Unser Gesundheitswesen braucht Qualitätstransparenz
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<strong>Unser</strong> <strong>Gesundheitswesen</strong> <strong>braucht</strong><br />
Qualitätstransparenz<br />
Kontakt<br />
Marion Grote Westrick<br />
Telefon +49 5241 81-81506<br />
Fax +49 5241 816-81506<br />
Marion.GroteWestrick@Bertelsmann.de<br />
Bertelsmann Stiftung<br />
Carl-Bertelsmann-Straße 256<br />
33311 Gütersloh<br />
www.bertelsmann-stiftung.de<br />
Transparenz für Bürger | Transparenz für Ärzte | Politik für Transparenz
Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Inhalt<br />
INHALT<br />
Vorwort<br />
Transparenz für Bürger<br />
• Arzt-Patienten-Gespräch: Transparenz beim Untersuchen<br />
und Behandeln<br />
• Nutzertypen: Wer sich wie informiert<br />
• Internet: Was kann es leisten?<br />
• Krankenhaus-Qualitätsberichte: Informieren, aber richtig!<br />
• Zertifikate: Qualität mit Brief und Siegel<br />
Transparenz für Ärzte<br />
• Vorbild Industrie: Qualitätsmanagement in Arztpraxen<br />
• Qualitätstransparenz in den USA: »Transparenz<br />
spornt Ärzte an«<br />
• Bezahlen nach Leistung: Gut für Qualität und Transparenz?<br />
Politik für Transparenz<br />
• Angebotsvielfalt: Wettbewerb ohne Transparenz?<br />
• Vertrauen in die Versorgung: Persönliche Erfahrung zählt<br />
• Qualitätstransparenz: Balance zwischen Wirkung<br />
und Nebenwirkung<br />
5<br />
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9<br />
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28<br />
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4 | 5 Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Vorwort<br />
UNSER GESUNDHEITSWESEN<br />
BRAUCHT QUALITÄTSTRANSPARENZ<br />
Versuch und Irrtum ist ein bewährtes Verfahren, um Neues zu<br />
lernen oder Probleme zu lösen. Nur lässt es sich nicht überall<br />
anwenden: »Gesundheit ist ein zu hohes Gut, als dass man die<br />
Unterschiede im Leistungsspektrum und in der Qualität der<br />
Leistungserbringer als Patient ausschließlich durch Versuch<br />
und Irrtum herausfinden möchte«, betonte die ehemalige Verfassungsrichterin<br />
Renate Jaeger bereits 2003.<br />
Auch wenn sich gegenteilige Behauptungen hartnäckig halten:<br />
Qualität im <strong>Gesundheitswesen</strong> ist messbar. Struktur-, Prozessund<br />
Ergebnisqualität spielen dabei ebenso eine Rolle wie die<br />
unterschiedlichen Perspektiven von Patienten, Ärzten, Krankenhäusern,<br />
Krankenkassen und Politikern. Wenn Qualität erst<br />
einmal gemessen ist, dann sollte sie auch für Bürger transparent<br />
sein. In vielen Ländern gehören das Messen und Veröffentlichen<br />
von Qualität im <strong>Gesundheitswesen</strong> schon längst<br />
zum Alltag, in Deutschland hingegen noch nicht.<br />
Hier setzt die Arbeit der Bertelsmann Stiftung an. Mit ihren<br />
Projekten möchte die Bertelsmann Stiftung einen Beitrag für<br />
mehr Qualitätstransparenz im deutschen <strong>Gesundheitswesen</strong><br />
leisten. Dabei nimmt sie die Perspektive der Versicherten ein,<br />
die am wenigsten Einfluss haben, obwohl sie die wichtigste<br />
Gruppe darstellen: Als Beitragszahler finanzieren sie das<br />
Gesundheitssystem, und als Patienten nutzen sie es. Die Versicherten<br />
haben einen Anspruch zu erfahren, welche Qualität<br />
sie für ihre Beiträge erhalten.<br />
Bürger wollen Informationen<br />
über Qualität<br />
In diesem Heft möchten wir Qualitätstransparenz aus der<br />
Sicht der zentralen Beteiligten betrachten: Was wollen die<br />
Bürger? Was wollen die Ärzte, und was sollten sie tun? Was<br />
ist Aufgabe der Politik? Für Bürger ist Qualitätstransparenz<br />
im Arzt-Patienten-Gespräch zentral. Sie möchten wissen,<br />
ob es verschiedene Untersuchungs- und Behandlungsoptionen<br />
gibt, und sie wollen gemeinsam mit dem Arzt entscheiden.<br />
Viele Bürger suchen nach Informationen rund um das<br />
Thema Gesundheit. Für sie wird es zunehmend schwieriger,
6 | 7 Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Vorwort<br />
zwischen objektiven Informationen und Werbung, zwischen<br />
unabhängigen und interessengeleiteten Informationsanbietern<br />
zu unterscheiden. Wo finden sie zuverlässige und verständliche<br />
Informationen? Erstaunlich ist, dass viele Informationen<br />
so präsentiert werden, als gäbe es nur den einen Informationssuchenden.<br />
Dabei sollten gut aufbereitete Informationen<br />
den Bedürfnissen unterschiedlicher Nutzertypen Rechnung<br />
tragen.<br />
Informationen müssen vertrauenswürdig sein. Wir gehen<br />
der Frage nach, wie Bürger die rasant wachsende Informationsquelle<br />
Internet nutzen und wie sie beurteilen können, ob das,<br />
was sie im Internet finden, tatsächlich vertrauenswürdig ist.<br />
Krankenhaus-Qualitätsberichte und Zertifikate sollten konkrete<br />
Informationen über die Qualität von Ärzten und Kliniken<br />
liefern. Doch entsprechen sie in ihrer gegenwärtigen Form<br />
dem Bedürfnis der Bürger nach verständlichen Qualitätsinformationen?<br />
Ärzte wollen durch Qualität<br />
überzeugen<br />
Qualitätstransparenz kommt nicht nur den Bürgern zugute.<br />
Auch Ärzte und andere Leistungserbringer profitieren davon:<br />
Arztpraxen, Medizinische Versorgungszentren und Krankenhäuser,<br />
die intern Transparenz schaffen, können ihre Qualität<br />
verbessern und nach außen für Patienten und Krankenkassen<br />
darstellen. »Wer durch Qualität überzeugen will«, so Renate<br />
Jaeger, »muss dafür sorgen, dass Qualitätsparameter auch die<br />
informierte Öffentlichkeit erreichen.« Internationale Erfahrungen<br />
zeigen, dass sich Leistungserbringer durch das Publizieren<br />
ihrer Qualitätsergebnisse sogar angespornt fühlen, noch<br />
besser zu werden. Vom Qualitätsmessen und Veröffentlichen<br />
ist es nur ein kleiner Schritt dahin, Arztpraxen und Krankenhäuser<br />
mit besseren Qualitätsergebnissen auch finanziell<br />
zu belohnen. Wir zeigen auf, welche Erfahrungen die USA<br />
und Großbritannien mit leistungsorientierter Vergütung im<br />
<strong>Gesundheitswesen</strong> bisher gemacht haben.<br />
Politik muss Qualitätstransparenz<br />
unterstützen<br />
Auf dem Weg zu mehr Qualitätstransparenz kommt dem Staat<br />
eine entscheidende Rolle zu: Er muss Rahmenbedingungen<br />
und Anreize so setzen, dass zuverlässige Qualitätsinformationen<br />
bereitgestellt werden. Das wird umso wichtiger, je mehr<br />
Versicherungs- und Versorgungsformen sich im Wettbewerb<br />
herausbilden. Denn bei wachsender Vielfalt brauchen die<br />
Bürger erst recht unabhängige, ausgewogene und verständliche<br />
Informationen, um eine überlegte Entscheidung treffen<br />
zu können. Dies gilt auch für Entscheidungen »hinter den<br />
Kulissen«, also zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen:<br />
Nur wenn Qualität gemessen wird und transparent ist,<br />
kann Qualität zum Vertragsgegenstand werden. Die vergangenen<br />
Gesundheitsreformen haben bereits erste Weichen für<br />
mehr Qualitätstransparenz gestellt.<br />
Transparenz fördert Qualität<br />
Wir meinen: Transparenz ist nicht nur notwendig, um Qualität<br />
im <strong>Gesundheitswesen</strong> darzustellen. Sie trägt vor allem zur<br />
stetigen Verbesserung der Patientenversorgung bei. Transparenz<br />
fördert die in den Gesundheitsprofessionen ohnehin<br />
verankerte Qualitätskultur, wie sie in Qualitätszirkeln oder<br />
in Initiativen zum Lernen aus Fehlern und Lernen von<br />
den Besten bereits gelebt wird. Der Staat muss gesetzliche<br />
Rahmenbedingungen deshalb so gestalten, dass Transparenz<br />
das Vertrauen, und nicht das Misstrauen, in die Qualitätskultur<br />
der medizinischen Profession stärkt. In einem transparenten,<br />
qualitätsorientierten <strong>Gesundheitswesen</strong> sollte es<br />
selbstverständlich sein, dass Zeit und Raum für Einfühlungsvermögen,<br />
Zugewandtheit und Umsicht gegenüber den<br />
Patienten und ihren Angehörigen vorhanden sind. Ziel aller<br />
Anstrengungen muss es letztlich sein, den Bürgern eine<br />
qualitativ hochwertige und wirtschaftliche Versorgung mit<br />
den medizinisch notwendigen Leistungen zu sichern.<br />
Qualitätstransparenz trägt dazu entscheidend bei, nicht<br />
zuletzt, weil sie den Bürgern das für das <strong>Gesundheitswesen</strong><br />
nicht angemessene Verfahren von Versuch und<br />
Irrtum erspart.<br />
Dr. Brigitte Mohn<br />
Mitglied des Vorstandes der Bertelsmann Stiftung<br />
Leiterin Themenfeld Gesundheit<br />
• Jaeger, R. (2003): Informationsanspruch des Patienten –<br />
Grenzen der Werbung im <strong>Gesundheitswesen</strong>. In:<br />
Medizinrecht, 5, 263–268.
8 | 9 Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Transparenz für Bürger<br />
TRANSPARENZ FÜR BÜRGER<br />
• Arzt-Patienten-Gespräch: Transparenz beim Untersuchen und Behandeln<br />
• Nutzertypen: Wer sich wie informiert<br />
• Internet: Was kann es leisten?<br />
• Krankenhaus-Qualitätsberichte: Informieren, aber richtig!<br />
• Zertifikate: Qualität mit Brief und Siegel<br />
ARZT-PATIENTEN-GESPRÄCH: TRANSPARENZ<br />
BEIM UNTERSUCHEN UND BEHANDELN<br />
Patienten von heute vertrauen ihrem Arzt nicht mehr blind. Sie wollen<br />
vielmehr wissen, welche Vor- und Nachteile einzelne Behandlungsmöglichkeiten<br />
mit sich bringen, um dann gemeinsam mit dem Arzt<br />
die Therapie festzulegen. Während Ärzte von ihren kommunikativen<br />
Fähigkeiten überzeugt sind, fühlen sich viele Patienten oft nicht ausreichend<br />
mit einbezogen und folgen deshalb nicht oder nur halbherzig<br />
den Ratschlägen und Verordnungen ihres Arztes. Verschiedene Informationsangebote<br />
helfen ihnen, sich in Gesprächen mit dem Arzt stärker<br />
einzubringen.<br />
Was Hippokrates in seinem Eid von angehenden<br />
Ärzten forderte, hatte 2.000 Jahre lang Bestand:<br />
»In wie viele Häuser ich auch kommen werde, zum<br />
Nutzen der Kranken will ich eintreten.« Doch die<br />
Zeiten haben sich geändert: In den 1960er Jahren<br />
kamen Zweifel auf, ob der Arzt allein immer beurteilen<br />
kann, was denn »zum Nutzen der Kranken«<br />
wirklich heißt. Schließlich entstand in den 90er<br />
Jahren das Modell des Shared Decision Making,<br />
zu Deutsch: partizipative Entscheidungsfindung.
10 | 11 Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Transparenz für Bürger<br />
um auch nur eine Stunde länger zu leben. Die<br />
meisten Patienten liegen zwischen diesen Extremen,<br />
so Sawicki. Wo sie liegen, muss der Arzt herausfinden.<br />
Bessere Behandlungserfolge<br />
mit Shared Decision Making<br />
Untersuchungen zeigen, dass Shared Decision<br />
Making auch medizinisch sinnvoll ist: Das gemein-<br />
Es fordert Ärzte und Patienten auf, in einem einvernehmlichen<br />
Miteinander zu klären, was zu tun ist.<br />
Die endgültige Entscheidung verbleibt natürlich bei<br />
dem Patienten – um ihn geht es, und er muss im<br />
Wesentlichen mit den Folgen einer erfolgreichen oder<br />
misslungenen Behandlung oder den Konsequenzen<br />
einer Nichtbehandlung zurechtkommen. Shared<br />
Decision Making soll vor allem dazu beitragen, dass<br />
die Position des Patienten gegenüber den medizinischen<br />
Experten gestärkt wird.<br />
In der Medizinsoziologie werden drei grundlegende<br />
Arzt-Patienten-Beziehungen unterschieden: Im<br />
paternalistischen Modell legt der Arzt alleine die<br />
Therapie fest und gibt dem Patienten nur so viele<br />
Informationen, wie er es für angemessen hält. Es<br />
kann also durchaus sein, dass ein paternalistischer<br />
Arzt seinem Patienten Informationen gezielt vorenthält<br />
– durchaus im guten Glauben, dass dies<br />
»zum Nutzen des Kranken« geschieht. Im informativen<br />
Modell zieht sich der Arzt auf die Funktion<br />
der Informationsbeschaffung zurück. Die Entscheidung<br />
über die Therapie liegt einzig und allein beim<br />
Patienten. Im Shared-Decision-Making-Modell<br />
dagegen entscheiden Arzt und Patient gemeinsam<br />
über Diagnostik und Therapie. Dabei macht der<br />
Arzt die Entscheidungsgrundlage für den Patienten<br />
transparent: Er klärt den Patienten nicht nur<br />
über die Vor- und Nachteile der möglichen Untersuchungen<br />
und Therapien auf, sondern er fragt<br />
auch nach den individuellen Bedürfnissen des<br />
Patienten.<br />
Und diese Bedürfnisse können ganz verschieden<br />
sein, wie etwa Peter Sawicki, Leiter des Instituts für<br />
Qualität und Wirtschaftlichkeit im <strong>Gesundheitswesen</strong><br />
(IQWiG), aus eigener Erfahrung weiß (Weymayr<br />
2006): Ein Mann mit Blutkrebs, der dank intensiver<br />
Therapie geheilt werden konnte, sagte einige Monate<br />
später zu ihm: »Wenn ich gewusst hätte, was ich<br />
dafür durchmachen muss, hätte ich die Therapie verweigert.«<br />
Ein anderer Mann dagegen, dem Sawicki<br />
nur geringe Hoffnung machen konnte, wollte die<br />
Therapie um jeden Preis – er war mit seiner Partnerin<br />
so glücklich, dass er alles unternommen hätte,<br />
same Beraten und Entscheiden mindert Angst und<br />
wirkt sich positiv auf den Behandlungserfolg und<br />
die Patientenzufriedenheit aus. Und die Compliance<br />
steigt, das heißt, der Patient trägt eine Therapie, für<br />
die auch er sich entschieden hat, eher mit – selbst<br />
wenn sie lästig, unangenehm oder sogar schmerzhaft<br />
ist. So wiesen Heidelberger Wissenschaftler in<br />
einer Studie nach, dass Patienten mit chronischen<br />
Faser-Muskel-Schmerzen nach einer gemeinsamen<br />
Entscheidungsfindung mit ihrem Arzt viel zufriedener<br />
waren und besser mit ihren Schmerzen umgehen<br />
konnten als Patienten, die ohne Informationen einfach<br />
nur behandelt worden waren, oder Patienten,<br />
die zwar besondere Informationen über ihre Erkrankung<br />
erhielten, aber trotzdem nicht in den
12 | 13 Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Transparenz für Bürger<br />
Entscheidungsprozess einbezogen worden waren<br />
(Tuffs 2006).<br />
Im Shared Decision Making sind Ärzte und Patienten<br />
hinsichtlich der Auswahl einer Behandlung gleichberechtigte<br />
Partner. Informationen fließen in beide<br />
Richtungen. Beide Partner bringen ihre Entscheidungskriterien<br />
aktiv in den Abwägungsprozess ein<br />
und übernehmen gemeinsam die Verantwortung für<br />
die getroffene Entscheidung (Härter et al. 2005).<br />
Shared Decision Making folgt einem klaren Ablauf<br />
(Härter et al. 2005, Elwyn et al. 2005):<br />
1. Mitteilen, dass eine Entscheidung ansteht<br />
2. Partizipative Entscheidungsfindung anbieten,<br />
Rollen klären und Gleichberechtigung der<br />
Partner formulieren<br />
3. Deutlich machen, dass verschiedene Wahlmöglichkeiten<br />
vorliegen<br />
4. Über die Wahlmöglichkeiten und ihre Vorund<br />
Nachteile informieren<br />
5. Verständnis der Optionen aus Sicht des Patienten<br />
rückmelden und weitere Optionen erfragen<br />
6. Ideen, Bedenken und Erwartungen des Patienten<br />
ermitteln<br />
7. Aushandeln<br />
8. Zu einer gemeinsamen Entscheidung kommen<br />
9. Plan zur Umsetzung der Entscheidung<br />
festlegen<br />
Will man Shared Decision Making wirklich ernst<br />
nehmen, muss man auch fragen: Wollen Patienten<br />
überhaupt mitentscheiden? Vielleicht fühlen sie sich<br />
in der Obhut des Arztes ganz wohl und möchten<br />
sich gar nicht mit den Eventualitäten und Risiken<br />
der Verfahren auseinandersetzen? David Klemperer,<br />
Professor an der Fachhochschule Regensburg für<br />
Public Health, und Melanie Rosenwirth vom Zentrum<br />
für Sozialpolitik an der Universität Bremen gehen<br />
davon aus, dass Shared Decision Making »die Bedürfnisse<br />
vieler, aber nicht aller Patienten berücksichtigt.«<br />
Denn die einen wollen nur gut informiert sein,<br />
die anderen auch mitentscheiden.<br />
Jeder zweite Versicherte<br />
will gemeinsam mit dem<br />
Arzt entscheiden<br />
Ob und wie Shared Decision Making umgesetzt<br />
wird, darüber gibt der Gesundheitsmonitor der<br />
Bertelsmann Stiftung Auskunft: In den Jahren 2001<br />
bis 2006 fragte er Versicherte nach ihrem Bedürfnis<br />
mitzuentscheiden. Das Ergebnis war eindeutig<br />
[Abbildung 1]: 56 Prozent wünschen, dass der Arzt<br />
mit ihnen verschiedene Behandlungsoptionen diskutiert<br />
und dann beide eine Entscheidung treffen.<br />
23 Prozent überlassen die Entscheidung lieber dem<br />
Arzt, 18 Prozent wollen alleine bestimmen. Je höher<br />
die Schulbildung und je niedriger das Alter sind,<br />
desto deutlicher fällt das Votum für ein gemeinsames<br />
Vorgehen aus. Berücksichtigt man auch internationale<br />
Untersuchungen zu dieser Frage, kann als<br />
Faustregel gelten: Mehr als die Hälfte der Patienten<br />
möchte Shared Decision Making, je knapp ein Viertel<br />
will alleine bestimmen beziehungsweise gar nicht<br />
mitentscheiden.<br />
Die Zustimmung für das Modell ist laut Gesundheitsmonitor<br />
bei den Ärzten genauso hoch wie bei<br />
den Versicherten: 54 Prozent befürworten das gemeinsame<br />
Vorgehen. Allerdings wollen 37 Prozent<br />
der Ärzte alleine entscheiden, und 8 Prozent möchten<br />
ganz den Patienten bestimmen lassen. Auch<br />
scheint es, dass die Ärzte die Richtlinien des Shared<br />
Decision Making beherzigen: Rund 95 Prozent der<br />
Abbildung 1:<br />
Wer soll nach Ansicht der Versicherten entscheiden?<br />
weiß nicht<br />
Patient<br />
Arzt<br />
Angaben in Prozent<br />
23<br />
18<br />
Quelle: Gesundheitsmonitor, halbjährliche Bevölkerungsbefragungen 2001–2006, N=11.602<br />
3<br />
56<br />
Arzt und Patient<br />
gemeinsam
14 | 15 Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Transparenz für Bürger<br />
Abbildung 2:<br />
Der Hausarzt hat bei der Entscheidung über eine Behandlung ...<br />
alles verständlich erklärt<br />
alle Fragen beantwortet<br />
Behandlungsalternativen<br />
vorgeschlagen<br />
über Vor- und Nachteile<br />
informiert<br />
Lebensumstände<br />
einbezogen<br />
nach Vorstellungen des Patienten<br />
gefragt und einbezogen<br />
zu Fragen aufgefordert<br />
Ärzte<br />
Versicherte<br />
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90<br />
Quelle: Gesundheitsmonitor, Befragung Herbst 2005, Versicherte N=1.537, Ärzte N=516<br />
100<br />
BertelsmannStiftung<br />
Ärzte geben an, alles verständlich erklärt zu haben,<br />
70 Prozent schlagen nach eigenem Bekunden<br />
Behandlungsalternativen vor und 54 Prozent haben<br />
die Patienten nach ihren Vorstellungen gefragt und<br />
diese einbezogen.<br />
Doch die Patienten zeichnen kein so rosiges Bild<br />
von ihren Gesprächen mit dem Arzt [Abbildung 2]:<br />
In jeder Hinsicht bewerten sie ihre tatsächliche Einbeziehung<br />
deutlich schlechter. Während beispielsweise<br />
84 Prozent der Ärzte angeben, die Patienten<br />
über Vor- und Nachteile informiert zu haben, sehen<br />
sich nur 56 Prozent der Patienten über Vor- und<br />
Nachteile aufgeklärt.<br />
Checklisten für Patienten<br />
Es gibt mehrere unabhängige Stellen, die sich um<br />
wissenschaftlich fundierte, verständlich formulierte<br />
Informationen für Bürger, deren Informationsbedürfnis<br />
noch nicht hinreichend gestillt ist, bemühen:<br />
etwa das IQWiG mit seinen Gesundheitsinformationen<br />
im Internet, die Patienten-Information des<br />
Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin<br />
oder die Patientenleitlinien der Universität Witten-<br />
Herdecke (Angabe der Webseiten im Kapitel<br />
»Internet«). Um beurteilen zu können, ob ein Arzt<br />
gemäß dem Modell des Shared Decision Making<br />
handelt und seine Patienten mit einbezieht, haben<br />
mehrere Institutionen Checklisten entworfen. In<br />
der Checkliste des Ärztlichen Zentrums für Qualität<br />
in der Medizin mit dem Titel »Woran erkennt man<br />
eine gute Arztpraxis?« drehen sich vier von elf<br />
ausführlich erläuterten und mit Fragen ergänzten<br />
Checkpunkten um das Thema Mitentscheiden:<br />
• Nimmt der Arzt mich und mein spezielles gesundheitliches<br />
Problem ernst?<br />
• Erhalte ich eine umfassende und verständliche<br />
Aufklärung?<br />
• Erhalte ich von meinem Arzt weiterführendes<br />
Informationsmaterial und Informationen über<br />
Hilfsangebote?<br />
• Kann ich gemeinsam mit meinem Arzt über die<br />
Art meiner Behandlung entscheiden bzw. unterstützt<br />
mein Arzt mich darin, eine Entscheidung<br />
zur Behandlung treffen zu können?<br />
In Deutschland hat sich einiges zur Förderung<br />
des Shared Decision Making getan. Das Bundesministerium<br />
für Gesundheit und Soziale Sicherung<br />
rief 2001 das Programm »Der Patient als Partner<br />
im medizinischen Entscheidungsprozess« ins<br />
Leben, mit dem Ziel, »anwendungsorientierte<br />
Forschungsprojekte zu unterstützen, die sich in<br />
unterschiedlichen Krankheitsbereichen auf die<br />
verstärkte Einbeziehung von Patienten in den<br />
medizinischen Entscheidungsprozess konzentrieren«<br />
(www.patient-als-partner.de). Außerdem verabschiedete<br />
eine von der Bundesregierung eingesetzte<br />
Arbeitsgruppe im Jahr 2002 eine Patientencharta,<br />
die Teile der Patientenbeteiligung sogar festschreibt.<br />
Darin heißt es: »Alle medizinischen Maßnahmen<br />
setzen eine wirksame Einwilligung des Patienten<br />
voraus. Eine Einwilligung kann nur wirksam sein,<br />
wenn der Patient rechtzeitig vor der Behandlung<br />
aufgeklärt wurde oder ausdrücklich darauf verzichtet<br />
hat.« (BMGS und BMJ 2002)<br />
Gemeinsames Entscheiden<br />
fördern<br />
Patienten wird heute auf verschiedenen Ebenen<br />
ein Mitentscheiden leichter gemacht – auch wenn<br />
zuweilen das paternalistische Denken noch vorherrscht.<br />
Damit Shared Decision Making mehr
16 | 17 Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Transparenz für Bürger<br />
Literatur<br />
Anwendung findet, kommen verpflichtende und<br />
freiwillige Maßnahmen in Frage: So müssten<br />
Medizinstudenten bereits im Studium die Vorteile<br />
des gemeinsamen Entscheidens kennen lernen und<br />
kommunikative Kompetenzen erwerben. Zusätzlich<br />
sollten Ärztekammern Kommunikationstrainings<br />
zu einem Bestandteil der ärztlichen Pflichtfortbildung<br />
machen. Schließlich sollte der Gemeinsame<br />
Bundesausschuss Patientenbeteiligung zu einem<br />
verpflichtenden Teil des Qualitätsmanagements<br />
für Arztpraxen und Krankenhäuser machen.<br />
Ob und welche dieser möglichen Maßnahmen umgesetzt<br />
werden, bleibt abzuwarten. Doch schon heute<br />
wäre es an der Zeit, den Eid des Hippokrates zu<br />
aktualisieren. Eine zeitgemäße Version im Sinne<br />
des Shared Decision Making könnte lauten: »Alle<br />
Patienten, die zu mir kommen, werde ich ergebnisoffen<br />
über die Behandlungsoptionen informieren,<br />
auf dass wir gemeinsam entscheiden, welcher<br />
Nutzen für sie der größte ist.«<br />
• Amhof, R.; Böcken, J.; Braun, S.; Schlette, S. (2005): Shared Decison<br />
Making. Beteiligung von Patienten an medizinischen Entscheidungen.<br />
Gesundheitsmonitor, Newsletter der Bertelsmann Stiftung, 3/2005.<br />
• BMGS und BMJ (2002): Patientencharta – Patientenrechte in<br />
Deutschland. www.bmj.bund.de/media/archive/1025.pdf.<br />
• Elwyn, G.; Hutchings, H.; Edwards, A.; Rapport, F.; Wensing, M.;<br />
Cheung, W.-Y.; Grol, R. (2005): The OPION scale: measuring the<br />
extent that clinicians involve patients in decision-making tasks.<br />
Health Expectations (8), 1, 34–42.<br />
• Härter, M., Loh, A.; Spies, C. (Hrsg.) (2005): Gemeinsam entscheiden<br />
– erfolgreich behandeln. Neue Wege für Ärzte und Patienten<br />
im <strong>Gesundheitswesen</strong>. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag.<br />
• Klemperer, D.; Rosenwirth, M. (2005): Shared Decision Making:<br />
Konzept, Voraussetzungen und politische Implikationen. Ein<br />
Chartbook. Bertelsmann Stiftung und Zentrum für Sozialpolitik<br />
der Universität Bremen (Hrsg.), Gütersloh.<br />
• Tuffs, A. (2006): Teamarbeit von Arzt und Patient erhöht<br />
Zufriedenheit. Universitätsklinikum Heidelberg, Pressemitteilung<br />
Nr. 66/2006 vom 31.03.2006.<br />
www.klinikum.uni-heidelberg.de/uploads/media/pm66_06.pdf.<br />
• Weymayr, C. (2006): Mehr und weniger. brand eins, 6/2006.
18 | 19 Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Transparenz für Bürger<br />
NUTZERTYPEN:<br />
WER SICH WIE INFORMIERT<br />
welche spezifischen Bedürfnisse sie an Informationen<br />
haben, zeigt eine Analyse der Medienwissenschaftlerin<br />
Eva Baumann vom Europäischen Zentrum<br />
für Medienkompetenz in Marl (Baumann 2006).<br />
Anhand von Daten des Gesundheitsmonitors 2006<br />
Versicherte dürfen nicht in einen Topf geworfen werden: Während das<br />
entwickelte sie eine Nutzertypologie und erstellte<br />
Informationsbedürfnis der einen kaum zu befriedigen ist, sind andere<br />
fünf Profile, die zeigen, welche Informationsstrategie<br />
eher desinteressiert. Analysiert man Informationsziele, -quellen und<br />
einzelne Nutzergruppen wählen und auf welche<br />
-themen, lassen sich verschiedene Nutzertypen charakterisieren. Daraus<br />
Art sie angesprochen werden können. Um die ein-<br />
können Ärzte und Krankenhäuser, Krankenkassen und Informations-<br />
zelnen Typen zu ermitteln, wurde das Informa-<br />
anbieter effektive Informationsstrategien ableiten.<br />
tionsverhalten der Versicherten unter drei Gesichts-<br />
heitsexperten wie Ärzte und Apotheker sowie<br />
nelle Gesundheitsexperten, sondern streben nach<br />
punkten bewertet – den unterschiedlichen Zielen,<br />
das private Umfeld<br />
Unabhängigkeit. Sie informieren sich intensiv über<br />
Quellen und Themen ihrer Informationssuche<br />
3. Informationsthemen: gesunde Lebensweise/<br />
Krankheiten und Behandlungsmöglichkeiten. An<br />
Da kämen Kunden aus dem Staunen nicht heraus:<br />
(Baumann 2006):<br />
Wohlbefinden, Krankheiten und Behandlungs-<br />
gesunder Lebensweise, Wohlbefinden und anderen<br />
wenn ihr Supermarkt eines Tages im Getränkeregal<br />
möglichkeiten, Gesundheitssystem und Akteure/<br />
»weichen« Themen sind sie nur durchschnittlich<br />
nur Eistee, am Obststand nur Ananas und an der<br />
1. Informationsziele: einen allgemeinen Überblick<br />
Institutionen der Gesundheitsversorgung – die<br />
interessiert. Sie vertrauen Fachmedien und gelten<br />
Käsetheke nur Tilsiter anbieten würde. So absurd<br />
über Gesundheitsthemen und das Gesundheits-<br />
Befragten konnten hier auch angeben, dass sie<br />
als selbstbewusst und kritisch. Sie sind tendenziell<br />
diese Vorstellung für den Einzelhandel wäre, so<br />
system erhalten, eigene Kompetenz steigern,<br />
nicht nach Informationen suchen.<br />
jung, weiblich und hoch gebildet. Ihr Informations-<br />
verbreitet ist sie mitunter im <strong>Gesundheitswesen</strong>.<br />
um sich besser in ihre Gesundheitsversorgung<br />
bedarf zu aktuellen Gesundheitsthemen ist sehr<br />
Wer Informationen über Kliniken, Praxen und all-<br />
einbringen zu können oder Unabhängigkeit von<br />
Aus den unterschiedlichen Informationsstrategien<br />
hoch. Diesem kleinsten, aber sehr anspruchsvollen<br />
gemeine Gesundheitsthemen anbietet, hat meist<br />
medizinischen Experten zu erlangen<br />
der Befragten lassen sich fünf Typen voneinander<br />
Personenkreis wird man am ehesten mit Fachinfor-<br />
einen prototypischen Nutzer vor Augen. Dabei zeigen<br />
2. Informationsquellen: Massenmedien wie<br />
abgrenzen (Baumann 2006):<br />
mationen gerecht.<br />
Studien immer wieder, dass Versicherte nicht über<br />
Fernsehen, Radio, Zeitungen, Gesundheits-<br />
• Die »kommunikativen Co-Therapeuten«: 16 Pro-<br />
einen Kamm geschoren werden sollten. Welche<br />
zeitschriften, Fachmedien wie Bücher, Lexika<br />
• Die »autarken Krankheitsexperten«: 13 Prozent<br />
zent der Bevölkerung informieren sich ebenfalls<br />
Typen von Nutzern man unterscheiden kann und<br />
oder medizinische Fachzeitschrifen, Gesund-<br />
der Bevölkerung verlassen sich nicht auf professio-<br />
intensiv über Gesundheitsthemen, allerdings nicht
20 | 21 Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Transparenz für Bürger<br />
in Fachmedien, sondern bevorzugt bei Gesundheitsexperten.<br />
Auch wenn sie nicht nach Selbstständigkeit<br />
streben, wollen sie ihre eigene Kompetenz steigern,<br />
um gegebenenfalls bei Entscheidungen über<br />
Untersuchungen und Behandlungen besser mitreden<br />
zu können. Die Co-Therapeuten sind eher<br />
niedrig gebildet, überwiegend alt und gesundheitlich<br />
angeschlagen. Über ihre speziellen Beschwerden<br />
hätten sie gerne mehr Informationen, die aber<br />
alltagsbezogen und leicht verständlich sein sollen.<br />
Obwohl sie für allgemeine Gesundheitsthemen<br />
empfänglich sind, ist es fraglich, ob sie die Inhalte<br />
dann auch umsetzen würden.<br />
• Die »wellnessorientierten Medienkonsumenten«:<br />
Für diese größte Nutzergruppe, 28 Prozent der<br />
Bevölkerung, stehen Wohlbefinden und gesunde<br />
Lebensweise im Mittelpunkt ihres Interesses.<br />
Sie konzentrieren sich auf das Vorbeugen und<br />
nicht so sehr auf die Behandlung von Krankheiten.<br />
Sie nutzen und vertrauen Massenmedien und<br />
Gesundheitszeitschriften. Die vergleichsweise<br />
älteren, oft weiblichen wellnessorientierten<br />
Medienkonsumenten sind meist überdurchschnittlich<br />
gesund. Sie werden am ehesten von<br />
unterhaltsam aufbereiteten, verständlichen,<br />
praktischen und ihr Wohlbefinden steigernden<br />
Informationen erreicht.<br />
• Die »wenig interessierten Gelegenheitsnutzer«:<br />
26 Prozent der Bevölkerung kümmern sich normalerweise<br />
wenig um Gesundheitsthemen. Falls<br />
sie konkreten Informationsbedarf haben, recherchieren<br />
sie gezielt in Fachmedien. Ansonsten vertrauen<br />
sie darauf, dass alles funktioniert. Diese<br />
eher jungen, gebildeten, oft männlichen Gelegenheitsnutzer<br />
erreicht man vermutlich am besten mit<br />
überraschenden Botschaften und mit Gesundheitsthemen,<br />
die sich mit ihrem Lebensalltag, also mit<br />
ihren freizeit- und berufsbezogenen Interessen<br />
befassen.<br />
• Die »Inaktiven«: 17 Prozent der Bevölkerung –<br />
also fast jeder sechste Bürger – sind an Gesundheitsthemen<br />
völlig desinteressiert. Insofern bilden<br />
sie keine wirkliche Nutzergruppe, sondern sind<br />
vielmehr die Nicht-Nutzer. Es sind meist junge,<br />
niedrig gebildete, gesunde Männer, die keine<br />
Veranlassung sehen, sich mit Gesundheitsthemen<br />
zu beschäftigen. Falls sie erahnen, dass ihnen<br />
gesundheitsbewusstes Verhalten nahegebracht<br />
werden soll, schalten sie ab. Um wichtige primärpräventive<br />
Botschaften, wie beispielsweise zum<br />
»Safer Sex«, dieser Zielgruppe zugänglich zu<br />
machen, bieten sich Aufklärungskampagnen sowie<br />
Entertainment-Education-Strategien in Massenmedien<br />
an, die die Botschaften etwa in die Handlung<br />
einer Fernsehserie integrieren.<br />
Informationen auf Nutzertypen<br />
abstimmen<br />
Diese sehr unterschiedlichen Informationsinteressen<br />
verdeutlichen, wie wichtig es ist, Art, Umfang, Anspruch<br />
und Kommunikationsstil der Informationsund<br />
Beratungsangebote an die verschiedenen Bevölkerungsgruppen<br />
und ihre Lebensumstände anzupassen.<br />
»Will man der Öffentlichkeit beispielsweise die Teilnahme<br />
an einem Präventionsprogramm nahebringen«,<br />
so Baumann, »bedeutet dies, die Kommunikationsziele<br />
bei den ›Gelegenheitsnutzern‹ oder ›Inaktiven‹<br />
niedriger zu hängen als bei den bereits Interessierten<br />
und aktiv nach konkreten Informationen Suchenden.«<br />
(Baumann 2006) Um auf das Supermarkt-Beispiel<br />
zurückzukommen: Nicht jedem schmeckt alles – nur<br />
wenn ein Produkt die Bedürfnisse seiner Zielgruppe<br />
anspricht, wird es zum Bestseller, ansonsten bleibt<br />
es ein Ladenhüter.<br />
Literatur<br />
• Baumann, E. (2006): Auf der Suche nach der Zielgruppe – Das<br />
Informationsverhalten hinsichtlich Gesundheit und Krankheit als<br />
Grundlage erfolgreicher Gesundheitskommunikation. In: Böcken, J.;<br />
Amhof, R.; Braun, B.; Schnee, M. (Hrsg.): Gesundheitsmonitor 2006.<br />
Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, 117–153.<br />
• Marstedt, G. (2003): Auf der Suche nach gesundheitlicher<br />
Information und Beratung: Befunde zum Wandel der Patientenrolle.<br />
In: Böcken, J.; Braun, B.; Schnee, M. (Hrsg.): Gesundheitsmonitor<br />
2003. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, 117–135.
22 | 23<br />
Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Transparenz für Bürger<br />
INTERNET:<br />
WAS KANN ES LEISTEN?<br />
Wer das Internet häufig nutzt, mag es nicht mehr<br />
missen. Die Fülle, Aktualität und Qualität der Informationen<br />
sind mittlerweile so überwältigend, dass<br />
einem der Griff ins gute alte Bücherregal vergleichs-<br />
• Aktualität: Informationen können beliebig oft<br />
auf den neuesten Stand gebracht werden.<br />
• Maßgenauigkeit: Internetversierte können gezielt<br />
und direkt ganz spezifische Informationen finden.<br />
zum Beschaffen von wenig Information viel Zeit,<br />
ist es heute umgekehrt: Die Zeit, die das Herauspicken<br />
der relevanten und vertrauenswürdigen<br />
Informationen verschlingt, steht in groteskem Wider-<br />
weise beschwerlich und ineffektiv vorkommt. Das<br />
Gleichzeitig ermöglicht die Hypertextstruktur des<br />
spruch zu dem Sekundenbruchteil, den Google<br />
Die rasante Entwicklung des Internets eröffnet den Bürgern neue<br />
gilt auch für Gesundheitsthemen: Zum Stichwort<br />
Internets die Individualisierung von Informations-<br />
<strong>braucht</strong>, um die Informationen zu beschaffen.<br />
Möglichkeiten. So sind Informationen über gesunde Verhaltensweisen,<br />
Herzinfarkt beispielsweise zaubert die Suchmaschine<br />
bausteinen für unterschiedliche Zielgruppen.<br />
• Fehlende Qualitätskontrolle: Die 2.670.000<br />
unterschiedliche Krankheiten, Diagnosen und Therapien sowie über<br />
Google in einem Bruchteil von Sekunden 2.670.000<br />
• Unbegrenztheit: Jeder kann sich heute ohne großen<br />
Google-Treffer zum Thema Herzinfarkt enthalten<br />
Ärzte und Kliniken nur ein paar Mausklicks entfernt. Ob diese Infor-<br />
Einträge auf den Bildschirm. Selbst medizinische<br />
Aufwand mit seinem eigenen Wissen in die Daten-<br />
viel Datenmüll, der nicht immer auf den ersten<br />
mationen aber auch vertrauenswürdig sind, lässt sich oft nur schwer<br />
Laien können Informationen erhalten, die bislang<br />
welt einbringen. Entsprechend rasant und nutzer-<br />
Blick als solcher zu erkennen ist. Manche Informa-<br />
beurteilen.<br />
den Ärzten vorbehalten waren. Doch von wem und<br />
orientiert haben sich die Inhalte entwickelt.<br />
tionen sind unzuverlässig, verfolgen undurchsich-<br />
wofür wird diese scheinbar grenzenlose Informa-<br />
• Multimedialität: Das Internet kann gesundheits-<br />
tige Ziele oder wollen bewusst in die Irre führen.<br />
tionsquelle genutzt? Und wenn ja: Wie glaubwürdig<br />
relevantes Wissen über Text, Ton, Bild und Film<br />
• Technikprobleme: Nicht jeder geht gerne mit<br />
sind die Informationen?<br />
ansprechend vermitteln. Über die Vernetzung des<br />
Technik um. Zudem veralten Hard- und Software<br />
World Wide Web mit Foren, Chats und E-Mail sind<br />
binnen kurzer Zeit.<br />
Die Vorteile des Internets sind bestechend (Schmidt-<br />
zahlreiche Kommunikationsformen möglich. Rat-<br />
Kaehler 2005, Brechtel 2004):<br />
suchende können sich aufgrund der Anonymität<br />
Aus dem Internet recherchierte Gesundheitsthemen<br />
• Verfügbarkeit: Wo ein Computer sowie ein Telefon-<br />
weitgehend frei von Stigmatisierung oder Fremd-<br />
bergen zudem spezielle Gefahren. So sind viele Infor-<br />
anschluss oder lediglich ein Handynetz vorhanden<br />
bestimmung informieren und austauschen.<br />
mationen für medizinische Laien unverständlich,<br />
sind, steht die große weite Datenwelt offen. Rund<br />
wissenschaftlich nicht abgesichert oder schlicht irre-<br />
um die Uhr. Durch die Aufhebung von Zeit und<br />
Doch die Freude an der Datenwelt auf Tastendruck ist<br />
führend oder falsch. Einzelne Anbieter versprechen<br />
Raum erhalten auch Menschen mit Behinderungen<br />
nicht ungetrübt. Wesentliche Nachteile sind (Brechtel<br />
beispielsweise die sofortige Heilung von Krebser-<br />
und eingeschränkter Mobilität einen barrierefreien<br />
2004):<br />
krankungen oder AIDS mit Hilfe von Nahrungser-<br />
Zugang zu gesundheitsbezogenen Inhalten und<br />
• Informationsflut: Das Überangebot muss gefiltert<br />
gänzungsmitteln. Die so genannten »Pro-Anorexia-<br />
Beratungsleistungen.<br />
werden, und das kostet Zeit. Brauchte man früher<br />
Sites« propagieren Essstörungen als Lifestyle, und
24 | 25<br />
Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Transparenz für Bürger<br />
Menschen mit depressiven Erkrankungen werden in<br />
Diskussionsforen zum Suizid aufgefordert. Schließlich<br />
können vermeintlich fachkundige, aber falsche<br />
Informationen, auf die sich der Internetnutzer ver-<br />
Übersicht: Ausgewählte Webseiten mit<br />
patientenverständlichen Gesundheitsinformationen<br />
von unabhängigen Anbietern<br />
Fernsehsendungen, Tageszeitungen, Zeitschriften<br />
sowie Krankenkassenbroschüren die häufigste<br />
Informationsquelle. Jeder zweite Informationssuchende<br />
greift darauf zurück. Erstaunlich ist aller-<br />
digste Informationsquelle. Doch fast genauso viele<br />
Befragte, nämlich 14 Prozent, vertrauen dem Internet<br />
am meisten.<br />
lässt, zu Fehldiagnosen und Schäden führen. Manche<br />
Informationen aus dem Internet können darüber<br />
hinaus das Vertrauensverhältnis zum Arzt stören,<br />
wenn sie dessen Ratschlag widersprechen.<br />
Doch auch dieser Einwand ist nicht durchgehend<br />
berechtigt: Wenn der Arzt etwa Wechselwirkungen<br />
von Arzneimitteln nicht bedacht oder über mögliche<br />
Folgeschäden einer Behandlung nicht ausreichend<br />
aufgeklärt hat, kann das Internet wertvolle Zusatzinformationen<br />
liefern. Einige unabhängige Anbieter<br />
geben dafür Hilfestellung [siehe Übersicht].<br />
Internet ersetzt immer mehr<br />
das persönliche Gespräch<br />
Wie wichtig ist das Internet als Informationsquelle?<br />
Eine Befragung durch den Gesundheitsmonitor der<br />
Bertelsmann Stiftung von 2006 förderte folgendes<br />
• www.gesundheitsinformation.de<br />
(Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit<br />
im <strong>Gesundheitswesen</strong>)<br />
• www.patienten-information.de<br />
(Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin)<br />
• www.dimdi.de<br />
(Deutsches Institut für Medizinische<br />
Dokumentation und Information)<br />
• www.patientenleitlinien.de<br />
(Universität Witten-Herdecke)<br />
• www.degam.de/leitlinien.html<br />
(Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und<br />
Familienmedizin)<br />
• www.therapie.net<br />
(Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und<br />
Gesundheitssystemforschung (ISEG), Hannover,<br />
und Medizinische Hochschule Hannover (MHH)<br />
im Auftrag der Gmünder ErsatzKasse GEK)<br />
dings, dass das Internet das persönliche Gespräch<br />
als Informationsquelle überholt hat: Während<br />
42 Prozent das Internet als Quelle angeben, bleiben<br />
persönliche Gespräche mit dem Arzt (38 Prozent),<br />
mit der Familie oder Freunden (37 Prozent) oder mit<br />
Apothekern (20 Prozent) als Informationsquellen<br />
zurück (Baumann 2006). Doch Häufigkeit allein sagt<br />
bekanntlich wenig über Qualität, Zuverlässigkeit<br />
und Seriosität aus.<br />
Wie schätzen die Bürger deshalb die Qualität des<br />
Internets als Informationsquelle ein? Die Befragten<br />
des Gesundheitsmonitors sollten im Herbst 2005<br />
von 24 möglichen Informationsquellen die drei<br />
ergiebigsten nennen. Auch hier schneidet das Internet<br />
erstaunlich gut ab: Es rangiert hinter Beiträgen<br />
im Fernsehen (22 Prozent) an zweiter Stelle (19 Prozent).<br />
Selbst die Vertrauenswürdigkeit des Internets<br />
als Informationsquelle schätzt die Bevölkerung sehr<br />
Das hohe Vertrauen in das Internet zeigt sich auch<br />
bei der Suche nach einem sehr sensiblen und wichtigen<br />
Thema wie der Qualität von Gesundheitseinrichtungen:<br />
Zwei Drittel aller Befragten halten Informationsbroschüren<br />
und das Internet für geeignet,<br />
um sich nach der Qualität von Einrichtungen zu<br />
erkundigen. Zeitungen, Zeitschriften, Radio- und<br />
Fernsehsendungen fallen weit dahinter zurück<br />
(Geraedts 2006).<br />
Derzeitige Arzt- und Kliniksuchmaschinen<br />
haben Schwächen<br />
Bei so viel Internetbegeisterung wundert es nicht,<br />
dass der Markt mit speziellen Arzt- und Kliniksuchmaschinen<br />
schon jetzt sehr stark expandiert. Doch<br />
Vorsicht: Im September 2006 bewertete die »Financial<br />
Times Deutschland« 15 solcher Suchmaschinen.<br />
Gesamtbewertung: interessengeleitet, stark kommer-<br />
Ergebnis zutage: Zwar sind für diejenigen, die<br />
gezielt nach Gesundheitsinformationen suchen,<br />
[Wir übernehmen keine Haftung für die Richtigkeit und Vollständigkeit<br />
der Informationen auf den angegebenen Internetseiten.]<br />
hoch ein: Zwar ist der Arzt für die meisten Befragten,<br />
16 Prozent, selbstverständlich die vertrauenswür-<br />
zialisiert, nur bedingt informativ und meist nicht<br />
flächendeckend. So wird der Leiter der Deutschen
26 | 27<br />
Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Transparenz für Bürger<br />
Stiftung Gesundheitsinformation Heiner Kirchkamp<br />
mit der eher nüchternen Beurteilung der Szene<br />
zitiert: Die Online-Suche nach dem besten Arzt in<br />
Deutschland werde noch lange die Suche nach der<br />
besten Selbstdarstellung bleiben (Carlin 2006).<br />
Um das volle Potenzial des Internets als vertrauenswürdige<br />
ergänzende Informationsquelle auszuschöpfen,<br />
ist es also noch ein weiter Weg. Eine<br />
Qualitätssicherung der Inhalte von Webseiten, nicht<br />
nur ihrer Formate, ist vonnöten. Blind vertrauen<br />
sollten die Nutzer den Inhalten im Internet bis dahin<br />
also nicht – resignieren allerdings auch nicht, sondern<br />
das Internet als das begreifen, was es ist: eine<br />
zusätzliche Quelle, die dem Nutzer den Zugang zu<br />
medizinischen Fachinformationen eröffnen und seine<br />
alleinige Abhängigkeit vom Arzt und dessen kommunikativen<br />
Kompetenzen verringern kann – aber<br />
auch eine Quelle an Informationen, deren Glaubwürdigkeit<br />
der Nutzer immer wieder hinterfragen<br />
muss.<br />
Um ihre Vertrauenswürdigkeit zu demonstrieren,<br />
greifen Anbieter von Gesundheitswebseiten auf<br />
unterschiedliche Formen der Qualitätssicherung<br />
zurück: Sie lassen ihr Internetangebot akkreditieren,<br />
zertifizieren oder einem Peer-Review-Verfahren<br />
unterziehen. Die gängigste Form der Qualitätssicherung<br />
ist die Selbstregulierung. Hier unterwerfen sich<br />
Anbieter von Gesundheitsinformationen freiwillig<br />
dem Kodex einer Initiative. Doch halten die Anbieter<br />
den Kodex auch ein? Einige Initiativen verlassen sich<br />
auf das bloße Versprechen des Anbieters, andere<br />
wiederum haben Kontrollmechanismen installiert.<br />
Das Problem: Viele Initiativen fordern letztlich nur<br />
eine formale Qualität der Webseiten. Sie sorgen<br />
dadurch zwar für Transparenz über die Datenquellen,<br />
über die Finanzierung durch Sponsoren,<br />
über Kooperationen und Vernetzungen der Informationsanbieter.<br />
Doch der Inhalt selbst wird nicht<br />
hinterfragt. Gesundheitswebseiten können den<br />
Nutzern somit auch fälschlicherweise eine inhaltliche<br />
Qualität suggerieren (Schmidt-Kaehler 2004).<br />
Initiativen zur Qualitätssicherung, die Qualitätskriterien<br />
für Gesundheitswebseiten entwickelt<br />
haben:<br />
• www.afgis.de<br />
(Aktionsforum Gesundheitsinformationssystem)<br />
• www.discern.de<br />
(Medizinische Hochschule Hannover in<br />
Kooperation mit dem Ärztlichen Zentrum<br />
für Qualität in der Medizin)<br />
• www.patienten-information.de/content/<br />
informationsqualitaet/checkliste<br />
(Checkliste entwickelt vom Ärztlichen Zentrum<br />
für Qualität in der Medizin)<br />
[Wir übernehmen keine Haftung für die Richtigkeit und Vollständigkeit<br />
der Informationen auf den angegebenen Internetseiten.]<br />
Literatur<br />
• Baumann, E. (2006): Auf der Suche nach der Zielgruppe – Das<br />
Informationsverhalten hinsichtlich Gesundheit und Krankheit als<br />
Grundlage erfolgreicher Gesundheitskommunikation. In: Böcken, B.;<br />
Braun, B.; Amhof, R.; Schnee, M. (Hrsg.): Gesundheitsmonitor 2006.<br />
Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, 117–153.<br />
• Brechtel, T. (2004): Elektronische Gesundheitsinformationen oder:<br />
Wofür nutzen Versicherte das Internet? Gesundheitsmonitor,<br />
Newsletter der Bertelsmann Stiftung, 09/2004.<br />
• Carlin, M. (2006): Dann sucht mal schön. Financial Times<br />
Deutschland, medbiz, 09/2006.<br />
• Geraedts, M. (2006): Qualitätsberichte deutscher Krankenhäuser und<br />
Qualitätsvergleiche von Einrichtungen des <strong>Gesundheitswesen</strong>s aus<br />
Versichertensicht. In: Böcken, B.; Braun, B.; Amhof, R.; Schnee, M. (Hrsg.):<br />
Gesundheitsmonitor 2006. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, 154–170.<br />
• Schmidt-Kaehler, S. (2004): Patienteninformation Online. Bern: Hans<br />
Huber.<br />
• Schmidt-Kaehler, S. (2005): Patienteninformation und -beratung<br />
im Internet. Transfer medientheoretischer Überlegungen auf ein<br />
expandierendes Praxisfeld. Medien und Kommunikationswissenschaft<br />
(53), 4, 478–492.
28 | 29<br />
Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Transparenz für Bürger<br />
KRANKENHAUS-QUALITÄTSBERICHTE:<br />
INFORMIEREN, ABER RICHTIG!<br />
tätskontrollen und Werbeverbot für Mediziner aus.«<br />
(Focus Magazin Verlag 2005) Der juristische Streit<br />
ging bis an den Bundesgerichtshof, der 1999 schließlich<br />
die Rechtmäßigkeit der Liste bestätigte – selbst<br />
wenn sie nicht auf wissenschaftlich einwandfreien<br />
Versicherte und Patienten wollen mehr Informationen über die Qualität<br />
Füßen stand und mangels Datenlage auch nicht<br />
von Ärzten und Krankenhäusern. Obwohl in den vergangenen Jahren viel<br />
stehen konnte. Seitdem legt »Focus« die Liste in aktu-<br />
unternommen wurde, um die Informationslage zu verbessern, kommen<br />
die bereitgestellten Informationen nicht an. Kein Wunder: Die Angebote<br />
orientieren sich wenig an den Bedürfnissen der Nutzer. Doch wer Gehör<br />
finden möchte, muss die Perspektive des Nutzers einnehmen. Das betrifft<br />
alisierter Form regelmäßig auf. Das Ärzte-Ranking ist<br />
jedes Mal wieder ein Garant für hohe Auflagen. Ein<br />
2001 erschienenes Buch, das die einzeln im Magazin<br />
veröffentlichten Listen zusammenfügt, wurde ein<br />
häuser – einen zweijährlichen Qualitätsbericht<br />
vor, der den Stand der Qualitätssicherung sowie die<br />
Art und Anzahl der Leistungen des Krankenhauses<br />
Hoher Informationsbedarf über<br />
die Qualität von Anbietern …<br />
vor allem Inhalt, Aufbereitung und Verfügbarkeit.<br />
Bestseller (Focus Magazin Verlag 2005).<br />
darzustellen hat. Alle Krankenhäuser müssen ihren<br />
Wie hoch der tatsächliche Bedarf an Orientierungs-<br />
Qualitätsbericht im Internet veröffentlichen. Seit<br />
hilfen ist, lässt sich nicht nur am Erfolg der »Focus«-<br />
Offenbar befriedigte die »Focus«-Liste ein Bedürfnis,<br />
September 2005 können Interessierte die Berichte<br />
Listen ablesen. Nach einer internationalen Repräsen-<br />
Als vor 13 Jahren erstmals im Magazin »Focus« eine<br />
das andere Orientierungshilfen, wie der Rat von<br />
der ersten Runde aus 2004 herunterladen.<br />
tativbefragung gaben 58 Prozent der Deutschen an,<br />
Liste erschien, die Ärzte verschiedener Fachrichtun-<br />
Freunden und Verwandten oder Empfehlungen des<br />
für eine Wahl des passenden Krankenhauses nicht<br />
gen nach ihrer Qualität bewertete, war die Empörung<br />
einweisenden Arztes, nicht bedienen konnten. Wie<br />
Die Qualität von Arztpraxen bleibt hingegen weiterhin<br />
genügend Informationen zu besitzen (Coulter/Magee<br />
groß, vor allem in Fachkreisen: Wer sich nicht selbst<br />
sollten sie auch – standardisierte, unabhängige<br />
weitgehend im Dunkeln: Zwar sind die 17 regionalen<br />
2003). Auch der Gesundheitsmonitor der Bertelsmann<br />
auf einem vorderen Listenplatz wiederfand, bemän-<br />
Qualitätsinformationen über die Leistungserbringer<br />
Kassenärztlichen Vereinigungen sowie die Kassenärzt-<br />
Stiftung fragte die Bevölkerung nach ihrem Informa-<br />
gelte das Auswahlverfahren, das wissenschaftliche<br />
waren für alle Beteiligten, selbst für die Kranken-<br />
liche Bundesvereinigung per Gesetz zur Veröffent-<br />
tionsbedarf und schlüsselte ihn nach Leistungsan-<br />
Fundament, die Datenbasis sowie die reißerische<br />
kassen, nicht verfügbar. Um den Informationsmangel<br />
lichung eines regionalen beziehungsweise bundes-<br />
bietern auf [Abbildung 1]. Dabei zeigte sich, dass<br />
Aufmachung und Vermarktung des Rankings. Die<br />
zu beheben und die Leistungsanbieter selbst in die<br />
weiten Qualitätsberichts angehalten. Auf einzelne<br />
89 Prozent der Befragten Informationen über die<br />
Empörung berührte aber auch grundsätzliche Aspek-<br />
Pflicht zu nehmen, wurde schließlich der Gesetz-<br />
Arztpraxen gehen die Berichte allerdings nicht ein,<br />
Qualität von Fachärzten für wünschenswert (»stimme<br />
te: Die Liste, so der Verlag, »löste heftige Diskussio-<br />
geber aktiv. Seit 2004 schreibt § 137 des Fünften<br />
so dass sie sich als Informations- und Entscheidungs-<br />
voll zu« plus »stimme eher zu«) halten. 86 Prozent<br />
nen und einen Rechtsstreit um Transparenz, Quali-<br />
Sozialgesetzbuchs (SGB V) – zumindest für Kranken-<br />
grundlage für die Wahl einer Arztpraxis nicht eignen.<br />
wünschen sich Informationen über Krankenhäuser
30 | 31<br />
Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Transparenz für Bürger<br />
Abbildung 1:<br />
»Wie stehen Sie zu folgender Aussage: Informationen über<br />
die Qualität von ... sind wünschenswert.«<br />
Facharzt<br />
Krankenhaus<br />
Hausarzt<br />
Zahnarzt<br />
Rehabilitationsklinik<br />
Physiotherapeut<br />
Pflegeeinrichtung<br />
Ambulanter Pflegedienst<br />
Apotheke<br />
Angaben in Prozent 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100<br />
stimme voll zu stimme eher zu lehne eher ab lehne voll ab weiß nicht<br />
Quelle: Gesundheitsmonitor, Bevölkerungsbefragung Frühjahr 2006, N=1.524<br />
Aus den Ergebnissen stellt sich die Frage, wie es zu<br />
dieser Diskrepanz kommt – zwischen einem hohen<br />
Bedarf an Qualitätsinformationen auf der einen Seite<br />
und einer geringen hypothetischen und noch geringeren<br />
praktischen Nutzung bestimmter vorhandener<br />
Qualitätsinformationen auf der anderen Seite. Zum<br />
einen könnte es daran liegen, dass die Umfrage des<br />
Gesundheitsmonitors sieben Monate nach der erstsowie<br />
82 Prozent über Haus- und Zahnärzte. Auch<br />
über die Apotheken, in der Befragung an hinterster<br />
Stelle, hätte die Hälfte der Befragten gerne mehr<br />
Qualitätsinformationen (Geraedts 2006).<br />
… aber nur geringe Nutzung<br />
der vorhandenen Angebote …<br />
Der Bedarf an Informationen steht jedoch im Kontrast<br />
zu der tatsächlichen Nutzung von Informationsangeboten.<br />
Der Gesundheitsmonitor fragte die Versicherten,<br />
wie sie vorgehen würden, wenn sie eine Klinik<br />
auswählen müssten. Es zeigte sich, dass standardisierte<br />
Qualitätsinformationen nur eine untergeordnete<br />
Rolle [Abbildung 2] spielen: Nur 22 Prozent<br />
würden Vergleichslisten zu Rate ziehen – 90 Prozent<br />
dagegen sich mit ihrem Arzt besprechen, 81 Prozent<br />
die Wahl gleich ganz dem Arzt überlassen, 78 Prozent<br />
nach der Nähe zum Wohnort entscheiden und<br />
62 Prozent sich auf die Erfahrungen von Freunden<br />
und Verwandten verlassen (Geraedts 2006).<br />
Noch deutlicher wird die Diskrepanz zwischen geäußertem<br />
Bedarf und Nutzung bestimmter, derzeit<br />
vorhandener Qualitätsinformationen bei der Frage,<br />
ob die Versicherten überhaupt schon einmal von<br />
Qualitätsberichten der Krankenhäuser gehört haben:<br />
Diese Frage bejahten nur 19 Prozent. Unter diesen<br />
19 Prozent Versicherten ging bei 24 Prozent das<br />
Interesse so weit, dass sie sich einen Bericht ansahen.<br />
Das heißt, dass insgesamt knapp fünf Prozent<br />
aller Befragten bereits einen Bericht gelesen haben.<br />
Manche taten dies aus allgemeinem Interesse, andere,<br />
um sich konkret zu informieren. Wurde nur<br />
die Untergruppe der Befragten betrachtet, denen<br />
ein planbarer Aufenthalt in einer Klinik bevorstand,<br />
ergab sich ein ähnliches Bild: Von 109 Patienten<br />
hatten sich nur vier bereits per Internet und Qualitätsbericht<br />
über mögliche Krankenhäuser erkundigt.<br />
… ist letztlich nicht verwunderlich<br />
Abbildung 2:<br />
»Angenommen, Sie planen einen Krankenhausaufenthalt.<br />
Würden Sie ...?«<br />
gemeinsam mit<br />
dem Arzt entscheiden<br />
Entscheidung<br />
dem Arzt überlassen<br />
Nähe zum Wohnort<br />
berücksichtigen<br />
Empfehlungen von Freunden/<br />
Verwandten annehmen<br />
eigene Erfahrungen<br />
machen<br />
Vergleichslisten nutzen<br />
bei Selbsthilfeorganisationen<br />
oder Patientenverbänden<br />
informieren<br />
bei Verbraucherberatungsstellen<br />
informieren<br />
Angaben in Prozent 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100<br />
stimme voll zu stimme eher zu lehne eher ab lehne voll ab weiß nicht<br />
Quelle: Gesundheitsmonitor, Bevölkerungsbefragung Frühjahr 2006, N=1.524
32 | 33<br />
Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Transparenz für Bürger<br />
maligen Veröffentlichung der Krankenhaus-Qualitätsberichte<br />
stattfand. Es ist also gut möglich, dass es<br />
mehr Zeit <strong>braucht</strong>, bis sich die Existenz der Berichte<br />
herumspricht und sie intensiver genutzt werden. Der<br />
eigentliche Grund aber liegt nach Ansicht von Experten<br />
woanders: Die Qualitätsberichte gehen an den<br />
Bedürfnissen der Versicherten vorbei. In keiner Hinsicht<br />
erfüllen die Berichte Kriterien, die an nutzerorientierte<br />
Informationen gestellt werden: Sowohl<br />
Inhalt als auch Aufbereitung, Verfügbarkeit und<br />
Zielgruppenorientierung wurden offenbar nicht aus<br />
Nutzer-, sondern aus Anbieterperspektive und deren<br />
wirtschaftlichen Interessen betrachtet.<br />
Was erwarten Versicherte von<br />
der Krankenhausversorgung?<br />
Wie lassen sich Informationsangebote – konkret<br />
die Krankenhaus-Qualitätsberichte – also stärker<br />
an den Nutzern ausrichten? Um zu ergründen, was<br />
Versicherte über eine Klinik wissen möchten, ist<br />
es sinnvoll, zunächst die Frage zu stellen, was sie<br />
überhaupt von einer Klinik erwarten, das heißt,<br />
was ihnen wichtig ist. Denn darüber möchten sie<br />
wahrscheinlich auch informiert werden.<br />
Welche Kriterien würden Patienten bei der Wahl<br />
einer Klinik in die Waagschale werfen? Zur Beantwortung<br />
bieten sich wieder internationale Studien<br />
sowie Daten aus dem Gesundheitsmonitor an.<br />
Gesundheitsexperten wie Doris Schaeffer von der<br />
Universität Bielefeld weisen darauf hin, dass die<br />
Erwartungen der Patienten keine feste Größe sind.<br />
Es finden sich Unterschiede zwischen Patienten<br />
mit akuten und chronischen Erkrankungen,<br />
zwischen älteren und jüngeren Patienten, zwischen<br />
Männern und Frauen, zwischen Personen unterschiedlicher<br />
Herkunft und vermutlich auch zwischen<br />
Menschen mit verschiedenen Krankheiten. Darüber<br />
hinaus variieren die Präferenzen wohl auch bei einer<br />
Person selbst, je nachdem in welchem Krankheitsstadium<br />
sie sich befindet (Schaeffer 2006). Diese<br />
unterschiedlichen Nutzerpräferenzen haben allerdings<br />
System, wie das Kapitel »Nutzertypen: Wer<br />
sich wie informiert« verdeutlicht.<br />
Doris Schaeffer hat internationale gesundheitswissenschaftliche<br />
Studien zur Erforschung von<br />
Patientenbedürfnissen ausgewertet und kommt<br />
auf sechs Bereiche, die Patienten wichtig sind<br />
(Schaeffer 2006):<br />
• Vertrauenswürdigkeit: Eine Einrichtung sollte verlässlich,<br />
seriös und glaubwürdig sein und die Sicherheit<br />
ausstrahlen, die der Patient in seiner krankheitsbedingten<br />
Verunsicherung <strong>braucht</strong>. Die Forderung,<br />
vertrauenswürdig zu sein, gilt auch für die Informationsangebote<br />
selbst. Mangelndes Vertrauen in<br />
die Seriosität der angebotenen Informationen scheint<br />
mit ein Grund für deren geringe Nutzung zu sein.<br />
• Fachliche Expertise und Kompetenz: Von allen<br />
Mitarbeitern eines Krankenhauses erwartet der<br />
Patient Kompetenz, Professionalität, Erfahrung,<br />
Sorgfalt und eine Behandlung nach dem aktuellen<br />
Stand der Wissenschaft. So erfüllen z.B. Universitätskliniken<br />
zwar das Kriterium der Wissenschaftlichkeit<br />
in besonderem Maße, werden aber dennoch<br />
skeptisch betrachtet, insbesondere weil hier den<br />
Medizinstudenten, die aus Patientensicht gewisse<br />
Expertisekriterien nicht erfüllen, Aufgaben übertragen<br />
werden.<br />
• Beziehung zum Patienten: Auch in großen Häusern<br />
wollen Patienten als Person und nicht als Fall wahrgenommen<br />
und entsprechend mit Respekt und<br />
Würde behandelt werden. Ärzte und Pfleger sollten<br />
auch Familienangehörige des Patienten nicht als<br />
Störfaktor betrachten, sondern mit einbeziehen.<br />
• Kommunikation und Information: Patienten<br />
klagen häufig darüber, dass sich Ärzte zu wenig<br />
Zeit nehmen, um mit ihnen zu reden. Sie wünschen<br />
sich eine intensivere Kommunikation bei<br />
der Abklärung und Mitteilung der Diagnose, beim<br />
Festlegen der Behandlung, während der Therapie<br />
und bei der Entlassung.<br />
• Organisation und Management der Krankenhausversorgung:<br />
Patienten wollen Planungssicherheit<br />
und eine reibungslose Organisation<br />
ihres Klinikaufenthalts. Darüber hinaus wünschen<br />
sie sich, dass nach dem Betätigen der Klingel<br />
zügig Hilfe kommt. Andererseits sollte eine straffe<br />
Organisation das Pflegepersonal nicht zu »Flitz<br />
und Spritz« verführen. Wichtig sind Patienten<br />
zudem feste Ansprechpartner, Transparenz über<br />
die Abläufe, guter Service und eine patientenorientierte<br />
Flexibilität in den Abläufen.<br />
• Standort und Atmosphäre: Eine Architektur,<br />
die sowohl ansprechend gestaltet ist als auch den<br />
Patienten mit ihren Einschränkungen größtmögliche<br />
Autonomie und Privatsphäre erlaubt, eine<br />
günstige Lage und eine gute Verkehrsanbindung<br />
sind Kriterien, auf die Patienten ebenfalls Wert<br />
legen.
34 | 35<br />
Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Transparenz für Bürger<br />
Abbildung 3:<br />
Entscheidungskriterien bei der Wahl des Krankenhauses (Relevanz in Prozent)<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
Qualifikation der Ärzte<br />
Sauberkeit der Klinik und Patientenzimmer<br />
Qualifikation des Pflegepersonals<br />
Behandlung nach den neuesten und derzeit besten<br />
medizinischen Verfahren<br />
Freundlichkeit des Personals<br />
98,16<br />
96,51<br />
96,45<br />
95,85<br />
95,61<br />
14 24-Stunden-Verfügbarkeit der apparativen Ausstattung<br />
15 Einhaltung der Arbeitszeiten für Ärzte<br />
16 Umfang der apparativen Ausstattung<br />
17 Häufigkeit der Durchführung bestimmter Eingriffe<br />
18 Ambulante Behandlungsmöglichkeiten<br />
19 Orientierung der ärztlichen und pflegerischen<br />
81,93<br />
80,91<br />
79,11<br />
79,11<br />
78,52<br />
78,25<br />
25<br />
26<br />
27<br />
28<br />
Anzahl der behandelten Patienten mit<br />
meiner Erkrankung<br />
Angebot alternativer Heilmethoden<br />
Wirtschaftlichkeit der Behandlung, das heißt<br />
Einsatz der jeweils kostengünstigsten unter den<br />
gleichwertigen Behandlungsverfahren<br />
Anzahl der medizinischen Fachabteilungen<br />
61,03<br />
59,79<br />
56,52<br />
52,20<br />
Auch im Gesundheitsmonitor wird regelmäßig nach<br />
den Präferenzen der Patienten bei der Wahl eines<br />
Krankenhauses gefragt. Die Ergebnisse decken sich<br />
weitgehend mit den internationalen wissenschaftlichen<br />
Erkenntnissen. Zusätzlich lässt die Datenerhebung<br />
im Gesundheitsmonitor eine quantitative Auswertung<br />
und damit auch ein Ranking der einzelnen<br />
Kriterien zu (Geraedts 2006). Unter 33 abgefragten<br />
Kriterien rangiert die Qualifikation der Ärzte an<br />
erster Stelle: 98 Prozent der Versicherten bezeichnen<br />
sie als »wichtig«. [Abbildung 3]<br />
6<br />
7<br />
Einbeziehen der Patienten bei der Behandlung<br />
Spezialkompetenzen der Klinik<br />
91,10<br />
88,55<br />
20<br />
Versorgung an wissenschaftlichen Leitlinien/Standards<br />
Qualität des Essens<br />
78,03<br />
29<br />
Verfügbarkeit von Informationsbroschüren<br />
der Klinik zur Klinikorganisation<br />
52,11<br />
Wie sollten die Qualitätsberichte<br />
aussehen?<br />
8<br />
9<br />
10<br />
11<br />
12<br />
Zufriedenheit der Patienten mit dieser Einrichtung<br />
Behandlungserfolge und Komplikationsrate der Klinik<br />
Empfehlung der Klinik durch Spezialisten<br />
Umfang der therapeutischen Möglichkeiten<br />
Leistungsspektrum der medizinischen Fachabteilungen<br />
87,25<br />
86,32<br />
86,31<br />
85,35<br />
83,52<br />
21<br />
22<br />
23<br />
24<br />
Umgang der Klinik mit Beschwerden von Patienten<br />
Unabhängige Beurteilung der Qualität und des<br />
Qualitätsmanagements der Klinik (»Zertifizierung«)<br />
Verfügbarkeit von Informationsbroschüren<br />
der Klinik zum Ablauf bestimmter Behandlungen<br />
Erreichbarkeit der Klinik mit dem Auto und<br />
77,23<br />
74,69<br />
72,53<br />
72,05<br />
30<br />
31<br />
32<br />
33<br />
Zusammenarbeit mit der Selbsthilfe<br />
Ausstattung der Klinik (Cafeteria, Bibliothek,<br />
Gebetsraum, Raucherraum etc.)<br />
Berücksichtigung besonderer Belange von Patienten<br />
mit Migrationshintergrund<br />
Verfügbarkeit eines Patientenfürsprechers<br />
51,08<br />
45,04<br />
41,20<br />
35,14<br />
Was ist demnach aus Sicht eines Krankenhauses zu<br />
beachten, wenn ein Informationsangebot wie ein Qualitätsbericht<br />
veröffentlicht wird? Es gibt drei große<br />
Baustellen, an denen die Krankenhäuser – und beim<br />
Widerstand der Kliniken auch der Gesetzgeber –<br />
arbeiten sollten, um die bisherigen Qualitätsberichte<br />
zu verbessern:<br />
13<br />
Ausstattung der Zimmer (Bettenzahl, Telefon,<br />
82,21<br />
öffentlichen Verkehrsmitteln<br />
Fernseher, Toilette usw.)<br />
Quelle: Gesundheitsmonitor, Bevölkerungsbefragung Frühjahr 2006, N=1.524, Auswertung durch Geraedts (2006)<br />
BertelsmannStiftung<br />
1. Fehlende Informationen aufnehmen: Krankenhaus-Qualitätsberichte<br />
sollen zum einen darüber
36 | 37<br />
Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Transparenz für Bürger<br />
informieren, was Patienten für wichtig erachten,<br />
aber auch eine Orientierungshilfe für einweisende<br />
Ärzte und die Krankenkassen sein. Bisher werden<br />
die Patientenpräferenzen kaum berücksichtigt:<br />
In den Qualitätsberichten erscheinen von den<br />
Top-Ten-Kriterien der Versicherten gerade drei,<br />
nämlich die Qualifikation der Ärzte, die Qualifikation<br />
des Pflegepersonals und die Spezialkompetenzen<br />
der Klinik. Die übrigen Top-Ten-Kriterien der<br />
Versicherten werden in den Qualitätsberichten<br />
nicht aufgeführt (Geraedts 2006). Dies gilt etwa<br />
für Qualitätskriterien wie die »Einbeziehung der<br />
Patienten bei der Behandlung« oder die »Zufriedenheit<br />
der Patienten mit dieser Einrichtung«, die viele<br />
Häuser sowieso in eigenen Patientenbefragungen<br />
ermitteln. Vor allem sollten aber die »Behandlungserfolge<br />
und Komplikationsraten der Klinik« veröffentlicht<br />
werden – doch bisher trauen sich nur<br />
wenige Kliniken, ihre Qualitätsergebnisse, die sie<br />
ohnehin an die Bundesgeschäftsstelle Qualitätssicherung<br />
melden müssen, offenzulegen. Gerade<br />
die drei letztgenannten Kriterien sind sicherlich<br />
sowohl für die Patienten als auch für Gesundheitsexperten<br />
wie einweisende Ärzte und Krankenkassen<br />
äußerst wichtige Informationen.<br />
2. Nutzerfreundlichkeit der Informationen erhöhen:<br />
Die Nutzerfreundlichkeit betrifft zum einen den Stil,<br />
der griffig und verständlich sein sollte, zum anderen<br />
die Aufbereitung der Informationen (Schaeffer 2006).<br />
Bei aller gebotenen Informationsfülle dürfen Qualitätsberichte<br />
und Broschüren mit Fakten und Daten<br />
nicht überladen werden – sonst wird der Nutzer<br />
am Ende erst recht allein gelassen. Denn Informationsvielfalt<br />
und -komplexität führen zu Frustration<br />
und Lähmung und verleiten den Nutzer dazu, eher<br />
willkürlich Aspekte herauszugreifen und so eine<br />
unausgewogene und unangemessene Entscheidung<br />
zu treffen. Als Möglichkeiten, umfangreiche Daten<br />
handhabbar zu machen, bieten sich zum Beispiel<br />
computergestützte Entscheidungshilfen und grafisch<br />
einleuchtende Darstellungen von Daten an. Auch<br />
spricht einiges dafür, Informationen in Erzählform<br />
oder als Erfahrungsberichte aufzubereiten.<br />
3. Verfügbarkeit verbessern: Der Gesetzgeber verlangt<br />
eine Veröffentlichung der Krankenhaus-Qualitätsberichte<br />
im Internet. Damit ist theoretisch die<br />
größtmögliche Verbreitung gewährleistet – schließlich<br />
lassen sich auch im Internetcafé in Tokio die<br />
Daten des Kreiskrankenhauses im schwäbischen<br />
Plochingen abrufen. Dennoch geht diese Art der<br />
Datenpräsentation an vielen älteren Patienten vorbei,<br />
die derzeit das Internet nur wenig nutzen oder<br />
ihm nicht trauen. Diese Gruppe stellt jedoch die<br />
Mehrheit der Patienten. Für diese Patienten bieten<br />
sich Informationsangebote an, die sie ohnehin<br />
nutzen (Geraedts 2006): etwa ansprechend aufgemachte,<br />
gedruckte Broschüren und Telefonhotlines.<br />
Auch wenn die Krankenhaus-Qualitätsberichte<br />
der ersten Runde 2005, und höchstwahrscheinlich<br />
auch die der anstehenden zweiten Runde 2007, noch<br />
erheblich verbessert werden können (Altenhöner<br />
et al. 2007), ist zumindest ein erster großer Schritt<br />
in Richtung Transparenz über die Qualität von<br />
Leistungsanbietern getan. Wenn die drei genannten<br />
Verbesserungspotenziale ausgeschöpft werden,<br />
können sich Versicherte und ihre einweisenden<br />
Ärzte, aber auch Krankenkassen, besser über die<br />
Qualität von Krankenhäusern informieren. Zudem<br />
gilt es nun, nächste Schritte hin zu mehr Transparenz<br />
zu wagen: die Einführung einer Qualitätsberichtspflicht<br />
auch für Arztpraxen, Medizinische<br />
Versorgungszentren, Rehabilitationskliniken und<br />
Pflegeheime.<br />
Literatur<br />
• Altenhöner, T.; Schmidt-Kähler, S.; Schwenk, U.; Weber, J.; Schaeffer,<br />
D. (2007): Was wollen Patienten wissen? Strukturierte Qualitätsberichte<br />
immer noch nicht patientengerecht. In: Krankenhaus<br />
Umschau, 2/2007, 111–112.<br />
• Coulter, A.; Magee, H. (2003): The European patient of the future.<br />
Maidenhead, Philadelphia: Open University Press.<br />
• Focus Magazin Verlag (2005): Die große FOCUS-Ärzte-Liste –<br />
jetzt in aktualisierter, erweiterter Neuausgabe.<br />
www.focus-magazin-verlag.de/PF4/PF4D/PF4DN/pf4dn.htm?snr=282.<br />
• Geraedts, M. (2006): Qualitätsberichte deutscher Krankenhäuser und<br />
Qualitätsvergleiche von Einrichtungen des <strong>Gesundheitswesen</strong>s aus<br />
Versichertensicht. In: Böcken, J.; Braun, B.; Amhof, R.; Schnee, M.<br />
(Hrsg.): Gesundheitsmonitor 2006. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung,<br />
154–170.<br />
• Schaeffer, D. (2006): Bedarf an Patienteninformationen über das<br />
Krankenhaus. Eine Literaturanalyse. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.
38 | 39<br />
Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Transparenz für Bürger<br />
ZERTIFIKATE:<br />
QUALITÄT MIT BRIEF UND SIEGEL<br />
Jeder kennt Gütesiegel wie den Blauen Umweltengel, die TÜV-Prüfzeichen<br />
Die Bevölkerung bringt Gütesiegeln und Zertifikaten<br />
von Arztpraxen und Krankenhäusern ein großes Vertrauen<br />
entgegen. In der Umfrage des Gesundheitsmonitors<br />
der Bertelsmann Stiftung vom Herbst 2005<br />
beurteilten die Befragten unterschiedliche Maßnahmen<br />
zur Sicherung der Qualität in der Gesundheitsversor-<br />
trollen und allgemein zugängliche, objektive und<br />
verständliche Informationen, die die Wahl einer<br />
Praxis oder eines Krankenhauses erleichtern, den<br />
Bedürfnissen der Versicherten sehr entgegen.<br />
Dass das Vertrauen der Bevölkerung in kontrollierte<br />
Abbildung 1:<br />
»Was meinen Sie: Wird durch Qualitätskontrolle und<br />
anschließendem Zertifikat ...«<br />
die Fortbildung von Arzt und Personal<br />
besser kontrollierbar?<br />
76<br />
oder die Qualitätsurteile der Stiftung Warentest: Sie sorgen für Transparenz<br />
und schaffen Vertrauen. Sie besiegeln, dass ein Produkt, eine Dienstleistung<br />
oder eine ganze Organisation sich einem externen Prüfverfahren<br />
gung. Zertifikate stellten sich dabei, auch aufgrund<br />
ihrer Bekanntheit aus anderen Zusammenhängen,<br />
als die beliebteste Maßnahme heraus: 85 Prozent der<br />
und zertifizierte Praxen hoch ist, zeigen die Erwartungen,<br />
die die Befragten an zertifizierte Einrichtungen<br />
richten, wie Abbildung 1 verdeutlicht.<br />
die medizinische Behandlung verbessert<br />
(d. h. weniger Komplikationen, bessere<br />
Behandlungsmethoden)?<br />
71<br />
gestellt hat und alle vorgegebenen Anforderungen erfüllt. Auch im<br />
<strong>Gesundheitswesen</strong> finden Gütesiegel und Zertifikate als Nachweis von<br />
Qualität allmählich Einsatz. Welche Qualitätsanforderungen die unter-<br />
Befragten befürworten eine regelmäßige Überprüfung<br />
der Qualifikation von Ärzten, beispielsweise in Form<br />
eines Ärzte-TÜVs. 74 Prozent wünschen sich, dass<br />
Der Vertrauensvorschuss, den Zertifikate bei den<br />
Befragten genießen, stammt sicherlich aus den posi-<br />
der Patient besser und verständlicher über<br />
seine Krankheit und deren Behandlung<br />
informiert?<br />
67<br />
schiedlichen Zertifizierer stellen, ist für die Versicherten bisher nur<br />
bedingt transparent.<br />
Krankenkassen über die Qualität von Ärzten und<br />
Krankenhäusern informieren. 68 Prozent wollen die<br />
Veröffentlichung von Ranglisten der Qualität von<br />
tiven Erfahrungen mit diesem Instrument in anderen<br />
Anwendungsbereichen. Wichtig ist es zukünftig,<br />
dieses Vertrauen nicht zu verspielen, sondern zur<br />
der Behandlungsablauf für den Patienten<br />
verbessert (d.h. kürzere Wartezeiten, weniger<br />
Doppeluntersuchungen)?<br />
62<br />
Ärzten und Krankenhäusern (Bertelsmann Stiftung<br />
2006). Folglich kommen regelmäßige Qualitätskon-<br />
Verbesserung der Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong><br />
zu nutzen. Dafür müssen die Versicherten<br />
und Patienten die Qualitätszertifikate nicht nur<br />
die schriftliche Information für den Patienten<br />
über Diagnose, Krankheitsursache, Behandlungsmethode<br />
o. ä. besser?<br />
57<br />
kennen, sondern sie auch ausfindig machen und<br />
Anteile der Antworten mit »ja«, Angaben in Prozent<br />
nutzen. Doch wie leicht findet ein Versicherter eine<br />
Quelle: Gesundheitsmonitor, Befragung Frühjahr 2005, N=1.539<br />
Arztpraxis oder ein Krankenhaus, die ein Qualitätsmanagement-System<br />
anbieten, sich einer externen<br />
Überprüfung stellen und dies zudem mit einem<br />
Zertifikat nach außen belegen? Wie selbsterklärend<br />
sind die Zertifikate? Die Antwort lautet: Gegenwärtig
40 | 41 Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Transparenz für Bürger<br />
herrscht große Unübersichtlichkeit, obwohl Zertifikate<br />
doch für mehr Transparenz sorgen sollen.<br />
Qualitätsmanagement ist Pflicht,<br />
anschließende Zertifizierung Kür<br />
Der Gesetzgeber verpflichtet seit dem Jahr 2000<br />
Krankenhäuser und stationäre Einrichtungen für<br />
Vorsorge und Rehabilitation und seit Anfang 2004<br />
Arztpraxen und Medizinische Versorgungszentren,<br />
ein »einrichtungsinternes Qualitätsmanagement«<br />
einzuführen und weiterzuentwickeln. All diese<br />
Einrichtungen können einen unabhängigen Dritten<br />
mit der Überprüfung beauftragen, ob alle Maßnahmen<br />
des Qualitätsmanagements umgesetzt worden<br />
sind – sie müssen aber nicht. Denn die Zertifizierung<br />
ist nach wie vor freiwillig (BMG 2006). Den Arzt-<br />
praxen und Krankenhäusern bleibt gegenwärtig<br />
sowohl bei der Wahl eines Qualitätsmanagement-<br />
Systems als auch bei der anschließenden Zertifizierung<br />
ein großer Freiraum. Die Kehrseite der Medaille<br />
ist die Unübersichtlichkeit für den Patienten.<br />
So kann jede Einrichtung zwischen den Qualitätsmanagement-Systemen<br />
frei wählen. Doch jedes der<br />
zahlreichen Verfahren hat einen anderen Anspruch<br />
und legt unterschiedliche Schwerpunkte – je nachdem<br />
welche Institution das Qualitätsmanagement-System<br />
entwickelt hat und welche die externe Überprüfung<br />
durchführt und schließlich das Zertifikat ausstellt<br />
(siehe auch das Kapitel »Vorbild Industrie: Qualitätsmanagement<br />
in Arztpraxen«). Und im Zweifelsfall<br />
wird ein Arzt oder Krankenhaus ein System auswählen,<br />
welches am wenigsten Aufwand verursacht.<br />
Die Patienten als Endverbraucher können es kaum<br />
beeinflussen, dass sich die anspruchsvolleren Qualitätsmanagement-Systeme<br />
verbreiten. Denn sie<br />
können nur schwer in Erfahrung bringen, welche<br />
Systeme verwendet werden, wie sie zu bewerten sind<br />
und wie ihr Arzt oder Krankenhaus sie tatsächlich<br />
umsetzt. Dies liegt auch daran, dass die Zertifizierung<br />
freiwillig ist. Für Patienten ist es schon schwer<br />
genug, eine der wenigen bisher zertifizierten Arztpraxen<br />
ausfindig zu machen – und danach müssten<br />
sie noch die einzelnen Verfahren miteinander vergleichen.<br />
Ärzte lehnen freiwillige Zertifizierungen<br />
bisher eher ab<br />
Viele Ärzte stehen einer Zertifizierung ihrer Qualitätsanstrengungen<br />
durch unabhängige Dritte nicht so<br />
aufgeschlossen gegenüber, wie die Patienten es gerne<br />
hätten: Nach einer Ärztebefragung im Rahmen des<br />
Gesundheitsmonitors meinen 70 Prozent der Ärzte,<br />
dass eine Zertifizierung lediglich mehr Aufwand für<br />
sie bedeutet. 50 Prozent sehen in ihr kein wirksames<br />
Mittel zur Praxisoptimierung, und 40 Prozent glauben<br />
nicht, dass damit das Praxispersonal zu sorgfältigerem<br />
Arbeiten angeleitet werden kann. Doch<br />
nicht nur das: Viele Ärzte ignorieren ganz einfach<br />
die Wünsche der Patienten nach Zertifizierungen.<br />
Fast jeder zweite Arzt glaubt, dass Zertifizierungen<br />
für Patienten völlig unwichtig seien (Schnee/<br />
Kirchner 2005).<br />
Liegen die Ärzte mit ihrer Einschätzung richtig?<br />
Zumindest ist zu erkennen, dass trotz der großen<br />
Zustimmung zu Zertifikaten und der Leistungsfähigkeit,<br />
die die Bürger ihnen zuschreiben, ihre Bedeutung<br />
bei der Wahl eines Arztes immer noch gering<br />
ist. Dies verdeutlichen die Befragungsergebnisse des<br />
Gesundheitsmonitors vom Frühjahr 2006: Von den<br />
Befragten, die in letzter Zeit einen neuen Arzt aufgesucht<br />
und sich vorher über ihn informiert haben,<br />
erkundigen sich 70 Prozent darüber, wie zufrieden<br />
andere Patienten mit dem Arzt sind. 68 Prozent versuchen,<br />
sich über Fachkenntnisse, Spezialisierungen<br />
und Erfahrungen zu informieren, und 52 Prozent<br />
wollen etwas über den Umgang des Arztes mit<br />
seinen Patienten wissen. Zertifikate, Fortbildungsnachweise<br />
oder Qualitätsberichterstattung spielen<br />
dagegen bei nur 15 Prozent der Befragten eine Rolle<br />
(Bertelsmann Stiftung 2006).
42 | 43<br />
Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Transparenz für Bürger<br />
Bisher noch zu wenige<br />
zertifizierte Praxen<br />
Wie lässt sich die Diskrepanz erklären – großes<br />
Vertrauen in Zertifikate einerseits, aber ihr geringer<br />
Einsatz als Orientierungshilfe für die Arztwahl andererseits?<br />
Es könnte an der Unübersichtlichkeit der<br />
Zertifikatelandschaft oder an der bisher fehlenden<br />
Erfahrung mit ihrer Verwendung im <strong>Gesundheitswesen</strong><br />
liegen. Vor allem aber daran, dass bisher erst<br />
sehr wenige Zertifizierungen erfolgt sind. Insofern<br />
besteht für die meisten Bürger bisher noch gar nicht<br />
die Möglichkeit, Qualitätssiegel als Entscheidungsgrundlage<br />
tatsächlich zu verwenden.<br />
Die Befragungsergebnisse verdeutlichen somit das<br />
Problem der aktiven Informationssucher: Da unabhängige<br />
Informationsgrundlagen fehlen, sind Patienten<br />
bei der Wahl ihres Arztes immer noch auf Hörensagen<br />
und allgemeine Einschätzungen auf der Basis<br />
von Praxisschildern angewiesen. Immerhin ist ein<br />
positiver Trend zu verzeichnen: 2004 griffen nur<br />
neun Prozent aller aktiven Informationssucher auf<br />
Zertifikate als Entscheidungsgrundlage der Arztwahl<br />
zurück, zwei Jahre später waren es bereits 15 Prozent.<br />
In einem ähnlichen Umfang dürften auch die verfügbaren<br />
Zertifikate gestiegen sein.<br />
Werden Zertifikate nicht ohnehin überfällig, wenn<br />
bis spätestens 2010 jede Arztpraxis ein Qualitätsmanagement-System<br />
eingeführt haben muss? Dies<br />
ist sicher nicht der Fall. Patienten werden dann<br />
immerhin die Gewissheit haben, dass ihre Arztpraxis<br />
ein Verfahren durchlaufen hat, doch welches und<br />
mit welchem Ergebnis bleibt weiterhin unklar. Eines<br />
sollte daher für qualitätsinteressierte Bürger gewährleistet<br />
sein: Transparenz darüber, wer und was sich<br />
hinter den Qualitätsmanagement-Systemen und<br />
hinter den Zertifizierungsstellen verbirgt.<br />
Zertifizierung und Zertifizierer<br />
müssen vertrauenswürdig sein<br />
Problematisch kann es sein, dass Zertifikate<br />
prinzipiell von jeder Institution vergeben werden<br />
können – seien es interessengeleitete Berufsverbände,<br />
kommerzielle Anbieter oder aber unabhängige<br />
Vereine und Stiftungen. Der Wert eines<br />
Zertifikates hängt davon ab, ob es gegenüber den<br />
Versicherten glaubhaft die behauptete Qualität<br />
bezeugt. Diese Glaubwürdigkeit ist dann besonders<br />
groß, wenn das verwendete Qualitätsmanagement-<br />
System zum einen einen hohen Standard aufweist.<br />
Zum anderen sollte aber die zertifizierende Institution<br />
selbst möglichst unabhängig von den zu<br />
bewertenden Arztpraxen und Krankenhäusern<br />
und ihren jeweiligen Interessenverbänden sein und<br />
ihre Neutralität und Unabhängigkeit über einen<br />
langen Zeitraum und gegen Widerstände erfolgreich<br />
aufrechterhalten können.<br />
Dass Versicherte nicht jedem Zertifizierer gleich<br />
viel Vertrauen entgegenbringen, zeigen wiederum<br />
Ergebnisse des Gesundheitsmonitors [Abbildung 2]:<br />
Unabhängigen Institutionen wie dem TÜV oder<br />
Stiftungen attestieren 83 Prozent der Bevölkerung<br />
Glaubwürdigkeit. Den Ärztekammern und Krankenkassen<br />
schenken mit 57 Prozent und 55 Prozent der<br />
Befragten schon viel weniger Versicherte Glauben.<br />
Dem Gesundheitsministerium als möglichem Anbieter<br />
von Zertifikaten vertrauen 38 Prozent, anderen<br />
Behörden oder Ämtern nur noch 23 Prozent der<br />
Befragten (Schnee/Kirchner 2005). Die geforderte<br />
Unabhängigkeit betrifft also sowohl die Zertifizierung<br />
als auch den Zertifizierer selbst.<br />
Abbildung 1:<br />
Es gibt viele Institutionen, die Zertifikate ausstellen können.<br />
Welche davon halten Sie für glaubwürdig?<br />
Unabhängige Institutionen<br />
wie TÜV oder Stiftungen<br />
Ärztekammern<br />
Krankenkassen<br />
Gesundheitsministerium<br />
Andere Behörden oder Ämter<br />
Angaben in Prozent<br />
Quelle: Gesundheitsmonitor, Befragung Frühjahr und Herbst 2004, N=2.984<br />
23<br />
38<br />
57<br />
55<br />
83
44 | 45<br />
Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Transparenz für Bürger<br />
Nicht alle Anbieter für Qualitätsmanagement und<br />
Zertifizierung legen bisher die Ansprüche ihres<br />
Systems an die Arztpraxen und ihre eigenen wirtschaftlichen<br />
und (verbands-)politischen Interessen<br />
offen. Es <strong>braucht</strong> unabhängige Stellen, die die Unterschiede<br />
zwischen den einzelnen Systemen den interessierten<br />
Versicherten aufzeigen. Und auch dann<br />
blieben Zertifikate, die ja hauptsächlich das Bemühen<br />
um eine stetige interne Qualitätsverbesserung<br />
dokumentieren, nur eines der möglichen Informationsangebote,<br />
um die Transparenz über die<br />
Qualität von Leistungsanbietern zu erhöhen.<br />
Wichtig ist somit zukünftig, die Bürger für das Thema<br />
Qualität zu sensibilisieren. Sie sollten im eigenen Interesse<br />
Qualitätsinformationen von ihrem Arzt fordern,<br />
bevor sie sich behandeln lassen. Sie sollten wissen,<br />
dass es verschiedene Qualitätsmanagement-Systeme<br />
gibt und die Leistungsanbieter unterschiedlich professionell<br />
mit dem Thema Qualität umgehen. Dieses<br />
Bewusstsein können sowohl die qualitätsorientierten<br />
Leistungserbringer selbst, aber auch die Krankenkassen<br />
oder Verbraucher- und Patientenverbände schärfen.<br />
Zudem muss Transparenz über zertifizierte Arztpraxen,<br />
Medizinische Versorgungszentren oder<br />
Krankenhäuser hergestellt werden. Die Bürger sollten<br />
zertifizierte Leistungsanbieter mit vertretbarem Aufwand<br />
ausfindig machen können. Verbraucher- und<br />
Patientenverbände könnten sie dabei unterstützen.<br />
Je qualitätsbewusster die Bürger zukünftig sein<br />
werden, umso mehr werden die zertifizierten<br />
Einrichtungen selbst ein Interesse daran haben,<br />
dass möglichst viele Bürger sie finden.<br />
Literatur<br />
• Bertelsmann Stiftung (2006): Gesundheitsmonitor, Welle IX.<br />
Tabellarische Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung<br />
im Oktober/November 2005. Eine Studie der TNS Healthcare im<br />
Auftrag der Bertelsmann Stiftung. München (unveröffentlicht).<br />
• Bundesministerium für Gesundheit (BMG) (Hrsg.) (2006): Sicherung<br />
der Qualität im <strong>Gesundheitswesen</strong>. Maßnahmen, Verantwortliche,<br />
Ansprechpartner. Berlin.<br />
• Schnee, M.; Kirchner, H. (2005): Qualitätsmanagement und<br />
Zertifizierung. In: Böcken, J.; Braun, B.; Schnee, M.; Amhof, R.<br />
(Hrsg.): Gesundheitsmonitor 2005. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung,<br />
41–53.<br />
• Zöll, R.; Brechtel, T. (2005): Qualitätsmanagement und Zertifikate<br />
in Gesundheitseinrichtungen: Viele Konzepte, viele Verfahren und<br />
kaum Transparenz. Gesundheitsmonitor, Newsletter der Bertelsmann<br />
Stiftung, 02/2005.<br />
INFO<br />
Zertifikate über ein erfolgreich eingeführtes Qualitätsmanagement-System sind nicht zu verwechseln mit Urkunden über Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen,<br />
an denen der Arzt teilgenommen hat. Da es Zertifikate verschiedenster Anbieter für Weiterbildungen gibt, die vom Hören eines einstündigen<br />
Vortrags bis zur Veröffentlichung wissenschaftlicher Ergebnisse reichen können, steht der interessierte Patient vor einer bunten Vielfalt<br />
von Urkunden. Nur bei genauer Analyse geben sie einen Eindruck von der Ernsthaftigkeit der Fort- und Weiterbildungsaktivitäten des Arztes.
46 | 47<br />
Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Transparenz für Ärzte<br />
TRANSPARENZ FÜR ÄRZTE<br />
• Vorbild Industrie: Qualitätsmanagement in Arztpraxen<br />
• Qualitätstransparenz in den USA: »Transparenz spornt Ärzte an«<br />
• Bezahlen nach Leistung: Gut für Qualität und Transparenz?<br />
VORBILD INDUSTRIE:<br />
QUALITÄTSMANAGEMENT IN ARZTPRAXEN<br />
Von den Patienten gewollt, vom Gesetzgeber gefordert, von den Ärzten<br />
nicht immer geliebt: Nach den Krankenhäusern hält Qualitätsmanagement<br />
nun Einzug in Arztpraxen. Bis 2010 müssen alle Arzt- und Psychotherapeutenpraxen<br />
sowie alle Medizinischen Versorgungszentren ihre<br />
Strukturen, Abläufe und Ergebnisse überprüfen und zeigen, dass<br />
sie ihre Qualität kontinuierlich verbessern. Wie sie das anstellen, ist<br />
weitgehend ihnen selbst überlassen. Qualitätsmanagement-Systeme<br />
helfen ihnen dabei.<br />
Dr. med. Ralf Rohde-Kampmann, Allgemeinarzt<br />
einer Gemeinschaftspraxis in Verden an der Aller<br />
in Niedersachsen, ist von den Vorteilen des Qualitätsmanagements<br />
überzeugt. Seiner Erfahrung nach<br />
schafft es mehr Zeit für Gespräche mit den Patienten,<br />
macht seine Mitarbeiter zufriedener und reduziert<br />
deren Überstunden. Sein Praxisteam hat viel Zeit<br />
darin investiert, die Patienten zu schulen und zu<br />
stärken, damit sie im Alltag besser mit ihrer Krankheit<br />
umgehen können. »Das hat dazu geführt«, so<br />
Rohde-Kampmann, »dass die Patienten teilweise zum
48 | 49<br />
Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Transparenz für Ärzte<br />
70 Prozent der Ärzte, dass eine Zertifizierung ledig-<br />
• Struktur: Hier geht es um die räumliche, perso-<br />
Manager ihrer Krankheit geworden sind. Wir Ärzte<br />
fangen dann nicht bei jeder Untersuchung noch einmal<br />
bei null an.« (Durst 2006) Für ihn und seine<br />
Kollegen in der Gemeinschaftspraxis bedeutet Qualitätsmanagement,<br />
sich mit dem eigenen Tun auseinanderzusetzen<br />
und dieses stetig zu verbessern –<br />
zum Wohle der Patienten. »Ein schöner Nebeneffekt<br />
des Qualitätsmanagements ist«, so Rohde-Kampmann,<br />
»dass wir durch straffere Arbeitsabläufe und weniger<br />
Überstunden jetzt 20.000 Euro mehr Gewinn pro<br />
Jahr haben.« Ein weiterer schöner Nebeneffekt: Rohde-<br />
Kampmann und seine Kollegen gewannen im Jahr<br />
2004 den Berliner Gesundheitspreis zum Thema<br />
»Hausarzt-Medizin der Zukunft« (Durst 2005).<br />
In der Industrie längst Standard, hat Qualitätsmanagement<br />
nun auch Deutschlands Arztpraxen<br />
erreicht. Die Patienten versprechen sich laut Gesundheitsmonitor<br />
der Bertelsmann Stiftung viel davon:<br />
71 Prozent der Befragten erwarten von zertifizierten<br />
Praxen oder Krankenhäusern, also solchen mit erfolgreich<br />
umgesetztem Qualitätsmanagement, eine<br />
bessere medizinische Behandlung, 62 Prozent eine<br />
bessere Organisation der Abläufe mit kürzeren<br />
Wartezeiten, weniger Doppeluntersuchungen und<br />
besserer Dokumentation der Patientenakte<br />
(Bertelsmann Stiftung 2005).<br />
Ärzte hingegen stehen dem Qualitätsmanagement<br />
und einer anschließenden Zertifzierung nicht so aufgeschlossen<br />
gegenüber, wie die Patienten es gerne<br />
hätten und wie der Hausarzt Rohde-Kampmann und<br />
seine Kollegen es vormachen. Nach der Ärztebefragung<br />
im Rahmen des Gesundheitsmonitors meinen knapp<br />
lich mehr Aufwand für sie bedeutet. Knapp 50 Prozent<br />
sehen in ihr kein wirksames Mittel zur Praxisoptimierung,<br />
und 40 Prozent glauben nicht, dass damit<br />
das Praxispersonal zu sorgfältigerem Arbeiten angeleitet<br />
werden kann (Schnee/Kirchner 2005).<br />
Ob nun Befürworter oder Skeptiker: Für alle niedergelassenen<br />
Ärzte ist es höchste Zeit, ihre tägliche<br />
Arbeit systematisch zu analysieren, für ihre Mitarbeiter<br />
transparenter zu machen und sie stetig zu<br />
verbessern, denn seit 2004 ist Qualitätsmanagement<br />
gesetzlich vorgeschrieben, und »Qualitätsmanagement<br />
in Arztpraxen dient«, so besagt es eine Definition<br />
des Bundesgesundheitsministeriums, »der<br />
kontinuierlichen Verbesserung der Patientenversorgung<br />
und Praxisorganisation. Dazu werden die<br />
Dienstleistungen, Arbeitsabläufe und Praxisbereiche<br />
in einzelnen Schritten systematisch hinterfragt.«<br />
(BMG 2005)<br />
Die Qualität einer Arztpraxis umfasst drei wesentliche<br />
Aspekte. Diese werden im Rahmen des Qualitätsmanagements<br />
begutachtet und kontinuierlich<br />
verbessert:<br />
nelle und technische Ausstattung der Praxis. Auch<br />
der Aus- und Fortbildungsstand des Arztes und<br />
seiner Mitarbeiter wird beleuchtet.<br />
• Prozess: Die beste Struktur nützt wenig, wenn die<br />
Abläufe nicht stimmen. Sie müssen zielgerichtet,<br />
zeitnah und vorab definiert sein.<br />
• Ergebnis: Entscheidend ist letztlich, ob das Behandlungsziel<br />
erreicht worden ist. Hier zählt der<br />
messbare Erfolg der Praxisarbeit, der sich u.a. in<br />
medizinischen Ergebnissen wie Heilungsquoten,<br />
den so genannten »patient reported outcomes«,<br />
oder der Patientenzufriedenheit ausdrückt.<br />
Die jetzt festgeschriebene Verpflichtung zum einrichtungsinternen<br />
Qualitätsmanagement kündigte sich<br />
lange an: Bereits das Gesundheitsstrukturgesetz von<br />
1993 beauftragte die Spitzenverbände der Kassen,<br />
die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Bundesverbände<br />
der Leistungserbringer, gemeinsam Verfahren<br />
zur Qualitätssicherung zu bestimmen. Die<br />
Kassenärztliche Bundesvereinigung verfasste daraufhin<br />
Qualitätssicherungsrichtlinien und regte Qualitätszirkel<br />
an, in denen sich Ärzte mit ihren Kollegen<br />
austauschen sollten. 1999 definierte die Gesundheits-
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Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Transparenz für Ärzte<br />
können diejenigen, die sich bereits für ein Qualitätsmanagement-System<br />
entschieden haben, bei<br />
ihrem System bleiben und Praxen, die neu einsteigen,<br />
sich ein auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenes<br />
System suchen. Aufgrund der langen Vorlaufzeit<br />
haben sich verschiedene Managementsysteme am<br />
Markt etabliert [siehe Übersicht auf der nächsten<br />
Doppelseite]. Zunächst fanden vor allem industrielle<br />
Managementmethoden wie DIN EN ISO 9001: 2000<br />
und das EFQM-Modell Anwendung. Doch weil sie<br />
auf die medizinische Versorgung nur eingeschränkt<br />
übertragbar sind, entstanden auch spezielle Konzepte<br />
für das <strong>Gesundheitswesen</strong> wie EPA, QEP, KPQM,<br />
qu.no und KTQ (Schnee/Kirchner 2005).<br />
Doch wieso gibt es überhaupt eine gesetzliche<br />
Pflicht, Qualitätsmanagement einzuführen und<br />
weiterzuentwickeln? Ist Qualitätsmanagement in<br />
der Industrie nicht auch eine freiwillige Maßnahme?<br />
In der Industrie üben die Nachfrager Druck aus.<br />
Ein Zulieferer in der Automobilindustrie beispielsweise<br />
hat gegen die Konkurrenz keine Chance,<br />
wenn er auf Qualitätsmanagement verzichtet. Im<br />
<strong>Gesundheitswesen</strong> funktioniert das nicht, weil die<br />
Anreize für Ärzte gering sind, freiwillig Qualitätsministerkonferenz<br />
eine einheitliche Strategie für<br />
Qualitätsmanagement, die sich schließlich 2004 als<br />
gesetzliche Verpflichtung zum Qualitätsmanagement<br />
im Fünften Sozialgesetzbuch niederschlug.<br />
Langer Vorlauf bis zur flächendeckenden<br />
Umsetzung<br />
Diese Pflicht inhaltlich auszugestalten war Aufgabe<br />
des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA),<br />
der Anfang 2006 entsprechende Richtlinien verabschiedete<br />
und die Grundelemente und Instrumente<br />
des einrichtungsinternen Qualitätsmanagements<br />
festschrieb (G-BA 2005). Und noch immer dauert<br />
es, bis wirklich alle Praxen ein Qualitätsmanagement<br />
betreiben: Die Ärzte dürfen sich bis zu fünf<br />
Jahre Zeit lassen, die Vorgaben umzusetzen. Diese<br />
Großzügigkeit geht allerdings zu Lasten derjenigen<br />
Patienten, die auf ein funktionierendes Qualitätsmanagement<br />
in Arztpraxen schon jetzt Wert<br />
legen.<br />
Arztpraxen können zwischen den Qualitätsmanagement-Systemen<br />
frei wählen, solange<br />
sie den Ansprüchen des G-BA genügen. Damit<br />
management einzuführen: Den Krankenkassen fehlt<br />
das Druckmittel, weil sie mit den Kassenärztlichen<br />
Vereinigungen, also mit allen Kassenärzten, Kollektivverträge<br />
abschließen müssen – die Kassen können<br />
nur sehr eingeschränkt bessere Ärzte, die etwa eine<br />
Zertifizierung ihres Qualitätsmanagements oder eine<br />
medizinische Ergebnisqualität nachweisen können,<br />
mit attraktiven Verträgen belohnen. Und weniger<br />
qualitätsorientierte Ärzte können nicht vom Kollektivvertrag<br />
und der kollektiven Bezahlung ausgeschlossen<br />
werden.<br />
Gesetzliche Pflicht oder<br />
Druck durch die Kassen?<br />
Insofern haben Gesetzgeber und Gemeinsamer<br />
Bundesausschuss die fehlende Verhandlungsmacht<br />
der Kassen durch Paragraphen und Richtlinien<br />
ersetzt. Mancher Versicherter wird sich fragen,<br />
was langfristig sinnvoller ist: den Ärzten Qualitätsmanagement<br />
zu verordnen und zu kontrollieren,<br />
ob sie ihrer gesetzlichen Pflicht nachkommen – oder<br />
die Position der Kassen zu stärken? Das hieße, den<br />
Kassen mehr Möglichkeiten einzuräumen, unterschiedliche<br />
Einzelverträge mit ausgewählten Ärzten<br />
abzuschließen, so dass einzelne Ärzte, ähnlich<br />
wie die Automobilzulieferer, unter Druck stehen,<br />
freiwillig und gewissenhaft Qualitätsmanagement<br />
einzuführen.<br />
Der Gesetzgeber hat sich vor allem für Variante<br />
eins entschieden, also Qualitätsmanagement vorzuschreiben<br />
und die Einhaltung zu kontrollieren.<br />
Für die Überprüfung sollen die Kassenärztlichen<br />
Vereinigungen so genannte Qualitätsmanagement-<br />
Kommissionen mit mindestens drei besonders<br />
qualifizierten Mitgliedern einrichten. Aufgabe jeder<br />
Kommission ist es, einmal jährlich eine von 40<br />
Praxen – also nur 2,5 Prozent aller Praxen – nach<br />
dem Zufallsprinzip zu bewerten und die Ergebnisse<br />
an die KBV zu schicken, die diese für einen gemeinsamen<br />
Bericht an den G-BA aufbereitet. Ab 2011<br />
wird der G-BA die Ergebnisse und begleitende<br />
wissenschaftliche Studien schließlich auswerten,<br />
veröffentlichen und, wenn nötig, dann doch bestimmte<br />
Qualitätsmanagement-Systeme vorschreiben<br />
und Sanktionen für Ärzte festlegen. Die Kontrollfunktion<br />
der Kassenärztlichen Vereinigungen hat<br />
allerdings einen Haken: Sind sie nicht selbst Anbieter<br />
groß umworbener Qualitätsmanagement-Systeme?
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Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Transparenz für Ärzte<br />
Übersicht Qualitätsmanagement-Systeme und Zertifizierung<br />
DIN EN ISO 9001:2000<br />
EPA<br />
KTQ<br />
sprechend einen schrittweisen und praxisbezogenen<br />
Der branchenneutrale »Klassiker« der ISO-Norm<br />
Das »European Practice Assessment« entstand<br />
Das KTQ-Modell (»Kooperation für Transparenz<br />
Aufbau eines Qualitätsmanagement-Systems.<br />
orientiert sich im Wesentlichen an Prozessen und<br />
als wissenschaftliches Gemeinschaftsprojekt der<br />
und Qualität im <strong>Gesundheitswesen</strong>«) wurde ur-<br />
Externe Dritte können die Prozesse, Verfahren<br />
ist weltweit standardisiert. Das Verfahren wird<br />
Bertelsmann Stiftung mit dem AQUA-Institut und<br />
sprünglich für Krankenhäuser entwickelt und<br />
und Ergebnisse prüfen und zertifizieren.<br />
in so genannten Audits bewertet und mit der<br />
TOPAS Germany auf der Grundlage des nieder-<br />
anschließend für Praxen angepasst. Es handelt sich<br />
(www.kbv.de/themen/qualitaetsmanagement.html)<br />
Vergabe eines Zertifikates abgeschlossen.<br />
ländischen Visitationsmodells. EPA gewährleistet<br />
um ein Bewertungsmodell, das die Durchführung<br />
(www2.din.de)<br />
anhand einer umfassenden, indikatorengestützten<br />
einer Selbstbewertung anhand eines Kataloges<br />
qu.no und KPQM 2006<br />
Selbst- und Fremdbewertung, einer Patienten- und<br />
erfordert. Diesbezüglich legt das Verfahren seinen<br />
Die Qualitätsmanagement-Systeme der Kassenärzt-<br />
EFQM<br />
Mitarbeiterbefragung sowie eines strukturierten<br />
Schwerpunkt auf individuelle Lösungsansätze der<br />
lichen Vereinigungen Nordrhein bzw. Westfalen-Lippe<br />
Das Exzellenz-Modell der »European Foundation<br />
Feedbacks eine nachhaltige und umfangreiche<br />
Praxis. (www.ktq.de)<br />
sind speziell für die Arztpraxis entwickelt worden.<br />
for Quality Management« (EFQM) hat einen ganz-<br />
Unterstützung bei der Qualitätsverbesserung.<br />
Sie zielen vor allem auf die Prozessperspektive ab.<br />
heitlichen Ansatz und ist ein international akzeptier-<br />
Eine Benchmarking-Datenbank erlaubt einen detail-<br />
QEP<br />
Wegen ihres modularen Aufbaus können sie weiter-<br />
tes Modell für die Entwicklung eines dynamischen<br />
lierten und anonymen Vergleich mit strukturgleichen<br />
Das Modell »Qualität und Entwicklung in Praxen«<br />
entwickelt werden.<br />
Qualitätsmanagements. Es legt eine Selbstbewertung<br />
Praxen und den jeweils besten Praxen auf nationaler<br />
ist von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung<br />
(www.kvno.de/mitglieder/qualitaet/qualmanage/<br />
zugrunde. Ein Zertifikat wird nicht ausgestellt, hin-<br />
und internationaler Ebene. (www.europaeisches-<br />
(KBV) für den niedergelassenen Bereich entwickelt<br />
www.kvwl.de/arzt/q_sicherung/qm/index.htm)<br />
gegen können sich die Einrichtungen für einen Preis<br />
praxisassessment.de; Liste der nach EPA zertifizierten<br />
worden. Für die Einführung und Umsetzung dient<br />
bewerben. (www.deutsche-efqm.de)<br />
Praxen bei www.stiftung-praxissiegel.de)<br />
ein Qualitätszielkatalog als Orientierungshilfe.<br />
Es ermöglicht den Vorkenntnissen der Praxis ent-<br />
[Wir übernehmen keine Haftung für die Richtigkeit und Vollständigkeit<br />
der Informationen auf den angegebenen Internetseiten.]
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Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Transparenz für Ärzte<br />
Wie ernsthaft werden die Kassenärztlichen Vereinigungen<br />
Praxen kontrollieren, die die von ihnen angebotenen<br />
Qualitätsmanagement-Systeme anwenden?<br />
Eine weitere Analogie mit der Automobilindustrie<br />
drängt sich auf: Die Automobilhersteller würden<br />
kaum einen monopolartig organisierten Verband<br />
der Zulieferindustrie, wenn es ihn denn gäbe, damit<br />
beauftragen zu überprüfen, ob seine zahlenden Mitglieder<br />
gewissenhaft Qualitätsmanagement betreiben –<br />
vor allen Dingen nicht dann, wenn dieser Verband<br />
zuvor ein eigenes Qualitätsmanagement-System<br />
entwickelt und dafür kräftig die Werbetrommel<br />
gerührt hätte. Hier stehen die Kassenärztlichen<br />
Vereinigungen in einem Rollenkonflikt. Es scheint,<br />
als ob beim Qualitätsmanagement für Arztpraxen<br />
der Bock zum Gärtner gemacht wird.<br />
Zertifikat als Aushängeschild<br />
für Qualität<br />
Abzuwarten bleibt, wie einzelne Ärzte, unabhängig<br />
von ihrer Zwangsmitgliedschaft in den Kassenärztlichen<br />
Vereinigungen, in den nächsten Jahren<br />
zum Qualitätsmanagement stehen: Sie können es<br />
als lästige Pflicht ansehen. Oder sie begreifen es<br />
als Chance für mehr Transparenz über ihre praxisinternen<br />
Abläufe und für Qualitätsverbesserungen –<br />
und als Aushängeschild für ihre Patienten und die<br />
Krankenkassen. Denn wenn die Verhandlungsposition<br />
der Kassen langfristig steigt und sie immer<br />
mehr einzelne Verträge mit ausgewählten Ärztegruppen,<br />
Medizinischen Versorgungszentren oder<br />
Krankenhäusern vereinbaren, dann werden auch<br />
Qualitätsanforderungen wie eine Zertifizierung oder<br />
eine bestimmte medizinische Ergebnisqualität ein<br />
nachzuweisender Vertragsinhalt.<br />
Auch dem gut informierten und qualitätsorientierten<br />
Patienten kommt hierbei eine bedeutsame Rolle zu:<br />
Wenn er nur solche Ärzte auswählt, die ein gut funktionierendes<br />
Qualitätsmanagement-System haben<br />
und dieses auch den Patienten gegenüber durch ein<br />
Zertifikat dokumentieren, wird der Druck auf die<br />
Ärzte steigen. Dem Qualitätsmanagement gegenüber<br />
aufgeschlossene Ärzte wie Dr. Rohde-Kampmann und<br />
seine Kollegen werden sicherlich weiterhin vertrauenswürdige<br />
Ansprechpartner für ihre Patienten und<br />
zunehmend attraktive Vertragspartner für Kassen<br />
sein.<br />
Literatur<br />
• Bertelsmann Stiftung (2005): Gesundheitsmonitor, Welle VIII.<br />
Tabellarische Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung<br />
im März/April 2005. Eine Studie der TNS Healthcare im Auftrag der<br />
Bertelsmann Stiftung. München.<br />
• Bundesministerium für Gesundheit (BMG) (Hrsg.) (2005): Einführung<br />
in die Begriffe. www.die-gesundheitsreform.de/zukunft_entwickeln/<br />
qualitaetsmanagement/hintergruende/index.html.<br />
• Durst, C. (2005): Interview »Mehr Motivation und zufriedene<br />
Patienten«. In: Gesundheit und Gesellschaft (8), 7–8, 36–37.<br />
• Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA) (2005): Richtlinie über grundsätzliche<br />
Anforderungen an ein einrichtungsinternes Qualitätsmanagement<br />
für die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden<br />
Ärzte, Psychotherapeuten und medizinischen Versorgungszentren.<br />
18.10.2005.<br />
• Schnee, M.; Kirchner, H. (2005): Qualitätsmanagement und<br />
Zertifizierung. In: Böcken, J.; Braun, B.; Schnee, M.; Amhof, R.<br />
(Hrsg.): Gesundheitsmonitor 2005. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung,<br />
41–53.
56 | 57<br />
Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Transparenz für Ärzte<br />
QUALITÄTSTRANSPARENZ IN DEN USA:<br />
»TRANSPARENZ SPORNT ÄRZTE AN«<br />
Interview mit Joachim Roski, Vizepräsident des National Committee<br />
for Quality Assurance (NCQA), über Transparenz in der Gesundheitsversorgung<br />
in den USA und Deutschland.<br />
Herr Roski, die landläufige Meinung in Deutschland<br />
über die Gesundheitsversorgung in den USA ist eher<br />
verhalten. Können wir bezüglich Qualitätssicherung<br />
und Transparenz etwas von den Amerikanern lernen?<br />
Ich gebe Ihnen Recht, in vielen Bereichen ist die Gesundheitsversorgung<br />
in den USA sicherlich kein Vorbild. Man denke<br />
allein schon an die 45 Millionen Menschen, die keine Krankenversicherung<br />
haben. In Bezug auf Transparenz könnte<br />
Deutschland allerdings von den USA lernen: Arbeitgeber und<br />
Bürger können dort leicht verständliche Informationen über<br />
die Qualität von Gesundheitsanbietern im Internet abrufen.<br />
Warum gibt es in den USA mehr Transparenz?<br />
Die Arbeitgeber zahlen in den USA bis zu 100 Prozent der<br />
Krankenversicherungsprämie. Die Unternehmen handeln<br />
mit den Krankenversicherungen Verträge für teilweise<br />
Zigtausende von Mitarbeitern und deren Angehörige aus.<br />
Dadurch haben sie mehr Verhandlungsmacht als ein einzelner<br />
Versicherter. Gewerkschaften und Arbeitgeber machen Druck,<br />
das Preis-Leistungs-Verhältnis der Krankenversicherungen<br />
offenzulegen. Und um das Preis-Leistungs-Verhältnis von<br />
unterschiedlichen Krankenversicherungen vergleichen<br />
zu können, brauchen die Arbeitgeber nicht nur Transparenz<br />
über die Prämienhöhe, sondern auch über die Qualität.<br />
Heißt das: niedrige Prämie gleich niedrige Qualität?<br />
Ganz und gar nicht! In mehreren großen wissenschaftlichen<br />
Studien ist wiederholt festgestellt worden, dass es im amerikanischen<br />
Gesundheitssystem keinen zwingenden Zusammenhang<br />
zwischen Qualität und Kosten gibt. Das ist für<br />
viele Konsumenten – Patienten – und auch Leistungserbringer<br />
immer wieder eine Riesenüberraschung. Es gibt teure Versicherungen<br />
mit guter und schlechter Qualität. Und es gibt<br />
günstige Versicherungen mit genauso guter und schlechter<br />
Qualität. Das heißt, um in den USA eine Versicherung oder<br />
einen Versorgungsanbieter zu wählen, <strong>braucht</strong> man sowohl<br />
aussagekräftige Informationen über die Qualität der Leistungen<br />
als auch über die Höhe der Kosten beziehungsweise abgeleitet werden, die angeben, wie viele Patienten die<br />
Ressourcen, die aufgewendet werden, um diesen Qualitätsstandard<br />
zu erreichen.<br />
die NCQA diese Qualitätsdaten, wertet sie aus und ver-<br />
»ideale Versorgung« erhalten haben. In den USA sammelt<br />
öffentlicht sie.<br />
Kann man Qualität in der Medizin überhaupt messen?<br />
Selbstverständlich! Die Medizin ist eine sehr wissenschaftlich<br />
ausgerichtete Disziplin. Die medizinische Forschung Zum Beispiel messen wir, bei wie vielen Diabetespatienten<br />
Könnten Sie das an einem Beispiel konkretisieren?<br />
untersucht und vergleicht in Forschungsvorhaben, wie wirksam<br />
unterschiedliche Präventions-, Diagnose- und Behandund<br />
Cholesterinwerte kontrolliert werden. Wenn ein Gesund-<br />
regelmäßig die Augen und Füße untersucht und Blutzuckerlungsverfahren<br />
sind. Die Ergebnisse werden dann häufig heitsversorger bei allen Qualitätsindikatoren in dieser Kategorie<br />
sehr gute Werte hat, bekommt er von uns in dieser<br />
von Facharztgesellschaften in entsprechende Behandlungspfade<br />
oder Leitlinien »übersetzt« und als »Idealversorgung« Kategorie vier Sterne, wie man sie von Hotel- und Restaurantführern<br />
kennt. Dieses leicht verständliche Bewertungssystem<br />
proklamiert – von denen der Arzt in begründeten Fällen oder<br />
Ausnahmesituationen natürlich abweichen kann. Aus diesen hilft Patienten wie auch Ärzten bei der Auswahl eines Ärztenetzwerkes<br />
oder Integrierten Versorgungssystems.<br />
Leitlinien können in einem nächsten Schritt Indikatoren<br />
Dr. Joachim Roski ist Vizepräsident des National Committee for Quality Assurance<br />
(NCQA), eine Art »Stiftung Warentest für das <strong>Gesundheitswesen</strong>« in den USA.<br />
Das NCQA bewertet die Qualität unterschiedlicher Gesundheitsversorger wie<br />
Ärztegruppen oder Managed-Care-Organisationen. 170 Mitarbeiter und externe<br />
Gutachter evaluieren die Leistungsstärke von verschiedenen Anbietern, werben<br />
Forschungsgelder ein und führen Forschungsaufträge durch. Die unabhängige und<br />
gemeinnützige Einrichtung erhält keine Steuergelder – der Gesamthaushalt von<br />
rund 26 Millionen Dollar wird selbst eingespielt.
58 | 59 Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Transparenz für Ärzte<br />
Sie fassen also Qualitätsindikatoren in bestimmte<br />
Kategorien zusammen. Was sind das für Kategorien?<br />
Es gibt fünf Kategorien: Zugang und Service, Qualifikation<br />
der Ärzte und Pflegekräfte, Prävention, Akutbehandlung<br />
und die Behandlung von Chronikern. Auf unserer Internetseite<br />
kann man durch die Sternebewertung auf einen Blick<br />
erkennen, wie gut die Gesundheitsversorger pro Kategorie<br />
abschneiden. Und wer mehr wissen möchte, kann mehr Informationen<br />
pro Kategorie erhalten, bis hinunter zum einzelnen<br />
Qualitätsindikator wie den Augen- und Fußuntersuchungen<br />
bei Diabetikern.<br />
Die Ergebnisse des Gesundheitsmonitors der Bertelsmann<br />
Stiftung zeigen, dass Patienten nicht nur auf die medizinische<br />
Qualität Wert legen. Ihnen sind auch Aspekte wie<br />
die Freundlichkeit der Ärzte und des Pflegepersonals<br />
oder die Sauberkeit in Behandlungszimmern wichtig.<br />
Bilden Ihre Indikatoren auch diese Bereiche ab?<br />
Ja, die NCQA speist ihre Qualitätsdaten aus zwei Quellen.<br />
Die eine Quelle sind Diagnose- und Abrechnungsdaten, die<br />
Ärzte und Krankenhäuser an die Versicherungen melden.<br />
Und die zweite Quelle sind standardisierte Patientenbefragungen,<br />
die Fragen beinhalten wie »Wie respektvoll bin ich<br />
behandelt worden?«, »Wie aufmerksam haben mir der Arzt<br />
und die Pflegekräfte zugehört?« und »Wie gut wurden mir die<br />
Sachverhalte erklärt?« In jede der fünf Qualitätskategorien<br />
fließen also sowohl klinische Daten als auch Umfrageergebnisse<br />
ein.<br />
Es zeigt sich immer wieder, dass die Mehrzahl der<br />
Patienten zwar Qualitätsinformationen wünscht, sie<br />
aber dann doch nicht nutzt, wenn sie vorhanden und<br />
verfügbar sind. Lohnt sich der ganze Aufwand überhaupt?<br />
Ja, auf jeden Fall. Das Interessante ist, dass Transparenz für<br />
Arztpraxen und Krankenhäuser ein Ansporn ist, sich zu verbessern<br />
und gegenüber der »Konkurrenz« besser dazustehen. Wenn<br />
jemand sieht, dass in seiner Organisation die Patienten nicht<br />
so gut behandelt und betreut werden wie anderswo, dann will<br />
er von diesen besseren Organisationen lernen. Alle fühlen sich<br />
angespornt: Manager, Ärzte und Pflegepersonal. Selbst wenn<br />
sich nur zehn oder 20 Prozent der Patienten intensiv mit der<br />
Qualität von Arztpraxen und Krankenhäusern auseinandersetzen<br />
– Transparenz erhöht den Druck auf alle, bessere Qualität<br />
anzubieten. Und die kommt letztlich allen Patienten zugute.<br />
Das heißt, die Qualität steigt insgesamt an?<br />
Ja, und genau das stellen wir seit Beginn unserer Arbeit<br />
immer wieder fest. 1997 haben wir den ersten Qualitätsbericht<br />
aufgelegt. Damals wurden beispielsweise nur 40 Prozent aller<br />
Kinder gegen Windpocken geimpft. Heute beträgt die Rate<br />
82 Prozent, und dieser enorme Anstieg ist sicherlich auch auf<br />
die Qualitätsmessungen und die Veröffentlichungen durch die<br />
NCQA zurückzuführen.<br />
Das heißt, dass amerikanische Ärzte gegenüber der<br />
Qualitätsmessung und der Veröffentlichung von Qualitätsergebnissen<br />
aufgeschlossen sind?<br />
Zu Beginn war das Misstrauen der Ärzte sehr hoch. Sie waren<br />
zunächst skeptisch, ob Qualität wirklich sinnvoll und aussagekräftig<br />
gemessen werden kann. Doch das Bewusstsein, dass<br />
man darüber Rechenschaft ablegt, wie mit den Versichertengeldern<br />
umgegangen wird, hat sich durchgesetzt. Mittlerweile<br />
erhalten Gesundheitsversorger zum Teil sogar eine höhere<br />
Vergütung, wenn sie eine bessere Qualität anbieten als andere.<br />
Was halten Sie vom Stand der Dinge zur Qualitätstransparenz<br />
in Deutschland?<br />
Soweit ich weiß, müssen die Krankenhäuser in Deutschland<br />
nicht nur Qualitätsberichte veröffentlichen, sondern auch<br />
Qualitätsindikatoren an die Bundesgeschäftsstelle Qualitätssicherung<br />
liefern. In nur wenigen Ländern der Welt gibt es ein<br />
vergleichbares nationales Verfahren zur Qualitätsdarstellung<br />
und Datensammlung, das alle Krankenhäuser einschließt. Die<br />
Basis für Qualitätstransparenz ist da, keine Frage.<br />
… aber?<br />
Der Schatz der Qualitätsdaten, die die Krankenhäuser an diese<br />
Bundesgeschäftsstelle liefern, wird nicht gehoben. Die Qualitätsdaten<br />
der Krankenhäuser werden nicht patientengerecht<br />
veröffentlicht. Die Bürger in Deutschland können sich nicht<br />
darüber informieren, wie gut ihr Krankenhaus im Vergleich<br />
zu anderen bei einzelnen Operationen abschneidet, obwohl die<br />
Daten vorliegen. In den Qualitätsberichten der Krankenhäuser<br />
tauchen diese wirklich spannenden Daten der Bundesgeschäftsstelle<br />
nämlich nicht auf. Daten über die Qualität von Arztpraxen<br />
und anderen Versorgungseinrichtungen werden zurzeit<br />
wegen fehlender Infrastruktur noch nicht erhoben. Da gibt es<br />
sicherlich noch einiges zu tun.<br />
Was empfehlen Sie, damit auch in Deutschland die<br />
Qualität der Gesundheitsversorgung transparenter wird?<br />
Der Datenschatz, den die Bundesgeschäftsstelle angesammelt<br />
hat, sollte gehoben werden. Dann können Patienten unterschiedliche<br />
Krankenhäuser in ihrer Region vergleichen. Wichtig ist,<br />
dass die Daten benutzerfreundlich aufbereitet werden. Was<br />
zusätzlich fehlt, sind systematisch erhobene Daten über die<br />
Patientenzufriedenheit im Krankenhaus sowie über die Qualität<br />
von Arztpraxen, ebenfalls inklusive Patientenzufriedenheit.<br />
Das sind aus meiner Sicht die nächsten großen Schritte für<br />
Deutschland auf dem Weg zu mehr Qualitätstransparenz.
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Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Transparenz für Ärzte<br />
BEZAHLEN NACH LEISTUNG:<br />
GUT FÜR QUALITÄT UND TRANSPARENZ?<br />
vergeblich nach unabhängigen, systematischen und<br />
gleichzeitig leicht verständlichen Auswahlhilfen –<br />
da bietet die Gastronomie mit ihrem einfachen<br />
Sternesystem mehr Hilfestellung. Darüber hinaus<br />
verdienen bessere Ärzte nicht automatisch mehr,<br />
In den USA und Großbritannien hängt seit einigen Jahren ein Teil des ärztlichen<br />
denn ihre Vergütung, die zwischen den Kassen- und<br />
Einkommens von der Qualität ab. Wer medizinische, patientenorientierte und<br />
Ärzteverbänden kollektiv ausgehandelt wird, hängt<br />
informationstechnologische Ansprüche erfüllt, kann Bonusprämien beziehen.<br />
überwiegend von der Quantität und nicht von der<br />
Bisherige Bilanz: Die gemessene Qualität steigt, doch noch sind viele Fragen offen.<br />
Qualität ihrer Leistungen ab.<br />
In Deutschland ist das Bezahlen nach Leistung noch Zukunftsmusik – hierzulande<br />
muss Qualität erst einmal gemessen werden.<br />
Die Idee, auch Ärzte nach ihrer Leistung zu bezah-<br />
wirtschaftlich ausgerichteten <strong>Gesundheitswesen</strong> der<br />
tern (Health Maintenance Organizations) in 41 Groß-<br />
len, klingt vielversprechend. Qualitätstransparenz<br />
USA entstanden zahlreiche unterschiedliche Initia-<br />
stadtgebieten der USA ergab, dass bereits die Hälfte<br />
spielt dabei eine Schlüsselrolle: Zum einen ist sie<br />
tiven. Auf den Britischen Inseln hingegen war es der<br />
der Health Maintenance Organizations P4P-Programme<br />
Für Restaurants ist es eine Binsenweisheit: Wer gute<br />
notwendige Voraussetzung für Qualitätsmessung<br />
nationale Gesundheitsdienst, der ein qualitätsbezo-<br />
in ihre Verträge aufgenommen hatten (Rosenthal<br />
Qualität bietet, verdient auch gut, wer dagegen zum<br />
und -bewertung – wer Qualität beurteilen will, muss<br />
genes Vergütungsprogramm flächendeckend für alle<br />
2006). Von ihnen boten 90 Prozent Programme für<br />
gleichen Preis schlechtere Qualität bietet, wird auf<br />
Dateneinsicht haben. Zum anderen ist eine transpa-<br />
Arztpraxen einführte.<br />
Arztpraxen an, 38 Prozent für Krankenhäuser.<br />
Dauer Kunden verlieren. Gerade die hohe Restaurantdichte<br />
in den Städten macht es unzufriedenen Kunden<br />
leicht, zur Konkurrenz abzuwandern. Für Arztpraxen,<br />
Krankenhäuser und Rehakliniken, so sollte<br />
rente Dokumentation von Leistungsdaten ein Qualitätsmerkmal<br />
an sich – ein Anbieter, der nichts zu<br />
verbergen hat, bietet höhere Qualität als ein Geheimniskrämer,<br />
der vor der Veröffentlichung seiner<br />
Pay for Performance in den USA:<br />
Unterschiedliche Initiativen …<br />
P4P-Programme waren von Anfang an eine Gemeinschaftsaktion:<br />
Sie wurden von Arbeitgebern, die in<br />
den USA hauptsächlich die Krankenversicherungs-<br />
man meinen, gelten dieselben Marktgesetze. Tatsäch-<br />
Leistung zurückschreckt.<br />
Im Jahr 2002 wurden in Kalifornien so genannte Pay-<br />
prämien ihrer Mitarbeiter bezahlen, von Kranken-<br />
lich aber verhindern mehrere Faktoren, dass sich<br />
for-Performance-Programme, abgekürzt P4P, eingeführt<br />
versicherungen und von Ärztegruppen gemeinsam<br />
die Anbieter im <strong>Gesundheitswesen</strong> dem Qualitäts-<br />
Vor allem in den USA und Großbritannien wurden<br />
(IHA 2006). In kürzester Zeit hat sich P4P auf breiter<br />
entworfen. Für das kalifornische Programm taten<br />
wettbewerb ebenso stellen müssen wie Restaurants:<br />
bereits vor Jahren Initiativen für eine leistungsbe-<br />
Basis in den USA etabliert: Eine im November 2006<br />
sich sieben Health-Plans zusammen, an die rund<br />
So suchen Bürger mit Gesundheitsbeschwerden<br />
zogene Vergütung gestartet: Im überwiegend markt-<br />
veröffentlichte Umfrage unter 252 Versorgungsanbie-<br />
6,2 Millionen Versicherte und 225 Ärztegruppen mit
62 | 63<br />
Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Transparenz für Ärzte<br />
versorgung erfasst und ausgewertet werden und die<br />
Ärzte elektronische Entscheidungshilfen anwenden.<br />
… mit ersten Erfolgen<br />
in Kalifornien<br />
Welche Ergebnisse wurden in Kalifornien mit den<br />
P4P-Programmen erzielt? Wie erhofft, hat sich die<br />
Qualität erhöht: 87 Prozent der Ärztegruppen konnten<br />
ihre klinischen Leistungen in den Parametern<br />
Gebärmutterhals- und Brustkrebs-Screening, Blutzuckertests,<br />
Cholesterin-Screening und Asthmamanagement<br />
verbessern, und zwar um durchschnittlich<br />
5,3 Prozent. Bei der Bewertung durch ihre<br />
Patienten verbesserten sich 66 Prozent der Ärztegruppen,<br />
und zwar um durchschnittlich 1,2 Prozent.<br />
Und 54 Prozent mehr Gruppen als im Jahr zuvor<br />
erhielten Prämien für ihre IT-Ausstattung.<br />
Auch die Transparenz wurde erhöht und der Zugang<br />
zu Informationen verbessert: Die Ergebnisse<br />
werden verbrauchergerecht nach einem 4-Sterne-<br />
Bewertungsschema veröffentlicht – und das in<br />
mehreren Sprachen. Wer sich über die Leistungen<br />
der Praxen in seiner Umgebung informieren möchte,<br />
35.000 Ärzten angeschlossen waren. Die Ziele lauten:<br />
mehr Transparenz über die Qualität der Versorgung,<br />
eine Drosselung des Prämienanstiegs, ein besseres<br />
Preis-Leistungs-Verhältnis, bessere Betreuung von<br />
Chronikern, mehr Prävention, eine stärkere Gewichtung<br />
der Zufriedenheit von Versicherten und Patienten<br />
sowie mehr Anreize für eine kostengünstigere<br />
und bessere Behandlung.<br />
Belohnt werden Qualitätsverbesserungen von<br />
Ärztegruppen in drei Bereichen, wobei nicht jedes<br />
Programm alle Bereiche honoriert (IHA 2006):<br />
• Medizinische Versorgung: Hier geht es um Erfolgsparameter<br />
in der Behandlung von chronisch<br />
Kranken, wie Diabetes- und Asthmapatienten, und<br />
um die Menge geleisteter Vorsorge-Untersuchungen<br />
und Kinderschutzimpfungen.<br />
• Patientenbeurteilung: Wie gut eine Praxis auf<br />
die Bedürfnisse der Patienten eingeht, erfasst ein<br />
standardisierter Patientenfragebogen. Die Patienten<br />
beurteilen beispielsweise die Kommunikation mit<br />
dem Arzt, die fachärztliche Versorgung, die Wartezeit<br />
sowie den Gesamteindruck.<br />
• Investitionen in IT: Mit entsprechender Hard- und<br />
Software können Daten für eine bessere Patientenkann<br />
auf der Homepage der Integrated Healthcare<br />
Association unter »http://iha.ncqa.org/reportcard/«<br />
seinen Verwaltungsbezirk anwählen, und schon<br />
erscheint – wie im Hotelführer – eine Liste der Praxen<br />
mit ihren jeweiligen Sternen für die Gesamtleistung<br />
und einzelne Kategorien.<br />
Viele offene Punkte beim P4P<br />
in den USA<br />
In einigen Punkten gibt es noch enormen Diskussionsbedarf.<br />
Hier die größten Herausforderungen:<br />
1. Niveau oder Verbesserung belohnen? Es ist bislang<br />
unklar, ob die P4P-Programme das Erreichen<br />
und Halten eines Qualitätsniveaus oder jedwede<br />
Qualitätssteigerung honorieren sollen. Wenn sie<br />
ein Mindestniveau garantieren sollen, müssen<br />
Schwellen festgelegt werden, bei deren Überschreiten<br />
die Bonuszahlung endet. Ärzte, die über dem<br />
Standard liegen, haben dann keinen finanziellen<br />
Anreiz mehr für weitere Qualitätsverbesserungen.<br />
Wenn andererseits jede Qualitätsverbesserung<br />
honoriert würde, hätten es Ärztegruppen mit niedrigerem<br />
Ausgangsniveau leichter, würden aber für<br />
etwas belohnt, was andere Gruppen schon längst<br />
erreicht hätten. Am besten wäre es, Prämien für<br />
Mindestqualität mit denen für Qualitätsverbesserungen<br />
zu kombinieren.<br />
2. Wie mit unterschiedlichen Patientengruppen<br />
umgehen? Es gibt immer Praxen mit überdurchschnittlich<br />
vielen chronisch kranken Patienten und<br />
solchen, die Behandlungen schneller abbrechen.
64 | 65<br />
Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Transparenz für Ärzte<br />
Diese Praxen würden aufgrund ihrer schwierigen<br />
Patientenklientel unter Umständen schlechtere<br />
Werte abliefern und wären deshalb unabhängig<br />
von ihrer tatsächlichen Qualität benachteiligt<br />
(Bodenheimer 2005). In einem solchen Falle könnten<br />
Ärzte versucht sein, schwierige Patienten zu<br />
vergraulen – also ausgerechnet jene, die intensivere<br />
Betreuung bräuchten. Um dies zu vermeiden,<br />
könnte man die Qualitätsvergütung an die<br />
jeweiligen Patientenstrukturen anpassen.<br />
3. Bonus aus bestehendem Budget zahlen? Bislang<br />
sind die Boni zusätzliches Geld. Ärzte fürchten<br />
aber, dass langfristig der Finanztopf für sie gleich<br />
groß bleiben und der ausgeschüttete Bonus an<br />
anderer Stelle vom Honorar abgezogen wird. Diese<br />
Sorge ist nur zum Teil berechtigt: Durch Qualitätsverbesserungen<br />
können Kosten sinken, etwa bei<br />
besserer Fehlervermeidung. Sinkende Kosten bei<br />
konstantem Budget hätten dann sogar steigende<br />
Einkommen zur Folge.<br />
4. Teaching for the test? Es besteht die Gefahr, dass<br />
sich Ärzte insbesondere auf die Untersuchungen und<br />
Behandlungen konzentrieren, die im Rahmen des<br />
P4P gemessen und belohnt werden. Darunter könnte<br />
die Versorgung von Patienten mit seltenen, im<br />
P4P nicht abgebildeten Krankheiten leiden. Helfen<br />
würden zusätzliche Indikatoren, allerdings um den<br />
Preis eines größeren Dokumentationsaufwandes.<br />
QOF in Großbritannien …<br />
In Großbritannien startete eine Initiative zur leistungsbezogenen<br />
Vergütung von Hausärzten etwas später<br />
als in den USA, dafür aber einheitlich und landesweit.<br />
Obwohl das so genannte United Kingdom’s<br />
Quality and Outcomes Framework (QOF) nicht verpflichtend<br />
ist, machen fast alle Ärzte mit. Das QOF<br />
bewertet Gemeinschaftspraxen von Hausärzten nach<br />
146 Indikatoren, für die sie insgesamt 1.050 Punkte<br />
erzielen können. Die Indikatoren verteilen sich auf<br />
vier Kategorien (NHS 2006):<br />
• Medizinische Versorgung, die wichtigste der<br />
vier Kategorien: 76 Indikatoren beziehen sich<br />
auf zehn chronische Erkrankungen, und es gibt<br />
maximal 550 Punkte, also mehr als die Hälfte<br />
der Gesamtpunktzahl [Abbildung 1].<br />
• Organisation: In fünf Bereichen von der Patientenakte<br />
über die Erreichbarkeit der Praxis bis hin<br />
zum Praxismanagement gibt es für 56 Indikatoren<br />
maximal 184 Punkte.<br />
Abbildung 1:<br />
Wofür britische Ärzte in der Kategorie »medizinische<br />
Versorgung« belohnt werden: Zehn chronische Erkrankungen,<br />
sortiert nach maximal erreichbaren Punkten<br />
Koronare Herzkrankheit 121<br />
Bluthochdruck<br />
Diabetes mellitus<br />
Asthma<br />
Bronchitis<br />
Psychische Erkrankungen<br />
Schlaganfall<br />
Epilepsie<br />
Krebs<br />
Schilddrüsenunterfunktion<br />
105<br />
99<br />
72<br />
45<br />
41<br />
31<br />
16<br />
12<br />
8<br />
Maximal erreichbare Gesamtpunktzahl: 550<br />
Quelle: Department of Health (2005)<br />
• Patientenerfahrungen: Diese Kategorie umfasst<br />
zwei Bereiche, und zwar Länge des Arzt-Patienten-<br />
Gesprächs und Patientenbefragungen. Für vier<br />
Indikatoren können maximal 100 Punkte erzielt<br />
werden. Der Indikator mit dem höchsten Punktwert<br />
ist die Befragung an sich: Für eine standardisierte<br />
Patientenbefragung einmal pro Jahr erhält<br />
die Praxis 40 Punkte.<br />
• Zusätzliche Services: Hiermit sind vier Bereiche<br />
zur Vorsorge, nämlich Gebärmutterhals-Screening,<br />
Vorsorgeuntersuchungen für Kinder, Schwangerenbetreuung<br />
und Verhütungsberatung gemeint.<br />
Zehn Indikatoren ergeben insgesamt maximal<br />
36 Punkte.<br />
Drei weitere Bereiche bewerten schließlich die Qualität<br />
übergreifend und bringen insgesamt zusätzliche<br />
180 Punkte: Der erste Bereich bezieht sich auf die<br />
Gesamtversorgung, also darauf, wie breit verteilt eine<br />
Praxis die Indikatoren der ersten Kategorie erfüllt<br />
(100 Punkte), der zweite umfasst das Abschneiden<br />
in den anderen drei Kategorien (30 Punkte), und der<br />
dritte bildet ab, ob die Bevölkerung einen leichten<br />
Zugang zur Versorgung mit geringen Wartezeiten<br />
hatte (50 Punkte).
66 | 67<br />
Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Transparenz für Ärzte<br />
… mit überraschend positiven<br />
Ergebnissen<br />
Welche Ergebnisse erzielte das einheitliche englische<br />
Programm? Auf den ersten Blick gewinnt man den<br />
Eindruck, dass der Erfolg überwältigend war – zumindest<br />
in dem Sinne, dass der National Health Service<br />
(NHS) statt der erwarteten rund 600 Millionen Pfund<br />
fast eine Milliarde Pfund für die zusätzlichen Boni<br />
aufwenden musste. Aus dem Stand heraus erreichten<br />
die britischen Ärzte im Schnitt 91,3 Prozent der maximalen<br />
Punktzahl für die erste Periode 2004/05. In<br />
der zweiten Periode 2005/06 stieg dieser Wert sogar<br />
auf 96,2 Prozent. Nur 0,6 Prozent der Praxen kamen<br />
auf weniger als 650 Punkte, 77,9 Prozent lagen<br />
dagegen im Spitzenbereich über 1.000 Punkte, und<br />
9,7 Prozent der Praxen erreichten sogar die volle<br />
Punktzahl von 1.050 (NHS 2006).<br />
Ist England ein Land von Musterärzten? Tatsächlich<br />
scheint der Versorgungsstandard in den Praxen<br />
besser zu sein, als die QOF-Verantwortlichen erwartet<br />
hatten. Der differenzierte Punktekatalog mit seinen<br />
146 Indikatoren lässt durchaus eine qualitative Bewertung<br />
zu. Zwei Faktoren schränken die Aussagekraft<br />
der hohen Punktestände jedoch ein: Erstens war<br />
es den britischen Ärzten erlaubt, Problemfälle aus<br />
der Bewertung im so genannten Exception-Reporting<br />
herauszunehmen. Insgesamt wurden so im Schnitt<br />
rund 6 Prozent der Patienten ausgeklammert<br />
(Doran 2006). Ein Prozent der Praxen schloss mehr<br />
als 15 Prozent ihrer Patienten aus – und erzielte<br />
offenbar die besten Resultate. Zu klären ist nun,<br />
ob diese Praxen tatsächlich klinische Gründe hatten,<br />
mehr Patienten auszuschließen, oder ob sie das<br />
Exception-Reporting dazu miss<strong>braucht</strong>en, um lediglich<br />
ihr Einkommen zu steigern.<br />
Zweitens ist unklar, inwieweit die hohe Zielerreichung<br />
auf QOF zurückzuführen ist: Bis zum Jahr 2004,<br />
als QOF startete, hatte man bereits sechs Jahre lang<br />
intensive Anstrengungen unternommen, um die<br />
Versorgungsqualität zu verbessern (Galvin 2006). So<br />
wurden nationale Leitlinien für die häufigsten Krankheiten<br />
verabschiedet sowie landesweite Überprüfungen<br />
der Qualität eingeführt. Die Ergebnisse dieser<br />
Kontrollen wurden in Ärztekreisen und teilweise<br />
sogar für die Allgemeinheit zugänglich veröffentlicht.<br />
Das hatte offenbar nachhaltige Auswirkungen auf die<br />
Motivation der Ärzte, die Versorgungsqualität zu ver-<br />
bessern. Manche dieser Anstrengungen zeigten noch<br />
zur Zeit der QOF-Einführung Wirkung. Die Folge:<br />
Es ist letztlich sehr schwer zu beurteilen, welchen<br />
Effekt das QOF auf die Versorgungsqualität hat.<br />
Insgesamt zeigen sich die Verantwortlichen über<br />
den Erfolg des QOF verhalten erfreut. So heißt es<br />
im QOF-Abschlussbericht des NHS von 2005/2006:<br />
»Qualität zu messen ist kein einfacher Prozess. Die<br />
Indikatoren, über die dieses Bulletin berichtet, können<br />
nur Näherungen an die wirkliche Qualität sein.«<br />
Außerdem würden die abgefragten Kategorien nur<br />
eine Minderheit aller Patienten erfassen und auch<br />
für diese nur einige Aspekte ihrer Behandlung. Trotz<br />
dieser Einschränkungen bietet das Programm aber<br />
»ein wertvolles Messinstrument für die Verbesserung<br />
der Versorgung.« (NHS 2006, eigene Übersetzung)<br />
Vergleich USA und Großbritannien:<br />
unterschiedliche Ansprüche<br />
Beim Vergleich der zahlreichen verschiedenen<br />
P4P-Programme aus den USA mit dem einheitlichen<br />
und flächendeckenden QOF in Großbritannien zeigen<br />
sich einige Unterschiede: So macht der qualitätsorientierte<br />
Bonus in den USA zwischen fünf und<br />
20 Prozent der Arzthonorare aus (IHA 2006), in<br />
Großbritannien sogar 40 Prozent des Einkommens<br />
(Buckman 2007). Die kalifornischen P4P-Programme<br />
definieren meist relative Leistungsschwellen, etwa<br />
die obersten 20 Prozent. Im QOF waren die Qualitätskriterien<br />
hingegen von vornherein festgelegt.<br />
Vergleicht man den Kriterienkatalog, fällt auf, dass<br />
das kalifornische Programm der IHA – wie andere
68 | 69<br />
Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Transparenz für Ärzte<br />
• Um das finanzielle Risiko zu verringern, sollten<br />
die Programme langsam eingeführt und die Ziele<br />
niedrig angesetzt werden.<br />
• Man sollte mit Qualitätsparametern beginnen,<br />
die den deutlichsten Nutzen für die Gesundheit<br />
der Bevölkerung haben.<br />
• Schließlich sollte man wissen, von welchem gegenwärtigen<br />
Versorgungsstandard man startet.<br />
Literatur<br />
• Bodenheimer, T. et al. (2005): Can money buy quality? Physician<br />
response to pay for performance. Center for Studying Health System<br />
Change, Issue Brief No. 102, 12/2005.<br />
• Buckman, L. (2007): Is doctors’ self interest undermining the National<br />
Health Service? In: British Medical Journal, 334, 235.<br />
• Department of Health (2005): Annex A: Quality indicators – Summary<br />
amerikanische P4P-Programme auch – mit seinen<br />
derzeit zehn Kriterien wesentlich einfacher gestrickt<br />
ist als das britische QOF mit seinen 146 Indikatoren<br />
und der Berücksichtigung vieler chronischer Krankheiten.<br />
Die Hälfte der Versorgungskriterien des kalifornischen<br />
Programms betrifft Screening-Maßnahmen.<br />
Damit belohnt das Programm zum einen ausschließlich<br />
die Teilnahmeraten der Patienten, also die Quantität<br />
der erbrachten Leistung. Ihre Qualität wird nicht abgefragt.<br />
Das britische QOF trägt hingegen der Qualität<br />
des Screenings Rechnung: Die Mammografie zur Brustkrebsfrüherkennung<br />
läuft in einem eigenen Programm<br />
in spezialisierten, qualitätsgesicherten Zentren, und<br />
beim Test auf Gebärmutterhalskrebs werden nicht<br />
nur, wie im kalifornischen Pendant, die Screening-<br />
Rate, sondern auch fünf Qualitätskriterien abgefragt.<br />
In Deutschland stecken Überlegungen zur leistungsbezogenen<br />
Vergütung noch in den Kinderschuhen –<br />
wie auch, wenn die Qualität von Arztpraxen oder<br />
Ärztenetzen noch nicht einmal gemessen wird. Erst<br />
seit Kurzem setzt sich die Kassenärztliche Bundesvereinigung<br />
mit dem Thema Qualitätsmessung und<br />
leistungsorientierte Vergütung auseinander: Im<br />
November 2006 initiierte sie ein Projekt, das einen<br />
Indikatorensatz entwickeln und dadurch helfen soll,<br />
»praxisinterne Qualitätsindikatoren zu erfassen und<br />
rückzuspiegeln.« (KBV 2006)<br />
Der britische Gesundheitsexperte Martin Roland,<br />
der den NHS zum QOF berät, gibt interessierten<br />
Akteuren ein paar Ratschläge mit auf den Weg<br />
(Galvin 2006):<br />
Klar ist, dass leistungsorientierte Vergütung nur ein<br />
Instrument unter vielen sein kann, um die Qualität<br />
der Patientenversorgung zu erhöhen. Andere Maßnahmen,<br />
die ohne finanzielle Anreize die Qualitätskultur<br />
der Ärzte fördern, wie beispielsweise Qualitätszirkel,<br />
anonyme Fehlerberichtssysteme oder der<br />
Einsatz von Leitlinien, verlieren dadurch keineswegs<br />
an Relevanz und sollten zukünftig noch gestärkt<br />
werden. Für das Lernen aus den Versuchen mit P4P<br />
in den USA und QOF in Großbritannien gilt: Leistungsorientierte<br />
Vergütung bringt Transparenz über die<br />
gemessene Qualität. Doch erst wenn die vielen offenen<br />
Punkte geklärt sind, lässt sich beurteilen, ob<br />
leistungsorientierte Vergütung die Qualität erhöht.<br />
of points, www.dh.gov.uk/assetRoot/04/07/86/59/04078659.pdf<br />
• Doran, T. et al. (2006): Pay-for-Performance Programs in Family<br />
Practices in the United Kindom. NEJM, 355:375.<br />
• Galvin, R. (2006): Pay-For-Performance: Too much of a good thing?<br />
A conversation with Martin Roland, Health Affairs – Web exclusive.<br />
w412, 6.9.2006.<br />
• Integrated Healthcare Association (Hrsg.) (2006): Advancing quality<br />
through collaboration: the California Pay for Performance Program.<br />
A Report on the First Five Years and a Strategic Plan for the Next Five<br />
Years. 02/2006. www.iha.org/wp020606.pdf.<br />
• KBV (2006): KBV Report: Pay for performance – ambulante Qualitätsindikatoren<br />
und Kennzahlen.<br />
• NHS (2006): National Quality and Outcomes Framework Statistics<br />
for England 2005/06. www.ic.nhs.uk/pubs/qof/qofstatbul/file.<br />
• Rosenthal, M. et al. (2006): Pay for Performance in Commercial<br />
HMOs, NEJM, 355:1895.
70 | 71<br />
Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Politik für mehr Transparenz<br />
POLITIK FÜR TRANSPARENZ<br />
• Angebotsvielfalt: Wettbewerb ohne Transparenz?<br />
• Vertrauen in die Versorgung: Persönliche Erfahrung zählt<br />
• Qualitätstransparenz: Balance zwischen Wirkung und Nebenwirkung<br />
ANGEBOTSVIELFALT:<br />
WETTBEWERB OHNE TRANSPARENZ?<br />
Der Wettbewerb soll es richten: Um Qualitätsmängel und Ineffizienzen<br />
im <strong>Gesundheitswesen</strong> abzubauen, entwickeln Versicherer und Versorger<br />
neue Angebote, die die Versicherten wählen können – von Hausarztmodellen<br />
über Integrierte Versorgung bis hin zu Boni für gesundheitsbewusstes<br />
Verhalten. Untersuchungen zeigen, dass Versicherte für<br />
Veränderungen offen sind. Jetzt gilt es, diese Offenheit zu nutzen.<br />
Transparenz über die neuen Angebote ist hierzu eine wesentliche<br />
Voraussetzung.<br />
Es gab Zeiten, da schien alles ganz einfach: Wenn<br />
sich der Patient in der ambulanten und stationären<br />
Versorgungslandschaft mit Allgemein- und Fachärzten,<br />
Kreis- und Universitätskrankenhäusern<br />
halbwegs zurechtfand, lief der Rest von alleine.<br />
Was der Arzt für sinnvoll hielt, wurde gemacht,<br />
und die Krankenkasse zahlte. Hinter den Kulissen<br />
schlossen die Verbände von Kassen und Leistungsanbietern<br />
einheitliche und gemeinsame Verträge.<br />
Dies wird allmählich anders: Um die wenig qualitätsorientierten<br />
und teilweise ineffizienten Strukturen
72 | 73<br />
Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Politik für mehr Transparenz<br />
im <strong>Gesundheitswesen</strong> aufzubrechen und Vielfalt<br />
und Patientenfreundlichkeit durch mehr Wettbewerb<br />
zuzulassen, werden die einheitlichen Regelungen<br />
gelockert und innovative Versorgungs- und Versicherungskonzepte<br />
gefördert.<br />
Inzwischen gibt es nicht mehr nur die gemeinsam<br />
und einheitlich festgelegte Regelversorgung, sondern<br />
daneben auch Hausarztmodelle mit einem festen<br />
Hausarzt als Lotsen im Gesundheitssystem, Strukturierte<br />
Behandlungsprogramme für chronisch Kranke<br />
und Modelle zur Integrierten Versorgung für eine<br />
kontinuierliche Behandlung über Arztpraxen und<br />
Krankenhäuser hinweg. Das Prinzip der gemeinsamen<br />
und einheitlichen Versicherungsverträge für gesetzlich<br />
Versicherte weicht auf: Krankenkassen können<br />
Zusatzversicherungen anbieten und Tarife mit<br />
Anreizen für gesundheits- und kostenbewusstes<br />
Verhalten auflegen, die mit diversen Zuzahlungen<br />
und Ermäßigungen, mit Rückzahlungen und Bonusregelungen<br />
locken beziehungsweise drohen.<br />
Die Hoffnungen, die sich an die neuen Versicherungsangebote<br />
knüpfen, gehen über den reinen<br />
Kostenaspekt hinaus: Sie sollen umfangreichere<br />
Wahlmöglichkeiten für die Versicherten, bessere<br />
Patientenorientierung und höhere Qualität bieten.<br />
Dass die neuen wettbewerbsorientierten Formen der<br />
Verträge, Angebote und Versorgungsmodelle kein<br />
Selbstzweck sind, mahnte schon im März 2003 ein<br />
Expertengutachten im Auftrag des AOK-Bundesverbandes<br />
an: »Wettbewerb darf im <strong>Gesundheitswesen</strong><br />
kein Ziel an sich sein. Er muss vielmehr auf das Ziel<br />
der Verbesserung von Qualität und Wirtschaftlichkeit<br />
der Versorgung ausgerichtet werden.« (Ebsen et al.<br />
2003) Die zentrale Frage lautet: Wollen sich die<br />
Versicherten vertraglich an Ärzte und Versorgungsformen<br />
binden? Und vor allem: Behalten die Versicherten<br />
noch den Überblick über die unterschiedlichen<br />
Vertragsmöglichkeiten?<br />
Wertschätzung oder Ablehnung<br />
neuer Angebote?<br />
Dass Versicherte die Veränderungen grundsätzlich<br />
mittragen, zeigt eine Untersuchung der Bertelsmann<br />
Stiftung mit über 1.000 Teilnehmern (Becker/Zweifel<br />
2006): 52 Prozent der Befragten halten eine Einführung<br />
neuer Versorgungsformen für wichtig, 21 Prozent<br />
sogar für sehr wichtig. Nur zehn Prozent beurteilen<br />
sie als weniger wichtig, und ein verschwindend<br />
geringer Anteil von zwei Prozent für unwichtig.<br />
Diese grundsätzliche Zustimmung wurde in einem<br />
so genannten Discrete-Choice-Experiment überprüft:<br />
Die Teilnehmer mussten unterschiedliche Vertragsbestandteile<br />
gegeneinander abwägen – und so ihre<br />
Vorlieben oder auch Abneigungen hinsichtlich einzelner<br />
Vertragsbestandteile deutlich machen.<br />
Beispielsweise sollten sie angeben, wie viel sie für<br />
eine Zusatzleistung zu zahlen bereit wären, oder<br />
umgekehrt, wie hoch sie eine Leistungseinschränkung<br />
honoriert haben möchten. Dabei zeigte sich:<br />
Krankenkassen können auf die Kompensationsforderungen<br />
von Versicherten in einigen Fällen eingehen,<br />
um entsprechende Versicherungstarife zum beiderseitigen<br />
Vorteil anzubieten. Hausarztmodelle etwa<br />
führen neben der besser koordinierten Versorgung<br />
zu sinkenden Kosten bei den Kassen. Die eingesparten<br />
Kosten können dann dazu verwendet werden,<br />
die Beiträge für die Teilnehmer an Hausarztmodellen<br />
zu senken und diese Teilnehmer für ihren Nutzenverlust<br />
durch die eingeschränkte Arztwahl zu kompensieren.<br />
Für die Befragung wurde der Status quo einer gesetzlichen<br />
Krankenkasse mit folgenden Merkmalen<br />
festgesetzt: Sie ermöglicht freie Arztwahl, für das<br />
Einholen einer Zweitmeinung wird ohne Überweisung<br />
die Praxisgebühr fällig, sie bietet weder einen
74 | 75<br />
Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Politik für mehr Transparenz<br />
Abbildung 1:<br />
Durchschnittliche Zahlungsbereitschaften und Kompensationsforderungen<br />
für einzelne Eigenschaften neuer Versorgungsmodelle<br />
Beitragsrückerstattung<br />
359<br />
Bonus für<br />
Prävention<br />
203<br />
Service<br />
Krankenkasse<br />
123<br />
Zweitmeinung 80<br />
Hausarztmodell -115<br />
Ärztenetzwerk -203<br />
Selbstbeteiligung -246<br />
Ärzteliste<br />
(Kosten/Qualität)<br />
-346<br />
-400 -300 -200 -100 0 100 200 300 400<br />
Alle Angaben in Euro pro Jahr<br />
Quelle: Gesundheitsmonitor, Discrete-Choice-Experiment, N=1.003, Auswertung durch Becker/Zweifel (2006)<br />
besonderen Service noch überdurchschnittlich viele<br />
Informationen an, und sie hat keine Anreizsysteme<br />
für besonders gesundheitsbewusstes Verhalten. Diese<br />
Merkmale wurden einzeln abgeändert und der jährliche<br />
Beitrag erfragt, den die Versicherten unter den<br />
neuen Vorzeichen zu zahlen bereit wären oder umgekehrt<br />
als Kompensation einfordern würden.<br />
Das Ergebnis des Experiments [Abbildung 1]: Die<br />
Beiträge könnten pro Jahr um zusätzlich 359 Euro<br />
steigen, wenn Versicherte sie bei Nichtinanspruchnahme<br />
von Leistungen zurückerstattet bekämen.<br />
203 Euro zusätzlich würden die Versicherten bezahlen,<br />
um Bonus-Prämien für gesundheitsbewusstes<br />
Verhalten zu bekommen, 123 Euro für zusätzliche<br />
Serviceleistungen der Krankenkasse und 80 Euro<br />
für das Recht, eine Zweitmeinung einzuholen. Kompensationszahlungen<br />
erwarten die Versicherten vor<br />
allem, wenn sie ihre Freiheit bei der Arztwahl aufgeben<br />
müssten. Und zwar je größer die Einschränkung,<br />
desto höher die erwartete Zahlung: 115 Euro,<br />
wenn sie sich für ein Hausarztmodell einschreiben<br />
sollen, 203 Euro für die Bindung an ein Ärztenetzwerk<br />
und 346 Euro für das Festlegen auf eine nach<br />
Kosten- und Qualitätskriterien ausgewählte Ärzteliste.<br />
Eine zusätzliche Selbstbeteiligung in Höhe von<br />
500 Euro müsste die Beiträge um 246 Euro sinken<br />
lassen (Becker/Zweifel 2006).<br />
Unabhängig von diesen hypothetischen Entscheidungsergebnissen<br />
aus dem Discrete-Choice-Experiment<br />
haben die Krankenkassen bereits viele Innovationen<br />
eingeführt:<br />
• Finanzielle Anreize: Patienten werden unter<br />
gewissen Umständen von der Praxisgebühr und<br />
Arzneizuzahlungen befreit, bekommen Boni für<br />
Präventionsmaßnahmen oder wählen Kostenerstattung,<br />
das heißt, sie bezahlen erst die Leistungen<br />
selbst und reichen die Rechnungen dann bei<br />
der Kasse ein.<br />
• Satzungsleistungen: Die Kassen geben Zuschüsse<br />
zu ambulanten Kuren, erweiterten Haushaltshilfen,<br />
häuslichen Krankenpflegern oder Hospizaufenthalten.<br />
• Versorgung: Einsparungen bei gleicher oder<br />
höherer Qualität erwarten sich die Kassen von<br />
Hausarztmodellen, Strukturierten Behandlungsprogrammen<br />
für chronisch Kranke und der<br />
Integrierten Versorgung.<br />
• Service: Krankenkassen unterhalten Geschäftsstellen,<br />
richten Telefon-Hotlines für medizinische<br />
Beratung auch am Wochenende sowie persönliche<br />
Beratungen ein oder beschäftigen Spezialisten,<br />
die Empfehlungen geben können.<br />
• Private Zusatzversicherungen: Für Leistungen, die<br />
die Kasse nicht abdeckt, wie etwa Zahnersatz, Auslandsbehandlungen,<br />
Einzel- oder Zweibettzimmer<br />
oder Chefarztbehandlung im Krankenhaus, kann<br />
die Kasse private Zusatzversicherungen empfehlen.
76 | 77 Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Politik für mehr Transparenz<br />
Neue Angebote sind bekannt,<br />
aber noch wenig genutzt<br />
Kennen die Versicherten die Angebote der Kassen?<br />
Und wenn ja, nutzen sie sie auch? Diese Fragen<br />
stellte der Gesundheitsmonitor in einer Erhebung<br />
vom Herbst 2005 den Versicherten. Dabei zeigte sich:<br />
Die Befragten sind über die fünf markantesten Angebote<br />
nicht besonders gut informiert und nutzen<br />
sie noch wenig (Amhof 2006). Dabei muss man<br />
jedoch bedenken, dass etwa Strukturierte Behandlungsprogramme<br />
sich nur an chronisch Kranke<br />
richten. Am bekanntesten sind die Bonusprogramme:<br />
Von ihnen haben 75 Prozent der Befragten schon<br />
einmal gehört, genutzt werden sie aber nur von<br />
21 Prozent. Dahinter folgen Hausarztmodelle, Beitragsrückerstattung,<br />
Kostenerstattung, Strukturierte<br />
Behandlungsprogramme und am Ende die Selbstbehalte<br />
mit 23 Prozent Bekanntheit und mageren<br />
ein Prozent Nutzung [Abbildung 2]. Bei Beitragsrückerstattung<br />
und Selbstbehalten ist allerdings zu<br />
beachten, dass sie nur von freiwillig versicherten<br />
Mitgliedern gewählt werden können und sich der<br />
Versicherte vorher für das Verfahren der Kostenerstattung<br />
entschieden hat.<br />
Abbildung 2:<br />
Bekanntheit und Nutzung von neuen Versorgungsangeboten<br />
75<br />
Bonusprogramme<br />
21<br />
Hausarztmodelle<br />
45<br />
15<br />
38<br />
Beitragsrückerstattung<br />
2<br />
Strukturierte<br />
31<br />
Behandlungsprogramme 7<br />
Kostenerstattung<br />
31<br />
2<br />
Selbstbehalte<br />
23<br />
1<br />
Angaben in Prozent<br />
Bekanntheit<br />
gegenwärtige Nutzung<br />
Quelle: Gesundheitsmonitor, Bevölkerungsbefragung 2006, nur GKV-Mitglieder, N=1.231<br />
BertelsmannStiftung<br />
Und die Ärzte? Finden sie sich noch zurecht? Neben<br />
den Kollektivverträgen können Kassenärzte an der<br />
hausarztzentrierten Versorgung und den Strukturierten<br />
Behandlungsprogrammen teilnehmen oder<br />
unterschiedliche Verträge zur Integrierten Versorgung<br />
von beispielsweise Herzinfarkt-, Schlaganfalloder<br />
Rückenschmerzpatienten mit den Kassen<br />
abschließen. »Es ist durchaus nachvollziehbar«, sagt<br />
Doris Pfeiffer, Chefin der Ersatzkassenverbände, in<br />
einem Interview mit der »Ärzte Zeitung«, »dass es<br />
dadurch zu einem gewissen Maß an Intransparenz<br />
gekommen ist.« (van den Bergh 2005)<br />
Transparenz über neue Angebote<br />
erforderlich<br />
Laut Pfeiffer fehlt es auch an Transparenz hinsichtlich<br />
der Qualität gegenüber den Patienten. Es genügt<br />
ja nicht, dass die Versicherten von den neuen Programmen<br />
erfahren – sie müssen auch angemessen<br />
beurteilen können, welches Qualitätsniveau damit<br />
verbunden ist. »Wir müssen als Kasse dafür sorgen«,<br />
so Pfeiffer, »dass die Versicherten hier umfassend<br />
informiert werden. Parallel dazu gibt es viele Anstrengungen<br />
im niedergelassenen und im stationären<br />
Bereich. Was im Moment noch fehlt, ist Transparenz.<br />
Es geschieht zwar sehr viel, dennoch hat man das<br />
Gefühl, dass es wenig koordiniert ist.«<br />
Transparenz über die Qualität ist auf jeder Ebene<br />
wichtig: Krankenkassen, die mit Ärztenetzen,<br />
Medizinischen Versorgungszentren und anderen<br />
Gesundheitsversorgern Verträge eingehen, müssen<br />
deren Qualität beurteilen können. Und Versicherte,<br />
die Versorgungsmodelle und Zusatzleistungen<br />
von ihren Krankenkassen angeboten bekommen,<br />
müssen wiederum deren Qualität ermessen können,<br />
um das passende Modell für sich zu finden.<br />
Dass mit zunehmendem Wettbewerb auch mehr<br />
Intransparenz einhergehen kann, ist einleuchtend –<br />
denn gerade Vielfalt statt Einheitslösungen soll ja<br />
durch den Wettbewerb erreicht werden. Die Frage<br />
ist nur, wie und durch wen die Vielfalt so gebändigt<br />
werden kann, dass eine höhere Intransparenz diese<br />
positiven Wettbewerbseffekte nicht wieder aufzehrt.<br />
Werden beispielsweise die Kassen unabhängige<br />
Informationen veröffentlichen? Oder nur ihre eigenen<br />
Angebote schmackhaft machen und negative Aspekte<br />
verschweigen? Da sind Übersichten wie etwa der
78 | 79<br />
Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Politik für mehr Transparenz<br />
Literatur<br />
»FINANZtest-Kompass« der Stiftung Warentest hilfreich<br />
(Stiftung Warentest 2006): Der Kompass listet<br />
alle bundesweiten gesetzlichen Krankenkassen mit<br />
ihren besonderen Leistungsangeboten auf.<br />
Es sind aber auch die gesundheitspolitischen Entscheider<br />
gefordert: Wenn sie auf der einen Seite den<br />
Weg frei machen für individuellere, patientenorientierte<br />
Versorgungsformen – wie es die Versicherten<br />
auch wünschen – und damit mehr Intransparenz<br />
entsteht, so müssen sie auf der anderen Seite den<br />
Versicherten ermöglichen, sich im Sinne des Verbraucherschutzes<br />
bei unabhängigen, vertrauenswürdigen<br />
Stellen über die Vor- und Nachteile und<br />
die Qualität der unterschiedlichen Versicherungsund<br />
Versorgungsformen informieren zu können. Der<br />
Staat muss dafür nicht selbst aktiv werden, sondern<br />
eher Anforderungen und Standards formulieren,<br />
damit unabhängige Institutionen den Versicherten<br />
vertrauenswürdige Entscheidungshilfen anbieten<br />
und so mehr Qualitätstransparenz herstellen können.<br />
Nur so wird Wettbewerb im <strong>Gesundheitswesen</strong> nicht<br />
zum Selbstzweck, sondern trägt zu mehr Patientenorientierung,<br />
Qualität und Wirtschaftlichkeit bei.<br />
• Amhof, R. (2006): Anreize im <strong>Gesundheitswesen</strong>. Haben sie<br />
die gewünschten Effekte? Gesundheitsmonitor, Newsletter der<br />
Bertelsmann Stiftung, 02/2006.<br />
• Becker, K.; Zweifel, P. (2006): Neue Formen der ambulanten<br />
Versorgung: Was wollen die Versicherten? Ein Discrete-Choice-<br />
Experiment. In: Böcken, J.; Braun, B.; Amhof, R.; Schnee, M. (Hrsg):<br />
Gesundheitsmonitor 2006. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung,<br />
272–303.<br />
• Ebsen, I.; Greß, S.; Jacobs, K.; Szecsenyi, J.; Wasem, J. (2006):<br />
Vertragswettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung zur<br />
Verbesserung von Qualität und Wirtschaftlichkeit der Gesundheitsversorgung.<br />
Gutachten im Auftrag des AOK-Bundesverbands, Bonn.<br />
• Stiftung Warentest (2006): Gesetzliche Krankenversicherungen:<br />
Bundesweit geöffnete Krankenkassen. FINANZtest-Kompass.<br />
• Van den Bergh, W. (2005): Interview mit Doris Pfeiffer »Ärzte<br />
werden sich für mehrere Vertragsformen entscheiden«. Ärzte<br />
Zeitung, 17.3.2005.
80 | 81<br />
Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Politik für mehr Transparenz<br />
VERTRAUEN IN DIE VERSORGUNG:<br />
PERSÖNLICHE ERFAHRUNG ZÄHLT<br />
Vertrauen ist ein Phänomen, das sich nur schwierig<br />
messen und bewerten lässt. Im Allgemeinen unterscheidet<br />
man zwischen personalem und institutionellem<br />
Vertrauen (Schnee 2006). Das personale Vertrauen<br />
bildet die Basis der Arzt-Patienten-Beziehung: Wie<br />
Die Deutschen sind skeptisch: Sie haben weniger Vertrauen in die<br />
könnten Patienten sonst täglich Tabletten schlucken<br />
Gesundheitsversorgung als Menschen in den Niederlanden, England<br />
oder sich gar für eine Operation narkotisieren lassen?<br />
und Wales. Doch wenn sie positive Erfahrungen beim letzten Arztbesuch<br />
Selbst in einem Prozess des Shared Decision Making,<br />
gesammelt haben, ist das Vertrauen bei vielen Deutschen ebenfalls groß.<br />
bei dem der Patient mit dem Arzt gemeinsam über<br />
Gesundheitspolitische Entscheider müssen folglich auch bei Rahmen-<br />
das weitere Vorgehen entscheidet, spielt Vertrauen<br />
Bertelsmann Stiftung heran (van der Schee et al. 2007).<br />
am misstrauischsten. Die Niederländer zeigten sich<br />
bedingungen und Anreizen für eine bessere Arzt-Patienten-Beziehung<br />
eine große Rolle – schließlich kann der medizinische<br />
Unter die Lupe genommen wurde das Vertrauen in<br />
nur bei fünf Fragen am skeptischsten, die allesamt<br />
ansetzen, um das Vertrauen in das <strong>Gesundheitswesen</strong> zu stärken.<br />
Laie nicht jede Information und Aktion des Arztes<br />
die Versorgung, in die Gesundheitsberufe und in die<br />
die Konsequenzen von gesundheitspolitischen Ent-<br />
nachprüfen. Institutionelles Vertrauen bezieht sich<br />
Institutionen wie Krankenhäuser und Heime.<br />
scheidungen für Patienten betrafen, und die Engländer<br />
auf das Gesundheitssystem als Ganzes. Beide Arten<br />
lediglich bei der einen Frage, ob Patienten ausreichend<br />
von Vertrauen hängen langfristig miteinander zu-<br />
Auf das »Vertrauen in die Gesundheitsversorgung«<br />
über die verschiedenen Behandlungen, die möglich<br />
sammen, müssen kurzfristig allerdings nicht immer<br />
zielten 28 Fragen ab – ob die Befragten beispiels-<br />
wären, informiert werden.<br />
übereinstimmen (Mechanic 1996).<br />
weise darauf vertrauen, dass Patienten ernst genommen<br />
werden, dass Sparmaßnahmen nicht zu Lasten<br />
Beim »Vertrauen in die Gesundheitsberufe« und<br />
Wie ist es um das Vertrauen der Menschen in das<br />
der Patienten gehen, dass Ärzte alles über Krank-<br />
»Vertrauen in Gesundheitsinstitutionen« waren die<br />
<strong>Gesundheitswesen</strong> bestellt? Eine internationale Wissen-<br />
heiten wissen, dass Patienten immer die richtige<br />
Deutschen ebenfalls am skeptischsten: Ihr Vertrauen<br />
schaftlergruppe hat Umfragen in den Niederlanden,<br />
Arznei verschrieben bekommen, dass Patienten aus-<br />
in Gesundheitsberufe, insbesondere Krankenschwes-<br />
Deutschland, England und Wales zum institutionellen<br />
reichend über die Auswirkungen der Behandlung<br />
tern, Fachärzte, Physiotherapeuten und Apotheker,<br />
Vertrauen von insgesamt über 4.000 Bürgern aus-<br />
informiert werden und dass die verschiedenen<br />
war ebenso am geringsten ausgeprägt wie ihr<br />
gewertet und verglichen, für Deutschland zogen sie<br />
Leistungserbringer gut miteinander kooperieren.<br />
Vertrauen in Kliniken, ambulante Pflegedienste<br />
die Umfragedaten des Gesundheitsmonitors der<br />
Die Deutschen erwiesen sich bei 22 der 28 Fragen<br />
und Pflegeheime.
82 | 83<br />
Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Politik für mehr Transparenz<br />
Deutsche haben geringeres<br />
Vertrauen<br />
Wie lässt sich das geringe institutionelle Vertrauen der<br />
Deutschen erklären? Die Autoren nennen vier Einflussfaktoren<br />
für institutionelles Vertrauen: gesetzliche<br />
Regelungen und Garantien, Berichterstattung in den<br />
Medien, Verfügbarkeit von Leistungen und die Kultur<br />
(van der Schee et al. 2007). Nach Ansicht der Verfasser<br />
können die unterschiedlichen nationalen Regelungen –<br />
beispielsweise zur Vergütung der Mediziner und Therapeuten,<br />
zum Studium bzw. zur Ausbildung oder zu<br />
Patientenrechten – das unterschiedlich hohe institutionelle<br />
Vertrauen der Deutschen, Niederländer, Engländer<br />
und Waliser nicht eindeutig erklären, ebenso wenig<br />
die schwer zu vergleichende Berichterstattung in den<br />
nationalen Medien. Auch der Zugang zur Gesundheitsversorgung<br />
und die Verfügbarkeit von Leistungen bieten<br />
keine eindeutige Erklärung: Obwohl sie in Deutschland<br />
besser als in den Niederlanden sowie England<br />
und Wales sind, ist das Vertrauen hierzulande geringer.<br />
Die verblüffende Schlussfolgerung der Autoren lautet<br />
somit: Kulturelle Unterschiede sind ein wichtiger<br />
Grund für das unterschiedlich hohe Vertrauen (van<br />
der Schee et al. 2007). Offenbar sind Deutsche von<br />
Hause aus misstrauisch. Was folgt aus der diagnostizierten<br />
Skepsis – sollten politische Entscheider in<br />
Deutschland das geringe Vertrauen ihrer Landsleute<br />
einfach hinnehmen, weil es kulturell bedingt ist und<br />
damit kaum oder nur schwerlich verbessert werden<br />
kann? Nein: Denn trotz der offenbar tief sitzenden<br />
Skepsis kann Vertrauen in das System aufgebaut<br />
werden, etwa durch die von den Wissenschaftlern<br />
genannten Faktoren wie institutionelle Regelungen,<br />
die Verfügbarkeit von Leistungen oder die Berichterstattung<br />
in den Medien. Weitere Ansatzpunkte<br />
bestünden darin, die Ergebnisse von internationalen<br />
Systemvergleichen transparenter zu machen, also<br />
zu verdeutlichen, worin die Schwächen und auch<br />
die Stärken des deutschen Gesundheitssystems<br />
liegen, oder bei der Kommunikation von gesundheitspolitischen<br />
Maßnahmen und Reformen auf<br />
die tief sitzende Skepsis vieler Bürger einzugehen.<br />
Um das institutionelle Vertrauen in die Versorgung<br />
zu stärken, kann und sollte man zudem an der Basis<br />
ansetzen, wie eine Analyse von Daten des Gesundheitsmonitors<br />
der Bertelsmann Stiftung zeigt (Schnee<br />
2006). Hier wurde überprüft, inwieweit das Verhal-<br />
ten des Hausarztes – konkret: sein Gesprächsverhalten,<br />
sein Informationsvermögen, seine Koordinationsfähigkeit<br />
mit anderen Ärzten und sein Umgang<br />
mit knappen Ressourcen – zum Vertrauen in die<br />
Gesundheitsversorgung in Deutschland beiträgt.<br />
Denn Vertrauen entsteht nicht abstrakt, sondern<br />
auch und vor allem durch die konkreten Erfahrungen,<br />
die die Bürger als Patienten sammeln. Der<br />
Hausarzt ist meistens der erste Ansprechpartner für<br />
den Patienten. Als Repräsentant des Systems kann<br />
er das institutionelle Vertrauen seiner Patienten<br />
unterstützen, aber auch das Misstrauen schüren.<br />
Vertrauen in das System hängt<br />
von persönlichen Erfahrungen ab<br />
Wie Daten aus dem Gesundheitsmonitor 2006 belegen,<br />
schlägt etwa die Kommunikation zwischen Arzt<br />
und Patient direkt auf das institutionelle Vertrauen<br />
durch (Schnee 2006): Je länger das letzte Arztgespräch<br />
gedauert hat, desto mehr Vertrauen haben die<br />
Patienten in die Zeitressourcen der Ärzte allgemein.<br />
War das Gespräch sehr lang, hat die Hälfte der<br />
Patienten viel oder sehr viel Vertrauen, war es sehr<br />
kurz, sind nicht einmal zehn Prozent von dem Zeitbudget<br />
der Ärzteschaft überzeugt. Ferner gilt: Das<br />
allgemeine Vertrauen in die Kommunikationsfähigkeit<br />
der Ärzte wächst von rund 35 auf gut 50 Prozent,<br />
wenn der eigene Arzt im letzten Gespräch die<br />
Lebensumstände des Patienten mit einbezogen hat.<br />
Am deutlichsten kann die Aufmerksamkeit des<br />
Arztes das institutionelle Vertrauen stärken oder<br />
stören [Abbildung 1]: Hat der Arzt beim letzten<br />
Patientenkontakt intensiv zugehört, haben 14 Prozent<br />
sehr viel und 49 Prozent viel Vertrauen, dass den<br />
Patienten im deutschen <strong>Gesundheitswesen</strong> im Allgemeinen<br />
zugehört wird. Hat er dagegen so gut wie<br />
gar nicht zugehört, hat keiner der Befragten sehr<br />
viel und nur sechs Prozent viel Vertrauen in die<br />
Kommunikationsfähigkeiten der Ärzteschaft.<br />
Ein ähnliches Bild ergibt sich bei der Frage, wie der<br />
Arzt seine Patienten informiert, wie die Behandlung<br />
zwischen Haus- und Facharzt koordiniert wird und<br />
wie der Arzt mit knappen Ressourcen umgeht:<br />
Immer bildet sich die persönliche Erfahrung in<br />
der Erwartung dem System gegenüber ab.<br />
Für die politischen Entscheider heißt das: Können<br />
sie durch entsprechende Rahmenbedingungen und
84 | 85<br />
Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Politik für mehr Transparenz<br />
Abbildung 1:<br />
Wie intensiv hat der Hausarzt zugehört? *<br />
sehr intensiv<br />
intensiv<br />
teils/teils<br />
weniger intensiv<br />
so gut wie gar nicht<br />
Angaben in Prozent 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100<br />
p=0,000<br />
sehr viel Vertrauen viel Vertrauen wenig Vertrauen sehr wenig Vertrauen<br />
* Jede Zeile gibt an, wie stark das Vertrauen der Bevölkerung ist, dass Patienten im Allgemeinen zugehört wird –<br />
abhängig davon, wie intensiv der Arzt beim letzten Gespräch zugehört hat.<br />
Quelle: Gesundheitsmonitor, Bevölkerungsbefragung Frühjahr 2003 und Herbst 2005, N=2.765,<br />
Auswertung durch Schnee (2006)<br />
Anreize die Versorgungsqualität an der Basis verbessern,<br />
wird auch dem System als Ganzem mehr<br />
Vertrauen entgegengebracht. Und das hätte enorm<br />
positive Folgen, nicht nur für die Akzeptanz von<br />
Hausarztmodellen: Damit verbunden wären eine<br />
bessere Mitarbeit des Patienten und ein größerer<br />
Behandlungserfolg und darüber hinaus auch eine<br />
»Mitnahme« derjenigen Zweifler und Pessimisten<br />
unter den Versicherten und Ärzten, die ansonsten<br />
gut gemeinte Reformansätze zum Erliegen bringen<br />
können.<br />
Ansatzpunkte, das Vertrauen in die Versorgung<br />
durch bessere Erfahrungen mit dem Verhalten des<br />
Arztes zu stärken, gibt es viele. Einige davon können<br />
innerhalb des bestehenden Systems greifen – für<br />
andere ist hingegen auch die Politik gefordert, die<br />
richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Möglich<br />
wäre beispielsweise, kommunikative Kompetenzen<br />
in Medizinstudium und Fortbildungen zu fördern,<br />
die sprechende Medizin mehr zu belohnen, Ärzten<br />
unabhängige Patienteninformationen zur Verfügung<br />
zu stellen, Arztnetze und andere Formen Integrierter<br />
Versorgung zu nutzen und angesichts der Ressourcenknappheit<br />
mit Transparenz, Qualitätssicherung und<br />
einem Dokumentationssystem für kritische Ereignisse<br />
bei den Patienten Vertrauen in neuere und<br />
günstigere Verfahren aufzubauen (Schnee 2006).<br />
Derlei Maßnahmen, das institutionelle Vertrauen<br />
zu stärken, hätten enorm positive Wirkungen. Umgekehrt<br />
führt fehlendes Vertrauen in den Arzt oder<br />
die Versorgung zu vermehrten Kontrollen, für die<br />
Ressourcen aufgebracht werden müssen und die für<br />
die eigentlichen Leistungen nicht mehr zur Verfügung<br />
stehen. Das Vertrauen in die Versorgung sollte<br />
also gestärkt werden – ein »blindes Vertrauen« sollte<br />
allerdings nicht propagiert werden. Dies ist im Zuge<br />
von Shared Decision Making nicht mehr zeitgemäß<br />
und zusammen mit dem paternalistischen Arztmodell<br />
ad acta gelegt worden. Ziel kann es nur sein,<br />
ein »informiertes Vertrauen« und eine Transparenzkultur<br />
zu fördern, die die Vorzüge unserer Versorgung<br />
betont und gleichzeitig die Geheimniskrämerei<br />
der weniger vertrauensvollen Leistungserbringer<br />
beendet.<br />
Literatur<br />
• Calnan, M.; Rowe, R. (2004): Trust in health care. An agenda<br />
for future research. Discussion Paper, Nuffield Trust Seminar,<br />
17th November 2004.<br />
• Mechanic, D. (1996): Changing medical organization and the<br />
erosion of trust. Milbank Quarterly, 174, 171–189.<br />
• Schnee, M. (2006): Vertrauen in die Gesundheitsversorgung.<br />
In: Böcken, J.; Braun, B.; Amhof, R.; Schnee, M. (Hrsg):<br />
Gesundheitsmonitor 2006. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung,<br />
171–186.<br />
• Van der Schee, E.; Braun, B.; Calnan, M.; Schnee, M.; Groenewegen,<br />
P.P. (2007): Public trust in health care: A comparison of Germany,<br />
The Netherlands, and England and Wales. Health Policy (in Veröffentlichung).
86 | 87<br />
Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Politik für mehr Transparenz<br />
QUALITÄTSTRANSPARENZ: BALANCE<br />
ZWISCHEN WIRKUNG UND NEBENWIRKUNG<br />
besserung und Effizienzsteigerung im <strong>Gesundheitswesen</strong><br />
beigetragen hätten.« (Bundesärztekammer<br />
2006)<br />
Was ist dran an den Klagen der Ärzte [siehe Tabelle<br />
Ein hoher Anspruch an die eigene Qualität gehört seit jeher zum ärzt-<br />
auf der nächsten Doppelseite]? Haben mit den ver-<br />
lichen Selbstverständnis. Das Versprechen der Ärzteschaft, eine qualitativ<br />
gangenen Reformen Misstrauen und Kontrolle über-<br />
hochwertige medizinische Versorgung zu sichern, reicht vielen Patienten,<br />
handgenommen? Tatsächlich hat sich in den letzten<br />
Kassen und Politikern allerdings heute nicht mehr aus. Sie fordern mehr<br />
Jahren ein enormer Wandel vollzogen: Früher war die<br />
Transparenz über Qualität. Doch Transparenz hat auch Nebenwirkungen.<br />
Ärzteschaft überwiegend allein für Qualitätssiche-<br />
es große Versorgungsunterschiede gibt, die medizi-<br />
allem über Qualitätsunterschiede, herzustellen, wird<br />
Die Gesundheitspolitik muss deshalb ein ausgewogenes Verhältnis<br />
rung verantwortlich. Die Berufsverbände stellten die<br />
nisch nicht zu erklären sind, und dass Patienten<br />
nun systematischer verfolgt.<br />
zwischen beabsichtigten und unbeabsichtigten Wirkungen von<br />
Regeln für Aus-, Fort- und Weiterbildung auf, prüften<br />
teilweise zu wenige, überflüssige und sogar fehler-<br />
Qualitätstransparenz herstellen.<br />
das Einhalten von Sicherheitsstandards und schlich-<br />
hafte medizinische Leistungen erhalten (SVR-G<br />
Maßnahmen zur Verbesserung der Versorgungs-<br />
teten bei Vorwürfen von Behandlungsfehlern. Mit<br />
2001). Was war und ist angesichts dieser Defizite<br />
qualität haben sowohl der Gesetzgeber als auch<br />
diesen Maßnahmen und ihrem eigenen professio-<br />
zu tun? Zum einen müssen identifizierte Versor-<br />
einzelne Ärztegruppen angestoßen: Beispielsweise<br />
Der Frust vieler Ärzte sitzt tief: »Die Gesundheits-<br />
nellen Anspruch an eine hohe Qualität wollten die<br />
gungsmängel natürlich rasch behoben werden. Zum<br />
gründeten Mediziner das Deutsche Netzwerk<br />
gesetzgebung der letzten Jahre ist geprägt vom<br />
Ärzteverbände verdeutlichen, dass die Gesundheits-<br />
anderen sollten sich Versicherte darüber informieren<br />
Evidenzbasierte Medizin, um die Anwendung<br />
Misstrauen gegenüber Ärztinnen und Ärzten«, heißt<br />
versorgung eine durchweg hohe Qualität aufwies.<br />
können, welche Versorgungsqualität sie für ihre<br />
evidenzbasierter, also auf wissenschaftlichen Erkennt-<br />
es im Beschlussprotokoll des 109. Deutschen Ärzte-<br />
Deswegen schien Transparenz über Qualität auch<br />
geleisteten Beiträge erwarten können und wer sie im<br />
nissen begründeter Medizin zu fördern. Zudem ent-<br />
tages vom Mai 2006. Die Mediziner beklagen, dass<br />
gar nicht erforderlich oder sogar überflüssig.<br />
Krankheitsfall am besten behandelt. Transparenz ist<br />
standen das Aktionsbündnis Patientensicherheit,<br />
ihnen »ohne Nachweis eine schlechte Qualität bei<br />
dafür unabdinglich. In der Tat hatte die Nachricht<br />
das sich für eine systematische Vermeidung von<br />
angeblich überteuerten Leistungen unterstellt und<br />
Dieses Bild geriet in den vergangenen Jahren zu-<br />
über Unterschiede und Mängel in der Gesundheits-<br />
Behandlungsfehlern einsetzt, oder die Gesellschaft<br />
bürokratische Kontrollstrukturen aufgebaut werden,<br />
nehmend ins Wanken: So stellte der Sachverstän-<br />
versorgung weit reichende Konsequenzen: Das Ziel,<br />
für Qualitätsmanagement in der Gesundheits-<br />
die immense Ressourcen verbrauchen, ohne dass<br />
digenrat zur Begutachtung der Entwicklung im<br />
die Qualität der Gesundheitsversorgung zu verbes-<br />
versorgung. Von der Wissenschaft angestoßene<br />
nachgewiesen ist, dass sie zu der behaupteten Ver-<br />
<strong>Gesundheitswesen</strong> bereits im Jahr 2001 fest, dass<br />
sern und mehr Transparenz über Qualität, und vor<br />
Initiativen wie »Jeder Fehler zählt«, »Lernen von
88 | 89<br />
Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Politik für mehr Transparenz<br />
Tabelle: Deutsche Gesundheitsversorgung: Mittelprächtige Qualität bei hohen Ausgaben<br />
Wie sieht das Verhältnis von Aufwand, der in die<br />
Gesundheitsversorgung geht, und den Ergebnissen<br />
aus? Im internationalen Vergleich ist der finanzielle<br />
und personelle Ressourcenaufwand in Deutschland<br />
tatsächlich hoch (OECD 2006): Gemessen am<br />
Bruttoinlandsprodukt sind die Gesundheitsausgaben<br />
in Deutschland die dritthöchsten der Welt. Auch<br />
gibt es hierzulande mehr Arztpraxen, Apotheken<br />
und Krankenhäuser pro Einwohner.<br />
Dem verhältnismäßig hohen Aufwand stehen eher<br />
mittelmäßige Ergebnisse gegenüber: So nimmt<br />
Deutschland bei der Lebenserwartung mit 78,6 Jahren<br />
den unbefriedigenden Platz 14 von 21 betrachteten<br />
Ländern und bei der Säuglingssterblichkeit Platz 11<br />
von 26 ein (OECD 2006). Auch ein Vergleich über<br />
die Effektivität der Gesundheitsversorgung anhand<br />
von Qualitätsindikatoren zeigt, dass Deutschland<br />
einige vordere, aber viele hintere Ränge belegt<br />
(siehe Tabelle).<br />
Qualitätsindikatoren über Effektivität<br />
der Gesundheitsversorgung<br />
Jährliche Hepatitis-B-Infektionen, die durch Impfschutz<br />
verhindert werden können<br />
Schlaganfall: Ischämische Sterblichkeitsrate<br />
im Krankenhaus 30 Tage nach Einweisung<br />
Jährliche Maserninfektionen, die durch Impfschutz<br />
verhindert werden können<br />
Herzinfarkt: Sterblichkeitsrate im Krankenhaus 30 Tage<br />
nach Einweisung wegen akuten Myokardinfarkts<br />
Darmkrebs 5-Jahres-Überlebensrate<br />
Sterblichkeitsrate für Asthma<br />
Brustkrebs 5-Jahres-Überlebensrate<br />
Gebärmutterhalskrebs 5-Jahres-Überlebensrate<br />
Grippeimpfungen bei über 65-Jährigen<br />
* Anmerkung: Da nicht alle Qualitätsindikatoren in den betrachteten Ländern verfügbar sind,<br />
wurden je nach Datenlage unterschiedlich viele Länder miteinander verglichen.<br />
Quelle: Greß et al. (2006), erstellt nach Kelley/Hurst (2006)<br />
Rangplatz<br />
Deutschland*<br />
6 von 20<br />
9 von 17<br />
12 von 21<br />
12 von 20<br />
12 von 19<br />
15 von 21<br />
14 von 19<br />
15 von 19<br />
17 von 20<br />
den Besten« oder »Patient als Partner« haben ebenfalls<br />
eine bessere Versorgungsqualität zum Ziel.<br />
Der Gesetzgeber leitete mit den vergangenen Reformen<br />
ebenfalls Maßnahmen zur Qualitätsverbesserung<br />
ein: So erhalten Krankenkassen, niedergelassene<br />
Ärzte und Krankenhäuser seit dem Jahr 2002 finanzielle<br />
Anreize, um »Strukturierte Behandlungsprogramme<br />
für Chroniker« (Disease-Management-<br />
Programme) aufzubauen und anzubieten: Mit den<br />
strukturierten Behandlungsprogrammen für chronisch<br />
Erkrankte, bisher verfügbar für Patienten mit<br />
Diabetes, Brustkrebs, Koronarer Herzerkrankung,<br />
Asthma und chronisch obstruktiver Lungenerkrankung<br />
(COPD), soll die Versorgungsqualität steigen,<br />
weil sich die Ärzte beim Untersuchen und Behandeln<br />
an so genannten Leitlinien orientieren – Handlungsempfehlungen,<br />
die den aktuellen Stand von wissenschaftlichen<br />
Erkenntnissen und von im Alltag bewährten<br />
Verfahren wiedergeben. Zudem besteht<br />
für Krankenhäuser seit 2002 und für Arztpraxen<br />
seit 2004 die gesetzliche Pflicht, ein einrichtungsinternes<br />
Qualitätsmanagement einzuführen (siehe<br />
Kapitel »Vorbild Industrie: Qualitätsmanagement<br />
in Arztpraxen«).<br />
Doch Qualitätssicherung allein reicht heute nicht<br />
mehr aus: Solange es Defizite und Unterschiede in<br />
der Versorgungsqualität gibt, sollten sie auch publik<br />
gemacht werden. Für ihre geleisteten Beiträge haben<br />
die Versicherten ein Recht auf Transparenz – im<br />
Gegenzug sollten niedergelassene Ärzte, Krankenhäuser<br />
und Krankenkassen Rechenschaft darüber<br />
ablegen, wie sie mit den Versichertengeldern umgehen.<br />
Transparenz hilft Ärzten<br />
Qualitätstransparenz ist nicht nur für die Versicherten<br />
wünschenswert und hilfreich. Auch für Leistungsanbieter<br />
entfaltet sie positive Wirkungen:<br />
• Transparenz schafft die Grundlage für eine<br />
wissenschaftlich fundierte Medizin: Erst wenn<br />
Versorgungsqualität gemessen und transparent<br />
gemacht wird, können die wirkungsvollsten<br />
Untersuchungs- und Behandlungsmethoden<br />
erkannt und anschließend in den Versorgungsalltag<br />
umgesetzt werden.<br />
• Transparenz motiviert zu kontinuierlicher<br />
Verbesserung: Sie hilft, das eigene Handeln<br />
systematisch zu reflektieren, und spornt an,
90 | 91<br />
Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Politik für mehr Transparenz<br />
von Kollegen mit besseren Ergebnissen zu lernen.<br />
Insbesondere Ärzte in Einzelpraxen haben so die<br />
Möglichkeit für einen faktenbasierten Erfahrungsaustausch<br />
mit Kollegen.<br />
• Transparenz ermöglicht eine bessere Positionierung:<br />
Ärzte und Krankenhäuser, die eine<br />
hohe Qualität erbringen, können dies gegenüber<br />
Versicherten und Kassen hervorheben. Dadurch<br />
erhalten sie einen größeren Patientenzulauf und<br />
können besondere Versorgungsverträge mit den<br />
Kassen abschließen.<br />
Insofern ist es erfreulich, dass der Gesetzgeber erste<br />
Maßnahmen für mehr Qualitätstransparenz eingeleitet<br />
hat: Krankenhäuser müssen seit 2001 einmal<br />
jährlich Qualitätsindikatoren an die Bundesgeschäftsstelle<br />
Qualitätssicherung (BQS) melden und sich<br />
damit einem deutschlandweiten, für die Öffentlichkeit<br />
allerdings anonymen Vergleich stellen. Zudem<br />
ist jedes Krankenhaus seit 2005 dazu verpflichtet,<br />
alle zwei Jahre bestimmte Kennzahlen in einem<br />
Qualitätsbericht zu veröffentlichen (siehe Kapitel<br />
»Krankenhaus-Qualitätsberichte: Informieren, aber<br />
richtig!«).<br />
Weitere Schritte in Richtung Qualitätstransparenz<br />
müssen allerdings folgen: Zunächst sollten die gegenwärtigen<br />
Berichte die Informationen enthalten, die<br />
die Bürger wünschen. Darüber hinaus sollten Qualitätsinformationen<br />
patientenverständlich formuliert<br />
sein. Außerdem sollte auch die Qualität von Arztpraxen,<br />
Ärztenetzen und Medizinischen Versorgungszentren<br />
gemessen und veröffentlicht werden.<br />
Vor allem ist es wichtig, dass Bürger Qualitätsinformationen<br />
vergleichen können, um so den für<br />
ihre Bedürfnisse besten Anbieter zu finden.<br />
Nebenwirkungen sind<br />
steuerbar<br />
So notwendig und sinnvoll Qualitätstransparenz ist –<br />
sie kann auch unerwünschte Nebenwirkungen hervorrufen.<br />
Das Dilemma: Mögliche Nebenwirkungen<br />
treten umso stärker auf, je größer die »Belohnungen«<br />
für gute Messergebnisse, etwa in Form eines größeren<br />
Patientenzustroms, der kollegialen Anerkennung,<br />
individueller Versorgungsverträge mit Krankenkassen<br />
oder auch eines höheren Gehalts, sind:<br />
• Konzentration auf gemessene Leistungen: Was<br />
nicht oder nur schwierig messbar ist und deshalb<br />
nicht gemessen wird, verliert an Relevanz. Bei<br />
attraktiven »Belohnungen« guter Qualitätsergebnisse<br />
ist der Anreiz groß, sich vor allem bei den<br />
gemessenen Leistungen anzustrengen. Leistungen,<br />
deren Qualität nicht gemessen und veröffentlicht<br />
wird, werden dann möglicherweise vernachlässigt –<br />
obwohl sie einen gewichtigen Teil der alltäglichen<br />
Arbeit ausmachen.<br />
• Patientendiskriminierung: Noch ärgerlicher als<br />
die Konzentration auf die gemessenen Leistungsbereiche<br />
wäre es, wenn Ärzte Patienten gezielt<br />
an sich binden würden, weil sie mit ihnen gute<br />
Messergebnisse erzielen, und andere Patienten,<br />
mit denen sie weniger gute Messergebnisse erreichen<br />
können, vergraulen würden – etwa weil<br />
Komplikationen auftreten oder weil die Patienten<br />
sich nicht an Therapieempfehlungen halten.<br />
• Beschönigung von Messergebnissen: Mit wachsenden<br />
Belohnungen für gute Qualität steigt auch<br />
die Versuchung, Messergebnisse zu schönen oder<br />
sogar zu manipulieren.<br />
Sollte angesichts dieser möglichen Nebenwirkungen<br />
Qualitätstransparenz vielleicht doch nicht erstrebenswert<br />
sein? Nein. Ein Blick ins Ausland zeigt, dass die<br />
positiven Wirkungen der Transparenz über Qualität die<br />
unerwünschten Folgen übertreffen: In vielen Ländern,<br />
beispielsweise in Dänemark, Großbritannien, in den<br />
Niederlanden und den USA, gehören das Messen und<br />
Veröffentlichen von Qualitätsdaten bereits zum Alltag.<br />
Zudem müssen die unerwünschten Nebenwirkungen<br />
nicht auftreten: Sie können durch indikatorengestützte<br />
Verfahren, durch bessere, risikoadjustierende Mechanismen<br />
zur Berücksichtigung der unterschiedlichen<br />
Patientengruppen oder durch manipulationsgeschützte<br />
Messverfahren vermieden werden – was allerdings
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Qualitätstransparenz im <strong>Gesundheitswesen</strong> | Politik für mehr Transparenz<br />
zusätzliche Kosten hervorruft. Auch können Kontrollen Unterstützt werden müssten sie dabei durch sozialrechtliche<br />
verhindern, dass es zu den unerwünschten Nebenwirkungen<br />
und vertragliche Anreize, die dieses<br />
kommt. Doch Kontrollen sind nicht nur Selbstverständnis würdigen.<br />
kostspielig, sie bringen auch ein grundsätzliches<br />
Misstrauen gegenüber dem Verhalten der Ärzte und Was zunächst wie ein Widerspruch für praktizierende<br />
anderer Leistungsanbieter zum Ausdruck und untergraben<br />
Ärzte anmutet, sollten daher zwei Ausprägungen<br />
damit deren intrinsische Motivation.<br />
derselben professionellen Qualitätskultur sein [siehe<br />
Übersicht]: Auf der einen Seite erwartet man von<br />
Die beste Lösung wäre es, wenn sich alle Ärzte und ihnen hohe Eigenmotivation und ein professionelles<br />
andere Gesundheitsfachkräfte gemäß ihrem professionellen<br />
Qualitätsverständnis hinsichtlich aller, auch der nicht<br />
und ethischen Selbstverständnis so verhal-<br />
messbaren Leistungsbereiche. Auf der anderen Seite<br />
ten, dass unerwünschte Nebenwirkungen möglichst sollen Ärzte es als ihre eigene Pflicht anerkennen,<br />
nicht auftreten: Sie fokussieren sich weder auf die Rechenschaft abzulegen über alle Leistungen, deren<br />
gemessenen Leistungsbereiche, noch diskriminieren Qualität gemessen werden kann – so wie es in anderen<br />
sie Patienten, noch beschönigen sie Messergebnisse.<br />
Branchen längst üblich ist.<br />
Übersicht: Gelebte Qualitätskultur – Vertrauen und Rechenschaft als zwei Seiten einer Medaille<br />
Vertrauen<br />
Rechenschaft<br />
Ziel<br />
Kontinuierliche Qualitätsverbesserung<br />
Darstellung des gegenwärtigen Qualitätsniveaus<br />
»Die neuerlich und aktuell diskutierte ›Gesundheitsreform‹<br />
muss diese Kontrollbürokratie konsequent<br />
abschaffen und wieder vertrauen auf die Leistungsqualität,<br />
den Leistungswillen und die Leistungsfähigkeit<br />
der Ärztinnen und Ärzte in Deutschland«, fordern<br />
die Teilnehmer des 109. Deutschen Ärztetages<br />
in ihrem Beschlussprotokoll (Bundesärztekammer<br />
2006). Dem ist vor dem heutigen Stand der Qualitätstransparenz<br />
ein klares »ja, aber« hinzuzufügen: Ja,<br />
das Vertrauen in die Leistungsqualität, den Leistungswillen<br />
und die Leistungsfähigkeit der Ärztinnen und<br />
Ärzte in Deutschland ist nach wie vor essenziell.<br />
Aber: Maßnahmen und Institutionen zur Qualitätsverbesserung<br />
und Transparenzförderung stellen<br />
keine Kontrollbürokratie dar. Vielmehr sind sie<br />
Ausdruck einer gelebten Rechenschaft und Verantwortlichkeit<br />
von Ärzten und eines realisierten<br />
Wunsches nach mehr Qualitätsinformationen auf<br />
Seiten der Bürger. Denn schließlich stärkt Transparenz<br />
über Qualität das Vertrauen in die Qualität.<br />
Literatur<br />
• Bundesärztekammer (2006): Beschlussprotokoll des 109. Deutschen<br />
Ärztetages vom 23.–26. Mai 2006 in Magdeburg.<br />
www.bundesaerztekammer.de/downloads/Beschluss109DAET.pdf.<br />
• Greß, S.; Maas, S.; Wasem, J. (2006): Effektivitäts-, Effizienz- und<br />
Qualitätsreserven im deutschen Gesundheitssystem. Expertise für die<br />
Hans-Böckler-Stiftung, Essen.<br />
www.boeckler.de/pdf/fof_S-2006-840-4.pdf.<br />
• Kelley, E.; Hurst, J. (2006): Health Care Quality Indicators Project –<br />
Initial Indicators Report. OECD Health Working Papers Nr. 22.<br />
• OECD (2006): OECD Health Data 2006 – Frequently Requested Data.<br />
www.oecd.org/dataoecd/20/51/37622205.xls.<br />
• Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im<br />
<strong>Gesundheitswesen</strong> (SVR-G) (2001): Bedarfsgerechtigkeit und<br />
Wirtschaftlichkeit, Band III. Über-, Unter- und Fehlversorgung,<br />
Gutachten 2000/2001. Ausführliche Zusammenfassung.<br />
www.svr-gesundheit.de/Gutachten/Gutacht01/Kurzf-de.pdf.<br />
Adressat<br />
Spezifische Methode<br />
Eigene Organisation, z.B. Arztpraxis oder Krankenhaus<br />
Qualitätsmanagement<br />
Bevölkerung, Kassen, einweisende Ärzte, Politik<br />
Qualitätstransparenz<br />
Gemeinsame Basis<br />
Professionalität und Ethik, Qualitätsmessung, evidenzbasierte Medizin und Leitlinien
IMPRESSUM<br />
Bertelsmann Stiftung<br />
Carl-Bertelsmann-Straße 256<br />
33311 Gütersloh<br />
Telefon +49 5241 81-0<br />
Fax +49 5241 81-81 999<br />
www.bertelsmann-stiftung.de<br />
Verantwortlich<br />
Marion Grote Westrick<br />
Redaktion<br />
Marion Grote Westrick, Dr. Christian Weymayr<br />
Art Direction<br />
Heike van Meegdenburg<br />
Gestaltung<br />
VISIO Kommunikation GmbH, Bielefeld<br />
Produktion<br />
Druckerei Festge, Oelde<br />
Fotos<br />
Veit Mette, Bielefeld<br />
FontShop fancy<br />
Getty Images, Keith Brofsky<br />
Martina Gockeln<br />
Imagesource<br />
Photodisc<br />
ullstein bild – imagebroker<br />
Marcus Vogel, Hamburg<br />
Wir danken dem Sankt Elisabeth Hospital Gütersloh und dem<br />
Marienhospital Oelde für die Bereitstellung der Fotos auf den<br />
Seiten 8, 10, 29, 38, 40, 46, 46/47, 70/71, 73 und 81 sowie der<br />
Praxis Dr. med. Schlierkamp in Halle/Westfalen für das Titelfoto.