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20<br />
schwerpunktthema<br />
Alte Menschen im Heim unter<br />
Zwangsmedikation<br />
Pflegeleicht?<br />
Die Gabe von Psychopharmaka an Bewohner/<br />
innen von Altenpflegeheimen erfolgt leise und<br />
unspektakulär. Täglich werden diese Medikamente<br />
in großem Ausmaß verschrieben und<br />
verabreicht. Die Betroffenen wehren sich nicht<br />
und geben Ruhe. Sie sind auf Unterstützung und<br />
Beistand angewiesen. Der in diesem Beitrag beschriebene<br />
Fall einer Klientin zeigt warum.<br />
Von Karin Böke-Aden<br />
In Deutschland leben ca. 750.000 Menschen in Altenpflegeheimen.<br />
Über ein Viertel erhält regelmäßig Psychopharmaka, in traditionellen<br />
Einrichtungen mehr als in spezialisierten Heimen. Zu den Psychopharmaka<br />
gehören Neuroleptika, Sedativa, Antidepressiva und<br />
Schlafmittel. Untersuchungen der Verordnungspraxis ergeben, dass<br />
die Verschreibung derartiger Präparate ihren Gipfel bei über 90-jährigen<br />
Menschen hat. Allein dementen Bewohner/innen werden täglich<br />
durchschnittlich zweieinhalb verschiedene Psychopharmaka verordnet.<br />
Hier wird das Ausmaß der Anwendung in diesem Bereich deutlich.<br />
Sensibilisiert durch die derzeit geführte Diskussion über Zwangsmedikation<br />
und durch das Gesetz, das nach Vorgaben von Bundesverfassungsgericht<br />
(BVerfG) und Bundesgerichtshof (BGH) eine Zwangsbehandlung<br />
ermöglicht, ist ein Blick auf die Praxis interessant: Wie<br />
erfolgt die Gabe von Medikamenten? Wie werden Heimbewohner/<br />
innen über die Einnahme von Psychopharmaka aufgeklärt? Wie gehen<br />
Ärzt/innen und Pflegemitarbeiter/innen mit Einwilligungen bzw.<br />
Nicht-Einwilligungen um? Kann man von Freiwilligkeit reden, wenn<br />
gar nicht erst aufgeklärt und gefragt, sondern gleich verordnet wird,<br />
wie es in der Praxis oft der Fall ist? Dabei ist es Ärzt/innen nach § 110,<br />
Abs. 1 StGB nur in Notsituationen erlaubt, Patient/innen ohne Aufklärung<br />
und ohne deren Einwilligung (oder der ihrer Vertreter/innen) zu<br />
behandeln.<br />
Tagesdosen pro Versicherte<br />
30<br />
25<br />
20<br />
15<br />
10<br />
5<br />
Psychopharmaka<br />
abhängig vom Lebensalter<br />
Antidepressiva<br />
Neuroleptika<br />
Tranquillantien<br />
0<br />
bis 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 >90 Jahre<br />
Quelle: Universität Freiburg 10/2008<br />
Seitdem Frau K. im Heim lebt, fühlt sie sich oft müde<br />
Bis zu ihrem 85. Lebensjahr lebt Frau K. allein in ihrem Eigenheim.<br />
Morgens kommt der Pflegedienst zur Körperpflege, abends noch einmal<br />
kurz zur Medikamentengabe. Einmal in der Woche kommt die<br />
Reinigungskraft. Ansonsten versorgt sie den Haushalt ohne weitere<br />
Unterstützung. Nach einem Sturz wird sie mit einem Beinbruch im<br />
Krankenhaus operiert. Sie erholt sich nicht richtig und die Annahme,<br />
dass das Alleinleben zuhause schwierig werden würde, wird Gewissheit.<br />
Frau K. entscheidet sich, in ein Pflegeheim zu ziehen. Sie<br />
hat keine Angehörigen und ist mit der Regelung der aktuellen<br />
Angelegenheiten überfordert. Eine gesetzliche Betreuung für<br />
ihre Unterstützung wird eingerichtet.<br />
Als ich Frau K. kennenlerne, ist sie seit drei Monaten im<br />
Pflegeheim. Ich treffe auf eine sehr freundliche, ruhige alte<br />
Dame. Sie berichtet, es gehe ihr dort gut. Aber leider sei sie<br />
immer so müde und könne deswegen weder an den Aktivitäten<br />
im Heim teilnehmen, noch sich auf Lesen oder Fernsehen<br />
konzentrieren. Während unseres Gespräches berichtet sie,<br />
dass sie morgens und abends verschiedene Medikamente<br />
nehmen müsse, sie wisse aber nicht, welche. Frau K. erzählt,<br />
dass der Arzt sie einmal besucht und diese verordnet habe.<br />
Vom Pflegepersonal erfahre ich, dass sie sich nach ihrem Einzug<br />
in das Pflegeheim zunächst nicht zurechtgefunden habe<br />
und sehr unruhig gewesen sei, zum Teil sei sie – bezogen auf<br />
Zeit und Raum – desorientiert gewesen. Sie sei nachts aufgestanden,<br />
habe nicht gewusst, wo sie sich befindet und sei<br />
über die Flure geirrt. Der Hausarzt sei verständigt worden,<br />
habe Frau K. besucht und zur Nacht ein Schlafmittel und für<br />
den Tag ein Beruhigungsmittel verschrieben. Damit sei Frau<br />
K. ruhiger geworden und habe sich mit der Zeit auch auf der<br />
Station gut eingelebt. Die Medikation sei seitdem nicht verändert<br />
worden. Es findet ein Gespräch zwischen dem Pflegepersonal,<br />
Frau K. und mir als Betreuerin statt, ein Facharzt<br />
wird hinzugezogen. Ergebnis: Die Psychopharmaka werden<br />
langsam abgesetzt. Frau K. ist nun wieder wacher und kann<br />
an den Alltagsaktivitäten teilnehmen. Ihre Lebensqualität ist<br />
eindeutig gestiegen.<br />
kompass | Ausgabe 1/2013