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Alexander von Humboldt-Stiftung

kosmos Nr.85 >> Juli 2005

Humboldt

kosmos

>> Wanderungen >> Migrations


Titelthema Coverstory

Editorial Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

Dear Readers,

die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte

der Wanderung. Schauen Sie auf Europa, das in diesen

Monaten intensiv über seine Identität und seine

gemeinsame politische Zukunft diskutiert.

Vor eineinhalb Jahrtausenden gaben die Wanderungen

germanischer und slawischer Völker dem Kontinent

ein anderes Gesicht.

Heute prägen andere Völkerwanderungen die

moderne vernetzte Welt: Wissenschaftlerinnen und

Wissenschaftler gehören zu den Berufsgruppen, die

ihren Arbeitsplatz nicht mehr in nur einem Land

finden. Den Guten und Mobilen eröffnen sich an vielen

Orten der Welt neue Berufs- und Karrierechancen.

Die Lebensläufe der Humboldt-Stipendiatinnen und

-Stipendiaten belegen dies mit vielen Beispielen. Das

Herkunftsland der Humboldt-Gastwissenschaftler ist

oftmals nicht identisch mit dem Land, in das die

nächste Etappe der akademischen Karriere führt.

Deutschland ist zu einer Drehscheibe für internationale

wissenschaftliche Talente geworden.

Ein Weg bleibt in Deutschland jedoch oftmals

noch versperrt: Die Wanderung zwischen einer akademischen

und einer außerakademischen Tätigkeit ist

meist nur in frühen Karrierephasen möglich. Doch es

kann auch anders gehen: In zahlreichen Ländern

haben Humboldtianer ihren Arbeitsplatz an der

Hochschule verlassen, um als Minister oder wissenschaftliche

Berater für ihre Regierungen und

Parlamente, um als Richter an obersten Gerichtshöfen

oder als Wissenschaftsmanager zu arbeiten. Oftmals

kehren sie nach dem Ende einer Amtszeit in ihre

wissenschaftlichen Positionen zurück. Politik,

Gesellschaft wie Universitäten öffnen Drehtüren,

die nicht nur den Weg hinaus, sondern auch den

Weg zurück ermöglichen. Profitieren können davon

alle Beteiligten.

Dieses Heft berichtet von solchen Wanderungen

zwischen Berufsfeldern und zwischen den Ländern.

Es sind diese Wanderungen, die das Gesicht moderner

Gesellschaften prägen. Viel Freude beim Lesen

wünscht Ihnen

Human history is a history of migration. Take Europe

for instance, which has been intensively debating its

identity and its common political future over the last

few months. One-and-a-half millennia ago, the

migratory movements of Germanic and Slav peoples

gave the continent another appearance.

Today, the modern, networked world is being

shaped by other types of migration. Academics belong

to those professional groups that no longer find their

jobs in one country alone. Those who are good enough

and sufficiently mobile will be offered new professional

and career opportunities in several places throughout

the world. Many an example of this is demonstrated by

the CVs of the Humboldt Fellows. Often, a Humboldt

Visiting Academic’s country of origin is not identical

with the country that the next career stage is going

to lead to. Germany has become a turntable of

international academic talent.

Nevertheless, one course still often remains

barred in Germany. Usually, migrating between an

academic and a non-academic activity is only possible

in the early stages of a career. However, there are

examples of alternatives in several countries, where

Humboldtians have left their positions in higher

education to work as ministers or academic advisors to

their governments and parliaments, or as judges at the

supreme courts of justice or as science managers.

Often, they will return to their academic jobs when

their period of office is over. Politics, society and

universities are like revolving doors that not only open

up a way out but also a way back. All those involved

can benefit from this.

This issue gives accounts of such migrations

between fields of occupation and between countries.

It is these migrations that shape the face of modern

societies. Wishing you happy reading,

Yours Georg Schütte

Ihr Georg Schütte

1 >> Humboldt kosmos 85/2005


Titelthema Coverstory

Inhalt

Contents

Impressum Imprint

Humboldt kosmos

Ausgabe Issue

85

Herausgeber Publisher

Alexander von

Humboldt-Stiftung

V.i.S.d.P. Responsible person in

accordance with German press law

Generalsekretär

Secretary General

Dr. Georg Schütte

Redaktion Editorial Staff

Georg Scholl (Leitung) (Head)

Ulla Hecken

Objektleitung Head of Project

Dr. Ulrike Albrecht

Gestaltung Design

Brighten the Corners

Studio for Design

www.brightenthecorners.com

Layout Layout

Brighten the Corners &

Courir-Druck GmbH, Bonn

Übersetzungen ins Englische

English Translations

Mike Gardner

Wissenschaftlicher Beirat

Academic Advisory Board

Prof. Dr. Roland Fischer

Prof. Dr. Joachim Jens Hesse

Prof. Dr. Wolfgang Peter Schleich

Prof. Dr. Waltraud Wiethölter

Redaktionsbeirat

Editorial Advisory Board

Dr. Sven Baszio

Dr. Johannes Belz

Dr. Gisela Janetzke

Dr. Barbara Sheldon

Redaktionsanschrift Address

Redaktion Humboldt Kosmos

Jean-Paul-Straße 12

D-53173 Bonn

presse@avh.de

www.humboldt-foundation.de

>>>

2 >> Humboldt kosmos 85/2005


Titelthema Coverstory

6 22 44 58

>>>

Verlag und redaktionelle

Verantwortung für die Rubrik

Nachrichten Publishing House

and editorial responsibility for

the News section

Lemmens Verlags- &

Mediengesellschaft mbH

Matthias-Grünewald-Str. 1-3

D-53175 Bonn

info@lemmens.de

www.lemmens.de

Druck Printer

Druckpartner Moser GmbH,

Rheinbach

Erscheinungsweise 2 x jährlich

Appearing twice a year

Auflage dieser Ausgabe

Circulation of this issue

36 500

Bildnachweis Picture credits

Titel: Böll & Fischer GbR, Unkel

S. 2, 3, 7, 9, 13, 17, 23, 25, 28, 31,

37, 49: Böll & Fischer GbR, Unkel

S. 3 oben rechts: picturealliance/akg-images

S. 18 oben links und unten links:

Olivier Moine, Université

Montpellier II

S. 18 oben rechts und unten

rechts: Christine Hatté, LSCE

Gif sur Yvette

S. 33, 34: Eichborn-Verlag

S. 35 (links): bpk/Nationalgalerie,

SMB/Jürgen Liepe

S. 35 (rechts): Stiftung Preußischer

Schlösser und Gärten

Berlin-Brandenburg.

S. 39 oben: picture-alliance/

dpa/dpaweb

S. 41, 43, 45, 47: Uschi Heidel

S. 48 oben: Ralf Gerard/JOKER

S. 48 unten: Peter Albaum/JOKER

S. 50: Katharina Eglau/JOKER,

S. 52: David Ausserhofer/JOKER

S. 53: Deutsches Zentrum für

Luft- und Raumfahrt, David Ausserhofer/JOKER,

Böll & Fischer

GbR, Unkel

S. 55: Erik Lichtenscheidt, Bonn

S. 56: Deutsche Welle, Bonn

S. 59 von links nach rechts:

picture-alliance/akg-images

picture-alliance/akg-images

picture-alliance/dpa/dpaweb

S. 60: picture-alliance/akgimages

Autorenfotos: privat

Die Beiträge geben die persönliche

Sicht der Autoren und

nicht die der Alexander von

Humboldt-Stiftung wieder.

Nichtnamentlich gezeichnete

Artikel und Interviews sind

redaktionelle Beiträge.

Contributions reflect the personal

views of the authors and

not those of the Alexander von

Humboldt Foundation. Articles

with no reference to an author

are editorial contributions.

1

Editorial

Editorial

2

Inhalt

Contents

4

Criticus meint...

Criticus says...

6

Titelthema –

Wanderungen

Cover Story –

Migrations

8

Jeanne Rubner

Erfolgsmodell aufs

Spiel gesetzt

Putting success

at stake

12

Interview

Sven Beckert

Der Traum von Amerika

und die Lust auf Europa

The American dream

and a hankering for

Europe

16

Denis-Didier Rousseau

Den steinernen

Schnecken auf der Spur

In search of the

stone snails

20

Interview

Carlos Huneeus

Wissenschaftler

an die Macht

Power to the

academics

22

Barbara Sheldon

Das Geheimnis der

fehlenden Forscher

The secret of the

missing researchers

26

Interview

Irena Lipowicz

Mittendrin – was

für eine Chance!

Right in between –

what an opportunity!

28

Amir Reza Jassbi

Ausweg Ausland

Going abroad as

a way out

30

Abdallah Al-Zoubi

Fortschritt durch

Austausch

Progress through

exchange

32

Deutschland

im Blick

View onto

Germany

Woher kommt

der deutsche

Humboldtboom?

How come Humboldt is

booming in Germany?

36

Interview

Vilmos Agel

Literatur ist ein

kulinarischer Genuss

Literature is a culinary

pleasure

38

Michael Palocz-Andresen

Wer hat Angst vom

Autoruß?

Who’s afraid of car soot?

40

Humboldtianer

im Profil

Humboldtians

in Profile

Uschi Heidel

Vom Minister zum

Stipendiaten

A minister turned fellow

44

Uschi Heidel

Lieber Leipzig

Better to be in Leipzig

48

Nachrichten

News

54

Neues aus

der Stiftung

News from

the Foundation

58

Wissenschaft

und Kultur

Science

and Culture

Anja Bettenworth

& Ruth Scodel

Liebe und Tod

im Historienfilm

Matters of love and

death in history films

ISSN 0344-0354

3 >> Humboldt kosmos 85/2005


Criticus Criticus

Criticus meint...

Criticus says...

dass die Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden,

welche bei großer Wahlbeteiligung ausdrücklich

„Nein“ zur Europäischen Verfassung gesagt haben,

die Europäische Union keineswegs in eine Krise gestürzt,

sondern nur eine längst vorhandene Krise offengelegt

haben. Natürlich ist mit dem so deutlich ausgefallenen

„Non“ und „Nee“ der beiden Gründungsstaaten der

Europäischen Union nicht schon das ganze historisch

bedeutsame Projekt einer Union des alten Kontinents

gefährdet, wohl aber ist die Frage nach den neuen vertraglichen

Grundlagen dieser Union gestellt. Die Ratlosigkeit

der Regierungen ist offenkundig. An mangelnder

Aufklärung habe es gelegen, sagen die einen. Eher an

innenpolitische Gründe sei in den Ländern des Referendums

zu denken, als an europapolitische, meinen andere.

Die Erweiterung der EU sei zu rasch erfolgt, lautet ein

weiterer Erklärungsversuch, Fremdenangst wird bemüht,

Angst vor dem Eingriff einer fernen, nur schwer verständlichen

Bürokratie in das Leben der einzelnen Bürger

etc. etc. Der eigentliche Grund für die großen Mehrheiten,

welche, trotz intensiver Werbung der Regierungen

für die Verfassung, deren Gegner erhalten haben, wird

nur selten genannt: die politische Klasse Europas hat sich

von ihrer Basis gelöst und weiß kaum noch, was die Menschen

denken und fühlen. Die Behauptung, die Franzosen

hätten die Verfassung gar nicht gelesen, gegen die sie

gestimmt haben, ist in einem traditionell so bewusst politisch

handelnden Land wie Frankreich eine glatte Unterstellung.

In den Ländern, in denen das Referendum

bevorsteht, Dänemark, Polen, Irland, der tschechischen

Republik, breitet sich Angst vor einem Domino-Effekt

aus, die britische Regierung hat das geplante Referendum

auf unbestimmte Zeit vertagt. Wie ein Referendum in

Deutschland ausgegangen wäre, wenn sich die deutsche

Regierung dazu hätte bereitfinden können, scheint mir

kaum zweifelhaft. Auch hier hätte bei den Bürgern die

Verfassung keineswegs jene triumphale Zustimmung

erfahren, die ihr im Parlament zuteil wurde. Auch in

Deutschland wird nämlich gerne übersehen, dass die

(manchmal schon größte, zumindest aber) zweitgrößte

Partei im Lande die der Nichtwähler ist. Wird ihr Unmut

erst einmal wach, gibt es ein Erdbeben wie bei den Referenden

in Frankreich und den Niederlanden.

Die römische Zeitung „La Repubblica“ meinte, im

niederländischen Referendum sei die letzte Ideologie

that the referenda in France and the Netherlands, which

saw a high turnout and clearly rejected the European

Constitution, have by no means brought disaster to the

European Union but merely exposed a long-standing crisis.

Of course such a decisive “Non” and “Nee” on the

part of the European Union’s two founding nations is not

enough to jeopardise the historically important project of

the old continent forming a union in its entirety, but it

has certainly raised questions regarding the new constitutional

basis for this union. Obviously, the governments

are at a loss. Some say people haven’t been given enough

information. Others maintain that domestic policy

issues in the countries the referenda had been held in

were to blame rather than European politics. A further

attempt to explain the outcome is to maintain that the

EU enlargement has made too rapid progress, that xenophobia

and fear of a remote bureaucracy that is difficult

to comprehend interfering with the lives of individual

citizens is being incited, etc., etc. Only rarely is mention

made of the true reason for the considerable majorities

that the opponents of the constitution have scored in spite

of the intensive advertising campaigns the governments

ran in favour of it. Europe’s political class is no longer in

touch with the grassroots and has hardly any idea of

what the people think and feel. To claim that the French

didn’t even bother to read the constitution they voted

against is clearly a misrepresentation given a country like

France that has traditionally demonstrated political

awareness in its actions. In the countries yet to hold a referendum,

Denmark, Poland, Ireland, and the Czech

Republic, fear of a domino effect is spreading, and the UK

government has postponed its planned referendum

indefinitely. I have hardly any doubts what the outcome

of a referendum in Germany would have been like, had

the German Government found itself in a position to

hold one. Here too, the triumphal approval the constitution

was met with in Parliament would certainly have

been absent among the citizens. For in Germany too,

there is a strong tendency to ignore that the country’s

(sometimes already largest, but certainly) second-largest

party is that of the non-voters. Once their disgruntlement

surfaces, there will be an earthquake the likes of the

referendum outcomes in France and the Netherlands.

Rome’s newspaper “La Repubblica” claimed that the

Dutch referendum had represented the demise of the last

4 >> Humboldt kosmos 85/2005


Criticus Criticus

untergegangen, die das Ende der politischen Religionen

des 20. Jahrhunderts überdauert habe, jener „Europäismus“,

der keine Politik und keine Leidenschaft kenne,

sondern wie ein Baukasten funktioniert habe, unbekümmert

um jene, die darin ihre Heimat haben. Nach dem

Zweiten Weltkrieg war es zunächst ein großer Fortschritt,

dass sich Europa als eine Wirtschaftsgemeinschaft konstituierte,

dass in kleinen, nüchtern geplanten und überlegten

Schritten ein europäischer Markt geschaffen wurde,

der auch Frieden unter den einstmals verfeindeten Völkern

garantierte. Dann aber, als die großen Schritte

anstanden, die Gemeinschaft der Euro-Länder, die Osterweiterung

der Union und nun die gemeinsame Verfassung,

welche der Union als Union Handlungsfähigkeit

schenken soll, wurde rasch deutlich, dass die Planungssprache

nicht mehr genügte, dass ein europäischer Markt

als Basis für ein gemeinsames Europa nicht ausreicht.

Wenn Europa mehr sein soll als eine Freihandelszone,

eine Währungsgemeinschaft und ein Subventionenbündnis,

muss es – so pathetisch dies auch klingen mag –

in den Herzen der Menschen wurzeln. Dies zu erreichen,

ist eine lang dauernde und immerwährende, im hektischen

Alltag der Politik oft vernachlässigte Aufgabe.

Die Alexander von Humboldt-Stiftung hat mehr als

50 Jahre gebraucht, um jene internationale Gemeinschaft

zu werden, als die sie sich heute in 130 Nationen der Erde

darstellt; eine Gemeinschaft, die sich als eine Familie

fühlt, verbunden durch Wissenschaft und durch die Sympathie

zu jenem Deutschland, das, nach den Schrecken

des Nationalsozialismus, mit der Gründung der Alexander

von Humboldt-Stiftung gleichsam die Hand der Versöhnung

zu den Völkern der Erde ausgestreckt hat und

sie noch immer ausgestreckt hält. Die Humboldt-Stiftung

ist mehr als eine bequeme Finanzierungsquelle für

wissenschaftliche Zusammenarbeit, sie ist für viele ihrer

Stipendiatinnen und Stipendiaten zu einer zweiten Heimat

geworden. Könnte ihr Erfolgsrezept nicht auch ein

Rezept für das an Sympathie und Zuneigung notleidende

Europa sein?

Mit dieser Frage grüßt aus Bonn alle Freunde nah

und fern, die über die Humboldt-Stiftung Mitglieder

einer europäischen Familie geworden sind, herzlich

Criticus

ideology to have survived the end of the twentieth century’s

political religions – that Europeanism that knew no

politics and no passion but worked like an assembly kit

ignoring all those it was home to. Initially, after the Second

World War, Europe’s constituting itself as an economic

community and the creation of a European market

in small, well-considered moves was a huge step forward

that also guaranteed peace among what had at one

time been hostile peoples. But then, when the major initiatives

were forthcoming, the community of the euro

countries, the Union’s eastern enlargement and now, the

common constitution meant to grant the Union the ability

to act as a union, it quickly became apparent that the

language of planning was no longer enough, and that a

European market does not provide a sufficient basis for a

common Europe. If Europe is intended to be more than a

free trade zone, a currency union and a subsidy alliance,

pathetic as this may sound, it has to be rooted in people’s

hearts. Achieving this is a long and lasting task that has

often been forgotten in hectic day-to-day politics.

It took the Alexander von Humboldt Foundation

more than 50 years to become the international community

it now represents in 130 nations throughout the

world, a community that feels like a family, with ties

established through academe and sympathy with a Germany

that, following the terrors of National Socialism,

with the founding of the Alexander von Humboldt Foundation

quasi held out its hand as a gesture of reconciliation

with the world’s nations and is still doing so. The

Humboldt Foundation is more than a convenient source

of funding for academic co-operation. For many of its fellows,

it has become a second home. Couldn’t its recipe for

success also be a remedy for a Europe suffering from a

lack of sympathy and affection?

Perhaps you would like to ponder over this question.

With best wishes from Bonn to all friends far and near

who have become members of a European family thanks

to the Humboldt Foundation,

Criticus

5 >> Humboldt kosmos 85/2005


Wanderungen

Migrations

Wer in der Forschung etwas werden

will, packt früher oder später einmal

seine Koffer und geht auf Wanderschaft.

Wissenschaftler sind zu privilegierten

Wanderarbeitern geworden, um die die

Forschungsnationen in aller Welt buhlen

– vor allem mit materiellen Anreizen

wie Forschungsmitteln und Laborausstattungen.

Doch mindestens genauso

wichtig sind die weichen Faktoren, das

zeigen die Beiträge in diesem Heft: Wie

gefällt es den mitreisenden Kindern?

Wie leicht findet der Ehepartner einen

Job? Wie ist das politische Klima im

Gastland? Der Vergleich zwischen den

Vereinigten Staaten als immer noch

weltweit beliebtestem Wanderungsziel

und Europa fällt immer noch zugunsten

Amerikas aus. Doch das Erfolgsmodell

USA hat Risse bekommen. Über die

Vorzüge der alten und der neuen Welt

schreiben die Autoren dieser Ausgabe

ebenso wie über einzelne Staaten wie

den Iran, der sich um das Thema Braindrain

noch wenig kümmert, über Länder

wie Polen, das westeuropäische Forscher

zu Unrecht kaum als Ziel eines

Auslandsaufenthalts wahrnehmen, über

klassische Forschungsexpeditionen auf

den Spuren Humboldts und über die

Wanderung zwischen den Welten von

Politik und Wissenschaft.

Anyone wishing to get somewhere in

research will have to pack his bags and go

off on his travels sooner or later. Academics

have become privileged migrant workers

wooed by the research nations

throughout the world – particularly with

material incentives such as research funds

and laboratory equipment. But the soft

factors are at least just as important, as the

articles in this magazine show. How do the

children travelling with their parents like

it? How easy will it be for the husband or

wife to find a job? What is the political climate

like in the host country? Comparisons

between the United States as what is

still the most popular destination for

migrations world-wide and Europe continue

to be in favour of America. But

cracks have been appearing in the American

success story. The authors of this issue

have written about the advantages of the

Old and the New World in general as well

as about individual countries like Iran,

which as yet has done little to address

the problem of the brain drain, Poland,

which Western European researchers quite

wrongly hardly perceive as a destination

for a stay abroad, classic research expeditions

following the footsteps of Humboldt

and migrations between the worlds of politics

and academe.


Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations

Jeanne Rubner

Erfolgsmodell aufs Spiel gesetzt

Putting success at stake

Im Wettbewerb um die besten Köpfe liegen die Vereinigten

Staaten seit langem an der Spitze. Doch die

Vorherrschaft bröckelt. Die Gründe hierfür sind hausgemacht.

Während das amerikanische Erfolgsmodell

im eigenen Land aufs Spiel gesetzt wird, inspiriert es

die Konkurrenz. Asien und Europa wollen von der

nachlassenden Anziehungskraft Amerikas profitieren.

When it comes to competing for the best brains, the

USA can clearly boast a long-standing lead. But

America’s supremacy is on the wane – for reasons of

its own making. Whereas a successful model has

been put on the line at home, it is in fact inspiring

the country’s rivals. Asia and Europe seek to benefit

from America’s flagging attractiveness.

Spätestens nach der Doktorprüfung muss ein junger

Forscher die Koffer packen und sich ein Flugticket nach

Amerika besorgen. Für die wissenschaftliche Karriere

ist – zumindest in den Naturwissenschaften – eine Stelle

jenseits des Atlantiks Pflichteintrag im Lebenslauf.

Der Aufenthalt in Stanford, Michigan oder am MIT

gehört zur Tradition der akademischen Laufbahn,

sodass der oder das „Postdoc“ sich längst im deutschen

Sprachgebrauch etabliert hat.

Der Sog der amerikanischen Labors und Institute

muss nicht überraschen: Mit dem Niedergang der deutschen

Wissenschaft durch die Vernichtung der Juden

konnten die USA zur unangefochtenen Forschungsnation

werden, zum Kristallisationspunkt der akademischen

Migrationsströme. Im globalen Wissenschaftsmarkt

sind sie die Nummer eins – die internationalen Ranglisten

der Universitäten, auf denen Harvard, Yale, Stanford

und andere stets ganz vorne stehen, zeugen davon.

Viele Postdocs gehen mit einem Stipendium in die

USA, übrigens auch ein Grund, warum sie mit offenen

Armen empfangen werden. Über diese moderne Form

der Leiharbeiterschaft – so muss man es wohl nennen –

müsste man sich keine größeren Sorgen machen, wenn

sich nicht in den vergangenen Jahrzehnten das Problem

des „Braindrains“ verschärft hätte. Gerade die Besten

nämlich bleiben: Amerika wusste schon immer, Kapital

aus der Einwanderung zu schlagen. Die klügsten Köpfe

hat man gerne abgeworben, zum Bleiben überredet –

durch gut ausgestattete Labors, durch ein hervorragendes

Umfeld, durch die Freiheit zu forschen.

Das führt dazu, dass fast ein Drittel der deutschen

Stipendiaten, die mit Geld etwa der Humboldt-Stiftung

oder der Deutschen Forschungsgemeinschaft nach

Amerika gehen, dort auch dauerhaft bleibt. Überraschend

ist das nicht und die Bedenken der Nachwuchsforscher

sind bekannt: Deutschland hat seine Hochschulen

vernachlässigt, indem es sie für die Massen öffnete,

ohne die entsprechenden Mittel bereitzustellen.

Once a young researcher has finished his doctoral exams,

it is high time for him to get packing and buy an air ticket

to America. A position in the USA is an absolute must

in a CV, at least for a career in the sciences. Stays at Stanford,

Michigan or at the MIT belong to the tradition of

an academic career, so that the “postdoc” has long

become commonplace in the German language.

It should come as no surprise for American laboratories

and institutes to have such an appeal. The decline of

German academe brought about by the holocaust

enabled the USA to become the undisputed nation of science

and focal point of academic migration. That universities

like Harvard, Yale and Stanford should head

international rankings bears testimony to the USA’s

leading role on the global science market.

Many postdocs visit the USA with a stipend in their

pocket, which is one of the reasons why they are welcomed

with open arms. This modern type of casual

labour need not be a cause for concern were it not for the

problem of brain drain having grown more acute over the

last few decades. Well-equipped laboratories, an excellent

environment and freedom of research are simply too

much to resist, especially for the best brains. So they tend

to stay in America, a country that has always succeeded

in making a profit out of immigration.

Nearly a third of German grant-holders visiting the

USA and funded by e.g. the Humboldt Foundation or by

the Deutsche Forschungsgemeinschaft (German Research

Foundation) stay there permanently. This is not surprising,

given especially that the concerns of junior

researchers are only too well-known. Germany is reputed

to have neglected its higher education system by opening

it up for the masses without providing the necessary

funding. The German system of qualifying as a university

lecturer, “Habilitation”, shackles new blood, with even

the newly created “Juniorprofessur” positions failing to

guarantee tenure. Clinical research is extremely difficult

in German hospitals. And unlike in the USA, hardly any

*******

Dr. Jeanne Rubner ist

Redakteurin im Ressort

Außenpolitik der

Süddeutschen Zeitung

in München. Sie ist

Mitglied des Advisory

Board im Transatlantic

Science and Humanities

Programme der Humboldt-Stiftung.

*******

Dr. Jeanne Rubner is

foreign policy editor

for the Süddeutsche

Zeitung in Munich.

She is a member of the

Advisory Board of the

Humboldt Foundation’s

Transatlantic Science

and Humanities Programme.

8 >> Humboldt kosmos 85/2005


9 >> Humboldt kosmos 85/2005


************************

„Es fehlt an heimischem Nachwuchs. Ohne Ausländer

könnten Harvard und Stanford ihre naturwissenschaftlichen

Departments dicht machen.“

Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations

************************

“America has long been suffering from a dearth of indigenous

new blood. Harvard, Stanford and the MIT would have to close

their science departments down were it not for foreigners.”

Die Habilitation legt dem Nachwuchs Fesseln an, auch die neu geschaffene

Juniorprofessur bietet keine Garantie auf einen festen Job. Klinische

Forschung ist in einem deutschen Krankenhaus extrem schwierig.

Und nicht zuletzt kümmert sich – anders als in den USA – kaum

eine Uni darum, auch dem Partner einen Job zu vermitteln, was Doppelkarrieren

erschwert.

Dass es nicht die Freude am Auswandern ist, welche die Forscher

von der Rückkehr abhält, belegen Umfragen: Immerhin 44 Prozent

der Emigrierten würden wieder nach Deutschland kommen, falls die

Bedingungen besser wären.

Wenn schon die Rückkehrer sich rar machen, so gelingt es kaum,

die Neukommenden von der Qualität des deutschen Systems zu überzeugen.

Deutschland ist kein Einwanderungsland und sieht sich auch

nicht als solches. Es behandelt seine Forscher schlecht – selbst Ausländer

mit einem festen Job erhalten oft nur Aufenthaltsgenehmigungen

für ein paar Jahre und müssen lange Jahre auf das Dauervisum warten.

Amerika dagegen holt sich die Menschen, die es haben will und

wirbt um die besten Köpfe – noch, muss man sagen. Denn die Zeichen

für einen Abstieg mehren sich. 2004 ist – zum ersten Mal seit Anfang

der siebziger Jahre – die Zahl ausländischer Studenten zurückgegangen.

Und 2003 wurden deutlich weniger Visa an Studenten, Gastwissenschaftler

und Hochqualifizierte ausgegeben: Auf 625.000 sank die

Zahl der Visa – von 787.000 im Jahr 2001.

Die Terrorattacke des 11. September hat ihre Spuren hinterlassen.

Wer als männlicher Student oder Forscher aus einem arabischen Land

einreisen will, hat größte Schwierigkeiten, ein Visum zu erhalten. Gastwissenschaftler,

so wissen US-Hochschulen zu berichten, trauen sich oft

nicht, für ein paar Wochen in ihre Heimat zu reisen – aus Angst, nicht

mehr ins Land gelassen zu werden.

Das könnte sich fatal für eine Nation auswirken, deren Wohlstand

auch auf den Einwanderern beruht. Seit langem nämlich fehlt der heimische

Nachwuchs: Die Hälfte aller graduierten Studenten in Physik

ist nicht in Amerika geboren. Ohne Ausländer könnten Harvard, Stanford

und MIT ihre naturwissenschaftlichen Departments dicht machen.

Doch nicht nur eine für die USA eigentlich untypische Ausländerphobie

stellt die Vorherrschaft in der Wissenschaft in Frage. Zwar

wenden die USA noch immer drei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts

für Forschung und Entwicklung auf, in Europa waren es gerade

einmal zwei Prozent. Und auf 1.000 arbeitende Amerikaner kommen

neun Forscher, in der alten Europäischen Union sind es nur fünf.

Der Spitzenreiter verliert an Boden

Dennoch bröckelt es am Fundament der Spitzenstellung. Während in

den Neunziger Jahren US-Forscher fast 60 Prozent der Nobelpreise für

Physik, Chemie und Medizin gewannen, lag die Quote im neuen Jahrtausend

bei nur 50 Prozent. Auch die in den USA angemeldeten Pauniversities

see to it that partners are also provided with employment,

which complicates their pursuing double careers.

Surveys demonstrate that it is not enjoying emigrating that keeps

researchers from returning. 44 percent of the emigrants would come back

to Germany if conditions here were more favourable.

While returnees are rare enough, the odds of convincing newcomers

to Germany of its offering good standards are very slight indeed. Germany

simply isn’t an immigration country and does not see itself as one.

Researchers are given a rough deal. Even foreigners with permanent

employment are often only granted a resident’s permit for a couple of

years and have to wait ages for a permanent visa.

In contrast, America fetches the people it wants to have and manages

to recruit the best brains. At least, this is still the case for the time being.

There are mounting signs of a decline, though. In 2004, the number of

foreign students dropped for the first time since the early seventies. And

in 2003, significantly fewer visas were granted to students and visiting

and highly qualified academics. The number of visas fell from 787,000 in

2001 to 625,000.

The terrorist attacks of September 11 have left a mark on academic

relations with the USA. A male student or researcher from an Arab

country wishing to come to America will encounter considerable difficulties

in obtaining a visa. US institutions report that often enough, visiting

academics dare not go home for a couple of weeks for fear of not

being permitted re-entry.

This could prove fatal for a nation whose affluence is so dependent

on immigrants. For America has long been suffering from a dearth of

indigenous new blood. Half of all physics postgraduates were not born in

the USA. Harvard, Stanford and the MIT would have to close their science

departments down were it not for foreigners.

But it is not only xenophobia – hardly characteristic of the USA –

that threatens to end the country’s predominance in academe. True, the

USA still spends three percent of its gross domestic product on research

and development, whereas Europe barely managed to reach the two-percent

mark. And per thousand working people, America can boast nine

researchers, compared to just five in the old European Union.

A champion that is losing ground

Nevertheless, the foundations of America’s peak position have begun to

crumble. Whereas US researchers were winning almost 60 percent of the

Nobel Prizes for physics, chemistry and medicine, this rate dropped to

just 50 percent in the new millennium. Moreover, only 52 percent of the

patents applied for in the USA now come from American firms and laboratories,

compared to 56 percent in the past. And regarding the number

of publications per researcher, the USA has been relegated to 23rd position.

The reason for this apparent lack of productivity is the traditionally

high percentage of military research, which has increased since 2001

10 >> Humboldt kosmos 85/2005


Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations

tente stammen nur noch zu 52 Prozent aus amerikanischen Firmen

und Labors, früher waren es 56 Prozent. Und bei der Zahl der Publikationen

pro Forscher liegen die USA nur noch auf Platz 23. Der Grund

der scheinbar mangelnden Produktivität liegt im traditionell hohen

und seit 2001 gewachsenen Anteil militärischer Forschung, die größtenteils

als geheim klassifiziert ist. Mehr als die Hälfte des US-Forschungsbudgets

fließt in Rüstungsprojekte – Tendenz steigend. Effektiv

gesehen, müssen die Wissenschaftler in rein zivilen Projekten mit

weniger Geld auskommen. In 2005 wird – erstmals nach Jahren des

Zuwachses – der Etat für medizinische Forschung stagnieren.

Diese Umorientierung wird Amerika zu schaffen machen. Mit

weniger Geld und weniger guten Köpfen kann das Land seinen Spitzenplatz

kaum halten. Zumal die Konkurrenz die Gunst der Stunde

erkannt hat. Seit der restriktiven amerikanischen Visa-Politik machen

Länder wie Kanada und Australien kräftig Werbung für ihre Hochschulen.

Dort ist der Anteil ausländischer Studenten bereits gestiegen,

ebenso in Großbritannien. Auch Indien und China versuchen, Forscher

zurückzuholen oder durch attraktive neue Institute zum Bleiben

zu bewegen. Und wenn die Europäische Union mit ihren Plänen ernst

macht und ihre Forschungsausgaben tatsächlich erhöht, könnte sie

sich zum ernsthaften Konkurrenten der USA entwickeln.

Amerika wird auch langfristig die Folgen der Abschottung zu spüren

bekommen. Mitten im Kalten Krieg hatte Präsident Eisenhower

ein Austauschprogramm für Studenten mit der Sowjetunion vereinbart.

Er wusste, dass die jungen Russen mit amerikanischen Ideen und

Idealen in ihre Heimat zurückkehren würden. Dieser Export einer

Kultur via Bildung und Wissenschaft hat sich als erfolgreich erwiesen

– doch Amerika ist dabei, ein Erfolgsmodell aufs Spiel zu setzen.

and most of which is classified as secret. More than half the US research

budget flows into defence projects, and this share is set to grow further

still. In effect, researchers in purely civil projects are having to make do

with less money. Following years of growth, the health research budget is

to stagnate in 2005 for the first time.

This reorientation is going to create problems for America. With less

money and fewer good brains, the country will hardly be able to maintain

its leading position, especially since its rivals have already seen their

chance. Since the introduction of America’s restrictive policy on visas,

countries like Canada and Australia have been stepping up advertising

campaigns for their higher education. Percentages of foreign students

have already risen in these countries as well as in the United Kingdom.

India and China are also seeking to recover researchers or to persuade

them to stay with attractive new institutes. And once the European

Union has put its plans into action and really raised its research budget,

it could become a serious rival for the USA.

In the long run too, America is going to feel the consequences of its

isolation. Right in the middle of the Cold War, President Eisenhower

signed an agreement on an exchange programme for students with the

Soviet Union. He was aware that the young Russians would return home

with American ideas and ideals. Exporting a culture via education and

science has proved a success – but America is about to put what has

proved a successful model at stake.

11 >> Humboldt kosmos 85/2005


Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations

Interview Sven Beckert

Der Traum von Amerika und die Lust auf Europa

The American dream and a hankering for Europe

Ursprünglich wollte der Historiker Sven Beckert nur

zwölf Monate an der New Yorker Columbia University

studieren und dann nach Deutschland zurückkehren.

Doch aus einem Jahr wurden achtzehn. Nun ist Beckert

als Friedrich Wilhelm Bessel-Forschungspreisträger

erstmals für längere Zeit wieder in Deutschland. Ein

Gespräch über die Vorzüge amerikanischer Universitäten,

die Frustration deutscher Doktoranden und

die neu entdeckte Lust auf ein Leben in Europa.

>> Kosmos: Sie leben und arbeiten seit 18 Jahren in

den Vereinigten Staaten. Hat sich Deutschland in dieser

Zeit verändert?

>> Beckert: Ich muss sagen, viele Dinge gefallen mir

besser, als ich sie in Erinnerung hatte. Ich habe den Eindruck,

dass die Leute gelassener geworden sind, dass

das Land internationaler geworden ist. Auch wenn sich

das noch nicht ganz in den Universitäten widerspiegelt.

Aber im Alltag. Ich fühle mich hier sehr wohl.

>> Kosmos: Trotzdem werden sie wieder in die USA

zurückkehren. Was vermissen sie zurzeit am meisten?

>> Beckert: Die Bibliothek, meine Kollegen und insgesamt

die Arbeitsbedingungen an der Universität. Das war

es auch, was mich seinerzeit überzeugt hat, in den USA

zu bleiben. Das akademische Leben an der Universität

war offener, als ich es aus Deutschland kannte, schneller,

kosmopolitischer, es war vielfältiger. Die Betreuung

war sehr viel intensiver.

>> Kosmos: Sind die Unterschiede zwischen deutschen

und amerikanischen Universitäten inzwischen kleiner

geworden?

>> Beckert: Ein wichtiger Unterschied besteht weiter,

nämlich dass die Fachbereiche hier sehr viel kleiner

sind. An der Universität Konstanz, mit der ich neben

der Uni Freiburg am meisten zu tun habe, gibt es nur

wenige Lehrstühle für Geschichte. In Cambridge sind

wir 53 Kollegen im Fachbereich Geschichte und insgesamt

100 Historiker an der Universität. Meine Kollegen

kommen aus aller Welt. Das schafft eine Atmosphäre,

die einzigartig ist.

>> Kosmos: Gibt es Felder, auf denen die Deutschen

besser sind?

>> Beckert: Die Qualität der Doktoranden beispielsweise

ist ganz ausgezeichnet. Die sind genauso gut wie

meine Studenten in Amerika. Oft beherrschen sie mehrere

Sprachen, was bei uns in den USA ungewöhnlich

Originally, historian Sven Beckert had only intended

to study at New York’s Columbia University and then

return to Germany. But one year turned into eighteen.

Now however, as a Friedrich Wilhelm Bessel Award

Winner, Beckert is spending a longer period in Germany

for the first time again. Kosmos talked to him

about the advantages of American universities, what

frustrates German doctoral candidates and his newly

discovered enthusiasm about living in Europe.

>> Kosmos: You have been living and working in the United

States for 18 years. Has Germany changed over that period?

>> Beckert: I must say that there is a lot I like far better

than I would have previously imagined in America. My

impression is that people have become more relaxed, and

that the country has turned more international – even

though this aspect is not entirely reflected in the universities.

But it is part of everyday life. I feel very good here.

>> Kosmos: Even so, you’re going to return to the USA.

What are you missing most of all at the moment?

>> Beckert: The library, my colleagues and, quite generally,

the working conditions at the university. And that

was what persuaded me to stay in the USA at the time.

Academic life at the university was more open that what I

had been used to in Germany. It was faster, more cosmopolitan,

and offered more variety. And support by senior

academics was much more intensive.

>> Kosmos: Do German and American universities differ

less nowadays?

>> Beckert: One important difference continues to prevail

in that the departments here are much smaller. At the

University of Constance, at which I work most alongside

the University of Freiburg, there are only a few history

chairs. At Cambridge, we are 53 colleagues in the History

Department, out of a total of 100 historians at the university

all in all. This creates a unique atmosphere.

>> Kosmos: Are there fields the Germans are better in?

>> Beckert: For example, the quality of doctoral candidates

is absolutely excellent. They are just as good as my students

in America. Often, they are proficient in several languages,

which is unusual back in the USA. And at theoretical

level, their work is frequently highly sophisticated,

another aspect that would not necessarily be typical of the

USA. But at the same time, they are often incredibly

demotivated because they do not know what they will be

up to the next year.

*******

Prof. Dr. Sven Beckert

ist Historiker an der

Havard University in

Cambridge MA, USA.

Als Bessel-Forschungspreisträger

forscht er

zurzeit an der Universität

Konstanz.

*******

Prof. Dr. Sven Beckert

is a historian at Harvard

University in Cambridge

MA, USA. He is doing

research at the University

of Constance as a

Bessel Research Award

Winner.

12 >> Humboldt kosmos 85/2005


ist. Und sie arbeiten oft theoretisch sehr anspruchsvoll, was bei uns

ebenfalls nicht unbedingt typisch ist. Doch gleichzeitig sind sie oft

unglaublich demotiviert, weil sie nicht wissen, was sie nächstes Jahr

machen werden.

>> Kosmos: Zukunftsgarantien für Nachwuchswissenschaftler gibt es

in den USA auch nicht. Warum herrscht dennoch mehr Optimismus?

>> Beckert: Die Situation ist eine völlig andere. Wir nehmen eine

relativ geringe Zahl von Doktoranden jedes Jahr auf. Auf jährlich rund

17 Plätze für Doktoranden kommen vielleicht 300 Bewerber. Die

Chance ist also relativ gering, aufgenommen zu werden. Wenn Doktoranden

aber erst einmal angenommen worden sind, bekommen sie

eine garantierte finanzielle Unterstützung für fünf Jahre. Man weiß,

woran man ist und kann in dieser Zeit seinen Doktor machen. Die

Studenten wie auch die Professoren erwarten, dass danach eine akademische

Karriere einschlagen wird. Und im Großen und Ganzen

geschieht das auch. Das ist eine völlig andere Situation als hier, wo

selbst unter extrem qualifizierten Studenten die Angst, ja fast die

Überzeugung herrscht, dass es für sie keine Zukunft gibt.

>> Kosmos: Eine begründete Furcht?

>> Beckert: Ich habe den Eindruck, dass persönliche Beziehungen

hierzulande eine sehr viel größere Rolle spielen. Es gibt keinen

Arbeitsmarkt so wie wir das aus Amerika kennen, der rein auf der

Basis von Qualifikationen entscheidet. Das erhöht die Zukunftsangst.

Wer kein starkes Netzwerk hat, für den wird es extrem schwer, in den

Markt reinzurutschen.

>> Kosmos: Derzeit geht erstmals seit den siebziger Jahren die Zahl

ausländischer Studenten in den USA leicht zurück. Als möglicher

Grund werden das schlechte Image der derzeitigen Regierung und die

Folgen der Antiterrormaßnahmen diskutiert…

>> Kosmos: The USA doesn’t offer any guarantees for the future either.

So why are people more optimistic over there?

>> Beckert: The situation is completely different. We have a relatively

small intake of doctoral candidates each year. There are about 300 applicants

for what are roughly 17 places for doctoral candidates a year. So the

odds of getting one are relatively slim. But every doctoral candidate who

has been accepted is guaranteed financial support for five years. One

knows what one can expect and can concentrate on completing the doctorate

in this period. Both the students and the professors reckon with a

subsequent academic career. And by and large, this is what usually happens,

which represents a situation that is entirely different from over here. In

Germany, even among extremely qualified students, a fear, or almost a

conviction, prevails that the future holds nothing in store for them.

>> Kosmos: A justified fear?

>> Beckert: My impression is that personal relations are far more

important over here. There is no labour market that we are accustomed to

in America and that decides purely on the basis of qualifications. This

raises fear of the future. Those who can’t rely on a strong network encounter

extreme difficulties in gaining access to the market.

>> Kosmos: At the moment, for the first time since the seventies, there

has been a slight decline in the number of foreign students in the USA.

One possible reason cited for this is the current government’s poor image

and the consequences of anti-terror measures …

>> Beckert: I can only relate to my own experience. In the last few years,

the political climate partly has developed some rather frightening traits.

And I am not the only one who has perceived this as unpleasant, not to

say threatening. At least for a while, political discussions seemed to be

entirely impossible. These are influential factors that the universities cannot

completely shield themselves against. For the first time since I came to

13 >> Humboldt kosmos 85/2005


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„Ich habe den Eindruck, dass persönliche Beziehungen

hierzulande eine sehr viel größere Rolle spielen.“

Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations

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“My impression is that personal relations are far

more important over here.”

>> Beckert: Ich kann nur von meinen persönlichen Erfahrungen

sprechen. Tatsächlich hatte das politische Klima in den letzten Jahren

teilweise beängstigende Züge angenommen. Und ich bin nicht der

Einzige, der das als unangenehm oder sogar als bedrohlich empfindet.

Zumindest eine zeitlang schienen politische Diskussionen überhaupt

nicht mehr möglich zu sein. Das sind Einflüsse, von denen sich die

Universitäten nicht völlig frei halten können. Zum ersten Mal, seitdem

ich nach Amerika gekommen bin, denken Kollegen ernsthaft darüber

nach, dem Land den Rücken zu kehren.

>> Kosmos: Welche Rolle spielen die verschärften Einreisebestimmungen?

>> Beckert: Es ist tatsächlich schwieriger geworden, internationale

Gastwissenschaftler zu gewinnen, die Einreise ist ebenfalls schwieriger

geworden. Auch die Bewerbungen ausländischer Studenten sind dramatisch

zurückgegangen. Vor allem aus Ländern wie China, Indien,

Pakistan, Taiwan, Korea und aus dem Mittleren Osten. Dies erschwert

genau jene Internationalität, die bis jetzt amerikanische Universitäten

ausgezeichnet hat.

>> Kosmos: Wird Europa dadurch als Zielregion interessanter?

>> Beckert: Das könnte durchaus sein. Damit es so kommt, sollte

Europa sich aber ein Beispiel an Amerika und seiner Integrationskraft

nehmen. Für mich war das die großartigste Erfahrung. Ich bin dort

angekommen, ohne etwas über amerikanische Geschichte zu wissen.

Man hat mich aufgenommen und ausgebildet. Und jetzt kann ich als

Nichtamerikaner amerikanischen Studenten ihre eigene Geschichte

lehren, und ich bin von meinen Studenten noch nie darauf angesprochen

worden, dass ich kein Amerikaner bin. So müsste es auch in Europa

sein. Die ganze Migration von Akademikern bringt letztendlich nur

etwas, wenn es dann auch Zukunftschancen für sie in ihrem Gastland

gibt. Es ist doch nicht gesagt, dass europäische Universitäten nicht in der

Lage wären, solche Zustände zu schaffen. Europa ist trotz allen Wehklagens

noch eine der reichsten Regionen der Welt.

>> Kosmos: Der Ruf nach Eliteuniversitäten nach amerikanischem

Vorbild schallt Ihnen nicht laut genug?

>> Beckert: Man kann nicht einfach sagen, hier haben wir etwas Geld

und jetzt machen wir mal drei Eliteuniversitäten. So entstehen solche

Dinge nicht. Jede strukturelle Veränderung, jeder weitere Euro, der in

die Universitäten gesteckt wird, wird wenig Wirkung haben, wenn

nicht das Prinzip der Exzellenz im Zentrum jeder Universität steht.

Dazu gehören vor allen Dingen ein offener Arbeitsmarkt und ein offener

Wettbewerb um Studenten. Nötig wären außerdem dramatisch höhere

Ausgaben für Forschung und Bildung. Der Wettstreit um Forscher

und akademische Lehrer wird immer internationaler und immer härter.

Es gibt immer mehr Länder, die exzellente Arbeit machen und sehr

große Ressourcen in Bildung stecken. Ich glaube nicht, dass Europa

eine andere Wahl hat, als da mitzumachen.

America, some of my colleagues have seriously been considering leaving the

country.

>> Kosmos: What has the impact of the stricter immigration regulations

been like?

>> Beckert: It really has got more difficult to attract visiting academics,

so has entering the country. Also, there has been a dramatic decline in

applications filed by foreign students, above all from countries like China,

India, Pakistan, Taiwan and Korea and from the Middle East. This development

is threatenting the internationality that has been so characteristic

of American universities up to now.

>> Kosmos: Is this making Europe more interesting as a target region?

>> Beckert: That could well be the case. But in order for it to happen,

Europe ought to learn from the example that America has set and from its

ability to integrate people. This was the greatest experience I made in the

country. I arrived there without knowing anything about American

history. I was accepted and trained. And now, as a non-American, I can

teach American students their own history, and not once have any of my

students queried my not being American. That’s what things should be

like in Europe, too. At the end of the day, all this migrating of academics

can only yield something positive if it really bears prospects for them in

their host countries. Nobody says that European universities are not in a

position to create such conditions. In spite of all its moaning, Europe is

still one of the richest regions in the world.

>> Kosmos: So calls for elite universities along the lines of the American

model are not loud enough for your liking?

>> Beckert: You can’t simply say here’s the money, and now let’s set up

three elite universities. That’s not the way things work. Any structural

changes and every further euro spent on the universities will have little

impact if the principle of excellence is not at the centre of each university.

This above all includes an open labour market and open competition for

students. Further requirements would be dramatically increased expenditure

on research and education. Competition for researchers and academic

teachers is becoming more and more international and increasingly stiff.

More and more countries are turning out excellent work and investing

considerable resources in education. I don’t think Europe has any choice

but to join in.

>> Kosmos: That sounds as if at best, Europe could benefit from the

waning glory of the USA while being unable to gain credibility regarding

its own strengths…

>> Beckert: It has many strengths of its own. Take, for example, the quality

of living in Germany, and in Europe in general. There is less social inequality.

There is much public space for people to move in. Europeans

really have found a way of building towns that are a pleasure to live in.

Public spending is generous. For example, in the small place we live in,

there is a wonderful public swimming pool that costs you, I believe, 1.50

euro to use. So you don’t have to pay hundreds of dollars to become a

14 >> Humboldt kosmos 85/2005


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„Immer wenn ich mit unseren Kindern hier in Deutschland

im Bus oder im Zug unterwegs bin, werden wir mehr oder

weniger ignoriert. Vielleicht hätten wir statt der Kinder

einen Hund mitbringen sollen.“

Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations

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“Whenever I travel by bus or train with our children here

in Germany, we are virtually ignored. Maybe we should

have brought a dog along instead of our children.”

>> Kosmos: Das klingt, als könne Europa allenfalls von der nachlassenden

Strahlkraft der USA profitieren, aber nicht mit eigenen Stärken

überzeugen…

>> Beckert: Es gibt viele eigene Stärken. Etwa die Lebensqualität in

Deutschland und in Europa überhaupt. Es gibt weniger soziale Ungleichheit.

Es gibt viel öffentlichen Raum, in dem man sich bewegen kann.

Europäer haben wirklich einen Weg gefunden, Städte zu bauen, die

angenehm zum Leben sind. Es gibt eine freigiebige öffentliche Hand.

In dem kleinen Ort, in dem wir wohnen, gibt es beispielsweise ein

wunderbares öffentliches Schwimmbad, das, glaube ich, 1,50 Euro Eintritt

kostet. Man muss also nicht Hunderte von Dollar bezahlen, um Mitglied

eines privaten Schwimmclubs zu werden. Es gibt hier eine wunderbare

Jugendmusikschule, die für amerikanische Verhältnisse fast umsonst

ist. Das sind weiche Standortfaktoren, die sehr stark für Deutschland

und Europa sprechen. Natürlich kann man in den USA auch sehr

angenehm leben. Aber man braucht verdammt viel Geld dafür.

>> Kosmos: Sie haben zwei Kinder – sieben und fünf Jahre alt. Was

haben sie am meisten an Amerika vermisst, jetzt in der Zeit, die sie hier

sind? Was wird ihnen an Deutschland fehlen?

>> Beckert: Die amerikanische Gesellschaft ist viel stärker auf Kinder

bezogen als die deutsche. Und ich glaube, so ein bisschen vermissen die

Kinder das. Immer wenn ich beispielsweise mit unseren beiden Kindern

hier in Deutschland im Bus oder im Zug unterwegs bin, werden wir mehr

oder weniger ignoriert. Es ist noch nicht passiert, dass irgendjemand

geschimpft hat, wenn die Kinder über die Sitze gesprungen sind. Aber

es ist uns auch noch nicht passiert, dass positiv auf die Kinder eingegangen

wird. In Amerika ist es genau das Gegenteil: ich habe noch nie

so viele Leute kennen gelernt, wie wenn ich mit den Kindern unterwegs

bin. Einer spricht dich immer an. Meiner Frau fällt das besonders auf.

Es ist gespenstisch. Egal was passiert, alle Leute gucken aus dem Fenster.

>> Kosmos: Über Haustiere kommt man meist leichter ins Gespräch…

>> Beckert: Ja, vielleicht hätten wir statt der Kinder einen Hund mitbringen

sollen … Aber es gibt ja auch jede Menge Positives: die guten

öffentlichen Schulen mit Schülern aus allen möglichen sozialen Hindergründen.

Mit Eltern, die alle ein Interesse an der Bildung ihrer Kinder

haben, aber nicht diesen extremen Druck auf ihre Kinder ausüben wie

oft in Amerika. Die Kinder können hier viel mehr alleine machen,

alleine in die Stadt gehen, alleine Ball spielen – Dinge, wie sie in Amerika

völlig ausgeschlossen sind.

>> Kosmos: Wo sehen Sie die Zukunft Ihrer Kinder. Werden sie eines

Tages in Europa sein oder in den USA? Was würden Sie Ihnen wünschen?

>> Beckert: Ich würde Ihnen wünschen, dass sie nach Europa gehen –

auf jeden Fall. Allerdings, wenn ich das bei meinen Kollegen beobachte,

die aus anderen Regionen der Welt kommen, läuft es meist anders. Die

Kinder bleiben dort, wo sie aufwachsen, das ist ihre Heimat. Und die

Eltern bleiben auch. Schließlich wollen sie bei ihren Kindern sein.

member of a private swimming club. There is a wonderful music school

for young people here that, compared to American conditions, is virtually

free of charge. These are soft locational factors that speak very much in

favour of Germany and Europe. Of course you can also lead a very pleasant

life in America. But you need a damned lot of money for that.

>> Kosmos: You’ve got two children – seven and five years old. What do

they miss most now that they are not in America? And what are they

going to miss when you leave Germany?

>> Beckert: American society is far more child-centred than German

society is. And I think this is something the children miss a little. For

instance, whenever I travel by bus or train with our two children here in

Germany, we are virtually ignored. True, nobody has ever complained

about the children romping about on the seats. But nobody has ever given

them any positive attention, either. This is just the other way round in

America. I have never got to know more people than when travelling with

our children. Someone will always start a chat. My wife notices this in

particular in Germany. It is uncanny. No matter what happens, everyone

will just stare out of the window.

>> Kosmos: Pets are usually a better way to start a conversation…

>> Beckert: Yes, maybe we should have brought a dog along instead of

our children … But of course there are several positive aspects as well: the

good public schools with pupils from all sorts of social backgrounds, and

parents who are all keen to see their children educated but are not putting

them under extreme pressure, which is so often the case in America. Here,

children can do a lot more on their own. They can go to town on their

own, play ball on their own – things that would be out of the question in

America.

>> Kosmos: Where do you see a future for your children? Will they one

day be in Europe or in the USA? What would you wish them?

>> Beckert: I would wish them to go to Europe – period. But when I look

at how things develop with my colleagues coming from other parts of the

world, this usually turns out to be different. The children stay where they

are growing up. That is their home. And the parents stay as well. After all,

they want to be together with their children.

15 >> Humboldt kosmos 85/2005


Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations

Denis-Didier Rousseau

Den steinernen Schnecken auf der Spur

In search of the stone snails

Es gibt ihn noch, den Forschungsreisenden, der auf

den Spuren Humboldts die Erdteile bereist und dort zu

Hause ist, wo er sein Zelt aufschlägt. Der französische

Paläontologe Denis-Didier Rousseau berichtet von

seiner Arbeit.

Yes, he really does still exist: the travelling researcher

tracing the tracks of Humboldt around the world and

feeling at home wherever he happens to pitch his

tent. French palaeontologist Denis-Didier Rousseau

gives an account of his work.

Wie kann den Wissenschaftlern auf die Sprünge geholfen

werden, fragt sich das zusammenwachsende Europa.

Forschermobilität ist zurzeit ein heißes Thema. Dabei

zeigt ein Blick auf das Leben Alexander von Humboldts

und vieler anderer wissenschaftlicher Größen der Vergangenheit,

dass Forscher eigentlich schon immer

mobil gewesen sind. Die Arbeit eines Naturforschers ist

gar nicht anders denkbar. Gerade als Paläontologe

bleibt einem kaum anderes übrig, als sein Forschungsmaterial

vor Ort zu suchen. Auch deshalb, weil Fossilien

oft nur in ihrer unmittelbaren Umgebung richtig

eingeordnet werden können und ihrem Entdecker ihr

Geheimnis offenbaren.

Seit meiner Doktorarbeit bin ich so ständig landauf

landab durch zahlreiche Regionen und Länder gereist.

Dabei habe ich mich auf fossile Gemeinschaften von

landlebigen Weichtieren spezialisiert. Einfacher gesagt:

auf Schnecken, die vor 2,5 Millionen Jahren gelebt

haben. Besonders spektakuläre Geschöpfe sind sie

nicht gerade, zugegeben. Und natürlich wird ihnen

weit weniger Medieninteresse zuteil als den berühmten

Dinosauriern oder fossilen Hominiden. Doch sie

ermöglichen eine sehr getreue Nachbildung der fossilen

Umgebungen, die den Klimawandel auf der Erde

abbilden. Sie kommen in großer Zahl im Löss vor,

einem durch Wind transportierten Sediment, das wie

ein paläontologisches und paläoklimatisches Archiv ist.

Derzeit gibt es auf der Welt nur sehr wenige Experten

auf diesem Gebiet. Der Austausch mit Kollegen wird

dadurch schwieriger. Andererseits kann man ohne

Sorge um Konkurrenten seine Einsatzorte frei aussuchen.

Ob in Europa, China oder in den USA – man geht

dahin, wo die Schnecken sind.

Arbeiten am Seil

Die Gebiete sind meist leicht zugänglich, doch die Fossilien

nicht. Um 15 Kilogramm Material aus einem

zehn Zentimeter dicken Sediment zu gewinnen, ist

intensive Vorarbeit nötig. Auf einer Aufschlussfläche

von etwa zehn Quadratmetern wird das Sediment

A Europe growing together is asking itself how scientists

can be given a helping hand. Mobility is a hot issue

nowadays. And yet a glance at the lives of Alexander von

Humboldt and many other leading lights in sciences in

the past shows that researchers have in fact always been

mobile. Indeed, the work of a natural researcher would

be inconceivable without mobility. A palaeontologist in

particular has hardly any other option but to seek his

object of research on location. This is also the case

because, often enough, fossils can only be properly classified

and will only reveal their secrets to their discoverer

in their immediate environment.

So since I completed my doctorate, I have constantly

been travelling around in several regions and countries.

My speciality is fossil communities of terrestrial molluscs.

Or to put things in simpler terms, snails that lived

2.5 million years ago. Admittedly, these aren’t especially

spectacular creatures. And of course they attract far less

media attention than the famous dinosaurs or fossil

hominids. However, they enable the development of a

very true-to-live replica of the fossil environments which

reflect climate change on Earth. They occur in large

numbers in loess, a sediment transported by wind that

serves as a palaeontological and palaeoclimatical archive.

Today, there are only a handful of experts in this area

throughout the world, which makes exchanging information

among colleagues rather difficult. On the other

hand, one is free to seek one’s location of assignment

without having to worry about any rivals. Whether it is

Europe, China or the USA – you go wherever the snails

happen to be.

Hanging from a rope to work

Usually, the regions are easily accessible, whereas the fossils

are not. Intensive preparations are required to gain

15 kilogrammes of material from a sediment with a

thickness of ten centimetres. In an outcrop area of about

ten square metres, the sediment is removed by hand

down to a depth of half a metre. Machines would destroy

the image of the geological layers. This is why we use

*******

Professor Dr. Denis-Didier

Rousseau ist Paläontologe

an der Universität von

Montpellier und am

CNRS Frankreich.

Im Jahr 2005 wurde er

mit dem Humboldt-

Forschungspreis

ausgezeichnet.

*******

Professor Dr. Denis-Didier

Rousseau is a palaeontologist

at the University of

Montpellier and CNRS,

France. In 2005, he

received the Humboldt

Research Award.

16 >> Humboldt kosmos 85/2005


Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations

Oft befinden sich die Versteinerungen in schwindelnder Höhe.

Rousseau und seine Kollegen arbeiten wie Bergsteiger an Seilen.

Often, the fossils are in dizzying heights. Rousseau and his

colleagues have to use ropes, like mountaineers do.

18 >> Humboldt kosmos 85/2005


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„Zu den körperlichen Anstrengungen kommen andere

Unannehmlichkeiten wie Schlangen, giftige Pflanzen,

die Gefahr der Dehydrierung oder von Erdrutschen.“

Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations

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“The physical effort is accompanied by other inconveniences

such as snakes, poisonous plants, the danger of

dehydration and landslides.”

einen halben Meter in die Tiefe von Hand abgetragen. Maschinen

würden das Bild der geologischen Schichten zerstören. Zum Einsatz

kommen daher Spachtel oder selbst gebastelte Werkzeuge. Oft sind die

zu untersuchenden Wände völlig senkrecht, und wir arbeiten wie

Bergsteiger an Seilen.

So gewinnt man Spachtelstich um Spachtelstich Tonnen an Sedimenten.

Doch davon ist noch kein einziges Schneckengehäuse freigelegt.

In den weiten amerikanischen Prärien oder chinesischen Ebenen

führt dies zu einem großen Problem. Denn oft gibt es in der Nähe der

Forschungsstätte keine Wasserstelle, um die Sedimentproben zu säubern.

Doch an Ort und Stelle reinigen muss man sie, denn es würde

ein Vermögen kosten, alle Proben in ein Labor zu bringen, um sie dort

aufzubereiten. Also braucht man nichts weiter als ein kleinmaschiges

Sieb und – sehr viel Wasser. In den USA hatten mein Kollege und ich

das Glück, dass uns der Besitzer des Landes, auf dem wir arbeiteten,

regelmäßig ein Bassin füllte, das vor vielen Jahren einmal als Wassertrog

für Kühe gedient hatte. So waren wir eine ganze Woche damit

beschäftigt, irgendwo im tiefsten Nebraska unsere Proben über eine

Viehtränke gebeugt in ein paar Kubikmeter Wasser zu waschen. Die

Einheimischen fragten sich, was wohl diese beiden Franzosen an

einem so verlassenen Ort verloren hatten!

Fünf Tonnen auf unseren Rücken

In China mussten wir hingegen ein kleines Becken bauen, welches

auch mehrere Kubikmeter Wasser fasste, aber jede Nacht geleert werden

musste, um zu vermeiden, dass die Plastikabdeckung darauf

gestohlen wurde. Hier untersuchen wir eine Sedimentablagerung, die

insgesamt 132 Meter tief ist. Bislang haben wir gerade einmal 35 Meter

geschafft und jüngere fossile Gemeinschaften aus den letzten 470.000

Jahren zutage gebracht. Ungefähr 5,25 Tonnen Sediment dürften wir

dabei auf unseren Rücken hoch zum Sammelplatz geschleppt haben.

Zu den körperlichen Anstrengungen kommen andere Unannehmlichkeiten

wie Schlangen, giftige Pflanzen, die Gefahr der Dehydrierung

oder von Erdrutschen. Viel Aufwand, den man einer Veröffentlichung

in einer internationalen Fachzeitschrift nicht ansehen kann.

Doch die Arbeit in der Natur entschädigt beinah alles. Jedes Mal

wenn ich in Luochuan im Zentrum von China ankomme, fühle ich

mich wie ein Herrscher im eigenen Garten. Als Forschungswanderer

lerne ich andere Menschen, Kulturen und Landschaften kennen. Eine

persönliche Bereicherung, auf die ich um nichts in der Welt verzichten

möchte und die mich lehrt, in meiner Arbeit demütig zu bleiben und

die kleinen Probleme im Labor oder im alltäglichen Leben zu relativieren.

Und was kann es Angenehmeres geben, als die Schönheit der

Landschaften, die Arbeit vor Ort und die Begegnung mit anderen

Gesellschaften zu verbinden – und in aller Bescheidenheit in den Spuren

von Forschern wie Alexander von Humboldt zu wandern.

spatulas or tools we have made ourselves. Often, the walls we examine

are dead vertical, and we work with ropes just like mountaineers.

Thus, the cuts of the spatula eventually add up to tons of sediments.

But all this still hasn’t exposed a single snail’s shell. In the wide expanses

of the American prairies or Chinese gullies, this results in a big problem.

For often, there are no water sources near the research location to clean

the sediment samples. But they have to be cleaned on site, for bringing all

the samples to a laboratory in order to prepare them there would cost a

fortune. So all what is needed is a fine sieve and – lots of water. In the

USA, my colleague and I were lucky enough for the owner of the land we

were working on to regularly fill up a pool that had served as a water

trough for cows many years ago. Thus it took us a whole week bending

over a cattle trough to wash our samples in a few cubic metres of water

somewhere in deepest Nebraska. The locals were asking themselves what

these two Frenchmen were doing in such a remote place!

Five tons on our backs

In China, however, we had to build our own little basin that really did

hold several cubic metres of water but had to be emptied each night to

prevent the plastic cover on it from being stolen. Here, we are examining

deposits of sediment that is 132 metres deep in total. So far, we have

managed a mere 35 metres from the top yielding the younger mollusc

assemblages from the last 470,000 years. We have probably carried about

5.25 tons of sediment on our backs up to the place where we collect it. The

physical effort is accompanied by other inconveniencies such as snakes,

poisonous plants, the danger of dehydration and landslides. You have to

put up with a lot, but nobody will notice this when reading about the

results published in an international specialist journal.

However, working in a natural environment makes up for almost

everything else. Each time I arrive at Luochuan in Central China, I feel

like the master of my own garden. As a research wanderer, I get to know

other people, cultures and landscapes. This is a personal enrichment I

would not like to miss for anything in the world and that teaches me to

stay humble in my work and put the little problems at the laboratory or

in everyday life into perspective. And what could be more pleasant than

to link up the beauty of the landscapes with the work on site and encounters

with other societies – and, with all due modesty, to wander in the

tracks of researchers like Alexander von Humboldt.

19 >> Humboldt kosmos 85/2005


Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations

Interview Carlos Huneeus

Wissenschaftler an die Macht

Power to the academics

Der chilenische Politikwissenschaftler Carlos Huneeus

war der erste Botschafter der Regierung Aylwin in

Deutschland. Ein Gespräch über die Wanderung zwischen

Politik und Wissenschaft.

The Chilean political scholar Carlos Huneeus was

the first Ambassador of the Aylwin administration

in Germany. Kosmos talked to him about his moving

between politics and science.

>> Kosmos: Sie haben jahrelang als Wissenschaftler

gearbeitet, bevor Sie in die Politik wechselten und Diplomat

wurden. Was dachte damals der politische Theoretiker,

als er es plötzlich mit der Praxis zu tun bekam?

>> Huneeus: Ich begriff, wie wenig wir Wissenschaftler

auf diese Rolle vorbereitet waren. Ich war ja nicht der

Einzige. Viele weitere Kollegen, Politikwissenschaftler

und Juristen, wurden Mitarbeiter der ersten demokratischen

Regierung. Doch was wir tun sollten, wenn wir an

die Macht kommen, diese Frage hatten wir uns nie

gestellt. In der Politik wurde mir deutlich, dass wir als

Wissenschaftler manchmal in einer Welt arbeiten, die

überhaupt nichts mit der Realität zu tun hat. Ich sah

die Leistung der Politikwissenschaft mit einem Mal kritischer.

Nicht nur mit Blick auf Chile, sondern auch in

den etablierten Demokratien.

>> Kosmos: Nach vier Jahren als Botschafter gingen

Sie zurück in Ihren Beruf als Wissenschaftler. Was vermissten

Sie aus Ihrer Zeit als Diplomat?

>> Huneeus: Der Übergang war nicht hart, weil ich

diese Tätigkeit immer als eine vorübergehende betrachtet

hatte. Mein Beruf ist die Wissenschaft. Doch

ein wenig vermisste ich es, einfach zuzupacken und zu

handeln, Entscheidungen zu treffen, die Auswirkungen

haben. Ich fand es gut, diese Erfahrung gemacht zu

haben und würde meinen Kollegen raten, einmal die

Straßenseite zu wechseln und in der Politik zu arbeiten.

Aber die Möglichkeiten sind natürlich begrenzt.

>> Kosmos: Wie Sie als Humboldt-Stipendiat waren

auch andere chilenische Wissenschaftler während der

Pinochet-Diktatur als Gastwissenschaftler in Heidelberg.

Aus dieser Generation sind später viele in den diplomatischen

Dienst gegangen oder bekleideten hochrangige

Stellen in der neuen Regierung. War der Wechsel auf

die andere Straßenseite damals leichter?

>> Huneeus: Allerdings. Die neue Regierung brauchte

dringend akademisches Personal. 17 Jahre Diktatur sind

eine lange Zeit. Der Staat war sehr schwach. Die Positionen

waren immer noch von Leuten besetzt, die in

der Diktatur gearbeitet hatten. Die Parteien waren in

einer relativ kurzen Zeit an die Macht gekommen und

>> Kosmos: Before switching over to politics and becoming

a diplomat, you worked as a scholar for years.

What did the political theorist think at the time, when he

was suddenly confronted with practical issues?

>> Huneeus: I realised how little we scholars had been

prepared for this role. After all, I wasn’t the only one. Many

other colleagues, political scholars and jurists, became

staff of the first democratic government. But we had never

asked ourselves what we would be expected to do once we

took office. In politics, I became aware that as scholars, we

sometimes work in a world that has nothing whatsoever

to do with reality. All at once, I was more critical of what

political science actually performs. Not only with a view

to Chile, but also in the established democracies.

>> Kosmos: After four years as an ambassador, you

returned to your profession as a scholar. What have you

missed from your period as a diplomat?

>> Huneeus: Transition wasn’t tough because I had

always regarded this activity as a temporary one. My profession

is science. However, I did slightly miss simply tackling

issues and acting, making decisions that have an

impact. I thought it was a good thing that I had gathered

this experience and would advise my colleagues to take a

walk on the other side of the street for once and work in

politics. But of course the possibilities are limited.

>> Kosmos: Just like you as a Humboldt Fellow, other

Chilean academics were in Heidelberg as visiting academics

during the Pinochet dictatorship. Many of this generation

later entered diplomatic service or assumed leading

positions in the new government. Was crossing over easier

at the time?

>> Huneeus: It certainly was. The new government was

in urgent need of academic staff. 17 years of dictatorship

is a long time. The state was very weak. People were still

in government positions who had previously worked for

the dictatorship. The parties had assumed power within a

relatively short period and had not had enough time to

develop their own political staff. By the way, I am the only

member of this circle who returned to the academic world.

All the others stayed in politics.

>> Kosmos: Were academics the better politicians?

*******

Professor Dr. Carlos

Huneeus ist Politologe

an der Pontificia Universidad

Católica de Chile

in Santiago, Chile.

1988 wurde ihm ein

Humboldt-Forschungsstipendium

verliehen,

das ihn an die Universität

Heidelberg führte.

Von 1990 bis 1994 war

er Botschafter Chiles in

Bonn.

*******

Professor Dr. Carlos

Huneeus is political

scholar at the Pontificia

Universidad Católica de

Chile in Santiago, Chile.

He was granted a

Humboldt Research

Fellowship in 1988 that

brought him to the

University of Heidelberg.

From 1990 to 1994 he was

Chilenian Ambassador in

Bonn.

20 >> Humboldt kosmos 85/2005


************************

„In der Politik wurde mir deutlich, dass wir als Wissenschaftler

manchmal in einer Welt arbeiten, die überhaupt

nichts mit der Realität zu tun hat.“

Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations

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“In politics, I became aware that as scholars, we sometimes

work in a world that has nothing whatsover to do

with reality.”

hatten keine Zeit gehabt, eigenes politisches Personal

aufzubauen. Ich bin übrigens der Einzige aus diesem

Kreis, der zurück in die Wissenschaft gegangen ist. Die

anderen sind in der Politik geblieben.

>> Kosmos: Waren Wissenschaftler die besseren Politiker?

>> Huneeus: Sie passten ins Profil. Die damaligen politischen

Akteure, Präsident Aylwin und auch andere,

wollten junge Leute, die im Ausland promoviert hatten.

Mehr als die Hälfte der Minister der ersten demokratischen

Regierung hatten in den USA, Großbritannien,

Frankreich, Deutschland und anderen Ländern promoviert.

Das waren qualifizierte Leute.

>> Kosmos: Woher rekrutiert sich heute die politische

Führungsgruppe in Chile? Der Anteil junger Wissenschaftler

ist zurückgegangen.

>> Huneeus: Ja, heute rekrutiert sich das Personal

überwiegend aus den Parteien. Es ist ein ziemlich geschlossenes

System, was problematisch ist. Aber der Präsident

rekrutiert nach wie vor auch Seiteneinsteiger aus

der Wissenschaft und anderen Berufen. Es gibt also

immer noch eine Mischung.

>> Kosmos: Wissenschaftler an die Macht. Heißt so

das Modell für erfolgreiche Demokratiebildung?

>> Huneeus: Bei uns hat es jedenfalls ganz gut funktioniert.

Dieser Ansatz unterschied sich jedenfalls sehr,

beispielsweise von unserem Nachbarn Argentinien. Die

erste demokratische Regierung dort hatte die führenden

Positionen überwiegend mit alten Politikern besetzt

und nicht mit politisch erfahrenen Akademikern

oder Technokraten. Das ist vielleicht einer der Gründe,

warum wir in Chile eine bessere Entwicklung gehabt

haben.

>> Huneeus: They had the right profile. The political

actors of the time, President Aylwin and others as well,

wanted young people with a PhD from abroad. More

than half of the ministers in the first democratic government

had done their doctorate in the USA, the UK,

France, Germany and other countries. They were qualified

people.

>> Kosmos: Where does today’s political leadership in

Chile recruit itself from? The share of young academics

has declined.

>> Huneeus: Yes, nowadays staff are recruited mainly

from the parties. It is rather a closed shop, which does present

problems. However, the president will still recruit

people coming in through the back door from academic

and other professions. So it is still a mixed bag.

>> Kosmos: Power to the academics. Is that the right

model for successful democratisation?

>> Huneeus: At any rate, it worked quite well at home.

This approach differed considerably from our neighbour,

Argentina, for example. The first democratic government

there had staffed the senior positions mainly with old

politicians rather than with politically experienced academics

or technocrats. Perhaps that is one of the reasons

why we can look back on more favourable developments

in Chile.

21 >> Humboldt kosmos 85/2005


Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations

Barbara Sheldon

Das Geheimnis der fehlenden Forscher

The secret of the missing researchers

Europa gehen die Wissenschaftler aus – schätzt die

EU und will die Mobilität von Forschern fördern. Doch

gesicherte Zahlen über die Wanderbewegungen in,

nach und aus Europa gibt es nicht.

Europe is running out of researchers – says the EU

and seeks to promote the mobility of scientists and

scholars. However, reliable figures on migrations in,

to and from Europe are not available.

Europa hat ein Problem: Es fehlt an Forschern – so die

Einschätzung von Experten der Europäischen Kommission.

Es klingt dramatisch: 700.000 neue Forscher

müssen nach Vorstellung der EU bis 2010 zu der bisher

knapp einen Million Forscher in Europa hinzukommen,

um den „dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum

der Welt“ entstehen zu lassen. Das zurzeit

verhandelte 7. Forschungsrahmenprogramm der EU

soll hierfür mehr Geld und verbesserte Instrumente

bereitstellen. Die Zauberformel lautet Mobilität. Weltweit

und in Europa sollen sich die Forscher in Bewegung

setzen.

Was aus der Brüsseler Vogelperspektive einleuchtend

ist, sieht in der Praxis mitunter anders aus. So

freuen sich Universitäten und Forschungseinrichtungen

nur eingeschränkt, wenn es ihre besten Wissenschaftler

an eine andere Einrichtung oder in ein anderes

Land zieht. Zu groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass

besonders qualifizierte Forscher nicht zurückkehren, es

eben doch zu einem „Braindrain“ und nicht zu der von

Brüssel euphemistisch „brain circulation“ genannten

Bewegung kommt. Um frisch rekrutierte Höchstqualifizierte

aus dem Ausland dauerhaft zu halten, also von

weiterer Mobilität abzuhalten, hat die Eidgenössische

Technische Universität (ETH) Zürich eine Infrastruktur

für die Betreuung der Partner von Forschern

geschaffen. Ob Forscher an einem Ort bleiben, hängt

eben oftmals auch mit der Zufriedenheit im privaten

Umfeld zusammen.

Rotes Tuch für Praktiker

Gerade die geforderte Zahl von zusätzlich 700.000 Forschern

– eine Mischung aus Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung

sowie zum Bedarf an klugen Köpfen

in der angestrebten Wissensgesellschaft – ist ein rotes

Tuch für viele, die mit der Realität mobiler Forscher zu

tun haben. In den Verwaltungen von Universitäten und

Forschungseinrichtungen sieht man sehr genau, dass es

an Stellen, Geldern, Ausstattung und vielem mehr fehlt

und auch die Betreuungsinfrastruktur schon für die

derzeitigen internationalen Forscher im Argen liegt. Da

Europe has a problem. According to estimates made by

experts of the European Commission, there is a dearth of

researchers. It all sounds rather dramatic. The EU has

worked out that 700,000 new researchers would have to

join the just under a million researchers in Europe in

order to enable the development of the “most dynamic

knowledge-based economic area in the world”. The EU’s

7th Research Framework Programme, which is currently

being negotiated, is to provide more money and improved

instruments to this end. The magic formula here is

mobility. World-wide as well as in Europe, the researchers

are expected to get going.

What makes sense from the Brussels bird’s-eye perspective

may well look rather different in practice. Universities

and research institutions are not that pleased

when their best scientists and scholars feel attracted by

another institution or another country. The probability

that specially qualified researchers will not return and

the “brain drain” has materialised after all instead of

what Brussels euphemistically calls “brain circulation” is

simply too great. In order to retain freshly recruited peak

scientists and scholars from abroad, i.e. to prevent further

mobility, the Swiss Federal Institute of Technology

(ETH) Zurich has created an infrastructure for the welfare

of the partners of researchers. Satisfaction with private

life often happens to be crucial to whether researchers

will stay in a certain place.

What makes practitioners see red

The requested number of an additional 700,000 researchers

– a mixture of forecasts on demographic development

and on the demand for brains in the envisioned

knowledge society – makes many of those coping with the

reality of mobile researchers see red. Officials in the

administrations of universities and research institutions

have a very clear perception of the lack of positions, funding,

equipment and a lot of other things and are aware

that support infrastructure for today’s international

researchers is at sixes and sevens as well. Against this

background, it is difficult to conceive what benefits more

mobility should offer or how the mass of researchers

*******

Dr. Barbara Sheldon

leitet das Deutsche

Mobilitätszentrum

(www.eracareersgermany.de)

bei der

Alexander von

Humboldt-Stiftung

in Bonn.

*******

Dr. Barbara Sheldon

heads the German

Mobility Centre

(www.eracareersgermany.de)

at the

Alexander von Humboldt

Foundation in Bonn.

22 >> Humboldt kosmos 85/2005


23 >> Humboldt kosmos 85/2005


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„Bei manchen Forschern würde man sich allerdings

freuen, wenn sie mobil wären und die Institution

wieder verlassen würden.“

Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations

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“There are some researchers one would really

be glad to see mobile so that they would leave the

institution again.”

ist es schwer vorstellbar, worin die Vorteile von mehr

Mobilität liegen, oder wie man mit der Masse der erhofften

Forscher umgehen soll.

Verlässliche Angaben, wie viele Forscher aus Drittländern

sich tatsächlich zu einem gegebenen Zeitpunkt

in Europa aufhalten – als Stipendiaten, Arbeitnehmer,

Selbstzahler, Besucher – fehlen weitgehend. Aufschluss

könnte vielleicht einmal das derzeit diskutierte „Europäische

Forschervisum“ liefern, das Wissenschaftlern

aus Nicht-EU-Ländern die Einreise nach Europa erleichtern

soll. Doch zurzeit weiß man oftmals nicht

einmal an den Akademischen Auslandsämtern von Universitäten

in Deutschland, wie viele und welche Gastwissenschaftler

sich zu einem bestimmten Zeitpunkt

an der Einrichtung aufhalten. So sind die von den deutschen

Forschungsförderern, darunter der Alexander

von Humboldt-Stiftung, in der vom Deutschen Akademischen

Austauschdienst (DAAD) herausgegebenen

Studie „Wissenschaft weltoffen“ veröffentlichten Zahlen

immer noch der verlässlichste Indikator für Forschermobilität.

Hiernach wurden im Jahr 2003 die Aufenthalte

von über 20.000 ausländischen Wissenschaftlern

in Deutschland und rund 5.300 deutschen Wissenschaftlern

im Ausland von deutschen Förderorganisationen

finanziell unterstützt. Das bedeutet bei den ausländischen

Forschern gegenüber dem Vorjahr eine Steigerung

um zweieinhalb Prozent.

Die Wirtschaft lockt

Dem Europäischen Forschungsraum stehen aber nach

wie vor Probleme entgegen. Nicht nur erschweren administrative

Hürden und Probleme mit den nationalen

Sozialversicherungen den Wechsel zwischen einzelnen

EU-Ländern. Auch ist in vielen Ländern der Forscherberuf

nicht attraktiv genug. Hoch qualifizierte Nachwuchswissenschaftler

ziehen im Zweifel eine gut bezahlte

Karriere in der Wirtschaft dem ungewissen Dasein

als Wissenschaftler vor. Mit einer großen PR-Kampagne

will die Europäische Kommission deshalb ab

Mitte 2005 europaweit mit einer „Nacht der Wissenschaft“

und anderen Initiativen für den Beruf „Forscher“

werben.

Zu solchen PR-Aktionen kommen handfestere europäische

und nationale Initiativen wie die „Forschercharta“.

Im März 2005 erging sie als Empfehlung der

Europäischen Kommission an die Mitgliedstaaten, an

hoped for would be dealt with.

Reliable statements on how many researchers from

third-party countries are actually present in Europe at a

given moment – as fellows, employees, self-supporting,

visitors – are largely unavailable. One day, perhaps, the

“European Researcher Visa”, which is currently being

discussed and is aimed at facilitating visits of academics

from non-European Union countries, could clarify this

issue. But at the moment, even the officials at the foreign

students' advisory offices of universities in Germany are

often not aware of how many and which visiting academics

are at an institution at a certain time. Thus the

figures published by the German research funding organisations,

including the Alexander von Humboldt Foundation,

in the survey “Wissenschaft weltoffen”, edited by

the German Academic Exchange Service (DAAD), are

still the most reliable indicators of mobility among

researchers. According to this survey, visits of more than

20,000 foreign academics to Germany and around 5,300

German academics abroad were financially supported

by German funding organisations in 2003. Among the

foreign researchers, this represents an increase of 2.5 percent

compared to the previous year.

Tempted by industry

However, the European Research Area is still facing problems.

Not only are administrative hurdles and problems

with the national social insurances complicating moving

among individual EU countries. In many countries, an

academic career is simply not attractive enough. If it

comes to the crunch, highly-qualified junior scientists

and scholars will prefer a well-salaried career in industry

to the insecure life of an academic. This is why the European

Commission intends to launch a major pan-European

PR campaign in mid-2005 drawing attention to

a career as a researcher with a “Night of Science” and

other initiatives.

Such PR campaigns are joined by more down-toearth

European and national initiatives such as the

“Charter for Researchers”. It was submitted as a European

Commission recommendation to the member

states, employers, research institutions and researchers

in March 2005. It is a minimum catalogue of rights and

duties of researchers and, above all, of employers and

funding organisations. The German Immigration Act

which has been in force since January 2005 and is aimed

24 >> Humboldt kosmos 85/2005


Arbeitgeber, Forschungseinrichtungen und Forscher. Sie ist ein Minimalkatalog

von Rechten und Pflichten von Forschern, aber vor allem

auch von Arbeitgebern und Förderern. Auch das deutsche Zuwanderungsgesetz,

das seit Januar 2005 Hochqualifizierten den Einstieg in

den deutschen Arbeitsmarkt ermöglichen soll und beispielsweise ausländischen

Hochschulabsolventen ein Jahr Zeit für die Arbeitssuche in

Deutschland einräumt, ist eine konkrete Maßnahme, die die Situation

mobiler Forscher verbessern soll.

Die Öffnung der europäischen Förderprogramme für nicht-europäische

Forscher, die Initiativen zum Abbau von Problemen im

Zusammenhang mit Aufenthalten in einem anderen Land, die Informationskampagnen,

die den „Forschungsstandort Europa“ anpreisen,

die parallel laufenden Aktivitäten auf nationalstaatlicher Ebene –

Europa tut viel, um für mobile Forscher attraktiv zu sein und das tatsächliche

oder vermeintliche Schreckgespenst von einem möglichen

Forscherdefizit abzuschütteln. Doch auch gegen die realen Schrecken

im Hier und Jetzt kann mehr Beweglichkeit nur helfen, so die Auslandsbeauftragte

eines deutschen Forschungsinstituts: „Bei manchen

Forschern würde man sich richtig freuen, wenn sie mobil wären und

die Institution wieder verlassen würden.“ Über geplante EU-Programme

zur Mobilitätsförderung speziell für unqualifizierte Wissenschaftler

ist allerdings bislang nichts bekannt.

at enabling better access to the German labour market for highly qualified

people coming from abroad, granting, for example, foreign graduates

from higher education a year’s time to find a job in Germany, is a

further concrete measure intended to improve the situation of mobile

researchers.

Opening up the European funding programmes to non-European

researchers, initiatives to eliminate problems in the context of visits

abroad, information campaigns promoting “Europe as a research location”,

parallel activities at national state level – Europe is indeed doing a

lot to be attractive for mobile researchers and get rid of the real or supposed

spectre of a possible dearth of researchers. But even the true nuisances

here and now can only be remedied by more mobility, says the foreign

affairs official of one German research institute: “There are some

researchers one would really be glad to see mobile so that they would

leave the institution again.” However, no information has so far been

released on planned EU programmes to specially promote mobility

among unqualified academics.

25 >> Humboldt kosmos 85/2005


Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations

Interview Irena Lipowicz

Mittendrin – was für eine Chance!

Right in between – what an opportunity!

Für die meisten westeuropäischen Wissenschaftler ist

Polen ein unentdecktes Land. Das sollte sich ändern,

meint Irena Lipowicz. Die Botschafterin für Deutsch-

Polnische Beziehungen über das Bild ihres Landes in

Europa, die harte Kur vor dem EU-Beitritt und Witze,

über die junge Polen nicht mehr lachen können.

Poland is terra incognita to most West European academics.

Irena Lipowicz thinks this ought to change.

The Ambassador for German-Polish Relations speaks

about her country’s image in Europe, the tough measures

required during the run-up to accession to the

EU and jokes that are no longer funny for young Poles.

>> Kosmos: Was sagen Sie einem deutschen Forscher,

der im Ausland arbeiten will und polnische Universitäten

gar nicht auf seiner Rechnung hat?

>> Lipowicz: Ich würde ihm sagen, Warschau liegt

näher als Kalifornien, und ihm, wenn er Physiker ist,

beispielsweise von meinem Landsmann Tomasz Dietl

erzählen. Er hat in den achtziger Jahren als Humboldt-

Stipendiat in Garching gearbeitet. Heute ist er eine

große internationale Kapazität auf dem Gebiet der

Physik. Er erhält Einladungen aus der ganzen Welt,

auch aus den USA. Aber sein Forschungszentrum ist in

Warschau. Dort hat er bemerkenswert viele japanische

Doktoranden. Und wenn unsere amerikanischen Freunde

ihn schätzen und unsere japanischen Kollegen ihm

die Doktoranden schicken, würde ich meinen, es könnte

nichts schaden, sich auch als Deutscher bei ihm zu

bewerben.

>> Kosmos: Muss man in der umgekehrten Richtung

weniger Motivationsarbeit leisten? Schließlich liegen

polnische Wissenschaftler an vierter Stelle unter den

ausländischen geförderten Wissenschaftlern in Deutschland…

>> Lipowicz: Es ist sicher kein Problem, polnische

Juristen für Deutschland zu erwärmen. Schwieriger ist

es bei den Naturwissenschaften. Da müsste man schon

mit einer besonders starken Forschungsgruppe werben

oder mit einem exzellenten deutschen Professor, der

besser ist als jeder andere in der Welt. Die Konkurrenz

ist hart.

>> Kosmos: Welche Rolle spielt das Image Deutschlands,

das ja immer noch von der Vergangenheit überschattet

wird?

>> Lipowicz: Laut neuester Umfragen ist das Deutschlandbild

in Polen angesichts der belasteten Vergangenheit

ausgesprochen gut. Hier sind die Polen wirklich

unbefangen. Das zeigt sich an der Reaktion auf einen

populären Witz: Ein Pole soll einem Taxifahrer in

Marokko erklären, wo denn eigentlich Polen liege.

„Zwischen Russland und Deutschland,“ sagt der Pole.

>> Kosmos: What would you tell a German researcher

wishing to work abroad who hasn’t got any Polish universities

on his list?

>> Lipowicz: I would point out to him that Warsaw is

nearer than California, and if he happened to be a physicist,

I would tell him about, for example, my fellow countryman

Tomasz Dietl. In the eighties, he worked as a Humboldt

Fellow in Garching. Today, he is a leading international

authority in the field of physics who receives invitations

from all over the world, also from the USA. Nevertheless,

his research centre is in Warsaw. He has a remarkable

number of Japanese doctoral candidates there. And

since our American friends hold him in high esteem and

our Japanese colleagues send him the doctoral candidates,

I would maintain that there is no harm in Germans filing

applications to him.

>> Kosmos: Do you have to do less to motivate people in

the other direction? After all, Polish scientists and scholars

are fourth among the foreign academics funded in

Germany…

>> Lipowicz: There is certainly no problem in getting

Polish jurists interested in Germany. It is rather more difficult

with the natural sciences. Here, you would have to

come up with a particularly strong research team or an

excellent German professor who is better than any other

of his or her colleagues throughout the world. Competition

is stiff.

>> Kosmos: What role does Germany’s image play? It’s

still overshadowed by the past.

>> Lipowicz: The latest surveys indicate that, considering

its legacy from the past, Germany’s image in Poland

is really good. In this respect, the Poles are truly unbiased.

This is reflected in how people respond to a popular joke.

A Pole is supposed to explain to a taxi-driver in Morocco

where Poland actually is. “Between Russia and Germany,”

says the Pole. And the taxi-driver answers: “How lovely!

What a great opportunity!”

This little joke about history is funny to older Poles and

Germans, even though they do have mixed feelings about

*******

Professor Dr. Irena

Lipowicz ist als Sonderbeauftragte

Botschafterin

des Ministers für Auswärtige

Angelegenheiten

für Deutsch-Polnische

Beziehungen verantwortlich

für das laufende

Deutsch-Polnische Jahr.

Sie ist Professorin für

Verwaltungsrecht an der

Kardinal Stefan

Wyszynski Universität

in Warschau.

*******

Professor Dr. Irena

Lipowicz is Special

Envoy Ambassador of

the Minister of Foreign

Affairs for German-

Polish Relations and

responsible for the

ongoing German-Polish

Year. She is a Professor

of Administrative Law

at Kardinal Stefan

Wyszynski University

in Warsaw.

26 >> Humboldt kosmos 85/2005


Titelthema Coverstory

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„Die jüngeren Polen sehen nicht so sehr die historische

Last, sondern begreifen unsere geografische Lage

tatsächlich als Chance der Gegenwart.“

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“The younger Poles don’t see the burden of history

so much. They really see our geographic location as

a modern-day opportunity.”

Darauf der Taxifahrer: „Ach wunderbar, was für eine Chance!“

Ältere Polen und Deutsche lachen über diesen Witz mit der Geschichte –

wenn auch neben dem lachenden mit einem weinenden Auge. Die

Jüngeren dagegen lachen überhaupt nicht. Sie verstehen die Pointe

nicht, denn sie denken nicht an die Aufteilung Polens zwischen Hitler

und Stalin. Sie begreifen unsere geographische Lage tatsächlich als

Chance der Gegenwart.

>> Kosmos: Hier haben die westlichen Nachbarn anscheinend Nachholbedarf.

Der Blick geht kaum nach Osten. Das Bild von Polen in den

anderen EU-Ländern ist diffus. Meist herrscht höfliches Desinteresse…

>> Lipowicz: Polen ist immer noch zu wenig bekannt. Wer aber nach

Polen kommt, hat ein echtes Aha-Erlebnis, das gar nicht passt zu dem

veralteten Polenbild in den Medien. Doch die Wahrnehmung ändert

sich langsam. Als wir in den neunziger Jahren unsere schmerzhaften

Reformen anpackten, dachte man, das ist halt nötig für Polen oder

Tschechien oder die Slowakische Republik. Jetzt ist bewusst geworden,

dass auch andere europäische Länder diese oder ähnliche Reformen

brauchen. Das schafft eine neue Ebene der Verständigung. Nicht mehr

von oben herab, sondern eine wirkliche Partnerschaft auf Augenhöhe.

Wenn Sie sich erinnern, wie Polen in den achtziger Jahren war, als ich

als Humboldt-Stipendiatin nach Deutschland kam, und wenn man

heute unsere Welten vergleicht, dann können wir stolz sein.

>> Kosmos: Nach Ihrer Zeit als Humboldt-Stipendiatin in Tübingen

und Heidelberg haben Sie sich neben der wissenschaftlichen Tätigkeit

auch politisch engagiert. Als polnische Botschafterin in Österreich,

aber auch als Abgeordnete im Sejm….

>> Lipowicz: Nicht nur ich. Viele meiner Kollegen, die sich im Reformprozess

in Polen engagiert haben, sind ehemalige Stipendiaten. Fast

könnte man von einer Arbeitsteilung sprechen: die Modernisierung

der Wirtschaft, das war die Arbeit der Fulbright-Stipendiaten. Die

Reform des Staatsrechts und der Verwaltung, die Einführung der kommunalen

Selbstverwaltung, das machten nicht zufälligerweise viele

ehemalige Humboldt-Stipendiaten. Wir hatten uns so viel wie möglich

abgeguckt, um unser Land zu modernisieren.

>> Kosmos: Was hat der EU-Beitritt für dieses Modernisierungsprojekt

bedeutet?

>> Lipowicz: Man hat uns eine harte Kur verordnet. Das hat uns politische

Schwierigkeiten und hohe Arbeitslosigkeit gebracht, aber jetzt

nach dieser Schlankheitskur sind wir fit. Nun sagen uns die alten EU-

Staaten, dass wir zuviel Konkurrenz und Liberalisierung bringen. Aber

das war doch genau das, was man uns jahrelang gepredigt hat! Wir

haben nur als gute Schüler das umgesetzt, was man von uns wollte. Ich

denke, man muss dies positiv sehen. Die Geschichte hat uns jahrelang

getrennt. Das war eine schreckliche Zeit für unsere Länder. Jetzt kommen

wir mit großer Neugier und mit viel Energie. Das wird Europa gut tun.

it. Younger Poles, however, find no reason whatsoever to laugh. They

don’t get the point, for they don’t think about Hitler and Stalin’s carving

up Poland. They really see our geographic location as a modern-day

opportunity.

>> Kosmos: This is where the western neighbours seem to have a lot to catch

up on. People hardly look towards the East. Poland’s image in the other

EU countries tends to be diffuse. Usually, polite disinterest is displayed…

>> Lipowicz: Poland is still not familiar enough. But most people

coming to Poland are in for a real surprise and experience things that

don’t fit in with the out-of-date image the media portray of Poland at all.

However, perception is gradually changing. When we were tackling our

painful reforms in the nineties, people believed that these things just happened

to be necessary for Poland or the Czech or Slovak Republics. Now

they realise that other European countries are in need of these or similar

reforms, too. This creates a new level of understanding. Things are no longer

top-down. Instead, true partnerships at eye level are emerging. If you

think back to what Poland was like in the eighties, when I came to Germany

as a Humboldt Fellow, and then compare our worlds today, we can

be proud of our achievements.

>> Kosmos: After your period as a Humboldt Fellow in Tübingen and

Heidelberg, in addition to your academic activities, you also took up politics.

As Polish Ambassador in Austria, but also as a Member of the Sejm ….

>> Lipowicz: Not only me. Many of my colleagues engaged in Poland’s

reform process are former fellows. You could almost speak of a division of

labour. Modernising the economy was the work of the Fulbright Fellows.

It was more than coincidence that many of the former Humboldt Fellows

were the ones who were tackling the reform of constitutional law and

administration, the introduction of local self-government. We had taken

note of as much as possible abroad in order to be able to modernise our

own country.

>> Kosmos: What did accession to the EU mean for this modernisation

project?

>> Lipowicz: We had been prescribed a stiff remedy. That brought us

into political difficulties and resulted in high unemployment, but now,

after this course of slimming treatment, we are fit. Now the old EU states

are saying that we are bringing too much competition and liberalisation

into the community. But this is exactly what we have been preached for

years. As good pupils, we have merely done our homework. I think you

have to see this in a positive light. History separated us for years – a terrible

time for our countries. Now we are coming with much inquisitiveness

and much energy, which is going to do Europe good.

27 >> Humboldt kosmos 85/2005


Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations

Amir Reza Jassbi

Ausweg Ausland

Going abroad as a way out

Der Kampf gegen Braindrain genießt nicht überall Priorität. Die

Bedingungen für iranische Wissenschaftler in ihrer Heimat fordern

beinahe zum Auswandern auf.

Reisen bildet, gerade in der Forschung. Doch der Blick auf das Heimatland

ist danach nicht mehr derselbe. Nach Forschungsaufenthalten

in Pakistan, Japan und Deutschland sehe ich umso deutlicher, was

sich im Iran ändern muss, damit seine Forscher besser arbeiten und

international kooperieren können.

Wie in anderen Ländern geht es auch im Iran für Wissenschaftler

zunächst einmal ums Geld. Als Forscher am Medicinal Plants Research

Institute der Shahid Beheshti Universität in Teheran verdiente ich

monatlich 260 Euro. Das ist auch in Teheran so wenig, dass ich mir wie

viele meiner Landsleute einen Nebenerwerb suchen musste. Keine

ideale Situation für Spitzenforschung also, wenn man davon ausgeht,

dass man hierfür mit Leib und Seele und mindestens zehn oder zwölf

Stunden am Tag forschen sollte. Aus wirtschaftlicher Sicht ist eine wissenschaftliche

Laufbahn alles andere als attraktiv. Die niedrige Lebensqualität

gerade in diesem und anderen Berufen mit einem hohen Bildungsniveau

schreckt viele Studenten von einer akademischen Laufbahn

ab. Wer sich trotz der geringen finanziellen Anreize um einen Job

an der Fakultät bewirbt, stößt auf einen harten Wettbewerb.

So empfand ich es als Glück, nach vier Jahren, die ich nach meinem

Abschluss als Chemiker an der Islamischen Azad Universität in

Karaj gearbeitet hatte, zu meinem ersten Auslandsaufenthalt als Doktorand

nach Pakistan an das HEJ-Forschungsinstitut für Chemie an

der Universität Karachi gehen zu können. Dort fiel im Vergleich zu

meiner Arbeitsstelle im Iran das professionelle Management auf. Der

Direktor war einer der führenden Wissenschaftler in Pakistan auf dem

Gebiet der Naturstoffchemie. Die guten Bedingungen wurden für

mich zum Sprungbrett für ein Postdoktorandenstipendium der Japan

Society for the Promotion of Science (JSPS). Zusammen mit meiner

Frau ging ich also nach Japan, wo wir gemeinsam arbeiteten und

Stemming the brain drain is not a priority everywhere. The conditions

Iranian academics have to live in at home are almost an invitation

for them to emigrate.

Travelling educates people, especially in research. But they also learn to

view their home country in a different way on returning. After research

stays in Pakistan, Japan and Germany, I can see all the more clearly what

has to change in Iran for its researchers to be able to work and co-operate

internationally in a better manner.

Just like in other countries, academics in Iran are keen to earn

money. As a researcher at the Medicinal Plants Research Institute,

Shahid Beheshti University in Teheran, I was earning 260 euros a month.

Even in Teheran, this is so little that, like my fellow countrymen, I had to

find a sideline job to keep me going. So this wasn’t exactly an ideal situation

for peak research, considering that the latter requires heart and

soul commitment and at least ten to twelve hours of research a day. From

an economic angle, an academic career is anything but attractive. The

poor quality of life offered by this profession in particular, but also by

others with a high level of education, tends to deter many students from

opting for an academic career. And those who do apply for a job with a

university department in spite of the low financial incentives involved

will meet with stiff competition.

Thus, after the four years I had worked following my graduating as

a chemist at Karaj’s Islamic Azad University, I felt fortunate to be able to

visit Pakistan for my first stay abroad in a PhD programme at the HEJ

Research Institute for Chemistry at Karachi University. What struck me

there was the institute’s professional management in comparison to my

workplace in Iran. Its director was one of Pakistan’s leading scientists in

the field of natural product chemistry. The good conditions I enjoyed

there served me as a springboard for a postdoctoral fellowship of the

Japan Society for the Promotion of Science (JSPS). So I went to Japan

with my wife, where we worked and published material together. I was

surprised and impressed how respectfully the students there treated their

28 >> Humboldt kosmos 85/2005


************************

„Damit der Iran für seine Forscher ein attraktives

Land wird, in das man auch zurückkehrt, müsste

die iranische Politik einige Dinge ändern.“

Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations

************************

“For Iran to become an attractive country for

its researchers that one would return to, a number

of things would have to change.”

publizierten. Ich war überrascht und beeindruckt wie

respektvoll die dortigen Studenten mit ihren Lehrern

und miteinander umgingen. Jeder half dem anderen so

gut er konnte. Nach meiner Rückkehr in den Iran versuchte

ich, meine im Ausland gesammelten Erfahrungen

anzuwenden und wollte meine dortigen Studenten

nach japanischem Vorbild mit größerer Eigenverantwortung

in Gruppen zusammenarbeiten lassen. Doch

der Versuch scheiterte. Die Studenten waren schlicht

nicht bereit, sich auf das Modell einzulassen.

Im Februar 2004 erhielt ich ein Stipendium des

British Council für einen Forschungsaufenthalt am

Chemischen Institut der Universität Oxford. Ich sollte

dort mit einem britischen Kollegen zusammenarbeiten.

Ich schrieb einen Forschungsplan und machte

mich an die Vorbereitung des Projekts. Doch die

Kooperation scheiterte noch bevor sie beginnen konnte,

weil mein Heimatinstitut sie nicht unterstützte.

Immerhin wurde eine meiner Forschungsarbeiten

anschließend für eine mündliche Präsentation in

China akzeptiert, doch ich bekam keine Unterstützung

um dorthin zu reisen. Davon abgesehen konnte ich

mangels Geld auch an keinen anderen internationalen

Treffen teilnehmen. Meinen Kollegen zu Hause dagegen

fehlte die Erfahrung auf meinem Fachgebiet, um

mit mir produktiv über meine Arbeit zu diskutieren. So

saß ich in meinem mit einigen guten Instrumenten neu

ausgestatteten Institut und konnte doch nicht so forschen

wie ich wollte. In dieser Situation führte mein

Weg fast zwangsläufig wieder ins Ausland. Seit November

2004 forsche ich als Humboldt-Stipendiat am Max-

Planck-Institut für chemische Ökologie in Jena.

Bei der Einführungstagung für die neuen Humboldtianer

in Bonn traf ich zwei weitere iranische Stipendiaten.

Ich finde, dies ist ein gutes Zeichen für den

Iran. Doch um für seine Forscher ein attraktives Land

zu sein, in das man auch zurückkehrt, müssten sich

einige Dinge ändern. Besetzungen an Forschungseinrichtungen

sollten nur auf der Grundlage von Qualifikationen,

nicht aber von persönlichen Beziehungen

oder aus politischen Gründen geschehen. Forscher

müssen mehr verdienen, um Abwanderung ins Ausland

oder andere Berufe zu verhindern. Vor allem aber

muss das gesellschaftliche Ansehen und das öffentliche

Bewusstsein für die Wichtigkeit von Forschung für

Fortschritt und Wohlstand gestärkt werden.

teachers and each other. Everyone helped each other as

well as they could. On my return to Iran, I attempted to

apply my experience abroad, aiming to have my students

there co-operate in groups with more self-responsibility,

along the lines of the Japanese example. But this experiment

failed. The students simply weren’t willing to get

involved with the model.

In February 2004, I obtained a grant from the British

Council for a research visit to the Department of Chemistry

at Oxford University to collaborate with a British

colleague. I wrote a research proposal and started to prepare

the project. However, co-operation failed even

before it could start properly because my home institute

would not support it. At least one of my research papers

was subsequently accepted for an oral presentation in

China, although I was given no support to travel there.

Lack of money prohibited my taking part in any other

international meetings, while my colleagues at home did

not have sufficient experience with my subject to discuss

my work with me in a productive manner. So now I was

sitting in my institute equipped with a number of good

instruments but was still not able to do research the way

I wanted to. In this situation, it was almost inevitable for

me to go abroad again. Since November 2004, I have

been doing research as a Humboldt Research Fellow at

the Max Planck Institute for Chemical Ecology in Jena.

During the introductory meeting for the new Humboldtians

in Bonn, I met two further Iranian fellows. I

think this is a good sign for Iran. But for it to become an

attractive country for its researchers that one would return

to, a number of things would have to change. Appointments

to research institutions should only depend on

qualifications instead of candidates for positions being

selected according to personal relations or for political

reasons. Researchers have to earn more if they are to be

persuaded not to migrate abroad or seek other professions.

But above all, social esteem and public awareness

of the importance of research for progress and affluence

need to be boosted.

*******

Dr. Amir Reza Jassbi ist

Chemiker an der Shahid

Beheshti Universität in

Teheran, Iran. Als Humboldt-Forschungsstipendiat

forscht er am Max-

Planck-Institut für chemische

Ökologie in Jena.

*******

Dr. Amir Reza Jassbi is

a chemist at Shahid

Beheshti University in

Teheran, Iran. As a Humboldt

Research Fellow he

is engaged in research at

the Max Planck Institute

for Chemical Ecology in

Jena.

29 >> Humboldt kosmos 85/2005


Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations

Abdallah Al-Zoubi

Fortschritt durch Austausch

Progress through exchange

Jordanien will seine Wirtschaft und Gesellschaft

modernisieren. Internationale Forschungskooperationen

sollen hierbei helfen. Doch nicht nur die jordanischen

Forscher müssen hierfür beweglich sein.

Gefragt ist auch ein stärkeres Engagement der Partner

aus Europa.

Jordan has opted for a modernisation of its economy

and society, a goal it is hoped international

research collaboration will further. But not only

does this require greater mobility among Jordanian

researchers. European partners have to step up their

efforts as well.

Ein Land wie Jordanien, das arm an natürlichen Ressourcen

ist, muss auf sein geistiges Kapital setzen – und

auf internationale Kooperation und Kontakte. Deshalb

ist es so wichtig, dass jordanische Wissenschaftler eine

Zeit im Ausland arbeiten und sich mit dem Stand der

Forschung in Ländern wie den Vereinigten Staaten und

Kanada oder in Westeuropa vertraut machen. Umgekehrt

könnten westliche Forschungseinrichtungen helfen,

wissenschaftlich anspruchsvolle Probleme der

Wasser- und Energieversorgung oder des Umweltschutzes

in Jordanien zu lösen.

Ein Beispiel ist der Jordangraben (Dead Sea Rift).

Gewissermaßen ein natürliches Laboratorium der Erdgeschichte,

böte er Stoff und Fragen für mehr als hundert

Forschungsprojekte in den Bereichen Erde, Umwelt

und Energie gleichzeitig. Vor allem aber braucht

das Tote Meer wirksame Maßnahmen, um sein Austrocknen

und damit gravierende Folgen für die gesamte

Umwelt der Region zu verhindern. Ohne die Hilfe

der Weltgemeinschaft können die Anrainer Jordanien,

Israel und Palästina dieses Problem nicht lösen. Internationale

Zusammenarbeit und Mobilität sind nicht

nur wichtig, um den Mangel an Ressourcen auszugleichen

(die Ausgaben für Forschung und Entwicklung

liegen in Jordanien unter 1 Prozent). Gerade regional

hat der Wissenschaftsaustausch auch ein großes politisches

Potenzial, das freilich weit mehr als bislang genutzt

werden muss, etwa im Verhältnis zwischen Jordanien

und Israel. 1994 unterzeichneten beide Länder ein

Friedensabkommen. Einen Nutzen haben die meisten

Jordanier bislang nicht verspürt.

Der Frieden sollte der jordanischen Wirtschaft helfen,

er sollte es erleichtern, die Wasserversorgung verbessern

und Umweltprobleme lösen zu können, und er

sollte politische Stabilität für den mittleren Osten bringen.

Doch hiervon sind wir leider noch weit entfernt.

Im Programm „Wissenschaft für den Frieden“ sollten

Forscher eine wichtige Rolle im Friedensprozess spielen.

Aber solange jordanische und israelische Wissen-

A country like Jordan, which is poor in natural resources,

has to rely on its intellectual assets – and on international

co-operation and contacts. This is why it is so important

for Jordanian researchers to spend a period abroad

and get familiar with research standards in countries

such as the United States of America and Canada or in

Western Europe. Conversely, western research institutions

can be of assistance in solving scientifically sophisticated

problems of water and energy supply or environmental

protection in Jordan.

One example is the Jordan Rift Valley (Dead Sea

Rift). Serving as something of a natural laboratory for

geological history, it could provide enough material and

problems for more than a hundred research projects from

earth, environmental and energy sciences to work on

simultaneously. But above all, the Dead Sea requires

effective measures to prevent it from drying up, which

would have serious consequences for the region’s entire

environment. Without the support of the international

community, the riparian countries of Jordan, Israel and

Palestine will be unable to solve this problem.

International collaboration and mobility are not only

important in compensating for Jordan’s lack of resources

(the country’s research and development expenditure is

below 1 percent). Particularly at regional level, academic

exchange also bears a major political potential, albeit a

potential that needs to be made use of far more than it

has been so far. Take Jordan’s relations with Israel, for

example. The two countries signed a peace agreement in

1994. But as yet, most Jordanians have not perceived any

of the predicted benefits from this agreement.

Peace was expected to boost the Jordanian economy

and facilitate improvements in water supply and in tackling

environmental problems. Also, it was to bring political

stability to the region. Unfortunately, though, all this

is still far on the horizon. The Science for Peace programme

was intended to assign researchers an important

role in the peace process. But as long as Jordanian and

Israeli researchers work in parallel instead of co-operat-

*******

Dr. Abdallah Al-Zoubi ist

Geophysiker an der Al-

Balqa' Applied University

in Al-Salt, Jordanien und

forscht zurzeit als Georg

Forster-Forschungsstipendiat

am Geologischen

Institut der Universität

Karlsruhe.

*******

Dr. Abdallah Al-Zoubi

is an engineer in geophysics

at Al-Balqa'

Applied University in

Al-Salt, Jordan, and is

currently involved in

research as a Georg

Forster Research Fellow

at the Geology Department

of Karlsruhe University.

30 >> Humboldt kosmos 85/2005


Titelthema – Wanderungen Coverstory – Migrations

schaftler nebeneinander statt miteinander arbeiten, kann das Programm

keinen Erfolg haben. Am besten funktioniert die Zusammenarbeit

noch, so zeigt die Erfahrung, wenn man gemeinsame Forschergruppen

zusammen mit einer dritten, westlichen Partei aufbaut. Hier

können gerade die Europäer eine wichtige Rolle spielen. Sie sollten

sich im gleichen Maße Kooperationen und dem Technologietransfer

mit jordanischen Wissenschaftlern öffnen und ihnen materielle Hilfe

bieten, wie sie sie es bereits für ihre israelischen Partner tun. Der direkte

Kontakt untereinander und mit der Bevölkerung könnte außerdem

helfen, Netzwerke zu errichten, um Vorurteile und negative Einstellungen

gegenüber Arabern und Muslimen abzubauen. Neben dem

Engagement in bi- oder trilateralen Projekten könnten westliche Forschungseinrichtungen

Möglichkeiten für Gastaufenthalte und die

Ausbildung jordanischer Nachwuchswissenschaftler schaffen. Daneben

entstehen immer mehr für die internationale Vernetzung attraktive

wissenschaftliche Institute, wie die zuletzt gegründeten Einrichtungen

Synchrotron-light for Experimental Science and Applications in

the Middle East an der Al-Balqa’ Universität und die Wadi Araba Institution

for Environmental Research. Auch die verstärkte Kooperation

zwischen westlichen und den zwölf privaten und zehn öffentlichen

Universitäten in Jordanien (darunter die neue Jordanisch-Deutsche

Universität, die in diesem Jahr den Lehrbetrieb aufnimmt) könnte

zusätzliche Impulse für die Entwicklung der Wissenschaft in Jordanien

geben und die in den letzten Jahren begonnenen Bildungs- und

Wirtschaftsreformen unterstützen.

ing, this programme will remain doomed to failure. Experience has

shown that co-operation still yields best results if joint research teams are

set up together with a third, western party. This is where the Europeans

in particular have an important role to play. They ought to open up cooperation

and technology transfer options as well as to provide material

assistance for Jordanian researchers to the same degree that they are

already doing so for their Israeli partners. Moreover, direct links among

the academics as well as with the population could help to establish networks

of people to people contacts and thus reduce prejudice and negative

attitudes towards Arabs and Muslims. In addition to involvement in

bi- or trilateral projects, western research institutions could create

opportunities for visiting academics and training options for Jordanian

junior researchers. Furthermore, a growing number of scientific institutes

are being set up that are attractive for international networking,

such as the recently founded Synchrotron-light for Experimental Science

and Applications in the Middle East at Al-Balqa' Applied University

and the Wadi Araba Institution for Environmental Research. More cooperation

between western and the twelve private and ten public universities

in Jordan (including the new Jordanian-German University,

which commences teaching this year) could give additional impetus to

the development of sciences in Jordan and support educational and economic

reforms launched during the last few years.

31 >> Humboldt kosmos 85/2005


Deutschland im Blick View onto Germany

Woher kommt der deutsche Humboldt-Boom?

How come Humboldt is booming in Germany?

Alexander von Humboldt gilt als einer der berühmtesten Deutschen

weltweit. Nun haben ihn auch seine Landsleute endlich wieder

entdeckt.

Jahrzehnte lang hatte das Interesse der Deutschen an Alexander von

Humboldt auf kleiner Flamme geköchelt. Ausgerechnet in seinem

Heimatland war der große Entdecker und Humanist in Vergessenheit

geraten, während in vielen anderen Ländern, vor allem in Lateinamerika,

die Erinnerung an den Deutschen noch in der Alltagskultur höchst

lebendig geblieben war. Die zahlreichen nach Humboldt benannten

Bars und Cafés beweisen dies vielleicht noch eindrücklicher als die

vielen Humboldt-Museen, Humboldt-Häuser, oder Humboldt-Plätze

und -Straßen. Selbst Orte, die Humboldt nie besucht hatte, tragen

heute stolz seinen Namen.

In Deutschland dagegen werden Cafés und Bars wenn überhaupt

nach einem Forscher, dann meist nach Albert Einstein, selten auch

nach Isaac Newton, so gut wie nie aber nach Alexander von Humboldt

benannt. Bei einer populären Abstimmung im deutschen Fernsehen

über die berühmtesten und wichtigsten Deutschen landete Alexander

von Humboldt im November 2003 abgeschlagen auf Platz 61.

Doch dann kam der Boom. Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger

und der Grafiker Franz Greno, die für den Eichborn-Verlag

schon länger die kleine, aber feine Buchreihe die Andere Bibliothek

editierten, entschlossen sich, anlässlich des 200jährigen Jubiläums der

Rückkehr Alexander von Humboldts von seiner Südamerikareise sein

Werk neu herauszugeben. So erschienen im September 2004 in prachtvoller

Ausstattung erstmals in deutscher Sprache die von Humboldt

auf Französisch verfassten „Ansichten der Kordilleren“, die „Ansichten

der Natur“ sowie das drei Kilo schwere Hauptwerk, der „Kosmos“. Der

Erfolg war ebenso unerwartet wie grandios.

Die Neuauflage der Bücher brachte Humboldt auf die Titelseiten,

etwa des größten deutschen Nachrichtenmagazins Der Spiegel, der in

dem so lange fast Vergessenen „eine Art Poster-Boy deutschen Wissenschaftsstolzes“

erkannte. Humboldt wurde über Nacht zum Medienstar

und wahlweise zur Projektionsfigur oder zum Heilmittel für aktuelle

deutsche Sorgen und Befindlichkeiten. Das Flaggschiff der Nachrichtensendungen

im deutschen Fernsehen, die Tagesschau, sah in der

Veröffentlichung der Bücher einen „längst überfälligen Schritt“ und

rühmte den Gelehrten als „angesichts des schlechten OECD-Urteils

über das deutsche Schulsystem aktueller denn je.“ Deutschlands größtes

Boulevardblatt Bild begeisterte sich über Humboldt als den ersten

Weltbürger deutscher Herkunft, die Tageszeitung Die Welt, feierte ihn

mit dem Ruf „Neue Männer braucht das Land“, ganz so, als wäre der

1859 Verstorbene noch unter uns und könnte das unter Sozialreformen

und Arbeitslosigkeit stöhnende Land aus seiner Lethargie reißen.

Oder wie es wiederum Der Spiegel formulierte: „Humboldt, der Entde-

Alexander von Humboldt is regarded as one of the most famous

Germans world-wide. Now, at last, his fellow country-people have

rediscovered him.

For decades, interest taken by Germans in Alexander von Humboldt had

been low-key. In his home country, of all places, the great discoverer and

humanist had fallen into oblivion, whereas in many other countries,

especially in Latin America, this German continued to be held in vivid

remembrance in everyday culture. Perhaps the numerous bars and cafes

named after Humboldt bear even more impressive testimony to this than

the large number of Humboldt Museums, Humboldt Houses or Humboldt

Squares and Streets. Even places that Humboldt had never travelled

to proudly bear his name today.

In Germany, in contrast, if cafes and bars do happen to be named

after a researcher, it will usually be the “Albert Einstein”, perhaps also the

odd “Isaac Newton”, but virtually never the “Alexander von Humboldt”.

In a popular poll German television ran on the most famous and most

important Germans, Alexander von Humboldt was way down in 61st

position in November 2003.

But then the boom set in. The writer Hans Magnus Enzensberger

and the graphic artist Franz Greno, who had already been editing the

small but refined book series, the “Andere Bibliothek”, decided to prepare

a new edition of Alexander von Humboldt’s work to commemorate the

200th anniversary of his return from his South American voyage. Thus,

in September 2004, the "Ansichten der Kordilleren", written by Humboldt

in French, appeared in German for the first time, together with the

“Ansichten der Natur” and the three-kilo main work, the “Kosmos”,

adorned with a splendid presentation. The success these publications

met with was equally unexpected and terrific.

The new edition of the books earned Humboldt cover pictures, for

instance in Germany’s biggest news magazine, “Der Spiegel”, which

identified this discoverer who himself had been forgotten for so long as “a

sort of poster boy of German academic pride”. Humboldt became a

media star overnight and was resorted to optionally as a projection figure

or a remedy for current German concerns and states of mind. German

television’s news flagship, the “Tagesschau”, called publishing the

books a “long overdue step” and praised the scholar as “more topical than

ever given the poor OECD appraisal of the German education system”.

Germany’s biggest tabloid “Bild”, hailed Humboldt as the first cosmopolitan

of German origin, while the daily “Die Welt” celebrated him chanting

“The country needs new men”, quoting a popular German pop-song,

to all appearances as if Humboldt, who died in 1859, were still among us

and could shake a country burdened with social welfare reforms and

unemployment free from its lethargy. Or, as “Der Spiegel” put it: “Humboldt,

the discoverer, the stargazer, the cosmopolitan – if there has ever

been a model German, a German able to inspire his fellow people in

32 >> Humboldt kosmos 85/2005


Deutschland im Blick View onto Germany

**********

„Ausgerechnet in

seinem Heimatland

war Humboldt in

Vergessenheit geraten,

während in

vielen anderen Ländern,

vor allem in

Lateinamerika, die

Erinnerung an ihn

höchst lebendig

geblieben war.

Selbst Orte, die

Humboldt nie

besucht hatte,

tragen heute stolz

seinen Namen.“

**********

“In his home country,

of all places,

Humboldt had

fallen into oblivion,

whereas in many

other countries,

especially in

Latin America,

he continued to

be held in vivid

remembrance.

Even places that

Humboldt had

never travelled to

proudly bear his

name today.”

Karten aus dem Berghaus-

Atlas, der schon bei der

Erstausgabe als karthografische

Ergänzung zum

Kosmos geplant war, aber

auf Grund eines Zerwürfnisses

zwischen den Verlegern

getrennt herausgegeben

wurde. Erst bei der Neuedition

wurde der Berghaus-Atlas

in den Kosmos

einbezogen.

Maps from the Berghaus

Atlas, the first edition of

which had been intended

as a cartographic supplement

to Kosmos but had to

be published separately

owing to a disagreement

among the publishers. The

Berghaus Atlas was only

incorporated in Kosmos

when it was newly edited.

33 >> Humboldt kosmos 85/2005


Deutschland im Blick View onto Germany

cker, der Sternschauer, der Weltbürger – wenn es einen

Vorzeige-Deutschen, einen Mutmacher-Deutschen geben

sollte in diesen düsteren Tagen, dann ihn.“

Wie kam es zu dieser kollektiven medialen Begeisterung?

Die eine Erklärung heißt Hans Magnus Enzensberger.

Unermüdlich zog der mittlerweile 75jährige

durch Redaktionen, und Fernsehstudios und rührte die

Werbetrommel. Bereits seit 1985 war Enzensberger Herausgeber

der Anderen Bibliothek. Doch noch nie hatte

er soviel Aufmerksamkeit für eine Edition erregen können

wie diesmal. Vielleicht lag es an seiner ehrlichen

Begeisterung für Humboldt, der das moderne Ideal des

interdisziplinären und weltweit vernetzten Wissenschaftlers

um mehr als 200 Jahre vorweggenommen hat. In

einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit bekannte

Enzensberger: „Ich ersterbe in Bewunderung,

ich empfinde ihn als riesiges Vorbild, aber er hat doch

etwas Einschüchterndes, es ist schwer vorstellbar, dass

heute jemand eine solche Universalkompetenz erreichen

könnte.“

Enzensbergers Auftritte waren Teil einer Marketingkampagne

zu der auch Konferenzen, Ausstellungen

und Konzerte gehörten. Doch Werbung wird auch für

andere Bücher gemacht, manchmal mit mehr Aufwand

als im Fall Kosmos und Kordilleren. Es muss noch eine

andere Erklärung für das plötzliche Humboldt-Fieber

in Deutschland geben. Liegt sie in einer heimlichen

Sehnsucht der Deutschen nach einer neuen Lichtgestalt

und Identifikationsfigur, die so international angesehen

und beliebt ist, wie es die wegen der Nazizeit immer

noch befangenen Deutschen gerne wären? Wirkte die

Begeisterung für den letzten Universalwissenschaftler

auf Erden auch deshalb so höchst ansteckend auf die

deutsche Öffentlichkeit, weil sie der Sehnsucht entsprach

nach einer Zeit, in der ein Einzelner noch tatsächlich

die ganze Welt überschauen konnte, während

these bleak days, then it’s got to be him.”

What triggered this collective enthusiasm on the part

of the media? Hans Magnus Enzensberger himself is one

explanation. Enzensberger, who is now 75 years old, was

untiring in his campaigns to win over editorial offices

and television studios for the scholar he adored so much.

Enzensberger had already started editing the “Andere

Bibliothek” in 1985. But never before had he been able to

raise so much attention for a book series as was the case

this time. Perhaps that was due to his honest enthusiasm

about Humboldt, who had anticipated the modern ideal

of the interdisciplinary scholar working in a world-wide

network more than 200 years ago. In an interview with

the weekly “Die Zeit”, Enzensberger confessed: “I get

engulfed in admiration, I perceive him as a gigantic role

model, but he also has something intimidating about

him. Today, it is hard to imagine anyone attaining such

universal competence.”

Enzensberger’s presentations were part of a marketing

campaign that also incorporated conferences, exhibitions

and concerts. But advertising is organised for other

books as well, and sometimes a greater effort is made

than for “Kosmos” and “Ansichten der Kordilleren”.

There must be another explanation for the sudden outbreak

of Humboldt fever in Germany. Is it the Germans’

secret longing for a new shining light and a figure they

can identify with that enjoys the kind of international

repute and popularity that the Germans, who are still

full of complexes owing to the Nazi era, would like to

enjoy? Has enthusiasm about Earth’s last universal

scholar also been so contagious for the German public

because it met with the longing for times in which individuals

still had an overview of the world as a whole,

whereas nowadays, to many, the concept of globalisation

is merely a cipher for the individual’s loss of orientation

and control?

Die Neuedition der wichtigsten

Werke: Vom drei Kilo

schweren Kosmos bis zum

Hörbuch.

The new edition of the most

important works: from the

three-kilo Kosmos to the

audio-book.

34 >> Humboldt kosmos 85/2005


Medienstar Humboldt:

Lichtgestalt des deutschen

Feuilletons?

The media star Humboldt.

A shining light for German

feature pages?

heute der Begriff Globalisierung vielen als Chiffre für

den Orientierungs- und Kontrollverlust des Einzelnen

steht?

Einer, der sich hierzu Gedanken gemacht hat, ist

der Berliner Romanist Ottmar Ette, der die neue Edition

gemeinsam mit Oliver Lubrich, wie Ette ein ausgewiesener

Humboldt-Experte, wissenschaftlich editiert

hat. Den Medienrummel um die Neuauflage sieht er

nüchtern.„Den Veröffentlichungen im deutschen Feuilleton

merkt man oft deutlich an, dass Humboldt nicht

gelesen wurde.“ Die meisten Berichte speisten sich aus

den gleichen zwei oder drei Quellen, die immer und

immer wieder neu variiert wurden. Herausgekommen

sei ein idealisiertes Humboldt-Bild, das den Stand der

Forschung nicht annähernd wiedergibt. Doch auch

Ette merkt man die Begeisterung an, wenn er über „seinen“

Humboldt spricht und sein Modell der Moderne.

Für ihn ist Humboldt „nicht so sehr der wissenschaftliche

Superstar, sondern vor allem eine politische Figur,

die für den Versuch steht, ein globales Leben neu zu

denken.“ Das Comeback Humboldts kommt für Ette

deshalb nicht unerwartet in einer Phase der Umbrüche

und der Neuorientierung in einer „wunden Gesellschaft“

in Deutschland, die nach neuen Leitfiguren und

Idealen sucht und sich von der Fokussierung auf die

Zeit des Nationalsozialismus zu lösen versucht.

Die Zeit war offenbar reif für eine Wiederentdeckung

Humboldts. Wie lange die Begeisterung für das

lange vergessene Vorbild anhält, wird vielleicht die

nächste Bestenwahl im deutschen Fernsehen zeigen,

wenn es Humboldt gelingt, Boden gut zu machen auf

den einzigen Wissenschaftler, der es hier unter die ersten

Zehn geschafft hat: Albert Einstein. Dass das gleichnamige

auch bei deutschen Politikern beliebte Café in

Berlin demnächst in Humboldt-Bar umgetauft werden

sollte, ist allerdings nur ein Gerücht.

Somebody who has his thoughts about this is the

Berlin scholar of Romance languages and literature

Ottmar Ette, who scientifically edited the new edition

together with Oliver Lubrich, like Ette a distinguished

expert on Humboldt. He has a sober impression of the

media hype. “You can often clearly notice that Humboldt

hasn’t even been read when you look at German feature

pages.” Most of the reports, he comments, were based on

the same two or three sources that were modified again

and again. The result was an idealised notion of Humboldt

that does not even remotely reflect the state of the

art in research. But it is also easy to notice Ette’s fascination

and enthusiasm when he is referring to “his” Humboldt

and his model of modernity. To him, Humboldt “is

not so much of an academic superstar but above all a

political figure that stands for the attempt to rethink a

global life.” This is why Humboldt’s comeback is anything

but unexpected to Ette in a phase of radical changes

and reorientation in a “wounded society” in a Germany

that is looking for new role models and ideals and is

attempting to break away from its focus on the era of

National Socialism.

So it was obviously time to rediscover Humboldt.

How long enthusiasm about this long forgotten role

model is going to last may be revealed in the next television

polls on popular figures if Humboldt succeeds in

catching up with the one scientist who has made it up to

the top ten here, Albert Einstein. But it is only a rumour

that the cafe bearing this name in Berlin that enjoys so

much popularity among German politicians is going to

be called “Humboldt Bar” in future.

**********

„Als wäre der 1859

Verstorbene noch

unter uns und

könnte das unter

Sozialreformen und

Arbeitslosigkeit

stöhnende Deutschland

aus seiner

Lethargie reißen.“

**********

“… as if Humboldt,

who died in 1859,

were still among us

and could shake a

country burdened

with social welfare

reforms and unemployment

free

from its lethargy.”

35 >> Humboldt kosmos 85/2005


Deutschland im Blick View onto Germany

Interview Vilmos Agel

Literatur ist ein kulinarischer Genuss

Literature is a culinary pleasure

Vilmos Agel, einer der wenigen ausländischen Germanistikprofessoren

in Deutschland, über seine Liebe zur deutschen Sprache,

seine Verwunderung über das Englisch deutscher Touristen und

über das Märchen vom Verfall der Sprache.

>> Kosmos: Wie entdeckten Sie Ihre Liebe zur deutschen Sprache?

Hatten Sie beispielsweise ein literarisches Erweckungserlebnis?

>> Agel: Kein spezielles Erlebnis, nein. Aber es war und ist einfach ein

Genuss für mich, auf Deutsch zu lesen. Ich genieße, wie sich die Sprache

vor meinen Augen entfaltet. Literatur ist wie Essen, ein kulinarischer

Genuss der Sprache. Ich habe zuletzt, glaube ich, Günther de

Bruyn, gelesen. Kann ich jedem empfehlen. Ansonsten ist mein Lieblingsschriftsteller

Heinrich Böll. Von ihm habe ich alles gelesen.

>> Kosmos: Sie sprechen ein sehr korrektes und gewähltes Deutsch.

Tut es Ihnen manchmal weh, wenn Sie die deutsche Alltagssprache

hören?

>> Agel: Überhaupt nicht! Wissen Sie, die Geschichten vom Sprachverfall

sind doch uralt. Sie fangen mit dem Turmbau von Babylon an.

Es ist ein Generationenproblem. Wir werden mit einer bestimmten

Sprache alt. Und dann kommen die nächste Generation und die übernächste

– und jede spricht ein wenig anders. Je älter wir werden, desto

mehr empfinden wir die Sprache der Nachkommenden als Rückschritt.

Aber das ist absurd. Stellen Sie sich vor: wenn jede Generation

schlechter sprechen würde als die vorherige, müsste die Sprache doch

schon längst verfallen sein. Und wir beide könnten gar nicht mehr

gewählt miteinander sprechen, denn wir stünden ja schon ganz am

Ende einer langen Kette des Verfalls.

>> Kosmos: Ist das Deutschlernen in Ungarn auch eine Generationenfrage?

>> Agel: Aus historischen Gründen war Deutsch schon immer eine

sehr bedeutende Sprache in Ungarn, nicht nur als Fremdsprache. Wir

haben bis auf den heutigen Tag eine deutsche Minderheit in Ungarn.

Ende des 19. Jahrhunderts war Budapest mehrheitlich deutschsprachig.

Wir sind zudem Nachbarn Österreichs. Es war und ist alles andere

als unnatürlich, Deutsch zu lernen. Es ist für uns eher unnatürlich,

Englisch zu lernen.

>> Kosmos: Aber auch in Ungarn geht das Interesse an Deutsch als

erster Fremdsprache zurück, Englisch ist sicher auch dort bei weitem

die populärste Fremdsprache.

>> Agel: Nicht bei weitem. 53 Prozent lernen Englisch als erste

Fremdsprache und 42 Prozent Deutsch und der Rest verteilt sich auf

die restlichen Sprachen. Mitte der neunziger Jahre lag Deutsch noch

vorne in Ungarn.

>> Kosmos: Was müsste geschehen, um das Deutsche zu fördern,

damit es wieder ein Kopf an Kopf-Rennen wird und nicht immer weiter

zurück fällt?

Vilmos Agel is one of the few foreign professors of German language

and literature in Germany. Here, he tells Kosmos about his

love of the German language, his astonishment at German tourists

speaking English and the myth of the language’s demise.

>> Kosmos: How did you discover your love of the German language?

Did you, for instance, have a literary awakening experience?

>> Agel: Not a special experience, no. But it has always been a pleasure

for me to read in German. I enjoy how the language develops in front of

my eyes. Literature is like eating, a culinary delight of language. Most

recently I have read Günther de Bruyn, I think, whom I would recommend

everyone. Otherwise, my favourite writer is Heinrich Böll. I have

read everything he wrote.

>> Kosmos: Your German is very correct and refined. Does listening to

colloquial German sometimes pain you?

>> Agel: Not at all. You know, stories about the demise of languages are

age-old. They start with the building of the Tower of Babylon. This is a

generation gap problem. We grow old with a certain language. Then comes

the next generation, and the next after that, and each one speaks slightly

differently. The older we get, the more we perceive the language of our

successors as a retrograde step. But that’s absurd. Just imagine what

would happen if each generation were to speak more poorly than its predecessor.

The language would then long have deteriorated. And the two of

us wouldn’t be able to talk to each other in a refined manner because we

would already be right at the end of a long chain of deterioration.

>> Kosmos: Is learning German also a matter of generations?

>> Agel: For historical reasons, German has always been a very important

language in Hungary, and not merely as a foreign language. Even

today, we have a German minority section of the population in Hungary.

Towards the end of the nineteenth century, the majority of people in

Budapest spoke German. And then, of course, we border on Austria. It has

always been anything but unnatural to learn German. It would appear to

be more unnatural for us to learn English.

>> Kosmos: But in Hungary too, interest in German as the first foreign

language has been on the decline. Surely English is by far the most popular

foreign language there, too.

>> Agel: Not by far. While 53 percent learn English as their first foreign

language, 42 percent learn German, and the rest is accounted for by the

other languages. By the mid-nineties, German was still in the lead in

Hungary.

>> Kosmos: What would have to happen to promote German so that it

once again becomes a neck-to-neck race and German does not lag behind

more and more?

>> Agel: Promoting German is one thing. But then there is the aspect of

what language the large number of Germans use who come to Hungary.

Germans in Hungary prefer to speak English although they would cer-

36 >> Humboldt kosmos 85/2005


Agel: Förderung ist das eine. Das andere ist das

Sprachverhalten der vielen Deutschen, die nach Ungarn

reisen. Deutsche in Ungarn reden lieber Englisch,

obwohl sie sicherlich sehr gut zurechtkämen mit ihrem

Deutsch – in vielen Gegenden sogar besser als mit dem

Englischen. Als Germanist vermisse ich an den Deutschen

den Stolz auf die eigene Sprache, wie man ihn

etwa von Franzosen oder Italienern kennt, die natürlich

zuerst versuchen, in ihrer Muttersprache zu reden.

Ich verstehe natürlich die historischen Gründe für die

deutsche Zurückhaltung. Dennoch müsste sich die

Einstellung der Deutschen zur eigenen Sprache ändern.

Sie sollten mehr Deutsch reden und die eigene Sprache

stark machen. Das würde seine Wirkung im Ausland

nicht verfehlen.

tainly get along very well with their native tongue –

indeed better than with English in many areas. As a

scholar of German language and literature, I find the

Germans lacking in any pride of their own language,

which would be familiar among the French or the Italians

who of course first of all always try to speak their own

language. Naturally, I do understand the historical reasons

for this reticence. Nevertheless, the Germans really

ought to change their attitude towards their own language.

They should speak more German and make their

own language stronger. This would not fail to have an

impact abroad.

*******

Professor Dr. Vilmos Agel

ist Germanist an der

Szeged Universität in

Budapest, Ungarn. Im

Jahr 2005 wurde der

ehemalige Humboldt-

Forschungsstipendiat

mit dem Friedrich Wilhelm

Bessel-Forschungspreis

der Humboldt-Stiftung

ausgezeichnet. Seit

2004 forscht und lehrt er

an der Universität Kassel

und arbeitet an einer

Neuhochdeutschen

Grammatik der letzten

350 Jahre.

*******

Professor Dr. Vilmos Agel

is a scholar of German

language and literature

at Szeged University in

Budapest, Hungary.

In 2005, the former Humboldt

Research Fellow

received the Humboldt

Foundation's Friedrich

Wilhelm Bessel Research

Award. Since 2003 he has

been engaged in research

and teaching at the University

of Kassel, where

he is working on a New

High German grammar

of the last 350 years.

37 >> Humboldt kosmos 85/2005


Deutschland im Blick View onto Germany

Michael Palocz-Andresen

Wer hat Angst vorm Autoruß?

Who’s afraid of car soot?

Die deutsche Sensibilität für Umweltverschmutzung wirkt stilbildend.

Begriffe wie Waldsterben gehen ins Vokabular anderer Nationen

ein, die für die neuen Gefahren noch gar keine eigenen Wörter

kannten. Der Feinstaub in Autoabgasen ist der neueste Trend. Doch

an Osteuropa, so scheint es, geht er vorbei.

„Fehlende Russfilter bremsen den Verkauf deutscher Autos, Feinstaub

bedrängt Industrie“. Solche und ähnliche Schlagzeilen füllen die deutsche

Presse in den letzten Wochen. Sind diese Nachrichten unerwartet

in den Medien aufgetaucht? Oder hätte man bereits seit einer längeren

Zeit die Öffentlichkeit über die Feinstaubgefahr aufklären und die

möglichen Minderungsmaßnahmen einleiten können?

Betrachten wir die Fakten. Die Erkenntnis über die schädlichen

Auswirkungen von Schadstoffen für Umwelt und Klima ist nicht neu.

Die Rahmenrichtlinie der EU zur Beurteilung und Kontrolle der Luftqualität

stammt aus dem Jahr 1996. Darauf aufbauend wurden in den

folgenden Jahren Grenzwerte und Details zu Mess- und Beurteilungsvorschriften

für bestimmte Schadstoffe, wie Schwefeldioxid, Feinstaub,

Stickstoffdioxid und Blei festgelegt. Ab 1999 waren die Grundlagen für

die Beurteilung der Luftqualität, für die Festlegung notwendiger Minderungsziele

und für Maßnahmen in den Mitgliedsstaaten der Europäischen

Union gelegt, und die Öffentlichkeit konnte informiert werden.

Warum aber haben die längst beschlossenen Grenzwerte die deutsche

Öffentlichkeit dennoch so unvermutet getroffen? Schaut man in

die Zukunft, so sieht man noch wesentlich strengere Grenzwerte. Für

den Zeitraum von 2005 bis 2010 existieren für den Feinstaub zwei Stufen.

Während die rechtlich bindenden Grenzwerte der ersten Stufe für

2005 noch bis zu 35 Überschreitungen des Tagesmittelwertes erlauben,

sind im Jahr 2010 nur noch sieben Überschreitungen zugelassen.

Werden wir auch in fünf Jahren so tun, als wären die neuen Grenzwerte

aus dem heiteren Himmel gefallen?

In den neuen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union gibt es die

Diskussion in dieser Form und in dieser Schärfe nicht. Die Dichte an

Nutzfahrzeugen ist ähnlich hoch wie in den alten EU-Mitgliedsstaaten.

In Deutschland beträgt die Anzahl der Einwohner je Nutzfahrzeug

23,1. In Ungarn liegt diese Zahl bei 24,6, in Polen bei 18,3, in Tschechien

bei 23,44, in der Slowakei bei 29,85 in Slowenien bei 29,56, in

Estland bei 15,86, in Lettland bei 19,56 und in Litauen bei 31,07. Der

technische Zustand der Nutzfahrzeuge ist jedoch, verglichen mit dem

westeuropäischen Durchschnitt, im Allgemeinen um mehrere Abgaskategorien

niedriger. Diese Nutzfahrzeuge emittieren, verstärkt durch

die meist großen Entfernungen und durch die hohe Fahrleistung pro

Fahrzeug nicht nur für die unmittelbare Umwelt, sondern auch für das

Klima bereits beachtliche Mengen an Schadstoffen.

Warum gibt es keine ähnlichen Diskussionen in diesen Ländern?

Warum gibt es keine Kämpfe zwischen den Umweltorganisationen

German sensitiveness to environmental pollution is creating language

styles. Words like “Waldsterben” are being adopted in the

vocabularies of other nations that used to have no terms of their

own to refer to the new hazards the environment is facing. “Feinstaub”

for fine dust emitted in car fumes seems to be the latest

candidate. However, it appears that this trend is bypassing Eastern

Europe.

“The lack of soot particle filters is inhibiting sales of German cars, fine

dust is putting industry under duress.” Over the last few weeks, the German

press has been full of such headlines. Did this news turn up unexpectedly

in the media? Or would it already have been possible quite a

while ago to start informing the public about the threat that fine dust

poses and introduce appropriate measures to alleviate the hazard?

Let’s look at the facts. The insight that pollutants have a damaging

impact on the environment and the climate isn’t new. The EU framework

guidelines for assessing and monitoring air quality were introduced

in 1996. Based on this, limits and details regarding measuring

and assessment regulations were defined for certain pollutants, such as

sulphur dioxide, fine dust, nitrogen dioxide and lead over the following

few years. From 1999 on, the foundations to assess air quality, to define

necessary reduction targets and for measures in the Member States of the

European Union have been in place, and it has been possible to inform

the public.

But why have the limits decided on so long ago taken the German

public so unawares? Looking ahead, one can recognise far more stringent

limits. Two phases have been planned for fine dust for the period from

2005 to 2010. While the limits required by law for the first phase still

allow for the daily mean value to be exceeded 35 times, being above the

limit will only be allowed seven times in 2010. Are we still going to respond

to the new values as if they had come out of the blue in five years’ time?

In the new Member States of the European Union, the debate is not

taking place in this form and with this degree of intensity. Commercial

vehicle density is similarly high to that of the old EU Member States. In

Germany, the number of inhabitants per commercial vehicle is 23.1. In

Hungary, the number is 24.6, in Poland 18.3, in the Czech Republic

23.44, in Slovakia 29.85, in Slovenia 29.56, in Estonia 15.86, in Latvia

19.56 and in Lithuania 31.07. However, compared to the Western European

average, the technical standards of the commercial vehicles are generally

lower by several fume categories. These commercial vehicles are

already emitting considerable amounts of pollutants that are harmful

both to the immediate environment and the climate, a state of affairs

that is exacerbated by the considerable distances usually involved and

the high route mileage of each vehicle.

Why are no comparable discussions underway in these countries?

Why don’t struggles between environmental organisations and industry

38 >> Humboldt kosmos 85/2005


und der Industrie in dem in Deutschland bekannten

Ausmaße? Spielen in diesen Ländern die Umweltthemen

keine große Rolle? Woran liegen die Unterschiede

– an unterschiedlichen Mentalitäten, einer weniger kritischen

Presse oder Politik, an mangelnder Debattentradition

oder einem anderen Naturverständnis? Die

Antwort ist einfach. Die täglichen Sorgen sind in den

neuen Mitgliedstaaten und auch in den benachbarten

Ländern viel zu groß, um die öffentliche Aufmerksamkeit

für diese Fragen tatsächlich gewinnen zu können.

Allerdings sind die Entwicklungschancen eindeutig

positiv. Die neuen Mitgliedsstaaten werden ähnlich wie

früher Irland oder Portugal in den nächsten zehn Jahren

stark an Wohlstand gewinnen. Sie werden das

Umweltverständnis in der EU erheblich fördern. Der

aktive Austausch in der Forschung und Lehre ist die

beste Investition für die Zukunft. Für die jungen Leute

in den Nachbarstaaten ist es bereits heute selbstverständlich,

an den verschiedensten europäischen Universitäten

zu lernen, vorausgesetzt, die Leistung und

somit die Noten stimmen. In zehn bis 15 Jahren werden

die in der Zwischenzeit nicht mehr ganz so jungen

Menschen über die dann bereits viel niedrigere Feinstaubbelastung

genau so vehement diskutieren, wie wir

dies heute tun. Die Unterschiede von heute werden

dann längst Geschichte sein.

************************

„Werden wir auch in fünf Jahren so tun, als

wären die neuen Grenzwerte aus dem heiteren

Himmel gefallen?“

occur to the extent one is familiar with in Germany?

Aren’t environmental topics particularly important in

these countries? In what way do these countries differ? Is

it different mentalities, less critical press organs or politics,

a lack of debating tradition or a different concept of

nature? The answer is simple. Day-to-day problems in

the new Member States as well as in the neighbouring

countries are far too big to really raise public awareness

of these issues. However, the prospects of it developing are

clearly positive. In a similar manner to Ireland or Portugal

ten years ago, the new Member States are going to

experience a considerable increase in affluence and provide

a major boost to environmental awareness in the EU

over the next ten years. Active academic exchange in research

and teaching is the best investment for the future. For the

young people in the neighbouring states it already goes

without saying today that learning can take place at a

wide range of European universities as long as performance

and credits are in order. In ten to 15 years’ time, the

by then not quite so young people will be discussing what

are by then going to be much lower levels of dust pollution

just as vehemently as we are doing so today. And by

then, today’s differences will long be history.

*******

Professor Dr. Michael

Palocz-Andresen ist

Geschäftsführer des OBM

Instituts für On-Board

Measurement GmbH in

Hamburg. Er lehrt außerdem

Ingenieurwissenschaften

an der Technischen

Universität Budapest,

Ungarn. Als Humboldt-Forschungsstipendiat

war er in Karlsruhe,

Freiburg und Hamburg.

*******

Professor Dr. Michael

Palocz-Andresen is

Managing Director of

the OBM Institute for

On-Board Measurement

GmbH in Hamburg. He

also teaches engineering

sciences at Budapest

Technical University,

Hungary. He was in

Karlsruhe, Freiburg and

Hamburg as a Humboldt

Research Fellow.

************************

“Are we still going to respond to the new values

as if they had come out of the blue in five years’ time?”

39 >> Humboldt kosmos 85/2005


Humboldtianer im Profil Humboldtians in Profile

Uschi Heidel

Vom Minister zum Stipendiaten

A minister turned fellow

Der georgische Rechtswissenschaftler Lado Chanturia

war Justizminister und oberster Verfassungsrichter

seines Landes. Doch seine Karriere als Politiker und

demokratischer Reformer in der Richterrobe tauschte

er gegen ein Forschungsstipendium in Deutschland.

Ein Porträt.

War Sherlock Holmes an allem schuld? Auch wenn die

Beweise inzwischen verblasst sind, so hat der Meisterdetektiv

aus der britischen Krimi-Literatur wohl doch

zu verantworten, dass Lado Chanturia bereits als

Jugendlicher der Juristerei verfiel. Freilich war die Welt

der Kriminalfälle eine gänzlich andere als diejenige, die

der Georgier später an der Universität entdeckte. Aber

der dort eingeschlagene Weg erwies sich als noch spannender:

Lado Chanturia wurde Rechtsprofessor, Justizminister

und schließlich Präsident des Obersten

Gerichts von Georgien. Wie kein anderer hat er die

Rechtsreform in seiner Heimat nach dem Zerfall der

Sowjetunion vorangetrieben – beharrlich, voller Elan

und stets gelassen.

„Nun muss ich meine Batterien wieder aufladen“,

sagt der Humboldtianer lächelnd in einem Bremer Restaurant

und meint nicht die Zufuhr von Kalorien.„Aufladen“

bedeutet für den groß gewachsenen, schwarzhaarigen

Mann, sich mit der gleichen Energie wie in

Georgien in die Arbeit zu stürzen, diesmal am Hamburger

Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales

Privatrecht. Dort stillt er seinen Hunger

auf neue geistige Nahrung. „Meine eiligste Aufgabe ist

es jetzt, gute juristische Bücher für mein Land und

andere postsowjetische Staaten zu schreiben. Da ist

noch sehr viel zu tun.“ Als ob Lado Chanturia in seinen

gerade 42 Jahren nicht schon eine Menge geleistet

hätte. Freundliche Neugier, die aus dunklen Augen

blitzt, und Tatendrang bringen den Georgier immer

wieder zu neuen Ufern.

Schon während des Studiums in Tiflis und der Promotion

in Moskau wollte er „den Rahmen sprengen“.

„Durch die Lektüre des Römischen Rechts wurde mir

klar, dass das bestehende Rechtssystem reformiert werden

muss.“ Die Möglichkeit, sich selbst daran zu beteiligen,

kam schneller als gedacht. Er forschte gerade als

georgischer Jurastipendiat des Deutschen Akademischen

Austauschdienstes (DAAD) für seine Habilitation

in Göttingen, als Georgien im Bürgerkrieg zu versinken

The Georgian law scholar Lado Chanturia used to be

Minister of Justice and Supreme Constitutional Court

Judge of his country. But he swapped his career as a

politician and democratic reformer in judge’s robes

for a research fellowship in Germany. A portrait.

Was it all Sherlock Holmes’ fault? Even if evidence has

since faded, the master detective of British crime fiction

appears to be responsible for Lado Chanturia’s already

becoming addicted to law as a youth. Of course, the

world of crime was entirely different from what this

Georgian was to discover at the university later on. However,

the course he opted for there proved to be even more

exciting. Lado Chanturia became a Professor of Law,

Minister of Justice and, ultimately, President of Georgia’s

Supreme Court. His effort to promote the reform of the

legal system in his home country following the disintegration

of the Soviet Union remained unparalleled and

was characterised by steadfastness, vigour and calmness.

“Now it’s time for me to recharge my batteries,” says

the Humboldt Fellow with a smile as he sits in a Bremen

restaurant, and he is not referring to calorie intake. By

“recharging”, this tall, black-haired man means delving

into activities again with the same energy reserves he had

in Georgia, only that this time he is working at Hamburg’s

Max Planck Institute for Foreign Private and Private

International Law. That is where he is stilling his

hunger for new spiritual food. “Now, my most urgent

task is to write good books on law for my country and

other post-Soviet states. There is still a terrific lot to do in

this respect.” As if Lado Chanturia, who is a mere 42

years old, hadn’t already achieved so much. Friendly

inquisitiveness sparkling from his dark eyes and thirst for

action again and again bring this Georgian to new

shores.

Already during his studies in Tbilisi and his doctorate

in Moscow, he was eager to “break all bounds”.

“When reading Roman Law, I realised that the existing

legal system was in need of reform.” The opportunity for

him to participate in this process himself came more

quickly than he would have expected. As a Law Fellow of

the German Academic Exchange Service (DAAD) he was

involved in research for his qualification for a teaching

career in higher education (the German “Habilitation”)

in Göttingen when Georgia was about to plunge into civil

war. “Then Shevardnadze rang me up and asked me if I

*******

Uschi Heidel arbeitet

als freie Wissenschaftsjournalistin

in Bonn und

ist Mitinhaberin des

Trio MedienService

Berlin-Bonn.

*******

Uschi Heidel works as

a free-lance scientific

journalist in Bonn and

is co-proprietor of

Trio MedienService

Berlin-Bonn.

40 >> Humboldt kosmos 85/2005


drohte. „Dann rief Schewardnadse an und fragte mich,

ob ich Justizminister werden wolle“, erzählt Lado

Chanturia fast beiläufig. Der Staatspräsident kannte

den damals 29-Jährigen nicht persönlich, aber seine

rechtswissenschaftlichen Arbeiten hatten in Georgien

Anerkennung gefunden. Lado Chanturia lehnte ab.

Ohne Koketterie erklärt er: „Ich wollte mich erst auf die

Zukunft Georgiens vorbereiten, vor allem auf die

anstehende Rechtsreform, und dazu brauchte ich weiteres

Fachwissen.“ Kurz danach baute er gemeinsam

mit dem Bremer Jura-Professor Rolf Knieper das georgische

Rechtssystem – stark am deutschen Vorbild orientiert

– neu auf, unterstützt von der Deutschen

Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ).

Richter auf den Prüfstand

Die Herausforderungen waren gewaltig: Das sowjetische

Recht musste abgeschafft, moderne Rahmenbewanted

to become Minister of Justice,” Lado Chanturia

remarks almost casually. The President did not know the

then 29-year-old personally, but his jurisprudence studies

had met with acclaim in Georgia. Lado Chanturia

turned down this offer. Without coquetry, he explains: “I

first of all wanted to prepare myself for Georgia’s future,

above all for the forthcoming reform of the legal system,

and to this end, I required further specialist knowledge.”

Shortly afterwards, together with Bremen Law Professor

Rolf Knieper and supported by the Deutsche Gesellschaft

für Technische Zusammenarbeit (GTZ), he developed a

new legal system for Georgia that was strongly oriented

on Germany’s system.

Judges put to the test

The challenges were enormous. Soviet law had to be

abolished, and a modern framework had to be put in

place. For four years, the law scholar worked on the Geor-

*******

Lado Chanturia,

geboren in Jvari,

Georgien. Studium der

Rechtswissenschaft an

der staatlichen

Universität Tiflis.

Promotion am Moscow

Institute of Legislation

und Comparative Law.

Professor an der

Juristischen Fakultät

der staatlichen

Universität Tiflis.

Justizminister von

Georgien. Präsident des

Obersten Gerichts von

Georgien. Humboldt-

Stipendiat am Hamburger

Max-Planck-Institut für

ausländisches und internationales

Privatrecht.

Außerdem: Berater des

georgischen Staatspräsidenten

Michail

Saakaschwili.

*******

Lado Chanturia,

born in Jvari, Georgia.

Studied law at the State

University of Tbilisi.

Doctorate at the Moscow

Institute of Legislation

und Comparative Law.

Professor at the Law

Department of the State

University of Tbilisi.

Minister of Justice of

Georgia. President of the

Supreme Court of

Georgia. Humboldt

Fellow at the Hamburg

Max Planck Institute for

Foreign Private and

Private International

Law. Also: Advisor to

Georgia’s State President

Michail Saakaschwili.

41 >> Humboldt kosmos 85/2005


************************

„Ich wollte mich erst auf die Zukunft Georgiens vorbereiten,

vor allem auf die anstehende Rechtsreform,

und dazu brauchte ich weiteres Fachwissen.“

Humboldtianer im Profil Humboldtians in Profile

************************

“I first of all wanted to prepare myself for Georgia’s

future, above all for the forthcoming reform of the legal

system, and to this end, I required further specialist

knowledge.”

dingungen etabliert werden. Vier Jahre arbeitete der Jurist am georgischen

Zivilgesetzbuch, das 1997 vom Parlament verabschiedet wurde.

Er entwarf das Gesetz über die Gewerblichen Unternehmer, das auf

Georgisch, Russisch und Deutsch erschien. „Natürlich ging es nicht

nur um neue Gesetze, sondern auch um deren Umsetzung. Dazu

braucht man gut ausgebildete Juristen, verlässliche Gerichte und eine

funktionierende Staatsanwaltschaft“, erläutert Lado Chanturia. Als er

1998 Justizminister wurde, führte er Richterprüfungen ein, womit er

sich nicht nur Freunde machte. Schließlich waren die meisten Kandidaten

schon Richter zu Sowjetzeiten gewesen, und nur wenige von

ihnen bestanden die Prüfungen. Außerdem nutzte er seine vielen Kontakte

und schickte georgische Juristen für ein paar Wochen an deutsche

Gerichte. „Dort haben sie den modernen Arbeitsalltag erlebt“,

sagt Lado Chanturia und zeigt auf das Bremer Landgericht.

In der Hansestadt fühlt sich der Humboldt-Stipendiat mit seiner

Frau Dali, einer Zahnärztin, und den Kindern Georgi (10) und Nutsa

(5) pudelwohl. Begeistert führt der Werder Bremen-Fan durch die verwinkelten

Gassen, er schätzt die Überschaubarkeit der Stadt und ihre

Preise, die deutlich niedriger liegen als in Hamburg. Dorthin pendelt

er fast täglich mit dem Zug. „Ich arbeite in zwei interessanten Städten,

und die Fahrten nutze ich um zu Lesen.“ Goethe, Grass, Lenz, Judith

Hermann, ohne schöne Literatur könne er nicht leben.

Lado Chanturia war zwei Jahre Justizminister, als er die Chance

erhielt, Präsident des Obersten Gerichts von Georgien zu werden. Er

überlegte nicht lange, und das Parlament wählte ihn 1999 einstimmig

für zehn Jahre. Vier Jahre später zeigte der georgische Rechtsstaat Flagge:

Im November 2003 annullierte das Oberste Gericht einen Teil der

umstrittenen Parlamentswahlen. „Das war ein gutes Gefühl“, erinnert

sich Lado Chanturia, der während der „Rosenrevolution“ als neutraler

Vermittler fungierte.

Recht kann Mentalitäten ändern

„Das Gericht gilt heute aufgrund seiner Neutralität und seiner Modernität

als Vorbild in der Region“, sagt er mit Stolz. 25.000 Seiten Entscheidungen

sind in seiner Amtszeit gefällt worden, und sie sind jedem

zugänglich. Diese Transparenz kannte das alte Rechtssystem nicht.

Lado Chanturia hat Türen geöffnet. Er lud georgische Künstler ein, im

Gericht ihre Werke auszustellen, und zog somit viele Bürger an. Er

empfing populäre Landsleute wie Schauspieler und Sportler, aber

auch Präsidenten ausländischer Gerichtshöfe, Wissenschaftler, internationale

Politiker. Zwei Fotostapel zeigen einen Mann, der mit

Charme, vitaler Ausstrahlung und innerer Ruhe ein dichtes Netzwerk

zu knüpfen versteht. „Georgien hat gar keine andere Wahl, als sich

Europa zuzuwenden.“ Er sieht die gravierenden sozialen und wirtschaftlichen

Probleme, die Korruption, die geopolitisch prekäre Lage

eines Landes von der Größe Bayerns. Doch Resignation oder Aktivisgian

Civil Code, which was passed by Parliament in 1997. He designed

the Law on Entrepreneurs which was published in Georgian, Russian

and German language. “Of course the issue was not merely that of developing

new laws but also of enforcing them. This requires well-trained

jurists, reliable courts and a working department of public prosecution,”

Lado Chanturia explains. When he became Minister of Justice in 1998,

he introduced examinations for judges, which not only earned him new

friends. After all, most of the candidates had already been judges in Soviet

days, and only a handful of them passed the new tests. Also, he made

use of his many contacts and sent Georgian jurists to German courts for

a few weeks. “There, they experienced modern day-to-day work in

court,” says Lado Chanturia, pointing to the Bremen District Court.

The Humboldt Fellow feels completely contented in the Hanseatic

city with his wife Dali, a dentist, and his children Georgi (10) and Nutsa

(5). Now a Werder Bremen fan, he takes pleasure in pointing out the

city’s narrow alleys. He appreciates Bremen’s straightforwardness as well

as its prices, which are significantly lower than in Hamburg, where he

has to commute to nearly every day by train. “I work in two interesting

cities, and I make use of the trips to get down to reading.” Goethe, Grass,

Lenz, Judith Hermann – he says he wouldn’t survive without belletristic.

Lado Chanturia had been Minister of Justice for two years when he

was given the opportunity to become President of the Supreme Court of

Georgia. It did not take him long to think this over, and Parliament

unanimously elected him for ten years in 1999. Four years later, the

Georgian state, now based on the rule of law, nailed its colours to the

mast. In November 2003, the Supreme Court annulled part of the controversial

parliamentary elections. “That was a good feeling,” remembers

Lado Chanturia, who acted as a neutral middleman during the

“Revolution of the Roses”.

Law can change mentalities

“Thanks to its neutrality and modernity, this court now serves as a

model for the region,” he says proudly. In his period of office, 25,000

pages of decisions were made, and they are accessible to everyone. Such

transparency was unknown in the old legal system. Lado Chanturia has

opened up doors. He invited Georgian artists to exhibit their work in the

court, which attracted many citizens to the building. He received popular

fellow countrymen such as actors and sportspeople as well as presidents

of foreign courts of justice, scholars and international politicians.

Two stacks of photos portray a man who understands how to build a

dense network with charm, vitality and inner calmness. “Georgia has no

other option but to turn to Europe.” He is aware of the grave social and

economic problems, corruption and the geopolitically precarious location

of a country the size of Bavaria. But resigning or activism are

unknown to him. He displays a calm attitude in opting for long-term

engagement. “Law has the power to generate culture, and it can change

42 >> Humboldt kosmos 85/2005


Humboldtianer im Profil Humboldtians in Profile

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THE AREA OF RESEARCH More than a decade

after the end of the Soviet command economy,

many enterprises have been privatised. But

success reckoned with originally has failed to

materialise. Lado Chanturia thinks that the

main cause of this is a lack of any modern

business management. This includes management

skills, specialist know-how and ethical

concepts – in a nutshell a legally enshrined

entrepreneurial culture. In his study, which the

Georgian is writing at Hamburg’s Max Planck

Institute for Foreign Private and Private International

Law, he is analysing how liability

regulations in stock companies have to be formulated

to ensure that privatisation will be a

success. Here, he uses the German and the US

American legal systems as examples and compares

them with the legal situation in some

post-Soviet states. In western countries, too,

Corporate Governance, i.e. responsible

management and effective supervision, is

being discussed.

Humboldtianer persönlich Humboldt people personal

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DAS FORSCHUNGSGEBIET Mehr als ein Jahrzehnt

nach dem Ende der sowjetischen

Zwangswirtschaft in Georgien sind zwar viele

Unternehmen privatisiert, aber der erwartete

Erfolg bleibt aus. Als Hauptursache sieht Lado

Chanturia das Fehlen jeglicher moderner

Geschäftsführung. Dazu gehören Management,

Fachkenntnisse und ethische Vorstellungen,

kurz eine auch rechtlich verankerte Unternehmenskultur.

In seiner Untersuchung, die der

Georgier am Hamburger Max-Planck-Institut

für ausländisches und internationales Privatrecht

verfolgt, analysiert er, wie Haftungsvorschriften

in Kapitalgesellschaften verfasst

sein müssen, damit Privatisierung zum Erfolg

führen kann. Dabei zieht er das deutsche und

das US-amerikanische Rechtssystem als vorbildlich

heran und vergleicht diese mit der

Rechtslage in einigen postsowjetischen Staaten.

Auch in den westlichen Ländern wird über die

Corporate Governance, also die verantwortungsvolle

Unternehmensführung und die

effektive Aufsicht diskutiert. Entscheidende

Verbesserungen sind in folgenden Bereichen

notwendig: Die Geschäftsführung muss transparent,

die Pflichten des Managements müssen

klar geregelt sein. Außerdem kommt es darauf

an, dass Aktionäre oder Gesellschafter Haftungsvorschriften

gegenüber der Geschäftsführung

wirklich durchsetzen. Dazu will Lado

Chanturia alle Beteiligten motivieren. Sein

umfangreiches Werk soll in Georgisch, später

auch in Russisch erscheinen.

Humboldtianer persönlich Humboldt people personal

Crucial improvements are required in the

following areas: Management has to become

transparent, and the duties of management

have to be clearly formulated. Also, it is

important for shareholders or partners to

really assert liability regulations vis-à-vis

management. Lado Chanturia wishes to

motivate all those involved to attain these

goals. His extensive study is to be published

in Georgian and, later on, in Russian.

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mus sind ihm fremd. Mit Gelassenheit setzt er auf langfristiges Engagement.

„Das Recht hat kulturstiftende Kraft und kann die Mentalität

ändern. Das ist ein Prozess, der viele Jahre dauert und Geduld fordert.“

Bei diesem Prozess will er aktiv mitwirken - auf seine Art. Dazu

passt sein Rücktritt als Gerichtspräsident im Sommer 2004. „Ich habe

alles getan, was ich tun konnte. Ich brauchte eine Pause.“ Hinter dieser

Pause steckte die Zusage für ein Humboldt-Forschungsstipendium,

um das sich Lado Chanturia bereits 2003 beworben hatte, rechtzeitig

vor Erreichen der Altersgrenze von 40 Jahren. „Für mich ist dieses Stipendium

die höchste Auszeichnung, denn ich bin in erster Linie Wissenschaftler.“

Mit großer Freude ist er an das Hamburger Max-

Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht zu

Professor Klaus Hopt gegangen, den er während eines Max-Planck-

Stipendiums 1996 kennen gelernt hatte. Für ihn ist das Institut das

„Harvard der Rechtswissenschaft“.

Wenn er sein rechtsvergleichendes Werk über moderne Geschäftsführung

und Haftungsvorschriften in Kapitalgesellschaften geschrieben

hat, kehrt Lado Chanturia nach Georgien zurück, wo er seit 1995

Professor an der Universität Tiflis ist. Dass er nicht nur auf dem Campus

wirken wird, ist sonnenklar, auch wenn der Berater des jetzigen

Staatspräsidenten auf entsprechende Nachfragen nur lächelnd antwortet:

„Das weiß ich noch nicht.“

mentalities. This is a process that takes several years and requires

patience.”

He intends to actively participate in this process – in his own way.

His resignation as Supreme Court President in the summer of 2004 fits

in with this. “I did all I could, I needed a break.” What is behind this

break is the approval of a Humboldt Research Fellowship that Lado Chanturia

had already applied for in 2003, just in time before he reached the

age limit of 40 years. “To me, this fellowship is the highest reward, for I

am above all a scholar.” He was very happy to join Professor Klaus Hopt,

whom he had got to know during a Max Planck Scholarship in 1996, at

the Hamburg Max Planck Institute for Foreign Private and Private

International Law. To him, this institute is the “Harvard of Law”.

Once he has written his comparative law study on modern management

and liability regulations in stock companies, Lado Chanturia will

return to Georgia, where he has been Professor at the University of Tbilisi

since 1995. It goes without saying that the advisor to the current State

President is not only going to be active on the campus even though his

response to any queries regarding this is to smile and state: “I am not sure

about that yet.”

43 >> Humboldt kosmos 85/2005


Humboldtianer im Profil Humboldtians in Profile

Uschi Heidel

Lieber Leipzig

Better to be in Leipzig

Von Atlanta nach Leipzig und beinahe, aber wirklich

nur beinahe, wieder zurück. Wie die amerikanische

Entwicklungspsychologin Tricia Striano ihre Liebe

zu Leipzig entdeckte und weshalb ostdeutsche Mütter

ein Glücksfall für die Forschung sind.

Licht fällt durch hohe Fenster in den großzügigen Aufgang

des Leipziger Altbaus. Bei jedem Schritt knarren

die Stufen der breiten Holztreppe, hier kommt keiner

unbemerkt nach oben. Erste Etage, zweite Etage – in

der Tür ihres Instituts wartet bereits Tricia Striano: klein,

schmal, kurze dunkelblonde Haare, südländisch; eine

zierliche Person, die man schnell zu unterschätzen geneigt

ist. „Bitte wundern Sie sich nicht“, sagt die Leiterin von

drei Forschungsgruppen und Sofja Kovalevskaja-Preisträgerin

und lotst ihren Gast durch helle Räume, deren

einziges Mobiliar zumeist Kartons darstellen. „Wir stecken

mit unserem Kinderlabor mitten im Umzug“,

erklärt die Entwicklungspsychologin mit Blick auf

ihren provisorisch wirkenden Arbeitsplatz. Bücher stapeln

sich auf dem Fensterbrett und liegen auf dem Parkettboden,

im Sessel sitzt „Käpt’n Blaubär“ – im XXL-

Format. Das beliebte TV-Plüschtier ist ein untrügliches

Zeichen dafür, dass Kleinkinder willkommen sind. Wie

diese lernen, in den Gesichtern der Menschen zu lesen,

interessiert die 32-jährige Forscherin. „Eine Kaffeemaschine

haben wir noch nicht“, sagt sie und schlägt vor,

zum Gespräch ins Café im Parterre auszuweichen.

Tricia Striano ist Neuanfänge gewohnt. Als sie im

Jahr 2000 zum ersten Mal nach Europa und direkt nach

Leipzig kam, wurde sie zwar Leiterin der Nachwuchsgruppe

Kulturelle Ontogenese am Max-Planck-Institut

für evolutionäre Anthropologie, hatte aber weder ein

Labor noch Kontakte zu Babys, die sie für ihre entwicklungspsychologischen

Studien braucht. Und als sie im

vergangenen Oktober den begehrten Sofja Kovalevskaja-Preis

der Alexander von Humboldt-Stiftung erhielt,

war bereits die Wohnung aufgegeben, alles verkauft

und sie selbst fast schon wieder daheim in den USA.

„Neuanfänge haben viele positive Seiten, zum Beispiel

eine neue Waschmaschine und Möbel, die nicht von

IKEA stammen“, sagt Tricia Striano augenzwinkernd.

Aufbruch aus dem Vertrauten

Heute freut sie sich über Herausforderungen und Umbrüche.

Vor fünf Jahren war ihr allein der Gedanke an

From Atlanta to Leipzig and almost, but really only

almost, back again. How the American development

psychologist Tricia Striano discovered her love of

Leipzig, and why East German mothers are a stroke

of luck for research.

Light is falling through the tall window into the spacious

hall of the old Leipzig building. The stairs of the wide

wooden staircase creak with each step, so that nobody

can go upstairs unnoticed. The first floor, and then the

second floor. Tricia Striano is already waiting at her

institute’s door – a small, slender woman with short,

dark blond hair, of Southern appearance. She is a petite

person that one might easily be misled to underrate.

“Please don’t let this surprise you too much,” says the

head of three research teams and Sofja Kovalevskaja

Award Winner, guiding her guest through light rooms the

only furniture of which consists mainly of cardboard

boxes. “Our children’s laboratory is right in the middle of

moving,” the development psychologist explains, glancing

around the temporary aspect of her workplace. Books

are piled up on the windowsill and lie on the parquet

floor, with an XXL version of “Captain Bluebear” sitting

in an armchair. This popular TV teddy-bear is an unmistakeable

sign of infants being welcome here. The 32-

year-old researcher is interested in how small children

learn to read people’s face expressions. “We haven’t got a

coffee machine yet,” she says, and suggests switching to

the cafe on the ground floor for the talk.

Tricia Striano is used to new beginnings. When she

came to Europe, and directly to Leipzig, for the first time,

in 2000, she became head of the career development

group on cultural ontogenesis at the Max Planck Institute

for Evolutionary Anthropology. But she had neither

a laboratory nor any contact to babies, who she requires for

her development psychology studies. And when she received

the prestigious Sofja Kovalevskaja Award from the

Alexander von Humboldt Foundation, she had already

given in notice for her flat, sold everything and was herself

almost back home in the USA.“New starts have lots of good

sides, for example a new washing machine and furniture

that does not come from IKEA,” Tricia Striano grins.

Leaving the familiar behind

Today, she is pleased about challenges and radical changes.

Five years ago, she would have loathed the mere thought

44 >> Humboldt kosmos 85/2005


*******

Tricia Striano,

geboren in Weymouth,

Massachusetts, USA.

Studium der Psychologie

am College of the Holy

Cross in Worchester,

Massachusetts, und an

der Emory University of

Atlanta, Georgia, USA.

Promotion an der Emory

University of Atlanta,

Georgia, USA. Leiterin

der Nachwuchsforschergruppe

Kulturelle Ontogenese

am Max-Planck-

Institut für evolutionäre

Anthropologie in Leipzig.

Sofja Kovalevskaja-Preisträgerin

der Alexander

von Humboldt-Stiftung

mit Mitteln des Bundesministeriums

für Bildung

und Forschung: Leiterin

der Forschungsgruppe

für Neurokognition und

Entwicklung am Max-

Planck-Institut für

Kognitions- und Neurowissenschaften

und am

Zentrum für Höhere

Studien der Universität

Leipzig.

*******

Tricia Striano,

born in Weymouth,

Massachusetts, USA.

Studied psychology at

the College of the Holy

Cross in Worchester,

Massachusetts, and

at Emory University

of Atlanta, Georgia,

USA. Doctorate at Emory

University of Atlanta,

Georgia, USA. Head of

the career development

group on cultural ontogenesis

at the Max

Planck Institute for

Evolutionary Anthropology

in Leipzig. Sofja

Kovalevskaja Award

Winner of the Alexander

von Humboldt Foundation

funded by the

Federal Ministry of

Education and Research:

head of the research

team for neurocognition

and development at the

Max Planck Institute for

Human Cognitive and

Brain Sciences and at

Leipzig University’s

Centre for Advanced

Studies.

Veränderung ein Graus. „Ich wollte schnell Professorin

auf einem Campus werden und dann immer dort bleiben.

Nach der Zusage zum Interview in Leipzig packte

mich zuerst die Angst, weil ich nicht aus Amerika wegwollte“,

erinnert sie sich. Inzwischen finden ihre Eltern,

die ein Tapeziergeschäft im Bundesstaat Massachusetts

betreiben, die eigene Tochter sei „viel zu europäisch“

geworden. Diesen Eindruck teilt die Wissenschaftlerin

nicht. Aber sie fühlt sich innerlich ruhiger, gelassener

und erwachsener als am Anfang ihres Deutschlandaufenthaltes.

Damals konnte sie überhaupt nicht verstehen,

dass Mitarbeiter nicht am Wochenende arbeiten

oder länger als zwei Wochen in Urlaub gingen – „das ist

in den USA nicht möglich“. Sie wurde wütend, wenn

Handwerker nicht sofort ihren Auftrag erfüllten oder

ihr Computer nicht auch sonntags repariert werden

konnte. „Wer aus einer 24-Stunden-Dienstleistungsgesellschaft

kommt, hat zunächst Anpassungsschwierigkeiten.“

Die hatten allerdings auch einige ihrer älteren

Wissenschaftler-Kollegen. Denn ihnen fiel es schwer,

die Führungskompetenz der jungen Nachwuchsgruppenleiterin

anzuerkennen. Es gab manche Reibereien.

Sie zerrten an den Nerven. Fast hätte Tricia Striano der

gesamten akademischen Welt den Rücken gekehrt.

Die langjährige Fußballspielerin nahm es sportlich und

hat sich behauptet. Sie fühlt sich wohl in Leipzig und

kommt mit den Ostdeutschen gut zurecht. Ein bisschen

optimistischer könnten diese sein und nicht nur daran

denken, was alles nicht geht. Wenn Tricia Striano über

of anything new. “I wanted to become a lecturer on the

campus as quickly as possible and then stay there for

good. Once I had been invited to Leipzig for an interview,

I was seized by fear because I did not want to leave America,”

she remembers. Now, her parents, who run a wallpapering

store in the Federal State of Massachusetts,

think their own daughter has become “far too European”.

The scientist does not share this impression. But inside,

she feels calmer, more relaxed and more grown-up than

at the beginning of her stay in Germany. At the time, it

was thoroughly incomprehensible to her that staff would

not work over the weekend or that they took more than

two weeks’ off – “that would be impossible in the USA”.

She got mad when workmen didn’t finish their work

immediately or when nobody would repair her computer

on a Sunday. “You have difficulties accommodating if

you come from a 24-hour-service-based society.” However,

some of her senior research colleagues also had difficulties.

For they found it hard to appreciate the leadership

competencies of the young group head. There was a

fair amount of friction that got on her nerves. In fact, Tricia

Striano was about to turn her back on the entire academic

world.

An experienced football-player, she displayed a sportive

attitude and has managed to hold her own. She feels good

in Leipzig and gets on well with the East Germans,

although they could perhaps be a little more optimistic

instead of always worrying about what won’t work.

When Tricia Striano talks about the Leipzig parents, the

45 >> Humboldt kosmos 85/2005


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DAS FORSCHUNGSGEBIET Zu den entscheidenden

sozialen Fähigkeiten des Menschen

gehört es, dass er im Gesicht seines Gegenübers

lesen und in Bruchteilen von Sekunden

Schlüsse auf dessen künftiges Verhalten ziehen

kann. Auch Lernen durch Imitation,

Sprache und andere Formen der symbolischen

Kommunikation machen die so genannte

soziale Kognition aus. Sie setzt Bewusstsein

und Verständnis für die Gedanken anderer

Menschen voraus. Wann der Mensch solche

Fähigkeiten entfaltet, beschäftigt die amerikanische

Entwicklungspsychologin Tricia

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THE AREA OF RESEARCH One of the human

being’s most important social abilities is to

read the face of his counterpart and draw

conclusions about the latter’s future behaviour

in split seconds. Learning by imitating,

language and other forms of symbolic communication

also belong to what is known as social

cognition. It presupposes awareness and an

understanding of other people’s thoughts. The

American development psychologist Tricia

Striano wants to find out when humans develop

such activities. She has observed and

Striano. Hunderte von Babys bis zum zwölften

Monat hat sie vor allem in der Interaktion mit

der Mutter beobachtet und analysiert. Dabei

stellte sie fest, dass sich die Entwicklung für

soziale Fähigkeiten viel früher anbahnt als

bisher angenommen. Beispielsweise kann

schon ein rund acht Wochen alter Säugling

begreifen, dass, wenn seine Mutter und er sich

auf ein Spielzeug konzentrieren, sie beide denselben

Gegenstand meinen. Durch diese Fähigkeit

zur geteilten Aufmerksamkeit, werden die

Grundlagen zum Spracherwerb gelegt. Bislang

hatte man angenommen, diese Vorstufen

analysed hundreds of babies up to the age of

twelve months, especially in interactions with

their mothers, and noted that the development

of social abilities starts much earlier

than previously expected. For example, a baby

that is just eight weeks old can already understand

that when it and its mother are concentrating

on a toy, they both mean the same

object. The foundations of learning language

are laid by this ability to share attention. In

the past, it was assumed that these preliminary

steps only started at nine to twelve months of

beginnen erst mit neun bis zwölf Monaten.

Da die Ergebnisse aus der Verhaltensforschung

allein für Tricia Striano nicht aussagekräftig

genug sind, hat sie den Schwerpunkt

auf die Untersuchung der Entwicklung neuronaler

Muster verlagert. Welche Regionen im

Gehirn werden in welchem Lebensalter, in

welcher Situation und in welchem Maße

aktiviert? Die Amerikanerin will die Entwicklungssystematik

der sozialen Kognition

erfassen, um auch Abweichungen wie etwa

Autismus rechtzeitig erkennen zu können.

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age. Since Tricia Striano does not regard the

results of behavioural research in themselves

as meaningful enough, she has shifted the

focus of her research to an examination of the

development of neuronal patterns. Which

regions in the brain are activated at what age,

in what situation and to what degree? The

American researcher wants to understand the

development systematics of social cognition

in order to be able to identify deviations such

as autism in time as well.

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Humboldtianer persönlich Humboldt people personal

die Leipziger Eltern spricht, die unentbehrliche Partner für ihre Baby-

Forschungen sind, ist sie des Lobes voll. „Von Anfang an zeigten Ärzte

und Eltern Offenheit und Interesse an meinen Projekten“, erzählt sie.

Alle – meist westdeutschen – Warnungen vor gluckenhaften, übermäßig

besorgten Muttis erwiesen sich als falsch. „Fast jede Mutter war

bereit, mit ihrem Baby an den Verhaltenstests teilzunehmen. Das war

in den USA völlig anders. Die Eltern dort sind sehr ängstlich, Neugeborene

tragen Namenschilder mit Alarmmeldern, in den Kliniken

fühlte ich mich allenfalls geduldet“, berichtet die Wissenschaftlerin.

Nein zu Nashville, ja zu Leipzig

Im Herbst 2004 wollte Tricia Striano gerade eine attraktive Stelle an

der Vanderbilt Universität in Nashville, Tennessee, antreten, als die

Preis-Nachricht aus Deutschland kam: Rund eine Million Euro und

bis zu vier Jahre wissenschaftliches Arbeiten frei von administrativen

Zwängen an einem Institut eigener Wahl. „Ich habe Luftsprünge

gemacht und gespürt, wo ich eigentlich hin wollte.“ Tricia Striano ging

zurück nach Leipzig.

Schon im Jahr 2000 empfand sie die Arbeitsbedingungen und die

Ausstattung am Max-Planck-Institut als einmalig. „Eine Stelle mit

soviel Freiheit und Geldmitteln hätte ich in den USA nie bekommen.“

Das Kinderlabor im Leipziger Altbau ist eine gemeinsame Einrichtung

des Zentrums für Höhere Studien der Universität Leipzig und des

Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften.

Rund 15 Mitarbeiter werden in Kürze die Forschungen in den renovierten

Räumen fortsetzen. Tricia Striano liebt die Arbeit mit ihren oft

erst wenige Wochen alten Probanden: „Vor allem braucht man

Humor.“ Dass die Kleinen noch nicht sprechen können, findet sie

besonders spannend. „Aus ihren Reaktionen muss ich versuchen zu

erkennen, was in ihnen vorgeht. Das eröffnet mir andere Perspektiven,

als wenn die Babys sich sprachlich eindeutig artikulieren könnten.“

indispensable partners for her baby research, she is full of praise for

them. “Right from the onset, doctors and parents were open-minded

about my experiments and were interested in them,” she recalls. All of the

usually West German warnings about mothers fussing around their children

like mother hens and being overcautious lest something could happen

to them proved wrong. “Nearly every mother was ready to take part

in the behavioural tests with her baby. This had been completely different

in the USA. Parents there are very anxious, and newborn children

bear name tags with alarms. At best, I felt tolerated in the clinics,” the

researcher reports.

No to Nashville but yes to Leipzig

In autumn 2004, Tricia Striano was just about to take up an attractive

post at Vanderbilt University in Nashville, Tennessee, when the news

about the award came from Germany: around a million euros and up to

four years of academic activities free of administrative restraints at an

institute of her own choice. “I jumped in the air and felt where I really

wanted to go.” Tricia Striano went back to Leipzig.

She had already found the working conditions and facilities at the

Max Planck Institute unique back in 2002. “I would never have got a

position with so much freedom and such funding in the USA.” The children’s

laboratory in the old Leipzig building is a joint institution of

Leipzig University’s Centre for Advanced Studies and the Max Planck

Institute for Human Cognitive and Brain Sciences. Soon, around 15 staff

are to carry on with their research activities in the renovated rooms. Tricia

Striano loves working with her test persons, who are just a few weeks

old: “Above all, it takes a lot of humour.” She thinks it is especially exciting

that the little ones can’t speak yet. “I have to try and recognise what

is going on inside them by way of their reactions. This opens up perspectives

that are different from when the babies can clearly express themselves

using language.”

46 >> Humboldt kosmos 85/2005


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„Ich habe Luftsprünge gemacht und gespürt,

wo ich eigentlich hin wollte.“

Humboldtianer im Profil Humboldtians in Profile

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“I jumped in the air and felt where I really

wanted to go.”

47 >> Humboldt kosmos 85/2005


Nachrichten

News

Neues aus der deutschen und internationalen Wissenschaftsszene sowie Informationen über forschungspolitische Trends.

News from the German and the international academic scene and information about research policy trends.

Europäischer Forschungsraum

Die Einrichtung eines Europäischen Forschungsrates

gehört zu den Schwerpunkten des 7. Forschungsrahmenprogramms

der Europäischen Union (EU), das im Jahr

2007 anläuft. Aufgabe der neuen Förderorganisation

wird die Ausdehnung der „Grenzen des Wissens“, also

die Unterstützung von Grundlagenforschung, sein.

„Wenn Albert Einstein heute leben würde,

würde er für seine Forschung keine Mittel von der

Europäischen Kommission erhalten“, so Antonia

Mochan, Pressesprecherin für Wissenschaft und

Forschung der Europäischen Kommission in Brüssel.

„Um von uns finanziert zu werden, müssen Forschungsprojekte

zurzeit noch als internationale Kooperationen

angelegt sein. Der geplante Europäische Forschungsrat

könnte hingegen auch die Forschungsvorhaben

einzelner Teams unterstützen“.

Ziel der Einrichtung ist es, die internationale

Wettbewerbsfähigkeit europäischer Forschung zu

erhöhen. Bei ihren Entscheidungen über zu fördernde

Forschungsvorhaben sollen die Mitglieder des

Forschungsrates, ein internationales Wissenschaftler-

Gremium, von Vorgaben der Europäischen

Kommission unabhängig sein.

European Research Area

Setting up a European Research Council is one of the

priorities in the 7th Research Framework Programme

of the European Union (EU), which is scheduled to

commence in 2007. The new funding organisation’s

mission will be to extend the “frontiers of knowledge”,

i.e. to support pure research.

“If Albert Einstein were alive today, the European

Commission would not fund any of his research,” says

Antonia Mochan, the European Commission’s Press

Officer for Science and Research in Brussels. “In order

for us to provide funding, research projects still have to

be organised as international collaborative schemes at

the moment. However, the planned European Research

Council could also support research ventures run by

individual teams.”

The aim of the institution is to boost the international

competitiveness of European research. The members

of the Research Council, an international committee

of academics, are to be independent of any provisions

made by the European Commission when taking

decisions on research projects worthy of funding.

Studiengebühren

Die Zeiten, in denen jeder, der wollte, kostenlos

studieren konnte, scheinen in Deutschland endgültig

vorbei zu sein. Nachdem eine Reihe von Bundesländern

bereits Gebühren für Langzeitstudenten (10. bis

13. Semester) eingeführt haben, werden jetzt auch

Studienbeiträge für Erstsemester diskutiert.

Ob Germanistikstudent im 22. Semester, der sich

nebenher als Buchhändler über Wasser hält, oder pensionierter

Studienrat, der im Geschichtsseminar seine

Kriegserlebnisse einbringt – bis vor wenigen Jahren

war ein Studium in Deutschland grundsätzlich frei.

Vom Erst- über das Zweit- bis zum Seniorenstudium:

Die einzigen Kosten, die anfielen, bestanden in einem

Sozialbeitrag, mit dem unter anderem das Mensaessen

subventioniert wird. Inzwischen werden Studierende,

die die Regelstudienzeit überschritten haben, in fast

allen Bundesländern mit durchschnittlich 500 Euro

pro Semester zur Kasse gebeten. Über den Bruch des

letzten verbliebenen Tabus – Kosten ab dem ersten

Tuition fees

In Germany, the days when anyone wishing to study could

do so free of charge seem to be over once and for all. Now

that a number of Federal Länder have already introduced

fees for students taking an excessive amount of time to

complete their courses (10th to 13th semester), tuition

fees are also being discussed for first-semester students.

Whether it was a student of German language and

literature in his 22nd semester earning his living with

a sideline job as a bookseller or a retired teacher at a

secondary school imparting his wartime experience to

a history seminar, studying in Germany had basically

been free of charge for both of them until just a few years

ago. From the first degree course through the second

degree course to courses for senior citizens in higher

education, the only costs involved were a student welfare

contribution with which, for example, the canteen

meals were subsidised. Nowadays, students who have

exceeded the standard period of study are charged an

average of 500 euros a semester in almost all Federal

Studenten der Universität

Bonn protestieren gegen die

Einführung von Studiengebühren.

Students of the University of

Bonn protesting at the introduction

of tuition fees.

48 >> Humboldt kosmos 85/2005


Nachrichten News

Semester – wird gegenwärtig noch diskutiert. „Die

meisten Länder haben sich darauf verständigt,

Studiengebühren einzuführen“, erklärt Heinz-Peter

Weitlich vom Sekretariat der Kultusministerkonferenz

der Länder, „erwogen werden ebenfalls 500 Euro“.

Für sozial schwächer gestellte Studierende sollen dabei

Finanzierungsmodelle wie beispielsweise günstige

Kredite geschaffen werden. Verfechter der Reform versprechen

sich davon verbesserte Studienbedingungen.

Dagegen steht die Benachteiligung weniger begüterter

Studierender sowie die Befürchtung, die Länder könnten

die neuen Einnahmequellen der Hochschulen zum

Anlass nehmen, deren Etats zu reduzieren.

Lobby für die Grundlagenforschung

In einer Situation, in der an Hochschulen und

Forschungseinrichtungen angesichts knapper Finanzmittel

der Trend zu Auftrags- und anwendungsnaher

Forschung wächst, hat sich die League of European

Research Universities (LERU) den verstärkten Einsatz

für die Grundlagenforschung zur Aufgabe gemacht.

„Der Übergang zu einer global wettbewerbsfähigen

Wirtschaft ist abhängig von der Förderung der Grundlagenforschung

und ihrer Einbindung in Innovationsprozesse“,

heißt es in einem im Frühjahr 2005 von LERU

veröffentlichten Positionspapier. Die League fordert

einen entsprechend radikalen Prioritätenwechsel in

der europäischen Forschungsförderung, der auch die

Rolle der Universitäten als Exzellenzzentren stärken

soll. Weitere Ziele von LERU sind interne Benchmarkingprozesse

sowie die Bearbeitung gemeinsamer

Fragestellungen in Arbeitskreisen.

LERU setzt sich aus zwölf besonders forschungsstarken

europäischen Universitäten zusammen,

ermittelt durch ein bibliometrisches Verfahren, mit

dem Publikationsleistung und Zitationsintensität

analysiert wurden. Ebenfalls ein Kriterium für die

Mitgliedschaft ist ein breites Fächerspektrum, wie es

die klassische Volluniversität aufweist. In Deutschland

gehören der League die Universitäten Heidelberg und

München an, in Großbritannien Cambridge, Oxford

und Edinburgh, dann die Universitäten Helsinki/

Finnland, Mailand/Italien, Stockholm/Schweden,

Genf/Schweiz, Straßburg/Frankreich, Leiden/

Niederlande und Leuven/Belgien.

Länder. Debates are still underway on breaking with the

last remaining taboo – fees from the first semester on.

“Most of the Länder have agreed on introducing tuition

fees,” explains Heinz-Peter Weitlich of the Secretariat of

the Standing Conference of the Ministers of Education

and Cultural Affairs of the Länder. “Again, 500 euros is

being considered.” Financing models such as low-interest

loans are to be created for students facing financial

hardship through studying. Champions of the reform

are reckoning with improved study conditions. Critics of

the scheme warn that less well-off students would be

disadvantaged and fear that the Länder could view the

new sources of revenue in higher education as an opportunity

to reduce its budget.

A lobby for pure research

In a situation in which the trend towards contract and

close-to-application research at higher education and

research institutions is growing given the paucity of

funding, the League of European Research Universities

(LERU) has chosen to campaign more for pure research.

“The transition to a globally competitive economy

depends on the funding of pure research and its

integration in innovation processes,” states a policy

paper issued by LERU in spring 2005. The League calls

for a correspondingly radical shift in priorities in

European research funding that would also boost the

role of universities as centres of excellence. Further goals

of LERU are internal benchmarking processes and

addressing common issues in working groups.

LERU consists of twelve European universities that

have attained a particularly strong position in research,

a position that has been identified with a bibliometric

method analysing publishing performance and citation

intensity. A further membership criterion is a wide

range of subjects as would be the case with the traditional

fully-fledged university. In Germany, the Universities of

Munich and Heidelberg belong to the League, in the

UK Cambridge, Oxford und Edinburgh, and then the

Universities of Helsinki/Finland, Milan/Italy,

Stockholm/Sweden, Geneva/Switzerland, Strasbourg/

France, Leiden/The Netherlands and Leuven/Belgium.

49 >> Humboldt kosmos 85/2005


Nachrichten News

Open Access

Anstatt in teuren Fachpublikationen sollen Forschungsergebnisse

für jeden kostenlos im Internet veröffentlicht

werden – so lautet die Forderung der Open

Access-Bewegung, die weltweit von zahlreichen Hochschulen

und Forschungseinrichtungen unterstützt

wird. In Deutschland haben sich unter anderem die

Max-Planck-Gesellschaft, die Fraunhofer-Gesellschaft,

die Helmholtz-Gemeinschaft, die Leibniz-Gemeinschaft,

die Hochschulrektorenkonferenz und die

Deutsche Forschungsgemeinschaft in der „Berliner

Erklärung“ von 2003 für das „Prinzip des offenen

Zugangs“ ausgesprochen. Zu den deutschen Open

Access-Initiativen gehören die German Academic

Publishers (GAP), die im September 2005 an

den Start gehen.

Ein Abonnement oder doch lieber ein kleines

Auto? Angesichts der explodierenden Preise auf dem

Fachzeitschriftenmarkt erscheint diese Frage gar nicht

Open Access

Instead of being published in expensive specialist

journals, research results are to be available to everyone

free-of-charge in the Internet. This is what the Open

Access Campaign is calling for, a movement enjoying

the support of numerous higher education and research

institutions world-wide. In Germany, the Max Planck

Society, the Fraunhofer Society, the Helmholtz

Association, the Leibniz Association, the Hochschulrektorenkonferenz

(German Rectors’ Conference) and the

Deutsche Forschungsgemeinschaft (German Research

Foundation) subscribed to the principle of open access

in their Berlin Declaration of 2003. The German Open

Access initiatives include the German Academic

Publishers (GAP), who are to launch their campaign

in September 2005.

A subscription or, better perhaps, a small car? In

view of prices rocketing sky-high on the specialist journal

market, such considerations aren’t really as bizarre as

*******

Freien Zugang zu öffentlich

finanzierten Forschungsergebnissen

fordern

die Befürworter von

Open Access.

*******

The proponents of Open

Access are demanding

free access to publicfunded

research results.

50 >> Humboldt kosmos 85/2005


Nachrichten News

so abwegig. Erbitterte Mitarbeiter von Universitätsbibliotheken

illustrieren auf ihren Homepages die

Zeitschriftenkosten mit Fotos von Landhäusern,

Kreuzfahrten oder Fahrzeugen, die dem Gegenwert

eines Jahresabonnements entsprechen. So zahlt die

University of Maryland, USA, nach eigenen Angaben

14.000 Dollar für „The Journal of Comparative

Neurology“, die Florida Atlantic University investiert

jährlich 128.000 Dollar in den Zugang zu „Early

English Books Online“ (eine digitalisierte Sammlung

historischer Publikationen in englischer Sprache) und

die Universität Konstanz führt auf ihrer Website eine

Hitliste der zehn teuersten Zeitschriften, mit den

„Chemical Physics Letters“ für 11.346 Euro pro Jahr

an erster Stelle. Die Preiserhöhungen der letzten Jahre

schwanken zwischen 54 und 151 Prozent. Da die Etats

diesen Ausgaben nicht mehr gewachsen sind, reagieren

Hochschulen und Forschungsorganisationen inzwischen

mit Abbestellungen. Das wiederum führt zu einer verminderten

Versorgungssituation der Wissenschaftler.

Als Ursache für die so genannte „Zeitschriftenkrise“

oder „Serial Crisis“ wird die monopolistische Preispolitik

einiger weniger großer Verlage wie Elsevier,

Wiley oder Springer betrachtet.

Vor diesem Hintergrund gewinnt die Open

Access-Bewegung zunehmend an Boden. Das Directory

of Open Access Journals umfasst inzwischen 1.594

elektronische Zeitschriften. Eines der Hauptprobleme

der kostenfreien Publikationen ist jedoch ihre

Finanzierung. Um eine den kommerziellen Zeitschriften

entsprechende Qualität der Beiträge inklusive

Peer Review zu gewährleisten, ist redaktioneller und

organisatorischer Aufwand erforderlich. Nachdem

dieser nicht mehr über die Leser erwirtschaftet wird,

sehen die verschiedenen Finanzmodelle von Open

Access vor, die Kosten auf die Autoren umzulegen.

Pro Artikel wird dem Wissenschaftler oder seiner

Institution ein bestimmter Betrag berechnet; so

nimmt die US-amerikanische Public Library of

Science (PLoS) für ihre Veröffentlichungen in den

Bereichen Biologie und Medizin von den Autoren

jeweils 1.500 Dollar. BioMed Central, ein Londoner

Verlag mit einem Portfolio von über 100 Journalen,

deckt einen Teil seiner Ausgaben durch Mitgliedsbeiträge;

Nichtmitglieder zahlen zwischen 450 und

1.235 Euro pro Beitrag.

they may sound. On their homepages, disgruntled university

library staff are illustrating the costs of journals

with country houses, cruises or vehicles corresponding to

the price of an annual subscription. For example, the

University of Maryland, USA, states that it pays 14,000

dollars for “The Journal of Comparative Neurology”,

while Florida Atlantic University invests an annual

128,000 dollars to gain access to “Early English Books

Online” (a digitalised collection of historic publications

in English) and the University of Constance presents a

hit list on its website of the ten most expensive journals,

headed by the “Chemical Physics Letters”, at 11,346

euros a year. Price hikes over the last few years may be

anything from 54 to 151 percent. Since budgets can no

longer keep pace with such expenses, higher education

institutions and research organisations are now

responding by cancelling subscriptions. This in turn

results in diminished supplies for academics. The cause

of the so-called “Serial Crisis” is held to be monopolistic

pricing policies pursued by a handful of major

publishers such as Elsevier, Wiley or Springer.

Against this background, the Open Access Campaign

is becoming increasingly popular. The Directory of

Open Access Journals now comprises 1,594 electronic

journals. However, one of the chief problems of free-ofcharge

publications is their funding. An editorial and

organisational effort is required to ensure that the quality

of contributions matches that of the commercial

publications and will stand up to a peer review. Now

that this is not being funded via the readers, the various

financing models put forward by Open Access suggest

that costs be borne by the authors. A certain charge is

worked out per article for the academic or his institution;

thus the US American Public Library of Science (PLoS)

charges authors 1,500 dollars a publication in the areas

of biology and medicine. BioMed Central, a London

publishing firm with a portfolio of more than 100

journals, covers part of its costs with members’ fees,

while non-members pay between 450 and 1,235 euros

per contribution.

Critics of Open Access stress that this amounts to

transferring the costs of publishing from the private

sector to the state, while its proponents argue that the

tax-payer has a right to free access to the research results

he has been funding. A number of Open Access projects

are currently being promoted in Germany, too. They

51 >> Humboldt kosmos 85/2005


Nachrichten News

Kritiker von Open Access weisen darauf hin, dass

auf diese Weise die Publikationskosten vom privaten

Sektor auf den Staat verlagert werden. Befürworter der

Bewegung argumentieren hingegen mit dem Recht des

Steuerzahlers auf freien Zugang zu den von ihm geförderten

Forschungsresultaten. Auch in Deutschland

werden gegenwärtig eine Reihe von Open-Access-Projekten

gefördert. Dazu gehören Digital Peer Publishing

(DIPP), ein Projekt des Bundeslandes Nordrhein-

Westfalen zur Unterstützung von e-Journalen, weiterhin

eSciDoc, eine Plattform für vernetztes wissenschaftliches

Arbeiten, die von der Max-Planck-Gesellschaft

in Zusammenarbeit mit dem Fachinformationszentrum

Karlsruhe entwickelt wird, sowie German

Academic Publishers. GAP wird von der Deutschen

Forschungsgemeinschaft finanziert mit dem Ziel, eine

Plattform für Open-Access-Publikationen aller Fachgebiete

zu schaffen. „Wir wollen ein Kooperationsnetzwerk

etablieren, bestehend aus den Verlagen von

Hochschulen und anderen Forschungseinrichtungen“,

erklärt Dr. Stefan Gradman, Projektleiter von GAP,

„dabei sollen die Primärkosten durch Mitgliedsbeiträge

von etwa 100 bis 200 Euro im Jahr abgedeckt werden.

Darüber hinaus wird unser Back Office eine

Reihe von Serviceleistungen vom Lektorat bis zu

Druck und Vertrieb anbieten, die wir extra berechnen.

Wichtig ist, dass das Portal nicht einfach als Föderation

institutioneller ‚Document Repositories’ mit

ungeprüftem Inhalt verstanden wird, sondern nur

qualitätsgeprüfte Beiträge enthält. Hierfür stehen

wiederum die Mitgliedseinrichtungen gerade“. Zu den

Gründungsmitgliedern zählen unter anderem die Universitäten

Hamburg, Oldenburg, Karlsruhe, Göttingen

und die Freie Universität Berlin. Der operationale Start

des Verbundes ist für den Herbst 2005 avisiert.

include Digital Peer Publishing (DIPP), a project of the

Federal Land of North Rhine-Westphalia to support

e-journals, eSciDoc, a platform to facilitate networking

of academic activities that is being developed by the

Max Planck Society in collaboration with Fachinformationszentrum

Karlsruhe, as well as German Academic

Publishers. GAP is being funded by the Deutsche

Forschungsgemeinschaft with the aim of creating a

platform for Open Access publications in all subject

areas. “We intend to establish a collaborative network

consisting of the publishing centres of higher education

and other research institutions,” Dr. Stefan Gradman,

GAP Project Head, explains. “Primary costs are to be

covered by members’ fees of about 100 to 200 euros a

year. In addition, our Back Office is going to provide a

number of services ranging from editing to printing and

distribution that we will charge extra. What is important

is that the portal is not understood merely as a federation

of institutional ‘Document Repositories’ with contents

that have not been checked but that only contributions

that have undergone a quality review are adopted.

This, in turn, is up to the member institutions.”

The founder members include the Universities of

Hamburg, Oldenburg, Karlsruhe, Göttingen and the

Free University of Berlin. The network is to commence

operations in autumn 2005.

Im Open Access-Modell

sind es nicht mehr die

Leser, die eine Publikation

finanzieren, sondern die

Autoren selber.

In the Open Access Model,

it is no longer the readers

who finance a publication

but the authors themselves.

Exzellenzförderung und Föderalismus

Forschung und Bildung in Deutschland werden zum

Teil vom Bund und zum Teil von den Ländern getragen.

Während beispielsweise die Hochschulen im Wesentlichen

von den Ländern finanziert werden, sind diese in

der Bildungspolitik dennoch nicht autonom, sondern

der Bund hat ein Mitspracherecht. Dies hat in der

Vergangenheit immer wieder zu Konflikten geführt,

die letzten Endes vor dem Bundesverfassungsgericht

Promoting excellence and the

issue of federalism

In Germany, research and education are funded partly

by the Federal Government and partly by the Länder.

For example, whereas higher education institutions are

financed mainly by the Länder, the latter are nevertheless

not autonomous regarding their education policies.

Rather, the Federal Government also has a say. In the

past, this has again and again resulted in conflicts that

52 >> Humboldt kosmos 85/2005


Nachrichten News

entschieden werden mussten. Hintergrund ist das

föderale System der Bundesrepublik.

Zu den jüngsten Streitfällen zwischen Bund und

Ländern gehören die Einführung von Studiengebühren

und die Abschaffung der Habilitation. Während die

Bundesregierung hier eine einheitliche Regelung

anstrebte, entschied das Bundesverfassungsgericht

zugunsten der Länder. Jedes Bundesland kann jetzt

selber entscheiden, ob es Studiengebühren einführt

beziehungsweise auf die Habilitation seiner Professoren

verzichtet.

Das föderale System ermöglicht den 16 Bundesländern

ein hohes Maß an Autonomie. So verfügen sie

über eigenständige politische Institutionen mit Exekutive,

Judikative und Legislative. Auf übergeordneter

Ebene sind die Länder zum Bund zusammengeschlossen,

vertreten durch die Bundesregierung. Die Ministerpräsidenten

der Bundesländer haben die Möglichkeit,

in einem eigenen Organ, dem Bundesrat, Einfluss

auf die Gesetzgebung zu nehmen. Zu den Vorteilen

des föderalen Systems gehört die so genannte vertikale

Gewaltenteilung und damit eine Einbeziehung regionaler

Aspekte in die gesamtstaatliche Politik.

Traditionelle Aufgabe des Föderalismus ist die

Bewahrung der inneren Vielfalt. Ein massiver Nachteil

des föderalen Prinzips ist der Dauerwahlkampf. Bei

einem Wahlrhythmus von vier Jahren stehen in mindestens

einem der 16 Bundesländer immer Wahlen

vor der Tür, was das politische Tagesgeschäft auch

auf Bundesebene beeinflusst. Alle Versuche, durch

eine Reform die Schwächen des föderalen Systems

auszugleichen, sind bis zu diesem Sommer gescheitert,

da Bund und Länder sich nicht über eine Neuordnung

der Zuständigkeiten einigen konnten.

Doch nun konnte ein erster und entscheidender

Einigungserfolg erzielt werden. Nach langer Diskussion

wurde Ende Juni 2005 gemeinsam von Bund und

Ländern ein Exzellenzprogramm für Forschung in

Höhe von insgesamt 1,9 Milliarden Euro verabschiedet.

Diese Initiative sieht drei Schwerpunkte vor: die

Förderung von Graduiertenschulen, die Einrichtung

von Exzellenz-Clustern zwischen Hochschulen und

außeruniversitärer Forschung sowie Programmkostenpauschalen

in Fällen, in denen Drittmittel nicht die

Vollkosten eines Projektes abdecken.

53 >> Humboldt kosmos 85/2005

ultimately had to be decided on by the Federal Constitutional

Court. At the core of this issue is the Federal

Republic’s federal system itself.

Among the latest disputes between the Federal

Government and the Länder are the introduction of

tuition fees and doing away with the “Habilitation”, the

qualification academics need in Germany for a post as a

higher education lecturer. While the Federal Government

campaigned for uniform regulations here, the

Federal Constitutional Court ruled in favour of the

Länder. Now, each of the Federal Länder is free to opt

for tuition fees or dropping the requirement that its lecturers

hold a “Habilitation”.

The federal system grants the 16 Federal Länder a

high level of autonomy. For example, they have independent

political institutions with an executive, a

judicative and a legislative. At super-ordinate level, the

Länder form the Federal Republic, which is represented

by the Federal Government. The Chief Ministers of the

Federal Länder have the possibility to influence legislation

in a body of their own, the “Bundesrat”, Germany’s

Upper House. The advantages the federal system offers

include so-called vertical separation of powers, which

allows for an integration of regional aspects into national

state policy.

The traditional mission assigned to federalism is to

maintain internal diversity. One massive disadvantage

the federal system bears is the continuous election

campaign it results in. Given that the Germans go to the

ballot box every four years, this means that elections are

always just around the corner in at least one of the 16

Federal Länder, which has its influence on the day-today

political affairs at Federal level. All attempts to

offset the weaknesses of the federal system with reforms

failed up to this summer because the Federal Government

and the Länder were unable to agree on a reorganisation

of responsibilities. But now, an initial and crucial agreement

has been reached. Towards the end of June 2005,

following long debates, the Federal and Länder Governments

jointly adopted an excellence programme for

research to the tune of 1.9 billion euros in all. This

initiative stipulates three priorities: promoting

“Graduiertenschulen” (colleges for post-graduates),

setting up excellence clusters involving higher education

institutions and non-university research, and lump sums

to fund programmes in those cases in which third-party

funding does not fully cover the costs of a project.

Zusätzliche 1,9 Milliarden

Euro investieren Bund

und Länder in die Förderung

herausragender Forschungsleistungen.

The Federal and Länder

governments are investing

an additional 1.9 billion

euros in outstanding

research.


Neues aus der Stiftung

News from the Foundation

Deutschlandjahr in Japan 2005/2006

„Freundschaftsjahre“, bei denen sich eine Nation in

einem anderen Land mit zahlreichen Veranstaltungen

aus allen gesellschaftlichen Bereichen präsentiert,

haben Konjunktur. Allein in Deutschland werden derzeit

das „Deutsch-Polnische Jahr 2005/2006“ und das

„Koreajahr 2005“ gefeiert.

Deutschland präsentiert sich seinerseits beim

„Deutschlandjahr in Japan 2005/2006“. Das „Deutschlandjahr“

soll einen Bogen spannen vom Endspiel der

Fußballweltmeisterschaft 2002 in Japan, über die Weltausstellung

2005 im japanischen Aichi bis zur Eröffnung

der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland

im Juni 2006. Am 4. April 2005 ist es vom deutschen

Bundespräsidenten Horst Köhler gemeinsam mit Seiner

Kaiserlichen Hoheit dem Kronprinzen von Japan

feierlich eröffnet worden. Auch der Präsident der Alexander

von Humboldt-Stiftung, Professor Wolfgang

Frühwald, war Teil der hochrangig besetzten Delegation

des deutschen Bundespräsidenten.

Das „Deutschlandjahr in Japan“ will der japanischen

Öffentlichkeit ein Bild des modernen Lebens in

Deutschland in Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft

vermitteln und vor allem die junge Generation der

Japaner für Deutschland interessieren. Insgesamt finden

während des Deutschlandjahres landesweit über

700 Veranstaltungen statt. Es ist auch für die Humboldt-Stiftung

der Anlass, sich im Jahr 2005 schwerpunktmäßig

in Japan zu engagieren. Neben den regulären

Austauschprogrammen fördert und organisiert

sie zahlreiche Veranstaltungen für Humboldtianer in

Japan.

Bereits im Mai 2005 fand unter der Leitung von

Professor Yoshiyuki Nagai das Humboldt-Kolleg „German-Japan

Virology Meeting on Emerging and Reemerging

Viruses“ statt. Im Juli 2005 diskutierten in

Kyoto namhafte Germanisten aus Deutschland und

Japan über die „Entwicklung der Auslandsgermanistik

zu einer Kulturwissenschaft“. Initiatoren dieses Symposiums

waren die Professoren Jürgen Fohrmann,

Wilhelm Voßkamp und Teruaki Takahashi. Ende September

2005 wird in Tokio ein hochkarätig besetzter

rechtswissenschaftlicher Kongress zum Thema „Globalisierung

und Recht“ stattfinden, der gemeinsam

von der Humboldt-Stiftung, dem Deutschen Akademischen

Austauschdienst (DAAD) und der Japan

Germany Year in Japan 2005/2006

“Friendship Years”, in which one country presents itself

in another with several events reflecting a wide range of

social aspects, are experiencing a boom nowadays. In

Germany alone, the “German-Polish Year 2005/2006”

and the “Korea Year 2005” are now being celebrated.

Germany is presenting itself with its “Germany Year

in Japan 2005/2006”. The Germany Year is intended to

link up the 2002 Soccer World Championship Finals in

Japan, the 2005 World Exhibition in Japan’s Aichi and

the opening of the Soccer World Championship in Germany

in June 2006. On the 4th April 2005, it was jointly

opened by Germany’s Federal President Horst Köhler

and His Imperial Highness the Crown Prince of Japan.

The President of the Humboldt Foundation, Wolfgang

Frühwald, was also a member of the German Federal

President’s high-ranking delegation.

The “Germany Year in Japan” is intended to give the

Japanese public an impression of modern life in Germany

in culture, economics and academe and above all

get the young Japanese generation interested in the

country. In all, 700 events are taking place throughout

Japan during the Germany Year. For the Humboldt

Foundation, it is also the occasion on which its activities

focus on Japan in 2005. In addition to the regular

exchange programmes, it is funding and organising

numerous events for Humboldt Fellows in Japan.

The Humboldt Kolleg “German-Japan Virology

Meeting on Emerging and Re-emerging Viruses”,

headed by Professor Yoshiyuki Nagai, was already held

in May 2005. In July 2005, in Kyoto, renowned scholars

of German language and literature from Germany and

Japan discussed the “development of German language

and literature studies abroad towards a branch of

cultural studies”. The initiators of this symposium were

Professors Jürgen Fohrmann, Wilhelm Voßkamp and

Teruaki Takahashi. Towards the end of September 2005,

a jurisprudential congress with high-ranking

attendance is to be held in Tokyo on the topic of

“Globalisation and Law”. This event is being organised

jointly by the Humboldt Foundation, the German

Academic Exchange Service (DAAD) and the Japan

Society for the Promotion of Science (JSPS). The

Ministers of Justice of the two countries, leading law

scholars and outstanding junior scholars are to attend

the congress. The “Germany Year” is to conclude with

54 >> Humboldt kosmos 85/2005


Neues aus der Stiftung News from the Foundation

Society for the Promotion of Science (JSPS) organisiert

wird. Die Justizministerinnen beider Länder, prominente

Juristen und herausragende Nachwuchswissenschaftler

werden an dem Kongress teilnehmen. Den

Abschluss des „Deutschlandjahres“ bilden zwei Tagungen

zur Philosophiegeschichte, die von den Siebold-

Preisträgern Professor Naoji Kimura (im Oktober

2005) und Professor Ryosuke Ohashi (im März 2006)

vorbereitet werden. Darüber hinaus werden sowohl

von einzelnen Humboldtianern als auch von den

Humboldt-Vereinigungen in Japan weitere wissenschaftliche

Veranstaltungen geplant.

two congresses on the history of philosophy that are

being prepared by Siebold Award Winners Naoji

Kimura (in October 2005) and Professor Ryosuke

Ohashi (in March 2006). In addition, further academic

events are being planned both by individual Humboldt

Fellows and by the Humboldt Associations in Japan.

Aufnahme in die Polnische Akademie

der Wissenschaften

Die Generalversammlung der Polnischen Akademie

der Wissenschaften wählte am 19. Mai 2005 den Germanisten

und Präsidenten der Humboldt-Stiftung,

Professor Dr. Wolfgang Frühwald, zum auswärtigen

Mitglied der Akademie.

Mit dieser Auszeichnung würdigt die Polnische

Akademie der Wissenschaften Frühwalds Verdienste

um die deutsch-polnische wissenschaftliche Zusammenarbeit.

In seiner Funktion als Präsident der

Deutschen Forschungsgemeinschaft schloss er Mitte

der 90er Jahre ein Abkommen mit der Polnischen

Akademie der Wissenschaften. Er publizierte in ihrer

Vierteljahreszeitschrift „Academia“ und tauscht sich

seit vielen Jahren mit polnischen Germanisten aus,

etwa zur Forschung über den deutschen Dichter

Joseph von Eichendorff.

Polen ist für die Humboldt-Stiftung ein wichtiges

Partnerland. Bei der Anzahl der seit 1953 vergebenen

Stipendien steht Polen weltweit an fünfter Stelle hinter

den USA, Japan, Indien und China. Europaweit rangiert

es sogar auf Platz eins, gefolgt von der Russischen

Föderation, Spanien, Großbritannien und Italien.

Die feierliche Aufnahme Wolfgang Frühwalds in die

Polnische Akademie der Wissenschaften erfolgte am

4. Juli 2005 in der Polnischen Botschaft in Berlin im

Beisein des Vize-Präsidenten der Polnischen Akademie

der Wissenschaften, Professor Dr. Jan Strelau.

A new member of the Polish Academy

of Sciences

The scholar of German language and literature and

President of the Humboldt Foundation, Professor Dr.

Wolfgang Frühwald, has been selected as an external

member of the Polish Academy of Sciences. The

Academy’s General Assembly appointed him on the

19th May 2005.

The Polish Academy of Sciences awarded Frühwald

this distinction in recognition of his contributions to

German-Polish academic co-operation. As President

of the Deutsche Forschungsgemeinschaft (German

Research Foundation), he signed an agreement with the

Academy in the mid-nineties. He wrote for its quarterly

“Academia” and has discussed issues with Polish scholars

of German language and

literature for several years, for instance research on the

German poet Joseph von Eichendorff.

Poland is an important partner country for the

Humboldt Foundation. In terms of the numbers of

fellowships awarded since 1953, Poland is in fifth

position world-wide, following the USA, Japan, India

and China. And in Europe, it is even in first position,

ahead of the Russian Federation, Spain, the UK and Italy.

The ceremony marking Wolfgang Frühwald’s

appointment as a member of the Polish Academy

of Sciences was held in the Polish Embassy in Berlin

on the 4th July 2005 and was attended by the Vice-

President of the Polish Academy of Sciences, Professor

Dr. Jan Strelau.

Professor Dr. Wolfgang

Frühwald, Präsident der

Alexander von Humboldt-

Stiftung.

Professor Dr. Wolfgang

Frühwald, President of the

Alexander von Humboldt-

Foundation.

55 >> Humboldt kosmos 85/2005


Neues aus der Stiftung News from the Foundation

Kräfte bündeln und Synergien nutzen

Die Alexander von Humboldt-Stiftung und die Deutsche

Welle haben eine Kooperationsvereinbarung

abgeschlossen, um die bereits bestehende Zusammenarbeit

zu verstärken und auf weitere Felder auszudehnen.

Ziel der Vereinbarung ist es, den Informationsfluss

untereinander zu verbessern und durch die

gegenseitige Nutzung der Netzwerke die Wirksamkeit

deutscher Mittlerorganisationen im Ausland zu erhöhen

und weltweit gemeinsam ein modernes Deutschlandbild

zu vermitteln.

Neben gemeinsamen Veranstaltungen im In- und

Ausland soll den Humboldt-Forschungsstipendiaten

in Deutschland die Expertise der Deutschen Welle

zugänglich gemacht werden. Umgekehrt sollen die

Humboldtianer dem Auslandsrundfunk als Interviewpartner

und wissenschaftliche Experten zur Verfügung

stehen. Zurück in ihren Heimatländern können

sie dann das Netzwerk der Programmmacher

bereichern.

„Wir wollen unsere Kräfte dort bündeln und

gegenseitig verstärken, wo sich unsere Kompetenzen,

Arbeitsfelder und Zielgruppen berühren, etwa bei der

Information über die guten Voraussetzungen für

internationale Forschung in Deutschland oder beim

kulturellen Dialog“, so Dr. Georg Schütte, Generalsekretär

der Humboldt-Stiftung, zur Unterzeichnung

der Kooperationsvereinbarung mit der Deutschen

Welle.

Neben der Humboldt-Stiftung hat auch das Goethe-Institut

einen Kooperationsvertrag mit der Deutschen

Welle abgeschlossen. Die beiden Institutionen

wollen ihre Öffentlichkeitswirkung durch Bündelung

von Ressourcen, Erfahrung und Know-how sowie

durch die gemeinsame Nutzung der jeweiligen Strukturen

verbessern.

Joining forces to benefit from synergies

The Alexander von Humboldt Foundation and

Deutsche Welle have signed a co-operation agreement

aimed at boosting existing collaboration and extending

it to further fields. The goal of the agreement is to

improve the interchange of information and, by

mutually taking advantage of networks, to raise the

effectiveness of German mediating organisations

abroad and jointly impart a modern image of Germany

world-wide.

In addition to joint events at home and abroad,

the Humboldt Fellows in Germany are to gain access

to the expertise of Deutsche Welle. In return, the

Humboldtians are to be available to the overseas radio

broadcasting service as interviewees and academic

experts. When they return to their home countries, they

can then add to variety in the network of programme

producers.

“We aim to focus our forces and mutually

supplement them where our competencies, fields

of activity and target groups touch one another, for

instance in informing academics about the good

conditions Germany offers international research or

in cultural dialogue,” Dr. Georg Schütte, Secretary

General of the Humboldt Foundation, comments

on the signing of the co-operation agreement with

Deutsche Welle.

Apart from the Humboldt Foundation, the Goethe

Institute has also signed a co-operation agreement

with Deutsche Welle. The two institutions wish to

attain more effective publicity by combining resources,

experience and know-how and by sharing the respective

structures.

Dr. Georg Schütte, Generalsekretär

der Humboldt-Stiftung,

und Erik Bettermann,

Intendant der Deutschen

Welle, unterzeichnen die

Kooperationsvereinbarung.

Dr. Georg Schütte, Secretary

General of the Humboldt-

Foundation, and Erik Bettermann,

Director-General of

the Deutsche Welle, sign the

co-operation agreement.

56 >> Humboldt kosmos 85/2005


Neues aus der Stiftung News from the Foundation

Eine Tradition des Gebens

Seit Gründung der Alexander von Humboldt-Stiftung

im Jahr 1953 haben Freunde, Förderer, Stipendiaten

und Preisträger für die Humboldt-Stiftung gespendet

oder gestiftet. Sie haben damit dazu beigetragen, dass

junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus

aller Welt nach Deutschland kommen können, um

hier zu forschen und um Kontakte und Freundschaften

zu knüpfen, die ein Leben lang halten.

Spenden an die Humboldt-Stiftung sind in

Deutschland im Rahmen der Gesetze steuerlich

absetzbar. Wenn auch Sie einen finanziellen Beitrag

zum Aufbau des Stiftungsvermögens leisten möchten,

überweisen Sie bitte einen von Ihnen zu bestimmenden

Betrag auf das folgende Konto:

Alexander von Humboldt-Stiftung

Bank:

Dresdner Bank Bad Godesberg

Kontonummer: 266 397 100

Bankleitzahl: 370 800 40

SWIFT-BIC: DRES DR FF 381

IBAN: DE14 3708 0040 0266 3971 00

In den USA können steuerlich absetzbare Spenden

auch an die „American Friends of the Alexander von

Humboldt Foundation“ gesandt werden. Die „American

Friends“ sind als gemeinnützige Organisation

anerkannt und unterstützen auf vielfältige Weise die

Tätigkeit der Humboldt-Stiftung in den USA.

„American Friends“ of the Alexander von Humboldt

Foundation

1012, 14th Street NW

Suite 1015

Washington, DC 20005

A tradition of giving

Ever since the formation of the Alexander von

Humboldt Foundation in 1953, friends, patrons,

fellowship holders and award winners have donated

money to support the Humboldt Foundation. Thanks to

their support the Humboldt Foundation has made it

possible for young scientists and scholars from all

countries to conduct research in Germany and to form

ties with other academics that last a lifetime.

Donations to the Humboldt Foundation are

tax-deductible in Germany in the context defined by

Germany law. If you want to donate money to help the

Foundation augment its assets, please transfer the

amount you would like to give onto the Foundation's

account:

Alexander von Humboldt Foundation

Bank: Dresdner Bank Bad Godesberg

Account No.: 266 397 100

Bank Code: 370 800 40

SWIFT-BIC: DRES DR FF 381

IBAN: DE14 3708 0040 0266 3971 00

In the US, tax-deductible donations can also be sent to

the “American Friends of the Alexander von Humboldt

Foundation”. “American Friends” is registered as a

non-profit organisation and supports the work of the

Humboldt Foundation in the United States.

“American Friends” of the Alexander von Humboldt

Foundation

1012, 14th Street NW

Suite 1015

Washington, DC 20005

57 >> Humboldt kosmos 85/2005


Wissenschaft und Kultur Science and Culture

Anja Bettenworth & Ruth Scodel

Liebe und Tod im Historienfilm

Matters of love and death in history films

Das heutige Bild der Antike prägt bei weiten Teilen

der Öffentlichkeit nicht mehr die Literatur jener Zeit,

sondern der Historienfilm aus Hollywood. Die Humboldtianerin

Anja Bettenworth prüft die Selbstmorddarstellungen

der modernen Filme auf ihren historischen

Gehalt.

Tollkühne Wagenlenker, sadistische Kaiser, verführerische

Frauen und schwüle Erotik, all dies gehört zu

den Zutaten, die wir von einem typischen Historienfilm

erwarten dürfen. Blut und Schweiß fließen in der

Regel reichlich, sei es im Kampf der Gladiatoren oder in

heroischer Schlacht gegen rasende Kriegselefanten.

Selbst der blutrünstigste Leinwandheld wird jedoch

schlagartig ruhig und überlegt, wenn es darum geht,

selber aus dem Leben zu scheiden. In diesem Punkt

überlassen wichtige Persönlichkeiten, mögen sie sich

auch wenige Szenen zuvor noch so irrational verhalten

haben, nichts dem Zufall, sondern inszenieren ihren

eigenen Tod nach besten Kräften. Dieses Verhalten entspricht

durchaus den Idealen, die wir in der römischen

Literatur greifen können.

Eindrucksvoll soll der Abschied aus der Welt gestaltet

werden, wenn möglich repräsentativ, zumindest aber

würdevoll. Würdevoll jedoch sind Blutfontänen und

offene Eingeweide selten, und dies stellt nicht nur die

Selbstmordkandidaten, sondern auch den modernen

Filmregisseur vor nicht unerhebliche Probleme. Der

Selbstmord bleibt im Historienfilm zumeist positiv besetzten

Charakteren vorbehalten, die sich weder in endloser

Agonie winden noch sonst durch die Begleitumstände

ihres Todes desavouiert werden sollen. Eine Ausnahme

bildet Kaiser Nero in vielen Verfilmungen von

Quo vadis, der sich bezeichnenderweise von einem Getreuen

helfen lassen muss – ein Fauxpas, der schon dem

wirklichen Nero die Missbilligung der römischen

Geschichtsschreiber und Biographen eintrug. Während

also einerseits Gewaltexzesse in Selbstmordszenen unerwünscht

sind – meist sinken die Helden, wie Marcus

Antonius, erstaunlich rasch dahin – ist andererseits auch

ein unspektakuläres Ende wie das des Juristen Nerva, der

sich laut Tacitus zu Tode hungerte, als Höhepunkt eines

Actionstreifens ungeeignet. Der Regisseur des Films

„Caligula“ (1980) entschied sich daher für eine radikale

Lösung: Nerva, alias Sir John Gielgud, verhungert nicht,

sondern öffnet sich demonstrativ die Pulsadern.

In wide sections of the public, today’s notion of

antiquity is no longer shaped by that era’s literature

but by the history film from Hollywood. Humboldtian

Anja Bettenworth checks the historical content

of suicide scenes in modern movies.

Reckless charioteers, sadistic emperors, seductive women

and sultry eroticism, all these belong to the ingredients

we expect in a typical sword-and-sandals movie. Blood

and sweat normally flow abundantly, whether in a gladiatorial

massacre or a heroic battle against rampaging

elephants.

Yet even the most bloodthirsty hero of the screen

turns mild once the issue is his own departure. On this

matter the main characters, even if they have been acting

utterly irrationally a few scenes before, leave nothing to

chance; they do their best to stage their own deaths. This

behaviour corresponds to the ideals we find in Roman literature.

One’s departure from life should be impressive;

exemplary, if possible, at least dignified. Dignity, however,

is rarely associated with fountains of blood and lacerated

entrails, which presents both would-be suicides

and modern film directors with not inconsiderable problems.

Suicide in toga movies is mostly reserved for sympathetic

characters, who deserve neither to expire in protracted

agony nor to be humiliated by other nasty sideeffects

of death. Nero in many versions of Quo Vadis is an

exception. He needs to get the help of a follower, typically

enough, to do the job – a faux pas that already earned

the real Nero the disapprobation of Roman historians

and biographers. So while on the one hand an excess of

violence is undesirable in suicide scenes – mostly the

heroes perish astoundingly quickly, as Marc Antony does

– an unspectacular death like that of the jurist Nerva,

who, according to Tacitus, starved himself to death, is

equally unsatisfactory as a climactic moment. So for

“Caligula” (1980), the producer opted for a more radical

solution. Rather than dying of hunger, Nerva, alias Sir

John Gielgud, demonstratively opens his veins.

The historically transmitted death of Cleopatra

through a snakebite is more cinematic. While the earlier

versions with Claudette Colbert (1934), Elizabeth Taylor

(1963) and Leonor Varela (1999) show the Queen’s death

as practically a deed of state, crowned by a spectacular

final image of the dead Pharao on her bier, in the latest

*******

Dr. Anja Bettenworth ist

Latinistin an der Universität

Münster. Mit einem

Feodor Lynen Forschungsstipendium

forscht sie

zurzeit an der University

of Michigan in Ann Arbor,

USA.

*******

Dr. Anja Bettenworth is a

scholar of Latin language

and literature at the University

of Munster. With a

Feodor Lynen Research

Fellowship she is currently

engaged in research at

the University of Michigan

in Ann Arbor, USA.

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Professor Dr. Ruth Scodel

ist Gräzistin und zurzeit

wissenschaftliche Gastgeberin

von Anja Bettenworth.

Im Rahmen eines

Humboldt-Forschungsstipendiums

forschte sie

1993 an der Freien Universität

Berlin.

*******

Professor Dr. Ruth Scodel

is a scholar of Greek language

and literature and

at present an academic

host of Anja Bettenworth.

As a Humboldt

Fellow she was engaged

in research at the Free

University of Berlin in

1993.

58 >> Humboldt kosmos 85/2005


Wissenschaft und Kultur Science and Culture

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FORSCHUNGSGEBIET

Monumentalfilme sind

historisch nicht immer

korrekt. Dennoch erlauben

sie Rückschlüsse –

auf die Umstände ihrer

Entstehung wie auf das

gesellschaftliche und

politische Leben in der

Antike. Besonders gut

lässt sich dieses Phänomen

am Beispiel der

Tötungs- und Selbstmorddarstellungen

zeigen,

die sowohl in der

antiken Literatur als

auch im Monumentalfilm

eine wichtige Rolle spielen.

Die meisten überlieferten

Selbstmorde enthalten

nicht nur eine

religiös-philosophische,

sondern auch eine

geschlechtsspezifische

und vor allem, da sich in

Literatur und Film meist

hochgestellte Persönlichkeiten

das Leben nehmen,

eine politische Komponente.

Anja Bettenworth

arbeitet mit Ruth Scodel

an einer systematischen

Sammlung und Auswertung

solcher Beispiele.

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AREA OF RESEARCH

Sword-and-sandals

movies are not always

that accurate in terms

of their contents. Nevertheless,

they permit

deductions regarding

both the circumstances

they were produced in

and social and political

life in antiquity. This

phenomenon can be

illustrated particularly

clearly with the example

of killing and suicide

scenes that play an

important role both in

ancient literature and in

toga movies. Most of the

historically transmitted

suicides bear not only a

religious and philosophical

but also a genderspecific

and, above all,

a political component,

given that it is usually

high-ranking figures who

take their lives. Anja

Bettenworth is working

together with Ruth

Scodel on a systematic

collection and evaluation

of such examples.

Die Fotos (von links nach rechts) zeigen Szenen aus den Filmen „Quo Vadis?“ (1951), „Cleopatra“ (1963) und „Spartacus“ (1960).

The photos (from the left to the right) show scenes from the films “Quo Vadis?” (1951), “Cleopatra” (1963) and “Spartacus” (1960).

Cineastisch dankbarer gestaltet sich der historisch

überlieferte Tod der Kleopatra durch einen Schlangenbiss.

Während die früheren Verfilmungen mit Claudette

Colbert (1934), Elizabeth Taylor (1963) und Leonor

Varela (1999) das Ende der Königin als halboffizielles

Ereignis wiedergeben, das von einem spektakulären

Schlussbild der toten Pharaonin auf dem Katafalk

gekrönt wird, umschlingen sich in der neuesten Verfilmung

(„Augustus“, 2004) Frau und Reptil in einem

sehr privaten erotischen Akt. Erst in der folgenden

Szene erscheint Kleopatra wieder als aufgebahrte Herrscherin,

allerdings halb verhüllt durch einen Schleier,

der den Bruch mit der filmischen Tradition auch

optisch deutlich werden lässt.

Gerade an den immer wiederkehrenden Selbstmordszenen

lässt sich, nicht zuletzt wegen der radikalen und

zumindest in der Neuzeit umstrittenen Handlung, gut

jene Mischung aus Zeitgeist, interfilmischen Referenzen

und Verarbeitung antiker Quellen ablesen, die für

den Historienfilm insgesamt charakteristisch ist. So

zeigt sich, dass viele der in der antiken Literatur diskutierten

Probleme, etwa die Freiheit des Individuums

gegenüber dem Herrscher oder die Gefahren von Korruption,

Machtmissbrauch und exzessiver Selbstdarstellung,

auch im modernen Film erscheinen, allerdings

zuweilen mit einer neuen und gerade darum aufschlussreichen

Akzentuierung.

film (“Augustus”, 2004), woman and serpent embrace in

a very private erotic act. Only in the following scene does

Cleopatra reappear as a ruler, formally laid out, but halfcovered

in a veil that visually marks the break with cinematic

tradition.

These recurring scenes of suicide, also because of the

radical and, at least for moderns, controversial action

they represent, are an excellent medium through which

to read that combination of the zeitgeist, allusions to

other films, and reworking of ancient sources that is

the characteristic of the toga movie. Thus many of the

problems discussed in literature of antiquity, such as the

individual’s freedom vis-à-vis the ruler or the dangers

of corruption, abuse of power or excessive self-representation

are also addressed in modern movies, albeit sometimes

with new accents that contribute to making these

films informative.

>>

Die zehn großen

Selbstmorde

im Historienkino

The ten great suicides

in sword-andsandals

movies

59 >> Humboldt kosmos 85/2005


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Die zehn großen Selbstmorde im Historienkino The ten great suicides in sword-and-sandals movies

1. Nerva („Caligula“, 1980) 2. Gracchus („Spartacus“, 1960) 3. Kleopatra („Kleopatra“, 1963) 4. Kleopatra („Augustus – Mein Vater, der Kaiser“, 2004)

5. Petronius („Quo vadis“, 1951) 6. Anonymer Senator („Satyricon“, 1969) 7. Petronius („Quo vadis“, 1985) 8. Sophonisba („Cabiria“, 1914)

9. Cato („Julius Caesar“, 1999) 10. Nero („Quo vadis“, 1951)

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60 >> Humboldt kosmos 85/2005


Förderprogramme im Überblick

Survey of sponsorship programmes

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Die Alexander von Humboldt-Stiftung

verleiht jedes Jahr:

bis zu 600 Forschungsstipendien an hoch qualifizierte,

promovierte Wissenschaftler aus dem Ausland im Alter

von bis zu 40 Jahren für langfristige Forschungsaufenthalte

in Deutschland

bis zu 50 Georg Forster-Forschungsstipendien an hoch

qualifizierte Wissenschaftler aus Entwicklungsländern

im Alter von bis zu 45 Jahren für langfristige

Forschungsaufenthalte in Deutschland

bis zu 100 Forschungspreise an international anerkannte

Wissenschaftler aus dem Ausland

ungefähr 20 Friedrich Wilhelm Bessel-Forschungspreise

an Spitzenwissenschaftler aus dem Ausland

im Alter von bis zu 45 Jahren

Sofja Kovalevskaja-Forschungspreise an erfolgreiche

Spitzenwissenschaftler aus dem Ausland im Alter von

bis zu 35 Jahren zum Aufbau eigener Arbeitsgruppen

für langfristige Forschungsaufenthalte in Deutschland

(Verleihung alle zwei Jahre)

bis zu 150 Feodor Lynen-Forschungsstipendien

an hoch qualifizierte, promovierte, deutsche Wissenschaftler,

die jünger als 38 Jahre sind, für langfristige

Forschungsaufenthalte im Ausland

2 Max-Planck-Forschungspreise an je einen in

Deutschland und einen im Ausland tätigen Wissenschaftler

zur Förderung der internationalen Zusammenarbeit

je 10 Bundeskanzler-Stipendien für künftige Führungskräfte

aus der Russischen Föderation und den USA

Zuschüsse zu deutsch-amerikanischen und/oder -kanadischen

Wissenschaftskooperationen in den Geistes-,

Sozial-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften im

Rahmen des TransCoop-Programms

The Alexander von Humboldt Foundation

grants annually:

up to 600 research fellowships to highly qualified foreign

scientists and scholars holding doctorates and aged up to

40 years for long-term research stays in Germany

up to 50 Georg Forster Research Fellowships to highly

qualified scientists and scholars from developing countries,

aged up to 45 years, for long-term research stays in

Germany

up to 100 research awards to internationally recognised

scientists and scholars

approximately 20 Friedrich Wilhelm Bessel Research

Awards to outstanding scientists and scholars resident

outside Germany and aged up to 45 years

Sofja Kovalevskaja Research Awards to scientists and

scholars from abroad with outstanding research records,

aged up to 35 years, for establishing their own working

groups for long-term research stays in Germany

(awarded every two years)

up to 150 Feodor Lynen Research Fellowships to highly

qualified German scientists and scholars holding

doctorates and aged up to 38 years, for long-term

research stays abroad

2 Max Planck Research Awards to a German and a

foreign academic for international co-operation

10 German Chancellor Scholarships each for prospective

leaders from the Russian Federation and the USA

Subsidies towards German-American and/or -Canadian

academic research co-operations in the humanities, social

sciences, economics and law under the TransCoop

Programme

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