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Den Blicken standhalten

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<strong>Den</strong> <strong>Blicken</strong> <strong>standhalten</strong><br />

Nun, ich kann es nicht beurteilen, wie sich für jemanden anfühlt,<br />

der von Kindesbeinen an, eine Körperbehinderung hat und somit<br />

nichts anderes kennt. Ich war 25 Jahre jung, als ich nach einer<br />

schweren Gehirnoperation, unter anderem halbseitig gelähmt<br />

wurde. Es war ein Kampf. Von diesem Zeitpunkt an änderte sich<br />

mein Leben schlagartig.<br />

Nachdem ich angefangen hatte, mit zaghaften ersten Schritten<br />

wieder in die Wirklichkeit zurückzukehren, musste ich feststellen,<br />

dass der bis dahin gedachte Freundeskreis sich bitterlich minimiert<br />

hatte. So kann ich heute sagen, meine wirklichen Freunde<br />

kann ich an meiner Hand zeigen! Die zählen aber dann zu<br />

100%. Ich denke, es ist nichts Besonderes. So etwas erleben auch<br />

Menschen ohne Behinderung.<br />

Meine Angst war, ich bin abstoßend, da ich nun behindert bin.<br />

Jeder Blick von nur vorbei gehenden Menschen brannte förmlich.<br />

Ich habe es sehr persönlich genommen, ich fühlte mich minderwertig.<br />

Bis ich damit begann zu experimentieren.<br />

Ich komme selbst aus dem therapeutischen Bereich. Ich bin Logopädin.<br />

Was liegt da näher als die Kommunikation nicht behinderter<br />

aus der Sicht eines behinderten Menschen zu betrachten?<br />

Ich rief das Experiment »change your view« (ändere deine Sichtweise)<br />

ins Leben gerufen. Ich beobachtete die Menschen. Meistens,<br />

wenn ich sie direkt mit mir und meiner deutlich sichtbaren<br />

Behinderung konfrontierte.<br />

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Menschen, die mit sich und<br />

der Welt im Einklang sind, keinerlei Vorurteile gegenüber behinderten<br />

Menschen haben. Sie können meinem Blick <strong>standhalten</strong>.<br />

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Sie können mir direkt in die Augen sehen. Manche lächeln und<br />

signalisieren mir damit ihre Offenheit. Darüber freue ich mich<br />

sehr. Ich kann bereits am Bewegungsbild eines Menschen erkennen,<br />

ob er offen dafür ist, mit meiner Behinderung direkt konfrontiert<br />

zu werden. Hört sich kompliziert an, ist aber ganz einfach.<br />

Gehe ich dem Menschen entgegen, so blicke ich ihm direkt<br />

in die Augen. Ich lächle ihn an. Er lächelt zurück. Da weiß ich, es<br />

ist ein wirklich starker Mensch, der mit meiner Behinderung oder<br />

der anderer kein Problem oder Berührungsängste hat.<br />

Anders dagegen sind »schwache« Menschen, die haben definitiv<br />

ein Problem damit. Sie sehen mich aus der Weite kommen. Es<br />

läuft beinahe immer das gleiche für mich zu beobachtende<br />

Schema ab:<br />

8 dringend etwas in der Handtasche suchen;<br />

8 auf die Uhr sehen;<br />

8 den Blick zu Boden richten;<br />

8 bewusstes Wegdrehen.<br />

Bin ich vorüber gegangen, tritt das konträre Verhalten ein, es<br />

wird sich nach mir umgedreht, da es doch interessant ist, einen<br />

behinderten Menschen zu sehen.<br />

Menschen, die mir unsicher erscheinen oder die ich nicht einschätzen<br />

kann, lächle ich gleich an. So schlage ich eine Brücke.<br />

Viele lächeln zurück. Gerade mit diesen Menschen habe ich gute<br />

und sehr tiefe Gespräche.<br />

Iris, 33

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