Kausale und funktionale Erklärungen in der Sozialforschung - Ruhr ...
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4 1 EINLEITUNG<br />
1.1 KAUSALE FRAGESTELLUNGEN 5<br />
Ich erkläre Dir, wie e<strong>in</strong> Computer funktioniert; Ich erkläre Dir, wie wir <strong>in</strong><br />
unserem Projekt die Arbeiten verteilt haben. Offenbar s<strong>in</strong>d dies Beispiele<br />
für Erklärungen, die sich nicht auf Warum-Fragen beziehen. Zweitens<br />
kannmansichüberlegen,daßesunterschiedlicheArtenvonWarum-Fragen<br />
gibt,diedementsprechendaufunterschiedlicheArtenvonErklärungenverweisen.<br />
Zum Beispiel: Warum ist dieser Gegenstand schwer? (Weil er aus<br />
Eisen ist.) Warum bilden diese beiden L<strong>in</strong>ien e<strong>in</strong>en rechten W<strong>in</strong>kel? (Weil<br />
die e<strong>in</strong>e senkrecht auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en steht.) Warum steht das Fenster offen?<br />
(Weil ich es vor e<strong>in</strong>igen M<strong>in</strong>uten geöffnet habe.) Warum hast Du das Fenster<br />
geöffnet? (Damit frische Luft <strong>in</strong>s Zimmer kommt.) Also muß man sich<br />
überlegen, ob man <strong>in</strong> allen diesen Beispielen gleichermaßen von <strong>Kausale</strong>rklärungensprecheno<strong>der</strong><br />
den Begriffaufbestimmte Arten vonErklärungen<br />
e<strong>in</strong>schränken möchte.<br />
2. Als e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> ersten hat Aristoteles unterschiedliche Arten von Warum-<br />
Fragen betrachtet. An verschiedenen Stellen se<strong>in</strong>es Werks unterscheidet er<br />
vier Arten von Warum-Fragen. Z.B. heißt es <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Physikvorlesung:<br />
Nach diesen Klärungen müssen wir zur Untersuchung über die Gründe schreiten,überdie<br />
Arten<strong>und</strong>die Anzahl<strong>der</strong>Gründe. DennunserGeschäft hier gilt <strong>der</strong><br />
”<br />
Erkenntnis <strong>und</strong> zur Erkenntnis e<strong>in</strong>es Gegenstandes for<strong>der</strong>n wir doch jeweils die<br />
Erfassung des Gr<strong>und</strong>es – <strong>und</strong> das besagt: se<strong>in</strong>es letzten Gr<strong>und</strong>es –. Und darum<br />
stellt sich uns diese Aufgabe zweifellos auch hier, <strong>und</strong> zwar mitBezug auf Entstehen<br />
<strong>und</strong> Vergehen <strong>und</strong> überhaupt auf jegliche Naturprozessualität <strong>und</strong> mit <strong>der</strong><br />
Zielsetzung, <strong>der</strong>en Pr<strong>in</strong>zipien zu erkennen <strong>und</strong> so zu versuchen, jeglichen Untersuchungsgegenstand<br />
auf diese (Pr<strong>in</strong>zipien) zurückzuführen. Nun, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ersten<br />
Bedeutung besagt <strong>der</strong> Term<strong>in</strong>us ‘Gr<strong>und</strong>’ den immanenten Ausgangspunkt des<br />
Werdens des Gegenstands, also <strong>der</strong>artiges wie die Bronze für das Standbild, das<br />
Silber für die Schale <strong>und</strong> die übergeordneten Gattungen (zu Erz, Silber, usw.). In<br />
e<strong>in</strong>er zweiten Bedeutung besagt er die Gestalt <strong>und</strong> das Gestaltmuster, d.h. den<br />
wesentlichen Begriff des Gegenstands, <strong>und</strong> die übergeordneten Gattungen zu diesem<br />
Begriff – also <strong>der</strong>artiges wie etwa für den Oktavabstand das Verhältnis 2:1<br />
<strong>und</strong> ganz allgeme<strong>in</strong> die Zahlenreihe –, wie schließlich auch die Def<strong>in</strong>itionsstücke<br />
dieses Begriffs. In e<strong>in</strong>er dritten Bedeutung heißt ‘Gr<strong>und</strong>’ auch soviel wie Urquell<br />
des Prozesses o<strong>der</strong> des Stillstehens, Gr<strong>und</strong> also etwa <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>n, wie <strong>der</strong> Ratgeber<br />
e<strong>in</strong> Gr<strong>und</strong> ist, o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Vater Gr<strong>und</strong> des K<strong>in</strong>des ist, o<strong>der</strong> wie das Bewirkende<br />
Gr<strong>und</strong> des Bewirkten, das Verän<strong>der</strong>nde Gr<strong>und</strong> des Verän<strong>der</strong>ten ist. Und schließlich<br />
heißt Gr<strong>und</strong> auch soviel wie Abschluß, d.h. soviel wie Zweck, so wie etwa die<br />
Ges<strong>und</strong>heit <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> dafür se<strong>in</strong> kann, daß man spazieren geht; denn auf die<br />
Frage, warum er denn spazieren gehe, antworten wir (unter Umständen) damit,<br />
daß wir sagen: damit er ges<strong>und</strong> bleibt, <strong>und</strong> wollen damit den Gr<strong>und</strong> angegeben<br />
haben.“<br />
Dieses Zitat stammt aus e<strong>in</strong>er Übersetzung von H. Wagner (Aristoteles<br />
1995, S.38f). An<strong>der</strong>e Übersetzungen verwenden statt ‘Gr<strong>und</strong>’ den Ausdruck<br />
‘Ursache’. 3 Diese Möglichkeit, das griechische Wort aition zu übersetzen,hatdannAnlaßgegeben,Aristotelese<strong>in</strong>e<br />
”<br />
Theorieunterschiedlicher<br />
3 Man vgl. z.B. die Übersetzung von H.G. Zekl: Aristoteles 1987, S.63ff.<br />
Arten von Ursachen“ zuzuschreiben <strong>und</strong> über unterschiedliche Arten von<br />
Kausalbeziehungen zu spekulieren. An<strong>der</strong>erseits ist jedoch von G. Vlastos<br />
(1969) <strong>und</strong> M. Hocutt (1974) darauf h<strong>in</strong>gewiesen worden, daß man Aristoteles<br />
besser verstehen kann, wenn man ihm nicht unterschiedliche Ursachenbegriffe<br />
unterstellt, son<strong>der</strong>n stattdessen nur die Absicht, unterschiedliche<br />
Bedeutungen von Warum-Fragensichtbarzu machen. Zum<strong>in</strong>dest dies<br />
kann man auch heute noch von Aristoteles lernen: daß es unterschiedliche<br />
Arten von Warum-Fragen gibt, denen jeweils unterschiedliche Arten von<br />
Überlegungen entsprechen, die mit e<strong>in</strong>em ‘weil’ beg<strong>in</strong>nen o<strong>der</strong> auf e<strong>in</strong> ‘deshalb’<br />
verweisen.<br />
3. Hier kann auch die zweite <strong>der</strong> e<strong>in</strong>gangs genannten Überlegungen noch<br />
e<strong>in</strong>mal anschließen. Nicht nur gibt es unterschiedliche Arten von Warum-<br />
Fragen, die auf unterschiedliche Arten von Erklärungen verweisen. Es ersche<strong>in</strong>t<br />
auch durchaus s<strong>in</strong>nvoll, sie nicht alle gleichermaßen <strong>Kausale</strong>rklärungenzu<br />
nennen. Soweitdie spätereDiskussion an Aristotelesangeknüpft<br />
hat, ist oft <strong>der</strong> Vorschlaggemachtworden, nur die dritte <strong>der</strong> im oben angeführten<br />
Zitat unterschiedenen Warum-Fragen als e<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>weis auf <strong>Kausale</strong>rklärungen<br />
aufzufassen. Dies entspricht auch dem Sprachgebrauch, <strong>der</strong><br />
sichim wesentlichendurchgesetzthat. Warum-Fragen,die aufe<strong>in</strong>e <strong>Kausale</strong>rklärungverweisen,setzen<br />
e<strong>in</strong>egedanklicheBezugnahmeaufe<strong>in</strong>en Prozeß<br />
voraus, durch den das zu Erklärende entstanden ist. Diese Formulierung<br />
liefert zwar noch ke<strong>in</strong> klares Verständnis von <strong>Kausale</strong>rklärungen, sie markiert<br />
jedoch auf e<strong>in</strong>e deutliche Weise den gedanklichen Rahmen: <strong>Kausale</strong>rklärungen<br />
müssen sich <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Weise auf e<strong>in</strong>en Prozeß beziehen,<br />
durch den e<strong>in</strong> Sachverhalt entstanden ist.<br />
4. Folgt man diesem Vorverständnis, kann man sich an e<strong>in</strong>em Bild <strong>der</strong><br />
folgenden Art orientieren:<br />
→→→ s<br />
wobei das Symbol s den zu erklärenden Sachverhalt <strong>und</strong> →→→ e<strong>in</strong>en<br />
Prozeß andeuten soll, durch den <strong>der</strong> Sachverhalt hervorgebracht worden<br />
ist. 4 Da das Wort ‘Sachverhalt’ äußerst allgeme<strong>in</strong> ist, muß allerd<strong>in</strong>gs überlegt<br />
werden, auf welche Arten von Sachverhalten sich <strong>Kausale</strong>rklärungen<br />
beziehen können. Z.B. könnte e<strong>in</strong> Mathematiker sagen, daß es unendlich<br />
viele Primzahlen gibt, <strong>und</strong> dies e<strong>in</strong>en Sachverhalt nennen. Er begründet<br />
diese Behauptung jedoch nicht mit e<strong>in</strong>er <strong>Kausale</strong>rklärung, son<strong>der</strong>n durch<br />
e<strong>in</strong>en mathematischen Beweis, d.h. er zeigt, wie se<strong>in</strong>e Behauptung mithilfe<br />
anerkannter mathematischer Beweisregeln aus e<strong>in</strong>er Reihe vorausgesetzter<br />
Annahmen abgeleitet werden kann. <strong>Kausale</strong>rklärungen beziehen sich dagegen<br />
auf Sachverhalte, die als ”<br />
Vorkommnisse“ <strong>in</strong> unserer Erfahrungswelt<br />
identifiziert <strong>und</strong> festgestellt werden können. Zur Unterscheidung kann man<br />
4 Wir verwenden den Prozeßpfeil →→→ zur Unterscheidung von Funktionen (−→),<br />
logischen Implikationen (→) <strong>und</strong> Regeln (=⇒).