf das Dauervisum warten.
Amerika dagegen holt sich die Menschen, die es haben will und
wirbt um die besten Köpfe – noch, muss man sagen. Denn die Zeichen
für einen Abstieg mehren sich. 2004 ist – zum ersten Mal seit Anfang
der siebziger Jahre – die Zahl ausländischer Studenten zurückgegangen.
Und 2003 wurden deutlich weniger Visa an Studenten, Gastwissenschaftler
und Hochqualifizierte ausgegeben: Auf 625.000 sank die
Zahl der Visa – von 787.000 im Jahr 2001.
Die Terrorattacke des 11. September hat ihre Spuren hinterlassen.
Wer als männlicher Student oder Forscher aus einem arabischen Land
einreisen will, hat größte Schwierigkeiten, ein Visum zu erhalten. Gastwissenschaftler,
so wissen US-Hochschulen zu berichten, trauen sich oft
nicht, für ein paar Wochen in ihre Heimat zu reisen – aus Angst, nicht
mehr ins Land gelassen zu werden.
Das könnte sich fatal für eine Nation auswirken, deren Wohlstand
auch auf den Einwanderern beruht. Seit langem nämlich fehlt der heimische
Nachwuchs: Die Hälfte aller graduierten Studenten in Physik
ist nicht in Amerika geboren. Ohne Ausländer könnten Harvard, Stanford
und MIT ihre naturwissenschaftlichen Departments dicht machen.
Doch nicht nur eine für die USA eigentlich untypische Ausländerphobie
stellt die Vorherrschaft in der Wissenschaft in Frage. Zwar
wenden die USA noch immer drei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts
für Forschung und Entwicklung auf, in Europa waren es gerade
einmal zwei Prozent. Und auf 1.000 arbeitende Amerikaner kommen
neun Forscher, in der alten Europäischen Union sind es nur fünf.
Der Spitzenreiter verliert an Boden
Dennoch bröckelt es am Fundament der Spitzenstellung. Während in
den Neunziger Jahren US-Forscher fast 60 Prozent der Nobelpreise für
Physik, Chemie und Medizin gewannen, lag die Quote im neuen Jahrtausend
bei nur 50 Prozent. Auch die in den USA angemeldeten Pauniversities
see to it that partners are also provided with employment,
which complicates their pursuing double careers.
Surveys demonstrate that it is not enjoying emigrating that keeps
researchers from returning. 44 percent of the emigrants would come back
to Germany if conditions here were more favourable.
While returnees are rare enough, the odds of convincing newcomers
to Germany of its offering good standards are very slight indeed. Germany
simply isn’t an immigration country and does not see itself as one.
Researchers are given a rough deal. Even foreigners with permanent
employment are often only granted a resident’s permit for a couple of
years and have to wait ages for a permanent visa.
In contrast, America fetches the people it wants to have and manages
to recruit the best brains. At least, this is still the case for the time being.
There are mounting signs of a decline, though. In 2004, the number of
foreign students dropped for the first time since the early seventies. And
in 2003, significantly fewer visas were granted to students and visiting
and highly qualified academics. The number of visas fell from 787,000 in
2001 to 625,000.
The terrorist attacks of September 11 have left a mark on academic
relations with the USA. A male student or researcher from an Arab
country wishing to come to America will encounter considerable difficulties
in obtaining a visa. US institutions report that often enough, visiting
academics dare not go home for a couple of weeks for fear of not
being permitted re-entry.
This could prove fatal for a nation whose affluence is so dependent
on immigrants. For America has long been suffering from a dearth of
indigenous new blood. Half of all physics postgraduates were not born in
the USA. Harvard, Stanford and the MIT would have to close their science
departments down were it not for foreigners.
But it is not only xenophobia – hardly characteristic of the USA –
that threatens to end the country’s predominance in academe. True, the
USA still spends three percent of its gross domestic product on research
and development, whereas Europe barely managed to reach the two-percent
mark. And per thousand working people, America can boast nine
researchers, compared to just five in the old European Union.
A champion that is losing ground
Nevertheless, the foundations of America’s peak position have begun to
crumble. Whereas US researchers were winning almost 60 percent of the
Nobel Prizes for physics, chemistry and medicine, this rate dropped to
just 50 percent in the new millennium. Moreover, only 52 percent of the
patents applied for in the USA now come from American firms and laboratories,
compared to 56 percent in the past. And regarding the number
of publications per researcher, the USA has been relegated to 23rd position.
The reason for this apparent lack of productivity is the traditionally
high percentage of military research, which has increased since 2001
10 >> Humboldt kosmos 85/2005
Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations
tente stammen nur noch zu 52 Prozent aus amerikanischen Firmen
und Labors, früher waren es 56 Prozent. Und bei der Zahl der Publikationen
pro Forscher liegen die USA nur noch auf Platz 23. Der Grund
der scheinbar mangelnden Produktivität liegt im traditionell hohen
und seit 2001 gewachsenen Anteil militärischer Forschung, die größtenteils
als geheim klassifiziert ist. Mehr als die Hälfte des US-Forschungsbudgets
fließt in Rüstungsprojekte – Tendenz steigend. Effektiv
gesehen, müssen die Wissenschaftler in rein zivilen Projekten mit
weniger Geld auskommen. In 2005 wird – erstmals nach Jahren des
Zuwachses – der Etat für medizinische Forschung stagnieren.
Diese Umorientierung wird Amerika zu schaffen machen. Mit
weniger Geld und weniger guten Köpfen kann das Land seinen Spitzenplatz
kaum halten. Zumal die Konkurrenz die Gunst der Stunde
erkannt hat. Seit der restriktiven amerikanischen Visa-Politik machen
Länder wie Kanada und Australien kräftig Werbung für ihre Hochschulen.
Dort ist der Anteil ausländischer Studenten bereits gestiegen,
ebenso in Großbritannien. Auch Indien und China versuchen, Forscher
zurückzuholen oder durch attraktive neue Institute zum Bleiben
zu bewegen. Und wenn die Europäische Union mit ihren Plänen ernst
macht und ihre Forschungsausgaben tatsächlich erhöht, könnte sie
sich zum ernsthaften Konkurrenten der USA entwickeln.
Amerika wird auch langfristig die Folgen der Abschottung zu spüren
bekommen. Mitten im Kalten Krieg hatte Präsident Eisenhower
ein Austauschprogramm für Studenten mit der Sowjetunion vereinbart.
Er wusste, dass die jungen Russen mit amerikanischen Ideen und
Idealen in ihre Heimat zurückkehren würden. Dieser Export einer
Kultur via Bildung und Wissenschaft hat sich als erfolgreich erwiesen
– doch Amerika ist dabei, ein Erfolgsmodell aufs Spiel zu setzen.
and most of which is classified as secret. More than half the US research
budget flows into defence projects, and this share is set to grow further
still. In effect, researchers in purely civil projects are having to make do
with less money. Following years of growth, the health research budget is
to stagnate in 2005 for the first time.
This reorientation is going to create problems for America. With less
money and fewer good brains, the country will hardly be able to maintain
its leading position, especially since its rivals have already seen their
chance. Since the introduction of America’s restrictive policy on visas,
countries like Canada and Australia have been stepping up advertising
campaigns for their higher education. Percentages of foreign students
have already risen in these countries as well as in the United Kingdom.
India and China are also seeking to recover researchers or to persuade
them to stay with attractive new institutes. And once the European
Union has put its plans into action and really raised its research budget,
it could become a serious rival for the USA.
In the long run too, America is going to feel the consequences of its
isolation. Right in the middle of the Cold War, President Eisenhower
signed an agreement on an exchange programme for students with the
Soviet Union. He was aware that the young Russians would return home
with American ideas and ideals. Exporting a culture via education and
science has proved a success – but America is about to put what has
proved a successful model at stake.
11 >> Humboldt kosmos 85/2005
Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations
Interview Sven Beckert
Der Traum von Amerika und die Lust auf Europa
The American dream and a hankering for Europe
Ursprünglich wollte der Historiker Sven Beckert nur
zwölf Monate an der New Yorker Columbia University
studieren und dann nach Deutschland zurückkehren.
Doch aus einem Jahr wurden achtzehn. Nun ist Beckert
als Friedrich Wilhelm Bessel-Forschungspreisträger
erstmals für längere Zeit wieder in Deutschland. Ein
Gespräch über die Vorzüge amerikanischer Universitäten,
die Frustration deutscher Doktoranden und
die neu entdeckte Lust auf ein Leben in Europa.
>> Kosmos: Sie leben und arbeiten seit 18 Jahren in
den Vereinigten Staaten. Hat sich Deutschland in dieser
Zeit verändert?
>> Beckert: Ich muss sagen, viele Dinge gefallen mir
besser, als ich sie in Erinnerung hatte. Ich habe den Eindruck,
dass die Leute gelassener geworden sind, dass
das Land internationaler geworden ist. Auch wenn sich
das noch nicht ganz in den Universitäten widerspiegelt.
Aber im Alltag. Ich fühle mich hier sehr wohl.
>> Kosmos: Trotzdem werden sie wieder in die USA
zurückkehren. Was vermissen sie zurzeit am meisten?
>> Beckert: Die Bibliothek, meine Kollegen und insgesamt
die Arbeitsbedingungen an der Universität. Das war
es auch, was mich seinerzeit überzeugt hat, in den USA
zu bleiben. Das akademische Leben an der Universität
war offener, als ich es aus Deutschland kannte, schneller,
kosmopolitischer, es war vielfältiger. Die Betreuung
war sehr viel intensiver.
>> Kosmos: Sind die Unterschiede zwischen deutschen
und amerikanischen Universitäten inzwischen kleiner
geworden?
>> Beckert: Ein wichtiger Unterschied besteht weiter,
nämlich dass die Fachbereiche hier sehr viel kleiner
sind. An der Universität Konstanz, mit der ich neben
der Uni Freiburg am meisten zu tun habe, gibt es nur
wenige Lehrstühle für Geschichte. In Cambridge sind
wir 53 Kollegen im Fachbereich Geschichte und insgesamt
100 Historiker an der Universität. Meine Kollegen
kommen aus aller Welt. Das schafft eine Atmosphäre,
die einzigartig ist.
>> Kosmos: Gibt es Felder, auf denen die Deutschen
besser sind?
>> Beckert: Die Qualität der Doktoranden beispielsweise
ist ganz ausgezeichnet. Die sind genauso gut wie
meine Studenten in Amerika. Oft beherrschen sie mehrere
Sprachen, was bei uns in den USA ungewöhnlich
Originally, historian Sven Beckert had only intended
to study at New York’s Columbia University and then
return to Germany. But one year turned into eighteen.
Now however, as a Friedrich Wilhelm Bessel Award
Winner, Beckert is spending a longer period in Germany
for the first time again. Kosmos talked to him
about the advantages of American universities, what
frustrates German doctoral candidates and his newly
discovered enthusiasm about living in Europe.
>> Kosmos: You have been living and working in the United
States for 18 years. Has Germany changed over that period?
>> Beckert: I must say that there is a lot I like far better
than I would have previously imagined in America. My
impression is that people have become more relaxed, and
that the country has turned more international – even
though this aspect is not entirely reflected in the universities.
But it is part of everyday life. I feel very good here.
>> Kosmos: Even so, you’re going to return to the USA.
What are you missing most of all at the moment?
>> Beckert: The library, my colleagues and, quite generally,
the working conditions at the university. And that
was what persuaded me to stay in the USA at the time.
Academic life at the university was more open that what I
had been used to in Germany. It was faster, more cosmopolitan,
and offered more variety. And support by senior
academics was much more intensive.
>> Kosmos: Do German and American universities differ
less nowadays?
>> Beckert: One important difference continues to prevail
in that the departments here are much smaller. At the
University of Constance, at which I work most alongside
the University of Freiburg, there are only a few history
chairs. At Cambridge, we are 53 colleagues in the History
Department, out of a total of 100 historians at the university
all in all. This creates a unique atmosphere.
>> Kosmos: Are there fields the Germans are better in?
>> Beckert: For example, the quality of doctoral candidates
is absolutely excellent. They are just as good as my students
in America. Often, they are proficient in several languages,
which is unusual back in the USA. And at theoretical
level, their work is frequently highly sophisticated,
another aspect that would not necessarily be typical of the
USA. But at the same time, they are often incredibly
demotivated because they do not know what they will be
up to the next year.
*******
Prof. Dr. Sven Beckert
ist Historiker an der
Havard University in
Cambridge MA, USA.
Als Bessel-Forschungspreisträger
forscht er
zurzeit an der Universität
Konstanz.
*******
Prof. Dr. Sven Beckert
is a historian at Harvard
University in Cambridge
MA, USA. He is doing
research at the University
of Constance as a
Bessel Research Award
Winner.
12 >> Humboldt kosmos 85/2005
ist. Und sie arbeiten oft theoretisch sehr anspruchsvoll, was bei uns
ebenfalls nicht unbedingt typisch ist. Doch gleichzeitig sind sie oft
unglaublich demotiviert, weil sie nicht wissen, was sie nächstes Jahr
machen werden.
>> Kosmos: Zukunftsgarantien für Nachwuchswissenschaftler gibt es
in den USA auch nicht. Warum herrscht dennoch mehr Optimismus?
>> Beckert: Die Situation ist eine völlig andere. Wir nehmen eine
relativ geringe Zahl von Doktoranden jedes Jahr auf. Auf jährlich rund
17 Plätze für Doktoranden kommen vielleicht 300 Bewerber. Die
Chance ist also relativ gering, aufgenommen zu werden. Wenn Doktoranden
aber erst einmal angenommen worden sind, bekommen sie
eine garantierte finanzielle Unterstützung für fünf Jahre. Man weiß,
woran man ist und kann in dieser Zeit seinen Doktor machen. Die
Studenten wie auch die Professoren erwarten, dass danach eine akademische
Karriere einschlagen wird. Und im Großen und Ganzen
geschieht das auch. Das ist eine völlig andere Situation als hier, wo
selbst unter extrem qualifizierten Studenten die Angst, ja fast die
Überzeugung herrscht, dass es für sie keine Zukunft gibt.
>> Kosmos: Eine begründete Furcht?
>> Beckert: Ich habe den Eindruck, dass persönliche Beziehungen
hierzulande eine sehr viel größere Rolle spielen. Es gibt keinen
Arbeitsmarkt so wie wir das aus Amerika kennen, der rein auf der
Basis von Qualifikationen entscheidet. Das erhöht die Zukunftsangst.
Wer kein starkes Netzwerk hat, für den wird es extrem schwer, in den
Markt reinzurutschen.
>> Kosmos: Derzeit geht erstmals seit den siebziger Jahren die Zahl
ausländischer Studenten in den USA leicht zurück. Als möglicher
Grund werden das schlechte Image der derzeitigen Regierung und die
Folgen der Antiterrormaßnahmen diskutiert…
>> Kosmos: The USA doesn’t offer any guarantees for the future either.
So why are people more optimistic over there?
>> Beckert: The situation is completely different. We have a relatively
small intake of doctoral candidates each year. There are about 300 applicants
for what are roughly 17 places for doctoral candidates a year. So the
odds of getting one are relatively slim. But every doctoral candidate who
has been accepted is guaranteed financial support for five years. One
knows what one can expect and can concentrate on completing the doctorate
in this period. Both the students and the professors reckon with a
subsequent academic career. And by and large, this is what usually happens,
which represents a situation that is entirely different from over here. In
Germany, even among extremely qualified students, a fear, or almost a
conviction, prevails that the future holds nothing in store for them.
>> Kosmos: A justified fear?
>> Beckert: My impression is that personal relations are far more
important over here. There is no labour market that we are accustomed to
in America and that decides purely on the basis of qualifications. This
raises fear of the future. Those who can’t rely on a strong network encounter
extreme difficulties in gaining access to the market.
>> Kosmos: At the moment, for the first time since the seventies, there
has been a slight decline in the number of foreign students in the USA.
One possible reason cited for this is the current government’s poor image
and the consequences of anti-terror measures …
>> Beckert: I can only relate to my own experience. In the last few years,
the political climate partly has developed some rather frightening traits.
And I am not the only one who has perceived this as unpleasant, not to
say threatening. At least for a while, political discussions seemed to be
entirely impossible. These are influential factors that the universities cannot
completely shield themselves against. For the first time since I came to
13 >> Humboldt kosmos 85/2005
************************
„Ich habe den Eindruck, dass persönliche Beziehungen
hierzulande eine sehr viel größere Rolle spielen.“
Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations
************************
“My impression is that personal relations are far
more important over here.”
>> Beckert: Ich kann nur von meinen persönlichen Erfahrungen
sprechen. Tatsächlich hatte das politische Klima in den letzten Jahren
teilweise beängstigende Züge angenommen. Und ich bin nicht der
Einzige, der das als unangenehm oder sogar als bedrohlich empfindet.
Zumindest eine zeitlang schienen politische Diskussionen überhaupt
nicht mehr möglich zu sein. Das sind Einflüsse, von denen sich die
Universitäten nicht völlig frei halten können. Zum ersten Mal, seitdem
ich nach Amerika gekommen bin, denken Kollegen ernsthaft darüber
nach, dem Land den Rücken zu kehren.
>> Kosmos: Welche Rolle spielen die verschärften Einreisebestimmungen?
>> Beckert: Es ist tatsächlich schwieriger geworden, internationale
Gastwissenschaftler zu gewinnen, die Einreise ist ebenfalls schwieriger
geworden. Auch die Bewerbungen ausländischer Studenten sind dramatisch
zurückgegangen. Vor allem aus Ländern wie China, Indien,
Pakistan, Taiwan, Korea und aus dem Mittleren Osten. Dies erschwert
genau jene Internationalität, die bis jetzt amerikanische Universitäten
ausgezeichnet hat.
>> Kosmos: Wird Europa dadurch als Zielregion interessanter?
>> Beckert: Das könnte durchaus sein. Damit es so kommt, sollte
Europa sich aber ein Beispiel an Amerika und seiner Integrationskraft
nehmen. Für mich war das die großartigste Erfahrung. Ich bin dort
angekommen, ohne etwas über amerikanische Geschichte zu wissen.
Man hat mich aufgenommen und ausgebildet. Und jetzt kann ich als
Nichtamerikaner amerikanischen Studenten ihre eigene Geschichte
lehren, und ich bin von meinen Studenten noch nie darauf angesprochen
worden, dass ich kein Amerikaner bin. So müsste es auch in Europa
sein. Die ganze Migration von Akademikern bringt letztendlich nur
etwas, wenn es dann auch Zukunftschancen für sie in ihrem Gastland
gibt. Es ist doch nicht gesagt, dass europäische Universitäten nicht in der
Lage wären, solche Zustände zu schaffen. Europa ist trotz allen Wehklagens
noch eine der reichsten Regionen der Welt.
>> Kosmos: Der Ruf nach Eliteuniversitäten nach amerikanischem
Vorbild schallt Ihnen nicht laut genug?
>> Beckert: Man kann nicht einfach sagen, hier haben wir etwas Geld
und jetzt machen wir mal drei Eliteuniversitäten. So entstehen solche
Dinge nicht. Jede strukturelle Veränderung, jeder weitere Euro, der in
die Universitäten gesteckt wird, wird wenig Wirkung haben, wenn
nicht das Prinzip der Exzellenz im Zentrum jeder Universität steht.
Dazu gehören vor allen Dingen ein offener Arbeitsmarkt und ein offener
Wettbewerb um Studenten. Nötig wären außerdem dramatisch höhere
Ausgaben für Forschung und Bildung. Der Wettstreit um Forscher
und akademische Lehrer wird immer internationaler und immer härter.
Es gibt immer mehr Länder, die exzellente Arbeit machen und sehr
große Ressourcen in Bildung stecken. Ich glaube nicht, dass Europa
eine andere Wahl hat, als da mitzumachen.
America, some of my colleagues have seriously been considering leaving the
country.
>> Kosmos: What has the impact of the stricter immigration regulations
been like?
>> Beckert: It really has got more difficult to attract visiting academics,
so has entering the country. Also, there has been a dramatic decline in
applications filed by foreign students, above all from countries like China,
India, Pakistan, Taiwan and Korea and from the Middle East. This development
is threatenting the internationality that has been so characteristic
of American universities up to now.
>> Kosmos: Is this making Europe more interesting as a target region?
>> Beckert: That could well be the case. But in order for it to happen,
Europe ought to learn from the example that America has set and from its
ability to integrate people. This was the greatest experience I made in the
country. I arrived there without knowing anything about American
history. I was accepted and trained. And now, as a non-American, I can
teach American students their own history, and not once have any of my
students queried my not being American. That’s what things should be
like in Europe, too. At the end of the day, all this migrating of academics
can only yield something positive if it really bears prospects for them in
their host countries. Nobody says that European universities are not in a
position to create such conditions. In spite of all its moaning, Europe is
still one of the richest regions in the world.
>> Kosmos: So calls for elite universities along the lines of the American
model are not loud enough for your liking?
>> Beckert: You can’t simply say here’s the money, and now let’s set up
three elite universities. That’s not the way things work. Any structural
changes and every further euro spent on the universities will have little
impact if the principle of excellence is not at the centre of each university.
This above all includes an open labour market and open competition for
students. Further requirements would be dramatically increased expenditure
on research and education. Competition for researchers and academic
teachers is becoming more and more international and increasingly stiff.
More and more countries are turning out excellent work and investing
considerable resources in education. I don’t think Europe has any choice
but to join in.
>> Kosmos: That sounds as if at best, Europe could benefit from the
waning glory of the USA while being unable to gain credibility regarding
its own strengths…
>> Beckert: It has many strengths of its own. Take, for example, the quality
of living in Germany, and in Europe in general. There is less social inequality.
There is much public space for people to move in. Europeans
really have found a way of building towns that are a pleasure to live in.
Public spending is generous. For example, in the small place we live in,
there is a wonderful public swimming pool that costs you, I believe, 1.50
euro to use. So you don’t have to pay hundreds of dollars to become a
14 >> Humboldt kosmos 85/2005
************************
„Immer wenn ich mit unseren Kindern hier in Deutschland
im Bus oder im Zug unterwegs bin, werden wir mehr oder
weniger ignoriert. Vielleicht hätten wir statt der Kinder
einen Hund mitbringen sollen.“
Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations
************************
“Whenever I travel by bus or train with our children here
in Germany, we are virtually ignored. Maybe we should
have brought a dog along instead of our children.”
>> Kosmos: Das klingt, als könne Europa allenfalls von der nachlassenden
Strahlkraft der USA profitieren, aber nicht mit eigenen Stärken
überzeugen…
>> Beckert: Es gibt viele eigene Stärken. Etwa die Lebensqualität in
Deutschland und in Europa überhaupt. Es gibt weniger soziale Ungleichheit.
Es gibt viel öffentlichen Raum, in dem man sich bewegen kann.
Europäer haben wirklich einen Weg gefunden, Städte zu bauen, die
angenehm zum Leben sind. Es gibt eine freigiebige öffentliche Hand.
In dem kleinen Ort, in dem wir wohnen, gibt es beispielsweise ein
wunderbares öffentliches Schwimmbad, das, glaube ich, 1,50 Euro Eintritt
kostet. Man muss also nicht Hunderte von Dollar bezahlen, um Mitglied
eines privaten Schwimmclubs zu werden. Es gibt hier eine wunderbare
Jugendmusikschule, die für amerikanische Verhältnisse fast umsonst
ist. Das sind weiche Standortfaktoren, die sehr stark für Deutschland
und Europa sprechen. Natürlich kann man in den USA auch sehr
angenehm leben. Aber man braucht verdammt viel Geld dafür.
>> Kosmos: Sie haben zwei Kinder – sieben und fünf Jahre alt. Was
haben sie am meisten an Amerika vermisst, jetzt in der Zeit, die sie hier
sind? Was wird ihnen an Deutschland fehlen?
>> Beckert: Die amerikanische Gesellschaft ist viel stärker auf Kinder
bezogen als die deutsche. Und ich glaube, so ein bisschen vermissen die
Kinder das. Immer wenn ich beispielsweise mit unseren beiden Kindern
hier in Deutschland im Bus oder im Zug unterwegs bin, werden wir mehr
oder weniger ignoriert. Es ist noch nicht passiert, dass irgendjemand
geschimpft hat, wenn die Kinder über die Sitze gesprungen sind. Aber
es ist uns auch noch nicht passiert, dass positiv auf die Kinder eingegangen
wird. In Amerika ist es genau das Gegenteil: ich habe noch nie
so viele Leute kennen gelernt, wie wenn ich mit den Kindern unterwegs
bin. Einer spricht dich immer an. Meiner Frau fällt das besonders auf.
Es ist gespenstisch. Egal was passiert, alle Leute gucken aus dem Fenster.
>> Kosmos: Über Haustiere kommt man meist leichter ins Gespräch…
>> Beckert: Ja, vielleicht hätten wir statt der Kinder einen Hund mitbringen
sollen … Aber es gibt ja auch jede Menge Positives: die guten
öffentlichen Schulen mit Schülern aus allen möglichen sozialen Hindergründen.
Mit Eltern, die alle ein Interesse an der Bildung ihrer Kinder
haben, aber nicht diesen extremen Druck auf ihre Kinder ausüben wie
oft in Amerika. Die Kinder können hier viel mehr alleine machen,
alleine in die Stadt gehen, alleine Ball spielen – Dinge, wie sie in Amerika
völlig ausgeschlossen sind.
>> Kosmos: Wo sehen Sie die Zukunft Ihrer Kinder. Werden sie eines
Tages in Europa sein oder in den USA? Was würden Sie Ihnen wünschen?
>> Beckert: Ich würde Ihnen wünschen, dass sie nach Europa gehen –
auf jeden Fall. Allerdings, wenn ich das bei meinen Kollegen beobachte,
die aus anderen Regionen der Welt kommen, läuft es meist anders. Die
Kinder bleiben dort, wo sie aufwachsen, das ist ihre Heimat. Und die
Eltern bleiben auch. Schließlich wollen sie bei ihren Kindern sein.
member of a private swimming club. There is a wonderful music school
for young people here that, compared to American conditions, is virtually
free of charge. These are soft locational factors that speak very much in
favour of Germany and Europe. Of course you can also lead a very pleasant
life in America. But you need a damned lot of money for that.
>> Kosmos: You’ve got two children – seven and five years old. What do
they miss most now that they are not in America? And what are they
going to miss when you leave Germany?
>> Beckert: American society is far more child-centred than German
society is. And I think this is something the children miss a little. For
instance, whenever I travel by bus or train with our two children here in
Germany, we are virtually ignored. True, nobody has ever complained
about the children romping about on the seats. But nobody has ever given
them any positive attention, either. This is just the other way round in
America. I have never got to know more people than when travelling with
our children. Someone will always start a chat. My wife notices this in
particular in Germany. It is uncanny. No matter what happens, everyone
will just stare out of the window.
>> Kosmos: Pets are usually a better way to start a conversation…
>> Beckert: Yes, maybe we should have brought a dog along instead of
our children … But of course there are several positive aspects as well: the
good public schools with pupils from all sorts of social backgrounds, and
parents who are all keen to see their children educated but are not putting
them under extreme pressure, which is so often the case in America. Here,
children can do a lot more on their own. They can go to town on their
own, play ball on their own – things that would be out of the question in
America.
>> Kosmos: Where do you see a future for your children? Will they one
day be in Europe or in the USA? What would you wish them?
>> Beckert: I would wish them to go to Europe – period. But when I look
at how things develop with my colleagues coming from other parts of the
world, this usually turns out to be different. The children stay where they
are growing up. That is their home. And the parents stay as well. After all,
they want to be together with their children.
15 >> Humboldt kosmos 85/2005
Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations
Denis-Didier Rousseau
Den steinernen Schnecken auf der Spur
In search of the stone snails
Es gibt ihn noch, den Forschungsreisenden, der auf
den Spuren Humboldts die Erdteile bereist und dort zu
Hause ist, wo er sein Zelt aufschlägt. Der französische
Paläontologe Denis-Didier Rousseau berichtet von
seiner Arbeit.
Yes, he really does still exist: the travelling researcher
tracing the tracks of Humboldt around the world and
feeling at home wherever he happens to pitch his
tent. French palaeontologist Denis-Didier Rousseau
gives an account of his work.
Wie kann den Wissenschaftlern auf die Sprünge geholfen
werden, fragt sich das zusammenwachsende Europa.
Forschermobilität ist zurzeit ein heißes Thema. Dabei
zeigt ein Blick auf das Leben Alexander von Humboldts
und vieler anderer wissenschaftlicher Größen der Vergangenheit,
dass Forscher eigentlich schon immer
mobil gewesen sind. Die Arbeit eines Naturforschers ist
gar nicht anders denkbar. Gerade als Paläontologe
bleibt einem kaum anderes übrig, als sein Forschungsmaterial
vor Ort zu suchen. Auch deshalb, weil Fossilien
oft nur in ihrer unmittelbaren Umgebung richtig
eingeordnet werden können und ihrem Entdecker ihr
Geheimnis offenbaren.
Seit meiner Doktorarbeit bin ich so ständig landauf
landab durch zahlreiche Regionen und Länder gereist.
Dabei habe ich mich auf fossile Gemeinschaften von
landlebigen Weichtieren spezialisiert. Einfacher gesagt:
auf Schnecken, die vor 2,5 Millionen Jahren gelebt
haben. Besonders spektakuläre Geschöpfe sind sie
nicht gerade, zugegeben. Und natürlich wird ihnen
weit weniger Medieninteresse zuteil als den berühmten
Dinosauriern oder fossilen Hominiden. Doch sie
ermöglichen eine sehr getreue Nachbildung der fossilen
Umgebungen, die den Klimawandel auf der Erde
abbilden. Sie kommen in großer Zahl im Löss vor,
einem durch Wind transportierten Sediment, das wie
ein paläontologisches und paläoklimatisches Archiv ist.
Derzeit gibt es auf der Welt nur sehr wenige Experten
auf diesem Gebiet. Der Austausch mit Kollegen wird
dadurch schwieriger. Andererseits kann man ohne
Sorge um Konkurrenten seine Einsatzorte frei aussuchen.
Ob in Europa, China oder in den USA – man geht
dahin, wo die Schnecken sind.
Arbeiten am Seil
Die Gebiete sind meist leicht zugänglich, doch die Fossilien
nicht. Um 15 Kilogramm Material aus einem
zehn Zentimeter dicken Sediment zu gewinnen, ist
intensive Vorarbeit nötig. Auf einer Aufschlussfläche
von etwa zehn Quadratmetern wird das Sediment
A Europe growing together is asking itself how scientists
can be given a helping hand. Mobility is a hot issue
nowadays. And yet a glance at the lives of Alexander von
Humboldt and many other leading lights in sciences in
the past shows that researchers have in fact always been
mobile. Indeed, the work of a natural researcher would
be inconceivable without mobility. A palaeontologist in
particular has hardly any other option but to seek his
object of research on location. This is also the case
because, often enough, fossils can only be properly classified
and will only reveal their secrets to their discoverer
in their immediate environment.
So since I completed my doctorate, I have constantly
been travelling around in several regions and countries.
My speciality is fossil communities of terrestrial molluscs.
Or to put things in simpler terms, snails that lived
2.5 million years ago. Admittedly, these aren’t especially
spectacular creatures. And of course they attract far less
media attention than the famous dinosaurs or fossil
hominids. However, they enable the development of a
very true-to-live replica of the fossil environments which
reflect climate change on Earth. They occur in large
numbers in loess, a sediment transported by wind that
serves as a palaeontological and palaeoclimatical archive.
Today, there are only a handful of experts in this area
throughout the world, which makes exchanging information
among colleagues rather difficult. On the other
hand, one is free to seek one’s location of assignment
without having to worry about any rivals. Whether it is
Europe, China or the USA – you go wherever the snails
happen to be.
Hanging from a rope to work
Usually, the regions are easily accessible, whereas the fossils
are not. Intensive preparations are required to gain
15 kilogrammes of material from a sediment with a
thickness of ten centimetres. In an outcrop area of about
ten square metres, the sediment is removed by hand
down to a depth of half a metre. Machines would destroy
the image of the geological layers. This is why we use
*******
Professor Dr. Denis-Didier
Rousseau ist Paläontologe
an der Universität von
Montpellier und am
CNRS Frankreich.
Im Jahr 2005 wurde er
mit dem Humboldt-
Forschungspreis
ausgezeichnet.
*******
Professor Dr. Denis-Didier
Rousseau is a palaeontologist
at the University of
Montpellier and CNRS,
France. In 2005, he
received the Humboldt
Research Award.
16 >> Humboldt kosmos 85/2005
Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations
Oft befinden sich die Versteinerungen in schwindelnder Höhe.
Rousseau und seine Kollegen arbeiten wie Bergsteiger an Seilen.
Often, the fossils are in dizzying heights. Rousseau and his
colleagues have to use ropes, like mountaineers do.
18 >> Humboldt kosmos 85/2005
************************
„Zu den körperlichen Anstrengungen kommen andere
Unannehmlichkeiten wie Schlangen, giftige Pflanzen,
die Gefahr der Dehydrierung oder von Erdrutschen.“
Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations
************************
“The physical effort is accompanied by other inconveniences
such as snakes, poisonous plants, the danger of
dehydration and landslides.”
einen halben Meter in die Tiefe von Hand abgetragen. Maschinen
würden das Bild der geologischen Schichten zerstören. Zum Einsatz
kommen daher Spachtel oder selbst gebastelte Werkzeuge. Oft sind die
zu untersuchenden Wände völlig senkrecht, und wir arbeiten wie
Bergsteiger an Seilen.
So gewinnt man Spachtelstich um Spachtelstich Tonnen an Sedimenten.
Doch davon ist noch kein einziges Schneckengehäuse freigelegt.
In den weiten amerikanischen Prärien oder chinesischen Ebenen
führt dies zu einem großen Problem. Denn oft gibt es in der Nähe der
Forschungsstätte keine Wasserstelle, um die Sedimentproben zu säubern.
Doch an Ort und Stelle reinigen muss man sie, denn es würde
ein Vermögen kosten, alle Proben in ein Labor zu bringen, um sie dort
aufzubereiten. Also braucht man nichts weiter als ein kleinmaschiges
Sieb und – sehr viel Wasser. In den USA hatten mein Kollege und ich
das Glück, dass uns der Besitzer des Landes, auf dem wir arbeiteten,
regelmäßig ein Bassin füllte, das vor vielen Jahren einmal als Wassertrog
für Kühe gedient hatte. So waren wir eine ganze Woche damit
beschäftigt, irgendwo im tiefsten Nebraska unsere Proben über eine
Viehtränke gebeugt in ein paar Kubikmeter Wasser zu waschen. Die
Einheimischen fragten sich, was wohl diese beiden Franzosen an
einem so verlassenen Ort verloren hatten!
Fünf Tonnen auf unseren Rücken
In China mussten wir hingegen ein kleines Becken bauen, welches
auch mehrere Kubikmeter Wasser fasste, aber jede Nacht geleert werden
musste, um zu vermeiden, dass die Plastikabdeckung darauf
gestohlen wurde. Hier untersuchen wir eine Sedimentablagerung, die
insgesamt 132 Meter tief ist. Bislang haben wir gerade einmal 35 Meter
geschafft und jüngere fossile Gemeinschaften aus den letzten 470.000
Jahren zutage gebracht. Ungefähr 5,25 Tonnen Sediment dürften wir
dabei auf unseren Rücken hoch zum Sammelplatz geschleppt haben.
Zu den körperlichen Anstrengungen kommen andere Unannehmlichkeiten
wie Schlangen, giftige Pflanzen, die Gefahr der Dehydrierung
oder von Erdrutschen. Viel Aufwand, den man einer Veröffentlichung
in einer internationalen Fachzeitschrift nicht ansehen kann.
Doch die Arbeit in der Natur entschädigt beinah alles. Jedes Mal
wenn ich in Luochuan im Zentrum von China ankomme, fühle ich
mich wie ein Herrscher im eigenen Garten. Als Forschungswanderer
lerne ich andere Menschen, Kulturen und Landschaften kennen. Eine
persönliche Bereicherung, auf die ich um nichts in der Welt verzichten
möchte und die mich lehrt, in meiner Arbeit demütig zu bleiben und
die kleinen Probleme im Labor oder im alltäglichen Leben zu relativieren.
Und was kann es Angenehmeres geben, als die Schönheit der
Landschaften, die Arbeit vor Ort und die Begegnung mit anderen
Gesellschaften zu verbinden – und in aller Bescheidenheit in den Spuren
von Forschern wie Alexander von Humboldt zu wandern.
spatulas or tools we have made ourselves. Often, the walls we examine
are dead vertical, and we work with ropes just like mountaineers.
Thus, the cuts of the spatula eventually add up to tons of sediments.
But all this still hasn’t exposed a single snail’s shell. In the wide expanses
of the American prairies or Chinese gullies, this results in a big problem.
For often, there are no water sources near the research location to clean
the sediment samples. But they have to be cleaned on site, for bringing all
the samples to a laboratory in order to prepare them there would cost a
fortune. So all what is needed is a fine sieve and – lots of water. In the
USA, my colleague and I were lucky enough for the owner of the land we
were working on to regularly fill up a pool that had served as a water
trough for cows many years ago. Thus it took us a whole week bending
over a cattle trough to wash our samples in a few cubic metres of water
somewhere in deepest Nebraska. The locals were asking themselves what
these two Frenchmen were doing in such a remote place!
Five tons on our backs
In China, however, we had to build our own little basin that really did
hold several cubic metres of water but had to be emptied each night to
prevent the plastic cover on it from being stolen. Here, we are examining
deposits of sediment that is 132 metres deep in total. So far, we have
managed a mere 35 metres from the top yielding the younger mollusc
assemblages from the last 470,000 years. We have probably carried about
5.25 tons of sediment on our backs up to the place where we collect it. The
physical effort is accompanied by other inconveniencies such as snakes,
poisonous plants, the danger of dehydration and landslides. You have to
put up with a lot, but nobody will notice this when reading about the
results published in an international specialist journal.
However, working in a natural environment makes up for almost
everything else. Each time I arrive at Luochuan in Central China, I feel
like the master of my own garden. As a research wanderer, I get to know
other people, cultures and landscapes. This is a personal enrichment I
would not like to miss for anything in the world and that teaches me to
stay humble in my work and put the little problems at the laboratory or
in everyday life into perspective. And what could be more pleasant than
to link up the beauty of the landscapes with the work on site and encounters
with other societies – and, with all due modesty, to wander in the
tracks of researchers like Alexander von Humboldt.
19 >> Humboldt kosmos 85/2005
Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations
Interview Carlos Huneeus
Wissenschaftler an die Macht
Power to the academics
Der chilenische Politikwissenschaftler Carlos Huneeus
war der erste Botschafter der Regierung Aylwin in
Deutschland. Ein Gespräch über die Wanderung zwischen
Politik und Wissenschaft.
The Chilean political scholar Carlos Huneeus was
the first Ambassador of the Aylwin administration
in Germany. Kosmos talked to him about his moving
between politics and science.
>> Kosmos: Sie haben jahrelang als Wissenschaftler
gearbeitet, bevor Sie in die Politik wechselten und Diplomat
wurden. Was dachte damals der politische Theoretiker,
als er es plötzlich mit der Praxis zu tun bekam?
>> Huneeus: Ich begriff, wie wenig wir Wissenschaftler
auf diese Rolle vorbereitet waren. Ich war ja nicht der
Einzige. Viele weitere Kollegen, Politikwissenschaftler
und Juristen, wurden Mitarbeiter der ersten demokratischen
Regierung. Doch was wir tun sollten, wenn wir an
die Macht kommen, diese Frage hatten wir uns nie
gestellt. In der Politik wurde mir deutlich, dass wir als
Wissenschaftler manchmal in einer Welt arbeiten, die
überhaupt nichts mit der Realität zu tun hat. Ich sah
die Leistung der Politikwissenschaft mit einem Mal kritischer.
Nicht nur mit Blick auf Chile, sondern auch in
den etablierten Demokratien.
>> Kosmos: Nach vier Jahren als Botschafter gingen
Sie zurück in Ihren Beruf als Wissenschaftler. Was vermissten
Sie aus Ihrer Zeit als Diplomat?
>> Huneeus: Der Übergang war nicht hart, weil ich
diese Tätigkeit immer als eine vorübergehende betrachtet
hatte. Mein Beruf ist die Wissenschaft. Doch
ein wenig vermisste ich es, einfach zuzupacken und zu
handeln, Entscheidungen zu treffen, die Auswirkungen
haben. Ich fand es gut, diese Erfahrung gemacht zu
haben und würde meinen Kollegen raten, einmal die
Straßenseite zu wechseln und in der Politik zu arbeiten.
Aber die Möglichkeiten sind natürlich begrenzt.
>> Kosmos: Wie Sie als Humboldt-Stipendiat waren
auch andere chilenische Wissenschaftler während der
Pinochet-Diktatur als Gastwissenschaftler in Heidelberg.
Aus dieser Generation sind später viele in den diplomatischen
Dienst gegangen oder bekleideten hochrangige
Stellen in der neuen Regierung. War der Wechsel auf
die andere Straßenseite damals leichter?
>> Huneeus: Allerdings. Die neue Regierung brauchte
dringend akademisches Personal. 17 Jahre Diktatur sind
eine lange Zeit. Der Staat war sehr schwach. Die Positionen
waren immer noch von Leuten besetzt, die in
der Diktatur gearbeitet hatten. Die Parteien waren in
einer relativ kurzen Zeit an die Macht gekommen und
>> Kosmos: Before switching over to politics and becoming
a diplomat, you worked as a scholar for years.
What did the political theorist think at the time, when he
was suddenly confronted with practical issues?
>> Huneeus: I realised how little we scholars had been
prepared for this role. After all, I wasn’t the only one. Many
other colleagues, political scholars and jurists, became
staff of the first democratic government. But we had never
asked ourselves what we would be expected to do once we
took office. In politics, I became aware that as scholars, we
sometimes work in a world that has nothing whatsoever
to do with reality. All at once, I was more critical of what
political science actually performs. Not only with a view
to Chile, but also in the established democracies.
>> Kosmos: After four years as an ambassador, you
returned to your profession as a scholar. What have you
missed from your period as a diplomat?
>> Huneeus: Transition wasn’t tough because I had
always regarded this activity as a temporary one. My profession
is science. However, I did slightly miss simply tackling
issues and acting, making decisions that have an
impact. I thought it was a good thing that I had gathered
this experience and would advise my colleagues to take a
walk on the other side of the street for once and work in
politics. But of course the possibilities are limited.
>> Kosmos: Just like you as a Humboldt Fellow, other
Chilean academics were in Heidelberg as visiting academics
during the Pinochet dictatorship. Many of this generation
later entered diplomatic service or assumed leading
positions in the new government. Was crossing over easier
at the time?
>> Huneeus: It certainly was. The new government was
in urgent need of academic staff. 17 years of dictatorship
is a long time. The state was very weak. People were still
in government positions who had previously worked for
the dictatorship. The parties had assumed power within a
relatively short period and had not had enough time to
develop their own political staff. By the way, I am the only
member of this circle who returned to the academic world.
All the others stayed in politics.
>> Kosmos: Were academics the better politicians?
*******
Professor Dr. Carlos
Huneeus ist Politologe
an der Pontificia Universidad
Católica de Chile
in Santiago, Chile.
1988 wurde ihm ein
Humboldt-Forschungsstipendium
verliehen,
das ihn an die Universität
Heidelberg führte.
Von 1990 bis 1994 war
er Botschafter Chiles in
Bonn.
*******
Professor Dr. Carlos
Huneeus is political
scholar at the Pontificia
Universidad Católica de
Chile in Santiago, Chile.
He was granted a
Humboldt Research
Fellowship in 1988 that
brought him to the
University of Heidelberg.
From 1990 to 1994 he was
Chilenian Ambassador in
Bonn.
20 >> Humboldt kosmos 85/2005
************************
„In der Politik wurde mir deutlich, dass wir als Wissenschaftler
manchmal in einer Welt arbeiten, die überhaupt
nichts mit der Realität zu tun hat.“
Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations
************************
“In politics, I became aware that as scholars, we sometimes
work in a world that has nothing whatsover to do
with reality.”
hatten keine Zeit gehabt, eigenes politisches Personal
aufzubauen. Ich bin übrigens der Einzige aus diesem
Kreis, der zurück in die Wissenschaft gegangen ist. Die
anderen sind in der Politik geblieben.
>> Kosmos: Waren Wissenschaftler die besseren Politiker?
>> Huneeus: Sie passten ins Profil. Die damaligen politischen
Akteure, Präsident Aylwin und auch andere,
wollten junge Leute, die im Ausland promoviert hatten.
Mehr als die Hälfte der Minister der ersten demokratischen
Regierung hatten in den USA, Großbritannien,
Frankreich, Deutschland und anderen Ländern promoviert.
Das waren qualifizierte Leute.
>> Kosmos: Woher rekrutiert sich heute die politische
Führungsgruppe in Chile? Der Anteil junger Wissenschaftler
ist zurückgegangen.
>> Huneeus: Ja, heute rekrutiert sich das Personal
überwiegend aus den Parteien. Es ist ein ziemlich geschlossenes
System, was problematisch ist. Aber der Präsident
rekrutiert nach wie vor auch Seiteneinsteiger aus
der Wissenschaft und anderen Berufen. Es gibt also
immer noch eine Mischung.
>> Kosmos: Wissenschaftler an die Macht. Heißt so
das Modell für erfolgreiche Demokratiebildung?
>> Huneeus: Bei uns hat es jedenfalls ganz gut funktioniert.
Dieser Ansatz unterschied sich jedenfalls sehr,
beispielsweise von unserem Nachbarn Argentinien. Die
erste demokratische Regierung dort hatte die führenden
Positionen überwiegend mit alten Politikern besetzt
und nicht mit politisch erfahrenen Akademikern
oder Technokraten. Das ist vielleicht einer der Gründe,
warum wir in Chile eine bessere Entwicklung gehabt
haben.
>> Huneeus: They had the right profile. The political
actors of the time, President Aylwin and others as well,
wanted young people with a PhD from abroad. More
than half of the ministers in the first democratic government
had done their doctorate in the USA, the UK,
France, Germany and other countries. They were qualified
people.
>> Kosmos: Where does today’s political leadership in
Chile recruit itself from? The share of young academics
has declined.
>> Huneeus: Yes, nowadays staff are recruited mainly
from the parties. It is rather a closed shop, which does present
problems. However, the president will still recruit
people coming in through the back door from academic
and other professions. So it is still a mixed bag.
>> Kosmos: Power to the academics. Is that the right
model for successful democratisation?
>> Huneeus: At any rate, it worked quite well at home.
This approach differed considerably from our neighbour,
Argentina, for example. The first democratic government
there had staffed the senior positions mainly with old
politicians rather than with politically experienced academics
or technocrats. Perhaps that is one of the reasons
why we can look back on more favourable developments
in Chile.
21 >> Humboldt kosmos 85/2005
Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations
Barbara Sheldon
Das Geheimnis der fehlenden Forscher
The secret of the missing researchers
Europa gehen die Wissenschaftler aus – schätzt die
EU und will die Mobilität von Forschern fördern. Doch
gesicherte Zahlen über die Wanderbewegungen in,
nach und aus Europa gibt es nicht.
Europe is running out of researchers – says the EU
and seeks to promote the mobility of scientists and
scholars. However, reliable figures on migrations in,
to and from Europe are not available.
Europa hat ein Problem: Es fehlt an Forschern – so die
Einschätzung von Experten der Europäischen Kommission.
Es klingt dramatisch: 700.000 neue Forscher
müssen nach Vorstellung der EU bis 2010 zu der bisher
knapp einen Million Forscher in Europa hinzukommen,
um den „dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum
der Welt“ entstehen zu lassen. Das zurzeit
verhandelte 7. Forschungsrahmenprogramm der EU
soll hierfür mehr Geld und verbesserte Instrumente
bereitstellen. Die Zauberformel lautet Mobilität. Weltweit
und in Europa sollen sich die Forscher in Bewegung
setzen.
Was aus der Brüsseler Vogelperspektive einleuchtend
ist, sieht in der Praxis mitunter anders aus. So
freuen sich Universitäten und Forschungseinrichtungen
nur eingeschränkt, wenn es ihre besten Wissenschaftler
an eine andere Einrichtung oder in ein anderes
Land zieht. Zu groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass
besonders qualifizierte Forscher nicht zurückkehren, es
eben doch zu einem „Braindrain“ und nicht zu der von
Brüssel euphemistisch „brain circulation“ genannten
Bewegung kommt. Um frisch rekrutierte Höchstqualifizierte
aus dem Ausland dauerhaft zu halten, also von
weiterer Mobilität abzuhalten, hat die Eidgenössische
Technische Universität (ETH) Zürich eine Infrastruktur
für die Betreuung der Partner von Forschern
geschaffen. Ob Forscher an einem Ort bleiben, hängt
eben oftmals auch mit der Zufriedenheit im privaten
Umfeld zusammen.
Rotes Tuch für Praktiker
Gerade die geforderte Zahl von zusätzlich 700.000 Forschern
– eine Mischung aus Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung
sowie zum Bedarf an klugen Köpfen
in der angestrebten Wissensgesellschaft – ist ein rotes
Tuch für viele, die mit der Realität mobiler Forscher zu
tun haben. In den Verwaltungen von Universitäten und
Forschungseinrichtungen sieht man sehr genau, dass es
an Stellen, Geldern, Ausstattung und vielem mehr fehlt
und auch die Betreuungsinfrastruktur schon für die
derzeitigen internationalen Forscher im Argen liegt. Da
Europe has a problem. According to estimates made by
experts of the European Commission, there is a dearth of
researchers. It all sounds rather dramatic. The EU has
worked out that 700,000 new researchers would have to
join the just under a million researchers in Europe in
order to enable the development of the “most dynamic
knowledge-based economic area in the world”. The EU’s
7th Research Framework Programme, which is currently
being negotiated, is to provide more money and improved
instruments to this end. The magic formula here is
mobility. World-wide as well as in Europe, the researchers
are expected to get going.
What makes sense from the Brussels bird’s-eye perspective
may well look rather different in practice. Universities
and research institutions are not that pleased
when their best scientists and scholars feel attracted by
another institution or another country. The probability
that specially qualified researchers will not return and
the “brain drain” has materialised after all instead of
what Brussels euphemistically calls “brain circulation” is
simply too great. In order to retain freshly recruited peak
scientists and scholars from abroad, i.e. to prevent further
mobility, the Swiss Federal Institute of Technology
(ETH) Zurich has created an infrastructure for the welfare
of the partners of researchers. Satisfaction with private
life often happens to be crucial to whether researchers
will stay in a certain place.
What makes practitioners see red
The requested number of an additional 700,000 researchers
– a mixture of forecasts on demographic development
and on the demand for brains in the envisioned
knowledge society – makes many of those coping with the
reality of mobile researchers see red. Officials in the
administrations of universities and research institutions
have a very clear perception of the lack of positions, funding,
equipment and a lot of other things and are aware
that support infrastructure for today’s international
researchers is at sixes and sevens as well. Against this
background, it is difficult to conceive what benefits more
mobility should offer or how the mass of researchers
*******
Dr. Barbara Sheldon
leitet das Deutsche
Mobilitätszentrum
(www.eracareersgermany.de)
bei der
Alexander von
Humboldt-Stiftung
in Bonn.
*******
Dr. Barbara Sheldon
heads the German
Mobility Centre
(www.eracareersgermany.de)
at the
Alexander von Humboldt
Foundation in Bonn.
22 >> Humboldt kosmos 85/2005
23 >> Humboldt kosmos 85/2005
************************
„Bei manchen Forschern würde man sich allerdings
freuen, wenn sie mobil wären und die Institution
wieder verlassen würden.“
Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations
************************
“There are some researchers one would really
be glad to see mobile so that they would leave the
institution again.”
ist es schwer vorstellbar, worin die Vorteile von mehr
Mobilität liegen, oder wie man mit der Masse der erhofften
Forscher umgehen soll.
Verlässliche Angaben, wie viele Forscher aus Drittländern
sich tatsächlich zu einem gegebenen Zeitpunkt
in Europa aufhalten – als Stipendiaten, Arbeitnehmer,
Selbstzahler, Besucher – fehlen weitgehend. Aufschluss
könnte vielleicht einmal das derzeit diskutierte „Europäische
Forschervisum“ liefern, das Wissenschaftlern
aus Nicht-EU-Ländern die Einreise nach Europa erleichtern
soll. Doch zurzeit weiß man oftmals nicht
einmal an den Akademischen Auslandsämtern von Universitäten
in Deutschland, wie viele und welche Gastwissenschaftler
sich zu einem bestimmten Zeitpunkt
an der Einrichtung aufhalten. So sind die von den deutschen
Forschungsförderern, darunter der Alexander
von Humboldt-Stiftung, in der vom Deutschen Akademischen
Austauschdienst (DAAD) herausgegebenen
Studie „Wissenschaft weltoffen“ veröffentlichten Zahlen
immer noch der verlässlichste Indikator für Forschermobilität.
Hiernach wurden im Jahr 2003 die Aufenthalte
von über 20.000 ausländischen Wissenschaftlern
in Deutschland und rund 5.300 deutschen Wissenschaftlern
im Ausland von deutschen Förderorganisationen
finanziell unterstützt. Das bedeutet bei den ausländischen
Forschern gegenüber dem Vorjahr eine Steigerung
um zweieinhalb Prozent.
Die Wirtschaft lockt
Dem Europäischen Forschungsraum stehen aber nach
wie vor Probleme entgegen. Nicht nur erschweren administrative
Hürden und Probleme mit den nationalen
Sozialversicherungen den Wechsel zwischen einzelnen
EU-Ländern. Auch ist in vielen Ländern der Forscherberuf
nicht attraktiv genug. Hoch qualifizierte Nachwuchswissenschaftler
ziehen im Zweifel eine gut bezahlte
Karriere in der Wirtschaft dem ungewissen Dasein
als Wissenschaftler vor. Mit einer großen PR-Kampagne
will die Europäische Kommission deshalb ab
Mitte 2005 europaweit mit einer „Nacht der Wissenschaft“
und anderen Initiativen für den Beruf „Forscher“
werben.
Zu solchen PR-Aktionen kommen handfestere europäische
und nationale Initiativen wie die „Forschercharta“.
Im März 2005 erging sie als Empfehlung der
Europäischen Kommission an die Mitgliedstaaten, an
hoped for would be dealt with.
Reliable statements on how many researchers from
third-party countries are actually present in Europe at a
given moment – as fellows, employees, self-supporting,
visitors – are largely unavailable. One day, perhaps, the
“European Researcher Visa”, which is currently being
discussed and is aimed at facilitating visits of academics
from non-European Union countries, could clarify this
issue. But at the moment, even the officials at the foreign
students' advisory offices of universities in Germany are
often not aware of how many and which visiting academics
are at an institution at a certain time. Thus the
figures published by the German research funding organisations,
including the Alexander von Humboldt Foundation,
in the survey “Wissenschaft weltoffen”, edited by
the German Academic Exchange Service (DAAD), are
still the most reliable indicators of mobility among
researchers. According to this survey, visits of more than
20,000 foreign academics to Germany and around 5,300
German academics abroad were financially supported
by German funding organisations in 2003. Among the
foreign researchers, this represents an increase of 2.5 percent
compared to the previous year.
Tempted by industry
However, the European Research Area is still facing problems.
Not only are administrative hurdles and problems
with the national social insurances complicating moving
among individual EU countries. In many countries, an
academic career is simply not attractive enough. If it
comes to the crunch, highly-qualified junior scientists
and scholars will prefer a well-salaried career in industry
to the insecure life of an academic. This is why the European
Commission intends to launch a major pan-European
PR campaign in mid-2005 drawing attention to
a career as a researcher with a “Night of Science” and
other initiatives.
Such PR campaigns are joined by more down-toearth
European and national initiatives such as the
“Charter for Researchers”. It was submitted as a European
Commission recommendation to the member
states, employers, research institutions and researchers
in March 2005. It is a minimum catalogue of rights and
duties of researchers and, above all, of employers and
funding organisations. The German Immigration Act
which has been in force since January 2005 and is aimed
24 >> Humboldt kosmos 85/2005
Arbeitgeber, Forschungseinrichtungen und Forscher. Sie ist ein Minimalkatalog
von Rechten und Pflichten von Forschern, aber vor allem
auch von Arbeitgebern und Förderern. Auch das deutsche Zuwanderungsgesetz,
das seit Januar 2005 Hochqualifizierten den Einstieg in
den deutschen Arbeitsmarkt ermöglichen soll und beispielsweise ausländischen
Hochschulabsolventen ein Jahr Zeit für die Arbeitssuche in
Deutschland einräumt, ist eine konkrete Maßnahme, die die Situation
mobiler Forscher verbessern soll.
Die Öffnung der europäischen Förderprogramme für nicht-europäische
Forscher, die Initiativen zum Abbau von Problemen im
Zusammenhang mit Aufenthalten in einem anderen Land, die Informationskampagnen,
die den „Forschungsstandort Europa“ anpreisen,
die parallel laufenden Aktivitäten auf nationalstaatlicher Ebene –
Europa tut viel, um für mobile Forscher attraktiv zu sein und das tatsächliche
oder vermeintliche Schreckgespenst von einem möglichen
Forscherdefizit abzuschütteln. Doch auch gegen die realen Schrecken
im Hier und Jetzt kann mehr Beweglichkeit nur helfen, so die Auslandsbeauftragte
eines deutschen Forschungsinstituts: „Bei manchen
Forschern würde man sich richtig freuen, wenn sie mobil wären und
die Institution wieder verlassen würden.“ Über geplante EU-Programme
zur Mobilitätsförderung speziell für unqualifizierte Wissenschaftler
ist allerdings bislang nichts bekannt.
at enabling better access to the German labour market for highly qualified
people coming from abroad, granting, for example, foreign graduates
from higher education a year’s time to find a job in Germany, is a
further concrete measure intended to improve the situation of mobile
researchers.
Opening up the European funding programmes to non-European
researchers, initiatives to eliminate problems in the context of visits
abroad, information campaigns promoting “Europe as a research location”,
parallel activities at national state level – Europe is indeed doing a
lot to be attractive for mobile researchers and get rid of the real or supposed
spectre of a possible dearth of researchers. But even the true nuisances
here and now can only be remedied by more mobility, says the foreign
affairs official of one German research institute: “There are some
researchers one would really be glad to see mobile so that they would
leave the institution again.” However, no information has so far been
released on planned EU programmes to specially promote mobility
among unqualified academics.
25 >> Humboldt kosmos 85/2005
Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations
Interview Irena Lipowicz
Mittendrin – was für eine Chance!
Right in between – what an opportunity!
Für die meisten westeuropäischen Wissenschaftler ist
Polen ein unentdecktes Land. Das sollte sich ändern,
meint Irena Lipowicz. Die Botschafterin für Deutsch-
Polnische Beziehungen über das Bild ihres Landes in
Europa, die harte Kur vor dem EU-Beitritt und Witze,
über die junge Polen nicht mehr lachen können.
Poland is terra incognita to most West European academics.
Irena Lipowicz thinks this ought to change.
The Ambassador for German-Polish Relations speaks
about her country’s image in Europe, the tough measures
required during the run-up to accession to the
EU and jokes that are no longer funny for young Poles.
>> Kosmos: Was sagen Sie einem deutschen Forscher,
der im Ausland arbeiten will und polnische Universitäten
gar nicht auf seiner Rechnung hat?
>> Lipowicz: Ich würde ihm sagen, Warschau liegt
näher als Kalifornien, und ihm, wenn er Physiker ist,
beispielsweise von meinem Landsmann Tomasz Dietl
erzählen. Er hat in den achtziger Jahren als Humboldt-
Stipendiat in Garching gearbeitet. Heute ist er eine
große internationale Kapazität auf dem Gebiet der
Physik. Er erhält Einladungen aus der ganzen Welt,
auch aus den USA. Aber sein Forschungszentrum ist in
Warschau. Dort hat er bemerkenswert viele japanische
Doktoranden. Und wenn unsere amerikanischen Freunde
ihn schätzen und unsere japanischen Kollegen ihm
die Doktoranden schicken, würde ich meinen, es könnte
nichts schaden, sich auch als Deutscher bei ihm zu
bewerben.
>> Kosmos: Muss man in der umgekehrten Richtung
weniger Motivationsarbeit leisten? Schließlich liegen
polnische Wissenschaftler an vierter Stelle unter den
ausländischen geförderten Wissenschaftlern in Deutschland…
>> Lipowicz: Es ist sicher kein Problem, polnische
Juristen für Deutschland zu erwärmen. Schwieriger ist
es bei den Naturwissenschaften. Da müsste man schon
mit einer besonders starken Forschungsgruppe werben
oder mit einem exzellenten deutschen Professor, der
besser ist als jeder andere in der Welt. Die Konkurrenz
ist hart.
>> Kosmos: Welche Rolle spielt das Image Deutschlands,
das ja immer noch von der Vergangenheit überschattet
wird?
>> Lipowicz: Laut neuester Umfragen ist das Deutschlandbild
in Polen angesichts der belasteten Vergangenheit
ausgesprochen gut. Hier sind die Polen wirklich
unbefangen. Das zeigt sich an der Reaktion auf einen
populären Witz: Ein Pole soll einem Taxifahrer in
Marokko erklären, wo denn eigentlich Polen liege.
„Zwischen Russland und Deutschland,“ sagt der Pole.
>> Kosmos: What would you tell a German researcher
wishing to work abroad who hasn’t got any Polish universities
on his list?
>> Lipowicz: I would point out to him that Warsaw is
nearer than California, and if he happened to be a physicist,
I would tell him about, for example, my fellow countryman
Tomasz Dietl. In the eighties, he worked as a Humboldt
Fellow in Garching. Today, he is a leading international
authority in the field of physics who receives invitations
from all over the world, also from the USA. Nevertheless,
his research centre is in Warsaw. He has a remarkable
number of Japanese doctoral candidates there. And
since our American friends hold him in high esteem and
our Japanese colleagues send him the doctoral candidates,
I would maintain that there is no harm in Germans filing
applications to him.
>> Kosmos: Do you have to do less to motivate people in
the other direction? After all, Polish scientists and scholars
are fourth among the foreign academics funded in
Germany…
>> Lipowicz: There is certainly no problem in getting
Polish jurists interested in Germany. It is rather more difficult
with the natural sciences. Here, you would have to
come up with a particularly strong research team or an
excellent German professor who is better than any other
of his or her colleagues throughout the world. Competition
is stiff.
>> Kosmos: What role does Germany’s image play? It’s
still overshadowed by the past.
>> Lipowicz: The latest surveys indicate that, considering
its legacy from the past, Germany’s image in Poland
is really good. In this respect, the Poles are truly unbiased.
This is reflected in how people respond to a popular joke.
A Pole is supposed to explain to a taxi-driver in Morocco
where Poland actually is. “Between Russia and Germany,”
says the Pole. And the taxi-driver answers: “How lovely!
What a great opportunity!”
This little joke about history is funny to older Poles and
Germans, even though they do have mixed feelings about
*******
Professor Dr. Irena
Lipowicz ist als Sonderbeauftragte
Botschafterin
des Ministers für Auswärtige
Angelegenheiten
für Deutsch-Polnische
Beziehungen verantwortlich
für das laufende
Deutsch-Polnische Jahr.
Sie ist Professorin für
Verwaltungsrecht an der
Kardinal Stefan
Wyszynski Universität
in Warschau.
*******
Professor Dr. Irena
Lipowicz is Special
Envoy Ambassador of
the Minister of Foreign
Affairs for German-
Polish Relations and
responsible for the
ongoing German-Polish
Year. She is a Professor
of Administrative Law
at Kardinal Stefan
Wyszynski University
in Warsaw.
26 >> Humboldt kosmos 85/2005
Titelthema Coverstory
************************
„Die jüngeren Polen sehen nicht so sehr die historische
Last, sondern begreifen unsere geografische Lage
tatsächlich als Chance der Gegenwart.“
************************
“The younger Poles don’t see the burden of history
so much. They really see our geographic location as
a modern-day opportunity.”
Darauf der Taxifahrer: „Ach wunderbar, was für eine Chance!“
Ältere Polen und Deutsche lachen über diesen Witz mit der Geschichte –
wenn auch neben dem lachenden mit einem weinenden Auge. Die
Jüngeren dagegen lachen überhaupt nicht. Sie verstehen die Pointe
nicht, denn sie denken nicht an die Aufteilung Polens zwischen Hitler
und Stalin. Sie begreifen unsere geographische Lage tatsächlich als
Chance der Gegenwart.
>> Kosmos: Hier haben die westlichen Nachbarn anscheinend Nachholbedarf.
Der Blick geht kaum nach Osten. Das Bild von Polen in den
anderen EU-Ländern ist diffus. Meist herrscht höfliches Desinteresse…
>> Lipowicz: Polen ist immer noch zu wenig bekannt. Wer aber nach
Polen kommt, hat ein echtes Aha-Erlebnis, das gar nicht passt zu dem
veralteten Polenbild in den Medien. Doch die Wahrnehmung ändert
sich langsam. Als wir in den neunziger Jahren unsere schmerzhaften
Reformen anpackten, dachte man, das ist halt nötig für Polen oder
Tschechien oder die Slowakische Republik. Jetzt ist bewusst geworden,
dass auch andere europäische Länder diese oder ähnliche Reformen
brauchen. Das schafft eine neue Ebene der Verständigung. Nicht mehr
von oben herab, sondern eine wirkliche Partnerschaft auf Augenhöhe.
Wenn Sie sich erinnern, wie Polen in den achtziger Jahren war, als ich
als Humboldt-Stipendiatin nach Deutschland kam, und wenn man
heute unsere Welten vergleicht, dann können wir stolz sein.
>> Kosmos: Nach Ihrer Zeit als Humboldt-Stipendiatin in Tübingen
und Heidelberg haben Sie sich neben der wissenschaftlichen Tätigkeit
auch politisch engagiert. Als polnische Botschafterin in Österreich,
aber auch als Abgeordnete im Sejm….
>> Lipowicz: Nicht nur ich. Viele meiner Kollegen, die sich im Reformprozess
in Polen engagiert haben, sind ehemalige Stipendiaten. Fast
könnte man von einer Arbeitsteilung sprechen: die Modernisierung
der Wirtschaft, das war die Arbeit der Fulbright-Stipendiaten. Die
Reform des Staatsrechts und der Verwaltung, die Einführung der kommunalen
Selbstverwaltung, das machten nicht zufälligerweise viele
ehemalige Humboldt-Stipendiaten. Wir hatten uns so viel wie möglich
abgeguckt, um unser Land zu modernisieren.
>> Kosmos: Was hat der EU-Beitritt für dieses Modernisierungsprojekt
bedeutet?
>> Lipowicz: Man hat uns eine harte Kur verordnet. Das hat uns politische
Schwierigkeiten und hohe Arbeitslosigkeit gebracht, aber jetzt
nach dieser Schlankheitskur sind wir fit. Nun sagen uns die alten EU-
Staaten, dass wir zuviel Konkurrenz und Liberalisierung bringen. Aber
das war doch genau das, was man uns jahrelang gepredigt hat! Wir
haben nur als gute Schüler das umgesetzt, was man von uns wollte. Ich
denke, man muss dies positiv sehen. Die Geschichte hat uns jahrelang
getrennt. Das war eine schreckliche Zeit für unsere Länder. Jetzt kommen
wir mit großer Neugier und mit viel Energie. Das wird Europa gut tun.
it. Younger Poles, however, find no reason whatsoever to laugh. They
don’t get the point, for they don’t think about Hitler and Stalin’s carving
up Poland. They really see our geographic location as a modern-day
opportunity.
>> Kosmos: This is where the western neighbours seem to have a lot to catch
up on. People hardly look towards the East. Poland’s image in the other
EU countries tends to be diffuse. Usually, polite disinterest is displayed…
>> Lipowicz: Poland is still not familiar enough. But most people
coming to Poland are in for a real surprise and experience things that
don’t fit in with the out-of-date image the media portray of Poland at all.
However, perception is gradually changing. When we were tackling our
painful reforms in the nineties, people believed that these things just happened
to be necessary for Poland or the Czech or Slovak Republics. Now
they realise that other European countries are in need of these or similar
reforms, too. This creates a new level of understanding. Things are no longer
top-down. Instead, true partnerships at eye level are emerging. If you
think back to what Poland was like in the eighties, when I came to Germany
as a Humboldt Fellow, and then compare our worlds today, we can
be proud of our achievements.
>> Kosmos: After your period as a Humboldt Fellow in Tübingen and
Heidelberg, in addition to your academic activities, you also took up politics.
As Polish Ambassador in Austria, but also as a Member of the Sejm ….
>> Lipowicz: Not only me. Many of my colleagues engaged in Poland’s
reform process are former fellows. You could almost speak of a division of
labour. Modernising the economy was the work of the Fulbright Fellows.
It was more than coincidence that many of the former Humboldt Fellows
were the ones who were tackling the reform of constitutional law and
administration, the introduction of local self-government. We had taken
note of as much as possible abroad in order to be able to modernise our
own country.
>> Kosmos: What did accession to the EU mean for this modernisation
project?
>> Lipowicz: We had been prescribed a stiff remedy. That brought us
into political difficulties and resulted in high unemployment, but now,
after this course of slimming treatment, we are fit. Now the old EU states
are saying that we are bringing too much competition and liberalisation
into the community. But this is exactly what we have been preached for
years. As good pupils, we have merely done our homework. I think you
have to see this in a positive light. History separated us for years – a terrible
time for our countries. Now we are coming with much inquisitiveness
and much energy, which is going to do Europe good.
27 >> Humboldt kosmos 85/2005
Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations
Amir Reza Jassbi
Ausweg Ausland
Going abroad as a way out
Der Kampf gegen Braindrain genießt nicht überall Priorität. Die
Bedingungen für iranische Wissenschaftler in ihrer Heimat fordern
beinahe zum Auswandern auf.
Reisen bildet, gerade in der Forschung. Doch der Blick auf das Heimatland
ist danach nicht mehr derselbe. Nach Forschungsaufenthalten
in Pakistan, Japan und Deutschland sehe ich umso deutlicher, was
sich im Iran ändern muss, damit seine Forscher besser arbeiten und
international kooperieren können.
Wie in anderen Ländern geht es auch im Iran für Wissenschaftler
zunächst einmal ums Geld. Als Forscher am Medicinal Plants Research
Institute der Shahid Beheshti Universität in Teheran verdiente ich
monatlich 260 Euro. Das ist auch in Teheran so wenig, dass ich mir wie
viele meiner Landsleute einen Nebenerwerb suchen musste. Keine
ideale Situation für Spitzenforschung also, wenn man davon ausgeht,
dass man hierfür mit Leib und Seele und mindestens zehn oder zwölf
Stunden am Tag forschen sollte. Aus wirtschaftlicher Sicht ist eine wissenschaftliche
Laufbahn alles andere als attraktiv. Die niedrige Lebensqualität
gerade in diesem und anderen Berufen mit einem hohen Bildungsniveau
schreckt viele Studenten von einer akademischen Laufbahn
ab. Wer sich trotz der geringen finanziellen Anreize um einen Job
an der Fakultät bewirbt, stößt auf einen harten Wettbewerb.
So empfand ich es als Glück, nach vier Jahren, die ich nach meinem
Abschluss als Chemiker an der Islamischen Azad Universität in
Karaj gearbeitet hatte, zu meinem ersten Auslandsaufenthalt als Doktorand
nach Pakistan an das HEJ-Forschungsinstitut für Chemie an
der Universität Karachi gehen zu können. Dort fiel im Vergleich zu
meiner Arbeitsstelle im Iran das professionelle Management auf. Der
Direktor war einer der führenden Wissenschaftler in Pakistan auf dem
Gebiet der Naturstoffchemie. Die guten Bedingungen wurden für
mich zum Sprungbrett für ein Postdoktorandenstipendium der Japan
Society for the Promotion of Science (JSPS). Zusammen mit meiner
Frau ging ich also nach Japan, wo wir gemeinsam arbeiteten und
Stemming the brain drain is not a priority everywhere. The conditions
Iranian academics have to live in at home are almost an invitation
for them to emigrate.
Travelling educates people, especially in research. But they also learn to
view their home country in a different way on returning. After research
stays in Pakistan, Japan and Germany, I can see all the more clearly what
has to change in Iran for its researchers to be able to work and co-operate
internationally in a better manner.
Just like in other countries, academics in Iran are keen to earn
money. As a researcher at the Medicinal Plants Research Institute,
Shahid Beheshti University in Teheran, I was earning 260 euros a month.
Even in Teheran, this is so little that, like my fellow countrymen, I had to
find a sideline job to keep me going. So this wasn’t exactly an ideal situation
for peak research, considering that the latter requires heart and
soul commitment and at least ten to twelve hours of research a day. From
an economic angle, an academic career is anything but attractive. The
poor quality of life offered by this profession in particular, but also by
others with a high level of education, tends to deter many students from
opting for an academic career. And those who do apply for a job with a
university department in spite of the low financial incentives involved
will meet with stiff competition.
Thus, after the four years I had worked following my graduating as
a chemist at Karaj’s Islamic Azad University, I felt fortunate to be able to
visit Pakistan for my first stay abroad in a PhD programme at the HEJ
Research Institute for Chemistry at Karachi University. What struck me
there was the institute’s professional management in comparison to my
workplace in Iran. Its director was one of Pakistan’s leading scientists in
the field of natural product chemistry. The good conditions I enjoyed
there served me as a springboard for a postdoctoral fellowship of the
Japan Society for the Promotion of Science (JSPS). So I went to Japan
with my wife, where we worked and published material together. I was
surprised and impressed how respectfully the students there treated their
28 >> Humboldt kosmos 85/2005
************************
„Damit der Iran für seine Forscher ein attraktives
Land wird, in das man auch zurückkehrt, müsste
die iranische Politik einige Dinge ändern.“
Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations
************************
“For Iran to become an attractive country for
its researchers that one would return to, a number
of things would have to change.”
publizierten. Ich war überrascht und beeindruckt wie
respektvoll die dortigen Studenten mit ihren Lehrern
und miteinander umgingen. Jeder half dem anderen so
gut er konnte. Nach meiner Rückkehr in den Iran versuchte
ich, meine im Ausland gesammelten Erfahrungen
anzuwenden und wollte meine dortigen Studenten
nach japanischem Vorbild mit größerer Eigenverantwortung
in Gruppen zusammenarbeiten lassen. Doch
der Versuch scheiterte. Die Studenten waren schlicht
nicht bereit, sich auf das Modell einzulassen.
Im Februar 2004 erhielt ich ein Stipendium des
British Council für einen Forschungsaufenthalt am
Chemischen Institut der Universität Oxford. Ich sollte
dort mit einem britischen Kollegen zusammenarbeiten.
Ich schrieb einen Forschungsplan und machte
mich an die Vorbereitung des Projekts. Doch die
Kooperation scheiterte noch bevor sie beginnen konnte,
weil mein Heimatinstitut sie nicht unterstützte.
Immerhin wurde eine meiner Forschungsarbeiten
anschließend für eine mündliche Präsentation in
China akzeptiert, doch ich bekam keine Unterstützung
um dorthin zu reisen. Davon abgesehen konnte ich
mangels Geld auch an keinen anderen internationalen
Treffen teilnehmen. Meinen Kollegen zu Hause dagegen
fehlte die Erfahrung auf meinem Fachgebiet, um
mit mir produktiv über meine Arbeit zu diskutieren. So
saß ich in meinem mit einigen guten Instrumenten neu
ausgestatteten Institut und konnte doch nicht so forschen
wie ich wollte. In dieser Situation führte mein
Weg fast zwangsläufig wieder ins Ausland. Seit November
2004 forsche ich als Humboldt-Stipendiat am Max-
Planck-Institut für chemische Ökologie in Jena.
Bei der Einführungstagung für die neuen Humboldtianer
in Bonn traf ich zwei weitere iranische Stipendiaten.
Ich finde, dies ist ein gutes Zeichen für den
Iran. Doch um für seine Forscher ein attraktives Land
zu sein, in das man auch zurückkehrt, müssten sich
einige Dinge ändern. Besetzungen an Forschungseinrichtungen
sollten nur auf der Grundlage von Qualifikationen,
nicht aber von persönlichen Beziehungen
oder aus politischen Gründen geschehen. Forscher
müssen mehr verdienen, um Abwanderung ins Ausland
oder andere Berufe zu verhindern. Vor allem aber
muss das gesellschaftliche Ansehen und das öffentliche
Bewusstsein für die Wichtigkeit von Forschung für
Fortschritt und Wohlstand gestärkt werden.
teachers and each other. Everyone helped each other as
well as they could. On my return to Iran, I attempted to
apply my experience abroad, aiming to have my students
there co-operate in groups with more self-responsibility,
along the lines of the Japanese example. But this experiment
failed. The students simply weren’t willing to get
involved with the model.
In February 2004, I obtained a grant from the British
Council for a research visit to the Department of Chemistry
at Oxford University to collaborate with a British
colleague. I wrote a research proposal and started to prepare
the project. However, co-operation failed even
before it could start properly because my home institute
would not support it. At least one of my research papers
was subsequently accepted for an oral presentation in
China, although I was given no support to travel there.
Lack of money prohibited my taking part in any other
international meetings, while my colleagues at home did
not have sufficient experience with my subject to discuss
my work with me in a productive manner. So now I was
sitting in my institute equipped with a number of good
instruments but was still not able to do research the way
I wanted to. In this situation, it was almost inevitable for
me to go abroad again. Since November 2004, I have
been doing research as a Humboldt Research Fellow at
the Max Planck Institute for Chemical Ecology in Jena.
During the introductory meeting for the new Humboldtians
in Bonn, I met two further Iranian fellows. I
think this is a good sign for Iran. But for it to become an
attractive country for its researchers that one would return
to, a number of things would have to change. Appointments
to research institutions should only depend on
qualifications instead of candidates for positions being
selected according to personal relations or for political
reasons. Researchers have to earn more if they are to be
persuaded not to migrate abroad or seek other professions.
But above all, social esteem and public awareness
of the importance of research for progress and affluence
need to be boosted.
*******
Dr. Amir Reza Jassbi ist
Chemiker an der Shahid
Beheshti Universität in
Teheran, Iran. Als Humboldt-Forschungsstipendiat
forscht er am Max-
Planck-Institut für chemische
Ökologie in Jena.
*******
Dr. Amir Reza Jassbi is
a chemist at Shahid
Beheshti University in
Teheran, Iran. As a Humboldt
Research Fellow he
is engaged in research at
the Max Planck Institute
for Chemical Ecology in
Jena.
29 >> Humboldt kosmos 85/2005
Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations
Abdallah Al-Zoubi
Fortschritt durch Austausch
Progress through exchange
Jordanien will seine Wirtschaft und Gesellschaft
modernisieren. Internationale Forschungskooperationen
sollen hierbei helfen. Doch nicht nur die jordanischen
Forscher müssen hierfür beweglich sein.
Gefragt ist auch ein stärkeres Engagement der Partner
aus Europa.
Jordan has opted for a modernisation of its economy
and society, a goal it is hoped international
research collaboration will further. But not only
does this require greater mobility among Jordanian
researchers. European partners have to step up their
efforts as well.
Ein Land wie Jordanien, das arm an natürlichen Ressourcen
ist, muss auf sein geistiges Kapital setzen – und
auf internationale Kooperation und Kontakte. Deshalb
ist es so wichtig, dass jordanische Wissenschaftler eine
Zeit im Ausland arbeiten und sich mit dem Stand der
Forschung in Ländern wie den Vereinigten Staaten und
Kanada oder in Westeuropa vertraut machen. Umgekehrt
könnten westliche Forschungseinrichtungen helfen,
wissenschaftlich anspruchsvolle Probleme der
Wasser- und Energieversorgung oder des Umweltschutzes
in Jordanien zu lösen.
Ein Beispiel ist der Jordangraben (Dead Sea Rift).
Gewissermaßen ein natürliches Laboratorium der Erdgeschichte,
böte er Stoff und Fragen für mehr als hundert
Forschungsprojekte in den Bereichen Erde, Umwelt
und Energie gleichzeitig. Vor allem aber braucht
das Tote Meer wirksame Maßnahmen, um sein Austrocknen
und damit gravierende Folgen für die gesamte
Umwelt der Region zu verhindern. Ohne die Hilfe
der Weltgemeinschaft können die Anrainer Jordanien,
Israel und Palästina dieses Problem nicht lösen. Internationale
Zusammenarbeit und Mobilität sind nicht
nur wichtig, um den Mangel an Ressourcen auszugleichen
(die Ausgaben für Forschung und Entwicklung
liegen in Jordanien unter 1 Prozent). Gerade regional
hat der Wissenschaftsaustausch auch ein großes politisches
Potenzial, das freilich weit mehr als bislang genutzt
werden muss, etwa im Verhältnis zwischen Jordanien
und Israel. 1994 unterzeichneten beide Länder ein
Friedensabkommen. Einen Nutzen haben die meisten
Jordanier bislang nicht verspürt.
Der Frieden sollte der jordanischen Wirtschaft helfen,
er sollte es erleichtern, die Wasserversorgung verbessern
und Umweltprobleme lösen zu können, und er
sollte politische Stabilität für den mittleren Osten bringen.
Doch hiervon sind wir leider noch weit entfernt.
Im Programm „Wissenschaft für den Frieden“ sollten
Forscher eine wichtige Rolle im Friedensprozess spielen.
Aber solange jordanische und israelische Wissen-
A country like Jordan, which is poor in natural resources,
has to rely on its intellectual assets – and on international
co-operation and contacts. This is why it is so important
for Jordanian researchers to spend a period abroad
and get familiar with research standards in countries
such as the United States of America and Canada or in
Western Europe. Conversely, western research institutions
can be of assistance in solving scientifically sophisticated
problems of water and energy supply or environmental
protection in Jordan.
One example is the Jordan Rift Valley (Dead Sea
Rift). Serving as something of a natural laboratory for
geological history, it could provide enough material and
problems for more than a hundred research projects from
earth, environmental and energy sciences to work on
simultaneously. But above all, the Dead Sea requires
effective measures to prevent it from drying up, which
would have serious consequences for the region’s entire
environment. Without the support of the international
community, the riparian countries of Jordan, Israel and
Palestine will be unable to solve this problem.
International collaboration and mobility are not only
important in compensating for Jordan’s lack of resources
(the country’s research and development expenditure is
below 1 percent). Particularly at regional level, academic
exchange also bears a major political potential, albeit a
potential that needs to be made use of far more than it
has been so far. Take Jordan’s relations with Israel, for
example. The two countries signed a peace agreement in
1994. But as yet, most Jordanians have not perceived any
of the predicted benefits from this agreement.
Peace was expected to boost the Jordanian economy
and facilitate improvements in water supply and in tackling
environmental problems. Also, it was to bring political
stability to the region. Unfortunately, though, all this
is still far on the horizon. The Science for Peace programme
was intended to assign researchers an important
role in the peace process. But as long as Jordanian and
Israeli researchers work in parallel instead of co-operat-
*******
Dr. Abdallah Al-Zoubi ist
Geophysiker an der Al-
Balqa' Applied University
in Al-Salt, Jordanien und
forscht zurzeit als Georg
Forster-Forschungsstipendiat
am Geologischen
Institut der Universität
Karlsruhe.
*******
Dr. Abdallah Al-Zoubi
is an engineer in geophysics
at Al-Balqa'
Applied University in
Al-Salt, Jordan, and is
currently involved in
research as a Georg
Forster Research Fellow
at the Geology Department
of Karlsruhe University.
30 >> Humboldt kosmos 85/2005
Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations
schaftler nebeneinander statt miteinander arbeiten, kann das Programm
keinen Erfolg haben. Am besten funktioniert die Zusammenarbeit
noch, so zeigt die Erfahrung, wenn man gemeinsame Forschergruppen
zusammen mit einer dritten, westlichen Partei aufbaut. Hier
können gerade die Europäer eine wichtige Rolle spielen. Sie sollten
sich im gleichen Maße Kooperationen und dem Technologietransfer
mit jordanischen Wissenschaftlern öffnen und ihnen materielle Hilfe
bieten, wie sie sie es bereits für ihre israelischen Partner tun. Der direkte
Kontakt untereinander und mit der Bevölkerung könnte außerdem
helfen, Netzwerke zu errichten, um Vorurteile und negative Einstellungen
gegenüber Arabern und Muslimen abzubauen. Neben dem
Engagement in bi- oder trilateralen Projekten könnten westliche Forschungseinrichtungen
Möglichkeiten für Gastaufenthalte und die
Ausbildung jordanischer Nachwuchswissenschaftler schaffen. Daneben
entstehen immer mehr für die internationale Vernetzung attraktive
wissenschaftliche Institute, wie die zuletzt gegründeten Einrichtungen
Synchrotron-light for Experimental Science and Applications in
the Middle East an der Al-Balqa’ Universität und die Wadi Araba Institution
for Environmental Research. Auch die verstärkte Kooperation
zwischen westlichen und den zwölf privaten und zehn öffentlichen
Universitäten in Jordanien (darunter die neue Jordanisch-Deutsche
Universität, die in diesem Jahr den Lehrbetrieb aufnimmt) könnte
zusätzliche Impulse für die Entwicklung der Wissenschaft in Jordanien
geben und die in den letzten Jahren begonnenen Bildungs- und
Wirtschaftsreformen unterstützen.
ing, this programme will remain doomed to failure. Experience has
shown that co-operation still yields best results if joint research teams are
set up together with a third, western party. This is where the Europeans
in particular have an important role to play. They ought to open up cooperation
and technology transfer options as well as to provide material
assistance for Jordanian researchers to the same degree that they are
already doing so for their Israeli partners. Moreover, direct links among
the academics as well as with the population could help to establish networks
of people to people contacts and thus reduce prejudice and negative
attitudes towards Arabs and Muslims. In addition to involvement in
bi- or trilateral projects, western research institutions could create
opportunities for visiting academics and training options for Jordanian
junior researchers. Furthermore, a growing number of scientific institutes
are being set up that are attractive for international networking,
such as the recently founded Synchrotron-light for Experimental Science
and Applications in the Middle East at Al-Balqa' Applied University
and the Wadi Araba Institution for Environmental Research. More cooperation
between western and the twelve private and ten public universities
in Jordan (including the new Jordanian-German University,
which commences teaching this year) could give additional impetus to
the development of sciences in Jordan and support educational and economic
reforms launched during the last few years.
31 >> Humboldt kosmos 85/2005
Deutschland im Blick View onto Germany
Woher kommt der deutsche Humboldt-Boom?
How come Humboldt is booming in Germany?
Alexander von Humboldt gilt als einer der berühmtesten Deutschen
weltweit. Nun haben ihn auch seine Landsleute endlich wieder
entdeckt.
Jahrzehnte lang hatte das Interesse der Deutschen an Alexander von
Humboldt auf kleiner Flamme geköchelt. Ausgerechnet in seinem
Heimatland war der große Entdecker und Humanist in Vergessenheit
geraten, während in vielen anderen Ländern, vor allem in Lateinamerika,
die Erinnerung an den Deutschen noch in der Alltagskultur höchst
lebendig geblieben war. Die zahlreichen nach Humboldt benannten
Bars und Cafés beweisen dies vielleicht noch eindrücklicher als die
vielen Humboldt-Museen, Humboldt-Häuser, oder Humboldt-Plätze
und -Straßen. Selbst Orte, die Humboldt nie besucht hatte, tragen
heute stolz seinen Namen.
In Deutschland dagegen werden Cafés und Bars wenn überhaupt
nach einem Forscher, dann meist nach Albert Einstein, selten auch
nach Isaac Newton, so gut wie nie aber nach Alexander von Humboldt
benannt. Bei einer populären Abstimmung im deutschen Fernsehen
über die berühmtesten und wichtigsten Deutschen landete Alexander
von Humboldt im November 2003 abgeschlagen auf Platz 61.
Doch dann kam der Boom. Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger
und der Grafiker Franz Greno, die für den Eichborn-Verlag
schon länger die kleine, aber feine Buchreihe die Andere Bibliothek
editierten, entschlossen sich, anlässlich des 200jährigen Jubiläums der
Rückkehr Alexander von Humboldts von seiner Südamerikareise sein
Werk neu herauszugeben. So erschienen im September 2004 in prachtvoller
Ausstattung erstmals in deutscher Sprache die von Humboldt
auf Französisch verfassten „Ansichten der Kordilleren“, die „Ansichten
der Natur“ sowie das drei Kilo schwere Hauptwerk, der „Kosmos“. Der
Erfolg war ebenso unerwartet wie grandios.
Die Neuauflage der Bücher brachte Humboldt auf die Titelseiten,
etwa des größten deutschen Nachrichtenmagazins Der Spiegel, der in
dem so lange fast Vergessenen „eine Art Poster-Boy deutschen Wissenschaftsstolzes“
erkannte. Humboldt wurde über Nacht zum Medienstar
und wahlweise zur Projektionsfigur oder zum Heilmittel für aktuelle
deutsche Sorgen und Befindlichkeiten. Das Flaggschiff der Nachrichtensendungen
im deutschen Fernsehen, die Tagesschau, sah in der
Veröffentlichung der Bücher einen „längst überfälligen Schritt“ und
rühmte den Gelehrten als „angesichts des schlechten OECD-Urteils
über das deutsche Schulsystem aktueller denn je.“ Deutschlands größtes
Boulevardblatt Bild begeisterte sich über Humboldt als den ersten
Weltbürger deutscher Herkunft, die Tageszeitung Die Welt, feierte ihn
mit dem Ruf „Neue Männer braucht das Land“, ganz so, als wäre der
1859 Verstorbene noch unter uns und könnte das unter Sozialreformen
und Arbeitslosigkeit stöhnende Land aus seiner Lethargie reißen.
Oder wie es wiederum Der Spiegel formulierte: „Humboldt, der Entde-
Alexander von Humboldt is regarded as one of the most famous
Germans world-wide. Now, at last, his fellow country-people have
rediscovered him.
For decades, interest taken by Germans in Alexander von Humboldt had
been low-key. In his home country, of all places, the great discoverer and
humanist had fallen into oblivion, whereas in many other countries,
especially in Latin America, this German continued to be held in vivid
remembrance in everyday culture. Perhaps the numerous bars and cafes
named after Humboldt bear even more impressive testimony to this than
the large number of Humboldt Museums, Humboldt Houses or Humboldt
Squares and Streets. Even places that Humboldt had never travelled
to proudly bear his name today.
In Germany, in contrast, if cafes and bars do happen to be named
after a researcher, it will usually be the “Albert Einstein”, perhaps also the
odd “Isaac Newton”, but virtually never the “Alexander von Humboldt”.
In a popular poll German television ran on the most famous and most
important Germans, Alexander von Humboldt was way down in 61st
position in November 2003.
But then the boom set in. The writer Hans Magnus Enzensberger
and the graphic artist Franz Greno, who had already been editing the
small but refined book series, the “Andere Bibliothek”, decided to prepare
a new edition of Alexander von Humboldt’s work to commemorate the
200th anniversary of his return from his South American voyage. Thus,
in September 2004, the "Ansichten der Kordilleren", written by Humboldt
in French, appeared in German for the first time, together with the
“Ansichten der Natur” and the three-kilo main work, the “Kosmos”,
adorned with a splendid presentation. The success these publications
met with was equally unexpected and terrific.
The new edition of the books earned Humboldt cover pictures, for
instance in Germany’s biggest news magazine, “Der Spiegel”, which
identified this discoverer who himself had been forgotten for so long as “a
sort of poster boy of German academic pride”. Humboldt became a
media star overnight and was resorted to optionally as a projection figure
or a remedy for current German concerns and states of mind. German
television’s news flagship, the “Tagesschau”, called publishing the
books a “long overdue step” and praised the scholar as “more topical than
ever given the poor OECD appraisal of the German education system”.
Germany’s biggest tabloid “Bild”, hailed Humboldt as the first cosmopolitan
of German origin, while the daily “Die Welt” celebrated him chanting
“The country needs new men”, quoting a popular German pop-song,
to all appearances as if Humboldt, who died in 1859, were still among us
and could shake a country burdened with social welfare reforms and
unemployment free from its lethargy. Or, as “Der Spiegel” put it: “Humboldt,
the discoverer, the stargazer, the cosmopolitan – if there has ever
been a model German, a German able to inspire his fellow people in
32 >> Humboldt kosmos 85/2005
Deutschland im Blick View onto Germany
**********
„Ausgerechnet in
seinem Heimatland
war Humboldt in
Vergessenheit geraten,
während in
vielen anderen Ländern,
vor allem in
Lateinamerika, die
Erinnerung an ihn
höchst lebendig
geblieben war.
Selbst Orte, die
Humboldt nie
besucht hatte,
tragen heute stolz
seinen Namen.“
**********
“In his home country,
of all places,
Humboldt had
fallen into oblivion,
whereas in many
other countries,
especially in
Latin America,
he continued to
be held in vivid
remembrance.
Even places that
Humboldt had
never travelled to
proudly bear his
name today.”
Karten aus dem Berghaus-
Atlas, der schon bei der
Erstausgabe als karthografische
Ergänzung zum
Kosmos geplant war, aber
auf Grund eines Zerwürfnisses
zwischen den Verlegern
getrennt herausgegeben
wurde. Erst bei der Neuedition
wurde der Berghaus-Atlas
in den Kosmos
einbezogen.
Maps from the Berghaus
Atlas, the first edition of
which had been intended
as a cartographic supplement
to Kosmos but had to
be published separately
owing to a disagreement
among the publishers. The
Berghaus Atlas was only
incorporated in Kosmos
when it was newly edited.
33 >> Humboldt kosmos 85/2005
Deutschland im Blick View onto Germany
cker, der Sternschauer, der Weltbürger – wenn es einen
Vorzeige-Deutschen, einen Mutmacher-Deutschen geben
sollte in diesen düsteren Tagen, dann ihn.“
Wie kam es zu dieser kollektiven medialen Begeisterung?
Die eine Erklärung heißt Hans Magnus Enzensberger.
Unermüdlich zog der mittlerweile 75jährige
durch Redaktionen, und Fernsehstudios und rührte die
Werbetrommel. Bereits seit 1985 war Enzensberger Herausgeber
der Anderen Bibliothek. Doch noch nie hatte
er soviel Aufmerksamkeit für eine Edition erregen können
wie diesmal. Vielleicht lag es an seiner ehrlichen
Begeisterung für Humboldt, der das moderne Ideal des
interdisziplinären und weltweit vernetzten Wissenschaftlers
um mehr als 200 Jahre vorweggenommen hat. In
einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit bekannte
Enzensberger: „Ich ersterbe in Bewunderung,
ich empfinde ihn als riesiges Vorbild, aber er hat doch
etwas Einschüchterndes, es ist schwer vorstellbar, dass
heute jemand eine solche Universalkompetenz erreichen
könnte.“
Enzensbergers Auftritte waren Teil einer Marketingkampagne
zu der auch Konferenzen, Ausstellungen
und Konzerte gehörten. Doch Werbung wird auch für
andere Bücher gemacht, manchmal mit mehr Aufwand
als im Fall Kosmos und Kordilleren. Es muss noch eine
andere Erklärung für das plötzliche Humboldt-Fieber
in Deutschland geben. Liegt sie in einer heimlichen
Sehnsucht der Deutschen nach einer neuen Lichtgestalt
und Identifikationsfigur, die so international angesehen
und beliebt ist, wie es die wegen der Nazizeit immer
noch befangenen Deutschen gerne wären? Wirkte die
Begeisterung für den letzten Universalwissenschaftler
auf Erden auch deshalb so höchst ansteckend auf die
deutsche Öffentlichkeit, weil sie der Sehnsucht entsprach
nach einer Zeit, in der ein Einzelner noch tatsächlich
die ganze Welt überschauen konnte, während
these bleak days, then it’s got to be him.”
What triggered this collective enthusiasm on the part
of the media? Hans Magnus Enzensberger himself is one
explanation. Enzensberger, who is now 75 years old, was
untiring in his campaigns to win over editorial offices
and television studios for the scholar he adored so much.
Enzensberger had already started editing the “Andere
Bibliothek” in 1985. But never before had he been able to
raise so much attention for a book series as was the case
this time. Perhaps that was due to his honest enthusiasm
about Humboldt, who had anticipated the modern ideal
of the interdisciplinary scholar working in a world-wide
network more than 200 years ago. In an interview with
the weekly “Die Zeit”, Enzensberger confessed: “I get
engulfed in admiration, I perceive him as a gigantic role
model, but he also has something intimidating about
him. Today, it is hard to imagine anyone attaining such
universal competence.”
Enzensberger’s presentations were part of a marketing
campaign that also incorporated conferences, exhibitions
and concerts. But advertising is organised for other
books as well, and sometimes a greater effort is made
than for “Kosmos” and “Ansichten der Kordilleren”.
There must be another explanation for the sudden outbreak
of Humboldt fever in Germany. Is it the Germans’
secret longing for a new shining light and a figure they
can identify with that enjoys the kind of international
repute and popularity that the Germans, who are still
full of complexes owing to the Nazi era, would like to
enjoy? Has enthusiasm about Earth’s last universal
scholar also been so contagious for the German public
because it met with the longing for times in which individuals
still had an overview of the world as a whole,
whereas nowadays, to many, the concept of globalisation
is merely a cipher for the individual’s loss of orientation
and control?
Die Neuedition der wichtigsten
Werke: Vom drei Kilo
schweren Kosmos bis zum
Hörbuch.
The new edition of the most
important works: from the
three-kilo Kosmos to the
audio-book.
34 >> Humboldt kosmos 85/2005
Medienstar Humboldt:
Lichtgestalt des deutschen
Feuilletons?
The media star Humboldt.
A shining light for German
feature pages?
heute der Begriff Globalisierung vielen als Chiffre für
den Orientierungs- und Kontrollverlust des Einzelnen
steht?
Einer, der sich hierzu Gedanken gemacht hat, ist
der Berliner Romanist Ottmar Ette, der die neue Edition
gemeinsam mit Oliver Lubrich, wie Ette ein ausgewiesener
Humboldt-Experte, wissenschaftlich editiert
hat. Den Medienrummel um die Neuauflage sieht er
nüchtern.„Den Veröffentlichungen im deutschen Feuilleton
merkt man oft deutlich an, dass Humboldt nicht
gelesen wurde.“ Die meisten Berichte speisten sich aus
den gleichen zwei oder drei Quellen, die immer und
immer wieder neu variiert wurden. Herausgekommen
sei ein idealisiertes Humboldt-Bild, das den Stand der
Forschung nicht annähernd wiedergibt. Doch auch
Ette merkt man die Begeisterung an, wenn er über „seinen“
Humboldt spricht und sein Modell der Moderne.
Für ihn ist Humboldt „nicht so sehr der wissenschaftliche
Superstar, sondern vor allem eine politische Figur,
die für den Versuch steht, ein globales Leben neu zu
denken.“ Das Comeback Humboldts kommt für Ette
deshalb nicht unerwartet in einer Phase der Umbrüche
und der Neuorientierung in einer „wunden Gesellschaft“
in Deutschland, die nach neuen Leitfiguren und
Idealen sucht und sich von der Fokussierung auf die
Zeit des Nationalsozialismus zu lösen versucht.
Die Zeit war offenbar reif für eine Wiederentdeckung
Humboldts. Wie lange die Begeisterung für das
lange vergessene Vorbild anhält, wird vielleicht die
nächste Bestenwahl im deutschen Fernsehen zeigen,
wenn es Humboldt gelingt, Boden gut zu machen auf
den einzigen Wissenschaftler, der es hier unter die ersten
Zehn geschafft hat: Albert Einstein. Dass das gleichnamige
auch bei deutschen Politikern beliebte Café in
Berlin demnächst in Humboldt-Bar umgetauft werden
sollte, ist allerdings nur ein Gerücht.
Somebody who has his thoughts about this is the
Berlin scholar of Romance languages and literature
Ottmar Ette, who scientifically edited the new edition
together with Oliver Lubrich, like Ette a distinguished
expert on Humboldt. He has a sober impression of the
media hype. “You can often clearly notice that Humboldt
hasn’t even been read when you look at German feature
pages.” Most of the reports, he comments, were based on
the same two or three sources that were modified again
and again. The result was an idealised notion of Humboldt
that does not even remotely reflect the state of the
art in research. But it is also easy to notice Ette’s fascination
and enthusiasm when he is referring to “his” Humboldt
and his model of modernity. To him, Humboldt “is
not so much of an academic superstar but above all a
political figure that stands for the attempt to rethink a
global life.” This is why Humboldt’s comeback is anything
but unexpected to Ette in a phase of radical changes
and reorientation in a “wounded society” in a Germany
that is looking for new role models and ideals and is
attempting to break away from its focus on the era of
National Socialism.
So it was obviously time to rediscover Humboldt.
How long enthusiasm about this long forgotten role
model is going to last may be revealed in the next television
polls on popular figures if Humboldt succeeds in
catching up with the one scientist who has made it up to
the top ten here, Albert Einstein. But it is only a rumour
that the cafe bearing this name in Berlin that enjoys so
much popularity among German politicians is going to
be called “Humboldt Bar” in future.
**********
„Als wäre der 1859
Verstorbene noch
unter uns und
könnte das unter
Sozialreformen und
Arbeitslosigkeit
stöhnende Deutschland
aus seiner
Lethargie reißen.“
**********
“… as if Humboldt,
who died in 1859,
were still among us
and could shake a
country burdened
with social welfare
reforms and unemployment
free
from its lethargy.”
35 >> Humboldt kosmos 85/2005
Deutschland im Blick View onto Germany
Interview Vilmos Agel
Literatur ist ein kulinarischer Genuss
Literature is a culinary pleasure
Vilmos Agel, einer der wenigen ausländischen Germanistikprofessoren
in Deutschland, über seine Liebe zur deutschen Sprache,
seine Verwunderung über das Englisch deutscher Touristen und
über das Märchen vom Verfall der Sprache.
>> Kosmos: Wie entdeckten Sie Ihre Liebe zur deutschen Sprache?
Hatten Sie beispielsweise ein literarisches Erweckungserlebnis?
>> Agel: Kein spezielles Erlebnis, nein. Aber es war und ist einfach ein
Genuss für mich, auf Deutsch zu lesen. Ich genieße, wie sich die Sprache
vor meinen Augen entfaltet. Literatur ist wie Essen, ein kulinarischer
Genuss der Sprache. Ich habe zuletzt, glaube ich, Günther de
Bruyn, gelesen. Kann ich jedem empfehlen. Ansonsten ist mein Lieblingsschriftsteller
Heinrich Böll. Von ihm habe ich alles gelesen.
>> Kosmos: Sie sprechen ein sehr korrektes und gewähltes Deutsch.
Tut es Ihnen manchmal weh, wenn Sie die deutsche Alltagssprache
hören?
>> Agel: Überhaupt nicht! Wissen Sie, die Geschichten vom Sprachverfall
sind doch uralt. Sie fangen mit dem Turmbau von Babylon an.
Es ist ein Generationenproblem. Wir werden mit einer bestimmten
Sprache alt. Und dann kommen die nächste Generation und die übernächste
– und jede spricht ein wenig anders. Je älter wir werden, desto
mehr empfinden wir die Sprache der Nachkommenden als Rückschritt.
Aber das ist absurd. Stellen Sie sich vor: wenn jede Generation
schlechter sprechen würde als die vorherige, müsste die Sprache doch
schon längst verfallen sein. Und wir beide könnten gar nicht mehr
gewählt miteinander sprechen, denn wir stünden ja schon ganz am
Ende einer langen Kette des Verfalls.
>> Kosmos: Ist das Deutschlernen in Ungarn auch eine Generationenfrage?
>> Agel: Aus historischen Gründen war Deutsch schon immer eine
sehr bedeutende Sprache in Ungarn, nicht nur als Fremdsprache. Wir
haben bis auf den heutigen Tag eine deutsche Minderheit in Ungarn.
Ende des 19. Jahrhunderts war Budapest mehrheitlich deutschsprachig.
Wir sind zudem Nachbarn Österreichs. Es war und ist alles andere
als unnatürlich, Deutsch zu lernen. Es ist für uns eher unnatürlich,
Englisch zu lernen.
>> Kosmos: Aber auch in Ungarn geht das Interesse an Deutsch als
erster Fremdsprache zurück, Englisch ist sicher auch dort bei weitem
die populärste Fremdsprache.
>> Agel: Nicht bei weitem. 53 Prozent lernen Englisch als erste
Fremdsprache und 42 Prozent Deutsch und der Rest verteilt sich auf
die restlichen Sprachen. Mitte der neunziger Jahre lag Deutsch noch
vorne in Ungarn.
>> Kosmos: Was müsste geschehen, um das Deutsche zu fördern,
damit es wieder ein Kopf an Kopf-Rennen wird und nicht immer weiter
zurück fällt?
Vilmos Agel is one of the few foreign professors of German language
and literature in Germany. Here, he tells Kosmos about his
love of the German language, his astonishment at German tourists
speaking English and the myth of the language’s demise.
>> Kosmos: How did you discover your love of the German language?
Did you, for instance, have a literary awakening experience?
>> Agel: Not a special experience, no. But it has always been a pleasure
for me to read in German. I enjoy how the language develops in front of
my eyes. Literature is like eating, a culinary delight of language. Most
recently I have read Günther de Bruyn, I think, whom I would recommend
everyone. Otherwise, my favourite writer is Heinrich Böll. I have
read everything he wrote.
>> Kosmos: Your German is very correct and refined. Does listening to
colloquial German sometimes pain you?
>> Agel: Not at all. You know, stories about the demise of languages are
age-old. They start with the building of the Tower of Babylon. This is a
generation gap problem. We grow old with a certain language. Then comes
the next generation, and the next after that, and each one speaks slightly
differently. The older we get, the more we perceive the language of our
successors as a retrograde step. But that’s absurd. Just imagine what
would happen if each generation were to speak more poorly than its predecessor.
The language would then long have deteriorated. And the two of
us wouldn’t be able to talk to each other in a refined manner because we
would already be right at the end of a long chain of deterioration.
>> Kosmos: Is learning German also a matter of generations?
>> Agel: For historical reasons, German has always been a very important
language in Hungary, and not merely as a foreign language. Even
today, we have a German minority section of the population in Hungary.
Towards the end of the nineteenth century, the majority of people in
Budapest spoke German. And then, of course, we border on Austria. It has
always been anything but unnatural to learn German. It would appear to
be more unnatural for us to learn English.
>> Kosmos: But in Hungary too, interest in German as the first foreign
language has been on the decline. Surely English is by far the most popular
foreign language there, too.
>> Agel: Not by far. While 53 percent learn English as their first foreign
language, 42 percent learn German, and the rest is accounted for by the
other languages. By the mid-nineties, German was still in the lead in
Hungary.
>> Kosmos: What would have to happen to promote German so that it
once again becomes a neck-to-neck race and German does not lag behind
more and more?
>> Agel: Promoting German is one thing. But then there is the aspect of
what language the large number of Germans use who come to Hungary.
Germans in Hungary prefer to speak English although they would cer-
36 >> Humboldt kosmos 85/2005
Agel: Förderung ist das eine. Das andere ist das
Sprachverhalten der vielen Deutschen, die nach Ungarn
reisen. Deutsche in Ungarn reden lieber Englisch,
obwohl sie sicherlich sehr gut zurechtkämen mit ihrem
Deutsch – in vielen Gegenden sogar besser als mit dem
Englischen. Als Germanist vermisse ich an den Deutschen
den Stolz auf die eigene Sprache, wie man ihn
etwa von Franzosen oder Italienern kennt, die natürlich
zuerst versuchen, in ihrer Muttersprache zu reden.
Ich verstehe natürlich die historischen Gründe für die
deutsche Zurückhaltung. Dennoch müsste sich die
Einstellung der Deutschen zur eigenen Sprache ändern.
Sie sollten mehr Deutsch reden und die eigene Sprache
stark machen. Das würde seine Wirkung im Ausland
nicht verfehlen.
tainly get along very well with their native tongue –
indeed better than with English in many areas. As a
scholar of German language and literature, I find the
Germans lacking in any pride of their own language,
which would be familiar among the French or the Italians
who of course first of all always try to speak their own
language. Naturally, I do understand the historical reasons
for this reticence. Nevertheless, the Germans really
ought to change their attitude towards their own language.
They should speak more German and make their
own language stronger. This would not fail to have an
impact abroad.
*******
Professor Dr. Vilmos Agel
ist Germanist an der
Szeged Universität in
Budapest, Ungarn. Im
Jahr 2005 wurde der
ehemalige Humboldt-
Forschungsstipendiat
mit dem Friedrich Wilhelm
Bessel-Forschungspreis
der Humboldt-Stiftung
ausgezeichnet. Seit
2004 forscht und lehrt er
an der Universität Kassel
und arbeitet an einer
Neuhochdeutschen
Grammatik der letzten
350 Jahre.
*******
Professor Dr. Vilmos Agel
is a scholar of German
language and literature
at Szeged University in
Budapest, Hungary.
In 2005, the former Humboldt
Research Fellow
received the Humboldt
Foundation's Friedrich
Wilhelm Bessel Research
Award. Since 2003 he has
been engaged in research
and teaching at the University
of Kassel, where
he is working on a New
High German grammar
of the last 350 years.
37 >> Humboldt kosmos 85/2005
Deutschland im Blick View onto Germany
Michael Palocz-Andresen
Wer hat Angst vorm Autoruß?
Who’s afraid of car soot?
Die deutsche Sensibilität für Umweltverschmutzung wirkt stilbildend.
Begriffe wie Waldsterben gehen ins Vokabular anderer Nationen
ein, die für die neuen Gefahren noch gar keine eigenen Wörter
kannten. Der Feinstaub in Autoabgasen ist der neueste Trend. Doch
an Osteuropa, so scheint es, geht er vorbei.
„Fehlende Russfilter bremsen den Verkauf deutscher Autos, Feinstaub
bedrängt Industrie“. Solche und ähnliche Schlagzeilen füllen die deutsche
Presse in den letzten Wochen. Sind diese Nachrichten unerwartet
in den Medien aufgetaucht? Oder hätte man bereits seit einer längeren
Zeit die Öffentlichkeit über die Feinstaubgefahr aufklären und die
möglichen Minderungsmaßnahmen einleiten können?
Betrachten wir die Fakten. Die Erkenntnis über die schädlichen
Auswirkungen von Schadstoffen für Umwelt und Klima ist nicht neu.
Die Rahmenrichtlinie der EU zur Beurteilung und Kontrolle der Luftqualität
stammt aus dem Jahr 1996. Darauf aufbauend wurden in den
folgenden Jahren Grenzwerte und Details zu Mess- und Beurteilungsvorschriften
für bestimmte Schadstoffe, wie Schwefeldioxid, Feinstaub,
Stickstoffdioxid und Blei festgelegt. Ab 1999 waren die Grundlagen für
die Beurteilung der Luftqualität, für die Festlegung notwendiger Minderungsziele
und für Maßnahmen in den Mitgliedsstaaten der Europäischen
Union gelegt, und die Öffentlichkeit konnte informiert werden.
Warum aber haben die längst beschlossenen Grenzwerte die deutsche
Öffentlichkeit dennoch so unvermutet getroffen? Schaut man in
die Zukunft, so sieht man noch wesentlich strengere Grenzwerte. Für
den Zeitraum von 2005 bis 2010 existieren für den Feinstaub zwei Stufen.
Während die rechtlich bindenden Grenzwerte der ersten Stufe für
2005 noch bis zu 35 Überschreitungen des Tagesmittelwertes erlauben,
sind im Jahr 2010 nur noch sieben Überschreitungen zugelassen.
Werden wir auch in fünf Jahren so tun, als wären die neuen Grenzwerte
aus dem heiteren Himmel gefallen?
In den neuen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union gibt es die
Diskussion in dieser Form und in dieser Schärfe nicht. Die Dichte an
Nutzfahrzeugen ist ähnlich hoch wie in den alten EU-Mitgliedsstaaten.
In Deutschland beträgt die Anzahl der Einwohner je Nutzfahrzeug
23,1. In Ungarn liegt diese Zahl bei 24,6, in Polen bei 18,3, in Tschechien
bei 23,44, in der Slowakei bei 29,85 in Slowenien bei 29,56, in
Estland bei 15,86, in Lettland bei 19,56 und in Litauen bei 31,07. Der
technische Zustand der Nutzfahrzeuge ist jedoch, verglichen mit dem
westeuropäischen Durchschnitt, im Allgemeinen um mehrere Abgaskategorien
niedriger. Diese Nutzfahrzeuge emittieren, verstärkt durch
die meist großen Entfernungen und durch die hohe Fahrleistung pro
Fahrzeug nicht nur für die unmittelbare Umwelt, sondern auch für das
Klima bereits beachtliche Mengen an Schadstoffen.
Warum gibt es keine ähnlichen Diskussionen in diesen Ländern?
Warum gibt es keine Kämpfe zwischen den Umweltorganisationen
German sensitiveness to environmental pollution is creating language
styles. Words like “Waldsterben” are being adopted in the
vocabularies of other nations that used to have no terms of their
own to refer to the new hazards the environment is facing. “Feinstaub”
for fine dust emitted in car fumes seems to be the latest
candidate. However, it appears that this trend is bypassing Eastern
Europe.
“The lack of soot particle filters is inhibiting sales of German cars, fine
dust is putting industry under duress.” Over the last few weeks, the German
press has been full of such headlines. Did this news turn up unexpectedly
in the media? Or would it already have been possible quite a
while ago to start informing the public about the threat that fine dust
poses and introduce appropriate measures to alleviate the hazard?
Let’s look at the facts. The insight that pollutants have a damaging
impact on the environment and the climate isn’t new. The EU framework
guidelines for assessing and monitoring air quality were introduced
in 1996. Based on this, limits and details regarding measuring
and assessment regulations were defined for certain pollutants, such as
sulphur dioxide, fine dust, nitrogen dioxide and lead over the following
few years. From 1999 on, the foundations to assess air quality, to define
necessary reduction targets and for measures in the Member States of the
European Union have been in place, and it has been possible to inform
the public.
But why have the limits decided on so long ago taken the German
public so unawares? Looking ahead, one can recognise far more stringent
limits. Two phases have been planned for fine dust for the period from
2005 to 2010. While the limits required by law for the first phase still
allow for the daily mean value to be exceeded 35 times, being above the
limit will only be allowed seven times in 2010. Are we still going to respond
to the new values as if they had come out of the blue in five years’ time?
In the new Member States of the European Union, the debate is not
taking place in this form and with this degree of intensity. Commercial
vehicle density is similarly high to that of the old EU Member States. In
Germany, the number of inhabitants per commercial vehicle is 23.1. In
Hungary, the number is 24.6, in Poland 18.3, in the Czech Republic
23.44, in Slovakia 29.85, in Slovenia 29.56, in Estonia 15.86, in Latvia
19.56 and in Lithuania 31.07. However, compared to the Western European
average, the technical standards of the commercial vehicles are generally
lower by several fume categories. These commercial vehicles are
already emitting considerable amounts of pollutants that are harmful
both to the immediate environment and the climate, a state of affairs
that is exacerbated by the considerable distances usually involved and
the high route mileage of each vehicle.
Why are no comparable discussions underway in these countries?
Why don’t struggles between environmental organisations and industry
38 >> Humboldt kosmos 85/2005
und der Industrie in dem in Deutschland bekannten
Ausmaße? Spielen in diesen Ländern die Umweltthemen
keine große Rolle? Woran liegen die Unterschiede
– an unterschiedlichen Mentalitäten, einer weniger kritischen
Presse oder Politik, an mangelnder Debattentradition
oder einem anderen Naturverständnis? Die
Antwort ist einfach. Die täglichen Sorgen sind in den
neuen Mitgliedstaaten und auch in den benachbarten
Ländern viel zu groß, um die öffentliche Aufmerksamkeit
für diese Fragen tatsächlich gewinnen zu können.
Allerdings sind die Entwicklungschancen eindeutig
positiv. Die neuen Mitgliedsstaaten werden ähnlich wie
früher Irland oder Portugal in den nächsten zehn Jahren
stark an Wohlstand gewinnen. Sie werden das
Umweltverständnis in der EU erheblich fördern. Der
aktive Austausch in der Forschung und Lehre ist die
beste Investition für die Zukunft. Für die jungen Leute
in den Nachbarstaaten ist es bereits heute selbstverständlich,
an den verschiedensten europäischen Universitäten
zu lernen, vorausgesetzt, die Leistung und
somit die Noten stimmen. In zehn bis 15 Jahren werden
die in der Zwischenzeit nicht mehr ganz so jungen
Menschen über die dann bereits viel niedrigere Feinstaubbelastung
genau so vehement diskutieren, wie wir
dies heute tun. Die Unterschiede von heute werden
dann längst Geschichte sein.
************************
„Werden wir auch in fünf Jahren so tun, als
wären die neuen Grenzwerte aus dem heiteren
Himmel gefallen?“
occur to the extent one is familiar with in Germany?
Aren’t environmental topics particularly important in
these countries? In what way do these countries differ? Is
it different mentalities, less critical press organs or politics,
a lack of debating tradition or a different concept of
nature? The answer is simple. Day-to-day problems in
the new Member States as well as in the neighbouring
countries are far too big to really raise public awareness
of these issues. However, the prospects of it developing are
clearly positive. In a similar manner to Ireland or Portugal
ten years ago, the new Member States are going to
experience a considerable increase in affluence and provide
a major boost to environmental awareness in the EU
over the next ten years. Active academic exchange in research
and teaching is the best investment for the future. For the
young people in the neighbouring states it already goes
without saying today that learning can take place at a
wide range of European universities as long as performance
and credits are in order. In ten to 15 years’ time, the
by then not quite so young people will be discussing what
are by then going to be much lower levels of dust pollution
just as vehemently as we are doing so today. And by
then, today’s differences will long be history.
*******
Professor Dr. Michael
Palocz-Andresen ist
Geschäftsführer des OBM
Instituts für On-Board
Measurement GmbH in
Hamburg. Er lehrt außerdem
Ingenieurwissenschaften
an der Technischen
Universität Budapest,
Ungarn. Als Humboldt-Forschungsstipendiat
war er in Karlsruhe,
Freiburg und Hamburg.
*******
Professor Dr. Michael
Palocz-Andresen is
Managing Director of
the OBM Institute for
On-Board Measurement
GmbH in Hamburg. He
also teaches engineering
sciences at Budapest
Technical University,
Hungary. He was in
Karlsruhe, Freiburg and
Hamburg as a Humboldt
Research Fellow.
************************
“Are we still going to respond to the new values
as if they had come out of the blue in five years’ time?”
39 >> Humboldt kosmos 85/2005
Humboldtianer im Profil Humboldtians in Profile
Uschi Heidel
Vom Minister zum Stipendiaten
A minister turned fellow
Der georgische Rechtswissenschaftler Lado Chanturia
war Justizminister und oberster Verfassungsrichter
seines Landes. Doch seine Karriere als Politiker und
demokratischer Reformer in der Richterrobe tauschte
er gegen ein Forschungsstipendium in Deutschland.
Ein Porträt.
War Sherlock Holmes an allem schuld? Auch wenn die
Beweise inzwischen verblasst sind, so hat der Meisterdetektiv
aus der britischen Krimi-Literatur wohl doch
zu verantworten, dass Lado Chanturia bereits als
Jugendlicher der Juristerei verfiel. Freilich war die Welt
der Kriminalfälle eine gänzlich andere als diejenige, die
der Georgier später an der Universität entdeckte. Aber
der dort eingeschlagene Weg erwies sich als noch spannender:
Lado Chanturia wurde Rechtsprofessor, Justizminister
und schließlich Präsident des Obersten
Gerichts von Georgien. Wie kein anderer hat er die
Rechtsreform in seiner Heimat nach dem Zerfall der
Sowjetunion vorangetrieben – beharrlich, voller Elan
und stets gelassen.
„Nun muss ich meine Batterien wieder aufladen“,
sagt der Humboldtianer lächelnd in einem Bremer Restaurant
und meint nicht die Zufuhr von Kalorien.„Aufladen“
bedeutet für den groß gewachsenen, schwarzhaarigen
Mann, sich mit der gleichen Energie wie in
Georgien in die Arbeit zu stürzen, diesmal am Hamburger
Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales
Privatrecht. Dort stillt er seinen Hunger
auf neue geistige Nahrung. „Meine eiligste Aufgabe ist
es jetzt, gute juristische Bücher für mein Land und
andere postsowjetische Staaten zu schreiben. Da ist
noch sehr viel zu tun.“ Als ob Lado Chanturia in seinen
gerade 42 Jahren nicht schon eine Menge geleistet
hätte. Freundliche Neugier, die aus dunklen Augen
blitzt, und Tatendrang bringen den Georgier immer
wieder zu neuen Ufern.
Schon während des Studiums in Tiflis und der Promotion
in Moskau wollte er „den Rahmen sprengen“.
„Durch die Lektüre des Römischen Rechts wurde mir
klar, dass das bestehende Rechtssystem reformiert werden
muss.“ Die Möglichkeit, sich selbst daran zu beteiligen,
kam schneller als gedacht. Er forschte gerade als
georgischer Jurastipendiat des Deutschen Akademischen
Austauschdienstes (DAAD) für seine Habilitation
in Göttingen, als Georgien im Bürgerkrieg zu versinken
The Georgian law scholar Lado Chanturia used to be
Minister of Justice and Supreme Constitutional Court
Judge of his country. But he swapped his career as a
politician and democratic reformer in judge’s robes
for a research fellowship in Germany. A portrait.
Was it all Sherlock Holmes’ fault? Even if evidence has
since faded, the master detective of British crime fiction
appears to be responsible for Lado Chanturia’s already
becoming addicted to law as a youth. Of course, the
world of crime was entirely different from what this
Georgian was to discover at the university later on. However,
the course he opted for there proved to be even more
exciting. Lado Chanturia became a Professor of Law,
Minister of Justice and, ultimately, President of Georgia’s
Supreme Court. His effort to promote the reform of the
legal system in his home country following the disintegration
of the Soviet Union remained unparalleled and
was characterised by steadfastness, vigour and calmness.
“Now it’s time for me to recharge my batteries,” says
the Humboldt Fellow with a smile as he sits in a Bremen
restaurant, and he is not referring to calorie intake. By
“recharging”, this tall, black-haired man means delving
into activities again with the same energy reserves he had
in Georgia, only that this time he is working at Hamburg’s
Max Planck Institute for Foreign Private and Private
International Law. That is where he is stilling his
hunger for new spiritual food. “Now, my most urgent
task is to write good books on law for my country and
other post-Soviet states. There is still a terrific lot to do in
this respect.” As if Lado Chanturia, who is a mere 42
years old, hadn’t already achieved so much. Friendly
inquisitiveness sparkling from his dark eyes and thirst for
action again and again bring this Georgian to new
shores.
Already during his studies in Tbilisi and his doctorate
in Moscow, he was eager to “break all bounds”.
“When reading Roman Law, I realised that the existing
legal system was in need of reform.” The opportunity for
him to participate in this process himself came more
quickly than he would have expected. As a Law Fellow of
the German Academic Exchange Service (DAAD) he was
involved in research for his qualification for a teaching
career in higher education (the German “Habilitation”)
in Göttingen when Georgia was about to plunge into civil
war. “Then Shevardnadze rang me up and asked me if I
*******
Uschi Heidel arbeitet
als freie Wissenschaftsjournalistin
in Bonn und
ist Mitinhaberin des
Trio MedienService
Berlin-Bonn.
*******
Uschi Heidel works as
a free-lance scientific
journalist in Bonn and
is co-proprietor of
Trio MedienService
Berlin-Bonn.
40 >> Humboldt kosmos 85/2005
drohte. „Dann rief Schewardnadse an und fragte mich,
ob ich Justizminister werden wolle“, erzählt Lado
Chanturia fast beiläufig. Der Staatspräsident kannte
den damals 29-Jährigen nicht persönlich, aber seine
rechtswissenschaftlichen Arbeiten hatten in Georgien
Anerkennung gefunden. Lado Chanturia lehnte ab.
Ohne Koketterie erklärt er: „Ich wollte mich erst auf die
Zukunft Georgiens vorbereiten, vor allem auf die
anstehende Rechtsreform, und dazu brauchte ich weiteres
Fachwissen.“ Kurz danach baute er gemeinsam
mit dem Bremer Jura-Professor Rolf Knieper das georgische
Rechtssystem – stark am deutschen Vorbild orientiert
– neu auf, unterstützt von der Deutschen
Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ).
Richter auf den Prüfstand
Die Herausforderungen waren gewaltig: Das sowjetische
Recht musste abgeschafft, moderne Rahmenbewanted
to become Minister of Justice,” Lado Chanturia
remarks almost casually. The President did not know the
then 29-year-old personally, but his jurisprudence studies
had met with acclaim in Georgia. Lado Chanturia
turned down this offer. Without coquetry, he explains: “I
first of all wanted to prepare myself for Georgia’s future,
above all for the forthcoming reform of the legal system,
and to this end, I required further specialist knowledge.”
Shortly afterwards, together with Bremen Law Professor
Rolf Knieper and supported by the Deutsche Gesellschaft
für Technische Zusammenarbeit (GTZ), he developed a
new legal system for Georgia that was strongly oriented
on Germany’s system.
Judges put to the test
The challenges were enormous. Soviet law had to be
abolished, and a modern framework had to be put in
place. For four years, the law scholar worked on the Geor-
*******
Lado Chanturia,
geboren in Jvari,
Georgien. Studium der
Rechtswissenschaft an
der staatlichen
Universität Tiflis.
Promotion am Moscow
Institute of Legislation
und Comparative Law.
Professor an der
Juristischen Fakultät
der staatlichen
Universität Tiflis.
Justizminister von
Georgien. Präsident des
Obersten Gerichts von
Georgien. Humboldt-
Stipendiat am Hamburger
Max-Planck-Institut für
ausländisches und internationales
Privatrecht.
Außerdem: Berater des
georgischen Staatspräsidenten
Michail
Saakaschwili.
*******
Lado Chanturia,
born in Jvari, Georgia.
Studied law at the State
University of Tbilisi.
Doctorate at the Moscow
Institute of Legislation
und Comparative Law.
Professor at the Law
Department of the State
University of Tbilisi.
Minister of Justice of
Georgia. President of the
Supreme Court of
Georgia. Humboldt
Fellow at the Hamburg
Max Planck Institute for
Foreign Private and
Private International
Law. Also: Advisor to
Georgia’s State President
Michail Saakaschwili.
41 >> Humboldt kosmos 85/2005
************************
„Ich wollte mich erst auf die Zukunft Georgiens vorbereiten,
vor allem auf die anstehende Rechtsreform,
und dazu brauchte ich weiteres Fachwissen.“
Humboldtianer im Profil Humboldtians in Profile
************************
“I first of all wanted to prepare myself for Georgia’s
future, above all for the forthcoming reform of the legal
system, and to this end, I required further specialist
knowledge.”
dingungen etabliert werden. Vier Jahre arbeitete der Jurist am georgischen
Zivilgesetzbuch, das 1997 vom Parlament verabschiedet wurde.
Er entwarf das Gesetz über die Gewerblichen Unternehmer, das auf
Georgisch, Russisch und Deutsch erschien. „Natürlich ging es nicht
nur um neue Gesetze, sondern auch um deren Umsetzung. Dazu
braucht man gut ausgebildete Juristen, verlässliche Gerichte und eine
funktionierende Staatsanwaltschaft“, erläutert Lado Chanturia. Als er
1998 Justizminister wurde, führte er Richterprüfungen ein, womit er
sich nicht nur Freunde machte. Schließlich waren die meisten Kandidaten
schon Richter zu Sowjetzeiten gewesen, und nur wenige von
ihnen bestanden die Prüfungen. Außerdem nutzte er seine vielen Kontakte
und schickte georgische Juristen für ein paar Wochen an deutsche
Gerichte. „Dort haben sie den modernen Arbeitsalltag erlebt“,
sagt Lado Chanturia und zeigt auf das Bremer Landgericht.
In der Hansestadt fühlt sich der Humboldt-Stipendiat mit seiner
Frau Dali, einer Zahnärztin, und den Kindern Georgi (10) und Nutsa
(5) pudelwohl. Begeistert führt der Werder Bremen-Fan durch die verwinkelten
Gassen, er schätzt die Überschaubarkeit der Stadt und ihre
Preise, die deutlich niedriger liegen als in Hamburg. Dorthin pendelt
er fast täglich mit dem Zug. „Ich arbeite in zwei interessanten Städten,
und die Fahrten nutze ich um zu Lesen.“ Goethe, Grass, Lenz, Judith
Hermann, ohne schöne Literatur könne er nicht leben.
Lado Chanturia war zwei Jahre Justizminister, als er die Chance
erhielt, Präsident des Obersten Gerichts von Georgien zu werden. Er
überlegte nicht lange, und das Parlament wählte ihn 1999 einstimmig
für zehn Jahre. Vier Jahre später zeigte der georgische Rechtsstaat Flagge:
Im November 2003 annullierte das Oberste Gericht einen Teil der
umstrittenen Parlamentswahlen. „Das war ein gutes Gefühl“, erinnert
sich Lado Chanturia, der während der „Rosenrevolution“ als neutraler
Vermittler fungierte.
Recht kann Mentalitäten ändern
„Das Gericht gilt heute aufgrund seiner Neutralität und seiner Modernität
als Vorbild in der Region“, sagt er mit Stolz. 25.000 Seiten Entscheidungen
sind in seiner Amtszeit gefällt worden, und sie sind jedem
zugänglich. Diese Transparenz kannte das alte Rechtssystem nicht.
Lado Chanturia hat Türen geöffnet. Er lud georgische Künstler ein, im
Gericht ihre Werke auszustellen, und zog somit viele Bürger an. Er
empfing populäre Landsleute wie Schauspieler und Sportler, aber
auch Präsidenten ausländischer Gerichtshöfe, Wissenschaftler, internationale
Politiker. Zwei Fotostapel zeigen einen Mann, der mit
Charme, vitaler Ausstrahlung und innerer Ruhe ein dichtes Netzwerk
zu knüpfen versteht. „Georgien hat gar keine andere Wahl, als sich
Europa zuzuwenden.“ Er sieht die gravierenden sozialen und wirtschaftlichen
Probleme, die Korruption, die geopolitisch prekäre Lage
eines Landes von der Größe Bayerns. Doch Resignation oder Aktivisgian
Civil Code, which was passed by Parliament in 1997. He designed
the Law on Entrepreneurs which was published in Georgian, Russian
and German language. “Of course the issue was not merely that of developing
new laws but also of enforcing them. This requires well-trained
jurists, reliable courts and a working department of public prosecution,”
Lado Chanturia explains. When he became Minister of Justice in 1998,
he introduced examinations for judges, which not only earned him new
friends. After all, most of the candidates had already been judges in Soviet
days, and only a handful of them passed the new tests. Also, he made
use of his many contacts and sent Georgian jurists to German courts for
a few weeks. “There, they experienced modern day-to-day work in
court,” says Lado Chanturia, pointing to the Bremen District Court.
The Humboldt Fellow feels completely contented in the Hanseatic
city with his wife Dali, a dentist, and his children Georgi (10) and Nutsa
(5). Now a Werder Bremen fan, he takes pleasure in pointing out the
city’s narrow alleys. He appreciates Bremen’s straightforwardness as well
as its prices, which are significantly lower than in Hamburg, where he
has to commute to nearly every day by train. “I work in two interesting
cities, and I make use of the trips to get down to reading.” Goethe, Grass,
Lenz, Judith Hermann – he says he wouldn’t survive without belletristic.
Lado Chanturia had been Minister of Justice for two years when he
was given the opportunity to become President of the Supreme Court of
Georgia. It did not take him long to think this over, and Parliament
unanimously elected him for ten years in 1999. Four years later, the
Georgian state, now based on the rule of law, nailed its colours to the
mast. In November 2003, the Supreme Court annulled part of the controversial
parliamentary elections. “That was a good feeling,” remembers
Lado Chanturia, who acted as a neutral middleman during the
“Revolution of the Roses”.
Law can change mentalities
“Thanks to its neutrality and modernity, this court now serves as a
model for the region,” he says proudly. In his period of office, 25,000
pages of decisions were made, and they are accessible to everyone. Such
transparency was unknown in the old legal system. Lado Chanturia has
opened up doors. He invited Georgian artists to exhibit their work in the
court, which attracted many citizens to the building. He received popular
fellow countrymen such as actors and sportspeople as well as presidents
of foreign courts of justice, scholars and international politicians.
Two stacks of photos portray a man who understands how to build a
dense network with charm, vitality and inner calmness. “Georgia has no
other option but to turn to Europe.” He is aware of the grave social and
economic problems, corruption and the geopolitically precarious location
of a country the size of Bavaria. But resigning or activism are
unknown to him. He displays a calm attitude in opting for long-term
engagement. “Law has the power to generate culture, and it can change
42 >> Humboldt kosmos 85/2005
Humboldtianer im Profil Humboldtians in Profile
*************************************************************
*************************************************************
THE AREA OF RESEARCH More than a decade
after the end of the Soviet command economy,
many enterprises have been privatised. But
success reckoned with originally has failed to
materialise. Lado Chanturia thinks that the
main cause of this is a lack of any modern
business management. This includes management
skills, specialist know-how and ethical
concepts – in a nutshell a legally enshrined
entrepreneurial culture. In his study, which the
Georgian is writing at Hamburg’s Max Planck
Institute for Foreign Private and Private International
Law, he is analysing how liability
regulations in stock companies have to be formulated
to ensure that privatisation will be a
success. Here, he uses the German and the US
American legal systems as examples and compares
them with the legal situation in some
post-Soviet states. In western countries, too,
Corporate Governance, i.e. responsible
management and effective supervision, is
being discussed.
Humboldtianer persönlich Humboldt people personal
*************************************************************
DAS FORSCHUNGSGEBIET Mehr als ein Jahrzehnt
nach dem Ende der sowjetischen
Zwangswirtschaft in Georgien sind zwar viele
Unternehmen privatisiert, aber der erwartete
Erfolg bleibt aus. Als Hauptursache sieht Lado
Chanturia das Fehlen jeglicher moderner
Geschäftsführung. Dazu gehören Management,
Fachkenntnisse und ethische Vorstellungen,
kurz eine auch rechtlich verankerte Unternehmenskultur.
In seiner Untersuchung, die der
Georgier am Hamburger Max-Planck-Institut
für ausländisches und internationales Privatrecht
verfolgt, analysiert er, wie Haftungsvorschriften
in Kapitalgesellschaften verfasst
sein müssen, damit Privatisierung zum Erfolg
führen kann. Dabei zieht er das deutsche und
das US-amerikanische Rechtssystem als vorbildlich
heran und vergleicht diese mit der
Rechtslage in einigen postsowjetischen Staaten.
Auch in den westlichen Ländern wird über die
Corporate Governance, also die verantwortungsvolle
Unternehmensführung und die
effektive Aufsicht diskutiert. Entscheidende
Verbesserungen sind in folgenden Bereichen
notwendig: Die Geschäftsführung muss transparent,
die Pflichten des Managements müssen
klar geregelt sein. Außerdem kommt es darauf
an, dass Aktionäre oder Gesellschafter Haftungsvorschriften
gegenüber der Geschäftsführung
wirklich durchsetzen. Dazu will Lado
Chanturia alle Beteiligten motivieren. Sein
umfangreiches Werk soll in Georgisch, später
auch in Russisch erscheinen.
Humboldtianer persönlich Humboldt people personal
Crucial improvements are required in the
following areas: Management has to become
transparent, and the duties of management
have to be clearly formulated. Also, it is
important for shareholders or partners to
really assert liability regulations vis-à-vis
management. Lado Chanturia wishes to
motivate all those involved to attain these
goals. His extensive study is to be published
in Georgian and, later on, in Russian.
*************************************************************
mus sind ihm fremd. Mit Gelassenheit setzt er auf langfristiges Engagement.
„Das Recht hat kulturstiftende Kraft und kann die Mentalität
ändern. Das ist ein Prozess, der viele Jahre dauert und Geduld fordert.“
Bei diesem Prozess will er aktiv mitwirken - auf seine Art. Dazu
passt sein Rücktritt als Gerichtspräsident im Sommer 2004. „Ich habe
alles getan, was ich tun konnte. Ich brauchte eine Pause.“ Hinter dieser
Pause steckte die Zusage für ein Humboldt-Forschungsstipendium,
um das sich Lado Chanturia bereits 2003 beworben hatte, rechtzeitig
vor Erreichen der Altersgrenze von 40 Jahren. „Für mich ist dieses Stipendium
die höchste Auszeichnung, denn ich bin in erster Linie Wissenschaftler.“
Mit großer Freude ist er an das Hamburger Max-
Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht zu
Professor Klaus Hopt gegangen, den er während eines Max-Planck-
Stipendiums 1996 kennen gelernt hatte. Für ihn ist das Institut das
„Harvard der Rechtswissenschaft“.
Wenn er sein rechtsvergleichendes Werk über moderne Geschäftsführung
und Haftungsvorschriften in Kapitalgesellschaften geschrieben
hat, kehrt Lado Chanturia nach Georgien zurück, wo er seit 1995
Professor an der Universität Tiflis ist. Dass er nicht nur auf dem Campus
wirken wird, ist sonnenklar, auch wenn der Berater des jetzigen
Staatspräsidenten auf entsprechende Nachfragen nur lächelnd antwortet:
„Das weiß ich noch nicht.“
mentalities. This is a process that takes several years and requires
patience.”
He intends to actively participate in this process – in his own way.
His resignation as Supreme Court President in the summer of 2004 fits
in with this. “I did all I could, I needed a break.” What is behind this
break is the approval of a Humboldt Research Fellowship that Lado Chanturia
had already applied for in 2003, just in time before he reached the
age limit of 40 years. “To me, this fellowship is the highest reward, for I
am above all a scholar.” He was very happy to join Professor Klaus Hopt,
whom he had got to know during a Max Planck Scholarship in 1996, at
the Hamburg Max Planck Institute for Foreign Private and Private
International Law. To him, this institute is the “Harvard of Law”.
Once he has written his comparative law study on modern management
and liability regulations in stock companies, Lado Chanturia will
return to Georgia, where he has been Professor at the University of Tbilisi
since 1995. It goes without saying that the advisor to the current State
President is not only going to be active on the campus even though his
response to any queries regarding this is to smile and state: “I am not sure
about that yet.”
43 >> Humboldt kosmos 85/2005
Humboldtianer im Profil Humboldtians in Profile
Uschi Heidel
Lieber Leipzig
Better to be in Leipzig
Von Atlanta nach Leipzig und beinahe, aber wirklich
nur beinahe, wieder zurück. Wie die amerikanische
Entwicklungspsychologin Tricia Striano ihre Liebe
zu Leipzig entdeckte und weshalb ostdeutsche Mütter
ein Glücksfall für die Forschung sind.
Licht fällt durch hohe Fenster in den großzügigen Aufgang
des Leipziger Altbaus. Bei jedem Schritt knarren
die Stufen der breiten Holztreppe, hier kommt keiner
unbemerkt nach oben. Erste Etage, zweite Etage – in
der Tür ihres Instituts wartet bereits Tricia Striano: klein,
schmal, kurze dunkelblonde Haare, südländisch; eine
zierliche Person, die man schnell zu unterschätzen geneigt
ist. „Bitte wundern Sie sich nicht“, sagt die Leiterin von
drei Forschungsgruppen und Sofja Kovalevskaja-Preisträgerin
und lotst ihren Gast durch helle Räume, deren
einziges Mobiliar zumeist Kartons darstellen. „Wir stecken
mit unserem Kinderlabor mitten im Umzug“,
erklärt die Entwicklungspsychologin mit Blick auf
ihren provisorisch wirkenden Arbeitsplatz. Bücher stapeln
sich auf dem Fensterbrett und liegen auf dem Parkettboden,
im Sessel sitzt „Käpt’n Blaubär“ – im XXL-
Format. Das beliebte TV-Plüschtier ist ein untrügliches
Zeichen dafür, dass Kleinkinder willkommen sind. Wie
diese lernen, in den Gesichtern der Menschen zu lesen,
interessiert die 32-jährige Forscherin. „Eine Kaffeemaschine
haben wir noch nicht“, sagt sie und schlägt vor,
zum Gespräch ins Café im Parterre auszuweichen.
Tricia Striano ist Neuanfänge gewohnt. Als sie im
Jahr 2000 zum ersten Mal nach Europa und direkt nach
Leipzig kam, wurde sie zwar Leiterin der Nachwuchsgruppe
Kulturelle Ontogenese am Max-Planck-Institut
für evolutionäre Anthropologie, hatte aber weder ein
Labor noch Kontakte zu Babys, die sie für ihre entwicklungspsychologischen
Studien braucht. Und als sie im
vergangenen Oktober den begehrten Sofja Kovalevskaja-Preis
der Alexander von Humboldt-Stiftung erhielt,
war bereits die Wohnung aufgegeben, alles verkauft
und sie selbst fast schon wieder daheim in den USA.
„Neuanfänge haben viele positive Seiten, zum Beispiel
eine neue Waschmaschine und Möbel, die nicht von
IKEA stammen“, sagt Tricia Striano augenzwinkernd.
Aufbruch aus dem Vertrauten
Heute freut sie sich über Herausforderungen und Umbrüche.
Vor fünf Jahren war ihr allein der Gedanke an
From Atlanta to Leipzig and almost, but really only
almost, back again. How the American development
psychologist Tricia Striano discovered her love of
Leipzig, and why East German mothers are a stroke
of luck for research.
Light is falling through the tall window into the spacious
hall of the old Leipzig building. The stairs of the wide
wooden staircase creak with each step, so that nobody
can go upstairs unnoticed. The first floor, and then the
second floor. Tricia Striano is already waiting at her
institute’s door – a small, slender woman with short,
dark blond hair, of Southern appearance. She is a petite
person that one might easily be misled to underrate.
“Please don’t let this surprise you too much,” says the
head of three research teams and Sofja Kovalevskaja
Award Winner, guiding her guest through light rooms the
only furniture of which consists mainly of cardboard
boxes. “Our children’s laboratory is right in the middle of
moving,” the development psychologist explains, glancing
around the temporary aspect of her workplace. Books
are piled up on the windowsill and lie on the parquet
floor, with an XXL version of “Captain Bluebear” sitting
in an armchair. This popular TV teddy-bear is an unmistakeable
sign of infants being welcome here. The 32-
year-old researcher is interested in how small children
learn to read people’s face expressions. “We haven’t got a
coffee machine yet,” she says, and suggests switching to
the cafe on the ground floor for the talk.
Tricia Striano is used to new beginnings. When she
came to Europe, and directly to Leipzig, for the first time,
in 2000, she became head of the career development
group on cultural ontogenesis at the Max Planck Institute
for Evolutionary Anthropology. But she had neither
a laboratory nor any contact to babies, who she requires for
her development psychology studies. And when she received
the prestigious Sofja Kovalevskaja Award from the
Alexander von Humboldt Foundation, she had already
given in notice for her flat, sold everything and was herself
almost back home in the USA.“New starts have lots of good
sides, for example a new washing machine and furniture
that does not come from IKEA,” Tricia Striano grins.
Leaving the familiar behind
Today, she is pleased about challenges and radical changes.
Five years ago, she would have loathed the mere thought
44 >> Humboldt kosmos 85/2005
*******
Tricia Striano,
geboren in Weymouth,
Massachusetts, USA.
Studium der Psychologie
am College of the Holy
Cross in Worchester,
Massachusetts, und an
der Emory University of
Atlanta, Georgia, USA.
Promotion an der Emory
University of Atlanta,
Georgia, USA. Leiterin
der Nachwuchsforschergruppe
Kulturelle Ontogenese
am Max-Planck-
Institut für evolutionäre
Anthropologie in Leipzig.
Sofja Kovalevskaja-Preisträgerin
der Alexander
von Humboldt-Stiftung
mit Mitteln des Bundesministeriums
für Bildung
und Forschung: Leiterin
der Forschungsgruppe
für Neurokognition und
Entwicklung am Max-
Planck-Institut für
Kognitions- und Neurowissenschaften
und am
Zentrum für Höhere
Studien der Universität
Leipzig.
*******
Tricia Striano,
born in Weymouth,
Massachusetts, USA.
Studied psychology at
the College of the Holy
Cross in Worchester,
Massachusetts, and
at Emory University
of Atlanta, Georgia,
USA. Doctorate at Emory
University of Atlanta,
Georgia, USA. Head of
the career development
group on cultural ontogenesis
at the Max
Planck Institute for
Evolutionary Anthropology
in Leipzig. Sofja
Kovalevskaja Award
Winner of the Alexander
von Humboldt Foundation
funded by the
Federal Ministry of
Education and Research:
head of the research
team for neurocognition
and development at the
Max Planck Institute for
Human Cognitive and
Brain Sciences and at
Leipzig University’s
Centre for Advanced
Studies.
Veränderung ein Graus. „Ich wollte schnell Professorin
auf einem Campus werden und dann immer dort bleiben.
Nach der Zusage zum Interview in Leipzig packte
mich zuerst die Angst, weil ich nicht aus Amerika wegwollte“,
erinnert sie sich. Inzwischen finden ihre Eltern,
die ein Tapeziergeschäft im Bundesstaat Massachusetts
betreiben, die eigene Tochter sei „viel zu europäisch“
geworden. Diesen Eindruck teilt die Wissenschaftlerin
nicht. Aber sie fühlt sich innerlich ruhiger, gelassener
und erwachsener als am Anfang ihres Deutschlandaufenthaltes.
Damals konnte sie überhaupt nicht verstehen,
dass Mitarbeiter nicht am Wochenende arbeiten
oder länger als zwei Wochen in Urlaub gingen – „das ist
in den USA nicht möglich“. Sie wurde wütend, wenn
Handwerker nicht sofort ihren Auftrag erfüllten oder
ihr Computer nicht auch sonntags repariert werden
konnte. „Wer aus einer 24-Stunden-Dienstleistungsgesellschaft
kommt, hat zunächst Anpassungsschwierigkeiten.“
Die hatten allerdings auch einige ihrer älteren
Wissenschaftler-Kollegen. Denn ihnen fiel es schwer,
die Führungskompetenz der jungen Nachwuchsgruppenleiterin
anzuerkennen. Es gab manche Reibereien.
Sie zerrten an den Nerven. Fast hätte Tricia Striano der
gesamten akademischen Welt den Rücken gekehrt.
Die langjährige Fußballspielerin nahm es sportlich und
hat sich behauptet. Sie fühlt sich wohl in Leipzig und
kommt mit den Ostdeutschen gut zurecht. Ein bisschen
optimistischer könnten diese sein und nicht nur daran
denken, was alles nicht geht. Wenn Tricia Striano über
of anything new. “I wanted to become a lecturer on the
campus as quickly as possible and then stay there for
good. Once I had been invited to Leipzig for an interview,
I was seized by fear because I did not want to leave America,”
she remembers. Now, her parents, who run a wallpapering
store in the Federal State of Massachusetts,
think their own daughter has become “far too European”.
The scientist does not share this impression. But inside,
she feels calmer, more relaxed and more grown-up than
at the beginning of her stay in Germany. At the time, it
was thoroughly incomprehensible to her that staff would
not work over the weekend or that they took more than
two weeks’ off – “that would be impossible in the USA”.
She got mad when workmen didn’t finish their work
immediately or when nobody would repair her computer
on a Sunday. “You have difficulties accommodating if
you come from a 24-hour-service-based society.” However,
some of her senior research colleagues also had difficulties.
For they found it hard to appreciate the leadership
competencies of the young group head. There was a
fair amount of friction that got on her nerves. In fact, Tricia
Striano was about to turn her back on the entire academic
world.
An experienced football-player, she displayed a sportive
attitude and has managed to hold her own. She feels good
in Leipzig and gets on well with the East Germans,
although they could perhaps be a little more optimistic
instead of always worrying about what won’t work.
When Tricia Striano talks about the Leipzig parents, the
45 >> Humboldt kosmos 85/2005
*************************************************************
DAS FORSCHUNGSGEBIET Zu den entscheidenden
sozialen Fähigkeiten des Menschen
gehört es, dass er im Gesicht seines Gegenübers
lesen und in Bruchteilen von Sekunden
Schlüsse auf dessen künftiges Verhalten ziehen
kann. Auch Lernen durch Imitation,
Sprache und andere Formen der symbolischen
Kommunikation machen die so genannte
soziale Kognition aus. Sie setzt Bewusstsein
und Verständnis für die Gedanken anderer
Menschen voraus. Wann der Mensch solche
Fähigkeiten entfaltet, beschäftigt die amerikanische
Entwicklungspsychologin Tricia
*************************************************************
THE AREA OF RESEARCH One of the human
being’s most important social abilities is to
read the face of his counterpart and draw
conclusions about the latter’s future behaviour
in split seconds. Learning by imitating,
language and other forms of symbolic communication
also belong to what is known as social
cognition. It presupposes awareness and an
understanding of other people’s thoughts. The
American development psychologist Tricia
Striano wants to find out when humans develop
such activities. She has observed and
Striano. Hunderte von Babys bis zum zwölften
Monat hat sie vor allem in der Interaktion mit
der Mutter beobachtet und analysiert. Dabei
stellte sie fest, dass sich die Entwicklung für
soziale Fähigkeiten viel früher anbahnt als
bisher angenommen. Beispielsweise kann
schon ein rund acht Wochen alter Säugling
begreifen, dass, wenn seine Mutter und er sich
auf ein Spielzeug konzentrieren, sie beide denselben
Gegenstand meinen. Durch diese Fähigkeit
zur geteilten Aufmerksamkeit, werden die
Grundlagen zum Spracherwerb gelegt. Bislang
hatte man angenommen, diese Vorstufen
analysed hundreds of babies up to the age of
twelve months, especially in interactions with
their mothers, and noted that the development
of social abilities starts much earlier
than previously expected. For example, a baby
that is just eight weeks old can already understand
that when it and its mother are concentrating
on a toy, they both mean the same
object. The foundations of learning language
are laid by this ability to share attention. In
the past, it was assumed that these preliminary
steps only started at nine to twelve months of
beginnen erst mit neun bis zwölf Monaten.
Da die Ergebnisse aus der Verhaltensforschung
allein für Tricia Striano nicht aussagekräftig
genug sind, hat sie den Schwerpunkt
auf die Untersuchung der Entwicklung neuronaler
Muster verlagert. Welche Regionen im
Gehirn werden in welchem Lebensalter, in
welcher Situation und in welchem Maße
aktiviert? Die Amerikanerin will die Entwicklungssystematik
der sozialen Kognition
erfassen, um auch Abweichungen wie etwa
Autismus rechtzeitig erkennen zu können.
*************************************************************
age. Since Tricia Striano does not regard the
results of behavioural research in themselves
as meaningful enough, she has shifted the
focus of her research to an examination of the
development of neuronal patterns. Which
regions in the brain are activated at what age,
in what situation and to what degree? The
American researcher wants to understand the
development systematics of social cognition
in order to be able to identify deviations such
as autism in time as well.
*************************************************************
Humboldtianer persönlich Humboldt people personal
die Leipziger Eltern spricht, die unentbehrliche Partner für ihre Baby-
Forschungen sind, ist sie des Lobes voll. „Von Anfang an zeigten Ärzte
und Eltern Offenheit und Interesse an meinen Projekten“, erzählt sie.
Alle – meist westdeutschen – Warnungen vor gluckenhaften, übermäßig
besorgten Muttis erwiesen sich als falsch. „Fast jede Mutter war
bereit, mit ihrem Baby an den Verhaltenstests teilzunehmen. Das war
in den USA völlig anders. Die Eltern dort sind sehr ängstlich, Neugeborene
tragen Namenschilder mit Alarmmeldern, in den Kliniken
fühlte ich mich allenfalls geduldet“, berichtet die Wissenschaftlerin.
Nein zu Nashville, ja zu Leipzig
Im Herbst 2004 wollte Tricia Striano gerade eine attraktive Stelle an
der Vanderbilt Universität in Nashville, Tennessee, antreten, als die
Preis-Nachricht aus Deutschland kam: Rund eine Million Euro und
bis zu vier Jahre wissenschaftliches Arbeiten frei von administrativen
Zwängen an einem Institut eigener Wahl. „Ich habe Luftsprünge
gemacht und gespürt, wo ich eigentlich hin wollte.“ Tricia Striano ging
zurück nach Leipzig.
Schon im Jahr 2000 empfand sie die Arbeitsbedingungen und die
Ausstattung am Max-Planck-Institut als einmalig. „Eine Stelle mit
soviel Freiheit und Geldmitteln hätte ich in den USA nie bekommen.“
Das Kinderlabor im Leipziger Altbau ist eine gemeinsame Einrichtung
des Zentrums für Höhere Studien der Universität Leipzig und des
Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften.
Rund 15 Mitarbeiter werden in Kürze die Forschungen in den renovierten
Räumen fortsetzen. Tricia Striano liebt die Arbeit mit ihren oft
erst wenige Wochen alten Probanden: „Vor allem braucht man
Humor.“ Dass die Kleinen noch nicht sprechen können, findet sie
besonders spannend. „Aus ihren Reaktionen muss ich versuchen zu
erkennen, was in ihnen vorgeht. Das eröffnet mir andere Perspektiven,
als wenn die Babys sich sprachlich eindeutig artikulieren könnten.“
indispensable partners for her baby research, she is full of praise for
them. “Right from the onset, doctors and parents were open-minded
about my experiments and were interested in them,” she recalls. All of the
usually West German warnings about mothers fussing around their children
like mother hens and being overcautious lest something could happen
to them proved wrong. “Nearly every mother was ready to take part
in the behavioural tests with her baby. This had been completely different
in the USA. Parents there are very anxious, and newborn children
bear name tags with alarms. At best, I felt tolerated in the clinics,” the
researcher reports.
No to Nashville but yes to Leipzig
In autumn 2004, Tricia Striano was just about to take up an attractive
post at Vanderbilt University in Nashville, Tennessee, when the news
about the award came from Germany: around a million euros and up to
four years of academic activities free of administrative restraints at an
institute of her own choice. “I jumped in the air and felt where I really
wanted to go.” Tricia Striano went back to Leipzig.
She had already found the working conditions and facilities at the
Max Planck Institute unique back in 2002. “I would never have got a
position with so much freedom and such funding in the USA.” The children’s
laboratory in the old Leipzig building is a joint institution of
Leipzig University’s Centre for Advanced Studies and the Max Planck
Institute for Human Cognitive and Brain Sciences. Soon, around 15 staff
are to carry on with their research activities in the renovated rooms. Tricia
Striano loves working with her test persons, who are just a few weeks
old: “Above all, it takes a lot of humour.” She thinks it is especially exciting
that the little ones can’t speak yet. “I have to try and recognise what
is going on inside them by way of their reactions. This opens up perspectives
that are different from when the babies can clearly express themselves
using language.”
46 >> Humboldt kosmos 85/2005
************************
„Ich habe Luftsprünge gemacht und gespürt,
wo ich eigentlich hin wollte.“
Humboldtianer im Profil Humboldtians in Profile
************************
“I jumped in the air and felt where I really
wanted to go.”
47 >> Humboldt kosmos 85/2005
Nachrichten
News
Neues aus der deutschen und internationalen Wissenschaftsszene sowie Informationen über forschungspolitische Trends.
News from the German and the international academic scene and information about research policy trends.
Europäischer Forschungsraum
Die Einrichtung eines Europäischen Forschungsrates
gehört zu den Schwerpunkten des 7. Forschungsrahmenprogramms
der Europäischen Union (EU), das im Jahr
2007 anläuft. Aufgabe der neuen Förderorganisation
wird die Ausdehnung der „Grenzen des Wissens“, also
die Unterstützung von Grundlagenforschung, sein.
„Wenn Albert Einstein heute leben würde,
würde er für seine Forschung keine Mittel von der
Europäischen Kommission erhalten“, so Antonia
Mochan, Pressesprecherin für Wissenschaft und
Forschung der Europäischen Kommission in Brüssel.
„Um von uns finanziert zu werden, müssen Forschungsprojekte
zurzeit noch als internationale Kooperationen
angelegt sein. Der geplante Europäische Forschungsrat
könnte hingegen auch die Forschungsvorhaben
einzelner Teams unterstützen“.
Ziel der Einrichtung ist es, die internationale
Wettbewerbsfähigkeit europäischer Forschung zu
erhöhen. Bei ihren Entscheidungen über zu fördernde
Forschungsvorhaben sollen die Mitglieder des
Forschungsrates, ein internationales Wissenschaftler-
Gremium, von Vorgaben der Europäischen
Kommission unabhängig sein.
European Research Area
Setting up a European Research Council is one of the
priorities in the 7th Research Framework Programme
of the European Union (EU), which is scheduled to
commence in 2007. The new funding organisation’s
mission will be to extend the “frontiers of knowledge”,
i.e. to support pure research.
“If Albert Einstein were alive today, the European
Commission would not fund any of his research,” says
Antonia Mochan, the European Commission’s Press
Officer for Science and Research in Brussels. “In order
for us to provide funding, research projects still have to
be organised as international collaborative schemes at
the moment. However, the planned European Research
Council could also support research ventures run by
individual teams.”
The aim of the institution is to boost the international
competitiveness of European research. The members
of the Research Council, an international committee
of academics, are to be independent of any provisions
made by the European Commission when taking
decisions on research projects worthy of funding.
Studiengebühren
Die Zeiten, in denen jeder, der wollte, kostenlos
studieren konnte, scheinen in Deutschland endgültig
vorbei zu sein. Nachdem eine Reihe von Bundesländern
bereits Gebühren für Langzeitstudenten (10. bis
13. Semester) eingeführt haben, werden jetzt auch
Studienbeiträge für Erstsemester diskutiert.
Ob Germanistikstudent im 22. Semester, der sich
nebenher als Buchhändler über Wasser hält, oder pensionierter
Studienrat, der im Geschichtsseminar seine
Kriegserlebnisse einbringt – bis vor wenigen Jahren
war ein Studium in Deutschland grundsätzlich frei.
Vom Erst- über das Zweit- bis zum Seniorenstudium:
Die einzigen Kosten, die anfielen, bestanden in einem
Sozialbeitrag, mit dem unter anderem das Mensaessen
subventioniert wird. Inzwischen werden Studierende,
die die Regelstudienzeit überschritten haben, in fast
allen Bundesländern mit durchschnittlich 500 Euro
pro Semester zur Kasse gebeten. Über den Bruch des
letzten verbliebenen Tabus – Kosten ab dem ersten
Tuition fees
In Germany, the days when anyone wishing to study could
do so free of charge seem to be over once and for all. Now
that a number of Federal Länder have already introduced
fees for students taking an excessive amount of time to
complete their courses (10th to 13th semester), tuition
fees are also being discussed for first-semester students.
Whether it was a student of German language and
literature in his 22nd semester earning his living with
a sideline job as a bookseller or a retired teacher at a
secondary school imparting his wartime experience to
a history seminar, studying in Germany had basically
been free of charge for both of them until just a few years
ago. From the first degree course through the second
degree course to courses for senior citizens in higher
education, the only costs involved were a student welfare
contribution with which, for example, the canteen
meals were subsidised. Nowadays, students who have
exceeded the standard period of study are charged an
average of 500 euros a semester in almost all Federal
Studenten der Universität
Bonn protestieren gegen die
Einführung von Studiengebühren.
Students of the University of
Bonn protesting at the introduction
of tuition fees.
48 >> Humboldt kosmos 85/2005
Nachrichten News
Semester – wird gegenwärtig noch diskutiert. „Die
meisten Länder haben sich darauf verständigt,
Studiengebühren einzuführen“, erklärt Heinz-Peter
Weitlich vom Sekretariat der Kultusministerkonferenz
der Länder, „erwogen werden ebenfalls 500 Euro“.
Für sozial schwächer gestellte Studierende sollen dabei
Finanzierungsmodelle wie beispielsweise günstige
Kredite geschaffen werden. Verfechter der Reform versprechen
sich davon verbesserte Studienbedingungen.
Dagegen steht die Benachteiligung weniger begüterter
Studierender sowie die Befürchtung, die Länder könnten
die neuen Einnahmequellen der Hochschulen zum
Anlass nehmen, deren Etats zu reduzieren.
Lobby für die Grundlagenforschung
In einer Situation, in der an Hochschulen und
Forschungseinrichtungen angesichts knapper Finanzmittel
der Trend zu Auftrags- und anwendungsnaher
Forschung wächst, hat sich die League of European
Research Universities (LERU) den verstärkten Einsatz
für die Grundlagenforschung zur Aufgabe gemacht.
„Der Übergang zu einer global wettbewerbsfähigen
Wirtschaft ist abhängig von der Förderung der Grundlagenforschung
und ihrer Einbindung in Innovationsprozesse“,
heißt es in einem im Frühjahr 2005 von LERU
veröffentlichten Positionspapier. Die League fordert
einen entsprechend radikalen Prioritätenwechsel in
der europäischen Forschungsförderung, der auch die
Rolle der Universitäten als Exzellenzzentren stärken
soll. Weitere Ziele von LERU sind interne Benchmarkingprozesse
sowie die Bearbeitung gemeinsamer
Fragestellungen in Arbeitskreisen.
LERU setzt sich aus zwölf besonders forschungsstarken
europäischen Universitäten zusammen,
ermittelt durch ein bibliometrisches Verfahren, mit
dem Publikationsleistung und Zitationsintensität
analysiert wurden. Ebenfalls ein Kriterium für die
Mitgliedschaft ist ein breites Fächerspektrum, wie es
die klassische Volluniversität aufweist. In Deutschland
gehören der League die Universitäten Heidelberg und
München an, in Großbritannien Cambridge, Oxford
und Edinburgh, dann die Universitäten Helsinki/
Finnland, Mailand/Italien, Stockholm/Schweden,
Genf/Schweiz, Straßburg/Frankreich, Leiden/
Niederlande und Leuven/Belgien.
Länder. Debates are still underway on breaking with the
last remaining taboo – fees from the first semester on.
“Most of the Länder have agreed on introducing tuition
fees,” explains Heinz-Peter Weitlich of the Secretariat of
the Standing Conference of the Ministers of Education
and Cultural Affairs of the Länder. “Again, 500 euros is
being considered.” Financing models such as low-interest
loans are to be created for students facing financial
hardship through studying. Champions of the reform
are reckoning with improved study conditions. Critics of
the scheme warn that less well-off students would be
disadvantaged and fear that the Länder could view the
new sources of revenue in higher education as an opportunity
to reduce its budget.
A lobby for pure research
In a situation in which the trend towards contract and
close-to-application research at higher education and
research institutions is growing given the paucity of
funding, the League of European Research Universities
(LERU) has chosen to campaign more for pure research.
“The transition to a globally competitive economy
depends on the funding of pure research and its
integration in innovation processes,” states a policy
paper issued by LERU in spring 2005. The League calls
for a correspondingly radical shift in priorities in
European research funding that would also boost the
role of universities as centres of excellence. Further goals
of LERU are internal benchmarking processes and
addressing common issues in working groups.
LERU consists of twelve European universities that
have attained a particularly strong position in research,
a position that has been identified with a bibliometric
method analysing publishing performance and citation
intensity. A further membership criterion is a wide
range of subjects as would be the case with the traditional
fully-fledged university. In Germany, the Universities of
Munich and Heidelberg belong to the League, in the
UK Cambridge, Oxford und Edinburgh, and then the
Universities of Helsinki/Finland, Milan/Italy,
Stockholm/Sweden, Geneva/Switzerland, Strasbourg/
France, Leiden/The Netherlands and Leuven/Belgium.
49 >> Humboldt kosmos 85/2005
Nachrichten News
Open Access
Anstatt in teuren Fachpublikationen sollen Forschungsergebnisse
für jeden kostenlos im Internet veröffentlicht
werden – so lautet die Forderung der Open
Access-Bewegung, die weltweit von zahlreichen Hochschulen
und Forschungseinrichtungen unterstützt
wird. In Deutschland haben sich unter anderem die
Max-Planck-Gesellschaft, die Fraunhofer-Gesellschaft,
die Helmholtz-Gemeinschaft, die Leibniz-Gemeinschaft,
die Hochschulrektorenkonferenz und die
Deutsche Forschungsgemeinschaft in der „Berliner
Erklärung“ von 2003 für das „Prinzip des offenen
Zugangs“ ausgesprochen. Zu den deutschen Open
Access-Initiativen gehören die German Academic
Publishers (GAP), die im September 2005 an
den Start gehen.
Ein Abonnement oder doch lieber ein kleines
Auto? Angesichts der explodierenden Preise auf dem
Fachzeitschriftenmarkt erscheint diese Frage gar nicht
Open Access
Instead of being published in expensive specialist
journals, research results are to be available to everyone
free-of-charge in the Internet. This is what the Open
Access Campaign is calling for, a movement enjoying
the support of numerous higher education and research
institutions world-wide. In Germany, the Max Planck
Society, the Fraunhofer Society, the Helmholtz
Association, the Leibniz Association, the Hochschulrektorenkonferenz
(German Rectors’ Conference) and the
Deutsche Forschungsgemeinschaft (German Research
Foundation) subscribed to the principle of open access
in their Berlin Declaration of 2003. The German Open
Access initiatives include the German Academic
Publishers (GAP), who are to launch their campaign
in September 2005.
A subscription or, better perhaps, a small car? In
view of prices rocketing sky-high on the specialist journal
market, such considerations aren’t really as bizarre as
*******
Freien Zugang zu öffentlich
finanzierten Forschungsergebnissen
fordern
die Befürworter von
Open Access.
*******
The proponents of Open
Access are demanding
free access to publicfunded
research results.
50 >> Humboldt kosmos 85/2005
Nachrichten News
so abwegig. Erbitterte Mitarbeiter von Universitätsbibliotheken
illustrieren auf ihren Homepages die
Zeitschriftenkosten mit Fotos von Landhäusern,
Kreuzfahrten oder Fahrzeugen, die dem Gegenwert
eines Jahresabonnements entsprechen. So zahlt die
University of Maryland, USA, nach eigenen Angaben
14.000 Dollar für „The Journal of Comparative
Neurology“, die Florida Atlantic University investiert
jährlich 128.000 Dollar in den Zugang zu „Early
English Books Online“ (eine digitalisierte Sammlung
historischer Publikationen in englischer Sprache) und
die Universität Konstanz führt auf ihrer Website eine
Hitliste der zehn teuersten Zeitschriften, mit den
„Chemical Physics Letters“ für 11.346 Euro pro Jahr
an erster Stelle. Die Preiserhöhungen der letzten Jahre
schwanken zwischen 54 und 151 Prozent. Da die Etats
diesen Ausgaben nicht mehr gewachsen sind, reagieren
Hochschulen und Forschungsorganisationen inzwischen
mit Abbestellungen. Das wiederum führt zu einer verminderten
Versorgungssituation der Wissenschaftler.
Als Ursache für die so genannte „Zeitschriftenkrise“
oder „Serial Crisis“ wird die monopolistische Preispolitik
einiger weniger großer Verlage wie Elsevier,
Wiley oder Springer betrachtet.
Vor diesem Hintergrund gewinnt die Open
Access-Bewegung zunehmend an Boden. Das Directory
of Open Access Journals umfasst inzwischen 1.594
elektronische Zeitschriften. Eines der Hauptprobleme
der kostenfreien Publikationen ist jedoch ihre
Finanzierung. Um eine den kommerziellen Zeitschriften
entsprechende Qualität der Beiträge inklusive
Peer Review zu gewährleisten, ist redaktioneller und
organisatorischer Aufwand erforderlich. Nachdem
dieser nicht mehr über die Leser erwirtschaftet wird,
sehen die verschiedenen Finanzmodelle von Open
Access vor, die Kosten auf die Autoren umzulegen.
Pro Artikel wird dem Wissenschaftler oder seiner
Institution ein bestimmter Betrag berechnet; so
nimmt die US-amerikanische Public Library of
Science (PLoS) für ihre Veröffentlichungen in den
Bereichen Biologie und Medizin von den Autoren
jeweils 1.500 Dollar. BioMed Central, ein Londoner
Verlag mit einem Portfolio von über 100 Journalen,
deckt einen Teil seiner Ausgaben durch Mitgliedsbeiträge;
Nichtmitglieder zahlen zwischen 450 und
1.235 Euro pro Beitrag.
they may sound. On their homepages, disgruntled university
library staff are illustrating the costs of journals
with country houses, cruises or vehicles corresponding to
the price of an annual subscription. For example, the
University of Maryland, USA, states that it pays 14,000
dollars for “The Journal of Comparative Neurology”,
while Florida Atlantic University invests an annual
128,000 dollars to gain access to “Early English Books
Online” (a digitalised collection of historic publications
in English) and the University of Constance presents a
hit list on its website of the ten most expensive journals,
headed by the “Chemical Physics Letters”, at 11,346
euros a year. Price hikes over the last few years may be
anything from 54 to 151 percent. Since budgets can no
longer keep pace with such expenses, higher education
institutions and research organisations are now
responding by cancelling subscriptions. This in turn
results in diminished supplies for academics. The cause
of the so-called “Serial Crisis” is held to be monopolistic
pricing policies pursued by a handful of major
publishers such as Elsevier, Wiley or Springer.
Against this background, the Open Access Campaign
is becoming increasingly popular. The Directory of
Open Access Journals now comprises 1,594 electronic
journals. However, one of the chief problems of free-ofcharge
publications is their funding. An editorial and
organisational effort is required to ensure that the quality
of contributions matches that of the commercial
publications and will stand up to a peer review. Now
that this is not being funded via the readers, the various
financing models put forward by Open Access suggest
that costs be borne by the authors. A certain charge is
worked out per article for the academic or his institution;
thus the US American Public Library of Science (PLoS)
charges authors 1,500 dollars a publication in the areas
of biology and medicine. BioMed Central, a London
publishing firm with a portfolio of more than 100
journals, covers part of its costs with members’ fees,
while non-members pay between 450 and 1,235 euros
per contribution.
Critics of Open Access stress that this amounts to
transferring the costs of publishing from the private
sector to the state, while its proponents argue that the
tax-payer has a right to free access to the research results
he has been funding. A number of Open Access projects
are currently being promoted in Germany, too. They
51 >> Humboldt kosmos 85/2005
Nachrichten News
Kritiker von Open Access weisen darauf hin, dass
auf diese Weise die Publikationskosten vom privaten
Sektor auf den Staat verlagert werden. Befürworter der
Bewegung argumentieren hingegen mit dem Recht des
Steuerzahlers auf freien Zugang zu den von ihm geförderten
Forschungsresultaten. Auch in Deutschland
werden gegenwärtig eine Reihe von Open-Access-Projekten
gefördert. Dazu gehören Digital Peer Publishing
(DIPP), ein Projekt des Bundeslandes Nordrhein-
Westfalen zur Unterstützung von e-Journalen, weiterhin
eSciDoc, eine Plattform für vernetztes wissenschaftliches
Arbeiten, die von der Max-Planck-Gesellschaft
in Zusammenarbeit mit dem Fachinformationszentrum
Karlsruhe entwickelt wird, sowie German
Academic Publishers. GAP wird von der Deutschen
Forschungsgemeinschaft finanziert mit dem Ziel, eine
Plattform für Open-Access-Publikationen aller Fachgebiete
zu schaffen. „Wir wollen ein Kooperationsnetzwerk
etablieren, bestehend aus den Verlagen von
Hochschulen und anderen Forschungseinrichtungen“,
erklärt Dr. Stefan Gradman, Projektleiter von GAP,
„dabei sollen die Primärkosten durch Mitgliedsbeiträge
von etwa 100 bis 200 Euro im Jahr abgedeckt werden.
Darüber hinaus wird unser Back Office eine
Reihe von Serviceleistungen vom Lektorat bis zu
Druck und Vertrieb anbieten, die wir extra berechnen.
Wichtig ist, dass das Portal nicht einfach als Föderation
institutioneller ‚Document Repositories’ mit
ungeprüftem Inhalt verstanden wird, sondern nur
qualitätsgeprüfte Beiträge enthält. Hierfür stehen
wiederum die Mitgliedseinrichtungen gerade“. Zu den
Gründungsmitgliedern zählen unter anderem die Universitäten
Hamburg, Oldenburg, Karlsruhe, Göttingen
und die Freie Universität Berlin. Der operationale Start
des Verbundes ist für den Herbst 2005 avisiert.
include Digital Peer Publishing (DIPP), a project of the
Federal Land of North Rhine-Westphalia to support
e-journals, eSciDoc, a platform to facilitate networking
of academic activities that is being developed by the
Max Planck Society in collaboration with Fachinformationszentrum
Karlsruhe, as well as German Academic
Publishers. GAP is being funded by the Deutsche
Forschungsgemeinschaft with the aim of creating a
platform for Open Access publications in all subject
areas. “We intend to establish a collaborative network
consisting of the publishing centres of higher education
and other research institutions,” Dr. Stefan Gradman,
GAP Project Head, explains. “Primary costs are to be
covered by members’ fees of about 100 to 200 euros a
year. In addition, our Back Office is going to provide a
number of services ranging from editing to printing and
distribution that we will charge extra. What is important
is that the portal is not understood merely as a federation
of institutional ‘Document Repositories’ with contents
that have not been checked but that only contributions
that have undergone a quality review are adopted.
This, in turn, is up to the member institutions.”
The founder members include the Universities of
Hamburg, Oldenburg, Karlsruhe, Göttingen and the
Free University of Berlin. The network is to commence
operations in autumn 2005.
Im Open Access-Modell
sind es nicht mehr die
Leser, die eine Publikation
finanzieren, sondern die
Autoren selber.
In the Open Access Model,
it is no longer the readers
who finance a publication
but the authors themselves.
Exzellenzförderung und Föderalismus
Forschung und Bildung in Deutschland werden zum
Teil vom Bund und zum Teil von den Ländern getragen.
Während beispielsweise die Hochschulen im Wesentlichen
von den Ländern finanziert werden, sind diese in
der Bildungspolitik dennoch nicht autonom, sondern
der Bund hat ein Mitspracherecht. Dies hat in der
Vergangenheit immer wieder zu Konflikten geführt,
die letzten Endes vor dem Bundesverfassungsgericht
Promoting excellence and the
issue of federalism
In Germany, research and education are funded partly
by the Federal Government and partly by the Länder.
For example, whereas higher education institutions are
financed mainly by the Länder, the latter are nevertheless
not autonomous regarding their education policies.
Rather, the Federal Government also has a say. In the
past, this has again and again resulted in conflicts that
52 >> Humboldt kosmos 85/2005
Nachrichten News
entschieden werden mussten. Hintergrund ist das
föderale System der Bundesrepublik.
Zu den jüngsten Streitfällen zwischen Bund und
Ländern gehören die Einführung von Studiengebühren
und die Abschaffung der Habilitation. Während die
Bundesregierung hier eine einheitliche Regelung
anstrebte, entschied das Bundesverfassungsgericht
zugunsten der Länder. Jedes Bundesland kann jetzt
selber entscheiden, ob es Studiengebühren einführt
beziehungsweise auf die Habilitation seiner Professoren
verzichtet.
Das föderale System ermöglicht den 16 Bundesländern
ein hohes Maß an Autonomie. So verfügen sie
über eigenständige politische Institutionen mit Exekutive,
Judikative und Legislative. Auf übergeordneter
Ebene sind die Länder zum Bund zusammengeschlossen,
vertreten durch die Bundesregierung. Die Ministerpräsidenten
der Bundesländer haben die Möglichkeit,
in einem eigenen Organ, dem Bundesrat, Einfluss
auf die Gesetzgebung zu nehmen. Zu den Vorteilen
des föderalen Systems gehört die so genannte vertikale
Gewaltenteilung und damit eine Einbeziehung regionaler
Aspekte in die gesamtstaatliche Politik.
Traditionelle Aufgabe des Föderalismus ist die
Bewahrung der inneren Vielfalt. Ein massiver Nachteil
des föderalen Prinzips ist der Dauerwahlkampf. Bei
einem Wahlrhythmus von vier Jahren stehen in mindestens
einem der 16 Bundesländer immer Wahlen
vor der Tür, was das politische Tagesgeschäft auch
auf Bundesebene beeinflusst. Alle Versuche, durch
eine Reform die Schwächen des föderalen Systems
auszugleichen, sind bis zu diesem Sommer gescheitert,
da Bund und Länder sich nicht über eine Neuordnung
der Zuständigkeiten einigen konnten.
Doch nun konnte ein erster und entscheidender
Einigungserfolg erzielt werden. Nach langer Diskussion
wurde Ende Juni 2005 gemeinsam von Bund und
Ländern ein Exzellenzprogramm für Forschung in
Höhe von insgesamt 1,9 Milliarden Euro verabschiedet.
Diese Initiative sieht drei Schwerpunkte vor: die
Förderung von Graduiertenschulen, die Einrichtung
von Exzellenz-Clustern zwischen Hochschulen und
außeruniversitärer Forschung sowie Programmkostenpauschalen
in Fällen, in denen Drittmittel nicht die
Vollkosten eines Projektes abdecken.
53 >> Humboldt kosmos 85/2005
ultimately had to be decided on by the Federal Constitutional
Court. At the core of this issue is the Federal
Republic’s federal system itself.
Among the latest disputes between the Federal
Government and the Länder are the introduction of
tuition fees and doing away with the “Habilitation”, the
qualification academics need in Germany for a post as a
higher education lecturer. While the Federal Government
campaigned for uniform regulations here, the
Federal Constitutional Court ruled in favour of the
Länder. Now, each of the Federal Länder is free to opt
for tuition fees or dropping the requirement that its lecturers
hold a “Habilitation”.
The federal system grants the 16 Federal Länder a
high level of autonomy. For example, they have independent
political institutions with an executive, a
judicative and a legislative. At super-ordinate level, the
Länder form the Federal Republic, which is represented
by the Federal Government. The Chief Ministers of the
Federal Länder have the possibility to influence legislation
in a body of their own, the “Bundesrat”, Germany’s
Upper House. The advantages the federal system offers
include so-called vertical separation of powers, which
allows for an integration of regional aspects into national
state policy.
The traditional mission assigned to federalism is to
maintain internal diversity. One massive disadvantage
the federal system bears is the continuous election
campaign it results in. Given that the Germans go to the
ballot box every four years, this means that elections are
always just around the corner in at least one of the 16
Federal Länder, which has its influence on the day-today
political affairs at Federal level. All attempts to
offset the weaknesses of the federal system with reforms
failed up to this summer because the Federal Government
and the Länder were unable to agree on a reorganisation
of responsibilities. But now, an initial and crucial agreement
has been reached. Towards the end of June 2005,
following long debates, the Federal and Länder Governments
jointly adopted an excellence programme for
research to the tune of 1.9 billion euros in all. This
initiative stipulates three priorities: promoting
“Graduiertenschulen” (colleges for post-graduates),
setting up excellence clusters involving higher education
institutions and non-university research, and lump sums
to fund programmes in those cases in which third-party
funding does not fully cover the costs of a project.
Zusätzliche 1,9 Milliarden
Euro investieren Bund
und Länder in die Förderung
herausragender Forschungsleistungen.
The Federal and Länder
governments are investing
an additional 1.9 billion
euros in outstanding
research.
Neues aus der Stiftung
News from the Foundation
Deutschlandjahr in Japan 2005/2006
„Freundschaftsjahre“, bei denen sich eine Nation in
einem anderen Land mit zahlreichen Veranstaltungen
aus allen gesellschaftlichen Bereichen präsentiert,
haben Konjunktur. Allein in Deutschland werden derzeit
das „Deutsch-Polnische Jahr 2005/2006“ und das
„Koreajahr 2005“ gefeiert.
Deutschland präsentiert sich seinerseits beim
„Deutschlandjahr in Japan 2005/2006“. Das „Deutschlandjahr“
soll einen Bogen spannen vom Endspiel der
Fußballweltmeisterschaft 2002 in Japan, über die Weltausstellung
2005 im japanischen Aichi bis zur Eröffnung
der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland
im Juni 2006. Am 4. April 2005 ist es vom deutschen
Bundespräsidenten Horst Köhler gemeinsam mit Seiner
Kaiserlichen Hoheit dem Kronprinzen von Japan
feierlich eröffnet worden. Auch der Präsident der Alexander
von Humboldt-Stiftung, Professor Wolfgang
Frühwald, war Teil der hochrangig besetzten Delegation
des deutschen Bundespräsidenten.
Das „Deutschlandjahr in Japan“ will der japanischen
Öffentlichkeit ein Bild des modernen Lebens in
Deutschland in Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft
vermitteln und vor allem die junge Generation der
Japaner für Deutschland interessieren. Insgesamt finden
während des Deutschlandjahres landesweit über
700 Veranstaltungen statt. Es ist auch für die Humboldt-Stiftung
der Anlass, sich im Jahr 2005 schwerpunktmäßig
in Japan zu engagieren. Neben den regulären
Austauschprogrammen fördert und organisiert
sie zahlreiche Veranstaltungen für Humboldtianer in
Japan.
Bereits im Mai 2005 fand unter der Leitung von
Professor Yoshiyuki Nagai das Humboldt-Kolleg „German-Japan
Virology Meeting on Emerging and Reemerging
Viruses“ statt. Im Juli 2005 diskutierten in
Kyoto namhafte Germanisten aus Deutschland und
Japan über die „Entwicklung der Auslandsgermanistik
zu einer Kulturwissenschaft“. Initiatoren dieses Symposiums
waren die Professoren Jürgen Fohrmann,
Wilhelm Voßkamp und Teruaki Takahashi. Ende September
2005 wird in Tokio ein hochkarätig besetzter
rechtswissenschaftlicher Kongress zum Thema „Globalisierung
und Recht“ stattfinden, der gemeinsam
von der Humboldt-Stiftung, dem Deutschen Akademischen
Austauschdienst (DAAD) und der Japan
Germany Year in Japan 2005/2006
“Friendship Years”, in which one country presents itself
in another with several events reflecting a wide range of
social aspects, are experiencing a boom nowadays. In
Germany alone, the “German-Polish Year 2005/2006”
and the “Korea Year 2005” are now being celebrated.
Germany is presenting itself with its “Germany Year
in Japan 2005/2006”. The Germany Year is intended to
link up the 2002 Soccer World Championship Finals in
Japan, the 2005 World Exhibition in Japan’s Aichi and
the opening of the Soccer World Championship in Germany
in June 2006. On the 4th April 2005, it was jointly
opened by Germany’s Federal President Horst Köhler
and His Imperial Highness the Crown Prince of Japan.
The President of the Humboldt Foundation, Wolfgang
Frühwald, was also a member of the German Federal
President’s high-ranking delegation.
The “Germany Year in Japan” is intended to give the
Japanese public an impression of modern life in Germany
in culture, economics and academe and above all
get the young Japanese generation interested in the
country. In all, 700 events are taking place throughout
Japan during the Germany Year. For the Humboldt
Foundation, it is also the occasion on which its activities
focus on Japan in 2005. In addition to the regular
exchange programmes, it is funding and organising
numerous events for Humboldt Fellows in Japan.
The Humboldt Kolleg “German-Japan Virology
Meeting on Emerging and Re-emerging Viruses”,
headed by Professor Yoshiyuki Nagai, was already held
in May 2005. In July 2005, in Kyoto, renowned scholars
of German language and literature from Germany and
Japan discussed the “development of German language
and literature studies abroad towards a branch of
cultural studies”. The initiators of this symposium were
Professors Jürgen Fohrmann, Wilhelm Voßkamp and
Teruaki Takahashi. Towards the end of September 2005,
a jurisprudential congress with high-ranking
attendance is to be held in Tokyo on the topic of
“Globalisation and Law”. This event is being organised
jointly by the Humboldt Foundation, the German
Academic Exchange Service (DAAD) and the Japan
Society for the Promotion of Science (JSPS). The
Ministers of Justice of the two countries, leading law
scholars and outstanding junior scholars are to attend
the congress. The “Germany Year” is to conclude with
54 >> Humboldt kosmos 85/2005
Neues aus der Stiftung News from the Foundation
Society for the Promotion of Science (JSPS) organisiert
wird. Die Justizministerinnen beider Länder, prominente
Juristen und herausragende Nachwuchswissenschaftler
werden an dem Kongress teilnehmen. Den
Abschluss des „Deutschlandjahres“ bilden zwei Tagungen
zur Philosophiegeschichte, die von den Siebold-
Preisträgern Professor Naoji Kimura (im Oktober
2005) und Professor Ryosuke Ohashi (im März 2006)
vorbereitet werden. Darüber hinaus werden sowohl
von einzelnen Humboldtianern als auch von den
Humboldt-Vereinigungen in Japan weitere wissenschaftliche
Veranstaltungen geplant.
two congresses on the history of philosophy that are
being prepared by Siebold Award Winners Naoji
Kimura (in October 2005) and Professor Ryosuke
Ohashi (in March 2006). In addition, further academic
events are being planned both by individual Humboldt
Fellows and by the Humboldt Associations in Japan.
Aufnahme in die Polnische Akademie
der Wissenschaften
Die Generalversammlung der Polnischen Akademie
der Wissenschaften wählte am 19. Mai 2005 den Germanisten
und Präsidenten der Humboldt-Stiftung,
Professor Dr. Wolfgang Frühwald, zum auswärtigen
Mitglied der Akademie.
Mit dieser Auszeichnung würdigt die Polnische
Akademie der Wissenschaften Frühwalds Verdienste
um die deutsch-polnische wissenschaftliche Zusammenarbeit.
In seiner Funktion als Präsident der
Deutschen Forschungsgemeinschaft schloss er Mitte
der 90er Jahre ein Abkommen mit der Polnischen
Akademie der Wissenschaften. Er publizierte in ihrer
Vierteljahreszeitschrift „Academia“ und tauscht sich
seit vielen Jahren mit polnischen Germanisten aus,
etwa zur Forschung über den deutschen Dichter
Joseph von Eichendorff.
Polen ist für die Humboldt-Stiftung ein wichtiges
Partnerland. Bei der Anzahl der seit 1953 vergebenen
Stipendien steht Polen weltweit an fünfter Stelle hinter
den USA, Japan, Indien und China. Europaweit rangiert
es sogar auf Platz eins, gefolgt von der Russischen
Föderation, Spanien, Großbritannien und Italien.
Die feierliche Aufnahme Wolfgang Frühwalds in die
Polnische Akademie der Wissenschaften erfolgte am
4. Juli 2005 in der Polnischen Botschaft in Berlin im
Beisein des Vize-Präsidenten der Polnischen Akademie
der Wissenschaften, Professor Dr. Jan Strelau.
A new member of the Polish Academy
of Sciences
The scholar of German language and literature and
President of the Humboldt Foundation, Professor Dr.
Wolfgang Frühwald, has been selected as an external
member of the Polish Academy of Sciences. The
Academy’s General Assembly appointed him on the
19th May 2005.
The Polish Academy of Sciences awarded Frühwald
this distinction in recognition of his contributions to
German-Polish academic co-operation. As President
of the Deutsche Forschungsgemeinschaft (German
Research Foundation), he signed an agreement with the
Academy in the mid-nineties. He wrote for its quarterly
“Academia” and has discussed issues with Polish scholars
of German language and
literature for several years, for instance research on the
German poet Joseph von Eichendorff.
Poland is an important partner country for the
Humboldt Foundation. In terms of the numbers of
fellowships awarded since 1953, Poland is in fifth
position world-wide, following the USA, Japan, India
and China. And in Europe, it is even in first position,
ahead of the Russian Federation, Spain, the UK and Italy.
The ceremony marking Wolfgang Frühwald’s
appointment as a member of the Polish Academy
of Sciences was held in the Polish Embassy in Berlin
on the 4th July 2005 and was attended by the Vice-
President of the Polish Academy of Sciences, Professor
Dr. Jan Strelau.
Professor Dr. Wolfgang
Frühwald, Präsident der
Alexander von Humboldt-
Stiftung.
Professor Dr. Wolfgang
Frühwald, President of the
Alexander von Humboldt-
Foundation.
55 >> Humboldt kosmos 85/2005
Neues aus der Stiftung News from the Foundation
Kräfte bündeln und Synergien nutzen
Die Alexander von Humboldt-Stiftung und die Deutsche
Welle haben eine Kooperationsvereinbarung
abgeschlossen, um die bereits bestehende Zusammenarbeit
zu verstärken und auf weitere Felder auszudehnen.
Ziel der Vereinbarung ist es, den Informationsfluss
untereinander zu verbessern und durch die
gegenseitige Nutzung der Netzwerke die Wirksamkeit
deutscher Mittlerorganisationen im Ausland zu erhöhen
und weltweit gemeinsam ein modernes Deutschlandbild
zu vermitteln.
Neben gemeinsamen Veranstaltungen im In- und
Ausland soll den Humboldt-Forschungsstipendiaten
in Deutschland die Expertise der Deutschen Welle
zugänglich gemacht werden. Umgekehrt sollen die
Humboldtianer dem Auslandsrundfunk als Interviewpartner
und wissenschaftliche Experten zur Verfügung
stehen. Zurück in ihren Heimatländern können
sie dann das Netzwerk der Programmmacher
bereichern.
„Wir wollen unsere Kräfte dort bündeln und
gegenseitig verstärken, wo sich unsere Kompetenzen,
Arbeitsfelder und Zielgruppen berühren, etwa bei der
Information über die guten Voraussetzungen für
internationale Forschung in Deutschland oder beim
kulturellen Dialog“, so Dr. Georg Schütte, Generalsekretär
der Humboldt-Stiftung, zur Unterzeichnung
der Kooperationsvereinbarung mit der Deutschen
Welle.
Neben der Humboldt-Stiftung hat auch das Goethe-Institut
einen Kooperationsvertrag mit der Deutschen
Welle abgeschlossen. Die beiden Institutionen
wollen ihre Öffentlichkeitswirkung durch Bündelung
von Ressourcen, Erfahrung und Know-how sowie
durch die gemeinsame Nutzung der jeweiligen Strukturen
verbessern.
Joining forces to benefit from synergies
The Alexander von Humboldt Foundation and
Deutsche Welle have signed a co-operation agreement
aimed at boosting existing collaboration and extending
it to further fields. The goal of the agreement is to
improve the interchange of information and, by
mutually taking advantage of networks, to raise the
effectiveness of German mediating organisations
abroad and jointly impart a modern image of Germany
world-wide.
In addition to joint events at home and abroad,
the Humboldt Fellows in Germany are to gain access
to the expertise of Deutsche Welle. In return, the
Humboldtians are to be available to the overseas radio
broadcasting service as interviewees and academic
experts. When they return to their home countries, they
can then add to variety in the network of programme
producers.
“We aim to focus our forces and mutually
supplement them where our competencies, fields
of activity and target groups touch one another, for
instance in informing academics about the good
conditions Germany offers international research or
in cultural dialogue,” Dr. Georg Schütte, Secretary
General of the Humboldt Foundation, comments
on the signing of the co-operation agreement with
Deutsche Welle.
Apart from the Humboldt Foundation, the Goethe
Institute has also signed a co-operation agreement
with Deutsche Welle. The two institutions wish to
attain more effective publicity by combining resources,
experience and know-how and by sharing the respective
structures.
Dr. Georg Schütte, Generalsekretär
der Humboldt-Stiftung,
und Erik Bettermann,
Intendant der Deutschen
Welle, unterzeichnen die
Kooperationsvereinbarung.
Dr. Georg Schütte, Secretary
General of the Humboldt-
Foundation, and Erik Bettermann,
Director-General of
the Deutsche Welle, sign the
co-operation agreement.
56 >> Humboldt kosmos 85/2005
Neues aus der Stiftung News from the Foundation
Eine Tradition des Gebens
Seit Gründung der Alexander von Humboldt-Stiftung
im Jahr 1953 haben Freunde, Förderer, Stipendiaten
und Preisträger für die Humboldt-Stiftung gespendet
oder gestiftet. Sie haben damit dazu beigetragen, dass
junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus
aller Welt nach Deutschland kommen können, um
hier zu forschen und um Kontakte und Freundschaften
zu knüpfen, die ein Leben lang halten.
Spenden an die Humboldt-Stiftung sind in
Deutschland im Rahmen der Gesetze steuerlich
absetzbar. Wenn auch Sie einen finanziellen Beitrag
zum Aufbau des Stiftungsvermögens leisten möchten,
überweisen Sie bitte einen von Ihnen zu bestimmenden
Betrag auf das folgende Konto:
Alexander von Humboldt-Stiftung
Bank:
Dresdner Bank Bad Godesberg
Kontonummer: 266 397 100
Bankleitzahl: 370 800 40
SWIFT-BIC: DRES DR FF 381
IBAN: DE14 3708 0040 0266 3971 00
In den USA können steuerlich absetzbare Spenden
auch an die „American Friends of the Alexander von
Humboldt Foundation“ gesandt werden. Die „American
Friends“ sind als gemeinnützige Organisation
anerkannt und unterstützen auf vielfältige Weise die
Tätigkeit der Humboldt-Stiftung in den USA.
„American Friends“ of the Alexander von Humboldt
Foundation
1012, 14th Street NW
Suite 1015
Washington, DC 20005
A tradition of giving
Ever since the formation of the Alexander von
Humboldt Foundation in 1953, friends, patrons,
fellowship holders and award winners have donated
money to support the Humboldt Foundation. Thanks to
their support the Humboldt Foundation has made it
possible for young scientists and scholars from all
countries to conduct research in Germany and to form
ties with other academics that last a lifetime.
Donations to the Humboldt Foundation are
tax-deductible in Germany in the context defined by
Germany law. If you want to donate money to help the
Foundation augment its assets, please transfer the
amount you would like to give onto the Foundation's
account:
Alexander von Humboldt Foundation
Bank: Dresdner Bank Bad Godesberg
Account No.: 266 397 100
Bank Code: 370 800 40
SWIFT-BIC: DRES DR FF 381
IBAN: DE14 3708 0040 0266 3971 00
In the US, tax-deductible donations can also be sent to
the “American Friends of the Alexander von Humboldt
Foundation”. “American Friends” is registered as a
non-profit organisation and supports the work of the
Humboldt Foundation in the United States.
“American Friends” of the Alexander von Humboldt
Foundation
1012, 14th Street NW
Suite 1015
Washington, DC 20005
57 >> Humboldt kosmos 85/2005
Wissenschaft und Kultur Science and Culture
Anja Bettenworth & Ruth Scodel
Liebe und Tod im Historienfilm
Matters of love and death in history films
Das heutige Bild der Antike prägt bei weiten Teilen
der Öffentlichkeit nicht mehr die Literatur jener Zeit,
sondern der Historienfilm aus Hollywood. Die Humboldtianerin
Anja Bettenworth prüft die Selbstmorddarstellungen
der modernen Filme auf ihren historischen
Gehalt.
Tollkühne Wagenlenker, sadistische Kaiser, verführerische
Frauen und schwüle Erotik, all dies gehört zu
den Zutaten, die wir von einem typischen Historienfilm
erwarten dürfen. Blut und Schweiß fließen in der
Regel reichlich, sei es im Kampf der Gladiatoren oder in
heroischer Schlacht gegen rasende Kriegselefanten.
Selbst der blutrünstigste Leinwandheld wird jedoch
schlagartig ruhig und überlegt, wenn es darum geht,
selber aus dem Leben zu scheiden. In diesem Punkt
überlassen wichtige Persönlichkeiten, mögen sie sich
auch wenige Szenen zuvor noch so irrational verhalten
haben, nichts dem Zufall, sondern inszenieren ihren
eigenen Tod nach besten Kräften. Dieses Verhalten entspricht
durchaus den Idealen, die wir in der römischen
Literatur greifen können.
Eindrucksvoll soll der Abschied aus der Welt gestaltet
werden, wenn möglich repräsentativ, zumindest aber
würdevoll. Würdevoll jedoch sind Blutfontänen und
offene Eingeweide selten, und dies stellt nicht nur die
Selbstmordkandidaten, sondern auch den modernen
Filmregisseur vor nicht unerhebliche Probleme. Der
Selbstmord bleibt im Historienfilm zumeist positiv besetzten
Charakteren vorbehalten, die sich weder in endloser
Agonie winden noch sonst durch die Begleitumstände
ihres Todes desavouiert werden sollen. Eine Ausnahme
bildet Kaiser Nero in vielen Verfilmungen von
Quo vadis, der sich bezeichnenderweise von einem Getreuen
helfen lassen muss – ein Fauxpas, der schon dem
wirklichen Nero die Missbilligung der römischen
Geschichtsschreiber und Biographen eintrug. Während
also einerseits Gewaltexzesse in Selbstmordszenen unerwünscht
sind – meist sinken die Helden, wie Marcus
Antonius, erstaunlich rasch dahin – ist andererseits auch
ein unspektakuläres Ende wie das des Juristen Nerva, der
sich laut Tacitus zu Tode hungerte, als Höhepunkt eines
Actionstreifens ungeeignet. Der Regisseur des Films
„Caligula“ (1980) entschied sich daher für eine radikale
Lösung: Nerva, alias Sir John Gielgud, verhungert nicht,
sondern öffnet sich demonstrativ die Pulsadern.
In wide sections of the public, today’s notion of
antiquity is no longer shaped by that era’s literature
but by the history film from Hollywood. Humboldtian
Anja Bettenworth checks the historical content
of suicide scenes in modern movies.
Reckless charioteers, sadistic emperors, seductive women
and sultry eroticism, all these belong to the ingredients
we expect in a typical sword-and-sandals movie. Blood
and sweat normally flow abundantly, whether in a gladiatorial
massacre or a heroic battle against rampaging
elephants.
Yet even the most bloodthirsty hero of the screen
turns mild once the issue is his own departure. On this
matter the main characters, even if they have been acting
utterly irrationally a few scenes before, leave nothing to
chance; they do their best to stage their own deaths. This
behaviour corresponds to the ideals we find in Roman literature.
One’s departure from life should be impressive;
exemplary, if possible, at least dignified. Dignity, however,
is rarely associated with fountains of blood and lacerated
entrails, which presents both would-be suicides
and modern film directors with not inconsiderable problems.
Suicide in toga movies is mostly reserved for sympathetic
characters, who deserve neither to expire in protracted
agony nor to be humiliated by other nasty sideeffects
of death. Nero in many versions of Quo Vadis is an
exception. He needs to get the help of a follower, typically
enough, to do the job – a faux pas that already earned
the real Nero the disapprobation of Roman historians
and biographers. So while on the one hand an excess of
violence is undesirable in suicide scenes – mostly the
heroes perish astoundingly quickly, as Marc Antony does
– an unspectacular death like that of the jurist Nerva,
who, according to Tacitus, starved himself to death, is
equally unsatisfactory as a climactic moment. So for
“Caligula” (1980), the producer opted for a more radical
solution. Rather than dying of hunger, Nerva, alias Sir
John Gielgud, demonstratively opens his veins.
The historically transmitted death of Cleopatra
through a snakebite is more cinematic. While the earlier
versions with Claudette Colbert (1934), Elizabeth Taylor
(1963) and Leonor Varela (1999) show the Queen’s death
as practically a deed of state, crowned by a spectacular
final image of the dead Pharao on her bier, in the latest
*******
Dr. Anja Bettenworth ist
Latinistin an der Universität
Münster. Mit einem
Feodor Lynen Forschungsstipendium
forscht sie
zurzeit an der University
of Michigan in Ann Arbor,
USA.
*******
Dr. Anja Bettenworth is a
scholar of Latin language
and literature at the University
of Munster. With a
Feodor Lynen Research
Fellowship she is currently
engaged in research at
the University of Michigan
in Ann Arbor, USA.
*******
Professor Dr. Ruth Scodel
ist Gräzistin und zurzeit
wissenschaftliche Gastgeberin
von Anja Bettenworth.
Im Rahmen eines
Humboldt-Forschungsstipendiums
forschte sie
1993 an der Freien Universität
Berlin.
*******
Professor Dr. Ruth Scodel
is a scholar of Greek language
and literature and
at present an academic
host of Anja Bettenworth.
As a Humboldt
Fellow she was engaged
in research at the Free
University of Berlin in
1993.
58 >> Humboldt kosmos 85/2005
Wissenschaft und Kultur Science and Culture
*******
FORSCHUNGSGEBIET
Monumentalfilme sind
historisch nicht immer
korrekt. Dennoch erlauben
sie Rückschlüsse –
auf die Umstände ihrer
Entstehung wie auf das
gesellschaftliche und
politische Leben in der
Antike. Besonders gut
lässt sich dieses Phänomen
am Beispiel der
Tötungs- und Selbstmorddarstellungen
zeigen,
die sowohl in der
antiken Literatur als
auch im Monumentalfilm
eine wichtige Rolle spielen.
Die meisten überlieferten
Selbstmorde enthalten
nicht nur eine
religiös-philosophische,
sondern auch eine
geschlechtsspezifische
und vor allem, da sich in
Literatur und Film meist
hochgestellte Persönlichkeiten
das Leben nehmen,
eine politische Komponente.
Anja Bettenworth
arbeitet mit Ruth Scodel
an einer systematischen
Sammlung und Auswertung
solcher Beispiele.
*******
AREA OF RESEARCH
Sword-and-sandals
movies are not always
that accurate in terms
of their contents. Nevertheless,
they permit
deductions regarding
both the circumstances
they were produced in
and social and political
life in antiquity. This
phenomenon can be
illustrated particularly
clearly with the example
of killing and suicide
scenes that play an
important role both in
ancient literature and in
toga movies. Most of the
historically transmitted
suicides bear not only a
religious and philosophical
but also a genderspecific
and, above all,
a political component,
given that it is usually
high-ranking figures who
take their lives. Anja
Bettenworth is working
together with Ruth
Scodel on a systematic
collection and evaluation
of such examples.
Die Fotos (von links nach rechts) zeigen Szenen aus den Filmen „Quo Vadis?“ (1951), „Cleopatra“ (1963) und „Spartacus“ (1960).
The photos (from the left to the right) show scenes from the films “Quo Vadis?” (1951), “Cleopatra” (1963) and “Spartacus” (1960).
Cineastisch dankbarer gestaltet sich der historisch
überlieferte Tod der Kleopatra durch einen Schlangenbiss.
Während die früheren Verfilmungen mit Claudette
Colbert (1934), Elizabeth Taylor (1963) und Leonor
Varela (1999) das Ende der Königin als halboffizielles
Ereignis wiedergeben, das von einem spektakulären
Schlussbild der toten Pharaonin auf dem Katafalk
gekrönt wird, umschlingen sich in der neuesten Verfilmung
(„Augustus“, 2004) Frau und Reptil in einem
sehr privaten erotischen Akt. Erst in der folgenden
Szene erscheint Kleopatra wieder als aufgebahrte Herrscherin,
allerdings halb verhüllt durch einen Schleier,
der den Bruch mit der filmischen Tradition auch
optisch deutlich werden lässt.
Gerade an den immer wiederkehrenden Selbstmordszenen
lässt sich, nicht zuletzt wegen der radikalen und
zumindest in der Neuzeit umstrittenen Handlung, gut
jene Mischung aus Zeitgeist, interfilmischen Referenzen
und Verarbeitung antiker Quellen ablesen, die für
den Historienfilm insgesamt charakteristisch ist. So
zeigt sich, dass viele der in der antiken Literatur diskutierten
Probleme, etwa die Freiheit des Individuums
gegenüber dem Herrscher oder die Gefahren von Korruption,
Machtmissbrauch und exzessiver Selbstdarstellung,
auch im modernen Film erscheinen, allerdings
zuweilen mit einer neuen und gerade darum aufschlussreichen
Akzentuierung.
film (“Augustus”, 2004), woman and serpent embrace in
a very private erotic act. Only in the following scene does
Cleopatra reappear as a ruler, formally laid out, but halfcovered
in a veil that visually marks the break with cinematic
tradition.
These recurring scenes of suicide, also because of the
radical and, at least for moderns, controversial action
they represent, are an excellent medium through which
to read that combination of the zeitgeist, allusions to
other films, and reworking of ancient sources that is
the characteristic of the toga movie. Thus many of the
problems discussed in literature of antiquity, such as the
individual’s freedom vis-à-vis the ruler or the dangers
of corruption, abuse of power or excessive self-representation
are also addressed in modern movies, albeit sometimes
with new accents that contribute to making these
films informative.
>>
Die zehn großen
Selbstmorde
im Historienkino
The ten great suicides
in sword-andsandals
movies
59 >> Humboldt kosmos 85/2005
*************************************************************
Die zehn großen Selbstmorde im Historienkino The ten great suicides in sword-and-sandals movies
1. Nerva („Caligula“, 1980) 2. Gracchus („Spartacus“, 1960) 3. Kleopatra („Kleopatra“, 1963) 4. Kleopatra („Augustus – Mein Vater, der Kaiser“, 2004)
5. Petronius („Quo vadis“, 1951) 6. Anonymer Senator („Satyricon“, 1969) 7. Petronius („Quo vadis“, 1985) 8. Sophonisba („Cabiria“, 1914)
9. Cato („Julius Caesar“, 1999) 10. Nero („Quo vadis“, 1951)
*************************************************************
60 >> Humboldt kosmos 85/2005
Förderprogramme im Überblick
Survey of sponsorship programmes
>>
>>
>>
>>
>>
>>
>>
>>
>>
Die Alexander von Humboldt-Stiftung
verleiht jedes Jahr:
bis zu 600 Forschungsstipendien an hoch qualifizierte,
promovierte Wissenschaftler aus dem Ausland im Alter
von bis zu 40 Jahren für langfristige Forschungsaufenthalte
in Deutschland
bis zu 50 Georg Forster-Forschungsstipendien an hoch
qualifizierte Wissenschaftler aus Entwicklungsländern
im Alter von bis zu 45 Jahren für langfristige
Forschungsaufenthalte in Deutschland
bis zu 100 Forschungspreise an international anerkannte
Wissenschaftler aus dem Ausland
ungefähr 20 Friedrich Wilhelm Bessel-Forschungspreise
an Spitzenwissenschaftler aus dem Ausland
im Alter von bis zu 45 Jahren
Sofja Kovalevskaja-Forschungspreise an erfolgreiche
Spitzenwissenschaftler aus dem Ausland im Alter von
bis zu 35 Jahren zum Aufbau eigener Arbeitsgruppen
für langfristige Forschungsaufenthalte in Deutschland
(Verleihung alle zwei Jahre)
bis zu 150 Feodor Lynen-Forschungsstipendien
an hoch qualifizierte, promovierte, deutsche Wissenschaftler,
die jünger als 38 Jahre sind, für langfristige
Forschungsaufenthalte im Ausland
2 Max-Planck-Forschungspreise an je einen in
Deutschland und einen im Ausland tätigen Wissenschaftler
zur Förderung der internationalen Zusammenarbeit
je 10 Bundeskanzler-Stipendien für künftige Führungskräfte
aus der Russischen Föderation und den USA
Zuschüsse zu deutsch-amerikanischen und/oder -kanadischen
Wissenschaftskooperationen in den Geistes-,
Sozial-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften im
Rahmen des TransCoop-Programms
The Alexander von Humboldt Foundation
grants annually:
up to 600 research fellowships to highly qualified foreign
scientists and scholars holding doctorates and aged up to
40 years for long-term research stays in Germany
up to 50 Georg Forster Research Fellowships to highly
qualified scientists and scholars from developing countries,
aged up to 45 years, for long-term research stays in
Germany
up to 100 research awards to internationally recognised
scientists and scholars
approximately 20 Friedrich Wilhelm Bessel Research
Awards to outstanding scientists and scholars resident
outside Germany and aged up to 45 years
Sofja Kovalevskaja Research Awards to scientists and
scholars from abroad with outstanding research records,
aged up to 35 years, for establishing their own working
groups for long-term research stays in Germany
(awarded every two years)
up to 150 Feodor Lynen Research Fellowships to highly
qualified German scientists and scholars holding
doctorates and aged up to 38 years, for long-term
research stays abroad
2 Max Planck Research Awards to a German and a
foreign academic for international co-operation
10 German Chancellor Scholarships each for prospective
leaders from the Russian Federation and the USA
Subsidies towards German-American and/or -Canadian
academic research co-operations in the humanities, social
sciences, economics and law under the TransCoop
Programme